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University of Toronto
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Psychologie
des jüdischen Geistes
Zur Völker- und Kulturpsychologie
von
Dr. S. M. Melamed
Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage
Berlin 1921
C. A. Schwetschke & Sohn, Verlagsbuchhandlung
Gegr. 1729
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Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1921 by C. A. Schwetschke & Sohn, Berlin
BERTHA KALISCH
der großen Tragödin,
einer treuen Tochter meines Volkes,
in aufrichtiger Verehrung zugeeignet.
Vorwort.
Auch dieses Buch hat seine Geschichte. Als ich im Jahre 1904 mit
. den allgemeinen Vorarbeiten zu meiner Geschichte der Friedensidee
begann, fiel mir bei meiner Vergleichung des Friedensproblems in
Judäa und in Hellas die total verschiedene Natur seiner Fassung und
Motivierung in diesen beiden Kulturzentren der Antike auf. Ich konnte
mich bald davon überzeugen, daß Plato und Jesaja, die beide den
politischen Völkerfrieden herbeisehnten, zwei verschiedene Sprachen
redeten, der eine die Sprache der Lebensvvirklichkeit, und der andere
die des am Leben nicht orientierten Idealismus. Diese Beobachtung
schien mir interessant genug, um den Differenzen in der Bewußtseins-
disposition der Kulturträger beider Völker nachzugehen. Bei meinen
späteren Studien über den Staat fiel mir diese geistespsychologische
Differenz stärker auf. Ich gewann aber mehr und mehr die Über-
zeugung, daß der eigentliche geistige Antipode des antiken Juden nicht
sowohl der Grieche, als der Römer, dieser prachtvolle Willensmensch,
war, dessen Blick sich von reiner Geistigkeit niemals trüben ließ. Was
hätte mir, einem jüdischen Schriftsteller, näher liegen können, als die
gemachten Beobachtungen und gewonnenen Erfahrungen zu einem
Problem der Judenpsychologie zu potenzieren und nach einer Formel
für dieses Problem zu suchen? Als ich vollends die Bekanntschaft mit
Chamberlains „Grundlagen" machte, beschloß ich die Arbeit sofort in
Angriff zu nehmen. Zunächst galt es, die Stellung des Judentums jn
der Weltgeschichte zu fixieren; denn was Chamberlain und seine
Jünger im letzten Grunde anstreben, ist doch nichts anderes, als die!
Juden aus der Weltgeschichte ganz hinauszubugsieren, trotz der Bibel,
Paulus, Spinoza und Karl Marx.
So gesellte sich gleich zum kultur- und völkerpsychologischen Pro-
blem ein geschichtsphilosophisches. Es war schon manchem aufgefallen,
daß dem kulturellen Niedergange der romanischen Länder und insbe-
sondere Spaniens ein Aufschwung der germanischen Kultur folgte.
Jahrhundertelang lag das papistische Rom im Kampfe mit dem Biblizis-
mus, der mit der Austreibung der Juden aus Spanien seinen Höhepunkt
erreicht hatte. Man könnte diesen Prozeß für einen puren Zufall
halten, wenn nicht schon früher einmal der Biblizismus im schweren
Kampfe mit Rom gelegen und nicht schon damals der Kampf einen
ähnlichen Ausgang genommen hätte. Der Aussage Harnacks, daß „die
christliche Lehre keine Elemente umschloß, die dem Staate gefährlich
werden oder auch nur anstößig erscheinen müßten", stehen die Aus-
sagen aller bedeutenden Historiker neuerer Zeit entgegen, daß .„der
Entwicklungsprozeß der Kirche der Auflösungsprozeß des römischen
Staates war" (icih zitiere hier Heinrich von Eicken). Schon am Aus-
gange der Antike wurde die Kirche beschuldigt, den Ruin des römischen
Staates herbeigeführt zu haben, und der heilige Augustinus hatte es
bekanntlich für nötig gefunden, die Beschuldigung abzuwehren.
Wenn man nicht gewillt ist, diese zwei großen weltgeschichtlichen
Ereignisse als Zufälle zu betrachten, so können sie nur mit der aus-
gesprochenen inneren Gegnerschaft zwischen Judäa und Rom erklärt
werden. Diese zwei Geistesmächte begegnen sich immer feindlich, wo
sie sich treffen. Daraus geht doch aber auch deutlich hervor, daß, was
auch alles gegen Volksgeist, Rasse und völkische Geistesdisposition
gesagt worden ist und gesagt werden mag, das Vorhandensein zu-
mindest eines spezifischen Rassen- oder Volksgeistes eine faustdicke
Wirklichkeit ist. Das ist auch die einzige Voraussetzung dieses Buches.
Mit der biologisch motivierten Rassentheorie konnte ich bei der Ver-
schwommenheit des biologischen Rassen begriff es nichts anfangen, und
ich habe um so mehr Grund gehabt, alle Rassenphysiologie und Bio-
logie beiseite zu lassen, als mir ein wesentlich kulturpsychologisches
und mithin ein geisteswissenschaftliches Problem vorlag; auch, weil
bis heute keine genaue Kenntnis darüber erlangt werden konnte, ob
das rein biologische Element wirklich so bestimmend für den Kultur-
geist eines Volkes ist. Alles, was seit Chamberlain über „Blutschuld
der Rasse" gesprochen wird, ist entweder graue, unbeweisbare Theorie
oder Mystizismus, der weder bewiesen noch widerlegt werden kann.
An dem Ursprung der Dinge haben besonders die Geisteswissenschaften
eine Grenze. Wie das Blut auf die seelische Konstitution einer Rasse
VI
wirkt, wissen wir nicht. Viele Völker formieren sich unter gleichen oder
ähnlichen Bedingungen, leben auf der gleichen Scholle und wirken doch
grundverschieden, selbst wenn sie Glieder einer und derselben Rasse
sind. Rasse ist — das kann nicht bestritten werden — eine biologische
Kategorie; aber sie ist sicherlich nicht ausschließlich eine solche. In
ihrer äußeren Manifestation tritt sie uns vielmals als psychologische
und ideale Erscheinung entgegen. Diese Überzeugung drängt sich
mehr und mehr auf, wenn man an die schicksalschmiedende Persönlich-
keit denkt, die dem Kollektivum ihr Siegel aufdrückt, und die doch
sicherlich nicht nach bestimmten Grenzen entsteht. Wer kann be-
haupten, daß Dante und Shakespeare gerade den Italienern und den
Engländern mit naturnotwendiger Gesetzlichkeit haben entstehen
müssen, wenn wir auch nachträglich diese Persönlichkeit als die Ver-
körperung des italienischen oder des englischen Nationalgeistes be-
zeichnen? Die Natur wäre auch gar zu arm, wenn sie nur ein enges
Gebiet von sichtbaren Ursachen und Wirkungen wäre. Das Spiel der
Natur bleibt unerforschlich, trotz aller Naturwissenschaft.
Da in ihr Inneres kein erschaffener Geist zu dringen vermag,
müssen wir uns mit einer Wissenschaft der Wirkungen und der nur
sichtbaren Ursachen bescheiden. Diese Einsicht führte mich noch
mehr dazu, das mir vorliegende Problem nicht naturalistisch zu er-
fassen.
Der Untertitel dieses Buches ist mit Absicht gewählt; denn jede
Völkerpsychologie ist nur im Bunde mit Kulturpsychologie möglich.
Gibt man zu, daß Sprache und Mythos keine Natur-, sondern Kultur-
produkte sind, dann ist eine Völkerpsychologie selbst in der Wundt-
schen Fassung ebensoviel Kultur- wie Völkerpsychologie.
Dieses Buch ist keine Apologie des Judentums. Manche Abschnitte
werden gerade in jüdischen Kreisen auf Widerspruch stoßen. Ich
glaube der erste zu sein, der den Mut und die Einsicht hat, den Primat
des Intellekts im Judentum auf seine psychologischen Zusammen-
setzungsmomente zurückzuführen und seine ganze Unwirklichkeit und
Schädlichkeit für die Zivilisation nachzuweisen. Das Judentum als
Religion wie als Ethik, ist eine große intellektualistisch-idealistische
Tendenz in der Weltgeschichte, die aber keine Basis im Leben hatte
und keine hat. Niemand hat die Juden so richtig charakterisiert wie
Mohammed, der sie ein Volk des Buches nannte. Solange die anderen
vn
Völker, in deren Mitte die Juden lebten, nach dem Buch und der Reli-
gion gelebt haben, konnte sich das Judentum recht und schlecht er-
halten ; heute ist es zum Untergange verdammt, wenn es innerhalb der
großen Zivilisation und des tätigen Lebens eine Existenz des Buches
fortsetzen sollte. Ein großer Sohn unseres Volkes, Theodor Herzl,
dessen Blick von unwirklichem jüdischen Intellektualismus und Idealis-
mus nicht getrübt war, versuchte dieses alte Buchvolk in ein Volk der
Tat umzuwandeln. Es bleibt abzuwarten, ob die Juden es vorziehen
werden, als tätiges Volk weiter zu existieren, oder als Buchvolk unter-
zugehen. Bis jetzt arbeiten alle Vertreter der jüdischen ^Geistigkeit",
von den sogenannten Reform-Rabbis bis zu den Vertretern der extrem-
sten Orthodoxie^ bewußt oder unbewußt auf den Untergang des jü-
dischen Volkes hin. Nicht also eine Apologetik des Judentums, sondern
ein „Kampf gegen das Judentum" ist dieses Buch. Ich glaube, daß
niemand mich der Feindschaft gegen den Intellektualismus zeihen wird;
denn ich bin selbst ein Büchermensch, aber ich sehe keinen anderen
Ausweg für mein Volk, als mindestens eine zeitweise Absage an das
Buch, um sich auf das tätige Leben zu besinnen. Diese Lehre predige
ich den Juden seit Jahr und Tag. Mehrere Kapitel dieses Buches sind
schon vor längerer Zeit in verschiedenen hebräischen und deutsch-
jüdischen Zeitschriften erschienen, das vierte Kapitel schon im Jahre
1907. Vielleicht werde ich' besser verstanden, wenn ich eine zusammen-
hängende und systematische Darstellung dieser Lehre biete. Wie ich
mich zum Sombartschen Werke stelle, brauche ich wohl jetzt nicht
mehr auseinanderzusetzen. Ich wünschte, seine Behauptungen wären
wahr; leider sind sie sowohl inhaltlich wie formell eine professorale
Vision, und, da sie antisemitisch motiviert sind, eine Art „Ritualmord-
märchen", freilich im nationalökonomischen Jargon.
Da es sich hier nicht um ein schulwissenschaftliches Werk, sondern
um ein Lesebuch handelt, habe ich, soweit es ging, alles philologische
Beiwerk fortgelassen.
London, im Dezember 1912.
S. M. Melamed.
VIII
Vorwort zur zweiten Auflage.
Selten hat ein Buch eine so merkwürdige Aufnahme gefunden wie
dieses. Während es von jüdischer Seite fast ignoriert wurde, hat
es von christlicher Seite eine freundliche Aufnahme gefunden und ist
in vielen Fällen als symptomatisch für die im heutigen Judentum herr-
schenden Tendenzen begrüßt worden. Nicht nur die meistens von Juden
gelesene und vielfach von Juden redigierte liberale Presse, sondern
auch die eigentlich jüdische Presse in allen Sprachen hat das Buch
ignoriert. Dagegen haben Männer wie Karl Jentsch und eine Reihe
anderer christlicher Theologen und Philosophen dem Buch ziemlich
viel Aufmerksamkeit gewidmet. Die wenigen gebildeten Juden, die
das Buch gelesen, hatten wenig Freude an ihm, weil es ihnen zu anti-
jüdisch, oder, wie sie sagten, zu antisemitisch schien. Wenn Judentum
ein perpetuierter, weltfremder Rabbinismus ist, ist das Buch in der
Tat nicht nur unjüdisch, sondern auch anti-jüdisch. Was ich mit diesem
Buch bezwecke, ist, den Nachweis zu führen, daß das antike und
speziell das rabbinische Judentum eine Lehre ist, die keinerlei Basis
in der Wirklichkeit des Lebens hat. Mit anderen Worten, da das
antike Judentum eine Conzeption a priori ist und daher keine Grund-
lage für die politische Realität des jüdischen Volkes abgeben konnte;
weil es nicht die Kodifizierung der Lebenserfahrungen des Volkes ist,
konnte es sich — isoliert vom Leben — erhalten, aber nicht eine posi-
tive treibende Kraft im Leben des jüdischen Volkes werden. Die alt-
backenen Argumente der Zionisten oder sonstigen jüdischen Propa-
gandisten, daß es die jüdische Religion war, die das Judentum vom
Untergang bewahrte, sind grundfalsch und drücken mehr eine elegische
Stimmung als Tatsachen aus. Die Tatsache ist, daß die Erhaltung des
Judentums auf soziologische Ursachen zurückzuführen ist; die Tatsache
ist, daß die Juden von jeher als ethnische Einheit betrachtet wurden,
IX
und es war dieses tiefsitzende Bewußtsein im Herzen der arischen
Völkerwelt, daß die Juden nicht eine religiöse Gemeinschaft, sondern
eine nationale Gemeinschaft sind, das die Juden als nationale Gruppe
vom Untergang bewahrt hat. Es mag vielleicht paradox erscheinen,
und doch ist es eine historische Wahrhaftigkeit, daß die Juden wegen
ihrer Religion allein nie verfolgt wurden. Selbst das Spanien der In-
quisition hat das Judentum wegen der Religion allein nicht verfolgt.
Immer waren es rein soziologische Faktoren, die nationale Bewegung
eines Volkes, die Ausbildung eines imperialistischen Gedankens bei
einem Volk, oder ökonomische und kirchliche imperialistische Ten-
denzen, die das jüdische Volk in scharfen Konflikt mit anderen Völkern
brachte. Das Spanien der Inquisition war imperialistisch, die Kirche
als organischer Teil des Staates war ein Teil des Imperialismus und
Nationalismus, und da die Juden eben Juden und nicht Spanier waren,
also in den spanischen Imperialismus und Nationalismus nicht hinein-
paßten, wurden sie von den Spaniern harsch angefallen. Der Anti-
semitismus entsteht überall da, wo eine starke nationalistische oder
imperialistische Welle aufschwillt, oder wo ein Volk einen Sündenbock
braucht, aber nicht weil die christlichen Völker sich plötzlich besinnen,
daß das Judentum als Lehre ihnen fremd ist. Die christlichen Völker
wissen sehr wenig vom Leben des jüdischen Volkes, aber die Bibel
ist ihnen nicht gänzlich unbekannt. Wenn sie auch dies Buch nie richtig
verstanden, wissen sie doch ungefähr, was in diesem Buch geschrieben
steht. Sie wissen, daß das Alte Testament die erste große Grammatik
des menschlichen Gewissens ist, das größte ethische Dokument, das
je geschrieben worden ist. Leute, die schon antisemitisch gestimmt sind
oder schon professionelle Antisemiten sind, mögen von Zeit zu Zeit
auch die Bibel anrempeln. Delitzsch II und Chamberlain sind wohl
überzeugende Beispiele, aber der durchschnittliche Antisemit oder der
durchschnittliche Arier, der sich zwar nicht antisemitisch betätigt, aber
dem jüdischen Volke nicht sympathisch gegenübersteht, denkt an alle
möglichen jüdischen Dinge, nur nicht an die Bibel. Nicht das theo-
retische Judentum, sondern das jüdische Volk als kon-
krete historische Wirklichkeit ist die Ursache seines
Leicfens, weil es ein staatsloses Volk ist, weil es ein
heimloses Volk ist und weil der Wanderer und der
Bettler selten respektiert und in vielen Fällen an-
X
gefeindet werden. Es gibt nur eine Lehre, die Lehre des Juden-
tums, die den Armen, den Bettler, den Wanderer zum Objekt der
Ethik macht und für ihn Sympathie, Mitleid und Achtung sucht. Der
christlichen Völkerwelt ist dieser Gedankengang ganz ungeläufig, und
wenn sie ein Volk wie die Juden sieht, das überall zu Hause und
überall fremd ist, sich überall assimiliert und sich doch überall selbst
treu bleibt, muß sie sich notwendigerweise ablehnend gegen dieses
Volk verhalten. Einzelne auserlesene Geister mögen den Juden als
Volk freundlich gesinnt sein, sei es, weil sie die große intellektuelle
Begabung des jüdischen Volkes schätzen, weil sie die Anpassungs-
fähigkeit des jüdischen Volkes bewundern, oder weil ihnen die eine
oder andere Tugend der Juden sympathisch ist. Die Masse aber muß
sich überall ablehnend gegen die Juden verhalten, und in Zeiten des
Überganges und der Krisis muß diese latente Abneigung scharfe Kon-
fliktsformen annehmen. Es spricht für den Wirklichkeitssinn der großen
modernen Philosophen, wie Baruch Spinoza, Immanuel Kant und Arthur
Schopenhauer, daß sie in den Juden nicht die Träger einer Religion,
sondern die Träger eines Nationalismus erkannten. Um fast ein Viertel-
jahrtausend, bevor Theodor Herzl mit seinem Judenstaat die Welt
überraschte, hat schon der große, philosophische Sonderling in Amster-
dam den Satz ausgesprochen: die Juden sind ein Volk und als solches
müssen sie ein Land haben. So ist Baruch Spinoza zum eigentlichen
Begründer des modernen Zionismus geworden. Alle großen euro-
päischen Denker haben eine ähnliche Stellung zum Judentum ein-
genommen.
Selbst die zionistisch gesinnten Juden sind aber von der Idee, daß
die jüdische Religion die eigentliche Triebkraft im jüdischen Leben
ist, so besessen, daß jeder Widerspruch ihnen schon als antisemitisch
erscheint. Ich glaube in diesem Buch den Beweis erbracht zu haben,
daß die ganze bisherige jüdische Geschichtsphilosophie, wie sie von
den Juden seit fünf Jahrhunderten vertreten wird, eine grundfalsche
ist. Ihre Voraussetzungen sind falsch und ihre Schlüsse sind falsch.
Das theoretische Judentum war als Theorie nicht stark genug oder
zu stark, die politische Wirklichkeit der jüdischen Nation, den jüdischen
Staat zu erhalten, und das Judentum als Theorie war nicht stark genug
oder zu stark, die Fortexistenz des jüdischen Volkes in der Diaspora
zu sichern. Wenn wir heute das jüdische Volk doch noch .am Leben
XI
sehen, so ist das eben darauf zurückzuführen, daß das jüdische Ich
sich am jüdischen Nicht-Ich entzündet, mit anderen Worten, weil die
Erkenntnis vom jüdischen Volkstum, von der jüdischen ethnischen
Einheit in der arischen Völkerwelt so eingewurzelt und das Faktum
des jüdischen Volkes als Volk so klar und unanfechtbar ist, daß das
Resultat nur ein Ghetto sein konnte. Für die Zukunft der Juden und
des Judentums ist diese Erkenntnis von ausschlaggebender Bedeutung.
Vom Gesichtspunkt der weitläufigen jüdischen Geschichtsphilosophie,
wie sie in der Diaspora entstanden, ist der Zionismus ein durchaus
weltlicher Gedanke, ein ganz und gar unjüdischer, ein ganz und gar
antijüdischer. Judentum und Judenstaat reimen sich nicht, der Staat
ist vielmehr römisch oder arisch. Wenn der Zionismus erfolgreich'
sein soll, muß er sich säkularisieren, er muß nicht nur jüdisch, sondern
anti-jüdisch sein, er muß zum großen Teil alle diejenigen Elemente
ausscheiden, die bis jetzt als das Organische im Judentum betrachtet
worden sind. Der jüdische Staat kann nicht jüdisch sein, weil der
Staat am Sabbath nicht ruhen kann, weil der moderne Staat keinej
Nomokratie sein kann, weil der moderne Staat nicht auf theoretischen
Prinzipien oder Aprioritäten basiert sein kann. Der moderne Staat
muß immer bereit sein, Kompromisse zu schließen, dem Individuum
und der Gruppe Zugeständnisse zu machen. Der moderne Staat kann
kein starres System sein, selbst wenn dieses System ein System der
reinen Ethik ist. Der moderne Staat ist mehr oder weniger eine große
Korporation und, wie jede Korporation, muß er zu Geschäftstrans-
aktionen bereit sein. Wenn aber der Zionistenstaat rein jüdisch sein
soll, also eine Verwirklichung der ethischen und politischen Lehren
der Propheten ohne jede Verschwägerung mit römischen Elementen,
dann kann er nur von kurzer Dauer sein. In unserem modernen po-
litischen Leben mit seinen schnellen Bewegungen und schnellem Wech-
sel der Dinge ist kein Raum vorhanden für ein starres politisches Sy-
stem, selbst wenn dieses System in irgendeinem Winkel in Vorder-
asien errichtet werden sollte.
Allein die heutigen Juden, so sehr verschieden sie von den antiken
Juden sein mögen, halten noch immer an dem Apriorismus fest und
glauben noch immer, daß man mit Gesetzen, die nicht aus dem
Leben stammen, sondern graue Theorien sind, das Leben nicht nur
beherrschen, sondern ihm auch vorausgreifen kann. Der Sozialismus,
XII
der unter den Juden populär ist, ist insofern jüdisch, als auch er ver-
sucht, dem Leben voraus zugreifen und es auf Grund von Vernunft-
gesetzen zu beherrschen. Für die politische Wirklichkeit ist es ganz
gleich, ob die Apriorität, die das Leben zu beherrschen sucht, eine
säkulare sozialistische, oder eine religiöse prophetische ist.
Die Religion als Religion des reinen Glaubens, die Ethik als Ethik
des Sollens und die Literatur als die Literatur des Hungers, wie ich
sie erkannt und in diesem Buche dargestellt, nehmen sich ästhetisch
sehr schön aus und wirken geradezu erbauend, aber einen Staat kann
man mit ihnen nicht gründen. Sie sind als konkrete Faktoren für das
Staatsleben nicht nur unbrauchbar, sondern geradezu schädlich —
schädlich wegen ihrer Einseitigkeit und schädlich, weil sie nur die
eine Seite, die rein menschliche Seite des Lebens, reflektieren, und weil
sie dem Extremismus Vorschub leisten. Dem Durchschnittsjuden, ganz
gleich, ob er rechtgläubig oder freidenkerisch, muß die Lehre, die
dieses Buch enthält, als höchste Häresie erscheinen, und ich will
keineswegs den revolutionären Charakter des Buches leugnen, aber
das ist kein Grund, warum die Juden, die besonders in theoretischen
Fragen sehr tolerant sind, dies Buch ignorieren sollen. Die Tatsache,
daß gewissenlose, antisemitische Demagogen aus dem Zusammenhang
herausgerissene Sätze dieses Buches zitieren, wie es der Judenfresser
Jorga getan hat, um mich als Kronzeugen für den Antisemitismus an-
zuführen, braucht und soll die jüdischen Leser nicht abschrecken.
Schließlich haben die Antisemiten auch schon die Bibel als Kronzeugen
gegen die Juden angerufen. Deshalb haben aber die Juden nie auf-
gehört, die Bibel zu lesen.
Vielleicht hat der Krieg mit all seinen tragischen Konsequenzen
für das jüdische Volk die Juden in Europa schon so „entjudet", schon
zu einem solchen Verständnis der politischen Wirklichkeit gebracht,
daß sie diesmal das, was ich ihnen zu sagen habe, freundlich aufnehmen
werden und mich nicht ohne weiteres Ketzer schelten. Es ist merk-
würdig, claß die osteuropäischen Juden, denen ich meine Kritik des
Judentums in hebräischer Sprache vorlegte, sich viel toleranter zu dem
Inhalt dieses Buches verhielten, als die assimilierten westeuropäischen
Juden. Es war auch immer meine Überzeugung, daß die westeuro-
päischen Juden, obgleich „reformiert", ebenso stramm am Rabbinis-
mus festhalten wie die osteuropäischen Juden. In der Diaspora kann
XIII
der Rabbinismus das formale zusammenhaltende Element im Judentum
bilden, für die Zukunft, für Palästina taugt er nicht und muß gänzlich
verschwinden. Wie in der Diaspora das Judentum entweder rabbinisch
sein muß oder gar nicht sein kann, so muß es in Palästina entweder un-
rabbinisch sein oder es wird überhaupt nicht sein.
Chicago, Illinois, März 1921.
S. M. Melamed.
XIV
Inhalt.
Seile
Vorwort V
Vorwort zur zweiten Auflage IX
Erstes Kapitel: Einführung 1
Zweites Kapitel: Grundlagen und Voraussetzungen 21
Drittes Kapitel: Die Stellung der Juden in der Weltgeschichte . 36
Viertes Kapitel: Formation des jüdischen Geistes 50
Fünftes Kapitel: Religion des reinen Glaubens 85
Sechstes Kapitel: Die jüdische Religion und das zivilisatorische
Leben 111
Siebentes Kapitel: Das historische Weltbild 139
Achtes Kapitel: Das philosophische Weltbild . . . . . . . 155
Neuntes Kapitel: Sprache und Schrifttum . 177
Zehntes Kapitel: Die psychologischen Motive in der hebräischen
Literatur 194
Elftes Kapitel: Die selektiven Kräfte 204
Zwölftes Kapitel: Baruch Spinoza 216
XV
Erstes Kapitel.
Einführung.
Was wissen sie von dem jüdischen Geist? — Die Juden-Psychologie im
Wandel der Zeiten. — Mittelalter und Sekten. — Germanen und Juden. — Herder
und die Juden. — Die unfruchtbare Diskussion. — Juden-Psychologie und anti-
semitische Propoganda — . Die Enzyklopädisten und die Juden. — Der Deismus
und die Juden. — Kant, Schiller und die Juden. — Das jüdische Individuum. —
Antike und moderne Juden. — Die ethnische Einheit der Juden. — W,as alle
Juden gemein haben. — Werner Sombarts Judenweisheit. — Jüdische Hartnäckig-
keit. — Sind die Juden Händler oder Arbeiter? — Die Juden an der Arbeit. —
Ist der jüdische Geist konstant? — Die Voraussetzung einer Judenpsychologie. —
Der Inhalt der jüdischen Geschichte. — Das Wesen des Diaspora-Judentums. —
Trotzky ein Produkt des Zarismus. — Ursprung des jüdischen Kosmopolitismus. —
Religion und Volkspsychologie. — Die Wirkungen des Diasporalebens auf den
jüdischen Geist. — Die Einflüsse der Umgebung. — Die heutigen Juden nicht
dieselben wie ihre Ahnen. —
Wie ein greller Strahl zieht sich die Frage nach der inneren Be-
schaffenheit des jüdischen Geistes durch die europäische Ge-
schichte der letzten zwei Jahrtausende. Sie wurde in Rom und Alexan-
dria aufgeworfen, wo das Judentum zuerst mit zwei großen Geschichts-
mächten zusammentraf, und sie ist noch heute nicht beantwortet, so
daß die Psychologie des jüdischen Geistes seit dem Eintritt des Juden-
tums in die Weltgeschichte als selbständige Kulturmacht zur Diskussion
steht. Ein knapper Überblick über das lange, ununterbrochene, geistige
Ringen des europäischen Menschen, um das Judentum zu erfassen,
wird klar dartun, daß die Erben, sobald vom jüdischen Geist die Rede
ist, nicht viel klüger sind als ihre Ahnen; denn dem europäischen
Denker erscheint noch heute — nach zweitausend jähriger Diskussion
und Forschung — das Judentum als ein Rätsel. Obgleich die Juden
seit mehr als zwei Jahrtausenden zerstreut unter fremden Völkern
leben und die Kulturträger der die Juden bewirtenden Völker von
1 M-'-nui
jeher das Judentum anstaunen, beobachten und es zum Objekt wissen-
schaftlicher Forschung machen, wissen die europäischen Menschen
vom Judentum, das täglich und allerorten in ihren Gesichtskreis tritt,
viel weniger als von einem längst verschollenen Völkchen Hinterasiens.
Zwei bedeutende Schriftsteller, die in dem ersten Dezennium des zwan-
zigsten Jahrhunderts mit zwei umfangreichen Werken über die Juden-
psychologie hervorgetreten sind, Houston Stewart Chamberlain und
Werner Sombart, wiederholen nur mit mehr oder weniger Geschick
und mit mehr Ausführlichkeit, was einst durch Herder, Schiller, Kant,
Voltaire, Montesquieu und bis zu den Jesuiten im sechzehnten Jahr-
hundert über das Judentum verlautbart wurde, und was Cicero, Seneca,
Apion, Celsus und Marchion im Altertum über diese Frage zu sagen
hatten. Auch abgesehen von den großen Spezialwerken über die Juden-
psychologie, die in letzter Zeit entstanden sind und mehr Aufsehen
erregt habe^ als sie ihrem wissenschaftlichen Gehalte nach verdienen,
zeigt sich fast die gesamte Geisteswissenschaft der Gegenwart be-
strebt, in das innere jüdische Wesen einzudringen. Die christliche
Theologie des neunzehnten Jahrhunderts ist dieser Frage nicht we-
niger nachgegangen, als die Geschichtsschreibung in ihren verschie-
denen Disziplinen und Auszweigungen. Seit Bruno Bauer betrachtet
es jeder Theologe, Orientalist und Geschichtsschreiber als ein wissen-
schaftliches Gebot, das von ihm behandelte Spezialgebiet des Juden-
tums mit einer Judenpsychologie zu eröffnen. Es genügt nur, auf die
Arbeiten von Bauer, Ewald, Robertson Smith, Wellhausen, Eduard
Meyer u. a. hinzuweisen. Auch Anthropologie, Ethnologie, Rassen-
theorie, Staatsgeschichte und Geschichtsphilosophie haben die Frage
nach der Eigenart des jüdischen Geistes in den Kreis ihrer Forschungen
gezogen. Dieses Bestreben geht noch heute, wie im Altertum, auf
verschiedene — lautere und unlautere — Motive zurück, auf religiöse,
sittliche und rassentheoretische Gegensätze. Jedes Zeitalter drückt
dieser eifrig geführten Diskussion sein Siegel auf. Am Ausgang der
Antike, als der Kampf um die neue Religion entbrannt war und die
Menschen noch more theologico dachten, hatte die Diskussion über
diese Frage einen theologischen Anstrich. Der Kampf um die Juden
nahm die Form eines Kampfes um den jüdischen Gott an und die, die
den jüdischen Gott erforschen wollten, forschten nach den Grund-
eigenschaften des jüdischen Gottes. Man denke nur an die Gnostiker
in ihrem Kampf gegen das Judentum, der die Form eines Kampfes
gegen den jüdischen Gott angenommen hatte. Anstatt zu sagen, die
Juden sind roh, schlecht, oder vom Teufel besessen, die Träger der
Erbsünde, sagten sie all diese Dinge vom jüdischen Gott aus, denn
der antike Mensch dachte eben more theologico.
Im Mittelalter, als die Menschen more scholastico dachten, hatte
die zur Diskussion stehende Frage einen scholastischen Anstrich. In
vielen Fällen wurde sogar von Priestern gefragt, ob die Juden auch
eine Seele hätten. Am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts wurde
die Frage schon mehr philosophisch behandelt. Man denke nur an
Immanuel Kants Bemerkungen über das Judentum in seiner „Kritik
der praktischen Vernunft''. Heute, im Zeitalter des Nationalitäten-,
Rassen- und Wirtschaftskampfes ist die Diskussion über die Psycho-
logie des jüdischen Geistes politisch, rassentheoretisch und volkswirt-
schaftlich motiviert. Die sich heute mit der Frage beschäftigen, küm-
mern sich wenig um die Grundqualitäten des jüdischen Gottes oder
um die Eigenart der jüdischen Religion, sondern denken über die
Frage in den Begriffen ihrer Zeit.
Im eigentlichen Mittelalter allerdings ist dieses Problem weniger
eifrig behandelt worden ; denn das Judentum gehörte nicht in den Um-
kreis der papistischen Kulturinteressen. Das papistische Rom, bekannt-
lich eine Fortsetzung des antiken Roms (ohne Römer) in theologischer
Gestalt, hatte die wirklichen religiösen Kräfte im Christentum über-
wunden und die KirChe zu einem politischen Zentrum potenziert (oder
degradiert), in das der Biblizismus nicht hineinpaßte. Nur die ver-
schiedenen Sekten, die Vorboten der Reformation, hatten oft Gelegen-
heit genommen, sich mit dieser Frage in ihrer Weise zu beschäftigen;
so die Bogomilen, die Katharer und alle aus dem Neu-Manichäertum
hervorgegangenen Sekten. Erst nach dem zweiten Sieg der individua-
listisch veranlagten Germanen über das universalistisch papistische
Rom und mit der Renaissance des Biblizismus durch die Reformation,
mit anderen Worten: nach dem Siege Jerusalems über Rom im Reiche
des Geistes, begann der europäische Mensch wieder sich dem alten
und immer wieder neuen Problem zuzuwenden. Seit Luther wird
speziell in Deutschland über das Judentum eifrig diskutiert — weil die
Erzeugnisse des antiken jüdischen Geistes mehr zur Kristallisierung
und Herausbildung der neogermanischen Kultur beigetragen haben,
als die heutigen Germanen zuzugeben gewillt sind. Im fünfzehnten
und sechzehnten Jahrhundert hat sich der antike jüdische Geist mit
dem neuerwachten germanischen Geist verschwägert und ihm sein
Siegel aufgedrückt. Man denke nur an den Einfluß der lutherischen
Bibelübersetzung auf die Ausbildung und Fortbildung der deutschen
Sprache, die weiter auf die politische Konsolidierung der deutschen
Stämme gewirkt und zu ihrer Vereinigung beigetragen hat. Daher die
fortwährende Beschäftigung der Germanen mit dem Judentum und
seinen Eigenheiten, und daher die Ausfälle der Germanen gegen das
Judentum von Luther bis Kant und von Kant bis Hartmann, Richard
Wagner, Chamberlain und Sombart. Undankbarkeit und Stolz sind
menschlich.
Als das geistige Deutschland zur ersten Weltmacht im Reiche der
Kultur geworden war, fing es an, sich derjenigen Verwandtschaft zu
schämen, mit deren Hilfe es groß geworden war. Die heutigen Deut-
schen sind eifrig bemüht, das Judentum möglichst aus der Welt-
geschichte hinauszubugsieren, oder die Stellung des Judentums in der
Geschichte als möglichst unbedeutend hinzustellen. Hier ein kleines Bei-
spiel: Kein System der Ethik ist der ethischen Lehre und Weltanschau-
ung der israelitischen Propheten so innerlich verwandt, wie die Ethik
Kants. So behauptet auch der von Houston Stewart Chamberlain als
der größte Kant-Interpret der modernen Zeit angesehene Herrmann
Cohen ; und doch hat kein großer Germane neuerer Zeit das Juden-
tum und seinen Geist so falsch und schlecht beurteilt wie Kant. Was
Immanuel Kant vom Judentum Und seinem Geiste aussagt, läßt eich
auf die kurze Formel spannen: Das Judentum ist keine Religion und
keine Ethik, und der jüdische Geist ist unethisch und unreligiös.
Alles Gute, Schöne und Erhabene in der Weltgeschichte nehmen
die deutschen Geschichtsschreiber neuerer Zeit für das Ariertum in
Anspruch; alles Banale, Häßliche und Schlechte schreiben sie den
Semiten (Juden) zu. Der deutsche Intellekt tritt, sobald er über daß
Judentum nachzudenken beginnt, unter die Herrschaft des leidenschaft-
lichen Affekts, und aus diesem Grunde blieb und bleibt dieses Nach-
denken unfruchtbar und resultatlos.
Vor mehr als 120 Jahren schrieb Herder in seinen „Ideen zur
Philosophie der Geschichte": „In den Wissenschaften, die ihre (der
Juden) vortrefflichsten Köpfe trieben, hatte sich jederzeit mehr eine
gesetzliche Anhänglichkeit und Ordnung, als eine fruchtbare Freiheit
des Geistes gezeigt, und der Tugenden eines Patrioten hatte 6ie ihr
Zustand von jeher beraubt. Das Volk Gottesi, dem einst der Himmel
selbst sein Vaterland schenkte, ist Jahrtausende her, ja fast seit seiner
Entstehung, eine parasitische Pflanze auf den Stämmen anderer Na-
tionen, ein Geschlecht schlauer Unterhändler beinahe auf der ganzen
Erde, das sidh trotz aller Unterdrückung nirgend nach einer eigenen
Ehre, nirgend nach einem Vaterland sehnt." Seit zweitausend Jahren
beten die Juden dreimal täglich für die Rückkehr nach Zion. Man
braucht nicht viel vom Judentum zu wissen, um zu wissen, daß die
Sehnsucht nach Palästina einen Teil der jüdischen Religion bildet.
Herder wußte sehr viel vom Judentum, und doch schrieb er diese
Zeilen nieder. Man braucht nicht viel vom Judentum zu wissen, um
zu wissen, daß die Propheten zum Beispiel alles andere als gesetzliche
Anhänglichkeit und Ordnung predigten. Jeder, der die Propheten ge-
lesen hat, steht unter dem Banne der von ihnen offenbarten Freiheit
des Geistes. Herder kannte sehr gut die Propheten, und doch verstand
er sich zu dieser grundfalschen und böswilligen Aussage. Diese
Herdersche Judenweisheit hat Werner Sombart in einem umfangreichen
Werke wiederholt, ohne nur ein Jota hinzuzufügen. Wer kann da nun
sagen, daß die in den letzten 150 Jahren ununterbrochen fortgesetzte
Diskussion über die Judenpsychologie in Deutschland neue wissen-
schaftliche Erkenntnisse zutage gefördert habe? Was vor 150 Jahren
J. D. Michaelis vom Judentum aussagte, hat Schopenhauer wiederholt,
und was Schopenhauer von dem jüdischen Geist aussagte, hat Hart-
mann in modifizierter Folge wiederholt. Daß der wissenschaftliche
Apparat der neueren Forscher ein größerer und feinerer ist, und daß,
statt Sentenzen, dicke Bücher über das Judentum geschrieben werden,
kann uns über die Fruchtlosigkeit der Diskussion nicht hinwegtäuschen.
Neben dem Faktum der inneren Verwandtschaft des jüdischen mit
dem germanischen Kulturgeist, wie sie aus dem Einfluß des ersteren
auf den letzteren mit kristallheller Deutlichkeit zu erkennen ist, haben
noch einige andere Momente der Förderung der Judenpsychologie in
neuerer Zeit Vorschub geleistet und zu ihrer Unfruchtbarkeit bei-
getragen: der Spinozastreit in Deutschland im vorletzten Jahrhundert,
der Aufschwung des Nationalismus resp. des politischen Naturalismus,
und die viel zu schnelle Entwicklung der deutschen Zivilisation auf
Kosten der deutschen Kultur im letzten Drittel des neunzehnten Jahr-
hunderts. Der Streit zwischen Jacoby und Mendelssohn, einer der
merkwürdigsten Gelehrtenstreite aller Zeiten, hat, wegen seiner Aus-
artung in eine Polemik zweifelhaftester Art, das ganze geistige Deutsch-
land jener Zeit in Aufregung versetzt. Die Machenschaften Jacobys
hatten dazu geführt, daß ein Streit um ein System der Philosophie zu
einem Streit über das Judentum sich entwickelte. Was sich der Magus
des Nordens und sein Kreis in dieser Beziehung geleistet, ist hinlänglich
bekannt. Die Entwicklung des deutschen Nationalismus resp. des politi-
schen Naturalismus hat völlig zur Verrohung der Geister und Gemüter
beigetragen und eine wissenschaftliche Diskussion in eine parteipoli-
tische Debatte verwandelt. Die antisemitischen Schriftsteller in Deutsch-
land seit der Mitte der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts
haben, statt Juden-Psychologie zu erörtern, zu Pogromen gehetzt und
dadurch dem Problem einen ganz anderen Anstrich gegeben. Er-
kenntnis jeder Art, speziell historische und völkerpsychologische Er-
kenntnis ist nicht möglich, wenn der Intellekt unter der Herrschaft
des leidenschaftlichen Affekts steht und wenn der wissenschaftliche
Blick getrübt ist. Der Wahrheit halber muß aber gesagt werden, daß
die Fruchtlosigkeit und Ergebnislosigkeit der deutschen Diskussion
über die Judenpsychologie ursprünglich zum großen Teil von Frank-
reich und England aus verursacht wurde.
Der unter dem Einfluß der Stoa wirkende französische Enzyklo-
pädismus hatte schon wegen seines Kosmopolitismus und wegen seiner
aufklärerischen Tendenz dem Judentum keine Sympathien abgewinnen
können. Wie der Enzyklopädismus dem Judentum feindlich gesinnt
war, kann man aus den Ausfällen Voltaires gegen das Judentum deut-
lich ersehen. Männer der Aufklärung, betrachteten sie das Judentum
als den Quell des europäischen Aberglaubens und schlössen von dem
auf niedriger Kulturstufe stehenden Juden ihrer Zeit auf die psycho-
logische Eigenart des Judentums schlechthin. Schon Montesquieu ließ
sich in seinen Lettres Persanes vernehmen: Tu me demandes s'il y a
des juifs en France; sache que partout oü il y a de l'argent il y a des
juifs. Tu me demandes ce qu'ils fönt: precisement ce qu'ils fönt en
Perse; rien ne ressemble plus ä un juif d' Asie qu'un juif europeen.
(Lettre LX.) Einen ähnlichen Ton führen fast alle Großen Frankreichs
zu jener Zeit. Bei dem mächtigen Einfluß des geistigen Frankreich
auf Deutschland im achtzehnten Jahrhundert und bei der Französelei
der Deutschen zu jener Zeit mußte diese geistreichelnde „Judäologie"
ein Echo in Deutschland finden. Insbesondere aber hat Voltaire mit
seinen unerhörten Schimpfereien und Ausfällen gegen das Judentum
erst den beginnenden Kulturantisemitismus in Deutschland befördernd
beeinflußt. Auch in England machte sich im achtzehnten Jahrhundert
eine feindliche Stellungnahme zum antiken Judentum als Reaktion auf
den ausgesprochenen Biblizismus des sechzehnten und siebzehnten
Jahrhunderts sehr bemerkbar. Ein größer Teil der englischen Dei'sten
und Aufklärer, unter dem Einfluß der spinozistischen Judäologie stehend,
wetteiferte mit Voltaire in Ausfällen gegen das Judentum. Bei der
kulturellen Wechselbeziehung zwischen Deutschland und England im
achtzehnten Jahrhundert und bei dem großen literarischen Einfluß,
auf die Deutschen im achtzehnten Jahrhundert mußten auch ihre feind-
lichen Ausfälle gegen das Judentum in Deutschland Widerhall finden.
Julius Gutmann1) hat den Beweis geliefert, daß nicht nur Immanuel
Kant, sondern auch Reimarus und Lessing in ihren Anschauungen über
das Judentum von den Engländern beeinflußt waren. Diese An-
regungen von außen, verbunden mit dem Spinoza-Streit zwischen
Mendelssohn und Jacoby, hatten dazu beigetragen, die zu nüchterner
wissenschaftlicher Reflexion und Objektivität neigenden Deutschen in
den breiten Strom der Polemik zu treiben; sie sind mit die Ursache
gewesen, daß aus einem wissenschaftlichen Objekt ein Zankapfel ge-
worden ist. Aus dieser historischen Entwicklung ging die Beurteilung
des jüdischen Geistes in Deutschland bis zur Romantik und bis zum
aufkeimenden Nationalismus hervor. Die Motive der nachromantischen
und nationalistischen Judenpsychologie in Deutschland sind, wie schon
angedeutet, nicht sowohl kulturgeschichtlicher als realsoziologischer
Natur. Die vorromantische Anschauung und Auffassung vom jüdischen
Geist in Deutschland wie auch in Frankreich und England besagt im
wesentlichen folgendes: Der jüdische Geist sei seinem Wesen nach
dogmatisch und formalistisch, unschöpferisch, unreligiös und könne
sich über die ethnische Barriere nicht erheben. Die Vertreter und
Träger des deutschen Geistes im ganzen neunzehnten Jahrhundert
waren bemüht, im Judentum und im jüdischen Geist den Gegensatz zu
ihren eigenen Anschauungen und geistigen Veranlagungen zu finden.
In dieser Hinsicht unterscheiden sich die nachromantischen Judäologen
in nichts von den vorromantischen.
Der Moralist Kant zeiht den jüdischen Geist des Amoralismus.
Der Pessimist und Idealist Schopenhauer wirft dem jüdischen Geist
Realismus und Optimismus vor. Renan zeiht ihn der Simplizität, Hart-
mann des Realismus^ Chamberlain des Formalismus; Karl Marx wirft
ihm eine Neigung zum Kapitalismus vor. Der Freigeist Voltaire wirft
ihm Aberglauben vor. Nach Richard Wagner ist er unmusikalisch in
höherem Sinn; nach Bartels und Genossen unkünstlerisch und unlite-
rarisch ; nach Duehring und Sombart wieder unruhig, beweglich, noma-
disch und nach Weininger gar weibisch. Damit sind die Attribute,
die germanische und germanomane Forscher dem jüdischen Geiste
zuschreiben, bei weitem nicht erschöpft. Was von Decius, Schiller,
Michaelis und Lessing bis auf Paul de Lagarde und von ihm bis auf
Wirth dem jüdischen Geiste zugeschrieben wird, zeugt von einem
tiefsitzenden, fast unausrottbaren Haß der Neogermanen gegen das
Judentum. Friedrich Schillers Charakteristik des jüdischen Geistes
stellt alles in den Schatten, was judäophobe Forscher im letzten Jahr-
*) Kants Verhältnis zum Judentum, Hamburg 1906.
hundert über diese Frage aussagten. Schiller bringt es fertig, die
ganze Zirkulation von geistigen Bewegungen, die der jüdische Geist
zuwege gebracht, auf die Moses-Episode zu reduzieren, und selbst die
Gestalt Moses ist nach ihm mehr ägyptisch als jüdisch. Houston
Stewart Chamberlain konnte die größten Germanen seit Luther als
Zeugen gegen die Juden anführen. Und in der Tat: In der ganzen
Galerie germanischer Geistesheroen der letzten 150 Jahre werden nur
noch wenige zu finden sein, die mit einiger Objektivität an die Be-
urteilung des jüdischen Geistes herangetreten sind. Ist bei dieser
Lage der Dinge ein in seinem nationalen Schrifttum wurzelnder Deut-
scher überhaupt noch fähig, ohne Voreingenommenheit an das Problem
des Judentums heranzutreten? Das vom Affekt getrübte Urteil der
Germanen über das Judentum hat es mitbewirkt, daß die scharf-
sinnigsten Begriffdichter aller Zeiten nicht in der Lage waren und bis
auf den heutigen Tag nicht in der Lage sind, die Frage der jüdischen
Geistespsychologie methodisch zu erfassen, problemgerecht zu behan-
deln und für das Problem eine Formel zu finden. Die deutschen For-
scher, deren Methodik und Gründlichkeit sprichwörtlich ist, werden
konfus, sobald sie sich anschicken, die Judentumsfrage wissenschaftlich
zu behandeln; denn keiner der großen deutschen Dichter und Denker
ist sich darüber klar geworden, daß das Judentum als Manifestation
des Geistes blutwenig damit zu tun hat, ob die heutigen Juden würde-
lose oder würdevolle Männer sind, ob sie politisch zum Sozialismus,
Liberalismus oder Konservatismus neigen oder nicht; ob sie die Ge-
richtssäle, Zeitungsredaktionen und Börsen beherrschen oder nicht.
Würde es je einem ernsten Forscher einfallen, vom heutigen preußischen
Unteroffizier, Reserveleutnant und Korpsstudenten auf die psycho-
logischen Eigenheiten des deutschen Genius, wie er sich im „Faust"
und in der Vernunftkritik und in Beethovens Neunter Symphonie kund-
gibt, zu schließen? Von allen deutschen Forschern bis auf den heutigen
Tag, die sich mit der Psychologie des jüdischen Geistes befaßt haben,
ist es keinem eingefallen, sich etwa folgende Frage vorzulegen: Ist
der Jude des zwanzigsten nachchristlichen Jahrhunderts dem Juden
des siebten vorchristlichen Jahrhunderts so ähnlich und sind die Ver-
hältnisse, in welchen sie leben, sich einander so gleich, daß sie beide
zwei Punkte einer geraden Linie bilden? Ist der Geist eines Volkes,
das die wechselvollste Geschichte hinter sich hat, so konstant, sich
immer so gleichbleibend, so ruhend, daß es angängig ist, ihn zu be-
trachten, wie man eine geometrische Figur betrachtet? Wir philoso-
phieren doch nicht mehr more geometrico, und wenn auch das Fatum
8
der Entwicklung nicht alle Erscheinungen des Lebens zu erklären
imstande ist, weil die Entwicklung selbst ein Erzeugnis des Lebens
ist, so ist doch ihre Wirksamkeit nicht aus der Welt zu schaffen. Auch
die Juden sind dem Gesetze der Anpassung unterworfen; wie die An-
passung die hereditären Momente modifiziert und umgekehrt hat, das
hat zwar bis jetzt noch niemand festgestellt, aber es versteht sich von
selbst, daß gerade die Juden infolge ihrer vielen Wanderungen und
infolge der verschiedenen Einflüsse des Milieus und der sozialen Um-
gebung sich überall anpassen mußten und daß die fortwährende An-
passung auf ihre ursprüngliche Charakteristik eingewirkt hat. Es geht
jedenfalls nicht an, zu behaupten, daß wir in den Juden des zwanzigsten
Jahrhunderts den Juden des zweiten nachchristlichen oder des fünften
vorchristlichen Jahrhunderts vor uns haben. Wer solche Behauptung
aufstellt, der sagt zugleich, daß das „Gesetz" der Entwicklung gerade
a<n dem jüdischen Geist eine Grenze habe. Ist denn solche Behauptung
stichhaltig? Man bedenke folgendes: Seit mehr als zweitausend Jahren
leben die Juden auf dem ganzen Erdball zerstreut in dreißig bis vierzig
verschiedenen Milieus, unter den verschiedensten klimatischen und
biosoziologischen Bedingungen. Die klimatischen Verhältnisse sind ge-
wiß nicht ohne Einfluß auf die Formation des Typus; das Kulturmilieu
(Sprache, Sitte, Tradition usw.) bildet den Menschen. Die Wirtschafts-
bedingungen tragen bei "zur Bildung des Typus und des Exemplare»;
Nahrung und Kleidung beeinflussen nicht nur seine physiologische,
sondern auch seine psychische Konstitution. Die geistige Kultur der
Umgebung prägt dem Intellekt des einzelnen ihr Siegel auf, und un-
zählige anonyme Kräfte, rdie aus tausenden unsichtbaren Poren des
Milieus hervordringen, beeinflussen 'den ganzen Habitus des einzelnen.
Natürlich beeinflußt auch das Wirtsvolk die jüdische Minorität und
drückt oft den Juden den Stempel seines Geistes auf. Ob der chine-
sische Jude und der arabische Jude und ob der rassinische mit dem se-
phardischen Juden aus Bordeaux oder mit dem reformierten amerika-
nischen Juden holländischen Ursprungs ethnisch und psychologisch so-
viel Gemeinsames hat, daß man sich aus ihnen einen überindividuellen
Gesamtgeist zurechtlegen darf, muß bei unserer heutigen Kenntnis der
sozialen und ergo psychischen Differenzierung füglich in Frage gestellt
werden. Daß die Juden aus aller Welt eine gemeinsame, in der Ferne
liegende Vergangenheit haben, stempelt sie noch lange nicht zu einer
aktuellen ethnischen Einheit. Es ist in jüngster Zeit sehr viel von der jü-
dischen Blutsverwandtschaft gesprochen worden, und selbst ernste An-
thropologen sprechen oft von der jüdischen Rassenreinheit. In Vergleich
zu anderen Völkern mögen vielleicht die Juden eine relative Reinrasse
darstellen, aber wenn man bedenkt, daß die Juden seit 2000 Jahren
in Europa leben, daß sie seit 2000 Jahren an allen Kriegen der euro-
päischen Völker beteiligt waren, und daß jeder Krieg die Reinheit einer
Rasse beträchtlich modifiziert. Weil Jeder Krieg unzählige Bastarde
zur Welt bringt, so läßt sich schwer von der Reinheit der jüdischen
Rasse reden. Nicht nur der große Weltkrieg, dessen erster Kanonen-
schuß in der sogenannten jüdischen Gasse abgefeuert wurde, hat
durch die nicht ga,nz freiwillige slawisch- jüdische und dann germanisch-
jüdische Paarung tiefe psychologische Spuren m der jüdischen Rasse
hinterlassen, sondern jeder Krieg, an dem sich die Juden beteiligten
oder der in der jüdischen Nachbarschaft stattfand, hat die Rassen^
Verhältnisse der Juden modifiziert. Bei dieser Sachlage kann kein
wissenschaftlich ernst denkender Mann von der Reinheit der jüdischen
Rasse reden, so wie es nicht anginge, von der Reinheit der deutschen,
französischen oder slawischen Rasse zu reden. Die reine Rasse ist im
besten Falle eine Fiktion und als solche die Ausgeburt nationaler Eitel-
keit und im schlimmsten Falle eine bewußte grobe Unwahrheit, und
beiden kann man keine wissenschaftliche Erkenntnis abgewinnen. Nun
will ich nicht sagen, daß die Juden, wenn sie auch ökonomische, poli-
tische und soziale Gegensätze repräsentieren, nichts Gemeinsames
haben, das sie umschlingt. Die Erinnerung an die gemeinsame Ver-
gangenheit allein ist schon ein starkes Band. Die gemeinsame Religion,
viele gemeinsame Sitten und Gebräuche, gemeinsame nationale Hoff-
nungen, sind natürlich starke, verbindende Momente. Aber auf diesen
rein abstrakten Momenten allein kann man keine jüdische Geistes-
psychologie schlechthin konstruieren, weil sie ohne das induktive
Material ein deduktives Geistesspiel bleiben muß. Nur auf dem Wege
der Induktion oder mindestens ihres Obersatzes kann man hier einige
Wahrheiten zutage fördern. Die geistesspielerische Deduktion ist allen
Judäologen der neueren Zeit zum Verhängnis geworden. Hier nur ein
Beispiel: Werner Sombart setzt sehr geistreich auseinander, daß die
Großstadt eine Fortsetzung der Wüste sei, daß Wüstenvölker, zu
welchen er auch die Juden zählt, zur Abstraktion neigen (diese Weis-
heit stammt von Renan, der schon den jüdischen Monotheismus für
ein Produkt der Wüste erklärte). Daher sind nach Sombart die Juden
Großstädter. In der Großstadt gehen sie „geistigen" Berufen nach;
daraus folgert er: „daß die Juden von der Urzeit des Hirtendaseins
an niemals körperlich schwere oder auch nur vorwiegend körperliche
Arbeit zu verrichten Gelegenheit gehabt haben". (Die Juden und das
10
Wirtschaftsleben, S. 420.) Wenn wir aber die Dinge betrachten wie sie
sind, und nicht, wie sie sich im Kopfe eines weltfremden Professors
widerspiegeln, dann kommen wir zu beträchtlich anderen Ergebnissen.
Tatsache ist, daß die Juden, als Fronarbeiter in die Weltgeschichte ein-
getreten, die Arena der Geschichte mit der Psychologie eines Arbeiter-
volkes betreten haben. Und diese Tatsache ist ihnen bis zum heutigen
Tage zum Fluche geworden, weil die Psychologie eines Fronarbeiter-
volkes, den jüdischen Individualismus und Revolutionismus, ihre Hart-
näckigkeit, die sogenannte Prinzipienreiterei der Juden verursacht hat.
Auch die Bibel bezeichnet die Juden als hartnäckiges Volk. Mit einem
revolutionär gesinnten und individualistisch veranlagten Volke kann
man keinen Staat bauen. Der unbeugsamen Hartnäckigkeit des Ar-
beiters und des Bauern steht immer die Vorliebe des Kaufmanns zum
Kompromiß entgegen. Schon Montesquieu hat auf diese sozialpsycho-
logischen Differenzen aufmerksam gemacht. Nur Bauern und Arbeiter
sind Prinzipienmenschen. Ein Handelsmann ist und darf nicht hart-
näckig sein. Er muß eben mit sich handeln lassen. Wir werden noch
später sehen, wie der Rückfall der Israeliten in den Polytheismus
„ökonomisch" bedingt und wie das Festhalten Judäas am Monotheis-
mus „agrarisch" motiviert war. Die Bibel ist jedenfalls ein Agrarbuch
und kein Handelsbuch. In der Bibel wird von Regen und Traufe und
Spätregen und von anderen Arten Regen, die dem palästinischen Bauer
sehr nützlich sind, gesprochen, aber nicht von Handeln und von Ware.
Schon aus diesen kurzen Andeutungen ist zu ersehen, wie die Sombart-
sche Behauptung, daß die Juden niemals körperlich schwere Arbeit
verrichtet hätten, aus der Luft gegriffen ist; und da eine völlig falsche
Deduktion die Prämisse seines Buches ist, kann man sich lebhaft
denken, welchen wissenschaftlichen Wert seine Juden-Psychologie hat.
Aber auch die zeitgenössischen Juden sehen nicht so aus, wie sie
in der Sombartschen Deduktion erscheinen mögen. Von den nahezu
dreizehn Millionen Juden, die heute in mehr als dreißig Staaten ver-
sprengt leben, halten sich acht Millionen in kleinen Städten und auf
dem Lande auf. Vor dreißig Jahren lebten noch 85% aller Juden in
den kleinen Städten oder auf dem Lande. Infolge der Industrialisierung
der Welt folgten sie, gleich den anderen Bevölkerungsschichten, dem
Zuge nach der Großdtadt. Aber selbst in Deutschland leben noch 45%
der Juden in Kleinstädten. Die überwiegende Mehrheit des jüdischen
Volkes ist, Avie aus obiger Angabe, die in jedem jüdischen Volks-
kalender nachgeprüft werden kann, ersichtlich kein Großstadtgesindet
Wie nun moderne Forscher dazu kommen, das jüdische Volk für Groß-
11
stadtpack zu erklären und dem ganzen jüdischen Volk eine Großstadt-
psychologie anzuhängen, nur weil in Westeuropa die Juden seit einer
Generation in der Großstadt leben, ist kaum verständlich. Es scheint,
daß die jüngeren deutschen Forscher sich von dem häßlichen Bilde,'
das die wirklich großen Germanen seit Friedrich dem Großen vom
Judentum und den Juden entworfen haben, nicht befreien können. Der
Jude ist Händler — so von Herder bis Sombart. Allein statt falsche
Argumente zu widerlegen, will ich statistische Tabellen sprechen
lassen: Diese statistischen Tabellen, der offiziellen amerikanischen
Immigrationsstatistik entnommen, reden eine klare, deutliche Sprache.
Von einer Million russischer Juden, die von 1899 bis 1908 in Amerika
eingewandert sind, waren:
Im Jahre Gelernte Arbeiter Ungelernte Arbeiter
15,6%
13,3%
23,60/o
22,80/Q
20,50/0
10,7%
15,8%
19,9%
Diese statistischen Tabellen lassen sich mit den Behauptungen der-
jenigen Forscher, die sich mit Judenpsychologie abgaben und die
immer den jüdischen Händler herausstreichen, kaum vereinbaren *).
Die Zahl der gelernten jüdischen Arbeiter und der groben, un-
gelernten Arbeiter in Rumänien und anderen Balkanländern ist noch
eine verhältnismäßig größere als die in Rußland. Jeder gebildete Euro-
päer weiß, daß die Ghetti in Newyork, London und Paris zum über-
wiegenden Teil jüdische gelernte Handwerker zu Insassen haben.
Ebenso ist es ein bekanntes Faktum, daß große Massen orientalischer
Juden die schwersten Arbeiten verrichten. So sind z. B. die Lastträger
und Hafenarbeiter in Saloniki fast ausschließlich Juden. Die Stein-
hauer in Yemen sind ausschließlich Juden. In den Vereinigten
Staaten und Kanada, in Argentinien, Brasilien und Palästina und
im Süden Rußlands beschäftigen sich Zehntausende von Juden
mit Landwirtschaft. Die Zahl der jüdischen Kleinbauern in Argentinien
allein beträgt 23 000. In Rußland, wo die zarische Regierung den Juden
x) Jacob Leschczinsky, Der jüdische Arbeiter in Rußland, Wilna 1906.
12
1899
32,80/0
1900
34,70/0
1901
31,16o/0
1902
30,90/0
1903
35,5%
1904
42,50/0
1905
46,30%
1906
33,20/0
1907
35,00/Q
1908
30,0%
die Beschäftigung mit der Landwirtschaft so erschwert und ihnen den
Erwerb von Land untersagt hatte, beschäftigten sich 3,55 Prozent Juden
mit Landwirtschaft. Auch in Österreich-Ungarn und speziell in Galizien,
sowie in Holland und auf dem Balkan leben große jüdische Arbeiter-
massen. Die Diamantschleiferei in Amsterdam ist eine spezifisch jü-
dische Arbeit. Die Schneiderei in Amerika und England ist eine spe-
zifisch jüdische Beschäftigung. Das sind Tatsachen, die jeder, der sich
mit jüdischen Dingen befaßt, wissen muß. Wie nun moderne Forscher
heute die alte Herdersche Judenweisheit wieder aufzutischen sich er-
lauben, ist nur aus den alt eingewurzelten antisemitischen Traditionen
zu erklären.
Bei einem Versuche, die Psychologie eines Volkes zu erkunden,
müssen nicht nur die Verhältnisse historisch, d. h. das aus der Suk-
zession sich ergebende evolutive Plus in Betracht gezogen wrerden,
sondern auch die Verhältnisse im räumlichen Nebeneinander der Gegen-
wart erheischen ein eingehendes Studium. Diese beiden Momente
machen es absolut unmöglich, von einer Psychologie des jüdischen
Geistes zu sprechen, wie man etwa von der Psychologie dieses oder
jenes Individuums spricht. Der Geist des Einzelindividuums ist ein-
malig und konstant, während die Volksseele resp. der nationale Geist
dem Wechsel, der Entwicklung unterworfen ist und gleich der Rasse
sich immer im langsamen Fluß befindet, also weder einmalig noch
konstant ist. Jede Völkerpsychologie, die nicht an der historischen
Entwicklung orientiert ist, ist im besten Falle geistreiche Spielerei, im
schlimmsten Falle irreführender Sophismus. Im Reiche des wahren
Seins mag vielleicht Konstantes existieren, im Reiche des wirklichen
Werdens, d. h. in der Natur und in der Geschichte, gibt es kein Kon-
stantes, sondern alles wird, alles fließt, und das einzig Beständige ist
der Wechsel. Es gibt keinen stillen Moment in der Geschichte, wie
es keinen leeren Raum in der Natur gibt. Die deutschen Forscher, die
sich mit Judenpsychologie befaßten, sprechen aber vom jüdischen
Geist, als wäre er eine platonische Idee — • ewig — konstant, unver-
änderlich, unveränderbar und unvernichtb'ar. Denselben Fehler be-
gehen auch heute französische und englische Forscher.
Hierher gehört auch noch eine Bemerkung rein technischer Natur.
Man darf von einem Forscher, der sich dazu anschickt, die Psychologie
eines Volkes zu behandeln, verlangen, daß er zumindest das Schrifttum
dieses Volkes im Original kenne. Die deutschen Theologen, seit Herder,
die es als ihre wissenschaftliche Pflicht betrachten, ihre Werke mit
einer Judenpsychologie zu eröffnen, verstehen noch recht und schlecht
13
die Bibel im Urtext. Aber die nichttheologischen Forscher können sich
nicht einmal dieser kleinen Kenntnisse rühmen und sind auf Quellen
von zweiter und dritter Hand angewiesen. Aber selbst wenn das nicht
der ;Fall wäre, wäre Kenntnis der Bibel noch kein genügendes Material,
aus dem man eine Judenpsychologie konstruieren kann. Die nach-
biblische Literatur in hebräischer Sprache, an der die besten Köpfe
eines begabten Volkes arbeiteten, ist etwa 30 000 Bände stark, und
diese Literatur ist gewiß keine quantite negligeable für die Beurteilung
des jüdischen Geistes. Diese nachbiblische Literatur der Juden, speziell
die talmudische und die rabbinische, wie auch die mittelalterliche jü-
dische Religionsphilosophie und Poesie, die in der spanisch-arabischen
Periode entstanden, ist den modernen Forschern ein Buch mit sieben
Siegeln. Aus den wenigen übersetzten Brocken kann man sich kaum
ein Bild von dieser Literatur machen.
So wenig man aus einem übersetzten Goethe oder Shakespeare
auf die Psychologie des deutschen oder des englischen Geistes schließen
kann, so wenig kann man aus einer übersetzten Bibel auf die Psycho-
logie des jüdischen Geistes schließen.
Selbst die Psychologie des Judentums der Gegenwart setzt die
Kenntnisse desjenigen Schrifttums im Original voraus, an dem sich
der jüdische Geist am meisten bildet — des hebräischen. Dieses Schrift-
tum beherrscht den Durchschnittsjuden in einer fast unglaublichen
Weise. Wir haben nur an ein Buch zu denken, an den sogenannten
Schulchan Aruch. Dieses Buch, nach dem noch heute die Mehrzahl der
Juden lebt, enthält nicht nur religiöse und synagogale Satzungen und
rituelle Vorschriften, sondern auch ethische Normen, moralische Wei-
sungen, sanitäre Vorschriften und Anstandsregeln. Es schreibt dem
Juden vor, wie er gehen, stehen, sitzen und schlafen soll usw. Es
ist wahr, nicht alle Juden beobachten alles, was dieses Buch vorschreibt,
aber ein Mehr oder Weniger beobachten selbst die westeuropäischen
Juden. Die Kenntnis der jüdischen Codices ist absolut unentbehrlich
für jeden, der sich mit der Psychologie des jüdischen Geistes beschäftigt.
Aber diese Bücher liegen nicht einmal in einer europäischen Sprache
vor. Nun schätze man richtig den wissenschaftlichen Wert der neueren
Judenbücher, die germanische Forscher zu Verfassern haben, ein.
Die geistigen Vertreter der Wirtsvölker betrachten den in ihrer
Mitte lebenden Juden nicht wie er ist, sondern wie er ihnen erscheint,
und schließen von dem Exemplar auf die Gattung. In Deutschland,
wo nur der zwanzigste Teil des jüdischen Volkes lebt, beschäftigen
sich die Juden in beträchtlicher Anzahl mit der Industrialisierung und
14
Mechanisierung der Welt. Sie sind zur Hälfte Großstädter und teilen,
wie nicht anders zu erwarten ist, die Laster aller Großstädter. So
die Hälfte der deutschen Juden, also der vierzigste Teil des jüdischen
Volkes. Natürlich leben noch Millionen andere Juden in der Groß-
stadt, aber da sie, wie in den großen Ghetti von Newyork, Chicago,
London, Paris, Wien, Warschau und Odessa zum großen und oft zum
größten Teil dem Handwerk obliegen, passen sie wohl nicht zum Bilde
des jüdischen Händlers, das deutsche Forscher vom modernen Juden
entworfen. Statt nun die 39 Teile als die Regel und den 40. Teil als
die Ausnahme hinzustellen, wie es die elementarste Vernunft gebietet,
bringen sie es fertig, gerade die Ausnahme als die Regel hinzustellen
— und das nennt sich wissenschaftliche Judenpsychologie.
Wenn Völkerpsychologie überhaupt möglich ist, dann ist die
Psychologie des jüdischen Volkes das schwierigste Kapitel. Die Völker-
psychologie, soll sie nicht akademisch-antisemitische Propaganda se'in,
muß sich an der Geschichte orientieren. Wenn jüdische Geschichte
nicht nur eine Geschichte von Pogromen und Märtyrerhistorien, from-
men Büchern und rabbinischer Gesetzesforschung ist, sondern ein
Ablauf ökonomischer, politischer und sozialer Prozesse, eine Reihe
von zivilisatorischen Taten und schöpferischen Vollbringungen, die im
wirklichen Leben ihren Quell und ihre Basis haben, dann gibt es keine
jüdische Geschichte der letzten zweitausend Jahre, sondern Geschichten,
und im besten Falle eine jüdische Literaturgeschichte. Juden haben
sich zu aller Zeit mit Politik, Handel und Technik beschäftigt; aber die
Taten und Werke der jüdischen Staatsminister gehören nicht in die
Geschichte des jüdischen Volkes, sondern in die Geschichte derjenigen
Völker, denen große jüdische Männer ihre Dienste gewidmet haben.
Das gleiche gilt vom jüdischen Handel. Selbst wenn alle Juden
Händler wären, gäbe es dennoch keinen jüdischen Handel. Heute
z. B. beteiligen sich fast alle deutschen Juden am Handel, deshalb
gibt es aber doch keine jüdischen Handelskorporationen, keine jü-
dischen Börsen und keine jüdischen Banken. Das zivilisato-
rische Leben der jüdischen Individuen wurzelt nicht
im Judentum, weil eine nationale Zivilisation ohne nationalen
Staat unmöglich ist. Daß die jüdische Religion dem Handel der jü-
dischen Individuen Vorschub leiste und sie auf den Handel weise, ist
eine der blödsinnigsten Fabeln, die die moderne professorale Stu-
pidität geschaffen hat. Wenn Bibel und Talmud uns über diese Frage
aufklären können, wird sich bald ergeben, daß genau das Gegenteil
von dem wahr ist, was moderne Forscher über diese Frage aussagen.
15
Die trockene und nackte Tatsache ist die, daß das Judentum seit
2000 Jahren nur eine theoretisch-abstrakte Kulturanschauung ist, deren
Träger als solche kein einziges Zivilisationswerk hervorgebracht haben,
d. h. die Zivilisationswerke der Juden seit der Zerstörung des jüdischen
Staates waren niemals jüdisch motiviert. Ist etwa Einsteins mathema-
tischer Genius aus dem jüdischen Geiste gehauen, hat Ehrlichs Seiten-
kettentheorie mit dem Judentum zu tun? War Weigerts Werk jüdisch
motiviert? Haben die Äther-Theorien von Graetz mit dem Judentum
etwas zu tun, und sind die großen jüdischen Entdecker und Erfinder
der neuen Zeit, einschließlich Schwartz und Lilienthal, die Entdecker
der Aviatik und der Aeronautik, von jüdischen Motiven inspiriert wor-
den? Die zivilisatorische Tätigkeit der Juden hat mit dem jüdischen
Blute und der jüdischen Abstammung wenig zu tun. Nur in sehr
wenigen Fällen läßt sich da überhaupt eine direkte innere Beziehung
nachweisen 1). Diese separate Kulturanschauung, Judentum genannt,
kann im besten Falle als besondere kuriose literarische Tendenz in der
Weltgeschichte betrachtet werden. Auf den Gang des konkreten Le-
bens hatte diese literarische Tendenz keinen unmittelbaren Einfluß.
Wenn Juden sich oft revolutionär gebärden und große revolutionäre
Taten vollbringen, wie im Fall von Trotzki, dann müssen sich die
konservativen Mächte selbst tadeln. Wer sich vornimmt, die Juden
auszurotten, wie es das zaristische Regime getan, darf sich über die
Entstehung ejnes Trotzkis — eine furchtbare Reaktion auf eine furcht-
bare antisemitische Spannung — nicht wundern. Trotzki ist das Werk
nicht des Judentums, sondern des zarischen Regimes, genau so wie
die jüdischen Sozialistenführer in Deutschland nicht Produkte des
Judentums, sondern Produkte des deutschen Antisemitismus sind. In
den westeuropäischen Ländern, wo der Antisemitismus weniger vehe-
ment ist, gibt es keine jüdischen „destruktiven Kräfte". Wer den
Juden nicht demütigt und nicht quält, den beißt er nicht, und die Juden-
quälerei gehört nicht notwendigerweise zur moralischen Weltordnung.
Also wenn die Juden oft destruktive Elemente hervorbringen und
diese destruktiven jüdischen Elemente einen tiefgehenden Einfluß auf
Staat und Gesellschaft ausüben, so hat das mit dem Judentum, einer
theoretisch abstrakten Kulturanschauung, blutwenig zu tun.
Der Talmud und die hebräische Literatur, die auf den Talmud folgte,
sind nur nationales Gemeingut geblieben, im Gegensatz zur Bibel,
die Gemeingut der Menschheit geworden, weil sie ein Buch von großen
x) Einige Forscher behaupten, daß Ehrlich ein ,, talmudischer Kopf" war und
daß speziell seine Seitenkettentheorie einen kasuistisch-pilpulistischen Geist verrate.
16
Taten und von großen tätigen Männern ist, und weil sie in so
wunderbarer Weise die Geschichte aller menschlichen Schicksale und
aller menschlichen Zukunft beschreibt, weil sie die ewige Wieder-
kehr verkündet. Aber selbst dieses ausschließlich nationale Kulturgut
der Juden (Talmud, Rabbinismus usw.) besteht zum großen Teile aus
fremden, nicht jüdischen Elementen, die allerdings eine jüdische Form
angenommen haben. Gebildete und Historiker wissen, wieviel in der
jüdischen Religion platonisch und aristotelisch ist. Die jüdisch-alexan-
drinische Religionsphilosophie war an Plato und selbst an der Stoa
orientiert (Philo). Der mittelalterliche Rabbinismus und die mittelalter-
liche jüdische Religionsphilosophie waren ganz aristotelisch gestimmt.
Die jüdische Reformation am Ausgang des achtzehnten und am Anfang
des neunzehnten Jahrhunderts hat auf dem Wege von Mendelssohn
über Leibniz, von der Aufklärung und später von Kant ihre An-
regung bekommen. Daher ihre ursprüngliche Neigung zum Kosmo-
politismus. Die spätere jüdische Reformation mit ihrem negativen
Verhältnis zum jüdischen und mit ihrem positiven Verhältnis zum
deutschen, französischen und englischen Nationalismus fußt ganz auf
Hegel. Selbst der Zionismus in allen seinen Abstufungen ist auf
Hegeische Anregungen zurückzuführen. Dafür bürgen die zwei Namen:
Nachman Krochmal und Achad Haam. Daraus geht hervor, daß selbst
das Abstrakteste und Luftigste im Diaspora-Judentum zum großen, über-
mäßig großen Teil fremde Zweige am Baume des Judentums sind.
Da aber selbst das abstrakte Judentum seit zweitausend Jahren aus
fremden Quellen schöpft und fremden Elementen in diesem Maße Ein-
gang in sein Gebiet gewährt, so ist klar, daß, wenn auch das abstrakte
Judentum die Handlungen des jüdischen Individuums bestimmte, die
Handlungen der Juden nicht nur jüdisch motiviert sind. Diejenigen,
die von einer Kulturtendenz abstrakter Natur auf die gesamte psycho-
logische Beschaffenheit seiner Träger schließen wollen, was natürlich
eine psychologische Untersuchung eben dieser Kulturtendenz voraus-
setzt, können unmöglich in Anbetracht dieser Fülle von nichtjüdischen
Elementen im Diaspora-Judentum zu irgendeinem nennenswerten Re-
sultat gelangen. Es braucht nicht besonders betont zu werden, daß es
wegen der Vielseitigkeit des Lebens unstatthaft ist, von lediglich ab-
strakten Erscheinungen, die nur zu oft dem blöden Zufall ihre Offen-
barung verdanken, auf das ganze, reiche und vielseitige Leben zu
schließen.
Man sagt, daß die Religion. (Mythus) ein Mittel sei, um in den
Geist einer Nation einzudringen. Mag sein. Aber nur wenige Forscher
2 Melamed
17
rechnen mit der Tatsache, daß selbst der jüdische Mythus der letzten
zweitausend Jahre, resp. die jüdische Volksmetaphysik nicht jüdisch,
sondern platonisch-parsisch ist. Die Vorstellung des Ghettojuden von
Geburt und Tod, von dem Ursprung der Seele und ihrer Unsterblich-
keit, ist von Anfang bis Ende nicht jüdischen, sondern platonischen
Ursprungs. Das gleiche gilt von einem großen Teil der jüdischen
Eschatologie und Angelologie, die persischen Ursprungs ist. Wieviel
Juden haben nicht Bedrückungen und Verfolgungen gelitten, weil sie
dem Volksglauben skeptisch gegenüberstanden? Wie viele Opfer haben
nicht die Juden selbst diesem fremden Götzen dargebracht? Und diese
Volksmetaphysik hat doch dem mittelalterlich rechtgläubigen Judentum
ihr Siegel aufgedrückt, sich zu einem großen Moment im religiösen
Leben der Juden entwickelt und seit zweitausend Jahren wie ein Alp-
druck auf dem jüdischen Geiste gelastet. Wenn nun selbst die Reli-
gion des Diaspora-Judentums in solchem Maße fremde Elemente in
sich aufgenommen hat, die es von Grund aus umgestaltet haben, wie
kann man da vom Judentum als etwas Abgeschlossenem und Kon-
stantem sprechen?
Daß die Juden von heute nicht viel mehr Ähnlichkeiten mit dem
antiken Juden haben als „antike" Germanen mit den zeitgenössischen
Deutschen, sollte doch jedem ernsten Menschen ersichtlich sein, be-
denkt man, wie der europäische Geist den des jüdischen beeinflußt,
und bedenkt man, daß die Geschichte nicht still steht. Man muß auch
noch in Betracht ziehen, daß die Juden während der größeren Hälfte
ihres historischen Daseins nicht in ihrem Lande und nicht in Asien,
sondern unter christlichen Völkern in Europa gelebt haben. Haben
die Juden umsonst zweitausend Jahre in Europa gelebt? Haben die
bio-soziologischen Bedingungen in Europa, die wesentlich anders sind
als die in Asien, die jüdische Psyche nicht gebildet und den jüdischen
Geist nicht gemodelt? Und hat das Gesetz der geschichtlichen Ent-
wicklung gerade an den Juden eine Grenze? Nur heißgesottene Pla-
toniker oder Mystiker können die letzte Frage bejahend beantworten.
Völkerpsychologie aber ist weder Piatonismus noch Mystizismus, soll
sie den Anschein einer Wissenschaft wahren.
Aus diesen Erwägungen heraus sehe ich mich veranlaßt, die hier
zur Diskussion stehende Frage methodologisch anders zu behandeln,
als die meisten deutschen Forscher es tun. Der Ausgangspunkt muß
wohl der sein: 1. Das Judentum ist wie jedes andere „tum" nicht
konstant und nicht unveränderlich. 2. Das Diaspora-Judentum hat,
infolge seiner schicksalsreichen und wechselvollen Geschichte, mit
18
dem antiken-klassischen Judentum ebensoviel oder ebensowenig ge-
mein wie das antike Hellas mit dem modernen Griechenland, wenn
auch nicht geleugnet werden soll, daß wegen der jüdischen Rassen-
inzucht der antike jüdische Genius auch noch heute von Zeit zu Zeit
oft lichterloh aufflackert — um bald wieder zu erlöschen. Die viel-
tausendjährige Kontinuität des Judentums beweist nicht, daß es kon-
stant und unveränderlich ist, sondern im Gegenteil, daß es sich immer
von neuem den lokalen Bedingungen anpaßt und neue Formen an-
nimmt, wie es sich einer großen Kultur, die aus dem Geiste des an-
tiken Genius gehauen ist, geziemt. Kulturen, die nicht anpassungsfähig
sind, sind dem Untergange geweiht. Da aber die Kontinuität des
Judentums in unzähligen verschiedenen Kulturmilieus und unter den
verschiedensten bio-soziologischen Bedingungen vor sich gegangen ist
und sie (die Kontinuität) eines einheitlichen Quells entbehrt hat, so
setzt sich die Gestalt der heutigen Judenheit und des Judentums zum
großen Teile aus den Wirkungen von mehr als dreißig Milieus zusam-
men, die noch nicht erforscht sind. Aus diesem Grunde muß das an-
tike Judentum separat und als besonderes Kapitel behandelt werden.
Selbst wenn die Juden während ihres ganzen historischen Daseins in
Palästina gelebt hätten, wäre diese Zweiteilung notwendig gewesen,
gerade wie die Psychologie des germanischen oder englischen Geistes
eine historische Zweiteilung erfordert. Eine germanische Geistes-
psychologie kann trotz der notwendigen Zweiteilung „aus einem Guß"
sein, weil hier der historische Prozeß ein mehr oder weniger natürlicher
war. Von Kindheit bis zum Mannesalter hat der Germane am gleichen
Ort gelebt, ist mit seiner Erde und mit seinem Walde gewachsen,
resp. hat sich mit ihnen verändert, und die Veränderungen und Evo-
lutionen seines Geistes waren durch „natürliche" Momente und Kräfte
veranlaßt. Das Gegenteil von dem geschah den Juden. Schon die
Wiege ihrer Kindheit stand auf fremdem Boden. Als sie sich später
zur nationalpolitischen Selbständigkeit durchgerungen hatten, waren
sie jeden Augenblick von den vielen Völkern, die sie umgaben, bedroht.
Sie mußten schwer um ihre nackte Existenz kämpfen. Seit zweitausend
Jahren vollends sind sie ihrem heimatlichen Boden entrissen und leben
auf dem ganzen Erdball zerstreut. Will man nun die psychologischen
Eigenheiten der zeitgenössischen Juden kennen, so muß man zuvor
die Psychologie ihrer Wirtsvölker studieren, denn es jüdelt sich überall,
wie es sich christelt — und man müßte, wie gesagt, den Einfluß der
klimatischen, biologischen und soziologischen Verhältnisse von dreißig
grundverschiedenen Milieus auf die Juden erforschen. Dazu gesellen
2*
19
sich noch' eine Reihe historischer Schwierigkeiten, die auch nicht so
leicht zu überwinden sind. Da nun keine Materialien, die zu diesem
Zwecke gesammelt worden wären, vorliegen, so kann an die Behand-
lung einer Psychologie der zeitgenössischen Judenheit noch gar nicht
herangetreten werden. Das Problem muß sich deshalb zum größten
Teil auf das antike Judentum beschränken. Nur sofern die heutigen
Juden als Erben der antiken Juden mit den letzteren geistespsycholo-
gisch etwas gemein haben, kann die Erkenntnis von der Geistespsycho-
logie des antiken Juden sich auch auf zeitgenössische Juden beziehen.
Um in das Innere des mir vorliegenden begrenzten Problems ein-
zudringen, muß ich eine Reihe methodologisch-philosophischer Fragen
erörtern, die auf den ganzen Gegenstand ein Licht werfen. Es geht nicht
an, mit der Tür ins Haus zu fallen und mit einem Versuch der Lösung
des Problems zu beginnen, ohne es zuerst abzugrenzen und seine
richtige Formulierung zu geben.
20
Zweites Kapitel.
Grundlagen und Voraussetzungen.
Die historische Wirklichkeit. — Das Erwachen des nationalen Bewußtseins
in Europa. — Was die Franzosen unter Kosmopolitismus verstehen. — Die
naturalistische Interpretation der Geschichte. — Abstrakte Ideen als Geschichts-
faktoren. — Idealistische Geschichtsmotive. — Persönlichkeit und anonyme Kräfte.
— Zivilisation und Kultur. — Die Aufgaben der Historiographie. — Selektive
Kräfte. — Die Tradition als historische Macht. — Der allgemeine Wille. — Die
organische Volkseinheit. — Der spezifische Kulturgenius. — Der römische Genius.
— Der hellenische Genius. — Die Grundlagen. — Religion und nationale Kultur.
— Sprache und Volksseele. — Über Völkerpsychologie überhaupt. — Volks-
seelische Potenzen. —
Die Völkerpsychologie als wissenschaftliche Sonderdisziplin wird
noch heute viel umstritten, obgleich sie ganz und gar nicht jugend-
lichen Alters ist. Schon lange ehe Finot und Hertz auf der einen und
Hermann Paul auf der andern Seite mit ihren gegen Völkerpsychologie
und Rassentheorie gerichteten Schriften auf den Plan getreten waren,
ließ sich John Stuart Mill vernehmen: „Of all vulgär modes of escaping
from the considerations of the effect of social and moral influences on
the human mind the most vulgär is that of attributing the diversities
of conduct and character to inherent natural differences." Von jeher
hat es bedeutende Forscher gegeben, die ähnlich wie Mill dachten ;
allein, wer an der Wirklichkeit des Lebens orientiert ist, wird über die
nackte Tatsache nicht hinweggehen können, daß, wie alle Unkultur
primitive Simplizität ist, alle Kultur subtile Differenziation bedeutet.
