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Full text of "Prophezeiungen, alter Aberglaube oder neue Wahrheit?"

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^reseirteö  tu 
oi  tlte 

^niueröity  of  (Üaronta 

Mrs.  Raymond  Daniell 

/ 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2010  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/prophezeiungenalOOkemm 


Prophezeiungen 


1 


<«' 


Von  Dr.  Max  Kemmerich  erschien  im  Verlage  von 
Albert  Langen  in  München: 

Kultur^ Kuriosa     Erster  Band 
Zehntes  Tausend 

Kultur^sKuriosa     Zweiter  Band 
Sechstes  Tausend 

Dinge,  die  man  nicht  sagt 
Siebentes  Tausend 


Ji) 


Prophezeiungen 

Alter  Aberglaube  oder 
neue  Wahrheit? 


Von 

Dr.  Max  Kemmerich 


Albert  Langen 

Verlag  für  Litteratur  und  Kunst 

München 


BF 

14-  ^^^ 


Copyright  1911  by  Albert  Langen,  Munich 


Vorwort 

Nicht  eine  Geschichte  der  Prophezeiungen  zu 
schreiben,  stellte  ich  mir  zur  Aufgabe.  Auch  lag  es 
mir  fern,  den  flauen  Geschäftsbetrieb  der  Wahrsage^ 
rinnen  in  eine  Hausse  überzuleiten.  Ich  müßte  daher 
eine  mir  von  dieser  Seite  etwa  zugedachte  Ehrung 
dankend  ablehnen. 

Was  ich  beweisen  wollte  und  bewiesen  habe,  ist 
lediglich  das  Vorhandensein  einer  Kraft  des  zeitlichen 
Fernsehens.  Und  zwar  trat  ich  ursprünglich  an  die 
Frage  heran  im  Glauben,  die  Frophetie  als  Rest  mittel 
alterlichen  Denkens  endgültig  abtun  zu  können.  Erst 
im  Laufe  der  Untersuchung  und  unter  dem  Gewicht 
der  Argumente  verwandelte  sich  der  Verfasser  von 
einem  Saulus  in  einen  Paulus. 

Ich  übergebe  diese  Blätter  der  Öffentlichkeit  in 
der  festen  Überzeugung,  eine  neue  Wahrheit  gefunden, 
als  erster  den  Glauben  der  Jahrtausende  zum  Wissen 
erhoben  zu  haben.  Daß  es  Jahrzehnte  dauern  wird, 
bis  daraus  die  notwendigen  Schlüsse  auf  unsere  Welt* 
anschauung  gezogen  werden,  darüber  bin  ich  mir  im 
klaren.  Ebenso  darüber,  daß  die  erdrückende  Mehr* 
zahl  der  Zeitgenossen  mit  jener  beneidenswerten 
Sicherheit,  die  nur  die  absolute  Ignoranz  verleiht,  das 
Thema,  wie  seine  Beantwortung  ablehnen  wird.    Die 


VI 


i 


Gewißheit  aber,  daß  noch  einmal  die  Zeit  kommen 
wird,  in  der  die  gedankenlose  Menge  unter  unserem  i 
Einfluß  ebenso  ungeprüft  das  in  Bausch  und  Bogen 
ablehnen  wird,  was  sie  jetzt,  gleichfalls  ungeprüft, 
anbetet,  um  das  anzubeten,  was  sie  heute  verwirft, 
wird  mir  niemand  rauben  können. 

Für  freundliche  Unterstützung  und  Anregung  in      , 
Gesprächen    ist    es    mir    ein    Bedürfnis,    den    Herren     i 
Privatdozent  Dr.  Alfred  Brunswig,  Dr.  Hans  F.  Helmolt 
und  Friedrich  Freih.  von  Stromer* Reichenbach,  samt* 
lieh   in   München,    meinen   herzlichsten   Dank   auszu* 
/  sprechen.  Besonders  aber  Herrn  Geheimrat  Prof.  Dr.  Fer* 
I   dinand   Lindemann,    der  die   große  Güte   hatte,    den 
\  mathematischen    Teil    meiner    Beweisführung    in    den 
Korrekturbogen  einzusehen  und  zu  begutachten. 

Für  den  Hinweis  auf  Versehen  irgendwelcher  Art 
werde  ich  jederzeit  dankbar  sein. 

München,  im  März  1911 

Der  Verfasser 


Inhaltsverzeichnis 

Seite 

Einleitung 1 

Erstes  Kapitel 

Einzelne  Prophezeiungen  und  Vorahnungen 

Das  Altertum 23 

Zweites  Kapitel 

Einzelne  Prophezeiungen  und  Vorzeichen 

Mittelalter  und  Neuzeit 75 

Drittes  Kapitel 

Unsere  Beweisführung.  Einwände  und  deren  Widerlegung     137 

Viertes  Kapitel 

Die  lehninsche  Weissagung 

I.  Der  Text 157 

II.  Kommentar 177 

Fünftes  Kapitel 

Christina  Ponitowssken 191 

Sechstes  Kapitel 

Die  Prophezeiungen  des  Christian  Heering  aus  Prossen  .     203 

Siebentes  Kapitel 

Die  Art  der  Prophezeiung  Heerings 231 

Achtes  Kapitel 
Johann  Adam  Müller 241 

Neuntes  Kapitel 

Cazotte's  Weissagung  der  französischen  Revolution      .     .     293 

Zehntes  Kapitel 

Die  Prophezeiungen  der  Frau  de  Ferriem 325 

Elftes  Kapitel 

Michel  Nostradamus 346 

Zwölftes  Kapitel 

Stellung  der  Wissenschaft  zur  Prophezeiung 403 


Einleitung 


Wer  heute  den  Mut  hat,  über  Prophetie  zu  sprechen, 
kann  sicher  sein,  auf  ein  überlegenes  Lächeln  der  soj* 
genannten  Gebildeten  zu  stoßen.  Der  Glaube  an 
die  Möglichkeit  des  räumlichen,  mehr  noch  des  zeit:* 
liehen  Fernsehens  gilt  ja  als  Rest  finstersten  mittel* 
alterlichen  Aberglaubens,  so  etwa  wie  der  an  Inkubus 
und  Sukkubus.  Jedermann  hält  es  für  unter  seiner 
Würde,  derartige  Phänomene  überhaupt  zu  prüfen, 
so  wenig  es  jemandem  einfällt,  den  alchimistischen 
Lehren  anders,  als  mit  einem  Achselzucken  entgegen^» 
zutreten. 

Nun  wird  man  zugeben,  daß  die  Wahrheit  die 
allerschärfsten  Prüfungen  vertragen  kann  und  nur  der 
Irrtum  Schonung  fordern  muß.  Wenn  es  also  keine 
fernseherischen  Phänomene  gibt,  so  wird  sich  die 
Wissenschaft  sicherlich  durch  einwandfreie  Feststellung 
der  Tatsache  nichts  vergeben,  wohl  aber  in  schiefes 
Licht  kommen  durch  hochmütiges  Ignorieren.  Und 
das  zumal  in  einer  Zeit,  die  so  überaus  reich  an  umi= 
stürzenden  Entdeckungen  und  Erfindungen  ist,  wie 
die  unserige.  Man  denke  an  die  Röntgenstrahlen, 
Radium,  drahtlose  Telegraphie,  lenkbare  Luft* 
schiffe    usw.  usw.     Alle    diese    neuen    Erweiterungen 

Kemmcrich,  Prophezeiungen  1 


unseres  Gesichtskreises  lehren  uns  oder  sollten  uns 
doch  wenigstens  lehren,  daß  selbst  das  Unwahrschein* 
lichste,  ja  für  unmöglich  Gehaltene  wirklich  sein 
kann;  daß  nach  wenigen  Jahren  dem  Schulkinde 
selbstverständlich  scheint,  was  die  größten  Denker 
der  vorangehenden  Generation  für  unmöglich  erklärten. 
„Unmöglichkeit",  das  ist  der  Angelpunkt  der 
Frage.  Die  Autoritäten,  die  heute  modern  sind  — 
denn  auch  wissenschaftliche  Ansichten,  Hypothesen, 
Theorien  und  Dogmen  sind  der  Mode  unterworfen  — 

f  erklären  die  Prophetie  für  unmöglich.  Nicht  alle, 
ein  Plato,  Cicero,  Augustinus,  ja  noch  ein  Kant  und 
Schopenhauer  zweifelten  nicht  an  der  Wirklichkeit 
der  Phänomene,  aber  ohne  dadurch  das  Denken  der 

I  Gegenwart  zu  beeinflussen.  Entschuldigte  man  die 
ersteren  mit  ihrer  Zeit,  so  galt  der  Glaube  an  Pro* 
phetie  bei  den  letzteren  als  Schwäche,  als  mystischer 
Einschlag,  den  man  bei  Männern,  an  deren  Intelligenz 
sonst  ja  nicht  gerade  viel  auszusetzen  ist,  gern  ver* 
mißt  hätte.  Um  es  also  nochmals  festzustellen:  Seit 
den  Zeiten  der  Aufklärung,  also  seit  etwa  anderthalb 
Jahrhunderten,  gilt  die  Prophetie  oder  —  da  dieses 
Wort  einen  biblischen  Beigeschmack  hat  —  das  Fern* 
sehen  in  der  Zeit  für  unmöglich.  Deshalb  hat  der 
Gebildete  das  Recht,  einzelne  Fälle  des  Vorhersehens 
zu  leugnen,  und  wo  das  gänzlich  untunlich  ist,  sie 
durch  Zufall  zu  erklären.  Geht  er  dem  Problem 
nach  —  was  doch  voraussetzt,  daß  er  seine  Möglich* 
keit  zugibt,  wenn  er  auch  die  Wirklichkeit  bestreitet  — 
so  blamiert  er  sich. 

Ich    bin    nicht    müde    geworden,    nachzuweisen, 
daß  etwas  darum  weder  töricht,   noch  schlecht,  noch 


viel  weniger  unmöglich  zu  sein  braucht,  weil  die 
Autoritäten  es  behaupten.  Sie  haben  sich  dem  Genialen 
und  Neuen  gegenüber  regelmäßig  und  nahezu  grund? 
sätzlich  blamiert.  So  als  die  Ingenieure  bewiesen, 
daß  es  unmöglich  sei,  Lasten  fortzubewegen,  wenn 
glatte  Räder  auf  glatten  Schienen  liefen,  oder  daß  die 
Eisenbahnen  unmöglich  auf  Dämmen  laufen  könnten, 
sondern  nur  auf  gemauerten  Unterbauten;  oder  als 
das  kgl.  Bayerische  Medizinalkollegium  den  Beweis 
erbrachte,  daß  die  schnelle  Bewegung  der  Eisenbahn^ 
züge  —  es  war  in  den  dreißiger  Jahren  des  vorigen 
Jahrhunderts!  —  nicht  nur  bei  den  Insassen,  sondern 
auch  bei  den  Zuschauern  die  schrecklichsten  Gehirn* 
Störungen  hervorrufen  müßte  und  deshalb  die  Errich« 
tung  von  unübersehbaren  Planken  längs  der  Bahn* 
linien  geboten  sei. 

Nicht  anders  war  es,  als  Hegel  nachwies,  daß 
der  von  Piazzi  1801  ^entdeckte  Planetoid  Ceres  un* 
möglich  existieren  könne  —  aus  philosophischen 
Gründen.  Oder  als  Gässendi,  ja  noch  Bertholön  und 
VaudilT  ^"die  Möglichkeit  der  Meteorfälle  [leugneten 
und  das,  wiewohl  dem  ersteren  ein  eben  nieder* 
gefallener,  noch  heißer  Stein  gebracht  wurde,  die 
andern  aber  den  protokollarischen  Bericht  von  einem 
Fall  mit  der  Unterschrift  des  Maires  und  von  200 
Zeugen  vor  Augen  hatten.  Bekannt  ist  ja  auch,  daß 
Galvani  auf  die  geniale  Entdeckung  der  nach  ihm 
benannten  Naturkraft  hin  von  seinen  Zeitgenossen 
verlacht  wurde,  wie  ja  auch  der  große  |Davy  über 
den  Gedanken  lachte,  daß  London  jemals  mit  Gas 
beleuchtet  werden  könne.  Ein  Heiterkeitsausbruch 
und  die  Weigerung,  den  Vortrag  zu  drucken,  war  ja 


auch  das  einzige  Resultat  Franklins,  nachdem  er  der 
englischen  Akademie  der  Wissenschaften  den  von 
ihm  entdeckten  Blitzableiter  entwickelt  hatte.  Daß 
Semmelweiß,  der  Entdecker  des  Kindbettfiebers,  im 
Irrenhaus  starb,  daß  es  Robert  Mayer,  dem  Entdecker 
des  Gesetzes  von  der  Erhaltung  der  Energie,  ebenso 
gegangen  wäre,  wenn  seine  kräftige  Konstitution  die 
Mißhandlungen  nicht  überwunden  hätte,  gehört  nicht 
zu  den  Ruhmesblättern  deutscher  Geistesgeschichte  ^). 

Diese  wenigen  Fälle,  die  sich  ins  Endlose  fort^ 
setzen  ließen,  führten  wir  nicht  an,  um  etwa  die 
Autoritäten  als  halbe  Idioten  hinzustellen.  Das  wäre 
nicht  nur  für  einen  jüngeren  Gelehrten  höchst  un* 
angemessen,  es  wäre  auch  sehr  töricht,  würden  wir 
doch  die  Wissenschaft  herabsetzen,  indem  wir  ihre 
Leuchten  brandmarken.  Denn  wenn  diese  Männer 
auch  Mißgriffe  begingen  und  oft  den  Fortschritt  der 
Wissenschaft  durch  die  Wucht  ihres  Namens  hemmten, 
so  hat  doch  die  Menschheit  andrerseits  ihnen  außer** 
ordentlich  viel  zu  verdanken.  Sind  es  doch  aus* 
nahmslos  Leute,  die  durch  Intelligenz  ihre  Zeitgenossen, 
wenigstens  die  älteren  von  ihnen,  mit  ganz  wenigen 
Ausnahmen  um  Hauptes*,  ja  um  Turmeslänge  über* 
ragten. 

Wir  registrieren  sie  vielmehr  aus  einem  doppelten 
Cjrunde.  Zunächst  um  die  Worte  des  großen  Mathe* 
matikers  Arago,  man  müsse  mit  Anwendung  des 
Wortes  „unmöglich"  außerhalb  der  Mathematik  sehr 

')  Eine  große  Zahl  weiterer  Fälle  Hndet  man  in  meinen 
„Kultur.Kiiriosa".  8.  AuH..  S.  268  H.,  und  II.  Hand.  6.  AuH.,  S.  42 tt. 
Meine  Ansichten  über  Autoritäten  im  allgemeinen  sprach  ich 
aus  in  „Dinge,  die  man  nicht  sagt",  7.  AuH.,  S.  98 tt. 


zurückhaltend  sein,  es  am  besten  überhaupt  nicht 
gebrauchen,  zu  bestätigen.  Dann  aber,  und  das  ist 
noch  wichtiger,  um  die  Leser  nach  Tunlichkeit  in  die 
Seelenstimmung  oder  Verstandesverfassung  —  um  das 
Modewort  Weltanschauung  zu  vermeiden  —  des  Autors 
zu  versetzen,  in  die  des  Zweifels. 

,, Zweifel?  Wie  ist  das  zu  verstehen,  wo  Sie  uns 
da  mittelalterliche  Märchen  auftischen  wollen  und  Ihr 
Möglichstes  tun,  Ihren  Namen  zu  diskreditieren!  Sie 
meinen  wohl  Glauben,  ja  Wunderglauben?" 

So  wird  man  mir  ins  Wort  fallen  und  mir  da^ 
durch  willkommene  Gelegenheit  geben,  meinen  Ge^ 
danken  näher  auszuführen. 

Ich  fordere  allerdings  Zweifel,  Kritik,  Skeptizis^* 
mus,  denn  das  ist  die  Grundlage  meiner  Welt* 
anschauung.  Nicht  daß  ich  als  radikaler  Skeptiker 
die  Unmöglichkeit  jeder  Erkenntnis  behauptete  und 
damit  viel  mehr,  als  ich  jemals  beweisen  könnte,  noch 
dazu  etwas  überaus  Törichtes,  weil  Unfruchtbares. 
Wohl  aber  in  dem  Sinne,  daß  ich  nur  und  in  erster 
Linie  gut  beobachtete  Tatsachen  für  wahr  halte.  In 
zweiter  Linie  kommen  dann  an  Wahrheitsgehalt  die 
auf  Grund  einer  zwingenden  Logik  daraus  gezogenen 
Schlüsse. 

Daraus  ergibt  sich,  daß  bei  einer  Disharmonie 
zwischen  bewiesener  Tatsache  und  erklärender  Hypo* 
these  oder  Theorie  selbstverständlich  die  erstere  bes= 
dingungslos  anzuerkennen,  die  letztere  zu  verwerfen  ist. 
Denn  dann  ist  niemals  die  Tatsache  falsch,  son* 
dern  die  Theorie,  das  Dogma  ist  falsch  oder  zum 
mindesten  lückenhaft  und  daher  ergänzungsbedürftig. 
Nur    diese   Denkweise    ganz    allein    ermöglicht  einen 


dauernden  Fortschritt  der  Wissenschaft.  Nur  wer 
jede,  auch  die  am  besten  gestützte  Theorie 
aufzugeben  bereit  ist,  wenn  eine  einzige  Tat* 
Sache  sich  durch  sie  nicht  erklären  läßt,  nur 
der  denkt  wissenschaftlich  frei. 

Auch  die  Lehre  von  den  vier  Elementen  hatte 
großartige  Entdeckungen  ermöglicht,  und  doch  war 
sie  falsch  und  fiel  mit  dem  Augenblick,  als  es  dem 
großen  Lavoisier  zur  hellen  Entrüstung  seiner  Zeit* 
genossen  gelungen  war,  die  Luft  in  ihre  Bestandteile 
zu  zerlegen.  Nicht  anders  stand  es  mit  der  Phlo* 
gistontheorie,  die  darum  doch  falsch  war.  Wenn  mir 
daher  heute  jemand  ein  Perpetuum  mobile  zeigen 
würde,  was  ja  bekanntlich  nach  dem  Gesetz  von  der 
Erhaltung  der  Energie  unmöglich  wäre,  so  würde  ich 
mich  durchaus  nicht  weigern,  es  zu  prüfen.  Denn  so 
machten  es  die  peripatetischen  Kollegen  des  großen 
Gallilei,  als  sie  sich  sträubten,  das  Fernrohr  zu  be* 
nutzen,  aus  Angst,  seine  Entdeckung  der  Jupiter* 
monde  bestätigen  zu  müssen.  Vielmehr  würde  ich 
das  Instrument  sehr,  sehr  eingehend  prüfen  und  ev. 
zum  Resultat  kommen,  daß  das  große  Gesetz,  die 
genialste  Geistestat  des  19.  Jahrhunderts,  lücken* 
haft  ist. 

Und  wenn  mir  jemand  den  Stein  der  Weisen 
brächte  und  behauptete,  damit  Gold  machen  zu  können, 
so  würde  ich  für  einen  Augenblick  die  Theorie  von 
der  Unverwandelbarkeit  der  Elemente  vergessen  und 
den  Fall  genauestens  prüfen.  Und  wenn  mir  dabei 
einfiele,  daß  der  große  Chemiker  van  Helmont  und 
vor  ihm  Paracclsus  behaupten,  Gold  hergestellt  zu 
haben,  so  wäre  diese  alchimistische  Bestätigung  kein 


Grund,  die  Nachprüfung  überlegen  lächelnd  abzu^ 
lehnen. 

Die  Autoritäten,  mögen  sie  auch  noch  so  geniale 
Männer  gewesen  sein,  sind  eben  auch  nur  Menschen, 
und  darum  sind  alle  ihre  Theorien  dem  Irrtum  unter:; 
Worten.  Absolute  Wahrheit  oder  doch  Beweisbarkeit 
finden  wir  wohl  ausschließlich  in  der  reinen  Mathen 
matik.  Mit  dem  Augenblick  aber,  wo  die  Mathematik 
in  die  reale  Welt  eingreift,  etwa  bei  der  Konstruk* 
tion  einer  Eisenbahnbrücke  oder  in  der  Unfallstatistik, 
ist  auch  sie  nicht  mehr  unfehlbar,  wenn  auch  zu« 
gegeben  werden  muß,  daß  ihr  immer  ein  hoher  Grad 
von  Beweiskraft  beizumessen  ist. 

Wenn  man  sich  darüber  wundert,  daß  ich  in 
einer  historischen  Studie  zum  Beweise  für  die  Fehl^ 
barkeit  der  Autoritäten  nur  Beispiele  aus  dem  Ge«» 
biete  der  Naturwissenschaften  anführe,  so  geschieht 
das  ganz  und  gar  nicht  deshalb,  weil  sich  etwa  hier 
die  Autoritäten  mehr  blamiert  hätten,  wie  in  den 
Geisteswissenschaften.  Es  hat  lediglich  in  der  besseren 
Kontrollierbarkeit  der  Resultate  seine  Begründung. 

Die  Geisteswissenschaften  stehen  im  Gegensatz 
zu  den  Naturwissenschaften  noch  durchaus  in  den 
Anfängen.  Von  der  Logik,  die  ja  rein  formaler  Natur 
ist,  abgesehen,  gibt  es  auch  nicht  einen  einzigen 
philosophischen  Lehrsatz,  der  allseitig  anerkannt  wäre. 
Grundwahrheiten  hat  die  Philosophie  überhaupt  nicht. 
Ähnlich  ist  es  etwa  um  die  Psychologie  oder  Geschichte 
bestellt.  Gibt  es  doch  Leute,  die  die  Möglichkeit 
historischer  Gesetze  rundweg  leugnen.  Mit  der  Tat* 
Sache  aber,  daß  Ritter  Kunz  in  diesem  oder  jenem 
Jahre  gestorben  ist,  oder  daß  soundso  viele  Soldaten 


8 

in  der  Schlacht  bei  Adorf  fochten,  lockt  man  keinen 
Hund  vom  Ofen  fort. 

Die  Naturwissenschaften  verfügen  dagegen  über 
eine  ganze  Reihe  zwar  nicht  unfehlbarer,  wohl  aber 
gut  fundierter  Gesetze,  und  dadurch,  daß  sie  das 
Experiment  als  Beweismittel  besitzen,  sind  sie  den 
Geisteswissenschaften  gegenüber  weit  im  Vorteil. 
Wenn  es  also  sogar  bei  ihnen  schwer  fällt  und  oft 
Jahrzehnte  erfordert,  die  Fachwelt  von  einer  neuen 
Entdeckung  zu  überzeugen,  so  muß  das  auf  geistes* 
wissenschaftlichem  Gebiete  noch  viel  schwerer  sein. 

Geradezu  unmöglich  wird  es  aber,  wenn  der 
neue  Gedanke  dem  materialistischen  Modedogma, 
einem  indirekten  Resultate  der  Aufklärung,  wider* 
spricht  oder  zu  widersprechen  scheint. 

Die  Aufklärung  hat  uns  zweifellos  unendlichen 
Segen  gebracht,  viel  mehr  als  Schaden.  Sie  beseitigte 
den  Wunderglauben,  d.  h.  den  Glauben,  daß  Gott 
mit  Durchbrechung  der  Naturgesetze  irgendeinen  Ein* 
griff  in  die  Weltordnung  tun  könne.  Das  allein 
schon  ist  ein  nicht  zu  überschätzender  Gewinn.  Sie 
befreite  uns  vom  Hexenwahn,  diesem  Schandfleck  der 
christlichen  Kirchen.  Sie  lehrte  überall  nach  natür* 
liehen  Gründen,  nach  Gesetzmäßigkeiten  suchen  und 
verhalf  dem  gesunden  Menschenverstand  zu  seinem 
Rechte. 

Aber  sie  schoß  auch  über  das  Ziel  hinaus,  in* 
dem  sie  eine  Überkritik  walten  ließ,  die  besonders  in 
der  Geschichtswissenschaft  noch  üppige  Triebe  zeitigt. 
Sie  verwarf  vor  allem  alles  Übersinnliche,  erklärte  es 
für  unmöglich.  Das  aber  ist  vorläufig,  d.  h.  K\r  die 
nächsten  Jahrhunderttausende,    bis    wir    nämlich    alle 


Naturkrähe  kennen,  unsinnig.  Sie  erklärte  für  ,, freie 
Geister"  nur  jene,  die  an  die  Hypothese  von  der 
llnmöglichkeit  alles  nicht  Alltäglichen,  jederzeit  will^ 
kürlich  und  durch  das  Experiment  Hervorruf  baren 
glauben.  Aber  das  ist  ein  Glaube,  ein  falscher  Glaube 
sogar,  wie  ich  in  vorliegendem  Werke  nachzuweisen 
versuchen  werde. 

Da  jedoch  das  wunderbar  Scheinende  —  nicht 
etwa  nur  das  endgültig  als  nicht  existierend  bewiesene 
„Wunder"  —  die  Ausnahme  bildet,  durch  bereits  be^ 
kannte  Naturgesetze  Erklärbares  oder  doch  auf  sie 
Zurückführbares  aber  die  Regel,  so  war  der  von  der 
Aufklärung  und  ihren  heute  noch  herrschenden 
Schülern  angerichtete  Schaden  bei  weitem  nicht  so 
groß,  wie  der  Nutzen.  Denn  wenn  wir  auch  die 
Existenz  echter  Prophetie  beweisen  werden,  so  werden 
wir  doch  nicht  leugnen,  daß  es  sich  um  relativ  seltene 
Phänomene  handelt. 

Wogegen  wir  mit  aller  Energie  und  mit  Be*: 
rufung  auf  die  Irrtümer  der  sogenannten  Autoritäten 
sowohl,  als  auf  die  Lückenhaftigkeit  unserer  Kennt* 
nisse  des  Naturgeschehens  zu  Felde  ziehen  müssen, 
das  ist  vor  allem  die  unbewiesene  und  unbeweis^: 
bare  Hypothese  von  der  Unmöglichkeit  irgend* 
einer  Erscheinung  nur  deshalb,  weil  sie  einer 
Theorie  widerspricht,  oder  weil  wir  sie  nicht 
erklären   können. 

Nicht  der  ist  frei,  der  einer  Theorie  zuliebe 
widersprechende  Tatsachen  ungeprüft  ablehnt,  der  in 
lächerlicher  Überschätzung  des  derzeitigen  Standes 
unserer  Kenntnisse  etwas  für  unmöglich  hält,  sondern 
ganz   allein,   wer  vorurteilslos  und   tendenzlos 


10 


alles  prüft,  was  ihm  fremdartig  erscheint, 
ohne  sich  dabei  im  allergeringsten  über  die 
Urteile   der  Autoritäten   aufzuregen. 

Sehr  lehrreich  für  die  Macht  des  materialistischen 
Dogmas,  das  nur  Kraft  und  Stoff  kennt  und  den 
fehlerhaften  Analogieschluß  fordert,  die  Gesetze  der 
materiellen  Welt  seien  auf  die  des  Geistes  ohne 
weiteres  übertragbar,  ist  die  Leidensgeschichte  des 
Hypnotismus. 

Da  ich  sie  an  anderer  Stelle^)  ausführlich  er* 
zählte,  möge  es  genügen,  hier  daran  zu  erinnern,  daß 
Mesmer,  der  Entdecker  oder  vielmehr  der  Wieder* 
entdecker  —  und  auch  das  nur  mit  Einschränkung, 
denn  das  Phänomen  war  schon  Jahrtausende  bekannt  — 
einer  geheimnisvollen  Kraft,  mit  der  er  Heilungen 
und  höchst  wunderbare  Phänomene  erzeugte,  auf 
Grund  einer  eingehenden  Prüfung  von  der  Pariser 
Akademie  der  Wissenschaften,  und  zwar  von  Männern 
wie  Leroy,  Bailly,  Lavoisier,  für  einen  Phantasten  er* 
klärt  wurde.  Als  Schwindler  verschrien  mußte  er 
sterben,  ohne  die  Anerkennung  seiner  Lehre  erlebt 
zu  haben.  Auch  dem  Arzte  James  Baid,  der  1843, 
59  Jahre  nach  der  ersten  Prüfung,  die  Frage  neuer* 
dings  in  Angriff  nahm,  gelang  es  nicht,  die  Anerkennung 
der  Zeitgenossen  zu  finden.  Erst  durch  die  Vorfüh* 
rungen  des  gewerbsmäßigen  Hypnotiseurs  Hansen  im 
Jahre  1879  wurde  die  Aufmerksamkeit  der  Welt  auf 
die  wunderbaren  Erscheinungen  gelenkt.  Aber  noch 
Virchow  leugnete  sie  bis  zu  seinem  Tode,  weil  sie 
in   das   gerade   herrschende  System  nicht  paßten  und 


»)  Kultur.KuriosA  II,  S.  61  tt. 


11 


wohl  auch,  weil  Phantasten  aus  ihnen  zu  weit  gehende 
Schlüsse  zogen. 

Heute  kennt  jedes  Kind  Suggestion  und  Hyp^ 
notismus,  und  doch  sind  wir  noch  durchaus  nicht 
imstande,  die  Phänomene,  obwohl  wir  sie  jederzeit 
hervorrufen  können,  zu  erklären. 

Genau  wie  hier  verhält  es  sich  mit  dem  zeit:* 
lichep  und  räumlichen  Fernsehen  und  wohl  auch  noch 
mit  ungezählten  anderen  Dingen:  sie  werden  ge* 
leugnet,  weil  sie  nicht  erklärt  werden  können. 
Erst  wenn  eine  unübersehbare  Fülle  von  Daten  vor:« 
liegt,  gibt  man  eine  unerklärbare  Tatsache  zu,  oder 
man  bildet  sich  ein,  sie  erklärt  zu  haben,  indem  man 
für  sie  einen  Namen  prägt.  Dies  ist  wieder  ein 
schlagender  Beweis  für  den  oft  erschreckenden  Mangel 
an  Logik,  den  wir  auch  bei  Gebildeten  finden. 

Ein  anderer  Grund  —  neben  Aufklärung  und 
Materialismus  —  für  das  Widerstreben,  Tatsachen 
anzuerkennen,  die  nicht  in  das  Modedogma  passen, 
ist  die  Furcht,  für  kirchengläubig  zu  gelten.  Nun, 
gegen  diesen  Verdacht  schützen  mich  meine  anderen 
Bücher.  Aber  ich  fühle  mich  auch  von  dem  Vor*: 
urteile  gegen  das  Vorurteil  frei  oder  habe  doch  das 
redliche  Streben,  es  zu  werden. 

Daß  die  Kirche  an  Prophezeiungen  und  Offen* 
barungen  glaubt,  kann  für  mich  natürlich  kein  Grund 
sein,  es  auch  zu  tun,  aber  es  ist  auch  keiner  aus 
wohlbegründeter  Abneigung  gegen  sie,  und  zwar  nur 
aus  ihr  —  denn  träten  Gründe  dazu,  dann  wären  ja 
diese  ausschlaggebend  —  die  Prophetie  abzulehnen. 
Das  wäre  ein  Rückfall  in  jene  Intoleranz  und  Borniert ^^ 
heit,  die  ich  zu  bekämpfen  nicht  müde  werde. 


12 

Was  ich  suche,  ist  ganz  allein  die  Wahrheit. 
Ob  sie  nützt  oder  schadet,  ob  meine  Gegner  sie  gut* 
heißen  oder  nicht,  ist  mir  vollkommen  gleichgültig. 
Selbst  wenn  ich  ihnen  Waffen  gegen  mich  in  die 
Hand  drückte,  so  könnte  diese  Befürchtung  mich 
nicht  zu  einer  Unehrlichkeit  verleiten. 

Aber  so  liegt  hier  der  Fall  gar  nicht.  Denn  wenn 
wir  auch  zum  Resultate  kommen  werden,  daß  echte 
Prophetie  existiert,  so  ist  damit  selbstverständlich 
noch  nicht  im  allergeringsten  etwas  darüber 
ausgesagt,  daß  irgendeine  Prophezeiung,  deren 
Eintreffen  noch  aussteht,  auch  richtig  sein 
muß.  So  wenig,  wie  aus  der  Konstruktion  des  lenk* 
baren  Luftschiffes  gefolgert  werden  kann,  daß  nun 
auch  jedes,  oder  auch  nur  die  Mehrzahl  ihr  Ziel  er* 
reicht.  Deshalb  möchte  ich  meinen  orthodoxen  Freunden 
in  beiden  Lagern  raten,  nicht  zu  früh  über  den  ver* 
lorenen  und  wieder  gefundenen  Sohn  zu  frohlocken 
und  sich  nicht  auf  mich  zu  berufen,  wenn  sie  einen 
Gewährsmann  für  die  Richtigkeit  der  Apokalypse  oder 
der  Weissagungen  irgendeines  Nönnlein  benötigen. 
Sie  würden  mich  zwar  nicht  zu  einer  Polemik  be* 
wegen  können  —  dazu  Nachhilfestunden  in  der  Logik 
zu  erteilen,  fehlen  mir  wirklich  Lust  und  Zeit  —  aber 
sie  würden  einen  groben  Denkfehler  begehen. 

Noch  ein  weiterer  Grund  wird  der  Annahme 
meines  Beweises  hindernd  im  Wege  stehen:  die 
Furcht,  durch  Zugabe  der  Prophetie  die  Willensfrei* 
heit  zu  leugnen.  Ich  stehe  der  sogenannten  Willens* 
freihcit  sehr  skeptisch  gegenüber,  würde  aber  den 
einer  historischen  Untersuchung  gesteckten  Rahmen 
weit  überschreiten,  wollte  ich  mich  auf  diesen  schlüp* 


n 

kTigen  Boden,  aut  dem  schon  die  größten  Geister 
strauchelten,  begeben.  Ob  die  Anerkennung  der  Pro«; 
phetie  tür  oder  gegen  die  Willensfreiheit  spricht, 
mag  mich  als  Privatmann  interessieren.  Hier  ist  es 
mir  ebenfalls  gleichgültig.  Denn  die  Konsequenzen, 
die  man  aus  einer  richtigen  Tatsache  zieht,  dürfen, 
mögen  sie  auch  noch  so  unerfreulich  sein,  ihre  An# 
erkennung  doch  nicht  verhindern. 

Als    lpt7fpn   Criin^  für, (jie  Feind<;rhnf>  gegen    die 

Prophetie,  wie  übrigens  gegen  alle  seltenen  Phäno*: 
mene,  mag  noch  der  aemoKratische  Gleichheitswahn 
angeführt  werden.  Da  alle  Menschen,  wenigstens  in 
ihren  politischen  Rechten,  gleich  zu  sein  behaupten 
oder  es  doch  beanspruchen,  liegt  der  Schluß  nahe, 
sie  seien  es  überhaupt.  Nun  ist  die  Gabe  der  Weis*= 
sagung  zweifellos  selten.  Sie  unterscheidet  den  mit 
ihr  Begnadeten  —  oder  Belasteten  —  von  den  an^ 
deren  Menschen.  Das  Zugeständnis  aber,  daß  es 
Leute  mit  Fähigkeiten  gibt,  die  nicht  etwa  nur 
quantitativ,  sondern  auch  ihrem  ganzen  Wesen  nach 
über  der  Durchschnittsmenschheit  stehen,  will  gar 
nicht  dem  modernen  Denken  entsprechen.  Man  mag  — 
widerstrebend  allerdings  —  zugeben,  daß  dieser  oder 
jener  klüger  ist,  als  man  selbst,  aber  das  ist  noch 
kein  Verzicht  auf  die  Fähigkeit  zu  denken  überhaupt. 
Zuzugestehen  aber,  daß  irgend  jemand  einer  Gabe 
teilhaftig  ist,  von  der  uns  anderen  auch  die  leiseste 
Spur  fehlt,  kostet  schmerzliche  Überwindung. 

Ich  selbst  besitze  die  Gabe  der  Prophetie  nicht. 
Ich  bin  auch  weder  Spiritist  noch  Okkultist.  Nicht 
etwa  deshalb,  weil  ich  die  von  jener  Seite  behaupteten 
Erscheinungen  für  unmöglich  hielte,  sondern  lediglich 


14 

deshalb,  weil  ich  noch  keine  Gelegenheit  hatte  und 
sie  wohl  auch  nicht  suchte,  mich  von  ihrer  Richtig* 
keit  zu  überzeugen.  Ich  bin  lediglich  als  Historiker 
an  diese  Frage  herangetreten,  und  zwar  kam  das  so: 

In  meiner  Untersuchung  „Lebensdauer  und  Todess= 
Ursachen  innerhalb  der  deutschen  Kaisers^  und  Königs* 
familien"  0»  ^^  ^^^  ich  auf  historisch*statistischer  Basis 
erstmalig  den  Beweis  erbrachte,  daß  die  Lebensdauer 
im  geraden  Verhältnis  zur  Höhe  der  materiellen  Kul* 
tur  steht  und  daß  die  Menschen  seit  dem  frühen 
Mittelalter  immer  älter  werden,  stieß  ich  auf  folgende 
Stellen: 

„Mit  des  Kaisers  Kräften  ging  es  zur  Neige,  als 
er  Ende  September  1518  von  Augsburg  durch  die 
Ehrenberger  Klause  in  sein  geliebtes  Tirol  gezogen 
kam  . . .  Die  Ärzte  konnten  nichts  helfen,  zumal  einer, 
Collinitius  (Tannstetter),  hoffnungslos  war  wegen  eines 
Horoskopes,  das  er  vor  Jahren  vor  Zeugen  über  des 
Kaisers  Todesepoche  gestellt  hatte  .  .  .*'  Der  Kaiser 
Maximilian  I.  starb  am  12.  Januar  1519^). 

Oder  von  Kaiser  Rudolf  IL,  der  schon  viele  Jahre 
geistig  und  körperlich  krank,  seit  1612  andauernd  ans 
Bett  gefesselt  war,  fand  ich:  Ende  des  Jahres  1619 
ging  es  mit  ihm  schlechter.  „Er  versank  in  tiefe 
Melancholie,  da  er  seinen  Tod  für  unvermeidlich  hielt. 
Tycho  Brahe,  sein  großer  Astronom,  hatte  nämlich 
durch    das    Horoskop    gefunden,    daß    er    und    sein 


*)  Bei  Franz  Dcutickc,  Wien  und  Leipzig   1909. 

»)  n.  Ulmann.  „Kaiser  Maximilian  1.".  II.  Bd..  S.76()rt'.  Über 
die  letzte  Krankheit  des  Kaisers  sind  wir  genauestens  informiert 
durch  das  vSchreiben  J.  Spiegels  an  den  Arzt  Stromair.  Vgl. 
Knod.  Spiegel.   1.  Schlettstiidtcr  Programm   1884.  Beil.  VII,  S.  51f. 


15 


Lieblingslöwe  unter  demselben  Einfluß  stünden.  Letz# 
terer  war  aber  in  diesen  Tagen  gestorben."  Der 
Kaiser  starb  am  20.  JanU^r  1620'). 

Noch  eine  dritte  Stelle  sei  angeführt.  Sie  handelt 
von  Kaiser  Karl  VI.,  dem  letzten  Habsburger.  Der 
Kaiser  hatte,  wiewohl  ganz  gesund,  am  1.  Oktober 
des  Jahres  1740  plötzlich  ein  Vorgefühl  des  nahen 
Todes  geäußert.  Um  ihn  zu  zerstreuen,  war  eine 
große  Jagd  veranstaltet  worden,  von  der  er  todkrank 
heimkehrte.  Und  zwar  hatte  er  am  13.  Oktober 
plötzlich  heftigen  Schnupfen  und  Leibschmerzen,  so 
daß  er  auf  der  Heimfahrt  mehrmals  ohnmächtig  wurde. 
Am  20.  Oktober  hauchte  er  seine  Seele  aus"). 

Diese  und  andere  historisch  völlig  einwandfrei 
feststehende  Tatsachen,  die  ich  in  meinem  Gedächt? 
nis  nachkramend  noch  fand,  machten  mich  stutzig, 
und  ich  entschloß  mich,  die  Frage  einer  eingehenderen 
Prüfung  zu  unterziehen.  Wäre  ich  gläubig  gewesen, 
d.  h.  hätte  für  mich  die  Hypothese  der  Unmöglich? 
keit  derartiger  übersinnlicher  Phänomene  festgestanden, 
dann  hätte  ich  mich  mit  dem  Zufall  als  Erklärung 
begnügt  und  nicht  weiter  darüber  nachgedacht.  Aber 
ich  war  und  bin  ganz  und  gar  nicht  gläubig,  wieder  i 
der  Kirche  und  ihren  Dogmen,  noch  den  Autoritäten 
oder  den  gerade  aktuellen  Zeitdogmen  gegenüber, 
und  so  ging  ich  vor  auf  die  Gefahr  hin,  einen  Schlag 
ins  Wasser  zu  tun. 

Einigermaßen    zögerte    ich    noch,    weil    mir    die 

^)  Vgl.  Anton  Gindely,  Rudolf  II.  und  seine  Zeit,  Prag 
1863,  II.  Bd.,  S.  325  ff. 

")  P.  A.  Lelande,  Histoire  de  l'empereur  Charles  VI,  Haag 
1743,  \1.  Bd.,  S.  114ff. 


16 

Konsequenzen  eines  ev.  Eintretens  für  die  Wahrheit 
der  Prophetie  keinen  Augenblick  zweifelhaft  sein 
konnten.  Hätte  ich  gefundtA,  daß  alle  überlieferten 
Daten  falsch  sind,  dann  wäre  damit  gegen  die  Mög^ 
lichkeit  der  Prophetie  ebenso  wenig  bewiesen  gewesen, 
wie  etwa  die  Nichterreichung  der  Pole  etwas  gegen 
die  MögUchkeit,  doch  einmal  ans  Ziel  zu  gelangen, 
aussagen  will. 

Wie  aber,  wenn  ich  mich  von  der  Wirklichkeit 
überzeugte  und  dann  den  selbstverständlichen  Be* 
kennermut  der  Wahrheit  beweisen  müßte?  Ein  Fall, 
der,  wie  das  Folgende  zeigen  wird,  eintrat.  Oder 
wenn  es  mir  nicht  gelingen  sollte,  den  zwingenden 
Beweis  zu  erbringen,  nachdem  ich  persönlich  übers* 
zeugt  worden  war? 

Ich  hätte  mich  unfehlbar  lächerlich  gemacht.  Es 
ist  ja  ein  beneidenswertes  Vorrecht  der  absoluten 
Ignoranz,  a  limine  alles  das  abzulehnen,  was  ihr  nicht 
sofort  plausibel  erscheint.  Je  mehr  wir  uns  mit  irgend* 
einer  Materie  beschäftigen,  desto  mehr  werden  wir 
finden,  daß  es  nur  sehr  wenig  Irrtümer  gibt,  die  sich 
nicht  mit  einigen  Argumenten  stützen  ließen,  aber 
andrerseits  auch  nur  sehr  wenig  Wahrheiten,  gegen  die 
sich  nicht  gleichfalls  triftige  Gründe  ins  Feld  führen 
lassen.  Da  nun  aber  gerade  auf  diesem  Gebiete  die 
Zahl  derer,  die  sich  mit  der  Materie  beschäftigten, 
sehr  minimal  ist;  da  sie  zumeist  nicht  den  Mut  haben, 
das  zu  bekennen,  was  sie  fanden  oder  —  wenn  sie 
es  tun  —  es  zumeist  in  Organen  geschieht,  die  durch 
die  geringe  kritische  Sichtung  ihres  sonstigen  Mate* 
riales  auch  das  Richtige  schädigen,  so  befinde  ich 
mich    unbedingt    in    der    verschwindenden    Minorität 


17 

und  mul^  sehen,  wie  ich  den  Kampf  allein  durchs 
führen  kann. 

Besonders  die  große  Zahl  der  Freunde  meiner 
anderen  Schriften  wird,  dachte  ich  mir,  an  mir  irre 
werden.  Denn  sie  lachte  mit  mir  die  Ignoranz  und 
Borniertheit  der  Pfaffen  und  Bureaukraten  aus  und 
freute  sich  über  Dummheiten  anmaßender  ,, Autorin 
täten'*.  Sie  wird  —  das  bewiesen  mir  schon  Zu* 
Schriften  —  glauben,  ich  sei  Apostat  geworden,  wo 
doch  das  gerade  Gegenteil  der  Fall  ist.  Gerade  meine 
Autoritätslosigkeit  und  mein  Wahrheitsdrang  be*» 
fähigten  und  ermutigten  mich  eine  Frage,  die  für  die 
gedankenlosen  Nachbeter  des  Zeitdogmas  längst  gelöst 
ist,  nachzuprüfen.  Also  nicht  Apostasie,  sondern 
konsequente  Verfolgung  des  eingeschlagenen 
Weges  führte  zu  diesem  Ziele.  Wenn  es  auch 
verdienstvoll  ist,  mit  Irrtümern  aufzuräumen,  wie 
ich  das  in  früheren  Schriften  tat,  so  ist  es  doch 
zweifellos  noch  dankenswerter,  eine  neue  Wahrheit 
zu  finden.  Brach  ich  also  Bahn  für  dogmenfreies 
Denken  nach  jeder  Richtung,  so  war  es  nur  natür* 
lieh,  wenn  ich  als  einer  der  ersten  diese  Bahn  auch 
beschritt. 

Ein  weiterer  Einwand,  den  ich  mir  machte,  um 
ihn  gleich  dem  vorigen  zu  widerlegen,  war  folgender: 
Die  Prophetie  ist  ein  Phänomen,  das  seit  Jahrtausend» 
den  bekannt  ist  und  das  das  Volk  —  neben  mancher 
anderen  Wahrheit  —  auch  niemals  vergessen  hat, 
trotz  aller  Gelehrten.  Man  wird  also,  wenn  ich  den 
Beweis  für  die  Tatsächlichkeit  erbringe,  in  ganz  kurzer 
Zeit  vergessen,  daß  ich  mich  damit  aufs  entschiedenste 
gegen   die  Zeitdogmen   gestemmt  habe,    daß  ich  den 

Kcmmerich,   Prophezeiungen  2 


18 

Mut  bewies,  den  Fluch  der  Lächerlichkeit  zu  riskieren 
und  tatsächlich  eine  neue  Wahrheit,  wenigstens  für 
die  Wissenschaft,  fand.  Man  wird  sich  vielmehr 
breitbeinig  vor  mich  hinstellen  und  mir  mit  Stentor* 
stimme  zuschreien:  „Du  glaubst  eine  neue  Wahrheit 
gefunden  zu  haben?  Du  Narr!  Das  haben  ja  schon 
die  alten  Babylonier,  Hebräer  und  Griechen  gewußt/* 

Und  man  wird  glauben,  mir  eine  große  Neuig^ 
keit  geoffenbart  zu  haben. 

Doch  selbst  wenn  es  so  kommen  wird  —  dachte 
ich  mir  —  ist  es  nicht  so  schlimm.  Denn  nicht  nur 
die  Goldbarren  der  Wahrheit  aus  tiefem  Schacht  ans 
Licht  zu  fördern,  ist  des  Schweißes  der  Edeln  wert. 
Auch  aus  ihnen  Dukaten  zu  schlagen  und  sie  so 
unter  die  Leute  zu  bringen,  ist  nicht  ohne  Verdienst. 

So  weit  freilich,  daß  man  den  berühmten  Tric 
anwenden  kann,  erst  eine  neue  Wahrheit  mit  allen 
Mitteln,  selbst  gegen  besseres  Wissen  zu  bekämpfen 
und  dann,  wenn  sie  glücklich  zum  Siege  geführt  ist, 
zu  beweisen,  daß  sie  gar  nicht  neu  ist,  sind  wir  noch 
lange  nicht.  Vorläufig  befinden  wir  uns  noch  im 
ersten  Stadium  dieses  Prozesses.  Das  beweist  auch 
folgender  Vorfall: 

Als  mir  neulich  ein  Bekannter  sagte:  „Was 
machen  Sie  denn  eigentlich?  Ich  habe  Sie  immer  für 
einen  modernen  Menschen  gehalten  und  nun  treiben 
Sie  solche  Sachen",  da  konnte  ich  ihm  ruhig  ant* 
Worten:  ,, Nicht  wiewohl,  sondern  eben  weil  ich 
mich  bemühe,  ein  moderner  Mensch  zu  sein,  darum 
tue  ich  es.  Denn  in  zehn  Jahren  werden  es  die  Spatzen 
von  den  Dächern  pfeifen." 

Ks    gibt    also    tatsächlich    noch    Leute,     und    sie 


19 

haben  die  öftcntliche  Meinung  ganz  aut  ihrer  Seite, 
die  die  Beschäftigung  mit  solchen  übersinnÜchen 
Phänomenen  für  eines  modernen  Menschen  unwürdig 
halten.  Das  war  mir  eine  große  Beruhigung,  denn 
da  ich  den  Beweis  gefunden  habe,  ist  es  mir  natür? 
lieh  wertvoll,  zu  wissen  und  bestätigt  zu  finden,  daß 
ich  damit  vorläufig  wenigstens  etwas  Unerhörtes  sage. 

Es  ist  ja  ein  trauriges  Los  aller  Entdecker  und 
Förderer  einer  neuen  Wahrheit,  daß  das,  was  sie 
fanden  —  um  so  bedeutender  es  war,  desto  schlimmer  — , 
bald  Gemeinplatz  wird  und  man  sich  nachträglich  kaum 
mehr  vorstellen  kann,  welcher  Kämpfe  und  Gedanken? 
arbeit  es  bedurfte,  es  so  weit  zu  bringen. 

Doch  alle  diese  Erwägungen  und  wohl  auch 
noch  andere  brachte  ich  durch  den  schlagenden  Gegen* 
grund  zum  Schweigen,  daß  es  unehrenhaft  ist,  eine 
Wahrheit,  die  man  gefunden  zu  haben  glaubt,  aus 
keinem  anderen  Grunde  zu  verschweigen,  als  weil 
man  persönliche  Unbequemlichkeiten  fürchtet.  Hätten 
nicht  zu  allen  Zeiten  mutige  und  ehrenhafte  Männer 
so  gedacht,  dann  wären  wir  heute  noch  Kannibalen 
und  Troglodyten. 

Allerdings  war  mir  eines  klar:  allein  durch  die 
Zusammentragung  beglaubigter  Prophezeiungen  ist 
das  Problem  niemals  zwingend  zu  lösen.  Denn  mögen 
die  Daten  auch  noch  so  zahlreich  sein,  so  wird  die 
Möglichkeit  des  Zufalles  doch  niemals  ganz  von  der 
Hand  gewiesen  werden  können.  Es  handelte  sich 
also  vor  allem  darum,  eine  Methode  zu  ersinnen, 
die  diesen  Rückzug  endgültig  abschneidet. 

Sie  fand  ich  durch  Verbindung  der  Wahrschein? 
lichkeitsrechnung  mit  den  historischen  Tatsachen. 


20 


Dadurch  gelang  es  mir,  an  die  Stelle  eines  Glaubens 
oder  Nichtglaubens  an  Prophetie  das  unbedingt  fest* 
stehende  Wissen  von  ihrer  Existenz  zu  setzen. 

Das  ist  eine  neue  Wahrheit.  Denn  die  Vor* 
aussetzung  der  Wahrheit,  das,  was  sie  vom  Glauben 
oder  Aberglauben  unterscheidet,  ist  ihre  Beweisbar* 
keit.  In  die  Wissenschaft  wird  etwas  nur  durch  den 
Beweis  eingeführt.  Und  ihn  zu  erbringen,  gelang  mir 
als  erstem.  Denn  was  die  größten  Denker  früher 
auch  über  Prophetie  geschrieben  haben  mögen,  alles 
war  mehr  oder  weniger  hypothetisch,  mag  es  auch 
noch  so  geistreich  oder  genial  gewesen  sein.  Die 
feste  Basis  des  exakten  wissenschaftlichen  Beweises 
legte  sich. 

Nun  wird  man  noch  fragen  können,  warum  ein 
Buch,  das  die  strengsten  wissenschaftlichen  Ansprüche 
erhebt  und  den  ersten  zwingenden  Nachweis  einer 
zwar  vermuteten,  aber  doch  noch  völlig  unbekannten 
Naturkraft  erbringt,  in  einem  Verlage  erscheint,  der 
vornehmlich  populäre  und  belletristische  Literatur  pflegt. 

Ich  könnte  darauf  antworten,  daß  eine  solche 
Äußerlichkeit  nicht  der  Rede  wert  sei.  Damit  würde 
ich  allerdings  die  Denkweise  der  gelehrten  Zunft  ver* 
kennen,  die  sich  mit  Vorliebe  an  äußerliche  Kriterien 
hält.  Sie  wird  sich  in  diesem  Falle  wohl  oder  übel 
mit  der  Tatsache  abfinden  müssen,  daß  eine  Wahr* 
heit,  die  in  ihren  Konsequenzen  an  Bedeutung  alle 
Klostergeschichten  und  Aktenpublikationen  turmhoch 
überragt,  in  einer  Form  und  in  einem  Verlage  er* 
scheint,  der  nichts  weniger  als  für  den  Ausschluß 
der  öflcntlichkcit  bestimmt  ist. 

Um    es   gerade   heraus   zu  sagen:    Mir  genügt  es 


21 


nicht,  wenn  ein  Dutzend  Gelehrte  von  meiner  Ent* 
deckung  Kenntnis  erlangen.  Ich  verzichte  auf  die 
papierne  Unsterblichkeit  der  Bibliotheken  und  An^« 
merkungen.  Ich  will  wirken,  das  Denken  meiner  Zeit? 
genossen  beeinflussen.  Ich  will  verhüten,  daß  einige 
übelwollende  oder  neidische  Fachgenossen,  einige 
dogmatisch  befangene  Fachzeitschriften  mein  Werk 
auf  Jahrzehnte  totschweigen  können.  Vestigia  terrent. 
Darum  versuchte  ich  strenge  Wissenschaftlichkeit 
des  Tatsachenmaterials  und  der  Beweisführung  mit 
einer  Form  zu  verbinden,  die  auch  der  versteht,  der 
über  nichts  weiter  als  seinen  gesunden  Menschenver* 
stand  und  leidliche  Schulbildung  verfügt.  Und  ich 
trug  Sorge,  daß  dieses  Buch  eine  Verbreitung  findet, 
ebenso  groß,  oder  noch  größer,  als  die  meiner  üb* 
rigen  Schriften. 

Daß  mir  Hohn  und  Spott  von  der  einen  Seite, 
der  Vorwurf,  ich  stieße  offene  Türen  ein,  von  der 
anderen,  orthodoxen,  die  ein  Glauben  an  Prophetie 
mit  dem  exakten  Nachweis  ihrer  Existenz  verwech* 
seit,  nicht  erspart  bleiben  wird,  des  bin  ich  gewiß. 
Es  schreckt  mich  nicht.  Ich  kann  sogar  meinen  Geg* 
nern  die  Versicherung  geben,  daß  es  gar  nichts  Uns* 
gefährlicheres  gibt,  als  mich  anzugreifen.  Denn  da 
die  Wahrheit  für  sich  spricht  und  sprechen  wird, 
habe  ich  keine  Veranlassung,  mich  in  Polemiken  ein* 
zulassen  und  damit  Leuten  zu  einem  Bekanntwerden 
zu  verhelfen,  auf  das  sie  sonst  wohl  verzichten  müßten. 
Nur  Gelehrten  von  Ruf  und  Namen  rate  ich  zu 
einiger  Vorsicht.  Sie  könnten  sich  sonst  leicht  in 
meinen  Kultur^Kuriosa  unter  der  Liste  der  entgleisten 
„Autoritäten"  wieder  finden. 


22 


Ich  schließe  mit  einer  Bitte  an  alle  jene,  denen 
es  wirklich  um  die  Wahrheit  zu  tun  ist.  Ich  bitte 
nicht  um  irgendeinen  Glauben,  im  Gegenteil,  ich 
bitte  um  Zweifel.  Aber  um  einen  Zweifel,  der 
nicht  stehen  bleibt  bei  der  Kritik  der  einzel* 
nen  Tatsache,  sondern  der  auch  nicht  halt 
macht  weder  vor  Hypothesen,  noch  Theorien, 
noch  Zeitdogmen.  Auch  nicht  vor  dem  der 
Unmöglichkeit  der  Prophetie. 


23 


Erstes  Kapitel 

Einzelne  Prophezeiungen  und 
Vorahnungen 

Das  Altertum 

Die  Zahl  der  uns  aus  der  Vergangenheit  er* 
haltenen  und  als  eingetroffen  beglaubigten  Prophe* 
zeiungen  ist  außerordentlich  groß.  Dabei  ist  es  keines* 
wegs  nötig,  die  Weissagungen  religiösen  Inhaltes  in 
den  Kreis  der  Betrachtung  zu  ziehen.  Auf  sie  werden 
wir  in  diesem  Buche  überhaupt  nicht  näher  eingehen, 
und  zwar  aus  verschiedenen  Gründen. 

Zunächst  hat  das  an  Prophezeiungen  reiche  Alte 
Testament  verschiedene  Redaktionen  und  Interpola* 
tionen  sich  gefallen  lassen  müssen,  so  daß  wir  oft 
nicht  wissen,  ob  es  sich  um  eine  beglaubigte  Vorher* 
sage  handelt.  Das  schließt  das  Vorhandensein  der 
echten  nicht  aus.  Auf  sie  werden  wir  später  zurück* 
kommen.  Daß  die  messianischen  Prophezeiungen  aus* 
scheiden,  ist  klar,  denn  es  ist  eine  mißliche  Sache, 
sich  mit  solchen  mystischen  Dingen  zu  befassen, 
wenn  man  eine  neue  Wahrheit  finden  oder  doch  eine 


24 

alte  durch  neue  Argumente  stützen  will.  Die  Juden 
stehen  ja  bekanntlich  noch  heute  auf  dem  Stand* 
punkt,  daß  der  Messias  noch  kommen  wird. 

Eine  Prophezeiung  allerdings  zieht  sich  durch 
das  Alte  Testament,  die  wir  nicht  vergessen  dürfen, 
zumal  sie  profaner  Natur  ist:  die  das  jüdische  Volk 
und  seine  Zukunft  betreffende.  Von  ihr  wissen  wir 
auch  mit  absoluter  Sicherheit,  daß  sie  nicht  nach* 
träglich  erst  abgefaßt  sein  kann.  Mag  man  einwerfen, 
sie  sei  prophezeit  nicht  etwa  auf  visionärem  Wege, 
sondern  als  Wunsch,  oder  in  der  Absicht,  durch 
diese  Hoffnung  das  kleine  Judenvolk  auch  in  den 
schlimmsten  Zeiten  aufrecht  zu  erhalten,  so  sind  das 
Hypothesen,  die  an  der  verblüffenden  Tatsache  nichts 
ändern. 

Wo  sind  sie  alle  geblieben,  die  Herren  der  alten 
Welt?  Wo  sind  die  Babylonier,  die  Assyrier,  die 
Griechen,  Römer? 

Sie  sind  wie  die  Spreu  vom  Winde  verweht. 
Da  und  dort  Trümmer  gewaltiger  Bauwerke,  Reste 
ihrer  Literatur,  Spuren  in  unserem  Geiste  hinterlassend, 
aber  im  wesentlichen  hat  nur  der  Name  die  Jahr* 
tausende  überdauert.  Was  an  den  alten  Herrenvölkern 
von  Fleisch  und  Blut  war,  das  ist  ausgestorben.  Ge* 
wiß  mag  noch  in  den  Adern  von  manchen  unter  uns 
ein  Tropfen  ihres  Blutes  rollen.  Aber  es  ist  ein 
Tropfen. 

Und  leben  nicht  die  Juden?  Sie  ganz  allein 
von  allen  Völkern,  die  einst  vor  Jahrtausenden  über 
die  Erde  wandelten?  Und  auch  sind  sie  es  wiederum 
ganz  allein,  die  seit  zweiundeinhalb  Jahrtausenden 
kein  Vaterland  besitzen,    sondern  verfolgt,  gehaßt. 


25 


verachtet  unter  Wirtsvölkern  wohnen,  die  oftmals 
wechselten,  während  sie  blieben. 

Aber  es  ist  nicht  genug  zu  sagen,  daß  das  Juden? 
Volk  der  einzige  Rest  der  Antike  ist,  der  lebend  mit 
Fleisch  und  Blut  in  die  Gegenwart  hineinragt.  Sie 
sind  jetzt  bedeutend  zahlreicher  als  je  zuvor.  Schätzt 
man  doch  das  ganze  Volk  auf  etwa  11^2  Millionen 
Seelen,  während  das  alte  Palästina,  ein  Land  nicht 
größer  als  die  Provinzen  Sachsen  oder  Westpreußen, 
kaum  mehr  als  eine  halbe  Million  Bewohner  ernährte, 
und  von  diesen  waren  keineswegs  alles  Juden.  Das 
Volk  hat  sich  also  nach  allermindester  Schätzung 
verzwanzigfacht. 

Doch  es  ist  nicht  genug  an  dem,  daß  das  Juden* 
volk  als  einziges  des  Altertums  heute  noch  besteht, 
daß  es  ohne  Vaterland  dies  Wunder  ermöglichte, 
daß  es  sich  verzwanzigf achte ,  es  herrscht  auch! 
Unser  Handel  und  Geldwesen  ist  leider  zum  großen 
Teile  durch  die  törichten  kirchlichen  Wucherverbote 
den  Landesherren  entwunden  und  in  ihre  Hand  ge? 
legt.  Ebenso  steht  es  mit  dem  größten  Teil  der 
Presse.  Und  daß  auch  politisch  das  Judenvolk  keines^^ 
wegs  machtlos  ist,  wenigstens  nicht  im  Westen  und 
Süden  Europas,  beweisen  die  zahlreichen  Minister 
israelitischen  Glaubens  in  Italien  und  Frankreich,  be* 
weist  ein  Disraeli  im  stolzen  England  und  mancher 
hohe  Beamte  bei  uns.  Dabei  sehen  wir  ganz  davon 
ab,  daß  sehr  viel  jüdisches  Blut  sich  mit  dem  blauen 
unseres  Adels  vermischt  hat. 

Fürwahr:  Keine  Prophezeiung  ist  in  jeder  Hin? 
sieht  in  so  wunderbarer  Weise  in  Erfüllung  gegangen, 
wie  die  alttestamentliche   das  Judenvolk  betreifende. 


26    

Wir  wollen  nun  im  folgenden  eine  Anzahl  das 
Judenvolk  betreffender  Prophezeiungen  notieren^). 

Der  älteste  bekannte  Prophet  ist  Arnos,  dessen 
Leben  wir  um  800  vor  Chr.  ansetzen  dürfen.  Er 
verkündet  deutlich  den  Untergang  des  Zehnstämme* 
Reiches  in  der  Zeit,  als  es  unter  Jerobeam  II. 
wieder  auf  der  Höhe  der  Macht  stand  und  sich 
vom  Hermon  im  Norden  bis  zum  Toten  Meer  er:* 
I  streckte.  Die  Vorhersagen  lauten:  „Durchs  Schwert 
wird  Jerobeam  umkommen,  und  Israel  wird  auswan«» 
dern  von  seinem  Boden"  (Amos  7, 11).  Femer:  „Ich 
werde  euch  vertreiben  weit  über  Damaskus  hinaus" 
(Amos  5,  27)  oder  „Ich  werde  unter  alle  Völker  das 
Haus  Israel  zerstreuen"  (9,9)  und  endlich:  „Ich  werde 
gegen  euch,  Haus  Israel,  spricht  Gott,  ein  Volk  auf* 
treten  lassen,  das  euch  bedrängen  wird,  von  gen 
Chamat  bis  zum  Flusse  der  Araba"  (des  Toten  Meeres), 
d.h.  im  ganzen  Lande  (6,14).  Amos  nennt  das  Volk 
nicht,  welches  die  Transportation  vollziehen  soll, 
kennt  es  noch  nicht  einmal,  weiß  aber,  daß  das  Faktum 
bestimmt  eintreffen  wird.  Nun  ist  das  Zehnstämme* 
i  Reich  erst  ein  Jahrhundert  später  (um  720)  durch 
die  Assyrer  vernichtet  worden.  Diese  von  Amos  so 
I  lange  vorher  verkündete  Vorhersage  hat  sich  also 
buchstäblich  erfüllt. 

Man  könnte  das  Faktum  zwar  zugeben,  trotz* 
dem  aber  leugnen,  daß  es  auf  prophetischem,  über* 
sinnlichem  Wege  von  Amos  vorhergesehen  wurde. 
Man  würde  es  dann  einer  richtigen  politischen  Kom* 

*)Vgl.  zu  Nachstehendem  II.  Graetz,  Geschichte  der  Juden, 
1.  Bd.,  Leipzig  1874,  S.  372  H.,  worauf  mich  aufmerksam  zu  machen 
Herr  Rabbiner  Dr.  C.  Werner  die  Freundlichkeit  hatte. 


27 

bination  zuschreiben.  Denn  schon  damals  hätten  die 
Assyrer  Lust  gezeigt,  Ägypten  zu  erobern,  auf  dem 
Wege  dorthin  aber  müßten  sie  Palästina  berühren 
und  unterwerfen. 

Dieser  Einwurf  läßt  sich  leicht  damit  widerlegen, 
daß   im  Falle   der   politischen   Kombination  auch  das 
Reich  Juda  hätte  hineingezogen  werden  müssen,  und^, 
das   um   so   mehr,    als    es   damals   viel   schwächer  als 
das  Zehnstämme^Reich  war.     Ganz  im  Gegenteil  hat 
aber  Amos  den  Fortbestand  Judas  ausdrücklich: 
betont  (9,  8. 11).    ,,Ich  werde  das  Haus  Jakob  (Juda*' 
Benjamin)  nicht  vertilgen ,  an  jenem  Tage  werde  ich 
die   einfallende   Hütte   Davids   aufrichten."     Tatsache 
lieh  hat  sich  das  Haus  Jakobs  noch  134  Jahre  länger 
als   das  Haus  Israels  gehalten.     Es  hat  sich  erst  fast 
zwei  Jahrhunderte  nach  Amos  aufgelöst.     Es  handelt 
sich  hier  also   um  eine  richtige  prophetische  Vorher* 
sage,  bei  der  Kombination  ausgeschlossen  sein  dürfte. 

Recht  inhaltreich  und  im  vollen  Umfang  ein* 
getroffen  ist  auch  folgende  Verkündigung:  ,,Von 
Zion  wird  Belehrung  ausgehen  und  das  Wort  Gottes 
von  Jerusalem  für  viele  Völker"  (Jesaia  2,  2—4 
und  gleichlautend  Micha  4,  1—3).  Jedermann  kennt 
den  ungeheuren,  bis  heute  noch  fortwirkenden  Einfluß 
der  jüdischen  Lehre  auf  das  Denken  des  Abendlandes, 
durch  Vermittlung  des  Mohammedanismus  aber  auf 
den  Orient. 

In  Erfüllung  gegangen  ist  auch  Michas  Verkün* 
digung  des  Unterganges  Jerusalems,  ein  Jahrhundert 
vor  dem  Eintreten  des  Ereignisses.  Micha  prophe* 
zeite  zur  Zeit  des  Königs  Hiskija  (etwa  711—695). 
Aber  mehr  als  das:  Micha  verkündete  auch,  daß  das 


28 

Exilland  der  Juden  Babylonien  sein  würde  (Micha 
3,  9—12  und  4,  10).  „Kreise,  Tochter  Zions,  wie  eine 
Gebärerin;  denn  bald  wirst  du  hinausziehen  aus  der 
Stadt,  wirst  weilen  auf  dem  Felde,  wirst  bis  Babel 
kommen,  dort  wirst  du  gerettet  werden,  dort  wird 
der  Herr  dich  aus  der  Hand  deiner  Feinde  erlösen." 
Diese  Prophezeiung  ist  deshalb  nicht  gut  als  Komj^ 
bination  einzuschätzen,  weil  Babylonien  damals  ohn»= 
mächtig  in  der  Hand  der  Assyrer  war  und  weil  auch 
der  Rücktransport  der  Gefangenen  vorhergesagt  wird. 
Übrigens  hat  auch  Jesaia  dem  König  Hiskija 
124  Jahre  vor  der  Erfüllung  vorhergesagt,  daß  dessen 
Nachkommen  nach  Babylonien  transportiert  und 
Eunuchen  im  Palast  des  Königs  von  Babel  sein 
werden  (Jesaia  39,  5—7). 
/  Auch  Jeremia  hat  nicht  nur  den  Transport  der 

I    Juden  nach  Babylonien  vorhergesagt,    sondern  auch 
\   den    Wiederaufbau   Jerusalems    nach    Rückkehr    der 
Judäer    (Jeremia   1,    13.    15    und    37,    7-10).      Und 
zwar  war  Jeremia    ein  Jüngling,    als    er    Niedergang 
und  späteren  Aufstieg  seinem  Volke  vorhersagte,  was 
politische  Kombination  noch  unwahrscheinlicher  macht. 
lEr  war  von   seiner  Prophezeiung  so  überzeugt,    daß 
[er  während   der  hoffnungslosen  Zeit  der  Belagerung 
[erusalems  durch  Nebukadnezar  auf  innere  Eingebung 
lin  ein  Grundstück  kaufte  (32,  24 f.). 

Ein  weiterer  Verkünder  der  Schicksale  des  Juden:= 
rolkes  ist  der  Prophet  Ezechiel.  Auch  er  weissagte 
den  Untergang  Jerusalems  und  das  Exil,  aber  auch 
die  Rückkehr  und  Verjüngung  des  Volkes.  Er  sagte 
mit  unzweideutigen  Worten  voraus,  daß  die  Ver* 
bannten    in    Babel   den    Grundstock   zu   einem   neuen 


29 


Volke  und  zu  einer  neuen,  edleren  historischen  Ent* 
Wicklung  bilden  würden  (11,  16—20).  Auffällig  ist, 
daß  auch  er  im  Anfange  seiner  prophetischen  Lauf»* 
bahn  diese  Sehergabe  bewies.  Sein  Bild  von  den 
vertrockneten  und  zerstreuten  Gebeinen,  die 
plötzlich  wieder  lebendig  werden,  hat  sich 
buchstäblich  erfüllt  (Ezechiel,  Kap.  37). 

Von  den  exilischen  Propheten  verkünden  sowohl 
der  Deutero^Jesaia  (Jes.  40—66),  der  Prophet  des 
Stückes  Kap.  13—14  und  24—27,  als  auch  der  Deutero* 
jeremianische  Prophet  (Jerem.  50—51)  zuversichtlich 
die  Rückkehr  aus  dem  Exil  und  ein  fürchterliches 
Strafgericht  über  Babylonien.  Mag  das  letztere  auf 
politischer  Kombination  beruhen,  da  die  gewaltige 
Gestalt  des  Cyros  bereits  am  Horizont  auftauchte, 
so  war  doch  weder  die  Vernichtung  Babyloniens  — 
da  ja  Unterwerfung  genügt  hätte  —  vorauszusehen, 
noch  vor  allem,  daß  gerade  das  winzige  Judenvölkä« 
chen  die  Aufmerksamkeit  des  Eroberers  auf  sich 
lenkte.  Berücksichtigt  man  ferner,  daß  gerade  der 
letzte  König  Babylons  die  Juden  besonders  hart 
behandelte,  so  ist  kaum  zu  bestreiten,  daß  die  Vor^s 
hersagen  erstaunlich  sind. 

Endlich  führen  wir  noch  zwei  nachexilische  Pro* 
pheten  an,  nämlich  Chaggai  und  Zacharia.  Als  man 
über  die  Winzigkeit  des  Tempels  während  der  Re* 
gierung  des  Darius  seufzte,  sagte  der  erstere:  „Größer 
wird  die  Ehre  dieses  (kleinen)  Tempels,  als  des  ersten 
sein"  (2,  6—9)  und  der  andere:  ,, Entfernte  werden 
kommen  und  werden  an  dem  Tempel  Gottes  teil* 
nehmen"  (6,  15).  Tatsächlich  kamen  zum  zweiten 
Tempel  Heiden  in  Menge  aus  Syrien,   den  Euphrat* 


30 

ländern,  Kleinasien,  Griechenland  und  selbst  Rom, 
um  sich  zum  Judentum  zu  bekennen  oder  Weih^ 
geschenke  zu  schicken.  Erst  die  „Fülle  der  Heiden*', 
die  in  das  Haus  Jakobs  einkehrten,  hat  Paulus  auf 
den  Gedanken  gebracht,  die  Heiden  zu  bekehren 
und  zur  Kindschaft  Abrahams  zu  berufen. 

Besonders  merkwürdig  aber  ist  folgende  Ver^* 
kündigung  des  nachexilischen  Zacharia:  ,,Es  werden 
noch  Völker  und  Bewohner  großer  Städte 
kommen  und  einander  auffordern,  Gott  den 
Herren  in  Jerusalem  aufzusuchen.  Zehn  Man? 
ner  von  allen  Zungen  der  Völker  werden  den 
Zipfel  eines  jüdischen  Mannes  erfassen,  spre# 
chend:  ,,Wir  wollen  mit  euch  gehen,  denn  wir 
haben  Gott  mit  Euch  gehört"  (8,  20-23).  Da^ 
bei  ist  zu  berücksichtigen,  daß  die  Juden  bei  ihrer 
Heimkehr  von  Seiten  der  Nachbarvölker  nur  Ver* 
achtung  und  Haß  fanden. 

In  allen  oben  angeführten  Fällen  ist  ein  Vate* 
cinium  post  eventum  völlig  ausgeschlossen,  Kom* 
bination  aber  unwahrscheinlich.  Inwiefern  der  be*: 
rühmte  Zufall  eine  Rolle  spielt,  möge  jeder  selbst 
entscheiden.  Ausgeschlossen  in  der  obigen  Liste  sind 
alle  Prophezeiungen,  die  in  den  Geschichtsbüchern 
erzählt  werden,  da  ihre  Authentizität  angefochten 
werden  kann. 

Daß  einige  Prophezeiungen  nicht  in  Erfüllung 
gingen,  sei  nicht  in  Abrede  gestellt.  Wir  werden 
das  später  noch  sehr  häufig  finden  und  an  anderer 
Stelle  ausführlich  auf  diese  Frage  zurückkommen. 

Das  Neue  Testament  ist  als  Quellenschrift  un* 
brauchbar,    da   —   von  den  Briefen  abgesehen  —  alTe 


31 


Berichte  auf  Hörensagen  beruhen.  Das  älteste  Evan^ 
geÜum,  das  des  Markus,  ist  keinesfalls  vor  dem 
Jahre  70  geschrieben  worden,  die  auf  ihm  fußenden 
Evangelien  des  Lukas  und  Matthäus  sind  etwa  zwei 
Generationen  jünger,  und  das  des  Johannes  ist  gar 
erst  gegen  die  Mitte  des  2.  Jahrhunderts  verfaßt; 
also  reichlich  ein  Jahrhundert  nach  Christi  Tode. 
Daß  unter  diesen  Umständen  den  evangelischen 
Prophezeiungen  keine  Bedeutung  zuzuerkennen  ist, 
liegt  auf  der  Hand^). 

Was  die  mittelalterliche  Heiligenliteratur  betrifft, 
so  kann  es  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  sich  in  ihr 
eine  stattliche  Anzahl  echter  Prophezeiungen  würde 
nachweisen  lassen.  Jedoch  ist  sie  in  der  Regel  erst 
viel  später  und  überdies  außerordentlich  unkritisch 
und  mit  der  Absicht  dem  Heiligen  möglichst  viele 
Wunder  zuzuschreiben,  abgefaßt  worden,  so  daß  sie 
wenig  Glauben  verdient.  Es  mag  eine  dankbare 
Aufgabe  der  Zukunft  sein,  hier  kritisch  zu  sichten. 
Daß  durchaus  nicht  nur  leeres  Stroh  gedroschen 
werden  muß,  ergibt  sich  z.  B.  aus  der  interessanten 
Arbeit  von  Merkt  über  die  Stigmatisation  des  Heiligen 
Franz  von  Assisi^).  Sie  hat  unzweifelhaft  den  Be* 
weis  erbracht,  daß  dieser  außerordentliche  Mensch 
Stigmen  in  der  Art  der  Wundmale  Christi  hatte, 
eine  Phänomen,  für  das,  wie  für  so  manches  andere, 
die  heutige  Wissenschaft  noch  keine  ausreichende 
Erklärung    hat.      Ohne    Prophetengabe    zu    besitzen, 

^)  Otto  Pfleiderer,  Die  Entstehung  des  Christentums, 
München  1905,  S.  191  ff.  und  291. 

^)  Josef  Merkt,  Die  Wundmale  des  heiligen  Franz  von 
Assisi.     Leipzig  und  Berlin  1910,  besonders  S.  65  ff. 


32 


können  wir  mit  größter  Bestimmtheit  vorhersagen, 
daß  es  nicht  mehr  lange  dauern  wird,  bis  diese  ganze 
Literatur  von  urteilsfähigen  allen  kirchlichen  Dogmen 
ebenso  frei,  wie  allen  materialistischen  gegenüber* 
stehenden  Männern  nach  unsern  Gesichtspunkten 
durchforscht  werden  wird. 

Die  Skepsis  des  Autors  gegenüber  der  religiösen 
Literatur,  sowie  die  nicht  geringere  der  Gebildeten 
im  allgemeinen  gegen  derartige  Quellen  wird  es 
rechtfertigen,  wenn  wir  hier  nicht  länger  verweilen, 
sondern  —  von  wenigen  gut  beglaubigten  Ausnahmen 
abgesehen  —  uns  auf  die  profanen  beschränken. 

Wir  leben  unzweifelhaft  noch  in  einer  Zeit  der 
Hyperkritik,  die  ohne  weiteres  ablehnt,  was  ihr 
irgendwie  außergewöhnlich  erscheint.  Das  wird  sich 
ja  wohl  dereinst  ändern,  aber  unsere  Aufgabe  kann 
es  nicht  sein,  hier  mehr  dem  Zeitgeist  zu  trotzen, 
als  es  unbedingt  nötig  ist.  Daß  trotzdem  auch  die 
kritischste  Quellenbearbeitung  Glauben  fordert  —  man 
denke  an  die  zahlreichen  Fälle,  in  denen  ein  Faktum 
nur  durch  einen  einzigen  Bericht  überliefert  ist  —  steht 
fest.  Aber  in  diesen  Fällen  muß  das  Faktum  eben 
möglichst  alltäglich  sein.  Bei  unserer  Untersuchung 
jedoch,  die  sich  mit  einer  Materie  befaßt,  die  rund* 
weg  in  ihrem  Bestände  geleugnet  wird,  in  den  Fällen 
aber,  wo  sich  die  Tatsachen  nicht  fortdisputieren 
lassen,  nach  Tunlichkeit  durch  Zufall  erklärt  zu 
werden  pflegt,  tut  doppelte  und  dreifache  Vorsicht  not. 

Diese  Erwägungen  objektiver  Art  —  soweit  sie 
die  tatsächlich  unkritische  und  panegyrischen  reli* 
giöse  Literatur  betreffen  —  sowie  die  ebenso  be* 
achtenswerten   subjektiver  Natur  —  d.  h.  die  Skepsis 


33 

allem  gegenüber,  was  irgendwie  das  Alltägliche,  das 
Allerheiligste  unserer  demokratischen  Zeit,  übersteigt  — 
lassen  größte  Vorsicht  in  Verwertung  unverdächtiger 
Quellen  als  Pflicht  der  Klugheit  erscheinen.  Es  muß 
unser  Bestreben  sein,  möglichst  gar  nichts  auf  den 
guten  Glauben  des  Lesers  ankommen  zu  lassen. 

Beginnen  wir  mit  einigen  beglaubigten  Beispielen, 
die  um  so  weniger  Widerspruch  finden  werden,  als 
sie  gar  keine  echten  Prophezeiungen  sind. 

Am  bekanntesten  ist  das  Orakel  zu  Delphi,  das 
Krösus  auf  seine  Frage  hin  die  Antwort  gab:  wenn 
er  den  Halys  überschreite,  werde  er  ein  großes  Reich 
zerstören.  Der  Doppelsinn  dieses  Ausspruches  ist 
so  klar,  daß  man  sich  nur  wundern  muß,  daß  Krösus 
ihn  nicht  merkte. 

Ebenso  doppelsinnig  ist  das  von  Cicero  über»! 
lieferte  Apollinische  Orakel,  das  Pyrrhus  gegeben 
wurde: 

Ajo  te,  Aeacida,  Romanos  vincere  posse. 

Da  es  sowohl  heißen  kann  „ich  sage  dir,  Aeacide, 
daß  du  die  Römer  besiegen  kannst",  als  auch  „ich 
sage  dir,  Aeacide,  daß  die  Römer  dich  besiegen 
können",  so  ist  es  weder  verwunderlich,  daß  es  in 
Erfüllung  ging,  noch  daß  wir  Cicero  glauben,  wie* 
wohl  er  insofern  keine  lautere  Quelle  genannt  werden 
darf,  als  er  zwei  Jahrhunderte  nach  dem  großen 
Epiroten  lebte. 

Endlich  wollen  wir  noch  ein  Orakel  von  Helio* 
polis  in  Aegypten  anführen,  das  uns  Macrobius^) 
überliefert:    Vor    seinem    Partherkriege    wandte   sich 


*)  in  Saturnalibus  I.  23. 

Kemmerich,  Prophezeiungen 


34 

Trajan  dorthin,  um  Auskunft  über  den  Ausgang  zu 
erhalten.  Die  Heliopolitaner  schickten  ihm  statt  einer 
Antwort  einen  zerbrochenen  goldenen  Weinstock,  der 
im  Tempel  des  Gottes  geopfert  worden  war.  Der 
Kaiser  starb  auf  dem  Feldzuge  und  man  brachte  die 
Gebeine,  die  durch  den  zerbrochenen  Weinstock 
symbolisiert  worden  waren,  nach  Rom.  Hätte  er  die 
Parther  geschlagen,  dann  hätte  man  selbstverständ^ 
lieh  auf  sie  das  Symbol  des  Weinstocks  gedeutet. 

Daß  uns  mit  solchen  doppelsinnigen  Aussprüchen, 
die  unter  allen  Umständen  in  Erfüllung  gehen  müssen, 
nicht  gedient  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Zu  verurteilen 
aber  ist  die  Neigung  der  Gegenwart  alle  Orakel  als 
ebenso  doppelsinnig  oder  schwindelhaft  hinzustellen. 

Interessanter  schon  ist  das  alte  Orakel,  das  uns 
Thukydides  in  seiner  Geschichte  des  Peloponnesischen 
Krieges  mitteilt. 

Nachdem  er  die  Pest  und  die  furchtbare  Not 
in  Athen  beschrieben  hat,  fährt  er  fort:  „Und  in 
diesen  unglücklichen  Zeiten  fiel  ihnen,  wie  man  leicht 
denken  kann,  die  Weissagung  ein,  die,  wie  die  älteren 
unter  ihnen  versicherten,  vor  langen  Zeiten  gesungen 
worden  sei: 

Kommen  wird  einst  ein  dorischer  Krieg 
und  mit  ihm  die  Seuche.  Die  Meinungen  hatten 
sich  darüber  geteilt,  ob  die  Alten  in  diesem  Vers 
Xüifiiog  (Pest)  oder  hjuog  (Hungersnot)  gemeint  hätten. 
Doch  bei  den  damaligen  Begegnissen  der  Stadt  be* 
hielt,  wie  leicht  zu  erachten,  die  erste  Meinung  die 
Oberhand,  wie  denn  einem  gewöhnlich  dasjenige  am 
ersten  in  den  Sinn  kommt,  was  mit  dem,  was  uns 
wirklich    begegnet,    die    nächste  Verwandtschah   hat. 


35 


Und  ich  stelle  mir  vor,  wenn  einmal  nach  diesem 
ein  anderer  dorischer  Krieg  ausbrechen,  und  eben 
eine  Hungersnot  dabei  eintreten  sollte,  so  würde 
man  natürlich  auch  die  Weissagung  so  auslegen. 
Nicht  minder  gedachten  nunmehr  auch  diejenigen, 
welche  darum  wußten,  an  das  den  Lakedämoniern 
erteilte  Orakel,  da  Apollo  ihnen  auf  die  Anfrage, 
ob  sie  den  Krieg  anfangen  sollten,  zur  Antwort  ge* 
geben:  wenn  sie  den  Krieg  mit  Nachdruck 
führten,  so  würde  der  Sieg  auf  ihrer  Seite 
sein,  ja  selbst  ihnen  beizustehen  versprochen 
hatte.  Mit  diesem  Orakel  hielten  sie  den  bisherigen 
Verlauf  der  Sache  ganz  übereinstimmend.  Die  Seuche 
brach  gleich  von  der  Zeit  an  aus,  als  die  Pelopon^ 
nesier  ins  Attische  einfielen,  und,  was  ein  merkwürs* 
diger  Umstand  war,  die  Peleponnes  blieb  gänzlich 
davon  frei.  Ihre  stärkste  Wirkung  äußerte  sie  in 
Athen,  sodann  aber  auch  in  andern  Plätzen,  die  vor 
andern  volkreich  waren  ^)." 

Daß  Thukydides  Skeptiker  ist  und  deshalb  seine 
Mitteilung  auch  bei  modernen  Gesinnungsgenossen 
keinem  Zweifel  begegnen  wird,  dürfen  wir  als  be# 
kannt  voraussetzen.  Schrieb  er  doch  seine  berühmte 
Geschichte,  ein  bis  heute  unübertroffenes  Meister*= 
werk,  in  ausgesprochenem  Gegensatz  zu  seinem  Vor^; 
ganger  Herodot.  Ihm  kommt  es  im  Gegensatz  zu 
jenem  darauf  an,  überall  den  natürlichen  Zusammen^» 
hang  der  Dinge  nachzuweisen,  weshalb  er  alles  Mythische 
und  Göttliche,  insoweit  es  die  menschlichen  Geschicke 
beeinflußt,  ablehnt. 

^)  II,  37.  Übersetzung  von  J.  D.  Heilmann,  Neuausgabe 
von  Otto  Güthling,  Reclams  Universalbibiiothek  S.  167  f. 

3* 


36 

Aber  selbst  wenn  jemand  das  nicht  wissen  sollte, 
geht  es  aus  obiger  Stelle  unzweideutig  hervor.  Es 
ist  kaum  möglich,  nüchterner  und  rationalistischer 
einem  immerhin  höchst  merkwürdigen  Phänomen  ent* 
gegenzutreten. 

♦        Tatsache  ist,  daß  das  Orakel  folgende  durch  die 
{Geschichte  bestätigte  Weissagungen  gemacht  hatte: 
^         1.  Es  findet  ein  dorischer  Krieg  statt. 

2.  Während  dieses  Krieges  bricht  eine  Seuche 
aus.  Selbst  wenn  wir  mißtrauisch,  wie  ^^wirinnrein^ 
mal  sind,  die  ungünstigere  Interpretation,  nämlich 
die  Hungersnot,  annehmen,  dann  wäre  die  Prophe* 
zeiung  doch  insofern  richtig  gewesen,  als  es  sich  um 
eine  über  das  ganze  Volk  hereinbrechende,  vom 
Kriege  direkt  unabhängige  Katastrophe  handelt.  Es 
besteht  aber  gar  keine  Veranlassung  für  den  objektiv 
urteilenden  Menschen,  die  ungünstigere  Interpretation 
zu  wählen.  Wollte  man  das  prinzipiell  tun,  dann 
könnte  man  fast  jeden  noch  so  geistreichen  Aus* 
Spruch  eines  noch  so  großen  Mannes  zum  Unsinn 
stempeln. 

3.  Die  Spartaner  sollten  nur  angreifen,  dann 
würden  sie  siegen. 

4.  Apollo,  bekanntlich  Gott  der  Pest,  werde 
ihnen  beistehen.  Letzteres  ist,  wie  ja  auch  Thuky* 
dides  bemerkt,  außerordentlich  merkwürdig.  Und 
zwar  nach  zwei  Richtungen  hin:  Sowohl,  weil  der 
Ausbruch  der  Pest  mit  dem  Einfall  der  Spartaner  ge* 
nau  zusammenFällt,  und  zwar  nicht  etwa  —  was  eine 
rationalistische,  aber  doch  nur  oberflächliche  Erklärung 
wäre,  da  sie  ja  die  Richtigkeit  der  Prophezeiung  nicht 
umstoßen  würde  —  weil  sie  von  ihnen  eingeschleppt 


37 

wurde,  sondern  völlig  unabhängig  davon.  Begann 
sie  doch  im  Piräus,  was  die  Vermutung  nahe  legt, 
daß  sie  von  Übersee  eingeschleppt  wurde,  worauf 
auch  Thukydides  im  48.  Kapitel  hinweist. 

Ferner,  weil  der  Peloponnes  davon  verschont 
wurde,  so  daß  die  Pest  (Apollo)  also  tatsächlich  nur 
den  Spartanern  half. 

Ob  wir  diese  merkwürdigen  Vorhersagen  als  7.\x* 
fall  betrachten  wollen,  sei  der  Denkart  jedes  Lesers 
überlassen.  Auf  alle  Fälle  aber  ergibt  sich  daraus 
eines,  daß  nämlich  die  Orakel  keineswegs  nur  zwei:* 
deutige  und  nichtssagende  Auskünfte  erteilten,  son^^ 
dern  oft  recht  präzis  antworteten. 

Das  läßt  sich  auch  aus  einem  anderen  Grunde 
voraussetzen,  selbst  wenn  wir  aus  der  antiken  Lites= 
ratur  keine  Belegstellen  hätten,  die  es  beweisen  ließen. 

Gewiß  kann  man  die  Dummheit  des  Volkes  in 
gewissen  Fragen  gar  nicht  überschätzen.  Sobald  die 
Furcht  vor  dem  Tode,  das  Seelenheil  und  ähnliche 
Dinge  in  Frage  kommen,  läßt  es  sich  Jahrtausende 
die  größten  Bären  aufbinden  und  opfert  einen  guten 
Teil  seines  sauer  verdienten  Geldes  den  Pfaffen. 
Wäre  es  nicht  so,  dann  hätte  es  nie  Priesterherr* 
Schäften  gegeben  und  es  wäre  nicht  möglich  gewesen, 
daß  die  vorgeblichen  Nachfolger  eines  Mannes,  der 
am  Morgen  nicht  wußte,  wo  er  am  Abend  sein 
müdes  Haupt  niederlegen  sollte,  an  Luxus  die  Fürsten 
übertrafen  und  man  ihnen  und  ihren  Dienern  Schätze 
geradezu  aufzwang. 

Anders  liegt  aber  der  Fall  weltlichen,  praktischen 
Fragen  gegenüber.  Hier  hat  sich  seit  je  die  Klug* 
heit  des  Volkes,  die  Bauernschlauheit,  bewährt.    Hier, 


38 

WO  es  gilt,  im  Kampf  mit  gleichen  Mitteln,  im  Ge* 
schäft,  seinen  Vorteil  zu  finden,  stellt  und  stellte 
auch  das  ungebildete  und  ungelehrte  Volk  seit  je 
seinen  Mann. 

Nun  haben  die  Orakel  aber  weit  über  ein  Jahr:^ 
tausend,  in  Ägypten  sicher  mehrere  Jahrtausende,  be« 
standen,  und  die  reichen  Schätze,  die  sich  aus  frei* 
willigen  Gaben  in  ihren  Tempeln  und  Hainen  auf* 
speicherten,  beweisen,  daß  sie  in  hohem  Grade  die 
Zufriedenheit  all  der  zahllosen  Generationen  zu  er* 
ringen  wußten.  Daß  das  niemals  der  Fall  gewesen 
wäre,  wenn  sie  ausschließlich  plumpe  Zweideutig* 
keiten  oder  gar  unwahre  Aussprüche  zum  besten  ge* 
geben  hätten,  bedarf  doch  eigentlich  keines  Beweises. 

Die  rationalistischen  Beurteiler  der  Orakel  sehen 
in  ihrer  Priesterschaft  nur  politisch  kluge,  welterfah* 
rene  Männer.  Daß  sie  das  waren,  können  wir  als 
sicher  annehmen.  Auch  daß  sich  manche  Prophe* 
zeiung  nur  deshalb  realisierte,  weil  der  Frager  sein 
Verhalten  genau  nach  dem  Wahrspruch  einrichtete, 
nicht  minder,  daß  auch  hie  und  da  —  aber  das  müssen 
verschwindend  seltene  Ausnahmen  gewesen  sein  — 
eine  Prophezeiung  nicht  in  Erfüllung  ging.  Diese 
Erklärungen  genügen  aber  auf  die  Dauer  nicht. 

Dem  einfachen  Manne  mag  der  kluge  Rat  immer 
wertvoll  sein.  Was  aber  mächtige  Könige  und  Staaten 
für  ein  Interesse  daran  haben  sollten,  sich  von  aus* 
wärts,  noch  dazu  von  einer  Priesterschaft,  die  unter 
religiöser  Maske  vielleicht  Interessenpolitik  trieb.  An* 
Weisungen  erteilen  zu  lassen,  das  will  uns  nicht  ein* 
leuchten.  Gerade  der  Umstand,  daß  die  Orakel  jhre 
Autorität   völlig  verloren,   als  sie  sich  eine'*politische 


39 


anzumaßen  versuchten,  beweist  hinlänglich,  wie  gründe 
falsch  es  ist,  nur  mit  Schlagworten  wie:  Sophismen, 
zweideutige  Aussprüche,  weltkluge  Priester,  politisches 
Intrigenspiel  usw.  zu  operieren.  Man  tut  nie  klug 
daran,  den  Gegner  für  weniger  intelligent  zu  halten, 
wie  sich  selbst.  Es  ist  auch  nicht  weise,  dem  Alter* 
tum,  das  uns  neben  den  Sophisten  einen  Sokrates, 
Plato  und  Aristoteles  schenkte,  eine  Naivität  zuzu* 
trauen,  die  wir  uns  scheuen  würden,  beim  simplen 
Bauern  vorauszusetzen. 

Daß  es  sich  bei  den  Orakeln,  nach  unserer  festen 
Überzeugung,  um  mehr  handelt  als  normale  Klugheit 
oder  gar  Betrug  —  was  keineswegs  ausschließt,  daß 
beide  zuzeiten  nicht  fehlten^)  —  möge  auch  aus  der 
Art  der  Abgabe  der  Weisungen  gefolgert  werden. 

In  Delphi  trank  die  Pythia,  bevor  sie  ihre  an* 
strengende  Tätigkeit  begann,  vom  heiligen  Wasser 
und  kaute  Lorbeerblätter  und  Gerste,  worauf  sie  in 
Verzückung  geriet.  „Angeblich"  —  die  Philologie  ist 
gar  vorsichtig!  —  infolge  eines  unterirdischen  Luft* 
Stromes,  eines  divinus  adflatus,  bzw.  durch  Dämpfe, 
die  aus  der  Erde  unter  ihrem  Sitz  aufstiegen  und 
durch   ihren  Schoß   in   den  Leib  eindrangen").     Daß 


^)  Pausanias  kennt  nur  ein  einziges  bei  Herodot  (VI,  66) 
erzähltes  Beispiel  von  Bestechung  eines  Orakels  (Pausanias  III,  7). 

^)  Vgl.  Paulys  Realenzyklopädie  der  klassischen  Altertums* 
Wissenschaft,  2.  Aufl.,  8.  Hlbd.,  Artikel  Delphoi,  S.  2533,  und 
O.  Gruppe,  Griechische  Mythologie  und  Religionsgeschichte  II, 
S.  928,  in  J.  v.  Müllers  Klassischer  Altertumswissenschaft  V,  2,  2, 
sowie  Ed.  Döhler,  Die  Orakel,  Berlin  1872,  eine  nachstehend 
wiederholt  benutzte  Studie,  und  Erwin  Rohde,  Psyche,  besonders 
S.  112ft.,  313 f.  und  344 ff.  Bouche^Lederq,  Histoire  de  la  divi= 
nation  dans  l'antiquite,  Paris  1879/81,  war  mir  nicht  zugänglich. 


40 


dieser  Luftstrom  keineswegs  nebensächlich  war,  er# 
hellt  daraus,  daß  Plutarch  und  Cicero  den  Verfall 
des  Delphischen  Orakels  mit  der  Abnahme  des  in* 
spirierenden  Gases  in  Zusammenhang  bringen. 

Nach  diesem  uns  von  mehreren  alten  Autoren 
überlieferten  Bericht  steht  es  fest,  daß  die  Pythia 
nicht  in  normaler  Verfassung,  sondern  in  Trance^) 
war,  wenn  sie  weissagte.  Das  Orakel  war  also  kein 
Produkt  intensiver  Verstandesarbeit,  sondern  vielmehr 
ein  solches  des  Unterbewußtseins.  Das  ist  um  so 
einleuchtender,  als  Plutarch  ausdrücklich  berichtet, 
man  habe  zu  Pythien  schlichte  und  unwissende 
Frauen  gewählt.  Dafür  spricht  auch,  daß  die  Seherin 
durchaus  nicht  immer  in  Versen  sprach,  sondern  ihre 
Aussagen  oft  abgehackt,  ja  bisweilen  wohl  auch  un* 
artikuliert  waren  und  deshalb  von  Priestern  stilisiert 
werden  mußten.  Genau,  wie  man  es  von  modernen 
Somnambulen  weiß,  nur  daß  man  heute  ihre  Aus* 
Sprüche  stenographisch,  also  ganz  genau  nach  ihrem 
Wortlaut,  festhält  und  so  herausgibt. 

Pausanias  erwähnt  eine  Prophetie  der  Phännis, 
welche  die  Invasion  der  Gallier  in  Asien  vorher  ver^ 
kündete.  Auch  führt  er  eine  Vorhersage  der  Schlacht 
bei  Aigos  potamoi  von  Musaios  und  der  Sybille  an 
(X,  12    und    X,   9)    und    ein    anderes    sybillinisches 


*)  Unter  Trance  versteht  man  einen  der  Hypnose  ahn* 
liehen  Zustand.  Trance  tritt  in  sehr  verschiedenen  Intcnsitäts* 
gradcn  auf,  doch  kann  es  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  hier  näher 
darauf  einzugehen.  Als  vortrcttlichc  Einführung  in  die  ok* 
kulten  Wissenschaften  sei  Ludwig  Deinhard.  Das  Mysterium 
des  Menschen  im  Lichte  der  psychischen  Forschung,  Berlin 
1910,  empfohlen. 


41 


Orakel,  nach  welchem  die  durch  Philippos  gegründete 
makedonische  Macht  unter  einem  andern  Philippos 
untergehen  sollte  (X,  15.  X,  9  und  VII,  8). 

Cicero  legt  seinem  Bruder  die  Argumente  der 
Verteidiger  der  Orakel  in  den  Mund.  Schließen  wir 
den  kurzen  Abstecher  auf  dieses  Gebiet  mit  seinen 
Worten:  „Wer  weiß  nicht,  was  der  pythische  Apollo 
dem  Kroisos,  was  er  den  Athenern,  den  Lakedaimo^ 
niern,  den  Tegeaten,  den  Argeiern,  den  Korinthern 
geantwortet  hat?  Unzählige  Orakel  hat  Chrysippus 
gesammelt,  und  keines  ohne  einen  vollgültigen  Ge* 
währsmann  und  Zeugen;  ich  übergehe  sie  aber,  weil 
sie  dir  bekannt  sind.  Nur  so  viel  sage  ich  der  Ver? 
teidigung  wegen:  Nie  würde  das  Orakel  zu  Delphoi 
so  besucht  und  berühmt  gewesen  sein,  nie  wäre  es 
mit  so  ansehnlichen  Geschenken  aller  Könige  und 
Völker  angefüllt  worden,  wenn  nicht  alle  Zeitalter 
die  Wahrhaftigkeit   seiner  Orakel  erprobt  hätten^).*' 

Wir  wollen  nun  noch  einige  Fälle  von  Prophetie 
bzw.  Vorahnung  oder  Vorzeichen  aus  der  alten  Ge* 
schichte  anführen'^). 

Zu  den  bekanntesten  Prophezeiungen  des  Alter- 
tums gehört  jene,  die  sich  auf  Cäsars  Ermordung 
bezieht.  Sueton  erzählt  in  seiner  Biographie  des 
Gajus  Julius  Cäsar,  im  81.  Kapitel,  den  Vorgang 
wie  folgt  ^): 

„Dem  Cäsar  wurde  unterdessen  der  bevorstehende 


^)  Cicero,  de  Divinatione,  I,  19. 

'^)  Viele  Orakelsprüche  bei  R.  Hendess  Oracula  Graeca, 
Halle  a.  S.  1877. 

')  Übersetzung  von  Adolf  Stahr  in  Langenscheidts  Biblio« 
thek,  2.  Aufl.,  S.  97  f. 


42 

gewaltsame  Tod  durch  die  offenbarsten  Vorzeichen 
verkündet.  Wenige  Monate  zuvor,  da  in  der  Kolonie 
Capua  die  Kolonisten,  die  infolge  des  Julischen  Ge*» 
setzes  dorthin  übersiedelten,  zum  Aufbau  ihrer  Land* 
häuser  uralte  Gräber  umgruben,  und  dies  um  so 
eifriger  taten,  weil  sie  dabei  eine  große  Menge 
Gefäße  von  alter  Kunstarbeit  fanden,  entdeckte  man 
in  einem  Monumente,  das  für  das  Grabmal  des 
Capys,  des  Gründers  von  Capua,  galt,  eine  eherne 
Tafel  mit  griechischer  Schrift  und  Sprache,  des  In* 
halts: 

„Wenn  einst  die  Gebeine  des  Capys  ans    Licht 

'  gekommen  sein  würden,  werde  ein  Sprosse  des  Julus 

|von   der  Hand   seiner   Blutsverwandten  getötet,   sein 

iTod    aber  bald    durch    schreckliche    Heimsuchungen 

-Italiens  gerächt  werden.** 

'  Niemand  darf  diese  Tatsache  für  fabelhaft  oder 
erdichtet  halten;  es  bezeugt  sie  Cornelius  Baibus, 
Cäsars  vertrautester  Freund.  Wenige  Tage  vor  seinem 
Ende  berichtete  man  ihm,  daß  die  Rosse,  die  er  beim 
Uebergang  über  den  Rubiko  den  Göttern  geweiht 
und  ohne  Hüter  frei  hatte  laufen  lassen,  durchaus 
nicht  mehr  fressen  wollten  und  häufige  Tränen  ver* 
gössen.  Beim  Verrichten  eines  Opfers  erteilte  ihm 
der  Opferschauer  Spurinna  die  Warnung:  er  möge 
sich  vor  einer  Gefahr  hüten,  die  nicht  länger  als  bis  zu 
den  Iden  des  März  ausbleiben  werde.  Am  Tage 
aber  vor  diesen  Iden  des  März  sah  man  eine  Vogel* 
schar  vor  dem  nahegelegenen  Haine  einen  Zaunkönig, 
der  mit  einem  Lorbeerzweiglein  in  die  Pompejanische 
Kurie  flog,  verfolgen  und  daselbst  zerrcifkn.  Ja  in 
der    Nacht,    auf    die   der   Tag   des    Mordes   anbrach. 


43 

sah  Cäsar  seinerseits  im  Traume  sich  mehrmals  über 
den  Wolken  schweben,  und  dann  wieder  einmal, 
wie  er  dem  Jupiter  die  Hand  reichte;  und  Calpurnia,  \ 
seine  Gattin,  sah  im  Traum,  wie  der  Giebel  ihres  ; 
Hauses  einstürzte,  und  wie  man  ihren  Gemahl 
in  ihren  Armen  erdolchte;  zugleich  sprangen  plötz*« 
lieh  die  Türen  ihres  Schlafgemaches  von  selbst 
weit  auf. 

Teils  dieser  Dinge  wegen,  teils  weil  er  sich  un* 
wohl  fühlte,  war  er  längere  Zeit  unentschlossen,  ob 
er  sich  nicht  lieber  zu  Hause  halten  und  das,  was 
er  dem  Senate  vorzutragen  beschlossen  hatte,  ver»« 
tagen  sollte.  Endlich  aber  machte  er  sich,  da  ihm 
Decimus  Brutus  vorstellte,  doch  den  zahlreich  vers= 
sammelten  und  bereits  längere  Zeit  auf  ihn  warten* 
den  Senat  nicht  vergeblich  sitzen  zu  lassen,  etwa  um 
die  fünfte  Stunde  (d.  h.  zwischen  10  und  11  Uhr 
vormittags)  auf  den  Weg. 

Eine  Schrift,  die  ihm  unterwegs  von  jemandem 
überreicht  wurde,  und  die  eine  Anzeige  des  Vers= 
schwörungsplans  enthielt,  steckte  er  unter  die  übrigen 
Schriften,  die  er  in  der  Linken  hielt,  um  dieselben 
später  zu  lesen.  Als  er  darauf  das  Opfer  hielt  und 
die  Opfertiere,  trotzdem  daß  man  deren  mehrere 
schlachtete,  keine  glücklichen  Vorzeichen  gaben,  ging 
er  ohne  Rücksicht  auf  diese  religiöse  Bedenklichkeit 
in  die  Kurie.  Dort  sah  er  den  Spurinna  und  be* 
merkte  ihm  mit  spottendem  Lächeln,  um  ihn  als 
falschen  Propheten  zu  bezeichnen:  „des  Märzen 
Idus  sind  ja  ohne  Unglück  gekommen**,  wo* 
rauf  jener  warnend  erwiderte:  „gekommen  sind 
sie,  aber  noch  nicht  vorüber.** 


44 


So  weit  Sueton. 

Was  jeder  von  den  Vorzeichen  halten  will, 
etwa  dem  Weinen  der  Rosse,  das  auch  Homer  von 
des  Achilleus  Pferden  erzählt,  die  des  Patroklos  Tod 
beweinen,  oder  Vergil  vom  Leibroß  des  Pallas,  Shakes= 
speare  von  denen  des  Duncan  berichtet,  ist  seine  Sache. 
Solche  Geschichten  sind  besonders  in  der  mittele 
alterlichen  Literatur  überaus  zahlreich  und  dürfen 
nur  als  dichterische  Freiheiten  gewertet  werden.  Un* 
maßgeblichst  vermute  ich  dagegen,  daß  die  Einge»» 
weideschau  und  die  übrigen  Vorzeichen  der  römischen, 
wie  aber  auch  etwa  der  babylonischen  Divination, 
die  bestimmte  Zeichen  ganz  bestimmt  deutet,  nicht 
Schwindel,  sondern  Selbsttäuschung  ist.  Es  handelt 
sich  wohl  um  eine  Autosuggestion,  wie  wir  sie  beim 
Prophezeien  aus  Karten,  Kaffeesatz,  der  Hand  usw. 
antreffen.  In  Wahrheit  dürfte  es  ein  visionäres 
Schauen  des  Sehers  sein,  ein  Trancezustand,  in  den 
er  aber  nur  auf  Grund  solcher  Zeichen  versetzt 
wird.  Wir  könnten  uns  dann  den  Vorgang  etwa 
so  vorstellen,  wie  den  Aberglauben  fast  aller  Schau* 
Spieler,  die  nur  aufzutreten  wagen,  nachdem  sie  ge* 
wisses  getan,  oder  bestimmte  Talismane  zu  sich  ge^ 
steckt  haben.  Durch  Autosuggestion  wird  der  Schaum 
Spieler  sonst  vom  Lampenfieber  gelähmt  werden,  wäh* 
rend  er  sich  vermittelst  seines  Amulettes  oder  eines 
bestimmten  abergläubischen  Spruches  in  die  erforder«« 
liehe  Inspiration  leicht  versetzt. 

Anders  liegt  hier  aber  der  Fall  mit  dem  Traume 
Cäsars,  sowie  dem  seiner  Gemahlin,  und  den  warnen* 
den  Worten  des  Spurinna  am  Unglückstage.  Der 
,, Freigeist",  d.  h.  der  durch  das  materialistische  Dogma 


45 

Gebundene,  wird  keinen  Augenblick  zögern,  das 
Vorhersehen  eines  Ereignisses  im  Traume  für 
Schwindel  oder  Selbsttäuschung  zu  erklären.  Und 
das,  wiewohl  sicher  ein  außerordentlich  hoher 
Prozentsatz  der  Menschen  von  Wahrträumen  heim* 
gesucht  wird,  sich  aber  aus  Furcht,  den  Spott  der 
Superklugen  auf  sich  zu  laden,  hütet  anderen  davon 
Mitteilung  zu  machen. 

Wir  gehen  gleich  an  dieser  Stelle  auf  die  Frage 
der  Wahrträume  ein,  weil  wir  aller  Voraussicht  nach, 
wenn  wir  uns  auch  nur  etwas  mit  der  Materie  bes= 
schäftigt  haben  werden,  nicht  mehr  so  ohne  weiteres 
jede  historische  Überlieferung  von  Wahrträumen  für 
Aberglauben  oder  Schwindel  erklären  werden.  Die 
Analogien  der  Gegenwart  werden  uns  Gerechtigkeit 
oder  doch  mindestens  Vorsicht  den  alten  Autoren 
gegenüber  rätlich  erscheinen  lassen. 

Da  ist  zunächst  das  Zeugnis  des  Justinus  Kerner, 
den  mancher  für  leichtgläubig  halten  mag,  dem  aber 
niemand  eine  Lüge  zutraut.  Er  schreibt  in  seinen 
Kindheitserinnerungen : 

„.  .  .  reine  Wahrheit  ist,  daß  ich  von  dieser  Zeit 
an  durch  mein  ganzes  Leben  voraussagende  Träume 
behielt,  die  mir  zu  einer  wahren  Qual  im  Leben 
wurden,  eine  Qual,  die  ich  keinem  wünsche  und  die 
mich  gleichsam  praktisch  kennen  lehrte,  welch  ein 
Unglück  es  für  den  Menschen  wäre,  hätte  ihm  Gottes 
weise  Hand  die  Zukunft  nicht  verschlossen.  Diese 
voraussagenden  Träume  finden  bei  mir  gegen  Morgen 
statt,  besonders  wenn  eine  schlaflose  Nacht  mich  erst 
gegen  Morgen  ruhen  und  in  Schlaf  sinken  läßt.  Sie 
kamen    immer    unter    Bildern    und    symbolisch    vor. 


46 

Erscheinen  von  Licht  bedeutet  kommende  Freude  . . ."  ^) 
(S.  242  folgt  eine  Erklärung  der  Symbole,  z.  B.  Wasser 
bedeutet  Betrübnis,  Schnee  und  Eis  Krankheit,  Essen 
von  Trauben  oder  Beeren  Krankheiten  usw.). 

„Da  ich  auf  das  Eintreffen  solcher  voraussagenden 
Träume  gewiß  rechnen  kann,  so  sind  sie  mir  eine 
wahre  Pein  im  Leben,  besonders  da  ihre  Erfüllung 
oft  erst  nach  drei  Tagen  stattfindet,  doch  meist  am 
gleichen  Tage  des  Erwachens  aus  ihnen." 

Der  verstorbene  Weltreisende,  Professor  Dr.  Wil* 
heim  Joest,  übrigens  ein  Schulfreund  meines  Vaters 
und  auch  mir  persönlich  als  wahrheitsliebend  bekannt, 
richtete  an  die  Zeitschrift  „Sphinx" '0  am  25.  September 
1886  folgenden  Brief: 

Sehr  geehrter  Herr! 

Sie  werden  sich  wahrscheinlich  wundern,  einen 
Brief  von  mir  zu  erhalten,  mehr  noch,  wenn  Sie  ihn 
gelesen  haben.  Sie  wissen,  daß  ich  ebensowenig 
Spiritist  wie  Bibelchrist  bin,  und  ich  hoffe,  auch  nie 
eins  oder  das  andere  zu  werden.  Wo  es  sich  aber 
um  Tatsachen  handelt,  da  bin  ich  Ihr  Mann,  und 
wenn  heute  jemand  behauptete,  die  Stockfische  wären 
Säugetiere  und  ich  wäre  —  natürlich  bona  fide  —  in 
der  Lage,  dem  Manne  mit  irgendeinem  Faktum  unter 
die  Arme  zu  greifen,  ich  würde  es  gewiß  tun. 

Sie  können  also  von  dem  Untenstehenden  jeglichen 
Gebrauch  machen,  ich  teile  Ihnen  nur  die  Tat»« 
Sache  mit,   für  die   ich  voll   und  ganz  einstehe. 

*)  Justinus  Kcrncr,  Das  Bilderbuch  aus  meiner  Knabenzeit. 
Erinnerungen  aus  den  Jahren  1786—1804.  2.  AuH.  Stuttgart 
1886.     S.  240 f.     Die  nächste  Stelle  auf  S.  243. 

0  Vgl.  „Sphinx"  3.  Bd.  1887.  S.  62. 


47 


Ich   selbst  erltuhr   es  erst  vor  vierzehn  Tagen,  darum 
teilte  ich  sie  Ihnen  nicht  früher  mit. 

Ich  hatte  Europa  1884  verlassen,  bereiste  Süd* 
afrika,  die  Ostküste  und  kam  Ende  Mai  in  Aden  an, 
mit  der  Absicht  von  dort  über  die  Maskarenen  nach 
Madagaskar,  später  über  Mauritius  nach  Australien, 
Südsee  usw.  zu  reisen.  Ich  war  für  2—3  Jahre  aus* 
gerüstet.  In  Aden  wurde  ich  sehr  krank.  Am  30.  Mai 
schrieb  ich  in  mein  Tagebuch:  ,,Es  geht  zu  Ende, 
Energie  weg"  usw.  Am  3.  Juni  1885  entschloß  ich 
mich  zur  Rückkehr  nach  Europa  und  telegraphierte 
an  meinen  Vater,  den  Geheimen  Kommerzienrat  Eduard 
Joest  in  Köln,  folgende  Worte:  Retourne  malade  ge* 
fahrlos.    Diese  Depesche  kam  nachmittags  in  Köln  an. 

Am  Morgen  desselben  Tages  war  ein  Dienst* 
mädchen  meines  Vaters,  „Tilla"  mit  Namen,  ziemlich 
aufgeregt  zu  der  Gesellschafterin  meines  Vaters,  Frau* 
lein  Anna  W.  aus  R.,  gekommen  und  hatte  ihr  fol* 
gendes  gesagt:  „Fräulein,  der  Herr  Wilhelm  ist  krank, 
ich  weiß  es,  ich  habe  es  geträumt.  Ich  habe  geträumt, 
daß  er  zurückkommt,  ich  muß  sein  Bett  machen." 
Zwei  Stunden  später  traf  meine  Depesche  ein. 

Ich  teile  Ihnen  diese  Tatsache  mit  und  enthalte 
mich  jeglicher  Bemerkungen. 

Obengenannte  Tilla  ist  übrigens  durchaus  kein 
irgendwie  ätherisches  Wesen,  sondern  eine  nicht  mehr 
junge,  wohlgenährte,  brave  und  tüchtige  Magd  —  nur 
behauptet  sie,  daß  das,  was  sie  im  Traume  sähe, 
häufig  einträfe  u.  dgl. 

Vielleicht  interessiert  Sie  diese  Mitteilung. 

In  vorzüglicher   Hochachtung,  Ihr  ergebenster 

Dr.  Wilhelm  Joest." 


48 

Ich  selbst  hatte  zwar  seit  dem  Frühjahr  1910 
einige  Male  telepathische  Erlebnisse  räumlicher  Art, 
niemals  aber  Visionen,  Halluzinationen  oder  ähnliches. 
Von  einem  einzigen  Wahrtraum  kann  ich  aus  per* 
sönlicher  Erfahrung  Zeugnis  ablegen.  Bevor  ich  ihn 
erzähle,  möchte  ich  bemerken,  daß  ich  außerordentlich 
selten  träume  oder  —  in  praxi  dasselbe  —  mich  des 
Traumes  beim  Erwachen  erinnere. 

Meine  „Dinge,  die  man  nicht  sagt,"  waren  eben 
erschienen  —  das  Buch  war  am  26.  April  1910  aus*» 
gegeben  worden  —  ich  befand  mich  begreiflicherweise 
in  einiger  Spannung  über  seine  Schicksale.  Nicht  ob 
es  gelobt  oder  getadelt  würde,  was  mich  völlig  kalt 
läßt,  sondern  ob  es  Beachtung  finden  würde. 

Da  träumte  ich  —  es  war  am  18.  Mai  —  ich  hätte 
einen  Brief  des  Verlegers  Albert  Langen  erhalten, 
der  mir  eine  Neuauflage  —  4.  und  5.  Tausend  —  der 
„Dinge"  ankündigte.  Ich  hatte  im  Traum  Langen 
antelephoniert  und  gesagt,  der  Verlag  hätte  sich  wohl 
verschrieben,  da  ich  viel  eher  an  eine  Neuauflage 
der  Kulturkuriosa  dachte.  Aber  Langen  hatte  mir  — 
im  Traume  —  den  telephonischen  Bescheid  erteilt: 
der  Brief  sei  inhaltlich  völlig  richtig,  es  handle  sich 
um  die  ,, Dinge*'. 

Am  Morgen  erzählte  ich  diesen  Traum  meiner 
Frau  und  schrieb  ihn  überdies  nieder.  Ich  fügte  hinzu, 
daß  hier  einmal  wieder  der  Wunsch  Vater  des  Ge^ 
dankens  geworden  sei. 

Da  kam  —  zu  meiner  größten  Überraschung  — 
am  21.  Mai  ein  Brief  von  Langen  mit  genau  dem«« 
selben  Inhalt  und  —  wie  mir  schien  —  auch  Wortlaut, 
wie    ich  es  geträumt    hatte.     Von  den  Kulturkuriosa 


49 


aber  —  und  das  erhöht  das  Merkwürdige  des  Falles  — 
erschien  wider  Erwarten  die  nächste  Auflage  —  das 
8.  Tausend  —  erst  im  November  1910. 

Während  Träume  neutralen  oder  gar  erfreulichen 
Inhaltes  recht  selten  zu  sein  scheinen,  sind  solche 
tragischer  Natur  desto  häufiger.  Sei  es,  daß  es  sich 
um  den  eigenen  Tod  handelt,  sei  es  um  den  naher 
Angehöriger  oder  Verwandter. 

Da  das  ja  beim  Falle  Caesars  zutreffen  würde, 
so  seien  nachstehend  einige  Beispiele  angeführt,  nicht 
ohne  zu  erwähnen,  daß  Camille  Flammarion  auf  Grund 
einer  Umfrage  ein  sehr  reiches  Material  über  dieses 
Thema  zusammen  brachte.     Zitieren  wir  daraus: 

„In  den  letzten  Tagen  des  November  1871  — 
es  war  an  einem  Mittwoch  und,  wie  ich  glaube, 
der  22.  —  weilte  ich  bei  der  mir  befreundeten  Familie 
Davidson  in  New  Orleans.  Eine  Frau  Thilton  war 
anwesend  und  erzählte  verschiedene  Träume,  die  sie 
gehabt  und  die  immer  in  Erfüllung  gegangen  waren. 
Die  Anwesenden  kannten  bereits  die  Wahrheit  ihrer 
Berichte.  Betroffen  von  einer  Erzählung  dieser  Dame 
rief  nun  unser  Wirt  aus: 

,, Madame,  ich  ersuche  Sie,  ja  nicht  von  mir  zu 
träumen!" 

„Zu  spät,  mein  Herr!  Erst  gestern  abend  habe 
ich  von  Ihnen  geträumt." 

Alles  bestürmt  sie,  den  Traum  zu  erzählen. 

„Mir  hat  geträumt,  daß  ich  von  heute  in  sechs 
Wochen  einer  dringenden  Einladung  von  ihnen  fol* 
gend  Sie  besuchte." 

„O,  der  Traum  läßt  sich  leicht  verwirklichen, 
Madame!    Ich   werde   Sie    an   dem    bestimmten  Tage 

Kemmerich,  Prophezeiungen  4 


50 


ZU  uns  bitten,  und  Sie,  mein  Fräulein,*'  wendete  sich 
der  Hausherr  zu  mir,  „werden  sicher  uns  auch  die 
Ehre  geben.     Welcher  Tag  ist  es?" 

Einer  der  Anwesenden  sah  im  Kalender  nach: 
„Mittwoch,  der  3.  Januar  1872." 

„Gut,  wir  wollen  alle  den  Traum  von  Madame 
mit  erleben!" 

„O,  bitte,  warten  Sie,  das  ist  noch  nicht  alles," 
warf  Frau  Thilton  ein,  „mir  träumte  noch,"  fuhr  die 
Dame  fort,  daß  ich  beim  Eintreten  dieses  Haus  leer 
und  verlassen  fände  und  daß  ich  Sie  vergebens  suche. 
Endlich  habe  ich  in  der  Mitte  des  zweiten  Salons 
einen  großen  Metallsarg  gesehen;  der  Deckel  war 
geschlossen,  ich  sah  weiter  nichts,  aber  ich  wußte, 
daß  Sie  in  dem  Sarg  liegen." 

Unser  Wirt  brach  in  Gelächter  aus,  ebenso  alle  An^ 
wesenden,  und  Herr  Davidson  sagte  scherzend  zu  seiner 
Frau:  „O,  nur  keinen  Metallsarg,  ich  mag  Metall  nicht! 
Nur  einen  Sarg  aus  Palisanderholz  bitte  ich  mir  aus." 

Lachend  versprach  seine  Frau,  falls  sie  ihn  über* 
leben  sollte,  seinen  Wunsch  zu  erfüllen. 

Frau  Thilton  fuhr  fort:  ,,Ich  sah  nur  einen 
Menschen  im  Salon  und  stellte  mich  neben  ihn.  An 
den  Längsseiten  des  Sargdeckels  sah  ich  sechs  silberne 
Rosen."  Man  lachte  von  neuem  über  diesen  bizarren 
Sargschmuck;  aber  Frau  Thilton  blieb  ernst  und  sagte: 
„Es  hat,  selbst  im  Traum,  einen  tiefen  Eindruck  auf 
mich  gemacht." 

Man  trennte  sich  lachend  und  gab  sich  ein  Stell* 
dichcin  für  Mittwoch  den  3.  Januar.  Noch  während 
der  folgenden  sechs  Wochen  wurde  der  Traum  öfters 
scherzhaft  erwähnt. 


51 


Am  2.  Januar  1872  fiel  unser  Wirt,  Herr  Davidson, 
einem  fürchterlichen  Zufall  zum  Opfer:  er  wurde  von 
einer  Lokomotive  erfafk  und  zermalmt. 

Am  andern  Morgen  wurde  er  in  den  Sarg  gelegt; 
die  Familie  wünschte,  daß  niemand  sein  entstelltes 
Gesicht  sehe,  und  ich  übernahm  die  Wache  am  Sarge 
und  blieb  auch,  nachdem  der  Deckel  geschlossen 
worden  war,  auf  meinem  Posten. 

Frau  Thilton  kam,  der  Einladung  folgend,  in  das 
Haus  und  fand  im  zweiten  Salon  den  Sarg  und  nur 
mich  bei  ihm.  Sie  stellte  sich  an  meine  Seite;  stumm, 
ohne  uns  anzusehen,  standen  wir  bei  dem  Sarge. 
Plötzlich  berührte  sie  meinen  Arm  und  deutete  auf 
sechs  silberne  Rosen,  die  die  Längsseiten  des  MetalU 
Sarges  zierten.  Ich  sah  sie  fragend  an,  und  sie  sagte: 
,,0,  erinnern  Sie  sich  nicht?  Die  sechs  silbernen 
Rosen,  die  ich  genau  so  in  meinem  Traum  gesehen 
habe?" 

Vierzehn  Tage  später  sagte  mir  die  Witwe: 
,, Erinnern  Sie  sich  jenes  außergewöhnlichen  Traumes? 
Alles  kam,  wie  unsere  Freundin  es  vorausgesehen! 
Bis  auf  den  Sarg!  Selbst  in  meinem  Schmerz  habe 
ich  seinen  Wunsch  nicht  vergessen!" 

Ich  war  unfähig  mich  zu  verstellen  und  stammelte: 
,Aber   es  war  doch  ein  Metallsarg!" 

,, Niemals!  O  mein  Gott!  Wer  hat  es  gewagt, 
mir  entgegenzuhandeln?" 

„Und  die  sechs  silbernen  Rosen  waren  auch  auf 
jeder  Seite." 

Meine  arme  Freundin  war  ganz  erschüttert.  Man 
stellte  den  Leichenbestatter  zur  Rede.  Ein  Palisander^ 
sarg    war   nicht    aufzutreiben    gewesen    und    nur    ein 

4* 


52 

Metallsarg  war  in  der  nötigen  Größe  vorrätig,  so  daß 
man  diesen  hatte  nehmen  müssen. 

Von  den  dreizehn  Zeugen  jenes  Traumes  leben 
heute  nur  noch  neun.  Die  Familie  (Calvinisten) 
würde  sehr  empört  sein,  wenn  ihr  Name  mit  einem 
Aberglauben  in  Verbindung  gebracht  würde,  doch 
ist  sie  viel  zu  ehrlich  und  wahrheitsliebend,  um  die 
Tatsache  zu  leugnen. 

Sara  Morgan#Dawson,  36,  rue  de  Varenne. 

Paris,  20.  Dezember  1901. 

Frau  Dawson  ist  seit  Jahren  mit  mir  (d.  h.  Flam* 
marion)  bekannt  und  eine  durchaus  wahrheitsliebende 
Dame;  da  wir  alle  aber  auf  unser  Gedächtnis  nicht 
schwören  können,  habe  ich  die  in  New  Orleans 
lebende  Tochter  des  Verstorbenen  ersucht,  mir  ihrer*= 
seits  diese  Geschichte  mitzuteilen. 

Hier  die  Abschrift  ihrer  Antwort  vom  24.  Ja* 
nuar  1902: 

„Jawohl  erinnere  ich  mich,  wenigstens  teilweise, 
jenes  Traumes.  Eines  Tages,  nach  dem  Diner,  er* 
zählte  uns  Frau  Thilton,  daß  sie  im  Traum  meinen 
Vater  in  einem  verschlossenen  Metallsarg  habe  liegen 
sehen.  Mein  Vater  erwiderte  damals  lachend,  Metall* 
sarge  seien  ihm  ein  Greuel,  und  er  wolle  sich  nur 
in  einem  Holzsarg  begraben  lassen.  Tatsächlich  starb 
mein  Vater  am  zweiten  Tage  des  neuen  Jahres  und 
sein    Leichnam   wurde   in   einen    Metallsarg  gebettet. 

Frau  Thilton  hat  dies  auch  getan').** 

Ein  weiteres  Vorkommnis  nach  Flammarion: 

„Am    25.    November    1860    waren    wir    auf    der 

*)  Flammarion,  Rätsel  des  Seelenlebens,  Stuttgart  1909, 
S.  374  ff. 


53 


Wasserjagd.  Es  war  vier  Uhr  nachmittags  und 
unsere  Barke  näherte  sich  dem  Ufer.  Da  erwähnte 
einer  meiner  Freunde,  er  habe  in  der  Nacht  geträumt, 
er  werde  heute  im  Meer  ertrinken. 

Ich  versicherte  ihm,  daß  wir  in  zehn  Minuten 
landen  würden.  Einen  Augenblick  später  kenterte 
unser  Boot  und  trotz  unserer  größten  Anstrengung 
ertranken  zwei  meiner  Freunde,  darunter  der,  der 
seinen  Tod  vorhergesehen.  Sein  Bruder  ist  noch 
heute  Advokat  in  Havre,  wo  sich  die  Katastrophe 
ereignet  hat.  (Sie  können  es  auch  in  den  Tages? 
Zeitungen  von  Havre  vom  26.  November  1860  nach? 
schlagen).     E.  B.  rue  de  Phalsbourg,  Flavre^).*' 

Ein  weiterer  Fall  nach  demselben  Gewährsmann: 

L.  Bouthors,  Direkteur  des  Contributions  directes 
in  Chartres  schreibt: 

„Es  war  während  des  Krieges  1870—71;  eine 
Freundin  von  mir,  eine  Offiziersfrau  in  Metz,  träumt, 
daß  mein  Vater,  ein  Arzt,  den  sie  sehr  liebte  und 
schätzte,  an  ihr  Bett  tritt  und  sagt:  „Sehen  Sie,  ich 
sterbe  jetzt.**  Sobald  die  Festung  wieder  mit  der 
Außenwelt  in  Verbindung  treten  konnte,  schrieb  mir 
meine  Freundin  und  beschwor  mich,  ihr  genaue 
Nachrichten  über  meine  Angehörigen  zu  geben  und 
ob  nicht  am  18.  September  meinem  Vater  ein  Un? 
glück  zugestoßen  sei.  Sie  hätte  an  dem  Tag  von 
ihm  geträumt.  Mein  armer  Vater  war  uns  tatsächlich 
am  18.  September  um  5  Uhr  morgens  plötzlich  durch 
den  Tod  entrissen  worden. 

Als  ich  im  Sommer  darauf  meine  Freundin  sah. 


')  Eb.  S.  385,  Brief  Nr.  194. 


