^reseirteö tu
oi tlte
^niueröity of (Üaronta
Mrs. Raymond Daniell
/
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in 2010 with funding from
University of Toronto
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Prophezeiungen
1
<«'
Von Dr. Max Kemmerich erschien im Verlage von
Albert Langen in München:
Kultur^ Kuriosa Erster Band
Zehntes Tausend
Kultur^sKuriosa Zweiter Band
Sechstes Tausend
Dinge, die man nicht sagt
Siebentes Tausend
Ji)
Prophezeiungen
Alter Aberglaube oder
neue Wahrheit?
Von
Dr. Max Kemmerich
Albert Langen
Verlag für Litteratur und Kunst
München
BF
14- ^^^
Copyright 1911 by Albert Langen, Munich
Vorwort
Nicht eine Geschichte der Prophezeiungen zu
schreiben, stellte ich mir zur Aufgabe. Auch lag es
mir fern, den flauen Geschäftsbetrieb der Wahrsage^
rinnen in eine Hausse überzuleiten. Ich müßte daher
eine mir von dieser Seite etwa zugedachte Ehrung
dankend ablehnen.
Was ich beweisen wollte und bewiesen habe, ist
lediglich das Vorhandensein einer Kraft des zeitlichen
Fernsehens. Und zwar trat ich ursprünglich an die
Frage heran im Glauben, die Frophetie als Rest mittel
alterlichen Denkens endgültig abtun zu können. Erst
im Laufe der Untersuchung und unter dem Gewicht
der Argumente verwandelte sich der Verfasser von
einem Saulus in einen Paulus.
Ich übergebe diese Blätter der Öffentlichkeit in
der festen Überzeugung, eine neue Wahrheit gefunden,
als erster den Glauben der Jahrtausende zum Wissen
erhoben zu haben. Daß es Jahrzehnte dauern wird,
bis daraus die notwendigen Schlüsse auf unsere Welt*
anschauung gezogen werden, darüber bin ich mir im
klaren. Ebenso darüber, daß die erdrückende Mehr*
zahl der Zeitgenossen mit jener beneidenswerten
Sicherheit, die nur die absolute Ignoranz verleiht, das
Thema, wie seine Beantwortung ablehnen wird. Die
VI
i
Gewißheit aber, daß noch einmal die Zeit kommen
wird, in der die gedankenlose Menge unter unserem i
Einfluß ebenso ungeprüft das in Bausch und Bogen
ablehnen wird, was sie jetzt, gleichfalls ungeprüft,
anbetet, um das anzubeten, was sie heute verwirft,
wird mir niemand rauben können.
Für freundliche Unterstützung und Anregung in ,
Gesprächen ist es mir ein Bedürfnis, den Herren i
Privatdozent Dr. Alfred Brunswig, Dr. Hans F. Helmolt
und Friedrich Freih. von Stromer* Reichenbach, samt*
lieh in München, meinen herzlichsten Dank auszu*
/ sprechen. Besonders aber Herrn Geheimrat Prof. Dr. Fer*
I dinand Lindemann, der die große Güte hatte, den
\ mathematischen Teil meiner Beweisführung in den
Korrekturbogen einzusehen und zu begutachten.
Für den Hinweis auf Versehen irgendwelcher Art
werde ich jederzeit dankbar sein.
München, im März 1911
Der Verfasser
Inhaltsverzeichnis
Seite
Einleitung 1
Erstes Kapitel
Einzelne Prophezeiungen und Vorahnungen
Das Altertum 23
Zweites Kapitel
Einzelne Prophezeiungen und Vorzeichen
Mittelalter und Neuzeit 75
Drittes Kapitel
Unsere Beweisführung. Einwände und deren Widerlegung 137
Viertes Kapitel
Die lehninsche Weissagung
I. Der Text 157
II. Kommentar 177
Fünftes Kapitel
Christina Ponitowssken 191
Sechstes Kapitel
Die Prophezeiungen des Christian Heering aus Prossen . 203
Siebentes Kapitel
Die Art der Prophezeiung Heerings 231
Achtes Kapitel
Johann Adam Müller 241
Neuntes Kapitel
Cazotte's Weissagung der französischen Revolution . . 293
Zehntes Kapitel
Die Prophezeiungen der Frau de Ferriem 325
Elftes Kapitel
Michel Nostradamus 346
Zwölftes Kapitel
Stellung der Wissenschaft zur Prophezeiung 403
Einleitung
Wer heute den Mut hat, über Prophetie zu sprechen,
kann sicher sein, auf ein überlegenes Lächeln der soj*
genannten Gebildeten zu stoßen. Der Glaube an
die Möglichkeit des räumlichen, mehr noch des zeit:*
liehen Fernsehens gilt ja als Rest finstersten mittel*
alterlichen Aberglaubens, so etwa wie der an Inkubus
und Sukkubus. Jedermann hält es für unter seiner
Würde, derartige Phänomene überhaupt zu prüfen,
so wenig es jemandem einfällt, den alchimistischen
Lehren anders, als mit einem Achselzucken entgegen^»
zutreten.
Nun wird man zugeben, daß die Wahrheit die
allerschärfsten Prüfungen vertragen kann und nur der
Irrtum Schonung fordern muß. Wenn es also keine
fernseherischen Phänomene gibt, so wird sich die
Wissenschaft sicherlich durch einwandfreie Feststellung
der Tatsache nichts vergeben, wohl aber in schiefes
Licht kommen durch hochmütiges Ignorieren. Und
das zumal in einer Zeit, die so überaus reich an umi=
stürzenden Entdeckungen und Erfindungen ist, wie
die unserige. Man denke an die Röntgenstrahlen,
Radium, drahtlose Telegraphie, lenkbare Luft*
schiffe usw. usw. Alle diese neuen Erweiterungen
Kemmcrich, Prophezeiungen 1
unseres Gesichtskreises lehren uns oder sollten uns
doch wenigstens lehren, daß selbst das Unwahrschein*
lichste, ja für unmöglich Gehaltene wirklich sein
kann; daß nach wenigen Jahren dem Schulkinde
selbstverständlich scheint, was die größten Denker
der vorangehenden Generation für unmöglich erklärten.
„Unmöglichkeit", das ist der Angelpunkt der
Frage. Die Autoritäten, die heute modern sind —
denn auch wissenschaftliche Ansichten, Hypothesen,
Theorien und Dogmen sind der Mode unterworfen —
f erklären die Prophetie für unmöglich. Nicht alle,
ein Plato, Cicero, Augustinus, ja noch ein Kant und
Schopenhauer zweifelten nicht an der Wirklichkeit
der Phänomene, aber ohne dadurch das Denken der
I Gegenwart zu beeinflussen. Entschuldigte man die
ersteren mit ihrer Zeit, so galt der Glaube an Pro*
phetie bei den letzteren als Schwäche, als mystischer
Einschlag, den man bei Männern, an deren Intelligenz
sonst ja nicht gerade viel auszusetzen ist, gern ver*
mißt hätte. Um es also nochmals festzustellen: Seit
den Zeiten der Aufklärung, also seit etwa anderthalb
Jahrhunderten, gilt die Prophetie oder — da dieses
Wort einen biblischen Beigeschmack hat — das Fern*
sehen in der Zeit für unmöglich. Deshalb hat der
Gebildete das Recht, einzelne Fälle des Vorhersehens
zu leugnen, und wo das gänzlich untunlich ist, sie
durch Zufall zu erklären. Geht er dem Problem
nach — was doch voraussetzt, daß er seine Möglich*
keit zugibt, wenn er auch die Wirklichkeit bestreitet —
so blamiert er sich.
Ich bin nicht müde geworden, nachzuweisen,
daß etwas darum weder töricht, noch schlecht, noch
viel weniger unmöglich zu sein braucht, weil die
Autoritäten es behaupten. Sie haben sich dem Genialen
und Neuen gegenüber regelmäßig und nahezu grund?
sätzlich blamiert. So als die Ingenieure bewiesen,
daß es unmöglich sei, Lasten fortzubewegen, wenn
glatte Räder auf glatten Schienen liefen, oder daß die
Eisenbahnen unmöglich auf Dämmen laufen könnten,
sondern nur auf gemauerten Unterbauten; oder als
das kgl. Bayerische Medizinalkollegium den Beweis
erbrachte, daß die schnelle Bewegung der Eisenbahn^
züge — es war in den dreißiger Jahren des vorigen
Jahrhunderts! — nicht nur bei den Insassen, sondern
auch bei den Zuschauern die schrecklichsten Gehirn*
Störungen hervorrufen müßte und deshalb die Errich«
tung von unübersehbaren Planken längs der Bahn*
linien geboten sei.
Nicht anders war es, als Hegel nachwies, daß
der von Piazzi 1801 ^entdeckte Planetoid Ceres un*
möglich existieren könne — aus philosophischen
Gründen. Oder als Gässendi, ja noch Bertholön und
VaudilT ^"die Möglichkeit der Meteorfälle [leugneten
und das, wiewohl dem ersteren ein eben nieder*
gefallener, noch heißer Stein gebracht wurde, die
andern aber den protokollarischen Bericht von einem
Fall mit der Unterschrift des Maires und von 200
Zeugen vor Augen hatten. Bekannt ist ja auch, daß
Galvani auf die geniale Entdeckung der nach ihm
benannten Naturkraft hin von seinen Zeitgenossen
verlacht wurde, wie ja auch der große |Davy über
den Gedanken lachte, daß London jemals mit Gas
beleuchtet werden könne. Ein Heiterkeitsausbruch
und die Weigerung, den Vortrag zu drucken, war ja
auch das einzige Resultat Franklins, nachdem er der
englischen Akademie der Wissenschaften den von
ihm entdeckten Blitzableiter entwickelt hatte. Daß
Semmelweiß, der Entdecker des Kindbettfiebers, im
Irrenhaus starb, daß es Robert Mayer, dem Entdecker
des Gesetzes von der Erhaltung der Energie, ebenso
gegangen wäre, wenn seine kräftige Konstitution die
Mißhandlungen nicht überwunden hätte, gehört nicht
zu den Ruhmesblättern deutscher Geistesgeschichte ^).
Diese wenigen Fälle, die sich ins Endlose fort^
setzen ließen, führten wir nicht an, um etwa die
Autoritäten als halbe Idioten hinzustellen. Das wäre
nicht nur für einen jüngeren Gelehrten höchst un*
angemessen, es wäre auch sehr töricht, würden wir
doch die Wissenschaft herabsetzen, indem wir ihre
Leuchten brandmarken. Denn wenn diese Männer
auch Mißgriffe begingen und oft den Fortschritt der
Wissenschaft durch die Wucht ihres Namens hemmten,
so hat doch die Menschheit andrerseits ihnen außer**
ordentlich viel zu verdanken. Sind es doch aus*
nahmslos Leute, die durch Intelligenz ihre Zeitgenossen,
wenigstens die älteren von ihnen, mit ganz wenigen
Ausnahmen um Hauptes*, ja um Turmeslänge über*
ragten.
Wir registrieren sie vielmehr aus einem doppelten
Cjrunde. Zunächst um die Worte des großen Mathe*
matikers Arago, man müsse mit Anwendung des
Wortes „unmöglich" außerhalb der Mathematik sehr
') Eine große Zahl weiterer Fälle Hndet man in meinen
„Kultur.Kiiriosa". 8. AuH.. S. 268 H., und II. Hand. 6. AuH., S. 42 tt.
Meine Ansichten über Autoritäten im allgemeinen sprach ich
aus in „Dinge, die man nicht sagt", 7. AuH., S. 98 tt.
zurückhaltend sein, es am besten überhaupt nicht
gebrauchen, zu bestätigen. Dann aber, und das ist
noch wichtiger, um die Leser nach Tunlichkeit in die
Seelenstimmung oder Verstandesverfassung — um das
Modewort Weltanschauung zu vermeiden — des Autors
zu versetzen, in die des Zweifels.
,, Zweifel? Wie ist das zu verstehen, wo Sie uns
da mittelalterliche Märchen auftischen wollen und Ihr
Möglichstes tun, Ihren Namen zu diskreditieren! Sie
meinen wohl Glauben, ja Wunderglauben?"
So wird man mir ins Wort fallen und mir da^
durch willkommene Gelegenheit geben, meinen Ge^
danken näher auszuführen.
Ich fordere allerdings Zweifel, Kritik, Skeptizis^*
mus, denn das ist die Grundlage meiner Welt*
anschauung. Nicht daß ich als radikaler Skeptiker
die Unmöglichkeit jeder Erkenntnis behauptete und
damit viel mehr, als ich jemals beweisen könnte, noch
dazu etwas überaus Törichtes, weil Unfruchtbares.
Wohl aber in dem Sinne, daß ich nur und in erster
Linie gut beobachtete Tatsachen für wahr halte. In
zweiter Linie kommen dann an Wahrheitsgehalt die
auf Grund einer zwingenden Logik daraus gezogenen
Schlüsse.
Daraus ergibt sich, daß bei einer Disharmonie
zwischen bewiesener Tatsache und erklärender Hypo*
these oder Theorie selbstverständlich die erstere bes=
dingungslos anzuerkennen, die letztere zu verwerfen ist.
Denn dann ist niemals die Tatsache falsch, son*
dern die Theorie, das Dogma ist falsch oder zum
mindesten lückenhaft und daher ergänzungsbedürftig.
Nur diese Denkweise ganz allein ermöglicht einen
dauernden Fortschritt der Wissenschaft. Nur wer
jede, auch die am besten gestützte Theorie
aufzugeben bereit ist, wenn eine einzige Tat*
Sache sich durch sie nicht erklären läßt, nur
der denkt wissenschaftlich frei.
Auch die Lehre von den vier Elementen hatte
großartige Entdeckungen ermöglicht, und doch war
sie falsch und fiel mit dem Augenblick, als es dem
großen Lavoisier zur hellen Entrüstung seiner Zeit*
genossen gelungen war, die Luft in ihre Bestandteile
zu zerlegen. Nicht anders stand es mit der Phlo*
gistontheorie, die darum doch falsch war. Wenn mir
daher heute jemand ein Perpetuum mobile zeigen
würde, was ja bekanntlich nach dem Gesetz von der
Erhaltung der Energie unmöglich wäre, so würde ich
mich durchaus nicht weigern, es zu prüfen. Denn so
machten es die peripatetischen Kollegen des großen
Gallilei, als sie sich sträubten, das Fernrohr zu be*
nutzen, aus Angst, seine Entdeckung der Jupiter*
monde bestätigen zu müssen. Vielmehr würde ich
das Instrument sehr, sehr eingehend prüfen und ev.
zum Resultat kommen, daß das große Gesetz, die
genialste Geistestat des 19. Jahrhunderts, lücken*
haft ist.
Und wenn mir jemand den Stein der Weisen
brächte und behauptete, damit Gold machen zu können,
so würde ich für einen Augenblick die Theorie von
der Unverwandelbarkeit der Elemente vergessen und
den Fall genauestens prüfen. Und wenn mir dabei
einfiele, daß der große Chemiker van Helmont und
vor ihm Paracclsus behaupten, Gold hergestellt zu
haben, so wäre diese alchimistische Bestätigung kein
Grund, die Nachprüfung überlegen lächelnd abzu^
lehnen.
Die Autoritäten, mögen sie auch noch so geniale
Männer gewesen sein, sind eben auch nur Menschen,
und darum sind alle ihre Theorien dem Irrtum unter:;
Worten. Absolute Wahrheit oder doch Beweisbarkeit
finden wir wohl ausschließlich in der reinen Mathen
matik. Mit dem Augenblick aber, wo die Mathematik
in die reale Welt eingreift, etwa bei der Konstruk*
tion einer Eisenbahnbrücke oder in der Unfallstatistik,
ist auch sie nicht mehr unfehlbar, wenn auch zu«
gegeben werden muß, daß ihr immer ein hoher Grad
von Beweiskraft beizumessen ist.
Wenn man sich darüber wundert, daß ich in
einer historischen Studie zum Beweise für die Fehl^
barkeit der Autoritäten nur Beispiele aus dem Ge«»
biete der Naturwissenschaften anführe, so geschieht
das ganz und gar nicht deshalb, weil sich etwa hier
die Autoritäten mehr blamiert hätten, wie in den
Geisteswissenschaften. Es hat lediglich in der besseren
Kontrollierbarkeit der Resultate seine Begründung.
Die Geisteswissenschaften stehen im Gegensatz
zu den Naturwissenschaften noch durchaus in den
Anfängen. Von der Logik, die ja rein formaler Natur
ist, abgesehen, gibt es auch nicht einen einzigen
philosophischen Lehrsatz, der allseitig anerkannt wäre.
Grundwahrheiten hat die Philosophie überhaupt nicht.
Ähnlich ist es etwa um die Psychologie oder Geschichte
bestellt. Gibt es doch Leute, die die Möglichkeit
historischer Gesetze rundweg leugnen. Mit der Tat*
Sache aber, daß Ritter Kunz in diesem oder jenem
Jahre gestorben ist, oder daß soundso viele Soldaten
8
in der Schlacht bei Adorf fochten, lockt man keinen
Hund vom Ofen fort.
Die Naturwissenschaften verfügen dagegen über
eine ganze Reihe zwar nicht unfehlbarer, wohl aber
gut fundierter Gesetze, und dadurch, daß sie das
Experiment als Beweismittel besitzen, sind sie den
Geisteswissenschaften gegenüber weit im Vorteil.
Wenn es also sogar bei ihnen schwer fällt und oft
Jahrzehnte erfordert, die Fachwelt von einer neuen
Entdeckung zu überzeugen, so muß das auf geistes*
wissenschaftlichem Gebiete noch viel schwerer sein.
Geradezu unmöglich wird es aber, wenn der
neue Gedanke dem materialistischen Modedogma,
einem indirekten Resultate der Aufklärung, wider*
spricht oder zu widersprechen scheint.
Die Aufklärung hat uns zweifellos unendlichen
Segen gebracht, viel mehr als Schaden. Sie beseitigte
den Wunderglauben, d. h. den Glauben, daß Gott
mit Durchbrechung der Naturgesetze irgendeinen Ein*
griff in die Weltordnung tun könne. Das allein
schon ist ein nicht zu überschätzender Gewinn. Sie
befreite uns vom Hexenwahn, diesem Schandfleck der
christlichen Kirchen. Sie lehrte überall nach natür*
liehen Gründen, nach Gesetzmäßigkeiten suchen und
verhalf dem gesunden Menschenverstand zu seinem
Rechte.
Aber sie schoß auch über das Ziel hinaus, in*
dem sie eine Überkritik walten ließ, die besonders in
der Geschichtswissenschaft noch üppige Triebe zeitigt.
Sie verwarf vor allem alles Übersinnliche, erklärte es
für unmöglich. Das aber ist vorläufig, d. h. K\r die
nächsten Jahrhunderttausende, bis wir nämlich alle
Naturkrähe kennen, unsinnig. Sie erklärte für ,, freie
Geister" nur jene, die an die Hypothese von der
llnmöglichkeit alles nicht Alltäglichen, jederzeit will^
kürlich und durch das Experiment Hervorruf baren
glauben. Aber das ist ein Glaube, ein falscher Glaube
sogar, wie ich in vorliegendem Werke nachzuweisen
versuchen werde.
Da jedoch das wunderbar Scheinende — nicht
etwa nur das endgültig als nicht existierend bewiesene
„Wunder" — die Ausnahme bildet, durch bereits be^
kannte Naturgesetze Erklärbares oder doch auf sie
Zurückführbares aber die Regel, so war der von der
Aufklärung und ihren heute noch herrschenden
Schülern angerichtete Schaden bei weitem nicht so
groß, wie der Nutzen. Denn wenn wir auch die
Existenz echter Prophetie beweisen werden, so werden
wir doch nicht leugnen, daß es sich um relativ seltene
Phänomene handelt.
Wogegen wir mit aller Energie und mit Be*:
rufung auf die Irrtümer der sogenannten Autoritäten
sowohl, als auf die Lückenhaftigkeit unserer Kennt*
nisse des Naturgeschehens zu Felde ziehen müssen,
das ist vor allem die unbewiesene und unbeweis^:
bare Hypothese von der Unmöglichkeit irgend*
einer Erscheinung nur deshalb, weil sie einer
Theorie widerspricht, oder weil wir sie nicht
erklären können.
Nicht der ist frei, der einer Theorie zuliebe
widersprechende Tatsachen ungeprüft ablehnt, der in
lächerlicher Überschätzung des derzeitigen Standes
unserer Kenntnisse etwas für unmöglich hält, sondern
ganz allein, wer vorurteilslos und tendenzlos
10
alles prüft, was ihm fremdartig erscheint,
ohne sich dabei im allergeringsten über die
Urteile der Autoritäten aufzuregen.
Sehr lehrreich für die Macht des materialistischen
Dogmas, das nur Kraft und Stoff kennt und den
fehlerhaften Analogieschluß fordert, die Gesetze der
materiellen Welt seien auf die des Geistes ohne
weiteres übertragbar, ist die Leidensgeschichte des
Hypnotismus.
Da ich sie an anderer Stelle^) ausführlich er*
zählte, möge es genügen, hier daran zu erinnern, daß
Mesmer, der Entdecker oder vielmehr der Wieder*
entdecker — und auch das nur mit Einschränkung,
denn das Phänomen war schon Jahrtausende bekannt —
einer geheimnisvollen Kraft, mit der er Heilungen
und höchst wunderbare Phänomene erzeugte, auf
Grund einer eingehenden Prüfung von der Pariser
Akademie der Wissenschaften, und zwar von Männern
wie Leroy, Bailly, Lavoisier, für einen Phantasten er*
klärt wurde. Als Schwindler verschrien mußte er
sterben, ohne die Anerkennung seiner Lehre erlebt
zu haben. Auch dem Arzte James Baid, der 1843,
59 Jahre nach der ersten Prüfung, die Frage neuer*
dings in Angriff nahm, gelang es nicht, die Anerkennung
der Zeitgenossen zu finden. Erst durch die Vorfüh*
rungen des gewerbsmäßigen Hypnotiseurs Hansen im
Jahre 1879 wurde die Aufmerksamkeit der Welt auf
die wunderbaren Erscheinungen gelenkt. Aber noch
Virchow leugnete sie bis zu seinem Tode, weil sie
in das gerade herrschende System nicht paßten und
») Kultur.KuriosA II, S. 61 tt.
11
wohl auch, weil Phantasten aus ihnen zu weit gehende
Schlüsse zogen.
Heute kennt jedes Kind Suggestion und Hyp^
notismus, und doch sind wir noch durchaus nicht
imstande, die Phänomene, obwohl wir sie jederzeit
hervorrufen können, zu erklären.
Genau wie hier verhält es sich mit dem zeit:*
lichep und räumlichen Fernsehen und wohl auch noch
mit ungezählten anderen Dingen: sie werden ge*
leugnet, weil sie nicht erklärt werden können.
Erst wenn eine unübersehbare Fülle von Daten vor:«
liegt, gibt man eine unerklärbare Tatsache zu, oder
man bildet sich ein, sie erklärt zu haben, indem man
für sie einen Namen prägt. Dies ist wieder ein
schlagender Beweis für den oft erschreckenden Mangel
an Logik, den wir auch bei Gebildeten finden.
Ein anderer Grund — neben Aufklärung und
Materialismus — für das Widerstreben, Tatsachen
anzuerkennen, die nicht in das Modedogma passen,
ist die Furcht, für kirchengläubig zu gelten. Nun,
gegen diesen Verdacht schützen mich meine anderen
Bücher. Aber ich fühle mich auch von dem Vor*:
urteile gegen das Vorurteil frei oder habe doch das
redliche Streben, es zu werden.
Daß die Kirche an Prophezeiungen und Offen*
barungen glaubt, kann für mich natürlich kein Grund
sein, es auch zu tun, aber es ist auch keiner aus
wohlbegründeter Abneigung gegen sie, und zwar nur
aus ihr — denn träten Gründe dazu, dann wären ja
diese ausschlaggebend — die Prophetie abzulehnen.
Das wäre ein Rückfall in jene Intoleranz und Borniert ^^
heit, die ich zu bekämpfen nicht müde werde.
12
Was ich suche, ist ganz allein die Wahrheit.
Ob sie nützt oder schadet, ob meine Gegner sie gut*
heißen oder nicht, ist mir vollkommen gleichgültig.
Selbst wenn ich ihnen Waffen gegen mich in die
Hand drückte, so könnte diese Befürchtung mich
nicht zu einer Unehrlichkeit verleiten.
Aber so liegt hier der Fall gar nicht. Denn wenn
wir auch zum Resultate kommen werden, daß echte
Prophetie existiert, so ist damit selbstverständlich
noch nicht im allergeringsten etwas darüber
ausgesagt, daß irgendeine Prophezeiung, deren
Eintreffen noch aussteht, auch richtig sein
muß. So wenig, wie aus der Konstruktion des lenk*
baren Luftschiffes gefolgert werden kann, daß nun
auch jedes, oder auch nur die Mehrzahl ihr Ziel er*
reicht. Deshalb möchte ich meinen orthodoxen Freunden
in beiden Lagern raten, nicht zu früh über den ver*
lorenen und wieder gefundenen Sohn zu frohlocken
und sich nicht auf mich zu berufen, wenn sie einen
Gewährsmann für die Richtigkeit der Apokalypse oder
der Weissagungen irgendeines Nönnlein benötigen.
Sie würden mich zwar nicht zu einer Polemik be*
wegen können — dazu Nachhilfestunden in der Logik
zu erteilen, fehlen mir wirklich Lust und Zeit — aber
sie würden einen groben Denkfehler begehen.
Noch ein weiterer Grund wird der Annahme
meines Beweises hindernd im Wege stehen: die
Furcht, durch Zugabe der Prophetie die Willensfrei*
heit zu leugnen. Ich stehe der sogenannten Willens*
freihcit sehr skeptisch gegenüber, würde aber den
einer historischen Untersuchung gesteckten Rahmen
weit überschreiten, wollte ich mich auf diesen schlüp*
n
kTigen Boden, aut dem schon die größten Geister
strauchelten, begeben. Ob die Anerkennung der Pro«;
phetie tür oder gegen die Willensfreiheit spricht,
mag mich als Privatmann interessieren. Hier ist es
mir ebenfalls gleichgültig. Denn die Konsequenzen,
die man aus einer richtigen Tatsache zieht, dürfen,
mögen sie auch noch so unerfreulich sein, ihre An#
erkennung doch nicht verhindern.
Als lpt7fpn Criin^ für, (jie Feind<;rhnf> gegen die
Prophetie, wie übrigens gegen alle seltenen Phäno*:
mene, mag noch der aemoKratische Gleichheitswahn
angeführt werden. Da alle Menschen, wenigstens in
ihren politischen Rechten, gleich zu sein behaupten
oder es doch beanspruchen, liegt der Schluß nahe,
sie seien es überhaupt. Nun ist die Gabe der Weis*=
sagung zweifellos selten. Sie unterscheidet den mit
ihr Begnadeten — oder Belasteten — von den an^
deren Menschen. Das Zugeständnis aber, daß es
Leute mit Fähigkeiten gibt, die nicht etwa nur
quantitativ, sondern auch ihrem ganzen Wesen nach
über der Durchschnittsmenschheit stehen, will gar
nicht dem modernen Denken entsprechen. Man mag —
widerstrebend allerdings — zugeben, daß dieser oder
jener klüger ist, als man selbst, aber das ist noch
kein Verzicht auf die Fähigkeit zu denken überhaupt.
Zuzugestehen aber, daß irgend jemand einer Gabe
teilhaftig ist, von der uns anderen auch die leiseste
Spur fehlt, kostet schmerzliche Überwindung.
Ich selbst besitze die Gabe der Prophetie nicht.
Ich bin auch weder Spiritist noch Okkultist. Nicht
etwa deshalb, weil ich die von jener Seite behaupteten
Erscheinungen für unmöglich hielte, sondern lediglich
14
deshalb, weil ich noch keine Gelegenheit hatte und
sie wohl auch nicht suchte, mich von ihrer Richtig*
keit zu überzeugen. Ich bin lediglich als Historiker
an diese Frage herangetreten, und zwar kam das so:
In meiner Untersuchung „Lebensdauer und Todess=
Ursachen innerhalb der deutschen Kaisers^ und Königs*
familien" 0» ^^ ^^^ ich auf historisch*statistischer Basis
erstmalig den Beweis erbrachte, daß die Lebensdauer
im geraden Verhältnis zur Höhe der materiellen Kul*
tur steht und daß die Menschen seit dem frühen
Mittelalter immer älter werden, stieß ich auf folgende
Stellen:
„Mit des Kaisers Kräften ging es zur Neige, als
er Ende September 1518 von Augsburg durch die
Ehrenberger Klause in sein geliebtes Tirol gezogen
kam . . . Die Ärzte konnten nichts helfen, zumal einer,
Collinitius (Tannstetter), hoffnungslos war wegen eines
Horoskopes, das er vor Jahren vor Zeugen über des
Kaisers Todesepoche gestellt hatte . . .*' Der Kaiser
Maximilian I. starb am 12. Januar 1519^).
Oder von Kaiser Rudolf IL, der schon viele Jahre
geistig und körperlich krank, seit 1612 andauernd ans
Bett gefesselt war, fand ich: Ende des Jahres 1619
ging es mit ihm schlechter. „Er versank in tiefe
Melancholie, da er seinen Tod für unvermeidlich hielt.
Tycho Brahe, sein großer Astronom, hatte nämlich
durch das Horoskop gefunden, daß er und sein
*) Bei Franz Dcutickc, Wien und Leipzig 1909.
») n. Ulmann. „Kaiser Maximilian 1.". II. Bd.. S.76()rt'. Über
die letzte Krankheit des Kaisers sind wir genauestens informiert
durch das vSchreiben J. Spiegels an den Arzt Stromair. Vgl.
Knod. Spiegel. 1. Schlettstiidtcr Programm 1884. Beil. VII, S. 51f.
15
Lieblingslöwe unter demselben Einfluß stünden. Letz#
terer war aber in diesen Tagen gestorben." Der
Kaiser starb am 20. JanU^r 1620').
Noch eine dritte Stelle sei angeführt. Sie handelt
von Kaiser Karl VI., dem letzten Habsburger. Der
Kaiser hatte, wiewohl ganz gesund, am 1. Oktober
des Jahres 1740 plötzlich ein Vorgefühl des nahen
Todes geäußert. Um ihn zu zerstreuen, war eine
große Jagd veranstaltet worden, von der er todkrank
heimkehrte. Und zwar hatte er am 13. Oktober
plötzlich heftigen Schnupfen und Leibschmerzen, so
daß er auf der Heimfahrt mehrmals ohnmächtig wurde.
Am 20. Oktober hauchte er seine Seele aus").
Diese und andere historisch völlig einwandfrei
feststehende Tatsachen, die ich in meinem Gedächt?
nis nachkramend noch fand, machten mich stutzig,
und ich entschloß mich, die Frage einer eingehenderen
Prüfung zu unterziehen. Wäre ich gläubig gewesen,
d. h. hätte für mich die Hypothese der Unmöglich?
keit derartiger übersinnlicher Phänomene festgestanden,
dann hätte ich mich mit dem Zufall als Erklärung
begnügt und nicht weiter darüber nachgedacht. Aber
ich war und bin ganz und gar nicht gläubig, wieder i
der Kirche und ihren Dogmen, noch den Autoritäten
oder den gerade aktuellen Zeitdogmen gegenüber,
und so ging ich vor auf die Gefahr hin, einen Schlag
ins Wasser zu tun.
Einigermaßen zögerte ich noch, weil mir die
^) Vgl. Anton Gindely, Rudolf II. und seine Zeit, Prag
1863, II. Bd., S. 325 ff.
") P. A. Lelande, Histoire de l'empereur Charles VI, Haag
1743, \1. Bd., S. 114ff.
16
Konsequenzen eines ev. Eintretens für die Wahrheit
der Prophetie keinen Augenblick zweifelhaft sein
konnten. Hätte ich gefundtA, daß alle überlieferten
Daten falsch sind, dann wäre damit gegen die Mög^
lichkeit der Prophetie ebenso wenig bewiesen gewesen,
wie etwa die Nichterreichung der Pole etwas gegen
die MögUchkeit, doch einmal ans Ziel zu gelangen,
aussagen will.
Wie aber, wenn ich mich von der Wirklichkeit
überzeugte und dann den selbstverständlichen Be*
kennermut der Wahrheit beweisen müßte? Ein Fall,
der, wie das Folgende zeigen wird, eintrat. Oder
wenn es mir nicht gelingen sollte, den zwingenden
Beweis zu erbringen, nachdem ich persönlich übers*
zeugt worden war?
Ich hätte mich unfehlbar lächerlich gemacht. Es
ist ja ein beneidenswertes Vorrecht der absoluten
Ignoranz, a limine alles das abzulehnen, was ihr nicht
sofort plausibel erscheint. Je mehr wir uns mit irgend*
einer Materie beschäftigen, desto mehr werden wir
finden, daß es nur sehr wenig Irrtümer gibt, die sich
nicht mit einigen Argumenten stützen ließen, aber
andrerseits auch nur sehr wenig Wahrheiten, gegen die
sich nicht gleichfalls triftige Gründe ins Feld führen
lassen. Da nun aber gerade auf diesem Gebiete die
Zahl derer, die sich mit der Materie beschäftigten,
sehr minimal ist; da sie zumeist nicht den Mut haben,
das zu bekennen, was sie fanden oder — wenn sie
es tun — es zumeist in Organen geschieht, die durch
die geringe kritische Sichtung ihres sonstigen Mate*
riales auch das Richtige schädigen, so befinde ich
mich unbedingt in der verschwindenden Minorität
17
und mul^ sehen, wie ich den Kampf allein durchs
führen kann.
Besonders die große Zahl der Freunde meiner
anderen Schriften wird, dachte ich mir, an mir irre
werden. Denn sie lachte mit mir die Ignoranz und
Borniertheit der Pfaffen und Bureaukraten aus und
freute sich über Dummheiten anmaßender ,, Autorin
täten'*. Sie wird — das bewiesen mir schon Zu*
Schriften — glauben, ich sei Apostat geworden, wo
doch das gerade Gegenteil der Fall ist. Gerade meine
Autoritätslosigkeit und mein Wahrheitsdrang be*»
fähigten und ermutigten mich eine Frage, die für die
gedankenlosen Nachbeter des Zeitdogmas längst gelöst
ist, nachzuprüfen. Also nicht Apostasie, sondern
konsequente Verfolgung des eingeschlagenen
Weges führte zu diesem Ziele. Wenn es auch
verdienstvoll ist, mit Irrtümern aufzuräumen, wie
ich das in früheren Schriften tat, so ist es doch
zweifellos noch dankenswerter, eine neue Wahrheit
zu finden. Brach ich also Bahn für dogmenfreies
Denken nach jeder Richtung, so war es nur natür*
lieh, wenn ich als einer der ersten diese Bahn auch
beschritt.
Ein weiterer Einwand, den ich mir machte, um
ihn gleich dem vorigen zu widerlegen, war folgender:
Die Prophetie ist ein Phänomen, das seit Jahrtausend»
den bekannt ist und das das Volk — neben mancher
anderen Wahrheit — auch niemals vergessen hat,
trotz aller Gelehrten. Man wird also, wenn ich den
Beweis für die Tatsächlichkeit erbringe, in ganz kurzer
Zeit vergessen, daß ich mich damit aufs entschiedenste
gegen die Zeitdogmen gestemmt habe, daß ich den
Kcmmerich, Prophezeiungen 2
18
Mut bewies, den Fluch der Lächerlichkeit zu riskieren
und tatsächlich eine neue Wahrheit, wenigstens für
die Wissenschaft, fand. Man wird sich vielmehr
breitbeinig vor mich hinstellen und mir mit Stentor*
stimme zuschreien: „Du glaubst eine neue Wahrheit
gefunden zu haben? Du Narr! Das haben ja schon
die alten Babylonier, Hebräer und Griechen gewußt/*
Und man wird glauben, mir eine große Neuig^
keit geoffenbart zu haben.
Doch selbst wenn es so kommen wird — dachte
ich mir — ist es nicht so schlimm. Denn nicht nur
die Goldbarren der Wahrheit aus tiefem Schacht ans
Licht zu fördern, ist des Schweißes der Edeln wert.
Auch aus ihnen Dukaten zu schlagen und sie so
unter die Leute zu bringen, ist nicht ohne Verdienst.
So weit freilich, daß man den berühmten Tric
anwenden kann, erst eine neue Wahrheit mit allen
Mitteln, selbst gegen besseres Wissen zu bekämpfen
und dann, wenn sie glücklich zum Siege geführt ist,
zu beweisen, daß sie gar nicht neu ist, sind wir noch
lange nicht. Vorläufig befinden wir uns noch im
ersten Stadium dieses Prozesses. Das beweist auch
folgender Vorfall:
Als mir neulich ein Bekannter sagte: „Was
machen Sie denn eigentlich? Ich habe Sie immer für
einen modernen Menschen gehalten und nun treiben
Sie solche Sachen", da konnte ich ihm ruhig ant*
Worten: ,, Nicht wiewohl, sondern eben weil ich
mich bemühe, ein moderner Mensch zu sein, darum
tue ich es. Denn in zehn Jahren werden es die Spatzen
von den Dächern pfeifen."
Ks gibt also tatsächlich noch Leute, und sie
19
haben die öftcntliche Meinung ganz aut ihrer Seite,
die die Beschäftigung mit solchen übersinnÜchen
Phänomenen für eines modernen Menschen unwürdig
halten. Das war mir eine große Beruhigung, denn
da ich den Beweis gefunden habe, ist es mir natür?
lieh wertvoll, zu wissen und bestätigt zu finden, daß
ich damit vorläufig wenigstens etwas Unerhörtes sage.
Es ist ja ein trauriges Los aller Entdecker und
Förderer einer neuen Wahrheit, daß das, was sie
fanden — um so bedeutender es war, desto schlimmer — ,
bald Gemeinplatz wird und man sich nachträglich kaum
mehr vorstellen kann, welcher Kämpfe und Gedanken?
arbeit es bedurfte, es so weit zu bringen.
Doch alle diese Erwägungen und wohl auch
noch andere brachte ich durch den schlagenden Gegen*
grund zum Schweigen, daß es unehrenhaft ist, eine
Wahrheit, die man gefunden zu haben glaubt, aus
keinem anderen Grunde zu verschweigen, als weil
man persönliche Unbequemlichkeiten fürchtet. Hätten
nicht zu allen Zeiten mutige und ehrenhafte Männer
so gedacht, dann wären wir heute noch Kannibalen
und Troglodyten.
Allerdings war mir eines klar: allein durch die
Zusammentragung beglaubigter Prophezeiungen ist
das Problem niemals zwingend zu lösen. Denn mögen
die Daten auch noch so zahlreich sein, so wird die
Möglichkeit des Zufalles doch niemals ganz von der
Hand gewiesen werden können. Es handelte sich
also vor allem darum, eine Methode zu ersinnen,
die diesen Rückzug endgültig abschneidet.
Sie fand ich durch Verbindung der Wahrschein?
lichkeitsrechnung mit den historischen Tatsachen.
20
Dadurch gelang es mir, an die Stelle eines Glaubens
oder Nichtglaubens an Prophetie das unbedingt fest*
stehende Wissen von ihrer Existenz zu setzen.
Das ist eine neue Wahrheit. Denn die Vor*
aussetzung der Wahrheit, das, was sie vom Glauben
oder Aberglauben unterscheidet, ist ihre Beweisbar*
keit. In die Wissenschaft wird etwas nur durch den
Beweis eingeführt. Und ihn zu erbringen, gelang mir
als erstem. Denn was die größten Denker früher
auch über Prophetie geschrieben haben mögen, alles
war mehr oder weniger hypothetisch, mag es auch
noch so geistreich oder genial gewesen sein. Die
feste Basis des exakten wissenschaftlichen Beweises
legte sich.
Nun wird man noch fragen können, warum ein
Buch, das die strengsten wissenschaftlichen Ansprüche
erhebt und den ersten zwingenden Nachweis einer
zwar vermuteten, aber doch noch völlig unbekannten
Naturkraft erbringt, in einem Verlage erscheint, der
vornehmlich populäre und belletristische Literatur pflegt.
Ich könnte darauf antworten, daß eine solche
Äußerlichkeit nicht der Rede wert sei. Damit würde
ich allerdings die Denkweise der gelehrten Zunft ver*
kennen, die sich mit Vorliebe an äußerliche Kriterien
hält. Sie wird sich in diesem Falle wohl oder übel
mit der Tatsache abfinden müssen, daß eine Wahr*
heit, die in ihren Konsequenzen an Bedeutung alle
Klostergeschichten und Aktenpublikationen turmhoch
überragt, in einer Form und in einem Verlage er*
scheint, der nichts weniger als für den Ausschluß
der öflcntlichkcit bestimmt ist.
Um es gerade heraus zu sagen: Mir genügt es
21
nicht, wenn ein Dutzend Gelehrte von meiner Ent*
deckung Kenntnis erlangen. Ich verzichte auf die
papierne Unsterblichkeit der Bibliotheken und An^«
merkungen. Ich will wirken, das Denken meiner Zeit?
genossen beeinflussen. Ich will verhüten, daß einige
übelwollende oder neidische Fachgenossen, einige
dogmatisch befangene Fachzeitschriften mein Werk
auf Jahrzehnte totschweigen können. Vestigia terrent.
Darum versuchte ich strenge Wissenschaftlichkeit
des Tatsachenmaterials und der Beweisführung mit
einer Form zu verbinden, die auch der versteht, der
über nichts weiter als seinen gesunden Menschenver*
stand und leidliche Schulbildung verfügt. Und ich
trug Sorge, daß dieses Buch eine Verbreitung findet,
ebenso groß, oder noch größer, als die meiner üb*
rigen Schriften.
Daß mir Hohn und Spott von der einen Seite,
der Vorwurf, ich stieße offene Türen ein, von der
anderen, orthodoxen, die ein Glauben an Prophetie
mit dem exakten Nachweis ihrer Existenz verwech*
seit, nicht erspart bleiben wird, des bin ich gewiß.
Es schreckt mich nicht. Ich kann sogar meinen Geg*
nern die Versicherung geben, daß es gar nichts Uns*
gefährlicheres gibt, als mich anzugreifen. Denn da
die Wahrheit für sich spricht und sprechen wird,
habe ich keine Veranlassung, mich in Polemiken ein*
zulassen und damit Leuten zu einem Bekanntwerden
zu verhelfen, auf das sie sonst wohl verzichten müßten.
Nur Gelehrten von Ruf und Namen rate ich zu
einiger Vorsicht. Sie könnten sich sonst leicht in
meinen Kultur^Kuriosa unter der Liste der entgleisten
„Autoritäten" wieder finden.
22
Ich schließe mit einer Bitte an alle jene, denen
es wirklich um die Wahrheit zu tun ist. Ich bitte
nicht um irgendeinen Glauben, im Gegenteil, ich
bitte um Zweifel. Aber um einen Zweifel, der
nicht stehen bleibt bei der Kritik der einzel*
nen Tatsache, sondern der auch nicht halt
macht weder vor Hypothesen, noch Theorien,
noch Zeitdogmen. Auch nicht vor dem der
Unmöglichkeit der Prophetie.
23
Erstes Kapitel
Einzelne Prophezeiungen und
Vorahnungen
Das Altertum
Die Zahl der uns aus der Vergangenheit er*
haltenen und als eingetroffen beglaubigten Prophe*
zeiungen ist außerordentlich groß. Dabei ist es keines*
wegs nötig, die Weissagungen religiösen Inhaltes in
den Kreis der Betrachtung zu ziehen. Auf sie werden
wir in diesem Buche überhaupt nicht näher eingehen,
und zwar aus verschiedenen Gründen.
Zunächst hat das an Prophezeiungen reiche Alte
Testament verschiedene Redaktionen und Interpola*
tionen sich gefallen lassen müssen, so daß wir oft
nicht wissen, ob es sich um eine beglaubigte Vorher*
sage handelt. Das schließt das Vorhandensein der
echten nicht aus. Auf sie werden wir später zurück*
kommen. Daß die messianischen Prophezeiungen aus*
scheiden, ist klar, denn es ist eine mißliche Sache,
sich mit solchen mystischen Dingen zu befassen,
wenn man eine neue Wahrheit finden oder doch eine
24
alte durch neue Argumente stützen will. Die Juden
stehen ja bekanntlich noch heute auf dem Stand*
punkt, daß der Messias noch kommen wird.
Eine Prophezeiung allerdings zieht sich durch
das Alte Testament, die wir nicht vergessen dürfen,
zumal sie profaner Natur ist: die das jüdische Volk
und seine Zukunft betreffende. Von ihr wissen wir
auch mit absoluter Sicherheit, daß sie nicht nach*
träglich erst abgefaßt sein kann. Mag man einwerfen,
sie sei prophezeit nicht etwa auf visionärem Wege,
sondern als Wunsch, oder in der Absicht, durch
diese Hoffnung das kleine Judenvolk auch in den
schlimmsten Zeiten aufrecht zu erhalten, so sind das
Hypothesen, die an der verblüffenden Tatsache nichts
ändern.
Wo sind sie alle geblieben, die Herren der alten
Welt? Wo sind die Babylonier, die Assyrier, die
Griechen, Römer?
Sie sind wie die Spreu vom Winde verweht.
Da und dort Trümmer gewaltiger Bauwerke, Reste
ihrer Literatur, Spuren in unserem Geiste hinterlassend,
aber im wesentlichen hat nur der Name die Jahr*
tausende überdauert. Was an den alten Herrenvölkern
von Fleisch und Blut war, das ist ausgestorben. Ge*
wiß mag noch in den Adern von manchen unter uns
ein Tropfen ihres Blutes rollen. Aber es ist ein
Tropfen.
Und leben nicht die Juden? Sie ganz allein
von allen Völkern, die einst vor Jahrtausenden über
die Erde wandelten? Und auch sind sie es wiederum
ganz allein, die seit zweiundeinhalb Jahrtausenden
kein Vaterland besitzen, sondern verfolgt, gehaßt.
25
verachtet unter Wirtsvölkern wohnen, die oftmals
wechselten, während sie blieben.
Aber es ist nicht genug zu sagen, daß das Juden?
Volk der einzige Rest der Antike ist, der lebend mit
Fleisch und Blut in die Gegenwart hineinragt. Sie
sind jetzt bedeutend zahlreicher als je zuvor. Schätzt
man doch das ganze Volk auf etwa 11^2 Millionen
Seelen, während das alte Palästina, ein Land nicht
größer als die Provinzen Sachsen oder Westpreußen,
kaum mehr als eine halbe Million Bewohner ernährte,
und von diesen waren keineswegs alles Juden. Das
Volk hat sich also nach allermindester Schätzung
verzwanzigfacht.
Doch es ist nicht genug an dem, daß das Juden*
volk als einziges des Altertums heute noch besteht,
daß es ohne Vaterland dies Wunder ermöglichte,
daß es sich verzwanzigf achte , es herrscht auch!
Unser Handel und Geldwesen ist leider zum großen
Teile durch die törichten kirchlichen Wucherverbote
den Landesherren entwunden und in ihre Hand ge?
legt. Ebenso steht es mit dem größten Teil der
Presse. Und daß auch politisch das Judenvolk keines^^
wegs machtlos ist, wenigstens nicht im Westen und
Süden Europas, beweisen die zahlreichen Minister
israelitischen Glaubens in Italien und Frankreich, be*
weist ein Disraeli im stolzen England und mancher
hohe Beamte bei uns. Dabei sehen wir ganz davon
ab, daß sehr viel jüdisches Blut sich mit dem blauen
unseres Adels vermischt hat.
Fürwahr: Keine Prophezeiung ist in jeder Hin?
sieht in so wunderbarer Weise in Erfüllung gegangen,
wie die alttestamentliche das Judenvolk betreifende.
26
Wir wollen nun im folgenden eine Anzahl das
Judenvolk betreffender Prophezeiungen notieren^).
Der älteste bekannte Prophet ist Arnos, dessen
Leben wir um 800 vor Chr. ansetzen dürfen. Er
verkündet deutlich den Untergang des Zehnstämme*
Reiches in der Zeit, als es unter Jerobeam II.
wieder auf der Höhe der Macht stand und sich
vom Hermon im Norden bis zum Toten Meer er:*
I streckte. Die Vorhersagen lauten: „Durchs Schwert
wird Jerobeam umkommen, und Israel wird auswan«»
dern von seinem Boden" (Amos 7, 11). Femer: „Ich
werde euch vertreiben weit über Damaskus hinaus"
(Amos 5, 27) oder „Ich werde unter alle Völker das
Haus Israel zerstreuen" (9,9) und endlich: „Ich werde
gegen euch, Haus Israel, spricht Gott, ein Volk auf*
treten lassen, das euch bedrängen wird, von gen
Chamat bis zum Flusse der Araba" (des Toten Meeres),
d.h. im ganzen Lande (6,14). Amos nennt das Volk
nicht, welches die Transportation vollziehen soll,
kennt es noch nicht einmal, weiß aber, daß das Faktum
bestimmt eintreffen wird. Nun ist das Zehnstämme*
i Reich erst ein Jahrhundert später (um 720) durch
die Assyrer vernichtet worden. Diese von Amos so
I lange vorher verkündete Vorhersage hat sich also
buchstäblich erfüllt.
Man könnte das Faktum zwar zugeben, trotz*
dem aber leugnen, daß es auf prophetischem, über*
sinnlichem Wege von Amos vorhergesehen wurde.
Man würde es dann einer richtigen politischen Kom*
*)Vgl. zu Nachstehendem II. Graetz, Geschichte der Juden,
1. Bd., Leipzig 1874, S. 372 H., worauf mich aufmerksam zu machen
Herr Rabbiner Dr. C. Werner die Freundlichkeit hatte.
27
bination zuschreiben. Denn schon damals hätten die
Assyrer Lust gezeigt, Ägypten zu erobern, auf dem
Wege dorthin aber müßten sie Palästina berühren
und unterwerfen.
Dieser Einwurf läßt sich leicht damit widerlegen,
daß im Falle der politischen Kombination auch das
Reich Juda hätte hineingezogen werden müssen, und^,
das um so mehr, als es damals viel schwächer als
das Zehnstämme^Reich war. Ganz im Gegenteil hat
aber Amos den Fortbestand Judas ausdrücklich:
betont (9, 8. 11). ,,Ich werde das Haus Jakob (Juda*'
Benjamin) nicht vertilgen , an jenem Tage werde ich
die einfallende Hütte Davids aufrichten." Tatsache
lieh hat sich das Haus Jakobs noch 134 Jahre länger
als das Haus Israels gehalten. Es hat sich erst fast
zwei Jahrhunderte nach Amos aufgelöst. Es handelt
sich hier also um eine richtige prophetische Vorher*
sage, bei der Kombination ausgeschlossen sein dürfte.
Recht inhaltreich und im vollen Umfang ein*
getroffen ist auch folgende Verkündigung: ,,Von
Zion wird Belehrung ausgehen und das Wort Gottes
von Jerusalem für viele Völker" (Jesaia 2, 2—4
und gleichlautend Micha 4, 1—3). Jedermann kennt
den ungeheuren, bis heute noch fortwirkenden Einfluß
der jüdischen Lehre auf das Denken des Abendlandes,
durch Vermittlung des Mohammedanismus aber auf
den Orient.
In Erfüllung gegangen ist auch Michas Verkün*
digung des Unterganges Jerusalems, ein Jahrhundert
vor dem Eintreten des Ereignisses. Micha prophe*
zeite zur Zeit des Königs Hiskija (etwa 711—695).
Aber mehr als das: Micha verkündete auch, daß das
28
Exilland der Juden Babylonien sein würde (Micha
3, 9—12 und 4, 10). „Kreise, Tochter Zions, wie eine
Gebärerin; denn bald wirst du hinausziehen aus der
Stadt, wirst weilen auf dem Felde, wirst bis Babel
kommen, dort wirst du gerettet werden, dort wird
der Herr dich aus der Hand deiner Feinde erlösen."
Diese Prophezeiung ist deshalb nicht gut als Komj^
bination einzuschätzen, weil Babylonien damals ohn»=
mächtig in der Hand der Assyrer war und weil auch
der Rücktransport der Gefangenen vorhergesagt wird.
Übrigens hat auch Jesaia dem König Hiskija
124 Jahre vor der Erfüllung vorhergesagt, daß dessen
Nachkommen nach Babylonien transportiert und
Eunuchen im Palast des Königs von Babel sein
werden (Jesaia 39, 5—7).
/ Auch Jeremia hat nicht nur den Transport der
I Juden nach Babylonien vorhergesagt, sondern auch
\ den Wiederaufbau Jerusalems nach Rückkehr der
Judäer (Jeremia 1, 13. 15 und 37, 7-10). Und
zwar war Jeremia ein Jüngling, als er Niedergang
und späteren Aufstieg seinem Volke vorhersagte, was
politische Kombination noch unwahrscheinlicher macht.
lEr war von seiner Prophezeiung so überzeugt, daß
[er während der hoffnungslosen Zeit der Belagerung
[erusalems durch Nebukadnezar auf innere Eingebung
lin ein Grundstück kaufte (32, 24 f.).
Ein weiterer Verkünder der Schicksale des Juden:=
rolkes ist der Prophet Ezechiel. Auch er weissagte
den Untergang Jerusalems und das Exil, aber auch
die Rückkehr und Verjüngung des Volkes. Er sagte
mit unzweideutigen Worten voraus, daß die Ver*
bannten in Babel den Grundstock zu einem neuen
29
Volke und zu einer neuen, edleren historischen Ent*
Wicklung bilden würden (11, 16—20). Auffällig ist,
daß auch er im Anfange seiner prophetischen Lauf»*
bahn diese Sehergabe bewies. Sein Bild von den
vertrockneten und zerstreuten Gebeinen, die
plötzlich wieder lebendig werden, hat sich
buchstäblich erfüllt (Ezechiel, Kap. 37).
Von den exilischen Propheten verkünden sowohl
der Deutero^Jesaia (Jes. 40—66), der Prophet des
Stückes Kap. 13—14 und 24—27, als auch der Deutero*
jeremianische Prophet (Jerem. 50—51) zuversichtlich
die Rückkehr aus dem Exil und ein fürchterliches
Strafgericht über Babylonien. Mag das letztere auf
politischer Kombination beruhen, da die gewaltige
Gestalt des Cyros bereits am Horizont auftauchte,
so war doch weder die Vernichtung Babyloniens —
da ja Unterwerfung genügt hätte — vorauszusehen,
noch vor allem, daß gerade das winzige Judenvölkä«
chen die Aufmerksamkeit des Eroberers auf sich
lenkte. Berücksichtigt man ferner, daß gerade der
letzte König Babylons die Juden besonders hart
behandelte, so ist kaum zu bestreiten, daß die Vor^s
hersagen erstaunlich sind.
Endlich führen wir noch zwei nachexilische Pro*
pheten an, nämlich Chaggai und Zacharia. Als man
über die Winzigkeit des Tempels während der Re*
gierung des Darius seufzte, sagte der erstere: „Größer
wird die Ehre dieses (kleinen) Tempels, als des ersten
sein" (2, 6—9) und der andere: ,, Entfernte werden
kommen und werden an dem Tempel Gottes teil*
nehmen" (6, 15). Tatsächlich kamen zum zweiten
Tempel Heiden in Menge aus Syrien, den Euphrat*
30
ländern, Kleinasien, Griechenland und selbst Rom,
um sich zum Judentum zu bekennen oder Weih^
geschenke zu schicken. Erst die „Fülle der Heiden*',
die in das Haus Jakobs einkehrten, hat Paulus auf
den Gedanken gebracht, die Heiden zu bekehren
und zur Kindschaft Abrahams zu berufen.
Besonders merkwürdig aber ist folgende Ver^*
kündigung des nachexilischen Zacharia: ,,Es werden
noch Völker und Bewohner großer Städte
kommen und einander auffordern, Gott den
Herren in Jerusalem aufzusuchen. Zehn Man?
ner von allen Zungen der Völker werden den
Zipfel eines jüdischen Mannes erfassen, spre#
chend: ,,Wir wollen mit euch gehen, denn wir
haben Gott mit Euch gehört" (8, 20-23). Da^
bei ist zu berücksichtigen, daß die Juden bei ihrer
Heimkehr von Seiten der Nachbarvölker nur Ver*
achtung und Haß fanden.
In allen oben angeführten Fällen ist ein Vate*
cinium post eventum völlig ausgeschlossen, Kom*
bination aber unwahrscheinlich. Inwiefern der be*:
rühmte Zufall eine Rolle spielt, möge jeder selbst
entscheiden. Ausgeschlossen in der obigen Liste sind
alle Prophezeiungen, die in den Geschichtsbüchern
erzählt werden, da ihre Authentizität angefochten
werden kann.
Daß einige Prophezeiungen nicht in Erfüllung
gingen, sei nicht in Abrede gestellt. Wir werden
das später noch sehr häufig finden und an anderer
Stelle ausführlich auf diese Frage zurückkommen.
Das Neue Testament ist als Quellenschrift un*
brauchbar, da — von den Briefen abgesehen — alTe
31
Berichte auf Hörensagen beruhen. Das älteste Evan^
geÜum, das des Markus, ist keinesfalls vor dem
Jahre 70 geschrieben worden, die auf ihm fußenden
Evangelien des Lukas und Matthäus sind etwa zwei
Generationen jünger, und das des Johannes ist gar
erst gegen die Mitte des 2. Jahrhunderts verfaßt;
also reichlich ein Jahrhundert nach Christi Tode.
Daß unter diesen Umständen den evangelischen
Prophezeiungen keine Bedeutung zuzuerkennen ist,
liegt auf der Hand^).
Was die mittelalterliche Heiligenliteratur betrifft,
so kann es nicht zweifelhaft sein, daß sich in ihr
eine stattliche Anzahl echter Prophezeiungen würde
nachweisen lassen. Jedoch ist sie in der Regel erst
viel später und überdies außerordentlich unkritisch
und mit der Absicht dem Heiligen möglichst viele
Wunder zuzuschreiben, abgefaßt worden, so daß sie
wenig Glauben verdient. Es mag eine dankbare
Aufgabe der Zukunft sein, hier kritisch zu sichten.
Daß durchaus nicht nur leeres Stroh gedroschen
werden muß, ergibt sich z. B. aus der interessanten
Arbeit von Merkt über die Stigmatisation des Heiligen
Franz von Assisi^). Sie hat unzweifelhaft den Be*
weis erbracht, daß dieser außerordentliche Mensch
Stigmen in der Art der Wundmale Christi hatte,
eine Phänomen, für das, wie für so manches andere,
die heutige Wissenschaft noch keine ausreichende
Erklärung hat. Ohne Prophetengabe zu besitzen,
^) Otto Pfleiderer, Die Entstehung des Christentums,
München 1905, S. 191 ff. und 291.
^) Josef Merkt, Die Wundmale des heiligen Franz von
Assisi. Leipzig und Berlin 1910, besonders S. 65 ff.
32
können wir mit größter Bestimmtheit vorhersagen,
daß es nicht mehr lange dauern wird, bis diese ganze
Literatur von urteilsfähigen allen kirchlichen Dogmen
ebenso frei, wie allen materialistischen gegenüber*
stehenden Männern nach unsern Gesichtspunkten
durchforscht werden wird.
Die Skepsis des Autors gegenüber der religiösen
Literatur, sowie die nicht geringere der Gebildeten
im allgemeinen gegen derartige Quellen wird es
rechtfertigen, wenn wir hier nicht länger verweilen,
sondern — von wenigen gut beglaubigten Ausnahmen
abgesehen — uns auf die profanen beschränken.
Wir leben unzweifelhaft noch in einer Zeit der
Hyperkritik, die ohne weiteres ablehnt, was ihr
irgendwie außergewöhnlich erscheint. Das wird sich
ja wohl dereinst ändern, aber unsere Aufgabe kann
es nicht sein, hier mehr dem Zeitgeist zu trotzen,
als es unbedingt nötig ist. Daß trotzdem auch die
kritischste Quellenbearbeitung Glauben fordert — man
denke an die zahlreichen Fälle, in denen ein Faktum
nur durch einen einzigen Bericht überliefert ist — steht
fest. Aber in diesen Fällen muß das Faktum eben
möglichst alltäglich sein. Bei unserer Untersuchung
jedoch, die sich mit einer Materie befaßt, die rund*
weg in ihrem Bestände geleugnet wird, in den Fällen
aber, wo sich die Tatsachen nicht fortdisputieren
lassen, nach Tunlichkeit durch Zufall erklärt zu
werden pflegt, tut doppelte und dreifache Vorsicht not.
Diese Erwägungen objektiver Art — soweit sie
die tatsächlich unkritische und panegyrischen reli*
giöse Literatur betreffen — sowie die ebenso be*
achtenswerten subjektiver Natur — d. h. die Skepsis
33
allem gegenüber, was irgendwie das Alltägliche, das
Allerheiligste unserer demokratischen Zeit, übersteigt —
lassen größte Vorsicht in Verwertung unverdächtiger
Quellen als Pflicht der Klugheit erscheinen. Es muß
unser Bestreben sein, möglichst gar nichts auf den
guten Glauben des Lesers ankommen zu lassen.
Beginnen wir mit einigen beglaubigten Beispielen,
die um so weniger Widerspruch finden werden, als
sie gar keine echten Prophezeiungen sind.
Am bekanntesten ist das Orakel zu Delphi, das
Krösus auf seine Frage hin die Antwort gab: wenn
er den Halys überschreite, werde er ein großes Reich
zerstören. Der Doppelsinn dieses Ausspruches ist
so klar, daß man sich nur wundern muß, daß Krösus
ihn nicht merkte.
Ebenso doppelsinnig ist das von Cicero über»!
lieferte Apollinische Orakel, das Pyrrhus gegeben
wurde:
Ajo te, Aeacida, Romanos vincere posse.
Da es sowohl heißen kann „ich sage dir, Aeacide,
daß du die Römer besiegen kannst", als auch „ich
sage dir, Aeacide, daß die Römer dich besiegen
können", so ist es weder verwunderlich, daß es in
Erfüllung ging, noch daß wir Cicero glauben, wie*
wohl er insofern keine lautere Quelle genannt werden
darf, als er zwei Jahrhunderte nach dem großen
Epiroten lebte.
Endlich wollen wir noch ein Orakel von Helio*
polis in Aegypten anführen, das uns Macrobius^)
überliefert: Vor seinem Partherkriege wandte sich
*) in Saturnalibus I. 23.
Kemmerich, Prophezeiungen
34
Trajan dorthin, um Auskunft über den Ausgang zu
erhalten. Die Heliopolitaner schickten ihm statt einer
Antwort einen zerbrochenen goldenen Weinstock, der
im Tempel des Gottes geopfert worden war. Der
Kaiser starb auf dem Feldzuge und man brachte die
Gebeine, die durch den zerbrochenen Weinstock
symbolisiert worden waren, nach Rom. Hätte er die
Parther geschlagen, dann hätte man selbstverständ^
lieh auf sie das Symbol des Weinstocks gedeutet.
Daß uns mit solchen doppelsinnigen Aussprüchen,
die unter allen Umständen in Erfüllung gehen müssen,
nicht gedient ist, liegt auf der Hand. Zu verurteilen
aber ist die Neigung der Gegenwart alle Orakel als
ebenso doppelsinnig oder schwindelhaft hinzustellen.
Interessanter schon ist das alte Orakel, das uns
Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen
Krieges mitteilt.
Nachdem er die Pest und die furchtbare Not
in Athen beschrieben hat, fährt er fort: „Und in
diesen unglücklichen Zeiten fiel ihnen, wie man leicht
denken kann, die Weissagung ein, die, wie die älteren
unter ihnen versicherten, vor langen Zeiten gesungen
worden sei:
Kommen wird einst ein dorischer Krieg
und mit ihm die Seuche. Die Meinungen hatten
sich darüber geteilt, ob die Alten in diesem Vers
Xüifiiog (Pest) oder hjuog (Hungersnot) gemeint hätten.
Doch bei den damaligen Begegnissen der Stadt be*
hielt, wie leicht zu erachten, die erste Meinung die
Oberhand, wie denn einem gewöhnlich dasjenige am
ersten in den Sinn kommt, was mit dem, was uns
wirklich begegnet, die nächste Verwandtschah hat.
35
Und ich stelle mir vor, wenn einmal nach diesem
ein anderer dorischer Krieg ausbrechen, und eben
eine Hungersnot dabei eintreten sollte, so würde
man natürlich auch die Weissagung so auslegen.
Nicht minder gedachten nunmehr auch diejenigen,
welche darum wußten, an das den Lakedämoniern
erteilte Orakel, da Apollo ihnen auf die Anfrage,
ob sie den Krieg anfangen sollten, zur Antwort ge*
geben: wenn sie den Krieg mit Nachdruck
führten, so würde der Sieg auf ihrer Seite
sein, ja selbst ihnen beizustehen versprochen
hatte. Mit diesem Orakel hielten sie den bisherigen
Verlauf der Sache ganz übereinstimmend. Die Seuche
brach gleich von der Zeit an aus, als die Pelopon^
nesier ins Attische einfielen, und, was ein merkwürs*
diger Umstand war, die Peleponnes blieb gänzlich
davon frei. Ihre stärkste Wirkung äußerte sie in
Athen, sodann aber auch in andern Plätzen, die vor
andern volkreich waren ^)."
Daß Thukydides Skeptiker ist und deshalb seine
Mitteilung auch bei modernen Gesinnungsgenossen
keinem Zweifel begegnen wird, dürfen wir als be#
kannt voraussetzen. Schrieb er doch seine berühmte
Geschichte, ein bis heute unübertroffenes Meister*=
werk, in ausgesprochenem Gegensatz zu seinem Vor^;
ganger Herodot. Ihm kommt es im Gegensatz zu
jenem darauf an, überall den natürlichen Zusammen^»
hang der Dinge nachzuweisen, weshalb er alles Mythische
und Göttliche, insoweit es die menschlichen Geschicke
beeinflußt, ablehnt.
^) II, 37. Übersetzung von J. D. Heilmann, Neuausgabe
von Otto Güthling, Reclams Universalbibiiothek S. 167 f.
3*
36
Aber selbst wenn jemand das nicht wissen sollte,
geht es aus obiger Stelle unzweideutig hervor. Es
ist kaum möglich, nüchterner und rationalistischer
einem immerhin höchst merkwürdigen Phänomen ent*
gegenzutreten.
♦ Tatsache ist, daß das Orakel folgende durch die
{Geschichte bestätigte Weissagungen gemacht hatte:
^ 1. Es findet ein dorischer Krieg statt.
2. Während dieses Krieges bricht eine Seuche
aus. Selbst wenn wir mißtrauisch, wie ^^wirinnrein^
mal sind, die ungünstigere Interpretation, nämlich
die Hungersnot, annehmen, dann wäre die Prophe*
zeiung doch insofern richtig gewesen, als es sich um
eine über das ganze Volk hereinbrechende, vom
Kriege direkt unabhängige Katastrophe handelt. Es
besteht aber gar keine Veranlassung für den objektiv
urteilenden Menschen, die ungünstigere Interpretation
zu wählen. Wollte man das prinzipiell tun, dann
könnte man fast jeden noch so geistreichen Aus*
Spruch eines noch so großen Mannes zum Unsinn
stempeln.
3. Die Spartaner sollten nur angreifen, dann
würden sie siegen.
4. Apollo, bekanntlich Gott der Pest, werde
ihnen beistehen. Letzteres ist, wie ja auch Thuky*
dides bemerkt, außerordentlich merkwürdig. Und
zwar nach zwei Richtungen hin: Sowohl, weil der
Ausbruch der Pest mit dem Einfall der Spartaner ge*
nau zusammenFällt, und zwar nicht etwa — was eine
rationalistische, aber doch nur oberflächliche Erklärung
wäre, da sie ja die Richtigkeit der Prophezeiung nicht
umstoßen würde — weil sie von ihnen eingeschleppt
37
wurde, sondern völlig unabhängig davon. Begann
sie doch im Piräus, was die Vermutung nahe legt,
daß sie von Übersee eingeschleppt wurde, worauf
auch Thukydides im 48. Kapitel hinweist.
Ferner, weil der Peloponnes davon verschont
wurde, so daß die Pest (Apollo) also tatsächlich nur
den Spartanern half.
Ob wir diese merkwürdigen Vorhersagen als 7.\x*
fall betrachten wollen, sei der Denkart jedes Lesers
überlassen. Auf alle Fälle aber ergibt sich daraus
eines, daß nämlich die Orakel keineswegs nur zwei:*
deutige und nichtssagende Auskünfte erteilten, son^^
dern oft recht präzis antworteten.
Das läßt sich auch aus einem anderen Grunde
voraussetzen, selbst wenn wir aus der antiken Lites=
ratur keine Belegstellen hätten, die es beweisen ließen.
Gewiß kann man die Dummheit des Volkes in
gewissen Fragen gar nicht überschätzen. Sobald die
Furcht vor dem Tode, das Seelenheil und ähnliche
Dinge in Frage kommen, läßt es sich Jahrtausende
die größten Bären aufbinden und opfert einen guten
Teil seines sauer verdienten Geldes den Pfaffen.
Wäre es nicht so, dann hätte es nie Priesterherr*
Schäften gegeben und es wäre nicht möglich gewesen,
daß die vorgeblichen Nachfolger eines Mannes, der
am Morgen nicht wußte, wo er am Abend sein
müdes Haupt niederlegen sollte, an Luxus die Fürsten
übertrafen und man ihnen und ihren Dienern Schätze
geradezu aufzwang.
Anders liegt aber der Fall weltlichen, praktischen
Fragen gegenüber. Hier hat sich seit je die Klug*
heit des Volkes, die Bauernschlauheit, bewährt. Hier,
38
WO es gilt, im Kampf mit gleichen Mitteln, im Ge*
schäft, seinen Vorteil zu finden, stellt und stellte
auch das ungebildete und ungelehrte Volk seit je
seinen Mann.
Nun haben die Orakel aber weit über ein Jahr:^
tausend, in Ägypten sicher mehrere Jahrtausende, be«
standen, und die reichen Schätze, die sich aus frei*
willigen Gaben in ihren Tempeln und Hainen auf*
speicherten, beweisen, daß sie in hohem Grade die
Zufriedenheit all der zahllosen Generationen zu er*
ringen wußten. Daß das niemals der Fall gewesen
wäre, wenn sie ausschließlich plumpe Zweideutig*
keiten oder gar unwahre Aussprüche zum besten ge*
geben hätten, bedarf doch eigentlich keines Beweises.
Die rationalistischen Beurteiler der Orakel sehen
in ihrer Priesterschaft nur politisch kluge, welterfah*
rene Männer. Daß sie das waren, können wir als
sicher annehmen. Auch daß sich manche Prophe*
zeiung nur deshalb realisierte, weil der Frager sein
Verhalten genau nach dem Wahrspruch einrichtete,
nicht minder, daß auch hie und da — aber das müssen
verschwindend seltene Ausnahmen gewesen sein —
eine Prophezeiung nicht in Erfüllung ging. Diese
Erklärungen genügen aber auf die Dauer nicht.
Dem einfachen Manne mag der kluge Rat immer
wertvoll sein. Was aber mächtige Könige und Staaten
für ein Interesse daran haben sollten, sich von aus*
wärts, noch dazu von einer Priesterschaft, die unter
religiöser Maske vielleicht Interessenpolitik trieb. An*
Weisungen erteilen zu lassen, das will uns nicht ein*
leuchten. Gerade der Umstand, daß die Orakel jhre
Autorität völlig verloren, als sie sich eine'*politische
39
anzumaßen versuchten, beweist hinlänglich, wie gründe
falsch es ist, nur mit Schlagworten wie: Sophismen,
zweideutige Aussprüche, weltkluge Priester, politisches
Intrigenspiel usw. zu operieren. Man tut nie klug
daran, den Gegner für weniger intelligent zu halten,
wie sich selbst. Es ist auch nicht weise, dem Alter*
tum, das uns neben den Sophisten einen Sokrates,
Plato und Aristoteles schenkte, eine Naivität zuzu*
trauen, die wir uns scheuen würden, beim simplen
Bauern vorauszusetzen.
Daß es sich bei den Orakeln, nach unserer festen
Überzeugung, um mehr handelt als normale Klugheit
oder gar Betrug — was keineswegs ausschließt, daß
beide zuzeiten nicht fehlten^) — möge auch aus der
Art der Abgabe der Weisungen gefolgert werden.
In Delphi trank die Pythia, bevor sie ihre an*
strengende Tätigkeit begann, vom heiligen Wasser
und kaute Lorbeerblätter und Gerste, worauf sie in
Verzückung geriet. „Angeblich" — die Philologie ist
gar vorsichtig! — infolge eines unterirdischen Luft*
Stromes, eines divinus adflatus, bzw. durch Dämpfe,
die aus der Erde unter ihrem Sitz aufstiegen und
durch ihren Schoß in den Leib eindrangen"). Daß
^) Pausanias kennt nur ein einziges bei Herodot (VI, 66)
erzähltes Beispiel von Bestechung eines Orakels (Pausanias III, 7).
^) Vgl. Paulys Realenzyklopädie der klassischen Altertums*
Wissenschaft, 2. Aufl., 8. Hlbd., Artikel Delphoi, S. 2533, und
O. Gruppe, Griechische Mythologie und Religionsgeschichte II,
S. 928, in J. v. Müllers Klassischer Altertumswissenschaft V, 2, 2,
sowie Ed. Döhler, Die Orakel, Berlin 1872, eine nachstehend
wiederholt benutzte Studie, und Erwin Rohde, Psyche, besonders
S. 112ft., 313 f. und 344 ff. Bouche^Lederq, Histoire de la divi=
nation dans l'antiquite, Paris 1879/81, war mir nicht zugänglich.
40
dieser Luftstrom keineswegs nebensächlich war, er#
hellt daraus, daß Plutarch und Cicero den Verfall
des Delphischen Orakels mit der Abnahme des in*
spirierenden Gases in Zusammenhang bringen.
Nach diesem uns von mehreren alten Autoren
überlieferten Bericht steht es fest, daß die Pythia
nicht in normaler Verfassung, sondern in Trance^)
war, wenn sie weissagte. Das Orakel war also kein
Produkt intensiver Verstandesarbeit, sondern vielmehr
ein solches des Unterbewußtseins. Das ist um so
einleuchtender, als Plutarch ausdrücklich berichtet,
man habe zu Pythien schlichte und unwissende
Frauen gewählt. Dafür spricht auch, daß die Seherin
durchaus nicht immer in Versen sprach, sondern ihre
Aussagen oft abgehackt, ja bisweilen wohl auch un*
artikuliert waren und deshalb von Priestern stilisiert
werden mußten. Genau, wie man es von modernen
Somnambulen weiß, nur daß man heute ihre Aus*
Sprüche stenographisch, also ganz genau nach ihrem
Wortlaut, festhält und so herausgibt.
Pausanias erwähnt eine Prophetie der Phännis,
welche die Invasion der Gallier in Asien vorher ver^
kündete. Auch führt er eine Vorhersage der Schlacht
bei Aigos potamoi von Musaios und der Sybille an
(X, 12 und X, 9) und ein anderes sybillinisches
*) Unter Trance versteht man einen der Hypnose ahn*
liehen Zustand. Trance tritt in sehr verschiedenen Intcnsitäts*
gradcn auf, doch kann es nicht unsere Aufgabe sein, hier näher
darauf einzugehen. Als vortrcttlichc Einführung in die ok*
kulten Wissenschaften sei Ludwig Deinhard. Das Mysterium
des Menschen im Lichte der psychischen Forschung, Berlin
1910, empfohlen.
41
Orakel, nach welchem die durch Philippos gegründete
makedonische Macht unter einem andern Philippos
untergehen sollte (X, 15. X, 9 und VII, 8).
Cicero legt seinem Bruder die Argumente der
Verteidiger der Orakel in den Mund. Schließen wir
den kurzen Abstecher auf dieses Gebiet mit seinen
Worten: „Wer weiß nicht, was der pythische Apollo
dem Kroisos, was er den Athenern, den Lakedaimo^
niern, den Tegeaten, den Argeiern, den Korinthern
geantwortet hat? Unzählige Orakel hat Chrysippus
gesammelt, und keines ohne einen vollgültigen Ge*
währsmann und Zeugen; ich übergehe sie aber, weil
sie dir bekannt sind. Nur so viel sage ich der Ver?
teidigung wegen: Nie würde das Orakel zu Delphoi
so besucht und berühmt gewesen sein, nie wäre es
mit so ansehnlichen Geschenken aller Könige und
Völker angefüllt worden, wenn nicht alle Zeitalter
die Wahrhaftigkeit seiner Orakel erprobt hätten^).*'
Wir wollen nun noch einige Fälle von Prophetie
bzw. Vorahnung oder Vorzeichen aus der alten Ge*
schichte anführen'^).
Zu den bekanntesten Prophezeiungen des Alter-
tums gehört jene, die sich auf Cäsars Ermordung
bezieht. Sueton erzählt in seiner Biographie des
Gajus Julius Cäsar, im 81. Kapitel, den Vorgang
wie folgt ^):
„Dem Cäsar wurde unterdessen der bevorstehende
^) Cicero, de Divinatione, I, 19.
'^) Viele Orakelsprüche bei R. Hendess Oracula Graeca,
Halle a. S. 1877.
') Übersetzung von Adolf Stahr in Langenscheidts Biblio«
thek, 2. Aufl., S. 97 f.
42
gewaltsame Tod durch die offenbarsten Vorzeichen
verkündet. Wenige Monate zuvor, da in der Kolonie
Capua die Kolonisten, die infolge des Julischen Ge*»
setzes dorthin übersiedelten, zum Aufbau ihrer Land*
häuser uralte Gräber umgruben, und dies um so
eifriger taten, weil sie dabei eine große Menge
Gefäße von alter Kunstarbeit fanden, entdeckte man
in einem Monumente, das für das Grabmal des
Capys, des Gründers von Capua, galt, eine eherne
Tafel mit griechischer Schrift und Sprache, des In*
halts:
„Wenn einst die Gebeine des Capys ans Licht
' gekommen sein würden, werde ein Sprosse des Julus
|von der Hand seiner Blutsverwandten getötet, sein
iTod aber bald durch schreckliche Heimsuchungen
-Italiens gerächt werden.**
' Niemand darf diese Tatsache für fabelhaft oder
erdichtet halten; es bezeugt sie Cornelius Baibus,
Cäsars vertrautester Freund. Wenige Tage vor seinem
Ende berichtete man ihm, daß die Rosse, die er beim
Uebergang über den Rubiko den Göttern geweiht
und ohne Hüter frei hatte laufen lassen, durchaus
nicht mehr fressen wollten und häufige Tränen ver*
gössen. Beim Verrichten eines Opfers erteilte ihm
der Opferschauer Spurinna die Warnung: er möge
sich vor einer Gefahr hüten, die nicht länger als bis zu
den Iden des März ausbleiben werde. Am Tage
aber vor diesen Iden des März sah man eine Vogel*
schar vor dem nahegelegenen Haine einen Zaunkönig,
der mit einem Lorbeerzweiglein in die Pompejanische
Kurie flog, verfolgen und daselbst zerrcifkn. Ja in
der Nacht, auf die der Tag des Mordes anbrach.
43
sah Cäsar seinerseits im Traume sich mehrmals über
den Wolken schweben, und dann wieder einmal,
wie er dem Jupiter die Hand reichte; und Calpurnia, \
seine Gattin, sah im Traum, wie der Giebel ihres ;
Hauses einstürzte, und wie man ihren Gemahl
in ihren Armen erdolchte; zugleich sprangen plötz*«
lieh die Türen ihres Schlafgemaches von selbst
weit auf.
Teils dieser Dinge wegen, teils weil er sich un*
wohl fühlte, war er längere Zeit unentschlossen, ob
er sich nicht lieber zu Hause halten und das, was
er dem Senate vorzutragen beschlossen hatte, ver»«
tagen sollte. Endlich aber machte er sich, da ihm
Decimus Brutus vorstellte, doch den zahlreich vers=
sammelten und bereits längere Zeit auf ihn warten*
den Senat nicht vergeblich sitzen zu lassen, etwa um
die fünfte Stunde (d. h. zwischen 10 und 11 Uhr
vormittags) auf den Weg.
Eine Schrift, die ihm unterwegs von jemandem
überreicht wurde, und die eine Anzeige des Vers=
schwörungsplans enthielt, steckte er unter die übrigen
Schriften, die er in der Linken hielt, um dieselben
später zu lesen. Als er darauf das Opfer hielt und
die Opfertiere, trotzdem daß man deren mehrere
schlachtete, keine glücklichen Vorzeichen gaben, ging
er ohne Rücksicht auf diese religiöse Bedenklichkeit
in die Kurie. Dort sah er den Spurinna und be*
merkte ihm mit spottendem Lächeln, um ihn als
falschen Propheten zu bezeichnen: „des Märzen
Idus sind ja ohne Unglück gekommen**, wo*
rauf jener warnend erwiderte: „gekommen sind
sie, aber noch nicht vorüber.**
44
So weit Sueton.
Was jeder von den Vorzeichen halten will,
etwa dem Weinen der Rosse, das auch Homer von
des Achilleus Pferden erzählt, die des Patroklos Tod
beweinen, oder Vergil vom Leibroß des Pallas, Shakes=
speare von denen des Duncan berichtet, ist seine Sache.
Solche Geschichten sind besonders in der mittele
alterlichen Literatur überaus zahlreich und dürfen
nur als dichterische Freiheiten gewertet werden. Un*
maßgeblichst vermute ich dagegen, daß die Einge»»
weideschau und die übrigen Vorzeichen der römischen,
wie aber auch etwa der babylonischen Divination,
die bestimmte Zeichen ganz bestimmt deutet, nicht
Schwindel, sondern Selbsttäuschung ist. Es handelt
sich wohl um eine Autosuggestion, wie wir sie beim
Prophezeien aus Karten, Kaffeesatz, der Hand usw.
antreffen. In Wahrheit dürfte es ein visionäres
Schauen des Sehers sein, ein Trancezustand, in den
er aber nur auf Grund solcher Zeichen versetzt
wird. Wir könnten uns dann den Vorgang etwa
so vorstellen, wie den Aberglauben fast aller Schau*
Spieler, die nur aufzutreten wagen, nachdem sie ge*
wisses getan, oder bestimmte Talismane zu sich ge^
steckt haben. Durch Autosuggestion wird der Schaum
Spieler sonst vom Lampenfieber gelähmt werden, wäh*
rend er sich vermittelst seines Amulettes oder eines
bestimmten abergläubischen Spruches in die erforder««
liehe Inspiration leicht versetzt.
Anders liegt hier aber der Fall mit dem Traume
Cäsars, sowie dem seiner Gemahlin, und den warnen*
den Worten des Spurinna am Unglückstage. Der
,, Freigeist", d. h. der durch das materialistische Dogma
45
Gebundene, wird keinen Augenblick zögern, das
Vorhersehen eines Ereignisses im Traume für
Schwindel oder Selbsttäuschung zu erklären. Und
das, wiewohl sicher ein außerordentlich hoher
Prozentsatz der Menschen von Wahrträumen heim*
gesucht wird, sich aber aus Furcht, den Spott der
Superklugen auf sich zu laden, hütet anderen davon
Mitteilung zu machen.
Wir gehen gleich an dieser Stelle auf die Frage
der Wahrträume ein, weil wir aller Voraussicht nach,
wenn wir uns auch nur etwas mit der Materie bes=
schäftigt haben werden, nicht mehr so ohne weiteres
jede historische Überlieferung von Wahrträumen für
Aberglauben oder Schwindel erklären werden. Die
Analogien der Gegenwart werden uns Gerechtigkeit
oder doch mindestens Vorsicht den alten Autoren
gegenüber rätlich erscheinen lassen.
Da ist zunächst das Zeugnis des Justinus Kerner,
den mancher für leichtgläubig halten mag, dem aber
niemand eine Lüge zutraut. Er schreibt in seinen
Kindheitserinnerungen :
„. . . reine Wahrheit ist, daß ich von dieser Zeit
an durch mein ganzes Leben voraussagende Träume
behielt, die mir zu einer wahren Qual im Leben
wurden, eine Qual, die ich keinem wünsche und die
mich gleichsam praktisch kennen lehrte, welch ein
Unglück es für den Menschen wäre, hätte ihm Gottes
weise Hand die Zukunft nicht verschlossen. Diese
voraussagenden Träume finden bei mir gegen Morgen
statt, besonders wenn eine schlaflose Nacht mich erst
gegen Morgen ruhen und in Schlaf sinken läßt. Sie
kamen immer unter Bildern und symbolisch vor.
46
Erscheinen von Licht bedeutet kommende Freude . . ." ^)
(S. 242 folgt eine Erklärung der Symbole, z. B. Wasser
bedeutet Betrübnis, Schnee und Eis Krankheit, Essen
von Trauben oder Beeren Krankheiten usw.).
„Da ich auf das Eintreffen solcher voraussagenden
Träume gewiß rechnen kann, so sind sie mir eine
wahre Pein im Leben, besonders da ihre Erfüllung
oft erst nach drei Tagen stattfindet, doch meist am
gleichen Tage des Erwachens aus ihnen."
Der verstorbene Weltreisende, Professor Dr. Wil*
heim Joest, übrigens ein Schulfreund meines Vaters
und auch mir persönlich als wahrheitsliebend bekannt,
richtete an die Zeitschrift „Sphinx" '0 am 25. September
1886 folgenden Brief:
Sehr geehrter Herr!
Sie werden sich wahrscheinlich wundern, einen
Brief von mir zu erhalten, mehr noch, wenn Sie ihn
gelesen haben. Sie wissen, daß ich ebensowenig
Spiritist wie Bibelchrist bin, und ich hoffe, auch nie
eins oder das andere zu werden. Wo es sich aber
um Tatsachen handelt, da bin ich Ihr Mann, und
wenn heute jemand behauptete, die Stockfische wären
Säugetiere und ich wäre — natürlich bona fide — in
der Lage, dem Manne mit irgendeinem Faktum unter
die Arme zu greifen, ich würde es gewiß tun.
Sie können also von dem Untenstehenden jeglichen
Gebrauch machen, ich teile Ihnen nur die Tat»«
Sache mit, für die ich voll und ganz einstehe.
*) Justinus Kcrncr, Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit.
Erinnerungen aus den Jahren 1786—1804. 2. AuH. Stuttgart
1886. S. 240 f. Die nächste Stelle auf S. 243.
0 Vgl. „Sphinx" 3. Bd. 1887. S. 62.
47
Ich selbst erltuhr es erst vor vierzehn Tagen, darum
teilte ich sie Ihnen nicht früher mit.
Ich hatte Europa 1884 verlassen, bereiste Süd*
afrika, die Ostküste und kam Ende Mai in Aden an,
mit der Absicht von dort über die Maskarenen nach
Madagaskar, später über Mauritius nach Australien,
Südsee usw. zu reisen. Ich war für 2—3 Jahre aus*
gerüstet. In Aden wurde ich sehr krank. Am 30. Mai
schrieb ich in mein Tagebuch: ,,Es geht zu Ende,
Energie weg" usw. Am 3. Juni 1885 entschloß ich
mich zur Rückkehr nach Europa und telegraphierte
an meinen Vater, den Geheimen Kommerzienrat Eduard
Joest in Köln, folgende Worte: Retourne malade ge*
fahrlos. Diese Depesche kam nachmittags in Köln an.
Am Morgen desselben Tages war ein Dienst*
mädchen meines Vaters, „Tilla" mit Namen, ziemlich
aufgeregt zu der Gesellschafterin meines Vaters, Frau*
lein Anna W. aus R., gekommen und hatte ihr fol*
gendes gesagt: „Fräulein, der Herr Wilhelm ist krank,
ich weiß es, ich habe es geträumt. Ich habe geträumt,
daß er zurückkommt, ich muß sein Bett machen."
Zwei Stunden später traf meine Depesche ein.
Ich teile Ihnen diese Tatsache mit und enthalte
mich jeglicher Bemerkungen.
Obengenannte Tilla ist übrigens durchaus kein
irgendwie ätherisches Wesen, sondern eine nicht mehr
junge, wohlgenährte, brave und tüchtige Magd — nur
behauptet sie, daß das, was sie im Traume sähe,
häufig einträfe u. dgl.
Vielleicht interessiert Sie diese Mitteilung.
In vorzüglicher Hochachtung, Ihr ergebenster
Dr. Wilhelm Joest."
48
Ich selbst hatte zwar seit dem Frühjahr 1910
einige Male telepathische Erlebnisse räumlicher Art,
niemals aber Visionen, Halluzinationen oder ähnliches.
Von einem einzigen Wahrtraum kann ich aus per*
sönlicher Erfahrung Zeugnis ablegen. Bevor ich ihn
erzähle, möchte ich bemerken, daß ich außerordentlich
selten träume oder — in praxi dasselbe — mich des
Traumes beim Erwachen erinnere.
Meine „Dinge, die man nicht sagt," waren eben
erschienen — das Buch war am 26. April 1910 aus*»
gegeben worden — ich befand mich begreiflicherweise
in einiger Spannung über seine Schicksale. Nicht ob
es gelobt oder getadelt würde, was mich völlig kalt
läßt, sondern ob es Beachtung finden würde.
Da träumte ich — es war am 18. Mai — ich hätte
einen Brief des Verlegers Albert Langen erhalten,
der mir eine Neuauflage — 4. und 5. Tausend — der
„Dinge" ankündigte. Ich hatte im Traum Langen
antelephoniert und gesagt, der Verlag hätte sich wohl
verschrieben, da ich viel eher an eine Neuauflage
der Kulturkuriosa dachte. Aber Langen hatte mir —
im Traume — den telephonischen Bescheid erteilt:
der Brief sei inhaltlich völlig richtig, es handle sich
um die ,, Dinge*'.
Am Morgen erzählte ich diesen Traum meiner
Frau und schrieb ihn überdies nieder. Ich fügte hinzu,
daß hier einmal wieder der Wunsch Vater des Ge^
dankens geworden sei.
Da kam — zu meiner größten Überraschung —
am 21. Mai ein Brief von Langen mit genau dem««
selben Inhalt und — wie mir schien — auch Wortlaut,
wie ich es geträumt hatte. Von den Kulturkuriosa
49
aber — und das erhöht das Merkwürdige des Falles —
erschien wider Erwarten die nächste Auflage — das
8. Tausend — erst im November 1910.
Während Träume neutralen oder gar erfreulichen
Inhaltes recht selten zu sein scheinen, sind solche
tragischer Natur desto häufiger. Sei es, daß es sich
um den eigenen Tod handelt, sei es um den naher
Angehöriger oder Verwandter.
Da das ja beim Falle Caesars zutreffen würde,
so seien nachstehend einige Beispiele angeführt, nicht
ohne zu erwähnen, daß Camille Flammarion auf Grund
einer Umfrage ein sehr reiches Material über dieses
Thema zusammen brachte. Zitieren wir daraus:
„In den letzten Tagen des November 1871 —
es war an einem Mittwoch und, wie ich glaube,
der 22. — weilte ich bei der mir befreundeten Familie
Davidson in New Orleans. Eine Frau Thilton war
anwesend und erzählte verschiedene Träume, die sie
gehabt und die immer in Erfüllung gegangen waren.
Die Anwesenden kannten bereits die Wahrheit ihrer
Berichte. Betroffen von einer Erzählung dieser Dame
rief nun unser Wirt aus:
,, Madame, ich ersuche Sie, ja nicht von mir zu
träumen!"
„Zu spät, mein Herr! Erst gestern abend habe
ich von Ihnen geträumt."
Alles bestürmt sie, den Traum zu erzählen.
„Mir hat geträumt, daß ich von heute in sechs
Wochen einer dringenden Einladung von ihnen fol*
gend Sie besuchte."
„O, der Traum läßt sich leicht verwirklichen,
Madame! Ich werde Sie an dem bestimmten Tage
Kemmerich, Prophezeiungen 4
50
ZU uns bitten, und Sie, mein Fräulein,*' wendete sich
der Hausherr zu mir, „werden sicher uns auch die
Ehre geben. Welcher Tag ist es?"
Einer der Anwesenden sah im Kalender nach:
„Mittwoch, der 3. Januar 1872."
„Gut, wir wollen alle den Traum von Madame
mit erleben!"
„O, bitte, warten Sie, das ist noch nicht alles,"
warf Frau Thilton ein, „mir träumte noch," fuhr die
Dame fort, daß ich beim Eintreten dieses Haus leer
und verlassen fände und daß ich Sie vergebens suche.
Endlich habe ich in der Mitte des zweiten Salons
einen großen Metallsarg gesehen; der Deckel war
geschlossen, ich sah weiter nichts, aber ich wußte,
daß Sie in dem Sarg liegen."
Unser Wirt brach in Gelächter aus, ebenso alle An^
wesenden, und Herr Davidson sagte scherzend zu seiner
Frau: „O, nur keinen Metallsarg, ich mag Metall nicht!
Nur einen Sarg aus Palisanderholz bitte ich mir aus."
Lachend versprach seine Frau, falls sie ihn über*
leben sollte, seinen Wunsch zu erfüllen.
Frau Thilton fuhr fort: ,,Ich sah nur einen
Menschen im Salon und stellte mich neben ihn. An
den Längsseiten des Sargdeckels sah ich sechs silberne
Rosen." Man lachte von neuem über diesen bizarren
Sargschmuck; aber Frau Thilton blieb ernst und sagte:
„Es hat, selbst im Traum, einen tiefen Eindruck auf
mich gemacht."
Man trennte sich lachend und gab sich ein Stell*
dichcin für Mittwoch den 3. Januar. Noch während
der folgenden sechs Wochen wurde der Traum öfters
scherzhaft erwähnt.
51
Am 2. Januar 1872 fiel unser Wirt, Herr Davidson,
einem fürchterlichen Zufall zum Opfer: er wurde von
einer Lokomotive erfafk und zermalmt.
Am andern Morgen wurde er in den Sarg gelegt;
die Familie wünschte, daß niemand sein entstelltes
Gesicht sehe, und ich übernahm die Wache am Sarge
und blieb auch, nachdem der Deckel geschlossen
worden war, auf meinem Posten.
Frau Thilton kam, der Einladung folgend, in das
Haus und fand im zweiten Salon den Sarg und nur
mich bei ihm. Sie stellte sich an meine Seite; stumm,
ohne uns anzusehen, standen wir bei dem Sarge.
Plötzlich berührte sie meinen Arm und deutete auf
sechs silberne Rosen, die die Längsseiten des MetalU
Sarges zierten. Ich sah sie fragend an, und sie sagte:
,,0, erinnern Sie sich nicht? Die sechs silbernen
Rosen, die ich genau so in meinem Traum gesehen
habe?"
Vierzehn Tage später sagte mir die Witwe:
,, Erinnern Sie sich jenes außergewöhnlichen Traumes?
Alles kam, wie unsere Freundin es vorausgesehen!
Bis auf den Sarg! Selbst in meinem Schmerz habe
ich seinen Wunsch nicht vergessen!"
Ich war unfähig mich zu verstellen und stammelte:
,Aber es war doch ein Metallsarg!"
,, Niemals! O mein Gott! Wer hat es gewagt,
mir entgegenzuhandeln?"
„Und die sechs silbernen Rosen waren auch auf
jeder Seite."
Meine arme Freundin war ganz erschüttert. Man
stellte den Leichenbestatter zur Rede. Ein Palisander^
sarg war nicht aufzutreiben gewesen und nur ein
4*
52
Metallsarg war in der nötigen Größe vorrätig, so daß
man diesen hatte nehmen müssen.
Von den dreizehn Zeugen jenes Traumes leben
heute nur noch neun. Die Familie (Calvinisten)
würde sehr empört sein, wenn ihr Name mit einem
Aberglauben in Verbindung gebracht würde, doch
ist sie viel zu ehrlich und wahrheitsliebend, um die
Tatsache zu leugnen.
Sara Morgan#Dawson, 36, rue de Varenne.
Paris, 20. Dezember 1901.
Frau Dawson ist seit Jahren mit mir (d. h. Flam*
marion) bekannt und eine durchaus wahrheitsliebende
Dame; da wir alle aber auf unser Gedächtnis nicht
schwören können, habe ich die in New Orleans
lebende Tochter des Verstorbenen ersucht, mir ihrer*=
seits diese Geschichte mitzuteilen.
Hier die Abschrift ihrer Antwort vom 24. Ja*
nuar 1902:
„Jawohl erinnere ich mich, wenigstens teilweise,
jenes Traumes. Eines Tages, nach dem Diner, er*
zählte uns Frau Thilton, daß sie im Traum meinen
Vater in einem verschlossenen Metallsarg habe liegen
sehen. Mein Vater erwiderte damals lachend, Metall*
sarge seien ihm ein Greuel, und er wolle sich nur
in einem Holzsarg begraben lassen. Tatsächlich starb
mein Vater am zweiten Tage des neuen Jahres und
sein Leichnam wurde in einen Metallsarg gebettet.
Frau Thilton hat dies auch getan').**
Ein weiteres Vorkommnis nach Flammarion:
„Am 25. November 1860 waren wir auf der
*) Flammarion, Rätsel des Seelenlebens, Stuttgart 1909,
S. 374 ff.
53
Wasserjagd. Es war vier Uhr nachmittags und
unsere Barke näherte sich dem Ufer. Da erwähnte
einer meiner Freunde, er habe in der Nacht geträumt,
er werde heute im Meer ertrinken.
Ich versicherte ihm, daß wir in zehn Minuten
landen würden. Einen Augenblick später kenterte
unser Boot und trotz unserer größten Anstrengung
ertranken zwei meiner Freunde, darunter der, der
seinen Tod vorhergesehen. Sein Bruder ist noch
heute Advokat in Havre, wo sich die Katastrophe
ereignet hat. (Sie können es auch in den Tages?
Zeitungen von Havre vom 26. November 1860 nach?
schlagen). E. B. rue de Phalsbourg, Flavre^).*'
Ein weiterer Fall nach demselben Gewährsmann:
L. Bouthors, Direkteur des Contributions directes
in Chartres schreibt:
„Es war während des Krieges 1870—71; eine
Freundin von mir, eine Offiziersfrau in Metz, träumt,
daß mein Vater, ein Arzt, den sie sehr liebte und
schätzte, an ihr Bett tritt und sagt: „Sehen Sie, ich
sterbe jetzt.** Sobald die Festung wieder mit der
Außenwelt in Verbindung treten konnte, schrieb mir
meine Freundin und beschwor mich, ihr genaue
Nachrichten über meine Angehörigen zu geben und
ob nicht am 18. September meinem Vater ein Un?
glück zugestoßen sei. Sie hätte an dem Tag von
ihm geträumt. Mein armer Vater war uns tatsächlich
am 18. September um 5 Uhr morgens plötzlich durch
den Tod entrissen worden.
Als ich im Sommer darauf meine Freundin sah.
') Eb. S. 385, Brief Nr. 194.