Menschheit ist nur ein abstrakter Begriff oder eine ethische Formel;
im wirklichen Leben gibt es Stämme, Völker und Rassen, die in ihrer
biopsychologischen Beschaffenheit so voneinander gesondert sind und
ihre Differenzen zu einem so bedeutenden Faktor im Leben potenzieren,
daß sie oft die Existenz der menschlichen Gattung gefährden. Auch
können wir über das Faktum nicht hinweg, daß die Geschichte eine Ge-
21
schichte der Völker und Rassen ist. Der antike Geist mit seiner sub-
jektiven Tendenz und Form hat dies auch klar erkannt: Aristoteles hat
die Einsicht von dem Vorhandensein bio-psychologischer Differenzen
in der menschlichen Gattung1 zum Ausgangspunkt seiner „Politik"
gemacht, und die Bibel eröffnet die Weltgeschichte mit einer Geschichte
von Völkern und Rassen. Der mit dem Leben in Kontakt stehende
Forscher hatte von jeher erkannt, daß jede Kultur, möge sie noch so
universalistische Züge aufweisen, ein Erzeugnis des spezifischen Volks-
geistes ist, daß die Vielgestaltigkeit der Menschheitskultur ein not-
wendiges Ergebnis der psychologischen Sonderheiten und Differen-
zierungen der Völker ist, die sich an der Kultur beteiligen, und daß eine
simple, undifferenzierte, monotone Universalkultur, von der mittel-
alterliche Scholasten a la Gehoch träumten, ein Ding der Unmöglichkeit
ist. Denn sowohl das erste Wahre als das Wirkliche im Leben ist die Indi-
vidualität, die die andere Individualität ausschließt. Für die Richtigkeit
dieser historischen Erkenntnis zeugen Rom und das römisch-papistische
Mittelalter mit seinen universalistischen Tendenzen. Die Zerstörung
des alten Roms war eine logische Folge seines bis zum Extrem ge-
triebenen politischen Universalismus; denn die Eroberten majorisierten
die Eroberer und zerstörten die nationale Individualität Roms. Der
Zerstörung des alten Roms folgte das papistisch-universalistische Rom,
das die Kirchenväter theoretisch modellierten, und das bestrebt war,
aus den vielen Völkern und Rassen ein Volk mit einer Religion und
einer Sittlichkeit zu machen. Tausend Jahre war das theologische Rom
am Bastardierungswerk der Menschheit tätig — während welcher Zeit
die menschliche Vernunft verstummt war und mittelalterliche Nacht den
Menschengeist umhüllt hatte, — bis die europäischen Völker — auf
semitischer Erde — während der Kreuzzüge zum nationalen Be-
wußtsein erwachten und, einmal national selbstbewußt, selbst mit der
Entpapisierung der Welt begannen. Die Zänkereien der Kreuzfahrer
untereinander, von welchen die Geschichte berichtet, waren, wie
alle Historiker zugeben, die ersten Symptome ihres erwachten
Nationalbewußtseins. Als Kinder der Kirche sind sie nach Klein-
asien gezogen, und als Franzosen, Engländer, Deutsche usw. sind
sie nach Europa zurückgekehrt. Den Kreuzzügen folgte die Re-
naissance, die nach Burckhardt die Persönlichkeit entdeckte und die der
Kirche und dem Universalismus den Krieg erklärte. Auf die Renaissance
folgte die germanische Reformation, die erst mit Immanuel Kant ab-
geschlossen wurde. Das erste nachchristliche Jahrtausend nennen christ-
liche Historiker die finstere Nacht des Mittelalters. Das erste und das
22
zweite christliche Jahrtausend beweisen, in welchem Maße die geson-
derte, frei sich bewegende und ihren Eigentümlichkeiten lebende Nation
Kultur und Zivilisation hemmen oder fördern kann.
Der französische Kosmopolitismus des achtzehnten Jahrhunderts
wollte nur, daß alles französisch werde, und war im letzten Grunde die
höchste Potenzierung des nationalen Individualismus. Die Vereinzelten,
nach Weltbürgerlichkeit Strebenden harten, wie viele Große des acht-
zehnten Jahrhunderts, das zweifelhafte Privilegium, jedes historischen
Verständnisses bar zu sein. Die Stoa hatte es ihnen angetan. Zudem
fehlten ihnen damals diejenigen anthropologischen und ethnologischen
Kenntnisse, die unser heutiges Geschlecht besitzt. Wer bei dem
heutigen Stand der Wissenschaft an dem Kosmopolitismus des acht-
zehnten Jahrhunderts festhält, und wer da glaubt, alle ethnischen Diffe-
renzen seien Erzeugnisse künstlicher Natur, der verschließt sich selbst
der nackten Wirklichkeit. Wenn sich aus der Geschichte Gesetze über-
haupt ableiten lassen, so ist das Faktum, daß es keine Kulturentwick-
lung ohne das Vorhandensein und Mitwirken vieler voneinander
ethnisch und psychologisch differenzierter Gruppen gibt, das erste
historische Gesetz. Die Menschheitskultur gleicht vielmehr einer
Symphonie, zu der die einzelnen überindividuellen Gesamtgeister die
Akkorde bilden.
Entgegen dem historischen Naturalismus, der den allgemeinen
historischen Prozeß, sowie den überindividuellen Gesamtgeist einer
Nation oder Rasse nur bio-soziologisch interpretiert, wie etwa Montes-
quieu (klimatische und geographische Bedingungen), oder Buckle (kli-
matisch-ökonomische Bedingungen), oder Marx (nur ökonomische Be-
dingungen) und Gumplowicz (Milieubedingungen), soll hier der Beweis
für die Behauptung geführt werden, daß die Nation als organische
Einheit zumindest idealen Faktoren und Momenten ebenso ihre Existenz
verdankt, wie rein bio-soziologischen Faktoren; denn wie der Mensch'
an der Schwelle zweier Welten, steht, der sinnlichen und übersinnlichen,
so auch die Nation. Der historische Prozeß ist nicht nur ein mechani-
scher Naturprozeß, sondern auch ein geistiger. Alle äußeren Vor-
gänge gehen zum großen Teil aus Seelenbewegungen hervor; man
denke nur an das intellektuelle Moment in der Technik und in der Wirt-
schaft. Selbst diejenigen Historiker, die die Geschichte naturalistisch
interpretieren und ihre Triebkräfte auf physiko-mechanische und bio-
logische Ursachen reduzieren, reden doch nur von der Beschaffenheit
des Bodens, Klimas usw., weil sie eben den Völkern eine psychische
Struktur geben. Sie mögen die Konstitution der Volkspsyche deuten
23
wie sie wollen, ihre Existenz leugnen sie nicht und können sie auch
nicht leugnen. Selbst ein Karl Marx kann das Vorhandensein und
Wirken eines überindividuellen Gesamtgeistes nicht in Abrede stellen
und tut es auch nicht. Der historische Naturalismus, der doch die
Existenz eines überindividuellen Gesamtgeistes zugeben muß, wider-
spricht sich selbst, wenn er nach diesem Zugeständnis fortfährt, von
dem Wirken rein physiko-mechanischer Gesetze in der Geschichte zfa
sprechen ; denn dieser von ihm zugegebene überindividuelle Gesamtgeist
ist doch eine psychologische resp. eine seelische Potenz.
Der Erzdemokrat Jean Jacques Rousseau, ein Bürger des kosmo-
politischen achtzehnten Jahrhunderts, statuiert in seiner Staatslehre den
Unterschied zwischen dem allgemeinen Willen und dem Willen aller
und stellt — trotz seines Demokratismus — nicht den Willen aller,
sondern den allgemeinen Willen als die Wurzel der politischen Gemein-
schaft hin. Dieser allgemeine Wille ist durchaus eine seelische Potenz.
Erscheinungen, wie die große Persönlichkeit, die Macht der ab-
strakten Idee, die oft blitzartig in dem Hirn eines Einzelnen auftritt
und ein ganzes Kultursystem in seinen Grundfesten erschüttert oder
viele Kultursplitter zu einer organischen Einheit zusammenschweißt,
die intellektuellen Momente in Technik und Wirtschaft und eine Reihe
sittlicher Momente, die auf den Gang der Geschichte bestimmend ein-
wirken, lassen keinen Zweifel darüber, daß die Geschichte, nachdem sie
ihren Anfang genommen, zum großen, vielleicht zum größten Teil,
seelenhaften Charakters ist. Die Rekonstruktion der Vergangenheit,
wie sie die Historiker immer vornehmen, ist sicherlich eine subjektive
geistige Tat. Alle Versuche, die Geschichte als mechanischen Prozeß
zu beschreiben und sie auf rein physisch-mechanische Ursachen zurück-
zuführen, sind bis jetzt kläglich gescheitert. Die Idee von der Gleichheit
aller Menschen, wie sie die französischen Philosophen vor 150 Jahren
auseinandergesetzt haben, hat die Grundlagen der alten Gesellschaft
erschüttert1). Diese abstrakte Idee verdankt vielleicht ihre Entstehung
rein realen Momenten, aber der weitere Gang der Geschichte und der
ganze Ablauf des historischen Prozesses, der um einen Kampf für und
gegen diese Idee zentriert ist, bedurfte eines Mediums. Ohne die zün-
dende Idee oder die ideale Potenz oder die geistige Triebkraft gibt es
keine geschichtliche Bewegung. Die Geschichte wird oft mit der Ent-
wicklung schlechthin identifiziert. Diese Gleichsetzung der Geschichte
mit der Entwicklung ist grundfalsch. Entwicklung gibt es auch in der
Natur, aber in der Gesahichte, die ein Reich der sittlichen Ideen und
J) Gustave Le Bon, Lois psychol. de l'evolution de peuples, Paris 1906.
24
geistigen Kräfte ist, wirken auch noch andere Kräfte, speziell die der
Persönlichkeit. Wie .weit der Einfluß und die Macht dieser abstrakten
Idee reicht, ist aus folgender Tatsache zu ersehen: Die Weißen in
Amerika, speziell im Süden der Vereinigten Staaten, hassen den
schwarzen Mitbürger. Der Haß nimmt oft die Form von Lynchgerichten
an. Die Weißen, die in der überwiegenden Mehrheit sind, würden
gewiß nicht zögern, ihre schwarzen Mitbürger politisch gänzlich zu
entrechten, wenn die amerikanische Konstitution, der die Gleichheits-
idee zugrunde liegt, sie daran nicht hinderte. Der Grundsatz von der
bürgerlichen Gleichheit in der nordamerikanischen Konstitution beruht
auf der allgemeinen Gleichheitstheorie des französischen Enzyklopädis-
mus. Man denke auch an das Martyrium der religiösen Minoritäten in
Ländern, wo der Staat mit der Kirche verschwägert ist. In neuerer
Zeit wird auch die nationale Minorität von der sie bewirtenden natio-
nalen Majorität aufs bitterste verfolgt. Die Minorität, ob religiös oder
national, ist bereit, im Kampfe für geistige Güter das größte Martyrium)
zu erleiden. Es läßt sich nun schwer behaupten, daß sich der Idealismus
der Minorität an etwas Materiellem entzündet. Ob die Minorität für
religiöse Ideale kämpft und ein Martyrium erleidet, oder ob sie für
ihre nationalen Ideale kämpft, Sprache, Literatur, Traditionen, Sitten
usw. — der Kampf gilt jedenfalls nicht einem materiellen, sondern
einem geistigen Ziel. Selbst der Imperialismus gewisser Nationen, der
unter anderem auch bezweckt, anderen Völkern eine gewisse Sprache
oder Kultur aufzuzwingen, ist teilweise idealistisch motiviert. Der
Imperialismus kann am besten als eine Expansion der nationalen Per-
sönlichkeit definiert werden. Er versucht oft, sich auf Kosten anderer
nationaler Persönlichkeiten auszudehnen und breit zu machen, aber wo
von Persönlichkeit die Rede ist, da ist schon von Geist die Rede.
Der Begriff des Seelischen, Idealen, Abstrakten ist unzertrennlich
von dem Begriffe der Individualität. Diese Tatsache ist zu selbst-
verständlich, um erklärt oder bewiesen werden zu müssen. Die Er-
kenntnis von dem seelenhaften Charakter der Geschichte könnte aber
zu der Annahme verleiten, daß sie nur ein „Werk der Persönlichkeit"
sei. Um einer individualistischen Interpretation der Geschichte, die
sich aus der bekannten Vorherrschaft ihrer idealen Momente ergeben
könnte, vorzubeugen, muß gleich betont werden, daß eine Reihe kon-
kreter Gebilde, mit eigenen Bewegungsenergien ausgerüstet, ohne jedes
persönliche Eingreifen auftreten und sich nach den ihnen selbst inne-
wohnenden Gesetzen entwickeln. In der Geschichte sind nicht nur
geistig individuelle, sondern auch materielle und anonyme Kräfte wirk-
25
sam. Neue Gesellschafts- und Wirtschaftsformen entwickeln sich oft
genug unabhängig von dem Werke des einzelnen Individuums. Das
sind nicht persönliche, sondern überpersönliche Gebilde. Als solche
können sie ebensowenig niedergehalten oder unterdrückt werden, wie
die Zirkulation von Ideen, die die große Persönlichkeit ins Werk setzt.
Henry Thomas Buckle hat im ersten Buch der Geschichte der Zivili-
sation in England eine ganze Reihe von Beispielen dafür angeführt,
wie große historische Gebilde aus unpersönlichen, anonymen Kräften
entstehen und oft trotz alles persönlichen Eingreifens ihren Weg gehen.
Es muß demnach gesagt werden, daß Zivilisation, d. h. Wirtschaft,
Technik und zum Teil auch Politik ihrer eigenen Logik folgt, sich nach
ihren eigenen Gesetzen entwickelt, während Kultur (alle Erzeugnisse
des Geistes), möge sie noch so viel von der Zivilisation angeregt und
beeinflußt sein, eine Schöpfung der Individualität ist. Zivilisation und
Kultur sind der Leib und die Seele der Geschichte.
Daraus ergeben sich nun zwei Folgerungen für die Erkenntnis-
theorie der Geschichte: erstlich, daß sie allgemeinen Entwicklungs-
gesetzen folgt, die von jedem persönlichen Eingreifen frei sind, und
zweitens, daß sie rücksichtlich der Kultur individuell motiviert und
bedingt ist. Hier melden sich aber zwei Schwierigkeiten. Zivilisation
und Kultur, obgleich zwei verschiedenen Quellen entspringend, ver-
schmelzen sich fast immer in der Geschichte zu einer Einheit. Nur in
Ausnahmefällen kommt es vor, daß Zivilisation und Kultur losgelöst
voneinander auftreten. Ein Volk mag eine hochentwickelte Kultur,
aber keine Zivilisation haben. Ein anderes Volk mag eine hochent-
wickelte Zivilisation, aber keine Kultur haben. Man denke an Nord-
amerika. In der Regel aber treten sie gleichzeitig auf und verschmelzen
sich fest zu einer organischen Einheit. Auf hoher Entwicklungsstufe
sind ihre Grenzen in der Regel halb verwischt. Wie geht der Ver-
schmelzungsprozeß vor sich? Die Unabhängigkeit vieler historischer
Gebilde vom Individuum erlaubt es nicht, die Aktion der späteren
organischen Vereinigung als das Werk eines einzelnen hinzustellen,
und die Masse genießt wohl das Licht der Persönlichkeit, aber sie ist
nicht die Wegweiserin der großen schöpferischen Individualität. Wer
führt den Prozeß der Vereinigung herbei? Daß Kultur und Zivilisation
nicht zwei absolut parallele Linien sind, sondern eine Einheit bilden,
geht schon aus ihrem ständigen adäquaten Nebeneinandersein hervor.
Hier muß die Erkenntnistheorie der Geschichte zu einer Apriorität Zu-
flucht nehmen: zu der organischen Einheit der sozialen resp. zur
nationalen Persönlichkeit. Sie ist nicht nur eine methodische Voraus-
26
Setzung, ohne die uns die Geschichte als ein Bündel blöder Zufälle
erscheinen mußte, sondern auch eine Apriorität, die in dem Gegebenen
ein Gegenbild findet — also keine leere Kategorie. Die organische
Einheit der sozialen resp. der nationalen Persönlich-
keit ist weder die Masse, die den Begriff Zivilisation
involviert, noch die große Individualität, die Kultur
schafft, sondern — der überindividuelle Gesamtgeist
oder, mit Rousseau zu sprechen, der allgemeine Wille.
Die Geschichte, die bis jetzt ihre eigene Erkenntnistheorie noch nicht
abgesucht hat, folgt instinktiv dieser methodischen Voraussetzung eines
überindividuellen Gesamtgeistes. Die handelnden Gruppen, die sie
schildert, haben Seele und Leben, und sie zweifelt nicht daran, daß die
psychologischen Verbindungsglieder objektiv wahr seien. Ohne diese
Annahme würde sie statt historischer Wahrheit zusammenhanglose
Wirklichkeiten der Vergangenheit schildern, die wir gar nicht verstehen
würden und die kein Interesse für uns hätten. Die Geschichtsschreibung,
um nicht nur unser Interesse zu erwecken, sondern um das Leben der
Vergangenheit zu rekonstruieren, muß sich mit abgeschlossenen Grup-
pen beschäftigen, und muß das Volk, die Nation oder die Rasse als
lebendige und wirksame Einheit, die mit ihren psychologischen Quali-
täten ausgerüstet ist, voraussetzen. Und wie aus der Wirklichkeit zu
ersehen ist, ist diese Voraussetzung nicht eine Fiktion, die der Me-
thode dient, wie es zum Beispiel in der Chemie der Fall ist, sondern
sie beruht auf der Wirklichkeit. Ob der Staat ein solcher Organismus
ist, daß man von einer Staatsseele sprechen kann, mag dahingestellt
sein, und es mag auch dahingestellt sein, ob er ein Makrokosmus in
dem Sinne ist, wie ihn der geistreiche Verfasser der „Cite Moderne" zu
beschreiben versucht hat, aber daß das Volk eine organische Einheit
in dem Sinne ist, daß es eine Seele hat, kann gar nicht angezweifelt
werden.
Alle historischen Wissenschaften (und die Völkerpsychologie ist
ebensoviel Geschichtswissenschaft wie „Gesetzeswissenschaft") haben
an dem Ursprung der Dinge ihre Grenze. Über dem Ursprung der
ethnischen und nationalen Einheitswerdung lagert ebenso ein Dunkel
wie über dem Ursprung der Sprache, des Rechts, der Religion usw.
Wie der allgemeine Wille der politischen und nationalen Gemeinschaft
entsteht, wird mit mathematisch-logischer Sicherheit nicht festzustellen
sein. Wir sind auf Mutmaßungen und Hypothesen angewiesen, die
entweder aus subjektivem Nachkonstruieren oder aus der Analogie ent-
stehen. Die Empirie belehrt uns, daß jede organische Einheit in der
27
Geschichte entweder durch die langsame Konsolidation eines von der
natürlichen Umgebung zusammengeschmolzenen Kollektivums oder
durch plötzliche Einwirkungen von selektiven Kräften ins Dasein tritt.
Wir wissen nicht, warum die eine Gruppe zur Hervorbringung von
selektiven Kräften fähiger als die andere war, d. h. wir kennen nicht
die Motive und Ursachen, welche die eine Menschengruppe fähig
machen, selektive Kräfte zu produzieren, und die andere nicht. An der
natürlichen Umgebung allein kann es nicht liegen. Wenn zum
Beispiel gesagt wurde, daß der jüdische Monotheis-
mus ein Erzeugnis der Wüste sei, so darf man doch
mit Recht fragen: Warum haben die vielen anderen
Wüstenvölker keinen Monotheismus hervorgebracht?
Viele Völker haben in Palästina gelebt, und doch hat
keines dieser Völker einen Jesaja oder einen Psal-
mendichter hervorgebracht. Der Genius eines Volkes oder
einer Rasse läßt sich nicht immer auf bio-soziologische Ursachen zu-
rückführen. Der ganze historische Naturalismus von Aristoteles bis
auf Gumplowicz gar nicht vermocht, dieses Problem zu lösen, Die
geographische Umgebung beeinflußt sicherlich den nationalen und den
Rassengenius: das gleiche gilt von vielen anderen bio-soziologischen
Faktoren. Auch der Zufall mag darin eine große Rolle spielen. Richard
Mayr kann es jedenfalls beweisen1). Aber diese Bedingungen schaffen
noch nicht den kollektiven Genius in seiner individuellen Brechung.
Was wir offenkundig sehen, ist nur, daß der durch selektive Kräfte
ins Dasein gerufene allgemeine Wille mehr Schöpferkraft hat und zu
Größerem bestimmt ist als diejenigen ethnischen Einheiten, die auf
dem Wege der allgemeinen Logik des Geschehens entstanden sind.
Das kann man aus dem Schicksal der drei großen Völker des Altertums,
die die europäische Kultur geschaffen haben, ersehen: Römer, Juden
und Griechen. Die selektive Kraft wird zum Kulminationspunkt, in
dem die kollektiven Energien zusammenfließen, und sie verhält sich
zum Kollektivum, wie etwa die Summe zu ihren Teilen. Die Summe
ist aber mehr als ihre Teile. Die Macht des Kollektivgenius in der
Gestalt der schicksalschmiedenden Persönlichkeit übersteigt an Inhalt
und Form die Kraft aller Einzelnen. Diese selektive Kraft, einmal ins
Dasein getreten, ist eine vornehmlich ideale Potenz, weil sie die Trägerin
des Gattungs- und Zukunftsbewußtseins ist, und in doppelter Weise
auf die Gruppe einwirkt; sie drückt der Gruppe den Stempel ihres
Genius auf und wird der Gruppe zum Urquell der Kraft. Die selek-
*) Richard Mayr, Der Zufall in der Geschichte.
28
tive Kraft eines Volkes wird zur letzten Tradition des Volkes. Sie
regt das Volk zur Nachahmung an und wirkt sonach erzieherisch.
„So hätte Bismarck jetzt gehandelt", hört man in Deutschland oft
selbst Sozialdemokraten ausrufen. „So hätte es Cavour gemacht",
seufzen oft italienische Politiker. „So hat Hillel getan", rufen die
Juden periodisch aus.
Eine nationale Gemeinschaft entsteht nicht an einem Tage, sondern
sie entwickelt sich langsam; aber wenn die noch lockere Gruppe un-
schöpferisch ist und keine selektiven Kräfte hervorbringen kann, ziehen
lange Jahrhunderte hinab, bis die allgemeine Geschichtslogik sie zu
einer organischen Einheit zusammenschmilzt. Ein Dante hat die ita-
lienische Sprache geschaffen und dadurch unzählige Stämme zu einer
nationalen Einheit verschmolzen. Das Gleiche hat Luthers Bibelüber-
setzung bewirkt. Hindostanisch hingegen, eine Sprache, die Soldaten
und Volk geschaffen haben, hat nicht das bewirkt, was Dante und
Luther bewirkt haben. 80 Prozent aller Inder bedienen sich dieses
Hindostanischen, ohne daß die Sprache imstande ist, ein national-
schöpferischer Faktor zu werden.
Der allgemeine Wille eines Volkes läßt sich nicht
durch eine Volksabstimmung erkennen. Es genügt nur,
an die Laufbahn Bismarcks und Napoleons III. zu erinnern. Ersterer
setzte sich entgegen dem Willen aller durch, d. h. er schuf das Deutsche
Reich und modelte die deutsche Politik entgegen dem ursprünglichen
Willen seiner Landsleute, und letzterer — obwohl mit überwiegender
Mehrheit zum Kaiser der Franzosen gewählt und proklamiert — führte
sich selbst und sein Volk dem Ruin und der Schmach entgegen. Speziell
die jüdische Geschichte ist an solchen Erscheinungen reich. Moses
hat die Juden aus der Knechtschaft befreit — nicht nur entgegen dem
Willen der Ägypter, sondern auch entgegen dem Willen seines eigenen
Volkes. Theodor Herzl hat die Juden renationalisiert, entgegen dem
Willen der Mehrheit des Volkes. Das Leben fast aller großen jüdischen
Propheten war ein einziger ununterbrochener Kampf gegen den Willen
aller, d. h. gegen alle Mitglieder des jüdischen Volkes. Die Propheten,
wie alle Träger des allgemeinen Willens einer ethnischen Gruppe, w aren
weder das Bewußtsein ihrer Zeit, noch der Ausdruck
ihrer Zeit. Das gleiche gilt vom Staat oder von irgendeiner anderen
menschlichen Gemeinschaft — etwa der Partei. Es gibt eine „Staatsseele",
wie es eine „Parteiseele" gibt, die die Zukunft vorempfindet. Wenn
z. B. die Historiker berichten: „Rom war aufgeregt und wutentbrannt",
„Athen jubelte" usw., oder wenn Halevy singt: „Zion, du fragst nach
29
dem Wohlbefinden deiner Kinder", so ist dadurch instinktiv die see-
lische resp. die psychologische Einheit der Nation oder des Staates
ausgedrückt und hervorgehoben. Durch solche Redewendungen der
Historiker wird das Seelische und die seelische Einheit ausgedrückt
und hervorgehoben.
Daß die organische Volkseinheit resp. der allgemeine Wille mehr
ist als der Wille der einzelnen sozialen oder nationalen Atome, ist
nicht schwer zu erkennen. Wie dieser allgemeine Wille entsteht, läßt
sich, wie gesagt, nur mutmaßen. Wir sehen nur, daß die lange Koexi-
stenz gleicher Individuen auf einem bestimmten Raum und zu einer
bestimmten Zeit, die durch gemeinsame Abstammung oder durch
gemeinsame Schicksale und Interessen zusammengehalten werden, und
die Wechselwirkung, die diese Koexistenz zur Folge hat, Erscheinungen
zutage bringt und schöpferische Energien ausstrahlt, die nicht aus-
schließlich auf die Eigenschaften und Kräfte der individuellen Psychen
zurückgeführt werden können. Die aus der Koexistenz hervorstrahlen-
den Energien sind etwas Neues, Ursprüngliches, Schöpferisches —
sind mehr als aktualisierte Potenzialität der Individuen, und sie ver-
halten sich zu den an der Koexistenz teilnehmenden Individuen wie
die Töne, die ein großer Künstler der Geige entlockt, zu einer gewöhn-
lichen Geige selbst. Was im Verlaufe der Zeit aus dieser Koexistenz
entsteht — und es ist selbstverständlich, daß aus der
Koexistenz sich etwas Stabiles und Permanentes bil-
det i — das ist die seelische Einheit der Gruppe, Na-
tion, Rasse des Volkes. Wie es einen genius loci gibt, so gibt
es auch sicherlich einen genius populi, denn was den genius loci
schafft — die lange Koexistenz — , das schafft auch den genius populi.
Wie jedes Individuum mit verschiedenen Fähigkeiten ausgestattet
ist, die einander bekämpfen und durch den Kampf im Gleichgewicht
gehalten werden, so eine Volksgruppe. Neben der Summation der
Kräfte der Einzelindividuen, die an einer Koexistenz teilnehmen, kommt
noch das in Betracht, was aus der Koexistenz an neuen Energien her-
vorstrahlt. Diese Energien nehmen oft Formen an, die den Energien
der Einzelindividuen gar nicht adäquat sind. Sie treten vielmehr ein-
seitig auf. Die Einzelindividuen z. B. haben ein mehr oder weniger
gleich großes oder gleich kleines religiöses oder ästhetisches Bedürfnis,
einen gleich großen oder gleich kleinen Rechtssinn und moralischen
Sinn. Würde der allgemeine Wille in derGestalt der gToßen Persönlich-
keit oder der aus der Atmosphäre der Koexistenz entstandenen großen
Idee nur den Willen aller umfassen und zum Ausdruck bringen, dann
30
müßte notwendigerweise jede große nationale Kultur aus gleichen Teilen
bestehen, ebensoviel Logik wie Ethik und Ästhetik wie Ethik und Logik
aufweisen. Aber wir sehen, daß jede große Kultur nach einer be-
stimmten Richtung hin gravitiert: das Griechentum nach der künst-
lerisch-philosophischen, das Judentum nach der religiös-ethischen, und
das Römertum nach der politisch-rechtlichen Seite. Aus diesem Grunde
ist der allgemeine Wille nicht an allen seinen Hervorbringungen in
gleicher Weise zu erkennen, sondern an einer seiner Hauptschöpfungen:
nicht an dem Allgemeinen, sondern an dem Besonderen. Nicht alle
Kräfte, die im allgemeinen Willen schlummern, gelangen zur Offen-
barung. Deshalb ist die Behauptung Gustave Le Bons, der Geist
eines Volkes finde seinen Ausdruck in den von ihm geschaffenen poli-
tischen Institutionen, grundfalsch. Auch Taine, Ihering und Max
Müller, die in der Literatur resp. im Recht oder, wie der letztere, in
der Religion den Genius des Volkes manifestiert sehen wollen, sind auch
im Unrecht. Wollten wir z. B. die Römer nach ihren literarischen und
religiösen Leistungen, die Griechen nach ihren politischen, und die
Juden nach ihren künstlerischen Leistungen und Schöpfungen ein-
schätzen, so würden wir sicherlich zu einer ganz falschen Beurteilung
dieser Völker gelangen. Den Juden z. B. fehlt eine Mythologie, weil
die Anschauung von einem gesetzmäßigen Walten Gottes den Mythos,
der mit dem Schicksal verschwägert ist, unmöglich macht. Daher muß
auch die Wundtsche Konzentration der Völkerpsychologie auf Mythos,
Sitte und Sprache zurückgewiesen werden — zumal da Sitte und Sitt-
lichkeit zwei verschiedene Dinge sind und sie weniger Gemeinsames
haben, als Wundt annimmt. Unser empirisches Wissen belehrt uns
vielmehr, daß der nationale Genius sich zumeist nur in einem großen
Werk offenbart. Die anderen aktualisierten Potenzen erreichen selten
die Höhe dieses großen Werkes. Der Genius Roms z. B. offenbarte
sich in der Politik, nebenbei aber hat er noch das formale Recht ge-
schaffen. Die in der Rechtsgeschichte Bewanderten wissen, wie sehr
das römische Recht eine Folge der römischen Politik war. Um nur
an ein Faktum zu erinnern: Das römische Bürgerrecht dehnte sich nach
und nach auch auf die Bundesgenossen aus, und so erweiterte sich das
jus civile zum jus gentium. Daraus ist zu ersehen, in welchem Maße
die römische Politik die treibende Kraft des römischen Rechts war.
Schon Heinrich Heine hat bemerkt, daß der Römer zugleich Soldat
und Advokat war. Was er mit dem Schwerte eroberte, suchte er
durch drakonische Gesetze zu schützen. Die Expansionspolitik Roms
machte alle Augenblicke Kriege notwendig. Im Kriege bildete sich der
31
Kriegsgeist, allein die treibende Kraft war immer die Politik. Aber
da die Politik immer den Begriff der Masse involviert, so folgt daraus,
daß man bei einer psychologischen Vertiefung in den römischen Geist
nicht sowohl das große Individuum, als die Masse des Volkes selbst
oder den Durchschnittstypus als die Verkörperung der psychologischen
Eigenart betrachten muß. Der griechische Genius wiederum manifestiert
sich in seinen grandiosen plastischen Schöpfungen. Selbst der philoso-
phische Geist der Griechen ist nur ein anderer Ausdruck desselben
plastischen Strebens und ist im plastischen Stil verankert. Ordnung
und Harmonie im Weltall zu finden, das Chaos im Geist zu überwin-
den, und die Dinge im geordneten Nebeneinander oder Nacheinander
zu erkennen, sind die Grundmotive der griechischen Philosophie. Der
plastische Genius offenbart sich in allen griechischen Schöpfungen, in
Kunst, Philosophie und Dichtung. Die alte indische Philosophie jst
nicht weniger tief- und scharfsinnig als die griechische, aber sie ist
chaotisch, ordnungslos, unharmonisch, unplastisch. Weil die griechische
Philosophie mit dem plastischen! Genius verschwägert war, hat sie
diesen gewaltigen und bestimmenden Einfluß auf den europäischen
Gedanken in all seinen Ausstrahlungen gewonnen, und aus dem ent-
gegengesetzten Grund hat die indische Philosophie diesen Triumphzug
nicht antreten können. Wie die Politik den Begriff des Volkes resp.
der Masse involviert, so die griechische Kunst (die Kultur) den Be-
griff der Individualität, weil eben alle Kunst individuell ist. Große
Zivilisations werke können sich auch ohne das Eingreifen der großen
schöpferischen Persönlichkeit entwickeln, nicht aber große Kulturwerke.
Deshalb muß die Völkerpsychologie zum großen Teil an der Persön-
lichkeit orientiert sein. Das gilt insbesondere von den Juden, deren
Geist sich speziell in, der Hervorbringung großer religiöser Schöpfungen
kundgetan hat. Es wird noch weiter davon die Rede sein, inwiefern
die antike jüdische Kultur rein religiös motiviert war; sicherlich hat
sie sich später zu einer wesentlichen Religionskultur entwickelt Ist
schon Religion an sich etwas Persönliches, Individuelles, weil das
Verhältnis des Einzelindividuums zu seinem Gotte, trotz aller vor-
geschriebenen Formen und Regeln des Verhältnisses, ein rein persön-
liches ist, um wieviel mehr ist es die jüdische Religion, die einer ur-
alten Tradition zufolge einen persönlichen Stifter hatte, den man sich
nicht hinwegdenken kann, will man die Entwicklungsgeschichte des
Judentums verstehen. Wenn gesagt worden ist, daß jede Kultur ent-
weder eine demokratisch-völkische oder eine aristokratisch-individua-
listische ist, so gehört die jüdische Kultur, anlgesichts des Raumes, den
32
die Persönlichkeit in ihr einnimmt, zweifellos zu der letzteren. Der
Schwerpunkt der Betrachtung muß sich also hier auf die Werke der
großen Persönlichkeit konzentrieren. Es wäre natürlich verfehlt, den
jüdischen Geist nur und ausschließlich durch das Prisma der Indi-
vidualität zu betrachten. Die Betrachtung wird vielmehr auch alle
anderen Manifestationen des jüdischen Geistes zu berücksichtigen
haben. Im wesentlichen wird sich die Untersuchung auf vier Punkte
erstrecken: auf Religion, Politik, auf Sprache und Schrifttum und auf
die selektiven Kräfte. Das wichtigste Kapitel scheint mir hier die
Religion; denn sie ist die erste Triebkraft in der jüdischen Kultur.
Überhaupt hat sich jedes große Volk an der Religion emporgerankt,
und vielfach hat die Religion große politische Institutionen ins Leben
gerufen und die ganze Zukunft eines Volkes oder einer Völkergruppe
bestimmt und ihr Schicksal geschmiedet.
Man denke nur an den Amphiktyonenbund der Griechen und an
die politische Suprematie Jerusalems durch die Religion. Vielen Völ-
kern hat sie ganze Rechtssysteme gegeben, so den Juden, Brahminen
und den Arabern. Daß viele große Kunstwerke, Kunst- und Literatur-
gattungen in der Religion ihren Ursprung haben, war schon den Alten
bekannt. Schließlich war doch die Religion die erste Erzieherin des
Menschengeschlechts — und eines jeden Volkes. Hier hat sie den
ethischen, dort den ästhetischen Geist geweckt und gebildet. Die Re-
ligion, ob von einem allgemeinen Willen geschaffen, ob einem Volke
gewaltsam aufgebürdet, drückt dem Volk ihren Stempel auf, und ein
Volk, das seine Religion wechselt, bemerkt Le Bon mit Recht, erhält
eine ganz andere Gestalt. In der Religion eines Volkes ruht oft sein
Schicksal und seine Zukunft. Das ist im besonderen von den zwei
großen semitischen Religionen wahr. In unserem Falle aber, wo sie
den größten Raum einnimmt, wo sie sowohl das Einzelindividuum als
das Kollektivum mit eiserner Gewalt umklammert, muß ihr doppelte
Aufmerksamkeit geschenkt werden; ist sie doch das Elementar-Große,
das der jüdische Geist durch das Medium selektiver Kräfte geschaffen
hat. Es fällt hier noch besonders ins Gewicht, daß die jüdische Reli-
gion, im Gegensatz zu allen Religionen der Antike, das Verhältnis
auch des Menschen zu seinem Nächsten in ihren Umkreis gezogen
hat, was eine Herausbildung eines Systems der Ethik zur Folge harte.
Die Ethik im Judentum, so selbständig sie auch vielen erscheinen mag,
ist nur in engster Verbindung mit der Religion zu verstehen.
Aber wie jede große Kultur entweder in der Religion ihren Ur-
sprung hat oder von ihr nachhaltig beeinflußt wird, so ist Jedes große
3 Melamed
33
Kulturwerk eine Schöpfung der großen Persönlichkeit, die die Zen-
trale aller geistigen Energien des Volkes ist. In die Persönlichkeit
münden Religion und Kultur, und nicht umsonst werden alle großen
Religionen einzelnen großen Persönlichkeiten zugeschrieben und als
ihr Werk bezeichnet. Wir wissen aus der Erfahrung, daß eine Reli-
gion, einen um so persönlicheren Einschlag sie hat, desto kräftiger
und schöpferischer ist. Die Persönlichkeit gibt nicht nur der Religion
Gestalt und Form, sondern ist der Quell des ganzen nationalen Lebens.
Sitte ist ein Werk des Volkes, Sittlichkeit ein Werk der Vernunft und
ergo der Individualität. Man darf die Impulse der Masse und die na-
türliche Bewegung der Gruppe für die Entstehung historischer Gebilde
noch so hoch einschätzen, — die Masse hat noch niemals ein System
der Philosophie geschaffen, ein System von Gesetzen, ein Kunstwerk
oder eine große Religion. Alles, was innere Logik, eigenen Schnitt und
Stil hat, ist ein Erzeugnis der Individualität. Sie baut und sie zerstört,
sie schmiedet und sie löst, wenn ihr auch Material und Waffen geliefert
werden. Man kann sich oft ein ganzes Volk hinwegdenken, nicht aber
eine bestimmte Persönlichkeit, die dieses Volk ins Dasein gerufen, und
der das ganze Volk nachträglich seine „Existenzberechtigung" ver-
dankt. Aus diesem Grunde muß die Völkerpsychologie einen Teil der
Individualpsychologie zum Gegenstand ihrer Untersuchung machen.
Freilich darf diese der Völkerpsychologie einverleibte Individualpsycho-
logie nicht für sich behandelt werden, sondern immer im Hinblick auf
das Ganze des Volkes.
Neben Religion und selektiven Kräften werfen Sprache und Schrift-
tum eines Volkes ein Licht auf seine seelischen Kräfte und ihre Bewegun-
gen. Die Bedeutung der Sprache für die Ergründung der Volksseele war
schon den Alten bekannt. In jüngster Zeit ist die Sprache als Gegenstand
völkerpsychologischer Untersuchung noch mehr hervorgehoben worden.
Seit Herder und später Taine haben wir auch die Bedeutung des Schrift-
tums für die Völkerpsychologie kennen und schätzen gelernt. Auch die
Institutionen eines Volkes werfen ein starkes Licht auf seine seelischen
Bewegungen, aber sie sind in unserem Falle zu sehr bekannt, insbe-
sondere durch das Werk Salvadors, um speziell behandelt werden zu
müssen.
Das sind im kurzen die Grundlagen, auf welche sich eine Psycho-
logie des jüdischen Geistes, wie jede Völkerpsychologie überhaupt,
aufbauen muß.
Zum Schluß noch einige Bemerkungen über die Wissenschaftlich-
keit der Völkerpsychologie überhaupt. Für die Völkerpsychologie kann
34
es sich keineswegs darum handeln, eine Seelenmechanik des Kollek-
tivums resp. einer ethnischen Gruppe zu liefern, denn wo sich, wie
bei der Formation eines nationalen Geistes und seiner Entwicklung
soviel seelische mit bio-soziologischen Motiven vermischen und wo
der völkerpsychologische Prozeß so sehr mit dem ganzen Ablauf des
geschichtlichen Geschehens verbunden ist, kann von Gesetzen im
Sinne von Naturgesetzen nicht wohl die Rede sein. Die Völkerpsycho-
logie ist, wie schon hervorgehoben, weil an der Geschichte orientiert,
mehr eine Geisteswissenschaft. Wo man es aber unternimmt, geistes-
wissenschaftliche Gesetze aufzustellen, sei es in der Sprach- oder in der
Religionswissenschaft, kommen immer nur mehr oder weniger philo-
sophische Prinzipien heraus. Nur wo sich der nationale Geist sehr
scharf abhebt, wie z. B. bei den Griechen und Juden im Altertum oder
bei Deutschen, Franzosen und Engländern in der Neuzeit, wird dieses
gewonnene philosophische Prinzip sich mehr zu einer Regel verdichten,
die in der Wirklichkeit eine feste Basis hat und nicht vom philoso-
phierenden Geist vorgeschrieben ist. Schließlich hat uns auch die In-
dividualpsychologie noch keine fest abgeschlossene Seelenmechanik ge-
liefert, und es ist auch nicht anzunehmen, daß uns das Leben der
menschlichen Seele in seinem gesetzmäßigen Ablauf so erschlossen
werden wird, wie das Leben der Pflanzen. Die Wissenschaft hat aber
trotzdem nie darauf verzichtet, den Ablauf des seelischen Prozesses
zu erforschen. Wenn es auch wahr ist, daß der Individualpsychologie
mehr induktives Material in übersichtlicher Form zugrunde liegt als
der Völkerpsychologie und sie mit weniger Xen zu rechnen hat, so
müssen deswegen die Ergebnisse der Völkerpsychologie keine geringe-
ren sein ; denn wer die „Volksseele" resp. die organische Einheit eines
ethnischen Kollektivums zugibt, der muß auch das Vorhandensein von
volksseelischen Potenzen zugeben, die untersucht werden können.
Wenn die Natur und die Bewegungen des Denkens, der Phantasie, des
Willens und des Gemütes des Einzelindividuums im Gesetz festgehalten
werden können, so muß dasselbe vom ethnischen Kollektivum möglich
sein. Die Sprache der Nation beleuchtet die Gesetzmäßigkeit ihres
Denkens, die 'Religion ihre Phantasie und ihr Gemüt, die Politik und die
Institutionen beleuchten die Motive ihres Willens usw. Die Unter-
suchungen werden, wie gesagt, keine naturwissenschaftlichen Gesetze
zutage fördern, aber Erkenntnisse und Regeln zeitigen, die jede Ge-
schichtsschreibung zu Rate ziehen soll.
35
Drittes Kapitel.
Die Stellung der Juden in der Weltgeschichte.
Ideen wandern. — Die philosophischen Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. —
Die Ideenwanderung von Ost nach West. — Brahminischer und christlicher
Pessimismus. — Emanation der Ost-Arier, Evolution der West-Arier. — Das Juden-
tum vermittelt zwischen zwei Kultursystemen. — Begegnung im XIX. Jahrhundert. —
Das geographische Prinzip. — Inder und Griechen. — Palästina als geographische
Mitte. — Alexandrien als Vermittlungspunkt. — Das Judentum kettet Ost und
West zusammen. — Die Wanderung der Juden. — Das erste Ghetto. — Semitische
Zivilisation. — Mittelalterlich-römische Zivilisation. — Die Juden und die
atlantische Zivilisation. — Der Weltkrieg vernichtet die atlantische Zivilisation. —
Das Ziel der nächsten Judenwanderung. — Das Zentrum der nächsten Zivilisation.
Die Lehre von der Seelenwanderung ist eine mystische Konzeption,
die Lehre von der Ideenwanderung beruht auf Tatsachen, von
welchen jeder gebildete Mensch sich leicht überzeugen kann. Die
Grundlagen unserer heutigen Kultur sind kein Werk des modernen,
sondern das des antiken Menschen. Es gibt kein einziges System der
neueren Philosophie, das den Alten unbekannt wäre. Kant geht auf
Plato, Hegel auf Heraklit, Schopenhauer auf die Upanishaden und die
indischen Veden, Nietzsche auf den antiken Parsismus und Stirner auf
Protagoras zurück. Dem modernen Macht- und Ordnungsstaat, genannt
Rechtsstaat, hat das alte Rom Modell gestanden. Die großen Religionen
hat der antike asiatische Mensch geschaffen, und alle großen welt-
geschichtlichen Prinzipien hatte er schon seinem Genius abgerungen.
Die viel umstrittene Rassentheorie hat schon der Stagirite zum Aus-
gangspunkt seiner Politik gemacht, das Klassen- und Standesbewußtsein
hatte schon Plato zum höchsten Staats- und Gesellschaftsprinzip erhoben,
und -die von den jüdischen Propheten gelehrte Humanität wird seit
Jahrhunderten wiederholt und erneuert. Die Ideen wandern. Was aber
bis jetzt weniger bemerkt wurde, ist, daß zu einer bestimmten Zeit
und an einem bestimmten Ort eine große weltgeschichtliche Idee nach
jahrtausendelanger Wanderung mit augenscheinlich verblüffender Plötz-
36
lichkeit wieder vor das geistige Auge des Genius tritt, sich seiner be-
mächtigt und so zur Erneuerung- gelangt. Die Ideen wandern, treffen
sich in einer bestimmten Mitte und verbinden sich zu einer Einheit
— auf Grund des Gesetzes der Affinität.
Ehe ich daran gehe, die Wahrheit dieses Satzes darzutun, muß ich
noch kurz auf die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts zurück-
greifen. Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts sind vier mächtige
Kulturideen, die der antike Geist geschaffen, und die sich gegenseitig1
ausschließen, an einem Ort zur Erneuerung gelangt. Diese sind: Die
Lehre Kants, die in der platonischen Gedankenwelt verankert ist, die
Lehre Schopenhauers, die in der indischen Antike ihre Wurzel hat,
die Lehre Nietzsches, die auf den antiken Parsismus zurückgeht, und
die Lehre Herrmann Cohens, die aus dem Born der altisraelitischen
Prophetie schöpft. Wenn ich nicht irre, war es Theobald Ziegler, der
in seinem Werke über die Kultur des neunzehnten Jahrhunderts darauf
hinwies, daß die moderne Sozialpolitik, die in der zweiten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts angesetzt hat, in der prophetisch-biblischen
Gedankenwelt ihren Ursprung hat. Forscher wie Walter, Wellhausen
und Damaschke erblicken in dem Bestreben, den modernen Staat und
die moderne Wirtschaft auf sittliche Grundlagen zu stellen, eine Er-
neuerung des antik-jüdischen Geistes. Wellhausen bezeichnet die isra-
elitischen Propheten als die Sturmvögel der Weltgeschichte. Auch
Herrmann Cohen weist in seiner „Ethik des reinen Willens" auf die
gegenwärtige Renaissance der jüdischen Prophetie hin. Neben diesen
Bezeugungen von Autoritäten liegen folgende historische Tatsachen
vor: Bekanntlich waren die englischen Quäker, mit William Penn und
George Fox an der Spitze, radikale Biblisten. Sie waren die ersten,
die mit der ethischen Reformierung der Gesellschaft begonnen hatten.
Sie waren beim Anbruch der Neuzeit die ersten, die der Sklaverei, der
politischen Knechtung, dem Militarismus und dem Kriege den Krieg
erklärten.
Wir stehen somit vor einer Kulturbewegung, die aus verschiedenen
Elementen sich zusammensetzt, von welchen ein jedes örtlich aus dem
Orient und zeitlich aus der Antike stammt. Dieses vierfache Zusammen-
treffen zu einer Zeit (im neunzehnten Jahrhundert) und an einem Ort
(Zentraleuropa) ist auch schon deswegen von Bedeutung, weil die
ersten Schöpfer dieser Ideen auch Bürger einer gleichen Kulturperiode
waren.
Wir stehen einer merkwürdigen Erscheinung gegenüber. Nachdem
die parsisch-zoroastrische, brahminisch-buddhistische und prophetisch-
37
platonische Gedankenwelt etwa 25 Jahrhunderte augenscheinlich umher-
gewandert war und Splitter dieser Gedankenwelten sich für kürzere oder
längere Zeit in den Köpfen verschiedener Phantasten und Sektengründer
festgesetzt harten (ich erinnere nur an die Bogumilen, Manichäer, Albi-
genser und Waldenser), ohne den Gang der Geschichte positiv zu be-
stimmen, tauchen sie wieder zu einer Zeit und an einem Ort auf Und
entwickeln sich zu mächtigen Kulturfaktoren. Während ihrer langen
Wanderung von Ost nach West haben sie nichts von ihrer ursprüng-
lichen Kraft und Gestaltungsmöglichkeit verloren, sondern umgekehrt.
So scheint Nietzsche Zarathustra besser verslanden zu haben, als der
große Parsi sich selbst verstanden hat. Das gleiche gilt von Kant und
Schopenhauer mit Bezug auf Piatonismus und Brahminismus.
Es heißt zwar „ex Oriente lux" ; es ist aber interessant zu beobach-
ten, daß fast alle großen Gedanken, die vom Orient auf uns gekommen
sind, mit Ausnahme der israelitischen Prophetie und des griechischen
Kulturideals der Kalokagathie, finstere Gedanken sind, als härte sie
der Genius in finsterer Mitternacht auf dem Friedhof geboren. Nicht
nur der Schopenhauersche Pessimismus, resp. der brahminisch-buddhisti-
sche Gedanke, sondern auch die „fröhliche Wiederkehr" Nietzsches
ist ein finsterer Gedanke. Wenn die Geschichte wirklich nichts anderes
ist als ein langer, leidensreicher Umweg, um ein paar große Menschen
hervorzubringen, so verdient sie sicherlich nicht, daß sie fortgesetzt
werde. Nach christlicher Ansicht hat das irdische Leben des Menschen
gar keinen Sinn und Zweck, und die Menschen sind so schlecht und
sündbeladen, daß der Sohn Gottes selbst kommen mußte, den Tod zu
erleiden, um die sündbeladenen Menschen zu erlösen — und wie wir
wissen, ist ihm dies nicht einmal gelungen; denn die Menschen sind
heute ebenso schlecht und sündbeladen wie zuvor.
Auch Plato, der Höhepunkt des griechischen Geistes, schlägt Töne
an, die die kommende Verdunkelung des menschlichen Geistes deut-
lich antizipieren.
Von diesen vier weltgeschichtlichen Ideen, die die Grundlagen
unserer heutigen Kultur bilden, sind drei Schöpfungen der arischen
Rasse, obgleich sie sich gegenseitig ausschließen. Verschiedene For-
scher haben schon öfters die inneren Widersprüche im Umkreise der
arischen Gedankenwelt aufzulösen gesucht, aber mit wenig Erfolg.
Wenn es — mit Renan — wirklich wahr wäre, daß alle in der Geschichte
herrschenden Kulturen lediglich Schöpfungen des Rasseninstinktes sind,
wie würde sich die Gegnerschaft zwischen Athen und Delhi, zwischen
griechischem und indischem Wesen, zwischen Kalokagathie und Nir-
38
wana erklären? Diese Frage bezieht sich sowohl auf den Gegensatz
des abstrakten Gedankens, als auf den der praktischen Zivilisation.
Betrachten wir nur kurz den wesentlichen Unterschied zwischen
dem indischen und dem griechischen Gedanken. Die Ost-Arier er-
kannten in der Welt nur das Allgemeine, das Besondere war ihnen eine
trügerische Erscheinung, ein vorbeihuschender Schatten, ohne Ziel
und ohne Sinn. Dieses Allgemeine entwickelte sich später zum Nirwana,
zum bloßen Nichts. Das wirkliche Sein sei nur Irrtum, Schein, Trug.
In dem Maße, in dem die Ost-Arier den Gedanken des Allgemeinen ent-
wickelten, brachten die West-Arier die Idee des Besonderen, der Indi-
vidualität hervor, wie sie uns in der griechisch-römischen Kultur ent-
gegentritt. Die Götterrepublik in Griechenland, die griechische Polis
und der griechische Heros, den die Stoiker zum Ideal des Weisen um-
gewandelt resp. potenziert haben, sowie die römische Idee der Per-
sönlichkeit, die im römischen Erbrecht ihren Niederschlag gefunden,
und die Gestalt der römischen Cäsaren sind nur verschiedene Ab-
stufungen und Brechungen der gleichen westarischen Individualitäts-
idee. Die Ost-Arier bekannten sich zur Emanation, die West-Arier zur
Evolution, die Ost-Arier zur Deszendenz, die West-Arier zum auf-
steigenden Fortschritt, die Ost-Arier zum Pessimismus, die West-Arier
zum Optimismus. Die Ost-Arier betrachteten die Vernunft als ein Organ
des Todes, die West-Arier als ein Organ des Lebens. Das Ziel des
Lebens, so wurde im alten Indien verkündet und gelehrt, ist, das
Leben zu überwinden. Das ist nur durch die Erkenntnis möglich. Die
Vernunft ist dazu da, den Schein und Trug des Lebens zu erkennen.
Aber die Griechen wie die Juden machten aus der Vernunft ein Organ
des Lebens. Sokrates wie die Propheten hatten der Welt verkündet,
daß der Sinn des Lebens in der Verwirklichung der Gerechtigkeit be-
stehe, die nur durch intellektuelle Erkenntnis möglich sei. Der Brahmi-
nismus ist das Reich des Gefühls, der Hellenismus das Reich der
Vernunft. Auf der einen Seite Romantik, auf der anderen Intellektua-
lismus und Klassizismus. Goethe und Schiller vertieften sich in das
griechische, Schlegel und Schopenhauer in das indische Wesen.
Diese zwei sich gegenseitig ausschließenden „arischen" Gedanken-
systeme begegneten sich zweimal in der Geschichte — einmal in der
jüdischen und einmal in der germanischen Gedankenwelt. In Alexan-
drien, wo alle Strömungen der antiken Kulturwelt zusammengeflossen
waren, vereinigten sich durch das Medium der jüdischen Gedankenwelt
der griechische mit dem indischen Gedanken — und aus der Synthese
der brahminisch-buddhistischen und platonisch-hebräischen Ideen ist das
39
Christentum hervorgegangen. Die platonisch-jüdischen Elemente im
Christentum sind bekannt. Welchen Einfluß der Brahminismus resp.
der Buddhismus auf das Christentum genommen, hat jüngst der
Tübinger Indologe Richard Garbe festgestellt. So hat dieser ausge-
zeichnete Forscher nachgewiesen, daß die christlichen Legenden von
St. Eustachius und St. Christophorus aus dem buddhistischen Jataka-
Buche stammen. Daß die christlichen Legenden von Barlaam und
Josaphat buddhistischen Ursprungs sind, war schon längst bekannt.
Garbe erklärt: „Dem Buddhismus und dem Christentum sind folgende
kultische Elemente gemeinsam: Die Klöster mit dem Mönchs- und
Nonnenwesen und dem Unterschied von' Novizen und ordinierten
Mönchen und Nonnen, Zölibat und Tonsur der Geistlichkeit, die Ver-
ehrung der Reliquien, der oben gekrümmte Hirtenstab in der buddhisti-
schen und in der katholischen Kirche, der Kirchturmbau, zu dem die
turmförmigen buddhistischen Reliquien und Gedächtnismonumente eine
Parallele bilden, der Gebrauch des Räucherwerks und der Glocken. "
Allerdings beziehen sich diese Parallelen auf die Kirche, aber wäre
das Christentum dem Buddhismus nicht innerlich verwandt durch die
Aufnahme großer buddhistischer Elemente, so hätten sich solche ana-
loge Formen und Erscheinungen nicht herausbilden können. Es gibt
im Neuen Testament keinen einzigen Gedanken, kein einziges Wort,
das nicht jüdisch-semitischen, westarischen oder ostarischen Ursprungs
ist. Natürlich stößt man auch im Neuen Testament auf parsische
Elemente, aber diese, weil aus zweiter Hand übernommen, sind weniger
wesentlich. Noch sind nicht alle buddhistischen Bestandteile des Neuen
Testaments bekannt, aber wenn das ungeheure Material aus Turkestan,
welches wir Forschern wie Grünwedel, Huth, Müller und Stein
verdanken, verarbeitet sein wird, wird man erst erkennen, welchen
gewaltigen Einfluß der Buddhismus auf das Christentum ausgeübt hat.
Nicht ohne Grund ist Buddha zum Heiligen der katholischen Kirche
erklärt worden. Der Pessimismus, die Gegnerschaft zum Intellektualis-
mus, die Vorherrschaft des Gefühls und des Universalismus — diese
wesentlichsten Merkmale der antiken indischen Gedankenwelt sind auch
dem Christentum, insbesondere dem katholischen Christentum, eigen:
Seit der Rückkehr Alexanders des Großen aus Indien sehen wir den
altindischen Gedanken von Ost nach West wandern, um später in das
Zentrum der westarischen Kulturwelt einzumünden. Sehr früh suchen
buddhistische Missionare Stätten der westarischen Kultur auf.
Zum zweitenmal treten diese beiden Ideenwelten der Ost- und
West-Arier im neunzehnten Jahrhundert in Deutschland auf. Hier sei
40
noch an die gewaltigen biblischen Motive der deutschen Kultur seit
der Reformation erinnert. Was das deutsche neunzehnte Jahrhundert
betrifft, muß bemerkt werden, daß Schopenhauer, der Verkünder des
ostarischen Gedankens, sich selbst für einen Christen im metaphysischen
Sinne hielt, und von Kant sagen die Deutschen selbst aus, er habe die
Reformation abgeschlossen. Der Indologe und Romantiker Schlegel
hielt zum Katholizismus, der rationalistische Protestantismus zur Bibel.
Aus biblischen Motiven wächst in Deutschland, wie früher in England,
die sittlich motivierte Gesellschafts- und Wirtschafts reform heraus, aus
katholisch-romantischen Motiven die politische Reaktion. In den vier-
ziger Jahren steht ein großer Jude auf, Jacoby, und sucht die Not-
wendigkeit der Staatsreform und der Konstitution biblisch zu begründen,,
und in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts setzt ein
anderer Jude, Herrmann Cohen, sein Werk fort und versucht eine
Erneuerung der Lehre Kants, der die biblisch motivierte Reformation
abgeschlossen, auf Grund einer Vereinigung mit dem prophetischen
Gedankensystem zu vollenden.
Dieses Zusammentreffen ist kein Zufall, sondern „geschichtsgesetz-
lich" bedingt und läßt sich auf ein „chemisches" und „geographisches"
Prinzip zurückführen.
Betrachten wir das geographische Prinzip, um das erste
Zusammentreffen, das zum Schicksal für die Menschheit wurde, zu ver-
stehen und seine Bedeutung würdigen zu können. Das zweite Zu-
sammentreffen kann hier nicht erörtert werden, weil es nicht unmittel-
bar zur Sache .gehört.
Die Völkerwanderung ergoß sich bekanntlich in zwei großen Strö-
men. Ein Teil der Wanderer drang nach Europa durch den Kaukasus
und durch die Länder der Wolga und des Don vor und siedelte sich
auf dem Balkan und der Apenninischen Halbinsel an. Der zweite Teil
bog südlich ein und blieb in der Tiefebene des Ganges und des Indus.
Wahrscheinlich durch klimatische Bedingungen und durch die ein-
schläfernde Natur jener Länder sind die Ost-Arier nach und nach um
ihr intellektuelles Gleichgewicht gekommen und unter die Herrschaft
des Gefühls und der Phantasie gelangt. Aus der Sagengeschichte der
alten Inder ist zu ersehen, wie dieser Prozeß des Herausgeworfen-
werdens aus dem intellektuellen Gleichgewicht vor sich gegangen ist.
Die ältesten indischen Sagen bekunden noch Mut, Kühnheit, Tapfer-
keit und Energie. Nach und nach gehen diese Eigenschaften ver-
loren. Unter der glühenden Sonne und dem blauen Himmel entschlum-
mern nach und nach die intellektuellen Energien, und der Mensch
41
befindet sich bald im Zustande eines leichten, süßen Schlummers und
angenehmer Träume. Die Vernunft kommt unter die Herrschaft des
Gefühls. Die Inder sind, um es kurz zu sagen, von der sie umgebenden
Natur unterjocht worden, und diese Natur beherrscht sie ganz und
absolut. Bis auf den heutigen Tag sehen wir in den Ländern des Ganges
Fakire auf der Erde liegen, die halb schlafen und halb wach sind, mit
offenen Augen träumen, ihre Umgebung träumerisch anschauen und
Verse oder Weisheitssprüche lispeln. Der alte Inder betrachtete halb-
träumend die Natur und erblickte in ihr nur die ewige Wiederkehr.
Vom unendlichen, ewigblauen Himmel schloß er auf das Allgemeine
und von der Bosheit der Naturgeschöpfe in seiner Umgebung schloß
er auf die Herrschaft des Zufalls und auf die Abwesenheit einer ver-
nünftigen, sittlichen Ordnung in der Welt dieser Erscheinungen. Der
Einzelne, das mußte er aus seiner Naturbeschauung schließen, ist ein
Geschöpf des Zufalls, und was er im Halbwachen und Halbschlummer
mit seinem Auge geschaut und was ihm auf dem Wege des Zufalls
aufgegangen ist, erhob er zu einer metaphysischen Erkenntnis. In dem
Maße nun, in dem die Ost-Arier von der sie umgebenden Natur unter-
worfen worden sind, in dem Maße haben sich die West-Arier mit der
Natur vereinigt, oder gar sie zu meistern gesucht. Das bezeugt schon
die Geschichte der griechischen Philosophie, die in ihren Anfängen
noch Naturerkenntnis ist. Ein normales und schönes Naturmilieu, die
erhebende Ruhe, die aus ihm spricht, ermöglichte es dem Griechen,
sich in die Natur und ihre Gesetze zu vertiefen und ihre Bewegung
zu erforschen. Was er in der Natur erkannte, erhob er zu metaphy-
sischer Erkenntnis. Die von der umgebenden Natur bedingte seelische
Ruhe und das intellektuelle Gleichgewicht haben in Hellas die Heraus-
bildung des analytischen Gedankens gefördert, wie diese Momente,
weil umgekehrt, das gleiche im alten Indien verhindert haben. Der
griechische Gedanke ist ebenso klar und harmonisch, wie der alt-
indische disharmonisch und konfus ist. In Griechenland entwickelten
sich Logik und Ästhetik, in Indien Mystizismus und düstere Phantasie.
Diese beiden Extreme, zwei verschiedenen Naturmilieus entsprun-
gen, vermittelte der jüdische Gedanke. — Betrachten wir die geogra-
phische Lage. Denken wir uns eine geographische Linie, die das Kap
Vincenz mit dem Kap Komorin verbindet. Wenn wir diese Linie hal-
bieren, finden wir, daß sich im Mittelpunkt, d. h. zwischen den beiden
Teilen der Linie, Palästina befindet. Wenn wir in den Kreis vom Mittel-
punkt der zwei Linienhälften eine Linie nach dem Norden ziehen,
werden wir finden, daß innerhalb dieses Kreises die westarischen
42
Völker gelagert sind. Wir sehen also, daß die geographische Richtung,
aus der das Judentum hervorgegangen ist, zwischen der Siedelung
der Ost- und West-Arier liegt. — Diese Tatsache ist von Bedeutung,
wenn wir das Verhältnis der West-Arier zum jüdischen Volk betrach-
ten. Wie Palästina geographisch die Mitte hält zwi-
schen Ost- und West-Ariern, so vermittelt der jüdische Ge-
danke zwischen Indien und Hellas.
Die Ost-Arier bekannten sich zum Allgemeinen, zum Unendlichen,
die West-Arier zum Individuellen. Der jüdische Gottesbegriff umfaßt
diese beiden Extreme. Der jüdische Gott ist der Inbegriff aller Indi-
vidualität, aber er ist der allgemeine Gott, der das Universum ge-
schaffen, der Gott der ganzen Menschheit. Für seine Individualität
und Universalität zeugt schon die biblische Kosmogonie. Wie er die
Individualität und die Universalität in sich vereinigt, so auch das Ge-
fühl und die Vernunft. ,,0 Gott, o Gott, du bist erbarmungsvoll und
gnädig", wurde einmal den alten Juden vom Wesen Gottes ausgesagt.
Daß Gott selbst der Inbegriff des Denkens und der Vernunft ist, lehrten
die Propheten. Wie die biblische Metaphysik die beiden Extreme des
arischen Gedankens vermittelt, so vermittelt der jüdische Geist durch
seine innere Organisation zwischen dem griechischen und dem indischen
Gedanken. Es fehlt ihm die kalte analytische Intellektualität des grie-
chischen und das Mystisch-Phantasmagorische des alten indischen
Geistes. Aber auf der andern Seite wird die Vernunft gepriesen und
die Erkenntnis sehr hoch gestellt, während das Gefühl nicht abgetötet
wird. Der Prophet ist kein Individualist und kein verschwommener
Universalist, sondern er ist zu gleicher Zeit ein aufopferungsfähiger
Patriot, der um seines Patriotismus willen alle Marter erleidet, und
dennoch ein Kosmopolit, der mit seinem Herzen voll Liebe die ganze
Menschheit umfaßt.
Als sich nun die zwei arischen Kulturgedanken in Alexandrien und
Rom vor Zerstörung der antiken Welt begegneten, trat der jüdische
Gedanke hinzu und wirkte vermittelnd zwischen diesen zwei Extremen.
Freilich ist es von jüdischer Seite nicht absichtlich geschehen, aber
wir können uns Philos Einfluß auf den Gang der Dinge nicht hinweg-
denken. Vielmehr haben verschiedene Momente und Ursachen dazu
beigetragen, daß dem Judentum die Vermittlerrolle zugefallen und
daß es gleich einem Keil zwischen diese zwei Extreme hineingetrieben
worden ist. Wesentlich maßgebend für die Vermittlung war in erster
Reihe die mittlere Linie, auf der sich das Judentum bewegte. Es
war beiden verwandt und konnte deshalb beide zusammenführen.
43
Darauf beruht die große Stellung des Judentums in
der Weltgeschichte. Die Juden, ein kleines vorder-
asiatisches Volk, haben dank einer merkwürdigen
Verkettung von Tatsachen und Zufällen eine Zirku-
lation von Ideen zuwege gebracht, die später den Kitt
für die Zusammen. Schließung anderergroßen Kulturen
der arischen Rasse abgeben sollte. Das Christentum
ist keine Fortsetzung des Judentums, wie christliche
Theologen uns glauben machen wollen; eher ist es der
Buddhismus oder der Piatonismus. Was das Judentum zum
Bau des Christentums beitrug, ist mehr die Form, die
Architektonik und die zusammenhaltende Kraftseiner
in ihm vereinigten Elemente. Wenn es also wahr ist,
daß die Juden die ewigen Vermittler sind, so sind sie
das nicht, weil sie seit fast zweitausend Jahren unter
fremden Völkern wirtschaftlich oder politisch ver-
mittelnd herumschmarotzen, sondern weil sie die
Vereinigung von zwei sich gegenseitig ausschließen-
den Gedankenwelten vermittelt haben. Durch diese Ver-
mittlung haben sie trotz ihrer grotesken Eigenheiten des Geistes
ihren eigenen Geist den andern aufgeprägt und sich ihre große und
merkwürdige Stellung in der Weltgeschichte erworben.
Allein nicht nur die geistige Wechselwirkung zwischen Judentum
und Ariertum, sondern auch die Wanderungen der Juden seit ihrem
ersten Erscheinen als ethnische Einheit, haben ihnen eine merkwürdige
Stellung in der Weltgeschichte angewiesen. Die diese Wanderungen
begleitenden Umstände sind ebenso interessant und eigenartig wie
die geistigen Energien, die das Judentum ausgelöst hat. Es ist nicht
allgemein bekannt, daß die Juden, die Heinrich Heine als wasserscheues
Volk bezeichnete, von der See angezogen werden, wie das Eisen vom
Magnet. Es ist wahr, die Juden sind nie ein seefahrendes Volk ge-
wesen, wahrscheinlich weil die Häfen Palästinas nie unter der Kon-
trolle der Juden standen. Die Juden haben nie eine Flotte besessen,
haben nie Flüsse oder Meere beherrscht, und doch konnte jüdisches
Leben nur nahe den Wässern blühen. Als Volk begannen sie ihre
Laufbahn an den Ufern des Niles, und der erste Jude Abraham kam
aus dem Lande des Euphrat und Tigris. Die Länder um den Euphrat
und Tigris waren jahrtausendelang der Schauplatz großer Kämpfe
vieler mächtiger Nationen, denn diese zwei Flüsse waren die Zentren
der prä-antiken semitischen Zivilisation. Aus dem Reiche jener Euphrat-
44
und-Tigris-Zivilisation, die wahrscheinlich mehrere Jahrtausende lang
die herrschende Zivilisation der Welt war, hören wir zuerst in der
jüdischen Stimme die Stimme Abrahams, und aus jener Weltgegend
hören wir auch das erste revolutionäre Signal. Für seine Zeit war
Abraham sicherlich ein Revolutionär; umgeben von Götzendienst, ver-
lautbart Abraham zum ersten Male die Stimme des Monotheismus; um-
geben von grobem Materialismus läßt er zum ersten Male die Stimme
des Gewissens hören. Die Abraham-Legende, wie sie die Bibel er-
zählt, ist nicht nur für den weiteren Ablauf der jüdischen Geschichte,
sondern auch für die ganze Stellung des Judentums in der Welt-
geschichte charakteristisch. Der erste Jude erscheint als der erste
Monotheist und Ethizist. Ob Abraham eine historische Figur ist, wie
die gesetzestreuen Juden glauben, oder nur eine legendäre Figur, wie
die Bibelkritiker glauben, mag dahingestellt sein. Die Figur des Abra-
ham als solche, sein revolutionäres Wirken und die Örtlichkeit, jn der
er sich bewegt, sind charakteristisch für den Anfang der jüdischen
Geschichte. In der Zivilisation, die um den Euphrat und Tigris zen-
triert war, erschien der erste Jude, dem die erste große Revolution
in der Geschichte des Geistes zugeschrieben wird. Die Euphrat-und-
Tigris-Zivilisation hat sich natürlich nicht verewigt. Zivilisationen wan-
dern wie Völker und bauen immer ihre Zelte an den Wassern, ent-
weder an einem Fluß oder an den Ufern des Meeres. Die ägyptische
Zivilisation ist nach dem Verfall der Euphrat-und-Tigris-Zivilisation
zur herrschenden geworden, und kaum stand Ägypten auf der Höhe
seiner Macht und seines Glanzes, ein Mittelpunkt der Welt und ein
Mittelpunkt großer, menschlicher Betätigungen, als die Juden kaum
mehr als ein kleiner Stamm in Ägypten einbrachen. Sie lebten dort
viele Jahrhunderte ihr eigenes Leben. In Ägypten bildete sich
das erste große jüdische Ghetto. Ob nun die Juden tatsäch-
lich in Goschen lebten oder über dem ganzen Land in Gruppen zer-
streut waren, jedenfalls lebten sie ihr eigenes Leben und vermengten
sich nicht mit ihrer Umgebung, trotzdem das sie bewirtende Volk
zivilisatorisch auf einer viel höheren Stufe stand als sie. Wie ein Jude
in Mesopotamien eine Revolution organisierte durch die Proklamierung
des Glaubens an einen Gott, so organisierten die Juden in Ägypten
eine Revolution, eine nationale und eine geistige, und wie aus den
Maßnahmen der Ägypter gegen die Juden zu schließen ist, hat ihre
Wirksamkeit sicherlich zur Erschütterung des ganzen ägyptischen Le-
bens beträchtlich beigetragen. Wenn eine Zivilisationsordnung einmal
in ihren Grundfesten erschüttert wird, kann sie nie mehr ihre frühere
45
Stärke und Macht zurückgewinnen, in der Regel geht sie dann dem
Verfall entgegen. Ägypten hat noch lange als Großmacht existiert,
nachdem die Juden das Land verließen, aber es war sicherlich nicht
mehr so mächtig und kernig wie zuvor.
Große welthistorische Ereignisse führten die Juden zurück von
Nordost-Afrika nach West-Asien, Wo sich die Zivilisation der zwei
großen semitischen Völker, Assyrer und Babylonier, entwickelt hat.
Die sjrische Küste des Mittelländischen Meeres wurde wieder zum
Schwerpunkt der Zivilisation. Aber diese Zivilisation, obgleich mächtig
in ihrer Art, war nicht stark genug, um die Zivilisation der Welt zu
werden. Die großen semitischen Völker, die sie geschaffen, Assyrer und
Babylonier, mußten vom Schauplatz der Weltgeschichte verschwinden,
und auch ein anderes großes Hebräervolk, die Phönizier, mußte ebenfalls
verschwinden, um Rom Platz zu machen, und erst Rom gelang es, das
Mittelländische Meer zum Zentrum der Welt und die mittelländische Zivi-
lisation zur herrschenden zu machen. Und solange die römische
Zivilisation die herrschende war, lebten die Juden
in Palästina als M i tt el m e e r volk und brachten große
Propheten hervor, deren Lehren nicht nur für ihre
Zeit revolutionär waren, sondern auch für unsere
heutige Zeit. Die Art Gerechtigkeit, die die antiken jüdischen Pro-
pheten lehrten, würden den heutigen Machthabern als aufwieglerische
Propaganda erscheinen. Das 'jüdische, monotheistische Palästina war
von polytheistischen und barbarischen Völkern umgeben, und diese
Völker waren sicherlich in jeder Beziehung stärker als die Juden,
und obgleich zwischen diesen polytheistischen Völkern eingeschlossen,
konnte sich das monotheistische Judentum in Palästina jahrhunderte-
lang erhalten und zu einer großen Weltmacht im Reiche des Geistes
werden.
Aber auch die römische oder die Mittelmeer-Zivilisation konnte
sich nicht verewigen, und noch ehe der Untergang dieser Zivilisation
dem Auge ersichtlich war, verließen schon die Juden Palästina, um
sich über den ganzen Erdball zu zerstreuen. Die Mittelmeer-Zivilisation
war zerstört, das römische Volk vernichtet, das Chaos folgte. Die
Periode, die dem Untergange des römischen Reiches und dem Zu-
sammenbruch folgte, war eine Periode des historischen Zwielichts,
das sich gar bald in finsteres Mittelalter verwandelte. Während dieses
Zwielichts nun im Anbeginn des Mittelalters wanderte die Zivilisation
langsam von den Ufern des Mittelländischen Meeres zu denen des At-
lantischen, und schlug ihr Zelt in Spanien auf. Während die Erben
46
Roms in einem Zustand von Chaos und Anarchie lebten, bauten die
Mauren in Spanien an den Ufern des Atlantischen Meeres eine von Rom
unabhängige Zivilisation auf, und mehr als ein halbes Jahrtausend
waren Mauren und Juden ihre Vertreter und Träger. Solange Spanien
der Mittelpunkt der Zivilisation war, war es auch das Zentrum des
Judentums. Jahrhundertelang lebten die Juden in Spanien glücklich
und ruhig, bis die große Krisis ausbrach — der Kampf zwischen Mauren
und Spaniern auf der einen Seite, und der Kampf zwischen England und
Spanien auf der andern — . Im Verlauf dieses Kampfes wurde Spanien
als Zentrum der Zivilisation vernichtet, und deshalb konnte es auch nicht
mehr das Zentrum der Juden sein, denn die Juden können nur im
Zentrum der herrschenden Zivilisation leben und gedeihen. Wenn
Ferdinand und Isabella das Ausweisungsdekret gegen die Juden in
Spanien nicht unterzeichnet hätten, würden die Juden das Land
doch verlassen haben, weil der Mittelpunkt des Judentums nur im
mächtigsten Land der Welt sein kann. Spanien konnte die Juden nicht
mehr bewirten, denn die Zivilisation wanderte von den Engen Gibral-
tars zu den Nordseen und dem Ärmelkanal. Während noch im fünf-
zehnten Jahrhundert Spanien das Zentrum des Judentums war, weil es
sozusagen das Zentrum der Welt war, war schon im siebzehnten Jahr-
hundert kein einziger Jude mehr in Spanien zu finden, und das Auf-
blühen der englischen Macht und die Wanderung der Zivilisation von
den Engen Gibraltars zur Nord- und Ostsee ist auch von einer Wande-
rung der Juden vom Südosten Europas nach West- und Zentraleuropa
begleitet. Innerhalb 200 Jahren wurden die Hinterländer des Atlanti-
schen Ozeans, Deutschland, Polen und Litauen Zentren des Judentums,
und die spanischen Juden wandern von Spanien nach England und
Frankreich, d. h. sie wandern mit dem Wandern der Zivilisation. Genau
so wie einst in Mesopotamien, Ägypten und später in Palästina wirkten
auch die Juden in Spanien revolutionär auf das Leben ihrer Umgebung
ein und der sich auf sie konzentrierende Haß des Wirtsvolkes und der
herrschenden Mächte, speziell der Kirche, ist zum großen Teil das
Resultat ihrer „zersetzenden Wirkung" auf das Leben ihrer Umgebung.
Das ausgesprochen monotheistische und ethische Judentum paßte gar
nicht zum Panorama des mittelalterlichen katholischen Spaniens; die
Gegensätze waren zu groß und zu scharf und eine Katastrophe war
unvermeidlich. Innerhalb einer Periode von zweihundert Jahren waren
die Juden in den Hinterländern des Atlantischen Ozeans konzentriert,
und als um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die aufblühenden
Vereinigten Staaten sich zum Zentrum der atlantischen Zivilisation zu
47
entwickeln anfingen, setzte auch die Einwanderung der Juden in
Amerika ein. Im ersten Dezennium des zwanzigsten Jahrhunderts allein
wanderten mehr als eine Million Juden von den europäischen nach den
amerikanischen Häfen des Atlantischen Ozeans aus. Wenn nicht der
Krieg der Einwanderung aus dem Osten ein Ende gemacht hätte,
würden heute statt dreieinhalb, mindestens sechs Millionen Juden in den
Vereinigten Staaten leben, und nach einem weiteren Jahrzehnt würde
die Mehrheit des jüdischen Volkes in den Vereinigten Staaten leben.
Während der Kampf um die Vorherrschaft der atlantischen Zivilisation
vor sich ging, brach der Krieg aus und verursachte eine weitere Ver-
schiebung des Schwerpunktes der Zivilisation. Was auch die histori-
schen Motive des großen Weltkrieges gewesen sein mögen, das große
historische Motiv war die Beherrschung des Atlantischen Ozeans, die
die Anglo-Sachsen für sich beanspruchten und die die Deutschen ihnen
entreißen wollten. Nahezu fünf Jahre waren alle großen Kulturvölker
an diesem großen Kampf beteiligt. Der Kampf endete allerdings mit
einer furchtbaren Niederlage Deutschlands, aber wer da glaubt, daß
die Engländer aus diesem Krieg siegreich hervorgegangen sind, der
irrt sich gewaltig, weil im Verlauf des Kriegesdas Zentrum
der Zivilisation vom Atlantischen nach dem Stillen
Ozean sich verschoben hat. England hat den Kampf um die
Beherrschung des Atlantischen Ozeans gewonnen, aber da der Atlan-
tische Ozean heute nicht mehr seine frühere Bedeutung hat, ist der
Sieg Englands ein Pyrrhussieg. Durch den Zusammenbruch
der europäischen, atlantischen Zivilisation ist auch
das europäische Judentum zermalmt worden, gerade
so wie mit dem Zusammenbruch der spanischen Zivi-
lisation das spanische Judentum zerstört wurde. Die
ewige Wiederkehr ist sehr klar und ersichtlich. Die Zivilisation folgt
dem Meer und die Juden folgen dem Zentrum der Zivilisation, und
jeder Katastrophe, die über eine Zivilisation hereinbricht, geht ein jüdi-
scher revolutionärer Sturm voraus, der die Form eines intensiven
Ethizismus annimmt und sich dann zur revolutionären Macht potenziert.
Der Zusammenbruch des römischen Reiches und die Zerstörung der
Mittelmeer-Zivilisation ist durch die Wahrnehmung und .Verlautbarung
einer jüdischen geistigen Unruhe angekündigt worden. Diese Unruhe
nahm die erratische Form in der Gestalt des Christentums an. Der
letzten welthistorischen Katastrophe ging der jüdische Revolutionaris-
mus im Osten voraus. Wie Paulus den Zusammenbruch des römischen
Reiches vorbereitete, so bereiteten Trotzki und seine Freunde den Zu-
48
sammenbruch des zarischen Imperialismus vor, und Trotzki ist nur der
Kulminationspunkt des jüdischen Revolutionarismus, der sich bei jeder
ausbrechenden Weltkatastrophe kundtut1).
Die Stellung der Juden in der Weltgeschichte ist also eine ziemlich
klare. Auf der einen Seite sind sie die Vermittler zwischen zwei gegen-
sätzlichen Kulturen, und auf der andern Seite wandern sie immer mit
der Wanderung der Zivilisation, die von See zu See wandert und die
Juden nach sich zieht. Zivilisation ist etwas Organisches und lebt das
Leben eines Organismus, und wie jeder Organismus, hat sie die Peri-
oden der Jugend, der Reife und des Verfalls, und wenn der Verfall
kommt, wird der jüdische Geist unruhig, weil in Zeiten des Verfalls
die Juden mehr verfolgt werden als sonst. Als Reaktion auf diese durch
den Verfall verursachten Judenverfolgungen entsteht der jüdische Revo-
lutionarismus, der den endlichen Zusammenbruch ankündigt. So war's
in Rom, so war's in Spanien, und so war's in Rußland und Deutschland.
Soweit die passive Stellung des Judentums in der Weltgeschichte. Das
Fundament seiner aktiven Weltstellung kann aber nur in seiner Religion
gefunden werden. Da auch die jüdische Religion das größte und be-
deutendste Erzeugnis des jüdischen Geistes ist, ist es methodisch richtig,
mit ihr anzusetzen, wenn wir über die Formation des jüdischen Geistes
etwas mehr informiert sind.
, x) Es ist also klar, daß die nächste Wanderung der Juden nicht mehr den
Osten der Vereinigten Staaten zum Ziel haben wird, sondern den Westen, wo
infolge des Erwachens der mongolischen Rasse eine neue Zivilisation entsteht,
die vom Westen der Vereinigten Staaten inspiriert und gefördert werden muß,
weil Amerika der nächste große Nachbar Chinas ist, der mehr für die Zivili-
sierung Chinas tun kann als jede andere europäische Nation. Die nächste jüdische
Einwanderung nach Amerika wird sich auch über den Stillen Ozean ergießen.
Es ist interessant zu beobachten, daß schon heute eine jüdische Wanderung in
Amerika vom Osten nach dem Westen des Landes vor sich geht. Die Juden
wandern eben dorthin, wo ein neues Zentrum der Zivilisation entsteht, und ver-
lassen ein Land, wenn es aufhört, ein Zentrum der Zivilisation zu sein. Innerhalb
der nächsten hundert Jahre wird die größte Mehrheit der Juden aus den sla-
wischen Ländern ausgewandert sein.
4 Melamed
49
Viertes Kapitel.
Formation des jüdischen Geistes.
Geschichtsinterpretationen. — Ökonomie des Denkens Ursprung alles histo-
rischen Generalisierens. — Die jüdische Urgesellschaft. — Semitischer Ernst. —
Semitische Nüchternheit und biblische Poesie. — Unterbrochene Entwicklung. —
Wirkungen des Aufenthaltes in Ägypten. — Ursachen des ägyptischen Zorns gegen
die Juden. — Änderungen in der jüdischen Psyche. — Die Erscheinung Moses. —
Die geniale Persönlichkeit und das Volk. — Das Judentum ein Werk der großen
Individualität. — Das Judentum ermangelt der Empirie. — Die Thora — eine
Zivilisationstheorie. — Anfang des jüdischen Rationalismus. — Überspringen
notwendiger Entwicklungsreihen. — Mangel an Sinn für die Wirklichkeit —
Charakteristik des antiken jüdischen Geistes. — Die Wüste als Beruhigungsmittel.
— Das Wüstengeschlecht. — Keine jüdische Zivilisation in Judäa. — Das Judentum
zivilisationshemmend. — Die Juden in Ägypten. — Ignorierung und Überwindung
der biologischen Natur. — Der jüdische Geist ist nicht an der Natur orientiert. —
Die Folgen. — Gotteserkenntnis bei Griechen und Juden. — Der Prophet und das
Volk. — Die Persönlichkeit und das Gesetz. — Die Einheit des jüdischen Kultur-
gedankens. — Die jüdische Weltanschauung und die griechischen Weltanschauungen.