54 

erzählte  sie  mir,  der  Traum  hätte  sie  tief  berührt, 
weil  sie  kurz  vorher  von  einer  ebenfalls  in  Metz 
wohnenden  Freundin  einen  ähnlichen  Traum  gehabt 
hätte  und  am   Morgen    darauf  ihren  Tod    erfuhr^).** 

Mit  diesem  Fall,  der  ja  rein  räumlich^telepatischer 
Natur  ist,  haben  wir  eigentlich  den  Rahmen  unserer 
Untersuchung  schon  überschritten.  Denn  wir  he^ 
schränken  uns  ja  auf  das  Fernsehen  in  der  Zeit, 
ohne  auf  das  im  Räume  eingehen  zu  wollen.  Nicht 
weil  letzteres  etwa  zweifelhafter  wäre.  Im  Gegens= 
teil:  es  gibt  viel  mehr  Menschen,  die  ähnliche  Er* 
fahrungen  gesammelt  haben.  Sie  bestreiten  zu  wollen, 
wäre  geradeso  nutzlos  und  töricht,  wie  eine  Fata 
morgana  oder  ein  Gewitter  zu  leugnen,  nur  weil 
man  es  nicht  beliebig  reproduzieren  kann.  Wenn 
wir  auf  dieses  Thema  nicht  näher  eingehen,  so  ge* 
schiebt  es  vornehmlich,  um  nicht  den  Umfang  des  Buches 
allzusehr  anschwellen  zu  lassen.  Und  doch  ist  auch 
der  letztgenannte  Fall  einschlägig,  weil  er  die  Wahr^ 
heit  des  bisweilen  im  Traume  Geschauten  beweist. 
Wir  lassen  weitere  Fälle  folgen: 

Sehr  merkwürdig  ist  die  Erzählung  eines  öster* 
reichischen  Oberleutnants  von  F.  von  einem  Wahrst 
träum,  der  zur  Zeit  der  Schlacht  bei  Wagram  spielt. 

,,Kaum  graute  der  Morgen  der  denkwürdigen 
Schlacht  von  Wagram  (5.  Juli  1809),  als  das  Regi* 
ment,  in  welchem  ich  diente,  Order  erhielt,  das  vor 
dem  rechten  Flügel  unserer  Position  gelegene,  vom 
Feinde  besetzte  Dorf  Großhosten  nebst  der  dort  auf* 
gestellten   Batterie  zu  stürmen.     Da  trat  mein  FlügeU 

')  Hb.  28.  I^rief,  p.  ?.9*J.  Nr.   II. 


JJ 


korporal  —  Wittcnbart  hieß  der  Wackere  —  zu  mir 
und  bat,  seine  Uhr  und  Barschaft,  das  einzige  Erb? 
teil  der  Seinen,  womöglich  in  Sicherheit  zu  bringen, 
da  er  gewiß  sei,  diesen  Morgen  zu  fallen.  Von  nie^s 
mandem  als  diesem  tapferen  Krieger,  der  damals 
noch  in  der  vollen  Kraft  seines  Lebens  stand,  hätte 
mich  eine  solche  Anrede  mehr  befremden  können, 
da  selbst  seine  Geistesbildung  jene  seiner  meisten 
Standesgenossen  weit  übertraf.  Natürlich  fragte  ich 
vor  allem  um  den  Grund  einer  solchen  Besorgnis; 
folgendes  war  seine  Antwort: 

,Sie  kennen  mich,  Herr  Oberleutnant,  und  werden 
es  daher  mir  glauben,  daß  ich  ohne  alle  Angstlich* 
keit,  ermüdet  von  den  gestrigen  Strapazen,  fest  und 
ruhig  bei  der  Gewehrpyramide  meiner  Leute  einj» 
schlief.  Da  träumte  ich,  bevor  wir  geweckt  wurden, 
ein  Wesen  von  himmlischer  Schönheit  stände  vor 
mir  und  betrachte  mich  eine  ziemliche  Zeit  mit  un^* 
endlichem  Wohlgefallen;  von  einem  unnennbaren 
Gefühle  zu  ihm  hingezogen,  streckte  ich  meine  Arme 
nach  ihm  aus;  da  sprach  es:  »Heute  noch  wirst  du 
bei  mir  sein;  nimm  dies  Band  als  Wahrzeichen!« 
Und  mit  diesen  Worten  hing  es  mir  ein  breites  rotes 
Band  über  die  rechte  Schulter  und  Brust;  ich  er* 
wachte.  Sie  wissen,  daß  Furcht  und  Kleinmut  meine 
geringsten  Fehler  sind;  trotzdem  halte  ich  mich  für 
überzeugt,  der  heutige  Tag  sei  der  meines  Todes, 
und  ich  bitte  daher  noch  einmal  um  die  Erfüllung 
meines  Wunsches.  Die  paar  Taler  übrigens,  welche 
ich  zurückbehalten  habe,  gehören  dem  Kameraden, 
welcher  mir  die  Augen  zudrücken  wird,  oder  denen, 
die  mich  beerdigen.* 


56 


Vergeblich  erschöpfte  ich  alle  Vemunftgründe, 
ihm  die  Unzuverlässigkeit  eines  Traumes  zu  be* 
weisen;  der  Befehl  zum  Vorrücken  endete  meine 
nutzlosen  Bemühungen. 

Wir  marschierten  mit  halben  Divisionen  rechts 
ab,  setzten  uns  vor  dem  linken  Flügel  en  colonne 
und  passierten  solchergestalt  ein  seichtes  Defilee» 
welches  gegen  den  Feind  ausmündete.  Kaum  ge* 
wahrten  die  Franzosen  unsere  Bewegung,  als  sie  ihr 
schweres  Geschütz  auf  den  Ausgang  des  seichten 
Hohlwegs  richteten  und  Kugel  auf  Kugel  in  unsere 
Reihen  sandten.  Wohl  niemand  wird  es  mir  ver* 
argen,  wenn  meine  Augen  mehr  gegen  die  feindliche 
Batterie  als  irgendanderswohin  gerichtet  waren;  da 
erblickte  ich  eine  Kanonenkugel,  welche  rikochettiert 
hatte  und  gerade  auf  mich  zuflog.  Zur  Seite  springen 
und  meinen  Leuten  zurufen:  , Bückt  euch!'  war  das 
Werk  eines  Augenblickes,  und  dennoch  kam  meine 
Warnung  zu  spät;  mein  braver  Wittenbart  lag  —  die 
rechte  Brust  und  Schulter  zerschmettert  und  regungs=« 
los  —  auf  dem  Boden,  mein  und  sein  Nebenmann 
(ersterer  bloß  durch  die  Luft  niedergerissen)  neben 
ihm^)." 

Der  berühmte  Ägyptologe  Heinrich  Brugsch 
schreibt  in  seinen  Lebenserinnerungen")  über  einen 
merkwürdigen  Wahrtraum  des  Khedive  im  Jahre  1875 
folgendes : 

„Ich  selbst  nahm  meinen  Weg  nach  Göttingen, 
um  von  meiner  dort  befindlichen  Familie  Abschied 
zu  nehmen  und  ohne  längeren  Aufenthalt  die  Weiter* 

')  Justinus  Kcrner.  Mapikon,  III.  Bd.,  S.  568. 

')  Mein  Leben  und  mein  Wandern,  Berlin  1894.  S.  "^30 f. 


57 


reise  auf^  einem  Bremer  Dampfer  anzutreten.  Im  Be^ 
grift,  nach  dem  nahgelegenen  Bahnhof  zu  gehen,  um 
den  nach  Bremen  abgehenden  Frühzug  zu  benutzen, 
erhielt  ich  auf  dem  Wege  eine  Drahtmeldung,  die 
ich  sofort  öffnete,  um  ihren  Inhalt  noch  vor  der  Abs= 
reise  kennen  zu  lernen.  Sie  lautete  kurz  und  bündig: 
,Der  Khedive  ersucht  Sie,  augenblicklich  nach  Kairo 
zurückzukehren.*  Mit  dem  nächsten  Eilzuge  schlug 
ich  die  Richtung  nach  Triest  ein,  um  mit  dem  fälligen 
Lloyddampfer  mich  nach  Ägypten  zurückzubegeben. 
Ich  hatte  seit  meiner  Abreise  keine  Zeitung  gelesen 
und  mußte  nicht  wenig  überrascht  sein,  als  mir  von 
dem  Kommandanten  des  Schiffes  die  Nachricht  mit* 
geteilt  wurde,  daß  auf  dem  letzten  Bremer  Dampfer, 
demselben,  mit  welchem  ich  die  Reise  antreten  wollte, 
eine  von  einem  Amerikaner  namens  Thomas  kon^^ 
struierte  Höllenmaschine  vorzeitig  explodiert  sei  und 
mehrere  Reisende  und  sonstige  Personen  getötet  und 
verwundet  habe.  Ich  dankte  Gott  im  stillen,  einer 
möglichen  Gefahr  für  Leib  und  Leben  durch  meine 
Rückberufung  entgangen  zu  sein,  und  stellte  mich 
bei  meiner  Ankunft  in  Kairo  sofort  dem  Vizekönig 
vor.  In  der  Meinung,  von  ihm  nachträglich  besondere 
Aufträge  zu  erhalten,  die  er  mir  nur  mündlich  mit^ 
teilen  könne,  war  ich  nicht  wenig  erstaunt,  aus  seinem 
Munde  die  Versicherung  zu  erhalten,  er  sei  hoch  qt* 
freut,  mich  heil  und  gesund  zu  sehen,  habe  mir  aber 
durchaus  nichts  zu  sagen.  Er  habe  sich  bewogen 
gefühlt,  mich  sofort  durch  den  Draht  zurückzuberufen, 
da  in  der  Nacht  ein  Traumbild  ihm  angeraten  habe, 
mich  sofort  kommen  zu  lassen,  widrigenfalls  mir  ein 
großes  Unglück  bevorstünde.'* 


58 


Nachstehend  noch  ein  weiteres  Beispiel  für  die 
Erfüllung  eines  Traumes: 

„Mein  ältester  Bruder,  Emile  Zipelius,  Maler, 
starb  am  16.  September  1865  im  Alter  von  25  Jahren, 
indem  er  in  der  Mosel  ertrank.  Er  wohnte  in  Paris, 
war  aber  bei  seinen  Eltern  in  Pompey  bei  Nancy  zu 
Besuch.  Meine  Mutter  hatte  zweimal  in  ziemlich 
langen  Zwischenräumen  geträumt,  daß  ihr  Sohn  ers» 
trunken  sei.  Als  der  Überbringer  der  schrecklichen 
Nachricht  zu  meinen  Eltern  kam,  vermutete  meine 
Mutter  gleich  ein  Unglück  und  fragte  zuerst  nach 
einer  abwesenden  Tochter,  von  der  sie  seit  längerer 
Zeit  keine  Nachricht  hatte.  Als  man  ihr  sagte,  es 
handle  sich  nicht  um  ihre  Tochter,  rief  sie  aus: 
„O,  fahren  Sie  nicht  fort,  ich  weiß  was  geschehen 
ist;  mein  Sohn  ist  ertrunken!"  Denselben  Tag  noch 
hatten  wir  einen  Brief  von  ihm  erhalten. 

Mein  Bruder  selbst  hatte  kurz  vorher  zu  seiner 
Hausfrau  gesagt:  „Wenn  ich  eines  Abends  nicht 
nach  Hause  komme,  so  gehen  Sie  am  nächsten  Morgen 
in  die  Morgue.  Ich  habe  das  Gefühl,  daß  ich  im 
Wasser  sterben  werde.  Mir  träumte,  ich  läge  tot 
und  mit  offenen  Augen  am  Grund  des  Flusses." 

In  der  Tat  hatte  man  ihn  so  gefunden,  er  war 
infolge  eines  Schlagaderbruchs  im  Wasser  beim  Baden 
gestorben.  Meine  Mutter  und  mein  Bruder  glaubten 
fest  an  ihre  Vorahnung.  An  dem  Tage  seines  Todes 
wollte  er  nicht  schwimmen  gehen,  gegen  Abend  aber 
verlockte  ihn  die  Kühle  des  Wassers  und  wir  verloren 
ihn  zu  unserm  größten  Schmerz." 

J.  Vogclsang^Zipelius,  Mühlhauscn  i.E.') 

')  Flammariun,   Katscl  des  Seelenlebens,  S.  384  f.,   127.  Brief. 


59 


Endlich  wollen  wir  einen  Eideshelfer  anrufen, 
an  dessen  Glaubwürdigkeit  wohl  niemand  zu  zweifeln 
wagen  wird  und  der  ein  Ereignis  berichtet,  das  an 
Bedeutung  dem  Traume  der  Calpurnia  in  nichts  nach^^ 
steht:    Bismarc k! 

Der  greise  Heldenkaiser  Wilhelm  I.  machte  dem 
großen  Kanzler  am  18.  Dezember  1881  Mitteilung 
von  einem  besonders  lebhaften  Traume,  der  eine 
Reichstagsverhandlung  zum  Gegenstande  hatte.  Bis* 
marck  antwortete  darauf  am  gleichen  Tage  u.  a.  foi* 
gendes: 

,,Euer  Majestät  Mitteilung  ermutigt  mich  zur 
Erzählung  eines  Traumes,  den  ich  Frühjahr  1863  in 
den  schwersten  Confliktstagen  hatte,  aus  denen  ein 
menschliches  Auge  keinen  gangbaren  Ausweg  sah. 
Mir  träumte,  und  ich  erzählte  es  sofort  am  Morgen 
meiner  Frau  und  anderen  Zeugen,  daß  ich  auf  einem 
schmalen  Alpenpfad  ritt,  rechts  Abgrund,  links  Felsen; 
der  Pfad  wurde  schmaler,  so  daß  das  Pferd  sich 
weigerte,  und  Umkehr  und  Absitzen  wegen  Mangel 
an  Platz  unmöglich;  da  schlug  ich  mit  meiner  Gerte 
in  der  linken  Hand  gegen  die  glatte  Felswand  und 
rief  Gott  an;  die  Gerte  wurde  unendlich  lang,  die 
Felswand  stürzte  wie  eine  Coulisse  und  eröffnete  einen 
breiten  Weg  mit  dem  Blick  auf  Hügel  und  Wald? 
land  wie  in  Böhmen,  preußische  Truppen  mit  Fahnen 
und  in  mir  noch  im  Traume  der  Gedanke,  wie  ich 
das  schleunig  Eurer  Majestät  melden  könne.  Dieser 
Traum  erfüllte  sich,  und  ich  erwachte  froh  und  ge^ 
stärkt  aus  ihm  ^).'* 

^)  Otto  Fürst  von  Bismarck,  Gedanken  und  Erinnerungen. 
2.  Bd.     Stuttgart  1898,  S.  194. 


60 

Also  ein  Vorgesicht  der  drei  Jahre  später  Wirk* 
lichkeit  werdenden  Ereignisse  in  Böhmen  und  des 
Krieges  um  die  Hegemonie  mit  Österreich! 

Die  angeführten  Fälle,  die  sich  natürlich  ins  End^ 
lose  vermehren  lassen,  sollen  keineswegs  beweisen, 
daß  Caesar  oder  seine  Gattin  wirklich  die  Ermordung 
geträumt  haben.  Wenn  die  Überlieferung  auch  gut 
ist,  so  läßt  sich  das  doch  heute  nicht  mehr  mit  un* 
anfechtbarer  Sicherheit  feststellen.  Was  sie  aber  be* 
weisen  sollen,  ist,  daß  der  Traum  uns  gar  nicht 
so  selten  ein  bevorstehendes  Unglück  ent* 
hüllt.  Wenn  mancher  Leser  dieses  Buches  durch 
die  wenigen  angeführten  Beispiele  auch  zu  nichts 
anderem  bewogen  wird,  als  dazu  ähnliche  Überliefe* 
rungen  nicht  ohne  Prüfung  als  Unsinn  abzulehnen, 
so  ist  damit  für  den  weiteren  Gang  der  Untersuchung 
schon  manches  gewonnen. 

Nun  gibt  es  aber  außer  partiellen  Enthüllungen 
der  Zukunft  durch  den  Traum  auch  noch  Vorahnungen 
anderer  Art,  die  ebenfalls  zumeist  den  eigenen  Tod, 
oder  den  naher  Angehöriger  zum  Gegenstande  haben. 
Von  ihnen  einige  Beispiele  anzuführen,  scheint  um 
so  mehr  am  Platz,  als  wir  später  noch  wiederholt 
ähnlichen,  historisch  gut  beglaubigten  Vorkommnissen 
begegnen  werden. 

,,Ein  junges  Mädchen  aus  der  Gegend  von  Nancy, 
18  Jahre  alt,  wurde  oft  von  ihren  Angehörigen  ein* 
geschläfert.  In  einen  Zustand  von  Somnambulismus 
geraten,  wiederholte  sie  bei  jeder  neuen  Sitzung,  daß 
eine  nahe  Verwandte,  die  sie  mit  Namen  nannte, 
noch  vor  dem  1.  Januar  sterben  würde.  Es  war  im 
November  18(S3.     Ihre    Beharrlichkeit  veranlaßte  den 


61 


Familienvater,  eine  Lebensversicherung  von  10000 
Franken  tür  jene  Dame,  die  übrigens  ganz  gesund 
war,  aufzunehmen.  Um  das  nötige  Geld  aufzutreiben, 
schrieb  er  an  Herrn  M.  L.  mehrere  Briefe  und  teilte 
ihm  in  einem  das  Motiv  seiner  Handlungsw^eise  mit. 
Herr  L.  bewahrte  diese  Briefe  als  unwiderleglichen 
Beweis  für  die  Möglichkeit  der  Vorhersage  zukünftiger 
Ereignisse  und  hat  sie  mir  gezeigt.  Da  man  sich 
über  die  Zinsen  nicht  einigen  konnte,  ließ  man  die 
Angelegenheit  fallen.  In  der  Tat  starb  die  in  Frage 
stehende  Dame  am  31.  Dezember,  und  der  am  2.  Januar 
an  Herrn  L.  gerichtete  letzte  Brief  übermittelt  diese 
Nachricht^)." 

Ein  merkwürdiges  Beispiel  einer  Ahnung  erzählt 
Jung^Stilling")  vom  Professor  der  Mathematik  Böhm, 
einer  keineswegs  schwärmerischen  Natur,  was  ja  schon 
der  Beruf  vermuten  läßt. 

,,Er  war  einmal  an  einem  Nachmittag  in  einer 
angenehmen  Gesellschaft  bei  einer  Tasse  Tee  und 
einer  Pfeife  Tabak  recht  vergnügt,  ohne  über  irgend 
etwas  nachzudenken,  als  er  auf  einmal  eine  Anregung 
im  Gemüt  empfindet,  nach  Hause  zu  gehen.  Da  er 
nun  nichts  zu  Hause  zu  tun  hatte,  so  sagte  ihm  sein 
mathematischer  Verstand,  er  solle  nicht  nach  Hause 
gehen,  sondern  bei  der  Gesellschaft  bleiben.  Indessen 
wurde  die  innere  Aufforderung  immer  stärker  und 
dringender,  so  daß  endlich  jede  mathematische  De^ 
monstration   erlag,   und   Böhm   seinem   inneren  Trieb 


^)  Nach  Dr.  Liebaut,  Therapeutique  suggestive,  zitiert  nach 
Flammarion,  Rätsel  des  Seelenlebens,  S.  408. 

'^)  Heinrich  Jung,  genannt  Stilling,  Theorie  der  Geister? 
künde,  1808,  S.  78  f. 


62 

folgte.  So  wie  er  auf  sein  Zimmer  kam  und  sich 
umsah,  aber  nichts  Besonderes  entdecken  konnte,  fühlte 
er  eine  neue  Anregung  in  seinem  Inneren,  das  Bett, 
worinnen  er  schlief,  müsse  von  da  weg  und  in  jene 
Ecke  gebracht  werden.  Auch  hier  räsonierte  seine 
Vernunft  und  stellte  ihm  vor,  das  Bett  habe  ja  immer 
da  gestanden,  überdem  sei  das  ja  auch  der  schick* 
lichste  Platz  und  jener  der  unschicklichste,  allein  das 
alles  half  nicht,  die  Aufforderung  ließ  ihm  keine  Ruhe, 
er  mußte  die  Magd  rufen,  welche  nun  das  Bett  an  die 
verlangte  Stelle  rückte;  hierauf  wurde  er  ruhig  im 
Gemüt,  er  ging  weiter  zur  Gesellschaft  und  empfand 
nichts  mehr  von  jenen  Anregungen.  Er  blieb  auch 
zum  Abendessen  bei  der  Gesellschaft,  ging  gegen 
zehn  Uhr  nach  Haus,  dann  legte  er  sich  in  sein  Bett 
und  schlief  ganz  ruhig  ein.  Um  Mitternacht  weckte 
ihn  ein  schreckliches  Krachen  und  Poltern,  er  fuhr 
aus  dem  Bett  auf  und  sah  nun,  daß  ein  schwerer 
Balken  mit  einem  großen  Teil  der  Zimmerdecke  ge* 
rade  da  niedergefallen  war,  wo  vorhin  das  Bett  ge* 
standen  hatte.  Jetzt  dankte  Böhm  dem  barmherzigen 
Vater  der  Menschen,  daß  er  ihn  so  gnädig  hatte 
warnen  lassen." 

Die  rationalistische  Erklärung  oder,  besser  gesagt, 
der  rationalistische  Erklärungsversuch  dieser  merk* 
würdigen  Vorahnung  wird  annehmen,  daß  der  brüchige 
Balken  in  der  vorigen  Nacht  bereits  gekracht  habe. 
Das  habe  Böhm  im  Schlaf  gehört  und  aus  diesem 
Dämmerzustande  nur  das  Denkresultat,  daß  er  das 
Bett  von  dieser  gefährHchen  Stelle  fortschaften  müsse, 
ins  Wachen  gerettet. 

Möglich,  daß  der  Erklärungsversuch  das  Richtige 


63 

trirtt.  Sicher  ist,  daß  wir  bei  der  folgenden  Geschichte 
damit  nicht  auskommen. 

Frau  von  Beaumont  erzählt  folgende  Begeben^ 
hoit'): 

,, Meine  ganze  Familie  besinnt  sich  noch  auf  einen 
Zufall,  vor  dem  mein  Vater  durch  Hilfe  der  Ahnung 
in  seiner  Jugend  bewahrt  wurde.  Das  Fahren  auf 
dem  Fluß  ist  eine  der  gewöhnlichen  Vergnügungen 
der  Einwohner  der  Stadt  Rouen  in  Frankreich.  Auch 
mein  Vater  fand  an  diesen  Spazierfahrten  ein  großes 
Vergnügen  und  er  ließ  wenige  Wochen  vorbeigehen, 
ohne  daß  er  dasselbe  genoß.  Er  vereinigte  sich  einst^^ 
mals  mit  einer  Gesellschaft  zwei  Meilen  weit  von 
Rouen  nach  Port  St.  Quen  zu  fahren.  Man  hatte  ein 
Mittagsmahl  und  Instrumente  ins  Schiff  gebracht  und 
alles  zu  einer  angenehmen  Fahrt  vorbereitet.  Als  es 
Zeit  war  aufzubrechen,  stieß  eine  von  den  Tanten 
meines  Vaters,  welche  taubstumm  war,  eine  Art  von 
Geheul  aus,  stellte  sich  an  die  Tür,  versperrte  sie  mit 
ihren  x\rmen,  schlug  die  Hände  zusammen  und  gab 
durch  Zeichen  zu  verstehen,  daß  sie  ihn  beschwöre, 
er  möchte  zu  Hause  bleiben.  Mein  Vater,  der  sich 
von  dieser  Spazierfahrt  viel  Vergnügen  versprochen 
hatte,  trieb  nur  seinen  Spott  mit  ihren  Bitten,  allein 
das  Frauenzimmer  fiel  ihm  zu  Füßen  und  äußerte  eine 
so  heftige  Betrübnis,  daß  er  sich  endlich  entschloß, 
ihren  Bitten  nachzugeben  und  seine  Lustfahrt  auf 
einen  andern  Tag  zu  verschieben.  Er  bemühte  sich 
daher,  die   andern   auch  zurückzuhalten    und    bat    sie 


^)  Jung^Stilling,  Theorie  der  Geisterkunde,  S.  84,  über* 
nommen  aus  dem  „Museum  des  Wundervollen",  2.  Bd.,  2.  Stück, 
S.  152. 


64 

seinem  Beispiel  zu  folgen,  allein  man  lachte  über  seine 
Nachgiebigkeit  und  reiste  ab.  Kaum  hatte  das  Schiff 
die  Hälfte  des  Weges  zurückgelegt,  so  bekamen  die* 
jenigen,  die  sich  darin  befanden,  die  größte  Ursache 
zur  Reue,  daß  sie  ihm  nicht  gefolgt  hatten.  Ihr  Schiff 
riß  voneinander,  viele  kamen  dabei  ums  Leben,  und 
diejenigen,  die  sich  durch  Schwimmen  retteten,  wurden 
von  dem  Schrecken,  der  sie  dabei  überfallen  hatte, 
in  die  äußerste  Lebensgefahr  gestürzt.'* 
Zum  Schluß  folgende  Zeitungsnotiz: 
,, Der  Jugendschriftsteller  Boussenard,  der  in  Frank* 
reich,  wo  er  für  den  Erben  Jules  Vernes  gilt,  bekannt 
und  beliebt  ist,  ist  letzten  Sonntag  gestorben.  Er 
fühlte  seinen  Tod  herannahen  und  verfaßte  selbst 
seine  Todesanzeige,  die  folgendermaßen  lautet:  , Louis 
Boussenard,  Schriftsteller,  beehrt  sich,  Sie  zu  seinem 
bürgerlichen  Leichenbegängnis  einzuladen,  das  Montag, 
den  12.  September  (1910)  nachmittags,  stattfindet.  Un* 
tröstlich  über  den  Tod  seiner  Frau,  erliegt  er  in  seinem 
63.  Lebensjahre  einem  Schmerz,  den  nichts  hat  lindern 
können.  Sein  letzter  Gedanke  gilt  seinen  zahlreichen 
Freunden  und  treuen  Lesern.  Man  versammelt  sich 
im  Sterbehaus,  um  den  Leichenzug  bis  zum  Bahnhof 
zu  geleiten,  von  wo  der  Zug  um  zwölt  Uhr  abgeht.*  — 
Der  Tod  trat  ein,  wie  Boussenard  es  erwartete,  und 
die  Anordnungen,  die  er  für  die  Beerdigung  getroffen 
hat,  konnten,  was  die  Zeitangaben  betrifft,  buchstäb* 
lieh  befolgt  werden*)." 

Kehren  wir  nach  diesem  Exkurs  zu  Caesar  zurück  1 
Die  Art  der  Überlieferung  nicht   minder,  als  — 


')  Münchener  Neueste  Nachrichten,   1910,  Nr.  441 


65 


das  bezeugten  unsere  Beispiele  —  ihr  Inhalt,  würden  uns 
berechtigen,  Suetons  Erzählung  Glauben  zu  schenken. 
Im  übrigen  möge  das  jeder  nach  Gefallen  tun.  So  viel 
ist  aber  sicher,  daß  Caesar,  wäre  er  dem  Übersinnlichen 
weniger  abgeneigt  gewesen,  den  warnenden  Stimmen 
Gehör  geschenkt  hätte.  Dann  würde  der  größte  Staats* 
mann  der  Geschichte,  dessen  Eigenname  zur  höchsten 
Standesbezeichnung  der  Menschheit  wurde,  wohl  kaum 
unter  den  Dolchen  von  Mördern  haben  verbluten  müssen. 

Sueton  erzählt  noch  von  anderen  Wahrträumen, 
bzw.  ähnlichen  Vorzeichen  in  seinem  Leben  des 
Augustus,  der  im  Gegensatz  zu  seinem  großen  Onkel 
sehr  geneigt  war,  ihnen  Glauben  zu  schenken. 

Wir  begegnen  hier  dem  einfältigsten  Aberglauben. 
Etwa  wenn  Augustus,  wenn  man  ihm  den  linken 
Schuh  statt  des  rechten  anzog,  das  als  ungünstige 
Vorbedeutung  nahm,  oder  wenn  starker  Taufall  seine 
Entscheidungen  beeinflussen  konnten.  Daneben  finden 
wir  auch  den  Glauben  an  Vorzeichen  von  größerer 
Bedeutung  (Kap.  93).  Damit  ist  nicht  nur  gesagt, 
daß  er  seltene  Naturereignisse,  wie  das  ja  in  einer 
Zeit,  die  dem  Wesen  der  Natur  noch  sehr  fern  steht, 
gang  und  gäbe  ist,  auf  sich  deutete,  sondern  daß  er 
auch  echten  Weissagungen  Glauben  schenkte. 

Sueton  erzählt  im  94.  Kapitel  der  Biographie^): 
„Atia  träumte  kurz  vor  ihrer  Niederkunft,  daß  ihre 
Eingeweide  gen  Himmel  flögen  und  sich  dort  über 
den    ganzen    Umfang    von    Himmel    und    Erde    aus* 


*)  Übersetzung  von  Adolph  Stahr,  Langenscheidtsche  Bi# 
bliothek,  Sueton,  106.  Bd.,  S.  191.  Eine  Anzahl  historischer  Träume 
hat  Kleinpaul  im  Magazin  für  die  Literatur  des  In;  und  Aus* 
landes,   1886,  Nr.  16  und  17,  zusammengestellt. 

Kemmerich,   Prophezeiungen  5 


66 

breiteten.  Auch  Augusts  Vater,  Octavius,  träumte, 
daß  aus  dem  Schöße  der  Atia  der  Strahlenkranz  der 
aufgehenden  Sonne  sich  erhebe.  Am  Tage  seiner 
Geburt,  wo  gerade  über  die  Verschwörung  Catilinas 
in  der  Kurie  verhandelt  wurde,  und  Octavius  wegen 
der  Niederkunft  seiner  Frau  etwas  zu  spät  in  die 
Sitzung  kam,  steht  es  als  eine  allbekannte  Tatsache 
fest,  daß  Nigidius  Figulus^),  als  er  die  Ursache  der 
Verzögerung  und  zugleich  die  Stunde  der  Geburt 
selbst  vernahm,  den  Ausspruch  getan  hat:  In  dieser 
Stunde  sei  dem  Erdkreis  der  Herr  geboren.  Die 
gleiche  Versicherung  erhielt  Octavius  später,  als  er 
bei  seinem  Heerzug  durch  Thraziens  Öden  in  einem 
Haine  des  Liber  pater  das  dortige  thrazische  Orakel 
über  seinen  Sohn  befragte,  von  den  Priestern,  weil, 
als  er  den  Wein  über  den  Altar  goß,  eine  Flamme 
aufschlug,  die  über  das  Tempeldach  hinaus  bis  zum 
Himmel  aufstieg:  ein  Wunderzeichen,  das,  wie  die 
Priester  sagten,  ähnlich  nur  allein  noch  dem  großen 
Alexander,  als  er  an  denselben  Altären  opferte,  zuteil 
wurde.  Gleich  in  der  darauf  folgenden  Nacht  sah 
er  denn  auch  seinen  Sohn  in  übermenschlicher  Größe 
mit  Blitz  und  Zepter,  sowie  mit  den  Prachtgewändern 
des  Olympischen  Jupiter  und  einer  Strahlenkrone  an^ 
getan,  hoch  thronend  auf  einem  lorbeerbekränzten 
Wagen,  den  zweimal  sechs  glänzend  weiße  Rosse  zogen." 

Halten  wir  hier  inne. 

Was  zunächst  das  thrazische  Orakel  betrifft,  so 
werden  wir  —  wenn  die  Überlieterung  überhaupt  auf 
Wahrheit  beruht  —  recht  mißtrauisch  sein.   Wer  mit 

*)  Nij?idius  Figulus  war  ein  sehr  gelehrter  Mann,  Senator, 
grol^er  Astronom  und  Astrolog  und  Freund  des  Cicero. 


67 


Heeresmacht  Auskunft  über  die  Zukunft  heischt, 
wird  in  99  von  100  Fällen  eine  günstige  erhalten. 
Und  wenn  eine  Flamme  gen  Himmel  schlug,  so  liegt 
die  Vermutung  nahe,  daß  die  schlauen  Priester  hier 
einen  Taschenspielertric  sich  leisteten. 

Die  mitgeteilten  Träume  sind  an  sich  durchaus 
möglich.  Wenn  wir  uns  gegen  sie  skeptisch  ver^ 
halten,  so  ist  ihre  Häufung  daran  schuld.  Gewiß 
kommt  es  vor,  daß  zwei  dasselbe  träumen,  und  wenn 
es  sich  um  Ehegatten  handelt,  die  beide  nicht  nur 
einen  Sohn,  sondern  auch  einen  berühmten  und  tüch? 
tigen  Sohn  erhoffen,  so  ist  es  ganz  und  gar  nicht 
unwahrscheinlich,  wenn  ihnen  der  Traum  verlockende 
Bilder  über  seine  Zukunft  vorgaukelt.  Das  ereignet 
sich  alle  Tage  bei  ungezählten  Elternpaaren.  Da  hier 
aber  der  Wunsch  unbedenklich  für  die  Vaterschaft 
des  Traumes  haftbar  gemacht  werden  kann,  da  ferner 
auch  Millionen  träumender  Eltern  nur  ein  Welt* 
herrscher  trifft,  so  werden  wir,  auch  wenn  wir  der 
Überlieferung  keinen  Zweifel  entgegensetzen,  uns 
doch  sehr  hüten  müssen,  hier  einen  Beweis  für  un* 
sere  Behauptung  von  der  Existenz  der  Wahrträume 
zu  suchen.  Bei  Cäsar  war  der  Fall  ganz  anders  ge* 
lagert.  Meuchelmord  hofft  man  nicht,  sondern  man 
fürchtet  ihn.  Da  zudem  die  Ermordung  des  Staats? 
Oberhauptes  in  Rom  ein  ganz  unerhörter  Fall  war, 
so  kann  man  auch  mit  Zufall  hier  nicht  wohl  ope? 
rieren.  Zum  Belege  dafür,  -daß  bei  Eheleuten  Doppel? 
träume  vorkommen,  sei  folgender  Fall  mitgeteilt: 

,,Als  im  Junius  des  Jahres  1812  mein  zweiter 
Sohn,  Karl,  ein  Knabe  von  früh  entwickeltem  Talente 
und   hoher  Herzensgüte,   in  seinem   neunten  Lebens* 

5* 


68 

jähre  so  gefährlich  krank  darnieder  lag,  daß  der  Ge^ 
danke  an  seinen  möglichen  nahen  Verlust  bisweilen 
düster  durch  meine  und  meiner  Gattin  Seele  fuhr, 
wagten  wir  es,  aus  gegenseitiger  Schonung,  dennoch 
nicht,  das  wahrscheinliche  baldige  Hinscheiden  des 
holden  Kindes  laut  auszusprechen.  Wir  beweinten, 
oft  von  dem  lieben  Kranken  getröstet,  unser  Los  im 
stillen.  In  der  Nacht  vom  17.— 18.  Junius  hatte  ich 
folgenden,  mir  unvergeßlichen  Traum:  Ich  führte 
meinen  Karl  auf  einer  blühenden  Aue  an  der  Hand, 
er  schritt  freudig  rasch  einher  und  sah  mich  lächelnd 
an:  ,Wie?'  rief  ich  froh,  ,du  kannst  wieder  gehen, 
lieber  Karl?*  (Schon  seit  mehreren  Monaten  war  ihm 
dies  unmöglich  gewesen).  Kaum  hatte  ich  ausgeredet, 
so  erblick'  ich  einen  großen  prächtigen  Palast  vor 
mir,  der  Knabe  reißt  sich  von  mir  los  und  eilt  in 
jenen  Palast.  ,Ach,*  sprach  ich,  ,du  wirst  mich 
doch  nicht  verlassen?'  Ich  versuche  es,  ihm  nachzu* 
eilen  und  kann  nicht  von  der  Stelle.  In  dem  schmerz* 
haftesten  Gefühl  erwach'  ich.  Schlaf  und  Ruhe 
waren  verschwunden. 

Um  meine  Gattin  nicht  zu  betrüben,  verschwieg 
ich  ihr  diesen  leicht  zu  deutenden  Traum.  Indessen 
sitzen  wir  am  Abend  desselben  Tages  noch  spät  in 
einer  wehmütigen  Stimmung  zusammen.  Wir  reden 
von  unserm  kranken  Lieblinge,  mein  Herz  war  zu 
voll,  und  zum  ersten  Male  spreche  ich  meine  bange 
Besorgnis  um  sein  Leben  aus.  Endlich  erzähle  ich 
auch,  mit  pochender  Brust,  den  in  der  letzten  Nacht  ge* 
habtcn  Traum.  Aber  noch  kaum  habe  ich  die  Er* 
Zählung  geendigt,  so  tat  meine  Cjattin  einen  lauten 
Schrei  und  ruft  unter  heißen  Tränen  aus:  ,Mein  Gott, 


69 


denselben  Traum  habe  ich  ja  auch  in  der  letzten  Nacht 
geträumt!'  ,Sie  ruft  sogleich  unserDienstmädchen  in  das 
Zimmer  und  läßt  es  ihren  eigenen  Traum  erzählen,  den 
sie  ihm  gleich  am  Morgen  mitgeteilt,  aber  auch  verboten 
hatte,  ihn  mir  zu  erzählen.  Ich  fühlte  mich  tief  er? 
griffen,  aber  auch  das  Mädchen  wußte  sich  kaum  zu 
fassen,  als  es  nachher  den  meinigen  erfuhr.  Nur  im  Aus? 
gange  desTraums  fand  eine  kleine  Verschiedenheit  statt. 

Meiner  Gattin  träumte:  Sie  und  ihr  Mädchen 
führten  unsern  Knaben  auf  einer  blühenden  Aue  an 
der  Hand.  Er  ging  freudig?  rasch,  blickte  seine 
Führerinnen  lächelnd  an;  beide  verwundern  sich  seines 
raschen  Ganges.  Auf  einmal  erblickten  sie  einen 
großen  prächtigen  Palast  vor  sich.  Der  Knabe  reißt 
sich  von  ihnen  los  und  eilt  hinein.  Beide  eilen  ihm 
nach,  finden  in  dem  Palaste  eine  außerordentlich 
große  Menschenmenge,  durchsuchen  unter  Tränen 
mehrere  Säle  und  finden  den  Knaben  nicht.  ,0  Gott, 
was  wird  mein  Mann  sagen,  daß  wir  unsern  Karl 
verloren  haben?'  ruft  meine  Gattin  trostlos  aus  und  — 
erwacht. 

Leider  bewährten  sich  die  Worte  des  Ennius 
(beim  Cicero,  de  divinat.  II,  61)  , aliquot  somnia 
veral'  Drei  Tage  nach  diesem  merkwürdigen  Doppel? 
Traum  entschlief  unser  Liebling  sanft,  unter  unsern 
Küssen  und  Zähren.  Auch  hier  war  ,ein  Bund  des 
Traumes  mit  dem  Wachen!'  (Jean  Pauls  Herbst? 
blumen,  2.  Bändchen,  S.  275)  —  aber  wir  hatten  die  trübe 
Wirklichkeit  nicht  sowohl  nach,  als  vorgeträumt!  — 

Marburg.  D.  Justi^." 

*)  Vgl.  (Vulpius)  „Curiositäten",  5.  Bd.,  Weimar  1816, 
S.  274  ff. 


70 

Es  handelt  sich  also  um  ein  Erlebnis  des  be* 
rühmten  Theologen  Karl  Wilhelm  Justi  (geb.  1767 
gest.  1846),  an  dessen  Wahrheit  zu  zweifeln  wohl 
niemand  den  Mut  haben  wird. 

Wenn  wir  auch  Gedankenübertragung  annehmen 
—  was  ja  immerhin  räumliche  Telepathie  voraussetzt 
und  damit  bereits  das  Wichtigste,  eine  Übertragung 
äußerer  Eindrücke  ohne  Vermittlung  der  Sinne 
einräumt  —  so  genügt  das  nicht.  Daß  die  Sorge  die 
Eltern  auch  nicht  nachts  verläßt  und  sich  in  Träumen 
äußert,  ist  gewiß  natürlich.  Sehr  merkwürdig  aber 
die  symbolische  Einkleidung.  Es  liegt  hier  zweiflos 
ein  noch  nicht  näher  ergründetes  Phänomen  der 
Prophetie  vor.  Dazu  kommt,  daß  schon  nach  drei 
Tagen  die  Erfüllung  sich  einstellt. 

Bedeutungsvoller  als  die  Träume  von  Augustus' 
Eltern  sind  die  Worte  des  Nigidius  Figulus.  Über 
seine  Prophezeiung  sind  wir  durch  Dio  Cassius^) 
unterrichtet.     Er  schreibt: 

„Kaum  war  der  Knabe  geboren,  so  prophezeite 
ihm  der  Senator  Nigidius  Figulus  die  Alleinherrschaft. 
Unter  allen  seinen  Zeitgenossen  verstand  sich  dieser 
am  besten  auf  die  Sternkunde  und  die  Konstellation 
und  wußte,  was  jedes  Gestirn  einzeln  oder  in  Kon«= 
junktion  oder  Opposition  mit  andern  tür  einen  Ein^ 
fluß  übte;  deshalb  sagte  man  ihm  auch  nach,  daß 
er  sich  mit  geheimen  Künsten  bctassc.  Als  dieser 
sah,  daß  Octavius  (wegen  der  Geburt  seines  Kindes) 
etwas  später  in  die  Kurie  kam  (es  wurde  gerade 
Senat  gehalten),  trat  er  ihm  entgegen   und  fragte  ihn, 

*)  45,  1.  Übersetzung  der  ,, Komischen  Cicschichtc"  von 
L.  Tafel.  Stuttgart  1837. 


71 


warum  er  so  spät  komme.  Als  er  ihm  die  Veran? 
lassung  nannte,  so  rief  er  aus:  du  hast  uns  einen 
Herrn  gezeugt!  Octavius,  darüber  bestürzt,  wollte 
das  Kind  töten  lassen;  er  aber  hielt  ihn  davon  ab, 
indem  er  sagte:  es  wäre  nicht  möglich,  daß  dem 
Kinde  etwas  der  Art  widerführe." 

Sueton  erzählt  im  94.  Kapitel  von  einem  anderen 
Horoskop,  das  dem  Augustus  der  Astrolog  Theogenes 
gestellt  hatte,  und  zwar  als  jungem  Manne.  Als  er 
dem  Astrologen  seine  Geburtsstunde  nannte,  da  soll 
Theogenes  aufgesprungen  und  ihm  verehrend  zu 
Füßen  gefallen  sein.  Seitdem  hatte  Augustus  großes 
Vertrauen  auf  seinen  Stern  und  ließ  auch  einst  eine 
Münze  mit  dem  Bild  des  Steinbockes,  unter  dem  er 
geboren  war,  prägen. 

Was  nun  die  Glaubwürdigkeit  von  diesen  Be* 
richten  —  die  wir  nur  im  Auszug  wiedergeben  —  be^^ 
trifft  —  so  mag  man  sagen:  ein  Mann,  der  so  ein*» 
fältiges  Zeug  erzählt,  wie  etwa,  daß  Augustus  als 
kleines  Kind  den  Fröschen  geboten  hätte  zu  schweigen, 
was  zur  Folge  hatte,  daß  sie  in  dieser  Gegend  noch 
zur  Zeit  Suetons  nicht  quakten,  verdient  keinen 
Glauben. 

Das  gehört  zu  jenen  logischen  Schnitzern,  an 
denen  unsere  Hyperkritik  nur  allzu  reich  ist. 

Wenn  es  auch  heißt:  ,,wer  einmal  lügt,  dem 
glaubt  man  nicht,  und  wenn  er  auch  die  Wahrheit 
spricht",  so  ist  das  Sprichwort  doch  klug  genug  zu? 
zugeben,  daß  auch  ein  Lügner  die  Wahrheit  reden 
kann.  Daß  man  ihm  dann  nicht  glaubt,  ist  ein 
Fehler  der  Zuhörer. 

Nun  ist  aber  Sueton  nichts  weniger  als  ein  Lügner» 


72 

wenn  er  auch  leichtgläubig  sein  mag  und  häufig  un^ 
kritisch  alles  wiedererzählt,  was  er  von  mancherlei  Leuten 
gehört  hat.  Er  ist  so  wenig  ein  Lügner,  wie  unsere 
offiziellen  Hyperkritiker  es  sind,  wenn  sie  die  Mög^ 
lichkeit  der  Weissagung  oder  anderer  nicht  alltags 
licher  Begebenheiten  leugnen.  Man  könnte  daraus  ja 
auch  mit  gleichem  Rechte  folgern,  daß  alles,  was  sie 
für  unglaublich  erklären,  doch  glaubwürdig  sei.  Ein 
Denkfehler,  der  nicht  um  ein  Haar  geringer  ist,  als 
wollte  man  alle  Berichte  des  Sueton  über  ungewohnt 
liehe  Dinge  lediglich  deshalb  ablehnen,  weil  er,  wie 
wir  auf  Grund  unserer  heutigen  Naturkenntnis 
wissen,  auch  Unmögliches  im  guten  Glauben  über^ 
liefert. 

Gibt  es  etwas  Natürlicheres,  als  die  Anschauung, 
ein  so  großer  Mann  wie  Augustus  müßte  auch  anders 
als  ein  gewöhnlicher  Sterblicher  in  die  Welt  ein* 
treten  und  durch  sie  wandeln?  Dieser  stillschweigen*^ 
den  Voraussetzung  ist  es  doch  allein  zuzuschreiben, 
daß  man  Plato  so  gut  wie  Alexander,  Buddha  oder 
Christus  zu  Söhnen  Gottes  stempelte.  So  wenig  es 
uns  aber  deshalb  einfällt,  in  Bausch  und  Bogen  alles 
zu  verwerfen,  was  von  diesen  Geisteshelden  über* 
liefert  ist,  so  wenig  dürfen  wir  das  etwa  vom  Be* 
rieht  des  Sueton  tun. 

Während  früher  die  Tendenz  durch  die  Ge* 
Schichtschreibung  ging  —  besonders  ausgeprägt  finden 
wir  sie  in  der  mittelalterlichen  Heiligenliteratur  — , 
daß  ein  geistig  oder  sittlich  großer  Mann  auch  über 
außergewöhnHchc  Kräfte  verfüge,  Wunder  wirken 
könne,  läßt  sich  gegenwärtig  die  entgegengesetzte 
feststellen.      Das    hängt    nicht    allein    mit    den    Fort* 


73 

schritten  der  Naturwissenschaften  zusammen,  es  hat, 
wie  schon  in  der  Einleitung  angedeutet,  auch  einen 
poHtischen  Grund:  die  Demokratisierung  unserer 
Denkweise  hält  es  mit  ihren  Dogmen  nicht  für  ver* 
einbarlich,  daf^  irgend  jemand  eine  besondere  Stellung 
einnimmt. 

Im  übrigen  liegt  es  uns  fern,  uns  im  einzelnen 
für  die  Wahrheit  oder  Glaubwürdigkeit  dieser  Er^ 
Zählungen  zu  erhitzen.  Uns  genügt  der  Nachweis, 
daß  es  sich  ganz  und  gar  nicht  um  Unmögliches,  ja 
noch  nicht  einmal  besonders  Seltenes  handelt  und 
daß  man  gut  tut,  die  Berichterstatter  solcher  Phänomene 
nicht  ohne  weiteres  abzulehnen. 

Indem  wir  es  jedem  Leser  anheimstellen,  davon 
zu  glauben  oder  nicht  zu  glauben,  so  viel  ihm  he^ 
liebt,  unterlassen  wir  nicht  zu  bemerken,  daß  Sueton 
wohl  bei  jedem  Herrscher  von  Träumen,  Vorzeichen 
oder  ähnlichem  zu  erzählen  weiß.  Mag  das  auch 
gewiß  bei  flüchtiger  Betrachtung  seine  Glaubwürdig* 
keit  herabsetzen,  so  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  der 
Grund  hierfür  zumeist  bei  uns  selber  liegt.  Die 
Zahl  der  Selbstbiographien  —  auch  von  sehr  nüchs^ 
ternen  Leuten  —  in  denen  der  Verfasser  von  übers^ 
sinnlichen  Erlebnissen  erzählt,  ist  auch  heute  noch, 
trotz  des  entgegenstehenden  Modedogmas  und  trotz 
des  leichten  Risikos,  das  jeder,  der  Übersinnliches 
von  sich  erzählt,  läuft,  sehr  groß.  Fast  jeder  hat 
—  das  ist  heute  genau  so,  wie  in  der  fernsten  Vor*! 
zeit  —  in  seinem  Leben  irgendwelches  Erlebnis  gehabt, 
das  er  sich  nicht  oder  nur  durch  Zufall,  was  das 
Gleiche  ist,  erklären  kann.  Früher  achtete  man  dar* 
auf,     heute    tut    man    es    nicht   mehr.       Das    ist    der 


74 

Unterschied.  Früher  mag  man  sein  Sinnen  und 
Trachten  so  sehr  auf  Vorzeichen  und  Ähnliches 
gerichtet  haben,  daß  die  Phantasie  manchen  bösen 
Streich  spielte.  Heute  hält  man  für  einen  Lügner 
oder  Phantasten  jeden,  der  wahrheitsgemäß  etwas 
berichtet,  was  nicht  jeden  Tag  passiert.  In  beiden 
Fällen  ist  der  Aberglaube  fast  der  gleiche;  nur  das 
Objekt  hat  gewechselt. 

Doch  genug  vom  Altertum.  Leicht  ließe  sich 
noch  mehr  Material  beibringen.  Für  unsere  Zwecke 
genügt  das  Gesagte  und  wir  wollen  uns  in  einem 
neuen  Kapitel  dem  Mittelalter  und  der  Neuzeit  zu*: 
wenden. 


75 


Zweites  Kapitel 

Einzelne  Prophezeiungen  und 
Vorzeichen 

Mittelalter  und  Neuzeit 

Ist  schon  die  Literatur  des  klassischen  Altertums 
reich  an  mehr  oder  minder  beglaubigten  übersinn* 
liehen  Phänomenen,  so  gilt  dies  noch  weit  mehr  von 
der  des  Mittelalters.  Das  Altertum  hat  zweifellos 
die  Kritik  häufig  vermissen  lassen,  was  freilich  bei 
dem  damaligen  Stande  der  naturwissenschaftlichen 
Kenntnisse  nicht  verwunderlich  ist.  Das  christliche 
Mittelalter  ging  darin,  gemäß  dem  allgemeinen  Kultur** 
Sturze,  noch  viel  weiter.  Kann  man  sagen:  die  Antike 
berichtet  manches  Unglaubwürdige,  wiewohl  es  uns« 
glaubwürdig  oder  gar  unmöglich  ist,  so  mag  es  vom 
christlichen  Mittelalter  heißen:  gerade  weil  etwas 
unmöglich  scheint,  wird  es  erzählt  und  geglaubt. 

Besonders  die  umfangreiche  Literatur  der  Heiligen* 
geschichten  bringt  es  mit  sich,  daß  nach  Außerordent* 
lichem  geradezu  gefahndet  wird.  Noch  heute  findet 
die  Kirche  es  zur  Heiligsprechung  erforderlich,  daß 
der    also    Ausgezeichnete    auch    „Wunder"    gewirkt 


76 


habe.  Noch  heute  gilt  das  sacrificium  intellectus,  das 
kritiklose  Glauben  selbst  an  den  haarsträubendsten 
Blödsinn  für  verdienstvoll. 

Ist  es  da  erstaunlich,  wenn  eine  Zeit,  die  zur 
allgemeinen  Kritiklosigkeit  infolge  mangelnder  Natur=: 
kenntnis  noch  die  Sucht,  möglichst  viele  und  mög* 
liehst  verblüffende  Wunder  verzeichnen  zu  können, 
hinzufügt,  an  Wust,  Unsinn  und  wildesten  Phantas* 
magorien  alles  je  Dagewesene  in  den  Schatten  stellt? 

Damit  ist  aber  keineswegs  gesagt,  daß  nun  alles, 
was  berichtet  wird,  weil  es  uns  erstaunlich  scheint, 
auch  falsch  sein  müßte.  Die  „voraussetzungslose" 
Forschung  der  Gegenwart  macht  es  sich  sehr  bequem, 
wenn  sie  alles  ablehnt,  was  sie  noch  nicht  erklären 
kann.  Und  doch  sollte  sie  gelernt  haben,  daß  dieses 
negative  Verhalten  nicht  viel  unkritischer  ist,  als  das 
der  verspotteten  Vorzeit. 

Heute  wissen  wir,  daß  es  tatsächlich  Stein:«  und 
Fischregen  gab  und  noch  gibt,  wir  wissen,  daß  die 
, .blutige**  Hostie  weniger  auf  einem.  Fehler  der  Be* 
obachtung,  als  der  Interpretation  des  Beobachteten 
beruht.  Wir  wissen  ferner,  daß  eine  große  Zahl  von 
Phänomenen,  die  noch  vor  wenigen  Jahrzehnten  ein*! 
fach  geleugnet  wurden,  nunmehr  zugegeben  und  durch 
Hypnose  oder  Suggestion  erklärt  werden.  Wie  der 
,, singende'*  oder  nahende  Karawanen  verkündende 
Sandberg  den  Geologen  kein  Rätsel  mehr  ist  und  seit* 
dem  die  Erklärung  gefunden,  seine  Existenz  auch  ein* 
geräumt  wird  —  daß  es  mehrere  solcher  Berge  gibt, 
wissen  wir  auch  erst  seit  ganz  kurzer  Zeit  — ,  so 
wurde  schon  vieles  und  wird  noch  mehr  aus  den 
Berichten    der  Alten  sich  bewahrheiten.     Hier   waren 


77 


CS  nicht  die  Erzähler  von  wunderbar  scheinenden 
l)in*;en,  die  sich  blamierten,  sondern  die  superklugen 
(belehrten  waren  es,  die,  bewaffnet  mit  dem  berühms: 
ten  Rüstzeug  der  modernen  Kritik,  die  Frage  nicht 
vorurteilslos    prüften,    sondern    kategorisch   negierten. 

Aus  alledem  ergibt  sich,  daß  auch  die  mittel 
alterliche  Literatur,  bei  gehöriger  kritischer  Verarbei* 
tung,  für  unsere  und  noch  manch  andere  Zwecke 
zweifellos  viel  wertvolles  Material  beizusteuern  ge^ 
eignet  wäre.  Hier  kritische  Methoden  zu  ersinnen  — 
denn  die  gegenwärtig  geübten  der  Negation  lassen 
durchaus  im  Stich  — ,  wird  ein  dankbares  Feld  der 
Zukunft  sein.  Wir  können  uns  der  Aufgabe  nicht 
unterziehen.  Weniger,  weil  es  den  Rahmen  der 
Untersuchung  zu  weit  ausdehnen  würde,  als  deshalb, 
weil  wir  damit  unserer  Beweisführung  nicht  dienen 
würden. 

Wie  die  Festigkeit  einer  Kette  nicht  durch  das 
stärkste,  sondern  durch  das  schwächste  Glied  bes= 
stimmt  wird,  so  auch  die  einer  Beweisführung.  Wir 
müssen  uns  deshalb  ängstlich  hüten,  allzuviel  Material 
zu  verwenden,  bei  dem  der  Kritiker  einwenden  kann, 
es  könne  ja  wahr  sein,  müsse  es  aber  nicht  sein. 

Deshalb  wollen  wir  uns  im  Nachstehenden,  unter 
teilweisem  Verzicht  auf  die  oben  skizzierte,  an  sich 
gewiß  außerordentlich  verlockende  Aufgabe,  damit 
begnügen,  einige  Beispiele  für  Prophetie  anzuführen, 
an  deren  Authentizität  sich  kaum  zweifeln  läßt.  Da^^ 
bei  schicken  wir  aber  voraus,  daß  wir  hier  nur  den 
Boden  für  die  weitere  Untersuchung  bereiten  wollen 
und  uns  völlig  darüber  klar  sind,  daß  ein  zwingen^ 
der   Beweis   auf   dem   in  den   beiden  ersten   Kapiteln 


78 

dieses  Buches  eingeschlagenen  Wege  nicht  zu  er* 
bringen  ist. 

Tommaso  Parentucelli,  Bischof  von  Bologna, 
bestieg  1447  als  Nikolaus  V.  den  Stuhr  PetfiT  Er 
hatte  in  der  Nacht  vor  Papst  Eugens  Tode  seine 
Wahl  geträumt,  ja,  mehr  als  das,  Kaiser  Friedrich  III. 
hatte  in  der  Nacht,  als  Parentucelli  Österreich  ver* 
ließ,  geträumt,  daß  er  von  ihm  zum  Kaiser  gelcrönt 
werde,  und  sich  gewundert,  daß  ein  einfacher  Bischof 
diese  feierliche  Handlung  vornehmen  würde.  Als 
nun  Nikolaus  wirklich  Papst  geworden  war,  zweifelte 
der  Habsburger  nicht,  daß  er  auch  die  Kaiserkrone 
aus  seinen  Händen  empfangen  würde.  Da  Äneas 
Sylvius,  der  nachmalige  Papst  Pius  IL,  zugegen  war, 
als  Nikolaus  und  Friedrich  sich  gegenseitig  ihre  Träume 
erzählten,  auch  in  seinem  Berichte  beifügt,  daß  vier 
weitere  Zeugen  anwesend  waren,  ist  die  Beglaubigung 
dieser  Vorahnung  völlig  einwandfrei^).  ^ 

Der  bekannte  Arzt  Thurneysser  gab  von  1573 
bis  1585  Kalender  heraus,  wobei  er  den  einzelnen 
Monatstagen  ,,Prognostika"  beisetzte.  Wunderbarer* 
weise  traf  manche  Vorhersage  erstaunlich  richtig  ein, 
so  daß  die  Vermutung  nicht  ferne  liegt,  Thurneysser 
habe  eine  gewisse  Sehergabe  besessen. 

Um  ein  Beispiel  anzuführen,  steht  im  Kalender 
von  1579  beim  17.  Dezember:  ,,Eine  schändliche  Tat 
einer  fürstlichen  Person."  Die  Erklärung  lautete  im 
Kalender  des  folgenden  Jahres:  ,,Auf  diesen  Tag  hat 
Signora  Bianca  Capelli  ihren  Stiefsohn  zu  Florenz 
mit  Gift  vergeben,  welcher  am  18.  Dezember  gestorben, 

')  Vgl.  Enncas  Sylvius  (Piccolomini),  Historia  Friderici, 
cd.  Kollar.  p.  136 


79 

da  denn  bald  hernach  tolget  ,Mord  oder  Totschlag 
einer  fürstlichen  Person*,  welches  also  erfolget').'* 

Es  sei  niemandem  verwehrt,  hier  Zufall  anzu« 
nehmen;  immerhin  ist  es  ein  recht  merkwürdiger  'Zuf 
fall,  denn  solche  Taten  passierten  auch  damals  nicht 
allzuoft,  und  ihre  Festlegung  auf  einen  bestimmten 
Tag  gibt  zweifellos  zu  denken. 

Pierre  d'Ailly  (geb.  1350  zu  Compiegne,  gest. 
zu  Avignon  zwischen  1419  und  1425),  Kanzler  der 
Sorbonne,  Almosenier  und  Beichtvater  des  Königs 
Karl  VI.,  Bischof  von  Puy,  dann  von  Cambray,  seit 
1411  Kardinal,  schrieb  unter  dem  latinisierten  Namen 
Petrus  de  Aliace  mit  dem  Titel  „Concordantia  Astro* 
nomiae  cum  Theologia,  Concordantia  Astronomiae 
cum  Historica  Narratione"  ein  Buch,  das  erst  im 
Jahre  1490  in  Augsburg  im  Druck  erschien. 

Pierre  d'Ailly,  der  übrigens  vornehmlich  den  Tod 
des  Johann  Huß  auf  dem  Konstanzer  Konzil  ver* 
schuldet  hat,  war  einer  der  angesehensten  Männer 
seiner  Zeit  und  wurde  wegen  seines  Scharfblicks 
„der  Adler   der   französischen  Gelehrten"   zubenannt. 

Wie  Ersch  und  Grubers  „Encyklopädie**  bemerkt, 
hatte  er  aber  die  „Schwäche**,  astrologischen  Berechs^ 
nungen  zu  glauben.  Fast  könnte  er  uns  zu  dieser 
Schwäche  durch  die  Lektüre  des  60.  Kapitels  ge* 
nannten  Werkes  bekehren. 

In  diesem  ,,de  octava  coniunctione  maxima**  be* 
titelten  Abschnitt  ist  zu  lesen,  daß  nach  der  großen 
achten  „Konjunktion**  des  Saturn  die  Vollendung  von 


^)  Vgl.    Eduard  Vehse,   Geschichte   des   preußischen   Hofes 
und  Adels  (in  der  Geschichte  der  deutschen  Höfe),  1.  Bd.,  S.  48. 


80 

gewissen  10  Umdrehungen  dieses  größten  Planeten 
im  Jahre  1789  stattfinden  wird. 

„Wenn  die  Welt  bis  zu  jenen  Zeiten  stehen 
wird,  was  allein  Gott  weiß,  dann  werden  große  und 
erstaunliche  Umwälzungen  und  Wandlungen  geschehen, 
die  am  meisten  die  Gesetze  und  das  Parteiwesen  hQ^ 
treffen." 

Also  eine  Vorherbestimmung  der  großen  franse 
zösischen  Revolution^)! 

Es  bedarf  keiner  Betonung,  daß  uns  der  astro* 
logische  Weg  völlig  unverständlich  ist.  Das  ändert 
aber  natürlich  nichts  daran,  daß  Berechnung  und 
Wirklichkeit  hier  harmonieren.  Jedermann  sei  es  auch 
hier  freigestellt,  den  Zufall  als  Begründung  anzu^ 
nehmen. 

Was  im  übrigen  die  Astrologie  betrifft,  in  früheren 
Jahrhunderten  die  bevorzugte  und  mit  Gold  über* 
häufte  Schwester  der  Astronomie,  so  beruht  der  Glaube 
an  sie  bekanntlich  auf  einem  supponierten  Einfluß 
der  Gestirne  auf  das  Leben  des  einzelnen. 

Es  ist  ohne  weiteres  klar,  daß  nur  kindische 
Spielerei  aus  der  Übereinstimmung  des  Planeten* 
namens  Mars  mit  dem  Kriegsgott,  oder  des  Planeten* 
namens  Venus  mit  der  freundlichen  Göttin  der  Liebe 
irgend  etwas   zu   folgern  vermag.     Man   hätte   selbst* 

*)  Vgl.  Walter  Bormann.  „Die  Nomen",  S.  206t.  Ailly 
beruft  sich  noch  auf  einen  „tractatus  de  magnis  coniunctionibus" 
von  Abumasar.  M.  J.  Schieiden  bespricht  in  seinen  ,, Studien", 
Leipzig  1855,  S.  264tt'.,  diese  Vorhersage  und  kommt  zu  dem 
Resultate,  da(^  sie  auf  einem  astronomischen  Rechenfehler  bcs 
ruhe,  da  der  grofW-  Saturnumlauf  nicht  300,  sondern  nur  2947^  Jahre 
betrage.  Das  braucht  uns  nicht  weiter  zu  kümmern,  da  es  an 
der  Tatsache  der  richtigen  Vorhersage  nichts  ändert. 


81 


verständlich  die  Gestirne  auch  anders  taufen  können 
und  die  Analogie  käme  dann  in  Fortfall. 

Anders  läßt  sich  allerdings  die  Sache  betrachten 
unter  der  Annahme,  daß  Jahrhunderte^»,  ja,  jahrtausendes* 
lange  Erfahrung  ein  Zusammentreffen  gewisser  Ereig^« 
nisse  und  Schicksale  mit  bestimmten  Konjunkturen 
der  Gestirne  ergeben  habe.  Wie  es  etwa  zahlreiche 
Menschen  gibt,  die  bei  Witterungswechsel  Rheumatis* 
mus  oder  Kopfweh  bekommen. 

Wäre  letztere  Annahme  richtig,  dann  müßte  allere* 
dings  —  eine  ausreichende  Erfahrung  und  genügend 
scharfe  Beobachtung  vorausgesetzt  —  wenigstens  in 
der  Regel  die  schwierige  astrologische  Berechnung 
mit  den  Tatsachen  übereinstimmen.  Das  ist  nun  aber 
keineswegs  der  Fall.  Vielmehr  sind  die  Beispiele, 
daß  selbst  die  größten  Astronomen  —  die  also  keine 
Kunstfehler  machen  —  sich  ganz  gründlich  irren, 
nichts  weniger  als  selten. 

So  sandten  zum  Beispiel  im  Jahre  1179  sämtliche 
Astrologen  Briefe  an  alle  Länder  und  verkündeten 
den  Untergang  des  Menschengeschlechtes  für  das 
Jahr  1186.  Oder  Johann  Stoff  1er  berechnete  für  das 
Jahr  1524  eine  neue  Sintflut  und  erregte  damit  das 
größte  Entsetzen  in  ganz  Europa.  Andere,  so  Georg 
Tannstetter  in  Wien,  griffen  zur  Feder,  um  das  Irrtum* 
liehe  dieser  Prophezeiung  zu  beweisen.  Es  war  auch 
notwendig,  etwas  zur  Beruhigung  der  Gemüter  zu 
tun,  denn  man  hatte  schon  begonnen  Archen  zu  bauen, 
um  für  alle  Fälle  gesichert  zu  sein. 

Cyprianus  Leovitius,  Hofmathematiker  des  Kurs= 
fürsten  Otto  Heinrich  von  der  Pfalz,  verkündete 
aus    den    Sternen    den    Weltuntergang    für    das   Jahr 

Kemmerich,  Prophezeiungen  6 


82 


1584^).  Diesen  Vorhersagen  des  Weltunterganges 
folgten  noch  viele  andere,  auf  die  einzugehen  wenig 
Interesse  bietet. 

Noch  im  18.  Jahrhundert  hat  ein  gewisser  Ziehen 
die  einfältigsten  astrologischen  Weissagungen  zum 
besten  gegeben.  So,  daß  die  Erdoberfläche  Europas 
sich  immer  mehr  gegen  Süden  senken  würde, 
daß  der  Ärmelkanal  austrocknen  würde  und  anderes 
mehr^. 

Überhaupt  ist  an  falschen  astrologischen  Prophe* 
zeiungen  gewiß  kein  Mangel.  So  hat  z.  B.  Kepler 
dem  damals  sechsundzwanzigjährigen  Wallenstein  im 
Jahre  1609  das  Horoskop  gestellt,  das  heute  noch  im 
Original  erhalten  ist.  Darin  sagt  er  dem  späteren 
großen  Feldherrn  neben  einigemRichtigen  auch  voraus, 
er  werde  im  siebzigsten  Lebensjahre  einem  viertägigen 
Fieber  erliegen. 

Melanchthon,  ein  heftiger  Gegner  des  Koperni* 
kanischen  Sonnensystems,  der  zu  einem  astrologischen 
Handbuch  des  Johann  Schoner  eine  lange  Vorrede 
verfaßte,  kehrte  einst  auf  einer  Reise  bei  seinem 
Freunde  Melander  ein.  Er  stellte  dessen  jüngstem, 
etwa  halbjährigen  Kind  das  Horoskop  und  prophe* 
zeite,  daß  es  gleich  seinem  Vater  sehr  gelehrt  sein 
werde  und  als  tapferer  Streiter  Gottes  zu  hohen  geist* 

*)  Vgl.  Schieiden,  Studien.  S.  247 f.  Über  Astrologie  - 
vom  gegnerischen  Standpunkt  aus  —  vergleiche  dessen  Aufsatz 
..Wallenstcin  und  die  Astrologie",  Studien,  S.  217 f.  Es  mag 
Vielen  neu  sein,  dal^  unter  dem  Namen  „Zodiakus"  seit  1910 
eine  deutsche  astrologische  Zeitschritt  erscheint. 

*)  Vgl.  Ch.  Lichtenberg,  Vermischte  Schritten,  IV.  Band. 
Göttingen   1802,  S.  214. 


83 


liehen  Würden  gelangen  würde.    Darauf  rief  Melander 
lachend  aus:  „Philippe,  Philippe,  es  ist  ja  ein  Mägd^ 

Solche  und  ähnliche  Entgleisungen  der  Astrologie 
sind  außerordentlich  häufig.  Dagegen  werden  wir 
aber  noch  sehen,  daß  auch  Vorhersagen  erstaunlich 
richtig  eintreffen.  Letzteres  läßt  sich  natürlich  am 
einfachsten  durch  Zufall  erklären,  was  einem  Verzicht 
auf  Erklärung  gleichkäme.  Ob  wir  zu  diesem  Auss: 
kunftmittel  in  allen  Fällen  greifen  müssen,  wollen  wir 
vorläufig  dahingestellt  sein  lassen.  Soviel  ist  jeden* 
falls  sicher:  eine  Methode,  die  zu  so  zahlreichen  Miß* 
griffen  führt,  wie  die  astrologische,  ist  mangelhaft, 
vielleicht  überhaupt  ganz  falsch.  Auf  keinem  Fall 
kann  der  Astrologie  für  sich  allein  und  in  ihrer  bis* 
herigen  Handhabung  ein  hoher  prophetischer  Wert 
beigelegt  werden. 

Daß  Goethe  der  Astrologie  nicht  völlig  fern 
stand,  was  gewiß  manchen  interessieren  wird,  mag 
aus  dem  Anfang  seiner  ,, Dichtung  und  Wahrheit*' 
hervorgehen.  Er  schreibt  hier  im  ersten  Buche  des 
ersten  Teils: 

„Am  28.  August  1749,  mittags  mit  dem  Glocken* 
schlage  zwölf,  kam  ich  in  Frankfurt  am  Main  auf 
die  Welt.  Die  Konstellation  war  glücklich;  die 
Sonne  stand  im  Zeichen  der  Jungfrau  und  kulminierte 
für  den  Tag;  Jupiter  und  Venus  blickten  sich  freund* 
lieh  an,  Merkur  nicht  widerwärtig;  Saturn  und  Mars 
verhielten  sich  gleichgültig:  nur  der  Mond,  der  so* 
eben  voll  ward,  übte  die   Kraft   seines   Gegenscheins 

')  Schieiden,  Studien,  S.  243. 


84 

um  so  mehr,  als  zugleich  seine  Planetenstunde  einge;« 
treten  war.  Er  widersetzte  sich  daher  meiner  Geburt, 
die  nicht  eher  erfolgen  konnte,  als  bis  diese  Stunde 
vorübergegangen. 

Diese  guten  Aspekten,  welche  mir  die  Astrologen 
in  der  Folgezeit  sehr  hoch  anzurechnen  wußten, 
mögen  wohl  Ursache  an  meiner  Erhaltung  gewesen 
sein:  denn  durch  Ungeschicklichkeit  der  Hebamme 
kam  ich  für  tot  auf  die  Welt,  und  nur  durch  vielfache 
Bemühungen  brachte  man  es  dahin,  daß  ich  das 
Licht  erbHckte." 

Tycho  de  Brahe  deutete  den  neuen  Stern,  der 
1 1572  in  der  Cassiopeia  erschien,  als  Ursache  der 
i  Geburt  eines  tapferen  Prinzen,  dessen  Waffen 
Deutschland  überstrahlen,  der  selbst  aber  1632  wieder 
verschwinden  würde.  Er  verfaßte  darüber  die 
Schrift:  „De  Stella  nova  in  Cassiopea  exorta."  Die 
Deutung  auf  Gustav  Adolf  von  Schweden  liegt 
nahe  genug.  Allerdings  wurde  er  erst  1594  geboren, 
starb  aber  1632. 

Kepler  sagte  in  seiner  astrologischen  ,, Practica" 
für  das  Jahr  1619  den  Tod  des  Kaisers  Matthias 
richtig  voraus,  und  zwar  durch  ein  sechsfaches  M. 
M(agnus)  M(onracha)  M(atthias)  M(ense)  M(artis) 
M(orietur),  d.  h.  der  große  Monarch  Matthias  wird  im 
Monat  März  sterben.  Das  war  auch  richtig,  denn 
der  Kaiser  schloß  die  Augen  am  20.  dieses  Monats. 
Der  Astronom  J.  H.  Vogtius  sagte  nicht  nur 
das  Ende  seines  Sohnes,  der  als  Mörder  hingerichtet 
wurde,  sondern  auch  im  Jahre  1682  den  Untergang 
Moskaus  vorher  mit  den  Worten:  ,,Moscovia  infor* 
tunium  suum  noc  evitabit."     BekanntUch   verbrannte 


85 


die  alte  Hauptstadt  im  Jahre  1812.     Vogtius,  ein  gc* 
lehrter  Mann,  starb  zu  Stade  im  Jahre   1691  '). 

Der  Astrologe  Andreas  Goldmayer  (geb.  1603) 
sagte  1632  in  Straßburg  voraus,  daß  Gustav  Adolf 
bei  Lützen  eines  gewaltsamen  Todes  sterben  würde. 
Diese  Vorhersage  war  Ursache,  daß  er  die  Stadt 
verlassen  mußte.  Als  sie  sich  aber  erfüllt  hatte, j 
erntete   er    Ruhm    und  Ferdinand  III.    zeichnete    ihn| 

aus'O. 

Man  wird  zugeben,  daß  das  Eintreffen  dieser 
Vorhersage  ein  merkwürdiger  Zufall  ist.  Wallens: 
stein  war  ganz  begeistert  von  der  treffenden  Sicher^ 
heit,  mit  der  Kepler  aus  den  ihm,  ohne  nähere  Kennte: 
nis  der  Person,  übermittelten  astrologischen  Daten, 
Charakter    und   Gestalt    der  Herzogin   erkannt  hatte. 

Übrigens  versäumte  der  große  Astronom  nie, 
einem  Horoskop  oder  einer  Nativität  die  Bemerkung 


^)  Vgl.  Tharsander,  Schauplatz  sonderbarer  Meinungen 
I,  S.  187.  Goclenii  Libri  Uraniae  divinatricis.  Marp.  1694. 
Zitiert  nach  (Vulpius)  „Curiositäten  der  Vor*  und  Mitwelt" 
5.  Bd.,  Weimar  1816,  S.  15.  Hier  sei  nicht  verschwiegen,  daß 
die  Tradition,  Lucas  Gauricus  habe  den  Tod  Heinrichs  II. 
von  Frankreich  vorhergesagt  —  vgl.  „Curiositäten"  S.  15  — 
falsch  ist.  Vgl.  (Adelung)  Geschichte  der  menschlichen  Narr* 
heit,  II.  Bd.,  Leipzig  1786,  S.  261.  Hier  sind  noch  andere 
falsche  Nativitäten  notiert.  Vgl.  auch  Süden,  Gelehrter  Kriti? 
kus,  3.  Bd.,  S.  62.  Weitere  Literatur  in  „Curiositäten",  5.  Bd., 
S.  15  Anm.  "**.  Was  Keplers  Vorhersage  des  Todes  von  Matthias 
betrifft,  so  kann  ich  sie  bei  Frisch,  J.  Kepleri  opera  omnia,  I.  B., 
Frankfurt  1858,  p.  483 ff.,  nicht  finden. 

*)  Vgl.  Freher,  Theatrum  virorum  eruditorum,  p.  1551. 
Die  Schriften  Goldmayers  bei  (Adelung)  Geschichte  der  mensch? 
liehen  Narrheit,  4.  Bd.,  S.  218  ff. 


86 

hinzuzufügen,  die  seinen  Zweifel  an  der  Richtigkeit 
dieser  Kunst  ausdrückte^). 

Auch  der  Tod  Eduards  VII.  wurde  im  Horo* 
skop  vorgesehen^).  Zu  denken  gibt  auch,  daß  der 
Astrologe  A.  J.  Peare  schon  1868  aus  dem  Horoskop 
des  jetzigen  Königs  von  England,  der  damals  2  Jahre 
zählte,  voraussagte,  „dieser  Prinz  wird,  wenn  er  am 
Leben  bleibt,  König  von  England  werden  mit  dem 
Namen  Georg  V.*'  Übrigens  hat  der  König  das 
beklagenswerte  Schicksal  seines  Bruders  auch  im 
Horoskop,  und  seiner  Regierung  sollen  Katastrophen 
zu  Lande  und  Wasser  bevorstehen^). 

In  jüngster  Zeit  sagte  die  Pariser  Astrologin 
Mme.  Thebes  in  der  Neujahrsnummer  des  „Gaulois** 
1899  den  Tod  des  Präsidenten  Felix  Faure  vor:* 
her,  der  auch  wirklich  am  16.  Februar  dieses  Jahres 
eintrat.  Auch  hier  überlassen  wir  es  selbstverständ* 
lieh  dem  Leser,  Zufall  anzunehmen.  Das  ist  um 
so  mehr  erlaubt,  als  bei  einem  Manne  Ende  der 
fünfziger  Jahre  die  Todeswahrscheinlichkeit  in  einem 
Jahre  etwa  1  :  20  beträgt,  also  keineswegs  die  Irrtums* 
möglichkeit  enorm  ist.  Im  Keplerschen  Falle  wäre 
diese  Zahl,  da  der  Monat  angegeben  ist,  natürlich 
noch  mit  12  zu  multiplizieren. 

Bemerkenswert  ist  auch,  daß  ein  englischer 
und  ein  französischer  Astrologe,  deren  Namen  ver* 
schwiegen  werden,  durch  das  Horoskop  gefunden  haben, 
daß  Dreyfuß  unschuldig  sei  und  Ende  des  Jahres 

*)  Vgl.  Allgemeine  deutsche  Biographie.   15.  Bd.,  p.  618. 
')  Vgl.  Albert  Kniept.  Zodiakus.   1911,  S.  3rt'. 
")  Vgl.  Zadkiels  Almanac   1911,  London,  nach  gütiger  Mit? 
teilung  des   Herrn   A.  Kniepf. 


87 


1899,  wohl  im  Oktober,  freigelassen  würde.  Bis 
dahin  werde  er  trotz  seiner  Unschuld  im  Exil  bleiben 
müssen.  Tatsächlich  wurde  der  unglückliche  Haupt? 
mann  am  21.  September  1899  begnadigt. 

Was  an  diesen  Astrologen  Wahres  ist,  entzieht 
sich  meiner  Kenntnis.  Da  aber  die  angegebene  Vor* 
hersage  bereits  in  der  siebenten  Nummer  der  Zeit? 
Schrift  für  Spiritismus  vom  18.  Februar  1899  erschien, 
so  handelt  es  sich  zweifellos  um  eine  richtige  Vorhersage. 

Gerade  hier  scheint  es  aber  nicht  am  Platze, 
dem  Fall  außerordentliche  Bedeutung  beizulegen. 
Denn  da  die  Dreyfußaffäre  die  ganze  Welt,  in  erster 
Linie  Frankreich  beschäftigte,  so  werden  zahllose 
Leute  prophezeit  haben.  Da  es  ferner  nur  die  Mög? 
lichkeiten  schuldig  oder  unschuldig,  Freilassung  oder 
Exil  gab  und  auch  der  Natur  der  Sache  nach  nicht 
viele  Termine  in  Frage  kommen  konnten,  so  läßt 
sich  eine  Wahrscheinlichkeitsrechnung  ohne  Schwierig? 
keit  konstruieren.  Da  das  Verhältnis  der  wirklichen 
zu  den  möglichen  Fällen  nur  begrenzt  ist,  so  wäre 
gerade  bei  dieser  Prophezeiung  Zufall  keineswegs  aus? 
geschlossen. 

Cardanus,  einer  der  geistreichsten  Astrologen  und, 
wie  bekannt,  berühmter  Mathematiker  und  Arzt,  ließ 
im  Jahre  1543  in  Nürnberg  ein  Werk  ,,Zwei  Bücher 
des  Cardanus  usw.**  erscheinen,  in  dem  er  67  Horo? 
skope  von  bedeutenden  Menschen  aller  Zeiten  ver? 
öff entlicht,  so  das  des  Patrarcha,  Karls  V.,  Albrecht 
Dürers  u.  a.  Hier  findet  sich  auch  folgende  Charakter? 
skizze  Luthers,  dessen  Geburtstag  er  fälschlich  auf 
den  22.  Oktober  1483  festgesetzt.     Sie  lautet: 

,,Dies    ist    das    wahre  Horoskop  Luthers.     Auch 


88 

mußte  eine  so  bedeutende  Erscheinung  einen  solchen 
Anfang  haben,  und  bei  einer  so  wunderbaren  Kon^ 
stellation  konnten  solche  Folgen  nicht  ausbleiben. 
Denn  Mars,  Venus  und  Jupiter  traten  neben  der  Ähre 
der  Jungfrau  im  untersten  Winkel  des  Himmels  zu»» 
sammen,  so  daß  aus  ihrer  Verschwörung  notwendig 
auch  ohne  königliches  Blut  eine  fast  königliche  Ge? 
walt  hervorgehen  mußte.  Unglaublich  ist  es,  welche 
große  Anzahl  von  Anhängern  sich  diese  Lehre  in 
kürzester  Zeit  erworben  hat.  Schon  entbrennt  die 
Welt  in  wildem  Kampfe  ob  dieses  Wahnes,  der  doch, 
weil  Mars  sich  in  seine  Erzeugung  mischte,  in  sich 
selbst  zerfallen  muß.  Unzählig  sind  die  Köpfe,  welche 
in  ihm  herrschen  wollen,  und  wenn  nichts  anderes 
uns  von  seiner  Nichtigkeit  überzeugen  könnte,  so 
müßte  es  die  Menge  der  verschiedenen  streitenden 
Meinungen  sein,  da  doch  die  Wahrheit  nur  eine 
einzige  ist,  die  vielen  verschiedenen  Ansichten  also 
notwendig  abirren.  Nichtsdestoweniger  zeigen  uns 
Sonne  und  Saturn  an  dem  Orte  der  zukünftigen 
großen  Konjunktion  die  Festigkeit  und  lange 
Dauer  dieser   Ketzerei." 

Selbst  Schieiden  muß  zugeben,  daß  diese  Prophe^^ 
zeiung,  wenigstens  was  ihren  Schluß  betrifft,  von 
erstaunlicher  Richtigkeit  ist,  und  das  wiewohl  Car* 
danus  das  dogmatische  Gezänk,  den  Krebsschaden  der 
Reformation,  ganz  richtig  als  Gefahr  erkannt  hatte. 

Einigermaßen  merkwürdig  ist  auch  die  Prophet 
zeiung,  die  Johannes  Capistrano  in  seiner  ,,Astro= 
nomie**  im  Jahre  1460  nebst  mancher  anderen  be* 
merkenswerten  für  das  Jahr  1622  gibt.  Sie  lautet: 
,, Der  große  Low  von  Mitternacht  zeucht au(5,  und 


89 

kömpt  nicht  heim,  er  habe  dann  verricht,  was  ihme 
befohlen,  viel,  die  sich  für  klug  achten,  werden 
sprechen:  Non  putaram,  andere  werden  sagen:  Hab 
ich  das  nicht  ehe  gesagt,  die  aber,  so  es  am  härtsten 
trejften  wird,  werden  blind  seyn,  und  den  Löwen  für 
einen  Hanen  halten,  für  welchem  sich  auch  kein 
Adler  fürchtet.  Er  wird  aber  im  1622.  Jahr  sehr 
brüllen,  daß  die  Erde  erzittert,  unnd  alle  Menschen 
sehr  erschrecken  werden." 

Wenn  Capistranus  sich  auch  um  einige  Jahre 
irrte,  so  stimmt  doch  die  Tatsache.  Denn  die  Deutung 
auf  Gustav  Adolf  ist  geboten.  Bedenkt  man,  daß 
damals  Skandinavien  noch  gar  keine  Rolle  spielte, 
so  wird  man,  angenommen  es  spiele  hier  der  Zufall, 
immerhin  zugeben  müssen,  daß  es  ein  merkwürdiger 
Zufall  ist. 

Merkwürdig  ist  auch  der  unmittelbar  anschließende 
Passus:  „Niederland  wird  sich  heiß  und  hefftig  umb 
aller  Welt  Händel  annemen,  unnd  überall  vorne  an 
der  spitzen  seyn  wollen."  Daß  in  diese  Zeit  der 
Kriege  mit  Spanien  die  höchste  Blüte  der  Nieder:* 
lande,  damals  des  reichsten  Landes  Europas,  fällt,  ist 
hinlänglich  bekannt.  Daß  ab  1620  Deutschland  in 
eine  große  Kriegsperiode  eintritt,  sagt  Capistrano 
auch  voraus.  Gewiß  ist  der  Anfang  nicht  genau 
richtig  angegeben,  die  Tatsache  stimmt  aber^). 

Die  angeführten  Beispiele  aus  der  Astrologie 
dürften  um  so  mehr  genügen,  als  sie  aus  einschlägigen 

^)  Zitiert  nach  „Woldenckwürdige  Weissagung  unnd  Prophe* 
ceyung,  von  den  jetzigen  Läufften,  unnd  sonderlich  von  dem 
noch  innstehenden  1619.  Unnd  nachfolgenden  1620.  1621.  1622. 
1623  Jahre.  Von  Johanne  Capistrano  usw."  1619.  VII.  Abschnitt. 


90 

Werken  leicht  vermehrt  werden  können.  Wir  wollen 
nun  noch  nachstehend  eine  Reihe  von  Vorhersagen 
zusammenstellen  ohne  Rücksicht  darauf,  auf  welchem 
Wege  sie  gewonnen  wurden. 

Als    im   Jahre    1610    König    Heinrich    IV.    von 
Frankreich  gegen  Spanien  rüstete,  bestimmte   er  für 
die  Zeit  seiner  Abwesenheit  seine  Gemahlin  Maria 
von    Medici    zur    Regentin.      Schon    im    Begriff   der 
Abreise  zur  Armee,  wiederholte  seine  Gemahlin  ihre 
Bitte,  sich  vor  seiner  Abreise  salben  und  krönen  zu 
lassen,  um  dadurch  ihrer  Regentschaft  in  den  Augen 
des  Volkes  mehr  Glanz  zu  verleihen.     Er  zeigte  an-^ 
fangs   die    größte  Abneigung    dagegen.      Nicht  nur, 
weil   diese  FeierUchkeit  bedeutende   Summen  kosten 
und    ihn    noch    einige    Zeit    in    Paris    zurückhalten 
würde,  sondern  auch  wegen  der  gegen  SuUy  ausge^ 
sprochenen    Besorgnis,    daß    sie    die    Ursache    seines 
Todes  sein  würde.    Denn  ihm  war  verkündet  worden, 
er  werde  bei  dem  ersten  Feste,  das  er  veranstalte, 
getötet  werden.      Endlich   willigte   er  in   die   Bitte 
der  Königin  und  bestimmte  am  12.  Mai  den  folgen, 
den  Tag    zu    ihrer   Krönung  und  den   16.   zu  ihrem 
feierlichen    Einzug    in    Paris.      Die     Krönung     und 
Salbung  fand  mit  großer  Pracht  zu  St.  Denys   statt. 
Am  folgenden  Tage,  dem  14.  Mai  1610,  wollte   der 
König  vom  Louvre   zum  Arsenal   fahren,   um   SuUy. 
der    hier  wohnte    und  krank  war,    zu    besuchen.     In 
seinem    Wagen,    der    wegen    des    schönen   Wetters 
offen    war,    saßen    noch    die  Herzöge    von    Epernon 
und  Montbazon    und    fünf   weitere    Personen.     Eme 
kleine  Anzahl  Edelleute  zu  Pferde  und  einige  Diener 
zu    Ful^    folgten    ihm.      Die    Straße    La    Fcrronncrie. 


91 


welche  schon  durch  Buden,  die  an  die  Mauer  des 
neben  ihr  liegenden  Kirchhofes  gebaut  waren,  sehr 
verengt  war,  wurde  durch  einen  mit  Wein  beladenen 
Wagen  und  einen  Heuwagen  gesperrt,  so  daß  der 
König  anhalten  mußte.  Die  meisten  der  ihm  folgen* 
den  Edelleute  und  Diener  schlugen  den  Weg  über 
den  Kirchhof  ein,  um  an  dem  anderen  Ende  der 
Straße  sich  wieder  dem  königlichen  Wagen  anzu* 
schließen.  Während  von  den  zwei  Zurückgebliebenen 
der  eine  vorwärts  ging,  um  Platz  zu  machen,  und 
der  andere  sich  bückte,  um  sein  Knieband  zu  he^ 
festigen,  trat  ein  Mann  auf  das  Hinterrad  des 
Wagens  und  stieß  dem  König,  der  soeben  aufmerk* 
sam  einen  Brief  anhörte,  den  Epernon  ihm  vorlas, 
ein  Messer  etwas  oberhalb  des  Herzens  in  die 
Brust.  Der  König,  rief  aus  „ich  bin  verwundetl" 
Im  selben  Augenblick  traf  ein  zweiter  Stoß  sein 
Herz  und  sogleich  stürzte  ihm  das  Blut  in  solcher 
Menge  aus  dem  Mund,  daß  er  erstickte.  Der 
Mörder  hieß  Franz  Ravaillac^). 

Bassompierre,  der  in  seinen  Memoiren  diese  Er* 
Zählung  bestätigt,  weiß  noch  von  Vorzeichen  bzw. 
Vorahnungen  zu  berichten:  ,,Er  (der  König)  sagte 
mir  kurze  Zeit  vorher  (d.  h.  vor  seiner  Ermordung): 
,Ich  weiß  nicht,  was  das  ist,  Bassompierre,  aber  ich 
kann  mich  nicht  davon  überzeugen,  daß  ich  nach 
Deutschland  gehen  werde  und  das  Herz  sagt  mir 
nicht,  daß  du  auch  nach  Italien  gehen  wirst*. 
Wiederholt    sagte    er    mir    und    auch    andern:    ,Ich 

*)  Vgl.  E.  A.  Schmidt ,  Geschichte  von  Frankreich  in 
Heeren  und  Ukert,  Geschichte  der  europäischen  Staaten,  3.  Bd., 
Hamburg  1846.  S.  386  f 


92 


glaube  bald  zu  sterben'.  Und  am  ersten  Tage  des 
Mai,  als  er  aus  den  Tuilerien  durch  die  große 
Galerie  zurückkehrte  (er  stützte  sich  immer  auf 
jemand)  und  er  Mr.  de  Guyse  an  der  einen  Seite 
führte  und  mich  auf  der  andern  und  uns  erst  ver# 
ließ,  als  er  im  Begriffe  war,  ins  Gemach  der  Königin 
einzutreten:  da  sagte  er  uns:  , Gehen  Sie  nicht  fort, 
ich  gehe  nur  fort,  um  meine  Frau  zu  veranlassen, 
sich  schnell  anzuziehen,  damit  sie  mich  beim  Essen 
nicht  warten  läßt',  denn  er  speiste  gewöhnlich  mit 
seiner  Gemahlin. 

Wir  stützten  uns,  ihn  erwartend,  auf  das  eiserne 
Geländer,  das  auf  den  Hof  des  Louvre  geht;  als 
plötzlich  der  Maibaum  den  man  hier  in  der  Mitte 
eingesetzt  hatte,  umfiel,  ohne  durch  den  Wind  oder 
eine  andere  Ursache  erschüttert  worden  zu  sein,  und 
dabei  nach  der  Seite  der  kleinen  Treppe  zu,  die  zum 
Zimmer  des  Königs  führt,  stürzte.  Ich  sagte  darauf 
zu  Herrn  von  Guyse:  ,Ich  wollte  viel  darum  geben, 
wenn  das  nicht  passiert  wäre;  das  ist  ein  sehr 
schlechtes  Omen.  Gott  wolle  den  König  schützen, 
der  ja  der  Maibaum  des  Louvre  ist.' 

Er  antwortete  mir:  ,Was  sind  Sie  närrisch,  an 
solche  Sachen  zu  denken  1'  Ich  entgegnete:  ,In 
Italien  und  Deutschland  würde  man  von  einem 
solchen  Vorzeichen  noch  ganz  anderes  Aufhebens 
machen,  wie  wir  jetzt  hier.  Gott  schütze  den  König 
und  alles  was  ihn  betrifft.' 

Der  König,  der  nur  ins  Gemach  der  Königin 
eingetreten  war  und  es  gleich  wieder  verlassen  hatte, 
war  ganz  leise  herangetreten,  um  uns  zuzuhören,  im 
Glauben,   wir  sprächen   von   irgendeiner  Dame,   ver* 


93 


nahm  alles,  was  ich  gesagt  hatte  und  unterbrach  uns 
mit  den  Worten:  ,Ihr  seid  närrisch  euch  über  solche 
Vorzeichen  zu  unterhalten:  seit  dreißig  Jahren  haben 
alle  Astrologen  und  Charlatans,  die  es  zu  sein  vor* 
spiegeln,  mir  alljährlich  vorherverkündet,  daß  ich 
mein  Leben  aufs  Spiel  setze;  et  celle  que  je  mourray, 
on  remarquera  lors  tous  les  presages  quy  m'en  ont 
adverti  en  celle,  dont  Ton  fera  cas,  et  on  ne  parlera 
pas  de  ceux  quy  sont  avenus  les  annees  prece^ 
dentes')/ 

!  Nach     diesem    Bericht,     der    den    Stempel    der 

Wahrheit  an  der  Stirn  trägt,  wird  man  wohl  kaum 
an  der  Tatsächlichkeit  der  Vorhersage  eines  gewalt*! 
samen  Todes  zweifeln  können. 

Übrigens     soll     auch     ein     Edelmann     Namens 

jVillandry  und  der  Astrolog  Rizacasa  das  Attentat 
auf  Heinrich  IV.  vorhergesagt  haben  ^). 

Katharina  von  Medici  sagte  dem  Herzog  von 
Biron  seinen  Tod  bei  der  Belagerung  von  Epernay 
voraus. 

!  Der  Bruder  des  Herzogs,  der  denselben  Astro* 
logen  fragte,  dessen  sich  auch  Katharina  bediente, 
erhielt  folgende  Antwort: 

„Er  wird  unter  dem  Henkerbeil  sterben.** 
,,Was  soll  das  heißen?**  rief  Biron  aus. 
,, Gnädiger  Herr,  wenn  ich  mich  besser  ausdrücken 
soll,  so  muß  ich  sagen,  daß  ihm  der  Kopf  zerrissen 
wird.'* 


^)  „Journal  de  ma  vie"  Memoires  du  marechal  de  Bassom= 
pierre.     I.  Bd.,  Paris  1870,  p.  270  f. 

^)  Vgl.  A.  Debay,  Histoire  des  sciences  öccultes.  Paris  1860, 
,p.  103.     Das  Folgende  eb.  p.  103  f. 


94 


Der  erzürnte  Biron  richtete  in  seiner  Wut  den 
armen  Astrologen  darauf  übel  zu  und  ließ  ihn  auf 
dem  Boden  liegen.  Dieser  Gewaltakt  hinderte  nicht, 
daß  die  Prophezeiung  nach  sechs  Monaten  in  Er# 
füllung  ging.  Eine  Kanonenkugel  raffte  den  Herzog 
hinweg. 

Ein  besonderes  Interesse  verdienen  die  Visionen 
des  sonst  unbekannten  Joachim  Greulich,  die  ihrer 
Zeit  ein  ungeheures  Aufsehen  machten.  Die  som= 
nambulen  Zustände  des  Greulich  stellten  sich  öfter 
und  zuletzt  täglich  ein.  Greulich  verlor  im  tagwachen 
Zustande  nicht  die  Erinnerung  an  seine  auf  die  polis» 
tische  Lage  der  Staaten  und  Hauptstädte  Europas 
bezüglichen  Visionen,  sondern  führte  über  sie  ein 
Tagebuch.  Einige  Stellen  dieses  Tagebuches  seien 
nachstehend  wiedergegeben  ^) : 

Am  18.  August  „kam  der  Engel  GOttes  wieder 
zu  mir  um  die  mitternachtsstunde  und  sprach  zu  mir: 
Siehe  in  den  himmel,  wie  er  so  blutig  ist;  da  sähe 
ich  darinne  ein  blutiges  schwerd,  und  neben  dem 
schwerd  stund  mit  güldenen  buchstaben  geschrieben: 
Du  schöne  Stadt  Erfurt;  und  auff  der  andern  Seiten 
stund  wieder  mit  güldenen  buchstaben  geschrieben: 
Große  feuersbrünsten,  die  in  dieser  stadt  auskommen 
werden;    über  dem  schwerdt  aber  stund  geschrieben, 

')  Zitiert  nach  Gottfried  Arnold,  Kirchen ^  und  Ketzer^ 
historie.  3.  Teil,  Frankfurt  a.  M.  1700.  Kap.  26,  S.  248ff.  Die 
(ungedruckte)  „Relation",  der  Arnold  diese  Visionsberichte  ent; 
nommen  hat,  trägt  die  Aufschrift:  ,,So  schrieb  anno  1653.  am 
II.  Ptingsttage  im  namen  der  Meiligen  Oreylaltigkeit,  ich  Joa= 
chim  Greulich,  und  bekenne  mit  GOTT  und  dem  Vater,  den 
Sohn,  und  den   Heiligen  Geist,  wie  folgt  .  .  ." 


95 


grof^  auffruhr,  rcbcllerey  wird  sich  da  begeben, 
sonsten  keinen  krieg  weiß  ich  ihnen  anzuzeigen; 
dann  dieses  schwerd  ist  ihnen  selbst  in  ihre  band 
gegeben." 

Tatsächlich  legten  einige  Jahre  später  — die  Visionen 
wurden  1653  niedergeschrieben  —  mehrere  große  Feuers* 
brünste  das  damals  bedeutende  Erfurt  fast  ganz  in 
x\sche.  Anfangs  der  sechziger  Jahre  entstanden  Reibe* 
reien  zwischen  der  Bürgerschaft  und  dem  Rat,  welche 
jahrelang  dauerten  und  in  offene  Empörung  gegen 
Kurmainz  ausarteten.  Als  die  Erfurter  einen  kaiser* 
liehen  Herold,  der  der  Stadt  die  Reichsacht  verkünden 
sollte  (1660),  schwer  mißhandelt  hatten,  beauftragte 
Kaiser  Leopold  I.  den  Kurfürsten  Johann  Philipp 
von  Mainz  mit  der  Reichsexekution.  Dieser  belagerte, 
weil  wegen  der  Türkenkriege  kein  Reichskontingent 
verfügbar  war,  die  Stadt  mit  französischen  aus  Ungarn 
zurückkehrenden  Hilfstruppen  und  nahm  sie  durch 
Kapitulation  (1664)0- 

Greulich  hatte  auch  eine  auf  die  Belagerung 
Wiens  durch  Kara  Mustapha  und  die  große  Pest, 
die  80000  Menschen  dahinraffte,    bezügliche  Vision: 

„Den  29.  August  um  4  uhr  zu  nachts  kam  der 
Engel  GOttes  wieder  zu  mir  und  sprach:  Siehe  wieder 
in  den  Himmel,  wie  er  so  blutig  ist;  da  sähe  ich 
darin  pfitzschpfeile,  bögen  und  blutige  säbel,  und 
ein  creutz  auch  dabey,  und  neben  dem  säbel  stund 
geschrieben    mit    güldenen    buchstaben:    Du    schöne 

*)  Vgl.  V.  Tettau,  Erfurts  Unterwerfung  unter  die  mainzische 
Landeshoheit  1648-1664.  Halle  1887  in  den  „Neujahrsblättern", 
herausgegeben  von  der  historischen  Kommission  der  Provinz 
Sachsen  und  „Thüringische  Lesehalle",  1886,  S.  173  f. 


96 


Stadt  Wien,  du  wirst  schrecklich  von  den  Türeken 
betränget  werden;  und  über  den  pfitzschpfeilen,  bögen 
und  blutigem  säbel  stund  ein  schöner  adler,  und  ich 
fragte  den  Engel  GOttes,  was  der  adler  bedeuten  wird; 
da  sagte  er  mir,  der  Engel  GOttes,  nach  eroberung 
der  Stadt  Raab  werden  sich  die  Türeken  für  Wien 
machen,  daß  gleichsam  Käyserliche  Majestät  von 
seiner  Residentzs^stelle  weichen  wird  müssen,  jedoch 
werde  unsere  Käyserl.  Majestät  den  Türeken  gewaltig 
schlagen,  und  die  Türeken  mit  schand  und  spott 
wieder  vor  Wien  werden  abziehen  müssen;  keinen 
Teutschen  krieg  kan  ich  der  Stadt  Wien  anzeigen, 
auch  keine  straff  als  sterben  und  den  Türken." 

Auch  über  die  Vertreibung  der  Bourbonen  hatte 
Greulich  zwei  Visionen: 

Die  erste  besehreibt  er  (p.  253)  folgendermaßen: 
„Ady  den  28.  Aug.  zu  nacht  um  4  auff  der  großen 
uhr,  kam  der  Engel  GOttes  wieder  zu  mir  und 
sprach:  .  .  .  Und  nach  diesem  sprach  der  Engel 
GOttes  wieder  zu  mir,  ich  solte  in  den  himmel 
sehen,  wie  er  so  blutig  sey,  da  sähe  ich  darinnen  ein 
blutiges  schwerd,  und  ein  kreyß  oben  darauff,  und 
auf  der  rechten  Seiten  neben  dem  schwerd  stund 
geschrieben  mit  güldenen  buchstaben:  Ihr  Königl. 
Majestät  in  Franckreich,  und  auf  der  lincken  stund 
abermal  mit  güldenen  buchstaben  geschrieben:  Schönes 
Franckreich,  es  wird  jämmerlich  mit  dir  zugehen,  da 
fragte  ich  den  Engel  GOttes,  was  das  bedeuten  wird, 
da  sagte  er  zu  mir,  siehe  wol  an  den  himmel,  wie 
des  Königes  in  Franckreich  sein  Name  sich  daran 
verdunekelt,  und  er  hat  sich  gantz  verlohren, 
das  bedeut,  daß  er  soll  mit  den  seinen  verjagt 


97 


und  verderbet  werden,    und    es  wird   ein    sterben 
auch  dazu  kommen." 

Die  zweite  Vision  Greulichs  lautet: 
,,.  .  .  tJber  eine  weile  kam  der  Engel  GOttes 
wieder  zu  mir  und  sprach:  Sihe  in  den  himmel,  wie 
er  so  blutig  ist,  und  ich  sähe  darinnen  einen  grau^ 
Samen  stuhl  gesetzt;  und  auf  dem  stuhl  saß  einer  in 
einer  güldenen  crone,  und  er  hatte  in  seiner  rechten 
Hand  Scepter  und  Reichs^^apfel,  und  über  seinen  stuhl 
(der  grausam  schön  war  anzusehen)  stund  mit  güh 
denen  buchstaben  geschrieben:  Königl.  Majestät  in 
Franckreich,  und  über  der  schrifft  stund  eine  blutige 
fahne;  und  der  Engel  GOttes  sagte  zu  mir:  Siehe 
Jüngling,  da  kommen  des  Königs  in  Franckreich  seine 
Räthe,  die  ältisten  so  wol  als  die  jüngsten,  daß 
beysamt  der  blutigen  fahnen  kniend  für  dem  König 
in  Franckreich  sie  müssen  einen  eid  ablegen,  daß  sie 
bey  ihrer  treu  und  glauben  bey  ihme  leben  und 
sterben  wollen,  und  auch  gegen  ihres  Königs  feinde 
seyn  (der  Schwur  im  Ballhause  und  die  große  Feier 
auf  dem  Marsfeld!)  und  wie  das  verrichtet  war,  saß 
der  König  noch  auf  seinem  stuhl,  und  der  Engel 
GOttes  sprach  zu  mir:  Siehe,  Jüngling,  wie 
des  Königs  seine  crone,  scepter  und  Reichs* 
apfel  alles  verrostet,  und  es  anfangs  alles  schöne 
geglissen  hat,  nun  aber  siehestu,  daß  es  mit  allem 
Königlichen  Ornat  von  seinem  stuhl  herunter  gestoßen 

wirdO." 

Wenn  wir  uns  bei  der  Betrachtung  obiger  Visionen 
vor  Augen  halten,  daß  sie,  selbst  wenn  wir  an  Arnolds 

*)  Wir  haben  hier  und  weiter  oben  nur  gesperrt,  was  auch 
im  Original  gesperrt  gedruckt  ist! 

Kemmerich,   Prophezeiungen  7 


98 

Quelle  zweifeln  sollten,  da  er  ungedruckte  Papiere 
benutzt  zu  haben  behauptet,  ein  volles  Jahrhundert 
früher  publiziert  wurden,  als  sie  eintraten,  daß  also 
auch  nur  der  allerleiseste  Zweifel  an  ihrer  Authen* 
tizität  hinfällig  ist  —  denn  auch  Arnold  konnte  ja 
gar  keine  Ahnung  davon  haben,  daß  neunzig  Jahre, 
nachdem  er  es  im  Druck  erschienen  ließ,  das  Gesicht 
sich  realisieren  würde  —  dann  wird  wohl  auch  der 
größte  Verfechter  der  Unmöglichkeitss^  und  Zufalls* 
theorie  einigermaßen  bedenklich  werden. 

Um  die  volle  Wunderbarkeit  der  Prophezeiung 
richtig  bewerten  zu  können,  müssen  wir  uns  ver^^ 
gegenwärtigen,  daß  Greulich  so  gut  wie  Arnold  in 
der  Zeit  des  auf  die  Spitze  gesteigerten  Absolutismus 
lebten.  Man  muß  ferner  wissen,  daß  Frankreich, 
vom  Sonnenkönig  Ludwig  XIV.  regiert,  damals  auf 
dem  Gipfel  seiner  Macht  und  seines  Ansehens  stand. 
Es  lag  außerhalb  jeder  menschlichen  Berechnung 
sowohl  an  einen  Sturz  des  Königtums  irgendwo  in 
Europa,  als  besonders  an  den  der  glänzenden,  all* 
mächtigen  Bourbonen  Frankreichs  zu  denken. 

Die  Vision  wird  noch  erstaunlicher  durch  den 
Nebenumstand,  daß  der  König  erst  vertrieben  wird  — 
und  zwar  wie  der  „grausame  stuhl"  und  die  „blutige 
fahne"  andeuten  nicht  eben  sänftiglich ;  den  Henkerstod 
zu  prophezeien  scheute  sich  wohl  auch  ein  Greulich  — 
nachdem  ihm  der  Treueid  geleistet  worden  war.  Daß 
dieser  Zug  jede  Berechnung  ausschließt,  dürfte  kaum 
bestritten  werden  können. 

Wir  haben  es  hier  —  und  zwar  zum  ersten  Male 
in  diesem  Buche  —  mit  einer  richtigen  Vision  zu  tun. 
Die  Form,  in  der  die  Zukunft  enthüllt  wird,  das  Er* 


99 

scheinen  eines  Engels,  ist  höchst  befremdlich  und 
der  Verdacht,  es  handele  sich  um  Schwindel  oder 
Wahnideen,  liegt  nahe.  Wir  werden  aber  später  noch 
häufig  Gelegenheit  haben,  bei  anderen  Sehern  ganz 
!  Ahnliches  zu  finden.  Entscheidend  ist  hier  eben  nur, 
ob  die  Vorhersage  eintrifft  oder  nicht.  Und  da  hier 
letzteres  der  Fall  ist,  müssen  wir  wohl  oder  übel  das 
Phänomen  hinnehmen,  wie  es  sich  uns  bietet. 

Zur  Warnung  für  vorschnelle  Urteile  ist  es  nicht 
überflüssig,  daran  zu  erinnern,  daß  das  Problem  der 
Prophetie  noch  Neuland  ist.  Unsere  erste  Aufgabe 
muß  es  sein,  festzustellen,  ob  es  überhaupt  ein  Fern* 
sehen  in  der  Zeit  gibt.  Erst  wenn  das  geschehen  ist, 
kann  die  Untersuchung  der  Bedingungen,  unter  denen 
diese  Kraft  wirksam  wird,  uns  beschäftigen.  Wenn 
wir  also  auch  die  allerwunderlichsten  Berichte  finden 

—  wie  etwa  in  bezug  auf  Greulichs  Engel  —  so  werden 
;  wir  uns  hüten  müssen,  daran  herumzukritisieren.    Viel* 

mehr  handelt  es  sich  für  uns  zunächst  nur  darum, 
ob  dieser  angebliche  Engel  sich  durch  die  Wahrheit 
seiner  Eingebung  sozusagen  legitimiert. 

Wenn  eine  neue  Naturkraft  oder  irgendeine  Er:* 
scheinung  der  Natur  untersucht  werden  soll,  so  bes^ 
dient  sich  der  Naturforscher  zu  diesem  Zweck  des 
Experimentes.     Dann  ist  es  seine  Aufgabe  nicht  etwa 

—  wie  der  Laie  meinen  mag  —  der  Natur  das  Ex^ 
periment  aufzutrotzen,  sondern  ganz  im  Gegenteil  ihr 
die  Bedingungen  abzulauschen,  unter  denen  sie  den 
Versuch  gelingen  läßt.  Nicht  der  Naturforscher  stellt 
also  die  Bedingungen  auf,  sondern  die  Natur. 

Um  ein  Beispiel  zu  gebrauchen:  die  Entwicklung 
der  photographischen  Platte   ist  nur   in   der  DunkeU 


100 

kammer  bei  rotem  Lichte  zu  bewerkstelligen.  Dieser 
Bedingung  des  roten  Lichtes  hat  sich  der  Photograph 
einfach  zu  fügen  und  erst  wenn  er  auf  Grund  von 
vielfachen  Versuchen  zum  Resultate  gekommen  ist, 
daß  Licht  von  anderer  Farbe  ihm  die  Platte  verdirbt, 
wird  er  dazu  übergehen  die  Gründe  dieser  Erscheinung 
zu  prüfen.  Hier  stellen  also  das  rote  Licht,  die 
Natur,  die  Beschaifenheit  der  Platte  die  Bedingungen, 
und  die  Aufgabe  des  Experimentators  kann  nur  sein, 
diese  Bedingungen  herauszufinden  und  sich  ihnen 
zu  fügen.  Erst  auf  einer  höheren  Stufe  wird  er  dazu 
übergehen  können  die  Natur  —  scheinbar  —  zu 
zwingen. 

Leute,  die  sich  am  Engel  in  der  Prophetie  oder 
am  Symbolismus  vieler  Vorhersagen  stoßen,  er* 
scheinen  fast  so,  als  wollte  jemand  das  Schwimmen 
der  Fische  untersuchen  und  sich  darüber  aufregen, 
daß  das  nur  im  Wasser  vor  sich  geht.  Auf  dem 
trockenen  Lande  wären  doch  die  Beobachtungs* 
bedingungen  viel  bequemer! 

Was  übrigens  den  Sturz  der  Bourbonen  bzw. 
die  große  Revolution  betrifft,  so  wurde  sie  —  von 
Gazottes  Prophezeiung,  auf  die  wir  noch  eingehend 
zurückkommen  werden,  abgesehen  —  außer  von 
Greulich  und  Ailly  noch  von  Johannes  Cario  in 
seiner  1522  zu  Berlin  erschienenen  ,,Prognosticatio'* 
vorhergesagt.  Es  ist  nun  sehr  spaßhah,  daß  der 
superkluge  Adelung  noch  im  Jahre  1787  die  Richtig* 
kcit  dieser  Prognose  mit  folgenden  Worten  bestreitet: 

,,Noch  unbarmherziger  soll  es  in  dem  Jahre  1789 

fzugchen;     das    sollte    das    schrecklichste    unter    allen 

sein,    indem    in    demselben    große    und    wunderbare 


101 


Geschichten,  Veränderungen  und  Zerstörungen  vor^ 
fallen  würden.  Allein,  so  sehr  sich  der  Narr  in  iKm 
sehung  des  1693  sten  Jahres  betrogen  hat,  so  sehr 
wird  er  vermutlich  auch  1789  zum  Lügner  werden^).** 

Kehren  wir  noch  einen  Augenblick  zum  ,, Engel" 
zurück!  Das  es  sich  nicht  um  einen  der  biblischen 
Engel  handeln  kann,  sondern  nur  um  ein  Phantasie:! 
Produkt  unterliegt  natürlich  bei  Greulich  so  wenig, 
als  bei  irgendeinem  andern  Seher  dem  allergeringsten 
Zweifel.  Das  Wahrscheinlichste  ist,  daß  das  Kausa:« 
litätsbedürfnis  der  Propheten,  die  Eingebungen  haben 
ohne  zu  wissen,  woher  sie  stammen,  einen  Geist  oder 
Engel  oder  gar  Gott  selbst  erfinden  und  die  Figuren 
ihrer  Phantasie  dann  für  wirkliche  Personen  halten. 
Damit  ist  keine  Erklärung  des  hellseherischen 
Phänomens  gegeben,  es  sollen  lediglich  die  Seher  nach 
Tunlichkeit  von  dem  Verdacht  des  Schwindels  oder 
Irreredens  befreit  werden.  Denn  daß  es  sich  hierum 
nicht  handelt  —  wenn  auch  gewiß  beides  da  und 
dort  vorkommen  mag  —  geht  aus  dem  Inhalt  des 
Geschauten  und  dessen  Uebereinstimmung  mit  der 
Wirklichkeit  zur  Evidenz  hervor.  Im  übrigen  müssen 
wir  den  Leser  vorläufig  noch  um  Geduld  bitten. 

Ebenso  merkwürdig  fast,  wie  der  Engel  als  Ver* 
.mittler  der  Zukunft,  sind  Karten  und  Kaffeesatz  der 
Wahrsagerinnen.  Daß  es  noch  zahllose  andere  an^j 
gebliche  Mittel  gibt  Zukünftiges  zu  sehen,  Spiegel, 
Kristalle  usw.  sei  im  Vorbeigehen  bemerkt.  Darauf 
näher    einzugehen,    müssen    wir    ablehnen,     da    wir 


M  (Adelung)  Geschichte  der  menschlichen  Narrheit,  III.  Bd.. 
S.  118. 


102 

ja  nicht  untersuchen  wollen,  auf  welchem  Wege 
das  zeitliche  Fernsehen  zustande  kommt,  sondern  uns 
ganz  bescheiden  damit  begnügen  müssen,  festzustellen, 
ob  und  daß  es  ein  solches  tatsächlich  existiert. 

Um  aber  das  Unsere  zu  tun,  um  den  Leser  vor 
vorschnellem  Aburteil  zu  bewahren,  sei  folgende  in* 
teressante  Geschichte  hier  zum  besten  gegeben. 

,Eine  Freundin  von  mir,  Lady  A.,  wohnte  in 
den  Champs-Elysees.  An  einem  Oktoberabend  1883 
hatte  ich  bei  ihr  diniert.  Trotz  ihres  großen  Ver*= 
mögens  war  sie  eine  sehr  häusliche,  ordnungsliebende 
Dame  und  machte  jeden  Abend  ihre  Abrechnung 
vor  dem  Schlafengehen. 

Wie  sehr  war  sie  betroffen,  als  ihr  an  diesem 
Abend  3500  Frs.  aus  der  Innentasche  ihres  großen 
Reisekoffers  fehlten,  in  dem  sie  ihre  Juwelen  und  ihr 
Geld  verwahrte. 

Das  Schloß  war  nicht  verletzt;  nur  die  Ränder 
der  Tasche  waren  ein  wenig  verbogen.  Und  doch 
war  Lady  A.  überzeugt,  daß  sie  um  2  Uhr  nach* 
mittags  in  Gegenwart  ihrer  Kammerfrau  die  Tasche 
geöffnet  und  eine  Nota  bezahlt  hatte.  Dann  hatte 
sie  das  Geld  bestimmt  wieder  an  seinen  Platz  ge* 
legt.  Sie  schellte  ihrer  Kammerfrau  und  teilte  ihr 
den  Verlust  mit.  Diese  wußte  auch  nichts  anzugeben, 
erzählte  aber  dem  Personal  den  Verlust.  Die  Folge 
war,  daß  der  oder  die  Schuldige  Zeit  finden  konnte, 
das  gestohlene  Gut  in  Sicherheit  zu  bringen. 

Zeitig  früh  wurde  der  PoHzeikommissar  der  rue 
Berrycr  benachrichtigt.  Alles  wurde  verhört  und 
durchsucht,  umsonst. 

Der  Kommissar  besprach  noch  mit  Lady  A.  den 


103 

Fall  und  fragte  sie  aus,  wen  sie  am  ehesten  für  den 
Schuldigen  halte. 

Lady  A.  gab  ihre  ganze  Dienerschaft  als  ver* 
trauenswürdig  an;  ganz  ausgeschlossen  sei  aber  von 
dem  Verdacht  der  zweite  Kammerdiener,  ein  großer, 
19  jähriger  Mensch,  den  sie  aus  einer  Art  Protektion, 
die  er  sich  durch  seine  musterhafte  Haltung  erworben, 
zärtlich  ,den  Kleinen'  zu  nennen  pflegte. 

Der  Morgen  verlief  resultatlos.  Um  11  Uhr 
vormittags  schickte  Lady  A.  die  Erzieherin  ihrer 
jüngsten  Tochter  zu  mir  mit  der  Bitte,  ich  möchte 
diese  Dame  doch  zu  einer  Hellseherin  begleiten, 
deren  Fähigkeit  ich  vor  einigen  Tagen  gerühmt  hatte. 

Ich  kannte  diese  Hellseherin  auch  nur  aus  den 
Erzählungen  einer  Dame  und  wir  machten  uns  auf 
den  Weg. 

Unsere  Hellseherin,  Frau  E.,  brachte  eine  mit 
Kaffeesatz  gefüllte  Tasse  und  ersuchte  die  Erzieherin, 
dreimal  darauf  zu  blasen.  Dann  goß  sie  den  Kaffee*= 
satz  in  eine  zweite  Tasse  und  in  der  ersten  blieb  in 
verworrenen  Linien  nur  der  festere  Kaffeestaub  zurück. 
Darin  schien  unsere  Pythia  zu  lesen. 

Sie  breitete  ihre  Karten  aus  und  begann:  ,Ah! 
ein  Diebstahl .  .  .  Der  Dieb  ist  im  Hause  selbst  und 
hat  sich  nicht  erst  eingeschlichen.  Warten  Sie,  jetzt 
will  ich  aus  dem   Kaffeesatz  die  Details  herauslesen.* 

Sie  nahm  die  Tasse,  die  Erzieherin  mußte  wieder 
dreimal  blasen  und  sie  griff  nach  ihrem  Lorgnon. 

Als  hätte  sie  der  Szene  beigewohnt,  beschrieb 
sie  auf  das  genaueste  das  Zimmer  der  Lady  A. 
Sieben  Bediente,   die   sie  dem  Alter  und   Geschlecht 


104 

nach  genau  beschrieb,  sah  sie  in  dem  Haus.  Dann 
kam  sie  wieder  in  Lady  As.  Zimmer  zurück  und  be* 
merkte  einen  eigenartigen  Schrank^). 

,Warum  ist  dieser  Schrank  nicht  versperrt?  Er 
enthält  viel  Geld  .  .  .  in  .  .  .  wie  komisch  das  Ding 
ist!  ...  es  öffnet  sich  wie  ein  Portemonnaie  ...  es 
ist  kein  Koffer  ...  ah,  ist  weiß  .  .  .  ein  Reise* 
sack  .  .  .  welche  Idee,  hier  sein  Geld  aufzubewahren 
und  wie  unvorsichtig,  es  so  unverschlossen  zu  lassen! 
—  Die  Diebe  kennen  den  Sack  wohl  ...  sie  haben 
das  Schloß  nicht  verletzt.  Sie  biegen  die  Seiten  aus* 
einander  und  mit  einer  Schere  oder  mit  einer  Pin* 
zette  ziehen  sie  die  Banknoten  heraus.* 

Wir  lassen  sie  sprechen;  alles,  was  sie  sagt, 
stimmt  in  den  feinsten  Details  mit  der  Wahrheit 
überein.  Sie  hält  ermüdet  inne.  Wir  beschwören 
sie,  uns  den  Schuldigen  zu  nennen.  Sie  erklärt,  dies 
sei  gegen  die  französischen  Gesetze,  denn  man  dürfe 
ohne  Beweise,  nur  durch  okkultes  Wissen,  niemand 
als  einen  Verbrecher  bezeichnen. 

Da  wir  weiter  in  sie  dringen,  erklärt  sie,  das 
Geld  werde  niemals  gefunden  und  der  Dieb  nicht 
für  den  Diebstahl  bestraft  werden,  aber  in  zwei  Jahren 
würde  er  die  Todesstrafe  erleiden. 

So  oft  sie  von  dem  , Kleinen*  spricht,  sieht  sie 
ihn  bei  den  Pferden.  Wir  versichern  ihr,  er  sei 
Kammerdiener  und  komme  mit  den  Pferden  gar 
nicht  in  Berührung.  Aber  sie  besteht  auf  ihrer  Be* 
hauptung. 

')  Anm.  der  I*!rzhh!crin:  Hin  englischer  Schrank,  wie  sie 
ihn  wohl  noch  nie  gesehen  hatte.  —  Der  Fall  trägt  bei  Flammarion, 
Rätsel  des  Seelenlebens,  die  Nummer  LXXV  und  steht  auf  S.  411  tt. 


105 


Wir  lassen  also  diese  Kleinigkeit  fallen,  die  uns 
aber  in  ihren  sonst  so  richtigen  Angaben  stört. 

Vierzehn  Tage  später  entläßt  Lady  A.  ihren  Por* 
tier  und  ihre  Kinderfrau;  der  , Kleine*  tritt  ohne 
Grund  einige  Wochen  später  aus  ihrem  Dienst.  Das 
Geld  wird  nicht  gefunden,  und  ein  Jahr  später  reist 
Lady  A.  nach  Ägypten. 

Zwei  Jahre  nach  dem  Diebstahl  erhält  Lady  A. 
die  Aufforderung  vom  Tribunal  de  la  Seine,  als 
Zeugin  nach  Paris  zu  kommen.  Man  hatte  den  Dieb 
gefunden.  Es  war  Marchandon,  der  Mörder  Frau 
Cornets,  ehemals  der  so  hochgeschätzte  , Kleine'. 

Wie  es  die  Hellseherin  von  rue  Notre^Dame* 
de^Lorette  vorausgesehen,  erlitt  er  die  Todesstrafe. 
Im  Prozeß  konstatierte  man  auch,  daß  der  , Kleine' 
ganz  nahe  der  Residenz  von  Lady  A.  einen  Bruder 
hatte,  der  als  Kutscher  in  einem  großen  Haus  be^* 
dienstet  war.  ,Der  »Kleine'  war  ein  großer  Pferdes: 
liebhaber  und  hatte  jeden  freien  Moment  bei  seinem 
Bruder  im  Stall  zugebracht. 

So  hatte  die  Hellseherin  in  jedem  Detail  recht 
behalten.  L.  d'Ervieux. 

Ich  bestätige,  daß  dies  der  Wahrheit  entspricht, 
da  ich  der  Konsultation  beiwohnte.     C.  Deslions." 

Zu  diesem  außerordentlich  interessanten  Fall, 
einer  Verbindung  von  zeitlichem  und  räumlichem 
Fernsehen,  macht  Dariex  die  Anmerkung: 

,, Dieser  Fall  von  Hellsehen  ist  äußerst  interessant. 
Lady  A.  hat  mir  ihn  in  allen  Einzelheiten  bestätigt. 
Die  Karten  und  der  Kaffeesatz  sind  nur  ein  neben^ 
sächliches  Mittel,  das  das  Medium  unbewußt  an== 
wendet,  um  sich  in  Autosomnambulismus  zu  versetzen, 


106 

d.  i.  in  einen  Zustand,  worin  das  normale  Bewußt* 
sein  außer  Tätigkeit  tritt,  und  zwar  zugunsten  des 
unbewußten  Handelns.  Es  ist  möglich,  daß  in  diesem 
Zustand  die  unbewußten  Fähigkeiten  ihren  größten 
Aufschwung  nehmen  können  und  daß  die  hellsehe* 
rische  Fähigkeit,  die  vielleicht  in  uns  allen  schlummert, 
bei  manchen  Individuen  ziemlich  viel  zu  leisten  ver* 
mag." 

Ob  es  sich  auch  bei  der  Astrologie  um  ein  ahn* 
liches  nebensächliches  Mittel,  wie  Kaffeesatz  und 
Karten,  handelt,  bleibe  dahin  gestellt.  Desgleichen 
was  es  mit  dem  Engel  für  eine  Bewandtnis  hat.  Denn 
wie  man  auch  darüber  denken  mag,  der  Sache  selbst 
bringt  es  uns  nicht  näher.  Wenn  die  gut  beglaubigte 
Geschichte,  die  durchaus  nicht  vereinzelt  ist,  den  Er* 
folg  hat,  daß  die  Leser  dieser  Zeilen  sich  nicht  ledig* 
lieh  deshalb  unwillig  abwenden,  weil  in  den  Visions* 
berichten  Engel  oder  sonst  was  Merkwürdiges  vor* 
kommt,  so  ist  der  Zweck  des  Autors  vollauf  erreicht. 

Kehren  wir  nach  dieser  Abschweifung  wieder  zur 
Sammlung  historischer  Beispiele  für  ein  richtiges  Vor* 
hersehen  der  Zukunft  zurück!  Daß  die  chronologische 
Reihenfolge  nicht  strenge  innegehalten  wird,  dürfte 
die  Natur  des  Gegenstandes  rechtfertigen. 

Alessandro  de  Medici  wurde  im  Jahre  1536 
von  seinem  Vertrauten  und  Vetter  Lorenzino  auf 
raffinierte  Weise  ermordet.  Dieses  Ende  war  dem 
Herzog  wiederholt  vorhergesagt  worden,  sogar  mit 
Bezeichnung  der  Person  des  Mörders.  Ein  Page  aus 
Perugia  hatte  es  geträumt  und  der  Astrologe  Giuliano 
del  Carmine  in  seiner  Nativität  gelesen,  lind  zwar 
nicht  nur,  daß  er  ermordet,   sondern  sogar,  daß  ihm 


107 


die  Gurgel  durchschnitten  würde,  und  zwar  durch 
seinen  Vetter  Lorenzino.  Alessandro,  der  nicht  an 
Astrologie  glaubte,  hatte  darüber  nur  gelacht. 

Ja,  er  hatte  zum  Entsetzen  der  Florentiner  zur 
Hochzeit  mit  Margarete  von  Parma  einen  astrologischen 
Unglückstag  gewählt,  nämlich  eine  Sonnenfinsternis 
und  noch  dazu  einen  Dreizehnten. 

Es  gab  eben  zu  allen  Zeiten  Leute,  die  von 
Wahrsagerei,  Astrologie  oder  andern  Versuchen,  die 
Zukunft  zu  enthüllen,  nichts  hielten.  Hatte  doch 
schon  Villani  davor  gewarnt^).  Diese  Skepsis,  die 
also  keineswegs  absolut  neu  ist,  nur  daß  die  Gegen* 
wart  in  der  Ablehnung  viel  weiter  geht,  als  frühere 
Zeiten,  ist  dazu  angetan,  die  Glaubwürdigkeit  einiger 
Berichte  zu  erhöhen. 

Alessandro  war  auch  von  verschiedenen  Personen, 
denen  Lorenzinos  Benehmen  aufgefallen  war,  gewarnt 
worden,  jedoch  ohne  jeden  Erfolg.  Deshalb  glaubte 
man  allgemein  in  Florenz,  sein  Tod  sei  ihm  vom 
Schicksal  bestimmt. 

Ein  Soldat  von  Alessandros  Leibwache  hatte  ge* 
träumt,  der  Herzog  sei  von  einem  kleinen,  schmäch* 
tigen  Menschen,  dessen  Äußeres  er  sich  genau  er== 
innerte,  ermordet.  Er  redete  darauf  seinen  Herrn  des 
Morgens  an  der  Tür  an,  um  ihm  den  Traum  zu  er* 
zählen.     Und   als  Lorenzino  eben  dazu  trat,    rief  er: 


')  Vgl.  G.  Villani,  Chronik  von  Florenz,  Geschichte  der  Vor* 
zeit,  XIV.  Jahrh.,  II.  Bd.,  S.  137.  Eine  Verulkung  der  Prophetie 
hat  sich  aus  dem  Jahre  1536  erhalten  unter  der  Titel  ,,Propheci 
und  wunder—/  barlich  Pronostication,  uff  das  1536./  jar  kürtzlich 
gefunden  zu  Rätersch/  eym  im  Nergaw."  Vgl.  O.  Giemen,  Ar* 
chiv  für  Kulturgeschichte,  7.  Bd.,  1909,  S.  1  ff. 


108 

„Dieser  ist  es."   Der  Herzog  aber  schickte  den  Warner 
mit  barschen  Worten  fort^). 

Unterm  27.  Dezember  1759  hatte  der  Marquis 
d 'Argen s  König  Friedrich  dem  Großen  gemeldet: 
daß  ein  Mensch,  der  vor  einundeinhalb  Jahren  für 
einen  Narren  gegolten,  ihm  im  Jahre  59  großes  Uns* 
glück  prophezeit,  für  das  Jahr  60  aber  glücklichere 
Ereignisse.  Er  fährt  in  einem  zweiten  Briefe  von 
1760  fort: 

„Sirel  mein  Prophet,  über  den  Sie  sich  lustig 
machen,  sagt  noch  immer  Wunderdinge  vorher." 

Hier  folgt  eine  niedliche  Antwort,  die  der  Prophet 
dem  einfältigen  Markgrafen  von  Schwedt  gab,  der 
ihn  mit  vornehmen  Worten  abzuspeisen  versuchte: 
„Geht,  Ihr  seid  ein  NarrT* 

„Meine  Frau  sagt  mir  das  täglich,  aber  ich  achte 
nicht  darauf,  weil  ich  den  Umfang  ihres  Geistes 
kenne,**  replizierte  der  schlagfertige  Prophet. 