54
erzählte sie mir, der Traum hätte sie tief berührt,
weil sie kurz vorher von einer ebenfalls in Metz
wohnenden Freundin einen ähnlichen Traum gehabt
hätte und am Morgen darauf ihren Tod erfuhr^).**
Mit diesem Fall, der ja rein räumlich^telepatischer
Natur ist, haben wir eigentlich den Rahmen unserer
Untersuchung schon überschritten. Denn wir he^
schränken uns ja auf das Fernsehen in der Zeit,
ohne auf das im Räume eingehen zu wollen. Nicht
weil letzteres etwa zweifelhafter wäre. Im Gegens=
teil: es gibt viel mehr Menschen, die ähnliche Er*
fahrungen gesammelt haben. Sie bestreiten zu wollen,
wäre geradeso nutzlos und töricht, wie eine Fata
morgana oder ein Gewitter zu leugnen, nur weil
man es nicht beliebig reproduzieren kann. Wenn
wir auf dieses Thema nicht näher eingehen, so ge*
schiebt es vornehmlich, um nicht den Umfang des Buches
allzusehr anschwellen zu lassen. Und doch ist auch
der letztgenannte Fall einschlägig, weil er die Wahr^
heit des bisweilen im Traume Geschauten beweist.
Wir lassen weitere Fälle folgen:
Sehr merkwürdig ist die Erzählung eines öster*
reichischen Oberleutnants von F. von einem Wahrst
träum, der zur Zeit der Schlacht bei Wagram spielt.
,,Kaum graute der Morgen der denkwürdigen
Schlacht von Wagram (5. Juli 1809), als das Regi*
ment, in welchem ich diente, Order erhielt, das vor
dem rechten Flügel unserer Position gelegene, vom
Feinde besetzte Dorf Großhosten nebst der dort auf*
gestellten Batterie zu stürmen. Da trat mein FlügeU
') Hb. 28. I^rief, p. ?.9*J. Nr. II.
JJ
korporal — Wittcnbart hieß der Wackere — zu mir
und bat, seine Uhr und Barschaft, das einzige Erb?
teil der Seinen, womöglich in Sicherheit zu bringen,
da er gewiß sei, diesen Morgen zu fallen. Von nie^s
mandem als diesem tapferen Krieger, der damals
noch in der vollen Kraft seines Lebens stand, hätte
mich eine solche Anrede mehr befremden können,
da selbst seine Geistesbildung jene seiner meisten
Standesgenossen weit übertraf. Natürlich fragte ich
vor allem um den Grund einer solchen Besorgnis;
folgendes war seine Antwort:
,Sie kennen mich, Herr Oberleutnant, und werden
es daher mir glauben, daß ich ohne alle Angstlich*
keit, ermüdet von den gestrigen Strapazen, fest und
ruhig bei der Gewehrpyramide meiner Leute einj»
schlief. Da träumte ich, bevor wir geweckt wurden,
ein Wesen von himmlischer Schönheit stände vor
mir und betrachte mich eine ziemliche Zeit mit un^*
endlichem Wohlgefallen; von einem unnennbaren
Gefühle zu ihm hingezogen, streckte ich meine Arme
nach ihm aus; da sprach es: »Heute noch wirst du
bei mir sein; nimm dies Band als Wahrzeichen!«
Und mit diesen Worten hing es mir ein breites rotes
Band über die rechte Schulter und Brust; ich er*
wachte. Sie wissen, daß Furcht und Kleinmut meine
geringsten Fehler sind; trotzdem halte ich mich für
überzeugt, der heutige Tag sei der meines Todes,
und ich bitte daher noch einmal um die Erfüllung
meines Wunsches. Die paar Taler übrigens, welche
ich zurückbehalten habe, gehören dem Kameraden,
welcher mir die Augen zudrücken wird, oder denen,
die mich beerdigen.*
56
Vergeblich erschöpfte ich alle Vemunftgründe,
ihm die Unzuverlässigkeit eines Traumes zu be*
weisen; der Befehl zum Vorrücken endete meine
nutzlosen Bemühungen.
Wir marschierten mit halben Divisionen rechts
ab, setzten uns vor dem linken Flügel en colonne
und passierten solchergestalt ein seichtes Defilee»
welches gegen den Feind ausmündete. Kaum ge*
wahrten die Franzosen unsere Bewegung, als sie ihr
schweres Geschütz auf den Ausgang des seichten
Hohlwegs richteten und Kugel auf Kugel in unsere
Reihen sandten. Wohl niemand wird es mir ver*
argen, wenn meine Augen mehr gegen die feindliche
Batterie als irgendanderswohin gerichtet waren; da
erblickte ich eine Kanonenkugel, welche rikochettiert
hatte und gerade auf mich zuflog. Zur Seite springen
und meinen Leuten zurufen: , Bückt euch!' war das
Werk eines Augenblickes, und dennoch kam meine
Warnung zu spät; mein braver Wittenbart lag — die
rechte Brust und Schulter zerschmettert und regungs=«
los — auf dem Boden, mein und sein Nebenmann
(ersterer bloß durch die Luft niedergerissen) neben
ihm^)."
Der berühmte Ägyptologe Heinrich Brugsch
schreibt in seinen Lebenserinnerungen") über einen
merkwürdigen Wahrtraum des Khedive im Jahre 1875
folgendes :
„Ich selbst nahm meinen Weg nach Göttingen,
um von meiner dort befindlichen Familie Abschied
zu nehmen und ohne längeren Aufenthalt die Weiter*
') Justinus Kcrner. Mapikon, III. Bd., S. 568.
') Mein Leben und mein Wandern, Berlin 1894. S. "^30 f.
57
reise auf^ einem Bremer Dampfer anzutreten. Im Be^
grift, nach dem nahgelegenen Bahnhof zu gehen, um
den nach Bremen abgehenden Frühzug zu benutzen,
erhielt ich auf dem Wege eine Drahtmeldung, die
ich sofort öffnete, um ihren Inhalt noch vor der Abs=
reise kennen zu lernen. Sie lautete kurz und bündig:
,Der Khedive ersucht Sie, augenblicklich nach Kairo
zurückzukehren.* Mit dem nächsten Eilzuge schlug
ich die Richtung nach Triest ein, um mit dem fälligen
Lloyddampfer mich nach Ägypten zurückzubegeben.
Ich hatte seit meiner Abreise keine Zeitung gelesen
und mußte nicht wenig überrascht sein, als mir von
dem Kommandanten des Schiffes die Nachricht mit*
geteilt wurde, daß auf dem letzten Bremer Dampfer,
demselben, mit welchem ich die Reise antreten wollte,
eine von einem Amerikaner namens Thomas kon^^
struierte Höllenmaschine vorzeitig explodiert sei und
mehrere Reisende und sonstige Personen getötet und
verwundet habe. Ich dankte Gott im stillen, einer
möglichen Gefahr für Leib und Leben durch meine
Rückberufung entgangen zu sein, und stellte mich
bei meiner Ankunft in Kairo sofort dem Vizekönig
vor. In der Meinung, von ihm nachträglich besondere
Aufträge zu erhalten, die er mir nur mündlich mit^
teilen könne, war ich nicht wenig erstaunt, aus seinem
Munde die Versicherung zu erhalten, er sei hoch qt*
freut, mich heil und gesund zu sehen, habe mir aber
durchaus nichts zu sagen. Er habe sich bewogen
gefühlt, mich sofort durch den Draht zurückzuberufen,
da in der Nacht ein Traumbild ihm angeraten habe,
mich sofort kommen zu lassen, widrigenfalls mir ein
großes Unglück bevorstünde.'*
58
Nachstehend noch ein weiteres Beispiel für die
Erfüllung eines Traumes:
„Mein ältester Bruder, Emile Zipelius, Maler,
starb am 16. September 1865 im Alter von 25 Jahren,
indem er in der Mosel ertrank. Er wohnte in Paris,
war aber bei seinen Eltern in Pompey bei Nancy zu
Besuch. Meine Mutter hatte zweimal in ziemlich
langen Zwischenräumen geträumt, daß ihr Sohn ers»
trunken sei. Als der Überbringer der schrecklichen
Nachricht zu meinen Eltern kam, vermutete meine
Mutter gleich ein Unglück und fragte zuerst nach
einer abwesenden Tochter, von der sie seit längerer
Zeit keine Nachricht hatte. Als man ihr sagte, es
handle sich nicht um ihre Tochter, rief sie aus:
„O, fahren Sie nicht fort, ich weiß was geschehen
ist; mein Sohn ist ertrunken!" Denselben Tag noch
hatten wir einen Brief von ihm erhalten.
Mein Bruder selbst hatte kurz vorher zu seiner
Hausfrau gesagt: „Wenn ich eines Abends nicht
nach Hause komme, so gehen Sie am nächsten Morgen
in die Morgue. Ich habe das Gefühl, daß ich im
Wasser sterben werde. Mir träumte, ich läge tot
und mit offenen Augen am Grund des Flusses."
In der Tat hatte man ihn so gefunden, er war
infolge eines Schlagaderbruchs im Wasser beim Baden
gestorben. Meine Mutter und mein Bruder glaubten
fest an ihre Vorahnung. An dem Tage seines Todes
wollte er nicht schwimmen gehen, gegen Abend aber
verlockte ihn die Kühle des Wassers und wir verloren
ihn zu unserm größten Schmerz."
J. Vogclsang^Zipelius, Mühlhauscn i.E.')
') Flammariun, Katscl des Seelenlebens, S. 384 f., 127. Brief.
59
Endlich wollen wir einen Eideshelfer anrufen,
an dessen Glaubwürdigkeit wohl niemand zu zweifeln
wagen wird und der ein Ereignis berichtet, das an
Bedeutung dem Traume der Calpurnia in nichts nach^^
steht: Bismarc k!
Der greise Heldenkaiser Wilhelm I. machte dem
großen Kanzler am 18. Dezember 1881 Mitteilung
von einem besonders lebhaften Traume, der eine
Reichstagsverhandlung zum Gegenstande hatte. Bis*
marck antwortete darauf am gleichen Tage u. a. foi*
gendes:
,,Euer Majestät Mitteilung ermutigt mich zur
Erzählung eines Traumes, den ich Frühjahr 1863 in
den schwersten Confliktstagen hatte, aus denen ein
menschliches Auge keinen gangbaren Ausweg sah.
Mir träumte, und ich erzählte es sofort am Morgen
meiner Frau und anderen Zeugen, daß ich auf einem
schmalen Alpenpfad ritt, rechts Abgrund, links Felsen;
der Pfad wurde schmaler, so daß das Pferd sich
weigerte, und Umkehr und Absitzen wegen Mangel
an Platz unmöglich; da schlug ich mit meiner Gerte
in der linken Hand gegen die glatte Felswand und
rief Gott an; die Gerte wurde unendlich lang, die
Felswand stürzte wie eine Coulisse und eröffnete einen
breiten Weg mit dem Blick auf Hügel und Wald?
land wie in Böhmen, preußische Truppen mit Fahnen
und in mir noch im Traume der Gedanke, wie ich
das schleunig Eurer Majestät melden könne. Dieser
Traum erfüllte sich, und ich erwachte froh und ge^
stärkt aus ihm ^).'*
^) Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen.
2. Bd. Stuttgart 1898, S. 194.
60
Also ein Vorgesicht der drei Jahre später Wirk*
lichkeit werdenden Ereignisse in Böhmen und des
Krieges um die Hegemonie mit Österreich!
Die angeführten Fälle, die sich natürlich ins End^
lose vermehren lassen, sollen keineswegs beweisen,
daß Caesar oder seine Gattin wirklich die Ermordung
geträumt haben. Wenn die Überlieferung auch gut
ist, so läßt sich das doch heute nicht mehr mit un*
anfechtbarer Sicherheit feststellen. Was sie aber be*
weisen sollen, ist, daß der Traum uns gar nicht
so selten ein bevorstehendes Unglück ent*
hüllt. Wenn mancher Leser dieses Buches durch
die wenigen angeführten Beispiele auch zu nichts
anderem bewogen wird, als dazu ähnliche Überliefe*
rungen nicht ohne Prüfung als Unsinn abzulehnen,
so ist damit für den weiteren Gang der Untersuchung
schon manches gewonnen.
Nun gibt es aber außer partiellen Enthüllungen
der Zukunft durch den Traum auch noch Vorahnungen
anderer Art, die ebenfalls zumeist den eigenen Tod,
oder den naher Angehöriger zum Gegenstande haben.
Von ihnen einige Beispiele anzuführen, scheint um
so mehr am Platz, als wir später noch wiederholt
ähnlichen, historisch gut beglaubigten Vorkommnissen
begegnen werden.
,,Ein junges Mädchen aus der Gegend von Nancy,
18 Jahre alt, wurde oft von ihren Angehörigen ein*
geschläfert. In einen Zustand von Somnambulismus
geraten, wiederholte sie bei jeder neuen Sitzung, daß
eine nahe Verwandte, die sie mit Namen nannte,
noch vor dem 1. Januar sterben würde. Es war im
November 18(S3. Ihre Beharrlichkeit veranlaßte den
61
Familienvater, eine Lebensversicherung von 10000
Franken tür jene Dame, die übrigens ganz gesund
war, aufzunehmen. Um das nötige Geld aufzutreiben,
schrieb er an Herrn M. L. mehrere Briefe und teilte
ihm in einem das Motiv seiner Handlungsw^eise mit.
Herr L. bewahrte diese Briefe als unwiderleglichen
Beweis für die Möglichkeit der Vorhersage zukünftiger
Ereignisse und hat sie mir gezeigt. Da man sich
über die Zinsen nicht einigen konnte, ließ man die
Angelegenheit fallen. In der Tat starb die in Frage
stehende Dame am 31. Dezember, und der am 2. Januar
an Herrn L. gerichtete letzte Brief übermittelt diese
Nachricht^)."
Ein merkwürdiges Beispiel einer Ahnung erzählt
Jung^Stilling") vom Professor der Mathematik Böhm,
einer keineswegs schwärmerischen Natur, was ja schon
der Beruf vermuten läßt.
,,Er war einmal an einem Nachmittag in einer
angenehmen Gesellschaft bei einer Tasse Tee und
einer Pfeife Tabak recht vergnügt, ohne über irgend
etwas nachzudenken, als er auf einmal eine Anregung
im Gemüt empfindet, nach Hause zu gehen. Da er
nun nichts zu Hause zu tun hatte, so sagte ihm sein
mathematischer Verstand, er solle nicht nach Hause
gehen, sondern bei der Gesellschaft bleiben. Indessen
wurde die innere Aufforderung immer stärker und
dringender, so daß endlich jede mathematische De^
monstration erlag, und Böhm seinem inneren Trieb
^) Nach Dr. Liebaut, Therapeutique suggestive, zitiert nach
Flammarion, Rätsel des Seelenlebens, S. 408.
'^) Heinrich Jung, genannt Stilling, Theorie der Geister?
künde, 1808, S. 78 f.
62
folgte. So wie er auf sein Zimmer kam und sich
umsah, aber nichts Besonderes entdecken konnte, fühlte
er eine neue Anregung in seinem Inneren, das Bett,
worinnen er schlief, müsse von da weg und in jene
Ecke gebracht werden. Auch hier räsonierte seine
Vernunft und stellte ihm vor, das Bett habe ja immer
da gestanden, überdem sei das ja auch der schick*
lichste Platz und jener der unschicklichste, allein das
alles half nicht, die Aufforderung ließ ihm keine Ruhe,
er mußte die Magd rufen, welche nun das Bett an die
verlangte Stelle rückte; hierauf wurde er ruhig im
Gemüt, er ging weiter zur Gesellschaft und empfand
nichts mehr von jenen Anregungen. Er blieb auch
zum Abendessen bei der Gesellschaft, ging gegen
zehn Uhr nach Haus, dann legte er sich in sein Bett
und schlief ganz ruhig ein. Um Mitternacht weckte
ihn ein schreckliches Krachen und Poltern, er fuhr
aus dem Bett auf und sah nun, daß ein schwerer
Balken mit einem großen Teil der Zimmerdecke ge*
rade da niedergefallen war, wo vorhin das Bett ge*
standen hatte. Jetzt dankte Böhm dem barmherzigen
Vater der Menschen, daß er ihn so gnädig hatte
warnen lassen."
Die rationalistische Erklärung oder, besser gesagt,
der rationalistische Erklärungsversuch dieser merk*
würdigen Vorahnung wird annehmen, daß der brüchige
Balken in der vorigen Nacht bereits gekracht habe.
Das habe Böhm im Schlaf gehört und aus diesem
Dämmerzustande nur das Denkresultat, daß er das
Bett von dieser gefährHchen Stelle fortschaften müsse,
ins Wachen gerettet.
Möglich, daß der Erklärungsversuch das Richtige
63
trirtt. Sicher ist, daß wir bei der folgenden Geschichte
damit nicht auskommen.
Frau von Beaumont erzählt folgende Begeben^
hoit'):
,, Meine ganze Familie besinnt sich noch auf einen
Zufall, vor dem mein Vater durch Hilfe der Ahnung
in seiner Jugend bewahrt wurde. Das Fahren auf
dem Fluß ist eine der gewöhnlichen Vergnügungen
der Einwohner der Stadt Rouen in Frankreich. Auch
mein Vater fand an diesen Spazierfahrten ein großes
Vergnügen und er ließ wenige Wochen vorbeigehen,
ohne daß er dasselbe genoß. Er vereinigte sich einst^^
mals mit einer Gesellschaft zwei Meilen weit von
Rouen nach Port St. Quen zu fahren. Man hatte ein
Mittagsmahl und Instrumente ins Schiff gebracht und
alles zu einer angenehmen Fahrt vorbereitet. Als es
Zeit war aufzubrechen, stieß eine von den Tanten
meines Vaters, welche taubstumm war, eine Art von
Geheul aus, stellte sich an die Tür, versperrte sie mit
ihren x\rmen, schlug die Hände zusammen und gab
durch Zeichen zu verstehen, daß sie ihn beschwöre,
er möchte zu Hause bleiben. Mein Vater, der sich
von dieser Spazierfahrt viel Vergnügen versprochen
hatte, trieb nur seinen Spott mit ihren Bitten, allein
das Frauenzimmer fiel ihm zu Füßen und äußerte eine
so heftige Betrübnis, daß er sich endlich entschloß,
ihren Bitten nachzugeben und seine Lustfahrt auf
einen andern Tag zu verschieben. Er bemühte sich
daher, die andern auch zurückzuhalten und bat sie
^) Jung^Stilling, Theorie der Geisterkunde, S. 84, über*
nommen aus dem „Museum des Wundervollen", 2. Bd., 2. Stück,
S. 152.
64
seinem Beispiel zu folgen, allein man lachte über seine
Nachgiebigkeit und reiste ab. Kaum hatte das Schiff
die Hälfte des Weges zurückgelegt, so bekamen die*
jenigen, die sich darin befanden, die größte Ursache
zur Reue, daß sie ihm nicht gefolgt hatten. Ihr Schiff
riß voneinander, viele kamen dabei ums Leben, und
diejenigen, die sich durch Schwimmen retteten, wurden
von dem Schrecken, der sie dabei überfallen hatte,
in die äußerste Lebensgefahr gestürzt.'*
Zum Schluß folgende Zeitungsnotiz:
,, Der Jugendschriftsteller Boussenard, der in Frank*
reich, wo er für den Erben Jules Vernes gilt, bekannt
und beliebt ist, ist letzten Sonntag gestorben. Er
fühlte seinen Tod herannahen und verfaßte selbst
seine Todesanzeige, die folgendermaßen lautet: , Louis
Boussenard, Schriftsteller, beehrt sich, Sie zu seinem
bürgerlichen Leichenbegängnis einzuladen, das Montag,
den 12. September (1910) nachmittags, stattfindet. Un*
tröstlich über den Tod seiner Frau, erliegt er in seinem
63. Lebensjahre einem Schmerz, den nichts hat lindern
können. Sein letzter Gedanke gilt seinen zahlreichen
Freunden und treuen Lesern. Man versammelt sich
im Sterbehaus, um den Leichenzug bis zum Bahnhof
zu geleiten, von wo der Zug um zwölt Uhr abgeht.* —
Der Tod trat ein, wie Boussenard es erwartete, und
die Anordnungen, die er für die Beerdigung getroffen
hat, konnten, was die Zeitangaben betrifft, buchstäb*
lieh befolgt werden*)."
Kehren wir nach diesem Exkurs zu Caesar zurück 1
Die Art der Überlieferung nicht minder, als —
') Münchener Neueste Nachrichten, 1910, Nr. 441
65
das bezeugten unsere Beispiele — ihr Inhalt, würden uns
berechtigen, Suetons Erzählung Glauben zu schenken.
Im übrigen möge das jeder nach Gefallen tun. So viel
ist aber sicher, daß Caesar, wäre er dem Übersinnlichen
weniger abgeneigt gewesen, den warnenden Stimmen
Gehör geschenkt hätte. Dann würde der größte Staats*
mann der Geschichte, dessen Eigenname zur höchsten
Standesbezeichnung der Menschheit wurde, wohl kaum
unter den Dolchen von Mördern haben verbluten müssen.
Sueton erzählt noch von anderen Wahrträumen,
bzw. ähnlichen Vorzeichen in seinem Leben des
Augustus, der im Gegensatz zu seinem großen Onkel
sehr geneigt war, ihnen Glauben zu schenken.
Wir begegnen hier dem einfältigsten Aberglauben.
Etwa wenn Augustus, wenn man ihm den linken
Schuh statt des rechten anzog, das als ungünstige
Vorbedeutung nahm, oder wenn starker Taufall seine
Entscheidungen beeinflussen konnten. Daneben finden
wir auch den Glauben an Vorzeichen von größerer
Bedeutung (Kap. 93). Damit ist nicht nur gesagt,
daß er seltene Naturereignisse, wie das ja in einer
Zeit, die dem Wesen der Natur noch sehr fern steht,
gang und gäbe ist, auf sich deutete, sondern daß er
auch echten Weissagungen Glauben schenkte.
Sueton erzählt im 94. Kapitel der Biographie^):
„Atia träumte kurz vor ihrer Niederkunft, daß ihre
Eingeweide gen Himmel flögen und sich dort über
den ganzen Umfang von Himmel und Erde aus*
*) Übersetzung von Adolph Stahr, Langenscheidtsche Bi#
bliothek, Sueton, 106. Bd., S. 191. Eine Anzahl historischer Träume
hat Kleinpaul im Magazin für die Literatur des In; und Aus*
landes, 1886, Nr. 16 und 17, zusammengestellt.
Kemmerich, Prophezeiungen 5
66
breiteten. Auch Augusts Vater, Octavius, träumte,
daß aus dem Schöße der Atia der Strahlenkranz der
aufgehenden Sonne sich erhebe. Am Tage seiner
Geburt, wo gerade über die Verschwörung Catilinas
in der Kurie verhandelt wurde, und Octavius wegen
der Niederkunft seiner Frau etwas zu spät in die
Sitzung kam, steht es als eine allbekannte Tatsache
fest, daß Nigidius Figulus^), als er die Ursache der
Verzögerung und zugleich die Stunde der Geburt
selbst vernahm, den Ausspruch getan hat: In dieser
Stunde sei dem Erdkreis der Herr geboren. Die
gleiche Versicherung erhielt Octavius später, als er
bei seinem Heerzug durch Thraziens Öden in einem
Haine des Liber pater das dortige thrazische Orakel
über seinen Sohn befragte, von den Priestern, weil,
als er den Wein über den Altar goß, eine Flamme
aufschlug, die über das Tempeldach hinaus bis zum
Himmel aufstieg: ein Wunderzeichen, das, wie die
Priester sagten, ähnlich nur allein noch dem großen
Alexander, als er an denselben Altären opferte, zuteil
wurde. Gleich in der darauf folgenden Nacht sah
er denn auch seinen Sohn in übermenschlicher Größe
mit Blitz und Zepter, sowie mit den Prachtgewändern
des Olympischen Jupiter und einer Strahlenkrone an^
getan, hoch thronend auf einem lorbeerbekränzten
Wagen, den zweimal sechs glänzend weiße Rosse zogen."
Halten wir hier inne.
Was zunächst das thrazische Orakel betrifft, so
werden wir — wenn die Überlieterung überhaupt auf
Wahrheit beruht — recht mißtrauisch sein. Wer mit
*) Nij?idius Figulus war ein sehr gelehrter Mann, Senator,
grol^er Astronom und Astrolog und Freund des Cicero.
67
Heeresmacht Auskunft über die Zukunft heischt,
wird in 99 von 100 Fällen eine günstige erhalten.
Und wenn eine Flamme gen Himmel schlug, so liegt
die Vermutung nahe, daß die schlauen Priester hier
einen Taschenspielertric sich leisteten.
Die mitgeteilten Träume sind an sich durchaus
möglich. Wenn wir uns gegen sie skeptisch ver^
halten, so ist ihre Häufung daran schuld. Gewiß
kommt es vor, daß zwei dasselbe träumen, und wenn
es sich um Ehegatten handelt, die beide nicht nur
einen Sohn, sondern auch einen berühmten und tüch?
tigen Sohn erhoffen, so ist es ganz und gar nicht
unwahrscheinlich, wenn ihnen der Traum verlockende
Bilder über seine Zukunft vorgaukelt. Das ereignet
sich alle Tage bei ungezählten Elternpaaren. Da hier
aber der Wunsch unbedenklich für die Vaterschaft
des Traumes haftbar gemacht werden kann, da ferner
auch Millionen träumender Eltern nur ein Welt*
herrscher trifft, so werden wir, auch wenn wir der
Überlieferung keinen Zweifel entgegensetzen, uns
doch sehr hüten müssen, hier einen Beweis für un*
sere Behauptung von der Existenz der Wahrträume
zu suchen. Bei Cäsar war der Fall ganz anders ge*
lagert. Meuchelmord hofft man nicht, sondern man
fürchtet ihn. Da zudem die Ermordung des Staats?
Oberhauptes in Rom ein ganz unerhörter Fall war,
so kann man auch mit Zufall hier nicht wohl ope?
rieren. Zum Belege dafür, -daß bei Eheleuten Doppel?
träume vorkommen, sei folgender Fall mitgeteilt:
,,Als im Junius des Jahres 1812 mein zweiter
Sohn, Karl, ein Knabe von früh entwickeltem Talente
und hoher Herzensgüte, in seinem neunten Lebens*
5*
68
jähre so gefährlich krank darnieder lag, daß der Ge^
danke an seinen möglichen nahen Verlust bisweilen
düster durch meine und meiner Gattin Seele fuhr,
wagten wir es, aus gegenseitiger Schonung, dennoch
nicht, das wahrscheinliche baldige Hinscheiden des
holden Kindes laut auszusprechen. Wir beweinten,
oft von dem lieben Kranken getröstet, unser Los im
stillen. In der Nacht vom 17.— 18. Junius hatte ich
folgenden, mir unvergeßlichen Traum: Ich führte
meinen Karl auf einer blühenden Aue an der Hand,
er schritt freudig rasch einher und sah mich lächelnd
an: ,Wie?' rief ich froh, ,du kannst wieder gehen,
lieber Karl?* (Schon seit mehreren Monaten war ihm
dies unmöglich gewesen). Kaum hatte ich ausgeredet,
so erblick' ich einen großen prächtigen Palast vor
mir, der Knabe reißt sich von mir los und eilt in
jenen Palast. ,Ach,* sprach ich, ,du wirst mich
doch nicht verlassen?' Ich versuche es, ihm nachzu*
eilen und kann nicht von der Stelle. In dem schmerz*
haftesten Gefühl erwach' ich. Schlaf und Ruhe
waren verschwunden.
Um meine Gattin nicht zu betrüben, verschwieg
ich ihr diesen leicht zu deutenden Traum. Indessen
sitzen wir am Abend desselben Tages noch spät in
einer wehmütigen Stimmung zusammen. Wir reden
von unserm kranken Lieblinge, mein Herz war zu
voll, und zum ersten Male spreche ich meine bange
Besorgnis um sein Leben aus. Endlich erzähle ich
auch, mit pochender Brust, den in der letzten Nacht ge*
habtcn Traum. Aber noch kaum habe ich die Er*
Zählung geendigt, so tat meine Cjattin einen lauten
Schrei und ruft unter heißen Tränen aus: ,Mein Gott,
69
denselben Traum habe ich ja auch in der letzten Nacht
geträumt!' ,Sie ruft sogleich unserDienstmädchen in das
Zimmer und läßt es ihren eigenen Traum erzählen, den
sie ihm gleich am Morgen mitgeteilt, aber auch verboten
hatte, ihn mir zu erzählen. Ich fühlte mich tief er?
griffen, aber auch das Mädchen wußte sich kaum zu
fassen, als es nachher den meinigen erfuhr. Nur im Aus?
gange desTraums fand eine kleine Verschiedenheit statt.
Meiner Gattin träumte: Sie und ihr Mädchen
führten unsern Knaben auf einer blühenden Aue an
der Hand. Er ging freudig? rasch, blickte seine
Führerinnen lächelnd an; beide verwundern sich seines
raschen Ganges. Auf einmal erblickten sie einen
großen prächtigen Palast vor sich. Der Knabe reißt
sich von ihnen los und eilt hinein. Beide eilen ihm
nach, finden in dem Palaste eine außerordentlich
große Menschenmenge, durchsuchen unter Tränen
mehrere Säle und finden den Knaben nicht. ,0 Gott,
was wird mein Mann sagen, daß wir unsern Karl
verloren haben?' ruft meine Gattin trostlos aus und —
erwacht.
Leider bewährten sich die Worte des Ennius
(beim Cicero, de divinat. II, 61) , aliquot somnia
veral' Drei Tage nach diesem merkwürdigen Doppel?
Traum entschlief unser Liebling sanft, unter unsern
Küssen und Zähren. Auch hier war ,ein Bund des
Traumes mit dem Wachen!' (Jean Pauls Herbst?
blumen, 2. Bändchen, S. 275) — aber wir hatten die trübe
Wirklichkeit nicht sowohl nach, als vorgeträumt! —
Marburg. D. Justi^."
*) Vgl. (Vulpius) „Curiositäten", 5. Bd., Weimar 1816,
S. 274 ff.
70
Es handelt sich also um ein Erlebnis des be*
rühmten Theologen Karl Wilhelm Justi (geb. 1767
gest. 1846), an dessen Wahrheit zu zweifeln wohl
niemand den Mut haben wird.
Wenn wir auch Gedankenübertragung annehmen
— was ja immerhin räumliche Telepathie voraussetzt
und damit bereits das Wichtigste, eine Übertragung
äußerer Eindrücke ohne Vermittlung der Sinne
einräumt — so genügt das nicht. Daß die Sorge die
Eltern auch nicht nachts verläßt und sich in Träumen
äußert, ist gewiß natürlich. Sehr merkwürdig aber
die symbolische Einkleidung. Es liegt hier zweiflos
ein noch nicht näher ergründetes Phänomen der
Prophetie vor. Dazu kommt, daß schon nach drei
Tagen die Erfüllung sich einstellt.
Bedeutungsvoller als die Träume von Augustus'
Eltern sind die Worte des Nigidius Figulus. Über
seine Prophezeiung sind wir durch Dio Cassius^)
unterrichtet. Er schreibt:
„Kaum war der Knabe geboren, so prophezeite
ihm der Senator Nigidius Figulus die Alleinherrschaft.
Unter allen seinen Zeitgenossen verstand sich dieser
am besten auf die Sternkunde und die Konstellation
und wußte, was jedes Gestirn einzeln oder in Kon«=
junktion oder Opposition mit andern tür einen Ein^
fluß übte; deshalb sagte man ihm auch nach, daß
er sich mit geheimen Künsten bctassc. Als dieser
sah, daß Octavius (wegen der Geburt seines Kindes)
etwas später in die Kurie kam (es wurde gerade
Senat gehalten), trat er ihm entgegen und fragte ihn,
*) 45, 1. Übersetzung der ,, Komischen Cicschichtc" von
L. Tafel. Stuttgart 1837.
71
warum er so spät komme. Als er ihm die Veran?
lassung nannte, so rief er aus: du hast uns einen
Herrn gezeugt! Octavius, darüber bestürzt, wollte
das Kind töten lassen; er aber hielt ihn davon ab,
indem er sagte: es wäre nicht möglich, daß dem
Kinde etwas der Art widerführe."
Sueton erzählt im 94. Kapitel von einem anderen
Horoskop, das dem Augustus der Astrolog Theogenes
gestellt hatte, und zwar als jungem Manne. Als er
dem Astrologen seine Geburtsstunde nannte, da soll
Theogenes aufgesprungen und ihm verehrend zu
Füßen gefallen sein. Seitdem hatte Augustus großes
Vertrauen auf seinen Stern und ließ auch einst eine
Münze mit dem Bild des Steinbockes, unter dem er
geboren war, prägen.
Was nun die Glaubwürdigkeit von diesen Be*
richten — die wir nur im Auszug wiedergeben — be^^
trifft — so mag man sagen: ein Mann, der so ein*»
fältiges Zeug erzählt, wie etwa, daß Augustus als
kleines Kind den Fröschen geboten hätte zu schweigen,
was zur Folge hatte, daß sie in dieser Gegend noch
zur Zeit Suetons nicht quakten, verdient keinen
Glauben.
Das gehört zu jenen logischen Schnitzern, an
denen unsere Hyperkritik nur allzu reich ist.
Wenn es auch heißt: ,,wer einmal lügt, dem
glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit
spricht", so ist das Sprichwort doch klug genug zu?
zugeben, daß auch ein Lügner die Wahrheit reden
kann. Daß man ihm dann nicht glaubt, ist ein
Fehler der Zuhörer.
Nun ist aber Sueton nichts weniger als ein Lügner»
72
wenn er auch leichtgläubig sein mag und häufig un^
kritisch alles wiedererzählt, was er von mancherlei Leuten
gehört hat. Er ist so wenig ein Lügner, wie unsere
offiziellen Hyperkritiker es sind, wenn sie die Mög^
lichkeit der Weissagung oder anderer nicht alltags
licher Begebenheiten leugnen. Man könnte daraus ja
auch mit gleichem Rechte folgern, daß alles, was sie
für unglaublich erklären, doch glaubwürdig sei. Ein
Denkfehler, der nicht um ein Haar geringer ist, als
wollte man alle Berichte des Sueton über ungewohnt
liehe Dinge lediglich deshalb ablehnen, weil er, wie
wir auf Grund unserer heutigen Naturkenntnis
wissen, auch Unmögliches im guten Glauben über^
liefert.
Gibt es etwas Natürlicheres, als die Anschauung,
ein so großer Mann wie Augustus müßte auch anders
als ein gewöhnlicher Sterblicher in die Welt ein*
treten und durch sie wandeln? Dieser stillschweigen*^
den Voraussetzung ist es doch allein zuzuschreiben,
daß man Plato so gut wie Alexander, Buddha oder
Christus zu Söhnen Gottes stempelte. So wenig es
uns aber deshalb einfällt, in Bausch und Bogen alles
zu verwerfen, was von diesen Geisteshelden über*
liefert ist, so wenig dürfen wir das etwa vom Be*
rieht des Sueton tun.
Während früher die Tendenz durch die Ge*
Schichtschreibung ging — besonders ausgeprägt finden
wir sie in der mittelalterlichen Heiligenliteratur — ,
daß ein geistig oder sittlich großer Mann auch über
außergewöhnHchc Kräfte verfüge, Wunder wirken
könne, läßt sich gegenwärtig die entgegengesetzte
feststellen. Das hängt nicht allein mit den Fort*
73
schritten der Naturwissenschaften zusammen, es hat,
wie schon in der Einleitung angedeutet, auch einen
poHtischen Grund: die Demokratisierung unserer
Denkweise hält es mit ihren Dogmen nicht für ver*
einbarlich, daf^ irgend jemand eine besondere Stellung
einnimmt.
Im übrigen liegt es uns fern, uns im einzelnen
für die Wahrheit oder Glaubwürdigkeit dieser Er^
Zählungen zu erhitzen. Uns genügt der Nachweis,
daß es sich ganz und gar nicht um Unmögliches, ja
noch nicht einmal besonders Seltenes handelt und
daß man gut tut, die Berichterstatter solcher Phänomene
nicht ohne weiteres abzulehnen.
Indem wir es jedem Leser anheimstellen, davon
zu glauben oder nicht zu glauben, so viel ihm he^
liebt, unterlassen wir nicht zu bemerken, daß Sueton
wohl bei jedem Herrscher von Träumen, Vorzeichen
oder ähnlichem zu erzählen weiß. Mag das auch
gewiß bei flüchtiger Betrachtung seine Glaubwürdig*
keit herabsetzen, so läßt sich nicht leugnen, daß der
Grund hierfür zumeist bei uns selber liegt. Die
Zahl der Selbstbiographien — auch von sehr nüchs^
ternen Leuten — in denen der Verfasser von übers^
sinnlichen Erlebnissen erzählt, ist auch heute noch,
trotz des entgegenstehenden Modedogmas und trotz
des leichten Risikos, das jeder, der Übersinnliches
von sich erzählt, läuft, sehr groß. Fast jeder hat
— das ist heute genau so, wie in der fernsten Vor*!
zeit — in seinem Leben irgendwelches Erlebnis gehabt,
das er sich nicht oder nur durch Zufall, was das
Gleiche ist, erklären kann. Früher achtete man dar*
auf, heute tut man es nicht mehr. Das ist der
74
Unterschied. Früher mag man sein Sinnen und
Trachten so sehr auf Vorzeichen und Ähnliches
gerichtet haben, daß die Phantasie manchen bösen
Streich spielte. Heute hält man für einen Lügner
oder Phantasten jeden, der wahrheitsgemäß etwas
berichtet, was nicht jeden Tag passiert. In beiden
Fällen ist der Aberglaube fast der gleiche; nur das
Objekt hat gewechselt.
Doch genug vom Altertum. Leicht ließe sich
noch mehr Material beibringen. Für unsere Zwecke
genügt das Gesagte und wir wollen uns in einem
neuen Kapitel dem Mittelalter und der Neuzeit zu*:
wenden.
75
Zweites Kapitel
Einzelne Prophezeiungen und
Vorzeichen
Mittelalter und Neuzeit
Ist schon die Literatur des klassischen Altertums
reich an mehr oder minder beglaubigten übersinn*
liehen Phänomenen, so gilt dies noch weit mehr von
der des Mittelalters. Das Altertum hat zweifellos
die Kritik häufig vermissen lassen, was freilich bei
dem damaligen Stande der naturwissenschaftlichen
Kenntnisse nicht verwunderlich ist. Das christliche
Mittelalter ging darin, gemäß dem allgemeinen Kultur**
Sturze, noch viel weiter. Kann man sagen: die Antike
berichtet manches Unglaubwürdige, wiewohl es uns«
glaubwürdig oder gar unmöglich ist, so mag es vom
christlichen Mittelalter heißen: gerade weil etwas
unmöglich scheint, wird es erzählt und geglaubt.
Besonders die umfangreiche Literatur der Heiligen*
geschichten bringt es mit sich, daß nach Außerordent*
lichem geradezu gefahndet wird. Noch heute findet
die Kirche es zur Heiligsprechung erforderlich, daß
der also Ausgezeichnete auch „Wunder" gewirkt
76
habe. Noch heute gilt das sacrificium intellectus, das
kritiklose Glauben selbst an den haarsträubendsten
Blödsinn für verdienstvoll.
Ist es da erstaunlich, wenn eine Zeit, die zur
allgemeinen Kritiklosigkeit infolge mangelnder Natur=:
kenntnis noch die Sucht, möglichst viele und mög*
liehst verblüffende Wunder verzeichnen zu können,
hinzufügt, an Wust, Unsinn und wildesten Phantas*
magorien alles je Dagewesene in den Schatten stellt?
Damit ist aber keineswegs gesagt, daß nun alles,
was berichtet wird, weil es uns erstaunlich scheint,
auch falsch sein müßte. Die „voraussetzungslose"
Forschung der Gegenwart macht es sich sehr bequem,
wenn sie alles ablehnt, was sie noch nicht erklären
kann. Und doch sollte sie gelernt haben, daß dieses
negative Verhalten nicht viel unkritischer ist, als das
der verspotteten Vorzeit.
Heute wissen wir, daß es tatsächlich Stein:« und
Fischregen gab und noch gibt, wir wissen, daß die
, .blutige** Hostie weniger auf einem. Fehler der Be*
obachtung, als der Interpretation des Beobachteten
beruht. Wir wissen ferner, daß eine große Zahl von
Phänomenen, die noch vor wenigen Jahrzehnten ein*!
fach geleugnet wurden, nunmehr zugegeben und durch
Hypnose oder Suggestion erklärt werden. Wie der
,, singende'* oder nahende Karawanen verkündende
Sandberg den Geologen kein Rätsel mehr ist und seit*
dem die Erklärung gefunden, seine Existenz auch ein*
geräumt wird — daß es mehrere solcher Berge gibt,
wissen wir auch erst seit ganz kurzer Zeit — , so
wurde schon vieles und wird noch mehr aus den
Berichten der Alten sich bewahrheiten. Hier waren
77
CS nicht die Erzähler von wunderbar scheinenden
l)in*;en, die sich blamierten, sondern die superklugen
(belehrten waren es, die, bewaffnet mit dem berühms:
ten Rüstzeug der modernen Kritik, die Frage nicht
vorurteilslos prüften, sondern kategorisch negierten.
Aus alledem ergibt sich, daß auch die mittel
alterliche Literatur, bei gehöriger kritischer Verarbei*
tung, für unsere und noch manch andere Zwecke
zweifellos viel wertvolles Material beizusteuern ge^
eignet wäre. Hier kritische Methoden zu ersinnen —
denn die gegenwärtig geübten der Negation lassen
durchaus im Stich — , wird ein dankbares Feld der
Zukunft sein. Wir können uns der Aufgabe nicht
unterziehen. Weniger, weil es den Rahmen der
Untersuchung zu weit ausdehnen würde, als deshalb,
weil wir damit unserer Beweisführung nicht dienen
würden.
Wie die Festigkeit einer Kette nicht durch das
stärkste, sondern durch das schwächste Glied bes=
stimmt wird, so auch die einer Beweisführung. Wir
müssen uns deshalb ängstlich hüten, allzuviel Material
zu verwenden, bei dem der Kritiker einwenden kann,
es könne ja wahr sein, müsse es aber nicht sein.
Deshalb wollen wir uns im Nachstehenden, unter
teilweisem Verzicht auf die oben skizzierte, an sich
gewiß außerordentlich verlockende Aufgabe, damit
begnügen, einige Beispiele für Prophetie anzuführen,
an deren Authentizität sich kaum zweifeln läßt. Da^^
bei schicken wir aber voraus, daß wir hier nur den
Boden für die weitere Untersuchung bereiten wollen
und uns völlig darüber klar sind, daß ein zwingen^
der Beweis auf dem in den beiden ersten Kapiteln
78
dieses Buches eingeschlagenen Wege nicht zu er*
bringen ist.
Tommaso Parentucelli, Bischof von Bologna,
bestieg 1447 als Nikolaus V. den Stuhr PetfiT Er
hatte in der Nacht vor Papst Eugens Tode seine
Wahl geträumt, ja, mehr als das, Kaiser Friedrich III.
hatte in der Nacht, als Parentucelli Österreich ver*
ließ, geträumt, daß er von ihm zum Kaiser gelcrönt
werde, und sich gewundert, daß ein einfacher Bischof
diese feierliche Handlung vornehmen würde. Als
nun Nikolaus wirklich Papst geworden war, zweifelte
der Habsburger nicht, daß er auch die Kaiserkrone
aus seinen Händen empfangen würde. Da Äneas
Sylvius, der nachmalige Papst Pius IL, zugegen war,
als Nikolaus und Friedrich sich gegenseitig ihre Träume
erzählten, auch in seinem Berichte beifügt, daß vier
weitere Zeugen anwesend waren, ist die Beglaubigung
dieser Vorahnung völlig einwandfrei^). ^
Der bekannte Arzt Thurneysser gab von 1573
bis 1585 Kalender heraus, wobei er den einzelnen
Monatstagen ,,Prognostika" beisetzte. Wunderbarer*
weise traf manche Vorhersage erstaunlich richtig ein,
so daß die Vermutung nicht ferne liegt, Thurneysser
habe eine gewisse Sehergabe besessen.
Um ein Beispiel anzuführen, steht im Kalender
von 1579 beim 17. Dezember: ,,Eine schändliche Tat
einer fürstlichen Person." Die Erklärung lautete im
Kalender des folgenden Jahres: ,,Auf diesen Tag hat
Signora Bianca Capelli ihren Stiefsohn zu Florenz
mit Gift vergeben, welcher am 18. Dezember gestorben,
') Vgl. Enncas Sylvius (Piccolomini), Historia Friderici,
cd. Kollar. p. 136
79
da denn bald hernach tolget ,Mord oder Totschlag
einer fürstlichen Person*, welches also erfolget').'*
Es sei niemandem verwehrt, hier Zufall anzu«
nehmen; immerhin ist es ein recht merkwürdiger 'Zuf
fall, denn solche Taten passierten auch damals nicht
allzuoft, und ihre Festlegung auf einen bestimmten
Tag gibt zweifellos zu denken.
Pierre d'Ailly (geb. 1350 zu Compiegne, gest.
zu Avignon zwischen 1419 und 1425), Kanzler der
Sorbonne, Almosenier und Beichtvater des Königs
Karl VI., Bischof von Puy, dann von Cambray, seit
1411 Kardinal, schrieb unter dem latinisierten Namen
Petrus de Aliace mit dem Titel „Concordantia Astro*
nomiae cum Theologia, Concordantia Astronomiae
cum Historica Narratione" ein Buch, das erst im
Jahre 1490 in Augsburg im Druck erschien.
Pierre d'Ailly, der übrigens vornehmlich den Tod
des Johann Huß auf dem Konstanzer Konzil ver*
schuldet hat, war einer der angesehensten Männer
seiner Zeit und wurde wegen seines Scharfblicks
„der Adler der französischen Gelehrten" zubenannt.
Wie Ersch und Grubers „Encyklopädie** bemerkt,
hatte er aber die „Schwäche**, astrologischen Berechs^
nungen zu glauben. Fast könnte er uns zu dieser
Schwäche durch die Lektüre des 60. Kapitels ge*
nannten Werkes bekehren.
In diesem ,,de octava coniunctione maxima** be*
titelten Abschnitt ist zu lesen, daß nach der großen
achten „Konjunktion** des Saturn die Vollendung von
^) Vgl. Eduard Vehse, Geschichte des preußischen Hofes
und Adels (in der Geschichte der deutschen Höfe), 1. Bd., S. 48.
80
gewissen 10 Umdrehungen dieses größten Planeten
im Jahre 1789 stattfinden wird.
„Wenn die Welt bis zu jenen Zeiten stehen
wird, was allein Gott weiß, dann werden große und
erstaunliche Umwälzungen und Wandlungen geschehen,
die am meisten die Gesetze und das Parteiwesen hQ^
treffen."
Also eine Vorherbestimmung der großen franse
zösischen Revolution^)!
Es bedarf keiner Betonung, daß uns der astro*
logische Weg völlig unverständlich ist. Das ändert
aber natürlich nichts daran, daß Berechnung und
Wirklichkeit hier harmonieren. Jedermann sei es auch
hier freigestellt, den Zufall als Begründung anzu^
nehmen.
Was im übrigen die Astrologie betrifft, in früheren
Jahrhunderten die bevorzugte und mit Gold über*
häufte Schwester der Astronomie, so beruht der Glaube
an sie bekanntlich auf einem supponierten Einfluß
der Gestirne auf das Leben des einzelnen.
Es ist ohne weiteres klar, daß nur kindische
Spielerei aus der Übereinstimmung des Planeten*
namens Mars mit dem Kriegsgott, oder des Planeten*
namens Venus mit der freundlichen Göttin der Liebe
irgend etwas zu folgern vermag. Man hätte selbst*
*) Vgl. Walter Bormann. „Die Nomen", S. 206t. Ailly
beruft sich noch auf einen „tractatus de magnis coniunctionibus"
von Abumasar. M. J. Schieiden bespricht in seinen ,, Studien",
Leipzig 1855, S. 264tt'., diese Vorhersage und kommt zu dem
Resultate, da(^ sie auf einem astronomischen Rechenfehler bcs
ruhe, da der grofW- Saturnumlauf nicht 300, sondern nur 2947^ Jahre
betrage. Das braucht uns nicht weiter zu kümmern, da es an
der Tatsache der richtigen Vorhersage nichts ändert.
81
verständlich die Gestirne auch anders taufen können
und die Analogie käme dann in Fortfall.
Anders läßt sich allerdings die Sache betrachten
unter der Annahme, daß Jahrhunderte^», ja, jahrtausendes*
lange Erfahrung ein Zusammentreffen gewisser Ereig^«
nisse und Schicksale mit bestimmten Konjunkturen
der Gestirne ergeben habe. Wie es etwa zahlreiche
Menschen gibt, die bei Witterungswechsel Rheumatis*
mus oder Kopfweh bekommen.
Wäre letztere Annahme richtig, dann müßte allere*
dings — eine ausreichende Erfahrung und genügend
scharfe Beobachtung vorausgesetzt — wenigstens in
der Regel die schwierige astrologische Berechnung
mit den Tatsachen übereinstimmen. Das ist nun aber
keineswegs der Fall. Vielmehr sind die Beispiele,
daß selbst die größten Astronomen — die also keine
Kunstfehler machen — sich ganz gründlich irren,
nichts weniger als selten.
So sandten zum Beispiel im Jahre 1179 sämtliche
Astrologen Briefe an alle Länder und verkündeten
den Untergang des Menschengeschlechtes für das
Jahr 1186. Oder Johann Stoff 1er berechnete für das
Jahr 1524 eine neue Sintflut und erregte damit das
größte Entsetzen in ganz Europa. Andere, so Georg
Tannstetter in Wien, griffen zur Feder, um das Irrtum*
liehe dieser Prophezeiung zu beweisen. Es war auch
notwendig, etwas zur Beruhigung der Gemüter zu
tun, denn man hatte schon begonnen Archen zu bauen,
um für alle Fälle gesichert zu sein.
Cyprianus Leovitius, Hofmathematiker des Kurs=
fürsten Otto Heinrich von der Pfalz, verkündete
aus den Sternen den Weltuntergang für das Jahr
Kemmerich, Prophezeiungen 6
82
1584^). Diesen Vorhersagen des Weltunterganges
folgten noch viele andere, auf die einzugehen wenig
Interesse bietet.
Noch im 18. Jahrhundert hat ein gewisser Ziehen
die einfältigsten astrologischen Weissagungen zum
besten gegeben. So, daß die Erdoberfläche Europas
sich immer mehr gegen Süden senken würde,
daß der Ärmelkanal austrocknen würde und anderes
mehr^.
Überhaupt ist an falschen astrologischen Prophe*
zeiungen gewiß kein Mangel. So hat z. B. Kepler
dem damals sechsundzwanzigjährigen Wallenstein im
Jahre 1609 das Horoskop gestellt, das heute noch im
Original erhalten ist. Darin sagt er dem späteren
großen Feldherrn neben einigemRichtigen auch voraus,
er werde im siebzigsten Lebensjahre einem viertägigen
Fieber erliegen.
Melanchthon, ein heftiger Gegner des Koperni*
kanischen Sonnensystems, der zu einem astrologischen
Handbuch des Johann Schoner eine lange Vorrede
verfaßte, kehrte einst auf einer Reise bei seinem
Freunde Melander ein. Er stellte dessen jüngstem,
etwa halbjährigen Kind das Horoskop und prophe*
zeite, daß es gleich seinem Vater sehr gelehrt sein
werde und als tapferer Streiter Gottes zu hohen geist*
*) Vgl. Schieiden, Studien. S. 247 f. Über Astrologie -
vom gegnerischen Standpunkt aus — vergleiche dessen Aufsatz
..Wallenstcin und die Astrologie", Studien, S. 217 f. Es mag
Vielen neu sein, dal^ unter dem Namen „Zodiakus" seit 1910
eine deutsche astrologische Zeitschritt erscheint.
*) Vgl. Ch. Lichtenberg, Vermischte Schritten, IV. Band.
Göttingen 1802, S. 214.
83
liehen Würden gelangen würde. Darauf rief Melander
lachend aus: „Philippe, Philippe, es ist ja ein Mägd^
Solche und ähnliche Entgleisungen der Astrologie
sind außerordentlich häufig. Dagegen werden wir
aber noch sehen, daß auch Vorhersagen erstaunlich
richtig eintreffen. Letzteres läßt sich natürlich am
einfachsten durch Zufall erklären, was einem Verzicht
auf Erklärung gleichkäme. Ob wir zu diesem Auss:
kunftmittel in allen Fällen greifen müssen, wollen wir
vorläufig dahingestellt sein lassen. Soviel ist jeden*
falls sicher: eine Methode, die zu so zahlreichen Miß*
griffen führt, wie die astrologische, ist mangelhaft,
vielleicht überhaupt ganz falsch. Auf keinem Fall
kann der Astrologie für sich allein und in ihrer bis*
herigen Handhabung ein hoher prophetischer Wert
beigelegt werden.
Daß Goethe der Astrologie nicht völlig fern
stand, was gewiß manchen interessieren wird, mag
aus dem Anfang seiner ,, Dichtung und Wahrheit*'
hervorgehen. Er schreibt hier im ersten Buche des
ersten Teils:
„Am 28. August 1749, mittags mit dem Glocken*
schlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf
die Welt. Die Konstellation war glücklich; die
Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte
für den Tag; Jupiter und Venus blickten sich freund*
lieh an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars
verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der so*
eben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins
') Schieiden, Studien, S. 243.
84
um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde einge;«
treten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt,
die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde
vorübergegangen.
Diese guten Aspekten, welche mir die Astrologen
in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wußten,
mögen wohl Ursache an meiner Erhaltung gewesen
sein: denn durch Ungeschicklichkeit der Hebamme
kam ich für tot auf die Welt, und nur durch vielfache
Bemühungen brachte man es dahin, daß ich das
Licht erbHckte."
Tycho de Brahe deutete den neuen Stern, der
1 1572 in der Cassiopeia erschien, als Ursache der
i Geburt eines tapferen Prinzen, dessen Waffen
Deutschland überstrahlen, der selbst aber 1632 wieder
verschwinden würde. Er verfaßte darüber die
Schrift: „De Stella nova in Cassiopea exorta." Die
Deutung auf Gustav Adolf von Schweden liegt
nahe genug. Allerdings wurde er erst 1594 geboren,
starb aber 1632.
Kepler sagte in seiner astrologischen ,, Practica"
für das Jahr 1619 den Tod des Kaisers Matthias
richtig voraus, und zwar durch ein sechsfaches M.
M(agnus) M(onracha) M(atthias) M(ense) M(artis)
M(orietur), d. h. der große Monarch Matthias wird im
Monat März sterben. Das war auch richtig, denn
der Kaiser schloß die Augen am 20. dieses Monats.
Der Astronom J. H. Vogtius sagte nicht nur
das Ende seines Sohnes, der als Mörder hingerichtet
wurde, sondern auch im Jahre 1682 den Untergang
Moskaus vorher mit den Worten: ,,Moscovia infor*
tunium suum noc evitabit." BekanntUch verbrannte
85
die alte Hauptstadt im Jahre 1812. Vogtius, ein gc*
lehrter Mann, starb zu Stade im Jahre 1691 ').
Der Astrologe Andreas Goldmayer (geb. 1603)
sagte 1632 in Straßburg voraus, daß Gustav Adolf
bei Lützen eines gewaltsamen Todes sterben würde.
Diese Vorhersage war Ursache, daß er die Stadt
verlassen mußte. Als sie sich aber erfüllt hatte, j
erntete er Ruhm und Ferdinand III. zeichnete ihn|
aus'O.
Man wird zugeben, daß das Eintreffen dieser
Vorhersage ein merkwürdiger Zufall ist. Wallens:
stein war ganz begeistert von der treffenden Sicher^
heit, mit der Kepler aus den ihm, ohne nähere Kennte:
nis der Person, übermittelten astrologischen Daten,
Charakter und Gestalt der Herzogin erkannt hatte.
Übrigens versäumte der große Astronom nie,
einem Horoskop oder einer Nativität die Bemerkung
^) Vgl. Tharsander, Schauplatz sonderbarer Meinungen
I, S. 187. Goclenii Libri Uraniae divinatricis. Marp. 1694.
Zitiert nach (Vulpius) „Curiositäten der Vor* und Mitwelt"
5. Bd., Weimar 1816, S. 15. Hier sei nicht verschwiegen, daß
die Tradition, Lucas Gauricus habe den Tod Heinrichs II.
von Frankreich vorhergesagt — vgl. „Curiositäten" S. 15 —
falsch ist. Vgl. (Adelung) Geschichte der menschlichen Narr*
heit, II. Bd., Leipzig 1786, S. 261. Hier sind noch andere
falsche Nativitäten notiert. Vgl. auch Süden, Gelehrter Kriti?
kus, 3. Bd., S. 62. Weitere Literatur in „Curiositäten", 5. Bd.,
S. 15 Anm. "**. Was Keplers Vorhersage des Todes von Matthias
betrifft, so kann ich sie bei Frisch, J. Kepleri opera omnia, I. B.,
Frankfurt 1858, p. 483 ff., nicht finden.
*) Vgl. Freher, Theatrum virorum eruditorum, p. 1551.
Die Schriften Goldmayers bei (Adelung) Geschichte der mensch?
liehen Narrheit, 4. Bd., S. 218 ff.
86
hinzuzufügen, die seinen Zweifel an der Richtigkeit
dieser Kunst ausdrückte^).
Auch der Tod Eduards VII. wurde im Horo*
skop vorgesehen^). Zu denken gibt auch, daß der
Astrologe A. J. Peare schon 1868 aus dem Horoskop
des jetzigen Königs von England, der damals 2 Jahre
zählte, voraussagte, „dieser Prinz wird, wenn er am
Leben bleibt, König von England werden mit dem
Namen Georg V.*' Übrigens hat der König das
beklagenswerte Schicksal seines Bruders auch im
Horoskop, und seiner Regierung sollen Katastrophen
zu Lande und Wasser bevorstehen^).
In jüngster Zeit sagte die Pariser Astrologin
Mme. Thebes in der Neujahrsnummer des „Gaulois**
1899 den Tod des Präsidenten Felix Faure vor:*
her, der auch wirklich am 16. Februar dieses Jahres
eintrat. Auch hier überlassen wir es selbstverständ*
lieh dem Leser, Zufall anzunehmen. Das ist um
so mehr erlaubt, als bei einem Manne Ende der
fünfziger Jahre die Todeswahrscheinlichkeit in einem
Jahre etwa 1 : 20 beträgt, also keineswegs die Irrtums*
möglichkeit enorm ist. Im Keplerschen Falle wäre
diese Zahl, da der Monat angegeben ist, natürlich
noch mit 12 zu multiplizieren.
Bemerkenswert ist auch, daß ein englischer
und ein französischer Astrologe, deren Namen ver*
schwiegen werden, durch das Horoskop gefunden haben,
daß Dreyfuß unschuldig sei und Ende des Jahres
*) Vgl. Allgemeine deutsche Biographie. 15. Bd., p. 618.
') Vgl. Albert Kniept. Zodiakus. 1911, S. 3rt'.
") Vgl. Zadkiels Almanac 1911, London, nach gütiger Mit?
teilung des Herrn A. Kniepf.
87
1899, wohl im Oktober, freigelassen würde. Bis
dahin werde er trotz seiner Unschuld im Exil bleiben
müssen. Tatsächlich wurde der unglückliche Haupt?
mann am 21. September 1899 begnadigt.
Was an diesen Astrologen Wahres ist, entzieht
sich meiner Kenntnis. Da aber die angegebene Vor*
hersage bereits in der siebenten Nummer der Zeit?
Schrift für Spiritismus vom 18. Februar 1899 erschien,
so handelt es sich zweifellos um eine richtige Vorhersage.
Gerade hier scheint es aber nicht am Platze,
dem Fall außerordentliche Bedeutung beizulegen.
Denn da die Dreyfußaffäre die ganze Welt, in erster
Linie Frankreich beschäftigte, so werden zahllose
Leute prophezeit haben. Da es ferner nur die Mög?
lichkeiten schuldig oder unschuldig, Freilassung oder
Exil gab und auch der Natur der Sache nach nicht
viele Termine in Frage kommen konnten, so läßt
sich eine Wahrscheinlichkeitsrechnung ohne Schwierig?
keit konstruieren. Da das Verhältnis der wirklichen
zu den möglichen Fällen nur begrenzt ist, so wäre
gerade bei dieser Prophezeiung Zufall keineswegs aus?
geschlossen.
Cardanus, einer der geistreichsten Astrologen und,
wie bekannt, berühmter Mathematiker und Arzt, ließ
im Jahre 1543 in Nürnberg ein Werk ,,Zwei Bücher
des Cardanus usw.** erscheinen, in dem er 67 Horo?
skope von bedeutenden Menschen aller Zeiten ver?
öff entlicht, so das des Patrarcha, Karls V., Albrecht
Dürers u. a. Hier findet sich auch folgende Charakter?
skizze Luthers, dessen Geburtstag er fälschlich auf
den 22. Oktober 1483 festgesetzt. Sie lautet:
,,Dies ist das wahre Horoskop Luthers. Auch
88
mußte eine so bedeutende Erscheinung einen solchen
Anfang haben, und bei einer so wunderbaren Kon^
stellation konnten solche Folgen nicht ausbleiben.
Denn Mars, Venus und Jupiter traten neben der Ähre
der Jungfrau im untersten Winkel des Himmels zu»»
sammen, so daß aus ihrer Verschwörung notwendig
auch ohne königliches Blut eine fast königliche Ge?
walt hervorgehen mußte. Unglaublich ist es, welche
große Anzahl von Anhängern sich diese Lehre in
kürzester Zeit erworben hat. Schon entbrennt die
Welt in wildem Kampfe ob dieses Wahnes, der doch,
weil Mars sich in seine Erzeugung mischte, in sich
selbst zerfallen muß. Unzählig sind die Köpfe, welche
in ihm herrschen wollen, und wenn nichts anderes
uns von seiner Nichtigkeit überzeugen könnte, so
müßte es die Menge der verschiedenen streitenden
Meinungen sein, da doch die Wahrheit nur eine
einzige ist, die vielen verschiedenen Ansichten also
notwendig abirren. Nichtsdestoweniger zeigen uns
Sonne und Saturn an dem Orte der zukünftigen
großen Konjunktion die Festigkeit und lange
Dauer dieser Ketzerei."
Selbst Schieiden muß zugeben, daß diese Prophe^^
zeiung, wenigstens was ihren Schluß betrifft, von
erstaunlicher Richtigkeit ist, und das wiewohl Car*
danus das dogmatische Gezänk, den Krebsschaden der
Reformation, ganz richtig als Gefahr erkannt hatte.
Einigermaßen merkwürdig ist auch die Prophet
zeiung, die Johannes Capistrano in seiner ,,Astro=
nomie** im Jahre 1460 nebst mancher anderen be*
merkenswerten für das Jahr 1622 gibt. Sie lautet:
,, Der große Low von Mitternacht zeucht au(5, und
89
kömpt nicht heim, er habe dann verricht, was ihme
befohlen, viel, die sich für klug achten, werden
sprechen: Non putaram, andere werden sagen: Hab
ich das nicht ehe gesagt, die aber, so es am härtsten
trejften wird, werden blind seyn, und den Löwen für
einen Hanen halten, für welchem sich auch kein
Adler fürchtet. Er wird aber im 1622. Jahr sehr
brüllen, daß die Erde erzittert, unnd alle Menschen
sehr erschrecken werden."
Wenn Capistranus sich auch um einige Jahre
irrte, so stimmt doch die Tatsache. Denn die Deutung
auf Gustav Adolf ist geboten. Bedenkt man, daß
damals Skandinavien noch gar keine Rolle spielte,
so wird man, angenommen es spiele hier der Zufall,
immerhin zugeben müssen, daß es ein merkwürdiger
Zufall ist.
Merkwürdig ist auch der unmittelbar anschließende
Passus: „Niederland wird sich heiß und hefftig umb
aller Welt Händel annemen, unnd überall vorne an
der spitzen seyn wollen." Daß in diese Zeit der
Kriege mit Spanien die höchste Blüte der Nieder:*
lande, damals des reichsten Landes Europas, fällt, ist
hinlänglich bekannt. Daß ab 1620 Deutschland in
eine große Kriegsperiode eintritt, sagt Capistrano
auch voraus. Gewiß ist der Anfang nicht genau
richtig angegeben, die Tatsache stimmt aber^).
Die angeführten Beispiele aus der Astrologie
dürften um so mehr genügen, als sie aus einschlägigen
^) Zitiert nach „Woldenckwürdige Weissagung unnd Prophe*
ceyung, von den jetzigen Läufften, unnd sonderlich von dem
noch innstehenden 1619. Unnd nachfolgenden 1620. 1621. 1622.
1623 Jahre. Von Johanne Capistrano usw." 1619. VII. Abschnitt.
90
Werken leicht vermehrt werden können. Wir wollen
nun noch nachstehend eine Reihe von Vorhersagen
zusammenstellen ohne Rücksicht darauf, auf welchem
Wege sie gewonnen wurden.
Als im Jahre 1610 König Heinrich IV. von
Frankreich gegen Spanien rüstete, bestimmte er für
die Zeit seiner Abwesenheit seine Gemahlin Maria
von Medici zur Regentin. Schon im Begriff der
Abreise zur Armee, wiederholte seine Gemahlin ihre
Bitte, sich vor seiner Abreise salben und krönen zu
lassen, um dadurch ihrer Regentschaft in den Augen
des Volkes mehr Glanz zu verleihen. Er zeigte an-^
fangs die größte Abneigung dagegen. Nicht nur,
weil diese FeierUchkeit bedeutende Summen kosten
und ihn noch einige Zeit in Paris zurückhalten
würde, sondern auch wegen der gegen SuUy ausge^
sprochenen Besorgnis, daß sie die Ursache seines
Todes sein würde. Denn ihm war verkündet worden,
er werde bei dem ersten Feste, das er veranstalte,
getötet werden. Endlich willigte er in die Bitte
der Königin und bestimmte am 12. Mai den folgen,
den Tag zu ihrer Krönung und den 16. zu ihrem
feierlichen Einzug in Paris. Die Krönung und
Salbung fand mit großer Pracht zu St. Denys statt.
Am folgenden Tage, dem 14. Mai 1610, wollte der
König vom Louvre zum Arsenal fahren, um SuUy.
der hier wohnte und krank war, zu besuchen. In
seinem Wagen, der wegen des schönen Wetters
offen war, saßen noch die Herzöge von Epernon
und Montbazon und fünf weitere Personen. Eme
kleine Anzahl Edelleute zu Pferde und einige Diener
zu Ful^ folgten ihm. Die Straße La Fcrronncrie.
91
welche schon durch Buden, die an die Mauer des
neben ihr liegenden Kirchhofes gebaut waren, sehr
verengt war, wurde durch einen mit Wein beladenen
Wagen und einen Heuwagen gesperrt, so daß der
König anhalten mußte. Die meisten der ihm folgen*
den Edelleute und Diener schlugen den Weg über
den Kirchhof ein, um an dem anderen Ende der
Straße sich wieder dem königlichen Wagen anzu*
schließen. Während von den zwei Zurückgebliebenen
der eine vorwärts ging, um Platz zu machen, und
der andere sich bückte, um sein Knieband zu he^
festigen, trat ein Mann auf das Hinterrad des
Wagens und stieß dem König, der soeben aufmerk*
sam einen Brief anhörte, den Epernon ihm vorlas,
ein Messer etwas oberhalb des Herzens in die
Brust. Der König, rief aus „ich bin verwundetl"
Im selben Augenblick traf ein zweiter Stoß sein
Herz und sogleich stürzte ihm das Blut in solcher
Menge aus dem Mund, daß er erstickte. Der
Mörder hieß Franz Ravaillac^).
Bassompierre, der in seinen Memoiren diese Er*
Zählung bestätigt, weiß noch von Vorzeichen bzw.
Vorahnungen zu berichten: ,,Er (der König) sagte
mir kurze Zeit vorher (d. h. vor seiner Ermordung):
,Ich weiß nicht, was das ist, Bassompierre, aber ich
kann mich nicht davon überzeugen, daß ich nach
Deutschland gehen werde und das Herz sagt mir
nicht, daß du auch nach Italien gehen wirst*.
Wiederholt sagte er mir und auch andern: ,Ich
*) Vgl. E. A. Schmidt , Geschichte von Frankreich in
Heeren und Ukert, Geschichte der europäischen Staaten, 3. Bd.,
Hamburg 1846. S. 386 f
92
glaube bald zu sterben'. Und am ersten Tage des
Mai, als er aus den Tuilerien durch die große
Galerie zurückkehrte (er stützte sich immer auf
jemand) und er Mr. de Guyse an der einen Seite
führte und mich auf der andern und uns erst ver#
ließ, als er im Begriffe war, ins Gemach der Königin
einzutreten: da sagte er uns: , Gehen Sie nicht fort,
ich gehe nur fort, um meine Frau zu veranlassen,
sich schnell anzuziehen, damit sie mich beim Essen
nicht warten läßt', denn er speiste gewöhnlich mit
seiner Gemahlin.
Wir stützten uns, ihn erwartend, auf das eiserne
Geländer, das auf den Hof des Louvre geht; als
plötzlich der Maibaum den man hier in der Mitte
eingesetzt hatte, umfiel, ohne durch den Wind oder
eine andere Ursache erschüttert worden zu sein, und
dabei nach der Seite der kleinen Treppe zu, die zum
Zimmer des Königs führt, stürzte. Ich sagte darauf
zu Herrn von Guyse: ,Ich wollte viel darum geben,
wenn das nicht passiert wäre; das ist ein sehr
schlechtes Omen. Gott wolle den König schützen,
der ja der Maibaum des Louvre ist.'
Er antwortete mir: ,Was sind Sie närrisch, an
solche Sachen zu denken 1' Ich entgegnete: ,In
Italien und Deutschland würde man von einem
solchen Vorzeichen noch ganz anderes Aufhebens
machen, wie wir jetzt hier. Gott schütze den König
und alles was ihn betrifft.'
Der König, der nur ins Gemach der Königin
eingetreten war und es gleich wieder verlassen hatte,
war ganz leise herangetreten, um uns zuzuhören, im
Glauben, wir sprächen von irgendeiner Dame, ver*
93
nahm alles, was ich gesagt hatte und unterbrach uns
mit den Worten: ,Ihr seid närrisch euch über solche
Vorzeichen zu unterhalten: seit dreißig Jahren haben
alle Astrologen und Charlatans, die es zu sein vor*
spiegeln, mir alljährlich vorherverkündet, daß ich
mein Leben aufs Spiel setze; et celle que je mourray,
on remarquera lors tous les presages quy m'en ont
adverti en celle, dont Ton fera cas, et on ne parlera
pas de ceux quy sont avenus les annees prece^
dentes')/
! Nach diesem Bericht, der den Stempel der
Wahrheit an der Stirn trägt, wird man wohl kaum
an der Tatsächlichkeit der Vorhersage eines gewalt*!
samen Todes zweifeln können.
Übrigens soll auch ein Edelmann Namens
jVillandry und der Astrolog Rizacasa das Attentat
auf Heinrich IV. vorhergesagt haben ^).
Katharina von Medici sagte dem Herzog von
Biron seinen Tod bei der Belagerung von Epernay
voraus.
! Der Bruder des Herzogs, der denselben Astro*
logen fragte, dessen sich auch Katharina bediente,
erhielt folgende Antwort:
„Er wird unter dem Henkerbeil sterben.**
,,Was soll das heißen?** rief Biron aus.
,, Gnädiger Herr, wenn ich mich besser ausdrücken
soll, so muß ich sagen, daß ihm der Kopf zerrissen
wird.'*
^) „Journal de ma vie" Memoires du marechal de Bassom=
pierre. I. Bd., Paris 1870, p. 270 f.
^) Vgl. A. Debay, Histoire des sciences öccultes. Paris 1860,
,p. 103. Das Folgende eb. p. 103 f.
94
Der erzürnte Biron richtete in seiner Wut den
armen Astrologen darauf übel zu und ließ ihn auf
dem Boden liegen. Dieser Gewaltakt hinderte nicht,
daß die Prophezeiung nach sechs Monaten in Er#
füllung ging. Eine Kanonenkugel raffte den Herzog
hinweg.
Ein besonderes Interesse verdienen die Visionen
des sonst unbekannten Joachim Greulich, die ihrer
Zeit ein ungeheures Aufsehen machten. Die som=
nambulen Zustände des Greulich stellten sich öfter
und zuletzt täglich ein. Greulich verlor im tagwachen
Zustande nicht die Erinnerung an seine auf die polis»
tische Lage der Staaten und Hauptstädte Europas
bezüglichen Visionen, sondern führte über sie ein
Tagebuch. Einige Stellen dieses Tagebuches seien
nachstehend wiedergegeben ^) :
Am 18. August „kam der Engel GOttes wieder
zu mir um die mitternachtsstunde und sprach zu mir:
Siehe in den himmel, wie er so blutig ist; da sähe
ich darinne ein blutiges schwerd, und neben dem
schwerd stund mit güldenen buchstaben geschrieben:
Du schöne Stadt Erfurt; und auff der andern Seiten
stund wieder mit güldenen buchstaben geschrieben:
Große feuersbrünsten, die in dieser stadt auskommen
werden; über dem schwerdt aber stund geschrieben,
') Zitiert nach Gottfried Arnold, Kirchen ^ und Ketzer^
historie. 3. Teil, Frankfurt a. M. 1700. Kap. 26, S. 248ff. Die
(ungedruckte) „Relation", der Arnold diese Visionsberichte ent;
nommen hat, trägt die Aufschrift: ,,So schrieb anno 1653. am
II. Ptingsttage im namen der Meiligen Oreylaltigkeit, ich Joa=
chim Greulich, und bekenne mit GOTT und dem Vater, den
Sohn, und den Heiligen Geist, wie folgt . . ."
95
grof^ auffruhr, rcbcllerey wird sich da begeben,
sonsten keinen krieg weiß ich ihnen anzuzeigen;
dann dieses schwerd ist ihnen selbst in ihre band
gegeben."
Tatsächlich legten einige Jahre später — die Visionen
wurden 1653 niedergeschrieben — mehrere große Feuers*
brünste das damals bedeutende Erfurt fast ganz in
x\sche. Anfangs der sechziger Jahre entstanden Reibe*
reien zwischen der Bürgerschaft und dem Rat, welche
jahrelang dauerten und in offene Empörung gegen
Kurmainz ausarteten. Als die Erfurter einen kaiser*
liehen Herold, der der Stadt die Reichsacht verkünden
sollte (1660), schwer mißhandelt hatten, beauftragte
Kaiser Leopold I. den Kurfürsten Johann Philipp
von Mainz mit der Reichsexekution. Dieser belagerte,
weil wegen der Türkenkriege kein Reichskontingent
verfügbar war, die Stadt mit französischen aus Ungarn
zurückkehrenden Hilfstruppen und nahm sie durch
Kapitulation (1664)0-
Greulich hatte auch eine auf die Belagerung
Wiens durch Kara Mustapha und die große Pest,
die 80000 Menschen dahinraffte, bezügliche Vision:
„Den 29. August um 4 uhr zu nachts kam der
Engel GOttes wieder zu mir und sprach: Siehe wieder
in den Himmel, wie er so blutig ist; da sähe ich
darin pfitzschpfeile, bögen und blutige säbel, und
ein creutz auch dabey, und neben dem säbel stund
geschrieben mit güldenen buchstaben: Du schöne
*) Vgl. V. Tettau, Erfurts Unterwerfung unter die mainzische
Landeshoheit 1648-1664. Halle 1887 in den „Neujahrsblättern",
herausgegeben von der historischen Kommission der Provinz
Sachsen und „Thüringische Lesehalle", 1886, S. 173 f.
96
Stadt Wien, du wirst schrecklich von den Türeken
betränget werden; und über den pfitzschpfeilen, bögen
und blutigem säbel stund ein schöner adler, und ich
fragte den Engel GOttes, was der adler bedeuten wird;
da sagte er mir, der Engel GOttes, nach eroberung
der Stadt Raab werden sich die Türeken für Wien
machen, daß gleichsam Käyserliche Majestät von
seiner Residentzs^stelle weichen wird müssen, jedoch
werde unsere Käyserl. Majestät den Türeken gewaltig
schlagen, und die Türeken mit schand und spott
wieder vor Wien werden abziehen müssen; keinen
Teutschen krieg kan ich der Stadt Wien anzeigen,
auch keine straff als sterben und den Türken."
Auch über die Vertreibung der Bourbonen hatte
Greulich zwei Visionen:
Die erste besehreibt er (p. 253) folgendermaßen:
„Ady den 28. Aug. zu nacht um 4 auff der großen
uhr, kam der Engel GOttes wieder zu mir und
sprach: . . . Und nach diesem sprach der Engel
GOttes wieder zu mir, ich solte in den himmel
sehen, wie er so blutig sey, da sähe ich darinnen ein
blutiges schwerd, und ein kreyß oben darauff, und
auf der rechten Seiten neben dem schwerd stund
geschrieben mit güldenen buchstaben: Ihr Königl.
Majestät in Franckreich, und auf der lincken stund
abermal mit güldenen buchstaben geschrieben: Schönes
Franckreich, es wird jämmerlich mit dir zugehen, da
fragte ich den Engel GOttes, was das bedeuten wird,
da sagte er zu mir, siehe wol an den himmel, wie
des Königes in Franckreich sein Name sich daran
verdunekelt, und er hat sich gantz verlohren,
das bedeut, daß er soll mit den seinen verjagt
97
und verderbet werden, und es wird ein sterben
auch dazu kommen."
Die zweite Vision Greulichs lautet:
,,. . . tJber eine weile kam der Engel GOttes
wieder zu mir und sprach: Sihe in den himmel, wie
er so blutig ist, und ich sähe darinnen einen grau^
Samen stuhl gesetzt; und auf dem stuhl saß einer in
einer güldenen crone, und er hatte in seiner rechten
Hand Scepter und Reichs^^apfel, und über seinen stuhl
(der grausam schön war anzusehen) stund mit güh
denen buchstaben geschrieben: Königl. Majestät in
Franckreich, und über der schrifft stund eine blutige
fahne; und der Engel GOttes sagte zu mir: Siehe
Jüngling, da kommen des Königs in Franckreich seine
Räthe, die ältisten so wol als die jüngsten, daß
beysamt der blutigen fahnen kniend für dem König
in Franckreich sie müssen einen eid ablegen, daß sie
bey ihrer treu und glauben bey ihme leben und
sterben wollen, und auch gegen ihres Königs feinde
seyn (der Schwur im Ballhause und die große Feier
auf dem Marsfeld!) und wie das verrichtet war, saß
der König noch auf seinem stuhl, und der Engel
GOttes sprach zu mir: Siehe, Jüngling, wie
des Königs seine crone, scepter und Reichs*
apfel alles verrostet, und es anfangs alles schöne
geglissen hat, nun aber siehestu, daß es mit allem
Königlichen Ornat von seinem stuhl herunter gestoßen
wirdO."
Wenn wir uns bei der Betrachtung obiger Visionen
vor Augen halten, daß sie, selbst wenn wir an Arnolds
*) Wir haben hier und weiter oben nur gesperrt, was auch
im Original gesperrt gedruckt ist!
Kemmerich, Prophezeiungen 7
98
Quelle zweifeln sollten, da er ungedruckte Papiere
benutzt zu haben behauptet, ein volles Jahrhundert
früher publiziert wurden, als sie eintraten, daß also
auch nur der allerleiseste Zweifel an ihrer Authen*
tizität hinfällig ist — denn auch Arnold konnte ja
gar keine Ahnung davon haben, daß neunzig Jahre,
nachdem er es im Druck erschienen ließ, das Gesicht
sich realisieren würde — dann wird wohl auch der
größte Verfechter der Unmöglichkeitss^ und Zufalls*
theorie einigermaßen bedenklich werden.
Um die volle Wunderbarkeit der Prophezeiung
richtig bewerten zu können, müssen wir uns ver^^
gegenwärtigen, daß Greulich so gut wie Arnold in
der Zeit des auf die Spitze gesteigerten Absolutismus
lebten. Man muß ferner wissen, daß Frankreich,
vom Sonnenkönig Ludwig XIV. regiert, damals auf
dem Gipfel seiner Macht und seines Ansehens stand.
Es lag außerhalb jeder menschlichen Berechnung
sowohl an einen Sturz des Königtums irgendwo in
Europa, als besonders an den der glänzenden, all*
mächtigen Bourbonen Frankreichs zu denken.
Die Vision wird noch erstaunlicher durch den
Nebenumstand, daß der König erst vertrieben wird —
und zwar wie der „grausame stuhl" und die „blutige
fahne" andeuten nicht eben sänftiglich ; den Henkerstod
zu prophezeien scheute sich wohl auch ein Greulich —
nachdem ihm der Treueid geleistet worden war. Daß
dieser Zug jede Berechnung ausschließt, dürfte kaum
bestritten werden können.
Wir haben es hier — und zwar zum ersten Male
in diesem Buche — mit einer richtigen Vision zu tun.
Die Form, in der die Zukunft enthüllt wird, das Er*
99
scheinen eines Engels, ist höchst befremdlich und
der Verdacht, es handele sich um Schwindel oder
Wahnideen, liegt nahe. Wir werden aber später noch
häufig Gelegenheit haben, bei anderen Sehern ganz
! Ahnliches zu finden. Entscheidend ist hier eben nur,
ob die Vorhersage eintrifft oder nicht. Und da hier
letzteres der Fall ist, müssen wir wohl oder übel das
Phänomen hinnehmen, wie es sich uns bietet.
Zur Warnung für vorschnelle Urteile ist es nicht
überflüssig, daran zu erinnern, daß das Problem der
Prophetie noch Neuland ist. Unsere erste Aufgabe
muß es sein, festzustellen, ob es überhaupt ein Fern*
sehen in der Zeit gibt. Erst wenn das geschehen ist,
kann die Untersuchung der Bedingungen, unter denen
diese Kraft wirksam wird, uns beschäftigen. Wenn
wir also auch die allerwunderlichsten Berichte finden
— wie etwa in bezug auf Greulichs Engel — so werden
; wir uns hüten müssen, daran herumzukritisieren. Viel*
mehr handelt es sich für uns zunächst nur darum,
ob dieser angebliche Engel sich durch die Wahrheit
seiner Eingebung sozusagen legitimiert.
Wenn eine neue Naturkraft oder irgendeine Er:*
scheinung der Natur untersucht werden soll, so bes^
dient sich der Naturforscher zu diesem Zweck des
Experimentes. Dann ist es seine Aufgabe nicht etwa
— wie der Laie meinen mag — der Natur das Ex^
periment aufzutrotzen, sondern ganz im Gegenteil ihr
die Bedingungen abzulauschen, unter denen sie den
Versuch gelingen läßt. Nicht der Naturforscher stellt
also die Bedingungen auf, sondern die Natur.
Um ein Beispiel zu gebrauchen: die Entwicklung
der photographischen Platte ist nur in der DunkeU
100
kammer bei rotem Lichte zu bewerkstelligen. Dieser
Bedingung des roten Lichtes hat sich der Photograph
einfach zu fügen und erst wenn er auf Grund von
vielfachen Versuchen zum Resultate gekommen ist,
daß Licht von anderer Farbe ihm die Platte verdirbt,
wird er dazu übergehen die Gründe dieser Erscheinung
zu prüfen. Hier stellen also das rote Licht, die
Natur, die Beschaifenheit der Platte die Bedingungen,
und die Aufgabe des Experimentators kann nur sein,
diese Bedingungen herauszufinden und sich ihnen
zu fügen. Erst auf einer höheren Stufe wird er dazu
übergehen können die Natur — scheinbar — zu
zwingen.
Leute, die sich am Engel in der Prophetie oder
am Symbolismus vieler Vorhersagen stoßen, er*
scheinen fast so, als wollte jemand das Schwimmen
der Fische untersuchen und sich darüber aufregen,
daß das nur im Wasser vor sich geht. Auf dem
trockenen Lande wären doch die Beobachtungs*
bedingungen viel bequemer!
Was übrigens den Sturz der Bourbonen bzw.
die große Revolution betrifft, so wurde sie — von
Gazottes Prophezeiung, auf die wir noch eingehend
zurückkommen werden, abgesehen — außer von
Greulich und Ailly noch von Johannes Cario in
seiner 1522 zu Berlin erschienenen ,,Prognosticatio'*
vorhergesagt. Es ist nun sehr spaßhah, daß der
superkluge Adelung noch im Jahre 1787 die Richtig*
kcit dieser Prognose mit folgenden Worten bestreitet:
,,Noch unbarmherziger soll es in dem Jahre 1789
fzugchen; das sollte das schrecklichste unter allen
sein, indem in demselben große und wunderbare
101
Geschichten, Veränderungen und Zerstörungen vor^
fallen würden. Allein, so sehr sich der Narr in iKm
sehung des 1693 sten Jahres betrogen hat, so sehr
wird er vermutlich auch 1789 zum Lügner werden^).**
Kehren wir noch einen Augenblick zum ,, Engel"
zurück! Das es sich nicht um einen der biblischen
Engel handeln kann, sondern nur um ein Phantasie:!
Produkt unterliegt natürlich bei Greulich so wenig,
als bei irgendeinem andern Seher dem allergeringsten
Zweifel. Das Wahrscheinlichste ist, daß das Kausa:«
litätsbedürfnis der Propheten, die Eingebungen haben
ohne zu wissen, woher sie stammen, einen Geist oder
Engel oder gar Gott selbst erfinden und die Figuren
ihrer Phantasie dann für wirkliche Personen halten.
Damit ist keine Erklärung des hellseherischen
Phänomens gegeben, es sollen lediglich die Seher nach
Tunlichkeit von dem Verdacht des Schwindels oder
Irreredens befreit werden. Denn daß es sich hierum
nicht handelt — wenn auch gewiß beides da und
dort vorkommen mag — geht aus dem Inhalt des
Geschauten und dessen Uebereinstimmung mit der
Wirklichkeit zur Evidenz hervor. Im übrigen müssen
wir den Leser vorläufig noch um Geduld bitten.
Ebenso merkwürdig fast, wie der Engel als Ver*
.mittler der Zukunft, sind Karten und Kaffeesatz der
Wahrsagerinnen. Daß es noch zahllose andere an^j
gebliche Mittel gibt Zukünftiges zu sehen, Spiegel,
Kristalle usw. sei im Vorbeigehen bemerkt. Darauf
näher einzugehen, müssen wir ablehnen, da wir
M (Adelung) Geschichte der menschlichen Narrheit, III. Bd..
S. 118.
102
ja nicht untersuchen wollen, auf welchem Wege
das zeitliche Fernsehen zustande kommt, sondern uns
ganz bescheiden damit begnügen müssen, festzustellen,
ob und daß es ein solches tatsächlich existiert.
Um aber das Unsere zu tun, um den Leser vor
vorschnellem Aburteil zu bewahren, sei folgende in*
teressante Geschichte hier zum besten gegeben.
,Eine Freundin von mir, Lady A., wohnte in
den Champs-Elysees. An einem Oktoberabend 1883
hatte ich bei ihr diniert. Trotz ihres großen Ver*=
mögens war sie eine sehr häusliche, ordnungsliebende
Dame und machte jeden Abend ihre Abrechnung
vor dem Schlafengehen.
Wie sehr war sie betroffen, als ihr an diesem
Abend 3500 Frs. aus der Innentasche ihres großen
Reisekoffers fehlten, in dem sie ihre Juwelen und ihr
Geld verwahrte.
Das Schloß war nicht verletzt; nur die Ränder
der Tasche waren ein wenig verbogen. Und doch
war Lady A. überzeugt, daß sie um 2 Uhr nach*
mittags in Gegenwart ihrer Kammerfrau die Tasche
geöffnet und eine Nota bezahlt hatte. Dann hatte
sie das Geld bestimmt wieder an seinen Platz ge*
legt. Sie schellte ihrer Kammerfrau und teilte ihr
den Verlust mit. Diese wußte auch nichts anzugeben,
erzählte aber dem Personal den Verlust. Die Folge
war, daß der oder die Schuldige Zeit finden konnte,
das gestohlene Gut in Sicherheit zu bringen.
Zeitig früh wurde der PoHzeikommissar der rue
Berrycr benachrichtigt. Alles wurde verhört und
durchsucht, umsonst.
Der Kommissar besprach noch mit Lady A. den
103
Fall und fragte sie aus, wen sie am ehesten für den
Schuldigen halte.
Lady A. gab ihre ganze Dienerschaft als ver*
trauenswürdig an; ganz ausgeschlossen sei aber von
dem Verdacht der zweite Kammerdiener, ein großer,
19 jähriger Mensch, den sie aus einer Art Protektion,
die er sich durch seine musterhafte Haltung erworben,
zärtlich ,den Kleinen' zu nennen pflegte.
Der Morgen verlief resultatlos. Um 11 Uhr
vormittags schickte Lady A. die Erzieherin ihrer
jüngsten Tochter zu mir mit der Bitte, ich möchte
diese Dame doch zu einer Hellseherin begleiten,
deren Fähigkeit ich vor einigen Tagen gerühmt hatte.
Ich kannte diese Hellseherin auch nur aus den
Erzählungen einer Dame und wir machten uns auf
den Weg.
Unsere Hellseherin, Frau E., brachte eine mit
Kaffeesatz gefüllte Tasse und ersuchte die Erzieherin,
dreimal darauf zu blasen. Dann goß sie den Kaffee*=
satz in eine zweite Tasse und in der ersten blieb in
verworrenen Linien nur der festere Kaffeestaub zurück.
Darin schien unsere Pythia zu lesen.
Sie breitete ihre Karten aus und begann: ,Ah!
ein Diebstahl . . . Der Dieb ist im Hause selbst und
hat sich nicht erst eingeschlichen. Warten Sie, jetzt
will ich aus dem Kaffeesatz die Details herauslesen.*
Sie nahm die Tasse, die Erzieherin mußte wieder
dreimal blasen und sie griff nach ihrem Lorgnon.
Als hätte sie der Szene beigewohnt, beschrieb
sie auf das genaueste das Zimmer der Lady A.
Sieben Bediente, die sie dem Alter und Geschlecht
104
nach genau beschrieb, sah sie in dem Haus. Dann
kam sie wieder in Lady As. Zimmer zurück und be*
merkte einen eigenartigen Schrank^).
,Warum ist dieser Schrank nicht versperrt? Er
enthält viel Geld . . . in . . . wie komisch das Ding
ist! ... es öffnet sich wie ein Portemonnaie ... es
ist kein Koffer ... ah, ist weiß . . . ein Reise*
sack . . . welche Idee, hier sein Geld aufzubewahren
und wie unvorsichtig, es so unverschlossen zu lassen!
— Die Diebe kennen den Sack wohl ... sie haben
das Schloß nicht verletzt. Sie biegen die Seiten aus*
einander und mit einer Schere oder mit einer Pin*
zette ziehen sie die Banknoten heraus.*
Wir lassen sie sprechen; alles, was sie sagt,
stimmt in den feinsten Details mit der Wahrheit
überein. Sie hält ermüdet inne. Wir beschwören
sie, uns den Schuldigen zu nennen. Sie erklärt, dies
sei gegen die französischen Gesetze, denn man dürfe
ohne Beweise, nur durch okkultes Wissen, niemand
als einen Verbrecher bezeichnen.
Da wir weiter in sie dringen, erklärt sie, das
Geld werde niemals gefunden und der Dieb nicht
für den Diebstahl bestraft werden, aber in zwei Jahren
würde er die Todesstrafe erleiden.
So oft sie von dem , Kleinen* spricht, sieht sie
ihn bei den Pferden. Wir versichern ihr, er sei
Kammerdiener und komme mit den Pferden gar
nicht in Berührung. Aber sie besteht auf ihrer Be*
hauptung.
') Anm. der I*!rzhh!crin: Hin englischer Schrank, wie sie
ihn wohl noch nie gesehen hatte. — Der Fall trägt bei Flammarion,
Rätsel des Seelenlebens, die Nummer LXXV und steht auf S. 411 tt.
105
Wir lassen also diese Kleinigkeit fallen, die uns
aber in ihren sonst so richtigen Angaben stört.
Vierzehn Tage später entläßt Lady A. ihren Por*
tier und ihre Kinderfrau; der , Kleine* tritt ohne
Grund einige Wochen später aus ihrem Dienst. Das
Geld wird nicht gefunden, und ein Jahr später reist
Lady A. nach Ägypten.
Zwei Jahre nach dem Diebstahl erhält Lady A.
die Aufforderung vom Tribunal de la Seine, als
Zeugin nach Paris zu kommen. Man hatte den Dieb
gefunden. Es war Marchandon, der Mörder Frau
Cornets, ehemals der so hochgeschätzte , Kleine'.
Wie es die Hellseherin von rue Notre^Dame*
de^Lorette vorausgesehen, erlitt er die Todesstrafe.
Im Prozeß konstatierte man auch, daß der , Kleine'
ganz nahe der Residenz von Lady A. einen Bruder
hatte, der als Kutscher in einem großen Haus be^*
dienstet war. ,Der »Kleine' war ein großer Pferdes:
liebhaber und hatte jeden freien Moment bei seinem
Bruder im Stall zugebracht.
So hatte die Hellseherin in jedem Detail recht
behalten. L. d'Ervieux.
Ich bestätige, daß dies der Wahrheit entspricht,
da ich der Konsultation beiwohnte. C. Deslions."
Zu diesem außerordentlich interessanten Fall,
einer Verbindung von zeitlichem und räumlichem
Fernsehen, macht Dariex die Anmerkung:
,, Dieser Fall von Hellsehen ist äußerst interessant.
Lady A. hat mir ihn in allen Einzelheiten bestätigt.
Die Karten und der Kaffeesatz sind nur ein neben^
sächliches Mittel, das das Medium unbewußt an==
wendet, um sich in Autosomnambulismus zu versetzen,
106
d. i. in einen Zustand, worin das normale Bewußt*
sein außer Tätigkeit tritt, und zwar zugunsten des
unbewußten Handelns. Es ist möglich, daß in diesem
Zustand die unbewußten Fähigkeiten ihren größten
Aufschwung nehmen können und daß die hellsehe*
rische Fähigkeit, die vielleicht in uns allen schlummert,
bei manchen Individuen ziemlich viel zu leisten ver*
mag."
Ob es sich auch bei der Astrologie um ein ahn*
liches nebensächliches Mittel, wie Kaffeesatz und
Karten, handelt, bleibe dahin gestellt. Desgleichen
was es mit dem Engel für eine Bewandtnis hat. Denn
wie man auch darüber denken mag, der Sache selbst
bringt es uns nicht näher. Wenn die gut beglaubigte
Geschichte, die durchaus nicht vereinzelt ist, den Er*
folg hat, daß die Leser dieser Zeilen sich nicht ledig*
lieh deshalb unwillig abwenden, weil in den Visions*
berichten Engel oder sonst was Merkwürdiges vor*
kommt, so ist der Zweck des Autors vollauf erreicht.
Kehren wir nach dieser Abschweifung wieder zur
Sammlung historischer Beispiele für ein richtiges Vor*
hersehen der Zukunft zurück! Daß die chronologische
Reihenfolge nicht strenge innegehalten wird, dürfte
die Natur des Gegenstandes rechtfertigen.
Alessandro de Medici wurde im Jahre 1536
von seinem Vertrauten und Vetter Lorenzino auf
raffinierte Weise ermordet. Dieses Ende war dem
Herzog wiederholt vorhergesagt worden, sogar mit
Bezeichnung der Person des Mörders. Ein Page aus
Perugia hatte es geträumt und der Astrologe Giuliano
del Carmine in seiner Nativität gelesen, lind zwar
nicht nur, daß er ermordet, sondern sogar, daß ihm
107
die Gurgel durchschnitten würde, und zwar durch
seinen Vetter Lorenzino. Alessandro, der nicht an
Astrologie glaubte, hatte darüber nur gelacht.
Ja, er hatte zum Entsetzen der Florentiner zur
Hochzeit mit Margarete von Parma einen astrologischen
Unglückstag gewählt, nämlich eine Sonnenfinsternis
und noch dazu einen Dreizehnten.
Es gab eben zu allen Zeiten Leute, die von
Wahrsagerei, Astrologie oder andern Versuchen, die
Zukunft zu enthüllen, nichts hielten. Hatte doch
schon Villani davor gewarnt^). Diese Skepsis, die
also keineswegs absolut neu ist, nur daß die Gegen*
wart in der Ablehnung viel weiter geht, als frühere
Zeiten, ist dazu angetan, die Glaubwürdigkeit einiger
Berichte zu erhöhen.
Alessandro war auch von verschiedenen Personen,
denen Lorenzinos Benehmen aufgefallen war, gewarnt
worden, jedoch ohne jeden Erfolg. Deshalb glaubte
man allgemein in Florenz, sein Tod sei ihm vom
Schicksal bestimmt.
Ein Soldat von Alessandros Leibwache hatte ge*
träumt, der Herzog sei von einem kleinen, schmäch*
tigen Menschen, dessen Äußeres er sich genau er==
innerte, ermordet. Er redete darauf seinen Herrn des
Morgens an der Tür an, um ihm den Traum zu er*
zählen. Und als Lorenzino eben dazu trat, rief er:
') Vgl. G. Villani, Chronik von Florenz, Geschichte der Vor*
zeit, XIV. Jahrh., II. Bd., S. 137. Eine Verulkung der Prophetie
hat sich aus dem Jahre 1536 erhalten unter der Titel ,,Propheci
und wunder—/ barlich Pronostication, uff das 1536./ jar kürtzlich
gefunden zu Rätersch/ eym im Nergaw." Vgl. O. Giemen, Ar*
chiv für Kulturgeschichte, 7. Bd., 1909, S. 1 ff.
108
„Dieser ist es." Der Herzog aber schickte den Warner
mit barschen Worten fort^).
Unterm 27. Dezember 1759 hatte der Marquis
d 'Argen s König Friedrich dem Großen gemeldet:
daß ein Mensch, der vor einundeinhalb Jahren für
einen Narren gegolten, ihm im Jahre 59 großes Uns*
glück prophezeit, für das Jahr 60 aber glücklichere
Ereignisse. Er fährt in einem zweiten Briefe von
1760 fort:
„Sirel mein Prophet, über den Sie sich lustig
machen, sagt noch immer Wunderdinge vorher."
Hier folgt eine niedliche Antwort, die der Prophet
dem einfältigen Markgrafen von Schwedt gab, der
ihn mit vornehmen Worten abzuspeisen versuchte:
„Geht, Ihr seid ein NarrT*
„Meine Frau sagt mir das täglich, aber ich achte
nicht darauf, weil ich den Umfang ihres Geistes
kenne,** replizierte der schlagfertige Prophet.
D'Argens erzählt jetzt weiter, daß der Seher die
Schlacht bei Küstrin einen ganzen Monat vor*
her mit folgenden Worten angekündigt habe:
„Der König wird in dreißig Tagen eine blutige
Schlacht über die Russen gewinnen; an 15000 werden
bleiben und lange Zeit auf dem Schlachtfeld liegen
und den Vögeln zur Beute werden.**
„Der Tag**, fährt Argens wörtlich fort, „war
gerade der Tag der Schlacht. Ich weiß wohl, das
Ungefähr hat die Vorhersage dieses Mannes wahr
*) Diese Mitteilung verdanke ich Fräulein Isolde Kurz.