— Die innere Geschlossenheit des jüdischen Kultursystems. — Die jüdische Geistig-
keit ein sozial-ökonomisches Produkt. — Das Lyrische am Judentum. — Jüdischer
Universalismus. — Der Wesensinhalt der jüdischen Kultur. — Das Judentum
nicht an der Wirklichkeit orientiert. — Der Subjektivismus der alten Semiten. —
Die Neigung zum Intellektualismus. — Die Propheten waren an der Vernunft
orientiert. — Synthese von Emotionalismus und Rationalismus. — Der jüdische
Optimismus. — Der Optimismus das Substrakt vitaler Energien. — Das Judentum
setzt universalistisch und optimistisch ein. — Der Wille zur Macht und das Natur-
wunder. — Der Subjektivismus der antiken Juden. — Jüdischer Extremismus. —
Der impressionistische Stil. — Das Gesetz wirkt rationalisierend. —
Die europäische Geschichtsschreibung in den letzten drei Jahr-
hunderten war bestrebt, den Ablauf des historischen Geschehens
aus zwei Momenten heraus zu erklären: aus dem klimatisch-geographi-
schen und aus dem ökonomisch-soziologischen. Von der Mitte des sech-
zehnten bis zum Anfang des achtzehnten Jahrhunderts war die klima-
tisch-geographische Interpretation vorherrschend. Als ihr bedeutendster
Vertreter ist Montesquieu anzusehen. Das achtzehnte Jahrhundert mit
50
seiner Verständnislosigkeit für die Geschichte ist arm an geschichtsphilo-
sophischen Versuchen. Im neunzehnten Jahrhundert, als die Herrschaft
der Maschine sich auszubreiten begann, trat mehr und mehr die sozial-
ökonomische Geschichtsinterpretation in den Vordergrund. Der Eng-
länder Buckle operierte mit den beiden Momenten und stellte ihr Ver-
hältnis zueinander wie Ursache zur Wirkung dar. Die zwei Sätze, auf
denen die neue Geschichtsphilosophie sich aufbaut, besagen im wesent-
lichen:
1. Jede Gesamtheit ist ebenso äußeren Einflüssen unterworfen und
ein Produkt dieser Einflüsse, wie das Einzelindividuum. Als „äußere
Einflüsse" sind lediglich klimatisch-geographische Verhältnisse anzu-
sehen. In der heißen Zone, so läßt sich Montesquieu aus, ist der
Mensch faul, entnervt und feig, in der kalten Zone fleißig, stark an
Körper und Geist und kühn. In Asien herrscht politische Knechtschaft,
in Europa politische Freiheit.
2. Jede Gesamtheit ist in ihrer äußeren und inneren Anlage ein
Produkt bestimmter ökonomischer und sozialer Bedingungen. An der
ökonomisch-sozialen Struktur bildet sich der Geist eines Volkes, und
lediglich ökonomisch-soziale Momente sind die Triebfedern der Ge-
schichte.
Es ist nun interessant zu beobachten, daß gerade die vornehmsten
Vertreter dieser beiden Geschichtsinterpretationen samt Buckle, der
sie zu einer Einheit zu verschmelzen suchte, dem antiken Judentum
verständnislos gegenüberstehen. Da alle Asiaten für die Knechtschaft,
alle Europäer für die Freiheit, alle Asiaten faul und feig, alle Europäer
fleißig und mutig, und die Juden ein asiatisches Volk sind, so versteht
es sich von selbst, daß die Juden alle Laster der Asiaten teilen. So
dachte Montesquieu, so ungefähr dachte auch Buckle, und gemäß seiner
ökonomisch-materialistischen Geschichtsinterpretation dachte auch Karl
Marx so von den Juden. Die Ökonomie des Denkens macht die Tendenz
zum Generalisieren verständlich, und nichts ist psychologisch verständ-
licher als die Deduktion und das Streben nach Formeln. Es ist auch
verständlich, daß der deduktive Forscher einer Erscheinung nicht sym-
pathisch gegenüberstehen kann, die seine Deduktion nicht umfaßt. Die
antike jüdische Wirklichkeit ist sehr kompliziert und läßt sich beim
besten Willen nicht auf eine einheitliche Formel spannen; denn weder
die eine noch die andere Deduktion deckt sich hier ganz mit den Tat-
sachen und Erscheinungen. Die folgende Untersuchung über die For-
mation des jüdischen Geistes wird ergeben, daß sie weniger gesetzmäßig
vor sich gegangen ist, als die deduktiven Forscher anzunehmen gewillt
4*
51
sind. Man kann aber von der Frage des Ursprungs absehen, weil sie
ziemlich belanglos ist. Ob die Juden ursprünglich aus dem einen oder
dem anderen Winkel Westasiens kamen, ob sie mit den Hirtiten ver-
schwägert waren, ob sie reine Südsemiten sind oder nicht, ist hier ziem-
lich belanglos. Über diese und ähnliche Fragen sind dickleibige Bücher
geschrieben worden, und wir sind bisher nicht mehr orientiert wie vor
hundert oder zweihundert Jahren; und wer überzeugt ist, daß Tier-
psychologie mit Menschen- und Völkerpsychologie blutwenig zu tun
hat, den können auch diese rassentheoretischen und rassengeschicht-
lichen Fragen in diesem Zusammenhang gar nicht interessieren.
Betrachten wir die Tatsachen, wie sie uns in Legende und Tradi-
tion, die sicherlich eine Basis der Wirklichkeit hat, vorliegen.
Wenn wir dem biblischen Bericht Glauben schenken dürfen, und es
liegt kein Grund vor, das nicht zu tun, wanderten die Häupter der jüdi-
schen Urgesellschaft von Mesopotamien nach Ägypten. Hier haben
wir schon eine Anomalie; denn nach allgemeiner Annahme entwickelt
sich die politische Gemeinschaft auf dem Boden der sozialen Gemein-
schaft. Wenn der Stamm oder die Gruppe sich an einem bestimmten
Ort ansässig gemacht und sich akklimatisiert hat, wächst, der inneren
Logik der Dinge zufolge, die politische Gemeinschaft heraus. Bei den
alten Juden erfährt dieser Prozeß eine jahrhundertlange Unterbrechung.
Der junge Organismus der jüdischen Urgesellschaft findet sich plötzlich
in einer fremden Mitte, mit der er nicht das geringste gemein hat. Als
kleine und schwache Minorität und ohne innere Festigkeit ist sie den
Einflüssen eines verhältnismäßig hochentwickelten Milieus wehrlos aus-
gesetzt. Ihre Jugend macht sie fremden Einflüssen doppelt zugänglich.
Was aber einmal das Keimplasma verändert hat, wirkt weiter fort.
Durch den Aufenthalt in Ägypten ist die natürliche Entwicklungsreihe
unterbrochen worden, und die Schicksale, die über die Juden in Ägypten
ergangen sind, haben diese Entwicklungsreihe einer ganz anderen Rich-
tung zugetrieben.
Die Rudimente der jüdischen Religion und Ansätze zum Monotheis-
mus waren schon in der jüdischen Urgesellschaft ausgebildet. Was die
Juden nach Ägypten mitbrachten, waren ihre soziale Gemeinschaft,
einige kultische Traditionen und religiöse Erinnerungen — und das
Verlangen nach Brot. Die jüdische Geschichte setzt mit der Hungersnot
ein. Was wäre natürlicher und selbstverständlicher gewesen, als das
Verschlungenwerden dieser kleinen, kulturarmen Minorität von dem
hochstehenden Kulturmilieu Ägyptens? Hier tritt zum erstenmal das
Moment der Rasse als entscheidend und bestimmend auf. Die Juden
52
bilden einen Zweig der semitischen Rasse, und die semitische Rasse,
so beginnen alle Historiker, nimmt alles Religiöse in vollem Ernst. Den
Semiten ist die Religion ein Teil des praktischen Lebens und nicht der
Sonntagsartikel. Der eigentliche Begründer der Völkerpsychologie,
Steinthal, sagt von den alten Semiten aus: „Die Semiten dagegen (im
Gegensatz zu den, Indogermanen und insbesondere zu den Griechen)
nahmen alles Religiöse in vollem Ernst, und ihr Kultus war leiden-
schaftlich'. Je nachdem sie sich eine Gottheit in Freude oder in Trauer
dachten, waren sie bei den Festen selbst rasend vor Lust oder Schmerz,
so daß sie sich in vollster Sinnlosigkeit verwundeten. Daher gab es
bei ihnen auch Menschenopfer, nicht aus Roheit, und nicht gefangene
Feinde wurden geopfert, sondern die edelsten Familien gaben ihren
Sohn dem Gotte hin, nicht bloß symbolisch, sondern, indem sie wirklich,
obwohl mit blutendem Herzen, das Kind im Feuer verbrannten und so,
wie sie wähnten, mit der Gottheit vereinten." Dieses Bild, das
Steinthal von dem Verhältnis der Semiten zur Religion entwirft und das
von der Geschichte bestätigt wird, paßt allerdings nicht zu dem Bild,
das Richard Mayr von den Semiten und ihren Beziehungen zu der
Religion entwirft. Richard Mayr und mit ihm auch Otto Pfleiderer
sind fest überzeugt, daß das Verhältnis der Semiten zur Religion ein
nüchternes, kaltes und berechnendes war. Alle Religionshistoriker,
Historiker und Semitologen sagen das gleiche von den Semiten, d. h.
alle heben ihre religiöse Leidenschaftlichkeit und ihren religiösen Ernst
hervor. Die lyrische Poesie der zwei großen semitischen Völker, Juden
und Araber, würde die Aussage Steinthals bestätigen, denn wenn eswrahr
wäre, was Richard Mayr von den Semiten behauptet, daß sie in der
Religion nüchtern und berechnend seien, wie könnte man die lyrischen
Ergüsse der Juden und Araber erklären? Es ist doch nicht anzunehmen,
daß ein Volk mit einer nüchternen und berechnenden Erziehung zur
Religion das tiefste poetische Religionsbuch der Menschheit, die Psal-
men, hätte hervorbringen können. Ein poetisch hochbegabtes Volk wie
die Juden kann wohl nicht eine nüchterne Beziehung zu der Religion
unterhalten? Was wir von der Religion und Literatur der Juden und
Araber heute wissen, bestätigt nur die Aussage von Steinthal. Die
Semiten nahmen alles Religiöse in vollstem Ernst. Nur diese Eigen-
schaft der alten Semiten kann die merkwürdige Erscheinung der Er-
haltung der kleinen jüdischen Gesellschaft in Ägypten erklären. Da
der antike Staat mit der Religion verschwägert war und der Staats-
bürger gleichzeitig Glaubens- und Kirchengenosse sein mußte, so blieb
die kleine Judengruppe in Ägypten auch sozial separiert, d. h. von
53
der allgemeinen Gesellschaft isoliert. Jahrhundertelang existierte eine
jüdische Gesellschaft und eine jüdische „Religion" in einer fremden
politischen Gemeinschaft. Infolge der engen Verbindung zwischen
Staat und Gesellschaft (der Kastenstaat) konnte eine separate Gemein-
schaft nicht in die allgemeine politische Gemeinschaft eintreten, selbst
wenn nicht religiöse Momente sie daran gehindert hätten. Aber das
religiöse Moment war wohl der hauptsächlichste Grund, warum die
Juden in Ägypten sich nicht assimilierten. Ihr eigener religiöser Ernst
und ihre eigenen lebhaften Erinnerungen und Traditionen verhinderten
jede Assimilationsmöglichkeit, und sie blieben deshalb in ethischem Takt.
Die erste sichtbare Wirkung der Unterbrechung der natürlichen
Entwicklungsreihe durch den Aufenthalt in Ägypten war die Heraus-
bildung einer gewaltigen Vitalität. In Ägypten ist die Grundlage zu
der unerschöpflichen jüdischen Vitalität gelegt worden; denn in dieser
Bedrückung und unter diesen mörderischen Lebensbedingungen konnte
sich nur das stärkste Individuum erhalten, das schwache Individuum
mußte im Kampfe ums Dasein unterliegen. Es ging also eine natürliche
Auslese vor sich. Ähnliche Erscheinungen sehen wir noch heute bei
vielen Völkern, die hart um ihr Dasein kämpfen, oder die einer sani-
tären Organisation entbehren. Alle Nord-Afrika-Forscher berichten ein-
stimmig, daß sich die Senussi, die einen schweren Daseinskampf führen,
durch große Körperkraft auszeichnen und ein kerngesundes Geschlecht
erziehen, weil die Schwachen, Krüppelhaften und Kränklichen schon
im jugendlichen Alter hinweggerafft werden. Nur die von Natur mit
Gesundheit und starker Körperkraft Ausgestatteten können sich er-
halten. Anderseits sehen wir, daß, wo die Zivilisation auf hoher Stufe
steht, wie in Skandinavien, England und Deutschland, . auch die von
Natur Schwachen sich am Leben erhalten, weil der Staat sie durch
sozialhygienische Gesetzgebung beschützt. Es versteht sich also von
selbst, daß ein Volk, das aller sozialhygienischen Schutzmittel entbehrt,
in der Fremde in schwerer Bedrückung lebt und schwere Fronarbeit
zu verrichten gezwungen ist, nur ein gewählt gesundes und starkes
Geschlecht aufbringen kann. Aber je größer die vitalen Energien, desto
größer die Lebensbejahung, desto stärker der Wille zum Leben.
Noch in einer anderen Beziehung war der Aufenthalt der Juden
in Ägypten schicksalsbestimmend für ihre spätere Zukunft und wirkte
formend auf ihren Geist. Unter der glühenden Sonne Ägyptens ver-
wandelte sich durch äußeren Zwang ein Hirten- und Handelsvolk in
ein Arbeitervolk. Bekanntlich verbreitete sich der Handel (zunächst
Tauschhandel) zuerst unter den Hirtenvölkern. Darauf deutet auch
54
der Ursprung des Wortes pecunia, (von pecus). Das Vieh war das
erste Tauschhandelsobjekt. Das hebräische Wort Mikneh bedeutet
sowohl Vieh als Kauf. In jedem Falle ist es eine natürliche Erschei-
nung, daß ein Hirtenvolk sich mit Tauschhandel beschäftigt. Die Bibel
selbst nennt viele Hirtenvölker, die sich mit dem Handel abgaben. Als
die Juden in Ägypten ihren Einzug hielten, waren sie ein kleines Hirten-
völkchen, das im Naturzustande und in politischer Ungebundenheit
gelebt hatte. Ägypten war damals schon, ein politisch und sozial fest
organisierter Staat, der in seiner Mitte für vagabundierende Hirten
keinen Raum hatte. Die neuen Ankömmlinge machten sich nur zu
bald fühlbar. Der baldige Ausbruch eines Haßgefühles von Seiten der
Einheimischen war die unmittelbare Folge des jüdischen Auftretens.
Dieser Haß der Ägypter gegen die Juden, von dem die Bibel berichtet,
war sowohl ethnisch wie politisch und sozial motiviert. Der ägyptische
Staat war ein festgeschlossener Kastenstaat, der von den Priestern
und Kriegern, mit dem König an der Spitze, regiert wurde. In einer
solchen festgefügten politischen und sozialen Organisation ist kein
Raum, weder für politische noch für soziale Freiheit. Der ägyptische
Bürger war in eine Kastenorganisation eingeschlossen und jeder Be-
wegungsfreiheit beraubt Auf ihm lastete ein dreifacher Druck, der
des Priesters, der des Kriegers und der Despotismus des Königs. Plötz-
lich sieht er in seiner Mitte eine fremde Menschengruppe, die, als
Bekennerin einer anderen Religion, keiner Kaste angehört und mithin
auch politischer und sozialer Freiheit sich erfreut und sozusagen über
dem Gesetze steht. In Ägypten mit seiner entwickelten Zivilisation und
mit seiner göttlichen Verehrung der Tiere konnten die Juden ihr Hirten-
leben nicht mehr fortsetzen, und da jeder Hirte auch ein halber Händ-
ler ist, wandten sie sich bald dem Handel zu, und sie handelten, da sie
„Privilegien" hatten und sich frei bewegen durften, mit Erfolg. Dieser
Wechsel in ihrem Berufsleben hatte zur Folge, erstens daß der Haß der
Eingeborenen gegen sie große Dimensionen annahm, zweitens daß an
dem Beispiel der von den Juden genossenen Bewegungsfreiheit eine
revolutionäre Bewegung unter den Einheimischen entstand und daß
der Haß der Herrscher sich gegen die Juden kehrte. Mittlerweile ver-
mehrten sich die Juden (waren sie doch gerade aus der freien, wilden
Natur gekommen) und entwickelten sich zu einem bedeutenden Faktor
in Ägyptens Wirtschaftsleben. Der Haß gegen sie wuchs parallel mit
ihrer Vermehrung. Die Kastenführer und Herrscher, um ihre Führer-
schaft und Herrschaft besorgt und die Ursache der um sich greifenden
revolutionären Bewegung erkennend, beschlossen, diese Bewegung
55
samt ihrer Ursache mit einem Schlag aus der Welt zu schaffen'. Sie
entzogen den Juden die ihnen ursprünglich gewährten Privilegien,
d. h. die Bewegungsfreiheit, und um das politische Gleichgewicht der
Ägypter herzustellen, wurden die Juden noch in Zwangsarbeit genom-
men, das heißt, zu Arbeitsknechten des ägyptischen Staates gemacht.
Wir wissen heute nicht, ob sich die ägyptischen Politiker verrechnet
haben oder nicht, aber ihre neu inaugurierte Judenpolitik ist von schick-
salsvoller Bedeutung für die Juden geworden; denn indem sie die
Juden zwangen, schwere Fronarbeit zu verrichten, schwere körper-
liche Arbeit zu tun, gewöhnte sich das Volk überhaupt an beständige
Arbeit, und so ward aus einem vagabundierenden Hirten- und Handels-
volk ein Arbeitervolk.
Wir merken es an Hand der biblischen Erzählung, wie die ganze
geistige Konstitution und seelische Beschaffenheit des Volkes sich
änderte, sobald es in staatliche Zwangsarbeit genommen worden war.
Die ursprüngliche idyllische Atmosphäre wird verscheucht, und eine
schwere, dumpfe Stimmung greift Platz. An> Stelle der naiven Lebens-
freude und stillen- Zufriedenheit tritt eine nagende Unruhe, eine tiefe
innere Verbitterung, die sich zuweilen in revolutionärem Aufflackern
Luft macht. Dem folgt wieder eine tiefe Depression und Verzweiflung.
Der Geist ist nur auf sich selbst und auf den engsten Umkreis kon-
zentriert. Der intellektuelle Umkreis, durch unaufhörliche Willensakte
eingeengt, und der Wille selbst, das ganze Leben auf sich konzen-
trierend, wird immer stärker, größer, gewaltiger — denn die Funktion
wird nach und nach selbst zum Organ. Die Umwandlung eines ur-
wüchsigen Natur- und Hirtenvolkes in ein Volk von staatlichen Arbeits-
knechten dürfte selbst den ägyptischen Despoten nicht leicht gefallen
sein. Die Bibel berichtet von häufigen Zwistigkeiten zwischen den
ägyptischen Arbeitsinspektoren und den jüdischen Fronarbeitern, und
es ist zu vermuten, daß es mehr als einmal zu Aufständen von seiten
der Fronarbeiter und zu scharfen Gegen maß regeln kam. Der Druck
wurde unerträglich, die in Zwangsarbeit Gesteckten verbittert und
gallig — das Volk ahnte, daß es dem Untergang geweiht war. In
diesem Augenblick der höchsten Not und der größten Gefahr erscheint
ihnen von außen ein Erlöser — Moses.
In einer relativ kurzen Zeit hat also die jüdische Gesellschaft
folgende Wandlungen, die ihre ganze Bewußtseinsdisposition revo-
lutioniert haben mußten, durchgemacht:
1. ökonomische,
2. Soziale.
56
3. Politische,
4. Wechsel des natürlichen und historischen Milieus durch
die Wanderung von Westasien nach Nordafrika.
Wie diese Wandlungen in biologisch-psychologischer Beziehung
auf sie eingewirkt haben mußten, ist schon oben angedeutet worden ;
aber welchen Eindruck die große ägyptische Zivilisation auf diese aus
natürlicher Ungebundenheit kommende, aufnahmsfähige und jedem
Einfluß zugängliche Gruppe gemacht, wie diese durch ihre mannig-
fachen Eigenschaften hervorstechende Zivilisation auf die Formation
des jüdischen Geistes bestimmend eingewirkt haben muß, läßt sich
kaum ahnen. Der biblische Bericht deutet nur kurz an, daß ein be-
trächtlicher Teil des Volkes an die ägyptischen Lebensverhältnisse
gewöhnt war. Einer talmudischen Tradition zufolge gab es schon in
Ägypten eine ganze Assimilationspartei, die von einem Auszug aus
Ägypten nichts wissen wollte. Die Verwandlung von einem Hirten-
und Händlervolk in ein Zwangsarbeitervolk, das auf der einen Seite
einen tiefen Eindruck von der ägyptischen Zivilisation hatte, auf der
anderen Seite seine Bedrücker gründlich haßte, was zur Stärkung des
eigenen Volksbewußtseins beigetragen haben mußte, war zum großen
Teil ausschlaggebend für die Formation des jüdischen Geistes.
Die Geschichte des jüdischen Volkes beginnt mit dem Auftreten
Moses'. Der Tradition zufolge ist der erste Erlöser und Befreier nicht
aus der Mitte des eigenen Volkes hervorgegangen, sondern von außen
gekommen. Die große Fronarbeitermasse, intellektuell eingeengt und
durch die Zwangsarbeit und den Druck demoralisiert, bewegte sich
im engsten Umkreis des Augenblicks und dachte gar nicht an die
Zukunft. Aus diesem Grunde hatte es keinen aus der eigenen Mitte
hervorbringen können, der, die sittlichen Kräfte der ganzen Gruppe
verkörpernd, aufstehen und seinen Brüdern zurufen sollte: „Was wird
das Ende sein? Wollen wir zusammenhalten und unser Schicksal in
unsere eigene Hände nehmen. Wir haben doch nichts zu verlieren."
Es mußten lange Jahrzehnte vergehen, bis einer aus der Fremde, der
am Hofe erzogen war, kommen sollte, um sein Volk vor dem Unter-
gang zu bewahren, Hier offenbart sich zum ersten Male ein Grund-
charakter des jüdischen Volkes, der für den ganzen Verlauf der jü-
dischen Geschichte typisch geworden ist: die Wirkung der selektiven
Kraft, der genialen Persönlichkeit. Es wird noch weiter davon die
Rede sein, in welchem Maße die geniale Persönlichkeit das Judentum
geformt und gemodelt, und die Juden — fast immer wider ihren
Willen — gestoßen, und geführt hat. Oft genug war Moses in Lebens-
57
gefahr, oft genug hatten sich die Juden selbst gegen ihn verschworen,
und oft genug trachteten sie sein ganzes Lebenswerk zu zerstören!
Schon in der ersten Zeit seines Auftretens hörte er die Worte: „Ge-
denkst du mich auch zu erschlagen, wie du den Ägypter erschlagen
hast?" Bald steht er und klagt zu Gott: „Noch eine Weile, und sie
werden mich steinigen." Bald ruft ihm der Pöbel zu: „Wir haben es
dir doch in Ägypten gesagt — laß von uns — wir wollen weiter
Ägypten dienen." Aus diesen biblischen Berichten ist zu ersehen,
daß er schon in Ägypten mit seinen eigenen Volksgenossen zu kämpfen
hatte und daß er gegen ihren Willen das Befreiungswerk durchführen
mußte. Welche sittliche Energie mußte dieser Mann, der gegen den
despotischen Bedrücker und gegen die demoralisierten Bedrückten
in gleicher Weise zu kämpfen hatte, besessen haben? Und das Ende
dieses Helden? Wie er von außen zu seinem Volke gekommen, so
ist er auch außerhalb der Pfähle seines Volkskreises gestorben — er
ist gegangen wie gekommen — „Und keiner weiß, wo seine Grab-
stätte ist, bis auf den heutigen Tag."
So hat die jüdische Geschichte mit einer genialen und gewaltigen
Persönlichkeit, die einem Volke nur alle zweitausend Jahre einmal er-
stehen, begonnen. Das Lebens- und Schaffensbild, das die Bibel von
der Persönlichkeit Moses' entwirft, ist so frisch und wirklichkeitstreu,
daß die oft aufgeworfene Frage, ob Moses eine historische Figur sei
oder nicht, eine müßige ist. Man kann sich eben die Entstehung des
Judentums ohne Moses nicht denken. Im Gegenteil kann man sich
sehr wohl die Entstehung des Christentums ohne die historische Figur
Jesus' denken.
In dem Maße, in dem das Volk durch äußeren Druck und innere
Demoralisation korrumpiert und verkommen war, erhob sich die ge-
niale Persönlichkeit über das Volk, und mit allen Kräften des Lebens
ausgestattet, versuchte sie, das Volk zu sich emporzuheben. Alle Kräfte
sittlicher und intellektueller Art, die potenziell im Volke schlummerten,
aktualisierten sich in. der einen genialen Individualität — so geht
der Selektionsprozeß immer vor sich.
Moses' Aufgabe war eine zivilisatorische — die Organisation der
Gesellschaft und des Staates — , war er doch selbst in einer großen
Zivilisation aufgewachsen — , aber da der Genius die Dinge vom Ge-
sichtswinkel der Ewigkeit betrachtet und Lokales und Temporäres
oft übersieht, und da die Masse die Grundabsicht ihres Helden nicht
fassen und begreifen konnte — gingen Führer und Volk aneinander
vorbei. Moses mit seinem die Ewigkeit schauenden und die Zeitlich-
58
keit übersehenden Blick hat sich dem langsamen natürlichen Prozeß
des Lebens nicht anzupassen vermocht, und da er ebensoviel Geistes-
wie Tatenmensch war, stieß er absichtlich das Volk in die Gedanken-
sphäre, in der Hoffnung, daß es dadurch seine zivilisatorischen Ab-
sichten schneller verwirklichen würde. Er fing an, das noch rohe Volk-
Gesetze und Gebete zu lehren, es in abstrakten Theorien zu unter-
weisen. Das Volk war noch nicht einmal für eine elementare Zivi-
lisation reif — geschweige denn für Zivilisationsgesetze und Theorien.
Der Genius glaubt immer, er habe keinen Erfolg, weil er nicht ver-
standen werde. An der bekannten Regel: Wissen ist Tugend, haben
nicht nur Sokrates und Plato, sondern auch Moses festgehalten. In
gewissem Sinne bewahrheitet sich auch dieser Satz; denn die Er-
kenntnis ist die psychologische Grundlage jeder höheren Zivilisation.
Ohne die Kenntnis der Mathematik und Mechanik sind weder Technik
und Handel noch Strategie möglich. Solche Kenntnis erfordert aber
nur eine hochentwickelte Zivilisation, die man mit lediglich natürlichen
Mitteln nicht mehr befördern kann. Ganz anders aber verhält es sich
mit einer elementaren Zivilisation, die aus einfachen, natürlichen Be-
dingungen hervorwachsen muß und keiner Förderung von Seiten des
theoretischen Geistes bedarf. Der Mensch muß jahrtausendelang Er-
fahrungen sammeln, bis er darangehen kann, das abstrakte Prinzip aus-
findig zu machen.
Aus den oben angedeuteten Gründen war es der hebräischen Zivi-
lisation nicht vergönnt, sich natürlich zu entwickeln, bodenständig her-
vorzuwachsen. Zu ihrem größten Unglück begegnete sie in ihren
ersten Anfängen der großen Individualität, die das ganze Volk an Ein-
sicht, Können und Geist überragte, und die Begegnung führte zu einem
furchtbaren Kampf zwischen einem jungen und unreifen Volk, das
gerade das Joch der Knechtschaft abgeschüttelt hatte, und der voll-
reifen, genialen Individualität, die aus den ersten Quellen des Lebens
und aus dem Schauen in die Ewigkeit Kraft schöpfte. Dieser Kampf,
der die natürliche Entwicklungsreihe verschoben hat, hatte weiter zur
Folge, daß ein Arbeiter- und Sklavenvolk, das aus eigener Kraft noch
nicht das geringste zivilisatorische Werk hervorgebracht hatte, gewalt-
sam in ein Volk des Buches und des theoretischen Gesetzes umgewan-
delt und dem natürlichen Leben entfernt wurde. Es hatte zu einer Zeit
Gesetze und Prinzipien zu lernen angefangen, als es noch nicht für das
Buch reif war. Diese gezwungene und gewaltsame Entwicklung be-
zeugt eine uralte jüdische Tradition. Gottte* lautet die Tradition,
stellte die Juden an den Fuß des Berges uncTnef ihnen zu: „Wenn ihr
59
meine Thora annehmen wollet, ist es recht, und wenn ihr dazu nicht
bereit seid, werdet ihr hier unter dem Berge euern. Tod finden/' Da
Moses seine wuchtige Geistesfaust auf das Volk niedersausen ließ und
dem Volk einschärfte, Tag und Nacht die Thora zu studieren, und da
man das Thorastudium, die Beschäftigung mit dem theoretischen Ge-
setz, mit Glaubensartikeln und ethischen Prinzipien als den höchsten
Sinn des Daseins, als Gott gefällig und als einträglich (die schnelle Er-
reichung einer hohen Zivilisationsstufe) schilderte, fing es an, fleißig
die Thora zu studieren, sich in. sie zu vertiefen und sich mit ihr ernst
zu beschäftigen, wie der Bauer sich mit seinem Acker beschäftigt.
Und bis auf den heutigen Tag brütet es über der Thora. Was dem
Keimplasma eingeimpft wird — wirkt noch im entwickelten Organis-
mus nach. Die von Ägypten befreiten „jüdischen" Staatssklaven waren
ein historisches Keimplasma, und Moses, um dieses Keimplasma ßo
schnell wie möglich zum Organismus auszubilden, impfte ihm etwas
ein, dessen Wirkung noch im Alter nicht aufgehört hat. Der Einfluß
des Thorastudiums auf das junge Volksgemüt ist dem Volke zum
Schicksal und zum entscheidenden Faktor in seiner späteren Geschichte
geworden. Während unseres ganzen historischen Daseins haben wir
uns mit Zivilisationstheorie beschäftigt, ohne daß es uns je gelungen
ist, irgendein bedeutendes zivilisatorisches Werk aus eigener Kraft
hervorzubringen. Das jüdische Volk hat nicht die Stadien einer natür-
lichen Entwicklung durchlaufen und ist der grauen Theorie zugeführt
worden, bevor es genug Lebenserfahrung hatte. Der Aufenthalt in
einer Zivilisationsmitte, wie Ägypten, hat diesen Prozeß zweifellos
möglich gemacht; denn in Ägypten lernte es eine reife Zivilisation
kennen. Niemals selbst zuvor zivilisatorisch tätig gewesen, glaubte es.
Kenntnis der Sache sei genug, um sie selbst machen zu können. Auch
die Hartnäckigkeit des Fronarbeiters, wie die eines Arbeiters über-
haupt, mag zu der Verprinzipialisierung seines Geistes beigetragen
haben. Hartnäckigkeit ist ein Schwesterkind des Prinzips. Hier stehen
wir am Anfang des jüdischen Rationalismus und Intellektualismus, der
sich wie ein roter Faden durch die ganze jüdische Geschichte zieht.
Noch in einer anderen Beziehung ist der gewaltsame Versuch einer
Verwirklichung des Sollens in der Gegenwart durch die geniale Per-
sönlichkeit dem jüdischen Volk an der Schwelle seiner Geschichte zum
Verhängnis geworden, indem sie dem jüdischen Geist eine sonderbare
Prägung gegeben hat. Durch das Übersehen der Gegenwart und der
elementaren Notwendigkeiten des Seins sind die zivilisatorischen Po-
tenzen des Volkes in dem Maße verkümmert worden, daß sie, soweit
60
gewisse soziale Gebilde in Frage kommen, niemals zur Aktualisierung
gelangten. Wir kennen vier Phasen der sozialen Entwicklung: die des
freien Naturzustandes, wo jedermann nur für sich und seine Familie
arbeitet; die der persönlichen Herrschaft, wo der Herr der Eigentümer
seiner Arbeitskräfte resp. Sklaven ist; die der Kapitalherrschaft, in
der das immobile Kapital durch das mobile überholt wird, und die der
freien Assoziation, die sich jetzt langsam aber sicher herausbildet. Jede
kulturfähige ethnische Gruppe ist durch diese Entwicklungsphasen ge-
gangen, mit Ausnahme /der Juden, die als selbständige Gruppe die
zweite Phase auf Geheiß des Gesetzes übersprungen» haben ; denn die
Sklaverei bei den Juden, war von Religions wegen verboten. In Exodus
20, 1 heißt es: So du einen, hebräischen Knecht kaufst, der soll dir sechs
Jahre dienen, im siebenten soll er frei ausgehen umsonst. Und im Levi-
ticus 25, 35 wird den Juden eingeschärft: „Wenn dein Bruder verarmt
neben dir lund verkauft sich dir, so sollst du ihn nicht lassen dienen als
einen Leibeigenen, sondern wie ein Tagelöhner und Gast soll er bei dir
sein, und bis zum Halljahr bei dir dienen." Und die Begründung: „Denn
sie sind meine Knechte, die ich aus Ägyptenland geführt habe, darum
soll man sie nicht auf leibeigene Weise verkaufen. " Die Juden sind
noch bis auf den heutigen Tag auf diese Sätze in der Bibel stolz. Aber
indem die Juden die zweite Phase aller gesellschaftlichen Entwicklung
übersprungen haben, sind sie immer eine simple Kleinbauerngesellschaft
ohne komplizierte Wirtschaft geblieben». Wo aber die Struktur simpel
ist, kann sie leicht zusammengerissen werden. Sehen wir uns doch die
Dinge, an», wie sie sind. In der Periode der persönlichen Herrschaft,
wo der 'Herr Eigentümer seiner Sklaven ist, findet er es bald in seinem
Interesse, eine Arbeitsteilung unter seinen Leibeigenen einzuführen,
und da ihre Arbeit mehr abwirft, als er und die Sklaven brauchen, kann
er den Überschuß in produktive Anlagen investieren, was eine unge-
heure Anhäufung des Nationalreichtums, der allerdings nur dem Herrn
gehört, zur Folge hat. Diese soziale Entwicklungsstufe ist aber die not-
wendige Vorbereitung für die dritte. Die Kapitalherrschaft bedeutet
eine Industrialisierung der Welt, die eine komplizierte, weitausgebrei-
tete und innerlich verästelte Wirtschaft notwendig macht. Wie eine
solche entwickelte Wirtschaft zur Stärkung der politischen Ordnung bei-
trägt, braucht nicht einmal angedeutet zu werden. Eine simple wirt-
schaftliche Struktur hingegen macht den politischen Despotismus nötig,
weil die politische Ordnung keine Stütze in der ökonomisch-sozialen hat.
Nicht die Ideen Rousseaus allein, sind als die Ursachen der heutigen
politischen Freiheit in Westeuropa anzusehen, sondern auch die kom-
61
plizierte Wirtschaft und die Industrialisierung der Welt Aus diesen
Darlegungen geht hervor, daß die Humanität des antiken Judentums,
die dem natürlichen Ablauf der Dinge hindernd in den Weg trat, die
jüdische Zivilisation im Keime erstickt und den jüdischen Menschen
der Wirklichkeit noch mehr entzogen hat. Schon die Begründung,
warum man den „verarmten Bruder" nicht zum Sklaven machen soll,
„denn sie sind meine Knechte, die ich aus dem Ägypterlande geführt
habe", zeugt von. weltfremdem Rationalismus. Jede natürliche Gesell-
schaftsordnung bildet sich an den Notwendigkeiten und aus dem
Wechsel des Lebens selbst heraus, und wo sie eine Schöpfung der
wirklichkeitsleeren Vernunft ist, ist sie im besten Falle eine verwirk-
lichte Utopie und von kurzer Dauer. Wir werden noch später sehen,
wie die ganze jüdische Ethik ein Erzeugnis der Vernunft ist, weltfremd
und ohne jede Basis in der Wirklichkeit, weil sie eine Antizipation des
Sollens im Sein und rationalistisch resp. intellektualistisch motiviert
ist. Der sittlichen Satzung folgt fast immer die Begründung „denn ihr
wäret selbst Knechte im Lande Ägypten", d. h. die Erinnerung an
eigenes Leiden wird zum Motiv des Guten gemacht — mit andern
Worten : Die Vernunft ist der Quell der Sittlichkeit und nicht das wirk-
liche Leben.
Dieser, dem in Bildung begriffenen jüdischen Geist aufgebürdete
Rationalismus hat den Juden weltfremd gemacht und ihm den Sinn für
die Wirklichkeit geraubt. Mangel an Sinn für die Wirklichkeit ist eine
charakteristische Eigenschaft des jüdischen Geistes.
Das Überspringen gewisser Phasen der sozialen Entwicklung, das
das Volk um die Erfahrungen der Wirklichkeit gebracht und es politisch
nie reif werden ließ, ist nicht ohne Einfluß auf die ursprüngliche Kon-
zeption des jüdischen, Monotheismus geblieben. Die ersten traurigen
Erfahrungen, die die Juden bei ihrem Eintritt in die Geschichte gemacht
haben, der Druck von außen, aufreibende Fronarbeit, soziale Ächtung
und politische Entrechtung haben ihre Seele mit Erbitterung erfüllt.
Ein Volk, dessen Wiege auf fremder Erde stand, und das schon in der
ersten Zeit seines historischen Daseins so viel gelitten hat, neigt eher
zum Individualismus, wie überhaupt jeder Erbitterte und Bedrückte
zum Individualismus neigt. Viele negative und zerstörerische Kräfte,
die sich während der Fronarbeitszeit aufgespeichert hatten, kamen bald
nach der Befreiung zum elementaren Ausbruch und vermischten sich
mit den in Ägypten gebildeten vitalen Energien, und diese Vermengung
gab dem jungen, in Bildung begriffenen jüdischen Geist einen eigenen
Schnitt und Form. Die Hartnäckigkeit der Arbeiter gesellte sich zu der
62
politischen und sozialen Wildheit des der Sklaverei Entronnenen, zu der
strotzenden Kraft des starken Menschen, zu einer starken Lebens-
bejahung und der Taumel- und Freudenstimmung des Geretteten.
Nur der große, starke und -gefürchtete Gott, der eifervoll ist und rächt,
der hart straft und Furcht und Schrecken in die Welt schickt, hat der
Beherrscher dieses Volkes werden können. Man darf wohl annehmen,
daß, wäre dieses Geschlecht mit seinem es verzehrenden Subjektivis-
mus, mit seiner seelischen Verbitterung und kraftstrotzenden Gesund-
heit bald nach seiner Befreiung in eine politische Ordnung gekommen,
es hätte diese Ordnung sicherlich bald zerstört. Daher konnte nur die
große, unendliche, angstverbreitende Wüste seinen Geist beruhigen
und seine Unruhe bändigen, und nur die Einsamkeit der monotonen
Wüste allein konnte die tobende, von Erbitterung vergiftete Seele zur
Ruhe bringen. Die Wüste und der große, starke Gott mit seinem
starken Gesetz, das ewig und unveränderlich ist, vermochten allein
diese wilden, verbitterten Menschen, politische Atome zu einer Einheit
zusammenzuhalten. Aber das selbst so doppelt gebändigte Geschlecht
hat noch kein Material für eine politische Gemeinschaft abgeben
können. Einer psychologisch feinsinnigen Überlieferung zufolge mußte
das ganze „Wüstengeschlecht" aussterben. Ihre Nachkommen erst
sollten in das gelobte Land ziehen. Wir wissen natürlich nicht, ob und
in welchem Maße dieser biblische Bericht auf Tatsachen beruht, allein,
wer den Gang der beginnenden jüdischen Geschichte mit offenem Blick
verfolgt, der wird die psychologische Wahrheit des Berichtes sofort
erkennen. Das Bild, welches die Bibel vom jüdischen Volkscharakter
zu dieser Zeit entwirft, läßt den Bericht von dem Aussterben des
Wüstengeschlechtes nur als den letzten Akt einer Tragödie erscheinen.
. . . Ohne im eigenen ethnischen Umkreis die den Willen bildenden
sozialen Phasen durchgegangen zu sein, und mit mehr Wissen als
Können ausgestattet, dazu von leidenschaftlichem Affekt beherrscht,
war dieses Geschlecht von einem seelischen Extrem ins andere ge-
worfen. Bald hoffnungsfreudig, begeistert und auf eigene Kraft ver-
trauend, gehorchend und unternehmungslustig, bald verzweifelt, zu
Tode betrübt und energielos, skeptisch und kritisch. Der Sinai-
begeisterung folgt das goldene Kalb, der Beteuerung des Gehor-
sams folgt eine Revolte; jede unternommene Aktion ward durch einen
nachträglich aufkommenden Skeptizismus gelähmt. So schildert der
biblische Bericht jenes Geschlecht. Psychologische Beobachter wollen
oemerkt haben, daß selbst die heutigen Juden sich durch ähnliche
Charaktereigenschaften auszeichnen.
63
So mußte dem biblischen Bericht zufolge das Wüstengeschlecht,
unfähig, sich zu einer sozialen und politischen Ordnung zu fügen, aus-
sterben, weil selbst der große, starke und fürchterliche Gott oft an
diesem Geschlecht verzweifeln mußte. Unvd der Herr sprach zu Moses:
„Ich sehe, daß es ein halsstarrig Volk ist. Und nun laß mich, daß mein
Zorn über sie ergrimme und sie vertilge; so will ich dich zum großen
Volke machen. " Und Moses muß erst den starken, an seinem Volk
verzweifelnden Gott an seinen Schwur erinnern, um ihn von seinem
Vernichtun,gswerk abzubringen. Der nicht domestizierte Wille war
nicht zu bändigen, selbst die Allmacht des großen, starken Gottes
konnte ihn nicht unterkriegen, und in Ermangelung eines politischen
Despotismus trat der Despotismus des Gesetzes des großen und starken
Gottes als Bändiger auf und setzte dem wilden Individualismus eine
Grenze. Wo immanente Kräfte nicht regieren können, muß eine ord-
nungschaffende Kraft von außen kommen. Je stärker der Geist der
Rebellion, „desto aktiver die Kriegsgerichte". Das rigorose jüdische
Gesetz ist nur als ein Kriegsgericht zu verstehen. Ein rigoroses Gesetz
von außen, ohne Basis in der normalen Wirklichkeit, hat verwilderte
Individuen zu einem Volke zusammengeschweißt, und zu einem ge-
wissen Grade ist dieses Gesetz die einzige Ursache der Fortexistenz
dieses Volkes durch die schicksalsreichen und wechselvollen Jahr-
tausende. So hat sich der werdende jüdische Geist nicht an den Er-
fahrungen des Lebens, sondern an einem Abstraktum gebildet. Überall
sonst erkennen wir aber das abstrakte Gesetz als ein Substrat des
Lebens, als die Formulierung der Lebenserfahrung. Die Folgen dieses
Formationsprozesses sind kaum zu übersehen. Dem wirklichen
Leben entfremdet und der natürlichen Erfahrung entrissen, hatte der
antike Jude niemals Gelegenheit, sich in die Natur zu vertiefen. Ein
Volk von der Begabung des jüdischen, hat so gut wie nichts auf dem
Gebiete der Naturerkenntnis geleistet. Da auch künstlerisches Schaffen
das Orientiertsein an der Natur voraussetzt, hat auch der antike Jude
auf diesem Gebiet nichts Wesentliches hervorgebracht. Plastik war
nie Sache des Juden. Auch seine technischen Fähigkeiten mußten un-
entwickelt bleiben. Selbst zur Zeit Salomos, als die politische und
soziale Ordnung schon stabilisiert war und das Volk auf der Höhe
seiner Macht und seiner Zivilisation stand, gab es keinen einzigen
Juden, der „Holz zu hauen wußte". Salomo schreibt an König Hiram:
„So befiehl nun, daß man mir Zedern aus dem Libanon haue, und daß
deine Knechte mit meinen Knechten seien. Und den Lohn deiner Knechte
will ich dir geben, alles, wie du sagtest. Denn du weißt, daß bei uns
64
niemand ist, der Holz zu hauen wisse, wie die Sidonier." Der antike
jüdische Geist war also an der Erfahrung und an der Natur so gut wie
gar nicht orientiert, und seine intellektuellen Potenzen aktualisierten
sich nur in Religion, Ethik und Dichtung — drei Schwesterkinder des
auf sich selbst angewiesenen Geistes.
Dieser Prozeß mag auch noch in gewissen Potenzen der semiti-
schen Rasse begründet sein. Der von den Arabern hervorgebrachte
vIslam" kann insofern als Analogon zum antiken Judentum angesehen
werden, als auch er zivilisationshemmend und kulturfördernd gewirkt
und gleich dem Judentum den ganzen Schwerpunkt des Lebens auf
das Glaubensgesetz, auf ein Prinzip, das nicht im Leben selbst be-
gründet ist, gelegt hat. ;
Der Leser könnte einwenden, daß dieses von dem Werden des
jüdischen Geistes entworfene Bild nur auf Spekulation beruhe, weil
es isich nur auf den biblischen B'ericht aufbaue. Die Bibel ist aber in
erster Reihe ein religiöses Dokument. Ihre Geschichtlichkeit mag an-
gezweifelt werden, und es ist fraglich, ob ihre Geschichtlichkeit sich
überhaupt verwerten läßt. Es ist wahr, daß die Bibel im engeren Sinn
des Wortes kein Geschichtsbuch ist und daß ihre Berichte über das
Leben und Treiben der Juden vor und seit dem Auszug aus Ägypten
bis Ezra und Nehemia njcht den Wert von historischen Dokumenten
haben können. Es ist aber zu bedenken, 'daß wir auf der einen Seite
keinen anderen Bericht über die ersten 'geschichtlichen Phasen des
jüdischen Volkes besitzen,, auch keine indirekten — trotz aller Speku-
lationen der Rassentheoretiker und der Historiker der Antike, und
daß andererseits der biblische Bericht, mag er mit noch so vielen
Legenden und folkloristischen Elementen vermengt sein, so viel Ur-
sprünglichkeit und Frische hat, daß man aus ihm die psychologische
Wahrhaftigkeit gleich erkennen kann. Vom Gesichtspunkt des engeren
Begriffes der Geschichte kann selbstverständlich die Bibel als keine
historische Unterlage für eine historische Rekonstruktion dienen, aber
es gibt eine höhere Geschichtsschreibung als die, die bloß auf Doku-
menten 'und trocktenen Fakten beruht, eine Geschichtsschreibung, die
aus dem Gebiet der Ewigkeit schöpft, weil sie in jeder von ihr festge-
haltenen Tatsache nicht nur die Vergangenheit beschreibt, sondern
auch die Zukunft, also die ewige Wiederkehr erzählt. Die biblischen
Berichte über das Leben und Treiben der Juden seit ihrer Werdung
atmen den Geist der ewigen Widerkehr, sonst wäre auch nicht die
Bibel zum Buche der Menschheit geworden. Es ist ein Menschheits-
buch, weil es an dem Exempel eines Volkes die Schicksale der Mensch-
5 Melamed
65
heit beschreibt. Die biblischen Berichte sind zu treuherzig und tragen
zu sehr den Stempel der Wahrhaftigkeit, als daß es nicht gestattet
wäre, sich ihrer bei einer historischen Rekonstruktion der Dinge zu
bedienen. Eine Zeitlang wurde zum Beispiel der biblische Bericht von
dem Aufenthalt der Juden, in Ägypten angezweifelt, bis man auf dem
alten Stein, der in den Ausgrabungen in Ägypten gefunden wurde, das
Wort „Israel" eingeritzt sah, und bis Orientalisten entdeckten, daß
in den ersten zwei Büchern Moses, wo viel von Ägypten gesprochen
wird, viele ägyptische Wörter gebraucht werden. So ist zum Beispiel
der biblische Ausdruck ^,beachu" — auf der Wiese — ein ägyptisches
Wort und noch ähnliche Ausdrücke. Wenn die Juden nie in Ägypten
gewesen wären, wie würden diese ägyptischen Wörter gerade in den
ersten zwei Büchern. Moses, wo viel von Ägypten gesprochen wird,
Eingang gefunden haben? Man mag den Bibelkritikern zugestehen,
daß die biblischen Berichte von gewissen folkloristischen Momenten
durchsetzt sind, aber dieses fokloristische Moment modifiziert kaum
den Geschichtswert der Berichte. Es wäre vielleicht psychologisch
unzuverlässig, die biblischen Berichte für eine historische Material-
sammlung zu verwenden, aber die Bibelkritik ist nicht der Weisheit
letzter Schluß, denn sie ist oft genug subjektiv und nicht selten rein
hypothetisch.
Betrachten wir nun den jüdischen Geist aus einer Vogelperspek-
tive, wie er sich in seinen großen Erzeugnissen offenbart. Was sofort
ins Auge fällt, ist sein indifferentes, wenn nicht gar negatives Ver-
hältnis zur Natur, im Gegensatz zum griechischen mit seinem positiven
Verhältnis zur natürlichen Wirklichkeit. Das Bestreben des jüdischen
Geistes war, wie aus der Religion und Ethik zu ersehen ist, auf die
Überwindung der Natur konzentriert, aber das sollte geschehen nicht
durch Meistern, Beherrschen und Erobern der Natur, sondern durch
ein selbstbewußtes Sich-Entfernen von der Natur. Seit 400 Jahren
ist es das Bestreben des europäischen Geistes, der Natur Herr zu wer-
den, aber nicht durch Ignorieren der Natur, sondern durch die Er-
forschung ihrer Gesetze. Der antike Jude dachte auch nicht daran,
die Natur für seine Privatzwecke auszubeuten, wie etwa Lord Bacon
es im Auge hatte, sondern sein Bestreben, die Natur zu überwinden,
war nur ethisch motiviert. Die ethische Überwindung der Natur be-
deutet „Weg von der Natur"; die zivilisatorische Überwindung der
Natur bedeutet „Das Naturreich zu meistern und die Kräfte in der
Natur zu beherrschen". Die Natur ist amoralisch, weil sie alogisch
ist, während der Mensch ein vernünftiges und mithin ein sittliches
66
Wesen ist. Sie erscheint dem Juden von vornherein als der Ursprung
des Übels, das radikale Böse, und verdiente nicht, daß man sich mit
ihr beschäftige. Die Sünde und das Übel verkörpernd, kann sie un-
möglich des Menschen Lehrmeisterin sein, und deshalb lautete die
Parole des antiken Juden „Weg von der Natur". Diese bewußte
negative Beziehung der antiken Juden zu den ersten Kräften des
Lebens war von großem Einfluß auf die weitere Entwicklung des
Judentums. Durch seine ethisch motivierte Gegnerschaft zur Natur,
weil er sie nie kannte, entzog er sich der Möglichkeit der analytischen
Ausbildung und Schärfung seines Geistes und der Handhabung des
Experiments. Aus diesem Grunde hat der antike jüdische Geist auch
keine Philosophie im Sinne einer Schulphilosophie hervorgebracht,
sondern eine Gottesweisheit.
Die griechische Philosophie ist ursprünglich Naturphilosophie resp.
Naturwissenschaft. Der erste griechische Philosoph Thaies erklärte,
alles ist Wasser, Anaximenes wollte alles aus der Luft ableiten. Das
Wesen aller Dinge, erklärte Heraklit, ist das Feuer. Dann kam De-
mokrit mit seiner Lehre vom Zentralfeuer und mit seiner Musiklehre,
die auf Naturbeobachtung zurückgeht. Auch der Name Aristoteles ist
unzertrennlich mit der Geschichte der Naturwissenschaft verbunden.
Was folgt daraus? Der griechische Geist hatte sich an der Natur ge-
bildet, und seine Naturphilosophie ist nichts anderes als Naturwissen-
schaft und deren begriffliche Abstraktion. Was hingegen der jüdische
Geist geschaffen hat, ist nicht aus einer Orientierung an der Natur
hervorgegangen. Seine Schöpfungen sind, wenn man so sagen darf,
Schöpfungen des reinen Geistes, der intellektuellen „Erfahrung" und
der rein intellektualistisch-moralischen Einsicht. Weder der jüdische
Gottesglaube, noch die jüdische Ethik, noch die jüdische Politik, deren
^Grundsätze der Überlieferung nach schon in der Wüste festgelegt
waren (woraus Philo auf ihre Weisheit schließt), sind Produkte der
äußeren Erfahrung, weil nicht die biologische Natur seine Lehrmeisterin
war. Der jüdische Geist war theozentrisch disponiert, der griechische
Geist geo- und anthropozentrisch. Der Grieche vertiefte sich in die
Natur und ihre Gesetze. Was er in der Natur für wahr erkannt zu
haben glaubte, übertrug er auf die Metaphysik. Der theozentrische
Geist der Juden hielt sich von der Natur fern, um sie auf dem Wege
des Geistes zu überwinden. Diese Tendenz seines Geistes war es,
die ihn von der bildenden Kunst ablenkte, und nicht das religiöse
Verbot; denn kein Volk, das nach künstlerischem Schaffen strebt,
wird ein solches Verbot hinnehmen. Vielmehr müssen wir dieses
5*
67
Verbot als eine Bestätigung und als einen Ausdruck seiner geistigen
Eigenschaften betrachten.
Mit dem Verhältnis zur Natur hat es sein eigenes Bewenden.
Ein positives logisches Verhältnis zur Natur führt zum Experiment
und zur Analysis. Der Gipfelpunkt in der griechischen Philosophie
ist Aristoteles, und der Stagirite ist die Verkörperung des analytischen
Denkens. Er ist bekanntlich der Schöpfer der formalen Logik. Ein
negatives Verhältnis zur Natur, wie es die alten Juden unterhalten
hatten, umgrenzte den Bewegungsumkreis des Geistes, indem es ihn
auf sein eigenes Innere beschränkte. Ist nun der Geist einmal auf
sich selbst angewiesen und gar nicht an der Natur orientiert, dann
schafft er nicht analytisch, sondern synthetisch, nicht diskursiv, son-
dern intuitiv. Die intuitive Disposition des jüdischen Geistes ist aus
dem völligen Mangel an Problemen bei seinen Vertretern zu erkennen.
Die ganze Philosophie, die griechische inbegriffen, ruht auf dem Grunde
des Problems. Die Geschichte der Philosophie ist nichts mehr als
eine Geschichte von Problemen und Versuchen zu ihren Lösungen.
Das ist aus der Geschichte der Wissenschaftslehre zu ersehen. Dem
Träger des antik-jüdischen Geistes war die methodologische Medi-
tation, die kritische Erwägung und das problematisch-analytische For-
schen und Denken absolut unbekannt. Der Prophet verkündete seine
Lehre augenscheinlich aus einer Improvisation heraus, die aber nichts
weniger als eine Improvisation war. Er lehrte vielmehr aus dem
tiefsten inneren Wissen, er schöpfte aus dem Quell seiner eigenen
sittlichen Persönlichkeit. Für ihn gab es keine Zweifel, keine Probleme,
keine analytisch-kritischen Erwägungen; so sicher war er seiner Sache.
Dieses absolut sichere innere Wissen, das niemals unterbrochen wurde,
ist nur dem intuitiven Genius gegeben; denn das analytische Denken
ist immer mit dem Problem verschwägert. Da heißt es prüfen, unter-
suchen, vergleichen und feststellen. Auch die Griechen sind letzten
Endes zur Gotteserkenntnis gekommen, nachdem sie ein Jahrtausend
analysiert und experimentiert harten. Bei den Griechen, die an der
Natur orientiert waren, ist die Gotteserkenntnis der Endpunkt, bei
den Juden, die an dem ^reinen Geist" orientiert waren, ist der Gottes-
gedanke Ausgangspunkt. Bei den Griechen ist aber der Monotheis-
mus, selbst in seiner aristotelischen Gestalt, niemals Gemeingut der
Massen geworden; denn es ist nicht Sache des gemeinen Mannes, zu
philosophieren. Die Juden, die zu Gott ohne analytische Philosophie
kamen, sind bis auf den heutigen Tag die Träger des Gottesgedankens
resp. des reinen geistigen Monotheismus, geblieben.
68
Innerhalb des Umkreises der jüdischen Kultur gibt es nur eine
Ethik, eine Theologie, eine Politik, ein Recht usw. Innerhalb des Um-
kreises der griechischen Kultur gibt es etwa zwanzig verschiedene
und einander sich ausschließende Systeme der Metaphysik, der Ethik
und der Politik. Trotzdem ist der Quell des griechischen Geistes das
Kollektivum, der Born des jüdischen Geistes die Persönlichkeit. Das
ist kein Paradox, sondern ein nacktes Faktum. In Griechenland war
auch nicht jeder ein aktueller Künstler, aber jeder Grieche liebte und
förderte die Kunst. Denn der griechische Mensch unterhielt ein inniges
Verhätnis zum Schönen, und die gebildeten Kreise auch zum Guten.
Kunst und Philosophie waren in Griechenland Produkte des Kollek-
tivums, der einzelne Künstler und Philosoph nur Vertreter der geistigen
Bewegungen und Strebungen des Kollektivums. Das Schönheitsbewußt-
sein lag jedem Griechen dermaßen im Blut, daß man ohne Übertrei-
bung sagen .kann, jeder Grieche war potenziell ein Künstler. Kann
man dasselbe von den Juden der Antike sagen? Stand nicht jeder
Prophet im absoluten Gegensatz zu den eigentlichen Bestrebungen
und Tendenzen, Wünschen und Absichten und Bewegungen seines
Volkes? Das Volk war ungerecht; der Prophet lehrte es Gerechtig-
keit; das Volk war von seinem Gott abgewandt, der Prophet trieb
es fast gewaltsam und mit der Flamme seines Wortes zu Gott zurück;
das Volk lebte in Luxus und Ausschweifung; der Prophet "führte es
gewaltsam in das schlichte Leben zurück; das Volk, einem natürlichen
Triebe nachgebend, folgte dem Einfluß des Milieus und gewährte
fremden Kulturgütern Eingang in seine Mitte; der Prophet trieb wider
den Willen des Volkes die von der Fremde in Juda geschlagenen
Kulturwellen zurück. Jeder Jude war nicht etwa ebenso ein kleiner
Jesaja oder Jeremia, wie jeder Grieche ein kleiner Homer und ein
kleiner Aristoteles war. Der Prophet war nicht an der Zeitlichkeit des
Volkes, sondern an der Ewigkeit einer Idee orientiert. Sein Geist
begegnete sich feindlich mit dem des Volkes. Daher das ständige
Martyrium des Propheten, daher seine Strafpredigten und rigorosen
Ermahnungen.
Das Zeitliche vergeht; das Ewig- Wahre (nicht Wirkliche) ist un-
sterblich und unvergänglich. Als das griechische Volk, der Nährboden
des griechischen Geistes, erstarb, hörte auch die griechische Philo-
sophie und die griechische Kunst auf. Es hinterließ der Menschheit
viele philosophische Systeme und die Weltanschauung, von der man
sagen kann, sie sei der Ausdruck des griechischen Geistes. Als aber
das jüdische Volk als Volk, d. h. als politische Einheit, erstarb und
69
die Juden nach allen Himmelsrichtungen sich zerstreuten, blieb ein
Buch, das Buch der Menschheit, die Bibel; blieb eine Weltanschauung-,
die Zugkraft genug besaß, der große Magnet für die vielen Eisen-
splitter — das Zentrum für das zerstreute Volk zu werden. So einfach
dieses Faktum ist und erscheinen mag, so verwickelt sind seine Gründe.
Das Judentum ist bekanntlich ein System von umschriebenen Ge-
setzen. Der jüdische Geist ruht aber auf individualistischem Grund,
offenbart sich nur in individueller Brechung. Wie reimt sich das nun?
Gesetz und Individualität — Allgemeines und Besonderes — schließen
sich doch immer aus? Die Tatsache ist aber diese, daß das Gesetz
kein Gesetz der Wirklichkeit und keine Formulierung der Lebens-
erfahrung war, sondern ein „Gesetz" des Geistes, der Persönlichkeit
— .des Religions- und Staatsgründers, geschaffen als Barriere für die
vielen gegeneinander existierenden Individuen einer Gruppe. Der Geist
dieser Persönlichkeit, nicht auf das Dasein der Welt, sondern auf das
Dasein des Menschen konzentriert und gerichtet, war selbst der Träger
und Verkörperer des Gesetzes. Sein einziges Ziel war: die Erhaltung
und Erziehung des eigenen Volkes, die nur durch das Gesetz möglich
wurde. So war die Persönlichkeit in sich selbst Gesetz — ihre histo-
rischen Bestrebungen machten 'sie selbst zur Quelle des Gesetzes —
zum Wesen des Gesetzes. Aus diesem Grunde blieb der intuitive
Gedanke, der sonst einer wilden, regellosen Strömung gleicht und sich
oft selbst überflutet, in bestimmten Grenzen. Die Persönlichkeit hatte
sich selbst, d. h. das Gesetz, dem Volke so eingeschärft, des Volkes
Bewußtsein und Geist mit dem Inhalt des Gesetzes so sehr ausgefüllt,
•daß das Gesetz zur ersten treibenden Kraft im Volksleben wurde. So-
bald aber das Gesetz sich so inhaltsvoll erhalten konnte, das Fort-
leben des Gedankens der schicksalschmiedenden Persönlichkeit ge-
sichert blieb, war auch die weitere Existenz des jüdischen Volkes ge-
sichert; denn dieser jüdische Kulturgedanke, so sehr er auch gegen
die nackte Wirklichkeit des Lebens verstoßen ma,g, so wirklichkeits-
leer er im Verhältnis zum Kulturgedanken der asiatischen Völker ist,
und so wenig Basis er im Leben auch haben mag, ist nichtsdestoweniger
so gewaltig und mächtig, reich und schöpferisch, daß er auf die in
seinem Umkreise Lebenden wirkt wie die Sonne auf die Erde. Er
treibt immer wieder große Pflanzen des Geistes hervor, er ruft immer
wieder große Männer an das Licht des Tages, die den Gedanken weiter
pflegen und entwickeln und bilden. Von der Stilgröße dieses Ge-
dankens macht man sich einen Begriff, wenn man bedenkt, daß er
zwei Religionen, die inhaltlich mit der jüdischen, wie wir bald sehen
70
werden, fast gar nichts gemein haben, Form und Relief gegeben und
seit zwei Jahrtausenden die größten Geister der Menschheit im Banne
hält. So beruht bei näherem Zusehen die Existenz des jüdischen Volkes
auf dem jüdischen Kulturgedanken und auf der großen Persönlichkeit,
die dieser Gedanke hervorzubringen immer wieder imstande ist. Nie-
mals war irgendein konkreter soziologischer Faktor, wie etwa das
Land oder die Dynastie, die zusammenhaltende und nationaleinigende
Kraft der Juden, sondern immer nur das Gesetz, die Thora, der ab-
strakte Gedanke, das ethische Prinzip; kurzum der jüdische Kultur-
gedanke, der dem Europäer, der die Bibel kennt, als ein idealistisches,
wirklichkeitsleeres Gebild, ein Luftschloß, erscheinen mag, war die
zusammenhaltende Kraft.
Man mag nun diesen jüdischen Kulturgedanken (die Einheit Gottes,
die Einheit des Menschengeschlechts und die Einheit der Geschichte)
bewerten wie man will (und es gibt selbst viele europäische Juden,
die ihn gering einschätzen), seine innere harmonische Einheit und
Abgeschlossenheit muß man bewundern. Burckhardt spricht vom grie-
chischen Kulturgedanken, Deußen von dem indischen und Nietzsche
von dem iranisch-parsischen. Es gibt griechische Weltanschaungen,
wenn auch die Kalokagathie alle umfassen kann; es gibt indische Welt-
anschauungen, die vielleicht alle eine oberste, sie verbindende Tendenz
haben — es gibt aber nur eine jüdische Weltanschauung des antiken
Judentums, die ihre Einheitlichkeit selbst dort dokumentiert, wo sie
über den Rahmen des Gesetzes hinausgeht und mehr literarisch-philo-
sophische Richtung in der Weltgeschichte ist. Die alten Inder z. B.
glaubten an viele Götter und zu gleicher Zeit an einen Weltgeist; sie
glaubten an die Freiheit des Willens und zu gleicher Zeit an den
Determinismus, an die Realität der Welt und an die Idealität der Welt.
Ähnliches gilt von den antiken Griechen; denn hier ist der Geist Zeit-
bewußtsein und temporäres Volksbewußtsein. Aber nicht nur in Kul-
tursystemen großer Völker, sondern auch in einzelnen Philosophie-
Systemen finden wir Widersprüche. Kant z. B. lehrte die Autonomie
des Willens und zu gleicher Zeit das Ding an sich, das ein unterirdi-
sches, unsichtbares Verhältnis zum Menschen unterhält und seine
Handlungen bestimmt. Er lehrte, daß Zeit und Raum Anschauungs-
formen a priori sind, und übersah, daß es keine Form ohne Inhalt
gibt, daß vielmehr jede Form die Form eines bestimmten Inhaltes
ist. Und Kant nennt man doch den kritischen Philosophen. Der an-
tiken jüdischen Weltanschauung sind solche Widersprüche absolut
unbekannt. Was der eine Prophet lehrte, lehrte auch der zweite, und
71
nie widerlegte oder verleugnete der eine Prophet die Lehre eines an-
deren Propheten, während die Philosophie zu drei Vierteln daraus
besteht, daß der eine Philosoph die Lehre seines Vorgängers zu
widerlegen sich bemüht. Der jüdische Geist bewegt sich, trotz seiner
individuellen Brechung, immer in einer Richtung — nicht nur, weil
er sich durch das Gesetz seine Bewegungen vorgeschrieben hat, son-
dern weil ihm wegen mehrerer antizipativer Erkenntnisse auf dem
Wege der Intuition, wie z. B. der Erkenntnis der genannten drei Ein-
heiten, die Beschäftigung mit vielen Erscheinungen erspart geblieben
ist, so daß er seine Bewegungen auf einen bestimmten Umkreis be-
schränken konnte. Gott war erkannt, der Plan der Geschichte erkannt,
die Einheit des Menschengeschlechtes ebenfalls. Die höchste Gewiß-
heit war: die Möglichkeit des Guten und die Pflicht zum Guten.
Metaphysische Grübeleien waren demnach zwecklos, ebenso Sozial-
und Geschichtsphilosophie. So konnte der Geist sich auf die Aktuali-
sierung sittlicher Potenzen konzentrieren. Daß die antizipativen Er-
kenntnisse vermittels der Intuition den philosophischen Trieb von vorn-
herein töteten, versteht sich von selbst. Aus diesem Grunde konnten
auch keine anderen Wissenschaften aufkommen. Es blieb also nur die
eine Lehre, diese eine Erkenntnis. Sie mag als die Kultur einer ganzen
Nation ärmlich erscheinen, aber sie ist innerlich so geschlossen und
konsequent, daß sie fast einem gut funktionierenden Mechanismus
gleicht. Von einem Ausgangspunkt ergibt sich das Ganze. Sobald
das erste Prinzip begriffen ist, ist das ganze innere Räderwerk leicht
erkennbar. Wenn es seine Richtigkeit hat, daß jeder große Kultur-,
gedanke entweder deduktiv oder induktiv beginnt und sich entwickelt,
wie etwa, was schon Buckle bemerkt hat, der deutsche und der ameri-
kanische Kulturgedanke, so ruht der jüdische ganz auf dem Grunde
der Deduktion. Der Geist des antiken Judentums äußert sich nicht,
wie der des alten Griechentums, in unzähligen Variationen, in tausend
bunten schillernden Farben, sondern einerlei, simpel, monoton . . .
Die Monotonie ist aber groß und gewaltig und bezwingend wie die
der Wüste. Der große jüdische Geistesträger, immer an demselben
begrenzten Objekt orientiert, hat die vollste Kontrolle über die Be-
wegungen des Gedankens; denn wie gesagt, er ist nicht der personi-
fizierte Ausdruck der Volkswünsche, nicht das Bewußtsein seiner
Gegenwart, sondern umgekehrt, der Bildner seiner Zeit . . . Der
Widerspruchsgeist entwickelte sich bei den Juden erst dann, als —
durch das Zusammentreffen mit Hellas und Rom — die intuitive Kraft
des Denkens gebrochen und das Licht der Prophetie verglommen war.
72
In das Judentum drangen fremde Elemente ein, wodurch es in einen
Defensiv-Zustand versetzt wurde. Daraus war die Notwendigkeit der
Apologie und des Beweises entstanden. Aber selbst im Talmud, der
ganz auf der Analysis ruht (und teilweise aus diesem Grunde nicht
wie die Bibel, Menschheitsgut, sondern nur nationales Gut geworden
ist), leuchtet noch hie und da das intuitive Feuer auf. Oft wird da mit
einem Wort, mit einer Wendung eine ganze Gedankenwelt offenbart.
Die Begrenztheit der Bewegung des jüdischen Geistes auf das
Menschendasein ist, wie gesagt, nur aus seiner Entwicklungsgeschichte
heraus zu verstehen. Die Geburt des jüdischen Volkes erfolgte unter
Qualen und Pein. Seine Wiege stand auf fremder Erde, seine Kind-
heit verbrachte es in Feindesland. Noch bevor es zur eigentlichen
Besinnung gekommen war, hörte es schon die pharaonischen Pogrom-
rufe: „Jeder neug'eborene Knabe soll in den Fluß geworfen werdend
Wo der Volkskörper so bedrückt ist, ist der Volksg^eist, auch in seiner
individuellen Brechung, nicht dazu disponiert, aus dem engsten Um-
kreis seiner momentanen Bedürfnisse herauszutreten und sich in weite
Geisteswelten zu vertiefen. Dazu gehört die Möglichkeit einer kühlen
Betrachtung der Dinge, die einen ruhigen und friedlichen Zustand
voraussetzt. Statt über die Natur und ihre Gesetze zu meditieren,
fing der Jude an, in der Welt des Menschen Umschau zu halten. Die
Frage nach Gut und Böse ging ihm sofort auf, als er sich dessen
bewußt wurde, daß ihm Böses zugefügt ward. Das Leidensbewußtsein
fördert die Entwicklung des Gefühls, und je größer das Leiden, desto
stärker das Gefühl. Sobald das Jndividuum oder das Kollektivem
unter die Herrschaft des Leidens kommt, verstärkt sich das Ich-
Bewußtsein ,und potenziert sich oft zur Hartnäckigkeit und zum Eigen-
sinn, insbesondere wo diese zwei Eigenschaften schon sowieso durch
sozialökonomische Momente bedingt sind. Das schwächt aber in dem
Maße das objektive Vermögen, in dem es das subjektive stärkt.
Das objektive Vermögen ist aber Grundlage und Voraussetzung aller
wissenschaftlichen Erkenntnis. Der Individualist mag sich über die
Natur begeistern und sie in seinem Herzen umfassen, in seinem Kopfe
umfaßt er sie nicht. Er dringt nicht in das Innere der Natur, sondern
schildert ihr Gesicht und besingt sie. Aus diesem Grunde haben die
antiken Juden keine Naturphilosophie, sondern eine Naturpoesie ge-
schaffen, von der Alexander von Humboldt und Georg Brandes aus-
sagen, daß sie wegen ihrer stillen Größe und Erhabenheit kein Ana-
logon in der ganzen Weltliteratur habe. Und bis auf den heutigen
Tag leidet die hebräische Literatur an einer Hypertrophie des Ly-
73
rischen. Logisch und ethisch hatte der antike Jude zur Natur kein
Verhältnis, Jhingegen steht sein poetisches Verhältnis zur Natur wegen
dessen Schlichtheit und Erhabenheit einzig da.
Poesie und Ethik waren also wegen der ersten Schicksale des
jüdischen Volkes die zwei großen Erbgüter seines Geistes. Wie der
antike griechische Geist auf dem Wege der Analogie die Wirklichkeit
des Universums zu erforschen suchte, so suchte der antike jüdische
Geist jaüf dem Wege der Synthesis die Wahrheit in der Welt der
Menschen zu erforschen. Der griechische Geist war ruhig und abge-
klärt und harmonisch, daher konnte sein Verhältnis zur Natur ein
wissenschaftliches sein. In der griechischen Poesie kehrt diese innere
Ruhe und Abgeklärtheit wieder. Aus ihr spricht eine erhebende Seelen-
ruhe und eine harmonische Überlegenheit des Geistes, und von jedem
griechischen Kunstwerk spricht ein plastischer Genius. Anders der
antike Jude. Aus seinem Gesang bricht ein stürmisches, wallendes Ge-
fühl hervor, eine mächtige Begeisterung, eine stürmische, gepeitschte
Leidenschaft. Nur, wo er die Natur in ein Verhältnis zu ihrem Schöpfer
bringt, übermannt ihn ein kosmisches Bewußtsein, das ihm eine hehre
Ruhe gibt. Da geht er über die Natur hinaus und erhebt sich auf den
Flügeln des Allbewußtseins zu seinem Gott. In einem solchen seeli-
schen Zustand ist der Psalm 104 gesungen worden. Dieses Allbewußt-
sein, ein Schwesterkind der genannten drei Einheiten, erschloß dem
antiken Juden neue Welten und erweiterte seinen theoretisch-politischen
Horizont. Schon Steinthal hat auf die universalistische jüdische Ge-
schichtsschreibung aufmerksam gemacht. „Die Griechen, die Germanen
usw. hatten sich in ihrem Mythus einen Stammbaum der griechischen,
der germanischen Völker oder Staaten gebildet. Aber wo ist das Volk,
das in seiner Vorgeschichte einen Stammbaum der ganzen Menschheit
versucht hätte?" (H. Steinthal, Jahrbuch für jüdische Geschichte und
Literatur, Bd. IV, Seite 65 ff.) Dieses Volk sind die Juden, und nur sie
allein haben in der Bibel einen Stammbaum der ganzen Menschheit
versucht. Dieser früh erkannte Universalismus, ebenfalls ein Produkt
nicht der Erfahrung, sondern der Deduktion, war der jüdischen Politik
und dem jüdischen Staatswesen gar nicht förderlich. Er kollidiert aller-
dings nicht mit dem Patriotismus, da der jüdische Patriotismus das
Gesetz und seine Fragen sind — und nicht die Liebe zu einer bestimm-
ten Scholle.
Der Genius der antiken Juden, um das oben Auseinandergesetzte
zusammenzufassen, äußerte sich in vierfacher Gestalt: 1. in Religion,
2. in Poesie, 3. in Ethik und 4. in Musik. Die Musik der alten Juden
74
ist uns verloren gegangen, aber daß sie in Judäa gute Tage gesehen.,
steht außer Zweifel; denn die Voraussetzungen, die temperamentvolle
und gefühlvolle Persönlichkeit und eine Art rhythmisches Bewußtsein
(neuere Forschungen haben fast überall in der Bibel einen Rhythmus
nachgewiesen) waren vorhanden. Zudem sind in der Bibel eine große
Anzahl von Musikinstrumenten genannt (die Geige, die Harfe, die Trom-
pete usw.), die auf das Vorhandensein einer hochentwickelten Musik in
Judäa schließen lassen. Es ist sicher, daß die antiken Juden ein ebenso
warmes Verhältnis zur Musik unterhalten haben, wie zur Poesie und
Religion. Auch die Beteiligung der modernen Juden an der Musik
(einem englischen Musikhistoriker zufolge sollen sie das begabteste
Musikvolk der Welt sein), die man in Halevy, Rubinstein, Mendelssohn
und an der übermäßig großen Zahl der ausübenden, resp. reprodu-
zierenden jüdischen Musiker, erkennen kann, läßt auf die musikalische
Begabung der antiken Juden schließen.
Die drei uns bekannten Schöpfungen des jüdischen Geistes zeichnen
sich durch eine geradezu groteske Originalität und starre Einseitigkeit
aus. Auf die vielen Eigentümlichkeiten, die die jüdische Religion und
Ethik auszeichnen, komme ich in einem besonderen Kapitel zurück.
Hier mögen nur einige allgemeine Bemerkungen Platz greifen.
Religion ist im allgemeinen nichts anderes als ein bestimmtes Ver-
hältnis zu Gott, resp. zum Übersinnlichen. Aber der Jude verquickte
Religion mit der Sittlichkeit, d. h. das Verhältnis zu Gott wird mit dem
Verhältnis zum Nebenmenschen vermengt. Er machte Gott zum Quell
v.nd zum Wesen aller Sittlichkeit. Es ßfibt im hebräischen Schrifttum
für diese Mischung zweier Relationen eine bestimmte Formel: „Mahu
raehum af atta rachum" (Wie er [Gott] barmherzig ist, so sei auch der
Mensch barmherzig). Die Propheten haben sich ähnlicher Redewen-
dungen bedient und die Sittlichkeit Gottes dem seinsollenden Guten
des Menschen als Analogie hingestellt. Dieses Durchdringen der Reli-
gion mit der Sittlichkeit, die in der Antike zumindest einzig dasteht,
schuf eine ganz neue Lebensanschauung, einen neuen Lebenssinn. Sie
machte die Gerechtigkeit und Sittlichkeit zum Sinne des Lebens. „Ohne
die Gerechtigkeit hat das Leben keinen Sinn", sagten die jüdischen
Propheten in Übereinstimmung mit — Immanuel Kant. An dem Blinken
des Schwertes weidete sich das Auge des Römers, an dem Heros, der
Verkörperung der Gewalt und Macht des Stärkeren, erfreute sich der
Grieche, und nach der Herrschaft der Gerechtigkeit sehnte sich der
israelitische Prophet.
Wie diese Verquickung von Religion und Sittlichkeit zustande ge-
75
kommen ist^ braucht nach der Erörterung über die Formation des jüdi-
schen Geistes nicht mehr auseinandergesetzt zu werden. Es sei hier
nur vorwegnehmend gesagt, daß sowohl die jüdische Religion als die
jüdische Ethik nicht an der Wirklichkeit des Lebens und an der bio-
logischen Natur orientiert, sondern, wie die jüdische Politik und das
jüdische Recht, zwei Aprioritäten sind, die der Geist sich verschrieben
hat. Die jüdische Sittlichkeit nimmt keinen Bezug auf die Erfahrung der
Wirklichkeit, und die jüdische Religion ignoriert die sexuelle Potenz,
die der Lebensnerv jeder Religion ist. Durch seine Ethik und Religion
hat sich das jüdische Volk allen geschichtlichen Mächten entgegen-
gestellt — und isoliert. Der Gegensatz zwischen jüdischer und nicht-
iüdischer Ethik setzt sich bis auf den heutigen Ta^g fort. Man nehme
«ur die Ethik Wilhelm Wundts und die Ethik Herrmann Cohens zur
Hand. Wundt führt die Sittlichkeit auf die Sitte — auf die Erfahrung
zurück und stellt die Sitte als Vorstufe der Sittlichkeit hin, während
Herrmann Cohen, der eher die Bezeichnung Neo-Jeremianer oder Neo-
Jesajaner als Neo-Kantianer verdient, die Ethik auf die Logik aufbaut.
Über den Subjektivismus der Semiten und insbesondere der Juden
sind sich alle Forscher, die berufen sind, ein Urteil abzugeben, einig.
Subjektivismus ist aber mit dem Affekt und mit der Leidenschaft ver-
schwägert. Aus diesem Grunde ist es merkwürdig und wunderbar zu-
gleich zu sehen, wie die antiken Juden gerade die Erkenntnis und das
Wissen auf den Schild hoben. Das Wort „denken" kann nach Jellinek
im Hebräischen durch zwölf Bezeichnungen ausgedrückt werden. Das
Höchste, was der Prophet zu verkünden hat, ist: „Und die ganze Welt
werde voll von Erkenntnis Gottes, wie das Wasser das Meer bedeckt",
und den Juden wird eingeschärft: „Erkenne Gott, deinen Vater, und
ehre ihn."
Das Wort glauben oder Glaube kommt nur wenige Male in der
Bibel vor. Immer ist da von Erkenntnis Gottes die Rede. Für das
Streben nach Vernunft und Erkenntnis (nicht nur nach Gotteserkenntnis)
im alten Judäa ist die Bitte Salomos an Gott bezeichnend: „So wollest
du deinem Knecht geben ein verständiges Herz, daß er dein Volk
richten möge, und verstehen, was gut und böse ist."
Die zwei Grundbücher des Judentums, die Bibel und der Talmucf,
werden schlechthin Lehre genannt. Der Talmud hat diese rationalisti-
schen Überlieferungen festgehalten, indem er lehrte: Ein gelehrter
Bastard ist mehr als ein unwissender Priester; ein Gelehrter geht vor
dem König; selbst ein Nicht-Jude, der sich mit der Thora beschäftigt,
ist soviel wie ein Hohepriester. Die Pirke Abot gehen sogar so weit,
76
zu erklären, daß ein Unwissender überhaupt nicht fromm sein kann.
Fast alle jüdischen Religionsphilosophen des Mittelalters haben sich
für den Primat des Wissens über den Glauben ausgesprochen, und da
sie mit wenigen Ausnahmen auf dem festen Boden der jüdischen Über-
lieferung und des jüdischen Gesetzes standen, so ist wohl anzunehmen,
daß sie mit der Höherstellung des Wissens über den Glauben der Tra-
dition gefolgt sind.
Gerade das rational-intellektualistische Moment im Judentum wird
von allen Forschern rühmend oder tadelnd hervorgehoben. Es wird
schon seinen psychologischen Grund haben, warum man gerade am
Ausgang des Altertums den Aristotelismus und den Piatonismus mit
dem Judentum in Verbindung zu bringen bestrebt war, und warum das
Judentum immer mit rationalistisch-intellektualistischen Philosophie-
systemen sich verschwägert hat. Selbst die rationalistische Bibelkritik
ist aus dem mittelalterlich-rabbinischen Judentum hervorgegangen. Man
sollte denken, daß ein semitisches Volk, das unter der glühenden Sonne
Nordafrikas aufwuchs, ein Volk, dessen erste Schicksale seinen Intellekt
eingeengt und ein übermäßig starkes Gefühlsleben in ihm entwickelt
haben, nicht dem Intellektualismus nachzugehen berufen ist.
Salomo, der nach seines Sohnes eigener Aussage das Volk mit
Ruten gezüchtigt, also ziemlich despotisch regiert hat, klagt seinem
Gott: „Wer kann denn dieses harte (hartnäckige) Volk richten" (Recht
sprechen), was doch zumindest bezeugt, daß die Juden damals, als der
jüdische Staat seine besten Tage gesehen, noch ein nicht zu bändigen-
des, von subjektiven Launen und Gefühlsstürmen hin und her gewor-
fenes Volk waren. Also ist der Intellektualismus im Judentum nicht
selbstverständlich.
Zum Verständnis dieses Phänomens muß folgendes vorausgeschickt
werden. Die antiken Juden bezeichneten Vernunft (Verstand) mit dem
Wort lew (Herz), d. h. sie verlegten den Sitz der Vernunft ins Herz.
Die logisch motivierte jüdische Ethik bezeichnete die mittelalterlichen
Rabbiner als die „Pflichten des Herzens" (Chowath Halwawoth). Das
kann zweierlei bedeuten: entweder, daß der intellektuelle Akt gleich-
zeitig ein Gefühlsakt ist, oder daß jeder Gefühlsakt gleichzeitig ein
intellektueller Akt ist. Für diese Identifizierung" des Gefühls mit dem
Denkakt spricht auch schon die Tatsache, daß Erkenntnis im Hebräi-
schen gleichzeitig Liebe bedeutet (Herrmann Cohen, Ethik des reinen
Willens).
Während des langen Kampfes zwischen Gefühl und Vernunft in der
Seele des Juden, den man aus jeder Zeile der Bibel ersehen kann, war
immer die Vernunft vom Gefühl beeinflußt, weil der Gesetzgeber oder
Prophet mit seinem Volke im Kampfe lag; aber nie war die Vernunft
von dem stürmischen Gefühlsmeer, das in seinem Innern tobte, über-
flutet, so, daß seine Handlungen immer Weisungen des Gefühls ge-
wesen wären. Vielmehr ist es Tatsache, daß das Gefühl die Vernunft
nur beeinflußt, um sich mit ihr zu einer wunderbaren harmonischen
Einheit zu verschmelzen. In diese Vereinigung von Gefühl des Volkes
und Vernunft (des Gesetzes) der Persönlichkeit mündet die Intuition des
jüdischen Geistes. Dem Subjektivismus und Individualismus des Volkes
stand das Gesetz des großen und mächtigen Gottes gegenüber. Das
Gesetz bändigte den Subjektivismus. Aus dem Kampf zwischen beiden,
die sich gegenseitig beeinflussen, ist jene wunderbare Geistesrichtung
hervorgegangen, die in der Prophetie ihren Niederschlag gefunden hat.