D'Argens  erzählt  jetzt  weiter,  daß  der  Seher  die 
Schlacht  bei  Küstrin  einen  ganzen  Monat  vor* 
her  mit  folgenden  Worten  angekündigt  habe: 
„Der  König  wird  in  dreißig  Tagen  eine  blutige 
Schlacht  über  die  Russen  gewinnen;  an  15000  werden 
bleiben  und  lange  Zeit  auf  dem  Schlachtfeld  liegen 
und  den  Vögeln  zur  Beute  werden.** 

„Der  Tag**,  fährt  Argens  wörtlich  fort,  „war 
gerade  der  Tag  der  Schlacht.  Ich  weiß  wohl,  das 
Ungefähr    hat    die   Vorhersage    dieses    Mannes    wahr 

*)  Diese  Mitteilung  verdanke  ich  Fräulein  Isolde  Kurz. 
Vgl.  unter  anderen  zeitgenössischen  Quellen:  Benedetto  Varchi, 
Storia  Florentina,  Florenz  1844.  3.  Bd.,  p.  262 ti.  Auch  Nardi 
und  Guicciandini  berichten  ähnliches. 


109 


gemacht,  aber  man  muß  doch  gestehen,  es  war  ein 
sonderbares  Ungefähr." 

Der  Marquis  betont  ausdrücklich,  daß  er  trotze 
dem  nicht  an  Propheten  glaube  —  wie  konnte  er 
auch  anders  in  der  Zeit  der  Aufklärung  und  in 
einem  Briefe  an  einen  ihrer  glänzendsten  Vertreter?!  — 
sondern  ein  treuer  Anhänger  Epikurs  nach  wie  vor  sei  *). 

Der  Tod  des  Königs  Friedrich  von  Württem* 
berg  im  Jahre  1816  wurde  bereits  1812  von  den  Stutt*: 
garter  Somnambulen  Wanner  und  Krämer  vorher^: 
gesagt.  Eschenmayer  berichtet  darüber  im  ersten  Bande 
des  ,, Archivs  für  tierischen  Magnetismus'* ")  ausführlich. 
Das  wesentliche  seines  Berichtes  lautet: 

„Die  erste  Vorhersage  geschah  im  Jahre  1812, 
wahrscheinlich  am  12.  Juli,  in  Gegenwart  von  Hof* 
medikus  Klein,  Oberfinanzrat  St  .  .  .,  dessen  Frau  und 
Tochter.  Sie  lautete:  „S.  M.  stirbt  im  Jahre  1816 
zwischen  dem  18.  und  20.  April  auf  ungewöhnliche 
Weise."  (Zu  Klein):  ,,Zu  Dir  wird  noch  vorher  ges= 
schickt  werden  und  eine  andere  Person  (die  sie  nannte) 
wird  vorangehen." 

Die  Somnambule  verpflichtete  alle  zu  strengstem 
Stillschweigen  aus  Furcht,  man  werde  sie  für  eine 
Irrin  erklären,  wenn  ihre  Prophezeiung  bekannt  würde. 
Später   sagte  die  Wanner:    ,,Das  Jahr  des  Todes  sei 

^)  Friedrichs  des  Großen  Werke,  Frankfurt  und  Leipzig  1788, 
S.  88-95. 

^)  Leipzig  1817.  Karl  August  von  Eschenmayer,  geb.  1768, 
gest.  1852,  war  Professor  der  Medizin  und  Philosophie  in  Tübingen. 
Seit  1836  ins  Privatleben  zurückgezogen,  beschäftigte  er  sich  viel 
mit  Mystizismus,  was  ihm  natürlich  Spott  eintrug.  Immermann 
stellte  ihn  im  ,,Münchhausen"  unter  dem  Namen  „Eschenmichel" 
satirisch  dar. 


110 


zuverlässig,  aber  im  Monat  könne  sie  sich  irren." 
Dem  fügte  Frau  von  St  .  .  .  hinzu,  „daß  nachmals 
ihr  Mann  ihr  gesagt  hätte,  er  habe  noch  besonders 
herausgebracht,  daß  der  Monat  der  Oktober  sein 
könne.'* 

Eschenmayer  wollte  den  Finanzrat  von  St . . .  deshalb 
interpellieren,  traf  ihn  jedoch  nicht  an  und  sagt: 
„Soviel  ist  aber  gewiß,  daß  St  .  .  .  das  Ende  des 
Monats  Oktober  vom  Jahre  1816  mit  einer  solchen 
Zuverlässigkeit  als  den  wahren  Termin  der  Erfüllung 
annahm,  daß  er  sich  gegen  mehrere  meiner  Bekannten 
äußerte,  er  biete  seinen  ganzen  Weinvorrat  als  Wette 
auf  dieses  Ereignis  an." 

Die  in  der  Behandlung  des  Dr.  Nick  befindliche 
Somnambule  Krämer  führte  mit  diesem  ihrem  Arzte, 
dem  Hofmedikus  Klein  und  Professor  L  .  .  .  t  am 
17.  April  1816  folgendes  Gespräch: 

Krämer:  ,,S.  M.  stirbt  in  diesem  Jahre  im  Monat 
Oktober." 

Nick:  ,,Ist  es  der  Anfang,  die  Mitte  oder  das 
Ende  des  Oktobers?" 

Krämer:  ,,Das  Ende  des  Oktobers." 

Nick:  „Du  kannst  wohl  den  Tag  bestimmen? 
Ist  es  wohl  der  26.?" 

Krämer:  ,,Nein." 

Nick:  „Aber  der  28.  Oktober?" 

Krämer:  „Da  trifft  ihn  ein  Kopf*  und  Brust* 
schlag." 

Der  Leibarzt  Dr.  Klein  hatte  eine  Reise  nach 
Augsburg  gemacht,  von  der  er  am  28.  Oktober  zurück* 
gekehrt  war,  als  ein  königHcher  Läufer  erschien  und 
ein    chirurgisches    Instrument    für    den    König    holen 


111 


wollte.  mWIc  ein  Blitzschlag  erinnerte  sich  Klein  an 
diesen  Vorboten,  der  den  Tod  verkündigte."  Und 
wirklich  traf  an  diesem  Tage  den  König  ein  Schlage 
anfall,  welchem  er  am  29.  erlag.  Bezüglich  der  Zeugen? 
Schaft  führt  Eschenmayer  folgendes  an: 

,,Dr.  Christian  Reuß.  Diesem  übergab  Professor 
L  .  .  .  t  mehrere  Monate  vorher  einen  versiegelten 
Zettel,  auf  welchem  die  vorhergesagte  Begebenheit 
stand,  mit  der  Bemerkung,  denselben  nach  Ablauf 
der  Zeit  zu  erbrechen.  Da  aber  späterhin  durch  die 
allmähliche  Verbreitung  des  Gerüchts  diese  Vorsicht 
unnütz  wurde,  so  ließ  L  .  .  .  t  durch  R  .  .  .  ß  den 
Zettel  öffnen.  Mit  dem  Inhalt  und  den  Umständen 
vertraut,  bekam  R  .  .  .  ß  selbst  Glauben  an  die  Ge? 
schichte,  wettete  darauf  und  gewann  zwei  förmliche 
Wetten.  Einer  der  Wettenden  ist  der  Major  C  .  .  ., 
der  andere  ist  mir  unbekannt. 

Minister  von  W  .  .  .,  ein  tätiger  Beschützer  des 
Magnetismus,  sprach  selbst  in  Gesellschaften  von 
dieser  sonderbaren  Vorhersage,  um  die  Möglichkeit 
solcher  Phänomene  in  wissenschaftlicher  Hinsicht  zu 
beleuchten.  Tatsache  ist  es,  daß  er  mit  Graf  G  .  .  .  z 
eine  Wette  eingehen  wollte. 

Geheimrat  von  St  .  .  .  ist  Zeuge,  daß  St  .  .  .  drei 
bis  vier  Monate  vorher  auf  das  letzte  Drittel  des 
Oktobers  mit  Einschluß  bis  zum  11.  November  seinen 
ganzen  Weinvorrat  als  Wette  anbot. 

Madame  von  W  .  .  .  teilte  ich  selbst  etwa  drei 
Monate  vorher  auf  besondere  Veranlassung  diese 
Vorhersage  mit  Sie  bekam  später  Gelegenheit  mit 
St  .  .  .  darüber  zu  sprechen,  der  ihr  gleichfalls  äußerte, 
daß  er  jede  Wette  darauf  eingehe." 


112 

Die  Legationsräte  K  .  .  .  e  und  von  B  .  .  .  r  hatten 
lange  vor  dem  Tode  des  Königs  über  diese  Prophet 
zeiung  mit  Eschenmayer  gesprochen.  Letzterer  be* 
merkt,  daß  er  mit  Leichtigkeit  noch  200  Zeugen  für 
diese  Begebenheit  beibringen  könne.  Eschenmayer 
hält  diese  Weissagung  Hufeland  und  Stieglitz  enU 
gegen,  welche  Tatsachen  und  keine  Räsonnements 
begehrten,  und  bemerkt  am  Schluß:  „Doch,  noch 
eine  Ausflucht!  Alles  war  Zufall.  —  Nichtiges 
Wort  der  Erbärmlichkeit." 

Es  wird  wohl  kaum  jemand  an  der  Wahrheit 
obiger  Mitteilung  zu  zweifeln  wagen.  Eschenmayers 
Persönlichkeit  bürgt  nicht  minder  dafür,  als  die  statt* 
liehe  Zahl  sozial  angesehener  Zeugen,  die  er  unter 
so  durchsichtigem  Schleier  verbirgt,  daß  man  noch 
heute  viele  mit  Leichtigkeit  identifizieren  könnte. 
Beachten  wir  ferner,  daß  der  Bericht  über  die  merk* 
würdige  Vorhersage  bereits  ein  Jahr  nach  ihrem  Ein* 
treffen  veröffentlicht  wurde,  also  zu  einer  Zeit,  wo 
noch  alle,  oder  doch  fast  alle  der  genannten  Zeugen 
lebten,  so  wird  man  um  so  weniger  geneigt  sein,  ihm 
irgendwie  zu  mißtrauen. 

Hier  sei  eine  allgemeingültige  Bemerkung  ein* 
geschaltet:  Daß  Eschenmayer  nur  die  Anfangsbuch* 
Stäben,  aber  nicht  den  ganzen  Namen  nennt,  mag  in 
einer  Anzahl  von  Fällen  damit  motiviert  werden 
können,  da(^  es  tatsächlich  nicht  allzu  großes  Fein* 
gefühl  verrät,  wenn  man  über  den  Tod  eines  Menschen, 
noch  dazu  des  eigenen  Landesherrn,  Wetten  ab* 
schließt. 

Aber  auch  die  anderen  Personen  werden  durch 
ähnliche  Rücksichtnahme  ausgezeichnet.     Das   ist  be* 


in 

zeichnend,  nicht  nur  für  die  damalige  Zeit,  sondern  auch 
tür  die  Gegenwart.  Auch  heute  —  das  beweisen  die 
zahlreichen  von  Flammarion  veröffentlichten  Tatbe* 
berichte,  die  so  und  so  oft  die  Bitte  um  Verschweigen 
des  Namens  , wegen  meiner  amtlichen  Stellung*  usw. 
enthalten,  —  ist  die  Feigheit  weitester  Kreise,  auch 
der  Gebildeten,  geradezu  fabelhaft. 

Es  mag  manchem  unangenehm  sein,  wenn  mit 
Namen  und  Adresse  von  ihm  berichtet  wird,  daß  er 
silberne  Löffel  gestohlen  oder  einen  Notzuchtversuch 
gemacht  hat.  Wie  es  aber  jemand  unangenehm  sein 
kann,  die  Wahrheit  eines  Vorganges  zu  bezeugen 
ist  —  wenn  er  dabei  nicht  riskieren  muß  die  Seg* 
nungen  unserer  Rechtspflege  kennen  zu  lernen  — 
völlig  unverständlich.  Oder  vielmehr,  es  wäre  es, 
wenn  es  nicht  durch  gewisse  Folgen,  die  unsere  auf:: 
geklärte  Zeit  damit  verbindet,  verständlich  gemacht 
würde. 

Im  Mittelalter  war  es  bekanntlich  höchst  gefähr* 
lieh,  die  Existenz  der  Hexen  zu  leugnen.  Denn  wer 
das  tat,  erklärte  indirekt  die  Hexeninquisitoren  für 
Toren  oder  Mörder,  ein  Verbrechen,  das  nach  Recht 
und  Billigkeit  mit  dem  Tode  geahndet  wurde.  Seit 
dem  Siege  der  Aufklärung  ist  es  umgekehrt.  Was 
nicht  alle  Tage  passiert,  was  nicht  die  Spatzen  von 
den  Dächern  pfeifen,  und  das  Begriffsvermögen  von 
Hinz  und  Kunz  übersteigt,  gilt  eo  ipso  für  phan* 
tastisch  oder  unwahr.  Darum  riskiert  jeder,  der  das 
Dogma  von  der  Unmöglichkeit  aller  in  die  gerade 
heute  herrschenden  naturwissenschaftlichen  Hypothesen 
und  Theorien  nicht  hineinpassenden  Phänomene  nicht 
bedingungslos  unterschreibt,  die  unangenehmsten  Fol* 

Kemmerich,   Prophezeiungen  8 


114     

gen.  Entweder  er  wird  als  Phantast  verschrien,  der 
in  den  Wolken  wandert,  oder  aber  er  gilt  als  Lügner. 
Nun  ist  es  nicht  jedermanns  Sache,  sich  einer  capitis 
diminutio  seiner  Ehre  oder  Urteilsfähigkeit  untere 
ziehen  zu  müssen.  Nur  wenige  haben  den,  unter 
den  obwaltenden  Verhältnissen  nicht  geringen  Mut. 
sich  dem  Geschrei  der  zwar  urteilslosen,  aber  desto 
stimmkräftigeren  und  zahlreicheren  Menge  entgegen* 
zustemmen. 

Daraus  folgt  zwingend,  daß  heute  das  Dogma 
genau  so  herrscht,  wie  im  finstersten  Mittelalter.  Nur 
sein  Inhalt  ist  dem  früheren  konträr.  Kritiklos  aber 
wird  es  nachgebetet  und  befolgt  von  Leuten,  die  — 
und  das  ist  das  Komische  an  der  Sache  —  sich  für 
frei,  aufgeklärt  und  vorurteilslos  halten. 

Die  obige  Prophezeiung  ist  abgesehen  von  ihrer 
guten  Beglaubigung  noch  durch  etwas  anderes  inter? 
essant.  Die  Fälle,  daß  jemandem  der  Tod  vorherver* 
kündet  wurde  und  dann  auch  wirklich  eintrat,  sind 
nichts  weniger  als  selten.  Aber  wir  können  häufig 
dem  —  bisweilen  völlig  berechtigten  —  Einwand  be* 
gegnen,  daß  die  Prophezeiung  Ursache  des  Todes 
wurde.  Denn  es  ist  klar,  daß  suggestible  Gemüter 
ihre  ganze  Widerstandskraft  verlieren,  wenn  ihnen 
ein  vorgeblich  unentrinnbares  Schicksal  vorher  ver* 
kündet  wird^). 

Diese  Erklärungsmöglichkeit  schaltet  hier  voll* 
kommen  aus.  Denn  der  König  hatte  von  dieser 
Vorhersage  natürlich  keine  Ahnung. 

Der  Skeptiker  wird  gegen  solche  Todesankündi*= 

*)  Vgl.  A.  j.  IXivis.  Die  Wirklichkeit  eingebildeter  Krank» 
lieiten:  Sphinx.  2.  Bd.,   1886.  S.  2 16 ff. 


m 

gungcn  immer  einwenden  können,  daß  sie  —  wie  alle 
Vorhersagen  —  um  beweiskräftig  zu  sein,  vorher  hätten 
gedruckt  sein  müssen.  Das  wird  sich  freilich  gerade 
in  diesen  Fällen  kaum  verwirklichen  lassen.  Denn  die 
Kitzlichkeit  dieser  Prophezeiungen  schließt  deren 
frühere  Veröftentlichung  geradezu  aus.  Man  wird 
hier  also  immer  mehr  oder  minder  den  Gewährst 
männern  Glauben  schenken  müssen. 

Regelmäßig  wird  dabei  ein  ganz  merkwürdiger 
Trugschluß  begangen.  Da  nur  wenige  Personen 
ähnliche,  sagen  wir,  mystische  Daten  überliefern, 
was  ja  in  einer  Zeit,  die  sie  ungeprüft  für  Schwindel 
hält,  ganz  begreiflich  ist;  da  diese  wenigen  Interes^ 
senten  aber  zumeist  eine  Reihe  solcher  Phänomene 
bezeugen,  so  wird  stets  gesagt:  ,,Das  ist  wenig 
glaubwürdig,  denn  X.  ist  ja  bekanntlich  Mystiker.** 
Und  doch  liegt  der  Fall  gerade  umgekehrt.  Nicht 
weil  X.  Mystiker  ist,  erzählt  er  okkulte  Fälle  und 
verdient  deshalb  kein  Vertrauen,  sondern  er  wurde 
Mystiker,  weil  er  solche  Erlebnisse  hatte  oder  deren 
Zeuge  war.  Hier  liegt  also  eine  Verwechslung  von 
Ursache  und  Wirkung  vor. 

Wir  wollen  nun  noch  einige  Fälle  des  Vorgefühles 
des  eigenen  Todes  anführen.  Nachdem  wir  im  vorigen 
Kapitel  gesehen  haben,  daß'  sich  noch  in  der  Gegen^ 
wart  Ähnliches  sehr  häufig  ereignet,  werden  wir  um 
so  weniger  an  den  historischen  Berichten  zweifeln. 
Und  zwar  wählen  wir  ausdrücklich  Beispiele,  in  denen 
der  Tod  gewaltsam  eintritt.  Damit  hoffen  wir  dem 
Einwurf  begegnen  zu  können,  daß  das  physische 
Übelbefmden,  das  vielleicht  nicht  klar  zum  Bewußts= 
sein  kommt,  Ursache  der  Vorahnung  ist. 

8* 


116 

De  Baudus,  der  ehemalige  Adjutant  des  Mar* 
Schalls  Bessieres,    erzählt   in    seinen  „Etudes  sur  Na* 

poleon^O: 

,,Am  30.  Mai  1813  brachte  das  kaiserliche  Haupt* 

quartier    die    Nacht    in  Weißenfels    zu.     Auch    der 

Marschall    Bessieres,    welcher    die    ganze    Kavallerie 

icömmandierte,  schlief  hier.    Ich  frühstückte  am  anderen 

Morgen    allein    mit   ihm,    fand   ihn   sehr  traurig  und 

niedergeschlagen,    und    konnte    ihn    lange    nicht   be* 

wegen,   etwas  von  den  aufgetragenen  Speisen  zu  ge* 

nießen;  er  antwortete  immer,  er  habe  keinen  Hunger. 

Ich    machte    ihm    bemerklich,    daß    unsere    und    die 

feindlichen  Vorposten    einander    gegenüber    ständen 

und  wir   folglich    einen    ernsthaften  Kampf  erwarten 

müßten,  der  uns  wahrscheinlich  den  ganzen  Tag  nicht 

erlauben  würde,  etwas  zu  essen.     Der  Marschall  gab 

endlich    nach    und    sagte:   ,Nun,    wenn    mich    diesen 

Vormittag  eine  Kugel  trifft,  so  soll  sie  mich  wenigstens 

nicht  mit  nüchternem  Magen  finden.* 

Als  er  vom  Tische  aufstand,  gab  mir  der  Mar* 
schall  den  Schlüssel  zu  seinem  Portefeuille  und  sagte: 
, Suchen  Sie  doch  gefälligst  die  Briefe  von  meiner 
Frau.*  —  Ich  tat  es  und  gab  sie  ihm.  Er  nahm  sie 
und  warf  sie  ins  Feuer.  Bis  dahin  hatte  er  sie  sorg* 
fältig  aufbewahrt.  Die  Frau  Herzogin  von  Istrien") 
hat  mich  seitdem  versichert,  der  Marschall  habe  beim 
Abschiede  zu  mehreren  Personen  gesagt,  er  werde 
von  diesem  Feldzuge  nicht  zurückkommen. 

Der  Kaiser  stieg   zu  Pferde,   und   der  Marschall 

*)  Übersetzung  von  Kiesewetter,  Psychische  Studien,  17.  Bd., 
1890,  S.  402  f. 

")  Besseres  führte  den  Titel  eines  Herzogs  von  Istrien. 


in 

folgte  ihm.  Sein  Gesicht  war  so  bleich  und  seine 
Züge  verrieten  so  tiefe  Traurigkeit,  daß  es  mir  nicht 
entgehen  konnte,  und  ich  sagte  zu  einem  Kameraden : 
,\Venn  es  heute  zu  einer  Schlacht  kommt,  wird  der 
Marschall  wohl  bleiben.*  — 

Die  Schlacht  begann.  Der  Herzog  von  Elchingen  ' ) 
hatte  das  Dorf  Rippach  mit  seiner  Infanterie  besetzt, 
und  der  Herzog  von  Istrien  bereitete  sich  das  Defile 
zu  rekognoszieren,  aus  welchem  der  Feind  verdrängt 
war,  während  er  mit  seinen  Truppen  hindurch  mar* 
schieren  wollte.  Als  er  auf  der  Höhe  angelangt  war, 
welche  das  Dorf  beherrscht^),  am  Ende  desselben 
nach  Leipzig  zu,  befand  er  sich  vor  einer  Batterie, 
die  der  Feind  da  aufgefahren  hatte,  um  die  Straße 
zu  bestreichen.  Die  erste  Kugel,  welche  von  dieser 
Batterie  kam,  riß  einem  Quartiermeister  der  Garde 
der  polnischen  Chevaulegers  den  Kopf  weg;  er  hatte 
seit  mehreren  Jahren  Ordonnanzdienste  beim  Herzog 
getan.  Dieser  Verlust  verstimmte  den  Herzog  von 
Istrien  und  er  entfernte  sich  im  Galopp.  Nach  einigen 
Augenblicken  kam  er  jedoch  mit  Gefolge  wieder 
zurück  und  sagte,  indem  er  auf  den  Leichnam  deutete : 
»Der  junge  Mann  muß  begraben  werden;  auch  würde 
der  Kaiser  unzufrieden  sein,  wenn  er  einen  Unter* 
offizier  seiner  Garde  tot  hier  liegen  sähe;  denn  wenn 
der  Posten  wieder  gewonnen  wird,  könnte  der  Feind 
glauben,  die  Garde  sei  zurückgewichen.' 


')  Marschall  Ney. 

^)  Nach  einer  Anmerkung  von  Kiesewetter  ist  das  ein  Ge* 
dächtnisfehler  von  Baudus,  da  die  Anhöhe,  auf  der  sich  jetzt 
ein  Bessieres'  Namen  tragender  Gedächtnisstein  befindet,  unweit 
Weiiknfels   nach  Rippach  zu  liegt. 


118 

,Eine  Kugel,  welche  von  derselben  Batterie  kam, 
streckte  den  Marschall  in  dem  Augenblicke  tot  nieder, 
als  er  diese  Worte  gesagt  hatte.  Die  linke  Hand, 
welche  den  Zügel  hielt,  als  er  gerade  sein  Fernrohr 
einsteckte,  wurde  ganz  zerschmettert;  die  Kugel  ging 
ihm  durch  den  Leib.  Seine  Uhr  blieb  stehen,  ob  sie 
gleich  nicht  getroffen  wurde;  sie  zeigt  noch  jetzt  seine 
Todesstunde  an,  denn  sie  wurde  seitdem  nicht  wieder 
aufgezogen.** 

So  weit  der  Bericht  des  Augenzeugen  de  Baudus. 

Auch  Marschall  Lannes  fühlte  seinen  Tod 
voraus.  Als  1809  der  Krieg  mit  Osterreich  ausbrach, 
nahm  er  von  Frau  und  Kindern  in  der  festen  Über* 
Zeugung  Abschied,  daß  er  sie  nicht  wieder  sehen 
werde.     Er  fiel  am  22.  Mai  bei  Eßlingen^). 

Der  General  Lasalle  konnte  vor  der  Schlacht  bei 

Wagram,     von    Todesahnungen     beunruhigt,     nicht 

schlafen.     Er  schrieb  an  Napoleon  und  empfahl  ihm 

Frau  und  Kinder.     Seinen  Freunden  gegenüber  sprach 

er    mit   Bestimmtheit    davon,    daß    er  den  Tag  nicht 

überleben    würde.      Diese    Tatsache    wird    nicht   nur 

von   Zeugen    bestätigt,    sondern   Napoleon   selbst  er* 

.zählt    in    seinen    Memoiren    von    St.   Helena,    Lasalle 

I  habe  ihm  mitten  in  der  Nacht  geschrieben  und  ihn  ge* 

^beten,    sein  Majorat    auf  seinen   Sohn   übergehen   zu 

lassen,    da  er  fürchte,    in    der    morgigen    Schlacht  zu 

fallen'-). 


0  Vgl.  Justinus  Kerner.  ..Magikon".  III.  Bd.,  S.  262.  Zitiert 
nach  Kiesewetter  a.  a.  O.  gleich  dem  Folgenden. 

»)  Nach  Du  Prcl  in  den  Psychischen  Studien.  17.  Bd.,  1890. 
S.  207.  Die  in  Kerners  Magikon  II,  263  berichtete  Tatsache 
wurde  von  Du  Preis  Grolk)nkel,  einem  Verwandten  und  WaHcn* 


119 


Auch  von  Cervoni  erzählt  Napoleon,  daß  er 
vor  der  Schlacht  von  Eckmühl  Todesahnungen  aus«« 
gesprochen  habe,  die  eintrafen. 

Ebenso  hatte  Duroc  vor  der  Schlacht  bei  Bautzen 
Todesahnungen.  Er  sprach  hiervon  zu  Napoleon, 
der  ihn  nicht  beruhigen  konnte,  vielmehr  von  Durocs 
innerer  Erregung  gleichfalls  ergriffen  wurde.  Während 
der  Schlacht  brachte  ein  Adjutant  die  Nachricht, 
daß  der  Marschall  gefallen  sei  und  die  Augenzeugen 
erzählen,  daß  sich  Napoleon  vor  die  Stirn  schlug 
und  ausrief:  „Meine  Ahnungen  trügen  niemals." 
Napoleon  war  nämlich  selbst  von  Ahnungen  heim^ 
gesucht  und  hielt  viel  von  ihnen. 

Ein  Kapitel  für  sich  bilden  die  Prophezeiungen 
von  Davis. 

Der  um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  in  Amerika 
lebende  Andrew  Jackson  Davis  besaß  die  Gabe  des 
räumlichen  und  zeitlichen  Fernsehens.  Man  kann 
sich  davon  leicht  aus  seinen  Büchern  überzeugen, 
nachdem  eine  Reihe  von  Vorhersagen  erst  jetzt  in 
Erfüllung  gegangen  ist. 

In  seinem  Werke  „The  principels  of  nature*' 
(New  York  1847),  das  er  in  somnambulen  Zustande 
diktierte,  stellt  Davis  die  Behauptung  auf,  es  gäbe 
noch  einen  transneptunischen  neunten  Planeten. 
Damals  hatte  man  noch  kaum  eine  Ahnung  vom 
achten  Planeten.  Gegenwärtig  aber  sind  die  Astro= 
nomen  dabei,  den  neunten  zu  entdecken,  was  nur  auf 
Grund  der  neuesten  Instrumente  und  der  Himmels* 
Photographie    möglich    ist,  Mittel,  die  für  Davis  gar 

gefährten  Lasalles,    bestätigt.     —    Das   Folgende  nach  Brierre  de 
Boismont,  Des  hallucinations,  S.  295  (nach  Du  Frei). 


120 


nicht  in  Frage  kamen.  Zweifellos  ist  diese  Entdeckung 
ein  idealer  Beweis  für  das  räumliche  Fernsehen. 

Da  wir  uns  aber  auf  das  Zeitliche  beschränken, 
seien  einige  Prophezeiungen  Davis'  noch  angeführt. 
In  seinem  Werke  „The  Penetralia**  (New  York  1856, 
deutsch  Leipzig  1884  bei  Wilhelm  Besser)  findet  sich 
auf  Seite  219  folgende  Vorhersage: 

„Gebet  acht  in  jenen  Tagen!  —  auf  Wagen, 
Equipagen,  Reisesalons  auf  der  Landstraße,  ohne 
Pferde,  ohne  Dampf,  ohne  jedwede  sichtbare  Be^^ 
wegungskraft,  alles  bewegt  sich  mit  großer  Schnelle 
und  weit  größerer  Sicherheit  als  gegenwärtig.  Equi^« 
pagen  und  Wagen  schwerer  Gattung  werden  durch 
eine  seltsame  und  dabei  einfache  Verbindung  von 
Wasser  und  atmosphärischen  Gasen  bewegt  werden. 
Diese  Verbindung  wird  so  leicht  kondensiert,  so  ein^ 
fach  entzündet  und  unseren  gegenwärtigen  Loko* 
motiven  ähnlich  angewendet,  daß  der  ganze  Apparat 
zwischen  den  Vorderrädern  verborgen  und  gehand* 
habt  werden  kann.  Diese  Fahrgelegenheiten  werden 
viele  Verlegenheiten  verhindern,  wie  solche  jetzt  die 
Bewohner  wenig  bevölkerter  Gegenden  durchzumachen 
haben.  Die  erste  Bedingung  für  diese  Landlokomos= 
tiven  wird  eine  gute  Straße  sein,  auf  der  mit  der 
neuen  Lokomotive  ohne  Pferde  mit  großer  Schnellig* 
keit  gefahren  wird.  Diese  Fahrgelegenheiten  werden 
von  wenig  komplizierter  Bauart  sein." 

Interessant  ist,  daß  dieses  visionär  geschaute 
Automobil  wie  die  allerneuesten  Fabrikate  den  Motor 
zwischen  den  Vorderrädern  hat! 

Bedenkt  man,  daß  es  noch  gar  nicht  lange  her 
ist,    daß     hervorragende    Techniker     vor  Versuchen, 


121 


Automobile  zu  konstruieren,  als  Utopie  abrieten,  daß 
der  erste  brauchbare  Motorwagen  erst  1885  erschien, 
das  erste  brauchbare  Straßenlokomobil  1890,  so  muß 
man  allerdings  über  diese  Prophezeiung  aus  dem 
Jahre   1856  staunen. 

Auf  derselben  Seite  schreibt  Davis  auch  über 
die  Luftschiffahrt.  ,,Es  ist  nur  ein  Ding  notwendig, 
um  Luftschiffahrt  zu  haben,  und  das  ist  die  An^ 
Wendung  dieser  soeben  in  Betracht  gezogenen  höheren 
Bewegungskraft,  die  eben  jetzt  im  Begriff  ist,  entdeckt 
zu  werden.  Der  nötige  Mechanismus,  die  Gegen* 
luftströmung  zu  überwinden,  um  in  der  Luft  ebenso 
leicht,  sicher  und  angenehm  wie  die  Vögel  zu  segeln,  — 
hängt  ebenfalls  von  dieser  neuen  Bewegungskraft  ab. 
Diese  Kraft  wird  kommen!  Sie  wird  nicht  nur 
die  Lokomotiven  auf  den  Schienen,  die  Wagen  aller 
Gattung  auf  der  Landstraße,  sondern  auch  die  Luft* 
wagen  in  Bewegung  setzen,  die  durch  den  Äther  hin 
von  Land  zu  Land  reisen.*' 

Es  handelt  sich  hier  augenscheinlich  um  den 
Explosionsmotor,  der  damals  noch  nicht  einmal  ge* 
ahnt  wurde  und  dessen  Erfindung  Voraussetzung 
der  Luftschiffahrt  mit  Fahrzeugen  schwerer  als  die 
Luft  war. 

Solche  Vorhersagen,  die  teils  schon  eingetroffen 
sind,  zum  Teil  wohl  noch  eintreffen  werden,  ent* 
halten  die  Werke  von  Davis  noch  viele. 

Doch  auch  eine  politische  Vorhersage  aus  einem 
Briefe  vom  Jahre  1868  an  den  Übersetzer  seiner  Werke, 
Dr.  Gregor  Constantin  Wittig,  sei  angeführt. 

„Es  scheint  mir"  —  schreibt  Davis  —  ,,daß  Preußen 
bestimmt  ist,   eine  Art  Amerika   im   alten  Europa  zu 


122 

werden.  Ich  glaube,  daß  es  nicht  lange  mehr  dauern 
wird  und  der  ,Bund'  wird  Süds=  und  Norddeutsch^« 
land  in  sich  vereinigen.  Napoleon  kann  jetzt  nichts 
dagegen  tun;  und  die,  wenn  es  mir  gestattet  ist, 
sie  so  zu  nennen,  große  deutsche  Republik,  wird 
dann  Europa  seine  Geschicke  vorschreiben.  Und  sie 
wird  immer  größere  Freiheit  und  immer  mehr  ¥ovU 
schritt  erringen." 

Der  Brief  wurde  1869,  also  vor  Ausbruch  des 
Deutsch^sFranzösischen  Krieges  in  den  Vorbemerkungen 
zu  dem  erstgenannten  Werk  „Die  Prinzipien  der 
Natur"  usw.     Seite  LXIV  abgedruckt  0- 

Endlich  wollen  wir  noch  einige  Fälle  von  be# 
merkenswerten  Vorhersagen  aus  der  jüngsten  Ver^ 
gangenheit  anführen. 

Der  furchtbare  Pariser  Bazarbrand  in  der  Nähe 
der  Champs  Elysees,  dem  am  4.  Mai  1897  außer 
vielen  anderen  vornehmen  Personen  auch  die  Herzogin 
von  Alan^on,  die  Schwester  der  ermordeten  Kaiserin 
Elisabeth  von  Osterreich,  zum  Opfer  fiel,  wurde 
von  Fräulein  Couedon,  Tochter  eines  Pariser  Rechts* 
anwalts,  anfangs  Mai  1896  im  Salon  des  Grafen 
Urbain  de  Maille  vorhergesagt.  Und  zwar  trug  sich 
die  Begebenheit  folgendermaßen  zu: 

Der  Graf  Maille  machte  —  wie  der  „Temps"  unterm 
16.  Mai  1897  —  also  allerdings  kurz  nach  dem 
Brande  —  mitteilte,  folgende  Angaben: 


')  Zu    Davis  vgl.  H.   Johnnnscn  „Gibt   es  ein   Hellsehen?** 
Psychische  Studien.  36.  Bd.,   1909,  S.  480  H. 


123 


„Ich  hatte  MUe.  Couedon  in  ihrer  Wohnung  bes* 
fragt,  und  obwohl  ich  durchaus  nicht  an  die  Mit* 
Wirkung  des  Erzengels  Gabriel')  glaubte,  so  schienen 
mir  doch  die  Enthüllungen  des  jungen  Mädchens 
äußerst  merkwürdig  zu  sein.  Auf  meine  Bitte  willigte 
Mlle.  Couedon  ein,  ausnahmsweise  einmal  entgegen 
ihren  sonstigen  Gepflogenheiten  sich  bei  mir  hören 
zu  lassen,  und  zwar  in  Gegenwart  von  etwa  hundert 
Personen,  unter  denen  sich  die  Frau  Gräfin  Aimery 
de  la  Rochefoucauld,  Frau  v.  Mesnard,  die  Marquise 
d'Anglade,  die  Gräfin  Virien,  der  Graf  Fleury  und 
verschiedene  andere  befanden.  Nachdem  Mlle.  Couedon 
die  Neugier  derjenigen  Geladenen,  welche  sie  jeder 
für  seine  Person  befragt  hatten,  befriedigt  hatte,  kam 
der  Moment,  wo  sie  uns  von  dem  bevorstehenden 
Brande  sprach.  Vielleicht  sprach  sie  nicht  dieselben 
Worte,  die  Sie  mir  berichten,  aber  jedenfalls  war 
der  Sinn  fast  derselbe.  Sie  sprach  von  , einem  großen 
Brande,    welcher   in    einer    zu  Wohltätigkeits* 


*)  Hierzu  machte  Frau  de  Fernem,  „Mein  geistiges  Schauen 
in  die  Zukunft",  Berlin  1895,  S.  105  Anm.,  der  wir  obcnstehens 
den  Bericht  entnehmen,  die  Bemerkung:  daß  sich  damals 
durch  die  französische  Seherin  ein  Spirit  kundgab,  der  sich 
merkwürdigerweise  ebenso  wie  ihr  „HauptsKontroll^Geist*' 
„Gabriel"  nannte  usw.  Die  Erklärung  für  diese  phrophetischen 
„Geister"  dürfte  meines  Dafürhaltens  wie  schon  weiter  oben  be« 
merkt,  im  Kausalitätsbedürfnis  der  Seherinnen  liegen.  Sie  be* 
obachten  an  sich  das  Phänomen  der  Visionen  usw„  ohne  es 
sich  erklären  zu  können  und  greifen  deshalb  zur  Spirithypothese, 
die  weder  bisher  bewiesen  wurde,  noch  auch  notwendig  ist,  so 
wenig  wir  zum  Hypnotismus  oder  zur  drahtlosen  Telegraphie 
„Spirits"  benötigen.  Es  handelt  sich  hier  jedenfalls  um  eine  uns 
noch  nicht  näher  bekannte  Naturkraft. 


124 

zwecken  gebildeten  Gesellschaft  ausbrechen 
würde*  —  ,Ich  sehe*,  sagte  sie,  —  ich  zitiere  aus  dem 
Gedächtnis  —  ,daß  die  Spitzen  der  Gesellschaft  werden 
getroffen  werden.  Und  ganz  besonders  wird  das 
Faubourg  St.  Germain  zu  leiden  haben.*  Und 
ganz  genau  entsinne  ich  mich,  daß  die  Seherin  hinzu* 
fügte:  , Keine  der  hier  versammelten  Personen 
wird  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden!*  — 
und  sich  mir  persönlich  zuwendend:  ,Sie  selbst  werden 
nur  ganz  von  ferne  davon  berührt  werden,  sozusagen 
nur  auf  indirektem  Wege.*  In  der  Tat  ist  keiner 
unserer  Gäste  von  dem  Unglück  betroffen  worden. 
Was  mich  anbelangt,  so  habe  ich  gemäß  den  Voraus* 
sagen  der  Mlle.  Couedon  eine  ganz  entfernte  Kusine 
verloren,  welche  ich  kaum  kenne.** 

So  weit  die  Worte  des  Grafen  in  dem  im  Temps 
veröffentlichten  Briefe. 

Außer  diesem  Zeugnis  besitzen  wir  noch  eines 
vom  Redakteur  der  Pariser  Zeitung  „La  libre  Parole" 
und  „L'Echo  de  Merveilleux**,  Gaston  Mery.  Im 
letztgenannten   Organ    schreibt    er  am   25.  Mai   u.  a. 

„Man  weiß  daß  Fräulein  Couedon  sich  stets  be* 
harrlich  geweigert  hat,  in  Gesellschaft  zu  gehen.  Ein 
einziges  Mal  —  nur  einmal  —  machte  sie  zugunsten 
der  Gräfin  de  Maille  eine  Ausnahme;  es  war  zu 
Anfang  Mai  1896.  In  den  Salons  der  Frau  von  Maille 
hatte  sich  das  ganze  Viertel  Rendezvous  gegeben. 
Zuerst  sprach  Fräulein  Couedon  privatim  mit  denen 
unter  den  Eingeladenen,  die  sie  konsultieren  wollten. 
Aber  ihre  Anzahl  war  so  groß,  daß  Fräulein  Couedon 
auf  Bitten  der  Herrin  des  Hauses  einwilligte,  nach* 
dem    sie    den    .Fngcl    Gabriel'    angerufen    hatte,    vor 


125 


der  ganzen  versammelten  Gesellschaft  zu  sprechen. 
Unter  anderen  Prophezeiungen  machte  sie  die  nächst 
folgende,  deren  sich  mehrere  Zeugen  vollkommen 
erinnern  und  deren  Wortlaut  sie  selbst  rekonstruiert  hat: 

In  deutschen  Zeitungen 

wurde  der  Inhalt   folgen* 

dermaßen  wiedergegeben: 

„Pres    des    Champs^^Ely?      „In  der  Elysäischen  Felder 

sees,  Nähe 

Je    vois    un    endroit    pas      Ich  ein  wüstes  Gedränge 

eleve,  sehe. 

Qui  n'estpas  pourla  piete,      Erst  dem  Mitleid  war  es 


Mais  qui  en  est  approche 
Dans    un   but   de   charite 
Qui  n'est  pas  la  verite  .  .  . 
Je  vois  le  feu  s'elever  .  .  . 
Et  les  gens  hurler 
Des  chairs  grillees, 
Des  Corps  calcines, 
J'en  vois  comme  par  pelle* 

tes."  - 


geweiht, 
Dann   aber  macht  es  viel 

Herzeleid. 
Flammen   seh'  ich  lodern 

und  sengen, 
Ängstlich  die  Menge  sich 
furchtbar   drängen; 
Lebendes  Fleisch  seh'  ich 

geröstet, 

Körper  verbrannt,  die  Luft 

verpestet!" 

Der  „Engel"  fügte   hinzu,    daß   alle   zuhörenden 

Personen    verschont    werden    würden.     Darauf   sagte 

einer  der  Anwesenden,  der  Vicomte  de  Fleury,  sehr 

ungläubig   und  scherzend  zu  der  Seherin:   „Ach,  Sie 

sagen  das  nur  so,  um  uns  zu  schmeicheln!"     In  der 

Tat  ist  keiner  der   zu   dieser  Soiree  Eingelade* 

nen,    die    alle    mehr    oder    minder    regelmäßig 

bei      den      Wohltätigkeitsverkäufen     zugegen 

waren,    umgekommen    oder    bei    der    schreck^ 


126 

liehen  Katastrophe  des  4.  Mai  verwundet 
worden.  Unter  den  bei  dieser  Soiree  Anwesenden 
befanden  sich:  die  Marquise  d' Anglade,  die  Kom^: 
tesse  Virien,  die  Grafen  Divonne  usw." 

Die  Tatsache,  daß  Fräulein  Couedon  in  der  Rue 
Jean  Coujon  diese  schreckliche  Brandkatastrophe,  bei 
der  über  hundert  Menschen,  meist  aus  der  ersten 
Gesellschaft,  ums  Leben  kamen  und  deren  sich  wohl 
die  meisten  noch  erinnern  werden,  vorhergesehen  hat, 
unterliegt  nach  den  Berichten,  wiewohl  sie  erst  ein 
Jahr  später  zu  Papier  gebracht  wurden,  nicht  dem 
allergeringsten  Zweifel. 

Die  Übereinstimmung  der  gleichzeitig  und  un* 
abhängig  voneinander  abgefaßten  Berichte  des  Grafen 
Maille  und  des  Herrn  Gaston  Mery  sind  ja  schon 
hinlängliche  Beweise  für  die  Authentizität  des  Mit* 
geteilten.  Dazu  kommen  die  genannten  Zeugen,  des 
weiteren,  daß  sich  viele  von  ihnen,  wenn  nicht 
an  den  Wortlaut,  so  doch  an  den  Inhalt  erinnerten, 
daß  man  schon  vor  der  Katastrophe  zu  andern  da* 
von  gesprochen  hatte  usw. 

In  diesem  Falle  ist  Autosuggestion  ganz  aus* 
geschlossen.  Denn  eine  Gesellschaft,  die  mehr  oder 
minder  in  Wohltätigkeitsbazaren  aufgeht,  erinnert 
sich  —  wahrscheinlich  ihr  ganzes  Leben  lang  — ,  wenn 
jemand  vor  sie  hintritt,  der  ihr  zuruft,  daß  sie  bei 
solcher  Gelegenheit  auf  gräßliche  Weise  ums  Leben 
kommt.  Sie  atmet  aber  auch  erleichtert  auf,  wenn 
sie  damit  beruhigt  wird,  daß  keine  der  anwesenden 
Personen  noch  deren  nahen  Anverwandten  dem  Un* 
glück  zum  Opfer  fällt.  Ein  Irrtum  des  Gedächtnisses 
bezüglich   des   essentiellen  Inhaltes  der  Prophezeiung 


127 


ist  in  diesem  Falle  ganz  ausgeschlossen.  Das  wurde 
auch  meines  Wissens  von  keiner  Seite  behauptet. 

Eine  Kritik,  die  Dinge,  die  sich  vor  Hunderten 
von  Zeugen,  die  dazu  zusammenkamen,  um  eben 
diese  Dinge  zu  beobachten,  leugnen  wollte,  würde 
einen  viel  größeren  Fehler  begehen,  als  die  alten 
Astronomen,  die  das  Vorkommen  von  xMeteoren  be^ 
stritten.  Und  da  von  diesen  Zeugen  alle  noch  lebten, 
viele  heute  noch  leben,  so  kann  die  Kritik  leichter 
leugnen,  daß  Napoleon  I.  existiert  hat,  als  die  Tat* 
sächlichkeit  dieser  Prophezeiung. 

Und  das,  wiewohl  der  Text  der  Vision  rekon^ 
struiert  wurde.  Denn  was  für  uns  ausschlaggebend 
ist  und  mit  Rücksicht  auf  die  Fixierung  erst  nach 
dem  Ereignis  auch  nur  beweiskräftig  sein  kann,  ist 
ja  nur  der  wesentliche  Kern  de.^  Prophezeiung.  Der 
aber  lautet: 

Es  wird  in  der  Nähe  der  Champs-Elysees, 
also  in  Paris,  bei  einem  Wohltätigkeitsfest 
ein   großes    Brandunglück   geben. 

Ist  diese  Prophezeiung  schon  interessant  genug, 
so  wird  sie  durch  den  mündlichen  Zusatz  —  der  gut 
beglaubigt  ist  — ,  daf^  niemand  der  Anwesenden 
oder  aus  deren  Ve rwandtschaft  zugrunde  gehen 
würde,  verblüffend.  Denn  gerade  diese,  numerisch 
gar  nicht  sehr  zahlreiche  Gesellschaftsschicht,  ver* 
anstaltet  doch  in  Paris,  wie  in  jeder  anderen  Groß* 
Stadt,  derartige  Festlichkeiten.  Wir  dürften  daher  in 
der  Prophezeiung  des  Fräulein  Couedon  einen  der 
besten  Beweise    für   die  Existenz   dieser  Gabe  sehen. 

Über  die  Sprechweise  der  Seherin  berichtet  xMery 
im   genannten   Aufsatz:    ,,Sie    spricht    oder   vielmehr: 


128 

sie  leiert  eintönig  rhythmisch  abgemessene  Sätze  her, 
welche  assonierend  klingen  und  von  denen  manche 
refrainartig  wiederkehren.  Es  sind  keine  Verse  und 
auch  keine  Prosa;  ein  Mittelding,  etwas  Unfaßbares 
ist  es,  was  sich  mit  einer  gewissen  Melancholie  und 
Eintönigkeit  endlos  abwickelt,  wobei  fast  unverändert 
dieselben  Assonanzen  immer  wieder  hörbar  werden.'* 

In  Nummer  290  vom  I.Februar  1909  brachte  das 
„Echo  du  merveilleux**  folgenden  Bericht 0: 

„Eine  römische  Dame,  welche  seit  mehreren 
Monaten  an  akuter  Neurasthenie,  oder  besser  gesagt, 
Hysterie  leidet,  hat  seit  dem  verflossenen  2.  De^* 
zember  vorigen  Jahres  die  Katastrophe  voraus* 
gesagt,  die  Messina  zerstört  und  Kalabrien 
verheert  hat.  Diese  Dame,  welche  einer  hervor^ 
ragenden  Familie  der  Aristokratie  angehört,  ließ 
schleunigst  den  Dr.  Sarti  rufen,  nachdem  sie  in  der 
Nacht  durch  ein  schreckliches  Traumgesicht  gepeinigt 
worden  war,  das  bei  ihr  eine  quälende  Beunruhigung 
zurückgelassen  hatte.  Vergebens  bot  der  Arzt  alle 
Mittel  auf,  die  Dame  zu  beruhigen;  dies  gelang  ihm 
erst,  als  er  ihr  versprach,  einen  von  ihr  geschriebenen 
Brief  dem  König  zu  übergeben.  ^  -»^.'*^>*-«* 

In  diesem  Briefe  wurde  S.  Majestät  der 
König  Viktor  Emanuel  gebeten,  der  Stadt 
Messina  zur  Hilfe  zu  kommen,  welche  von 
einem  furchtbaren  Erdbeben  bedroht  sei. 
,,Ich  sehe,"  so  heißt  es  indem  Briefe,  „sich  Land 

*)  Zitiert  nach  den  „Psychischen  Studien",  36.  Bd.,  1909, 
S.  78  ff. 


129 


und  Meer  vereinigen,  um  die  schöne  Stadt  zu 
verschlingen.  Dieses  entsetzliche  Unglück 
wird  sich  am  8.,  18.,  oder  28.  des  Monats  er- 
eignen." 

In  der  Überzeugung,  daß  er  es  mit  einer  Hallu^s 
zinierenden  zu  tun  habe,  steckt  der  Arzt  den  Brief  in 
sein  Portefeuille,  und  als  er  andern  Tages  so  tat,  als 
habe  er  die  Botschaft  an  den  Souverän  habe  gelangen 
lassen,  zeigte  sich  die  Kranke  ruhiger  und  bereit,  einige 
Nahrung,  sowie  die  verordnete  Medizin  zu  sich  zu 
nehmen.  Aber  in  der  Nacht  vom  7.  auf  den  8.  Dezember 
wurde  sie  von  einer  heftigen  hysterischen  Krise  be* 
fallen.  Sie  wand  sich,  weinte,  schrie  und  fragte 
unaufhörlich,  ob  der  König  angeordnet  habe,  daß 
Messina  geräumt  werde.  x\uch  eine  weitere  Krisis 
in  der  Nacht  vom  17.  Dezember  spielte  sich  höchst 
dramatisch  ab  und  eine  solche  vom  27.  war  derart 
ernst,  daß  man  in  der  Umgebung  der  Patientin 
glaubte,  ihre  letzte  Stunde  sei  gekommen.  Sie  lamen* 
tierte  und  schüttelte  sich  vor  Angst  bis  zum  Abend 
des  28.  Alsdann  verfiel  sie  in  einen  tiefen  Schlaf  .  .  . 
Die  Katastrophe  hatte  stattgefunden. 

Dr.  Sarti  war  im  höchsten  Grade  betroffen  über 
die  Richtigkeit  der  Prophezeiung  seiner  Kranken. 
Die  grauenvolle  Brutalität,  mit  welcher  die  Vorschau 
seiner  Patientin  in  Erfüllung  gegangen  ist,  hat  bei 
ihm  jeden  Zweifel  für  immer  erstickt.  Er  bereitet 
über  diesen  Fall  eine  Denkschrift  für  die  Akademie 
vor,  und  will  seine  Klientin  den  italienischen  Auto^ 
ritäten  auf  dem  Gebiete  der  Psychologie  vorstellen. 

Der  fragliche  Brief  ist  nachträglich  dem  König 
übergeben   worden,    der    mit    dem    größten   Interesse 

Kemmerich,   Prophezeiungen  9 


150 

den  Untersuchungen  entgegen  sieht,  welche  die  Fa^ 
kultät  bei  der  Prophetin  anstellen  wird. 

Diese  Mitteilung  wurde  zuerst  im  „Gil  Blas" 
am  20.  Januar  1910  veröffentlicht.  Das  „Echo*'  be* 
merkt  dazu:  ,,Wenn  der  betreffende  Brief  wirklich 
das  enthält,  was  behauptet  wird,  die  genauen  Angaben 
über  das  bevorstehende  Unglück  von  Messina  und 
Reggio,  über  das  Datum  und  die  Art  des  Ereig* 
nisses,  so  hätten  wir  ein  überaus  wertvolles  Dokument 
vor  uns." 

Aus  später  noch  zu  erörternden  Gründen  hätte 
es  nicht  viel  Wert,  noch  weitere  vereinzelte  Beispiele 
zeitlichen  Vorhersehens  hier  zusammen  zu  stellen. 
Gewiß  könnten  wir  noch  recht  viel  des  Interessanten 
bieten,  aber  ein  zwingender  Beweis  ist  auf  diesem 
Wege  für  den  hartnäckigen  Zweifler  kaum  zu  er^ 
bringen.  Immerhin  möchten  wir  der  Überzeugung 
Ausdruck  geben,  daß  es  nicht  allzu  schwer  sein  würde, 
den  Nachweis  zu  liefern,  daß  jedes  oder  doch 
fast  jedes  bedeutende  Ereignis  der  Welt*« 
geschichte,  besonders  tragische  Dinge,  mehr 
oder  minder  klar  und  genau  von  dazu  be* 
fähigten   Personen   vorhergesagt  wurde. 

Zum  Schlüsse  dieses  fast  allzulangen  Kapitels 
wollen  wir  noch  einen  Gewährsmann  für  den  Glauben 
an  Telepathie  anführen  —  denn  er  bekennt  ausdrück« 
lieh,  kein  bestimmtes  Wissen  davon  zu  haben  —  einen 
Eideshclfer,  dessen  IntelHgenz  und  Wahrheitsliebe  wohl 
von  niemand  in  Zweifel  gezogen  wirci:  Goethe! 

Bekannt  ist  Goethes  Vision,  die  er  in  seiner 
„Dichtung  und  Wahrheit"  (3.  Teil,  11.  Buch)  erzählt: 

„In   solchem  Drang   und  Verwirrung   konnte   ich 


131 


doch  nicht  unterlassen,  Friederiken  noch  einmal  zu 
sehen.  Es  waren  peinliche  Tage,  deren  Erinnerung 
mir  nicht  geblieben  ist.  Als  ich  ihr  die  Hand  noch 
vom  Pferde  reichte,  standen  ihr  die  Tränen  in  den 
Augen,  und  mir  war  sehr  übel  zumute.  Nun  ritt 
ich  auf  dem  Fußpfade  gegen  Drusenheim,  und  da 
überfiel  mich  eine  der  sonderbarsten  Ahnungen.  Ich 
sah  nämlich,  nicht  mit  den  Augen  des  Leibes,  sondern 
des  Geistes,  mich  mir  selbst,  denselben  Weg,  zu 
Pferde  wieder  entgegen  kommen,  und  zwar  in  einem 
Kleide,  wie  ich  es  nie  getragen:  es  war  hechtgrau 
mit  etwas  Gold.  Sobald  ich  mich  aus  diesem  Traum 
aufschüttelte,  war  die  Gestalt  ganz  hinweg.  Sonderst 
bar  ist  es  jedoch,  daß  ich  nach  acht  Jahren  in  dem 
Kleide,  das  mir  geträumt  hatte  und  das  ich  nicht 
aus  Wahl,  sondern  aus  Zufall  gerade  trug,  mich  auf 
demselben  Wege  fand,  um  Friederiken  noch  einmal 
zu  besuchen.  Es  mag  sich  übrigens  mit  diesen  Dingen, 
wie  es  will,  verhalten,  das  wunderliche  Trugbild  gab 
mir  in  jenen  Augenblicken  des  Scheidens  einige  Bt^ 
ruhigung." 

Wie  Goethe  im  übrigen  den  okkulten  Phäno=j 
menen  gegenüber  stand,  ergibt  sich  aus  folgendem 
Passus  aus  seinen  Wahlverwandtschaften.  Bekannt 
ist  oder  könnte  doch  sein,  was  er  im  elften  Kapitel 
des  zweiten  Teiles  über  die  Wünschelrute  erzählt. 
Da  dieses  Phänomen  aber  seit  zwei  Jahren  sogar  von 
der  Fachwelt  anerkannt  zu  werden  beginnt,  hat  es 
für  uns  weniger  Interesse,  als  die  andere  Stelle,  die 
wie  folgt  lautet  (2.  Teil,  8.  Kapitel): 

,,Wenn  sie  (Ottilie)  sich  abends  zur  Ruhe  gelegt 
und    im    süßen  Gefühl    noch    zwischen  Schlaf    und 

9* 


152 

Wachen  schwebte,  schien  es  ihr,  als  wenn  sie  in  einen 
ganz  hellen,  doch  mild  erleuchteten  Raum  hinein* 
blickte.  In  diesem  sah  sie  Eduarden  ganz  deutlich, 
und  zwar  nicht  gekleidet,  wie  sie  ihn  sonst  gesehen, 
sondern  im  kriegerischen  Anzug,  jedesmal  in  einer 
anderen  Stellung,  die  aber  vollkommen  natürlich  war 
und  nichts  Phantastisches  an  sich  hatte:  stehend, 
gehend,  liegend,  reitend.  Die  Gestalt,  bis  aufs  kleinste 
ausgemalt,  bewegte  sich  willig  vor  ihr,  ohne  daß  sie 
das  mindeste  dazu  tat,  ohne  daß  sie  wollte  oder  die 
Einbildungskraft  anstrengte.  Manchmal  sah  sie  ihn 
auch  umgeben,  besonders  von  etwas  Beweglichem, 
das  dunkler  war,  als  der  helle  Grund,  aber  sie  unters^ 
schied  kaum  Schattenbilder,  die  ihr  zuweilen  als 
Menschen,  als  Pferde,  als  Bäume  oder  Gebirge  vor* 
kommen  konnten.  Gewöhnlich  schlief  sie  über  der 
Erscheinung  ein,  und  wenn  sie  nach  einer  ruhigen 
Nacht  morgens  wieder  erwachte,  so  war  sie  erquickt, 
getröstet,  sie  fühlte  sich  überzeugt:  Eduard  lebe  noch, 
sie  stehe  mit  ihm  noch  in  dem  innigsten  Verhältnis.** 

Es  handelt  sich  hier  unzweifelhaft  um  ein  tele* 
pathisches  Phänomen.  Mag  Goethe  nun  Ähnliches 
aus  zuverlässiger  Quelle  erfahren,  mag  er  es,  wie  seine 
Drusenheimer  Vision,  selbst  erlebt  haben,  eines  ist 
sicher:  er  hielt  es  für  möglich,  denn  sonst  hätte  er 
ganz  gewiß  nicht  gewagt,  in  einer  Zeit  der  rücksichts* 
losesten  Autklärung  solche  erstaunliche  Begebenheiten 
zu  schildern. 

Übrigens  verleiht  er  seiner  Ottilie  in  den  ,,Wahl* 
Verwandtschaften**  (2.  Teil,  11.  Kapitel)  noch  eine 
andere  Fähigkeit,  die  dem  Vorgefühl  eines  Witterungs* 
wechseis,    unter   dem    ja  viele  Leute    leiden    und  das 


133 


Sliakespeare  im  Hamlet  bereits  in  die  Literatur  ein* 
Führt,  verwandt  zu  sein  scheint.    Der  Passus  lautet: 

„Ottilie,  die  uns  begleitete,  stand  an  zu  folgen, 
und  bat  sich  auf  dem  Kahne  dorthin  begeben  zu 
dürfen.  Ich  setzte  mich  mit  ihr  ein  und  hatte  meine 
Freude  an  der  Gewandtheit  der  schönen  Schifferin. 
Ich  versicherte  ihr,  daß  ich  seit  der  Schweiz,  wo  auch 
die  reizendsten  Mädchen  die  Stelle  des  Fährmanns 
vertreten,  nicht  so  angenehm  sei  über  die  Wellen 
geschaukelt  worden,  konnte  mich  aber  nicht  enthalten 
sie  zu  fragen,  warum  sie  eigentlich  abgelehnt,  jenen 
Seitenweg  zu  machen:  denn  wirklich  war  in  ihrem 
Ausweichen  eine  Art  von  ängstlicher  Verlegenheit. 

Wenn  Sie  mich  nicht  auslachen  wollen,  versetzte 
sie  freundlich,  so  kann  ich  Ihnen  darüber  wohl  einige 
Auskunft  geben,  obgleich  selbst  für  mich  dabei 
ein  Geheimnis  obwaltet.  Ich  habe  jenen  Nebenweg 
niemals  betreten,  ohne  daß  mich  ein  ganz  eigener 
Schauer  überfallen  hätte,  den  ich  sonst  nirgends 
empfinde  und  den  ich  mir  nicht  zu  erklären  weiß. 
Ich  vermeide  daher  lieber  mich  einer  solchen  Emp^^ 
findung  auszusetzen,  um  so  mehr,  als  sich  gleich 
darauf  ein  Kopfweh  an  der  linken  Seite  einstellt, 
woran  ich  sonst  auch  manchmal  leide. 

Wir  landeten,  Ottilie  unterhielt  sich  mit  Ihnen, 
und  ich  untersuchte  indes  die  Stelle,  die  sie  mir  aus 
der  Ferne  deutlich  angegeben  hatte.  Aber  wie  groß 
war  meine  Verwunderung,  als  ich  eine  sehr  deutliche 
Spur  von  Steinkohlen  entdeckte,  die  mich  überzeugt, 
man  würde  bei  einigem  Nachgraben  vielleicht  ein 
ergiebiges  Lager  in  der  Tiefe  finden.*' 

Goethe   hatte   selbst  wiederholt  telepathische  Er* 


154 

lebnisse  gehabt.  Er  sagt:  „Unter  Liebenden  ist  diese 
magnetische  Kraft  besonders  stark  und  wirkt  sogar 
in  die  Ferne.  Ich  habe  in  meinen  Jünglings  jähren 
Fälle  genug  erlebt,  wo  mich  auf  einsamen  Spazier:* 
gangen  ein  mächtiges  Verlangen  nach  einer  Geliebten 
überfiel,  und  wo  ich  so  lange  an  sie  dachte,  bis  sie 
mir  wirklich  entgegen  kam.  Es  wurde  mir  in  meinem 
Stübchen  unleidlich,  sagte  sie;  ich  konnte  mir  nicht 
mehr  helfen,  ich  mußte  hierher."  Einen  solchen  Fall 
erzählt  Goethe  ausführlich^).  Das  ist  allerdings  ein 
räumliches  Ferngefühl. 

Die  Gabe  der  Weissagung  oder  doch  die  der 
Visionen  —  man  erinnere  sich  des  Drusenheimer 
Falles  —  war  in  Goethes  Familie  heimisch.  Man  höre, 
was  er  darüber  in  „Dichtung  und  Wahrheit"  erzählt^): 

„Was  jedoch  die  Ehrfurcht,  die  wir  für  diesen 
würdigen  Greis  (Großvater,  der  Schultheiß  Johann 
Wolfgang  Textor)  empfanden,  bis  zum  Höchsten 
steigerte,  war  die  Überzeugung,  daß  derselbe  die 
Gabe  der  Weissagung  besitze,  besonders  in  Dingen, 
die  ihn  selbst  und  sein  Schicksal  betrafen.  Zwar  ließ 
er  sich  gegen  niemand  als  gegen  die  Großmutter  ent* 
schieden  und  umständlich  heraus;  aber  wir  alle  wußten 
doch,  daß  er  durch  bedeutende  Träume  von  dem, 
was  sich  ereignen  sollte,  unterrichtet  werde.     So  ver* 


*)  Vgl.  Eckermann,  Gespräche  mit  Goethe,  III.  S.  137—139. 
Die  ebenda  wiedergegebene  Erzählung ,  der  Dichter  habe  das 
Erdheben,  das  am  5.  Februar  1783  Messina  zerstörte,  in  Weimar 
auf  telepathischem  Wege  gespürt,  ist  nicht  stichhaltig.  Vgl. 
k.  Ilennig,  Gartenlaube   1910,  S.  758  (Nr.  36). 

")  1.  Teil,  erstes  Buch,  Cottasche  Ausgabe  ed.  Goedekc, 
20.  Bd..  S.  38 ff. 


135 


sicherte  er  z.  B.  seiner  Gattin,  zur  Zeit  als  er  noch 
unter  die  jüngeren  Ratsherren  gehörte,  daß  er  bei 
der  nächsten  Vakanz  auf  der  Schöftenbank  zu  der 
erledigten  Stelle  gelangen  würde.  Und  als  wirklich 
bald  darauf  einer  der  Schöffen,  vom  Schlage  gerührt, 
starb,  verordnete  er  am  Tage  der  Wahl  und  Kugelung 
daf^  zu  Hause  im  stillen  alles  zum  Empfang  der 
Gäste  und  Gratulanten  solle  eingerichtet  werden,  und 
die  entscheidende  goldene  Kugel  ward  wirklich  für 
ihn  gezogen.  Den  einfachen  Traum,  der  ihn  hiervon 
belehrt,  vertraute  er  seiner  Gattin  folgendermaßen: 
Er  habe  sich  in  voller  gewöhnlicher  Ratsversammlung 
gesehen,  wo  alles  nach  hergebrachter  Weise  vorge* 
gangen.  Auf  einmal  habe  sich  der  nun  verstorbene 
Schöff  von  seinem  Sitze  erhoben,  sei  herabgestiegen 
und  habe  ihm  auf  eine  verbindliche  Weise  das  Komp^ 
pliment  gemacht;  er  möge  den  verlassenen  Platz  ein* 
nehmen,  und  sei  darauf  zur  Türe  hinausgegangen. 

Etwas  Ähnliches  begegnete,  als  der  Schultheiß 
mit  dem  Tode  abging.  Man  zaudert  in  solchem 
Falle  nicht  lange  'mit  Besetzung  dieser  Stelle,  weil 
man  immer  zu  fürchten  hat,  der  Kaiser  werde  sein 
altes  Recht,  einen  Schultheißen  zu  bestellen,  irgend 
einmal  wieder  hervorrufen.  Diesmal  ward  um  Mitters= 
nacht  eine  außerordentliche  Sitzung  auf  den  andern 
Morgen  durch  den  Gerichtsboten  angesagt.  Weil 
diesem  nun  das  Licht  in  der  Laterne  verlöschen 
wollte,  so  erbat  er  sich  ein  Stümpfchen,  um  seinen 
Weg  weiter  fortsetzen  zu  können.  ,Gebt  ihm  ein 
ganzes',  sagte  der  Großvater  zu  den  Frauen;  ,er  hat 
ja  doch  die  Mühe  um  meinetwillen.*  Dieser  Äußerung 
entsprach     auch     der     Erfolg:      er     wurde     wirklich 


156 

Schultheiß;  wobei  der  Umstand  noch  besonders 
merkwürdig  war,  daß,  obgleich  sein  Repräsentant  bei 
der  Kugelung  an  der  dritten  und  letzten  Stelle  zu 
ziehen  hatte,  die  zwei  silbernen  Kugeln  zuerst  heraus^ 
kamen  und  also  die  goldne  für  ihn  auf  dem  Grunde 
des  Beutels  liegen  blieb. 

Völlig  prosaisch,  einfach  und  ohne  Spur  von 
Phantastischem  oder  Wundersamem  waren  auch 
die  übrigen  der  uns  bekannt  gewordnen  Träume. 
Femer  erinnere  ich  mich,  daß  ich  als  Knabe  unter 
seinen  Büchern  und  Schreibkalendern  gestört  und  darin 
unter  andern  auf  Gärtnerei  bezüglichen  Anmerkungen 
aufgezeichnet  gefunden:  , Heute  nacht  kam  N.  N.  zu 

mir  und  sagte Name  und  Offenbarung  waren 

in  Chiffren  geschrieben.  Oder  es  stand  auf  gleiche 
Weise:  Heute  nacht  sah  ich  ....  Das  übrige  war 
wieder  in  Chiffren,  bis  auf  die  Verbindungss^  und 
andere  Worte,  aus  denen  sich  nichts  abnehmen  ließ. 

Bemerkenswert  bleibt  es  bei,  daß  Personen,  welche 
sonst  keine  Spur  von  Ahnungsvermögen  zeigten,  in 
seiner  Sphäre  für  den  Augenblick  die  Fähigkeit  er^ 
langten,  daß  sie  von  gewissen  gleichzeitigen,  obwohl 
in  der  Entfernung  vorgehenden  Krankheits»«  und 
Todesereignissen  durch  sinnliche  Wahrzeichen  eine 
Vorempfindung  hatten.  Aber  auf  keines  seiner  Kinder 
und  Enkel  hat  eine  solche  Gabe  fortgeerbt;  vielmehr 
waren  sie  meistenteils  rüstige  Personen,  lebensfroh 
und  nur  aufs  Wirkliche  gestellt^)." 


*)  Vgl.  auch  den  Aufsatz  von  A.  P.  Brumm,  „Seltsames  und 
Mystisches  aus  der  englischen  Dichterwclt".  ,, Sphinx'*,  II.  Bd., 
1886,  S.  187 ff.  Hier  werden  merkwürdige  Dinge  von  W.  Blake. 
Thomas  de  Quincey.  Shelley  und  Walter  Scott  erzählt. 


137 


Drittes  Kapitel 

Unsere  Beweisführung 
Einwände  und  deren  Widerlegung 

Wir  haben  in  den  beiden  vorangehenden  Kapiteln 
eine  ganze  Reihe  von  Prophezeiungen  angeführt  und 
schlössen  mit  der  Bemerkung,  daß  wir  trotzdem  nicht 
behaupten,  schon  einen  zwingenden  Beweis  erbracht 
zu  haben. 

Das  bedarf  einer  eingehenden  Begründung. 

Gegen  unser  Material  muß  zunächst  eingeworfen 
werden,  daß  es  sich  zum  Teil  um  Berichte  handelt, 
die  erst  veröffentlicht  wurden,  nachdem  das  vor^ 
hergesagte  Ereignis  auch  eingetreten  war.  Da  ist 
die  Vermutung  möglich,  die  Zeugen  hätten  bewußt 
oder  unbewußt  die  Unwahrheit  gesagt. 

Daß  Lügen,  gerade  wenn  es  sich  um  so  Un* 
gewöhnliches  handelt,  wie  in  unserer  Untersuchung, 
möglich  sind,  soll  gewiß  nicht  bestritten  werden. 
Immerhin  stammt  eine  ganze  Reihe  von  Daten  von 
Leuten,  an  deren  Wahrheitsliebe  zu  zweifeln  schlechter^ 
dings  nicht  zulässig  ist.  Wer  selbst  auf  seine  Ehre 
etwas  hält,  wird  sehr  vorsichtig  sein,  wenn  er  in  Ver=: 


158 

suchung  kommt,  der  eines  anderen  zu  nahe  zu  treten. 
Deshalb  wollen  wir  den  bewußten  Schwindel  ganz 
ausschalten.  Es  kämen  ja  überhaupt  nur  ganz  wenige 
der  hier  mitgeteilten  Phänomene  für  diese  Art  des 
Zweifels  in  Frage. 

Wie  aber  steht  es  mit  dem  andern  Einwurf, 
dem,  die  Gewährsmänner  hätten  unbewußt  die  Un* 
Wahrheit  gesagt? 

Wer  die  Psychologie  der  Zeugenaussage  kennt, 
weiß,  daß  unser  Gedächtnis  uns  oft  in  einer  Weise 
im  Stich  läßt,  die  wir  nicht  für  möglich  gehalten 
hätten.  In  vieler  Erinnerung  wird  noch  das  Experis* 
ment  sein,  das  der  große  Strafrechtslehrer  Franz 
von  Liszt  in  seinem  Seminar  —  also  mit  lauter  ge*= 
bildeten  jungen  Leuten  —  anstellte  und  das  gänzlich 
negativen  Erfolg  hatte.  Es  handelte  sich  damals  um 
den  Bericht  über  ein  von  ihm  im  Hörsaal  inszeniertes 
Attentat,  wobei  die  Zeugen  keine  Ahnung  davon 
hatten,  daß  es  sich  um  eine  abgekartete  Sache  handle. 
Allerdings  mag  damals  die  große  Erregung  und  die 
Schnelligkeit,  mit  der  sich  die  Vorgänge  abspielten, 
das  Resultat  ungünstig  beeinflußt  haben.  Aber  zu^ 
zugeben  ist,  daß  unserem  Gedächtnis,  zumal  wenn  es 
sich  um  Details  handelt  und  besonders,  wenn  das 
Erlebnis  lange  zurück  liegt,  nicht  allzuviel  Glauben 
beizumessen  ist. 

Das  liegt  hauptsächlich  in  der  Art  begründet,  in 
der  solche  Gedächtnisbilder  zustande  kommen.  Es 
sind  keineswegs,  wie  man  annehmen  sollte,  lauter 
Beobachtungen,  Eindrücke,  die  wie  die  Bilder  auf 
der  photographischen  Platte  festgehaUen  und  nach 
Hause  getragen  werden.    Vielmehr  ist  nur  ein  Bruch«« 


139 


teil  wirklich  beobachtet,  das  andere  aber  kombiniert, 
und  zwar  ganz  unbewußt  kombiniert. 

Sehen  wir  jemanden  in  großer  Erregung  mit  ge* 
zücktem  Dolch  auf  einen  Dritten  zustürzen  und  ihm 
scheinbar  die  Waffe  in  den  Körper  bohren,  dann 
glauben  wir  auch  sofort  den  Blutstrahl  aufspritzen 
zu  sehen.  Auch  wenn  gar  nicht  zugestochen  wurde. 
Unsere  Phantasie,  verbunden  mit  dem  Kausalitäts:« 
bedürfnis,  mit  der  Erfahrung,  daß  bei  Wunden  auch 
Blut  fließt,  spielte  uns  einen  Streich. 

Die  Beispiele  ließen  sich  beliebig  vermehren. 
Das  Fazit,  daß  auch  intelligente  Menschen  mit  großer 
Wahrheitsliebe  objektiv  unwahre  Dinge  berichten, 
können  wir  schon  jetzt  ziehen.  Die  Vermutung  bei 
besonders  merkwürdigen  Phänomenen,  wie  denen, 
um  die  es  sich  hier  ausschließlich  handelt,  sei  die 
Phantasie  doppelt  geschäftig,  liegt  gewiß  nahe. 

Nun  ist  aber  dagegen  einzuwenden,  daß  es  sich 
fast  regelmäßig  um  so  Wichtiges  —  etwa  den  vor** 
hergesagten  Tod  naher  Angehöriger  —  handelt,  daß 
das  Essentielle  der  Vorhersage  behalten  wird, 
wenn  auch  Irrtümer  in  bezug  auf  die  Neben^ 
umstände  vorkommen  mögen.  Denn  wenn  wir 
daran  zweifeln  wollen,  daß  jemand  Fragen  von  sols» 
eher  Bedeutung  in  sein  Gedächtnis  eingraben  kann, 
dann  müssen  wir  das  Gedächtnis  als  Gehirntätigkeit 
überhaupt  streichen.  Dann  kann  auch  jemand  ver*« 
gessen,  daß  er  irgendwo  verwundet  wurde  oder  daß 
sein  Vater  starb.  Auch  hier  führt  eine  Hyperkritik 
zu  absurden  Konsequenzen. 

Einräumen  wollen  wir  aber,  daß  in  allen  jenen 
Fällen,  in  denen  die  Vorhersage  eines  Ereignisses  erst 


140 

nach  dessen  Eintreffen  publiziert  wird,  der  Leser  das 
Recht  hat,  an  der  Glaubwürdigkeit  des  oder  der  Zeug* 
nisse  zu  zweifeln. 

Deshalb  schreibt  der  bekannte  verstorbene  Vor:« 
kämpfer  des  Okkultismus,  Freiherr  von  Du  Frei, 
ein  Forscher,  dessen  Verdienste  im  vollen  Umfange 
auch  erst  die  Zukunft  anerkennen  wird: 

Solche  Visionen  müssen  „vor  dem  Eintreffen  in 
einer  Zeitschrift  publiziert  werden,  selbst  auf  die 
Gefahr  hin ,  daß  einzelne  nicht  eintreffen.  —  Das 
bloße  Deponieren  im  Archiv  der  betr.  Gesellschaft 
hätte  höchstens  für  die  Gesellschaftsmitglieder  einen 
Wert". 

Nun  ist  aber  eine  große  Anzahl  der  von  uns 
mitgeteilten  Fälle  von  zeitlichem  Fernsehen  bereits 
früher,  ja  oft  schon  Jahrhunderte  vorher,  im  Druck 
erschienen. 

Was  läßt  sich  gegen  deren  Beweiskraft  anführen? 
Da  besteht  zunächst  der  Einwand,  diese  Prophezeiungen 
seien  so  unklar  gefaßt,  daß  sie  vielleicht  auch  auf 
andere  Ereignisse  bezogen  werden  könnten.  Er  ist 
häufig  schwer  oder  gar  nicht  zu  widerlegen. 

Oder  es  heißt  —  und  das  ist  einer  der  beliebtesten 
Gegengründe  —  man  erinnere  sich  zwar  genau  der 
wenigen  Vorhersagen,  die  zutrafen,  vergesse  aber 
alle  jene,  die  falsch  gewesen  seien. 

Diese  Erwägung  besteht  zweifellos  zu  Recht. 
Es  ist  ja  fabelhaft,  wie  viel  und  was  für  haarsträubend 
dummes  Zeug  prophezeit  wurde  und  noch  wird. 
In  früheren  Jahrhunderten  gab  man  solche  Elaborate 
gern  in  den  Druck,  heute  ist  man  darin  —  nicht  zum 
Schaden  der  Sache  —  zurückhaltender  geworden. 


141 

Wenn  wir  nun  auch  ohne  weiteres  die  Berechs« 
tigung  dieser  Art  des  Zweifels  zugeben  und  es  uns 
gar  nicht  einfällt,  zu  bestreiten,  daß  es  geradezu  ein 
Wunder  sein  müßte,  wenn  unter  den  Myriaden  von 
Vorhersagen  nicht  diese  oder  jene  wahr  geworden 
wäre,  so  bedarf  doch  anderseits  diese  Frage  ein* 
gehenderer  Prüfung. 

Es  sind  drei  Möglichkeiten  für  die  richtige 
'  Vorhersage  von  etwas  Zukünftigem  gegeben:  1.  die 
Berechnung.  Sie  ist  Aufgabe  der  Wissenschaft  und 
wird  es  in  späteren  Zeiten  noch  mehr  werden.  Wenn 
ein  warmer  Sommer  im  nördlichen  Polargebiet  war, 
so  daß  große  Massen  von  Eis  schwimmend  ins 
Meer  gelangten  und  nach  Süden  trieben,  so  hat  die 
metereologische  Erfahrung  ergeben,  daß  der  nächste 
Winter  in  unseren  Breiten  kalt  werden  wird. 

Oder  wenn  ich  als  Bevölkerungsstatistiker  aus 
ungezählten  Millionen  von  Einzelbeobachtungen  zum 
Resultat  gelangt  bin,  daß  auf  106  Knabengeburten 
in  Deutschland  100  Mädchengeburten  treffen,  dann 
kann  ich  folgern,  daß  auch  in  künftigen  Jahren  das 
Verhältnis  ebenso  sein  wird.  Wenn  auch  das  so* 
genannte  Gesetz  der  großen  Zahl  nicht  Notwendig* 
keit  fordert,  so  werde  ich  mich  auch  doch  in  praxi 
nur  um  Dezimalen  irren. 

Oder  wenn  ich  als  Arzt  die  Erfahrungstatsache 
kenne,  daß  ein  Prießnitz*Umschlag  um  die  Brust 
katarrhalische  Affektionen  der  Atmungsorgane  gün* 
stig  beeinflußt,  dann  bin  ich  dazu  berechtigt,  bei 
meinem  Patienten  dieses  Mittel  bei  gleicher  Er* 
krankung  mit  einiger  Aussicht  auf  Erfolg  anzu* 
wenden. 


142 


In  allen  diesen  Fällen,  im  Versicherungswesen,  in 
der  Politik,  in  der  Volkswirtschaft  und  noch  auf  zahl^ 
reichen  —  um  nicht  zu  sagen  auf  allen  Gebieten  — 
ist  der  Sachverhalt  der  gleiche:  Auf  Grund  einer 
möglichst  umfassenden  Induktion  gelangen  wir  zu 
deduktiven  Schlüssen,  zu  Erfahrungsregeln,  ja  zu 
Gesetzen  und  wenden  sie  nun  auf  Zukünftiges  an. 
Hier  handelt  es  sich,  das  ist  klar,  um  Berechung, 
Kalkulation  oder  Kombination. 

Wenn  auch  nicht  bestritten  werden  kann,  daß 
die  obigen  Berechnungen  auch  irrtümlich  sein  können, 
daß  ihr  Umfang  und  Inhalt  gewissen  Beschränkungen 
unterliegt,  daß  auch  unvorhergesehene  und  unvorher* 
sehbare  Momente  sie  modifizieren  mögen,  so  wird 
es  doch  keinem  Menschen  einfallen,  ein  richtiges 
Resultat  auf  Zufall  zurückzuführen.  Vielmehr  wird 
man  geneigt  sein,  einen  Mißerfolg  damit  zu  erklären 
bzw.  zu  beschönigen. 

2.  Können  wir  das  Eintreffen  der  Vorhersage 
eines  zukünftigen  Ereignisses  dem  Zufall  zuschreiben. 

Was  ist  Zufall? 

„Zufall  nennt  man  alles,  was  durch  keine  Gründe 
und  Ursachen  bedingt  zu  sein  scheint,  also  das 
Unbeabsichtige  und  das  Unerklärliche.  Der  Be* 
griff  des  Zufalls  ist  jedoch  ein  bloß  subjektiver; 
denn  an  sich  ist  alles  durch  Ursachen  bedingt.  Aber 
ein  Kausalzusammenhang  kann  für  uns  unter  Um* 
ständen  dunkel  und  unbekannt  oder  auch  unbeab* 
sichtigt  sein.  Zufällig  heißt  demnach  dasjenige  Er* 
eignis,  welches  aus  einem  System  von  Ursachen 
entspringt,  das  nicht  in  der  Macht  des  Wollenden 
oder  der  Kenntnis  des  Auffassenden  liegt,  z.  B.  eine 


143 


Folge,  die  weder  von  uns  beabsichtigt,  noch  auch 
vorhergesehen  ist').** 

Anders  ausgedrückt:  einen  objektiven  Zufall 
gibt  es  nicht,  da  mit  seiner  Annahme  die  Kausalität 
geleugnet  würde.  Es  kann  sich  also  —  auch  in  allen 
für  uns  in  Frage  kommenden  Fällen  —  niemals  darum 
handeln,  daß  etwas  keine  Ursachen  hat,  sondern  nur 
darum,  daß  wir  diese  1.  nicht  kennen;  2.  nicht  be* 
weisen  können,  daß  der  Erfolg  auch  wirklich  be^ 
absichtigt  war. 

Was  das  Nichtkennen  betrifft,  so  schränkt  sich 
naturgemäß  dessen  Bereich  mit  dem  Fortschreiten  der 
Wissenschaft  immer  mehr  ein.  Wir  lernen  mehr 
Gesetze,  die  die  Welt  beherrschen,  kennen  und  haben 
deshalb  immer  weniger  Veranlassung,  unsere  Unwissend 
heit  durch  Gebrauch  des  Wortes  Zufall  zu  beschönigen. 
Hier  tritt  dann  zuletzt  bei  genauer  Ermittlung  der 
Anwendungsbedingungen  die  Notwendigkeit  an  seine 
Stelle.  So  hat  man  vor  noch  gar  nicht  langer  Zeit 
das  Gedankenlesen  für  ein  zwar  geschicktes  aber 
doch  immerhin  mehr  oder  minder  zufälliges  Erraten 
der  Gedanken  anderer  gehalten,  bis  wir  nunmehr 
positiv  wissen,   daß   es   Gedankenübertragung  gibt"). 


^)  Vgl.  Fr.  Kirchner  und  Carl  Michaelis,  Wörterbuch  der 
philosophischen  Begriffe,  4,  Aufl.,  Leipzig  1903,  Artikel  Zufall. 
Ferner  Windelband,  Die  Lehren  vom  Zufall,  Berlin  1870.  Übrigens 
existiert  keine  stichhaltige  Lehre  vom  Zufall,  wenigstens  nicht 
vom  absoluten,  der  dem  Kausalitätsgesetz  widerspricht.  Mit  dem 
relativen  operieren  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  sowie  die 
auf  sie  begründeten  statistischen  Methoden. 

^)  Ich  hatte  Gelegenheit,  den  Experimenten  beizuwohnen, 
die  der  italienische  Gedankenleser  Ernesto  Bellini  am  28.  Januar  191 1 
vor    Ärzten    in    München    mit    sich    vornehmen    ließ.      Danach 


144 

Genau  ebenso  verhielt  es  sich  mit  der  Hypnose  und 
Suggestion,  mit  der  Erprobung  neuer  Heilmittel 
usw.  usw.  Etwas  anders  ist  der  Sachverhalt  etwa 
im  folgenden  Falle:  A.  geht  an  einem  Hause  in 
demselben  Augenblick  vorbei,  in  dem  ein  Ziegel* 
stein  herabfällt  und  ihn  tot  schlägt.  Daß  A.  zur 
bestimmten  Sekunde  am  Hause  vorbei  geht,  ist 
durchaus  kein  Zufall,  sondern  damit  hinlänglich  be* 
gründet,  daß  er  zu  seinem  Raseur  will  und  kein 
anderer  Weg  hinführt.  Ebenso  hat  der  Fall  des 
Ziegelsteines  seine  Ursache  in  einem  Windstoß. 
Wenn  also  für  jede  der  beiden  Tatsachenreihen,  das 
Vorbeigehen  des  A.  und  den  Fall  des  Steines  die 
kausale  Begründung  gegeben  ist,  so  fehlt  sie  doch 
scheinbar  für  den  Schnittpunkt,  daß  nämlich  in  der* 
selben  Sekunde  der  Stein  fällt,  in  dem  der  Passant 
vorbeikommt. 

Letzten  Endes  handelt  es  sich  aber  auch  hier  um 
ein  Nichtwissen  der  Ursachen.  Auch  hier  ist  der 
Zufall  subjektiv.  Ein  Architekt  wird  die  Schad* 
haftigkeit  des  Daches  bereits  erkannt  und  vorher* 
gesagt  haben,  daß  ein  Wind  das  Herabfallen  von  Ziegeln 
bewirken  werde.  Ein  Metereologe  wird  den  Wind* 
stoß  vorhersehen,  und  die  Zeit  seines  Eintreffens  an 
gedachter  Stelle  berechnen  können.  Er  weiß  aller* 
dings  so  wenig  wie  der  Architekt,  ob  gerade  der  be* 
stimmte  Windstoß  einen  Ziegel  hinabschleudern  wird. 
Was  man  aber  wissen  kann,  ist,  daß  das  Dach  durch 
einen  der  nächsten  beschädigt  werden  wird.  Dadurch 
läßt  sich   eine  Wahrscheinlichkeitsrechnung   mit  sehr 

kann  es  nicht  mehr  dem  allergeringsten  Zweitel  unterliegen, 
daß  (icdankenübertragung  existiert. 


145 


kleinem  Divisor  aufstellen.  Was  endlich  den  Passanten 
betrifft,  so  war  sein  Vorbeikommen  sehr  leicht  zu 
berechnen.  So  merkwürdig  hier  der  Zufall  also  auch 
gespielt  zu  haben  scheint,  so  läßt  er  sich  doch  in 
eine  Rechnung  fassen,  deren  Divisor  keineswegs  sehr 
groß  zu  sein  braucht. 

Schwierig  ist  oft  im  zweiten  Fall  der  Nachweis, 
ob  ein  Erfolg  auch  beabsichtigt  war.  Um  diese  Art 
des  Zufalles  handelt  es  sich  zumeist  bei  uns.  Wie 
jedes  Medikament  neben  der  Wirkung,  um  derent* 
willen  es  verabreicht  wird,  auch  —  oft  recht  uner* 
wünschte  —  Nebenwirkungen  hat,  so  ist  das  mutatis 
mutandis  fast  bei  allem  und  jedem,  was  wir  tun,  der 
Fall.  Nur  selten  lassen  sich  alle  Ursachen  so  be^^ 
herrschen,  daß  unbeabsichtigte  Nebenwirkungen  oder 
Mißerfolge  ausgeschlossen  sind.  So  geht  trotz  der 
großen  Zuverlässigkeit  unserer  Post  dann  und  wann 
einmal  ein  Brief  verloren;  trotz  der  hohen  Sicherheit 
unseres  Verkehrswesen  verunglückt  auch  hie  und  da 
ein  Reisender;  trotz  der  sorgfältigsten  Herstellung 
unserer  Geschütze  und  Munition  kommt  es  doch 
bisweilen  vor,  daß  ein  Kanonenrohr  platzt  oder  ein 
Geschoß  zur  unrechten  Zeit  explodiert.  Kurz:  es 
ereignet  sich  auch  bei  größter  Genauigkeit  in  der 
Anwendung  der  klar  erkannten  Gesetze  doch  dann 
und  wann  ein  unvorhergesehenes  und  selbstredend 
unbeabsichtigtes  Mißgeschick,  das  wir  dann  als  (un^^ 
glücklichen)  Zufall  bezeichnen. 

Je  seltener  ein  solcher  Zufall  —  so  geheißen  durch^^ 
aus  nicht,  weil  er  nicht  kausal  begründet  wäre,  kennen 
wir  doch  oft  die  Ursache,  etwa  die  gesprungene 
Schiene   bei   der   Eisenbahnkatastrophe,   sondern   weil 

Kemraerich,   Prophezeiungen  1 0 


146 

er  unbeabsichtigt  ist  —  nun  eintritt,  desto  vollkommener 
ist  eine  Institution,  eine  Technik  usw.  Je  häufiger, 
desto  mangelhafter.  Ja,  es  können  Fälle  eintreten, 
wo  das  Unbeabsichtigte  so  häufig  oder  fast  so  häufig 
ist,  wie  sein  Gegenteil,  wie  wir  das  ja  leider  zu  Be* 
ginn  der  lenkbaren  Luftschiffahrt  erleben  mußten. 

Um  nun  zu  bestimmen  was  Absicht,  was  „Zufall" 
ist,  bleibt  uns  nur  der  Weg  der  Wahrscheinlich* 
keitsrechnung. 

Wenn  jemand  mit  der  Bahn  von  München  nach 
Berlin  reisend  sein  Ziel  erreicht,  wird  es  niemand 
einfallen,  hier  von  Zufall  zu  reden.  Denn  die  Gründe 
für  das  Gelingen  der  Reise  sind  bekannt,  ebenso  ist 
die  Ankunft  beabsichtigt.  Und  doch  läßt  sich  mit 
Leichtigkeit  eine  Wahrscheinlichkeitsrechnung  aufs» 
stellen. 

Aus  der  Statistik  der  deutschen  Eisenbahnen  für 
das  Rechnungsjahr  1900/1901  ergibt  sich,  daß  ein 
tötlicher  Unfall  auf  168  Millionen  in  der  Eisenbahn 
zurückgelegter  Personenkilometer  trifft.  Nun  beträgt 
die  Bahnstrecke  München— Berlin  700  klm.  Wir  er* 
halten  also  folgende  Rechnung:  Die  Wahrscheinlich* 
keit  Berlin  zu  erreichen,  verhält  sich  zu  der  tötlich 
zu  verunglückten  wie  168  000000  :  700  =  240000. 

Mit  andern  Worten:  von  240000  Reisenden  auf 
der  Strecke  Berlin* München  verunglückt  einer  tot* 
lieh.  Diese  Wahrscheinlichkeit  von  1  :  240000  ist 
derart  gering,  daß  das  tödliche  Unglück  als  sehr 
seltener  Zufall  in  praxi  in  die  Kalkulation  gar  nicht 
einbezogen  wird. 

Aber  eine  so  hohe  Wahrscheinlichkeitsquote  ist 
keineswegs  erforderlich. 


I 


147 


Von  hundert  dreißigjährigen  Durchschnittsmännern 
stirbt  in  Deutschland  einer  im  Jahr,  also  Vi»  im  Monat, 
^/gflo  am  Tag.  Anders  ausgedrückt:  Der  normale  dreißig* 
jährige  deutsche  Mann  hat  eine  Wahrscheinlichkeit 
von  1200  noch  einen  Monat,  eine  solche  von  36000 
noch  ein  Jahr  zu  leben. 

Keinem  Menschen  wird  es  einfallen  zu  sagen:  es 
ist  Zufall,  wenn  der  dreißigjährige  X.  den  kommenden 
Monat,  oder  gar  den  kommenden  Tag  erlebt.  Man 
wird  es  vielmehr  als  Zufall  bezeichnen,  wenn  das 
Gegenteil  eintritt. 

Im  bürgerlichen  Leben  ist  also  die  Wahrschein* 
lichkeit  1  :  100  schon  groß,  1  :  1200  sehr  groß,  mit 
der  1 :  36000  wird  in  der  Praxis  schon  überhaupt 
nicht  mehr  gerechnet. 

Übertragen  wir  nun  das  Gesagte  auf  die  Prophetie! 

Wenn  ein  Astrolog  jemandem  sein  Todesjahr 
vorhersagt,  so  handelt  es  sich  immer  um  eine  Wahr* 
scheinlichkeit  geringer  als  100,  bei  einem  reiferen 
Mann  sogar  geringer  als  50  oder  25.  Macht  er  also 
genügend  Horoskope,  so  wäre  der  Zufall  immer  zu 
irren  viel  größer,  als  der  mal  das  Richtige  zu  treffen. 
Da  wir  nun  in  der  Regel  die  Zahl  der  Horoskope 
nicht  kennen,  da  ferner  der  Tod  ein  Ereignis  ist, 
dessen  Eintreffen  absolut  sicher  ist  und  bei  dem  nur 
der  Zeitpunkt  in  gewissen  mehr  oder  minder  engen 
Grenzen  schwankt,  so  werden  wir  auf  Grund  der* 
artiger  Voraussagen  niemals  die  Existenz  einer  über* 
sinnlichen  Prophetengabe,  eines  wirklichen  zeitlichen 
Fernsehens  beweisen  können. 

Ganz  ähnlich  verhält  es  sich  bei  der  Vorhersage 
von  Kriegen  usw.     Das  alles  sind  Ereignisse,  die  im 

10* 


148 


Leben  eines  Volkes  schon  so  und  so  oft  da  waren 
und  deren  Wiederholung  ganz  und  gar  nicht  ver# 
wunderlich  ist.  Die  vierzigjährige  Friedensperiode, 
die  Deutschland  —  von  den  überseeischen  Expeditionen 
abgesehen  —  jetzt  genießt,  ist  schon  anormal  lang. 
Wenn  also  der  eine  Seher  für  1912,  der  andere  für 
1913,  der  dritte  für  1914  usf.  einen  Krieg  prophezeit, 
wenn  er  die  wenigen  überhaupt  in  Frage  kommenden 
Gegner  namhaft  macht,  so  ist  das  glückliche  Eintreffen 
einer  solchen  Vorhersage  ganz  und  gar  nicht  wunder* 
bar  und  beweist  nicht  das  Allergeringste  für  das  Vor* 
handensein  seiner  Sehergabe. 

Dies  ist  auch  der  Grund,  weshalb  eine  weitere 
Häufung  historischer  Prophezeiungen,  deren  wir  ja 
eine  ganze  Reihe  in  den  vorhergehenden  Kapiteln 
zusammentrugen,  selbst  in  den  Fällen,  in  denen  ein 
Zweifel  daran,  daß  sie  wirklich  vorher  verkündet 
worden  sind,  ausgeschlossen  ist,  keinen  Nutzen  hätte. 
Wir  kämen  höchstens  in  den  Verdacht,  Vollständigkeit 
zu  erstreben.  Dieses  Ideal  aller  Flachköpfe  ist  aber 
ganz  und  gar  nicht  das  unsrige.  Denn  was  wir  an* 
streben,  ist  etwas  ganz  anderes. 

Wir  sagten  oben,  daß  das  richtige  Eintreffen 
eines  vorhergesagten  Ereignisses  entweder  eine  Folge 
der  Berechnung  oder  des  Zufalles  sein  kann.  Ist 
beides  nicht  der  Fall,  dann  bleibt  als 

5.  Möglichkeit  nur  mehr  die,  daß  es  sich  hier 
um  eine  uns  nicht  näher  bekannte  Ursache  handelt, 
die  wir  mit  Sehergabe  oder  Prophetie  bezeichnen. 

Wenn  wir  also  auch  nur  in  einem  einzigen 
Fall  den  Nachweis  erbringen  können,  daß  ein 
richtig    vorhergesagtes    Ereignis    weder   durch 


149 


Berechnung,  noch  durch  Zufall  eintrat,  dann 
ist  damit  die  Existenz  des  zeitlichen  Fern* 
Sehens  bewiesen.  Demnach  handelt  es  sich  jetzt  in 
unserer  Beweisführung,  darum  Berechnung  und  Zufall 
auszuschalten. 

Das  ist  nun  viel  leichter  gesagt  als  getan.  Denn 
wenn  es  auch  nicht  schwer  sein  wird,  die  Berechnung 
auszuschließen,  so  kann  das  für  den  Zufall  nur  dann 
gelingen,  wenn  wir  eine  außerordentlich  hohe  Wahr* 
scheinlichkeit  zu  berechnen  in  der  Lage  sind.  Da 
genügt  keineswegs  die  Vorhersage  des  —  sicheren  — 
Todes  einer  bestimmten  Person,  sei  es  auch  für  einen 
bestimmten  Tag.  Beweiskräftig  wäre  das  höchstens, 
wenn  wir  alle  übrigen  Todesvorhersagen  kennen 
würden  bzw.  wüßten,  daß  keine  andere  existiert. 
Das  ist  aber  so  gut  wie  ausgeschlossen,  denn  man 
vergißt  schnell  falsche  Prophezeiungen.  Überdies 
wäre  selbst  in  diesem  Falle  der  Koeffizient  nur  36000 
bei  einem  Dreißigjährigen,  etwa  ein  Drittel  so  groß 
bei  einem  Fünfzigjährigen.  Das  würde  nicht  ge* 
nügen,  den  Zweifler  zu  überzeugen,  mir  wenigstens 
nicht. 

Noch  viel  weniger  ist  natürlich  die  Ankündigung 
eines  Krieges  oder  anderer  Ereignisse  mit  geringerem 
Nenner  beweisend. 

Wir  müssen  danach  trachten,  folgende  Formel 
zu  erhalten: 

w  (Wahrscheinlichkeit,  Zufall)  =  n  (Zahl  der 
wirklichen  Fälle)  dividiert  durch  m  (Zahl  der  mög* 
liehen  Fälle)  =  unendlich  klein  oder  0 

also:     w  =         =0. 

00 


150 

Mathematisch  genau  wird  sich  dieses  Resultat 
nicht  errechnen  lassen,  wohl  aber  können  wir  zu 
einem  Annäherungswert  gelangen. 

Stellen  wir  uns  vor  jemand  werfe  hundertmal 
eine  Münze  auf,  und  zwar  so,  daß  jedesmal  das 
Wappen  nach  oben  kommt.  Die  Wahrscheinlichkeit 
hierfür  ist: 

Tyiöö  gemäß  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung. 

Nun  ist  aber  2^^^  mehr  als  10^^  Quintillion.  Darum 
—  sagt  Grimsehl  gegen  die  Mathematiker  Marbe  und 
d'Alembert  —  weil  eine  so  große  Zahl  von  Würfen 
von  allen  Menschen  der  Erde  erst  in  20  Billionen 
Jahren  ausgeführt  werden  können,  kann  die  Wahr* 
scheinlichkeitsrechnung  hier  0  ansetzen^). 

Wenn  schon  die  reine  Mathematik  bei  einem  so 
ungeheuren  Devisor  aus  praktischen  Erwägungen  zum 
Resultat  0  gelangt,  so  können  wir  das  um  so  eher. 
Nur  muß  allerdings  auch  unser  Divisor  außerordent* 
lieh  groß  sein. 

Da  wir  zu  ihm  auf  dem  oben  eingeschlagenen 
Wege  nicht  gelangen  werden,  müssen  wir  es  auf  einem 
andern  versuchen. 

Vor  allem  aber  muß  es  unsere  Aufgabe  sein, 
festzustellen,  wieviel  Vorhersagen  überhaupt 
existieren.  Das  ist  in  dieser  Fassung  eine  unmög* 
liehe  Forderung.  Wohl  aber  läßt  sich  der  gleiche 
Erfolg  dadurch  erzielen,  daß  wir  das  ganze  Material 
eines   Sehers  betrachten   und  die   eingetroffenen  Vor* 


0  Vgl.  Constantin  Gutbcrlet,  Logik  und  Erkenntnistheorie, 
4.  Autt.,  Münster  1909.  S.  177. 


m 

hersagen  zu  den  nicht  eingetroffenen  in  ein  Verhält* 
nis  bringen. 

Setzen  wir  voraus,  von  einem  Seher  existierten 
fünf  Prophezeiungen,  von  denen  drei  eintrafen,  zwei 
"ausblieben,  so  spricht  die  Wahrscheinlichkeit  dafür. 
daß  er  etwas  Prophetengabe  besaß.  Trafen  alle  ein, 
so  werden  wir  kaum  zögern,  ihn  für  einen  richtigen, 
traf  keine  oder  nur  zwei  ein,  aber  für  einen  falschen 
Propheten  zu  halten. 

Diese  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  so  einleuch^ 
tend  sie  scheint,  ist  trotzdem  falsch.  Denn  sie 
operiert  mit  ungleichwertigen,  inkommensurablen 
Größen. 

Das  bedarf  einer  näheren  Ausführung,  da  es  von 
außerordentUcher  Wichtigkeit  ist. 

Wenn  jemand  „prophezeit*',  er  werde  aus  einem 
Kartenspiel  rot  ziehen,  so  ist  die  Wahrscheinlichkeit 
des  richtigen  Erratens  ebenso  groß,  wie  die  des  Irrens, 
da  das  Spiel  genau  ebenso  viel  rote,  wie  schwarze 
Karten  aufweist. 

Diese  Wahrscheinlichkeit  sinkt  auf  \/^,  wenn  es 
sich  darum  handelt,  eine  Karo  zu  treffen,  auf  ein  Vs 
beim  König  und  wenn  jemand  sich  gar  anheischig 
macht,  den  Karokönig  zu  ziehen,  so  hat  er,  bei  einem 
Spiel  von  32  Karten,  nur  V32  Wahrscheinlichkeiten. 

Noch  viel  ungünstiger  sind  natürHch  die  Chancen, 
wenn  jemand  in  einer  Lotterie  mit  100000  Losen  das 
Gewinnlos  vorher  richtig  angeben  will.  Hier  hat  er 
nur  ^/looooo  WahrscheinUchkeit.  Sollte  das  jemand  ge=» 
lingen  —  angenommen  es  existiert  überhaupt  nur  eine 
derartige  Vorhersage,  denn  wenn  es  deren  viele  gibt, 
dann    ist    die    Chance    Viooooo    multipliziert   mit    allen 


l 


152 

anderen  Vorhersagen  —  so  werden  wir  kaum  zögern 
ihm  Sehergabe  zuzuerkennen. 

In  allen  den  genannten  Beispielen  war  die  Zahl 
der  Möglichkeiten  bekannt.  Wir  wußten  genau,  daß 
das  vorhergesagte  Ereignis  unbedingt  eintreffen  muß. 
Fraglich  bleibt  eben  nur,  ob  es  so  eintrifft,  wie  der 
Prophet  es  vorhersagt. 

Besser  ausgedrückt:  Wir  wußten  genau,  daß  eines 
der  hunderttausend  Lose  mit  dem  großen  Treffer  ge«» 
zogen  werden  mußte.  Es  fragte  sich  nur,  ob  die 
vorher  bezeichnete  Nummer  richtig  war. 

Ganz  anders  verhält  es  sich,  wenn  ein  vorher* 
gesagtes  Ereignis  eintreffen  oder  auch  ausbleiben  kann. 

Angenommen,  ich  bestimme  jemandes  Todestag. 
Daß  er  sterben  wird,  ist  ganz  sicher.  Irren  kann  ich 
nur  bezüglich  des  Datums.  Wie  aber,  wenn  ich  jemand 
ankündige,  daß  er  eine  Reise  um  die  Erde  machen 
wird  —  was  nichts  weniger  als  notwendig  ist  —  und 
den  Tag  der  Abreise   und  Rückkehr  richtig  angebe? 

Oder  wenn  ich  vorhersage,  daß  jemand  an  einem 
bestimmten  Tage  durch  einen  bestimmten  Unfall  ums 
Leben  kommt? 

Oder  —  um  den  Divisor  ins  Ungeheure  wachsen 
zu  lassen  —  daß  ihn  an  einem  bestimmten  Tage  mit 
einem  bezeichneten  Mordinstrument  ein  Mann  um* 
bringen  wird,  dessen  Namen  ich  richtig  nenne. 
Hier  handelte  es  sich  um  ungezählte  Millionen  oder 
MilHardcn  von  Irrtumsmöglichkeiten,  die  der  einen 
einzigen  des  richtigen  Vorhcrsagcns  gegenüber  stehen. 

Oder  wenn  ich  gar  ein  zukünftiges  Parlament 
namentHch  und  richtig  angebe? 

Das  lazit  dieser  Erwägung   ist  klar:    Der  innere 


153 


Wert  der  Vorhersagen  kann  schwanken  zwischen  1:2 
(rote  Karte)  und  1  :  X  Milliarden  (letzter  Fall).  Wenn 
wir  daher  sagen:  dieser  Prophet  ist  jenem  überlegen, 
weil  unter  fünf  Vorhersagen  bei  ersterem  vier,  bei 
letzterem  nur  drei  eintrafen,  während  ein  dritter  über? 
haupt  keine  prophetische  Gabe  besitze,  denn  von 
seinen  fünf  Vorhersagen  sind  nur  zwei  eingetroffen, 
also  weniger  als  das  arithmetische  Mittel,  so  begehen 
wir  damit  eine  ganz  riesige  Gedankenlosigkeit.  Es 
ist  gerade  so,  als  wenn  jemand  Königreiche  und 
Sandkörner  als  gleichwertige  Größen  in  eine  Rech* 
nung  einsetzen  würde,  etwa  weil  beide  Ausdehnung 
besitzen. 

So  evident  das  Gesagte  ist,  so  schwer  verstand* 
lieh  mag  manchem  das  Folgende  scheinen. 

Einer  der  beliebtesten  Einwände  gegen  die  Pro* 
phetie  ist  nämlich  der,  daß  der  Besitzer  der  Propheten? 
gäbe  niemals  irren  dürfe.  Man  wendet  ganz  land? 
läufig  ein:  X  mag  ja  so  und  so  oft  die  Zukunft  richtig 
vorhergesagt  haben;  daß  es  sich  hierbei  aber  nicht 
um  Prophetie,  sondern  um  Berechnung  oder  Zufall 
handelt,  geht  daraus  hervor,  daß  er  auch  so  und  so 
oft  irrte. 

Das  ist  nun  ein  Denkfehler,  weil  man  über  eine 
noch  völlig  unbekannte  Naturkraft  etwas  Positives 
aussagen  will:  nämlich  daß  diese  Kraft  jederzeit 
und  in  vollem  Umfange  zur  Verfügung  des  mit  ihr 
Begabten  sein  muß. 

Wir  kennen  die  Funktionen  und  Leistungen  unserer 
Gewehre  und  Geschütze  ganz  genau  und  doch  fällt  es 
keinem  Verständigen  ein  zu  sagen :  das  ist  alles  Plunder, 
denn  mit  dem  gleichen  Gewehr,  mit  dem  getroffen  wird, 


154 

wird  auch  gefehlt.  Vielmehr  wissen  wir,  daß  auch 
ein  guter  Schütze  fehlen  kann,  ja  wir  wissen,  daß  im 
Feldzuge  auf  hundert  abgegebene  Schüsse  nur  ein 
einziger  Treffer  kommt.  Und  endlich  ist  uns  genau 
bekannt,  daß  auch  ein  tadellos  abgegebener  Schuß 
aus  einem  Idealgewehr  fehlen  kann,  ja  nur  durch 
Zufall  überhaupt  trifft,  wenn  nämlich  der  Streuungs* 
kegel  größer  ist,  als  das  Ziel. 

Statt  also  zu  sagen:  es  gibt  keine  Prophetie,  weil 
es  auch  falsche  Prophezeiungen  gibt  —  auf  diese 
Formel  gebracht,  ist  jedermann  der  Paralogismus  so* 
fort  klar  — ,  muß  es  Aufgabe  der  Wissenschaft  sein, 
festzustellen,  unter  welchen  Bedingungen  diese 
Kraft  wirksam  wird  und  den  Streuungskegel  bei 
ihr  zu  bestimmen. 

Indem  wir  uns  vorbehalten,  im  weiteren  Verlaufe 
unserer  Untersuchung  darauf  zurückzukommen  und 
vielleicht  einiges  zur  Klärung  der  Frage  beisteuern 
werden,  wollen  wir  nunmehr  den  weiteren  Gang 
unserer  Beweisführung  näher  präzisieren. 

Wir  wollen  den  Nachweis  liefern,  daß  es  ein 
wirkliches  zeitliches  Fernsehen,  echte  Prophetie,  gibt. 

Das  kann  uns  nur  dadurch  gelingen,  daß  wir 
nachweisen,  die  richtige  Vorhersage  irgendwelcher 
Ereignisse  sei  weder  auf  Berechnung,  noch  auf  Zu* 
fall  zurückzuführen. 

Die  Ausschaltung  der  Berechnung  ist  sehr  ein* 
fach,  die  des  Zufalls  überaus  schwer  und  nur  möglich 

1.  durch  größtmögliche  Festlegung  des  Materiales. 

2.  Durch  Errechnung  eines  möglichst  hohen 
Divisors,  so  daß  sich  das  Resultat  dem  Werte  Null 
nähert. 


155 

Während  wir  den  zweiten,  bei  weitem  schwierigeren 
Teil  des  Beweises  für  die  Schlußkapitel  aufsparen, 
beschränken  wir  uns  in  den  folgenden  auf  den  ersten, 
die  Festlegung  des  Materiales. 

Wie  schon  gesagt,  ist  es  unmöglich,  sämtliche 
umlaufende  Prophezeiungen  zu  sammeln  und  in  Hin* 
blick  auf  die  falschen  und  richtigen  statistisch  zu 
verarbeiten.  Wir  würden  damit  auch  insofern  wenig 
gewinnen,  als  gewisse  Vorhersage  —  keineswegs  alle  — 
ungleichwertig  sind,  was  ein  rein  äußerlich  zahlen^ 
mäßiges  Erfassen  ausschließt. 

Da  es  aber  eine  große  Fülle  von  Vorhersagen 
gibt,  die  sich  wiedersprechen,  so  daß  entweder  die 
eine  oder  die  andere  richtig  sein  muß;  da  ferner  eine 
stattliche  Reihe  so  beschaffen  ist,  daß  die  Wahr* 
scheinlichkeit  des  Irrens  nur  gering  ist  —  etwa  bei 
Vorhersage  eines  Krieges  für  ein  bestimmtes  Jahr  — , 
so  ist  eine  gewisse  Sichtung  und  Festlegung  des 
Materiales  keineswegs  unnütz.  Liegt  es  doch  auf 
der  Hand,  daß  es  für  die  Beweisführung  einen  großen 
Unterschied  bedeutet,  ob  aus  ungezählten  Millionen 
von  Prophetien  mal  eine  mit  einem  vielleicht  höchst 
verblüffenden  Inhalt  eintrifft,  oder  ob  dies  bei  ein 
und  demselben  Seher  der  Fall  ist,  womöglich  mit 
mehreren  oder  gar  allen  Vorhersagen. 

Deshalb  soll  es  nun  unsere  nächste  Aufgabe 
sein,  möglichst  das  ganze  prophetische  Material 
einzelner  Seher  nachstehend  zu  sammeln  und  kritisch 
zu  beleuchten. 


156 


1)  Jetzo   will    ich,    Lehnin,    dir  sorgsam  singen  die 

Zukunft'), 
Die  mir  gezeigt  der  Herr,  der  alles  einst  hat  ge* 

schaffen. 
Denn  obschon  du  erglänzest  im  hellen  Licht,  wie 

die  Sonne, 
Und  der  Andacht  allein  dein  ganzes  Leben  jetzt 

widmest, 
5)    Reichtum    auch    und    der    Segen   des   friedlichen 

Daseins  dir  zuströmt: 
So   wird  doch  kommen  die  Zeit,   die  dich  nicht 

erschaut,  wie  du  jetzt  bist, 


')  Übersetzt   in  Anlehnung   an  Wilhelm   Mein  hold.    Die 
I.ehninsthe  Weissagung.   Neuausgabe  von  Paul  Majunke,   Regens» 


157 


Viertes  Kapitel 

Die  lehninsche  Weissagung 
I.  Der  Text 

Um  1300  soll  ein  Abt  Hermann  des  Cisterzienseri^ 
klosters  Lehnin  in  der  Mark  folgende  Prophezeiung 
über  die  Schicksale  des  Brandenburgischen  Hauses 
verfaßt  haben: 

1)   Nunc  tibi  cum  cura,  Lehnin!  cano  fata  futura 
Quae  mihi  monstravit  Dominus,  qui  cuncta  creavit; 
Nam  licet  insigni  sicut  sol  splendeas  igni, 
Et  vitam  totam  nunc  degas  summe  devotam, 

5)   Abundentque  rite  tranquillae  commoda  vitae: 
Tempus  erit  tandem,  quod  te  non  cernet  eandem, 


bürg  1896,  S.  156  ff.  Die  Anmerkungen  sind  zum  Teil  Meinhold 
(S.  172—234)  entnommen,  zum  Teil  M.  W.  Heffter,  Die  Ge? 
schichte  des  Klosters  Lehnin,  Brandenburg  1851,  S.  95  ff. 


158 


Nein,    kaum    etwas    von    dir,    ja    richtig  gesagt, 

vielmehr  gar  nichts. 
Allzeit  hat  das  Geschlecht  dich  geliebt,  das  einst 

dich  begründet^). 
Sinkt  es  dahin,  fällst  auch  du,  und  bleibst  nicht 

liebwerte  Mutter. 
10)   Und  jetzt  naht  sich  ohne  Verzug    die    traurige 

Stunde, 
Da  Ottos  Geschlecht,  die  Zierde  unserer  Gegend, 
Durch  schweres  Schicksal  dahinsinkt,  da  Leibes«« 

erben  nicht  da  sind. 
Und    dann    fällst    du    zuerst,    doch    noch    nicht 

fällst  du  am  tiefsten. 
Unterdes  wird  die  Mark  durch  schreckliche  Drang* 

sal  geängstigt. 
15)   Denn  der  Ottonen  Haus  wird  werden  die  Höhle 

des  Löwen  ^). 
Und  verstoßen  wird  sein,  wer  echtem  Blute  ent* 

sproßte. 
Dann    dringen   Fremdlinge    vor   bis    zum   Dache 

des  Klosters  Chorin  ^). 

*)  Lehnin  wurde  im  Jahre  1180  vom  Markgrafen  Otto  I. 
aus  dem  Hause  der  Askanier,  dem  Vater  Albrechts  des  Bären, 
begründet.  Das  Haus  ging  1313  unter,  tatsächlich  sehr  schnell 
(V.  10),  da  Leutinger  (Topograph.  March.  Tom.  II,  Opera  1119 
nov.  edit.)  erzählt,  daß  neunzehn  Fürsten  aus  diesem  Stamme 
innerhalb  zweier  Jahre  gestorben  seien.  Der  letzte  war  Waldemar. 

')  Die  „Höhle  der  Löwen**,  da  sowohl  die  Witteisbacher, 
die  von  1323—1373  über  die  Mark  herrschten,  als  auch  die 
Luxemburger,  von  1373—1415  Herren  der  Mark,  den  Löwen  im 
Wappen  führen.  Der  16.  Vers  bezieht  sich  auf  den  sogenannten 
falschen  Waldemar,  der  1319  die  Leiche  eines  fremden  Mannes 
als  die  seinige  hatte  begraben  lassen  und  nach  Jerusalem  pilgerte. 
Den    nach  28  Jahren   Zurückgekehrten   erkannte   fast   das   ganze 


159 

Immo  vix   uUam,  aut,  si  bene  dixero,  nullam. 

Quae  te  fundavit  gcns,  haec  te  semper  amavit. 

Hac  pereunte,  peris,  nee  mater  amabilis  eris. 

10)    Et  nunc,   absque  mora,  propinquat  flebilis  hora, 

Qua  stirps  Othonis,  nostrae  decus  regionis, 
Magno  ruit  fato,  nullo  superstite  nato; 

Tuncque   cadis   primum,    sed    nondum   venis    ad 

imum. 
Interea  diris  angetur  Marchia  miris. 

15)   Nam  domus  Ottonum  fiet  spelunca  Leonum. 

Ac  erit  extrusus  vero  de  sanguine  fusus; 

Quando  peregrini  venient  ad  claustra  Chorini, 

Land  an,  auch  Kaiser  Karl  IV.,  der  ihn  am  3.  Oktober  1348 
feierlich  zum  zweiten  Male  mit  allen  Landen,  die  er  früher  bes 
sessen  hatte,  belehnte.  Da  der  junge  Ludwig  dagegen  sich  auf* 
lehnte,  entbrannte  ein  vierjähriger  Kampf,  bis  sich  Waldemar 
nach  Dessau  zurückzog. 

^)  Bezieht  sich  vielleicht  auf  den  Einfall  der  Polen  und 
Littauer  in  die  Mark  1326.  Ob  Chorin,  ein  um  1272  angelegtes 
Tochterkloster  von  Lehnin,  dabei  berührt  wurde,  läßt  sich  nicht 
feststellen.  Meinhold  glaubt  dagegen,  die  „Fremdlinge"  seien 
Karl  IV.,  der  mit  seinen  Söhnen  Wenzel  und  Sigismund  1374 
nach  Chorin  kam,  und  die  in  Bruderzwist  geratenen  Wittelss 
bacher  Otto,  Stephan  und  Friedrich,  drei  Brüder  gleich  den 
drei  Häuptern  des  Cerberus,  bändigte,  indem  er  seinem  Schwieger* 
söhn  Otto  die  Mark  für  200000  Dukaten  abkaufte. 


160 

Des  Kaisers  List  aber  bald  beseitigt  den  höllischen 

(des  Cerberus)  Hochmut. 
Doch    wird    wenig    die    Mark    sich    freuen    des 

sicheren  Schutzes, 
20)   Denn  auf  anderer  Bahn  wird  wandeln  der  Löwen* 

könig. 
Nicht  wird   sehen   das   Land   die   wahren    Herrn 

und  Gebieter. 
Alles   werden   Regenten  verwirren    und   Schaden 

ihm  machen; 
Quälen    wird    allerwärts    der    reiche    Adel     die 

Bürger, 
Und  berauben  den  Klerus,  ohne  irgendwie  Aus* 

wähl  zu  treffen. 
25)   Und   werden  tun   alsdann,   was  man  tat  zu  den 

Zeiten  des  Heilands. 
Und    vieler    Leiber   verkaufen,    was    gegen    den 

göttlichen  Willen'). 
Daß   dir  Mark   nicht  völlig   ein  Herrscher  fehle, 

so  steigst  du, 
Durch  zwei  Burgen  berühmt,  empor  aus  niederer 

Stellung, 
Zündest  die  Kriegsfackel  an,  da  dein  Name  doch 

Friede  bedeutet. 
30)   Während  die  Wölfe  du  tötest,  zerschneidest  das 

Herz  du  den  Schafen. 
Wahrheit  künde  ich  dir:    dein  Stamm   von   sehr 

langer  Zukunft, 
Wird  mit  schwacher  Gewalt  nur  die  heimischen 

Gaue  beherrschen, 

^)  Da  Karl   die  Mark   bald   vcrlicl^,    Si^ismund   sie   gar  an 
Jobst   von    Mähren,    der    sie   schamlos   ausbeutete,    verptändete, 


161 

Cerbcrcos  fastus  mox  tollet  Cacsaris  astus. 
Sed  parum  tuto  gaudebit  Marchia  scuto. 

20)   Regalis  leo  rursum  tendit  ad  altera  cursum, 

Nee  dominos  veros  haec  terra  videbit  et  heros. 
Omnia  turbabunt  rectores,  damnaque  dabunt 
Nobilitas  dives  vexabit  undique  cives, 
Raptabit  clerum  nullo  discrimine  rerum: 

25)   Et  facient  isti,  quod  factum  tempore  Christi. 
Corpora  multorum  vendentur  contra  decorum. 
Ne  penitus  desit  tibi,  qui,  mea  Marchia,   praesit. 
Ex  humili  surgis,  binis  nunc  inclyte  burgis, 
Accendisque  facem  jactando  nomine  pacem, 

30)   Dumque  lupos  necas,  ovibus  praecordia  secas. 
Dico  tibi  verum,  tua  stirps  longaeva  dierum 
Imperiis  parvis  patriis  dominabitur  arvis, 


der  Adel   (Quitzow,   Jagow,    Bredow  usw.)   sein  Unwesen  trieb, 
so  ist  das  düstere  Bild  historisch. 

Kcmmerich,   Prophezeiungen  11 


162 

Bis    zu    Boden   gestreckt,    die    bisher  mit  Ehren 

bekleidet, 
Städte  verwüsteten  und  die  Herren  am  Herrschen 

gehindert^). 
35)   Wer  dem  Vater  jetzt  folgt,  der  nimmt  dem  Bruder 

sein  Vorrecht, 
Aber  kein   Testament  macht  Recht,    was  wider 

das  Recht  ist. 
(oder:  Nicht  wird  machen  das  Grab,  daß  Unrecht 

für  Recht  wird  geachtet) 
Ihm  von  mancherlei  Krieg  und  Schicksalsschlägen 

ermüdet, 
Folgt  bald  zur  Zeit  des  Tods  der  tapfere  Helden* 

bruder"). 
Tapfer  ist  dieser  gewiß,  doch  auch  der  eitelsten  einer. 
40)   Während  er  denkt  an  den  Berg,  kann  kaum  er 

besteigen  die  Brücke. 
Schaut  nur,  er  schärfet  das  Schwert!  Weh  euch, 

ihr  armen  Lehniner! 
Wie  will  schonen  der  Brüder,  der  die  Väter  sinnt 

zu  vernichten?^) 

*)  V.  27—34  betreffen  Friedrich  I.  von  Hohenzollern,  seit 
1415  Markgraf  von  Brandenburg  (f  1440),  der  durch  Unter? 
werfung  des  Adels  (Wölfe)  natürlich  auch  die  Untertanen  (Schafe), 
wenigstens  vorübergehend,  schädigte.  Ob  Meinhold  (S.  182)  das 
Richtige  trifft,  wenn  er  longaeva  dierum  adverbaliter  auffassend, 
übersetzt:  ,,dein  Stamm  wird  nach  langen  Zeiten  mit  geringer 
Gewalt  die  väterlichen  Fluren  beherrschen",  als  Vorahnung  der 
Konstitution  des  19.  Jahrhunderts,  lassen  wir  dahingestellt. 
Grammatikalisch  dürfte  diese  Übersetzung  zulässig  sein. 

'')  Nach  dem  Recht  der  Frstgeburt  wäre  Friedrichs  Nach? 
folger  sein  Sohn  Johann  der  Alchymist  gewesen.  Friedrich  aber 
bestimmte  ihn,  zugunsten  des  tapferen  Friedrich  II.  zu  verzichten. 
,,Frmüdet"   durch    immerwährende    Kriege    zog    er    sich    aut   die 


^ 163 

Donec  prostrati  tucrint,  qui  tunc  honorati 

Urbes  vastabant,  dominos  regnare  vetabant. 

35)   Succedens  patri  tollet  privilegia  fratri, 

Nee    faciet    testum   (andere  Lesart:  bustum)  non 

justum  credere  justum. 

Defesso  bellis  variis,  sortisque  procellis, 

Mox  frater  fortis  succedit  tempore  mortis, 

Fortis  et  ille  quidem,  sed  vir  vanissimus  idem. 
40)  Dum  cogitat  montem,  poterit  vix  scandere  pontem. 

En  acuit  enses!  Miseri  vos,  o  Lehninensesl 

Quid  curet  fratres,  qui  vult  exscindere  patres? 

Plassenburg  zurück,  nachdem  er  seinem  jüngeren  Bruder  Albrecht 
die  Regierung  übergeben  hatte.  Er  starb  am  11.  Februar  1471. 
Die  Lesart  bustum  (Grab)  könnte  als  Anspielung  darauf  gedeutet 
werden,  daß  Friedrich  IL  und  Johann  im  gleichen  Kloster  Heils* 
bronn  bestattet  wurden.     (Vers  35—38.) 

»)  Albrecht  Achilles  folgte  „zur  Zeit  des  Todes"  -  1472 
war  eine  heftige  Pest  —  seinem  Bruder.  Seine  Fehden  gegen 
Nürnberg  (,,den  Berg")  sind  bekannt.  Er  konnte  kaum  das 
kleine  Heersbrück  (,,die  Brücke")  erobern.  Vielleicht  ist  hier 
auch  eine  Anspielung  auf  seine  Niederlage  bei  Brück  an  der 
Rednitz  gemacht.  Er  war  einer  der  prunkliebendsten  Fürsten 
seiner  Zeit.  Lehnin  hat  er  nichts  getan,  wohl  aber  mit  zwei 
Bischöfen,  dem  von  Würzburg  und  dem  von  Bamberg,  in  Fehde 
gelegen.     Er  starb  1486.     (Vers  39-42.) 

11* 


164 

Wer  ihm  folgt,   der  versteht   durch  Künste   den 

Mars  zu  verspotten 
Und  weissaget  den  Söhnen  der  Zukunft  reichUchen 

Segen; 
45)   Solange  man  dessen  gedenkt,  ist  riesiges  Glück 

im  entstehen. 
Gleiches  Glückslos  w^ird  ja  seinen  Söhnen  zuteil^). 
Doch  wird  tragen  ein  Weib  dann  traurige  Pest 

in  die  Lande. 
Dieses  Weib   durchseucht  vom  Gifte  der  neuen 

Schlange. 
Gar  bis  zum  elften  Glied  wird  dauern  das  Gift 

in  dem  Stammbaum'-). 
50)   Nun  wird  der,  oh  Lehnin,  der  dich  maßlos  hasset, 

hervorgehn : 
Der  dich  wie   ein  Messer  zerteilt,   ein  gottloser, 

ehbrechender  Lüstling! 

*)  Johannes  Cicero,  Freund  der  schönen  Künste  und  sehr 
beredt.  Er  soll  durch  seine  Rednergabe  die  Versöhnung  des 
römischen  Königs  Matthias  mit  den  Königen  Kasimir  von  Polen 
und  Wladislaw  von  Böhmen  vermittelt  haben.  Kurz  vor  seinem 
Tode  (1499)  ermahnte  er  seine  Söhne,  guttätig,  gottesfürchtig, 
gerecht  und  treue  Stützen  ihrer  Untertanen  zu  sein,  denn  —  so 
heißt  es  am  Schlüsse  des  noch  erhaltenen  Briefes:  ,,lebt  und 
regiert  ihr  gerecht,  so  werden  euch  die  Guten  lieben,  und  die 
Bösen  fürchten,  und  unsterblicher  Ruhm  wird  euer  Teil  werden." 
Das  ging  in  Erfüllung,  da  beide  Söhne  Kurfürsten  wurden: 
Joachim  von  Brandenburg  und  Albert  Erzbischof  von  Mainz. 
(Vers  43-46.) 

^)  Gemeint  ist  die  Kurfürstin  Elisabeth,  Gemahlin  Joa* 
chims  I.,  Tochter  Königs  Johann  von  Dänemark,  die  der  Kctor« 
mation  (,, traurige  Pest")  zuneigte.  Tatsächlich  dauert  das  ,,Gift'*l 
schon  länger  als  11  Generationen,  denn  folgende  Hohenzollcrn 
sind    protestantisch  gewesen    bzw.  sind  es  noch  heute:    Johann! 


165 

Alter  ah  hoc  martern  seit  ludiHcare  per  artem, 

Auspicium  natis  hie  praebet  felicitatis; 

45)   Quod  dum  servatur,  ingens  Fortuna  paratur. 

Hujus  erunt  nati  eontormi  sorte  beati. 
Inferet  at  tristem  patriae  tunc  foemina  pestem, 

Foemina,  serpentis  tabe  contacta  recentis. 

Hoc   et   ad   undenum  durabit   stemma   venenum. 

50)    Et  nunc  is  prodit,  qui  te,  Lehnin!    nimis  odit: 

Dividit  ut  culter,  atheus,  scortator,  adulter! 


Georg,  Joachim  Friedrich,  Johann  Sigismund,  Georg  Wilhelm, 
Friedrich  Wilhelm  (der  Große  Kurfürst),  Friedrich  I.,  Friedrich 
Wilhelm  I.,  Friedrich  der  Große,  Friedrich  Wilhelm  IL,  Friedrich 
Wilhelm  III.,  Friedrich  Wilhelm  IV.  (als  elfter!).  Wilhelm  L, 
Friedrich  III.  und  Wilhelm  II,  Bis  heute  also  14  Generationen. 
Aber  selbst  wenn  wir  die  Kinderlosen  Friedrich  den  Großen 
und  Friedrich  Wilhelm  IV.,  weil  genau  genommen  keinen 
Stammbaum  (Stemma)  bildend,  streichen,  sind  es  bereits  12  Gene* 
rationen.  Stimmt  also  diese  Prophezeiung  auch  nicht  wörtlich, 
so  ist  sie  doch  richtig  hinsichtlich  der  langen  Reihe  protestan* 
tischer  Herrscher.  Diese  ließ  sich  um  so  weniger  voraussehen, 
als  inzwischen  das  Glaubensbekenntnis  der  deutschen  Herrscher* 
familien  stark  gewechselt  hat.  Man  denke  an  die  protestan« 
tischen  pfälzischen  Witteisbacher,  deren  Nachkommen  heute  als 
katholische  Könige  herrschen,  ferner  an  den  Glaubenswechsel 
im  Königreich  Sachsen,  den  bevorstehenden  in  Württemberg  usw. 
(Vers  46-49.) 


166 

Er  verwüstet  die  Kirche,  versteigert  die  geistlichen 

Güter. 
Geh  von  dannen,  mein  Volk!  kein  Schützer  wird 

dir  verbleiben, 
Bis    die    Stunde    dir   schlägt,    die    das    Verlorne 

zurückbringt^). 
55)   Des  Wahnsinnigen  Sohn  billigt  das  Treiben  des 

Vaters ; 
Gänzlich  ohne  Verstand,  beugt  er  sich  dem  Willen 

des  Pöbels; 
Weil   er  nicht  strenge  genug,  nennt  ihn  man  den 

Besten  der  Helden. 
Er  darf  aus   seinem  Geschlecht  einen   sehn,   der 

nicht  ist,  wie  er  selber, 
(oder:  Er  darf  aus  seinem  Geschlecht  fünf  sehn, 

wie  er  selber  geraten) 
Und   in    dem  Todesjahr    an   ehrbarem  Orte  ver«; 

scheiden'^). 
60)   Fordern  wird  nun  die  Herrschaft  des  Volks,  der 

städtisch  Geborne 
(Meinhold  übersetzt :  Hierauf  erklärt  sein  Sohn  in 

einer  Stadt  sich  zum  Bischof). 
Hegend  mit  Furcht  sein  Kind,  das  andere  hegen 

mit  Hoffnung. 
Was  er  fürchtet  ist  dunkel,  doch  sicher  wird  es 

geschehen^).  — 
Neu  wird  bald  der  Dinge  Gestalt,   da  der  Herr 

es  gestattet! 

')  Joachim  II.  trat  mit  seinem  Lande  dem  Protestantismus 
bei,  hob  1542  die  Klöster,  auch  Lehnin,  aut.  brach  den  seinem 
Vater  ^'cleisteten  Kid,  dem  Katholizismus  treu  zu  bleiben,  und 
führte  ein  lockeres  Leben.     Lr  starb   1571.     (Vers  50—54.) 


167 

Ecclesiam  vastat,  bona  rcli^iosa  subhastat. 

Ite,  meus  populus!  protector  est  tibi  nullus, 

Hora  donec  veniet,  qua  restitutio  fiet. 

55)   Filius  amentis  probat  instituta  parentis; 

Insipiens  totus,  tarnen  audit  vulgo  devotus; 

Nee  sat  severus,  hinc  dicitur  optimus  herus. 

Huic  datur  ex  genere,    qui   non   (andere  Lesart: 

Quinos)  qualis  ipse,  videre, 

Et  anno  funesto  vitarn  loco  linquit  honesto. 
60)   Postulat  hinc  turbae  praeponi  natus  in  urbe. 

Spe  caeteri  sobolem;  fovet  hie  formidine  prolem. 

Quod    timet    obscurum:    certe    tarnen,    ecce,    fu:* 

turum.  — 
Forma  rerum  nova  mox  fit,  patiente  Jehova! 


*)  Johann  Georg  setzte  die  Reformation  fort,  befehdete 
die  Calvinisten  und  war  schwach.  Er  starb  im  Pestjahr  1598 
in  seinem  prächtigen  Schlol^  zu  Köln  an  der  Spree.  (Vers  55—59.) 

^)  Joachim  Friedrich  war  der  erste  in  Berlin  geborene 
Kurfürst,  ein  eifriger  Anhänger  des  Luthertums,  der,  mit  Recht, 


168 

Fehler  an  tausend  hat  er,  dessen  Leben  so  kurz  ist, 
65)  Vieles  verwirrt  er  durch  seinen  Befehl,  noch  mehr 

durch  sein  Schlagen, 
Doch    was    durch    seine    Befehle    sich    hat    zum 

Schlechten  gestaltet. 
Kann,  o  glaube    es    mir,    durchs    Schicksal    zum 

Guten  sich  wandeln^). 
Markgraf  wird    nun    wieder    nach    seinem  Vater 

der  Sohn  sein. 
Viele  läßt  straflos  er  leben  gemäß  seiner  Geistes* 

richtung. 
70)  Während    zu    viel    er   vertraut,    frißt    der  Wolf 

ihm  die  arme  Herde, 
Und  der  schamlose  Knecht  folgt  bald  im  Tode 

dem  Herren^). 
Nunmehr  kommen   heran,  die  nach  drei  Burgen 

sich  nennen. 
Und  ein  großer  Fürst  läßt  wachsen  den  Staat  in 

die  Breite '^). 
Sicherheit    seinem    Volk    schafft    die    Kraft    des 

tücht'gen  Regenten: 

den  Übertritt  seines  Sohnes  zum  verhaßten  Calvinismus  be* 
fürchtete.     Er  starb  1608.     (Vers  60-62.) 

')  Joachim  Sigismund  trat  zum  Calvinismus  über  (eine 
Erfüllung  des  Vers  58)  und  verursachte  durch  sein  dahingehen* 
des  Edikt  viel  Verstimmung,  mehr  aber  noch  durch  die  Ohr* 
feige,  die  er  1613  dem  PfalzgraFcn  von  Neuburg  in  Wesel  bei 
der  Tafel  gab.  Der  Prophet  hält  (Vers  66)  den  Calvinismus 
für  noch  schlechter  als  das  Luthertum.  Der  Kurfürst  konnte 
seine  Ansprüche  auf  das  Jülischc  Erbe  nicht  voll  durchsetzen 
und  litt  unter  der  Übermacht  der  Städte.  Er  starb  1620.  (Vers 
63-67.) 

*)  Georg  Wilhelm]  war  ein  schwacher  Eürst,  unter  dessen 
zwischen   den  Schweden    und  dem  Kaiser  schwankenden  Regie* 


169 

Mille  scatct  naevis,  cujus  duratio  brevis. 
65)    Multa  per  edictum,  sed  turbans  plura  per  ictum. 

Quae  tarnen  in  pejus  mutantur  jussibus  ejus, 

In  melius  fato  converti  posse  putato. 

Post  patrem  natus  princeps  erit  Marchionatus, 

Ingenio  nuUos  non  vivere  sinit  inultos. 

70)   Dum  nimium  credit,   miserum   pecus  lupus  edit, 

Et  sequitur  servus  domini  mox  fata  protervus. 

Tunc  veniunt,   quibus  de   burgis  nomina   tribus. 

Et  crescit  latus  sub  magno  principe  Status, 

Securitas  gentis  fortitudo  Regentis: 


rung  das  Land  durch  den  Dreißigjährigen  Krieg  schwer  litt. 
Sein  Vertrauen  zum  allmächtigen  Grafen  Adam  von  Schwarzen? 
berg,  dem  österreichischen  Gesandten  am  Berliner  Hof,  schädigte 
das  Land.  Der  Kurfürst  starb  am  21.  November  1690,  schon 
3V2  Monate  später  Schwarzenberg  (4.  März  1691),  der  allerdings 
nicht  sein  Diener  war.  ,, Schamlos"  wird  er  wohl  genannt,  weil 
er  Gustav  Adolf  nicht  energisch  begegnete.     (Vers  68—71.) 

^)  Friedrich  Wilhelm,  der  Große  Kurfürst,  in  der  Prophe? 
zeiung  interessanterweise  ,,groß"  genannt,  hat  tatsächlich  sein 
Land  bedeutend  vergrößert,  nämlich  um  etwa  30000  qkm.  Die 
dritte  Burg  (Nürnberg,  Brandenburg)  wäre  das  im  Westfälischen 
Frieden  zu  Preußen  geschlagene  Magdeburg.  Der  Große  Kurfürst 
starb   1688.    (Vers  72-73.) 


170 


75)   Doch    nichts    nützt    es    ihm,   wenn   die  Klugheit 

schlafen  gegangen^). 
Wer  ihm  nachfolgen  wird,  folgt  nicht  den  Spuren 

des  Vaters. 
Betet,  ihr  Brüder,  und  spart  auch  nicht  die  Tränen, 

ihr  Mütter! 
Täuschung  ist  ja  sein  Name,  der  frohe  Regierung 

verheißet. 
Nichts  bleibt  vom  Guten  zurück:  ziehet  aus,  ihr 

alten  Bewohner! 
80)   Und  entseelt  liegt  er  da,  zerbrochen  von  außen, 

wie  innen"). 
Bald   braust   ein  Jüngling   daher,   die   große  Ge* 

bärerin  seufzet. 
Doch  wer  könnte  den  Staat  wieder  auf  baun  nach 

solcher  Zerrüttung? 
Nehmen  wird  er  die  Fahne,  doch  grauses  Schicksal 

beklagen: 
Während    der    Südwind  !weht,    will    sein    Leben 

vertraun  er  den  Klöstern'). 
(Meinhold    übersetzt: 
,,Weht  es  im  Süden  hierauf,  will  Leben  er  borgen 
den  Klöstern'*). 

*)  Diese  Verse  könnten  auf  den  klugen  Kurfürst  Friedrich  III., 
als  König  Friedrich  I.  Anwendung  finden,  sind  allerdings  sehr 
verschwommen.  Dali  er  Preußen  zum  Königreich  erhob,  hätte 
immerhin  betont  werden  können.  Allerdings  scheint  das  Wort 
Regens  (statt  des  sonstigen  dominus,  heros,  princeps)  eine  An; 
spielung  auf  die   Königswürde  2U  enthalten.  (Vers  74—75.) 

Übrigens  darf  nicht  verschwiegen  werden,  ^\a{^  nicht  not- 
wendigerweise die  Verse  72  —  75  auf  zwei  Herrscher  bezogen 
werden  müssen,  doch  ist  es  nach  dem  Wortlaut  der  Prophe« 
zeiung  zulässig. 


i 


m 

75)    Scd  nil  juvabit,  prudcntia  quando  cubabit. 

Qui  successor  crit,  patris  haud  vestigis  terit. 

Orate,  fratrcs,  lacrymis  nee  parcite  matres! 

Fallit  in  hoc  nomen  laeti  regiminis  omen. 

Nil  superest  boni:  veteres  migrate  coloni! 
80)    Et  jacet  exstinctus,  foris  quassatus  et  intus. 

Mox  juvenis  fremit,  dum  magna  puerpera  gemit. 

Sed  quis  turbatum  poterit  refingere  statum? 

Vexillum  tanget,  sed  fata  crudelia  planget: 

Flantibus  hinc  austris,  vitam  vult  credere  claustris. 

*)  Friedrich  Wilhelm  L,  Sohn  des  Vorigen,  trat  allerdings 
nicht  in  die  Fußtapfen  des  Vaters,  was  aber  sicherlich  für  Preußen 
kein  Unglück  war.  Der  Name  täuschte  insofern,  als  Friedrich 
Wilhelm  bekanntlich  ein  Soldatenkönig  war.  Seine  brutale 
Werbemethode  mag  auch  die  Tränen  der  Mütter  erklären. 
Voltaire  meinte,  die  damalige  Türkei  sei  ein  wahrer  Freistaat 
gegen  das  damalige  Preußen  gewesen.  Der  König,  der  1740  an 
der  Wassersucht  starb,  war  allerdings  sehr  entstellt,  aber  keines* 
wegs  innerlich  gebrochen.  Mag  es  damals  in  Preußen  auch 
barbarisch  und  ungemütlich  zugegangen  sein,  so  steht  doch  fest, 
daß  Friedrich  Wilhelm  das  Schwert  schmiedete,  dessen  sein  Sohn 
sich  bediente.    (Vers  76-89.) 

^)  Die  Verse  83—84  beziehen  sich  auf  Friedrich  den  Großen, 
der  als  achtundzwanzigjähriger  Jüngling  den  Krieg  mit  Maria 
Theresia,  der  ,, großen  Gebärerin",  die  damals  mit  Joseph  II.  in 


172 


85)  Der  ihm  als  Schlechtesten  folgt  ahmt  nach  böse 

Sitten  der  Väter, 
Hat  weder  Kräfte  des  Geists,  noch  Gottesfurcht 

lebt  jetzt  im  Volke; 
Der,  des  Hilf  er  begehrt,  wird  feindlich  entgegen 

ihm  treten, 
Und  er  im  Wasser  sterben,  das  Oberste  kehren 

zu  Unterst^), 

der  Hoffnung  war  und  im  ganzen  15  Kinder  hatte,  begann. 
Die  schweren  Leiden  des  Staates  im  Siebenjährigen  Kriege  sind 
hinlänghch  bekannt.  Was  das  Beklagen  des  „grausen  Schicksals" 
betriflFt,  so  schrieb  der  große  König  am  28.  Oktober  1760  an  den 
Marquis  d'Argens  (Hinterlassene  Werke,  Bd.  10,  S.  292):  „Ich 
habe  alle  meine  Freunde,  meine  geliebtesten  Verwandten  ver* 
loren,  mich  trifft  jede  nur  mögliche  Art  von  Unglück;  mir  bleibt 
gar  keine  Hoffnung  übrig;  ich  sehe  mich  von  meinen  Feinden 
verspottet,  und  ihr  Stolz  trifft  Anstalten,  mich  unter  die  Füße 
zu  treten.     Ach!     Marquis, 

Wenn  alles  uns  verläßt,  die  Hoffnung  selber  flieht, 
Dann  wird  das  Leben  Schmach,  und  eine  Pflicht  der  Tod!" 
Daß  auch  das  ,, Seufzen"  der  Königin,  zumal  sie  ja  ge# 
schlagen  wurde,  historisch  ist,  bedarf  keiner  näheren  Ausführung. 
Was  den  Südwind  (auster)  betrifft,  so  liegt  die  Anspielung  auf 
Österreich  nahe  genug.  Sogar  das  Kloster  spielte  eine  vorüber* 
gehende  Rolle  in  Friedrichs  Leben.  Denn  im  Zweiten  Schlesischen 
Kriege  (1745)  mußte  er,  vor  einer  Schwadron  ungarischer  Husaren 
fliehend,  sich  im  Kloster  Kamenz  verbergen.  Hier  wurde  er  als 
Zisterziensermönch  verkleidet  und  unter  die  übrigen  Mönche  im 
(^hor  versteckt.  König  Friedrich  Wilhelm  IV.  ließ  sich  im  Jahre 
1846  noch  die  Stelle  in  der  Klosterkirche  von  Kamenz  zeigen, 
wo  Friedrich  im  Chor  als  Mönch  verkleidet  gesessen  und  mit* 
gesungen  hatte.  Flautibus  austris  mit  ,,vor  den  heranstürmenden 
(Österreichern"  mit  Fonk  (Knop)  zu  übersetzen,  will  mir  doch  zu 
kühn  scheinen,  wenn  es  auch  dem  Sinne  nach  sicher  richtig  ist. 
Aber  wenn  wir  sogar  ..vor  den  wehenden  Südwinden  will  er  sein 
Leben  den  Klöstern  anvertrauen"  übersetzen,  womit  wir  keinerlei 


I 


173 

85)    Qui   scquitur,   pravos  imitatur  pcssimus   avos. 
Non  robur  menti,  non  adsunt  Numina  genti. 
Cujus  opem  petit,  contrarius  hie  sibi  stetit: 

Et  perit  in  undis,  dum  miscet  summa  profundis. 

Gewalt  antun,  ist  der  Sinn  klar  und  die  Erfüllung  buchstäblich 
eingetroffen. 

^)  Friedrich  Wilhelm  II.,  der  Neffe  Friedrichs  des  Großen  — 
daß  hier  der  Prophet  die  Bezeichnung  als  Sohn,  was  doch  sonst 
bei  ihm  die  Regel  ist,  tortließ,  ist  auf  alle  Fälle  merkwürdig,  zumal 
Friedrich  Wilhelms  Nachfolger  in  den  späteren  Versen  wieder 
richtig  als  Sohn  bezeichnet  wird  —  war  tatsächlich  ein  nach 
jeder  Richtung  schlechter  Herrscher,  der  auch  insofern  die  Sitten 
der  Väter  nachahmte,  als  er  an  seinem  Hofe  eine  schamlose 
Maitressenwirtschaft  einführte.  Daß  die  Religiosität  damals  wie 
überall,  so  auch  in  Preußen  danieder  lag  —  wenigstens  wenn 
wir  unter  Religiosität  Kirchengläubigkeit  verstehen  —  ist  hin* 
reichend  bekannt.  Auch  die  öffentliche  Sittlichkeit  stand  sehr 
tief.  Vgl.  Ed.  Vehse,  Geschichte  des  preußischen  Volks  und 
Adels.  I.  Abt.,  5.  Bd.  und  Paulig,  Friedrich  Wilhelm  II.,  sein 
Privatleben  und  seine  Regierung. 

Vers  87  mag  sich  auf  Kaiser  Franz  II.  beziehen,  der  sich 
1792  am  Kriege  gegen  Frankreich  beteiligte,  und  im  Frieden  von 
Basel,  am  5.  April  1795,  von  ihm  im  Stich  gelassen  wurde. 
Friedrich  Wilhelm  erleichterte  dadurch  zweifellos  die  späteren 
Erfolge  der  Franzosen  gegen  Deutschland.  Massenbach  schreibt 
„Der  Staat  war  seiner  Auflösung  nahe". 

Der  König  starb  (1797)  tatsächlich  im  Wasser,  nämlich  in 
seinem  von  Seen  umgebenen  Schlosse  zu  Potsdam  an  der 
W^assersucht. 

Interessant  ist,  daß  der  König  sich  nicht  lange  vor  seinem 
Tode  die  Lehninsche  Prophezeiung  kommen  ließ,  und  zwar  das 
älteste  Exemplar  der  in  der  Berliner  Bibliothek  vorhandenen 
Handschriften.     Er    gab    es    nicht    zurück.     Es  soll  das  Original 


174 

Blühen  wird   aber   sein  Sohn  und  erhalten,  was 

nie  er  gehofft  hat, 
90)   Doch  sein  trauriges  Volk  wird  weinen  in  selbigen 

Zeiten. 
Denn    von    erstaunlicher   Art    scheint    sich    das 

Schicksal  zu  nahn. 
Und  es  ahnt  nicht  der  Fürst,  welch  neue  Macht 

da  heranwächst^). 
Endlich    führet   der  Letzte    von    diesem    Stamme 

das  Zepter. 
Israel,  wagt  eine  Tat,  unaussprechlich,  mit  dem 

Tod  nur  zu  sühnen'). 
95)   Und  die  Herde  der  Hirt,  Germania  den  König 

erhält  nun^). 


der  Weissagungen    gewesen    sein.     (Vgl.  Otto    Glagau    „Kultur* 
kämpfer".   Heft  93,  S.  32.)     (Vers  85-88.) 

^)  Die  ersten  beiden  Verse  (89  und  90)  passen  in  erstaun? 
licher  Weise  auf  Friedrich  Wilhelm  III.  Denn  tatsächlich  hat 
dieser  schwache  und  unfähige  Monarch,  nachdem  er  im  Tilsiter 
Frieden  alles  Land  westlich  der  Elbe  hatte  abtreten  müssen,  so 
daß  Preuikn  von  5551  qkm  und  8687000  Einwohnern  unter 
seinem  Vorgänger  auf  2859  qkm  mit  4940000  Einwohnern  zu? 
sammengeschmolzen  war,  am  Ende  seiner  Regierung  wieder  über 
5050  qkm  mit  10400000  Einwohnern  verfügt.  Ja,  das  Rhein* 
land  und  einen  grolkn  Teil  Sachsens  hatte  er  neu  gewonnen. 
Die  furchtbaren  Leiden  des  Volkes  während  der  Napoleonischen 
und  Freiheitskriege  sind  hinlänglich  bekannt,  ebenso,  daß  das 
Volk  und  durchaus  nicht  der  König  die  Wiederaufrichtung  des 
Staates  ermöglichte.  Ferner  ist  zu  beachten,  daß  in  die  Regierung 
des  Königs  die  Säkularisationen  von  Klöstern  und  Kirchengut  lallen, 
was  wenigstens  der  katholischen  Bevölkerung  schmerzlich  war. 
Die  neu  heranwachsende  Macht  des  Volkes,  die  sein  Sohn  vcr» 
spüren  sollte,  ahnte  Friedrich  Wilhelm  111.  allerdings  nicht. 
Daß  die  Untertanen  durch   ihr  Gut  und  Blut  das  Schicksal  ab» 


175 

Natiis   Horcbit;  quod   non   sperassct,  habcbit: 
90)   Sed  populus  tristis  Hebit  temporibus  istis. 
Nam  sortis  mirac  videntur  fata  venire, 
Et  princcps  nescit,  quod  nova  potentia  crescit. 
Tandem  sceptra  gerit,  qui  stemmatis  ultimus  serit: 
Israel  infandum  scelus  audet,  morte  piandum. 
95)   Et  pastor  gregem  recipit,  Germania  regem. 


wenden  und  nach  vollbrachter  Tat  sich  ruhig  knechten  lassen 
sollten,  war  seine  naive  Auffassung.     (Vers  89—92.) 

')  Vers  93  und  94  beziehen  sich  auf  Friedrich  Wilhelm  IV. 
Ohne  gewaltsame  Interpretation  anzuwenden,  werden  wir  finden, 
daß  auch  sie  wunderbar  zutreffen.  Allerdings  ist  der  König 
nicht  der  letzte  protestantische  Hohenzoller,  wohl  aber  der  letzte, 
der  das  Zepter  führt  im  Sinne  eines  absoluten  Monarchen. 
Denn  die  Märztage  des  Jahres  1848,  auf  die  Vers  94  deutlich 
anspielt,  brachten  bekanntlich  die  Konstitution,  die  Friedrich 
Wilhelm  III.  zwar  zu  geben  geschworen,  aber  nicht  gehalten  hatte, 
wirklich.  Beziehen  wir  Vers  92  statt  auf  Friedrich  Wilhelm  III.,  auf 
seinen  Sohn,  so  trifft  es  ebenfalls  vortrefflich  zu.  Denn  beide 
Fürsten  hatten  keine  Ahnung  davon,  was  für  eine  Macht  im 
Verlangen  des  Volkes,  sein  Schicksal  selbst  mit  zu  bestimmen, 
heranwuchs. 

^)  Am  verblüftendsten  ist  das  Eintreffen  des  95.  Verses:  Das 
1871  durch  Wilhelm  I.   errichtete   deutsche   Kaisertum. 

Ob  die  folgenden  Verse  nun  in  Erfüllung  gehen  oder  nicht, 
d.  h.  ob  der  Katholizismus  wieder  ausschließlich  herrschen  wird, 
können  wir  der  Zukunft  überlassen.  Richtig  ist  ja  leider,  daß 
die  Klostergründungen  ebenso  wie  die  Macht  des  Zentrums  in 
den  letzten  Dezennien  beängstigend  zugenommen  haben. 


176 

Jegliches  Unglück  vergißt  die  Mark   nun  völlig 

und  gänzlich, 
Wagt  es  die  Ihren    zu    pflegen,    kein  Fremdling 

darf  mehr  frohlocken. 
Und    von    Lehnin    und  Chorin    ersteht   die    alte 

Bedachung, 
Und    die   Geistlichkeit   glänzt   nach    alter  Weise 

in  Ehren 
100)  Und  es  stellet  kein  Wolf  mehr  nach  dem  edlen 

Schafstall. 


177 

Marchia,  cunctorum  pcnitus  oblite  malorum, 
Ipsa  suos  audct  fovcrc,  nee  advcna  gaudet, 
Priscaque  Lehnini  surgunt  et  tecta  Chorini, 
Et  veteri  more  clerus  splendescit  honore, 
100)  Nee  lupus  nobili  plus  insidiatur  ovili. 


IL  Kommentar 

Wie  bereits  kurz  erwähnt,  wird  die  Lehnische 
Prophezeiung  als  Werk  eines  Bruders  Hermann  aus 
dem  Zisterzienserkloster  Lehnin  in  der  Mark  Branden** 
bürg  ausgegeben,  bzw.  gibt  sich  selbst  als  solche  aus. 
Wenn  sich  auch  zahlreiche  Abschriften  der  100  leos* 
nischen  Verse  erhalten  haben,  so  existiert  doch  keine, 
die  in  die  mittelalterlichen  Jahrhunderte  hinaufreicht.^) 
Vielmehr  gehen  die  ältesten  existierenden  Handschriften 
auf  das   Ende  des   17.  Jahrhunderts  —  etwa  1690  — 


^)  Vgl.  M.  W.  Heffter,  Die  Geschichte  des  Klosters 
Lehnin,  Brandenburg  1851,  S.  103 ff.  Dagegen  führt  Ponk 
(Schrammen#Lehnin  S.  15  ff.)  eine  Reihe  von  Zeugnissen  für  die 
Existenz  weit  älterer  Handschriften  an.  Zwingende  Beweiskraft 
hat  keines,  wenn  auch  höchst  merkwürdig  die  Tatsache  anmutet, 
daß  die  Prophezeiung  des  F.  Speer  über  Bayern  zum  Teil  wörts 
sich  mit  der  Lehninschen  übereinstimmt.  Da  Speer  aber  bereits 
1632  starb,  muß  entweder  unsere  fast  ein  Jahrhundert  älter 
sein,  als  behauptet  wird,  oder  aber  der  angebliche  Hermann  hat 
Speer  kopiert.  — 

Kcmmcrich,   Prophezeiungen  12 


178 

zurück.  Im  Druck  erschien  das  Vaticinium  Lehniense 
zuerst  von  G.  P.  Schulz  bis  auf  4  Verse  vollständig 
in  „das  gelahrte  Preußen  IL  Teil  S.  290*'  (Königs* 
berg  1723),  dann,  ohne  Angabe  des  Druckortes,  im 
Jahre  1741  und  hierauf  noch  außerordentlich  oft. 

Legt  das  Fehlen  alter  Handschriften  schon  den 
Gedanken  nahe,  es  handle  sich  insofern  um  eine 
Fälschung,  als  einer  neueren  Dichtung  aus  irgend* 
welchen  Gründen  ein  wesentlich  höheres  Alter  zu* 
geschrieben  wurde,  so  wird  diese  Vermutung  noch 
durch  zwei  andere  Momente  gestützt. 

Erstens  sind  die  „Prophezeiungen"  aus  den 
mittelalterlichen  Jahrhunderten  (Vers  1—75),  wenn 
auch  häufig  verschwommen  in  der  Fassung,  so  doch 
inhaltlich  ausnahmslos  zutreffend,  während  die  neu- 
zeitlichen (Vers  76—100)  zum  Teil  falsch  sind.  Das 
legt  den  Verdacht  nahe,  daß  es  sich  für  die  älteren 
Zeiten  um  ein  Vaticinium  post  eventum  handelt,  d.  h. 
daß  der  Verfasser  seine  historischen  Kenntnisse  nach* 
träglich  in  die  Form  einer  Prophezeiung  kleidete. 
Es  sei  nicht  verschwiegen,  daß  sich  hiergegen  auch 
in  der  Literatur,  die  außerordentlich  reich  istO» 
Stimmen  erhoben  haben,  die  für  die  Authentizität 
auch  des  ältesten  Teiles  und  die  Verfasserschaft  eines 
der  im  13.  Jahrhundert  in  Lehnin  nachweisbaren 
Abte  mit  dem  Namen  Hermann  eintreten").  Besonders 
seien     hier     genannt:     Wilhelm     Meinhold,     Die 

*)  Sabcll,  Literatur  der  sogenannten  Lehninschen  Weis» 
sagung,     Hcilbronn   1879, 

")  Nämlich  Hermann  I.  1234-1243;  Hermann  II.  1248-1257 
und  Hermann  III.  bis  1296.  Vgl.  D.  B.  Dettmar,  Lchnin  und 
seine  Fürstengräber,  Regensburg   1885,  S.   119. 


179 


Lehninschc  Weissagung,  Leipzig  1849,  Neuausgabe 
von  PaulMajunke,  Kegensburg  1896.  Ferner  Johannes 
Ponk  (Knop),  Schrammen^Lehnin.  Untersuchung, 
ob  in  dem  Schriftchen:  ,,Des  seligen  Bruders  Hermann 
aus  Lehnin  Prophezeiung  über  die  Schicksale  und  das 
Ende  der  Hohenzollern  von  Johannes  Schrammen" 
die  Lehninsche  Prophezeiung  unwiderleglich  als 
Fälschung  nachgewiesen  ist.  Regensburg  1896.  Daß 
ausschließlich  kirchliche  Kreise  bisher  Verteidiger 
stellten  macht  umso  mißtrauischer  als,  worauf  wir 
noch  zurückkommen  werden,  die  Prophezeiung  zweifei* 
los  der  Kirche  und  zwar  der  katholischen  Kirche 
wohl  will. 

Anderseits  darf  man  nicht  vergessen,  daß  alle 
weltlichen  Gelehrten  und  Schriftsteller  von  dem  un:s 
geprüften  Dogma  ausgehen,  daß  Prophezeiungen  uns» 
möglich  sind,  während  die  Kirchen  deren  Möglichst 
keit  zugeben,  ohne  im  einzelnen  Falle  für  die 
Wirklichkeit  offiziell  einzutreten.  Wenigstens  nicht 
für  die  Wirklichkeit  der  nachevangelischen  Prophet* 
zeiungen,  die  uns  ja  in  unserer  Untersuchung  allein 
interessieren.  Deshalb  ist  —  so  merkwürdig  es 
klingen  mag  —  in  dieser  Frage  die  Kirche  aufge^s 
klärter  —  ja  freiheitlicher  als  die  profane  Wissen* 
Schaft.  Denn  der  dogmatischen  Gebundenheit  der 
letzteren  mit  ihrem  Zwange  die  Möglichkeit  der 
Prophetie  a  limine  abzulehnen  und  als  Schwindel 
oder  Zufall  zu  erklären,  steht  das  kirchlicherseits  ge* 
währte  Prüfungsrecht,  jedes  einzelnen  derartigen 
Phänomens  gegenüber  bei  gleichzeitigem  Zwange  die 
Möglichkeit  der  Prophetie  prinzipiell  anzuerkennen. 
Da    also    der    Kirchengläubige    das  Recht    der    unbe* 

12- 


180 

schränkten  Prüfung  besitzt,  der  „voraussetzungslose" 
Gelehrte  aber  verwerfen  muß,  so  ist  in  diesem  Falle 
dem  ersteren  von  vorn  herein  mehr  Vertrauen  entgegen* 
zubringen. 

Das  zweite  für  die  Abfassung  der  Weissagung 
in  späteren  Jahrhunderten  sprechende  Moment  ist  der 
in  ihr  zutage  tretende  tendenziöse  Geist.  Es  war 
überhaupt  das  Unglück  dieser  Prophezeiung,  daß  sie, 
statt  ruhiger  wissenschaftlicher  Prüfung  unterzogen 
zu  werden,  seit  je  Parteizwecken  dienen  mußte. 
Waren  es  z.  B.  im  Jahre  1848  die  Demokraten,  die 
frohlockend  auf  den  Sturz  des  preußischen  König* 
tums  hinwiesen,  so  waren  es  seit  dem  Kulturkampf 
die  Ultramontanen,  die  den  Sieg  des  Papsttums  aus 
den  Worten  des  Sehers  ableiteten. 

Sehen  wir  uns  die  Schrift  mit  Rücksicht  auf  die 
in  ihr  waltende  Tendenz  näher  an,  dann  werden  wir 
die  merkwürdige  Beobachtung  machen,  daß  zwar 
jeder  Kommentator  von  ihr  spricht,  aber  auch  fast 
jeder  eine  andere  in  ihr  findet. 

Während  der  Pfarrer  J.  C.  Weiß  in  Lehnin 
bereits  im  Jahre  1746  durch  das  Buch  „Vaticinium 
metricum  D.  F.  Hermanni  in  Lenyn  .  .  .*'  die  Schrift 
widerlegte,  war  es  das  Ziel  späterer  Forscher  den 
Verfasser  zu  ermitteln  und  das  besonders  aus  der 
Tendenz  des  Gedichtes  heraus. 

Wilken  erklärte,  1827  von  König  Friedrich 
Wilhelm  III.  mit  Nachforschungen  betraut,  den  im 
Jahre  1693  verstorbenen  Kammergerichtsrat  Martin 
Friedrich  Seidel  für  den  Autor.  Das  bestreitet  u.  a. 
Giescbrccht,  weil  Seidel  weder  Katholik,  noch  Feind 
des    Hauses    HohcnzoUern    gewesen,    gegen    das    die 


181 


Weissagung  als  Schmähschrift  gerichtet  sei.  Giesebrecht 
macht  datür  einen  ehemaHgen  Rittmeister  Oelven 
namhaft. 

Heffter  entgegnet  mit  anderen,  daß  der  Ver^ 
fasser  des  Gedichtes  keineswegs  Katholik  gewesen 
sein  müsse  und  bestreitet  auch  die  antihohenzollernsche 
Tendenz.  Daß  andrerseits  die  Tatsache,  daß  Seidel, 
der  sich  im  Besitze  einer  Abschrift  befand,  zu 
einzelnen  Versen  Zusätze  gemacht  hat  —  z.  B.  zu 
Vers  95,  daß  innerhalb  fünfzig  Jahren  kein  Refor* 
mierter  und  innerhalb  hundert  Jahren  kein  Lutheraner 
mehr  in  der  Mark  sein  würde,  sondern  nur  mehr 
Katholiken  —  kein  Beweis  für  seine  Autorschaft  ist, 
liegt  allerdings  auf  der  Hand.  Uns  interessiert  »am 
meisten,  daß  die  Vertreter  Seidels  in  dem  Verfasser 
einen  Protestanten  sehen,  der  unmutig  über  die  da^^ 
maligen  relativ  toleranten  Maßregeln  der  branden* 
burgischen  Regierung,  seinen  lauen  Glaubensgenossen 
das  künftige  Schicksal  der  Mark  in  kirchlicher  Be* 
Ziehung  habe  vor  Augen  führen  wollen  und  zu  dem 
Zweck  die  Maske  eines  prophetischen  Katholiken 
angenommen  habe. 

Andere  glauben  einen  gewissen  Andreas  Fromm 
identifizieren  zu  können.  Fromm  war  Probst  zu 
St.  Petri  in  Berlin  bis  1666,  wurde  dann  seines 
Amtes  entsetzt,  trat  1668  in  Prag  zum  Katholizismus 
über  und  erhielt,  trotz  seiner  Verheiratung  daselbst 
ein  Dekanat,  dann  zu  Leitmeritz  ein  Kanonikat. 
Das  Vaticinium  wäre  dann  nichts  als  ein  Racheakt. 
Er  starb,  etwa  siebzigjährig,  im  Jahre  1685.  Da* 
gegen  wird  angeführt,  daß  er  dazu  zu  früh  gestorben 
sei,    da    die    wirkliche  Abfassung    in   die  Jahre   1691 


182 

oder  1692  falle,  ferner,  daß  der  Verfasser  ja  nicht 
durchaus  ein  Katholik  gewesen  sein  müsse.  Was  den 
Einwurf  des  frühen  Todes  betrifft,  so  ist  er  genau 
genommen  eine  petitio  principii,  da  wir  die  Ent* 
stehungszeit  des  Gedichtes  keineswegs  genau  kennen. 
Das  einzige,  was  wir  in  dieser  Hinsicht  mit  Bestimmt* 
heit  wissen,  ist  der  von  Gieseler^)  erbrachte  Nachweis, 
daß  die  Weissagungen  spätestens  seit  1693  be^* 
kannt  sind.  Ferner  ist  es  richtig,  daß  das  aus^ 
gehende  17.  Jahrhundert  zu  weissagen  liebte.  Aber 
das  ist  keine  Spezialität  dieser  Zeit,  denn  das  ganze 
Mittelalter  hatte  dieselbe  Neigung. 

Andere  sehen  in  der  Prophezeiung  eine  Staats*^ 
Schrift  gegen  den  Kurfürsten  Friedrich  III.,  nach^ 
maligen  ersten  König  von  Preußen,  unter  Billigung 
seiner  Stiefmutter  gerichtet  in  der  Absicht  den 
großen  Kurfürsten  zur  Enterbung  seines  ältesten 
Sohnes  zu  Gunsten  des  Markgrafen  von  Schwedt  zu 
bestimmen. 

Nach  Heinrich  Pröhle")  ist  der  Grundgedanke 
der  Weissagung  keineswegs  der  Haß  gegen  die 
Hohenzollern,  sondern  das  Verlangen  nach  einer 
Rückgabe  der  geistlichen  Güter.  Das  Thema  sei  das 
Glück  der  Mönche,  das,  wie  das  Kloster  Lehnin 
zeige,  immer  wieder  im  Wechsel  der  Zeiten  zum 
Vorschein  komme.     Für  den  Verfasser  hält  Pröhle  — 


')  J.  C.  L.  Gieseler,  Die  Leninsche  Weissagung  gegen  das 
Haus  Hohenzollern  als  ein  Gedicht  des  Abtes  von  Huysburg, 
Nicolaus  von  Zitzwitz,  aus  dem  Jahre  1692  nachgewiesen,  er# 
klärt  und  in  Hinsicht  auf  Veranlassung  und  Zweck  beleuchtet. 
Erfurt  1849. 

«)  Die  I.ehninsche  Weissagung,  Berlin   1888,    S.  \'I1. 


183 


wie  schon  früher  Gieseler  —  den  Abt  von  Huysburg, 
von  Zitzwitz.    (Geb.   1643,  gest.   1704). 

Ist  diese  Vermutung  richtig,  dann  wäre  die 
ganze  Prophezeiung  entstanden,  weil  im  Jahre  1691 
Lehnin  eine  Kolonie  reformierter  Schweizer  erhielt. 
Das  soll  den  zum  Katholizismus  übergetretenen  Zitz* 
witz  empört  haben.  Andrerseits  wäre  es  auch  eine 
Zurücksetzung  der  lutherischen  märkischen  Bauern 
gewesen.  Zitzwitz  soll  bei  Abfassung  des  Vaticinium 
Virgils  Hirtengedichte  nachgeahmt  haben.  Guhrauer 
vermutet  einen  Jesuiten  Friedrich  Wolf  (-j-  1708) 
als  Autor. 

Uns  ist  es  recht  gleichgültig,  wer  der  Verfasser 
der  Prophezeiungen  war.  Feststellen  wollen  wir  aber, 
daß  kein  genügender  Gegenbeweis  für  das  hohe  Alter 
des  Vaticinium  erbracht  ist,  wenn  es  auch  sehr  wahr^ 
scheinlich  ist,  daß  es  erst  am  Ausgang  des  17.  Jahr* 
hunderts,  keinesfalls  später,  entstand.  Ferner,  daß 
aus  der  Unsicherheit  des  Verfassers  sowohl  wie  seiner 
Tendenz  hervorgeht,  daß  es  keineswegs  so  überaus 
leicht  ist  die  Weissagung  als  Fälschung  zu  brande 
marken. 

Mir  scheint  sogar  die  Strittigkeit  der  Tendenz  die 
Vermutung  nahe  zu  legen,  daß  eine  solche  überhaupt 
nicht  vorhanden  ist.  Das  schließt  ja  gewiß  nicht 
aus,  daß  der  Verfasser,  auf  dem  Boden  einer  he^ 
stimmten  Weltanschauung  stehend,  die  Dinge  durch 
eine  konfessionelle  Brille  betrachtet.  Aber  braucht 
das  in  gehässiger  Absicht  zu  geschehen?  Ist  der 
Gedanke  so  unerhört,  daß  jemand  aus  keinem  an* 
deren  Grunde  prophezeit  als  dem,  die  Wahrheit  zu 
entschleiern?     Jedenfalls   können   wir  das  annehmen. 


184 

Da  das  für  uns  einzig  wertvolle  der  Nachweis 
ist,  daß  es  zu  allen  Zeiten  mit  Sehergabe  ausgerüstete 
Menschen  gab,   ihr  Name  aber  recht  gleichgültig  ist, 
so     lassen     wir     uns     nicht    auf    irgendwie    strittige 
Momente  ein,  sondern  konzedieren  den  Gegnern  so*» 
wohl  die  Abfassung  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts, 
als  auch   die    katholische  Richtung.     Nicht   weil   wir 
beides  für  bewiesen  hielten,  sondern  lediglich  weil  es 
wenig  wert   hat    sich  mit  Fragen  aufzuhalten,   deren 
unumstößlich  richtige  Beantwortung  kaum  möglich  ist. 
Selbst  mit  der  obigen  Einräumung  bleiben  immer* 
hin  noch  reichlich  zwei  Jahrhunderte,  für  die  geweis* 
"sagt  wird,  ohne  daß  die  Möglichkeit  eines  Schwindels 
/      gegeben  wäre.  "    '''"*' 

I  Wir   haben    bereits  früher  die  historischen  Tat* 

^  Sachen  notiert,  die  auf  die  Weissagungen  bezogen 
werden  können.  Daß  dazu  etwas  guter  Wille  nötig 
ist,  sei  keineswegs  geleugnet.  Aber  ihn  brauchen  wir 
naturgemäß  bei  jeder  Auslegung,  und  das  um  so  mehr, 
je  dunkler  der  Text  ist.  Wir  bestreiten  aber  aus* 
drücklich,  daß  hierzu  mehr  bona  fides  unsererseits 
nötig  ist,  als  beim  Gegner  mala  fides,  um  das  Un* 
sinnige  des  Vaticinium  zu  beweisen.  Ja,  wir  gehen 
so  weit,  zu  behaupten,  daß  eine  Reihe  von  Vorher* 
sagen  nur  durch  Unwissenheit  oder  Gehässigkeit 
mißzuverstehen  sind.  Denn  da  nun  einmal  das  pro* 
fane  Dogma  zu  Recht  besteht,  daß  ein  Enthüllen  der 
Zukunft  unmöglich  sei,  wird  jede  Beweisführung  mit 
dem  Endziel  und  der  unausgesprochenen  Voraus* 
Setzung  geführt,  daß  alles  Geweissagte  falsch  sein  müsse. 
Nichts  liegt  uns,  die  wir  ohne  jegliche  Tendenz 
an  die  Prüfung  des  Phänomens  herantreten  und  nicht, 


185 


wie  die  Gegner  behaupten  werden,  uns  zum  x\nwalt 
der  Prophetie  machen,  weil  wir  a  priori  ihre  Richtig* 
keit  voraussetzen,  sondern  im  Gegenteil,  weil  a  potiori 
sie  uns  beweisbar  und  bewiesen  dünkt,  ferner  als  die 
These,  alles,  was  prophezeit  sei,  müsse  auch  eintreffen. 
Im  Gegenteil  zögern  wir  nicht,  zuzugeben,  daß  so* 
wohl  die  Vorhersage,  der  elfte  im  Stammbaum  werde 
auch  der  letzte  protestantische  Herrscher  aus  dem 
Hause  Hohenzollern  sein,  falsch  ist,  als  auch  die 
andere,  daß  Deutschland  zum  Katholizismus  zurück* 
kehren  wird,  sich  bis  dato  nicht  erfüllt  hat  und  auch 
hoffentlich  nie  erfüllen  wird. 

Das  hindert  aber  nicht,  die  verblüffende  Über* 
einstimmung  der  Weissagung  mit  vielem,  was  sich 
später  ereignete,  anzuerkennen.  Daß  auch  die  zünf* 
tige  Geschichtsschreibung  so  ein  unbestimmtes  Ge* 
fühl  hat,  geht  schlagend  aus  der  Tatsache  hervor, 
daß  man  am  liebsten  das  ganze  Vaticinium  als  nach* 
träglich  konstruiert  hinstellen  möchte  und  mit  Be* 
dauern  nur  anerkennt,  daß  es  unbedingt  spätestens 
im  Jahre  1692  in  der  vorliegenden  Form  abgefaßt  war. 

Ein  sehr  wichtiger  Punkt  ist  noch  vorauszu* 
schicken:  Wir  nehmen  an,  daß  die  Verse  72  und  73 
sich  auf  den  Großen  Kurfürsten  beziehen,  was  ja 
auch  die  Gegner  zugeben.  Während  diese  aber  noch 
die  beiden  folgenden  ihm  zuschreiben,  geben  wir  sie 
mit  Meinhold  und  anderen  Friedrich  I.  Und  zwar 
nicht  allein  deshalb,  weil  nur  auf  diese  Weise  das 
Folgende  einen  Sinn,  und  zwar  einen  erstaunlich  zu* 
treffenden  Sinn  erhält.  Wiewohl  auch  dieser  Grund 
völlig  zulässig  wäre.  Denn  wie  jeder  Herausgeber 
eines  alten  Schriftstellers  so  lange  Konjekturen  macht  — 


186 

und  oft  was  für  welche!  —  und  deutelt,  bis  sein 
Autor  etwas  Vernünftiges  sagt,  so  besteht  gar  kein 
Grund,  dieses  Recht  dem  Interpreten  einer  Weissagung 
zu  beschneiden.  Um  so  weniger,  als  kein  Wort  ver* 
ändert,  noch  ein  Vers  umgestellt  werden  muß. 

Wir  sind  noch  deshalb  hierzu  vollauf  berechtigt, 
weil  Vers  73  von  einem  princeps  spricht,  während 
Vers  74  ausdrücklich  den  Regens,  denjenigen,  der  Rex 
ist  —  wie  die  wohlwollende  Interpretation  um  sO  ehöf 
annehmen  kann,  je  mehr  sie  den  Standpunkt  vertritt, 
die  Prophezeiung  stamme  erst  aus  dem  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  —  nennt  und  dazu  in  Gegensatz 
stellt.  Auf  Friedrich  I.  beziehen  sich  dann  also  die 
Verse  74  und  75,  die  folgenden  76—80  aber  auf  den 
Soldatenkönig.  Daß  aber  Vers  78  wieder  von  regimen 
spricht,  ist  ein  weiterer  Hinweis  darauf,  daß  der 
/  Seher  die  Erhebung  Preußens  zum  Königreich  im 
I  Auge  hatte. 

Die  Gegner  beziehen,  mindestens  ebenso  übel* 
wollend  wie  wir  wohlwollend,  die  vier  Verse  von 
72—75  auf  den  Großen  Kurfürsten,  ohne  sich  am 
Worte  Regens  zu  stoßen.  Daß  dann  alle  weiteren 
Verse  bis  zum  Schluß  Unsinn  enthalten  müssen,  und 
das  um  so  mehr,  je  präziser  und  verblüffender  ihre 
Angaben  sind,  das  stört  sie  nicht  nur  nicht,  ist  im  j 
Gegenteil  gerade  das  Motiv,  das  sie  zu  dieser  Zu* 
teilung  veranlaßte. 

Auch  auf  einem  Umwege,  Majunke  folgend, 
kommen  wir  zu  demselben  Resultat.  Wir  argumen* 
tieren  dann:  die  konkreten  Tatsachen  der  Verse  72 
und  73  deuten,  was  noch  niemand  bestritt,  zweifellos 
auf  den  Großen  Kurfürsten.     Ebenso   die  konkreten 


i 


187 

Tats»ichcn  des  Verses  77,  der  Jammer  im  Lande  über 
das  brutale  Aushebungssystem,  auf  Friedrich  Wil* 
hehii  I.  Also  müssen  —  allerdings  unter  einer  Vor? 
aussetzung,  die  wir  nicht  teilen,  daß  nämlich  jede 
Prophezeiung  eintreffen  müsse  —  die  dazwischen 
liegenden  Verse  auf  den  ersten  König  Preußens  bes^ 
zogen  werden.  Das  ist  ja  gewiß  nicht  zwingend, 
aber  es  erhöht  die  Wahrscheinlichkeit  für  die  Rieh* 
tigkeit  unserer  Zuteilung.  Und  dies  um  so  mehr,  als 
das  nunmehr  in  allen  wichtigen  Punkten  —  von  dem 
bereits  erwähnten  Irrtum  bezüglich  der  elften  Gene* 
ration  abgesehen  —  mit  den  historischen  Tatsachen 
harmonierende  Vaticinium  gewiß  den  Anspruch  er* 
heben  darf,  nicht  sinnwidrig  ausgelegt  zu  werden. 
Wenn  wir  auch  keinem  Menschen  Unfehlbarkeit  ein* 
räumen,  so  werden  wir  doch  bei  einem  als  klug  be* 
kannten  Manne  jedem  Ausspruch  mehr  Beachtung 
schenken,  als  bei  einem  Toren  und  sogar  in  gewissen 
Fällen  geneigt  sein,  bei  Worten,  die  uns  anstößig  er* 
scheinen,  den  Fehler  eher  bei  uns,  als  beim  andern 
zu  suchen.  Diesen  Analogieschluß  fordern  wir  auch 
für  das  Vaticinium. 

Daß  Vers  80  nur  teilweise  auf  den  Soldaten* 
könig  paßt,  sei  nicht  geleugnet.  Der  Seher  sah  eben 
nicht  nur  bisweilen  falsch,  er  sah  auch  manchmal 
unklar,  wie  das  ja  bei  Weissagungen  sehr  häufig  ist. 

Dies  berücksichtigt  muß  jeder,  der  tendenzlos  an 
die  Weissagung  herantritt,  zugeben,  daß  ihr  Inhalt 
in  ganz  wunderbarer  Weise  von  der  späteren  Ge* 
schichte  bestätigt  wurde. 

Friedrich  der  Große  ist  nicht  minder  treffend 
charakterisiert,  wie  sein  Neffe  und  Nachfolger  Friedrich 


188 

Wilhelm  IL,  auch  wenn  man  nicht  zugeben  wollte, 
daß  er  im  Wasser  gestorben  ist.  Desgleichen  Friedrich 
Wilhelm  III.,  dessen  Regierung  bedeutend  günstiger 
endete,  als  er  es  nach  seinen  Fähigkeiten  und  der 
politischen  Konstellation  Europas  je  hätte  hoffen 
dürfen.  Und  zwar,  wie  das  Vaticinum  ganz  richtig 
andeutet,  durch  eine  neu  heranwachsende  Macht, 
nämlich  durch  den  Patriotismus  eines  Volkes,  das 
sich  mündig  zu  fühlen  beginnt. 

Der  letzte  des  Stammes,  Friedrich  Wilhelm  IV., 
soll  nicht  heißen  der  letzte  Hohenzoller,  wie  aus 
Vers  49  hervorgeht,  sondern  der  letzte  Protestant. 
Denn  das  durch  das  verruchte  Weib  in  die  Familie 
getragene  und  elf  Generationen  fortwirkende  Gift, 
ist  ja  der  Protestantismus.  Daß  die  Hohenzollern 
noch  heute  Protestanten  sind,  ist  hinlänglich  bekannt. 
Trotzdem  stimmt  die  Prophezeiung  wunderbar  in 
anderer  Beziehung,  da  Friedrich  Wilhelm  der  letzte 
absolute  Beherrscher  Preußens  war.  Wer  aber  das 
wichtigste  Ereignis  in  der  Regierungszeit  dieses  hoch* 
begabten  Monarchen  angeben  wollte,  würde  die  Re^ 
volution  des  Jahres  1848  nennen  müssen  mit  ihren  kon* 
stitutionellen  Folgen.  Und  mit  diesem  Ereignis  sind 
tatsächlich  die  beiden  einzigen  Verse,  die  von  diesem 
König  handeln,  Vers  93  und  94,  ausgefüllt.  i- 

Und  wer  wird  endlich  die  verblüffende  Wahr* 
heit  des  95.  Verses  leugnen  wollen?  Hier  ist  ja  mit 
klaren  und  deutlichen  Worten,  ohne  jede  symboli* 
sierende  Einkleidung,  die  Neuerrichtung  des  deutschen 
Reiches  unter  Wilhelm  I.  vorhergesagt.  Diesen  Vers 
hatte  übrigens  bereits  Scyler  in  seiner  im  Jahre  1741  zu 
Frankfurt  und  Leipzig  erschienenen  Schrift:   „Weitere 


189 


Austührun«;  derer  ohnlängst  bekannt  gewordenen, 
und  jetzo  in  einem  Zusammenhang  gebrachten,  auf 
das  allerdurchlauchtigste  Königliche  I  laus  Preußen  und 
dessen  noch  bevorstehende  glückliche  Fata,  abzielender, 
nachdenklichen,  wundersamen  und  in  gegenwärtigen 
Zeiten  eingeschlagenen  Weissagungen  usw."  richtig 
interpretiert.  Allerdings  glaubte  er  —  was  er  ja  nach 
der  damaligen  politischen  Konstellation  auch  glauben 
mußte  —  ein  König  von  Preußen  würde  zum  römischen 
Kaiser  erwählt  werden. 

Sind  wir  also  auch  der  Ansicht,  daß  es  sich  in 
diesem  Vaticinium  um  eine  Weissagung  handelt,  deren 
Inhalt  in  einer  stattlichen  Reihe  von  Punkten  in  Er^« 
Füllung  gegangen  ist,  so  ist  damit  allerdings  noch 
nichts  über  die  Gründe  dafür  gesagt.  Mancher,  der 
unserer  Ansicht  in  materieller  Beziehung  beipflichten 
wird,  mag  den  Zufall  als  Erklärungsgrund  zur  Hilfe 
nehmen.  Wir  sind  nicht  in  der  Lage  diesen  Skeptiker 
zu  widerlegen.  Aber  wir  halten  es  für  höchst  un^ 
wahrscheinlich,  daß  eine  so  lange  und  komplizierte 
Reihe  von  Vorhersagen  durch  weiter  nichts  als  den 
Zufall  in  Erfüllung  gegangen  sein  soll. 

Doch  wollen  wir  vorläufig  das  Urteil  hierüber 
noch  dem  Leser  überlassen. 

Fahren  wir  in  unserem  Beweise  fort.  Wir  gingen 
von  einzelnen  Prophezeiungen,  bei  denen  Zufall  oder 
Berechnung  eine  mehr  oder  minder  große,  bisw^eilen 
ausschlaggebende  Rolle  spielen  können,  aus,  um  im 
Vaticinium  lehniense  eine  ganze  Reihe  von  Vorher* 
sagen  derselben  Person,  anzuführen,  und  finden, 
daß  die  große  Mehrzahl  der  Vorhersagen  in  Erfüllung 
ging.     Allerdings  haben  wir  es  hier  mit  Versen,  also 


190 

mit  stilisierten  Visionen  zu  tun,  was  in  mancher  Hin^ 
sieht  freilich  ihre  Realisierung  desto  erstaunlicher  macht. 
Gegen  das  Vaticinium  lehniense  kann  der  Ein* 
wand  erhoben  werden,  man  kenne  noch  nicht  ein* 
mal  den  Verfasser  —  wiewohl  das  sachlich  ja  gar 
nichts  ändert  —  auch  die  Interpretationen  stammten 
nicht  vom  Seher  selbst,  sondern  zum  Teil  von  uns. 
Deshalb  wollen  wir  im  folgenden  das  Rohmaterial 
einiger  Personen  anführen,  deren  historische  Person* 
lichkeit  völlig  einwandfrei  identifizierbar  ist  und  die 
womöglich  selbst  ihre  Visionen  deuteten. 


191 


Fünftes  Kapitel 

Christina  Ponitowssken 

Unter  den  außerordentlich  zahlreichen  vermeintes 
I  liehen  und  wirklichen  Sehern  des  17.  Jahrhunderts 
verdient  die  Jungfrau  Christina  Ponitowssken  schon 
deshalb  Beachtung,  weil  es  gar  keinem  Zweifel  untere 
liegen  kann,  daß  sie  von  der  Göttlichkeit  ihrer  Mission 
und  dem  hohen  Wert  ihrer  Visionen  überzeugt  war. 
Was  letzteres  betrifft,  so  sind  wir  darüber  allerdings 
anderer  Ansicht  und  neben  Bewunderern  hat  es  auch 
unter  ihren  Zeitgenossen  nicht  an  solchen  gefehlt, 
die  ihnen  allen  Wert  absprachen^). 

Tatsächlich  handelt  es  sich  auch  in  der  Regel 
um  recht  allgemeine,  phantastisch  verbrämte,  biblische 
Redensarten  und  Ermahnungen,  deren  Unterlassung 
die  Welt  nicht  aus  ihren  Gleisen  geworfen  hätte. 

Als  Beispiel  für  die  Art  der  Visionen,  aber  auch 
um  ihres  Inhaltes  willen,  den  man  immerhin  auf  die 
Schwedenkriege  beziehen  kann,  sei  nachstehend  eine 
Vision  vom  13.  Januar  1628  mitgeteilt. 

^)  Gottfried  Arnold  nennt  in  seiner  „Kirchen*  und  Ketzer^ 
Historie",  3.  Teil,  Frankfurt  a.  M.  1700,  S.  216,  §  16,  Überzeugte 
und  Zweifler.  Übrigens  heißt  die  Ponitowssken  bei  ihm  fälsch« 
lieh  Poniatovia  oder  Poniatowizsch. 


192 

Es  sei  vorausgeschickt,  daß  Christina  die  Tochter 
eines  böhmischen  GeistUchen  war,  etwa  sechzehnjährig 
in  eine  schwere  Krankkeit  verfiel  und  von  da  ab 
zahlreiche  Visionen  hatte,  die  im  Jahre  1629  im  Druck 
erschienen.  Die  erste  auf  die  hin  sie  dann  krank  wurde, 
trat  am  2.  November  1627  ein.  Sie  sah  eine  blutige 
Rute  am  Himmel,  deren  Stil  gegen  Mitternacht,  deren 
Spitzen  aber  gegen  Mittag  gekehrt  war.  Daß  nach 
dem  Einfall  Gustav  Adolfs  diese  Vision  als  Vor^ 
anzeige  des  Schwedenkrieges,  der  ja  wenige  Jahre 
später  ausbrach,  gedeutet  wurde,  ist  nahe  liegend. 
Die  Vision  vom  13.  Januar  lautet^): 
„Donnerstags   hatte   ich   um  2  Uhr  nach  Mittage 

I 

*)  Zitiert  nach  „Göttliches  Wunderbuch,  darinnen  aufF* 
gezeichnet  und  geschrieben  stehen,  1.  Himlische  OfFenbahrungen 
und  Gesichte,  einer  gottfürchtigen  Jungfrawen  auss  Böhmen, 
vom  Zustand  der  Christlichen  Kirchen,  deren  Erlösung,  und 
schrecklichen  Untergang  ihrer  Feinde  usw."  (Stettin)  1629.  Der 
Sammelband  Nr.  5502,  Weissagungen  2  der  kgl.  Bibliothek  in 
Berlin  enthält  noch  eine  große  Zahl  von  Prophezeiungen  von 
1613-1689. 

Vom  rationalistischen  Standpunkte  aus  behandelt  Adelung 
in  seiner  anonym  erschienenen  „Geschichte  der  menschlichen 
Narrheit",  Leipzig  1785  noch  eine  Reihe  von  Sehern,  die  er  als 
Schwindler  oder  Narren  hinstellt,  darunter  auch  VI.  Bd.,  S.  267 ff. 
die  Poniatowssken,  von  ihm  Poniatowa  genannt.  Er  stützt  sich 
auf  Comenius,  der  an  sie  glaubt,  als  Zeugen  und  Gewährsmann 
ohne  das  Original  der  Visionen  von   1629  zu  kennen. 

Außer  den  vielen  Sehern  bei  Arnold  und  im  obigen  Sammel* 
bände  behandelt  Adelung  unter  anderen  noch  aus  dem  16.  Jahr^ 
hundert  Elisabeth  Barton,  I.  Bd.,  S.  301,  Johannes  Carlo.  111.  Bd., 
S.  118ff..  und  Lucas  Gauricus,  11.,  S.  261  ff.,  die  teilweise  viel 
Falsches  prophezeien.  Besonders  viel  Unsinn  produzierte  Chri< 
stoph  Kotier,  eh.  VI.,  S.  231  ff.  Ein  interessanter  Seher  des  be« 
ginnenden   18.  Jahrhunderts  ist  Durand  Fagc,  cb.  III.,  S.  93ft. 


193 

folgendes  Gesicht:  Erstlich  kam  zu  mir  der  HERR, 
in  schöner  Gestalt,  both  mir  die  Handt,  und  sprach: 
Mein  Segen  sey  mit  dir  jmmer  und  zu  ewigen  Zeiten. 
Weiter  sprach  er:  Komm  mit  mir:  Und  ich  ging  mit 
ihm,  gleich  als  in  einen  schönen  Garten,  da  kam  zu 
uns  der  Alte^),  grüßte  mich  mit  Handgebung,  giengen 
also  spatzieren,  der  HErr  mir  zur  Rechten,  der  Alte 
zur  Linken,  ich  aber  in  der  Mitten,  von  ihren  beyden 
Händen  geführet:  Da  klagte  ich  dem  Alten  mein 
Elend,  daß  ich  nun  gantzer  8  Tage  meine  Ohren  ver* 
stopfft,  und  meine  Zunge  gebunden  hette  gehabt, 
unnd  bähte,  daß  er  mir  meine  Ohren  öffnen,  unnd 
meine  Zunge  wieder  lösen  wolte,  weil  der  HErr, 
solches  zu  thun,  sich  geweigert,  und  gesaget,  Er  der 
Alte,  hette  eben  die  Gewalt  als  er,  weil  sie  gleich 
an  Macht  und  Ehren:  Darauff  sprach  der  Alte:  Wie 
bistu  doch  so  ungeduldig,  unnd  warumb  klagest  du 
also?  Ich  antwortet:  Darumb  O  HErr  ist  mein  Herz 
betrübet  gewesen,  weil  ich  gedachte,  das  were  eine 
Straffe  und  Züchtigung  von  dir,  und  eine  Anzeigung 
deines  Zorns  gegen  mir,  wie  ich  denn  weiß,  daß  ich 
nicht  allein  zeitliche,  sondern  auch  wol  ewige  Straffe 
verdienet:  Er  sprach  abermal:  Worbey  merckestu, 
daß  das  ein  Zornzeichen  sey,  an  deiner  Zunge  und 
an  deinen  Ohren  ^)?" 

Überspringen  wir  die  Wechselreden,  um  zum 
tatsächlichen  Inhalt  der  Vision  zu  kommen:  „Mit  den 
Worten    ergriff  er   mich    bey  der   lincken,    und    der 


^)  Erschien  ihr  öfter. 

')  Die  Seherin  hatte  eine  Zeit  lang  Gehör  und  Sprache 
verloren.  Die  höchst  uninteressante  Unterredung  geht  noch 
eine  Zeit  lang  so  fort. 

Kemmerich,  Prophezeiungen  13 


194 

HERR  bey  der  rechten  Hand,  und  führeten  mich  an 
einen  Ort  des  Gartens,  und  als  bald  kam  gelauffen 
ein  großer  Low,  und  von  der  andern  Seithen  her  ein 
anderer,  auch  sehr  groß,  daß  ich  mich  sehr  fürchte: 
Unnd  einer  war  roth  der  ander  blaw,  und  ein  jeder 
hatte  ein  sehr  großes  Schwerdt  in  den  fördern  fußen, 
auff  den  hindern  aber  stunden  sie,  und  hatten  auch 
sehr  lange  scharffe  und  spitzige  Klawen.  Siehe  für 
dich  sprach  der  Alte;  und  siehe,  da  kam  ein  überauss 
großes  weißes  Pferdt,  auch  auff  zweyen  Füßen  her 
getretten,  unnd  hatte  zween  große  Köpffe,  in  den 
fördern  Füßen  aber  hilt  es  eine  eisserne  glüende 
Kugel,  das  gieng  und  tratt  starck  unter  sich,  daß  der 
Erdbodem  erschütterte,  als  es  aber  zu  den  Löwen 
nahete,  gieng  es  langsam  und  mählich,  gleich  als 
wenn  es  sich  für  jnen  fürchtete,  die  Löwen  aber 
stunden  muthig  gegen  einander,  und  sahen  das  Pferd 
an,  neigeten  auch  bissweilen  die  Köpffe  zusammen, 
als  wenn  sie  heimlich  mit  einander  redeten,  unnd 
gaben  doch  gute  Achtung  auff  das  Pferdt:  Als  nun 
das  Pferdt  hart  an  sie  kam,  warff  es  die  Kugel  unter 
sie  hin,  gleichsam  in  Hoffnung,  wann  sie  sich  mit 
einander  darumb  rauffen  würden,  es  unter  dessen 
ungehindert  davon  kommen  köndte:  aber  die  Löwen 
ließen  die  Kugel  ligen,  setzen  an  das  Pferdt,  rießen 
ihm  beyde  Köpffe  herunter,  zermalmeten  es  auch  in 
kleine  Stücklein,  redeten  abermahls  was  mit  einander, 
unnd  stießen  die  Kugel  von  sich:  Unnd  der  Alte 
sprach:  Siehe  ferner,  und  mercke  auff:  Und  als  bald 
sähe  ich  einen  Baum,  der  war  hoch  und  breit,  stunde 
mitten  unter  den  Löwen,  und  bedecket  sie  mit  seinen 
Asten,   weil    er    so    groß  war:     Und    sihe,    auft  dem 


195 


Wipffcl  desselben  Baums  sähe  ich  ein  Adler  sitzen, 
der  war  sehr  groß,  und  hatte  2.  Köpfte,  4.  Füße, 
4.  Flügel,  2.  Schwäntze,  und  ich  hörete  daß  der  Adler 
ein  groß  Geschrey  führete,  davon  ich  aber  nichts 
verstund,  sondern  fragte  den  Alten,  warumb,  und 
was  doch  der  Vogel  also  schrie?  Der  Alte  sprach: 
Dieser  Vogel  ruff^et  also:  Sihe,  ich  sitze  hoch,  und 
bin  erhöhet  über  alle,  darumb  wer  ist  so  keckes 
Hertzens,  das  er  kerne,  und  mich  von  meinem  Ort 
vertreibe?  Niemand  ist,  es  wird  auch  niemand  seyn. 
Als  er  aber  ausgeredt,  tratten  die  Löwen  zu  dem 
Baum,  machten  sich  dran,  rüttelten  ihn  mit  solcher 
Gewalt,  daß  der  Vogel  herunter  fiel,  unnd  von  den 
Löwen  zerrissen  unnd  verzehret  wurde,  eben  wie  das 
Pferdt.  Abermahl  sprach  der  Alte:  Komm  noch 
weiter  mit  mir,  unnd  sie  beyde  brachten  mich  zu 
einem  großem  Wasser,  darbey  abermahl  ein  uberauss 
großer  Baum  stund,  der  sich  sehr  aussbreitet:  Der 
Alte  sprach:  Merck  auff:  Unnd  siehe,  die  Löwen 
kamen  wieder,  hieben  und  hackten  in  den  Baum, 
zerbrachen  und  zerspelten  ihn  mit  großem  Krachen, 
kratzen  auch  die  Wurzeln  mit  den  Klauen  auss  der 
Erden,  worffen  das  alles  ins  Wasser,  und  verscharreten 
die  Löcher,  da  die  Wurtzeln  gestanden,  unnd  ver*» 
tratens  wieder  fein  glatt,  daß  kein  Anzeigung,  wo 
der  Baum  gestanden,  überbliebe.  Der  Alte  sprach 
weiter:  Komm,  jetzt  soltu  das  Ende  sehen:  Und  ich 
gieng,  und  sähe  ein  trefflich  schön  unnd  wolgebawtes 
Hauss,  von  lauter  Werckstücken  erbawet,  und  volles 
Glantzes:  Da  fragte  ich  den  Alten,  was  das  für  ein 
schön  unnd  wol  gebawtes  Hauss  were?  Er  ant* 
wortet:    Diss    Hauss    ist    das  Widerspenstige,    stach* 

13* 


196 

lichte  unnd  verstockte  Hauss,  von  außen  scheinet 
unnd  glentzet  es  zwar,  aber  innwendig  ist  es  voll 
Unreinigkeit,  Grewel,  Boßheit,  unnd  aller  Gott* 
losigkeit.  Ist  das  große  Babel,  dessen  Fall  nun 
vorhanden:  Dann  es  ist  gar  unmüglich,  daß 
es  lenger  solte  stehen  bleiben,  darumb,  daß 
seine  Sünde  unnd  Missethat  nunmehr  biss  an 
den  Himmel  reichen:  Derohalben  mercke  fleißig 
draufif,  was  geschehen  wird.  Bald  kamen  die  vorigen 
zween  Löwen,  unnd  neben  ihnen  noch  einer  schnee* 
weiß:  Diese  alle  drey  fielen  das  Hauss  an,  brachen 
einen  Stein  nach  dem  andern  herauss,  (der  weiße 
Low  thet  allhier  das  beste)  biss  das  Hauss  also  unter* 
graben  wurde,  daß  es  über  einen  Hauffen  fiel,  unnd 
ward  zu  malmet  wie  Sandt.  Und  die  drey  Löwen 
spatzierten  auff  dem  Sande  hin  und  her,  und  schryen 
über  laut:  Babel  ist  gefallen,  Babel  ist  gefallen: 
Das  große  Hauss  ist  gefallen:  Siehe,  das 
prächtige  hochmütige  Hauss  ist  gefallen,  und 
soll  nicht  wieder  erbawet  werden.  Es  ist  voll* 
kömlich  das  Hauss,  so  voller  Grewel  und 
Hurerey  war,  umbgekehret:  Doch  nicht  durch 
unsere  Macht,  sondern  durch  Krafft  des 
starcken  Löwens  von  dem  Stamm  Juda^).  Mit 
den  Worten  giengen  die  Löwen  von  einander,  und 
der  Dritte  kam  mir  auch  auss  dem  Gesichte:  Unnd 
bald  hernach  erhub  sich  ein  starcker  Wind,  unnd 
zerstrewet  den  Sand  so  gar,  daß  nichts  davon  über* 
bUeb.  Der  Alte  aber  sprach:  Hastu  gesehen,  was  da 
geschehen  ist?    Ich    sagte:    Ja  Herr:    Ich    bitte    aber, 


*)  Was  hier  gesperrt  wurde,  ist  es  auch  im  Original. 


197 


unterrichte  mich,  was  durch  das  Pferd,  den  Adler, 
den  Baum  unnd  das  Hauss  verstanden  werde?  Er 
sprach:  Durch  diss  alles,  soltu  nichts  anderes  ver* 
stehen,  als  das  große  F.  unnd  P.  unnd  den  gantzen 
Antichristischen  Anhang,  welches  alles  in  kurtzer 
Zeit  über  die  massen  schnell  verderbet,  unnd  auss* 
gerottet  werden  wird.  Die  Löwen  aber  sind  V.  T.  T, 
Seh.  D.  St.  E.  F.  U.  S.  W.  durch  diese  wird  Babylon, 
Antichrist,  und  das  gantze  Reich  des  Teuffels  er* 
stritten,  niedergerissen  unnd  zerstöret,  wie  du  selbst 
gesehen,  daß  sie  diss  alles  so  grawsam  weg  gereumbt, 
zu  mahl  das  große  Hauss:  Welches  alles  zwar,  sie 
nicht  hetten  können  einreißen,  sondern  der  dritte 
Löwe  auss  dem  Stamm  Juda  muste  kommen:  Wie 
ernstlich  er  ihnen  geholffen,  hastu  wol  gesehen;  Der 
wird  ihre  Krafft  und  Stärcke  seyn,  daß  sie  in  seiner 
Krafft  werden  siegen  können  .  .  .'* 

Wer  diesen  Bericht  liest,  wird  nicht  zögern  alles 
für  einen  Fiebertraum  oder,  noch  einfacher,  für  Blöd* 
sinn  zu  erklären.  Nun  werden  wir  aber  noch  im 
weiteren  Verlaufe  dieser  Untersuchung  wiederholt  die 
Beobachtung  machen,  daß  sich  Visionen  in  symbolische 
Gestalt  hüllen,  und  zwar  Visionen,  deren  Richtigkeit 
durch  den  folgenden  Gang  der  Ereignisse  zweifellos 
bewiesen  wird.  Meistens  wird  auch  das  symbolische 
Bild  sofort  vom  Seher  selbst  richtig  gedeutet. 

Wenn  uns  also  auch  der  Bericht  höchst  be* 
fremdlich  anmutet,  so  ist  das  noch  durchaus  kein 
zureichender  Grund,  um  ihn  als  Hirngespinst  oder 
völlig  wertlos  zu  verwerfen.  Wir  werden  überhaupt 
sehr  gut  daran  tun  in  unserem  Urteil  uns  einer  weit* 
gehenden    Zurückhaltung    zu    befleißigen.     Denn   da 


198 

es  sich  hier  um  Dinge  handelt,  die  noch  so  gut  wie 
gamicht  untersucht  sind,  gibt  uns  keine  genaue  Kennt:* 
nis  des  Sachverhaltes  das  Recht  gewisse  Forderungen 
aufzustellen,  also  etwa  zu  verlangen,  daß  es  sich 
nicht  um  symbolische  Visionen,  sondern  ausschließlich 
um  klare  und  greifbare  Bilder  handelt,  etwa  wie  die, 
die  wir  im  Traume  sehen. 

Nun  liegt  es  mir  natürlich  völlig  fern  für  die 
Sehergabe  der  Poniatowssken  Lanzen  zu  brechen.  Was 
ich  ganz  allein  beweisen  will  und  auch  beweisen  ' 
werde,  ist,  daß  es  echte  Prophetie  gibt.  Das  ist  etwas 
ganz  anderes  als  sich  für  die  übersinnliche  Gabe  einer 
bestimmten  Person  zu  erwärmen,  oder  gar  an  irgend 
eine  noch  nicht  eingetroffene  Prophezeiung  zu  glauben. 

Hier  sei  ausschließlich  betont,  daß  das  befremd* 
liehe  Bild,  unter  dem  hier  die  Zukunft  enthüllt 
werden  soll,  nicht  zur  Annahme  zwingt,  als  handle 
es  sich  um  Phantasmagorien  eines  hysterischen  jungen 
Mädchens.      Das  kann  ja  sein,   muß  aber  nicht  sein. 

Wenn  wir  auch  keine  in  Einzelheiten  richtige 
Interprätation  der  merkwürdigen  Vision  geben  wollen 
oder  können,  so  ist  doch  immerhin  die  Deutung  auf 
Gustav  Adolfs  Einfall  in  Deutschland  zulässig.  Was 
die  Buchstaben  zu  bedeuten  haben,  entzieht  sich 
meiner  Kenntnis.  Berücksichtigt  man,  daß  die  Seherin 
Protestantin  ist  und  in  den  politisch  und  konfessionell 
erregten  Zeiten  des  Dreißigjährigen  Krieges  die 
Gegner  jeder  im  andern  den  Antichrist  verabscheute, 
dann  wird  der  Ton  so  wenig  wunder  nehmen,  wie 
der  Vergleich  der  katholischen  Gegner  bzw.  des 
österreichischen  Kaiserhauses  mit  Babel,  des  Schweden* 
königs  aber  mit  dem  Löwen  aus  Juda. 


199 


Doch  mag  dem  sein,  wie  ihm  wolle.  So  viel  ist 
sicher,  daß  die  Jungtrau  von  ihrer  Mission  überzeugt 
war.  Also  um  eine  Schwindlerin  handelt  es  sich 
keinesfalls.  Denn  sonst  wäre  es  völlig  unverständlich, 
daß  sie  sich  den  Gefahren  einer  Reise  zu  Wallenstein 
unterzog,  um  ihm,  dem  damals  Allmächtigen,  sehr 
unangenehme  Dinge  zu  sagen.  Wir  werden  später 
noch  häufig  auf  Ahnliches  stoßen,  daß  nämlich  ein 
Seher,  völlig  überzeugt  von  seiner  göttlichen  Mission, 
ohne  jegliche  Rücksicht  auf  persönliche  Nachteile 
und  Gefahren  den  ihm  seiner  Überzeugung  nach 
erteilten  Auftrag  ausführt. 

Die  Mission  an  Wallenstein  ward  der  Poniato  wssken 
am  25.  Januar  aufgetragen  und  zwar  folgendermaßen: 

„Am  Tag  Pauli  Bekehrung,  hatte  ich  abermahls 
ein  Gesicht.  Es  kam  zu  mir  der  HErr  selbst,  bot 
mir  die  Hand  und  sprach:  Die  Krafft  meiner  Gegen^ 
wart  sey  mit  dir:  Ich  wil,  daß  du  einen  Brieff 
schreibest,  mit  den  Worten,  welche  du  hören  wirst: 
Wann  du  aber  den  wirst  geschrieben  haben,  so  leg 
ihn  zusammen,  versiegle  ihn  mit  drey  Siegeln,  und 
trag  ihn  selbst  hin  nach  Gitzschin,  und  ubergieb  ihn 
dem  rasenden  Hund,  dem  von  Wallenstein,  wirst 
ihn  aber  nicht  zu  Hause  finden,  so  ubergieb  ihn 
seinem  Weibe,  ihr  Selbsten,  und  ich  wil  verschaffen, 
daß  er  dem  Bluthunde  in  seine  eigne  Hände  zu 
kommen  wird.  Denn  so  war  als  ich  lebe,  spricht 
der  HErr,  meine  Seele  haz  keinen  Gefallen  am  Todte 
des  Gottlosen,  unnd  seine  Lust  am  Untergange  der 
Unbußfertigen:  Sondern  das  ist  mein  Wille,  daß 
sich  der  Ruchlose  von  seinem  bösen  Wege  bekehre 
und   lebe.     Darumb   vermahne   ich   diesen   Gottlosen 


200 

Mann  selbst,  und  stelle  ihm  die  große  seiner  Sünden 
vor  Augen  unnd  seine  Tyranney,  damit  er  doch  in 
sich  gehen,  sich  entsetzen,  unnd  erkennen  wolle,  daß 
ich  der  HErr  alle  seine  Wercke  gesehen  habe,  und 
sie  sehr  wol  kenne,  unnd  daß  ich  vergelten  wil, 
einem  jeden  nach  seinen  Wercken,  wie  er  gehandelt 
hat,  wider  umbkehren,  seine  Sünde  für  mich  berewen, 
unnd  sich  also  von  dem  Blut,  welches  er  überflüssig 
vergossen,  reinigen,  so  wil  ich  die  Gnadenthür  noch 
für  ihm  öffnen,  und  seine  Schuldt  von  ihm  nehmen, 
wie  groß  die  auch  sey.  Wird  er  sich  aber  nicht  be* 
dencken,  sondern  meine  Warnung  für  Schimpff  und 
Schertz  halten,  und  sich  hinfort  nicht  bekehren,  siehe, 
so  wil  ich  auch  mein  Hertz  wieder  ihn  verkehren 
wie  Eisen  und  Stahl,  und  mein  Schwerdt  wieder  ihn 
wetzen,  und  meinen  Bogen  spannen,  und  zu  seinem 
Hertzen  zielen:  Ich  wil  mir  auch  tödtlichen  Geschoß 
zu  richten,  und  damit  in  sein  Hertz  schießen,  biss  ich 
ihn  umbbracht  unnd  ausgerottet  habe.  Dieses  aber 
soltu  wissen,  daß,  wo  er  nicht  auf  gewiese  Zeit,  die 
ich  ihm  noch  bestimmt,  sich  bekehret,  er  schon  wie 
ein  Kalb  zum  ewigen  Schlachten  übergeben 
sey.  Mein  Aug  sol  sich  nicht  mehr  erbarmen,  es 
sol  sich,  sag  ich,  nicht  erbarmen,  jhn  auch  nicht  mehr 
anschawen.  Du  aber  thu  also,  wie  ich  dir  befehle: 
Künftigen  Freytag  fahre  hin  gen  Gitzschin,  mit  denen 
Personen,  so  ich  darzu  erkohren,  welche  du  zu  Zeugen 
haben  wirst.  Furchte  dich  aber  für  dem  Tyrannen 
nicht,  noch  für  andern,  die  dir  zu  schaden  bekehren 
möchten:  Denn  sihe,  ich  bin  bey  dir:  Wil  auch 
meine  Engel  zum  Schutz  und  Wache  mit  dir  schicken, 
dieselben,  welche  du  offt  sihcst,  und  sie  kennest,  ja 


201 

auch  der  andern  eine  große  Menge,  die  du  noch  nie 
gesehen:  mit  denen  wil  ich  dich,  wie  mit  einer 
fewrigen  Mawer  umbgeben,  und  du  wirst  sie  auch 
mit  deinen  leibHchen  Augen  sehen.  Wenn  du  aber 
hin  kommst,  sorge  nicht,  was  du  reden  solt,  denn  ich 
werde  bey  und  in  dir  seyn,  und  wird  dir,  kein  Mensch 
etwas  thun  können,  darumb,  daß  ich  bey  dir  bin. 
Am  Sambstage  aber,  wirstu  den  Brief  erst  übergeben, 
und  ein  wenig  daselbst  verharren.  Dennn  (sie!)  ich 
wil  dir  erscheinen,  und  die  Hertzen  derer,  so  dich 
sehen  werden,  bewegen  und  erschrecken.** 

Die  Jungfrau  reiste  tatsächlich  nach  Gitschin, 
traf  Wallenstein  nicht  anwesend  und  wurde  nach 
verschiedenen  Schwierigkeiten  von  der  Fürstin  in 
Audienz  empfangen. 

„Als  ich  aber  ein  wenig  da  gesessen,  ward  ich 
entzückt,  und  der  HErr  erscheint  mir  und  sprach: 
Wie  sicher  du  hierher  gekommen  bist,  also  sicher 
wirstu  auch  von  hinnen  kommen.  Sihe  aber,  ich 
werde  mich  allhie  nicht  lange  seumen,  denn  diess 
gottloss  Hauss  ist  meiner  Gegenwart  nicht  werth: 
darumb  so  gehe  auch  du  bald  weg.  Hiermit  bot  er 
mir  die  Hand,  und  schied  von  mir:  Ich  kam  auch  zu 
mir  selbst,  und  sähe  alle  die  Umstehenden,  und  die 
Fürstin  selbst,  erschrocken  und  weinend:  gieng  aber 
bald  von  dannen,  und  vermahnete  die,  so  mit  mir 
wahren,  daß  wir  uns  bald  von  dannen  machten,  wie 
auch  geschehen,  etc.** 

Man  mag  von  dieser  Vision  halten,  was  man 
will  und  wird  sich  gewiß  nicht  darüber  wundern, 
daß  Wallenstein  darüber  spottete,  daß  der  Kaiser 
nur  Briefe   aus   Rom,   Konstantinopel,    Madrid   usw. 


202 

erhielte,  er  selbst  aber  sogar  aus  dem  Himmel^). 
Das  ändert  aber  nichts  an  der  merkwürdigen  Tat* 
Sache,  daß  der  oben  gesperrt  gedruckte  Passus,  der 
Wallensteins  gewaltsamen  Tod  verkündet,  als  einziger 
'auch  im  Original  fett  gedruckt  ist  und  das  fünf  Jahre 
vor  der  Ermordung  des  großen  Feldherrn  in  Eger. 
Mag  sein,  daß  nur  die  ewige  Verdammnis  und  nicht 
der  leibliche  Tod  hier  verkündet  wird.  Daß  die 
Beteiligten  es  anders  auffaßten,  scheint  aus  den 
Tränen  der  Fürstin  mit  Sicherheit  hervorzugehen. 

Wir  führten  diesen  stark  gekürzten  Visionsbericht 
nicht  als  Beweismaterial  für  die  Existenz  echter 
Prophetie  an,  sondern  mehr  als  Beispiel  für  die  ver^^ 
schwommene  Art,  in  der  in  der  Regel  in  der  Ver*» 
gangenheit  geweissagt  wurde.  Aber  auch  zur  Illu«» 
stration  unserer  Behauptung,  daß  auch  den  phantas* 
tischsten  Visionen  ein  wahrer  Kern  inne  wohnen  kann. 

Von  ganz  anderem  Werte  und  ganz  anderer 
Beweiskraft  ist  der  folgende  Visionsbericht,  obgleich 
auch  er  in  symbolischem  Gewände  auftritt. 


0  Vgl.  Arnold,  1.  c.  p.  218. 


203 


Sechstes  Kapitel 

Die  Prophezeiungen  des  Christian 
Heering  aus  Prossen 

Um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  erregte  ein 
^ann  namens  Christian  Heering  in  Prossen  bei 
Königstein  (Sachsen)  durch  seine  Visionen  um  so 
mehr  Aufsehen,  als  sich  bald  herausstellte,  daß  sie 
in  wunderbarer  Weise  eintrafen.  Seinem  Beichtvater 
Johann  Gabriel  Süße,  der  sich  jahrelang  mit  dem 
Phänomen  beschäftigte  und  seine  Erfahrungen  unter 
dem  Titel  ,, Umständliche  Nachricht  von  dem 
sogenannten  Prossner  Manne,  Christian  Hee^ 
rings,  eines  Elb^^Fischers  und  Innwohners  zu  Prossen 
bey  Königstein,  seit  etliche  zwanzig  Jahren  bekannt 
gewordene  Voraussagungen  betreffend*'^)  am  11.  Juli 

*)  Der  Titel  geht  noch  fort:  ,, benebst  einer  Historisch* 
Theologischen  Abhandlung  der  Casual? Frage:  Ob  es  noch  heut 
lu  Tage  neue  Offenbarungen  von  wichtigen  Revolutionen  in 
der  Kirche,  im  Staat,  und  von  besonderen  Schicksalen  einzelner 
Personen  gebe,  und  was  von  selbigen  zu  halten  sey?  Auf  Ver« 
anlassen  des  dieserhalben  längst  begierig  gewesenen  Publici  ent* 
werfen,  und  zusammt  Johannis  Charliers,  sonst  Gerson  genannt, 
Tractat:  von  der  Prüfung  derer  Geister,  allhier  ins  Teutsche 
übersetzt  und  mit  Anmerkungen  erläutert,  dem  Druck  überlassen 


204 

1759  niederschrieb,  im  Jahre  1772  aber  in  Dresden 
und  Leipzig  erscheinen  ließ,  haben  wir  die  zuverläs^ 
sigen  Nachrichten  über  den  merkwürdigen  Mann  zu 
danken. 

Betrachten  wir  zunächst  an  Hand  des  Buches 
(S.  8—15)  die  Persönlichkeit  des  Sehers.  Er  war  aus 
Postelwitz  bei  Schandau  an  der  Elbe  unweit  der 
Böhmischen  Grenze  am  Rande  der  sogenannten  Säch* 
sischen  Schweiz,  um  1710  geboren  als  Sohn  eines 
Fischers,  der  gleichfalls  die  Gabe  des  Hellsehens  be^ 
saß.  Von  Jugend  auf  wurde  er  von  seinem  Vater 
auf  der  Elbe  zur  Ausübung  des  Fischergewerbes  an:« 
gehalten  und  blieb  in  Postelwitz,  wo  er  von  seinem 
Vater  ein  Haus  und  Garten  erbte,  bis  zum  Jahre  1746. 
Nun  übersiedelte  er  nach  Prossen,  da  seine  Frau  von 
ihrem  Vater  Hanns  Schmidt,  einem  Häußler  und 
Schiffer,  dort  ein  Haus  mit  Garten  geerbt  hatte. 
Durch  diesen  Wohnungswechsel  kam  Heering  als 
Beichtkind  in  die  Obhut  des  Diakonen  Johann  Gabriel 
Süße,  unseres  Gewährsmannes. 

Dieser  stellt  der  religiösen  und  sittlichen  Füh* 
rung  seines  Beichtkindes,  das  er  13  Jahre  unter 
Augen  hatte,  bevor  er  die  „Umständliche  Nachricht" 
schrieb,  diese  aber  wiederum  12  Jahre  zurückhielt, 
um    die    Wahrheit    der    Prophezeiungen    prüfen    zu 


von  M.  Johann  Gabriel  Süßen,  Pfarrern  zu  Königstein,  und  der 
Societät  Christi.  Liebe  und  derWissenschaften  zu  Dresden  Mitglied." 
Der  Bericht  von  1759  wurde  bis  1771  von  Süße  zurückgehalten, 
um,  wie  er  im  „Vorbericht'*  sagt,  das  Eintreffen  von  weiteren 
Prophezeiungen  abzuwarten.  Der  Bericht  erschien  unverändert 
in  der  Fassung  von  1759,  nur  in  einigen  Anmerkungen  nimmt 
der  Verfasser  auf  Späteres  Bezug. 


I 


205 


können,  mithin  Heering  25  Jahre  kannte,  ein  in  jeder 
Beziehung  glänzendes  Zeugnis  aus.  Er  war  ein  guter 
Hausvater,  der  seine  Kinder  zu  allem  Guten  anleitete, 
ein  fleißiger  Kirchengänger  und  andächtiger  Zuhörer 
der  Predigt  usw.  Seine  Bildung  war  mangelhaft. 
Denn  da  er  schon  als  Kind  dem  Vater  helfen  mußte, 
beschränkten  sich  seine  Schulkenntnisse  auf  fließendes 
Lesen  und  das  Schreiben  seines  Namens. 

„Von  Weltlicher  oder  politischer  Erkäntniss  hat 
der  Fischer  Heering  gar  wenig  erlangen  können,  in# 
dem  ihm  seine  Berufs s=  und  Lebensumstände,  da  er 
seine  Zeit  von  Jugend  auf  Tag  und  Nacht  mehren»» 
teils  auf  dem  Wasser  zugebracht,  auch  sonst  noch 
jetzo  keine  Gesellschaft  liebt,  niemals  zugelassen,  noch 
ihn  auch  sonst  seine  Neigung  dahin  angetrieben, 
weder  Zeitungen,  noch  Geschichtsbücher  zu  lesen, 
oder  Umgang  mit  belesenen  und  cultivirten  Personen 
zu  haben,  von  welchen  er  etwa  von  alten  und  neuen 
Staatssachen  etwas  hören  oder  lernen  möge;  sondern 
in  Betracht  einer  politischen  Einsicht  kann  man  von 
dem  Fischer  Heering  wenig  oder  nichts,  jedoch  sonst 
mit  Wahrheit  dieses  sagen,  daß  er  ein  so  genannter 
guter   einfältiger  Mann   sey." 

Diese  Charakteristik  des  Bildungsgrades  ist  von 
erhöhtem  Interesse  im  Hinblick  auf  den  Inhalt  der 
Visionen.  Wir  machen  sehr  oft  die  Erfahrung,  daß 
die  Seher  den  unteren  Ständen  angehören  und  Visionen 
haben,  deren  Inhalt  ihrem  Interessenkreis  fernliegt. 

In  seinem  Benehmen  zeichnete  er  sich  durch  Ehr* 
erbietung  und  Gehorsam  gegen  Vorgesetzte  und  Ob* 
rigkeit,  durch  Verträglichkeit  gegen  die  Nachbarn  und 
Bescheidenheit  und  Dienstfertigkeit  gegen  jedermann 


206 

aus.  In  seinem  Fischhandel  war  er  sehr  billig,  da 
er  viel  Glück  im  Fang  hatte  und  glaubte,  Gott  ver* 
pflichte  ihn  durch  den  ihm  zugehenden  reichen  Fisch* 
segen  zu  Billigkeit.  Er  hatte  bei  mäßigem  Vermögen 
und  Zufriedenheit  stets  sein  Auskommen  gehabt  und 
auch  alle  seine  Kinder  versorgt.  In  seinen  alten  Tagen 
zog  er  als  Austrägler  mit  seiner  Frau  zu  seiner  alte* 
sten  verheirateten  Tochter,  der  er  sein  Prossener  Haus 
übergab,  übte  aber  —  unter  andächtigem  Gesang  — 
immer  noch  sein  Fischergewerbe  aus.  Wegen  seiner 
redlichen  Führung  verwaltete  er  jahrelang  das  Amt 
eines  Gerichtsschöppen. 

Was  nun  endlich  seine  Konstitution  betrifft,  so 
war  er  bis  zu  seinem  sechzigsten  Lebensjahre  kräftig 
und  gesund,  trotz  der  schwersten  Arbeit,  die  er  von 
Jugend  auf  bei  Hitze  und  Frost  verrichten  mußte. 
Die  einzigen  Spuren  dieser  Tätigkeit  waren  ein  etwas 
gebückter  Gang  und  —  eine  Folge  des  schweren 
Ziehens  —  ein  etwas  verdickter  Hals.  Er  hatte  einen 
Sprachfehler  und  stockte  in  der  Rede. 

Sein  Gesicht  war  aufrichtig,  sein  Wesen  beständig 
freundlich,  sein  Temperament  sanguinisch^cholerisch, 
„und  wenn  auch  etwas  vom  Temperamento  Melan* 
cholico  bey  ihm  influiret,  so  hat  man  doch  zu  keiner 
Zeit  das  geringste  Unordentliche,  oder  etwas  Vitiös«« 
Melancholisches  in  seiner  Gesinnung,  Thun  und 
Lassen  verspüret,  immaßen  er  sonst  auch  bey  der 
Prossner  Gemeinde  nicht  als  ein  Gerichtsschöppe  hätte 
mögen  bestellet  und  gebrauchet  werden  können.  Und 
wie  er  mit  keiner  Melancholie  behaftet  ist,  so  kann 
man  in  seinem  Wandel  weder  ein  herrschendes  Laster 
überhaupt,    noch    insonderheit    einen    Ehrgeiz    oder 


207 

Hochmuth  an  ihm  finden,  indem  er  sich  sowohl  in 
seiner  Kleidung  sparsam  und  gering  hält,  als  auch  in 
seinen  Worten,  Werken,  Thun  und  Lassen,  im  äußer* 
liehen  Bezeigen,  alle  Demuth  und  Niedrigkeit  von 
sich  an  den  Tag  leget,  und  sich  darneben  mit  ge^ 
ringer  Kost  begnüget. 

So  ist  auch  der  Fischer  am  allerwenigsten  ein 
Sonderling,  oder  einer  falsch  eingebildeten  Vorzugs^ 
liehen  Heiligkeit,  eines  schwärmerischen  enthusiastischen 
Unwesens,  noch  irgend  einem  andern  sektirischen 
Wesen  zugetan,  sondern  hält  sich  in  seiner  Evan^* 
gelischen  Bekäntniss  zur  Lauterkeit  in  unserer  Religion, 
und  unter  Göttlichen  Beystande  in  der  Thätigkeit  des 
Glaubens  zu  denen  Schranken,  in  welchen  ein  Christ 
suchen  muß,  sein  Gewissen  allenthalben  zu  bewahren, 
worbey  er  sich  jedoch  unausgesetzt  als  einen  armen 
Sünder  vor  GOtt  demüthig  bekennt." 

Zum  Schluß  ruft  Süße  die  ganze  Gemeinde  und 
alle  die  Heering  kennen,  zum  Zeugen  auf,  daß  er  in 
keiner  Weise  bezüglich  seiner  Personalien  übertrieben 
habe.  Wir  glauben  das  um  so  eher,  als  —  von 
äußeren  Gründen  ganz  abgesehen  —  der  Bericht  das 
Zeugnis  innerer  Wahrheit  an  der  Stirne  trägt. 

Fassen  wir  die  wichtigsten  Momente  aus  der 
Charakteristik  zusammen,  so  steht  fest,  daß  es  sich 
beim  Frossener  nicht  um  einen  überspannten  Schwärmer, 
sondern  um  einen  an  Körper  und  Seele  gesunden, 
in  Arbeit  ergrauten,  ehrlichen,  fleißigen  Bürger  und 
Familienvater  handelt,  dessen  soziales  Niveau  gleich 
dem  seiner  Bildung  tief  liegt  0. 

*)  Ich  lege  Gewicht  auf  die  Feststellung,  daß  Heering  kein 
Hysteriker  war,  wiewohl  das  ja  selbstredend  auch  nur  ein  Name 


208 

Daß  Heering  die  Gabe  der  Prophezeiung  besaß, 
war  bald  im  Volke  bekannt.  Während  man  ihm 
aber  Visionen  andichtete,  die  er  nie  gehabt  hatte,  hat 
sein  Beichtvater  Süße  bereits  seit  dem  Jahre  1756, 
als  die  Weissagungen  ernsten  Inhalt  bekamen  und 
schon  mit  Rücksicht  auf  den  beginnenden  Krieg  be^ 
denklicher  wurden,  den  Mann  gewissenhaft  beobachtet 
und  darüber  einen  Aufsatz  verfaßt,  in  dem  er  Heerings 
Charakteristik  und  Vergangenheit  skizierte.  Und  zwar 
tat  er  das  auf  Veranlassung  des  Prossener  hin,  nicht 
aber  umgekehrt.  Damit  fällt  der  Verdacht,  Süße  habe, 
um  sich  interessant  zu  machen  oder  aus  anderen 
Gründen,  Heering  „entdeckt"  oder  habe  ihm  gar  zu 
kirchlichen  Propagandazwecken  benutzt^). 

Zwar  enthielt  der  erwähnte  Aufsatz,  die  Art,  in 
der  die  Visionen  sich  einstellten,  angegeben,  nichts 
aber  von  deren  Inhalt,  mit  alleiniger  Ausnahme  der 
Voraussage  einer  damals  noch  nicht  existierenden 
hohen  Allianz. 

Dieser    Aufsatz    war    also    lediglich    zu    privaten 

ist,  der  nicht  das  allergeringste  zur  Autklärung  des  Phänomens 
beiträgt,  aus  folgendem  Grunde.  Im  „Türmer"  1910,  S.  842, 
hatte  ich  u.  a.  auch  auf  die  unbedingt  feststehende,  aber  z.  Z. 
noch  unerklärte  Tatsache  der  Stigmatisation  des  heil.  Franz 
von  Assisi  hingewiesen.  Dagegen  erschien  ein  Aufsatz  eines 
Dr.  Karl  Oetker  in  der  Züricher  Zeitschrift  , .Wissen  und  Leben", 
(S.  358—372)  indem  er  (S.  366)  folgende  goldene  Worte  schreibt. 
,,Daß  der  heilige  Franz  von  Assisi  einer  der  interessantesten 
Hysteriker  war,  die  je  gelebt  haben,  das  wul^te  man  längst  .  .  . 
doch  was  ist  da  schliefiiich  Besonderes  daran?  Kiner  muß  doch 
der  größte  sein."     So  erklärt  die  moderne  Wissenschaft II 

*)  „Umständliche  Nachricht",  S.  1  ff .  Auch  ein  Kxemplar  der 
weiter  unten  genannten  ,, Zuverlässigen  Nachricht"  liegt  mir  vor. 


209 


Zwecken  verhilk  worden,  um  nämlich  Süße  als  Grund* 
läge  für  weitere  Forschung  an  Hecring  zu  dienen, 
ferner  um  Freunden,  die  sich  bei  ihm  über  den  merks« 
würdigen  Mann  erkundigten,  Auskunft  erteilen  zu 
können.  Wiewohl  also  die  Absicht  der  Publikation 
nicht  bestand,  hat  ein  Freund  Süßes  eine  Abschrift 
ohne  sein  Wissen  und  Willen  und  ohne  Revision, 
auch  nicht  vollständig,  veröffentlicht,  und  zwar  in 
zwei  einzelnen  halben  Druckbogen.  Dadurch  sah  sich 
Süße  veranlaßt  in  Nr.  XXXVIII  der  „Dresdner 
wöchentlichen  Fragst  und  Anzeigen  des  politischen 
Blats"  vom  Jahre  1757  dagegen  öffentlich  Stellung 
zu  nehmen. 

Die  Verwahrung,  die  für  uns,  wenn  wir  an 
Süßes  Ehrenhaftigkeit  zweifeln  wollten,  doppelt  wert** 
voll  ist,  da  sie  beweist,  wie  frühzeitig  schon  die 
Öffentlichkeit  sich  mit  dem  interessanten  Phänomen 
beschäftigte  und  wie  viele  Jahre  lang  Süße  nachweise 
bar  den  Mann  unter  Augen  hatte,  lautet: 

„Man  siehet  ohne  beniemten  Ort  des  Abdrucks 
im  Druck:  Zuverlässige  Nachricht  derer  außer^ 
ordentlichen  Anzeigen  und  Voraussagungen 
Christian  Heerings,  eines  Fischers  zu  Prossen 
bey  Königstein,  1757')- 

Es  ist  dieses  ein  Aufsatz,  mit  welchem  sich  der 
Verfasser  veranlasset  gesehen,  einestheils  denen,  über 
den  Fischer  Heering  und  seine  neuerliche  Anzeigen, 


')  In  Süßes  Werk  ist  der  Name  Heering  in  der  „Zuver? 
lässigen  Nachricht"  aber  Herig  geschrieben.  Süße  zitiert  hier 
also  unkorrekt.  Zugleich  lehrt  dieses  Beispiel,  wie  lange  man 
die  mittelalterliche  Gleichgültigkeit  gegen  Namensformen  bei* 
behielt. 

Kemmerich,   Prophezeiungen  14 


210 

bisher    rouillirenden     so    mancherley    Andichtungen, 

ungleichen    Beurtheilen,    und    auch    wohl    einem    un* 

billigen  Verspotten,  Einhalt  zu  thun;  anderntheils  ver^ 

schiedenen  Anfragen  in  einer  zuverlässigen  Nachricht 

eine  Idee,  oder  einen  wahren  Begriff  von  dem  Fischer 

Heering   und  seinen  Anzeigen  zu  machen,   wie   auch 

die    Schranken    wohlmeynend    anzuzeigen,    wornach 

von  dergleichen  außerordentlichen  Begebenheiten  und 

Vorfällen,    bewandten    Umständen    nach,    ein    christ* 

billiges  Urtheil  zu  fällen  seyn  möchte. 

Es  ist  indessen    dieser  Aufsatz  weder  von  dem 

Verfasser  selbst,  noch  sonst  mit  seinem  Wissen  und 

Willen,   dem  Druck    überlassen    worden,    da    er,    er# 

wehntermaßen,  solchen  Aufsatz  nur   zu   einer  Privats^ 

nachricht  für  einige  Anfragende,  in  und  außer  seiner 

Kirchfahrt,   entworfen,    und    das    Manuscript    davon, 

oder  eine  Abschrift  desselben,  in  den  Druck  zu  geben 

nie  gesonnen   gewesen.     Daher   auch   dem  Verfasser, 

dem  allerdings  dieser  eigenmächtig,  und  ohne  vorher 

von  ihm  geschehene  Revision  seines  Aufsatzes  unters* 

nommene  Druck,  nicht  anders  als  zuwider  sein  muß, 

keinen  Antheil  an  solchem  sub*  und  obreptitie   zum 

Vorschein  gekommenen  Abdruck  nimmt. 

M.  S." 

Trotz  dieser  Verwahrung  erschien  noch  ein  zwei* 
maliger  Abdruck  der  inkriminierten  Schrift,  d.  h.  der 
vorgenannten  Halbbogen,  in  Sammlungen  von  Prophe* 
zeiungen.  Den  Titel  dieser  Schriften  nennt  Süße 
nicht.  Sie  hätten  ja  auch  schließlich  nur  biblio* 
graphischen  Wert.  EndHch  erschien  ohne  Angabe 
des  Druckortes  und  anonym  im  Jahre  1758  ein 
Schriftchen   mit    dem    Titel   ,, Einige    Prophezeiungen, 


211 


welche  von  einem  Fischer  und  Einwohner  in  einem 
Dorfe  bey  Königstein,  auf  die  Jahre  1759  und  1760 
gestellet  sind".  Da  Süße  auch  dieser  Publikation 
fern  stand,  wir  in  ihnen  also  kein  authentisches 
Dokument  zu  erblicken  haben  —  ein  Exemplar  be^: 
findet  sich  auf  der  kgl.  Bibliothek  in  London  —  ist 
sie  für  uns  ohne  Interesse. 

Süße  konstatiert  sogar  ausdrücklich  (S.  5  f),  daß 
bis  auf  einen  Punkt,  daß  nämlich  die  Türkei  sich 
in  den  Krieg  mischen  würde,  keine  einzige  der  ge* 
nannten  Prophezeiungen  mit  den  authentischen  des 
Fischers  übereinstimme,  daß  ihm  vielmehr  vieles  an:» 
gedichtet  worden  sei,  woran  er  nicht  gedacht  habe, 
und  daß  er  sich  deshalb  ausdrücklich  Süße  und 
anderen  gegenüber  darüber  beklagt  habe. 

Was  nun  zunächst  die  Zahl  der  Prophezeiungen 
betrifft,  so  war  sie  durchaus  nicht  so  groß,  wie  Fern«: 
stehende  meinten  (S.  16).  Sie  traten  schon  in  seiner 
Jugend  auf,  um  sich  später  zu  mehren. 

Gehen  wir  nun  auf  den  Inhalt  der  Visionen  ein! 

Die  erste,  von  der  wir  Kenntnis  haben,  fällt  in 
das  Jahr  1744,  als  Heering  ein  Mann  von  etwa 
34  Jahren  war.     Süße  schreibt  darüber  (S.   16f): 

,,So  begegnete  ihm  im  Jahre  1744  die  Erscheinung, 
als  er  sich  noch  bey  Tage  bey  Postelwitz  zu  Lande, 
am  Ufer  des  Eibstroms,  auf  dem  Wege  nach  Hause 
zu  gehen  befand,  daß  er  eine  Menge  Menschen  und 
den  HErrn  JEsum  sähe,  wie  er  seine  Hand  über  die 
wenige  Ihn  begleitende  Nachfolger  Aufhub,  worbey 
Heering  das  Lied,  weil  die  mehresten  Menschen  den 
breiten  Weg  zur  Verdammnis  giengen,  von  einem 
derer  Nachfolger  JEsu  anstimmen  hörete: 

14* 


212 

Mache  dich  mein  Geist  bereit, 

Wache,  fleh*  und  bete, 

Daß  dich  nicht  die  böse  Zeit 

Unverhofft  betrete  etc. 
Welche  Erscheinung  mir  der  Fischer  zu  wieder^« 
holten    malen    mit    innigster   Gemüthsbewegung    und 
vergossenen  Thränen  erzehlet  hat.** 

Begreiflicher  Weise  können  wir  mit  dieser  Vision 
oder  Halluzination  nicht  das  geringste  anfangen.  Sie 
hat  für  uns  keinen  anderen  Wert  als  den  festzustellen, 
daß  der  sonst  nüchterne  Mann  zeitweilig  religiösen 
Exaltationen  unterworfen  war.  Das  ist  bei  einer  an* 
scheinend  sehr  religiösen  oder  doch  kirchlichen  Natur 
nicht  weiter  verwunderlich. 

Ganz  anders  liegt  der  Fall  bei  der  zweiten  Vision 
des  Jahres  1744.  Wenn  auch  sie  religiösen  Ursprungs 
war,  insofern  ihm  das  fünfte  Kapitel  des  Propheten 
Jeremias,  eine  Klage  über  Unglauben  und  Ruchlosig* 
keit  in  allen  Ständen,  erschien,  so  ist  der  weitere 
Verlauf  doch  von  höchstem  Interesse.  Es  wurde  ihm 
nämlich  „vom  HErrn  gezeigt".  Daß  ein  Held  mit 
seinem  feindlichen  Heer  würde  nach  Sachsen 
kommen,  und  das  Schwerdt  bis  an  das  Hett 
ins  Blut  tauchen,  und  dieser  Held  würde  her* 
nach  zu  Dresden  wie  in  einem  offenen  Garten 
einziehen,  aber  bald  darauf  wieder  zum  Obern 
Thor  hinaus  ziehen." 

Hier  haben  wir  die  erste  kontrollierbare  Prophe* 
zeiung  vor  uns,  interessant  sowohl  durch  ihren  dem 
einfachen  Bildungsgrade  des  Fischers  an  sich  fern* 
liegenden  poHtischen  Inhalt,  als  nicht  minder  durch 
die  begleitenden  Nebenumstände. 


213 


Ilecring  muf^  von  dem  bedeutungsvollen  Inhalt 
der  Vision  aufs  heftigste  berührt  worden  sein,  denn 
er  begab  sich  nach  Dresden,  um  von  ihr  hohen  Orts 
persönlich  Mitteilung  zu  machen.  Er  hielt  sich  in 
der  Landeshauptstadt  mehrere  Wochen  ,,in  einem 
hohen  Hause"  auf  und  ließ  sich  hinsichtlich  seiner 
Aufführung  und  Charakters  prüfen,  auch  ob  er  dem 
Trunk  ergeben  oder  geldgierig  wäre.  Gleichzeitig 
ließ  er  einen  umständlichen  Bericht  von  seiner  Prophes^ 
zeiung  machen  und  war  bemüht,  ihn  dem  König  ein* 
zuhändigen*). 

Aus  der,  wie  gesagt  nicht  authentischen,  „Zuver* 
lässigen  Nachricht**  von  1756  erfahren  wir  Näheres. 
Heering  ,, suchte  seine  damaligen  Voraussagungen 
schriftlich  in  die  Hände  des  Cabinets^Ministri,  Grafen 
von  Brühl  Excellenz  zu  bringen,  er  ließ  auch  eine 
Zeit  hernach,  in  eben  diesem  Jahre,  um  Johannis^Tag, 
einen  Aufsatz  an  Ihro  Majestät  unserm  allergnädigsten 
König  selber  richten,  und  übergab  solchen  Sr.  Hochj* 
würden,  den  Königl.  Beichtvater,  Herrn  P.  Ludovico 
Ligeritz  S.  J.,  welcher  Herigen  zwar  anhörete,  ihm 
aber  antwortete,  weil  er  sein  Glaubens ^^ Genoß  nicht 
sey,  so  könne  er  sich  mit  der  Sache  nichts  zu 
thun  machen,  er  müsse  sich  an  seinen  Beicht *Vater 
wenden. 

Der  Herr  Pater  gab  Herigen  hierauf  etliche 
Groschen  Geld,  welche  Herig  anzunehmen  sich 
weigerte,  und  sagte,  daß  er  Geldes  wegen  zu  Sr.  Hoch* 
würden    nicht    gekommen    wäre,    doch    dabey    durch 

*)  Eine  Anfrage  beim  Staatsarchiv  in  Dresden  führte  zu 
keinem  Resultat.  Danach  scheint  das  Original  des  Berichtes  in 
Verlust  geraten  zu  sein. 


214 


fernere  Verweigerung  dem  Respect  nicht  entgegen 
handeln  wolte." 

Mag  der  Bericht,  dem  wir  diese  Stelle  entnehmen, 
auch  apokryph  sein,  so  haben  wir  doch  um  so  weniger 
Grund  an  der  Wahrheit  zu  zweifeln,  als  Graf  Brühl, 
der  allmächtige  Premierminister,  erst  1763  starb,  und 
man  es  kaum  gewagt  haben  würde,  seinen  Namen 
oder  den  des  Beichtvaters  Ligeritz  zu  mißbrauchen. 
Dasselbe  gilt  von  dem  weiter  unten  genannten  Grafen 
Hennicke.  Die  Vermutung  liegt  nahe,  daß  Süße 
die  Namen  aus  Gründen  der  Diskretion  verschwieg. 
Im  Kern  stimmen  übrigens  die  Berichte  ja  völlig 
überein,  nur  daß  der  anonyme  eine  Ergänzung 
liefert. 

Diese  Prophezeiung  nun  traf  im  vollen 
Umfange  ein!  Als  Heering  die  Vision  hatte,  opes= 
rierten  die  Preußen  noch  in  Schlesien,  niemand  konnte 
etwas  von  ihrem  Übergreifen  auf  Sachsen,  geschweige 
denn  dem  Ausgang  der  Operationen  sagen.  Die 
Schlacht  bei  Kesselsdorf,  in  der  Leopold  von  Dessau 
die  Sachsen  schlug,  fand  ja  erst  am  15.  Dezember 
1745  statt,  Dresden  wurde  besetzt,  doch  schon  am 
25.  Dezember  daselbst  der  Friede  zwischen  Preußen, 
Sachsen  und  Österreich  geschlossen.  Berücksichtigt 
man  noch,  daß  es  Preußen  im  Jahre  1744,  als  Heering 
die  Vision  hatte,  militärisch  sehr  übel  ging,  so  er^ 
scheint  das  Eintreffen  der  Prophezeiung  noch  merk* 
würdiger. 

Das  muß  auch  —  nach  der  ,, Zuverlässigen  Nach* 
rieht*'  —  Graf  von  Hennicke  gefühlt  haben,  denn  er 
ließ  nach  der  Schlacht  bei  Kesselsdorf  den  Fischer 
zu  sich  kommen  ,,und  sich  von  im  mündlich  anzeigen, 


215 


was  Herigcn  fast  2  Jahr  vor  der  Kesselsdorffer  Bataille 
(wie  Herig  zu  reden  pfleget)  vom  HErrn  gezeiget, 
und  anzuzeigen  befohlen  worden,  bey  welchem  Ver* 
hör  aber  Herig,  wie  er  erzehlet,  abermals  wenig 
Glauben  gefunden,  sondern  weil  er  unter  seinen  An^ 
führungen  unter  andern  anzeigete,  daß  er  auch  bey 
dem  ihm  angezeigeten  Sachsenlande  bevorstehenden 
Ungewitter  das  fünfte  Capitel  des  Propheten  Jeremiä 
aufgeschlagen,  wäre  er  von  vorerwehnten  hohen  Mi# 
nister  mit  dem  Bescheide  dimittiret  worden,  daß 
Herig  verschiedenes  aus  der  Bibel  nehme,  und  solches 
auf  künftig  geschehen  sollende  Dinge,  und  auf  sich 
applicire."  Heering  ist  seitdem  viele  Jahre  lang  seiner 
Vorahnungen  wegen  nicht  wieder  nach  Dresden  ge^ 
kommen. 

Die  rationalistische  Erklärung  des  Grafen  Hennicke 
ist  zweifellos  die  nächstliegende.  Wir  würden  sie 
uns  auch  ohne  weiteres  zu  eigen  machen  und  den 
Fischer  als  Eideshelfer  für  die  bei  einigen  Personen 
bestehende  Prophetengabe  nicht  nennen,  wenn  dem 
nicht  die  gewichtigsten  Bedenken  entgegenstehen 
würden. 

Zunächst  ist  es  auffällig,  daß  —  selbst  angenommen, 
er  habe  biblische  Verhältnisse  auf  seine  Zeit  über^ 
tragen  —  diese  Übertragung  durch  die  Tatsachen  be* 
stätigt  wurde.  Denn  statt  von  Sachsen,  Dresden, 
dem  Oberen  Tor  und  der  kurzen  Frist  des  Abzuges, 
hätte  er  auch  von  ganz  anderen  Parteien  und  Lokali:* 
täten  reden  können.  Immerhin  ist  die  Möglichkeit, 
es  handle  sich  hier  lediglich  um  Zufall,  nicht  völlig 
von  der  Hand  zu  weisen.  Stutzig  macht  allerdings 
die    in    den    ,, Zuverlässigen    Nachrichten"  mitgeteilte 


216 

Äußerung  des  Generals  Böse,  Kommandierenden  in 
Dresden,  der  König  Friedrich  antwortete;  „Aus  einem 
Lustgarten  könne  er  sich  nicht  wehren".  Die 
Übereinstimmung  dieser  Worte  bei  Übergabe  der 
Stadt  mit  den  in  der  Vision  gebrauchten,  das  Heer 
würde  in  Dresden  „wie  in  einen  offenen  Garten 
einziehen",  ist  auf  alle  Fälle  erstaunlich. 

Doch  der  Deutung  auf  Zufall  bei  Zugrunde* 
legung  dieses  einzigen  Falles  steht  noch  ein  anderes 
sehr  gewichtiges  Bedenken  entgegen:  Heering  war  es 
unbenommen,  aus  der  Bibel  nach  Herzenslust  zu 
prophezeien.  Warum  tut  er  es  nur  in  diesem 
konkreten  Falle?  Warum  ist  er  vor  allem  so 
sehr  von  der  Richtigkeit  des  Geschauten  über:* 
zeugt,  daß  er  die  langwierige  und  kostspielige 
Reise  nach  Dresden  unternimmt  und  dabei  zum 
mindesten  Gefahr  läuft  als  Phantast  verspottet  zu 
werden? 

Mir  persönlich  scheint  es  sich  hier  tatsächlich 
um  eine  Vision  zu  handeln,  die  Heering  vielleicht 
nachträglich  —  seinem  Bildungsgrade  und  Ideenkreis 
entsprechend  —  biblisch  verbrämte. 

Doch  unterlassen  wir  es,  Erklärungsversuche  zu 
machen,   bevor  die  Tatsachen  einwandfrei  feststehen. 

Die  Vermutung,  daß  es  sich  hier  tatsächlich  um 
eine  Vision  handelt,  wird  zur  Gewißheit  erhoben 
durch  die  nachfolgenden  Prophezeiungen  desselben 
Mannes.  Er  fuhr  nicht  etwa  fort,  Biblisches  auf  seine 
Zeit  zu  übertragen  —  was  bei  dem  Erfolge  der  ersten 
Prophezeiung  das  Nächstliegende  gewesen  wäre  — , 
sondern  er  hat  im  Gegenteil  mehr  als  ein  volles  Jahr* 
zehnt  überhaupt  nichts  mehr  geweissagt. 


217 


Erst  Mitte  März  1756  stellte  sich  die  erste  Vision 
wieder  ein  und  damals  war  es  auch,  daß  er  erstmalig, 
und  zwar  aus  freien  Stücken,  zu  seinem  Beichtvater 
Süße  kam.  Das  zweitemal  suchte  er  Süße  am  Kar* 
Freitag  des  gleichen  Jahres  auf,  zum  drittenmal  aber 
Ende  Juli  1756,  „bey  welchem  seinen  dreymaligen 
Anbringen  er  einmal  wie  das  andremal  mit  innigster 
Gemüthsbewegung,  ja  mit  Jammern  und  mit  Thränen 
anzeigete,  wie  er  sein  mir  bereits  etlichemal  eröffnetes 
Anbringen  nicht  weiter  mehr  zu  verbergen  wüßte, 
er  fände  sich  Tag  und  Nacht  getrieben,  es  dem  Aller*: 
gnädigsten  Landesvater  anzuzeigen.  Das  Unglück 
wäre  nahe  und  nicht  weit  mehr  entfernet.** 

Wiewohl  nun  Süße  fürchtete,  daß  Heering  kein 
Gehör  finden  würde,  da  er,  wie  bei  seinem  Bildungs* 
grade  ja  natürlich,  keinen  ordentlichen  Vortrag  halten 
konnte  und  überdies  mit  einem  Sprachfehler  behaftet 
war,  konnte  er  ihm  doch  das  verlangte  Führungs* 
attest  nicht  vorenthalten.  Es  war  datiert  vom  2.  August 
1756^).  Gleichzeitig  verschaffte  Heering  sich  ein 
Attest  von  seinem  ehemaligen  Beichtvater  M.  Clauß, 
Pfarrer  in  Schandau. 

Ausgestattet  mit  beiden  Dokumenten  ging  er 
gleich  nach  Dresden,  wurde  von  einem  Minister 
gnädig  aufgenommen,  brachte  seine  Prophezeiung  vor 
und  ging  dann  ,, ruhig  und  freudig,  sich  seines  Ans» 
liegens  entledigt  zu  haben**  wieder  heim. 


*)  Abgedruckt  in  „Zuverlässige  Nachricht",  S.  11.  Der 
Zweifler  möge  daraus  ersehen,  daß  wenigstens  die  in  der  ,,üms 
ständlichen  Nachricht"  berichteten  Nebenumstände  richtig  sind. 
Denn  die  ,, Zuverlässige  Nachricht"  erschien  ja  bereits  1756 
im  Druck. 


218 

Auch  der  größte  Skeptiker  wird  zugeben,  daß 
es  sich  hier  nicht  um  einen  Schwindler  handelt, 
sondern  um  einen  Mann,  der  zweifellos  persönlich  von 
der  Wahrheit  und  Wichtigkeit  seiner  Visionen  über* 
zeugt  ist.  Stellt  sich  nun  heraus,  daß  diese  auch 
objektiv  zutreffen  —  und  zwar  nicht  etwa  nur  in 
einem  einzelnen  Fall,  sondern  wiederholt  und  in 
mehreren  Punkten,  so  daß  der  Zufall  auszuscheiden 
scheint  — ,  dann  steht  nichts  im  Wege,  Heering  unter 
die  Zahl  der  mit  Prophetie  ausgestatteten  Personen 
einzureihen. 

Vorausgeschickt  sei,  daß  nach  Süße  (S.  20)  seine 
Visionen  nicht  „Glaubens  —  oder  die  H.  Göttliche 
Offenbarung  der  Bibel  angehende  Sachen,  sondern 
lediglich  Dinge  und  Vorfälle  sind,  welche  die  bevor:* 
stehende  Schicksale  des  Weltlichen  Regiments,  der 
Policey  und  Kirche  vornämlich  anbelangen.**  Das  be# 
stärkt  unsere  Vermutung,  daß  es  sich  nur  um  unbe* 
wußte  religiöse  Einkleidung  handelt. 

Gehen  wir  nun  auf  den  Inhalt  der  Prophe* 
zeiungen  des  Jahres  1756  ein! 

Süße  schreibt  darüber  (S.20f.):  „Der  HErr 
habe  ihn  sehen  lassen, daß  nächstens  ein  großes 
Ungewitter  entstehen  würde,  durch  welches 
unser  Sächsisches  Vaterland  mit  Krieg  über* 
zogen  werde,  und  solches  unsere  hiesige  Elb* 
gegend  zuerst  betreffen  würde.  Hierbey  würde 
es  hart  zugehen;  Und  dieses  Ungewitter  wäre 
sehr  nahe,  so,  daß  Ihro  Königl.  Majestät,  unser 
Allergnädigster  Landesvater,  an  Dero  Reise 
nach  Dero  Königreichen  würden  gehindert 
werden,    Höchst*  Dieselben  würden    nicht   von 


219 


Dero  Volke  gehen').  Es  würde  aber  das  Un* 
gewittcr  mit  seiner  Heftigkeit  in  unserer 
Gegend  nicht  von  langer  Dauer  seyn'"'),  sondern 
es  würde  sich  noch  weiter  ziehen  und  viel  Blut 
vergossen  werden.  Besonders  würde  dieses 
Ungewitter  in  unsserm  Vater  lande  auch  daher 
viel  Elend  nach  sich  ziehen,  weil  die  junge 
Mannschaft  würde  viel  leiden  müssen.  Er  hätte 
auch  Brandstätte  gesehen,  und  er  wäre  sogar 
auf  selbigen  herumgeführet  worden.  So  sei  ihm 
auch  ein  Acker  gezeiget  worden,  welcher  als 
ein  bisher  unfruchtbar  gelegner  Acker  hätte 
müssen  umgerissen  und  von  neuem  geflüget 
und  besäet  werden,  und  dis  darum,  weil  der 
Acker  theils  gar  unfruchtbar  und  verwildert 
gelegen,  theils  Gerste  darauf  gesäet  worden. 
Gerste  bringe  aber  ein  herbes  Brot. 

Ferner  zeigte  der  Fischer  mit  an:  Wie  ihm 

^)  Diese  Prophezeiung  ging  insofern  in  Erfüllung,  als 
Friedrich  August  IL  am  10.  September  ins  Lager  bei  Pirna  ging, 
dann,  als  die  Armee  kapitulierte,  auf  den  Königstein  flüchtete. 
Später  begab  er  sich  allerdings  nach  Warschau  und  kehrte  erst 
nach  dem  Friedensschluß  wieder  nach  Sachsen  zurück.  Daß  die 
junge  Mannschaft  viel  leiden  mußte,  erfüllte  sich  ganz,  denn 
Friedrich  der  Große  stellte  die  gefangenen  Sachsen  in  sein 
eigenes  Heer  ein  und  zwang  sie,  so  gegen  ihr  Vaterland  zu 
fechten. 

-)  Zu  dieser  Stelle  bringt  Süße  die  Anmerkung:  „Die  erste 
Heftigkeit  des  unsere  Gegend  betroffenen  Kriegs  müßten  etwa 
7  bis  8  Wochen  seyn,  da  gleich  zu  Anfang  des  Krieges  1756 
vom  Anfang  des  Septembr.  bis  zur  Mitte  des  Octbr.  die  Preußische 
Armee  einen  Cordon  um  unsere  Eibgegend  des  Sächsischen 
Lagers  gezogen,  und  solche  auf  drey  Meilen  lang  und  zwey 
Meilen  breit  eingeschlossen  hatten." 


220 

auch  zwo  Kirchen  gezeiget  worden  wären,  eine 
in  der  Stadt,  die  andere  außer  der  Stadt,  in 
welchen  man  aber  dem  HErrn  nur  das  halbe 
Herz  gegeben  habe;  der  Herr  hätte  aber  ge^ 
sprechen:  Ich  will  das  ganze  Herz  haben,  das 
ganze  Herz  will  ich  haben,  und  das  will  ich 
mit  dem  Finger  des  Heil.  Geistes  rühren^). 

Noch  ferner  führete  der  Fischer  an:  Daß 
sich  Dresden  ihm  in  den  Prospekt  eines  Gar:» 
tens  gezeiget  hätte,  aus  welchem  Garten  die 
stärksten  Bäume  wären  mit  den  Wurzeln 
herausgerissen,  undvomLande  hinweggeführet 
worden'^).  So  habe  er  auch  gesehen,  daß  der  alte 
Grundstein  wäre  herausgerissen,  und  ein  neuer  gelegt, 
auch  die  Kirche  außer  der  Stadt  geschlossen  worden. 

Der  angegebene  Hauptzweck  von  allen  diesen 
Anzeigen  war  endlich  dieser,  daß  der  Fischer  Heering 
sagte,  daß  ihm  der  Herr  befohlen  hätte,  dem  Aller* 
gnädigsten  Landesvater    es    anzuzeigen,    daß   um 

')  Die  zwei  Kirchen  sind  zweifellos  eine  symbolische  An« 
spielung  auf  die  beiden  Konfessionen,  da  bekanntlich  das 
sächsische  Fürstenhaus  (die  Kirche  in  der  Stadt)  katholisch  war, 
das  Volk  aber  protestantisch.  Die  Vision  fordert  augenscheinlich 
Freiheit  des  Glaubens. 

')  Anm.  S.  22:  ,, Dieser  Bäume  wegen  meynete  man,  als 
der  Fischer  Veranlassung  und  Erlaubnis  bekam,  seine  Anzeigen 
vor  Hohen  Personen  zu  eröffnen,  er  hätte  damit  seine  Rück« 
sieht  auf  die  Worte  der  Johannitischen  Bul^predigt,  Matth.  III,  10. 
Daher  der  Fischer  befraget  wurde,  ob  die  Bäume  abgehauen, 
und  ins  Feuer  geworfen  worden  wären?  Worauf  er  geantwortet: 
Die  Bäume  wären  ausgerissen,  und  vom  Lande  weggeführet 
worden.  Wovon  man  sonst  einen  Farallelausdruck  findet,  1.  Buch 
der  Könige  XIV.  v.  15."  Vielleicht  ist  es  eine  symbolische  An» 
deutung  auf  die  Flucht  der  Vornehmen. 


221 

des  herannahenden  Ungewitters  willen,  möchte 
ernstlich  im  Lande  Buße  geprediget,  und  die 
Verbindung  mit  Süd^Ost  und  Süd^West  möchte 
verlassen  werden,  so  wolle  Gott  dem  Hause 
Sachsen  wohlthun. 

Fragte  ich  den  Fischer  Heering,  woher  dieses 
von  ihm  beniemte  herannahende  Ungewitter  ent* 
stehen  sollte;  so  antwortete  er  mir  folgendergestalt: 
Es  würde  sich  Süd^Ost  und  Süd^West  mit 
einanderwider  Nord^West  verbinden,  Süd^West 
wäre  gedemüthiget  worden,  wie  Vier  Helden 
neben  einander  gegen  Süds=Ost  und  Süd^West 
stünden, welchevierHelden  so  lange  hinter  und 
neben  einander  stehen  würden,  bis  Süds^Ost 
und  Süds^West  von  einander  abließen.  Er  setzte 
hinzu:  Es  wäre  ihm  endlich  gezeiget  worden, 
daß  der  aus  Morgen,  welcher  ihm  mit  dem 
Namen  wäre  genennet  worden,  daß  es  der 
Türke  sey^),  herangezogen  wäre,  worauf  sich 
der  Krieg  seitwärts  gegen  Norden  gezogen 
hätte." 


^)  Anm.  zu  S.  23:  ,,Als  Referent  und  Concipient  dieses 
Vorberichts,  unter  den  4ten  März  1758  aus  einer  ausländischen 
Residenz,  durch  den  Secretair  der  Gemahlin  eines  vornehmen 
Ministers,  vermittelst  eines  Briefes,  sondiret  wurde,  was  denn, 
bey  denen  damaligen  Kriegstroublen,  der  Proßner  Fischer 
(welches  ehrlichen  Mannes  vormals  entdeckte  Gedanken  gar 
nicht  zu  verwerfen  gewesen,  sondern  in  billige  Erwegung  zu 
ziehen  wären)  noch  gegenwärtig  äußere,  und  ich  derhalben  den 
Fischer  auf  sein  Gewissen  fragte,  blieb  er  beharrlich  bey  seinen 
bisherigen  Anzeigen,  und  bat  mit  Thränen,  den  endHchen  ihm 
gezeigten  Heranzug  des  Türken,  besonders  und  ausdrücklich  mit 
zu  melden." 


222 

Auf  diese  ziemlich  unklaren  Äußerungen  hin 
fragte  Süße  sein  Beichtkind,  was  er  denn  unter  den 
Himmelsrichtungen  verstehe.  Er  erfuhr  dabei,  daß 
Heering  die  Potentaten  nach  der  Lage  ihrer  Länder 
bezeichne,  daß  also  Süd* Osten  die  Kaiserin  Maria 
Theresia  sei,  Süd ^^ Westen  aber  König  Ludwig  XV. 
von  Frankreich  und  daß  er  eine  zwischen  beiden 
Mächten  sich  vollziehende  Alliance  vorhersehe.  Das  war 
um  so  merkwürdiger,  als  das  Publikum  —  und  dem* 
nach  auch  der  Fischer  —  von  diesen  hohen  Bündnissen 
nichts  ahnte  und  auch  tatsächlich  ein  Vertrag  zwischen 
Wien  und  Versailles  noch  gar  nicht  geschlossen  war. 

Unter  Nord* Westen  verstand  Heeringen  den 
König  Friedrich  den  Großen  von  Preußen.  Wer  aber 
die  drei  Helden  wären,  „welche  mit  des  Königs  von 
Preußen  Majestät  zusammen  vier  Helden  neben 
einander  stehend,  ausmacheten,  konnte  er  mir  damals 
so  wenig,  als  noch  jetzo  anzeigen.  Es  müßten  also 
vermutlich  die  Preußischen  Alliierten  seyn,  worüber 
sich  aber  Heering,  etwa  wegen  Mangel  der  Erkenntnis 
derer  Geschichte  und  derer  Staaten,  eigentlich  aber, 
wie  er  ausdrücklich  sagt:  weils  ihm  nicht  weiter 
gezeigt  worden  wäre,  nicht  deutlicher  zu  erklären 
wußte').  Der  Fischer  setzte  dieser  seiner  Anzeige 
nur  noch  dieses  hinzu,  die  vier  Helden  wären  jetzo 
noch  nicht  beysammen,  sie  würden  aber  schon  noch 
erscheinen,  und  da  werde  der  Held  aus  Nord*Westen, 
der  König  in  Preußen,  wenn  er  ziemlich  ins  Enge 
getrieben,    und   matt  geworden  sey,    neue  Kräfte  be* 

*)  Es  werden  wohl  außer  Friedrich  dem  Großen,  dessen 
Bruder  Heinrich,  und  der  Herzog  von  Braunschweig  gemeint 
sein.     Vielleiclit  ist  der  vierte  Zar  Peter  III. 


223 


kommen;  diese  Hiltsvölker  des  einen  zu  des  Königs 
in  Preußen  getretenen  Helden,  wären  grün  gekleidet 
gewesen.  Hierauf  wären  die  vier  Helden  standhaft 
bey  einander  gestanden,  und  wären  nicht  gewichen,  bis 
ein  neuer  Grundstein  wäre  geleget  worden^).** 

Süße  ließ  darauf  die  Prophezeiungen  aut  sich 
beruhen  und  ermahnte  den  Fischer  zur  Ruhe,  ja  er 
dachte  gar  nicht  weiter  an  Heering  und  seine  seit 
etwa  dem  15.  März  1756  und  dann  noch  einige  Male 
dem  Geistlichen  erzählten  Visionen.  Da  fand  er  auf 
einmal  in  Nummer  61  der  Erlanger  Zeitung  vom 
22.  Juni  des  Jahres  die  Bekanntgabe  des  ,,Unions? 
Freundschafts  SS  Defensives  Traktats"  zwischen 
Maria  Theresia  und  Ludwig  XV.  Und  zwar 
war  er  am  1.  Mai  1756  zu  Versailles  geschlossen 
worden,  also  tatsächlich  etwa  sieben  Wochen 
später,  als  der  Fischer  die  Vision  gehabt  hatte. 
Die  Erlanger  Zeitung  aber  fing  jetzt  erst  an 
ihre  Stellungnahme  dem  Vertrag  gegenüber 
zu  ändern,  hatte  sie  sich  doch  noch  in  ihrer 
Nummer  51  vom  15.  Mai  des  Jahres  in  dem 
Artikel  ,,von  allgemeinen  Staatshändeln*'  ab^^ 
lehnend  verhalten. 

Damals  hatte  sie  nämlich  (S.  393)  geschrieben, 
man  hätte  verschiedentlich  in  den  Zeitungen  einen, 
rätselhaften  Artikel  gelesen,  nach  dem  zwischen  zwei 
der   vornehmsten    Höfe  wichtige    Verhandlungen    im 


^)  Der  „neue  Grundstein"  ist  zweifellos  der  russische 
Regierungswechsel,  als  auf  den  Freund  Friedrichs,  den  Zaren 
Peter  III.,  die  preußenfeindliche  Katharina  II.  folgte.  Mit  den 
Hilfsvölkern  sind  russische  gemeint.  Heering  verwechselt  über* 
haupt  die  Russen  mit  den  Türken. 


224 

Gange  wären.  Diese  Höfe,  so  sei  leicht  zu  raten, 
sei  der  österreichische  und  französische.  Sie  brachte 
dann  aus  der  Leydener  Zeitung  zwei  Artikel  mit  der 
Mitteilung,  zwischen  Wien  und  Versailles  bestehe 
die  Absicht  ein  Bündnis  zu  schließen,  ja  es  sei  be* 
reits  geschlossen.     Das  war  also  am  15.  Mail 

Daß  vorher  der  Fischer  nicht  die  allergeringste 
Ahnung  von  den  Vorgängen  der  hohen  Politik  haben 
konnte,  liegt  auf  der  Hand.  Aber  selbst  die  Ver* 
mutung,  er  habe  sich  —  was  nach  Lebensstellung  und 
Bildungsgrade  völlig  ausgeschlossen  ist  —  mit  poli* 
tischem  Instinkt  begabt,  zum  Sprachrohr  der  öScnU 
liehen  Meinung  machen  wollen,  schießt  völlig  da*» 
neben. 

Wie  die  öffentliche  Meinung  noch  zwei  Monate 
nach  seiner  Vision  den  Bündnisfall  beurteilte,  geht 
deutlich  aus  der  Erlanger  Zeitung  vom  15.  Mai  hervor. 
Sie  fährt  fort:  „Diesen  beyden  Artickeln  öffentlich 
zu  widersprechen,  sehn  wir  uns  sowohl  aus  natürlichem 
Trieb,  als  Pflicht  halber,  verbunden. 

....  Wie  gesagt,  es  streiten  diese  Gerüchte  so* 
wohl  wider  die  Vernunft  als  die  Erfahrung.  .  . 

Es  ist  offenbar,  daß  dergleichen  wunderliche 
Gerüchte  bloß  von  ga\U  und  milz*  und  hirnsüch* 
tigen  Gemüthern,  die  ihren  Mäusekoth  auch  gern 
für  politischen  Pfeffer  verkaufen  wollen,  herrühren, 
und  ob  sie  wohl  nicht  ungeahndet  bleiben  werden, 
dennoch  nicht  die  geringste  Attention  des  Publici 
verdienen.'*  Auf  S.  481  der  Nr.  61  revoziert  die 
Zeitung  natürlich  alles.  Das  war  also  schon  damals  sol 
j  Daraus  geht  zur  Evidenz  hervor,  daß  wir 
jes     bei      der     Vorhersehung     des     Bündnisses 


225 


zwischen  Österreich  und  Frankreich  mit  einer 
richtigen  Prophezeiung  zu  tun  haben.  Denn  1. 
lag  das  Geschaute  völHg  außerhalb  des  Interessen* 
oder  Wissensbereichs  des  Fischers.  2.  Wußte  er  von 
dem  Vertrage  schon  geraume  Zeit,  bevor  er  überhaupt 
abgeschlossen  war.  Ja,  noch  nach  seiner  Unteres 
Zeichnung  hielt  die  öffentliche  Meinung  ihn  für  eine 
Unmöglichkeit.  Damit  fällt  aber  die  Vermutung, 
Heering  habe  kombiniert,  in  sich  zusammen.  Wie 
bei  der  Voransage  des  Jahres  1744  handelt  es  sich 
also  auch  hier  um  eine  richtige  Vision. 

Das  war  auch  Süße  sofort  klar  und  gerade  dem  Um* 
Stande,  daß  sich  unter  seinen  Augen  ein  solches  auffallen* 
des  Phänomen  abgespielt  hatte,  ist  es  zuzuschreiben,  daß 
er  Heering  hinfort  erhöhte  Aufmerksamkeit  schenkte. 

Merkwürdig  ist  übrigens,  daß  nicht  nur  Heering 
sich  bei  der  Prophezeiung  des  Bildes  eines  Unwetters 
bediente  bzw.  daß  ein  solches  ihm  erschien,  sondern 
daß  auch  die  Erlanger  Zeitung  in  ihrer  Nummer  75 
vom  10.  August  1756  (S.  393)  -  wie  Süße  feststellt  - 
die  gleiche  Metapher  gebraucht. 

Nachdem  sie  von  den  täglich  bedenklicher 
werdenden  Zeichen  der  Zeit  gesprochen,  fährt  sie 
fort:  ,,.  .  .  Alles,  was  uns  zu  sagen  erlaubt  seyn  mag, 
besteht  [darinnen,  daß,  wenn  bey  schwülen  Tagen 
heftige  trübe  Wolken  aufsteigen,  und  selbige  sich 
thürmen,  anzünden  und  zusammenstoßen,  gemeinig* 
lieh  Blitz,  Donner,  Hagel  und  andere  schwere  Wetter* 
schaden  darauf  zu  folgen  pflegen.  .  .  Wolken  ziehen 
auf  (geharnischte  Wolken),  das  sehen  wir  vor  Augen. 
Ob  sie  sich  aber  thürmen,  zusammenstoßen,  blitzen 
und  donnern  werden,  steht  zu  erwarten." 

Kemmcrich,   Prophezeiungen  15 


226 

Süße  macht  dazu  die  Anmerkung  (S.  29),  daß 
das  Zusammenstoßen,  Blitzen  und  Donnern,  das  der 
Zeitung  im  August  noch  ungewiß  erschienen  war, 
bereits  im  Oktober  des  gleichen  Jahres  1756  eintraf. 
Denn  am  1.  Oktober  hörte  man  in  der  Prossner 
Gegend  den  Schlachtendonner  von  Lobositz  und  als 
am  12.  Oktober  das  Lager  der  Sachsen  aufbrach, 
ging  es  auch  nicht  ohne  Blitzen  und  Donnern  ab. 
Tatsächlich  hatte  Heering  den  Ausbruch  des 
Siebenjährigen  Krieges  sechs  und  einen  halben 
Monat  früher  unter  dem  Bilde  eines  Unwetters 
gesehen  und  prophezeit. 

Esist  dies  also  die  zweite  Vision  des  Jahres  1756, 
die  in  Erfüllung  ging. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  die  verblüffende 
Übereinstimmung  der  Aussagen  des  ungelehrten 
Fischers  mit  den  sich  später  einstellenden  hoch* 
politischen  Ereignissen  im  Lande  bekannt  wurde.  Als 
daher  um  die  Mitte  des  August  die  Sachsen  auf  dem 
Marsche  gegen  Pirna  bei  Schandau  eine  Schiffbrücke 
schlugen,  sondierte  man  Heeringen,  der  sich  damals 
gerade   dort  aufhielt,   was   er  von  der  Brücke  hielte. 

„Worauf  er,  ob  er  schon  merkte,  daß  man  ihn 
mehr  spöttisch  aufziehen,  als  im  Ernst  befragen  wollte, 
diese  Antwort  gab:  Daß  diese  Brücke  hier  nicht 
viel  nütze  seyn,  und  nicht  gebraucht  werden 
würde,  aber  Leipzig  möchte  man  wohl  ver* 
wahren,  da  habe  er  fremde  Völker  ankommen 
sehen."     (S.  31.) 

Damals  wußte  man  weder,  daß  die  Schiffbrücke 
unnütz  sei  —  denn  sonst  hätte  man  sie  ja  nicht  ge* 
schlagen    —    noch     auch     vermutete     man     den     am 


227 


29.  August  erfolgten  Einzug  der  Preufk^n  in  Leipzig, 
der  den  Hof  zur  Flucht  zwang. 

Dies  war  also  die  dritte  richtige  Prophe* 
zeiung  Heerings  im  gleichen  Jahre,  und  zwar  ging 
sie  diesmal  bereits  nach   14  Tagen  in  Erfüllung. 

Im  Oktober  1757  aber  kamen  auch  fremde 
Kontingente  bestehend  aus  der  kombinierten  Reichs*: 
und  der  französischen  Auxiliararmee,  nach  Leipzig, 
so  daß  auch  diese  Prophezeiung,  wenn  auch  nicht 
sofort,  so  doch  nach  einiger  Zeit  eintraf. 

Endlich  prophezeite  Heering  Süße  und  anderen 
einen  Rückzug  an,  der  während  die  sächsischen  Truppen 
zwischen  Pirna  und  Königstein  lagerten,  vom  Haupt* 
lager  Struppen  aus  über  Markersbach  versucht,  aber 
durch  den  preußischen  Kordon  verhindert  wurde. 
Das  geschah  einige  Wochen  vor  der  Ausführung. 

Bedeutungsvoller  war  eine  weitere  Vision  des 
Fischers  neun  Tage  vor  der  Schlacht  bei  Roßbach 
am  5.  November  1757.  „Nach  seinem  gewöhnlichen 
Trieb,  wie  sonst,  ohne  das  geringste  Veranlassen  und 
dessein,**  kam  er  zu  Süße  und  zeigte  ihm  an,  daß 
wieder  etwas  Wichtiges  bevorstehe,  „worbei  er  eben* 
falls,  wie  sonst  ängstlich  wünschte,  daß  er  solches 
Hohen  Orts  möchte  eröffnen  können.  Er  sagte  in* 
dessen  so  viel  hiervon: 

Man  möchte  Gott  ernstlich  anrufen,  daß 
das  vorseyende  Unternehmen  möchte  können 
abgewendet  werden,  indem  es  in  der  Schärfe 
nicht  gut  hinaus  gehen  würde.  Es  zögen 
nämlich  zwey  Heere  in  unserm  Lande  gegen 
einander,  ein  großes  und  ein  kleines,  von 
welchen  er  gesehen,  daß  das  letztere  gesieget 

15* 


228 

hätte,  und  das  große  wäre  ganz  zerstreuet 
worden."     (S.  32.) 

Als  diese  Prophezeiung  wider  Erwarten  in 
Erfüllung  ging,  kam  Heering  zu  Süße  und  erinnerte 
ihn,   ob  er   auch  an   seine  Vorhersage  gedacht  hätte. 

Also  wieder  eine  erfüllte  Vision! 

Am  meisten  Aufmerksamkeit  erregte  der  Fischer 
mit  zwei  Prophezeiungen  des  Jahres  1758  sowohl  bei 
den  Landeseinwohnern,  als  auch  bei  den  beiden  sich 
in  der  Königsteiner  Gegend  gegenüber  stehenden 
Armeen. 

„Er  zeigete  nämlich  fast  ein  Vierteljahr 
vorher,  ehe  und  bevor  in  der  Mitte  des  Augusts 
erwehnten  1758sten  Jahres  die  Annäherung 
der  Kayserlichen  und  Reichsarmee  in  unserer 
Eibgegend  geschähe,  an  glaubwürdige  noch 
lebende  und  es  allezeit  geständige  Personen 
des  Schandauer  Kirchspiels  an,  wie  er  gesehen 
hätte,  daß  auf  dem  Schandauer  so  genannten 
Kirchstück  am  Eibufer  wäre  geschanzt,  und 
gegen  das  sogenannte  Krippner  Hörn  über, 
eine  Schiffsbrücke  geschlagen  worden,  über 
welche  er  fremde  Völker  hätte  sehen  über* 
gehen." 

Diese  Vision  ging  in  der  Zeit  vom  14.  zum 
19.  August  in  Erfüllung! 

Tatsächlich  wurde  von  fremden  Kriegsvölkern 
am  angegebenen  Orte  eine  Schiffsbrücke  geschlagen, 
sowohl  bei  Krippen,  als  auch  am  andern  Eibufer 
zwischen  Postelwitz  und  Schandau.  Auf  dem  vorge* 
zeichneten  Schandauer  Kirchstück,  wurde  ein  Brücken* 
köpf  gebaut  und  Schanzen,   die   nebst  cien  Bäckerei* 


229 


gcbäudcn  der  kaiserlichen  Regimenter  und  der  Reichs* 
armee  noch  in  späteren  Jahren  zu  sehen  waren. 
Die  Brücke  aber  passierten  die  Truppen  des  Lagers, 
das  im  August  1758  auf  der  Höhe  der  Rathmans* 
dorfer  Felder  neben  Schandau  errichtet  wurde. 

Die  zweite  Prophezeiung  dieses  Jahres  erregte 
noch  größeres  Aufsehen.  Heering  erzählte  seinem 
Beichtvater  und  einigen  Bekannten  bei  Annäherung 
der  kaiserlichen  und  der  Reichsarmee  folgendes: 

,,Die  Zeit  ist  nun  da,  wen  das  Schwert 
trift,  den  wirds  treffen.  Über  der  Elbe  (d.  h. 
auf  dem  Königstein  gegenüberliegenden  Ufer)  wird 
sich  vornehmlich  noch  ein  größeres  Heer  zu* 
sammenziehen,  bey  selbigen  wird  es  blutig 
zugehen,  und  es  wird  auch  endlich  noch 
herüber  über  dieElbekommenmüssen.*'  (S.53f.) 

Diese  Vision  ging  in  Erfüllung,  als  die 
große  Daunsche  Armee  eintraf,  von  deren 
Herannahen  in  der  Königsteiner  Gegend  noch  niemand 
etwas  Näheres  wußte  oder  wissen  konnte. 

Der  Prophezeiung  fügte  Heering  die  Worte  hinzu: 

„Der  Herr  zeigete  mir  endlich,  daß  das 
heranziehende  Reichsheer  sich  wiederum  über 
die  Berge  nach  Böhmen  zurückzog.  Ich  sähe 
recht  eigentlich  die  Maulthiere  nach  einander 
hinüberziehen,  undjenesHeer  (daspreußische) 
zog  hernach,  da  erst  alles  vollbracht  war,  auch 
in  Frieden  aus  Sachsen." 

Die  Erfüllung  dieser  Prophezeiung  war  damals 
ganz  unwahrscheinlich  mit  Rücksicht  auf  die  gegen 
Dresden  im  Vormarsch  befindliche  große  Heeres^ 
macht  und  die  überall  getroffenen  festen  Dispositionen. 


250 

Als  trotzdem  die  Vision  sich  nach  drei 
Monaten  bewahrheitete,  war  jedermann  ver*» 
wundert  und  viele  Standespersonen,  besonders  ein 
damals  in  Pirna  bei  der  kaiserlichen  Armee  liegender 
Fürst,  trugen  Verlangen  den  Fischer  vor  ihrem  Abs* 
marsch  zu  sehen  und  zu  sprechen.  Da  er  so  Gelegen^ 
heit  hatte,  seine  Prophezeiungen  hohen  Orts  vorzu* 
bringen,  war  er  befriedigt  und  hielt  sich  —  auch  auf 
den  wiederholten  Rat  Süßes  hin  —  ruhig.  Er  sah 
damals  nur  noch,  daß  es  jenseits  der  Elbe  und  im 
Norden  von  Sachsen  am  schlimmsten  zugehen  würde 
und  daß  jenseits  Neustadt  bei  Dresden  „ein  Balgen'* 
sein  würde,  sowie  daß  endlich  eine  solche  Heeres* 
macht  in  Sachsen  sich  versammeln  würde,  daß  das 
Land  wie  eine  Tenne  zertreten  würde  und  die  Huf* 
eisenspuren  auf  der  Erde  unzählig  seien.  Im  übrigen 
bat  und  flehte  er  nur  noch,  daß  das  Werk  der  Buße 
und  Besserung  unter  den  Menschen  noch  mehr  zu* 
nehmen  möchte.  Hierbei  bezog  er  sich  weinend  auf 
Christi  Bußgleichnis  (Luc.   13). 

Die  Vision  läßt  sich  ungezwungen  auf  die 
Schlacht  bei  Kunnersdorf  1760  deuten,  sowie  auf  das 
Eintreffen  der  Österreicher  bei  Dresden*Neustadt,  die 
vergebliche  Belagerung  Dresdens  durch  Friedrich  II. 
und  den  berühmten  Finkenfang  bei  Maxen,  alles 
im  Jahre  1760. 

Sollte  jemand  an  der  Wahrhaftigkeit  Süßes 
zweifeln,  was  mir  nach  dem  ganzen  Tenor  des  Be* 
richtes  ausgeschlossen  scheint,  so  mag  er  sich  daran 
halten,  daß  die  Prophezeiungen  auch  in  außerkirch* 
liehen   Kreisen  Aufsehen  erregten. 


231 


Siebentes  Kapitel 

Die  Art  der  Prophezeiung  Heerings 

Was  nun  die  Art  und  Weise  betrifft,  in  der  sich 
bei  Heering  die  Prophezeiungen  einstellten,  so  gibt 
auch   darüber  Süße    (S.  36ff.)    ausführlichen  Bericht. 

Er  hatte  seine  Vorahnungen  oder  Visionen  keines== 
wegs  im  Schlaf,  vielmehr  sah  er  im  Wachen  ,,Ges= 
stalten,  Vorbildungen  und  Prospekte",  hörte  Stimmen 
oder  verspürte  in  sich  immerwährende  ,, Anregungen, 
worbei  er  allemal  eine  Freudigkeit,  es  bald  anzuzeigen, 
verspüret". 

So  sah  er  bei  der  ersten  Erscheinung  des  Jahres 
1744  Gestalten,  es  war  also  eine  richtige  Vision.  Die 
Vorahnung  der  Schlacht  bei  Kesselsdorf  stellte  sich 
als  „Vorbildung"  ein,  wobei  ihm  das  fünfte  Kapitel 
Jeremiä  aufgeschlagen  wurde.  (Wie  man  sich  das  zu 
denken  hat,  sagt  Süße  nicht.  Ich  kann  mir  daraus 
keinen  Vers  machen.) 

Den  Ein*  und  Auszug  der  Preußen  in  Dresden 
im  Jahre  1745  sah  er  in  einem  ,, Prospekt",  also  gleich* 
falls  als  Vision,  ebenso  den  unfruchtbar  liegenden 
Acker  und  das  Unwetter  des  Jahres  1756,  die  sich 
gegenüberstehenden  Mächte,  das  1757  gegen  die 
Preußen  stehende  Reichsheer  im  gleichen  Jahre    und 


232 

endlich  das  Reichsheer  im  Jahre  1758  drei  Monate 
vorher  im  Rückzuge  auf  Böhmen. 

Als  er  Jesus  und  die  beiden  Kirchen  sah,  hörte 
er  die  Stimme  Christi  wieder.  Hatte  er  eine  solche 
Vision  oder  Eingebung  gehabt,  dann  drängte  es  ihn, 
sie  hohen  Orts  zu  melden. 

In  einer  Anmerkung  (S.  38)  des,  wie  bereits  ein.» 
gangs  erwähnt,  unveränderten  Abdrucks  von  Hee** 
rings  vom  11.  Juli  1759  datiertem  Bericht  erwähnt  er, 
daß  er  dem  kranken  Heering  am  24.  November  1760 
das  Abendmahl  gereicht  habe.  Hierbei  erzählte  er, 
daß  er  „etwa  vor  drey  Wochen,  eine  Versammlung 
gesehen,  welche  von  einem,  der  das  Handwerkszeug 
eines  Maurers,  besonders  eine  Maurerkelle,  in  der 
Hand  gehabt,  wäre  angeführet  worden,  von  welcher 
Versammlung  er  den  Gesang:  Allein  GOtt  in  der 
Höh  sey  Ehr  etc.  hätte  anstimmen  und  singen  hören, 
und  ohnerachtet  sich  immer  noch  mehrere  zu  dieser 
Versammlung  hinzugefunden,  welche  das  Getöse  dieses 
Liedes  immer  heller  gemacht,  so  wäre  doch  von  beyden 
Seiten  dieser  Versammlung  eine  noch  größere  Menge 
gewesen,  welche  solchen  Gesang  mit  seinen  Worten: 
all'  Fehd  hat  nun  ein  Ende,  nicht  hätten  stören 
wollen,  und  sich  mit  dem  Gehöre  Feldweg  gewendet, 
es  aber  dennoch  hätten  hören  müssen.** 

Zu  dieser  Erscheinung  bemerkt  Süße  (S.  39): 
„Ob  dieses  von  dem  nach  zwey  Jahren  erfolgeten, 
aber  von  den  Partheyen  mit  ganz  ungleicher  Ge* 
sinnung  angenommenen  Frieden,  abermals  eine  Hee* 
ringische  Voraussagung  hat  seyn  mögen,  solches  über* 
lasset  man  dem  G(cncigten)  L.(eser)  zur  selbst* 
beliebigen  billigen  Hcurtheilung.** 


233 

Daß  jeder  Krieg  einmal  aufhören  muß,  wissen 
wir  auch  ohne  besondere  Inspiration.  Deshalb  scheint 
mir  Süße  mit  seiner  Reserve  gut  getan  zu  haben. 
Überhaupt  will  es  mir  scheinen,  als  hätten  bei  Heering 
die  akustischen  Erscheinungen  weniger  zu  bedeuten, 
als  die  optischen,  ganz  zu  geschweigen  davon,  daß 
hier  der  Verdacht,  es  handle  sich  lediglich  um  reli== 
giöse  Exaltationszustände,  nicht  leicht  von  der  Hand 
zu  weisen  ist.  Ein  Mann,  der  immer  in  die  Kirche 
geht,  viel  die  Bibel  liest,  bei  jeder  Gelegenheit  zu 
seinem  Beichtvater  läuft,  beweist  dadurch,  daß  er 
völlig  in  der  Weihrauchatmosphäre  der  Kirche  lebt. 
Da  dürfte  auf  religiöse  Visionen  auch  dann  wenig 
Gewicht  gelegt  werden,  wenn  nicht  gleich  mit  so 
schwerem  Geschütz,  wie  einer  persönlichen  Erschei* 
nung  und  Anrede  Christi  aufgefahren  wird. 

Von  seinen  Visionen  machte  Heering  meistens 
in  Form  eines  Gleichnisses  Mitteilung.  Und  zwar 
sagte  er:  „Ich  prophezeye  nicht,  ich  deute  auch  nicht, 
sondern  ich  zeige  nur  an,  was  mir  der  HErr  anzu* 
zeigen  befohlen  hat.  Und  darbey  habe  ich  dem  HErrn 
dreymal  geschworen,  daß  ich  von  dem  allen,  was  mir 
der  HErr  befohlen  hat,  nichts  verhalten,  und  mich 
keine  Furcht  um  meinet  und  der  Meinigen  willen 
abhalten  lassen  will."     Dabei  weinte  er  heftig. 

Was  seine  Empfindung  oder  richtiger,  was  sein 
Gefühl  im  Augenblick  der  Prophezeiung  betrifft,  so 
sagte  er  davon:  „Es  ist  mir  vom  HErrn  gegeben 
worden,  der  HErr  hat  mirs  befohlen,  der  HErr  hat 
mirs  gezeigt,  Er  hat  mirs  sehen  und  —  bisweilen  — 
der  HErr  hat  michs  schmecken  lassen.'* 

Der  Fischer  glaubte  also  zweifellos  im  göttlichen 


234 

Auftrage  zu  handeln.  Aber  selbst  wenn  das  nicht 
der  Fall  gewesen  wäre,  wenn  er  hätte  täuschen  wollen, 
was  ja  allerdings  nach  Lage  des  Falles  unmöglich  ist, 
so  würde  das  nicht  das  allergeringste  an  dem  wunder.» 
baren  Phänomen  ändern,  daß  seine  Prophezeiungen, 
soweit  es  sich  um  Irdisches  und  nicht  um  religiöse 
Phantasmagorien  handelte,  eintrafen. 

Nachdem  Süße  in  dieser  eingehenden  und  ge^ 
wissenhaften  Weise  seine  Beobachtungen  am  Fischer 
niedergelegt  hat,  wobei  er  dem  hartnäckigen  Zweifler 
rät,  doch  den  Prossener  persönlich  aufzusuchen,  prä* 
zisiert  er  seine  eigene  Stellungnahme. 

Er  betont  ausdrücklich  (S.  42 f.),  daß  er  „der 
Sache  neuer  Offenbarungen  niemals  zugethan  gewesen, 
sondern  jederzeit  ein  Mißtrauen  gegen  selbige  gehabt 
habe.**  Das  ließ  sich  ja  bei  einem  Mann  der  Auf* 
klärungszeit,  nicht  zum  mindesten  bei  einem  protestan* 
tischen  Geistlichen,  voraussetzen  und  ist  auch  ganz 
der  Standpunkt,  den  Schreiber  dieses  allen  solchen 
Phänomenen  gegenüber  einnimmt.  Aber  jeder  Zweifel 
muß  bei  einem  denkenden  und  sich  gegen  jegliches 
Dogma,  sei  es  nun  ein  kirchliches,  naturwissenschafts* 
liches,  philosophisches  oder  sonst  eines  auflehnenden 
Menschen  der  Gewalt  der  Tatsachen  gegenüber  ver* 
stummen. 

So  ging  es  auch  Süße.  Und  das,  wiewohl  er 
schon  mit  Rücksicht  auf  sein  Amt  aus  einer  gewissen 
Reserve  nicht  heraustrat,  dem  Fischer  zahlreiche  Ein* 
Wendungen  machte  und  keinen  Beifall  zeigte  ,,und 
diss  zwar  aus  der  guten  Absicht,  dass  ich  eine  etwa 
bey  ihm  excedirende  Phantasey,  und  einen  gemeinig* 
lieh    damit    verknüpften    Hochmut,    oder    auch   wohl 


235 

einen  ungeziemend  partheyische  Absichten  verdeckt 
hegenden  Sinn,  nicht  verstärken  möchte.*' 

In  seiner  Ratlosigkeit,  wie  sich  diese  merkwürdige 
Gabe  des  Fischers  erklären  lasse,  wandte  sich  Süße, 
aber  erst  nachdem  er  den  Tatbestand,  wie  wir  ihn 
oben  finden,  festgestellt  hatte,  an  Werke  protestan* 
tischer  und  katholischer  Theologen.  Was  er  dort 
fand,  hat  für  uns  wenig  Interesse,  deshalb  unterlassen 
f  wir  es,  ihm  in  eine  Literatur  zu  folgen,  die  der  Er^^ 
klärung  nicht  näher  steht,  als  wir').  Nur  mit  dem 
Unterschied,  daß  wir  ehrlich  bekennen,  bei  dem 
gegenwärtigen  Stande  der  Wissenschaft  ein  ignoramus 
aussprechen  zu  müssen. 

Begeht  die  offizielle  Wissenschaft  den  grotesken 
Fehler,  die  Tatsachen  zu  leugnen,  weil  sie  keine  he* 
friedigende  Erklärung  weiß,  so  die  Theologie  den 
andern  —  allerdings  weit  geringeren  — ,  daß  sie  eine 
Lösung  des  Rätsels  gefunden  zu  haben  glaubt,  wenn 
sie  mit  Worten  wie  Gott,  Lieiliger  Geist,  Offene 
barung  usw.  operiert.  Uns  genügt  die  Feststellung 
des  Tatsächlichen,  d.  h.  in  diesem  Falle: 

daß  der  Fischer  Heering  aus  Prossen  die 
Gabe  der  Prophezeiung  besaß. 


^)  Die  von  Süße  genannten  Schriften  sind:  1.  Johann 
Charlier,  genannt  Gerson,  Traktat  de  discernendis  veris  visio# 
nibis  a  falsis.  Helmstedt  1692.  Als  „Abhandlung  von  Prüfung 
derer  Geister"  ist  die  Übersetzung  dieser  Schrift  im  Anhang  der 
„Umständlichen  Nachricht"   S.  131—164  abgedruckt.     Hier  auch 

2.  ein  Auszug  von  D.  Philipp  Jacob  Speners  „Erklärung,  was 
von  den  Gesichten  zu  halten  sey",  S.  165—184.     Frankfurt  a.  M. 

3.  Luthers  und  4.  Gottlieb  Wernssdorfs  Ansichten  gibt 
Süße  S.  106  bis  120  wieder.  Endlich  berücksichtigt  er  die  GuU 
achten  der  NX^ttenberger  theologischen  Fakultät. 


256 

Nun  wird  man  zwar  ohne  weiteres  zugeben 
müssen,  daß  die  bei  weitem  überwiegende  Zahl  der 
Prophezeiungen  in  Erfüllung  ging,  aber  man  wird 
darauf  hinweisen  können,  daß  in  unserem  obigen 
Bericht  bei  einigen  nichts  vom  Ausgang  gesagt  wurde. 
Deshalb  wollen  wir  aus  dem  „Vorbericht*'  der  „Um«« 
ständlichen  Nachricht**,  der  am  20.  August  1771  ah* 
geschlossen  wurde,  also  12  Jahre  nach  dem  Tat* 
bestand,  wie  wir  ihn  oben  kennen  lernten,  einiges 
nachtragen. 

Damals  hatte  Heering  prophezeit,  daß  „das 
Preußische  Heer,  nachdem  alles  vollbracht 
war,  in  Frieden  aus  Sachsen  zurückgezogen** 
werden  würde.  An  dieser  Voraussage  hielt  Heering 
fest,  wiewohl  der  Krieg  noch  sechs  Jahre  währte  und 
die  Verhältnisse  oft  so  kritisch  waren,  daß  nichts 
ferner  lag,  als  die  Wahrscheinlichkeit,  die  Preußen 
würden  friedlich  aus  Sachsen  abziehen.  Und  doch 
trat  dieser  Fall  ein! 

Eine  weitere  Prophezeiung  Heerings  nach  dem 
Friedensschluß,  „daß  er  auf  das  künftige  viel  Brand? 
Stätte,  wie  auch  viele  entkleidete  und  he* 
raubete  Menschen  in  Pohlen  gesehen**  ging 
gleichfalls  in  Erfüllung. 

Wir  erinnern  uns  noch  der  die  Türken  („der 
aus  Morgen**)  betreffenden  Voranzeige,  daß  sie  sich 
künftig  in  den  Krieg  einmischen  würden.  Der 
Fischer  hatte  gesagt:  „daß  nach  denen  damaligen,  im 
Deutschen  Reich,  sich  geendigten  Troubeln,  sich  der 
Krieg  nordwärts  gezogen  hätte",  daß  es  sich 
also  n  i  c  h  t  um  kriegerische  Verwicklungen  mit  Deutsch* 
land  handeln  würde.     Da,  wie  wir  sahen,  alle  Prophe* 


237 


zciungcn  liccrings  in  erstaunlich  kurzer  Zeit  in  Er* 
Füllung  gingen,  so  würde  die  Vermutung  nahe  liegen, 
daß  das  auch  hier  der  Fall  hätte  sein  müssen.  Aber 
Heering  sagte  —  wie  auch  sonst  wiederholt  —  in  diesem 
Falle  ausdrücklich :  ,,Zeit  und  Stunde  hat  mir  der 
FiErr  hiervon  nicht  bestimmt". 

Unter  diesen  Umständen  dürfte  es  nicht  allzu^s 
gewagt  erscheinen,  auch  die  Erfüllung  dieser  Prophe** 
zeiung  allerdings  erst  nach  einem  Jahrzehnt  zuzu* 
geben,  und  zwar  mit  dem  Eingreifen  der  Türken  in 
den  Polnischen  Krieg.  Zur  Verteidigung  der  Herr«: 
Schaft  des  katholischen  Glaubens  in  Polen  und  der 
Verfassung  erhob  sich  im  Jahre  1768  die  Konföde:* 
ration  zu  Bar  unter  Führung  des  Marschalls  Michael 
Krasinski,  wurde  aber,  da  der  polnische  Senat  die 
Russen  zu  Hilfe  rief  trotz  Unterstützung  durch 
die  Türken,  vernichtet. 

Bei  dieser  Gelegenheit  können  wir  Süßes  Vor«* 
sieht  bzw.  Skepsis  kennen  lernen,  schreibt  er  doch 
(Vorbericht,  S.  25):  „Indessen  ist  meine  Absicht  nicht, 
einen  präzisen  Apologeten,  oder  absoluten  Verteidiger 
von  des  Fischer  Heerings  Visionssache  überhaupt, 
abzugeben,  indem  ich  nicht  in  Abrede  seyn  kann, 
daß  ich  ihn  allemal,  bey  seinen  verschiedenen  eröfneten 
indeterminirten  oder  unbestimmten  Ideen  und  Aus^^ 
drücken,  und  bey  seiner  bisweilen  hervorgeblickten 
Neigung,  zu  gleichsam  ecstatischen  Umständen,  für 
ein  Objekt  der  Versuchung  gehalten  und  ihn  daher 
(wie  er  mir  dessen  Zeugniß  geben  wird)  auf  die  ges= 
naueste  Selbstprüfung  einer  vielleicht  bey  sich  vor* 
waltend  lassenden  starken  Imagination  oder  Vorbildung, 
geführet,    und    daß    er    sich    dadurch    nicht  verleiten 


258 

lassen  möchte,  sorgfältig  angewiesen  habe,  und  noch 
fernerweit  anweisen  werde  .  .  .**  Bemerkenswert  ist 
auch,  daß  er  auf  Seite  6  der  „Umständlichen  Nach^ 
rieht**,  in  einer  Anmerkung  zu  der  Türkenprophe* 
zeiung  schreibt  „GOtt  gebe,  und  erhöre  uns  in  dem 
demüthigen  Gebet  unserer  Lithaney  auch  darinnen 
Gnädiglich,  daß  zu  keiner  Zeit,  und  auch  jetzo,  bey 
denen  unter  einander  entrüsteten  Hohen  Mächten, 
die  Interposition  oder  Einmischung,  deren  Türken 
nicht  nöthig  und  erfolglich  sey.*'  Aus  einer  Kleinig« 
keit,  wie  dem  Stehnbleiben  dieses  Ausrufes,  ergibt 
sich  auch,  daß  der  Bericht  von  1759  unverändert 
abgedruckt  wurde. 

Mir  scheint  die  Skepsis  hier  übertrieben.  Heering 
sagte  ausdrücklich,  daß  die  Türken  sich  erst  nach 
Friedensschluß  einmischen  würden.  Der  Hubertus* 
burger  Friede  wurde  1763  geschlossen,  die  Türken 
aber  griffen  in  die  polnischen  Unruhen  1768  ein, 
also  fünf  Jahre  später.  Das  will  mir  nicht  so  un* 
geheuerlich  erscheinen  *). 

Wir  wissen  ja  gar  nichts  über  die  zeitliche  Be* 
grenztheit  der  Frophetengabe.  Im  Gegenteil  werden 
wir  später  noch  sehen,  daß  es  möglich  ist,  Ereignisse, 
die  erst  nach  Jahrhunderten  eintreten  werden,  ge* 
nauestens  vorher  zu  sehen.  Daß  die  Erfüllung  zu« 
meist  den  Voraussagen  Heerings  auf  den  Fuß  folgte, 
läßt  den  Schluß  durchaus  nicht  zu,  daß  es  aus  inneren 


*)  Wahrscheinlicher  ist  allerdings  die  Deutung,  Heering 
habe  die  Polen  für  Türken  gehalten.  Da  er  ja  in  seinen  Visionen 
sah,  also  die  Uniformen  usw.  agnostizieren  muike,  scheint  diese 
Interpretation  nicht  gewagt.  Wir  werden  in  einem  spätem 
Kapitel  noch  darauf  zurückkommen. 


239 


Gründen  so  sein  mußte.  Wir  würden,  wollten  wir 
uns  ablehnend  gegen  die  Türkenvision  verhalten, 
stillschweigend  die  enge  zeitliche  Begrenzung  der 
Prophetie  oder  überhaupt  irgendwelche  gesetzmäßige 
Gebundenheit  voraussetzen.  Dazu  sind  wir  aber  bei 
dem  geringen  Grade  unserer  Kenntnis  von  dem  ganzen 
Phänomen  um  so  weniger  berechtigt,  als  die  ganze 
Schulwissenschaft  ja  bis  zur  Stunde  überhaupt  die 
Tatsache  noch  leugnet. 

Erst  wenn  diese  nicht  nur  einwandfrei  festgestellt 
ist  —  was  ja  in  vorliegender  Schrift  geschieht  — 
sondern  wenn  wir  auch  Tausende  von  gesicherten 
Fakten  kennen,  erst  dann  können  wir  ein  Gesetz 
oder  —  sagen  wir  bescheidener  —  eine  Regel  abstra* 
hieren.  So  weit  sind  wir  aber  noch  lange  nicht  und 
deshalb  besteht  kein  triftiger  Grund,  die  Erfüllung 
der  Türkenvision  nicht  zuzugeben. 

An  eine  völlig  unbekannte  Sache  mit  apriori* 
stischen  Regeln  oder  Gesetzen  heranzutreten,  verbietet 
die  Logik.  Das  war  und  ist  auch  heute  noch  der 
Kardinalfehler  der  gelehrten  Zunft,  dem  es  zuge# 
schrieben  werden  muß,  wenn  sie  allen  großen  und 
genialen  Neuerungen  oder  Entdeckungen  gegenüber 
bankrott  machte. 

Zum  Schluß  noch  eine  Vision  Heerings,  die  er 
„schon  vor  anderthalb  Jahren"  hatte,  das  wäre  zu 
Beginn  des  Jahres  1770,  da  der  „Vorbericht**  das 
Datum  des  20.  August  1771  trägt:  Unweit  des  Ortes 
Prossen  erschien  ihm  die  Gestalt  eines  kleinen  Mädchens^ 
die  ein  altes  Büchlein  in  den  Händen  hatte,  auf  dessen 
einem  Blatt  die  Worte  standen:  schwere  und  theure 
Zeit;  ,,über  welche  Anzeige  er  sich  noch  immer  be# 


240 

klagt,  daß  ihm  damals  niemand  habe  Glauben  bey^ 
messen  wollen".     (Vorbericht,  S.  19,  Anm.) 

Resümieren  wir,  dann  kann  es  nicht  dem  aller* 
geringsten  Zweifel  unterliegen,  daß  —  selbst,  wenn 
wir  annehmen  wollen,  die  Interpretation  einiger  weniger 
Vorhersagen  sei  gewaltsam  —  doch  die  erdrückende 
Menge  in  Erfüllung  ging.  Daß  Berechnung  aus»« 
geschlossen  ist,  wird  kaum  jemand  bestreiten  wollen. 
Also  besteht  nur  die  Annahme  des  Zufalls,  wenn 
wir  den  Beweis  für  die  Sehergabe  Heerings  nicht  für 
erbracht  halten. 

Nun  wollen  wir  nicht  bestreiten,  daß  die  Mög«« 
lichkeit  des  Zufalls  besteht.  Denn  es  handelt  sich 
in  keinem  einzigen  Falle  um  ganz  außerordentliche 
Dinge  mit  sehr  hohem  Divisor.  Die  möglichen  Fälle 
sind  vielmehr  relativ  begrenzt.  Zugeben  wird  man 
uns  aber  müssen,  daß  es  sich  sicherlich  um  einen 
sehr  merkwürdigen  Zufall  handelt. 

Auf  alle  Fälle  beweist  auch  dieseVision,  daß  Heering 
keineswegs  nur  ganz  kurze  Zeit  vorher  sehen  konnte. 

Es  ist  nun  sehr  interessant,  daß  Süße,  als  er  am 
20.  August  1771  diesen  Visionsbericht  abschloß,  noch 
nicht  wissen  konnte,  daß  er  im  nächsten  Jahre  in 
Erfüllung  gehen  würde,  und  zwar  in  ungeahnt  schreck* 
lieber  Weise.  Denn  es  kann  nur  die  große  Hungersnot 
gemeint  sein,  die  im  Jahre  1772  allein  in  Kursachsen 
15000  Menschen  hinweg  raffte.  Wir  haben  hier  also 
einen  jener  seltenen  und  günstigen  Fälle,  daß  eine 
Prophezeiung  vor  ihrem  Eintreffen  im  Druck  er* 
schienen  ist.  Das  verleiht  auch  allen  anderen  An* 
gaben  Süfies  in  den  Augen  der  unverbesserlichsten 
Hyperkritikcr  erhöhte  Glaubwürdigkeit. 


241 


Achtes  Kapitel 

Johann  Adam  Müller 

Zu  Beginn  des  vorigen  Jahrhunderts  erregten  die 
Prophezeiungen  eines  Landwirtes  namens  Johann 
Adam  Müller  vom  Maisbacher  Hofe,  unweit  Heidel* 
berg  viel  Aufsehen.  Dieser  Mann,  der  in  mancher  Bess 
Ziehung  große  Ähnlichkeit  mit  dem  Fischer  Heering 
aus  Prossen  besitzt,  sollte  sogar  in  die  Politik  ein^ 
greifen.  Bevor  wir  auf  seine  Person  des  Näheren 
eingehen,  sei  das  Protokoll  hier  wiedergegeben,  das 
der  Pfarrer  Hautz  in  Mekels,  nachmals  in  Neckarge^« 
münd,  im  Jahre  1808  nach  dem  mündlichen  Bericht 
Müllers  zu  Papier  gab^). 

^)  Zitiert  nach  „Geschichte,  Erscheinungen  und  Prophe* 
zeiungen  des  Joh.  Adam  Müller  eines  Landmanns  auf  dem 
Maisbacher  Hofe,  zwei  Stunden  von  Heidelberg.  Aus  seinem 
eignen  Munde  aufgesetzt.  Nebst  allen  dazu  gehörigen  Original« 
Briefen  in  getreuen  Abschriften  und  der  Widerlegung  von  37 
Unrichtigkeiten  in  der  ohne  sein  Wissen,  erschienenen  Schrift: 
Johann  Adam  Müller,  der  neue  Prophet  usw.  Mit  dem  getreuen 
Bildnisse  des  Mannes,  einer  genauen  Nachahmung  seiner  Hands 
Schrift,  der  Abbildung  seines  Wohnhauses  nebst  der  Umgegend, 
und  dem  von  ihm  selbst  entworfenen  Plane  der  noch  zu  er« 
bauenden  Bundesstadt  Neu^Jerusalem  und  der  Burg  Zion.  Franks 
fürt  a.  M.,  bei  den  Gebrüdern  Wilmans  1816",  S.  25  ff.  Ich  be* 
nutzte  wie  bei  Heering  das  Exemplar  der  Kgl.  Bibliothek  in  Berlin. 

Kemmerich,   Prophezeiungen  16 


242 

Es  lautet: 

„Ein  Jahr  vor  dem  Anfang  des  letzten  öster* 
reichischen  Krieges  erschien  mir  des  Nachts  eine 
ganz  weiße  Gestalt,  die  mich  bei  der  Hand  nahm, 
daß  ich  darüber  erwachte;  ich  glaubte  anfangs,  es 
sey  meine  Frau,  fand  aber,  daß  diese  ruhig  neben 
mir  schlief.  Einige  Zeit  blieb  ich  wachend  im  Bette 
sitzen  und  die  Gestalt  verschwand.  Darauf  legte 
ich  mich  wieder  nieder  und  fing  an  zu  schlummern, 
aber  kaum  war  ich  eingeschlummert,  als  mich  wieder 
etwas  an  der  Hand  faßte  und  mich  aufweckte.  Die 
Gestalt  glich  vollkommen  einem  Menschen.  Sie  ging 
hin  zum  Tisch  in  meiner  Stube,  und  als  ich  mich 
ihr  näherte,  verschwand  sie  plötzlich;  worauf  außen 
vor  dem  Hause  am  Himmel  ein  sehr  starker  Blitz 
erfolgte.  Ich  öffnete  das  Fenster  und  sah  an  dem 
Himmel  einen  großen  Zug  Kanonen,  der  sich  von 
Frankreich  gegen  Österreich  hin  bewegte.  —  Vierzehn 
Tage  vor  Weihnachten  1805  erhielt  ich  eine  andere 
Erscheinung,  die  mich  abermals  erweckte,  und  mir 
sagte,  daß  bald  auch  ein  Krieg  zwischen  Frankreich, 
Preußen  und  Rußland  ausbrechen  würde,  und  nach 
Verlauf  eines  Jahres  müsse  ich  zum  König  von 
Preußen  gehen;  der  russische  Kaiser  werde  auch  da* 
zu  kommen.  Doch  sagte  mir  diese  Erscheinung  noch 
nicht,  was  ich  bei  dem  König  von  Preußen  tun  sollte. 

Am  2.  Mai  1806  tat  es  abends  gleich  nach 
Sonnenuntergang  einen  starken  Blitz;  ich  stand  unter 
der  Haustüre  und  sah  ein  Schwert  vom  Himmel  hin* 
und  gerade  durch  den  eben  vollgewesenen  Mond 
fahren;  das  Schwert  wurde  rot  und  fuhr  dann  gegen 
Norden. 


243 

Nach  Verlauf  eines  Jahres  dachte  ich  wohl  wieder 
an  diese  Erscheinung,  aber  mein  Herz  dachte  nicht 
daran  tortgehen  zu  wollen.  Am  ersten  Sonntag  im 
Jahre  1807  kam  jene  weiße  Gestalt  wieder  und  sagte 
mir:  ich  sollte  mich  eilends  aufmachen  und  zum  König 
von  Preußen  gehen.  Wenn  ich  zum  König  käme, 
sollte  ich  mich  gar  nicht  besinnen,  was  ich  sagen 
solle,  denn  Gott  würde  mir  schon  in  den  Sinn  geben, 
was  ich  sagen  solle.  Der  russische  Kaiser  würde 
auch  dazu  kommen,  ich  solle  mich  aber  gar  nicht  vor 
ihnen  scheuen,  denn  es  werde  mir  nichts  zuleide 
geschehen.  Darauf  versprach  ich,  daß  ich  fortgehen 
wolle;  da  verschwand  die  Gestalt.  Weil  ich  nun 
aber  nicht  wußte,  was  ich  bei  dem  Könige  zu  tun 
habe,  so  bat  ich  Gott,  er  möge  mir  dies  doch  offen* 
baren,  und  14  Tage  hernach  erschien  mir  wieder  die 
Gestalt,  und  sagte  mir,  ich  sollte  mich  7  Tage  meiner 
Frau  enthalten,  dann  würde  mir  offenbart  werden, 
was  ich  dem  König  zu  sagen  hätte.  Nach  Verlauf 
dieser  7  Tage  in  der  achten  Nacht  kam  wieder  etwas, 
und  nahm  mich  bei  der  Hand.  Als  ich  erwachte, 
war  alles  um  mich  her  so  hell  (NB  es  war  nachts 
12  Uhr)  als  ob  das  ganze  Haus  im  Brand  stände. 
Ich  sah  aber  wohl,  daß  es  kein  Brand  war,  denn  es 
war  so  hell  weiß,  wie  die  Sonne  am  Mittag  ist.  Da 
stand  ein  alter  Mann,  dem  Ansehn  nach  etwa  80  Jahr 
alt,  der  hatte  zwei  Bücher  unter  dem  Arm,  die  ganz 
veraltet  schienen,  ohne  Deckel  und  voller  Falten. 
Ich  betrachtete  den  Mann  und  besonders  seine  Bücher 
sehr  aufmerksam.  Er  fragte  mich,  was  mich  so  in 
Erstaunen  setze?  Ich  schwieg  stille  und  nun  fragte 
er:   ob  es  etwa  die  Bücher  seien?     Ich   sagte  ja!  und 

16* 


244 

nun  antwortete  er:  darüber  brauche  ich  mich  weiter 
nicht  zu  wundern!  So  wie  diese  verahet  seien,  so 
sei  Gott,  Jesus  Christus  und  Gottes  Wort,  das  in 
diesen  Büchern  stände,  leider!  auch  veraltet.  Darauf 
zog  er  das  eine  Buch  unter  dem  Arm  hervor,  schlug 
den  Jesaias  auf,  zeigte  mir  das  58ste  bis  in  das  64ste 
Kapitel  und  sagte  mir:  ich  solle  mich  jetzt  schnell 
auf  den  Weg  machen  und  zum  König  von  Preußen 
gehn,  und  ihm  so  wie  dem  russischen  Kaiser,  wenn 
er  dazu  käme,  diese  Kapitel  vorlegen  und  ihnen  ver^ 
kündigen,  nach  Anweisung  dieser  Kapitel  sollen  sie 
ihre  Länder  einrichten,  denn  so  wie  ich  gesehen  hätte, 
das  Schwert  durch  den  Mond  fahren  und  hell  rot 
werden,  so  werde  die  Finsternis  bestraft  werden,  wenn 
sie  sich  nicht  bekehre.  Noch  setzte  er  hinzu,  ich 
solle  mich  nicht  scheuen,  er  werde  mich  gesund  hin, 
und  wieder  zurück  zu  meiner  Frau  und  meinen 
Kindern  bringen.  Als  ich  versprochen  hatte,  dem 
Berufe  zu  folgen,  kam  ich  auf  einmal  weg^),  und 
wußte  gar  nicht  mehr,  wo  ich  war,  der  alte  Mann 
aber  blieb  bei  mir.  Wir  kamen  in  eine  Stadt,  wo 
ein  Haufen  Wölfe,  Bären  und  Löwen  waren.  Diese 
sprangen  an  mich  hin;  der  alte  Mann  aber  wehrte 
ihnen  und  beschützte  mich.  Wir  kamen  wieder 
weiter  und  an  ein  Wasser,  ohne  daß  wir  hinüber 
kommen  konnten.  Nach  einigen  Tagen  kam  ich 
aber  hinüber  ohne,  zu  wissen  wie?  Bald  darauf 
kam  abermals  ein  Haufen  Wölfe,  Bären  und  Löwen, 
die  mich  noch  fürchterlicher  anfielen.  Mir  war  zu* 
gleich    ich    sei    auf    einem    Wagen.      Ein    besonders 


')  Heißt  bei  Müller  jedesmal:    „Ich  geriet  in  Wrrückung". 


245 


großer  Löwe  verwundete  mich,  daß  ich  blutete. 
Der  alte  Mann  fragte  mich,  ob  es  arg  wäre?  als  ich 
nein!  antwortete  (ich  blutete  nur  an  der  Nase),  sagte 
er,  es  werde  mir  das  nicht  schaden,  und  mir  auch 
sonst  nichts  mehr  zuleide  geschehen.  Nun  kamen 
wir  zu  Leuten,  die  Feuer  hatten,  aber  ich  konnte 
nicht  sehen,  von  was  das  Feuer  brannte.  Sie  hatten 
auch  etwas,  was  ihnen  zur  Speise  diente;  mir  aber 
kam  es  vor,  als  könne  man  es  nicht  essen.  Ich  fragte 
sie  daher,  von  was  sie  lebten  und  welches  ihnen  recht 
gut  schmecke.  Dann  kamen  wir  an  einen  sehr 
schönen  gepflanzten  Weinberg,  worin  einige  Reihen 
Reben,  dann  eine  Reihe  von  Obstbäumen,  und  dann 
ein  Weg  war.  Da  sagte  mir  der  alte  Mann:  in 
diesem  Weinberg  würde  ich  eine  Zeitlang  bleiben. 
Darauf  kam  ich  in  eine  große  schöne  Stadt,  in 
welcher  man  mich  überall  herumführte.  Mitten  in 
der  Stadt  kam  ich  in  eine  ungemein  große  Kirche. 
In  den  4  Ecken  der  Stadt  standen  vier  Königss* 
Schlösser.  Der  alte  Mann  sagte  mir  nun,  diese  Stadt 
sei  die  Stadt  Zion  und  Neu* Jerusalem,  sie  solle 
aber  noch  erst  gebauet  werden,  zum  Gedächtnis, 
wenn  die  Menschen  sich  gebessert  und  sich  wieder 
zu  Gott  gewendet  hätten.  Er  zeigte  mir  den  Platz, 
wo  die  Stadt  sollte  hingebaut  werden^).  Darauf  ver^^ 
schwand  der  alte  Mann,  und  ich  befand  mich  wieder, 
jedoch  wachend,  in  meinem  Bett." 

Ich  muß  den  Leser  um  Entschuldigung  bitten, 
daß    ich    alles   dieses    phantastische  Zeug  ihm   worts^ 

')  Ein  Stadtplan  von  Neu* Jerusalem,  nach  dem  Entwurf 
von  Müller  gezeichnet  von  F.  L.  Hoffmeister,  befindet  sich  im 
Anhang  der  zitierten  Schrift. 


246 

getreu  aus  dem  Protokoll  vorführe.  Aber  nur  so 
dürfte  das  ausreichende  Material  zu  einem  Urteil  ge^s 
geben  sein.  Daß  Müller  Visionen  hatte,  die  er  für 
reale  Dinge  hielt  und  daß  er  der  festen  Überzeugung 
war  mit  dem  „alten  Mann"  leibhaftig  zu  verkehren, 
scheint  festzustehen.  Daß  es  sich  —  so  merkwürdig 
und  abenteuerlich  alles  anmutet  —  doch  keineswegs 
nur  um  Phantastereien,  wie  zweifellos  beim  Traum 
von  Neu^Jerusalem,  handelt,  ergibt  sich  aus  dem 
Folgenden  zwingend.  Besonders  merkwürdig  ging  die 
Vision  (oder  war  es  ein  Traum?)  von  den  wilden 
Tieren  in  Erfüllung.  Es  wird  sich  überhaupt  emp^» 
fehlen,  das  Mißbehagen  bei  Lektüre  des  Protokolles 
zu  überwinden  und  auch,  mit  Rücksicht  auf  das 
Folgende,  auf  Einzelheiten  zu  achten. 

Doch  fahren  wir  im  Protokoll  (S.  30)  fort! 

„Jetzt  wußte  ich  nicht,  was  ich  tun  sollte.  Gern 
wäre  ich  fortgegangen,  aber  der  Gedanke  an  meine 
Frau  und  Kinder  hielt  mich  zurück;  ich  ließ  es  also 
anstehen.  Zehn  Tage  darnach  kam  ein  Mann  von 
mittleren  Jahren  des  Nachts  zu  mir,  und  sagte:  wenn 
ich  nicht  fortginge,  so  würde  all  das  Blut  auf  meinen 
Kopf  kommen  und  von  meinen  Händen  gefordert 
werden.  Ich  wußte  nicht,  was  ich  machen  sollte,  und 
fragte  also  einmal  des  Nachts  meine  Frau,  was  sie  machen 
werde,  wenn  ich  einmal  V4  oder  7a  Jahr  nicht  bei 
ihr  sein  sollte.  Sie  antwortete:  ,, Lieber  Gottl  da 
wüßte  ich  mir  weder  zu  raten  noch  zu  helfen!** 
Darauf  nahm  ich  mir  fest  vor,  nicht  fort  zu  gehen, 
es  möge  kommen  wie  es  wolle.  Am  dritten  Tage 
aber  ward  ich  unruhig  im  Gemüt,  und  diese  Unruhe 
nahm   mit  jedem  Tage  zu.    Am  siebenten  Tage   sagte 


t 


247 


ich  zu  meiner  Frau:  Du  siehst  nun,  es  tut  nicht  gut, 
wenn  ich  dableibe,  es  gehe  also  in  Gottes  Namen 
wie  es  will,  da  antwortete  sie:  ,,So  gehe  denn  in 
Gottes    Namen    hin    und   richte   deinen   Befehl   aus." 

Darauf  ließ  ich  meinen  Schwager  holen,  wozu 
auch  der  Schuhmacher  Sattler  aus  Nußloch  gekommen 
war.  Beiden  legte  ich  die  ganze  Sache  vor,  erzählte 
ihnen  alles  ganz  genau  und  verlangte  von  ihnen,  sie 
sollten  mir  raten.  Sie  antworteten  aber,  sie  könnten 
mir  hierin  nicht  raten,  die  Sache  sei  zu  wunderbar. 
Wenn  es  nur  30  Stunden  Weges  wäre,  so  wollten 
sie  wohl  noch  eher  dazu  raten,  aber  dieser  Weg  sei 
zu  weit;  wie  ich  denn  hin  und  wieder  zurückkommen 
wollte?  Am  Ende  wenn  ich  denn  auch  hingekommen 
wäre,  so  werde  ich  doch  nicht  vor  den  König  kommen 
können.  Ich  versetze:  das  weiß  ich  sicher,  daß  ich 
hin,  wieder  zurück  und  auch  vor  den  König  kommen 
werde.  Da  sagte  der  Schuhmacher,  ich  sollte  es 
meinem  Pfarrer  vorstellen  und  hören,  was  der  davon 
halte.  Ich  antwortete  ihm,  wenn  es  ein  Pfarrer 
wissen  sollte,  so  würde  es  ihm  unser  Herr  Gott  schon 
gesagt  haben;  doch  (setzte  ich  hinzu),  wenn  ich  den 
Sonntag  in  die  Kirche  gehe,  will  ich  mit  unserm 
Pfarrer  reden. 

Am  folgenden  Sonntag  blieb  ich  bis  zuletzt  in 
der  Kirche,  und  wollte  dann  zu  dem  Pfarrer  ins 
Haus  gehen;  als  ich  aber  die  Haustreppe  hinaufstieg, 
zog  mich  etwas  am  Rock  zurück,  worauf  ich  denn 
auch  fortging,  ohne  mit  dem  Pfarrer  über  die  Sache 
zu  reden.  Zwei  Nächte  darauf  hörte  ich  (jedoch  ohne 
etwas  zu  sehen)  eine  Stimme,  die  zu  mir  sprach:  „Ich 
sollte  eilends  fortgehen,  der  Verderber  sei  hinweg!" 


248 

Am  folgenden  Abend  ging  ich  zu  meinem  Nach^ 
bar  und  vertrautesten  Freunde  und  sagte  ihm,  daß 
ich  fort  müsse,  ob  er  sich  nicht  in  meiner  Abwesen^* 
heit  meiner  Frau  und  meiner  Kinder  annehmen  wolle. 
Ich  verschwieg  ihm  aber,  wohin  ich  gehen  werde, 
und  was  ich  auszurichten  habe.  Er  versprach  mir, 
meiner  Frau  zu  helfen,  so  viel  er  könne,  und  setzte 
hinzu:  ich  solle  nur  in  Gottes  Namen  fortgehen. 
Ich  sagte  also  zu  meiner  Frau,  ich  werde  des  andern 
Morgens  fortgehen,  und  belehrte  sie,  wie  sie  inzwischen 
ihre  Geschäfte  und  Haushaltung  besorgen  solle.  Des 
andern  Morgens  kochte  mir  meine  Frau  ein  Stück 
Dörrfleisch  ab,  dies,  ein  Stück  Brot  und  15  Kreuzer 
an  Geld^)  nahm  ich  mit,  und  so  trat  ich  meine  Reise, 
ohne  Paß,  in  Gottes  Namen  an." 

Die  Ähnlichkeit  der  Vorgeschichte  des  Ganges 
zum  König  mit  der  des  Prossener  ist  unverkennbar. 
Beide  handeln  aus  unwiderstehlichem  inneren  Drange 
in  der  unerschütterlichen  Überzeugung,  Werkzeuge  in 
Gottes  Hand  zu  sein.  Daß  in  beiden  Fällen  alles 
Sensationelle,  so  merkwürdig  die  erzählten  Vorgänge 
auch  sein  mögen,  völlig  ausgeschlossen  ist,  sei  aus^» 
drücklich  hervorgehoben.  Was  Müllers  Charakter 
betrifft,  so  werden  wir  noch  später  auf  ihn  zurück* 
kommen.  Den  des  Prossener  kennen  wir  ja  bereits 
als  völlig  einwandfrei. 

Doch  fahren  wir  fort  (S.  32): 

„Als  ich  in  die  Gegend  von  Frankfurt  kam,  sah 
ich    einen    Berg    mit  Weingärten,    an    dem    ein  Weg 

0  Eigentlich  waren  es  24  Kreuzer.  In  Heidelberg  aber 
trank  er  '/■  Maass  Bier  und  kaufte  sich  2  Päckchen  Tabak,  be* 
hielt  also  nur  noch   15   Kreuzer  (Anm.   im  Original). 


249 


hinauf  ging.  Dieser  Weg  war  mir  früher  durch  den 
alten  Mann  gezeigt.  Nachher  kam  ich  in  einen  Wald 
und  so  von  Dorf  zu  Dorf  bis  Miltenberg.  Hier 
fragte  ich  nach  dem  Wege  nach  Würzburg.  Von  da 
ging  ich  nach  Baireuth,  dann  über  Leipzig,  Wittem* 
berg,  Berlin,  bis  nach  Prenzlow.  Vor  Prenzlow  fragte 
mich  ein  Mann,  wohin  ich  wolle?  Ich  antwortete, 
nach  Stettin,  um  dort  einen  Badenschen  Dragoner, 
meiner  Frau  Schwestersohn,  zu  besuchen.  Da  erbot 
er  sich,  mir  den  Weg  um  die  Stadt  herum  zu  zeigen, 
damit  ich  nicht  nötig  habe,  durch  die  Stadt  zu  gehn, 
weil  ich  sonst  leicht  angehalten  werden  könnte.  Ich 
nahm  es  aber  nicht  an,  sondern  ging  durch  die  Stadt, 
weil  ich  sie  als  eine  von  denen  erkannte,  die  mir  der 
alte  Mann  gezeigt  hatte. 

Am  Tore  fragte  mich  die  Bürgerwache,  wohin 
ich  wollte?  und  ob  ich  einen  Paß  habe?  Ich  ant* 
wortete:  nach  Stettin!  Einen  Paß  hätte  ich  aber  nicht. 
Da  wurde  ich  denn  durch  einen  Gefreiten  vor  den 
Stadtrat  geführt.  Dieser  hatte  nun  eben  gerade  eine 
solche  Gestalt  und  Kleidung,  wie  mir  es  durch  den 
alten  Mann  vorgestellt  worden  war.  Jetzt,  als  ich 
sah,  wie  alles,  was  mir  früher  vorgestellt  war,  in  Er* 
füllung  zu  gehen  anfange,  lachte  mir  das  Herz  im 
Leibe.  Auf  dem  Wege  nach  dem  Rathaus  bedauerte 
mich  der  Gefreite!  ,,Mann!  Ihr  dauert  mich,"  sagte  er, 
„denn  Ihr  werdet  lange  sitzen  müssen,  ehe  Ihr  fort* 
kommt!"  Ich  antwortete  aber,  das  habe  nichts  zu 
bedeuten.  Vor  dem  Magistrat  in  Prenzlow  wurde 
ich  gefragt,  wohin  ich  wolle?  Ich  antwortete:  nach 
Stettin,  um  einen  badischen  Dragoner,  meiner  Frauen 
Schwestersohn,  zu  besuchen.     Nun  wurde  ich  zu  dem 


250 

französischen  Kommandanten  geführt.  Mein  Wächter 
bedauerte  mich  jetzt  noch  mehr,  aber  ich  antwortete 
ihm  abermals,  er  solle  meinetwegen  außer  Sorgen  sein. 
Der  französische  Kommandant  fragte  mich  das  Obige 
wieder,  und  ich  beantwortete  es  gerade  wie  vorher. 
Er  entließ  mich  mit  den  Worten:  ich  solle  in  Gottes 
Namen  sehen,  wie  ich  weiter  nach  Stettin  komme. 
Beim  Weggehen  sagte  jener  Gefreite,  ob  ich  denn 
nicht  weiter  wollte,  als  bis  Stettin?  Ich  antwortete: 
Nein!  aber  er  versetzte:  Ihr  geht  doch  weiter  und 
müßt  wohl  einen  ganz  besonderen  Auftrag  haben. 
Nun!  glückliche  Reise!  Zugleich  brachte  er  mich  auf 
den  rechten  Weg. 

Bei  meiner  Ankunft  in  Stettin,  ging  ich  gerade 
durch  die  Stadt  durch,  ohne  angehalten  zu  werden, 
und  doch  mußte  jeder  andere  seinen  Paß  vorzeigen. 
Mitten  auf  der  Oderbrücke  aber  wurde  auch  ich 
angehalten,  auf  die  Wache  geführt  und  nach  meinem 
Paß  gefragt.  Ich  sagte  jetzt,  ich  wolle  nach  Kolberg. 
Man  führte  mich  nun  zum  französischen  Komman* 
danten,  welcher  befahl,  mich  nicht  über  die  Oder* 
brücke  zu  lassen.  Ich  ging  also  wieder  in  die  Stadt, 
trank  ein  Glas  Bier  und  wollte  nun  zur  Stadt  hinaus. 
Da  rief  mir  ein  badischer  Dragoner  zu,  wo  ich  her«« 
käme  und  wo  ich  hinwollte?  Ich  antwortete  ihm  das 
mehrmals  Erwähnte,  und  er  führte  mich  dann  zu 
seinem  Offfzier,  bei  welchem  er  zugleich  Bedienter 
war.  Auch  dieser  fragte  nach  dem  Zweck  meiner 
Reise,  und  ich  sagte  auch  ihm,  ich  wolle  zu  meiner 
Frau  Schwestersohn.  Es  wurde  nun  ein  Chirurgus 
gefragt,  ob  mein  Vetter  nicht  etwa  im  Lazarett  seil 
Ps    hieß    aber:     Nein!    auch    konnte    man    mir   nicht 


251 


sagen,  ob  er  in  der  Gegend  von  Kolberg  oder  Dan? 
zig  sei. 

Als  ich  wieder  vor  die  Stadt  kam,  sah  ich  den 
mir  früher  vorgestellten  Berg,  zugleich  auch  ein  Dorf, 
in  welches  ich  ging  und  in  einem  Hause  (es  war 
das  Pfarrhaus)  einkehrte.  Der  Pfarrer  kam  mir  ent* 
gegen  und  fragte  mich,  was  ich  wolle?  Ich  bat  ihn, 
mir  doch  zu  sagen,  wo  und  wie  ich  über  die  Oder 
kommen  könne?  Zugleich  entdeckte  ich  ihm  etwas 
über  den  eigentlichen  Zweck  meiner  Reise.  Darauf 
ließ  der  Pfarrer  einen  Mann  holen  und  fragte  ihn, 
ob  er,  Müller  von  jenseits  der  Oder,  die  Bienen  schon 
abgeholt  habe?  Es  hieß:  Neinl  doch  wisse  man  nicht, 
ob  er  sie  heute  oder  morgen  holen  werde.  Da  sagte 
der  Pfarrer  zu  dem  Manne,  er  solle  doch  sorgen, 
daß  ich  mit  über  die  Oder  gebracht  werde,  wenn 
der  Müller  die  Bienen  hole,  denn  an  mir  könne 
man  einen  Gotteslohn  verdienen.  Er  setzte  mir  auch 
Butterbrot  vor  und  gab  mir  einen  preußischen  Gulden 
mit  dem  Zusätze,  ich  sollte  mich  in  einem  mir  von 
ihm  angewiesenen  Wirtshause  so  lange  aufhalten, 
ohne  mich  viel  umzusehen,  bis  dieser  Mann  kommen 
werde  mich  abzuholen.  Ich  war  aber  kaum  eine 
halbe  Stunde  in  dem  Wirtshause,  als  der  Mann  mich 
schon  abholte. 

Dann  fuhr  ich  mit  dem  Manne  über  die  Oder, 
ging  mit  ihm  in  sein  Haus  und  blieb  die  Nacht  bei 
ihm.  Er  riet  mir  nun,  mich  nach  Stolpmünde  hin* 
zuwenden,  da  würde  ich  vielleicht  ein  Schiff  treffen, 
mit  welchem  ich  weiter  reisen  könnte.  Eine  Stunde 
von  Stolpmünde  blieb  ich  über  Nacht,  und  hier  traf 
ich  das  Brot,  welches  ich  nicht  essen  konnte. 


252 

Des  andern  Tages  (Sonntags)  trank  ich  erst  in 
einem  Wirtshause  ein  Glas  Branntwein^).  Hier  traf 
ich  zwei  preußische  Soldaten,  die  sich  selbst  ranzio»* 
niert  hatten.  Sie  erkundigten  sich,  wo  ich  hinwollte? 
Ich  antwortete:  nach  Danzig.  Sie  baten  mich  bis 
Mittag  zu  warten,  weil  sie  dann  mit  mir  gehen  wollten, 
und  ich  blieb.  Ich  ging  indes  in  die  Kirche.  Während 
dem  hatten  die  Bauern  den  Soldaten  gesagt,  ich  sei 
ein  Spion,  sie  mögen  mich  daher  nach  Kolberg 
abliefern.  Es  wurde  auch  wirklich  ein  Wagen  be*» 
stellt,  auf  welchen  ich  mich  mit  den  2  Soldaten  setzte. 
Man  tat  mir  aber  nichts  zuleide.  Im  nächsten  Dorfe, 
wo  der  Wagen  gewechselt  wurde,  wollte  einer  der 
Soldaten  mich  mit  Gewalt  von  dem  Wagen  reißen, 
aber  er  zerriß  bloß  meine  Hutschnur.  Ich  sagte  ihm 
er  solle  sich  nicht  unterstehen,  mir  etwas  zuleide  zu 
tun.  Sie  mögen  mich  zu  den  Preußen  oder  zu  den 
Franzosen  führen,  ich  werde  mich  allenthalben  ver* 
antworten.  Die  Bauern  drohten  mir  auf  allerlei  Art. 
Ein  dabeistehender  Edelmann  aber  sagte,  sie  sollten 
mich  zufrieden  lassen,  sie  sähen  ja,  daß  ich  mich 
gutwillig  in  alles  ergäbe.  Da  ließen  sie  mich  ruhig. 
In  der  Nacht  kamen  wir  in  ein  anderes  Dorf.  Der 
Edelmann  wollte  uns  aber  nicht  die  Nacht  dabehalten, 
auch  keinen  Wächter  hergeben  mich  zu  bewachen. 
Der  eine  von  den  2  Soldaten  wurde  also  grob  gegen 
ihn  und  gegen  mich  und  schlug  mich  mit  seinem 
Stock   über  die  Nase,   daß   sie  blutete'")-     E)er  EdeU 

*)  Damals  trank  er  noch,  wiewohl  selten,  wenig,  und  nur 
vor  Mattigkeit,  Branntwein.  Seit  6—8  Jahren  gar  nicht  mehr. 
(Anm.  des  Protokolls  Seite  36  des  Ruches.) 

'^)  Hier    und    im   folgenden    handelt    es    sich  deutlich    um 


253 


mann  fragte  mich,  ob  es  mir  wehe  täte?  Ich  ant=» 
wortete  aber:  Nein.  Auf  des  Edelmanns  Befehl  ward 
ich  durchsucht,  ob  ich  etwas  Verdächtiges  bei  mir 
habe?  Man  fand  aber  nichts.  Der  eine  Soldat  ver* 
suchte  meinen  Stock  zu  zerbrechen,  weil  er  glaubte, 
daß  darin  etwas  verborgen  sei.  Er  konnte  es  aber 
nicht  und  der  Edelmann  bemerkte,  wenn  er  hohl  sei, 
wäre  er  schon  längst  gewiß  zerbrochen.  Der  Mann, 
setzte  er  dann  gegen  die  Soldaten  hinzu,  ist  ehrlicher 
als  Ihr!  Mir  gab  er  jetzt  ein  Glas  Branntwein.  Als 
nun  der  Soldat  immer  noch  drohte,  er  wolle  mich 
erstechen,  tröstete  mich  der  Edelmann,  das  solle  nicht 
geschehen  dürfen,  denn  er  werde  mir  zu  meinem 
Schutze  einige  Bauern  zu  Pferde  mitgeben.  Dies 
geschah  auch  und  zwar  Vj^  Meile  von  Rügenwalde. 
In  einem  der  folgenden  Dörfer,  wohin  wir  mor* 
gens  um  2  Uhr  abfuhren,  bekamen  wir  einen  frischen 
Wagen  und  wieder  einige  Bauern  zur  Wache.  Bei 
Rügenwalde  erhielten  wir  abermals  eine  frische  Fuhre, 
die  uns  bis  ein  an  der  See  liegendes  Dorf  brachte. 
Die  Soldaten  begehrten  wieder  eine  Fuhre,  der  Schulze 
aber  verweigerte  sie.  Der  eine  Soldat  schimpfte 
darauf,    und   der  Schulze  drohte,    ihn  den  Polacken 


eine  Erfüllung  des  Gesichts  vor  Antritt  der  Reise,  als  die  Feinde 
ihm  in  Gestah  von  wilden  Tieren  erschienen.  Hier  dürfte 
es  angezeigt  sein,  auf  den  Aufsatz  von  Rudolf  Kleinpaul  ,,Die 
Traumsprache'*  im  ,, Magazin  für  die  Literatur  des  In*  und  Aus* 
landes".  55.  Jahrg.,  1886,  S.  241ff.  und  265ff.  hinzuweisen.  Die 
Frage  der  Traumsymbolik  ist  selbst  von  solchen,  die  ihre  Realität 
zugeben,  noch  keineswegs  gelöst.  Es  gibt  hier  eine  unerschöpf* 
liehe  Mannigfaltigkeit  des  Ausdrucks  —  man  denke  im  Gegen* 
satz  zu  Müller  an  Kerner  —  und  daher  sind  Fehler  der  Inter* 
pretation  sehr  naheliegend. 


254 

ZU  überliefern.  Wir  gingen  nun  an  den  Strand  hin 
gegen  Stolpmünde,  aber  ich  bedauerte  insgeheim,  mit 
einem  so  rohen  Menschen  gehen  zu  müssen,  und  bat 
Gott,  mich  von  ihm  zu  erlösen.  Nach  einer  halben 
Stunde  zeigte  der  Soldat  Lust,  sich  in  die  See  zu 
stürzen.  (Man  meinte  überhaupt,  er  sei  nicht  recht 
bei  Verstand.)  Sein  Kamerad  verwies  ihm  sein  Be* 
tragen.  Bisher,  sagte  er,  hast  du  diesen  (auf  mich 
deutend)  umbringen  wollen,  und  nun  willst  du  dich 
selbst  töten.  Du  siehst  daraus,  was  für  ein  böser 
Mensch  du  bist.  Bald  nachher  fiel  der  andere  Soldat 
im  Gehen  um  und  konnte  auf  keinem  Fuße  mehr 
stehen.  Wir  suchten  ihm  zu  helfen,  aber  es  ging 
nicht.  Er  bat  daher  seinen  Kameraden,  er  möge  dem 
Schulzen  des  nächsten  Dorfes  auftragen,  ihn  durch 
eine  herausgeschickte  Fuhre  nachholen  zu  lassen.  Der 
Soldat  tat  dies  aber  nicht.  Ich  erinnerte  ihn  zwar 
daran,  er  antwortete  mir  aber:  Nein!  Denn  jener 
habe  durch  sein  Betragen  deutlich  genug  gezeigt,  daß 
er  nicht  besser  als  ein  Vieh  sei.  Auch  wäre  er  schuld, 
daß  ich  so  schlimm  behandelt  sei,  er  habe  dafür  von 
den  Bauern  Geld  genommen.  In  Stolpmünde,  in  einem 
Wirtshause,  trafen  wir  den  Bedienten  eines  gewissen 
Herrn  Inspektors.  Der  Bediente  hatte  von  mir  ge* 
sprochen.  Der  Herr  Inspektor  ließ  mich  also  in  der 
Nacht  des  Ostersamstags  zu  sich  kommen.  Ich  er* 
zählte  ihm  meinen  Auftrag  und  mein  Geschah  und 
blieb  bis  2  Uhr  morgens  bei  ihm.  Ich  sollte  noch 
länger  bei  ihm  bleiben,  aber  ich  wollte  nicht.  Er  er* 
bot  sich  dazu,  daß  auch  er  sich  vor  dem  Könige  stellen 
wolle,  wenn  derselbe  mir  etwa  nicht  glauben  wolle. 
Es  hieß,    3  Meilen  unter  Stolpmünde  werde  ein 


255 

Schiff  nach  Danzig  abgehen,  es  war  aber  keins  da. 
Ich  wurde  also  mit  mehreren  preußischen  Soldaten» 
die  sich  selbst  ranzioniert  hatten,  die  Osterfeiertage 
über  einquartiert.  Am  Osterdienstag  hieß  es,  es  werde 
ein  Boot  ausgerüstet,  mit  welchem  wir  nach  Danzig 
fahren  sollten.  Wir  gingen  also  die  See  aufwärts 
und  fanden  da  wirklich  ein  großes  Boot.  Man  sagte 
uns  aber,  wir  sollten  einen  günstigen  Wind  abwarten. 
Ich  wurde  also  zu  6  preußischen  Soldaten  einquars^ 
tiert.  In  der  Nacht  segelten  die  andern  ohne  uns  7 
ab.  Früher  schon  sagten  sie,  sie  nähmen  uns  nicht 
mit,  es  sei  denn,  daß  ich  ihnen  verspräche,  daß  sie 
glücklich  nach  Danzig  kommen  würden.  Ich  hatte 
ihnen  aber  geantwortet:  „Daß  ich  glücklich  ankommen 
würde,  wisse  ich  gewiß;  wenn  sie  also  mit  mir  reiseten» 
würden  sie  ja  auch  wohl  glücklich  ankommen!" 
6  Stunden  nach  ihrer  Abreise  ohne  uns  mußten  sie 
aber  widrigen  Windes  halber  wieder  zurück.  Wir  7 
gingen  nun  zu  Fuß  wieder  nach  Rügenwalde  zurück. 
Hier  trafen  wir  einen  Husarenwachtmeister  vom  Schill* 
sehen  Korps  an.  Er  erkundigte  sich  zuvor  nach  mir 
bei  den  6  Soldaten  und  bezeigte  sich  dann  ungemein 
liebreich  und  freundlich  gegen  mich.  Schon  am  foU 
genden  Tage  wurden  wir  auf  einem  Boote  nach  Kol«* 
berg  eingeschifft.  Zwar  wollten  die  Soldaten  es  nicht 
leiden,  daß  ich  mit  in  das  Boot  käme,  aber  der 
Wachtmeister  jagte  sie  aus  dem  Boote  und  ließ  mich 
hinein  kommen.  Alle  Mitfahrenden  bekamen  die 
Seekrankheit,  ich  aber  nicht. 

In  Kolberg  wurden  wir  alle  vor  den  Komman* 
danten  geführt.  Er  fragte  mich  nach  dem  Zweck 
meiner  Reise  und  lachte  anfangs   darüber,  war  aber 


256 

doch  nachher  zur  Fortsetzung  meiner  Reise  sehr  be* 
hilflich.  So  schickte  er  einen  Korporal  mit  mir  an 
das  Schiff,  damit  auch  ich  mit  denjenigen  Soldaten, 
die  unter  Schill  nicht  dienen  wollten,  nach  Pillau  ge* 
bracht  werde.  Es  war  ein  so  großes  Schiff,  daß 
118  Mann,  mehrere  Pferde  und  Gewehre  darauf  fahren 
konnten.  Mit  anbrechendem  Tag  fuhren  wir  fort; 
ich  legte  mich  nieder,  und  jene  6  Soldaten  legten 
sich  zu  mir. 

Gleich  am  ersten  Tage  spotteten  6  Offiziere  über 
Gott  und  alles,  was  heilig  ist.  Ich  konnte  es  zuletzt 
nicht  mehr  anhören  und  bestrafte  sie.  Mich,  sagte 
ich,  könnten  sie  verspotten;  aber  über  Gott  sollten 
sie  nicht  spotten,  sondern  bedenken,  daß  sie  auf 
einem  gefährlichen  Platze  wären.  Sie  spotteten  jetzt 
aber  noch  viel  mehr  und  sagten:  der  besorgt  gewiß, 
der  Teufel  werde  ihn  holen.  Ich  erwiderte:  Mich 
holt  der  Teufel  nicht,  aber  an  euch  könnte  wohl  die 
Reihe  kommen.  In  der  Nacht  darauf  kam  in  dem 
Schiffe  Feuer  aus,  und  brannte  es  bis  in  der  Nacht 
um  1  Uhr.  Der  Jammer  ward  unbeschreiblich  und 
stieg  noch  höher,  als  es  hieß,  die  Schiffsleute  wollten 
sich  von  dem  Schiffe  wegbegeben.  Jetzt  ermahnte 
ich  sie  zur  Ruhe  und  zum  Beten  zu  Gott  um  Hilfe, 
und  versicherte  sie,  daß  keiner  von  uns  umkommen 
solle.  Jeder  legte  sich  nun  wieder  auf  seinen  Platz 
und  in  Zeit  von  einer  halben  Stunde  war  das  Feuer 
aus;  die  brennenden  Bretter  wurden  abgehauen  und 
ins  Wasser  geworfen.  (NB.  die  Offiziere,  die  so 
sehr  gespottet  hatten,  beteten  nun  am  lautesten.) 

Nun  wurde  es  so  stürmisch,  daß  die  Wellen 
hoch  über  das  Schiff  hinweg  schlugen.    Die  Matrosen 


257 


mußten  sogar  angebunden  werden,  damit  das  Wasser 
sie  nicht  mit  fortrisse.  Am  andern  Tage  stieg  ich  bei 
heiterem  Wetter  auf  das  Schift,  um  Tabak  zu  rauchen, 
hatte  aber  mein  Pfeifenrohr  verloren.  Die  Offiziere 
wollte  ich  nicht  um  ein  Rohr  ansprechen,  damit  sie 
nicht  aufs  neue  Gelegenheit  zum  Spotten  bekämen, 
deshalb  wendete  ich  mich  an  3  badische  Soldaten, 
die  vor  Kolberg  gefangen  genommen  waren.  Kaum 
aber  bemerkten  dies  die  Offiziere,,  so  litten  sie  es 
nicht,  sondern  gaben  selbst  mir  eine  Pfeife  mit  dem 
Zusatz:  wenn  ich  nicht  gewesen  wäre,  würden  sie 
alle  zugrunde  gegangen  sein.  Der  Schiffskapitän  er^ 
widerte:  Dieser  (mich  meinend)  hätte  können  glück*» 
lieh  davon  kommen  und  doch  ihr  alle  versaufen, 
denn  solche  Spötter  habe  ich  noch  nie  gehört.  Ge«: 
schiebt  dergleichen  aber  wieder  einmal,  so  werde  ich 
die  Spötter  in  die  See  werfen. 

In  Pillau  wollte  der  Schiffer  mich  auf  dem  Schiffe 
behalten;  der  Schiffskapitän  aber  wollte  mich  miU 
nehmen.  Der  Kommandant  gab  es  jedoch  nicht  zu, 
weil  ich  erst  verhört  werden .  müßte.  Man  brachte 
mich  daher  auf  die  Wache,  wo  ich  drei  Tage  warten 
mußte,  bis  der  zurück  kam,  der  mich  verhören  sollte. 
Am  ersten  dieser  3  Tage  kam  ein  Offizier  dahin  und 
ließ  mich  in  das  Zimmer  des  wachthabenden  Offiziers 
holen.  Da  fand  ich  ihrer  mehrere,  die  sich  mit  mir 
über  meinen  Auftrag  unterredeten.  Einer  von  ihnen, 
ein  kleiner  Mensch,  setzte  mir  den  bloßen  Degen 
auf  die  Brust  und  fragte  mich,  ob  ich  glaube,  daß 
dieser  Degen  mich  durchbohren  könne?  Ich  ant* 
wortete  ihm:  Das  können  Sie  probieren!  Am  zweiten 
Tage   kamen  wieder  andere  Offiziere  auf  die  Wache 

Kemmerich,   Prophezeiungen  17 


258 

und  ließen  mich  holen.  Sie  legten  mir  zwei  bloße 
Degen  auf  den  Kopf  und  ließen  mich  schwören,  daß 
ich  kein  Spion  sei,  welches  ich  denn  auch  mit  gutem 
Gewissen  tat.  Dann  fragten  sie:  Wenn  sie  mich  nun 
aber  nicht  zum  Könige  ließen,  sondern  mich  wieder 
zurückschickten?  Ich  antwortete:  Zum  Könige  käme 
ich  doch,  wenn  sie  mich  auch  wieder  zurückschickten. 
Darauf  antworteten  sie:  Nun,  so  sollte  ich  dann  zum 
Könige  kommen.  Endlich  kam  ich  ins  Verhör  zu 
einem  Offizier,  den  ich  aber  weiter  nicht  kenne.  Ich 
setzte  ihm  alles  auseinander,  und  er  schrieb  es  auf. 
Am  folgenden  Tage  ging  ich  mit  unbewehrten  SoU 
daten  nach  Königsberg.  Ein  Junker  hatte  das  Proton 
koll  über  mich  bei  sich  und  trug  es,  während  ich 
mit  den  Soldaten  in  der  Wachtstube  blieb,  zum 
General  Rüchel.  Nach  einer  halben  Stunde  kam 
dessen  Bedienter,  um  mich  zu  seinem  Herrn  zu  holen. 
Es  war  Mittagsessenszeit,  als  ich  zum  General  Rüchel 
kam.  In  dem  Zimmer,  in  welches  ich  gebracht  wurde, 
fand  ich  viele  Offiziere,  russische,  schwedische,  eng«« 
lische  und  preußische.  Auch  sie  fragten  mich  nach 
meinem  Geschäfte.  Ich  sagte  es  ihnen.  Dann  wollten 
sie  wissen,  ob  ich  ihnen  denn  auch  alles  gesagt 
hätte.  Ich  antwortete:  „Ein  paar  Worte  könne  und 
dürfe  ich  nur  dem  Könige  selbst  sagen.  An  sie  sei 
ich  nicht  gesandt.  Wollte  der  König  sie  ihnen  aber 
sagen,  so  habe  ich  nichts  dawider.** 

Einer  derselben  führte  mich  in  ein  anderes  Zimmer 
und  gab  mir  zu  essen  und  Wein.  Wohl  5— 6  mal 
fragte  er  mich  über  meine  gehabten  Erscheinungen, 
ich  antwortete  ihm  aber  jedesmal  die  Wahrheit.  Dann 
wurde  ich  ins  Bcdicntcnzimmcr  geführt.    Am  andern 


259 


Tage  sollte  ich  vor  die  Königin.  Ein  Bedienter  des 
General  Rüchel  führte  mich  dahin.  Ich  fand  wohl 
an  200  Offiziere.  Man  fragte  mich,  ob  ich  denn  der 
Königin  nicht  alles  sagen  wolle?  „Nein!**  antwortete 
ich,  ,,wenn  ich  aber  mit  dem  Könige  rede,  so  kann 
die  Königin  dabei  mir  zuhören."  Ich  wurde  dann 
wieder  nach  Hause  gebracht,  bis  der  König  käme. 
Die  Königin  konnte  dies  aber  doch  nicht  erwarten, 
sondern  sie  und  ihre  Schwester  ließen  mich  an  dem* 
selben  Tage  wieder  holen. 

Ich  fand  niemand  in  dem  Zimmer,  als  die  Königin, 
ihre  Schwester^)  und  einen  Prinzen.  Die  Königin 
fragte  mich,  ob  ich  ihr  denn  nicht  alles  sagen  wolle? 
Und  warum  nicht?  Ich  antwortete:  ,,Es  schicke  sich 
nicht,  ihr  dasjenige  früher  mitzuteilen,  was  ich  dem 
Könige  zu  sagen  habe."  Sie  versicherte  mich  dann, 
der  König  sei  ein  braver  Herr,  ich  sollte  mich  nur 
gar  nicht  vor  ihm  scheuen,  sondern  ihm  alles  ohne 
Furcht  sagen.  Ich  antwortete  ihr,  daß  ich  mich  auch 
gar  nicht  vor  dem  Könige  scheue.  Darauf  gab  sie 
Befehl,  daß  man  mir  täglich  1  Gulden  gebe,  und 
daß  der  General  Rüchel  mich  speisen  sollte,  bis  der 
König  komme.  Auch  sie  selbst  gab  mir  etwas  Geld. 
Die  Sache  wurde  dem  Könige  gemeldet,  und  am 
fünften  Tage  nachher  kam  derselbe  nach  Königsberg. 
In  der  Nacht  um  10  Uhr  ward  ich  zum  Könige  ge* 
holt.  Er  war  mit  der  Königin  ganz  allein.  Er  stand 
mir  zur  linken  und  sie  zur  rechten  Seite.  Ich  machte 
dem  Könige  mein  Kompliment  und  bat  ihn,  er  möge 
es   mir  nicht  übelnehmen,    daß  ich,    als  ein  geringer 

*)  Die  damalige  verwitwete  Prinzessin  Ludwig,  nachmalige 
Herzogin  von  Cumberland. 

17* 


260 

Mann,  es  wage,  ihm  Vorschriften  zu  geben,  wie  er 
seine  Sachen  einrichten  solle.  Der  König  klopfte  mir 
auf  die  Achsel  und  sagte:  ich  solle  ihm  gar  nichts 
verhehlen,  sondern  ihm  alles  sagen,  er  nehme  es  mir 
nicht  übel.  Da  erzählte  ich  ihm,  daß  ich  die  vers= 
schiedenen  Erscheinungen  gehabt,  und  daß  der  alte 
Mann  mir  die  Kapitel  aus  dem  Jesaias  gezeigt  habe, 
die  er  lesen  und  darnach  sein  Land  regieren  sollte. 
Daß  er  ferner  seine  Untertanen  durch  die  Geistlich* 
keit  auffordern  solle,  Buße  zu  tun  und  sich  zu  bes* 
sern,  weil  sonst  nicht  Friede  werden  könne.  Wenn 
aber  dies  geschehe,  so  werde  es  wieder  besser  werden. 
Frankreich  werde  in  drei  Teile  geteilt^)  und  die  neue 
Stadt  zum  Gedächtnis  erbauet  werden. 

Der  König  antwortete:  Er  allein  könne  das  nicht 
und  die  Köpfe  der  Leute  seien  zu  verdreht.  Ich 
erwiderte:  Er  solle  nur  seine  Schuldigkeit  tun,  ich 
wolle  die  meinige  auch  tun.  Der  alte  Mann  habe 
mich  versichert,  daß  Gott  den  König  und  den  Kaiser 
von  Rußland  dazu  ausersehen  hätten. 

Täten  sie  es  aber  nicht,  so  werde  Gott  durch 
Hungersnot  und  Pest  strafen,  so  daß  von  100  Mann 
nur  10  übrig  blieben,  diese  aber  würden  dann  Gott 
die  Ehre  geben  und  sich  bekehren.  Der  König  ver*« 
sprach,    er  wolle    seine  Schuldigkeit   tun.     Es    wurde 


')  Diese  Vorhersage  kehrt  immer  wieder.  Tatsächlich  wurde 
Frankreich  ja  später  verkleinert,  aber  von  einer  Dreiteilung  zu 
reden,  ist  doch  nicht  angängig.  Auch  Neu; Jerusalem  vergilbt 
Müller  nie.  Dali  solche  Prophezeiungen  religiöser  Art  nicht  in 
Frfüllung  gehen,  konnten  wir  schon  wiederholt  beobachten. 
Das  dürfte  zum  Teil  daher  kommen,  dali  es  sich  hier  gar  nicht 
um  Fernsehen,  sondern  um  biblische  Reminiszenzen  handelt. 


261 

auch  an  den  russischen  Kaiser  geschrieben,  auch  war 
es  bestimmt,  daß  er  kommen  wolle,  so  daß  der  König 
und  gar  viele  Offiziere  ihm  entgegen  ritten,  aber  er 
kam  nicht.  Der  König  griff  in  die  Tasche  und 
wollte  mir  Geld  geben;  ich  bedankte  mich  aber,  weil 
ich  kein  Geld  nötig  hätte.  Meine  Kost  hätte  ich 
beim  General  Rüchel,  sagte  ich,  und  die  Königin 
habe  schon  befohlen,  daß  man  mir  des  Tages 
1  Gulden  gebe,  und  das  sei  mehr  als  genug.  Die 
Königin  sagte  jetzt,  ich  sollte  jetzt  künftig  2  Gulden 
haben,  welches  ich  aber  ausschlug.  Der  König  sagte, 
ich  möchte  das  Geld  nur  nehmen,  es  sei  teuer  in 
Königsberg  und  Geld  brauche  man  doch  immer. 
Darauf  drückte  mir  die  Königin  das  Geld  in  die  Hand. 

Der  König  gab  mir  nun  zu  erkennen,  daß  ich 
fortgehen  möge.  Ich  tat  es.  Vor  dem  Zimmer  stand 
die  Schwester  der  Königin.  Auch  sie  selbst  kam 
mir  nach  und  beide  sprachen  noch  '^/^  Stunden  mit 
mir,  befragten  mich  nach  der  Gegend  von  Wiesloch, 
sowie  nach  manchen  Gastwirten^),  ob  sie  noch  lebten. 
Dann  ging  ich  wieder  in  das  Haus  des  General 
Rüchel. 

Da  der  russische  Kaiser  nicht  kam,  fuhr  der 
König  wieder  fort  von  Königsberg.  Ich  ließ  die 
Sache  wegen  des  russischen  Kaisers  auf  sich  beruhen, 
weil  doch  der  König  versprochen  hatte,  es  zu 
besorgen. 

Am  4.  Junius  hatte  ich  wieder  eine  Erscheinung. 
Ich  sah  nämlich  die  Franzosen  gegen  Königsberg  an:« 
marschieren  und  bemerkte  deutlich,  woher  sie  kamen. 

')  Beide  sind  durch  jene  Gegenden  gereist  (Anm.  des 
Protokolls  S.  48). 


262 

Femer,  daß  es  eine  heiße  Schlacht  gebe  und  daß 
man  meinen  werde,  es  sei  alles  verloren;  daß  man 
aber  nicht  zurückweichen  solle,  denn  am  17ten  werde 
alles  wieder  gewonnen  werden.  Unter  anderm  wurde 
mir  befohlen,  ich  möge  mit  6000  Mann  auf  das 
flache  Feld  gehen,  wo  mir  denn  der  Feind  in  die 
Hände  gegeben  werden  solle.  Ich  bat  aber  mich  da* 
mit  zu  verschonen,  weil,  wenn  auch  alles  so  geschehe, 
die  Ehre  doch  immer  nicht  Gott  werde  gegeben 
werden.  Darauf  antwortete  die  Erscheinung:  so 
möge  ich  es  denn  gehen  lassen,  es  werde  alles  wieder 
gut  werden.  Aber  es  kam  so  weit  nicht;  —  denn 
es  wurde  Waffenstillstand  gemacht. 

Am  4ten  Julius  abends,  als  ich  eben  zu  Bette 
gehen  wollte  und  nur  bloß  die  Beinkleider  an  hatte, 
kam  ich  auf  einmal  weg  und  wußte  nicht,  wo  ich 
war.  Es  schien  mir,  als  wenn  viele  Soldaten  an  mir 
vorüber  marschierten,  ein  Teil  von  Abend  her, 
ein  anderer  von  Mitternacht  her,  alle  aber  gegen 
Frankreich.  Morgens,  beim  Aufstehen,  erzählte  mir 
der  Kammerdiener:  es  werde  bald  Friede  sein.  Ich 
antwortete:  das  werde  nichts  helfen,  der  Friede  werde 
nicht  lange  dauern,  denn  ich  hätte  in  der  \eu 
gangenen  Nacht  die  eben  erwähnte  Erscheinung  ge* 
habt.  Der  Kammerdiener  erzählte  dies  dem  General 
Rüchel  und  dieser  dem  Geheimrat  Simson  und  dem 
Grafen  Brühl.  Vielleichthater  es  auch  dem  König  erzählt, 
doch  weiß  ich  dies  nicht.  Darauf  ging  ich  am  Tage 
vor  dem  Einmarsch  der  Franzosen  in  Königsberg 
mit  dem  General  Rüchel  und  seinem  Gepäcke  von 
Königsberg  ab  nach  Memel.  In  Memel  wurden  wir 
im    Hause    des   Kaufmann  Wachs    einquartiert.      Als 


263 


bald  nachher  der  General  Rüchel  seinen  Abschied 
bekommen  hatte,  ging  er  mit  seinem  Kammerdiener 
zu  Wasser  nach  Stralsund. 

Sein  Adjutant,  ein  Hauptmann,  sollte  mir  nun 
das  Geld,  täglich  1  Gulden,  ausbezahlen,  wie  die 
Königin  befohlen  hatte;  allein  ich  forderte  es  nicht 
und  er  ging  ab,  ohne  es  mir  zu  geben.  Die  Be* 
dienten    und  Pferde   blieben  da  und    ich    mit    ihnen. 

Unser  Quartier  war  in  Wachsens  Hofe.  Da  sie 
denn  aber  nach  Pommern  abgehen  wollten,  verlangten 
sie,  ich  sollte  mit  ihnen  reisen.  Ich  antwortete,  ich 
müsse  es  noch  einmal  mit  dem  Königebesprechen,  wo* 
gegen  sie  meinen,  ich  solle  doch  lieber  an  ihn  schreiben. 

Wirklich  schrieb  ich  nun  an  den  König  und 
gab  den  Brief  seinem  Kammerdiener,  erhielt  aber 
keine  Antwort  darauf.  Der  Geheimrat  Simson  fragte 
mich  bald  darauf,  ob  ich  keine  Antwort  bekommen 
habe?  und  ich  versicherte  ihn:  Nein!  Ei,  meinte  er, 
wenn  der  König  meinen  Brief  bekommen  habe,  so 
hätte  ich  gewiß  auch  Antwort  erhalten,  er  wisse 
nicht  wie  das  sei.  Als  ich  einige  Tage  nachher  wieder 
zu  ihm  kam,  fragte  er  mich,  wo  ich  mich  jetzt  aufs» 
hielte?  Ich  antwortete  in  Wachsens  Hofe  und  setzte 
hinzu:  es  seien  aber  dort  lauter  Russen.  Da  sagte 
er,  ich  möge  doch  am  nächsten  Sonntage  in  Bach* 
manns  Hoff  (Haus)  kommen,  dort  sei  General 
Knobloch  einquartiert,  und  der  Graf  Brühl  werde  auch 
dahin  kommen.  Ich  ging  also  hin.  Als  sie  gespeist 
hatten,  redeten  sie  mit  mir  und  befahlen  mir  am 
andern  Tage  wieder  zu  kommen;  der  General  werde 
mir  geben,  was  ich  brauche  und  der  Hof^^Inspektor 
das  Essen. 


264 

Etwa  einen  bis  zwei  Tage  nachher  kamen  der 
Graf  Brühl  und  der  Geheimrat  Simson  zu  mir  und 
ratschlagten,  wie  es  anzufangen  sei,  daß  ich  den  König 
sprechen  könne.  Ich  teilte  ihnen  alles  mit,  was  ich 
wußte,  und  setzte  hinzu,  daß  alles  so  kommen  werde, 
wie  ich  gesagt  hätte,  folglich  schlimm,  wenn  man 
nicht  tue,  was  ich  angedeutet  habe.  Endlich  be** 
schlössen  sie,  ich  möge  alles  aufschreiben  z.  E.  was 
ich  für  Erscheinungen  gehabt  habe  usw.  Das  tat 
ich  dann  und  der  Planinspektor  mußte  es  abschreiben. 
Der  Graf  Brühl  wollte  es  dem  Könige  übergeben, 
hat  es  aber  nicht  getan.  So  oft  ich  darnach  fragte, 
antwortete  er:  er  habe  noch  keine  schickliche  Gq^ 
legenheit  dazu  gefunden.  Ich  erwiderte,  wenn  es 
sich  nicht  schicken  wolle,  es  dem  König  selbst  zu 
geben,  so  möge  er  es  seiner  Gemahlin,  der  Königin 
geben.     Er  tat  aber  auch  dies  nicht. 

Späterhin  schrieb  ich  alles  noch  einmal  auf  und 
gab  es  auf  die  Post,  da  erhielt  ich  mit  der  Post 
folgende  Antwort: 

„Sr.  Königl.  Majestät  von  Preußen  machen  dem 
Johann  Adam  Müller  hierdurch  nachrichtUch  bekannt, 
daß  Sie  seine  unterm  3ten  dieses  eingereichte  Ein* 
gäbe  wohl  erhalten  haben  und  die  von  ihm  dabei  ge* 
habte  gute  Absicht  nicht  verkennen  wollen. 
Memel  den  3ten  Jannar  1808 

Friedrich  Wilhelm.'* 

Einige  Zeit  nachher  hatte  ich  wieder  eine  Er* 
scheinung.  Ein  Engel  nämlich  hatte  ein  Schwert  in 
der  Hand,  so  hell  wie  ich  noch  nie  eins  gesehen 
habe.  Er  gab  es  mir  in  die  Hand  und  sagte:  damit 
solle   der    l'cind   geschlagen   werden.     Ich   möge   auf«« 


265 

stehen  und  dem  Könige  sagen,  er  solle  den  Propheten 

Arnos    und  Jonas,    aber   beide    Bücher    ganz    durchs 

lesen. 

Nicht    lange    nachher    faßte    mich    des    Nachts 

etwas  bei  der  Hand.     Ich  erwachte,  richtete  mich  auf 

und   sah    zwei    weibliche    Gestalten    in    ganz    weißen 

Kleidern.     Die   zur  Rechten   hatte   ein   rotes,   die   zur 

Linken    ein   blaues   Band    um   den   Leib.     Sie   trugen 

ein  großes  Buch  in  die  Hände  auf  mein  Bette.     Ich 

betrachtete  die  Krone  genau  und  bemerkte  ein  Wort, 

dessen  eine  Hälfte  auf  der  linken,  die  andere  auf  der 

rechten  Seite    der   Krone    stand.     Das  Wort    war    so 

geschrieben: 

Bera  —  beae. 

Ich  fragte  sie,  wer  sie  wären?  Sie  antworteten 
sie  wären  zwei  Königinnen.  Sie  hätten  dem  Könige 
der  Ehren  noch  nie  ein  Lied  gesungen,  auch  hätten 
sie  kein  Lied  ihm  damit  zu  dienen.  Ich  sann  hin 
und  her  und  dann  versicherte  ich  sie,  daß  ich  ihnen 
2  Lieder  machen  wolle,  wenn  sie  darauf  warteten. 
Die  Lieder  würden  von  Gott  und  Jesu  Christo 
handeln.  Gut,  antworteten  sie,  ich  möge  sie  nur 
recht  schön  machen;  und  vor  großer  Freude 
darüber  lächelten  sie  mich  an.  Dann  aber  sagten 
sie,  sie  hätten  nicht  länger  Zeit  darauf  zu 
warten;  doch  wollten  sie  wieder  kommen  die 
Lieder  abzuholen.  Nun  nahmen  sie  das  Buch  wieder 
zu  sich  und  verschwanden.  Über  ihr  schnelles  Ver* 
schwinden  erschrak  ich^. 

^)  Ich  bemerke  eventuellen  Vermutungen  gegenüber,  daß 
ich  durchaus  nicht  Spiritist  bin  und  daher  an  eine  objektive 
,, Erscheinung"    auch    nicht  glauben  kann.     Vielmehr    dürfte    es 


266 

Einige  Tage  nachher  erschienen  mir  zwei  Adler, 
ein  schwarzer  und  ein  gelber,  und  kämpften  sehr 
lange  miteinander,  dicht  vor  meiner  Bettlade.  Endlich 
wurde  der  gelbe  Adler  besiegt,  so  daß  er  sich  vor 
Mattigkeit  auf  den  Boden  legte.  Da  trat  der  schwarze 
auf  ihn,  bis  der  gelbe  allmählich  verging.  Als  dieser 
verschwunden  war,  verschwand  auch  nachher  der 
schwarze. 

Dann  kam  der  alte  Mann,  der  mir  in  meinem 
eigenen  Hause  erschienen  war,  zum  drittenmal  zu  mir, 
und  wurde  es  dabei  wieder  so  hell,  als  das  erstemal. 
Ich  wachte  vollkommen.  Er  setzte  sich  nun  mir  zur 
Seite  und  hatte  ein  Buch  wie  eine  Handbibel,  es  war 
aber  sehr  prächtig  und  mit  lauter  goldenen  Buch»» 
Stäben.  Er  redete  mir  zu,  ich  sollte  mich  nicht 
fürchten  und  mutig  verrichten,  was  ich  zu  tun  habe; 
denn  es  solle  mir  kein  Unglück  widerfahren,  er  werde 
mir  allemal  helfen.  Dann  öffnete  er  mir  das  Buch 
und  sagte:  Die  zwei  Königinnen,  die  mir  erschienen 
wären,  seien  zwei  Königreiche,  die  das  Christentum 
noch  nicht  angenommen  hätten.  Sobald  die  Christen 
sich  gebessert  hätten,  würden  sie  kommen  und  den 
christlichen  Glauben  annehmen. 

Dann  las  ich  folgendes: 

So  ihr  mich  liebet,  so  werde  ich  euch  wieder 
lieben,  und  so  ihr  mich  ehret,  so  werde  ich  euch 
wieder  ehren.  Dann  will  ich  mit  meinem  heiligen 
Engel  vor  euch  hergehen  und  will  für  euch  streiten. 

sich  hier  um  nichts  anderes  als  Träume  handeln.  Daß  es  zum 
guten  Teil  Wahrträume  sind,  geht  aus  der  folgenden  Er* 
scheinung  hervor.  Müller  hatte  sich  zweifellos  in  die  Rolle 
einer  .\rt  von  (ilauhcnsapostel  hineingelebt. 


267 


Und  ein  jeder  soll  erkennen,  daß  ich  der  Herr  bin 
und  tun  kann,  was  ich  will.  Die  aber,  die  es  nicht 
aut*  und  annehmen  und  wollen  mein  Werk  ver* 
hindern,  auf  die  wird  Feuer  vom  Himmel  fallen  und 
die  Erde  wird  ihren  Rachen  auftun  und  sie  verzehren, 
damit  ein  jeder  erkennen  müsse,  daß  ein  Gott  im 
Himmel  sei. 

Dann  verschwand  der  alte  Mann  für  diesmal. 

Zum  viertenmal  erschien  er  mir  in  einem  blauen 
Rocke.  Da  kam  ich  mit  ihm  weg  und  wußte  nicht, 
wie  mir  war.  Unterwegs  gesellte  sich  einer  zu  uns 
mit  einem  weißen  Kleide.  Der  alte  Mann  fragte  ihn, 
wo  er  hin  wollte?  „Ich  bin  von  Gott  gesandt," 
sagte  er.  Gut,  antwortete  der  alte  Mann,  so  komm 
und  hilf  mir  streiten,  damit  der  böse  Feind  über^^ 
wunden  werde,  der  so  viele  Menschen  verderbt  hat! 
Dies  hat  Gott  gesagt.  Darauf  versprach  der  im 
weißen  Kleide,  er  wolle  ihm  helfen  kämpfen,  aber 
er  solle  dann  auch  mit  ihm  gehen  und  ihm  helfen, 
daß  er  seine  Sache,  die  ihm  Gott  befohlen  habe, 
auch  ausrichten  könne,  worauf  der  alte  Mann,  ja! 
antwortete. 

Mit  einem  Male  befand  ich  mich  wieder  im  Bette 
und  wachte  vollkommen,  gerade  wie  zuvor.  Dies  alles 
habe  ich  ebenfalls  dem  Könige  geschrieben. 

Am  17.  April  erhielt  ich  folgenden  ersten  Brief 
von  meiner  Frau: 

(Folgt  Seite  56—58  der  Brief,  dessen  wesentlicher 
Inhalt  die  Bitte  um  baldige  Rückkehr  ist.  Der  Familie 
Müller  geht  es  gut.) 

Ich  war  früher  entschlossen  gewesen,  bald  zu 
den  Meinigen  zurückzukehren,  aber  etwa  sechs  Wochen 


268 

vorher  hatte  ich  eine  Erscheinung,  wobei  mir  an# 
gekündigt  wurde,  ich  werde  noch  acht  Wochen  in 
Memel  bleiben,  müsse  aber  vor  meiner  Abreise  mein 
Schreiben  an  den  König  ihm  selbst  überreichen. 

Der  Kaufmann  Concentius,  in  dessen  Hause  der 
König  in  Memel  gewohnt  hatte,  brachte  mir  persön*» 
lieh  den  Brief  von  meiner  Frau  und  fragte  mich, 
was  ich  zu  tun  willens  sei?  Ich  antwortete,  ich  sei 
auch  ohne  diesen  Brief  schon  zur  Rückreise  enU 
schlössen  gewesen,  ich  wollte  bloß  noch  einmal  mit 
dem  Könige  in  Königsberg  sprechen.  Da  bot  er  mir 
an,  er  wollte  mir  einen  Kahn  bis  Königsberg  bestellen 
und  mir  auch  das  nötige  Reisegeld  geben.  Ich  erfuhr 
aber,  daß  der  General  Knobloch  zu  Lande,  und  der 
Planinspektor  zur  See  nach  Königsberg  reisen  würden 
und  daß  ich  mit  dem  Letzteren  dahin  kommen  könne. 
Weil  wir  nun  noch  zwei  Tage  lang  auf  günstigen 
Wind  zur  Abfahrt  warten  mußten,  so  wurden  die 
mir  angekündigten  acht  Wochen  gerade  vollendet. 

In  Königsberg  kam  ich  in  das  Haus  des  Plan* 
inspektors.  Er  übergab  mir  dann  einen  Brief  von 
dem  Herrn  Concentius  an  Herrn  Abegg  und  ein 
paar  Zeilen  an  den  Geheimenrat  Simson  und  an  den 
Herrn  Oberhofprediger  in  Königsberg.  Letzterer  nahm 
mich  sehr  gütig  auf  und  fragte  mich,  ob  ich  der* 
jenige  sei,  von  dem  er  schon  so  vieles  gehört  habe? 
Er  wünschte  meine  Geschichte  zu  wissen,  ich  ant«« 
wertete  aber:  sie  sei  zum  Erzählen  zu  weitläuftig, 
aber  ich  habe  alles  zu  Papier  gebracht,  um  es  dem 
Könige  zu  übergeben  und  wolle  es  ihm  zum  Durch* 
lesen  bringen. 

Er  las  das  Ganze  durch  und  sagte  dann:  , .Wollte 


269 


doch  Gott,  daß  alles  das  geschehe,  was  hierin  gQf 
schrieben  ist!"  Darauf  bot  er  mir  seine  Hilfe  an, 
insofern  ich  ihrer  bedürfe. 

Da  ich  den  König  selbst  zu  sprechen  wünschte, 
gab  er  mir  den  Rat,  meinen  Aufsatz  am  folgenden 
Tage  dem  Könige  beim  Exerzieren  zu  überreichen, 
so  sich  dazu  die  beste  Gelegenheit  finden  werde. 
Ich  antwortete  ihm,  ich  scheue  mich  gar  nicht  vor 
dem  König  und  wolle  also  lieber  zu  ihm  ins  Schloß 
gehen.  Er  hieß  auch  dies  gut  und  bot  mir  noch 
einmal  seine  Hilfe  an,  wenn  ich  ihrer  bedürfe.  Als 
ich  ans  Schloß  kam,  standen  so  viele  Offiziere  da, 
daß  ich  nicht  hinein  gehen  wollte;  ich  wartete  also 
die  Wachtparade  ab.  Indes  hatte  aber  ein  Offizier, 
der  mich  kannte,  dem  General  Göcking  gesagt: 
Müller  sei  da!  Darauf  kam  dieser  zu  mir  und  fragte 
mich,  was  ich  wolle?  Ich  bat  ihn,  mich  beim  Könige 
zu  melden;  aber  er  antwortete:  das  gehe  nicht  wohl  an! 
Darauf  wurde  mich  der  Bruder  des  Königs  gewahr. 
Zugleich  sagte  man  mir,  wenn  ich  etwas  Schriftliches 
bei  mir  hätte,  so  sollte  ich  es  nur  abgeben,  es  werde 
besorgt  werden.  Ich  gab  also  das  Schreiben  dem 
General  Göcking  und  bemerkte  dabei,  daß  es  ja  der 
König  selbst  erhalte.  Wenn  es  dem  Könige  zu 
schwierig  sein  sollte,  so  möge  er  den  Königsberger 
Oberhofprediger  und  noch  irgendeinen  andern  Geist* 
liehen  dazu  nehmen.  Man  versprach  mir  dies  alles 
zu  bestellen. 

Am  andern  Tage  kam  der  Graf  Brühl  zu  mir 
und  brachte  mir  vom  Könige  einen  Louisdor;  ich 
wollte  ihn  aber  nicht  nehmen.  Er  behauptete,  ich 
müsse  ihn  nehmen,  denn  er  habe  Befehl  vom  Könige 


270 

ihn  mir  zu  geben.  Zugleich  erzählte  er  mir,  die 
beiden  Oberhof prediger,  sowohl  der  von  Berlin,  als 
der  von  Königsberg,  seien  berufen  worden.  Der 
erstere  habe  aber  die  ganze  Sache  verworfen,  und 
nichts  daraus  gemacht.  „Die  Herren  meinen,**  setzte 
Graf  Brühl  hinzu,  „wenn  sie  nur  in  Berlin  wären, 
so  seien  sie  im  Himmel!** 

Am  Himmelfahrtstage  bezog  sich  der  Ober^ 
hofprediger  in  Gegenwart  der  königlichen  Prinzen  in 
seiner  Predigt  auf  meine  Angelegenheit  und  wünschte, 
daß  Gott  alle  Herzen  regieren  möge,  damit  alle  sich 
bekehrten,  denn  sie  sähen  ja  deutlich,  die  Hand  des 
Herrn  aufgehoben,  sie  zu  strafen^). 

Am  zweiten  Tage  danach  kam  der  Graf  Brühl 
zu  mir  und  sagte:  Der  Hofmeister  des  einen  könig* 
liehen  Prinzen,  der  Geheimerrat  Reimann,  wünschte 
sehr  mich  zu  sprechen,  ich  möchte  doch  also  in  das 
Graf  Brühische  Haus  kommen,  der  genannte  Hof* 
meister  werde  auch  hinkommen.  Doch  stehe  es  in 
meinem  Willen.  Ich  ging  an  demselben  Abend  4^^  ^br 
hin  und  fand  den  Hofmeister  und  noch  einen  Offizier. 
Beide  verlangten,  ich  solle  ihnen  die  ganze  Sache 
noch  einmal  erzählen,  sie  wollten  sie  aufsetzen,  sie 
dem  Könige,  bei  dem  sie  täglich  wären,  vortragen 
und  dafür  sorgen,  daß  sie  nicht  vergessen  werde. 
Der  Offizier,  dessen  Namen  ich  aber  nicht  weiß, 
mußte  nun  aufschreiben.  Ich  erzählte  ihnen  in  drei 
verschiedenen  Tagen  alles  vom  Anfang  bis  zu  Ende. 
Als   alles   aufgeschrieben  war,    las  der  Hofmeister  es 

*)  Frau  von  St  ...  s  hat  diese  Predigt  mit  angehört,  und     I 
versichert,  da(^  sie  allgemeinen  und  sehr  tiefen  Eindruck  gemacht 
habe.     (Anm.  des  Protokolls,  S.  61.) 


271 


durch  und  sagte,  dies  sei  eine  Geschichte,  wie  keine 
besser  in  der  Bibel  stehe. 

Er  verlangte  nun  von  mir  zu  wissen,  was  das 
oben  angeführte  fremde  Wort  bedeute?  Ich  ant* 
wortete:  daß  ich  das  nicht  wisse.  Er  verstehe  ja 
mehrere  Sprachen,  müsse  es  also  wohl  besser  wissen» 
als  ich.  Dann  fragte  er,  aus  welcher  Sprache  denn 
das  Wort  sei?  Ich  antwortete:  das  wisse  ich  wohl,, 
daß  es  griechisch  sei.  Dann  besann  er  sich  lange, 
und  ich  zeichnete  ihm  das  Wort  noch  einmal  vor,, 
und  die  Krone  dazu,  gerade  so,  wie  ich  beide  gesehen 
hatte.  Darauf  sagte  er:  das  sehe  er  nun  wohl  ein» 
daß  es  ein  griechisches  Wort  sei,  auch  wisse  er  nun, 
was  es  bedeute.  Darauf  bat  er  sich  vom  Grafen 
Brühl  aus,  das  Schreiben  mit  nach  Hause  zu  nehmen» 
mit  dem  Versprechen  jedoch,  es  dem  Grafen  wieder 
zurück  zu  geben.  —  Mir  gestand  er,  daß  er  bei  der 
Königin  im  Anfange  über  meine  Geschichte  gelacht 
habe,  jetzt  aber  einsehe,  daß  alles  wahr  sei,  daß  er 
nun  nicht  mehr  darüber  lachen  werde.  Auch  wünschte 
er  noch  einmal  mit  mir  zu  sprechen,  ehe  ich  fortginge. 

Dann  bat  ich  den  Grafen  Brühl,  er  möge  mich 
mit  dem  Wagen,  der  nach  Berlin  gehe,  abreisen  lassen» 
aber  er  meinte,  das  werde  mir  zu  beschwerlich  sein» 
er  wolle  mir  einen  Freiplatz  auf  der  Post  besorgen. 
Wirklich  tat  er  dies  und  ich  hatte  den  Freiplatz  schon 
abgegeben,  als  er  sagte,  ich  könne  noch  nicht  ab* 
reisen,  weil  das  Reisegeld  noch  nicht  beisammen  sei. 
Ich  holte  mir  also  meinen  Freiplatz  von  der  Post 
wieder  ab.  Dann  fragte  mich  aber  Herr  Abegg,  ob 
ich  denn  wirklich  am  andern  Tag  abreisen  werde? 
Ich  erzählte  ihm  darauf  den  Vorfall  mit  dem  Grafen 


272 

Brühl.  O,  antwortete  er,  das  kann  noch  lange  so 
gehen!  und  redete  mir  dann  zu,  meine  Reise  zu  he^ 
schleunigen,  weil  meine  Frau  so  sehnlich  nach  mir 
verlange.  Das  nötige  Reisegeld  bot  er  selbst  mir  an 
und  fragte  mich  deshalb,  wie  viel  ich  wolle?  Zwanzig 
Taler,  antwortete  ich,  aber  er  behauptete,  daß  ich 
damit  nicht  auskommen  werde  und  gab  mir  fünfund* 
dreißig  Taler.  Hierauf  nahm  ich  Abschied  beim 
Grafen  Brühl  und  beim  Oberhofprediger  und  beide 
versprachen  mir,  sie  wollten  gern  alles  anwenden, 
um  die  gute  Sache  zu  fördern. 

Am  ersten  Pfingsttage  abends  um  7  Uhr  reiste  ich 
mit  der  freien  Post  von  Königsberg  ab  bis  Berlin. 
Von  Berlin  bis  Nürnberg  bezahlte  ich  das  Postgeld, 
von  Nürnberg  aus  machte  ich  den  Weg  zu  Fuße. 
Meine  ganze  Reise  dauerte  gerade  drei  Wochen. 
Die  Meinigen  fand  ich  gesund. 

(Unterschrieben) 

Hautz,    Pfarrer  in  Meckesheim. 
Johann  Adam  Müller.*' 

(Soweit  das  Protokoll.) 

Außer  obigem  langem  Potokoll  hat  Müller  noch 
Briefe  an  den  König  Friedrich  Wilhelm  III.  von 
Preußen  verfaßt,  in  denen  er  immer  wieder  die  Not«« 
wendigkeit  betont  an  Gott  und  Christus  zu  glauben 
und  mit  biblischen  Phrasen  aufs  verschwenderischste 
umgeht.  Mit  dem  nichtssagenden  Gefasel  würden 
wir  uns  nicht  weiter  befassen,  wenn  nicht  auch  Stellen 
in  den  Briefen  enthalten  wären,  die  sich  auf  die  seiner^ 
zeit  dem  König  gemachten  Prophezeiungen  beziehen 
und    beweisen,    daß    tatsächlich    eine    ganze    Reihe 


273 

von  ihnen  in  KrKillung  gegangen  ist.  Es  läßt 
sich  durchaus  nicht  annehmen,  daß  ein  Mann  wie 
Müller,  der  nach  Berichten,  aber  auch  nach  dem 
ganzen  Tenor  seines  ,,Protokolles**  zweifellos  an  seine 
Mission  glaubte  —  warum  hätte  er  sonst  ohne  Geld 
und  Paß  die  weite  Reise  gewagt,  was  ihm  doch  neben 
der  Trennung  von  Frau  und  fünf  Kindern  auch  he^ 
rufliche  Schädigung  brachte?  —  daß  ein  solcher  Mann 
es  hätte  wagen  sollen,  sich  auf  Prophezeiungen  zu 
beziehen,  die  er  gar  nicht  gemacht  hatte.  Aber  selbst 
wenn  er  diese  ungewöhnliche  Frechheit  besessen  hätte, 
so  würde  der  König  sie  zweifellos  haben  zurück^* 
weisen  lassen  statt  ihm  zu  danken. 

Wir  entnehmen  dem  Briefe  Müllers  vom  28.  Januar 
1815  an  den  König  folgenden  Passus^): 

.  .  .  Ihro  Majestät,  es  wird  Ihnen  noch  wohl  be** 
kannt  sein,  wie  mich  Gott  zu  Ihnen  gesandt  im  Jahre 
Christ  1807,  wie  ich  nach  Königsberg  gekommen  bin, 
da  wurde  ich  zum  General  Rüchel  und  Herrn  General 
Blücher  und  sonst  noch  zu  vielen  Herren  geführt, 
mit  welchen  ich  wegen  dessen  sprach,  um  welches 
willen  mich  Gott  zu  Ihnen  gesandt  hatte.  Dann  hat 
der  General  Rüchel  mich  bei  Ihro  Majestät  der  Hoch* 
seeligen  Königin  gemeldet,  und  sie  ließ  mich  bei  sich 
kommen.  Da  ich  mit  ihr  gesprochen  hatte,  da  war 
Freude  über  Freude.  Auch  der  Kronprinz  hat  mit 
zugehört,  welcher  noch  alles  wissen  wird,  was  ich 
mit  seiner  seligen  Frau  Mutter  gesprochen  habe. 

Da  mich   Gott  mit  seiner  großen  Vatergüte   vor 


*)  Geschichte,  Erscheinungen  und  Prophezeiungen  des  Joh. 
Adam  Müller,  Frankfurt  a.  M.,  1816,  S.  73fif. 

Kemmerich,  Prophezeiungen  18 


274 

Sie  gestellet  hat,  um  mündlich  mit  Ihnen  zu  reden, 
was  Sie  tun  sollten,  habe  ich  Sie  dabei  getröstet,  daß 
Sie  ein  größeres  Reich  bekommen  sollten,  als 
Sie  je  gehabt,  und  daß  Frankreich  in  drei 
Teile  geteilt  werden  solle,  und  daß  Zion  und 
Jerusalem  gebauet  werden  soll,  welches  alles  Sie 
mir  als  König  heilig  zugesagt  haben.  Ich  habe  es 
auch  öfters  schriftlich  eingegeben  und  von  Ihnen  zur 
Antwort  erhalten,  daß  Sie  das  Gute  nicht  verkennen 
wollten. 

Und  die  drei  Schlachten  in  Sachsen,  welche 
mir  Gott  vorher  gezeigt,  daß  Sie  und  Ihre 
Majestät  der  Kaiser  von  Rußland  selbst  dabei 
sein  werden  (habe  ich  Ihnen  vorausgesagt). 
Sie  sollten  nur  nicht  verzagen,  der  Feind  werde 
überwältigt  werden. 

Und  daß  mich  der  Hofmeister  der  Prinzen  zum 
letztenmal  verhört  und  alles  zu  Papier  genommen 
hat,  woran  wir  drei  Tage  gearbeitet.  Dann  hat  der 
Hofmeister  zu  mir  gesagt:  , .Müller,  wenn  wir  aber 
mit  allen  Mächten  Frieden  halten  und  alles  gehen 
lassen,  so  kann  das  nicht  geschehen,  was  er  hier  sagt.** 
Da  sagte  ich  zu  dem  Hofmeister:  „Sie  mögden 
machen,    was  Sie  wollten,    es    würde    doch    ge* 

schehenV 

Müller  erzählt  dann  noch  einige  religiöse  Er» 
lebnisse,  um  endlich  noch  folgende  Vision  (oder 
Traum)  zu  berichten: 

„Ihro  Majestät  von  Preußen,  ich  will  Ihnen  kund 
tun,  daß  ich  eine  Erscheinung  gehabt  habe  und  mir 


')  Von  mir  gesperrt. 


275 


Gott  zu  wissen  getan  hat  im  Jahr  Christi  1814  in 
der  Christnacht,  da  mir  der  Geist  Gottes  erschien. 
Ich  war  da  in  einem  großen  Saale.  Da  sprach  einer 
zu  mir:  Müller,  ist  er  auch  hier?  Ich  antwortete: 
Jal  Dann  sagte  der  Mann  zu  mir:  ich  werde  vor  die 
Herren  kommen. 

Nun  stand  ich  auf  einem  großen  ebenen  Felde. 
Da  sind  Sie,  der  König  von  Preußen,  und  der  König 
von  Hannover  und  der  König  von  Würtemberg  und 
der  König  von  Baiern  gegenwärtig  gewesen,  und  es 
sind  vier  Pfähle  aufgerichtet  worden.  Da  es  aber 
an  den  4ten  kam,  so  wollte  der  König  von  Baiern 
diesen  nicht  aufrichten  lassen.  Der  Geist  des  Herrn 
sprach  aber:  Es  muß  sein!  da  ist  es  denn  geschehen. 

Eine  Weile  nachher  war  der  König  von  Baiern 
sehr  freundlich. 

In  der  zweiten  Christnacht  erschien  mir  der 
Geist  des  Herrn  abermals  und  brachte  mich  auf  eine 
Anhöhe.  Da  sähe  ich  eine  so  fürchterliche  Schlacht, 
daß  ich  vor  lauter  Feuer  zuletzt  nichts  mehr  erkennen 
konnte.  Dann  zogen  sich  die  Deutschen  von  einander 
und  die  Franzosen  drangen  hinein,  aber  über  eine 
kleine  Weile  sprach  der  Geist  des  Herrn: 

Die  Franzosen  sind  alle  gefangen^)!*' 

Da  der  Brief,  den  wir  hier  abbrechen  wollen, 
verloren  ging,  schickte  am  12.  März  Müller  ein 
Duplikat,  dessen  Empfang  der  König  bestätigt: 

„Ich  schätze  den  religiösen  Sinn,  welcher  den 
Johann  Adam  Müller  seine  Erbauung  in  der  heiligen 
Schrift  finden  läßt  und  lasse  auf  seine  Eingabe   vom 


^)  Von  mir  gesperrt. 

18* 


276 

12ten  d.  M.  seinen  guten  Gesinnungen  Gerechtigkeit 
widerfahren. 

Wien  den  29sten  März  1815. 

Friedrich  Wilhelm^." 

Unzweifelhaft  ist  der  Brief  erstaunlich  kühl. 
Wenn  auch  kein  Mensch  dem  König  zumuten  kann, 
daß  er  an  dem  biblischen  Bombast  der  Müllerschen 
Diktion  Gefallen  fand,  so  hätte  er  doch  immerhin 
anerkennen  können,  daß  eine  Reihe  von  Vorhersagen 
eintrafen,  als  niemand  es  geahnt  hatte.  Der  Gedanke, 
der  König,  nun  wieder  im  Glück,  habe  Müller  so 
gern  vergessen,  wie  die  seinem  Volke  versprochene 
Verfassung,  liegt  ja  allerdings  nahe. 

Für  uns  hat  diese  Korrespondenz  den  großen 
Wert,  dokumentarischer  Beweis  dafür  zu  sein,  daß 
Müller  mit  dem  Hofe  wirklich  in  Verbindung  stand 
und  —  das  wird  wohl  der  größte  Skeptiker  zugeben 
müssen  —  zum  wenigsten  sich  selbst  für  einen  Seher 
gehalten  hat. 

Eine  nicht  uninteressante  Wiederholung  der 
Prophezeiungen  enthält  auch  der  Brief,  den  Müller 
am  4.  August  an  den  König  Friedrich  Wilhelm 
schrieb  und  auf  den  er  ihm  unterm  15.  August  von 
Paris  aus  noch  kürzer  dankt.  Der  einschlägige 
Passus  lautet'): 

„Da  sagte  ich  Ihnen,  daß  Gott  Sie  und 
Sr.  Majestät  den  Kaiser  von  Rußland  auser* 
sehen  hätte,  Frankreich  zu  demütigen  und  die 
Völker    zu    befreien;    daß    sie    Mut    und    Ver* 


')  a.  a.  O.,  S.  79. 

")  a.  a.  O..  S.  80  ff. 


277 


trauen  zu  Gott,  zu  sich  und  zu  Ihrem  treuen 
Volke  fassen  sollten  und  daß  Gott  Sie  und  Ihr 
Reich  gröl^er  als  je  machen  wollte,  wenn  Gott 
und  sein  Wort  wieder  in  Ihrem  Lande  ge* 
fürchtet  und  geehrt  würde. 

Damals  in  Königsberg  hat  mir  auch  die 
Erscheinung  den  Zug  der  nordischen  Völker 
nach  Frankreich  und  die  Vernichtung  des 
französischen  Adlers  gezeigt,  ferner  daß 
Ew.  Majestät  bei  einer  Schlacht  in  den  sächs« 
sischen  Gebirgen,  wo  Sie  selbst  kommandieren, 
den  Feind  besiegen  würden  usw." 

Nach  einem  ganzen  Schwall  biblischer  Reminis*: 
zenzen  fährt  der  Bauer  fort:  „Monarchen!  Gott 
rufet  Ihnen  durch  meinen  Mund  zu,  was  Sie  tun 
sollen  und  bevor  das  nicht  geschehen  ist,  wird 
keine  Ruhe  werden  auf  Erden. 

Sie  sollen  Frankreich  in  drei  Teile  teilen, 
es  soll  nicht  mehr  Frankreich  heißen,  sondern  mit 
einem  andern  Namen  benannt  werden. 

Sie  sollen  dem  Könige  von  Frankreich  die 
Krone  nicht  geben,  auch  nicht  dem  jungen 
Napoleon,  damit  diese  nicht  eine  Geißel  werden 
über  ganz  Europa,  wie  Gott  den  Jehu  wider  Joram 
und  Ahab  gewendet  hat.  Gott  hat  befohlen  und 
ich  rufe  es  Ihnen  in  seinem  Namen  zu:  Es  ist  ein 
Wort  der  Gerechtigkeit,  dabei  soll  es  bleiben,  er  hat 
uns  alle  berufen,  daß  wir  seinen  Willen  ausrichten 
wie  die  Engel  im  Himmel. 

Sie  sollen,  das  hat  mir  die  Erscheinung  schon 
1807  kund  getan,  zur  Erinnerung  für  ewige  Zeiten 
eine    Bundesstadt    erbauen,    in    derselben    sollen    die 


278 

vier  Monarchen:  Preußen,  Rußland,  Österreich  und 
England  alle  Jahr  einmal  zusammen  kommen,  sich 
über  das  Wohl  ihrer  Völker  beraten  und  sollen  alle 
gleichmäßig  von  hieraus   über  Frankreich  herrschen. 

Ich  habe  den  Plan  der  Stadt,  die  nach  Gottes 
Befehl  Neujerusalem  und  die  dabei  liegende  Burg 
Zion  genannt  werden  soll,  so  wie  sie  mir  die  Er* 
scheinung  gezeigt  und  mich  darin  umhergeführt  hat, 
auf  Papier  gezeichnet  und  gedachte  sie  Ihro  Majestät 
dem  Könige  von  Preußen  bei  Ihrer  Durchreise  zu 
übergeben.  .  .  ." 

Am  7.  Oktober  1815  schrieb  Müller  noch  einen 
dritten  Brief  an  den  König  ^),  in  dem  er  wieder  an 
seine  Königsberger  Prophezeiungen  erinnert,  die  dem 
König  im  tiefsten  Elend  künftige  Größe  vorhergesagt 
habe.  Er  kommt  wieder  auf  die  Vierteilung  Frank* 
reichs  und  auf  die  Bundesstadt  zurück  und  prophe* 
zeit,  daß  ,,alle  Religionen  sich  zur  Anbetung  eines 
Gottes  und  Jesu  Christi  bekennen  werden." 

Er  beruft  sich  —  mit  Recht  —  auf  die  zahlreichen 
eingetroffenen  Vorhersagen,  die  niemand  glauben 
wollte  —  zuletzt  habe  er  noch  den  Krieg  von  1815 
durch  eine  Erscheinung  voraus  gesehen  —  und  stellt 
das  Eintreffen  der  anderen  in  Aussicht. 

Er  bittet  den  König,  ihn  wiederum  zu  empfangen 
wie   1807  in  Königsberg. 

Der  König  lehnte  in  einem  Schreiben,  das  Berlin, 
den  27.  Oktober  1815  datiert  ist,  das  Gesuch  ab. 
Wir  können  es  ihm  nicht  verübeln,  denn  wenn  es 
überhaupt  etwas  gibt,  was  selbst   den  Sanftesten  zur 

')  a.  a.  O.,  S.  84  ff.  Die  zweite  Antwort  des  Königs  ist 
abgedruckt  auf  S.  84.  die  dritte  auf  S.  89. 


279 

Raserei  bringen  kann,  dann  sind  es  die  schwülstigen 
mit  biblischen  Zutaten  durchsetzten  Expektorationen 
Müllers.  Hie  und  da  möchte  man  glauben,  er  sei 
vom  religiösen  Wahnsinn  befallen  worden.  Aber  ob 
uns  dieser  ungebildete  und  ehrliche,  recht  selbstbe* 
wußte  Bauer  sympathisch  ist  oder  nicht:  die  Billige» 
keit  fordert  es  seine  Vorhersagen  zu  prüfen. 

Und  da  finden  wir  denn,  daß,  abgesehen  von 
denen,  die  sich  auf  Frankreichs  Teilungen  beziehen 
und  einige  religiöse  Inhalts,  fast  alles  in  Erfüllung  ging. 

Wir  tun  am  besten  das  Urteil  Ehrlichs,  der  sich 
eingehend  mit  der  Person  Müllers  und  seine  Vorher:» 
sagen  beschäftigt,  nachstehend  wiederzugeben. 

Müller  hatte,  wie  so  oft  die  ehrlichen  Seher,  nur 
den  einen  Wunsch,  daß  die  Wahrheit  und  nichts 
als  sie  über  ihn  verbreitet  würde.  Deshalb  kam  er 
Ehrlichs  Bemühungen,  sie  zu  ergründen,  durchaus 
entgegen.  Letzterer  sammelte  alles,  was  Müller  be^ 
traf,  vollständig^). 

Wie  er  dazu  kam,  erzählt  er  auf  S.  5&.  der  Vor* 
rede  seiner  Geschichte  dieses  Mannes.  Als  er  im 
Jahre  1807  und  1808  in  Königsberg  bei  der  preußi* 
sehen  Königsfamilie  weilte  und  merkte,  daß  Geheim«» 
rat  Reimann,  der  Erzieher  des  Prinzen  Friedrich,  über 
ihn  lachte,  sagte  er:  „Ich  sage  und  tue,  was  ich  muß 
und  kümmere  mich  weiter  um  nichts.**   Auf  Reimanns 


^)  „Geschichte,  Erscheinungen  und  Prophezeiungen  des 
Joh.  Adam  Müller",  Frankfurt  a.  M.  1816.  Auf  dem  Titel  steht 
kein  Verfassername,  sondern  Wilhelm  Ehrlich  hat  die  Vorrede 
(S.  3—24),  der  wir  obige  Angaben  über  Müllers  Person  und 
Prophezeiungen,  soweit  sie  nicht  im  „Protokoll"  enthalten  sind, 
entnehmen,  unterzeichnet. 


280 


Einwendungen  hin  sagte  er:  „Von  dem  allen  verstehe 
ich  nichts;  aber  es  wird  doch  so  kommen,  wie  ich 
gesagt  habe,  denn  der  Geist,  der  es  mich  versichert 
hat,  kann  nicht  lügen,  und  ich  habe  es  durch  den=« 
selben  ja  selbst  gesehen."  Endlich  veranlaßte  diese 
Sicherheit  Müllers  doch  Reimann,  die  Sache  ernst  zu 
nehmen.  Er  verfaßte  also  ein  langes  Protokoll  über 
Müllers  Aussagen,  das  er  sorgfältig  aufhob  und  das 
nach  seinem  Tode  in  die  Hände  Ehrlichs  gelangte. 

Letzterer  war  sich  über  die  Ehrlichkeit  Müllers 
klar.  Im  Lobe  seiner  Redlichkeit,  Mäßigkeit  und 
Arbeitsamkeit  stimmten  alle  überein,  besonders  der 
Pfarrer  Hautz  in  Neckargemünd,  der  sehr  lange  in 
Müllers  Geburtsort  Meckersheim  Pfarrer  gewesen  war, 
versicherte,  daß  er  eine  treue  und  ehrliche  Seele  war. 
Auch  andere  Pfarrer,  die  ihn  kannten,  bestätigten 
dies  Urteil.  Die  Frage,  ob  er  ein  Betrogener  oder 
Schwärmer  sei,  beantwortet  er  damit,  daß  Müller  das 
Glück  Preußens  zu  einer  Zeit  voraussagte,  als 
es  im  allertiefsten  Unglück  war.  Das  hatte  er 
damals  schon  felsenfest  selbst  gegen  die  Einwürfe 
des  Königs  und  der  Königin  behauptet,  wiewohl  man 
seine  Aussagen  albern  und  unmöglich  nannte.  Im 
Laufe  der  Zeit  aber  sollte  er  nicht  nur  in  der  Haupt* 
Sache  recht  behalten,  sondern  selbst  in  Nebenum* 
ständen. 

Der  Krieg  Frankreich  von  1812  mit  Ruß* 
land,  Frankreichs  Niederlage  und  der  unge* 
heure  Brand  Moskaus,  die  Verfolgung  durch 
die  Russen,  der  Enthusiasmus  des  preußischen 
Volkes  für  Freiheit  und  König,  Preußens  Krieg 
mit    Frankreich    und    die    Besiegung  der  Fran* 


281 


zoscn,  bei  welcher  namentlich  Schlachten  in 
Sachsen  erwähnt  sind,  in  denen  der  König  von 
Preußen  und  der  Kaiser  von  Rußland  körnst 
mandieren  würden.  Ferner  der  Übergang  der 
Deutschen  über  den  Rhein,  Müllers  persona 
liehe  Begrüßung  des  Königs  bei  dieser  Ge^ 
legenheit,  das  und  noch  manches  andere  steht  in 
diesen  Papieren,  die  schon  1807  auf  1808  für  den 
preußischen  Hof  niedergeschrieben  wurden. 

Ehrlich  so  gut  wie  die  über  Müller  befragten 
Pfarrer  waren  sich  darin  einig,  daß  sie  am  liebsten 
die  Prophezeiungen  Müllers  fortgeleugnet  hätten.  Aber 
es  ging  nicht,  da  so  manches,  was  früher  lächerlich 
erschienen  war,  später  in  Erfüllung  ging. 

Ehrlich  genoß  in  kurzer  Zeit  Müllers  Vertrauen» 
daher  kann  er  wertvolle  Nebenumstände  mitteilen. 
Als  er  am  4.  Januar  1815  das  Gespräch  auf  seine 
neuesten  Erscheinungen  brachte,  erzählte  er,  daß  bald 
ein   blutiger  Krieg  mit  Frankreich  ausbrechen  werde. 

„Gerade  damals  fanden  sehr  ernste  Spannungen 
zwischen  Osterreich,  Preußen,  Bayern,  Rußland,  Franko» 
reich  usw.  statt;  ich  bezog  daher  —  politisch  ver* 
nünftelnd  —  alles,  was  er  mir  sagte,  darauf,  und 
wünschte  seine  Gründe  zu  wissen,  weshalb  er  so 
bestimmt  glaube,  daß  es  zum  Kriege  unter  den 
Erwähnten  kommen  müsse.  Er  lächelte  aber  ruhig 
und  heiter,  gerade  wie  ein  Mensch,  welcher  jenseits 
der  Wolken  und  Stürme  sicher  steht,  über  mein  Ver* 
nünfteln.  Politisieren  und  Zweifeln,  und  sagte  zuletzt: 

,Ja,  das  verstehe  ich  alles  nicht,  aber  der 
Geist  hat  mir  gesagt,  daß  es  wieder  Krieg  mit 
Frankreich   gibt,   und   das   bald!* 


282 

Er  besuchte  mich  seit  der  Zeit  sehr  oft,  un:« 
geachtet  ich  ihm  —  absichtlich!  —  nie  ein  Ge* 
schenk  gab  und  jedesmal  sein  Gegner  war 
und  blieb^). 

Allmählich  ließen  die  Spannungen  auf  dem  Wiener 
Kongreß  nach.  Die  Angelegenheiten  mit  Polen,  Sach* 
sen  usw.  kamen  eine  nach  der  andern  in  Ordnung, 
und  ein  tiefer  Friede  wurde  (dem  Anschein  nach) 
mit  jedem  Tage  gewisser.  Jetzt  durfte  Müller  nur 
die  Türe  öffnen,  so  scherzte  ich  schon  mit  ihm  und 
spöttelte  (jedoch  freundlich  heiter!)  über  seinen 
baldigen  blutigen  Krieg  gegen  Frankreich. 
Sein  Benehmen  dabei  blieb  sich  immer  gleich.  Er 
erzählte  nämlich  stets  aufs  neue  seine  Erscheinungen 
in  den  Weihnachtsträumen,  und  schloß  jedesmal  da=* 
mit:  ,Sie  werden  sehen,  daß  alles  zutrifft,  und 
das   bald!    Denn  der  Geist  kann  nicht  lügen!* 

Endlich  in  den  ersten  Tagen  des  März  1815  kam 
er  abermals  zu  uns;  diesmal  um  Abschied  von  uns 
zu  nehmen,  weil  wir  verreisen  wollten.  Jetzt  war,  nach 
aller  Vernünftigen  Meinung,  an  gar  keinen  Krieg 
mehr  zu  denken!  Ich  scherzte  wie  gewöhnlich  mit 
ihm;  ergriff  ihn  unter  anderm  am  Kinn  und  wiegte 
schäkernd  seinen  Kopf  hin  und  her  mit  den  Worten: 
,Nun,  mein  lieber  Müller!  Nun  ist  es  mit  dem 
blutigen  Kriege  gegen  Frankreich  rein  aus, 
denn  jetzt  ist  tiefer,  tiefer  Friede!*  (Zugleich 
erzählte  ich  ihm  den  ganzen  Stand  der  politischen 
Verhältnisse.) 

Er  hörte   mich   ganz   aus,    antwortete   dann  aber 

')  Fhrlich  verhält  sich  zu  Müller  also  geradeso  skeptisch, 
wie  ein  halbes  Jahrhundert  früher  Sülk'  gegenüber  Mecring. 


283 

mit  ungewöhnlicher  Lebhaftigkeit:  ,Und  ich  sage 
Ihnen,  nun  dauert's  gar  nicht  lange  mehr! 
Nun  geht's   gleich   los   in   Frankreich.' 

Wir  lachten  gegenseitig  über  unsere,  so  höchst 
verschiedenen  Behauptungen,  schieden  aber,  wie  immer, 
als  gute  Freunde  voneinander. 

Am  Nachmittage  desselben  Tages  ließ  unsere 
Reisegesellschafterin  uns  bitten,  die  beabsichtigte  Reise 
noch  einige  Tage  auszusetzen,  weil  sie  sich  nicht  ganz 
wohl  befinde.  Wir  willigten  ein.  Ehe  aber  noch  ihre 
Kränklichkeit  völlig  gehoben  war,  erfuhren  wir  schon 
aus  den  öffentlichen  Blättern,  daß  Napoleon  in  Frank* 
reich  gelandet  sey.  In  demselben  Augenblicke,  in 
welchem  ich  dies  las,  strafte  ich  mich  selbst  durch 
den  unwillkürlichen  Ausruf :  Nun  hat  Müller  doch 
recht!  — 

Jetzt  begriff  jedermann,  daß  ein  Krieg,  und 
wahrscheinlich  ein  sehr  blutiger  Krieg  entstehen 
müsse.  Die  Reihe  wäre  also  nun  an  Müllern  ge* 
wesen,  uns  auszulachen,  aber  er  tat  es  nicht,  son;* 
dern  sagte  bloß  —  etwa  wie  ein  Mensch,  dem  man 
etwas  abgestritten  hat,  was  er  doch  vor  Augen 
sah:  —  ,Ich  sagte  es  Ihnen  ja  immer!  Geschehen 
mußte  es  durchaus!  Denn  —  Gott  kann  ja  nicht 
lügen.'" 

Soweit  der  Bericht  Ehrlichs.  Wir  sperrten  nur 
die  Stellen,  die  auch  im  Original  gesperrt  sind. 

Ferner  versicherte  Müller,  daß  die  Gegend  von 
Mannheim  und  Heidelberg  in  diesem  Kriege  von  1815 
vom  Feinde  verschont  bleiben  werde.  Aber  auch 
diese  Prophezeiung  war  außerordentlich  gewagt  und 
keineswegs,  wie  der  Zweifler  in  solchen  Fällen  gern 


284 

annimmt,  Resultat  einer  Wahrscheinlichkeitsrechnung. 
Denn  diese  Gegend  war  damals  fast  ganz  von  Truppen 
entblößt,  die  russische  Armee  noch  sehr  weit  zurück 
und,  wie  leider  unsere  Geschichte  lehrt,  der  Weg 
den  Franzosen  nur  zu  gut  bekannt.  Deshalb  zitterte 
alles  vor  der  drohenden  Gefahr.  Und  doch  behielt 
Müller  recht.  Daß  die  mit  Haut  und  Haar  dem 
Dogma  der  Unmöglichkeit  jeglicher  Prophetie  Ver^* 
schriebenen  nachher  sagten,  es  hätte  so  kommen 
müssen,  ist  selbstverständlich. 

Ehrlich  betont  ausdrücklich,  daß  er  weder  für 
noch  gegen  Müller  Partei  ergreife,  sondern  nur  Tat* 
Sachen  berichte  und  es  jedem  überlasse,  darüber  zu 
denken,  was  er  wolle.  Ehrlich  weist  daher  auch  ruhig 
auf  die  Irrtümer  Müllers  hin. 

Die  Erscheinung,  die  er  in  den  Weihnachtsnächten 
1814  hatte,  stimmen  vollkommen  mit  den  Begeben* 
heiten  des  16.  und  18.  Juni  1815  überein.  Aber  die 
zweite  Schlacht  zwischen  Elsaß  und  Lothringen,  die 
Müller  vorhergesehen  hatte,  wurde  nicht  geschlagen, 
weil  die  außerordentlichen  Leistungen  der  Preußen 
Napoleon  entscheidende  Niederlagen  beigebracht  hat* 
ten.  Sie  wäre  wahrscheinlich  gewesen,  aber  sie  war 
nicht  wirklich.  Ebenso  wäre  es  in  jeder  Beziehung 
besser  gewesen,  Napoleon  wäre  damals  gefallen,  wie 
Müller  wahrsagt  bzw.  andeutet,  als  er  ihn  mit  seinen 
Generalen  am  Rande  eines  frischen  Grabes  stehen 
sah.  Und  doch  erfüllte  sich  diese,  wie  wir  gleich 
sehen  werden  falsch  interpretierte,  Vision  nicht.  Wie 
wir  ja  bei  allen  Wahrsagern  die  Beobachtung  machen, 
da(i   hie  und  da  ein  Spruch  nicht  in  Erfüllung  geht. 

Dem  „Protokoll**  sind  noch  einige  Visionsberichte 


285 


mit  Müllers  Unterschrift  aus  den  Jahren  1815  und 
1816  angereiht.  Daß  die  Prophezeiung  von  Napoleons 
Grab  nicht  in  Erfüllung  ging,  hatte  bereits  Ehrlich 
konstatiert. 

Wir  lassen  hier  den  Bericht  (S.  120 f.)  folgen: 

„Am  18.  April  1815,  Dienstag  nachts  um  12  Uhr, 
brachte  mich  der  Geist  des  Herren  auf  eine  Anhöhe 
im  Elsaß  und  zeigte  mir  ein  frischgemachtes  Grab 
mit  den  Worten:  ,Es  sei  für  Napoleon.  Er  wird 
gleich  selbst  kommen!*  setzte  der  Geist  hinzu. 

Bald  darauf  kam  Napoleon  mit  zwei  Generalen, 
diese  blieben  jedoch  200—300  Schritte  zurück.  Napo^« 
leon  aber  ging  grade  auf  sein  Grab  los,  und  zwar 
so  ganz  dicht  darauf  zu,  daß  man  glauben  mußte, 
er  werde  jetzt,  und  jetzt  hineinstürzen.  Er  betrachtete 
es  lange  und  aufmerksam. 

Dann  sagte  ich  zu  ihm,  er  hätte  bleiben  sollen, 
wo  er  gewesen  wäre.  Darauf  sähe  er  mich  sehr  ver* 
drießlich  an,  und  sprach  viel  Französisch,  welches 
ich  nicht  verstand. 

Nun  ging  er  zu  den  Generalen  zurück,  und 
damit  hörte  meine  Erscheinung  auf. 

Johann  Adam  Müller." 

Da  Napoleon  vom  Grabe  zu  den  Generalen 
zurück  ging,  muß  daraus  meines  Erachtens  gefolgert 
werden,  daß  er  nicht  sterben  würde.  Die  Vision 
würde  also  höchstens  so  zu  deuten  sein,  daß  er  in 
großer  Gefahr  war,  oder  daß  er  sich  mit  dem  Ge^ 
danken  getragen  habe  zu  sterben,  d.  h.  wohl  den 
Tod  zu  suchen  und  es  dann  unterließ.  Ehrlich  geht 
also  hier  in   seiner  Skepsis   zu  weit,  denn   von   einer 


286 

falschen  Prophezeiung  kann  gar  keine  Rede  sein, 
höchstens  von  einer  falschen  Interpretation. 

Dagegen  ist  die  zweite  Vision  Müllers  vom 
12.  August  1815  nicht  in  Erfüllung  gegangen.  Darin 
heißt  es,  Frankreich  würde  unter  die  vier  Monarchen 
geteilt  werden,  die  vier  Religionen,  die  heidnische, 
türkische,  jüdische  und  christliche  würden  miteinander 
vereint  werden  und  eine  Bundesstadt  müsse  gebaut 
werden. 

In  der  dritten  Vision  wird  Müller  auf  den  Römer* 
brief,  Kapitel  5,  hingewiesen,  was  er  —  am  26.  Sep** 
tember  1815  —  so  deutet;  „Jetzt  werde  nun  alles  gut 
werden,  Friede  kommen,  die  Erkenntnis  Christi  und 
die  Befolgung  seiner  Lehre  ausbreiten  usw.,  aber, 
meint  er  ferner,  die  früher  erwähnte  Schlacht  müsse 
doch  wohl  noch  erst  erfolgen.  Es  werde  auf  jeden 
Fall  noch  etwas  Hartes  vorfallen." 

Mit  dem  Frieden  —  einer  erstaunlich  langen 
Friedensperiode  —  behielt  Müller  recht,  ebenso  mit 
einer  anderen  Vision,  daß  die  Russen  nicht  wieder 
nach  Deutschland  kämen.  Das  hat  sich  ja  nun  ein 
Jahrhundert  bewahrheitet  und  war  damals  sicher  nicht 
vorauszusehen,  da  in  den  Jahren  Müllers  sehr  häufige 
Grenzüberschreitungen  stattfanden. 

Auch  daß  Napoleon  von  St.  Helena  aus  nicht 
wieder  in  den  Gang  der  Weltereignisse  eingreifen 
würde,  war  eine  richtige,  wenn  auch  sehr  nahe  liegende 
Vorhersage. 

Dann  folgen  noch  zwei  religiöse  und  zwei  poli* 
tische  Visionen,  letztere  auf  einen  Krieg  Österreichs 
mit  Frankreich  deutend,  also  falsch. 

Unser    Bericht    wäre    unvollständig,    würden  wir 


287 


nicht  die  Kritik  erwähnen,  die  Ehrlich  (S.  90-119) 
an  einem  Schrittchen  „Neue  Prophezeiungen  desJohann 
Adam  Müller",  das  anonym  und  ohne  Wissen  Müllers 
erschien,  übt. 

Es  enthält  massenhaft  falsche  Daten,  die  Ehrlich, 
auf  Grund  von  Müllers  Angaben,  berichtigt.  Dadurch 
sind  wir  zu  dem  Schluß  berechtigt,  daß  die  unwider? 
sprochen  gebliebenen  Behauptungen  der  kleinen  Schritt 
auf  Wahrheit  beruhen. 

Indem  wir  von  einer  Reihe  an  sich  nicht  un* 
interessanter  Momente  absehen,  sei  folgendes  wieder« 
gegeben:  ,,Die  erste  meiner  Erscheinungen  hatte  ich 
in  der  Nacht  des  neuen  Jahres  von  1804  auf  1805." 
Ein  Geist  trat  da  an  sein  Bett  und  sagte:  ,,Dies  Jahr 
entsteht  ein  Krieg  zwischen  Frankreich  und  Oster« 
reich,  und  wenn  letzteres  nicht  Friede  macht,  so 
wird  es  alles  verlieren.  Hierauf  blitzte  es  am  Himmel 
und  die  Gestalt  verschwand.  Ich  ging  nach  dem 
Fenster,  durch  das  der  Blitz  leuchtete,  da  sah  ich 
deutlich  am  Himmel  Artillerie  von  Frankreich  gegen 
Österreich  zu  fahren,  welcher  Zug  '^|^  Stunden  währte. 
Pferde,  Knechte,  Kanonen,  Pulverwagen,  alles  war 
deutlich  zu  erkennen,  nur  daß  sie  ganz  feurig  waren." 

Müller  beachtete  diese  Vision  weiter  nicht  und 
erzählte  erst  von  ihr,  als  er  nach  einer  Schlappe  der 
Franzosen  einige  Leute  die  Befürchtung  aussprechen 
hörte,  Österreich  würde  siegen.  Daß  diese  ganze 
Prophezeiung  in  Erfüllung  gegangen  ist,  steht  fest. 
(S.  96 f.) 

Auf  die  gleiche  Weise  wurde  Müller  in  der 
Neujahrsnacht  1805  auf  1806  der  Krieg  Frankreichs 
mit  Preußen  verkündet. 


288 

Andere  Visionen  hatte  er  1807.  Ein  Mann  (Geist) 
trug  ihm  auf,  zu  dem  König  von  Preußen  zu  gehen 
und  ihm  zu  sagen,  er  solle  gemäß  Jesaias,  Kapitel  53 
bis  64  handeln.  Frankreich  müsse  unter  vier  Monarchen 
verteilt  werden  und  Preußen  werde  so  groß  werden, 
wie  es  noch  niemals  war.  Dann  würden  sich  die 
Heiden  und  Türken  taufen  lassen  und  zuletzt  die 
Juden  und  es  werde  nur  eine  Religion  geben  und 
tausendjährigen  Frieden.  Der  „Geist"  führte  Müller 
dann  nach  Königsberg  durch  vier  Städte  und  zeigte 
ihm  alles,  was  er  auf  dem  Wege  erleben  würde. 
So  sah  er  Stettin,  Königsberg,  Memel  und  eine  Stadt 
am  Rhein  zwischen  Philippsburg  und  Nußloch,  die 
für  die  vier  Monarchen  zu  einmaliger  Zusammenkunft 
jedes  Jahr  bestimmt  war.     (S.  98—102.) 

Auf  wiederholte  Mahnung  hin  trat  er  dann  seine 
weite  Reise,  von  der  das  „Protokoll**  eingehend  be* 
richtet,  mit  15  Kreuzern  in  der  Tasche  und  ohne 
jedes  Gepäck  an.  Überall  fand  er  kostenlose  Unter*« 
kunft  und  Verpflegung,  weil  er  dem  Befehle  des 
„Geistes"  folgte  und  dort  einkehrte,  wo  eine  innere 
Stimme  ihn  hinwies.    (S.  102—108.) 

Friedrich  Wilhelm  III.  hatte  schon  schriftlichen 
Bericht  über  Müller  erhalten.  Er  mußte  dem  König 
alle  angezeigten  Kapitel  aus  der  Bibel  auslegen.  Als 
er  dem  König  die  Treue  seiner  Untertanen,  die  Gut 
und  Blut  opfern  würden,  rühmte,  antwortete  er  — 
und  das  ist  bezeichnend  für  die  allgemeine  Lage, 
beweisend  aber  dafür,  daß  Müller  unmöglich  durch 
Kombinationen  zu  seinen  Vorhersagen  gekommen  ist: 
„Ach  ncini  Es  ist  mir  jetzt  alles  abtrünnig  geworden  1'* 
(S.   108,  Anm.) 


289 


Müller  prophezeite  dem  König,  daß  Frankreich 
im  Norden  zugrunde  gehen  würde,  daß  Preußen  so 
groß  werden  würde,  wie  noch  nie,  ferner  die  Vcr# 
einigung  der  Religionen  und  die  Erbauung  der  be»« 
walken  Stadt.  Als  Friedrich  Wilhelm  erwiderte,  daß 
er  den  Krieg  ja  nicht  fortsetze  und  daher  alles  Ge# 
weissagte  nicht  eintreffen  könne,  gab  Müller  zur  AnU 
wort,  der  König  möge  machen,  was  er  wolle,  es  würde 
doch  so  geschehen. 

Auf  die  Frage,  welche  Religion  denn  übrig  bleiben 
werde,  antwortete  Müller  regelmäßig:  ,,Die  Religion, 
welche  bleiben  werde,  sei  weder  die  katholische, 
noch  die  lutherische,  noch  die  reformierte,  sondern 
diejenige,  welche  Christus  selbst  gelehret  habe.**  (Seite 
109,  Anm.) 

Es  folgen  dann  die  Vorhersagen,  die  wir  im 
„Protokoll**  schon  eingehend  kennen  lernten. 

In  Heidelberg  hatte  Müller  eine  halbstündige 
Unterredung  mit  König  Friedrich  Wilhelm  III.  Auch 
Blücher  hat  manches  Pfeifchen  mit  Müller  geraucht 
und  manche  Stunde  mit  ihm  verplaudert.  Die  von 
Ehrlich  ausgesprochene  Vermutung  Müllers  felsenfeste 
Versicherungen  der  Jahre  1807  und  1808  hätten  in 
den  Freiheitskriegen  im  alten  Marschall  Vorwärts  nach* 
gewirkt,  läßt  sich  jedenfalls  hören.  Seinem  Adjutanten 
hatte  er  1814,  am  13.  Juni,  aufgetragen:  „Er  solle 
den  Blücher  von  dem  Müller  grüßen  und  er  werde 
nun  bald  viel  mit  den  Franzosen  zu  tun  kriegen, 
wenn  er  (der  Adjutant)  anders  noch  früh  genug 
komme,  um  dies  vorher  bestellen  zu  können." 
(S.  114f.,  Anm.)  Da  die  Schlacht  schon  am  15.  be* 
gann,  kam  dieser  Bote  zu  spät. 

Kemmerich,   Prophezeiungen  19 


290 

Übrigens  erwartete  Müller  1815  noch  einen  kurzen 
Krieg,  da  nicht  sämtliche  Prophezeiungen  in  Erfüllung 
gegangen  seien,  vor  allem  die  auf  die  Teilung  Franks* 
reichs  bezügliche  und  die,  welche  eine  große,  sehr  blutige 
Schlacht  zwischen  Deutschen  und  Franzosen  vorhersagt. 

Endlich  hatte  er  noch  eine  merkwürdige  Vision. 
Er  sah  eine  große  Zahl  Equipagen  mit  vornehmen 
Insassen.  Dahinter  kam  der  Teufel  in  einem  Wagen. 
Diese  Vision  soll  auf  den  Wiener  Kongreß  Bezug  haben. 

Für  die  Beurteilung  Müllers  ist  nicht  unwichtig 
Ehrlichs  Versicherung,  daß  er,  wiewohl  nur  Eigen* 
tümer  eines  kleinen  Gutes  von  acht  Morgen,  doch 
niemals  um  Geschenke  bat,  sie  auch  nur  von  Reichen 
annahm.  Wiewohl  er  durch  seine  Gabe  ein  wohl« 
habender,  wenn  nicht  gar  reicher  Mann  hätte  werden 
können,  verschmähte  er  es  doch. 

Auch  seine  Mäßigkeit  ist  bemerkenswert  und 
schneidet  von  vorn  herein  den  Verdacht  ab,  seine 
\^sionen  —  ganz  abgesehen  von  ihrer  späteren  Er* 
füllung  —  seien  Wirkungen  des  Alkohols  gewesen, 
wie  ja  mancher  doppelt  sieht  oder  gar  weiße  Mäuse 
zu  erkennen  glaubt.  Wein  und  Branntwein  trank  er 
seit  6  bis  8  Jahren  —  also  gerade  in  der  Zeit  seiner 
Visionen  —  überhaupt  nicht.  Ebenso  Kaffee  nur  bei 
festlichen  Gelegenheiten.  Bei  Gastmählern,  zu  denen 
er  oft  geladen  wurde,  begnügte  er  sich  mit  Suppe, 
Gemüse  und  Fleisch  ohne  je  Braten  usw.  anzurühren. 
Nur  auf  dringende  Bitten  griff  er  zur  Mehlspeise. 
In  Memel  und  Königsberg  war  seine  Nahrung  durch 
fast  volle  neun  Monate  nur  trockenes  Brot  und  etwas 
Milch.  Und  das,  wiewohl  er  natürlich  viel  Besseres 
hätte  haben  können. 


291 


Das  Protokoll,  das  wir  oben  in  extenso  brachten 
ist  nicht  das  Königsberger,  das  verloren  gegangen  zu 
sein  scheint  oder  vielleicht  noch  einmal  aus  einem 
Archiv  das  Tageslicht  erblicken  wird.  Trotzdem  ist 
es  durchaus  authentisch,  denn  es  wurde  im  Jahre 
1808,  also  vor  sämtlichen  Ereignissen  aufge* 
nommen  und  befand  sich  seit  dieser  Zeit  in  den 
Händen  des  Pfarrers  Hautz  und  seit  mehreren  Jahren 
(d.  h.  vor  1816)  des  Kirchenrates  Abegg. 

Übrigens  scheint  das  Protokoll  nicht  alles  zu 
enthalten,  was  Müller  seinerzeit  dem  König  Friedrich 
Wilhelm  III.  mitteilte.    Denn  er  sagte  darüber  Ehrlich: 

„Ich  war  in  betreff  dieser  Punkte  nur  an  den 
König  von  Preußen  gesandt,  also  hielt  ich  es  für 
Pflicht,  gegen  hiesige  Menschen  davon  zu  schweigen. 
Außerdem  riet  es  mir  auch  die  Klugheit,  denn  hier 
war  damals  alles  noch  im  höchsten  Grade  französisch 
gesinnt.  Man  hätte  mich  vielleicht  umgebracht,  wenn 
ich  das  alles  schon  damals  hier  bekannt  gemacht  hätte.** 

Der  seltene  Fall,  daß  von  durchaus  glaubwürdiger 
Seite  —  Ehrlich  hat  stets  die  Prophezeiungen  Müllers 
nach  seinem  Diktat  niedergeschrieben  —  eingehende 
Berichte  über  einen  Seher  vorliegen,  und  daß,  wie 
aus  den  Briefen  des  Königs  Friedrich  Wilhelm,  w^e 
auch  aus  einem  bei  Ehrlich  abgedruckter  Brief,  der 
die  Anfrage  der  russischen  Kaiserin  enthält,  hervor^ 
geht,  jede  Mystifikation  ausgeschlossen  ist,  rechts* 
fertigen  es,  wenn  wir  uns  eingehend  mit  Müller  befaßten. 

Für  unsere  Beweisführung  im  Speziellen  aber  er«* 
gibt  sich  folgendes  Resultat: 

Wir  haben  das  gesamte  Material  eines  Sehers 
zur  Verfügung    und    konnten    auf   dieser    Grundlage 

19* 


292 

feststellen,  daß  nicht  nur  die  wichtigsten  und  zur  Zeit 
ihrer  Verbreitung  am  wenigstens  glaubwürdigen  Vor* 
hersagen  in  Erfüllung  gingen,  sondern  auch  die  er^ 
drückende  Mehrheit.  Daraus  geht  aber  hervor,  daß 
der  Einwand,  man  entsinne  sich  nur  der  erfüllten, 
vergesse  aber  die  unerfüllten  Weissagungen ,  wenn  es 
sich  um  „Seher"  handelt,  hinfällig  ist. 

Was  nun  den  Inhalt  der  Vorhersagen  betrifft, 
so  sind  sie  gewiß  zum  Teil  sehr  merkwürdig.  Aber 
keine  einzige  ist  darunter,  die  so  erstaunlich  wäre, 
daß  wir  eine  Gleichung  mit  einem  Divisor  aufstellen 
könnten,  die  den  Zufall  ausschließt. 

Desto  verblüffender  sind  die  folgenden  Weis* 
sagungen. 


293 


Neuntes  Kapitel 

Cazotte's  Weissagung  der  französ^ 
sischen  Revolution. 

Eine  der  berühmtesten  Weissagungen,  der  des 
Klosters  Lehnin  an  Ruf  wohl  vergleichbar,  ist  die 
desjaques  Cazotte  ^),  die  uns  Laharpe  überliefert.  Sie  gilt 
im  allgemeinen,  besonders  bei  allen  jenen,  die  Prophetie 
für  unmöglich  halten,  als  ein  stilistisches  Meisterwerk 


^)  Jaques  Cazotte,  geb.  1719,  war  ein  fruchtbarer 
Schriftsteller.  Er  war  sehr  fromm,  beschäftigte  sich  mit  mys? 
tischen  Studien  und  trat  zur  Sekte  der  Martinisten  über.  Er 
hatte  häufig  Visionen.  Seine  berühmtesten  Werke  sind  das 
Schlummerlied  „Tout  au  beau  des  Ardennes",  das  Rittergedicht 
,,01ivier"  (Paris  1762,  2  Bde.)  und  ,,Le  diable  amoureux" 
(Paris  1772),  ein  Märchen,  das  heute  noch  gelesen  wird.  Seine 
Gewandtheit  im  Versemachen  bewies  er,  als  er  in  einer  einzigen 
Nacht  einen  siebenten  Gesang  zu  Voltaires  „Guerre  civile  de 
Geneve"  hinzudichtete.  Seine  Gesamtwerke  erschienen  unter 
dem  Titel  „Oeuvres  badines  et  morales,  historiques  et  philo? 
sophiques  de  Cazotte",  Paris  1816—17,  4  Bde.  Als  ausgesprochener 
Feind  der  Revolution  wurde  er  am  10.  August  1792  gefangen 
gesetzt.  Als  man  ihm  zur  Rettung  durch  seine  Tochter,  die  ihn 
mit  heroischem  Mute  den  Händen  der  Mörderbande  entriß, 
gratulierte,  sagte  er:  „In  drei  Tagen  werde  ich  guillotiniert." 
Er    schilderte    ein    ausführliches  Gesicht  seiner   Abführung   vor 


294 

Laharpes^),  zugleich  aber  auch  als  Produkt  seiner 
Phantasie.  Bevor  wir  diese  Frage  näher  prüfen 
wollen,  sei  der  Wortlaut  der  Weissagung  nach  der 
Übersetzung  von  JungssStilling^)  nachstehend  mitgeteilt: 
„Es  dünkt  mich,  als  sei  es  gestern  geschehen, 
und  doch  geschah  es  im  Anfang  des  Jahres  1788. 
Wir  waren  zu  Tische  bei  einem  unserer  Kollegen  an 
der  Akademie,  einem  vornehmen  und  geistreichen 
Manne.  Die  Gesellschaft  war  zahlreich  und  aus 
allen  Ständen  ausgewählt,  Hofleute,  Richter,  Gelehrte, 
Akademiker  usw.  Man  hatte  sich  an  einer  wie  ge^ 
wohnlich  wohlbesetzten  Tafel  recht  wohl  sein  lassen. 
Beim  Nachtisch  erhöhte  der  Malvasier  und  der  Gap* 
wein  die  Fröhlichkeit  und  vermehrte  in  guter  Gesellst 


das  Revolutionstribunal  und  seiner  Hinrichtung.  Er  war  seiner 
Sache  so  gewiß,  daß  er  alle  seine  Angelegenheiten  ordnete  und 
die  letzten  Grüße  an  seine  Frau  bestellte.  Am  25.  Sept.  1792 
fiel  sein  Haupt  unter  dem  Fallbeil.  Das  Original  „Prophetie  de 
Cazotte,  rapportee  par  Laharpe",  gedruckt  in  Laharpe,  „Oeuvres 
choisies  et  posthumes".  1806,  I,  p.  XXI-XXVI. 

')  Jean  Fran^ois  de  Laharpe,  geb.  1739,  einer  der  besten 
Stilisten  der  französischen  Literatur,  war  anfangs  ein  Freund, 
nachdem  er  1794  fünf  Monate  im  Gefängnis  gesessen  hatte, 
heftigster  Gegner  der  Revolution.  Von  seinen  zahlreichen 
Bühnenwerken  sind  die  Tragödie  „Warwick"  (1763)  und  das 
Drama  „Melanie"  (1770)  die  bedeutendsten.  Besonders  geschätzt 
waren  seine  Vorlesungen  über  Literatur,  die  unter  dem  Titel 
Lyc6e  ou  Cours  de  Litteraturc"  (Paris  1799  ff.)  erschienen. 
Kr  starb  1803. 

■^)  Johann  Heinrich  Jung  genannt  Stilling,  „Theorie  der 
Geisterkunde",  Frankfurt  und  Leipzig  1808,  S.  122 ff.  Die 
.Übersetzung  ist  von  mir  etwas  korrigiert.  Abdruck  auch  in 
Bormanns  „Nornen",  S.  173  ff.  Die  dort  beHndlichen  Noten 
sind  hier  wiederholt  verwertet. 


295 


Schaft  jene  Art  Freiheit,  die  sich  nicht  immer  in  den 
genauen  Schranken  hält. 

Man  war  damals  in  der  Welt  auf  den  Punkt 
gekommen,  wo  es  erlaubt  war,  alles  zu  sagen,  wenn 
man  den  Zweck  hatte  Lachen  zu  erregen.  Chamfort') 
hatte  uns  von  seinen  gotteslästerlichen  und  un^^ 
züchtigen  Erzählungen  vorgelesen  und  die  vornehmen 
Damen  hörten  sie  an,  ohne  sogar  zum  Fächer  ihre 
Zuflucht  zu  nehmen.  Hierauf  folgte  ein  ganzer 
Schwall  von  Spöttereien  auf  die  Religion.  Der  eine 
führte  eine  Tirade  aus  der  Pucelle  von  Voltaire  an; 
der  andere  erinnerte  an  jene  philosophischen  Verse 
Diderots,  worin  er  sagt:  „Mit  den  Gedärmen  des 
letzten  Priesters  schnüret  dem  letzten  König  die  Gurgel 
zu!**  und  alle  klatschten  Beifall.  Ein  anderer  steht 
auf,  hält  das  volle  Glas  in  die  Höhe  und  ruft:  ,Ja, 
meine  Herren!  ich  bin  ebenso  gewiß,  daß  kein  Gott 
ist,  als  ich  gewiß  bin,  daß  Homer  ein  Narr  ist;'*  — 
und  in  der  Tat,  er  war  von  dem  einen  so  gewiß,  wie 
von  dem  anderen,  und  man  hatte  gerade  von  Homer 
und  von  Gott  gesprochen,  und  es  waren  Gäste  da, 
die  von  dem  einen  und  dem  anderen  Gutes  gQ^ 
sagt  hatten. 

Die  Unterredung  wurde  nun  ernsthafter.  Man 
spricht  mit   Verwunderung   von   der  Revolution,   die 


^)  Sebastien  Chamfort  (1741—1794),  durch  geistreiche 
Konversation,  kaustischen  Humor  und  Zynismus  ausgezeichnet, 
unterstützte  die  Revolution  literarisch  und  wurde  Sekretär  des 
Jakobinerklubs.  Angewidert  von  der  Schreckensherrschaft  wurde 
er  verhaftet,  dann  wieder  in  Freiheit  gesetzt.  Einer  ihm 
drohenden  neuerlichen  Verhaftung  entzog  er  sich  durch  einen 
Selbstmordversuch,  an  dessen  Folgen  er  starb. 


296 

Voltaire  bewirkt  hat,  und  man  stimmte  ein,  daß  sie 
der  vorzüglichste  Grund  seines  Ruhmes  sei.  Er  habe 
seinem  Jahrhundert  den  Ton  gegeben;  er  habe  so 
geschrieben,  daß  man  ihn  in  den  Vorzimmern,  wie  in 
den  Sälen  liest.  Einer  der  Gäste  erzählte  uns  lachend, 
daß  sein  Friseur  ihm,  während  er  ihn  puderte,  sagte: 
„Sehen  Sie,  mein  Herr,  wenn  ich  gleich  nur  ein 
elender  Geselle  bin,  so  hab'  ich  dennoch  nicht  mehr 
Religion  als  ein  anderer.*'  Man  schloß,  daß  die 
Revolution  unverzüglich  vollendet  sein  würde,  und 
daß  durchaus  Aberglauben  und  Fanatismus  der 
Philosophie  Platz  machen  müßten;  man  berechnete 
die  Wahrscheinlichkeit  des  Zeitpunktes,  und  wer 
etwa  von  der  Gesellschaft  das  Glück  haben  würde, 
die  Herrschaft  der  Vernunft  zu  erleben.  Die  älteren 
bedauerten,  daß  sie  sich  dessen  nicht  schmeicheln 
dürften.  Die  jüngeren  freuten  sich  über  die  wahr* 
scheinliche  Hoffnung,  daß  sie  dieselben  erleben 
würden;  und  man  beglückwünschte  besonders  die 
Akademie,  daß  sie  das  große  Werk  vorbereitet  habe 
und  der  Hauptort,  der  Mittelpunkt,  die  Triebfeder 
der  Freiheit  zu  denken  gewesen  sei. 

Ein  einziger  von  den  Gästen  hatte  an  aller  dieser 
fröhlichen  Unterhaltung  keinen  Anteil  genommen 
und  hatte  sogar  ganz  sachte  einige  Scherzreden  in 
Rücksicht  unseres  so  schönen  Enthusiasmus  einge* 
streut.  Es  war  Mr.  Gazotte,  ein  liebenswürdiger, 
origineller  Mann,  der  aber  unglücklicherweise  von 
den  Träumereien  derer,  die  an  eine  höhere  Erleuch* 
tung  glaubten,  ganz  eingenommen  war.  Er  nahm 
nun  das  Wort  und  sagte  mit  dem  ernsthaftesten 
Tone:    ,, Meine    Herren!    freuen    Sie    sich;    Sie    alle 


297 


werden  Zeugen  jener  großen  und  erhabenen  Revolution 
sein,  die  Sie  so  sehr  wünschen.  Sie  wissen,  daß  ich 
mich  ein  wenig  aufs  Prophezeien  lege;  ich  wieder* 
hole  es  Ihnen:  Sie  werden  sie  sehen." 

„Dazu  braucht  man  eben  keine  Prophetengabe", 
antwortete  man  ihm. 

„Das  ist  wahr,"  erwiderte  er,  ,,aber  wohl  etwas 
mehr  für  das,  was  ich  Ihnen  noch  zu  sagen  habe. 
Wissen  Sie,  was  aus  dieser  Revolution  —  wo  näm* 
lieh  die  Vernunft  gegenüber  der  geoffenbarten  Reli*: 
gion  triumphiert  —  entstehen  wird?  was  sie  für  alle, 
die  hier  sind,  sein  wird?  Was  ihre  unmittelbare  Folge 
ihre  unleugbare  und  anerkannte  Wirkung  sein  wird?— " 

„Laßt  uns  sehen,"  sagte  Condorcet^)  mit  seiner 
sich  einfältig  stellenden  Miene;  —  ,, einem  Philosophen 
ist  es  nicht  leid,  einen  Propheten  anzutreffen." 

„Sie,  Mr.  Condorcet"  —  fuhr  Cazotte  fort  —  ,,Sie 
werden  ausgestreckt  auf  dem  Boden  eines  unter* 
irdischen  Gefängnisses  den  Geist  aufgeben;  Sie  werden 
an  dem  Gift  sterben,  das  Sie  verschluckt  haben 
werden,  um  den  Henkern  zu  entgehen,  an  dem  Gift, 
welches  Sie  das  Glück  der  Zeiten,  die  alsdann  sein 
werden,  zwingen  wird,  immer  bei  sich  zu  tragen." 

Dies  erregte  anfangs  großes  Staunen,  aber  man 
erinnert    sich   bald,    daß   der  gute   Cazotte    bisweilen 


^)  Marie  Jean  Marquis  de  Condorcet  (1743—1794),  Mathe:= 
matiker,  stimmte  in  der  Assemblee  nationale  meist  mit  den 
Girondisten.  Er  wurde  im  Oktober  1793  von  der  Bergpartei 
als  Mitschuldiger  des  Girondisten  Brissot  angeklagt,  hielt  sich 
fünf  Monate  versteckt  und  wurde  dann  verhaftet.  Man  fand 
ihn  am  ersten  Morgen  seiner  Gefangenschaft,  wahrscheinlich 
vergiftet,  tot  am  Boden  liegen. 


298 

wachend  träumte,  und  bricht  in  ein  lautes  Ge* 
lächter  aus. 

„Mr.  Cazotte*'  --  sagte  einer  der  Gäste  —  „das 
Märchen,  das  Sie  uns  da  erzählen,  ist  nicht  gar  so 
lustig,  wie  Ihr  „Verliebter  Teufel";  was  für  ein 
Teufel  hat  Ihnen  denn  das  Gefängnis,  das  Gift  und 
die  Henker  eingegeben?  Was  hat  denn  dies  mit 
der  Philosophie  der  Vernunft  gemein?** 

„Dies  ist  es  gerade,  was  ich  Ihnen  sage,**  ver* 
setzte  Gazotte.  —  „Im  Namen  der  Philosophie,  im 
Namen  der  Menschlichkeit,  der  Freiheit,  unter  der 
Vernunft,  wird  es  eben  geschehen,  daß  Sie  ein 
solches  Ende  nehmen  werden;  und  alsdann  wird 
doch  wohl  die  Vernunft  herrschen,  denn  sie  wird 
Tempel  haben;  ja,  es  wird  in  derselben  Zeit  in  ganz 
Frankreich  keine  anderen  Tempel  geben,  als  Tempel 
der  Vernunft.** 

„Wahrlich**  —  sprach  Chamfort  mit  einem  höh^ 
nischen  Lächeln  —  „Sie  werden  keiner  von  den 
Priestern  dieser  Tempel  da  sein.** 

Gazotte  erwiderte:  „Dies  hoffe  ich;  aber  Sie, 
Mr.  de  Ghamfort,  der  Sie  einer  derselben  sein  werden 
und  sehr  würdig  sind,  es  zu  sein,  Sie  werden  sich 
die  Adern  mit  22  Einschnitten  mit  dem  Schermesser 
öffnen,  und  dennoch  werden  Sie  erst  einige  Monate 
darauf  sterben.** 

Man  sieht  sich  an  und  lacht  wieder.  Gazotte 
fährt  fort: 

„Sie,  Mr.  Vicq.  d'  Azir*),  Sie  werden  sich  die 
Adern   nicht  selbst  öffnen;    aber  hernach  werden  Sie 


')  Bekannter  Arzt. 


« 


299 


sich  dieselben  an  einem  Tage  sechsmal  in  einem 
Anfall  von  Podagra  öffnen  lassen,  um  Ihrer  Sache 
desto  gewisser  zu  sein,  und  in  der  Nacht  werden 
Sie  sterben." 

„Sie,  Mr.  Nicolai  *),  Sie  werden  auf  dem  Schaffet 
sterben.** 

„Sie,  Mr.  Bailly'),  auf  dem  Schaffot." 

„Sie,  Mr.  de  Malesherbes '^),   auf  dem  Schaffot.*' 

„Gott  sei  gedankt!**  —  ruft  Mr.  Roucher^  —  .,Es 

scheint    Mr.   Cazotte    hat    es    nur  mit   der  Akademie 

zu  tun;  er  hat  eben  ein  schreckliches  Gemetzel  unter 

ihr  angerichtet:  ich  —  dem  Himmel  sei  es  gedankt.  .  .** 

Cazotte  fiel  ihm  in  die  Rede:  ,,Sie?  —  Sie  werden 

auch  auf  dem  Schaffot  sterben.** 


*)  Nicht  zu  identifizieren. 

^)  Jean  Bailly,  (1736—1793)  Astronom,  war  Präsident  der 
ersten  Assemblee  nationale  und  Maire  von  Paris.  Den  Jako# 
binern  verdächtig  geworden,  zog  er  sich  zurück,  ward  aber  in 
der  Schreckenszeit  verhaftet  und  guillotiniert. 

^)  Chretien  Guillaume  de  Lamoignon  de  Malesherbes 
(1721—94)  war  Jurist  und  Staatsmann  von  seltener  Gerechtig* 
keit  und  Freimütigkeit.  Er  trat  der  Willkür  des  Absolutismus 
schon  unter  Ludwig  XV.  entgegen  und  wurde  unter  Ludwig  XVI 
zweimal  Minister,  ohne  jedoch  mit  seinen  edlen  Absichten 
durchdringen  zu  können.  Als  dem  König  der  Prozeß  gemacht 
wurde,  verteidigte  er  ihn  vor  dem  Konvent  und  flehte  nach  der 
Verurteilung  um  einen  Appell  an  das  Volk.  Als  er  nach  der 
Hinrichtung  des  Königs  den  Konvent  heftig  angriff,  wurde  er 
mit  seiner  Familie  festgenommen.  Er  verteidigte  nur  die  Seinen, 
nicht  sich  selbst  und  starb  mutig  auf  dem  Schaffot. 

*)  Jean  Antoine  Roucher,  (1745—94),  mittelmäßiger 
Dichter,  der  die  Gräuel  der  Revolution  heftig  bekämpfte.  Er 
wurde  nachts  verhaftet  und  schnell  hingerichtet,  nachdem  er 
sich  noch  am  Tage  vor  seinem  Tode  für  seine  Familie  hatte 
malen  lassen. 


300 

„Ha!  was  gilt  die  Wette?**  —  ruft  man  aller 
Orten  aus  —  „er  hat  geschworen  alles  auszurotten.** 
Er:  „Nein,  ich  habe  es  keineswegs  geschworen.** 

Die  Gesellschaft:  „So  werden  wir  denn  von 
Türken  und  Tartaren  unterjocht  werden?  Und 
dennoch  — ** 

Er:  „Nichts  weniger;  ich  habe  es  Ihnen  schon 
gesagt,  Sie  werden  alsdann  allein  unter  der  Regierung 
der  Philosophie  und  der  Vernunft  stehen.  Die, 
welche  Sie  so  behandeln,  werden  lauter  Philosophen 
sein,  werden  immer  dieselben  Redensarten  führen, 
die  Sie  seit  einer  Stunde  auskramen,  werden  alle 
Ihre  Maximen  wiederholen,  werden,  wie  Sie,  die 
Verse  Diderots  und  der  ,Pucelle*  anführen.*' 

Man  sagte  sich  ins  Ohr:  „Sie  sehen  wohl,  daß 
er  den  Verstand  verloren  hat  (denn  er  blieb  bei 
diesen  Reden  sehr  ernsthaft).  Sehen  Sie  nicht,  daß 
er  spaßt?  —  Und  Sie  wissen,  daß  er  in  alle  seine 
Scherzreden  Wunderbares  einmischt.*' 

„Ja!"  sagte  Chamfort,  „aber  ich  muß  gestehen, 
sein  Wunderbares  ist  nicht  lustig;  es  ist  allzu  galgen* 
artig.     Und   wann   soll   denn   dies   alles  geschehen?** 

Er:  „Es  werden  nicht  sechs  Jahre  vorbeigehen, 
daß  nicht  alles,  was  ich  Ihnen  sage,  erfüllt  ist.** 

„Dies  sind  viele  Wunder"  (diesmal  war  ich  es, 
nämlich  Laharpe,  der  das  Wort  nahm)  —  und  von 
mir  sagen  Sie  nichts?" 

„Bei  Ihnen,*'  antwortete  Cazotte,  „wird  ein 
Wunder  vorgehen,  das  wenigstens  ebenso  außer* 
ordentlich  sein  wird:  Sie  werden  alsdann  ein 
Christ  sein." 

Allgemeines  Ausrufen!   „Nun  bin  ich  beruhigt," 


1 


301 

rief  Chamtort,  ,, kommen  wir  erst  um,  wenn  Laharpe 
ein  Christ  ist,  so  sind  wir  unsterblich." 

,,Wir,  vom  weiblichen  Geschlecht,"  sagte  hierauf  ^ 
die  Herzogin  von  Grammont,  ,,wir  sind  glücklich,  daß  j 
wir  bei  der  Revolution  nichts  gelten  werden.  Wenn 
ich  sage  , nichts',  so  heißt  das  nicht  so  viel,  als  ob 
wir  uns  nicht  ein  wenig  darein  mischten;  aber  es  ist 
so  Brauch,  daß  man  sich  deswegen  nicht  an  uns 
und  unser  Geschlecht  hält." 

Er:  „Ihr  Geschlecht,  meine  Damen,  wird  Ihnen 
diesmal  nicht  zum  Schutze  dienen,  und  Sie  mögen 
noch  so  sehr  sich  in  nichts  mischen  wollen,  man  wird 
Sie  gerade  wie  die  Männer  behandeln  und  in  An* 
sehung  Ihrer  keinen  Unterschied  machen." 

Sie:  „Aber  was  sagen  Sie  uns  da,  Mr.  Gazotte? 
Sie  predigen  uns  ja  das  Ende  der  Welt." 

Er:  ,,Das  weiß  ich  nicht;  was  ich  aber  weiß,  ist, 
daß    Sie,   Frau  Herzogin,    werden    zum    Schaffot    ge^    ^ 
führt    werden,    Sie    und    viele    andere    Damen    mit     ' 
Ihnen,    und    zwar  auf  dem   Schinderkarren,    mit    auf 
den  Rücken  gebundenen  Händen." 

Sie:  „In  diesem  Falle  hoffe  ich  doch,  daß  ich 
eine   schwarz   ausgeschlagene  Kutsche   haben  werde." 

Er:  „Nein,  Madame!  Vornehmere  Damen  als  Sie 
werden  auf  dem  Schinderkarren,  die  Hände  auf  den 
Rücken  gebunden,  geführt  werden." 

Sie:  ,, Vornehmere  Damen?  —  Wie?  —  Die  Frin* 
zessinnen  von  Geblüt?" 

Er:  ,,Noch  vornehmere." 

Jetzt  bemerkte  man  in  der  ganzen  Gesellschaft 
eine  sichtbare  Bewegung,  und  der  Herr  vom  Hause 
nahm  eine  finstere  Miene  an;  man  fing  an  einzusehen, 


502 

daß  der  Scherz  zu  weit  getrieben  werde.  Madame 
de  Grammont  ließ,  um  das  Gewölk  zu  zerstreuen, 
diese  letzte  Antwort  fallen  und  begnügte  sich,  im 
scherzhaftesten  Tone  zu  sagen:  „Sie  werden  sehen, 
daß  er  mir  nicht  einmal  den  Trost  eines  Beichtvaters 
lassen  wird." 

Er:  „Nein,  Madame,  man  wird  Ihnen  keinen 
geben,  weder  Ihnen  noch  sonst  jemandem.  Der  letzte 
Hingerichtete,  der  aus  Gnaden  einen  Beichtvater  haben 
wird**  —  hier  hielt  er  einen  Augenblick  inne. 

Sie:  „Nun,  wohlan!    Wer  wird  denn  der  glück«* 

liehe  Sterbliche  sein,  dem  man  diesen  Vorzug  gönnen 

wird?** 

\  Er:    „Es   wird   der   einzige  Vorzug    sein,    den   er 

jnoch  behält;  und  es  wird  dies  der  König  von  Frank«* 

reich  sein.** 

Nun  stand  der  Herr  vom  Hause  schnell  vom 
Tisch  auf  und  alle  mit  ihm.  Er  ging  zu  Mr.  Gazotte 
und  sagte  zu  ihm  mit  tief  bewegtem  Tone: 

„Mein  lieber  Herr  Gazotte!  Dieser  klägliche  Scherz 
hat  lange  genug  gedauert.  Sie  treiben  ihn  zu  weit 
und  bis  auf  einen  Grad,  wo  Sie  die  Gesellschaft,  in 
der  Sie  sich  befinden,  und  sich  selbst  in  Gefahr  bringen.** 

Gazotte  antwortete  nichts  und  schickte  sich  an 
wegzugehen,  als  Madame  de  Grammont,  die  immer* 
fort  verhindern  wollte,  daß  man  die  Sache  ernst  nähme, 
und  sich  bemühte,  die  Fröhlichkeit  wiederherzustellen, 
zu  ihm  hinging  und  sagte: 

„Nun,  mein  Herr  Prophet!  Sie  haben  uns  allen 
gewahrsagt;  aber  von  Ihrem  eigenen  Schicksal  sagen 
Sie  uns  nichts?" 

Er  schwieg,  schlug  die  Augen  nieder;  dann  sprach 


303 

er:  „Haben  Sic,  Madame,  die  Geschichte  der  Belage* 
rung  Jerusalems  im  Josephus  gelesen?" 

Sie:  ,, Freilich.  Wer  wird  sie  nicht  gelesen  haben? 
Aber  tun  Sie,   als  wenn  ich  sie  nicht  gelesen  hätte." 

Er:  ,, Wohlan,  Madame!  Während  dieser  Belage* 
rung  ging  ein  Mann  sieben  Tage  nacheinander  auf 
den  Wällen  um  die  Stadt,  im  Angesichte  der  Be# 
lagerer  und  Belagerten,  und  schrie  unaufhörlich  mit 
kläglicher  Stimme:  ,  Wehe  Jerusalem!  Wehe  Jerusalem!' 
Am  siebenten  Tage  schrie  er:  ,  Wehe  Jerusalem!  Wehe 
auch  mir!'  —  und  im  selben  Augenblicke  zerschmet* 
terte  ihn  ein  ungeheurer  Stein,  den  die  Maschinen 
der  Feinde  geschleudert  hatten." 

Nach  diesen  Worten  verbeugte  sich  Mr.  Cazotte 
und  ging  fort." 

Soweit  der  Bericht  bei  Laharpe. 

Nichts  liegt  näher  als  der  Einwand,  gerade  weil 
alles  so  eintraf,  wie  es  angeblich  Cazotte  prophezeite, 
sei  es  ein  vaticinium  post  eventum,  eine  Dichtung 
des  Laharpe. 

Bereits  Jungj^Stilling  nimmt  zu  dieser  Frage  SteU 
lung.  Seine  Ausführungen  können  immerhin  einiges^ 
Interesse  beanspruchen.  Wir  setzen  sie  deshalb  im 
Auszuge  hierher: 

„Ich  frage  jeden  wahrheitsliebenden  Kenner  der 
Kunst,  der  Ideale  von  getreuen  Kopien  der  Kunst  zu 
unterscheiden  versteht,  ob  diese  Erzählung  erdichtet 
sein  könne?  Sie  hat  so  viele  kleine  Nuancen  und 
Umständlichkeiten,  die  keinem  Dichter  eingefallen 
wären,  und  die  er  auch  nicht  für  nötig  gehalten  hätte. 
Und  dann,  was  konnte  diese  Erdichtung  für  einen 
Zweck    haben?     Ein    Freigeist    konnte    sie    nicht    er*^ 


304 

dichten,  weil  er  dadurch  allen  seinen  Grundsätzen 
entgegen  arbeitete;  denn  er  verbreitete  dadurch  Vor* 
Stellungen,  denen  er  todfeind  ist,  und  die  er  für  den 
dümmsten  Aberglauben  hält.  Will  man  annehmen, 
ein  Fanatiker,  ein  Schwärmer  habe  sie  erdichtet,  um 
etwas  recht  Auffallendes  zu  sagen,  so  widerspricht 
dieser  Vermutung  die  Natur  der  Erzählung  selbst, 
die  nicht  so  wie  ein  Gedicht  aussieht,  und  dann  die 
Gewißheit,  daß  sie  der  selige  Laharpe  eigenhändig 
geschrieben  hat  .  .  .  Gewiß,  apodiktisch  gewiß  ist, 
daß  Laharpe  die  Erzählung  selbst  geschrieben  hat. 
Dies  kann  aus  oben  angeführten  Gründen  nicht  ge* 
schehen  sein,  als  er  noch  Freigeist  war,  und  wer  die 
gründliche  Bekehrung  dieses  großen  Mannes  und 
großen  Freigeistes  weiß,  denen  kann  der  Gedanke 
nicht  einfallen,  daß  er  in  diesem  bußfertigen  Zustand, 
wo  er  sein  voriges  Leben  mit  blutigen  Tränen  be* 
weinte,  einen  solchen  gottesvergessenen  Frevel  sollte 
begangen  haben,  so  etwas  zu  erdichten;  das  ist  mora* 
lisch  unmöglich.  Diese  Sache  vor  seinem  Tode 
bekannt  zu  machen,  das  war  in  der  Zeit,  in  der  er 
starb,  nicht  ratsam,  und  noch  weniger  durften  es  die 
Gäste  vor  der  Revolution  und  während  derselben  er* 

zählen  0" 

Die  Möglichkeit  der  Erdichtung  des  Vorganges 
ist  trotz  der  ,, vielen  kleinen  Nuancen  und  Umstand* 
lichkeiten"  keineswegs  von  der  Hand  zu  weisen.  Mit 
solcher  literarisch^ästhetischen  Kritik  kommt  man  nicht 
weit").    Andrerseits  ist  zuzugeben,  daß  Laharpe,  von 

*)  JungjStilling,  Theorie  der  Geisterkunde,  S.  149t. 
')  fliibboSchlciden  z.B.  kommt  in  den  Psychischen  Studien, 
XXXVIII.  Hd.    1911,    1.   und   2.  Heft,    aus   psychologischen    Kr. 


305 


dem  das  Schriftstück  zweifellos  herrührt  und  aus 
dessen  Nachlaß  es  herausgegeben  wurde,  während 
der  Periode  seines  sogenannten  Freidenkertumes  un^s 
möglich  eine  derartige  Arbeit,  die,  wenn  sie  nicht 
wahr  ist,  zweifellos  im  hohen  Grade  mystisch  genannt 
werden  muf^,  abgefaßt  haben  kann.  Wohl  aber  wäre 
das  nachträglich  möglich  gewesen.  Denn  es  hätte 
doch  sicherlich  einen  nicht  geringen  Reiz,  sich  einen 
Mann  vorzustellen,  der  die  Zukunft  bis  in  alle  Einzel** 
heiten  genau  vorhergesehen  hatte,  und  ihn  in  das  bes* 
wegte  und  geistig  hochstehende  Milieu  dieser  Gesells« 
Schaft  zu  stellen.  Den  ,, gottvergessenen  Frevel"  dieses 
Vorganges  können  wir  uns   nicht  recht  klar  machen. 

Die  einzigen  Punkte,  in  denen  Jung^Stilling  un# 
bedingt  rechtzugeben  ist,  wären  demnach  folgende: 
daß  Laharpe,  angenommen,  alles  hätte  sich  wirklich  so 
ereignet,  wie  er  es  berichtet,  aus  politischen  Gründen 
von  einer  Veröffentlichung  in  der  kritischen  Zeit, 
also  vor  Ausbruch  der  Revolution,  Abstand  nehmen 
mußte.  Und  dann  als  weiterer,  zwar  nichts  Positives 
aussagender,  der,  daß  er  in  der  Periode  des  ¥reu 
denkertums  die  Dichtung  —  angenommen,  es  handelte 
sich  um  eine  solche  —  nicht  abgefaßt  oder  auch  nur 
konzipiert  haben  konnte. 

Damit  kommen  wir  aber  nicht  weiter.    Denn  die 


wägungen  zum  entgegengesetzten  Resultat.  Er  schreibt  (S.  22): 
„Die  Schilderung  dieses  Auftrittes  ist  ein  elendes  Machwerk  im 
Stile  eines  Hintertreppenromans  ohne  irgendeine  seelische  oder 
geistige  Feinheit  darin.  Die  dichterische  Erfindung  ist  so  plump 
wie  unwahr,  sie  ist  dramatisch  sensationell,  aber  nur  eine  ab« 
geschmackte  Effekthascherei  .  .  ."  Natürlich  beweist  dieses  Urteil 
nicht  mehr  gegen  die  Prophezeiung,  als  Jwngs  Darlegungen  für  sie. 

Kemmerich,  Prophezeiungen  20 


f 


506 

Möglichkeit  der  späteren  Dichtung  ist  keineswegs 
beseitigt.  Sie  auszuschalten,  haben  wir  folgende 
Wege: 

1.  Eine  Erklärung  Laharpes,  daß  es  sich  um  tat* 
sächliche  Vorgänge  handelt.  Eine  solche  ist  zwar 
nicht  unbedingt  beweiskräftig,  denn  wenn  es  sich  um 
eine  Mystifikation  handeln  sollte,  so  läge  der  Gedanke 
nahe,  der  Autor  habe  mit  allen  Mitteln  versucht,  sie 
aufrecht  zu  erhalten.  Beispiele  dafür  bietet  die  Lite* 
raturgeschichte  in  nicht  geringer  Anzahl. 

2.  Die  Erklärung  von  Zeugen,  die  entweder  dem 
Gastmahle  selbst  beiwohnten,  oder  aber  vor  Eintritt 
der  verkündeten  Ereignisse  von  den  Vorgängen  Kennt* 
nis  erhielten.  Auch  das  ist  kein  unbedingt  zwingen* 
der  Beweis,  da  bekanntlich  Gedächtnisfehler  nichts 
weniger  als  selten  sind.  Immerhin  würde  —  die  Glaub* 
Würdigkeit  der  Zeugen  vorausgesetzt  —  daraus  zu 
folgern  sein,  zwar  nicht,  daß  sich  alles  gerade  so  ver* 
hielt,  wie  Laharpe  mit  großer  Künstlerschaft  erzählt, 
wohl  aber,  daß  bemerkenswerte  Vorhersagen  auf  die 
Revolution  und  wohl  auch  auf  den  Tod  einiger  Per* 
sonen  aus  dem  Munde  Gazottes  tatsächlich  vorliegen. 

3.  Einen  authentischen  Bericht  irgendeines  Teil* 
nehmers  oder  einer  anderen  Person,  die  von  Cazotte 
oder  einem  Teilnehmer  informiert  war,  vorausgesetzt, 
dieser  Bericht  sei  vor  Eintritt  der  prophezeiten  Er* 
eignisse  schriftUch  festgelegt  worden.  Letzteres  allein 
wäre  ein  absolut  zwingender  Beweis.  Es  bliebe,  ge* 
länge  es  den  gedachten  Nachweis  zu  erbringen,  nicht 
mehr  der  Ausweg,  die  (^azottesche  Vorhersage  zu  be* 
zweitein.  Nur  die  Erklärung  bliebe  trei,  insofern 
Skeptiker  nicht  Prophetie,   sondern  Berechnung  oder 


307 


den  belichten  Zuhill  heranziehen  könnten.  Allerdings 
ohne  Aussicht  zu  haben,  viel  Gläubige  zu  finden. 

Versuchen  wir  nun  den  Weg  des  Beweises,  vom 
Unsicheren  zum  Sicheren  fortschreitend,  so  zurück^ 
zulegen,  wie  wir  ihn  oben  skizzierten. 

Walter  Bormann,  der  sich  große  Verdienste  nicht 
nur  um  das  Studium  des  Fernsehens  in  Raum  und 
Zeit,  sondern  auch  besonders  um  Aufhellung  der 
Cazotteschen  Prophezeiung  erworben  hat,  führt  in 
Ergänzung  von  Jungs Stillings  Beweisführung  Tat^ 
Sachen  an,  die  zweifellos  geeignet  sind,  nachdenklich 
zu  machen^). 

Die  Niederschrift  der  Prophetie  von  Laharpes 
eigener  Hand  befand  sich  nach  dem  Tode  des  Autors 
im  Besitz  eines  Herrn  Boulard.  Sie  besaß  noch  einen 
Zusatz,  den  der  Verleger  aus  irgendwelchen  Gründen 
bei  der  Herausgabe  der  gesammelten  Schriften  Laharpes 
unterdrückte.  Nach  Mitteilung  des  vorgenannten 
Herren  Boulard  machte  ihn  die  Zeitschrift  „L'Imprimee" 
in  Nr.  40  des  Jahrganges  1820  bekannt.     Er  lautet: 

,, Jemand  hat  mir  gesagt:  ,,Das  wäre  wahr?  Das, 
was  Sie  mir  da  erzählen,  wäre  wahr?"  —  Was  nennt 
ihr  denn  wahr?  Habt  ihr  es  denn  nicht  gesehen 
mit  euren  eigenen  Augen?  —  Ja,  die  Tatsachen; 
aber  die  Prophezeiung,  eine  so  außerordentliche 
Prophezeiung?  —  Das  will  sagen,  daß  alles,  was  euch 
daran  höchstens  wunderbar  erscheint,  die  Prophet 
zeiung  ist.  Ihr  täuscht  euch  zweifellos;  die  Kenntnis 
der  Zukunft  gehört  nur  Gott,  und  keiner  ist  Prophet, 
es  wäre   denn   durch   Gottes  Eingebung.     Allein   das 

^)  „Nomen",  Leipzig  1909,  S.  182  ff.  Die  Übersetzung  weiter 
unten  nach   Bormann. 

20* 


508 

ist  kein  so  ganz  seltenes  Wunder.  Gott  hat  davon 
tausend  verbürgte  Beispiele  gegeben,  und  es  wider* 
streitet  keiner  moralischen,  noch  philosophischen  An* 
schauung,  daß  er  die  Kenntnis  der  Zukunft,  wenn 
es  ihm  gefällt,  mitteilen  könne.  Dagegen  ein  Wunder, 
oder  vielmehr  eine  Menge  von  Wundern,  die  in  ganz 
anderer  Weise  außergewöhnlich  sind,  das  ist  diese 
Häufung  von  unerhörten  und  ungeheuerlichen  Tat* 
Sachen,  die  jedweder  bisher  bekannten  Anschauung 
widerstreiten,  welche  alle  menschlichen  Begriffe  von 
Grund  aus  umstürzen,  sogar  im  Schlechten  und  in 
dem,  was  man  von  den  Verbrechen  des  Menschen 
wußte.  Seht,  das  ist  das  reale  Wunder,  so  wie  die 
Prophezeiung  bloß  etwas  Vorausgesetztes  ist,  und 
wenn  ihr  noch  immer  nicht  dazu  gekommen  seid,  in 
dem,  was  wir  gesehen  haben,  etwas  anderes  zu  er* 
blicken  als  das,  was  man  eine  Revolution  heißt;  wenn 
ihr  glaubt,  daß  diese  so  sei,  wie  eine  andere,  dann 
habt  ihr  sie  nicht  gelesen,  noch  bedacht,  noch  ge* 
fühlt.  In  diesem  Falle  würde  sogar  die  Prophe* 
zeiung,  wenn  sie  so  stattgefunden  hätte,  hoch* 
stens  ein  Wunder  sein,  das  für  euch  nur  verloren 
wäre,  wie  für  die  anderen,  und  dies  wäre  dann 
das  größte  Unglück.'* 

Aus  diesen  Worten  Laharpes  läßt  sich  nicht  viel 
machen.  Dazu  sind  sie  zu  unklar.  So  viel  ist  aber 
sicher,  daß  er  an  Prophetie  glaubt  und  sagen  will, 
daß  sie  nicht  so  wunderbar  ist,  als  die  Ereignisse 
selbst.  Auf  die  Erklärung  durch  Gott  brauchen 
wir  natürlich  nicht  einzugehen.  Sie  heißt  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  als  ein  X  durch  eine  andere  un* 
bekannte   Gröfk,    deren   Existenz    noch    nicht   einmal 


309 


beweisbar  ist,  erklären  zu  wollen.  Indem  wir  uns 
vorbehalten,  später  aut  Laharpes  Ausführung  zurück^ 
zukommen,  wollen  wir  zunächst  im  Anschluß  an  Bor* 
mann  versuchen,  Zeugen  tür  die  Weissagung  Cazottes 
aufzutreiben. 

Deren  gibt  es  nun  mehrere:  1.  Hat  ein  Herr 
de  N.  —  also  leider  ein  Anonymus  —  in  den  Pariser 
Zeitungen  erzählt,  daß  er  oft  von  Cazotte,  den  er 
gut  kannte,  die  Ankündigung  der  schweren  Drangst 
sale  Frankreichs  gehört  habe,  während  alle  Welt 
noch   in   vollkommener  Sicherheit  lebte  ^).       Derselbe 


*)  Vgl.  JungsStilling,  „Theorie  der  Geisterkunde",  S.  130ft. 
Das  Gesicht  Cazottes  vor  seiner  Hinrichtung  ist  recht  mitteilens» 
wert.  De  N.  .  .  berichtet  Cazottes  Worte:  ,,Ja,  mein 
Freund!  In  drei  Tagen  sterbe  ich  auf  dem  Schaffot."  Indem 
er  dies  sagte,  war  er  innigst  gerührt  und  setzte  hinzu:  ,,Kurz 
vor  Ihrer  Ankunft  sah  ich  einen  Gensdarmen  hereintreten,  der 
mich  auf  Befehl  des  Pethion  abholte;  ich  ward  genötigt,  ihm 
zu  folgen;  ich  erschien  vor  dem  Maire  von  Paris,  der  mich  in 
die  Conciergerie  abführen  ließ,  und  von  da  kam  ich  vor  das 
Revolutionsgericht.  Sie  sehen  also  —  (aus  diesem  Gesicht 
nämlich,  das  Herr  Cazotte  gehabt  hatte)  —  mein  Freund!  daß 
meine  Stunde  gekommen  ist,  und  ich  bin  so  sehr  davon  über- 
zeugt, daß  ich  alle  meine  Geschäfte  in  Ordnung  bringe.  Hier 
sind  Papiere,  an  welchen  mir  viel  gelegen  ist,  daß  sie  meiner 
Frau  zugestellt  werden;  ich  bitte  Sie,  ihr  dieselben  zu  über; 
geben  und  sie  zu  trösten."  Alles  traf  ganz  genau  nach  den 
Vorhersagen  ein.  Jung^Stilling,  S.  131.  Dieser  Bericht,  soweit 
er  die  Todesahnung  Cazottes  betrifft,  trägt  in  so  hohem  Grade 
den  Stempel  der  Wahrheit  an  sich,  daß  wir  ihn  auch  glauben 
müßten,  wenn  ihn  nicht  —  wie  wir  weiter  unten  sehen  werden  — 
Cazottes  Sohn  noch  ausdrücklich  [bestätigte.  Jungs  iQuelle  ist 
eine  in  Frankfurt  bei  Silbermann  gedruckte  Broschüre  ,,Merk= 
würdige  Vorhersage,  die  französische  |Schreckens;Revolution  bes 
treffend:  Aus  den  hinterlassenen  Papieren  des  Herrn  La  Harpe.  ,  ." 


510 

Gewährsmann  bestätigt  auch  die  Wahrheit  der  Er^ 
Zählung,  daß  Cazotte  seine  nach  drei  Tagen  erfolgende 
Hinrichtung  vorhergesagt  habe.  Ob  das  von  ihm 
Vernommene  sich  mit  Larharpes  Darstellung  deckte, 
sagt  er  allerdings  nicht.  Immerhin  beweist  dieser 
Zeuge,  daß  Cazotte  eine  gewisse  Gabe  des  zeitlichen 
Fernsehens  besessen  hat. 

2.  Bekundet  die  Gräfin  de  Genlis  schriftlich 
folgendes:  „Ich  habe  das  hundert  Male  Mr.  de  Laharpe 
vor  der  Revolution  erzählen  hören  und  immer 
durchweg  genau,  wie  ich  es  gedruckt  gesehen  habe, 
und  wie  er  selbst  es  hat  drucken  lassen.  Im  Nos^ 
vember  1825.  Comtesse  de  Genlis^).'*  Diese  Zeugin 
ist  die  bekannte  Erzieherin  der  Kinder  des  Herzogs 
von  Orleans.  Als  sie  dies  Zeugnis  ablegt,  ist  sie  be* 
reits  79  Jahre  alt.  Alte  Leute  leiden  oft  an  Gedächt*= 
nisschwäche,  erinnern  sich  aber  auch  andrerseits  fast 
stets  mit  wunderbarer  Klarheit  an  Vorgänge  aus  ihrer 
Jugend.  Wenn  wir  uns  also  auch  hüten  müssen,  aus 
diesem  Zeugnis  zu  folgern,  daß  Laharpe  tatsächlich 
wörtlich  Gazottes  Vorhersage  wiederholt  und  übers^ 
liefert  habe,  so  werden  wir  doch  nicht  umhin  können 
zuzugeben,  daß  irgendeine  wunderbare  Prophezeiung 
kursiert  haben  muß. 

3.  Der  Sohn  von  Jaques  Cazotte  sagt  nur  aus, 
daß  sein  Vater  oft  Proben  seines  zeitlichen  Fern:» 
Sehens  abgelegt  habe,  was  übrigensJung^Stilling  auch  von 


*)  Der  bekannte  Arzt  und  Magnetiscur  Joseph  Phil.  Deleuze 
hat  in  seiner  1836  erschienenen  Schrift  ,, Memoire  sur  la  faculte 
de  prevision"  mehrere  solche  Zeugenaussagen  gesammelt,  die 
wir  nachstehend,  m  Anschlul^  an  Bormanns  ,, Nomen",  S.  185 f., 
wiedergeben.     Die  Originalausgabe  war  mir  nicht  zugänglich. 


311 


anderer  Seite  erfahren  hatte.  Ob  die  Darstellung 
Laharpes  in  allen  Ausdrücken  genau  ist,  weiß  er 
nicht  anzugeben.  Er  bestätigt  aber  jenen  Vorfall,  wo 
die  Schwester  ihren  72  jährigen  Vater  den  Mord* 
banden  entriß  und  Cazotte  darauf  seinen  nach  drei 
Tagen  bevorstehenden  Tod  richtig  prophezeite.  — 
Diese  Zeugenschaft  beweist  zweifellos  ~  und  das  ist 
sehr  wichtig  —  daß  Cazotte  im  Rufe  eines  Sehers 
stand  und  auch  Sehergabe  besaß.  Die  Annahme 
dürfte  daher  nahe  liegen,  daß  es  sich  gar  nicht  um 
eine  Dichtung  Laharpes,  sondern  um  dichterisch  ver* 
klärte  Wahrheit  handelt.  Denn  wenn  Cazotte,  was 
ja  nach  dem  Zeugnis  des  Sohnes  nicht  bezweifelt 
werden  kann  —  Hellseher  war,  dann  besteht  gar  kein 
triftiger  Grund  an  der  Wahrheit  des  Berichtes  bzw. 
daran,  daß  ihm  ein  wahrer  Kern  zugrunde  liegt,  zu 
zweifeln. 

4.  Bezeugt  ein  Anonymus  Mr.  N.  in  Rennes,  daß 
der  bekannte  Arzt  Vicq.  d'Azir  mehrere  Jahre 
vor  der  Revolution  die  Weissagungen  Cazottes 
die  er  mit  angehört  hatte,  und  die  trotz  seines  Un* 
glaubens  ihn  beunruhigt  hätten,  erzählte.  Es  wird 
nicht  angegeben,  ob  er  sie  genau  so  erzählte,  wie 
Laharpe  überliefert.  Aber  selbst  wenn  das  wäre, 
könnten  wir  darauf  nicht  bauen,  da  das  Gedächtnis 
besonders  hinsichtlich  des  Wortlautes  höchst  unzu= 
verlässig  ist.  Immerhin  ist  dieses  Zeugnis  —  wenn 
wir  ihm  trotz  seiner  Anonymität  Glauben  schenken 
wollen  —  nicht  ohne  hohen  Wert.  Denn  wenn  es 
auch  nichts  über  den  Inhalt  der  Prophetie  verrät,  so 
beweist  es  doch,  wie  das  der  Gräfin  de  Genlis,  daß 
mindestens     Gerüchte     von     Vorhersagen     umliefen. 


512 

Daran  und  daß  ihnen  irgend  etwas  Reales  zugrunde 
lag,  werden  wir  kaum  mehr  zweifeln  dürfen.  Aber  — 
das  sei  ohne  weiteres  zugegeben  —  für  den  konkreten 
Fall  ist  damit  nicht  allzuviel  gewonnen. 

Rekapitulieren  wir  kurz  den  gegenwärtigen  Stand 
der  Untersuchung: 

1.  Es  ist  absolut  feststehend,  daß  Cazotte 
Visionen  hatte,  die  in  Erfüllung  gingen. 

2.  Es  kursierten  zweifellos,  anscheinend  schon 
vor  der  Revolution,  Gerüchte,  nach  denen  Teil* 
nehmer  an  jener  Abendgesellschaft  —  die  Gräfin 
Genlis  nennt  Laharpe,  der  vierte  Zeuge  in  Rennes  den 
Arzt  d'Azir,  der  erste  gar  Cazotte  selbst  als  Ge* 
währsmann  —  aus  Gazottes  Munde  Unglück  ver* 
heißende  Aussagen  über  die  Zukunft  Frankreichs 
gehört  haben. 

Damit  können  wir  noch  nicht  viel  anfangen. 
Denn  wenn  es  auch  sicher  interessant  ist  zu  wissen, 
daß  Vorhersagen  der  Revolution  —  wie  übrigens 
wohl  fast  jedes  bedeutenden  Ereignisses  der  Welt* 
geschichte  existieren,  so  ist  das  noch  ein  großer 
Unterschied  von  Gazottes  Prophetie,  die  jedem 
einzelnen  Teilnehmer  sein  Ende  vorhersagt.  Gerade 
bei  dieser  überaus  wunderbaren  Weissagung  kommt 
alles  aufs  Detail  an  und  hiervon  wissen  wir  gar  nichts. 

Zudem  haben  wir  bisher  noch  keine  unbedingt 
zuverlässigen  Zeugnisse  dafür,  daß  die  Gerüchte 
bereits  vor  der  Revolution  umHeten.  Gewiß  könnte 
man  aus  dem  Fehlen  solcher  Zeugen  nichts  gegen 
die  Wahrheit  folgern,  denn  es  ist  klar,  daß  man 
sich  in  stürmischen  oder  kritischen  Zeiten  hüten 
wird,     solch    getahrlichc    Prognosen     zu     verbreiten. 


313 

1 

Aber  das  genügt  uns  nicht.  Die  ein  Menschenalter 
später  ausgestellten  Beglaubigungen  sind  aber  nicht 
beweiskräftig  genug. 

Deshalb  kann  uns  auch  das  fünfte  Zeugnis  nicht 
genügen,  wiewohl  es  an  tatsächlichen  Angaben  so 
ungefähr  alles  enthält,  was  wir  nur  wünschen  können. 
Es  handelt  sich  um  die  schriftliche  Bekundung  des 
Barons  Delamothe  *  Langon  des  Inhalts,  daß  eine 
Gräfin  Beauharnais  als  Teilnehmerin  an  jener  Abend? 
gesellschaft  ihm  und  vielen  anderen  Personen,  die 
1833  bei  Abgabe  dieses  Zeugnisses  noch  lebten  und 
es  bezeugen  konnten,  die  Wahrsagungen  Cazottes  in 
der  Wiedergabe  Laharpes  als  echt  bestätigten.  Aller? 
dings  erfahren  wir  auch  hier  weder,  wo  diese  Abend? 
gesellschaft  stattgefunden  hatte,  noch  auch  in  welchem 
Jahre  die  Gräfin  Beauharnais  dieses  Zeugnis  abge? 
legt  hat.  Wir  freuen  uns  immerhin  darüber  als 
neuerliche  Bestätigung  dafür,  daß  Weissagungen,  die 
auf  Cazotte  zurückgeführt  wurden,  kursierten. 

So  müßten  wir  also  mit  einem  Non  liquet 
schließen,  wenn  wir  nicht  noch  ein  6.  und  wichtigstes 
Zeugnis,  das  Deleuze  unbekannt  war  und  von  Bor? 
mann  in  seiner  Bedeutung  erstmalig  voll  gewürdigt 
wurde,  heranziehen  könnten. 

Wir  finden  es  in  den  Memoiren  der  Baronin 
Oberkirch,  die  als  Tochter  des  Barons  Waldner?Freund? 
stein  auf  Schloß  Schweighausen  im  Oberelsaß  1753 
geboren  wurde  und  sich  mit  dem  Baron  Oberkirch, 
in  zweiter  Ehe  mit  dem  Grafen  Montbrison  vermählte. 
Die  Denkwürdigkeiten  dieser  hochgebildeten  Frau, 
die  mit  den  bedeutendsten  Zeitgenossen  in  Frank? 
reich  und  Deutschland  in  Verbindung  stand,  wurden 


514 

nach  ihren  eigenen  Angaben  in  ihrem  35.  Lebensjahre 
1789  verfaßt.  Sie  erschienen  zuerst  1852  in  englischer 
Sprache,  von  ihrem  Enkel  Montbrison  herausgegeben, 
und  erst  das  folgende  Jahr  in  französischer  Über* 
Setzung  in  drei  Bänden. 

Daß  die  letzte  Zeile  des  Werkes  wirklich  noch 
1789  geschrieben  wurde,  beweist  der  Schluß  des 
3.  Bandes,  der  in  Übersetzung  lautet: 

„Mein  Werk  ist  zu  Ende.  Um  die  Welt  möchte 
ich  nicht  der  scheußlichen  Morde  gedenken,  welche 
sich  rings  um  mich  ausbreiten,  mit  Verheerung  drohend 
allem,  was  ich  liebe  und  verehre.  Ein  Lebewohl  also 
rufe  ich  dieser  genußreichen  Beschäftigung,  den  glück* 
liehen  Stunden,  die  ich  schildernd  verbrachte,  zu; 
dahin  seid  ihr  Tage,  die  ich  in  der  Gesellschaft  teurer 
Freunde  genoß.  Mein  Herz  sinkt,  wenn  ich  die 
Wolken  schaue,  die  am  Horizont  auftauchen  und  mit 
Unglück  für  unser  unseliges  Land  beladen  scheinen. 
In  welchen  unglücklichen  Stunden  habe  ich  unsere 
Kinder  geboren!  Eine  von  Unsternen  erfüllte  Zukunft 
scheint  ihnen  entgegen  zu  schreiten.  Gott  wende  von 
uns  die  furchtbaren  Vorzeichen!" 

Daraus  geht  hervor,  daß  das  Werk  vor  Aus* 
bruch  der  wirklichen  Revolution  mit  allen  ihren 
Schrecknissen  beendet  wurde,  augenscheinlich  bald 
nach  dem  Sturm  auf  die  Bastille,  deren  erschüttern* 
den  Eindruck  wir  in  diesen  Zeilen  nachklingen  fühlen. 

In  diesem  Werk  nun,  das  nach  Angabe  der  V^er* 
fasserin  und,  wie  eben  gezeigt,  auch  aus  inneren 
(iTÜnden  im  Jahre  1789,  also  vor  der  eigentlichen 
Revolution  und  jedenfalls  vor  Eintreffen  der 
in   der  Prophezeiung  Cazottes  vorhergesagten 


315 


Ereignisse  beendet  war,  heißt  es  im  letzten  Kapitel, 
daß  ,, viele  Personen  die  Prophezeiungen  Ca*» 
zottes  angehört  hätten,  deren  Realität  zu  be^ 
zweifeln   unmöglich   sei". 

Ferner  berichtet  die  Verfasserin  über  ein  merk^ 
würdiges  Erlebnis  aus  den  letzten  Tagen  von  1788 
oder  dem  Beginn  des  folgenden  Jahres,  das  ihre  be^ 
reits  damalige  Bekanntschaft  mit  schriftlichen  Auf^ 
Zeichnungen  Laharpes  über  die  bewußten  Prophet 
zeiungen  Cazottes  bezeugt. 

In  Straßburg  bei  dem  Marquis  de  Puysegur,  dem 
Entdecker  des  Somnambulismus,  wohnte  die  Baronin 
Oberkirch  Experimenten  mit  einer  bedeutenden  Som^ 
nambulen,  einem  jungen  Mädchen  aus  dem  Schwarz*^ 
walde,  bei,  als  der  Marechal  de  Stainville  hereintrat 
und  das  Ersuchen  stellte,  die  Somnambule  einige 
Minuten  zu  befragen.  Diese  aber  sagte  ihm,  da(^  sie 
den  Grund  seines  Kommens  wisse:  er  wolle  sie  über 
die  Zukunft  Frankreichs  befragen  und  sei  über  das 
Schicksal  der  Königin  besorgt.  In  der  Tat  wollte 
der  Marschall  sie  das  fragen. 

Zitieren  wir  nun  die  Baronin  Oberkirch')! 

„Das  ist  vollkommen  wahr,*'  sagte  Herr  von  Stain* 
ville  verwundert. 

Damals  sprach  jeder  Mensch  von  den  Pro* 
phezeiungen  des  M.  de  Cazotte"),  und  die  Mehr* 
zahl    der    Leute    war    geneigt,    sie    für    Träume    oder 


M  Memoirs  of  the  Baronesse  d'Oberkirch,  Countes  de 
Montbrison,  III.  Bd.,  London  1852,  S.  501  ff.  Der  oben  zitierte 
Schluß  steht  p.  317f. 

^)  Nächst  dem  Folgenden  von  mir  gesperrt.  Die  unten  ge* 
nannte   ,, Großherzogin"   ist   die  Grol^fürstin  Maria  Feodorowna. 


516 

Wahngebilde  einer  überreichen  Einbildungskraft  zu 
halten.  Der  Marschall  dachte,  dies  sei  eine  gute  Ge* 
legenheit,  um  sie  auf  ihre  Wahrheit  hin  zu  prüfen, 
und  frug  das  Mädchen,  ob  sie  sich  je  erfüllen  würden. 

Gerade  als  er  seine  Frage  beendet  hatte,  öffnete 
sich  die  Tür,  und  es  trat  der  Marquis  de  Peschery 
ein,  dem  wir  erklärten,  was  vorging.  Darauf  wieder*^ 
holte  der  Marschall  seine  Frage. 

,, Bevor  ich  antworte,  muß  ich  nachdenken,"  sagte 
das  Mädchen.  ,, Diese  Dinge  sind  so  wichtig  und 
gegenwärtig  noch  so  verworren." 

„Sagen  Sie  mir  nur,  ob  die  Prophezeiungen, 
welche  ich  gehört  habe,  sich  erfüllen  werden,  und 
ob  ich  daran  glauben  kann?" 

„Sie  können  an  alle  glauben,"  antwortete  sie 
ohne  zu  zögern. 

Wir  sahen  uns  entsetzt  an,  und  ich  gestehe,  daß 
ich  zitterte,  da  ich  erst  am  Abend  vorher  M. 
de  Gazottes  Prophezeiungen  gelesen  hatte, 
welche  mir  von  der  Großherzogin  geschickt 
worden  waren.  — 

„Was,"  sagte  der  Marschall,  ,,alle  diese  Dinge 
sollen  sich  wirklich  ereignen!" 

,,Alle  und  mehr  noch." 

„Wann?" 

,,Von  heute  an  in  einigen  Jahren." 

„Können  Sie  die  Zeit  nicht  genau  angeben?" 

Sie  zögerte  einige  Augenblicke  und  sagte  dann: 
,,Sie  werden  noch  in  diesem  selben  Jahre  beginnen 
und  werden  vielleicht  ein  Jahrhundert  lang  andauern." 

,,Wir  werden  demnach  deren  Erfüllung  nicht  er* 
leben?" 


■517 


,, Viele  von  Ihnen  werden  den  Anfang  nicht  sehen.** 
I])as  war  eine  schreckliche  Ankündigung. 

Nach  einer  kleinen  Weile  sagte  der  Marschall: 
„Was  geht  jetzt  in  Frankreich  vor?'* 

,,Eine  Verschwörung  ist  im  Gange,  und  der, 
welcher  verschwört,  wird  das  Opfer  seiner  eigenen 
Schlechtigkeit  werden.  Eine  Weile  lang  wird  er  trium:* 
phieren,  aber  sein  Geschick  wird  das  seiner  Opfer 
sein.  O  mein  Gott!  Mein  Gott!  Welch  Ströme  von 
Blut!    Es  ist  zu  grauenhaft." 

,,Sie  sind  sicher,  daß  das  vielen  erhabenen  Per* 
sönlichkeiten  prophezeite  Geschick  sich  erfüllen  wird?'* 

,,Ich  bin  es." 

,,Was,  sie  werden  eines  gewaltsamen  Todes 
sterben?" 

„Sie   werden   eines   gewaltsamen  Todes  sterben." 

„Und  ich!  Werde  ich  teilhaben  an  den  meiner 
Familie  prophezeiten  Unglücksfällen?*' 

„Sie  werden  es  nicht." 

,,Ach!  Werde  ich  mich  abseits  von  diesem  Ge* 
tümmel  (melee)  halten?  Das  würde  einem  alten  Sol* 
daten,  wie  mir,  nicht  passen." 

Die  Somnambule  schwieg. 

,,Was  wird  mein  Schicksal  sein?" 

Sie  wollte  nicht  antworten. 

,,Sie  fürchten  sich,  es  mir  zu  sagen.  Meine  Freunde 
werden  geköpft  werden,  und  vielleicht  blüht  mir  etwas 
Schlimmeres.  Werde  ich  gehenkt?  Das  wäre  ein  Schickes 
sal,  unwürdig  eines  Kavaliers.  Aber  sprechen  Sie; 
der  Tod  und  ich  sind  alte  Bekannte;  wir  haben  uns 
oft  ins  Angesicht  gesehen." 

Während   einer  langen  Weile  weigerte   sich   das 


318 


Mädchen  zu  antworten,  aber  auf  die  Bitte  des  Mar? 
Schalls  bestand  Herr  de  Puysegur  auf  ihrer  Antwort. 

„Armer  Herr!"  sagte  sie  langsam,  „warum  fragt 
er  mich,  was  er  in  einigen  Monaten  selbst  wissen  wird?" 

„In  einigen  Monaten?"  sagte  der  Marschall. 
„Werde  ich  in  einigen  Monaten  sterben?  Ach!  Um 
so  besser,  so  werde  ich  den  Ruin  und  die  Entehrung 
Frankreichs  nicht  sehen.  Ich  danke  Gott  dafür;  werde 
ich  in  meinem  Bett  sterben?" 

,,Sie  werden,"  sagte  sie,  aber  mit  so  leiser  Stimme, 
daß  wir  sie  nur  mit  Mühe  hören  konnten. 

Aus  dieser  Aussage  folgt  mit  einer  jeden  Zweifel 
ausschließenden  Sicherheit,  daß  gleich  nach  der  be? 
wußten  Abendgesellschaft,  auf  der  Cazotte  durch 
seine  Prophezeiungen  allgemeines  Entsetzen  verursacht 
hatte,  die  Vorgänge  aufgezeichnet  wurden.  Denn,  wie 
Laharpe  selbst  erzählt,  fand  die  Gesellschaft  1788 
statt,  während  der  Seance  beim  Marquis  de  Puysegur 
am  Schlüsse  des  gleichen  oder  zu  Beginn  des  nächsten 
Jahres  abgehalten  wurde  ^).  Damals  aber  war  der  Be? 
rieht  Laharpes  aus  Rußland  bereits  wieder  zurück^: 
gekehrt. 

Die  Beweiskraft  des  bereits  1789,  also,  um  es 
nochmals  zu  konstatieren,  vor  Eintritt  der  Ereignisse 
schriftlich  abgelegten  Zeugnisses  ist  absolut.  Dadurch 
wird  aber  auch  den  früher  genannten  Bestätigungen 
Sanktion  erteilt.  Und  zwar  sowohl  den  Gewährst 
männern,    die    vor    der    Revolution    aus    Laharpes 


*)  Wir  haben  keinen  Grund,  zu  zweitein,  daß  Laharpe  selbst 
schon  damals  den  Bericht  verfall  hatte.  Was  den  angekündigten 
Tod  Siainvilles  betrittt,  so  trat  er  tatsächlich  bald  nach  der 
Sitzung  ein. 


319 


MuikIc  die  lirzählun^  jener  Wahrsagun<^cn  in  Uber^ 
cinstinimung  mit  seinem  posthumen  Bericht  vernommen 
haben  wollen,  als  auch  den  Zeugen,  die  von  anderen 
1  eihiehmern  der  bewufken  Abendgesellschaft  von 
solchen   Prophezeiungen  Cazottes  hörten. 

Nun  ist  noch  eine  Inkongruenz  zu  beseitigen, 
die  auf  den  ersten  Blick  recht  frappierend  wirkt. 
Wir  bewiesen  aus  den  Memoiren  der  Frau  von  Ober* 
kirch  soeben,  daß  Laharpe  die  Aufzeichnung  von 
C>azottes  Prophezeiungen  sehr  bald  nach  der  Gesell* 
schah,  jedenfalls  aber  noch  im  gleichen  Jahre,  nieder* 
geschrieben  haben  muß.  Denn  schon  1788  sandte  er 
sie  nach  Rußland.  Und  doch  beginnt  der  Bericht 
mit  den  Worten:  ,,Es  dünkt  mich,  als  sei  es  gestern 
geschehen  und  doch  geschah  es  im  Anfang  des 
Jahres  1788."  Daraus  geht  hervor,  daß  schon  Jahre 
darüber  hingegangen  waren,  als  Laharpe  diese  Zeile 
schrieb. 

Hier  ergibt  sich  also  ein  scheinbar  unlöslicher 
Widerspruch. 

Wie,  wenn  Laharpe  nach  vielen  vielen  Jahren 
das  Originalmanuskript  wieder  hervor  holte  und  ihm 
nun  diese  Zeilen  der  Einleitung  vorausschickte? 

Das  ist  gewiß  möglich.  Wahrscheinlicher  ist  aber 
etwas  anderes:  Laharpe  hat  auf  Grund  seines  wahr* 
heitsgetreuen  Berichtes  nach  Jahren  einen,  Wahrheit 
mit  Dichtung  verquickenden,  gemacht  und  dieser  ist 
es,  den  wir  vor  uns  haben.  Vielleicht  schrieb  er  ihn 
nur  aus  dem  Gedächtnis  nieder,  da  ja  das  Original 
in  Rußland  war.  Sehr  groß  kann  die  Abweichung 
aber  nicht  sein,  da  Bormann  mit  Recht  es  als  un* 
glaublich  bezeichnet,  daß  Laharpe  eine  unechte  Dar* 


520 

Stellung  gab,  nachdem  er  vor  Jahren  durch  die  echte 
die  Welt  in  Staunen  versetzt  hatte  ^). 

Mit  dem  Einwurf,  die  Gräfinnen  Genlis  und 
Beauharnais  bestätigten  ausdrücklich  die  Überein* 
Stimmung  von  Laharpes  Erzählung  mit  dem  gedruckten 
Text,  finden  wir  uns  leicht  ab.  Denn  selbst  ein  gutes 
Gedächtnis  wird  das  nach  Jahren  nicht  mehr  zu  kon* 
statieren  vermögen.  Zwingend  allerdings  geht  sowohl 
aus  diesem  Zeugnis,  wie  aus  dem  anderen  hervor, 
daß  auch  die  echte  Prophezeiung  Gazottes,  bzw.  der 
authentische  Bericht  von  Laharpes  Hand,  nennen  wir 
ihn  die  erste  Redaktion,  genug  der  verblüffenden 
Vorhersagen  enthielt  die  nachher  in  Erfüllung  gingen. 

Da  die  Baronin  Oberkirch  so  wenig  wie  die 
anderen  Zeugen  auf  die  Details  eingehen,  fehlt  uns 
die  Möglichkeit,  die  Laharpesche  Prophezeiung  mit 
dem  ersten  Bericht  von  Gazottes  Seherworten  zu  ver* 
gleichen.  Wir  können  also  unmöglich  den  uns  vor* 
liegenden  Bericht  einfach  mit  dem  tatsächlichen  Vor* 
kommnis  identifizieren. 

Was  wir  aber  können,  ja  müssen,  ist  die  Fest* 
Stellung,  daß  Gazotte  bereits  vor  der  großen 
Revolution  diese  vorhergesagt  hat,  und  zwar 
auch  mit  schrecklichen  und  später  in  Er* 
füllung  gegangenen  Einzelheiten,  so  der  Hin* 
richtung  der  Königin  und  anderen  illustren 
Personen.  Möglich  ist,  daß  ja  alles  sich  so  ver* 
hielt,  wie  es  Laharpe  uns  hinterließ.  Aber  es  ist 
nicht  gewiß.  Gewiß  aber  ist  auch,  daß  wir  in  der 
Prophezeiung   des    Gazotte    eine    der    bedeutendsten 

*)  Vgl.  Bormann,  Psychische  Studien,  38.  Jahrgang,  1911, 
S.  174  f. 


321 


der  Geschichte  zu  erbHcken  haben.  Denn  es  ist,  wie 
Bormann  richtig  betont,  vollkommen  ausgeschlossen, 
daß  zwischen  den  Vorhersagen  Cazottes  und  der 
folgenden  Erfüllung  größere  Inkongruenzen  liegen. 
Denn  Laharpe  hätte  damit  einen  Propheten,  dessen 
Vorhersagen  vielen  Zeitgenossen  bekannt  waren,  nicht 
gefeiert,  sondern  lächerlich  gemacht.  Als  Ganzes, 
darüber  kann  gar  kein  Zweifel  mehr  obwalten, 
ist  daher  die  Gazottesche  Prophezeiung  histo*» 
risch  und  durch  die  nachfolgenden  Tatsachen 
bestätigt  worden.  Wenn  wir  auch  nicht  berechtigt 
sind,  jeden  einzelnen  Zug  als  beglaubigt  anzusehen, 
so  geht  doch  Hübbe^  Schieiden  mit  der  Annahme, 
daß  Gazotte  zu  verschiedenen  Zeiten  und  privatim 
den  genannten  Personen  ihr  trauriges  Schicksal  vor^ 
hergesagt  habe,  unbedingt  zu  weit.  Die  Gesellschaft 
hat  stattgefunden. 

Greifen  wir  nun  noch  einmal  auf  Laharpes  oben 
zitiertes  Nachwort  zurück,  das  leider  nur  als  Bruchs» 
stück  auf  uns  gekommen  ist! 

Ihr  Sinn  ist  zweifellos  der,  daß  den  ewig  Blinden, 
denen  die  furchtbaren  Ereignisse  der  großen  Revo* 
lution  nicht  die  Augen  darüber  geöffnet  haben,  daß 
durch  Gott  die  größten  Wunder  gewirkt  werden, 
auch  nicht  gedient  ist,  wenn  die  Vorhersage  der 
Schrecknisse  auf  Wirklichkeit  beruht.  Denn  das  ist 
das  geringere  Wunder,  das  größere  aber  —  in  des 
frommen  Laharpe  Augen  —  wäre  die  zeitlich  un* 
glaublich  rasche  Folge  der  grauenhaftesten  Begeben* 
heiten  und  noch  dazu  die  Zusammendrängung  so 
vieler  Personen,  denen  das  alles  widerfuhr,  an  dem? 
selben  Orte. 

Kemmerich,  Prophereiungen  21 


522 

Es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  sich  Laharpe  in 
dem  Satz:  „Voilä  le  predige  reel  comme  la  prophetie 
n'est  que  supposee*'  mißverständlich  ausgedrückt  hat. 
Bormann  übersetzt  meines  Erachtens  richtig:  ,,Seht, 
das  ist  das  reale  Wunder,  so  wie  die  Prophezeiung 
bloß  vorausgesetzt  ist,"  und  fährt  dann  fort:  ,, Laharpe 
setzt  also  das  Wunder  der  handgreiflichen  Tat* 
Sachen,  die  ein  jeder  mit  seinen  Sinnen  tasten  konnte, 
dem  Wunder  einer  Prophezeiung  mit  inneren 
Vorgängen  des  Sehers  gegenüber,  die  eben  nur  zu 
glauben  sind.  Etwas  Vorausgesetztes,  Angenommenes, 
Geglaubtes  bleibt  ja  die  Echtheit  und  das  ,Wunder' 
jeder  Prophezeiung,  insofern  der  Zusammenhang 
zwischen  ihr  und  dem  entsprechenden  Ereignisse  als 
Probe  geheimnisvoller  Geisteskraft,  welche  den  Zufall 
ausschließt,  von  uns  erst  aufgefaßt  wird  und  nicht 
unmittelbar  mit  sinnlicher  Bestimmtheit  wahrgenommen 
werden  kann.  Das  Wort  ,supposer'  bedeutet  aber 
zuweilen,  obwohl  seltener,  auch:  »unterschieben, 
fälschen.'  Es  muß  zugegeben  werden,  daß  es  ohne 
Würdigung  aller  Umstände,  das  eine  hier  so  gut 
bedeuten  konnte,  wie  das  andere.  Der  letzte  Satz 
des  Nachwortes  werde  noch  einmal  wiederholt.  Er 
heißt:  ,In  diesem  Falle',  d.h.  gemäß  den  vorher* 
gehenden  Worten  Laharpes:  ,Wenn  ihr  die  besondere 
Furchtbarkeit  dieser  Revolution  in  ihrem  Unterschiede 
von  allen  anderen  nicht  faßt.'  —  ,,In  diesem  Falle 
würde  sogar  die  Prophezeiung,  wenn  sie  stattgefunden 
hätte,  höchstens  ein  Wunder  sein,  das  für  euch  nur 
verloren  wäre  wie  für  die  anderen,  und  das  wäre  dann 
das  schlimmste  Unglück.—  (jeradc  dieser  Satz  scheint 
mir,  trotz  dem  eingestreuten  Bedingungssatz,  der  wohl 


323 


das  Urteil  Hüchtiger  Beurteiler  gefangen  nehmen  mag, 
sehr  kräftig  für  die  Echtheit  der  Prophezeiungen  zu 
sprechen.  Laharpe  sagt  deutlich  hier,  er  wolle  über 
die  Echtheit  der  Weissagungen  gar  kein  Wort  ver^ 
Heren,  weil  ihm  das  als  das  schlimmste  Unglück  er* 
schiene,  wenn  die  Prophezeiung  in  ihrer  Echtheit  den 
ewig  Blinden,  welche  nicht  einmal  die  Wunderstimme 
der  Geschichte  hören,  als  Wunder  höchstens  doch 
verloren  sein  würde.  Die  aber,  meint  er,  welche  die 
Taten  der  Geschichte  als  Wunder  begreifen,  werden 
auch  an  dem  viel  geringeren  Wunder  der  Prophet 
zeiungen  kaum  zu  zweifeln  brauchen." 

So  weit  Bormann,  dem  wir  uns  anschließen. 

Für  uns  wäre  es  natürlich  von  allerhöchstem 
Interesse  zu  wissen,  in  welchem  Umfange  der  Wort*« 
laut  der  echten  Vorhersage  Gazottes  mit  der  Nieder* 
Schrift  Laharpes  übereinstimmt.  Das  festzustellen  ist 
uns  nicht  möglich,  wohl  aber  in  der  Zukunft  nicht 
ausgeschlossen,  da  ja  der  Originalbericht  Laharpes 
an  die  Großfürstin  Maria  Feodorowna  geborene  Prin* 
zessin  Sophie  Dorothea  von  Montbeliard  vielleicht 
noch  einmal  ans  Tageslicht  gefördert  wird. 

Bis  dahin  müssen  wir  uns  mit  der  Feststellung 
begnügen,  daß  Cazotte  tatsächlich  die  große  Revo* 
lution  und  sogar  einzelne  Details  aus  ihr  vorher* 
gesehen  hat. 

Als  weitere  Zeugnisse  für  Gazottes  Prophezeiung 
führt  Hübbe*Schleiden  (I.e.  S.75ff.)  an:  1.  Die  Me* 
moiren  der  Du  Barry,  der  letzten  Mätresse  Ludwigs  XV., 
die  der  Herausgeber  E.  L.  de  la  Motte  Houdancourt 
in  der  Vorrede  zur  2.  Aufl.,  Paris  1829,  als  ,,histo* 
tischen  Roman"  bezeichnet.    Da  er  aber  in  der  Nach* 

21* 


524 

Schrift  zum  4.  Bd.  (S.  450 f.)  erklärt,  daß  es  sich 
durchweg  um  originale  Aufzeichnungen  handle, 
die  er  nur  sprachlich  modernisiert  habe,  kommt  ihnen 
wohl  doch  Glaubwürdigkeit  zu.  Sie  schreibt  (Bd.  VI, 
S.  391):  ,,Dann  erzählte  mir  die  Herzogin  de  Gra:* 
mont  eines  Abends,  als  sie  Cazotte  in  einer  großen 
Gesellschaft  getroffen  habe,  sei  man  in  ihn  gedrungen, 
die  Planeten  zu  befragen  nach  dem  Schicksal  der  An^ 
wesenden.  Dies  habe  er  durchaus  abgelehnt  und  jede 
nur  erdenkliche  Ausflucht  gesucht.  Jedoch  als  man 
unbedingt  die  Wahrheit  habe  wissen  wollen,  sei  so* 
viel  herausgekommen:  daß  kaum  einer  von  der  ganzen 
Gesellschaft  einem  gewaltsamen  und  öffentlichen  Tode 
entgehen  werde,  und  daß  auch  der  König  und  die 
Königin  nicht  ausgenommen  sein  würden."  Natür*= 
lieh  ist  der  Ausdruck  ,,die  Planeten  befragen*'  ganz 
falsch. 

2.  Die  Memoiren  der  Marquise  de  Crequy  (1719 
bis  1803),  die  von  einem  Individuum  namens  Couson 
als  „Souvenirs  de  1710  ä  1803  par  la  Marquise  De 
Crequy"  1834/35  in  7  Bänden  erschienen  und  sehr 
viele  Fälschungen  enthalten.  Es  befinden  sich  hier 
mehrere  auf  Gazottes  Prophezeiung  bezügliche  Stellen. 
S.  43f.  des  VIII.  Bandes  der  Ausgabe  von  1840  lautet: 
,,Es  ist  wahr,  daß  Cazotte  der  Herzogin  de  Gramont 
eine  schreckliche  Prophezeiung  gemacht  hat  in  Gegen«» 
wart  der  Damen  de  Simiane  und  de  Tesse.  Aber 
soweit  ich  mich  deren  erinnere,  war  sie  keineswegs 
so  genau,  wie  man  es  nach  den  Angaben  vermuten 
könnte,  die  La  Harpe  davon  machte,  seitdem  er  aus 
dem  (iefängnis  entlassen  ist  .  .  .*' 


325 


Zehntes  Kapitel 

Die  Prophezeiungen  der  Frau 
de  Ferriem 

Frau  von  Ferriem  (dies  der  Mediumname),  eine 
in  Berlin  wohnende  Dame  mit  der  Gabe  des  räum^* 
liehen  und  zeitlichen  Fernsehens,  hat  fast  täglich 
Visionen,  über  die  sie  in  ihrem  Büchlein  ,,Mein 
geistiges  Schauen  in  die  Zukunft"  berichtet.  Neben 
den  abenteuerlichsten  Gesichten:  über  den  Untergang 
des  Mohammedanismus  (S.  81),  den  kommenden 
Weltreformator  (S.  88),  einen  neuen  König  in  Jeru^ 
salem  (S.  91),  den  Sieg  des  Christentums  in  Ostasien 
(S.  93)  oder  gar  über  den  Untergang  des  Papsttums, 
eine  neue  Zeitrechnung  und  eine  ,, neue  Erde"  (S.  98f.), 
Visionen,  deren  religiös*phantastischer  Inhalt  uns  die 
Weisheit  der  alten  Theologen  bewundern  läßt,  die 
die  Unmöglichkeit  von  den  Glauben  betreffenden 
Prophezeiungen  behaupteten,  finden  sich  profane  von 
allerhöchstem  Interesse. 

Das  möge  die  nachstehend  angeführte  Reihe  von 
Beispielen  beweisen! 

Die, , Zeitschriftfür  Spiritismus",  vom24:.  Juni  1899^) 
brachte  folgenden  Artikel: 

')  Leipzig,  5.  Bd..  Nr.  25,   S.  220. 


526 

In  Nr.  46,  Jahrgang  1898,  der  amerikanischen 
Wochenschrift  „Lichtstrahlen*',  Zeitschrift  für  Philo# 
Sophie,  Wissenschaft  usw.  West^Point,  Nebr.,  be* 
findet  sich  folgender  Redaktionsartikel  ^): 

Erfüllte  Voraussage.  Im  Juniheft  der  in 
Leipzig  erscheinenden  ,, Psychischen  Studien**  finden 
wir  eine  Notiz,  in  der  über  einen  Artikel  in  dem 
„Illustrierten  Wiener  Extrablatt**  Nr.  114  vom 
26.  April  1898  bezüglich  der  Aussagen  der  Berliner 
Seherin  berichtet  wird.  In  derselben  lautet  ein  Aus* 
Spruch  der  Seherin,  welche  über  eine  blutige  Zukunft 
in  Deutschland,  Krieg  und  viele  Duelle  in  Frankreich 
berichtet,  wie  folgt:  „Ich  sehe  viel  Blut  in  Frankreich; 
Dreyfus  kommt  von  der  Insel  fort.**  —  Dies 
v/urde  im  April  1898  gegeben,  als  noch  niemand  eine 
so  große  Bewegung  zu  Gunsten  Dreyfus,  wie  sie 
augenblicklich  in  ganz  Frankreich  im  Gange  ist, 
ahnen  konnte,  und  scheint  bereits  in  Bezug  auf 
Dreyfus  seine  Bestätigung  gefunden  zu  haben; 
denn  den  neuesten  telegraphischen  Meldungen  nach 
zu  urteilen,  scheint  Dreyfus  nicht  mehr  auf  der 
Teufelsinsel  zu  sein  und  bereiten  sich  in  Frank* 
reich  unangenehme  Dinge  vor. 

Zu  der  Zeit  als  die  ,, Lichtstrahlen**  diese  Mit* 
teilung  brachten  (23.  September  1898),  hatte  Dreyfus 

*)  Zitiert  nach  de  Fcrricm ,  Mein  geistiges  Schauen  in  die 
Zukunft,  Berlin  1905,  S.  67  f.  Die  im  Text  angegebenen  Zitate 
der  Druckorte  und  Daten  wurden  von  mir  nachgeprüft  und,  bei 
mangelhafter  Wiedergabe,  korrigiert.  Finige  seltene  Zeitschriften, 
so  die  ,, Lichtstrahlen",  konnten  nicht  verglichen  werden.  Da 
aber  stets  Organe  herangezogen  wurden,  in  denen  die  angekün« 
digtcn  Kreignisse  vor  ihrem  i'.intritt  veröftentlicht  waren,  so 
ist  auch   in  diesen   I  allen  das  Material  einwandfrei. 


327 


indes  die  Insel  noch  nicht  verlassen;  jedoch  nun* 
mehr  —  am  8.  Juni  1899  —  ist  die  bezügliche  Weis? 
sagung  der  Berliner  Clairvoyante  (de  Ferriem)  ein=: 
getroffen." 

Das  heißt  mit  anderen  Worten:  Frau  de  Ferriem 
hat  nachweisbar,  und  zwar  durch  vorher  im 
Druck  erschienene  Voraussagen,  die  Frei== 
lassung  des  Fiauptmann  Dreyfus  IV2  Jahre  vor 
ihrem  Eintritt  prophezeit. 

Im  Januar  1898  erschien  in  den  ,, Neuen  Spiri? 
tualistischen  Blättern**  in  Berlin  folgender  Visionsbe? 
rieht  der  Frau  de  Ferriem: 

Brand  im  Hafen  von  New  York.  (Die  Seherin 
blickt  anscheinend  auf  einen  ca.  5  Meter  von  ihr  enU 
fernten  Punkt  des  Fußbodens  starr  mit  weit  geöffneten 
Augen  hin  und  spricht  darauf  nach  wenigen  Augens= 
blicken  stillen  Verhaltens  in  dieser  Stellung  folgendes) : 

,,Das  ist  ein  großer  Brand,  ein  mächtiges  Feuer. 
So  viele  Schiffe.  Es  brennt  ein  Schiff.  (Das  Medium 
senkt  das  Haupt  und  schließt  die  Augen  dabei.) 
Alles  schwarzer  Rauch,  kohlrabenschwarzer  Rauch; 
o,  und  wie  dick!  Das  ist  am  Land.  Das  brennt  im 
Hafen.  Oh,  o,  das  ist  aber  schlimm.  (Hebt  den 
Kopf  etwas  und  senkt  ihn  wieder.  Dann  schlägt  es 
die  Augen  auf  und  sagt):  Nimm  ab,  nimm  mal  das 
Tuch  ab^).  (Noch  etwas  benommen,  ruft  sie  darauf): 
Ist  ein  Riesenbrand  in  New  York.  Ich  sehe  ihn  ja." 
(Das  Medium  war  schon  in  New  York  und  hat  da= 
her  die  in  der  Vision  erschaute  Stadt  jedenfalls  als 
New  York  erkannt.** 

0  Dieser  Zuruf  gilt  ihrem  Begleiter,  Kerkau  bzw.  Godefroy, 
dem  wir  die  stenographischen  Berichte  verdanken. 


328 

Eine  weitere,  dasselbe  Ereignis  betreffende 
Prophezeiung  erschien  u.  a.  im  Maiheft  1899  der 
„Psyche",  Berlin,  und  im  Juniheft  1899,  der 
„Übersinnlichen  Welt",  S.  205,  Anm.,  Berlin,  gelegent* 
lieh  eines  Visionsberichtes  der  Dame  über  Ereignisse 
im  20.  Jahrhundert.     Sie  lautet: 

,  „Ich  sehe  ein  brennendes  Schiff  im  Hafen  von 
jNew  York  und  höre  einen  furchtbaren  Knall.  So* 
Iviel  ich  sehe,  ist  es  kein  amerikanisches  Schiff.  Die 
IStadt  ist  New  York;  ich  irre  mich  nicht,  weil  ich  sie 
f genau  von  meiner  Amerikareise  her  kenne." 
i  Bekanntlich    traf    diese    doppelte    Prophezeiung 

I  am  30.  Juni  1900  ein.  Damals  ereignete  sich  die 
j  furchtbare  Schiffbrandkatastrophe  im  Hafen  von 
New  York,  durch  die  der  Norddeutsche  Lloyd 
schweren  Schaden  erlitt,  aber  keine  amerikanische  Ge* 
Seilschaft  geschädigt  wurde.  Das  Feuer  griff  vom 
Hafen  auf  einen  Teil  der  Hafenanlagen  von  Hoboken 
über. 

Daß  diese  Prophezeiung  in  Erfüllung  gegangen 
war  —  was  ja  mit  dem  schlechtesten  Willen  niemand 
wird  bestreiten  können  —  konstatierte  der  New  York 
,, Herald"  bereits  am  anderen  Tage.  Dieses  große  Blatt 
hatte  auch  am  25.  April  1899  die  Vorhersage  der 
Frau  von  Ferriem  bereits  publiziert  gehabt'). 

Auch  die  furchtbare  Erdbebenkatastrophe  auf 
der  Insel  Martinique  wurde  von  Frau  de  Ferriem 
vorher  gesehen. 

Die  „Zeitschrift  für  Spiritismus"  brachte  in  ihrer 
Nummer23  vom  y.funi  1902  darüber  folgenden  Bericht: 


*)  Gleichfalls  zitiert  nach  de  Ferriem  a   a.  O. 


329 


Die  furchtbare  Katastrophe,  von  welcher  die 
Antillen^nsel  Martinique  heimgesucht  worden  ist  — 
durch  die  entfesselten  Kräfte  der  Erde  wurde  am 
Himmelfahrtstage  (1902)  die  Stadt  Pierre  und  deren 
Umgebung,  ein  paradiesisch  schöner  Fleck  Erde, 
vollständig  verheert,  wobei  Zehntausende  von  Men? 
sehen  auf  die  entsetzlichste  Weise  ihren  Tod  fanden  — 
ruft  folgenden  Ausspruch  der  Berliner  Somnambulen 
Ferriem,  welcher  zuerst  in  der  „Zeitschrift  für  Spiri^ 
tismus"  vom  24.  Juni  1899  (S.  221),  sowie  weiterhin 
in  der  Schrift  ,,Die  Seherin  (de)  Ferriem"  Ausgabe  2, 
vom  20.  September  1899,  und  in  der  „Spiritistischen 
Rundschau",  Berlin,  Juli  1901,  publiziert  worden  ist, 
lebhaft  in  Erinnerung: 

„Berlin,  10.  Mai  (1899).  (Die  Clairvoyante 
nicht  im  Trance:)  ,In  wenigen  Jahren  wird  sich  ein 
großes  Erdbeben  ereignen.  Es  dürfte  im  Jahre  1902 
sein.  Ich  habe  es  aus  den  Gestirnen  berechnet.  Ich 
könnte  höchstens  um  ein  Jahr  zurückgerechnet  haben. 
Die  Sache  differiert  zwischen  3  und  4  Jahren;  aber 
4  Jahre  werden  nicht  voll  von  jetzt  an  gezählt.  Das 
Beben  wird  so  furchtbar  sein,  daß  selbst  Kabel* 
Zerstörungen  vorkommen  werden." 

Die  Voraussage  wurde  also  genau  drei  Jahre 
vor  der  Katastrophe  gegeben.  Durch  die  Erwähnung 
der  Kabel  Zerstörungen  wurde  in  der  Prognose  da* 
rauf  hingewiesen,  daß  das  schreckliche  Ereignis  sich, 
wie  geschehen,  auch  speziell  am  Meere  abspielen 
würde.  Infolge  des  den  Eruptionen  des  Mont  Pele 
vorangegangenen  und  dieselben  begleitenden  starken 
Erdbebens  zerrissen  die  Kabel,  sodaß  die  Ver* 
bindung    zwischen    Martinique    und    der   Außenwelt 


530 

während  der  Katastrophe  vollständig  abgeschnitten 
war.  Eine  weitere  Meldung  besagt:  Der  Komman? 
dant  des  Kreuzers  „Suchet**  hat  die  Stadt  und  die 
Umgebung  durchforscht  und  berichtet,  daß  sich  im 
nördlichen  Teile  der  Insel  große  Spalten  gebildet 
haben,  daß  das  ganze  Gelände  sich  in  Bewegung 
befindet  und  daß  sich  plötzlich  neue  Täler  bilden^). 

Man  wird  bei  einiger  Skepsis  gegen  diese  Prophes^ 
zeiung,  deren  hoher  Wert  ja  gleichfalls  darin  besteht, 
daß  sie  vorher,  noch  dazu  an  mehreren  Stellen,  im 
Druck  erschienen  ist,  einwenden,  daß  irgendmal  an 
irgendeinem  Ort  der  Erde  mit  Naturnotwendigkeit 
Erdbeben  eintreten  müssen.  Das  ist  ja  gewiß  richtig. 
Da  eine  Ortsbezeichnung  —  auch  nur  ungefährer 
Art  —  fehlt,  so  käme  ja  der  ganze  Erdball  in  Frage. 

Und  doch  ist  dem  entgegen  zu  halten,  daß  das 
Unglück  von  Martinique  seit  dem  im  Jahre  1883  er^ 
folgten  furchtbaren  Ausbruch  von  Krakatau  in  der 
Sundastraße,  der  direkt  oder  indirekt  auf  der  ganzen 
Erde  sich  bemerkbar  machte,  das  größte  seiner  Art  im 
letzten  halben  Jahrhundert  war.  Ferner,  daß  die 
Prophezeiung  wenigstens  zeitlich,  wenn  auch  nicht 
örtlich,  erstaunlich  genau  eintraf.  Immerhin  geben 
wir  gerne  zu,  daß  die  vorher  genannten  Vorhersagen 
für  die  Tatsache,  daß  es  Prophezeiungen  bzw. 
Menschen  gibt,  die  die  Gabe  des  zeitlichen  Fern^ 
Sehens  besitzen,  beweiskräftiger  sind. 

Was  übrigens  den  von  Frau  de  Ferriem  ge^ 
brauchten  Ausdruck  „aus  den  Gestirnen  berechnet" 
und  ,, zurückgerechnet'*  betrifft,  so  bemerkt  die  Dame 


')  Fcrricm,  ,,Mcin  geistiges  Scliaucn  usw.",  S.  66t. 


33jl 

dazu,  dal^  sie  sich  nicht  mit  astrologischer  Berechnung 
betafk  und  eine  solche  auch  hier  nicht  vorliegt.  Viel? 
mehr  meint  sie  damit  die  Deutung  von  Erscheinungen, 
die  sie  ,,mit  geistigem  Auge  am  Sternenhimmel  be^ 
obachtete"  ^).  Ich  gebe  zu,  daß  ich  mir  von  diesem 
Modus  des  Hellsehens  keine  rechte  Vorstellung 
machen  kann.  Doch  das  will  ja  um  so  weniger  für 
die  Sache  selbst  bedeuten,  als  uns  der  Weg,  auf  dem 
die  Somnambulen  zu  ihren  Prophezeiungen  gelangen, 
zurzeit  überhaupt  noch  dunkel  ist. 

Während  die  vorige  Prophezeiung  der  Frau 
de  Ferriem  den  Ort  mit  Namen  und  der  Szenerie 
nach  genauestens  angab,  sowie  den  Verlauf  der  Kata? 
Strophe  schilderte,  ist  diese  interessant  durch  ihre 
Zeitangabe.  Wie  die  Seherin  sagt  —  und  wie  ja 
ein  Vergleich  der  wiedergegebenen  Prophezeiungen 
auch  ergibt  —  kommen  bestimmte  Zeitangaben  bes= 
züglich  des  Eintreffens  ihrer  Gesichte  fast  gar  nicht 
vor.  Erfahrungsgemäß  sind  aber  Zeitangaben  von 
Sehern,  auch  wo  sie  gemacht  sind,  ziemlich  unzuver? 
lässig,  und  zwar  aus  einem  sehr  naheliegenden  Grunde. 
Da  es  sich  bei  den  Gesichten  doch  um  räumlich 
anschauliche  Vorgänge  handelt,  die  die  Aufmerkst 
samkeit  des  Sehers  ganz  und  gar  auf  sich  ziehen,  so 
verwirren  sich  eventuelle  zeitliche  Bestimmungen  in 
allen  derartigen  Angaben  leicht.  Dazu  kommt  aber 
noch  ein  Moment:  Je  deutlicher  die  Vorgänge  ge? 
sehen  werden,  desto  näher  steht  —  das  ist  aber  natürlich 
nur  Vermutung  —  ihr  Eintritt  bevor.  Mag  dieser 
Anhaltspunkt  richtig    sein,    so    fehlt    doch  ein    fester 

')  Eb.  S.  67. 


552 

Maßstab  vollkommen.  Es  handelt  sich  naturnot^^ 
wendig  um  eine  Taxe.  Wie  sollte  denn  in  einem 
räumlichen  Bilde,  sagen  wir  dem  der  Landschaft  oder 
eines  untergehenden  Schiffes  auch  eine  Zeitangabe 
unterzubringen  sein?  Höchstens  daß  neben  die 
visuelle  Vision  noch  eine  akustische  treten  müßte,  die 
das  Datum  zuruft.  Oder  daß  durch  Zufall  etwa 
ein  Abreißkalender  mit  bestimmtem  Datum  erblickt 
wird.  Sonst  ist  ja  der  Natur  der  Sache  nach  eine 
bestimmte  zeitliche  Fixierung  ausgeschlossen.  Es 
kann  sich  —  von  seltenen  Ausnahmen  abgesehen  — 
immer  nur  um  approximative  Schätzungen  handeln. 
Aber  auch  sie  sind  aus  inneren  Gründen  nur  dann 
richtig,  wenn  ein  und  dieselbe  Seherin  aus  zahlreichen 
Selbstbeobachtungen  eine  gewisse  Praxis  in  der  zeitlichen 
Fixierung  eines  räumlichen  Bildes  gewonnen  hat. 

Erfahrungsgemäß  ist  die  Mehrzahl  der  Ge^ 
sichte  tragisch.  Ob  das  daher  kommt,  daß  das 
Tragische  im  Leben  überwiegt,  oder  weil  sehr  unglück*» 
liehe  Ereignisse  die  Nerven  am  stärksten  erregen? 
Genug,  es  ist  so.  Dabei  zeigt  sich  aber,  daß  häufig 
ein  Ereignis  nach  der  schlimmen  Seite  hin  noch  über^ 
trieben  wird. 

Frau  de  Ferriem  führt  als  Beweis  dafür  die  Vor* 
hersage  des  im  Mai  1897  eingetroffenen  furchtbaren 
Brandes  des  Wohltätigkeitsbazars  in  Paris  an^). 

Diese  Katastrophe  wurde  unter  anderm  auch 
in  dem  in  England  weitverbreiteten,  Prophezeiungen 
für  das  laufende  Jahr  enthaltenden  Volkskalender 
,,OId    Moores    Almanack"    vorhergesagt.       Die     be* 

•)  S.  68.  Anm.  Hier  auch  das  rolK'cndc  ..Old  Moore" 
bctrcFfcnde.  das  ich   leider  nicht  kontrollieren  konnte. 


333 


tretende  Stelle  in  der  bereits  18%  erschienenen  Aus^ 
gäbe  für  1897  lautet:  ,,Fast  mit  Sicherheit  werden 
wir  in  den  letzten  Tagen  des  April  eine  Nachricht 
von  einem  furchtbaren  Feuer  in  Paris  hören,  welches 
viele  Menschenopfer  verschlingen  wird,  während  eine 
Schar  Banditen  unter  den  Trümmern  Beute  zu  machen 
suchen  wird.**  Die  Schar  Banditen  sind  Irrtum.  Frau 
de  Ferriem  glaubt  ihn  damit  erklären  zu  können, 
daß  der  Seher  in  der  Vision  Leute  nach  den  Et^ 
kennungszeichen,  Kleinodien  und  Leichenresten  suchen 
sah.  Für  denjenigen,  der  die  Existenz  von  Visionen^ 
die  wir  uns  etwa  einer  in  unser  Inneres  verlegten 
Fata  Morgana  ähnlich  vorzustellen  haben,  zugibt  — 
und  das  muß  doch  wohl  oder  übel  jeder,  der  die 
Macht  der  Tatsachen  höher  bewertet,  als  ein  gegen* 
wärtig  noch  herrschendes  aber  bald  gleich  anderem 
Gerumpel  aus  der  Zeit  des  Materialismus  ad  acta 
gelegten  Dogma  —  hat  dieser  Erklärungsversuch  viel 
Wahrscheinlichkeit  für  sich. 

Übrigens  sei  im  Vorbeigehen  bemerkt,  daß  ,,01d 
Moore*'  damals  in  seinem  Kalender  den  Tod  des 
Herzogs  von  Clarence  auf  den  Tag  vorausgesagt  hat. 
Auch  der  Untergang  der  ,, Victoria"  stand  in  seinem 
Kalender  prognostiziert,  nur  irrte  sich  der  Alte  um 
eine  Woche. 

Daß  Übertreibungen  nach  der  schlimmen  Seite 
hin  an  der  Tagesordnung  sind,  ist  nichts  weniger  als 
verwunderlich.  Denn  wenn  wir  einen  großen  Brand 
oder  ein  Unglück  sehen,  stellen  wir  es  uns  ja  auch 
im  ersten  Schrecken  fast  ausnahmslos  bedeutend 
schlimmer  vor,  als  es  in  Wirklichkeit  ist.  Man  lese 
nur    die  Unglücksfälle    in    irgendeiner    Zeitung   nach 


334 

und  wird  finden,  daß  mit  seltenen  Ausnahmen  die 
ersten  Nachrichten  stark  übertrieben  wurden,  um  erst 
allmählich  ihre  richtigen  Dimensionen  anzunehmen. 

Am  15.  Mai  1897  erschien  im  „Führer",  Mil^ 
waukee  (Wisc.)  und  am  18.  September  1897  in  der 
„Kritik",  Wochenschrift  des  öffentlichen  Lebens,  Berlin, 
folgender  Visionsbericht: 

„Kohlengruben!»  Unglück  bei  Brüx  (Dux), 
Böhmen. 

Erstes  Gesicht.  (Die  Dame  schließt  die  Augen 
und  spricht):  Schrecklich,  die  Menschen  alle  hier  bei 
der  Grube!  Wie  bleich  sie  aussehen!  —  Wie  die 
Leichen.  —  Ach,  das  sind  ja  auch  lauter  Leichen. 
Ja,  sie  kommen  heraus  und  werden  jetzt  alle  fort:: 
gebracht.  Und  die  ganze  Gegend  ist  so  schwarz, 
und  es  sind  lauter  kleine  Hütten  da.  Die  Leute, 
die  ich  sehe,  reden  eine  andere  Sprache,  auch  ver* 
schiedene  Sprachen,  —  alles  durcheinander.  Und  so 
leichenblaß  sind  sie  alle!  —  Jetzt  wird  da  einer  heraus^ 
gebracht,  welcher  einen  Gurt  mit  einer  blanken 
Schnalle  um  hat.  Es  ist  Weihnachten  bald;  eine 
Hundekälte.  Dort  ist  einer,  der  hat  eine  Lampe  mit 
einem  Gitter.  —  Es  ist  ein  Kohlenbergwerk.  Es 
ist  alles  so  schwarz  und  so  kahl.  Ich  sehe  bloß  die 
alten  Hütten.  Die  ganze  Gegend  ist  so  öde.  —  Ich 
verstehe,  was  der  eine  da  jetzt  sagt.  Er  sagt:  ,,Die 
Arzte  kommen  alle  aus  Brüx"  .  .  .  Ach,  das  ist  ein 
böhmischer  Ort  .  .  .  Siehst  du  denn  nicht?  (Ich 
sehe  nicht)  .  .  .  Was?  Du  siehst  nichts!  (Letzteres 
sagt  die  Seherin  sozusagen  erschreckt  und  schlägt  die 
Augen  au  F.) 

Zweites  Gesicht.     (Am    Nachmittage    des    auF 


335 


die  erste  V^ision  folgenden  1  ages.)  Wie  traurig  das 
hier  aussieht!  Die  Menschen  alle:  O  weh,  so  viele!  — 
So  viele  Frauen  sind  da;  wie  sie  weinen!  Die  Männer 
sind  tot;  es  leben  nicht  viele  mehr.  Sie  sind  alle 
herau[gebracht  worden.  Ach,  Gott,  die  Armen  tun 
mir  so  leid!  Sieh  mal,  die  Kinder  alle!  Wie  die  Männer 
aussehen,  sie  sind  ganz  von  Rauch  geschwärzt,  sind 
gewiß  alle  in  der  Erde  erstickt.  —  Das  sind  Böhmen. 
Die  Weiber  und  die  Kinder  haben  Kopftücher  um. 
Ja,  das  sind  Böhmen.  Ach,  die  armen  Menschen 
nun  gerade  um  die  Weihnachtszeit.  Ist  doch 
schrecklich!  —  Mit  solch  einem  Zug,  der  eben  an# 
gekommen,  bin  ich  schon  gefahren.  Da  steht  es  dran; 
der  kommt  doch  über  Eger.  Ja,  es  ist  Böhmen.  — 
Wie  sie  ciort  liegen!  —  Das  sind  wohl  Ärzte,  die  da 
reiben?  —  Feine  Männer.  Viele  haben  Binden  mit 
einem  Kreuz  um  die  Arme.  —  Was  haben  die  Frauen 
und  Kinder  denn  da  in  der  Hand?  Eine  Kette. 
Wozu  haben  sie  die  Kette?  Ach,  sie  bekreuzigen 
sich  jetzt.  Das  ist  ein  Rosenkranz.  Ach,  sie  beten; 
aber  sie  weinen  doch  alle!  —  An  dem  Eisenbahnzug 
sehe  ich  einen  österreichischen  Adler,  einen  Doppel^ 
adler.  —  Ach,  das  ist  wohl  ein  Schaffner,  der  da 
steht?  Ich  höre,  was  er  sagt.  ,,In  den  Kohlengruben 
von  Dux,"  sagt  er;  ich  lese  aber  Brüx.  Der  da 
hat's  an  der  Binde.  —  Ach,  die  sind  von  der  Sanitätss« 
wache.  —  Aber  sie  können  nichts  machen  mit  den 
armen  Menschen.  Sie  fahren  sie  alle  auf  so  komischen 
Wagen  fort.     (Die  Somnambule  erwacht.)" 

Diese  Vision  hatte  Frau  de  Ferriem^)  bereits  im 

^)  Vgl.  „Mein    geistiges    Schauen    in  die  Zukunft",  S.  63  f. 
Den  „Führer"  und  die  „Kritik"  konnte  ich  nicht  einsehen,  wohl 


336 

Jahre  1896.  Vier  Jahre  später  nun  fand  in  den 
Kohlenbergwerken  von  Dux  beiBrüx  inBöhmen 
ein  GrubensUnglück  statt,  bei  dem  sehr  viele 
Bergleute  ums  Leben  kamen. 

Da  das  Unglück  aber  nach  der  Mitte  des  Sep* 
tember  1900  sich  ereignete,  so  stimmt  die  Zeitangabe 
bezüglich  Weihnachtszeit  und  Kälte  nicht.  Wie  aber 
Godefroy,  der  die  Vision  nachgeschrieben  hatte  ^), 
dem  Dr.  Walter  Bormann  schrieb  0,  dauerte  die  Heraus^» 
Schaffung  der  Leichen  aus  den  Gruben  mehrere 
Wochen.  Noch  Ende  Oktober  wurde  bei  starker 
Kälte  eine  Anzahl  der  Opfer  zutage  gefördert.  Also 
ging  diese  Vision  vollkommen  in  Erfüllung. 

Diese  Prophezeiungen  sind  für  uns  von  unschätz^» 
barem  Werte  aus  dem  naheliegenden  Grunde,  weil 
sie  alle  vorher  im  Druck  erschienen  sind,  was  ja 
leicht  nachkontrolliert  werden  kann.  Mag  man  auch 
zur  Wahrhaftigkeit  eines  Zeugen,  der  das  nachherige 
Eintreten  einer  Voraussage  behauptet,  das  größte  Ver^ 
trauen  haben,  so  wird  man  doch  die  Möglichkeit 
eines  Erinnerungsfehlers  nie  bestreiten  können.  Man 
wird  auch  gern  einwenden,  daß  der  betreffende  nur 

aber  ist  im  3.  Band  der  Zeitschrift  für  Spiritismus,  S.  71,  am 
4.  März  1899,  darauf  hingewiesen,  daß  die  Erfüllung  der  Vision 
noch  ausstehe,  ebenso  auf  S.  57,  am  18.  Februar  in  der  gleichen 
Zeitschrift.     Also  vor  Eintreffen! 

')  Im  Druck  erschienen  in  den  von  Godefroy  (Kerkau) 
herausgegebenen  gedruckten  Berichten,  Nr.  2  vom  20.  September 
1899,  also  ein  Jahr  vor  dem  Unglück.  Godefroy  hatte 
dazu  bemerkt:  „Das  Gesicht  dürfte  sich  jedenfalls  bald  erfüllen, 
bzw.  in  einem  der  kommenden  Jahre. 

')  Vgl.  Walter  Bormann  „Die  Nomen.  Forschungen  über 
Fernsehen  in  Raum  und  Zeit".     Leipzig   1909,  S.   130. 


337 


von  den  Fällen  spricht,  die  wirklich  eintrafen,  jene 
aber,  die  sich  nicht  erfüllten,  verschweigt.  Es  wird 
sich  also  mehr  oder  minder  immer  um  ein  Glauben 
handeln.  In  unseren  oben  angeführten  Fällen  dagegen 
handelt  es  sich  um  ein  Wissen.  Das  gibt  ihnen 
eine  ganz  außerordentliche  Bedeutung.  Denn  auch 
der  größte  Zweifler  wird  nicht  leugnen  können,  daß 
es  sich  um  ganz  ungewöhnliche  Ereignisse  handelt,  bei 
denen  wir  nicht  leicht  mit  dem  Zufall  operieren  können. 

Bormann  weist  mit  Recht  auf  die  große  An# 
schaulichkeit  der  angeführten  Weissagungen  hin. 
„Alles,  was  die  Seherin  angibt,  stellt  sich  bewegt 
und  farbenfrisch  ganz  unmittelbar  dem  Auge  dar, 
und  noch  die  Ortsbezeichnungen  Dux  und  Brüx 
werden  durch  die  Aufschriften  am  Eisenbahnzuge, 
durch  die  Binde  eines  Mannes  und  durch  die  mit 
dem  Ohr  vernommenen  Worte  eines  Schaffners  uns 
vermittelt.  Auch  bei  solchem  zeitlichen  Fernsehen 
also  ist  hier  nichts  bloß  abgezogenes  Denken;  alles 
ist  ein  Schauen  des  Lebens,  und  obwohl  keine  vor«: 
handene  Erscheinung  der  Gegenwart  und  noch 
nichts  Wirkliches  im  menschlichen  Sinne,  wird  es 
doch  räumlich  wahrgenommen,  als  ob  diese  Zukunft 
bereits  sinnliche  Gegenwart  wäre^).** 

Bormann,  der  sich  als  Vorsitzender  der  ,, Gesell* 
Schaft  für  wissenschaftliche  Psychologie**  in  München 
viel  und  gründlich  mit  diesen  Phänomenen  beschäfs= 
tigte,  sagt  mit  Recht,  die  Erklärbarkeit  dieses  zugleich 
zeitlichen  und  räumlichen  Fernsehens  sei  ein 
schwer    zu    lösendes  Rätsel.      Wir    wollen    uns    auch 

»)  „Nomen",  S.  130f. 

Kemmerich,   Prophezeiungen  22 


558 

nicht  darauf  einlassen,  sondern  nur  feststellen,  daß, 
wenn  uns  überhaupt  etwas  diese  Phänomene,  an  deren 
Existenz  zu  zweifeln  nur  wohl  mehr  Böswilligkeit 
noch  vermag,  verständlich  machen  kann,  es  solche 
authentische  Berichte  sind.  Auch  wir  haben  ja  im 
Traum  Ähnliches  alle  schon  erlebt,  nur  handelt  es 
sich  hier  um  Vergangenes.  Wenn  wir  aber  den  Ver^: 
gleich  des  Traumes  festhalten,  dann  werden  uns  so^ 
fort  Irrtümer  in  der  Interpretation  der  Visionen  klar. 
Das  Gesicht  entschwindet  oft,  wenn  wir  einen  be* 
stimmten  Punkt  festhalten  wollen.  Es  löst  sich  in 
Nebel  auf,  und  im  Bestreben,  zu  rekonstruieren,  er*= 
finden  wir.  Oder  die  Seherin  sieht  zwar  eine  Gegend 
ganz  deutlich  vor  sich.  Da  sie  aber  nirgends,  weder 
auf  Stationschildern,  noch  auf  Reklamen  oder  sonst 
wo  den  Namen  des  Ortes  lesen  kann,  auch  nicht  ihn 
rufen  hört  oder  das  Gelände  aus  der  Erinnerung 
wiederzuerkennen  vermag,  so  hat  sie  zwar  eine  rieh:* 
tige  Vision,  weiß  aber  nicht,  wohin  den  Schauplatz 
zu  verlegen.  Oder  sie  glaubt  eine  Gegend  wieder* 
zuerkennen  und  irrt  sich  dabei.  Natürlich  wird  dann 
die  Prophezeiung,  weil  irrig  lokalisiert,  auch  nicht 
eintreffen.  Solche  und  ähnliche  Fehlerquellen  existieren 
immer.  Deshalb  ist  es  desto  verwunderlicher,  wenn 
alles  genau  zutrifft. 

Doch  wir  werden  später  noch  auf  dieses  Thema 
zurückkommen.  Wunderbarerweise  sind  wir  nämlich 
noch  keineswegs  am  Ende  der  eingetroftcnen  Prophe* 
zeiungen  der  Frau  de  Fcrriem  angelangt. 

Im  Oktober  1900  wurde  in  Nr.  43  der  „Zeit* 
Schrift  für  Spiritismus"  (Köln)  folgende  Vision  der 
Dame  mitgeteilt: 


339 


„Es  taucht  vor  mir  eine  schwarze  Masse  auf.  — 
Was  es  ist?  —  Ich  kann's  noch  nicht  deutHch  er? 
kennen.  —  Ja,  so,  ein  Felsen  im  Meer,  daran  es 
zerschmettert  ist.  Sehe  nämlich  ein  deutsches  Kriegs^* 
schiff.  Die  schwarze  Masse  ist  ein  Teil  des  unteres 
gegangenen  Schiffes.  —  Viele  Menschen  gehen  beim 
Untergange  desselben  zugrunde.  Ich  sehe  sie  deut? 
lieh  verzweifelt  mit  den  Wellen  kämpfen.  Alles 
deutsche  Matrosen.  —  Es  ist  bestimmt  ein  Kriegs? 
schiff.  Ich  sehe  den  Kommandanten,  wie  er  seine 
Hände  zum  Himmel  hochstreckt.  Er  schreit  noch 
seine  letzten  Befehle.  Er  trägt  einen  Bart,  wie  ihn 
Kaiser  Friedrich  trug,  nur  kürzer  und  ziemlich  dunkel, 
fast  schwarz.  —  Das  Wasser  ist  fast  ganz  ruhig  ge? 
worden.  —  —  Ich  sehe  auch,  daß  es  in  fremdem 
Lande  ist  —  —  Naht  denn  keine  Rettung?  —  Noch 
nicht.  —  Ein  Schiff  in  Sicht.  Hurra!  —  Und  doch, 
es  ist  wenig  Aussicht  auf  Rettung.  —  Und  naht  denn 
keine  Hilfe?  —  Ja,  ja,  aber  viel  zu  spät."  Godefroy 
hatte  diese  Prophezeiung  von  der  Seherin  stenogra? 
phiert  aus  Österreich  erhalten." 

Anderthalb  Monate  später,  am  7.  Dezem^» 
ber  1900,  ging  diese  Vision  mit  dem  Unter? 
gang  des  deutschen  Schulschiffes  Gneisenau 
in  Erfüllung. 

Bormann  schreibt  darüber^): 

,,Der  , Gneisenau'  scheiterte  am  Felsen  Morro 
Levante  (im  Vorhafen  von  Malaga).  Sein  Untergang 
traf  auch  in  einzelnem  erstaunlich  mit  der  Weissagung 
überein.      Der    Schiffskommandant    hob    in    der    Tat 


')  „Nomen",  S.  134.     Die  Vision  selbst  in  „Mein  geistiges 
Schauen",  S.  65. 

22* 


340 

seine  Arme  gen  Himmel,  indem  er  laut  seine  Mannst 
Schäften  in  Gottes  Hut  befahl.  Es  ist  auch  richtig, 
daß  die  Bemannung  nicht  mit  dem  Schiffe  zugrunde 
ging;  die  Leute  stürzten  sich  in  die  Wellen  und 
gingen  im  Kampfe  mit  ihnen  zahlreich  unter.  Der 
Bart  des  Schiffskommandanten  Beckmann  ist  in  der 
Tat  gewesen  wie  der  des  Kaisers  Friedrich,  nur  kürzer, 
wie  Bilder  ausweisen.  Wie  die  Farbe  des  Bartes  war, 
weiß  ich  nicht.  Die  Seherin  sah  das  Gesicht  ungewohnt 
lieh  deutlich  und  kündigte  daher  dessen  schnelle  Et^ 
füllung  an,  wie  es  auch  geschah."  Übrigens  sah  sie  noch, 
daß  das  Schiff  nicht  völlig  unter  der  Wasseroberfläche 
verschwand,  wie  es  auch  in  Wirklichkeit  der  Fall  war. 

Daß  gottlob  der  Untergang  eines  deutschen  Kriegs^» 
Schiffes  zu  den  größten  Seltenheiten  gehört,  ist  hin* 
länglich  bekannt.  Aus  diesem  verblüffenden  Zusammen*: 
treffen  einer  Reihe  von  ganz  seltenen  Fällen  —  man 
denke  an  den  Bart  des  Kapitäns!  —  eine  Wahrschein* 
lichkeitsrechnung  zu  konstruieren,  dürfte  jedoch  auf 
unüberwindliche  Schwierigkeiten  stoßen. 

Eine  Prophezeiung  der  Frau  de  Ferriem  über 
das  lenkbare  Luftschiff  ist  deshalb  außerordent* 
lieh  interessant  und  kann  unbedenklich  als  Beweis 
für  die  Tatsache  der  Prophetie  gelten,  weil  zur  Zeit 
der  Vision  —  1899  —  und  auch  noch  viel  später  ein 
solches  Fahrzeug  von  den  ersten  Autoritäten  für  un* 
möglich  erklärt  wurde.  In  vieler  Erinnerung  wird 
die  schmähliche  Behandlung  sein,  die  noch  drei  Jahre 
später  dem  Grafen  Zeppelin  auf  dem  deutschen  In* 
gcnicurtage  in  Kiel  zuteil  wurde.  Man  verspottete 
ihn  als  Phantasten.  Erst  seit  dem  Jahre  1906  hatten 
seine  Versuche   Erfolg. 


341 

Wie  das  breite  Publikum  im  Jahre  der  Vision 
(1899)  dachte,  geht  u.  a.  aus  der  Faschingsnummer 
der  Münchner  Neuesten  Nachrichten  vom  12.  Februar 
gleichen  Jahres  hervor.  Da  heißt  es  als  Mitteilung 
aus  dem  Jahre  2899:  ,,Aus  St.  Franzisko  kommt  uns 
folgende  Lichtstrahlendepesche  zu:  Heute  Nacht  11  Uhr 
47  Minuten  (Welteinheitszeit)  ist  das  Luft* Expreß;» 
schiff  Nr.  724  der  „Union  *Aero*  Expreß  ^Companie^^ 
Comfortable"  in  3000  m  Höhe  über  Meer  mit  einem 
Meteor  zusammengestoßen." 

Fast  möchte  man  glauben,  der  Verfasser  dieser 
Ulknotiz  habe  selbst  die  Gabe  des  Hellsehens  be* 
sessen,  denn  bis  auf  das  Vergreifen  im  Datum  um 
fast  ein  Jahrtausend  —  man  sieht  daraus,  wie  ent* 
fernt,  ja  unmöglich  die  Zukunftsphantasie  damals 
noch  allen  erschien  —  stimmt  alles  verblüffend.  Die 
Höhe  von  3000  m  wurde  inzwischen  erreicht,  der 
erste,  zwar  verunglückte,  aber  zum  Teil  auch  ge^« 
lungene  Versuch  des  Überfliegens  des  Weltmeeres 
wurde  im  Herbst  1910  von  Wellmann  unternommen, 
ja  —  und  das  ist  das  Erstaunlichste  —  wir  haben  von 
ihm  durch  „Lichtstrahlendepeschen",  nämlich  durch 
drahtlose  Telegraphie,  von  der  damals  noch  niemand 
eine  Ahnung  haben  konnte  —  Mitteilung  erhalten. 

Doch  nun  zur  Vision  der  Frau  de  Ferriem.  Der 
Bericht  lautet: 

„Das  elektrische  Luftschiff,  Das  große,  voll* 
kommen  lenkbare  Luftschiff  mit  elektrischer  Bewegung 
und  Beleuchtung  der  Zukunft  wird  bald  erfunden 
werden.  Kapitäne  werden  Patent  auf  das  Fahren  mit 
diesem  adlergleich  dahin  fliegenden  oder  segelnden 
Luftschiff  erhalten,  und  man  wird  mit  dem  letzteren 


542 

es  dazu  bringen,  in  zweimal  24  Stunden  den  Atlans* 
tischen  Ozean  zu  überfliegen.  Dasselbe  wird  so  ein:* 
gerichtet  sein,  daß,  wenn  in  der  Luft  Unglück  bei 
der  Fahrt  über  das  Meer  passiert,  man  sich  noch  aufs 
Wasser  retten  kann.  Die  Erfindung  wird  vor  1950 
gemacht  und  vervollkommnet  sein;  viele  werden  aller*: 
dings  noch  wegen  Grübeleien  darüber  ins  Irrenhaus 
müssen.  Ich  habe  den  Erfinder  gesehen,  wie  er  die 
erste  Konstruktion  vorführte;  derselbe  beherrschte 
mehrere  Sprachen,  die  deutsche  sprach  er  gebrochen.  — 
Eine  furchtbare  Arbeit  durch  die  Luft  machte  es,  als 
ich's  über  das  Meer  brausen  sah.  —  Das  ist  der  feurige 
Drache,  von  dem  Propheten  schon  vor  Christi  Ge^ 
burt  sprachen^)." 

Erwähnen  wir  noch,  daß  neuerdings  tatsächlich 
Patente,  die  zur  Führung  von  lenkbaren  Luftschiffen 
berechtigen,  ausgestellt  werden,  so  wird  man  nicht 
umhin  können,  die  Prophezeiung  im  wesentlichen  für 
erfüllt  anzusehen,  auch  wenn  man  betreffs  des  bib* 
lischen    feurigen  Drachens    sich   etwas   reserviert  ver* 

Femer  hatte  Frau  de  Ferriem  noch  Visionen,  die 
die  Erreichung  des  Nordpols  mit  Luftschiffen  und 
Schlitten  betreffen.  Die  letztere  Prognose  ist  ja  schon 
in  Erfüllung  gegangen.  Was  die  erstere  betrifft,  so 
scheint  auch  ihre  Realisierung  in  die  Wege  geleitet 
zu  sein,  da  bekanntlich  Graf  Zeppelin  dieses  Unter*: 
nehmen  plant'^). 

*)  Vgl.  Kcrkau,  Zeitschrift  für  Spiritismus.  3.  Bd.,  1899, 
Nr.  8.  vom  25.  Februar  1899.  S.  62  f. 

*)  „Mein  geistiges  Schauen".  S.  84,  und  Zeitschrift  für  Spiri* 
tismus,  2.  Kd..   1898,  S.  53  f. 


343 


Fassen  wir  unser  Urteil  über  die  Prophezeiungen 
der  Frau  de  Fernem  zusammen,  so  steht  es  fest,  daß 
zwar  eine  Reihe  von  Prognosen  nicht  eintrafen  bzw. 
noch  nicht  eintrafen,  daß  dafür  aber  andere  in  er:* 
staunHcher  Weise  in  Erfüllung  gingen. 

Wer  die  Visionsberichte  liest,  kann  nicht  darüber 
im  Zweifel  sein,  daß  es  sich  durchaus  nicht  um  ver# 
standesmäßige  Berechnungen  oder  Vermutungen  han^« 
delt,  sondern  um  echte  Visionen,  um  traumartige 
Bilder,  die  in  der  Seherin  auf  eine  uns  nicht  näher 
bekannte  Weise  erzeugt  werden. 

Dem  Einwand,  es  könne  sich  hier  um  Halluzi* 
nationen  handeln,  denen  nichts  Reales  entspricht,  muß 
entgegengehalten  werden,  daß  wir  keine  einwandfreie 
Definition  von  Ffalluzination  einerseits  und  Vision 
andrerseits  besitzen^).  Ferner  handelt  es  sich  hier 
durchaus  nicht  um  „Erscheinungen",  von  denen  be* 
hauptet  wird,  daß  sie]  außerhalb  der  Person  der 
Seherin  liegen  sollen,  sondern  lediglich  um  Vorgänge 
in  ihrem  Innern,  die  nur  kontrollierbar  sind  durch 
die  Art,  in  der  die  Seherin  von  ihnen  Kenntnis  gibt 


^)  Lucian  Pusch,  „Spiritualistische  Philosophie  ist  erweiterter 
Realismus"  (Broschüre),  Leipzig  1886,  der  selbst  hell  sieht,  be? 
hauptet,  die  Gegenstände  des  Hellsehens  seien  klarer,  als  die  der 
Halluzinationen.  Das  ist  aber  kein  objektives  Kriterium  und  setzt 
die  Existenz  beider  Phänomene  voraus.  Überdies  ist  es  falsch, 
weil  suggerierte  Halluzinationen  ebenso  lebhaft  empfunden 
werden,  wie  die  „Geister".  Vgl.  Sphinx,  2.  Bd.  1886,  S.  342. 
Danach  müßten  Visionen  auch  an  anderen  beobachtenden  Per* 
sonen  kontrolliert  werden  können,  wären  also  etwas  objektives, 
außerhalb  der  wahrnehmenden  Person  Vorhandenes.  Mir 
scheint  auf  diesem  Gebiete  [die  nötige  Klarheit  noch  nicht  zu 
herrschen. 


344 

und  durch  ihr  späteres  Eintreffen.  Und  dieses  letz== 
tere   kann  für   uns  ganz  allein  ausschlaggebend  sein. 

Wenn  es  auch  nicht  mehr  viele  geben  mag,  die 
auf  Grund  obigen  Materials  noch  Lust  haben,  die 
Eselsbrücke  des  Zufalls  zu  betreten,  sondern  wohl 
die  überwältigende  Mehrheit  der  Leser  nunmehr  von 
der  Existenz  des  zeitlichen  Fernsehens  überzeugt  sein 
wird,  so  muß  doch  auch  hier  die  Möglichkeit  des 
Zufalls  geprüft  werden. 

An  der  Vorhersage  des  Seebebens  von  Martinique 
wird  man  das  Fehlen  der  Ortsangabe  rügen.  Beim 
Untergang  der  Gneisenau  gleichfalls.  Was  die  Er* 
reichung  des  Nordpoles  betrifft,  so  kann  man  auf 
den  prophezeiten  Weg  auch  durch  Berechnung  kom= 
men.  Beim  Hafenbrand  in  Neuyork  dürfte  es  schon 
recht  schwer  fallen,  mit  der  Kritik  einzusetzen,  denn 
da  alle  Vorhersagen  der  Frau  de  Ferriem  sich  im 
Laufe  weniger  Jahre  erfüllen,  wird  man  kaum  ein* 
wenden  können,  ein  ähnliches  Ereignis  spiele  sich 
früher  oder  später  in  jedem  Hafen  ab.  Ebenso  kann 
nur,  wer  den  damaligen  Stand  der  Frage  gar  nicht 
kennt,  sich  mit  der  Vorhersage  des  lenkbaren  Luft* 
Schiffes  leicht  abfinden. 

Besonders  winden  wird  sich  aber  der  Skeptiker 
bzw.  materialistische  Dogmatiker  bei  der  Vorhersage 
des  Grubenunglückes  von  ßrüx*Dux.  Gewiß  läßt 
sich  für  jede  Grube  eine  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
aufstellen  und  so  errechnen,  wann  an  sie  die  Reihe 
kommt.  Aber  hier  haben  wir  die  ausdrückliche  Kon* 
statierung,  daß  die  Katastrophe  bald  eintreten  wird. 
Ja,  als  sie  nach  zwei  Jahren  noch  aussteht,  wird  in 
verschiedenen    Blättern    darauf   hingewiesen,    daß   sie 


345 


nunmehr  bald  kommen  müsse.  Das  soll  ein  zufälliges 
Zusammentreffen  von  Vorhersage  und  Ereignis  sein? 

Alle  Vorgänge  werden  mit  einer  Deutlichkeit  ge^ 
schildert,  wie  sie  nur  ein  Augenzeuge  zu  bieten  ver^ 
mag.  Daß  Traum  und  Vision,  nicht  aber  Phantasie 
die  Plastik  und  Greifbarkeit  des  sinnlich  Wahr^ 
genommenen  besitzen,  hat  schon  Schopenhauer  fest^ 
gestellt.  Deshalb  ist  es  schlechterdings  ausgeschlossen, 
daß  die  von  der  Seherin  geschauten  Bilder  Erzeuge 
nisse  ihrer  überhitzten  Phantasie  sind,  sondern  wir 
haben  es  ganz  unzweifelhaft  hier  mit  echtem  zeit== 
liehen  Fernsehen  zu  tun. 

Leider  ist  es  in  allen  obigen  Fällen  kaum  an*: 
gängig,  eine  Wahrscheinlichkeitsrechnung  mit  hohem 
Divisor  aufzustellen.  Um  nun  aber  dem  unverbesser* 
liehen  Skeptiker  die  letzte  Möglichkeit,  sich  auf  den 
Zufall  hinauszureden,  zu  nehmen,  werden  wir  im 
nächsten  Kapitel  unser  schwerstes  Geschütz  auffahren. 


346 


Elftes   Kapitel 

Michel  Nostradamus 

Michael  Nostradamus  wurde  am  14.  Dezember 
1503  zu  St.  Remy  geboren  und  starb  1566  in  Salon. 
Eigentlich  hieß  er  Michel  und  war  jüdischer  Her*! 
kunft.  Sein  Vater  war  Leibarzt  des  bekannten  roman* 
tischen  Königs  Rene.  Sein  Großvater  mütterlicher* 
seits,  Johann  de  St.  Remy,  Leibarzt  des  Herzogs  von 
Kalabrien,  erzog  den  kleinen  Michel  und  weckte  in 
ihm  die  Liebe  zur  Naturkunde.  Vielleicht  bildete 
er  auch  das  jenem  angeborene  übersinnliche  Wahr* 
nehmungsvermögen  aus. 

Nach  dem  Tode  des  Großvaters  trieb  Nostra* 
damus  in  Avignon  humanistische  und  philosophische 
Studien,  siedelte  dann  aber  nach  Montpellier  über, 
um  Medizin  zu  studieren.  Dort  erwarb  er  auch  den 
Doktorhut. 

Seine  ärztliche  Praxis  übte  er  in  Agen  aus,  wo 
er  innige  Freundschaft  mit  dem  berühmten  Philologen 
Julius  Caesar  Scaligcr  schloß.  Hier  heiratete  er  ein 
adeliges  Fräulein,  verlor  sie  und  die  beiden  Kinder 
dieser  Ehe  aber  bald  durch  den  Tod.  Dieses  tragische 
Schicksal    suchte    er    durch    eine    zehnjährige     Reise 


347 

durch  Frankreich  und  ItaHen  zu  vergessen.  Im  Jahre 
1544  ließ  er  sich  in  Salon  nieder  und  heiratete  eine 
Patriziertochter  Anna  Pontia  Gemella.  Bei  der  großen 
Pest  des  Jahres  1546  zeichnete  er  sich  so  aus,  daß 
ihm  die  Stadt  Salon  als  einem  um  das  öffentliche  Wohl 
hochverdienten  Mann  für  längere  Zeit  einen  Jahres* 
gehalt  aussetzte.  Auch  in  Lyon  erwarb  er  sich  als 
Pestarzt  den  Dank  der  Leidenden. 

Nach  Salon  zurückgekehrt  gab  der  gefeierte  Arzt 
seine  Praxis  gänzlich  auf,  da  er  als  heimlicher  Kalvinist 
angefeindet  v^urde.  Er  hatte  mit  der  äußeren  Welt 
abgeschlossen  und  zog  sich  ganz  in  die  innere  zurück. 
Wie  er  in  der  Vorrede  zu  seinen  Centuries  sich  aus* 
drückt,  erhob  diese  ihn  über  die  Schranken  der 
Endlichkeit  und  —  das  hintereinander  Stehende  neben* 
einander  stellend  und  in  ein  großes  Bild  zusammen 
fassend  —  führte  sie  ihm  die  Geschichte  in  ihrem 
Zusammenhang  und  ohne  Vermittlung  der  Zeitformen 
an  seinem  inneren  Blick  vorüber^). 

Bei  Nacht  zog  er  sich  in  ein  kleines  Kabinett, 
das  ihm  die  Übersicht  über  den  ganzen  Horizont 
seines  Wohnortes  gestattete,  zurück.  Man  zeigt  es 
noch  jetzt  in  Salon.  Von  hier  aus  beobachtete  er 
die  Sterne  und  ließ  zugleich  in  seinem  Inneren  jenes 
wunderbare  Licht  heller  leuchten,  dessen  er  sich  be* 
reits  früher  bewußt  geworden  war"). 


^)  Vgl.  Karl  Kiesewetter,  Nostradamus  und  seine  Prophe; 
zeiungen  in  ,, Sphinx**,  3.  Bd.,   1887,  S.  41  ff. 

^)  Wie  er  in  der  Widmung  der  achten  Centurie  an  König 
Heinrich  II.  von  Frankreich  sagt,  hat  er  seine  Weissagungen 
,,nach  dem  Laufe  des  Himmels  berechnet,  in  Verbindung  mit 
einer  zu  gewissen  Stunden  eintretenden  Anregung,  dem  Erbtum 


548  

Diese  Stelle  ist  von  Bedeutung,  weil  aus  ihr 
hervorgeht,  daß  es  sich  nicht  um  reine  Astrologie 
handelt,  sondern  daß  diese  abenteuerliche  Wissenschaft 
nur  ergänzend  zur  Sehergabe  hinzutritt.  Übrigens 
wird  man  gut  tun,  sich  über  das  Zustandekommen 
der  Prophezeiungen  möglichst  vorsichtig  zu  äußern, 
solange  noch  ihre  Tatsächlichkeiten  von  der  offiziellen 
Wissenschaft  bestritten  wird. 

Sicher  ist,  daß  Nostradamus  die  Sehergabe  — 
vorausgesetzt,  daß  wir  ihm  eine  solche  auf  Grund 
des  Folgenden  zugestehen  —  von  seinen  Vorfahren 
geerbt  hat.  Das  ist  interessant,  weil  wir  schon  früher 
wiederholt  auf  Fälle  von  Erblichkeit  der  Gabe 
gestoßen  sind.  Daß  Nostradamus  keineswegs  an  eine 
Vererbung  der  rechnerischen  Kunst  der  Astrologie, 
also  von  einer  Art  Geschäftsgeheimnis,  denkt,  sondern 
ganz  zweifellos  an  seine  prophetische  V^eranlagung, 
geht  aus  der  Vorrede  zu  seinen  Centurie,  die  er  an 
seinen  Sohn  Cäsar  als  Säugling  richtet,  klar  hervor. 

Hier  sagt  er,  daß  er  „geoffenbarte  Inspira* 
tionen"  erhielt,  „wenn  er  bisweilen  in  der  Woche 
sympathisch  ^)    angeregt    worden    sei    und    sich    die 


seiner  Urväter".  Er  brachte  seinen  „natürlichen  Instinkt  in 
Zusammenhang  und  Einklang  mit  einer  langen  fortlaufenden 
Berechnung,  indem  er  Seele,  Geist  und  Gemüt  von  aller  Sorge, 
Kümmernis  und  Aufregung  frei  machte  durch  Ruhe  und  Stille 
des  Inneren". 

*)  oder  ,,lymphatiquant",  was  mit  cxtatisch  zu  übersetzen 
wäre.  Denn  ..Lympatiques"  nannte  man  diejenigen,  die  vom 
Anblick  eines  schönen  Mädchens  liebestoll  wurden.  Da  der 
erste  dieser  sinnlos  Verliebten  sich  ins  Wasser  (lympha)  stürzte, 
erhielt  der  Zustand  diesen  Namen.  Vgl.  ,,Eclaircissement  des 
veritables    Quatrains    de    Maistre    Michel    Nostradamus",    1656 


349 


Nächte  durch  lange  Berechnungen  versüßt  habe." 
Er  konnte  also  die  Zukunft  nur  völlig  ermitteln, 
wenn  er  seine  astrologischen  Berechnungen  in  einer 
Art  von  Trance  ausführte. 

Nach  Nostradamus'  Anschauung  ist  alles  Seiende 
Notwendig  und  notwendig  so,  wie  es  ist,  und  alles 
Geschehende  geschieht  notwendig  in  der  Weise,  zu 
der  Zeit  und  an  dem  Ort,  wie  und  wo  es  geschieht. 
Dadurch  ist  jedem  Ereignis  eine  bestimmte  Stelle 
und  Zahl  gegeben,  die  sich  berechnen  läßt. 

Wenn  nun  in  gewissen  Stunden  die  Ereignisse 
der  Zukunft  vor  dem  inneren  Auge  des  Nostradamus 
vorüberzogen,  so  schrieb  er  sie  in  französischer  Prosa, 
aber  in  mystischen  Ausdrücken  oder  —  wie  er  selbst 
sagt  —  in  dunklen  und  verworrenen  Sätzen  nieder, 
um  weder  zu  viel  Klarheit  zu  geben,  noch  auch  zu 
großen  Irrtum  zu  verursachen.  Femer  um  eine  ge? 
wisse  Scheu  und  Ehrfurcht  vor  seinen  Weissagungen 
zu  erwecken. 

Als  er  diese  Sprache  später  immer  noch  für  zu 
offen  hielt,  übertrug  er  sie  aus  der  Prosa  in  ge«^ 
bundene  Rede  und  stellte  sie  in  vierzeilige  Strophen, 
Quatrains,  zusammen.  Diese  teilte  er  nach  Hun^s 
derten  als  Centuries  ab.  Bei  dieser  Versifikation 
wurde  die  ohnehin  dunkle  Sprache  noch  mystischer, 
obschon  sie  dem  Seher  immer  noch  zu  offen  schien 
und  er  sich  deshalb  lange  nicht  zur  Herausgabe  seiner 
Verse  entschließen  konnte.  Um  auch  keine  chrono* 
logische  Handhabung  zur  Deutung  der  Vorhersagen 
zu    geben,    mischte    er    überdies    die     für    die    ver* 

(ohne  Erscheinungsort  und  Verfasser),  S.  59.  Die  Stelle  findet 
sich  in  der  Nostradamus?Ausgabe  von  Le  Pelletier  II,  p.   15. 


550 

schiedensten  Zeiten  geltenden  Sprüche  noch  durch* 
einander.  Erst  als  verschiedene  vorausgesagte  Ereigs^ 
nisse,  die  Abdankung  Karls  V.,  der  Tod  Heinrichs  IL 
und  die  Hugenottenkriege  nahe  bevorstanden,  ent* 
schloß  er  sich  1555  die  ersten  sieben  Centuries  heraus* 
zugeben.  Drei  Jahre  darauf  folgten  weitere  drei 
Centuries,  die  Nostradamus  Heinrich  IL  zueignete. 

Kaum  waren  die  Prophezeiungen  erschienen,  als 
sie  mit  Hohn  und  Spott  überschüttet  wurden.  Man 
zögerte  nicht,  Nostradamus  als  Betrüger  und  Scharlatan 
zu  erklären.  Katharina  von  Medici  aber  ließ  den 
Astrologen  am  15.  August  1556  an  ihren  Hof  kommen 
und  ihren  vier  Söhnen  in  Blois  die  Nativität  stellen. 
Er  sagte  ihnen  wahrheitsgemäß  voraus,  daß  drei 
Könige  werden  würden,  verschwieg  aber  diplomatisch, 
daß  die  Krönung  des  einen  durch  den  Tod  des  andern 
bedingt  würde. 

So  hatte  auch  Cornelius  Agrippa  dreißig  Jahre 
früher  Karl  von  Bourbon  zwar  die  Einnahme  Roms 
vorhergesagt,  seinen  Tod  dabei  aber  verheimlicht. 

Mit  Gold  und  Ehren  überhäuft,  kehrte  Nostra* 
damus  nach  Salon  zurück.  Er  war  so  berühmt  ge* 
worden,  daß  Fälscher  Prophetien  unter  seinem  Namen 
herausgaben.  Dadurch,  durch  die  Dunkelheit  seiner 
echten  Prophetien  und  das  Fehlen  der  Jahreszahlen 
wurden  viele  am  Können  des  Sehers  irre. 

Da  ging  während  des  Nostradamusstreites  eine 
Prophezeiung  in  Erfüllung,  die  er  im  35.  Quatrain 
der  ersten  Centurie  gegeben  hatte. 

In  der  in  Lyon  im  Jahre  1555  erschienenen  ersten, 
noch  unvollständigen  Ausgabe  seiner  Prophezeiungen 
Hnden  wir  folgenden  Vierzeiler: 


351 


„Le  lyon  jcune  Ic  vicux  surmontera 
En  champ  belliquc  par  singulicr  duelle: 
Dans  cage  d'or  Ics  yeux  luy  crcvera, 
Deux  classes  une,  puis  mourir,  mort  cruelle." 

Auf  deutsch: 

Der  junge  Löwe  wird  den  alten  überwinden 
Auf  kriegerischem  Felde  durch  Einzel* Zweikampf: 
In   goldenem    Käfig  wird   er   ihm    die  Augen    aus*: 

stechen, 
Von    zwei  Brüchen   der  erste,   dann    sterben    eines 

grausigen  Todes. 

Le  Pelletier^),  der  diesen  Quatrain  kommentiert, 
umschreibt  classe  mit  /.Idoig  brisur,  ebrachement  und 
une  als  una,  die  erste.  Daher  sind  wir  zu  obiger 
Übersetzung  berechtigt. 

Nun  die  Erklärung: 

Im  Juli  1559,  gelegentlich  der  Doppelhochzeit 
von  Töchtern  Heinrichs  II.  —  Elisabeth  heiratete 
Philipp  II.  von  Spanien,  Margarete  den  Herzog  Emanuel 
Philibert  von  Savoyen  —  streckte  der  „junge  Löwe** 
Graf  Montgomery  den  „alten"  König  Heinrich  IL 
von  Frankreich  in  den  Sand,  und  zwar  im  Tjost,  bei 
dem  einer  gegen  den  anderen,  also  einzeln  (par  sin* 
gulier  duel)  die  Kräfte  maß.  Das  steht  im  Gegen* 
satz  zu  den  zur  Ritterzeit  gebräuchlichen  Buhurt, 
einem  ungefährlichen  Reiterspiel  mit  stumpfen  Waffen, 
oder  dem  Turnier,  wo  größere  Scharen  von  Rittern 
gleichzeitig  gegeneinander  die  —  stumpfen  —  Lanzen 


^)  Anatole  Le  Pelletier,  Les  Oracles  de  Michel  de  Nostras 
dame.     Paris  1867,  I,  p.  72  f. 


552 

verstechen^).  Dabei  drang  seine  Lanze  durch  das 
goldene  Visier  des  Helmes  (cage  d'or)  ins  rechte 
Auge.  Der  König  starb  am  10.  Juli  erst  vierzig*^ 
jährig  an  der  erhaltenen  Wunde.  Das  war  der  erste 
gewaltsame  Bruch  am  Aste  der  Valois. 

Der  zweite  ereignete  sich  am  1.  August  1589, 
^Is  der  junge  fanatische  Dominikanermönch  Jaques 
/Clement  König  Heinrich  III.  im  Lager  zu  St.  Cloud 
[mit  einem  Dolche  den  Unterleib  durchbohrte.  Der 
(König  starb  noch  am  gleichen  Abend  unter  furcht^» 
baren  Schmerzen  und  mit  ihm  erlosch  das  berühmte 
Geschlecht  im  Mannesstamme. 

Daß  diese  Prophezeiung  richtig  gedeutet  wurde, 
wissen  wir  nicht  nur  von  Hörensagen  und  aus  der 
Tatsache,  daß  von  nun  an  Nostradamus  ein  berühmter 
Mann  war,  sondern  auch  aus  der  gleichzeitigen  Lite^^ 
ratur.  Brantöme  in  seinen  Vies  des  Hommes  illustres 
erzählt  in  dem  Heinrich  II.  gewidmeten  Abschnitt 
ebenso  wie  Guynaud  in  seiner  Concordance  des 
Prophetie  de  Nostradamus  die  Umstände  bei  diesem 
Turnier  genau.  Ja,  wir  wissen  auch,  daß  dem  König, 
der  sich  in  Kraftproben  gefiel,  das  bevorstehende 
Unglück  vorhergesagt  worden  war,  jedoch  ohne  ihn 
von  seinem  Vorhaben  abzubringen. 

Einst  besuchte  Herzog  Philibert  Emanuel  von 
Savoyen  mit  seiner  Gemahlin  Margarete  den  Seher. 
Als  letztere  in  gesegneten  Umständen  war,  ließ  sie 
Nostradamus  zu  sich  nach  Nizza  kommen  und  be* 
fragte  ihn  über  das  Geschlecht  des  zu  erhoffenden 
Kindes.     Er  antwortete,  daß  es  ein  Sohn  sein  werde, 

')  Vpl.  A.  Schultz,  Das  höfische  Leben  zur  Zeit  der 
Minnesanger,  2.  Bd.,  S.  1 1 1  tt. 


353 

der  Karl  getauft  und  ein  großer  Feldherr  werde. 
Am  12.  Januar  1562  kam  der  Knabe  zur  Welt  und 
Nostradamus  stellte  ihm  die  Nativität'). 

In  dieser  Nativität  hieß  es,  daß  er  in  einem  be^ 
stimmten  Jahre  verwundet,  aber  nicht  sterben  werde, 
als  bis  eine  9  vor  einer  7  komme.  Der  Prinz,  der 
sein  Horoskop  sorgfältig  verwahrte,  sprach  eines 
Tages  mit  dem  Grafen  Carignan  über  das  geheimnis* 
volle  und  unsichere  Helldunkel  der  astrologischen 
Prognostika  und  erzählte,  daß  ihm  Nostradamus  für 
das  laufende  Jahr  eine  bedeutende  Verwundung  vor^ 
hergesagt  habe.  Der  Graf  konnte  nicht  begreifen, 
wie  er  im  tiefsten  Frieden  schwer  verwundet  werden 
könne,  worauf  der  Prinz  rasch  aufstand,  um  die 
Nativität  herbeizuholen.  In  der  Eile  stieß  er  den  Tisch 
um,  der  ihm  auf  ein  Bein  fiel  und  es  bedeutend  verletzte. 

Da  sich  die  erste  Prophezeiung  so  schlagend 
bewahrheitet  hatte,  glaubte  Prinz  Karl,  daß  nun  auch 
die  zweite  bezüglich  seines  Alters  eintreffen  würde 
und  rechnete  auf  97  Jahre.  Als  er  aber  schon  im 
69.  Jahre  starb,  erkannte  man,  daß  auch  hier  eine 
9  vor  einer  7  komme,  weil  auf  69  unmittelbar  70  folgt. 
So  war  der  Prophet  gerechtfertigt.  Allerdings  beweist 
dieser  Fall  —  wie  zahllose  andere  —  auch  die  große 
Schwierigkeit  der  Interpretation  selbst  einer  richtigen 
Vorhersage. 

Im  Jahre  1564,  als  der  junge  König  Karl  IX. 
mit  seiner  Mutter  den  berühmten  Propheten  auf^ 
suchte,  weissagte  er  letzterer  im  geheimen,  daß  ihr 
Lieblingssohn,    der    damalige    Herzog    Heinrich    von 

^)  Vgl.  —  auch  zum  Folgenden  —  Kiesewetter,  Sphinx, 
3.  Bd.  1887,  S.  44 E 

Kemmerich,   Prophezeiungen  23 


554 

Anjou,  den  Thron  besteigen  würde.  Auch  Heinrich 
von  Navarra,  dem  nachmaligen  König  Heinrich  IV., 
weissagte  Nostradamus  die  Krone. 

Übrigens  ernannte  Karl  IX.  den  Seher  zu  seinem 
Leibarzt  und  überreichte  ihm  ein  Geschenk  von  zwei* 
hundert  Goldtalern,  Katharina  aber  fügte  noch  hundert 
aus  eigener  Tasche  hinzu.  So  fehlte  es  ihm  weder  an 
Geld  noch  an  Ehren.  Da  er  ein  Wohltäter  der  Armen 
und  Kranken  war,  ein  aufopfernder,  pflichtgetreuer 
Arzt,  so  wußten  auch  seine  Mitbürger  ihn  zu  schätzen. 

Sein  Freund  Jean  Aime  Chavigni  —  latinisiert 
Janus  Gallicus  —  erzählt^),  daß  er  des  Nostradamus' 
Krankenbett  spät  in  der  Nacht  des  1.  Juli  1566  ver* 
ließ  und  mit  Sonnenaufgang  wiederzukehren  versprach. 
Der  Kranke,  der  die  letzten  sechzehn  Lebensmonate 
an  der  Gicht  gelitten  hatte  und  bereits  acht  Tage 
vor  seinem  Tode  das  Abendmahl  empfing,  zwei  Tage 
vorher  aber  sein  Testament  machte,  antwortete  dem 
Freund:  „Der  Sonnenaufgang  wird  mich  nicht  mehr 
unter  den  Lebenden  finden." 

Da  er  jedoch  leicht  atmete  und  man  überhaupt 
keine  Anzeichen  des  herannahenden  Todes  an  ihm 
wahrnahm,  zogen  sich  alle  zurück,  um  einige  Stunden 
der  Ruhe  zu  pflegen.  Als  man  dann  in  der  Morgen* 
dämmerung  ins  Krankenzimmer  trat,  fand  man  Nostra* 
damus  tot  auf  einer  Bank  in  einer  Stellung,  die  deutlich 
bewies,  daß  er  ein  sanftes  Ende  gefunden  hatte. 

Man  entdeckte  unter  den  Papieren  des  Ver* 
storbenen  folgendes  nach  seiner  Rückkehr  von  Arles, 
wohin    Karl  IX.    im    Jahre    1564    ihn    hatte    kommen 


I 


*)  Chavigneus,  Jani  Gallici  Facies  prior.     Lion  1594,  p.  4. 


355 


lassen,    geschriebene  C^uatrain,    in    dem    er    die    Um* 
stände  seines  Todes  schildert'): 

Zurückgekehrt  legt' ich  des      De    retour    d'Ambassade, 

Königs  Gabe  nieder;  don  de  Roi  mis  au  Heu; 

Die  Arbeit  ist  vollbracht,      Plus    n'en   fera:    sera  alle 

ich  geh  zu  Gott;  ä  Dieu: 

Mir      nahn      Verwandte,      Parans  plus  proches,  amis, 

Freunde,  Blutesbrüder—  freres  du  sang  — 

Bei  einer  Bank  an  meinem      Trouve  tout  mort  pres  du 

Bett  werd'  ich  gefunden  lict  et  du  banc. 

tot. 

Am  2.  Juli  wurde  Nostradamus  links  vom  Haupt* 
eingang  der  Minoritenkirche  in  Salon  in  einer  Nische 
beigesetzt,  was  auch  einer  Prophezeiung  entsprach. 
Hier  möge  es  offen  bleiben,  ob  sein  Grab  nicht  da* 
nach  gewählt  wurde. 

Nostradamus  hinterließ  außer  den  Centuries  noch 
in  Prosa  geschriebene  Prophezeiungen,  die  Chavigni 
in  zwölf  Büchern  zusammenstellte.  Sie  sollen  klarer 
gewesen  sein,  als  die  Centuries,  gingen  aber  verloren. 
Die  Prophetien  beginnen  im  Jahre  1555  und 
enden  am  Schlüsse  des  ersten  angeblichen  Geschichts* 
weltalters  im  Jahre  3797  n.  Chr.  Räumlich  behandeln 
sie,  wie  Nostradamus  im  Anschreiben  an  Heinrich  II. 
mitteilt,  ganz  Europa  und  einen  Teil  Afrikas  und 
Asiens,  während  sie  den  Osten  Asiens  oder  Indien 
nicht  umfassen.  Besonders  zahlreich  sind  die  auf 
Frankreich  bezüglichen  Sprüche,  und  auch  hier  ist  es 
besonders  sein  Heimatland  Provence  und  das  an* 
grenzende  Piemont. 


^)  Presage  141,  Le  Pelletier  I..  p.  91. 


356 

Bevor  wir  weiter  auf  die  Prophezeiungen  ein? 
gehen,  die  besser  überliefert  sind,  als  man  bei  der 
Schwierigkeit  der  Sprache  und  den  zahlreichen  einges= 
streuten  Provinzialismen,  Fremdworten  und  Neubil? 
düngen  —  die  dem  Abschreiber  bzw.  Drucker  natür=* 
lieh  große  Schwierigkeit  bereiteten  —  erwarten  sollte, 
wollen  wir  einen  Blick  auf  die  Fälschungen  werfen. 

Sie  sind  zahlreich  und  in  der  Regel  nur  auf 
Grund  alter  Ausgaben  bzw.  der  kritischen  von  Le 
Pelletier  festzustellen.  Dann  allerdings  ohne  Schwierig:* 
keit.  Bis  in  die  allerneueste  Zeit  haben  sich  Fälscher 
oder  Spaßvögel  des  Namens  des  großen  Astro*« 
logen  bedient. 

So  zirkulierte  etwa  im  Jahre  1903  folgendes  nicht 
in  einer  Originalausgabe  enthaltene  Quatrain: 

Albion  royne  de  la  mer 
Alors  qu'ira  montagne  de  l'air 
Cloche  en  canon,  navir  en  cloche 
Dis  que  la  derniere  heure  approche. 

Hieraus  las  man  den  Untergang  der  Seeherrschatt 
Englands  zur  Zeit  der  Luftschiffe,  Hohlgeschosse  und 
Unterseebote.     Natürlich  war  es  eine  Fälschung. 

Im  Jahre  1870  tauchte  ein  anderer  angeblicher 
Quatrain  des  Nostradamus  auf,  in  dem  dem  zweiten 
Kaiserreich  eine  Lebensdauer  von  genau  17'^  ^  Jahren 
„et  pas  un  jour  de  plus"  vorausgesagt  war.  Da  es 
vom  2.  Dezember  1852  bis  zum  2.  Dezember  1870 
dauerte,  so  war  die  Prophezeiung  richtig,  nur  Hndet 
sich  leider  bei  Nostradamus  nichts  davon '). 


')  Vgl.  Albert  Knicpf  in  den  Psychischen  Studien,  36.  Bd.^ 
1909.   S.  247  und  276.     Übrigens    ist    es    .\uF    alle    Fnlle    merk? 


357 


Mit  welchem  geradezu  unglaublichen  Mangel  an 
Logik  zu  Werke  gegangen  wird,  wenn  es  gilt,  eine 
unangenehme  Tatsache  aus  der  Welt  zu  schaffen, 
zeigt  sich  hier  wieder  einmal  deutlich.  Man  folgert 
daraus,  daß  es  auch  gefälschte  Prophezeiungen  gibt, 
etwas  gegen  die  echten!  Und  doch  könnte  jeder 
des  Lesens  Kundige  sich  durch  einen  Blick  in  alten 
Ausgaben  überzeugen,  daß  es  auch  echte  gibt  und 
zwar  sehr  viele.  Es  ist  ein  Vorrecht  der  Ignoranz 
apodiktisch  aufzutreten,  und  die  gerade  modernen 
wissenschaftlichen  Theorien  scheinen  zu  ihrer  Untere 
Stützung  die  gröbsten  logischen  Schnitzer  nicht  ent^^ 
behren  zu  können. 

Wir  wollen  nun  aus  der  großen  Zahl  von  ein* 
getroffenen  Prophezeiungen  einige  herausgreifen. 
Wir  betonen  dabei  wiederum,  daß  eine  einzige 
wahre  Vorhersage,  d.  h.  eine,  die  Zufall  und  Be^^ 
rechnung  ausschließt,  die  Tatsächlichkeit  des  Phänomens 
bereits  beweist. 


würdig,  daß  die  Vossische  Zeitung  schon  am  28.  August  1870, 
also  vor  Sedan,  die  Prophezeiung  abdruckte  mit  dem  Zusatz, 
daß  Napoleon  seinen  Untergang  für  den  2.  September  be? 
fürchte.  Damals  hatte  noch  gar  niemand  in  Deutschland  eine 
Ahnung  davon,  daß  sich  Napoleon  bei  Mac  Mahons  Armee  be? 
fand.  —  Herr  Dr.  R.  Hennig  hat  die  Freundlichkeit,  mir  seinen 
Aufsatz  ,,Zur  Psychologie  der  Deutelsucht"  in  der  ,, Zeitschrift  für 
Psychotherapie  und  Medizinische  Psychologie"  zu  übersenden, 
Hier  finde  ich  auf  S.  186  des  2.  Bandes  die  Angabe,  der  ge= 
fälschte,  aber  doch  in  so  wunderbarer  Weise  in  Erfüllung  ge? 
gangene  Quatrain  sei  gedruckt  in  den  ,,Ronces  et  Chardons" 
des  Chevalier  Jean  Baptiste  Franqois  Ernest  de  Chatelain,  an? 
geblich  S.  181.  Das  Buch  soll  1869  in  London  erschienen  sein. 
Vielleicht  stammt  er  von  einem  wirklichen  Propheten,  der  sich 
des  Namens  seines  großen  Vorgängers  bediente. 


558 

Der  75.  Quatrain  der  VI.  Centurie  lautet: 

Le  grand  pillot  par  Roy  sera  mande, 
Laisser  la  classe  pour  plus  haut  Heu  atteindre: 
Sept  ans  apres  sera^scontrebande, 
Barbare  armee  viendra  Venise  craindre. 

Diese  Vorhersage  ging  schon  sehr  bald  in  Er* 
Füllung.  Wollen  wir  sie  zunächst  übersetzen  und 
mit  Le  Pelletier  kommentieren^). 

„Der  große  Pilot  wird  vom  König  mit  einem 
Amt  betraut  werden  (mande  =  mandatus,  das  Mandat 
erhalten).  Er  wird  die  Flotte  verlassen,  um  zu  einem 
noch  höheren  Range  emporzusteigen:  Sieben  Jahre 
nachher  wird  er  Schleichhändler  sein  (d.  h.  sich  gegen 
die  legitimen  Gewalten  auflehnen),  eine  barbarische 
Armee  wird  Venedig  Furcht  einjagen.** 
t  Gaspard  de  Coligny  wurde  vom  König  Heinrich  II. 
zum  Admiral  befördert  im  Jahre  1552.  Er  dankte  im 
Jahre  1559,  beim  Tode  des  Königs,  ab,  um  als  Partei* 
haupt  der  Kalvinisten  tatsächlich  eine  mächtigere 
Stellung  einzunehmen.  Hier  wurde  er  im  Jahre  1562 
zum  ersten  General^Leutnant  ernannt.  Im  Jahre  1567, 
also  sieben  Jahre  nach  seinem  Ausscheiden  aus  dem 
königlichen  Dienst,  stand  er  auf  der  Höhe  als  Organi* 
sator  der  Bürgerkrieges  (Contrebande).  Indiejahrel567 
bis  1569  fallen  die  drei  großen  von  den  Protestanten 
geÜeferten  Schlachten  bei  Saint* Denis,  Jarnac  und 
Moncontour.  In  der  letzten  war  Coligny  Höchst* 
kommandierender.  Diese  Ereignisse  fielen  zeitlich  zu* 
i  sammcn  mit  dem  bedrohlichen  Vordringen  der  Waffen 
*  des    Sultans    Selim    II.,    der   Venedig    im    Jahre    1570 

')  I.cs  Oracles  de  Nostrndamc,  I..  p.  87 f. 


359 

die  Insel  Zypern  abnahm.  Im  gleichen  Jahre  1570 
schlössen  die  Protestanten  und  Katkoliken  zu 
St-i^Germain  Frieden. 

Daß  diese  Ereignisse  sich  gut  mit  dem  Quatrain 
identifizieren  lassen,  wird  wohl  niemand  bestreiten. 
Ja,  sie  müssen  sogar  identifiziert  werden,  da 
gar  nicht  so  viele  Jahre  in  Frage  kommen,  in  denen 
Venedig  vor  den  Türken  zittern  mußte.  Ferner 
dürfte  Coligny  der  einzige  Admiral  gewesen  sein, 
der  es  zum  Führer  der  Revolution  gebracht  hat. 
Auch  die  Zeitabgabe  von  sieben  Jahren  wird  stutzig 
machen.  Immerhin  können  wir  den  Einwand  nicht 
widerlegen,  daß  diese  Ereignisse,  weil  teils  noch  zu 
Lebzeiten  des  Nostradamus,  teils  kurz  nach  seinem 
Tode  eintretend,  durch  Kombination  von  ihm  hätten 
erraten  werden  können,  oder  daß  man  Ereignisse 
später  dem  Quatrain  unterlegte. 

Obiger  Quatrain  diene  übrigens  als  gutes  Bei^ 
spiel  für  die  schwer  verständUche  Sprache  des  Astros= 
logen.  pillot  ist  ein  italienisches  Wort  (piloto, 
pillotare);  la  classe,  von  classis  abgeleitet  ist  lateinisch, 
contrebande  ebenso  wie  mande  ist  romanisch.  Dazu 
kommt  die  Inversion  des  letzten  Verses,  der  natürlich 
gelesen  werden  muß:  Venise  craindra  une  armee 
barbare  qui  viendra.  Diese  Dunkelheit  bewirkt,  daß 
es  nahezu  unmöglich  ist,  eine  Prophezeiung  zu  ver^ 
stehen,  bevor  sie  eingetreten  ist.  Ist  dies  aber  der  Fall 
gewesen,  dann  wird  alles,  fast  jedes  Wort,  erstaun^ 
lieh  klar. 

Um  nicht  den  Vorwurf  zu  riskieren,  wir  ver^ 
schwiegen  etwas,  was  zu  Ungunsten  des  Nostradamus 
angeführt  werden  kann,  sei  mitgeteilt,   daß   man   den 


560 

Nachweis  erbrachte,  daß  er  zahlreiche  Prophezeiungen 
äherer  und  auch  zeitgenössischer  Seher  in  seine 
Sammlung  aufgenommen  habe.  Das  gilt  in  den 
Augen  von  manchen  als  Beweis  seiner  betrügerischen 
Scharlatanerie. 

Abgesehen  davon,  daß  viele  Seher  ebenso  hanj» 
delten,  kommt  es  doch  ganz  allein  darauf  an,  daß 
eine  Prophezeiung  auch  wirklich  eintrifft.  Damit, 
daß  Nostradamus  da  und  dort  Sprüche  anderer  aufs* 
nimmt,  um  sie  seinem  eigenen  Werke  einzuverleiben, 
übernimmt  er  für  sie  auch  die  Verantwortung. 
Er  wird  sie  zweifellos,  schon  mit  Rücksicht  auf 
seinen  Namen,  vorher  nachgeprüft  haben.  Es  wäre 
von  ihm  sehr  töricht  gewesen,  wenn  er  wertvolle 
Vorhersagen  nur  deshalb  aus  seinem  Werke  fortge^* 
lassen  hätte,  weil  sie  nicht  von  ihm  selbst  stammen. 
Das  wäre  ja  etwa  so,  als  wenn  jemand  über  irgend 
eine  Wissenschaft,  sagen  wir  über  Chemie  schriebe, 
und  dabei  ausschließlich  das  im  Buche  aufführte, 
was  er  selbst  entdeckt  hat. 

Auch  der  Vorwurf  des  Plagiates  wäre  vorschnell. 
Denn  abgesehen  davon,  daß  das  Mittelalter  den  Be* 
griff  kaum  kannte,  wäre  es  ja  eine  ganz  unmögliche 
Forderung  im  Quatrain  den  Namen  des  Autors  an? 
zugeben. 

Gehen  wir  jetzt  zu  weiteren  Prophezeiungen  des 
großen  Sehers  über  in  der  Hoffnung,  allmählich 
selbst  dem  hartnäckigsten  Zweifler  die  Augen  zu 
öffnen. 

Wir  nehmen  einen  Quatrain,  der  uns  beweis* 
kräftig  scheint,  weil  die  Identifizierung  sehr  leicht  ist. 
Es  ist  der  55.  der  III.  Centurie  und  lautet: 


361 


En  Tan  qu'un  oeil  en  France  regncra 

La  Cour  sera  cn  un  bicn  fascheux  trouble: 

Le  Grand  de  Blois  son  amy  tuera; 

Le  regne  mis  en  mal  et  doutc  double. 

Mit  Le  Pelletier^),  dem  gründlichsten  Kenner 
und  liebevollsten  Interpreten  unseres  Astrologen,  über^ 
setzen  und  kommentieren  wir  wie  folgt: 

Im  Jahre,  in  welchem  ein  Einäugiger  in  Frank* 
reich  herrschen  wird,  wird  der  Hof  in  einer  höchst 
unangenehmen  Verlegenheit  sein:  Der  Große  von  Blois 
(d.  h.  der  König  von  Frankreich,  der  sein  lit  de  Justice 
in  Blois  abhielt)^)  wird  seinen  Freund  töten;  das 
Königreich,  in  üble  und  unsichere  Situation  versetzt, 
wird  (sera  ist  zu  ergänzen)  doppelt  sein,  d.  h.  in  zwei 
Teile  gespalten  werden. 

Diese  Vorhersage  muß  auf  das  Jahr  1559  datiert 
werden,  weil  es  das  einzige  in  der  ganzen  franzö* 
sischen  Geschichte  ist,  in  dem  es  einen  einäugigen 
König  gab.  Wie  wir  schon  früher  gesehen  haben, 
war  ja  Heinrich  IL  vom  Grafen  von  Montgomery 
das  Auge  ausgestochen  worden,  eine  Verwundung, 
die  der  König  kurze  Zeit  überlebte.  Gerade  vom 
Jahre  1559  ab  ereigneten  sich  aber  die  ungünstigen 
Dinge,  die  Nostradamus  andeutet,  wenn  sie  sich  auch 
allerdings  nicht  im  gleichen  Jahre  schon  erfüllten,  so 
daß  man  ev.  sagen  könnte,  der  Seher  habe  sich  in 
der  Zeit  geirrt. 


')  Le  Pelletrier,  I,  S.  93  f. 

^)  Übrigens  heißt  Heinrich  III.,  als  Person  ein  jämmerliches 
Individuum,  insofern  mit  Recht  an  dieser  Stelle  ,,le  Grand", 
weil  er  zuerst  König  der  Polen  gewesen  war  und  erst  nach  Karls  XI. 
frühem  Tode  die  Krone  Frankreichs  sich  aufs  Haupt  setzte. 


362 


Der  französische  Hof  wurde  damals  in  die  aller*» 
unangenehmste  Lage  versetzt.  Heinrichs  IL  Nachfolger, 
der  sechzehnjährige,  schwache  FranzIL,  unter  dem  die 
Hugenotten  sich  empörten  —  auch  der  Name  tritt  jetzt 
zuerst  auf  —  war  in  keiner  Weise  fähig,  den  beginnenden 
Religionskrieg  im  Keime  zu  ersticken.  Als  er  schon  1560 
starb  und  der  zehnjährige  Karl  IX.  unter  der  Regentschaft 
der  Katharina  von  Medici  folgte,  wurde  es  nicht  besser. 
Er  beteiligte  sich  bekanntlich  persönlich  am  Blutbad 
der  Bartholomäusnacht,  in  der  Tausende  der  Hugenotten 
ermordet  wurden.  Die  Guise  spielten  im  Reich  die 
erste  Rolle.  Gegen  Heinrich  IIL,  Karls  Nachfolger, 
konspirierten  sie.  Da  holte  er  zu  einem  Gewaltstreich 
aus,  bei  dem  er  seine  Generalstände  nach  Blois  be* 
rief  und  dort  den  Herzog  von  Guise  in  seinem  Kabi* 
nett  ermorden  ließ.  Vorher  hatte  er  mit  ihm  als  Be^ 
weis  für  seine  Freundschaft  die  Hostie  geteilt  (daher 
son  amy).  Die  Folge  der  Bluttat  war,  daß  sich  die 
zwei  feindlichen  Parteien,  die  Royalisten  und  die 
Ligisten,  mit  höchster  Wut  bekämpften.  Paris  ging 
zu  offener  Revolution  über,  die  Sorbonne  entband 
vom  Treueid,  und  als  Heinrich  die  Stadt  belagern 
wollte,  wurde  er  ermordet*)- 

Man  kann  nicht  sagen,  daß  die  Voraussage  des 
Nostradamus  weniger  wunderbar  ist,  weil  sie  sich  be* 
reits  nach  vier  Jahren  erfüllte;  denn  daß  dieser  Quatrain 
bereits  in  der  im  Jahre  1555  abgeschlossenen  und 
edierten  unvollständigen  Ausgabe  steht,  ist  sicher. 
Wenn  wir  das  Phänomen  der  Prophetie  beweisen 
wollen,    dann   ist   es  aber  ganz  gleichgültig,    ob  eine 

')  Vgl.  auch  Theodor  I.indncr,  Weltgeschichte  seit  der 
Völkerwanderung.  5.  Bd..  S.  184-202. 


363 


Vorhersage  sich  nach  einigen  1  agen  oder  einigen 
Jahrhunderten  reaHsiert.  Ausschlaggebend  muß  nur 
sein,  daß  es  sich  weder  um  Zufall,  noch  um  Berech- 
nung handelt. 

Was  das  letztere  betrifft,  so  wird  wohl  kein  Mensch 
auf  der  Welt  so  einfältig  sein,  zu  behaupten,  daß 
irgend  jemand  auf  gewöhnlichem  Wege  ausrechnen 
könnte,  daß  Frankreich  einmal  von  einem  einäugigen 
König  beherrscht  werden  würde.  So  etwas  zu  kom* 
binieren  —  das  kann  ohne  jegliches  Zögern  auss= 
gesprochen  werden  —  ist  schlechthin  unmöglich. 

Tatsächlich  ereignete  sich  in  Blois  —  der  Name 
ist  ja  angegeben  —  das  scheußliche  Verbrechen  mit 
seinen    Folgen!    Jedes  Wort    beruht  auf  Wahrheit! 

Bleibt  noch  der  Zufall.  Da  sich  diese  Ereignisse: 
die  Einäugigkeit  des  Königs,  das  Zusammentreffen 
der  Einäugigkeit  mit  dem  späteren  Vorgang,  insofern 
Frankreich,  von  einem  erfahrenen  und  energischen 
Monarchen  geleitet,  wohl  kaum  die  Wirren  hätte  er* 
dulden  müssen,  die  es  unter  Kindern  und  Unreifen 
erlitt,  die  Tat  des  Königs,  der  Ort  Blois,  der  ,, Freund", 
die  Zerspaltung  Frankreichs  und  die  üble  Lage  des 
Hofes,  weil  z.  T.  überhaupt  Unica  bildend,  nicht  gut 
in  eine  Wahrscheinlichkeitsrechnung  einfangen  lassen, 
wollen  wir  vorläufig  darauf  verzichten,  den  Koeffi»^ 
zienten  zu  berechnen. 

Übrigens  nimmt  auch  der  51.  Quatrain  der 
III.  Centurie  auf  den  Mord  in  Blois  Bezug: 

„Paris  conjure  un  grand  meurtre  commetre, 
Blois  le  fera  sortir  en  piain  effect." 

Nachdenklich  mag  auch  die  Presage  58  stimmen: 


564 

Le  Roy^Roy  n'estre,  du  Doux  la  pernicie, 
L'an  pestilent,  les  esmeus  nubileux. 
Tien'qui  tiendra,  des  grands  non  letitie: 
Et  passera  terme  de  cavilleux." 

Le  Roys^Roy,  der  doppelte  König,  ist  Heinrich  III. 
der,  wie  bereits  erwähnt,  die  Krone  Polens  vor  der 
Frankreichs  getragen  hatte.     Die  Übersetzung  lautet: 

Der  zweifache  König  stirbt  (n'estre=n'est  plus) 
als  Mordtat  des  Süßen,  (pernicie  =  lateinisch  pernicies 
Verderben,  Untergang). 

Im  unglückseligen  Jahr,  wenn  die  Anstifter  der 
Unruhen  sorgenvoll  sind. 

Daß  der,  der  halten  wird,  nicht  los  läßt!  den 
Großen  nicht  zur  Freude,    (letitie  =  lateinisch  laetitia). 

Und  er  wird  das  Ziel  passieren,  das  ihm  die 
Spötter  (cavilleux  =  railleur  vom  lat.  cavillator)  be* 
stimmt  haben. 

Daß  König  Heinrich  ermordet  wird  von  einem 
,, Süßen",  ist  ein  offenbarer  Unsinn,  denn  Mörder 
pflegen  mit  diesem  Epitheton  nicht  belegt  zu  werden. 
Wie  aber,  wenn  wir  hören,  daß  der  Mörder  Clei« 
ment  hieß?  Was  dem  Sinne  nach  ungefähr  dasselbe 
bedeutet?  Das  legt  den  Gedanken  nahe,  Nostradamus 
habe  den  Namen  gekannt,  aber  absichtlich  zum  Zweck 
der  Verdunklung  durch  ein  Synonym  ausgedrückt. 

Ja,  ist  es  denn  möglich,  daß  die  Prophetie  uns 
sogar  die  Namen  zukünftiger  geschichtlicher  Per* 
soncn  enthüllt? 

Wir  sehen  hier,  daß  es  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  sogar  wirklich  ist.  Aber  erst  wenn  wir  durch 
spätere  Quatrains  den  zwingenden  Beweis,  daß  sogar 
die  Angabc    des    Namens    im   Bereiche    von    Nostra* 


365 


damus  wunderbarer  Kunst  lag,  erbracht  haben,  fordern 
wir  vom  Leser,  daß  er  sich  auch  hier  bekehrt  und 
zugibt,  daß  ,,du  Doux*'  gleichbedeutend  mit 
,, Clement"  ist. 

Alles  andere  stimmt  ganz  genau  mit  der  Wahr^ 
heit  überein.  Heinrich  III.  wurde  1589  ermordet, 
einem  Jahre,  das  besonders  durch  Bürger^  und  Re^^ 
ligionskrieg  verhängnisvoll  sich  vor  anderen  auszeich^ 
nete  (pestilent).  Die  Revolutionäre  waren  damals  tat^ 
sächlich  sehr  besorgt  (nubileux),  denn  der  König  zog 
ja  vor  Paris  und  hätte  es  unzweifelhaft  erobert  und 
die  Ligisten  vernichtet,  wäre  die  Mörderhand  nicht 
dazwischen  gekommen^). 

Geradezu  bewundernswert  ist  das  ,,Tien'qui 
tiendra",  wenn  wir  Heinrich  IV.,  damals  noch  König 
von  Navarra,  substituieren.  Er,  der  später  die  Krone 
tragen  wird,  soll  nur  ja  nicht  loslassen!  Das  wird 
allerdings  seinen  großen  Gegnern,  Philipp  IL, 
Mayenne,  Herzog  von  Aumale  und  den  anderen 
katholischen  Herren  wenig  angenehm  sein.  Tatsäch^s 
lieh  überschritt  Heinrich  IV.  das  Ziel,  das  die  Spötter 
von  der  Partei  der  Guise  ihm  gesteckt  hatten  in 
jeder  Hinsicht  durch  die  Macht,  die  er,  der  einstige 
Kalvinist  und  Herr  des  kleinen  Navarra,  als  König 
ausübte. 

Daß  dieser  Quatrain  im  vollen  Umfange  in  Erfüllung 
gegangen  ist,  wird  ja  kaum  jemand  bestreiten  wollen. 
Da  das  erst  25  Jahre  nach  dem  Tode  des  Sehers  ein* 
trat,  ist  Kombination  ausgeschlossen  und  der  Beweis  für 
die  Existenz  echter  Prophetie  wäre  hinreichend  erbracht. 

1)  Vgl.  Th.  Lindner,  Weltgeschichte,  5.  Bd.,  S.  198-201, 
und  —  zum  Ganzen  —  Le  Pelletier  I.,  p.   103f. 


366 

Doch  wir  wollen  uns  nicht  mit  der  Feststellung 
der  Tatsache  begnügen,  sondern  auch  den  Umfang 
der  Gabe  zu  bestimmen  versuchen.  Die  schwersten 
Proben  werden  zweifellos  richtige  Angaben  von 
Namen  und  Jahreszahlen  sein.  Denn  gegen  die  tat* 
sächlichen  Vorgänge  werden  unverbesserliche  Skeptiker 
immer  wieder  anführen  können:  irgend  etwas  ereignet 
sich  immer  mal  in  der  Weltgeschichte,  und  sei  es  die 
verwegenste  Konstruktion,  zumal  wenn  man  —  wie 
bei  Nostradamus  —  zwei  Jahrtausende  Zeit  hat,  seine 
Auswahl  zwecks  Identifikation  zu  treffen.  Da  hier 
der  Gegenbeweis  sehr  schwer  wäre,  wollen  wir  also 
durch  Namen,  die  sich  in  der  Weltgeschichte  durchs 
aus  nicht  wiederholen  und  stets  Identifizierung  der 
Nation,  häufig  auch  sogar  Datierung  gestatten,  dem 
Gegner  die  Rückzugslinie  abschneiden. 

Der  18.  Quatrain  der  IX.  Zenturie  lautet: 
Le  lys  Dauffois  portera  dans  Nanci 
Jusques  en  Flandres  electeur  de  l'Empire; 
Neusve  obturee  au  grand  Montmorency, 
Hors  lieux  prouves  delivre  ä  clere  peyne^). 

An  Namen  ist  hier  kein  Mangel.  Übersetzen 
wir  nun  mit  Le  Pelletier  (L,  p.  113): 

„Die  Lilie    des    (bisherigen)    Dauphin    (die  Lilie 


0  In  der  mir  vorliegenden  ersten  Ausgabe  mit  dem  Titel 
„Les  Prophcties  de  M.  Michel  Nostradamus.  Centuries  MII.  IX.  X- 
Qui  n'ont  encore  iamais  este  imprim^s.  A.  Lyon,  Chez  Antoine 
Boudraud,  en  rue  confort  k  la  Fortune"  finden  sich  folgende 
unbedeutende  Varianten:  Nansy  statt  Nanci,  und  deliure  statt 
dclivr6.  Letzteres  —  so  auch  prouez  statt  prouves  —  noch  daher 
kommend,  daß  bekanntlich  das  Mittelalter  zwischen  u  und  v  in 
der  Schreibweise  keinen  Unterschied  macht. 


367 

war  bekanntlich  das  Wappen  der  Bourbons;  Dauffois 
ist  Synkope  für  Dauphinois  =  Dauphin)  wird  nach 
Nancy  kommen  und  wird  bis  nach  Flandern  einen 
Kurfürsten  des  Reiches  unterstützen  (portera  =  sup# 
portera). 

Neues  Gefängnis  (obturee  lateinisch  =  obturare, 
einsperren)  dem  großen  Montmorency. 

Außerhalb  des  dazu  bestimmten  Ortes  (prouves 
für  approuves)  wird  er  ausgeliefert  werden  dem 
Clerepeyne  (oder:  einer  berühmten  Strafe).** 

Alle  angegebenen  Daten  und  Namen  passen  auf 
Ludwig  XIII.,  den  wir  auch  aus  einem  anderen 
Grunde  mit    dem  lys^Dauffois  identifizieren    müssen. 

Seine  Truppen  drangen  am  24.  September  1633 
in  Nancy  ein  und  der  König  selbst  folgte  am  andern 
Tage.  Daß  Nancy,  die  Hauptstadt  des  Herzogtums 
Lothringen,  nicht  zu  Frankreich  gehörte,  es  sich  viel* 
mehr  um  einen  Kriegszug  handelt,  weil  Lothringen 
französische  Rebellen  unterstützte,  ist  immerhin  er* 
wähnenswert.  Er  drang  im  Jahre  1635  bis  nach 
Flandern  vor,  um  die  Sache  des  Kurfürsten  von  Trier, 
der  1635  in  spanische  Gefangenschaft  geraten  und  nach 
Brüssel  entführt  worden  war,  zu  unterstützen.  Und 
zwar  war  diese  Gefangennahme  Anlaß  der  Kriegser^« 
klärung  und  Ludwig  belagerte  Löwen  in  Flandern. 
Etwa  um  die  gleiche  Zeit  —  im  Jahre  1632  —  wurde 
Heinrich  IL  Montmorency  wegen  Rebellion  gegen  seinen 
Herren  Ludwig  XIII.  im  neu  erbauten  Gefängnis  des 
Rathauses  in  Toulouse  eingesperrt  (neusve  obturee). 
Darauf  wurde  er  einem  Soldaten  namens  Clerepeyne 
übergeben,  der  ihm  nicht  an  dem  dafür  bestimmten 
Orte  (hors  lieux  prouves),    das  wäre    der  Stadtplatz, 


568 

place  du  Salin,  in  Toulouse  gewesen,  sondern  —  als 
Gnade  —  im  verschlossenen  Hofe  des  Rathauses  am 
30.  Oktober  1632  den  Kopf  abschlug  vor  der  Statue 
seines  Paten,  Heinrichs  IV.,  dem  sein  Vater  zum 
Teil  die  Krone  Frankreichs  verdankte.  Auch  ersteres 
war  eine  Gnade,  die  die  Familie  Montmorency  beim 
König  erwirkte,  daß  nämlich  der  Verurteilte  von  der 
entehrenden  Hand  des  Henkers  verschont  bleiben  sollte. 

Was  den  Namen  des  Soldaten  betrifft,  so  bezeugt 
der  Zeitgenosse  Etienne  Joubert^)  dieses  Faktum  J 
nicht  minder,  wie  der  Chevalier  de  Jant,  wie 
Le  Pelletier  feststellt.  Motret")  hat  diesem  höchst 
merkwürdigen  Sachverhalt,  merkwürdig  insofern  als 
jedes  Wort  des  Nostradamus  in  verblüffender  Weise 
durch  die  nachträglichen  Ereignisse  bestätigt  wurde, 
eine  eingehende  Untersuchung  gewidmet. 

Übrigens  haben  wir  hier  neuerdings  ein  Beispiel 
für  die  ungeheure  Schwierigkeit,  ja  Unmöglichkeit 
die  Quatrains  zu  deuten,  bevor  sie  sich  erfüllt  haben, 
clere  peyne  würde  —  auch  wenn  es  nicht  der  Familien^ 
name  des  mit  der  Exekution  betrauten  Soldaten  ge^ 
wesen  wäre  —  einen  völlig  zutreffenden  Sinn  geben. 
Denn  es  ist  zweifellos  eine  berühmte  Strafe,  wenn 
ein  Herzog  hingerichtet  wird. 

Zugetroffen  sind  also  in  diesem  Quatrain:   1.  der 

*)  Vgl.  sein  anonym  und  ohne  Druckort  im  Jahre  1656 
erschienenes  ..Kclaircisscment  des  veritables  quatrains  de  maistre 
Michel  Nostradamus",  p.  LS.  Hier  ist  der  Name  angeführt 
unter  einer  beträchtlichen  Anzahl  anderer ,  die  der  Astrologe 
vorher  gewul^t  hatte,  und  in  einem  Ton,  als  sei  es  eine  bekannte 
Tatsache,  die  es  damals  ja  wohl  auch  gewesen  sein  mag. 

'^)  Essai  d'explication  de  deux  Quatrains  de  Nostradamus, 
Nevcrs   1806.  p.  30-39.  (nach  l.e   Pelletier). 


369 


Name  Dauphin,  da  Ludwig  XIII.  seit  einem  Jahr- 
hundert  d.  h.  seit  dem  Jahre  1566,  als  die  IX.  Centurie 
erschien,  der  erste  König  von  Frankreich  war,  der 
vor  seiner  Thronbesteigung  diesen  Titel  geführt  hatte. 

2.  Die  Ortsnamen  Nancy,  das  der  König  er* 
oberte,  und  Flandern,  in  das  er  eindrang,  womit  im*: 
plicite  auch  zwei  Kriege  richtig  prophezeit  sind. 

3.  Die  Person  des  Kurfürsten,  der  den  Krieg 
verursacht  hatte. 

4.  Der  Name  Montmorency,  mit  dessen  Tode 
die  Hauptlinie  des  uralten  Geschlechtes  erlosch,  und 
der  mit  Recht  ,,der  Große"  heißt  ^).  Denn  mit  17  Jahren 
war  er  bereits  Admiral,  zeichnete  sich  bei  der  Er** 
oberung  von  La  Rochelle  aus  und  setzte  1630  den 
Grafen  Doria  gefangen. 

5.  Der  Name  des  hinrichtenden  Soldaten  Giere* 
peyne. 

Endlich  die  Nebenumstände  'als:  Neubau  des 
Rathauses,  die  Hinrichtung  außerhalb  der  Richtstätte 
und  zwar  nicht  durch  Henkershand,  sondern  durch 
einen  Soldaten. 

Der  Beweis,  daß  Nostradamus  die  Namen, 
und  zwar  gleich  eine  ganze  Reihe,  richtig  zu 
bestimmen  wußte,  ist  durch  dieses  Quatrain 
über  jeden  Zweifel  sicher  erbracht. 

^)  Was  die  Persönlichkeit  Heinrichs  II.  Montmorency  be? 
betrifft,  so  war  er  „der  Abgott  des  Hofes  und  der  Provinzen, 
des  Volkes  und  der  Armee".  Als  der  Kapitän  Guitaut,  gegen 
den  er  im  Feuer  gestanden  hatte,  vom  Richter  gefragt  wurde, 
ob  er  den  Herzog  im  Kampfe  erkannt  hätte,  sagte  er  mit 
Tränen  im  Auge : 

,, Feuer,  Blut  und  Rauch,  die  ihn  bedeckten,  hinderten  mich 
erst    ihn  zu    kennen.     Aber   als  ich  einen  iMann  sah,  der,  nach? 

Kemmerich,   Prophezeiungen  24 


370 

Nun  wir  diese  Gewißheit  erlangt  haben,  werden 
wir  auch  nicht  mehr  zögern,  den  Namen  „Doux*' 
oben  richtig  in  den  Eigennamen  des  Mörders  Clement 
aufzulösen.  Aus  welchen  Gründen  Nostradamus  da^^ 
mals  das  Synonym  wählte,  vielleicht,  weil  das  Ereignis 
zu  nahe  seiner  Lebenszeit  lag,  bleibe  dahingestellt. 

Schon  jetzt  wird  niemand  es  Vermessenheit  nennen 
können,  wenn  wir  Nostradamus  die  Gabe  der  Pro^ 
phctie  in  hohem,  ja,  wie  wir  noch  sehen  werden,  in 
bisher  nie  wieder  erreicht  hohem  Grade  zuerkennen. 
Es  handelt  sich  bei  ihm  nicht  um  ein  Tappen  im 
Dunkeln,  um  ein  Herumraten  und  Aufstellen  von 
Luftschlössern,  deren  Realisierung  er  der  Weltgeschichte 
überläßt.  Es  ist  durchaus  unzulässig  anzunehmen  — 
wie  wir  das  früher  hypothetisch  taten  —  daß  die 
Prophezeiungen  nur  deshalb  zum  Teil  in  Erfüllung 
gehen,  weil  eben  alles,  was  Menschen  sich  nur  aus^ 
denken  können,  irgend  einmal  und  irgendwo  in  der 
Geschichte  greifbare  Gestalt  annimmt. 

Das  Gegenteil  ist  der  Fall:  Der  Seher  sieht  hell 
in  die  Zukunft.  Aber  er  hat  Gründe,  seine  Sprüche 
so  zu  redigieren,  daß  sie  erst  nach  ihrer  Erfüllung 
verstanden  werden  können.  Er  weiß  also  viel  mehr, 
als  er  sagt.  Noch  ein  paar  Beispiele  mögen  den 
Beweis   unterstützen.     Dabei   möchten  wir  bemerken, 

dem  er  sechs  unserer  Reihen  durchbrochen  hatte,  noch  in  der 
siebenten  Soldaten  tötete,  da  war  ich  mir  darüber  klar,  daß  das 
nur  M.  de  Montmorency  sein  könne." 

Der  ganze  flochadel,  Freund  und  Feind,  verwandten  sich 
umsonst  für  das  Leben  dieses  Helden,  dessen  Leben  und  Tod 
überreich  an  echter  Tragik  ist. 

Vgl.  (Michaud)  Biographie  universelle.  2.  Aufl.,  29.  Bd.. 
S.  176  H. 


371 


daß  von  den  annähernd  zwei  Jahrtausenden,  auf  die 
sich  die  Prophezeiungen  erstrecken,  ja  erst  dreiein* 
halb  Jahrhunderte  verflossen  sind,  so  daß  es  ganz 
selbstverständHch  ist,  daß  auch  erst  ein  Bruchteil  der 
Quatrains  hat  identifiziert  werden  können.  Immerhin 
sind  es  schon  gegen  200,  die  Le  Pelletier  sammelte 
und  die  neuerdings  noch  vermehrt  werden  konnten.  Für 
unsere  Beweisführung  würde  freilich  ein  einwandfrei 
feststehender  Fall  genügen  —  und  wir  haben  deren 
ja  schon  eine  stattliche  Reihe  —  aber  wir  setzen  voraus, 
daß  der  Leser,  dem  Zeit  und  Lust  fehlen,  bei  Le 
Pelletier  sich  zu  informieren,  einiges  Interesse  an 
weiteren  Voraussagen  hat. 

Der  92.  Quatrain  der  IL  Centurie  lautet: 

„Feu  couleur  d'or  du  ciel  en  terre  veu, 
Frappe  du  haut  nay,  faict  cas  merveilleux, 
Grand  meurtre  humain:  prins   du  grand  le  nepveu, 
Morts  d'espactacles  eschappe  l'orgueilleux.** 
Zu  deutsch: 

Goldfarbenen  Feuerschein  sieht  man  vom  Himmel 

bis  zum  Erden, 
Geschlagen  vom  Hochgeborenen,  wunderbares  Ge^ 

schehnis, 
Großes    Menschengemetzel:    Gefangen    genommen 

wird  der   Neffe   des  Großen, 
Der  Stolze  entgeht  einem  aufsehenerregenden  (thea* 

tralischen)  Tode." 

Da  „Le  nepveu"  (neveu)  der  ständige  Name 
Napoleons  III.  bei  Nostradamus  ist,  wird  auch  der 
Geschichtsunkundige  ohne  Schwierigkeit  feststellen 
können,  daß  die  Katastrophe  von  Sedan  gemeint  ist, 

24* 


fV 


572 

i 

i  Jedes  Wort  stimmt  hier  wieder.     Das  brennende 

I     Sedan  als  Hintergrund.   Der  Hochgeborene,  eigent* 

I    lieh   der   Höhergeborene,    ist    König  Wilhelm  L,    ein 

I    treffender  Gegensatz  zu  der  kurzen  Familiengeschichte 

I    des  Franzosenkaisers.     Der   Fall   der  Gefangennahme 

^    einer  so   großen  Armee  war  tatsächlich   ein  wunder* 

bares  Vorkommnis.     Die  Weltgeschichte  bietet  hierzu 

bis    zum    heutigen  Tage    kein  weiteres  Beispiel.     Bes= 

sonders  verblüffend,    mehr    noch    als  die  Vorhersage 

der  furchtbar  blutigen  Schlachten  und  der  Gefangen* 

nähme  des  Neffen  des  großen  Napoleon  ist  die  letzte 

Zeile.     Bekanntlich    war    es    dem    dritten    Napoleon 

vollkommener  Ernst,  als  er  in  dem  berühmten  durch 

den     Grafen     Reille  Wilhelm  I.    überreichten    Briete 

schrieb:  ,,N'ayant  pas    pu    mourir   au  milieu  de  mes 

troupes  etc."    Er  hatte  den  Heldentod  gesucht,   aber 

das  Schicksal  war  grausam  genug,  dem  unglücklichen 

Manne  diese  letzte  Gunst  zu  versagen.  „Morts  d'espac* 

tacles"   nennt  es  Nostradamus,    gemeint  ist  dasselbe. 

Die  Worte  ,,faict  cas  merveilleux'*  scheinen,  wie 

Albert  Kniepf,  der  zuerst  den  Quatrain  identifizierte^) 

bemerkt,  eine  Reminiszenz  an  1806  und  Jena  zu  sein. 


')  Vgl.  A.  Kniepf,  Echte  und  gefälschte  Prophetien  des 
Nostradamus,  Psychische  Studien,  36.  Bd.,  1909,  S.  276  f.  und 
520 ff.  Kr  meint  im  ersten  Vers  des  Quatrains  könnte  ,,en  terrc 
veu"  auch  eine  Anspielung  auf  die  ,,Entrevue"  Bismarcks 
und  Napoleon  III.  sein.  Nostradamus  liebt  zweifellos  den 
Doppelsinn  und  sagt  oft  mit  einem  Worte  zweierlei  Dinge, 
die  beide  richtig  sind.  Vgl.  z.  B.  Centurie  IX.,  Quatrain  18, 
,,claire  peyne"  ^—  clara  poena  und  --  dem  richtigen  liigen* 
namcn  (.Icrepeync.  Der  Spott  Hennings  über  diese  auf  alle 
Falle  scharfsinnige  jlnterprctation  Kniepfs  ist  mir  daher  unver* 
ständlich.    Vgl.  Zeitschrift  für  Psychotherapie,  2.  Bd.,  S.  177  fl. 


373 

Lc  Pelletier  hatte  seine  Erläuterungen  zu  den 
Quatrains  am  1.  Januar  1867  abgeschlossen  und  be^ 
merkt,  daß  er  sich  in  bezug  auf  die  Zukunft  des 
Kaisers  ,,eine  gewisse  Reserve  auferlege,  da  einige 
Quatrains  sich  noch  auf  dessen  Fatum  kurz  über 
lang  zu  beziehen  scheinen** ').  Er  hatte  also  äugen* 
scheinlich  diese  Vorhersage,  die  nicht  allzuschwer  zu 
identifizieren  war,  nachdem  man  wußte,  daß  ,,le  neveu**, 
der  Neffe  des  großen  Napoleons  war,  schon  bemerkt, 
verschwieg  sie  aber  aus  persönlichen  Gründen.  Eine 
Vorsicht,  die  also  nicht  nur  Nostradamus  walten  ließ, 
als  er  seine  Vorhersagen  möglichst  verdunkelte,  die 
noch  bis  zum  heutigen  Tage  jeder  Seher  beobachtet. 
Es  ist  ja  sehr  naheliegend,  aus  welchen  Gründen. 

Der  34.  Quatrain  der  IX.  Centurie  lautet  in  der 
im  Todesjahre  des  Nostradamus  (1566)  zu  Lyon  er# 
schienenen  Ausgabe  von  Rigaud  folgendermaßen: 

Le  part  soluz  mary  sera  mitre 

Retour:  conflict  passera  sur  le  thuille 

Par  cinq  cens :   un  trahyr  sera  tiltre 

Narbon:  et  Sauice  par  coutaux  avous  d'huille. 

Le  Pelletier,  der  seine  Ausgabe  aufs  sorgfältigste 
nach  dem  alten  Druck  von  Pierre  Rigaud  (Lyon 
1558—1566)  mit  den  Varianten  der  folgenden  Ausgaben 
hergestellt  hat,  erklärt  die  altfranzösischen  etc.  Aus»« 
drücke  wie  folgt: 

Part  ist  =  epoux,  Gatte;  soluz  =  solus,  latei^ 
nisch:  also  seul,  allein;  mary  =  afflige,  betrübt,  par 
in  der  letzten  Zeile  ist  soviel  wie  parmi,  unter;  cou*» 


')  Le  Pelletier.  I..  p.  279. 


574 

taux  =  lateinisch  custos,  Wächter,  Hüter.     Avous  = 
lateinisch    avus,  aieux,  Vorfahren.     Tiltre  ==  tituliert. 

Demnach  heißt  der  Vierzeiler:  Der  Gatte  wird 
einsam  betrübt  mit  der  Mitra  geschmückt  werden 
nach  seiner  Rückkehr.  Ein  Angriff  wird  geschehen 
auf  den  Tuille  durch  fünfhundert:  ein  Verräter  wird 
sein  Narbon  mit  hohem  Titel  und  Sauice  unter  seinen 
Vorfahren  Hüter  des  Ols  (habend). 

Die  Sprache  ist  zweifellos  höchst  dunkel.  Das 
Wort  hat  eben,  wie  Bormann,  der  diesem  Quatrain 
eingehende  Untersuchungen  widmet,  denen  wir  uns 
nachstehend  anschließen^),  richtig  bemerkt,  in  der 
gedrängten  Orakelsprache  oft  weittragenden  Sinn  unter 
Bezug  auf  lange  Begebenheiten. 

Wenn  wir  allerdings  die  historischen  Begeben* 
heiten  als  Auflösung  in  die  Rechnung  einsetzen, 
dann  sind  wir  gezwungen,  die  Prophezeiung  zu  den 
verblüffendsten  zu  rechnen,  die  überhaupt  möglich  sind. 

Am  20.  Juni  1791  ereignete  sich  bekanntlich  die 
Flucht  des  Königs  Ludwigs  XVI.  von  Frankreich  und 
seiner  Gemahlin  Marie  Antoinette.  Genau  ein  Jahr 
später,  am  20.  Juni  1792  fand  die  Massendemonstration 
der  Jakobiner  gegen  den  König  statt  und  der  Einfall 
eines  Föbelhaufens  in  die  Tuilerien.  Dabei  wurden 
der  König  sowie  seine  Gemahlin  nicht  nur  beschimpft, 
sondern  ihnen  auch  die  rote  Jakobinermütze  aufs 
Haupt  gesetzt,  bzw.  er  setzte  sie  sich  nach  anderen 
Berichten  selbst  auf. 

Jetzt  hat  der  erste  Satz  einen  erstaunlichen  Sinn 
erhalten,  wie    kaum    jemand  wird    bestreiten   können. 


')  Walter  Rormann.  ..Die  Norncn".  S.  245-264. 


375 

\\r  heilkalso:  Der  betrübte Ciatte,  nämlich  LudwigXVI., 
wird  allein  —  denn  er  war  von  der  Königin  getrennt, 
die  im  Beratungssaal  der  Minister  ähnlichen  Kran* 
kungen  wie  der  König  im  Saale  Oeil  de  Boeuf  aus* 
gesetzt  war  —  mit  der  Mütze  geschmückt  nach  seiner 
Rückkehr.     Jedes  Wort  stimmt! 

Übersetzt  man  mit  Bormann  mitre  mit  Infuliert, 
was  durchaus  zulässig  wäre,  so  würde  die  bittere  Ironie 
desto  drastischer  wirken,  da  hier  statt  des  Priesters 
der  „Gatte"  intuliert  wird.  Übrigens  sei  bemerkt,  daß 
die  bischöfliche  Mitra  gleich  der  Jakobinermütze  rot  ist. 

Der  eigentliche  Angriff  auf  die  Tuilerien  (le 
thuille)  erfolgte  in  der  Nacht  vom  9.  auf  den  10.  August 
1792,  als  die  sogenannten  Fünfhundert  federes  mar* 
seillais,  die  den  schlimmsten  Auswurf  der  großen 
Hafenstadt  enthielten,  sich  in  die  Hauptstadt  ergossen 
hatten.  Die  Folge  war  bekanntlich  die  Niedermetzelung 
der  tapferen  Schweizergarde  sowie  die  Gefangennahme 
des  Königs  und  das  Ende  des  Königtums.  Also  sogar 
die  Zahl,  die  ja  den  Mordbrennern  ihren  Namen 
gab,  wird  im  Quatrain  richtig  angegeben! 

Ebenso  der  Ort.  Katharina  von  Medici  hatte 
erst  kurz  vor  dem  Tode  des  Nostradamus  (1564)  an 
der  Stelle,  wo  früher  Ziegeleien  standen  —  daher  der 
Name  —  den  Grundstein  zu  den  Tuilerien  gelegt. 
Das  Schloß  wurde  später  von  den  Königen  erweitert. 
Bekanntlich  war  die  gewöhnliche  Residenz  nicht  dieses 
Schloß,  sondern  das  von  Versailles,  das  Ludwig  XIV. 
mit  ungeheurer  Pracht  und  Verschwendung  gebaut 
hatte.  Ludwig  XVI.  war  erst,  dem  Zwange  folgend, 
am  5.  Oktober  1789  in  das  Pariser  Schloß  über* 
gesiedelt.     Berücksichtigt   man   noch,   daß  das  älteste 


376 

Königsschloß  der  Louvre  war,  so  ist  diese  Orts* 
bestimmung  nur  desto  verblüffender.  Als  Nostra* 
damus  seine  Prophezeiungen  schrieb,  ja  als  sie  —  1566  — 
bereits  im  Druck  erschienen,  existierten  die  Tuilerien 
noch  gar  nicht. 

Um  das  Rätselhafte  der  Prophezeiung  voll  zu 
machen,  wollen  wir  noch  auf  die  Namen  eingehen. 

Narbon  ,,mit  hohem  Titel"  wird  als  „Verräter" 
bezeichnet.  Dieser  Narbon  ist  natürlich  identisch  mit 
Louis  Graf  Narbonne  :=  Lara  (1755—1813),  der  vom 
Dezember  1791  bis  10.  März  1792  Kriegsminister 
Ludwigs  XVI.  war.  Seine  Mutter,  aus  spanischem 
Geschlecht,  war  eine  natürliche  Tochter  Ludwigs  XV. 
Er  selbst  wurde  am  königlichen  Hofe  in  Frankreich 
erzogen  und  auf  alle  Weise  bevorzugt,  wie  ja  schon 
daraus  hervorgeht,  daß  er  im  Alter  von  36  Jahren 
ein  Minister^sPortefeuille  inne  hatte. 

Da  er  über  den  Parteien  stehen  wollte  und  sowohl 
dem  Königtum,  wie  der  neuen  Verfassung  gerecht  zu 
werden  trachtete,  das  Königtum  im  Kriege  gegen  das 
Ausland,  Osterreich  und  Preußen,  stärken  wollte  und 
gleichzeitig  vor  der  Nationalversammlung  Reden  voll 
Elan  über  die  militärischen  Hilfsmittel  Frankreichs  hielt, 
wurde  er  von  beiden  Parteien  verdächtigt.  Der  König 
entließ  ihn  unter  dem  Einfluß  der  Hofkreise  kurzer 
Hand  durch  einen  lakonischen  ungnädigen  Brief. 

Ein  Verräter  war  der  Graf,  der  am  10.  August 
von  den  Jakobinern  fast  umgebracht  worden  wäre, 
dann  nach  England  floh,  später  in  die  Dienste  Napo* 
leons  trat  und  dessen  Gesandter  in  Wien  wurde, 
sicherlich  nicht. 

Da    nun    aber,    wie   Kiesewetter    in    einer  Unter* 


377 


suchung  der  l^rophczeiungcn  des  Nostradamus  icsU 
stellt,  diese  durchgehcnds  vom  royalistischen  Stand* 
punkt  aus  geschrieben  sind,  ist  es  begreiHich,  daß 
unter  diesem  Gesichtswinkel  der  Enkel  Ludwigs  XV., 
der  nicht  unbedingt  seinem  König  durch  dick  und 
dünn  beisteht,  sondern  über  den  Parteien  schweben 
will,  als  Verräter  gilt. 

Der  andere  Verräter  ist  Sauice  ,, unter  seinen 
Ahnen  Hüter  des  Öls". 

Auch   dieser   Name   ist  historisch. 

Sauce,  ohne  1,  hieß  nämlich  der  Krämer  und 
Gastwirt  in  Varennes,  der  Ludwig  XVL  auf  der 
Flucht  erkannte  und  anhalten  ließ.  Wie  Le  Pelletier 
feststellte,  waren  schon  die  Vorfahren  von  Sauce  seit 
langem  Inhaber  dieses  Krämerladens.  Wie  Madame 
Campan^)  erzählt,  saß  in  diesem  Laden  Marie  An? 
toinette  zwischen  zwei  Paketen  Talglichtern  im  Ge* 
sprach  mit  der  Frau  des  Inhabers  Sauce.  Was  das 
„Hüter  des  Öls"  betrifft,  so  entspricht  dieser  Aus* 
druck,  wie  auf  der  Hand  liegt,  etwa  unserem  ,, Herings* 
bändiger*'.  Er  soll  als  despektierliche  Bezeichnung 
des  kleinen  Krämers  im  Gegensatz  zum  vornehmen 
Narbonne  dienen. 

Übrigens  wurde  der  Verrat  des  Sauce,  bestehend 
in  der  Verhinderung  der  Flucht  des  Königs  am 
18.  August  1791,  durch  Beschluß  der  Nationalver* 
Sammlung  feierlich  anerkannt  und  durch  eine  Dotation 
von  20000  Livres  belohnt. 

Hyperkritikern,  die  aus  der  Namensverschieden* 
heit  bzw.  der  verschiedenen  Schreibweise  Sauice  und 


^)  Campan,  Memoires  sur  la  vie  privee  de  Marie  Antoinette, 
Paris  1826,  p.  158. 


378 

Sauce  Einwände  herleiten  zu  können  glauben,  sei  er* 
öffnet,  daß  beide  Worte  dasselbe  bedeuten,  nämlich 
Brühe,  und  daß  der  Ausfall  eines  Konsonanten  im 
modernen  Französischen  gegenüber  dem  hochmittel^s 
alterlichen  eine  außerordentlich  häufige  Erscheinung  ist. 

Der  überaus  erstaunliche  Inhalt  des  Quatrain  legt 
den  Verdacht  nahe,  es  handle  sich  hier  um  eine  Fäl* 
schung,  d.  h.  er  sei  erst  nachträglich  von  einem  Ver* 
ehrer  des  Nostradamus  eingeschoben  worden.  Da 
mit  der  Echtheit  dieser  Vorhersage  eines  unserer  Haupt* 
argumente  für  die  Existenz  eines  wirklichen  Fern* 
Sehens  in  der  Zeit  steht  und  fällt,  dürfen  wir  uns  keine 
Mühe  verdrießen  lassen,  die  Frage  aufs  gründlichste 
zu  untersuchen. 

Le  Pelletier  hat  zu  Beginn  des  I.  Bandes  seiner 
großen  Nostradamusausgabe  eine  lange  Reihe  alter 
Drucke  angeführt.  Er  benützte  davon  die  erste  un* 
vollständige  Ausgabe  der  „Centuries"  von  1555  (Lyon 
Mace  Bonhomme),  die  äußerst  selten  ist,  ebenso  die 
erste  vollständige  Edition,  die  Pierre  Rigaud  von  1558 
bis  1566  in  Lyon  druckte.  Von  letzterer  befindet  sich 
ein  Exemplar  in  der  Pariser  Nationalbibliothek,  in 
der  die  beiden  ersten  Verse  des  Vierzeilers  am  Schluß 
der  Seite  144,  die  beiden  folgenden  am  Anfang  der 
Seite  145  in  Wortlaut  und  Schreibweise,  wie  wir  sie 
oben  gaben,  stehen. 

Da  es  nun  von  hohem  Wert  wäre,  zu  wissen, 
ob  diese  Ausgabe  wirklich  in  den  angeblichen  Er* 
scheinungsjahren  herauskam  und  es  sich  nicht  um 
eine  Fälschung  handelt,  die  später  zurückdatiert  wurde, 
wandte  sich  Dr.  Bormann  an  die  NationalbibHothek, 
von  der  er  folgende  Auskunft  erhielt: 


379 


„Quant    ä   ia   date    de   l'cntree  ä  la  liibliothcque 

des  ,Propheties  de  Nostradamus'  de  1566,  il  ne  m'est 

pas  possible  de  la  preciser.    Tout  ce  que  je  puis  vous 

dire,    c'est   que   le  vol.  est  depuis  longtemps  sur  nos 

rayons. 

Paris,  10.  Octobre  1908 

Paul  Marchai 

Conservateur  des  Imprimes.** 

Da  diese  Auskunft  insofern  unbefriedigend  war, 
als  „lange"  noch  nichts  Genügendes  sagt,  also  immer* 
hin  die  Möglichkeit  einer  Fälschung  nicht  völlig  von 
der  Hand  zu  weisen  wäre,  sahen  Bormann,  wie  auch 
der  Schreiber  dieses  die  Kölner  Ausgabe  von  1689 
an.  Ihr  Titel  —  ein  Exemplar  befindet  sich  auf  der 
Münchner  Hof^  und  Staatsbibliothek  —  lautet:  ,,Les 
Vrayes  Centuries  et  Propheties  de  Maistre  Michael 
Nostradamus,  oü  se  void  represente  tout  ce,  que  s'est 
passe  tant  en  France,  Espagne,  Italie,  Allemagne, 
Angleterre  qu'autres  parties  du  monde.  Reveues  et 
corrigees  suivant  les  Editions  imprimees  ä  Lyon  Tan 
1644  et  ä  Amsterdam  1668.  Avec  la  vie  de  L'Autheur 
ä  Cologne,  chez  Jean  Volcker,  Marchand  libraire 
l'an  1689." 

Da  diese  Kölner  Ausgabe  bereits  ein  volles  Jahrs* 
hundert  vor  den  in  Frage  kommenden  Ereignissen 
erschienen  ist  und  sich  auf  ältere  Editionen  beruft 
bzw.  sie  nachdruckt,  so  ist  jede  Fälschung  voll:« 
kommen   ausgeschlossen. 

Wir  sehen,  daß  selbst  die  vorsichtigste  Kritik 
dieses  erstaunliche  und  in  der  Geschichte  der  Prophet* 
zeiungen  wohl  ziemlich  vereinzelte  Faktum  anzu:* 
erkennen  gezwungen  ist. 


580 

Meinen  Nachforschungen  auf  der  Münchner  Hof* 
und  StaatsbibHothek,  die  von  Herrn  Oberbibliothekar 
Dr.  Leidinger  in  der  liebenswürdigsten  Weise  geför* 
dert  wurden,  gelang  es  nun,  noch  die  folgenden  Aus* 
gaben  aufzufinden  und  einzusehen^): 

1.  Mit  dem  Titel:  ,,Les  Propheties  de  M.  Michel 
Nostradamus.  Dont  il  y  en  a  trois  cents  qui  n'ont 
iamais  este  imprimes.  Adioustees  de  nouveau  par  ledit 
Autheur.    A  Lyon  chez  Andre  Olier,  en  rue  Tupin." 

Auf  dem  Titelblatt  befindet  sich  ein  Holzschnitt, 
Nostradamus  darstellend,  der,  wie  Dr.  Leidinger,  Biblio* 
thekar  Fr.  Freys  und  ich  feststellen  konnten,  dem 
ausgehenden  16.  Jahrhundert  angehört. 

Der  34.Quatrain  der  IX.  Centurie  ist  durch  Druck* 
fehler  zum  24.  geworden.  Daß  nur  ein  Druckfehler 
vorliegt,  ist  zweifellos,  weil  der  vorangehende  Quatrain 
als  33.,  der  folgende  als  35.  bezeichnet  ist.  Er  be* 
findet  sich  auf  der  135.  Seite  und  lautet  genau  so, 
wie  wir  den  Text  wiedergaben. 

2.  Eine  Ausgabe  vom  Jahre  1665,  zu  Lyon  er* 
schienen,  mit  genau  demselben  Titel  wie  die  vorige. 
Unser    34.    Qjaatrain    befindet    sich    auf    S.    135    und 

^)  Herr  Karl  Graf  Klinkowstroem  in  München  besitzt  eine 
Sammlung  von  10  Nostradamus? Ausgaben,  darunter  die  ersten. 
Demnächst  wird  in  der  Zeitschrift  für  Bücherfreunde  aus  der 
Feder  dieses  Gelehrten  eineNostradamus-Bibliographie  erscheinen. 
Für  die  mannigfachen  Förderungen  sei  ihm  an  dieser  Stelle  mein 
wärmster  Dank  ausgesprochen.  Nach  diesem  Kenner  ist  die  Aus= 
gäbe  von  Pierre  Rigaud  erst  zwischen  1605  und  1610  erschienen. 
Die  unvollständige  von  A.  du  Rosne  in  Lyon  schon  1557.  Bereits 
1605  tauchen  falsche  Quatrains  auf,  z.  B.  die  der  II.  und  12.  Gen 
turie.  Die  Ausgabe  von  Benoist  Rigaud  erschien  als  erste  voll» 
ständige   1568. 


I 


381 


lautet,  wie  bekannt,  mit  der  einzigen  Änderung,  daß 
„thuile"  mit  einem  1  geschrieben  ist,  daß  bei  ,,trahyr" 
das  vSchlui^^r  fehlt  und  daß  es  in  der  vierten  Zeile 
coüteaux  heißt,  also  mit  Akzent  cirkumflex. 

5.  Eine  Ausgabe  mit  folgendem  Titel:  ,,LesVrayes 
C^enturies  et  Propheties  de  Maistre  Michael  Nostra^ 
damus,  oü  se  void  represente  tout  ce  qui  s'est  passe, 
tant  en  France,  Espagne,  Italie,  Alemagne,  Angleterre, 
qu'autres  parties  du  monde.  Reveues  <S^  corrigees 
suyvant  les  premieres  Editions  imprimees  en  Avignon 
en  Tan  1556  et  ä  Lyon  en  l'an  1558.  Avec  la  vie  de 
l'Autheur.  Imprime  ä  Leyde,  chez  Pierre  Leffen, 
l'An  1650.'* 

Diese  Leydener  Ausgabe,  in  der  unser  34.  Quatrain 
der  IX.  Zenturie  auf  S.  136  steht,  hat  einige  kleine 
Abweichungen  vom  guten  alten  Text.  Hier  lauten 
die  Verse: 

La  part  sous  mary  sera  mitre. 

Retour  conflict  passera  sur  la  thuille: 

Par  cinq  cens  un  trahyr  sera  tiltre, 

Narbon   et  Sauice   par  coutaux  avous  d'huille." 

Die  Kölner  Ausgabe  endlich  von  1689,  in  der 
unser  Quatrain  sich  auf  S.  155  befindet,  schreibt  wie 
der  alte  Olier  mit  der  Abweichung,  daß  das  erste 
Wort  Lepart  heißt  und  später  ,,trahyt"  geschrieben  wird. 

In  Summa  sind  die  Abweichungen  also  außer:* 
ordentlich  minimal. 

Erwähnen  wir  nun  noch,  daß  diese  Bücher  im 
Jahre  1803  aus  den  säkularisierten  Klöstern  in  die 
Staatsbibliothek  kamen  und  daß  sie  handschriftliche 
Eintragungen   der  Eigentümernamen  in  den  charakte^ 


582 

ristischen  Zügen  früherer  Jahrhunderte  aufweisen,  dann 
muß  auch  der  größte  Skeptiker  zugeben,  daß  an  der 
Authentizität  der  Druckwerke  ein  Zweifel  unmöglich  ist. 

Wir  begnügen  uns  aber  keineswegs  mit  der  ein* 
wandfreien  Feststellung,  daß  die  genannten  Ausgaben 
vor  1791  erschienen,  sondern  legen  das  größte  Ge* 
wicht  auf  die  Konstatierung,  daß  wir  die  Original 
ausgäbe  benutzten  und  daß  alle  Quatrains,  auf  die 
wir  in  diesem  Kapitel  Bezug  nehmen,  bereits  in  ihr 
enthalten  sind. 

Daß  es  sich  bei  der  unter  1.  oben  genannten 
Ausgabe,  ebenso  bei  der  früher  zitierten  der  8.  bis 
10.  Centuries,  die  Baudraud  veranstaltete,  um  die 
Originale  handelt,  oder,  vorsichtiger  ausgedrückt, 
daß  diese  Ausgaben  ganz  zweifellos  aus  dem 
16.  Jahrhundert  stammen,  was  ja  für  uns  das 
Ausschlaggebende  ist,  geht  nicht  nur  aus  dem  Titeln 
blatt  hervor  —  das  ja  gefälscht  sein  könnte  —  es  ist 
auch  einwandfrei  feststellbar  an  den  Drucktypen, 
Papier,  Wasserzeichen  usw.  Das  bestätigten  mir  so 
hervorragende  Kenner  wie  die  Herren  Oberbibliothekar 
Dr.  Georg  Leidinger,  Vorstand  der  Handschriften* 
abteilung,  und  Bibliothekar  Dr.  Freys,  Herausgeber 
der  neuen  großen  Inkunabeledition.  Ich  legte  den 
Herren  das  dortige  Exemplar  vor,  ohne  zu  sagen, 
worauf  es  für  mich  ankäme,  um  ihr  Urteil  nicht  zu 
beeinflussen,  und  erhielt  die  Auskunft,  daß  es  sich 
zweifellos  um  einen  Druck  vor  1600  handelt. 

Damit  ist  jeder  Einwand  gegen  unser  Material 
widerlegt. 

Um  kurz  den  jetzigen  Stand  unserer  Beweis* 
Führung  zu  rekapitulieren:  Wir  bewiesen,  daß  Nostra* 


383 

damus  in  zahlreichen  Fällen  weltgeschichtliche  Ereig* 
nisse  vorhergesehen  hat.  Den  Einwand,  daß  sich 
schlieiMich  alles  einmal  ereignen  wird,  daß  wir  daher 
mit  der  Deutung  eines  Geschehnisses  auf  ein  bestimmtes 
Quatrain,  eine  Selbsttäuschung  begingen,  widerlegten 
wir  dadurch,  daß  wir  nachwiesen,  Nostradamus  habe 
sogar  die  Namen   der  handelnden  Personen  gekannt. 

Das  ist  so  ungeheuerlich  und  geradezu  unheim^: 
lieh,  daß  der  nächstliegende  Einwand  der  sein  wird, 
das  Material  sei  gefälscht,  es  handle  sich  gar  nicht 
um  Vorhersagen  des  Nostradamus,  sondern  um  Ein* 
schieb  sei.  Diesen  sehr  begreiflichen  Zweifel  brachten 
wir  zum  Schweigen  durch  Hinweis  auf  die  Original* 
ausgäbe  und  zahlreiche  andere,  die  sich  auf  den  Druck 
des  16.  Jahrhunderts  stützen  und  dabei  sämtlich  die 
einschlägigen  Quatrains  enthalten. 

Wenn  wir  jetzt  noch  die  Existenz  der  Prophetie 
bestreiten  wollen  —  den  Einwurf,  es  handle  sich  hier 
um  Berechnung,  wird  niemand  machen  —  so  bleibt 
nur  mehr  der  arme,  berühmte,  zu  Tode  gehetzte  Zufall. 

Gegen  ihn  holen  wir  nun  zum  vernichtenden 
Schlage  aus. 

Betrachten  wir  noch  einmal  den  18.  Quatrain  der 
IX.  Centurie:  Die  ersten  beiden  Zeilen  lassen  sich 
schwer  oder  gar  nicht  in  eine  Wahrscheinlichkeits* 
rechnung  einfangen;  wohl  aber  die  beiden  folgenden, 
wenigstens  teilweise. 

Dem  großen  Montmorency  wird  Gefängnis  und 
Tod  durch  die  Henkershand  des  Clerepeyne  vorher* 
gesagt.  Das  trat  1632  ein,  also  rund  80  Jahre  nach 
der  ersten  Veröffentlichung  der  Prophezeiungen. 

Für  diese  zweieinhalb  Generationen  kommen  nun 


384 


1 


acht  Montmorency  in  Frage,  da  die  Familie  in  diesem 
Zeitraum  nicht  mehr  männliche  Mitglieder  hatte  ^). 
Von  diesen  aber  genau  genommen  auch  nur  Hein* 
rieh  IL,  da  er  damals  der  einzige  war,  der  mit  einigem 
Recht  den  Beinamen  „der  Große*'  führt.  Da  das 
damalige  Frankreich  etwa  20  Millionen  Einwohner 
zählte,  in  zweieinhalb  Generationen  also  50  Millionen, 
erhielten  wir  als  Dividend  diese  Zahl.  Um  aber 
auch  den  Anschein,  wir  rechneten  zu  günstig,  zu 
vermeiden,  wollen  wir  diese  Zahl  durch  10  dividieren. 
Denn  es  ist  ja  immerhin  möglich,  daß  wir  nicht  alle 
männliche  Sprossen  gefunden  haben,  sowie  die  Hälfte, 
weil  weiblich,  abziehen. 

Die  so  gewonnene  Zahl  2^1^  Millionen  müssen  wir 
mit  der,  der  im  Jahre  1632  existierenden  Clerepeyne 
multiplizieren.  Dieser  Name  ist  außerordentlich  selten. 
Wenn  wir  daher  annehmen,  daß  es  damals  in  Frank* 
reich  fünf  gab^),  die  so  hießen  und  alles  Männer 
waren,  die  als  Soldaten  oder  Henker  in  der  Lage 
waren  eine  Exekution  auszuführen  —  was  sicherlich 
niemand  glauben  wird  —  so  müssen  wir  die  Ein* 
wohnerzahl  von  20  Millionen  durch  5  dividieren  und 
erhalten  dann,  nach  Abzug  der  weiblichen,  2000000. 


^)  Soviel  stellte  ich  bei  M.  Desormeaux,  Histoire  de  la 
maison  de  Montmorency,  Paris  1764,  3.  Bd.,  fest.  Eines  dieser 
männlichen  Mitglieder  starb  bereits  in  der  Wiege. 

'^)  Im  Adreßbuch  von  Paris,  von  dem  mein  Freund  Herr 
Konsul  A.  Schillingcr  mehrere  Jahrgänge  einsah,  kommt  der  Name 
Clerepeyne,  Clairepcyne,  Clairpeyn  usw.  usw.  überhaupt  nicht 
vor.  Ebenso  der  Name  Sauice,  Sauce,  Sause,  Salce,  Sosse  oder  Soce 
mit  allen  möglichen  Varianten  nur  einmal  im  Adrel^buch  18S9  in 
der  Form  Sausse,  in  der  Person  eines  Gewürzkrämers  und  einer 
Versicherungsgesellschaft.     1911    gibt   es  einen  Schreiner  Saucet. 


385 

Jetzt  können  wir  folgende  Wahrscheinlichkeits* 
rechnung  aufstellen: 

Die  Wahrscheinlichkeit,  daß  Nostradamus  die  Na* 
menMontmorencyundClerepcyne  durchglücklichen  Zu* 
Fall  richtig  erriet,  ist  gleich  l:2'/2  Millionen  mal  2000000 
also  =  1  :  5000  Milliarden,  eine  vierzehnzeilige  Zahl! 

Dabei  lassen  wir  alle  Nebenumstände,  das  neue 
Gefängnis,  die  ungewohnte  Stätte  usw.  usw.  völlig 
außer  acht,  ganz  davon  zu  schweigen,  daß  die  erste 
Hälfte  dieses  Quatrain  die  wunderbarsten  gleichzeitig 
eingetroffenenen  Voraussagen  enthielt. 

Anders  ausgedrückt:  wer  immer  noch  glaubt, 
daß  Nostradamus  durch  Zufall  die  Namen  richtig  er* 
mittelte,  muß  sich  klar  machen,  daß  er  eins  gegen 
5000  Milliarden  Wahrscheinlichkeiten  wettet. 

Um  das  an  einem  Beispiel  klar  zu  machen: 

Die  Wahrscheinlichkeit,  daß  Nostradamus  zu* 
fällig  die  beiden  Namen  erriet,  ist  etwa  um  20  Millionen 
mal  kleiner  als  die,  daß  jemand  auf  der  Fahrt  von 
Berlin  nach  München  tödlich  verunglückt! 

Rechnen  wir  also  hier  mit  dem  Zufall,  dann  müssen 
wir  selbstverständlich  alle  unsere  Fahrpläne  abschaffen, 
die  Post  hat  ihren  Betrieb  einzustellen  usw.  usw.,  weil 
es  hier  stets  die  Zahl  der  günstigen  Fälle  um  das 
Vielmillionenfache  unwahrscheinlicher  ist,  als  im  Falle 
Montmorency*Clerepeyne. 

Noch  grandioser  wird  die  Rechnung  beim  34.  Qua* 
train  der  IX.  Centurie. 

Zwischen  dem  Erscheinungsdatum  der  Prophe* 
zeiungen  und  dem  Eintritt  des  Ereignisses  1791  liegen 
2^/4  Jahrhunderte  oder  rund  7  Generationen.  Damals 
hatte    Frankreich    eine    ungefähre    Bevölkerung   von 

Kemmerich,   Prophezeiungen  25 


586 

30  Millionen  oder,  des  leichteren  Rechnens  wegen, 
von  28  Millionen.  Wenn  wir  diese  Zahl  nun  durch 
die  7  überhaupt  in  Frage  kommenden  Generationen 
der  Grafen  Narbon  dividieren,  erhalten  wir  als  Koeffi* 
zienten  die  Zahl  4  Millionen,  von  denen  die  Hälfte 
als  weibliche  Personen  ausscheidet.  Dabei  ist  bemerkens* 
wert,  daß  m.  W.  die  Familie  zur  Zeit  des  Nostra^ 
damus  noch  gar  nicht  existierte. 

Das  heißt  mit  anderen  Worten :  Das  Nostradamus 
gerade  auf  den  Namen  Narbon  verfiel,  statt  einen 
anderen  zu  wählen  ist  —  als  Zufall  betrachtet  —  eben 
so  groß,  wie  der  aus  2  Millionen  Losen,  den  Haupt* 
treffer  bei  einmaligem  Wählen  zu  finden. 

Waren  wir  über  die  Zeit  und  demgemäß  auch 
über  die  Generation,  der  Narbon  angehörte,  im  un* 
gewissen,  so  ist  so  viel  sicher,  daß  Sausse  sein  Zeit=* 
genösse  ist.  Wieviele  Sausse  es  damals  in  Frankreich 
war,  entzieht  sich  natürlich  meiner  Kenntnis.  Aber 
so  viel  ist  sicher,  daß  der  Name  äußerst  selten  ist. 
Nehmen  wir  nun  an,  daß  es  5  Sausse  damals  ge^ 
geben  habe,  die  alle  —  also  exorbitant  hoch  gegriflFen  — 
Krämer  waren,  ja,  sogar  schon  seit  Generationen! 
dann  erhalten  wir  folgende  Rechnung: 

Die  Einwohnerschaft  von  30  Millionen  dividiert 
durch  5  ergibt  als  Koeffizienten  6  Millionen,  wovon 
die  Hälfte  als  weiblich  ausscheidet. 

Diesen  müssen  wir  mit  den  vorher  gewonnenen 
multiplizieren,  um  die  Wahrscheinlichkeit  von  6000 
Milliarden  zu  erreichen. 

Aber  das  ist  keineswegs  alles,  selbst  wenn  wir 
von  den  geschichtlichen  Vorgängen,  die  zahlenmäßig 
nicht  faßbar  sind,  absehen.    „Thuille"  Tuillerien,  gab 


i! 


387 

es  nur  einmal.  Demnach  müssen  wir  die  Zahl  von 
6000  Milliarden  mit  der  aller  damals  in  Frankreich 
befindlichen  Gebäude,  oder  doch  zum  mindesten  aller 
Schlösser  —  denn  jedes  hätte  Schauplatz  des  Kampfes 
sein  können  —  multiplizieren.  Nehmen  wir  nur  an, 
das  damalige  Frankreich  habe  10000  Schlösser  be* 
sessen,  was  annähernd  richtig  sein  dürfte,  dann  ge^ 
langen  wir  zu  folgender  Rechnung: 

Die  Wahrscheinlichkeit  die  Namen  und  den  Schau* 

platz  derTuilerien  zu  erraten  =  ioooo.6000.000,ÖOÖ.ÖOO- 
Berücksichtigen  wir  den  übrigen  Inhalt  des  Quatrain,     1 
das  mitre,  ein  Fall,  der  in  der  Geschichte  ohne  Ana* 
logen  ist  usw.  usw.,  so  werden  wir  sagen  können 

w  =  ~  -  0. 

00 

Wenn  also  das  früher  angeführte  Beispiel 
der  Münzen  richtig  ist,  dann  haben  wir  hier 
streng  mathematisch  den  Beweis  erbracht,  daß 
Zufall  praktisch  unmöglich  ist  und  Nostra- 
damus  ein  echter  Prophet  war,  ausgerüstet  mit 
der  Gabe  des  zeitlichen  Fernsehens. 

Nicht  um  weiteres  Beweismaterial  anzuführen, 
was  nach  Vorstehendem  ganz  überflüssig  wäre,  sondern 
lediglich  des  historischen  Interesses  wegen,  wollen 
wir  noch  einige  Quatrains  mitteilen. 

Geradezu  unheimlich  in  seiner  Fülle  grausiger 
Gesichte  ist  der  20.  Quatrain  der  IX.  Centurie: 

,,De  nuict  viendra  par  la  forest  de  Reines 
Deux  pars,  vaultorte,  Herne  la  pierre  blanche, 
Le  moyne  noir  en  gris  dedans  Varennes: 
Esleu  Gap.  cause  tempeste,  feu,  sang,  tranche. 

25* 


588 

Des  Nachts  werden   kommen   durch    die    Pforte 
der  Königin  (forest  =  lateinisch  fores,  Pforte) 
Zwei  Ehegatten  (pars  =  epoux),    Irrweg  (vaul^« 
torte  romanisch,  zusammengesetzt  aus  vaulx  = 
vallee  und  de  torte  =  tortueuse),  die  Königin 
(Herne  ist  Anagramm  von  reine  mit  Ersetzung 
des  i  durch  h),  der  weiße  (Edel)stein, 
Der  verlassene  (moyne,  griechich  aus  monos,  allein) 
König  (noir   ist  Anagramm   von    roi    mit    Zu«: 
fügung  des  n)  in  grau  (gekleidet).    Sie  (werden) 
in  Varennes  (ankommen) 
Die  Wahl    des    Kapetingers  (Cap.  =  Capet)  ist 
Ursache  des  Sturmes,  Feuer,  Blut,  Hackmesser 
(tranche  ist  romanisch).'* 
Der    Kommentar,    den   ja    der    Leser   im    Geiste 
selbst  geben  wird,   läßt   jedes  Wort    als    zutreffend 
gewählt  erkennen. 

König  Ludwig  XVI.  und  die  königliche  Familie 
verließen  in  der  Nacht  vom  20.  zum  21.  Juni  1791 
die  Tuilerien  durch  eine  Geheimtüre  des  Appartement 
der  Königin.  Die  Gazette  nationale  (Moniteur  Uni* 
versel)  vom  14.  Juli  1791  erzählt  dieses  Detail.  Diese 
Flucht,  die  in  Varennes  endete,  war  bekanntlich  ein 
„Irrweg**,  denn  die  königliche  Familie  wurde  gefangen 
genommen  und  nach  Paris  zurück  geführt.  Hätte  der 
König,  wie  er  vor  hatte,  die  Strafte  nach  Verdun  ein* 
geschlagen,  statt  nach  links  (Varennes)  abzubiegen, 
wäre  der  Ausgang  vielleicht  glücklicher  gewesen. 
Marie  Antoinette  trug  ein  weifks  Kleid  (pierre  blanche), 
während  derKönig  grau (gris) angezogen  war.  Übrigens 
könnte  das  „blanche**  auch  eine  Anspielung  darauf 
sein,    daß    die    Königin,    wie   Mme.  Campan    erzählt 


i 


389 


(II,  p.  150),  in  der  einen  Nacht  der  ünglücksflucht 
weiße  Maare  bekommen  hatte  und  plötzlich  wie  eine 
Siebzigjährige  aussah.  Sie  hatte  einen  Ring  für  die 
Prinzessin  Lamballe  machen  lassen,  in  den  einige 
weiße  Haare  eingeschlossen  waren.  Er  trug  die  Auf* 
schritt:    blanchis  par  le  malheur. 

Der  letzte  Vers  ist  noch  besonders  inhaltreich. 
Die  Wahl  des  Kapetingers,  d.  h.  die  Verwandlung 
der  absoluten  französischen  Monarchie  in  eine  Kon? 
stitutionelle,  wie  sie  die  Nationalversammlung  am 
21.  Juni  1791  und  besonders  am  1.  September  des 
gleichen  Jahres  vorgenommen  hatte,  war  in  gewisser 
Beziehung  sicherlich  die  Ursache  der  folgenden  Greuel. 
Ein  eiserner,  absoluter  Monarch,  der  von  seiner  Ges: 
walt  umfassenden  Gebrauch  gemacht  hätte  —  was  die 
Beseitigung  vieler  Mißstände  ja  keineswegs  aus? 
geschlossen  hätte  —  würde  jedenfalls  der  Revolution 
in  ihren  Anfängen  noch  Herr  geworden  sein.  Das 
letzte  Wort  des  Quatrain,  Hackmesser  oder  Fallbeil 
war  bekanntlich  auch  das  Ende  des  großen  Dramas^). 

Recht  merkwürdig  ist  auch  folgender  Quatrain 
(II.  Centurie,  Nr.  93),  den  Le  Pelletier  noch  nicht 
ganz  richtig  deuten  konnte,  weil  er  1867  noch  nicht 
in  Erfüllung  gegangen  war: 

„Bien  pres  du  Tymbre  presse  la  Lybitine, 
Un  peu  devant  grand  inondation: 
Le  chef  du  nef  prins,  mis  ä  la  sentine, 
Chasteau,  palais  en  conflagration." 
Sehr  nach  dem  Tiber  (Tymbre  =  Tiber)  herrscht 
der  Tod  (Lybitine  =  Libitina,  Todesgöttin), 

')  Vgl.  Le  Pelletier,  I.,  p.  174ff. 


590 

Etwas  vorher  große  Überschwemmung: 
Das  Haupt  des  Schiffes  (nef  =  naire,  das  Schiffe 
lein  Petri)  gefangen ,  gesetzt  auf  den  Grund  des 
SchiflFes(wo  man  die  Gefangenen  unterbrachte!) 
In  ein  Schloß,  der  Palast  in  Umwälzung^).*' 

Bekanntlich  eroberten  die  Italiener,  nachdem  sie 
in  die  Porta  Pia  Bresche  geschossen  hatten,  am 
20.  September  1870  Rom  und  beseitigten  die  weit* 
liehe  Herrschaft  des  Papstes.  Was  die  Tiberüber^ 
schwemmung  betrifft,  die  im  gleichen  Jahre  große 
Verwüstungen  anrichtete,  so  fiel  sie  allerdings  auf 
den  10.  und  28.  Dezember,  also  kurz  nach  und  nicht, 
wie  Nostradamus  angibt,  kurz  vor  dem  politischen 
Ereignis  von  welthistorischer  Bedeutung.  Er  hat  sich 
hier  also  in  einem  unwesentlichen  Punkte  geirrt '0. 

Bekannt  ist  die  Fabel  von  der  Gefangenschaft 
des  Papstes  im  Vatikan.  Daß  aber  diese  Fiktion  bis 
zur  Stunde  von  päpstlicher  Seite  aufrecht  erhalten 
wird,  gibt  dem  Seher  recht. 

Der  100.  Quatrain  der  X.  Centurie  lautet: 

„Le  grand  empire  sera  par  Angleterre 
Le  pempotam  des  ans  plus  de  trois  cens: 
Grandes  copies  passer  par  mer  et  terre, 
Les  Lusitains  n'en  seront  pas  contens." 

Zu  deutsch:  Das  große  Reich  England  wird  all* 
mächtig  (pempotam,  zusammengesetzt  aus  dem  Grie* 
chischen  und  Lateinischen  =  7tag  und  potens)  sein 
mehr  als  drei  Jahrhunderte. 

»)  Le  Pelletier.   I..  p.  305. 

^)  Vgl.  Ferdinand  Grcgorovius,  Wanderjahre  in  Italien, 
2.  Bd.    7.  AuH.,  S.  185. 


391 

Große  Hccrc  (copies^copia,  Truppen  lateinisch) 
werden  zu  Wasser  und  zu  Lande  kommen. 

Die  Spanier  (Lateinisch  Lusitani)  werden  darüber 
nicht  erfreut  sein^-'* 

Berücksichtigt  man,  daß  England,  als  Nostradamus 
dies  schrieb,  noch  klein  und  unbedeutend  war,  —  hat 
ja  Elisabeth  erst  die  Flotte  geschaffen  —  während 
Spanien  die  Weltherrschaft  besaß,  um  mit  dem  Unter* 
gang  der  großen  Armada  1588  eine  Wunde  zu  emp*: 
fangen,  die  nie  mehr  ganz  verheilen  sollte,  dann  wird 
man  nicht  umhin  können  neuerdings  zu  staunen. 
Wann  die  3  Jahrhunderte  abgelaufen  sind,  läßt  sich 
nicht  gut  voraussagen.  Da  von  Englands  Weltherr*! 
Schaft  erst  nach  dem  Niederringen  der  Niederlande, 
also  seit  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  gesprochen 
werden  kann,  würde  ihm  noch  fast  ein  halbes  Jährst 
hundert  gegeben  sein. 

Napoleon  I.  und  seinen  Hof  zum  Gegenstand 
hat  der  60.  Quatrain  der  I.  Centurie: 

Un  Empereur  naistra  pres  dTtalie, 

Qui  ä  l'Empire  sera  vendu  bien  eher: 

Diront  avec  quels  gens  il  se  ralie, 

Qu'on  trouvera  moins  prince  que  boucher^). 

Ein  Kaiser  wird  in  Italiens  Nähe  (Korsika!)  ge:* 
boren  werden,  der  seinem  Reiche  teuer  zu  stehen 
kommen  wird. 

Von  den  Leuten,  mit  denen  er  sich  verbinden 
wird  (die  seinen  Hof  bilden  werden),  wird  man  sagen, 
daß  man  dort  weniger  Prinzen,  als  Metzger  finden  wird. 

^)  Le  Pelletier,  I.  p.   143 f. 
«)  Le  Pelletier,  I.  p.  168. 


592 

Ein  Kommentar  erübrigt  sich! 

Nun  wird  man  noch  sagen  können,  daß  zwar 
Namen  und  Ereignisse  bei  Nostradamus  wunderbar 
stimmen,  daß  aber  etwas  sehr  Wichtiges,  nämlich  die 
Angabe  der  Jahreszahl,  fehle.  Dieser  Einwurf  ist 
um  so  berechtigter,  als  es  sich  ja  um  astrologische  Be* 
rechnung  handeln  soll.  Hier  aber  doch  die  Zahl 
leichter  zu  finden  sein  sollte,  als  etwa  der  Name. 
Ja,  aus  dem  Fehlen  der  Zahlenangabe  könnte  man 
zur  Folgerung  verleitet  werden,  daß  es  sich  gar  nicht 
um  Berechnung,  sondern  um  Hellsehen  handelt,  was 
ja  teilweise,  nach  des  Sehers  eigener  Angabe, 
richtig  ist. 

Nostradamus  hat  selbst  die  Jahre  der  Ereignisse 
berechnet,  und  zwar  bis  zum  Schluß  des  angeblich 
ersten  Geschichtsweltzeitalters  im  Jahre  3797  n.  Chr. 
Was  es  mit  diesem  Schluß  für  eine  Bewandtnis  hat, 
können  wir  ruhig  dahingestellt  sein  lassen  bzw.  der 
Zukunft  überantworten. 

Die  Daten  teilt  Nostradamus  nicht  mit  bis  auf 
zwei.  Bevor  wir  sie  untersuchen,  seien  erst  noch  einige 
weniger  klar  ausgesprochene  Zahlenangaben  mitgeteilt. 

So  bestimmt  er  die  Regierungszeit  des  großen 
Napoleon  ganz  richtig  auf  14  Jahre  (vom  19.  No* 
vember  1799  bis  zum  13.  April  1814).  Der  Quatrain 
ist  der  13.  der  VII.  Centurie  und  lautet: 

De  la  cite  marine  et  tributaire 
La  teste  raze  prendra  la  satrapie: 
Chasser  sordide  qui  puis  sera  contraire, 
Par  quatorze  ans  tiendra  la  tyrannie. 

Zu  deutsch:    Der  Mann  mit  den  kurzen   Haaren 


393 

(so  wird  Napoleon  wiederholt  bei  Nostradamus  genannt 
im  Gegensatz  zu  den  französischen  Königen,  die  lange 
Haare  trugen,  und  weil  er  sich  auch  bekanntlich  sein 
langes  Haar  schneiden  ließ  zum  Zeichen  der  Be* 
endigung  der  Revolutionszeit)  wird  die  Gewalt  (la 
satrapie)  in  der  Seestadt  (Toulon,  das  cite  marine 
auch  in  Cent.  VIII,  Quatrain  17  genannt  wird),  die 
tributpflichtig  ist  bzw.  war  (nämlich  den  Engländern), 
an  sich  reißen. 

Er  wird  die  Gemeinheit  vertreiben  (wohl  das 
Direktoire),  die  ihm  von  da  ab  (puis  =  depuis)  feinde 
lieh  sein  wird;  vierzehn  Jahre  lang  wird  er  die 
Tyrannis  ausüben^). 

Daß  die  Tatsachen  richtig  sind,  wird  niemand 
leugnen.  Aber  wie  erklärt  es  sich,  daß  auch  die 
Jahre  stimmen?    Zufall?! 

Für  irgendeinen  Zweifler  an  der  Identität  der 
Tete  rasee  mit  Napoleon  wollen  wir  aus  den  diversen 
Quatrains,  die  aus  dem  Leben  des  großen  Korsen 
berichten,  noch  einen  herausgreifen.  Es  ist  der  88. 
der  I.  Centurie  und  lautet"): 

Le  divin  mal  surprendra  le  grand  Prince, 
Un  peu  devant  aura  femme  espousee: 
Son  appuy  et  credit  ä  un  coup  viendra  mince, 
Conseil  mourra  pour  la  teste  rasee. 

Es  handelt  sich  natürlich  um  die  am  15.  Dezem* 
ber  1809  vollzogene  Scheidung  von  Josephine  Beau=s 
harnais  bzw.  die  Wiederverheiratung  mit  Marie  Luise. 
Wir  übersetzen: 


1)  Le  Pelletier,  I,  p.  213. 
«)  Le  Pelletier,  I,  p.  216. 


594 

„Der  göttliche  Zorn  wird  den  großen  Fürsten 
schlagen, 

Etwas  vorher  hat  er  eine  Gemahlin  genommen 
(zu  lesen  ist:  le  grand  prince  aura  espouse 
femme  un  peu  devant  que  le  mal  divin  le 
surprenne), 

Seine  Macht  und  Ansehen  werden  plötzlich 
schwinden 

Und  die  Klugheit  (das  Genie)  wird  ersterben 
beim  kurzhaarigen  Kopf." 

Wer  sich  an  die  bald  nach  der  Verheiratung  mit 
Marie  Luise  von  Österreich  eintretenden  Katastrophen, 
den  russischen  Feldzug  usw.  erinnert,  wird  die  Rieh* 
tigkeit  auch  dieses  Quatrain  nicht  bestreiten. 

Der  hartnäckige  Zweifler  möge  im  Index  der 
großen  Ausgabe  von  Le  Pelletier  die  auf  die  tete 
rasee  bezüglichen  Quatrains  nachschlagen. 

Doch  gehen  wir  zu  weiteren  Zeitangaben  über, 
nicht  ohne  vorauszuschicken,  daß  Nostradamus  die 
Jahre,  in  welchen  seine  Vorhersagen  in  Erfüllung 
gehen  sollten,  zu  kennen  behauptet  und  absichtlich 
verschweigt.     Das  bemerkt  er  einmal  ausdrücklich. 

Nun  kann  es  niemand  verwehrt  werden,  daran 
zu  zweifeln,  wenn  es  nicht  gelingen  sollte,  wenigstens 
durch  Stichproben  zu  beweisen,  daß  der  Seher  seine 
Fähigkeit  nicht  höher  veranschlug,  als  sie  es  verdiente. 

Außer  Perioden,  wie  oben  bei  Napoleon,  die 
sich  häufiger  finden,  sind  mir  aus  Nostradamus  drei 
positive  Zeitangaben  bekannt.  Die  erste  finden  wir 
in  einem  der  X.  Centurie  angehängten  Qiiatrain  der 
Ausgabe  von  1605. 


395 


Quanti  le  fourchu  sera  soustenu  de  deux  paux, 
Avec  six  demi:*corps,  et  six  sizcaux  ouvers, 
Le  tres  puissant  Seigneur,  heriticr  des  crapaux, 
Alors  subjuguera  sous  soy  tout  l'univers. 
Zu  deutsch: 
Wenn  die  Gabel  unterstützt  sein  wird  von  zwei 

Pfählen  (paux  ist  Plural  von  pal  =  pieu) 
Mit  sechs  Halb^Hörnern  (corps  ist  Schreibfehler 

statt  cors)  und  sechs  offenen  Scheren, 
Dann  wird  der  sehr  mächtige  Herr,  Erbe  der 

Kröten, 
Sich  unterwerfen  das  ganze  Reich." 

Das  ist  heller  Blödsinn.  Daran  ist  auf  den  ersten 
Blick  nicht  zu  zweifeln.  Bei  einigem  Nachdenken 
werden  wir  aber  finden,  daß  die  ersten  beiden  Zeilen 
notwendig  eine  Zeitangabe  enthalten  müssen.  Und 
das  ist  auch  tatsächlich  der  Fall. 

Le  Pelletier  0  löst  in  folgender  absolut  über* 
zeugender  Weise  auf: 

Der  Buchstabe  V  kann  sehr  wohl  als  Gabel  bes» 
zeichnet  werden.  Dann  entsteht,  wenn  wir  in  der 
Bildersprache  fortfahren,  durch  Unterstützung  des  V 
mit  je  einem  Pfahl  an  der  Seite  der  Buchstabe  M. 
Der  Zahlenwert  dieses  lateinischen  M   ist  aber  1000. 

Ein  Halb^Horn,  d.  h.  die  Hälfte  eines  Jagdhornes, 
bildet  ein  C,  dessen  Zahlenwert  100  entspricht. 

Ein  Paar  geöffnete  Scheren  bildet  ein  X  mit 
dem  Zahlenwert  zehn.  Dann  erhalten  wir  ein  M, 
sechs  C  und  sechs  X  zusammen  schreibend,  also 
MCCCCCCXXXXXX  die  Jahreszahl  1660. 

0  I.  p.  118f. 


596 

Die  Kröte  war  das  Wappentier  der  ersten  Mero* 
winger,  das  erst  unter  den  späteren  durch  die  Lilie 
ersetzt  wurde.  Es  handelt  sich  also  um  einen  König 
von  Frankreich,  und  zwar  um  einen  sehr  mächtigen, 
nämlich  Ludwig  XIV. 

Dann  aber  heißt  die  Prophezeiung:  Im  Jahre  1660 
wird  der  sehr  mächtige  Herrscher,  Erbe  des  mero* 
wingischen  Wappens,  unter  sein  persönliches  Regi* 
ment  sein  ganzes  Reich  bringen^). 

Und  diese  Prophezeiung  stimmt.  Denn  nach 
dem  Tode  des  allmächtigen  Kardinals  Mazarin,  am 
9.  März  1661,  ergriff  tatsächlich  der  Sonnenkönig  die 
Zügel  der  Regierung  mit  jener  Energie,  die  ihn  in 
der  Geschichte  als  Prototyp  des  absoluten  Monarchen 
fortleben  läßt. 

Aber  —  wird  man  einwerfen  können  —  das  ist 
ja  alles  sehr  geistreich,  doch  müssen  wir  es  so  lange 
für  Konstruktion  halten,  bis  nicht  aus  ganz  klar  und 
eindeutig  ausgesprochenen  Zahlenangaben  mit  zwingen* 
der  Gewalt  hervorgeht,  daß  Nostradamus  tatsächlich 


^)  Wer  uns  etwa  vorwirft,  die  Deutung  dieses  Verses  sei 
gekünstelt,  möge  sich  der  in  der  Vergangenheit  so  beliebten 
Chronogramme  erinnern.  Beispiele  hierfür  sind  etwa:  LVtetIa 
Mater  natos  sVos  DeVoraVIt,  d.  h.  die  Mutter  Paris  verschlang 
ihre  eigenen  Kinder.  Es  handelt  sich  um  die  Pariser  Bluthoch* 
zeit  im  Jahre  1572.  Diese  Jahreszahl  ist  im  Text  enthalten: 
M  =  1000.  D  =  500,  L  =  50,  vier  V  =  20  und  zwei  I  =  2.  Als 
weiteres  Beispiel  mag  das  Distichon  auf  den  Hubertusburger 
Frieden  angeführt  sein: 

Aspcra  beLLa  sILcnt:    rcDIlt  bona  gratia  paCIs. 
O  sl  parta  foret  seMper  In  orbe  qVIes! 

Zählen  wir  nach  dem  oben  angegebenen  Vorgang  die  Zahl* 
zeichen  zusammen,  so  erhalten  wir  das  Jahr  1763. 


397 


Über  die  Zeit  der  Realisierung  seiner  Prophezeiungen 
informiert  war.  Erst  wenn  wir  das  wissen,  geben  wir 
auch  zu,  daß  dieser  Quatrain  nur  absichtlich  dunkel 
gehalten  ist.  Und  zwar  von  einer  Dunkelheit,  die 
sein  Verständnis  vor  seiner  Erfüllung  geradezu  zur 
Unmöglichkeit  macht. 

Glücklicherweise  sind  wir  in  der  Lage,  auch 
diesen  Beweis  mit  unbedingter  Logik  führen  zu  können. 

Wie  schon  gesagt,  wollte  Nostradamus  möglichst 
dunkel  sein  und  warf  deshalb  seine  Quatrains,  um  ja 
keine  chronologische  Handhabe  zu  bieten,  kunterbunt 
durcheinander.  Nur  ein  einziges  Mal  machte  er  eine 
Ausnahme:  Im  Briefe  an  König  Heinrich  IL,  den  er 
als  Widmung  der  zweiten  Sammlung  seiner  Centuries 
vorausschickt  und  vom  27.  Juni   1558  datiert. 

Hier  finden  wir  neben  einer  Zusammenstellung 
der  wichtigsten  und  sensationellsten  Ereignisse  auch 
die  beiden  Zahlenangaben.  Der  89.  der  kurzen  Ab* 
schnitte  —  im  ganzen  sind  es  118  —  lautet: 

„.  .  .  et  sera  le  commencement  comprenant  ce  de 
ce  que  durera  et  comen^ant  icelle  annee  sera  faicte 
plus  grande  persecution  ä  l'Eglise  Chrestienne, 
que  n'a  este  faicte  en  Afrique,  et  durera  ceste^icy 
iusques,  ä  Tan  mil  sept  cens  nonante  deux  que  l'ö 
cuydera  estre  une  renouation  de  siecle^)." 

„Und  dann  wird  der  Anfang  sein,  versteht  sich 
von  dem,  was  dauern  wird,  und  in  diesem  Jahre  wird 
beginnend  eine  größere  Verfolgung  der  christlichen 
Kirche  stattfinden,  wie  die  in  Afrika  war,  und  ebenso 
lange  dauern;  im  gleichen  Jahre  1792  wird  man 
glauben,  eine  neue  Zeitrechnung  einzuführen.** 

0  Le  Pelletier,  II.  Bd.,  p.  157. 


398 

Hier  haben  wir  also  zwei  datierte  Ereignisse  von 
welthistorischer  Bedeutung,  und  beide  Datierungen 
sind  richtig! 

Der  neue  Kalender  der  Republik,  durch  Dekret 
des  Nationalkonventes  vom  5.  Oktober  1793  eins= 
geführt,  begann  seine  Zeitrechnung  mit  der  Herbst^* 
nachtgleiche  22.  September    17  92    um  Mitternacht^). 

Bekanntlich  ist  in  den  christlichen  Staaten  seit 
den  anderthalb  Jahrtausenden  unserer  Zeitrechnung 
niemals  der  Versuch  gemacht  worden,  den  Kalender 
bzw.  die  Zeitrechnung  zu  ändern.  Die  Kalender* 
korrektur  Gregors  gehört  nicht  hierher,  da  sie  ja  an 
der  christlichen  Rechnung  festhält  und  nur  aus  prak* 
tischen  Gründen,  um  den  Kalender  wieder  mit  seiner 
astronomischen  Grundlage  in  Harmonie  zu  bringen, 
die  julianische  Rechnung  verbessert. 

Was  nun  den  „Glauben"  betrifft,  eine  neue  Zeit* 
rechnung  einzuführen,  so  war  der  Ausdruck  nur  zu 
berechtigt.  Denn  die  Herrlichkeit  des  revolutionären 
Kalenders  war  von  erschreckend  kurzer  Dauer.  Schon 
im  Jahre  1804  beseitigte  ihn  Napoleon,  um  der  christ* 
liehen  Rechnung  wieder  die  offizielle  Geltung  zu  ver= 
schaffen. 

Auch  die  große  Kirchenverfolgung,  deren  Aus* 
druck  ja  die  Abschaffung  der  christlichen  Zeitrech* 
nung  war,  ist  historisch.  Bekanntlich  war  die 
Revolution  gegen  den  Klerus  nicht  weniger  ge* 
richtet,  wie  gegen  den  Adel.  Man  konfiszierte  im 
Jahre  1789  den  Kirchenbesitz  —  man  schätzte  3  Mil* 
liardenl  —   und  zwang,   allerdings  mit  sehr  geringem 

')  Vgl.  W.  Bormann,  „Norncn",  S.  257 f..  und  A.  Knicpf. 
Psychische  Studien.  36.  Bd.,  1909.  S.  278  f. 


399 


Erfolge,  den  Klerus,  den  Bürgereid  zu  leisten.  Wer 
ihn  nicht  leisten  wollte  —  so  wurde  am  26.  Januar 
1791  bestimmt  —  hatte  auf  sein  Amt  zu  verzichten. 
Nicht  genug  damit,  wurde  das  Christentum  ganz  ab^ 
geschafft  und  dafür  der  alberne  Kultus  der  Göttin 
der  Vernunft  eingeführt,  als  ob  die  Religion  ein 
Verstandes:«  und  nicht  ein  Gemütsbedürfnis  sei.  Da* 
mals  —  es  war  im  Jahre  1793  —  hatte  man  in  der 
Kirche  Notre  Dame  in  Paris  einen  Tempel  der  Philo* 
Sophie  errichtet  und  irgendeine  griechisch  kostümierte 
Operndiva  agierte  dort  in  der  Rolle  der  Göttin  der 
Vernunft.  Manche  trugen  sich  mit  dem  Gedanken, 
die  Kirchtürme  niederzulegen.  Daß  der  Kalender 
aus  Haß  gegen  das  Christentum  geändert  wurde  und 
nicht  etwa  aus  praktischen  Gründen,  ist  wohl  auch 
erwähnenswert. 

Das  alles  geschah  1793.  Am  7.  November  dieses 
Jahres  erschien  der  konstitutionelle  Bischof  Gobel 
mit  einer  Anzahl  Geistlicher  vor  dem  Konvent,  und 
entsagte  feierlich  seinem  Amt,  weil  es  keinen  anderen 
Kultus  als  den  der  Freiheit  und  Gleichheit  geben 
könne.  Übrigens  war  der  Kultus  der  Vernunft  niemals 
Staatsreligion. 

Wenn  also  auch  der  Höhepunkt  des  Kampfes 
erst  ins  Jahr  1793  fällt,  so  ist  die  Prophezeiung  des 
Nostradamus  doch  vollkommen  richtig,  denn  die 
Feindseligkeiten  gegen  die  Kirche  dauerten  ja  mehrere 
Jahre. 

Daß  die  Verfolgung  länger  dauern  werde  wie  in 
Afrika,  womit  nur  die  Unterdrückung  der  orthodoxen 
Kirche  durch  die  arianischen  Vandalen  gemeint  sein 
kann,  ging  auch  in  Erfüllung. 


400 

Denn  seit  der  französischen  Revolution  herrscht 
eine  Animosität  gegen  die  Kirche,  überhaupt  gegen 
das  Christentum,  wie  kaum  zur  Zeit  der  Reformation 
gegen  erstere  allein.  Jedenfalls  dachte  Nostradamus 
an  die  Saecularisation,  die  Beseitigung  der  weltlichen 
Herrschaft  des  Papstes,  an  die  Trennung  von  Staat 
und  Kirche  in  Italien  und  Frankreich,  die  Vorgänge 
m  Portugal,  die  antikirchliche  Bewegung  in  Spanien  usw. 
Nach  den  Proben  seiner  Kunst  ist  das  keineswegs 
ausgeschlossen.  Es  erfordert  nicht  viel  Urteilsfähig* 
keit,  um  auch  für  Deutschland  über  kurz  oder  lang 
eine  antikirchliche  Bewegung,  die  hoffenthch  mit  der 
Trennung  vom  Staate  enden  wird,  vorherzusagen  und 
an  einen  -  diesmal  geistigen  --  Aderlaß,  der  stärker 
sein  wird  als  die  Konfiskationen  zu  Beginn  des  vorigen 
Jahrhunderts. 

Wenn  wir  endlich  noch  hören,  daß  Nostradamus 
den  Untergang  des  Papsttumes  prophezeit  -  deshalb 
stehen  seine  Werke  auf  dem  römischen  Index  — 
dann  wird  man  auch  an  dem  Ausdruck  „Verfolgung" 
und  dem  Vergleich  mit  afrikanischen  Verhältnissen 
nur  mit  größter  Reserve  zu  kritisieren  wagen. 

Sehr  merkwürdig  ist  auch  die  Prophezeiung  im 
Absatz  109ff.  des  Widmungsbriefes  an  Heinrich  II. 

„Encores  par  la  derniere  foy  trembleront  tous 
les  Royaumes  de  la  Chrestiente,  et  aussi  des  infideles, 
par  l'espace  de  vingt  cinq  ans;  et  seront  plus  grieves 
guerres  et  batailles;  et  seront  villes,  cites,  chateaux 
et  tous  autres  edifices  brusles  .  .  .*'*) 

„In    dieser    letzten    Epoche    werden    alle    König* 

')  Lc  Pelletier,  II.  p.   160 f. 


401 


reiche  der  Christenheit  zittern,  und  ebenso  die  Un* 
gläubigen,  den  Zeitraum  von  25  Jahren  hindurch; 
die  blutigsten  Kriege  und  Schlachten  werden  statt? 
finden,  Städte,  Ortschaften,  Schlösser  und  allerlei 
andere  Bauwerke  werden  in  Flammen  aufgehen  und 
zerstört  werden  usw." 

Wir  stehen  —  wie  die  vorhergehenden  Abschnitte 
des  Widmungsbriefes  ergeben  —  in  einer  Periode, 
deren  Beginn  Nostradamus  durch  die  Jahreszahl  1792 
festlegt.  Rechnen  wir  dazu  25  Jahre,  so  kommen 
wir  zum  Jahre  1817.  In  diesen  Zeitraum  —  tatsächlich 
schloß  die  Kriegsperiode  ja  schon  1816  —  fallen  so 
viele  Kriege,  wie  sie  nur  selten  die  Geschichte  ver* 
zeichnen  kann.  Um  nur  die  wichtigsten  zu  nennen: 
die  republikanischen  Feldzüge  gegen  Deutschland 
und  Osterreich,  Napoleons  Expedition  nach  Italien 
und  Ägypten,  die  Kriege  in  Spanien  und  gegen  Eng* 
land,  seine  Siege  über  Preußen  und  Österreich,  die 
Expedition  nach  Rußland,  die  Feldzüge  der  Ver:^ 
bündeten  und  die  Niederwerfung  Frankreichs,  endlich 
der  letzte  durch  Napoleons  Flucht  von  Elba  entfachte 
Feldzug,  der  mit  dem  endgültigen  Siege  der  Ver* 
bündeten  endete.  Also  auch  diese  Prophezeiung,  die 
durch  zeitliche  Fixierung  und  Angabe  der  Dauer  be* 
weist,  daß  Nostradamus  über  den  Verlauf  der  euro* 
päischen  Geschichte  aufs  beste  unterrichtet  war,  sehen 
wir  im  vollen  Umfange  erfüllt. 

Das  Wesentliche  ist,  daß  die  wenigen  Stich? 
proben,  die  wir  machen  konnten,  unbedingt  zugunsten 
des  Sehers  ausfielen.  Nostradamus  konnte  also 
nicht  nur  zukünftige  Ereignisse,  die  Namen 
der     in     späteren    Jahrhunderten     handelnden 

Kemmerich,   Propliezciungen  26 


I 


402 

Personen  vorhersehen,  er  wußte  auch  das  Jahr 
anzugeben,  wann  seine  Vorhersagen  in  Er* 
Füllung  gehen  würden. 

Das  sagt  er  selbst  im  73.  Abschnitt  seines  Wid*« 
mungsbriefes  an  Heinrich  II. :  „Wenn  ich  gewollt  hätte, 
hätte  ich  jedes  Quatrain  nach  der  Zeit  seiner  Erfüllung 
beziffern  können." 

Wir  haben  allen  Anlaß,  dem  Seher  das  zu  glauben. 
Wenn  er  aber  da  und  dort  irrte,  so  beweist  das  nichts 
gegen  seine  Kunst,  denn  Unfehlbarkeit  wird  man 
billigerweise  bei  niemand  fordern. 

In  Nummer  86—88  desselben  Briefes  gibt  Nostras: 
damus  in  Form  von  Planetenperioden  sogar  an,  wie 
er  zur  Angabe  des  Jahres  1792  kam.  Kniepf,  der 
sich  in  astrologischen  Berechnungen  wohl  auskennt, 
bemerkt  jedoch,  daß  uns  der  Schlüssel  dazu  fehlt. 
Nostradamus  hat  die  einschlägigen  Schriften,  die  er 
von  seinen  Vorfahren  geerbt  hatte,  vor  seinem  Tode 
verbrannt. 

Sollte  es  also  wirklich  möglich  sein,  durch  astro*s 
logische  Berechnung  die  Zukunft  zu  ergründen? 

Wir  wissen  es  nicht,  können  es  uns  nicht  vor* 
stellen,  sind  auch  nicht  in  der  Lage  zu  ermitteln, 
welcher  Anteil  an  den  Weissagungen  auf  Konto  der 
Astrologie,  welcher  auf  hellseherische  Veranlagung 
gesetzt  werden  kann:  das  alles  liegt  auch  außerhalb 
des  Rahmens  einer  historischen  Untersuchung. 

Was    wir    aber    mit    allem    Nachdruck    betonen 

I  i  müssen  ist,   daß  Nostradamus   die  Zukunft  ent* 

hüllen    konnte,    wie     niemand    vor     ihm    oder 

nach    ihm,   von   dem    wir   wissen.      Er   ist  eines 

der  größten   Genies   der  Weltgeschichte. 


403 


Zwölftes  Kapitel 

Stellung  der  Wissenschaft  zur 
Prophezeiung 

Es  ist  sattsam  bekannt,  daß  die  Theologie  zu 
allen  Zeiten  und  auch  heute  noch  die  biblischen 
Prophezeiungen  für  „Offenbarungen",  unmittelbare 
Äußerungen  Gottes,  hielt  und  hält.  Wir  haben  zu 
dieser  Frage  nicht  Stellung  zu  nehmen.  Der  Historiker 
hat  die  Aufgabe,  das  Tatsächliche  festzustellen.  Er 
verläßt  den  sicheren  Boden  mit  dem  Augenblick,  wo 
er  die  Ursachen  einer  Erscheinung  klarzulegen  ver* 
sucht,  um  völlig  in  der  Luft  zu  schweben,  wenn  er 
sich  hierbei  gar  zu  mystischen  Hypothesen  versteigt. 
Die  Erklärung  von  Erscheinungen,  die  wir  in  den 
Rahmen  unserer  derzeitigen  Kenntnis  der  Natur  noch 
nicht  einzupassen  vermögen  durch  transzendentale  Ur* 
Sachen,  ist  eine  Bankrotterklärung. 

Es  bedarf  deshalb  keiner  besonderen  Betonung, 
daß  wir  der  Theologie  auf  diesem  Wege  zu  folgen 
uns  weigern.  Nicht  nur,  daß  wir  die  dem  Historiker 
gezogenen  Grenzen  dann  überschreiten  würden,  wir 
kämen  auch  dem  Problem  nicht  um  Haaresbreite  näher. 
Denn   —   selbst    das   Dasein   Gottes  vorausgesetzt    — 

26* 


404 

da  wir  Umfang  und  Inhalt  dieses  Begriffes  nicht 
kennen,  würden  wir  ein  uns  wenigstens  teilweise, 
d.  h.  als  Erscheinung  Bekanntes  —  nämlich  die  einzelnen 
Tatsachen  der  Prophezeiung  —  durch  ein  völlig  Unbe^» 
kanntes,  ja  in  seiner  Existenz  vielfach  angezweifeltes  X 
(Gott)  uns  verstandesmäßig  näher  zu  bringen  suchen. 

Das  ist  aber  keine  Erklärung.  Denn  klarer  wird 
uns  etwas  nur  dann,  wenn  wir  es  auf  bekannte  oder 
doch  bekanntere  Ursachen  zurückführen.  Daß  das 
hier  nicht  der  Fall  wäre,  ist  klar. 

Immerhin  mag  es  nicht  ohne  einiges  Interesse 
sein,  sich  einmal  zu  vergegenwärtigen,  welche  Stellung 
die  Theologie  dem  Problem  der  nachbiblischen  Pro* 
phezeiung  gegenüber  einnahm. 

Wir  werden  finden,  daß  die  Hauptsorge  der 
Theologen  die  war,  die  Qjuelle  der  Prophezeiungen 
festzustellen  und  zu  erörtern,  ob  es  überhaupt  noch 
nach  dem  Alten  und  Neuen  Testament  PrOi= 
pheten  gegeben  habe.  Denn  darin,  daß  es  sich  in 
diesen  Werken  um  wirkliche,  und  zwar  von  Gott 
unmittelbar  inspirierte  Propheten  handelt,  war  man 
sich  bis  zur  Stunde  immer  und  in  allen  theologischen 
Lagern  einig. 

Zur  Zeit  des  Konstanzer  Konzils  schon  suchte 
der  große  französische  Gelehrte  Jean  Le  Charlier  de 
Gerson  (geb.  14.  Dez.  1363  in  Gerson,  gest.  12.  Juli 
1429  in  Lyon),  Doctor  christianissimus  wegen  seiner 
hervorragenden  Verdienste  auf  dem  Konzil  genannt, 
die  Frage  zu  ergründen.  Und  zwar  geschah  dies 
in    der  Schrift    De  probatione  spirituum')    und    dem 

*)  Gedruckt  in  der  Ausgabe  du  Pin,  Antwerpen  1706,  I.  Bd., 
Spalte  37  ft.,  der  folgende  Traktat  eb.  Sp.  43«. 


405 


zweiten  Traktat  De  distinctione  verarum  visionum  a 
falsis. 

Der  Inhalt  beider  Schriften ')  ist  kurz  folgender: 

Der  Apostel  Johannes  (1.  Joh.  4,  1)  befiehlt  mit 
den  Worten:  ,,Ihr  Lieben,  glaubet  nicht  einem  jeg* 
liehen  Geist,  sondern  prüfet  die  Geister,  ob  sie  von 
Gott  sind;  denn  es  sind  viele  falsche  Propheten  aus:= 
gegangen  in  die  Welt"  Vorsicht  gegenüber  Propheten 
und  Prophezeiungen.  Das  geschieht,  weil  der  Satan 
seine  Hand  im  Spiele  haben  kann  (2.  Korinth.  11, 14). 

Die  Prüfung  der  Geister  (d.  h.  Propheten,  Vision 
nen  usw.)  ist  aber  ein  schwieriges  Ding,  denn  der 
Heilige  Geist  hat  nur  wenigen  die  Befähigung  dazu 
verliehen.  Genaue  Kenntnis  der  Hl.  Schrift  mag  ja 
in  manchen  Fällen  genügen  (Modus  doctrinalis),  in 
anderen  reicht  ein  größeres  inneres  Gefühl,  eine  innere 
Erfahrung  dazu  aus  (Modus  experimentalis).  Da  der 
normale  menschliche  Verstand  aber  zumeist  versagt, 
ist  innere  Erleuchtung  fast  unerläßlich  (Modus  offi^ 
Cialis  (1.  Korinth.  12,  10).  Die  mit  dieser  Prüfungs:= 
gäbe  von  Gott  Ausgerüsteten  sind  sich  ihres  Besitzes 
bewußt  und  auch  in  der  Lage,  bei  andern  anzugeben, 
ob  sie  die  gleiche  Fähigkeit  besitzen.  Das  sind  aber 
nur  wenige.  Nur  sie  sind  imstande,  mit  untrüglicher 
Gewißheit  zu  entscheiden. 

So  wenig  man  eine  allgemeingültige  Regel  auf^ 
stellen  kann,  wodurch  ein  Traumgesicht  sich  von  dem, 
was  wir  wachend  sehen,  unterscheidet,  wiewohl  doch 


^)  Übersetzung  beider  Traktate  nach  der  Ausgabe  von  Hardt 
(Helmstädt  1692)  von  Johann  Gabriel  Süße,  als  Anhang  der 
,, Umständlichen  Nachricht  von  dem  sogenannten  Prossner  Manne, 
Christian  Heerings  .  .  ."     Dresden  und  Leipzig  1772. 


406 

der  Wachende  es  weiß,  was  er  wirklich  sah,  und 
sich  erinnert,  daß  er  ähnliches  im  Traum  sah,  so  weiß 
auch  der  göttlich  Erleuchtete,  daß  und  wann  er  es  ist. 
Und  doch  kann  auch  er  auf  den  Gedanken  kommen, 
teuflischem  Blendwerk  zum  Opfer  gefallen  zu  sein; 
denn  wenn  er  auch  wach  ist,  so  kann  er  darum  doch 
im  höheren  Sinne  dem  Göttlichen  gegenüber  schlafen. 
Das  erkannte  schon  der  selige  Gregorius,  als  er  schrieb : 
„Der  Geist  der  Prophetie  ist  nicht  immer  in  der  Ge* 
walt   der   Propheten,    noch    in    ihrem  eigenen  klaren 

Bewußtsein')." 

Die  Prüfung  modo  doctrinandi,  also  auf  Grund 
einer  Lehrmethode,  hat  auf  folgende  Punkte  ihr  Augen* 
merk  zu  richten:  1.  Auf  die  Person  dessen,  der  eine 
Erscheinung  hat.  2.  Auf  den  Inhalt  der  Offenbarung. 
5.  Auf  die  Ursache  der  Mitteilung  dieser  Offenbarung. 
4.  Insbesondere  zu  wessen  Beratung  die  Offenbarung 
geschieht  und  mitgeteilt  werden  soll.  5.  Welchen 
Lebenswandel  derjenige  hat,  dem  etwas  offenbart 
wurde,  und  6.  Woher  diese  Person  stammt. 

Auf  diese  einzelnen  Fragen  geht  Gerson  näher 
ein,  wobei  er  eine  Kritik  beweist,  die  man  dem  Mittel* 
alter  im  allgemeinen  nicht  zutrauen  möchte.  So  sagt 
er  z.  B.  zum  3.  Punkt,  der  die  Gründe  prüft,  aus 
denen  sich  jemand  zur  Mitteilung  seiner  Vision  be* 
wogen  fühlt,  u.  a.: 

Der  Anhörende  müsse  sich  hüten,  dem  Offen* 
barenden  Beifall  zu  spenden,  oder  ihn  zu  bewundern. 
Vielmehr  solle  er  widersprechen  und  tadeln,  ihn  als 
hochmütig    verächtlich    behandeln,    weil    er   sich   ein* 

')  Spiritus  Prophctarum  non  scmpcr  esse  in  potestatc.  vel 
distincta  cogitatione  Prophetarum. 


407 


bilde,  mit  Gott  und  den  Engeln  in  Verkehr  zu 
stehen.  Man  solle  aus  der  Geschichte  Beispiele  dafür 
anführen,  wie  schädlich  und  trügerisch  solche  Ein^ 
bildungen  seien  und  wie  verabscheuungswürdig  die 
Sucht  sei,  Visionen  zu  erleben.  Auch  vor  Täuschungen 
durch  den  Teufel  müsse  man  warnen.  Denn  oft  habe 
das  Verlangen,  zukünftige  und  verborgene  Dinge  zu 
wissen,  Wunder  zu  sehen  und  zu  tun,  die  Menschen 
betrogen  und  vom  wahren  Gottesdienst  abgeführt. 

Beim  vierten  Punkt  macht]  Gerson  den  sehr  ver^ 
ständigen  Einwand,  man  solle  doch  bedenken,  wenn 
etwas  durch  menschliche  Mittel  erreichbar  sei,  warum 
man  dann  noch  nötig  habe,  eine  unmittelbare  Untere 
Weisung  des  Himmels  zu  erwarten.  Auch  sei  genau 
zu  prüfen,  welche  Gründe  jemand  habe,  seine  Visionen 
mitzuteilen.  Er  rate,  mit  dem  Apostel  Petrus  'ehr? 
erbietig  [zu  sprechen:  ,,Herr,  gehe  hinaus  von  mir, 
ich  bin  ein  sündiger  Mensch,  ich  bin  zu  gering  und 
deiner  Erscheinung  unwürdig,  die  ich  in  diesem  Leben 
weder  verlange  noch  annehme,  sondern  vielmehr  von 
mir  abwende  usw." 

Zum  sechsten  Punkt  bemerkt  Gerson,  daß  der 
hl.  Bernhard  niemals  hätte  bestimmen  können,  woher 
ein  Geist  (Vision)  käme,  wiewohl  er  öfter  dessen 
Gegenwart  gespürt  habe.  Deshalb  müsse  man  miß* 
trauisch  werden,  wenn  eine  geringe  Person  genau  zu 
wissen  sich  einbilde,  woher  der,, Geist"  komme.  Wisse 
man  doch  noch  nicht  einmal  im  einzelnen  Falle,  wo? 
her  eine  Anfechtung  komme.  Dabei  gäbe  es  viererlei 
Arten  ,, Geist":  den  Gottes,  eines  guten  Engels,  eines 
bösen  Engels  und  den  menschlichen,  der  sich  wieder 
differenzieren  lasse. 


408 

Soweit  Gersons  Ansichten  in  Nuce. 

Besonders  das  17.  Jahrhundert  beschäftige  sich 
wieder  viel  mit  unserer  Materie,  wobei  die  lutherischen 
Theologen  begreiflicherweise  sich  an  Luthers  An* 
sichten  anschlössen.  Dieser  hatte  im  8.  Schmalkal^s 
dischen  Artikel  von  der  Beichte  sich  dahin  geäußert, 
daß  alle  nachtestamentliche  religiöse  Offenbarung  ein 
Werk  des  Teufels  sei,  aber  auch  Prophezeiungen  in 
weltlichen  Dingen  sei  wenig  Glauben  beizumessen, 
wenn  er  deren  Existenz  auch  nicht  leugnet^). 

Es  hat  für  uns  wenig  Interesse,  im  einzelnen  den 
Streit  der  Theologen  zu  verfolgen.  Wertvoll  aber  ist 
die  Feststellung,  daß  man  sich  zu  Beginn  des  18.  Jahr* 
hunderts  so  ziemlich  darauf  einigte,  daß  „noch  heut 
zu  Tage  sich  solche  Offenbarungen  ereignen  könnten, 
welche  den  Zustand  der  Kirche,  oder  der  Policey, 
oder  das  gemeine  menschliche  Leben  insonderheit  an* 
giengen  ^).*'  Offenbarungen  religiöser  Natur  aber  wurden 
verworfen. 


*)  Die  Geschichte  des  ganzen  Streites  ist  eingehend  von 
Süße  behandelt  unter  dem  Titel:  „Historisch ^Theologische  Ab* 
handlung  über  die  Casual?Frage :  Obs  noch  heut  zu  Tage  neue 
Offenbarungen  von  wichtigen  Revolutionen  in  dem  Kirchen? 
und  Weltlichen  Staat,  und  von  besondern  Schicksalen  einzelner 
Personen,  gebe,  und  was  von  selbigen  zu  halten  sey?"  im  An* 
hang  der  ,, Umständlichen  Nachricht".  S.  49—124. 

*)  Die  wichtigste  Literatur  dieser  Streitschriften  dürfte  nach 
Süße  sein:  Jacob  Stolterfoht,  ,, Schriftmäßiges  Bedenken  von 
Gesichten",  Lübeck  1632.  Jacob  Fabricius,  ,,Probatio  Visio* 
num",  Nürnberg  1642  (von  der  theol.  Fakultät  zu  Wittenberg 
in  einem  Gutachten  zensuriert,  vgl.  Sülk',  S.  76 tt.,  gedruckt  in 
den  Consilia  Theologica  Wittenberg,  p.  804-817).  Jacob  Stol» 
terfohts  Noth wendige  Wahrheit ?  und  Hhren* Rettung  wider 
Fabricii  Probationem  Visionum  invictnm.  Lübeck  1647.   Johann 


409 


Diese  Konkordientormel  am  klarsten  gefaßt  hat 
Johann  Olearius').  Aus  dem  Lateinischen  übersetzt 
heißt  sie: 

,,Man  kann  zwar  nicht  alle  Erscheinungen  oder 
besondere  Oftenbarungen  leugnen,  soweit  sie  die  Zus^ 

Wilhelm  Petersen,  „Sendschreiben  an  einige  Theologos  und 
Gottesgelahrten,  betrettend  die  Frage:  Ob  Gott  nach  der  Auf; 
fahrt  Christi  nicht  mehr  heutiges  Tages  durch  göttliche  Erschei? 
nung  denen  Menschen^Kindern  sich  ott^enbaren  wolle,  und  sich 
dessen  ganz  begeben  habe  .  .  .",  Lübeck  1691.  (Petersen  be; 
hauptet  göttliche  Oftenbarung  auch  in  Glaubensfragen)  dagegen 
u.  a. :  Va lentin  Ernst  Löscher,  Repetitio  orthodoxae  doctrinae 
de  Visionibus  et  Revelationibus",  Wittenberg  1692.  Caspar 
Löscher,  ,, de  Visionibus",  eb.  1693.  Ph.  Jac  Spener,  ,,Theos 
logisches  Bedenken  usw.",  1692  von  einem  Anonymus  ohne 
Druckort  herausg.  Ders.,  „Theologisches  Bedenken  Herrn  D.  Spe? 
ners  über  Heinr.  Kratzenstein  usw.",  1693.  Ohne  Druckort.  (Ohne 
Einwilligung  Speners  erschienen.)  Neudruck  im  gleichen  Jahre 
mit  dem  Zusatz  ,, Erklärung  über  die  Frage:  Was  von  Gesichten 
und  Erscheinungen  zu  halten  sey?"  Frankfurt  a.  O.  Ein  Auszug 
aus  diesen  Schriften  bei  Süße,  „Umständliche  Nachricht",  S.  165 
bis  184.  Joh.  Lysius,  „Schelwigische  Synopsi  controversiarum", 
1712.  Johann  Mich.  Heineccius,  „Schriftmäßige  Prüfung 
der  sogenannten  neuen  Propheten",  Halle  1715.  Joachim 
Lange,  „Nöthiger  Unterricht  von  unmittelbaren  Offenbarungen", 
eb.  1715.  Joh.  Porst,  ,, Verhalten  derer  Gläubigen  bey  denen 
außerordentlichen  Bewegungen  und  Aussprachen",  1715.  Joh. 
Lysius,  , .Wahrhaftige  Erzehlung  dessen,  was  zu  Berlin  mit 
einigen  sogenannten  Inspirirten  vorgegangen",  1715.  Martin 
Chladenius,  ,,De  Inspiratis  sine  Spiritu",  Wittenberg  1715. 
Lysius,  ,, Schutzschrift  wider  die  Beschuldigungen  Chladenii", 
1715.  Christoph  Ludwig  Stieglitz,  ,,Nothwendige  Erinne* 
rung  an  Herrn  Johann  Lysium",  Naumburg  1716,  dagegen  Re* 
pliken  von  Lysius  und  „Gegenvorstellung"  von  Stieglitz. 

^)  Joh.  Olearius,  Synopses  Controversiarum,  Synops.  V. 
concern.  Controversias  cura  Fanaticis,  Thes.  IX.,  Quartausg.  p.  7, 
Oktavausg.  p.  485. 


410 

kunft  der  Kirche  (soweit  deren  äußerer  Zustand  in 
Frage  steht),  oder  des  Staates,  oder  einer  einzelnen 
Person  (als  da  sind  die  Visionen  Sterbender,  War* 
nungen  vor  drohenden  Gefahren  usw.)  betreffen. 
Nicht  erlaubt  jedoch  ist,  um  in  einzelnen  Fragen  des 
Glaubens  oder  der  Sittlichkeit  zu  einer  bestimmten 
Meinung  zu  gelangen,  entweder  auf  eine  unmittelbare 
innerliche  oder  äußerliche  Offenbarung  zu  bauen  oder 
eine  solche  von  Gott  zu  erbitten  oder  gar  mit  Be* 
stimmtheit  zu  erwarten.  Noch  viel  weniger  darf  man 
glauben,  ein  Mensch  könne  durch  sie  (die  Offen* 
barung)  mit  Gott  inniger  vereint  und  gleichsam  ver* 
göttlicht  werden." 

War  man  sich  so  in  der  Anerkennung  der 
Prophetie,  wenigstens  soweit  das  profane  Leben 
in  Frage  kam,  einig,  so  drängte  sich  doch  naturgemäß 
die  schon,  wie  wir  sahen,  Gerson  beschäftigende  Frage 
auf:  wie  erkennt  man  eine  echte  Offenbarung? 

Löscher  suchte  in  seiner  Disputation  die  Beant* 
wortung  im  wesentlichen  in  Gersons  Kriterien,  die  er 
auf  8  vermehrt,  durch  Hinzunahme  der  Forderung, 
der  Offenbarende  müsse  über  seinen  gesunden  Men* 
schenverstand  verfügen  und  weder  körperliche  noch 
geistige  Defekte  haben,  und  ferner:  eine  Prophezeiung 
könne  erst  dann  für  wahr  gelten,  wenn  sie  eingetroffen 
ist  und  sie  weder  der  wahren  Glaubenslehre,  noch 
den  guten  Sitten  zuwiderläuft. 

Man  wird  zugeben  müssen,  daß  man  mit  dem 
besten  Willen  keinen  strengeren  Maßstab  anlegen 
kann.  Es  kann  gewiß  nicht  ohne  Interesse  sein,  daß 
derselbe  Kampf,  der  heute  noch  nicht  ausgefochten 
ist,    bereits   vor   2  Jahrhunderten  zugunsten  der  Pro* 


411 


phetie  entschieden  wurde.  Allerdings  nicht  auf  dem 
Wege  zwingender  Beweise,  sondern  durch  den  Glauben. 
Während  aber  die  heutige  offizielle  Wissenschaft  treu 
ihrem  guten  alten  Brauch  die  ausgetretensten  Wege 
immer  noch  weiter  auszutreten,  dafür  aber  dem  Neuen 
kein  Verständnis  entgegenzubringen,  die  Frage  völlig 
ignoriert,  so  daß  es  auch  hier  wieder  Aufgabe  der 
Outsider  ist,  eine  neue  Wahrheit  zu  finden,  hatte 
man  vor  zwei  Jahrhunderten  wenigstens  Verständnis 
für  ihre  Bedeutung.  Damals  schon  hat  die  neue  und 
im  Grunde  Jahrtausende  alte  und  durch  tausendjährige 
Erfahrung  bestätigte  Lehre  ihre  Feuerprobe  bestanden. 
Denn  daß  es  nicht  leicht  war,  Luthers  Autorität  und 
die  Bedenken  großer  Theologen  zu  beseitigen,  liegt 
auf  der  Hand.  Allein  es  gelang  doch,  wie  es  in 
wenigen  Jahrzehnten  wieder  gelungen  sein  wird. 

Daß  die  Theologen  mit  der  Ablehnung  der  Pros* 
phetie  in  religiösen  Fragen  das  Richtige  trafen,  wenn 
auch  aus  ganz  anderem  Grunde,  als  sie  meinten, 
scheint  mir  festzustehen.  Auch  wir  machten  bei  der 
Kontrolle  der  Voraussagen  die  Beobachtung,  daß  sie 
sehr  häufig  eintreffen,  wenn  sie  profaner  Natur  sind, 
dagegen  aber  phantastisch  und  unrealisierbar  werden 
mit  dem  Moment,  wo  religiöse  Vorstellungen  sich 
einmischen. 

Der  Grund  hierfür  dürfte  mit  Mystik  nicht  das 
allergeringste  zu  tun  haben.  Er  liegt,  scheint  mir, 
daran,  daß  die  Hellseher  und  Hellseherinnen  häufig  — 
wiewohl  das  mit  ihrer  Gabe  an  sich  nicht  notwendig 
verbunden  ist  —  zu  religiösen  Wahnideen  neigen. 
Deshalb  wogen  in  ihrem  Unterbewußtsein  alt^*  und 
neutestamentliche,    oft    unverstandene    Vorstellungen 


412 

und,  oft  wörtliche,  Erinnerungen,  extravagante  Hoffst 
nungen,  Wünsche  und  Befürchtungen  durcheinander. 
Dazu  kommt  wohl  auch  die  —  im  wachen  Zustande 
nicht  eingeräumte  —  Einbildung,  etwas  Besonderes, 
womöglich  ein  neuer  Messias  zu  sein,  eine  Einbildung, 
der  die  Somnambule  willenlos  die  Zügel  schießen  läßt. 

Bei  der  Vorhersage  profaner  Dinge  sind  diese 
Faktoren  weit  besser  ausgeschaltet.  Wenn  auch  die 
Kraft,  durch  deren  Hilfe  die  Prophetie  zustande  kommt, 
wie  ungezählte  andere,  uns  noch  nicht  näher  bekannt 
ist,  so  befinden  wir  uns  doch  hier,  befreit  von  jeg=« 
lieber  Mystik,  auf  dem  festen  Boden  des  Experimentes. 

Doch  kehren  wir  zu  den  alten  Theologen  zurück! 

Auf  die  Frage,  was  man  von  einer  bestimmten 
Prophezeiung  zu  halten  habe,  gibt  Gottlieb  Wernß* 
dorff  in  seiner  Disputation  „De  Primordiis  emendatae 
per  Lutherum  Religionis"  (Wittenberg  1708)  ^  fol^ 
gende  Antwort: 

Man  muß  drei  Fälle  beim  Eintreffen  einer  Pro* 
phezeiung  unterscheiden:  erstens  daß  sie  Casu,  durch 
Zufall,  zweitens  ludicio,  durch  Berechnung,  und  driU 
tens  daß  sie  Afflatu  Numinis,  durch  göttliche  Ein* 
gebung  sich  erfüllten.  Wir  sehen  hier  also  eine 
Weiterbildung  Löschers!  Der  Gedankengang  ist  ge* 
nau  der  gleiche,  den  wir,  aus  selbständigen  Erwägungen 
dazu  geführt,  in  dieser  Untersuchung  einhielten. 


')  Zweite  erweiterte  Aufl.  1717.  S.  4—25  der  Schrift  werden 
die  Weissagungen  der  Reformation  durch  Johannes  IIus,  Hiero* 
nimus  von  Prag,  Johann  Wesscl,  Johann  Keisersberg,  Sebastian 
Brand,  Johan  Hüten,  Andreas  Proles  und  Johann  Spangenberg 
angeführt.  Sie  beruhten  zwar  zum  Teil  aut  Zutall  oder  Berech* 
nung,  doch  leuchte  auch  aus  vielen  etwas  Göttliches  heraus. 


413 


Für  die  Kritik,  die  Werniyorft  walten  läßt,  diene 
folgende  Geschichte  als   Beispiel: 

Als  Johann  Jessenius,  ein  böhmischer  Arzt  und 
Kanzler  der  Akademie  zu  Prag,  als  Gesandter  aus 
Ungarn  zurückkam,  wurde  er  in  Wien  gefangen  ge? 
setzt.  Bevor  er  sein  Gefängnis  wieder  verließ,  schrieb 
er  die  folgenden  5  Buchstaben  an  die  Wand:  I.  M. 
M.  M.  M.  Niemand  konnte  den  Sinn  enträtseln  bis 
auf  den  Erzherzog  Ferdinand,  nachmaligen  Kaiser 
Ferdinand  II.  Er  las:  Imperator  Matthias  Mense  Mar^^ 
tio  Morietur,  was  später  eintraf,  denn  Kaiser  Mathias 
starb  im  März.  Außerdem  schrieb  er  aber  darunter: 
Jesseni  Mentiris,  Mala  Morte  Morieris,  d.  h.  Jessenius 
du  lügst,  du  wirst  eines  bösen  Todes  sterben.  Als 
das  Jessenius  hörte,  sagte  er  —  und  das  beweist,  daß 
er  die  Mächtigen  seiner  Zeit  kannte:  ,,Wie  ich  nicht 
gelogen  habe,  so  wird  sich  Ferdinand  bemühen,  nicht 
zum  falschen  Propheten  zu  werden."  Darin  behielt 
er  recht,  denn  er  wurde  1620  hingerichtet. 

Wiewohl  also  beide  Vorhersagen  eintrafen,  führt 
Wernßdorff  das  doch  lediglich  auf  Zufall  zurück. 
So  leichtgläubig,  wie  wir  es  gerne  ihnen  zuschreiben, 
waren  unsere  Vorfahren  gar  nicht! 

Das  Eintreffen  durch  Vorherberechnung  ist  zu 
einleuchtend,  als  daß  wir  uns  hier  weiter  mit  den 
Beispielen  Wernßdorffs  aufhalten  wollten.  Was  der 
Verfasser  Afflatu  Numinis  nennt,  ist  natürlich  die 
einzige  Art  der  Prophezeiung,  die  für  uns  in  Frage 
kommt  und  der  wir  diese  Untersuchung  widmeten. 
Es  ist  eben  die  Prophezeiung  auf  einem  Wege,  der 
die  fünf  Sinne  und  das  Denkvermögen  ausschaltet, 
dafür  aber  Kräfte   spielen   läßt,    die  wir  nicht  weiter 


414 

kennen  und  die  auch  nur  eine  verschwindende  Minderst 
heit  besitzt  oder  wenigstens  anwendet.  Es  handelt 
sich  für  uns  zwar  nicht  um  ein  übernatürliches  Phä* 
nomen  —  so  wenig  wie  Hypnotismus  und  räumliches 
Fernsehen  übernatürlich  sind  —  wohl  aber  um  ein 
übersinnliches. 

Demnach  genügt  es  keineswegs,  wie  Wernßdorff 
unter  Hinweis  auf  Berechnung  und  Zufall  richtig 
hervorhebt,  daß  eine  Vorhersage  eintrifft,  um  sie 
unter  die  Prophezeiungen  aufzunehmen.  Vielmehr  ist 
es  lediglich  die  Art  und  Weise,  auf  welche  eine 
Vorhersage  zuwege  kam,  die  ihr  ihren  Platz  unter 
den  Prophezeiungen  anweist.  Am  Charakter  der  Vision 
ändert  auch  die  Tatsache  nichts,  daß  diese  oder  jene  — 
bei  solchen  religiöser  Art  fast  alle  —  nicht  in  Er* 
füllung  gehen.  So  wenig  wie  der  verstümmelte  Text 
etwas  gegen  die  drahtlose  Übermittlung  einer  Depesche 
beweist,  oder  so  wenig  jemand  die  menschliche  Denk^^ 
kraft  leugnen  wird,  wiewohl  es  bekanntlich  sehr  wenig 
Menschen  gibt,  die  immer  fehlerlos  und  logisch  richtig 
denken. 

Ändert  demnach  das  Nichteintreffen  einer  Pro* 
phezeiung  auch  nichts  an  ihrem  visionären  Charakter, 
so  ist  es  doch  in  anderer  Weise  keineswegs  bedeu* 
tungslos.  Denn  wir  werden  in  Visionen,  denen  in 
der  Wirklichkeit  kein  Äquivalent  gegenübersteht,  ge* 
neigt  sein,  Halluzinationen,  nicht  aber  Äußerungen 
einer  besonderen  Prophetengabe  zu  erblicken. 

Wenn  wir  auch  weit  davon  entfernt  sind  zu  ver* 
suchen,  die  Prophetie  zu  erklären  —  die  Naturwissen* 
Schaft  hat  diese  meist  nur  auf  Prägung  neuer  Worte 
hinauslaufende  Illusion  längst  aufgegeben  —  so  reizt 


415 


es  doch  möglichst  die  Fehlerquellen  zu  ermitteln. 
Denn  daß  solche  existieren  müssen,  ist  einleuchtend, 
da  es  sonst  nicht  verständlich  wäre,  weshalb  Personen, 
die  durch  zahlreiche  zutreffende,  Zufall  und  Berech* 
nung  ausschließende,  Prophezeiungen,  den  Beweis  für 
ihre  Gabe  erbrachten,  doch  da  und  dort  irren. 

Es  muß  also  unsere  Aufgabe  sein  zu  versuchen 
die  Kriterien  festzustellen,  die  erfahrungsgemäß  sich 
bei  den  unerfüllten  Prophezeiungen  finden.  Daß  wir 
hier  nicht  aprioristisch  oder  deduktiv  vorgehen  können, 
ist  einleuchtend.  Denn  wo  es  sich  um  eine  zurzeit 
noch  so  rätselhafte  Erscheinung  handelt,  wie  die  vor* 
liegende,  wäre  die  Aufstellung  eines  Dogmas  oder 
auch  nur  einer  Theorie  Verblendung.  Es  kann  sich 
also  nur  um  schüchterne  Hypothesen  handeln. 

Mit  vollem  Bewußtsein  verlasse  ich  hier  die  histo^s 
rische  Basis,  um  mich  auf  ein  Gebiet  zu  begeben,  das 
mir  fremd  ist.  Sollte  es  mir  trotzdem  gelingen  durch 
aus  den  Tatsachen  selbst  gewonnene  Schlüsse  das 
Richtige  zu  treffen,  so  wäre  mir  das  eine  nicht  geringe 
Genugtuung. 

Schon  weiter  oben  konstatierten  wir,  daß  1.  religiöse 
Visionen  so  gut  wie  nie  eintreffen.  Es  handelt  sich 
hiereben  entweder  überhaupt  nicht  um  richtige  Visionen, 
sondern  um  Ausflüsse  einer  überhitzten  Phantasie, 
oder  aber  es  wird  der  Wunsch  Vater  des  Gedankens. 

2.  Sehen  wir  mit  Frau  de  Ferriem^)  eine  Fehler* 
quelle  in  den  von  Seiten  der  Sitzungsteilnehmer  ge* 
äußerten  Wünschen  oder  bestimmten  Fragen!  „Die 
Gesichte  müssen   am  besten   spontan   eintreten.      Die 


^)  „Mein  geistiges  Schauen  in  die  Zukunft",  S.  102. 


416 

spontan  kommenden  Visionen  und  Weissagungen 
haben  sich  als  die  zuverlässigsten  erwiesen  und  tritt 
die  Clairvoyance  auch  spontan  bei  mir  ein.  Wenn 
jemand  z.  B.  wünscht,  ich  soll  ihm  seine  Zukunft 
sagen  oder  etwas  über  seine  Vergangenheit  —  ich 
könnte  es  nicht  bzw.  könnte  es  wenigstens  nicht  so 
ohne  weiteres.  Wie  bemerkt,  sehe  ich  fast  täglich  geistig 
genug  und  vielerlei,  aber  ohne  irgend  etwas  Bestimmtes  in 
dieser  Beziehung  gewünscht  zu  haben.  Wohl  könnte 
die  gewünschte  Clairvoyance,  in  welcher  ich  dem  Be* 
treffenden  die  questionierten  Mitteilungen  über  seine 
Person  usw.  machen  kann,  eintreten;  zu  garantieren 
vermag  ich  indes  nicht  dafür.  Noch  weniger  vermag 
ich  aber  auch  dann,  wenn  solche  Visionsmitteilungen 
oder  Weissagungen  durch  mich  gegeben  werden, 
nicht  die  Gewähr  dafür  zu  übernehmen,  ob  das  Gesagte, 
soviel  auch  sonst  schon  immer,  wie  konstatiert  worden, 
nach  dieser  Richtung  eingetroffen  ist,  auch  wirklich 
eintrifft;  denn  ich  fürchte  leicht,  daß  infolge  des  ge^* 
äußerten  Wunsches  und  des  dadurch,  wenn  auch  un^^ 
merklich  auf  mich  ausgeübten  geistigen  Druckes  die 
Vision,  die  Weissagung  auch,  ohne  daß  ich  es  eben 
will,  ein  Bild  meiner  für  mich  selber  unbemerkt  ein»» 
setzenden  Phanthasie  werden  könnte."  Am  wichtigsten 
ist  der  Satz  der  Frau  de  Ferriem:  ,,Was  mich  betrifft, 
so  kann  ich  auf  Wunsch  fast  nie  prognosti*= 
zieren  oder  hellsehen." 

Diese  von  der  Seherin  abgegebene  Erklärung  ist 
ohne  weiteres  einleuchtend.  Sie  dürfte  auch  für  das 
Nichteintreffen  vieler  unter  den  erwähnten  Bedingungen 
zustande  gekommener  Weissagungen  genügende  Be* 
gründung  sein. 


417 


Damit  beantwortet  sich  auch  die  Frage,  was  von 
Prophezeiungen  der  gewerbsmässigen  Wahrsagerinen 
zu  halten  ist,  ganz  von  selbst.  Es  soll  weder  bestritten 
werden,  daß  viele  von  ihnen  die  Gabe  des  Hellsehens 
besitzen,  noch  auch  daß  manche  Vorhersage  verblüffend 
genau,  ja  bis  ins  kleinste  Detail,  eintrifft,  wie  ja  solche 
Personen  auch  oh  aus  der  Vergangenheit  Dinge  wissen, 
die  sie  auf  normalem  Wege  unmöglich  in  Erfahrung 
gebracht  haben  können. 

Das  hindert  aber  nicht,  daß  wir  mit  dem  größten 
Mißtrauen  diesen  Prophetinnen  begegnen  müssen.  Wer 
für  einige  Mark  sich  täglich  so  und  so  oft  in  einem 
Zustand  versetzen  soll,  der  nicht  viel  mehr  vomWillen 
abhängig  ist,  wie  der  Fall  eines  Meteors,  muß  not*: 
gedrungen  zum  Schwindel  greifen,  um  seine  Kund* 
Schaft  nicht  zu  verlieren.  Er  wird  allgemeine  Redens* 
arten  gebrauchen,  die  mehr  oder  minder  für  jeden 
passen.  Er  wird,  selbst  wenn  er  eine  Vision  haben 
sollte,  sie  vermittelst  der  Phantasie  nach  Tunlichkeit 
ausmalen.  Er  wird  sich  auch  absichtlich  möglichst 
dunkel  und  geheimnisvoll  ausdrücken.  Schließ* 
lieh  verstehen  diese  Frauen  wohl  auch  oft  mehr  von 
den  Menschen  und  ihren  Wünschen,  als  von  der 
Prophetie,  so  daß  nicht  dringend  genug  vor  ihrer 
Konsultation  gewarnt  werden  kann. 

Aber  selbst  angenommen,  die  Wahrsagerinnen 
könnten  wirklich  dem  einzelnen  die  Zukunft  vorher 
verkünden  —  was  wäre  der  Gewinn?  Entweder  sie 
stellen  goldene  Berge  —  buchstäblich  und  metaphorisch 
—  in  Aussicht,  dann  wird  die  Mehrzahl  der  mit  solchem 
Prognostikon  Beglückten  durch  die  Gegenwart  hasten, 
nur  den  Blick  auf  das  verheißene  Ziel  gerichtet,  um, 

Kemmerich,   Prophezeiungen  27 


418 


selbst  wenn  sie  es  ja  erlangen  sollten,  zu  spät  zu  be^ 
merken,  daß  sie  um  ihr  Lebensglück,  um  den  Genuß 
des  Augenblickes,  betrogen  wurden. 

Oder  aber  die  Prophetie  lautet  traurig,  dann  wird 
das  arme  Opfer  seiner  unangebrachten  Neugier  wie 
Damokles  sich  keiner  frohen  und  sorglosen  Minute 
mehr  erfreuen. 

Das  Leben  eines  jeden  von  uns  ist  nun  mal  ein 
großes  Drama.  Mögen  die  retardierenden  Momente 
auch  mehr  oder  minder  zahlreich  sein,  mag  der  Ab* 
gang  mit  größerem  oder  geringerem  Glanz,  mit  größerer 
oder  geringerer  Pein  verbunden  sein: 

omnes  una  manet  nox  et  calcanda  semel  via  leti  ^). 

Schlimmer  aber  noch  als  das  eigene  Ende,  ist  die 
Trennung  von  unseren  Lieben,  ist  der  Verlust  der 
Achtung  vor  sich  selbst  oder  jahrelanges  Siechtum. 
Und  wie  vielen  von  uns  steht  das  bevor?! 

Wenn  wir  daher  dem  Schicksal  für  etwas  danken 
müssen,  so  ist  es  für  seine  Dunkelheit.  Gibt  es 
Prophezeiungen,  gibt  es  Personen,  die  die  wunder? 
bare  Gabe  besitzen,  unsern  Lebensweg  zu  schauen, 
bevor  wir  ihn  vollendeten;  so  bewahre  uns  ein  gütiges 
Geschick  davor,  in  ihren  Bannkreis  zu  geraten! 

So  sehr  es  das  Problem  der  Prophetie  verdient, 
daß  die  Besten  sich  mühen,  das  Rätsel  dieser  Natur* 
kraft  zu  lösen,  —  denn  welche  schönere  Aufgabe 
könnte  der  Wissenschaft  winken  als  die  durch  Findung 
einer  neuen  Wahrheit  das  Weltbild  zu  ergänzen?  — 
so  sehr  wir  bestrebt  sein  müssen,  nach  Ausschaltung  der 
Fehlerquellen  die  allgemeingültige  Formel  in  Händen 


^)  Horaz.  Carm.  I.  28. 


419 


ZU  halten,  so  sehr  —  das  kann  jetzt  schon  gesagt 
werden  —  wäre  es  zu  beklagen,  wenn  der  Einzelne 
sich  dieses  Instrumentes  bedienen  würde,  um  damit 
Dinge  zu  enthüllen,  die  eine  gnädige  Vorsehung  in 
Dunkel  tauchte. 

3.  Eine  weitere  Fehlerquelle  ist  die  Gedanken^ 
Übertragung.  Mir  ist  sehr  wohl  bekannt,  daß  die 
gelehrte  Zunft  dieses  Phänomen  noch  nicht  anerkennt, 
wiewohl  die  Beweise  dafür  längst  erbracht  sind.  Es 
ist  hier  nicht  der  Ort  näher  darauf  einzugehen,  wir 
wollen  uns  daher  auf  folgende  Erwägung  beschränken: 

Wenn  Gedankenübertragung  überhaupt  vor:« 
kommt,  dann  liegt  es  auf  der  Hand,  daß  wir  sie  am 
ehesten  bei  besonders  sensiblen  Individuen  finden 
werden.  Nun  scheint  es  doch  unbestreitbar  zu  sein, 
daß  die  mit  der  Gabe  des  Hellsehens  ausgestatteten 
Personen  besonders  feinfühlig  sind.  Wir  werden 
also  bei  ihnen  auch  zuerst  Reaktion  auf  Gedanken 
anderer  voraussetzen  dürfen.  Angenommen  nun  in 
einer  prophetischen  Sitzung  denke  jemand  intensiv  in 
einer  bestimmten  Richtung  mit,  so  liegt  die  Vermutung 
einer  dadurch  herbeigeführten  Beinflussung  nahe.  Sie 
wird  zur  Gewißheit  durch  die  Bekundungen  der 
Somnambulen  selbst. 

Wenn  wir  die  Möglichkeit  einiger  Visionen  zus= 
geben,  so  braucht  man  durchaus  nicht  mit  gewissen 
Spiritisten  an  ungezogene  oder  böswillige  Kobolde  zu 
glauben,  die  aus  reiner  Freude  am  Unfug  falsche 
Bilder  vorgaukeln.  Man  braucht  auch  mit  Dr.  Egbert 
Müller^)  nicht  einverstanden  zu  sein,  wenn  er  schreibt: 


^)  Zitiert  nach  Ferriem,  S.  108  Anm. 

27= 


420 

„Nicht  in  Erfüllung  gehende  Visionen  können  den* 
noch  wirkliche  Visionen  sein,  weil  es  doch  scheinen 
will,  daß  für  die  Vorgeschichte  des  Sehers  von  dem 
wirklich  in  der  Zukunft  geschehenden  erst  noch 
Zwischengesichte  durchdrungen  werden  müssen, 
gerade  wie  wir  mit  unserem  Denken  oft  erst  durch 
eine  Fülle  unzutreffender  Gedanken  endlich  zu 
dem  brauchbar  richtigen  hingelangen."  Denn  wenn 
wir  so  argumentieren,  dann  machen  wir  uns  die 
Sache  zu  leicht.  Eine  richtige  Vision  kann  doch  nur 
da  vorliegen,  wo  sich  wirklich  die  Ereignisse  so  ab* 
spielen,  wie  der  Seher  sie  schaut.  Aufs  Räumliche 
übertragen:  das  beste  Fernrohr,  das  uns  Dinge  zeigt, 
die  für  das  unbewaffnete  Auge  unsichtbar  sind,  sieht 
doch  Dinge,  die  wirklich  da  sein  müssen,  wenn  auch 
in  großer  Ferne.  Machten  wir  uns  den  Gedanken 
Dr.  Müllers  zu  eigen,  dann  könnte  ein  Fernrohr  uns 
auch  Objekte  zeigen,  die  nicht  existieren  oder  doch 
solche,  die  in  Wirklichkeit  anders  aussehen.  Denn 
was  den  „Zwischengesichten"  in  der  Zeit  entspricht, 
wären  hier  die  räumlichen  Strecken  zwischen  unserem 
Auge  und  dem  Objekt. 

Der  Vergleich  dürfte  zeigen,  daß  Dr.  Müllers 
Deutung  irrig  ist. 

Die  Vision  muß,  wenn  sie  als  Prophezeiung  gelten 
soll,  unbedingt  richtig  sein.  Allerdings  braucht  sie 
keineswegs  den  Schluß  eines  Vorganges,  noch  nicht 
einmal  den  wichtigsten  Moment  herauszugreifen.  Es 
genügt  völlig,  wenn  sie,  wie  etwa  eine  Platte  des 
Kinematographen,  nur  einen  Moment  einer  Handlung 
festhält. 

Mir   scheinen   irrige  Visionen  —  nicht  etwa  Ilal«« 


i 


421 


luzinationcn  —  nicht  wahrscheinlich.  Wir  sind  auch 
nicht  gehalten,  sie  anzunehmen.  Denn  wie  wir  ja 
auch  in  die  größte  Verlegenheit  kämen,  aus  einem 
oder  wenigen  Momenten  des  kinographischen  Vor* 
ganges  die  ganze  Handlung,  deren  Vorstadien  und 
besonders  deren  Ende  zu  rekonstruieren,  so  muß  es 
auch  auf  die  größten  Schwierigkeiten  stoßen,  eine 
flüchtige  Vision  richtig  zu  interpretieren. 

Mery  meint,  die  vom  Propheten  verkündeten  Er# 
eignisse  könnten  doch  von  ihm  nicht  aus  dem  Schoß 
der  Zukunft  herausgenommen  werden,  wie  etwa 
Zigarren  aus  ihrer  Kiste.  Vielmehr  handle  es  sich 
um  die  Wahrnehmung  entfernter  Wirklichkeiten, 
deren  Ursachen  zur  Zeit  der  Vorhersage  bereits  ge^ 
geben  sind. 

Verdient  der  letzte  Satz  unsere  Zustimmung,  so 
der  vorhergehende  unseren  teilweisen  Widerspruch. 

,, Genommen"  wird  vom  Propheten  gewiß  nichts, 
denn  die  Visionen,  wenigstens  die  echten  und  zuver^^ 
lässigen,  kommen  ebenso  spontan  —  darin  müssen  wir 
den  Hellsehern  glauben  —  wie  die  Träume.  Die  produ^* 
zierende  Tätigkeit  des  Sehers,  wenigstens  die  bewußte, 
ist  also  annähernd  gleich  Null.  Wohl  aber  sind  die 
einzelnen  Visionen  so  isoliert,  wie  es  einzelne  kine^ 
matographische  Platten  wären,  die  uns,  aus  dem  Zus= 
sammenhang  der  Handlung  gerissen,  vor  Augen  ge* 
stellt  würden.  In  diesem  Sinne  entsprechen  also  die 
Visionen  allerdings  den  Zigarren,  nur  daß  sie  nicht 
von  uns  freiwillig  aus  der  Kiste  gewählt,  sondern 
von  einem  andern  uns  in  die  Hand  gedrückt  werden. 

Der  Vergleich  hinkt  allerdings:  zunächst  ist  eine 
Zigarre    ein    von    der  Umgebung   losgelöster    Einzel* 


422 

gegenständ,  während  die  Vision  gleich  einem  Relief 
stets  mit  dem  Hintergrund  —  unserem  Bewußtsein, 
Unterbewußtsein  oder  Phantasie,  sagen  wir  kurz: 
unserer  Seele  —  zusammenhängt.  Sie  kann  deshalb 
nicht  isoliert  betrachtet  werden. 

Dazu  kommt  ein  zweites,  noch  wichtigeres  Mo* 
ment:  Die  Vision  ist  doch  kein  Gegenstand,  den  wir 
nach  Herzenslust  und  mit  aller  Gründlichkeit  beliebig 
lange  betrachten  können,  sondern  sie  ist  in  Bewegung, 
ein  Vorüberhuschen,  genau  wie  die  Films  des  Kine* 
matographen. 

Nehmen  wir  an,  jemand  von  uns  solle  einige 
Momente  einer  kinematographisch  reproduzierten 
Handlung  erzählen.  Er  würde  nicht  nur  im  Detail 
große  Irrtümer  begehen,  er  würde  auch  vor  allem 
wichtige  Momente  übersehen.  Nebensächliches  in  den 
Vordergrund  rücken  und  so  durch  unrichtige  Be* 
leuchtung  das  Bild  verzerren.  Dazu  aber  kommen 
Kausalitätsbedürfnis  und  Kombination.  Er  wird  also 
Vorstadien  rekonstruieren,  die  seines  Erachtens  den 
veranschaulichten  Momenten  vorangingen,  ohne  sich 
dieser  seiner  Tätigkeit  bewußt  zu  sein.  Ferner  wird 
er  das  Bild  automatisch  fortsetzen  und  auch  dieses 
sein  Phantasieprodukt  für  etwas  wirklich  Gesehenes 
halten. 

Nun  ist  noch  zu  bedenken,  daß  auch  das  schnell 
vorbeiziehende  Gemälde  des  Kinematographen  aus 
Einzelbildern  zusammengesetzt  ist,  von  denen  jedes 
wenigstens  ganz  scharfe  Konturen  hat.  Die  Folge  der 
Einzelbilder  ist  nur  zu  schnell,  um  jedes  scharf  er* 
fassen  zu  können,  aber  die  Bilder  selbst  sind  voll* 
kommen  deutlich. 


423 


Anders  bei  der  Vision,  oder  doch  bei  sehr  vielen 
Visionen.  Hier  ziehen  die  Bilder  nicht  nur  oft  mit 
großer  Geschwindigkeit  vorüber,  sie  sind  auch  in 
sich  häufig  unklar,  nebelhaft. 

Berücksichtigen  wir  diese  Faktoren  alle,  so  liegt 
die  Erklärung  —  unter  der  Voraussetzung,  die  Vision 
sei  echt  und  die  Bilder  wahr  —  für  irrige  Voraus^ 
sagen  auf  der  Hand:  Sie  beruhen  auf  Fehler  des 
Sehens  oder  Hörens,  auf  Fehler  des  Gedächte 
nisses  und  endlich  auf  Fehler  der  Interpretation. 

Denn  daß  die  Auslegung  des  Gesehenen  von  aus* 
schlaggebender  Bedeutung  ist,  leuchtet  ohne  weiteres  ein. 

Folgende  Fehler  scheinen  mir  in  der  Natur  der 
Sache  zu  liegen: 

1.  Die  Seherin  erblickt  ein  Landschaftsbild,  das 
sie  nicht  kennt.  Sie  wird  in  diesem  Falle  eine  all* 
gemeine  Voraussage  machen,  die  zwar  die  Handlung 
bzw.  die  Geschehnisse  —  unter  den  obigen  Ein* 
schränkungen  —  richtig  enthält,  aber  den  Ort  offen 
läßt.  Diese  Vision  hat  dann  durch  ihre  Unbestimmt* 
heit  weniger  Wert  und  wird  von  den  Skeptikern 
nicht  als  Beweis  für  die  Tatsache  der  Prophezeiung 
zugelassen.  Denn,  so  heißt  es  dann  sogar  mit  einigem 
Recht:  jedes  Unglück  wird  sich  mal  irgendwo  er* 
eignen.  Das  würde  man  z.  B.  auch  gegen  die  Vorher* 
sage  des  Scheiterns  der  ,,Gneisenau"  anführen  können, 
wenn  nicht  andere  Momente,  etwa  der  Bart  des  Kapi* 
täns,  dagegen  sprächen.  Rein  als  Geschehnis  ge* 
nommen,  d.  h.  Auflaufen  eines  deutschen  Kriegs* 
Schiffes  auf  einen  Felsen,  hätte  die  Vision  aber  wenig 
Wert,  da  das  ja  ein  Unfall  ist,  dem  leider  unsere 
Marine   schon  öfter  Verluste  zuzuschreiben  hatte. 


424 


2.  Die  Seherin  erblickt  ein  Landschafts*  oder  ein 
Stadtbild,  das  sie  mit  einem  bekannten  identifizieren 
zu  können  glaubt.  Sie  wird  nun  apodiktisch  erklären: 
Xstadt  wird  von  einem  Erdbeben  zerstört!  Tatsäch* 
lieh  hat  sie  sich  aber  insofern  geirrt,  als  das  Stadt^* 
bild  zwar  richtig  gesehen,  aber  falsch  gedeutet  war. 
Es  war  nämlich  Astadt.  Hier  liegt  dann  der  Fehler 
nicht  in  der  Vision,  sondern  in  der  falschen  Inters= 
pretation  eines  richtig  gesehenen  Vorganges. 

Da  auch  die  weitestgereiste  Seherin  unmöglich 
die  ganze  Erde  kennen  und  ihr  Bild  —  das  ja  noch 
dazu  im  Laufe  der  Jahre  sich  ändert  —  im  Gedachtes 
nis  behalten  kann,  da  auch  Irrtümer  in  der  Agnosti^^ 
zierung  leicht  vorkommen  können,  so  werden  die 
beiden  genannten  Lücken  bzw.  Fehler  der  Interpreta^ 
tion  sehr  häufig  sein. 

3.  Die  Seherin  liest  eine  Inschrift  oder  ein  Datum 
falsch,  weil  die  betreffende  Tafel  ihr  nur  verschwommen 
erscheint. 

4.  Die  Seherin  liest  zwar  die  Tafel  richtig,  kom* 
biniert  dann  aber  falsch. 

Ein  solcher  Fall  ist  mir  in  der  Praxis  passiert: 
Eine  bekannte  Dame,  Hellseherin,  aber  weder  aus* 
gebildet  noch  gegen  Entgeld  ausübend,  erzählte  mir, 
sie  hätte  den  Tod  des  Prinzregenten  von  Bayern  für 
den  Herbst  1907  vorhergesehen.  Natürlich  fragte  ich, 
wie  sie  das  gemacht  habe,  da  ich  damals  noch  Visionen 
für  unmöglich  hielt  und  es  mir  die  größte  Freude 
gemacht  hätte,  die  Dame  ad  absurdum  zu  führen. 
Sie  teilte  mir  dann  mit  —  und  ich  brachte  es  zu 
Papier  —  sie  habe  fürstlichen  Trauerfeierlichkeiten, 
die  sie  beschrieb,  in  der  Theatinerkirche  beigewohnt. 


425 


habe  auch  die  Inschrift  auf  dem  Katafalk  gesehen, 
aber,  wegen  zu  großer  Entfernung,  nur  verschwommen 
lesen  können.  Immerhin  konnte  sie  den  Monat  ent^ 
Ziffern  —  es  war  der  November  —  und  vom  Datum 
mit  Bestimmtheit  die  erste  Ziffer  1,  und  dann  glaubte 
sie  noch  eine  3  oder  5  gesehen  zu  haben.  Das  wisse 
sie  aber  nicht  genau. 

Tatsächlich  starb  ein  königlicher  Prinz  am  12.  No^ 
vember  des  genannten  Jahres  und  wurde,  wie  in  der 
Vision  gesehen,  beigesetzt.  Der  Landesherr  war  es 
aber  nicht.  Hier  war  nicht  die  Vision  falsch,  sondern 
die  Interpretation.  Die  Dame  hatte  sich  gedacht,  es 
sei  der  Regent. 

Daß  Irrtümer  der  sinnlichen  Wahrnehmung  auch 
beim  Hören  von  Tönen  vorkommen  können,  und  daß 
ferner  die  irrige  Interpretation  sich  auf  alles  erstrecken 
kann,  leuchtet  ein.  Wir  wollen  daher  auf  diesem 
Punkt  nicht  weiter  verharren,  um  mit  der  Konstatier 
rung  zu  schließen,  daß  eine  falsche  Prophezeiung 
sehr  wohl  bei  richtiger  Vision  möglich  ist,  ja  daß 
sogar  in  der  Regel  die  Prophezeiung  keine  exakte 
Wiedergabe  des  auf  übersinnlichem  Wege  Wahr*: 
genommenen  sein  wird.  Deshalb  beweist  das 
Nichteintreffen  einer  Vorhersage  gar  nichts  gegen 
die   Tatsache,    daß    es   richtige   Prophezeiungen  gibt. 

Bisher  nahmen  wir  an,  daß  es  sich  um  richtige 
Visionen  handelt,  wenn  sie  auch  —  etwa  durch  Ge* 
dankenübertragung  —  beeinflußt  sein  mögen.  Aber 
sehr  häufig  wird  der  Seher  eine  Vision  zu  haben 
glauben,  und  es  ist  gar  keine;  die  Phantasie  spielte 
ihm  einen  Streich. 

Da    die    Grenzen    zwischen    Vision    und    Hallu? 


426 

zination  bzw.  Phantasiebild  sehr  schwer  zu  ziehen 
sind,  wohl  oft  noch  schwerer  als  die  zwischen  Traum 
und  Wachen,  so  kommt  es  zweifellos  sehr  häufig 
vor,  daß  die  Somnambule  in  Trance  gewesen  zu  sein 
glaubt,  während  sie  wachte.  Dann  wird  sie  etwas 
als  eine  auf  übersinnlichem  Wege  gewonnene  Wahrst 
heit  verkünden,  was  nur  ihr  Phantasieprodukt  ist. 

Aus  allen  diesen  Fehlerquellen,  die  wir  hier  auf^^ 
zuzeigen  versuchten,  ohne  uns  einzubilden,  Vollstän* 
digkeit  erreicht  zu  haben^),  geht  so  viel  mit  Sicher* 
heit  hervor,  daß  es  weder  leicht  ist  eine  richtige 
Vision  bzw.  Prophezeiung  als  solche  zu  erkennen  und 
zu  interprätieren,  noch  auch  zuläßig  ist  aus  Irrtümern, 
die  der  Seher  begeht,  zu  folgern,  daß  es  kein  zeit* 
liches  Fernsehen  gibt. 

Ein  von  mir  im  übrigen  hochverehrter  Gelehrter 
suchte  sich  über  die  Realität  des  Fernsehens  zu  in* 
formieren,  indem  er  Hellseherinnen  oder  Personen, 
die  im  Rufe  standen,  es  zu  sein,  die  Fragen  vorlegte: 
was  er  in  der  Tasche  habe?  was  er  heute  Mittag 
gegessen  habe?  usw.  Da  die  betreffenden  Personen 
darauf  meistens  die  Antwort  schuldig  bleiben  mußten. 


^)  Der  Interessent  sei  nachstehend  auf  die  wichtigste  ein* 
schlägige  Literatur,  soweit  wir  sie  nicht  im  Text  nannten,  ver* 
wiesen.  Ihre  Bekanntschaft  verdanke  ich  der  Liebenswürdigkeit 
des  Grafen  Karl  von  Klinkowström.  Ich  bemerke  aber  ausdrück; 
lieh,  daß  ich  sie  nicht  studierte,  da  ich  bewußt  als  Historiker 
an  das  Thema  herantrat  und  mir  meine  Unbefangenheit  bis  zum 
Schlul^  bewahren  wollte.  H.  Parish,  Zur  Kritik  des  telepathischen 
Heweismatcrials,  1897;  M.  Dessoir,  ,,noppelich";  L.  Loewenfeld, 
„Somnambulismus  und  Spiritismus",  1907;  N.  Kotik,  ,,Dic  Erna* 
nation  der  psychophysischen  Energie",   Wiesbaden  1908. 


427 


so  stand  für  den  Professor  die  Tatsache  fest,  daß 
Prophetie  Schwindel  sei. 

Der  gute  Mann  forderte  Allwissenheit.  Das 
war  ein  kleiner  Irrtum.  Er  war  ferner  naiv  genug,  zu 
glauben,  man  erforsche  die  Natur,  indem  man  ihr 
Bedingungen  stelle,  statt  daß  man  sich  den  von  ihr 
aufgestellten  unterordnet. 

Ärzte  finden  sich  mit  dem  Problem  auch  sehr 
leicht  ab.  Wo  sie  mit  dem  Zufall  nicht  auskommen, 
nennen  sie  es  Hysterie.  Denn  wo  Begriffe  fehlen, 
da  stellt  zur  rechten  Zeit  ein  Wort  sich  ein.  Übrigens 
ist  es  ziemlich  leicht,  schon  äußerlich  den  mit  der 
Gabe  des  zeitlichen  Fernsehens  ausgestatteten  zu  tr^ 
kennen.  Man  sieht  es  an  den  Augen.  Ich  habe 
mich  fast  nie  geirrt. 

Dagegen  möchten  wir  darauf  hinweisen,  daß  auch 
der  beste  Schütze  Fehlschüsse  tut,  daß  sogar  ein  Ideale 
gewehr  in  gewissen  Fällen  nicht  treffen  kann,  wenn 
nämlich  der  Steuungskegel  größer  ist  als  das  Ziel 
(vgl.  S.  153.  f). 

Wir  haben  festgestellt,  daß  es  eine  Kraft  der 
Prophetie  gibt,  ein  zeitliches  Fernsehen.  Aufgabe 
der  Wissenschaft  muß  es  nun  in  Zukunft  sein,  auf^^ 
zudecken,  unter  welchen  Voraussetzungen  diese  Kraft 
in  Wirksamkeit  tritt,  ihre  Stärke  zu  ermitteln  und 
ihren  Streuungskegel  zu  berechnen.  Ist  das  alles  ge^ 
schehen,  dann  mag  sie  mit  Kant  und  Schopenhauer 
nach  einer  metaphysischen  Erklärung  suchen,  aber  sie 
nicht  schon  in  der  Leugnung  der  Realität  der  Zeit 
gefunden  zu  haben  glauben. 

Wir,  die  wir  als  Historiker  die  Frage  prüften, 
müssen  uns    mit    folgender  Konstatierung   begnügen: 


428 


Der  Glaube  an  Prophetie  ist  kein  mittel* 
alterlicher  Aberglaube»  Er  ist  eine  neue  Wahr* 
heit,  die  wir  erstmalig  zwingend  bewiesen. 
Wir  wissen  nunmehr  von  der  Existenz  des  zeitlichen 
Fernsehens. 


429 


Alphabetisches  Verzeichnis   der  wichtigeren 
Personen  und  Sachen 


Achilleus  44. 

Adelung,  100  f.,  192. 

Agrippa,  Cornelius,  350. 

Aigospotamoi  40. 

Alexander  66,  72. 

Arnos  26  f. 

Apollo  33,  35f.,  41. 

Arago  4. 

Argens,  Marquis  d',  108f.,  172. 

Arnold  97  f. 

Assyrer  26  f.,  28. 

Astrologie  70 f.,  79  ff.,  347  ff.,  402. 

Athen  34  f. 

Atia  65  f. 

Aufklärung  8  f. 

Augustinus  2. 

Augustus  65  ff.,  71  f. 

Automobil,  vorhergesagt,   120. 

Autoritäten  3  f.,  7. 

Babylonisches  Exil  28. 
Bald  10. 
Bailly  10,  299. 
Barry,  du,  323. 
Barton,  Elisabeth,  92. 
Bassompierre  91. 
Baudus,  de,   116  ff. 


Bazarbrand    in    Paris,    vorher? 

gesagt,  122ff.,  333. 
Beauharnais  313. 
Beaumont,  Frau  von,  63  f. 
Beckmann  340. 
Bellini  143. 
Berechnung  141  f. 
Bernhard,  hl.,  407. 
Bertholon  3. 

Bessieres,  Marschall,   116  f. 
Biron,  Herzog,  93  f. 
Bismarck  59 f.,  372. 
Blake,  W.,  136. 
Blücher  273,  289. 
Böhm  61  f. 
Bormann,  W.,  307 ff.,  313,  320ff., 

336  f.,  339  f.,  374  f.,  378  f. 
Bouland  307. 
Bourbonen,  Vorhersage  des  Un? 

terganges,  96  f. 
Boussenard  64. 
Bouthors  53. 
Böse,  General,  216. 
Brahe,  Tycho  de,  14,  84. 
Brand,  Sebastian,  412. 
Brantöme  352. 
Brugsch,  H.,  56. 


430 


Brühl,  Graf,  213  f.,  262, 264, 269  ff. 
Brunswig,  Alfred,  Vorwort. 
BrüxsDux,      Kohlenbergwerk, 

334  ff. 
Buddha  72. 

Caesar  41  ff.,  60,  64f..  67. 
Calpurnia  43. 
Campan  377,  388. 
Capelli,  Bianca,  78. 
Capistrano  88  f. 
Capys  42. 
Cardanus  87  f. 
Cario,  Joh.,  lOOf.,  192. 
Carmine,  Giuliano  del,  106. 
Cassius,  Dio,  70. 
Cazotte,  293,  296ff.,  306ff. 
Chamfort  295,  298,  300  f. 
Chavigni  354 f. 
Chronogramme  396. 
Chrysippos  41. 
Cervoni  119. 
Cicero  2,  33,  69,  140. 
Clarence,  Herzog  von,  333. 
Clement  350,  364  f.,  370. 
Clerepeyne  366 ff.,  383  f. 
Coligny  358. 

CollinitiussTannstetter  14. 
Comenius  192. 
Condorcct  297. 
Cornelius  Baibus  42. 
Couedon  122  ff. 
Crequi,  Marquise,  324. 

Dariex   105. 
Davidson  49  ff. 
Davis.  A.  J..  119ff. 
Davy  3. 


Eduard  VII.,   Vorhersage    des 

Todes,  86. 
Ehrlich  279  ff.,  289  ff. 
Eingeweideschau  44. 
Engel  123. 

England,  Weltherrschaft,  390  f. 
Ennius  69. 

Erfurt,  Vorhersage,  94  f. 
Ervieux,  d*,  105. 
Eschenmayer  109  ff. 
Eugen,  Papst,  78. 
Ezechiel  28  f. 

Fage,  Durand,  192  f. 

Faure,  Felix,  86. 

Feldzug  von  1805,  Vorhersage, 

287. 
Feldzug  von  1815,  Vorhersage, 

281  ff. 
Ferdinand  II,  Kaiser,  413. 
Ferdinand  III.,  Kaiser,  85. 
Fernsehen,  räumliches,  54. 
Ferriem,  de,  325  ff.,  415  f. 
Flammarion,  Camille,  49,  52. 
Franklin  4. 
Frankreich,    Niederlage    u.    a., 

276 f.,   Revolution  von  1789, 

Vorhersage,  80.  100,  320 ff. 
Franz  II.,   Kaiser,   173. 
Franz  II.  von  Frankreich  362. 
Franz  von  Assisi  29. 
Freys  380,  382. 
Fromm,  A.,   181  f 
Friedrich     von     Württemberg, 
Vorhersage  des  Todes,  109  tt. 
Friedrich  der  Grolk  108  f.,  171  f.. 

187.  219,  222. 
Friedrich  I.von  Prcußenl70,lS5f 


431 


Fricdricli  III.,  deutscher  Kaiser, 

78. 
Friedrich  III.  von  Preulien   170, 

182. 
Friedrich  August  II.  von  Sachsen 

219. 
Friedrich  Wilhelm    der    Große 

Kurfürst  169,  182,  185  f. 
Friedrich  Wilhelm  I.  von  Preuss 

sen   171,   186. 
Friedrich  Wilhelm  II.  von  Preus? 

sen  173,  188. 
Friedrich     Wilhelm     III.     von 

Preußen    174f.,    188,    259ff., 

273  ff.,  288  f. 
Friedrich     Wilhelm     IV.     von 

Preußen  175,  188,  273. 

Galilei  6. 

Gallier,  Vorhersage  des  Einfalls 

in  Asien  40. 
Galvani  3. 
Gassendi  3. 

Gauricus,  Lukas,  85,  192. 
Gedankenübertragung  419. 
Genlis,  Gräfin,  3 10  f. 
Georg  V.  von  England  86. 
Gerson  404ff.,  410. 
Giesebrecht  180  f. 
Gieseler  182  f. 
Gneisenau,       Untergang      des 

Kriegsschiffes,  339  f. 
Godefroy  siehe  Kerkau. 
Goethe  83,  130  ff. 
Goldmayer  85. 

Gramont,  Herzogin, 301  ff., 323  f. 
Greulich  94  ff. 
Guhrauer  183. 


Guise,   Herzog  von,  362. 
Gustav    Adolf    von    Schweden 

84  f.,  88  f. 
Guynaud  352. 

Hansen    10. 

Hautz  241,  280. 

Heering  203  ff.,  248. 

Hegel  3. 

Heiligenliteratur  19  f. 

Heinrich  11.  von  Frankreich  85, 

350ff.,  361,  397. 
Heinrich    III.    von    Frankreich 

352,  354,  361  f.,  364  f. 
Heinrich    IV.    von    Frankreich 

90  ff.,  354,  365. 
Heliopolis,  Orakel,  33  ff. 
Helmolt,  Dr.  Hans  F.,  Vorwort. 
Helmont,  van,  6. 
Hennicke,  Graf,  204  f. 
Hennig  357,  372. 
Hermann  von  Lehnin  157. 177  ff. 
Herodot  35. 

Hieronymus  von  Prag  412. 
Hilten,  Joh.,  412. 
Hiskija  27  f. 
Horoskop  14,  vgl.  auch  Astro? 

logie. 
Homer  44. 

Houdancaut,  de  la  Motte,  323. 
Hübbe:=Schleiden304f.,321,323. 
Hufeland  112. 

Hungersnot,  Vorhersage,  240. 
Hus,  Joh.,  412. 

Jant,  Chevalier  de,  368. 

Jeremia  28. 

Jeremia,  Deutero?,  29. 


432 

Jerobeam  IL  26. 

Jerusalem,  Vorhersage,  27 f. 

Jesaia  28. 

Jesaia,  Deutero?,  29. 

Jessenius  413. 

Joest,  Wilhelm,  46 f. 

Johann  Philipp  von  Mainz  95. 

Joubert  568. 

Juden  24 ff.,  27,  29. 

J  ung^Stilling  6 1 ,  294, 303  ff..  309  f. 

Justi  69  f. 

Kaiserproklamation,      Vorher* 

sage,  175. 
Kalender,  Einführung  des  revo? 

lutionären,  397  f. 
Kant  2,  427. 
Kara  Mustapha  95. 
Karl  von  Bourbon  350. 
Karl  V.,  Kaiser,  87.  350. 
Karl  VI.,  Kaiser,  15. 
Karl  von  Savoyen   353  f. 
Karl  IX.  von  Frankreich  353  f., 

362. 
Keiserberg,  Joh.,  412. 
Kepler  82,  84  ff. 
Kerkau  327,  336. 
Kerner,  Justinus,  45  f. 
Kesselsdorf,     Vorhersage      der 

Schlacht.  214. 
Kiesewetter  347,  353.  372.  376  f. 
Kirchenvcrfolgung  398 f. 
Klein  109  ff. 

Klinkowstrocm.  Graf,  380,  426. 
Knicpf  86,  356.  402. 
Kottcr  192. 
Krämer  109  ff. 
Krösus  33. 


1 


Kunnersdorf,    Vorhersage    der 

Schlacht,  230. 
Küstrin,  Vorhersage  der  Schlacht, 

108. 
Kurz,  Isolde,  108. 

Laharpe  294,  300  ff.,  321. 

Lakedämonier  35 f. 

Langen  48. 

Lannes,  General,  118. 

Lasalle,  General,  118. 

Lehninsche  Weissagung    156  ff. 

Leidinger,  Georg,  380,  382. 

Leipzig,  Schlachten,  274,  277. 

Leopold  I.  95. 

Leovitius,  Cyprianus,  81. 

Le  Pelletier  356  ff. 

Leroy  10. 

Ligeritz  213. 

Lindemann,  Ferdinand,  Geheim* 

rat,  Vorwort. 
Liszt,  Franz  von,  138. 
Löscher  410. 
Ludwig  XIII.    von    Frankreich 

367  ff 
Ludwig  XIV.  395  f. 
Ludwig  XV.  223. 
Ludwig  XVI.  301  f.,  374  ff.,  388  f. 
Luftschiffahrt  121,  340  ff. 
Luise,  Königin,  259  f.,  273. 
Luther  87  f.,  408,  411. 

Macrobius  33. 
Maille,  Graf  von,   122  ff. 
Majunke  186. 
Makcdonier  41. 
Maleshcrbcs  299. 
Marchandon  105. 


433 


Marj;.irctc  von   l*arm.i   107. 
M.iria  l'codorowna  315. 
Maria  Theresia   171f.,  223. 
Marie  Antoinette  374 ff.,  388 f. 
Marie  Luise  394. 
Martinique,   Hrdbeben,  329 f. 
Materialismus   10  f. 
Matthias,  Kaiser,  84.  413. 
Maximilian  I.,  Kaiser,   14. 
Mayer,  Robert,  4. 
Medici:  Alessandro   106  ff. 

Katharina  93, 350, 353  f., 

362. 
Lorenzino   106  ff. 
Maria  20  f. 
Meinhold,  \V.,  178. 
Mclanchton  82. 
Melander  82  f. 
Merkt  29. 

Mery,  Gaston,  124f.,  421. 
Mesmer  10. 
Messina,  Vorhersage    der   Zer? 

Störung,  128  f. 
Micha  27  f. 
Miller.  J.  A.,  241  ff. 
Montgomery  351. 
Montmorency,      Heinrich     IL, 

366 ff.,  383  f. 
Morgan  sDawson  52. 
Moskau,   Vorhersage    der   Zer* 

Störung.  84. 
Motret  368. 
Müller,  Egbert,  419f. 
Musaios  40. 

Napoleon     I.       llSf.,      283ff., 

391  ff". 
Napoleon  III.  356f.,  371f. 

Kemmerich,  Prophezeiungen 


Napoleonische  Kriege,  Vorher* 

sage,  400  L 
Narbonnc,  Graf,  376 ff. 
Nebukadnezar  28. 
News  York,  Vorhersage  des  IIa? 

fenbrandes,  327  f. 
Ney,  Marschall,   117. 
Nick,  Arzt,  110. 
Nicolai  299. 
Niederlande,   Vorhersage  ihrer 

Blüte,  89. 
Nigidius  Figulus  66,  70. 
Nikolaus  V,  Parentucelli,  Papst, 

78. 
Nostradamus  346 ff. 
—  gefälschte  Quatrains  356 f. 

Oberkirch,  Baronin,  313  ff. 
Octavius  65  ff. 
Old  Moore  332  f. 
Olearius,  Joh.,  409. 
Ölven,  Rittmeister,  181. 
Orakel  33  ff.,  66. 
österreichisch  *  französisches 

Bündnis,  Vorhersage,  222  f. 
österreichisch  s  Preußischer 

Krieg  59  f. 
Otto  Heinrich  von  der  Pfalz  81. 

Pallas  40. 

Papsttum,  Beseitigung  der  welt- 
lichen Herrschaft,  389 f. 
Paracelsus  6. 
Pausanias  40. 
Peare,  A.  J.,  86. 
Pest,  Vorhersage,  34  ff. 
Petrarcha  87. 
Phännis  40. 

28 


434 


Philibert  Emanuel  von  Savoyen 

352  f. 
Philippos  41. 
Piazzi  3. 

Pierre  d'Ailly  79. 
Pius  II.,  Piccolomini,  Papst,  78. 
Planet,  neunter, Vorhersage,  119. 
Plato.  2,  72. 
Plutarch  40. 
Poniatowssken   191  ff. 
Ponk:=Knop  179. 
Prel,  Du,  140. 
Preußen ,      Wiederaufrichtung, 

Vorhersage,  274,  276 f.  etc. 
Pröhle.  H.,  182. 
Proles,  Andreas,  412. 
Prophetie,  Unmöglichkeit,  3  ff, 

8f.,  16. 
—  Allgemeines,  99  ff. 
Prophezeiungen,  falsche,  153  f, 

Gründe  dafür:   415ff. 
Protestantismus,    lange   Dauer, 

'.': '•hersage,  88. 
Puysegur,  Marquis,  315,  318. 
Pyrrhus  33. 
Pythia  3  9  f. 

Quincey  136. 

Ravaillac  91. 

Reimann  270f.,  279f. 

Rcuß  111. 

Rizacasa  93. 

Roßbach,  Schlacht,  Vorhersage, 

227. 
Roucher  299. 

Rüchcl,  General,  258  ff..  273. 
Rudolf  II.,  Kaiser.   14. 


Sarti  128f 

Sauce  377  ff.,  384. 

Schoner,  Joh.,  82. 

Schopenhauer  2,  345,  427. 

Scott,  W.,  136. 

Schwedt,  Markgraf  von,  182. 

Sedan,  Vorhersage,  371  f. 

Seidel,  M.  F.,  180. 

Semmelweiß  4. 

Seyler  188. 

Shelley  136. 

Siebenjähriger    Krieg,   Vorher? 

sage,  226. 
Simiane,  de,  324. 
Simson,  Geheimrat,  262  ff. 
Soliman  II.  358. 
Spangenberg,  Joh.,  412. 
Speer  177. 
Spurinna  42  f,  44. 
Stainville,  Marschall,  315  ff. 
Stieglitz  112. 
Stoffler,  Joh.,  81. 
StromersReichenbach,  Friedrich 

Frh.  V.,  Vorwort. 
Sueton  41  ff.,  65,  71  ff. 
SuUy  90. 

Süße,  Joh.  G.,  203ff.,  405,  40S. 
Sybille  40. 
Symbol,   Symbolismus    46,  70, 

99  ff. 

TannstettersColIinitius  81. 
Tesse,  de,   324. 
Testament.  Altes,  23  ff. 
Textor,  J.W..   134tt. 
Thcbes,  Mme.,  86. 
Thcogcncs  71. 
Thilton  49 H. 


435 


Thomas  57. 
Thukydidcs  34  ff. 
Thuriicyi^cr  78. 
Tragik   332. 
Trajan   34,  49  ff. 
Traum    78,    134. 
Doppcltraum. 
Traumsprachc  253. 


Siehe    auch 


Vaudin  3. 

Vergil  44. 

Victor  Emanuel  128  f. 

Villandry  93. 

Villani  107. 

Virchow  10. 

Visionen  337 f.,  343 f.,  420ff. 

Vogtius  84 f. 

Vorahnungen  60  ff. 

Vogelgesang sZipelius  58. 

Wahrsagerinnen  407. 
Wahrsagung      aus      Kaffeesatz 

101-106. 
Wahrscheinlichkeitsrechnung 

146ff.,  383ff. 


Wahrträumc  45  ff.     Siehe  auch 

Traum. 
Wallenstcin  82,  85,   199  ff. 
Wanncr   109  f. 
Wcrnstorff  412ff. 
Wessel.  Joh.,  412. 
Wien,  Vorhersage  von  Belage? 

rung  und  Pest,  95  f. 
Wilhelm  T,  Kaiser,  59,  175,  188, 

372. 
Wilken   180. 
Willensfreiheit  12  f. 
Wittenbart  55  f. 
Wittig  121. 
Wolf,  Fr.,   183. 

Zeitangaben  331  ff. 
Zeppelin,  Graf,  340. 
Ziehen  82. 
Zipelius  58. 
Zitzwitz  182  f. 
Zufall  142  ff.,  384  ff. 
Zweifel  22. 


28= 


h-^i^ 


^57 


Dr.  MAX  KEMMERICH 

Kultur^  Kuriosa 

Erster  Band  (10.  Tausend)  —  Zweiter  Band  (6.  Tausend) 
Jeder  Band  geheftet  3  Mark  50  Pfg.,  gebunden  5  Mark 

Münchner  Neueste  Nachrichten  :  Wenn  idi  den  Verfasser  recht  verst^inden 
habe,  so  hat  er  mit  dieser  VeröttentUchung  von  Kulturuokumenten  aller  Zeiten  und 
Völker  das  ethische  Ziel  verfolgt,  im  Spiegel  der  Vergangenheit  das  Bild  der  Gegen= 
wart  2U  zeigen  und  dadurch  auch  seinerseits  dazu  beizutragen,  daß  Leben,  hihre, 
Freiheit  und  fremde  Überzeugung  jene  Achtung  genieße,  die  er  mit  vollem  Recht 
als  das  wichtigste  Kulturkriterium  betrachtet,  wichtiger  als  alle  technischen  und 
wissenschaftlichen  Fortschritte  und  alle  künstlerischen  Großtaten. 

Der  Tag,  Berlin:  Ein  ganz  verflixtes  Buch.  Vom  Standpunkt  der  Orthodoxie 
aus  —  hüben  wie  drüben  —  höchst  verwerflich  nach  Tendenz  und  Inhalt.  Und 
nun  gar:  wenn  man  sich  , .Töchterschülerinnen"  als  seine  ungebetenen  Leserinnen 
vorstellen  wollte  —  einfach  Pfui  Deibel!  L'nd  dennoch:  recht  zum  Nachdenken 
bewegend,  zur  Einkehr  stimmend,  zur  Umschau  anregend.  Notabene :  Für  solche, 
die  ihr  bißchen  Spiritus  gewöhnt  sind  nicht  nach  einem  irgendwie  vorgeschriebenen 
Schema  F  einzustellen.  Bei  allem  Pessimismus,  der  daraus  spricht,  eine  sinnige 
Gabe  für  geborene  Optimisten  ....  Der  wahre  Satiriker  will  nicht  nur  bloßstellen, 
sondern  auch  bessern ;  so  will  auch  dies  Buch  bei  aller  Boshaftigkeit  oder  doch  Unü 
geschminktheit  den  unserer  ,, Bildung"  durchaus  nicht  überall  adäquaten  Stand 
unserer  sogenannten  Kultur  heben.  Möchte  es  vor  allen  Dingen  unter  die  Augen 
der  Männer  geraten,  die  es  namentlich  angeht!  (Dr.  Hans  F.  Helmolt.) 

Generalanzeiger  Mannheim:  Solche  Bücher  sind  selten.  Denn  zu  gern 
verschließt  sich  der  Mensch  solch  grassem  Bekenntnis  der  Wahrheit.  Aber  sie  haben 
eben  dadurch  doppelten  Wert.  Kemmerichs  ,,Kultur5Kuriosa"  sollte  jeder  besitzen, 
der  Anteil  nimmt  an  menschlicher  Kultur,  und  es  ist  jedem  von  uns  heilsam,  mit« 
unter  in  dem  Buche  zu  blättern. 

Neue  Züricher  Zeitung:  Eine  Sammlung  drastischer  Anekdoten  aus  dem 
weiten  Reiche  der  Kulturgeschichte  mit  viel  Geschick  ausgewählt  zum  Behufe  des 
Nachweises,  ,,daß  unsere  Kultur,  soweit  sie  auf  Befreiung  von  Grausamkeit, 
Intoleranz  und  Borniertheit  beruht,  noch  sehr  jungen  Datums  ist".  In  der  Tat  ist 
es  unglaublich,  von  welcher  Barbarei  wir  herkommen,  und  in  welcher  Barbarei  wir 
vielfach  heute  noch  stecken,  auf  dem  Gebiete  des  Rechts,  der  Ehe,  der  Sittlichkeit, 
des  Glaubenslebens  usw.  Manchmal  traut  man  seinen  Augen  nicht;  aber  der  Ver^ 
fasser  beruft  sich  in  einem  überaus  reichen  Literaturnachweis  durchgängig  auf  die 
besten  Quellen. 

Liberales  Wochenblatt  Straßburg  i.  E.:     So  wirkt  das  Büchlein  kultur^ 

kräftig,  als  eine  Mahnung  zur  Offenheit  und  Freimütigkeit  in  dem  Eintreten  für  ein 
wahrhaft  humanes,  sittliches  Kulturideal. 

Albert  Langen,  Verlag,  München 


HJ>'^ 


Dr.  MAX  KEMMERICH 

Dinge,  die  man  nicht  sagt 

Siebentes  Tausend 
Geheftet  3  Mark  50  Pfg.,  gebunden  5  Mark 

Straßburger  Post:  Mit  diesem  Bande  ist  uns  ein  ganz  köstliches  Buch  geschenkt 
worden.  Es  handelt  von  allem,  was  das  Leben  an  Erscheinungen  und  Fragen 
bringt,  von  Schule  und  Universität  und  von  Nationalgefühl  und  Moral,  von  Kunst 
und  Humanität  und  von  Kritik  und  Polemik.  Es  wird  keinen  einzigen  Leser 
finden  —  außer  den  Kritiklosen,  die  dies  Buch  nicht  wert  sind  — ,  der  mit  einem 
einzigen  seiner  Aufsätze  ganz  einverstanden  wäre.  Aber  auch  keinen,  der  nicht 
gerade  dort,  wo  er  nicht  zustimmt,  über  die  rücksichtslose  Offenherzigkeit  und  das 
fröhliche  Draufgängertum  sich  freute,  mit  dem  der  Verfasser  seine  Meinung  sagt. 
Dieser  Mut  zur  Wahrhaftigkeit  macht  das  Buch  anziehend.  Allerdings  ist  aber  die 
besondere  Gabe  des  Verfassers  auf  ein  enges  Gebiet  begrenzt.  Er  ist  ein  überaus 
glücklicher  Beobachter  des  bunten  Treibens  unserer  ,, Gesellschaft",  das  man  in  den 
beteiligten  Kreisen  als  ,, unsere  Kultur"  bezeichnet.  Aber  zum  tieferen  Eindringen 
in  die  Probleme  zeigt  er  hier  entweder  keine  Lust  oder  kein  Geschick.  Darum  sind 
die  Abschnitte,  deren  Gegenstände  am  meisten  ein  Einsetzen  der  Kritik  nicht  an  den 
Zweigen,  sondern  an  der  Wurzel  erheischten,  die  unbefriedigendsten.  Aber  man 
soll  sich  durch  die  Gegenstände,  deren  Wahl  ein  Fehlgreifen  ist,  nicht  den  Genuß 
an  dem  andern,  glücklich  gewählten,  verderben  lassen. 

Die  Propyläen:  Die  „Kultur «Kuriosa"  sind  mehr  als  eine  bloße  Raritäten» 
Sammlung,  sie  wollen  den  Nachweis  führen,  daß  auch  unser  herrliches  20.  Jahr» 
hundert  das  dunkle  Mittelalter  noch  immer  nicht  überwunden  hat ,  während  die 
,, Dinge,  die  man  nicht  sagt"  in  systematischem  Kriegsplan  gegen  die  Gebrechen 
unserer  Zeit  vorgehen.  Beide  Bücher,  insbesondere  das  zweite,  das  ich  vorziehen 
möchte,  müssen  und  wollen  auf  Schritt  und  Tritt  anstoßen,  aber  sie  enthalten  eben 
doch  einen  wahren  Kern,  wie  jeder  zugeben  muß,  der  sich  von  den  Fesseln  der 
Voreingenommenheit  und  der  Phrase  freimacht. 

Niederschlesische  Zeitung,  Görlitz:  Vielleicht  ist  man  mit  der  Behand- 
lung  des  einen  oder  anderen  Themas  nicht  völlig  einverstanden,  aber  in  sehr  vielen 
Punkten,  ja  man  kann  sagen  in  den  meisten,  muß  man  den  V^erfasser  als  einen 
grundgcschcitcn  Menschen,  der  sich  unter  allen  LJmständen  bestrebt,  die  Dinge  ohne 
alle  Schönfärberei  zu  betrachten,  oder  einfacher  gesagt,  der  den  Mut  hat,  vernünftig 
zu  sein,  recht  geben.  Wenn  man  ihm  beispielsweise  zuhört,  wie  er  über  ,,Wissens' 
durst  und  Universität"  urteilt,  wie  er  das  zopHge  Gelehrtcntum  herunterputzt,  das 
an  Stelle  einer  universellen  lebendigen  Darstellung  stundenlanges  trockenes  Aufzählen 
der  Quellen,  der  Werke,  die  der  Darstellung  zugrunde  liegen,  tür  die  richtige  geistige 
Kost  h.ilt,  dann  spricht  einem  der  Verfasser  aus  dem  Merzen!  Nach  dieser  Richtung 
hin  bietet  das  Buch  eine  Summe  von  Beobachtung  aus  dem  täglichen  Leben,  und 
wenn  nur  die  Hälfte  von  dem,  was  er  sagt,  Nachachtung  fände,  so  würde  es  um 
vieles  besser  stehen    um  unsere   Kultur. 

Albert  Langen,  Verlag,  München 


^55 


Druck  von  Hesse  &.  Becker  in  Leipzig 

Papier  von  Bohnenberger  &.  Cie.,  Papierfabrik,  Niefern  bei    Pforzheim 

Einbände  von  E.  A.  Enders,  Großbuchbinderei,  Leipzig 


0 


BlNDiNG  ;.- .„    .      DEC  10  1964 


BF  Keinmerich,  Max 

1793  Prophezeiungen,   altGr  8.ber- 

K5  glaube  odor  neue  vaiirheit? 


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