Vgl. unter anderen zeitgenössischen Quellen: Benedetto Varchi,
Storia Florentina, Florenz 1844. 3. Bd., p. 262 ti. Auch Nardi
und Guicciandini berichten ähnliches.
109
gemacht, aber man muß doch gestehen, es war ein
sonderbares Ungefähr."
Der Marquis betont ausdrücklich, daß er trotze
dem nicht an Propheten glaube — wie konnte er
auch anders in der Zeit der Aufklärung und in
einem Briefe an einen ihrer glänzendsten Vertreter?! —
sondern ein treuer Anhänger Epikurs nach wie vor sei *).
Der Tod des Königs Friedrich von Württem*
berg im Jahre 1816 wurde bereits 1812 von den Stutt*:
garter Somnambulen Wanner und Krämer vorher^:
gesagt. Eschenmayer berichtet darüber im ersten Bande
des ,, Archivs für tierischen Magnetismus'* ") ausführlich.
Das wesentliche seines Berichtes lautet:
„Die erste Vorhersage geschah im Jahre 1812,
wahrscheinlich am 12. Juli, in Gegenwart von Hof*
medikus Klein, Oberfinanzrat St . . ., dessen Frau und
Tochter. Sie lautete: „S. M. stirbt im Jahre 1816
zwischen dem 18. und 20. April auf ungewöhnliche
Weise." (Zu Klein): ,,Zu Dir wird noch vorher ges=
schickt werden und eine andere Person (die sie nannte)
wird vorangehen."
Die Somnambule verpflichtete alle zu strengstem
Stillschweigen aus Furcht, man werde sie für eine
Irrin erklären, wenn ihre Prophezeiung bekannt würde.
Später sagte die Wanner: ,,Das Jahr des Todes sei
^) Friedrichs des Großen Werke, Frankfurt und Leipzig 1788,
S. 88-95.
^) Leipzig 1817. Karl August von Eschenmayer, geb. 1768,
gest. 1852, war Professor der Medizin und Philosophie in Tübingen.
Seit 1836 ins Privatleben zurückgezogen, beschäftigte er sich viel
mit Mystizismus, was ihm natürlich Spott eintrug. Immermann
stellte ihn im ,,Münchhausen" unter dem Namen „Eschenmichel"
satirisch dar.
110
zuverlässig, aber im Monat könne sie sich irren."
Dem fügte Frau von St . . . hinzu, „daß nachmals
ihr Mann ihr gesagt hätte, er habe noch besonders
herausgebracht, daß der Monat der Oktober sein
könne.'*
Eschenmayer wollte den Finanzrat von St . . . deshalb
interpellieren, traf ihn jedoch nicht an und sagt:
„Soviel ist aber gewiß, daß St . . . das Ende des
Monats Oktober vom Jahre 1816 mit einer solchen
Zuverlässigkeit als den wahren Termin der Erfüllung
annahm, daß er sich gegen mehrere meiner Bekannten
äußerte, er biete seinen ganzen Weinvorrat als Wette
auf dieses Ereignis an."
Die in der Behandlung des Dr. Nick befindliche
Somnambule Krämer führte mit diesem ihrem Arzte,
dem Hofmedikus Klein und Professor L . . . t am
17. April 1816 folgendes Gespräch:
Krämer: ,,S. M. stirbt in diesem Jahre im Monat
Oktober."
Nick: ,,Ist es der Anfang, die Mitte oder das
Ende des Oktobers?"
Krämer: ,,Das Ende des Oktobers."
Nick: „Du kannst wohl den Tag bestimmen?
Ist es wohl der 26.?"
Krämer: ,,Nein."
Nick: „Aber der 28. Oktober?"
Krämer: „Da trifft ihn ein Kopf* und Brust*
schlag."
Der Leibarzt Dr. Klein hatte eine Reise nach
Augsburg gemacht, von der er am 28. Oktober zurück*
gekehrt war, als ein königHcher Läufer erschien und
ein chirurgisches Instrument für den König holen
111
wollte. mWIc ein Blitzschlag erinnerte sich Klein an
diesen Vorboten, der den Tod verkündigte." Und
wirklich traf an diesem Tage den König ein Schlage
anfall, welchem er am 29. erlag. Bezüglich der Zeugen?
Schaft führt Eschenmayer folgendes an:
,,Dr. Christian Reuß. Diesem übergab Professor
L . . . t mehrere Monate vorher einen versiegelten
Zettel, auf welchem die vorhergesagte Begebenheit
stand, mit der Bemerkung, denselben nach Ablauf
der Zeit zu erbrechen. Da aber späterhin durch die
allmähliche Verbreitung des Gerüchts diese Vorsicht
unnütz wurde, so ließ L . . . t durch R . . . ß den
Zettel öffnen. Mit dem Inhalt und den Umständen
vertraut, bekam R . . . ß selbst Glauben an die Ge?
schichte, wettete darauf und gewann zwei förmliche
Wetten. Einer der Wettenden ist der Major C . . .,
der andere ist mir unbekannt.
Minister von W . . ., ein tätiger Beschützer des
Magnetismus, sprach selbst in Gesellschaften von
dieser sonderbaren Vorhersage, um die Möglichkeit
solcher Phänomene in wissenschaftlicher Hinsicht zu
beleuchten. Tatsache ist es, daß er mit Graf G . . . z
eine Wette eingehen wollte.
Geheimrat von St . . . ist Zeuge, daß St . . . drei
bis vier Monate vorher auf das letzte Drittel des
Oktobers mit Einschluß bis zum 11. November seinen
ganzen Weinvorrat als Wette anbot.
Madame von W . . . teilte ich selbst etwa drei
Monate vorher auf besondere Veranlassung diese
Vorhersage mit Sie bekam später Gelegenheit mit
St . . . darüber zu sprechen, der ihr gleichfalls äußerte,
daß er jede Wette darauf eingehe."
112
Die Legationsräte K . . . e und von B . . . r hatten
lange vor dem Tode des Königs über diese Prophet
zeiung mit Eschenmayer gesprochen. Letzterer be*
merkt, daß er mit Leichtigkeit noch 200 Zeugen für
diese Begebenheit beibringen könne. Eschenmayer
hält diese Weissagung Hufeland und Stieglitz enU
gegen, welche Tatsachen und keine Räsonnements
begehrten, und bemerkt am Schluß: „Doch, noch
eine Ausflucht! Alles war Zufall. — Nichtiges
Wort der Erbärmlichkeit."
Es wird wohl kaum jemand an der Wahrheit
obiger Mitteilung zu zweifeln wagen. Eschenmayers
Persönlichkeit bürgt nicht minder dafür, als die statt*
liehe Zahl sozial angesehener Zeugen, die er unter
so durchsichtigem Schleier verbirgt, daß man noch
heute viele mit Leichtigkeit identifizieren könnte.
Beachten wir ferner, daß der Bericht über die merk*
würdige Vorhersage bereits ein Jahr nach ihrem Ein*
treffen veröffentlicht wurde, also zu einer Zeit, wo
noch alle, oder doch fast alle der genannten Zeugen
lebten, so wird man um so weniger geneigt sein, ihm
irgendwie zu mißtrauen.
Hier sei eine allgemeingültige Bemerkung ein*
geschaltet: Daß Eschenmayer nur die Anfangsbuch*
Stäben, aber nicht den ganzen Namen nennt, mag in
einer Anzahl von Fällen damit motiviert werden
können, da(^ es tatsächlich nicht allzu großes Fein*
gefühl verrät, wenn man über den Tod eines Menschen,
noch dazu des eigenen Landesherrn, Wetten ab*
schließt.
Aber auch die anderen Personen werden durch
ähnliche Rücksichtnahme ausgezeichnet. Das ist be*
in
zeichnend, nicht nur für die damalige Zeit, sondern auch
tür die Gegenwart. Auch heute — das beweisen die
zahlreichen von Flammarion veröffentlichten Tatbe*
berichte, die so und so oft die Bitte um Verschweigen
des Namens , wegen meiner amtlichen Stellung* usw.
enthalten, — ist die Feigheit weitester Kreise, auch
der Gebildeten, geradezu fabelhaft.
Es mag manchem unangenehm sein, wenn mit
Namen und Adresse von ihm berichtet wird, daß er
silberne Löffel gestohlen oder einen Notzuchtversuch
gemacht hat. Wie es aber jemand unangenehm sein
kann, die Wahrheit eines Vorganges zu bezeugen
ist — wenn er dabei nicht riskieren muß die Seg*
nungen unserer Rechtspflege kennen zu lernen —
völlig unverständlich. Oder vielmehr, es wäre es,
wenn es nicht durch gewisse Folgen, die unsere auf::
geklärte Zeit damit verbindet, verständlich gemacht
würde.
Im Mittelalter war es bekanntlich höchst gefähr*
lieh, die Existenz der Hexen zu leugnen. Denn wer
das tat, erklärte indirekt die Hexeninquisitoren für
Toren oder Mörder, ein Verbrechen, das nach Recht
und Billigkeit mit dem Tode geahndet wurde. Seit
dem Siege der Aufklärung ist es umgekehrt. Was
nicht alle Tage passiert, was nicht die Spatzen von
den Dächern pfeifen, und das Begriffsvermögen von
Hinz und Kunz übersteigt, gilt eo ipso für phan*
tastisch oder unwahr. Darum riskiert jeder, der das
Dogma von der Unmöglichkeit aller in die gerade
heute herrschenden naturwissenschaftlichen Hypothesen
und Theorien nicht hineinpassenden Phänomene nicht
bedingungslos unterschreibt, die unangenehmsten Fol*
Kemmerich, Prophezeiungen 8
114
gen. Entweder er wird als Phantast verschrien, der
in den Wolken wandert, oder aber er gilt als Lügner.
Nun ist es nicht jedermanns Sache, sich einer capitis
diminutio seiner Ehre oder Urteilsfähigkeit untere
ziehen zu müssen. Nur wenige haben den, unter
den obwaltenden Verhältnissen nicht geringen Mut.
sich dem Geschrei der zwar urteilslosen, aber desto
stimmkräftigeren und zahlreicheren Menge entgegen*
zustemmen.
Daraus folgt zwingend, daß heute das Dogma
genau so herrscht, wie im finstersten Mittelalter. Nur
sein Inhalt ist dem früheren konträr. Kritiklos aber
wird es nachgebetet und befolgt von Leuten, die —
und das ist das Komische an der Sache — sich für
frei, aufgeklärt und vorurteilslos halten.
Die obige Prophezeiung ist abgesehen von ihrer
guten Beglaubigung noch durch etwas anderes inter?
essant. Die Fälle, daß jemandem der Tod vorherver*
kündet wurde und dann auch wirklich eintrat, sind
nichts weniger als selten. Aber wir können häufig
dem — bisweilen völlig berechtigten — Einwand be*
gegnen, daß die Prophezeiung Ursache des Todes
wurde. Denn es ist klar, daß suggestible Gemüter
ihre ganze Widerstandskraft verlieren, wenn ihnen
ein vorgeblich unentrinnbares Schicksal vorher ver*
kündet wird^).
Diese Erklärungsmöglichkeit schaltet hier voll*
kommen aus. Denn der König hatte von dieser
Vorhersage natürlich keine Ahnung.
Der Skeptiker wird gegen solche Todesankündi*=
*) Vgl. A. j. IXivis. Die Wirklichkeit eingebildeter Krank»
lieiten: Sphinx. 2. Bd., 1886. S. 2 16 ff.
m
gungcn immer einwenden können, daß sie — wie alle
Vorhersagen — um beweiskräftig zu sein, vorher hätten
gedruckt sein müssen. Das wird sich freilich gerade
in diesen Fällen kaum verwirklichen lassen. Denn die
Kitzlichkeit dieser Prophezeiungen schließt deren
frühere Veröftentlichung geradezu aus. Man wird
hier also immer mehr oder minder den Gewährst
männern Glauben schenken müssen.
Regelmäßig wird dabei ein ganz merkwürdiger
Trugschluß begangen. Da nur wenige Personen
ähnliche, sagen wir, mystische Daten überliefern,
was ja in einer Zeit, die sie ungeprüft für Schwindel
hält, ganz begreiflich ist; da diese wenigen Interes^
senten aber zumeist eine Reihe solcher Phänomene
bezeugen, so wird stets gesagt: ,,Das ist wenig
glaubwürdig, denn X. ist ja bekanntlich Mystiker.**
Und doch liegt der Fall gerade umgekehrt. Nicht
weil X. Mystiker ist, erzählt er okkulte Fälle und
verdient deshalb kein Vertrauen, sondern er wurde
Mystiker, weil er solche Erlebnisse hatte oder deren
Zeuge war. Hier liegt also eine Verwechslung von
Ursache und Wirkung vor.
Wir wollen nun noch einige Fälle des Vorgefühles
des eigenen Todes anführen. Nachdem wir im vorigen
Kapitel gesehen haben, daß' sich noch in der Gegen^
wart Ähnliches sehr häufig ereignet, werden wir um
so weniger an den historischen Berichten zweifeln.
Und zwar wählen wir ausdrücklich Beispiele, in denen
der Tod gewaltsam eintritt. Damit hoffen wir dem
Einwurf begegnen zu können, daß das physische
Übelbefmden, das vielleicht nicht klar zum Bewußts=
sein kommt, Ursache der Vorahnung ist.
8*
116
De Baudus, der ehemalige Adjutant des Mar*
Schalls Bessieres, erzählt in seinen „Etudes sur Na*
poleon^O:
,,Am 30. Mai 1813 brachte das kaiserliche Haupt*
quartier die Nacht in Weißenfels zu. Auch der
Marschall Bessieres, welcher die ganze Kavallerie
icömmandierte, schlief hier. Ich frühstückte am anderen
Morgen allein mit ihm, fand ihn sehr traurig und
niedergeschlagen, und konnte ihn lange nicht be*
wegen, etwas von den aufgetragenen Speisen zu ge*
nießen; er antwortete immer, er habe keinen Hunger.
Ich machte ihm bemerklich, daß unsere und die
feindlichen Vorposten einander gegenüber ständen
und wir folglich einen ernsthaften Kampf erwarten
müßten, der uns wahrscheinlich den ganzen Tag nicht
erlauben würde, etwas zu essen. Der Marschall gab
endlich nach und sagte: ,Nun, wenn mich diesen
Vormittag eine Kugel trifft, so soll sie mich wenigstens
nicht mit nüchternem Magen finden.*
Als er vom Tische aufstand, gab mir der Mar*
schall den Schlüssel zu seinem Portefeuille und sagte:
, Suchen Sie doch gefälligst die Briefe von meiner
Frau.* — Ich tat es und gab sie ihm. Er nahm sie
und warf sie ins Feuer. Bis dahin hatte er sie sorg*
fältig aufbewahrt. Die Frau Herzogin von Istrien")
hat mich seitdem versichert, der Marschall habe beim
Abschiede zu mehreren Personen gesagt, er werde
von diesem Feldzuge nicht zurückkommen.
Der Kaiser stieg zu Pferde, und der Marschall
*) Übersetzung von Kiesewetter, Psychische Studien, 17. Bd.,
1890, S. 402 f.
") Besseres führte den Titel eines Herzogs von Istrien.
in
folgte ihm. Sein Gesicht war so bleich und seine
Züge verrieten so tiefe Traurigkeit, daß es mir nicht
entgehen konnte, und ich sagte zu einem Kameraden :
,\Venn es heute zu einer Schlacht kommt, wird der
Marschall wohl bleiben.* —
Die Schlacht begann. Der Herzog von Elchingen ' )
hatte das Dorf Rippach mit seiner Infanterie besetzt,
und der Herzog von Istrien bereitete sich das Defile
zu rekognoszieren, aus welchem der Feind verdrängt
war, während er mit seinen Truppen hindurch mar*
schieren wollte. Als er auf der Höhe angelangt war,
welche das Dorf beherrscht^), am Ende desselben
nach Leipzig zu, befand er sich vor einer Batterie,
die der Feind da aufgefahren hatte, um die Straße
zu bestreichen. Die erste Kugel, welche von dieser
Batterie kam, riß einem Quartiermeister der Garde
der polnischen Chevaulegers den Kopf weg; er hatte
seit mehreren Jahren Ordonnanzdienste beim Herzog
getan. Dieser Verlust verstimmte den Herzog von
Istrien und er entfernte sich im Galopp. Nach einigen
Augenblicken kam er jedoch mit Gefolge wieder
zurück und sagte, indem er auf den Leichnam deutete :
»Der junge Mann muß begraben werden; auch würde
der Kaiser unzufrieden sein, wenn er einen Unter*
offizier seiner Garde tot hier liegen sähe; denn wenn
der Posten wieder gewonnen wird, könnte der Feind
glauben, die Garde sei zurückgewichen.'
') Marschall Ney.
^) Nach einer Anmerkung von Kiesewetter ist das ein Ge*
dächtnisfehler von Baudus, da die Anhöhe, auf der sich jetzt
ein Bessieres' Namen tragender Gedächtnisstein befindet, unweit
Weiiknfels nach Rippach zu liegt.
118
,Eine Kugel, welche von derselben Batterie kam,
streckte den Marschall in dem Augenblicke tot nieder,
als er diese Worte gesagt hatte. Die linke Hand,
welche den Zügel hielt, als er gerade sein Fernrohr
einsteckte, wurde ganz zerschmettert; die Kugel ging
ihm durch den Leib. Seine Uhr blieb stehen, ob sie
gleich nicht getroffen wurde; sie zeigt noch jetzt seine
Todesstunde an, denn sie wurde seitdem nicht wieder
aufgezogen.**
So weit der Bericht des Augenzeugen de Baudus.
Auch Marschall Lannes fühlte seinen Tod
voraus. Als 1809 der Krieg mit Osterreich ausbrach,
nahm er von Frau und Kindern in der festen Über*
Zeugung Abschied, daß er sie nicht wieder sehen
werde. Er fiel am 22. Mai bei Eßlingen^).
Der General Lasalle konnte vor der Schlacht bei
Wagram, von Todesahnungen beunruhigt, nicht
schlafen. Er schrieb an Napoleon und empfahl ihm
Frau und Kinder. Seinen Freunden gegenüber sprach
er mit Bestimmtheit davon, daß er den Tag nicht
überleben würde. Diese Tatsache wird nicht nur
von Zeugen bestätigt, sondern Napoleon selbst er*
.zählt in seinen Memoiren von St. Helena, Lasalle
I habe ihm mitten in der Nacht geschrieben und ihn ge*
^beten, sein Majorat auf seinen Sohn übergehen zu
lassen, da er fürchte, in der morgigen Schlacht zu
fallen'-).
0 Vgl. Justinus Kerner. ..Magikon". III. Bd., S. 262. Zitiert
nach Kiesewetter a. a. O. gleich dem Folgenden.
») Nach Du Prcl in den Psychischen Studien. 17. Bd., 1890.
S. 207. Die in Kerners Magikon II, 263 berichtete Tatsache
wurde von Du Preis Grolk)nkel, einem Verwandten und WaHcn*
119
Auch von Cervoni erzählt Napoleon, daß er
vor der Schlacht von Eckmühl Todesahnungen aus««
gesprochen habe, die eintrafen.
Ebenso hatte Duroc vor der Schlacht bei Bautzen
Todesahnungen. Er sprach hiervon zu Napoleon,
der ihn nicht beruhigen konnte, vielmehr von Durocs
innerer Erregung gleichfalls ergriffen wurde. Während
der Schlacht brachte ein Adjutant die Nachricht,
daß der Marschall gefallen sei und die Augenzeugen
erzählen, daß sich Napoleon vor die Stirn schlug
und ausrief: „Meine Ahnungen trügen niemals."
Napoleon war nämlich selbst von Ahnungen heim^
gesucht und hielt viel von ihnen.
Ein Kapitel für sich bilden die Prophezeiungen
von Davis.
Der um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Amerika
lebende Andrew Jackson Davis besaß die Gabe des
räumlichen und zeitlichen Fernsehens. Man kann
sich davon leicht aus seinen Büchern überzeugen,
nachdem eine Reihe von Vorhersagen erst jetzt in
Erfüllung gegangen ist.
In seinem Werke „The principels of nature*'
(New York 1847), das er in somnambulen Zustande
diktierte, stellt Davis die Behauptung auf, es gäbe
noch einen transneptunischen neunten Planeten.
Damals hatte man noch kaum eine Ahnung vom
achten Planeten. Gegenwärtig aber sind die Astro=
nomen dabei, den neunten zu entdecken, was nur auf
Grund der neuesten Instrumente und der Himmels*
Photographie möglich ist, Mittel, die für Davis gar
gefährten Lasalles, bestätigt. — Das Folgende nach Brierre de
Boismont, Des hallucinations, S. 295 (nach Du Frei).
120
nicht in Frage kamen. Zweifellos ist diese Entdeckung
ein idealer Beweis für das räumliche Fernsehen.
Da wir uns aber auf das Zeitliche beschränken,
seien einige Prophezeiungen Davis' noch angeführt.
In seinem Werke „The Penetralia** (New York 1856,
deutsch Leipzig 1884 bei Wilhelm Besser) findet sich
auf Seite 219 folgende Vorhersage:
„Gebet acht in jenen Tagen! — auf Wagen,
Equipagen, Reisesalons auf der Landstraße, ohne
Pferde, ohne Dampf, ohne jedwede sichtbare Be^^
wegungskraft, alles bewegt sich mit großer Schnelle
und weit größerer Sicherheit als gegenwärtig. Equi^«
pagen und Wagen schwerer Gattung werden durch
eine seltsame und dabei einfache Verbindung von
Wasser und atmosphärischen Gasen bewegt werden.
Diese Verbindung wird so leicht kondensiert, so ein^
fach entzündet und unseren gegenwärtigen Loko*
motiven ähnlich angewendet, daß der ganze Apparat
zwischen den Vorderrädern verborgen und gehand*
habt werden kann. Diese Fahrgelegenheiten werden
viele Verlegenheiten verhindern, wie solche jetzt die
Bewohner wenig bevölkerter Gegenden durchzumachen
haben. Die erste Bedingung für diese Landlokomos=
tiven wird eine gute Straße sein, auf der mit der
neuen Lokomotive ohne Pferde mit großer Schnellig*
keit gefahren wird. Diese Fahrgelegenheiten werden
von wenig komplizierter Bauart sein."
Interessant ist, daß dieses visionär geschaute
Automobil wie die allerneuesten Fabrikate den Motor
zwischen den Vorderrädern hat!
Bedenkt man, daß es noch gar nicht lange her
ist, daß hervorragende Techniker vor Versuchen,
121
Automobile zu konstruieren, als Utopie abrieten, daß
der erste brauchbare Motorwagen erst 1885 erschien,
das erste brauchbare Straßenlokomobil 1890, so muß
man allerdings über diese Prophezeiung aus dem
Jahre 1856 staunen.
Auf derselben Seite schreibt Davis auch über
die Luftschiffahrt. ,,Es ist nur ein Ding notwendig,
um Luftschiffahrt zu haben, und das ist die An^
Wendung dieser soeben in Betracht gezogenen höheren
Bewegungskraft, die eben jetzt im Begriff ist, entdeckt
zu werden. Der nötige Mechanismus, die Gegen*
luftströmung zu überwinden, um in der Luft ebenso
leicht, sicher und angenehm wie die Vögel zu segeln, —
hängt ebenfalls von dieser neuen Bewegungskraft ab.
Diese Kraft wird kommen! Sie wird nicht nur
die Lokomotiven auf den Schienen, die Wagen aller
Gattung auf der Landstraße, sondern auch die Luft*
wagen in Bewegung setzen, die durch den Äther hin
von Land zu Land reisen.*'
Es handelt sich hier augenscheinlich um den
Explosionsmotor, der damals noch nicht einmal ge*
ahnt wurde und dessen Erfindung Voraussetzung
der Luftschiffahrt mit Fahrzeugen schwerer als die
Luft war.
Solche Vorhersagen, die teils schon eingetroffen
sind, zum Teil wohl noch eintreffen werden, ent*
halten die Werke von Davis noch viele.
Doch auch eine politische Vorhersage aus einem
Briefe vom Jahre 1868 an den Übersetzer seiner Werke,
Dr. Gregor Constantin Wittig, sei angeführt.
„Es scheint mir" — schreibt Davis — ,,daß Preußen
bestimmt ist, eine Art Amerika im alten Europa zu
122
werden. Ich glaube, daß es nicht lange mehr dauern
wird und der ,Bund' wird Süds= und Norddeutsch^«
land in sich vereinigen. Napoleon kann jetzt nichts
dagegen tun; und die, wenn es mir gestattet ist,
sie so zu nennen, große deutsche Republik, wird
dann Europa seine Geschicke vorschreiben. Und sie
wird immer größere Freiheit und immer mehr ¥ovU
schritt erringen."
Der Brief wurde 1869, also vor Ausbruch des
Deutsch^sFranzösischen Krieges in den Vorbemerkungen
zu dem erstgenannten Werk „Die Prinzipien der
Natur" usw. Seite LXIV abgedruckt 0-
Endlich wollen wir noch einige Fälle von be#
merkenswerten Vorhersagen aus der jüngsten Ver^
gangenheit anführen.
Der furchtbare Pariser Bazarbrand in der Nähe
der Champs Elysees, dem am 4. Mai 1897 außer
vielen anderen vornehmen Personen auch die Herzogin
von Alan^on, die Schwester der ermordeten Kaiserin
Elisabeth von Osterreich, zum Opfer fiel, wurde
von Fräulein Couedon, Tochter eines Pariser Rechts*
anwalts, anfangs Mai 1896 im Salon des Grafen
Urbain de Maille vorhergesagt. Und zwar trug sich
die Begebenheit folgendermaßen zu:
Der Graf Maille machte — wie der „Temps" unterm
16. Mai 1897 — also allerdings kurz nach dem
Brande — mitteilte, folgende Angaben:
') Zu Davis vgl. H. Johnnnscn „Gibt es ein Hellsehen?**
Psychische Studien. 36. Bd., 1909, S. 480 H.
123
„Ich hatte MUe. Couedon in ihrer Wohnung bes*
fragt, und obwohl ich durchaus nicht an die Mit*
Wirkung des Erzengels Gabriel') glaubte, so schienen
mir doch die Enthüllungen des jungen Mädchens
äußerst merkwürdig zu sein. Auf meine Bitte willigte
Mlle. Couedon ein, ausnahmsweise einmal entgegen
ihren sonstigen Gepflogenheiten sich bei mir hören
zu lassen, und zwar in Gegenwart von etwa hundert
Personen, unter denen sich die Frau Gräfin Aimery
de la Rochefoucauld, Frau v. Mesnard, die Marquise
d'Anglade, die Gräfin Virien, der Graf Fleury und
verschiedene andere befanden. Nachdem Mlle. Couedon
die Neugier derjenigen Geladenen, welche sie jeder
für seine Person befragt hatten, befriedigt hatte, kam
der Moment, wo sie uns von dem bevorstehenden
Brande sprach. Vielleicht sprach sie nicht dieselben
Worte, die Sie mir berichten, aber jedenfalls war
der Sinn fast derselbe. Sie sprach von , einem großen
Brande, welcher in einer zu Wohltätigkeits*
*) Hierzu machte Frau de Fernem, „Mein geistiges Schauen
in die Zukunft", Berlin 1895, S. 105 Anm., der wir obcnstehens
den Bericht entnehmen, die Bemerkung: daß sich damals
durch die französische Seherin ein Spirit kundgab, der sich
merkwürdigerweise ebenso wie ihr „HauptsKontroll^Geist*'
„Gabriel" nannte usw. Die Erklärung für diese phrophetischen
„Geister" dürfte meines Dafürhaltens wie schon weiter oben be«
merkt, im Kausalitätsbedürfnis der Seherinnen liegen. Sie be*
obachten an sich das Phänomen der Visionen usw„ ohne es
sich erklären zu können und greifen deshalb zur Spirithypothese,
die weder bisher bewiesen wurde, noch auch notwendig ist, so
wenig wir zum Hypnotismus oder zur drahtlosen Telegraphie
„Spirits" benötigen. Es handelt sich hier jedenfalls um eine uns
noch nicht näher bekannte Naturkraft.
124
zwecken gebildeten Gesellschaft ausbrechen
würde* — ,Ich sehe*, sagte sie, — ich zitiere aus dem
Gedächtnis — ,daß die Spitzen der Gesellschaft werden
getroffen werden. Und ganz besonders wird das
Faubourg St. Germain zu leiden haben.* Und
ganz genau entsinne ich mich, daß die Seherin hinzu*
fügte: , Keine der hier versammelten Personen
wird in Mitleidenschaft gezogen werden!* —
und sich mir persönlich zuwendend: ,Sie selbst werden
nur ganz von ferne davon berührt werden, sozusagen
nur auf indirektem Wege.* In der Tat ist keiner
unserer Gäste von dem Unglück betroffen worden.
Was mich anbelangt, so habe ich gemäß den Voraus*
sagen der Mlle. Couedon eine ganz entfernte Kusine
verloren, welche ich kaum kenne.**
So weit die Worte des Grafen in dem im Temps
veröffentlichten Briefe.
Außer diesem Zeugnis besitzen wir noch eines
vom Redakteur der Pariser Zeitung „La libre Parole"
und „L'Echo de Merveilleux**, Gaston Mery. Im
letztgenannten Organ schreibt er am 25. Mai u. a.
„Man weiß daß Fräulein Couedon sich stets be*
harrlich geweigert hat, in Gesellschaft zu gehen. Ein
einziges Mal — nur einmal — machte sie zugunsten
der Gräfin de Maille eine Ausnahme; es war zu
Anfang Mai 1896. In den Salons der Frau von Maille
hatte sich das ganze Viertel Rendezvous gegeben.
Zuerst sprach Fräulein Couedon privatim mit denen
unter den Eingeladenen, die sie konsultieren wollten.
Aber ihre Anzahl war so groß, daß Fräulein Couedon
auf Bitten der Herrin des Hauses einwilligte, nach*
dem sie den .Fngcl Gabriel' angerufen hatte, vor
125
der ganzen versammelten Gesellschaft zu sprechen.
Unter anderen Prophezeiungen machte sie die nächst
folgende, deren sich mehrere Zeugen vollkommen
erinnern und deren Wortlaut sie selbst rekonstruiert hat:
In deutschen Zeitungen
wurde der Inhalt folgen*
dermaßen wiedergegeben:
„Pres des Champs^^Ely? „In der Elysäischen Felder
sees, Nähe
Je vois un endroit pas Ich ein wüstes Gedränge
eleve, sehe.
Qui n'estpas pourla piete, Erst dem Mitleid war es
Mais qui en est approche
Dans un but de charite
Qui n'est pas la verite . . .
Je vois le feu s'elever . . .
Et les gens hurler
Des chairs grillees,
Des Corps calcines,
J'en vois comme par pelle*
tes." -
geweiht,
Dann aber macht es viel
Herzeleid.
Flammen seh' ich lodern
und sengen,
Ängstlich die Menge sich
furchtbar drängen;
Lebendes Fleisch seh' ich
geröstet,
Körper verbrannt, die Luft
verpestet!"
Der „Engel" fügte hinzu, daß alle zuhörenden
Personen verschont werden würden. Darauf sagte
einer der Anwesenden, der Vicomte de Fleury, sehr
ungläubig und scherzend zu der Seherin: „Ach, Sie
sagen das nur so, um uns zu schmeicheln!" In der
Tat ist keiner der zu dieser Soiree Eingelade*
nen, die alle mehr oder minder regelmäßig
bei den Wohltätigkeitsverkäufen zugegen
waren, umgekommen oder bei der schreck^
126
liehen Katastrophe des 4. Mai verwundet
worden. Unter den bei dieser Soiree Anwesenden
befanden sich: die Marquise d' Anglade, die Kom^:
tesse Virien, die Grafen Divonne usw."
Die Tatsache, daß Fräulein Couedon in der Rue
Jean Coujon diese schreckliche Brandkatastrophe, bei
der über hundert Menschen, meist aus der ersten
Gesellschaft, ums Leben kamen und deren sich wohl
die meisten noch erinnern werden, vorhergesehen hat,
unterliegt nach den Berichten, wiewohl sie erst ein
Jahr später zu Papier gebracht wurden, nicht dem
allergeringsten Zweifel.
Die Übereinstimmung der gleichzeitig und un*
abhängig voneinander abgefaßten Berichte des Grafen
Maille und des Herrn Gaston Mery sind ja schon
hinlängliche Beweise für die Authentizität des Mit*
geteilten. Dazu kommen die genannten Zeugen, des
weiteren, daß sich viele von ihnen, wenn nicht
an den Wortlaut, so doch an den Inhalt erinnerten,
daß man schon vor der Katastrophe zu andern da*
von gesprochen hatte usw.
In diesem Falle ist Autosuggestion ganz aus*
geschlossen. Denn eine Gesellschaft, die mehr oder
minder in Wohltätigkeitsbazaren aufgeht, erinnert
sich — wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang — , wenn
jemand vor sie hintritt, der ihr zuruft, daß sie bei
solcher Gelegenheit auf gräßliche Weise ums Leben
kommt. Sie atmet aber auch erleichtert auf, wenn
sie damit beruhigt wird, daß keine der anwesenden
Personen noch deren nahen Anverwandten dem Un*
glück zum Opfer fällt. Ein Irrtum des Gedächtnisses
bezüglich des essentiellen Inhaltes der Prophezeiung
127
ist in diesem Falle ganz ausgeschlossen. Das wurde
auch meines Wissens von keiner Seite behauptet.
Eine Kritik, die Dinge, die sich vor Hunderten
von Zeugen, die dazu zusammenkamen, um eben
diese Dinge zu beobachten, leugnen wollte, würde
einen viel größeren Fehler begehen, als die alten
Astronomen, die das Vorkommen von xMeteoren be^
stritten. Und da von diesen Zeugen alle noch lebten,
viele heute noch leben, so kann die Kritik leichter
leugnen, daß Napoleon I. existiert hat, als die Tat*
sächlichkeit dieser Prophezeiung.
Und das, wiewohl der Text der Vision rekon^
struiert wurde. Denn was für uns ausschlaggebend
ist und mit Rücksicht auf die Fixierung erst nach
dem Ereignis auch nur beweiskräftig sein kann, ist
ja nur der wesentliche Kern de.^ Prophezeiung. Der
aber lautet:
Es wird in der Nähe der Champs-Elysees,
also in Paris, bei einem Wohltätigkeitsfest
ein großes Brandunglück geben.
Ist diese Prophezeiung schon interessant genug,
so wird sie durch den mündlichen Zusatz — der gut
beglaubigt ist — , daf^ niemand der Anwesenden
oder aus deren Ve rwandtschaft zugrunde gehen
würde, verblüffend. Denn gerade diese, numerisch
gar nicht sehr zahlreiche Gesellschaftsschicht, ver*
anstaltet doch in Paris, wie in jeder anderen Groß*
Stadt, derartige Festlichkeiten. Wir dürften daher in
der Prophezeiung des Fräulein Couedon einen der
besten Beweise für die Existenz dieser Gabe sehen.
Über die Sprechweise der Seherin berichtet xMery
im genannten Aufsatz: ,,Sie spricht oder vielmehr:
128
sie leiert eintönig rhythmisch abgemessene Sätze her,
welche assonierend klingen und von denen manche
refrainartig wiederkehren. Es sind keine Verse und
auch keine Prosa; ein Mittelding, etwas Unfaßbares
ist es, was sich mit einer gewissen Melancholie und
Eintönigkeit endlos abwickelt, wobei fast unverändert
dieselben Assonanzen immer wieder hörbar werden.'*
In Nummer 290 vom I.Februar 1909 brachte das
„Echo du merveilleux** folgenden Bericht 0:
„Eine römische Dame, welche seit mehreren
Monaten an akuter Neurasthenie, oder besser gesagt,
Hysterie leidet, hat seit dem verflossenen 2. De^*
zember vorigen Jahres die Katastrophe voraus*
gesagt, die Messina zerstört und Kalabrien
verheert hat. Diese Dame, welche einer hervor^
ragenden Familie der Aristokratie angehört, ließ
schleunigst den Dr. Sarti rufen, nachdem sie in der
Nacht durch ein schreckliches Traumgesicht gepeinigt
worden war, das bei ihr eine quälende Beunruhigung
zurückgelassen hatte. Vergebens bot der Arzt alle
Mittel auf, die Dame zu beruhigen; dies gelang ihm
erst, als er ihr versprach, einen von ihr geschriebenen
Brief dem König zu übergeben. ^ -»^.'*^>*-«*
In diesem Briefe wurde S. Majestät der
König Viktor Emanuel gebeten, der Stadt
Messina zur Hilfe zu kommen, welche von
einem furchtbaren Erdbeben bedroht sei.
,,Ich sehe," so heißt es indem Briefe, „sich Land
*) Zitiert nach den „Psychischen Studien", 36. Bd., 1909,
S. 78 ff.
129
und Meer vereinigen, um die schöne Stadt zu
verschlingen. Dieses entsetzliche Unglück
wird sich am 8., 18., oder 28. des Monats er-
eignen."
In der Überzeugung, daß er es mit einer Hallu^s
zinierenden zu tun habe, steckt der Arzt den Brief in
sein Portefeuille, und als er andern Tages so tat, als
habe er die Botschaft an den Souverän habe gelangen
lassen, zeigte sich die Kranke ruhiger und bereit, einige
Nahrung, sowie die verordnete Medizin zu sich zu
nehmen. Aber in der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember
wurde sie von einer heftigen hysterischen Krise be*
fallen. Sie wand sich, weinte, schrie und fragte
unaufhörlich, ob der König angeordnet habe, daß
Messina geräumt werde. x\uch eine weitere Krisis
in der Nacht vom 17. Dezember spielte sich höchst
dramatisch ab und eine solche vom 27. war derart
ernst, daß man in der Umgebung der Patientin
glaubte, ihre letzte Stunde sei gekommen. Sie lamen*
tierte und schüttelte sich vor Angst bis zum Abend
des 28. Alsdann verfiel sie in einen tiefen Schlaf . . .
Die Katastrophe hatte stattgefunden.
Dr. Sarti war im höchsten Grade betroffen über
die Richtigkeit der Prophezeiung seiner Kranken.
Die grauenvolle Brutalität, mit welcher die Vorschau
seiner Patientin in Erfüllung gegangen ist, hat bei
ihm jeden Zweifel für immer erstickt. Er bereitet
über diesen Fall eine Denkschrift für die Akademie
vor, und will seine Klientin den italienischen Auto^
ritäten auf dem Gebiete der Psychologie vorstellen.
Der fragliche Brief ist nachträglich dem König
übergeben worden, der mit dem größten Interesse
Kemmerich, Prophezeiungen 9
150
den Untersuchungen entgegen sieht, welche die Fa^
kultät bei der Prophetin anstellen wird.
Diese Mitteilung wurde zuerst im „Gil Blas"
am 20. Januar 1910 veröffentlicht. Das „Echo*' be*
merkt dazu: ,,Wenn der betreffende Brief wirklich
das enthält, was behauptet wird, die genauen Angaben
über das bevorstehende Unglück von Messina und
Reggio, über das Datum und die Art des Ereig*
nisses, so hätten wir ein überaus wertvolles Dokument
vor uns."
Aus später noch zu erörternden Gründen hätte
es nicht viel Wert, noch weitere vereinzelte Beispiele
zeitlichen Vorhersehens hier zusammen zu stellen.
Gewiß könnten wir noch recht viel des Interessanten
bieten, aber ein zwingender Beweis ist auf diesem
Wege für den hartnäckigen Zweifler kaum zu er^
bringen. Immerhin möchten wir der Überzeugung
Ausdruck geben, daß es nicht allzu schwer sein würde,
den Nachweis zu liefern, daß jedes oder doch
fast jedes bedeutende Ereignis der Welt*«
geschichte, besonders tragische Dinge, mehr
oder minder klar und genau von dazu be*
fähigten Personen vorhergesagt wurde.
Zum Schlüsse dieses fast allzulangen Kapitels
wollen wir noch einen Gewährsmann für den Glauben
an Telepathie anführen — denn er bekennt ausdrück«
lieh, kein bestimmtes Wissen davon zu haben — einen
Eideshclfer, dessen IntelHgenz und Wahrheitsliebe wohl
von niemand in Zweifel gezogen wirci: Goethe!
Bekannt ist Goethes Vision, die er in seiner
„Dichtung und Wahrheit" (3. Teil, 11. Buch) erzählt:
„In solchem Drang und Verwirrung konnte ich
131
doch nicht unterlassen, Friederiken noch einmal zu
sehen. Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung
mir nicht geblieben ist. Als ich ihr die Hand noch
vom Pferde reichte, standen ihr die Tränen in den
Augen, und mir war sehr übel zumute. Nun ritt
ich auf dem Fußpfade gegen Drusenheim, und da
überfiel mich eine der sonderbarsten Ahnungen. Ich
sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern
des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu
Pferde wieder entgegen kommen, und zwar in einem
Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau
mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum
aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderst
bar ist es jedoch, daß ich nach acht Jahren in dem
Kleide, das mir geträumt hatte und das ich nicht
aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug, mich auf
demselben Wege fand, um Friederiken noch einmal
zu besuchen. Es mag sich übrigens mit diesen Dingen,
wie es will, verhalten, das wunderliche Trugbild gab
mir in jenen Augenblicken des Scheidens einige Bt^
ruhigung."
Wie Goethe im übrigen den okkulten Phäno=j
menen gegenüber stand, ergibt sich aus folgendem
Passus aus seinen Wahlverwandtschaften. Bekannt
ist oder könnte doch sein, was er im elften Kapitel
des zweiten Teiles über die Wünschelrute erzählt.
Da dieses Phänomen aber seit zwei Jahren sogar von
der Fachwelt anerkannt zu werden beginnt, hat es
für uns weniger Interesse, als die andere Stelle, die
wie folgt lautet (2. Teil, 8. Kapitel):
,,Wenn sie (Ottilie) sich abends zur Ruhe gelegt
und im süßen Gefühl noch zwischen Schlaf und
9*
152
Wachen schwebte, schien es ihr, als wenn sie in einen
ganz hellen, doch mild erleuchteten Raum hinein*
blickte. In diesem sah sie Eduarden ganz deutlich,
und zwar nicht gekleidet, wie sie ihn sonst gesehen,
sondern im kriegerischen Anzug, jedesmal in einer
anderen Stellung, die aber vollkommen natürlich war
und nichts Phantastisches an sich hatte: stehend,
gehend, liegend, reitend. Die Gestalt, bis aufs kleinste
ausgemalt, bewegte sich willig vor ihr, ohne daß sie
das mindeste dazu tat, ohne daß sie wollte oder die
Einbildungskraft anstrengte. Manchmal sah sie ihn
auch umgeben, besonders von etwas Beweglichem,
das dunkler war, als der helle Grund, aber sie unters^
schied kaum Schattenbilder, die ihr zuweilen als
Menschen, als Pferde, als Bäume oder Gebirge vor*
kommen konnten. Gewöhnlich schlief sie über der
Erscheinung ein, und wenn sie nach einer ruhigen
Nacht morgens wieder erwachte, so war sie erquickt,
getröstet, sie fühlte sich überzeugt: Eduard lebe noch,
sie stehe mit ihm noch in dem innigsten Verhältnis.**
Es handelt sich hier unzweifelhaft um ein tele*
pathisches Phänomen. Mag Goethe nun Ähnliches
aus zuverlässiger Quelle erfahren, mag er es, wie seine
Drusenheimer Vision, selbst erlebt haben, eines ist
sicher: er hielt es für möglich, denn sonst hätte er
ganz gewiß nicht gewagt, in einer Zeit der rücksichts*
losesten Autklärung solche erstaunliche Begebenheiten
zu schildern.
Übrigens verleiht er seiner Ottilie in den ,,Wahl*
Verwandtschaften** (2. Teil, 11. Kapitel) noch eine
andere Fähigkeit, die dem Vorgefühl eines Witterungs*
wechseis, unter dem ja viele Leute leiden und das
133
Sliakespeare im Hamlet bereits in die Literatur ein*
Führt, verwandt zu sein scheint. Der Passus lautet:
„Ottilie, die uns begleitete, stand an zu folgen,
und bat sich auf dem Kahne dorthin begeben zu
dürfen. Ich setzte mich mit ihr ein und hatte meine
Freude an der Gewandtheit der schönen Schifferin.
Ich versicherte ihr, daß ich seit der Schweiz, wo auch
die reizendsten Mädchen die Stelle des Fährmanns
vertreten, nicht so angenehm sei über die Wellen
geschaukelt worden, konnte mich aber nicht enthalten
sie zu fragen, warum sie eigentlich abgelehnt, jenen
Seitenweg zu machen: denn wirklich war in ihrem
Ausweichen eine Art von ängstlicher Verlegenheit.
Wenn Sie mich nicht auslachen wollen, versetzte
sie freundlich, so kann ich Ihnen darüber wohl einige
Auskunft geben, obgleich selbst für mich dabei
ein Geheimnis obwaltet. Ich habe jenen Nebenweg
niemals betreten, ohne daß mich ein ganz eigener
Schauer überfallen hätte, den ich sonst nirgends
empfinde und den ich mir nicht zu erklären weiß.
Ich vermeide daher lieber mich einer solchen Emp^^
findung auszusetzen, um so mehr, als sich gleich
darauf ein Kopfweh an der linken Seite einstellt,
woran ich sonst auch manchmal leide.
Wir landeten, Ottilie unterhielt sich mit Ihnen,
und ich untersuchte indes die Stelle, die sie mir aus
der Ferne deutlich angegeben hatte. Aber wie groß
war meine Verwunderung, als ich eine sehr deutliche
Spur von Steinkohlen entdeckte, die mich überzeugt,
man würde bei einigem Nachgraben vielleicht ein
ergiebiges Lager in der Tiefe finden.*'
Goethe hatte selbst wiederholt telepathische Er*
154
lebnisse gehabt. Er sagt: „Unter Liebenden ist diese
magnetische Kraft besonders stark und wirkt sogar
in die Ferne. Ich habe in meinen Jünglings jähren
Fälle genug erlebt, wo mich auf einsamen Spazier:*
gangen ein mächtiges Verlangen nach einer Geliebten
überfiel, und wo ich so lange an sie dachte, bis sie
mir wirklich entgegen kam. Es wurde mir in meinem
Stübchen unleidlich, sagte sie; ich konnte mir nicht
mehr helfen, ich mußte hierher." Einen solchen Fall
erzählt Goethe ausführlich^). Das ist allerdings ein
räumliches Ferngefühl.
Die Gabe der Weissagung oder doch die der
Visionen — man erinnere sich des Drusenheimer
Falles — war in Goethes Familie heimisch. Man höre,
was er darüber in „Dichtung und Wahrheit" erzählt^):
„Was jedoch die Ehrfurcht, die wir für diesen
würdigen Greis (Großvater, der Schultheiß Johann
Wolfgang Textor) empfanden, bis zum Höchsten
steigerte, war die Überzeugung, daß derselbe die
Gabe der Weissagung besitze, besonders in Dingen,
die ihn selbst und sein Schicksal betrafen. Zwar ließ
er sich gegen niemand als gegen die Großmutter ent*
schieden und umständlich heraus; aber wir alle wußten
doch, daß er durch bedeutende Träume von dem,
was sich ereignen sollte, unterrichtet werde. So ver*
*) Vgl. Eckermann, Gespräche mit Goethe, III. S. 137—139.
Die ebenda wiedergegebene Erzählung , der Dichter habe das
Erdheben, das am 5. Februar 1783 Messina zerstörte, in Weimar
auf telepathischem Wege gespürt, ist nicht stichhaltig. Vgl.
k. Ilennig, Gartenlaube 1910, S. 758 (Nr. 36).
") 1. Teil, erstes Buch, Cottasche Ausgabe ed. Goedekc,
20. Bd.. S. 38 ff.
135
sicherte er z. B. seiner Gattin, zur Zeit als er noch
unter die jüngeren Ratsherren gehörte, daß er bei
der nächsten Vakanz auf der Schöftenbank zu der
erledigten Stelle gelangen würde. Und als wirklich
bald darauf einer der Schöffen, vom Schlage gerührt,
starb, verordnete er am Tage der Wahl und Kugelung
daf^ zu Hause im stillen alles zum Empfang der
Gäste und Gratulanten solle eingerichtet werden, und
die entscheidende goldene Kugel ward wirklich für
ihn gezogen. Den einfachen Traum, der ihn hiervon
belehrt, vertraute er seiner Gattin folgendermaßen:
Er habe sich in voller gewöhnlicher Ratsversammlung
gesehen, wo alles nach hergebrachter Weise vorge*
gangen. Auf einmal habe sich der nun verstorbene
Schöff von seinem Sitze erhoben, sei herabgestiegen
und habe ihm auf eine verbindliche Weise das Komp^
pliment gemacht; er möge den verlassenen Platz ein*
nehmen, und sei darauf zur Türe hinausgegangen.
Etwas Ähnliches begegnete, als der Schultheiß
mit dem Tode abging. Man zaudert in solchem
Falle nicht lange 'mit Besetzung dieser Stelle, weil
man immer zu fürchten hat, der Kaiser werde sein
altes Recht, einen Schultheißen zu bestellen, irgend
einmal wieder hervorrufen. Diesmal ward um Mitters=
nacht eine außerordentliche Sitzung auf den andern
Morgen durch den Gerichtsboten angesagt. Weil
diesem nun das Licht in der Laterne verlöschen
wollte, so erbat er sich ein Stümpfchen, um seinen
Weg weiter fortsetzen zu können. ,Gebt ihm ein
ganzes', sagte der Großvater zu den Frauen; ,er hat
ja doch die Mühe um meinetwillen.* Dieser Äußerung
entsprach auch der Erfolg: er wurde wirklich
156
Schultheiß; wobei der Umstand noch besonders
merkwürdig war, daß, obgleich sein Repräsentant bei
der Kugelung an der dritten und letzten Stelle zu
ziehen hatte, die zwei silbernen Kugeln zuerst heraus^
kamen und also die goldne für ihn auf dem Grunde
des Beutels liegen blieb.
Völlig prosaisch, einfach und ohne Spur von
Phantastischem oder Wundersamem waren auch
die übrigen der uns bekannt gewordnen Träume.
Femer erinnere ich mich, daß ich als Knabe unter
seinen Büchern und Schreibkalendern gestört und darin
unter andern auf Gärtnerei bezüglichen Anmerkungen
aufgezeichnet gefunden: , Heute nacht kam N. N. zu
mir und sagte Name und Offenbarung waren
in Chiffren geschrieben. Oder es stand auf gleiche
Weise: Heute nacht sah ich .... Das übrige war
wieder in Chiffren, bis auf die Verbindungss^ und
andere Worte, aus denen sich nichts abnehmen ließ.
Bemerkenswert bleibt es bei, daß Personen, welche
sonst keine Spur von Ahnungsvermögen zeigten, in
seiner Sphäre für den Augenblick die Fähigkeit er^
langten, daß sie von gewissen gleichzeitigen, obwohl
in der Entfernung vorgehenden Krankheits»« und
Todesereignissen durch sinnliche Wahrzeichen eine
Vorempfindung hatten. Aber auf keines seiner Kinder
und Enkel hat eine solche Gabe fortgeerbt; vielmehr
waren sie meistenteils rüstige Personen, lebensfroh
und nur aufs Wirkliche gestellt^)."
*) Vgl. auch den Aufsatz von A. P. Brumm, „Seltsames und
Mystisches aus der englischen Dichterwclt". ,, Sphinx'*, II. Bd.,
1886, S. 187 ff. Hier werden merkwürdige Dinge von W. Blake.
Thomas de Quincey. Shelley und Walter Scott erzählt.
137
Drittes Kapitel
Unsere Beweisführung
Einwände und deren Widerlegung
Wir haben in den beiden vorangehenden Kapiteln
eine ganze Reihe von Prophezeiungen angeführt und
schlössen mit der Bemerkung, daß wir trotzdem nicht
behaupten, schon einen zwingenden Beweis erbracht
zu haben.
Das bedarf einer eingehenden Begründung.
Gegen unser Material muß zunächst eingeworfen
werden, daß es sich zum Teil um Berichte handelt,
die erst veröffentlicht wurden, nachdem das vor^
hergesagte Ereignis auch eingetreten war. Da ist
die Vermutung möglich, die Zeugen hätten bewußt
oder unbewußt die Unwahrheit gesagt.
Daß Lügen, gerade wenn es sich um so Un*
gewöhnliches handelt, wie in unserer Untersuchung,
möglich sind, soll gewiß nicht bestritten werden.
Immerhin stammt eine ganze Reihe von Daten von
Leuten, an deren Wahrheitsliebe zu zweifeln schlechter^
dings nicht zulässig ist. Wer selbst auf seine Ehre
etwas hält, wird sehr vorsichtig sein, wenn er in Ver=:
158
suchung kommt, der eines anderen zu nahe zu treten.
Deshalb wollen wir den bewußten Schwindel ganz
ausschalten. Es kämen ja überhaupt nur ganz wenige
der hier mitgeteilten Phänomene für diese Art des
Zweifels in Frage.
Wie aber steht es mit dem andern Einwurf,
dem, die Gewährsmänner hätten unbewußt die Un*
Wahrheit gesagt?
Wer die Psychologie der Zeugenaussage kennt,
weiß, daß unser Gedächtnis uns oft in einer Weise
im Stich läßt, die wir nicht für möglich gehalten
hätten. In vieler Erinnerung wird noch das Experis*
ment sein, das der große Strafrechtslehrer Franz
von Liszt in seinem Seminar — also mit lauter ge*=
bildeten jungen Leuten — anstellte und das gänzlich
negativen Erfolg hatte. Es handelte sich damals um
den Bericht über ein von ihm im Hörsaal inszeniertes
Attentat, wobei die Zeugen keine Ahnung davon
hatten, daß es sich um eine abgekartete Sache handle.
Allerdings mag damals die große Erregung und die
Schnelligkeit, mit der sich die Vorgänge abspielten,
das Resultat ungünstig beeinflußt haben. Aber zu^
zugeben ist, daß unserem Gedächtnis, zumal wenn es
sich um Details handelt und besonders, wenn das
Erlebnis lange zurück liegt, nicht allzuviel Glauben
beizumessen ist.
Das liegt hauptsächlich in der Art begründet, in
der solche Gedächtnisbilder zustande kommen. Es
sind keineswegs, wie man annehmen sollte, lauter
Beobachtungen, Eindrücke, die wie die Bilder auf
der photographischen Platte festgehaUen und nach
Hause getragen werden. Vielmehr ist nur ein Bruch««
139
teil wirklich beobachtet, das andere aber kombiniert,
und zwar ganz unbewußt kombiniert.
Sehen wir jemanden in großer Erregung mit ge*
zücktem Dolch auf einen Dritten zustürzen und ihm
scheinbar die Waffe in den Körper bohren, dann
glauben wir auch sofort den Blutstrahl aufspritzen
zu sehen. Auch wenn gar nicht zugestochen wurde.
Unsere Phantasie, verbunden mit dem Kausalitäts:«
bedürfnis, mit der Erfahrung, daß bei Wunden auch
Blut fließt, spielte uns einen Streich.
Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.
Das Fazit, daß auch intelligente Menschen mit großer
Wahrheitsliebe objektiv unwahre Dinge berichten,
können wir schon jetzt ziehen. Die Vermutung bei
besonders merkwürdigen Phänomenen, wie denen,
um die es sich hier ausschließlich handelt, sei die
Phantasie doppelt geschäftig, liegt gewiß nahe.
Nun ist aber dagegen einzuwenden, daß es sich
fast regelmäßig um so Wichtiges — etwa den vor**
hergesagten Tod naher Angehöriger — handelt, daß
das Essentielle der Vorhersage behalten wird,
wenn auch Irrtümer in bezug auf die Neben^
umstände vorkommen mögen. Denn wenn wir
daran zweifeln wollen, daß jemand Fragen von sols»
eher Bedeutung in sein Gedächtnis eingraben kann,
dann müssen wir das Gedächtnis als Gehirntätigkeit
überhaupt streichen. Dann kann auch jemand ver*«
gessen, daß er irgendwo verwundet wurde oder daß
sein Vater starb. Auch hier führt eine Hyperkritik
zu absurden Konsequenzen.
Einräumen wollen wir aber, daß in allen jenen
Fällen, in denen die Vorhersage eines Ereignisses erst
140
nach dessen Eintreffen publiziert wird, der Leser das
Recht hat, an der Glaubwürdigkeit des oder der Zeug*
nisse zu zweifeln.
Deshalb schreibt der bekannte verstorbene Vor:«
kämpfer des Okkultismus, Freiherr von Du Frei,
ein Forscher, dessen Verdienste im vollen Umfange
auch erst die Zukunft anerkennen wird:
Solche Visionen müssen „vor dem Eintreffen in
einer Zeitschrift publiziert werden, selbst auf die
Gefahr hin , daß einzelne nicht eintreffen. — Das
bloße Deponieren im Archiv der betr. Gesellschaft
hätte höchstens für die Gesellschaftsmitglieder einen
Wert".
Nun ist aber eine große Anzahl der von uns
mitgeteilten Fälle von zeitlichem Fernsehen bereits
früher, ja oft schon Jahrhunderte vorher, im Druck
erschienen.
Was läßt sich gegen deren Beweiskraft anführen?
Da besteht zunächst der Einwand, diese Prophezeiungen
seien so unklar gefaßt, daß sie vielleicht auch auf
andere Ereignisse bezogen werden könnten. Er ist
häufig schwer oder gar nicht zu widerlegen.
Oder es heißt — und das ist einer der beliebtesten
Gegengründe — man erinnere sich zwar genau der
wenigen Vorhersagen, die zutrafen, vergesse aber
alle jene, die falsch gewesen seien.
Diese Erwägung besteht zweifellos zu Recht.
Es ist ja fabelhaft, wie viel und was für haarsträubend
dummes Zeug prophezeit wurde und noch wird.
In früheren Jahrhunderten gab man solche Elaborate
gern in den Druck, heute ist man darin — nicht zum
Schaden der Sache — zurückhaltender geworden.
141
Wenn wir nun auch ohne weiteres die Berechs«
tigung dieser Art des Zweifels zugeben und es uns
gar nicht einfällt, zu bestreiten, daß es geradezu ein
Wunder sein müßte, wenn unter den Myriaden von
Vorhersagen nicht diese oder jene wahr geworden
wäre, so bedarf doch anderseits diese Frage ein*
gehenderer Prüfung.
Es sind drei Möglichkeiten für die richtige
' Vorhersage von etwas Zukünftigem gegeben: 1. die
Berechnung. Sie ist Aufgabe der Wissenschaft und
wird es in späteren Zeiten noch mehr werden. Wenn
ein warmer Sommer im nördlichen Polargebiet war,
so daß große Massen von Eis schwimmend ins
Meer gelangten und nach Süden trieben, so hat die
metereologische Erfahrung ergeben, daß der nächste
Winter in unseren Breiten kalt werden wird.
Oder wenn ich als Bevölkerungsstatistiker aus
ungezählten Millionen von Einzelbeobachtungen zum
Resultat gelangt bin, daß auf 106 Knabengeburten
in Deutschland 100 Mädchengeburten treffen, dann
kann ich folgern, daß auch in künftigen Jahren das
Verhältnis ebenso sein wird. Wenn auch das so*
genannte Gesetz der großen Zahl nicht Notwendig*
keit fordert, so werde ich mich auch doch in praxi
nur um Dezimalen irren.
Oder wenn ich als Arzt die Erfahrungstatsache
kenne, daß ein Prießnitz*Umschlag um die Brust
katarrhalische Affektionen der Atmungsorgane gün*
stig beeinflußt, dann bin ich dazu berechtigt, bei
meinem Patienten dieses Mittel bei gleicher Er*
krankung mit einiger Aussicht auf Erfolg anzu*
wenden.
142
In allen diesen Fällen, im Versicherungswesen, in
der Politik, in der Volkswirtschaft und noch auf zahl^
reichen — um nicht zu sagen auf allen Gebieten —
ist der Sachverhalt der gleiche: Auf Grund einer
möglichst umfassenden Induktion gelangen wir zu
deduktiven Schlüssen, zu Erfahrungsregeln, ja zu
Gesetzen und wenden sie nun auf Zukünftiges an.
Hier handelt es sich, das ist klar, um Berechung,
Kalkulation oder Kombination.
Wenn auch nicht bestritten werden kann, daß
die obigen Berechnungen auch irrtümlich sein können,
daß ihr Umfang und Inhalt gewissen Beschränkungen
unterliegt, daß auch unvorhergesehene und unvorher*
sehbare Momente sie modifizieren mögen, so wird
es doch keinem Menschen einfallen, ein richtiges
Resultat auf Zufall zurückzuführen. Vielmehr wird
man geneigt sein, einen Mißerfolg damit zu erklären
bzw. zu beschönigen.
2. Können wir das Eintreffen der Vorhersage
eines zukünftigen Ereignisses dem Zufall zuschreiben.
Was ist Zufall?
„Zufall nennt man alles, was durch keine Gründe
und Ursachen bedingt zu sein scheint, also das
Unbeabsichtige und das Unerklärliche. Der Be*
griff des Zufalls ist jedoch ein bloß subjektiver;
denn an sich ist alles durch Ursachen bedingt. Aber
ein Kausalzusammenhang kann für uns unter Um*
ständen dunkel und unbekannt oder auch unbeab*
sichtigt sein. Zufällig heißt demnach dasjenige Er*
eignis, welches aus einem System von Ursachen
entspringt, das nicht in der Macht des Wollenden
oder der Kenntnis des Auffassenden liegt, z. B. eine
143
Folge, die weder von uns beabsichtigt, noch auch
vorhergesehen ist').**
Anders ausgedrückt: einen objektiven Zufall
gibt es nicht, da mit seiner Annahme die Kausalität
geleugnet würde. Es kann sich also — auch in allen
für uns in Frage kommenden Fällen — niemals darum
handeln, daß etwas keine Ursachen hat, sondern nur
darum, daß wir diese 1. nicht kennen; 2. nicht be*
weisen können, daß der Erfolg auch wirklich be^
absichtigt war.
Was das Nichtkennen betrifft, so schränkt sich
naturgemäß dessen Bereich mit dem Fortschreiten der
Wissenschaft immer mehr ein. Wir lernen mehr
Gesetze, die die Welt beherrschen, kennen und haben
deshalb immer weniger Veranlassung, unsere Unwissend
heit durch Gebrauch des Wortes Zufall zu beschönigen.
Hier tritt dann zuletzt bei genauer Ermittlung der
Anwendungsbedingungen die Notwendigkeit an seine
Stelle. So hat man vor noch gar nicht langer Zeit
das Gedankenlesen für ein zwar geschicktes aber
doch immerhin mehr oder minder zufälliges Erraten
der Gedanken anderer gehalten, bis wir nunmehr
positiv wissen, daß es Gedankenübertragung gibt").
^) Vgl. Fr. Kirchner und Carl Michaelis, Wörterbuch der
philosophischen Begriffe, 4, Aufl., Leipzig 1903, Artikel Zufall.
Ferner Windelband, Die Lehren vom Zufall, Berlin 1870. Übrigens
existiert keine stichhaltige Lehre vom Zufall, wenigstens nicht
vom absoluten, der dem Kausalitätsgesetz widerspricht. Mit dem
relativen operieren die Wahrscheinlichkeitsrechnung, sowie die
auf sie begründeten statistischen Methoden.
^) Ich hatte Gelegenheit, den Experimenten beizuwohnen,
die der italienische Gedankenleser Ernesto Bellini am 28. Januar 191 1
vor Ärzten in München mit sich vornehmen ließ. Danach
144
Genau ebenso verhielt es sich mit der Hypnose und
Suggestion, mit der Erprobung neuer Heilmittel
usw. usw. Etwas anders ist der Sachverhalt etwa
im folgenden Falle: A. geht an einem Hause in
demselben Augenblick vorbei, in dem ein Ziegel*
stein herabfällt und ihn tot schlägt. Daß A. zur
bestimmten Sekunde am Hause vorbei geht, ist
durchaus kein Zufall, sondern damit hinlänglich be*
gründet, daß er zu seinem Raseur will und kein
anderer Weg hinführt. Ebenso hat der Fall des
Ziegelsteines seine Ursache in einem Windstoß.
Wenn also für jede der beiden Tatsachenreihen, das
Vorbeigehen des A. und den Fall des Steines die
kausale Begründung gegeben ist, so fehlt sie doch
scheinbar für den Schnittpunkt, daß nämlich in der*
selben Sekunde der Stein fällt, in dem der Passant
vorbeikommt.
Letzten Endes handelt es sich aber auch hier um
ein Nichtwissen der Ursachen. Auch hier ist der
Zufall subjektiv. Ein Architekt wird die Schad*
haftigkeit des Daches bereits erkannt und vorher*
gesagt haben, daß ein Wind das Herabfallen von Ziegeln
bewirken werde. Ein Metereologe wird den Wind*
stoß vorhersehen, und die Zeit seines Eintreffens an
gedachter Stelle berechnen können. Er weiß aller*
dings so wenig wie der Architekt, ob gerade der be*
stimmte Windstoß einen Ziegel hinabschleudern wird.
Was man aber wissen kann, ist, daß das Dach durch
einen der nächsten beschädigt werden wird. Dadurch
läßt sich eine Wahrscheinlichkeitsrechnung mit sehr
kann es nicht mehr dem allergeringsten Zweitel unterliegen,
daß (icdankenübertragung existiert.
145
kleinem Divisor aufstellen. Was endlich den Passanten
betrifft, so war sein Vorbeikommen sehr leicht zu
berechnen. So merkwürdig hier der Zufall also auch
gespielt zu haben scheint, so läßt er sich doch in
eine Rechnung fassen, deren Divisor keineswegs sehr
groß zu sein braucht.
Schwierig ist oft im zweiten Fall der Nachweis,
ob ein Erfolg auch beabsichtigt war. Um diese Art
des Zufalles handelt es sich zumeist bei uns. Wie
jedes Medikament neben der Wirkung, um derent*
willen es verabreicht wird, auch — oft recht uner*
wünschte — Nebenwirkungen hat, so ist das mutatis
mutandis fast bei allem und jedem, was wir tun, der
Fall. Nur selten lassen sich alle Ursachen so be^^
herrschen, daß unbeabsichtigte Nebenwirkungen oder
Mißerfolge ausgeschlossen sind. So geht trotz der
großen Zuverlässigkeit unserer Post dann und wann
einmal ein Brief verloren; trotz der hohen Sicherheit
unseres Verkehrswesen verunglückt auch hie und da
ein Reisender; trotz der sorgfältigsten Herstellung
unserer Geschütze und Munition kommt es doch
bisweilen vor, daß ein Kanonenrohr platzt oder ein
Geschoß zur unrechten Zeit explodiert. Kurz: es
ereignet sich auch bei größter Genauigkeit in der
Anwendung der klar erkannten Gesetze doch dann
und wann ein unvorhergesehenes und selbstredend
unbeabsichtigtes Mißgeschick, das wir dann als (un^^
glücklichen) Zufall bezeichnen.
Je seltener ein solcher Zufall — so geheißen durch^^
aus nicht, weil er nicht kausal begründet wäre, kennen
wir doch oft die Ursache, etwa die gesprungene
Schiene bei der Eisenbahnkatastrophe, sondern weil
Kemraerich, Prophezeiungen 1 0
146
er unbeabsichtigt ist — nun eintritt, desto vollkommener
ist eine Institution, eine Technik usw. Je häufiger,
desto mangelhafter. Ja, es können Fälle eintreten,
wo das Unbeabsichtigte so häufig oder fast so häufig
ist, wie sein Gegenteil, wie wir das ja leider zu Be*
ginn der lenkbaren Luftschiffahrt erleben mußten.
Um nun zu bestimmen was Absicht, was „Zufall"
ist, bleibt uns nur der Weg der Wahrscheinlich*
keitsrechnung.
Wenn jemand mit der Bahn von München nach
Berlin reisend sein Ziel erreicht, wird es niemand
einfallen, hier von Zufall zu reden. Denn die Gründe
für das Gelingen der Reise sind bekannt, ebenso ist
die Ankunft beabsichtigt. Und doch läßt sich mit
Leichtigkeit eine Wahrscheinlichkeitsrechnung aufs»
stellen.
Aus der Statistik der deutschen Eisenbahnen für
das Rechnungsjahr 1900/1901 ergibt sich, daß ein
tötlicher Unfall auf 168 Millionen in der Eisenbahn
zurückgelegter Personenkilometer trifft. Nun beträgt
die Bahnstrecke München— Berlin 700 klm. Wir er*
halten also folgende Rechnung: Die Wahrscheinlich*
keit Berlin zu erreichen, verhält sich zu der tötlich
zu verunglückten wie 168 000000 : 700 = 240000.
Mit andern Worten: von 240000 Reisenden auf
der Strecke Berlin* München verunglückt einer tot*
lieh. Diese Wahrscheinlichkeit von 1 : 240000 ist
derart gering, daß das tödliche Unglück als sehr
seltener Zufall in praxi in die Kalkulation gar nicht
einbezogen wird.
Aber eine so hohe Wahrscheinlichkeitsquote ist
keineswegs erforderlich.
I
147
Von hundert dreißigjährigen Durchschnittsmännern
stirbt in Deutschland einer im Jahr, also Vi» im Monat,
^/gflo am Tag. Anders ausgedrückt: Der normale dreißig*
jährige deutsche Mann hat eine Wahrscheinlichkeit
von 1200 noch einen Monat, eine solche von 36000
noch ein Jahr zu leben.
Keinem Menschen wird es einfallen zu sagen: es
ist Zufall, wenn der dreißigjährige X. den kommenden
Monat, oder gar den kommenden Tag erlebt. Man
wird es vielmehr als Zufall bezeichnen, wenn das
Gegenteil eintritt.
Im bürgerlichen Leben ist also die Wahrschein*
lichkeit 1 : 100 schon groß, 1 : 1200 sehr groß, mit
der 1 : 36000 wird in der Praxis schon überhaupt
nicht mehr gerechnet.
Übertragen wir nun das Gesagte auf die Prophetie!
Wenn ein Astrolog jemandem sein Todesjahr
vorhersagt, so handelt es sich immer um eine Wahr*
scheinlichkeit geringer als 100, bei einem reiferen
Mann sogar geringer als 50 oder 25. Macht er also
genügend Horoskope, so wäre der Zufall immer zu
irren viel größer, als der mal das Richtige zu treffen.
Da wir nun in der Regel die Zahl der Horoskope
nicht kennen, da ferner der Tod ein Ereignis ist,
dessen Eintreffen absolut sicher ist und bei dem nur
der Zeitpunkt in gewissen mehr oder minder engen
Grenzen schwankt, so werden wir auf Grund der*
artiger Voraussagen niemals die Existenz einer über*
sinnlichen Prophetengabe, eines wirklichen zeitlichen
Fernsehens beweisen können.
Ganz ähnlich verhält es sich bei der Vorhersage
von Kriegen usw. Das alles sind Ereignisse, die im
10*
148
Leben eines Volkes schon so und so oft da waren
und deren Wiederholung ganz und gar nicht ver#
wunderlich ist. Die vierzigjährige Friedensperiode,
die Deutschland — von den überseeischen Expeditionen
abgesehen — jetzt genießt, ist schon anormal lang.
Wenn also der eine Seher für 1912, der andere für
1913, der dritte für 1914 usf. einen Krieg prophezeit,
wenn er die wenigen überhaupt in Frage kommenden
Gegner namhaft macht, so ist das glückliche Eintreffen
einer solchen Vorhersage ganz und gar nicht wunder*
bar und beweist nicht das Allergeringste für das Vor*
handensein seiner Sehergabe.
Dies ist auch der Grund, weshalb eine weitere
Häufung historischer Prophezeiungen, deren wir ja
eine ganze Reihe in den vorhergehenden Kapiteln
zusammentrugen, selbst in den Fällen, in denen ein
Zweifel daran, daß sie wirklich vorher verkündet
worden sind, ausgeschlossen ist, keinen Nutzen hätte.
Wir kämen höchstens in den Verdacht, Vollständigkeit
zu erstreben. Dieses Ideal aller Flachköpfe ist aber
ganz und gar nicht das unsrige. Denn was wir an*
streben, ist etwas ganz anderes.
Wir sagten oben, daß das richtige Eintreffen
eines vorhergesagten Ereignisses entweder eine Folge
der Berechnung oder des Zufalles sein kann. Ist
beides nicht der Fall, dann bleibt als
5. Möglichkeit nur mehr die, daß es sich hier
um eine uns nicht näher bekannte Ursache handelt,
die wir mit Sehergabe oder Prophetie bezeichnen.
Wenn wir also auch nur in einem einzigen
Fall den Nachweis erbringen können, daß ein
richtig vorhergesagtes Ereignis weder durch
149
Berechnung, noch durch Zufall eintrat, dann
ist damit die Existenz des zeitlichen Fern*
Sehens bewiesen. Demnach handelt es sich jetzt in
unserer Beweisführung, darum Berechnung und Zufall
auszuschalten.
Das ist nun viel leichter gesagt als getan. Denn
wenn es auch nicht schwer sein wird, die Berechnung
auszuschließen, so kann das für den Zufall nur dann
gelingen, wenn wir eine außerordentlich hohe Wahr*
scheinlichkeit zu berechnen in der Lage sind. Da
genügt keineswegs die Vorhersage des — sicheren —
Todes einer bestimmten Person, sei es auch für einen
bestimmten Tag. Beweiskräftig wäre das höchstens,
wenn wir alle übrigen Todesvorhersagen kennen
würden bzw. wüßten, daß keine andere existiert.
Das ist aber so gut wie ausgeschlossen, denn man
vergißt schnell falsche Prophezeiungen. Überdies
wäre selbst in diesem Falle der Koeffizient nur 36000
bei einem Dreißigjährigen, etwa ein Drittel so groß
bei einem Fünfzigjährigen. Das würde nicht ge*
nügen, den Zweifler zu überzeugen, mir wenigstens
nicht.
Noch viel weniger ist natürlich die Ankündigung
eines Krieges oder anderer Ereignisse mit geringerem
Nenner beweisend.
Wir müssen danach trachten, folgende Formel
zu erhalten:
w (Wahrscheinlichkeit, Zufall) = n (Zahl der
wirklichen Fälle) dividiert durch m (Zahl der mög*
liehen Fälle) = unendlich klein oder 0
also: w = =0.
00
150
Mathematisch genau wird sich dieses Resultat
nicht errechnen lassen, wohl aber können wir zu
einem Annäherungswert gelangen.
Stellen wir uns vor jemand werfe hundertmal
eine Münze auf, und zwar so, daß jedesmal das
Wappen nach oben kommt. Die Wahrscheinlichkeit
hierfür ist:
Tyiöö gemäß der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Nun ist aber 2^^^ mehr als 10^^ Quintillion. Darum
— sagt Grimsehl gegen die Mathematiker Marbe und
d'Alembert — weil eine so große Zahl von Würfen
von allen Menschen der Erde erst in 20 Billionen
Jahren ausgeführt werden können, kann die Wahr*
scheinlichkeitsrechnung hier 0 ansetzen^).
Wenn schon die reine Mathematik bei einem so
ungeheuren Devisor aus praktischen Erwägungen zum
Resultat 0 gelangt, so können wir das um so eher.
Nur muß allerdings auch unser Divisor außerordent*
lieh groß sein.
Da wir zu ihm auf dem oben eingeschlagenen
Wege nicht gelangen werden, müssen wir es auf einem
andern versuchen.
Vor allem aber muß es unsere Aufgabe sein,
festzustellen, wieviel Vorhersagen überhaupt
existieren. Das ist in dieser Fassung eine unmög*
liehe Forderung. Wohl aber läßt sich der gleiche
Erfolg dadurch erzielen, daß wir das ganze Material
eines Sehers betrachten und die eingetroffenen Vor*
0 Vgl. Constantin Gutbcrlet, Logik und Erkenntnistheorie,
4. Autt., Münster 1909. S. 177.
m
hersagen zu den nicht eingetroffenen in ein Verhält*
nis bringen.
Setzen wir voraus, von einem Seher existierten
fünf Prophezeiungen, von denen drei eintrafen, zwei
"ausblieben, so spricht die Wahrscheinlichkeit dafür.
daß er etwas Prophetengabe besaß. Trafen alle ein,
so werden wir kaum zögern, ihn für einen richtigen,
traf keine oder nur zwei ein, aber für einen falschen
Propheten zu halten.
Diese Wahrscheinlichkeitsrechnung, so einleuch^
tend sie scheint, ist trotzdem falsch. Denn sie
operiert mit ungleichwertigen, inkommensurablen
Größen.
Das bedarf einer näheren Ausführung, da es von
außerordentUcher Wichtigkeit ist.
Wenn jemand „prophezeit*', er werde aus einem
Kartenspiel rot ziehen, so ist die Wahrscheinlichkeit
des richtigen Erratens ebenso groß, wie die des Irrens,
da das Spiel genau ebenso viel rote, wie schwarze
Karten aufweist.
Diese Wahrscheinlichkeit sinkt auf \/^, wenn es
sich darum handelt, eine Karo zu treffen, auf ein Vs
beim König und wenn jemand sich gar anheischig
macht, den Karokönig zu ziehen, so hat er, bei einem
Spiel von 32 Karten, nur V32 Wahrscheinlichkeiten.
Noch viel ungünstiger sind natürHch die Chancen,
wenn jemand in einer Lotterie mit 100000 Losen das
Gewinnlos vorher richtig angeben will. Hier hat er
nur ^/looooo WahrscheinUchkeit. Sollte das jemand ge=»
lingen — angenommen es existiert überhaupt nur eine
derartige Vorhersage, denn wenn es deren viele gibt,
dann ist die Chance Viooooo multipliziert mit allen
l
152
anderen Vorhersagen — so werden wir kaum zögern
ihm Sehergabe zuzuerkennen.
In allen den genannten Beispielen war die Zahl
der Möglichkeiten bekannt. Wir wußten genau, daß
das vorhergesagte Ereignis unbedingt eintreffen muß.
Fraglich bleibt eben nur, ob es so eintrifft, wie der
Prophet es vorhersagt.
Besser ausgedrückt: Wir wußten genau, daß eines
der hunderttausend Lose mit dem großen Treffer ge«»
zogen werden mußte. Es fragte sich nur, ob die
vorher bezeichnete Nummer richtig war.
Ganz anders verhält es sich, wenn ein vorher*
gesagtes Ereignis eintreffen oder auch ausbleiben kann.
Angenommen, ich bestimme jemandes Todestag.
Daß er sterben wird, ist ganz sicher. Irren kann ich
nur bezüglich des Datums. Wie aber, wenn ich jemand
ankündige, daß er eine Reise um die Erde machen
wird — was nichts weniger als notwendig ist — und
den Tag der Abreise und Rückkehr richtig angebe?
Oder wenn ich vorhersage, daß jemand an einem
bestimmten Tage durch einen bestimmten Unfall ums
Leben kommt?
Oder — um den Divisor ins Ungeheure wachsen
zu lassen — daß ihn an einem bestimmten Tage mit
einem bezeichneten Mordinstrument ein Mann um*
bringen wird, dessen Namen ich richtig nenne.
Hier handelte es sich um ungezählte Millionen oder
MilHardcn von Irrtumsmöglichkeiten, die der einen
einzigen des richtigen Vorhcrsagcns gegenüber stehen.
Oder wenn ich gar ein zukünftiges Parlament
namentHch und richtig angebe?
Das lazit dieser Erwägung ist klar: Der innere
153
Wert der Vorhersagen kann schwanken zwischen 1:2
(rote Karte) und 1 : X Milliarden (letzter Fall). Wenn
wir daher sagen: dieser Prophet ist jenem überlegen,
weil unter fünf Vorhersagen bei ersterem vier, bei
letzterem nur drei eintrafen, während ein dritter über?
haupt keine prophetische Gabe besitze, denn von
seinen fünf Vorhersagen sind nur zwei eingetroffen,
also weniger als das arithmetische Mittel, so begehen
wir damit eine ganz riesige Gedankenlosigkeit. Es
ist gerade so, als wenn jemand Königreiche und
Sandkörner als gleichwertige Größen in eine Rech*
nung einsetzen würde, etwa weil beide Ausdehnung
besitzen.
So evident das Gesagte ist, so schwer verstand*
lieh mag manchem das Folgende scheinen.
Einer der beliebtesten Einwände gegen die Pro*
phetie ist nämlich der, daß der Besitzer der Propheten?
gäbe niemals irren dürfe. Man wendet ganz land?
läufig ein: X mag ja so und so oft die Zukunft richtig
vorhergesagt haben; daß es sich hierbei aber nicht
um Prophetie, sondern um Berechnung oder Zufall
handelt, geht daraus hervor, daß er auch so und so
oft irrte.
Das ist nun ein Denkfehler, weil man über eine
noch völlig unbekannte Naturkraft etwas Positives
aussagen will: nämlich daß diese Kraft jederzeit
und in vollem Umfange zur Verfügung des mit ihr
Begabten sein muß.
Wir kennen die Funktionen und Leistungen unserer
Gewehre und Geschütze ganz genau und doch fällt es
keinem Verständigen ein zu sagen : das ist alles Plunder,
denn mit dem gleichen Gewehr, mit dem getroffen wird,
154
wird auch gefehlt. Vielmehr wissen wir, daß auch
ein guter Schütze fehlen kann, ja wir wissen, daß im
Feldzuge auf hundert abgegebene Schüsse nur ein
einziger Treffer kommt. Und endlich ist uns genau
bekannt, daß auch ein tadellos abgegebener Schuß
aus einem Idealgewehr fehlen kann, ja nur durch
Zufall überhaupt trifft, wenn nämlich der Streuungs*
kegel größer ist, als das Ziel.
Statt also zu sagen: es gibt keine Prophetie, weil
es auch falsche Prophezeiungen gibt — auf diese
Formel gebracht, ist jedermann der Paralogismus so*
fort klar — , muß es Aufgabe der Wissenschaft sein,
festzustellen, unter welchen Bedingungen diese
Kraft wirksam wird und den Streuungskegel bei
ihr zu bestimmen.
Indem wir uns vorbehalten, im weiteren Verlaufe
unserer Untersuchung darauf zurückzukommen und
vielleicht einiges zur Klärung der Frage beisteuern
werden, wollen wir nunmehr den weiteren Gang
unserer Beweisführung näher präzisieren.
Wir wollen den Nachweis liefern, daß es ein
wirkliches zeitliches Fernsehen, echte Prophetie, gibt.
Das kann uns nur dadurch gelingen, daß wir
nachweisen, die richtige Vorhersage irgendwelcher
Ereignisse sei weder auf Berechnung, noch auf Zu*
fall zurückzuführen.
Die Ausschaltung der Berechnung ist sehr ein*
fach, die des Zufalls überaus schwer und nur möglich
1. durch größtmögliche Festlegung des Materiales.
2. Durch Errechnung eines möglichst hohen
Divisors, so daß sich das Resultat dem Werte Null
nähert.
155
Während wir den zweiten, bei weitem schwierigeren
Teil des Beweises für die Schlußkapitel aufsparen,
beschränken wir uns in den folgenden auf den ersten,
die Festlegung des Materiales.
Wie schon gesagt, ist es unmöglich, sämtliche
umlaufende Prophezeiungen zu sammeln und in Hin*
blick auf die falschen und richtigen statistisch zu
verarbeiten. Wir würden damit auch insofern wenig
gewinnen, als gewisse Vorhersage — keineswegs alle —
ungleichwertig sind, was ein rein äußerlich zahlen^
mäßiges Erfassen ausschließt.
Da es aber eine große Fülle von Vorhersagen
gibt, die sich wiedersprechen, so daß entweder die
eine oder die andere richtig sein muß; da ferner eine
stattliche Reihe so beschaffen ist, daß die Wahr*
scheinlichkeit des Irrens nur gering ist — etwa bei
Vorhersage eines Krieges für ein bestimmtes Jahr — ,
so ist eine gewisse Sichtung und Festlegung des
Materiales keineswegs unnütz. Liegt es doch auf
der Hand, daß es für die Beweisführung einen großen
Unterschied bedeutet, ob aus ungezählten Millionen
von Prophetien mal eine mit einem vielleicht höchst
verblüffenden Inhalt eintrifft, oder ob dies bei ein
und demselben Seher der Fall ist, womöglich mit
mehreren oder gar allen Vorhersagen.
Deshalb soll es nun unsere nächste Aufgabe
sein, möglichst das ganze prophetische Material
einzelner Seher nachstehend zu sammeln und kritisch
zu beleuchten.
156
1) Jetzo will ich, Lehnin, dir sorgsam singen die
Zukunft'),
Die mir gezeigt der Herr, der alles einst hat ge*
schaffen.
Denn obschon du erglänzest im hellen Licht, wie
die Sonne,
Und der Andacht allein dein ganzes Leben jetzt
widmest,
5) Reichtum auch und der Segen des friedlichen
Daseins dir zuströmt:
So wird doch kommen die Zeit, die dich nicht
erschaut, wie du jetzt bist,
') Übersetzt in Anlehnung an Wilhelm Mein hold. Die
I.ehninsthe Weissagung. Neuausgabe von Paul Majunke, Regens»
157
Viertes Kapitel
Die lehninsche Weissagung
I. Der Text
Um 1300 soll ein Abt Hermann des Cisterzienseri^
klosters Lehnin in der Mark folgende Prophezeiung
über die Schicksale des Brandenburgischen Hauses
verfaßt haben:
1) Nunc tibi cum cura, Lehnin! cano fata futura
Quae mihi monstravit Dominus, qui cuncta creavit;
Nam licet insigni sicut sol splendeas igni,
Et vitam totam nunc degas summe devotam,
5) Abundentque rite tranquillae commoda vitae:
Tempus erit tandem, quod te non cernet eandem,
bürg 1896, S. 156 ff. Die Anmerkungen sind zum Teil Meinhold
(S. 172—234) entnommen, zum Teil M. W. Heffter, Die Ge?
schichte des Klosters Lehnin, Brandenburg 1851, S. 95 ff.
158
Nein, kaum etwas von dir, ja richtig gesagt,
vielmehr gar nichts.
Allzeit hat das Geschlecht dich geliebt, das einst
dich begründet^).
Sinkt es dahin, fällst auch du, und bleibst nicht
liebwerte Mutter.
10) Und jetzt naht sich ohne Verzug die traurige
Stunde,
Da Ottos Geschlecht, die Zierde unserer Gegend,
Durch schweres Schicksal dahinsinkt, da Leibes««
erben nicht da sind.
Und dann fällst du zuerst, doch noch nicht
fällst du am tiefsten.
Unterdes wird die Mark durch schreckliche Drang*
sal geängstigt.
15) Denn der Ottonen Haus wird werden die Höhle
des Löwen ^).
Und verstoßen wird sein, wer echtem Blute ent*
sproßte.
Dann dringen Fremdlinge vor bis zum Dache
des Klosters Chorin ^).
*) Lehnin wurde im Jahre 1180 vom Markgrafen Otto I.
aus dem Hause der Askanier, dem Vater Albrechts des Bären,
begründet. Das Haus ging 1313 unter, tatsächlich sehr schnell
(V. 10), da Leutinger (Topograph. March. Tom. II, Opera 1119
nov. edit.) erzählt, daß neunzehn Fürsten aus diesem Stamme
innerhalb zweier Jahre gestorben seien. Der letzte war Waldemar.
') Die „Höhle der Löwen**, da sowohl die Witteisbacher,
die von 1323—1373 über die Mark herrschten, als auch die
Luxemburger, von 1373—1415 Herren der Mark, den Löwen im
Wappen führen. Der 16. Vers bezieht sich auf den sogenannten
falschen Waldemar, der 1319 die Leiche eines fremden Mannes
als die seinige hatte begraben lassen und nach Jerusalem pilgerte.
Den nach 28 Jahren Zurückgekehrten erkannte fast das ganze
159
Immo vix uUam, aut, si bene dixero, nullam.
Quae te fundavit gcns, haec te semper amavit.
Hac pereunte, peris, nee mater amabilis eris.
10) Et nunc, absque mora, propinquat flebilis hora,
Qua stirps Othonis, nostrae decus regionis,
Magno ruit fato, nullo superstite nato;
Tuncque cadis primum, sed nondum venis ad
imum.
Interea diris angetur Marchia miris.
15) Nam domus Ottonum fiet spelunca Leonum.
Ac erit extrusus vero de sanguine fusus;
Quando peregrini venient ad claustra Chorini,
Land an, auch Kaiser Karl IV., der ihn am 3. Oktober 1348
feierlich zum zweiten Male mit allen Landen, die er früher bes
sessen hatte, belehnte. Da der junge Ludwig dagegen sich auf*
lehnte, entbrannte ein vierjähriger Kampf, bis sich Waldemar
nach Dessau zurückzog.
^) Bezieht sich vielleicht auf den Einfall der Polen und
Littauer in die Mark 1326. Ob Chorin, ein um 1272 angelegtes
Tochterkloster von Lehnin, dabei berührt wurde, läßt sich nicht
feststellen. Meinhold glaubt dagegen, die „Fremdlinge" seien
Karl IV., der mit seinen Söhnen Wenzel und Sigismund 1374
nach Chorin kam, und die in Bruderzwist geratenen Wittelss
bacher Otto, Stephan und Friedrich, drei Brüder gleich den
drei Häuptern des Cerberus, bändigte, indem er seinem Schwieger*
söhn Otto die Mark für 200000 Dukaten abkaufte.
160
Des Kaisers List aber bald beseitigt den höllischen
(des Cerberus) Hochmut.
Doch wird wenig die Mark sich freuen des
sicheren Schutzes,
20) Denn auf anderer Bahn wird wandeln der Löwen*
könig.
Nicht wird sehen das Land die wahren Herrn
und Gebieter.
Alles werden Regenten verwirren und Schaden
ihm machen;
Quälen wird allerwärts der reiche Adel die
Bürger,
Und berauben den Klerus, ohne irgendwie Aus*
wähl zu treffen.
25) Und werden tun alsdann, was man tat zu den
Zeiten des Heilands.
Und vieler Leiber verkaufen, was gegen den
göttlichen Willen').
Daß dir Mark nicht völlig ein Herrscher fehle,
so steigst du,
Durch zwei Burgen berühmt, empor aus niederer
Stellung,
Zündest die Kriegsfackel an, da dein Name doch
Friede bedeutet.
30) Während die Wölfe du tötest, zerschneidest das
Herz du den Schafen.
Wahrheit künde ich dir: dein Stamm von sehr
langer Zukunft,
Wird mit schwacher Gewalt nur die heimischen
Gaue beherrschen,
^) Da Karl die Mark bald vcrlicl^, Si^ismund sie gar an
Jobst von Mähren, der sie schamlos ausbeutete, verptändete,
161
Cerbcrcos fastus mox tollet Cacsaris astus.
Sed parum tuto gaudebit Marchia scuto.
20) Regalis leo rursum tendit ad altera cursum,
Nee dominos veros haec terra videbit et heros.
Omnia turbabunt rectores, damnaque dabunt
Nobilitas dives vexabit undique cives,
Raptabit clerum nullo discrimine rerum:
25) Et facient isti, quod factum tempore Christi.
Corpora multorum vendentur contra decorum.
Ne penitus desit tibi, qui, mea Marchia, praesit.
Ex humili surgis, binis nunc inclyte burgis,
Accendisque facem jactando nomine pacem,
30) Dumque lupos necas, ovibus praecordia secas.
Dico tibi verum, tua stirps longaeva dierum
Imperiis parvis patriis dominabitur arvis,
der Adel (Quitzow, Jagow, Bredow usw.) sein Unwesen trieb,
so ist das düstere Bild historisch.
Kcmmerich, Prophezeiungen 11
162
Bis zu Boden gestreckt, die bisher mit Ehren
bekleidet,
Städte verwüsteten und die Herren am Herrschen
gehindert^).
35) Wer dem Vater jetzt folgt, der nimmt dem Bruder
sein Vorrecht,
Aber kein Testament macht Recht, was wider
das Recht ist.
(oder: Nicht wird machen das Grab, daß Unrecht
für Recht wird geachtet)
Ihm von mancherlei Krieg und Schicksalsschlägen
ermüdet,
Folgt bald zur Zeit des Tods der tapfere Helden*
bruder").
Tapfer ist dieser gewiß, doch auch der eitelsten einer.
40) Während er denkt an den Berg, kann kaum er
besteigen die Brücke.
Schaut nur, er schärfet das Schwert! Weh euch,
ihr armen Lehniner!
Wie will schonen der Brüder, der die Väter sinnt
zu vernichten?^)
*) V. 27—34 betreffen Friedrich I. von Hohenzollern, seit
1415 Markgraf von Brandenburg (f 1440), der durch Unter?
werfung des Adels (Wölfe) natürlich auch die Untertanen (Schafe),
wenigstens vorübergehend, schädigte. Ob Meinhold (S. 182) das
Richtige trifft, wenn er longaeva dierum adverbaliter auffassend,
übersetzt: ,,dein Stamm wird nach langen Zeiten mit geringer
Gewalt die väterlichen Fluren beherrschen", als Vorahnung der
Konstitution des 19. Jahrhunderts, lassen wir dahingestellt.
Grammatikalisch dürfte diese Übersetzung zulässig sein.
'') Nach dem Recht der Frstgeburt wäre Friedrichs Nach?
folger sein Sohn Johann der Alchymist gewesen. Friedrich aber
bestimmte ihn, zugunsten des tapferen Friedrich II. zu verzichten.
,,Frmüdet" durch immerwährende Kriege zog er sich aut die
^ 163
Donec prostrati tucrint, qui tunc honorati
Urbes vastabant, dominos regnare vetabant.
35) Succedens patri tollet privilegia fratri,
Nee faciet testum (andere Lesart: bustum) non
justum credere justum.
Defesso bellis variis, sortisque procellis,
Mox frater fortis succedit tempore mortis,
Fortis et ille quidem, sed vir vanissimus idem.
40) Dum cogitat montem, poterit vix scandere pontem.
En acuit enses! Miseri vos, o Lehninensesl
Quid curet fratres, qui vult exscindere patres?
Plassenburg zurück, nachdem er seinem jüngeren Bruder Albrecht
die Regierung übergeben hatte. Er starb am 11. Februar 1471.
Die Lesart bustum (Grab) könnte als Anspielung darauf gedeutet
werden, daß Friedrich IL und Johann im gleichen Kloster Heils*
bronn bestattet wurden. (Vers 35—38.)
») Albrecht Achilles folgte „zur Zeit des Todes" - 1472
war eine heftige Pest — seinem Bruder. Seine Fehden gegen
Nürnberg (,,den Berg") sind bekannt. Er konnte kaum das
kleine Heersbrück (,,die Brücke") erobern. Vielleicht ist hier
auch eine Anspielung auf seine Niederlage bei Brück an der
Rednitz gemacht. Er war einer der prunkliebendsten Fürsten
seiner Zeit. Lehnin hat er nichts getan, wohl aber mit zwei
Bischöfen, dem von Würzburg und dem von Bamberg, in Fehde
gelegen. Er starb 1486. (Vers 39-42.)
11*
164
Wer ihm folgt, der versteht durch Künste den
Mars zu verspotten
Und weissaget den Söhnen der Zukunft reichUchen
Segen;
45) Solange man dessen gedenkt, ist riesiges Glück
im entstehen.
Gleiches Glückslos w^ird ja seinen Söhnen zuteil^).
Doch wird tragen ein Weib dann traurige Pest
in die Lande.
Dieses Weib durchseucht vom Gifte der neuen
Schlange.
Gar bis zum elften Glied wird dauern das Gift
in dem Stammbaum'-).
50) Nun wird der, oh Lehnin, der dich maßlos hasset,
hervorgehn :
Der dich wie ein Messer zerteilt, ein gottloser,
ehbrechender Lüstling!
*) Johannes Cicero, Freund der schönen Künste und sehr
beredt. Er soll durch seine Rednergabe die Versöhnung des
römischen Königs Matthias mit den Königen Kasimir von Polen
und Wladislaw von Böhmen vermittelt haben. Kurz vor seinem
Tode (1499) ermahnte er seine Söhne, guttätig, gottesfürchtig,
gerecht und treue Stützen ihrer Untertanen zu sein, denn — so
heißt es am Schlüsse des noch erhaltenen Briefes: ,,lebt und
regiert ihr gerecht, so werden euch die Guten lieben, und die
Bösen fürchten, und unsterblicher Ruhm wird euer Teil werden."
Das ging in Erfüllung, da beide Söhne Kurfürsten wurden:
Joachim von Brandenburg und Albert Erzbischof von Mainz.
(Vers 43-46.)
^) Gemeint ist die Kurfürstin Elisabeth, Gemahlin Joa*
chims I., Tochter Königs Johann von Dänemark, die der Kctor«
mation (,, traurige Pest") zuneigte. Tatsächlich dauert das ,,Gift'*l
schon länger als 11 Generationen, denn folgende Hohenzollcrn
sind protestantisch gewesen bzw. sind es noch heute: Johann!
165
Alter ah hoc martern seit ludiHcare per artem,
Auspicium natis hie praebet felicitatis;
45) Quod dum servatur, ingens Fortuna paratur.
Hujus erunt nati eontormi sorte beati.
Inferet at tristem patriae tunc foemina pestem,
Foemina, serpentis tabe contacta recentis.
Hoc et ad undenum durabit stemma venenum.
50) Et nunc is prodit, qui te, Lehnin! nimis odit:
Dividit ut culter, atheus, scortator, adulter!
Georg, Joachim Friedrich, Johann Sigismund, Georg Wilhelm,
Friedrich Wilhelm (der Große Kurfürst), Friedrich I., Friedrich
Wilhelm I., Friedrich der Große, Friedrich Wilhelm IL, Friedrich
Wilhelm III., Friedrich Wilhelm IV. (als elfter!). Wilhelm L,
Friedrich III. und Wilhelm II, Bis heute also 14 Generationen.
Aber selbst wenn wir die Kinderlosen Friedrich den Großen
und Friedrich Wilhelm IV., weil genau genommen keinen
Stammbaum (Stemma) bildend, streichen, sind es bereits 12 Gene*
rationen. Stimmt also diese Prophezeiung auch nicht wörtlich,
so ist sie doch richtig hinsichtlich der langen Reihe protestan*
tischer Herrscher. Diese ließ sich um so weniger voraussehen,
als inzwischen das Glaubensbekenntnis der deutschen Herrscher*
familien stark gewechselt hat. Man denke an die protestan«
tischen pfälzischen Witteisbacher, deren Nachkommen heute als
katholische Könige herrschen, ferner an den Glaubenswechsel
im Königreich Sachsen, den bevorstehenden in Württemberg usw.
(Vers 46-49.)
166
Er verwüstet die Kirche, versteigert die geistlichen
Güter.
Geh von dannen, mein Volk! kein Schützer wird
dir verbleiben,
Bis die Stunde dir schlägt, die das Verlorne
zurückbringt^).