Aber die Mächte der Vernunft sind trotz der starken subjektiven Um-
gebung doch Sieger geblieben. Dafür spricht das merkwürdige Faktum,
daß trotz des ursprünglichen, mächtigen Subjektivismus der alten
Juden und der späteren intuitiven Geistesrichtungen, die zu roman-
tischer Verschwommenheit neigten, das Judentum eine Gesetzesherr-
schaft und der jüdische Staat ein nomokratischer war, während das
Christentum Poesie und Stimmung ist und jedes nomokratischen An-
satzes entbehrt, und der christliche Staat ein Cäsar- (Papst-) Staat,
also ein despotischer Staat ist. Nicht umsonst hat die Romantik mit
dem Despotismus und dem Katholizismus geliebäugelt.
Die Folge dieser Vereinigung von Gefühl und Vernunft in der*
Seele des antiken Juden war, daß er mit seinem durch diese Vereini-
gung gebildeten Seherblick erspähte, was Philosophen und Forscher
nach vieltausendjähriger wissenschaftlicher Analysis erkannten. „Sinn
und Zweck des Lebens ist, das Gute zu verwirklichen, und wenn keine
Gerechtigkeit in der Welt vorhanden ist, hat das Leben keinen Sinn."
So Immanuel Kant, der hierin einer platonischen Tradition folgte. Zu
dieser Erkenntnis gelangte der Philosoph, nachdem er die vor ihm ge-
schaffenen Systeme der Philosophie kritisch zertrümmerte und ein
eigenes kritisches System begründet hatte; nachdem er die Organi-
sation der Vernunft erforscht und den größtmöglichsten Scharfsinn an-
gewendet hatte, um den Mechanismus des Geistes in seine Teile zu zer-
legen. Nach dieser Tat des Genius setzte er sich hin und schrieb seine
Kritik der praktischen Vernunft, um zu beweisen, daß die Ethik auf
der Vernunft begründet sei. Erst als dieses Werk fertig war, war eine
ganze Lebensanschauung gewonnen. Die Herrschaft der Vernunft, der
Sittlichkeit und des Friedens war gut fundiert. Dieses Resultat zwei-
78
tausendjähriger Geistesarbeit antizipierte der jüdische Prophet in einem
Satz: „O Mensch, Gott hat dir gesagt, was gut ist, und was anders ver-
langt er von dir, als das Gute zu tun?" Um noch ein anderes Exempel
zu bringen: Die Idee des Guten nimmt bekanntlich in der platonischen
Ideenlehre den ersten Rang ein. Plato gilt als der eigentliche Begrün-
der der Ethik. Der jüdische Prophet lehrte: „Armen und Bedrückten
Recht angedeihen lassen ist das Gute, das heißt, Mich kennen, spricht
Gott." Nur ist die Idee des Guten, d.h. die höchste Idee, bei Plato meta-
physisch, während sie bei Jeremia sittlich-religiös ist. Gott ist nach
Auffassung des Propheten ganz Vernunft, ganz Sittlichkeit, und der
Zweck des Lebens ist, die Wege Gottes zu wandeln. Mensch, Gott hat
dir gesagt, was gut ist, indem er dir eine Vernunft zu prüfen, ein Herz
zu fühlen und Freiheit des Willens gab. Gott hat dir gesagt: Wähle
das Gute, damit du lebest. Diese ganze Konzeption bedingt die Be-
jahung der Zukunft. Aus dem Verhältnis des antiken Juden zur Zukunft
erkennen wir zweierlei: Seine gewaltige Vitalität und seine Intellek-
tualität. Die Vergangenheit ist böse, die Zukunft allein ist gut. Daher
kann die Vergangenheit keine Führerin sein. Ältere Bibelexegeten
haben schon erkannt, daß jedesmal, wo die Bibel mit „Waihi" (es war)
einen Bericht anfängt, immer von Pein die Rede ist. Und wie das
Perfektum das Böse andeutet, so das Futurum das Gute. Der Prophet
beginnt seine Weissagungen für die Zukunft mit: „Es wird in den
letzten Tagen sein." Dieser unverwüstliche Optimismus, der sich wie
ein roter Faden durch die Bibel zieht und uns den Haß eines Voltaire
und Schopenhauer eingetragen, ist nur intellektuell motiviert. Freilich
bekundet auch dieser antik-jüdische Optimismus, daß der Jude sich
nicht an der Wirklichkeit gebildet und seinen Willen nicht domestiziert
hat; denn wer selbst durch die Schule des harten Lebens gegangen, ist
nicht Optimist. Der Optimismus ist immer an der Vernunft und nicht
am Leben orientiert, er ist vom Intellektualismus unzertrennlich. Der
Gefühlsmensch hingegen neigt ebenso zum Pessimismus wie der Intel-
lektualist zum Optimismus. Die richtige Mitte findet der, der durch
die harte Schule des Lebens gegangen ist. Die Romantik neigte zum
Pessimismus. Der Begründer des Intellektualismus im neuen Europa,
Leibniz, war auch bekanntlich der Philosoph des Optimismus. Von den
Amerikanern sagte jüngst ein geistvoller Franzose: „II est ni optimiste,
ni pessimiste — il est un homme raisonnable." Wäre das antike Juden-
tum nur Gefühl, Stimmung und Poesie, wie das Christentum oder der
Buddhismus, und hätte ihm nicht das Gesetz (ein abstraktes Prinzip)
soviel Rationalismus und Intellektualismus imprägniert — nein, gerade-
79
zu intellektualisiert, dann hätte es niemals so gewaltige optimistische
Energien ausgestrahlt. In Indien z. B., wo die Vernunft verneint und
der Intellekt als Organ des Todes hingestellt wurde, ist auch das Leben
verneint worden. Der antik-jüdische Optimismus ist auch das geistige
Substrat der großen vitalen Energien, die der selektive Prozeß dem
Volke zuführte, die in den alten Juden lebten. Diese vitalen Energien
hätten auch negativ wirken und das Volk selbst vernichten können,
wären sie nicht vom Gesetze des großen und mächtigen Gottes ge-
bändigt, rationell durchstrahlt und in einen bestimmten Fluß gelenkt
worden. Der Optimismus war es auch, der den Mythus im Umkreis
der jüdischen Weltanschauung unmöglich gemacht hat; denn der
Mythus schaut immer rückwärts und ist dem Fatum verwandt. Fatum
aber ist blind, alogische Natur, Zufall und Chaos.
Auch hier wieder tritt die Bedeutung des Gesetzes für die ganze
Bildung und Richtung des Gesetzes hervor. Die Welt wird von Gott
nach bestimmten Gesetzen regiert. Aber wo das Gesetz herrscht, wo
alles nach einer Skala von Ursache und Wirkung abläuft, da ist für
den Mythus kein Raum. Es muß deutlich hervorgehoben werden: Das
jüdische Gesetz will nicht nur Kirchendogma sein, sondern Weltgesetz.
Seine Richtigkeit kann man zur Diskussion stellen, aber nicht seinen
Universalismus; denn das jüdische Gesetz umfaßt nicht nur den Men-
schen in allen seinen Beziehungen und Verhältnissen, sondern das
ganze Weltall vom Staub-Atom bis zum gewaltigsten Himmelsgebilde.
Man lese doch nur die Schöpfungsgeschichte. Wo alles im Weltall
so in das ewige Gesetz eingeschlossen ist mit Ausnahme des sittlichen
Willens, und wo, wie in diesem von ehernen ewigen Gesetzen regier-
ten Universum, ein kleines irdisches Wesen, dessen Dasein ein be-
messenes ist, kraft eigener Energie und sittlicher Anstrengung zu einem
gottesähnlichen Wesen sich entwickeln kann, da ist weder Platz für
Mythus noch für Pessimismus. Kundige der Philosophiegeschichte
wissen es; wie Intellektualismus immer mit optimistischer Lebens-
bejahung Hand in Hand geht, so sind Voluntarismus und Pessimismus
Zwillingskinder. Wie beginnt doch Schopenhauer? Die Welt ist mein
Wille und meine Vorstellung. Dieser Wille ist blind, gesetzlos, fatal;
aber neben Intellekt (Vernunft) stehen Kategorie und Gesetz.
Der Intellektualismus war die Fuchtel, die über dem jüdischen
Subjektivismus und Voluntarismus geschwungen wurde, und mit der
er gebändigt wurde. Die Vernunft involviert den Begriff der Ökonomie.
Ökonomie des Denkens. Gesetze. Ökonomie des Willens. Ethische
Normen. Das Ausmaß dieser Ökonomie läßt auf ihre Notwendigkeit
80
schließen. Ein ruhiges, nüchternes Volk bedarf weniger harter Gesetze
als ein hartnäckiges, „wildes", zum Individualismus neigendes Volk.
Der „Verstärkte Schutz" oder der ^Kriegszustand" wird doch nur da
verhängt, wo der normale Ablauf des Geschehens durch individualisti-
sche Ausbrüche gestört wird. Das jüdische Gesetz, das alle Verhält-
nisse, Zustände, Beziehungen und Interessen des jüdischen Einzel-
individuums regelt, den ganzen Juden wie mit einem eisernen Reifen
umklammert, ist eine Art permanenter verstärkter Schutz oder Kriegs-
zustand — so zügellos wild, so hartnäckig und willensgewaltig war der
antike jüdische Mensch, als er der nationalschaffenden Persönlichkeit
begegnete. Wie das Gesetz den Intellektualismus des jüdischen Genius
in seiner individuellen Erscheinung widerspiegelt, so das Wunder den
Voluntarismus des Volkes. Das Wunder, von dem die Bibel berichtet,
bezieht sich fast immer auf das ganze Volk, ist durch eine bestimmte
Situation des Volkes hervorgerufen und ist ein Ausdruck der vitalen
und Willensenergien des ganzen Volkes. Da Pharao das Volk nicht
ziehen lassen will, müssen heraufbeschworene Elementargewalten
seinen Willen brechen, das Volk steht vor dem Meer und kann nicht
weiter, da muß sich das Meer spalten; die Träger der Bundeslade stehen
vor dem Jordan und können nicht weiter, da muß der Jordan weichen
und sich wie eine „Wand stellen" ; die Mauer von Jericho hindert die
Eroberung der Stadt, da muß die Wand durch Schofarblasen zum Sturze
gebracht werden; und Josua gar, um den Sieg zu sichern und aus-
zunützen, befiehlt:
Sonne stehe still zu Gibeon
Und du Mond im Tale Ajalon.
Da stand still die Sonne und der Mond blieb stehen,
Bis das Volk sich gerächt an seinen Feinden!
Nichts geht über den Willen des Volkes, so gewaltig und unbeug-
sam ist er. Er bricht und suspendiert ewige Naturgesetze, um sich
selbst durchzusetzen. Diese Wunderlegenden und Überlieferungen er-
zählen von den voluntarischen Kräften, die in der fast unglaublichen
Vitalität der alten Juden verankert waren, mehr als tausend historisch
unanfechtbare Beweise es tun konnten. Das jüdische Wunder ist nicht
ein Glaubenswunder, wie das christliche. Da werden keine Blinden
sehend und Tote lebend gemacht, da ist das Wunder nicht individuell
motiviert (um die Gottessohnschaft darzutun oder dergleichen Dinge
mehr), sondern kollektiv; hier ist nicht wie im „Neuen Testament"
der Himmel der eigentliche Schauplatz und Hintergrund, sondern die
6 Melamed
81
Erde, das Leben auf der Erde. Also kann man das jüdische Wunder
als das „soziologische" bezeichnen, im Gegensatz zu mystisch-theo-
logischen Wundern des Christentums. Verschiedene Ursachen haben
verschiedene Wirkungen. Hier ist das Wunder vitalistisch und lebens-
bejahend, zukunftswollend motiviert. Die Hauptsache ist das Reich
Gottes, das Himmelreich, die himmlische Zukunft usw. Nicht auf
diese Unterscheidung kommt es hier an, sondern, daß man die psy-
chischen Potenzen des antiken jüdischen Individuums erkenne.
Diesen wilden Willen, diesen eingefleischten Subjektivismus und
Individualismus, der unter der kochenden Sonne Nordafrikas und unter
dem Schwingen der Zuchtruten pharaonischer Beamter sich entwickelt
hatte und groß geworden war, konnten das Gesetz selbst des großen
und starken Gottes, die Vernunft und willensstarke Persönlichkeit
und die bangemachende Allmacht Gottes nur teilweise überwinden.
Ein solcher Wille kann nur sozial und ökonomisch ganz domestiziert
werden, nicht aber durch das abstrakte, von außen (wenn auch von
Gott selbst) kommende Gesetz. Aus dem Kampf des unbändigen Wil-
lens mit dem kriegsartigen Gesetz, das die Vernunft diktierte (wo Ver-
nunft ist, da ist auch Gattungs- und Zukunftsbewußtsein, das die
Gattung präserviert und die Zukunft sichert), ist jene Zweiseelenheit
im Juden entstanden, die auf der einen Seite das intuitive Denken
gefördert, wenn nicht gar ganz gebildet hat, auf der anderen Seite
aber den Juden zu einem unberechenbaren Menschen gemacht hat,
der immer an der Schwelle zweier Welten steht, nur in extremen La-
gern zu finden ist und nur zu oft bald in die eine, bald in die andere
Welt fällt. Von dem antiken (und teilweise auch von dem heutigen
Juden) gilt das Wort: Les extremes se touchent. Ein feinsinniger
Kenner des antiken und des modernen Judentums, Martin Buber, be-
merkt: „Kein anderes Volk hat so niederträchtige Spieler und Verräter,
kein anderes Volk so erhabene Propheten und Erlöser hervorgebracht.
Und es sind oft dieselben Menschen, in denen und um die das Ja
mit dem Nein ringt, die durch seltsame Erschütterungen, Krisen,
Entscheidungen den einen oder den anderen Pol erreichen. Keine.-
hat solche Fülle der Anlage und solche Fülle der Hemmung wie der
Jude." Und zu dem talmudischen Satz: „Liebe verdirbt die Linie,
und Haß verdirbt die Linie" bemerkt Jellinek in seiner Schrift „Der
jüdische Stamm": „ . . . Denn der Jude verfällt häufig dem Extrem,
liebt die Hyperbel (Gusma) und hält selten Maß ein." Die innere
politische und oft auch moralische Unsicherheit des Volkes, seine
plötzlichen Hemmungen und Wallungen, Disziplinlosigkeit und skla-
82
vische Subordination, sein Selbsterhaltungs- und Selbstzerstörungstrieb
spiegelt sich in seinem Schrifttum, in der Bibel treu und wahrhaftig
wider. Daher kann man bei den Propheten die größten Verwünschun-
gen neben dem göttlichen Segen, die herrlichsten Trostworte neben
den schauderhaftesten Rache-Verkündungen lesen; denn das Volk be-
wegte sich nicht im Rhythmus, sondern im Zickzack . . .
Diese zickzackartigen, ganz und gar unrhythmischen Bewegungs-
reihen, man möchte fast sagen die Stillosigkeit, die selbst Stil
ist, findet auch in der hebräischen Sprache ihren Ausdruck. Es ist
schon darauf aufmerksam gemacht worden, daß fast jeder Satz der
Bibel mit einem „Und" anfängt. Der Prophet beginnt in der Regel:
„Und es wird in den letzten Tagen sein", der biblische Bericht be*
ginnt fast immer: „Und es war zu den Tagen" us\v. Nicht nur ge-
danklich, sondern auch grammatikalisch nimmt sich ein biblischer Text
wie eine nebeneinandergeworfene Reihe von Sätzen aus, welchen oft
jeder innere Zusammenhang fehlt. Der Satz ist kurz abgelenkt, weil
die Meditation eine unkonzentrierte ist. Der lange, an Einschachte-
lungen reiche Satz des Römers, der ineinandergewickelte und dann
kunstvoll entrollte Satz der Griechen zeugen zumindest von einer
inneren Ruhe, von einer Abgeklärtheit und von einem systematischen
Denken. Der domestizierte Wille gibt dem Intellekt Form und Stil.
Der unruhige, von Extrem zu Extrem geworfene (oder sich selbst
werfende) alte Jude mit seinem stürmischen Gemüt und seiner Leiden-
schaftlichkeit konnte nur in kurzen, abgehackten Sätzen reden. Ein
Opfer des „genialen Einfalls" und der mit Plötzlichkeit aufleuchtenden
Intuition, konnte er keinen angefangenen Gedanken ruhig zu Ende
denken.
Für dieses Sprunghafte, Impressionistische im Denken und in der
Rede der alten Juden ist schon der Dekalog bezeichnend. Die „zehn
Gebote" enthalten: 1. Religion, 2. Recht, 3. Ethik und 4. Soziologie
— alles durcheinandergeworfen. Charakteristisch sind auch die Reden
Jeremias. Finsternis und hellstes Sonnenlicht, Segen und Fluch, Ver-
wünschung und Segen, Verzweiflung und Trost oft in einer Rede. Die
Sprache des Talmud ist ein Muster der „Stillosigkeit". Dieses Sprung-
hafte, Unruhige, Impressionistische im Denken und in der Rede machen
von vornherein jede epische Breite unmöglich. Epik ist ein Schwester-
kind der Plastik, und Plastik ist, wie gesagt, nie die starke Seite des
Juden gewesen.
Das Sprunghaft-Impressionistische kommt bei keinem großen jü-
dischen Dichter der Neuzeit so zum Ausdruck wie bei Heinrich Heine.
6*
83
Viele wollen in Heines Stil „Gedankenflucht" sehen. In Wahrheit
aber ist dieses öftere Abschweifen vom Thema bei Heine nicht Ge-
dankenflucht im gewöhnlichen Sinne, sondern antike jüdische Eigenart.
Nicht nur in der Bibel, sondern auch im Talmud, der doch auf dem
Grunde der Analysis ruht, findet man auf derselben Seite neben einer
trockenen halachischen Auseinandersetzung eine Legende oder ein
Märchen von poetischer Schönheit und Zartheit. Also nicht klassisches
Neben- und Nacheinander, sondern ein impressionistisches „Durch-
einander" buntscheckig, mannigfaltig. Auch dieses Unrhythmische ist,
da es konstant ist und immer wiederkehrt, ein Rhythmus, allerdings
eigener Art.
Wo aber das Gesetz rationalisierend und ordnend gewirkt hat,
wie bei der Konzeption Gottes, der Welt und der Geschichte, da hat
dieser unruhige jüdische Geist plastische Einheiten und harmonisch
abgerundete Erzeugnisse hervorgebracht. Das ist das Originale und
Wunderbare am jüdischen Geist.
So stehen sich im Altertum zwei diametral entgegengesetzte
Geistesrichtungen und Geisteseigenarten gegenüber, die jüdische und
die indisch-griechisch-römische. Auf der einen Seite intuitives Schauen,
hervorgegangen aus einer merkwürdigen Vereinigung von Gemüt und
Vernunft, auf der anderen Seite diskursiv analytisches Denken, das
nach Aristoteles in die Brüche gegangen war und die Herrschaft des
Arationalen heraufbeschworen hatte; auf der einen Seite sittlich moti-
vierte Überwindung der Natur, die der antizipative Geist der Persön-
lichkeit diktiert hat, auf der anderen Seite Verschwägerung mit der
Natur und Nachahmung der Natur; auf der einen Seite Impressionis-
mus und undomestizisierter Wille, auf der anderen Seite Klassizismus
und ein durch Erfahrung gebildeter Wille, und schließlich auf der einen
Seite Lyrismus, auf der anderen Seite Epik und Plastik.
Wie der jüdische Geist mit seiner schier grotesken Sonderlichkeit
doch den Gang der Menschheitsgeschichte mitbestimmen und sich
den indo-germanischen Völkern so aufprägen konnte, will ich im fol-
genden Kapitel auseinandersetzen.
84
Fünftes Kapitel.
Religion des reinen Glaubens.
Religion, Glaube und Kirche. — Kirche und Milieu. — Die jüdische Religion
nicht an der biologischen Natur orientiert. — Religion und Geschichte. — Die
jüdische Religion allein ist asexuell. — Religion und Gefühl. — Selbst der
Protestantismus ist am Affekt orientiert. — Die Religion des reinen Glaubens. —
•Der jüdische Gott. — Die intuitive und analytische Gottesidee. — Die isolierte
Stellung der jüdischen Religion. — Die jüdische Religion hat keine Basis im
Leben. — Der tragische Antagonismus. — Anonyme und gestiftete Religion. —
Erlösungs- und Gesetzesreligion. — Die Inquisition. — Die Religion als der
unsichtbare Staat. — Das Judentum hält fest an der intellektualistischen Tradition.
— Die Stellung des Gelehrten. — Primat der Vernunft. — Bejahung, Erkenntnis
und Zukunft. — Voluntarismus und Pessimismus. — Pessimistische Töne. — Das
Grundbuch der Juden das eines besiegten Volkes. — Die Theodice. — Die jüdische
und die christliche Zukunft. — Die Voraussetzung der Ethik. — Voluntarismus
und Immanenz. — Die Zukunft der Natur. — Die jüdische und christliche Messias-
gestalt. — Der jüdische Messias. — Der griechische Heros und Christus. —
Himmlischer Vater und himmlischer Richter. — Die Lebhaftigkeit des jüdischen
Gottes. — Die religiöse Poesie des Judentums. — Gott als Verkünder des Guten.
— Das sittliche Gesetz. —
Glaube, Religion und Kirche sind keine Synonyma. Der Glaube des
Einzelindividuums ist teils logisch, teils ethisch motiviert. Er ist
als Abstraktion eine Denknotvvendigkeit und ein Denkakt oder, in
Anbetracht der Soziabilität der menschlichen Natur, ein sittliches
Wollen. Die Religion oder der „religiöse Glaube" ist eine psycholo-
gische Kategorie. Er ist im Gefühl verankert und entzündet sich an
dem Gefühl, wie der abstrakte Glaube an dem Intellekt. Die Kirche
als pragmatisches Religionssystem ist eine historische Kategorie. Sie
bezieht ihren Inhalt weder aus der Vernunft, wie der abstrakte Glaube,
noch aus dem Gefühl, wie der religiöse Glaube, sondern aus dem
Leben, aus der Geschichte und aus unzähligen Faktoren des Lebens1.
Durch ihr Dogma stellt sie sich in einen Gegensatz zum Intellekt,
und durch ihren Universalismus kommt sie in Konflikt mit der indi-
$5
viduellen Religiosität, die ihrer Natur nach ganz subjektiv ist. Im
großen und ganzen aber verhält sich die Kirche zur Religion des Ein-
zelnen wie etwa die nivellierende Grammatik zu der Sprache, wie der
Staat zur Individualität. Sie ist eine Manifestation des Gattungsbewußt-
seins für die Domäne des Glaubens, wie der Staat für das politische
und soziale Wollen des Individuums. Nur in diesem Sinne kann auch
die Kirche als psychologische Kategorie angesprochen werden.
Man ersieht nun daraus, wie verwickelt das Problem der Reli-
gionspsychologie ist. Ihre unmittelbaren Nachbargebiete sind Er-
kenntnistheorie und Psychologie auf der einen und Geschichte und
Soziologie auf der anderen Seite. Dann kommt noch das rassentheore-
tische resp. völkerpsychologische Moment hinzu; denn jede ethnische
Gruppe drückt ihr Siegel selbst einer Universalreligion ,auf. Man
denke z. B. an den spanischen und ,an den amerikanischen Katholizis-
mus. Noch schwieriger gestaltet sich das Problem, wenn man die
Frage nach dem Ursprung der Religion berücksichtigt; denn dies setzt
die Absuchung des ganzen Prozesses der religiösen und metaphysischen
Potenzierung der biologischen Natur voraus. Mag über dem Ursprung
der Religion ein noch so großer Nebel gelagert sein, — daß sie die
biologische Natur zum Springquell hat, kann man aus jedem Blatte
der Religionsgeschichte ersehen. Das gilt sowohl von der Religion
als System und Kirche, wie von der Religion des Einzelindividuums.
Der Versuch einer Psychologie der jüdischen Religion würde sich daher
ungemein schwierig .gestalten, wenn sie nicht eine Ausnahme von der
Regel gebildet hätte. Diese Ausnahme erleichtert nicht nur die For-
mulierung des Problems, sondern ist schon an und für sich religions-
psychologisches Kapitel. Sie besteht nun darin, daß von allen Reli-
gionen (Religionssystemen) der Welt die jüdische Religion die einzige
ist, die nicht, aber auch gar nicht — an der biologischen Natur orien-
tiert ist. Die jüdische Religion, um es gleich vorwegzunehmen, ist auf
ihrer höchsten Entwicklungsstufe eine Religion des reinen Glaubens.
Ihr Inhalt wird ihr nicht von der Außenwelt, von der Natur, von der
brutalen Wirklichkeit des Lebens zugeführt, er ist ihr nicht von außen
gegeben, sondern er wird ihr von dem reinen Glauben, der sich an
dem Intellekt entzündet, geliefert. Der Gegenstand der Religion ist
hier nicht mehr als das, was der religiöse Glaube, sagen wir das reli-
giöse Denken, selbst erzeugt. Während andere Religionen von der
primitivsten bis zur höchst ausgebildeten sich ihren Inhalt von der
biologischen Natur (vom Affekt, vom Erlebnis, vom Gefühl) geben
lassen, ist ihr Inhalt sowohl bei den Propheten wie bei den Rabbinern
86
nur der selbsterzeugte, an der Vernunft sich entzündende Glaube.
Dadurch charakterisiert sie sich sowohl als idealistische als auch als in-
tellektualistische Religion. Für die Maxime Tertullians: „credo quia
absurdum" hat sie keinen Raum. Die Parole der Propheten lautet
ganz anders: „Und die Welt werde voll von Erkenntnis Gottes." Das
höchste, religiöse Ideal eines Jeremia ist, daß der Tag kommen werde,
an dem alle Menschenkinder Gott erkennen werden. Das Schwer-
gewicht der jüdischen Religion ist die Erkenntnis und nicht das Ge-
fühl. Es ist daher nur folgerichtig, wenn sich diese Religion letzten
Endes in Ethik auflöst und als idealistische Ethik sich in Recht und
Politik fortsetzt.
Es handelt sich also darum, die Wahrheit der obigen Sätze an der
Hand von Tatsachen nachzuweisen.
Von Max Müller stammt die religionspsychologische Formel:
„Nihil est in fide quod non antea fuerit in sensu". Unzählige Tatsachen
bestätigen diese sensualistische Deutung alles Religiösen. Man denke
an die anthropomorphischen und sexualistischen Elemente in jeder
Religion mit Ausnähme der jüdischen. Daß das Religiöse im allge-
meinen seinen Sitz im Willen und Gefühl hat, ist aus der Ekstase, aus
dem religiösen Rausch und aus der religiösen Inbrunst zu ersehen,
die sich mit einem gesteigerten Geschlechtsbewußtsein (positiv und
negativ) treffen und alle Sinne aufstacheln und peitschen. Das Ver-
hältnis von Natur zur Religion hat Arnold Rüge auf die Formel ge-
preßt: „Die Mystik ist theoretische Wollust, und die Wollust prak-
tische Mystik", weil eben die sexuelle wie die religiöse Sehnsucht
im Gefühlsleben des Menschen ihren Ursprung haben. In den ver-
schiedensten Kulten des Altertums war das religiöse Zeremoniell nur
als Weihe der sexuellen Handlung gedacht. Oft war die sexuelle Hand-
lung der ganze Inhalt des religiösen Kultus. Der Melittadienst forderte
die geschlechtliche Hingabe des Weibes, der Astartedienst, der be-
wiesenermaßen im Mariakultus seine Fortsetzung hat, involvierte eben-
falls den Geschlechtsakt.
Die ältesten Gottheiten der Araber waren die weiblichen Allat
oder Alilat (die Herrin), Uzza (die Großmächtige) und Manat (Schick-
sal), alle drei oder doch die beiden ersten nur verschiedene lokale Be-
nennungen jener gemeinsemitischen Göttin, die uns unter dem Namen
Astarte oder Istar bekannt ist, ursprünglich die göttliche Ahnfrau aus
der Zeit des Matriarchats, wo die Herrschaft der Stammutter und
nicht dem Stammvater zukam. Später wurden die oben genannten
drei Göttinnen als die Töchter Allahs erklärt. Auch sind die Bezie-
87
hungen der Allat zur Sonne und der Uzza zum Stern Venus hervor-
zuheben. Die Sonne wurde als Göttin Schams, der Gewitterhimmel
als Gott Quzah verehrt. Von all diesen Spezialgöttern der einzelnen
Stämme unterscheidet sich Allah als der allgemeine Gott der Araber1).
Die Hauptgöttin des babylonischen Pantheon ist unter dem Namen
fstar, d. h. die Herrin, bekannt und von allen Nordsemiten verehrt.
Sie ist die göttliche Ahnfrau aus der Urzeit des Matriarchats, und er-
scheint überall als die fruchtbare Mutter der Lebendigen und die
furchtbare Herrin der Toten. Sie ist Liebes- und Todesgöttin zur
gleichen Zeit. Ihr Hauptkultort Uruk war nicht nur die Stätte, wo
man sich begraben Zu lassen wünschte, sondern auch die Stätte desi
wollüstigen Kultus und der heiligen Prostitution, welche die ehelose
Geschlechtsverbindung aus der Zeit der matriarchalischen Polyandrie
fortsetzte. Die von der Göttin Istar erzählten Mythen haben ihre Ana-
logien in ganz Ostasien und Griechenland2). Alle Religionshistoriker
wissen von jenen Göttern und Göttinnen — Pantheon — aller Völker
zu berichten, nur nichts von den jüdischen, weil der jüdischen Reli-
gion jedes sexuelle Moment fehlt. Ob es nun wahr ist, daß die jüdische
Religion ursprünglich aus dem Ahnenkultus hervorgegangen ist, wie Ro-
bertson Smith, Schwally und viele andere annehmen, oder ob sie aus alten
Mythen hervorgegangen ist: auf alle Fälle fehlt .ihr jedes sexuelle Mo-
ment, und es ist einfach nicht wahr, wenn behauptet wird, daß die An-
fänge der israelitischen Religion den Anfängen anderer Religionen we-
sentlich analog sjnd. Ob man annimmt, daß die Religion Israels ein
Erbe der Urzeit 'oder eine Moses offenbarte Lehre ist, oder daß sie
aus dem Ahnenkultus sich entwickelte, jedenfalls wird man vergebens
nach Istar und Astarte und nach Alilat und nach Allat, nach Zeus
und Venus oder den Götterpaaren Soma und Agni, Mitra und Va-
runa suchen.
Die jüdische Religion selbst in ihren ersten Anfängen beginnt
keusch, sie ist asexuell. Der jüdische Gott in all seinen Entwicklungs-
phasen, obgleich er oft anthropomorphistische Spuren verrät, weist
nie ein sexuelles Moment .auf. Die katholische Kirche hat die innere
Beziehung zwischen Religion und Natur resp. zwischen Mystik und
Wollust wohl erkannt, als sie den Frauen in Christus den himmlischen
Bräutigam und den Männern in Maria die himmlische Braut schenkte.
Geistige Erlöeung und Erhebung im Religiösen ist ebenso ein Lust-
begehren wie Liebessehnsucht im Körperlich-Fleischlichen. Sowohl
hier wie dort fordern die Gefühlsqualitäten eine Erlösung. In dem
*) Otto Pfleiderer, Religionsphilosophie. 2) Abid. P. 40.
88
einen Falle erfolgt die Erlösung1 durch Vereinigung mit dem religiösen
Partner, in dem anderen Falle in der Vereinigung mit dem sexuellen
Partner. Auf religiösem Gebiete ist der Partner ein gedachtes Symbol
oder Gott. Liebestaumel entspringt dem gleichen Quell wie religiöse
Ekstase — dem Bedürfnis, sich anzupassen, sich fortzupflanzen, sich zu
verewigen, sich unendlich fortzusetzen, aus der Einsamkeit, der Be-
grenztheit in das unbegrenzt unendliche All zu treten und es zu um-
fassen. Dieses, dem Einzelindividuum unbewußte Motiv ist der letzte
Ankergrund aller Religion und aller Liebe und in gesteigertem Maße
der letzte Grund aller Mystik und aller Wollust. Aber dieses Motiv ist
ein Gefühlsmotiv. Und Gefühl ist Natur, biologische Natur, Sinn;
Fleisch und Blut und unendliche Lust . . .
Es ist deshalb nicht übertrieben, was der englische Forscher
Hargrave Jennings in seinem Buche „Phallicism" erklärte, daß näm-
lich: „Religion is to be found alone with its justification and explanation
in the relation of the sexes. There and therein only" Mythologien-
Historiker haben festgestellt, daß die Göttin ein Produkt der Mat-
riarchie ist und daß schon während des Überganges der Herrschaft
vom Weibe auf den Mann die Zähl der Göttinnen zurückgeht, während
die der Götter zunimmt. Das Christentum selbst, die Religion der
Europäer, ist ein klassisches Beispiel dafür, in welchem Maße die
Religion von sexuellen Momenten durchtränkt ist. Daß Gott an Mannes
Stelle bei der Zeugung Jesu tritt, ist die erste grundlegende Lehre des
Christentums. Die Tatsache, daß im Urchristentum von der Gott-
vaterschaft nicht die Rede ist, zeugt für und nicht gegen die Wahrheit
meiner Sätze; denn nicht das asexuelle Urchristentum, sondern das
sexuelle Christentum hat sich später durchgesetzt.
Wie Religion durch die Natur geht, ist aus der Divination der ver-
schiedenen Naturelemente oder aus der Anbetung der Natur zu er-
sehen. Dieses Naturanbeten ging wieder durch die sexuellen Sinne.
In den alten Religionen, so bemerkt Max Müller, wird der Himmel
als der Gemahl der Erde und die Erde als die Mutter aller Götter an-
gerufen und angebetet (Origin and growth of religion p. 279). In
allen Urreligionen werden die creativen Prinzipien als Götter oder
Göttinnen angebetet. Also selbst, wenn man zugeben wollte, daß die
Vergöttlichung der Naturelemente in den primitiven Religionen Gene-
ralisationsakte der primitiven religiösen Einsicht sind, kann doch die
Tatsache der geschlechtlichen Teilung der Naturelemente und der reli-
giösen Symbole so gedeutet werden, daß das religiöse Bewußtsein
des alten Menschen nur durch die Geschlechtssinne geht. Selbst die
89
vergeistigte Religion der Europäer, der Protestantismus, ist an dem
Affekt orientiert. Affekt ist Natur, Affekt ist Sinnlichkeit. Mit anderen
Worten: Religiosität ist entweder wie in den primitiven Religions-
systemen unmittelbare metaphysische Potenzierung des Sexualbewußt-
seins (der Geschlechtsakt als kultisches Zeremoniell oder als Inhalt
des Kultes, Götter und Göttinnen, religiöse Ekstase, die im sehnsüch-
tigen Begehren ihren Ausgangspunkt hat und im wirklichen oder ver-
meintlichen Geschlechtsakt ihren Höhepunkt erreicht) oder metaphy-
sische Potenzierung des durch die Vernunft schon domestizierten und
daher sexuell geschwächten Gefühls, wie in der modernen Religion.
Wir können uns von der Religiosität vieles hinwegdenken, nur nicht
das Gefühl resp. den Willen. Also Ist Religiosität Religion des Gefühls.
Wenn man demnach die Religion (das Religiöse) als die metaphy-
sische Potenzierung bestimmter Sinnesprozesse definieren wollte, so
gäbe es überhaupt keine jüdische Religion; denn was die Juden Reli-
gion nennen, ist reiner, vom Intellekt selbst erzeugter Glaube, der in
keiner Weise an der Natur orientiert ist und von der Natur bestimmend
und richtunggebend beeinflußt wird. Selbst wenn man Robertson
Smith und anderen Forschern zustimmt, daß die jüdische Religion
auf den Ahnenkultus zurückgeht, ist auch ihr letzter Ankergrund nicht
das Gefühl, sondern der Intellekt, die Erinnerung. Der Glaube in der
jüdischen Religion, der sich an der Vernunft entzündet, unterscheidet
sich nur dadurch von der allgemeinen Abstraktion, daß er nicht, wie
diese, überlegt, bedacht und künstlich ist, sondern instinktiv, spontan
und natürlich. Er kommt also nicht, wie die analytische Abstraktion,
durch die Qualitäten des Objekts zustande, sondern durch den Willen
des Subjekts. Nur soweit ist auch dieser Glaube „voluntaristisch"
motiviert. Sonst ist ihm nichts gegeben, alles ist selbst erzeugt. Sogar
die jüdischen Staatsgesetze sind, wie schon Philo mit Recht bemerkte,
keine Rubrizierung der Erfahrung, sondern Schöpfungen des Geistes.
Wir werden noch später sehen, wie die ganze jüdische Literatur des
sexuellen Moments entbehrt und daß die Bibel nicht ein Buch der
Liebe, sondern ein Buch des Hungers ist.
Der ganze abstrakte, durchaus intellektualistische Gottesbegriff,
wie ihn die jüdischen Propheten gelehrt haben, und die absolute Einheit
Gottes des vorprophetischen Judentums, die schon wegen ihrer abso-
luten Einheit jedes sexuelle Element ausschließt, müssen uns davon
überzeugen, daß die jüdische Religion insbesondere auf der Höhe ihrer
Entwicklung jedes sinnlichen oder sonst außergeistigen Elements ent-
behrt. Frei von jeder naturalistischen Beimischung, ist sie das Prag-
90
matische eines reinen Glaubens, resp. eines Glaubens des reinen Geistes.
Schon die jüdische Kosmonogie beginnt im Gegensatz zu allen andern
Kosmogonien absolut keusch. Die Welt geht nicht aus dem Zeugungs-
akt eines Paares oder aus dem Kampf eines Götterpaares hervor,
sondern „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde" — unter Aus-
schluß jedes sexuellen Moments. Im ersten Augenblick nun mag diese
„Religion" des reinen Glaubens eines kleinen politisch wie wirtschaft-
lich gleich unbedeutenden Völkchens als wenig merkwürdige Erschei-
nung angesehen werden. Allein, wenn man bedenkt, daß dieses kleine
Völkchen von mächtigen götzendienerischen Nachbarn umgeben war,
die es darauf abgesehen hatten, ihren Religionen bald gewaltsam, bald
durch friedliche Mittel in Judäa Eingang zu verschaffen; und wenn
man ferner bedenkt, daß dieses kleine, an Zivilisation arme Volk in
vieler Hinsicht auf seine Nachbarn angewiesen war und mit ihnen
verkehren mußte und es trotzdem vermochte, seine religiöse Eigen-
art und Selbständigkeit zu wahren, so wird man diese Erscheinung
nicht zu hoch einschätzen, wenn man sie als eine der originellsten und
wunderbarsten in der Geschichte des Geistes bezeichnet. Der Mono-
theismus an sich ist noch lange nicht ein Erzeugnis des reinen Glaubens.
Der Gott Mohammeds ist zwar einzig, aber nicht heilig, einzig,
aber nicht sittlich, einzig, aber nicht geistig resp. abstrakt. Zu-
dem ist der Schwerpunkt des jüdischen Monotheismus nicht auf die
Einheit allein zu legen, sondern auf das Sein. Moses beschreibt hier
zum erstenmal als ehje ascher ehje als das ewig Seiende — und wie
Herrmann Cohen geistreich und scharfsinnig auseinandersetzt, hat
dieses ehje ascher ehje, von dem im 2. Buch Mosis die Rede ist, sein
Analogon im Seinproblem der Eleaten.
Die islamische Gottesidee ist zwar, da sie monotheistisch ist,
keusch, aber um so mehr ist das mohammedanische Paradies unkeusch.
Die. jüdische Religion ist nicht eine Religion des reinen Glaubens, weil
sie den Monotheismus lehrt, sondern weil sie die absolute Geistigkeit,
Heiligkeit und Sittlichkeit Gottes lehrt und Gott zum Wesen und Inhalt
aller Geistlichkeit, Heiligkeit und Sittlichkeit macht. Wäre sie an der
biologischen Natur orientiert, und wäre ihr Inhalt von der Natur ge-
geben, so könnte sie höchstens — nach dem Beispiele Aristoteles' —
einen Gott lehren, aber dieser Gott wäre weder heilig noch sittlich,
weil in der biologischen Natur weder Heiligkeit noch Sittlichkeit vor-
handen ist. Gott als der Weisheit letzter Schluß, wie bei Aristoteles,
kann ein großer Architekt, Mechaniker und Ingenieur sein, aber er
braucht und muß nicht das Wesen der Sittlichkeit und Heiligkeit sein.
91
Die auf dem Wege der Analysis gewonnene Gottesidee involviert weder
den Begriff der Sittlichkeit noch den der Heiligkeit, genau wie die über-
legte, vorbedachte und künstliche Abstraktion keine organische Dich-
tung schaffen kann.
Die Idee der Heiligkeit Gottes ist so alt, wie der jüdische Gott
selbst. „Wer ist, wie Du, herrlich in Heiligkeit", heißt es schon in
Moses II, 15, 11. „Wem wollt ihr mich vergleichen, daß ich ähnlich sei,
spricht der Heilige", Jes. 40, 25. Der Heilige schlechthin ist Gort. Oder
umgekehrt: Gott schlechthin ist die Heiligkeit. Oft wird auch seine
Heiligkeit durch seine Einzigkeit motiviert: „Keiner ist heilig wieGott;
denn keiner ist außer Dir," I.Sam. 2, 2. In seiner großen Vision ver-
nimmt Jesaia den Ruf der Engel: „Heilig, heilig, heilig ist Gott der
Herr, dessen Herrlichkeit die ganze Welt erfüllet."
Diese Gottesidee des Judentums kann, weil sie im Gegensatz zum
aristotelischen Ausgangspunkte ist, als organische bezeichnet werden.
Ein Gegenstück zur organischen Gottesidee bildet die mechanische
Staatsidee im Judentum. Der jüdische Staat ist zerstört worden bis auf
den Grund und wieder aufgebaut worden; zerstört worden und wieder
aufgebaut worden, bis er ganz von der Bildfläche verschwunden war.
Ein gebrechlicher Mechanismus, konnte er leicht zerstört werden.
Anders die jüdische Religion mit ihrer organischen Gottesidee. Sie
steht schon seit mehr als dreitausend Jahren wie eine isolierte Insel
im stürmischen Meere, dessen erboste, gepeitschte Wasser sie wegzu-
spülen trachten, ohne daß ihnen ihr feindliches Unterfangen gelänge.
Man mag über die Juden denken wie man will, man mag ihnen niedrige
oder hohe moralische Qualitäten zuschreiben, die Tatsache, daß sie ein
so gefährliches, weil einzigartiges Erbe, wie die jüdische Religion,
trotz ihrer schicksalsreichen und wechselvollen Geschichte bis auf den
heutigen Tag zu erhalten gewußt haben, bezeugt zumindest, daß sie
keine Utilitarier sind und auch keine Händlerseelen, wie Werner Som-
bart die Welt glauben machen will. Nun gibt es nicht wenige Europäer,
die da sagen: Die Juden haben überhaupt keine Religion, sondern eine
Nomokratie (Gesetzesherrschaft), die im Grunde genommen ganz pro-
fan ist. Was ist Religion ohne Mystik und Ekstase, ohne Gnadenlehre
und ohne Jenseitshoffnungen? Da also die Juden gar keine Religion
haben resp. da die jüdische Religion, weil sie nicht im Leben wurzelt,
unwirklich ist, konnte sie weder absorbiert noch beeinflußt werden.
Diese Auffassung hat etwas für sich, wenn man die großen herrschen-
den Erlösungsreligionen als Maßstab nimmt. Nimmt man aber mit den
Juden an, daß Religion ein Verhältnis des einzelnen zum Übersinnlichen
92
(zu Gott) ist, der ganz Geist, ganz Heiligkeit und ganz Erhabenheit ist,
dann muß man auch zugeben, daß diese Religion, d. h. die intimere
Beziehung zwischen dem Individuum und diesem Gott nicht natura-
listisch und sensualistisch motivierte Mystik und Wollust sein kann,
weil Religion da aufhört, wo die Natur auf den Plan tritt. Das Juden-
tum ist von Natur aus nicht asketisch. Als optimistische Religion mit
ihrer Betonung des Diesseits, kann sie nicht wohl asketisch sein, aber
der hebräische Begriff Tahara, Reinheit, Reinigung, involviert ein
asketisches Moment, weil die Tahara sowohl ein sanitärer als ein
rein religiöser Begriff ist, und daher eine asketische Beimischung hat.
Dieser Tahara-Begriff involviert nicht nur ein Sichentfernen von der
sinnlichen Natur so weit wie möglich, sondern er ist auch zu gleicher
Zeit der absolute Gegensatz zur religiösen Ekstase aus dem religiösen
Rausch. Der Jude kann es noch bis heute nicht fassen, daß der religiöse
Rausch der Ausdruck der Beziehungen zwischen dem Juden und Gott
sein kann, und daher erscheint ihm jede Religion, die an der Natur oder
dem Geschlechtsbewußtsein orientiert ist, wenn auch nur indirekt, eine
Art Baal- oder Astartedienst. Wenn also die arischen Kritiker der jüdi-
schen Religion behaupten, daß sie gar keine Religion sei, sondern nur
eine Nomokratie, weil sie sich nicht an den ursprünglichen Kräften des
Lebens orientiert, so erwidern darauf die Juden, daß den arischen
Völkern der Begriff der reinen Religion noch gar nicht aufgegangen ist
und daß sie noch bis auf den heurigen Tag in einem sublimierten
Götzendienst stecken, weil Religion etwas absolut Geistiges ist und frei
von jeder sensualistischen Beimischung sein muß. Es ist also wahr:
Die jüdische Religion hat keine „Basis im Leben", ihr Inhalt ist ihr nicht
vom Leben zugeführt, und sie ist, wenn man will, da ein Produkt des
Geistes, unnatürlich, oder sagen wir, außernatürlich. Die heidnischen
Völker, die in und mit der Natur leben, konnten sich eine solche, in der
Natur nicht wurzelnde Religion nicht aufbürden lassen. Nur die Juden,
die kein logisches Verhältnis zur Natur unterhielten, konnten eine solche
Religion hervorbringen und entwickeln. Die jüdische Religion mußte
also naturgemäß auf Judäa lokalisiert bleiben.
Hier beginnt die große Tragödie. Zwei Geistesrichtungen und
Weltanschauungen stehen sich entgegen. Die Religion der arischen
Völker, die zum Imperialismus neigt und alle andern Religionen, insbe-
sondere die neben ihr existierenden zu verschlingen trachtet, und die
Religion eines kleinen, über den ganzen Erdball versprengten Volkes,
die, einem ganz andern Quell entspringend, gar keine Berührungs-
punkte mit der großen anationalen Religion hat, weil selbst aus dem
93
Geiste eines nationalen Genius gehauen', sie von der großen Religion
nicht absorbiert werden kann. So ist's heute, so war es im Mittelalter
und im Altertum. Dieser einzige, unüberbrückbare Gegensatz zwischen
Judentum und Christentum ist schon allein eine zureichende Erklärung
für die Martyriumsgeschichte des jüdischen Volkes in der Diaspora und
für die Reibungen zwischen Judentum und NichtJudentum in der alten
Zeit.
Mit der „Unnatürlichkeit" und der reinen Geistigkeit der jüdischen
Religion hängt es auch zusammen, daß sie als gestiftete Religion ange-
sprochen wird und daß sie das Werk der großen überragenden Persön-
lichkeit und nicht das der Masse ist. Selbst, wenn uns der Name Moses
unbekannt wäre, hätte man auf einen jüdischen Religionsstifter schließen
— einen Moses erfinden müssen. Ob Moses eine historische Persönlich-
keit ist oder nieht, steht hier nicht zur Diskussion, aber daß ein Moses
(nennen wir die Persönlichkeit wie wir wollen) gelebt und in dem be-
kannten Sinn gewirkt hat, kann nicht angezweifelt werden. Wie wir bei
der Entstehung des aus Stimmungen zusammengegossenen Christen-
tums die Masse an dem Christentum mitschaffen sehen, so sehen wir
das Judentum gegen den Willen der Masse entstehen. Natürlich hätten
Moses und die ihm folgenden Männer das jüdische Volk unter die
Fuchtel der von ihnen „gestifteten" resp. ausgebildeten Gesetzesreligion
nicht bringen können, wenn cfas Volk nicht jene geistigen Eigenschaften
gehabt hätte, die es zur Annahme dieser Religion befähigten. Die „ge-
stiftete Religion", darauf hat schon Jakob Burckhardt aufmerksam
gemacht, steht überhaupt der anonym entstandenen Religion in mancher
Beziehung entgegen. Die „gestiftete" Religion ist national, die anonym
entstandene ,anational, die erstere leitet eine neue Epoche in der Ge-
schichte ein, die zweite, aus katastrophalen Erschütterungen hervor-
gegangen, bedeutet den Abschluß einer großen Epoche. Judentum und
Islam leiten neue Epochen in der Weltgeschichte ein, der Entstehung
des Christentums folgt der Zusammenbruch des römischen Reiches. Die
gestiftete Religion ist eine Gesetzesreligion, die anonym entstandene ist
eine Erlösungsreligion. Die eine bejaht das irdische Leben, die andere
verhält sich negativ zum Diesseits. Aus Gefühl und Ekstase lassen sich
keine Gesetze schmieden. Die Bejahung des Lebens bedingt die Statu-
ierung der Lebensformen, des Gesetzes. Die Christen reden von Sünde
und Seligkeit, die Juden von gesetzlich und ungesetzlich, von recht und
unrecht. Die Gesetzesreligion ist letzten Endes ein System der Sittlich-
keit, die Stimmungs- und Erlösungsreligion, da sie dem Menschen
keine irdische Bestimmung zuweist, ist nicht nur nicht mit der Ethik
94
verschwägert, sondern sie schließt überhaupt jede wirkliche Ethik aus.
Wie soll eine Ethik, die die Verhältnisse und Beziehungen zwischen
Menschen durch Normen zu regulieren hat, aufkommen, wenn die
menschliche Gesellschaft keinen Sinn und das irdische Leben gar keinen
Plan und kein Ziel hat. Dann bedenke man noch folgendes. Alle Er-
lösungsreligion wurzelt im Affekt, alle Ethik strebt aber danach, den
Affekt zu überwinden* denn wahrhafte Ethik ist an der Vernunft orien-
tiert. Also muß die Erlösun'gsreligion entweder ganz losgelöst sein
von der Ethik oder, wo sie ein Verhältnis zur Ethik sucht, sich selbst
widersprechen. Im Christentum tritt auch dieser Widerspruch gar zu
deutlich hervor. Auf der einen Seite verneint es das Leben, auf der
andern Seite predigt es das Gute, das doch die Bejahung fördern muß.
Die Erlösungsreligion hat auch kein Verhältnis zur Vernunft oder ein
ausgesprochen negatives Verhältnis. Die Ethik, die nicht an der Ver-
nunft -orientiert ist, verdient dodh gewiß nicht diesen Namen. Eine
Erlösungsreligion, weil im Grunde prinzipienlos, verträgt sich mit jeder
Staatsform und findet sich mit jedem politischen und sozialen Status,
sowie mit jeder herrschenden Philosophie ab. Gesetzesreligion hin-
gegen limitiert das Leben ; das über- und außernatürliche Gesetz engt
das Leben ein und ist bestrebt, es in seinem Rahmen zu halten. Die
Gesetzesreligion ist demnach die Mörderin aller Politik. Treten aber
die Mächte des Lebens auseinander und erschüttern katastrophale Er-
eignisse seine organisierten Mächte, so tritt die Gesetzesreligion als
Bändigerin der tobenden Gewalten auf und erweist sich als domesti-
zierende, zivilisatorische Macht, während die Erlösungsreligion den
Ereignissen gegenüber hilflos dasteht oder noch zur Entfesselung der
wilden Gewalten beiträgt, indem sich ihre Triebfeder, der Affekt, mit
den andern Affekten vereinigt. Nur bei gefestigter politischer Ordnung
und dem Staat subordiniert, kann sie ohne Schaden für die Gesamtheit
wiricen. Wenn der Fall umgekehrt ist, wie etwa im Mittelalter, erweist
sie sich als eine vom Käfig losgerissene Bestie, die, von wilden Affekten
und Trieben gepeitscht und von einem wahnsinnigen Herrschertrieb
gestachelt, am Schmoren von Menschenleibern sich ergötzt. Was war
denn die Inquisition anders als der exaltierte Affekt, verbunden mit
Herrschsucht, die eine wollüstige Grausamkeit erzeugt? Nicht ohne
Grund haben die besten Geister der arischen Völker nahezu ein halbes
Jahrtausend an der Überwindung und Vernichtung des sogenannten
„christlichen Staates" gearbeitet. Das Christentum hat überhaupt kein
Verhältnis zum Staat, so wenig es irgendeine andere Erlösungsreligion
hat. Es findet sich ebenso mit der Despotie wie mit der Anarchie ab.
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Wenn nun dieses staatliche Christentum der Inhalt des Staates wird,
so muß der Staat, da die menschliche Gesellschaft in Anarchie nicht
existieren kann, despotisch sein — despotisch plus wollüstig.
Die Gesetzesreligion hingegen (Judentum, Islam, Parsismus) ist
nicht nur eine Nomokratie im theologischen Sinne, sondern sie regelt
auch alle Bewegungen, Beziehungen und Verhältnisse des sittlichen,
sozialen, ökonomischen und politischen Menschen. Sie tritt an Stelle
aller anderen bändigenden Gewalten des Lebens, zügelt die Un-
gebundenheit des Individuums und macht es zum zivilisierten Wesen.
An Stelle des Polizisten und Richters tritt der Rabbi, an Stelle des Staats-
oberhauptes, in dessen Namen man das Gesetz verkündet, tritt Gott.
Kurzum: die Religion ist hier der unsichtbare Staat und mithin
ein Zivilisations-Institut. Der Schwerpunkt ist hier die Erde, nicht der
Himmel, die Gerechtigkeit und nicht die Seligkeit. Aber in keiner der
Gesetzesreligionen wird der Gedanke der Lebensbejahung so stark
betont wie in der jüdischen, weil eben in diesem kleinen Volke un-
glaublich starke vitale Kräfte leben. Schon im ersten Abschnitt der
Bibel wird den Menschen eingeschärft: Seid fruchtbar und mehret
euch und füllet die Erde. Und später wurden die Juden eindringlich
gemahnt: Nicht, daß sie wüst bleibe, hat er die Erde geschaffen, son-
dern daß sie besiedelt werde. Und sowohl in der Bibel wie im Talmud
wird des öfteren auf die Beziehung zwischen Lehre und Leben hin-
gewiesen. Die Lehre ist und soll eine Lehre des Lebens sein. „Die
Thora ist nicht im Himmel, sie wurde nicht den Engeln, sondern den
Menschen gegeben." Aber wie ein roter Faden zieht sich durch alle
Erlösungsreligionen der Gedanke: „Das irdische Leben ist nur eine
ewige Widerkehr von Geburt und Tod, ein ewiger zielloser Wechsel,
dem jeder rationale Grund fehlt." Das große und einzige Ziel sei die
Erlösung, Brahma, Nirwana oder die himmlische Seligkeit, wie sie etwa
die Kirchenväter erträumt haben. Wenn das Christentum nicht solche
starke Töne für die Willensverneinung gefunden hat wie die anderen
Erlösungsreligionen, obgleich es das Diesseits nicht minder verneint,
so ist es, weil es nicht so originell und in seinem Ursprung nicht so
rein ist wie etwa Brahminismus und Buddhismus. Wer jedoch an der
Verneinung des Lebens durch das Christentum zweifelt, der möge
nur nach seinem Verhältnis zur Vernunft fragen. Dieses Verhältnis ist
ein negatives. Die Bejahung ist aber immer an der Vernunft orientiert.
Der Pessimismus ist und war immer mit dem Gefühl verschwägert.
Wer nur durch das Prisma des Gefühls das Leben betrachtet, dem
muß es als böse erscheinen. Anstatt Ordnung sieht er überall nur
96
Chaos, anstatt Logik Schicksal, anstatt Normen Willkür; denn das
Alogische, Chaotische und Schicksalsmäßige des Gefühls projiziert sich
selbst in die Natur hinein. Verdient ein solches Leben voll Bosheit
und Sünde gelebt zu werden? Verzweifelnd an diesem Jammertal sehnt
er den Himmel oder das Nichts herbei.
Gemäß dem Gesetz von Ursache und Wirkung hat das spätere
Judentum, mit Ausnahme des relativ jungen Chassidismus:, zu dem
sich nur ein kleiner Bruchteil des jüdischen Volkes bekennt, die in-
tellektualistische Tradition festgehalten und gepflegt, das Christentum,
mit Ausnahme des großen Aquitaners, die antiintellektualistisch-roman-
tischen. Seit Jahrtausenden beten die Juden dreimal täglich: Gelobt
seist du Gott, der du den Menschen mit Erkenntnis begünstigt hast.
Man denke an den Gegensatz zwischen Talmud und Patristik. Die
Patristik findet Töne gegen die Vernunft, wie sie nur noch im Brahmi-
nismus wiederkehren. Der Talmud, ein rationalistisches Werk, besteht
zu neun Zehnteln aus Halacha und zeichnet sich durch seine rationa-
listische Trockenheit aus, die an die deutsche Rechtssprache erinnert.
Wie sich der Talmud zur Erkenntnis verhält, mögen folgende, dem
Talmud entnommene Sätze, die nirgends widersprochen werden, dartun:
l.Wer selber kein Gelehrter ist, soll zumindest Gelehrte unter-
stützen.
2. Der Gelehrte ist mehr als der Prophet.
3. Der Gelehrte geht vor dem unwissenden Hohepriester.
4. Der Gelehrte geht vor dem König Israels; denn jeder Jude
kann dem gestorbenen König in der Regierung folgen, während
der gestorbene Gelehrte unersetzlich ist.
5. Ein Ignorant kann nicht fromm sein.
6. Schulkinder dürfen dem Unterricht nicht entzogen werden, selbst
wenn es sich darum handelt, den Tempel wieder aufzubauen.
'7. Niemand darf seine Bücher verkaufen.
8. Wer gelehrt, aber nicht intelligent ist, ist dem vergleichbar, der
Brot hat und niemanden hat, der es essen soll, und einer, der
intelligent, aber nicht gelehrt ist, ist dem vergleichbar, der ein
Eßgericht, aber kein Brot dazu hat.
9. Die Wissenschaft eines Gelehrten, der gefehlt hat, darf nicht
verachtet werden, und trage keinem Gelehrten in der Nacht nach,
was er am Tage gefehlt hat.
10. Jerusalem ist zerstört worden, weil der Jugendunterricht auf-
gehört hatte.
7 Melamed
97
In einer Diskussion zwischen jüdischen und nichtjüdischen Ge-
lehrten über eine wissenschaftliche Frage, so berichtet der Talmud
selbst, haben die jüdischen Gelehrten die Richtigkeit der Argumente
ihrer Gegner anerkannt und ihnen zugestimmt. Aus diesem einen
Schlußsatz „vvehodu chachme Israel lechachme umot haolam" (die
jüdischen Gelehrten haben sich zu der Meinung der nicht-jüdischen
bekannt) ist zu ersehen, daß der jüdische Wissenschaftsbegriff ein
autonomer ist.
Wie die mittelalterliche jüdische Religionsphilosophie, die auf dem
Umwege des Maimonides nicht ohne Einfluß auf den gesamten philo-
sophischen Gedanken jener Kulturepoche blieb, die großen mittelalter-
lichen Traditionen des Judentums gepflegt und weiter gebildet, und
wie sie im Kampfe zwischen Glauben und Wissen dem Wissen den
Primat gab, ist jedem Eingeweihten bekannt. Ich möchte nur ein
Exempel anführen. Der bei den frömmsten Juden in hoher Achtung
stehende Religionsphilosoph Rabbi Isaak Arama, der Verfasser der
berühmten „Akeda", läßt sich über die Frage Glauben oder Wissen
folgendermaßen vernehmen: Zuerst kommt die Forschung (Chakira)
und dann der Glaube (Emuna), und nur derjenige Glaube hat Be-
stand, der vernünftig motiviert ist. Daß die führenden Juden aller
Zeiten sich der intellektualistischen Motive der jüdischen Religion
bewußt waren, bekundet die Aussage des Josephus den Römern gegen-
über: „Die Religion der Peruschim" (Pharisäer) steht den Lehren und
Anschauungen Piatos sehr nahe." Daß sich Josephus in seiner Mei-
nung nicht geirrt hat, beweist der Einfluß Piatos auf das Judentum.
Nur dieser starke Intellektualismus im Judentum erklärt die häufigen
Hinweise in der Bibel auf die Beziehung zwischen Verwirklichung
und Kenntnis des Gesetzes und Belohnung. „Damit Chi lange lebest",
„und Du wirst lange leben", „Und sie (die Lehre) ist Euer Leben und
Eure lange Lebensdauer", „Ihr, die Ihr Euch Eurem Gott anschließt,
werdet lange leben", und ähnliche Aussprüche sind fast auf jeder Seite
in der Bibel zu lesen. Am schärfsten hat der große Prophet Jeremia
auf das Verhältnis zwischen Lehre, Erkenntnis und Leben hingewiesen.
Nach der Verkündung: „Und es wird keiner den andern, noch ein
Bruder den andern lehren und sagen: Erkenne den Herrn; denn sie
werden mich alle kennen, Klein und Groß, spricht der Herr", wird
hinzugefügt: „So spricht der Herr: Der die Sonne dem Tag zum Lichte
gibt und den Mond und die Sterne nach ihrem Lauf der Nacht zum
Lichte, der das Meer bewegt, daß seine Wellen brausen; Herr Zeboat
ist sein Name. Wenn solche Ordnung vergehen wird, wird auch auf-
98
hören der Same Israels, daß er nicht mehr ein Volk vor mir sei ewig-
lich." Mit anderen Worten: Der letzte Mensch wird der letzte Jude
sein, wenn er Gott erkennen wird.
So sind die Begriffe Bejahung, Erkenntnis und Zukunft eng mit-
einander verschwistert, weil der eine aus dem andern folgt.
Der jüdische Optimismus, den die jüdische Religion so nachdrück-
lich betont, geht noch auf ein anderes Motiv zurück. Nach jüdischer
Anschauung ist der Mensch die Krone der Schöpfung, Herr der Natur.
Ihm ist das Recht eingeräumt, die Natur nach Gutdünken zu beherr-
schen, sofern die Herrschaft für sein Dasein notwendig ist. „Und
Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret Euch
und füllet die Erde und machet sie Euch Untertan und herrschet über
Fische im Meer und über Vögel unterm Himmel und über alles Tier,
das auf Erden kreucht." Die Natur ist dem Menschen zur Verfügung
gestellt, weil nicht die biologische Natur, sondern der Mensch als
vernünftiges und sittliches Wesen Sinn und Zweck des Lebens ist.
Die Natur ist vorerst nicht Zweck, sondern Mittel. Eine ganz andere
Anschauung über das Recht des Menschen auf die Natur tragen die
Erlösungsreligionen vor. Der Mensch sei nur ein Ausschnitt der Natur
und die Natur ist die Verkörperung der Sünde. Der Mensch ist sünd-
beladen, weil die Natur die Stätte der Sünde ist. Die Sünde ist mit
der Natur gesetzt, also von der Natur unzertrennlich, woraus folgt,
daß der Mensch, der nur ein Ausschnitt der Natur ist, die zweibeinige
Sünde ist. Die philosophischen Vertreter der Erlösungsreligion in der
deutschen Philosophie, Schopenhauer und Deußen, wiederholen diese
Lehre bis zum Überdruß. So läßt sich z. B. Deußen in seinem Buche
„Elemente der Metaphysik" vernehmen: „Wir erkannten, daß der Leib
nichts anderes ist als der objektive, im Räume sich darstellende Wille
zum Leben selbst, so, daß wir anstatt Bejahung des Willens auch
sagen können, Bejahung des Leibes. Die Bejahung des Leibes ist
nur möglich durch die Ernährung, d. h. wir können unser Dasein nicht
anders bejahen, als indem wir ohne Unterlaß fremdes Dasein (von
Pflanzen und Tieren) verneinen. Wollen wir nicht selbst zugrunde
gehen, so müssen wir uns entschließen, anderen Wesen, die das Leben
nicht weniger heftig als wir begehren, und welche ebenso gut und
Selbstzweck sind wie wir, fortwährend dasjenige anzutun, das, wenn
es uns selbst geschähe, als das größte Unrecht betrachtet würde:
Hiernach wird deutlich, wie die Sündhaftigkeit mit dem Dasein selbst
gesetzt ist, folglich nur mit diesem aufgehoben werden kann." Ähnlich
dachten die Kirchenväter, die Schöpfer des Katholizismus, der am
7*
99
konsequentesten die buddhistisch-christliche Metaphysik vertritt. Daß
solche Anschauungen den schwarzgalligsten, wehklagenden Pessimis-
mus bedingen und notwendig machen, versteht sich von selbst.
Den Juden ist das Erdenleben gewiß nicht heiter und sonnig auf-
gegangen, und doch rangen sie sich zu einer optimistischen Welt-
anschauung durch. Der griechische Mythus dagegen, der die Welt zu
einem Idyll verklärte, in welchem Gott und Menschen einen gemein-
samen Verkehr pflegen, hat am Ende zum größten pessimistischen
Katzenjammer geführt. Das heitere Griechenvolk hat seine Ansicht
über den Wert und Sinn des Lebens gründlich geändert. Was ist die
Welt im Lichte der religiösen Spekulation des Neuplatonismus be-
trachtet? Ein Jammertal, eine Stätte des Dunkels und des Irrsais.
Sophokles und mit ihm alle großen Tragiker Griechenlands drückten
oft genug einen tiefen Unwillen über das unverständliche Walten der
Götter aus. Sophokles speziell drückt eine weltmüde, durchaus pessi-
mistische Stimmung in den Worten des Chorus ödipus auf Kolonos
aus. „Nie geboren zu sein ist das Allerbeste. Das Zweitbeste aber
ist, möglichst bald wieder dahin zurückzukehren, woher Du gekom-
men." Diese weltflüchtige Stimmung beherrschte nicht nur die Tra-
giker, sondern auch die Historiker und Philosophen. Auch die Philo-
sophie Piatos wird zum großen Teil von dieser Stimmung beherrscht.
Nach Plato ist der materielle Leib für unsere Seele eine Fessel, und
die Übel der Welt sind unvermeidliche Folgen ihrer stofflichen Natur.
Die Sünde und das Übel sind also mit der Natur gesetzt. Zum Sterben
reif zu sein, sich für die große Reise ins Jenseits fertig zu machen,
ist der Weisheit letzter Schluß. Hier stehen wir schon mit beiden
Füßen im Pessimismus und im Christentum.
Eine noch drückendere weltflüchtige Stimmung beherrscht den
Brahamismus und den Buddhismus. Ihnen erscheinen die Übel als der
eigentliche Kern des Daseins. Alles Leben ist Leiden, und beide sind
identisch. Der Wille zum Leben, das Haften und Hangen am Leben
und das Begehren nach der Sinnenwelt, ist die Ursünde, die durch den
ewigen Kreislauf des Leidens sich rächt und bestraft. Die Grundfrage
der brahmanischen und buddhistischen Frömmigkeit ist nicht: Wie
überwinde ich das Übel und erreiche das Gute, sondern, wie fliehe ich
am schnellsten aus dem Reiche des Lebens, aus dem Jammertal de9
Leidens in das mystische Jenseits des Willens, in das blaue Nichts,,
in das Nirwana. Der zart empfindende Brahmaismus setzt ateleologisch
an, und die tieftragischen Töne, die er verlautbart, sind nur die logische
Folge seines Ausgangspunktes. Aber anders das Griechentum, das
100
nicht nur teleologisch ansetzt, sondern auch vom Anbeginn an eine
erquickende Heiterkeit an den Tag legt. Und siehe da, je kräftiger und
stärker es sich entfaltet, je mehr es sich geistig entwickelt, desto
düsterer wird seine Disposition. Das Judentum hingegen bleibt sich
von Anfang bis Ende treu. Es setzt an mit der klassischen Formel
des Optimismus: „Und Gott sah, daß alles gut war", und schließt
auch optimistisch, trotz des wechselvollen und tragischen Schicksals
des jüdischen Volkes.
Die Grundbücher der Griechen und Römer sind Bücher der Siege,
und vielfach können sie nur in dem Geiste des Siegers, des Siegens
und des Eroberns verstanden werden. Das Grundbuch der Juden hin-
gegen, die Bibel, ist ein Buch der Niederlagen, ein Buch der Besiegten
und Niedergetretenen. Es ist das Buch eines besiegten Volkes, das
Buch besiegter Propheten, das Buch eines besiegten Messias, und laut
christlicher Annahme auch das Buch eines besiegten Gottes. Und
dieses Buch der Besiegten, das, wie wir bald sehen werden, auch das
Buch der Hungrigen ist, ist zum Grundbuch des ethischen Idealismus
und des ethischen Optimismus geworden. Darin offenbart sich die
Originalität und die Größe dieses Buches.
Natürlich wurden auch im antiken Judäa pessimistische Stimmen
vernehmbar. Man denke nur an die Bücher Hiob und Koheleth. Auch
den antiken Juden konnte es nicht unverborgen bleiben, daß der Ge-
rechte oft am meisten leiden müsse, während der Ungerechte des
Glücks sich erfreut. Der Verfasser des Buches Hiob hat mit diesem
Problem hart gerungen, ohne es gelöst zu haben. Koheleth hingegen ver-
lautbart schon Töne der Verzweiflung. „Einerlei Schicksal hat der
Gerechte und der Frevler, der Gute und Reine wie der Unreine. Ich
sah alle Bedrückung unter der Sonne, siehe, da waren Tränen der
Unrecht Leidenden und sie hatten keinen Tröster, und die Unrecht
Überwindenden waren zu mächtig. Ich sah alles Tun, das unter der
Sonne geschieht, und siehe, es war alles eitel und nichtig." Und dann
klingt es verzweifelt aus: „Wer weiß, ob der Lebenshauch des Men-
schen aufwärts fährt." Aber die antike jüdische Frömmigkeit konnte
sich bei dieser Resignation, bei dieser bitteren Verzweiflung nicht be-
ruhigen, weil das Judentum seinem Grundwesen nach' ein System
des hoffenden Idealismus ist. Das antike Judentum konnte über die
Theodice nicht schweigend hinweg gehen, wie es sich mit der Antwort
des Koheleth nicht beruhigen konnte. Eine Lösung mußte für das Problem
gefunden werden, sollte nicht das ganze System in die Brüche gehen.
Der große, unbekannte Prophet, als Deutero-Jesaia bekannt, gab die
m
Antwort auf die Frage, und die Antwort ist ebenso originell, weil der
Prophet an der Wirklichkeit des eigenen Volkes orientiert ist. Die
Antwort besteht darin, daß das Leiden des Individuums, das Leiden
des gerechten und frommen Mannes, oder wie er später heißt, des
Knechtes Gottes, nicht vergebens ist. Der Knecht Gottes, der Fromme,
Leidende, mag persönlich nicht das Glück erleben, aber die Gemein-
schaft, das Kollektivum erntet in Freude, was der Duldende und Lei-
dende mit Tränen gesät. Es ist dem Propheten nicht verborgen ge-
blieben, daß gerade die Frommen und Gerechten, die am meisten litten,
wesentlich zu der Restaurierung Zions beitrugen, daß dank ihren Be-
mühungen, ihrer Arbeit und ihrer Ausdauer dem jüdischen Volke ge-
holfen wurde. Diese Beobachtung lehrte ihn, daß der Fromme, der
Dulder, der Leidende der Heilsbringer des Volkes ist, und daß das
geduldige Leiden des Gottesknechtes ein von Gott auserlesenes Sühne-
mittel ist zur Tilgung der Sündenschuld der Völker und zur Herstellung
eines Heilszustandes für alle, also daß der fromme Dulder das wirk-
same Organ der göttlichen Gnadenabsicht am Volksganzen ist. Der
fromme Dulder also leidet nicht vergebens. Sein Martyrium bedeutet
oft das Glück der Gesamtheit. Dieses Bewußtsein muß natürlich das
Leiden verklären und auf das Martyrium einen hehren Schein werfen.
Natürlich ist nicht immer der Dulder und der Knecht Gottes als
das wirksame Organ der göttlichen Gnadenabsicht zu erkennen, und
die Lehre von der Mission des Dulders läßt sich mit der Wirklichkeit
oft nicht vereinbaren. Wir stehen da also wieder vor der alten Frage.
Der Gerechte leidet vergebens, und der Böse erfreut sich des Glücks.
Um seinem hoffenden Idealismus treu zu bleiben, flüchtet der
Prophet von der elenden Gegenwart in die lichtvolle Zukunft und
führt den Begriff der Zukunft ein, um die Widersprüche der Gegen-
wart zu überwinden. Die Gegenwart ist eine Zeit der Strafe Gottes,
aber „es wird in den letzten Tagen geschehen" — so wird die Zu-
kunft dazu benützt, die Widersprüche der Gegenwart zu überwinden
und den ethischen Idealismus und Optimismus noch mehr zu be-
festigen. Aber wie schon erwähnt: die Zukunft, von der der Prophet
spricht, ist nicht das christliche Himmelreich, sondern das Reich der
Menschen auf dieser Erde, ein Reich der Gerechtigkeit, der Herzens-
reinheit und der Heiligkeit.
Die theologische Deszendenzlehre (der Abstieg vom goldenen
Zeitalter, das weit hinter uns liegt, der Sündenfall), mit der der
heilige Augustinus seine Staatslehre einleitet, und die in allen Erlösungs-
religionen wiederkehrt, wird von christlichen Theologen auch dem
102
Judentum untergeschoben. Daß das Judentum die großartigste opti-
mistische Weltanschauung hervorgebracht hat, gegen die sich die
Leibnizsche wie eine schlechte Kopie ausnimmt, kümmert sie wenig.
Der Optimismus, der in der jüdischen Religion so nachhaltig zum
Ausdruck kommt, hätte doch die christlichen Theologen belehren
müssen, daß die Erzählung von dem Sündenfall in der Bibel nicht ein
Motiv für die brahminisch-buddhistisch-christliche Deszendenzlehre, die
Voraussetzung des geschichtsphilosophischen Pessimismus abgeben
kann. Wäre dem so, so könnte doch das Judentum nicht diesen un-
verwüstlichen Optimismus verkündet haben. Das Judentum lehrt viel-
mehr, daß es im Universum kein Übel an sich gibt. Das Übel besteht
nur in dem Verhältnis, das der Mensch dem Dinge oder dem Vor-
gange in seiner Beziehung zu sich, dem Individuum, beilegt, d. h. nur
ein relatives Übel, das aber nicht ein Übel an sich ist. Weder der
Blitz noch der Sturm auf hoher See sind an sich Übel, denn sie ge-
hören zum Ganzen der Natur. Auch, daß das Bilden des Menschen-
herzens von der Jugend an (nicht von der Geburt an, wie das Christen-
tum lehrt) böse ist, kann noch kein pessimistisches Motiv sein, im
Gegenteil, diese Konzeption ist in Anbetracht der Bestimmung des
Menschen die erste Begründung der Ethik. Wozu wäre eine Ethik
überhaupt notwendig, und wie könnte die sittliche Handlung verdienst-
lich sein, wenn der Mensch von Natur aus nur gut wäre? Der Mensch
ist ein vernünftiges Wesen. Die Vernunft hat die Bestimmung, die
Wahl zu treffen. „Das Leben und den Tod lege ich Euch heute vor^
den Segen und den Fluch, so wählet das Leben. " . Erst die Wahlmög-
lichkeit, die Möglichkeit der Selbstbestimmung macht den Menschen
zu einem moralischen Wesen. Die Selbstbestimmung ist nur durch
die Vernunft möglich. Wie sich nun im Judentum an dem Problem der
Willensfreiheit die Ethik entzündet, so in den Erlösungsreligionen an
dem Problem des Determinismus, jene barbarische Theologie, die
unter dem Namen Gnadenlehre bekannt ist. Der Mensch ist nur ein
Ausschnitt der Natur, die Natur ist Sünde, wie ist also die Seligkeit
möglich? Darauf antwortete das große Kirchenlicht Augustinus:
„Durch die Prädestination zur Seligkeit oder zur ewigen Verdammnis
durch die Gnade, die allein vereinzelte Individuen von der Erbsünde
befreit." Aus dieser Lehre folgern wir zweierlei: erstens daß der
Mensch unverdient zum sündbeladenen Wesen herabgedrückt wird,
wobei ihm die Möglichkeit einer Besserung geraubt und jede sitt-
liche Verantwortung genommen wird, und zweitens daß Gott selbst,
indem er nur wenige Einzelne zur Seligkeit prädestiniert, nicht die
103
Sittlichkeit will, selbst ungerecht ist und vom Affekt geleitet wird.
Wenn einer zur Seligkeit prädestiniert ist, so ist er es doch, weil er
auf Grund seiner guten Handlungen die Seligkeit verdient, also ist
die Prädestination nur ein Kapriccio Gottes, eine Laune, ein Affekt.
Auch kann gefragt werden: Was ist das für ein g-erechter und sittlicher
Gott, der eine Natur schafft, mit der die Sünde gesetzt ist, der ein
Leben schafft, das nicht wert ist, gelebt zu werden? Auf diese Frage
gibt es nur eine Antwort: ,Der Gottesbegriff ' der Erlösungsreligion
ist ein ganz anderer als der der Gesetzesreligion; denn vom Stand-
punkte der Gesetzesreligion mit ihrem transzendenten Gottesbegriff
ist der Pessimismus mit allem, was drum und dran hängt, wie Deszen-
denz, Prädestination und Erbsünde, eine Blasphemie schlimmster Ord-
nung. Der Voluntarismus, in dem jede Erlösungsreligion verankert
ist, kann nur einen immanenten Gott postulieren und sich nur mit
einem immanenten Gott abfinden. Dieser immanente Gott des Vo-
luntarismus ist nicht frei. Prädestination ist der theologische Ausdruck
für Determinismus, und Gnade die religiös-metaphysische Potenzierung
des Schicksals — des Zufalls . . . Hier wird die naturalistische Grund-
lage der Erlösungsreligion ersichtlich.
Der jüdischen Religion ist der Begriff des Fatums fremd. Nicht
ein blindes Schicksal waltet und herrscht unbeschränkt über Menschen
und Dinge, sondern göttliche Ordnung in der Natur, die autonom ist,
und der freie sittliche Wille in der Geschichte. Für das blind waltende
Schicksal ist im Judentum kein Raum. Die Juden kennen den Begriff
Gesera (göttliche Verordnung), aber die göttliche Verordnung ist das
Resultat der sittlichen oder unsittlichen Handlungen des Menschen
und kann je nach der guten oder schlechten Handlung jeden Augenblick
abgeändert werden. Gott ist absolut frei, aber seine absolute Freiheit
hat an der Gerechtigkeit und Vernunft eine Grenze. Freiheit ist hier
nicht Laune, sondern: Tun und Lassen nach vernünftigen und sittlichen
Motiven zu beschließen. Durch das ganze hebräische religiöse Schrift-
tum zieht sich dieser Gedanke. In Genesis 18, wo mit großartiger
antiker Naivität die Zwiesprache zwischen Gott und Abraham wieder-
gegeben wird, kommt schon dieser Gedanke des gerechten göttlichen
Urteils zum Ausdruck. Wenn nur zirka zehn Gerechte in Sodom da
sind, will er sein Vernichtungsurteil aufheben und die Stadt verschonen.
In Exodus 32 heißt es: Gott bereute das Böse, das er seinem Volke
hatte antun wollen. Er hatte also die „Gesera" aufgehoben. Da Reue
etwas Sittliches ist, warum sollte nicht Gott, der doch der Grund und
das Wesen aller Sittlichkeit, bereuen können? Er wäre kein sittlicher
104
Gott, wenn er nicht seine Verordnungen selbst aufheben könnte ; denn
es gibt keine Sittlichkeit ohne Willensautonomie. Den Juden ist die
talmudische Formel geläufig: Hakoddosch — baruchhu — goser
vvezzadik mewattel (Gort bestimmt, verordnet und der Gerechte hebt die
Verordnung Gottes auf), weil sich die Verordnung Gottes nach der
Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit richtet. Kurz: Gott ist nicht Laune
oder starres Gesetz, sondern der Grund aller Vernunft und Sittlichkeit.
Da es in der Natur weder Vernünftigkeit noch Sittlichkeit gibt, kann
der Gott der Erlösungsreligion weder vernünftig noch sittlich sein,
wogegen der über- resp. außernatürliche Gott der idealistisch motivier-
ten Gesetzesreligion, da er nicht an der Natur orientiert ist, nur mit
der Vernünftigkeit und Sittlichkeit sein Sein rechtfertigen kann. Wie
die Erlösungsreligion Gott vernatürlicht, so versittlicht die Gesetzes-
religion die Natur. Jesaja und Micha haben geweissagt: „Die Wölfe
werden bei den Lämmern wohnen und die Pardel bei dem Böcklein
liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh
miteinander treiben. " So wird auch die „böse" Natur in das Reich des
Guten aufgenommen. Man kann nicht behaupten, daß diese Weis-
sagung von realistischem Sinne zeugt und eine Kenntnis der Natur be-
kundet. Sie hat sicherlich keine Basis in der natürlichen Wirklichkeit,
aber sie spricht für den idealistischen Geist des Judentums und be-
stätigt nur den Satz, daß das Judentum nicht an der biologischen Natur
orientiert ist. Wenn nun der brutalen Natur diese großartige Ent-
wicklungsmöglichkeit zugesprochen wird, kann man sich denken, welche
Entwicklungsmöglichkeiten dem Menschen, einem vernünftigen Wesen,
eingeräumt werden. Es genügt schon zu betonen, daß selbst diejenigen
Rabbiner, die sich für die Willensfreiheit nicht vorbehaltlos entscheiden
konnten, doch auch ausdrücklich gelehrt haben: Alles hängt vom Himmel
ab, nur nicht die Furcht vor dem Himmel. Der talmudische Terminus
Jirath Schamaim (Furcht vor dem Himmel), bedeutet bekanntlich nicht
nur Religion, sondern auch Ethik. Nach dem Verbot: Du sollst keinen
Wucher und Zins nehmen, folgt der Nachsatz als Begründung, wie als
Mahnung: Du sollst deinen Gott fürchten.
Aber an nichts ist der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Mo-
tiven und Lehren, Idealen und Postulaten der Gesetzesreligion und der
Erlösungsreligion so scharf zu erkennen, wie an der Messiasgestalt, die
der Geist beider Religionen geschaffen hat. Der christliche Erlöser
ist ein himmlischer Sohn, der die Armen im Geiste selig werden läßt
und den geplagten Bewohnern des Jammertals eine himmlische Zu-
kunft zusichert. Die jüdische Messiasgestalt schildert der Prophet wie
105
folgt: Und es wird ruhen auf ihm der Geist Gottes, der Geist der
Weisheit und der Vernunft, der Geist des Rates und der Stärke, der
Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn", Jes. XI, 2. Diese
Messiasgestalt hat wenig Ähnlichkeit mit dem christlichen Messias,
noch weniger mit dem Nietzscheschen Übermenschen und gar keine
Ähnlichkeit mit dem griechischen Heros. Im Neuen Testament heißt
es vom christlichen Erlöser: Ihr sollt nicht wähnen, daß ich kommen
sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht kommen, Frieden
zu senden, sondern das Schwert; denn ich bin kommen, den Menschen
zu erregen wider seinen Vater und die Tochter wider ihre Mutter und
die Schnur wider ihre Schwieger" (Matth. X, 34—35). Demgegenüber
sagt der jüdische Prophet von der Mission des jüdischen Messias aus:
„Er wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und recht Urteil sprechen
den Armen im Lande, und wird mit der Rute seines Mundes die Erde
schlagen und mit dem Hauch seiner Lippen den Bösewicht töten.
Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und der Glaube der
Gurt seiner Hüften" (Jes. XII, 4, 5). Im jüdischen Messiasideal drückt
sich der Wille zum Leben aus, der Wille zur Vernunft und zur Sittlich-
keit und der Wille zum schaffenden, tätigen Leben. Der jüdische
Messias in der Schildeiung des Propheten ist ein denkender und
wirkender Mensch, voll Aktivität, Lebensfrische und Lebenskraft. Er
ist keine blasse Erscheinung aus dem Reiche der Geister, der die
Seelen selig machen will, sondern ein sittlicher Übermensch aus dem
Diesseits, ,der die Menschen durch sittliche Handlung zur Seligkeit
führt, und dessen Erscheinen eine neue erhabene Epoche in der Welt-
geschichte ankündigt. Wie doch ganz anders der christliche Erlöser.