55) Des Wahnsinnigen Sohn billigt das Treiben des
Vaters ;
Gänzlich ohne Verstand, beugt er sich dem Willen
des Pöbels;
Weil er nicht strenge genug, nennt ihn man den
Besten der Helden.
Er darf aus seinem Geschlecht einen sehn, der
nicht ist, wie er selber,
(oder: Er darf aus seinem Geschlecht fünf sehn,
wie er selber geraten)
Und in dem Todesjahr an ehrbarem Orte ver«;
scheiden'^).
60) Fordern wird nun die Herrschaft des Volks, der
städtisch Geborne
(Meinhold übersetzt : Hierauf erklärt sein Sohn in
einer Stadt sich zum Bischof).
Hegend mit Furcht sein Kind, das andere hegen
mit Hoffnung.
Was er fürchtet ist dunkel, doch sicher wird es
geschehen^). —
Neu wird bald der Dinge Gestalt, da der Herr
es gestattet!
') Joachim II. trat mit seinem Lande dem Protestantismus
bei, hob 1542 die Klöster, auch Lehnin, aut. brach den seinem
Vater ^'cleisteten Kid, dem Katholizismus treu zu bleiben, und
führte ein lockeres Leben. Lr starb 1571. (Vers 50—54.)
167
Ecclesiam vastat, bona rcli^iosa subhastat.
Ite, meus populus! protector est tibi nullus,
Hora donec veniet, qua restitutio fiet.
55) Filius amentis probat instituta parentis;
Insipiens totus, tarnen audit vulgo devotus;
Nee sat severus, hinc dicitur optimus herus.
Huic datur ex genere, qui non (andere Lesart:
Quinos) qualis ipse, videre,
Et anno funesto vitarn loco linquit honesto.
60) Postulat hinc turbae praeponi natus in urbe.
Spe caeteri sobolem; fovet hie formidine prolem.
Quod timet obscurum: certe tarnen, ecce, fu:*
turum. —
Forma rerum nova mox fit, patiente Jehova!
*) Johann Georg setzte die Reformation fort, befehdete
die Calvinisten und war schwach. Er starb im Pestjahr 1598
in seinem prächtigen Schlol^ zu Köln an der Spree. (Vers 55—59.)
^) Joachim Friedrich war der erste in Berlin geborene
Kurfürst, ein eifriger Anhänger des Luthertums, der, mit Recht,
168
Fehler an tausend hat er, dessen Leben so kurz ist,
65) Vieles verwirrt er durch seinen Befehl, noch mehr
durch sein Schlagen,
Doch was durch seine Befehle sich hat zum
Schlechten gestaltet.
Kann, o glaube es mir, durchs Schicksal zum
Guten sich wandeln^).
Markgraf wird nun wieder nach seinem Vater
der Sohn sein.
Viele läßt straflos er leben gemäß seiner Geistes*
richtung.
70) Während zu viel er vertraut, frißt der Wolf
ihm die arme Herde,
Und der schamlose Knecht folgt bald im Tode
dem Herren^).
Nunmehr kommen heran, die nach drei Burgen
sich nennen.
Und ein großer Fürst läßt wachsen den Staat in
die Breite '^).
Sicherheit seinem Volk schafft die Kraft des
tücht'gen Regenten:
den Übertritt seines Sohnes zum verhaßten Calvinismus be*
fürchtete. Er starb 1608. (Vers 60-62.)
') Joachim Sigismund trat zum Calvinismus über (eine
Erfüllung des Vers 58) und verursachte durch sein dahingehen*
des Edikt viel Verstimmung, mehr aber noch durch die Ohr*
feige, die er 1613 dem PfalzgraFcn von Neuburg in Wesel bei
der Tafel gab. Der Prophet hält (Vers 66) den Calvinismus
für noch schlechter als das Luthertum. Der Kurfürst konnte
seine Ansprüche auf das Jülischc Erbe nicht voll durchsetzen
und litt unter der Übermacht der Städte. Er starb 1620. (Vers
63-67.)
*) Georg Wilhelm] war ein schwacher Eürst, unter dessen
zwischen den Schweden und dem Kaiser schwankenden Regie*
169
Mille scatct naevis, cujus duratio brevis.
65) Multa per edictum, sed turbans plura per ictum.
Quae tarnen in pejus mutantur jussibus ejus,
In melius fato converti posse putato.
Post patrem natus princeps erit Marchionatus,
Ingenio nuUos non vivere sinit inultos.
70) Dum nimium credit, miserum pecus lupus edit,
Et sequitur servus domini mox fata protervus.
Tunc veniunt, quibus de burgis nomina tribus.
Et crescit latus sub magno principe Status,
Securitas gentis fortitudo Regentis:
rung das Land durch den Dreißigjährigen Krieg schwer litt.
Sein Vertrauen zum allmächtigen Grafen Adam von Schwarzen?
berg, dem österreichischen Gesandten am Berliner Hof, schädigte
das Land. Der Kurfürst starb am 21. November 1690, schon
3V2 Monate später Schwarzenberg (4. März 1691), der allerdings
nicht sein Diener war. ,, Schamlos" wird er wohl genannt, weil
er Gustav Adolf nicht energisch begegnete. (Vers 68—71.)
^) Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, in der Prophe?
zeiung interessanterweise ,,groß" genannt, hat tatsächlich sein
Land bedeutend vergrößert, nämlich um etwa 30000 qkm. Die
dritte Burg (Nürnberg, Brandenburg) wäre das im Westfälischen
Frieden zu Preußen geschlagene Magdeburg. Der Große Kurfürst
starb 1688. (Vers 72-73.)
170
75) Doch nichts nützt es ihm, wenn die Klugheit
schlafen gegangen^).
Wer ihm nachfolgen wird, folgt nicht den Spuren
des Vaters.
Betet, ihr Brüder, und spart auch nicht die Tränen,
ihr Mütter!
Täuschung ist ja sein Name, der frohe Regierung
verheißet.
Nichts bleibt vom Guten zurück: ziehet aus, ihr
alten Bewohner!
80) Und entseelt liegt er da, zerbrochen von außen,
wie innen").
Bald braust ein Jüngling daher, die große Ge*
bärerin seufzet.
Doch wer könnte den Staat wieder auf baun nach
solcher Zerrüttung?
Nehmen wird er die Fahne, doch grauses Schicksal
beklagen:
Während der Südwind !weht, will sein Leben
vertraun er den Klöstern').
(Meinhold übersetzt:
,,Weht es im Süden hierauf, will Leben er borgen
den Klöstern'*).
*) Diese Verse könnten auf den klugen Kurfürst Friedrich III.,
als König Friedrich I. Anwendung finden, sind allerdings sehr
verschwommen. Dali er Preußen zum Königreich erhob, hätte
immerhin betont werden können. Allerdings scheint das Wort
Regens (statt des sonstigen dominus, heros, princeps) eine An;
spielung auf die Königswürde 2U enthalten. (Vers 74—75.)
Übrigens darf nicht verschwiegen werden, ^\a{^ nicht not-
wendigerweise die Verse 72 — 75 auf zwei Herrscher bezogen
werden müssen, doch ist es nach dem Wortlaut der Prophe«
zeiung zulässig.
i
m
75) Scd nil juvabit, prudcntia quando cubabit.
Qui successor crit, patris haud vestigis terit.
Orate, fratrcs, lacrymis nee parcite matres!
Fallit in hoc nomen laeti regiminis omen.
Nil superest boni: veteres migrate coloni!
80) Et jacet exstinctus, foris quassatus et intus.
Mox juvenis fremit, dum magna puerpera gemit.
Sed quis turbatum poterit refingere statum?
Vexillum tanget, sed fata crudelia planget:
Flantibus hinc austris, vitam vult credere claustris.
*) Friedrich Wilhelm L, Sohn des Vorigen, trat allerdings
nicht in die Fußtapfen des Vaters, was aber sicherlich für Preußen
kein Unglück war. Der Name täuschte insofern, als Friedrich
Wilhelm bekanntlich ein Soldatenkönig war. Seine brutale
Werbemethode mag auch die Tränen der Mütter erklären.
Voltaire meinte, die damalige Türkei sei ein wahrer Freistaat
gegen das damalige Preußen gewesen. Der König, der 1740 an
der Wassersucht starb, war allerdings sehr entstellt, aber keines*
wegs innerlich gebrochen. Mag es damals in Preußen auch
barbarisch und ungemütlich zugegangen sein, so steht doch fest,
daß Friedrich Wilhelm das Schwert schmiedete, dessen sein Sohn
sich bediente. (Vers 76-89.)
^) Die Verse 83—84 beziehen sich auf Friedrich den Großen,
der als achtundzwanzigjähriger Jüngling den Krieg mit Maria
Theresia, der ,, großen Gebärerin", die damals mit Joseph II. in
172
85) Der ihm als Schlechtesten folgt ahmt nach böse
Sitten der Väter,
Hat weder Kräfte des Geists, noch Gottesfurcht
lebt jetzt im Volke;
Der, des Hilf er begehrt, wird feindlich entgegen
ihm treten,
Und er im Wasser sterben, das Oberste kehren
zu Unterst^),
der Hoffnung war und im ganzen 15 Kinder hatte, begann.
Die schweren Leiden des Staates im Siebenjährigen Kriege sind
hinlänghch bekannt. Was das Beklagen des „grausen Schicksals"
betriflFt, so schrieb der große König am 28. Oktober 1760 an den
Marquis d'Argens (Hinterlassene Werke, Bd. 10, S. 292): „Ich
habe alle meine Freunde, meine geliebtesten Verwandten ver*
loren, mich trifft jede nur mögliche Art von Unglück; mir bleibt
gar keine Hoffnung übrig; ich sehe mich von meinen Feinden
verspottet, und ihr Stolz trifft Anstalten, mich unter die Füße
zu treten. Ach! Marquis,
Wenn alles uns verläßt, die Hoffnung selber flieht,
Dann wird das Leben Schmach, und eine Pflicht der Tod!"
Daß auch das ,, Seufzen" der Königin, zumal sie ja ge#
schlagen wurde, historisch ist, bedarf keiner näheren Ausführung.
Was den Südwind (auster) betrifft, so liegt die Anspielung auf
Österreich nahe genug. Sogar das Kloster spielte eine vorüber*
gehende Rolle in Friedrichs Leben. Denn im Zweiten Schlesischen
Kriege (1745) mußte er, vor einer Schwadron ungarischer Husaren
fliehend, sich im Kloster Kamenz verbergen. Hier wurde er als
Zisterziensermönch verkleidet und unter die übrigen Mönche im
(^hor versteckt. König Friedrich Wilhelm IV. ließ sich im Jahre
1846 noch die Stelle in der Klosterkirche von Kamenz zeigen,
wo Friedrich im Chor als Mönch verkleidet gesessen und mit*
gesungen hatte. Flautibus austris mit ,,vor den heranstürmenden
(Österreichern" mit Fonk (Knop) zu übersetzen, will mir doch zu
kühn scheinen, wenn es auch dem Sinne nach sicher richtig ist.
Aber wenn wir sogar ..vor den wehenden Südwinden will er sein
Leben den Klöstern anvertrauen" übersetzen, womit wir keinerlei
I
173
85) Qui scquitur, pravos imitatur pcssimus avos.
Non robur menti, non adsunt Numina genti.
Cujus opem petit, contrarius hie sibi stetit:
Et perit in undis, dum miscet summa profundis.
Gewalt antun, ist der Sinn klar und die Erfüllung buchstäblich
eingetroffen.
^) Friedrich Wilhelm II., der Neffe Friedrichs des Großen —
daß hier der Prophet die Bezeichnung als Sohn, was doch sonst
bei ihm die Regel ist, tortließ, ist auf alle Fälle merkwürdig, zumal
Friedrich Wilhelms Nachfolger in den späteren Versen wieder
richtig als Sohn bezeichnet wird — war tatsächlich ein nach
jeder Richtung schlechter Herrscher, der auch insofern die Sitten
der Väter nachahmte, als er an seinem Hofe eine schamlose
Maitressenwirtschaft einführte. Daß die Religiosität damals wie
überall, so auch in Preußen danieder lag — wenigstens wenn
wir unter Religiosität Kirchengläubigkeit verstehen — ist hin*
reichend bekannt. Auch die öffentliche Sittlichkeit stand sehr
tief. Vgl. Ed. Vehse, Geschichte des preußischen Volks und
Adels. I. Abt., 5. Bd. und Paulig, Friedrich Wilhelm II., sein
Privatleben und seine Regierung.
Vers 87 mag sich auf Kaiser Franz II. beziehen, der sich
1792 am Kriege gegen Frankreich beteiligte, und im Frieden von
Basel, am 5. April 1795, von ihm im Stich gelassen wurde.
Friedrich Wilhelm erleichterte dadurch zweifellos die späteren
Erfolge der Franzosen gegen Deutschland. Massenbach schreibt
„Der Staat war seiner Auflösung nahe".
Der König starb (1797) tatsächlich im Wasser, nämlich in
seinem von Seen umgebenen Schlosse zu Potsdam an der
W^assersucht.
Interessant ist, daß der König sich nicht lange vor seinem
Tode die Lehninsche Prophezeiung kommen ließ, und zwar das
älteste Exemplar der in der Berliner Bibliothek vorhandenen
Handschriften. Er gab es nicht zurück. Es soll das Original
174
Blühen wird aber sein Sohn und erhalten, was
nie er gehofft hat,
90) Doch sein trauriges Volk wird weinen in selbigen
Zeiten.
Denn von erstaunlicher Art scheint sich das
Schicksal zu nahn.
Und es ahnt nicht der Fürst, welch neue Macht
da heranwächst^).
Endlich führet der Letzte von diesem Stamme
das Zepter.
Israel, wagt eine Tat, unaussprechlich, mit dem
Tod nur zu sühnen').
95) Und die Herde der Hirt, Germania den König
erhält nun^).
der Weissagungen gewesen sein. (Vgl. Otto Glagau „Kultur*
kämpfer". Heft 93, S. 32.) (Vers 85-88.)
^) Die ersten beiden Verse (89 und 90) passen in erstaun?
licher Weise auf Friedrich Wilhelm III. Denn tatsächlich hat
dieser schwache und unfähige Monarch, nachdem er im Tilsiter
Frieden alles Land westlich der Elbe hatte abtreten müssen, so
daß Preuikn von 5551 qkm und 8687000 Einwohnern unter
seinem Vorgänger auf 2859 qkm mit 4940000 Einwohnern zu?
sammengeschmolzen war, am Ende seiner Regierung wieder über
5050 qkm mit 10400000 Einwohnern verfügt. Ja, das Rhein*
land und einen grolkn Teil Sachsens hatte er neu gewonnen.
Die furchtbaren Leiden des Volkes während der Napoleonischen
und Freiheitskriege sind hinlänglich bekannt, ebenso, daß das
Volk und durchaus nicht der König die Wiederaufrichtung des
Staates ermöglichte. Ferner ist zu beachten, daß in die Regierung
des Königs die Säkularisationen von Klöstern und Kirchengut lallen,
was wenigstens der katholischen Bevölkerung schmerzlich war.
Die neu heranwachsende Macht des Volkes, die sein Sohn vcr»
spüren sollte, ahnte Friedrich Wilhelm 111. allerdings nicht.
Daß die Untertanen durch ihr Gut und Blut das Schicksal ab»
175
Natiis Horcbit; quod non sperassct, habcbit:
90) Sed populus tristis Hebit temporibus istis.
Nam sortis mirac videntur fata venire,
Et princcps nescit, quod nova potentia crescit.
Tandem sceptra gerit, qui stemmatis ultimus serit:
Israel infandum scelus audet, morte piandum.
95) Et pastor gregem recipit, Germania regem.
wenden und nach vollbrachter Tat sich ruhig knechten lassen
sollten, war seine naive Auffassung. (Vers 89—92.)
') Vers 93 und 94 beziehen sich auf Friedrich Wilhelm IV.
Ohne gewaltsame Interpretation anzuwenden, werden wir finden,
daß auch sie wunderbar zutreffen. Allerdings ist der König
nicht der letzte protestantische Hohenzoller, wohl aber der letzte,
der das Zepter führt im Sinne eines absoluten Monarchen.
Denn die Märztage des Jahres 1848, auf die Vers 94 deutlich
anspielt, brachten bekanntlich die Konstitution, die Friedrich
Wilhelm III. zwar zu geben geschworen, aber nicht gehalten hatte,
wirklich. Beziehen wir Vers 92 statt auf Friedrich Wilhelm III., auf
seinen Sohn, so trifft es ebenfalls vortrefflich zu. Denn beide
Fürsten hatten keine Ahnung davon, was für eine Macht im
Verlangen des Volkes, sein Schicksal selbst mit zu bestimmen,
heranwuchs.
^) Am verblüftendsten ist das Eintreffen des 95. Verses: Das
1871 durch Wilhelm I. errichtete deutsche Kaisertum.
Ob die folgenden Verse nun in Erfüllung gehen oder nicht,
d. h. ob der Katholizismus wieder ausschließlich herrschen wird,
können wir der Zukunft überlassen. Richtig ist ja leider, daß
die Klostergründungen ebenso wie die Macht des Zentrums in
den letzten Dezennien beängstigend zugenommen haben.
176
Jegliches Unglück vergißt die Mark nun völlig
und gänzlich,
Wagt es die Ihren zu pflegen, kein Fremdling
darf mehr frohlocken.
Und von Lehnin und Chorin ersteht die alte
Bedachung,
Und die Geistlichkeit glänzt nach alter Weise
in Ehren
100) Und es stellet kein Wolf mehr nach dem edlen
Schafstall.
177
Marchia, cunctorum pcnitus oblite malorum,
Ipsa suos audct fovcrc, nee advcna gaudet,
Priscaque Lehnini surgunt et tecta Chorini,
Et veteri more clerus splendescit honore,
100) Nee lupus nobili plus insidiatur ovili.
IL Kommentar
Wie bereits kurz erwähnt, wird die Lehnische
Prophezeiung als Werk eines Bruders Hermann aus
dem Zisterzienserkloster Lehnin in der Mark Branden**
bürg ausgegeben, bzw. gibt sich selbst als solche aus.
Wenn sich auch zahlreiche Abschriften der 100 leos*
nischen Verse erhalten haben, so existiert doch keine,
die in die mittelalterlichen Jahrhunderte hinaufreicht.^)
Vielmehr gehen die ältesten existierenden Handschriften
auf das Ende des 17. Jahrhunderts — etwa 1690 —
^) Vgl. M. W. Heffter, Die Geschichte des Klosters
Lehnin, Brandenburg 1851, S. 103 ff. Dagegen führt Ponk
(Schrammen#Lehnin S. 15 ff.) eine Reihe von Zeugnissen für die
Existenz weit älterer Handschriften an. Zwingende Beweiskraft
hat keines, wenn auch höchst merkwürdig die Tatsache anmutet,
daß die Prophezeiung des F. Speer über Bayern zum Teil wörts
sich mit der Lehninschen übereinstimmt. Da Speer aber bereits
1632 starb, muß entweder unsere fast ein Jahrhundert älter
sein, als behauptet wird, oder aber der angebliche Hermann hat
Speer kopiert. —
Kcmmcrich, Prophezeiungen 12
178
zurück. Im Druck erschien das Vaticinium Lehniense
zuerst von G. P. Schulz bis auf 4 Verse vollständig
in „das gelahrte Preußen IL Teil S. 290*' (Königs*
berg 1723), dann, ohne Angabe des Druckortes, im
Jahre 1741 und hierauf noch außerordentlich oft.
Legt das Fehlen alter Handschriften schon den
Gedanken nahe, es handle sich insofern um eine
Fälschung, als einer neueren Dichtung aus irgend*
welchen Gründen ein wesentlich höheres Alter zu*
geschrieben wurde, so wird diese Vermutung noch
durch zwei andere Momente gestützt.
Erstens sind die „Prophezeiungen" aus den
mittelalterlichen Jahrhunderten (Vers 1—75), wenn
auch häufig verschwommen in der Fassung, so doch
inhaltlich ausnahmslos zutreffend, während die neu-
zeitlichen (Vers 76—100) zum Teil falsch sind. Das
legt den Verdacht nahe, daß es sich für die älteren
Zeiten um ein Vaticinium post eventum handelt, d. h.
daß der Verfasser seine historischen Kenntnisse nach*
träglich in die Form einer Prophezeiung kleidete.
Es sei nicht verschwiegen, daß sich hiergegen auch
in der Literatur, die außerordentlich reich istO»
Stimmen erhoben haben, die für die Authentizität
auch des ältesten Teiles und die Verfasserschaft eines
der im 13. Jahrhundert in Lehnin nachweisbaren
Abte mit dem Namen Hermann eintreten"). Besonders
seien hier genannt: Wilhelm Meinhold, Die
*) Sabcll, Literatur der sogenannten Lehninschen Weis»
sagung, Hcilbronn 1879,
") Nämlich Hermann I. 1234-1243; Hermann II. 1248-1257
und Hermann III. bis 1296. Vgl. D. B. Dettmar, Lchnin und
seine Fürstengräber, Regensburg 1885, S. 119.
179
Lehninschc Weissagung, Leipzig 1849, Neuausgabe
von PaulMajunke, Kegensburg 1896. Ferner Johannes
Ponk (Knop), Schrammen^Lehnin. Untersuchung,
ob in dem Schriftchen: ,,Des seligen Bruders Hermann
aus Lehnin Prophezeiung über die Schicksale und das
Ende der Hohenzollern von Johannes Schrammen"
die Lehninsche Prophezeiung unwiderleglich als
Fälschung nachgewiesen ist. Regensburg 1896. Daß
ausschließlich kirchliche Kreise bisher Verteidiger
stellten macht umso mißtrauischer als, worauf wir
noch zurückkommen werden, die Prophezeiung zweifei*
los der Kirche und zwar der katholischen Kirche
wohl will.
Anderseits darf man nicht vergessen, daß alle
weltlichen Gelehrten und Schriftsteller von dem un:s
geprüften Dogma ausgehen, daß Prophezeiungen uns»
möglich sind, während die Kirchen deren Möglichst
keit zugeben, ohne im einzelnen Falle für die
Wirklichkeit offiziell einzutreten. Wenigstens nicht
für die Wirklichkeit der nachevangelischen Prophet*
zeiungen, die uns ja in unserer Untersuchung allein
interessieren. Deshalb ist — so merkwürdig es
klingen mag — in dieser Frage die Kirche aufge^s
klärter — ja freiheitlicher als die profane Wissen*
Schaft. Denn der dogmatischen Gebundenheit der
letzteren mit ihrem Zwange die Möglichkeit der
Prophetie a limine abzulehnen und als Schwindel
oder Zufall zu erklären, steht das kirchlicherseits ge*
währte Prüfungsrecht, jedes einzelnen derartigen
Phänomens gegenüber bei gleichzeitigem Zwange die
Möglichkeit der Prophetie prinzipiell anzuerkennen.
Da also der Kirchengläubige das Recht der unbe*
12-
180
schränkten Prüfung besitzt, der „voraussetzungslose"
Gelehrte aber verwerfen muß, so ist in diesem Falle
dem ersteren von vorn herein mehr Vertrauen entgegen*
zubringen.
Das zweite für die Abfassung der Weissagung
in späteren Jahrhunderten sprechende Moment ist der
in ihr zutage tretende tendenziöse Geist. Es war
überhaupt das Unglück dieser Prophezeiung, daß sie,
statt ruhiger wissenschaftlicher Prüfung unterzogen
zu werden, seit je Parteizwecken dienen mußte.
Waren es z. B. im Jahre 1848 die Demokraten, die
frohlockend auf den Sturz des preußischen König*
tums hinwiesen, so waren es seit dem Kulturkampf
die Ultramontanen, die den Sieg des Papsttums aus
den Worten des Sehers ableiteten.
Sehen wir uns die Schrift mit Rücksicht auf die
in ihr waltende Tendenz näher an, dann werden wir
die merkwürdige Beobachtung machen, daß zwar
jeder Kommentator von ihr spricht, aber auch fast
jeder eine andere in ihr findet.
Während der Pfarrer J. C. Weiß in Lehnin
bereits im Jahre 1746 durch das Buch „Vaticinium
metricum D. F. Hermanni in Lenyn . . .*' die Schrift
widerlegte, war es das Ziel späterer Forscher den
Verfasser zu ermitteln und das besonders aus der
Tendenz des Gedichtes heraus.
Wilken erklärte, 1827 von König Friedrich
Wilhelm III. mit Nachforschungen betraut, den im
Jahre 1693 verstorbenen Kammergerichtsrat Martin
Friedrich Seidel für den Autor. Das bestreitet u. a.
Giescbrccht, weil Seidel weder Katholik, noch Feind
des Hauses HohcnzoUern gewesen, gegen das die
181
Weissagung als Schmähschrift gerichtet sei. Giesebrecht
macht datür einen ehemaHgen Rittmeister Oelven
namhaft.
Heffter entgegnet mit anderen, daß der Ver^
fasser des Gedichtes keineswegs Katholik gewesen
sein müsse und bestreitet auch die antihohenzollernsche
Tendenz. Daß andrerseits die Tatsache, daß Seidel,
der sich im Besitze einer Abschrift befand, zu
einzelnen Versen Zusätze gemacht hat — z. B. zu
Vers 95, daß innerhalb fünfzig Jahren kein Refor*
mierter und innerhalb hundert Jahren kein Lutheraner
mehr in der Mark sein würde, sondern nur mehr
Katholiken — kein Beweis für seine Autorschaft ist,
liegt allerdings auf der Hand. Uns interessiert »am
meisten, daß die Vertreter Seidels in dem Verfasser
einen Protestanten sehen, der unmutig über die da^^
maligen relativ toleranten Maßregeln der branden*
burgischen Regierung, seinen lauen Glaubensgenossen
das künftige Schicksal der Mark in kirchlicher Be*
Ziehung habe vor Augen führen wollen und zu dem
Zweck die Maske eines prophetischen Katholiken
angenommen habe.
Andere glauben einen gewissen Andreas Fromm
identifizieren zu können. Fromm war Probst zu
St. Petri in Berlin bis 1666, wurde dann seines
Amtes entsetzt, trat 1668 in Prag zum Katholizismus
über und erhielt, trotz seiner Verheiratung daselbst
ein Dekanat, dann zu Leitmeritz ein Kanonikat.
Das Vaticinium wäre dann nichts als ein Racheakt.
Er starb, etwa siebzigjährig, im Jahre 1685. Da*
gegen wird angeführt, daß er dazu zu früh gestorben
sei, da die wirkliche Abfassung in die Jahre 1691
182
oder 1692 falle, ferner, daß der Verfasser ja nicht
durchaus ein Katholik gewesen sein müsse. Was den
Einwurf des frühen Todes betrifft, so ist er genau
genommen eine petitio principii, da wir die Ent*
stehungszeit des Gedichtes keineswegs genau kennen.
Das einzige, was wir in dieser Hinsicht mit Bestimmt*
heit wissen, ist der von Gieseler^) erbrachte Nachweis,
daß die Weissagungen spätestens seit 1693 be^*
kannt sind. Ferner ist es richtig, daß das aus^
gehende 17. Jahrhundert zu weissagen liebte. Aber
das ist keine Spezialität dieser Zeit, denn das ganze
Mittelalter hatte dieselbe Neigung.
Andere sehen in der Prophezeiung eine Staats*^
Schrift gegen den Kurfürsten Friedrich III., nach^
maligen ersten König von Preußen, unter Billigung
seiner Stiefmutter gerichtet in der Absicht den
großen Kurfürsten zur Enterbung seines ältesten
Sohnes zu Gunsten des Markgrafen von Schwedt zu
bestimmen.
Nach Heinrich Pröhle") ist der Grundgedanke
der Weissagung keineswegs der Haß gegen die
Hohenzollern, sondern das Verlangen nach einer
Rückgabe der geistlichen Güter. Das Thema sei das
Glück der Mönche, das, wie das Kloster Lehnin
zeige, immer wieder im Wechsel der Zeiten zum
Vorschein komme. Für den Verfasser hält Pröhle —
') J. C. L. Gieseler, Die Leninsche Weissagung gegen das
Haus Hohenzollern als ein Gedicht des Abtes von Huysburg,
Nicolaus von Zitzwitz, aus dem Jahre 1692 nachgewiesen, er#
klärt und in Hinsicht auf Veranlassung und Zweck beleuchtet.
Erfurt 1849.
«) Die I.ehninsche Weissagung, Berlin 1888, S. \'I1.
183
wie schon früher Gieseler — den Abt von Huysburg,
von Zitzwitz. (Geb. 1643, gest. 1704).
Ist diese Vermutung richtig, dann wäre die
ganze Prophezeiung entstanden, weil im Jahre 1691
Lehnin eine Kolonie reformierter Schweizer erhielt.
Das soll den zum Katholizismus übergetretenen Zitz*
witz empört haben. Andrerseits wäre es auch eine
Zurücksetzung der lutherischen märkischen Bauern
gewesen. Zitzwitz soll bei Abfassung des Vaticinium
Virgils Hirtengedichte nachgeahmt haben. Guhrauer
vermutet einen Jesuiten Friedrich Wolf (-j- 1708)
als Autor.
Uns ist es recht gleichgültig, wer der Verfasser
der Prophezeiungen war. Feststellen wollen wir aber,
daß kein genügender Gegenbeweis für das hohe Alter
des Vaticinium erbracht ist, wenn es auch sehr wahr^
scheinlich ist, daß es erst am Ausgang des 17. Jahr*
hunderts, keinesfalls später, entstand. Ferner, daß
aus der Unsicherheit des Verfassers sowohl wie seiner
Tendenz hervorgeht, daß es keineswegs so überaus
leicht ist die Weissagung als Fälschung zu brande
marken.
Mir scheint sogar die Strittigkeit der Tendenz die
Vermutung nahe zu legen, daß eine solche überhaupt
nicht vorhanden ist. Das schließt ja gewiß nicht
aus, daß der Verfasser, auf dem Boden einer he^
stimmten Weltanschauung stehend, die Dinge durch
eine konfessionelle Brille betrachtet. Aber braucht
das in gehässiger Absicht zu geschehen? Ist der
Gedanke so unerhört, daß jemand aus keinem an*
deren Grunde prophezeit als dem, die Wahrheit zu
entschleiern? Jedenfalls können wir das annehmen.
184
Da das für uns einzig wertvolle der Nachweis
ist, daß es zu allen Zeiten mit Sehergabe ausgerüstete
Menschen gab, ihr Name aber recht gleichgültig ist,
so lassen wir uns nicht auf irgendwie strittige
Momente ein, sondern konzedieren den Gegnern so*»
wohl die Abfassung am Ende des 17. Jahrhunderts,
als auch die katholische Richtung. Nicht weil wir
beides für bewiesen hielten, sondern lediglich weil es
wenig wert hat sich mit Fragen aufzuhalten, deren
unumstößlich richtige Beantwortung kaum möglich ist.
Selbst mit der obigen Einräumung bleiben immer*
hin noch reichlich zwei Jahrhunderte, für die geweis*
"sagt wird, ohne daß die Möglichkeit eines Schwindels
/ gegeben wäre. " '''"*'
I Wir haben bereits früher die historischen Tat*
^ Sachen notiert, die auf die Weissagungen bezogen
werden können. Daß dazu etwas guter Wille nötig
ist, sei keineswegs geleugnet. Aber ihn brauchen wir
naturgemäß bei jeder Auslegung, und das um so mehr,
je dunkler der Text ist. Wir bestreiten aber aus*
drücklich, daß hierzu mehr bona fides unsererseits
nötig ist, als beim Gegner mala fides, um das Un*
sinnige des Vaticinium zu beweisen. Ja, wir gehen
so weit, zu behaupten, daß eine Reihe von Vorher*
sagen nur durch Unwissenheit oder Gehässigkeit
mißzuverstehen sind. Denn da nun einmal das pro*
fane Dogma zu Recht besteht, daß ein Enthüllen der
Zukunft unmöglich sei, wird jede Beweisführung mit
dem Endziel und der unausgesprochenen Voraus*
Setzung geführt, daß alles Geweissagte falsch sein müsse.
Nichts liegt uns, die wir ohne jegliche Tendenz
an die Prüfung des Phänomens herantreten und nicht,
185
wie die Gegner behaupten werden, uns zum x\nwalt
der Prophetie machen, weil wir a priori ihre Richtig*
keit voraussetzen, sondern im Gegenteil, weil a potiori
sie uns beweisbar und bewiesen dünkt, ferner als die
These, alles, was prophezeit sei, müsse auch eintreffen.
Im Gegenteil zögern wir nicht, zuzugeben, daß so*
wohl die Vorhersage, der elfte im Stammbaum werde
auch der letzte protestantische Herrscher aus dem
Hause Hohenzollern sein, falsch ist, als auch die
andere, daß Deutschland zum Katholizismus zurück*
kehren wird, sich bis dato nicht erfüllt hat und auch
hoffentlich nie erfüllen wird.
Das hindert aber nicht, die verblüffende Über*
einstimmung der Weissagung mit vielem, was sich
später ereignete, anzuerkennen. Daß auch die zünf*
tige Geschichtsschreibung so ein unbestimmtes Ge*
fühl hat, geht schlagend aus der Tatsache hervor,
daß man am liebsten das ganze Vaticinium als nach*
träglich konstruiert hinstellen möchte und mit Be*
dauern nur anerkennt, daß es unbedingt spätestens
im Jahre 1692 in der vorliegenden Form abgefaßt war.
Ein sehr wichtiger Punkt ist noch vorauszu*
schicken: Wir nehmen an, daß die Verse 72 und 73
sich auf den Großen Kurfürsten beziehen, was ja
auch die Gegner zugeben. Während diese aber noch
die beiden folgenden ihm zuschreiben, geben wir sie
mit Meinhold und anderen Friedrich I. Und zwar
nicht allein deshalb, weil nur auf diese Weise das
Folgende einen Sinn, und zwar einen erstaunlich zu*
treffenden Sinn erhält. Wiewohl auch dieser Grund
völlig zulässig wäre. Denn wie jeder Herausgeber
eines alten Schriftstellers so lange Konjekturen macht —
186
und oft was für welche! — und deutelt, bis sein
Autor etwas Vernünftiges sagt, so besteht gar kein
Grund, dieses Recht dem Interpreten einer Weissagung
zu beschneiden. Um so weniger, als kein Wort ver*
ändert, noch ein Vers umgestellt werden muß.
Wir sind noch deshalb hierzu vollauf berechtigt,
weil Vers 73 von einem princeps spricht, während
Vers 74 ausdrücklich den Regens, denjenigen, der Rex
ist — wie die wohlwollende Interpretation um sO ehöf
annehmen kann, je mehr sie den Standpunkt vertritt,
die Prophezeiung stamme erst aus dem Ende des
17. Jahrhunderts — nennt und dazu in Gegensatz
stellt. Auf Friedrich I. beziehen sich dann also die
Verse 74 und 75, die folgenden 76—80 aber auf den
Soldatenkönig. Daß aber Vers 78 wieder von regimen
spricht, ist ein weiterer Hinweis darauf, daß der
/ Seher die Erhebung Preußens zum Königreich im
I Auge hatte.
Die Gegner beziehen, mindestens ebenso übel*
wollend wie wir wohlwollend, die vier Verse von
72—75 auf den Großen Kurfürsten, ohne sich am
Worte Regens zu stoßen. Daß dann alle weiteren
Verse bis zum Schluß Unsinn enthalten müssen, und
das um so mehr, je präziser und verblüffender ihre
Angaben sind, das stört sie nicht nur nicht, ist im j
Gegenteil gerade das Motiv, das sie zu dieser Zu*
teilung veranlaßte.
Auch auf einem Umwege, Majunke folgend,
kommen wir zu demselben Resultat. Wir argumen*
tieren dann: die konkreten Tatsachen der Verse 72
und 73 deuten, was noch niemand bestritt, zweifellos
auf den Großen Kurfürsten. Ebenso die konkreten
i
187
Tats»ichcn des Verses 77, der Jammer im Lande über
das brutale Aushebungssystem, auf Friedrich Wil*
hehii I. Also müssen — allerdings unter einer Vor?
aussetzung, die wir nicht teilen, daß nämlich jede
Prophezeiung eintreffen müsse — die dazwischen
liegenden Verse auf den ersten König Preußens bes^
zogen werden. Das ist ja gewiß nicht zwingend,
aber es erhöht die Wahrscheinlichkeit für die Rieh*
tigkeit unserer Zuteilung. Und dies um so mehr, als
das nunmehr in allen wichtigen Punkten — von dem
bereits erwähnten Irrtum bezüglich der elften Gene*
ration abgesehen — mit den historischen Tatsachen
harmonierende Vaticinium gewiß den Anspruch er*
heben darf, nicht sinnwidrig ausgelegt zu werden.
Wenn wir auch keinem Menschen Unfehlbarkeit ein*
räumen, so werden wir doch bei einem als klug be*
kannten Manne jedem Ausspruch mehr Beachtung
schenken, als bei einem Toren und sogar in gewissen
Fällen geneigt sein, bei Worten, die uns anstößig er*
scheinen, den Fehler eher bei uns, als beim andern
zu suchen. Diesen Analogieschluß fordern wir auch
für das Vaticinium.
Daß Vers 80 nur teilweise auf den Soldaten*
könig paßt, sei nicht geleugnet. Der Seher sah eben
nicht nur bisweilen falsch, er sah auch manchmal
unklar, wie das ja bei Weissagungen sehr häufig ist.
Dies berücksichtigt muß jeder, der tendenzlos an
die Weissagung herantritt, zugeben, daß ihr Inhalt
in ganz wunderbarer Weise von der späteren Ge*
schichte bestätigt wurde.
Friedrich der Große ist nicht minder treffend
charakterisiert, wie sein Neffe und Nachfolger Friedrich
188
Wilhelm IL, auch wenn man nicht zugeben wollte,
daß er im Wasser gestorben ist. Desgleichen Friedrich
Wilhelm III., dessen Regierung bedeutend günstiger
endete, als er es nach seinen Fähigkeiten und der
politischen Konstellation Europas je hätte hoffen
dürfen. Und zwar, wie das Vaticinum ganz richtig
andeutet, durch eine neu heranwachsende Macht,
nämlich durch den Patriotismus eines Volkes, das
sich mündig zu fühlen beginnt.
Der letzte des Stammes, Friedrich Wilhelm IV.,
soll nicht heißen der letzte Hohenzoller, wie aus
Vers 49 hervorgeht, sondern der letzte Protestant.
Denn das durch das verruchte Weib in die Familie
getragene und elf Generationen fortwirkende Gift,
ist ja der Protestantismus. Daß die Hohenzollern
noch heute Protestanten sind, ist hinlänglich bekannt.
Trotzdem stimmt die Prophezeiung wunderbar in
anderer Beziehung, da Friedrich Wilhelm der letzte
absolute Beherrscher Preußens war. Wer aber das
wichtigste Ereignis in der Regierungszeit dieses hoch*
begabten Monarchen angeben wollte, würde die Re^
volution des Jahres 1848 nennen müssen mit ihren kon*
stitutionellen Folgen. Und mit diesem Ereignis sind
tatsächlich die beiden einzigen Verse, die von diesem
König handeln, Vers 93 und 94, ausgefüllt. i-
Und wer wird endlich die verblüffende Wahr*
heit des 95. Verses leugnen wollen? Hier ist ja mit
klaren und deutlichen Worten, ohne jede symboli*
sierende Einkleidung, die Neuerrichtung des deutschen
Reiches unter Wilhelm I. vorhergesagt. Diesen Vers
hatte übrigens bereits Scyler in seiner im Jahre 1741 zu
Frankfurt und Leipzig erschienenen Schrift: „Weitere
189
Austührun«; derer ohnlängst bekannt gewordenen,
und jetzo in einem Zusammenhang gebrachten, auf
das allerdurchlauchtigste Königliche I laus Preußen und
dessen noch bevorstehende glückliche Fata, abzielender,
nachdenklichen, wundersamen und in gegenwärtigen
Zeiten eingeschlagenen Weissagungen usw." richtig
interpretiert. Allerdings glaubte er — was er ja nach
der damaligen politischen Konstellation auch glauben
mußte — ein König von Preußen würde zum römischen
Kaiser erwählt werden.
Sind wir also auch der Ansicht, daß es sich in
diesem Vaticinium um eine Weissagung handelt, deren
Inhalt in einer stattlichen Reihe von Punkten in Er^«
Füllung gegangen ist, so ist damit allerdings noch
nichts über die Gründe dafür gesagt. Mancher, der
unserer Ansicht in materieller Beziehung beipflichten
wird, mag den Zufall als Erklärungsgrund zur Hilfe
nehmen. Wir sind nicht in der Lage diesen Skeptiker
zu widerlegen. Aber wir halten es für höchst un^
wahrscheinlich, daß eine so lange und komplizierte
Reihe von Vorhersagen durch weiter nichts als den
Zufall in Erfüllung gegangen sein soll.
Doch wollen wir vorläufig das Urteil hierüber
noch dem Leser überlassen.
Fahren wir in unserem Beweise fort. Wir gingen
von einzelnen Prophezeiungen, bei denen Zufall oder
Berechnung eine mehr oder minder große, bisw^eilen
ausschlaggebende Rolle spielen können, aus, um im
Vaticinium lehniense eine ganze Reihe von Vorher*
sagen derselben Person, anzuführen, und finden,
daß die große Mehrzahl der Vorhersagen in Erfüllung
ging. Allerdings haben wir es hier mit Versen, also
190
mit stilisierten Visionen zu tun, was in mancher Hin^
sieht freilich ihre Realisierung desto erstaunlicher macht.
Gegen das Vaticinium lehniense kann der Ein*
wand erhoben werden, man kenne noch nicht ein*
mal den Verfasser — wiewohl das sachlich ja gar
nichts ändert — auch die Interpretationen stammten
nicht vom Seher selbst, sondern zum Teil von uns.
Deshalb wollen wir im folgenden das Rohmaterial
einiger Personen anführen, deren historische Person*
lichkeit völlig einwandfrei identifizierbar ist und die
womöglich selbst ihre Visionen deuteten.
191
Fünftes Kapitel
Christina Ponitowssken
Unter den außerordentlich zahlreichen vermeintes
I liehen und wirklichen Sehern des 17. Jahrhunderts
verdient die Jungfrau Christina Ponitowssken schon
deshalb Beachtung, weil es gar keinem Zweifel untere
liegen kann, daß sie von der Göttlichkeit ihrer Mission
und dem hohen Wert ihrer Visionen überzeugt war.
Was letzteres betrifft, so sind wir darüber allerdings
anderer Ansicht und neben Bewunderern hat es auch
unter ihren Zeitgenossen nicht an solchen gefehlt,
die ihnen allen Wert absprachen^).
Tatsächlich handelt es sich auch in der Regel
um recht allgemeine, phantastisch verbrämte, biblische
Redensarten und Ermahnungen, deren Unterlassung
die Welt nicht aus ihren Gleisen geworfen hätte.
Als Beispiel für die Art der Visionen, aber auch
um ihres Inhaltes willen, den man immerhin auf die
Schwedenkriege beziehen kann, sei nachstehend eine
Vision vom 13. Januar 1628 mitgeteilt.
^) Gottfried Arnold nennt in seiner „Kirchen* und Ketzer^
Historie", 3. Teil, Frankfurt a. M. 1700, S. 216, § 16, Überzeugte
und Zweifler. Übrigens heißt die Ponitowssken bei ihm fälsch«
lieh Poniatovia oder Poniatowizsch.
192
Es sei vorausgeschickt, daß Christina die Tochter
eines böhmischen GeistUchen war, etwa sechzehnjährig
in eine schwere Krankkeit verfiel und von da ab
zahlreiche Visionen hatte, die im Jahre 1629 im Druck
erschienen. Die erste auf die hin sie dann krank wurde,
trat am 2. November 1627 ein. Sie sah eine blutige
Rute am Himmel, deren Stil gegen Mitternacht, deren
Spitzen aber gegen Mittag gekehrt war. Daß nach
dem Einfall Gustav Adolfs diese Vision als Vor^
anzeige des Schwedenkrieges, der ja wenige Jahre
später ausbrach, gedeutet wurde, ist nahe liegend.
Die Vision vom 13. Januar lautet^):
„Donnerstags hatte ich um 2 Uhr nach Mittage
I
*) Zitiert nach „Göttliches Wunderbuch, darinnen aufF*
gezeichnet und geschrieben stehen, 1. Himlische OfFenbahrungen
und Gesichte, einer gottfürchtigen Jungfrawen auss Böhmen,
vom Zustand der Christlichen Kirchen, deren Erlösung, und
schrecklichen Untergang ihrer Feinde usw." (Stettin) 1629. Der
Sammelband Nr. 5502, Weissagungen 2 der kgl. Bibliothek in
Berlin enthält noch eine große Zahl von Prophezeiungen von
1613-1689.
Vom rationalistischen Standpunkte aus behandelt Adelung
in seiner anonym erschienenen „Geschichte der menschlichen
Narrheit", Leipzig 1785 noch eine Reihe von Sehern, die er als
Schwindler oder Narren hinstellt, darunter auch VI. Bd., S. 267 ff.
die Poniatowssken, von ihm Poniatowa genannt. Er stützt sich
auf Comenius, der an sie glaubt, als Zeugen und Gewährsmann
ohne das Original der Visionen von 1629 zu kennen.
Außer den vielen Sehern bei Arnold und im obigen Sammel*
bände behandelt Adelung unter anderen noch aus dem 16. Jahr^
hundert Elisabeth Barton, I. Bd., S. 301, Johannes Carlo. 111. Bd.,
S. 118ff.. und Lucas Gauricus, 11., S. 261 ff., die teilweise viel
Falsches prophezeien. Besonders viel Unsinn produzierte Chri<
stoph Kotier, eh. VI., S. 231 ff. Ein interessanter Seher des be«
ginnenden 18. Jahrhunderts ist Durand Fagc, cb. III., S. 93ft.
193
folgendes Gesicht: Erstlich kam zu mir der HERR,
in schöner Gestalt, both mir die Handt, und sprach:
Mein Segen sey mit dir jmmer und zu ewigen Zeiten.
Weiter sprach er: Komm mit mir: Und ich ging mit
ihm, gleich als in einen schönen Garten, da kam zu
uns der Alte^), grüßte mich mit Handgebung, giengen
also spatzieren, der HErr mir zur Rechten, der Alte
zur Linken, ich aber in der Mitten, von ihren beyden
Händen geführet: Da klagte ich dem Alten mein
Elend, daß ich nun gantzer 8 Tage meine Ohren ver*
stopfft, und meine Zunge gebunden hette gehabt,
unnd bähte, daß er mir meine Ohren öffnen, unnd
meine Zunge wieder lösen wolte, weil der HErr,
solches zu thun, sich geweigert, und gesaget, Er der
Alte, hette eben die Gewalt als er, weil sie gleich
an Macht und Ehren: Darauff sprach der Alte: Wie
bistu doch so ungeduldig, unnd warumb klagest du
also? Ich antwortet: Darumb O HErr ist mein Herz
betrübet gewesen, weil ich gedachte, das were eine
Straffe und Züchtigung von dir, und eine Anzeigung
deines Zorns gegen mir, wie ich denn weiß, daß ich
nicht allein zeitliche, sondern auch wol ewige Straffe
verdienet: Er sprach abermal: Worbey merckestu,
daß das ein Zornzeichen sey, an deiner Zunge und
an deinen Ohren ^)?"
Überspringen wir die Wechselreden, um zum
tatsächlichen Inhalt der Vision zu kommen: „Mit den
Worten ergriff er mich bey der lincken, und der
^) Erschien ihr öfter.
') Die Seherin hatte eine Zeit lang Gehör und Sprache
verloren. Die höchst uninteressante Unterredung geht noch
eine Zeit lang so fort.
Kemmerich, Prophezeiungen 13
194
HERR bey der rechten Hand, und führeten mich an
einen Ort des Gartens, und als bald kam gelauffen
ein großer Low, und von der andern Seithen her ein
anderer, auch sehr groß, daß ich mich sehr fürchte:
Unnd einer war roth der ander blaw, und ein jeder
hatte ein sehr großes Schwerdt in den fördern fußen,
auff den hindern aber stunden sie, und hatten auch
sehr lange scharffe und spitzige Klawen. Siehe für
dich sprach der Alte; und siehe, da kam ein überauss
großes weißes Pferdt, auch auff zweyen Füßen her
getretten, unnd hatte zween große Köpffe, in den
fördern Füßen aber hilt es eine eisserne glüende
Kugel, das gieng und tratt starck unter sich, daß der
Erdbodem erschütterte, als es aber zu den Löwen
nahete, gieng es langsam und mählich, gleich als
wenn es sich für jnen fürchtete, die Löwen aber
stunden muthig gegen einander, und sahen das Pferd
an, neigeten auch bissweilen die Köpffe zusammen,
als wenn sie heimlich mit einander redeten, unnd
gaben doch gute Achtung auff das Pferdt: Als nun
das Pferdt hart an sie kam, warff es die Kugel unter
sie hin, gleichsam in Hoffnung, wann sie sich mit
einander darumb rauffen würden, es unter dessen
ungehindert davon kommen köndte: aber die Löwen
ließen die Kugel ligen, setzen an das Pferdt, rießen
ihm beyde Köpffe herunter, zermalmeten es auch in
kleine Stücklein, redeten abermahls was mit einander,
unnd stießen die Kugel von sich: Unnd der Alte
sprach: Siehe ferner, und mercke auff: Und als bald
sähe ich einen Baum, der war hoch und breit, stunde
mitten unter den Löwen, und bedecket sie mit seinen
Asten, weil er so groß war: Und sihe, auft dem
195
Wipffcl desselben Baums sähe ich ein Adler sitzen,
der war sehr groß, und hatte 2. Köpfte, 4. Füße,
4. Flügel, 2. Schwäntze, und ich hörete daß der Adler
ein groß Geschrey führete, davon ich aber nichts
verstund, sondern fragte den Alten, warumb, und
was doch der Vogel also schrie? Der Alte sprach:
Dieser Vogel ruff^et also: Sihe, ich sitze hoch, und
bin erhöhet über alle, darumb wer ist so keckes
Hertzens, das er kerne, und mich von meinem Ort
vertreibe? Niemand ist, es wird auch niemand seyn.
Als er aber ausgeredt, tratten die Löwen zu dem
Baum, machten sich dran, rüttelten ihn mit solcher
Gewalt, daß der Vogel herunter fiel, unnd von den
Löwen zerrissen unnd verzehret wurde, eben wie das
Pferdt. Abermahl sprach der Alte: Komm noch
weiter mit mir, unnd sie beyde brachten mich zu
einem großem Wasser, darbey abermahl ein uberauss
großer Baum stund, der sich sehr aussbreitet: Der
Alte sprach: Merck auff: Unnd siehe, die Löwen
kamen wieder, hieben und hackten in den Baum,
zerbrachen und zerspelten ihn mit großem Krachen,
kratzen auch die Wurzeln mit den Klauen auss der
Erden, worffen das alles ins Wasser, und verscharreten
die Löcher, da die Wurtzeln gestanden, unnd ver*»
tratens wieder fein glatt, daß kein Anzeigung, wo
der Baum gestanden, überbliebe. Der Alte sprach
weiter: Komm, jetzt soltu das Ende sehen: Und ich
gieng, und sähe ein trefflich schön unnd wolgebawtes
Hauss, von lauter Werckstücken erbawet, und volles
Glantzes: Da fragte ich den Alten, was das für ein
schön unnd wol gebawtes Hauss were? Er ant*
wortet: Diss Hauss ist das Widerspenstige, stach*
13*
196
lichte unnd verstockte Hauss, von außen scheinet
unnd glentzet es zwar, aber innwendig ist es voll
Unreinigkeit, Grewel, Boßheit, unnd aller Gott*
losigkeit. Ist das große Babel, dessen Fall nun
vorhanden: Dann es ist gar unmüglich, daß
es lenger solte stehen bleiben, darumb, daß
seine Sünde unnd Missethat nunmehr biss an
den Himmel reichen: Derohalben mercke fleißig
draufif, was geschehen wird. Bald kamen die vorigen
zween Löwen, unnd neben ihnen noch einer schnee*
weiß: Diese alle drey fielen das Hauss an, brachen
einen Stein nach dem andern herauss, (der weiße
Low thet allhier das beste) biss das Hauss also unter*
graben wurde, daß es über einen Hauffen fiel, unnd
ward zu malmet wie Sandt. Und die drey Löwen
spatzierten auff dem Sande hin und her, und schryen
über laut: Babel ist gefallen, Babel ist gefallen:
Das große Hauss ist gefallen: Siehe, das
prächtige hochmütige Hauss ist gefallen, und
soll nicht wieder erbawet werden. Es ist voll*
kömlich das Hauss, so voller Grewel und
Hurerey war, umbgekehret: Doch nicht durch
unsere Macht, sondern durch Krafft des
starcken Löwens von dem Stamm Juda^). Mit
den Worten giengen die Löwen von einander, und
der Dritte kam mir auch auss dem Gesichte: Unnd
bald hernach erhub sich ein starcker Wind, unnd
zerstrewet den Sand so gar, daß nichts davon über*
bUeb. Der Alte aber sprach: Hastu gesehen, was da
geschehen ist? Ich sagte: Ja Herr: Ich bitte aber,
*) Was hier gesperrt wurde, ist es auch im Original.
197
unterrichte mich, was durch das Pferd, den Adler,
den Baum unnd das Hauss verstanden werde? Er
sprach: Durch diss alles, soltu nichts anderes ver*
stehen, als das große F. unnd P. unnd den gantzen
Antichristischen Anhang, welches alles in kurtzer
Zeit über die massen schnell verderbet, unnd auss*
gerottet werden wird. Die Löwen aber sind V. T. T,
Seh. D. St. E. F. U. S. W. durch diese wird Babylon,
Antichrist, und das gantze Reich des Teuffels er*
stritten, niedergerissen unnd zerstöret, wie du selbst
gesehen, daß sie diss alles so grawsam weg gereumbt,
zu mahl das große Hauss: Welches alles zwar, sie
nicht hetten können einreißen, sondern der dritte
Löwe auss dem Stamm Juda muste kommen: Wie
ernstlich er ihnen geholffen, hastu wol gesehen; Der
wird ihre Krafft und Stärcke seyn, daß sie in seiner
Krafft werden siegen können . . .'*
Wer diesen Bericht liest, wird nicht zögern alles
für einen Fiebertraum oder, noch einfacher, für Blöd*
sinn zu erklären. Nun werden wir aber noch im
weiteren Verlaufe dieser Untersuchung wiederholt die
Beobachtung machen, daß sich Visionen in symbolische
Gestalt hüllen, und zwar Visionen, deren Richtigkeit
durch den folgenden Gang der Ereignisse zweifellos
bewiesen wird. Meistens wird auch das symbolische
Bild sofort vom Seher selbst richtig gedeutet.
Wenn uns also auch der Bericht höchst be*
fremdlich anmutet, so ist das noch durchaus kein
zureichender Grund, um ihn als Hirngespinst oder
völlig wertlos zu verwerfen. Wir werden überhaupt
sehr gut daran tun in unserem Urteil uns einer weit*
gehenden Zurückhaltung zu befleißigen. Denn da
198
es sich hier um Dinge handelt, die noch so gut wie
gamicht untersucht sind, gibt uns keine genaue Kennt:*
nis des Sachverhaltes das Recht gewisse Forderungen
aufzustellen, also etwa zu verlangen, daß es sich
nicht um symbolische Visionen, sondern ausschließlich
um klare und greifbare Bilder handelt, etwa wie die,
die wir im Traume sehen.
Nun liegt es mir natürlich völlig fern für die
Sehergabe der Poniatowssken Lanzen zu brechen. Was
ich ganz allein beweisen will und auch beweisen '
werde, ist, daß es echte Prophetie gibt. Das ist etwas
ganz anderes als sich für die übersinnliche Gabe einer
bestimmten Person zu erwärmen, oder gar an irgend
eine noch nicht eingetroffene Prophezeiung zu glauben.
Hier sei ausschließlich betont, daß das befremd*
liehe Bild, unter dem hier die Zukunft enthüllt
werden soll, nicht zur Annahme zwingt, als handle
es sich um Phantasmagorien eines hysterischen jungen
Mädchens. Das kann ja sein, muß aber nicht sein.
Wenn wir auch keine in Einzelheiten richtige
Interprätation der merkwürdigen Vision geben wollen
oder können, so ist doch immerhin die Deutung auf
Gustav Adolfs Einfall in Deutschland zulässig. Was
die Buchstaben zu bedeuten haben, entzieht sich
meiner Kenntnis. Berücksichtigt man, daß die Seherin
Protestantin ist und in den politisch und konfessionell
erregten Zeiten des Dreißigjährigen Krieges die
Gegner jeder im andern den Antichrist verabscheute,
dann wird der Ton so wenig wunder nehmen, wie
der Vergleich der katholischen Gegner bzw. des
österreichischen Kaiserhauses mit Babel, des Schweden*
königs aber mit dem Löwen aus Juda.
199
Doch mag dem sein, wie ihm wolle. So viel ist
sicher, daß die Jungtrau von ihrer Mission überzeugt
war. Also um eine Schwindlerin handelt es sich
keinesfalls. Denn sonst wäre es völlig unverständlich,
daß sie sich den Gefahren einer Reise zu Wallenstein
unterzog, um ihm, dem damals Allmächtigen, sehr
unangenehme Dinge zu sagen. Wir werden später
noch häufig auf Ahnliches stoßen, daß nämlich ein
Seher, völlig überzeugt von seiner göttlichen Mission,
ohne jegliche Rücksicht auf persönliche Nachteile
und Gefahren den ihm seiner Überzeugung nach
erteilten Auftrag ausführt.
Die Mission an Wallenstein ward der Poniato wssken
am 25. Januar aufgetragen und zwar folgendermaßen:
„Am Tag Pauli Bekehrung, hatte ich abermahls
ein Gesicht. Es kam zu mir der HErr selbst, bot
mir die Hand und sprach: Die Krafft meiner Gegen^
wart sey mit dir: Ich wil, daß du einen Brieff
schreibest, mit den Worten, welche du hören wirst:
Wann du aber den wirst geschrieben haben, so leg
ihn zusammen, versiegle ihn mit drey Siegeln, und
trag ihn selbst hin nach Gitzschin, und ubergieb ihn
dem rasenden Hund, dem von Wallenstein, wirst
ihn aber nicht zu Hause finden, so ubergieb ihn
seinem Weibe, ihr Selbsten, und ich wil verschaffen,
daß er dem Bluthunde in seine eigne Hände zu
kommen wird. Denn so war als ich lebe, spricht
der HErr, meine Seele haz keinen Gefallen am Todte
des Gottlosen, unnd seine Lust am Untergange der
Unbußfertigen: Sondern das ist mein Wille, daß
sich der Ruchlose von seinem bösen Wege bekehre
und lebe. Darumb vermahne ich diesen Gottlosen
200
Mann selbst, und stelle ihm die große seiner Sünden
vor Augen unnd seine Tyranney, damit er doch in
sich gehen, sich entsetzen, unnd erkennen wolle, daß
ich der HErr alle seine Wercke gesehen habe, und
sie sehr wol kenne, unnd daß ich vergelten wil,
einem jeden nach seinen Wercken, wie er gehandelt
hat, wider umbkehren, seine Sünde für mich berewen,
unnd sich also von dem Blut, welches er überflüssig
vergossen, reinigen, so wil ich die Gnadenthür noch
für ihm öffnen, und seine Schuldt von ihm nehmen,
wie groß die auch sey. Wird er sich aber nicht be*
dencken, sondern meine Warnung für Schimpff und
Schertz halten, und sich hinfort nicht bekehren, siehe,
so wil ich auch mein Hertz wieder ihn verkehren
wie Eisen und Stahl, und mein Schwerdt wieder ihn
wetzen, und meinen Bogen spannen, und zu seinem
Hertzen zielen: Ich wil mir auch tödtlichen Geschoß
zu richten, und damit in sein Hertz schießen, biss ich
ihn umbbracht unnd ausgerottet habe. Dieses aber
soltu wissen, daß, wo er nicht auf gewiese Zeit, die
ich ihm noch bestimmt, sich bekehret, er schon wie
ein Kalb zum ewigen Schlachten übergeben
sey. Mein Aug sol sich nicht mehr erbarmen, es
sol sich, sag ich, nicht erbarmen, jhn auch nicht mehr
anschawen. Du aber thu also, wie ich dir befehle:
Künftigen Freytag fahre hin gen Gitzschin, mit denen
Personen, so ich darzu erkohren, welche du zu Zeugen
haben wirst. Furchte dich aber für dem Tyrannen
nicht, noch für andern, die dir zu schaden bekehren
möchten: Denn sihe, ich bin bey dir: Wil auch
meine Engel zum Schutz und Wache mit dir schicken,
dieselben, welche du offt sihcst, und sie kennest, ja
201
auch der andern eine große Menge, die du noch nie
gesehen: mit denen wil ich dich, wie mit einer
fewrigen Mawer umbgeben, und du wirst sie auch
mit deinen leibHchen Augen sehen. Wenn du aber
hin kommst, sorge nicht, was du reden solt, denn ich
werde bey und in dir seyn, und wird dir, kein Mensch
etwas thun können, darumb, daß ich bey dir bin.
Am Sambstage aber, wirstu den Brief erst übergeben,
und ein wenig daselbst verharren. Dennn (sie!) ich
wil dir erscheinen, und die Hertzen derer, so dich
sehen werden, bewegen und erschrecken.**
Die Jungfrau reiste tatsächlich nach Gitschin,
traf Wallenstein nicht anwesend und wurde nach
verschiedenen Schwierigkeiten von der Fürstin in
Audienz empfangen.
„Als ich aber ein wenig da gesessen, ward ich
entzückt, und der HErr erscheint mir und sprach:
Wie sicher du hierher gekommen bist, also sicher
wirstu auch von hinnen kommen. Sihe aber, ich
werde mich allhie nicht lange seumen, denn diess
gottloss Hauss ist meiner Gegenwart nicht werth:
darumb so gehe auch du bald weg. Hiermit bot er
mir die Hand, und schied von mir: Ich kam auch zu
mir selbst, und sähe alle die Umstehenden, und die
Fürstin selbst, erschrocken und weinend: gieng aber
bald von dannen, und vermahnete die, so mit mir
wahren, daß wir uns bald von dannen machten, wie
auch geschehen, etc.**
Man mag von dieser Vision halten, was man
will und wird sich gewiß nicht darüber wundern,
daß Wallenstein darüber spottete, daß der Kaiser
nur Briefe aus Rom, Konstantinopel, Madrid usw.
202
erhielte, er selbst aber sogar aus dem Himmel^).
Das ändert aber nichts an der merkwürdigen Tat*
Sache, daß der oben gesperrt gedruckte Passus, der
Wallensteins gewaltsamen Tod verkündet, als einziger
'auch im Original fett gedruckt ist und das fünf Jahre
vor der Ermordung des großen Feldherrn in Eger.
Mag sein, daß nur die ewige Verdammnis und nicht
der leibliche Tod hier verkündet wird. Daß die
Beteiligten es anders auffaßten, scheint aus den
Tränen der Fürstin mit Sicherheit hervorzugehen.
Wir führten diesen stark gekürzten Visionsbericht
nicht als Beweismaterial für die Existenz echter
Prophetie an, sondern mehr als Beispiel für die ver^^
schwommene Art, in der in der Regel in der Ver*»
gangenheit geweissagt wurde. Aber auch zur Illu«»
stration unserer Behauptung, daß auch den phantas*
tischsten Visionen ein wahrer Kern inne wohnen kann.
Von ganz anderem Werte und ganz anderer
Beweiskraft ist der folgende Visionsbericht, obgleich
auch er in symbolischem Gewände auftritt.
0 Vgl. Arnold, 1. c. p. 218.
203
Sechstes Kapitel
Die Prophezeiungen des Christian
Heering aus Prossen
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts erregte ein
^ann namens Christian Heering in Prossen bei
Königstein (Sachsen) durch seine Visionen um so
mehr Aufsehen, als sich bald herausstellte, daß sie
in wunderbarer Weise eintrafen. Seinem Beichtvater
Johann Gabriel Süße, der sich jahrelang mit dem
Phänomen beschäftigte und seine Erfahrungen unter
dem Titel ,, Umständliche Nachricht von dem
sogenannten Prossner Manne, Christian Hee^
rings, eines Elb^^Fischers und Innwohners zu Prossen
bey Königstein, seit etliche zwanzig Jahren bekannt
gewordene Voraussagungen betreffend*'^) am 11. Juli
*) Der Titel geht noch fort: ,, benebst einer Historisch*
Theologischen Abhandlung der Casual? Frage: Ob es noch heut
lu Tage neue Offenbarungen von wichtigen Revolutionen in
der Kirche, im Staat, und von besonderen Schicksalen einzelner
Personen gebe, und was von selbigen zu halten sey? Auf Ver«
anlassen des dieserhalben längst begierig gewesenen Publici ent*
werfen, und zusammt Johannis Charliers, sonst Gerson genannt,
Tractat: von der Prüfung derer Geister, allhier ins Teutsche
übersetzt und mit Anmerkungen erläutert, dem Druck überlassen
204
1759 niederschrieb, im Jahre 1772 aber in Dresden
und Leipzig erscheinen ließ, haben wir die zuverläs^
sigen Nachrichten über den merkwürdigen Mann zu
danken.
Betrachten wir zunächst an Hand des Buches
(S. 8—15) die Persönlichkeit des Sehers. Er war aus
Postelwitz bei Schandau an der Elbe unweit der
Böhmischen Grenze am Rande der sogenannten Säch*
sischen Schweiz, um 1710 geboren als Sohn eines
Fischers, der gleichfalls die Gabe des Hellsehens be^
saß. Von Jugend auf wurde er von seinem Vater
auf der Elbe zur Ausübung des Fischergewerbes an:«
gehalten und blieb in Postelwitz, wo er von seinem
Vater ein Haus und Garten erbte, bis zum Jahre 1746.
Nun übersiedelte er nach Prossen, da seine Frau von
ihrem Vater Hanns Schmidt, einem Häußler und
Schiffer, dort ein Haus mit Garten geerbt hatte.
Durch diesen Wohnungswechsel kam Heering als
Beichtkind in die Obhut des Diakonen Johann Gabriel
Süße, unseres Gewährsmannes.
Dieser stellt der religiösen und sittlichen Füh*
rung seines Beichtkindes, das er 13 Jahre unter
Augen hatte, bevor er die „Umständliche Nachricht"
schrieb, diese aber wiederum 12 Jahre zurückhielt,
um die Wahrheit der Prophezeiungen prüfen zu
von M. Johann Gabriel Süßen, Pfarrern zu Königstein, und der
Societät Christi. Liebe und derWissenschaften zu Dresden Mitglied."
Der Bericht von 1759 wurde bis 1771 von Süße zurückgehalten,
um, wie er im „Vorbericht'* sagt, das Eintreffen von weiteren
Prophezeiungen abzuwarten. Der Bericht erschien unverändert
in der Fassung von 1759, nur in einigen Anmerkungen nimmt
der Verfasser auf Späteres Bezug.
I
205
können, mithin Heering 25 Jahre kannte, ein in jeder
Beziehung glänzendes Zeugnis aus. Er war ein guter
Hausvater, der seine Kinder zu allem Guten anleitete,
ein fleißiger Kirchengänger und andächtiger Zuhörer
der Predigt usw. Seine Bildung war mangelhaft.
Denn da er schon als Kind dem Vater helfen mußte,
beschränkten sich seine Schulkenntnisse auf fließendes
Lesen und das Schreiben seines Namens.
„Von Weltlicher oder politischer Erkäntniss hat
der Fischer Heering gar wenig erlangen können, in#
dem ihm seine Berufs s= und Lebensumstände, da er
seine Zeit von Jugend auf Tag und Nacht mehren»»
teils auf dem Wasser zugebracht, auch sonst noch
jetzo keine Gesellschaft liebt, niemals zugelassen, noch
ihn auch sonst seine Neigung dahin angetrieben,
weder Zeitungen, noch Geschichtsbücher zu lesen,
oder Umgang mit belesenen und cultivirten Personen
zu haben, von welchen er etwa von alten und neuen
Staatssachen etwas hören oder lernen möge; sondern
in Betracht einer politischen Einsicht kann man von
dem Fischer Heering wenig oder nichts, jedoch sonst
mit Wahrheit dieses sagen, daß er ein so genannter
guter einfältiger Mann sey."
Diese Charakteristik des Bildungsgrades ist von
erhöhtem Interesse im Hinblick auf den Inhalt der
Visionen. Wir machen sehr oft die Erfahrung, daß
die Seher den unteren Ständen angehören und Visionen
haben, deren Inhalt ihrem Interessenkreis fernliegt.
In seinem Benehmen zeichnete er sich durch Ehr*
erbietung und Gehorsam gegen Vorgesetzte und Ob*
rigkeit, durch Verträglichkeit gegen die Nachbarn und
Bescheidenheit und Dienstfertigkeit gegen jedermann
206
aus. In seinem Fischhandel war er sehr billig, da
er viel Glück im Fang hatte und glaubte, Gott ver*
pflichte ihn durch den ihm zugehenden reichen Fisch*
segen zu Billigkeit. Er hatte bei mäßigem Vermögen
und Zufriedenheit stets sein Auskommen gehabt und
auch alle seine Kinder versorgt. In seinen alten Tagen
zog er als Austrägler mit seiner Frau zu seiner alte*
sten verheirateten Tochter, der er sein Prossener Haus
übergab, übte aber — unter andächtigem Gesang —
immer noch sein Fischergewerbe aus. Wegen seiner
redlichen Führung verwaltete er jahrelang das Amt
eines Gerichtsschöppen.
Was nun endlich seine Konstitution betrifft, so
war er bis zu seinem sechzigsten Lebensjahre kräftig
und gesund, trotz der schwersten Arbeit, die er von
Jugend auf bei Hitze und Frost verrichten mußte.
Die einzigen Spuren dieser Tätigkeit waren ein etwas
gebückter Gang und — eine Folge des schweren
Ziehens — ein etwas verdickter Hals. Er hatte einen
Sprachfehler und stockte in der Rede.
Sein Gesicht war aufrichtig, sein Wesen beständig
freundlich, sein Temperament sanguinisch^cholerisch,
„und wenn auch etwas vom Temperamento Melan*
cholico bey ihm influiret, so hat man doch zu keiner
Zeit das geringste Unordentliche, oder etwas Vitiös««
Melancholisches in seiner Gesinnung, Thun und
Lassen verspüret, immaßen er sonst auch bey der
Prossner Gemeinde nicht als ein Gerichtsschöppe hätte
mögen bestellet und gebrauchet werden können. Und
wie er mit keiner Melancholie behaftet ist, so kann
man in seinem Wandel weder ein herrschendes Laster
überhaupt, noch insonderheit einen Ehrgeiz oder
207
Hochmuth an ihm finden, indem er sich sowohl in
seiner Kleidung sparsam und gering hält, als auch in
seinen Worten, Werken, Thun und Lassen, im äußer*
liehen Bezeigen, alle Demuth und Niedrigkeit von
sich an den Tag leget, und sich darneben mit ge^
ringer Kost begnüget.
So ist auch der Fischer am allerwenigsten ein
Sonderling, oder einer falsch eingebildeten Vorzugs^
liehen Heiligkeit, eines schwärmerischen enthusiastischen
Unwesens, noch irgend einem andern sektirischen
Wesen zugetan, sondern hält sich in seiner Evan^*
gelischen Bekäntniss zur Lauterkeit in unserer Religion,
und unter Göttlichen Beystande in der Thätigkeit des
Glaubens zu denen Schranken, in welchen ein Christ
suchen muß, sein Gewissen allenthalben zu bewahren,
worbey er sich jedoch unausgesetzt als einen armen
Sünder vor GOtt demüthig bekennt."
Zum Schluß ruft Süße die ganze Gemeinde und
alle die Heering kennen, zum Zeugen auf, daß er in
keiner Weise bezüglich seiner Personalien übertrieben
habe. Wir glauben das um so eher, als — von
äußeren Gründen ganz abgesehen — der Bericht das
Zeugnis innerer Wahrheit an der Stirne trägt.
Fassen wir die wichtigsten Momente aus der
Charakteristik zusammen, so steht fest, daß es sich
beim Frossener nicht um einen überspannten Schwärmer,
sondern um einen an Körper und Seele gesunden,
in Arbeit ergrauten, ehrlichen, fleißigen Bürger und
Familienvater handelt, dessen soziales Niveau gleich
dem seiner Bildung tief liegt 0.
*) Ich lege Gewicht auf die Feststellung, daß Heering kein
Hysteriker war, wiewohl das ja selbstredend auch nur ein Name
208
Daß Heering die Gabe der Prophezeiung besaß,
war bald im Volke bekannt. Während man ihm
aber Visionen andichtete, die er nie gehabt hatte, hat
sein Beichtvater Süße bereits seit dem Jahre 1756,
als die Weissagungen ernsten Inhalt bekamen und
schon mit Rücksicht auf den beginnenden Krieg be^
denklicher wurden, den Mann gewissenhaft beobachtet
und darüber einen Aufsatz verfaßt, in dem er Heerings
Charakteristik und Vergangenheit skizierte. Und zwar
tat er das auf Veranlassung des Prossener hin, nicht
aber umgekehrt. Damit fällt der Verdacht, Süße habe,
um sich interessant zu machen oder aus anderen
Gründen, Heering „entdeckt" oder habe ihm gar zu
kirchlichen Propagandazwecken benutzt^).
Zwar enthielt der erwähnte Aufsatz, die Art, in
der die Visionen sich einstellten, angegeben, nichts
aber von deren Inhalt, mit alleiniger Ausnahme der
Voraussage einer damals noch nicht existierenden
hohen Allianz.
Dieser Aufsatz war also lediglich zu privaten
ist, der nicht das allergeringste zur Autklärung des Phänomens
beiträgt, aus folgendem Grunde. Im „Türmer" 1910, S. 842,
hatte ich u. a. auch auf die unbedingt feststehende, aber z. Z.
noch unerklärte Tatsache der Stigmatisation des heil. Franz
von Assisi hingewiesen. Dagegen erschien ein Aufsatz eines
Dr. Karl Oetker in der Züricher Zeitschrift , .Wissen und Leben",
(S. 358—372) indem er (S. 366) folgende goldene Worte schreibt.
,,Daß der heilige Franz von Assisi einer der interessantesten
Hysteriker war, die je gelebt haben, das wul^te man längst . . .
doch was ist da schliefiiich Besonderes daran? Kiner muß doch
der größte sein." So erklärt die moderne Wissenschaft II
*) „Umständliche Nachricht", S. 1 ff . Auch ein Kxemplar der
weiter unten genannten ,, Zuverlässigen Nachricht" liegt mir vor.
209
Zwecken verhilk worden, um nämlich Süße als Grund*
läge für weitere Forschung an Hecring zu dienen,
ferner um Freunden, die sich bei ihm über den merks«
würdigen Mann erkundigten, Auskunft erteilen zu
können. Wiewohl also die Absicht der Publikation
nicht bestand, hat ein Freund Süßes eine Abschrift
ohne sein Wissen und Willen und ohne Revision,
auch nicht vollständig, veröffentlicht, und zwar in
zwei einzelnen halben Druckbogen. Dadurch sah sich
Süße veranlaßt in Nr. XXXVIII der „Dresdner
wöchentlichen Fragst und Anzeigen des politischen
Blats" vom Jahre 1757 dagegen öffentlich Stellung
zu nehmen.
Die Verwahrung, die für uns, wenn wir an
Süßes Ehrenhaftigkeit zweifeln wollten, doppelt wert**
voll ist, da sie beweist, wie frühzeitig schon die
Öffentlichkeit sich mit dem interessanten Phänomen
beschäftigte und wie viele Jahre lang Süße nachweise
bar den Mann unter Augen hatte, lautet:
„Man siehet ohne beniemten Ort des Abdrucks
im Druck: Zuverlässige Nachricht derer außer^
ordentlichen Anzeigen und Voraussagungen
Christian Heerings, eines Fischers zu Prossen
bey Königstein, 1757')-
Es ist dieses ein Aufsatz, mit welchem sich der
Verfasser veranlasset gesehen, einestheils denen, über
den Fischer Heering und seine neuerliche Anzeigen,
') In Süßes Werk ist der Name Heering in der „Zuver?
lässigen Nachricht" aber Herig geschrieben. Süße zitiert hier
also unkorrekt. Zugleich lehrt dieses Beispiel, wie lange man
die mittelalterliche Gleichgültigkeit gegen Namensformen bei*
behielt.
Kemmerich, Prophezeiungen 14
210
bisher rouillirenden so mancherley Andichtungen,
ungleichen Beurtheilen, und auch wohl einem un*
billigen Verspotten, Einhalt zu thun; anderntheils ver^
schiedenen Anfragen in einer zuverlässigen Nachricht
eine Idee, oder einen wahren Begriff von dem Fischer
Heering und seinen Anzeigen zu machen, wie auch
die Schranken wohlmeynend anzuzeigen, wornach
von dergleichen außerordentlichen Begebenheiten und
Vorfällen, bewandten Umständen nach, ein christ*
billiges Urtheil zu fällen seyn möchte.
Es ist indessen dieser Aufsatz weder von dem
Verfasser selbst, noch sonst mit seinem Wissen und
Willen, dem Druck überlassen worden, da er, er#
wehntermaßen, solchen Aufsatz nur zu einer Privats^
nachricht für einige Anfragende, in und außer seiner
Kirchfahrt, entworfen, und das Manuscript davon,
oder eine Abschrift desselben, in den Druck zu geben
nie gesonnen gewesen. Daher auch dem Verfasser,
dem allerdings dieser eigenmächtig, und ohne vorher
von ihm geschehene Revision seines Aufsatzes unters*
nommene Druck, nicht anders als zuwider sein muß,
keinen Antheil an solchem sub* und obreptitie zum
Vorschein gekommenen Abdruck nimmt.
M. S."
Trotz dieser Verwahrung erschien noch ein zwei*
maliger Abdruck der inkriminierten Schrift, d. h. der
vorgenannten Halbbogen, in Sammlungen von Prophe*
zeiungen. Den Titel dieser Schriften nennt Süße
nicht. Sie hätten ja auch schließlich nur biblio*
graphischen Wert. EndHch erschien ohne Angabe
des Druckortes und anonym im Jahre 1758 ein
Schriftchen mit dem Titel ,, Einige Prophezeiungen,
211
welche von einem Fischer und Einwohner in einem
Dorfe bey Königstein, auf die Jahre 1759 und 1760
gestellet sind". Da Süße auch dieser Publikation
fern stand, wir in ihnen also kein authentisches
Dokument zu erblicken haben — ein Exemplar be^:
findet sich auf der kgl. Bibliothek in London — ist
sie für uns ohne Interesse.
Süße konstatiert sogar ausdrücklich (S. 5 f), daß
bis auf einen Punkt, daß nämlich die Türkei sich
in den Krieg mischen würde, keine einzige der ge*
nannten Prophezeiungen mit den authentischen des
Fischers übereinstimme, daß ihm vielmehr vieles an:»
gedichtet worden sei, woran er nicht gedacht habe,
und daß er sich deshalb ausdrücklich Süße und
anderen gegenüber darüber beklagt habe.
Was nun zunächst die Zahl der Prophezeiungen
betrifft, so war sie durchaus nicht so groß, wie Fern«:
stehende meinten (S. 16). Sie traten schon in seiner
Jugend auf, um sich später zu mehren.
Gehen wir nun auf den Inhalt der Visionen ein!
Die erste, von der wir Kenntnis haben, fällt in
das Jahr 1744, als Heering ein Mann von etwa
34 Jahren war. Süße schreibt darüber (S. 16f):
,,So begegnete ihm im Jahre 1744 die Erscheinung,
als er sich noch bey Tage bey Postelwitz zu Lande,
am Ufer des Eibstroms, auf dem Wege nach Hause
zu gehen befand, daß er eine Menge Menschen und
den HErrn JEsum sähe, wie er seine Hand über die
wenige Ihn begleitende Nachfolger Aufhub, worbey
Heering das Lied, weil die mehresten Menschen den
breiten Weg zur Verdammnis giengen, von einem
derer Nachfolger JEsu anstimmen hörete:
14*
212
Mache dich mein Geist bereit,
Wache, fleh* und bete,
Daß dich nicht die böse Zeit
Unverhofft betrete etc.
Welche Erscheinung mir der Fischer zu wieder^«
holten malen mit innigster Gemüthsbewegung und
vergossenen Thränen erzehlet hat.**
Begreiflicher Weise können wir mit dieser Vision
oder Halluzination nicht das geringste anfangen. Sie
hat für uns keinen anderen Wert als den festzustellen,
daß der sonst nüchterne Mann zeitweilig religiösen
Exaltationen unterworfen war. Das ist bei einer an*
scheinend sehr religiösen oder doch kirchlichen Natur
nicht weiter verwunderlich.
Ganz anders liegt der Fall bei der zweiten Vision
des Jahres 1744. Wenn auch sie religiösen Ursprungs
war, insofern ihm das fünfte Kapitel des Propheten
Jeremias, eine Klage über Unglauben und Ruchlosig*
keit in allen Ständen, erschien, so ist der weitere
Verlauf doch von höchstem Interesse. Es wurde ihm
nämlich „vom HErrn gezeigt". Daß ein Held mit
seinem feindlichen Heer würde nach Sachsen
kommen, und das Schwerdt bis an das Hett
ins Blut tauchen, und dieser Held würde her*
nach zu Dresden wie in einem offenen Garten
einziehen, aber bald darauf wieder zum Obern
Thor hinaus ziehen."
Hier haben wir die erste kontrollierbare Prophe*
zeiung vor uns, interessant sowohl durch ihren dem
einfachen Bildungsgrade des Fischers an sich fern*
liegenden poHtischen Inhalt, als nicht minder durch
die begleitenden Nebenumstände.
213
Ilecring muf^ von dem bedeutungsvollen Inhalt
der Vision aufs heftigste berührt worden sein, denn
er begab sich nach Dresden, um von ihr hohen Orts
persönlich Mitteilung zu machen. Er hielt sich in
der Landeshauptstadt mehrere Wochen ,,in einem
hohen Hause" auf und ließ sich hinsichtlich seiner
Aufführung und Charakters prüfen, auch ob er dem
Trunk ergeben oder geldgierig wäre. Gleichzeitig
ließ er einen umständlichen Bericht von seiner Prophes^
zeiung machen und war bemüht, ihn dem König ein*
zuhändigen*).
Aus der, wie gesagt nicht authentischen, „Zuver*
lässigen Nachricht** von 1756 erfahren wir Näheres.
Heering ,, suchte seine damaligen Voraussagungen
schriftlich in die Hände des Cabinets^Ministri, Grafen
von Brühl Excellenz zu bringen, er ließ auch eine
Zeit hernach, in eben diesem Jahre, um Johannis^Tag,
einen Aufsatz an Ihro Majestät unserm allergnädigsten
König selber richten, und übergab solchen Sr. Hochj*
würden, den Königl. Beichtvater, Herrn P. Ludovico
Ligeritz S. J., welcher Herigen zwar anhörete, ihm
aber antwortete, weil er sein Glaubens ^^ Genoß nicht
sey, so könne er sich mit der Sache nichts zu
thun machen, er müsse sich an seinen Beicht *Vater
wenden.
Der Herr Pater gab Herigen hierauf etliche
Groschen Geld, welche Herig anzunehmen sich
weigerte, und sagte, daß er Geldes wegen zu Sr. Hoch*
würden nicht gekommen wäre, doch dabey durch
*) Eine Anfrage beim Staatsarchiv in Dresden führte zu
keinem Resultat. Danach scheint das Original des Berichtes in
Verlust geraten zu sein.
214
fernere Verweigerung dem Respect nicht entgegen
handeln wolte."
Mag der Bericht, dem wir diese Stelle entnehmen,
auch apokryph sein, so haben wir doch um so weniger
Grund an der Wahrheit zu zweifeln, als Graf Brühl,
der allmächtige Premierminister, erst 1763 starb, und
man es kaum gewagt haben würde, seinen Namen
oder den des Beichtvaters Ligeritz zu mißbrauchen.
Dasselbe gilt von dem weiter unten genannten Grafen
Hennicke. Die Vermutung liegt nahe, daß Süße
die Namen aus Gründen der Diskretion verschwieg.
Im Kern stimmen übrigens die Berichte ja völlig
überein, nur daß der anonyme eine Ergänzung
liefert.
Diese Prophezeiung nun traf im vollen
Umfange ein! Als Heering die Vision hatte, opes=
rierten die Preußen noch in Schlesien, niemand konnte
etwas von ihrem Übergreifen auf Sachsen, geschweige
denn dem Ausgang der Operationen sagen. Die
Schlacht bei Kesselsdorf, in der Leopold von Dessau
die Sachsen schlug, fand ja erst am 15. Dezember
1745 statt, Dresden wurde besetzt, doch schon am
25. Dezember daselbst der Friede zwischen Preußen,
Sachsen und Österreich geschlossen. Berücksichtigt
man noch, daß es Preußen im Jahre 1744, als Heering
die Vision hatte, militärisch sehr übel ging, so er^
scheint das Eintreffen der Prophezeiung noch merk*
würdiger.
Das muß auch — nach der ,, Zuverlässigen Nach*
rieht*' — Graf von Hennicke gefühlt haben, denn er
ließ nach der Schlacht bei Kesselsdorf den Fischer
zu sich kommen ,,und sich von im mündlich anzeigen,
215
was Herigcn fast 2 Jahr vor der Kesselsdorffer Bataille
(wie Herig zu reden pfleget) vom HErrn gezeiget,
und anzuzeigen befohlen worden, bey welchem Ver*
hör aber Herig, wie er erzehlet, abermals wenig
Glauben gefunden, sondern weil er unter seinen An^
führungen unter andern anzeigete, daß er auch bey
dem ihm angezeigeten Sachsenlande bevorstehenden
Ungewitter das fünfte Capitel des Propheten Jeremiä
aufgeschlagen, wäre er von vorerwehnten hohen Mi#
nister mit dem Bescheide dimittiret worden, daß
Herig verschiedenes aus der Bibel nehme, und solches
auf künftig geschehen sollende Dinge, und auf sich
applicire." Heering ist seitdem viele Jahre lang seiner
Vorahnungen wegen nicht wieder nach Dresden ge^
kommen.
Die rationalistische Erklärung des Grafen Hennicke
ist zweifellos die nächstliegende. Wir würden sie
uns auch ohne weiteres zu eigen machen und den
Fischer als Eideshelfer für die bei einigen Personen
bestehende Prophetengabe nicht nennen, wenn dem
nicht die gewichtigsten Bedenken entgegenstehen
würden.
Zunächst ist es auffällig, daß — selbst angenommen,
er habe biblische Verhältnisse auf seine Zeit über^
tragen — diese Übertragung durch die Tatsachen be*
stätigt wurde. Denn statt von Sachsen, Dresden,
dem Oberen Tor und der kurzen Frist des Abzuges,
hätte er auch von ganz anderen Parteien und Lokali:*
täten reden können. Immerhin ist die Möglichkeit,
es handle sich hier lediglich um Zufall, nicht völlig
von der Hand zu weisen. Stutzig macht allerdings
die in den ,, Zuverlässigen Nachrichten" mitgeteilte
216
Äußerung des Generals Böse, Kommandierenden in
Dresden, der König Friedrich antwortete; „Aus einem
Lustgarten könne er sich nicht wehren". Die
Übereinstimmung dieser Worte bei Übergabe der
Stadt mit den in der Vision gebrauchten, das Heer
würde in Dresden „wie in einen offenen Garten
einziehen", ist auf alle Fälle erstaunlich.
Doch der Deutung auf Zufall bei Zugrunde*
legung dieses einzigen Falles steht noch ein anderes
sehr gewichtiges Bedenken entgegen: Heering war es
unbenommen, aus der Bibel nach Herzenslust zu
prophezeien. Warum tut er es nur in diesem
konkreten Falle? Warum ist er vor allem so
sehr von der Richtigkeit des Geschauten über:*
zeugt, daß er die langwierige und kostspielige
Reise nach Dresden unternimmt und dabei zum
mindesten Gefahr läuft als Phantast verspottet zu
werden?
Mir persönlich scheint es sich hier tatsächlich
um eine Vision zu handeln, die Heering vielleicht
nachträglich — seinem Bildungsgrade und Ideenkreis
entsprechend — biblisch verbrämte.
Doch unterlassen wir es, Erklärungsversuche zu
machen, bevor die Tatsachen einwandfrei feststehen.
Die Vermutung, daß es sich hier tatsächlich um
eine Vision handelt, wird zur Gewißheit erhoben
durch die nachfolgenden Prophezeiungen desselben
Mannes. Er fuhr nicht etwa fort, Biblisches auf seine
Zeit zu übertragen — was bei dem Erfolge der ersten
Prophezeiung das Nächstliegende gewesen wäre — ,
sondern er hat im Gegenteil mehr als ein volles Jahr*
zehnt überhaupt nichts mehr geweissagt.
217
Erst Mitte März 1756 stellte sich die erste Vision
wieder ein und damals war es auch, daß er erstmalig,
und zwar aus freien Stücken, zu seinem Beichtvater
Süße kam. Das zweitemal suchte er Süße am Kar*
Freitag des gleichen Jahres auf, zum drittenmal aber
Ende Juli 1756, „bey welchem seinen dreymaligen
Anbringen er einmal wie das andremal mit innigster
Gemüthsbewegung, ja mit Jammern und mit Thränen
anzeigete, wie er sein mir bereits etlichemal eröffnetes
Anbringen nicht weiter mehr zu verbergen wüßte,
er fände sich Tag und Nacht getrieben, es dem Aller*:
gnädigsten Landesvater anzuzeigen. Das Unglück
wäre nahe und nicht weit mehr entfernet.**
Wiewohl nun Süße fürchtete, daß Heering kein
Gehör finden würde, da er, wie bei seinem Bildungs*
grade ja natürlich, keinen ordentlichen Vortrag halten
konnte und überdies mit einem Sprachfehler behaftet
war, konnte er ihm doch das verlangte Führungs*
attest nicht vorenthalten. Es war datiert vom 2. August
1756^). Gleichzeitig verschaffte Heering sich ein
Attest von seinem ehemaligen Beichtvater M. Clauß,
Pfarrer in Schandau.
Ausgestattet mit beiden Dokumenten ging er
gleich nach Dresden, wurde von einem Minister
gnädig aufgenommen, brachte seine Prophezeiung vor
und ging dann ,, ruhig und freudig, sich seines Ans»
liegens entledigt zu haben** wieder heim.
*) Abgedruckt in „Zuverlässige Nachricht", S. 11. Der
Zweifler möge daraus ersehen, daß wenigstens die in der ,,üms
ständlichen Nachricht" berichteten Nebenumstände richtig sind.
Denn die ,, Zuverlässige Nachricht" erschien ja bereits 1756
im Druck.
218
Auch der größte Skeptiker wird zugeben, daß
es sich hier nicht um einen Schwindler handelt,
sondern um einen Mann, der zweifellos persönlich von
der Wahrheit und Wichtigkeit seiner Visionen über*
zeugt ist. Stellt sich nun heraus, daß diese auch
objektiv zutreffen — und zwar nicht etwa nur in
einem einzelnen Fall, sondern wiederholt und in
mehreren Punkten, so daß der Zufall auszuscheiden
scheint — , dann steht nichts im Wege, Heering unter
die Zahl der mit Prophetie ausgestatteten Personen
einzureihen.
Vorausgeschickt sei, daß nach Süße (S. 20) seine
Visionen nicht „Glaubens — oder die H. Göttliche
Offenbarung der Bibel angehende Sachen, sondern
lediglich Dinge und Vorfälle sind, welche die bevor:*
stehende Schicksale des Weltlichen Regiments, der
Policey und Kirche vornämlich anbelangen.** Das be#
stärkt unsere Vermutung, daß es sich nur um unbe*
wußte religiöse Einkleidung handelt.
Gehen wir nun auf den Inhalt der Prophe*
zeiungen des Jahres 1756 ein!
Süße schreibt darüber (S.20f.): „Der HErr
habe ihn sehen lassen, daß nächstens ein großes
Ungewitter entstehen würde, durch welches
unser Sächsisches Vaterland mit Krieg über*
zogen werde, und solches unsere hiesige Elb*
gegend zuerst betreffen würde. Hierbey würde
es hart zugehen; Und dieses Ungewitter wäre
sehr nahe, so, daß Ihro Königl. Majestät, unser
Allergnädigster Landesvater, an Dero Reise
nach Dero Königreichen würden gehindert
werden, Höchst* Dieselben würden nicht von
219
Dero Volke gehen'). Es würde aber das Un*
gewittcr mit seiner Heftigkeit in unserer
Gegend nicht von langer Dauer seyn'"'), sondern
es würde sich noch weiter ziehen und viel Blut
vergossen werden. Besonders würde dieses
Ungewitter in unsserm Vater lande auch daher
viel Elend nach sich ziehen, weil die junge
Mannschaft würde viel leiden müssen. Er hätte
auch Brandstätte gesehen, und er wäre sogar
auf selbigen herumgeführet worden. So sei ihm
auch ein Acker gezeiget worden, welcher als
ein bisher unfruchtbar gelegner Acker hätte
müssen umgerissen und von neuem geflüget
und besäet werden, und dis darum, weil der
Acker theils gar unfruchtbar und verwildert
gelegen, theils Gerste darauf gesäet worden.
Gerste bringe aber ein herbes Brot.
Ferner zeigte der Fischer mit an: Wie ihm
^) Diese Prophezeiung ging insofern in Erfüllung, als
Friedrich August IL am 10. September ins Lager bei Pirna ging,
dann, als die Armee kapitulierte, auf den Königstein flüchtete.
Später begab er sich allerdings nach Warschau und kehrte erst
nach dem Friedensschluß wieder nach Sachsen zurück. Daß die
junge Mannschaft viel leiden mußte, erfüllte sich ganz, denn
Friedrich der Große stellte die gefangenen Sachsen in sein
eigenes Heer ein und zwang sie, so gegen ihr Vaterland zu
fechten.
-) Zu dieser Stelle bringt Süße die Anmerkung: „Die erste
Heftigkeit des unsere Gegend betroffenen Kriegs müßten etwa
7 bis 8 Wochen seyn, da gleich zu Anfang des Krieges 1756
vom Anfang des Septembr. bis zur Mitte des Octbr. die Preußische
Armee einen Cordon um unsere Eibgegend des Sächsischen
Lagers gezogen, und solche auf drey Meilen lang und zwey
Meilen breit eingeschlossen hatten."
220
auch zwo Kirchen gezeiget worden wären, eine
in der Stadt, die andere außer der Stadt, in
welchen man aber dem HErrn nur das halbe
Herz gegeben habe; der Herr hätte aber ge^
sprechen: Ich will das ganze Herz haben, das
ganze Herz will ich haben, und das will ich
mit dem Finger des Heil. Geistes rühren^).
Noch ferner führete der Fischer an: Daß
sich Dresden ihm in den Prospekt eines Gar:»
tens gezeiget hätte, aus welchem Garten die
stärksten Bäume wären mit den Wurzeln
herausgerissen, undvomLande hinweggeführet
worden'^). So habe er auch gesehen, daß der alte
Grundstein wäre herausgerissen, und ein neuer gelegt,
auch die Kirche außer der Stadt geschlossen worden.
Der angegebene Hauptzweck von allen diesen
Anzeigen war endlich dieser, daß der Fischer Heering
sagte, daß ihm der Herr befohlen hätte, dem Aller*
gnädigsten Landesvater es anzuzeigen, daß um
') Die zwei Kirchen sind zweifellos eine symbolische An«
spielung auf die beiden Konfessionen, da bekanntlich das
sächsische Fürstenhaus (die Kirche in der Stadt) katholisch war,
das Volk aber protestantisch. Die Vision fordert augenscheinlich
Freiheit des Glaubens.
') Anm. S. 22: ,, Dieser Bäume wegen meynete man, als
der Fischer Veranlassung und Erlaubnis bekam, seine Anzeigen
vor Hohen Personen zu eröffnen, er hätte damit seine Rück«
sieht auf die Worte der Johannitischen Bul^predigt, Matth. III, 10.
Daher der Fischer befraget wurde, ob die Bäume abgehauen,
und ins Feuer geworfen worden wären? Worauf er geantwortet:
Die Bäume wären ausgerissen, und vom Lande weggeführet
worden. Wovon man sonst einen Farallelausdruck findet, 1. Buch
der Könige XIV. v. 15." Vielleicht ist es eine symbolische An»
deutung auf die Flucht der Vornehmen.
221
des herannahenden Ungewitters willen, möchte
ernstlich im Lande Buße geprediget, und die
Verbindung mit Süd^Ost und Süd^West möchte
verlassen werden, so wolle Gott dem Hause
Sachsen wohlthun.
Fragte ich den Fischer Heering, woher dieses
von ihm beniemte herannahende Ungewitter ent*
stehen sollte; so antwortete er mir folgendergestalt:
Es würde sich Süd^Ost und Süd^West mit
einanderwider Nord^West verbinden, Süd^West
wäre gedemüthiget worden, wie Vier Helden
neben einander gegen Süds=Ost und Süd^West
stünden, welchevierHelden so lange hinter und
neben einander stehen würden, bis Süds^Ost
und Süds^West von einander abließen. Er setzte
hinzu: Es wäre ihm endlich gezeiget worden,
daß der aus Morgen, welcher ihm mit dem
Namen wäre genennet worden, daß es der
Türke sey^), herangezogen wäre, worauf sich
der Krieg seitwärts gegen Norden gezogen
hätte."
^) Anm. zu S. 23: ,,Als Referent und Concipient dieses
Vorberichts, unter den 4ten März 1758 aus einer ausländischen
Residenz, durch den Secretair der Gemahlin eines vornehmen
Ministers, vermittelst eines Briefes, sondiret wurde, was denn,
bey denen damaligen Kriegstroublen, der Proßner Fischer
(welches ehrlichen Mannes vormals entdeckte Gedanken gar
nicht zu verwerfen gewesen, sondern in billige Erwegung zu
ziehen wären) noch gegenwärtig äußere, und ich derhalben den
Fischer auf sein Gewissen fragte, blieb er beharrlich bey seinen
bisherigen Anzeigen, und bat mit Thränen, den endHchen ihm
gezeigten Heranzug des Türken, besonders und ausdrücklich mit
zu melden."
222
Auf diese ziemlich unklaren Äußerungen hin
fragte Süße sein Beichtkind, was er denn unter den
Himmelsrichtungen verstehe. Er erfuhr dabei, daß
Heering die Potentaten nach der Lage ihrer Länder
bezeichne, daß also Süd* Osten die Kaiserin Maria
Theresia sei, Süd ^^ Westen aber König Ludwig XV.
von Frankreich und daß er eine zwischen beiden
Mächten sich vollziehende Alliance vorhersehe. Das war
um so merkwürdiger, als das Publikum — und dem*
nach auch der Fischer — von diesen hohen Bündnissen
nichts ahnte und auch tatsächlich ein Vertrag zwischen
Wien und Versailles noch gar nicht geschlossen war.
Unter Nord* Westen verstand Heeringen den
König Friedrich den Großen von Preußen. Wer aber
die drei Helden wären, „welche mit des Königs von
Preußen Majestät zusammen vier Helden neben
einander stehend, ausmacheten, konnte er mir damals
so wenig, als noch jetzo anzeigen. Es müßten also
vermutlich die Preußischen Alliierten seyn, worüber
sich aber Heering, etwa wegen Mangel der Erkenntnis
derer Geschichte und derer Staaten, eigentlich aber,
wie er ausdrücklich sagt: weils ihm nicht weiter
gezeigt worden wäre, nicht deutlicher zu erklären
wußte'). Der Fischer setzte dieser seiner Anzeige
nur noch dieses hinzu, die vier Helden wären jetzo
noch nicht beysammen, sie würden aber schon noch
erscheinen, und da werde der Held aus Nord*Westen,
der König in Preußen, wenn er ziemlich ins Enge
getrieben, und matt geworden sey, neue Kräfte be*
*) Es werden wohl außer Friedrich dem Großen, dessen
Bruder Heinrich, und der Herzog von Braunschweig gemeint
sein. Vielleiclit ist der vierte Zar Peter III.
223
kommen; diese Hiltsvölker des einen zu des Königs
in Preußen getretenen Helden, wären grün gekleidet
gewesen. Hierauf wären die vier Helden standhaft
bey einander gestanden, und wären nicht gewichen, bis
ein neuer Grundstein wäre geleget worden^).**
Süße ließ darauf die Prophezeiungen aut sich
beruhen und ermahnte den Fischer zur Ruhe, ja er
dachte gar nicht weiter an Heering und seine seit
etwa dem 15. März 1756 und dann noch einige Male
dem Geistlichen erzählten Visionen. Da fand er auf
einmal in Nummer 61 der Erlanger Zeitung vom
22. Juni des Jahres die Bekanntgabe des ,,Unions?
Freundschafts SS Defensives Traktats" zwischen
Maria Theresia und Ludwig XV. Und zwar
war er am 1. Mai 1756 zu Versailles geschlossen
worden, also tatsächlich etwa sieben Wochen
später, als der Fischer die Vision gehabt hatte.
Die Erlanger Zeitung aber fing jetzt erst an
ihre Stellungnahme dem Vertrag gegenüber
zu ändern, hatte sie sich doch noch in ihrer
Nummer 51 vom 15. Mai des Jahres in dem
Artikel ,,von allgemeinen Staatshändeln*' ab^^
lehnend verhalten.
Damals hatte sie nämlich (S. 393) geschrieben,
man hätte verschiedentlich in den Zeitungen einen,
rätselhaften Artikel gelesen, nach dem zwischen zwei
der vornehmsten Höfe wichtige Verhandlungen im
^) Der „neue Grundstein" ist zweifellos der russische
Regierungswechsel, als auf den Freund Friedrichs, den Zaren
Peter III., die preußenfeindliche Katharina II. folgte. Mit den
Hilfsvölkern sind russische gemeint. Heering verwechselt über*
haupt die Russen mit den Türken.
224
Gange wären. Diese Höfe, so sei leicht zu raten,
sei der österreichische und französische. Sie brachte
dann aus der Leydener Zeitung zwei Artikel mit der
Mitteilung, zwischen Wien und Versailles bestehe
die Absicht ein Bündnis zu schließen, ja es sei be*
reits geschlossen. Das war also am 15. Mail
Daß vorher der Fischer nicht die allergeringste
Ahnung von den Vorgängen der hohen Politik haben
konnte, liegt auf der Hand. Aber selbst die Ver*
mutung, er habe sich — was nach Lebensstellung und
Bildungsgrade völlig ausgeschlossen ist — mit poli*
tischem Instinkt begabt, zum Sprachrohr der öScnU
liehen Meinung machen wollen, schießt völlig da*»
neben.
Wie die öffentliche Meinung noch zwei Monate
nach seiner Vision den Bündnisfall beurteilte, geht
deutlich aus der Erlanger Zeitung vom 15. Mai hervor.
Sie fährt fort: „Diesen beyden Artickeln öffentlich
zu widersprechen, sehn wir uns sowohl aus natürlichem
Trieb, als Pflicht halber, verbunden.
.... Wie gesagt, es streiten diese Gerüchte so*
wohl wider die Vernunft als die Erfahrung. . .
Es ist offenbar, daß dergleichen wunderliche
Gerüchte bloß von ga\U und milz* und hirnsüch*
tigen Gemüthern, die ihren Mäusekoth auch gern
für politischen Pfeffer verkaufen wollen, herrühren,
und ob sie wohl nicht ungeahndet bleiben werden,
dennoch nicht die geringste Attention des Publici
verdienen.'* Auf S. 481 der Nr. 61 revoziert die
Zeitung natürlich alles. Das war also schon damals sol
j Daraus geht zur Evidenz hervor, daß wir
jes bei der Vorhersehung des Bündnisses
225
zwischen Österreich und Frankreich mit einer
richtigen Prophezeiung zu tun haben. Denn 1.
lag das Geschaute völHg außerhalb des Interessen*
oder Wissensbereichs des Fischers. 2. Wußte er von
dem Vertrage schon geraume Zeit, bevor er überhaupt
abgeschlossen war. Ja, noch nach seiner Unteres
Zeichnung hielt die öffentliche Meinung ihn für eine
Unmöglichkeit. Damit fällt aber die Vermutung,
Heering habe kombiniert, in sich zusammen. Wie
bei der Voransage des Jahres 1744 handelt es sich
also auch hier um eine richtige Vision.
Das war auch Süße sofort klar und gerade dem Um*
Stande, daß sich unter seinen Augen ein solches auffallen*
des Phänomen abgespielt hatte, ist es zuzuschreiben, daß
er Heering hinfort erhöhte Aufmerksamkeit schenkte.
Merkwürdig ist übrigens, daß nicht nur Heering
sich bei der Prophezeiung des Bildes eines Unwetters
bediente bzw. daß ein solches ihm erschien, sondern
daß auch die Erlanger Zeitung in ihrer Nummer 75
vom 10. August 1756 (S. 393) - wie Süße feststellt -
die gleiche Metapher gebraucht.
Nachdem sie von den täglich bedenklicher
werdenden Zeichen der Zeit gesprochen, fährt sie
fort: ,,. . . Alles, was uns zu sagen erlaubt seyn mag,
besteht [darinnen, daß, wenn bey schwülen Tagen
heftige trübe Wolken aufsteigen, und selbige sich
thürmen, anzünden und zusammenstoßen, gemeinig*
lieh Blitz, Donner, Hagel und andere schwere Wetter*
schaden darauf zu folgen pflegen. . . Wolken ziehen
auf (geharnischte Wolken), das sehen wir vor Augen.
Ob sie sich aber thürmen, zusammenstoßen, blitzen
und donnern werden, steht zu erwarten."
Kemmcrich, Prophezeiungen 15
226
Süße macht dazu die Anmerkung (S. 29), daß
das Zusammenstoßen, Blitzen und Donnern, das der
Zeitung im August noch ungewiß erschienen war,
bereits im Oktober des gleichen Jahres 1756 eintraf.
Denn am 1. Oktober hörte man in der Prossner
Gegend den Schlachtendonner von Lobositz und als
am 12. Oktober das Lager der Sachsen aufbrach,
ging es auch nicht ohne Blitzen und Donnern ab.
Tatsächlich hatte Heering den Ausbruch des
Siebenjährigen Krieges sechs und einen halben
Monat früher unter dem Bilde eines Unwetters
gesehen und prophezeit.
Esist dies also die zweite Vision des Jahres 1756,
die in Erfüllung ging.
Es liegt auf der Hand, daß die verblüffende
Übereinstimmung der Aussagen des ungelehrten
Fischers mit den sich später einstellenden hoch*
politischen Ereignissen im Lande bekannt wurde. Als
daher um die Mitte des August die Sachsen auf dem
Marsche gegen Pirna bei Schandau eine Schiffbrücke
schlugen, sondierte man Heeringen, der sich damals
gerade dort aufhielt, was er von der Brücke hielte.
„Worauf er, ob er schon merkte, daß man ihn
mehr spöttisch aufziehen, als im Ernst befragen wollte,
diese Antwort gab: Daß diese Brücke hier nicht
viel nütze seyn, und nicht gebraucht werden
würde, aber Leipzig möchte man wohl ver*
wahren, da habe er fremde Völker ankommen
sehen." (S. 31.)
Damals wußte man weder, daß die Schiffbrücke
unnütz sei — denn sonst hätte man sie ja nicht ge*
schlagen — noch auch vermutete man den am
227
29. August erfolgten Einzug der Preufk^n in Leipzig,
der den Hof zur Flucht zwang.
Dies war also die dritte richtige Prophe*
zeiung Heerings im gleichen Jahre, und zwar ging
sie diesmal bereits nach 14 Tagen in Erfüllung.
Im Oktober 1757 aber kamen auch fremde
Kontingente bestehend aus der kombinierten Reichs*:
und der französischen Auxiliararmee, nach Leipzig,
so daß auch diese Prophezeiung, wenn auch nicht
sofort, so doch nach einiger Zeit eintraf.
Endlich prophezeite Heering Süße und anderen
einen Rückzug an, der während die sächsischen Truppen
zwischen Pirna und Königstein lagerten, vom Haupt*
lager Struppen aus über Markersbach versucht, aber
durch den preußischen Kordon verhindert wurde.
Das geschah einige Wochen vor der Ausführung.
Bedeutungsvoller war eine weitere Vision des
Fischers neun Tage vor der Schlacht bei Roßbach
am 5. November 1757. „Nach seinem gewöhnlichen
Trieb, wie sonst, ohne das geringste Veranlassen und
dessein,** kam er zu Süße und zeigte ihm an, daß
wieder etwas Wichtiges bevorstehe, „worbei er eben*
falls, wie sonst ängstlich wünschte, daß er solches
Hohen Orts möchte eröffnen können. Er sagte in*
dessen so viel hiervon:
Man möchte Gott ernstlich anrufen, daß
das vorseyende Unternehmen möchte können
abgewendet werden, indem es in der Schärfe
nicht gut hinaus gehen würde. Es zögen
nämlich zwey Heere in unserm Lande gegen
einander, ein großes und ein kleines, von
welchen er gesehen, daß das letztere gesieget
15*
228
hätte, und das große wäre ganz zerstreuet
worden." (S. 32.)
Als diese Prophezeiung wider Erwarten in
Erfüllung ging, kam Heering zu Süße und erinnerte
ihn, ob er auch an seine Vorhersage gedacht hätte.
Also wieder eine erfüllte Vision!
Am meisten Aufmerksamkeit erregte der Fischer
mit zwei Prophezeiungen des Jahres 1758 sowohl bei
den Landeseinwohnern, als auch bei den beiden sich
in der Königsteiner Gegend gegenüber stehenden
Armeen.
„Er zeigete nämlich fast ein Vierteljahr
vorher, ehe und bevor in der Mitte des Augusts
erwehnten 1758sten Jahres die Annäherung
der Kayserlichen und Reichsarmee in unserer
Eibgegend geschähe, an glaubwürdige noch
lebende und es allezeit geständige Personen
des Schandauer Kirchspiels an, wie er gesehen
hätte, daß auf dem Schandauer so genannten
Kirchstück am Eibufer wäre geschanzt, und
gegen das sogenannte Krippner Hörn über,
eine Schiffsbrücke geschlagen worden, über
welche er fremde Völker hätte sehen über*
gehen."
Diese Vision ging in der Zeit vom 14. zum
19. August in Erfüllung!
Tatsächlich wurde von fremden Kriegsvölkern
am angegebenen Orte eine Schiffsbrücke geschlagen,
sowohl bei Krippen, als auch am andern Eibufer
zwischen Postelwitz und Schandau. Auf dem vorge*
zeichneten Schandauer Kirchstück, wurde ein Brücken*
köpf gebaut und Schanzen, die nebst cien Bäckerei*
229
gcbäudcn der kaiserlichen Regimenter und der Reichs*
armee noch in späteren Jahren zu sehen waren.
Die Brücke aber passierten die Truppen des Lagers,
das im August 1758 auf der Höhe der Rathmans*
dorfer Felder neben Schandau errichtet wurde.
Die zweite Prophezeiung dieses Jahres erregte
noch größeres Aufsehen. Heering erzählte seinem
Beichtvater und einigen Bekannten bei Annäherung
der kaiserlichen und der Reichsarmee folgendes:
,,Die Zeit ist nun da, wen das Schwert
trift, den wirds treffen. Über der Elbe (d. h.
auf dem Königstein gegenüberliegenden Ufer) wird
sich vornehmlich noch ein größeres Heer zu*
sammenziehen, bey selbigen wird es blutig
zugehen, und es wird auch endlich noch
herüber über dieElbekommenmüssen.*' (S.53f.)
Diese Vision ging in Erfüllung, als die
große Daunsche Armee eintraf, von deren
Herannahen in der Königsteiner Gegend noch niemand
etwas Näheres wußte oder wissen konnte.
Der Prophezeiung fügte Heering die Worte hinzu:
„Der Herr zeigete mir endlich, daß das
heranziehende Reichsheer sich wiederum über
die Berge nach Böhmen zurückzog. Ich sähe
recht eigentlich die Maulthiere nach einander
hinüberziehen, undjenesHeer (daspreußische)
zog hernach, da erst alles vollbracht war, auch
in Frieden aus Sachsen."
Die Erfüllung dieser Prophezeiung war damals
ganz unwahrscheinlich mit Rücksicht auf die gegen
Dresden im Vormarsch befindliche große Heeres^
macht und die überall getroffenen festen Dispositionen.
250
Als trotzdem die Vision sich nach drei
Monaten bewahrheitete, war jedermann ver*»
wundert und viele Standespersonen, besonders ein
damals in Pirna bei der kaiserlichen Armee liegender
Fürst, trugen Verlangen den Fischer vor ihrem Abs*
marsch zu sehen und zu sprechen. Da er so Gelegen^
heit hatte, seine Prophezeiungen hohen Orts vorzu*
bringen, war er befriedigt und hielt sich — auch auf
den wiederholten Rat Süßes hin — ruhig. Er sah
damals nur noch, daß es jenseits der Elbe und im
Norden von Sachsen am schlimmsten zugehen würde
und daß jenseits Neustadt bei Dresden „ein Balgen'*
sein würde, sowie daß endlich eine solche Heeres*
macht in Sachsen sich versammeln würde, daß das
Land wie eine Tenne zertreten würde und die Huf*
eisenspuren auf der Erde unzählig seien. Im übrigen
bat und flehte er nur noch, daß das Werk der Buße
und Besserung unter den Menschen noch mehr zu*
nehmen möchte. Hierbei bezog er sich weinend auf
Christi Bußgleichnis (Luc. 13).
Die Vision läßt sich ungezwungen auf die
Schlacht bei Kunnersdorf 1760 deuten, sowie auf das
Eintreffen der Österreicher bei Dresden*Neustadt, die
vergebliche Belagerung Dresdens durch Friedrich II.
und den berühmten Finkenfang bei Maxen, alles
im Jahre 1760.
Sollte jemand an der Wahrhaftigkeit Süßes
zweifeln, was mir nach dem ganzen Tenor des Be*
richtes ausgeschlossen scheint, so mag er sich daran
halten, daß die Prophezeiungen auch in außerkirch*
liehen Kreisen Aufsehen erregten.
231
Siebentes Kapitel
Die Art der Prophezeiung Heerings
Was nun die Art und Weise betrifft, in der sich
bei Heering die Prophezeiungen einstellten, so gibt
auch darüber Süße (S. 36ff.) ausführlichen Bericht.
Er hatte seine Vorahnungen oder Visionen keines==
wegs im Schlaf, vielmehr sah er im Wachen ,,Ges=
stalten, Vorbildungen und Prospekte", hörte Stimmen
oder verspürte in sich immerwährende ,, Anregungen,
worbei er allemal eine Freudigkeit, es bald anzuzeigen,
verspüret".
So sah er bei der ersten Erscheinung des Jahres
1744 Gestalten, es war also eine richtige Vision. Die
Vorahnung der Schlacht bei Kesselsdorf stellte sich
als „Vorbildung" ein, wobei ihm das fünfte Kapitel
Jeremiä aufgeschlagen wurde. (Wie man sich das zu
denken hat, sagt Süße nicht. Ich kann mir daraus
keinen Vers machen.)
Den Ein* und Auszug der Preußen in Dresden
im Jahre 1745 sah er in einem ,, Prospekt", also gleich*
falls als Vision, ebenso den unfruchtbar liegenden
Acker und das Unwetter des Jahres 1756, die sich
gegenüberstehenden Mächte, das 1757 gegen die
Preußen stehende Reichsheer im gleichen Jahre und
232
endlich das Reichsheer im Jahre 1758 drei Monate
vorher im Rückzuge auf Böhmen.
Als er Jesus und die beiden Kirchen sah, hörte
er die Stimme Christi wieder. Hatte er eine solche
Vision oder Eingebung gehabt, dann drängte es ihn,
sie hohen Orts zu melden.
In einer Anmerkung (S. 38) des, wie bereits ein.»
gangs erwähnt, unveränderten Abdrucks von Hee**
rings vom 11. Juli 1759 datiertem Bericht erwähnt er,
daß er dem kranken Heering am 24. November 1760
das Abendmahl gereicht habe. Hierbei erzählte er,
daß er „etwa vor drey Wochen, eine Versammlung
gesehen, welche von einem, der das Handwerkszeug
eines Maurers, besonders eine Maurerkelle, in der
Hand gehabt, wäre angeführet worden, von welcher
Versammlung er den Gesang: Allein GOtt in der
Höh sey Ehr etc. hätte anstimmen und singen hören,
und ohnerachtet sich immer noch mehrere zu dieser
Versammlung hinzugefunden, welche das Getöse dieses
Liedes immer heller gemacht, so wäre doch von beyden
Seiten dieser Versammlung eine noch größere Menge
gewesen, welche solchen Gesang mit seinen Worten:
all' Fehd hat nun ein Ende, nicht hätten stören
wollen, und sich mit dem Gehöre Feldweg gewendet,
es aber dennoch hätten hören müssen.**
Zu dieser Erscheinung bemerkt Süße (S. 39):
„Ob dieses von dem nach zwey Jahren erfolgeten,
aber von den Partheyen mit ganz ungleicher Ge*
sinnung angenommenen Frieden, abermals eine Hee*
ringische Voraussagung hat seyn mögen, solches über*
lasset man dem G(cncigten) L.(eser) zur selbst*
beliebigen billigen Hcurtheilung.**
233
Daß jeder Krieg einmal aufhören muß, wissen
wir auch ohne besondere Inspiration. Deshalb scheint
mir Süße mit seiner Reserve gut getan zu haben.
Überhaupt will es mir scheinen, als hätten bei Heering
die akustischen Erscheinungen weniger zu bedeuten,
als die optischen, ganz zu geschweigen davon, daß
hier der Verdacht, es handle sich lediglich um reli==
giöse Exaltationszustände, nicht leicht von der Hand
zu weisen ist. Ein Mann, der immer in die Kirche
geht, viel die Bibel liest, bei jeder Gelegenheit zu
seinem Beichtvater läuft, beweist dadurch, daß er
völlig in der Weihrauchatmosphäre der Kirche lebt.
Da dürfte auf religiöse Visionen auch dann wenig
Gewicht gelegt werden, wenn nicht gleich mit so
schwerem Geschütz, wie einer persönlichen Erschei*
nung und Anrede Christi aufgefahren wird.
Von seinen Visionen machte Heering meistens
in Form eines Gleichnisses Mitteilung. Und zwar
sagte er: „Ich prophezeye nicht, ich deute auch nicht,
sondern ich zeige nur an, was mir der HErr anzu*
zeigen befohlen hat. Und darbey habe ich dem HErrn
dreymal geschworen, daß ich von dem allen, was mir
der HErr befohlen hat, nichts verhalten, und mich
keine Furcht um meinet und der Meinigen willen
abhalten lassen will." Dabei weinte er heftig.
Was seine Empfindung oder richtiger, was sein
Gefühl im Augenblick der Prophezeiung betrifft, so
sagte er davon: „Es ist mir vom HErrn gegeben
worden, der HErr hat mirs befohlen, der HErr hat
mirs gezeigt, Er hat mirs sehen und — bisweilen —
der HErr hat michs schmecken lassen.'*
Der Fischer glaubte also zweifellos im göttlichen
234
Auftrage zu handeln. Aber selbst wenn das nicht
der Fall gewesen wäre, wenn er hätte täuschen wollen,
was ja allerdings nach Lage des Falles unmöglich ist,
so würde das nicht das allergeringste an dem wunder.»
baren Phänomen ändern, daß seine Prophezeiungen,
soweit es sich um Irdisches und nicht um religiöse
Phantasmagorien handelte, eintrafen.
Nachdem Süße in dieser eingehenden und ge^
wissenhaften Weise seine Beobachtungen am Fischer
niedergelegt hat, wobei er dem hartnäckigen Zweifler
rät, doch den Prossener persönlich aufzusuchen, prä*
zisiert er seine eigene Stellungnahme.
Er betont ausdrücklich (S. 42 f.), daß er „der
Sache neuer Offenbarungen niemals zugethan gewesen,
sondern jederzeit ein Mißtrauen gegen selbige gehabt
habe.** Das ließ sich ja bei einem Mann der Auf*
klärungszeit, nicht zum mindesten bei einem protestan*
tischen Geistlichen, voraussetzen und ist auch ganz
der Standpunkt, den Schreiber dieses allen solchen
Phänomenen gegenüber einnimmt. Aber jeder Zweifel
muß bei einem denkenden und sich gegen jegliches
Dogma, sei es nun ein kirchliches, naturwissenschafts*
liches, philosophisches oder sonst eines auflehnenden
Menschen der Gewalt der Tatsachen gegenüber ver*
stummen.
So ging es auch Süße. Und das, wiewohl er
schon mit Rücksicht auf sein Amt aus einer gewissen
Reserve nicht heraustrat, dem Fischer zahlreiche Ein*
Wendungen machte und keinen Beifall zeigte ,,und
diss zwar aus der guten Absicht, dass ich eine etwa
bey ihm excedirende Phantasey, und einen gemeinig*
lieh damit verknüpften Hochmut, oder auch wohl
235
einen ungeziemend partheyische Absichten verdeckt
hegenden Sinn, nicht verstärken möchte.*'
In seiner Ratlosigkeit, wie sich diese merkwürdige
Gabe des Fischers erklären lasse, wandte sich Süße,
aber erst nachdem er den Tatbestand, wie wir ihn
oben finden, festgestellt hatte, an Werke protestan*
tischer und katholischer Theologen. Was er dort
fand, hat für uns wenig Interesse, deshalb unterlassen
f wir es, ihm in eine Literatur zu folgen, die der Er^^
klärung nicht näher steht, als wir'). Nur mit dem
Unterschied, daß wir ehrlich bekennen, bei dem
gegenwärtigen Stande der Wissenschaft ein ignoramus
aussprechen zu müssen.
Begeht die offizielle Wissenschaft den grotesken
Fehler, die Tatsachen zu leugnen, weil sie keine he*
friedigende Erklärung weiß, so die Theologie den
andern — allerdings weit geringeren — , daß sie eine
Lösung des Rätsels gefunden zu haben glaubt, wenn
sie mit Worten wie Gott, Lieiliger Geist, Offene
barung usw. operiert. Uns genügt die Feststellung
des Tatsächlichen, d. h. in diesem Falle:
daß der Fischer Heering aus Prossen die
Gabe der Prophezeiung besaß.
^) Die von Süße genannten Schriften sind: 1. Johann
Charlier, genannt Gerson, Traktat de discernendis veris visio#
nibis a falsis. Helmstedt 1692. Als „Abhandlung von Prüfung
derer Geister" ist die Übersetzung dieser Schrift im Anhang der
„Umständlichen Nachricht" S. 131—164 abgedruckt. Hier auch
2. ein Auszug von D. Philipp Jacob Speners „Erklärung, was
von den Gesichten zu halten sey", S. 165—184. Frankfurt a. M.
3. Luthers und 4. Gottlieb Wernssdorfs Ansichten gibt
Süße S. 106 bis 120 wieder. Endlich berücksichtigt er die GuU
achten der NX^ttenberger theologischen Fakultät.
256
Nun wird man zwar ohne weiteres zugeben
müssen, daß die bei weitem überwiegende Zahl der
Prophezeiungen in Erfüllung ging, aber man wird
darauf hinweisen können, daß in unserem obigen
Bericht bei einigen nichts vom Ausgang gesagt wurde.
Deshalb wollen wir aus dem „Vorbericht*' der „Um««
ständlichen Nachricht**, der am 20. August 1771 ah*
geschlossen wurde, also 12 Jahre nach dem Tat*
bestand, wie wir ihn oben kennen lernten, einiges
nachtragen.
Damals hatte Heering prophezeit, daß „das
Preußische Heer, nachdem alles vollbracht
war, in Frieden aus Sachsen zurückgezogen**
werden würde. An dieser Voraussage hielt Heering
fest, wiewohl der Krieg noch sechs Jahre währte und
die Verhältnisse oft so kritisch waren, daß nichts
ferner lag, als die Wahrscheinlichkeit, die Preußen
würden friedlich aus Sachsen abziehen. Und doch
trat dieser Fall ein!
Eine weitere Prophezeiung Heerings nach dem
Friedensschluß, „daß er auf das künftige viel Brand?
Stätte, wie auch viele entkleidete und he*
raubete Menschen in Pohlen gesehen** ging
gleichfalls in Erfüllung.
Wir erinnern uns noch der die Türken („der
aus Morgen**) betreffenden Voranzeige, daß sie sich
künftig in den Krieg einmischen würden. Der
Fischer hatte gesagt: „daß nach denen damaligen, im
Deutschen Reich, sich geendigten Troubeln, sich der
Krieg nordwärts gezogen hätte", daß es sich
also n i c h t um kriegerische Verwicklungen mit Deutsch*
land handeln würde. Da, wie wir sahen, alle Prophe*
237
zciungcn liccrings in erstaunlich kurzer Zeit in Er*
Füllung gingen, so würde die Vermutung nahe liegen,
daß das auch hier der Fall hätte sein müssen. Aber
Heering sagte — wie auch sonst wiederholt — in diesem
Falle ausdrücklich : ,,Zeit und Stunde hat mir der
FiErr hiervon nicht bestimmt".
Unter diesen Umständen dürfte es nicht allzu^s
gewagt erscheinen, auch die Erfüllung dieser Prophe**
zeiung allerdings erst nach einem Jahrzehnt zuzu*
geben, und zwar mit dem Eingreifen der Türken in
den Polnischen Krieg. Zur Verteidigung der Herr«:
Schaft des katholischen Glaubens in Polen und der
Verfassung erhob sich im Jahre 1768 die Konföde:*
ration zu Bar unter Führung des Marschalls Michael
Krasinski, wurde aber, da der polnische Senat die
Russen zu Hilfe rief trotz Unterstützung durch
die Türken, vernichtet.
Bei dieser Gelegenheit können wir Süßes Vor«*
sieht bzw. Skepsis kennen lernen, schreibt er doch
(Vorbericht, S. 25): „Indessen ist meine Absicht nicht,
einen präzisen Apologeten, oder absoluten Verteidiger
von des Fischer Heerings Visionssache überhaupt,
abzugeben, indem ich nicht in Abrede seyn kann,
daß ich ihn allemal, bey seinen verschiedenen eröfneten
indeterminirten oder unbestimmten Ideen und Aus^^
drücken, und bey seiner bisweilen hervorgeblickten
Neigung, zu gleichsam ecstatischen Umständen, für
ein Objekt der Versuchung gehalten und ihn daher
(wie er mir dessen Zeugniß geben wird) auf die ges=
naueste Selbstprüfung einer vielleicht bey sich vor*
waltend lassenden starken Imagination oder Vorbildung,
geführet, und daß er sich dadurch nicht verleiten
258
lassen möchte, sorgfältig angewiesen habe, und noch
fernerweit anweisen werde . . .** Bemerkenswert ist
auch, daß er auf Seite 6 der „Umständlichen Nach^
rieht**, in einer Anmerkung zu der Türkenprophe*
zeiung schreibt „GOtt gebe, und erhöre uns in dem
demüthigen Gebet unserer Lithaney auch darinnen
Gnädiglich, daß zu keiner Zeit, und auch jetzo, bey
denen unter einander entrüsteten Hohen Mächten,
die Interposition oder Einmischung, deren Türken
nicht nöthig und erfolglich sey.*' Aus einer Kleinig«
keit, wie dem Stehnbleiben dieses Ausrufes, ergibt
sich auch, daß der Bericht von 1759 unverändert
abgedruckt wurde.
Mir scheint die Skepsis hier übertrieben. Heering
sagte ausdrücklich, daß die Türken sich erst nach
Friedensschluß einmischen würden. Der Hubertus*
burger Friede wurde 1763 geschlossen, die Türken
aber griffen in die polnischen Unruhen 1768 ein,
also fünf Jahre später. Das will mir nicht so un*
geheuerlich erscheinen *).
Wir wissen ja gar nichts über die zeitliche Be*
grenztheit der Frophetengabe. Im Gegenteil werden
wir später noch sehen, daß es möglich ist, Ereignisse,
die erst nach Jahrhunderten eintreten werden, ge*
nauestens vorher zu sehen. Daß die Erfüllung zu«
meist den Voraussagen Heerings auf den Fuß folgte,
läßt den Schluß durchaus nicht zu, daß es aus inneren
*) Wahrscheinlicher ist allerdings die Deutung, Heering
habe die Polen für Türken gehalten. Da er ja in seinen Visionen
sah, also die Uniformen usw. agnostizieren muike, scheint diese
Interpretation nicht gewagt. Wir werden in einem spätem
Kapitel noch darauf zurückkommen.
239
Gründen so sein mußte. Wir würden, wollten wir
uns ablehnend gegen die Türkenvision verhalten,
stillschweigend die enge zeitliche Begrenzung der
Prophetie oder überhaupt irgendwelche gesetzmäßige
Gebundenheit voraussetzen. Dazu sind wir aber bei
dem geringen Grade unserer Kenntnis von dem ganzen
Phänomen um so weniger berechtigt, als die ganze
Schulwissenschaft ja bis zur Stunde überhaupt die
Tatsache noch leugnet.
Erst wenn diese nicht nur einwandfrei festgestellt
ist — was ja in vorliegender Schrift geschieht —
sondern wenn wir auch Tausende von gesicherten
Fakten kennen, erst dann können wir ein Gesetz
oder — sagen wir bescheidener — eine Regel abstra*
hieren. So weit sind wir aber noch lange nicht und
deshalb besteht kein triftiger Grund, die Erfüllung
der Türkenvision nicht zuzugeben.
An eine völlig unbekannte Sache mit apriori*
stischen Regeln oder Gesetzen heranzutreten, verbietet
die Logik. Das war und ist auch heute noch der
Kardinalfehler der gelehrten Zunft, dem es zuge#
schrieben werden muß, wenn sie allen großen und
genialen Neuerungen oder Entdeckungen gegenüber
bankrott machte.
Zum Schluß noch eine Vision Heerings, die er
„schon vor anderthalb Jahren" hatte, das wäre zu
Beginn des Jahres 1770, da der „Vorbericht** das
Datum des 20. August 1771 trägt: Unweit des Ortes
Prossen erschien ihm die Gestalt eines kleinen Mädchens^
die ein altes Büchlein in den Händen hatte, auf dessen
einem Blatt die Worte standen: schwere und theure
Zeit; ,,über welche Anzeige er sich noch immer be#
240
klagt, daß ihm damals niemand habe Glauben bey^
messen wollen". (Vorbericht, S. 19, Anm.)
Resümieren wir, dann kann es nicht dem aller*
geringsten Zweifel unterliegen, daß — selbst, wenn
wir annehmen wollen, die Interpretation einiger weniger
Vorhersagen sei gewaltsam — doch die erdrückende
Menge in Erfüllung ging. Daß Berechnung aus»«
geschlossen ist, wird kaum jemand bestreiten wollen.
Also besteht nur die Annahme des Zufalls, wenn
wir den Beweis für die Sehergabe Heerings nicht für
erbracht halten.
Nun wollen wir nicht bestreiten, daß die Mög««
lichkeit des Zufalls besteht. Denn es handelt sich
in keinem einzigen Falle um ganz außerordentliche
Dinge mit sehr hohem Divisor. Die möglichen Fälle
sind vielmehr relativ begrenzt. Zugeben wird man
uns aber müssen, daß es sich sicherlich um einen
sehr merkwürdigen Zufall handelt.
Auf alle Fälle beweist auch dieseVision, daß Heering
keineswegs nur ganz kurze Zeit vorher sehen konnte.
Es ist nun sehr interessant, daß Süße, als er am
20. August 1771 diesen Visionsbericht abschloß, noch
nicht wissen konnte, daß er im nächsten Jahre in
Erfüllung gehen würde, und zwar in ungeahnt schreck*
lieber Weise. Denn es kann nur die große Hungersnot
gemeint sein, die im Jahre 1772 allein in Kursachsen
15000 Menschen hinweg raffte. Wir haben hier also
einen jener seltenen und günstigen Fälle, daß eine
Prophezeiung vor ihrem Eintreffen im Druck er*
schienen ist. Das verleiht auch allen anderen An*
gaben Süfies in den Augen der unverbesserlichsten
Hyperkritikcr erhöhte Glaubwürdigkeit.
241
Achtes Kapitel
Johann Adam Müller
Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts erregten die
Prophezeiungen eines Landwirtes namens Johann
Adam Müller vom Maisbacher Hofe, unweit Heidel*
berg viel Aufsehen. Dieser Mann, der in mancher Bess
Ziehung große Ähnlichkeit mit dem Fischer Heering
aus Prossen besitzt, sollte sogar in die Politik ein^
greifen. Bevor wir auf seine Person des Näheren
eingehen, sei das Protokoll hier wiedergegeben, das
der Pfarrer Hautz in Mekels, nachmals in Neckarge^«
münd, im Jahre 1808 nach dem mündlichen Bericht
Müllers zu Papier gab^).
^) Zitiert nach „Geschichte, Erscheinungen und Prophe*
zeiungen des Joh. Adam Müller eines Landmanns auf dem
Maisbacher Hofe, zwei Stunden von Heidelberg. Aus seinem
eignen Munde aufgesetzt. Nebst allen dazu gehörigen Original«
Briefen in getreuen Abschriften und der Widerlegung von 37
Unrichtigkeiten in der ohne sein Wissen, erschienenen Schrift:
Johann Adam Müller, der neue Prophet usw. Mit dem getreuen
Bildnisse des Mannes, einer genauen Nachahmung seiner Hands
Schrift, der Abbildung seines Wohnhauses nebst der Umgegend,
und dem von ihm selbst entworfenen Plane der noch zu er«
bauenden Bundesstadt Neu^Jerusalem und der Burg Zion. Franks
fürt a. M., bei den Gebrüdern Wilmans 1816", S. 25 ff. Ich be*
nutzte wie bei Heering das Exemplar der Kgl. Bibliothek in Berlin.
Kemmerich, Prophezeiungen 16
242
Es lautet:
„Ein Jahr vor dem Anfang des letzten öster*
reichischen Krieges erschien mir des Nachts eine
ganz weiße Gestalt, die mich bei der Hand nahm,
daß ich darüber erwachte; ich glaubte anfangs, es
sey meine Frau, fand aber, daß diese ruhig neben
mir schlief. Einige Zeit blieb ich wachend im Bette
sitzen und die Gestalt verschwand. Darauf legte
ich mich wieder nieder und fing an zu schlummern,
aber kaum war ich eingeschlummert, als mich wieder
etwas an der Hand faßte und mich aufweckte. Die
Gestalt glich vollkommen einem Menschen. Sie ging
hin zum Tisch in meiner Stube, und als ich mich
ihr näherte, verschwand sie plötzlich; worauf außen
vor dem Hause am Himmel ein sehr starker Blitz
erfolgte. Ich öffnete das Fenster und sah an dem
Himmel einen großen Zug Kanonen, der sich von
Frankreich gegen Österreich hin bewegte. — Vierzehn
Tage vor Weihnachten 1805 erhielt ich eine andere
Erscheinung, die mich abermals erweckte, und mir
sagte, daß bald auch ein Krieg zwischen Frankreich,
Preußen und Rußland ausbrechen würde, und nach
Verlauf eines Jahres müsse ich zum König von
Preußen gehen; der russische Kaiser werde auch da*
zu kommen. Doch sagte mir diese Erscheinung noch
nicht, was ich bei dem König von Preußen tun sollte.
Am 2. Mai 1806 tat es abends gleich nach
Sonnenuntergang einen starken Blitz; ich stand unter
der Haustüre und sah ein Schwert vom Himmel hin*
und gerade durch den eben vollgewesenen Mond
fahren; das Schwert wurde rot und fuhr dann gegen
Norden.
243
Nach Verlauf eines Jahres dachte ich wohl wieder
an diese Erscheinung, aber mein Herz dachte nicht
daran tortgehen zu wollen. Am ersten Sonntag im
Jahre 1807 kam jene weiße Gestalt wieder und sagte
mir: ich sollte mich eilends aufmachen und zum König
von Preußen gehen. Wenn ich zum König käme,
sollte ich mich gar nicht besinnen, was ich sagen
solle, denn Gott würde mir schon in den Sinn geben,
was ich sagen solle. Der russische Kaiser würde
auch dazu kommen, ich solle mich aber gar nicht vor
ihnen scheuen, denn es werde mir nichts zuleide
geschehen. Darauf versprach ich, daß ich fortgehen
wolle; da verschwand die Gestalt. Weil ich nun
aber nicht wußte, was ich bei dem Könige zu tun
habe, so bat ich Gott, er möge mir dies doch offen*
baren, und 14 Tage hernach erschien mir wieder die
Gestalt, und sagte mir, ich sollte mich 7 Tage meiner
Frau enthalten, dann würde mir offenbart werden,
was ich dem König zu sagen hätte. Nach Verlauf
dieser 7 Tage in der achten Nacht kam wieder etwas,
und nahm mich bei der Hand. Als ich erwachte,
war alles um mich her so hell (NB es war nachts
12 Uhr) als ob das ganze Haus im Brand stände.
Ich sah aber wohl, daß es kein Brand war, denn es
war so hell weiß, wie die Sonne am Mittag ist. Da
stand ein alter Mann, dem Ansehn nach etwa 80 Jahr
alt, der hatte zwei Bücher unter dem Arm, die ganz
veraltet schienen, ohne Deckel und voller Falten.
Ich betrachtete den Mann und besonders seine Bücher
sehr aufmerksam. Er fragte mich, was mich so in
Erstaunen setze? Ich schwieg stille und nun fragte
er: ob es etwa die Bücher seien? Ich sagte ja! und
16*
244
nun antwortete er: darüber brauche ich mich weiter
nicht zu wundern! So wie diese verahet seien, so
sei Gott, Jesus Christus und Gottes Wort, das in
diesen Büchern stände, leider! auch veraltet. Darauf
zog er das eine Buch unter dem Arm hervor, schlug
den Jesaias auf, zeigte mir das 58ste bis in das 64ste
Kapitel und sagte mir: ich solle mich jetzt schnell
auf den Weg machen und zum König von Preußen
gehn, und ihm so wie dem russischen Kaiser, wenn
er dazu käme, diese Kapitel vorlegen und ihnen ver^
kündigen, nach Anweisung dieser Kapitel sollen sie
ihre Länder einrichten, denn so wie ich gesehen hätte,
das Schwert durch den Mond fahren und hell rot
werden, so werde die Finsternis bestraft werden, wenn
sie sich nicht bekehre. Noch setzte er hinzu, ich
solle mich nicht scheuen, er werde mich gesund hin,
und wieder zurück zu meiner Frau und meinen
Kindern bringen. Als ich versprochen hatte, dem
Berufe zu folgen, kam ich auf einmal weg^), und
wußte gar nicht mehr, wo ich war, der alte Mann
aber blieb bei mir. Wir kamen in eine Stadt, wo
ein Haufen Wölfe, Bären und Löwen waren. Diese
sprangen an mich hin; der alte Mann aber wehrte
ihnen und beschützte mich. Wir kamen wieder
weiter und an ein Wasser, ohne daß wir hinüber
kommen konnten. Nach einigen Tagen kam ich
aber hinüber ohne, zu wissen wie? Bald darauf
kam abermals ein Haufen Wölfe, Bären und Löwen,
die mich noch fürchterlicher anfielen. Mir war zu*
gleich ich sei auf einem Wagen. Ein besonders
') Heißt bei Müller jedesmal: „Ich geriet in Wrrückung".
245
großer Löwe verwundete mich, daß ich blutete.
Der alte Mann fragte mich, ob es arg wäre? als ich
nein! antwortete (ich blutete nur an der Nase), sagte
er, es werde mir das nicht schaden, und mir auch
sonst nichts mehr zuleide geschehen. Nun kamen
wir zu Leuten, die Feuer hatten, aber ich konnte
nicht sehen, von was das Feuer brannte. Sie hatten
auch etwas, was ihnen zur Speise diente; mir aber
kam es vor, als könne man es nicht essen. Ich fragte
sie daher, von was sie lebten und welches ihnen recht
gut schmecke. Dann kamen wir an einen sehr
schönen gepflanzten Weinberg, worin einige Reihen
Reben, dann eine Reihe von Obstbäumen, und dann
ein Weg war. Da sagte mir der alte Mann: in
diesem Weinberg würde ich eine Zeitlang bleiben.
Darauf kam ich in eine große schöne Stadt, in
welcher man mich überall herumführte. Mitten in
der Stadt kam ich in eine ungemein große Kirche.
In den 4 Ecken der Stadt standen vier Königss*
Schlösser. Der alte Mann sagte mir nun, diese Stadt
sei die Stadt Zion und Neu* Jerusalem, sie solle
aber noch erst gebauet werden, zum Gedächtnis,
wenn die Menschen sich gebessert und sich wieder
zu Gott gewendet hätten. Er zeigte mir den Platz,
wo die Stadt sollte hingebaut werden^). Darauf ver^^
schwand der alte Mann, und ich befand mich wieder,
jedoch wachend, in meinem Bett."
Ich muß den Leser um Entschuldigung bitten,
daß ich alles dieses phantastische Zeug ihm worts^
') Ein Stadtplan von Neu* Jerusalem, nach dem Entwurf
von Müller gezeichnet von F. L. Hoffmeister, befindet sich im
Anhang der zitierten Schrift.
246
getreu aus dem Protokoll vorführe. Aber nur so
dürfte das ausreichende Material zu einem Urteil ge^s
geben sein. Daß Müller Visionen hatte, die er für
reale Dinge hielt und daß er der festen Überzeugung
war mit dem „alten Mann" leibhaftig zu verkehren,
scheint festzustehen. Daß es sich — so merkwürdig
und abenteuerlich alles anmutet — doch keineswegs
nur um Phantastereien, wie zweifellos beim Traum
von Neu^Jerusalem, handelt, ergibt sich aus dem
Folgenden zwingend. Besonders merkwürdig ging die
Vision (oder war es ein Traum?) von den wilden
Tieren in Erfüllung. Es wird sich überhaupt emp^»
fehlen, das Mißbehagen bei Lektüre des Protokolles
zu überwinden und auch, mit Rücksicht auf das
Folgende, auf Einzelheiten zu achten.
Doch fahren wir im Protokoll (S. 30) fort!
„Jetzt wußte ich nicht, was ich tun sollte. Gern
wäre ich fortgegangen, aber der Gedanke an meine
Frau und Kinder hielt mich zurück; ich ließ es also
anstehen. Zehn Tage darnach kam ein Mann von
mittleren Jahren des Nachts zu mir, und sagte: wenn
ich nicht fortginge, so würde all das Blut auf meinen
Kopf kommen und von meinen Händen gefordert
werden. Ich wußte nicht, was ich machen sollte, und
fragte also einmal des Nachts meine Frau, was sie machen
werde, wenn ich einmal V4 oder 7a Jahr nicht bei
ihr sein sollte. Sie antwortete: ,, Lieber Gottl da
wüßte ich mir weder zu raten noch zu helfen!**
Darauf nahm ich mir fest vor, nicht fort zu gehen,
es möge kommen wie es wolle. Am dritten Tage
aber ward ich unruhig im Gemüt, und diese Unruhe
nahm mit jedem Tage zu. Am siebenten Tage sagte
t
247
ich zu meiner Frau: Du siehst nun, es tut nicht gut,
wenn ich dableibe, es gehe also in Gottes Namen
wie es will, da antwortete sie: ,,So gehe denn in
Gottes Namen hin und richte deinen Befehl aus."
Darauf ließ ich meinen Schwager holen, wozu
auch der Schuhmacher Sattler aus Nußloch gekommen
war. Beiden legte ich die ganze Sache vor, erzählte
ihnen alles ganz genau und verlangte von ihnen, sie
sollten mir raten. Sie antworteten aber, sie könnten
mir hierin nicht raten, die Sache sei zu wunderbar.
Wenn es nur 30 Stunden Weges wäre, so wollten
sie wohl noch eher dazu raten, aber dieser Weg sei
zu weit; wie ich denn hin und wieder zurückkommen
wollte? Am Ende wenn ich denn auch hingekommen
wäre, so werde ich doch nicht vor den König kommen
können. Ich versetze: das weiß ich sicher, daß ich
hin, wieder zurück und auch vor den König kommen
werde. Da sagte der Schuhmacher, ich sollte es
meinem Pfarrer vorstellen und hören, was der davon
halte. Ich antwortete ihm, wenn es ein Pfarrer
wissen sollte, so würde es ihm unser Herr Gott schon
gesagt haben; doch (setzte ich hinzu), wenn ich den
Sonntag in die Kirche gehe, will ich mit unserm
Pfarrer reden.
Am folgenden Sonntag blieb ich bis zuletzt in
der Kirche, und wollte dann zu dem Pfarrer ins
Haus gehen; als ich aber die Haustreppe hinaufstieg,
zog mich etwas am Rock zurück, worauf ich denn
auch fortging, ohne mit dem Pfarrer über die Sache
zu reden. Zwei Nächte darauf hörte ich (jedoch ohne
etwas zu sehen) eine Stimme, die zu mir sprach: „Ich
sollte eilends fortgehen, der Verderber sei hinweg!"
248
Am folgenden Abend ging ich zu meinem Nach^
bar und vertrautesten Freunde und sagte ihm, daß
ich fort müsse, ob er sich nicht in meiner Abwesen^*
heit meiner Frau und meiner Kinder annehmen wolle.
Ich verschwieg ihm aber, wohin ich gehen werde,
und was ich auszurichten habe. Er versprach mir,
meiner Frau zu helfen, so viel er könne, und setzte
hinzu: ich solle nur in Gottes Namen fortgehen.
Ich sagte also zu meiner Frau, ich werde des andern
Morgens fortgehen, und belehrte sie, wie sie inzwischen
ihre Geschäfte und Haushaltung besorgen solle. Des
andern Morgens kochte mir meine Frau ein Stück
Dörrfleisch ab, dies, ein Stück Brot und 15 Kreuzer
an Geld^) nahm ich mit, und so trat ich meine Reise,
ohne Paß, in Gottes Namen an."
Die Ähnlichkeit der Vorgeschichte des Ganges
zum König mit der des Prossener ist unverkennbar.
Beide handeln aus unwiderstehlichem inneren Drange
in der unerschütterlichen Überzeugung, Werkzeuge in
Gottes Hand zu sein. Daß in beiden Fällen alles
Sensationelle, so merkwürdig die erzählten Vorgänge
auch sein mögen, völlig ausgeschlossen ist, sei aus^»
drücklich hervorgehoben. Was Müllers Charakter
betrifft, so werden wir noch später auf ihn zurück*
kommen. Den des Prossener kennen wir ja bereits
als völlig einwandfrei.
Doch fahren wir fort (S. 32):
„Als ich in die Gegend von Frankfurt kam, sah
ich einen Berg mit Weingärten, an dem ein Weg
0 Eigentlich waren es 24 Kreuzer. In Heidelberg aber
trank er '/■ Maass Bier und kaufte sich 2 Päckchen Tabak, be*
hielt also nur noch 15 Kreuzer (Anm. im Original).
249
hinauf ging. Dieser Weg war mir früher durch den
alten Mann gezeigt. Nachher kam ich in einen Wald
und so von Dorf zu Dorf bis Miltenberg. Hier
fragte ich nach dem Wege nach Würzburg. Von da
ging ich nach Baireuth, dann über Leipzig, Wittem*
berg, Berlin, bis nach Prenzlow. Vor Prenzlow fragte
mich ein Mann, wohin ich wolle? Ich antwortete,
nach Stettin, um dort einen Badenschen Dragoner,
meiner Frau Schwestersohn, zu besuchen. Da erbot
er sich, mir den Weg um die Stadt herum zu zeigen,
damit ich nicht nötig habe, durch die Stadt zu gehn,
weil ich sonst leicht angehalten werden könnte. Ich
nahm es aber nicht an, sondern ging durch die Stadt,
weil ich sie als eine von denen erkannte, die mir der
alte Mann gezeigt hatte.
Am Tore fragte mich die Bürgerwache, wohin
ich wollte? und ob ich einen Paß habe? Ich ant*
wortete: nach Stettin! Einen Paß hätte ich aber nicht.
Da wurde ich denn durch einen Gefreiten vor den
Stadtrat geführt. Dieser hatte nun eben gerade eine
solche Gestalt und Kleidung, wie mir es durch den
alten Mann vorgestellt worden war. Jetzt, als ich
sah, wie alles, was mir früher vorgestellt war, in Er*
füllung zu gehen anfange, lachte mir das Herz im
Leibe. Auf dem Wege nach dem Rathaus bedauerte
mich der Gefreite! ,,Mann! Ihr dauert mich," sagte er,
„denn Ihr werdet lange sitzen müssen, ehe Ihr fort*
kommt!" Ich antwortete aber, das habe nichts zu
bedeuten. Vor dem Magistrat in Prenzlow wurde
ich gefragt, wohin ich wolle? Ich antwortete: nach
Stettin, um einen badischen Dragoner, meiner Frauen
Schwestersohn, zu besuchen. Nun wurde ich zu dem
250
französischen Kommandanten geführt. Mein Wächter
bedauerte mich jetzt noch mehr, aber ich antwortete
ihm abermals, er solle meinetwegen außer Sorgen sein.
Der französische Kommandant fragte mich das Obige
wieder, und ich beantwortete es gerade wie vorher.
Er entließ mich mit den Worten: ich solle in Gottes
Namen sehen, wie ich weiter nach Stettin komme.
Beim Weggehen sagte jener Gefreite, ob ich denn
nicht weiter wollte, als bis Stettin? Ich antwortete:
Nein! aber er versetzte: Ihr geht doch weiter und
müßt wohl einen ganz besonderen Auftrag haben.
Nun! glückliche Reise! Zugleich brachte er mich auf
den rechten Weg.
Bei meiner Ankunft in Stettin, ging ich gerade
durch die Stadt durch, ohne angehalten zu werden,
und doch mußte jeder andere seinen Paß vorzeigen.
Mitten auf der Oderbrücke aber wurde auch ich
angehalten, auf die Wache geführt und nach meinem
Paß gefragt. Ich sagte jetzt, ich wolle nach Kolberg.
Man führte mich nun zum französischen Komman*
danten, welcher befahl, mich nicht über die Oder*
brücke zu lassen. Ich ging also wieder in die Stadt,
trank ein Glas Bier und wollte nun zur Stadt hinaus.
Da rief mir ein badischer Dragoner zu, wo ich her««
käme und wo ich hinwollte? Ich antwortete ihm das
mehrmals Erwähnte, und er führte mich dann zu
seinem Offfzier, bei welchem er zugleich Bedienter
war. Auch dieser fragte nach dem Zweck meiner
Reise, und ich sagte auch ihm, ich wolle zu meiner
Frau Schwestersohn. Es wurde nun ein Chirurgus
gefragt, ob mein Vetter nicht etwa im Lazarett seil
Ps hieß aber: Nein! auch konnte man mir nicht
251
sagen, ob er in der Gegend von Kolberg oder Dan?
zig sei.
Als ich wieder vor die Stadt kam, sah ich den
mir früher vorgestellten Berg, zugleich auch ein Dorf,
in welches ich ging und in einem Hause (es war
das Pfarrhaus) einkehrte. Der Pfarrer kam mir ent*
gegen und fragte mich, was ich wolle? Ich bat ihn,
mir doch zu sagen, wo und wie ich über die Oder
kommen könne? Zugleich entdeckte ich ihm etwas
über den eigentlichen Zweck meiner Reise. Darauf
ließ der Pfarrer einen Mann holen und fragte ihn,
ob er, Müller von jenseits der Oder, die Bienen schon
abgeholt habe? Es hieß: Neinl doch wisse man nicht,
ob er sie heute oder morgen holen werde. Da sagte
der Pfarrer zu dem Manne, er solle doch sorgen,
daß ich mit über die Oder gebracht werde, wenn
der Müller die Bienen hole, denn an mir könne
man einen Gotteslohn verdienen. Er setzte mir auch
Butterbrot vor und gab mir einen preußischen Gulden
mit dem Zusätze, ich sollte mich in einem mir von
ihm angewiesenen Wirtshause so lange aufhalten,
ohne mich viel umzusehen, bis dieser Mann kommen
werde mich abzuholen. Ich war aber kaum eine
halbe Stunde in dem Wirtshause, als der Mann mich
schon abholte.
Dann fuhr ich mit dem Manne über die Oder,
ging mit ihm in sein Haus und blieb die Nacht bei
ihm. Er riet mir nun, mich nach Stolpmünde hin*
zuwenden, da würde ich vielleicht ein Schiff treffen,
mit welchem ich weiter reisen könnte. Eine Stunde
von Stolpmünde blieb ich über Nacht, und hier traf
ich das Brot, welches ich nicht essen konnte.
252
Des andern Tages (Sonntags) trank ich erst in
einem Wirtshause ein Glas Branntwein^). Hier traf
ich zwei preußische Soldaten, die sich selbst ranzio»*
niert hatten. Sie erkundigten sich, wo ich hinwollte?
Ich antwortete: nach Danzig. Sie baten mich bis
Mittag zu warten, weil sie dann mit mir gehen wollten,
und ich blieb. Ich ging indes in die Kirche. Während
dem hatten die Bauern den Soldaten gesagt, ich sei
ein Spion, sie mögen mich daher nach Kolberg
abliefern. Es wurde auch wirklich ein Wagen be*»
stellt, auf welchen ich mich mit den 2 Soldaten setzte.
Man tat mir aber nichts zuleide. Im nächsten Dorfe,
wo der Wagen gewechselt wurde, wollte einer der
Soldaten mich mit Gewalt von dem Wagen reißen,
aber er zerriß bloß meine Hutschnur. Ich sagte ihm
er solle sich nicht unterstehen, mir etwas zuleide zu
tun. Sie mögen mich zu den Preußen oder zu den
Franzosen führen, ich werde mich allenthalben ver*
antworten. Die Bauern drohten mir auf allerlei Art.
Ein dabeistehender Edelmann aber sagte, sie sollten
mich zufrieden lassen, sie sähen ja, daß ich mich
gutwillig in alles ergäbe. Da ließen sie mich ruhig.
In der Nacht kamen wir in ein anderes Dorf. Der
Edelmann wollte uns aber nicht die Nacht dabehalten,
auch keinen Wächter hergeben mich zu bewachen.
Der eine von den 2 Soldaten wurde also grob gegen
ihn und gegen mich und schlug mich mit seinem
Stock über die Nase, daß sie blutete'")- E)er EdeU
*) Damals trank er noch, wiewohl selten, wenig, und nur
vor Mattigkeit, Branntwein. Seit 6—8 Jahren gar nicht mehr.
(Anm. des Protokolls Seite 36 des Ruches.)
'^) Hier und im folgenden handelt es sich deutlich um
253
mann fragte mich, ob es mir wehe täte? Ich ant=»
wortete aber: Nein. Auf des Edelmanns Befehl ward
ich durchsucht, ob ich etwas Verdächtiges bei mir
habe? Man fand aber nichts. Der eine Soldat ver*
suchte meinen Stock zu zerbrechen, weil er glaubte,
daß darin etwas verborgen sei. Er konnte es aber
nicht und der Edelmann bemerkte, wenn er hohl sei,
wäre er schon längst gewiß zerbrochen. Der Mann,
setzte er dann gegen die Soldaten hinzu, ist ehrlicher
als Ihr! Mir gab er jetzt ein Glas Branntwein. Als
nun der Soldat immer noch drohte, er wolle mich
erstechen, tröstete mich der Edelmann, das solle nicht
geschehen dürfen, denn er werde mir zu meinem
Schutze einige Bauern zu Pferde mitgeben. Dies
geschah auch und zwar Vj^ Meile von Rügenwalde.
In einem der folgenden Dörfer, wohin wir mor*
gens um 2 Uhr abfuhren, bekamen wir einen frischen
Wagen und wieder einige Bauern zur Wache. Bei
Rügenwalde erhielten wir abermals eine frische Fuhre,
die uns bis ein an der See liegendes Dorf brachte.
Die Soldaten begehrten wieder eine Fuhre, der Schulze
aber verweigerte sie. Der eine Soldat schimpfte
darauf, und der Schulze drohte, ihn den Polacken
eine Erfüllung des Gesichts vor Antritt der Reise, als die Feinde
ihm in Gestah von wilden Tieren erschienen. Hier dürfte
es angezeigt sein, auf den Aufsatz von Rudolf Kleinpaul ,,Die
Traumsprache'* im ,, Magazin für die Literatur des In* und Aus*
landes". 55. Jahrg., 1886, S. 241ff. und 265ff. hinzuweisen. Die
Frage der Traumsymbolik ist selbst von solchen, die ihre Realität
zugeben, noch keineswegs gelöst. Es gibt hier eine unerschöpf*
liehe Mannigfaltigkeit des Ausdrucks — man denke im Gegen*
satz zu Müller an Kerner — und daher sind Fehler der Inter*
pretation sehr naheliegend.
254
ZU überliefern. Wir gingen nun an den Strand hin
gegen Stolpmünde, aber ich bedauerte insgeheim, mit
einem so rohen Menschen gehen zu müssen, und bat
Gott, mich von ihm zu erlösen. Nach einer halben
Stunde zeigte der Soldat Lust, sich in die See zu
stürzen. (Man meinte überhaupt, er sei nicht recht
bei Verstand.) Sein Kamerad verwies ihm sein Be*
tragen. Bisher, sagte er, hast du diesen (auf mich
deutend) umbringen wollen, und nun willst du dich
selbst töten. Du siehst daraus, was für ein böser
Mensch du bist. Bald nachher fiel der andere Soldat
im Gehen um und konnte auf keinem Fuße mehr
stehen. Wir suchten ihm zu helfen, aber es ging
nicht. Er bat daher seinen Kameraden, er möge dem
Schulzen des nächsten Dorfes auftragen, ihn durch
eine herausgeschickte Fuhre nachholen zu lassen. Der
Soldat tat dies aber nicht. Ich erinnerte ihn zwar
daran, er antwortete mir aber: Nein! Denn jener
habe durch sein Betragen deutlich genug gezeigt, daß
er nicht besser als ein Vieh sei. Auch wäre er schuld,
daß ich so schlimm behandelt sei, er habe dafür von
den Bauern Geld genommen. In Stolpmünde, in einem
Wirtshause, trafen wir den Bedienten eines gewissen
Herrn Inspektors. Der Bediente hatte von mir ge*
sprochen. Der Herr Inspektor ließ mich also in der
Nacht des Ostersamstags zu sich kommen. Ich er*
zählte ihm meinen Auftrag und mein Geschah und
blieb bis 2 Uhr morgens bei ihm. Ich sollte noch
länger bei ihm bleiben, aber ich wollte nicht. Er er*
bot sich dazu, daß auch er sich vor dem Könige stellen
wolle, wenn derselbe mir etwa nicht glauben wolle.
Es hieß, 3 Meilen unter Stolpmünde werde ein
255
Schiff nach Danzig abgehen, es war aber keins da.
Ich wurde also mit mehreren preußischen Soldaten»
die sich selbst ranzioniert hatten, die Osterfeiertage
über einquartiert. Am Osterdienstag hieß es, es werde
ein Boot ausgerüstet, mit welchem wir nach Danzig
fahren sollten. Wir gingen also die See aufwärts
und fanden da wirklich ein großes Boot. Man sagte
uns aber, wir sollten einen günstigen Wind abwarten.
Ich wurde also zu 6 preußischen Soldaten einquars^
tiert. In der Nacht segelten die andern ohne uns 7
ab. Früher schon sagten sie, sie nähmen uns nicht
mit, es sei denn, daß ich ihnen verspräche, daß sie
glücklich nach Danzig kommen würden. Ich hatte
ihnen aber geantwortet: „Daß ich glücklich ankommen
würde, wisse ich gewiß; wenn sie also mit mir reiseten»
würden sie ja auch wohl glücklich ankommen!"
6 Stunden nach ihrer Abreise ohne uns mußten sie
aber widrigen Windes halber wieder zurück. Wir 7
gingen nun zu Fuß wieder nach Rügenwalde zurück.
Hier trafen wir einen Husarenwachtmeister vom Schill*
sehen Korps an. Er erkundigte sich zuvor nach mir
bei den 6 Soldaten und bezeigte sich dann ungemein
liebreich und freundlich gegen mich. Schon am foU
genden Tage wurden wir auf einem Boote nach Kol«*
berg eingeschifft. Zwar wollten die Soldaten es nicht
leiden, daß ich mit in das Boot käme, aber der
Wachtmeister jagte sie aus dem Boote und ließ mich
hinein kommen. Alle Mitfahrenden bekamen die
Seekrankheit, ich aber nicht.
In Kolberg wurden wir alle vor den Komman*
danten geführt. Er fragte mich nach dem Zweck
meiner Reise und lachte anfangs darüber, war aber
256
doch nachher zur Fortsetzung meiner Reise sehr be*
hilflich. So schickte er einen Korporal mit mir an
das Schiff, damit auch ich mit denjenigen Soldaten,
die unter Schill nicht dienen wollten, nach Pillau ge*
bracht werde. Es war ein so großes Schiff, daß
118 Mann, mehrere Pferde und Gewehre darauf fahren
konnten. Mit anbrechendem Tag fuhren wir fort;
ich legte mich nieder, und jene 6 Soldaten legten
sich zu mir.
Gleich am ersten Tage spotteten 6 Offiziere über
Gott und alles, was heilig ist. Ich konnte es zuletzt
nicht mehr anhören und bestrafte sie. Mich, sagte
ich, könnten sie verspotten; aber über Gott sollten
sie nicht spotten, sondern bedenken, daß sie auf
einem gefährlichen Platze wären. Sie spotteten jetzt
aber noch viel mehr und sagten: der besorgt gewiß,
der Teufel werde ihn holen. Ich erwiderte: Mich
holt der Teufel nicht, aber an euch könnte wohl die
Reihe kommen. In der Nacht darauf kam in dem
Schiffe Feuer aus, und brannte es bis in der Nacht
um 1 Uhr. Der Jammer ward unbeschreiblich und
stieg noch höher, als es hieß, die Schiffsleute wollten
sich von dem Schiffe wegbegeben. Jetzt ermahnte
ich sie zur Ruhe und zum Beten zu Gott um Hilfe,
und versicherte sie, daß keiner von uns umkommen
solle. Jeder legte sich nun wieder auf seinen Platz
und in Zeit von einer halben Stunde war das Feuer
aus; die brennenden Bretter wurden abgehauen und
ins Wasser geworfen. (NB. die Offiziere, die so
sehr gespottet hatten, beteten nun am lautesten.)
Nun wurde es so stürmisch, daß die Wellen
hoch über das Schiff hinweg schlugen. Die Matrosen
257
mußten sogar angebunden werden, damit das Wasser
sie nicht mit fortrisse. Am andern Tage stieg ich bei
heiterem Wetter auf das Schift, um Tabak zu rauchen,
hatte aber mein Pfeifenrohr verloren. Die Offiziere
wollte ich nicht um ein Rohr ansprechen, damit sie
nicht aufs neue Gelegenheit zum Spotten bekämen,
deshalb wendete ich mich an 3 badische Soldaten,
die vor Kolberg gefangen genommen waren. Kaum
aber bemerkten dies die Offiziere,, so litten sie es
nicht, sondern gaben selbst mir eine Pfeife mit dem
Zusatz: wenn ich nicht gewesen wäre, würden sie
alle zugrunde gegangen sein. Der Schiffskapitän er^
widerte: Dieser (mich meinend) hätte können glück*»
lieh davon kommen und doch ihr alle versaufen,
denn solche Spötter habe ich noch nie gehört. Ge«:
schiebt dergleichen aber wieder einmal, so werde ich
die Spötter in die See werfen.
In Pillau wollte der Schiffer mich auf dem Schiffe
behalten; der Schiffskapitän aber wollte mich miU
nehmen. Der Kommandant gab es jedoch nicht zu,
weil ich erst verhört werden . müßte. Man brachte
mich daher auf die Wache, wo ich drei Tage warten
mußte, bis der zurück kam, der mich verhören sollte.
Am ersten dieser 3 Tage kam ein Offizier dahin und
ließ mich in das Zimmer des wachthabenden Offiziers
holen. Da fand ich ihrer mehrere, die sich mit mir
über meinen Auftrag unterredeten. Einer von ihnen,
ein kleiner Mensch, setzte mir den bloßen Degen
auf die Brust und fragte mich, ob ich glaube, daß
dieser Degen mich durchbohren könne? Ich ant*
wortete ihm: Das können Sie probieren! Am zweiten
Tage kamen wieder andere Offiziere auf die Wache
Kemmerich, Prophezeiungen 17
258
und ließen mich holen. Sie legten mir zwei bloße
Degen auf den Kopf und ließen mich schwören, daß
ich kein Spion sei, welches ich denn auch mit gutem
Gewissen tat. Dann fragten sie: Wenn sie mich nun
aber nicht zum Könige ließen, sondern mich wieder
zurückschickten? Ich antwortete: Zum Könige käme
ich doch, wenn sie mich auch wieder zurückschickten.
Darauf antworteten sie: Nun, so sollte ich dann zum
Könige kommen. Endlich kam ich ins Verhör zu
einem Offizier, den ich aber weiter nicht kenne. Ich
setzte ihm alles auseinander, und er schrieb es auf.
Am folgenden Tage ging ich mit unbewehrten SoU
daten nach Königsberg. Ein Junker hatte das Proton
koll über mich bei sich und trug es, während ich
mit den Soldaten in der Wachtstube blieb, zum
General Rüchel. Nach einer halben Stunde kam
dessen Bedienter, um mich zu seinem Herrn zu holen.
Es war Mittagsessenszeit, als ich zum General Rüchel
kam. In dem Zimmer, in welches ich gebracht wurde,
fand ich viele Offiziere, russische, schwedische, eng««
lische und preußische. Auch sie fragten mich nach
meinem Geschäfte. Ich sagte es ihnen. Dann wollten
sie wissen, ob ich ihnen denn auch alles gesagt
hätte. Ich antwortete: „Ein paar Worte könne und
dürfe ich nur dem Könige selbst sagen. An sie sei
ich nicht gesandt. Wollte der König sie ihnen aber
sagen, so habe ich nichts dawider.**
Einer derselben führte mich in ein anderes Zimmer
und gab mir zu essen und Wein. Wohl 5— 6 mal
fragte er mich über meine gehabten Erscheinungen,
ich antwortete ihm aber jedesmal die Wahrheit. Dann
wurde ich ins Bcdicntcnzimmcr geführt. Am andern
259
Tage sollte ich vor die Königin. Ein Bedienter des
General Rüchel führte mich dahin. Ich fand wohl
an 200 Offiziere. Man fragte mich, ob ich denn der
Königin nicht alles sagen wolle? „Nein!** antwortete
ich, ,,wenn ich aber mit dem Könige rede, so kann
die Königin dabei mir zuhören." Ich wurde dann
wieder nach Hause gebracht, bis der König käme.
Die Königin konnte dies aber doch nicht erwarten,
sondern sie und ihre Schwester ließen mich an dem*
selben Tage wieder holen.
Ich fand niemand in dem Zimmer, als die Königin,
ihre Schwester^) und einen Prinzen. Die Königin
fragte mich, ob ich ihr denn nicht alles sagen wolle?
Und warum nicht? Ich antwortete: ,,Es schicke sich
nicht, ihr dasjenige früher mitzuteilen, was ich dem
Könige zu sagen habe." Sie versicherte mich dann,
der König sei ein braver Herr, ich sollte mich nur
gar nicht vor ihm scheuen, sondern ihm alles ohne
Furcht sagen. Ich antwortete ihr, daß ich mich auch
gar nicht vor dem Könige scheue. Darauf gab sie
Befehl, daß man mir täglich 1 Gulden gebe, und
daß der General Rüchel mich speisen sollte, bis der
König komme. Auch sie selbst gab mir etwas Geld.
Die Sache wurde dem Könige gemeldet, und am
fünften Tage nachher kam derselbe nach Königsberg.
In der Nacht um 10 Uhr ward ich zum Könige ge*
holt. Er war mit der Königin ganz allein. Er stand
mir zur linken und sie zur rechten Seite. Ich machte
dem Könige mein Kompliment und bat ihn, er möge
es mir nicht übelnehmen, daß ich, als ein geringer
*) Die damalige verwitwete Prinzessin Ludwig, nachmalige
Herzogin von Cumberland.
17*
260
Mann, es wage, ihm Vorschriften zu geben, wie er
seine Sachen einrichten solle. Der König klopfte mir
auf die Achsel und sagte: ich solle ihm gar nichts
verhehlen, sondern ihm alles sagen, er nehme es mir
nicht übel. Da erzählte ich ihm, daß ich die vers=
schiedenen Erscheinungen gehabt, und daß der alte
Mann mir die Kapitel aus dem Jesaias gezeigt habe,
die er lesen und darnach sein Land regieren sollte.
Daß er ferner seine Untertanen durch die Geistlich*
keit auffordern solle, Buße zu tun und sich zu bes*
sern, weil sonst nicht Friede werden könne. Wenn
aber dies geschehe, so werde es wieder besser werden.
Frankreich werde in drei Teile geteilt^) und die neue
Stadt zum Gedächtnis erbauet werden.
Der König antwortete: Er allein könne das nicht
und die Köpfe der Leute seien zu verdreht. Ich
erwiderte: Er solle nur seine Schuldigkeit tun, ich
wolle die meinige auch tun. Der alte Mann habe
mich versichert, daß Gott den König und den Kaiser
von Rußland dazu ausersehen hätten.
Täten sie es aber nicht, so werde Gott durch
Hungersnot und Pest strafen, so daß von 100 Mann
nur 10 übrig blieben, diese aber würden dann Gott
die Ehre geben und sich bekehren. Der König ver*«
sprach, er wolle seine Schuldigkeit tun. Es wurde
') Diese Vorhersage kehrt immer wieder. Tatsächlich wurde
Frankreich ja später verkleinert, aber von einer Dreiteilung zu
reden, ist doch nicht angängig. Auch Neu; Jerusalem vergilbt
Müller nie. Dali solche Prophezeiungen religiöser Art nicht in
Frfüllung gehen, konnten wir schon wiederholt beobachten.
Das dürfte zum Teil daher kommen, dali es sich hier gar nicht
um Fernsehen, sondern um biblische Reminiszenzen handelt.
261
auch an den russischen Kaiser geschrieben, auch war
es bestimmt, daß er kommen wolle, so daß der König
und gar viele Offiziere ihm entgegen ritten, aber er
kam nicht. Der König griff in die Tasche und
wollte mir Geld geben; ich bedankte mich aber, weil
ich kein Geld nötig hätte. Meine Kost hätte ich
beim General Rüchel, sagte ich, und die Königin
habe schon befohlen, daß man mir des Tages
1 Gulden gebe, und das sei mehr als genug. Die
Königin sagte jetzt, ich sollte jetzt künftig 2 Gulden
haben, welches ich aber ausschlug. Der König sagte,
ich möchte das Geld nur nehmen, es sei teuer in
Königsberg und Geld brauche man doch immer.
Darauf drückte mir die Königin das Geld in die Hand.
Der König gab mir nun zu erkennen, daß ich
fortgehen möge. Ich tat es. Vor dem Zimmer stand
die Schwester der Königin. Auch sie selbst kam
mir nach und beide sprachen noch '^/^ Stunden mit
mir, befragten mich nach der Gegend von Wiesloch,
sowie nach manchen Gastwirten^), ob sie noch lebten.
Dann ging ich wieder in das Haus des General
Rüchel.
Da der russische Kaiser nicht kam, fuhr der
König wieder fort von Königsberg. Ich ließ die
Sache wegen des russischen Kaisers auf sich beruhen,
weil doch der König versprochen hatte, es zu
besorgen.
Am 4. Junius hatte ich wieder eine Erscheinung.
Ich sah nämlich die Franzosen gegen Königsberg an:«
marschieren und bemerkte deutlich, woher sie kamen.
') Beide sind durch jene Gegenden gereist (Anm. des
Protokolls S. 48).
262
Femer, daß es eine heiße Schlacht gebe und daß
man meinen werde, es sei alles verloren; daß man
aber nicht zurückweichen solle, denn am 17ten werde
alles wieder gewonnen werden. Unter anderm wurde
mir befohlen, ich möge mit 6000 Mann auf das
flache Feld gehen, wo mir denn der Feind in die
Hände gegeben werden solle. Ich bat aber mich da*
mit zu verschonen, weil, wenn auch alles so geschehe,
die Ehre doch immer nicht Gott werde gegeben
werden. Darauf antwortete die Erscheinung: so
möge ich es denn gehen lassen, es werde alles wieder
gut werden. Aber es kam so weit nicht; — denn
es wurde Waffenstillstand gemacht.
Am 4ten Julius abends, als ich eben zu Bette
gehen wollte und nur bloß die Beinkleider an hatte,
kam ich auf einmal weg und wußte nicht, wo ich
war. Es schien mir, als wenn viele Soldaten an mir
vorüber marschierten, ein Teil von Abend her,
ein anderer von Mitternacht her, alle aber gegen
Frankreich. Morgens, beim Aufstehen, erzählte mir
der Kammerdiener: es werde bald Friede sein. Ich
antwortete: das werde nichts helfen, der Friede werde
nicht lange dauern, denn ich hätte in der \eu
gangenen Nacht die eben erwähnte Erscheinung ge*
habt. Der Kammerdiener erzählte dies dem General
Rüchel und dieser dem Geheimrat Simson und dem
Grafen Brühl. Vielleichthater es auch dem König erzählt,
doch weiß ich dies nicht. Darauf ging ich am Tage
vor dem Einmarsch der Franzosen in Königsberg
mit dem General Rüchel und seinem Gepäcke von
Königsberg ab nach Memel. In Memel wurden wir
im Hause des Kaufmann Wachs einquartiert. Als
263
bald nachher der General Rüchel seinen Abschied
bekommen hatte, ging er mit seinem Kammerdiener
zu Wasser nach Stralsund.
Sein Adjutant, ein Hauptmann, sollte mir nun
das Geld, täglich 1 Gulden, ausbezahlen, wie die
Königin befohlen hatte; allein ich forderte es nicht
und er ging ab, ohne es mir zu geben. Die Be*
dienten und Pferde blieben da und ich mit ihnen.
Unser Quartier war in Wachsens Hofe. Da sie
denn aber nach Pommern abgehen wollten, verlangten
sie, ich sollte mit ihnen reisen. Ich antwortete, ich
müsse es noch einmal mit dem Königebesprechen, wo*
gegen sie meinen, ich solle doch lieber an ihn schreiben.
Wirklich schrieb ich nun an den König und
gab den Brief seinem Kammerdiener, erhielt aber
keine Antwort darauf. Der Geheimrat Simson fragte
mich bald darauf, ob ich keine Antwort bekommen
habe? und ich versicherte ihn: Nein! Ei, meinte er,
wenn der König meinen Brief bekommen habe, so
hätte ich gewiß auch Antwort erhalten, er wisse
nicht wie das sei. Als ich einige Tage nachher wieder
zu ihm kam, fragte er mich, wo ich mich jetzt aufs»
hielte? Ich antwortete in Wachsens Hofe und setzte
hinzu: es seien aber dort lauter Russen. Da sagte
er, ich möge doch am nächsten Sonntage in Bach*
manns Hoff (Haus) kommen, dort sei General
Knobloch einquartiert, und der Graf Brühl werde auch
dahin kommen. Ich ging also hin. Als sie gespeist
hatten, redeten sie mit mir und befahlen mir am
andern Tage wieder zu kommen; der General werde
mir geben, was ich brauche und der Hof^^Inspektor
das Essen.
264
Etwa einen bis zwei Tage nachher kamen der
Graf Brühl und der Geheimrat Simson zu mir und
ratschlagten, wie es anzufangen sei, daß ich den König
sprechen könne. Ich teilte ihnen alles mit, was ich
wußte, und setzte hinzu, daß alles so kommen werde,
wie ich gesagt hätte, folglich schlimm, wenn man
nicht tue, was ich angedeutet habe. Endlich be**
schlössen sie, ich möge alles aufschreiben z. E. was
ich für Erscheinungen gehabt habe usw. Das tat
ich dann und der Planinspektor mußte es abschreiben.
Der Graf Brühl wollte es dem Könige übergeben,
hat es aber nicht getan. So oft ich darnach fragte,
antwortete er: er habe noch keine schickliche Gq^
legenheit dazu gefunden. Ich erwiderte, wenn es
sich nicht schicken wolle, es dem König selbst zu
geben, so möge er es seiner Gemahlin, der Königin
geben. Er tat aber auch dies nicht.
Späterhin schrieb ich alles noch einmal auf und
gab es auf die Post, da erhielt ich mit der Post
folgende Antwort:
„Sr. Königl. Majestät von Preußen machen dem
Johann Adam Müller hierdurch nachrichtUch bekannt,
daß Sie seine unterm 3ten dieses eingereichte Ein*
gäbe wohl erhalten haben und die von ihm dabei ge*
habte gute Absicht nicht verkennen wollen.
Memel den 3ten Jannar 1808
Friedrich Wilhelm.'*
Einige Zeit nachher hatte ich wieder eine Er*
scheinung. Ein Engel nämlich hatte ein Schwert in
der Hand, so hell wie ich noch nie eins gesehen
habe. Er gab es mir in die Hand und sagte: damit
solle der l'cind geschlagen werden. Ich möge auf««
265
stehen und dem Könige sagen, er solle den Propheten
Arnos und Jonas, aber beide Bücher ganz durchs
lesen.
Nicht lange nachher faßte mich des Nachts
etwas bei der Hand. Ich erwachte, richtete mich auf
und sah zwei weibliche Gestalten in ganz weißen
Kleidern. Die zur Rechten hatte ein rotes, die zur
Linken ein blaues Band um den Leib. Sie trugen
ein großes Buch in die Hände auf mein Bette. Ich
betrachtete die Krone genau und bemerkte ein Wort,
dessen eine Hälfte auf der linken, die andere auf der
rechten Seite der Krone stand. Das Wort war so
geschrieben:
Bera — beae.
Ich fragte sie, wer sie wären? Sie antworteten
sie wären zwei Königinnen. Sie hätten dem Könige
der Ehren noch nie ein Lied gesungen, auch hätten
sie kein Lied ihm damit zu dienen. Ich sann hin
und her und dann versicherte ich sie, daß ich ihnen
2 Lieder machen wolle, wenn sie darauf warteten.
Die Lieder würden von Gott und Jesu Christo
handeln. Gut, antworteten sie, ich möge sie nur
recht schön machen; und vor großer Freude
darüber lächelten sie mich an. Dann aber sagten
sie, sie hätten nicht länger Zeit darauf zu
warten; doch wollten sie wieder kommen die
Lieder abzuholen. Nun nahmen sie das Buch wieder
zu sich und verschwanden. Über ihr schnelles Ver*
schwinden erschrak ich^.
^) Ich bemerke eventuellen Vermutungen gegenüber, daß
ich durchaus nicht Spiritist bin und daher an eine objektive
,, Erscheinung" auch nicht glauben kann. Vielmehr dürfte es
266
Einige Tage nachher erschienen mir zwei Adler,
ein schwarzer und ein gelber, und kämpften sehr
lange miteinander, dicht vor meiner Bettlade. Endlich
wurde der gelbe Adler besiegt, so daß er sich vor
Mattigkeit auf den Boden legte. Da trat der schwarze
auf ihn, bis der gelbe allmählich verging. Als dieser
verschwunden war, verschwand auch nachher der
schwarze.
Dann kam der alte Mann, der mir in meinem
eigenen Hause erschienen war, zum drittenmal zu mir,
und wurde es dabei wieder so hell, als das erstemal.
Ich wachte vollkommen. Er setzte sich nun mir zur
Seite und hatte ein Buch wie eine Handbibel, es war
aber sehr prächtig und mit lauter goldenen Buch»»
Stäben. Er redete mir zu, ich sollte mich nicht
fürchten und mutig verrichten, was ich zu tun habe;
denn es solle mir kein Unglück widerfahren, er werde
mir allemal helfen. Dann öffnete er mir das Buch
und sagte: Die zwei Königinnen, die mir erschienen
wären, seien zwei Königreiche, die das Christentum
noch nicht angenommen hätten. Sobald die Christen
sich gebessert hätten, würden sie kommen und den
christlichen Glauben annehmen.
Dann las ich folgendes:
So ihr mich liebet, so werde ich euch wieder
lieben, und so ihr mich ehret, so werde ich euch
wieder ehren. Dann will ich mit meinem heiligen
Engel vor euch hergehen und will für euch streiten.
sich hier um nichts anderes als Träume handeln. Daß es zum
guten Teil Wahrträume sind, geht aus der folgenden Er*
scheinung hervor. Müller hatte sich zweifellos in die Rolle
einer .\rt von (ilauhcnsapostel hineingelebt.
267
Und ein jeder soll erkennen, daß ich der Herr bin
und tun kann, was ich will. Die aber, die es nicht
aut* und annehmen und wollen mein Werk ver*
hindern, auf die wird Feuer vom Himmel fallen und
die Erde wird ihren Rachen auftun und sie verzehren,
damit ein jeder erkennen müsse, daß ein Gott im
Himmel sei.
Dann verschwand der alte Mann für diesmal.
Zum viertenmal erschien er mir in einem blauen
Rocke. Da kam ich mit ihm weg und wußte nicht,
wie mir war. Unterwegs gesellte sich einer zu uns
mit einem weißen Kleide. Der alte Mann fragte ihn,
wo er hin wollte? „Ich bin von Gott gesandt,"
sagte er. Gut, antwortete der alte Mann, so komm
und hilf mir streiten, damit der böse Feind über^^
wunden werde, der so viele Menschen verderbt hat!
Dies hat Gott gesagt. Darauf versprach der im
weißen Kleide, er wolle ihm helfen kämpfen, aber
er solle dann auch mit ihm gehen und ihm helfen,
daß er seine Sache, die ihm Gott befohlen habe,
auch ausrichten könne, worauf der alte Mann, ja!
antwortete.
Mit einem Male befand ich mich wieder im Bette
und wachte vollkommen, gerade wie zuvor. Dies alles
habe ich ebenfalls dem Könige geschrieben.
Am 17. April erhielt ich folgenden ersten Brief
von meiner Frau:
(Folgt Seite 56—58 der Brief, dessen wesentlicher
Inhalt die Bitte um baldige Rückkehr ist. Der Familie
Müller geht es gut.)
Ich war früher entschlossen gewesen, bald zu
den Meinigen zurückzukehren, aber etwa sechs Wochen
268
vorher hatte ich eine Erscheinung, wobei mir an#
gekündigt wurde, ich werde noch acht Wochen in
Memel bleiben, müsse aber vor meiner Abreise mein
Schreiben an den König ihm selbst überreichen.
Der Kaufmann Concentius, in dessen Hause der
König in Memel gewohnt hatte, brachte mir persön*»
lieh den Brief von meiner Frau und fragte mich,
was ich zu tun willens sei? Ich antwortete, ich sei
auch ohne diesen Brief schon zur Rückreise enU
schlössen gewesen, ich wollte bloß noch einmal mit
dem Könige in Königsberg sprechen. Da bot er mir
an, er wollte mir einen Kahn bis Königsberg bestellen
und mir auch das nötige Reisegeld geben. Ich erfuhr
aber, daß der General Knobloch zu Lande, und der
Planinspektor zur See nach Königsberg reisen würden
und daß ich mit dem Letzteren dahin kommen könne.
Weil wir nun noch zwei Tage lang auf günstigen
Wind zur Abfahrt warten mußten, so wurden die
mir angekündigten acht Wochen gerade vollendet.
In Königsberg kam ich in das Haus des Plan*
inspektors. Er übergab mir dann einen Brief von
dem Herrn Concentius an Herrn Abegg und ein
paar Zeilen an den Geheimenrat Simson und an den
Herrn Oberhofprediger in Königsberg. Letzterer nahm
mich sehr gütig auf und fragte mich, ob ich der*
jenige sei, von dem er schon so vieles gehört habe?
Er wünschte meine Geschichte zu wissen, ich ant««
wertete aber: sie sei zum Erzählen zu weitläuftig,
aber ich habe alles zu Papier gebracht, um es dem
Könige zu übergeben und wolle es ihm zum Durch*
lesen bringen.
Er las das Ganze durch und sagte dann: , .Wollte
269
doch Gott, daß alles das geschehe, was hierin gQf
schrieben ist!" Darauf bot er mir seine Hilfe an,
insofern ich ihrer bedürfe.
Da ich den König selbst zu sprechen wünschte,
gab er mir den Rat, meinen Aufsatz am folgenden
Tage dem Könige beim Exerzieren zu überreichen,
so sich dazu die beste Gelegenheit finden werde.
Ich antwortete ihm, ich scheue mich gar nicht vor
dem König und wolle also lieber zu ihm ins Schloß
gehen. Er hieß auch dies gut und bot mir noch
einmal seine Hilfe an, wenn ich ihrer bedürfe. Als
ich ans Schloß kam, standen so viele Offiziere da,
daß ich nicht hinein gehen wollte; ich wartete also
die Wachtparade ab. Indes hatte aber ein Offizier,
der mich kannte, dem General Göcking gesagt:
Müller sei da! Darauf kam dieser zu mir und fragte
mich, was ich wolle? Ich bat ihn, mich beim Könige
zu melden; aber er antwortete: das gehe nicht wohl an!
Darauf wurde mich der Bruder des Königs gewahr.
Zugleich sagte man mir, wenn ich etwas Schriftliches
bei mir hätte, so sollte ich es nur abgeben, es werde
besorgt werden. Ich gab also das Schreiben dem
General Göcking und bemerkte dabei, daß es ja der
König selbst erhalte. Wenn es dem Könige zu
schwierig sein sollte, so möge er den Königsberger
Oberhofprediger und noch irgendeinen andern Geist*
liehen dazu nehmen. Man versprach mir dies alles
zu bestellen.
Am andern Tage kam der Graf Brühl zu mir
und brachte mir vom Könige einen Louisdor; ich
wollte ihn aber nicht nehmen. Er behauptete, ich
müsse ihn nehmen, denn er habe Befehl vom Könige
270
ihn mir zu geben. Zugleich erzählte er mir, die
beiden Oberhof prediger, sowohl der von Berlin, als
der von Königsberg, seien berufen worden. Der
erstere habe aber die ganze Sache verworfen, und
nichts daraus gemacht. „Die Herren meinen,** setzte
Graf Brühl hinzu, „wenn sie nur in Berlin wären,
so seien sie im Himmel!**
Am Himmelfahrtstage bezog sich der Ober^
hofprediger in Gegenwart der königlichen Prinzen in
seiner Predigt auf meine Angelegenheit und wünschte,
daß Gott alle Herzen regieren möge, damit alle sich
bekehrten, denn sie sähen ja deutlich, die Hand des
Herrn aufgehoben, sie zu strafen^).
Am zweiten Tage danach kam der Graf Brühl
zu mir und sagte: Der Hofmeister des einen könig*
liehen Prinzen, der Geheimerrat Reimann, wünschte
sehr mich zu sprechen, ich möchte doch also in das
Graf Brühische Haus kommen, der genannte Hof*
meister werde auch hinkommen. Doch stehe es in
meinem Willen. Ich ging an demselben Abend 4^^ ^br
hin und fand den Hofmeister und noch einen Offizier.
Beide verlangten, ich solle ihnen die ganze Sache
noch einmal erzählen, sie wollten sie aufsetzen, sie
dem Könige, bei dem sie täglich wären, vortragen
und dafür sorgen, daß sie nicht vergessen werde.
Der Offizier, dessen Namen ich aber nicht weiß,
mußte nun aufschreiben. Ich erzählte ihnen in drei
verschiedenen Tagen alles vom Anfang bis zu Ende.
Als alles aufgeschrieben war, las der Hofmeister es
*) Frau von St ... s hat diese Predigt mit angehört, und I
versichert, da(^ sie allgemeinen und sehr tiefen Eindruck gemacht
habe. (Anm. des Protokolls, S. 61.)
271
durch und sagte, dies sei eine Geschichte, wie keine
besser in der Bibel stehe.
Er verlangte nun von mir zu wissen, was das
oben angeführte fremde Wort bedeute? Ich ant*
wortete: daß ich das nicht wisse. Er verstehe ja
mehrere Sprachen, müsse es also wohl besser wissen»
als ich. Dann fragte er, aus welcher Sprache denn
das Wort sei? Ich antwortete: das wisse ich wohl,,
daß es griechisch sei. Dann besann er sich lange,
und ich zeichnete ihm das Wort noch einmal vor,,
und die Krone dazu, gerade so, wie ich beide gesehen
hatte. Darauf sagte er: das sehe er nun wohl ein»
daß es ein griechisches Wort sei, auch wisse er nun,
was es bedeute. Darauf bat er sich vom Grafen
Brühl aus, das Schreiben mit nach Hause zu nehmen»
mit dem Versprechen jedoch, es dem Grafen wieder
zurück zu geben. — Mir gestand er, daß er bei der
Königin im Anfange über meine Geschichte gelacht
habe, jetzt aber einsehe, daß alles wahr sei, daß er
nun nicht mehr darüber lachen werde. Auch wünschte
er noch einmal mit mir zu sprechen, ehe ich fortginge.
Dann bat ich den Grafen Brühl, er möge mich
mit dem Wagen, der nach Berlin gehe, abreisen lassen»
aber er meinte, das werde mir zu beschwerlich sein»
er wolle mir einen Freiplatz auf der Post besorgen.
Wirklich tat er dies und ich hatte den Freiplatz schon
abgegeben, als er sagte, ich könne noch nicht ab*
reisen, weil das Reisegeld noch nicht beisammen sei.
Ich holte mir also meinen Freiplatz von der Post
wieder ab. Dann fragte mich aber Herr Abegg, ob
ich denn wirklich am andern Tag abreisen werde?
Ich erzählte ihm darauf den Vorfall mit dem Grafen
272
Brühl. O, antwortete er, das kann noch lange so
gehen! und redete mir dann zu, meine Reise zu he^
schleunigen, weil meine Frau so sehnlich nach mir
verlange. Das nötige Reisegeld bot er selbst mir an
und fragte mich deshalb, wie viel ich wolle? Zwanzig
Taler, antwortete ich, aber er behauptete, daß ich
damit nicht auskommen werde und gab mir fünfund*
dreißig Taler. Hierauf nahm ich Abschied beim
Grafen Brühl und beim Oberhofprediger und beide
versprachen mir, sie wollten gern alles anwenden,
um die gute Sache zu fördern.
Am ersten Pfingsttage abends um 7 Uhr reiste ich
mit der freien Post von Königsberg ab bis Berlin.
Von Berlin bis Nürnberg bezahlte ich das Postgeld,
von Nürnberg aus machte ich den Weg zu Fuße.
Meine ganze Reise dauerte gerade drei Wochen.
Die Meinigen fand ich gesund.
(Unterschrieben)
Hautz, Pfarrer in Meckesheim.
Johann Adam Müller.*'
(Soweit das Protokoll.)
Außer obigem langem Potokoll hat Müller noch
Briefe an den König Friedrich Wilhelm III. von
Preußen verfaßt, in denen er immer wieder die Not««
wendigkeit betont an Gott und Christus zu glauben
und mit biblischen Phrasen aufs verschwenderischste
umgeht. Mit dem nichtssagenden Gefasel würden
wir uns nicht weiter befassen, wenn nicht auch Stellen
in den Briefen enthalten wären, die sich auf die seiner^
zeit dem König gemachten Prophezeiungen beziehen
und beweisen, daß tatsächlich eine ganze Reihe
273
von ihnen in KrKillung gegangen ist. Es läßt
sich durchaus nicht annehmen, daß ein Mann wie
Müller, der nach Berichten, aber auch nach dem
ganzen Tenor seines ,,Protokolles** zweifellos an seine
Mission glaubte — warum hätte er sonst ohne Geld
und Paß die weite Reise gewagt, was ihm doch neben
der Trennung von Frau und fünf Kindern auch he^
rufliche Schädigung brachte? — daß ein solcher Mann
es hätte wagen sollen, sich auf Prophezeiungen zu
beziehen, die er gar nicht gemacht hatte. Aber selbst
wenn er diese ungewöhnliche Frechheit besessen hätte,
so würde der König sie zweifellos haben zurück^*
weisen lassen statt ihm zu danken.
Wir entnehmen dem Briefe Müllers vom 28. Januar
1815 an den König folgenden Passus^):
. . . Ihro Majestät, es wird Ihnen noch wohl be**
kannt sein, wie mich Gott zu Ihnen gesandt im Jahre
Christ 1807, wie ich nach Königsberg gekommen bin,
da wurde ich zum General Rüchel und Herrn General
Blücher und sonst noch zu vielen Herren geführt,
mit welchen ich wegen dessen sprach, um welches
willen mich Gott zu Ihnen gesandt hatte. Dann hat
der General Rüchel mich bei Ihro Majestät der Hoch*
seeligen Königin gemeldet, und sie ließ mich bei sich
kommen. Da ich mit ihr gesprochen hatte, da war
Freude über Freude. Auch der Kronprinz hat mit
zugehört, welcher noch alles wissen wird, was ich
mit seiner seligen Frau Mutter gesprochen habe.
Da mich Gott mit seiner großen Vatergüte vor
*) Geschichte, Erscheinungen und Prophezeiungen des Joh.
Adam Müller, Frankfurt a. M., 1816, S. 73fif.
Kemmerich, Prophezeiungen 18
274
Sie gestellet hat, um mündlich mit Ihnen zu reden,
was Sie tun sollten, habe ich Sie dabei getröstet, daß
Sie ein größeres Reich bekommen sollten, als
Sie je gehabt, und daß Frankreich in drei
Teile geteilt werden solle, und daß Zion und
Jerusalem gebauet werden soll, welches alles Sie
mir als König heilig zugesagt haben. Ich habe es
auch öfters schriftlich eingegeben und von Ihnen zur
Antwort erhalten, daß Sie das Gute nicht verkennen
wollten.
Und die drei Schlachten in Sachsen, welche
mir Gott vorher gezeigt, daß Sie und Ihre
Majestät der Kaiser von Rußland selbst dabei
sein werden (habe ich Ihnen vorausgesagt).
Sie sollten nur nicht verzagen, der Feind werde
überwältigt werden.
Und daß mich der Hofmeister der Prinzen zum
letztenmal verhört und alles zu Papier genommen
hat, woran wir drei Tage gearbeitet. Dann hat der
Hofmeister zu mir gesagt: , .Müller, wenn wir aber
mit allen Mächten Frieden halten und alles gehen
lassen, so kann das nicht geschehen, was er hier sagt.**
Da sagte ich zu dem Hofmeister: „Sie mögden
machen, was Sie wollten, es würde doch ge*
schehenV
Müller erzählt dann noch einige religiöse Er»
lebnisse, um endlich noch folgende Vision (oder
Traum) zu berichten:
„Ihro Majestät von Preußen, ich will Ihnen kund
tun, daß ich eine Erscheinung gehabt habe und mir
') Von mir gesperrt.
275
Gott zu wissen getan hat im Jahr Christi 1814 in
der Christnacht, da mir der Geist Gottes erschien.
Ich war da in einem großen Saale. Da sprach einer
zu mir: Müller, ist er auch hier? Ich antwortete:
Jal Dann sagte der Mann zu mir: ich werde vor die
Herren kommen.
Nun stand ich auf einem großen ebenen Felde.
Da sind Sie, der König von Preußen, und der König
von Hannover und der König von Würtemberg und
der König von Baiern gegenwärtig gewesen, und es
sind vier Pfähle aufgerichtet worden. Da es aber
an den 4ten kam, so wollte der König von Baiern
diesen nicht aufrichten lassen. Der Geist des Herrn
sprach aber: Es muß sein! da ist es denn geschehen.
Eine Weile nachher war der König von Baiern
sehr freundlich.
In der zweiten Christnacht erschien mir der
Geist des Herrn abermals und brachte mich auf eine
Anhöhe. Da sähe ich eine so fürchterliche Schlacht,
daß ich vor lauter Feuer zuletzt nichts mehr erkennen
konnte. Dann zogen sich die Deutschen von einander
und die Franzosen drangen hinein, aber über eine
kleine Weile sprach der Geist des Herrn:
Die Franzosen sind alle gefangen^)!*'
Da der Brief, den wir hier abbrechen wollen,
verloren ging, schickte am 12. März Müller ein
Duplikat, dessen Empfang der König bestätigt:
„Ich schätze den religiösen Sinn, welcher den
Johann Adam Müller seine Erbauung in der heiligen
Schrift finden läßt und lasse auf seine Eingabe vom
^) Von mir gesperrt.
18*
276
12ten d. M. seinen guten Gesinnungen Gerechtigkeit
widerfahren.
Wien den 29sten März 1815.
Friedrich Wilhelm^."
Unzweifelhaft ist der Brief erstaunlich kühl.
Wenn auch kein Mensch dem König zumuten kann,
daß er an dem biblischen Bombast der Müllerschen
Diktion Gefallen fand, so hätte er doch immerhin
anerkennen können, daß eine Reihe von Vorhersagen
eintrafen, als niemand es geahnt hatte. Der Gedanke,
der König, nun wieder im Glück, habe Müller so
gern vergessen, wie die seinem Volke versprochene
Verfassung, liegt ja allerdings nahe.
Für uns hat diese Korrespondenz den großen
Wert, dokumentarischer Beweis dafür zu sein, daß
Müller mit dem Hofe wirklich in Verbindung stand
und — das wird wohl der größte Skeptiker zugeben
müssen — zum wenigsten sich selbst für einen Seher
gehalten hat.
Eine nicht uninteressante Wiederholung der
Prophezeiungen enthält auch der Brief, den Müller
am 4. August an den König Friedrich Wilhelm
schrieb und auf den er ihm unterm 15. August von
Paris aus noch kürzer dankt. Der einschlägige
Passus lautet'):
„Da sagte ich Ihnen, daß Gott Sie und
Sr. Majestät den Kaiser von Rußland auser*
sehen hätte, Frankreich zu demütigen und die
Völker zu befreien; daß sie Mut und Ver*
') a. a. O., S. 79.
") a. a. O.. S. 80 ff.