Er ist die Verkörperung des Leidens und nicht des Tuns. Er verkündet
den Untergang des irdischen Lebens und die Herrschaft des Himmel-
reiches, des Reiches der Geister. Die jüdische Messiasidee ist, wie
Joseph Klausner in seiner ausgezeichneten Abhandlung über die Ent-
wicklung der Messiasidee im Judentum nachgewiesen hat, aus den
Vorstellungen der alten Juden über und aus ihrer Sehnsucht nach einem
sittlichen politischen Heros hervorgewachsen. Wer sich in der Bibel
nach dieser Richtung hin orientieren will, kann die organische Ent-
wicklung dieser wunderbaren messianischen Heroengestalt aus den
sittlichen Vorstellungen des Volkes wahrnehmen — mit erleben. Auch
der christliche Messias hat seine Entwicklungsgeschichte. Sie beginnt
mit dem griechischen Heros, der sich bei der Stoa in das Ideal des
Weisen verwandelt. Diese Traditionen vermengten sich mit der Vor-
stellung des spiritualisierten, resignierten Cäsar, und aus diesen Über-
106
lieferungen und Vorstellungen goß sich die christliche Messiasgestalt
zusammen. Sie entstand so aus gebrochener oder gebogener "Natur.
Daher handelt sie auf Eingebung des Affekts.
Als die Macht des antiken Subjektivismus gebrochen war, und als
die auf Raub und Brutalität aufgebaute Zivilisation darniederlag, flüch-
tete der resignierte Cäsar in das Reich der Geister, und der Wolf von
gestern verwandelte sich in ein frommes Lamm — der Cäsar in Christus.
So entstand die christliche Messiasgestalt, an der Griechen und Römer
mitgebildet haben. Sie wäre noch dann formlos geblieben, wenn sie
nicht an die Tradition der jüdischen Messiasgestalt angeknüpft hätte.
Wie das Christentum eklektisch ist, so sein Messias. Der jüdische
Messias hingegen ist eine original-nationale Figur, wie die jüdische
Religion nur eine originelle Schöpfung des nationalen Genius ist.
So hat das an dem reinen Geist orientierte Judentum einen dies-
seitigen Erlöser erträumt, dagegen das an dem Willen (im metaphysi-
schen Sinne) orientierte Christentum, das mehr in der Natur wurzelt,
als man im ersten Augenblick zu erkennen in der Lage ist — einen spiri-
tualistischen, jenseitigen Messias.
Die Gesetzesreligion lehrt einen Gott als Herr und Herrscher,
die Erlösungsreligion lehrt einen Gott als Vater — als himmlischen
Vater. Der Begriff der Herrschaft schließt den der Liebe nicht aus,
auch nicht den Begriff der Väterlichkeit. Im hebräischen religiösen
Schrifttum wird Gott oft als Vater oder als himmlischer Vater be-
zeichnet. Im allgemeinen wird er als Herr oder als Herr der Welten
(adon kol haolamim) bezeichnet und angesprochen. Der Herrscher
schafft oder überwacht die Gesetze, er sorgt für Ordnung und Pflicht.
Der Herrscher übt in Ausnahmefällen Gnade. So der jüdische Gott. Der
christliche Gott, der nur himmlischer Vater ist, verhält sich zum jüdi-
schen wie die vom Affekt diktierte väterliche Liebe, die alle Verbrechen
des Kindes verzeiht, zu der strengen Gerechtigkeit und Unparteilichkeit
eines nach streng vernünftigen und sittlichen Grundsätzen und über
den Parteien stehenden Herrschers. Das merkwürdigste dabei ist,
daß der nur liebende, mit den Affekten der Väterlichkeit behaftete Gott
einer gemeinen, sündbeladenen Welt gegenübersteht, während die Welt
des strengen Herrschergottes, der jeden nur nach seinen Taten richtet,
und der nur ausnahmsweise Gnade übt, einer guten Welt gegenübersteht.
Und der Psalter singt: „Barmherzig und gnädig ist der Herr, ge-
duldig und von großer Güte. Er wird nicht ewig hadern, noch ewiglich
Zorn halten. Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und ver-
gilt uns nicht nach unserer Missetat. Denn so hoch der Himmel über
107
der Erde ist, läßt er seine Gnade walten über denen, so ihn fürchten.
So ferne der Morgen ist vom Abend, lasset er unsere Übertretungen
von uns sein. Wie sich ein Vater über Kinder erbarmet, so erbarmet
sich der Herr über die, so ihn fürchten." Psalm 103. Oder: „Du aber,
Herr, Gott, bist barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte
und Treue." Psalm S6, 15.
Und durch seinen Propheten läßt er verkünden: „Denn also spricht
der Hohe und Erhabene, der ewiglich wohnet, des Name heilig ist: Der
ich in der Höhe im Heiligtum wohne, und bin bei denen, so zerschlagen
und gedemütigten Geistes sind, auf daß ich erquicke den Geist der
Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen. Ich will nicht immer-
dar hadern und nicht ewiglich zürnen, sondern es soll von meinem
Angesicht ein Geist wehen, und ich will Odem machen." Jes. 57, 15, 16.
So sieht der gestrenge Weltenrichter aus.
Und nun gar der monotone Wüstengott, der einzig, langweilig,
simpel, starr, färb- und klanglos ist. Diesen Wüstengott besingt der
Psalmendichter:
„Des Ewigen Stimme über Fluten erbrauset
Über gewaltigen Strömen sie stürmet und sauset. —
Des Ewigen Stimme gewaltig erdröhnet,
Des Ewigen Stimme majestätisch ertönet.
Von des Ewigen Stimme werden Zedern erschlagen,
Des Libanon Zedern, die himmelhoch ragen,
Sie läßt wie ein Kalb sie hüpfen, sich schwingen,
Libanon und Sirjon wie ein Büffelkalb springen.
Der Ewige thronet auf erhabenem Sitze,
Des Ewigen Stimme schleudert Blitze,
Des Ewigen Stimme die Wüste erschüttert." Ps. 29.
Also doch ein merkwürdiger Wüstengott . . .
Das Christentum, die Religion der Liebe und der Innerlichkeit hat
die Psalmen zu seiner hauptsächlichen religiösen Poesie übernommen
— ein Poesiebuch, das gemüt- und herzlose Wüstensöhne crsungen
haben. Warum haben nicht die tiefreligiöscn christlichen Völker selbst
ein solches Psalmenbuch ersungen? Chamberlain und Sombart be-
haupten, daß die jüdische Religion materialistisch resp. utilitaristisch
und trocken rationalistisch sei. Wenn aber ticfreligiöse Christen von
„höchstem Gottcsvcrlangen" und gewaltiger religiöser Sehnsucht gepackt
werden, stillen sie ihren religiösen Durst mit dem Gedicht, das der
materialistisch, rationalistisch-ulilitaristische Wüstensohn gedichtet hat:
108
„Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser,
So schreit meine Seele, Gott, zu Dir.
Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.
Wann werde ich dahin kommen, daß ich Gottes Angesicht schaue?"
Diese starre, engherzige Gesetzesreligion hat Psalmendichter ans
Tageslicht gerufen und Propheten hervorgebracht und eine religiöse
Poesie errungen, von der man sich seit zwei Jahrtausenden nährt . . .
Endlich wird die Differenz zwischen Gesetzesreligion und Er-
lösungsreligion in der Gesinnung gefunden. Gesetz schließe Gesinnung
aus, und jede Sittlichkeit, die zwangsweise dem Individuum abgerungen
wird, verdiene nicht einmal diesen Namen. Die Erlösungsreligion
verlege Gott in den Menschen (Gott ist in mir). Die sittlichen Hand-
lungen dieses so mit Gott vereinigten Menschen haben nur das Ge-
wissen und die Gesinnung zu ihrer Triebfeder, während der außer-
und überweltliche Gott dem Menschen im besten Falle die Sittlichkeit
durch starre Gesetze und unbeschriebene Normen abzwingt. Dieser
schon so oft unternommene Versuch, das Judentum als gesinnungslos
hinzustellen, beruht weniger auf Bosheit als auf Unkenntnis der jüdischen
Ethik. Und diese Unkenntnis kommt daher, weil man das Judentum,
statt es philosophisch zu durchforschen und in sein Inners einzudringen,
nur philologisch durchforscht. Nach jüdischer Lehre ist ein Gesetz
nicht um deswillen sittlich, weil Gott es befohlen und diktiert hat, son-
dern: weil es sittlich ist, muß es von Gott diktiert worden sein; denn
Gott ist der Grund und das Wesen aller Sittlichkeit. Gott ist an die
Sittlichkeit absolut gebunden, an ihr hat seine Bewegungsmöglichkeit
eine Grenze. Jedes Sittengebot, das Gott befohlen, ist an sich sittlich
und wäre ein sittliches Gebot selbst dann, wenn es Gott nicht befohlen
hätte. Der die Sittlichkeit ausmachende Gott hat, um den Menschen
den Weg zum Guten zu erleichtern, gesagt, was sittlich ist — d. h. um
ihnen die großen Schmerzen der Erfahrung zu ersparen. Die pro-
phetische Formel lautet dafür: ,,0 Mensch! Der Herr hat Dir gesagt,
was gut ist." Also entsteht das Sittengesetz nicht durch einen gött-
lichen Machtspruch und es wird dem Menschen nicht aufgezwungen.
Dem Satze: „Ihr sollt heilig sein" folgt die Begründung: denn ich
bin Jieilig. Der Mensch, gottähnlich, hat die Bestimmung, durch die
Verwirklichung der Sittlichkeit diese Ähnlichkeit zu vergrößern. Da
Gott aber das Wesen der Sittlichkeit ist und nur das Gute des Men-
schen will, so steht er dem Menschen nicht nur als Richter, Herrscher
und Vater, sondern auch als Lehrer gegenüber. Er lehrt ihn die Sitt-
109
lichkeit durch sein Exempel. Die Formel dafür lautet: Mahu rachum
af atta rachum usw. (Wie er [Gott] barmherzig ist, so sei auch Du
barmherzig.) So ist Gott also auch pädagogisches Prinzip der Sittlich-
keit. Nicht an der Natur soll die Sittlichkeit orientiert sein, sondern
an Gott. Das Dasein Gottes wird aber nur durch das Dasein der Sitt-
lichkeit bewiesen und nicht durch Beweise metaphysischer Natur. So
will es der Geist der Synthesis, auf der das Judentum ruht.
Gott ist, um mich platonisch auszudrücken, das Urbild der Sittlich-
keit und nicht der, der dem Menschen Sittlichkeit aus Laune oder aus
unvernünftigem Grund aufzwingt. Daher die rabbinische Wendung:
Die Thora hat schon Jahrtausende vor der Schöpfung der Welt existiert.
Moses selbst erklärt den Juden: Das Gesetz ist eure Weisheit und
eure Vernunft. Wie sehr das Judentum die freie Überzeugung höher
stellt als die strikte Gesetzeserfüllung, möge die Stelle im Talmud
bekunden, wo gelehrt wird: Der Fremde, der aus freier Überzeugung
das Gesetz annimmt, steht höher in den Augen Gottes als jene Schar
Juden, die am Berge Sinai standen. Ein anderer Grundsatz der jü-
dischen Ethik besagt: Der Reuige steht höher als der absolut Gerechte.
Oder: Einem Bösen während seines ganzen Lebens, werden, sobald
er bereut, seine bösen Taten nicht angerechnet. Strikte Gesetzes-
erfüllung, sobald sie nicht aus der Gesinnung kommt (lischmah), wird
wenig angerechnet. Das gilt von allen religiösen und sittlichen Geboten
und selbst vom Studium. Aber wegen des oben erwähnten pädago-
gischen Prinzips wird ausdrücklich gelehrt: Mittoch schelo lischmah ba
lischmah, d. h. was anfänglich nicht aus der Gesinnung kommen mag,
wird schon später aus der Gesinnung kommen. Warum soll sich die
Ethik nicht der Psychologie der Übung bedienen dürfen?
Das sittliche Gesetz ist also nicht, wie manche Theologen plausibel
machen wollen, ein despotischer Ukas des allgewaltigen Gottes, son-
dern das formulierte ewig Sittliche, ein Geschenk eines gütigen Gottes.
Als gütiges Geschenk wird auch die Gesetzgebung bezeichnet. Mattan
Thora. Was Gott selbst ist, hat er den Menschen in väterlicher Güte
geschenkt — Vernunft und Sittlichkeit. So wollte er die Menschen
selig machen und nicht durch Erleiden des Martertodes als Opfer für
die sündbeladenen Menschen. Der eine Gott hat gelehrt, der andere
hat gelitten ... An diesem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Lehre
an die Menschen und Leiden für die Menschen, zwischen Vernunft
und „Wille" wird jeder Versöhnungs- und Einigungsversuch scheitern.
Beide Religionen reden zwei verschiedene Sprachen und entspringen
zwei verschiedenen Quellen.
110
Sechstes Kapitel.
Die jüdische Religion
und das zivilisatorische Leben.
Die jüdische Religion kein zivilisatorischer Faktor. — Das jüdische Religions-
gesetz und das Leben. — Das Judentum wirkt hemmend auf das wirtschaftliche
Leben. — Der Prophet und das Gesetz. — Die Bitte des Ben Sakkai. — Das
jüdische Gesetz will Weltgesetz sein. — Nomos und Thesis. — Konservierung des
Judentums durch Isolierung. — Die Wahrheit ist ein Gesetz. — Das unwirkliche
jüdische Gesetz. — Das alte Palästina ein Bauernstaat. — Handwerk im alten
Judäa. — Abneigung gegen Handel. — Arbeit und Handel. — Die niedrige
Stellung des Händlers. — Talmudisches Handelsrecht. — Zinsen. — Die Rabbinen
und der Handel. — Werner Sombart und der Talmud. — Die Ephraimiten und
der Handel im alten Judäa. — Der Handel bei den Juden ein Zeichen des
nationalen Verfalls. — Die Kirche und der Handel. — Die Gesetzesreligion und
der Handel. — Der jüdische Staat. — Der Ursprung des jüdischen Staates. —
Die „jüdische Theokratie". — Staatsmann und Priester. — Das Naturalisations-
recht im alten Judäa. — Die griechische Polis. — Der jüdische Staat eine Ge-
setzesgemeinschaft. — Der prophetische Staatszweck. — Der jüdische Staat und
das jüdische Volk. — Rom und Judäa. — Der platonische Staat. — Die Eigenart
des jüdischen Staates. — Konskription im alten Judäa. — Das Recht des Königs.
— Der Staat als Mechanismus. —
Das Judentum ist dogmenlose Gesetzesreligion, das Christentum ge-
setzeslose Dogmenreligion. Das Dogma ist lediglich religiöses
Dogma; das Gesetz ist aber nicht nur Religionsgesetz, da es alle Be-
ziehungen des Menschen auch zu seinem Nächsten, zum Staat und zur
Gesellschaft regelt. Das Christentum ist demnach nur Religion, das
Judentum auch Religion. Da das Judentum im letzten Grunde nur
ein Zivilisationsstatut1) resp. Zivilisationstheorie ist, ist es klar, daß
x) Der Zweck der Gesetzgebung Moses war weder Opfern noch Sünden
vergeben; sondern Glückseligkeit seines Staates, politische Wohlfahrt des Volkes
Jehova, sagte schon Joh. Gottfr. Herder.
111
es von ausschlaggebender Bedeutung für das gesamte zivilisatorische
Leben sein mußte. Die Religion als solche ist es nicht, insbesondere
nicht Erlösungsreligion, da sie entweder das diesseitige Leben ganz
negiert oder es seinem Schicksal selbst überläßt. In dem einen oder
dem anderen Falle organisiert sich das Leben nach einem von der Re-
ligion unabhängigen Prinzip. Die Religion schaut gen Himmel, wäh-
rend sich die Erde um sich selbst bewegt. Somit sind die allgemeinen
Voraussetzungen, mit welchen Max Weber und Werner Sombart an
ihre Untersuchungen herangetreten sind, grundfalsch. Max Weber z. B.
weist auf die Puritaner hin. Man könnte ebensogut auf die Parsees
in Indien, auf die Karaiten in Rußland, auf die Domnes in der Türkei,
auf die Frankisten in Polen oder auf die Protestanten in Frankreich
hinweisen; auch hier sehen wir kleine religiöse Sekten, die in den
genannten Ländern eine ähnliche wirtschaftliche Stellung einnehmen
wie die Puritaner und Quäker in England. Es wird aber trotzdem
keinem ernsten Forscher einfallen, den wirtschaftlichen Wohlstand der
parseeischen Sonnenanbeter oder der mystisch-traditionalistischen Fran-
kisten mit ihrem religiösen Kult oder 'mit ihren religiösen Anschau-
ungen zu erklären. Die so oft wiederkehrende Erscheinung, daß kleine
religiöse Minoritäten sich wirtschaftlich hervortun, hat wohl ihren
sozial-psychologischen Grund, der aber nicht in dem Wesen der Re-
ligion selbst zu finden ist. So falsch also diese allgemeine Voraussetzung
Webers und Sombarts ist, so richtig ist die besondere, für ihre engeren
Untersuchungen bestimmte Voraussetzung, daß Puritanismus ejne Art
Judaismus ist. Man braucht nicht einmal die Bedeutung der jüdischen
Religion für das jüdische Volk so genau zu demonstrieren, um sofort
einzusehen, daß die jüdische Religion resp. das jüdische Gesetz, indem
es das Leben zu meistern sucht, für die Gestaltung sowohl des politisch-
sozialen als des wirtschaftlichen Lebens von schicksalsschwerer Be-
deutung ist. Nur muß man sich zuerst über eine Frage klar werden:
Hat das jüdische Gesetz heute so viel Basis im Leben und enthält es
soviel Wirklichkeit, daß es auch heute noch bestimmenden Einfluß
auf das Leben nehmen kann? Keine Gruppe des Diaspora-Judentums
erfreut sich einer Kultur-Autonomie, und überall, wo Juden leben, sind
sie dem betreffenden Staatsgesetz unterworfen. Wenn zwei Juden in
Konflikt geraten, rufen sie nicht den Rabbiner, sondern das weltliche
Gericht an. Der jüdische geistliche Gerichtshof (Beth Din), der noch
in Ost-Europa wie in manchem westeuropäischen Ghetto besteht, befaßt
sich nur mit dem Ritual- und Zeremonialgesetz. Nur in den seltensten
Fällen wird er in zivilrechtlichen Streitigkeiten angerufen; auch da
112
kann er nur ein moralisches Urteil fällen, da er die Exekution des Ur-
teils nicht erzwingen kann. Das jüdische Gesetz hat also heute nur
so weit Wirklichkeit, soweit es Ritual- und Zeremonialgesetz ist. Nun
ist es wahr, daß die jüdische Religion immer im Bunde mit der Ethik
auftritt. Ethik ist aber das Prinzip, an dem das jüdische Gesetz über-
haupt orientiert ist. Allein man darf nicht übersehen, daß die über-
wiegende Mehrheit der heutigen westeuropäischen Juden, die wirt-
schaftlich gut gestellt sind, nicht mehr das jüdische Religionsgesetz
beachtet. Unter dem Einfluß der europäischen Philosophie im neun-
zehnten Jahrhundert hat sich die jüdische Religion in Westeuropa zu
einer farblosen und blutleeren Konfession modifiziert. Diese sogenannte
israelitische Konfession hat mit der jüdischen Religion in pragmatischer
Beziehung sehr wenig Ähnlichkeit. Gerade die großen Judenmassen
in Ost-Europa, Nord-Afrika und Vorder-Asien, die das jüdische Reli-
gionsgesetz streng beachten, sind wirtschaftlich auf dem Hund und
dürfen ohne Übertreibung als der hungrigste Teil der Menschheit be-
zeichnet werden. Gewiß ist nicht das israelitische Religionsgesetz allein
daran schuld, aber als eine der Ursachen dieser Erscheinung muß es
doch angesehen werden. Die westeuropäischen Juden hatten bald nach
ihrer Emanzipation instinktiv erkannt, daß das rigorose jüdische Reli-
gionsgesetz ihren wirtschaftlichen Kampf erschweren könnte; was sie
veranlaßt haben mochte (in tausenden Fällen läßt es sich nachweisen),
das jüdische Religionsgesetz in eine Konfession umzuwandeln. Daraus
geht doch wohl hervor, daß die jüdische Religion heute nicht gerade
als wirtschaftliche Triebkraft und als kapitalistischer Bazillus bezeichnet
werden kann. Mithin kann die Frage keineswegs lauten: Welche Be-
deutung hat die jüdische Religion resp. das jüdische- Gesetz für das
Wirtschaftsleben schlechthin und insbesondere für die Herausbildung
des modernen Kapitalismus, da der wirtschaftliche Aufschwung der
Juden eine Schwächung des Gesetzes zur Folge hat, sondern: Welche
Bedeutung hat das jüdische Gesetz für das zivilisatorische und ins-
besondere für das wirtschaftliche Leben, wenn dieses Gesetz Anwen-
dung findet? Da das jüdische Gesetz heute im besten Falle nur noch
Religionsgesetz ist und, soweit es politisches, bürgerliches und Straf-
gesetz ist, nur noch rechtsgeschichtliche Bedeutung hat, kann die Frage
sich unmöglich auf das Diaspora-Judentum beziehen. Soweit das Juden-
tum nur Religionsgesetz ist, wirkt es, wie wir bald sehen werden, eher
hemmend als fördernd auf das wirtschaftliche Leben. Die großen
Träger des Judentums aller Zeiten hatten dies erkannt, und unsere
tägliche Erfahrung belehrt uns, daß das naive, gesetzestreue Judentum
8 Melamed
113
immer Sache der kleinen Leute ist. Schon in der Bibel Weißt es: „Da
aber Jeschurun fett ward, ward er übermütig-. Er ist fett und dick
und stark worden und hat den Gott fahren lassen, der ihn gemacht
hat. Er hat den Fels seines Heils gering geachtet." (5. Mos. 32, 15.)
An vielen Stellen im Talmud begegnet man folgenden Aussprüchen:
„Armut geziemt Israel" (Ja'a anjutha lejisrael). „Wie ein Keil zwi-
schen zwei Pflöcke, so ist die Sünde zwischen Kauf und Verkauf hin-
eingetrieben." Und Josephus erklärte in seiner Schrift gegen Apion:
Wir Juden finden keine Freude am Handel. Durch das glänze tal-
mudischc und rabbinische Schrifttum zieht sich der Gedanke, daß der
Handel und der aus ihm resultierende Reichtum das Gesetz untergrabe.
Wir werden bald aus der Natur des jüdischen Gesetzes ersehen, wie
folgerichtig diese talmudische und rabbinische Anschauung war.
Das jüdische Gesetz schlechthin weist zwei Entwicklungsphasen
auf, wie die gesamte jüdische Geschichte eigentlich nur zwei Perioden
aufweist. Zuerst war das Gesetz bekanntlich für das Leben, obgleich
es nicht aus dem Leben kommt. Später entwickelte es sich zu einem
Gesetz gegen das Leben. Diese Entwicklung war durch seinen Ur-
sprung bedingt. Da es das Gesetz des vernünftigen und sittlichen
Gottes ist und die Aufgabe hatte, den urwüchsigen Subjektivismus
der alten Juden zu bändigen, war es von vornherein antipsychologisch,
insofern es darauf ausging, die wilden Sinne zu zügeln und den un-
domestizisierten Willen eines urwüchsigen Volkes zu meistern. So-
lange dieses Gesetz das primitive Leben eines werdenden Volkes formte
und das Leben in seine Buchstaben »hineinzupressen suchte, hatte es
noch ein wenig Wirklichkeit und wirklichen Inhalt. Wenn später das
Gesetz die lebendigen sittlichen Kräfte durch Verbureaukratisierung
des Judentums hintanzuhalten drohte oder die psychologischen Mächte
des Lebens das Gesetz zu verdrängen suchten, da erschien der Prophet
und unternahm einen Kampf nach beiden Seiten, um das Gesetz in
Harmonie mit dem Leben zu halten. Er wetterte auf der einen Seite
gegen die Priester, auf der anderen Seite gegen Achab. Der Prophet
war nicht gegen das Gesetz, wie moderne Reformrabbis annehmen,
sondern gegen seine Auswüchse. Das Gesetz sollte das Leben regeln,
es sollte wirklich sein, ohne daß es die Kräfie des Lebens unterbinde.
Solange der synthetische Geist im Judentum lebendig geblieben ist,
hatte das Gesetz, das selbst ein Produkt des synthetischen Geistes ist,
keine antipsychologischen Tendenzen hervorgekehrt. Erst mit der Zer-
rüttung und der nachträglichen Zerstörung des jüdischen Staates und
mit der ihr folgenden Ausbildung der Analyeis (Beginn des Rabbinismus)
114
ist das jüdische Gesetz, da es gar keine Basis im Leben mehr hatte,
zu einem antipsychologischen Gesetz geworden. Aus einem Gesetz
für das Leben ist ein Gesetz gegen das Leben geworden. Dem
willensstarken, tatenfrohen Propheten folgte der weltfremde, gegen
die Welt gekehrte Rabbi, der Epoche der großen Handlung des
starken Mannes folgte die Epoche des Buches und des Buch-
stabens und der theoretischen Haarspalterei. Den ersten Abschnitt
seines dritten Kapitels der Geschichte der jüdischen Literatur leitet
Gustav Karpeles mit dem bekannten historischen Bericht ein: „Durch
die Straßen der alten Zionstadt bewegte sich in der Dämmerstunde
ein Leichenzug. Schüler, heißt es, die ihren Lehrer zu Grabe tragen.
Scheu und ehrerbietig weicht alles zur Seite; selbst die römische Wache
am Stadttor läßt den Zug ungehindert durchziehen. Da, vor der Stadt,
macht er halt, die Schüler stellen den Sarg nieder, öffnen den Deckel,
und aus diesem steigt der ehrwürdige Rabbi Jochanan ben Sakkai,
der sich lebendig tot aus der Stadt tragen läßt, um ohne Gefahr in
das Römerlager gehen zu können. Dort tritt er vor Vespasian, auf den
die Erscheinung des greisen Lehrers Eindruck macht, und der ihm
gestattet, sich die Erfüllung eines Wunsches zu erbitten. Aber nicht
für sein Volk, nicht für die heilige Stadt, ja nicht einmal für den
Tempel erfleht der Rabbi Schonung, sondern: Laß mich in Jabhne eine
Schule gründen ! so lautet seine Bitte. Und lachend winkt der stolze
Römer ihm Gewährung." Jetzt mache man sich eine Vorstellung von
der ganzen Weltfremdheit dieses Judentums, von der Reduktion des
ganzen Lebens auf die Lehre, auf das Buch . . . Durch die allgemeine
politische Resignation und die Erstarrung des Lebens harte das Gesetz
an dem Leben keine Opposition mehr, und da es auch noch im Leben
später nicht mehr angewendet werden konnte, wurde das von Anfang
an zur Unbedingtheit, weil göttlichen Ursprungs, neigende Gesetz
zu einem vollendeten Absolutum. Da keine exekutive Gewalt zu seiner
Ausführung mehr bestand, wurde es durch unzählige „Versuchungs-
verbote" ummauert. Viele Bewegungen und Handlungen des Men-
schen, die an sich erlaubt waren, wurden untersagt, aus Angst, sie
könnten zur Übertreibung oder Verletzung des wirklichen Gesetzes
führen. Das jüdische Gesetz, speziell in seiner rabbinischen Fassung,
ist rigoros, starr, ehern, unmodifizierbar und unantastbar, weil es
nichts Sinnliches an sich hat. Man spricht oft von der Entwicklung des
jüdischen Gesetzes, aber man übersieht, daß es sich nur innerhalb
seines Umkreises „entwickelt", d. h. daß es sich mechanisch ausge-
wickelt, ausgerollt hat, wie etwa die höhere Mathematik von der ein-
8»
115
fachen Arithmetik. Dieses Gesetz ist ein Gesetz des Sollens, bean-
sprucht aber für sich die Unwandelbarkeit und Ewigkeit eines Ge-
setzes des Seins, eines ehernen Naturgesetzes. Es will „chok olarn"
(Weltgesetz) sein. Da es die Satzung nicht als Gegenüberstellung duldet,
damit es eventuell selbst nicht zur Satzung degradiert werde, erhebt
es die Satzung und selbst die völkische Tradition (Minhag) zum Ge-
setz und stellt den Grundsatz auf: Minhag jisrael din (die Tradition
Israels ist auch Gesetz).
Dem griechischen Nomos steht die Thesis gegenüber. Die Ge-
schichtsbetrachtung belehrte den Griechen zwischen Naturgesetz und
Satzung zu unterscheiden. Der Begriff der Thesis, den die Sophisten
auf die Spitze trieben, ist doch historisch und subjektivistisch moti-
viert. Auch der antike jüdische Mensch beobachtete mit scharfem Blick
die Wechselfälle der Geschichte, aber statt wie der Grieche dadurch
seinen Glauben an das ewige Gesetz zu verlieren und dem ursprüng-
lich auch auf das geschichtliche Leben sich beziehenden Nomos die
Thesis entgegenzustellen, bestärkte ihn diese Betrachtung noch mehr
in dem Glauben an das Gesetz. Das ist aus jeder Seite der Propheten
zu ersehen. Dem Griechen war es von vornherein klar, daß in der
Natur unwandelbare Gesetze "herrschen. Dem Juden ward es aber von
vornherein ebenso zur Gewißheit, daß in der Geschichte im Reiche
des Geistes unwandelbare Gesetze herrschen. Die Natur kannte er
überhaupt nicht, und wo er von Naturgesetzen spricht, da hat er
eigentlich nur ein Gesetz im Auge, das auch in der Natur vorhanden
sein muß. Aber das Gesetz als solches ist außerhalb der Natur. Diese
generelle und transzendentale Fassung des Gesetzes ließ schon im
Judentum von vornherein den Begriff der Thesis gar nicht aufkom-
men. Der Chok blieb unangefochten und Alleinherrscher. Dieses
absolute, von außen kommende Gesetz war die Realität.
Ist nun dieses Gesetz aller bio-soziologischen Wirklichkeit bar und
hat es mit dem biologischen oder physikomcchanischen Gesetz nicht
die geringste Ähnlichkeit, so ist es seiner formalen Seite nach sofern
ein „wirkliches" Gesetz, als es einerseits alle Erscheinungen und Be-
wegungen des Lebens berührt und gleich dem wirklichen Gesetz Ab-
solutheit beansprucht. Heute behandelt es die neuesten Erscheinungen
auf dem Gebiete der Elektrizität, wie es vor hundert Jahren zu den
neuesten Errungenschaften des Verkehrs Stellung genommen hatte.
Für jede noch so neue Erscheinung findet es ein Prinzip, von welchem
aus es sich zu dieser Neuerung stellt; über jede Bewegung des Men-
schen führt es strenge Kontrolle, und über alles, was in der Menschen-
116
weit vorgeht, hat es zu entscheiden, wenn auch keine Kraft, diese Ent-
scheidung auszuführen.
Während überall das Gesetz des Lebens, und ein solches ist doch
auch das jüdische Gesetz, Mittel zum Zweck ist, will dieses dem
Leben so fremde Gesetz Selbstzweck sein. Anfänglich war es aller-
dings nicht so. „Damit Ihr lange lebet", dafür war es doch ursprüng-
lich gegeben. Als die von diesem Gesetz formierte Zivilisation in die
Brüche gegangen und das jüdische Volk zivilisationslos, weil staatslos,
war, trat wieder das Gesetz, wie zuallererst, an Stelle des wirklichen
Lebens . . . Nur hatte es jetzt nicht mehr die Aufgabe, den zügellosen
Subjektivismus eines halbwilden und verwahrlosten Volkes zu zügeln,
sondern ein reifes, sozialisiertes Volk, in dem messianisch-kosmopo-
litische Ideen keimten, zu konservieren. Das konnte nur durch eine
gründliche Spiritualisierung des Lebens geschehen, durch ein Nieder-
ringen aller normal-psychologischen Mächte des Lebens. Staatslos und
versprengt, konnte es nur durch eine gründliche Isolierung konserviert
werden. Dieses Isolierungswerk besorgte und vollbrachte das rabbi-
nische Gesetz. Jetzt bedenke man, wieviel es dem natürlichen Leben
entgegenarbeiten mußte. So ward aus einem ursprünglichen Zivili-
sationsgesetz ein Kulturgesetz, weil das Zivilisationsgesetz schon für
die Hervorbringung einer Zivilisation nicht getaugt hatte; denn mit
dem sittlichen Leben allein kann man das wirkliche brutale Sein nicht
regieren. Das Gesetz des fürchterlichen, starken und allmächtigen,
gewaltigen Gottes hat aus verwahrlosten Sklaven ein Volk gemacht,
und das rabbinische Gesetz hat das Volk durch ein gründlich voll-
brachtes Isolierungswerk konserviert. Das erste Werk konnte nur
im Verein vom Gesetz mit dem Spiritualismus (nicht mit dem Mysti-
zismus ; denn Mystik ist dem Judentum fremd) vollbracht werden.
Nun wurde gegen das ursprüngliche Gesetz schon heftig gekämpft.
Die Bibel berichtet genug über die Rückfälle in den Götzendienst; aber
der starke, fürchterliche und allgewaltige Gott hat sich als der Stärkere
im Kampfe erwiesen, und ungleich dem Nomos in Griechenland ist
in Judäa der chok olam Sieger geblieben, das absolute Gesetz des
absoluten Gottes. Bei der Fassung des Gesetzes durch die Rabbinen
war schon der psychologische Mensch im Juden niedergerungen, er
war schon mürbe. Das Gesetz als solches war ihm schon in Fleisch
und Blut übergegangen, und die Rabbinen hatten es nicht mehr schwer,
das schon längst eingebürgerte Gesetz dem Juden so einzuprägen,
daß es bei ihm zu einer Denkkategorie werde.
Die Wahrheit ist nicht im Leben, sondern im Gesetz. Das ist das
117
Grundmotiv der rabbinischen Weltanschauung, wogegen der euro-
päische Geist seit mehr als zwei Jahrtausenden (mit Unterbrechung
des Mittelalters) für den Satz kämpft: Die Wahrheit ist nicht außer-
halb des Lebens, sondern im Leben. Die Träger dieser zwei ver-
schiedenen Anschauungen sind auch zu zwei verschiedenen Resultaten
gelangt. Die einen schufen große Bibliotheken, Gesetzbücher, reli-
gionsphilosophische und philosophische Systeme, die anderen schufen
die Maschine und den modernen Rechtsstaat (Raubstaat), der in Afrika
und Asien „Zivilisation" verbreitet, damit seine eigenen Bürger Arbeit
haben und dem Handel seiner Bürger neue Absatzgebiete erschlossen
werden Von diesem Gesichtspunkte muß man an die Behandlung der
Frage herantreten: Welche Bedeutung hatte die jüdische Religion für
das zivilisatorische Leben? Wie hemmend sie aber für das zivilisa-
torische Leben (Mechanisierung und Industrialisierung der Welt) ge-
wirkt hat, kann man auch noch aus dem unwirklichen Rationalismus
der Rabbinen seit dem Talmud ersehen. Im halachischen Teil des
Talmud wird z. B. ernstlich die Frage erörtert, „wenn ein Mann vom
Dach gestürzt und zufällig auf eine Frau gefallen ist?", oder ob ein
Ei, das am Feiertag „geboren" wurde, gegessen werden darf oder
nicht. Im rabbinischen Schrifttum werden häufig etwa folgende Fragen
erörtert: Darf am Purim (ein jüdisches Volksfest) geheiratet werden?
Ein Verbot könnte damit begründet werden, daß man dem Gesetz
zufolge zwei freudige Anlässe nicht vermengen darf (en mearwin
simchah besimchah), und bei einer Hochzeitsfeier könnte man die
Bedeutung und die Freude des allgemeinen Festes vergessen. Aber
andererseits ist Purim ein Feiertag, an dem man sich soweit betrinken
dürfe, daß man zwischen „Verflucht Haman" zu „Gesegnet Mordechai"
nicht unterscheiden könne, woraus zur Evidenz hervorgehe, daß man
die Freude dieses Purimfestes vergessen dürfe. Aus diesem Grunde
könne die Heirat am Purim freigegeben werden. Das rabbinische
Buch, in dem diese und ähnliche Fragen erörtert werden, die selbst
vom Gesichtspunkte des jüdischen Gesetzes lächerlich unwirklich sind,
nennt sich das Buch des Lebens (Sefer hachajim) 1). Natürlich ist
das nicht die Regel im talmudischen und rabbinischen Schrifttum,
Im großen und ganzen beschäftigt sich der halachische Teil des Talmud
mit allen wichtigen Fragen des Zivil- und Strafrechts, und eine ganze
Reihe von Traktaten sind allein dem Eigentums-, Handels- und teil-
weise auch dem Wechselrecht gewidmet. Aber das talmudische Recht,
sowohl des Sachen- als des Personenrechts, ist dermaßen „ethisch
l) Zitiert nach Erters Hazophe lebeth Israel, Warschau 1908.
118
belastet", daß man aus dieser ethischen Voreingenommenheit allein
ersehen kann, wie wenig dieses Recht an der Erfahrung des Lebens
orientiert ist.
Betrachten wir die Frage jetzt rein pragmatisch.
Als die Juden, ein in Ägypten zur Arbeit erzogenes Volk, nach
Palästina kamen, fanden sie einen kultivierten Boden vor. Sowohl
aus der jüdischen Agrargesetzgebung, die einen beträchtlichen Raum
in dem ersten Buch Moses ausfüllt, als aus den kleinbäuerlichen Idealen
der Propheten (Jeder wird unter seinem Weinstock und unter seinem
Feigenbaum sitzen), sowie aus der Tatsache, daß die Bibel auf Schulden-
recht gar keine Beziehung nimmt, geht wohl zur Evidenz hervor, daß
die Juden in Palästina sich mit Landwirtschaft befaßten. Da die Bibel
von mehreren jüdischen Handwerkerzünften berichtet, so muß man
daraus schließen, daß sich die alten Juden auch mit dem Handwerk
beschäftigt haben. Hingegen kommt der Name Karfaaniter als Bezeich-
nung für den Handelsmann noch recht spät vor. Auch das Faktum,
daß das Gesetz von keinem Kreditsystem weiß, spricht dafür, daß
Josephus in seiner genannten Schrift richtig ausgesagt hat. Noch das
Deuteronomium kann sich das Schuldverhältnis unter Juden nur in
der Verarmung des einzelnen denken. Kommt noch hinzu, daß den
Juden der Seehandel abgeschnitten war, da sie keine Häfen zur Ver-
fügung hatten und niemals eine seefahrende Nation waren. Wohl
erfahren wir, daß alle paar Jahre Schiffe nach Palästina kamen, die
Industrieerzeugnisse ins Land brachten, aber wir hören nicht, daß
Industrieerzeugnisse von Palästina exportiert, sondern nur, daß allerlei
Früchte exportiert werden. Ferner ersieht man auch aus den Be-
richten der Evangelien, daß noch zu jener Zeit Palästina ein Agrar-
land war. Die Propheten bedienen sich oft dem Landleben entnom-
mener Gleichnisse. Der noch heute fast unübertroffene Michaelis sagt
in seiner lapidaren Art: Der Ackerbau allein, im weitläufigen Verstände
genommen, so wie er Wein-, öl- und Gartenbau in sich schließt, war
es, den Moses zur Grundfeste seines Staates wählte1). Aus der
agrarischen Natur des jüdischen Staates leitete er den jüdischen De-
mokratismus ab. Liegt also kein Grund vor, an dem agrarischen
Charakter des jüdischen Staates zu zweifeln, da die ganze Sprache der
Bibel mit Metaphern durchtränkt ist, die dem naiven Bauernleben
entnommen sind, was doch nicht der Fall sein könnte, wenn der alte
jüdische Staat kein Agrarstaat gewesen wäre, so ersehen wir auf der
anderen Seite aus vielen Stellen in der Bibel, daß im alten Judäa
i) J. D. Michaelis, Mos. Recht, erster Teil S- 160 ff.
119
Handwerk und Hausindustrie, soweit sie jede staatliche Gemeinschaft
haben muß, sehr ausgebildet waren. Alan geht nicht fehl, wenn man
behauptet, daß im alten Judäa ausgebildete Arbeiterzünfte in der
Form von abgeschlossenen Arbeiterquartieren existiert haben. In
Jercmia 37, 21 wird von der Bäckergasse berichtet, in Nehemia II, 35
vom Tal der Zimmerleute, in Jesaia 7, 3 vom Walkcrfeld, und wieder
in Nehemia 3, 33 vom Quartier der Goldschmiede. Josephus berichtet
noch vom Quartier der Eisen- und Erzarbeiter. Aus I. Chr. 4, 21 und 23
ist noch zu ersehen, daß Leinweber- und Töpferzünfte existiert haben.
Ferner ergibt sich aus demselben Kapitel, daß Zimmerei und Leinweberei
sich vom Vater auf den Sohn vererbt haben1). Jedes Handwerk war
entweder in Freundschaften, in Häusern oder in Quartieren organi-
siert. Landwirtschaft und Handwerk waren demnach die hauptsäch-
lichsten, wenn nicht gar die ausschließlichen Beschäftigungen der alten
Juden. Nur so erklärt sich die Anpreisung dieser zwei Berufe im Talmud
und die Abneigung der Rabbinen gegen den Handel. Und daraus er-
klärt sich auch teilweise die hohe Ausbildung des sozialethischen Be-
wußtseins im alten Judäa. Die führenden Politiker der Nation und ins-
besondere die Propheten, wie später die Rabbinen, hatten noch einen
andern Grund, der Ausbreitung des Handels in Judäa entgegen-
zuarbeiten.
Der Stamm Ephraim eroberte sich bekanntlich den Norden des
Kanaans, ein sehr fruchtbares Land. Die ej>hraimitischen Siedlungen
waren nahe dem Zentrum der damaligen kanaanitischen Kultur. Die
Ephraimiten, im Gegensatz zu den Judäern, kamen mit ihren Nachbarn
viel in Berührung, was eine Einführung von fremdländischen Sitten
und Gebräuchen und fremden Göttern in Palästina zur Folge hatte.
Die Judäer, die wegen ihrer geographischen Lage isoliert blieben,
bildeten auch die Elite der Gesetzestreuen. Von Anfang an waren die
Rückfälle der Ephraimiten in den Götzendienst „kommerziell" motiviert,
da sie in Handelsbeziehungen mit denen ihnen benachbarten kanaaniti-
schen Völkern standen und ihrem Einflüsse oft unterlegen2). Dem
Wächter über das jüdische Gesetz konnte diese Tatsache nicht entgangen
sein. Dieses allein war ihnen Grund genug, gegen die Beteiligung der
Juden am Handel aufzutreten und ihn zu verhindern. Aber nicht allein
das Beispiel Ephraims hat den Führern der Nation Veranlassung ge-
geben, gegen den Handel in Judäa überhaupt aufzutreten, sondern das
national-wirtschaftliche Ideal, daß das Land durch Beschäftigung aller
!) Herzogs Real-Enzykl. 3. Aufl. Bd. 7 S. 393.
2) Joseph Klausner, Isr. Geschichte, Odessa 1909, S. 25 ff.
120
mit dem Handwerk sich selbst ernähren könne. Also die Sorge für die
religiöse und sittliche Integrität des Volkes, die durch einen steten
Verkehr mit fremden Völkern nicht erhalten werden konnte, und das
Bestreben, das Land ökonomisch unabhängig zu halten, waren im
wesentlichen zwei Motive für das spätere Auftreten der Propheten
gegen den Versuch, Palästina zu kommerzialisieren1). Die negative
Haltung der Rabbinen dem Handel gegenüber war hingegen mehr
religiös motiviert. Mit dem Handel ist die Sünde gesetzt, das war ihre
Überzeugung. Natürlich spricht auch aus ihrer Abneigung gegen den
Handel und aus ihrer Vorliebe für Handwerk und Ackerbau die jüdische
Tradition. Wenn es, wie Sombart meint, im Talmud auf die Masse
der Aussprüche ankommt, so wird man wohl folgern müssen, daß aus
dem Talmud geradezu ein Haß gegen den Handel und eine Anhimme-
lung des Handwerks und Ackerbaues zum Ausdruck kommt. Das
mögen die folgenden Stellen im Talmud und im späteren rabbinischen
Schrifttum bezeugen.
1. Gott hat nicht bei den Juden geruht, bis sie Handwerk taten.
2. Handwerk ist mehr als vererbtes Privileg.
3. Lege dir zum Studium ein Handwerk zu.
4. Jedes Thorastudium ohne Handwerk ist wertlos und bereitet
Sünde.
5. Liebe das Handwerk und hasse das Rabbinat.
6. Selbst Adam hat nichts genossen, bevor er Arbeit getan hat.
7. Schinde lieber einen Kadaver in der Straße, als dich zu brüsten,
daß du ein großer Mann seiest.
8. Der Handel bringt oft Leute in die Höhe, aber er stürzt sie
auch oft in die Tiefe ; aber das Handwerk bewahrt den Menschen auch
in schlimmsten Zeiten vor äußerster Not.
9. Der Arbeiter ist insofern besser gestellt als der Kaufmann, als
er nicht, wie der Kaufmann, von den verschiedensten Bedingungen des
Lebens, der Stadt und des Landes abhängig ist, und er in eine andere
Stadt ziehen kann, wenn es ihm schlecht geht.
10. Ein Mensch soll das Handwerk, das sein Vater und Großvater
schon ausgeübt haben, nicht wechseln.
11. Der göttliche Segen fällt nur auf den, der mit seinen Händen
arbeitet.
12. Ein Vater, der seinen Sohn kein Handwerk lehrt, ist, als würde
er ihn zum Raub anhalten.
x) Franz Walter, Die Propheten in ihrem soz. Beruf, München 1905, S. 55.
121
Landwirtschaft.
1. Die Erdarbeit ist die beste Garantie für die, die ihr obliegen,
und gewährt Gesundheit und seelische Ruhe.
2. Wer keine Erde hat, der ist kein Mensch.
3. Der sich auf fertiges Brot verläßt, ist seines Lebens nicht sicher.
4. Wer Getreide auf dem Markte kauft, läuft immer Gefahr.
5. Einer, der dem Gelde nachläuft und kein Land besitzt, genießt
nicht recht.
6. Selbst wenn du auf den Genuß deiner eigenen Erdarbeit nicht
angewiesen bist, bist du nichtsdestoweniger verpflichtet, die Erde zu
bearbeiten.
7. Ein Mensch soll nicht sein Land verkaufen.
8. Wenn du Land hast, bearbeite es selbst; denn nur wenn ein
Mensch sich zum Knecht seines Bodens macht, wird er satt werden.
9. Du sollst nie Land kaufen, das angefochten wird.
10. In der Zukunft werden alle Handwerker mit der Erdarbeit ver-
bunden sein.
Gegen den Handel.
1. Ein Kaufmann kann schwer dem Unrecht entrinnen, und ein
Krämer kann der Sünde nicht entgehen, sagte Ben Sirach.
2. Nicht, der am meisten handelt, ist der Klügste.
3. Handle weniger und beschäftige dich mehr mit der Thora.
4. Kenntnis der Thora findet man weder bei Händlern noch bei
Kaufleuten.
5. Bist du aber dennoch ein Krämer, so gleich nicht jenen, deren
Beschäftigung im Rauben besteht.
6. Gehöre nicht zu denjenigen, die die Marktpreise in die Höhe
treiben.
7. Das erste, wonach ein Mensch, wenn er vor Gott kommt, ge-
fragt werden wird, ist: Hast du ehrlich gehandelt?
10. Es ist nicht erlaubt, sich Mühe zu geben, mehr als statthaft ist,
zu verdienen. Mehr als ein Sechstel darf nicht verdient werden.
9. Es ist unstatthaft, große Reklame für den Handel zu machen.
10. Es ist verboten, dem Schuldner zu begegnen, wenn man weiß,
daß er nicht bezahlen kann.
Solche und ähnliche Aussprüche, Ge- und Verbote, die auf den
Handel Bezug nehmen, zeugen gewiß nicht von einer Vorliebe der
Rabbinen für den Handel. Wie verständnislos auch die Rabbinen dem
Handel gegenüberstanden, ergibt sich auch aus der folgenden kurzen
Zusammenfassung der Prinzipien des Handelsrechts und der Handels-
122
moral im Talmud. Vorausgeschickt sei, daß das ganze talmudische
Handelsrecht sich auf die wirtschaftlichen Prinzipien der Bibel aufbaut.
Hier sieht man, wie sich das Recht ganz an der Ethik und gar nicht an
dem Leben orientiert.
Ein Grundprinzip des talmudischen Handelsrechts ist eSj daß der
Gewinn an der Ware kein ganzes Sechstel betragen dürfe. Beträgt der
Gewinn ein Sechstel, dann liegt Übervorteilung vor, und das Geschäft
kann rückgängig gemacht werden, wenn der Verkäufer den übervor-
teilten Betrag nicht ausbezahlt, der Handel ist als nicht abgeschlossen
anzusehen, wenn der Gewinn mehr als ein Sechstel beträgt. Fand eine
Übervorteilung durch Gewicht und Maß statt, ist das Geschäft eo ipso
null und nichtig.
Wenn der Verkäufer ausdrücklich erklärt: Soundsoviel verdiene
ich daran, dann liegt keine Übervorteilung vor, selbst, wenn der Gewinn
100°/0 beträgt, allein die Behörden sind verpflichtet, dafür zu sorgen,
daß ein allgemeiner Warenwert aufgestellt wird, damit niemand mehr
als ein Sechstel verdiene. Wer den Fremdling übervorteilt, übertritt
drei Verbote, denn es heißt: Einer soll seinen Nächsten nicht über-
vorteilen, einer soll seinen Bruder nicht übervorteilen, und du sollst
den Fremdling nicht übervorteilen. Man darf nicht verschiedene Früchte
vermengen, resp. die eine mit der andern verwechseln, nicht frische
mit alten und nicht billige mit teuern; denn der Käufer hatte eine be-
stimmte Frucht angekauft.
Stellt sich nachträglich heraus, daß der gekaufte Weizen schlecht
ist, kann er dem Verkäufer zurückgegeben werden. Man darf keine
Frucht aufspeichern, damit ihre Preise nicht in die Höhe getrieben
werden. An Dingen, die das Leben retten können, darf überhaupt nicht
verdient werden.
Der sein Geld auf Zinsen verleiht, ist, als würde er Menschenblut
vergießen und hat keinen Anteil am Jenseits. Nicht nur der Verleiher
macht sich eines Verbrechens schuldig, sondern auch der Leiher, der
Schreiber und die Zeugen. Wer einem Geld leiht (zinsenlos), darf nicht
in der Behausung des Leihers ohne Entgelt wohnen, und selbst, wenn
er schon früher umsonst gewohnt hat, muß er ihm Miete bezahlen,
sobald er ihm Geld geliehen hat. Wenn der Leiher den Verleiher nie-
mals zu begrüßen pflegte, so ist es ihm verboten, jetzt zu grüßen, weil
er von ihm geliehen hat. Wer sein Geld im Geschäft so anlegt, daß für
Verdienst sehr viel und für Verlust sehr wenig Wahrscheinlichkeit
vorhanden ist, der ist ein Bösewicht, weil ein solches Investment
„Zinsenstaub" (kleine, mögliche Zinsen) einbringt, die ebenfalls unter-
123
sagt sind. Nur Waisengelder darf man so investieren. Einer, der
seinen Nächsten übervorteilt oder betrügt, kann weder durch Reue
noch durch Buße seine Sünde sühnen, und selbst Gott kann ihm die
Sünde nicht vergeben. Er muß sein Unrecht vielmehr dem Geschädigten
gegenüber selbst gutmachen. Das Aufdrängen von Waren an den
Käufer ist untersagt. Sich unredlich bereichern, wird dem Götzendienst
gleichgestellt; denn die Bibel bezeichnet beide mit dem gleichen Aus-
druck, Belijaal, Niederträchtiger.
Der Vater von Samuel, so wird in Baba Batra 90 h berichtet, pflegte
sein Getreide gleich von der Tenne weg zu verkaufen, damit er durch
Zurückhaltung des Getreides nicht zu dessen Preissteigerung auf dem
Markte beitrage. Der Sohn hingegen behielt es zurück und verkaufte
es in der späteren Jahreszeit zum ursprünglich billigeren Preis. Man
lobte die Haltung des Vaters mehr als die des Sohnes, weil, wenn die
Preise einmal gestiegen sind, sie nicht wieder so schnell sinken. Wenn
er also selbst später aus Wohlwollen zu niederem Preise verkaufte,
so hat er doch durch Zurückziehung der Getreide zur allgemeinen
Preissteigerung beigetragen.
Betrachtet man den handelsrechtlichen Grundsatz vom zulässigen
Gewinne eines knappen Sechstels (ein volles Sechstel ist schon Über-
vorteilung) und den wirtschaftspolitischen Grundsatz des allgemeinen
konstanten Warenwertes, den aufzustellen die Behörden die Pflicht
haben, und denkt man an minutiöse Zinsverbote des Talmud (Wucher,
Zins, Zinsstaub, Wortzins, Eßwareninteressen [Tarbith]), so wird man
erst begreifen, wie verständnislos die Rabbinen dem Handel gegenüber-
standen und wie abgeneigt sie ihm waren. Sie wendeten auf das
seiner Natur nach bewegliche, pendelnde Wirtschaftsleben das unbe-
wegliche starre Prinzip des Gesetzes an und glaubten durch die Auf-
stellung eines allgemeinen Warenpreises das unruhige, keine Fesselung
duldende, ökonomische Leben in einen normal funktionierenden Mecha-
nismus umwandeln zu können. Wer solche Ansichten vom Handel hat
und diese Ansichten zum Gesetz zu erheben sucht, der bekundet naive
Weltfremdheit und wirkt hemmend auf das wirtschaftliche Leben. Wohl
hat Hillel die Prosbolreform eingeführt, und wohl wurden später die
rigorosen Zinsverbote in jeder materiellen und moralischen Art durch
„Hetter-iska-Reform" einigermaßen geschwächt. Das beweist doch nur,
daß das Leben stärker als das Buch ist und man mit dem theoretischen
Gesetz, des nicht aus dem Leben kommt, das Leben nicht meistern kann.
Die wirtschaftlichen Nöte des Volkes mußten eine katastrophale Wen-
dung nehmen, bevor man sich von der rabbinischen Lehrstube aus zu
124
formellen Reformen, die das Materielle des Verbots keineswegs auf-
heben, entschlossen hat. Daher muß die Frage, ob die jüdische Religion
auf das zivilisatorische Leben der Nation fördernd gewirkt hat, ent-
schieden verneint werden.
Wollte mir aber jemand entgegenhalten, Werner Sombart habe
aus dem Talmud das Gegenteil bewiesen, so muß ich darauf antworten:
1. kennt Sombart den Talmud überhaupt nicht, weil eine Kenntnis des
Talmud aus Übersetzungen (er ist noch nicht einmal ganz übersetzt)
schlechterdings unmöglich ist; 2. hat er, statt die Grundprinzipien des
talmudischen Handelsrechts, die im Traktat Baba Meziah niedergelegt
sind, zu erforschen und anzuführen, nur zusammenhanglose, verstreute
Aussprüche gelesen (in falscher Übersetzung, wie ihm nur zu deutlich
nachgewiesen wurde) und zitiert; 3. hat er nur dem naiven Laien, aber
keinem ernsten Forscher bewiesen. Gegen die Juden ist schon alles
mögliche bewiesen worden, selbst daß sie christliches Blut für rituelle
Zwecke brauchen. Indessen betrachte ich den Sombartschen Beweis,
daß die jüdische Religion ein kapitalistischer Bazillus ist, während sie
in Wirklichkeit durch ihr Gesetz den Handel unterbindet und den Zins
in jeder Form verbietet, für den kühnsten, der bis jetzt geführt wurde.
Wer die Bibel liest und nicht Erdgeruch spürt, nicht Kleinbauern sieht
und große bebaute Landstrecken bemerkt, obwohl Gottes höchster
Segen ist „Ich werde Euch Regen geben, Früh- und Spätregen", sondern
behauptet, diese Vollblutbauern waren alle verkappte Krämer und
Bankiers, der kann alles beweisen.
Ich wollte gar nicht beweisen, sondern feststellen. Und ich glaube
festgestellt zu haben, daß das Judentum eine Gesetzesreligion ist und
durch das Medium des absoluten, alleinherrschenden Gesetzes das
zivilisatorische Leben des Volkes hemmen mußte, wie die Regierung
vom grünen Tisch die Bewegung des Lebens hemmt. Diese Grund-
erkenntnis habe ich nur durch Tatsachen erläutert.
Bevor ich das Verhältnis der jüdischen Religion zu andern zivilisa-
torischen Gebilden untersuche, muß ich noch kurz zwei Fragen er-
örtern, 1. wann hat sich ein Teil des Volkes dem Handel zugewendet
und 2. welche Ursachen haben dazu geführt, daß der Jude schlechthin
zum Händler herabgesunken ist?
Ich habe schon oben der Tatsache Erwähnung getan, daß die
Ephraimiten (Israeliten) durch ihre geographische Lage, die sie in Be-
rührung mit den handeltreibenden kanaanitischen Völkern brachte,
zuerst Gelegenheit hatten, sich teilweise dem Handel zuzuwenden. Ihr
Land war sehr fruchtbar und lieferte ihnen so viel, daß sie einen Teil
125
der Produkte veräußern konnten. Ihr Handel beschränkte sich auf
den Verkauf ihrer Landesprodukte. Es scheint, daß sie oft mehr expor-
tiert haben, als dem Lande gut tat; denn sowohl die Propheten wie
später die Rabbinen betonen die Notwendigkeit der Selbsternährung
des Landes, und die letzteren verboten sogar den Export von Landes-
produkten. Aber die Anleitung zum Handel im größeren Stil erhielten
die Juden später von den benachbarten Syrern und Phöniziern. Da
sich der gesamte Handel in durchaus griechischer Form bewegt und
das Wort Ware im Hebräischen griechischen Ursrungs ist, so muß man
sagen, daß ein nennenswerter Handel in Judäa sich erst in hellenischer
Zeit bemerkbar macht. Ein Werk dieser Zeit, das Buch Sirach, erwähnt
zum erstenmal den Großhändler.
Der Handel findet also in Palästina Eingang zu einer Zeit der
jüdischen Dekadenz und der nationalen Auflösung. Je lockerer die
nationalen Bande waren, desto mehr nahm der Handel an Aus-
breitung zu.
Je mehr der nationale Auflösungsprozeß fortschreitet, desto mehr
werden die Juden ihrem Boden entwurzelt und desto mehr erliegen sie
dem Handel. Weitblickende Rabbinen sehen sorgenvoll diesem merk-
würdigen Wandel der Dinge zu und versuchen mit Mitteln der Kultur
wie des theoretischen Gesetzes, dieser zivilisatorischen Strömung Ein-
halt zu tun. Da aber das Leben sich als stärker erweist als das Gesetz,
suchen sie den umsichgreifenden Handel in Judäa durch die soziale
Degradation des Händlers zu unterbinden. ,,Der Händler ist kein
Mann der Thora, der Händler ist ein sündbeladenes Individuum" ver-
künden sie dem Volke. Im ganzen Talmud zittert der Kampf der
Rabbinen gegen den Handelsmann nach. Sie waren bestrebt, den
Handelsmann zu der Stellung herabzudrücken, die der Metöke in
Griechenland einnahm. Aber während die Griechen ihre Degradation
der Metöken ästhetisch motivierten, erfolgte sie durch die Rabbinen
aus ethischen und religiösen Gründen.
Die Juden sind erst ganz zu Händlern geworden, als das Christen-
tum seinen Siegeszug durch die Länder anzutreten begann. Das war
so gekommen: Die Kirche hatte die Anschauungen der Römer und
Griechen über den Handel übernommen. Den klassischen Völkern war
der Handel verhaßt. Sowohl Plato wie Aristoteles weisen in ihrem
Staatsrecht dem Kaufmann eine politisch und sozial untergeordnete
Stellung an. Bei Plato gehört der Händler in den letzten und dritten
Stand, in den Nährstand, dem der Wehr- und Lehrstand übergeordnet
ist. Der Nährstand ist der Bauch des Staates. Also verhält sich der Nähr-
126
stand zum Lehrstand wie der Bauch zum Kopfe. Nicht viel besser
schneidet der Kaufmann im aristotelischen Staatsrecht ab. Diese han-
delsfeindlichen Anschauungen konnten in das Christentum um so
leichter eindringen, als es sie seiner damaligen Tendenz der Negation
des Diesseits anpassen und für diese Tendenz ausbeuten konnte. Die
Kirchenväter des ersten Jahrhunderts betrachteten den Handel als die-
jenige Betätigung, die den Menschen vom religiösen Leben ablenkt
und das profane irdische Leben fördert. Aus diesen Gründen gaben
sie die Parole aus: Nullus Christianus debet esse mercator (kein Christ
soll Handelsmann sein). Selbst Thomas d'Aquino, der im dreizehnten
Jahrhundert lehrte, also zu einer Zeit, in der der Handel blühte, hielt
noch an dieser christlichen Anschauung fest. Da aber die Welt ohne
Handel nicht existieren kann, gestattete die Kirche den Juden, diese
den Christen verbotene Funktion auszuüben, und gewährte ihnen sogar
diesbezügliche Privilegien. Die Kirche mag noch in ihrem Verhältnis
zum jüdischen Handel von einem anderen psychologischen Motiv ge-
leitet worden sein: die Träger des Christentums wußten so gut wie
wir heute und so gut wie die jüdischen Rabbinen schon vor zwei-
tausend Jahren, daß der Handel schlechthin das Prinzip, speziell das
ethische und religiöse Prinzip untergräbt. Hat doch die Kirche aus
dieser Einsicht heraus den Christen die Beschäftigung mit dem Handel
untersagt. Da die Kirche von Anfang an bestrebt war, die jüdische
Hartnäckigkeit zu überwinden, führte sie sie durch Privilegierung dem-
jenigen Beruf zu, der den ethischen Menschen resp. das Prinzip ver-
nichtet . . . Ein jüdischer Bauer oder Arbeiter läßt in Glaubenssachen
nicht mit sich handeln, ein jüdischer Handelsmann eher . . . Wenn
man noch heute die jüdischen Taufstatistiken auf diesen Punkt
hin prüft, wird man finden, daß alle Neubekehrten entweder dem
Handels- oder dem Akademikerstand angehören: von der Taufe eines
jüdischen Arbeiters hört man selten, sehr selten, und von der
Taufe eines jüdischen Bauern hat man noch niemals gehört. Diese
Tatsache ist bis jetzt von allen jüdischen Wirtschaftshistorikern seit
Herzfeld übersehen worden.
Aus all dem geht zumindest so viel hervor, daß der Handel unter
den Juden dann eingesetzt und sich zum großen Faktor in ihrem Leben
entwickelt hat, als das Judentum im eigentlichen Sinne aufgehört hatte,
und als das Gesetz durch den Untergang des jüdischen Staates sich
zu einem Ritual- und Zeremonialgesetz „entwickelt" hatte, das zwar
noch genug die Bewegung des jüdischen Individuums kontrollierte und
hemmte, das aber nicht mehr die Gewalt über den jüdischen Menschen
127
hatte wie zu der Zeit, als es im Staate seinen Vollzieher und Exekutor
hatte.
Und so muß auf die Frage, welchen Einfluß die jüdische Gesetzes-
religion auf die Gestaltung des zivilisatorischen Lebens genommen
hat, da das Gesetz doch ursprünglich mehr eine Zivilisationstheorie
war, geantwortet werden, daß es einen negativen, hemmenden Einfluß
hatte; denn es hatte sich zum „Kulturgesetz" entwickelt, das jeder
Wirklichkeit entbehrt. Durch die Richtung, die das jüdische Gesetz
genommen hat (von Zivilisation zu Kultur, von der Tat zum Buch,
von der Praxis zu der Theorie), mußte es zur zivilisationshemmenden
Macht werden.
Aus diesem Grunde ist es höchst lächerlich, die jüdische Religion
resp. das jüdische Gesetz für den heutigen jüdischen Kapitalismus
sowie für die heutige ganze kapitalistische Wirtschaftsordnung, die
Europa langsam aber sicher dem Schicksal Roms zuführt, verantwort-
lich zu machen. Wer dies tut, kann mit ebensoviel Berechtigung die
Entwicklung Deutschlands von einem Agrarstaat zu einem Industrie-
staat Immanuel Kant in die Schuhe schieben.
In welchem Maße das jüdische Gesetz durch seine allerdings not-
wendige Entwicklung zum Kulturgesetz auf die Gestaltung des zivili-
satorischen Lebens hemmend gewirkt hat, kann man an dem alten
jüdischen Staate ersehen.
Die alte Frage, ob der Staat aus dem Gesetz oder das Gesetz aus
dem Staat hervorgegangen sei, hat die heutige Wissenschaft dahin
beantwortet, daß das Gesetz ein Werk des Staates ist, und nicht um-
gekehrt. Dieser Satz mag von allen Staaten gelten, nur nicht vom
jüdischen; denn der jüdische Staat ist ein Werk des Gesetzes. Der
jüdische Staat ist nicht wie jeder andere Staat aus natürlichen soziolo-
gischen Bedingungen hervorgewachsen, sondern von dem theoretischen
Gesetz ins Dasein gerufen worden. Schon in der Bibel heißt es, nach
dem Bericht der Offenbarung: Heute bist Du zu einem Volke geworden,
d. h. durch die Annahme des Gesetzes. Philo von Alexandrien, der
doch gewiß auf der Höhe der Bildung seiner Zeit stand und zugleich
guter Jude war, berichtet in seinem Buch „Über den Dekalog" von
alten Traditionen, die auf die Entstehung des jüdischen Staates Bezug
hatten; da heißt es unter anderem: „Einige geben noch einen vierten
Grund an, der gar nicht ungereimt klingt, sondern der Wahrheit recht
nahe kommt. Da die Gemüter die Überzeugung gewinnen sollten,
daß die Gesetze nicht etwa Erfindungen eines Menschen, sondern
ganz klare Offenbarungen Gottes sind, führte er (Moses) das Volk
128
weit weg von den Städten in eine tiefe Wüste, die nicht nur der edleren
Früchte, sondern selbst eines trinkbaren Wassers entbehrte." An einer
Stelle in der Mechilta zu Moses 2, 19 wird angedeutet, daß die Gesetz-
gebung in der Wüste stattfand, um ihren unlokalen und universalen
Charakter zu demonstrieren. Philo selbst sagt über die Entstehung des
jüdischen Staates aus dem Gesetz folgendes: Der dritte Grund aber ist
dieser: Wie solche, die eine lange Fahrt zu machen haben, nicht erst,
wenn sie bereits das Schiff bestiegen und sich aus dem Hafen entfernt
haben, anfangen, Segel und Steuerruder und Steuergriff herzustellen,
sondern, während sie noch am Land sind, alles wohl vorbereiten, was
zur Fahrt gehört, ebenso wollte er, daß sie nicht erst ihren Landanteil
empfingen und die Städte besiedelten und dann nach Gesetzen ver-
langen, nach denen sie verfassungsgemäß leben könnten; sondern zu-
vor sollten sie 'die Grundlinien einer Verfassung erhalten, um dann
erst völlig vertraut mit den Grundsätzen, durch die ein Volk regiert
wird, feste Wohnsitze zu nehmen, deren sie dann sich gleich der Stützen
•der Gerechtigkeit :zu bedienen hätten in Eintracht und inniger Gemein-
schaft und bei gerechter Verteilung dessen, was einem jeden zukommt/'
Daraus ersehen wir, daß die ältesten jüdischen Traditionen den Satz
von der Entstehung des Staates aus dem Gesetze bestätigen. Selbst
wenn man die Bibel nicht gerade als historisches Dokument betrachtet,
son'dern als eine Sammlung von in der Schrift festgehaltenen Traditio-
nen, so kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, daß ihr Bericht
von den Grundlagen und von der Entstehung des jüdischen Staates,
zum großen Teil zumindest, den Tatsachen entspricht. So geschaW es
zum ersten Male in der Geschichte, daß das theoretische Gesetz allein,
ein ideologischer Faktor, einen soziologischen Prozeß herbeigeführt
und vollendet hat, der sonst nur durch Stahl und Menschenblut zu-
stande kommt, und es wird sich gleich zeigen, daß, wie er seine Ent-
stehung einem unwirklichen Gesetze verdankt, so seinen Untergang
dem Zusammentreffen mit der Wirklichkeit.
Der hebräische Terminus für Staat ist Medinah von Din (Gesetz)
und Dajan (Richter). Dieser Terminus allein besagt genug. Der deut-
sche Terminus Staat, der englische state, der französische etat, der
italienische stato und der russische Gosudarstwo (von gosudar Herr),
sowie der griechische Terminus polis oder politea und der römische
dominium odei imperium weisen auf eine andere Entstehungsart des
Staates hin und besagen, daß entweder die Stabilisierung von ge-
wissen Lebensbedingungen oder die Herrschaft des Despoten die po-
litische Gemeinschaft ins Leben gerufen hat. In den ersten Zeiten
<9 Melamed
129
konnten die Juden zwischen Staat und Volk nicht unterscheiden. Der
Begriff Volk diente mehr für den Begriff des Staates. Da das Volk,
wie die Bibel selbst bekundet, durch das Gesetz geeint und zusammen-
geschlossen war und das Volk der Träger des Gesetzes gewesen ist,
versteht es sich von selbst, daß das Volk eo ipso der Staat war. Der
Terminus Medinah entstammt einer späteren Periode. Wenn Jeremia
droht: „Ich werde mein Volk verlassen", so meint er auch zugleich
den jüdischen Staat. Daraus ist auch zu ersehen, daß der jüdische
Staat nicht aus realen Bedingungen entstanden ist. Der Tradition zu-
folge hatten schon die Juden Gesetze für den König, noch bevor sie
einen König hatten, und eine Staatsverfassung, ehe sie einen Staat
hatten.
Christliche Gelehrte pflegen den jüdischen Staat als Theokratie
zu bezeichnen, und Ranke sah sogar im Kampf zwischen Samuel und
Saul das Urbild des Karripfes zwischen Kaiser und Papst. Die Tat-
sachen aber, daß im jüdischen Staat der Priester dem Gesetz unter-
worfen war, daß er keinen Grundbesitz sein eigen nennen durfte, daß
Saul weder abgesetzt noch exkommuniziert, sondern im Felde gefallen
ist, beweisen, wie grundlos der jüdische Staat als Theokratie be-
zeichnet wird.
Moses, der weltliche Herr, kommt überall vor Aaron, und nicht
ein Priester, sondern der Vorsteher der weltlichen Gewalt führt die
Juden ins heilige Land. Wo die Priester ökonomisch so machtlos sind
wie im alten jüdischen Staat, kann von einer Theokratie nicht wohl
die Rede sein ; denn ohne ökonomische ist politische Macht unmöglich.
Der alte jüdische Staat war nicht einmal dann eine Monarchie im
vollendeten Sinne des Wortes, als ein König sein Haupt war; denn
das Grundprinzip der alten Monarchie, der Wille des Königs ist Ge-
setz, oder der König steht über dem Gesetz, war den alten Juden ab-
solut unbekannt. Weder war des Königs Wille Gesetz, noch stand
er über demselben, sondern er war ihm unterworfen wie jeder Bürger.
Hatte der König das Gesetz übertreten, dann hatte er sich auf eine
Auseinandersetzung mit dem Propheten gefaßt zu machen. Es er-
übrigt sich auch noch hervorzuheben, daß der jüdische Staat weder
Oligarchie, noch Tyrannis, noch aristokratische Despotie war. Die
äußere Form des Staates wechselte im Laufe der Zeiten. Aus einer
Föderation von Stämmen wurde eine zentralistische Republik, und
aus dieser eine Monarchie. Aber die erste und eigentliche Triebkraft
des Staates war und blieb immer dieselbe: das Gesetz. Aus diesem
Grunde hatte der jüdische Staat an dem jüdischen Volke eine Grenze,
130
wie die jüdische Religion. Volk, Staat und Religion waren organisch
vereint und durch tausend Bande aneinander gefesselt.
Daher konnte der Staat seinem natürlichen Trieb der Expansion
nicht folgen ; er konnte nie ein Eroberungsstaat werden. Der politische
Feind des jüdischen Volkes, sofern die Feindschaft in der Natur der
Dinge begründet war, konnte in keinem Falle einen Teil der jüdischen
staatlichen Gemeinschaft bilden. Im Kriege mußte er besiegt und
vollständig vernichtet werden, oder siegen und vernichten. Die Gegner-
schaft zwischen den Juden und den sie umgebenden Völkern war wegen
der jüdischen Religion immer unüberbrückbar, daher konnten auch
die Juden nicht „kolonisieren" oder in einen anderen Staat friedlich'
eindringen. Wo die Gegnerschaft sehr akut geworden war, wie z. B.
im Falle Amalek, da gab es nur einen Ausweg: die vollständige Aus-
rottung des Feindes. Vom Standpunkte der jüdischen Staatsraison muß
die Grausamkeit des alten Propheten Samuel gerechtfertigt erscheinen.
Amalek leben lassen, konnte für den jüdischen Staat später Gefahren
heraufbeschwören, und ihn jn die jüdische Gemeinschaft aufnehmen,
war auch nicht möglich; daher erging der rigorose Befehl: Ihr sollt
keine Seele leben lassen.
Aus dem jüdischen Einbürgerungsrecht ist zu ersehen, wie eng
die Grenzen des jüdischen Staates gezogen waren. DieAmmoniter und
Moabiter waren schlechterdings von der Erlangung des jüdischen
Bürgerrechts ausgeschlossen und konnten es nicht einmal im zehnten
Geschlecht erlangen. Edomiter und Ägypter, da sie nicht für unrein
gehalten waren, konnten das Bürgerrecht zwar erlangen, aber erst
im dritten Geschlecht. Das Verbot der Erteilung des Bürgerrechts an
Ammoniter und Moabiter wird mit der Erinnerung an die Vergangen-
heit, mit der Vernunft begründet. Das gleiche gilt von der Erlaubnis,
ägyptischen Nachkommen das Bürgerrecht zu verleihen; das Gebot:
Ihr sollt den Fremden lieben! wird auch damit begründet: Denn ihr
wart selbst Fremde im Lande Ägypten. Dieses sind Beispiele dafür,
wie die pragmatischen Gesetze des Staates sich immer an dem In-
tellekt, an der Erinnerung orientieren und nicht an den gegebenen
Verhältnissen des Lebens. Wenn es andererseits in der Bibel heißt:
Ein Gesetz und ein Recht für den Fremden und für den Bürger, so
ist auch hier das Gesetz nicht an den Tatsachen des Lebens, sondern
an dem ethischen Prinzip orientiert. In der griechischen Polis gab es
nicht für Einheimische und Fremde ein Gesetz, und Rom ist erst zur
Zeit des Claudius durch politische Umstände gezwungen worden,
das römische Bürgerrecht an fremde Völkerschaften zu verleihen. Es
9*
131
zeugt zwar von einem großen ethischen Bewußtsein, aber von ge-
ringem Sinn für die Wirklichkeit, wenn ein kleines politisches Gemein-
wesen, das von so vielen, ihm feindlich gegenüberstehenden Staaten
umgeben ist, dem Fremden das gleiche Recht gewährt. Schon die
Begründung des fremden Rechtes in der Bibel bekundet die Absicht
des Gesetzgebers, dieses Fremdenrecht nicht auf die Erfahrung, son-
dern auf religiösen Grund zu stellen.
Dem Satze: Einerlei Recht soll euch sein, der Fremde soll wie
der Eingeborene sein, folgt die Begründung: Ich bin der Ewige, euer
Gott. Wie die rechtliche Gleichstellung des Fremden mit dem Ein-
heimischen auf religiösen und ethischen Grund gestellt war, so die
Gleichstellung aller Juden selbst vor dem Gesetz. Mag der agrarische
Unterbau des jüdischen Staates fördernd auf den Demokratismus ein-
gewirkt haben, die absolute Demokratie, wie sie sich in diesem Staate
in geradezu erschreckender Weise offenbarte, war ethisch, gesetzlich
motiviert, was zur Folge hatte, daß der Bürger des jüdischen Staates
keine Gelegenheit hatte, seinen Geist politisch zu schulen und sich
politisch durchzukämpfen. Es soll keinesfalls behauptet werden, daß
die Demokratie dem Bürger keine politische Schule sein könne, heute
ist gewiß die Demokratie die höchste politische Schule. Aber die alte
jüdische Demokratie war nicht, wie die heutige, eine im Leben er-
kämpfte politische Ordnung, sondern eine Art prädestinierte Harmo-
nie, ein ivon einer äußeren Macht geschaffenes System der Koordination.
Sie war nicht der Schlußpunkt der Entwicklung, sondern der Aus-
gangspunkt. Wenn die Politik im allgemeinen mit dem Meer verglichen
wird, so darf die Politik der alten Juden mit dem Toten Meer ver-
glichen werden, weil sie nicht von den natürlichen Kräften und Quellen
des Lebens, sondern von außerhalb des Lebens stehenden Mächten
getrieben wurde. Sie war, um es kurz zu sagen, eine verwirklichte
Utopie. Jede Politik ist sich selbst Zweck; die jüdische Politik war
es nicht, sie war Mittel zum Zweck, Mittel zur Verwirklichung eines
ethischen Ideals. Der Staat hatte a priori einen Zweck: die Verwirk-
lichung der Gerechtigkeit. Der Staat sollte die verkörperte Tugend
sein. Gemäß dieser Anschauung vom Zwecke des Staates mußten
seine ökonomischen Grundlagen und seine Verwaltung mit den Grund-
gesetzen über Wahrheit und Gerechtigkeit übereinstimmen. Also war
in diesem Staate von vornherein die Akkumulierung von politischer
Macht in einer Hand so gut wie ausgeschlossen. Dafür sorgte schon
die Gleichheit vor Gott und vor dem Gesetze, die mit dem Monotheis-
mus gegeben war. So war dieser Staat im letzten Grunde eine Ge-
132
setzesgemeinschaft oder, wenn man will, ein von außen regierter
politischer Mechanismus. Auf der höchsten Stufe der Entwicklung ver-
schwägerte sich diese Nomokratie mit dem schwungvollen prophe-
tischen Idealismus, der das Sein mit dem Sollen total verwechselte.
Wahr ist nicht mehr, was jetzt ist und was wirklich ist, sondern was
sein soll. Der prophetische Politiker potenziert den Gerechtigkeitsstaat
zum Vorbilde einer ethischen Universalgemeinschaft. Er erblickt das
allgemeine Menschenheil in der Verwirklichung der Sittlichkeit im
jüdischen Staate. Dieser Staat soll ein Exempel sein, von ihm sollte
ein Licht über die Welt ausgehen. „Alle Völker werden zu ihm strö-
men", weissagte Jesaja. So wurde der jüdische Staat ein Medium
zwischen dem einzelnen Volke und der Menschheit. Der Niedergang
der Sittlichkeit und der Gerechtigkeit im jüdischen Staate bildete dem-
nach nicht nur eine unmittelbare Gefahr für die Existenz des jüdischen
Staates, sondern die Sittlichkeit und die sittliche Zukunft der Mensch-
heit wäre dadurch in Frag'e gestellt. Der universalistisch interessierte
Prophet hatte es trotz seiner tiefen nationalen Gesinnung doch auf
die Menschheit abgesehen. Der jüdische Staat war ihm nur der sichere
ethische Punkt, von dem er den Weg zur Allgemeinheit fand; nicht
aber der einzige Zweck und das alleinige Ziel. Seine Politik konzen-
trierte sich auf die Bemühung, die Gerechtigkeit zu verwirklichen.
„Übet Recht un|d Gerechtigkeit, errettet den Unterdrückten aus der
Hand des Gewalttätigen, betrübet nicht Fremdlinge, Waisen und Wit-
wen, verübt nicht Druck und Unfecht an ihnen und vergießet kein
unschuldig Blut an diesem Orte" donnert Jeremia (23, 3). „Säet Ge-
rechtigkeit und erntet Barmherzigkeit, brecht euch um ein neues Feld;
denn Zeit ist es, den Herrn ziu suchen, bis er kommt, euch! Gerechtig-
keit zu lehren" (Hosea 10, 2). Und noch stärker läßt sich Jesaia aus:
„Weh euch, die ihr Haus an Haus reiht und Acker mit Acker ver-
verbimdet, bis kein Platz mehr übrig ist" (5, 8). Der Prophet kennt
nur ein Grundprinzip des Staates und einen Staatszweck : die Gerech-
tigkeit, wie sie aus dem Gesietz und aus der Idee des Guten gefolgert
werden muß. Ohne die Gerechtigkeit als Prinzip und Inhalt des Staates
hat er für den Propheten keinen Sinn. Speziell Jeremia hat diesen
Gedanken unzählige Male verkündet. „Wer gäbe mir in der Wüste
ein Nachtquartier", ruft er aus. Der 3taat ohne das Prinzip der Ge-
rechtigkeit ist eben nur der klägliche Naturzustand oder noch schlimmer
als der Naturzustand. Der Prophet ist doch aber die größte politische
Figur in der jüdischen- Geschichte. In der Tat ist diesem gewaltigen
Sozialreformer das Wesen der eigentlichen Politik, der Politik der Tat-
133.
Sachen, nie aufgegangen. Was er unter Politik verstand, war ledig-
lich die ethische Gemeinschaft, die Verwirklichung sozialethischer und
religiöser Ideale. Aber das Leben ist stärker als das Prinzip . . .
Der jüdische Staat hatte, wie gesagt, an dem jüdischen Volke eine
Grenze, obschon er dem reinen Fremden gleiche Rechte gewährte.
In dieser Beziehung hat er viele Ähnlichkeit mit der griechischen Polis.
In der griechischen Polis wie im alten Judäa waren Staat und Ge-
sellschaft eins, wenn auch die Polis den Fremden als Barbaros ansah;
in der Polis wie im alten Judäa überwogen die abstrakten Interessen.
Allein die Polis hat zumindest eine ökonomische Organisation her-
vorgebracht, die ihr die Möglichkeit gab, Tausende von Sklaven in
ihrer Mitte zu halten. In mancher Polis übertraf die Zahl der Sklaven
die der Bürger. Aber trotz des Vorteils dieser ökonomischen Orga-
nisation mußte auch die Polis vor dem Winde des Lebens ver-
wehen.
Ein Volk, das keinen Willen oder Fähigkeit zu Eroberung und zur
Expansion hat, ein Volk, das sich in sein Land und in sein Gesetz
einschließt und sich dadurch von der Welt abschließt, muß politisch
zugrunde gehen. Das kann man aus dem Schicksal der Islam-Länder
ersehen. Logik und Politik sind zweierlei. In der Logik schließt eine
Determination die zweite aus. Da gibt es keine Kompromisse. Omnis
determinatio est negatio. So ist das Gesetz. Aber in der praktischen
Politik kommt man ohne Kompromisse nicht vorwärts, ja die Politik
involviert notwendigerweise Kompromisse. Sie sind mit der Politik
gesetzt. Wenn aber der Staat nur ein verwirklichter Begriff ist und
nur auf dem Grunde des Prinzips ruht, muß er sich notwendigerweise
negativ zum andern Staat verhalten. Der „reine Kulturstaat" kann
unmöglich den .Mächten -des realen Lebens Widerstand bieten, und
daher kann seine Existenz nicht von langer Dauer sein. Im letzten
Grunde ist dieser Staat ein Feind des Lebens, weil er das Leben be-
grenzt und einengt. Er hemmt die Bewegungen des Lebens durch das
Gesetz von außen mit Gesetzen, die keine Rubrizierung der Lebens-
erfahrung sind, sondern Gesetze des Buches und des Kopfes. Da das
Gesetz des Lebens nicht außerhalb des Lebens, sondern im Leben
selbst liegt, erweist sich das Leben stärker als das Gesetz, und selbst
als das Gesetz Gottes. Das Leben strebt nach Bewegung und Aus-
spannung der Kräfte. Der jüdische Staat hat den Bürger mittels des
Gesetzes in seinen engen Kreis gepreßt und ihm jede Bewegungsfreiheit
geraubt. Der jüdische Staat mit all seinen ethischen Vorzügen war
ein Feind des Lebens, weil er, statt ein lebendiger Organismus, ein
134
künstlicher Mechanismus war, der nach einem deduktiven Prinzip
konstruiert wurde.