277
trauen zu Gott, zu sich und zu Ihrem treuen
Volke fassen sollten und daß Gott Sie und Ihr
Reich gröl^er als je machen wollte, wenn Gott
und sein Wort wieder in Ihrem Lande ge*
fürchtet und geehrt würde.
Damals in Königsberg hat mir auch die
Erscheinung den Zug der nordischen Völker
nach Frankreich und die Vernichtung des
französischen Adlers gezeigt, ferner daß
Ew. Majestät bei einer Schlacht in den sächs«
sischen Gebirgen, wo Sie selbst kommandieren,
den Feind besiegen würden usw."
Nach einem ganzen Schwall biblischer Reminis*:
zenzen fährt der Bauer fort: „Monarchen! Gott
rufet Ihnen durch meinen Mund zu, was Sie tun
sollen und bevor das nicht geschehen ist, wird
keine Ruhe werden auf Erden.
Sie sollen Frankreich in drei Teile teilen,
es soll nicht mehr Frankreich heißen, sondern mit
einem andern Namen benannt werden.
Sie sollen dem Könige von Frankreich die
Krone nicht geben, auch nicht dem jungen
Napoleon, damit diese nicht eine Geißel werden
über ganz Europa, wie Gott den Jehu wider Joram
und Ahab gewendet hat. Gott hat befohlen und
ich rufe es Ihnen in seinem Namen zu: Es ist ein
Wort der Gerechtigkeit, dabei soll es bleiben, er hat
uns alle berufen, daß wir seinen Willen ausrichten
wie die Engel im Himmel.
Sie sollen, das hat mir die Erscheinung schon
1807 kund getan, zur Erinnerung für ewige Zeiten
eine Bundesstadt erbauen, in derselben sollen die
278
vier Monarchen: Preußen, Rußland, Österreich und
England alle Jahr einmal zusammen kommen, sich
über das Wohl ihrer Völker beraten und sollen alle
gleichmäßig von hieraus über Frankreich herrschen.
Ich habe den Plan der Stadt, die nach Gottes
Befehl Neujerusalem und die dabei liegende Burg
Zion genannt werden soll, so wie sie mir die Er*
scheinung gezeigt und mich darin umhergeführt hat,
auf Papier gezeichnet und gedachte sie Ihro Majestät
dem Könige von Preußen bei Ihrer Durchreise zu
übergeben. . . ."
Am 7. Oktober 1815 schrieb Müller noch einen
dritten Brief an den König ^), in dem er wieder an
seine Königsberger Prophezeiungen erinnert, die dem
König im tiefsten Elend künftige Größe vorhergesagt
habe. Er kommt wieder auf die Vierteilung Frank*
reichs und auf die Bundesstadt zurück und prophe*
zeit, daß ,,alle Religionen sich zur Anbetung eines
Gottes und Jesu Christi bekennen werden."
Er beruft sich — mit Recht — auf die zahlreichen
eingetroffenen Vorhersagen, die niemand glauben
wollte — zuletzt habe er noch den Krieg von 1815
durch eine Erscheinung voraus gesehen — und stellt
das Eintreffen der anderen in Aussicht.
Er bittet den König, ihn wiederum zu empfangen
wie 1807 in Königsberg.
Der König lehnte in einem Schreiben, das Berlin,
den 27. Oktober 1815 datiert ist, das Gesuch ab.
Wir können es ihm nicht verübeln, denn wenn es
überhaupt etwas gibt, was selbst den Sanftesten zur
') a. a. O., S. 84 ff. Die zweite Antwort des Königs ist
abgedruckt auf S. 84. die dritte auf S. 89.
279
Raserei bringen kann, dann sind es die schwülstigen
mit biblischen Zutaten durchsetzten Expektorationen
Müllers. Hie und da möchte man glauben, er sei
vom religiösen Wahnsinn befallen worden. Aber ob
uns dieser ungebildete und ehrliche, recht selbstbe*
wußte Bauer sympathisch ist oder nicht: die Billige»
keit fordert es seine Vorhersagen zu prüfen.
Und da finden wir denn, daß, abgesehen von
denen, die sich auf Frankreichs Teilungen beziehen
und einige religiöse Inhalts, fast alles in Erfüllung ging.
Wir tun am besten das Urteil Ehrlichs, der sich
eingehend mit der Person Müllers und seine Vorher:»
sagen beschäftigt, nachstehend wiederzugeben.
Müller hatte, wie so oft die ehrlichen Seher, nur
den einen Wunsch, daß die Wahrheit und nichts
als sie über ihn verbreitet würde. Deshalb kam er
Ehrlichs Bemühungen, sie zu ergründen, durchaus
entgegen. Letzterer sammelte alles, was Müller be^
traf, vollständig^).
Wie er dazu kam, erzählt er auf S. 5&. der Vor*
rede seiner Geschichte dieses Mannes. Als er im
Jahre 1807 und 1808 in Königsberg bei der preußi*
sehen Königsfamilie weilte und merkte, daß Geheim«»
rat Reimann, der Erzieher des Prinzen Friedrich, über
ihn lachte, sagte er: „Ich sage und tue, was ich muß
und kümmere mich weiter um nichts.** Auf Reimanns
^) „Geschichte, Erscheinungen und Prophezeiungen des
Joh. Adam Müller", Frankfurt a. M. 1816. Auf dem Titel steht
kein Verfassername, sondern Wilhelm Ehrlich hat die Vorrede
(S. 3—24), der wir obige Angaben über Müllers Person und
Prophezeiungen, soweit sie nicht im „Protokoll" enthalten sind,
entnehmen, unterzeichnet.
280
Einwendungen hin sagte er: „Von dem allen verstehe
ich nichts; aber es wird doch so kommen, wie ich
gesagt habe, denn der Geist, der es mich versichert
hat, kann nicht lügen, und ich habe es durch den=«
selben ja selbst gesehen." Endlich veranlaßte diese
Sicherheit Müllers doch Reimann, die Sache ernst zu
nehmen. Er verfaßte also ein langes Protokoll über
Müllers Aussagen, das er sorgfältig aufhob und das
nach seinem Tode in die Hände Ehrlichs gelangte.
Letzterer war sich über die Ehrlichkeit Müllers
klar. Im Lobe seiner Redlichkeit, Mäßigkeit und
Arbeitsamkeit stimmten alle überein, besonders der
Pfarrer Hautz in Neckargemünd, der sehr lange in
Müllers Geburtsort Meckersheim Pfarrer gewesen war,
versicherte, daß er eine treue und ehrliche Seele war.
Auch andere Pfarrer, die ihn kannten, bestätigten
dies Urteil. Die Frage, ob er ein Betrogener oder
Schwärmer sei, beantwortet er damit, daß Müller das
Glück Preußens zu einer Zeit voraussagte, als
es im allertiefsten Unglück war. Das hatte er
damals schon felsenfest selbst gegen die Einwürfe
des Königs und der Königin behauptet, wiewohl man
seine Aussagen albern und unmöglich nannte. Im
Laufe der Zeit aber sollte er nicht nur in der Haupt*
Sache recht behalten, sondern selbst in Nebenum*
ständen.
Der Krieg Frankreich von 1812 mit Ruß*
land, Frankreichs Niederlage und der unge*
heure Brand Moskaus, die Verfolgung durch
die Russen, der Enthusiasmus des preußischen
Volkes für Freiheit und König, Preußens Krieg
mit Frankreich und die Besiegung der Fran*
281
zoscn, bei welcher namentlich Schlachten in
Sachsen erwähnt sind, in denen der König von
Preußen und der Kaiser von Rußland körnst
mandieren würden. Ferner der Übergang der
Deutschen über den Rhein, Müllers persona
liehe Begrüßung des Königs bei dieser Ge^
legenheit, das und noch manches andere steht in
diesen Papieren, die schon 1807 auf 1808 für den
preußischen Hof niedergeschrieben wurden.
Ehrlich so gut wie die über Müller befragten
Pfarrer waren sich darin einig, daß sie am liebsten
die Prophezeiungen Müllers fortgeleugnet hätten. Aber
es ging nicht, da so manches, was früher lächerlich
erschienen war, später in Erfüllung ging.
Ehrlich genoß in kurzer Zeit Müllers Vertrauen»
daher kann er wertvolle Nebenumstände mitteilen.
Als er am 4. Januar 1815 das Gespräch auf seine
neuesten Erscheinungen brachte, erzählte er, daß bald
ein blutiger Krieg mit Frankreich ausbrechen werde.
„Gerade damals fanden sehr ernste Spannungen
zwischen Osterreich, Preußen, Bayern, Rußland, Franko»
reich usw. statt; ich bezog daher — politisch ver*
nünftelnd — alles, was er mir sagte, darauf, und
wünschte seine Gründe zu wissen, weshalb er so
bestimmt glaube, daß es zum Kriege unter den
Erwähnten kommen müsse. Er lächelte aber ruhig
und heiter, gerade wie ein Mensch, welcher jenseits
der Wolken und Stürme sicher steht, über mein Ver*
nünfteln. Politisieren und Zweifeln, und sagte zuletzt:
,Ja, das verstehe ich alles nicht, aber der
Geist hat mir gesagt, daß es wieder Krieg mit
Frankreich gibt, und das bald!*
282
Er besuchte mich seit der Zeit sehr oft, un:«
geachtet ich ihm — absichtlich! — nie ein Ge*
schenk gab und jedesmal sein Gegner war
und blieb^).
Allmählich ließen die Spannungen auf dem Wiener
Kongreß nach. Die Angelegenheiten mit Polen, Sach*
sen usw. kamen eine nach der andern in Ordnung,
und ein tiefer Friede wurde (dem Anschein nach)
mit jedem Tage gewisser. Jetzt durfte Müller nur
die Türe öffnen, so scherzte ich schon mit ihm und
spöttelte (jedoch freundlich heiter!) über seinen
baldigen blutigen Krieg gegen Frankreich.
Sein Benehmen dabei blieb sich immer gleich. Er
erzählte nämlich stets aufs neue seine Erscheinungen
in den Weihnachtsträumen, und schloß jedesmal da=*
mit: ,Sie werden sehen, daß alles zutrifft, und
das bald! Denn der Geist kann nicht lügen!*
Endlich in den ersten Tagen des März 1815 kam
er abermals zu uns; diesmal um Abschied von uns
zu nehmen, weil wir verreisen wollten. Jetzt war, nach
aller Vernünftigen Meinung, an gar keinen Krieg
mehr zu denken! Ich scherzte wie gewöhnlich mit
ihm; ergriff ihn unter anderm am Kinn und wiegte
schäkernd seinen Kopf hin und her mit den Worten:
,Nun, mein lieber Müller! Nun ist es mit dem
blutigen Kriege gegen Frankreich rein aus,
denn jetzt ist tiefer, tiefer Friede!* (Zugleich
erzählte ich ihm den ganzen Stand der politischen
Verhältnisse.)
Er hörte mich ganz aus, antwortete dann aber
') Fhrlich verhält sich zu Müller also geradeso skeptisch,
wie ein halbes Jahrhundert früher Sülk' gegenüber Mecring.
283
mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit: ,Und ich sage
Ihnen, nun dauert's gar nicht lange mehr!
Nun geht's gleich los in Frankreich.'
Wir lachten gegenseitig über unsere, so höchst
verschiedenen Behauptungen, schieden aber, wie immer,
als gute Freunde voneinander.
Am Nachmittage desselben Tages ließ unsere
Reisegesellschafterin uns bitten, die beabsichtigte Reise
noch einige Tage auszusetzen, weil sie sich nicht ganz
wohl befinde. Wir willigten ein. Ehe aber noch ihre
Kränklichkeit völlig gehoben war, erfuhren wir schon
aus den öffentlichen Blättern, daß Napoleon in Frank*
reich gelandet sey. In demselben Augenblicke, in
welchem ich dies las, strafte ich mich selbst durch
den unwillkürlichen Ausruf : Nun hat Müller doch
recht! —
Jetzt begriff jedermann, daß ein Krieg, und
wahrscheinlich ein sehr blutiger Krieg entstehen
müsse. Die Reihe wäre also nun an Müllern ge*
wesen, uns auszulachen, aber er tat es nicht, son;*
dern sagte bloß — etwa wie ein Mensch, dem man
etwas abgestritten hat, was er doch vor Augen
sah: — ,Ich sagte es Ihnen ja immer! Geschehen
mußte es durchaus! Denn — Gott kann ja nicht
lügen.'"
Soweit der Bericht Ehrlichs. Wir sperrten nur
die Stellen, die auch im Original gesperrt sind.
Ferner versicherte Müller, daß die Gegend von
Mannheim und Heidelberg in diesem Kriege von 1815
vom Feinde verschont bleiben werde. Aber auch
diese Prophezeiung war außerordentlich gewagt und
keineswegs, wie der Zweifler in solchen Fällen gern
284
annimmt, Resultat einer Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Denn diese Gegend war damals fast ganz von Truppen
entblößt, die russische Armee noch sehr weit zurück
und, wie leider unsere Geschichte lehrt, der Weg
den Franzosen nur zu gut bekannt. Deshalb zitterte
alles vor der drohenden Gefahr. Und doch behielt
Müller recht. Daß die mit Haut und Haar dem
Dogma der Unmöglichkeit jeglicher Prophetie Ver^*
schriebenen nachher sagten, es hätte so kommen
müssen, ist selbstverständlich.
Ehrlich betont ausdrücklich, daß er weder für
noch gegen Müller Partei ergreife, sondern nur Tat*
Sachen berichte und es jedem überlasse, darüber zu
denken, was er wolle. Ehrlich weist daher auch ruhig
auf die Irrtümer Müllers hin.
Die Erscheinung, die er in den Weihnachtsnächten
1814 hatte, stimmen vollkommen mit den Begeben*
heiten des 16. und 18. Juni 1815 überein. Aber die
zweite Schlacht zwischen Elsaß und Lothringen, die
Müller vorhergesehen hatte, wurde nicht geschlagen,
weil die außerordentlichen Leistungen der Preußen
Napoleon entscheidende Niederlagen beigebracht hat*
ten. Sie wäre wahrscheinlich gewesen, aber sie war
nicht wirklich. Ebenso wäre es in jeder Beziehung
besser gewesen, Napoleon wäre damals gefallen, wie
Müller wahrsagt bzw. andeutet, als er ihn mit seinen
Generalen am Rande eines frischen Grabes stehen
sah. Und doch erfüllte sich diese, wie wir gleich
sehen werden falsch interpretierte, Vision nicht. Wie
wir ja bei allen Wahrsagern die Beobachtung machen,
da(i hie und da ein Spruch nicht in Erfüllung geht.
Dem „Protokoll** sind noch einige Visionsberichte
285
mit Müllers Unterschrift aus den Jahren 1815 und
1816 angereiht. Daß die Prophezeiung von Napoleons
Grab nicht in Erfüllung ging, hatte bereits Ehrlich
konstatiert.
Wir lassen hier den Bericht (S. 120 f.) folgen:
„Am 18. April 1815, Dienstag nachts um 12 Uhr,
brachte mich der Geist des Herren auf eine Anhöhe
im Elsaß und zeigte mir ein frischgemachtes Grab
mit den Worten: ,Es sei für Napoleon. Er wird
gleich selbst kommen!* setzte der Geist hinzu.
Bald darauf kam Napoleon mit zwei Generalen,
diese blieben jedoch 200—300 Schritte zurück. Napo^«
leon aber ging grade auf sein Grab los, und zwar
so ganz dicht darauf zu, daß man glauben mußte,
er werde jetzt, und jetzt hineinstürzen. Er betrachtete
es lange und aufmerksam.
Dann sagte ich zu ihm, er hätte bleiben sollen,
wo er gewesen wäre. Darauf sähe er mich sehr ver*
drießlich an, und sprach viel Französisch, welches
ich nicht verstand.
Nun ging er zu den Generalen zurück, und
damit hörte meine Erscheinung auf.
Johann Adam Müller."
Da Napoleon vom Grabe zu den Generalen
zurück ging, muß daraus meines Erachtens gefolgert
werden, daß er nicht sterben würde. Die Vision
würde also höchstens so zu deuten sein, daß er in
großer Gefahr war, oder daß er sich mit dem Ge^
danken getragen habe zu sterben, d. h. wohl den
Tod zu suchen und es dann unterließ. Ehrlich geht
also hier in seiner Skepsis zu weit, denn von einer
286
falschen Prophezeiung kann gar keine Rede sein,
höchstens von einer falschen Interpretation.
Dagegen ist die zweite Vision Müllers vom
12. August 1815 nicht in Erfüllung gegangen. Darin
heißt es, Frankreich würde unter die vier Monarchen
geteilt werden, die vier Religionen, die heidnische,
türkische, jüdische und christliche würden miteinander
vereint werden und eine Bundesstadt müsse gebaut
werden.
In der dritten Vision wird Müller auf den Römer*
brief, Kapitel 5, hingewiesen, was er — am 26. Sep**
tember 1815 — so deutet; „Jetzt werde nun alles gut
werden, Friede kommen, die Erkenntnis Christi und
die Befolgung seiner Lehre ausbreiten usw., aber,
meint er ferner, die früher erwähnte Schlacht müsse
doch wohl noch erst erfolgen. Es werde auf jeden
Fall noch etwas Hartes vorfallen."
Mit dem Frieden — einer erstaunlich langen
Friedensperiode — behielt Müller recht, ebenso mit
einer anderen Vision, daß die Russen nicht wieder
nach Deutschland kämen. Das hat sich ja nun ein
Jahrhundert bewahrheitet und war damals sicher nicht
vorauszusehen, da in den Jahren Müllers sehr häufige
Grenzüberschreitungen stattfanden.
Auch daß Napoleon von St. Helena aus nicht
wieder in den Gang der Weltereignisse eingreifen
würde, war eine richtige, wenn auch sehr nahe liegende
Vorhersage.
Dann folgen noch zwei religiöse und zwei poli*
tische Visionen, letztere auf einen Krieg Österreichs
mit Frankreich deutend, also falsch.
Unser Bericht wäre unvollständig, würden wir
287
nicht die Kritik erwähnen, die Ehrlich (S. 90-119)
an einem Schrittchen „Neue Prophezeiungen desJohann
Adam Müller", das anonym und ohne Wissen Müllers
erschien, übt.
Es enthält massenhaft falsche Daten, die Ehrlich,
auf Grund von Müllers Angaben, berichtigt. Dadurch
sind wir zu dem Schluß berechtigt, daß die unwider?
sprochen gebliebenen Behauptungen der kleinen Schritt
auf Wahrheit beruhen.
Indem wir von einer Reihe an sich nicht un*
interessanter Momente absehen, sei folgendes wieder«
gegeben: ,,Die erste meiner Erscheinungen hatte ich
in der Nacht des neuen Jahres von 1804 auf 1805."
Ein Geist trat da an sein Bett und sagte: ,,Dies Jahr
entsteht ein Krieg zwischen Frankreich und Oster«
reich, und wenn letzteres nicht Friede macht, so
wird es alles verlieren. Hierauf blitzte es am Himmel
und die Gestalt verschwand. Ich ging nach dem
Fenster, durch das der Blitz leuchtete, da sah ich
deutlich am Himmel Artillerie von Frankreich gegen
Österreich zu fahren, welcher Zug '^|^ Stunden währte.
Pferde, Knechte, Kanonen, Pulverwagen, alles war
deutlich zu erkennen, nur daß sie ganz feurig waren."
Müller beachtete diese Vision weiter nicht und
erzählte erst von ihr, als er nach einer Schlappe der
Franzosen einige Leute die Befürchtung aussprechen
hörte, Österreich würde siegen. Daß diese ganze
Prophezeiung in Erfüllung gegangen ist, steht fest.
(S. 96 f.)
Auf die gleiche Weise wurde Müller in der
Neujahrsnacht 1805 auf 1806 der Krieg Frankreichs
mit Preußen verkündet.
288
Andere Visionen hatte er 1807. Ein Mann (Geist)
trug ihm auf, zu dem König von Preußen zu gehen
und ihm zu sagen, er solle gemäß Jesaias, Kapitel 53
bis 64 handeln. Frankreich müsse unter vier Monarchen
verteilt werden und Preußen werde so groß werden,
wie es noch niemals war. Dann würden sich die
Heiden und Türken taufen lassen und zuletzt die
Juden und es werde nur eine Religion geben und
tausendjährigen Frieden. Der „Geist" führte Müller
dann nach Königsberg durch vier Städte und zeigte
ihm alles, was er auf dem Wege erleben würde.
So sah er Stettin, Königsberg, Memel und eine Stadt
am Rhein zwischen Philippsburg und Nußloch, die
für die vier Monarchen zu einmaliger Zusammenkunft
jedes Jahr bestimmt war. (S. 98—102.)
Auf wiederholte Mahnung hin trat er dann seine
weite Reise, von der das „Protokoll** eingehend be*
richtet, mit 15 Kreuzern in der Tasche und ohne
jedes Gepäck an. Überall fand er kostenlose Unter*«
kunft und Verpflegung, weil er dem Befehle des
„Geistes" folgte und dort einkehrte, wo eine innere
Stimme ihn hinwies. (S. 102—108.)
Friedrich Wilhelm III. hatte schon schriftlichen
Bericht über Müller erhalten. Er mußte dem König
alle angezeigten Kapitel aus der Bibel auslegen. Als
er dem König die Treue seiner Untertanen, die Gut
und Blut opfern würden, rühmte, antwortete er —
und das ist bezeichnend für die allgemeine Lage,
beweisend aber dafür, daß Müller unmöglich durch
Kombinationen zu seinen Vorhersagen gekommen ist:
„Ach ncini Es ist mir jetzt alles abtrünnig geworden 1'*
(S. 108, Anm.)
289
Müller prophezeite dem König, daß Frankreich
im Norden zugrunde gehen würde, daß Preußen so
groß werden würde, wie noch nie, ferner die Vcr#
einigung der Religionen und die Erbauung der be»«
walken Stadt. Als Friedrich Wilhelm erwiderte, daß
er den Krieg ja nicht fortsetze und daher alles Ge#
weissagte nicht eintreffen könne, gab Müller zur AnU
wort, der König möge machen, was er wolle, es würde
doch so geschehen.
Auf die Frage, welche Religion denn übrig bleiben
werde, antwortete Müller regelmäßig: ,,Die Religion,
welche bleiben werde, sei weder die katholische,
noch die lutherische, noch die reformierte, sondern
diejenige, welche Christus selbst gelehret habe.** (Seite
109, Anm.)
Es folgen dann die Vorhersagen, die wir im
„Protokoll** schon eingehend kennen lernten.
In Heidelberg hatte Müller eine halbstündige
Unterredung mit König Friedrich Wilhelm III. Auch
Blücher hat manches Pfeifchen mit Müller geraucht
und manche Stunde mit ihm verplaudert. Die von
Ehrlich ausgesprochene Vermutung Müllers felsenfeste
Versicherungen der Jahre 1807 und 1808 hätten in
den Freiheitskriegen im alten Marschall Vorwärts nach*
gewirkt, läßt sich jedenfalls hören. Seinem Adjutanten
hatte er 1814, am 13. Juni, aufgetragen: „Er solle
den Blücher von dem Müller grüßen und er werde
nun bald viel mit den Franzosen zu tun kriegen,
wenn er (der Adjutant) anders noch früh genug
komme, um dies vorher bestellen zu können."
(S. 114f., Anm.) Da die Schlacht schon am 15. be*
gann, kam dieser Bote zu spät.
Kemmerich, Prophezeiungen 19
290
Übrigens erwartete Müller 1815 noch einen kurzen
Krieg, da nicht sämtliche Prophezeiungen in Erfüllung
gegangen seien, vor allem die auf die Teilung Franks*
reichs bezügliche und die, welche eine große, sehr blutige
Schlacht zwischen Deutschen und Franzosen vorhersagt.
Endlich hatte er noch eine merkwürdige Vision.
Er sah eine große Zahl Equipagen mit vornehmen
Insassen. Dahinter kam der Teufel in einem Wagen.
Diese Vision soll auf den Wiener Kongreß Bezug haben.
Für die Beurteilung Müllers ist nicht unwichtig
Ehrlichs Versicherung, daß er, wiewohl nur Eigen*
tümer eines kleinen Gutes von acht Morgen, doch
niemals um Geschenke bat, sie auch nur von Reichen
annahm. Wiewohl er durch seine Gabe ein wohl«
habender, wenn nicht gar reicher Mann hätte werden
können, verschmähte er es doch.
Auch seine Mäßigkeit ist bemerkenswert und
schneidet von vorn herein den Verdacht ab, seine
\^sionen — ganz abgesehen von ihrer späteren Er*
füllung — seien Wirkungen des Alkohols gewesen,
wie ja mancher doppelt sieht oder gar weiße Mäuse
zu erkennen glaubt. Wein und Branntwein trank er
seit 6 bis 8 Jahren — also gerade in der Zeit seiner
Visionen — überhaupt nicht. Ebenso Kaffee nur bei
festlichen Gelegenheiten. Bei Gastmählern, zu denen
er oft geladen wurde, begnügte er sich mit Suppe,
Gemüse und Fleisch ohne je Braten usw. anzurühren.
Nur auf dringende Bitten griff er zur Mehlspeise.
In Memel und Königsberg war seine Nahrung durch
fast volle neun Monate nur trockenes Brot und etwas
Milch. Und das, wiewohl er natürlich viel Besseres
hätte haben können.
291
Das Protokoll, das wir oben in extenso brachten
ist nicht das Königsberger, das verloren gegangen zu
sein scheint oder vielleicht noch einmal aus einem
Archiv das Tageslicht erblicken wird. Trotzdem ist
es durchaus authentisch, denn es wurde im Jahre
1808, also vor sämtlichen Ereignissen aufge*
nommen und befand sich seit dieser Zeit in den
Händen des Pfarrers Hautz und seit mehreren Jahren
(d. h. vor 1816) des Kirchenrates Abegg.
Übrigens scheint das Protokoll nicht alles zu
enthalten, was Müller seinerzeit dem König Friedrich
Wilhelm III. mitteilte. Denn er sagte darüber Ehrlich:
„Ich war in betreff dieser Punkte nur an den
König von Preußen gesandt, also hielt ich es für
Pflicht, gegen hiesige Menschen davon zu schweigen.
Außerdem riet es mir auch die Klugheit, denn hier
war damals alles noch im höchsten Grade französisch
gesinnt. Man hätte mich vielleicht umgebracht, wenn
ich das alles schon damals hier bekannt gemacht hätte.**
Der seltene Fall, daß von durchaus glaubwürdiger
Seite — Ehrlich hat stets die Prophezeiungen Müllers
nach seinem Diktat niedergeschrieben — eingehende
Berichte über einen Seher vorliegen, und daß, wie
aus den Briefen des Königs Friedrich Wilhelm, w^e
auch aus einem bei Ehrlich abgedruckter Brief, der
die Anfrage der russischen Kaiserin enthält, hervor^
geht, jede Mystifikation ausgeschlossen ist, rechts*
fertigen es, wenn wir uns eingehend mit Müller befaßten.
Für unsere Beweisführung im Speziellen aber er«*
gibt sich folgendes Resultat:
Wir haben das gesamte Material eines Sehers
zur Verfügung und konnten auf dieser Grundlage
19*
292
feststellen, daß nicht nur die wichtigsten und zur Zeit
ihrer Verbreitung am wenigstens glaubwürdigen Vor*
hersagen in Erfüllung gingen, sondern auch die er^
drückende Mehrheit. Daraus geht aber hervor, daß
der Einwand, man entsinne sich nur der erfüllten,
vergesse aber die unerfüllten Weissagungen , wenn es
sich um „Seher" handelt, hinfällig ist.
Was nun den Inhalt der Vorhersagen betrifft,
so sind sie gewiß zum Teil sehr merkwürdig. Aber
keine einzige ist darunter, die so erstaunlich wäre,
daß wir eine Gleichung mit einem Divisor aufstellen
könnten, die den Zufall ausschließt.
Desto verblüffender sind die folgenden Weis*
sagungen.
293
Neuntes Kapitel
Cazotte's Weissagung der französ^
sischen Revolution.
Eine der berühmtesten Weissagungen, der des
Klosters Lehnin an Ruf wohl vergleichbar, ist die
desjaques Cazotte ^), die uns Laharpe überliefert. Sie gilt
im allgemeinen, besonders bei allen jenen, die Prophetie
für unmöglich halten, als ein stilistisches Meisterwerk
^) Jaques Cazotte, geb. 1719, war ein fruchtbarer
Schriftsteller. Er war sehr fromm, beschäftigte sich mit mys?
tischen Studien und trat zur Sekte der Martinisten über. Er
hatte häufig Visionen. Seine berühmtesten Werke sind das
Schlummerlied „Tout au beau des Ardennes", das Rittergedicht
,,01ivier" (Paris 1762, 2 Bde.) und ,,Le diable amoureux"
(Paris 1772), ein Märchen, das heute noch gelesen wird. Seine
Gewandtheit im Versemachen bewies er, als er in einer einzigen
Nacht einen siebenten Gesang zu Voltaires „Guerre civile de
Geneve" hinzudichtete. Seine Gesamtwerke erschienen unter
dem Titel „Oeuvres badines et morales, historiques et philo?
sophiques de Cazotte", Paris 1816—17, 4 Bde. Als ausgesprochener
Feind der Revolution wurde er am 10. August 1792 gefangen
gesetzt. Als man ihm zur Rettung durch seine Tochter, die ihn
mit heroischem Mute den Händen der Mörderbande entriß,
gratulierte, sagte er: „In drei Tagen werde ich guillotiniert."
Er schilderte ein ausführliches Gesicht seiner Abführung vor
294
Laharpes^), zugleich aber auch als Produkt seiner
Phantasie. Bevor wir diese Frage näher prüfen
wollen, sei der Wortlaut der Weissagung nach der
Übersetzung von JungssStilling^) nachstehend mitgeteilt:
„Es dünkt mich, als sei es gestern geschehen,
und doch geschah es im Anfang des Jahres 1788.
Wir waren zu Tische bei einem unserer Kollegen an
der Akademie, einem vornehmen und geistreichen
Manne. Die Gesellschaft war zahlreich und aus
allen Ständen ausgewählt, Hofleute, Richter, Gelehrte,
Akademiker usw. Man hatte sich an einer wie ge^
wohnlich wohlbesetzten Tafel recht wohl sein lassen.
Beim Nachtisch erhöhte der Malvasier und der Gap*
wein die Fröhlichkeit und vermehrte in guter Gesellst
das Revolutionstribunal und seiner Hinrichtung. Er war seiner
Sache so gewiß, daß er alle seine Angelegenheiten ordnete und
die letzten Grüße an seine Frau bestellte. Am 25. Sept. 1792
fiel sein Haupt unter dem Fallbeil. Das Original „Prophetie de
Cazotte, rapportee par Laharpe", gedruckt in Laharpe, „Oeuvres
choisies et posthumes". 1806, I, p. XXI-XXVI.
') Jean Fran^ois de Laharpe, geb. 1739, einer der besten
Stilisten der französischen Literatur, war anfangs ein Freund,
nachdem er 1794 fünf Monate im Gefängnis gesessen hatte,
heftigster Gegner der Revolution. Von seinen zahlreichen
Bühnenwerken sind die Tragödie „Warwick" (1763) und das
Drama „Melanie" (1770) die bedeutendsten. Besonders geschätzt
waren seine Vorlesungen über Literatur, die unter dem Titel
Lyc6e ou Cours de Litteraturc" (Paris 1799 ff.) erschienen.
Kr starb 1803.
■^) Johann Heinrich Jung genannt Stilling, „Theorie der
Geisterkunde", Frankfurt und Leipzig 1808, S. 122 ff. Die
.Übersetzung ist von mir etwas korrigiert. Abdruck auch in
Bormanns „Nornen", S. 173 ff. Die dort beHndlichen Noten
sind hier wiederholt verwertet.
295
Schaft jene Art Freiheit, die sich nicht immer in den
genauen Schranken hält.
Man war damals in der Welt auf den Punkt
gekommen, wo es erlaubt war, alles zu sagen, wenn
man den Zweck hatte Lachen zu erregen. Chamfort')
hatte uns von seinen gotteslästerlichen und un^^
züchtigen Erzählungen vorgelesen und die vornehmen
Damen hörten sie an, ohne sogar zum Fächer ihre
Zuflucht zu nehmen. Hierauf folgte ein ganzer
Schwall von Spöttereien auf die Religion. Der eine
führte eine Tirade aus der Pucelle von Voltaire an;
der andere erinnerte an jene philosophischen Verse
Diderots, worin er sagt: „Mit den Gedärmen des
letzten Priesters schnüret dem letzten König die Gurgel
zu!** und alle klatschten Beifall. Ein anderer steht
auf, hält das volle Glas in die Höhe und ruft: ,Ja,
meine Herren! ich bin ebenso gewiß, daß kein Gott
ist, als ich gewiß bin, daß Homer ein Narr ist;'* —
und in der Tat, er war von dem einen so gewiß, wie
von dem anderen, und man hatte gerade von Homer
und von Gott gesprochen, und es waren Gäste da,
die von dem einen und dem anderen Gutes gQ^
sagt hatten.
Die Unterredung wurde nun ernsthafter. Man
spricht mit Verwunderung von der Revolution, die
^) Sebastien Chamfort (1741—1794), durch geistreiche
Konversation, kaustischen Humor und Zynismus ausgezeichnet,
unterstützte die Revolution literarisch und wurde Sekretär des
Jakobinerklubs. Angewidert von der Schreckensherrschaft wurde
er verhaftet, dann wieder in Freiheit gesetzt. Einer ihm
drohenden neuerlichen Verhaftung entzog er sich durch einen
Selbstmordversuch, an dessen Folgen er starb.
296
Voltaire bewirkt hat, und man stimmte ein, daß sie
der vorzüglichste Grund seines Ruhmes sei. Er habe
seinem Jahrhundert den Ton gegeben; er habe so
geschrieben, daß man ihn in den Vorzimmern, wie in
den Sälen liest. Einer der Gäste erzählte uns lachend,
daß sein Friseur ihm, während er ihn puderte, sagte:
„Sehen Sie, mein Herr, wenn ich gleich nur ein
elender Geselle bin, so hab' ich dennoch nicht mehr
Religion als ein anderer.*' Man schloß, daß die
Revolution unverzüglich vollendet sein würde, und
daß durchaus Aberglauben und Fanatismus der
Philosophie Platz machen müßten; man berechnete
die Wahrscheinlichkeit des Zeitpunktes, und wer
etwa von der Gesellschaft das Glück haben würde,
die Herrschaft der Vernunft zu erleben. Die älteren
bedauerten, daß sie sich dessen nicht schmeicheln
dürften. Die jüngeren freuten sich über die wahr*
scheinliche Hoffnung, daß sie dieselben erleben
würden; und man beglückwünschte besonders die
Akademie, daß sie das große Werk vorbereitet habe
und der Hauptort, der Mittelpunkt, die Triebfeder
der Freiheit zu denken gewesen sei.
Ein einziger von den Gästen hatte an aller dieser
fröhlichen Unterhaltung keinen Anteil genommen
und hatte sogar ganz sachte einige Scherzreden in
Rücksicht unseres so schönen Enthusiasmus einge*
streut. Es war Mr. Gazotte, ein liebenswürdiger,
origineller Mann, der aber unglücklicherweise von
den Träumereien derer, die an eine höhere Erleuch*
tung glaubten, ganz eingenommen war. Er nahm
nun das Wort und sagte mit dem ernsthaftesten
Tone: ,, Meine Herren! freuen Sie sich; Sie alle
297
werden Zeugen jener großen und erhabenen Revolution
sein, die Sie so sehr wünschen. Sie wissen, daß ich
mich ein wenig aufs Prophezeien lege; ich wieder*
hole es Ihnen: Sie werden sie sehen."
„Dazu braucht man eben keine Prophetengabe",
antwortete man ihm.
„Das ist wahr," erwiderte er, ,,aber wohl etwas
mehr für das, was ich Ihnen noch zu sagen habe.
Wissen Sie, was aus dieser Revolution — wo näm*
lieh die Vernunft gegenüber der geoffenbarten Reli*:
gion triumphiert — entstehen wird? was sie für alle,
die hier sind, sein wird? Was ihre unmittelbare Folge
ihre unleugbare und anerkannte Wirkung sein wird?— "
„Laßt uns sehen," sagte Condorcet^) mit seiner
sich einfältig stellenden Miene; — ,, einem Philosophen
ist es nicht leid, einen Propheten anzutreffen."
„Sie, Mr. Condorcet" — fuhr Cazotte fort — ,,Sie
werden ausgestreckt auf dem Boden eines unter*
irdischen Gefängnisses den Geist aufgeben; Sie werden
an dem Gift sterben, das Sie verschluckt haben
werden, um den Henkern zu entgehen, an dem Gift,
welches Sie das Glück der Zeiten, die alsdann sein
werden, zwingen wird, immer bei sich zu tragen."
Dies erregte anfangs großes Staunen, aber man
erinnert sich bald, daß der gute Cazotte bisweilen
^) Marie Jean Marquis de Condorcet (1743—1794), Mathe:=
matiker, stimmte in der Assemblee nationale meist mit den
Girondisten. Er wurde im Oktober 1793 von der Bergpartei
als Mitschuldiger des Girondisten Brissot angeklagt, hielt sich
fünf Monate versteckt und wurde dann verhaftet. Man fand
ihn am ersten Morgen seiner Gefangenschaft, wahrscheinlich
vergiftet, tot am Boden liegen.
298
wachend träumte, und bricht in ein lautes Ge*
lächter aus.
„Mr. Cazotte*' -- sagte einer der Gäste — „das
Märchen, das Sie uns da erzählen, ist nicht gar so
lustig, wie Ihr „Verliebter Teufel"; was für ein
Teufel hat Ihnen denn das Gefängnis, das Gift und
die Henker eingegeben? Was hat denn dies mit
der Philosophie der Vernunft gemein?**
„Dies ist es gerade, was ich Ihnen sage,** ver*
setzte Gazotte. — „Im Namen der Philosophie, im
Namen der Menschlichkeit, der Freiheit, unter der
Vernunft, wird es eben geschehen, daß Sie ein
solches Ende nehmen werden; und alsdann wird
doch wohl die Vernunft herrschen, denn sie wird
Tempel haben; ja, es wird in derselben Zeit in ganz
Frankreich keine anderen Tempel geben, als Tempel
der Vernunft.**
„Wahrlich** — sprach Chamfort mit einem höh^
nischen Lächeln — „Sie werden keiner von den
Priestern dieser Tempel da sein.**
Gazotte erwiderte: „Dies hoffe ich; aber Sie,
Mr. de Ghamfort, der Sie einer derselben sein werden
und sehr würdig sind, es zu sein, Sie werden sich
die Adern mit 22 Einschnitten mit dem Schermesser
öffnen, und dennoch werden Sie erst einige Monate
darauf sterben.**
Man sieht sich an und lacht wieder. Gazotte
fährt fort:
„Sie, Mr. Vicq. d' Azir*), Sie werden sich die
Adern nicht selbst öffnen; aber hernach werden Sie
') Bekannter Arzt.
«
299
sich dieselben an einem Tage sechsmal in einem
Anfall von Podagra öffnen lassen, um Ihrer Sache
desto gewisser zu sein, und in der Nacht werden
Sie sterben."
„Sie, Mr. Nicolai *), Sie werden auf dem Schaffet
sterben.**
„Sie, Mr. Bailly'), auf dem Schaffot."
„Sie, Mr. de Malesherbes '^), auf dem Schaffot.*'
„Gott sei gedankt!** — ruft Mr. Roucher^ — .,Es
scheint Mr. Cazotte hat es nur mit der Akademie
zu tun; er hat eben ein schreckliches Gemetzel unter
ihr angerichtet: ich — dem Himmel sei es gedankt. . .**
Cazotte fiel ihm in die Rede: ,,Sie? — Sie werden
auch auf dem Schaffot sterben.**
*) Nicht zu identifizieren.
^) Jean Bailly, (1736—1793) Astronom, war Präsident der
ersten Assemblee nationale und Maire von Paris. Den Jako#
binern verdächtig geworden, zog er sich zurück, ward aber in
der Schreckenszeit verhaftet und guillotiniert.
^) Chretien Guillaume de Lamoignon de Malesherbes
(1721—94) war Jurist und Staatsmann von seltener Gerechtig*
keit und Freimütigkeit. Er trat der Willkür des Absolutismus
schon unter Ludwig XV. entgegen und wurde unter Ludwig XVI
zweimal Minister, ohne jedoch mit seinen edlen Absichten
durchdringen zu können. Als dem König der Prozeß gemacht
wurde, verteidigte er ihn vor dem Konvent und flehte nach der
Verurteilung um einen Appell an das Volk. Als er nach der
Hinrichtung des Königs den Konvent heftig angriff, wurde er
mit seiner Familie festgenommen. Er verteidigte nur die Seinen,
nicht sich selbst und starb mutig auf dem Schaffot.
*) Jean Antoine Roucher, (1745—94), mittelmäßiger
Dichter, der die Gräuel der Revolution heftig bekämpfte. Er
wurde nachts verhaftet und schnell hingerichtet, nachdem er
sich noch am Tage vor seinem Tode für seine Familie hatte
malen lassen.
300
„Ha! was gilt die Wette?** — ruft man aller
Orten aus — „er hat geschworen alles auszurotten.**
Er: „Nein, ich habe es keineswegs geschworen.**
Die Gesellschaft: „So werden wir denn von
Türken und Tartaren unterjocht werden? Und
dennoch — **
Er: „Nichts weniger; ich habe es Ihnen schon
gesagt, Sie werden alsdann allein unter der Regierung
der Philosophie und der Vernunft stehen. Die,
welche Sie so behandeln, werden lauter Philosophen
sein, werden immer dieselben Redensarten führen,
die Sie seit einer Stunde auskramen, werden alle
Ihre Maximen wiederholen, werden, wie Sie, die
Verse Diderots und der ,Pucelle* anführen.*'
Man sagte sich ins Ohr: „Sie sehen wohl, daß
er den Verstand verloren hat (denn er blieb bei
diesen Reden sehr ernsthaft). Sehen Sie nicht, daß
er spaßt? — Und Sie wissen, daß er in alle seine
Scherzreden Wunderbares einmischt.*'
„Ja!" sagte Chamfort, „aber ich muß gestehen,
sein Wunderbares ist nicht lustig; es ist allzu galgen*
artig. Und wann soll denn dies alles geschehen?**
Er: „Es werden nicht sechs Jahre vorbeigehen,
daß nicht alles, was ich Ihnen sage, erfüllt ist.**
„Dies sind viele Wunder" (diesmal war ich es,
nämlich Laharpe, der das Wort nahm) — und von
mir sagen Sie nichts?"
„Bei Ihnen,*' antwortete Cazotte, „wird ein
Wunder vorgehen, das wenigstens ebenso außer*
ordentlich sein wird: Sie werden alsdann ein
Christ sein."
Allgemeines Ausrufen! „Nun bin ich beruhigt,"
1
301
rief Chamtort, ,, kommen wir erst um, wenn Laharpe
ein Christ ist, so sind wir unsterblich."
,,Wir, vom weiblichen Geschlecht," sagte hierauf ^
die Herzogin von Grammont, ,,wir sind glücklich, daß j
wir bei der Revolution nichts gelten werden. Wenn
ich sage , nichts', so heißt das nicht so viel, als ob
wir uns nicht ein wenig darein mischten; aber es ist
so Brauch, daß man sich deswegen nicht an uns
und unser Geschlecht hält."
Er: „Ihr Geschlecht, meine Damen, wird Ihnen
diesmal nicht zum Schutze dienen, und Sie mögen
noch so sehr sich in nichts mischen wollen, man wird
Sie gerade wie die Männer behandeln und in An*
sehung Ihrer keinen Unterschied machen."
Sie: „Aber was sagen Sie uns da, Mr. Gazotte?
Sie predigen uns ja das Ende der Welt."
Er: ,,Das weiß ich nicht; was ich aber weiß, ist,
daß Sie, Frau Herzogin, werden zum Schaffot ge^ ^
führt werden, Sie und viele andere Damen mit '
Ihnen, und zwar auf dem Schinderkarren, mit auf
den Rücken gebundenen Händen."
Sie: „In diesem Falle hoffe ich doch, daß ich
eine schwarz ausgeschlagene Kutsche haben werde."
Er: „Nein, Madame! Vornehmere Damen als Sie
werden auf dem Schinderkarren, die Hände auf den
Rücken gebunden, geführt werden."
Sie: ,, Vornehmere Damen? — Wie? — Die Frin*
zessinnen von Geblüt?"
Er: ,,Noch vornehmere."
Jetzt bemerkte man in der ganzen Gesellschaft
eine sichtbare Bewegung, und der Herr vom Hause
nahm eine finstere Miene an; man fing an einzusehen,
502
daß der Scherz zu weit getrieben werde. Madame
de Grammont ließ, um das Gewölk zu zerstreuen,
diese letzte Antwort fallen und begnügte sich, im
scherzhaftesten Tone zu sagen: „Sie werden sehen,
daß er mir nicht einmal den Trost eines Beichtvaters
lassen wird."
Er: „Nein, Madame, man wird Ihnen keinen
geben, weder Ihnen noch sonst jemandem. Der letzte
Hingerichtete, der aus Gnaden einen Beichtvater haben
wird** — hier hielt er einen Augenblick inne.
Sie: „Nun, wohlan! Wer wird denn der glück«*
liehe Sterbliche sein, dem man diesen Vorzug gönnen
wird?**
\ Er: „Es wird der einzige Vorzug sein, den er
jnoch behält; und es wird dies der König von Frank«*
reich sein.**
Nun stand der Herr vom Hause schnell vom
Tisch auf und alle mit ihm. Er ging zu Mr. Gazotte
und sagte zu ihm mit tief bewegtem Tone:
„Mein lieber Herr Gazotte! Dieser klägliche Scherz
hat lange genug gedauert. Sie treiben ihn zu weit
und bis auf einen Grad, wo Sie die Gesellschaft, in
der Sie sich befinden, und sich selbst in Gefahr bringen.**
Gazotte antwortete nichts und schickte sich an
wegzugehen, als Madame de Grammont, die immer*
fort verhindern wollte, daß man die Sache ernst nähme,
und sich bemühte, die Fröhlichkeit wiederherzustellen,
zu ihm hinging und sagte:
„Nun, mein Herr Prophet! Sie haben uns allen
gewahrsagt; aber von Ihrem eigenen Schicksal sagen
Sie uns nichts?"
Er schwieg, schlug die Augen nieder; dann sprach
303
er: „Haben Sic, Madame, die Geschichte der Belage*
rung Jerusalems im Josephus gelesen?"
Sie: ,, Freilich. Wer wird sie nicht gelesen haben?
Aber tun Sie, als wenn ich sie nicht gelesen hätte."
Er: ,, Wohlan, Madame! Während dieser Belage*
rung ging ein Mann sieben Tage nacheinander auf
den Wällen um die Stadt, im Angesichte der Be#
lagerer und Belagerten, und schrie unaufhörlich mit
kläglicher Stimme: , Wehe Jerusalem! Wehe Jerusalem!'
Am siebenten Tage schrie er: , Wehe Jerusalem! Wehe
auch mir!' — und im selben Augenblicke zerschmet*
terte ihn ein ungeheurer Stein, den die Maschinen
der Feinde geschleudert hatten."
Nach diesen Worten verbeugte sich Mr. Cazotte
und ging fort."
Soweit der Bericht bei Laharpe.
Nichts liegt näher als der Einwand, gerade weil
alles so eintraf, wie es angeblich Cazotte prophezeite,
sei es ein vaticinium post eventum, eine Dichtung
des Laharpe.
Bereits Jungj^Stilling nimmt zu dieser Frage SteU
lung. Seine Ausführungen können immerhin einiges^
Interesse beanspruchen. Wir setzen sie deshalb im
Auszuge hierher:
„Ich frage jeden wahrheitsliebenden Kenner der
Kunst, der Ideale von getreuen Kopien der Kunst zu
unterscheiden versteht, ob diese Erzählung erdichtet
sein könne? Sie hat so viele kleine Nuancen und
Umständlichkeiten, die keinem Dichter eingefallen
wären, und die er auch nicht für nötig gehalten hätte.
Und dann, was konnte diese Erdichtung für einen
Zweck haben? Ein Freigeist konnte sie nicht er*^
304
dichten, weil er dadurch allen seinen Grundsätzen
entgegen arbeitete; denn er verbreitete dadurch Vor*
Stellungen, denen er todfeind ist, und die er für den
dümmsten Aberglauben hält. Will man annehmen,
ein Fanatiker, ein Schwärmer habe sie erdichtet, um
etwas recht Auffallendes zu sagen, so widerspricht
dieser Vermutung die Natur der Erzählung selbst,
die nicht so wie ein Gedicht aussieht, und dann die
Gewißheit, daß sie der selige Laharpe eigenhändig
geschrieben hat . . . Gewiß, apodiktisch gewiß ist,
daß Laharpe die Erzählung selbst geschrieben hat.
Dies kann aus oben angeführten Gründen nicht ge*
schehen sein, als er noch Freigeist war, und wer die
gründliche Bekehrung dieses großen Mannes und
großen Freigeistes weiß, denen kann der Gedanke
nicht einfallen, daß er in diesem bußfertigen Zustand,
wo er sein voriges Leben mit blutigen Tränen be*
weinte, einen solchen gottesvergessenen Frevel sollte
begangen haben, so etwas zu erdichten; das ist mora*
lisch unmöglich. Diese Sache vor seinem Tode
bekannt zu machen, das war in der Zeit, in der er
starb, nicht ratsam, und noch weniger durften es die
Gäste vor der Revolution und während derselben er*
zählen 0"
Die Möglichkeit der Erdichtung des Vorganges
ist trotz der ,, vielen kleinen Nuancen und Umstand*
lichkeiten" keineswegs von der Hand zu weisen. Mit
solcher literarisch^ästhetischen Kritik kommt man nicht
weit"). Andrerseits ist zuzugeben, daß Laharpe, von
*) JungjStilling, Theorie der Geisterkunde, S. 149t.
') fliibboSchlciden z.B. kommt in den Psychischen Studien,
XXXVIII. Hd. 1911, 1. und 2. Heft, aus psychologischen Kr.
305
dem das Schriftstück zweifellos herrührt und aus
dessen Nachlaß es herausgegeben wurde, während
der Periode seines sogenannten Freidenkertumes un^s
möglich eine derartige Arbeit, die, wenn sie nicht
wahr ist, zweifellos im hohen Grade mystisch genannt
werden muf^, abgefaßt haben kann. Wohl aber wäre
das nachträglich möglich gewesen. Denn es hätte
doch sicherlich einen nicht geringen Reiz, sich einen
Mann vorzustellen, der die Zukunft bis in alle Einzel**
heiten genau vorhergesehen hatte, und ihn in das bes*
wegte und geistig hochstehende Milieu dieser Gesells«
Schaft zu stellen. Den ,, gottvergessenen Frevel" dieses
Vorganges können wir uns nicht recht klar machen.
Die einzigen Punkte, in denen Jung^Stilling un#
bedingt rechtzugeben ist, wären demnach folgende:
daß Laharpe, angenommen, alles hätte sich wirklich so
ereignet, wie er es berichtet, aus politischen Gründen
von einer Veröffentlichung in der kritischen Zeit,
also vor Ausbruch der Revolution, Abstand nehmen
mußte. Und dann als weiterer, zwar nichts Positives
aussagender, der, daß er in der Periode des ¥reu
denkertums die Dichtung — angenommen, es handelte
sich um eine solche — nicht abgefaßt oder auch nur
konzipiert haben konnte.
Damit kommen wir aber nicht weiter. Denn die
wägungen zum entgegengesetzten Resultat. Er schreibt (S. 22):
„Die Schilderung dieses Auftrittes ist ein elendes Machwerk im
Stile eines Hintertreppenromans ohne irgendeine seelische oder
geistige Feinheit darin. Die dichterische Erfindung ist so plump
wie unwahr, sie ist dramatisch sensationell, aber nur eine ab«
geschmackte Effekthascherei . . ." Natürlich beweist dieses Urteil
nicht mehr gegen die Prophezeiung, als Jwngs Darlegungen für sie.
Kemmerich, Prophezeiungen 20
f
506
Möglichkeit der späteren Dichtung ist keineswegs
beseitigt. Sie auszuschalten, haben wir folgende
Wege:
1. Eine Erklärung Laharpes, daß es sich um tat*
sächliche Vorgänge handelt. Eine solche ist zwar
nicht unbedingt beweiskräftig, denn wenn es sich um
eine Mystifikation handeln sollte, so läge der Gedanke
nahe, der Autor habe mit allen Mitteln versucht, sie
aufrecht zu erhalten. Beispiele dafür bietet die Lite*
raturgeschichte in nicht geringer Anzahl.
2. Die Erklärung von Zeugen, die entweder dem
Gastmahle selbst beiwohnten, oder aber vor Eintritt
der verkündeten Ereignisse von den Vorgängen Kennt*
nis erhielten. Auch das ist kein unbedingt zwingen*
der Beweis, da bekanntlich Gedächtnisfehler nichts
weniger als selten sind. Immerhin würde — die Glaub*
Würdigkeit der Zeugen vorausgesetzt — daraus zu
folgern sein, zwar nicht, daß sich alles gerade so ver*
hielt, wie Laharpe mit großer Künstlerschaft erzählt,
wohl aber, daß bemerkenswerte Vorhersagen auf die
Revolution und wohl auch auf den Tod einiger Per*
sonen aus dem Munde Gazottes tatsächlich vorliegen.
3. Einen authentischen Bericht irgendeines Teil*
nehmers oder einer anderen Person, die von Cazotte
oder einem Teilnehmer informiert war, vorausgesetzt,
dieser Bericht sei vor Eintritt der prophezeiten Er*
eignisse schriftUch festgelegt worden. Letzteres allein
wäre ein absolut zwingender Beweis. Es bliebe, ge*
länge es den gedachten Nachweis zu erbringen, nicht
mehr der Ausweg, die (^azottesche Vorhersage zu be*
zweitein. Nur die Erklärung bliebe trei, insofern
Skeptiker nicht Prophetie, sondern Berechnung oder
307
den belichten Zuhill heranziehen könnten. Allerdings
ohne Aussicht zu haben, viel Gläubige zu finden.
Versuchen wir nun den Weg des Beweises, vom
Unsicheren zum Sicheren fortschreitend, so zurück^
zulegen, wie wir ihn oben skizzierten.
Walter Bormann, der sich große Verdienste nicht
nur um das Studium des Fernsehens in Raum und
Zeit, sondern auch besonders um Aufhellung der
Cazotteschen Prophezeiung erworben hat, führt in
Ergänzung von Jungs Stillings Beweisführung Tat^
Sachen an, die zweifellos geeignet sind, nachdenklich
zu machen^).
Die Niederschrift der Prophetie von Laharpes
eigener Hand befand sich nach dem Tode des Autors
im Besitz eines Herrn Boulard. Sie besaß noch einen
Zusatz, den der Verleger aus irgendwelchen Gründen
bei der Herausgabe der gesammelten Schriften Laharpes
unterdrückte. Nach Mitteilung des vorgenannten
Herren Boulard machte ihn die Zeitschrift „L'Imprimee"
in Nr. 40 des Jahrganges 1820 bekannt. Er lautet:
,, Jemand hat mir gesagt: ,,Das wäre wahr? Das,
was Sie mir da erzählen, wäre wahr?" — Was nennt
ihr denn wahr? Habt ihr es denn nicht gesehen
mit euren eigenen Augen? — Ja, die Tatsachen;
aber die Prophezeiung, eine so außerordentliche
Prophezeiung? — Das will sagen, daß alles, was euch
daran höchstens wunderbar erscheint, die Prophet
zeiung ist. Ihr täuscht euch zweifellos; die Kenntnis
der Zukunft gehört nur Gott, und keiner ist Prophet,
es wäre denn durch Gottes Eingebung. Allein das
^) „Nomen", Leipzig 1909, S. 182 ff. Die Übersetzung weiter
unten nach Bormann.
20*
508
ist kein so ganz seltenes Wunder. Gott hat davon
tausend verbürgte Beispiele gegeben, und es wider*
streitet keiner moralischen, noch philosophischen An*
schauung, daß er die Kenntnis der Zukunft, wenn
es ihm gefällt, mitteilen könne. Dagegen ein Wunder,
oder vielmehr eine Menge von Wundern, die in ganz
anderer Weise außergewöhnlich sind, das ist diese
Häufung von unerhörten und ungeheuerlichen Tat*
Sachen, die jedweder bisher bekannten Anschauung
widerstreiten, welche alle menschlichen Begriffe von
Grund aus umstürzen, sogar im Schlechten und in
dem, was man von den Verbrechen des Menschen
wußte. Seht, das ist das reale Wunder, so wie die
Prophezeiung bloß etwas Vorausgesetztes ist, und
wenn ihr noch immer nicht dazu gekommen seid, in
dem, was wir gesehen haben, etwas anderes zu er*
blicken als das, was man eine Revolution heißt; wenn
ihr glaubt, daß diese so sei, wie eine andere, dann
habt ihr sie nicht gelesen, noch bedacht, noch ge*
fühlt. In diesem Falle würde sogar die Prophe*
zeiung, wenn sie so stattgefunden hätte, hoch*
stens ein Wunder sein, das für euch nur verloren
wäre, wie für die anderen, und dies wäre dann
das größte Unglück.'*
Aus diesen Worten Laharpes läßt sich nicht viel
machen. Dazu sind sie zu unklar. So viel ist aber
sicher, daß er an Prophetie glaubt und sagen will,
daß sie nicht so wunderbar ist, als die Ereignisse
selbst. Auf die Erklärung durch Gott brauchen
wir natürlich nicht einzugehen. Sie heißt nicht mehr
und nicht weniger als ein X durch eine andere un*
bekannte Gröfk, deren Existenz noch nicht einmal
309
beweisbar ist, erklären zu wollen. Indem wir uns
vorbehalten, später aut Laharpes Ausführung zurück^
zukommen, wollen wir zunächst im Anschluß an Bor*
mann versuchen, Zeugen tür die Weissagung Cazottes
aufzutreiben.
Deren gibt es nun mehrere: 1. Hat ein Herr
de N. — also leider ein Anonymus — in den Pariser
Zeitungen erzählt, daß er oft von Cazotte, den er
gut kannte, die Ankündigung der schweren Drangst
sale Frankreichs gehört habe, während alle Welt
noch in vollkommener Sicherheit lebte ^). Derselbe
*) Vgl. JungsStilling, „Theorie der Geisterkunde", S. 130ft.
Das Gesicht Cazottes vor seiner Hinrichtung ist recht mitteilens»
wert. De N. . . berichtet Cazottes Worte: ,,Ja, mein
Freund! In drei Tagen sterbe ich auf dem Schaffot." Indem
er dies sagte, war er innigst gerührt und setzte hinzu: ,,Kurz
vor Ihrer Ankunft sah ich einen Gensdarmen hereintreten, der
mich auf Befehl des Pethion abholte; ich ward genötigt, ihm
zu folgen; ich erschien vor dem Maire von Paris, der mich in
die Conciergerie abführen ließ, und von da kam ich vor das
Revolutionsgericht. Sie sehen also — (aus diesem Gesicht
nämlich, das Herr Cazotte gehabt hatte) — mein Freund! daß
meine Stunde gekommen ist, und ich bin so sehr davon über-
zeugt, daß ich alle meine Geschäfte in Ordnung bringe. Hier
sind Papiere, an welchen mir viel gelegen ist, daß sie meiner
Frau zugestellt werden; ich bitte Sie, ihr dieselben zu über;
geben und sie zu trösten." Alles traf ganz genau nach den
Vorhersagen ein. Jung^Stilling, S. 131. Dieser Bericht, soweit
er die Todesahnung Cazottes betrifft, trägt in so hohem Grade
den Stempel der Wahrheit an sich, daß wir ihn auch glauben
müßten, wenn ihn nicht — wie wir weiter unten sehen werden —
Cazottes Sohn noch ausdrücklich [bestätigte. Jungs iQuelle ist
eine in Frankfurt bei Silbermann gedruckte Broschüre ,,Merk=
würdige Vorhersage, die französische |Schreckens;Revolution bes
treffend: Aus den hinterlassenen Papieren des Herrn La Harpe. , ."
510
Gewährsmann bestätigt auch die Wahrheit der Er^
Zählung, daß Cazotte seine nach drei Tagen erfolgende
Hinrichtung vorhergesagt habe. Ob das von ihm
Vernommene sich mit Larharpes Darstellung deckte,
sagt er allerdings nicht. Immerhin beweist dieser
Zeuge, daß Cazotte eine gewisse Gabe des zeitlichen
Fernsehens besessen hat.
2. Bekundet die Gräfin de Genlis schriftlich
folgendes: „Ich habe das hundert Male Mr. de Laharpe
vor der Revolution erzählen hören und immer
durchweg genau, wie ich es gedruckt gesehen habe,
und wie er selbst es hat drucken lassen. Im Nos^
vember 1825. Comtesse de Genlis^).'* Diese Zeugin
ist die bekannte Erzieherin der Kinder des Herzogs
von Orleans. Als sie dies Zeugnis ablegt, ist sie be*
reits 79 Jahre alt. Alte Leute leiden oft an Gedächt*=
nisschwäche, erinnern sich aber auch andrerseits fast
stets mit wunderbarer Klarheit an Vorgänge aus ihrer
Jugend. Wenn wir uns also auch hüten müssen, aus
diesem Zeugnis zu folgern, daß Laharpe tatsächlich
wörtlich Gazottes Vorhersage wiederholt und übers^
liefert habe, so werden wir doch nicht umhin können
zuzugeben, daß irgendeine wunderbare Prophezeiung
kursiert haben muß.
3. Der Sohn von Jaques Cazotte sagt nur aus,
daß sein Vater oft Proben seines zeitlichen Fern:»
Sehens abgelegt habe, was übrigensJung^Stilling auch von
*) Der bekannte Arzt und Magnetiscur Joseph Phil. Deleuze
hat in seiner 1836 erschienenen Schrift ,, Memoire sur la faculte
de prevision" mehrere solche Zeugenaussagen gesammelt, die
wir nachstehend, m Anschlul^ an Bormanns ,, Nomen", S. 185 f.,
wiedergeben. Die Originalausgabe war mir nicht zugänglich.
311
anderer Seite erfahren hatte. Ob die Darstellung
Laharpes in allen Ausdrücken genau ist, weiß er
nicht anzugeben. Er bestätigt aber jenen Vorfall, wo
die Schwester ihren 72 jährigen Vater den Mord*
banden entriß und Cazotte darauf seinen nach drei
Tagen bevorstehenden Tod richtig prophezeite. —
Diese Zeugenschaft beweist zweifellos ~ und das ist
sehr wichtig — daß Cazotte im Rufe eines Sehers
stand und auch Sehergabe besaß. Die Annahme
dürfte daher nahe liegen, daß es sich gar nicht um
eine Dichtung Laharpes, sondern um dichterisch ver*
klärte Wahrheit handelt. Denn wenn Cazotte, was
ja nach dem Zeugnis des Sohnes nicht bezweifelt
werden kann — Hellseher war, dann besteht gar kein
triftiger Grund an der Wahrheit des Berichtes bzw.
daran, daß ihm ein wahrer Kern zugrunde liegt, zu
zweifeln.
4. Bezeugt ein Anonymus Mr. N. in Rennes, daß
der bekannte Arzt Vicq. d'Azir mehrere Jahre
vor der Revolution die Weissagungen Cazottes
die er mit angehört hatte, und die trotz seines Un*
glaubens ihn beunruhigt hätten, erzählte. Es wird
nicht angegeben, ob er sie genau so erzählte, wie
Laharpe überliefert. Aber selbst wenn das wäre,
könnten wir darauf nicht bauen, da das Gedächtnis
besonders hinsichtlich des Wortlautes höchst unzu=
verlässig ist. Immerhin ist dieses Zeugnis — wenn
wir ihm trotz seiner Anonymität Glauben schenken
wollen — nicht ohne hohen Wert. Denn wenn es
auch nichts über den Inhalt der Prophetie verrät, so
beweist es doch, wie das der Gräfin de Genlis, daß
mindestens Gerüchte von Vorhersagen umliefen.
512
Daran und daß ihnen irgend etwas Reales zugrunde
lag, werden wir kaum mehr zweifeln dürfen. Aber —
das sei ohne weiteres zugegeben — für den konkreten
Fall ist damit nicht allzuviel gewonnen.
Rekapitulieren wir kurz den gegenwärtigen Stand
der Untersuchung:
1. Es ist absolut feststehend, daß Cazotte
Visionen hatte, die in Erfüllung gingen.
2. Es kursierten zweifellos, anscheinend schon
vor der Revolution, Gerüchte, nach denen Teil*
nehmer an jener Abendgesellschaft — die Gräfin
Genlis nennt Laharpe, der vierte Zeuge in Rennes den
Arzt d'Azir, der erste gar Cazotte selbst als Ge*
währsmann — aus Gazottes Munde Unglück ver*
heißende Aussagen über die Zukunft Frankreichs
gehört haben.
Damit können wir noch nicht viel anfangen.
Denn wenn es auch sicher interessant ist zu wissen,
daß Vorhersagen der Revolution — wie übrigens
wohl fast jedes bedeutenden Ereignisses der Welt*
geschichte existieren, so ist das noch ein großer
Unterschied von Gazottes Prophetie, die jedem
einzelnen Teilnehmer sein Ende vorhersagt. Gerade
bei dieser überaus wunderbaren Weissagung kommt
alles aufs Detail an und hiervon wissen wir gar nichts.
Zudem haben wir bisher noch keine unbedingt
zuverlässigen Zeugnisse dafür, daß die Gerüchte
bereits vor der Revolution umHeten. Gewiß könnte
man aus dem Fehlen solcher Zeugen nichts gegen
die Wahrheit folgern, denn es ist klar, daß man
sich in stürmischen oder kritischen Zeiten hüten
wird, solch getahrlichc Prognosen zu verbreiten.
313
1
Aber das genügt uns nicht. Die ein Menschenalter
später ausgestellten Beglaubigungen sind aber nicht
beweiskräftig genug.
Deshalb kann uns auch das fünfte Zeugnis nicht
genügen, wiewohl es an tatsächlichen Angaben so
ungefähr alles enthält, was wir nur wünschen können.
Es handelt sich um die schriftliche Bekundung des
Barons Delamothe * Langon des Inhalts, daß eine
Gräfin Beauharnais als Teilnehmerin an jener Abend?
gesellschaft ihm und vielen anderen Personen, die
1833 bei Abgabe dieses Zeugnisses noch lebten und
es bezeugen konnten, die Wahrsagungen Cazottes in
der Wiedergabe Laharpes als echt bestätigten. Aller?
dings erfahren wir auch hier weder, wo diese Abend?
gesellschaft stattgefunden hatte, noch auch in welchem
Jahre die Gräfin Beauharnais dieses Zeugnis abge?
legt hat. Wir freuen uns immerhin darüber als
neuerliche Bestätigung dafür, daß Weissagungen, die
auf Cazotte zurückgeführt wurden, kursierten.
So müßten wir also mit einem Non liquet
schließen, wenn wir nicht noch ein 6. und wichtigstes
Zeugnis, das Deleuze unbekannt war und von Bor?
mann in seiner Bedeutung erstmalig voll gewürdigt
wurde, heranziehen könnten.
Wir finden es in den Memoiren der Baronin
Oberkirch, die als Tochter des Barons Waldner?Freund?
stein auf Schloß Schweighausen im Oberelsaß 1753
geboren wurde und sich mit dem Baron Oberkirch,
in zweiter Ehe mit dem Grafen Montbrison vermählte.
Die Denkwürdigkeiten dieser hochgebildeten Frau,
die mit den bedeutendsten Zeitgenossen in Frank?
reich und Deutschland in Verbindung stand, wurden
514
nach ihren eigenen Angaben in ihrem 35. Lebensjahre
1789 verfaßt. Sie erschienen zuerst 1852 in englischer
Sprache, von ihrem Enkel Montbrison herausgegeben,
und erst das folgende Jahr in französischer Über*
Setzung in drei Bänden.
Daß die letzte Zeile des Werkes wirklich noch
1789 geschrieben wurde, beweist der Schluß des
3. Bandes, der in Übersetzung lautet:
„Mein Werk ist zu Ende. Um die Welt möchte
ich nicht der scheußlichen Morde gedenken, welche
sich rings um mich ausbreiten, mit Verheerung drohend
allem, was ich liebe und verehre. Ein Lebewohl also
rufe ich dieser genußreichen Beschäftigung, den glück*
liehen Stunden, die ich schildernd verbrachte, zu;
dahin seid ihr Tage, die ich in der Gesellschaft teurer
Freunde genoß. Mein Herz sinkt, wenn ich die
Wolken schaue, die am Horizont auftauchen und mit
Unglück für unser unseliges Land beladen scheinen.
In welchen unglücklichen Stunden habe ich unsere
Kinder geboren! Eine von Unsternen erfüllte Zukunft
scheint ihnen entgegen zu schreiten. Gott wende von
uns die furchtbaren Vorzeichen!"
Daraus geht hervor, daß das Werk vor Aus*
bruch der wirklichen Revolution mit allen ihren
Schrecknissen beendet wurde, augenscheinlich bald
nach dem Sturm auf die Bastille, deren erschüttern*
den Eindruck wir in diesen Zeilen nachklingen fühlen.
In diesem Werk nun, das nach Angabe der V^er*
fasserin und, wie eben gezeigt, auch aus inneren
(iTÜnden im Jahre 1789, also vor der eigentlichen
Revolution und jedenfalls vor Eintreffen der
in der Prophezeiung Cazottes vorhergesagten
315
Ereignisse beendet war, heißt es im letzten Kapitel,
daß ,, viele Personen die Prophezeiungen Ca*»
zottes angehört hätten, deren Realität zu be^
zweifeln unmöglich sei".
Ferner berichtet die Verfasserin über ein merk^
würdiges Erlebnis aus den letzten Tagen von 1788
oder dem Beginn des folgenden Jahres, das ihre be^
reits damalige Bekanntschaft mit schriftlichen Auf^
Zeichnungen Laharpes über die bewußten Prophet
zeiungen Cazottes bezeugt.
In Straßburg bei dem Marquis de Puysegur, dem
Entdecker des Somnambulismus, wohnte die Baronin
Oberkirch Experimenten mit einer bedeutenden Som^
nambulen, einem jungen Mädchen aus dem Schwarz*^
walde, bei, als der Marechal de Stainville hereintrat
und das Ersuchen stellte, die Somnambule einige
Minuten zu befragen. Diese aber sagte ihm, da(^ sie
den Grund seines Kommens wisse: er wolle sie über
die Zukunft Frankreichs befragen und sei über das
Schicksal der Königin besorgt. In der Tat wollte
der Marschall sie das fragen.
Zitieren wir nun die Baronin Oberkirch')!
„Das ist vollkommen wahr,*' sagte Herr von Stain*
ville verwundert.
Damals sprach jeder Mensch von den Pro*
phezeiungen des M. de Cazotte"), und die Mehr*
zahl der Leute war geneigt, sie für Träume oder
M Memoirs of the Baronesse d'Oberkirch, Countes de
Montbrison, III. Bd., London 1852, S. 501 ff. Der oben zitierte
Schluß steht p. 317f.
^) Nächst dem Folgenden von mir gesperrt. Die unten ge*
nannte ,, Großherzogin" ist die Grol^fürstin Maria Feodorowna.
516
Wahngebilde einer überreichen Einbildungskraft zu
halten. Der Marschall dachte, dies sei eine gute Ge*
legenheit, um sie auf ihre Wahrheit hin zu prüfen,
und frug das Mädchen, ob sie sich je erfüllen würden.
Gerade als er seine Frage beendet hatte, öffnete
sich die Tür, und es trat der Marquis de Peschery
ein, dem wir erklärten, was vorging. Darauf wieder*^
holte der Marschall seine Frage.
,, Bevor ich antworte, muß ich nachdenken," sagte
das Mädchen. ,, Diese Dinge sind so wichtig und
gegenwärtig noch so verworren."
„Sagen Sie mir nur, ob die Prophezeiungen,
welche ich gehört habe, sich erfüllen werden, und
ob ich daran glauben kann?"
„Sie können an alle glauben," antwortete sie
ohne zu zögern.
Wir sahen uns entsetzt an, und ich gestehe, daß
ich zitterte, da ich erst am Abend vorher M.
de Gazottes Prophezeiungen gelesen hatte,
welche mir von der Großherzogin geschickt
worden waren. —
„Was," sagte der Marschall, ,,alle diese Dinge
sollen sich wirklich ereignen!"
,,Alle und mehr noch."
„Wann?"
,,Von heute an in einigen Jahren."
„Können Sie die Zeit nicht genau angeben?"
Sie zögerte einige Augenblicke und sagte dann:
,,Sie werden noch in diesem selben Jahre beginnen
und werden vielleicht ein Jahrhundert lang andauern."
,,Wir werden demnach deren Erfüllung nicht er*
leben?"
■517
,, Viele von Ihnen werden den Anfang nicht sehen.**
I])as war eine schreckliche Ankündigung.
Nach einer kleinen Weile sagte der Marschall:
„Was geht jetzt in Frankreich vor?'*
,,Eine Verschwörung ist im Gange, und der,
welcher verschwört, wird das Opfer seiner eigenen
Schlechtigkeit werden. Eine Weile lang wird er trium:*
phieren, aber sein Geschick wird das seiner Opfer
sein. O mein Gott! Mein Gott! Welch Ströme von
Blut! Es ist zu grauenhaft."
,,Sie sind sicher, daß das vielen erhabenen Per*
sönlichkeiten prophezeite Geschick sich erfüllen wird?'*
,,Ich bin es."
,,Was, sie werden eines gewaltsamen Todes
sterben?"
„Sie werden eines gewaltsamen Todes sterben."
„Und ich! Werde ich teilhaben an den meiner
Familie prophezeiten Unglücksfällen?*'
„Sie werden es nicht."
,,Ach! Werde ich mich abseits von diesem Ge*
tümmel (melee) halten? Das würde einem alten Sol*
daten, wie mir, nicht passen."
Die Somnambule schwieg.
,,Was wird mein Schicksal sein?"
Sie wollte nicht antworten.
,,Sie fürchten sich, es mir zu sagen. Meine Freunde
werden geköpft werden, und vielleicht blüht mir etwas
Schlimmeres. Werde ich gehenkt? Das wäre ein Schickes
sal, unwürdig eines Kavaliers. Aber sprechen Sie;
der Tod und ich sind alte Bekannte; wir haben uns
oft ins Angesicht gesehen."
Während einer langen Weile weigerte sich das
318
Mädchen zu antworten, aber auf die Bitte des Mar?
Schalls bestand Herr de Puysegur auf ihrer Antwort.
„Armer Herr!" sagte sie langsam, „warum fragt
er mich, was er in einigen Monaten selbst wissen wird?"
„In einigen Monaten?" sagte der Marschall.
„Werde ich in einigen Monaten sterben? Ach! Um
so besser, so werde ich den Ruin und die Entehrung
Frankreichs nicht sehen. Ich danke Gott dafür; werde
ich in meinem Bett sterben?"
,,Sie werden," sagte sie, aber mit so leiser Stimme,
daß wir sie nur mit Mühe hören konnten.
Aus dieser Aussage folgt mit einer jeden Zweifel
ausschließenden Sicherheit, daß gleich nach der be?
wußten Abendgesellschaft, auf der Cazotte durch
seine Prophezeiungen allgemeines Entsetzen verursacht
hatte, die Vorgänge aufgezeichnet wurden. Denn, wie
Laharpe selbst erzählt, fand die Gesellschaft 1788
statt, während der Seance beim Marquis de Puysegur
am Schlüsse des gleichen oder zu Beginn des nächsten
Jahres abgehalten wurde ^). Damals aber war der Be?
rieht Laharpes aus Rußland bereits wieder zurück^:
gekehrt.
Die Beweiskraft des bereits 1789, also, um es
nochmals zu konstatieren, vor Eintritt der Ereignisse
schriftlich abgelegten Zeugnisses ist absolut. Dadurch
wird aber auch den früher genannten Bestätigungen
Sanktion erteilt. Und zwar sowohl den Gewährst
männern, die vor der Revolution aus Laharpes
*) Wir haben keinen Grund, zu zweitein, daß Laharpe selbst
schon damals den Bericht verfall hatte. Was den angekündigten
Tod Siainvilles betrittt, so trat er tatsächlich bald nach der
Sitzung ein.
319
MuikIc die lirzählun^ jener Wahrsagun<^cn in Uber^
cinstinimung mit seinem posthumen Bericht vernommen
haben wollen, als auch den Zeugen, die von anderen
1 eihiehmern der bewufken Abendgesellschaft von
solchen Prophezeiungen Cazottes hörten.
Nun ist noch eine Inkongruenz zu beseitigen,
die auf den ersten Blick recht frappierend wirkt.
Wir bewiesen aus den Memoiren der Frau von Ober*
kirch soeben, daß Laharpe die Aufzeichnung von
C>azottes Prophezeiungen sehr bald nach der Gesell*
schah, jedenfalls aber noch im gleichen Jahre, nieder*
geschrieben haben muß. Denn schon 1788 sandte er
sie nach Rußland. Und doch beginnt der Bericht
mit den Worten: ,,Es dünkt mich, als sei es gestern
geschehen und doch geschah es im Anfang des
Jahres 1788." Daraus geht hervor, daß schon Jahre
darüber hingegangen waren, als Laharpe diese Zeile
schrieb.
Hier ergibt sich also ein scheinbar unlöslicher
Widerspruch.
Wie, wenn Laharpe nach vielen vielen Jahren
das Originalmanuskript wieder hervor holte und ihm
nun diese Zeilen der Einleitung vorausschickte?
Das ist gewiß möglich. Wahrscheinlicher ist aber
etwas anderes: Laharpe hat auf Grund seines wahr*
heitsgetreuen Berichtes nach Jahren einen, Wahrheit
mit Dichtung verquickenden, gemacht und dieser ist
es, den wir vor uns haben. Vielleicht schrieb er ihn
nur aus dem Gedächtnis nieder, da ja das Original
in Rußland war. Sehr groß kann die Abweichung
aber nicht sein, da Bormann mit Recht es als un*
glaublich bezeichnet, daß Laharpe eine unechte Dar*
520
Stellung gab, nachdem er vor Jahren durch die echte
die Welt in Staunen versetzt hatte ^).
Mit dem Einwurf, die Gräfinnen Genlis und
Beauharnais bestätigten ausdrücklich die Überein*
Stimmung von Laharpes Erzählung mit dem gedruckten
Text, finden wir uns leicht ab. Denn selbst ein gutes
Gedächtnis wird das nach Jahren nicht mehr zu kon*
statieren vermögen. Zwingend allerdings geht sowohl
aus diesem Zeugnis, wie aus dem anderen hervor,
daß auch die echte Prophezeiung Gazottes, bzw. der
authentische Bericht von Laharpes Hand, nennen wir
ihn die erste Redaktion, genug der verblüffenden
Vorhersagen enthielt die nachher in Erfüllung gingen.
Da die Baronin Oberkirch so wenig wie die
anderen Zeugen auf die Details eingehen, fehlt uns
die Möglichkeit, die Laharpesche Prophezeiung mit
dem ersten Bericht von Gazottes Seherworten zu ver*
gleichen. Wir können also unmöglich den uns vor*
liegenden Bericht einfach mit dem tatsächlichen Vor*
kommnis identifizieren.
Was wir aber können, ja müssen, ist die Fest*
Stellung, daß Gazotte bereits vor der großen
Revolution diese vorhergesagt hat, und zwar
auch mit schrecklichen und später in Er*
füllung gegangenen Einzelheiten, so der Hin*
richtung der Königin und anderen illustren
Personen. Möglich ist, daß ja alles sich so ver*
hielt, wie es Laharpe uns hinterließ. Aber es ist
nicht gewiß. Gewiß aber ist auch, daß wir in der
Prophezeiung des Gazotte eine der bedeutendsten
*) Vgl. Bormann, Psychische Studien, 38. Jahrgang, 1911,
S. 174 f.
321
der Geschichte zu erbHcken haben. Denn es ist, wie
Bormann richtig betont, vollkommen ausgeschlossen,
daß zwischen den Vorhersagen Cazottes und der
folgenden Erfüllung größere Inkongruenzen liegen.
Denn Laharpe hätte damit einen Propheten, dessen
Vorhersagen vielen Zeitgenossen bekannt waren, nicht
gefeiert, sondern lächerlich gemacht. Als Ganzes,
darüber kann gar kein Zweifel mehr obwalten,
ist daher die Gazottesche Prophezeiung histo*»
risch und durch die nachfolgenden Tatsachen
bestätigt worden. Wenn wir auch nicht berechtigt
sind, jeden einzelnen Zug als beglaubigt anzusehen,
so geht doch Hübbe^ Schieiden mit der Annahme,
daß Gazotte zu verschiedenen Zeiten und privatim
den genannten Personen ihr trauriges Schicksal vor^
hergesagt habe, unbedingt zu weit. Die Gesellschaft
hat stattgefunden.
Greifen wir nun noch einmal auf Laharpes oben
zitiertes Nachwort zurück, das leider nur als Bruchs»
stück auf uns gekommen ist!
Ihr Sinn ist zweifellos der, daß den ewig Blinden,
denen die furchtbaren Ereignisse der großen Revo*
lution nicht die Augen darüber geöffnet haben, daß
durch Gott die größten Wunder gewirkt werden,
auch nicht gedient ist, wenn die Vorhersage der
Schrecknisse auf Wirklichkeit beruht. Denn das ist
das geringere Wunder, das größere aber — in des
frommen Laharpe Augen — wäre die zeitlich un*
glaublich rasche Folge der grauenhaftesten Begeben*
heiten und noch dazu die Zusammendrängung so
vieler Personen, denen das alles widerfuhr, an dem?
selben Orte.
Kemmerich, Prophereiungen 21
522
Es läßt sich nicht leugnen, daß sich Laharpe in
dem Satz: „Voilä le predige reel comme la prophetie
n'est que supposee*' mißverständlich ausgedrückt hat.
Bormann übersetzt meines Erachtens richtig: ,,Seht,
das ist das reale Wunder, so wie die Prophezeiung
bloß vorausgesetzt ist," und fährt dann fort: ,, Laharpe
setzt also das Wunder der handgreiflichen Tat*
Sachen, die ein jeder mit seinen Sinnen tasten konnte,
dem Wunder einer Prophezeiung mit inneren
Vorgängen des Sehers gegenüber, die eben nur zu
glauben sind. Etwas Vorausgesetztes, Angenommenes,
Geglaubtes bleibt ja die Echtheit und das ,Wunder'
jeder Prophezeiung, insofern der Zusammenhang
zwischen ihr und dem entsprechenden Ereignisse als
Probe geheimnisvoller Geisteskraft, welche den Zufall
ausschließt, von uns erst aufgefaßt wird und nicht
unmittelbar mit sinnlicher Bestimmtheit wahrgenommen
werden kann. Das Wort ,supposer' bedeutet aber
zuweilen, obwohl seltener, auch: »unterschieben,
fälschen.' Es muß zugegeben werden, daß es ohne
Würdigung aller Umstände, das eine hier so gut
bedeuten konnte, wie das andere. Der letzte Satz
des Nachwortes werde noch einmal wiederholt. Er
heißt: ,In diesem Falle', d.h. gemäß den vorher*
gehenden Worten Laharpes: ,Wenn ihr die besondere
Furchtbarkeit dieser Revolution in ihrem Unterschiede
von allen anderen nicht faßt.' — ,,In diesem Falle
würde sogar die Prophezeiung, wenn sie stattgefunden
hätte, höchstens ein Wunder sein, das für euch nur
verloren wäre wie für die anderen, und das wäre dann
das schlimmste Unglück.— (jeradc dieser Satz scheint
mir, trotz dem eingestreuten Bedingungssatz, der wohl
323
das Urteil Hüchtiger Beurteiler gefangen nehmen mag,
sehr kräftig für die Echtheit der Prophezeiungen zu
sprechen. Laharpe sagt deutlich hier, er wolle über
die Echtheit der Weissagungen gar kein Wort ver^
Heren, weil ihm das als das schlimmste Unglück er*
schiene, wenn die Prophezeiung in ihrer Echtheit den
ewig Blinden, welche nicht einmal die Wunderstimme
der Geschichte hören, als Wunder höchstens doch
verloren sein würde. Die aber, meint er, welche die
Taten der Geschichte als Wunder begreifen, werden
auch an dem viel geringeren Wunder der Prophet
zeiungen kaum zu zweifeln brauchen."
So weit Bormann, dem wir uns anschließen.
Für uns wäre es natürlich von allerhöchstem
Interesse zu wissen, in welchem Umfange der Wort*«
laut der echten Vorhersage Gazottes mit der Nieder*
Schrift Laharpes übereinstimmt. Das festzustellen ist
uns nicht möglich, wohl aber in der Zukunft nicht
ausgeschlossen, da ja der Originalbericht Laharpes
an die Großfürstin Maria Feodorowna geborene Prin*
zessin Sophie Dorothea von Montbeliard vielleicht
noch einmal ans Tageslicht gefördert wird.
Bis dahin müssen wir uns mit der Feststellung
begnügen, daß Cazotte tatsächlich die große Revo*
lution und sogar einzelne Details aus ihr vorher*
gesehen hat.
Als weitere Zeugnisse für Gazottes Prophezeiung
führt Hübbe*Schleiden (I.e. S.75ff.) an: 1. Die Me*
moiren der Du Barry, der letzten Mätresse Ludwigs XV.,
die der Herausgeber E. L. de la Motte Houdancourt
in der Vorrede zur 2. Aufl., Paris 1829, als ,,histo*
tischen Roman" bezeichnet. Da er aber in der Nach*
21*
524
Schrift zum 4. Bd. (S. 450 f.) erklärt, daß es sich
durchweg um originale Aufzeichnungen handle,
die er nur sprachlich modernisiert habe, kommt ihnen
wohl doch Glaubwürdigkeit zu. Sie schreibt (Bd. VI,
S. 391): ,,Dann erzählte mir die Herzogin de Gra:*
mont eines Abends, als sie Cazotte in einer großen
Gesellschaft getroffen habe, sei man in ihn gedrungen,
die Planeten zu befragen nach dem Schicksal der An^
wesenden. Dies habe er durchaus abgelehnt und jede
nur erdenkliche Ausflucht gesucht. Jedoch als man
unbedingt die Wahrheit habe wissen wollen, sei so*
viel herausgekommen: daß kaum einer von der ganzen
Gesellschaft einem gewaltsamen und öffentlichen Tode
entgehen werde, und daß auch der König und die
Königin nicht ausgenommen sein würden." Natür*=
lieh ist der Ausdruck ,,die Planeten befragen*' ganz
falsch.
2. Die Memoiren der Marquise de Crequy (1719
bis 1803), die von einem Individuum namens Couson
als „Souvenirs de 1710 ä 1803 par la Marquise De
Crequy" 1834/35 in 7 Bänden erschienen und sehr
viele Fälschungen enthalten. Es befinden sich hier
mehrere auf Gazottes Prophezeiung bezügliche Stellen.
S. 43f. des VIII. Bandes der Ausgabe von 1840 lautet:
,,Es ist wahr, daß Cazotte der Herzogin de Gramont
eine schreckliche Prophezeiung gemacht hat in Gegen«»
wart der Damen de Simiane und de Tesse. Aber
soweit ich mich deren erinnere, war sie keineswegs
so genau, wie man es nach den Angaben vermuten
könnte, die La Harpe davon machte, seitdem er aus
dem (iefängnis entlassen ist . . .*'
325
Zehntes Kapitel
Die Prophezeiungen der Frau
de Ferriem
Frau von Ferriem (dies der Mediumname), eine
in Berlin wohnende Dame mit der Gabe des räum^*
liehen und zeitlichen Fernsehens, hat fast täglich
Visionen, über die sie in ihrem Büchlein ,,Mein
geistiges Schauen in die Zukunft" berichtet. Neben
den abenteuerlichsten Gesichten: über den Untergang
des Mohammedanismus (S. 81), den kommenden
Weltreformator (S. 88), einen neuen König in Jeru^
salem (S. 91), den Sieg des Christentums in Ostasien
(S. 93) oder gar über den Untergang des Papsttums,
eine neue Zeitrechnung und eine ,, neue Erde" (S. 98f.),
Visionen, deren religiös*phantastischer Inhalt uns die
Weisheit der alten Theologen bewundern läßt, die
die Unmöglichkeit von den Glauben betreffenden
Prophezeiungen behaupteten, finden sich profane von
allerhöchstem Interesse.
Das möge die nachstehend angeführte Reihe von
Beispielen beweisen!
Die, , Zeitschriftfür Spiritismus", vom24:. Juni 1899^)
brachte folgenden Artikel:
') Leipzig, 5. Bd.. Nr. 25, S. 220.
526
In Nr. 46, Jahrgang 1898, der amerikanischen
Wochenschrift „Lichtstrahlen*', Zeitschrift für Philo#
Sophie, Wissenschaft usw. West^Point, Nebr., be*
findet sich folgender Redaktionsartikel ^):
Erfüllte Voraussage. Im Juniheft der in
Leipzig erscheinenden ,, Psychischen Studien** finden
wir eine Notiz, in der über einen Artikel in dem
„Illustrierten Wiener Extrablatt** Nr. 114 vom
26. April 1898 bezüglich der Aussagen der Berliner
Seherin berichtet wird. In derselben lautet ein Aus*
Spruch der Seherin, welche über eine blutige Zukunft
in Deutschland, Krieg und viele Duelle in Frankreich
berichtet, wie folgt: „Ich sehe viel Blut in Frankreich;
Dreyfus kommt von der Insel fort.** — Dies
v/urde im April 1898 gegeben, als noch niemand eine
so große Bewegung zu Gunsten Dreyfus, wie sie
augenblicklich in ganz Frankreich im Gange ist,
ahnen konnte, und scheint bereits in Bezug auf
Dreyfus seine Bestätigung gefunden zu haben;
denn den neuesten telegraphischen Meldungen nach
zu urteilen, scheint Dreyfus nicht mehr auf der
Teufelsinsel zu sein und bereiten sich in Frank*
reich unangenehme Dinge vor.
Zu der Zeit als die ,, Lichtstrahlen** diese Mit*
teilung brachten (23. September 1898), hatte Dreyfus
*) Zitiert nach de Fcrricm , Mein geistiges Schauen in die
Zukunft, Berlin 1905, S. 67 f. Die im Text angegebenen Zitate
der Druckorte und Daten wurden von mir nachgeprüft und, bei
mangelhafter Wiedergabe, korrigiert. Finige seltene Zeitschriften,
so die ,, Lichtstrahlen", konnten nicht verglichen werden. Da
aber stets Organe herangezogen wurden, in denen die angekün«
digtcn Kreignisse vor ihrem i'.intritt veröftentlicht waren, so
ist auch in diesen I allen das Material einwandfrei.
327
indes die Insel noch nicht verlassen; jedoch nun*
mehr — am 8. Juni 1899 — ist die bezügliche Weis?
sagung der Berliner Clairvoyante (de Ferriem) ein=:
getroffen."
Das heißt mit anderen Worten: Frau de Ferriem
hat nachweisbar, und zwar durch vorher im
Druck erschienene Voraussagen, die Frei==
lassung des Fiauptmann Dreyfus IV2 Jahre vor
ihrem Eintritt prophezeit.
Im Januar 1898 erschien in den ,, Neuen Spiri?
tualistischen Blättern** in Berlin folgender Visionsbe?
rieht der Frau de Ferriem:
Brand im Hafen von New York. (Die Seherin
blickt anscheinend auf einen ca. 5 Meter von ihr enU
fernten Punkt des Fußbodens starr mit weit geöffneten
Augen hin und spricht darauf nach wenigen Augens=
blicken stillen Verhaltens in dieser Stellung folgendes) :
,,Das ist ein großer Brand, ein mächtiges Feuer.
So viele Schiffe. Es brennt ein Schiff. (Das Medium
senkt das Haupt und schließt die Augen dabei.)
Alles schwarzer Rauch, kohlrabenschwarzer Rauch;
o, und wie dick! Das ist am Land. Das brennt im
Hafen. Oh, o, das ist aber schlimm. (Hebt den
Kopf etwas und senkt ihn wieder. Dann schlägt es
die Augen auf und sagt): Nimm ab, nimm mal das
Tuch ab^). (Noch etwas benommen, ruft sie darauf):
Ist ein Riesenbrand in New York. Ich sehe ihn ja."
(Das Medium war schon in New York und hat da=
her die in der Vision erschaute Stadt jedenfalls als
New York erkannt.**
0 Dieser Zuruf gilt ihrem Begleiter, Kerkau bzw. Godefroy,
dem wir die stenographischen Berichte verdanken.
328
Eine weitere, dasselbe Ereignis betreffende
Prophezeiung erschien u. a. im Maiheft 1899 der
„Psyche", Berlin, und im Juniheft 1899, der
„Übersinnlichen Welt", S. 205, Anm., Berlin, gelegent*
lieh eines Visionsberichtes der Dame über Ereignisse
im 20. Jahrhundert. Sie lautet:
, „Ich sehe ein brennendes Schiff im Hafen von
jNew York und höre einen furchtbaren Knall. So*
Iviel ich sehe, ist es kein amerikanisches Schiff. Die
IStadt ist New York; ich irre mich nicht, weil ich sie
f genau von meiner Amerikareise her kenne."
i Bekanntlich traf diese doppelte Prophezeiung
I am 30. Juni 1900 ein. Damals ereignete sich die
j furchtbare Schiffbrandkatastrophe im Hafen von
New York, durch die der Norddeutsche Lloyd
schweren Schaden erlitt, aber keine amerikanische Ge*
Seilschaft geschädigt wurde. Das Feuer griff vom
Hafen auf einen Teil der Hafenanlagen von Hoboken
über.
Daß diese Prophezeiung in Erfüllung gegangen
war — was ja mit dem schlechtesten Willen niemand
wird bestreiten können — konstatierte der New York
,, Herald" bereits am anderen Tage. Dieses große Blatt
hatte auch am 25. April 1899 die Vorhersage der
Frau von Ferriem bereits publiziert gehabt').
Auch die furchtbare Erdbebenkatastrophe auf
der Insel Martinique wurde von Frau de Ferriem
vorher gesehen.
Die „Zeitschrift für Spiritismus" brachte in ihrer
Nummer23 vom y.funi 1902 darüber folgenden Bericht:
*) Gleichfalls zitiert nach de Ferriem a a. O.
329
Die furchtbare Katastrophe, von welcher die
Antillen^nsel Martinique heimgesucht worden ist —
durch die entfesselten Kräfte der Erde wurde am
Himmelfahrtstage (1902) die Stadt Pierre und deren
Umgebung, ein paradiesisch schöner Fleck Erde,
vollständig verheert, wobei Zehntausende von Men?
sehen auf die entsetzlichste Weise ihren Tod fanden —
ruft folgenden Ausspruch der Berliner Somnambulen
Ferriem, welcher zuerst in der „Zeitschrift für Spiri^
tismus" vom 24. Juni 1899 (S. 221), sowie weiterhin
in der Schrift ,,Die Seherin (de) Ferriem" Ausgabe 2,
vom 20. September 1899, und in der „Spiritistischen
Rundschau", Berlin, Juli 1901, publiziert worden ist,
lebhaft in Erinnerung:
„Berlin, 10. Mai (1899). (Die Clairvoyante
nicht im Trance:) ,In wenigen Jahren wird sich ein
großes Erdbeben ereignen. Es dürfte im Jahre 1902
sein. Ich habe es aus den Gestirnen berechnet. Ich
könnte höchstens um ein Jahr zurückgerechnet haben.
Die Sache differiert zwischen 3 und 4 Jahren; aber
4 Jahre werden nicht voll von jetzt an gezählt. Das
Beben wird so furchtbar sein, daß selbst Kabel*
Zerstörungen vorkommen werden."
Die Voraussage wurde also genau drei Jahre
vor der Katastrophe gegeben. Durch die Erwähnung
der Kabel Zerstörungen wurde in der Prognose da*
rauf hingewiesen, daß das schreckliche Ereignis sich,
wie geschehen, auch speziell am Meere abspielen
würde. Infolge des den Eruptionen des Mont Pele
vorangegangenen und dieselben begleitenden starken
Erdbebens zerrissen die Kabel, sodaß die Ver*
bindung zwischen Martinique und der Außenwelt
530
während der Katastrophe vollständig abgeschnitten
war. Eine weitere Meldung besagt: Der Komman?
dant des Kreuzers „Suchet** hat die Stadt und die
Umgebung durchforscht und berichtet, daß sich im
nördlichen Teile der Insel große Spalten gebildet
haben, daß das ganze Gelände sich in Bewegung
befindet und daß sich plötzlich neue Täler bilden^).
Man wird bei einiger Skepsis gegen diese Prophes^
zeiung, deren hoher Wert ja gleichfalls darin besteht,
daß sie vorher, noch dazu an mehreren Stellen, im
Druck erschienen ist, einwenden, daß irgendmal an
irgendeinem Ort der Erde mit Naturnotwendigkeit
Erdbeben eintreten müssen. Das ist ja gewiß richtig.
Da eine Ortsbezeichnung — auch nur ungefährer
Art — fehlt, so käme ja der ganze Erdball in Frage.
Und doch ist dem entgegen zu halten, daß das
Unglück von Martinique seit dem im Jahre 1883 er^
folgten furchtbaren Ausbruch von Krakatau in der
Sundastraße, der direkt oder indirekt auf der ganzen
Erde sich bemerkbar machte, das größte seiner Art im
letzten halben Jahrhundert war. Ferner, daß die
Prophezeiung wenigstens zeitlich, wenn auch nicht
örtlich, erstaunlich genau eintraf. Immerhin geben
wir gerne zu, daß die vorher genannten Vorhersagen
für die Tatsache, daß es Prophezeiungen bzw.
Menschen gibt, die die Gabe des zeitlichen Fern^
Sehens besitzen, beweiskräftiger sind.
Was übrigens den von Frau de Ferriem ge^
brauchten Ausdruck „aus den Gestirnen berechnet"
und ,, zurückgerechnet'* betrifft, so bemerkt die Dame
') Fcrricm, ,,Mcin geistiges Scliaucn usw.", S. 66t.
33jl
dazu, dal^ sie sich nicht mit astrologischer Berechnung
betafk und eine solche auch hier nicht vorliegt. Viel?
mehr meint sie damit die Deutung von Erscheinungen,
die sie ,,mit geistigem Auge am Sternenhimmel be^
obachtete" ^). Ich gebe zu, daß ich mir von diesem
Modus des Hellsehens keine rechte Vorstellung
machen kann. Doch das will ja um so weniger für
die Sache selbst bedeuten, als uns der Weg, auf dem
die Somnambulen zu ihren Prophezeiungen gelangen,
zurzeit überhaupt noch dunkel ist.
Während die vorige Prophezeiung der Frau
de Ferriem den Ort mit Namen und der Szenerie
nach genauestens angab, sowie den Verlauf der Kata?
Strophe schilderte, ist diese interessant durch ihre
Zeitangabe. Wie die Seherin sagt — und wie ja
ein Vergleich der wiedergegebenen Prophezeiungen
auch ergibt — kommen bestimmte Zeitangaben bes=
züglich des Eintreffens ihrer Gesichte fast gar nicht
vor. Erfahrungsgemäß sind aber Zeitangaben von
Sehern, auch wo sie gemacht sind, ziemlich unzuver?
lässig, und zwar aus einem sehr naheliegenden Grunde.
Da es sich bei den Gesichten doch um räumlich
anschauliche Vorgänge handelt, die die Aufmerkst
samkeit des Sehers ganz und gar auf sich ziehen, so
verwirren sich eventuelle zeitliche Bestimmungen in
allen derartigen Angaben leicht. Dazu kommt aber
noch ein Moment: Je deutlicher die Vorgänge ge?
sehen werden, desto näher steht — das ist aber natürlich
nur Vermutung — ihr Eintritt bevor. Mag dieser
Anhaltspunkt richtig sein, so fehlt doch ein fester
') Eb. S. 67.
552
Maßstab vollkommen. Es handelt sich naturnot^^
wendig um eine Taxe. Wie sollte denn in einem
räumlichen Bilde, sagen wir dem der Landschaft oder
eines untergehenden Schiffes auch eine Zeitangabe
unterzubringen sein? Höchstens daß neben die
visuelle Vision noch eine akustische treten müßte, die
das Datum zuruft. Oder daß durch Zufall etwa
ein Abreißkalender mit bestimmtem Datum erblickt
wird. Sonst ist ja der Natur der Sache nach eine
bestimmte zeitliche Fixierung ausgeschlossen. Es
kann sich — von seltenen Ausnahmen abgesehen —
immer nur um approximative Schätzungen handeln.
Aber auch sie sind aus inneren Gründen nur dann
richtig, wenn ein und dieselbe Seherin aus zahlreichen
Selbstbeobachtungen eine gewisse Praxis in der zeitlichen
Fixierung eines räumlichen Bildes gewonnen hat.
Erfahrungsgemäß ist die Mehrzahl der Ge^
sichte tragisch. Ob das daher kommt, daß das
Tragische im Leben überwiegt, oder weil sehr unglück*»
liehe Ereignisse die Nerven am stärksten erregen?
Genug, es ist so. Dabei zeigt sich aber, daß häufig
ein Ereignis nach der schlimmen Seite hin noch über^
trieben wird.
Frau de Ferriem führt als Beweis dafür die Vor*
hersage des im Mai 1897 eingetroffenen furchtbaren
Brandes des Wohltätigkeitsbazars in Paris an^).
Diese Katastrophe wurde unter anderm auch
in dem in England weitverbreiteten, Prophezeiungen
für das laufende Jahr enthaltenden Volkskalender
,,OId Moores Almanack" vorhergesagt. Die be*
•) S. 68. Anm. Hier auch das rolK'cndc ..Old Moore"
bctrcFfcnde. das ich leider nicht kontrollieren konnte.
333
tretende Stelle in der bereits 18% erschienenen Aus^
gäbe für 1897 lautet: ,,Fast mit Sicherheit werden
wir in den letzten Tagen des April eine Nachricht
von einem furchtbaren Feuer in Paris hören, welches
viele Menschenopfer verschlingen wird, während eine
Schar Banditen unter den Trümmern Beute zu machen
suchen wird.** Die Schar Banditen sind Irrtum. Frau
de Ferriem glaubt ihn damit erklären zu können,
daß der Seher in der Vision Leute nach den Et^
kennungszeichen, Kleinodien und Leichenresten suchen
sah. Für denjenigen, der die Existenz von Visionen^
die wir uns etwa einer in unser Inneres verlegten
Fata Morgana ähnlich vorzustellen haben, zugibt —
und das muß doch wohl oder übel jeder, der die
Macht der Tatsachen höher bewertet, als ein gegen*
wärtig noch herrschendes aber bald gleich anderem
Gerumpel aus der Zeit des Materialismus ad acta
gelegten Dogma — hat dieser Erklärungsversuch viel
Wahrscheinlichkeit für sich.
Übrigens sei im Vorbeigehen bemerkt, daß ,,01d
Moore*' damals in seinem Kalender den Tod des
Herzogs von Clarence auf den Tag vorausgesagt hat.
Auch der Untergang der ,, Victoria" stand in seinem
Kalender prognostiziert, nur irrte sich der Alte um
eine Woche.
Daß Übertreibungen nach der schlimmen Seite
hin an der Tagesordnung sind, ist nichts weniger als
verwunderlich. Denn wenn wir einen großen Brand
oder ein Unglück sehen, stellen wir es uns ja auch
im ersten Schrecken fast ausnahmslos bedeutend
schlimmer vor, als es in Wirklichkeit ist. Man lese
nur die Unglücksfälle in irgendeiner Zeitung nach
334
und wird finden, daß mit seltenen Ausnahmen die
ersten Nachrichten stark übertrieben wurden, um erst
allmählich ihre richtigen Dimensionen anzunehmen.
Am 15. Mai 1897 erschien im „Führer", Mil^
waukee (Wisc.) und am 18. September 1897 in der
„Kritik", Wochenschrift des öffentlichen Lebens, Berlin,
folgender Visionsbericht:
„Kohlengruben!» Unglück bei Brüx (Dux),
Böhmen.
Erstes Gesicht. (Die Dame schließt die Augen
und spricht): Schrecklich, die Menschen alle hier bei
der Grube! Wie bleich sie aussehen! — Wie die
Leichen. — Ach, das sind ja auch lauter Leichen.
Ja, sie kommen heraus und werden jetzt alle fort::
gebracht. Und die ganze Gegend ist so schwarz,
und es sind lauter kleine Hütten da. Die Leute,
die ich sehe, reden eine andere Sprache, auch ver*
schiedene Sprachen, — alles durcheinander. Und so
leichenblaß sind sie alle! — Jetzt wird da einer heraus^
gebracht, welcher einen Gurt mit einer blanken
Schnalle um hat. Es ist Weihnachten bald; eine
Hundekälte. Dort ist einer, der hat eine Lampe mit
einem Gitter. — Es ist ein Kohlenbergwerk. Es
ist alles so schwarz und so kahl. Ich sehe bloß die
alten Hütten. Die ganze Gegend ist so öde. — Ich
verstehe, was der eine da jetzt sagt. Er sagt: ,,Die
Arzte kommen alle aus Brüx" . . . Ach, das ist ein
böhmischer Ort . . . Siehst du denn nicht? (Ich
sehe nicht) . . . Was? Du siehst nichts! (Letzteres
sagt die Seherin sozusagen erschreckt und schlägt die
Augen au F.)
Zweites Gesicht. (Am Nachmittage des auF
335
die erste V^ision folgenden 1 ages.) Wie traurig das
hier aussieht! Die Menschen alle: O weh, so viele! —
So viele Frauen sind da; wie sie weinen! Die Männer
sind tot; es leben nicht viele mehr. Sie sind alle
herau[gebracht worden. Ach, Gott, die Armen tun
mir so leid! Sieh mal, die Kinder alle! Wie die Männer
aussehen, sie sind ganz von Rauch geschwärzt, sind
gewiß alle in der Erde erstickt. — Das sind Böhmen.
Die Weiber und die Kinder haben Kopftücher um.
Ja, das sind Böhmen. Ach, die armen Menschen
nun gerade um die Weihnachtszeit. Ist doch
schrecklich! — Mit solch einem Zug, der eben an#
gekommen, bin ich schon gefahren. Da steht es dran;
der kommt doch über Eger. Ja, es ist Böhmen. —
Wie sie ciort liegen! — Das sind wohl Ärzte, die da
reiben? — Feine Männer. Viele haben Binden mit
einem Kreuz um die Arme. — Was haben die Frauen
und Kinder denn da in der Hand? Eine Kette.
Wozu haben sie die Kette? Ach, sie bekreuzigen
sich jetzt. Das ist ein Rosenkranz. Ach, sie beten;
aber sie weinen doch alle! — An dem Eisenbahnzug
sehe ich einen österreichischen Adler, einen Doppel^
adler. — Ach, das ist wohl ein Schaffner, der da
steht? Ich höre, was er sagt. ,,In den Kohlengruben
von Dux," sagt er; ich lese aber Brüx. Der da
hat's an der Binde. — Ach, die sind von der Sanitätss«
wache. — Aber sie können nichts machen mit den
armen Menschen. Sie fahren sie alle auf so komischen
Wagen fort. (Die Somnambule erwacht.)"
Diese Vision hatte Frau de Ferriem^) bereits im
^) Vgl. „Mein geistiges Schauen in die Zukunft", S. 63 f.
Den „Führer" und die „Kritik" konnte ich nicht einsehen, wohl
336
Jahre 1896. Vier Jahre später nun fand in den
Kohlenbergwerken von Dux beiBrüx inBöhmen
ein GrubensUnglück statt, bei dem sehr viele
Bergleute ums Leben kamen.
Da das Unglück aber nach der Mitte des Sep*
tember 1900 sich ereignete, so stimmt die Zeitangabe
bezüglich Weihnachtszeit und Kälte nicht. Wie aber
Godefroy, der die Vision nachgeschrieben hatte ^),
dem Dr. Walter Bormann schrieb 0, dauerte die Heraus^»
Schaffung der Leichen aus den Gruben mehrere
Wochen. Noch Ende Oktober wurde bei starker
Kälte eine Anzahl der Opfer zutage gefördert. Also
ging diese Vision vollkommen in Erfüllung.
Diese Prophezeiungen sind für uns von unschätz^»
barem Werte aus dem naheliegenden Grunde, weil
sie alle vorher im Druck erschienen sind, was ja
leicht nachkontrolliert werden kann. Mag man auch
zur Wahrhaftigkeit eines Zeugen, der das nachherige
Eintreten einer Voraussage behauptet, das größte Ver^
trauen haben, so wird man doch die Möglichkeit
eines Erinnerungsfehlers nie bestreiten können. Man
wird auch gern einwenden, daß der betreffende nur
aber ist im 3. Band der Zeitschrift für Spiritismus, S. 71, am
4. März 1899, darauf hingewiesen, daß die Erfüllung der Vision
noch ausstehe, ebenso auf S. 57, am 18. Februar in der gleichen
Zeitschrift. Also vor Eintreffen!
') Im Druck erschienen in den von Godefroy (Kerkau)
herausgegebenen gedruckten Berichten, Nr. 2 vom 20. September
1899, also ein Jahr vor dem Unglück. Godefroy hatte
dazu bemerkt: „Das Gesicht dürfte sich jedenfalls bald erfüllen,
bzw. in einem der kommenden Jahre.
') Vgl. Walter Bormann „Die Nomen. Forschungen über
Fernsehen in Raum und Zeit". Leipzig 1909, S. 130.
337
von den Fällen spricht, die wirklich eintrafen, jene
aber, die sich nicht erfüllten, verschweigt. Es wird
sich also mehr oder minder immer um ein Glauben
handeln. In unseren oben angeführten Fällen dagegen
handelt es sich um ein Wissen. Das gibt ihnen
eine ganz außerordentliche Bedeutung. Denn auch
der größte Zweifler wird nicht leugnen können, daß
es sich um ganz ungewöhnliche Ereignisse handelt, bei
denen wir nicht leicht mit dem Zufall operieren können.
Bormann weist mit Recht auf die große An#
schaulichkeit der angeführten Weissagungen hin.
„Alles, was die Seherin angibt, stellt sich bewegt
und farbenfrisch ganz unmittelbar dem Auge dar,
und noch die Ortsbezeichnungen Dux und Brüx
werden durch die Aufschriften am Eisenbahnzuge,
durch die Binde eines Mannes und durch die mit
dem Ohr vernommenen Worte eines Schaffners uns
vermittelt. Auch bei solchem zeitlichen Fernsehen
also ist hier nichts bloß abgezogenes Denken; alles
ist ein Schauen des Lebens, und obwohl keine vor«:
handene Erscheinung der Gegenwart und noch
nichts Wirkliches im menschlichen Sinne, wird es
doch räumlich wahrgenommen, als ob diese Zukunft
bereits sinnliche Gegenwart wäre^).**
Bormann, der sich als Vorsitzender der ,, Gesell*
Schaft für wissenschaftliche Psychologie** in München
viel und gründlich mit diesen Phänomenen beschäfs=
tigte, sagt mit Recht, die Erklärbarkeit dieses zugleich
zeitlichen und räumlichen Fernsehens sei ein
schwer zu lösendes Rätsel. Wir wollen uns auch
») „Nomen", S. 130f.
Kemmerich, Prophezeiungen 22
558
nicht darauf einlassen, sondern nur feststellen, daß,
wenn uns überhaupt etwas diese Phänomene, an deren
Existenz zu zweifeln nur wohl mehr Böswilligkeit
noch vermag, verständlich machen kann, es solche
authentische Berichte sind. Auch wir haben ja im
Traum Ähnliches alle schon erlebt, nur handelt es
sich hier um Vergangenes. Wenn wir aber den Ver^:
gleich des Traumes festhalten, dann werden uns so^
fort Irrtümer in der Interpretation der Visionen klar.
Das Gesicht entschwindet oft, wenn wir einen be*
stimmten Punkt festhalten wollen. Es löst sich in
Nebel auf, und im Bestreben, zu rekonstruieren, er*=
finden wir. Oder die Seherin sieht zwar eine Gegend
ganz deutlich vor sich. Da sie aber nirgends, weder
auf Stationschildern, noch auf Reklamen oder sonst
wo den Namen des Ortes lesen kann, auch nicht ihn
rufen hört oder das Gelände aus der Erinnerung
wiederzuerkennen vermag, so hat sie zwar eine rieh:*
tige Vision, weiß aber nicht, wohin den Schauplatz
zu verlegen. Oder sie glaubt eine Gegend wieder*
zuerkennen und irrt sich dabei. Natürlich wird dann
die Prophezeiung, weil irrig lokalisiert, auch nicht
eintreffen. Solche und ähnliche Fehlerquellen existieren
immer. Deshalb ist es desto verwunderlicher, wenn
alles genau zutrifft.
Doch wir werden später noch auf dieses Thema
zurückkommen. Wunderbarerweise sind wir nämlich
noch keineswegs am Ende der eingetroftcnen Prophe*
zeiungen der Frau de Fcrriem angelangt.
Im Oktober 1900 wurde in Nr. 43 der „Zeit*
Schrift für Spiritismus" (Köln) folgende Vision der
Dame mitgeteilt:
339
„Es taucht vor mir eine schwarze Masse auf. —
Was es ist? — Ich kann's noch nicht deutHch er?
kennen. — Ja, so, ein Felsen im Meer, daran es
zerschmettert ist. Sehe nämlich ein deutsches Kriegs^*
schiff. Die schwarze Masse ist ein Teil des unteres
gegangenen Schiffes. — Viele Menschen gehen beim
Untergange desselben zugrunde. Ich sehe sie deut?
lieh verzweifelt mit den Wellen kämpfen. Alles
deutsche Matrosen. — Es ist bestimmt ein Kriegs?
schiff. Ich sehe den Kommandanten, wie er seine
Hände zum Himmel hochstreckt. Er schreit noch
seine letzten Befehle. Er trägt einen Bart, wie ihn
Kaiser Friedrich trug, nur kürzer und ziemlich dunkel,
fast schwarz. — Das Wasser ist fast ganz ruhig ge?
worden. — — Ich sehe auch, daß es in fremdem
Lande ist — — Naht denn keine Rettung? — Noch
nicht. — Ein Schiff in Sicht. Hurra! — Und doch,
es ist wenig Aussicht auf Rettung. — Und naht denn
keine Hilfe? — Ja, ja, aber viel zu spät." Godefroy
hatte diese Prophezeiung von der Seherin stenogra?
phiert aus Österreich erhalten."
Anderthalb Monate später, am 7. Dezem^»
ber 1900, ging diese Vision mit dem Unter?
gang des deutschen Schulschiffes Gneisenau
in Erfüllung.
Bormann schreibt darüber^):
,,Der , Gneisenau' scheiterte am Felsen Morro
Levante (im Vorhafen von Malaga). Sein Untergang
traf auch in einzelnem erstaunlich mit der Weissagung
überein. Der Schiffskommandant hob in der Tat
') „Nomen", S. 134. Die Vision selbst in „Mein geistiges
Schauen", S. 65.
22*
340
seine Arme gen Himmel, indem er laut seine Mannst
Schäften in Gottes Hut befahl. Es ist auch richtig,
daß die Bemannung nicht mit dem Schiffe zugrunde
ging; die Leute stürzten sich in die Wellen und
gingen im Kampfe mit ihnen zahlreich unter. Der
Bart des Schiffskommandanten Beckmann ist in der
Tat gewesen wie der des Kaisers Friedrich, nur kürzer,
wie Bilder ausweisen. Wie die Farbe des Bartes war,
weiß ich nicht. Die Seherin sah das Gesicht ungewohnt
lieh deutlich und kündigte daher dessen schnelle Et^
füllung an, wie es auch geschah." Übrigens sah sie noch,
daß das Schiff nicht völlig unter der Wasseroberfläche
verschwand, wie es auch in Wirklichkeit der Fall war.
Daß gottlob der Untergang eines deutschen Kriegs^»
Schiffes zu den größten Seltenheiten gehört, ist hin*
länglich bekannt. Aus diesem verblüffenden Zusammen*:
treffen einer Reihe von ganz seltenen Fällen — man
denke an den Bart des Kapitäns! — eine Wahrschein*
lichkeitsrechnung zu konstruieren, dürfte jedoch auf
unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen.
Eine Prophezeiung der Frau de Ferriem über
das lenkbare Luftschiff ist deshalb außerordent*
lieh interessant und kann unbedenklich als Beweis
für die Tatsache der Prophetie gelten, weil zur Zeit
der Vision — 1899 — und auch noch viel später ein
solches Fahrzeug von den ersten Autoritäten für un*
möglich erklärt wurde. In vieler Erinnerung wird
die schmähliche Behandlung sein, die noch drei Jahre
später dem Grafen Zeppelin auf dem deutschen In*
gcnicurtage in Kiel zuteil wurde. Man verspottete
ihn als Phantasten. Erst seit dem Jahre 1906 hatten
seine Versuche Erfolg.
341
Wie das breite Publikum im Jahre der Vision
(1899) dachte, geht u. a. aus der Faschingsnummer
der Münchner Neuesten Nachrichten vom 12. Februar
gleichen Jahres hervor. Da heißt es als Mitteilung
aus dem Jahre 2899: ,,Aus St. Franzisko kommt uns
folgende Lichtstrahlendepesche zu: Heute Nacht 11 Uhr
47 Minuten (Welteinheitszeit) ist das Luft* Expreß;»
schiff Nr. 724 der „Union *Aero* Expreß ^Companie^^
Comfortable" in 3000 m Höhe über Meer mit einem
Meteor zusammengestoßen."
Fast möchte man glauben, der Verfasser dieser
Ulknotiz habe selbst die Gabe des Hellsehens be*
sessen, denn bis auf das Vergreifen im Datum um
fast ein Jahrtausend — man sieht daraus, wie ent*
fernt, ja unmöglich die Zukunftsphantasie damals
noch allen erschien — stimmt alles verblüffend. Die
Höhe von 3000 m wurde inzwischen erreicht, der
erste, zwar verunglückte, aber zum Teil auch ge^«
lungene Versuch des Überfliegens des Weltmeeres
wurde im Herbst 1910 von Wellmann unternommen,
ja — und das ist das Erstaunlichste — wir haben von
ihm durch „Lichtstrahlendepeschen", nämlich durch
drahtlose Telegraphie, von der damals noch niemand
eine Ahnung haben konnte — Mitteilung erhalten.
Doch nun zur Vision der Frau de Ferriem. Der
Bericht lautet:
„Das elektrische Luftschiff, Das große, voll*
kommen lenkbare Luftschiff mit elektrischer Bewegung
und Beleuchtung der Zukunft wird bald erfunden
werden. Kapitäne werden Patent auf das Fahren mit
diesem adlergleich dahin fliegenden oder segelnden
Luftschiff erhalten, und man wird mit dem letzteren
542
es dazu bringen, in zweimal 24 Stunden den Atlans*
tischen Ozean zu überfliegen. Dasselbe wird so ein:*
gerichtet sein, daß, wenn in der Luft Unglück bei
der Fahrt über das Meer passiert, man sich noch aufs
Wasser retten kann. Die Erfindung wird vor 1950
gemacht und vervollkommnet sein; viele werden aller*:
dings noch wegen Grübeleien darüber ins Irrenhaus
müssen. Ich habe den Erfinder gesehen, wie er die
erste Konstruktion vorführte; derselbe beherrschte
mehrere Sprachen, die deutsche sprach er gebrochen. —
Eine furchtbare Arbeit durch die Luft machte es, als
ich's über das Meer brausen sah. — Das ist der feurige
Drache, von dem Propheten schon vor Christi Ge^
burt sprachen^)."
Erwähnen wir noch, daß neuerdings tatsächlich
Patente, die zur Führung von lenkbaren Luftschiffen
berechtigen, ausgestellt werden, so wird man nicht
umhin können, die Prophezeiung im wesentlichen für
erfüllt anzusehen, auch wenn man betreffs des bib*
lischen feurigen Drachens sich etwas reserviert ver*
Femer hatte Frau de Ferriem noch Visionen, die
die Erreichung des Nordpols mit Luftschiffen und
Schlitten betreffen. Die letztere Prognose ist ja schon
in Erfüllung gegangen. Was die erstere betrifft, so
scheint auch ihre Realisierung in die Wege geleitet
zu sein, da bekanntlich Graf Zeppelin dieses Unter*:
nehmen plant'^).
*) Vgl. Kcrkau, Zeitschrift für Spiritismus. 3. Bd., 1899,
Nr. 8. vom 25. Februar 1899. S. 62 f.
*) „Mein geistiges Schauen". S. 84, und Zeitschrift für Spiri*
tismus, 2. Kd.. 1898, S. 53 f.
343
Fassen wir unser Urteil über die Prophezeiungen
der Frau de Fernem zusammen, so steht es fest, daß
zwar eine Reihe von Prognosen nicht eintrafen bzw.
noch nicht eintrafen, daß dafür aber andere in er:*
staunHcher Weise in Erfüllung gingen.
Wer die Visionsberichte liest, kann nicht darüber
im Zweifel sein, daß es sich durchaus nicht um ver#
standesmäßige Berechnungen oder Vermutungen han^«
delt, sondern um echte Visionen, um traumartige
Bilder, die in der Seherin auf eine uns nicht näher
bekannte Weise erzeugt werden.
Dem Einwand, es könne sich hier um Halluzi*
nationen handeln, denen nichts Reales entspricht, muß
entgegengehalten werden, daß wir keine einwandfreie
Definition von Ffalluzination einerseits und Vision
andrerseits besitzen^). Ferner handelt es sich hier
durchaus nicht um „Erscheinungen", von denen be*
hauptet wird, daß sie] außerhalb der Person der
Seherin liegen sollen, sondern lediglich um Vorgänge
in ihrem Innern, die nur kontrollierbar sind durch
die Art, in der die Seherin von ihnen Kenntnis gibt
^) Lucian Pusch, „Spiritualistische Philosophie ist erweiterter
Realismus" (Broschüre), Leipzig 1886, der selbst hell sieht, be?
hauptet, die Gegenstände des Hellsehens seien klarer, als die der
Halluzinationen. Das ist aber kein objektives Kriterium und setzt
die Existenz beider Phänomene voraus. Überdies ist es falsch,
weil suggerierte Halluzinationen ebenso lebhaft empfunden
werden, wie die „Geister". Vgl. Sphinx, 2. Bd. 1886, S. 342.
Danach müßten Visionen auch an anderen beobachtenden Per*
sonen kontrolliert werden können, wären also etwas objektives,
außerhalb der wahrnehmenden Person Vorhandenes. Mir
scheint auf diesem Gebiete [die nötige Klarheit noch nicht zu
herrschen.
344
und durch ihr späteres Eintreffen. Und dieses letz==
tere kann für uns ganz allein ausschlaggebend sein.
Wenn es auch nicht mehr viele geben mag, die
auf Grund obigen Materials noch Lust haben, die
Eselsbrücke des Zufalls zu betreten, sondern wohl
die überwältigende Mehrheit der Leser nunmehr von
der Existenz des zeitlichen Fernsehens überzeugt sein
wird, so muß doch auch hier die Möglichkeit des
Zufalls geprüft werden.
An der Vorhersage des Seebebens von Martinique
wird man das Fehlen der Ortsangabe rügen. Beim
Untergang der Gneisenau gleichfalls. Was die Er*
reichung des Nordpoles betrifft, so kann man auf
den prophezeiten Weg auch durch Berechnung kom=
men. Beim Hafenbrand in Neuyork dürfte es schon
recht schwer fallen, mit der Kritik einzusetzen, denn
da alle Vorhersagen der Frau de Ferriem sich im
Laufe weniger Jahre erfüllen, wird man kaum ein*
wenden können, ein ähnliches Ereignis spiele sich
früher oder später in jedem Hafen ab. Ebenso kann
nur, wer den damaligen Stand der Frage gar nicht
kennt, sich mit der Vorhersage des lenkbaren Luft*
Schiffes leicht abfinden.
Besonders winden wird sich aber der Skeptiker
bzw. materialistische Dogmatiker bei der Vorhersage
des Grubenunglückes von ßrüx*Dux. Gewiß läßt
sich für jede Grube eine Wahrscheinlichkeitsrechnung
aufstellen und so errechnen, wann an sie die Reihe
kommt. Aber hier haben wir die ausdrückliche Kon*
statierung, daß die Katastrophe bald eintreten wird.
Ja, als sie nach zwei Jahren noch aussteht, wird in
verschiedenen Blättern darauf hingewiesen, daß sie
345
nunmehr bald kommen müsse. Das soll ein zufälliges
Zusammentreffen von Vorhersage und Ereignis sein?
Alle Vorgänge werden mit einer Deutlichkeit ge^
schildert, wie sie nur ein Augenzeuge zu bieten ver^
mag. Daß Traum und Vision, nicht aber Phantasie
die Plastik und Greifbarkeit des sinnlich Wahr^
genommenen besitzen, hat schon Schopenhauer fest^
gestellt. Deshalb ist es schlechterdings ausgeschlossen,
daß die von der Seherin geschauten Bilder Erzeuge
nisse ihrer überhitzten Phantasie sind, sondern wir
haben es ganz unzweifelhaft hier mit echtem zeit==
liehen Fernsehen zu tun.
Leider ist es in allen obigen Fällen kaum an*:
gängig, eine Wahrscheinlichkeitsrechnung mit hohem
Divisor aufzustellen. Um nun aber dem unverbesser*
liehen Skeptiker die letzte Möglichkeit, sich auf den
Zufall hinauszureden, zu nehmen, werden wir im
nächsten Kapitel unser schwerstes Geschütz auffahren.
346
Elftes Kapitel
Michel Nostradamus
Michael Nostradamus wurde am 14. Dezember
1503 zu St. Remy geboren und starb 1566 in Salon.
Eigentlich hieß er Michel und war jüdischer Her*!
kunft. Sein Vater war Leibarzt des bekannten roman*
tischen Königs Rene. Sein Großvater mütterlicher*
seits, Johann de St. Remy, Leibarzt des Herzogs von
Kalabrien, erzog den kleinen Michel und weckte in
ihm die Liebe zur Naturkunde. Vielleicht bildete
er auch das jenem angeborene übersinnliche Wahr*
nehmungsvermögen aus.
Nach dem Tode des Großvaters trieb Nostra*
damus in Avignon humanistische und philosophische
Studien, siedelte dann aber nach Montpellier über,
um Medizin zu studieren. Dort erwarb er auch den
Doktorhut.
Seine ärztliche Praxis übte er in Agen aus, wo
er innige Freundschaft mit dem berühmten Philologen
Julius Caesar Scaligcr schloß. Hier heiratete er ein
adeliges Fräulein, verlor sie und die beiden Kinder
dieser Ehe aber bald durch den Tod. Dieses tragische
Schicksal suchte er durch eine zehnjährige Reise
347
durch Frankreich und ItaHen zu vergessen. Im Jahre
1544 ließ er sich in Salon nieder und heiratete eine
Patriziertochter Anna Pontia Gemella. Bei der großen
Pest des Jahres 1546 zeichnete er sich so aus, daß
ihm die Stadt Salon als einem um das öffentliche Wohl
hochverdienten Mann für längere Zeit einen Jahres*
gehalt aussetzte. Auch in Lyon erwarb er sich als
Pestarzt den Dank der Leidenden.
Nach Salon zurückgekehrt gab der gefeierte Arzt
seine Praxis gänzlich auf, da er als heimlicher Kalvinist
angefeindet v^urde. Er hatte mit der äußeren Welt
abgeschlossen und zog sich ganz in die innere zurück.
Wie er in der Vorrede zu seinen Centuries sich aus*
drückt, erhob diese ihn über die Schranken der
Endlichkeit und — das hintereinander Stehende neben*
einander stellend und in ein großes Bild zusammen
fassend — führte sie ihm die Geschichte in ihrem
Zusammenhang und ohne Vermittlung der Zeitformen
an seinem inneren Blick vorüber^).
Bei Nacht zog er sich in ein kleines Kabinett,
das ihm die Übersicht über den ganzen Horizont
seines Wohnortes gestattete, zurück. Man zeigt es
noch jetzt in Salon. Von hier aus beobachtete er
die Sterne und ließ zugleich in seinem Inneren jenes
wunderbare Licht heller leuchten, dessen er sich be*
reits früher bewußt geworden war").
^) Vgl. Karl Kiesewetter, Nostradamus und seine Prophe;
zeiungen in ,, Sphinx**, 3. Bd., 1887, S. 41 ff.
^) Wie er in der Widmung der achten Centurie an König
Heinrich II. von Frankreich sagt, hat er seine Weissagungen
,,nach dem Laufe des Himmels berechnet, in Verbindung mit
einer zu gewissen Stunden eintretenden Anregung, dem Erbtum
548
Diese Stelle ist von Bedeutung, weil aus ihr
hervorgeht, daß es sich nicht um reine Astrologie
handelt, sondern daß diese abenteuerliche Wissenschaft
nur ergänzend zur Sehergabe hinzutritt. Übrigens
wird man gut tun, sich über das Zustandekommen
der Prophezeiungen möglichst vorsichtig zu äußern,
solange noch ihre Tatsächlichkeiten von der offiziellen
Wissenschaft bestritten wird.
Sicher ist, daß Nostradamus die Sehergabe —
vorausgesetzt, daß wir ihm eine solche auf Grund
des Folgenden zugestehen — von seinen Vorfahren
geerbt hat. Das ist interessant, weil wir schon früher
wiederholt auf Fälle von Erblichkeit der Gabe
gestoßen sind. Daß Nostradamus keineswegs an eine
Vererbung der rechnerischen Kunst der Astrologie,
also von einer Art Geschäftsgeheimnis, denkt, sondern
ganz zweifellos an seine prophetische V^eranlagung,
geht aus der Vorrede zu seinen Centurie, die er an
seinen Sohn Cäsar als Säugling richtet, klar hervor.
Hier sagt er, daß er „geoffenbarte Inspira*
tionen" erhielt, „wenn er bisweilen in der Woche
sympathisch ^) angeregt worden sei und sich die
seiner Urväter". Er brachte seinen „natürlichen Instinkt in
Zusammenhang und Einklang mit einer langen fortlaufenden
Berechnung, indem er Seele, Geist und Gemüt von aller Sorge,
Kümmernis und Aufregung frei machte durch Ruhe und Stille
des Inneren".
*) oder ,,lymphatiquant", was mit cxtatisch zu übersetzen
wäre. Denn ..Lympatiques" nannte man diejenigen, die vom
Anblick eines schönen Mädchens liebestoll wurden. Da der
erste dieser sinnlos Verliebten sich ins Wasser (lympha) stürzte,
erhielt der Zustand diesen Namen. Vgl. ,,Eclaircissement des
veritables Quatrains de Maistre Michel Nostradamus", 1656
349
Nächte durch lange Berechnungen versüßt habe."
Er konnte also die Zukunft nur völlig ermitteln,
wenn er seine astrologischen Berechnungen in einer
Art von Trance ausführte.
Nach Nostradamus' Anschauung ist alles Seiende
Notwendig und notwendig so, wie es ist, und alles
Geschehende geschieht notwendig in der Weise, zu
der Zeit und an dem Ort, wie und wo es geschieht.
Dadurch ist jedem Ereignis eine bestimmte Stelle
und Zahl gegeben, die sich berechnen läßt.
Wenn nun in gewissen Stunden die Ereignisse
der Zukunft vor dem inneren Auge des Nostradamus
vorüberzogen, so schrieb er sie in französischer Prosa,
aber in mystischen Ausdrücken oder — wie er selbst
sagt — in dunklen und verworrenen Sätzen nieder,
um weder zu viel Klarheit zu geben, noch auch zu
großen Irrtum zu verursachen. Femer um eine ge?
wisse Scheu und Ehrfurcht vor seinen Weissagungen
zu erwecken.
Als er diese Sprache später immer noch für zu
offen hielt, übertrug er sie aus der Prosa in ge«^
bundene Rede und stellte sie in vierzeilige Strophen,
Quatrains, zusammen. Diese teilte er nach Hun^s
derten als Centuries ab. Bei dieser Versifikation
wurde die ohnehin dunkle Sprache noch mystischer,
obschon sie dem Seher immer noch zu offen schien
und er sich deshalb lange nicht zur Herausgabe seiner
Verse entschließen konnte. Um auch keine chrono*
logische Handhabung zur Deutung der Vorhersagen
zu geben, mischte er überdies die für die ver*
(ohne Erscheinungsort und Verfasser), S. 59. Die Stelle findet
sich in der Nostradamus?Ausgabe von Le Pelletier II, p. 15.
550
schiedensten Zeiten geltenden Sprüche noch durch*
einander. Erst als verschiedene vorausgesagte Ereigs^
nisse, die Abdankung Karls V., der Tod Heinrichs IL
und die Hugenottenkriege nahe bevorstanden, ent*
schloß er sich 1555 die ersten sieben Centuries heraus*
zugeben. Drei Jahre darauf folgten weitere drei
Centuries, die Nostradamus Heinrich IL zueignete.
Kaum waren die Prophezeiungen erschienen, als
sie mit Hohn und Spott überschüttet wurden. Man
zögerte nicht, Nostradamus als Betrüger und Scharlatan
zu erklären. Katharina von Medici aber ließ den
Astrologen am 15. August 1556 an ihren Hof kommen
und ihren vier Söhnen in Blois die Nativität stellen.
Er sagte ihnen wahrheitsgemäß voraus, daß drei
Könige werden würden, verschwieg aber diplomatisch,
daß die Krönung des einen durch den Tod des andern
bedingt würde.
So hatte auch Cornelius Agrippa dreißig Jahre
früher Karl von Bourbon zwar die Einnahme Roms
vorhergesagt, seinen Tod dabei aber verheimlicht.
Mit Gold und Ehren überhäuft, kehrte Nostra*
damus nach Salon zurück. Er war so berühmt ge*
worden, daß Fälscher Prophetien unter seinem Namen
herausgaben. Dadurch, durch die Dunkelheit seiner
echten Prophetien und das Fehlen der Jahreszahlen
wurden viele am Können des Sehers irre.
Da ging während des Nostradamusstreites eine
Prophezeiung in Erfüllung, die er im 35. Quatrain
der ersten Centurie gegeben hatte.
In der in Lyon im Jahre 1555 erschienenen ersten,
noch unvollständigen Ausgabe seiner Prophezeiungen
Hnden wir folgenden Vierzeiler:
351
„Le lyon jcune Ic vicux surmontera
En champ belliquc par singulicr duelle:
Dans cage d'or Ics yeux luy crcvera,
Deux classes une, puis mourir, mort cruelle."
Auf deutsch:
Der junge Löwe wird den alten überwinden
Auf kriegerischem Felde durch Einzel* Zweikampf:
In goldenem Käfig wird er ihm die Augen aus*:
stechen,
Von zwei Brüchen der erste, dann sterben eines
grausigen Todes.
Le Pelletier^), der diesen Quatrain kommentiert,
umschreibt classe mit /.Idoig brisur, ebrachement und
une als una, die erste. Daher sind wir zu obiger
Übersetzung berechtigt.
Nun die Erklärung:
Im Juli 1559, gelegentlich der Doppelhochzeit
von Töchtern Heinrichs II. — Elisabeth heiratete
Philipp II. von Spanien, Margarete den Herzog Emanuel
Philibert von Savoyen — streckte der „junge Löwe**
Graf Montgomery den „alten" König Heinrich IL
von Frankreich in den Sand, und zwar im Tjost, bei
dem einer gegen den anderen, also einzeln (par sin*
gulier duel) die Kräfte maß. Das steht im Gegen*
satz zu den zur Ritterzeit gebräuchlichen Buhurt,
einem ungefährlichen Reiterspiel mit stumpfen Waffen,
oder dem Turnier, wo größere Scharen von Rittern
gleichzeitig gegeneinander die — stumpfen — Lanzen
^) Anatole Le Pelletier, Les Oracles de Michel de Nostras
dame. Paris 1867, I, p. 72 f.
552
verstechen^). Dabei drang seine Lanze durch das
goldene Visier des Helmes (cage d'or) ins rechte
Auge. Der König starb am 10. Juli erst vierzig*^
jährig an der erhaltenen Wunde. Das war der erste
gewaltsame Bruch am Aste der Valois.
Der zweite ereignete sich am 1. August 1589,
^Is der junge fanatische Dominikanermönch Jaques
/Clement König Heinrich III. im Lager zu St. Cloud
[mit einem Dolche den Unterleib durchbohrte. Der
(König starb noch am gleichen Abend unter furcht^»
baren Schmerzen und mit ihm erlosch das berühmte
Geschlecht im Mannesstamme.
Daß diese Prophezeiung richtig gedeutet wurde,
wissen wir nicht nur von Hörensagen und aus der
Tatsache, daß von nun an Nostradamus ein berühmter
Mann war, sondern auch aus der gleichzeitigen Lite^^
ratur. Brantöme in seinen Vies des Hommes illustres
erzählt in dem Heinrich II. gewidmeten Abschnitt
ebenso wie Guynaud in seiner Concordance des
Prophetie de Nostradamus die Umstände bei diesem
Turnier genau. Ja, wir wissen auch, daß dem König,
der sich in Kraftproben gefiel, das bevorstehende
Unglück vorhergesagt worden war, jedoch ohne ihn
von seinem Vorhaben abzubringen.
Einst besuchte Herzog Philibert Emanuel von
Savoyen mit seiner Gemahlin Margarete den Seher.
Als letztere in gesegneten Umständen war, ließ sie
Nostradamus zu sich nach Nizza kommen und be*
fragte ihn über das Geschlecht des zu erhoffenden
Kindes. Er antwortete, daß es ein Sohn sein werde,
') Vpl. A. Schultz, Das höfische Leben zur Zeit der
Minnesanger, 2. Bd., S. 1 1 1 tt.
353
der Karl getauft und ein großer Feldherr werde.
Am 12. Januar 1562 kam der Knabe zur Welt und
Nostradamus stellte ihm die Nativität').
In dieser Nativität hieß es, daß er in einem be^
stimmten Jahre verwundet, aber nicht sterben werde,
als bis eine 9 vor einer 7 komme. Der Prinz, der
sein Horoskop sorgfältig verwahrte, sprach eines
Tages mit dem Grafen Carignan über das geheimnis*
volle und unsichere Helldunkel der astrologischen
Prognostika und erzählte, daß ihm Nostradamus für
das laufende Jahr eine bedeutende Verwundung vor^
hergesagt habe. Der Graf konnte nicht begreifen,
wie er im tiefsten Frieden schwer verwundet werden
könne, worauf der Prinz rasch aufstand, um die
Nativität herbeizuholen. In der Eile stieß er den Tisch
um, der ihm auf ein Bein fiel und es bedeutend verletzte.
Da sich die erste Prophezeiung so schlagend
bewahrheitet hatte, glaubte Prinz Karl, daß nun auch
die zweite bezüglich seines Alters eintreffen würde
und rechnete auf 97 Jahre. Als er aber schon im
69. Jahre starb, erkannte man, daß auch hier eine
9 vor einer 7 komme, weil auf 69 unmittelbar 70 folgt.
So war der Prophet gerechtfertigt. Allerdings beweist
dieser Fall — wie zahllose andere — auch die große
Schwierigkeit der Interpretation selbst einer richtigen
Vorhersage.
Im Jahre 1564, als der junge König Karl IX.
mit seiner Mutter den berühmten Propheten auf^
suchte, weissagte er letzterer im geheimen, daß ihr
Lieblingssohn, der damalige Herzog Heinrich von
^) Vgl. — auch zum Folgenden — Kiesewetter, Sphinx,
3. Bd. 1887, S. 44 E
Kemmerich, Prophezeiungen 23
554
Anjou, den Thron besteigen würde. Auch Heinrich
von Navarra, dem nachmaligen König Heinrich IV.,
weissagte Nostradamus die Krone.
Übrigens ernannte Karl IX. den Seher zu seinem
Leibarzt und überreichte ihm ein Geschenk von zwei*
hundert Goldtalern, Katharina aber fügte noch hundert
aus eigener Tasche hinzu. So fehlte es ihm weder an
Geld noch an Ehren. Da er ein Wohltäter der Armen
und Kranken war, ein aufopfernder, pflichtgetreuer
Arzt, so wußten auch seine Mitbürger ihn zu schätzen.
Sein Freund Jean Aime Chavigni — latinisiert
Janus Gallicus — erzählt^), daß er des Nostradamus'
Krankenbett spät in der Nacht des 1. Juli 1566 ver*
ließ und mit Sonnenaufgang wiederzukehren versprach.
Der Kranke, der die letzten sechzehn Lebensmonate
an der Gicht gelitten hatte und bereits acht Tage
vor seinem Tode das Abendmahl empfing, zwei Tage
vorher aber sein Testament machte, antwortete dem
Freund: „Der Sonnenaufgang wird mich nicht mehr
unter den Lebenden finden."
Da er jedoch leicht atmete und man überhaupt
keine Anzeichen des herannahenden Todes an ihm
wahrnahm, zogen sich alle zurück, um einige Stunden
der Ruhe zu pflegen. Als man dann in der Morgen*
dämmerung ins Krankenzimmer trat, fand man Nostra*
damus tot auf einer Bank in einer Stellung, die deutlich
bewies, daß er ein sanftes Ende gefunden hatte.
Man entdeckte unter den Papieren des Ver*
storbenen folgendes nach seiner Rückkehr von Arles,
wohin Karl IX. im Jahre 1564 ihn hatte kommen
I
*) Chavigneus, Jani Gallici Facies prior. Lion 1594, p. 4.
355
lassen, geschriebene C^uatrain, in dem er die Um*
stände seines Todes schildert'):
Zurückgekehrt legt' ich des De retour d'Ambassade,
Königs Gabe nieder; don de Roi mis au Heu;
Die Arbeit ist vollbracht, Plus n'en fera: sera alle
ich geh zu Gott; ä Dieu:
Mir nahn Verwandte, Parans plus proches, amis,
Freunde, Blutesbrüder— freres du sang —
Bei einer Bank an meinem Trouve tout mort pres du
Bett werd' ich gefunden lict et du banc.
tot.
Am 2. Juli wurde Nostradamus links vom Haupt*
eingang der Minoritenkirche in Salon in einer Nische
beigesetzt, was auch einer Prophezeiung entsprach.
Hier möge es offen bleiben, ob sein Grab nicht da*
nach gewählt wurde.
Nostradamus hinterließ außer den Centuries noch
in Prosa geschriebene Prophezeiungen, die Chavigni
in zwölf Büchern zusammenstellte. Sie sollen klarer
gewesen sein, als die Centuries, gingen aber verloren.
Die Prophetien beginnen im Jahre 1555 und
enden am Schlüsse des ersten angeblichen Geschichts*
weltalters im Jahre 3797 n. Chr. Räumlich behandeln
sie, wie Nostradamus im Anschreiben an Heinrich II.
mitteilt, ganz Europa und einen Teil Afrikas und
Asiens, während sie den Osten Asiens oder Indien
nicht umfassen. Besonders zahlreich sind die auf
Frankreich bezüglichen Sprüche, und auch hier ist es
besonders sein Heimatland Provence und das an*
grenzende Piemont.
^) Presage 141, Le Pelletier I.. p. 91.
356
Bevor wir weiter auf die Prophezeiungen ein?
gehen, die besser überliefert sind, als man bei der
Schwierigkeit der Sprache und den zahlreichen einges=
streuten Provinzialismen, Fremdworten und Neubil?
düngen — die dem Abschreiber bzw. Drucker natür=*
lieh große Schwierigkeit bereiteten — erwarten sollte,
wollen wir einen Blick auf die Fälschungen werfen.
Sie sind zahlreich und in der Regel nur auf
Grund alter Ausgaben bzw. der kritischen von Le
Pelletier festzustellen. Dann allerdings ohne Schwierig:*
keit. Bis in die allerneueste Zeit haben sich Fälscher
oder Spaßvögel des Namens des großen Astro*«
logen bedient.
So zirkulierte etwa im Jahre 1903 folgendes nicht
in einer Originalausgabe enthaltene Quatrain:
Albion royne de la mer
Alors qu'ira montagne de l'air
Cloche en canon, navir en cloche
Dis que la derniere heure approche.
Hieraus las man den Untergang der Seeherrschatt
Englands zur Zeit der Luftschiffe, Hohlgeschosse und
Unterseebote. Natürlich war es eine Fälschung.
Im Jahre 1870 tauchte ein anderer angeblicher
Quatrain des Nostradamus auf, in dem dem zweiten
Kaiserreich eine Lebensdauer von genau 17'^ ^ Jahren
„et pas un jour de plus" vorausgesagt war. Da es
vom 2. Dezember 1852 bis zum 2. Dezember 1870
dauerte, so war die Prophezeiung richtig, nur Hndet
sich leider bei Nostradamus nichts davon ').
') Vgl. Albert Knicpf in den Psychischen Studien, 36. Bd.^
1909. S. 247 und 276. Übrigens ist es .\uF alle Fnlle merk?
357
Mit welchem geradezu unglaublichen Mangel an
Logik zu Werke gegangen wird, wenn es gilt, eine
unangenehme Tatsache aus der Welt zu schaffen,
zeigt sich hier wieder einmal deutlich. Man folgert
daraus, daß es auch gefälschte Prophezeiungen gibt,
etwas gegen die echten! Und doch könnte jeder
des Lesens Kundige sich durch einen Blick in alten
Ausgaben überzeugen, daß es auch echte gibt und
zwar sehr viele. Es ist ein Vorrecht der Ignoranz
apodiktisch aufzutreten, und die gerade modernen
wissenschaftlichen Theorien scheinen zu ihrer Untere
Stützung die gröbsten logischen Schnitzer nicht ent^^
behren zu können.
Wir wollen nun aus der großen Zahl von ein*
getroffenen Prophezeiungen einige herausgreifen.
Wir betonen dabei wiederum, daß eine einzige
wahre Vorhersage, d. h. eine, die Zufall und Be^^
rechnung ausschließt, die Tatsächlichkeit des Phänomens
bereits beweist.
würdig, daß die Vossische Zeitung schon am 28. August 1870,
also vor Sedan, die Prophezeiung abdruckte mit dem Zusatz,
daß Napoleon seinen Untergang für den 2. September be?
fürchte. Damals hatte noch gar niemand in Deutschland eine
Ahnung davon, daß sich Napoleon bei Mac Mahons Armee be?
fand. — Herr Dr. R. Hennig hat die Freundlichkeit, mir seinen
Aufsatz ,,Zur Psychologie der Deutelsucht" in der ,, Zeitschrift für
Psychotherapie und Medizinische Psychologie" zu übersenden,
Hier finde ich auf S. 186 des 2. Bandes die Angabe, der ge=
fälschte, aber doch in so wunderbarer Weise in Erfüllung ge?
gangene Quatrain sei gedruckt in den ,,Ronces et Chardons"
des Chevalier Jean Baptiste Franqois Ernest de Chatelain, an?
geblich S. 181. Das Buch soll 1869 in London erschienen sein.
Vielleicht stammt er von einem wirklichen Propheten, der sich
des Namens seines großen Vorgängers bediente.
558
Der 75. Quatrain der VI. Centurie lautet:
Le grand pillot par Roy sera mande,
Laisser la classe pour plus haut Heu atteindre:
Sept ans apres sera^scontrebande,
Barbare armee viendra Venise craindre.
Diese Vorhersage ging schon sehr bald in Er*
Füllung. Wollen wir sie zunächst übersetzen und
mit Le Pelletier kommentieren^).
„Der große Pilot wird vom König mit einem
Amt betraut werden (mande = mandatus, das Mandat
erhalten). Er wird die Flotte verlassen, um zu einem
noch höheren Range emporzusteigen: Sieben Jahre
nachher wird er Schleichhändler sein (d. h. sich gegen
die legitimen Gewalten auflehnen), eine barbarische
Armee wird Venedig Furcht einjagen.**
t Gaspard de Coligny wurde vom König Heinrich II.
zum Admiral befördert im Jahre 1552. Er dankte im
Jahre 1559, beim Tode des Königs, ab, um als Partei*
haupt der Kalvinisten tatsächlich eine mächtigere
Stellung einzunehmen. Hier wurde er im Jahre 1562
zum ersten General^Leutnant ernannt. Im Jahre 1567,
also sieben Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem
königlichen Dienst, stand er auf der Höhe als Organi*
sator der Bürgerkrieges (Contrebande). Indiejahrel567
bis 1569 fallen die drei großen von den Protestanten
geÜeferten Schlachten bei Saint* Denis, Jarnac und
Moncontour. In der letzten war Coligny Höchst*
kommandierender. Diese Ereignisse fielen zeitlich zu*
i sammcn mit dem bedrohlichen Vordringen der Waffen
* des Sultans Selim II., der Venedig im Jahre 1570
') I.cs Oracles de Nostrndamc, I.. p. 87 f.
359
die Insel Zypern abnahm. Im gleichen Jahre 1570
schlössen die Protestanten und Katkoliken zu
St-i^Germain Frieden.
Daß diese Ereignisse sich gut mit dem Quatrain
identifizieren lassen, wird wohl niemand bestreiten.
Ja, sie müssen sogar identifiziert werden, da
gar nicht so viele Jahre in Frage kommen, in denen
Venedig vor den Türken zittern mußte. Ferner
dürfte Coligny der einzige Admiral gewesen sein,
der es zum Führer der Revolution gebracht hat.
Auch die Zeitabgabe von sieben Jahren wird stutzig
machen. Immerhin können wir den Einwand nicht
widerlegen, daß diese Ereignisse, weil teils noch zu
Lebzeiten des Nostradamus, teils kurz nach seinem
Tode eintretend, durch Kombination von ihm hätten
erraten werden können, oder daß man Ereignisse
später dem Quatrain unterlegte.
Obiger Quatrain diene übrigens als gutes Bei^
spiel für die schwer verständUche Sprache des Astros=
logen. pillot ist ein italienisches Wort (piloto,
pillotare); la classe, von classis abgeleitet ist lateinisch,
contrebande ebenso wie mande ist romanisch. Dazu
kommt die Inversion des letzten Verses, der natürlich
gelesen werden muß: Venise craindra une armee
barbare qui viendra. Diese Dunkelheit bewirkt, daß
es nahezu unmöglich ist, eine Prophezeiung zu ver^
stehen, bevor sie eingetreten ist. Ist dies aber der Fall
gewesen, dann wird alles, fast jedes Wort, erstaun^
lieh klar.
Um nicht den Vorwurf zu riskieren, wir ver^
schwiegen etwas, was zu Ungunsten des Nostradamus
angeführt werden kann, sei mitgeteilt, daß man den
560
Nachweis erbrachte, daß er zahlreiche Prophezeiungen
äherer und auch zeitgenössischer Seher in seine
Sammlung aufgenommen habe. Das gilt in den
Augen von manchen als Beweis seiner betrügerischen
Scharlatanerie.
Abgesehen davon, daß viele Seher ebenso hanj»
delten, kommt es doch ganz allein darauf an, daß
eine Prophezeiung auch wirklich eintrifft. Damit,
daß Nostradamus da und dort Sprüche anderer aufs*
nimmt, um sie seinem eigenen Werke einzuverleiben,
übernimmt er für sie auch die Verantwortung.
Er wird sie zweifellos, schon mit Rücksicht auf
seinen Namen, vorher nachgeprüft haben. Es wäre
von ihm sehr töricht gewesen, wenn er wertvolle
Vorhersagen nur deshalb aus seinem Werke fortge^*
lassen hätte, weil sie nicht von ihm selbst stammen.
Das wäre ja etwa so, als wenn jemand über irgend
eine Wissenschaft, sagen wir über Chemie schriebe,
und dabei ausschließlich das im Buche aufführte,
was er selbst entdeckt hat.
Auch der Vorwurf des Plagiates wäre vorschnell.
Denn abgesehen davon, daß das Mittelalter den Be*
griff kaum kannte, wäre es ja eine ganz unmögliche
Forderung im Quatrain den Namen des Autors an?
zugeben.
Gehen wir jetzt zu weiteren Prophezeiungen des
großen Sehers über in der Hoffnung, allmählich
selbst dem hartnäckigsten Zweifler die Augen zu
öffnen.
Wir nehmen einen Quatrain, der uns beweis*
kräftig scheint, weil die Identifizierung sehr leicht ist.
Es ist der 55. der III. Centurie und lautet:
361
En Tan qu'un oeil en France regncra
La Cour sera cn un bicn fascheux trouble:
Le Grand de Blois son amy tuera;
Le regne mis en mal et doutc double.
Mit Le Pelletier^), dem gründlichsten Kenner
und liebevollsten Interpreten unseres Astrologen, über^
setzen und kommentieren wir wie folgt:
Im Jahre, in welchem ein Einäugiger in Frank*
reich herrschen wird, wird der Hof in einer höchst
unangenehmen Verlegenheit sein: Der Große von Blois
(d. h. der König von Frankreich, der sein lit de Justice
in Blois abhielt)^) wird seinen Freund töten; das
Königreich, in üble und unsichere Situation versetzt,
wird (sera ist zu ergänzen) doppelt sein, d. h. in zwei
Teile gespalten werden.
Diese Vorhersage muß auf das Jahr 1559 datiert
werden, weil es das einzige in der ganzen franzö*
sischen Geschichte ist, in dem es einen einäugigen
König gab. Wie wir schon früher gesehen haben,
war ja Heinrich IL vom Grafen von Montgomery
das Auge ausgestochen worden, eine Verwundung,
die der König kurze Zeit überlebte. Gerade vom
Jahre 1559 ab ereigneten sich aber die ungünstigen
Dinge, die Nostradamus andeutet, wenn sie sich auch
allerdings nicht im gleichen Jahre schon erfüllten, so
daß man ev. sagen könnte, der Seher habe sich in
der Zeit geirrt.
') Le Pelletrier, I, S. 93 f.
^) Übrigens heißt Heinrich III., als Person ein jämmerliches
Individuum, insofern mit Recht an dieser Stelle ,,le Grand",
weil er zuerst König der Polen gewesen war und erst nach Karls XI.
frühem Tode die Krone Frankreichs sich aufs Haupt setzte.
362
Der französische Hof wurde damals in die aller*»
unangenehmste Lage versetzt. Heinrichs IL Nachfolger,
der sechzehnjährige, schwache FranzIL, unter dem die
Hugenotten sich empörten — auch der Name tritt jetzt
zuerst auf — war in keiner Weise fähig, den beginnenden
Religionskrieg im Keime zu ersticken. Als er schon 1560
starb und der zehnjährige Karl IX. unter der Regentschaft
der Katharina von Medici folgte, wurde es nicht besser.
Er beteiligte sich bekanntlich persönlich am Blutbad
der Bartholomäusnacht, in der Tausende der Hugenotten
ermordet wurden. Die Guise spielten im Reich die
erste Rolle. Gegen Heinrich IIL, Karls Nachfolger,
konspirierten sie. Da holte er zu einem Gewaltstreich
aus, bei dem er seine Generalstände nach Blois be*
rief und dort den Herzog von Guise in seinem Kabi*
nett ermorden ließ. Vorher hatte er mit ihm als Be^
weis für seine Freundschaft die Hostie geteilt (daher
son amy). Die Folge der Bluttat war, daß sich die
zwei feindlichen Parteien, die Royalisten und die
Ligisten, mit höchster Wut bekämpften. Paris ging
zu offener Revolution über, die Sorbonne entband
vom Treueid, und als Heinrich die Stadt belagern
wollte, wurde er ermordet*)-
Man kann nicht sagen, daß die Voraussage des
Nostradamus weniger wunderbar ist, weil sie sich be*
reits nach vier Jahren erfüllte; denn daß dieser Quatrain
bereits in der im Jahre 1555 abgeschlossenen und
edierten unvollständigen Ausgabe steht, ist sicher.
Wenn wir das Phänomen der Prophetie beweisen
wollen, dann ist es aber ganz gleichgültig, ob eine
') Vgl. auch Theodor I.indncr, Weltgeschichte seit der
Völkerwanderung. 5. Bd.. S. 184-202.
363
Vorhersage sich nach einigen 1 agen oder einigen
Jahrhunderten reaHsiert. Ausschlaggebend muß nur
sein, daß es sich weder um Zufall, noch um Berech-
nung handelt.
Was das letztere betrifft, so wird wohl kein Mensch
auf der Welt so einfältig sein, zu behaupten, daß
irgend jemand auf gewöhnlichem Wege ausrechnen
könnte, daß Frankreich einmal von einem einäugigen
König beherrscht werden würde. So etwas zu kom*
binieren — das kann ohne jegliches Zögern auss=
gesprochen werden — ist schlechthin unmöglich.
Tatsächlich ereignete sich in Blois — der Name
ist ja angegeben — das scheußliche Verbrechen mit
seinen Folgen! Jedes Wort beruht auf Wahrheit!
Bleibt noch der Zufall. Da sich diese Ereignisse:
die Einäugigkeit des Königs, das Zusammentreffen
der Einäugigkeit mit dem späteren Vorgang, insofern
Frankreich, von einem erfahrenen und energischen
Monarchen geleitet, wohl kaum die Wirren hätte er*
dulden müssen, die es unter Kindern und Unreifen
erlitt, die Tat des Königs, der Ort Blois, der ,, Freund",
die Zerspaltung Frankreichs und die üble Lage des
Hofes, weil z. T. überhaupt Unica bildend, nicht gut
in eine Wahrscheinlichkeitsrechnung einfangen lassen,
wollen wir vorläufig darauf verzichten, den Koeffi»^
zienten zu berechnen.
Übrigens nimmt auch der 51. Quatrain der
III. Centurie auf den Mord in Blois Bezug:
„Paris conjure un grand meurtre commetre,
Blois le fera sortir en piain effect."
Nachdenklich mag auch die Presage 58 stimmen:
564
Le Roy^Roy n'estre, du Doux la pernicie,
L'an pestilent, les esmeus nubileux.
Tien'qui tiendra, des grands non letitie:
Et passera terme de cavilleux."
Le Roys^Roy, der doppelte König, ist Heinrich III.
der, wie bereits erwähnt, die Krone Polens vor der
Frankreichs getragen hatte. Die Übersetzung lautet:
Der zweifache König stirbt (n'estre=n'est plus)
als Mordtat des Süßen, (pernicie = lateinisch pernicies
Verderben, Untergang).
Im unglückseligen Jahr, wenn die Anstifter der
Unruhen sorgenvoll sind.
Daß der, der halten wird, nicht los läßt! den
Großen nicht zur Freude, (letitie = lateinisch laetitia).
Und er wird das Ziel passieren, das ihm die
Spötter (cavilleux = railleur vom lat. cavillator) be*
stimmt haben.
Daß König Heinrich ermordet wird von einem
,, Süßen", ist ein offenbarer Unsinn, denn Mörder
pflegen mit diesem Epitheton nicht belegt zu werden.
Wie aber, wenn wir hören, daß der Mörder Clei«
ment hieß? Was dem Sinne nach ungefähr dasselbe
bedeutet? Das legt den Gedanken nahe, Nostradamus
habe den Namen gekannt, aber absichtlich zum Zweck
der Verdunklung durch ein Synonym ausgedrückt.
Ja, ist es denn möglich, daß die Prophetie uns
sogar die Namen zukünftiger geschichtlicher Per*
soncn enthüllt?
Wir sehen hier, daß es aller Wahrscheinlichkeit
nach sogar wirklich ist. Aber erst wenn wir durch
spätere Quatrains den zwingenden Beweis, daß sogar
die Angabc des Namens im Bereiche von Nostra*
365
damus wunderbarer Kunst lag, erbracht haben, fordern
wir vom Leser, daß er sich auch hier bekehrt und
zugibt, daß ,,du Doux*' gleichbedeutend mit
,, Clement" ist.
Alles andere stimmt ganz genau mit der Wahr^
heit überein. Heinrich III. wurde 1589 ermordet,
einem Jahre, das besonders durch Bürger^ und Re^^
ligionskrieg verhängnisvoll sich vor anderen auszeich^
nete (pestilent). Die Revolutionäre waren damals tat^
sächlich sehr besorgt (nubileux), denn der König zog
ja vor Paris und hätte es unzweifelhaft erobert und
die Ligisten vernichtet, wäre die Mörderhand nicht
dazwischen gekommen^).
Geradezu bewundernswert ist das ,,Tien'qui
tiendra", wenn wir Heinrich IV., damals noch König
von Navarra, substituieren. Er, der später die Krone
tragen wird, soll nur ja nicht loslassen! Das wird
allerdings seinen großen Gegnern, Philipp IL,
Mayenne, Herzog von Aumale und den anderen
katholischen Herren wenig angenehm sein. Tatsäch^s
lieh überschritt Heinrich IV. das Ziel, das die Spötter
von der Partei der Guise ihm gesteckt hatten in
jeder Hinsicht durch die Macht, die er, der einstige
Kalvinist und Herr des kleinen Navarra, als König
ausübte.
Daß dieser Quatrain im vollen Umfange in Erfüllung
gegangen ist, wird ja kaum jemand bestreiten wollen.
Da das erst 25 Jahre nach dem Tode des Sehers ein*
trat, ist Kombination ausgeschlossen und der Beweis für
die Existenz echter Prophetie wäre hinreichend erbracht.
1) Vgl. Th. Lindner, Weltgeschichte, 5. Bd., S. 198-201,
und — zum Ganzen — Le Pelletier I., p. 103f.
366
Doch wir wollen uns nicht mit der Feststellung
der Tatsache begnügen, sondern auch den Umfang
der Gabe zu bestimmen versuchen. Die schwersten
Proben werden zweifellos richtige Angaben von
Namen und Jahreszahlen sein. Denn gegen die tat*
sächlichen Vorgänge werden unverbesserliche Skeptiker
immer wieder anführen können: irgend etwas ereignet
sich immer mal in der Weltgeschichte, und sei es die
verwegenste Konstruktion, zumal wenn man — wie
bei Nostradamus — zwei Jahrtausende Zeit hat, seine
Auswahl zwecks Identifikation zu treffen. Da hier
der Gegenbeweis sehr schwer wäre, wollen wir also
durch Namen, die sich in der Weltgeschichte durchs
aus nicht wiederholen und stets Identifizierung der
Nation, häufig auch sogar Datierung gestatten, dem
Gegner die Rückzugslinie abschneiden.
Der 18. Quatrain der IX. Zenturie lautet:
Le lys Dauffois portera dans Nanci
Jusques en Flandres electeur de l'Empire;
Neusve obturee au grand Montmorency,
Hors lieux prouves delivre ä clere peyne^).
An Namen ist hier kein Mangel. Übersetzen
wir nun mit Le Pelletier (L, p. 113):
„Die Lilie des (bisherigen) Dauphin (die Lilie
0 In der mir vorliegenden ersten Ausgabe mit dem Titel
„Les Prophcties de M. Michel Nostradamus. Centuries MII. IX. X-
Qui n'ont encore iamais este imprim^s. A. Lyon, Chez Antoine
Boudraud, en rue confort k la Fortune" finden sich folgende
unbedeutende Varianten: Nansy statt Nanci, und deliure statt
dclivr6. Letzteres — so auch prouez statt prouves — noch daher
kommend, daß bekanntlich das Mittelalter zwischen u und v in
der Schreibweise keinen Unterschied macht.
367
war bekanntlich das Wappen der Bourbons; Dauffois
ist Synkope für Dauphinois = Dauphin) wird nach
Nancy kommen und wird bis nach Flandern einen
Kurfürsten des Reiches unterstützen (portera = sup#
portera).
Neues Gefängnis (obturee lateinisch = obturare,
einsperren) dem großen Montmorency.
Außerhalb des dazu bestimmten Ortes (prouves
für approuves) wird er ausgeliefert werden dem
Clerepeyne (oder: einer berühmten Strafe).**
Alle angegebenen Daten und Namen passen auf
Ludwig XIII., den wir auch aus einem anderen
Grunde mit dem lys^Dauffois identifizieren müssen.
Seine Truppen drangen am 24. September 1633
in Nancy ein und der König selbst folgte am andern
Tage. Daß Nancy, die Hauptstadt des Herzogtums
Lothringen, nicht zu Frankreich gehörte, es sich viel*
mehr um einen Kriegszug handelt, weil Lothringen
französische Rebellen unterstützte, ist immerhin er*
wähnenswert. Er drang im Jahre 1635 bis nach
Flandern vor, um die Sache des Kurfürsten von Trier,
der 1635 in spanische Gefangenschaft geraten und nach
Brüssel entführt worden war, zu unterstützen. Und
zwar war diese Gefangennahme Anlaß der Kriegser^«
klärung und Ludwig belagerte Löwen in Flandern.
Etwa um die gleiche Zeit — im Jahre 1632 — wurde
Heinrich IL Montmorency wegen Rebellion gegen seinen
Herren Ludwig XIII. im neu erbauten Gefängnis des
Rathauses in Toulouse eingesperrt (neusve obturee).
Darauf wurde er einem Soldaten namens Clerepeyne
übergeben, der ihm nicht an dem dafür bestimmten
Orte (hors lieux prouves), das wäre der Stadtplatz,
568
place du Salin, in Toulouse gewesen, sondern — als
Gnade — im verschlossenen Hofe des Rathauses am
30. Oktober 1632 den Kopf abschlug vor der Statue
seines Paten, Heinrichs IV., dem sein Vater zum
Teil die Krone Frankreichs verdankte. Auch ersteres
war eine Gnade, die die Familie Montmorency beim
König erwirkte, daß nämlich der Verurteilte von der
entehrenden Hand des Henkers verschont bleiben sollte.
Was den Namen des Soldaten betrifft, so bezeugt
der Zeitgenosse Etienne Joubert^) dieses Faktum J
nicht minder, wie der Chevalier de Jant, wie
Le Pelletier feststellt. Motret") hat diesem höchst
merkwürdigen Sachverhalt, merkwürdig insofern als
jedes Wort des Nostradamus in verblüffender Weise
durch die nachträglichen Ereignisse bestätigt wurde,
eine eingehende Untersuchung gewidmet.
Übrigens haben wir hier neuerdings ein Beispiel
für die ungeheure Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit
die Quatrains zu deuten, bevor sie sich erfüllt haben,
clere peyne würde — auch wenn es nicht der Familien^
name des mit der Exekution betrauten Soldaten ge^
wesen wäre — einen völlig zutreffenden Sinn geben.
Denn es ist zweifellos eine berühmte Strafe, wenn
ein Herzog hingerichtet wird.
Zugetroffen sind also in diesem Quatrain: 1. der
*) Vgl. sein anonym und ohne Druckort im Jahre 1656
erschienenes ..Kclaircisscment des veritables quatrains de maistre
Michel Nostradamus", p. LS. Hier ist der Name angeführt
unter einer beträchtlichen Anzahl anderer , die der Astrologe
vorher gewul^t hatte, und in einem Ton, als sei es eine bekannte
Tatsache, die es damals ja wohl auch gewesen sein mag.
'^) Essai d'explication de deux Quatrains de Nostradamus,
Nevcrs 1806. p. 30-39. (nach l.e Pelletier).
369
Name Dauphin, da Ludwig XIII. seit einem Jahr-
hundert d. h. seit dem Jahre 1566, als die IX. Centurie
erschien, der erste König von Frankreich war, der
vor seiner Thronbesteigung diesen Titel geführt hatte.
2. Die Ortsnamen Nancy, das der König er*
oberte, und Flandern, in das er eindrang, womit im*:
plicite auch zwei Kriege richtig prophezeit sind.
3. Die Person des Kurfürsten, der den Krieg
verursacht hatte.
4. Der Name Montmorency, mit dessen Tode
die Hauptlinie des uralten Geschlechtes erlosch, und
der mit Recht ,,der Große" heißt ^). Denn mit 17 Jahren
war er bereits Admiral, zeichnete sich bei der Er**
oberung von La Rochelle aus und setzte 1630 den
Grafen Doria gefangen.
5. Der Name des hinrichtenden Soldaten Giere*
peyne.
Endlich die Nebenumstände 'als: Neubau des
Rathauses, die Hinrichtung außerhalb der Richtstätte
und zwar nicht durch Henkershand, sondern durch
einen Soldaten.
Der Beweis, daß Nostradamus die Namen,
und zwar gleich eine ganze Reihe, richtig zu
bestimmen wußte, ist durch dieses Quatrain
über jeden Zweifel sicher erbracht.
^) Was die Persönlichkeit Heinrichs II. Montmorency be?
betrifft, so war er „der Abgott des Hofes und der Provinzen,
des Volkes und der Armee". Als der Kapitän Guitaut, gegen
den er im Feuer gestanden hatte, vom Richter gefragt wurde,
ob er den Herzog im Kampfe erkannt hätte, sagte er mit
Tränen im Auge :
,, Feuer, Blut und Rauch, die ihn bedeckten, hinderten mich
erst ihn zu kennen. Aber als ich einen iMann sah, der, nach?
Kemmerich, Prophezeiungen 24
370
Nun wir diese Gewißheit erlangt haben, werden
wir auch nicht mehr zögern, den Namen „Doux*'
oben richtig in den Eigennamen des Mörders Clement
aufzulösen. Aus welchen Gründen Nostradamus da^^
mals das Synonym wählte, vielleicht, weil das Ereignis
zu nahe seiner Lebenszeit lag, bleibe dahingestellt.
Schon jetzt wird niemand es Vermessenheit nennen
können, wenn wir Nostradamus die Gabe der Pro^
phctie in hohem, ja, wie wir noch sehen werden, in
bisher nie wieder erreicht hohem Grade zuerkennen.
Es handelt sich bei ihm nicht um ein Tappen im
Dunkeln, um ein Herumraten und Aufstellen von
Luftschlössern, deren Realisierung er der Weltgeschichte
überläßt. Es ist durchaus unzulässig anzunehmen —
wie wir das früher hypothetisch taten — daß die
Prophezeiungen nur deshalb zum Teil in Erfüllung
gehen, weil eben alles, was Menschen sich nur aus^
denken können, irgend einmal und irgendwo in der
Geschichte greifbare Gestalt annimmt.
Das Gegenteil ist der Fall: Der Seher sieht hell
in die Zukunft. Aber er hat Gründe, seine Sprüche
so zu redigieren, daß sie erst nach ihrer Erfüllung
verstanden werden können. Er weiß also viel mehr,
als er sagt. Noch ein paar Beispiele mögen den
Beweis unterstützen. Dabei möchten wir bemerken,
dem er sechs unserer Reihen durchbrochen hatte, noch in der
siebenten Soldaten tötete, da war ich mir darüber klar, daß das
nur M. de Montmorency sein könne."
Der ganze flochadel, Freund und Feind, verwandten sich
umsonst für das Leben dieses Helden, dessen Leben und Tod
überreich an echter Tragik ist.
Vgl. (Michaud) Biographie universelle. 2. Aufl., 29. Bd..
S. 176 H.
371
daß von den annähernd zwei Jahrtausenden, auf die
sich die Prophezeiungen erstrecken, ja erst dreiein*
halb Jahrhunderte verflossen sind, so daß es ganz
selbstverständHch ist, daß auch erst ein Bruchteil der
Quatrains hat identifiziert werden können. Immerhin
sind es schon gegen 200, die Le Pelletier sammelte
und die neuerdings noch vermehrt werden konnten. Für
unsere Beweisführung würde freilich ein einwandfrei
feststehender Fall genügen — und wir haben deren
ja schon eine stattliche Reihe — aber wir setzen voraus,
daß der Leser, dem Zeit und Lust fehlen, bei Le
Pelletier sich zu informieren, einiges Interesse an
weiteren Voraussagen hat.
Der 92. Quatrain der IL Centurie lautet:
„Feu couleur d'or du ciel en terre veu,
Frappe du haut nay, faict cas merveilleux,
Grand meurtre humain: prins du grand le nepveu,
Morts d'espactacles eschappe l'orgueilleux.**
Zu deutsch:
Goldfarbenen Feuerschein sieht man vom Himmel
bis zum Erden,
Geschlagen vom Hochgeborenen, wunderbares Ge^
schehnis,
Großes Menschengemetzel: Gefangen genommen
wird der Neffe des Großen,
Der Stolze entgeht einem aufsehenerregenden (thea*
tralischen) Tode."
Da „Le nepveu" (neveu) der ständige Name
Napoleons III. bei Nostradamus ist, wird auch der
Geschichtsunkundige ohne Schwierigkeit feststellen
können, daß die Katastrophe von Sedan gemeint ist,
24*
fV
572
i
i Jedes Wort stimmt hier wieder. Das brennende
I Sedan als Hintergrund. Der Hochgeborene, eigent*
I lieh der Höhergeborene, ist König Wilhelm L, ein
I treffender Gegensatz zu der kurzen Familiengeschichte
I des Franzosenkaisers. Der Fall der Gefangennahme
^ einer so großen Armee war tatsächlich ein wunder*
bares Vorkommnis. Die Weltgeschichte bietet hierzu
bis zum heutigen Tage kein weiteres Beispiel. Bes=
sonders verblüffend, mehr noch als die Vorhersage
der furchtbar blutigen Schlachten und der Gefangen*
nähme des Neffen des großen Napoleon ist die letzte
Zeile. Bekanntlich war es dem dritten Napoleon
vollkommener Ernst, als er in dem berühmten durch
den Grafen Reille Wilhelm I. überreichten Briete
schrieb: ,,N'ayant pas pu mourir au milieu de mes
troupes etc." Er hatte den Heldentod gesucht, aber
das Schicksal war grausam genug, dem unglücklichen
Manne diese letzte Gunst zu versagen. „Morts d'espac*
tacles" nennt es Nostradamus, gemeint ist dasselbe.
Die Worte ,,faict cas merveilleux'* scheinen, wie
Albert Kniepf, der zuerst den Quatrain identifizierte^)
bemerkt, eine Reminiszenz an 1806 und Jena zu sein.
') Vgl. A. Kniepf, Echte und gefälschte Prophetien des
Nostradamus, Psychische Studien, 36. Bd., 1909, S. 276 f. und
520 ff. Kr meint im ersten Vers des Quatrains könnte ,,en terrc
veu" auch eine Anspielung auf die ,,Entrevue" Bismarcks
und Napoleon III. sein. Nostradamus liebt zweifellos den
Doppelsinn und sagt oft mit einem Worte zweierlei Dinge,
die beide richtig sind. Vgl. z. B. Centurie IX., Quatrain 18,
,,claire peyne" ^— clara poena und -- dem richtigen liigen*
namcn (.Icrepeync. Der Spott Hennings über diese auf alle
Falle scharfsinnige jlnterprctation Kniepfs ist mir daher unver*
ständlich. Vgl. Zeitschrift für Psychotherapie, 2. Bd., S. 177 fl.
373
Lc Pelletier hatte seine Erläuterungen zu den
Quatrains am 1. Januar 1867 abgeschlossen und be^
merkt, daß er sich in bezug auf die Zukunft des
Kaisers ,,eine gewisse Reserve auferlege, da einige
Quatrains sich noch auf dessen Fatum kurz über
lang zu beziehen scheinen** '). Er hatte also äugen*
scheinlich diese Vorhersage, die nicht allzuschwer zu
identifizieren war, nachdem man wußte, daß ,,le neveu**,
der Neffe des großen Napoleons war, schon bemerkt,
verschwieg sie aber aus persönlichen Gründen. Eine
Vorsicht, die also nicht nur Nostradamus walten ließ,
als er seine Vorhersagen möglichst verdunkelte, die
noch bis zum heutigen Tage jeder Seher beobachtet.
Es ist ja sehr naheliegend, aus welchen Gründen.
Der 34. Quatrain der IX. Centurie lautet in der
im Todesjahre des Nostradamus (1566) zu Lyon er#
schienenen Ausgabe von Rigaud folgendermaßen:
Le part soluz mary sera mitre
Retour: conflict passera sur le thuille
Par cinq cens : un trahyr sera tiltre
Narbon: et Sauice par coutaux avous d'huille.
Le Pelletier, der seine Ausgabe aufs sorgfältigste
nach dem alten Druck von Pierre Rigaud (Lyon
1558—1566) mit den Varianten der folgenden Ausgaben
hergestellt hat, erklärt die altfranzösischen etc. Aus»«
drücke wie folgt:
Part ist = epoux, Gatte; soluz = solus, latei^
nisch: also seul, allein; mary = afflige, betrübt, par
in der letzten Zeile ist soviel wie parmi, unter; cou*»
') Le Pelletier. I.. p. 279.
574
taux = lateinisch custos, Wächter, Hüter. Avous =
lateinisch avus, aieux, Vorfahren. Tiltre == tituliert.
Demnach heißt der Vierzeiler: Der Gatte wird
einsam betrübt mit der Mitra geschmückt werden
nach seiner Rückkehr. Ein Angriff wird geschehen
auf den Tuille durch fünfhundert: ein Verräter wird
sein Narbon mit hohem Titel und Sauice unter seinen
Vorfahren Hüter des Ols (habend).
Die Sprache ist zweifellos höchst dunkel. Das
Wort hat eben, wie Bormann, der diesem Quatrain
eingehende Untersuchungen widmet, denen wir uns
nachstehend anschließen^), richtig bemerkt, in der
gedrängten Orakelsprache oft weittragenden Sinn unter
Bezug auf lange Begebenheiten.
Wenn wir allerdings die historischen Begeben*
heiten als Auflösung in die Rechnung einsetzen,
dann sind wir gezwungen, die Prophezeiung zu den
verblüffendsten zu rechnen, die überhaupt möglich sind.
Am 20. Juni 1791 ereignete sich bekanntlich die
Flucht des Königs Ludwigs XVI. von Frankreich und
seiner Gemahlin Marie Antoinette. Genau ein Jahr
später, am 20. Juni 1792 fand die Massendemonstration
der Jakobiner gegen den König statt und der Einfall
eines Föbelhaufens in die Tuilerien. Dabei wurden
der König sowie seine Gemahlin nicht nur beschimpft,
sondern ihnen auch die rote Jakobinermütze aufs
Haupt gesetzt, bzw. er setzte sie sich nach anderen
Berichten selbst auf.
Jetzt hat der erste Satz einen erstaunlichen Sinn
erhalten, wie kaum jemand wird bestreiten können.
') Walter Rormann. ..Die Norncn". S. 245-264.
375
\\r heilkalso: Der betrübte Ciatte, nämlich LudwigXVI.,
wird allein — denn er war von der Königin getrennt,
die im Beratungssaal der Minister ähnlichen Kran*
kungen wie der König im Saale Oeil de Boeuf aus*
gesetzt war — mit der Mütze geschmückt nach seiner
Rückkehr. Jedes Wort stimmt!
Übersetzt man mit Bormann mitre mit Infuliert,
was durchaus zulässig wäre, so würde die bittere Ironie
desto drastischer wirken, da hier statt des Priesters
der „Gatte" intuliert wird. Übrigens sei bemerkt, daß
die bischöfliche Mitra gleich der Jakobinermütze rot ist.
Der eigentliche Angriff auf die Tuilerien (le
thuille) erfolgte in der Nacht vom 9. auf den 10. August
1792, als die sogenannten Fünfhundert federes mar*
seillais, die den schlimmsten Auswurf der großen
Hafenstadt enthielten, sich in die Hauptstadt ergossen
hatten. Die Folge war bekanntlich die Niedermetzelung
der tapferen Schweizergarde sowie die Gefangennahme
des Königs und das Ende des Königtums. Also sogar
die Zahl, die ja den Mordbrennern ihren Namen
gab, wird im Quatrain richtig angegeben!
Ebenso der Ort. Katharina von Medici hatte
erst kurz vor dem Tode des Nostradamus (1564) an
der Stelle, wo früher Ziegeleien standen — daher der
Name — den Grundstein zu den Tuilerien gelegt.
Das Schloß wurde später von den Königen erweitert.
Bekanntlich war die gewöhnliche Residenz nicht dieses
Schloß, sondern das von Versailles, das Ludwig XIV.
mit ungeheurer Pracht und Verschwendung gebaut
hatte. Ludwig XVI. war erst, dem Zwange folgend,
am 5. Oktober 1789 in das Pariser Schloß über*
gesiedelt. Berücksichtigt man noch, daß das älteste
376
Königsschloß der Louvre war, so ist diese Orts*
bestimmung nur desto verblüffender. Als Nostra*
damus seine Prophezeiungen schrieb, ja als sie — 1566 —
bereits im Druck erschienen, existierten die Tuilerien
noch gar nicht.
Um das Rätselhafte der Prophezeiung voll zu
machen, wollen wir noch auf die Namen eingehen.
Narbon ,,mit hohem Titel" wird als „Verräter"
bezeichnet. Dieser Narbon ist natürlich identisch mit
Louis Graf Narbonne := Lara (1755—1813), der vom
Dezember 1791 bis 10. März 1792 Kriegsminister
Ludwigs XVI. war. Seine Mutter, aus spanischem
Geschlecht, war eine natürliche Tochter Ludwigs XV.
Er selbst wurde am königlichen Hofe in Frankreich
erzogen und auf alle Weise bevorzugt, wie ja schon
daraus hervorgeht, daß er im Alter von 36 Jahren
ein Minister^sPortefeuille inne hatte.
Da er über den Parteien stehen wollte und sowohl
dem Königtum, wie der neuen Verfassung gerecht zu
werden trachtete, das Königtum im Kriege gegen das
Ausland, Osterreich und Preußen, stärken wollte und
gleichzeitig vor der Nationalversammlung Reden voll
Elan über die militärischen Hilfsmittel Frankreichs hielt,
wurde er von beiden Parteien verdächtigt. Der König
entließ ihn unter dem Einfluß der Hofkreise kurzer
Hand durch einen lakonischen ungnädigen Brief.
Ein Verräter war der Graf, der am 10. August
von den Jakobinern fast umgebracht worden wäre,
dann nach England floh, später in die Dienste Napo*
leons trat und dessen Gesandter in Wien wurde,
sicherlich nicht.
Da nun aber, wie Kiesewetter in einer Unter*
377
suchung der l^rophczeiungcn des Nostradamus icsU
stellt, diese durchgehcnds vom royalistischen Stand*
punkt aus geschrieben sind, ist es begreiHich, daß
unter diesem Gesichtswinkel der Enkel Ludwigs XV.,
der nicht unbedingt seinem König durch dick und
dünn beisteht, sondern über den Parteien schweben
will, als Verräter gilt.
Der andere Verräter ist Sauice ,, unter seinen
Ahnen Hüter des Öls".
Auch dieser Name ist historisch.
Sauce, ohne 1, hieß nämlich der Krämer und
Gastwirt in Varennes, der Ludwig XVL auf der
Flucht erkannte und anhalten ließ. Wie Le Pelletier
feststellte, waren schon die Vorfahren von Sauce seit
langem Inhaber dieses Krämerladens. Wie Madame
Campan^) erzählt, saß in diesem Laden Marie An?
toinette zwischen zwei Paketen Talglichtern im Ge*
sprach mit der Frau des Inhabers Sauce. Was das
„Hüter des Öls" betrifft, so entspricht dieser Aus*
druck, wie auf der Hand liegt, etwa unserem ,, Herings*
bändiger*'. Er soll als despektierliche Bezeichnung
des kleinen Krämers im Gegensatz zum vornehmen
Narbonne dienen.
Übrigens wurde der Verrat des Sauce, bestehend
in der Verhinderung der Flucht des Königs am
18. August 1791, durch Beschluß der Nationalver*
Sammlung feierlich anerkannt und durch eine Dotation
von 20000 Livres belohnt.
Hyperkritikern, die aus der Namensverschieden*
heit bzw. der verschiedenen Schreibweise Sauice und
^) Campan, Memoires sur la vie privee de Marie Antoinette,
Paris 1826, p. 158.
378
Sauce Einwände herleiten zu können glauben, sei er*
öffnet, daß beide Worte dasselbe bedeuten, nämlich
Brühe, und daß der Ausfall eines Konsonanten im
modernen Französischen gegenüber dem hochmittel^s
alterlichen eine außerordentlich häufige Erscheinung ist.
Der überaus erstaunliche Inhalt des Quatrain legt
den Verdacht nahe, es handle sich hier um eine Fäl*
schung, d. h. er sei erst nachträglich von einem Ver*
ehrer des Nostradamus eingeschoben worden. Da
mit der Echtheit dieser Vorhersage eines unserer Haupt*
argumente für die Existenz eines wirklichen Fern*
Sehens in der Zeit steht und fällt, dürfen wir uns keine
Mühe verdrießen lassen, die Frage aufs gründlichste
zu untersuchen.
Le Pelletier hat zu Beginn des I. Bandes seiner
großen Nostradamusausgabe eine lange Reihe alter
Drucke angeführt. Er benützte davon die erste un*
vollständige Ausgabe der „Centuries" von 1555 (Lyon
Mace Bonhomme), die äußerst selten ist, ebenso die
erste vollständige Edition, die Pierre Rigaud von 1558
bis 1566 in Lyon druckte. Von letzterer befindet sich
ein Exemplar in der Pariser Nationalbibliothek, in
der die beiden ersten Verse des Vierzeilers am Schluß
der Seite 144, die beiden folgenden am Anfang der
Seite 145 in Wortlaut und Schreibweise, wie wir sie
oben gaben, stehen.
Da es nun von hohem Wert wäre, zu wissen,
ob diese Ausgabe wirklich in den angeblichen Er*
scheinungsjahren herauskam und es sich nicht um
eine Fälschung handelt, die später zurückdatiert wurde,
wandte sich Dr. Bormann an die NationalbibHothek,
von der er folgende Auskunft erhielt:
379
„Quant ä ia date de l'cntree ä la liibliothcque
des ,Propheties de Nostradamus' de 1566, il ne m'est
pas possible de la preciser. Tout ce que je puis vous
dire, c'est que le vol. est depuis longtemps sur nos
rayons.
Paris, 10. Octobre 1908
Paul Marchai
Conservateur des Imprimes.**
Da diese Auskunft insofern unbefriedigend war,
als „lange" noch nichts Genügendes sagt, also immer*
hin die Möglichkeit einer Fälschung nicht völlig von
der Hand zu weisen wäre, sahen Bormann, wie auch
der Schreiber dieses die Kölner Ausgabe von 1689
an. Ihr Titel — ein Exemplar befindet sich auf der
Münchner Hof^ und Staatsbibliothek — lautet: ,,Les
Vrayes Centuries et Propheties de Maistre Michael
Nostradamus, oü se void represente tout ce, que s'est
passe tant en France, Espagne, Italie, Allemagne,
Angleterre qu'autres parties du monde. Reveues et
corrigees suivant les Editions imprimees ä Lyon Tan
1644 et ä Amsterdam 1668. Avec la vie de L'Autheur
ä Cologne, chez Jean Volcker, Marchand libraire
l'an 1689."
Da diese Kölner Ausgabe bereits ein volles Jahrs*
hundert vor den in Frage kommenden Ereignissen
erschienen ist und sich auf ältere Editionen beruft
bzw. sie nachdruckt, so ist jede Fälschung voll:«
kommen ausgeschlossen.
Wir sehen, daß selbst die vorsichtigste Kritik
dieses erstaunliche und in der Geschichte der Prophet*
zeiungen wohl ziemlich vereinzelte Faktum anzu:*
erkennen gezwungen ist.
580
Meinen Nachforschungen auf der Münchner Hof*
und StaatsbibHothek, die von Herrn Oberbibliothekar
Dr. Leidinger in der liebenswürdigsten Weise geför*
dert wurden, gelang es nun, noch die folgenden Aus*
gaben aufzufinden und einzusehen^):
1. Mit dem Titel: ,,Les Propheties de M. Michel
Nostradamus. Dont il y en a trois cents qui n'ont
iamais este imprimes. Adioustees de nouveau par ledit
Autheur. A Lyon chez Andre Olier, en rue Tupin."
Auf dem Titelblatt befindet sich ein Holzschnitt,
Nostradamus darstellend, der, wie Dr. Leidinger, Biblio*
thekar Fr. Freys und ich feststellen konnten, dem
ausgehenden 16. Jahrhundert angehört.
Der 34.Quatrain der IX. Centurie ist durch Druck*
fehler zum 24. geworden. Daß nur ein Druckfehler
vorliegt, ist zweifellos, weil der vorangehende Quatrain
als 33., der folgende als 35. bezeichnet ist. Er be*
findet sich auf der 135. Seite und lautet genau so,
wie wir den Text wiedergaben.
2. Eine Ausgabe vom Jahre 1665, zu Lyon er*
schienen, mit genau demselben Titel wie die vorige.
Unser 34. Qjaatrain befindet sich auf S. 135 und
^) Herr Karl Graf Klinkowstroem in München besitzt eine
Sammlung von 10 Nostradamus? Ausgaben, darunter die ersten.
Demnächst wird in der Zeitschrift für Bücherfreunde aus der
Feder dieses Gelehrten eineNostradamus-Bibliographie erscheinen.
Für die mannigfachen Förderungen sei ihm an dieser Stelle mein
wärmster Dank ausgesprochen. Nach diesem Kenner ist die Aus=
gäbe von Pierre Rigaud erst zwischen 1605 und 1610 erschienen.
Die unvollständige von A. du Rosne in Lyon schon 1557. Bereits
1605 tauchen falsche Quatrains auf, z. B. die der II. und 12. Gen
turie. Die Ausgabe von Benoist Rigaud erschien als erste voll»
ständige 1568.
I
381
lautet, wie bekannt, mit der einzigen Änderung, daß
„thuile" mit einem 1 geschrieben ist, daß bei ,,trahyr"
das vSchlui^^r fehlt und daß es in der vierten Zeile
coüteaux heißt, also mit Akzent cirkumflex.
5. Eine Ausgabe mit folgendem Titel: ,,LesVrayes
C^enturies et Propheties de Maistre Michael Nostra^
damus, oü se void represente tout ce qui s'est passe,
tant en France, Espagne, Italie, Alemagne, Angleterre,
qu'autres parties du monde. Reveues <S^ corrigees
suyvant les premieres Editions imprimees en Avignon
en Tan 1556 et ä Lyon en l'an 1558. Avec la vie de
l'Autheur. Imprime ä Leyde, chez Pierre Leffen,
l'An 1650.'*
Diese Leydener Ausgabe, in der unser 34. Quatrain
der IX. Zenturie auf S. 136 steht, hat einige kleine
Abweichungen vom guten alten Text. Hier lauten
die Verse:
La part sous mary sera mitre.
Retour conflict passera sur la thuille:
Par cinq cens un trahyr sera tiltre,
Narbon et Sauice par coutaux avous d'huille."
Die Kölner Ausgabe endlich von 1689, in der
unser Quatrain sich auf S. 155 befindet, schreibt wie
der alte Olier mit der Abweichung, daß das erste
Wort Lepart heißt und später ,,trahyt" geschrieben wird.
In Summa sind die Abweichungen also außer:*
ordentlich minimal.
Erwähnen wir nun noch, daß diese Bücher im
Jahre 1803 aus den säkularisierten Klöstern in die
Staatsbibliothek kamen und daß sie handschriftliche
Eintragungen der Eigentümernamen in den charakte^
582
ristischen Zügen früherer Jahrhunderte aufweisen, dann
muß auch der größte Skeptiker zugeben, daß an der
Authentizität der Druckwerke ein Zweifel unmöglich ist.
Wir begnügen uns aber keineswegs mit der ein*
wandfreien Feststellung, daß die genannten Ausgaben
vor 1791 erschienen, sondern legen das größte Ge*
wicht auf die Konstatierung, daß wir die Original
ausgäbe benutzten und daß alle Quatrains, auf die
wir in diesem Kapitel Bezug nehmen, bereits in ihr
enthalten sind.
Daß es sich bei der unter 1. oben genannten
Ausgabe, ebenso bei der früher zitierten der 8. bis
10. Centuries, die Baudraud veranstaltete, um die
Originale handelt, oder, vorsichtiger ausgedrückt,
daß diese Ausgaben ganz zweifellos aus dem
16. Jahrhundert stammen, was ja für uns das
Ausschlaggebende ist, geht nicht nur aus dem Titeln
blatt hervor — das ja gefälscht sein könnte — es ist
auch einwandfrei feststellbar an den Drucktypen,
Papier, Wasserzeichen usw. Das bestätigten mir so
hervorragende Kenner wie die Herren Oberbibliothekar
Dr. Georg Leidinger, Vorstand der Handschriften*
abteilung, und Bibliothekar Dr. Freys, Herausgeber
der neuen großen Inkunabeledition. Ich legte den
Herren das dortige Exemplar vor, ohne zu sagen,
worauf es für mich ankäme, um ihr Urteil nicht zu
beeinflussen, und erhielt die Auskunft, daß es sich
zweifellos um einen Druck vor 1600 handelt.
Damit ist jeder Einwand gegen unser Material
widerlegt.
Um kurz den jetzigen Stand unserer Beweis*
Führung zu rekapitulieren: Wir bewiesen, daß Nostra*
383
damus in zahlreichen Fällen weltgeschichtliche Ereig*
nisse vorhergesehen hat. Den Einwand, daß sich
schlieiMich alles einmal ereignen wird, daß wir daher
mit der Deutung eines Geschehnisses auf ein bestimmtes
Quatrain, eine Selbsttäuschung begingen, widerlegten
wir dadurch, daß wir nachwiesen, Nostradamus habe
sogar die Namen der handelnden Personen gekannt.
Das ist so ungeheuerlich und geradezu unheim^:
lieh, daß der nächstliegende Einwand der sein wird,
das Material sei gefälscht, es handle sich gar nicht
um Vorhersagen des Nostradamus, sondern um Ein*
schieb sei. Diesen sehr begreiflichen Zweifel brachten
wir zum Schweigen durch Hinweis auf die Original*
ausgäbe und zahlreiche andere, die sich auf den Druck
des 16. Jahrhunderts stützen und dabei sämtlich die
einschlägigen Quatrains enthalten.
Wenn wir jetzt noch die Existenz der Prophetie
bestreiten wollen — den Einwurf, es handle sich hier
um Berechnung, wird niemand machen — so bleibt
nur mehr der arme, berühmte, zu Tode gehetzte Zufall.
Gegen ihn holen wir nun zum vernichtenden
Schlage aus.
Betrachten wir noch einmal den 18. Quatrain der
IX. Centurie: Die ersten beiden Zeilen lassen sich
schwer oder gar nicht in eine Wahrscheinlichkeits*
rechnung einfangen; wohl aber die beiden folgenden,
wenigstens teilweise.
Dem großen Montmorency wird Gefängnis und
Tod durch die Henkershand des Clerepeyne vorher*
gesagt. Das trat 1632 ein, also rund 80 Jahre nach
der ersten Veröffentlichung der Prophezeiungen.
Für diese zweieinhalb Generationen kommen nun
384
1
acht Montmorency in Frage, da die Familie in diesem
Zeitraum nicht mehr männliche Mitglieder hatte ^).
Von diesen aber genau genommen auch nur Hein*
rieh IL, da er damals der einzige war, der mit einigem
Recht den Beinamen „der Große*' führt. Da das
damalige Frankreich etwa 20 Millionen Einwohner
zählte, in zweieinhalb Generationen also 50 Millionen,
erhielten wir als Dividend diese Zahl. Um aber
auch den Anschein, wir rechneten zu günstig, zu
vermeiden, wollen wir diese Zahl durch 10 dividieren.
Denn es ist ja immerhin möglich, daß wir nicht alle
männliche Sprossen gefunden haben, sowie die Hälfte,
weil weiblich, abziehen.
Die so gewonnene Zahl 2^1^ Millionen müssen wir
mit der, der im Jahre 1632 existierenden Clerepeyne
multiplizieren. Dieser Name ist außerordentlich selten.
Wenn wir daher annehmen, daß es damals in Frank*
reich fünf gab^), die so hießen und alles Männer
waren, die als Soldaten oder Henker in der Lage
waren eine Exekution auszuführen — was sicherlich
niemand glauben wird — so müssen wir die Ein*
wohnerzahl von 20 Millionen durch 5 dividieren und
erhalten dann, nach Abzug der weiblichen, 2000000.
^) Soviel stellte ich bei M. Desormeaux, Histoire de la
maison de Montmorency, Paris 1764, 3. Bd., fest. Eines dieser
männlichen Mitglieder starb bereits in der Wiege.
'^) Im Adreßbuch von Paris, von dem mein Freund Herr
Konsul A. Schillingcr mehrere Jahrgänge einsah, kommt der Name
Clerepeyne, Clairepcyne, Clairpeyn usw. usw. überhaupt nicht
vor. Ebenso der Name Sauice, Sauce, Sause, Salce, Sosse oder Soce
mit allen möglichen Varianten nur einmal im Adrel^buch 18S9 in
der Form Sausse, in der Person eines Gewürzkrämers und einer
Versicherungsgesellschaft. 1911 gibt es einen Schreiner Saucet.
385
Jetzt können wir folgende Wahrscheinlichkeits*
rechnung aufstellen:
Die Wahrscheinlichkeit, daß Nostradamus die Na*
menMontmorencyundClerepcyne durchglücklichen Zu*
Fall richtig erriet, ist gleich l:2'/2 Millionen mal 2000000
also = 1 : 5000 Milliarden, eine vierzehnzeilige Zahl!
Dabei lassen wir alle Nebenumstände, das neue
Gefängnis, die ungewohnte Stätte usw. usw. völlig
außer acht, ganz davon zu schweigen, daß die erste
Hälfte dieses Quatrain die wunderbarsten gleichzeitig
eingetroffenenen Voraussagen enthielt.
Anders ausgedrückt: wer immer noch glaubt,
daß Nostradamus durch Zufall die Namen richtig er*
mittelte, muß sich klar machen, daß er eins gegen
5000 Milliarden Wahrscheinlichkeiten wettet.
Um das an einem Beispiel klar zu machen:
Die Wahrscheinlichkeit, daß Nostradamus zu*
fällig die beiden Namen erriet, ist etwa um 20 Millionen
mal kleiner als die, daß jemand auf der Fahrt von
Berlin nach München tödlich verunglückt!