Das Wunderliche und Eigenartige am jüdischen Staat geht uns
erst recht auf, wenn wir ihm Rom und den platonischen Staat — das
philosophisch potenzierte Sparta — gegenüberstellen. Rom schuf das
Gesetz, und das jüdische Gesetz schuf den jüdischen Staat. In Rom
waren der Feldherr und der am Leben orientierte Politiker die trei-
benden Kräfte, und in Judäa das unwandelbare Gesetz. In Rom war
das Gesetz das Produkt eines Willensaktes und die großen Römer
Herren und nicht Sklaven des Gesetzes. In Rom herrschte die Er-
kenntnis vor, daß der Umkreis des Rechts durch den der Macht be-
stimmt ist, und in Judäa war die Macht durch das Recht begrenzt.
Die Römer waren Diplomaten, die Juden ethische Rigoristen. Das
politische Ideal Roms hat in der gewaltigen Cäsargestalt seinen Nieder-
schlag gefunden, und das politische Ideal Judäas in der des Messias.
In Rom war die Religion der Politik Untertan, und in Judäa bestimmte
die Religion die Politik. Das jüdische Recht ist ein Analogon zur
Ethik, während das römische Recht im wirklichen Leben sein Analogon
hat. So stehen sich Rom und Judäa als zwei absolute, sich gegenseitig
immer ausschließende Gegensätze gegenüber.
Aber selbst der platonische Staat, der gleich dem jüdischen ethisch
motiviert ist, nimmt sich auch im Verhältnis zum alten Judäa sehr
merkwürdig aus. Im platonischen Staat regiert der Herrscher-Philo-
soph ohne Verfassung oder sonst eine gesetzliche Schranke. Er re-
giert als Philosoph. Die Vernunft regiert. In diesem Staat sind die
Stände absolut getrennt. Lehrstand, Wehrstand und Nährstand. Den
Kriegern und Beamten ist jede Beschäftigung mit Landwirtschaft oder
einem anderen Gewerbe untersagt. Der dritte Stand, Landbauer und
Gewerbetreibende, ist aller politischen Rechte beraubt. Jeder Bürger
des Staates ist nur ein Teil des Staates. Die staatliche Omnipotenz
verschlingt das Individuum. Für die höheren Stände sind Ehe, Familie
und Privateigentum aufgehoben. Alle ehelichen Verhältnisse, die ganze
Erziehung wird Vom Staat geordnet. Alle Aktivbürger werden auf
Staatskosten gespeist und erzogen. Der Staat ist der Vater des Bür-
gers. Jede subjektive Äußerung selbst künstlicher Natur wird vom
Staat unterdrückt, jede individuelle Regung mit despotischer Gewalt
niedergehalten.
Was Piatos Staat bezweckt, nämlich die Bürger von der Beschäf-
tigung mit der Sinnen weit (Natur) fernzuhalten, deckt sich im letzten
Grunde mit den Intentionen des jüdischen Gesetzes: Nieder mit der
135
alogischen brutalen Natur. Aber während der arische Idealist vom
Leben ausgeht, Ton unten, vom Staate anfängt, geht der jüdische
Politiker vom Gesetz aus — er fängt von oben an. Hier soll der
Staat, dort das Gesetz die biologische Natur überwinden. Allein trotz
der gleichen Absicht: wie verschieden sind doch die beiden Staats-
gebilde! Im platonischen Staat umklammert der politische Organis-
mus das Individuum, im jüdischen Staat umklammert es das Gesetz.
Außerhalb des Gesetzes ist das Individuum frei, seine Bewegungen
unbegrenzt und die einzelne Persönlichkeit sich selbst Zweck. Alle
Bürger sind gleichberechtigt, die Masse nicht in Ständen, sondern zu
Stämmen und zu Orts- und Provinzialgemeinden organisiert. Die Ar-
beit ist geschätzt und die Berufswahl frei. Ein Beamtenstand existiert
überhaupt nicht. Der Regent ist an das Gesetz gebunden. Ehe und
Erziehung sind private Angelegenheiten, und die Ehe darf nach freier
Wahl geschlossen und wieder gelöst werden. Der Fremdenverkehr
wird nicht, wie im platonischen Staat, unterbunden, sondern durch
das geradezu überhumane Fremdengesetz gefördert. Dieser Staat, frei-
lich ohne das Gesetz, müßte, wenn er heute wieder verwirklicht
würde, das 'Entzücken aller Freisinnigen sein. Und doch ist dieser
Staat nur eine Utopie. Ein Staat, in dem der menschliche Machtwille
nicht zum Ausdruck kommt, sondern vom Gesetz geregelt wird, wenn
auch von dem ethischen Ges.etz3 ist gar kein Staat im europäischen
Sinne, sondern 'im besten Falle ein schöner, gläserner, politischer
Mechanismus, der alle Augenblicke in seine Teile sich auflösen kann,
ohne daß von ihm nur eine Spur übrigbleiben wird. Der Staat im
europäischen Sinne ist mindestens soviel Wille als Intellekt, und selbst
die eingefleischten Rationalisten würden den Staat nicht nur als Ver-
nunftschöpfung ansprechen. Je mehr der Staat Wille ist, desto näher
steht er den 'Mächten des wirklichen Lebens, wenn es auch wahr ist,
daß er in diesem Falle weniger ethisches Institut ist. Der platonische
Staat, obwohl auch vernünftig und sittlich motiviert, hat doch den
Willen zum Ausgangspunkt, der Wille bleibt in ihm vorherrschend.
Da gibt es Staatszwang, Staatsbefehle, absoluten Staatswillen, „Unter-
drücker" und „Unterdrückte", Herrscher und Beherrschte, abgegrenzte
Machtsphären usw. Obwohl dieser platonische Staat auch nur eine
Utopie ist, steht er dem Leben sehr nah; denn er ist eine politische
Gemeinschaft. Der Staat als solcher ist dem Gesetz gegenüber
souverän, der jüdische Staat aber ist dem Gesetz gegenüber nicht
souverän, sondern er hat an dem Gesetz eine Grenze. Das „Schlimmste"
aber an ihm ist, daß in ihm keinerlei Machtwille vorwaltet. Da alle
136
seine Bürger einander gleich und voneinander frei sind und ihre Be-
wegungen in der Gemeinschaft nur durch das Gesetz geregelt werden
und die Äußerung jedes Machtwillens vom Gesetz als unethisch oder
ungesetzlich zurückgewiesen und abgewehrt wird, hat diese Gemein-
schaft als Staat gar keine Berührungspunkte mit dem Leben und
seinen Impulsen. Wie wenig dieser altjüdische Staat sich selbst omni-
potent dachte, und wie wenig er Machtinstitut war, sein sollte (und
sein konnte), weil er nicht von den Kräften, des Willens getragen
war, ist aus seinen Konskriptionsvorschriften zu Kriegszeiten zu ersehen.
,,Aber die Amtleute sollen mit dem Volke reden und sagen: Wel-
cher ein neu Haus gebauet -hat und hat's noch nicht eingeweihet, der
gehe hin und bleibe in seinem Hause, auf daß er nicht sterbe im Kriege
und ein anderer weihe es ein."
„Welcher einen Weinberg gepflanzt hat, seiner Früchte noch
nicht genossen, der gehe hin und bleibe daheim, daß er nicht im
Kriege sterbe und ein anderer genieße seine Früchte."
„Welcher ein Weib sich verlobet hat, und hat sie noch nicht heim-
geholet, der 'gehe hin und bleibe daheim, daß er nicht im Kriege
sterbe und ein anderer hole sie heim."
„Und die Amtleute sollen weiter mit dem Volke reden und
sprechen: Welcher sich fürchtet und ein verzagtes Herz hat, der gehe
hin und bleibe daheim, auf daß er nicht seiner Brüder Herz feige
mache, wie sein Herz ist."
Man darf in allen Gesetzbüchern aller Völker der Erdenrunde
stöbern, und man wird vergeblich eine solche ethische Selbstlosigkeit
des Staates, die den Staat zu einer ethischen Gesellschaft reduziert (de-
gradiert), wiederfinden.
Der Staat als Gesetzesgesellschaft, als ethische Gemeinschaft und
bei den Propheten als ethische Mustergemeinschaft, ist vielleicht ästhe-
tisch ein angenehmer Anblick, wie die Friedensidylle Jesaias ästhetisch
entzückend ist; aber zivilisatorisch wirkt ein solcher Staat hemmend
und ist vom Gesichtspunkt der arisch-europäischen Staatsauffassung
überhaupt kein Staat, weil er dem wirklichen Leben entrückt ist.
Als der jüdische Staat schon längst verschwunden und in Palästina
weder jüdische Könige noch jüdische Hohepriester mehr zu sehen
waren, hörten die Juden noch lange nicht auf, über ihren Staat zu
meditieren und ihre Staatsideale zu pflegen. Der Talmud, bekanntlich
nicht in Palästina, sondern in Babylon entstanden, setzt noch die alten
„politischen" Traditionen der Juden fort. In talmudischer Schrift-
sprache wird zwischen Malka (König) und Malkuta (Regiererei, Re-
137
gierung) unterschieden. Auch der Talmud erkennt dem König keinerlei
legislative Befugnisse zu. Malka gilt ihm gar nichts, dagegen Malkuta
alles; denn er lehrt Dina: demalkuta dina, das Gesetz der Regierung ist
Gesetz, nicht aber der Wille des Königs. Die Herrschaft des Gesetzes
ist eine absolute: „Die irdische Regierung", so heißt es im Talmud,
„gleicht der himmlischen Regierung", d. h. das Gesetz ist nicht Satzung,
Konvention, Thesis, sondern Nomos.
Bis auf den heutigen Tag hat sich diese Anschauung vom Staat
im Judentum erhalten. Er ist ihnen ein Mechanismus, der zu jeder Zeit
und an jedem Ort konstruiert werden kann. Die Bestrebungen der so-
genannten Territorialisten, die ein Land für die Ostjuden suchen, das
ihnen von vornherein Autonomie gewährt, sind sehr charakteristisch.
Viele Zionisten begründen die Notwendigkeit eines Judenstaates in
Palästina mit der Tatsache, daß die jüdische Kultur und der jüdische
Geist in der Diaspora sich nicht entwickeln können. Selbst ein Mann
wie Herzl glaubte anfänglich einen Judenstaat durch einen Charter des
Sultans im Handumdrehen schaffen zu können.
So vernichtend hat das jüdische Gesetz auf die jüdische Zivilisation
gewirkt. Es hat sie niemals aufkommen lassen.
138
Siebentes Kapitel.
Das historische Weltbild.
Das Diasporajudentum ist geschichtslos. — Die Bibel als Geschichtsbuch.
— Die Bibel und der Künstler. — Griechische Geschichtsschreibung. — Der
jüdische Gott und die Geschichte. — Historiographische Schwierigkeiten. —
Geschichte und Natur. — Griechische Kosmologie. — Gesetze und Freiheit. —
Determination und Freiheit. — Die Tat als Erlöserin. — Biblischer Pessimismus.
— Der Freie Gott der Bibel. — Der griechische No.mos. — Die Erlösung. —
Optimistischer Evolutionismus. — Kosmologie und Geschichte. — Die mensch-
liche Auffassung des Lebens. — Jüdische Einseitigkeit. — Natur der prophetische
Idealismus. — Eine mögliche Synthese. —
Das Diaspora-Judentum ist geschichtslos und der Diasporajude ent-
behrt jedes historischen Bewußtseins. Speziell dem Ghettojuden
fehlt jeder historische Sinn. So behaupten jedenfalls Kritiker des
Diaspora-Judentums. Man kann heute noch oft zwei ältere Ghetto-
juden über die historische Doktorfrage streiten sehen, ob Alexander
das große Persien tatsächlich aus eigener militärischer Kraft erobert
oder durch Korrumpierung der persischen Generäle in den Besitz des
Landes gekommen ist. Selbst die gelehrten Ghettojuden wissen nichts
von Geschichte. Die Geschichte des jüdischen Volkes schließt mit der
Zerstörung des zweiten Tempels ab und was dazwischen liegt, ist
ein leerer Raum oder eine ereignislose Zeit. Und doch ist das Grund-
buch der Juden die Bibel, eines der größten, wenn nicht das größte
historische Werk, das bisher geschaffen wurde. Wenn von der Bibel
als historischem Werk gesprochen wird, so darf darunter nicht ver-
standen werden, daß die Bibel ein Buch von historischen Dokumenten
sei, sondern ein großes geschichtsphilosophisches Buch, weil der oder
die Verfasser der historischen Erzählungen und weil der oder die
Chronisten die historischen Ereignisse, die in der Bibel beschrieben
werden, ihres Chronistenamtes so treuherzig walten, daß man oft den
139
Eindruck hat, daß sie über den Ereignissen standen. Sie beschreiben
die Ereignisse mit einer wunderbaren Objektivität, die in der ganzen
Geschichtsschreibung nicht ihresgleichen hat. Zudem projizieren sie,
um sich nicht gegen die historische Objektivität zu versündigen, das
rein menschliche Element in ihr Werk hinein, so daß alles verlebendigt
und vermenschlicht vor uns dasteht. Dadurch erhebt sich der biblische
Historiograph zum Geschichtsschreiber des ganzen Menschengeschlechts.
Nur kleinköpfige Menschen können das historische Material, das in
der Bibel zusammengetragen ist, als das historische Material eines
Volkes betrachten, als eine Art Lokalgeschichte. Viele andere Klein-
völker haben Tüchtiges auf dem Gebiete der Geschichtsschreibung
geleistet, aber keines ihrer Werke ist zur treibenden Kraft in der Kultur-
geschichte der Menschheit geworden, wie die Bibel. Das Geschichts-
material der Bibel zeichnet sich gerade dadurch aus, daß es seiner
Natur nach nicht lokal ist, obgleich das formale Geschichtsobjekt die
Juden sind. Die biblische Geschichte oder, genauer gesprochen,
das Geschichtsmaterial der Bibel ist die Geschichte
der Vergangenheit und der Zukunft des ganzen Men-
schengeschlechts, die Geschichte der ewigen Wieder-
kehr in der Welt des Menschen. Darin besteht ihre Größe.
Wenn wir nun bedenken, daß die antiken Juden sich gerade durch
einen extremen Subjektivismus auszeichneten, daß sie das hartnäckige
Volk waren, als das die Bibel sie beschreibt, so hartnäckig, daß Bie
sich weder dem allgemeinen Willen, noch dem Willen des großen,
fürchterlichen, starken Gottes und seinen ehernen Gesetzen unter-
werfen wollten, wird unsere Bewunderung über die große Objektivität,
die uns in der Bibel entgegentritt, um so größer sein. Es ist fast rätsel-
haft, wie ein so subjektives Volk, wie die alten Juden, zu einer solchen
historischen Objektivität, wie wir sie aus der Bibel erkennen, sich
emporheben konnte. Es war diese Objektivität in der biblischen Ge-
schichtsschreibung — das allgemein Menschlich-Allzumenschliche, das
uns in der biblischen Geschichte entgegentritt — das die Bibel zum
Buch der Bücher und zum Buch der Menschheit machte. Diese histo-
rische Objektivität der Bibel wirkte auf alle Großen im Reiche des
Geistes ein und ganz besonders auf die Großen im Reiche der Kunst.
Wenn ein großer Maler, von den biblischen Erzählungen gepackt, sich
entschlossen hat, ihren Inhalt auf der Leinwand in Farben darzustellen,
tat er es nicht, weil das formale Material der Erzählung ihn so ent-
zückte, sondern weil das frischsprudelnde Leben, das aus den Erzäh-
lungen hervordringt, ihn faszinierte. Die Naivität, das Menschlich-
140
Allzumenschliche und die stille Größe, die aus den biblischen Erzäh-
lungen zu uns sprechen, überwältigen des Künstlers Seele und feuern sie
zu künstlerischen Schöpfungen an. Daher die so intimen Beziehungen
der Künstler zur Bibel. Und wer steht der Wahrhaftigkeit des Lebens
näher als der große Künstler mit seinen entwickelten Sinnen und seiner
bewegten Seele, die auf jede Bewegung und auf jeden Ton in der Natur
reagiert? Wer schöpft mehr aus den ersten Quellen des Lebens als der
.große Künster? Die traditionelle, intime Beziehung aller großen
Künstler zur Bibel ist der beste und schlagendste Beweis dafür, daß die
Bibel sich durch eine größere Betonung des Menschlich-Allzumensch-
lichen auszeichnet als jedes andere Geschichtsbuch in der Welt. Wenn
es in der Welt überhaupt Wahrheit gibt, ist sie nicht zu finden in der
Wissenschaft oder Politik, sondern in der Kunst, und die Kunst in all
ihren Auszweigungen und Verästelungen hat stets in der Bibel einen
jungfräulichen Boden für ihre Wirksamkeit gefunden.
Man kann also demnach nicht behaupten, daß die alten Juden
gleich den Diasporajuden ein geschichtsloses Volk waren, oder eines
entwickelten historischen Bewußtseins entbehrten. Die alten Griechen
wie die alten Inder waren jedes historischen Bewußtseins bar und ihre
Weltanschauungen von Anfang bis Ende ganz unhistorisch. Ihnen fehlte
jedes Menschheitsbewußtsein. Die Begriffe Menschheit, Menschen-
geschlecht usw. waren ihnen total fremd. Ihre Mythologien und ihr
Polytheismus sowie das übertriebene Stammes- oder Volksbewußtsein,
kurzum die ganze Ordnung ihres Lebens hat dazu beigetragen, ihnen
das Menschheitsbewußtsein zu rauben. Da jeder Gott, ob ein allge-
meiner oder besonderer, gleichzeitig das Exempel aller Sittlichkeit ist,
war der Sittlichkeitsbegriff jener Völker beschränkt und eingeengt.
Ohne die Erkenntnis der Einheit des Menschengeschlechts ist keine
Sittlichkeit möglich, und ohne universale Ethik ist keine Universal-
geschichte möglich, und es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß
unter solchen Umständen keine objektive Geschichtsschreibung möglich
ist. Aus diesem Grunde offenbart sich auch in der griechischen Ge-
schichtsschreibung der alte griechische Subjektivismus. Der Gegenstand
jeder objektiven Geschichtsschreibung muß das Menschengeschlecht
sein, und in welchem Maße den Griechen der Menschheitsbegriff fremd
war, kann man aus der Organisation des griechischen Polis und aus
den Anschauungen des Aristoteles über Völkerrecht, Krieg und Frieden
ersehen. Aristoteles betrachtet den Krieg als eine Art Sport oder
Völkerjagd. Der griechische Begriff des Barbaren ist nicht mit dem
Begriff Wilder identisch, sondern er bedeutet schlechthin Nichtgrieche.
141
Die Menschheit wird in zwei Teile eingeteilt; in Griechen und Barbaren,
und die Barbaren stehen außerhalb des Rechts und außerhalb der
Sittlichkeit. Wo immer in der altgriechischen Literatur von Gerech-
tigkeit die Rede ist, ist immer von Gerechtigkeit zwischen Griechen
die Rede. Nur Sokrates und Plato bilden eine Ausnahme. Es versteht
sich deshalb von selbst, daß, da den Griechen das formale Material
fehlte — das Menschheitsbewußtsein und der Menschheitsbegriff — ,
sie auch keine objektive Geschichtsschreibung schaffen konnten.
Das antike Judentum hat weder eine Philosophie noch eine Kunst,
noch eine analytische Wissenschaft hervorgebracht. Hingegen hat
es aber eine wunderbare Historiographie geschaffen, weil dem antiken
Juden der Begriff Menschheit geläufig war. Die Vertreter des antiken
Judentums hatten es immer auf die Menschheit abgesehen, so wie sie
es immer auf die Sittlichkeit schlechthin, ohne jede Begrenzung, ab-
gesehen hatten. Der jüdische Gott, seitdem er sich dem jüdischen
Volke offenbarte, wollte immer als der allgemeine Gott, als der
Schöpfer von Himmel und Erde angesprochen werden, und er reprä-
sentierte sich gleich dem jüdischen Volk als das ewig Seiende. Mit dem
Judenvolk wuchs auch der Judengott und wuchs sich zu einem Mensch-
heitsgotte aus. Der jüdische Gort stand und steht keinem Stamm oder
keiner Rasse gegenüber, sondern dem Menschheitsgeschlecht, und
dieser Gott der Menschheit fordert nicht nur das Gute in Jehuda,
sondern er fordert das Gute schlechthin und überall, zu allen Zeiten
und von allen Völkern. Diese doppelte Erkenntnis, die Erkenntnis des
einen Gottes und die Erkenntnis der allgemeinen Sittlichkeit, wie sie
der einzige, erkenntnisreiche und barmherzige Gott empfiehlt, verhalf
dem antiken Judentum zu der Möglichkeit einer objektiven Betrach-
tung der Vergangenheit.
Die Geschichte ist keine exakte Wissenschaft, und selbst wo sie
angeblich exakte Wissenschaft ist, wie in der modernen Geschichts-
schreibung, ist sie es nur teilweise, ist sie es nur fragmentarisch. Der
Naturforscher steht der Wirklichkeit und seinem Forschungsobjekt
gegenwärtig gegenüber. Aber der Geschichtsschreiber steht seinem
Forschungsobjekt nicht gegenwärtig gegenüber, und schon aus diesem
Grund allein kann nicht die Geschichte exakte Wissenschaft sein. Die
historische Erscheinung, einmalig, kehrt niemals in derselben Folge
wieder, und die gleiche historische Erscheinung ist immer einer sub-
jektiven Interpretation unterworfen. Ganz anders das Objekt des
Naturforschers. Die Naturerscheinung kehrt immer, wenn auch nicht
absolut in derselben Form, wieder, und über das Natürliche und über
142
die natürliche Erscheinung kann es keine zweierlei Meinungen geben.
Von vielen Epochen in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit
wissen wir so gut wie gar nichts, und viele geschichtliche Erschei-
nungen bleiben uns daher unerklärlich. Aus der Analogie allein können
wir nicht alles schließen. Viele Jahrhunderte sind hinabgerollt, bevor
die Geschichtsschreibung die Mittel und Methoden entdeckte, mit
deren Hilfe sie sich in die Lage gesetzt fand, die Vergangenheit zu
erklären. Auch der antike jüdische Historiograph begegnete diesen
Hindernissen, aber es gelang ihm, sie auf eine wunderbare Weise zu
überwinden. Seine erste Tat war die Linie eines historischen Anfangs
zu markieren. Er setzte einen Anfang der Dinge. Jeder Anfang ist
natürlich eine Hypothese, und selbst der Anfang der Natur, wie ihn
die Naturforscher sich vorstellen, ist nur eine Hypothese, Methode oder
ein Gesichtspunkt, mit dessen Hilfe wir bestimmte Erscheinungen uns
erklären können. Wenn diese Hypothese des Anfangs in der Natur-
lehre gestattet ist, warum sollte sie in der Geschichte — in der Geistes-
lehre — nicht gestattet sein? Die Festsetzung des historischen Anfangs
hat das sogenannte freie Feld der Geschichte nicht begrenzt und hat
den historischen Blick des antiken Juden nicht eingeengt, denn er be-
trachtete die Ereignisse und Geschehnisse des Lebens nicht vom lokalen
Gesichtspunkt, sondern von dem der Ewigkeit. Die Anfangssetzung
in der Vergangenheit, d. h. die Hypothesierung des Anfangs, ermög-
lichte dem antiken jüdischen Historiker, an die Geschicjhte als ganze
Wirklichkeit heranzutreten, d. h. sie ermöglichte ihm, die Geschehnisse
der Vergangenheit von allen Seiten zu betrachten und die ihr unter-
liegenden Prinzipien und Gesetze festzustellen. Diese Methode führte
ihn dazu, gleich mit einer Universalgeschichte zu beginnen, und in der
Tat setzt auch die Bibel mit einer Universalgeschichte ein. Die Fest-
setzung des Anfangs ward so dem jüdischen Historiker eine Art Hügelr
von dem aus er auf das breite Tal des Lebens herabschauen und seine
Bewegungen beschreiben konnte. Weil er das Leben vom Gesichts-
punkt der ewigen Wiederkehr betrachtete, gelang es ihm auch, eine
Geschichte der Vergangenheit und der Zukunft zugleich zu schreiben,
um die der Geschichte unterliegenden „Gesetze" festzustellen.
Die Geschichte ist entweder ein Reich für sich, eine Menschheits-
geschichte, oder lediglich eine Fortsetzung der Naturgeschichte. Wer
die Geschichte nur vom Gesichtspunkt der biologischen Natur be-
trachtet, läuft immer Gefahr, das Menschliche, Allzumenschliche in ihr
zu übersehen und sich selbst der menschlichen Wirklichkeit zu ver-
schließen, oder er entdeckt in der Geschichte, was entweder in der
143
Wirklichkeit gar nicht existiert oder was nur halb wirklich ist: Natur-
gesetz. So erging es den Griechen und den modernen Forschern, die
die biologische Natur zum Ausgangspunkt für ihre Geschichtsbetrach-
tungen nahmen. Die kosmologische Keuschheit und Naivität des
antiken Judentums rettete es von dieser Gefahr. Anstatt von der bio-
logischen Natur auf die Geschichte zu schließen, schloß das antike
Judentum von der Geschichte auf die Natur und projizierte in die
biologische Natur das sittliche Element und sittliche historische Hoff-
nungen hinein. Der Wolf und das Lamm werden friedlich beisammen-
hausen, weissagten Jesaja und Micha. Das ist natürlich eine extreme
Ansicht einzelner großer Juden. Aber das allgemeine Streben ging
dahin, die die Geschichte beherrschenden Prinzipien in der Geschichte
selbst zu finden und sich nicht der Analogie der Natur zu bedienen.
Der moderne Mensch weiß, daß jeder Wissenschaftszweig seine eigenen
Methoden hat. Dem antiken Menschen war dieses Prinzip weniger ge-
läufig, und die Grenzen, die die einzelnen Wissenschaften absondern,
waren verwischt. Der antike Mensch wußte oft nicht, zwischen der
Naturtatsache und dem abstrakten Gedanken eine Grenze zu ziehen
und die Grenzlinie sowie die Methoden beider Gebiete abzustecken.
In welchem Maße diese Grenzverwischung und Methodenvermischung
nachteilig auf die griechische Geschichtsschreibung einwirkt, ist daraus
zu ersehen, daß die antiken Griechen oft Kosmologie mit Geschichte
verwechselten.
Wenn es überhaupt möglich ist, einen historischen Grundgedanken
in Hellas zu entdecken, ist es der kosmologische. Diese griechische
Kosmologie tritt uns in zwei Systemen entgegen — in Emanation und
Evolution. Die an der Emanation festhielten, versetzten das goldene
Zeitalter in den Anfang der Geschichte. Am Anfang war es gut und
schön, und in dem Maße, in dem wir uns vom historischen Anfang
entfernen, in dem Maße nähern wir uns dem Bösen und dem Häß-
lichen — dem eisernen Zeitalter — der Finsternis, der Wirrnis und
dem Chaos. Dieser Gang der Dinge ist eine Art Vorbestimmung des
Schicksals, an dem nicht zu ändern ist. Hier beginnt das Weinen und
das Zähneknirschen der Pessimisten. Aber auch das System der Ent-
wicklung, wie es Heraklit und andere großen Griechen lehrten, be-
schränkte sich im letzten Grund auf Kosmologie. Es gibt wohl eine
Entwicklung, aber diese Entwicklung ist im letzten Grund nur Änderung
und Veränderung. Das Leben ist eine ewige Wiederkehr, die einen
bestimmten Kreis beschreibt und in eine bestimmte Richtung geht.
Es ist wahr, alles bewegt sich, aber nur innerhalb vorgeschriebener,
144
eherner Gesetze, und selbst die Gottheit bewegt sich in diesem engen
Kreis des vorgeschriebenen ehernen Gesetzes. Kurzum, sowohl das
statische Prinzip, das Konstante der Dinge, als das dynamische Prinzip,
die Entwicklung der Dinge in der griechischen Weltlehre, führen nicht
zu historischer Erkenntnis. Das Reich der Geschichte, ob von dem
einen oder anderen Gesichtspunkt betrachtet, ist kein Reich der Frei-
heit und der Sittlichkeit, sondern ein Reich der Gesetze, und wer in
der Geschichte nur die Wirksamkeit des Gesetzes sieht, übersieht die
historische Wirklichkeit. Wer nur die Herrschaft des ehernen Gesetzes
in der Geschichte erblickt, bejaht das Schicksal oder das Fatum und
führt dadurch die Tragik — und den Sentimentalismus — herbei. Die
Weltlehre der Griechen schuf die Frage von Sünde und Schuld, wie
sie später im Christentum ihren Ausdruck gefunden hat — und diese
Frage der Sünde führte zur Inquisition. Der antike jüdische Welt-
gedanke, der ganz und gar unkosmologisch ist, entwickelte sich auf
andere Weise. Anstatt des Gesetzes erblickte er die Freiheit im Reiche
der Geschichte. Nicht das vorgeschriebene, eherne Gesetz ist im
Reiche der Geschichte wirksam, sondern die Freiheit. Europa, das an
der griechischen Tradition festhielt, übersah diese wunderbare Erschei-
nung und war deswegen auch unfähig, das jüdische Weltbild zu ver-
stehen; und weil die Europäer die historischen Motive in der jüdischen
Gedankenwelt nicht erkannten, erkannten sie auch nicht ihre sittlichen
und religiösen Motive. Seit 3000 Jahren sagen die Juden Freiheit,
während die Europäer Gesetz sagen. Unter solchen Umständen ist
es auch nicht möglich, daß sie sich gegenseitig verstehen. Diese zwei
Worte, Gesetz und Freiheit, sind die zwei Ausgangs- und Endpunkte
zweier Weltlehren, der griechischen und der jüdischen, und es verlohnt
sich, sie beide näher zu betrachten.
Betrachten wir nun für einen Augenblick die Konsequenzen dieser
beiden Lehren, Determination und Freiheit.
Alle großen historischen Religionen und speziell die Erlösungs-
religionen beginnen mit der Frage der Schulderkenntnis. Am Anfang
der Dinge ist ja alles vorher bestimmt worden, alles komme, alles
geschehe mit der Notwendigkeit des Gesetzes, und diese Prädeter-
mination kann nicht überwunden werden. Ganz gleich, wie wir die
Erscheinungen der Welt erklären werden, ob durch das Walten eines
persönlichen Gottes, eines Schöpfers der Welt, der seine Gesetze nicht
beseitigt, oder durch ein furchtbares Fatum, das Götter, Menschen
und Dinge zugleich beherrscht, oder durch ewig waltende Naturgesetze,
die Prädetermination muß ihren Lauf nehmen, und da alles Prädeter-
10 Melamed
145
mination ist, so ist natürlich das Gute und Böse Prädetermination.
Seit dem Anfang der Dinge entwickelt sich alles laut einer gewissen
Vorbestimmung, und der Mensch mit all seinen Fähigkeiten, Eigen-
schaften, Handlungen und Schöpfungen ist nichts mehr als eine Art
Maschine, deren Bewegungen streng vorgeschrieben sind. In diesem
Falle ist es dem Menschen unmöglich, das Urböse und die Grund-
schuld zu überwinden. Dieses Problem der Schuld und des Urbösen
ist mit der kosmologischen Auffassung des Lebens gesetzt, wie sie im
alten Hellas geschaffen wurde, und es ist gewiß kein Zufall, daß die
griechischen Tragiker sich so viel mit diesem Problem beschäftigt haben.
Auch die altindischen Denker, die Kirchenväter und viele andere im
Reiche des Geistes beschäftigten sich ebenfalls mit dieser Frage.
Brahmanismus und Buddhismus, die, wie festgestellt, auf das Christen-
tum einen starken Einfluß genommen haben, behaupteten, daß dieses
Problem unlösbar sei. Die Griechen lösten die Frage nicht, und auch
Kirchenväter entschieden, daß es für diese Frage keine Lösung gäbe.
Der Islam antwortete auf diese Frage mit dem Kismet. Unsere natur-
wissenschaftlichen Erfahrungen, und speziell unsere Erfahrungen auf
dem Gebiete der biologischen Heredität besagen, daß der Determinis-
mus eine Wirklichkeit sei und daß alles in der Welt sich mit Notwen-
digkeit vollziehe, so daß die Frage von der Überwindung des Bösen
unlösbar sei. Da alles vorher bestimmt sei, — mit welchem Recht
strafen wir den Bösen und belohnen den Gerechten? Und wie ist in
diesen Fällen die Ethik überhaupt möglich? Wie kann die Seele
erlöst werden, wenn sie keine Erlösungsmöglichkeit infolge der
Prädetermination hat? Das rechtgläubige Christentum führte die As-
kese ein, um die Seele zu retten, begründete Inquisitionen, um die Seele
zu erlösen und den Satan zu überwinden, und bis auf den heutigen
Tag beschäftigt diese Frage die besten Geister und gibt ihnen keine
Ruhe. Trotz aller Mittel und aller Anstrengung, die das Christentum
und seine Vertreter machten, um die Frage zu lösen, blieb sie ungelöst.
Die Lehre des heiligen Augustinus, des eigentlichen Schöpfers der In-
quisition, die da sagt, daß jeder Mensch zur Gnade oder Verdammnis
geboren sei, ward zur geltenden Lehre der christlichen Kirche. Auch
die großen Reformatoren, wie Martin Luther und Calvin, hielten an
dieser barbarischen Lehre fest, und selbst der große Immanuel Kant
konnte sich nicht gänzlich von ihr befreien ; denn da das Ding an sich,
das die Menschen beeinflusse, existiere, wie könne die Autonomie des
Willens gesichert werden? Das Ding an sich widerspricht der Auto-
nomie des Willens. Es kann demnach auch gefragt werden: Da jeder
146
Mensch ja doch gut oder böse in die Welt kommt, wozu dann Inqui-
sitionen und all die Erlösungsversuche, um die Seele zu retten? Aber
die christliche Theologie hat ihre eigene Logik. Vom Gesichtspunkt
dieser Lehre gibt es und kann es keine Weltgeschichte geben, kann
es überhaupt keine Geschichte geben, sondern nur die Abwick-
lung eines bestimmten Prozesses, dessen Verlauf Prädetermination
ist. In diesem Prozeß der Abwicklung gibt es nur Veränderung", aber
keine Fortschritte. Aber die Veränderung allein ändert gar nichts.
Le changement ne change den. Geschichte jedoch ist mehr als eine
Reihe von Veränderungen als Folge einer Prädetermination, wie sie
sich die griechische Kosmologie und die christliche Theologie vor-
gestellt; sie ist ein Prozeß von Entwicklung, der immer Neues schafft,
nicht nur neue Formen, sondern auch neuen Inhalt. Das antike Juden-
tum, das sich nie mit der Jagd nach Seelen abgegeben, keine Inqui-
sitionen gegründet und nicht den Tod des Bösen, sondern seine Reue
herbeigewünscht hat, fand eine Lösung für dieses schwierige Problem.
Die biblische Anschauung über die moralische Natur des Men-
schen ist anfänglich pessimistisch. Laut der biblischen Tradition be-
reute der Herr, daß er den Menschen geschaffen hatte, und selbst
nach der Sündflut hieß es: „Das Sinnen des menschlichen Herzens
ist böse von seiner Jugend an". Dieser Ansicht schloß sich später
auch der Talmud an. Wie kann aber das moralische BuapunAusqn aso
werden, wenn das Sinnen des Herzens vom Hause aus schlecht ist?
Wie kann der Mensch von der Sünde erlöst werden? Die Antwort,
die das antike Judentum auf diese Frage gab, ist einzigartig und
originell. Laut der biblischen Anschauung ist Gott absolut frei und
steht über seinem Gesetz. Er allein ist nicht seinen Gesetzen unter-
worfen, wie etwa die Menschen dem sie beherrschenden Gesetz. Er
kann seine Willensbestimmung ändern. Gott ist die absolute Freiheit.
Diese Erkenntnis ist die metaphysische Grundlage der antiken hebräi-
schen Weltanschauung. Jeder, der an dieser Anschauung rüttelt, rüttelt
an der Grundlage des Judentums, und da Spinoza an dieser Grund-
lage zu rütteln begann, indem er Gott dem Gesetz untertänig machte,
mußte er aus dem Judentum ausgeschlossen werden. Laut christlicher
Anschauung, die an der Lehre der antiken Griechen und Inder orien^
tiert ist, ist Gott nicht frei und kann seine Gesetze nicht aufheben.
Nur in einem Grundbuch der großen Religionen, in der Bibel, wird
die absolute Freiheit Gottes durch festgestellte Willensänderung aus-
gedrückt. Gott ist da nicht ein versteinertes System von Gesetzen
und Prinzipien, sondern die absolute Freiheit, und wo es Freiheit
10*
147
gibt, gibt es auch Bewegungs- und Entwicklungsmöglichkeit. Zuerst
hieß es: „Ich werde den Menschen von der Erdfläche wegwischen",
oder „Das Ende alles Lebendigen ist gekommen", aber dann heißt
es „Ich werde nicht mehr fortfahren, alles Lebendige zu schlagen, wie
ich es getan". So ändert Gott also seine Entschlüsse, gibt seine Ge-
setze auf und bewegt sich frei. In dieser Beschreibung göttlicher Ent-
schlüsse und Willensänderung hat die biblische Metaphysik den Ent-
wicklungsbegriff ausgedrückt. Später hat sich dieser Entwicklungs-
begriff in der jüdischen 'Gedankenwelt festes Bürgerrecht erworben.
Der freie Gott, wie ihn das antike Judentum aufgestellt hat, ist
nicht nur zum Quell der Sittlichkeit, sondern auch zu einem mächtigen
historischen Motiv geworden, denn die Freiheit des göttlichen Willens
hebt die Prädetermination auf, und durch die Aufhebung der
Prädeterrhination verwandelt sich die Abwicklung
eines mechanischen Prozesses zu der Entwicklung
eines historischen Prozesses. Die Lehre von der Freiheit
Gottes schuf die jüdische Eschatologie, die in dem Satz „Und es wird
geschehen in den letzten Tagen" ihren erhabensten Ausdruck fand.
Die Freiheit Gottes ist der Quell jedes moralischen historischen Be-
wußtseins und übt auch einen guten Einfluß auf die böse Natur aus.
Die antike hebräische Eschatologie ist das hohe Lied der Zukunft, und
diesem hohen Lied der Zukunft steht der griechische Mythus gegen-
über, der stets nach rückwärts schaut und klagt: „Das Gute ist hinter
uns, und jetzt nähern wir uns mehr dem Bösen, dem Häßlichen, dem
Lasterhaften. Es wird geschehen in den letzten Tagen — und das
Böse wird herrschen, das Chaos regieren und das Übel sich breit
machen." Aber die historische Auffassung des antiken Judentums,
die sich an der Freiheit Gottes entzündete, betrachtete die Zukunft
in einem ganz anderen Licht. Das goldene Zeitalter ist da nicht hinter
uns, sondern vor uns. Der griechische Mensch begriff die Herrschaft
des Gesetzes überall. Er betrachtete alles durch das Prisma des
Nomos. Diese Betrachtungsweise beraubte ihn seiner historischen
Intelligenz, und es war auch diese Betrachtungsweise, die endlich sein
Gemüt mit tragischen Motiven erfüllte. Wenn alles einem blinden
Gesetz folgt, welchen Sinn kann da das Leben haben, welches Ziel
und wozu? Diese Frage stellten die großen Tragiker, aber diese«
Problem, wie es die Griechen definierten, war schon an sich tragisch,
weil es nicht gelöst werden kann.
Eine ganz andere Entwicklung nahm dieses Problem im antiken
Judäa. Der antike Jude stellte die gleiche Frage, aber er fand die
148
Erlösung in der Tatsache der Freiheit Gottes. Gott erschien ihm nicht
als ein Despot, und da seine Grundqualitäten Vernunft und Sittlich-
keit sind, fordert er dasselbe auch von den Menschen. Solange die
Vernunft nicht entwickelt ist, kann nur das Böse herrschen, kann nur
das Übel regieren. Aber durch die Entfaltung der Vernunft wächst
die Freiheit des normalen Willens, und der Mensch hat die Freiheit
der Wahl — das Gute oder das Bösie — er kann sich korrigieren oder
reformieren. Die Tat als Folge der überlegenden Vernunft — das ist
wahre Sittlichkeit, die das Böse überwinden kann.
Dem Menschen kommt die Erlösung durch die gute Tat, die das
Urböse überwindet. In Hellas gab es nur wenige Männer, die die
Frage, ob Tugend bzw. das Gute erlernt werden kann, positiv beant-
wortet haben — Sokrates und seine Freunde. In Judäa war die Lehre,
daß das Gute erlernt werden kann, und daß das Böse durch die Ver-
nunft überwunden werden ikann, die vorherrschende Anschauung —
das geistige Gemeingut der Nation. Und so durchdrungen waren die
Vertreter des antiken Judentums von der Wahrheit dieser Lehre, daß
sie so weit gingen, zu behaupten, daß schon die gute Absicht allein
von dem Herrn als eine gute Tat anerkannt werde. Die Erlösung
vom Bösen kann nur durch das Gute herbeigeführt werden, und da-
her der Grundsatz der Rabbinen: „Deine Taten werden Dich ihm
nahebringen, Deine Taten werden dich von ihm entfernen/' Und
wunderbarerweise kam Johann Wolfgang von Goethe, der sich oft
genug mit dieser Frage beschäftigte, nach vielem Nachdenken zum
halben Resultat wie die Vertreter des jüdischen Gedankens. Zuerst
klagt er im Faust:
Ihr führt ins Leben ihn hinein,
Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein,
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.
Dann aber kommt der Trost:
Wer nur erstrebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.
So verstand auch Goethe, daß nur die Ausübung der guten Tat allein
die Erlösung des Menschen herbeiführen kann. Indem das antike
Judentum das Individuum von der schweren Last der Erbsünde in-
sofern befreite, als sie ihm den Weg zeigte, auf dem er seine Er-
lösung finden kann, entdeckte sie den Begriff des Menschen, erhob
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den Menschen zu einer Stellung des doppelten Bürgertums — zum
Bürger der sinnlichen und übersinnlichen Welt und gab seinem Leben
Sinn und Zweck. Der Mensch ist demnach nicht eine vorübergehende
Erscheinung ohne Zweck und Ziel, wie der griechische Kosmologismus
und Mythos in all seinen Ausstrahlungen und Brechungen lehrt, son-
dern er ist eine Welt für sich mit einem bestimmten Plan und Ziel
im Leben. Dieses Ziel ist vorwärts gen Gerechtigkeit und Wahr-
haftigkeit und somit Annäherung an Gott, der die Verkörperung der
Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit ist. Das ist ein hohes und erhabenes
Ziel, das dem menschlichen Leben Wert und Sinn gibt, das mensch-
liche Herz mit idealem Streben erfüllt und den Menschen ermutigt,
Großes zu unternehmen, Großes zu leisten. Das Ziel der Gesamtheit
ist dem des Individuums gleich. Vorwärts gen Gerechtigkeit und
Wahrhaftigkeit, unendliche Entwicklung bis zur Göttlichkeit, und da-
her heißt es: „Und es wird geschehen in den letzten Tagen". Das
Böse liegt hinter uns und das Gute vor uns. Hier stehen wir am Ur-
quell der prophetischen Ethik mit einem Evolutionismus und Optimis-
mus. Ihr Gegensatz ist der griechische Kosmologismus und Emanation,
die den Menschen rückwärts blicken läßt, sein Gemüt mit Tragik und
Pessimismus erfüllt, ;weil sie den Menschen zur flüchtigen, ziel- und
zwecklosen Naturerscheinung herabsinken läßt. Wenn die Menschheit,
wie der heilige Augustinus und sein Kreis gelehrt hat, in zwei Teile
eingeteilt wird, in einen Sund- und Verbreoherpöbel, bestimmt zur
ewigen Verdammnis, und in eine kleine Gemeinde von Gerechten,
erscheint auch das Leben des Einzelindividuums sinn- und wertlos.
Der Brahmanismus zum Beispiel, der die Frage der Möglichkeit der
Überwindung des Übels und der Erlösung negativ beantwortet, wies
dem Individuum eine bestimmte Stellung im Leben an, in der es von
Geburt bis zum Tod bleiben muß, und auch Paulus lehrte, daß der
Mensch dort bleiben muß, wo Gott ihn gefunden hat. So wird das
Individuum zum ewigen Gefangenen, weil es aller Bewegungsfreiheit
beraubt ist, und wenn das Einzelindividuum seiner Bewegungsfreiheit
beraubt ist, wie kann dann das Kollektivum sich frei bewegen? Ohne
Bewegungsfreiheit des Individuums und Kollektivums gibt es keinen
historischen Fortschritt, keinen Fortschritt überhaupt.
So hat der griechische Kosmologismus zur statischen Auffassung
des Lebens geführt und dadurch jede Historik unmöglich gemacht,
während die jüdische Lehre von einer absoluten Freiheit Gottes zur
dynamischen Auffassung des Lebens geführt und dadurch zu einer
historischen Auffassung des Geschehens gelangt ist. Es ist deshalb gar
150
nicht übertrieben, wenn Georg Mehlis in seinem Lehrbuch der Ge-
schichtsphilosophie von dem Verhältnis des Griechentums zur Historik
aussagt: „Und so ist die ganze Weltanschauung des Griechentums
vollkommen unhistorisch. Seine Größe und Schwäche liegt in der
Negation des Geschichtlichen1)/'
Der Weltanschauung der antiken Juden, gar nicht an der biolo-
gischen Natur orientiert, ist jeder Kosmologismus fremd und ist rein
historisch, und die Bibel setzt nicht nur mit dem Versuch einer Uni-
versalgeschichte ein, sondern sie ist ein großes historisches Buch vom
Anfang bis zum Ende. Weil die Historik der Bibel sich an der Ethik
entzündet, ist sie wohl das größte Geschichtswerk, das der Mensch
seinem Genius je abgerungen hat.
Der Prophet, der Staatsmann, Moralprediger, Rhapsode und Dich-
ter zugleich war, steht immer auf der Plattform der Geschichte, und
von einer universalgeschichtlichen Höhe aus schaut er auf das Leben
hinab, betrachtet seine Bewegungen, rügt seine Unebenheiten und ist
bestrebt, die Bewegungen des Lebens in eine bestimmte Richtung zu
regulieren. Daher die erhabene, historische Wahrhaftigkeit der Pro-
pheten und ihr ungetrübter historischer Blick. Ihr Interesse galt in
erster Reihe dem Reich der Menschen, der Geschichte, während das
vornehmste Interesse der Griechen dem Kosmos galt. Diese rein
menschliche Auffassung vom Leben hat den Propheten auch eine neue
politische Welt eröffnet. Es kam bis jetzt nur ein einziges Mal in der
Geschichte vor, daß eine Gruppe von Staatsmännern versuchte, ihre
staatsmännische Anschauung nicht mit physischen Machtmitteln zu
verwirklichen. Die alten jüdischen Propheten haben den Versuch ge-
macht, das politische Leben ihres eigenen Volkes und der Menschheit
nicht auf Grund der physischen Macht, sondern auf Grund einer poli-
tischen Theorie zu verwirklichen. Sie proklamierten die Lehre, daß
die Grundlage aller Politik nicht Macht, sondern Sittlichkeit sein müsse.
Den Ariern aber erschienen die Propheten immer als Träumer und
Enthusiasten, im besten Falle als unpraktische Idealisten. Ob sie in
der Tat so unpraktisch waren, wird sich aus der folgenden Ausein-
andersetzung bald ergeben.
Die Propheten waren in erster Reihe Staatsmänner, und wie aus
ihren Mahnungen zur Bundestreue zu ersehen ist, betrachteten sie die
Lage ihrer Zeit unter einem ganz praktischen Gesichtspunkt. Allein
sie hatten ihren eigenen Begriff der Wirklichkeit. Die politische Wirk-
x) Lehrbuch der Geschichtsphilosophie von Dr. Georg Mehlis, Berlin.
Verlag von Julius Springer. 1915. S. 354.
151
lichkeit war ihnen nicht physische Macht allein, sondern das Menschen-
tum im Menschen. Aus dem Sündenregister, das sie ihrem eigenen
Volke oft vorhielten, ist wohl klar zu ersehen, daß sie keineswegs
dazu geneigt waren, den Menschen als Engel zu betrachten. Sie
wußten sehr wohl, daß der Mensch oft nur allzu menschlich und auch
oft allzu bestialisch ist. Aber wahrend die arischen Staatsmänner den
Menschen nur als einen Bürger der sinnlichen Welt betrachteten und
ihr Streben dahin ging, die Bewegungen dieses sinnlichen Menschen
mit physischen Mitteln zu regulieren, betrachteten die prophetischen
Staatsmänner den Menschen als einen Bürger zweier Welten: der
sinnlichen und übersinnlichen Welt. Die Wirklichkeit im Reiche der
Menschen ist ihrer Anschauung zufolge nicht nur Natur, sondern
auch Geist, und daher müssen alle menschlichen Beziehungen auf
Grund dieses Doppelbürgertums des Menschen reguliert werden. Da-
her muß das politische Leben nicht mit Hilfe physischer Macht allein,
d. h. nur mit der halben Wirklichkeit kontrolliert werden, sondern
auch mit geistiger Macht. Infolge lokaler Bedingungen und verschie-
dener Umstände der Zeit und des Ortes und ganz speziell infolge des
unglaublichen Subjektivismus des antiken Juden, der den gerechten
Zorn der Propheten hervorrief, wurden sie in eine mehr einseitige
Auffassung des politischen Lebens hineingetrieben. Je mehr sie die
Vorherrschaft von physischer Macht und Brutalität im Leben ihres
eigenen Volkes und im Leben anderer Völker sahen, desto mehr verlor
die prophetische Politik ihr Gleichgewicht und desto extremere For-
men nahm sie an, bis sie auf ihrer höchsten Entwicklung, reiner Idealis-
mus reine Zukunftsmusik wurde und den Zusammenhang mit der wahren
Wirklichkeit verlor. Die prophetische Politik entwickelte sich in einer
solch extremen Richtung, daß sie einen Gegensatz zu jeder anderen
damals vorherrschenden Politik bildete. Alle größeren und kleineren
zivilisierten Völker jener Zeit waren gänzlich an der Macht orientiert.
Daß Recht die Quelle von Macht sein müsse, war nur einer kleinen
Gruppe Menschen in Judäa bekannt. Kurzum, die ganz und gar un-
kosmologische Auffassung von der Welt führte in Judäa zu der Lehre
vom Recht als Basis der Macht zum ethischen Idealismus, der sich
in der Politik fortsetzt.
Es istjedoch interessantzu beobachten, daß dieser
politsche Idealismus der Propheten seiner Natur nach
nicht theologisch war und noch dazu ein gewisses
realistisches Motiv hatte. Ich weiß nicht, ob schon jemand
auf die Tatsache aufmerksam gemacht hat, daß die prophetische Po-
152
litik, die sich auf Ethik aufbaute, auch ein starkes ökonomisches Motiv
hatte. Parallel mit der Betonung, daß das Leben nur einen Sinn habe,
wenn es ein sittliches und reines sei, läuft auch bei ihnen die Beto-
nung, Ungerechtigkeit bezahle sich nicht, und alle Flüche, Straf-
androhungen und Strafpredigten sind auf die Behauptung gegründet,
daß die, die unrecht handeln, am Ende für ihre Ungerechtigkeit schwer
bezahlen müssen. Das Vergeltungsprinzip — alle Schuld rächt sich
auf Erden — , das die Propheten immer hervorheben, wird nicht
theologisch, sondern soziologisch motiviert. Natürlich mahn-
ten die Propheten zur Gerechtigkeit nicht nur aus dem Grund, weil
sich Ungerechtigkeit nicht bezahlt. Für sie war vielmehr das Gute
und das Gerechte an und für sich wertvoll, ohne Rücksicht auf Lohn
und Strafe, denn die Propheten waren alles andere als Utilitarier.
Allein es ist wertvoll, auch das Nützliche und Praktische, das die
Ausübung der Gerechtigkeit mit sich bringt, hervorzuheben, und da-
her der Grundsatz: Eher mich verlassen, denn die Thora verlassen.
Der wirklich große Staatsmann, der über dem Philosophen und
Künstler oder Krieger steht, war noch immer ein Prophet. Er bestimmt
das Schicksal von vielen Generationen und ihre Entwicklung, und er
kann es tun, weil er nicht wie der Politiker die Dinge vom Gesichts-
punkt der nächsten Jahre, sondern der nächsten Jahrhunderte be-
trachtete. Die Entwicklung der Zukunft und der nächsten Generation
kann aber nur der voraussehen, der die Dinge durch das Prisma der
fundamentalen Prinzipien betrachtet und sie zur Basis seiner Politik
macht. Die jüdischen Propheten schufen eine politische Lehre, deren
Bedeutung früher oder später anerkannt werden wird und schon längst
anerkannt worden wäre, wenn sie nicht so extrem wäre und wenn
sie mehr die andere Hälfte der Wirklichkeit, die sinnliche Wirklich-
keit, anerkannt hätte. Wie die jüdische Religion eine Religion der
reinen Erkenntnis ist unter Ausschluß jedes sexuellen Prinzips, so ist
die antike jüdische Politik eine Politik des reinen sittlichen Willens,
und ganz ohne Grund wird die antike jüdische Politik theologisch
gescholten. Wegen ihrer angeblichen theologischen Anrüchigkeit ist
sie seit 2000 Jahren von allen Großen und Kleinen der Erde ignoriert
worden. Aber wenn die sozialphilosophische Grunderkenntnis der
Propheten, daß der Mensch an der Schwelle der sinnlichen und über-
sinnlichen Welt steht, wahr ist, dann kann der Tag vorausgesehen
werden, an dem sich die einseitige prophetische Politik, die ganz an
dem Geist orientiert ist, mit der ebenso einseitigen römischen Politik,
die ganz an der Sinnlichkeit orientiert ist, verschwägert, und erst
153
aus der Synthese beider wird die Menschheit zu ihrer politischen Er-
lösung kommen. Ob diese Synthese sich in Palästina vollziehen wird,
wohin die Juden nach einem zweitausendjährigen Leben im römischen
Kulturkreis zurückströmen, wird die Zukunft zeigen. Ausgeschlossen
wäre es allerdings nicht, daß die seit 2000 Jahren im römischen Kultur-
kreis lebenden Juden, die wohl genügend angerömelt sind, auf dem
Boden ihrer nationalen Heimat diese große Synthese herbeiführen
und dadurch das größte Vermittlungswerk in der Weltgeschichte voll-
bringen. Da alle bisherigen Vermittlungsversuche der Juden im Reiche
des Geistes (der Versuch, das Judentum mit dem Hellenismus aus-
zusöhnen [Philo], das Judentum mit Aristoteles auszusöhnen [Maimo-
nides], und Kant mit dem Judentum auszusöhnen [Herrmann Cohen])
fehlschlugen, weil ihnen die politische Wirklichkeit als Basis fehlte,
gelingt vielleicht dieser Versuch jetzt.
154
Achtes Kapitel.
Das philosophische Weltbild.
Die antiken Juden und ihre Beziehungen zur biologischen Natur. — Die
Bibel enthält nur philosophische Weisheit. — Die Philosophen und die Bibel. —
Die Bibel und die Kunst. — Das Judentum ist die Schöpfung der selektiven
Persönlichkeit. — Die Einseitigkeit des jüdischen Gedankens. — Der Wert der
jüdischen Wertanschauung. — Die logische Kontinuität in der Geschichte des
Geistes. — Indisches Denken. — Griechisches Denken. — Jüdisches Denken. —
Die Wurzel der jüdischen Ethik. — Der jüdische Dualismus. — Wo ist Gott? —
Wie sich der jüdische Gott charakterisiert. — Das Judentum setzt teleologisch an.
— Das Judentum in seiner Beziehung zu Logik und Ethik. — Die Individualität
Gottes. — Gott, Zeit und Raum. — Der philosophische Hintergrund des antiken
Judentums. — Biblische Physik und biblische Metaphysik. — Anthropomorphismus
des jüdischen Gottes und der Biologismus des christlichen. — Die biblische
Metaphysik drückt sich in Bildern aus. — Jüdischer und arischer Dualismus. —
Das Schwergewicht der biblischen Metaphysik. — Die hebräische Ethik ist nicht
extremistisch. — Die biblische Metaphysik klingt optimistisch aus. — Das Sein
Gottes und die Attribute Gottes. —
Die antiken Juden waren kein philosophisches Volk wie die alten
Inder oder die alten Griechen, denn die philosophische Erkennt-
nis, soweit sie systematisch ist, entwickelt sich auf Grund einer be-
stimmten Beziehung zur biologischen Natur, und die alten Juden hatten
zu ihr keine Beziehung, beobachteten sie wenig und versuchten gar
nicht, in ihre Geheimnisse einzudringen. Aus diesem Grunde schufen
sie keine wissenschaftliche Philosophie im engeren Sinne des Wortes,
keine Zivilisation und keine plastische Kunst. Die plastische Kunst
beginnt mit einer Darstellung der Natur, wie jeder Philosoph mit
einer Betrachtung der Natur beginnt. Die ersten griechischen Philo-
sophen von Thaies bis Demokrit waren wesentlich Naturforscher.
Aus bestimmten Gesetzen, die sie in der Natur erkannten, schlössen
sie auf das Sein und versuchten die Welträtsel zu lösen. Selbst die
Philosophie der italienischen Renaissance des fünfzehnten und sech-
zehnten Jahrhunderts beginnt mit einer Erneuerung des alten grie-
155
chischen Hylozoismus. Parazelsus, Kardanus und Bruno und viele
andere machten die Natur zu ihrem Ausgangspunkt. Da die alten
Juden keine wissenschaftliche Beziehung zur Natur unterhielten, sich
in ihre Gesetze nicht vertieften und in ihre Geheimnisse nicht ein-
zudringen versuchten, konnten sie keine wissenschaftliche Philosophie
schaffen. Die speziellen Eigenschaften des antiken jüdischen Geistes,
die intuitive und synthetische Auffassung der Dinge, die das Produkt
des antiken semitischen Subjektivismus ist, befähigten die alten Juden
nicht, bis zur Philosophie vorzudringen, die ohne Analysis und Kritik
nicht möglich ist.
Aber trotzdem unterliegt es keinem Zweifel, daß die Bibel viele
philosophische Gedanken und philosophische Erkenntnisse enthält,
wenn schon sie keineswegs ein philosophisches Buch ist. Die philoso-
phischen Gedanken und Erkenntnisse, die wir in der Bibel vorfinden,
können aber nicht als Philosophie, sondern müssen als Weisheit cha-
rakterisiert werden. Wir finden in der Bibel eine streng abgeschlossene
Anschauung über das Leben und die Welt, ein metaphysisches Pan-
orama, ein System der Ethik, grundlegende soziologische Lehren, eine
Philosophie der Geschichte usw. Die Fülle philosophischen Materials,
die wir in der Bibel vorfinden, ist nicht weniger wertvoll als die
Fülle des philosophischen Materials, die wir in manchen Grundbüchern
der indischen Philosophie finden, obgleich diese Grundbücher der
indischen Philosophie gleich der Bibel auch viel Poesie und Religion
enthalten. Aber die Bücher der altindischen Weisheit sind vornehm-
lich philosophische Bücher, während die Bibel es nicht ist, denn während
den Schöpfern der Upanishaden die philosophische Erkenntnis die
Hauptsache war, war sie den Schöpfern der Bibel nur Nebensache.
Die alten Juden waren überhaupt nicht philosophisch disponiert, und
das in der Bibel oft vorzufindende philosophische Material ist kein
Produkt des bewußten philosophischen Geistes, sondern Sentenzen
der Weisen des Volkes. Der philosophische Gedanke zeichnet sich
dadurch aus, daß er einem bestimmten Ziel der Erkenntnis zustrebt.
Ein solches Streben nach einer bestimmten philosophischen Erkenntnis
war den alten Juden durchaus fremd. Der philosophische Denker be-
schäftigt sich mit den Fragen des Lebens, mit der Frage von Religion
und Gesellschaft, Staatsordnung, Ethik, Ästhetik usw., nachdem er
eine ihn befriedigende Antwort auf die Frage der Fragen — auf die
Frage des Seins gefunden hat. Von Logik- und Erkenntnistheorie geht
er zu Ethik und Ästhetik über. In der Bibel aber finden wir nur meta-
physische, dogmatische Voraussetzungen, aber keine metaphysischen
156
Probleme und keine kritische Denkweise. Selbst wenn die alten Juden
größere und tiefere philosophische Gedanken zutage gefördert hätten,
hätten sie den Namen eines philosophischen Volkes noch lange nicht
verdient, denn es gibt keine Philosophie ohne Logik und Erkenntnis-
theorie, und beides war den alten Juden fremd. Selbst eine Philosophie,
die der wissenschaftlichen Kritik nicht standhält, kann insofern wissen-
schaftlich sein, als sie sich wissenschaftlicher Methoden bedient, d. h.
sie ist das Produkt des philosophischen Geistes, des prüfenden, verglei-
chenden, analytischen und kritisierenden Geistes. Der antike jüdische
Geist war aber, wie gesagt, weder kritisch noch analytisch veranlagt.
Möglich, daß die alten Juden ein gewisses philosophisches Streben
hatten, aber sie hatten jedenfalls keine philosophischen Methoden, und
deshalb konnten sie trotz ihrer intimen Beziehung zur Abstraktion nur
Weisheit, aber keine Philosophie scharfen, sie "konnten Religion und
Ethik, aber keine Erkenntnis und Logik scharfen. Sie konnten philo-
sophische Aphorismen, aber keine philosophischen Systeme schaffen.
Selbst diejenige philosophische Erkenntnis, die sie sich erworben,
konnten sie nicht philosophisch ausdrücken, weil sie nicht in philo-
sophischen Begriffen, sondern in poetischen Bildern dachten. Ein
philosophisch veranlagtes Volk schafft eine Kosmologie, aber die alten
Juden, wie die anderen semitischen Völker des Altertums, konnten
nur eine Kosmogonie hervorbringen. Es ist wahr, daß die biblische
Kosmogonie in ihrer Schönheit erhaben, in ihrer Einfachheit und
Keuschheit erbauend ist, aber ein philosophischer Wert kann ihr nicht
beigemessen werden. Dies erklärt, warum die meisten Philosophen
sich feindlich zur biblischen Kosmogonie verhalten. Kosmogonie ist
Dogma und Religion Mythus. Vom Gesichtspunkt der Philosophie ist
selbst eine minderwertige Kosmologie viel höher einzuschätzen als
eine erhabene Kosmogonie, weil die Kosmologie nach allem ein Produkt
des wissenschaftlichen Geistes ist, während die Kosmogonie es nicht
ist. Man sieht also, daß der Weisheitsgeist der alten Juden von dem
philosophischen Geist der alten Griechen zu grundverschieden ist, als
daß die Vertreter des einen mit den Vertretern des andern sich ver-
ständigen konnten. Es wird dem Leser jetzt ersichtlich werden, warum
hier nicht von der antiken jüdischen Philosophie die Rede sein kann
und warum nur von der Weisheit der alten Juden gesprochen werden
kann. Es erübrigt sich aber, hinzuzufügen, daß man aus dem Fehlen
einer Philosophie in Judäa nicht auf die philosophische Begabung des
jüdischen Volkes schlechthin schließen kann. In dem Augenblick, in
dem die Juden aus ihrer geistigen Isoliertheit heraus und mit den
157
großen arischen Völkern in Berührung treten, offenbart sich das philo-
sophische Talent der Juden. Die tiefsinnigen Gedanken über Religion
und Ethik und Moral, die wir in der Bibel finden, beweisen zur Genüge,
daß die alten Juden eine intime Beziehung zum abstrakten Gedanken
schlechthin unterhielten. Auch das ästhetische Element in der Bibel
zeugt für ihre Intellektualität. Ein Volk, das keine Beziehung zum
abstrakten Gedanken unterhält, ist auch aller Ästhetik bar. Die Archi-
tektonik der biblischen Gedankenwelt zeichnet sich durch ihre außer-
gewöhnliche Schönheit aus und zeugt von gutem Geschmack und von
Ordnungssinn. Es ist wahr, daß das Gedankenpanorama der Bibel
nicht vom ganzen Volk, sondern von den paar selektiven Kräften
geschaffen wurde, von, Gesetzgebern, Propheten, Staatsmännern und
Dichtern, die dem Volke ihre Ideen aufzwangen. Im alten Indien und
Griechenland ging die geistige Entwicklung ganz anders vor sich. Der
abstrakte Gedanke war sozusagen organisch, und die Vertreter dieses
Gedankens schöpften aus dem reinen und lauteren Quell, aus dem Quell
des Volksgeistes und Volksgemütes. In Judäa aber .sagten die paar
Großen zum Volk „ihr müsset" und unterjochten das Volk geistig,
ohne Rücksicht auf die Neigungen des Volkes. Seit den ersten An-
fängen der jüdischen Geschichte standen die Großen des Volkes
immer im Kampf gegen das Volk, aber trotz dieses Antagonismus
gelang es ihnen doch, tiefsinnige Gedanken hervorzubringen und ihnen
auch eine schöne Form und Gestalt zu geben.
Die Form des antiken jüdischen Gedankens ist schön und originell
zugleich, aber sie ist auch einseitig, weil sie die Schöpfung der ein-
zelnen Persönlichkeit und weil sie ganz subjektiv ist, und der subjek-
tive Gedanke ist immer einseitig, während der organische oder der
kollektive Gedanke farbenreich und vielseitig ist. In Judäa ist nur
eine Thora, eine Lehre geschaffen worden, allerdings eine Lehre für
viele Generationen, aber im alten Griechenland und im alten Indien
sind viele Lehren und viele Systeme geschaffen worden. Die geistigen
Bewegungen eines denkenden und trachtenden Volkes sind verwickelt,
kompliziert und verzweigt. Die alten Griechen und die alten Inder
drückten in ihren verschiedenen Systemen und Lehren die mannigfal-
tigen geistigen Bewegungen des Volkes aus und bereicherten die
Menschheit mit dem wunderbaren Farbenreichtum ihres philosophi-
schen Gedankens. In Judäa sehen wir das Gegenteil. Die alten Juden
schufen nur eine einzige geistige Struktur, ein einziges System, weil
das antike Judentum das Produkt der selektiven Persönlichkeit ist
und die Persönlichkeit nur ein System schaffen kann.
158
Als der antike jüdische Gedanke sich zum organischen, d. h. zum
kollektiven entwickelt hatte, d. h. als das Judentum, die Schöpfung der
selektiven Persönlichkeit, die Juden eroberte, erlosch das Licht und
brach die Kraft des antiken jüdischen Genius. Die synthetische und
intuitive Schöpfungskraft versagte, und die Vielen waren schon der
Möglichkeit beraubt, sich direkt an der Entwicklung des abstrakten
Gedankens zu beteiligen. Das Volk stand schon unter dem Joch des
ehernen Gesetzes, das ihm die Persönlichkeit auferlegt und aufge-
zwungen hatte, und des Volkes Pflicht war, nur zu hören und zw
wiederholen, was es gehört, zu handeln im Geiste des Gesetzes und
das Gesetz streng zu beobachten. An dem Werden und an der Ent-
wicklung des Gesetzes hatte es keinen Anteil, und sobald das Gesetz
formuliert war und im Volke Wurzel gefaßt hatte, war das Volk
seiner geistigen Bewegungsfreiheit beraubt. Die geistige Schöpfungs-
kraft des Volkes ist infolge der strikten Herrschaft des Gesetzes nicht
nur geschwächt, sondern tatsächlich vernichtet worden, und aus diesem
Grunde blieb das Judentum bis auf den heutigen Tag eine in sich
abgeschlossene und harmonisch abgerundete, aber einseitige, wenn
auch einzigartige Lehre. Das Judentum besteht sonach aus einem
einzigen System, während die griechische und indische Kultur aus
vielen Systemen besteht. Auch die jüdische Philosophie des Mittel-
alters hat an dieser Sachlage nichts geändert. Die philosophischen
Lehren des Saadja Gaon, Ben Gabirols, Jahuda Halevis und des
Maimonides, apologetisch in ihren Motiven und jedenfalls das Gemein-
gut nur Weniger, sind kein Gemeingut des Volkes geworden und haben
in das starre System des Judentums keine wesentlichen Veränderungen
einzuführen vermocht.
Die von späteren jüdischen Denkern geschaffenen Lehren können
von jedem Juden nach Gutdünken interpretiert werden, aber jeden-
falls bilden sie keinen organischen Bestandteil des Judentums. Nur
zwei Bücher müssen als die Grundbücher des Judentums anerkannt
werden, die Bibel und der Talmud. Wer die in diesen Büchern nieder-
gelegten Lehren bestreitet, der schließt sich selbst aus dem Juden-
tum aus.
Die entsetzliche Monotonie, die aus dem Judentum hervorsticht
und die auf die Einseitigkeit und Einheitlichkeit seiner Lehre zurück-
zuführen ist, hat viel dazu beigetragen, daß es einen so starken Ein-
druck auf die Menschheit gemacht und daß es den Gang der Geschichte
vielleicht mehr beeinflußt hat als alle die verschiedenen Lehren vom
alten Hellas und Indien zusammengenommen. Das antike Judentum
159
als Lebensanschauung ist einheitlich aus einem Guß, aus einem Felsen
gehauen, während die griechischen und indischen Kulturen mehr einem
Mosaik gleichen und aus diesem Grunde mehr ästhetisch wirken.
Aber da das Judentum einseitig und einheitlich ist, ist es desto kräf-
tiger. Die Wirkung, die das antike Judentum auf die Menschheit aus-
übte, ist der Wirkung, die die Wüste auf den Wanderer ausübt, ver-
gleichbar, — eine entsetzliche und fürchterliche Monotonie. Aber diese
Monotonie hat etwas Erhabenes und Großes an sich. Das antike
Judentum als abstrakte Idee ist wunderbar in seiner Einfachheit, in
seiner Naivität und in seiner Größe, und vielleicht aus diesem Grunde
ist es dem Philosophen und dem Scholasten, deren Gedankenwelt
kompliziert und verwickelt ist, von jeher verhaßt gewesen. Selbst
wo sie dem Judentum sehr nahe stehen, wie zum Beispiel im Falle
Kants, hassen sie es mit einem unauslöschlichen Haß. Gott als mo-
ralisches Postulat war Kants Weisheit letzter Schluß. Gott als mo-
ralisches Postulat war auch der Propheten Weisheit letzter Schluß,
und dennoch war Kant fest überzeugt, daß das Judentum nicht ein-
mal eine Religion sei, geschweige denn eine Sittlichkeit. Man darf
nicht annehmen, daß ein Mann wie Kant sich bewußt gegen die Wahr-
heit versündigt hat, und daß es ihm mit seiner Behauptung betreffs
des Judentums nicht ernst war, denn Kant war nicht nur der scharf-
sinnigste Denker aller Zeiten, sondern eine der größten sittlichen
Persönlichkeiten aller Zeiten, grundehrlich, bescheiden und fromm.
Aber sein Ausgangspunkt war grundverschieden von dem des Juden-
tums, obgleich beide am Ende zum gleichen Resultat kommen. Der
Protest fast aller Philosophen gegen das Judentum, gegen die ab-
strakte Idee des Judentums ist wohl der beste Beweis dafür, daß es
keine antike hebräische Philosophie gibt, obgleich es eine jüdische
Weltanschauung und ein jüdisches Kultursystem gibt. Den Wert dieser
jüdischen Weltanschauung und ihren philosophischen Gehalt kann man
am besten verstehen und schätzen lernen, wenn man sie den großen
philosophischen Lehren der antiken Griechen und Inder gegenüberstellt.
In dem der Erscheinung Christi vorangehenden Jahrtausend mani-
festierte sich der Kulturgenius der Menschheit in drei großen Zentren:
Indien, Hellas und Judäa. Warum er sich gerade in diesen Zentren
manifestierte und nicht in großen Zivilisationsmittelpunkten wie etwa
in Babylon, Ägypten, Persien, ist eines jener Geheimnisse der Ge-
schichte, das wohl schwerlich je gelöst werden wird. Wenn es wahr
ist, daß die abstrakte Idee und speziell die Philosophie sich an der
Naturwissenschaft entzündet, warum schufen dann die Ägypter und
160
Babylonier keine Philosophie und keine Kultur, da sie doch über
größere naturwissenschaftliche Erfahrungen verfügten als Griechen,
Inder und Juden zusammengenommen? Es ist eine historische Tat-
sache, daß die antiken Griechen sich einen großen Teil der Natur-
kenntnis in Ägypten holten. Überhaupt waren im Orient die mathe-
matischen, meteorologischen und astronomischen Wissenschaften ver-
breitet, weil die Verwaltung der großen Reiche, für Ägypten auch die
jährlichen Überschwemmungen, Zeit- und Landmessungen erforderten1).
In Hellas ist der philosophische Gedanke ziemlich früh zur Reife ge-
langt, ja schon zu einer Zeit, als die griechische Zivilisation noch
keine großen Triumphe feiern konnte. Die Juden dachten in abstrakten
Begriffen, ohne überhaupt eine praktische Zivilisation hervorgebracht
und ohne irgendwelche Beziehung zur Natur unterhalten zu haben.
Also die Frage, warum die abstrakte Idee gerade in Mittelpunkten
sich entzündete, wo die Zivilisation entweder gar nicht oder ungenü-
gend entwickelt war, kann nur damit beantwortet werden, daß die
Kulturfähigkeit eines Volkes weniger soziologisch als geistespsycho-
logisch zu erklären ist. Es ist sehr interessant, festzustellen, daß diese
drei großen Zentren der antiken Kultur keinerlei Beziehungen zu
einander unterhielten. Die antiken Juden wußten wohl von Indien
und China, aber standen mit ihnen nicht in Beziehung, und die alten
Griechen wußten kaum von der Existenz der Inder. Alle Behauptungen
der älteren Kirchenväter, daß die Griechen sich ihre Weisheit in
Indien holten, sind grundlos, und auch die Behauptungen von Hilaire
Calbrook und Schröder, daß Pythagoras aus indischen Quellen schöpfte,
sind bis jetzt unbewiesen geblieben. Auf der anderen Seite bemerken
wir oft, daß sich in verschiedenen Zentren und zu gleicher Zeit der
eine oder der andere abstrakte Gedanke herausarbeitet, ohne daß die
Schöpfer dieses Gedankens sich gegenseitig beeinflußten oder gar in
Berührung kamen. Diese Tatsache zeugt von der logischen Kontinuität
in der Geschichte des Geistes, und es ist deshalb wohl verständlich,
daß in mehreren Mittelpunkten der Kultur ein und dieselbe abstrakte
Idee zum Vorschein kommt, ohne daß ihre Schöpfer sich gegenseitig
irgendwie behilflich waren. Noch mehr. Da der Mechanismus des
Geistes überall der gleiche ist, ist es möglich, daß man in verschie-
denen Kulturzentren zu gleichen Erkenntnissen gelangt, oder daß man
sich der gleichen Methoden der Erkenntnis bedient.
In der oben genannten Periode, deren geistige Schöpfungen zum
Schicksal für den ganzen Ablauf der Geschichte wurden, standen
x) ^arl Joel, Ursprung der Naturphilosophie, S. 3.
11 Melamed
161
Männer auf in drei verschiedenen Zentren, und jeder fragte in seiner
eigenen Sprache und seiner eigenen Weise: „Was ist das Geheimnis
des Seins? Was ist das letzte Prinzip? Wer beherrscht die Dinge
und die Menschen? Was war am Anfang, und was wird am Ende
sein? Zu welchem Zweck, woher und wohin?" Es ist interessant zu
beobachten, wie diese Fragen gestellt und formuliert wurden. In
Indien sehen wir den philosophischen Genius lange mit sich kämpfen,
lange mit sich ringen, ehe es ihm gelingt, die Kardinalfrage zu defi-
nieren: „Wer ist der große Beweger und wer leitet das Reich der
Dinge?" Er philosophiert nicht nur mit seinem Kopf, sondern auch
mit seinem Herzen, mit seinen Gefühlen. Er philosophiert tatsächlich
mit seinem Gemüt. Sein Verstand ist nicht so abgeklärt wie der der
Griechen, und er verfügt nicht über die genügenden metaphysischen
Erfahrungen, um sich einen soliden Ausgangspunkt für seine Philosophie
zu bilden. Aber sein Gemüt sagt ihm, daß das Sein ein unendliches,
tiefes Geheimnis ist. Er möchte in das Geheimnis des Seins ein-
dringen und den Urgrund aller Dinge erkennen. Im alten Indien wie
im ganzen Orient überhaupt wird mit dem Gemüt philosophiert. Der
abstrakte Gedanke geht durchs Herz, und das Sehnen der Vernunft
ist nur das Sehnen des Herzens. Diese gewaltige Sehnsucht des
Herzens der alten Inder fand einen gewaltigen Ausdruck in den
Upanishaden, Bücher voll tiefer Gedanken und Poesie zugleich'. In
der Poesie der alten Inder wird über das Sein philosophiert, über
alle metaphysischen Fragen tiefe Betrachtungen angestellt und über
alle die Probleme, die den Menschen seit 3000 Jahren bewegen, medi-
tiert. Die tiefsten metaphysischen Erkenntnisse drückt das alte Indien
durch eine oft ganz unklare Andeutung oder durch einen poetischen
Spruch aus.
Auf ganz andere Weise sind diese großen philosophischen Probleme
in Hellas beantwortet worden. Die Griechen fingen mit dem analy-
tischen Gedanken an, und ihr Ausgangspunkt war ihre naturwissen-
schaftliche Erfahrung. Von einem bestimmten naturwissenschaftlichen
Ausgangspunkt kommen sie zu Schlüssen auf das ganze Sein. Der alte
Grieche mit seiner mehr ruhigen und kontemplativen Natur ist nicht
von solcher Sehnsucht gepackt wie der alte Inder. Ihm sind auch die
Geburts- und Schaffungswehen des alten Inders bekannt. Seine
philosophischen Betrachtungen sind Betrachtungen des ruhig denken-
den und abgeklärten Menschen, dem das Philosophieren viel Ver-
gnügen macht und den jede philosophische Erkenntnis hoch erfreut.
Nicht der Durst nach dem Wort Gottes, nicht gewaltige Sehnsucht,
162
sondern ein ruhiger Wille zur Erkenntnis führte ihn auf die philoso-
phische Bahn. Aus diesem Grunde entwickelte sich die griechische
Philosophie normaler, und man möchte fast sagen erfolgreicher als
im alten Indien. Die Entwicklungslinie ist eine ziemlich gerade von
der Naturwissenschaft zur Naturphilosophie und von der Naturphilo-
sophie zum Seinsproblem und vom Seinsproblem zu einem verwickel-
ten und einem stark verzwickten Philosophie-System, das alle Fragen
des Lebens umfaßt. Diese wunderbare philosophische Struktur hat
rein philosophische Begriffe zur Grundlage und nicht Poesie und Ge-
müt, wie im alten Indien.
Im alten Judäa finden wir nicht die gewaltige philosophische Sehn-
sucht und den gewaltigen philosophischen Erkenntnistrieb der alten
Inder, der im schwerfälligen, poetischen Stammeln Ausdruck findet,
und auch nicht die klaren und zielbewußten philosophischen Bestre-
bungen der alten Griechen, weil die philosophische Zentralfrage: „Was
ist das Geheimnis des Seins und wer ist der erste Weltbeweger?"
weder das Gemüt noch den Verstand des antiken Juden interessierte.
Diese Frage beschäftigte ihn überhaupt nicht, und wenn er sie doch
beantwortete, tat er das nur nebensächlich. Die einzig große Frage,
die das Gemüt und den Verstand der antiken Juden beschäftigte, war
die Frage des menschlichen Lebens, der menschlichen Lebensordnung.
In den ersten Abschnitten der indischen und griechischen Philosophie
sehen wir eine starke Tendenz und ein starkes Bestreben, nämlich
das, einen gewissen Rhythmus im Reiche der Dinge, im Reiche der
Natur zu entdecken, aber in den ersten Abschnitten in der Bibel sehen
wir ein Bestreben, einen Rhythmus im Reiche der Menschen zu ent-
decken, eine Genealogie des Menschengeschlechts, eine Geschichts-
philosophie. Das Auge des Inders und des Griechen schaut nach
oben gen Himmel und nach Unten auf die Erde und versucht ausfindig
zu machen, was oben und was unten ist, was am Anfang und am
Ende der Dinge ist, aber der alte Jude betrachtet und vertieft sich
mehr in die Bewegungen des menschlichen Lebens, und das Reich
des Menschen interessiert ihn mehr als das Reich der Natur und als
all die großen Fragen, die die antiken Inder und Griechen bewegten.
Diese merkwürdige Erscheinung können wir nur durch den Subjekti-
vismus der alten Juden und durch ihre ersten historischen Erfahrungen
als Volk erklären. Jede philosophische Bestrebung, jede philosophische
Erkenntnis erfordert eine gewisse Seelenruhe, einen gewissen ruhigen
Gemütszustand und eine gewisse Erkenntnis. Die erforderliche Ge-
mütsruhe ging den alten Indern ab, aber sie hatten Erkenntnisgelegen-
11*
163
heit. Sie fingen nicht, wie die Juden, ihre Karriere in der Weltgeschichte
als Fronarbeiter an. Den alten Juden fehlte beides, Gemütsruhe und
Erkenntnisgelegenheit. Seit ihrem ersten Auftreten in der Geschichte
kannten sie weder körperliche noch Seelenruhe. Ein finsteres Schick-
sal zwang ihnen schon in frühester Zeit den Wanderstab in die Hand,
und ihr Kampf um die Existenz war schwerer als der jedes anderen
Volkes. Die alten Griechen und auch die alten Inder lebten in ihrem
Land, lebten ruhig und glücklich und waren ökonomisch so gestellt,
daß sie sich ganz der ruhigen Betrachtung hingeben und sich in die
Welträtsel vertiefen konnten. Die ersten Erfahrungen der alten Juden
aber waren ganz andere. Der Kampf im Reiche der Menschen, von
dem sie aus eigener Erfahrung ein trauriges Lied singen konnten,
machte auf ihr Gemüt, das Gemüt eines subjektiven Volkes, einen
unauslöschlichen Eindruck. Diese Erfahrungen lehrten sie, daß das
wesentliche Problem, das ihre eigene Existenz berührte, die Frage
des Lebens, die Frage des Lebensorganismus sei, und so sehr waren
sie in diese Frage vertieft, daß sie nicht einmal Zeit und Gelegenheit
fanden, die Kardinalfrage zu stellen: „Was ist das Geheimnis des
Lebens?"
Daraus ergibt sich, wie die praktischen Lebensbedingungen zum
Emporblühen des ethischen Gedankens in Judäa beitrugen und warum
die Philosophie im alten Judäa vernachlässigt wurde. Der ethische
Gedanke blieb bis auf den heutigen Tag der Schwerpunkt der jüdischen
Gedankenwelt. Auf dem Gebiet der Ethik haben sich die Juden seit
jeher ausgezeichnet und Vortreffliches geleistet. Nicht „Was ist das
Sein?", „Was ist der Anfang?" und „Was ist das Ende aller Dinge?",
sondern „Wie muß das menschliche Leben organisiert sein?" war
die Hauptfrage, die man sich im alten Judäa stellte. Während also
die Ethik in Verbindung mit der Religion der Schwerpunkt der antiken
jüdischen Gedankenwelt war, wäre es ganz verfehlt zu behaupten,
daß den antiken Juden philosophische Erkenntnis ganz fremd war.
Es ist wahr, die antiken Juden haben keine wissenschaftliche, keine
systematische Philosophie hervorgebracht, aber sie harten gewisse
philosophische Vorstellungen und Anschauungen, ein gewisses philo-
sophisches Panorama, das betrachtet zu werden verdient.
Eines der merkwürdigsten Paradoxe in der Geschichte des euro-
päischen Geistes und in der Geschichte der Philosophie ist es, daß
eine der zwei großen metaphysischen Lehren, der Dualismus, der
seit zwei Jahrtausenden den menschlichen Geist im Bann hielt und
jahrhundertelang die philosophische Überzeugung der Menschheit war,
164
aus Judäa stammt, das, wie gesagt, keineswegs ein Zentrum der
Philosophie war. Der metaphysische Dualismus, Gott und die Welt
im Gegensatz zum Pantheismus, lehrt das Vorhandensein zweier sich
gegenüberstehender Welten. Diese Lehre, die noch bis auf den heutigen
Tag die vorherrschende Volksmetaphysik ist, ist nicht als philosophi-
sches System, sondern als theologische Lehre in Judäa entstanden.
Zur Zeit, als diese Lehre zuerst in Judäa auftauchte, blühten im alten
Indien die Lehren des materialistischen Atheismus und Pantheismus,
und in Griechenland der grobkernige Hylozoismus. Nach und nach
wurde in beiden Zentren der Philosophie die innere Einheit der Welt
erkannt, in Indien mehr als geistige Einheit, in Griechenland mehr als
materielle Einheit. In Indien haben selbst die Vertreter einer mehr
idealistischen Weltanschauung die Existenz eines außerweltlichen Gottes
geleugnet, und nur in Judäa bekannten sich die Menschen zum Dualis-
mus — Gott und Natur, Leib und Seele. Bis auf den heutigen Tag
gibt diese Lehre allen Philosophen zu schaffen ; später erwarb sich
auch der Dualismus in Griechenland festes Bürgerrecht. Lange vor
Plato hatte schon Anaximenes einen Dualismus gelehrt, aber dieser
Dualismus hatte keinen starken Einfluß auf den philosophischen Ge-
danken in Hellas ausgeübt. Erst als Plato erschien und die große Lehre
von den Dingen und ihrer Veränderlichkeit und den unveränderlichen
ewigen Ideen aufstellte, reifte auch der Dualismus in Griechenland.
Es ist interessant zu beobachten, daß der platonische wie der hebräische
Dualismus, obgleich sie voneinander grundverschieden sind, eine Schöp-
fung des ethischen Genius ist. Im Reiche der platonischen Ideen ist
die Idee des Guten die höchste Idee. Der nachplatonische Dualismus
in Griechenland nähert sich mehr und mehr dem antiken jüdischen
Dualismus von einer Gegenüberstellung von Leib und Seele, Geist
und Materie, sensuelle Welt und intellektuelle Welt usw. Das ganze
Mittelalter hält an diesem Dualismus fest, und mit der Erneuerung der
Philosophie im sechzehnten Jahrhundert erfährt auch der Dualismus
eine Erneuerung. Cartesius eröffnet seine große Philosophie mit der
Erneuerung des Dualismus. Wie so viele vor ihm, unterscheidet auch
er zwischen Leib und Seele, die sich nur kraft der göttlichen Existenz
vereinigen. (Concursus, existencia dei.) Philosophisch ist der Dua-
lismus noch lange nicht überwunden. Selbst die neueste Philosophie
entzündet sich noch oft an dem dualistischen Problem.
Wenn wir die kleine Zahl Forscher, die sich zum Atheismus in
dieser oder jener Form bekennen, übersehen, wird uns gleich Klar-
heit darüber, daß alle Bemühungen des philosophischen Geistes in
165
die Frage zusammengepreßt werden können: „Wo ist Gott, innerhalb
oder außerhalb der Natur?"
Zu der Voraussetzung der Existenz Gottes kam der Mensch wohl,
als er sich in die Frage von der Beziehung zwischen Geist und Ma-
terie vertiefte. Wer ordnet und reguliert diese Beziehung? Auf diese
Frage antwortete man zuerst in Griechenland, daß das Prinzip des
Lebens im Leben selbst begründet sei, während man in Indien lehrte,
daß die Natur nur ein Ausschnitt des Geistes sei. Allein der Pantheis-
mus in seinen verschiedenen Brechungen hat den menschlichen Geist
nicht beruhigt, und nach einer langen philosophischen Entwicklung
gelangte er nach und nach zur dualistischen Erkenntnis, die Gott
über die Natur stellt, also zu einer Zeit, als man in Griechenland mit
den pantheistischen Lehren zu Ende war, und als man mit dem Dua-
lismus begann, war er in Judäa schon auf einer ziemlich hohen Ent-
wicklungsstufe. Während der Dualismus in Hellas das Produkt einer
langsamen philosophischen Entwicklung war, war er in Judäa spon-
tane intuitive Erkenntnis, eine Art philosophischer Eingebung. Der
antike jüdische Monotheismus hat sich natürlich auch entwickelt und
Formen angenommen, aber im Prinzip war er mit dem ersten Erschei-
nen der Juden in der Weltgeschichte sozusagen gegeben. Die antiken
Juden fingen da an, wo die Griechen endeten. Und das mag vielleicht
mit die Ursache gewesen sein, warum der philosophische Gedanke
in Judäa nicht aufkommen konnte. Dort anzufangen, wo die Anderen
endeten, verhinderte diejenige philosophische Entwicklung, die wir
in Hellas sahen und die im antiken Judäa ganz und gar fehlte. Seit
dem ersten Erscheinen der Juden in der Weltgeschichte hatten sie
ein bestimmtes philosophisches Panorama: der außerweltliche Gott,
der der Welt gegenübersteht und sie beherrscht.
Wenn schon dieses Überspringen einer langen philosophischen Ent-
wicklung im antiken Judäa den Werdegang des philosophischen Ge-
dankens nachträglich beeinflußte, so ist doch letzten Endes in vieler
Beziehung das Resultat in Judäa und Hellas fast das gleiche. Auch
in Hellas vermochte man nicht das Sein zu erkennen, und letzten
Endes mußte man sich mit der Erklärung begnügen: Gott ist das Sein.
In der Geschichte der arischen Völker ist diese These zum Inhalt der
Metaphysik und in Judäa zum Inhalt der Religion gemacht worden.
Wenn schon in Judäa keine philosophischen Lehrsätze aufgestellt
wurden, so hatten- doch die alten Juden eine ziemlich klare Ansicht
über viele philosophische Probleme, über Gott und seine Attribute,
über seine Beziehungen zur Welt. Der alttestamentarische Gott führt
166
sich selbst mit der Bezeichnung ein: „Ich werde sein, der ich sein
werde, dies ist mein Name und ist mein Gedächtnis für alle Zeiten1)."
Aus dieser seiner Selbstcharakterisierung wird es ziemlich klar, daß
das Wesen des einzigen Gottes in den Begriff des Seins gelegt ist.
Gott macht sich also als das Sein geltend, oder Gott ist das Sein,
und mit Recht bemerkt Kautzsoh, daß diese Stelle im Alten Testament
Moses zum Stifter des israelitischen Monotheismus macht. Wenn
Gott sich als das Sein geltend macht, kann wohl der Monotheismus,
wie ihn die Juden geschaffen haben, nicht mehr als rein theologische
Proposition angesprochen werden. Gott, der sich als das Sein geltend
macht, führt sich auch mit den Pronomen ein: „Ich werde sein, der
ich sein werde". Gott ist also nicht das allgemeine Sein, wie es ver-
schiedentlich vom Pantheismus aufgefaßt wird, sondern dieses gött-
liche Sein ist ein individuelles Sein, und dadurch stellt sich der jü-
dische Gott in Gegensatz zum brahminischen Atman, der weder
individuell noch extramundal ist. Gewiß, es ist kein zweites außer
Atman, aber es ist doch kein Anderes, von ihm Verschiedenes. Seine
Einheit ist gewahrt, aber nicht seine Individualität. In der hebräischen
Charakterisierung Gottes durch Ejeh ascher ehje: „Ich werde sein,
der ich sein werde", drückt sich aber beides, die Individualität und
die Universalität Gottes, aus. Und wenn man einwenden wollte, daß
der Begriff der Individualität den Begriff der Endlichkeit involviert
und daß der jüdische Gott wohl individuell und deshalb endlich ist,
so braucht man sich nur daran zu erinnern, daß Gott sich als das
Sein schlechthin geltend machen will.
Wie schon oben angedeutet, legt das antike Judentum das Schwer-
gewicht auf die Ethik. Der Begriff der Ethik involviert den Begriff
des Zweckes. Aus diesem Grunde setzt das antike Judentum teleolo-
gisch ein. Der Universalismus aber hebt die Teleologie von vornherein
auf, und was beide, Religion und Ethik, verlangen und worauf sie in
erster Reihe bestehen müssen, ist die Verwirklichung göttlicher Zwecke.
Der menschliche Verstand könnte sich vielleicht bei dem Gedanken
beruhigen, daß alle endlichen Ursachen bloße Erscheinungsformen
des göttlichen Wesens sind, aber das ethische und das religiöse Ge-
fühl des Menschen können unmöglich zugeben, daß die Allmacht
Gottes, anstatt die Welt zu begründen und zu regieren, sie geradezu
verschlingt, weil sie, wenn pantheistisch universalistisch aufgefaßt,
für alle endlichen Ursachen keinen Raum läßt. Auch die Gewißheit
unseres eigenen Ichs empört sich gegen diese allverschlingende Macht
*) Herrmann Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, S. 20.
167
des universalistischen Gottes. Es waren noch mehr ethische als rein
philosophische Bedenken, die den antiken Juden die Gewißheit von
der Individualität Gottes verschafften. Ist Gott nicht individuell, son-
dern nur universell, dann ist unser Denken und Wollen nur das Tun
Gottes in uns, und ist dies der Fall, wie sind dann Sünde und Irrtum
zu erklären, ohne die Möglichkeit von Sünde und Irrtum auch Gott
zuzuschreiben? Eine solche Möglichkeit würde jedoch den ganzen
Gottesbegriff vernichten. Gibt man aber nicht zu, daß unser Denken
und Wollen nur das Tun Gottes in uns ist, so muß man auch die In-
dividualität Gottes zugeben. Das antike Judentum, weil von vornherein
teleologisch, verhält sich positiv zu der Frage der Willensfreiheit und
zur sittlichen Verantwortung des Individuums. Unter anderem ist
auch der jüdische Gott ein sittliches Exempel. Nicht nur hat Gott dem
Menschen gesagt, was gut ist, um ihm die Wahl des Guten zu er<-
leichtern, sondern er steht immer vor seinen Augen als sittliches
Exempel, als das große sittliche Schulbeispiel — Gerechtigkeit und
Barmherzigkeit, Vergebung und Geduld, Liebe zu der Welt und Liebe
zum Menschen und all die anderen sittlichen Prädikate Gottes, die der
Mensch kennt. Gott als sittliches Schulbeispiel ist aber nur möglich,
wenn er individuell ist und nicht, wenn er universalistisch ist. Der
universalistische Gott hat dem Menschen gar nichts zu sagen. Er
mag zu uns in tausend Sprachen der Natur reden, aber er kann zu uns
nicht in der Sprache der Sittlichkeit reden, weil, verbunden mit der
Natur und gebunden an die Natur, ihm jedes sittliche Bewußtsein
abgeht.
Durch die Verbindung Gottes mit dem Sein — „Ich werde sein,
der ich sein werde" — bleibt das Verhältnis der jüdischen Religion
zur Logik gesichert und durch seine Selbstcharakterisierung als Indi-
vidualität — ich werde sein, der i ch sein werde — bleibt sein positives
Verhältnis zur Ethik gesichert. Das Wesen des jüdischen Monotheis-
mus besteht also nicht allein in der Einheit Gottes, sondern in der
Einzigkeit des Seins Gottes. Was die ganze Wesenheit des Seins aus-
macht, soll dem Menschen verborgen bleiben. „Mein Gesicht soll
nicht gesehen werden", sagte Gott zu Moses. Nur nachträglich mag
man ihn an seinen Taten und an seinem Werke erkennen.
Gegen die Individualität Gottes ist von philosophischer Seite der
Einwand erhoben worden, daß, obgleich sie von der selbständigen
Realität der Welt ausgeht, Gott entweder die Welt vernachlässige oder
daß er sie nur oberflächlich von außen stoße, und mit beiden Even-
tualitäten kann sich die menschliche Vernunft nicht zufrieden geben.
168
Der Frage Goethes: „Was wäre es für ein Gott, der nur von außen
stieße", sind schon die Männer der großen Synagoge vor mehr als
zwei Jahrtausenden mit den berühmten Wort zuvorgekommen: „Er,
der in seiner Güte die Weltschöpfung jeden Tag erneuert", und
dieses berühmte Wort wird von jedem rechtgläubigen Juden jeden
Tag in einem Gebet wiederholt. Der jüdische Gott stößt weder nur
von außen, noch verhält er sich gegen das Getriebe der Welt indifferent,
sondern er ist jeden Augenblick tätig, er ist ständig und immerfort
mit der Welt verbunden, weil er nicht nur ein individuell separater und;
distinkter, sondern auch ein allgemeiner Gott ist. Seine Allgegenwart
hat der Prophet Jesaja mit dem Worte zusammengefaßt: Melo kol
Haarez K'wodo — das ganze Universum ist voll seiner Herrlichkeit.
Die alte hebräische Metaphysik, die sich, wie gesagt, nur in
Bildern und Metaphern ausdrückt, gibt natürlich keine schulmäßige
Behandlung der Probleme Universalismus und Individualismus ; aber
es scheint, daß die alten Juden sich der Tragweite der Probleme und
ihres inneren Gegensatzes bewußt waren und versuchten, so gut sie
es konnten, beide miteinander in Einklang zu bringen, so wie sie die
Probleme von der Allweisheit Gottes und dem Prädeterminismus in
Einklang zu bringen versuchten. Dasselbe gilt auch vom Problem der
Ewigkeit Gottes. Nach antiker jüdischer Lehre ist Gott allmächtig,
allgegenwärtig und ewig, d. h. das göttliche Wirken hat keine Grenze
an Zeit und Raum. Gott ist völlig unzeitlich, d. h. über- und außer-
zeitlich und daher auch über- und außerörtlich, und doch sind Zeit
und Raum nicht bloß Anschauungsformen a priori und letzten Endes
Illusionen. Der Psalmendichter singt: „Tausend Jahre sind nur wie
gestern in deinen Augen." Wenn Gott überräumlich und überzeitlich'
wäre, so müßte man zugeben, daß Raum und Zeit für Gott gar nicht
existierten, daß sie also bloße Anschauungsformen unseres Denkens
seien und daß die Grundformen des endlichen Daseins leerer Schein
— also unwirklich seien. Mit diesem Gedanken konnte sich die antike
jüdische Metaphysik nicht befriedigen, und sie nahm daher an, daß,
obgleich Gott ewig ist, d. h. außer- und überzeitlich und außer- und
überräumlich, Raum und Zeit auch für Gott etwas seien. Ob sich die
antike jüdische Metaphysik die Ewigkeit Gottes so vorstellte, daß sie
eine nachweltliche oder eine vorweltliche sei, oder wie sonst sie sicH
seine Außerzeitlichkeit und Unendlichkeit vorgestellt, wird mit keinem
Punkt angedeutet. Aber was uns geistespsychologisch interessiert,
ist das Faktum, daß das antike Judentum bestrebt war, den Universa-
lismus und Individualismus in Gott zu vereinigen, es sich Gott zu-
169
gleich als zeitlich und außerzeitlich vorstellte. Seine Zeitlichkeit hängt
mit seiner Persönlichkeit und seine Außerzeitlichkeit mit seiner Allge-
meinheit zusammen. Auch in dem Begriff der Heiligkeit Gottes, wie
ihn die alte jüdische Metaphysik motiviert hat, drückt sich klar der
Gedanke aus, daß Gott nicht universal, sondern auch individuell ist.
Denn die antike hebräische Heiligkeit Gottes ist grundverschieden
von der brahmanischen und buddhistischen. Die letztere ist negativ
rein passiv und gemahnt an das Priesterliche, an das Kultische. Aber
die hebräische Heiligkeit Gottes ist gar nicht kultische Heiligkeit,
sondern Erhabenheit über menschliche Sünde und nicht passiv und
negativ, sondern positiver Widerwille gegen das Böse. Die hebräische
Heiligkeit Gottes ist sonach der Grund der sittlichen Weltordnung und
heilig ist fast identisch mit Gerechtigkeit, eine Manifestation des sitt-
lichen Wesens Gottes. Dieser Begriff der Heiligkeit Gottes kehrt bei
fast allen Propheten und ganz speziell bei Jesaja wieder.
Wenn man die Bibel auf ihren philosophischen Grundgehalt unter-
suchen wollte - bis jetzt ist es leider noch nicht geschehen — so wird
man finden, daß alle großen methaphysischen Probleme, auch die
Gemüter in Judäa bewegten, nur daß diese Probleme keinen schul-
mäßig philosophischen Ausdruck fanden und nicht in systematischer
Reihenfolge wie im antiken Hellas auftraten. Das antike Judentum,
ein System der Religion und Ethik, hat wohl ein philosophisches Pano-
rama, einen philosophischen Hintergrund, aber ist selbst keine Philo-
sophie. Dies erklärt, warum 'die Juden um rein philosophische Lehr-
meinungen innerhalb des Judentums so wenig stritten. Der Kampf
gegen Maimonides war ein persönlicher und rabbinischer, aber kein
philosophischer, und der Kampf gegen Spinoza war zum größten Teil
politisch motiviert. Das antike Judentum hat die philosophischen
Probleme zu vage formuliert, um die Juden zu veranlassen, sich um
philosophische Lehrmeinungen herumzustreiten. Jeder rechtgläubige
Jude bekennt sich noch heute zu dem Satze: „Die Lehre Moses ist
wahr", aber er faßt diesen Satz durchaus nicht dogmatisch auf wie
etwa die Vertreter der Kirche. Der Kampf zwischen Wissenschaft und
Religion, der die Gemüter des europäischen Menschen viele Jahr-
hunderte lang in Unruhe und Aufregung hielt, war den Juden immer
fremd. Die Rabbiner haben diesem Kampf mit dem Satz vorgebeugt:
„Die Thora hat viele Gesichter", d. h. sie kann verschiedenartig
interpretiert werden. Nicht die Kosmologie und die Biologie, die zwei
Kampfobjekte zwischen Religion und Wissenschaft, sind das Wesent-
liche im philosophischen Weltbild der alten Juden, sondern die Meta-
170
physik. Die jüdische Metaphysik, wie sie in der Bibel ihren Ausdruck
gefunden hat, ist weder von .der modernen Kosmologie, noch von def
modernen Biologie vernichtet worden.
Die Vertreter der neueren Philosophie, die sich fast alle negativ
zum Judentum und speziell zum /jüdischen philosophischen Weltbild
verhalten, faßten sie gar zu grob auf. Sie alle nahmen Anstoß an der
hebräischen Physik, an der Kosmologie und an der Biologie und über-
sahen vollständig ihre Metaphysik. Die Wahrheit ist aber die, daß die
antike hebräische Metaphysik sich im wesentlichen kaum von der arischen
Metaphysik unterscheidet. Wir finden in beiden dieselbe Problem-
stellung und dieselbe Problemreihe, nur daß die Probleme verschieden
formuliert werden, und wenn ein Unterschied vorhanden ist, so ist
dieser Unterschied ein Unterschied des Systems und der Methode, aber
nicht ein Unterschied im Inhalt. .
Die moderne Philosophie wird nicht müde, den hebräischen Gottes-
begriff als anthropomorphistisch zu brandmarken, und behauptet, daß
der anthropomorphistische Gott das Produkt einer niedrigen, fast
barbarischen Kultur wäre, mit der sich der moderne Mensch nicht ab-
finden könne. Aber schließlich können wir doch nicht aus unserer
eigenen Haut fahren. Der Homomensuras-Satz des Anaxagoras besteht
noch immer in einem gewissen Sinn zu Recht, und Goethe, der den
letzten Dingen doch näherstand als gewöhnliche Sterbliche, weil er von
den ursprünglichen Quellen des Lebens schöpfte, meinte auch, daß all
unsere Erkenntnis anthropomorphistisch ist und so motiviert sein
muß. Einen ähnlichen Standpunkt nahm auch Friedrich Nietzsche ein,
und Reinke, den man sicherlich nicht einer besonderen Liebe zum
Judentum verdächtigen kann, sagt in seiner Einleitung in die theore-
tische Biologie klar und deutlich: „Wir können über die Natur nur
nach Maßgabe unseres Erkenntnisvermögens denken, das ist die Grund-
voraussetzung alles Forschens, durch die allerdings die Gewißheit
eine anthropomorphistische Grundlage erhält." Heute, wo wir wissen,
daß die ganze Zivilisation eine rein anthropomorphistische Grundlage
hat, läßt sich kaum mehr behaupten, daß der Anthropomorphismus das
Produkt der niederen Kulturstufe ist. Siehe da! das Christentum be-
kennt sich zwar nicht zu einer anthropomorphistischen, aber doch zu
einer biologischen Gottheit, denn die christliche Gottheit ist durch
Geburt und Tod gegangen, und trotzdem hat noch kein christlicher
Philosoph dem Christentum daraus einen Vorwurf gemacht. Immanuel
Kant, der sich über den jüdischen Anthropomorphismus so aufregte,
ignorierte gänzlich den Biologismus der christlichen Gottheit. In Wahr-
171
heit ist weder der jüdische Gottesbegriff anthropomorphistisch, noch
ist der christliche Gottesbegriff biologisch. Die Persönlichkeit des
jüdischen Gottes und die Menschlichkeit des christlichen Gottes —
Geburt und Tod — verhindern nicht den metaphysischen Wesensgehalt
beider. Beide sind aus dem Geist der Metaphysik geboren. Menschen
können aber nur menschlich denken und können auch nur in rein
menschlichen und nicht in göttlichen Begriffen denken, und wer Gott
sagt, der muß auch Gott in der einen oder in der anderen Form Persön-
lichkeit zuschreiben, oder er schwört auf den Pantheismus. Das Grund-
legende jeder Metaphysik, die den Namen Metaphysik verdient, ist
dieses, daß die Welt der Sinne und Erscheinungen, die sich unserem
Auge offenbart, nur ein Teil und eine Manifestation des Seins ist,
und daß es außer diesem Teil und außer dieser Manifestation des
Seins noch etwas anderes gibt, was über- und außernatürlich ist, d. h.
die Welt der Sinne und der Erscheinungen bildet nicht den ganzen
Inhalt des Seins. Der Mensch, dessen Geist in fünf Sinne eingeschlossen
ist und nur vermittels dieser Sinne mit der Welt kommunizieren kann,
kann eben von dem, was jenseits, über und außer diesen Sinnen ist,
nichts begreifen und nicht mit ihm in Berührung treten. Dieser, dem
Menschen nicht erkennbare Teil des Seins, ob wir es Ding an sich
nennen, ob das Konstante im Wechsel der Erscheinungen, ob das Sein
ist der Mittelpunkt aller Metaphysik, und im letzten Grunde auch aller
Religion. Was Plato unter Idee versteht, was Kant unter Ding an
sich versteht, verstanden die antiken Juden unter dem ehje ascher
ehje, das ist ewiges Sein ohne Anfang und ohne Ende. Die biblische
Metaphysik drückt sich nicht in philosophischen Begriffen aus wie die
arische, sondern in Bildern und gibt dem Seinsbegriff eine individuelle
Brechung. Aber diese individuelle Brechung ist nur etwas Formelles.
Sie ist „menschlich", aber sie darf nicht als anthropomorphistisch an-
gesprochen werden, insbesondere da auch das biblische an und für
sich Seiende weder Zeit noch Raum noch Kausalität unterworfen ist.
Die biblische Metaphysik stipuliert klar und deutlich, daß Gott ewig
und unendlich ist, daß er ohne Anfang und ohne Ende im Raum ist,
daß er das Konstante im Wechsel der Erscheinungen ist, d. h. keiner
Veränderung und keiner Ursächlichkeit unterworfen ist. Wer die
Bibel vom Gesichtspunkt der Metaphysik gelesen, hat, weiß, daß es
im Wesentlichen keinen prinzipiellen Unterschied gibt zwischen dem
Seins- und Gottesbegriff rjer Bibel und dem der arischen Philosophie.
Die Prädikate Gottes werden in der Bibel zu oft genau beschrieben,
als daß irgendeine andere Auffassung zulässig wäre. Und wenn es
172
irgendeinen wesentlichen Unterschied zwischen der biblischen und
der arischen Metaphysik gibt, so besteht dieser Unterschied darin,
daß, während über der biblischen Metaphysik ein poetischer Geist
schwebt und sich in menschlichen Bildern ausdrückt, die arische Meta-
physik abstrakt und begrifflich ist. Weil die jüdische Metaphysik nicht
schulphilosophisch ist, ist sie das Gemeingut des ganzen Volkes ge-
worden, während die arische Metaphysik nur Schulphilosophie ge-
blieben ist.
Der aus der antiken jüdischen Metaphysik hervorstechende Dua-
lismus hat auch sein Analogon in der arischen Metaphysik. Plato teilt
die Welt ein in die Welt der Dinge und dinglichen Erscheinungen, die
dem Wechsel unterworfen sind, und in eine Welt der Ideen, die kon-
stant und der Veränderlichkeit nicht unterworfen sind. Auch Aristo-
teles führt ein dualistisches Moment in die Philosophie ein dadurch,
daß er Materie und Form unterscheidet, und die Neoplatoniker lehren
ausdrücklich das Vorhandensein zweier Welten, die rein körperliche
und die rein geistige Welt. Descartes erneuert den antiken Dualismus.
Er unterscheidet zwischen Res extensae und Res cogitatae und be-
hauptet, daß beide nur durch das Zwischentreten Gottes zusammen-
gehalten werden. Bei Kant kehrt der Dualismus wieder in der Postu-
lierung einer phänomenalen und numenalen Welt wieder, bei Schopen-
hauer in der scharfen Gegenüberstellung von Wille und Vernunft.
Dieses dualistische Analogon in der arischen Metaphysik zeugt nur
von der logischen Kontinuität in der Geschichte des Geistes, und diese
Kontinuität ist darauf begründet, daß die Menschen überall und zu
allen Zeiten den gleichen Naturgesetzen unterworfen sind und daß die
menschliche Logik überall die gleiche ist. Die Erkenntnis des Menschen
mag sich verschiedenartig ausdrücken — der Ausdruck ist schon ein
Produkt der Zeit und der Umgebung, aber der Inhalt der Erkenntnis
muß überall der gleiche sein. Dies erklärt die augenscheinlich merk-
würdige Erscheinung, daß zwei so grundverschiedene Systeme der
Kultur, wie das arische und das hebräische zu einer ähnlichen oder
zu einer gleichen Erkenntnis der letzten Dinge gekommen sind und
eine ähnliche Metaphysik geschaffen haben.
Wenn ein Unterschied zwischen dem metaphysischen Gedanken
der Arier und der antiken Juden existiert, ist dieser Unterschied kein
prinzipieller, sondern ein gradueller. Beide geben den Dualismus zu,
beide legen Gott ähnliche Prädikate bei und beide interessieren sich
für dieselben Probleme usw. Nur daß die hebräische Metaphysik nicht
dieselben tragischen Töne verlautbart wie die arische. Seit den Tagen
173
von Plato hören wir die arischen Philosophen über die Welt der Sinne
klagen. Sie klagen über die Dinge oder über den Willen, der die Men-
schen mit Blindheit schlägt und der wie eine eiserne Wand zwischen
ihnen und der wahren Welt, zwischen der Wirklichkeit und der Wahr-
heit steht. Über der hebräischen Metaphysik jedoch schwebt ein Geist
von Freundlichkeit und Ruhe, weil sie auf die Biologie we-
niger Gewicht legt und weil sie den Konflikt zwischen
der sinnlichen und der übersinnlichen Welt nicht so
scharf hervortreten läßt wie die arische Metaphysik.
Die arische Metaphysik zum Beispiel, die sich ursprünglich an der
Physik entzündet, mußte mit mechanischer Notwendigkeit zum theo-
logischen Schuldbegriff kommen, denn Prädestination, wie sie der
heilige Augustinus auffaßt, ist nur ein Analogon zum Determinismus
in der Biologie. Auch die jüdische Metaphysik spricht vom Schuld-
begriff. „In Sünde hat mich meine Mutter gezeugt", klagt der Psalm-
dichter, oder: „Das menschliche Sinnen ist schlecht von seiner Jugend
an", klagt schon der Verfasser des ersten Buches Mosis. Aber der
Schuldbegriff in der hebräischen Metaphysik ist so abgetönt und ist
so hingeworfen, daß er den metaphysischen Horizont nicht verfinstert,
wie es bei den Ariern der Fall ist. Auch die synthetisch-intuitive Denk-
weise der antiken Hebräer hat viel mit der Ruhe, die die hebräische
Metaphysik auslöst, zu tun. Die hebräische Metaphysik ist, wie schon
angedeutet, ein Produkt des intuitiven Denkens im Gegensatz zu der
arischen Metaphysik, die ein Produkt des analytischen Denkens ist.
Trotz des Dualismus, den die hebräische Metaphysik lehrt, hat sich
in ihr kein Riß zwischen Wahrheit und Wirklichkeit oder Sinnenwelt
und Ideenwelt entwickelt, weil sie eben synthetisch-intuitiven Ur-
sprungs ist. Dies erklärt auch die Annäherung zwischen Willen und
Vernunft in der hebräischen Metaphysik, eine Annäherung, die ihren
höchsten Ausdruck in dem synthetischen Begriff Deah gefunden hat.
Deah heißt im Hebräischen sowohl Erkenntnis als Liebe, und selbst
ein solcher Häretiker wie Spinoza konnte sich über diese uralte he-
bräische Tradition nicht hinwegsetzen, als er sein Amor Dei Intellek-
tualis lehrte. Aus diesem Grunde finden wir in der hebräischen Ethik
auch nicht den Extremismus, den wir in der arischen Ethik finden.
Die hebräische wie die arische Ethik anerkennt die Existenz von Gut
und Böse in dieser Welt, aber sie schließt nicht wie die arische Ethik
damit, daß diese Welt nur aus absolut guten und absolut bösen Men-
schen besteht, und will auch nicht gestehen, daß die Welt der Sinne
oder die Welt der Erscheinungen im ganzen sündenbeladen ist, wie
174
es die arische Metaphysik lehrt. Denn wäre nach hebräischer Auf-
fassung die Sünde mit der Natur gesetzt, dann würde der Prophet
nie dazu kommen, eine Zeit vorauszusagen, in der der Wolf und das
Lamm zusammenhausen werden, d. h. daß die biologische Natur auch
ethisch entwicklungsfähig sei.
Alles in allem bietet die hebräische Metaphysik ein merkwürdiges
Bild von den geistigen Bewegungen und von der geistigen Intensität im
alten Judäa. Obgleich naturwissenschaftlich ganz ungeschult und philo-
sophisch auch nicht geschult und, ohne den Verstand an philosophischen
Begriffen geschärft zu haben, ist es doch den antiken Juden gelungen,
ein metaphysisches Panorama zu schaffen, das in seinen Grundstrichen
von dem philosophischen Weltbild der alten Griechen gar nicht so ver-
schieden ist. Nur daß, wie gesagt, die arische Metaphysik wohl selbst-
bewußte und ernst-tragische Töne findet und zuletzt in Pessimismus aus-
klingt, während die hebräische Metaphysik grundsätzlich nicht sehr ver-
schieden von der arischen, ein einziges, ununterbrochenes Hohes Lied
des Optimismus ist und optimistisch ausklingt. Der antike Jude betrach-
tete eben die Welt als die Welt ewiger Wiederkehr innerhalb des Weltalls
mit frohem, lebensfrischem Gemüt und nicht nur mit dem Verstand
allein, wie es der arische Denker tut. Dies erklärt auch, warum die
hebräische Metaphysik, zum größten Teil wenigstens, zum Gemeingut
der Menschheit geworden ist, während die Schulphilosophie der ari-
schen Denker nur zum Gemeingut einer kleinen Gelehrtenrepublik
werden konnte. Die arische Philosophie hat die formale Logik ge-
schaffen. Die einfache und oft naive Gedankenwelt der antiken Juden
hat keine Logik geschaffen, aber trotzdem ist der hebräische Gottes-
begriff logisch viel solider als der arische Gott es begriff. Der Schwer-
punkt im arischen Gottesbegriff ist die Tatsache des Seins Gottes.
Seine Attribute und Prädikate interessieren den arischen Gläubigen
kaum. Er fragt selten: „Was ist Gott?" Ihn interessiert nur die Tat-
sache der Existenz Gottes. Der Jude dagegen legt weniger Schwer-
gewicht auf die Tatsache des Seins Gottes, als auf die Attribute Gottes,
die den Inhalt des religiösen Glaubens bilden. Nicht der Glaube an
Gott an sich interessiert ihn, sondern der Inhalt des Glaubens, denn
der hebräische Gottesbegriff ist teleologisch, er ist zwecksetzend, er
ist, wie schon oben angedeutet, ein ethisches Schulbeispiel. Die Grund-
lage des hebräischen Gottesbegriffes ist die ethische Erkenntnis, die
sittliche Verwirklichung, die Annäherung an Gott. Der Jude bekennt
sich zum Glauben an das Dasein Gottes, weil er Gott definieren kann.
Er kann manches von ihm aussagen, er kann seine Weisheit teilweise
175
erklären, aber welche Logik steckt in dem formalen Glauben an das
Dasein Gottes, dessen Attribute keinem bekannt sind, dessen Wesens-
inhalt unbekannt ist? Ein solcher Gottesbegriff ist ein leerer Begriff.
Der Satz, der Gott Israels lebt und existiert, ist nicht nur eine religiöse
Phrase, sondern er enthält einen tiefen philosophischen Gedanken.
Gott lebt und erscheint uns lebendig durch seine Attribute und Prä-
dikate, aber der Gott der arischen Schulphilosophie ist ein toter Gott,
weil er nur ein leerer Begriff ist, und daher auch natürlich ein ateleolo-
gischer Gott. Und so kommt es, daß das sozusagen alogische Judentum
einen logischen Gott geschaffen hat, während das logische Ariertum
einen Gott geschaffen hat, der weder logisch noch ethisch ist, sondern
nur ein leerer metaphysischer Begriff. So zeugt auch die hebräische
Metaphysik oder das metaphysische Weltbild der alten Hebräer für
die Eigenartigkeit und Individualität des antiken jüdischen Geistes,
der, obwohl dem arischen Geist so wesentlich verwandt, ihm doch
in vieler Hinsicht fremd gegenübersteht.
176
Neuntes Kapitel.
Sprache und Schrifttum.
Das jüdische Volk und die jüdische Literatur. — Die linguistische Begabung
der Juden. — Das hebräische Element in jüdischen Dialekten. — Die Kontinuität
der hebräischen Literatur. — Die Sprache der alten Juden. — Charakteristische
Merkmale der hebräischen Sprache. — Hebräisch — eine Sprache von Haupt-
wörtern. — Hebräische Synonyme. — Die Unmittelbarkeit des Ausdrucks. —
Ausdrucksweise der antiken Juden. — Hebräisch eine Sprache der Affekte. — Die
althebräische Prosa. — Die prophetische Beredsamkeit. — Der Gedankenrhythmus
in den prophetischen Büchern. — Die Naivität der althebräischen Poesie. —
Charakter der hebräischen Poesie. — Die althebräische Poesie ist nicht differen-
ziert. — Die Bibel ist ein Buch von Bekenntnissen. — Althebräische Offenherzig-
keit. — Das naiv-kosmische Bewußtsein der Propheten. — Die antiken Juden und
das Drama. — Die Juden werden Gesetzesvolk — die Konsequenzen. — Bibel
und Talmud. —
Zu den großen geistigen Schöpfungen des jüdischen Volkes gehört
auch seine Literatur, die, nach einem schönen Worte Gustav Karpeles
vor allen anderen den Namen einer nationalen Literatur verdient, weil
die Zeit seiner nationalen Größe auch die Blüte seiner Literatur sei
Die hebräische Sprache hingegen ist keine besondere Schöpfung der
alten Juden, da sie sie mit anderen Völkern teilten. Wie andere No-
maden- und Wüstenvölker semitischer Rasse keinen Monotheismus
geschaffen und keine Propheten hervorgebracht haben, so haben auch
die hebräisch sprechenden Völker keine Literatur für die Juden ge-
schaffen. Die hebräische Literatur ist, wie wir bald sehen werden,
trotz der hebräischen Sprache entstanden. Die Juden fingen an — nach
Ansicht der modernen Semitologie — , sich des Kanaanischen (He-
bräischen) zu bedienen, als diese Sprache die Höhe ihrer Entwicklung
schon längst überschritten hatte. Trotzdem aber vermochten es die
alten Juden, dieser schon im Verfall befindlichen Sprache eine eigene
Ausbildung zu geben. Die Tatsache, daß die alten Juden eine, wenn
12 Melamed
177
auch der ihrigen (dem Chaldäischen) verwandte Sprache übernommen
haben, dient dazu, die verworrenen Sprachverhältnisse der Juden zu
klären, seit Hebräisch aufgehört hat, eine „lebendige" Sprache zu
sein. War es nicht ein atavistischer Rückfall, daß die Juden noch vor
der Zerstörung Jerusalems wieder zum Aramäischen griffen? Manche
Forscher vertreten die Ansicht, daß Hebräisch als die Volkssprache
der Juden gleich nach der babylonischen Gefangenschaft zu leben auf-
gehört habe. Demnach habe Hebräisch unter den Juden nur etwa
ein halbes Jahrtausend gelebt. Es ist nicht hier die Stelle, diese Be-
hauptung auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen. Es sei nur beiläufig er-
wähnt, daß die Juden alter und neuer Zeit ihre Sprache leicht wech-
seln und die neu angenommene Sprache ebenso schnell und leicht
meistern wie die alte. Von Daniel und Philo bis auf die jüdischen
Troubadoure in Spanien und auf die jüdischen Minnesänger in Deutsch-
land, von den arabisch schreibenden Juden des Mittelalters bis auf
Mendelssohn, Heine und Börne kehrt diese Erscheinung immer wieder.
Die Juden haben immer eine linguistische Begabung an den Tag ge-
legt. Der beste deutsche Metriker der Gegenwart ist ein Jude, Ludwig
Fulda, dessen deutsche Moliere-Übersetzung die französischen Gelehr-
ten entzückt. Der französische Philosoph Bergson, der Enkel eines pol-
nischen chassidischen Rabbi, wird von den Franzosen als maitre ecrivain
gefeiert, und Israel Zwangwill rühmen die Engländer als den zeitgenössi-
schen Schriftsteller, der das Englische fast so meistert wie Dickens.
Trotz der linguistischen Begabung der Juden gilt von der he-
bräischen Sprache, wie sie von Juden geschaffen worden war, was
einst Fornelli von der Sprache einer Nation im allgemeinen aussagte.
Die hebräische Sprache, wie sie die Juden übernommen und ent-
wickelt haben, bildet bis auf den heutigen Tag einen bedeutenden
Faktor in ihrem Leben und kontrolliert die Bewegungen ihres Geistes
- obwohl sie schon mehr als zwei Jahrtausende „tot" ist. Die Juden
haben das Hebräische nicht entdeckt, aber sie haben der Sprache
das Siegel ihres Geistes so aufgedrückt, daß sie nur noch als rein
jüdisches Produkt angesprochen werden darf.
Wenn man nun dagegen einwenden wollte, daß die Juden doch
schon mehr als zwei Jahrtausende ohne ihre nationale Sprache exi-
stieren und daraus geschlossen werden müßte, daß Hebräisch gar
keinen bedeutenden Faktor in ihrem Leben gebildet hätte, so wäre dar-
auf zu erwidern: 1. Es braucht hier nicht speziell auseinandergesetzt
zu werden, daß die jüdische Religion, die eine heilige Schrift hat,
wenn auch nicht die einzige Ursache der jüdischen Erhaltung, so doch
178
jedenfalls eine der Ursachen war, die das Judenvolk vor dem Unter-
gang bewahrt hat. Und die jüdische Religion kann nur hebräisch ge-
pflegt werden, es sei denn, daß man amerikanischen Reformrabbis
es nachtue und eine blut-, nerven- und farblose Afterreligion schaffe,
die mit dem eigentlichen Judentum ebensowenig zu tun habe, wie der
leblose Theismus gewisser anglo-sächsischer Prediger mit dem Christen-
tum etwas gemein hat. Unter den verschiedensten Umständen be-
dienten sich die Juden der Sprache ihrer Wirtsvölker, aber was die
Juden innerlich zum großen Teil zusammenhielt, die gemeinsame Re-
ligion mit ihrem heiligen Schrifttum, das war ihre gemeinsame innere
Sprache, das geistige Verständigungsmittel der Juden zu allen Zeiten.
Seit zwei Jahrtausenden oder schon länger wird von den jüdischen
Massen nicht mehr hebräisch gesprochen, aber deswegen hat die
hebräische Literatur doch nicht aufgehört zu leben oder zu blühen.
Was gedanken- und gemürsreiche Juden, die ihrem Volke ergeben sind,
ihrem Volke und der Menschheit zu sagen haben, sagen sie in he-
bräischer Sprache. Nicht nur verstand jeder Jude mehr oder weniger
diese Sprache, mochte er in Spanien, in Polen oder in Deutschland
leben, sondern er bediente sich ihrer in einer Weise, die dem Fernr
stehenden kaum verständlich war. Alle abstrakten Begriffe im jüdisch-
deutschen Jargon, oder im Ladino, im spanisch-jüdischen Jargon, der
in den Balkanländern viel gebraucht wurde, sind durchwegs hebräisch.
Das gleiche gilt vom arabisch-jüdischen und vom persisch-jüdischen
Jargon. Der Gebrauch von hebräischen Abstrakta in diesen von Juden
gebrauchten Dialekten geht so weit, daß ganz neue, aus dem Hebräi-
schen abgeleitete Formen gebildet werden. Zudem ist zu bedenken,
daß die große Mehrzahl des Volkes und bis vor kurzem auch das
ganze Volk rechtgläubig war und alle religiösen Gesetze und Gebräuche
beobachtete. Das Gesetz aber ist in hebräischer Sprache abgefaßt.
Der strenggläubige Jude macht keine Bewegung im Leben, ohne sich
an dem Gesetz zu orientieren. Das hebräisch abgefaßte Gesetz kon-
trolliert die Bewegungen des jüdischen Individuums von der Wiege
bis zur Bahre noch genauer als das Gefängnis die Bewegungen eines
Sträflings. Der strenggläubige Jude betet nicht nur dreimal täglich
hebräisch, sondern er verrichtet auch einige Dutzend kleinere he-
bräische Gelegenheitsgebete im Laufe des Tages. Die ganz From-
men verrichten hundert solcher Gebete im Laufe des Tages. Jeden
Samstag wird dem Juden ein Abschnitt der Thora in der Synagoge
im Original vorgelesen. An jedem Freitag liest er selbst diesen Ab-
schnitt zweimal hintereinander. Die im Talmud Bewanderten widmen
12*
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bis auf den heutigen Tag einen großen Teil ihrer Zeit dem Talmud-
studium. Wer weniger gelehrt ist, lispelt PsaJmen auswendig. Jetzt
mache man sich einen Begriff, wie weit noch der heutige streng-
gläubige Jude mit der hebräischen Sprache verwachsen ist. Im Hin-
blick auf diese Tatsache hat Ernest Renan mit Recht die hebräische
Sprache als noch lebend bezeichnet. Die hebräische Literatur hat
immer gelebt und blüht jetzt stärker und prächtiger denn je. Noch
nie hat es so viele phantasiereiche und ausdrucksgewaltige hebräische
Dichter gegeben wie jetzt. Der hebräischen Sprache sind zu allen
Zeiten große Dichter und Denker entstanden; das hätte nicht wohl
der Fall sein können, wenn diese Sprache dem Volksbewußtsein gänz-
lich abgestorben wäre. Das Verhältnis der Juden zu der nationalen
Sprache in den letzten zwei Jahrtausenden beweist, daß sie neben
der Religion der wichtigste Faktor im nationalen Leben war. Aus
diesem Grund ist es doppelt wichtig, die Sprache und das Schrifttum
in den Kreis unserer Betrachtungen zu ziehen. Die hebräische Sprache
bildet selbst heute nicht nur eine zusammenhaltende Kraft, sondern
sie regelt durch ihre Formen die Bewegungen des Geistes. Einem
zeitgenössischen hebräischen Schriftsteller, dem eine europäische
Sprache zur Gewohnheit geworden ist, mag sie weniger ihr Siegel
aufdrücken. Sie muß aber den antiken Juden ganz in ihren Bann ge-
halten haben, denn die Geschlossenheit und Festigkeit ihrer Formen
weisen den Gedankenreihen bestimmte, unabweisbare Bewegungen,
so daß sie geradezu despotisch sich dem Geiste aufbürdet.
Wie der hebräische Kulturgedanke aus einer geographischen
Mitte hervorgegangen ist, so die hebräische Sprache aus einer völ-
kischen. Die Sprache der alten Juden gehört zu einer Sprachenfamilie,
die man seit Einhorn als die semitische bezeichnet. Da aber in der
Genealogie des Alten Testaments die Kanaaniter nicht als Nach-
kommen Scheins bezeichnet werden und Hebräisch im Alten Testament
als die Sprache Kanaans charakterisiert wird, so ist die Bezeichnung
des Hebräischen als semitisch formell unanfechtbar formell, aber
nicht in der Sache selbst: denn die althebräische Sprache gehört, ob-
gleich sie von vollständig eigenartiger Ausbildung ist, dem semitischen
Sprachstamm an und nimmt eine Mittelstellung zwischen nordsemitisch-
aramäisch und südsemitisch-arabisch ein. Wie alle semitischen Spra-
chen weist auch das Hebräische das Charaktermerkmal des Triliteris*-
mus auf. Alle Begriffswurzeln bestehen nur aus zwei Konsonanten.
Die begleitenden Vokale werden zur Nuancierung der Wurzel in den
verschiedenen Formen von Nomen und Verbum verwendet. Nur
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die Konsonanten werden als Buchstaben geschrieben, während die
Vokale durch Zeichen ausgedrückt und angedeutet werden. Von dem
Wortreichtum dieser Sprache ist sehr viel verloren gegangen, gegen-
wärtig sind etwa 10 000 Worte bekannt.
Was in dieser Sprache sofort auffällt, ist der Reichtum an Sub-
stantiven und die Armut an Verben. Bekanntlich exemplifizierte schon
Baruch Spinoza seine Substanzlehre an dem übermäßigen Reichtum
an Substantiven in der hebräischen Sprache. Alle großen Hebräisten
seit Gesenius haben auf dieses Faktum hingewiesen, ohne eine psycho-
logische Erklärung versucht zu haben. Mir scheint der Grund für
diese Erscheinung sehr einfach. Die Sprache bildet sich an dem Leben.
Ein an Zivilisation reiches, tätiges Volk wird eine an Verben
reiche Sprache schaffen und bilden, während ein an Zivilisation armes
und ein primitives Leben führendes Volk, das noch dazu einer un-
wirklichen Geistigkeit ergeben ist, nur substantivisch denkt und spricht.
Man kann die Probe aufs Exempel stellen, wenn man die Zahl der
Verben, die ein Hirt oder Bauernknecht am Tage gebraucht, und
die Zahl der Verben, die ein Arbeiter am Tage gebraucht, zählt und
vergleicht. Es wird sich dann ergeben, daß der Industriearbeiter oder
Handwerker oder Handelsmann drei- bis fünfmal so viele Verben ge-
braucht als der Hirt oder Bauernknecht.
Ein zweites und sehr wichtiges Charakteristikum der hebräischen
Sprache sind die vielen Synonyma und die sinnverwandten Wörter.
So zum Beispiel hat die hebräische $P räche für Regen zehn Aus-
drücke, die alle unglaublich feine Nuancierungen aufweisen ; für den
Begriff Bedrückung elf verschiedene Ausdrücke; für die Beobachtung
des Gesetzes fünfundzwanzig Synonyma; für den Ausdruck des Gottes-
vertrauens vierzehn Synonyma; für die Vernunft zwölf Synonyma usw.
Daraus ist wohl zu ersehen, daß die Armut an Verben in der hebräi-
schen Sprache wohl für den Mangel an Zivilisation (Industrie, Tech-
nik, Handel, Politik usw.) zeugt, nicht aber für den Mangel an Kultur.
Ein Hirt, der für seine tägliche Sprache nur weniger Verben bedarf,
hat auch keine zwölf Bezeichnungen für Vernunft. Der übergroße
Reichtum der hebräischen Sprache an Wörtern, die sich speziell auf
das Landleben beziehen, besagt aber zumindest so viel, daß die alten
Juden Ackerbau und Viehzucht trieben, denn an kommerziellen und in-
dividuellen Begriffen ist das Althebräische so arm, daß selbst der Aus-
druck für Handel fehlt.
Wegen des Reichtums an Substantiven, so bemerkt Ewald mit
Recht, eignet sich die hebräische Sprache wie keine andere zur Dar-
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Stellung des raschen Wechsels aufeinanderfolgender Bilder. Die Er-
zählung der alten Hebräer, das kann man aus dem Buche Ruth oder
aus dem Buche Esther ersehen, ist sehr einfach und naiv, und von
der Naivität der Erzählung darf man mit Recht auf die intellektuelle
Unerfahrenheit der alten Juden schließen. Die einzelnen Tatsachen
und Bilder werden handgreiflich nebeneinander hingeworfen. Daß
die Bilder immer richtig sind und auf ihrem richtigen Platz stehen,
ist auf den ungetrübten und ungebrochenen Instinkt des naturfrischen
Menschen und nicht auf irgendeine Reflexion zurückzuführen. Wenn
nun gesagt wurde, daß die hebräische Sprache wegen ihrer Armut an
Verben sich für oratorische Zwecke nicht eignet, insbesondere weil
die Grammatik der semitischen Sprachen die Einschachtelung von
Satzgliedern nicht zuläßt und daher die Sätze kürzer sein müssen,
so ist darauf mit dem Faktum zu erwidern, daß die Propheten als
Redner doch wohl Beträchtliches geleistet haben. Eine wirksame und
zündende Beredsamkeit richtet mit dem Substantiv immer noch mehr
aus als mit dem Verbum, insbesondere wenn demselben einige Kraft-
adjektive vorangehen. Speziell für die geistliche Rede hat sich die
Bibel als Fundgrube erwiesen. Wenn man alle großen Stilisten der
Neuzeit bis auf Nietzsche auf ihre Sprachtechnik genau beobachtet,
wird es einem gleich klar, daß die Wirkung eines Stils auf den über-
mäßigen Gebrauch des Substantivs zurückzuführen ist. Friedrich
Nietzsches „Also sprach Zarathustra" ist wohl ein bezeugendes Bei-
spiel. Der übermäßig lange Satz, der beim Leser und beim Zuhörer
ein Gähnen auslöst, ist überreich an Verben. Der berüchtigte juristische
Packpapierstil ist mit Verben verankert, die Prosa Ludwig Börnes,
Goethes und Schopenhauers mit Substantiven.
Dem Reichtum an Substantiven in der hebräischen Sprache steht
nicht die relative Armut an Verben, sondern auch an verbalen und
temporalen Formen gegenüber. Hebräisch hat sieben und Arabisch
elf Konjugationen. Dem Hebräischen fehlt auch das eigentliche Pas-
sivum und das ursprüngliche Energeticum. Die Armut an tempo-
ralen Formen teilt es jedoch mit vielen anderen semitischen Sprachen.
Gleich diesen fehlen auch dem Hebräischen die zwei Hilfsverben Sein
und Haben. Auch die Entwicklung des Modus ist mangelhaft geblieben.
Reicher hingegen sind die Formen für die Intensität der Handlung
und für die reziproken und akkusativen Bezeichnungen. An ver-
balen und temporalen Formen ist *auch die Syntax nicht genügend aus-
gebildet. Der hebräische Periodenbau ist klein und primitiv und be-
ruht auf dem System der Koordination. Die Rede dagegen ist frei
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und fließend, weil sie nicht mit zu vielen Hilfszeitwörtern und Für-
wörtern belastet ist, aber ihr fehlt die Fähigkeit, durch Zusammen-
setzungen leicht neue Wörter zu bilden. Liest man jedoch die Pro-
pheten oder die Psalmen, so geht einem gleich auf, was die Juden
aus dieser armen Sprache gemacht und wie sie ihren schweren Ge-
dankenrhythmus in sie gepreßt haben, ohne ihre Fesseln zu sprengen.
Die Tätigkeit des Essens z. B. wird auch zugeschrieben: 1. dem Feuer,
2. der Hitze, 3. dem Eifer, 4. dem Zorn, 5. der Schande, 6. dem
Schwert, 7. der Krankheit, 8. dem Fluche und 9. dem Lande. Die Be-
deutung dieses einen Wortes erweitert sich dann zum Verderben,
Verschlingen, Vernichten, Verzehren, Vertilgen, Ausrotten, Vergehen,
Verglühen usw. In ähnlicher Weise erweitert sich das Wort Trinken
und noch eine Reihe anderer dem animalischen Leben entnommener
Wörter. Das Wort Kleid wird z. B. von unzähligen Umdeutungen,
Handlungen und Zuständen verwendet. Es bekleidet sich der Gottes-
mann mit dem Geiste Gottes, es bekleidet sich das Fleisch des kranken
Hiob mit Gewürm usw., man bekleidet sich mit Hoheit, Herrlichkeit,,
mit Pracht, Glanz, Sieg usw. Man kann mit einem Substantiv im
Hebräischen oft 15 bis 20 Substantive einer anderen Sprache aus-
drücken. Wer denkt nicht an die ersten Verse von Psalm 104:
Preise den Herrn, meine Seele!
Du mein Gott, Du bist sehr groß,
Mit Hoheit und Herrlichkeit bist Du bekleidet,
Er hüllet sich in Licht wie ein Gewand,
Er spannt den Himmel aus wie ein Zelttuch
Und wölbt mit Wasser seinen Söller.
Oft wird eine verblüffende Anschaulichkeit der Rede mit den
primitivsten Sprachmitteln erreicht. Anstatt zum Beispiel dem ganzen
Körper des Menschen eine Tätigkeit zuzuschreiben, wird sie nur
einem Glied zugeschrieben. „Die Füße laufen zum Bösen. " „Jakob
hob auf seine Füße und ging", oder „Rede in die Ohren des Volkes"
usw. Durch die sinnfälligsten Dinge werden Zustände und die Ab-
sicht Gottes veranschaulicht, so z. B. von Naturgewalten, wie Erd-
beben, Gewitter, Heuschrecken und Pest. „Der Donner wird Gottes-
stimme, Licht sein Kleid, der Himmel sein Zelt, die ganze Natur ein
Heer von Lebendigen." (Herder, Vom Geiste der hebräischen Poesie.)
Da Zeitwörter fehlen, müssen Substantive, abstrakte Gegenstände
und Zustände veranschaulichen. Es darf als Grundcharakter der hebräi-
schen Sprache angesehen werden, daß sie alles Abstrakte und Geistige,
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alles Religiöse und Spirituelle mit den all er einfachsten Mitteln wieder-
gibt, weil das eigentliche Mittel, um ein Abstraktum auszudrücken,
das Verbum, unentwickelt geblieben ist. Dadurch blieb die lebendige
Anschauung der Schilderung gewahrt, aber diese Anschaulichkeit ging
auf Kosten der dichtenden Fiktion: Denn der Mangel an Verben zwang
den dichterisch schaffenden Juden, sich auf die Andichtung der Dinge
zu beschränken. Das erklärt die relative Monotonie der althebräischen
Poesie, sowie den recht fühlbaren Mangel an außernaturpoetischen
Motiven. Mit dem Substantiv kann man in der Lyrik recht Beträcht-
liches leisten, nicht aber in der Epik. Ich bin der Meinung, daß der
Mangel an Verben in der hebräischen Sprache mit ein Grund dafür ist,
daß die Juden trotz einiger Ansätze auf dem Gebiete des Epos so wenig
geleistet haben. Selbst das Buch Hiob ist von lyrischen Momenten
durchsetzt.
Eine an verbalen und temporalen Formen arme Sprache wie die
hebräische ist für anaturale Wissenschaften, insbesondere für Logik
und Metaphysik, ungeeignet. Wie schon oben auseinandergesetzt,
findet man in der Bibel recht tiefsinnige philosophische Gedanken und
ein an sich abgerundetes philosophisches Panorama. Aber da die
philosophischen Gedanken nicht wissenschaftlich vorgetragen und die
Probleme nicht wissenschaftlich formuliert werden, sind sie eben nicht
Wissenschaft, sondern Weisheit. Der alte, hebräisch sprechende Jude
sprach nicht wie der alte Grieche oder Römer im syntaktischen Nach-
einander, sondern im bildlichen Nebeneinander. Den Zusammenhang
der Gedanken hält er durch das Wörtchen „und" aufrecht. Wie oft
beginnt nicht in der Bibel selbst eine ganz neue Gedankenreihe mit
dem Wörtchen „und". „Und Gott sprach", „Und es wird in den
letzten Tagen geschehen" usw. Allerdings ist das Wörtchen „und"
oft das Synonym von „nun", „nunmal" oder „also". Statt des
algebraischen Systems der Sukzession, des Nacheinander und der Aus-
wicklung und Einschachtelung haben wir es im Hebräischen mit dem
System des geometrischen Nebeneinander zu tun.
Wie alle Semiten, stand auch der alte Jude der Zeit unerfahren
und naiv gegenüber. Er kannte nur zwei temporale Formen, Ver-
gangenheit und Gegenwart. Selbst diese zwei Formen sind ungenügend
entwickelt. Je weniger er aber seinem Geist Begriffe abringt, desto
mehr Bilder malt er aus dem Raum. Der Satz ist kurz und lapidar,
aber trotz der substantivischen Ungeschlachtheit dieser Sprache hat
der alte Jude doch vermocht — durch originelle Kombinationen und
Parallelen tiefe Schöpfungen von großer Ursprünglichkeit auszu-
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drücken, Bilder von lieblicher Anschaulichkeit darzustellen und schwere,
oft geradezu berauschende Stimmen hervorzubringen. Die oft geradezu
verblüffende Kürze des Satzes und des Ausdrucks verrät nicht nur
den naiven, sondern .auch den tief empfindenden, von starken Impulsen
getriebenen Menschen, der, in starren Sprachformen eingeengt, sich
durch eine kräftige Wendung Luft macht. Nur wenige Sprachen haben
für seelische Emotionen so viele Bezeichnungen wie die hebräische.
Hebräisch ist, um es kurz zu sagen, eine Sprache des Gemüts und des
Herzens. Bei den Juden hat sie die höchste Entwicklung mit der
höchsten Steigerung des Affekts erreicht. Wenn der Prophet im
höchsten Zorn seine Strafpredigt donnert, oder aber wenn er liebe-
volle Trostworte spendet, dann erblüht diese arme Hirten- und Bauern-
sprache zu einem schönen und erhabenen Stil, der in der ganzen Welt-
literatur nicht seinesgleichen findet. Daß diese Hirten- und Bauern-
sprache dem geistesgewaltigen Propheten Bewegungsfreiheit bieten
konnte, spricht mehr für den Sprachgenius der Juden als für das alte
Hebräisch. Die Fesseln des Hebräischen sind erst gesprengt worden,
als die Analysis in Judäa (einzog und das jüdische Gesetz, statt ver-
kündet und gelehrt, auch begrifflich abgewandelt zu werden anfing.
Das Aramäische mußte herangezogen werden, damit der neue analy-
tische Gedanke einen adäquaten Ausdruck fand. In diesem Gemisch
von Hebräisch und Aramäisch sind Mischna und Talmud abgefaßt.
Auch eine große Anzahl lateinischer und griechischer Wörter haben
in Mischna und Talmud Eingang gefunden.
Der althebräische Stil ist neckisch, naiv, aber kolossal. Die Ein-
heitlichkeit und die Konzentration des £chon an sich kurzen Satzes
wirkt wie ein Donnerschlag. Im Gegensatz zur hebräischen Poesie,
in der sich fa!st alles auf 'das Subjekt bezieht, zeichnet sich die alt-
hebräische Prosa durch die Konzentration "auf ein Objekt aus. Selten
verweilt der Erzähler bei seiner Person, 'und der Prophet nur da, wo
es absolut nötig ist. Die ganze Kraft des Ausdrucks und des Sprach-
mittels wird durch die Darstellung der Idee, durch Anschaulichkeit
und nicht wie im Talmud durch Begriffe vereinigt. Gebildet wurde
dieser an der Intuition genährte Stil noch von dem Trieb zur ganzen
Menschheit, der immer eine Grundcharakteristik des Genius ist. Die
Bibel setzt mit einer Universalgeschichte an und hält bis zum Schluß
diese Tendenz fest.
Der Inhalt der Prophetenreden würde, weil sie auf einen Gedanken
konzentriert ist, in jeder arischen Sprache monoton erscheinen und im
Munde eines alten Römers äußerst langweilig wirken. Man denke sich
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zum Beispiel eine Jeremianische Strafpredigt oder eine Jesajanische Vision
In der römischen Juristensprache mit ihren langen Perioden und ihren
vielen Schaltsätzen und Einkapselungen oder in der griechischen Philo-
sophiesprache mit ihren reichen philosophischen Ausdrücken, die auf
das Gemüt gar nicht wirken. In dem an wissenschaftlichen Ausdrücken
armen Hebräisch mußte der Redner jeden Augenblick pausieren, um
nicht das gleiche zu wiederholen, und war gezwungen, immer neue
Bilder heranzuziehen. Diese fand er entweder in der farbenreichen
Naturumgebung oder im Geschiditsleben der Völker. So entstanden
prächtige, durch unmittelbare Wirklichkeit verblüffende Bilder und
durch ihre Naturtreue entzückende Gleichnisse. Natürlich spricht und
schreibt jeder Redner und Schriftsteller die Sprache seines Milieus
und seines Berufs, wie auch sonst jeder Mensch die Sprache seines
Berufs, seiner Klasse oder seines Mileus spricht. Der prophetisierende
Hirt bedient sich der naiven Sprache des Hirtenlebens und der Staats-
mann und Politiker entnimmt seine Gleichnisse dem bewegten Völker-
leben. Daher die Buntscheckigkeit und Mannigfaltigkeit in Stil und
Ausdruck.
Infolge der großen ethischen Motive und der universalistischen
Tendenzen der alten hebräischen Dichter und Redner erhebt sich ihr
Stil oft zu einer schwindelnden Höhe. Er ist oft jeder Lokalität und
Temporalität entrückt und hört sich an wie eine Stimme aus der
Ewigkeit. Die Rede des großen Propheten knüpft entweder an lokale
Ereignisse an, um sich zu großen, universalistischen Ausblicken zu er-
heben, oder sie beginnt gleich universalistisch, um von dieser Höhe
zu lokalen Ereignissen zurückzukehren. Der erstere Fall jedoch trifft
öfter ein. Hier nur ein paar Beispiele: „So spricht der Herr: Der
Himmel ist mein Stuhl und die Erde meine Fußbank. Was ist's denn
für ein Haus, das ihr mir bauen wollet? Oder welches ist die Stätte,
da ich ruhen soll?" „Meine Hand hat alles gemacht, was da ist, spricht
der Herr: Ich sehe aber an den Elenden, und der zerbrochenen Geistes
ist, und der sich fürchtet vor meinem Wort." (Jesaja 66, 1, 2.)
Nachdem so universalistisch ausgeholt wird, kehrt er zu den
einfachen irdischen Dingen zurück. „Wer einen Ochsen schlachtet,
ist eben, als er einen Mann erschlüge", usw. Oder: „Höret, ihr
Himmel! Und Erde, nimm zu Ohren. Denn der Herr redet. Ich habe
Kinder auferzogen und erhöhet, und sie sind von mir abgefallen."
Solcher einfachen und doch großen Mittel der Thesis und Antithesis
bedienen sich alle Propheten, der eine mehr, der andere weniger, und
sie verleihen dadurch ihrem Stil einen Schwung und eine Lebhaftig-
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keit, wie sie nur noch bei den vier großen Dichtern hier und da wieder-
kehren. Der Stil der Propheten kann keinem andern Sprachstil zu-
gesellt, mit keinem andern verglichen werden, wie die prophetische
Literatur kein Analogon in der ganzen Weltliteratur hat. Er ist Prosa
und doch Poesie; impressionistisch und doch rhythmisch, naiv und
doch kunstvoll. Jüngst ist von einem bedeutenden Forsc,her der Ver-
such gemacht worden, in den prophetischen Büchern Strophenbau
und Responsionen nachzuweisen. „In der Responsion korrespondieren
Strophe und Antistrophe im Metrum, in der Gliederung, in den Ein-
schnitten der Sätze, häufig auch im Gedanken miteinander, und diese
Übereinstimmung wird oft durch gleiche und klingende Worte erkenn-
bar gemacht/' Ob sich das jedoch überall in den prophetischen Büchern
nachweisen läßt, mag vorläufig mit Recht bezweifelt werden. Der Ge-
dankenrhythmus hingegen läßt sich überall in den prophetischen Büchern
nachweisen; denn der prophetische Mensch war nur von einem ein-
zigen Gedanken beseelt, von dem Gedanken der Sittlichkeit — von der
Idee des Guten. Dieses überall wiederkehrende gleiche Motiv — das
Gute und das Gerechte — bedingte die erstaunliche Unmittelbarkeit
des prophetischen Urteils. Wo es verkündet wird, gleicht es einem
Schlagwort eines gewaltigen Demagogen. Es mag hier nur an das
berühmte „Harazachta wegam jaraschta" (Du hast gemordet und
geerbt), das der Prophet dem Achab entgegenschleuderte, erinnert
werden. Weil der Prophet viel voraussetzt, spannt er alles auf die
kürzeste Formel. Ob ihn daher die alten Juden verstanden haben,
ist eine andere Frage. Auch in den großen politischen Reden und Weis-
sagungen wirken die Bilder wie Schlagworte. Jeremiah ruft: „Se
pesurah Jisrael" (Du gleichst einer verstreuten Schafherde, o Israel).
Damit war kurz eine verworrene Situation geschildert. Beim Anhören
solcher Reden muß sich den Hörern, die nur hören wollten, eine ganze
Welt aufgetan haben. Die knappe Situationsschilderung, die mit einem
Schlagwort bezeichnet wird, erhebt sich selbst zu einem großen Urteil
und zu einer gewaltigen Verkündung der ewigen Wahrheit.
Naiv und unkompliziert, wie die althebräische Prosa, ist die alt-
hebräische Poesie der Juden, und wie der Prosa-Schriftsteller zur
Menschheit sprach, so besang der althebräische Dichter das All, das
Ganze der Natur. Kein Geringerer als Alexander von Humboldt hatte
sich zu folgendem Urteil über die althebräische Poesie verstanden,
„Es ist ein charakteristisches Kennzeichen der Nationalpoesie der
alten Hebräer, daß, als Reflex des Monotheismus, sie stets das Ganze
des Weltalls in seiner Einheit umfaßt, sowohl das Erdenleben als die
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leuchtenden Himmelsräume. Sie weilt selten bei dem Einzelnen der
Erscheinungen, sondern erfreut sich der Anschauungen großer Massen.
— Bemerkenswert ist auch noch, daß diese Poesie trotz ihrer Größe,
selbst im Schwünge der höchsten, durch den Zauber der Musik her-
vorgerufenen Begeisterung, fast nie maßlos wie die indische ist." Kos-
mos II, S.45. Nie maßlos wie die indische — aber auch nie so formen-
reich wie die griechische. Auch hier bewährt sich der Gedanke von
der geographischen Mitte. Im Gegensatz zur Prosa ist diese Poesie,
trotz ihrer universalistischen Tendenz, durchaus subjektiv; denn ihr
Wesen ist Eifer, ihr Grundton Leidenschaft, beseelende Energie des
Affekts. Wegen der vollständigen Abwesenheit von mythologischen
Motiven mußte sie sich auf das Subjekt konzentrieren. Sie ist also
Zusammenfassung und nicht Entfaltung. Eine elementare Kraft des
Gemüts bricht hervor, die sich entweder als Lyrik oder als gedanken-
schwere Didaktik manifestiert. Zwischen beiden steht die prophetische
Vision, wie der Prophet überhaupt Dichter und Lehrer zugleich war.
Der hebräische Dichter gebiert im Zorn; daher hat die Elegie mehr
•denn jede andere Poesiegattung gute Tage in Judäa gesehen. Nirgends
wird auch so viel geflucht wie im Alten Testament. Ob die dichte-
rische Form im Parallelismus membrorum — eine Art Gedanken-
rhythmus, dessen Ursprung man in der Übung des Wechselgesanges
gefunden hat — besteht, oder ob ein Metrum — wie manche Forscher
nachzuweisen versucht haben — sie beherrscht: die Hebung läßt sich
in dieser Poesie überall nachweisen. Der Vers zerfällt in zwei Halb-
zeilen, deren jede eine gleiche Anzahl Hebungen besitzt. So hat sich'
der starke Affekt auch in der Form behauptet. Die alten Inder hatten
sicherlich mehr Phantasie als die Hebräer und entwickelten eine größere
dichterische Produktion als die Juden, aber in formaler Beziehung
hebt sich die hebräische Poesie so vorteilhaft von der indischen ab„
wie die griechische von der hebräischen. In ganz maßloser Willkür
ist in der indischen Poesie alles zusammengeworfen, das Schöne mit
dem Häßlichen, das Erhabene mit dem Gemeinen, das Anmutige mit
dem Ungeheuerlichen. Die atemraubende Beweglichkeit zwischen
diesen Extremen rechtfertigt den Vergleich von einem Goldschatz in
einem Misthaufen. Die althebräische Poesie ist gewiß nicht formen-
reich wie etwa die griechische, aber sie ist nicht maßlos — sie ist auch
in ihrer Form keusch. Die arabische Poesie hingegen, um auch ein
Exempel der Poesie einer Schwesternation anzuführen, ist von mäch-
tigen Affekten getragen und formenreich zugleich aber nicht naiv
und keusch wie die hebräische. Der alte hebräische Dichter, in welcher
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Form er auch dichten mochte, war sich der Form nicht bewußt. Seine
Schöpfungen sind dichterische Äußerungen des sich selbst unbewußten
Genius, während die arabische Poesie schon in vormohammedanischer
Zeit feste, gültige Formen hatte. Der Überlieferung gemäß soll schon
Muhalhal dem poetischen Ausdruck bestimmte Regeln gegeben haben,
welchen zufolge der dichterischen Form nicht nur die Silbenmessung,
sondern auch der Reim wesentlich1 ist. Die Ergüsse der althebräischen
Dichter sind Gottesglauben, Gottvertrauen und religiöse Sehnsucht,
nationale Hoffnungen und Enttäuschungen oder religiös motivierte
Naturbetrachtungen; die des arabischen Dichters sind Tapferkeit und
Unabhängigkeit, Rache und Feindschaft, Ehre und Sieg. Also weder
inhaltlich noch formell besteht irgendeine Verwandtschaft zwischen
hebräischer und arabischer Poesie. Aus diesem Grunde allein schon
ist est zumindest sehr gewagt, von semitischer Poesie schlechthin zu
reden. In noch einer anderen Beziehung ist die althebräische Poesie
charakteristisch, nämlich in dem friedlichen Beieinanderruhen verschie-
dener Poesiegattungen. Wer vermag zu sagen, was in der althebräi-
schen Poesie reine Lyrik oder reine Epik oder reine Didaktik ist? Die
Lyrik ist von epischen und die Epik von lyrischen Elementen durch-
setzt. Ein so ausgezeichneter Kenner der althebräischen Poesie, wie
der Bonner Hebraist Eduard König, hat den Versuch gemacht, die
Poesie der alten Hebräer nach Gattungen zu ordnen, und nach mühe-
voller Arbeit ist der Versuch gründlich mißlungen. In seinem Buch
„Die Poesie des alten Testaments" (Leipzig 1907) gibt König folgende
Einteilung:
1. Die episch-lyrischen Dichtungen in der althebräischen
Literatur,
2. die episch-didaktische Poesie,
3. die rein didaktische Poesie,
4. die rein lyrische Poesie,
5. die dramatisch geartete Poesie.
Nach dieser Gruppierung ist man aber so klug wie zuvor; denn
auch die „rein lyrische" Poesie, zu der König die Elegien zählt, ist
eben nicht rein lyrisch, wie viele „rein" epische Poesien nicht rein
episch sind. Es kommt mir hier gar nicht auf eine Kritik des König-
schen Buches an, sondern auf die Betonung des Faktums, daß die alt-
hebräische Poesie, weil ganz naiv, auch nicht ganz differenziert blieb.
Wie im Alten Testament die verschiedenen Sphären des Lebens noch
nicht voneinander getrennt sind, so sind in der althebräischen Poesie
die einzelnen Gattungen noch nicht ausgebildet.
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Der Genius schafft im Zustande des Unbewußten. Daher wirken
seine Schöpfungen so sehr auf unser Gemüt. Dieses Unbewußt-Naive
in der biblischen Poesie wie in der Prosa, das auf die unteren, naiven
Volksschichten eine solche Anziehungskraft übt, ist auch der eigent-
liche Grund, auf dem der antike jüdische Optimismus ruht. Der psy-
chologische Optimismus ist ein Produkt der Naivität. Sobald der Blick
durch die Erfahrung getrübt wird, stellt sich ein nörgelndes Gefühl
ein, ein Gefühl des Zweifels, das sicher zu irgendeiner Art Pessimismus
führt. Mehr noch als der religiöse Bekenntnisdrang der alten Juden
war das Naiv-Kindliche ihres Geistes die Ursache ihrer Offenheit
und ihres uneingeschränkten Bekennens. In wenigen Büchern der
Weltliteratur wird so offen bekannt wie in den Büchern des Alten
Testaments. Mit welcher geradezu kindlichen Naivität wird nicht
in der Bibel über die Laster und Verbrechen Davids berichtet, über
die Schwächen, Verkehrtheiten und Charakterlosigkeiten Salomos und
Rechabeams. Dabei sind doch David und Salomo nach Moses die
zwei populärsten Figuren in der jüdischen Geschichte. Augustinus,
Rousseau und Tolstoi werden als große Bekenner gefeiert. Wie
nehmen sie sich aber gegen die Psalmen aus? Daß keiner von ihnen
die Psalmen erreicht hat, braucht kaum gesagt zu werden. Es ist
auch zur Genüge bekannt, daß Augustinus die Psalmen Modell ge-
standen haben, als er seine Confessiones schrieb. Sind doch die ersten
fünfzehn Kapitel der Confessiones geradezu eine fast wörtliche Imi-
tation der Psalmen. In welchem anderen nationalen Religions- und
Geschichtsbuch wird das eigene Volk so seelisch entblößt und all seine
Charakterschwächen und Laster so treuherzig beschrieben wie in den
Büchern des Alten Testaments? Dieses offene, naive Urteil über sich
selbst und andere kehrt auch noch später im Talmud wieder. Da
treffen wir Sätze, wie z. B. „Row ganwe Jisrael ninhu" (die meisten
Diebe sind Juden), womit gesagt werden soll, daß die jüdischen Ver-
brecher meistens Diebe und nicht Mörder sind; oder den schon oben
zitierten Satz: Armut geziemt den Juden. Die Bekenntnisse im Talmud
mögen vom Geiste der bewußten Sittlichkeit diktiert worden sein,
die der Bibel sind aber Äußerungen des „unbewußten Geistes", der
kindlichen Naivität. Da sie auf der einen Seite Form und Stil haben,
auf der anderen Seite tiefe Religiosität atmen, sind diese bunten,
farbenprächtigen und seltsamen Geschichten, wie etwa die von Abra-
ham und Sarah, Jakob und seinen Söhnen, Joseph und seinen Brüdern,
das Ergötzen frommer Menschenkinder.
Diesem seelisch ganzen Menschen der Bibel ist ein merkwürdiger
190
geschichtlicher Sinn aufgegangen. Er betrachtete das Völkerleben in-
teresselos. Später trat allerdings das ethisch-religiöse Interesse, das
aber auch nicht an der Wirklichkeit, sondern an der ^wirklichkeits-
losen" Wahrheit orientiert ist, hinzu. Wir haben in den ersten Ab-
schnitten des ersten Buches Moses den Versuch einer Universal-
geschichte. Inwiefern diese erste Universalgeschichte mit dem Stand
der heutigen Wissenschaft übereinstimmt, steht hier nicht zur Dis-
kussion. Von der Größe des Gedankens, der sich in dieser ersten
Universalgeschichte kundgibt, macht man sich einen Begriff, wenn man
an die Enge und Kleinlichkeit des historischen Bewußtseins der an-
deren großen Völker, selbst der Griechen und Römer, in noch viel
späterer Zeit, denkt. Von dem ersten Abschnitt im ersten Buche
Moses bis zum letzten Abschnitt des letzten Propheten hält dieses
naiv-kosmische Bewußtsein an; denn der antik-jüdische Geistesmensch,
von zivilisatorischen Interessen unbeeinflußt, betrachtete immer das
Weltganze und erhob sich zu einer objektiven Höhe, die man nur
bei dem großen interessenlosen Menschen findet.
Es hieße natürlich Wissentliches verschweigen, wollte ich nur den
antiken Juden diese von Naivität und Interesselosigkeit diktierte
Kosmizität zuschreiben. Man trifft sie vielmehr auch in Indien und
Griechenland an — aber sporadisch. Sokrates verkörpert sicherlich
die Psychologie eines vom kosmischen Bewußtsein und von gewaltigen
ethischen und intellektuellen Mächten getriebenen Propheten. Auch
der göttliche Plato hat vieles vom Propheten an sich. Aber sie bilden
nur Ausnahmen — unerreichte Höhepunkte in der Gesamtgeschichte
ihres Volkes. Was im alten Hellas die Ausnahme ist, ist aber in Judäa
die Regel. Und darauf kommt es doch wohl an.
Ist es nun nicht merkwürdig, daß der gleiche antike Jude, der so
subjektiv und konzentriert in seiner Poesie war, in seinem historischen
Bewußtsein so objektiv und entfaltend gewesen ist? Bei näherer Be-
trachtung jedoch löst sich dieser anscheinend unlösbare Widerspruch
von selbst auf. Es besteht eine Verwandtschaft zwischen Kind und
Genie. — Beide sind naiv, beide sind subjektiv in ihren Empfindungen
und objektiv in ihren Vorstellungen. Natürlich ist diese Objektivität
nur eine graduelle. Beim Kinde ist diese naiv, beim Genie kosmisch.
Der antik-jüdische schaffende Mensch hatte vieles vom Kinde und
vom Genie zugleich. Daher der in der Bibel zutage tretende Gegensatz
von eingefleischter Subjektivität und kosmischer Objektivität.
Wenn die epische Dichtung und das Drama keine guten Tage in
Judäa gesehen haben, so hat das Grund darin, daß erstens die gesetzes-
191
mäßige Auffassung alles Weltgeschehens den Begriff des Schicksals
nicht aufkommen ließ, und zweitens daß das kosmische und universa-
listische Bewußtsein, von welchem das althebräische Schrifttum ge-
tragen war, dem Juden das Verständnis für das individuelle Spiel der
Kräfte geraubt hatte. Zudem hatte er von seinem ersten Eintritt in
die Geschichte an so viel Tragisches erlebt, daß er weder Zeit noch
Muße hatte, die antagonistischen Kräfte im Leben dichterisch zu ob-
jektivieren. Wurde er doch von vornherein in den Kampf gegen den
einen allmächtigen und starken Weltengott gestellt, der ihm sein
Gesetz und seinen Willen aufzudrängen suchte. Der Grieche stand
vielen Göttern gegenüber; da mußte ihm gleich der Sinn des indi-
viduellen Konflikts aufgehen. Der eine Gott aber, der keine anderen
Götter neben sich duldet, nivelliert zugleich alles Individuelle . . .
Aber ist nicht schon dieser eine mächtige und gewaltige, allen Willen
und alle Vernunft verkörpernde Gott selbst ein gewaltiges Epos, das
gewaltigste epische Gedicht, das je ein dichterisches Genie ersungen
hat? Dieser eine gewaltige Weltschöpfer, Weltenherr und Held liegt
seit undenklicher Zeit im Kampfe mit einem willensstarken Volk —
er kämpft wie ein Gott für ein Gesetz, das Volk kämpft heldenhaft
dagegen — bis es unterliegt. Was ist das ganze Alte Testament an-
ders als die Geschichte eines langen Kampfes zwischen einem Gott
und einem Volk? In diesem Kampf und in seiner Darstellung hat
sich die ganze epische Kraft des Volkes erschöpft.
Als aber dieses Buch zu Ende geschrieben war, waren auch schon
dem Volke seine Ursprünglichkeit und poetische Regsamkeit verloren
gegangen. Dieser Prozeß kommt auch in der Zusammenstellung des
biblischen Schrifttums zum Ausdruck. Es beginnt mit der wunder-
baren kosmogonischen Dichtung und schließt mit einem trockenen
historisch-chronologischen Bericht.
Nach einem mehr als tausendjährigen Kampfe ist das willens-
gewaltige Volk von ehemals, das gegen den großen, fürchterlichen
und starken Gott einen Kampf aufgenommen hatte, ein treues .Ge-
setzesvolk geworden. Das Gesetz potenzierte sich selbst zum ersten
Faktor im Leben, um so mehr, als das wirkliche Volksleben bald auf-
gehört hatte. Das Gesetz wollte gekannt und studiert werden ... An
Stelle des gemüts- und geistesgewaltigen Propheten tritt der nüchterne
Sopher, der Gesetzesausleger. „Auf drei Dingen besteht die Welt",
so lehrt der Sopher — , „auf der Lehre, auf dem Gottesdienst und auf
der Wohltätigkeit". Das erste ist aber die Lehre. Der Stil dieser
Männer ist gleich ihrer Lehre prosaisch, trocken, nüchtern. Keine
192
herzzerreißenden Elegien werden mehr vernommen, keine feurigen
Prophetenvisionen werden verlautbart, sondern die nüchterne Para-
phrasierung des Gesetzes ... Da hört man von Schiure Sopherim
(von sopherischen Erklärungen, Tikkune Sopherim), von sopherischen
Modifikationen und von Dikduke Sopherim (von sopherischen Er-
örterungen), die bezwecken, den Zaun (Geder) um das Gesetz zu bilden.
An Stelle der prophetischen Dichtung mit ihrem lebendigen Inhalt tritt
eine rationalistische, leblose Theologie, und das noch ein wenig vi-
brierende und pulsierende Leben wird in ein System von Haupt- und
Nebengesetzen eingemauert und erstickt.
Auf die Sopherim folgen die Tannaiten, die großen Gesetzesformu-
lierer, und auf diese die Amoräer, die Interpreten der formulierten Grund-
gesetze. Ein ganzes geistesstarkes Volk fängt an, seine ganze Kraft
auf die Forschung und Interpretierung von Gesetzen zu konzentrieren
— ein ganzes Volk beginnt, trockene Jurisprudenz zu studieren. Die
vom Gesetz zurückgedrängten poetischen Kräfte finden nur noch hie
und da in der Agada und im Midrasch einen schüchternen Ausdruck.
Der synthetisch schöpferische Geist, der die Bibel geschaffen hatte,
ist mit dem Beginn des Talmuds schon längst verschwunden und statt
seiner hält die Analysis ihren Einzug in Judäa. Mit der Hilfe der»
Analysis ist nicht etwa die Natur erforscht oder irgendeine konkrete
Wissenschaft geschaffen worden, sondern das Gesetz hat sie in seinen
Dienst genommen. Das ist das Tragische an diesem Wechsel.
Nur in einer Beziehung ähnelt das zweite große Schriftwerk, das
das jüdische Volk geschaffen, der Talmud, der Bibel — er ist so naiv
wie die Bibel. Während aber die Bibel Stil hat, ist der Talmud ganz
stillos. Ist er doch in Babylonien und nicht in Palästina, das den Juden
so viel Stil gab, entstanden.
13 Melamed
193
Zehntes Kapitel.
Die psychologischen Motive in der
hebräischen Literatur.
Die Bibel. — Ihre psychologische Eigenart. — Hunger und Liebe. — Die
Beschreibung der ewigen Wiederkehr. — Die Bibel und die Erotik. — Die
hebräische Literatur eine Literatur des Hungers. — Die Bibel ein Buch des
Hungers. — Göttlicher Segen und göttlicher Fluch. — Die Juden — der
hungernde Teil der Menschheit. — Juden und Griechen. — Ursprung der prophe-
tischen Ethik. — Der Hunger in der modernen Literatur. — Die Juden und das
Drama. —
Es ist sicherlieh keine alltägliche Erscheinung-, daß eine Sprache
wie die hebräische, wortarm in jeder Beziehung-, und ungeeignet so-
wohl für Philosophie als für Wissenschaft, das Medium einer Literatur
wurde, die an Ursprünglichkeit und Eigenartigkeit kaum ihresgleichen
hat. Keine andere Literatur, einschließlich der griechischen und rö-
mischen, hat die Literaturen der europäischen Völker, und keine Sprache,
einschließlich der griechischen und lateinischen, hat die Sprachen der
europäischen Völker so beeinflußt wie die hebräische. Was wäre das
moderne Englisch ohne die Bibelübersetzung, und was wäre das Hoch-
deutsch ohne Luthers Werk, und trotzdem ist die hebräische Literatur,
trotz ihres mächtigen Einflusses auf die Literaturen der europäischen
Völker, vielen gebildeten Europäern ein Buch mit sieben Siegeln.
Selbst die professionellen Hebraisten haben bis auf den heutigen Tag
die Triebkräfte in der hebräischen Literatur kaum erfaßt. Genau so
wenig wie die Völker, die die Juden bewirten, von den Juden wissen
und ihren Geist verstehen, so wenig wissen und verstehen sie von
der hebräischen Literatur, obgleich sie anderen Literaturen ihr Siegel
aufgedrückt hat. Sie mögen eine hohe oder eine niedrige Meinung
von der hebräischen Literatur haben, aber ein richtiges Verständnis
für sie haben sie noch nie an den Tag gelegt, weil ihnen der richtige
194
Maßstab für ihre Ab- und Einschätzung noch fehlt. Von den vielen
Büchern, die in moderner Zeit über die hebräische Literatur geschrieben
worden sind, ist Franz Delitzsch' Geschichte der althebräischen Poesie
fast das Einzige, das von einem großen Verständnis seines Verfassers
für die hebräische Literatur zeugt. Die anderen hebräischen Literatur-
historiker und Literaturhistoriker, einschließlich Ernest Renans, tasten
im Dunkeln, seit sie in ihren Geist einzudringen versuchten.
Welche sind die psychologischen Eigenarten dieser Literatur, die
sich von so kleinen Anfängen, mit solch kleinen Sprachmitteln zu einer
Höhe emporgerungen hat, die bis auf den heutigen Tag die Bewun-
derung aller herausfordert, die mit ihr vertraut sind und der so viele
verständnislos gegenüberstehen? Was ist ihre Haupteigenart und ihr
wesentliches ästhetisches Element? Selbst der entschiedenste jüdische
Nationalist muß zugestehen, daß von einem rein ästhetischen Ge-
sichtspunkte aus die griechische Literatur das Hebräische bei wei-
tem überragt. Was das ethische und das religiöse Element in der
hebräischen Literatur betrifft, muß man sagen, daß die Literatur der
alten Inder der hebräischen in keiner Weise nachsteht. Was ist also
die magnetische Kraft der hebräischen Literatur und worin besteht
ihre Größe? Auf diese Frage kann ich nur eine Antwort geben: Die
hebräische Literatur ist einzig wie die hebräische Religion, weil sie
rein und naiv ist wie die hebräische Religion. Genau so wie die
Religion der alten Juden im Gegensatz zu allen anderen Religionen
rein und keusch ist und jedes sexuellen Momentes entbehrt, so ist
die hebräische Literatur als Ganzes keusch und rein und entbehrt jedes
sexuellen Momentes. Kurz, die hebräische Literatur im Gegensatz zu
allen anderen Literaturen ist keine Literatur der Liebe. Dies mag
paradox erscheinen, aber wenn wir die vorherrschenden Elemente in
der hebräischen Literatur mit denen in anderen Literaturen vergleichen,
können wir uns leicht überzeugen, daß die hebräische Literatur nicht
eine Literatur der Liebe ist, sondern die des Hungers. Darin besteht
ihre Einzigkeit und ihre Größe, und dies erklärt den mächtigen Ein-
fluß, den sie auf die Menschheit ausgeübt hat.
Jüngst hat sich ein amerikanischer Schriftsteller darüber beschwert,
daß das sexuelle Moment in der englischen Literatur, speziell im Ro-
man, so vorherrschend ist, daß er sich oft wie ein psycho-pathologisches
Dokument ausnimmt. Diese Beschwerde ist nicht nur heute angebracht,
sondern sie wäre auch vor 100x 200 oder 300 Jahren zutreffend ge-
wesen. Man braucht nur die Hauptwerke der Literatur der arischen
Völker aller Zeiten zu durchblättern, um gleich zu entdecken, daß sie
13*
195
von ausschließlich erotischen Momenten durchsetzt ist. Das gilt von
der antiken Literatur, von der Literatur der Renaissance und von der
modernen Literatur. Ein zweites Element in der arischen Literatur
ist der Kampf um Macht. Das klassische Drama aller Zeiten seit den
Tagen von Sophokles, Euripides und Äschylus bis. auf den heutigen
Tag ist von diesen zwei Elementen durchsetzt: Liebeshunger und
Machthunger. Wenn wir jedoch die Hauptwerke der hebräischen
Literatur durchblättern, die Bibel, den Talmud, die mittelalterliche
hebräische Literatur, wie auch die moderne hebräische Literatur, emp-
finden wir, daß diese zwei Elemente nicht nur nicht vorherrschend
sind, sondern gänzlich fehlen.
Literatur im allgemeinen strebt und versucht die elementaren
Leidenschaften des Menschen zu beschreiben und die typischen Ver-
treter dieser Leidenschaft zu charakterisieren. Unter den vielen Leiden-
schaften, welche den Menschen beherrschen, seine Handlungen beein-
flussen und seine Lebensart bestimmen, sind Hunger und Liebe die
allerstärksten. Es versteht sich von selbst, daß im Sturm des Lebens
der Mensch auch von anderen Leidenschaften überwältigt wird, Leiden-
schaften wie Haß, Rache, Ehrgeiz, Eifer, Herrschsucht usw. Allein
nur in Ausnahmefällen geschieht es, daß diese sekundären Leiden-
schaften den Menschen ganz beherrschen. Die Hauptfaktoren im
Leben des Menschen sind Hunger und Liebe. Erst nachdem der Mensch
jede dieser Leidenschaften mehr oder weniger befriedigt hat, läßt er
sich von anderen Leidenschaften tragen. Der literarische Genius offen-
bart uns diese zwei Elementargewalten, welche in der menschlichen
Seele wirken, und zeigt uns den Rhythmus der Bewegung dieser Ele-
mentargewalten. Je mehr der Dichter sich der ewigen Wahrheit nähert,
d. h. je mehr es ihm gelingt, in die Tiefen der menschlichen Seele ein-
zudringen, um uns die Bewegung dieser Elementargewalten zu zeigen,
desto mehr zeigt er von seinem künstlerischen oder literarischen Genie.
Darin besteht die Größe eines Goethe, Shakespeare, Schiller, Ibsen,
und das Geheimnis ihrer Unsterblichkeit. Sie sind unsterblich, weil
die Helden, welche sie beschreiben, typische Vertreter der elemen-
taren menschlichen Leidenschaften sind und sie als typische Vertreter
dieser Leidenschaften in ewiger Wiederkehr immer wieder erscheinen.
Sie offenbaren uns, was konstant und permanent in der menschlichen
Seele ist und nicht nur, was vorübergehend ist. In dieser Schilderung
der ewigen Wiederkehr, des Menschlichen, allzu Menschlichen, er-
kennen wir ihre Größe. Alle die großen arischen Dichter und Künstler
haben stets das erotische Moment als die stärkste Triebkraft in der
196
Seele des Menschen erkannt. Nicht nur die ganze dramatische Literatur
aller Zeiten ist erotisch, sondern auch der Roman und die lyrische
Poesie sind von erotischen Momenten durchsetzt. Die hebräische
Literatur dagegen hat kein Drama geschaffen und ist sehr arm an
Liebesliedern. Unter den 24 Büchern der Bibel finden wir nur zwei
Liebesbücher, die kleine Novelle Ruth und das Hohelied. Bis auf
den heutigen Tag wundern sich die rechtgläubigen Juden, wie es kam,
daß das Hohelied in die Bibel aufgenommen wurde. Es existiert
eine ganze Literatur über diese Frage. Diese Literatur, von recht-
gläubigen Juden geschaffen, sucht zu beweisen, warum das Hohe-
lied einen Bestandteil der Bibel bilden darf. Das Hauptargument
ist, daß das Hohelied nur symbolisch zu verstehen, ist und daß in
der Form eines Liebesliedes große, tiefsinnige Ideen, die sich auf
Moral und Religion beziehen, ausgedrückt werden. Im babylonischen
und jerusalemitischen Talmud wird Liebe nur vom Gesichtspunkt
des Asketen oder des Moralisten behandelt. Dem Talmud zufolge
ist selbst die Stimme einer Frau etwas Unreines, und bis auf den
heutigen Tag wird kein rechtgläubiger Jude einer weiblichen Sing-
stimme lauschen. Die ganze Haltung der rabbinischen Literatur zum
Erotischen kann mit der Haltung der früheren Patrologie verglichen
werden. Der Unterschied zwischen Rabbiner und Kirchenvater in
dieser Frage ist dieser: Der Asketismus der Rabbinen war echt und
wirklich und hatte eine positive ethische Basis, der Asketismus der
Kirchenväter dagegen war nur ein negativer Sexualismus. Es war
Asketismus verschleppt von der Erde in den Himmel, weil die Grund-
idee des Christentums, die Empfängnis und die Geburt Gottes durch
ein Weib mittels des Heiligen Geistes, und die ganze theologische
sexuelle Imagination der Vertreter der Kirche (himmlische Braut,
himmlischer Bräutigam, heilige Jungfrau usw.) das sexuelle Moment
in der Gedankenreihe der Kirchenväter nicht vernichten konnten. Die
Vertreter der Synagoge jedoch brauchten sich, nachdem sie sich einmal
zum Asketismus bekannt hatten, mit theologischen sexuellen Begriffen
nicht plagen, und daher war ihr Asketismus positiv und rein. Einige
hebräische Liebesbücher, Schöpfungen der hebräischen mittelalterlichen
Literatur, wie die des Emanuel des Römers, Dantes Freund, sind von
Juden immer als häretisch betrachtet worden, und sie konnten den
Gang der hebräischen Literatur nicht beeinflussen. Vor einigen Jahren
ist allerdings in der hebräischen Literatur ein Kampf um die Erotik
ausgefochten worden. Als der moderne hebräische Dichter Tscher-
nichovsky in der literarischen Arena erschien, fühlten sich seine hebräi-
197
sehen Zeitgenossen tief bewegt und provoziert, denn Tschernichovsky
wagte es, mit hebräischen Liebesliedern hervorzutreten. Der größte
hebräische Dichter der Neuzeit, Nachman Bialik, hat sich seinen Ruhm
nicht durch seine paar Liebesliedchen erworben, die uns, nebenbei
bemerkt, stark an Ruth erinnern, sondern weil er mit seinen Ge-
dichten des Zorns Millionen gequälter Juden aus der Seele spricht.
Was von Bialik wahr ist, ist auch vom größten hebräischen Erzähler
der Neuzeit, Mendele, wahr. Nicht das Liebesmotiv, sondern das
Hungermotiv bewegt ihn, und alle seine Helden kämpfen gegen den
Hunger, wie die Helden in den Romanen der arischen Literatur für
die Liebe kämpfen. „Was werde ich essen, wie werde ich Brot be-
kommen?" Das sind die Fragen, die in der hebräischen Literatur seit
den Tagen Ägyptens bis auf den heutigen Tag behandelt werden. Die
Geschichte des Menschen auf Erden beginnt in der Bibel mit dem
Satz: „Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen".
So ist das Menschenschicksal auf Erden beschrieben worden. Der
hebräische Genius betrachtet das Leben durch das Prisma des Hun-
gers. Ein Volk, dessen Schicksal im Leben darin besteht, daß es von
einem Land zum andern, von einem Weltteil zum andern wandern
muß, ist ein Volk, das überall zu Hause und überall fremd ist und,
weil immer auf der Wanderung begriffen, nie Zeit hat, große Güter
zu sammeln und sich einen dauernden Wohlstand zu erwerben. Es
muß daher immer vor der Frage stehen: „Was werde ich essen?"
Es ist in jeder Beziehung charakteristisch, daß die Geschichte des
jüdischen Volkes mit einer Hungersnot beginnt. Der biblischen Tra-
dition zufolge war es eine Hungersnot, die Jakob bewog, nach Ägyp-
ten zu wandern, und eine andere biblische Überlieferung erzählt, daß
die Nachkommen dieses Erzvaters, nachdem sie von der ägyptischen
Knechtschaft befreit worden waren, vor Gott dem Erlöser standen
und klagten: „Wer wird uns Fleisch zum Essen geben?" Sie gedenken
auch wohl der Fische, die sie in Ägypten umsonst aßen. Als sie durch
die Wüste wanderten und Gott ihnen Manna gab, um ihren Hunger
zu stillen, zittern sie noch immer vor der Möglichkeit des Hungers.
Obwohl Moses ihnen befahl, nicht zuviel Manna einzusammeln, nur
so viel, wie sie für ihren täglichen, Bedarf gebrauchten, mißachteten
sie seinen Befehl und sammelten mehr, als sie brauchen konnten, weil
sie von der Furcht, am folgenden Tage wieder hungern zu müssen,
geplagt wurden.
Als Belohnung für die Befolgung des Gesetzes verspricht der Gott
Israels seinem Volk, daß er ihnen rechtzeitig Regen schicken wolle,
198
so daß die Erde Frucht tragen werde. Er versichert ihnen immer
wieder, daß das Land, das er dem Volk Israel versprochen, ein
gutes und fruchtbares Land sei, ein Land, das von Milch und Honig
triefe. Immer wieder verspricht er ihnen, daß er ihren Hunger
sättigen werde.
„Werdet ihr in meinen Satzungen wandeln, und meine Gebote
halten und tun, so will ich euch Regen geben zu seiner Zeit, und das
Land soll sein Gewächs geben, und die Bäume auf dem Felde ihre
Früchte tragen. " 3. Moses, 26, 3, 4.
„Werdet ihr meine Gebote hören, die ich euch gebiete, daß ihr
den Herrn, euern Gott, liebet und ihm dienet von ganzem Herzen
und von ganzer Seele, so will ich eurem Lande Regen geben zu seiner
Zeit, Frühregen und Spätregen, daß du einsammelst dein Getreide,
deinen Most und dein Öl, und will deinem Vieh Gras geben #uf
deinem Felde, daß ihr esset und satt werdet." 5. Moses, 11, 13 — 15.
Aber wenn es dazu kommt, daß er fluchen muß, weil sie das
Gesetz nicht beobachten, dann ist der schrecklichste, der allerschreck-
lichste Fluch, den er über seine Lippen bringen kann, dieser: „Und
das Fleisch Eurer Söhne und das Fleisch Eurer Töchter werdet Ihr
essen/' — „Und daß dann der Zorn des Herrn ergrimme über Euch,
und schließe den Himmel zu, daß kein Regen komme, und die Erde
ihr Gewächs nicht gebe und Ihr bald umkommet von dem guten
Lande, das Euch der Herr gegeben hat." 5. Moses, 11, 17.
Hunger und immer wieder Hunger ist das Hauptmotiv in der
alten biblischen Literatur, und dieses Motiv zieht sich wie ein roter
Faden durch die ganze Bibel. Der Hungrige ist immer zum Morali-
sieren geneigt und ist immer zornig. Es ist immer der Hunger, der
die Frage von Recht und Unrecht, Gut und Böse hervorruft. Hunger
ist der letzte Ankergrund alles Moralisierens, aller Weltverbesserei,
aller Gerechtigkeitssucherei. Aus diesem Grunde haben die Juden
eine wesentlich moralische Weltanschauung geschaffen, und aus diesem
Grunde haben die Arier eine wesentlich ästhetische Weltanschauung
geschaffen. Der Schlachtruf der alten Propheten war: „Habt Erbarmen
mit den Witwen und Waisen, speiset die Hungrigen, helft den Armen."
Das Christentum lehrt: „Wenn einer dich auf die eine Wange schlägt,
biete ihm die andere auch dar." Das Judentum lehrt: „Wenn dein Feind
hungrig ist, gib ihm Brot." Das Judentum macht den Armen, den
Ebjon, zum Objekt der Ethik, und das Ideal der Propheten war Brot
für die Hungrigen und Gerechtigkeit für die Unterdrückten, während
das Ideal der Griechen das Schöne und speziell das subjektiv Schöne
199
war. Dieser Unterschied zwischen den Hauptmotiven in der hebräischen
Literatur und denen der arischen Literaturen ist keineswegs ein ZufalL
sondern er hat seine bio-soziologischen Gründe. Schon ein Blick auf
die Landkarte des alten Griechenland und des alten Judäa liefert uns
die Erklärung für den wesentlichen Unterschied in den literarischen
Schöpfungen beider Völker. Die Fruchtbarkeit des Bodens des antiken
Hellas und die ökonomische Basis der griechischen Polis löste für die
alten Griechen die Hungerfrage und gab ihnen die Möglichkeit und
die nötige Ruhe, um sich dem Kultus des Schönen zu widmen und sich
den Betrachtungen der Natur hinzugeben. Ob die ursprüngliche Heimat
der alten Arier die Ufer des Ganges waren, wie es Gelehrte am An-
fang des neunzehnten Jahrhunderts wahrhaben wollten, oder ob sie
die Ufer des Rheins und der Schwarzwald waren, wie L. Geiger in
der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erklärte, oder ob sie das
fruchtbare Wolhynien war, wie andere Gelehrte annahmen, — jeden-
falls war die ursprüngliche Heimat der Arier ein fruchtbarer Boden,
der seine Bevölkerung reichlich ernähren und sie von allen ökono-
mischen Sorgen befreien konnte. Die alten Griechen hatten keine
Hungertradition wie die Juden, als sie sich in Palästina niederließen,
und selbst als die Juden sich dort schon heimisch fühlten, war ihre
wirtschaftliche Lage noch keine beneidenswerte. In einem Gebirgsland
lebend und auf der einen Seite durch die Arabische Wüste und auf
der anderen durch das Meer von der Außenwelt abgeschnitten, konnten
sie sicherlich kein luxuriöses Leben führen, denn sie Waren nie ein
seefahrendes Volk. Der schwerarbeitende Bauer in Judäa war immer
arm, und was seinen Geist beschäftigte, war nicht der Gedanke an
das Schöne noch irgendein anderer abstrakter Gedanke^ sondern die
Hoffnung auf Regen, für welchen das Hebräische unzählige Ausdrücke
hat. Sein Gedächtnis mit Hungertraditionen belastet, seine Gegenwart
bewölkt von der Furcht einer wirtschaftlichen Katastrophe (Mangel
an Regen, Heuschrecken- und andere Plagen), umgeben auf der einen
Seite von der Arabischen Wüste und auf der anderen von der See,
eingesperrt in ein Gebirgsland: wie konnte der alte Hebräer da irgend-
eine Beziehung zum Schönen haben? Es kommt noch hinzu, daß ihm
zu all seinem Unglück jedes Organisationstalent abging und er keine
Möglichkeit hatte, eine Zivilisation zu schaffen. Das Resultat war, daß
er die Eingeborenen im Lande nicht so ausbeuten konnte wie die
Griechen. Er konnte auch daher seinen Willen nicht domestizieren und
bilden und seinen ursprünglichen Subjektivismus unterdrücken. Der
grenzenlose Subjektivismus der alten Hebräer in Palästina war die
200
Ursache (so vieler ökonomischer und politischer Übel, daß der Ethi-
zismus der Propheten die einzig mögliche Reaktion war, und so war
in Judäa also ein Geisteszustand vorherrschend, welcher nur die Ent-
wicklung einer ethischen Kultur gestattete. Die Griechen aber, von
ökonomischen Sorgen frei, weil der Boden fruchtbar war und die
Sklaven für sie arbeiteten, waren von Anfang an so gestellt, daß sie
mit -allen ihren Sinnen die Natur genießen konnten, mit ihren Ohren,
Augen und den anderen Sinnen. Sie waren so gestellt, daß sie den Rhyth-
mus dm Leben der Natur erlauschen, ihre Harmonie entdecken, ihre
Formen .erforschen und alles, was schön im Leben ist, genießen konnten.
So wurde das Schöne zum vorherrschenden Element im griechischen
Leben, wie das Ethische zum vorherrschenden Element im Hebräischen
sich entwickelte, und so geschah es, daß die Triebkräfte der griechi-
schen Literatur und in den Literaturen aller anderen arischen Völker
das Erotische und das Schöne waren, während in der hebräischen
Literatur das Moralische und Ethische herrschte.
Viele Vertreter der Bibelkritik sind der Ansicht, daß die Propheten
wesentlich Träumer waren und für die Wirklichkeit des Lebens kein
richtiges Verständnis hatten. Diesen Bibelkritikern zufolge sahen die
Propheten nur unwirkliche Gesichter und prophezeiten eine Zukunft,
die nie Wirklichkeit werden wird. Sie prophezeiten, daß ein Tag
kommen werde, an dem der Wolf und das Lamm zusammenhausen
würden und daß in der biologischen Natur dieselben ethischen Gesetze
herrschen würden wie in der Menschenwelt. Das ewige Gesetz vom
Kampfe der Existenz schließe die Möglichkeit einer solchen Zukunft
a|us, und wenn die Propheten keine richtige Beziehung zum Leben
hatten, worin bestehe dann ihre Größe Und ihre Bedeutung? Der
Träumer, der unwirkliche Träume träume, sei nicht zur Unsterblich-
keit berechtigt. Mag sein, daß die Verheißungen der Propheten nie
Wirklichkeit (werden, aber es ist wichtig, festzustellen, daßi die Pro-
pheten eine sehr reale Basis als Ausgangspunkt hatten. Diese Basis
war der Hunger und alles, was aus ihm folgt, Gerechtigkeit und Un-
gerechtigkeit, Gut und Böse usw. Nicht der letzte Gedanke einer Lehre
zeugt für ihre Beziehung zum Leben, sondern ihr Ausgangspunkt, und
der Ausgangspunkt der Propheten war die Wirklichkeit ihrer Zeit
und ihrer Lokalität.
Alles,, was die Propheten auf dem Gebiete der Politik, der Ethik,
der Religion und des Wirtschaftslebens verlautbart haben, hat seinen
Ursprung im Hunger, und der biblische Genius entzündete sich am
Hunger. Die Bibel ist das große Buch des Hungers in der Weltlitera-
201
tur. Natürlich sind auch andere Große im Reiche der Literatur dem
Hunger nachgegangen und haben ihn in allen Formen beschrieben,
aber in ihren Händen ist der Hunger keine ethische treibende Kraft
geworden. Wenn Maxim Gorki den Hunger beschreibt, erweckt er
höchstens das Mitleid des Individuums. Wenn Knut Hamsun den
Hunger beschreibt, zeigt er uns lediglich dessen physische Wirkungen,
und wenn Tolstoi den Hunger beschreibt, zeigt er uns dessen mora-
lische und politische Misere. Etwas Großes haben nur die Propheten
aus dem Hunger gemacht. Nur sie haben ihn zum Ausgangspunkt einer
großen ethischen Weltanschauung gemacht, und die Propheten können
deshalb mit Recht als die Führer der hungrigen Sklaven in der Welt-
literatur bezeichnet werden. Wenn die Propheten den Hunger zum
Urquell der Ethik machten, haben die hebräischen Dichter ihn zum
Quell der Elegie gemacht. Die ganze hebräische Poesie atmet den
Geist der Elegie, nicht Wein, Weib und Gesang, sondern Brot, Brot
und wieder Brot ist das Grundmotiv der hebräischen Poesie. Ganz
wie die hebräische Poesie aus dem Geiste des Hungers geboren wurde,
so die hebräische Elegie.
Hunger und Liebe sind die zwei mächtigsten Instinkte und die
zwei Grundleidenschaften im Menschen, und der Hunger ist elemen-
tarer als die Liebe. Zuerst sucht der Mensch seine ökonomische Exi-
stenz zu sichern, dann erst, sich zu reproduzieren, und da der Hunger
die treibende Kraft in der Bibel ist, ist ihre Wurzel im Leben ebenso
tief und fest wie das erotisch-ästhetische Motiv der Literatur der
arischen Völker. Dieses Hunger-Motiv in der Bibel bildet später die
Grundlage der hebräischen Literatur jedes Zeitalters, und solange die
Juden ein Wandervolk und deshalb ein hungriges Volk sein werden,
solange werden sie den Gesang des Hungers in all seinen traurigen
Melodien singen.
Den europäischen Völkern ist die hebräische Literatur ein Buch
mit sieben Siegeln. Sie können ihren Geist nicht verstehen und ihr
Wesen nicht fassen, so wie sie den Geist der hebräischen Religion
nicht verstehen können. Die hebräische Literatur ist in der Sprache
des Hungers geschrieben, wie die arische Literatur in der Sprache der
Liebe. Aber obgleich die europäischen Völker das Wesen und den
Geist der hebräischen Literatur nicht verstehen können, weil sie das
Schicksal des jüdischen Volkes nicht teilen, fühlen sie doch instinktiv
die Größe und die Macht der hebräischen Literatur, weil diese Litera-
tur ihnen notwendigerweise eine natürliche Ergänzung zu ihrer eigenen
Literatur bietet. Die hebräische Literatur ist die Literatur der einen
202
Hälfte des Menschen, des Hungers. Ohne sie wäre die Literatur ein-
seitig. Erst ergänzt durch die hebräische Literatur wird die Literatur
an sich zu einer Medaille mit zwei Seiten vervollständigt, denn sie
wird dadurch zum Ausdruck der zwei hauptsächlichsten Leidenschaften
im Menschen, des Hungers und der Liebe. Wenn die arischen Völker
sich unter den Einfluß der hebräischen Literatur stellten und sie in
ihren eigenen Kunsttempel aufnahmen, so taten sie es nicht, weil sie
ihren Geist klar verstanden, sondern weil sie instinktiv fühlten, daß die
hebräische Literatur eine notwendige Ergänzung zu ihrer eigenen war.
Alle Denker von Aristoteles bis auf Deußen erklären, daß das
Drama die höchste Form der Kunst ist und daß es die schwierigste
Kunst ist. Die hebräische' Literatur hat alle Literaturgattungen ge-
pflegt und entwickelt, mit Ausnahme des Dramas, weil das Drama
ohne das erotische Element unmöglich ist. Während das Drama gänz-
lich unentwickelt ist, sind die Elegie und die Klagelieder übermäßig
entwickelt. In keinem Buch der Weltliteratur wird so viel gejammert,
so viel geklagt und so viel geflucht wie in der Bibel. Das Fluch- und
das Klagelied sind Produkte des elegischen Gemüts. Dieser Geistes-
zustand setzt natürlich starken Subjektivismus voraus, und er setzt
ferner voraus einen starken Emotionalismus, der das Pathos hervor-
ruft. Das tragische Bewußtsein dagegen setzt einen ruhigen Geist
voraus und die Fähigkeit, die Dinge objektiv zu betrachten und Zeuge
des Sturzes der Großen und der Mächtigen zu sein. Beides, die Be-
schreibung des Konflikts und sein fataler Ausgang, setzen einen kon-
templativen abgeklärten Geist voraus. Dieser fehlte gänzlich in Judäa,
war aber übermäßig in Hellas entwickelt.
Man sieht also, daß der Hunger und alles, was mit ihm verbunden
ist, das Pathetische, das Elegische, die hebräische Literatur von Anfang
bis Ende beherrscht, während das Erotische und alles, was damit zu-
sammenhängt, das Schöne, den Geist der arischen Literaturen be-
herrscht, und daß der Eindruck, den die Bibel auf die Welt gemacht
hat, darauf beruht, daß sie das Grundbuch des Hungers ist.
203
Elftes Kapitel.
Die selektiven Kräfte.
Jüdische Literatur der Inhalt der jüdischen Geschichte. — Bibel und
Talmud. — Philosemiten berufen sich auf die Bibel, Antisemiten auf den Talmud.
— Literarische Entwicklung. — Propheten und Rabbinen. — Der Talmud das
Werk des analytischen Geistes. — Ursprung des mündlichen Gesetzes. — Die
Stillossigkeit des Talmud. — Die Natur des jüdischen Gesetzes. — Der Abstieg
vom Leben zum Buch. — Priester und Prophet. — Prophetische Wirksamkeit. —
Die Propheten und die Wirklichkeit. — Rabbinische Tätigkeit. — Die Juden und
die Bibel. — Das Geheimnis der Macht des Talmud. —
Ein bedeutender jüdischer Literaturhistoriker, Gustav Karpeles, be-
teuert in der Einleitung zu seiner Geschichte der jüdischen Literatur,
es sei keine Phrase, wenn man von dem jüdischen Volke sagte, „daf>
seine Geschichte auch zugleich seine Literatur sei". Der größte jü-
dische Historiker der Neuzeit, Graetz, hat eine zwölfbändige Geschichte
der Juden geschrieben. Wodurch sich dieses große Werk von einer
jüdischen Literaturgeschichte unterscheidet, kann niemand sagen; denn
weit mehr als eine Geschichte von Taten, zivilisatorischen Werken und
Handlungen, ist es eine Geschichte von Büchern, Ideen, geistigen
Strömungen der Persönlichkeiten. Sowohl Graetz wie die anderen jü-
dischen Historiker haben ehrliche Arbeit getan, fleißig gesammelt,
geordnet, rubriziert und gewissenhaft dargestellt. Wenn dennoch
keine Geschichte, sondern nur eine Literaturgeschichte herausge-
kommen ist, so ist es sicherlich nicht ihre Schuld. Nun, eine
Literaturgeschichte ist eine Geschichte von Ideen und deren Trägern,
eine Geschichte von literarischen Persönlichkeiten. Denkt man sich
nämlich die Literatur von der jüdischen Geschichte hinweg, dann bleibt
ein bares Nichts, ein absolutes Nichts. Dieses Faktum allein ist ein aus-
reichender Grund, die jüdische Geschichte vom Gesichtspunkt der
Individualität, die ihre erste treibende Kraft ist, zu interpretieren, um
204
auf diesem Wege in ihre Eigenart — und damit in die Eigenart des
jüdischen Geistes einzudringen.
Der Schwerpunkt des angehenden antiken Judentums .ist der Tal-
mud, und bis auf den heutigen Tag ist es so geblieben. Die Juden
selbst betrachten den Talmud als das erste Buch, ja seit dem Abschluß
des Talmuds herrscht sogar eine gewisse „Abneigung" gegen die
Bibel. Man findet noch bis auf den heutigen Tag große Talmud-
autoritäten, die die Propheten nie gelesen haben. Die meisten Talmud-
juden kennen die Bibel nur aus den Sentenzen, die der Talmud an-
führt. In vielen großen Talmudhochschulen wird den Studenten das
Lesen der Propheten, wenn nicht direkt verboten, so doch nicht emp-
fohlen. Speziell der des Talmuds unkundige fromme Jude behandelt
die Bibel mit Ausnahme der fünf Bücher Mosis als eine Art revo-
lutionärer Literatur. Man darf mit Recht sagen, daß es wohl wenige
Völker gibt, die sich einer so großen Unkenntnis der Bibel rühmen
können wie die Juden. Ist das nicht an sich ein Mysterium, ein Rätsel?
Ein fast umgekehrtes Verhältnis unterhalten die christlichen Völker
zu den beiden Büchern, die das eine Volk hervorgebracht hat. Die
Philosemiten berufen sich immer auf die Bibel, die Antisemiten auf
den Talmud. Wegen der Bibel sind die Juden das auserwählte Volk
Gottes, wegen des Talmuds Parias, Tschandallas. In die Bibel werden
alle großen und heiligen Gedanken hineingelesen, aus dem Talmud
die menschenunwürdigsten Gebote herausgelesen. Es ist mir nicht
bekannt, daß irgendeine Autorität zu irgendeiner Zeit die Verbrennung
der Bibel befohlen hätte; hingegen ist der Talmud im sechzehnten
Jahrhundert allein mehr als sechsmal dem Feuertod übergeben worden.
Könige und Päpste wetteiferten Jahrtausende in ihrem Kampf
gegen das ihnen verhaßte Buch. Während mehrerer Jahrhunderte
trug es sogar den wenig ehrenvollen Namen liber demeabilis (ver-
dammtes Buch). Als Pius IV. nach vielem Zögern die Erlaubnis zu
einer Neuaflage des Talmuds erteilte, machte er zur Bedingung, daß
das Vorderblatt nicht das Wort „Talmud" tragen solle. „Si tarnen
prodierit sine nomine Talmud tolerari deberet", schrieb der Papst
in seinem Dekret. Selbst heute ist dieses Buch sogar in freisinnig
christlichen Kreisen aufs gründlichste verhaßt. Mit dem Wort Talmud
verbinden sich Vorstellungen von einem Buche, das der Wahnwitz
eines bigotten Volkes geschaffen hat. Jedesmal, wenn die antisemi-
tische Bestie das Ritualmordmärchen aufzufrischen sucht, wird der
Talmud in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt. Man bedenke also
den Gegensatz! Wegen der Bibel, die die Juden am wenigsten kennen,
205
sind sie ein Volk Gottes, und wegen des Talmuds werden sie zu
fanatischen Meuchelmördern und zu abergläubischen Haitinern ge-
stempelt. Dieselben Leute, die bei jeder Ritualmordaffäre gegen die
Juden als Kronzeugen auftreten, sind in der Regel selbst bibelfeste
Christen. Wie ist diese Erscheinung zu erklären? Der Talmud liegt
jetzt fast ganz übersetzt vor, und in früheren Zeiten gab es immer
große christliche Gelehrte, die den Inhalt des Talmuds mehr oder
weniger gründlich kannten. Es wäre also weit gefehlt, die juden-
feindliche Welle, die um den Talmud schlägt, auf die Unkenntnis
dieses Buches zurückzuführen. Der Talmud enthält nichts, was diese
seit Jahrtausenden andauernde Abneigung gegen ihn rechtfertigen
könnte. Wenn irgendein großes Werk der Weltliteratur als harmlos
bezeichnet werden darf, so ist es sicherlich der Talmujd. Das Werk ent-
hält, wie jeder, der über den Talmud urteilt, wissen sollte, religions-
gesetzliche Abhandlungen und Bestimmungen, sowie ein System des
Zivil- und Strafrechts, das an einer idealistischen Ethik motiviert ist,
und nebenbei noch allerlei Volkssagen und Poetika, Agada genannt.
Das so positive Verhältnis der Juden zum Talmud und die vorbehalt-
lose Abneigung der Christen gegen ihn muß also einen anderen als
einen philologischen oder ethischen Grund haben. Die Stellung des
Talmuds im Judentum wie im Christentum kann nur psychologisch ver-
standen werden, wie die Stellung der Bibel im Judentum und Christen-
tum nur psychologisch verstanden werden kann. Da aber der Talmud
noch mehr als die Bibel ein Werk von Individualitäten ist, so ist es
geboten, die Psychologie dieser Individualität zu untersuchen. Es wird
sich dann ergeben, daß die christliche Abneigung gegen den Talmud
psychologisch ebenso begründet ist wie die Vorliebe der Juden für
den Talmud. In der jüdischen Geschichte, d. h. in der jüdischen Lite-
ratur, treten nacheinander vier Persönlichkeiten auf, die sich zum Teil
gegenseitig ausschließen: 1. Der willensstarke und tatenreiche3) Ge-
setzgeber der frühesten Zeit, der zugleich Politiker, Tribun, Organi-
sator und Richter war. 2. Der Priester, der neben seinen gottesdienst-
lichen Funktionen auch Sanitätsbeamter war, und der, wie alle Priester,
immer auf der Seite der Starken und Mächtigen seinen Platz einnahm.
3. Der Prophet, der Dichter und Politiker, Patriot und Tribun war,
und 4. Der Rabbi (vom Sopher bis auf den heutigen Talmudrabbi),
der Gesetzesausleger, der halb Priester und halb Richter ist und nur im
*) Bei dieser Gelegenheit sei auf die ausgezeichneten psychologischen Moses-
Essays von Adolf Gelber und Achad-Haam, die im Sammelbuch „Moses",
Berlin 1905, erschienen sind, hingewiesen.
206
Buche wurzelt. Im Altertum stand der Prophet u. a. auch dem Priester
gegenüber. Der Prophet vertrat den Geist, der Priester den Buch-
staben. Der Prophet war an der Sittlichkeit, der Priester an der Le-
galität orientiert. Allein der Prophet stand nicht nur dem Priester
gegenüber; denn er vertrat das sittliche Sollen gegen das unsittliche
Sein auf der ganzen Linie. Der Priester war aber nur eine der vielen
Mächte des Seins. Wenn christliche Theologen in neuerer Zeit, nach
dem Schema von Tardes „Opposition Universelle" im Nebeneinander
der geschichtlichen Mächte vorgehend, die Sache so darstellen, als
hätte der Kampf zwischen Priester und Prophet im alten Judäa den
Inhalt der antiken jüdischen Geschichte gebildet, so ist dem entgegen-
zuhalten, daß der prophetische Mensch nicht gegen die Priesterschaft
an sich, sondern gegen die Ausartung des Priestertums gekämpft hat;
wie er gegen jede sittliche Ausartung im Kampfe lag.
Solange die Prophetie lebte und wirkte, hatte die Legalität, die
sich immer mit der sittlichen Niedertracht zu verschwägern weiß,
eine Grenze. Als nun aber der Geist der Prophetie verglommen war
und dem sittlichen religiösen Niedergang eine Grenze gesetzt werden
mußte, trat zuerst der Sopher und dann der Rabbi auf, um einen Teil
der prophetischen Funktion zu übernehmen. Während aber der Pro-
phet, obschon selbst auf der Tradition fußend, aus dem Born des
Lebens, des tätigen, wirklichen Lebens schöpfte, weil zu seiner Zeit
das nationale Leben noch einige Wirklichkeit hatte, mußte die Tätigkeit
des Rabbi auf das Buch beschränkt bleiben, da das nationalpolitische
Leben mittlerweile ganz aufgehört hätte. Obgleich nun der Rabbi der
Nachfolger des Propheten und des Priesters zugleich ist, ist er trotz-
dem der Antipode des letzteren. Der Prophet war ein Künstler, der
Rabbi ein Jurist, der Prophet ein an dem Leben orientierter schöpfe-
rischer Geist, der Rabbi ein Kommentator und Erklärer, der Prophet
ein „Wirklichkeits"mensch, der Rabbi ein Bücherwurm. Der Prophet
mahnt zur sittlichen Handlung, der Rabbiner zum Studium, zum „Ler-
nen". Vor der babylonischen Gefangenschaft gab es keinen einzigen
hebräischen Terminus für Schule, während die talmudische Sprache
nicht weniger als zehn Bezeichnungen für Schule hat. Die Propheten
kündigen den Untergang des Staates an, weil das Volk sittlich und
religiös verkommen ist, die Rabbinen begründen die Zerstörung Jeru-
salems mit dem Aufhören des Jugendunterrichts. Der Prophet stellt
als das Höchste die sittliche Tat, die Verwirklichung des Guten, hin,
der Rabbiner lehrt „We talmud Torah k'neged kullam" (über allem
steht das Thorastudium). Des Gegensatzes zum Propheten sich be-
207
wüßt, lehrte der Rabbi: Ein Gelehrter ist mehr als ein Prophet. Die
Bibel berichtet von großen Taten und von großen Männern, sie ist
voller Handlung und Leben. Der Talmud hingegen berichtet nur von
formulierten Gesetzen, von Deutungen, Erklärungen und Auslegungen
der Gesetze — er verhält sich zur Bibel wie Didaktik zu Epik. Der
Rabbi ist der Prototypus des religiösen Puritaners und des ethischen
Intellektualisten. Jedes Willensmotiv ist ihm fremd, jedes psycholo-
gische Motiv verhaßt. Seine Lehre ist prosaisch, nüchtern, trocken,
emotionslos — und was das schlimmste ist, stillos. Die Bibel ist auch
nicht sehr formenreich, aber sie hat ihren Stil; denn sie ist ein natür-
liches Gewächs . . . Der Stil des Talmuds ist die absolute Stil- und Form-
losigkeit. Dieses Faktum ist nicht darauf zurückzuführen, daß er baby-
lonisch, sondern darauf, daß er apsychologisch ist. Aller Stil ist psycho-
logisch-persönlich — le style c'est l'homme — , und der Talmud ist in
seinem halachischen Teil purer Intellektualismus — „Nihilismus" . . .
Betrachtet man also die Entwicklungsgeschichte des antiken jüdi-
schen Geistes nach seinen sukzessiven Vertretern, so muß man sagen:
der ursprüngliche synthetische, ebensoviel Intellektualismus wie Vo-
luntarismus enthaltende Geist der Propheten verwandelte sich beim
Rabbiner resp. beim Halachisten in einen trockenen, analytischen In-
tellektualismus unter Ausschluß jedes Voluntarismus und Psycholo-
gismus. Die Absolutheit des jüdischen Gesetzes sowie die eingefleischte
Prinzipialität und Extremität, die den jüdischen Geist immer „aus-
zeichneten", haben den rabbinischen apsychologischen Intellektualis-
mus zum Primat gemacht.
Diese Geistesentwicklung von Synthesis zur Analysis, von Psy-
chologismus zum Intellektualismus war durch den Ablauf des histo-
rischen Prozesses bedingt, wenn wir auch nicht alle Phasen dieser
eigenartigen, weil extremen, Entwicklung kennen. „Wenige Kapitel
in der Geschichte der Jurisprudenz", so bemerkt Emanuel Deutsch,
„sind so obskur wie der Ursprung des mündlichen Gesetzes." Die
vielen Stöße und Bewegungen, die der Staat von innen oder von außen
erhalten hat, machten neue Gesetze oder Verordnungen erforderlich.
Da das Gesetz kein Gesetz der Majorität, sondern das der göttlichen
Autorität war und die Urim Wethumim, das Orakel des Hohepriesters,
mit der Zerstörung des ersten Tempels verloren ging und auch kein
Prophet mehr lebte, der das Richtige hätte sagen können, mußte das
neue Gesetz auf anderem Wege als übereinstimmend mit dem Gött-
lichen nachgewiesen werden. Man mußte anfangen abzuleiten, zu ver-
gleichen, Anhaltspunkte zu finden, Analogien zu suchen usw. Für alte
208
Traditionen und Volkssitten mußten gesetzliche Anhaltspunkte aus-
findig gemacht werden. Auf diese Weise, so denken sich viele, soll
das mündliche Gesetz seinen Anfang genommen haben und der Rabbi-
nismus entstanden sein.
Aber da melden sich schwerwiegende Bedenken.
Im Talmud befindet sich eine beträchtlich große Anzahl von Ge-
setzen und Verordnungen, die gar keine Basis im Leben jener hatten,
so z. B. religionsgesetzliche Vorschriften, die nur Geltung hatten, so-
lange der Tempel bestand; straf- und zivilrechtliche Verordnungen,
die, weil der jüdische Staat nicht mehr existierte, gar keine Anwen-
dung finden und mithin nicht aus den Bedürfnissen des realen Lebens
hervorgegangen sein konnten. Das gleiche gilt auch von vielen Zere-
monialgesetzen, die wegen der veränderten Lebensbedingungen schon
eo ipso außer Kraft waren. Und selbst diejenigen religionsgesetzlichen
Vorschriften, die noch heute Gültigkeit haben, sind im Talmud mit
so viel grauer Theorie belastet, daß sie von erschreckender Welt-
fremdheit der Rabbinen zeugen. Das Gesetz wurde, damit es nicht
übertreten werde, mit „Zäunen und Gittern" (Gedarim und Sejagim)
umgeben. Über diese Sejagim und Gedarim wird oft mehr diskutiert
als über das Gesetz selbst. Ganze Traktate im Talmud, wie etwa
Sebachim und Menachoth, die vom Opfergesetz handeln, Sanhedrin,
der vom Strafrecht handelt, u. a. sind einfach graue Theorie, die
keinerlei Beziehung zum realen Leben der Zeit und zu den Bedürf-
nissen des Volkes hatten. Mithin scheint der Satz, der Talmud ist der
theoretische Ausdruck des Lebens jener Zeit, sehr gewagt.
Die einzige ausreichende Erklärung für den weltfremden Ratio-
nalismus, der den Rabbiner auszeichnet, ist in der Natur des jüdischen
Gesetzes und in dem Erlahmen der psychologischen Kraft am Aus-
gang der Antike zu finden. Eine ähnliche Wandlung des Geistes sehen
wir auch in Griechenland. Auf den göttlichen Plato folgt der „Chinese"
Aristoteles. Der aristotelische Rationalismus war aber an der Natur
orientiert und konnte schon aus diesem Grunde nicht so schnell in
Scholastik ausarten. Der Universalienstreit setzte doch erst dann ein,
als der aristotelische Gedanke den Zusammenhang mit der Natur-
wissenschaft verloren hatte. In Judäa war aber der beginnende Ratio-
nalismus durch die Rabbinen von vornherein auf ein anderes Vernunft-
gebilde — auf das Gesetz — gestellt, und daher artete er auch gleich
in Scholastizismus aus. Der Rabbi operiert im Talmud mit bestimmten
Kategorien und mit einer dem Talmud adäquaten Logik wie die
Aristoteliker. Nur hatte jeder große Rabbi seine eigenen Kategorien
14 Melaraed
209
und seine eigene Methodologie. (Also auch in rein formaler, metho-
dologischer Beziehung ist der Talmud System- und stillos.)
Das jüdische Gesetz, weil das Gesetz der großen intellektuellen
Persönlichkeit und des vernünftigen Gottes, war von vornherein, wie
schon erwähnt, a priori Vernunftgesetz. Solange im jungen Volk große
voluntaristische Kräfte lebten, die mit dem Gesetz oft zusammen-
stießen, lebten auch noch der poetische und der religiöse Geist. Religion
und Poesie waren immer Schwesterkinder. Neben dem Deuteronomium
findet man in der Bibel noch den Psalter, ein Buch voll inniger reli-
giöser Lyrik. Gesetz und Religion (religiöse Sehnsucht, für die im
Gesetz kein Raum ist) lebten in ältester Zeit oft nebeneinander oder
gegeneinander - in jedem Falle bildeten sie zwei parallele Richtungen
des antiken jüdischen Geistes, obschon sie sich oft schnitten. Das
Gesetz, absolut, konnte aber keine anderen Mächte neben sich dulden
und strebte immer danach, sich selbst an erste Stelle zu setzen . . .
Diese Tendenz hatte mannigfache Erschütterungen zur Folge, aus
denen es aber immer gestärkt hervorging. Als das Leben am Ausgang
der Antike immer komplizierter wurde und das Gesetz immer neue
Wirkungssphären gefunden hatte, wurde die andere Kraft mehr und
mehr zurückgedrängt, bis sie zeitweise ganz erlosch, um allerdings
in gewissen Zeitabständen mit um so heftigerer Gewalt zu explodieren.
Dahin gehören auf der einen Seite der öfters aufflackernde Geist der
Rebellion, auf der anderen Seite der um sich greifende Mystizismus
in grotesken Formen. Diese Ausbrüche gefährdeten aber den Be-
stand des Volkes. Der rebellische Geist erlahmte von selbst, und der
Mystizismus wurde teils vom Gesetz überwunden, da es mit dem
Untergange des Staates der einzige und mächtigste Faktor im Leben
der Nation war, und teilweise wurde er ausgestoßen und außerhalb
des Umkreises des Judentums gestellt. Er wurde dann ein Ferment
des entstehenden Christentums. Was noch an poetischer Kraft im
Volke fortlebte, fand in der Agada und im Middrasch einen sinnigen,
aber stil- und formenlosen Ausdruck. Und selbst diese Schöpfung eines
noch leise nachzitternden Psychologismus mußte sich mit dem hala-
chischen Rabbinismus verschwägern; denn diese Agadisten waren
zum übergroßen Teil auch Halachisten. Und die wenigen Agadisten,
die sich an der Halacha nicht beteiligten, wie etwa Rabbi Pinchas bar
Jair, Rabbi Schmuei bar Nachmani u. a., hießen offiziell Rabbanan
d'Agadta, d. h. Agada-Rabbinen. Nun ist es interessant, zu beobachten,
wie der anfänglichen Gleichstellung von Agada und Halacha eine
langsame, aber sichere Zurückdrängung der Agada folgte, bis in der
210
gaonäischen (dem Abschluß des Talmuds folgenden) Zeit die Agada
ganz an Ansehen und Bedeutung verlor, dafür aber die Halacha allein
ausschlaggebend wurde. Mit anderen Worten: je mehr das Gesetz
(die Halacha) zum Lebensfaktor sich potenzierte, desto mehr wurden
die anderen Tendenzen des Geistes zurückgedrängt.
Diese Deszendenz vom Leben zum Buch, vom Willen zur „Ver-
nunft" läßt sich von den ersten Anfängen der jüdischen Geschichte
an nachweisen.
Von Moses berichtet die Bibel viele Handlungen und heldenhafte
Taten. Das ganze Leben dieses Mannes, ohne den man sich1 das Juden-
tum gar nicht denken kann, ist ein einziger, ununterbrochener, taten-
reicher Kampf gegen die mächtigen Ägypter und ihren König, gegen
ein in der Sklaverei verkommenes Volk, gegen den großen und all-
mächtigen Gott, der an diesem Volke verzweifelt und es ausrotten
will, und gegen unzählige anonyme Mächte des Lebens, die sich ihm
in den Weg stellen und ihn an dem großen Werk der Schaffung einer
Nation hindern wollen. Wenige Großen der Weltgeschichte standen
in ihrem Leben vor so vielen neuen und gefährlichen Situationen und
Problemen wie dieser Mann, und wenige richteten so viel Dauerndes!
aus wie er, weil er ganz Taten- und Willensgenius war. Auf Moses
folgten Richter, Priester und Könige. Keiner reichte an ihn heran,
aber jeder war in seiner Weise tätig, jeder schaffte, wirkte, handelte.
Man hörte von Kämpfen und Kriegen, von Helden und Schlachten-
führern, von großen Affekten und gewaltigen Leidenschaften. Noch
spielte das Gesetz keine Rolle. Froh und frisch tobte die Sinnlichkeit
des jungen Volkes, es lief oft leichtsinnig und seelenvergnügt zu an-
deren Göttern der Freude und der Lust hin, um allerdings bald reue-
voll zu seinem eigenen Gott zurückzukehren. Kurz: es handelte, be-
wegte sich, sündigte und bereute — es lebte. Aber das „Religions-
gesetz" war doch auch gleichzeitig das Sittengesetz, und das Volk
— ein semitischer Stamm — mit seiner Neigung zum Radikalen und
zum Extremen, lief Gefahr, seiner sittlichen Integrität verlustig zu
gehen. Der Priester war außerstande, die Sprünge des Volkes zu ver-
hindern und dem Ablauf des Lebens einen gewissen Rhythmus zu
sichern. Auch die Politik konnte das nicht; denn sie mußte sich von
Anfang an nach Mächten richten, die nicht im Leben vorhanden
sind. Im Moment der höchsten politischen, sittlichen und reli-
giösen Not tauchte der willens- und geistesstarke Prophet auf.
Man spricht von einer zielbewußten Entwicklung der Prophetie im
Judentum. Nichts dünkt mir falscher als das. Gerade die „geschulten
u*
211
Propheten" waren die falschen Propheten, die der Gemeinheit Vor-
schub leisteten. Die großen Propheten, die die höchste Entwicklungs-
stufe des Judentums bilden und dem jüdischen Volke für alle Zeiten
die Unsterblichkeit sichern, sind gerade die „ungeschulten Propheten",
Männer aus allen Ständen und Berufen, die um deswillen Propheten
waren, weil sie als Propheten geboren waren — sittliche Genien und
geistige Helden. Sie erstanden dem Volke ebenso plötzlich wie
einst Moses.
Die Prophetie ist kein ökonomischer Beruf, keine soziale Würde
und kein politischer Rang. Jeder, der das Gute und das Wahre ver-
künden konnte, den Trieb zur Verkündigung der Wahrheit hatte,
konnte es tun — und Prophet sein. Die Propheten waren keine Ge-
setzesausleger und Dozenten, sondern freie Volkstribunen, die dem
Volke ungeschminkt die Wahrheit verkündeten, ohne um ihr eigenes
Wohl oder Weh bekümmert zu sein. Beispiellos war ihr Mut. Wenn
es auf Verkündung der Wahrheit ankam, fürchteten sie weder die
Caprice des Despoten noch die Laune des Volkes. Rücksichtslos warn-
ten und mahnten sie und verkündeten drohend das herannahende Un-
glück Sie erfüllten nicht nur den göttlichen Beruf, sondern die Sorge
um die Zukunft des Volkes, die nur durch die Verwirklichung des
Guten gesichert werden konnte, trieb sie hinaus in die wildbewegte
Masse, um mit übermenschlicher Ausdauer die sittliche Tat zu voll-
enden. Sie waren weder Asketen noch Mystiker, sondern Männer
von weitem Blick und von unendlicher Liebe für ihr Volkstum, von
dessen sittlicher Vervollkommnung sie das sittliche Heil der Mensch-
heit erwarteten. Sie zauberten ihrem Volke einen Gott hervor, der
die Sittlichkeit fordert, und der selbst der Grund aller Sittlichkeit ist.
Ihr ganzes Seelenleben wird nur von diesem einzigen Gedanken ab-
sorbiert. Infolge der Konzentrierung ihrer ganzen Innenwelt auf den
sittlichen Gedanken gelangen sie zu einer Einseitigkeit in der Welt-
betrachtung.
Aber mit der ganzen Kraft ihrer willensstarken Persönlichkeit
kämpfen sie für die Verwirklichung des sittlichen Gedankens. Ihre
eigene sittliche Persönlichkeit projizieren sie in die Außenwelt hinein;
das geschieht mit einer Elementargewalt, die Eindruck machen muß;
um so mehr, als sie ihre Weissagungen mit einer geradezu grotesken
Eigenart und mit mächtigem, von poetischem Schwung getragenem
Pathos verlautbaren. Haben auch alle großen Propheten auf dem
Boden der Vernunft gestanden, so ist das, was aus ihnen hervorströmt,
nicht nur Vernunft, sondern Wille. Das ist schon aus der Wirkung
212
ihrer Worte zu ersehen. Nicht vom Talmud ist die große Gedanken-
welt ausgegangen, die noch heute ununterbrochen fortrollt und eine
lebendige Kraft ist, sondern von den Propheten.
Obschon die Propheten tatenreiche Willensmenschen waren und
mit genialem Weitblick alle großen Bewegungen ihrer Zeit beobachtet
hatten, so waren auch sie nur große Träumer; denn sie waren Rigo-
risten und verstanden nichts von Kompromiß. Sie waren zu einseitig,
um mit der Wirklichkeit in Kontakt zu bleiben. Da sie ihr Streben
unerfüllt sahen, mußten sie zu einer Verneinung der Gegenwart ge-
langen, mit der Wirklichkeit brechen, um sich eine eigene Wirklichkeit
in der Zukunft zu schaffen. Sie verwechselten das Sein mit dem
Sollen, und in ihrer gewaltigen Phantasie sahen sie ein Sollen, wie
sie es erträumt, verwirklicht vor sich stehen. Daher die Sicherheit
und die Bestimmtheit, mit der die Propheten die Zukunft verkünden
und ihre Zustände schildern.
Hatten schon die Propheten kein Verhältnis zur grausamen Wirk-
lichkeit, da sie alles durch das Prisma ihres ethischen Rigorismus be-
trachteten, obgleich sie von den Zuständen der Wirklichkeit ausge-
gangen waren, um wieviel weniger hatten es die Rabbinen, die nicht
vom Leben, sondern vom abstrakten Gesetz ausgingen. Auch der
spätere Rabbiner wollte im letzten Grunde nicht viel anderes als der
Prophet; auch er war ethischer Rigorist und Patriot, aber seinem
Wollen fehlte der Flug des Genius, und statt eine gewaltige Faust
niedersausen zu lassen und ein tatenreiches Werk zu vollbringen, er-
läuterte er seinen Schülern das Gesetz und vertiefte sich mit Ruhe
in seine Verwicklungen, als würde Israel unter seinem Weinstock und
Feigenbaum sitzen.
Während der Prophet immer an das Leben dachte, wenn auch an
das Leben der (irdischen) Zukunft, so dachte der Rabbiner nur an das
Buch, an das Gesetz, an die Thora, und sein Geist bewegte sich immer
in abstrakten Gedanken, die im Leben der Wirklichkeit weder Abbild
noch Basis haben. Dabei verwendete der Rabbiner ebensoviel Scharf-
sinn und Geist auf die Auslegung der Gesetze, wie einst der Prophet
Wille und Energie auf die Reform des Lebens. Während die Willens-
äußerung des Propheten immer einen bestimmten „praktischen" Zweck
verfolgt, theoretisiert oft der Rabbiner ins Blaue hinein, so daß seine
Theorien und Diskussionen selbst für seine Wissenschaft frucht- und
zwecklos sind. Es ist im Talmud oft sehr schwer zu unterscheiden,
was am Schluß der verwickelten Diskussion feststehendes Gesetz oder
individuelle Lehrmeinung1 ist. Die Diskussion ist zum großen Teil
213
ebenso uferlos als zwecklos. Es ist daher begreiflich, daß, da nur
das Gesetz den Gedanken des Rabbi beschäftigt, seine Weltanschauung
eine viel engere und inhaltlich ärmere ist als die des Propheten. Der
Prophet war mindestens soviel Kosmopolit wie Nationalist, der Rabbi
hingegen nur Nationalist. Im Talmud wird alles, Gott, Leben usw.,
nationalisiert, und nur von Zeit zu Zeit bricht in einem kurzen Spruch
die universalistische Tendenz durch. So bilden Prophet und Rabbi,
die zwei bedeutendsten Vertreter des jüdischen Gedankens, zwei ent-
gegengesetzte Persönlichkeiten, zwei sich gegenüberstehende Typen,
die sich oft sogar gegenseitig ausschließen. Man versteht daher, daß
der prophetische Willensmensch und der universalistische Geist zum
sittlichen und religiösen Gemeingut der ganzen zivilisierten Mensch-
heit werden konnte, während der rationalistische, absolut weltfremde
Rabbi, dem das Gesetz die Weltanschauung einengt, nur jüdisches
Nationalgut bleiben konnte. Der europäische Mensch, der vornehm-
lich ein Willensmensch ist, steht diesem rationalistischem Rabbi und
mithin auch dem Talmud ebenso verständnislos und unsympathisch
gegenüber, wie er dem Propheten und der Bibel sympathisch gegen-
übersteht. Eines weiß aber der europäische Mensch nicht, nämlich,
daß das Denken und Trachten des Rabbi ebenso naiv und keusch ist
wie das der Propheten. Wäre dem nicht so, dann hätten Rabbi und
Prophet keine Berührungspunkte.
Aus dem entgegengesetzten Grunde steht der Jude der Bibel fast
verständnislos gegenüber. Er ist selbst ein Werk des Gesetzes. Das
Gesetz hat ihn rationalisiert, und ohne richtige Willensbildung ist er
Rationalist geblieben. Wenn auch die Propheten keine Gegner des
Gesetzes waren, so hatten sie doch nicht den Schwerpunkt des Juden-
tums auf das Gesetz verlegt. Das hat in dem Juden immer einen
undefinierbaren Verdacht gegen die Propheten hervorgerufen; zudem
ist die prophetische Weltanschauung zu groß und reich und durch
ihren Mangel an rein legalen Elementen zu wenig „konkret", als daß
sie in dem an dem formalen Gesetz geschulten Juden viel Verständnis
und Begeisterung hervorrufen könnte. Ich halte es nicht für einen
Zufall, daß noch heute so wenig Juden sich an der Bibelwissenschaft
beteiligen . . . Aber daß der Talmud und nicht die Bibel der Schwer-
punkt des Judentums geblieben ist, hat seinen Grund auch noch darin,
daß die Bibel allein die Existenz des jüdischen Volkes in der Diaspora
nicht sichern konnte. Die prophetische Weltanschauung ist nach beiden
Dimensionen zu gewaltig, um auf den täglichen Gang der Dinge einen
bestimmenden Einfluß auszuüben. Das tägliche Leben erfordert zu
214
seiner Organisation eine unmittelbar treibende Macht; als solche kann
das rabbinische Gesetz, aber nicht die prophetische Vision oder der
prophetische Gedanke angesehen werden. Nicht ohne Grund wirft
sich der alte Jude nach der ersten! großen nationalen Katastrophe auf
das Gesetz. Es ging ihm instinktiv auf, daß nur das Gesetz sein Volks-
tum vor dem Untergang bewahren konnte, und je mehr er von seinem
Boden entwurzelt wurde, desto mehr ergab er sich der Herrschaft
des Gesetzes. Alle diejenigen, ob Individuen oder Gruppen, die das
rabbinische Gesetz ablehnten, mußten sich vom jüdischen Volkstum
trennen, um in anderen Völkern aufzugehen. Aus diesem Grunde ist
der Talmud noch mehr als die Bibel das nationale Buch der Juden
geblieben, und solange die Juden kein wirkliches politisches Leben
führen, werden sie durch das rationalistische Gesetz des Talmuds zu
einem Volk zusammengehalten werden. Wer sich heute vom Talmud
prinzipiell losreißt, reißt sich auch früher oder später vom jüdischen
Volkstum los.
Der Talmud behält aber nur dort seine Vormachtstellung, wo die
Lebensbedingungen noch primitiv sind — wo es gar kein Leben im
eigentlichen Sinne gibt — , oder wo der Staat die Juden von dem
Anteil am Leben ausschließt. Aus diesem Faktum ergibt sich von
selbst, welcher Zukunft der Talmud und mit ihm die Juden Westeuropas
entgegengehen . . . Der Ruf: „Rückkehr zur Bibel" (d. h. los vom
Talmud), den die Führer des sogenannten Reformjudentums in West-
europa haben erschallen lassen, hat sich nachträglich als Einladung
zur Taufe herausgestellt. Der Talmud ist in der Diaspora entstanden,
und das Diasporajudentum wird entweder talmudisch sein oder gar nicht.
Diese kleine Abweichung war für das Verständnis des rabbinischen
Judentums notwendig. Wie heute, so war der Rabbi allein schon am
Ausgang des Altertums die zusammenhaltende und die Fortexistenz
bedingende Kraft. Das Wesen des postexilischen Judentums ist der Tal-
mud, und das Wesen des Talmuds das rationalistisch-formulierte Gesetz.
So hat sich der Geist der antiken Juden gewandelt: vom Willen
zur Vernunft, von der Tat zum Buch, vom Leben zum Gesetz, von
der Synthesis zur trockenen Analysis und von der Intuition zur Dis-
kussion. Diese Wandlung war aber schon durch die ursprüngliche
Fassung und durch das Wesen des Gesetzes determiniert.
Nur in vereinzelten großen jüdischen Individuen aber flackert
noch hie und da der antike jüdische Geist in seiner ganzen Größe
auf. Als solcher — um nur ein Beispiel anzuführen — muß einer der
größten Juden der Neuzeit, Baruch Spinoza,, angesprochen werden.
215
Zwölftes Kapitel.
Baruch Spinoza.
Spinoza überall. — Spinoza und die neue Kultur. — Nietzsche und Spinoza.
— Spinoza und die Ethik. — Die Juden und die Ethik. — Spinozas Geist. —
Adaptabilität. — Spinoza und der Monismus. — Die Zukunft des Rabbinismus. —
Ein kleiner jüdischer Brillenschleifer in Amsterdam und Flüchtling
der Inquisition, der einige philosophische Bücher in lateinischer
Sprache geschrieben und der, obgleich nie getauft, in einer christlichen
Kirche seine letzte Ruhestätte gefunden, hat, ist zum Wegweiser
Goethes und Herders, zum Freunde Bismarcks und zum Lehrer Jacobys
geworden. Spinoza, der Schüler Kreskas, hat auf die Entwicklung der
christlichen Theologie einen bestimmenden Einfluß genommen. Spinoza,
der Inquisitionsflüchtling und der Sohn eines staatslosen und unpoli-
tischen Volkes, hat ein großes System der Staatsphilosophie geschaffen
und politische Lehren entwickelt, die noch heute fruchtbar sind.
Der Optimist Spinoza hat die finstere und schwarzgallige Poesie
eines Lenau beeinflußt, Spinoza, der Rationalist, der more geometrico
philosophierte, ist zum Wegweiser des Romantikers Schleiermacher
geworden. Überall Spinoza — - in der Politik, in der Naturwissenschaft
(Haeckel), in der Theologie, in der Poesie, in der Bibelkritik, in der]
Geschichtsschreibung usw.
Wenn man Max Grunwalds trockenes Spinozabuch durchliest, geht
einem recht auf, wie dieser jüdische Brillenschleifer die ganze Philo-
sophie und Poesie der Neuzeit beeinflußt hat. Keiner der großen
deutschen Dichter und Denker hat diesen Juden ignorieren können —
alle mußten sie sich mit ihm auseinandersetzen.
Röllius schrieb über Spinozas Einfluß in Holland, Pollock und
Clarke schrieben über seinen Einfluß in England, Trinius über seinen
Einfluß in Italien, und Bouillier über seinen Einfluß in Frankreich.
Noch ist das Thema nicht erschöpft, und noch ist Spinoza nicht tot.
216
In Deutschland feiert er jetzt durch Constantin Brunner seine Auf-
erstehung, und auch' in Frankreich, England und Italien lebt jetzt
Spinoza wie vielleicht nie zuvor. Man kann sich viele große Männer
aus der neueren Geschichte des Geistes hinwegdenken, nur Spinoza
nicht; man kann ihm Irrtümer und Widersprüche nachweisen, man
kann ihn aber nicht ignorieren.
Spinoza ist der Mittelpunkt des neuen europäischen Kulturgedan-
kens. Die neue europäische Kultur ohne Spinoza ist wie das Christen-
tum ohne Paulus, wie der Sozialismus ohne Marx, wie das neue
Deutschland ohne Bismarck.
Wer und was war Spinoza? Worin besteht seine Kraft und sein
Einfluß?
Constantin Brunner teilt alle Menschen in Spinozisten und Kanti-
aner ein. Kantianer sind alle trockenen Rationalisten, und Spinozisten
sind alle, die eine lebende, sich sehnende und dürstende Seele in
ihrer Brust tragen. Mithin ist Spinoza ein Romantiker.
Herrmann Cohen setzt in seiner Ethik auseinander, daß Spinoza
eigentlich nur ein Religionsphilosoph wäre. Von Ethik hätte er nichts
verstanden.
Chamberlain macht sich über den gemütlosen Juden Spinoza lustig,
weil er more geometrico philosophiert hat. Mithin ist Spinoza ein
trockener Rationalist. Die Philosophiegeschichtskundigen wissen, daß
jeder Philosoph der letzten zwei Jahrhunderte Spinoza anders ge-
deutet, erklärt und konzipiert hat. Jeder hat in ihn entweder hinein.'-
gelesen oder aus ihm herausgelesen.
Somit bleibt die Frage zu Recht bestehen: Wer war Spinoza,
was war er?
Friedrich Nietzsche, den oft eine Art prophetischen Gefühls über-
kam, betrachtete das Bild des jüdischen Brillenschleifers aus Amster-
dam und dichtete:
An Spinoza.
Dem „Eins in allem" liebend zugewandt
Amor Dei, selig aus Verstand.
Die Schuhe aus! Welch dreimal heilig Land!
Doch unter dieser Liebe fraß
Ein heimlich glimmender Rachebrand
— Am Judengott fraß Judenhaß —
Einsiedler, hab' ich dich erkannt?
Nietzsche hat auch hier, wie immer, übertrieben; aber er ist der
Wahrheit nahegekommen wie kein anderer vor ihm. Die Erscheinung
217
Spinozas ist ein psychologisches Problem — und Nietzsche, der psy-
chologische Erschauer und gedankenreiche Dichter, schaute Spinoza
an und erkannte in ihm seinen Gegner — den Juden — Spinoza.
Spinoza war weder Mystiker noch Rationalist, weder Religionsphilosoph
noch Politiker, sondern atalmudischer Jude — ein irrender und ver-
sprengter Prophet. Alle Elemente des jüdischen Stils findet man in
Spinoza wieder. — Dieser antike jüdische Stil hat auch Spinoza sein
Siegel aufgedrückt.
Diese Behauptung mag paradox erscheinen, ist aber trotzdem
wirklich und wahr.
Die Beweise: Spinoza nannte sein Hauptwerk, das seine ganze
Philosophie umfaßt, Ethik, obgleich es auch Metaphysik, Psychologie,
Erkenntnistheorie und Soziologie enthält. Mit dem Titel seines Buches,
der gar nicht zum Inhalt paßt, wollte Spinoza auf das vornehmlich
ethische Motiv seiner Philosophie hindeuten. Wäre dem nicht so,
würde er seinem Buch einen anderen, adäquaten Titel gegeben haben.
Bei der Lektüre der anderen Traktate Spinozas fällt sofort die ethische
Motivierung seiner Philosophie durch den großen Raum auf, den
die ethischen und sozialpolitischen Probleme in seinen Büchern ein-
nehmen. In der Ethik sind mehrere Kapitel diesem Problem ge-
widmet, ebenso im Tractatus theologicus politicus, sowie in dem
Kleinen Traktat. Bei allen anderen großen Philosophen nimmt die
Ethik schon rein quantitativ einen kleinen Raum in ihren Büchern
ein. Kant z. B., der doch als der Ethiker angesehen wird, hat nur
den achten Teil seiner Schriften der Ethik gewidmet. Bei Descartes:
spielt die Ethik kaum eine Rolle. Keiner der alten und der neuen
Philosophen (mit Ausnahme von Herrmann Cohen) hat dem ethischen
Problem eine solche große Stellung in seinem System zugewiesen
wie Spinoza. Wie ist diese Erscheinung zu erklären? Die antiken
Juden wie die großen modernen Juden hatten es immer auf die All-
gemeinheit abgesehen — und eine Ethik und Soziologie geschaffen.
Die zwei Begründer der Völkerpsychologie waren Juden, während die
Individualpsychologie von „arischen" Denkern ausgebildet worden ist.
Schon Herder hatte darauf aufmerksam gemacht, daß die jüdische
Tradition die ganze Menschheit umfaßt.
Das ethische Bewußtsein liegt sozusagen dem Juden im Blute.
Von diesem Bewußtsein kann er sich nicht befreien. Und auch Spinoza
konnte sich über dieses Bewußtsein nicht hinwegsetzen. Ist es ein
Zufall, daß alle großen jüdischen Denker der Neuzeit sich vornehmlich
mit ethisch-soziologischen Problemen befassen? Steinthal, ein Sprach-
218
forscher, hat eine Ethik geschrieben ; Lazarus, ein wohlbestallter Philo-
sophieprofessor, hat eine zweibändige Ethik des Judentums geschrie-
ben; Herrmann Cohen hat eine Ethik des reinen Willens geschrieben;
sein großer Schüler Stammler ist heute der Sozialphilosoph in Deutsch-
land, Simmel beschäftigte sich sein Leben lang mit Soziologie. In
Frankreich grübeln Rene Worms und Levy-Brühl über ethische und
soziale Probleme, und von fünf Großen auf dem Gebiete des inter-
nationalen Rechts sind mindestens vier Juden. Soll ich noch die Na-
men von Marx und Lassalle nennen? Die Frage des ethischen und
sozialen Menschen hält immer den jüdischen Geist in Spannung, und
ihr widmet er seine Kraft. Und Spinoza war ein Jude ... Es ist
natürlich nicht notwendig, daß alle Juden an einem System der Ethik
festhalten. Die Hauptsache ist nur, daß sich jüdische Denker immer
mit ethischen und sozialen Problemen beschäftigen. Diese Beschäfti-
gung mit ethisch-sozialen Problemen ist Stil. — Und auch bei Spinoza
ist sie Stil — der jüdische Stil.
Aber nicht dieses Faktum allein stempelt Spinoza zum Juden,
sondern er spricht schon aus der Grundlegung seiner Philosophie.
Er prüft gar nicht erst, i wie sein „Lehrer" Descartes, ob Erkenntnis
überhaupt möglich sei, sondern er beginnt gleich mit Axiomen, die
die Möglichkeit der Erkenntnis voraussetzen. Bevor Descartes seinem
Geiste den Satz abgerungen: „cogito ergo sum", hatte er gezweifelt,
gekämpft und ein Gelübde getan . . . hatte geprüft, untersucht, alle
Mittel und den ganzen Scharfsinn seines Geistes angewendet, um die
Erkenntnis auf eine sichere Grundlage zu stellen. Was bei Descartes
Schlußpunkt ist, ist bei Spinoza Ausgangspunkt: er beginnt einfach
und elementar: „Per causam sui intellego id, cujus essentia involvit
existentiam, sive id, cujus natura non potest concipi nisi existens".
Und statt der Substanzlehre eine kritisch-erkenntnistheoretische Vor-
untersuchung vorauszuschicken, begnügt er sich mit einer kurzen De-
finition der Substanz: „Per substantiam intelligo id quod per se est
et per se concipitur". Und so geht es weiter mit der Definition der
Attribute und der Modi. Das ist einfacher, biblischer Stil. „Am An-
fang schuf Gott Himmel und Erde." Dieser synthetische Stil setzt die
unmittelbare intuitive Erkenntnis voraus. Spinoza selbst lehrte im
antiken jüdischen Geist, daß man Gott selbst nicht durch etwas an-
deres erkennen könne. (Tractatus de Deo et homine, II, 22.)
Kurzum: Was Spinoza auszeichnet und ihn von anderen Philoso-
phen neuerer Zeit unterscheidet, ist sein synthetisch-intuitiver Geist.
Jeder Philosoph setzt mit der Kritik eines anderen Systems an, wäh-
219
rend Spinoza jüdisch-biblisch beginnt . . . Spinoza ist aber ebensoviel
oder ebensowenig Dogmatiker wie die jüdischen Propheten. Daß jeder
in sein System etwas anderes hineinliest, ist ebensowenig seine Schuld,
wie es Schuld der Propheten ist, daß man, in sie alles hineinliest. Auch
ist es nicht seine Schuld, daß man Hegel und Hartmann vorwarf, sie
hätten ihre Lehren Spinoza entlehnt. Wie heute Religion -in Europa
nicht ohne die Bibel möglich ist, so ist keine Philosophie ohne Spinoza
möglich. Wenn Grillparzer in Verteidigung der spinozistischen Philo-
sophie nachzuweisen versuchte, daß auch schon Spinoza „das Ding
an sich" kannte, da er nur von zwei uns bekannten Attributen spricht,
und wenn Knauer in seinem Anti-Hartmann behauptet, Hartmann habe
lediglich Spinoza erneuert; wenn Schopenhauer in einem Brief an
seinen Freund Frauenstädt zugibt, von Spinoza beeinflußt zu sein, und
ferner Hegel beschuldigt, Spinoza abgeschrieben zu haben, und zu-
allerletzt noch Haeckel Spinoza für sich in Anspruch nimmt, so zeugt
es jedenfalls von dem mächtigen Einfluß, den Spinoza auf die neuere
Philosophie ausübt, wie die Bibel auf die Religion.
Diese „Anpassungsfähigkeit" des biblischen Judentums wie der
spinozistischen Philosophie ist auf den Ewigkeitsgedanken, den beide
zur Grundlage haben, zurückzuführen. Auch Spinoza betrachtete die
Dinge wie die Propheten sub specie aeternitatis. Die Betrachtung der
Dinge vom Gesichtswinkel der Ewigkeit ist nur dem synthetisch in-
tuitiven Genius gegeben, der aus den ersten Quellen des Lebens schöpft.
In Übereinstimmung mit der Bibel und im Gegensatz zur griechischen
Philosophie beginnt Spinoza mit der Gottes-Erkenntnis. Der Schluß-
punkt jeder anderen Philosophie ist sein Ausgangspunkt. Schon im
ersten kurzen Traktat über Gott und Menschen, der die erste Fassung
der spinozistischen Philosophie enthält, wird die Gorteslehre voraus-
geschickt. So sehen wir in der philosophischen Persönlichkeit Spinozas
vier Grundeigenschaften des antik-jüdischen Geistes: 1. die ethische
Motivierung, 2. den synthetisch-intuitiven Gedanken, 3. die Betrach-
tung der Dinge vom Gesichtspunkt der Ewigkeit, und die Voranstel-
lung der Gotteslehre. In diesem Zusammenhang muß noch auf zwei
Tatsachen hingewiesen werden: erstens auf die Einheit der Substanz,
d. h. auf den metaphysischen Einheitsgedanken, der von alters her ein
Erbgut des jüdischen Geistes war, und zweitens auf die enge Bezie-
hung zwischen Liebe und Erkennen Gottes, die sowohl in der Bibel
als bei Spinoza zu finden ist. Die Vertreter des arischen Geistes
konnten sich mit dem reinen Monismus (Monotheismus) nie recht
abfinden; es ist charakteristisch, daß Houston Stewart Chamberlain
220
den Monismus als pervers bezeichnet. Die dualistische Weltauffassung
zieht sich seit Aristoteles durch die ganze Geschichte der Philosophie.
Aristoteles kannte eine sublunare und superlunare Welt, Plato die Welt
der Ideen und die Welt der Erscheinungen, Descartes zwei Substanzen
und Kant die phänomenale und noumenale Welt. Dieser Dualismus
tritt auch zutage in fast allen arischen Systemen der Ethik, der Reli-
gion usw. Der Jude Spinoza allein hat den metaphysischen Einheits-
gedanken vorbehaltlos zur Grundlage seines philosophischen Systems
gemacht. „Es gibt nur eine Substanz", so lehrte der jüdische Brillen-
schleifer in Amsterdam. So wie der, der den jüdischen Monotheismus
zugibt, auch das ganze Judentum annehmen muß, so muß der, der
Spinozas Substanz zugibt, auch weiter mit Spinoza gehen. Und wie
das antike Judentum seinen Gottesbegriff durch seine absolute Einheit
ausdrückt, so Spinoza, als er die Worte niederschrieb: „Per Deum
intellego ens absolute infinitum". Wer denkt nicht dabei an den bibli-
schen Satz: „Ich bin erster und ich bin letzter, und außer mir gibt es
keinen Gott".
Spinoza beginnt mit einer Substanz und schließt mit: „Amor Dei
Intellectualis". In der Bibel heißt es: „Und Du sollst Deinen Gott
lieben mit Deinem ganzen Herzen und Deiner ganzen Seele".
Herrmann Cohen bemerkte schon, daß in der hebräischen Sprache
Liebe und Erkennen mit einem Terminus bezeichnet werden.
Amor Dei intellectualis ist nicht nur formell, sondern auch inhalt-
lich antik-jüdisch. Da es keine Liebe ohne Wissen und Erkenntnis
gibt, versteht es sich von selbst, daß die Grundlage des spinozistischen
Systems die intellektuelle Erkenntnis ist. So gibt es im letzten Grunde
nichts in Spinozas Lehre und Stil, das nicht schon im antiken Juden-
tum enthalten ist, und dennoch sind Spinozismus und Judentum zweier-
lei. Der jüdische Gott ist ein persönlicher und freier Gott und steht
über dem Gesetz, während der Gott Spinozas unpersönlich und unfrei
und dem Gesetz unterworfen ist. Spinozas Gott ist eine geistige Fort-
setzung der Natur, während im Judentum die Natur eine Schöpfung
Gottes ist.
Inhaltlich sind also Spinozismus und Judentum zweierlei, aber
stilistisch-architektonisch sind sie einander gleich — daher ihre welt-
geschichtliche Macht.
Wieviel antiker jüdischer Geist in dieser oder jener Form bei
anderen großen Juden lebte, wird noch zu untersuchen sein. Daß viele
der wirklich großen Juden der Neuzeit, obgleich sie bewußt kein
eigentliches Verhältnis zum Judentum mehr unterhalten, sich trotzdem
221
des antiken Judentums erinnern (im platonischen Sinne), kann gar
keinem Zweifel unterliegen. Allein dieses plötzliche Aufflackern des
antiken jüdischen Geistes muß, da er im arischen Milieu keinen Re-
sonanzboden hat, bald wieder erlöschen. Innerhalb des heutigen tal-
mudisch-gesetzlichen Judentums hat er gewiß keinen Raum . . . Der
Talmud, ein Werk des „Golus" der Diaspora, ist nur für das Diaspora-
Judentum und wird sich nur in der Diaspora erhalten. Sollte es den
Juden gelingen, einen Bruchteil des Volkes wieder in der alten Heimat
anzusiedeln und dort ein hebräisches Milieu zu gründen und ein ge-
sundes jüdisches Leben zu schaffen, dann werden sich die Fesseln
des Rabbinismus und des starren Legalismus von selbst lösen, und
der jüdische Geist wird wieder autonom werden, wie er einst — zur
Zeit der Propheten — war. Nur wird er nicht so spiritualistisch-
idealistisch sein — denn nicht umsonst werden die Juden 2000 Jahre
in Europa gelebt haben.
222
Die Lehren des Judentums
— Nach den Quellen —
Herausgegeben vom Verband der Deutschen Juden.
Unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. L. Baeck, Prof. Dr. J. El*
bogen, Rabbiner Dr. S. Hochfeld, Direktor Dr. M. Holzman,
Rabbiner Dr. A. Loewenthal bearbeitet von
Dr. Simon Bernfeld.
Erster Teil: Die Grundlagen der judischen Ethik.
Preis M. 7,50, geb. M. 10,50.
Zweiter Teil: Die sittlichen Pflichten des Einzelnen.
Preis M. 24—, geb. M. 30-
„. . . Trotz der unverkennbar apologetischen Tendenz der Auswahl der
Belegstellen darf man dankbar sein, daß uns ein so umfassendes Bild der
sittlichen Gedankenwelt des Judentums gezeichnet und zugleich die Beurs
teilung von christlicher Seite in lehrreichen Ausschnitten geboten wird. Ein
nützliches Quellenwerk!" Theologisches Literaturblatt, Leipzig.
Weitere, in kurzen Zwischenräumen erscheinende
Teile der „Lehren des Judentums" sollen behandeln:
Gott/ Kultus und Gemeinde /Das Judentum unter den
Religionen / Das religiöse Schrifttum alter undneuer Zeit
Die Legenden der Juden
Von Rabbiner Dr. J. Bergmann.
Preis elegant geb. M. 13,—.
„. . . Ein ausgezeichnetes Buch, das sich sowohl durch klare Bearbeitung
des Materials, als auch durch übersichtliche Darstellung und fließenden Stil
besonders empfiehlt." Jüdische Korrespondenz, Wien.
„. . . Eine wertvolle Studie, in der die psychologische Tiefe der jüdischen
Legendenbildung verständnisvoll erfaßt ist. Die Arbeit ist ein wertvoller
Beitrag zur Religionsgeschichte und zur Volkpsychologie."
Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur.
„Eine Arbeit, die von großer Liebe zu ihrem Gegenstande zeugt. Der
Verfasser zeigt sich außerordentlich belesen, führt talmudische und kabbali*
stische Literatur an und bringt Parallelen aus dem nichtjüdischen Schrifttum.
Für diesesWerk gebührt ihm hohe Anerkennung." Isr. Familienblatt, Hamburg.
„Bergmann behandelt in den Legenden eine wichtige und noch wenig
ausgeschöpfte Quelle für die Kenntnis der jüdischen Religion und führt die
wichtigsten Objekte der Legendenbildung an instruktiven Beispielen vor. Die
Quellennachweise zeugen von ungewöhnlicher Belesenheit in der hier besonders
umfangreichen Literatur und bieten auch dem Fachmann reichen Stoff für die
vergleichende Legendenforschung." Allgemeine Zeitung des Judentums.
C. A. Schwetschke & Sohn / Verlag / Berlin W 30
Werke von Dr. Josef Meisl:
Haskalah
Geschichte der Aufklärungsbewegung
unter den Juden Rußlands.
Preis M. 12-, geb. M. 18,-.
„Die von Mendelssohn ausgehende Entwicklung in ihrem Hauptstrom
wissenschaftlich erfaßt zu haben, ist das hohe Verdienst des Verfassers. Das
Werk ist eine der wichtigsten Vorarbeiten für die heißersehnte Geschichte
des Judentums im 19. Jahrhundert." Jüdisches Volksblatt, M.-Ostrau.
Geschichte der Juden in Polen u. Russland
Erster Band, Preis M. 34,-, geb. M. 42,50
Zum ersten Male wird hier eine zusammenfassende Darstellung nach dem jüngsten
Stande der Einzelforschung gegeben. Der zweite Band erscheint im Januar 1922.
Wie weit hat Delitzsch recht?
Beantwortet durch kritische Beleuchtung des zweiten Teils von
Delitzschs „Die große Täuschung"
Von Geh. Rat Prof. D. Dr. Eduard König / Preis M. 3,60
Jüdische Geheimgesetze?
Mit drei Anhängen :
Rohling, Ecker und kein Ende? / Artur Dinter und
Kunst, Wissenschaft, Vaterland. / „Die Weisen von
Zion" und ihre Gläubigen.
Von Geh. Rat Prof. D. Dr. Herrn. L. Strack
7. Aufl. — 21.— 24. Tausend - M. 2,50
C. A. Schwetschke & Sohn / Verlag / Berlin W 30
Druck von F. E. Haa?, Melle i. H.
£>i .»-.... ^, i JT. ■ i 2 »y < /
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1921
Melamed, Samuel Max
Psychologie des judischen
Geistes
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