Rechnen wir also hier mit dem Zufall, dann müssen
wir selbstverständlich alle unsere Fahrpläne abschaffen,
die Post hat ihren Betrieb einzustellen usw. usw., weil
es hier stets die Zahl der günstigen Fälle um das
Vielmillionenfache unwahrscheinlicher ist, als im Falle
Montmorency*Clerepeyne.
Noch grandioser wird die Rechnung beim 34. Qua*
train der IX. Centurie.
Zwischen dem Erscheinungsdatum der Prophe*
zeiungen und dem Eintritt des Ereignisses 1791 liegen
2^/4 Jahrhunderte oder rund 7 Generationen. Damals
hatte Frankreich eine ungefähre Bevölkerung von
Kemmerich, Prophezeiungen 25
586
30 Millionen oder, des leichteren Rechnens wegen,
von 28 Millionen. Wenn wir diese Zahl nun durch
die 7 überhaupt in Frage kommenden Generationen
der Grafen Narbon dividieren, erhalten wir als Koeffi*
zienten die Zahl 4 Millionen, von denen die Hälfte
als weibliche Personen ausscheidet. Dabei ist bemerkens*
wert, daß m. W. die Familie zur Zeit des Nostra^
damus noch gar nicht existierte.
Das heißt mit anderen Worten : Das Nostradamus
gerade auf den Namen Narbon verfiel, statt einen
anderen zu wählen ist — als Zufall betrachtet — eben
so groß, wie der aus 2 Millionen Losen, den Haupt*
treffer bei einmaligem Wählen zu finden.
Waren wir über die Zeit und demgemäß auch
über die Generation, der Narbon angehörte, im un*
gewissen, so ist so viel sicher, daß Sausse sein Zeit=*
genösse ist. Wieviele Sausse es damals in Frankreich
war, entzieht sich natürlich meiner Kenntnis. Aber
so viel ist sicher, daß der Name äußerst selten ist.
Nehmen wir nun an, daß es 5 Sausse damals ge^
geben habe, die alle — also exorbitant hoch gegriflFen —
Krämer waren, ja, sogar schon seit Generationen!
dann erhalten wir folgende Rechnung:
Die Einwohnerschaft von 30 Millionen dividiert
durch 5 ergibt als Koeffizienten 6 Millionen, wovon
die Hälfte als weiblich ausscheidet.
Diesen müssen wir mit den vorher gewonnenen
multiplizieren, um die Wahrscheinlichkeit von 6000
Milliarden zu erreichen.
Aber das ist keineswegs alles, selbst wenn wir
von den geschichtlichen Vorgängen, die zahlenmäßig
nicht faßbar sind, absehen. „Thuille" Tuillerien, gab
i!
387
es nur einmal. Demnach müssen wir die Zahl von
6000 Milliarden mit der aller damals in Frankreich
befindlichen Gebäude, oder doch zum mindesten aller
Schlösser — denn jedes hätte Schauplatz des Kampfes
sein können — multiplizieren. Nehmen wir nur an,
das damalige Frankreich habe 10000 Schlösser be*
sessen, was annähernd richtig sein dürfte, dann ge^
langen wir zu folgender Rechnung:
Die Wahrscheinlichkeit die Namen und den Schau*
platz derTuilerien zu erraten = ioooo.6000.000,ÖOÖ.ÖOO-
Berücksichtigen wir den übrigen Inhalt des Quatrain, 1
das mitre, ein Fall, der in der Geschichte ohne Ana*
logen ist usw. usw., so werden wir sagen können
w = ~ - 0.
00
Wenn also das früher angeführte Beispiel
der Münzen richtig ist, dann haben wir hier
streng mathematisch den Beweis erbracht, daß
Zufall praktisch unmöglich ist und Nostra-
damus ein echter Prophet war, ausgerüstet mit
der Gabe des zeitlichen Fernsehens.
Nicht um weiteres Beweismaterial anzuführen,
was nach Vorstehendem ganz überflüssig wäre, sondern
lediglich des historischen Interesses wegen, wollen
wir noch einige Quatrains mitteilen.
Geradezu unheimlich in seiner Fülle grausiger
Gesichte ist der 20. Quatrain der IX. Centurie:
,,De nuict viendra par la forest de Reines
Deux pars, vaultorte, Herne la pierre blanche,
Le moyne noir en gris dedans Varennes:
Esleu Gap. cause tempeste, feu, sang, tranche.
25*
588
Des Nachts werden kommen durch die Pforte
der Königin (forest = lateinisch fores, Pforte)
Zwei Ehegatten (pars = epoux), Irrweg (vaul^«
torte romanisch, zusammengesetzt aus vaulx =
vallee und de torte = tortueuse), die Königin
(Herne ist Anagramm von reine mit Ersetzung
des i durch h), der weiße (Edel)stein,
Der verlassene (moyne, griechich aus monos, allein)
König (noir ist Anagramm von roi mit Zu«:
fügung des n) in grau (gekleidet). Sie (werden)
in Varennes (ankommen)
Die Wahl des Kapetingers (Cap. = Capet) ist
Ursache des Sturmes, Feuer, Blut, Hackmesser
(tranche ist romanisch).'*
Der Kommentar, den ja der Leser im Geiste
selbst geben wird, läßt jedes Wort als zutreffend
gewählt erkennen.
König Ludwig XVI. und die königliche Familie
verließen in der Nacht vom 20. zum 21. Juni 1791
die Tuilerien durch eine Geheimtüre des Appartement
der Königin. Die Gazette nationale (Moniteur Uni*
versel) vom 14. Juli 1791 erzählt dieses Detail. Diese
Flucht, die in Varennes endete, war bekanntlich ein
„Irrweg**, denn die königliche Familie wurde gefangen
genommen und nach Paris zurück geführt. Hätte der
König, wie er vor hatte, die Strafte nach Verdun ein*
geschlagen, statt nach links (Varennes) abzubiegen,
wäre der Ausgang vielleicht glücklicher gewesen.
Marie Antoinette trug ein weifks Kleid (pierre blanche),
während derKönig grau (gris) angezogen war. Übrigens
könnte das „blanche** auch eine Anspielung darauf
sein, daß die Königin, wie Mme. Campan erzählt
i
389
(II, p. 150), in der einen Nacht der ünglücksflucht
weiße Maare bekommen hatte und plötzlich wie eine
Siebzigjährige aussah. Sie hatte einen Ring für die
Prinzessin Lamballe machen lassen, in den einige
weiße Haare eingeschlossen waren. Er trug die Auf*
schritt: blanchis par le malheur.
Der letzte Vers ist noch besonders inhaltreich.
Die Wahl des Kapetingers, d. h. die Verwandlung
der absoluten französischen Monarchie in eine Kon?
stitutionelle, wie sie die Nationalversammlung am
21. Juni 1791 und besonders am 1. September des
gleichen Jahres vorgenommen hatte, war in gewisser
Beziehung sicherlich die Ursache der folgenden Greuel.
Ein eiserner, absoluter Monarch, der von seiner Ges:
walt umfassenden Gebrauch gemacht hätte — was die
Beseitigung vieler Mißstände ja keineswegs aus?
geschlossen hätte — würde jedenfalls der Revolution
in ihren Anfängen noch Herr geworden sein. Das
letzte Wort des Quatrain, Hackmesser oder Fallbeil
war bekanntlich auch das Ende des großen Dramas^).
Recht merkwürdig ist auch folgender Quatrain
(II. Centurie, Nr. 93), den Le Pelletier noch nicht
ganz richtig deuten konnte, weil er 1867 noch nicht
in Erfüllung gegangen war:
„Bien pres du Tymbre presse la Lybitine,
Un peu devant grand inondation:
Le chef du nef prins, mis ä la sentine,
Chasteau, palais en conflagration."
Sehr nach dem Tiber (Tymbre = Tiber) herrscht
der Tod (Lybitine = Libitina, Todesgöttin),
') Vgl. Le Pelletier, I., p. 174ff.
590
Etwas vorher große Überschwemmung:
Das Haupt des Schiffes (nef = naire, das Schiffe
lein Petri) gefangen , gesetzt auf den Grund des
SchiflFes(wo man die Gefangenen unterbrachte!)
In ein Schloß, der Palast in Umwälzung^).*'
Bekanntlich eroberten die Italiener, nachdem sie
in die Porta Pia Bresche geschossen hatten, am
20. September 1870 Rom und beseitigten die weit*
liehe Herrschaft des Papstes. Was die Tiberüber^
schwemmung betrifft, die im gleichen Jahre große
Verwüstungen anrichtete, so fiel sie allerdings auf
den 10. und 28. Dezember, also kurz nach und nicht,
wie Nostradamus angibt, kurz vor dem politischen
Ereignis von welthistorischer Bedeutung. Er hat sich
hier also in einem unwesentlichen Punkte geirrt '0.
Bekannt ist die Fabel von der Gefangenschaft
des Papstes im Vatikan. Daß aber diese Fiktion bis
zur Stunde von päpstlicher Seite aufrecht erhalten
wird, gibt dem Seher recht.
Der 100. Quatrain der X. Centurie lautet:
„Le grand empire sera par Angleterre
Le pempotam des ans plus de trois cens:
Grandes copies passer par mer et terre,
Les Lusitains n'en seront pas contens."
Zu deutsch: Das große Reich England wird all*
mächtig (pempotam, zusammengesetzt aus dem Grie*
chischen und Lateinischen = 7tag und potens) sein
mehr als drei Jahrhunderte.
») Le Pelletier. I.. p. 305.
^) Vgl. Ferdinand Grcgorovius, Wanderjahre in Italien,
2. Bd. 7. AuH., S. 185.
391
Große Hccrc (copies^copia, Truppen lateinisch)
werden zu Wasser und zu Lande kommen.
Die Spanier (Lateinisch Lusitani) werden darüber
nicht erfreut sein^-'*
Berücksichtigt man, daß England, als Nostradamus
dies schrieb, noch klein und unbedeutend war, — hat
ja Elisabeth erst die Flotte geschaffen — während
Spanien die Weltherrschaft besaß, um mit dem Unter*
gang der großen Armada 1588 eine Wunde zu emp*:
fangen, die nie mehr ganz verheilen sollte, dann wird
man nicht umhin können neuerdings zu staunen.
Wann die 3 Jahrhunderte abgelaufen sind, läßt sich
nicht gut voraussagen. Da von Englands Weltherr*!
Schaft erst nach dem Niederringen der Niederlande,
also seit der Mitte des 17. Jahrhunderts gesprochen
werden kann, würde ihm noch fast ein halbes Jährst
hundert gegeben sein.
Napoleon I. und seinen Hof zum Gegenstand
hat der 60. Quatrain der I. Centurie:
Un Empereur naistra pres dTtalie,
Qui ä l'Empire sera vendu bien eher:
Diront avec quels gens il se ralie,
Qu'on trouvera moins prince que boucher^).
Ein Kaiser wird in Italiens Nähe (Korsika!) ge:*
boren werden, der seinem Reiche teuer zu stehen
kommen wird.
Von den Leuten, mit denen er sich verbinden
wird (die seinen Hof bilden werden), wird man sagen,
daß man dort weniger Prinzen, als Metzger finden wird.
^) Le Pelletier, I. p. 143 f.
«) Le Pelletier, I. p. 168.
592
Ein Kommentar erübrigt sich!
Nun wird man noch sagen können, daß zwar
Namen und Ereignisse bei Nostradamus wunderbar
stimmen, daß aber etwas sehr Wichtiges, nämlich die
Angabe der Jahreszahl, fehle. Dieser Einwurf ist
um so berechtigter, als es sich ja um astrologische Be*
rechnung handeln soll. Hier aber doch die Zahl
leichter zu finden sein sollte, als etwa der Name.
Ja, aus dem Fehlen der Zahlenangabe könnte man
zur Folgerung verleitet werden, daß es sich gar nicht
um Berechnung, sondern um Hellsehen handelt, was
ja teilweise, nach des Sehers eigener Angabe,
richtig ist.
Nostradamus hat selbst die Jahre der Ereignisse
berechnet, und zwar bis zum Schluß des angeblich
ersten Geschichtsweltzeitalters im Jahre 3797 n. Chr.
Was es mit diesem Schluß für eine Bewandtnis hat,
können wir ruhig dahingestellt sein lassen bzw. der
Zukunft überantworten.
Die Daten teilt Nostradamus nicht mit bis auf
zwei. Bevor wir sie untersuchen, seien erst noch einige
weniger klar ausgesprochene Zahlenangaben mitgeteilt.
So bestimmt er die Regierungszeit des großen
Napoleon ganz richtig auf 14 Jahre (vom 19. No*
vember 1799 bis zum 13. April 1814). Der Quatrain
ist der 13. der VII. Centurie und lautet:
De la cite marine et tributaire
La teste raze prendra la satrapie:
Chasser sordide qui puis sera contraire,
Par quatorze ans tiendra la tyrannie.
Zu deutsch: Der Mann mit den kurzen Haaren
393
(so wird Napoleon wiederholt bei Nostradamus genannt
im Gegensatz zu den französischen Königen, die lange
Haare trugen, und weil er sich auch bekanntlich sein
langes Haar schneiden ließ zum Zeichen der Be*
endigung der Revolutionszeit) wird die Gewalt (la
satrapie) in der Seestadt (Toulon, das cite marine
auch in Cent. VIII, Quatrain 17 genannt wird), die
tributpflichtig ist bzw. war (nämlich den Engländern),
an sich reißen.
Er wird die Gemeinheit vertreiben (wohl das
Direktoire), die ihm von da ab (puis = depuis) feinde
lieh sein wird; vierzehn Jahre lang wird er die
Tyrannis ausüben^).
Daß die Tatsachen richtig sind, wird niemand
leugnen. Aber wie erklärt es sich, daß auch die
Jahre stimmen? Zufall?!
Für irgendeinen Zweifler an der Identität der
Tete rasee mit Napoleon wollen wir aus den diversen
Quatrains, die aus dem Leben des großen Korsen
berichten, noch einen herausgreifen. Es ist der 88.
der I. Centurie und lautet"):
Le divin mal surprendra le grand Prince,
Un peu devant aura femme espousee:
Son appuy et credit ä un coup viendra mince,
Conseil mourra pour la teste rasee.
Es handelt sich natürlich um die am 15. Dezem*
ber 1809 vollzogene Scheidung von Josephine Beau=s
harnais bzw. die Wiederverheiratung mit Marie Luise.
Wir übersetzen:
1) Le Pelletier, I, p. 213.
«) Le Pelletier, I, p. 216.
594
„Der göttliche Zorn wird den großen Fürsten
schlagen,
Etwas vorher hat er eine Gemahlin genommen
(zu lesen ist: le grand prince aura espouse
femme un peu devant que le mal divin le
surprenne),
Seine Macht und Ansehen werden plötzlich
schwinden
Und die Klugheit (das Genie) wird ersterben
beim kurzhaarigen Kopf."
Wer sich an die bald nach der Verheiratung mit
Marie Luise von Österreich eintretenden Katastrophen,
den russischen Feldzug usw. erinnert, wird die Rieh*
tigkeit auch dieses Quatrain nicht bestreiten.
Der hartnäckige Zweifler möge im Index der
großen Ausgabe von Le Pelletier die auf die tete
rasee bezüglichen Quatrains nachschlagen.
Doch gehen wir zu weiteren Zeitangaben über,
nicht ohne vorauszuschicken, daß Nostradamus die
Jahre, in welchen seine Vorhersagen in Erfüllung
gehen sollten, zu kennen behauptet und absichtlich
verschweigt. Das bemerkt er einmal ausdrücklich.
Nun kann es niemand verwehrt werden, daran
zu zweifeln, wenn es nicht gelingen sollte, wenigstens
durch Stichproben zu beweisen, daß der Seher seine
Fähigkeit nicht höher veranschlug, als sie es verdiente.
Außer Perioden, wie oben bei Napoleon, die
sich häufiger finden, sind mir aus Nostradamus drei
positive Zeitangaben bekannt. Die erste finden wir
in einem der X. Centurie angehängten Qiiatrain der
Ausgabe von 1605.
395
Quanti le fourchu sera soustenu de deux paux,
Avec six demi:*corps, et six sizcaux ouvers,
Le tres puissant Seigneur, heriticr des crapaux,
Alors subjuguera sous soy tout l'univers.
Zu deutsch:
Wenn die Gabel unterstützt sein wird von zwei
Pfählen (paux ist Plural von pal = pieu)
Mit sechs Halb^Hörnern (corps ist Schreibfehler
statt cors) und sechs offenen Scheren,
Dann wird der sehr mächtige Herr, Erbe der
Kröten,
Sich unterwerfen das ganze Reich."
Das ist heller Blödsinn. Daran ist auf den ersten
Blick nicht zu zweifeln. Bei einigem Nachdenken
werden wir aber finden, daß die ersten beiden Zeilen
notwendig eine Zeitangabe enthalten müssen. Und
das ist auch tatsächlich der Fall.
Le Pelletier 0 löst in folgender absolut über*
zeugender Weise auf:
Der Buchstabe V kann sehr wohl als Gabel bes»
zeichnet werden. Dann entsteht, wenn wir in der
Bildersprache fortfahren, durch Unterstützung des V
mit je einem Pfahl an der Seite der Buchstabe M.
Der Zahlenwert dieses lateinischen M ist aber 1000.
Ein Halb^Horn, d. h. die Hälfte eines Jagdhornes,
bildet ein C, dessen Zahlenwert 100 entspricht.
Ein Paar geöffnete Scheren bildet ein X mit
dem Zahlenwert zehn. Dann erhalten wir ein M,
sechs C und sechs X zusammen schreibend, also
MCCCCCCXXXXXX die Jahreszahl 1660.
0 I. p. 118f.
596
Die Kröte war das Wappentier der ersten Mero*
winger, das erst unter den späteren durch die Lilie
ersetzt wurde. Es handelt sich also um einen König
von Frankreich, und zwar um einen sehr mächtigen,
nämlich Ludwig XIV.
Dann aber heißt die Prophezeiung: Im Jahre 1660
wird der sehr mächtige Herrscher, Erbe des mero*
wingischen Wappens, unter sein persönliches Regi*
ment sein ganzes Reich bringen^).
Und diese Prophezeiung stimmt. Denn nach
dem Tode des allmächtigen Kardinals Mazarin, am
9. März 1661, ergriff tatsächlich der Sonnenkönig die
Zügel der Regierung mit jener Energie, die ihn in
der Geschichte als Prototyp des absoluten Monarchen
fortleben läßt.
Aber — wird man einwerfen können — das ist
ja alles sehr geistreich, doch müssen wir es so lange
für Konstruktion halten, bis nicht aus ganz klar und
eindeutig ausgesprochenen Zahlenangaben mit zwingen*
der Gewalt hervorgeht, daß Nostradamus tatsächlich
^) Wer uns etwa vorwirft, die Deutung dieses Verses sei
gekünstelt, möge sich der in der Vergangenheit so beliebten
Chronogramme erinnern. Beispiele hierfür sind etwa: LVtetIa
Mater natos sVos DeVoraVIt, d. h. die Mutter Paris verschlang
ihre eigenen Kinder. Es handelt sich um die Pariser Bluthoch*
zeit im Jahre 1572. Diese Jahreszahl ist im Text enthalten:
M = 1000. D = 500, L = 50, vier V = 20 und zwei I = 2. Als
weiteres Beispiel mag das Distichon auf den Hubertusburger
Frieden angeführt sein:
Aspcra beLLa sILcnt: rcDIlt bona gratia paCIs.
O sl parta foret seMper In orbe qVIes!
Zählen wir nach dem oben angegebenen Vorgang die Zahl*
zeichen zusammen, so erhalten wir das Jahr 1763.
397
Über die Zeit der Realisierung seiner Prophezeiungen
informiert war. Erst wenn wir das wissen, geben wir
auch zu, daß dieser Quatrain nur absichtlich dunkel
gehalten ist. Und zwar von einer Dunkelheit, die
sein Verständnis vor seiner Erfüllung geradezu zur
Unmöglichkeit macht.
Glücklicherweise sind wir in der Lage, auch
diesen Beweis mit unbedingter Logik führen zu können.
Wie schon gesagt, wollte Nostradamus möglichst
dunkel sein und warf deshalb seine Quatrains, um ja
keine chronologische Handhabe zu bieten, kunterbunt
durcheinander. Nur ein einziges Mal machte er eine
Ausnahme: Im Briefe an König Heinrich IL, den er
als Widmung der zweiten Sammlung seiner Centuries
vorausschickt und vom 27. Juni 1558 datiert.
Hier finden wir neben einer Zusammenstellung
der wichtigsten und sensationellsten Ereignisse auch
die beiden Zahlenangaben. Der 89. der kurzen Ab*
schnitte — im ganzen sind es 118 — lautet:
„. . . et sera le commencement comprenant ce de
ce que durera et comen^ant icelle annee sera faicte
plus grande persecution ä l'Eglise Chrestienne,
que n'a este faicte en Afrique, et durera ceste^icy
iusques, ä Tan mil sept cens nonante deux que l'ö
cuydera estre une renouation de siecle^)."
„Und dann wird der Anfang sein, versteht sich
von dem, was dauern wird, und in diesem Jahre wird
beginnend eine größere Verfolgung der christlichen
Kirche stattfinden, wie die in Afrika war, und ebenso
lange dauern; im gleichen Jahre 1792 wird man
glauben, eine neue Zeitrechnung einzuführen.**
0 Le Pelletier, II. Bd., p. 157.
398
Hier haben wir also zwei datierte Ereignisse von
welthistorischer Bedeutung, und beide Datierungen
sind richtig!
Der neue Kalender der Republik, durch Dekret
des Nationalkonventes vom 5. Oktober 1793 eins=
geführt, begann seine Zeitrechnung mit der Herbst^*
nachtgleiche 22. September 17 92 um Mitternacht^).
Bekanntlich ist in den christlichen Staaten seit
den anderthalb Jahrtausenden unserer Zeitrechnung
niemals der Versuch gemacht worden, den Kalender
bzw. die Zeitrechnung zu ändern. Die Kalender*
korrektur Gregors gehört nicht hierher, da sie ja an
der christlichen Rechnung festhält und nur aus prak*
tischen Gründen, um den Kalender wieder mit seiner
astronomischen Grundlage in Harmonie zu bringen,
die julianische Rechnung verbessert.
Was nun den „Glauben" betrifft, eine neue Zeit*
rechnung einzuführen, so war der Ausdruck nur zu
berechtigt. Denn die Herrlichkeit des revolutionären
Kalenders war von erschreckend kurzer Dauer. Schon
im Jahre 1804 beseitigte ihn Napoleon, um der christ*
liehen Rechnung wieder die offizielle Geltung zu ver=
schaffen.
Auch die große Kirchenverfolgung, deren Aus*
druck ja die Abschaffung der christlichen Zeitrech*
nung war, ist historisch. Bekanntlich war die
Revolution gegen den Klerus nicht weniger ge*
richtet, wie gegen den Adel. Man konfiszierte im
Jahre 1789 den Kirchenbesitz — man schätzte 3 Mil*
liardenl — und zwang, allerdings mit sehr geringem
') Vgl. W. Bormann, „Norncn", S. 257 f.. und A. Knicpf.
Psychische Studien. 36. Bd., 1909. S. 278 f.
399
Erfolge, den Klerus, den Bürgereid zu leisten. Wer
ihn nicht leisten wollte — so wurde am 26. Januar
1791 bestimmt — hatte auf sein Amt zu verzichten.
Nicht genug damit, wurde das Christentum ganz ab^
geschafft und dafür der alberne Kultus der Göttin
der Vernunft eingeführt, als ob die Religion ein
Verstandes:« und nicht ein Gemütsbedürfnis sei. Da*
mals — es war im Jahre 1793 — hatte man in der
Kirche Notre Dame in Paris einen Tempel der Philo*
Sophie errichtet und irgendeine griechisch kostümierte
Operndiva agierte dort in der Rolle der Göttin der
Vernunft. Manche trugen sich mit dem Gedanken,
die Kirchtürme niederzulegen. Daß der Kalender
aus Haß gegen das Christentum geändert wurde und
nicht etwa aus praktischen Gründen, ist wohl auch
erwähnenswert.
Das alles geschah 1793. Am 7. November dieses
Jahres erschien der konstitutionelle Bischof Gobel
mit einer Anzahl Geistlicher vor dem Konvent, und
entsagte feierlich seinem Amt, weil es keinen anderen
Kultus als den der Freiheit und Gleichheit geben
könne. Übrigens war der Kultus der Vernunft niemals
Staatsreligion.
Wenn also auch der Höhepunkt des Kampfes
erst ins Jahr 1793 fällt, so ist die Prophezeiung des
Nostradamus doch vollkommen richtig, denn die
Feindseligkeiten gegen die Kirche dauerten ja mehrere
Jahre.
Daß die Verfolgung länger dauern werde wie in
Afrika, womit nur die Unterdrückung der orthodoxen
Kirche durch die arianischen Vandalen gemeint sein
kann, ging auch in Erfüllung.
400
Denn seit der französischen Revolution herrscht
eine Animosität gegen die Kirche, überhaupt gegen
das Christentum, wie kaum zur Zeit der Reformation
gegen erstere allein. Jedenfalls dachte Nostradamus
an die Saecularisation, die Beseitigung der weltlichen
Herrschaft des Papstes, an die Trennung von Staat
und Kirche in Italien und Frankreich, die Vorgänge
m Portugal, die antikirchliche Bewegung in Spanien usw.
Nach den Proben seiner Kunst ist das keineswegs
ausgeschlossen. Es erfordert nicht viel Urteilsfähig*
keit, um auch für Deutschland über kurz oder lang
eine antikirchliche Bewegung, die hoffenthch mit der
Trennung vom Staate enden wird, vorherzusagen und
an einen - diesmal geistigen -- Aderlaß, der stärker
sein wird als die Konfiskationen zu Beginn des vorigen
Jahrhunderts.
Wenn wir endlich noch hören, daß Nostradamus
den Untergang des Papsttumes prophezeit - deshalb
stehen seine Werke auf dem römischen Index —
dann wird man auch an dem Ausdruck „Verfolgung"
und dem Vergleich mit afrikanischen Verhältnissen
nur mit größter Reserve zu kritisieren wagen.
Sehr merkwürdig ist auch die Prophezeiung im
Absatz 109ff. des Widmungsbriefes an Heinrich II.
„Encores par la derniere foy trembleront tous
les Royaumes de la Chrestiente, et aussi des infideles,
par l'espace de vingt cinq ans; et seront plus grieves
guerres et batailles; et seront villes, cites, chateaux
et tous autres edifices brusles . . .*'*)
„In dieser letzten Epoche werden alle König*
') Lc Pelletier, II. p. 160 f.
401
reiche der Christenheit zittern, und ebenso die Un*
gläubigen, den Zeitraum von 25 Jahren hindurch;
die blutigsten Kriege und Schlachten werden statt?
finden, Städte, Ortschaften, Schlösser und allerlei
andere Bauwerke werden in Flammen aufgehen und
zerstört werden usw."
Wir stehen — wie die vorhergehenden Abschnitte
des Widmungsbriefes ergeben — in einer Periode,
deren Beginn Nostradamus durch die Jahreszahl 1792
festlegt. Rechnen wir dazu 25 Jahre, so kommen
wir zum Jahre 1817. In diesen Zeitraum — tatsächlich
schloß die Kriegsperiode ja schon 1816 — fallen so
viele Kriege, wie sie nur selten die Geschichte ver*
zeichnen kann. Um nur die wichtigsten zu nennen:
die republikanischen Feldzüge gegen Deutschland
und Osterreich, Napoleons Expedition nach Italien
und Ägypten, die Kriege in Spanien und gegen Eng*
land, seine Siege über Preußen und Österreich, die
Expedition nach Rußland, die Feldzüge der Ver:^
bündeten und die Niederwerfung Frankreichs, endlich
der letzte durch Napoleons Flucht von Elba entfachte
Feldzug, der mit dem endgültigen Siege der Ver*
bündeten endete. Also auch diese Prophezeiung, die
durch zeitliche Fixierung und Angabe der Dauer be*
weist, daß Nostradamus über den Verlauf der euro*
päischen Geschichte aufs beste unterrichtet war, sehen
wir im vollen Umfange erfüllt.
Das Wesentliche ist, daß die wenigen Stich?
proben, die wir machen konnten, unbedingt zugunsten
des Sehers ausfielen. Nostradamus konnte also
nicht nur zukünftige Ereignisse, die Namen
der in späteren Jahrhunderten handelnden
Kemmerich, Propliezciungen 26
I
402
Personen vorhersehen, er wußte auch das Jahr
anzugeben, wann seine Vorhersagen in Er*
Füllung gehen würden.
Das sagt er selbst im 73. Abschnitt seines Wid*«
mungsbriefes an Heinrich II. : „Wenn ich gewollt hätte,
hätte ich jedes Quatrain nach der Zeit seiner Erfüllung
beziffern können."
Wir haben allen Anlaß, dem Seher das zu glauben.
Wenn er aber da und dort irrte, so beweist das nichts
gegen seine Kunst, denn Unfehlbarkeit wird man
billigerweise bei niemand fordern.
In Nummer 86—88 desselben Briefes gibt Nostras:
damus in Form von Planetenperioden sogar an, wie
er zur Angabe des Jahres 1792 kam. Kniepf, der
sich in astrologischen Berechnungen wohl auskennt,
bemerkt jedoch, daß uns der Schlüssel dazu fehlt.
Nostradamus hat die einschlägigen Schriften, die er
von seinen Vorfahren geerbt hatte, vor seinem Tode
verbrannt.
Sollte es also wirklich möglich sein, durch astro*s
logische Berechnung die Zukunft zu ergründen?
Wir wissen es nicht, können es uns nicht vor*
stellen, sind auch nicht in der Lage zu ermitteln,
welcher Anteil an den Weissagungen auf Konto der
Astrologie, welcher auf hellseherische Veranlagung
gesetzt werden kann: das alles liegt auch außerhalb
des Rahmens einer historischen Untersuchung.
Was wir aber mit allem Nachdruck betonen
I i müssen ist, daß Nostradamus die Zukunft ent*
hüllen konnte, wie niemand vor ihm oder
nach ihm, von dem wir wissen. Er ist eines
der größten Genies der Weltgeschichte.
403
Zwölftes Kapitel
Stellung der Wissenschaft zur
Prophezeiung
Es ist sattsam bekannt, daß die Theologie zu
allen Zeiten und auch heute noch die biblischen
Prophezeiungen für „Offenbarungen", unmittelbare
Äußerungen Gottes, hielt und hält. Wir haben zu
dieser Frage nicht Stellung zu nehmen. Der Historiker
hat die Aufgabe, das Tatsächliche festzustellen. Er
verläßt den sicheren Boden mit dem Augenblick, wo
er die Ursachen einer Erscheinung klarzulegen ver*
sucht, um völlig in der Luft zu schweben, wenn er
sich hierbei gar zu mystischen Hypothesen versteigt.
Die Erklärung von Erscheinungen, die wir in den
Rahmen unserer derzeitigen Kenntnis der Natur noch
nicht einzupassen vermögen durch transzendentale Ur*
Sachen, ist eine Bankrotterklärung.
Es bedarf deshalb keiner besonderen Betonung,
daß wir der Theologie auf diesem Wege zu folgen
uns weigern. Nicht nur, daß wir die dem Historiker
gezogenen Grenzen dann überschreiten würden, wir
kämen auch dem Problem nicht um Haaresbreite näher.
Denn — selbst das Dasein Gottes vorausgesetzt —
26*
404
da wir Umfang und Inhalt dieses Begriffes nicht
kennen, würden wir ein uns wenigstens teilweise,
d. h. als Erscheinung Bekanntes — nämlich die einzelnen
Tatsachen der Prophezeiung — durch ein völlig Unbe^»
kanntes, ja in seiner Existenz vielfach angezweifeltes X
(Gott) uns verstandesmäßig näher zu bringen suchen.
Das ist aber keine Erklärung. Denn klarer wird
uns etwas nur dann, wenn wir es auf bekannte oder
doch bekanntere Ursachen zurückführen. Daß das
hier nicht der Fall wäre, ist klar.
Immerhin mag es nicht ohne einiges Interesse
sein, sich einmal zu vergegenwärtigen, welche Stellung
die Theologie dem Problem der nachbiblischen Pro*
phezeiung gegenüber einnahm.
Wir werden finden, daß die Hauptsorge der
Theologen die war, die Qjuelle der Prophezeiungen
festzustellen und zu erörtern, ob es überhaupt noch
nach dem Alten und Neuen Testament PrOi=
pheten gegeben habe. Denn darin, daß es sich in
diesen Werken um wirkliche, und zwar von Gott
unmittelbar inspirierte Propheten handelt, war man
sich bis zur Stunde immer und in allen theologischen
Lagern einig.
Zur Zeit des Konstanzer Konzils schon suchte
der große französische Gelehrte Jean Le Charlier de
Gerson (geb. 14. Dez. 1363 in Gerson, gest. 12. Juli
1429 in Lyon), Doctor christianissimus wegen seiner
hervorragenden Verdienste auf dem Konzil genannt,
die Frage zu ergründen. Und zwar geschah dies
in der Schrift De probatione spirituum') und dem
*) Gedruckt in der Ausgabe du Pin, Antwerpen 1706, I. Bd.,
Spalte 37 ft., der folgende Traktat eb. Sp. 43«.
405
zweiten Traktat De distinctione verarum visionum a
falsis.
Der Inhalt beider Schriften ') ist kurz folgender:
Der Apostel Johannes (1. Joh. 4, 1) befiehlt mit
den Worten: ,,Ihr Lieben, glaubet nicht einem jeg*
liehen Geist, sondern prüfet die Geister, ob sie von
Gott sind; denn es sind viele falsche Propheten aus:=
gegangen in die Welt" Vorsicht gegenüber Propheten
und Prophezeiungen. Das geschieht, weil der Satan
seine Hand im Spiele haben kann (2. Korinth. 11, 14).
Die Prüfung der Geister (d. h. Propheten, Vision
nen usw.) ist aber ein schwieriges Ding, denn der
Heilige Geist hat nur wenigen die Befähigung dazu
verliehen. Genaue Kenntnis der Hl. Schrift mag ja
in manchen Fällen genügen (Modus doctrinalis), in
anderen reicht ein größeres inneres Gefühl, eine innere
Erfahrung dazu aus (Modus experimentalis). Da der
normale menschliche Verstand aber zumeist versagt,
ist innere Erleuchtung fast unerläßlich (Modus offi^
Cialis (1. Korinth. 12, 10). Die mit dieser Prüfungs:=
gäbe von Gott Ausgerüsteten sind sich ihres Besitzes
bewußt und auch in der Lage, bei andern anzugeben,
ob sie die gleiche Fähigkeit besitzen. Das sind aber
nur wenige. Nur sie sind imstande, mit untrüglicher
Gewißheit zu entscheiden.
So wenig man eine allgemeingültige Regel auf^
stellen kann, wodurch ein Traumgesicht sich von dem,
was wir wachend sehen, unterscheidet, wiewohl doch
^) Übersetzung beider Traktate nach der Ausgabe von Hardt
(Helmstädt 1692) von Johann Gabriel Süße, als Anhang der
,, Umständlichen Nachricht von dem sogenannten Prossner Manne,
Christian Heerings . . ." Dresden und Leipzig 1772.
406
der Wachende es weiß, was er wirklich sah, und
sich erinnert, daß er ähnliches im Traum sah, so weiß
auch der göttlich Erleuchtete, daß und wann er es ist.
Und doch kann auch er auf den Gedanken kommen,
teuflischem Blendwerk zum Opfer gefallen zu sein;
denn wenn er auch wach ist, so kann er darum doch
im höheren Sinne dem Göttlichen gegenüber schlafen.
Das erkannte schon der selige Gregorius, als er schrieb :
„Der Geist der Prophetie ist nicht immer in der Ge*
walt der Propheten, noch in ihrem eigenen klaren
Bewußtsein')."
Die Prüfung modo doctrinandi, also auf Grund
einer Lehrmethode, hat auf folgende Punkte ihr Augen*
merk zu richten: 1. Auf die Person dessen, der eine
Erscheinung hat. 2. Auf den Inhalt der Offenbarung.
5. Auf die Ursache der Mitteilung dieser Offenbarung.
4. Insbesondere zu wessen Beratung die Offenbarung
geschieht und mitgeteilt werden soll. 5. Welchen
Lebenswandel derjenige hat, dem etwas offenbart
wurde, und 6. Woher diese Person stammt.
Auf diese einzelnen Fragen geht Gerson näher
ein, wobei er eine Kritik beweist, die man dem Mittel*
alter im allgemeinen nicht zutrauen möchte. So sagt
er z. B. zum 3. Punkt, der die Gründe prüft, aus
denen sich jemand zur Mitteilung seiner Vision be*
wogen fühlt, u. a.:
Der Anhörende müsse sich hüten, dem Offen*
barenden Beifall zu spenden, oder ihn zu bewundern.
Vielmehr solle er widersprechen und tadeln, ihn als
hochmütig verächtlich behandeln, weil er sich ein*
') Spiritus Prophctarum non scmpcr esse in potestatc. vel
distincta cogitatione Prophetarum.
407
bilde, mit Gott und den Engeln in Verkehr zu
stehen. Man solle aus der Geschichte Beispiele dafür
anführen, wie schädlich und trügerisch solche Ein^
bildungen seien und wie verabscheuungswürdig die
Sucht sei, Visionen zu erleben. Auch vor Täuschungen
durch den Teufel müsse man warnen. Denn oft habe
das Verlangen, zukünftige und verborgene Dinge zu
wissen, Wunder zu sehen und zu tun, die Menschen
betrogen und vom wahren Gottesdienst abgeführt.
Beim vierten Punkt macht] Gerson den sehr ver^
ständigen Einwand, man solle doch bedenken, wenn
etwas durch menschliche Mittel erreichbar sei, warum
man dann noch nötig habe, eine unmittelbare Untere
Weisung des Himmels zu erwarten. Auch sei genau
zu prüfen, welche Gründe jemand habe, seine Visionen
mitzuteilen. Er rate, mit dem Apostel Petrus 'ehr?
erbietig [zu sprechen: ,,Herr, gehe hinaus von mir,
ich bin ein sündiger Mensch, ich bin zu gering und
deiner Erscheinung unwürdig, die ich in diesem Leben
weder verlange noch annehme, sondern vielmehr von
mir abwende usw."
Zum sechsten Punkt bemerkt Gerson, daß der
hl. Bernhard niemals hätte bestimmen können, woher
ein Geist (Vision) käme, wiewohl er öfter dessen
Gegenwart gespürt habe. Deshalb müsse man miß*
trauisch werden, wenn eine geringe Person genau zu
wissen sich einbilde, woher der,, Geist" komme. Wisse
man doch noch nicht einmal im einzelnen Falle, wo?
her eine Anfechtung komme. Dabei gäbe es viererlei
Arten ,, Geist": den Gottes, eines guten Engels, eines
bösen Engels und den menschlichen, der sich wieder
differenzieren lasse.
408
Soweit Gersons Ansichten in Nuce.
Besonders das 17. Jahrhundert beschäftige sich
wieder viel mit unserer Materie, wobei die lutherischen
Theologen begreiflicherweise sich an Luthers An*
sichten anschlössen. Dieser hatte im 8. Schmalkal^s
dischen Artikel von der Beichte sich dahin geäußert,
daß alle nachtestamentliche religiöse Offenbarung ein
Werk des Teufels sei, aber auch Prophezeiungen in
weltlichen Dingen sei wenig Glauben beizumessen,
wenn er deren Existenz auch nicht leugnet^).
Es hat für uns wenig Interesse, im einzelnen den
Streit der Theologen zu verfolgen. Wertvoll aber ist
die Feststellung, daß man sich zu Beginn des 18. Jahr*
hunderts so ziemlich darauf einigte, daß „noch heut
zu Tage sich solche Offenbarungen ereignen könnten,
welche den Zustand der Kirche, oder der Policey,
oder das gemeine menschliche Leben insonderheit an*
giengen ^).*' Offenbarungen religiöser Natur aber wurden
verworfen.
*) Die Geschichte des ganzen Streites ist eingehend von
Süße behandelt unter dem Titel: „Historisch ^Theologische Ab*
handlung über die Casual?Frage : Obs noch heut zu Tage neue
Offenbarungen von wichtigen Revolutionen in dem Kirchen?
und Weltlichen Staat, und von besondern Schicksalen einzelner
Personen, gebe, und was von selbigen zu halten sey?" im An*
hang der ,, Umständlichen Nachricht". S. 49—124.
*) Die wichtigste Literatur dieser Streitschriften dürfte nach
Süße sein: Jacob Stolterfoht, ,, Schriftmäßiges Bedenken von
Gesichten", Lübeck 1632. Jacob Fabricius, ,,Probatio Visio*
num", Nürnberg 1642 (von der theol. Fakultät zu Wittenberg
in einem Gutachten zensuriert, vgl. Sülk', S. 76 tt., gedruckt in
den Consilia Theologica Wittenberg, p. 804-817). Jacob Stol»
terfohts Noth wendige Wahrheit ? und Hhren* Rettung wider
Fabricii Probationem Visionum invictnm. Lübeck 1647. Johann
409
Diese Konkordientormel am klarsten gefaßt hat
Johann Olearius'). Aus dem Lateinischen übersetzt
heißt sie:
,,Man kann zwar nicht alle Erscheinungen oder
besondere Oftenbarungen leugnen, soweit sie die Zus^
Wilhelm Petersen, „Sendschreiben an einige Theologos und
Gottesgelahrten, betrettend die Frage: Ob Gott nach der Auf;
fahrt Christi nicht mehr heutiges Tages durch göttliche Erschei?
nung denen Menschen^Kindern sich ott^enbaren wolle, und sich
dessen ganz begeben habe . . .", Lübeck 1691. (Petersen be;
hauptet göttliche Oftenbarung auch in Glaubensfragen) dagegen
u. a. : Va lentin Ernst Löscher, Repetitio orthodoxae doctrinae
de Visionibus et Revelationibus", Wittenberg 1692. Caspar
Löscher, ,, de Visionibus", eb. 1693. Ph. Jac Spener, ,,Theos
logisches Bedenken usw.", 1692 von einem Anonymus ohne
Druckort herausg. Ders., „Theologisches Bedenken Herrn D. Spe?
ners über Heinr. Kratzenstein usw.", 1693. Ohne Druckort. (Ohne
Einwilligung Speners erschienen.) Neudruck im gleichen Jahre
mit dem Zusatz ,, Erklärung über die Frage: Was von Gesichten
und Erscheinungen zu halten sey?" Frankfurt a. O. Ein Auszug
aus diesen Schriften bei Süße, „Umständliche Nachricht", S. 165
bis 184. Joh. Lysius, „Schelwigische Synopsi controversiarum",
1712. Johann Mich. Heineccius, „Schriftmäßige Prüfung
der sogenannten neuen Propheten", Halle 1715. Joachim
Lange, „Nöthiger Unterricht von unmittelbaren Offenbarungen",
eb. 1715. Joh. Porst, ,, Verhalten derer Gläubigen bey denen
außerordentlichen Bewegungen und Aussprachen", 1715. Joh.
Lysius, , .Wahrhaftige Erzehlung dessen, was zu Berlin mit
einigen sogenannten Inspirirten vorgegangen", 1715. Martin
Chladenius, ,,De Inspiratis sine Spiritu", Wittenberg 1715.
Lysius, ,, Schutzschrift wider die Beschuldigungen Chladenii",
1715. Christoph Ludwig Stieglitz, ,,Nothwendige Erinne*
rung an Herrn Johann Lysium", Naumburg 1716, dagegen Re*
pliken von Lysius und „Gegenvorstellung" von Stieglitz.
^) Joh. Olearius, Synopses Controversiarum, Synops. V.
concern. Controversias cura Fanaticis, Thes. IX., Quartausg. p. 7,
Oktavausg. p. 485.
410
kunft der Kirche (soweit deren äußerer Zustand in
Frage steht), oder des Staates, oder einer einzelnen
Person (als da sind die Visionen Sterbender, War*
nungen vor drohenden Gefahren usw.) betreffen.
Nicht erlaubt jedoch ist, um in einzelnen Fragen des
Glaubens oder der Sittlichkeit zu einer bestimmten
Meinung zu gelangen, entweder auf eine unmittelbare
innerliche oder äußerliche Offenbarung zu bauen oder
eine solche von Gott zu erbitten oder gar mit Be*
stimmtheit zu erwarten. Noch viel weniger darf man
glauben, ein Mensch könne durch sie (die Offen*
barung) mit Gott inniger vereint und gleichsam ver*
göttlicht werden."
War man sich so in der Anerkennung der
Prophetie, wenigstens soweit das profane Leben
in Frage kam, einig, so drängte sich doch naturgemäß
die schon, wie wir sahen, Gerson beschäftigende Frage
auf: wie erkennt man eine echte Offenbarung?
Löscher suchte in seiner Disputation die Beant*
wortung im wesentlichen in Gersons Kriterien, die er
auf 8 vermehrt, durch Hinzunahme der Forderung,
der Offenbarende müsse über seinen gesunden Men*
schenverstand verfügen und weder körperliche noch
geistige Defekte haben, und ferner: eine Prophezeiung
könne erst dann für wahr gelten, wenn sie eingetroffen
ist und sie weder der wahren Glaubenslehre, noch
den guten Sitten zuwiderläuft.
Man wird zugeben müssen, daß man mit dem
besten Willen keinen strengeren Maßstab anlegen
kann. Es kann gewiß nicht ohne Interesse sein, daß
derselbe Kampf, der heute noch nicht ausgefochten
ist, bereits vor 2 Jahrhunderten zugunsten der Pro*
411
phetie entschieden wurde. Allerdings nicht auf dem
Wege zwingender Beweise, sondern durch den Glauben.
Während aber die heutige offizielle Wissenschaft treu
ihrem guten alten Brauch die ausgetretensten Wege
immer noch weiter auszutreten, dafür aber dem Neuen
kein Verständnis entgegenzubringen, die Frage völlig
ignoriert, so daß es auch hier wieder Aufgabe der
Outsider ist, eine neue Wahrheit zu finden, hatte
man vor zwei Jahrhunderten wenigstens Verständnis
für ihre Bedeutung. Damals schon hat die neue und
im Grunde Jahrtausende alte und durch tausendjährige
Erfahrung bestätigte Lehre ihre Feuerprobe bestanden.
Denn daß es nicht leicht war, Luthers Autorität und
die Bedenken großer Theologen zu beseitigen, liegt
auf der Hand. Allein es gelang doch, wie es in
wenigen Jahrzehnten wieder gelungen sein wird.
Daß die Theologen mit der Ablehnung der Pros*
phetie in religiösen Fragen das Richtige trafen, wenn
auch aus ganz anderem Grunde, als sie meinten,
scheint mir festzustehen. Auch wir machten bei der
Kontrolle der Voraussagen die Beobachtung, daß sie
sehr häufig eintreffen, wenn sie profaner Natur sind,
dagegen aber phantastisch und unrealisierbar werden
mit dem Moment, wo religiöse Vorstellungen sich
einmischen.
Der Grund hierfür dürfte mit Mystik nicht das
allergeringste zu tun haben. Er liegt, scheint mir,
daran, daß die Hellseher und Hellseherinnen häufig —
wiewohl das mit ihrer Gabe an sich nicht notwendig
verbunden ist — zu religiösen Wahnideen neigen.
Deshalb wogen in ihrem Unterbewußtsein alt^* und
neutestamentliche, oft unverstandene Vorstellungen
412
und, oft wörtliche, Erinnerungen, extravagante Hoffst
nungen, Wünsche und Befürchtungen durcheinander.
Dazu kommt wohl auch die — im wachen Zustande
nicht eingeräumte — Einbildung, etwas Besonderes,
womöglich ein neuer Messias zu sein, eine Einbildung,
der die Somnambule willenlos die Zügel schießen läßt.
Bei der Vorhersage profaner Dinge sind diese
Faktoren weit besser ausgeschaltet. Wenn auch die
Kraft, durch deren Hilfe die Prophetie zustande kommt,
wie ungezählte andere, uns noch nicht näher bekannt
ist, so befinden wir uns doch hier, befreit von jeg=«
lieber Mystik, auf dem festen Boden des Experimentes.
Doch kehren wir zu den alten Theologen zurück!
Auf die Frage, was man von einer bestimmten
Prophezeiung zu halten habe, gibt Gottlieb Wernß*
dorff in seiner Disputation „De Primordiis emendatae
per Lutherum Religionis" (Wittenberg 1708) ^ fol^
gende Antwort:
Man muß drei Fälle beim Eintreffen einer Pro*
phezeiung unterscheiden: erstens daß sie Casu, durch
Zufall, zweitens ludicio, durch Berechnung, und driU
tens daß sie Afflatu Numinis, durch göttliche Ein*
gebung sich erfüllten. Wir sehen hier also eine
Weiterbildung Löschers! Der Gedankengang ist ge*
nau der gleiche, den wir, aus selbständigen Erwägungen
dazu geführt, in dieser Untersuchung einhielten.
') Zweite erweiterte Aufl. 1717. S. 4—25 der Schrift werden
die Weissagungen der Reformation durch Johannes IIus, Hiero*
nimus von Prag, Johann Wesscl, Johann Keisersberg, Sebastian
Brand, Johan Hüten, Andreas Proles und Johann Spangenberg
angeführt. Sie beruhten zwar zum Teil aut Zutall oder Berech*
nung, doch leuchte auch aus vielen etwas Göttliches heraus.
413
Für die Kritik, die Werniyorft walten läßt, diene
folgende Geschichte als Beispiel:
Als Johann Jessenius, ein böhmischer Arzt und
Kanzler der Akademie zu Prag, als Gesandter aus
Ungarn zurückkam, wurde er in Wien gefangen ge?
setzt. Bevor er sein Gefängnis wieder verließ, schrieb
er die folgenden 5 Buchstaben an die Wand: I. M.
M. M. M. Niemand konnte den Sinn enträtseln bis
auf den Erzherzog Ferdinand, nachmaligen Kaiser
Ferdinand II. Er las: Imperator Matthias Mense Mar^^
tio Morietur, was später eintraf, denn Kaiser Mathias
starb im März. Außerdem schrieb er aber darunter:
Jesseni Mentiris, Mala Morte Morieris, d. h. Jessenius
du lügst, du wirst eines bösen Todes sterben. Als
das Jessenius hörte, sagte er — und das beweist, daß
er die Mächtigen seiner Zeit kannte: ,,Wie ich nicht
gelogen habe, so wird sich Ferdinand bemühen, nicht
zum falschen Propheten zu werden." Darin behielt
er recht, denn er wurde 1620 hingerichtet.
Wiewohl also beide Vorhersagen eintrafen, führt
Wernßdorff das doch lediglich auf Zufall zurück.
So leichtgläubig, wie wir es gerne ihnen zuschreiben,
waren unsere Vorfahren gar nicht!
Das Eintreffen durch Vorherberechnung ist zu
einleuchtend, als daß wir uns hier weiter mit den
Beispielen Wernßdorffs aufhalten wollten. Was der
Verfasser Afflatu Numinis nennt, ist natürlich die
einzige Art der Prophezeiung, die für uns in Frage
kommt und der wir diese Untersuchung widmeten.
Es ist eben die Prophezeiung auf einem Wege, der
die fünf Sinne und das Denkvermögen ausschaltet,
dafür aber Kräfte spielen läßt, die wir nicht weiter
414
kennen und die auch nur eine verschwindende Minderst
heit besitzt oder wenigstens anwendet. Es handelt
sich für uns zwar nicht um ein übernatürliches Phä*
nomen — so wenig wie Hypnotismus und räumliches
Fernsehen übernatürlich sind — wohl aber um ein
übersinnliches.
Demnach genügt es keineswegs, wie Wernßdorff
unter Hinweis auf Berechnung und Zufall richtig
hervorhebt, daß eine Vorhersage eintrifft, um sie
unter die Prophezeiungen aufzunehmen. Vielmehr ist
es lediglich die Art und Weise, auf welche eine
Vorhersage zuwege kam, die ihr ihren Platz unter
den Prophezeiungen anweist. Am Charakter der Vision
ändert auch die Tatsache nichts, daß diese oder jene —
bei solchen religiöser Art fast alle — nicht in Er*
füllung gehen. So wenig wie der verstümmelte Text
etwas gegen die drahtlose Übermittlung einer Depesche
beweist, oder so wenig jemand die menschliche Denk^^
kraft leugnen wird, wiewohl es bekanntlich sehr wenig
Menschen gibt, die immer fehlerlos und logisch richtig
denken.
Ändert demnach das Nichteintreffen einer Pro*
phezeiung auch nichts an ihrem visionären Charakter,
so ist es doch in anderer Weise keineswegs bedeu*
tungslos. Denn wir werden in Visionen, denen in
der Wirklichkeit kein Äquivalent gegenübersteht, ge*
neigt sein, Halluzinationen, nicht aber Äußerungen
einer besonderen Prophetengabe zu erblicken.
Wenn wir auch weit davon entfernt sind zu ver*
suchen, die Prophetie zu erklären — die Naturwissen*
Schaft hat diese meist nur auf Prägung neuer Worte
hinauslaufende Illusion längst aufgegeben — so reizt
415
es doch möglichst die Fehlerquellen zu ermitteln.
Denn daß solche existieren müssen, ist einleuchtend,
da es sonst nicht verständlich wäre, weshalb Personen,
die durch zahlreiche zutreffende, Zufall und Berech*
nung ausschließende, Prophezeiungen, den Beweis für
ihre Gabe erbrachten, doch da und dort irren.
Es muß also unsere Aufgabe sein zu versuchen
die Kriterien festzustellen, die erfahrungsgemäß sich
bei den unerfüllten Prophezeiungen finden. Daß wir
hier nicht aprioristisch oder deduktiv vorgehen können,
ist einleuchtend. Denn wo es sich um eine zurzeit
noch so rätselhafte Erscheinung handelt, wie die vor*
liegende, wäre die Aufstellung eines Dogmas oder
auch nur einer Theorie Verblendung. Es kann sich
also nur um schüchterne Hypothesen handeln.
Mit vollem Bewußtsein verlasse ich hier die histo^s
rische Basis, um mich auf ein Gebiet zu begeben, das
mir fremd ist. Sollte es mir trotzdem gelingen durch
aus den Tatsachen selbst gewonnene Schlüsse das
Richtige zu treffen, so wäre mir das eine nicht geringe
Genugtuung.
Schon weiter oben konstatierten wir, daß 1. religiöse
Visionen so gut wie nie eintreffen. Es handelt sich
hiereben entweder überhaupt nicht um richtige Visionen,
sondern um Ausflüsse einer überhitzten Phantasie,
oder aber es wird der Wunsch Vater des Gedankens.
2. Sehen wir mit Frau de Ferriem^) eine Fehler*
quelle in den von Seiten der Sitzungsteilnehmer ge*
äußerten Wünschen oder bestimmten Fragen! „Die
Gesichte müssen am besten spontan eintreten. Die
^) „Mein geistiges Schauen in die Zukunft", S. 102.
416
spontan kommenden Visionen und Weissagungen
haben sich als die zuverlässigsten erwiesen und tritt
die Clairvoyance auch spontan bei mir ein. Wenn
jemand z. B. wünscht, ich soll ihm seine Zukunft
sagen oder etwas über seine Vergangenheit — ich
könnte es nicht bzw. könnte es wenigstens nicht so
ohne weiteres. Wie bemerkt, sehe ich fast täglich geistig
genug und vielerlei, aber ohne irgend etwas Bestimmtes in
dieser Beziehung gewünscht zu haben. Wohl könnte
die gewünschte Clairvoyance, in welcher ich dem Be*
treffenden die questionierten Mitteilungen über seine
Person usw. machen kann, eintreten; zu garantieren
vermag ich indes nicht dafür. Noch weniger vermag
ich aber auch dann, wenn solche Visionsmitteilungen
oder Weissagungen durch mich gegeben werden,
nicht die Gewähr dafür zu übernehmen, ob das Gesagte,
soviel auch sonst schon immer, wie konstatiert worden,
nach dieser Richtung eingetroffen ist, auch wirklich
eintrifft; denn ich fürchte leicht, daß infolge des ge^*
äußerten Wunsches und des dadurch, wenn auch un^^
merklich auf mich ausgeübten geistigen Druckes die
Vision, die Weissagung auch, ohne daß ich es eben
will, ein Bild meiner für mich selber unbemerkt ein»»
setzenden Phanthasie werden könnte." Am wichtigsten
ist der Satz der Frau de Ferriem: ,,Was mich betrifft,
so kann ich auf Wunsch fast nie prognosti*=
zieren oder hellsehen."
Diese von der Seherin abgegebene Erklärung ist
ohne weiteres einleuchtend. Sie dürfte auch für das
Nichteintreffen vieler unter den erwähnten Bedingungen
zustande gekommener Weissagungen genügende Be*
gründung sein.
417
Damit beantwortet sich auch die Frage, was von
Prophezeiungen der gewerbsmässigen Wahrsagerinen
zu halten ist, ganz von selbst. Es soll weder bestritten
werden, daß viele von ihnen die Gabe des Hellsehens
besitzen, noch auch daß manche Vorhersage verblüffend
genau, ja bis ins kleinste Detail, eintrifft, wie ja solche
Personen auch oh aus der Vergangenheit Dinge wissen,
die sie auf normalem Wege unmöglich in Erfahrung
gebracht haben können.
Das hindert aber nicht, daß wir mit dem größten
Mißtrauen diesen Prophetinnen begegnen müssen. Wer
für einige Mark sich täglich so und so oft in einem
Zustand versetzen soll, der nicht viel mehr vomWillen
abhängig ist, wie der Fall eines Meteors, muß not*:
gedrungen zum Schwindel greifen, um seine Kund*
Schaft nicht zu verlieren. Er wird allgemeine Redens*
arten gebrauchen, die mehr oder minder für jeden
passen. Er wird, selbst wenn er eine Vision haben
sollte, sie vermittelst der Phantasie nach Tunlichkeit
ausmalen. Er wird sich auch absichtlich möglichst
dunkel und geheimnisvoll ausdrücken. Schließ*
lieh verstehen diese Frauen wohl auch oft mehr von
den Menschen und ihren Wünschen, als von der
Prophetie, so daß nicht dringend genug vor ihrer
Konsultation gewarnt werden kann.
Aber selbst angenommen, die Wahrsagerinnen
könnten wirklich dem einzelnen die Zukunft vorher
verkünden — was wäre der Gewinn? Entweder sie
stellen goldene Berge — buchstäblich und metaphorisch
— in Aussicht, dann wird die Mehrzahl der mit solchem
Prognostikon Beglückten durch die Gegenwart hasten,
nur den Blick auf das verheißene Ziel gerichtet, um,
Kemmerich, Prophezeiungen 27
418
selbst wenn sie es ja erlangen sollten, zu spät zu be^
merken, daß sie um ihr Lebensglück, um den Genuß
des Augenblickes, betrogen wurden.
Oder aber die Prophetie lautet traurig, dann wird
das arme Opfer seiner unangebrachten Neugier wie
Damokles sich keiner frohen und sorglosen Minute
mehr erfreuen.
Das Leben eines jeden von uns ist nun mal ein
großes Drama. Mögen die retardierenden Momente
auch mehr oder minder zahlreich sein, mag der Ab*
gang mit größerem oder geringerem Glanz, mit größerer
oder geringerer Pein verbunden sein:
omnes una manet nox et calcanda semel via leti ^).
Schlimmer aber noch als das eigene Ende, ist die
Trennung von unseren Lieben, ist der Verlust der
Achtung vor sich selbst oder jahrelanges Siechtum.
Und wie vielen von uns steht das bevor?!
Wenn wir daher dem Schicksal für etwas danken
müssen, so ist es für seine Dunkelheit. Gibt es
Prophezeiungen, gibt es Personen, die die wunder?
bare Gabe besitzen, unsern Lebensweg zu schauen,
bevor wir ihn vollendeten; so bewahre uns ein gütiges
Geschick davor, in ihren Bannkreis zu geraten!
So sehr es das Problem der Prophetie verdient,
daß die Besten sich mühen, das Rätsel dieser Natur*
kraft zu lösen, — denn welche schönere Aufgabe
könnte der Wissenschaft winken als die durch Findung
einer neuen Wahrheit das Weltbild zu ergänzen? —
so sehr wir bestrebt sein müssen, nach Ausschaltung der
Fehlerquellen die allgemeingültige Formel in Händen
^) Horaz. Carm. I. 28.
419
ZU halten, so sehr — das kann jetzt schon gesagt
werden — wäre es zu beklagen, wenn der Einzelne
sich dieses Instrumentes bedienen würde, um damit
Dinge zu enthüllen, die eine gnädige Vorsehung in
Dunkel tauchte.
3. Eine weitere Fehlerquelle ist die Gedanken^
Übertragung. Mir ist sehr wohl bekannt, daß die
gelehrte Zunft dieses Phänomen noch nicht anerkennt,
wiewohl die Beweise dafür längst erbracht sind. Es
ist hier nicht der Ort näher darauf einzugehen, wir
wollen uns daher auf folgende Erwägung beschränken:
Wenn Gedankenübertragung überhaupt vor:«
kommt, dann liegt es auf der Hand, daß wir sie am
ehesten bei besonders sensiblen Individuen finden
werden. Nun scheint es doch unbestreitbar zu sein,
daß die mit der Gabe des Hellsehens ausgestatteten
Personen besonders feinfühlig sind. Wir werden
also bei ihnen auch zuerst Reaktion auf Gedanken
anderer voraussetzen dürfen. Angenommen nun in
einer prophetischen Sitzung denke jemand intensiv in
einer bestimmten Richtung mit, so liegt die Vermutung
einer dadurch herbeigeführten Beinflussung nahe. Sie
wird zur Gewißheit durch die Bekundungen der
Somnambulen selbst.
Wenn wir die Möglichkeit einiger Visionen zus=
geben, so braucht man durchaus nicht mit gewissen
Spiritisten an ungezogene oder böswillige Kobolde zu
glauben, die aus reiner Freude am Unfug falsche
Bilder vorgaukeln. Man braucht auch mit Dr. Egbert
Müller^) nicht einverstanden zu sein, wenn er schreibt:
^) Zitiert nach Ferriem, S. 108 Anm.
27=
420
„Nicht in Erfüllung gehende Visionen können den*
noch wirkliche Visionen sein, weil es doch scheinen
will, daß für die Vorgeschichte des Sehers von dem
wirklich in der Zukunft geschehenden erst noch
Zwischengesichte durchdrungen werden müssen,
gerade wie wir mit unserem Denken oft erst durch
eine Fülle unzutreffender Gedanken endlich zu
dem brauchbar richtigen hingelangen." Denn wenn
wir so argumentieren, dann machen wir uns die
Sache zu leicht. Eine richtige Vision kann doch nur
da vorliegen, wo sich wirklich die Ereignisse so ab*
spielen, wie der Seher sie schaut. Aufs Räumliche
übertragen: das beste Fernrohr, das uns Dinge zeigt,
die für das unbewaffnete Auge unsichtbar sind, sieht
doch Dinge, die wirklich da sein müssen, wenn auch
in großer Ferne. Machten wir uns den Gedanken
Dr. Müllers zu eigen, dann könnte ein Fernrohr uns
auch Objekte zeigen, die nicht existieren oder doch
solche, die in Wirklichkeit anders aussehen. Denn
was den „Zwischengesichten" in der Zeit entspricht,
wären hier die räumlichen Strecken zwischen unserem
Auge und dem Objekt.
Der Vergleich dürfte zeigen, daß Dr. Müllers
Deutung irrig ist.
Die Vision muß, wenn sie als Prophezeiung gelten
soll, unbedingt richtig sein. Allerdings braucht sie
keineswegs den Schluß eines Vorganges, noch nicht
einmal den wichtigsten Moment herauszugreifen. Es
genügt völlig, wenn sie, wie etwa eine Platte des
Kinematographen, nur einen Moment einer Handlung
festhält.
Mir scheinen irrige Visionen — nicht etwa Ilal««
i
421
luzinationcn — nicht wahrscheinlich. Wir sind auch
nicht gehalten, sie anzunehmen. Denn wie wir ja
auch in die größte Verlegenheit kämen, aus einem
oder wenigen Momenten des kinographischen Vor*
ganges die ganze Handlung, deren Vorstadien und
besonders deren Ende zu rekonstruieren, so muß es
auch auf die größten Schwierigkeiten stoßen, eine
flüchtige Vision richtig zu interpretieren.
Mery meint, die vom Propheten verkündeten Er#
eignisse könnten doch von ihm nicht aus dem Schoß
der Zukunft herausgenommen werden, wie etwa
Zigarren aus ihrer Kiste. Vielmehr handle es sich
um die Wahrnehmung entfernter Wirklichkeiten,
deren Ursachen zur Zeit der Vorhersage bereits ge^
geben sind.
Verdient der letzte Satz unsere Zustimmung, so
der vorhergehende unseren teilweisen Widerspruch.
,, Genommen" wird vom Propheten gewiß nichts,
denn die Visionen, wenigstens die echten und zuver^^
lässigen, kommen ebenso spontan — darin müssen wir
den Hellsehern glauben — wie die Träume. Die produ^*
zierende Tätigkeit des Sehers, wenigstens die bewußte,
ist also annähernd gleich Null. Wohl aber sind die
einzelnen Visionen so isoliert, wie es einzelne kine^
matographische Platten wären, die uns, aus dem Zus=
sammenhang der Handlung gerissen, vor Augen ge*
stellt würden. In diesem Sinne entsprechen also die
Visionen allerdings den Zigarren, nur daß sie nicht
von uns freiwillig aus der Kiste gewählt, sondern
von einem andern uns in die Hand gedrückt werden.
Der Vergleich hinkt allerdings: zunächst ist eine
Zigarre ein von der Umgebung losgelöster Einzel*
422
gegenständ, während die Vision gleich einem Relief
stets mit dem Hintergrund — unserem Bewußtsein,
Unterbewußtsein oder Phantasie, sagen wir kurz:
unserer Seele — zusammenhängt. Sie kann deshalb
nicht isoliert betrachtet werden.
Dazu kommt ein zweites, noch wichtigeres Mo*
ment: Die Vision ist doch kein Gegenstand, den wir
nach Herzenslust und mit aller Gründlichkeit beliebig
lange betrachten können, sondern sie ist in Bewegung,
ein Vorüberhuschen, genau wie die Films des Kine*
matographen.
Nehmen wir an, jemand von uns solle einige
Momente einer kinematographisch reproduzierten
Handlung erzählen. Er würde nicht nur im Detail
große Irrtümer begehen, er würde auch vor allem
wichtige Momente übersehen. Nebensächliches in den
Vordergrund rücken und so durch unrichtige Be*
leuchtung das Bild verzerren. Dazu aber kommen
Kausalitätsbedürfnis und Kombination. Er wird also
Vorstadien rekonstruieren, die seines Erachtens den
veranschaulichten Momenten vorangingen, ohne sich
dieser seiner Tätigkeit bewußt zu sein. Ferner wird
er das Bild automatisch fortsetzen und auch dieses
sein Phantasieprodukt für etwas wirklich Gesehenes
halten.
Nun ist noch zu bedenken, daß auch das schnell
vorbeiziehende Gemälde des Kinematographen aus
Einzelbildern zusammengesetzt ist, von denen jedes
wenigstens ganz scharfe Konturen hat. Die Folge der
Einzelbilder ist nur zu schnell, um jedes scharf er*
fassen zu können, aber die Bilder selbst sind voll*
kommen deutlich.
423
Anders bei der Vision, oder doch bei sehr vielen
Visionen. Hier ziehen die Bilder nicht nur oft mit
großer Geschwindigkeit vorüber, sie sind auch in
sich häufig unklar, nebelhaft.
Berücksichtigen wir diese Faktoren alle, so liegt
die Erklärung — unter der Voraussetzung, die Vision
sei echt und die Bilder wahr — für irrige Voraus^
sagen auf der Hand: Sie beruhen auf Fehler des
Sehens oder Hörens, auf Fehler des Gedächte
nisses und endlich auf Fehler der Interpretation.
Denn daß die Auslegung des Gesehenen von aus*
schlaggebender Bedeutung ist, leuchtet ohne weiteres ein.
Folgende Fehler scheinen mir in der Natur der
Sache zu liegen:
1. Die Seherin erblickt ein Landschaftsbild, das
sie nicht kennt. Sie wird in diesem Falle eine all*
gemeine Voraussage machen, die zwar die Handlung
bzw. die Geschehnisse — unter den obigen Ein*
schränkungen — richtig enthält, aber den Ort offen
läßt. Diese Vision hat dann durch ihre Unbestimmt*
heit weniger Wert und wird von den Skeptikern
nicht als Beweis für die Tatsache der Prophezeiung
zugelassen. Denn, so heißt es dann sogar mit einigem
Recht: jedes Unglück wird sich mal irgendwo er*
eignen. Das würde man z. B. auch gegen die Vorher*
sage des Scheiterns der ,,Gneisenau" anführen können,
wenn nicht andere Momente, etwa der Bart des Kapi*
täns, dagegen sprächen. Rein als Geschehnis ge*
nommen, d. h. Auflaufen eines deutschen Kriegs*
Schiffes auf einen Felsen, hätte die Vision aber wenig
Wert, da das ja ein Unfall ist, dem leider unsere
Marine schon öfter Verluste zuzuschreiben hatte.
424
2. Die Seherin erblickt ein Landschafts* oder ein
Stadtbild, das sie mit einem bekannten identifizieren
zu können glaubt. Sie wird nun apodiktisch erklären:
Xstadt wird von einem Erdbeben zerstört! Tatsäch*
lieh hat sie sich aber insofern geirrt, als das Stadt^*
bild zwar richtig gesehen, aber falsch gedeutet war.
Es war nämlich Astadt. Hier liegt dann der Fehler
nicht in der Vision, sondern in der falschen Inters=
pretation eines richtig gesehenen Vorganges.
Da auch die weitestgereiste Seherin unmöglich
die ganze Erde kennen und ihr Bild — das ja noch
dazu im Laufe der Jahre sich ändert — im Gedachtes
nis behalten kann, da auch Irrtümer in der Agnosti^^
zierung leicht vorkommen können, so werden die
beiden genannten Lücken bzw. Fehler der Interpreta^
tion sehr häufig sein.
3. Die Seherin liest eine Inschrift oder ein Datum
falsch, weil die betreffende Tafel ihr nur verschwommen
erscheint.
4. Die Seherin liest zwar die Tafel richtig, kom*
biniert dann aber falsch.
Ein solcher Fall ist mir in der Praxis passiert:
Eine bekannte Dame, Hellseherin, aber weder aus*
gebildet noch gegen Entgeld ausübend, erzählte mir,
sie hätte den Tod des Prinzregenten von Bayern für
den Herbst 1907 vorhergesehen. Natürlich fragte ich,
wie sie das gemacht habe, da ich damals noch Visionen
für unmöglich hielt und es mir die größte Freude
gemacht hätte, die Dame ad absurdum zu führen.
Sie teilte mir dann mit — und ich brachte es zu
Papier — sie habe fürstlichen Trauerfeierlichkeiten,
die sie beschrieb, in der Theatinerkirche beigewohnt.
425
habe auch die Inschrift auf dem Katafalk gesehen,
aber, wegen zu großer Entfernung, nur verschwommen
lesen können. Immerhin konnte sie den Monat ent^
Ziffern — es war der November — und vom Datum
mit Bestimmtheit die erste Ziffer 1, und dann glaubte
sie noch eine 3 oder 5 gesehen zu haben. Das wisse
sie aber nicht genau.
Tatsächlich starb ein königlicher Prinz am 12. No^
vember des genannten Jahres und wurde, wie in der
Vision gesehen, beigesetzt. Der Landesherr war es
aber nicht. Hier war nicht die Vision falsch, sondern
die Interpretation. Die Dame hatte sich gedacht, es
sei der Regent.
Daß Irrtümer der sinnlichen Wahrnehmung auch
beim Hören von Tönen vorkommen können, und daß
ferner die irrige Interpretation sich auf alles erstrecken
kann, leuchtet ein. Wir wollen daher auf diesem
Punkt nicht weiter verharren, um mit der Konstatier
rung zu schließen, daß eine falsche Prophezeiung
sehr wohl bei richtiger Vision möglich ist, ja daß
sogar in der Regel die Prophezeiung keine exakte
Wiedergabe des auf übersinnlichem Wege Wahr*:
genommenen sein wird. Deshalb beweist das
Nichteintreffen einer Vorhersage gar nichts gegen
die Tatsache, daß es richtige Prophezeiungen gibt.
Bisher nahmen wir an, daß es sich um richtige
Visionen handelt, wenn sie auch — etwa durch Ge*
dankenübertragung — beeinflußt sein mögen. Aber
sehr häufig wird der Seher eine Vision zu haben
glauben, und es ist gar keine; die Phantasie spielte
ihm einen Streich.
Da die Grenzen zwischen Vision und Hallu?
426
zination bzw. Phantasiebild sehr schwer zu ziehen
sind, wohl oft noch schwerer als die zwischen Traum
und Wachen, so kommt es zweifellos sehr häufig
vor, daß die Somnambule in Trance gewesen zu sein
glaubt, während sie wachte. Dann wird sie etwas
als eine auf übersinnlichem Wege gewonnene Wahrst
heit verkünden, was nur ihr Phantasieprodukt ist.
Aus allen diesen Fehlerquellen, die wir hier auf^^
zuzeigen versuchten, ohne uns einzubilden, Vollstän*
digkeit erreicht zu haben^), geht so viel mit Sicher*
heit hervor, daß es weder leicht ist eine richtige
Vision bzw. Prophezeiung als solche zu erkennen und
zu interprätieren, noch auch zuläßig ist aus Irrtümern,
die der Seher begeht, zu folgern, daß es kein zeit*
liches Fernsehen gibt.
Ein von mir im übrigen hochverehrter Gelehrter
suchte sich über die Realität des Fernsehens zu in*
formieren, indem er Hellseherinnen oder Personen,
die im Rufe standen, es zu sein, die Fragen vorlegte:
was er in der Tasche habe? was er heute Mittag
gegessen habe? usw. Da die betreffenden Personen
darauf meistens die Antwort schuldig bleiben mußten.
^) Der Interessent sei nachstehend auf die wichtigste ein*
schlägige Literatur, soweit wir sie nicht im Text nannten, ver*
wiesen. Ihre Bekanntschaft verdanke ich der Liebenswürdigkeit
des Grafen Karl von Klinkowström. Ich bemerke aber ausdrück;
lieh, daß ich sie nicht studierte, da ich bewußt als Historiker
an das Thema herantrat und mir meine Unbefangenheit bis zum
Schlul^ bewahren wollte. H. Parish, Zur Kritik des telepathischen
Heweismatcrials, 1897; M. Dessoir, ,,noppelich"; L. Loewenfeld,
„Somnambulismus und Spiritismus", 1907; N. Kotik, ,,Dic Erna*
nation der psychophysischen Energie", Wiesbaden 1908.
427
so stand für den Professor die Tatsache fest, daß
Prophetie Schwindel sei.
Der gute Mann forderte Allwissenheit. Das
war ein kleiner Irrtum. Er war ferner naiv genug, zu
glauben, man erforsche die Natur, indem man ihr
Bedingungen stelle, statt daß man sich den von ihr
aufgestellten unterordnet.
Ärzte finden sich mit dem Problem auch sehr
leicht ab. Wo sie mit dem Zufall nicht auskommen,
nennen sie es Hysterie. Denn wo Begriffe fehlen,
da stellt zur rechten Zeit ein Wort sich ein. Übrigens
ist es ziemlich leicht, schon äußerlich den mit der
Gabe des zeitlichen Fernsehens ausgestatteten zu tr^
kennen. Man sieht es an den Augen. Ich habe
mich fast nie geirrt.
Dagegen möchten wir darauf hinweisen, daß auch
der beste Schütze Fehlschüsse tut, daß sogar ein Ideale
gewehr in gewissen Fällen nicht treffen kann, wenn
nämlich der Steuungskegel größer ist als das Ziel
(vgl. S. 153. f).
Wir haben festgestellt, daß es eine Kraft der
Prophetie gibt, ein zeitliches Fernsehen. Aufgabe
der Wissenschaft muß es nun in Zukunft sein, auf^^
zudecken, unter welchen Voraussetzungen diese Kraft
in Wirksamkeit tritt, ihre Stärke zu ermitteln und
ihren Streuungskegel zu berechnen. Ist das alles ge^
schehen, dann mag sie mit Kant und Schopenhauer
nach einer metaphysischen Erklärung suchen, aber sie
nicht schon in der Leugnung der Realität der Zeit
gefunden zu haben glauben.
Wir, die wir als Historiker die Frage prüften,
müssen uns mit folgender Konstatierung begnügen:
428
Der Glaube an Prophetie ist kein mittel*
alterlicher Aberglaube» Er ist eine neue Wahr*
heit, die wir erstmalig zwingend bewiesen.
Wir wissen nunmehr von der Existenz des zeitlichen
Fernsehens.
429
Alphabetisches Verzeichnis der wichtigeren
Personen und Sachen
Achilleus 44.
Adelung, 100 f., 192.
Agrippa, Cornelius, 350.
Aigospotamoi 40.
Alexander 66, 72.
Arnos 26 f.
Apollo 33, 35f., 41.
Arago 4.
Argens, Marquis d', 108f., 172.
Arnold 97 f.
Assyrer 26 f., 28.
Astrologie 70 f., 79 ff., 347 ff., 402.
Athen 34 f.
Atia 65 f.
Aufklärung 8 f.
Augustinus 2.
Augustus 65 ff., 71 f.
Automobil, vorhergesagt, 120.
Autoritäten 3 f., 7.
Babylonisches Exil 28.
Bald 10.
Bailly 10, 299.
Barry, du, 323.
Barton, Elisabeth, 92.
Bassompierre 91.
Baudus, de, 116 ff.
Bazarbrand in Paris, vorher?
gesagt, 122ff., 333.
Beauharnais 313.
Beaumont, Frau von, 63 f.
Beckmann 340.
Bellini 143.
Berechnung 141 f.
Bernhard, hl., 407.
Bertholon 3.
Bessieres, Marschall, 116 f.
Biron, Herzog, 93 f.
Bismarck 59 f., 372.
Blake, W., 136.
Blücher 273, 289.
Böhm 61 f.
Bormann, W., 307 ff., 313, 320ff.,
336 f., 339 f., 374 f., 378 f.
Bouland 307.
Bourbonen, Vorhersage des Un?
terganges, 96 f.
Boussenard 64.
Bouthors 53.
Böse, General, 216.
Brahe, Tycho de, 14, 84.
Brand, Sebastian, 412.
Brantöme 352.
Brugsch, H., 56.
430
Brühl, Graf, 213 f., 262, 264, 269 ff.
Brunswig, Alfred, Vorwort.
BrüxsDux, Kohlenbergwerk,
334 ff.
Buddha 72.
Caesar 41 ff., 60, 64f.. 67.
Calpurnia 43.
Campan 377, 388.
Capelli, Bianca, 78.
Capistrano 88 f.
Capys 42.
Cardanus 87 f.
Cario, Joh., lOOf., 192.
Carmine, Giuliano del, 106.
Cassius, Dio, 70.
Cazotte, 293, 296ff., 306ff.
Chamfort 295, 298, 300 f.
Chavigni 354 f.
Chronogramme 396.
Chrysippos 41.
Cervoni 119.
Cicero 2, 33, 69, 140.
Clarence, Herzog von, 333.
Clement 350, 364 f., 370.
Clerepeyne 366 ff., 383 f.
Coligny 358.
CollinitiussTannstetter 14.
Comenius 192.
Condorcct 297.
Cornelius Baibus 42.
Couedon 122 ff.
Crequi, Marquise, 324.
Dariex 105.
Davidson 49 ff.
Davis. A. J.. 119ff.
Davy 3.
Eduard VII., Vorhersage des
Todes, 86.
Ehrlich 279 ff., 289 ff.
Eingeweideschau 44.
Engel 123.
England, Weltherrschaft, 390 f.
Ennius 69.
Erfurt, Vorhersage, 94 f.
Ervieux, d*, 105.
Eschenmayer 109 ff.
Eugen, Papst, 78.
Ezechiel 28 f.
Fage, Durand, 192 f.
Faure, Felix, 86.
Feldzug von 1805, Vorhersage,
287.
Feldzug von 1815, Vorhersage,
281 ff.
Ferdinand II, Kaiser, 413.
Ferdinand III., Kaiser, 85.
Fernsehen, räumliches, 54.
Ferriem, de, 325 ff., 415 f.
Flammarion, Camille, 49, 52.
Franklin 4.
Frankreich, Niederlage u. a.,
276 f., Revolution von 1789,
Vorhersage, 80. 100, 320 ff.
Franz II., Kaiser, 173.
Franz II. von Frankreich 362.
Franz von Assisi 29.
Freys 380, 382.
Fromm, A., 181 f
Friedrich von Württemberg,
Vorhersage des Todes, 109 tt.
Friedrich der Grolk 108 f., 171 f..
187. 219, 222.
Friedrich I.von Prcußenl70,lS5f
431
Fricdricli III., deutscher Kaiser,
78.
Friedrich III. von Preulien 170,
182.
Friedrich August II. von Sachsen
219.
Friedrich Wilhelm der Große
Kurfürst 169, 182, 185 f.
Friedrich Wilhelm I. von Preuss
sen 171, 186.
Friedrich Wilhelm II. von Preus?
sen 173, 188.
Friedrich Wilhelm III. von
Preußen 174f., 188, 259ff.,
273 ff., 288 f.
Friedrich Wilhelm IV. von
Preußen 175, 188, 273.
Galilei 6.
Gallier, Vorhersage des Einfalls
in Asien 40.
Galvani 3.
Gassendi 3.
Gauricus, Lukas, 85, 192.
Gedankenübertragung 419.
Genlis, Gräfin, 3 10 f.
Georg V. von England 86.
Gerson 404ff., 410.
Giesebrecht 180 f.
Gieseler 182 f.
Gneisenau, Untergang des
Kriegsschiffes, 339 f.
Godefroy siehe Kerkau.
Goethe 83, 130 ff.
Goldmayer 85.
Gramont, Herzogin, 301 ff., 323 f.
Greulich 94 ff.
Guhrauer 183.
Guise, Herzog von, 362.
Gustav Adolf von Schweden
84 f., 88 f.
Guynaud 352.
Hansen 10.
Hautz 241, 280.
Heering 203 ff., 248.
Hegel 3.
Heiligenliteratur 19 f.
Heinrich 11. von Frankreich 85,
350ff., 361, 397.
Heinrich III. von Frankreich
352, 354, 361 f., 364 f.
Heinrich IV. von Frankreich
90 ff., 354, 365.
Heliopolis, Orakel, 33 ff.
Helmolt, Dr. Hans F., Vorwort.
Helmont, van, 6.
Hennicke, Graf, 204 f.
Hennig 357, 372.
Hermann von Lehnin 157. 177 ff.
Herodot 35.
Hieronymus von Prag 412.
Hilten, Joh., 412.
Hiskija 27 f.
Horoskop 14, vgl. auch Astro?
logie.
Homer 44.
Houdancaut, de la Motte, 323.
Hübbe:=Schleiden304f.,321,323.
Hufeland 112.
Hungersnot, Vorhersage, 240.
Hus, Joh., 412.
Jant, Chevalier de, 368.
Jeremia 28.
Jeremia, Deutero?, 29.
432
Jerobeam IL 26.
Jerusalem, Vorhersage, 27 f.
Jesaia 28.
Jesaia, Deutero?, 29.
Jessenius 413.
Joest, Wilhelm, 46 f.
Johann Philipp von Mainz 95.
Joubert 568.
Juden 24 ff., 27, 29.
J ung^Stilling 6 1 , 294, 303 ff.. 309 f.
Justi 69 f.
Kaiserproklamation, Vorher*
sage, 175.
Kalender, Einführung des revo?
lutionären, 397 f.
Kant 2, 427.
Kara Mustapha 95.
Karl von Bourbon 350.
Karl V., Kaiser, 87. 350.
Karl VI., Kaiser, 15.
Karl von Savoyen 353 f.
Karl IX. von Frankreich 353 f.,
362.
Keiserberg, Joh., 412.
Kepler 82, 84 ff.
Kerkau 327, 336.
Kerner, Justinus, 45 f.
Kesselsdorf, Vorhersage der
Schlacht. 214.
Kiesewetter 347, 353. 372. 376 f.
Kirchenvcrfolgung 398 f.
Klein 109 ff.
Klinkowstrocm. Graf, 380, 426.
Knicpf 86, 356. 402.
Kottcr 192.
Krämer 109 ff.
Krösus 33.
1
Kunnersdorf, Vorhersage der
Schlacht, 230.
Küstrin, Vorhersage der Schlacht,
108.
Kurz, Isolde, 108.
Laharpe 294, 300 ff., 321.
Lakedämonier 35 f.
Langen 48.
Lannes, General, 118.
Lasalle, General, 118.
Lehninsche Weissagung 156 ff.
Leidinger, Georg, 380, 382.
Leipzig, Schlachten, 274, 277.
Leopold I. 95.
Leovitius, Cyprianus, 81.
Le Pelletier 356 ff.
Leroy 10.
Ligeritz 213.
Lindemann, Ferdinand, Geheim*
rat, Vorwort.
Liszt, Franz von, 138.
Löscher 410.
Ludwig XIII. von Frankreich
367 ff
Ludwig XIV. 395 f.
Ludwig XV. 223.
Ludwig XVI. 301 f., 374 ff., 388 f.
Luftschiffahrt 121, 340 ff.
Luise, Königin, 259 f., 273.
Luther 87 f., 408, 411.
Macrobius 33.
Maille, Graf von, 122 ff.
Majunke 186.
Makcdonier 41.
Maleshcrbcs 299.
Marchandon 105.
433
Marj;.irctc von l*arm.i 107.
M.iria l'codorowna 315.
Maria Theresia 171f., 223.
Marie Antoinette 374 ff., 388 f.
Marie Luise 394.
Martinique, Hrdbeben, 329 f.
Materialismus 10 f.
Matthias, Kaiser, 84. 413.
Maximilian I., Kaiser, 14.
Mayer, Robert, 4.
Medici: Alessandro 106 ff.
Katharina 93, 350, 353 f.,
362.
Lorenzino 106 ff.
Maria 20 f.
Meinhold, \V., 178.
Mclanchton 82.
Melander 82 f.
Merkt 29.
Mery, Gaston, 124f., 421.
Mesmer 10.
Messina, Vorhersage der Zer?
Störung, 128 f.
Micha 27 f.
Miller. J. A., 241 ff.
Montgomery 351.
Montmorency, Heinrich IL,
366 ff., 383 f.
Morgan sDawson 52.
Moskau, Vorhersage der Zer*
Störung. 84.
Motret 368.
Müller, Egbert, 419f.
Musaios 40.
Napoleon I. llSf., 283ff.,
391 ff".
Napoleon III. 356f., 371f.
Kemmerich, Prophezeiungen
Napoleonische Kriege, Vorher*
sage, 400 L
Narbonnc, Graf, 376 ff.
Nebukadnezar 28.
News York, Vorhersage des IIa?
fenbrandes, 327 f.
Ney, Marschall, 117.
Nick, Arzt, 110.
Nicolai 299.
Niederlande, Vorhersage ihrer
Blüte, 89.
Nigidius Figulus 66, 70.
Nikolaus V, Parentucelli, Papst,
78.
Nostradamus 346 ff.
— gefälschte Quatrains 356 f.
Oberkirch, Baronin, 313 ff.
Octavius 65 ff.
Old Moore 332 f.
Olearius, Joh., 409.
Ölven, Rittmeister, 181.
Orakel 33 ff., 66.
österreichisch * französisches
Bündnis, Vorhersage, 222 f.
österreichisch s Preußischer
Krieg 59 f.
Otto Heinrich von der Pfalz 81.
Pallas 40.
Papsttum, Beseitigung der welt-
lichen Herrschaft, 389 f.
Paracelsus 6.
Pausanias 40.
Peare, A. J., 86.
Pest, Vorhersage, 34 ff.
Petrarcha 87.
Phännis 40.
28
434
Philibert Emanuel von Savoyen
352 f.
Philippos 41.
Piazzi 3.
Pierre d'Ailly 79.
Pius II., Piccolomini, Papst, 78.
Planet, neunter, Vorhersage, 119.
Plato. 2, 72.
Plutarch 40.
Poniatowssken 191 ff.
Ponk:=Knop 179.
Prel, Du, 140.
Preußen , Wiederaufrichtung,
Vorhersage, 274, 276 f. etc.
Pröhle. H., 182.
Proles, Andreas, 412.
Prophetie, Unmöglichkeit, 3 ff,
8f., 16.
— Allgemeines, 99 ff.
Prophezeiungen, falsche, 153 f,
Gründe dafür: 415ff.
Protestantismus, lange Dauer,
'.': '•hersage, 88.
Puysegur, Marquis, 315, 318.
Pyrrhus 33.
Pythia 3 9 f.
Quincey 136.
Ravaillac 91.
Reimann 270f., 279f.
Rcuß 111.
Rizacasa 93.
Roßbach, Schlacht, Vorhersage,
227.
Roucher 299.
Rüchcl, General, 258 ff.. 273.
Rudolf II., Kaiser. 14.
Sarti 128f
Sauce 377 ff., 384.
Schoner, Joh., 82.
Schopenhauer 2, 345, 427.
Scott, W., 136.
Schwedt, Markgraf von, 182.
Sedan, Vorhersage, 371 f.
Seidel, M. F., 180.
Semmelweiß 4.
Seyler 188.
Shelley 136.
Siebenjähriger Krieg, Vorher?
sage, 226.
Simiane, de, 324.
Simson, Geheimrat, 262 ff.
Soliman II. 358.
Spangenberg, Joh., 412.
Speer 177.
Spurinna 42 f, 44.
Stainville, Marschall, 315 ff.
Stieglitz 112.
Stoffler, Joh., 81.
StromersReichenbach, Friedrich
Frh. V., Vorwort.
Sueton 41 ff., 65, 71 ff.
SuUy 90.
Süße, Joh. G., 203ff., 405, 40S.
Sybille 40.
Symbol, Symbolismus 46, 70,
99 ff.
TannstettersColIinitius 81.
Tesse, de, 324.
Testament. Altes, 23 ff.
Textor, J.W.. 134tt.
Thcbes, Mme., 86.
Thcogcncs 71.
Thilton 49 H.
435
Thomas 57.
Thukydidcs 34 ff.
Thuriicyi^cr 78.
Tragik 332.
Trajan 34, 49 ff.
Traum 78, 134.
Doppcltraum.
Traumsprachc 253.
Siehe auch
Vaudin 3.
Vergil 44.
Victor Emanuel 128 f.
Villandry 93.
Villani 107.
Virchow 10.
Visionen 337 f., 343 f., 420ff.
Vogtius 84 f.
Vorahnungen 60 ff.
Vogelgesang sZipelius 58.
Wahrsagerinnen 407.
Wahrsagung aus Kaffeesatz
101-106.
Wahrscheinlichkeitsrechnung
146ff., 383ff.
Wahrträumc 45 ff. Siehe auch
Traum.
Wallenstcin 82, 85, 199 ff.
Wanncr 109 f.
Wcrnstorff 412ff.
Wessel. Joh., 412.
Wien, Vorhersage von Belage?
rung und Pest, 95 f.
Wilhelm T, Kaiser, 59, 175, 188,
372.
Wilken 180.
Willensfreiheit 12 f.
Wittenbart 55 f.
Wittig 121.
Wolf, Fr., 183.
Zeitangaben 331 ff.
Zeppelin, Graf, 340.
Ziehen 82.
Zipelius 58.
Zitzwitz 182 f.
Zufall 142 ff., 384 ff.
Zweifel 22.
28=
h-^i^
^57
Dr. MAX KEMMERICH
Kultur^ Kuriosa
Erster Band (10. Tausend) — Zweiter Band (6. Tausend)
Jeder Band geheftet 3 Mark 50 Pfg., gebunden 5 Mark
Münchner Neueste Nachrichten : Wenn idi den Verfasser recht verst^inden
habe, so hat er mit dieser VeröttentUchung von Kulturuokumenten aller Zeiten und
Völker das ethische Ziel verfolgt, im Spiegel der Vergangenheit das Bild der Gegen=
wart 2U zeigen und dadurch auch seinerseits dazu beizutragen, daß Leben, hihre,
Freiheit und fremde Überzeugung jene Achtung genieße, die er mit vollem Recht
als das wichtigste Kulturkriterium betrachtet, wichtiger als alle technischen und
wissenschaftlichen Fortschritte und alle künstlerischen Großtaten.
Der Tag, Berlin: Ein ganz verflixtes Buch. Vom Standpunkt der Orthodoxie
aus — hüben wie drüben — höchst verwerflich nach Tendenz und Inhalt. Und
nun gar: wenn man sich , .Töchterschülerinnen" als seine ungebetenen Leserinnen
vorstellen wollte — einfach Pfui Deibel! L'nd dennoch: recht zum Nachdenken
bewegend, zur Einkehr stimmend, zur Umschau anregend. Notabene : Für solche,
die ihr bißchen Spiritus gewöhnt sind nicht nach einem irgendwie vorgeschriebenen
Schema F einzustellen. Bei allem Pessimismus, der daraus spricht, eine sinnige
Gabe für geborene Optimisten .... Der wahre Satiriker will nicht nur bloßstellen,
sondern auch bessern ; so will auch dies Buch bei aller Boshaftigkeit oder doch Unü
geschminktheit den unserer ,, Bildung" durchaus nicht überall adäquaten Stand
unserer sogenannten Kultur heben. Möchte es vor allen Dingen unter die Augen
der Männer geraten, die es namentlich angeht! (Dr. Hans F. Helmolt.)
Generalanzeiger Mannheim: Solche Bücher sind selten. Denn zu gern
verschließt sich der Mensch solch grassem Bekenntnis der Wahrheit. Aber sie haben
eben dadurch doppelten Wert. Kemmerichs ,,Kultur5Kuriosa" sollte jeder besitzen,
der Anteil nimmt an menschlicher Kultur, und es ist jedem von uns heilsam, mit«
unter in dem Buche zu blättern.
Neue Züricher Zeitung: Eine Sammlung drastischer Anekdoten aus dem
weiten Reiche der Kulturgeschichte mit viel Geschick ausgewählt zum Behufe des
Nachweises, ,,daß unsere Kultur, soweit sie auf Befreiung von Grausamkeit,
Intoleranz und Borniertheit beruht, noch sehr jungen Datums ist". In der Tat ist
es unglaublich, von welcher Barbarei wir herkommen, und in welcher Barbarei wir
vielfach heute noch stecken, auf dem Gebiete des Rechts, der Ehe, der Sittlichkeit,
des Glaubenslebens usw. Manchmal traut man seinen Augen nicht; aber der Ver^
fasser beruft sich in einem überaus reichen Literaturnachweis durchgängig auf die
besten Quellen.
Liberales Wochenblatt Straßburg i. E.: So wirkt das Büchlein kultur^
kräftig, als eine Mahnung zur Offenheit und Freimütigkeit in dem Eintreten für ein
wahrhaft humanes, sittliches Kulturideal.
Albert Langen, Verlag, München
HJ>'^
Dr. MAX KEMMERICH
Dinge, die man nicht sagt
Siebentes Tausend
Geheftet 3 Mark 50 Pfg., gebunden 5 Mark
Straßburger Post: Mit diesem Bande ist uns ein ganz köstliches Buch geschenkt
worden. Es handelt von allem, was das Leben an Erscheinungen und Fragen
bringt, von Schule und Universität und von Nationalgefühl und Moral, von Kunst
und Humanität und von Kritik und Polemik. Es wird keinen einzigen Leser
finden — außer den Kritiklosen, die dies Buch nicht wert sind — , der mit einem
einzigen seiner Aufsätze ganz einverstanden wäre. Aber auch keinen, der nicht
gerade dort, wo er nicht zustimmt, über die rücksichtslose Offenherzigkeit und das
fröhliche Draufgängertum sich freute, mit dem der Verfasser seine Meinung sagt.
Dieser Mut zur Wahrhaftigkeit macht das Buch anziehend. Allerdings ist aber die
besondere Gabe des Verfassers auf ein enges Gebiet begrenzt. Er ist ein überaus
glücklicher Beobachter des bunten Treibens unserer ,, Gesellschaft", das man in den
beteiligten Kreisen als ,, unsere Kultur" bezeichnet. Aber zum tieferen Eindringen
in die Probleme zeigt er hier entweder keine Lust oder kein Geschick. Darum sind
die Abschnitte, deren Gegenstände am meisten ein Einsetzen der Kritik nicht an den
Zweigen, sondern an der Wurzel erheischten, die unbefriedigendsten. Aber man
soll sich durch die Gegenstände, deren Wahl ein Fehlgreifen ist, nicht den Genuß
an dem andern, glücklich gewählten, verderben lassen.
Die Propyläen: Die „Kultur «Kuriosa" sind mehr als eine bloße Raritäten»
Sammlung, sie wollen den Nachweis führen, daß auch unser herrliches 20. Jahr»
hundert das dunkle Mittelalter noch immer nicht überwunden hat , während die
,, Dinge, die man nicht sagt" in systematischem Kriegsplan gegen die Gebrechen
unserer Zeit vorgehen. Beide Bücher, insbesondere das zweite, das ich vorziehen
möchte, müssen und wollen auf Schritt und Tritt anstoßen, aber sie enthalten eben
doch einen wahren Kern, wie jeder zugeben muß, der sich von den Fesseln der
Voreingenommenheit und der Phrase freimacht.
Niederschlesische Zeitung, Görlitz: Vielleicht ist man mit der Behand-
lung des einen oder anderen Themas nicht völlig einverstanden, aber in sehr vielen
Punkten, ja man kann sagen in den meisten, muß man den V^erfasser als einen
grundgcschcitcn Menschen, der sich unter allen LJmständen bestrebt, die Dinge ohne
alle Schönfärberei zu betrachten, oder einfacher gesagt, der den Mut hat, vernünftig
zu sein, recht geben. Wenn man ihm beispielsweise zuhört, wie er über ,,Wissens'
durst und Universität" urteilt, wie er das zopHge Gelehrtcntum herunterputzt, das
an Stelle einer universellen lebendigen Darstellung stundenlanges trockenes Aufzählen
der Quellen, der Werke, die der Darstellung zugrunde liegen, tür die richtige geistige
Kost h.ilt, dann spricht einem der Verfasser aus dem Merzen! Nach dieser Richtung
hin bietet das Buch eine Summe von Beobachtung aus dem täglichen Leben, und
wenn nur die Hälfte von dem, was er sagt, Nachachtung fände, so würde es um
vieles besser stehen um unsere Kultur.
Albert Langen, Verlag, München
^55
Druck von Hesse &. Becker in Leipzig
Papier von Bohnenberger &. Cie., Papierfabrik, Niefern bei Pforzheim
Einbände von E. A. Enders, Großbuchbinderei, Leipzig
0
BlNDiNG ;.- .„ . DEC 10 1964
BF Keinmerich, Max
1793 Prophezeiungen, altGr 8.ber-
K5 glaube odor neue vaiirheit?
PLEASE DO NOT REMOVE
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UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY