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Full text of "Psychologie des jüdischen Geistes : zur Völker- und Kulturpsychologie"

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University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/psychologiedesjOOmela 


Psychologie 
des  jüdischen  Geistes 


Zur  Völker-  und  Kulturpsychologie 


von 


Dr.  S.  M.  Melamed 


Zweite,  verbesserte  und  vermehrte  Auflage 


Berlin   1921 
C.  A.  Schwetschke  &  Sohn,  Verlagsbuchhandlung 

Gegr.  1729 


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Alle  Rechte  vorbehalten 


Copyright  1921  by  C.  A.  Schwetschke  &  Sohn,  Berlin 


BERTHA       KALISCH 

der  großen  Tragödin, 
einer  treuen  Tochter  meines  Volkes, 
in  aufrichtiger  Verehrung  zugeeignet. 


Vorwort. 

Auch  dieses  Buch  hat  seine  Geschichte.  Als  ich  im  Jahre  1904  mit 
.  den  allgemeinen  Vorarbeiten  zu  meiner  Geschichte  der  Friedensidee 
begann,  fiel  mir  bei  meiner  Vergleichung  des  Friedensproblems  in 
Judäa  und  in  Hellas  die  total  verschiedene  Natur  seiner  Fassung  und 
Motivierung  in  diesen  beiden  Kulturzentren  der  Antike  auf.  Ich  konnte 
mich  bald  davon  überzeugen,  daß  Plato  und  Jesaja,  die  beide  den 
politischen  Völkerfrieden  herbeisehnten,  zwei  verschiedene  Sprachen 
redeten,  der  eine  die  Sprache  der  Lebensvvirklichkeit,  und  der  andere 
die  des  am  Leben  nicht  orientierten  Idealismus.  Diese  Beobachtung 
schien  mir  interessant  genug,  um  den  Differenzen  in  der  Bewußtseins- 
disposition der  Kulturträger  beider  Völker  nachzugehen.  Bei  meinen 
späteren  Studien  über  den  Staat  fiel  mir  diese  geistespsychologische 
Differenz  stärker  auf.  Ich  gewann  aber  mehr  und  mehr  die  Über- 
zeugung, daß  der  eigentliche  geistige  Antipode  des  antiken  Juden  nicht 
sowohl  der  Grieche,  als  der  Römer,  dieser  prachtvolle  Willensmensch, 
war,  dessen  Blick  sich  von  reiner  Geistigkeit  niemals  trüben  ließ.  Was 
hätte  mir,  einem  jüdischen  Schriftsteller,  näher  liegen  können,  als  die 
gemachten  Beobachtungen  und  gewonnenen  Erfahrungen  zu  einem 
Problem  der  Judenpsychologie  zu  potenzieren  und  nach  einer  Formel 
für  dieses  Problem  zu  suchen?  Als  ich  vollends  die  Bekanntschaft  mit 
Chamberlains  „Grundlagen"  machte,  beschloß  ich  die  Arbeit  sofort  in 
Angriff  zu  nehmen.  Zunächst  galt  es,  die  Stellung  des  Judentums  jn 
der  Weltgeschichte  zu  fixieren;  denn  was  Chamberlain  und  seine 
Jünger  im  letzten  Grunde  anstreben,  ist  doch  nichts  anderes,  als  die! 
Juden  aus  der  Weltgeschichte  ganz  hinauszubugsieren,  trotz  der  Bibel, 
Paulus,  Spinoza  und  Karl  Marx. 

So  gesellte  sich  gleich  zum  kultur-  und  völkerpsychologischen  Pro- 
blem ein  geschichtsphilosophisches.   Es  war  schon  manchem  aufgefallen, 


daß  dem  kulturellen  Niedergange  der  romanischen  Länder  und  insbe- 
sondere Spaniens  ein  Aufschwung  der  germanischen  Kultur  folgte. 
Jahrhundertelang  lag  das  papistische  Rom  im  Kampfe  mit  dem  Biblizis- 
mus,  der  mit  der  Austreibung  der  Juden  aus  Spanien  seinen  Höhepunkt 
erreicht  hatte.  Man  könnte  diesen  Prozeß  für  einen  puren  Zufall 
halten,  wenn  nicht  schon  früher  einmal  der  Biblizismus  im  schweren 
Kampfe  mit  Rom  gelegen  und  nicht  schon  damals  der  Kampf  einen 
ähnlichen  Ausgang  genommen  hätte.  Der  Aussage  Harnacks,  daß  „die 
christliche  Lehre  keine  Elemente  umschloß,  die  dem  Staate  gefährlich 
werden  oder  auch  nur  anstößig  erscheinen  müßten",  stehen  die  Aus- 
sagen aller  bedeutenden  Historiker  neuerer  Zeit  entgegen,  daß  .„der 
Entwicklungsprozeß  der  Kirche  der  Auflösungsprozeß  des  römischen 
Staates  war"  (icih  zitiere  hier  Heinrich  von  Eicken).  Schon  am  Aus- 
gange der  Antike  wurde  die  Kirche  beschuldigt,  den  Ruin  des  römischen 
Staates  herbeigeführt  zu  haben,  und  der  heilige  Augustinus  hatte  es 
bekanntlich  für  nötig  gefunden,  die   Beschuldigung  abzuwehren. 

Wenn  man  nicht  gewillt  ist,  diese  zwei  großen  weltgeschichtlichen 
Ereignisse  als  Zufälle  zu  betrachten,  so  können  sie  nur  mit  der  aus- 
gesprochenen inneren  Gegnerschaft  zwischen  Judäa  und  Rom  erklärt 
werden.  Diese  zwei  Geistesmächte  begegnen  sich  immer  feindlich,  wo 
sie  sich  treffen.  Daraus  geht  doch  aber  auch  deutlich  hervor,  daß,  was 
auch  alles  gegen  Volksgeist,  Rasse  und  völkische  Geistesdisposition 
gesagt  worden  ist  und  gesagt  werden  mag,  das  Vorhandensein  zu- 
mindest eines  spezifischen  Rassen-  oder  Volksgeistes  eine  faustdicke 
Wirklichkeit  ist.  Das  ist  auch  die  einzige  Voraussetzung  dieses  Buches. 
Mit  der  biologisch  motivierten  Rassentheorie  konnte  ich  bei  der  Ver- 
schwommenheit des  biologischen  Rassen  begriff  es  nichts  anfangen,  und 
ich  habe  um  so  mehr  Grund  gehabt,  alle  Rassenphysiologie  und  Bio- 
logie beiseite  zu  lassen,  als  mir  ein  wesentlich  kulturpsychologisches 
und  mithin  ein  geisteswissenschaftliches  Problem  vorlag;  auch,  weil 
bis  heute  keine  genaue  Kenntnis  darüber  erlangt  werden  konnte,  ob 
das  rein  biologische  Element  wirklich  so  bestimmend  für  den  Kultur- 
geist eines  Volkes  ist.  Alles,  was  seit  Chamberlain  über  „Blutschuld 
der  Rasse"  gesprochen  wird,  ist  entweder  graue,  unbeweisbare  Theorie 
oder  Mystizismus,  der  weder  bewiesen  noch  widerlegt  werden  kann. 
An  dem  Ursprung  der  Dinge  haben  besonders  die  Geisteswissenschaften 
eine  Grenze.    Wie  das  Blut  auf  die  seelische  Konstitution  einer  Rasse 

VI 


wirkt,  wissen  wir  nicht.  Viele  Völker  formieren  sich  unter  gleichen  oder 
ähnlichen  Bedingungen,  leben  auf  der  gleichen  Scholle  und  wirken  doch 
grundverschieden,  selbst  wenn  sie  Glieder  einer  und  derselben  Rasse 
sind.  Rasse  ist  —  das  kann  nicht  bestritten  werden  —  eine  biologische 
Kategorie;  aber  sie  ist  sicherlich  nicht  ausschließlich  eine  solche.  In 
ihrer  äußeren  Manifestation  tritt  sie  uns  vielmals  als  psychologische 
und  ideale  Erscheinung  entgegen.  Diese  Überzeugung  drängt  sich 
mehr  und  mehr  auf,  wenn  man  an  die  schicksalschmiedende  Persönlich- 
keit denkt,  die  dem  Kollektivum  ihr  Siegel  aufdrückt,  und  die  doch 
sicherlich  nicht  nach  bestimmten  Grenzen  entsteht.  Wer  kann  be- 
haupten, daß  Dante  und  Shakespeare  gerade  den  Italienern  und  den 
Engländern  mit  naturnotwendiger  Gesetzlichkeit  haben  entstehen 
müssen,  wenn  wir  auch  nachträglich  diese  Persönlichkeit  als  die  Ver- 
körperung des  italienischen  oder  des  englischen  Nationalgeistes  be- 
zeichnen? Die  Natur  wäre  auch  gar  zu  arm,  wenn  sie  nur  ein  enges 
Gebiet  von  sichtbaren  Ursachen  und  Wirkungen  wäre.  Das  Spiel  der 
Natur  bleibt  unerforschlich,  trotz  aller  Naturwissenschaft. 

Da  in  ihr  Inneres  kein  erschaffener  Geist  zu  dringen  vermag, 
müssen  wir  uns  mit  einer  Wissenschaft  der  Wirkungen  und  der  nur 
sichtbaren  Ursachen  bescheiden.  Diese  Einsicht  führte  mich  noch 
mehr  dazu,  das  mir  vorliegende  Problem  nicht  naturalistisch  zu  er- 
fassen. 

Der  Untertitel  dieses  Buches  ist  mit  Absicht  gewählt;  denn  jede 
Völkerpsychologie  ist  nur  im  Bunde  mit  Kulturpsychologie  möglich. 
Gibt  man  zu,  daß  Sprache  und  Mythos  keine  Natur-,  sondern  Kultur- 
produkte sind,  dann  ist  eine  Völkerpsychologie  selbst  in  der  Wundt- 
schen  Fassung  ebensoviel  Kultur-  wie  Völkerpsychologie. 

Dieses  Buch  ist  keine  Apologie  des  Judentums.  Manche  Abschnitte 
werden  gerade  in  jüdischen  Kreisen  auf  Widerspruch  stoßen.  Ich 
glaube  der  erste  zu  sein,  der  den  Mut  und  die  Einsicht  hat,  den  Primat 
des  Intellekts  im  Judentum  auf  seine  psychologischen  Zusammen- 
setzungsmomente zurückzuführen  und  seine  ganze  Unwirklichkeit  und 
Schädlichkeit  für  die  Zivilisation  nachzuweisen.  Das  Judentum  als 
Religion  wie  als  Ethik,  ist  eine  große  intellektualistisch-idealistische 
Tendenz  in  der  Weltgeschichte,  die  aber  keine  Basis  im  Leben  hatte 
und  keine  hat.  Niemand  hat  die  Juden  so  richtig  charakterisiert  wie 
Mohammed,  der  sie  ein  Volk  des  Buches  nannte.   Solange  die  anderen 

vn 


Völker,  in  deren  Mitte  die  Juden  lebten,  nach  dem  Buch  und  der  Reli- 
gion gelebt  haben,  konnte  sich  das  Judentum  recht  und  schlecht  er- 
halten ;  heute  ist  es  zum  Untergange  verdammt,  wenn  es  innerhalb  der 
großen  Zivilisation  und  des  tätigen  Lebens  eine  Existenz  des  Buches 
fortsetzen  sollte.  Ein  großer  Sohn  unseres  Volkes,  Theodor  Herzl, 
dessen  Blick  von  unwirklichem  jüdischen  Intellektualismus  und  Idealis- 
mus nicht  getrübt  war,  versuchte  dieses  alte  Buchvolk  in  ein  Volk  der 
Tat  umzuwandeln.  Es  bleibt  abzuwarten,  ob  die  Juden  es  vorziehen 
werden,  als  tätiges  Volk  weiter  zu  existieren,  oder  als  Buchvolk  unter- 
zugehen. Bis  jetzt  arbeiten  alle  Vertreter  der  jüdischen  ^Geistigkeit", 
von  den  sogenannten  Reform-Rabbis  bis  zu  den  Vertretern  der  extrem- 
sten Orthodoxie^  bewußt  oder  unbewußt  auf  den  Untergang  des  jü- 
dischen Volkes  hin.  Nicht  also  eine  Apologetik  des  Judentums,  sondern 
ein  „Kampf  gegen  das  Judentum"  ist  dieses  Buch.  Ich  glaube,  daß 
niemand  mich  der  Feindschaft  gegen  den  Intellektualismus  zeihen  wird; 
denn  ich  bin  selbst  ein  Büchermensch,  aber  ich  sehe  keinen  anderen 
Ausweg  für  mein  Volk,  als  mindestens  eine  zeitweise  Absage  an  das 
Buch,  um  sich  auf  das  tätige  Leben  zu  besinnen.  Diese  Lehre  predige 
ich  den  Juden  seit  Jahr  und  Tag.  Mehrere  Kapitel  dieses  Buches  sind 
schon  vor  längerer  Zeit  in  verschiedenen  hebräischen  und  deutsch- 
jüdischen  Zeitschriften  erschienen,  das  vierte  Kapitel  schon  im  Jahre 
1907.  Vielleicht  werde  ich'  besser  verstanden,  wenn  ich  eine  zusammen- 
hängende und  systematische  Darstellung  dieser  Lehre  biete.  Wie  ich 
mich  zum  Sombartschen  Werke  stelle,  brauche  ich  wohl  jetzt  nicht 
mehr  auseinanderzusetzen.  Ich  wünschte,  seine  Behauptungen  wären 
wahr;  leider  sind  sie  sowohl  inhaltlich  wie  formell  eine  professorale 
Vision,  und,  da  sie  antisemitisch  motiviert  sind,  eine  Art  „Ritualmord- 
märchen",  freilich  im  nationalökonomischen  Jargon. 

Da  es  sich  hier  nicht  um  ein  schulwissenschaftliches  Werk,  sondern 
um  ein  Lesebuch  handelt,  habe  ich,  soweit  es  ging,  alles  philologische 
Beiwerk  fortgelassen. 

London,  im  Dezember  1912. 

S.  M.  Melamed. 


VIII 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 

Selten  hat  ein  Buch  eine  so  merkwürdige  Aufnahme  gefunden  wie 
dieses.  Während  es  von  jüdischer  Seite  fast  ignoriert  wurde,  hat 
es  von  christlicher  Seite  eine  freundliche  Aufnahme  gefunden  und  ist 
in  vielen  Fällen  als  symptomatisch  für  die  im  heutigen  Judentum  herr- 
schenden Tendenzen  begrüßt  worden.  Nicht  nur  die  meistens  von  Juden 
gelesene  und  vielfach  von  Juden  redigierte  liberale  Presse,  sondern 
auch  die  eigentlich  jüdische  Presse  in  allen  Sprachen  hat  das  Buch 
ignoriert.  Dagegen  haben  Männer  wie  Karl  Jentsch  und  eine  Reihe 
anderer  christlicher  Theologen  und  Philosophen  dem  Buch  ziemlich 
viel  Aufmerksamkeit  gewidmet.  Die  wenigen  gebildeten  Juden,  die 
das  Buch  gelesen,  hatten  wenig  Freude  an  ihm,  weil  es  ihnen  zu  anti- 
jüdisch, oder,  wie  sie  sagten,  zu  antisemitisch  schien.  Wenn  Judentum 
ein  perpetuierter,  weltfremder  Rabbinismus  ist,  ist  das  Buch  in  der 
Tat  nicht  nur  unjüdisch,  sondern  auch  anti-jüdisch.  Was  ich  mit  diesem 
Buch  bezwecke,  ist,  den  Nachweis  zu  führen,  daß  das  antike  und 
speziell  das  rabbinische  Judentum  eine  Lehre  ist,  die  keinerlei  Basis 
in  der  Wirklichkeit  des  Lebens  hat.  Mit  anderen  Worten,  da  das 
antike  Judentum  eine  Conzeption  a  priori  ist  und  daher  keine  Grund- 
lage für  die  politische  Realität  des  jüdischen  Volkes  abgeben  konnte; 
weil  es  nicht  die  Kodifizierung  der  Lebenserfahrungen  des  Volkes  ist, 
konnte  es  sich  —  isoliert  vom  Leben  —  erhalten,  aber  nicht  eine  posi- 
tive treibende  Kraft  im  Leben  des  jüdischen  Volkes  werden.  Die  alt- 
backenen Argumente  der  Zionisten  oder  sonstigen  jüdischen  Propa- 
gandisten, daß  es  die  jüdische  Religion  war,  die  das  Judentum  vom 
Untergang  bewahrte,  sind  grundfalsch  und  drücken  mehr  eine  elegische 
Stimmung  als  Tatsachen  aus.  Die  Tatsache  ist,  daß  die  Erhaltung  des 
Judentums  auf  soziologische  Ursachen  zurückzuführen  ist;  die  Tatsache 
ist,  daß  die  Juden  von  jeher  als  ethnische  Einheit  betrachtet  wurden, 

IX 


und  es  war  dieses  tiefsitzende  Bewußtsein  im  Herzen  der  arischen 
Völkerwelt,  daß  die  Juden  nicht  eine  religiöse  Gemeinschaft,  sondern 
eine  nationale  Gemeinschaft  sind,  das  die  Juden  als  nationale  Gruppe 
vom  Untergang  bewahrt  hat.  Es  mag  vielleicht  paradox  erscheinen, 
und  doch  ist  es  eine  historische  Wahrhaftigkeit,  daß  die  Juden  wegen 
ihrer  Religion  allein  nie  verfolgt  wurden.  Selbst  das  Spanien  der  In- 
quisition hat  das  Judentum  wegen  der  Religion  allein  nicht  verfolgt. 
Immer  waren  es  rein  soziologische  Faktoren,  die  nationale  Bewegung 
eines  Volkes,  die  Ausbildung  eines  imperialistischen  Gedankens  bei 
einem  Volk,  oder  ökonomische  und  kirchliche  imperialistische  Ten- 
denzen, die  das  jüdische  Volk  in  scharfen  Konflikt  mit  anderen  Völkern 
brachte.  Das  Spanien  der  Inquisition  war  imperialistisch,  die  Kirche 
als  organischer  Teil  des  Staates  war  ein  Teil  des  Imperialismus  und 
Nationalismus,  und  da  die  Juden  eben  Juden  und  nicht  Spanier  waren, 
also  in  den  spanischen  Imperialismus  und  Nationalismus  nicht  hinein- 
paßten, wurden  sie  von  den  Spaniern  harsch  angefallen.  Der  Anti- 
semitismus entsteht  überall  da,  wo  eine  starke  nationalistische  oder 
imperialistische  Welle  aufschwillt,  oder  wo  ein  Volk  einen  Sündenbock 
braucht,  aber  nicht  weil  die  christlichen  Völker  sich  plötzlich  besinnen, 
daß  das  Judentum  als  Lehre  ihnen  fremd  ist.  Die  christlichen  Völker 
wissen  sehr  wenig  vom  Leben  des  jüdischen  Volkes,  aber  die  Bibel 
ist  ihnen  nicht  gänzlich  unbekannt.  Wenn  sie  auch  dies  Buch  nie  richtig 
verstanden,  wissen  sie  doch  ungefähr,  was  in  diesem  Buch  geschrieben 
steht.  Sie  wissen,  daß  das  Alte  Testament  die  erste  große  Grammatik 
des  menschlichen  Gewissens  ist,  das  größte  ethische  Dokument,  das 
je  geschrieben  worden  ist.  Leute,  die  schon  antisemitisch  gestimmt  sind 
oder  schon  professionelle  Antisemiten  sind,  mögen  von  Zeit  zu  Zeit 
auch  die  Bibel  anrempeln.  Delitzsch  II  und  Chamberlain  sind  wohl 
überzeugende  Beispiele,  aber  der  durchschnittliche  Antisemit  oder  der 
durchschnittliche  Arier,  der  sich  zwar  nicht  antisemitisch  betätigt,  aber 
dem  jüdischen  Volke  nicht  sympathisch  gegenübersteht,  denkt  an  alle 
möglichen  jüdischen  Dinge,  nur  nicht  an  die  Bibel.  Nicht  das  theo- 
retische Judentum,  sondern  das  jüdische  Volk  als  kon- 
krete historische  Wirklichkeit  ist  die  Ursache  seines 
Leicfens,  weil  es  ein  staatsloses  Volk  ist,  weil  es  ein 
heimloses  Volk  ist  und  weil  der  Wanderer  und  der 
Bettler    selten    respektiert    und    in    vielen    Fällen    an- 

X 


gefeindet  werden.  Es  gibt  nur  eine  Lehre,  die  Lehre  des  Juden- 
tums, die  den  Armen,  den  Bettler,  den  Wanderer  zum  Objekt  der 
Ethik  macht  und  für  ihn  Sympathie,  Mitleid  und  Achtung  sucht.  Der 
christlichen  Völkerwelt  ist  dieser  Gedankengang  ganz  ungeläufig,  und 
wenn  sie  ein  Volk  wie  die  Juden  sieht,  das  überall  zu  Hause  und 
überall  fremd  ist,  sich  überall  assimiliert  und  sich  doch  überall  selbst 
treu  bleibt,  muß  sie  sich  notwendigerweise  ablehnend  gegen  dieses 
Volk  verhalten.  Einzelne  auserlesene  Geister  mögen  den  Juden  als 
Volk  freundlich  gesinnt  sein,  sei  es,  weil  sie  die  große  intellektuelle 
Begabung  des  jüdischen  Volkes  schätzen,  weil  sie  die  Anpassungs- 
fähigkeit des  jüdischen  Volkes  bewundern,  oder  weil  ihnen  die  eine 
oder  andere  Tugend  der  Juden  sympathisch  ist.  Die  Masse  aber  muß 
sich  überall  ablehnend  gegen  die  Juden  verhalten,  und  in  Zeiten  des 
Überganges  und  der  Krisis  muß  diese  latente  Abneigung  scharfe  Kon- 
fliktsformen annehmen.  Es  spricht  für  den  Wirklichkeitssinn  der  großen 
modernen  Philosophen,  wie  Baruch  Spinoza,  Immanuel  Kant  und  Arthur 
Schopenhauer,  daß  sie  in  den  Juden  nicht  die  Träger  einer  Religion, 
sondern  die  Träger  eines  Nationalismus  erkannten.  Um  fast  ein  Viertel- 
jahrtausend, bevor  Theodor  Herzl  mit  seinem  Judenstaat  die  Welt 
überraschte,  hat  schon  der  große,  philosophische  Sonderling  in  Amster- 
dam den  Satz  ausgesprochen:  die  Juden  sind  ein  Volk  und  als  solches 
müssen  sie  ein  Land  haben.  So  ist  Baruch  Spinoza  zum  eigentlichen 
Begründer  des  modernen  Zionismus  geworden.  Alle  großen  euro- 
päischen Denker  haben  eine  ähnliche  Stellung  zum  Judentum  ein- 
genommen. 

Selbst  die  zionistisch  gesinnten  Juden  sind  aber  von  der  Idee,  daß 
die  jüdische  Religion  die  eigentliche  Triebkraft  im  jüdischen  Leben 
ist,  so  besessen,  daß  jeder  Widerspruch  ihnen  schon  als  antisemitisch 
erscheint.  Ich  glaube  in  diesem  Buch  den  Beweis  erbracht  zu  haben, 
daß  die  ganze  bisherige  jüdische  Geschichtsphilosophie,  wie  sie  von 
den  Juden  seit  fünf  Jahrhunderten  vertreten  wird,  eine  grundfalsche 
ist.  Ihre  Voraussetzungen  sind  falsch  und  ihre  Schlüsse  sind  falsch. 
Das  theoretische  Judentum  war  als  Theorie  nicht  stark  genug  oder 
zu  stark,  die  politische  Wirklichkeit  der  jüdischen  Nation,  den  jüdischen 
Staat  zu  erhalten,  und  das  Judentum  als  Theorie  war  nicht  stark  genug 
oder  zu  stark,  die  Fortexistenz  des  jüdischen  Volkes  in  der  Diaspora 
zu  sichern.    Wenn  wir  heute  das  jüdische  Volk  doch  noch  .am  Leben 

XI 


sehen,  so  ist  das  eben  darauf  zurückzuführen,  daß  das  jüdische  Ich 
sich  am  jüdischen  Nicht-Ich  entzündet,  mit  anderen  Worten,  weil  die 
Erkenntnis  vom  jüdischen  Volkstum,  von  der  jüdischen  ethnischen 
Einheit  in  der  arischen  Völkerwelt  so  eingewurzelt  und  das  Faktum 
des  jüdischen  Volkes  als  Volk  so  klar  und  unanfechtbar  ist,  daß  das 
Resultat  nur  ein  Ghetto  sein  konnte.  Für  die  Zukunft  der  Juden  und 
des  Judentums  ist  diese  Erkenntnis  von  ausschlaggebender  Bedeutung. 
Vom  Gesichtspunkt  der  weitläufigen  jüdischen  Geschichtsphilosophie, 
wie  sie  in  der  Diaspora  entstanden,  ist  der  Zionismus  ein  durchaus 
weltlicher  Gedanke,  ein  ganz  und  gar  unjüdischer,  ein  ganz  und  gar 
antijüdischer.  Judentum  und  Judenstaat  reimen  sich  nicht,  der  Staat 
ist  vielmehr  römisch  oder  arisch.  Wenn  der  Zionismus  erfolgreich' 
sein  soll,  muß  er  sich  säkularisieren,  er  muß  nicht  nur  jüdisch,  sondern 
anti-jüdisch  sein,  er  muß  zum  großen  Teil  alle  diejenigen  Elemente 
ausscheiden,  die  bis  jetzt  als  das  Organische  im  Judentum  betrachtet 
worden  sind.  Der  jüdische  Staat  kann  nicht  jüdisch  sein,  weil  der 
Staat  am  Sabbath  nicht  ruhen  kann,  weil  der  moderne  Staat  keinej 
Nomokratie  sein  kann,  weil  der  moderne  Staat  nicht  auf  theoretischen 
Prinzipien  oder  Aprioritäten  basiert  sein  kann.  Der  moderne  Staat 
muß  immer  bereit  sein,  Kompromisse  zu  schließen,  dem  Individuum 
und  der  Gruppe  Zugeständnisse  zu  machen.  Der  moderne  Staat  kann 
kein  starres  System  sein,  selbst  wenn  dieses  System  ein  System  der 
reinen  Ethik  ist.  Der  moderne  Staat  ist  mehr  oder  weniger  eine  große 
Korporation  und,  wie  jede  Korporation,  muß  er  zu  Geschäftstrans- 
aktionen bereit  sein.  Wenn  aber  der  Zionistenstaat  rein  jüdisch  sein 
soll,  also  eine  Verwirklichung  der  ethischen  und  politischen  Lehren 
der  Propheten  ohne  jede  Verschwägerung  mit  römischen  Elementen, 
dann  kann  er  nur  von  kurzer  Dauer  sein.  In  unserem  modernen  po- 
litischen Leben  mit  seinen  schnellen  Bewegungen  und  schnellem  Wech- 
sel der  Dinge  ist  kein  Raum  vorhanden  für  ein  starres  politisches  Sy- 
stem, selbst  wenn  dieses  System  in  irgendeinem  Winkel  in  Vorder- 
asien   errichtet  werden   sollte. 

Allein  die  heutigen  Juden,  so  sehr  verschieden  sie  von  den  antiken 
Juden  sein  mögen,  halten  noch  immer  an  dem  Apriorismus  fest  und 
glauben  noch  immer,  daß  man  mit  Gesetzen,  die  nicht  aus  dem 
Leben  stammen,  sondern  graue  Theorien  sind,  das  Leben  nicht  nur 
beherrschen,  sondern  ihm   auch  vorausgreifen  kann.    Der  Sozialismus, 

XII 


der  unter  den  Juden  populär  ist,  ist  insofern  jüdisch,  als  auch  er  ver- 
sucht, dem  Leben  voraus  zugreifen  und  es  auf  Grund  von  Vernunft- 
gesetzen zu  beherrschen.  Für  die  politische  Wirklichkeit  ist  es  ganz 
gleich,  ob  die  Apriorität,  die  das  Leben  zu  beherrschen  sucht,  eine 
säkulare  sozialistische,   oder  eine   religiöse  prophetische  ist. 

Die  Religion  als  Religion  des  reinen  Glaubens,  die  Ethik  als  Ethik 
des  Sollens  und  die  Literatur  als  die  Literatur  des  Hungers,  wie  ich 
sie  erkannt  und  in  diesem  Buche  dargestellt,  nehmen  sich  ästhetisch 
sehr  schön  aus  und  wirken  geradezu  erbauend,  aber  einen  Staat  kann 
man  mit  ihnen  nicht  gründen.  Sie  sind  als  konkrete  Faktoren  für  das 
Staatsleben  nicht  nur  unbrauchbar,  sondern  geradezu  schädlich  — 
schädlich  wegen  ihrer  Einseitigkeit  und  schädlich,  weil  sie  nur  die 
eine  Seite,  die  rein  menschliche  Seite  des  Lebens,  reflektieren,  und  weil 
sie  dem  Extremismus  Vorschub  leisten.  Dem  Durchschnittsjuden,  ganz 
gleich,  ob  er  rechtgläubig  oder  freidenkerisch,  muß  die  Lehre,  die 
dieses  Buch  enthält,  als  höchste  Häresie  erscheinen,  und  ich  will 
keineswegs  den  revolutionären  Charakter  des  Buches  leugnen,  aber 
das  ist  kein  Grund,  warum  die  Juden,  die  besonders  in  theoretischen 
Fragen  sehr  tolerant  sind,  dies  Buch  ignorieren  sollen.  Die  Tatsache, 
daß  gewissenlose,  antisemitische  Demagogen  aus  dem  Zusammenhang 
herausgerissene  Sätze  dieses  Buches  zitieren,  wie  es  der  Judenfresser 
Jorga  getan  hat,  um  mich  als  Kronzeugen  für  den  Antisemitismus  an- 
zuführen, braucht  und  soll  die  jüdischen  Leser  nicht  abschrecken. 
Schließlich  haben  die  Antisemiten  auch  schon  die  Bibel  als  Kronzeugen 
gegen  die  Juden  angerufen.  Deshalb  haben  aber  die  Juden  nie  auf- 
gehört, die  Bibel  zu  lesen. 

Vielleicht  hat  der  Krieg  mit  all  seinen  tragischen  Konsequenzen 
für  das  jüdische  Volk  die  Juden  in  Europa  schon  so  „entjudet",  schon 
zu  einem  solchen  Verständnis  der  politischen  Wirklichkeit  gebracht, 
daß  sie  diesmal  das,  was  ich  ihnen  zu  sagen  habe,  freundlich  aufnehmen 
werden  und  mich  nicht  ohne  weiteres  Ketzer  schelten.  Es  ist  merk- 
würdig, claß  die  osteuropäischen  Juden,  denen  ich  meine  Kritik  des 
Judentums  in  hebräischer  Sprache  vorlegte,  sich  viel  toleranter  zu  dem 
Inhalt  dieses  Buches  verhielten,  als  die  assimilierten  westeuropäischen 
Juden.  Es  war  auch  immer  meine  Überzeugung,  daß  die  westeuro- 
päischen Juden,  obgleich  „reformiert",  ebenso  stramm  am  Rabbinis- 
mus  festhalten  wie  die  osteuropäischen  Juden.    In  der  Diaspora  kann 

XIII 


der  Rabbinismus  das  formale  zusammenhaltende  Element  im  Judentum 
bilden,  für  die  Zukunft,  für  Palästina  taugt  er  nicht  und  muß  gänzlich 
verschwinden.  Wie  in  der  Diaspora  das  Judentum  entweder  rabbinisch 
sein  muß  oder  gar  nicht  sein  kann,  so  muß  es  in  Palästina  entweder  un- 
rabbinisch  sein  oder  es  wird  überhaupt  nicht  sein. 

Chicago,  Illinois,  März  1921. 

S.  M.  Melamed. 


XIV 


Inhalt. 

Seile 

Vorwort V 

Vorwort  zur  zweiten  Auflage IX 

Erstes  Kapitel:    Einführung 1 

Zweites  Kapitel:    Grundlagen  und  Voraussetzungen 21 

Drittes  Kapitel:   Die  Stellung  der  Juden  in  der  Weltgeschichte     .  36 

Viertes   Kapitel:    Formation   des   jüdischen   Geistes 50 

Fünftes   Kapitel:    Religion   des    reinen  Glaubens 85 

Sechstes  Kapitel:    Die  jüdische  Religion  und  das  zivilisatorische 

Leben 111 

Siebentes    Kapitel:    Das    historische   Weltbild 139 

Achtes  Kapitel:    Das  philosophische  Weltbild  .     .     .     .     .     .     .  155 

Neuntes   Kapitel:    Sprache   und   Schrifttum .  177 

Zehntes  Kapitel:   Die  psychologischen  Motive  in  der  hebräischen 

Literatur 194 

Elftes  Kapitel:    Die  selektiven  Kräfte 204 

Zwölftes  Kapitel:    Baruch  Spinoza 216 


XV 


Erstes  Kapitel. 

Einführung. 

Was  wissen  sie  von  dem  jüdischen  Geist?  —  Die  Juden-Psychologie  im 
Wandel  der  Zeiten.  —  Mittelalter  und  Sekten.  —  Germanen  und  Juden.  —  Herder 
und  die  Juden.  —  Die  unfruchtbare  Diskussion.  —  Juden-Psychologie  und  anti- 
semitische Propoganda  — .  Die  Enzyklopädisten  und  die  Juden.  —  Der  Deismus 
und  die  Juden.  —  Kant,  Schiller  und  die  Juden.  —  Das  jüdische  Individuum.  — 
Antike  und  moderne  Juden.  —  Die  ethnische  Einheit  der  Juden.  —  W,as  alle 
Juden  gemein  haben.  —  Werner  Sombarts  Judenweisheit.  —  Jüdische  Hartnäckig- 
keit. —  Sind  die  Juden  Händler  oder  Arbeiter?  —  Die  Juden  an  der  Arbeit.  — 
Ist  der  jüdische  Geist  konstant?  —  Die  Voraussetzung  einer  Judenpsychologie.  — 
Der  Inhalt  der  jüdischen  Geschichte.  —  Das  Wesen  des  Diaspora-Judentums.  — 
Trotzky  ein  Produkt  des  Zarismus.  —  Ursprung  des  jüdischen  Kosmopolitismus.  — 
Religion  und  Volkspsychologie.  —  Die  Wirkungen  des  Diasporalebens  auf  den 
jüdischen  Geist.  —  Die  Einflüsse  der  Umgebung.  —  Die  heutigen  Juden  nicht 
dieselben  wie  ihre  Ahnen.  — 

Wie  ein  greller  Strahl  zieht  sich  die  Frage  nach  der  inneren  Be- 
schaffenheit des  jüdischen  Geistes  durch  die  europäische  Ge- 
schichte der  letzten  zwei  Jahrtausende.  Sie  wurde  in  Rom  und  Alexan- 
dria aufgeworfen,  wo  das  Judentum  zuerst  mit  zwei  großen  Geschichts- 
mächten zusammentraf,  und  sie  ist  noch  heute  nicht  beantwortet,  so 
daß  die  Psychologie  des  jüdischen  Geistes  seit  dem  Eintritt  des  Juden- 
tums in  die  Weltgeschichte  als  selbständige  Kulturmacht  zur  Diskussion 
steht.  Ein  knapper  Überblick  über  das  lange,  ununterbrochene,  geistige 
Ringen  des  europäischen  Menschen,  um  das  Judentum  zu  erfassen, 
wird  klar  dartun,  daß  die  Erben,  sobald  vom  jüdischen  Geist  die  Rede 
ist,  nicht  viel  klüger  sind  als  ihre  Ahnen;  denn  dem  europäischen 
Denker  erscheint  noch  heute  —  nach  zweitausend  jähriger  Diskussion 
und  Forschung  —  das  Judentum  als  ein  Rätsel.  Obgleich  die  Juden 
seit  mehr  als  zwei  Jahrtausenden  zerstreut  unter  fremden  Völkern 
leben   und   die   Kulturträger   der  die  Juden   bewirtenden   Völker  von 

1     M-'-nui 


jeher  das  Judentum  anstaunen,  beobachten  und  es  zum  Objekt  wissen- 
schaftlicher   Forschung    machen,    wissen    die    europäischen    Menschen 
vom  Judentum,  das  täglich  und  allerorten  in  ihren  Gesichtskreis  tritt, 
viel  weniger  als  von  einem  längst  verschollenen  Völkchen  Hinterasiens. 
Zwei  bedeutende  Schriftsteller,  die  in  dem  ersten  Dezennium  des  zwan- 
zigsten Jahrhunderts  mit  zwei  umfangreichen  Werken  über  die  Juden- 
psychologie  hervorgetreten    sind,    Houston   Stewart   Chamberlain   und 
Werner  Sombart,   wiederholen   nur  mit  mehr  oder  weniger  Geschick 
und  mit  mehr  Ausführlichkeit,  was  einst  durch  Herder,  Schiller,  Kant, 
Voltaire,  Montesquieu  und  bis  zu  den  Jesuiten  im  sechzehnten  Jahr- 
hundert über  das  Judentum  verlautbart  wurde,  und  was  Cicero,  Seneca, 
Apion,  Celsus  und  Marchion  im  Altertum  über  diese  Frage  zu  sagen 
hatten.   Auch  abgesehen  von  den  großen  Spezialwerken  über  die  Juden- 
psychologie,  die   in   letzter  Zeit  entstanden  sind   und   mehr  Aufsehen 
erregt  habe^  als  sie  ihrem  wissenschaftlichen  Gehalte  nach  verdienen, 
zeigt   sich   fast   die   gesamte  Geisteswissenschaft   der   Gegenwart   be- 
strebt,   in    das    innere    jüdische  Wesen   einzudringen.     Die    christliche 
Theologie   des   neunzehnten   Jahrhunderts   ist  dieser  Frage   nicht   we- 
niger  nachgegangen,   als   die   Geschichtsschreibung  in   ihren   verschie- 
denen  Disziplinen   und  Auszweigungen.    Seit  Bruno  Bauer  betrachtet 
es  jeder  Theologe,  Orientalist  und  Geschichtsschreiber  als  ein  wissen- 
schaftliches Gebot,   das  von   ihm  behandelte  Spezialgebiet  des   Juden- 
tums mit  einer  Judenpsychologie  zu  eröffnen.    Es  genügt  nur,  auf  die 
Arbeiten    von    Bauer,    Ewald,    Robertson   Smith,   Wellhausen,    Eduard 
Meyer   u.    a.    hinzuweisen.    Auch   Anthropologie,    Ethnologie,    Rassen- 
theorie,    Staatsgeschichte  und  Geschichtsphilosophie   haben  die   Frage 
nach  der  Eigenart  des  jüdischen  Geistes  in  den  Kreis  ihrer  Forschungen 
gezogen.    Dieses    Bestreben   geht   noch   heute,   wie   im    Altertum,  auf 
verschiedene  —  lautere  und  unlautere  —  Motive  zurück,  auf  religiöse, 
sittliche    und    rassentheoretische    Gegensätze.     Jedes    Zeitalter    drückt 
dieser  eifrig  geführten  Diskussion   sein  Siegel  auf.    Am   Ausgang  der 
Antike,   als  der  Kampf  um  die  neue  Religion   entbrannt  war  und  die 
Menschen   noch   more  theologico   dachten,  hatte  die   Diskussion   über 
diese  Frage  einen  theologischen  Anstrich.    Der  Kampf  um  die  Juden 
nahm  die  Form  eines  Kampfes  um  den  jüdischen  Gott  an  und  die,  die 
den   jüdischen   Gott   erforschen    wollten,   forschten   nach    den    Grund- 
eigenschaften des  jüdischen  Gottes.    Man  denke  nur  an  die  Gnostiker 
in  ihrem   Kampf  gegen   das  Judentum,   der  die  Form  eines   Kampfes 
gegen  den  jüdischen  Gott  angenommen  hatte.    Anstatt  zu  sagen,  die 
Juden  sind  roh,  schlecht,   oder  vom  Teufel  besessen,   die  Träger  der 


Erbsünde,   sagten  sie  all   diese  Dinge  vom   jüdischen  Gott  aus,  denn 
der  antike  Mensch  dachte  eben  more  theologico. 

Im  Mittelalter,  als  die  Menschen  more  scholastico  dachten,  hatte 
die  zur  Diskussion  stehende  Frage  einen  scholastischen  Anstrich.  In 
vielen  Fällen  wurde  sogar  von  Priestern  gefragt,  ob  die  Juden  auch 
eine  Seele  hätten.  Am  Ausgang  des  achtzehnten  Jahrhunderts  wurde 
die  Frage  schon  mehr  philosophisch  behandelt.  Man  denke  nur  an 
Immanuel  Kants  Bemerkungen  über  das  Judentum  in  seiner  „Kritik 
der  praktischen  Vernunft''.  Heute,  im  Zeitalter  des  Nationalitäten-, 
Rassen-  und  Wirtschaftskampfes  ist  die  Diskussion  über  die  Psycho- 
logie des  jüdischen  Geistes  politisch,  rassentheoretisch  und  volkswirt- 
schaftlich motiviert.  Die  sich  heute  mit  der  Frage  beschäftigen,  küm- 
mern sich  wenig  um  die  Grundqualitäten  des  jüdischen  Gottes  oder 
um  die  Eigenart  der  jüdischen  Religion,  sondern  denken  über  die 
Frage  in  den  Begriffen  ihrer  Zeit. 

Im  eigentlichen  Mittelalter  allerdings  ist  dieses  Problem  weniger 
eifrig  behandelt  worden ;  denn  das  Judentum  gehörte  nicht  in  den  Um- 
kreis der  papistischen  Kulturinteressen.  Das  papistische  Rom,  bekannt- 
lich eine  Fortsetzung  des  antiken  Roms  (ohne  Römer)  in  theologischer 
Gestalt,  hatte  die  wirklichen  religiösen  Kräfte  im  Christentum  über- 
wunden und  die  KirChe  zu  einem  politischen  Zentrum  potenziert  (oder 
degradiert),  in  das  der  Biblizismus  nicht  hineinpaßte.  Nur  die  ver- 
schiedenen Sekten,  die  Vorboten  der  Reformation,  hatten  oft  Gelegen- 
heit genommen,  sich  mit  dieser  Frage  in  ihrer  Weise  zu  beschäftigen; 
so  die  Bogomilen,  die  Katharer  und  alle  aus  dem  Neu-Manichäertum 
hervorgegangenen  Sekten.  Erst  nach  dem  zweiten  Sieg  der  individua- 
listisch veranlagten  Germanen  über  das  universalistisch  papistische 
Rom  und  mit  der  Renaissance  des  Biblizismus  durch  die  Reformation, 
mit  anderen  Worten:  nach  dem  Siege  Jerusalems  über  Rom  im  Reiche 
des  Geistes,  begann  der  europäische  Mensch  wieder  sich  dem  alten 
und  immer  wieder  neuen  Problem  zuzuwenden.  Seit  Luther  wird 
speziell  in  Deutschland  über  das  Judentum  eifrig  diskutiert  —  weil  die 
Erzeugnisse  des  antiken  jüdischen  Geistes  mehr  zur  Kristallisierung 
und  Herausbildung  der  neogermanischen  Kultur  beigetragen  haben, 
als  die  heutigen  Germanen  zuzugeben  gewillt  sind.  Im  fünfzehnten 
und  sechzehnten  Jahrhundert  hat  sich  der  antike  jüdische  Geist  mit 
dem  neuerwachten  germanischen  Geist  verschwägert  und  ihm  sein 
Siegel  aufgedrückt.  Man  denke  nur  an  den  Einfluß  der  lutherischen 
Bibelübersetzung  auf  die  Ausbildung  und  Fortbildung  der  deutschen 
Sprache,    die   weiter   auf   die  politische  Konsolidierung  der   deutschen 


Stämme  gewirkt  und  zu  ihrer  Vereinigung  beigetragen  hat.  Daher  die 
fortwährende  Beschäftigung  der  Germanen  mit  dem  Judentum  und 
seinen  Eigenheiten,  und  daher  die  Ausfälle  der  Germanen  gegen  das 
Judentum  von  Luther  bis  Kant  und  von  Kant  bis  Hartmann,  Richard 
Wagner,  Chamberlain  und  Sombart.  Undankbarkeit  und  Stolz  sind 
menschlich. 

Als  das  geistige  Deutschland  zur  ersten  Weltmacht  im  Reiche  der 
Kultur  geworden  war,  fing  es  an,  sich  derjenigen  Verwandtschaft  zu 
schämen,  mit  deren  Hilfe  es  groß  geworden  war.  Die  heutigen  Deut- 
schen sind  eifrig  bemüht,  das  Judentum  möglichst  aus  der  Welt- 
geschichte hinauszubugsieren,  oder  die  Stellung  des  Judentums  in  der 
Geschichte  als  möglichst  unbedeutend  hinzustellen.  Hier  ein  kleines  Bei- 
spiel: Kein  System  der  Ethik  ist  der  ethischen  Lehre  und  Weltanschau- 
ung der  israelitischen  Propheten  so  innerlich  verwandt,  wie  die  Ethik 
Kants.  So  behauptet  auch  der  von  Houston  Stewart  Chamberlain  als 
der  größte  Kant-Interpret  der  modernen  Zeit  angesehene  Herrmann 
Cohen ;  und  doch  hat  kein  großer  Germane  neuerer  Zeit  das  Juden- 
tum und  seinen  Geist  so  falsch  und  schlecht  beurteilt  wie  Kant.  Was 
Immanuel  Kant  vom  Judentum  Und  seinem  Geiste  aussagt,  läßt  eich 
auf  die  kurze  Formel  spannen:  Das  Judentum  ist  keine  Religion  und 
keine  Ethik,  und  der  jüdische  Geist  ist  unethisch  und  unreligiös. 

Alles  Gute,  Schöne  und  Erhabene  in  der  Weltgeschichte  nehmen 
die  deutschen  Geschichtsschreiber  neuerer  Zeit  für  das  Ariertum  in 
Anspruch;  alles  Banale,  Häßliche  und  Schlechte  schreiben  sie  den 
Semiten  (Juden)  zu.  Der  deutsche  Intellekt  tritt,  sobald  er  über  daß 
Judentum  nachzudenken  beginnt,  unter  die  Herrschaft  des  leidenschaft- 
lichen Affekts,  und  aus  diesem  Grunde  blieb  und  bleibt  dieses  Nach- 
denken unfruchtbar  und  resultatlos. 

Vor  mehr  als  120  Jahren  schrieb  Herder  in  seinen  „Ideen  zur 
Philosophie  der  Geschichte":  „In  den  Wissenschaften,  die  ihre  (der 
Juden)  vortrefflichsten  Köpfe  trieben,  hatte  sich  jederzeit  mehr  eine 
gesetzliche  Anhänglichkeit  und  Ordnung,  als  eine  fruchtbare  Freiheit 
des  Geistes  gezeigt,  und  der  Tugenden  eines  Patrioten  hatte  6ie  ihr 
Zustand  von  jeher  beraubt.  Das  Volk  Gottesi,  dem  einst  der  Himmel 
selbst  sein  Vaterland  schenkte,  ist  Jahrtausende  her,  ja  fast  seit  seiner 
Entstehung,  eine  parasitische  Pflanze  auf  den  Stämmen  anderer  Na- 
tionen, ein  Geschlecht  schlauer  Unterhändler  beinahe  auf  der  ganzen 
Erde,  das  sidh  trotz  aller  Unterdrückung  nirgend  nach  einer  eigenen 
Ehre,  nirgend  nach  einem  Vaterland  sehnt."  Seit  zweitausend  Jahren 
beten    die   Juden   dreimal   täglich  für  die   Rückkehr  nach  Zion.    Man 


braucht  nicht  viel  vom  Judentum  zu  wissen,  um  zu  wissen,  daß  die 
Sehnsucht  nach  Palästina  einen  Teil  der  jüdischen  Religion  bildet. 
Herder  wußte  sehr  viel  vom  Judentum,  und  doch  schrieb  er  diese 
Zeilen  nieder.  Man  braucht  nicht  viel  vom  Judentum  zu  wissen,  um 
zu  wissen,  daß  die  Propheten  zum  Beispiel  alles  andere  als  gesetzliche 
Anhänglichkeit  und  Ordnung  predigten.  Jeder,  der  die  Propheten  ge- 
lesen hat,  steht  unter  dem  Banne  der  von  ihnen  offenbarten  Freiheit 
des  Geistes.  Herder  kannte  sehr  gut  die  Propheten,  und  doch  verstand 
er  sich  zu  dieser  grundfalschen  und  böswilligen  Aussage.  Diese 
Herdersche  Judenweisheit  hat  Werner  Sombart  in  einem  umfangreichen 
Werke  wiederholt,  ohne  nur  ein  Jota  hinzuzufügen.  Wer  kann  da  nun 
sagen,  daß  die  in  den  letzten  150  Jahren  ununterbrochen  fortgesetzte 
Diskussion  über  die  Judenpsychologie  in  Deutschland  neue  wissen- 
schaftliche Erkenntnisse  zutage  gefördert  habe?  Was  vor  150  Jahren 
J.  D.  Michaelis  vom  Judentum  aussagte,  hat  Schopenhauer  wiederholt, 
und  was  Schopenhauer  von  dem  jüdischen  Geist  aussagte,  hat  Hart- 
mann in  modifizierter  Folge  wiederholt.  Daß  der  wissenschaftliche 
Apparat  der  neueren  Forscher  ein  größerer  und  feinerer  ist,  und  daß, 
statt  Sentenzen,  dicke  Bücher  über  das  Judentum  geschrieben  werden, 
kann  uns  über  die  Fruchtlosigkeit  der  Diskussion  nicht  hinwegtäuschen. 
Neben  dem  Faktum  der  inneren  Verwandtschaft  des  jüdischen  mit 
dem  germanischen  Kulturgeist,  wie  sie  aus  dem  Einfluß  des  ersteren 
auf  den  letzteren  mit  kristallheller  Deutlichkeit  zu  erkennen  ist,  haben 
noch  einige  andere  Momente  der  Förderung  der  Judenpsychologie  in 
neuerer  Zeit  Vorschub  geleistet  und  zu  ihrer  Unfruchtbarkeit  bei- 
getragen: der  Spinozastreit  in  Deutschland  im  vorletzten  Jahrhundert, 
der  Aufschwung  des  Nationalismus  resp.  des  politischen  Naturalismus, 
und  die  viel  zu  schnelle  Entwicklung  der  deutschen  Zivilisation  auf 
Kosten  der  deutschen  Kultur  im  letzten  Drittel  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts. Der  Streit  zwischen  Jacoby  und  Mendelssohn,  einer  der 
merkwürdigsten  Gelehrtenstreite  aller  Zeiten,  hat,  wegen  seiner  Aus- 
artung in  eine  Polemik  zweifelhaftester  Art,  das  ganze  geistige  Deutsch- 
land jener  Zeit  in  Aufregung  versetzt.  Die  Machenschaften  Jacobys 
hatten  dazu  geführt,  daß  ein  Streit  um  ein  System  der  Philosophie  zu 
einem  Streit  über  das  Judentum  sich  entwickelte.  Was  sich  der  Magus 
des  Nordens  und  sein  Kreis  in  dieser  Beziehung  geleistet,  ist  hinlänglich 
bekannt.  Die  Entwicklung  des  deutschen  Nationalismus  resp.  des  politi- 
schen Naturalismus  hat  völlig  zur  Verrohung  der  Geister  und  Gemüter 
beigetragen  und  eine  wissenschaftliche  Diskussion  in  eine  parteipoli- 
tische Debatte  verwandelt.   Die  antisemitischen  Schriftsteller  in  Deutsch- 


land  seit  der  Mitte  der  siebziger  Jahre  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
haben,  statt  Juden-Psychologie  zu  erörtern,  zu  Pogromen  gehetzt  und 
dadurch  dem  Problem  einen  ganz  anderen  Anstrich  gegeben.  Er- 
kenntnis jeder  Art,  speziell  historische  und  völkerpsychologische  Er- 
kenntnis ist  nicht  möglich,  wenn  der  Intellekt  unter  der  Herrschaft 
des  leidenschaftlichen  Affekts  steht  und  wenn  der  wissenschaftliche 
Blick  getrübt  ist.  Der  Wahrheit  halber  muß  aber  gesagt  werden,  daß 
die  Fruchtlosigkeit  und  Ergebnislosigkeit  der  deutschen  Diskussion 
über  die  Judenpsychologie  ursprünglich  zum  großen  Teil  von  Frank- 
reich und  England  aus  verursacht  wurde. 

Der  unter  dem  Einfluß  der  Stoa  wirkende  französische  Enzyklo- 
pädismus  hatte  schon  wegen  seines  Kosmopolitismus  und  wegen  seiner 
aufklärerischen  Tendenz  dem  Judentum  keine  Sympathien  abgewinnen 
können.  Wie  der  Enzyklopädismus  dem  Judentum  feindlich  gesinnt 
war,  kann  man  aus  den  Ausfällen  Voltaires  gegen  das  Judentum  deut- 
lich ersehen.  Männer  der  Aufklärung,  betrachteten  sie  das  Judentum 
als  den  Quell  des  europäischen  Aberglaubens  und  schlössen  von  dem 
auf  niedriger  Kulturstufe  stehenden  Juden  ihrer  Zeit  auf  die  psycho- 
logische Eigenart  des  Judentums  schlechthin.  Schon  Montesquieu  ließ 
sich  in  seinen  Lettres  Persanes  vernehmen:  Tu  me  demandes  s'il  y  a 
des  juifs  en  France;  sache  que  partout  oü  il  y  a  de  l'argent  il  y  a  des 
juifs.  Tu  me  demandes  ce  qu'ils  fönt:  precisement  ce  qu'ils  fönt  en 
Perse;  rien  ne  ressemble  plus  ä  un  juif  d'  Asie  qu'un  juif  europeen. 
(Lettre  LX.)  Einen  ähnlichen  Ton  führen  fast  alle  Großen  Frankreichs 
zu  jener  Zeit.  Bei  dem  mächtigen  Einfluß  des  geistigen  Frankreich 
auf  Deutschland  im  achtzehnten  Jahrhundert  und  bei  der  Französelei 
der  Deutschen  zu  jener  Zeit  mußte  diese  geistreichelnde  „Judäologie" 
ein  Echo  in  Deutschland  finden.  Insbesondere  aber  hat  Voltaire  mit 
seinen  unerhörten  Schimpfereien  und  Ausfällen  gegen  das  Judentum 
erst  den  beginnenden  Kulturantisemitismus  in  Deutschland  befördernd 
beeinflußt.  Auch  in  England  machte  sich  im  achtzehnten  Jahrhundert 
eine  feindliche  Stellungnahme  zum  antiken  Judentum  als  Reaktion  auf 
den  ausgesprochenen  Biblizismus  des  sechzehnten  und  siebzehnten 
Jahrhunderts  sehr  bemerkbar.  Ein  größer  Teil  der  englischen  Dei'sten 
und  Aufklärer,  unter  dem  Einfluß  der  spinozistischen  Judäologie  stehend, 
wetteiferte  mit  Voltaire  in  Ausfällen  gegen  das  Judentum.  Bei  der 
kulturellen  Wechselbeziehung  zwischen  Deutschland  und  England  im 
achtzehnten  Jahrhundert  und  bei  dem  großen  literarischen  Einfluß, 
auf  die  Deutschen  im  achtzehnten  Jahrhundert  mußten  auch  ihre  feind- 
lichen Ausfälle  gegen  das  Judentum  in  Deutschland  Widerhall  finden. 


Julius  Gutmann1)  hat  den  Beweis  geliefert,  daß  nicht  nur  Immanuel 
Kant,  sondern  auch  Reimarus  und  Lessing  in  ihren  Anschauungen  über 
das  Judentum  von  den  Engländern  beeinflußt  waren.  Diese  An- 
regungen von  außen,  verbunden  mit  dem  Spinoza-Streit  zwischen 
Mendelssohn  und  Jacoby,  hatten  dazu  beigetragen,  die  zu  nüchterner 
wissenschaftlicher  Reflexion  und  Objektivität  neigenden  Deutschen  in 
den  breiten  Strom  der  Polemik  zu  treiben;  sie  sind  mit  die  Ursache 
gewesen,  daß  aus  einem  wissenschaftlichen  Objekt  ein  Zankapfel  ge- 
worden ist.  Aus  dieser  historischen  Entwicklung  ging  die  Beurteilung 
des  jüdischen  Geistes  in  Deutschland  bis  zur  Romantik  und  bis  zum 
aufkeimenden  Nationalismus  hervor.  Die  Motive  der  nachromantischen 
und  nationalistischen  Judenpsychologie  in  Deutschland  sind,  wie  schon 
angedeutet,  nicht  sowohl  kulturgeschichtlicher  als  realsoziologischer 
Natur.  Die  vorromantische  Anschauung  und  Auffassung  vom  jüdischen 
Geist  in  Deutschland  wie  auch  in  Frankreich  und  England  besagt  im 
wesentlichen  folgendes:  Der  jüdische  Geist  sei  seinem  Wesen  nach 
dogmatisch  und  formalistisch,  unschöpferisch,  unreligiös  und  könne 
sich  über  die  ethnische  Barriere  nicht  erheben.  Die  Vertreter  und 
Träger  des  deutschen  Geistes  im  ganzen  neunzehnten  Jahrhundert 
waren  bemüht,  im  Judentum  und  im  jüdischen  Geist  den  Gegensatz  zu 
ihren  eigenen  Anschauungen  und  geistigen  Veranlagungen  zu  finden. 
In  dieser  Hinsicht  unterscheiden  sich  die  nachromantischen  Judäologen 
in  nichts  von  den  vorromantischen. 

Der  Moralist  Kant  zeiht  den  jüdischen  Geist  des  Amoralismus. 
Der  Pessimist  und  Idealist  Schopenhauer  wirft  dem  jüdischen  Geist 
Realismus  und  Optimismus  vor.  Renan  zeiht  ihn  der  Simplizität,  Hart- 
mann des  Realismus^  Chamberlain  des  Formalismus;  Karl  Marx  wirft 
ihm  eine  Neigung  zum  Kapitalismus  vor.  Der  Freigeist  Voltaire  wirft 
ihm  Aberglauben  vor.  Nach  Richard  Wagner  ist  er  unmusikalisch  in 
höherem  Sinn;  nach  Bartels  und  Genossen  unkünstlerisch  und  unlite- 
rarisch ;  nach  Duehring  und  Sombart  wieder  unruhig,  beweglich,  noma- 
disch und  nach  Weininger  gar  weibisch.  Damit  sind  die  Attribute, 
die  germanische  und  germanomane  Forscher  dem  jüdischen  Geiste 
zuschreiben,  bei  weitem  nicht  erschöpft.  Was  von  Decius,  Schiller, 
Michaelis  und  Lessing  bis  auf  Paul  de  Lagarde  und  von  ihm  bis  auf 
Wirth  dem  jüdischen  Geiste  zugeschrieben  wird,  zeugt  von  einem 
tiefsitzenden,  fast  unausrottbaren  Haß  der  Neogermanen  gegen  das 
Judentum.  Friedrich  Schillers  Charakteristik  des  jüdischen  Geistes 
stellt  alles  in  den  Schatten,  was  judäophobe  Forscher  im  letzten  Jahr- 

*)  Kants  Verhältnis  zum  Judentum,  Hamburg  1906. 


hundert  über  diese  Frage  aussagten.  Schiller  bringt  es  fertig,  die 
ganze  Zirkulation  von  geistigen  Bewegungen,  die  der  jüdische  Geist 
zuwege  gebracht,  auf  die  Moses-Episode  zu  reduzieren,  und  selbst  die 
Gestalt  Moses  ist  nach  ihm  mehr  ägyptisch  als  jüdisch.  Houston 
Stewart  Chamberlain  konnte  die  größten  Germanen  seit  Luther  als 
Zeugen  gegen  die  Juden  anführen.  Und  in  der  Tat:  In  der  ganzen 
Galerie  germanischer  Geistesheroen  der  letzten  150  Jahre  werden  nur 
noch  wenige  zu  finden  sein,  die  mit  einiger  Objektivität  an  die  Be- 
urteilung des  jüdischen  Geistes  herangetreten  sind.  Ist  bei  dieser 
Lage  der  Dinge  ein  in  seinem  nationalen  Schrifttum  wurzelnder  Deut- 
scher überhaupt  noch  fähig,  ohne  Voreingenommenheit  an  das  Problem 
des  Judentums  heranzutreten?  Das  vom  Affekt  getrübte  Urteil  der 
Germanen  über  das  Judentum  hat  es  mitbewirkt,  daß  die  scharf- 
sinnigsten Begriffdichter  aller  Zeiten  nicht  in  der  Lage  waren  und  bis 
auf  den  heutigen  Tag  nicht  in  der  Lage  sind,  die  Frage  der  jüdischen 
Geistespsychologie  methodisch  zu  erfassen,  problemgerecht  zu  behan- 
deln und  für  das  Problem  eine  Formel  zu  finden.  Die  deutschen  For- 
scher, deren  Methodik  und  Gründlichkeit  sprichwörtlich  ist,  werden 
konfus,  sobald  sie  sich  anschicken,  die  Judentumsfrage  wissenschaftlich 
zu  behandeln;  denn  keiner  der  großen  deutschen  Dichter  und  Denker 
ist  sich  darüber  klar  geworden,  daß  das  Judentum  als  Manifestation 
des  Geistes  blutwenig  damit  zu  tun  hat,  ob  die  heutigen  Juden  würde- 
lose oder  würdevolle  Männer  sind,  ob  sie  politisch  zum  Sozialismus, 
Liberalismus  oder  Konservatismus  neigen  oder  nicht;  ob  sie  die  Ge- 
richtssäle, Zeitungsredaktionen  und  Börsen  beherrschen  oder  nicht. 
Würde  es  je  einem  ernsten  Forscher  einfallen,  vom  heutigen  preußischen 
Unteroffizier,  Reserveleutnant  und  Korpsstudenten  auf  die  psycho- 
logischen Eigenheiten  des  deutschen  Genius,  wie  er  sich  im  „Faust" 
und  in  der  Vernunftkritik  und  in  Beethovens  Neunter  Symphonie  kund- 
gibt, zu  schließen?  Von  allen  deutschen  Forschern  bis  auf  den  heutigen 
Tag,  die  sich  mit  der  Psychologie  des  jüdischen  Geistes  befaßt  haben, 
ist  es  keinem  eingefallen,  sich  etwa  folgende  Frage  vorzulegen:  Ist 
der  Jude  des  zwanzigsten  nachchristlichen  Jahrhunderts  dem  Juden 
des  siebten  vorchristlichen  Jahrhunderts  so  ähnlich  und  sind  die  Ver- 
hältnisse, in  welchen  sie  leben,  sich  einander  so  gleich,  daß  sie  beide 
zwei  Punkte  einer  geraden  Linie  bilden?  Ist  der  Geist  eines  Volkes, 
das  die  wechselvollste  Geschichte  hinter  sich  hat,  so  konstant,  sich 
immer  so  gleichbleibend,  so  ruhend,  daß  es  angängig  ist,  ihn  zu  be- 
trachten, wie  man  eine  geometrische  Figur  betrachtet?  Wir  philoso- 
phieren doch  nicht  mehr  more  geometrico,  und  wenn  auch  das  Fatum 

8 


der  Entwicklung  nicht  alle  Erscheinungen  des  Lebens  zu  erklären 
imstande  ist,  weil  die  Entwicklung  selbst  ein  Erzeugnis  des  Lebens 
ist,  so  ist  doch  ihre  Wirksamkeit  nicht  aus  der  Welt  zu  schaffen.  Auch 
die  Juden  sind  dem  Gesetze  der  Anpassung  unterworfen;  wie  die  An- 
passung die  hereditären  Momente  modifiziert  und  umgekehrt  hat,  das 
hat  zwar  bis  jetzt  noch  niemand  festgestellt,  aber  es  versteht  sich  von 
selbst,  daß  gerade  die  Juden  infolge  ihrer  vielen  Wanderungen  und 
infolge  der  verschiedenen  Einflüsse  des  Milieus  und  der  sozialen  Um- 
gebung sich  überall  anpassen  mußten  und  daß  die  fortwährende  An- 
passung auf  ihre  ursprüngliche  Charakteristik  eingewirkt  hat.  Es  geht 
jedenfalls  nicht  an,  zu  behaupten,  daß  wir  in  den  Juden  des  zwanzigsten 
Jahrhunderts  den  Juden  des  zweiten  nachchristlichen  oder  des  fünften 
vorchristlichen  Jahrhunderts  vor  uns  haben.  Wer  solche  Behauptung 
aufstellt,  der  sagt  zugleich,  daß  das  „Gesetz"  der  Entwicklung  gerade 
a<n  dem  jüdischen  Geist  eine  Grenze  habe.  Ist  denn  solche  Behauptung 
stichhaltig?  Man  bedenke  folgendes:  Seit  mehr  als  zweitausend  Jahren 
leben  die  Juden  auf  dem  ganzen  Erdball  zerstreut  in  dreißig  bis  vierzig 
verschiedenen  Milieus,  unter  den  verschiedensten  klimatischen  und 
biosoziologischen  Bedingungen.  Die  klimatischen  Verhältnisse  sind  ge- 
wiß nicht  ohne  Einfluß  auf  die  Formation  des  Typus;  das  Kulturmilieu 
(Sprache,  Sitte,  Tradition  usw.)  bildet  den  Menschen.  Die  Wirtschafts- 
bedingungen tragen  bei  "zur  Bildung  des  Typus  und  des  Exemplare»; 
Nahrung  und  Kleidung  beeinflussen  nicht  nur  seine  physiologische, 
sondern  auch  seine  psychische  Konstitution.  Die  geistige  Kultur  der 
Umgebung  prägt  dem  Intellekt  des  einzelnen  ihr  Siegel  auf,  und  un- 
zählige anonyme  Kräfte,  rdie  aus  tausenden  unsichtbaren  Poren  des 
Milieus  hervordringen,  beeinflussen  'den  ganzen  Habitus  des  einzelnen. 
Natürlich  beeinflußt  auch  das  Wirtsvolk  die  jüdische  Minorität  und 
drückt  oft  den  Juden  den  Stempel  seines  Geistes  auf.  Ob  der  chine- 
sische Jude  und  der  arabische  Jude  und  ob  der  rassinische  mit  dem  se- 
phardischen  Juden  aus  Bordeaux  oder  mit  dem  reformierten  amerika- 
nischen Juden  holländischen  Ursprungs  ethnisch  und  psychologisch  so- 
viel Gemeinsames  hat,  daß  man  sich  aus  ihnen  einen  überindividuellen 
Gesamtgeist  zurechtlegen  darf,  muß  bei  unserer  heutigen  Kenntnis  der 
sozialen  und  ergo  psychischen  Differenzierung  füglich  in  Frage  gestellt 
werden.  Daß  die  Juden  aus  aller  Welt  eine  gemeinsame,  in  der  Ferne 
liegende  Vergangenheit  haben,  stempelt  sie  noch  lange  nicht  zu  einer 
aktuellen  ethnischen  Einheit.  Es  ist  in  jüngster  Zeit  sehr  viel  von  der  jü- 
dischen Blutsverwandtschaft  gesprochen  worden,  und  selbst  ernste  An- 
thropologen sprechen  oft  von  der  jüdischen  Rassenreinheit.  In  Vergleich 


zu  anderen  Völkern  mögen  vielleicht  die  Juden  eine  relative  Reinrasse 
darstellen,  aber  wenn  man  bedenkt,  daß  die  Juden  seit  2000  Jahren 
in  Europa  leben,  daß  sie  seit  2000  Jahren  an  allen  Kriegen  der  euro- 
päischen Völker  beteiligt  waren,  und  daß  jeder  Krieg  die  Reinheit  einer 
Rasse  beträchtlich  modifiziert.  Weil  Jeder  Krieg  unzählige  Bastarde 
zur  Welt  bringt,  so  läßt  sich  schwer  von  der  Reinheit  der  jüdischen 
Rasse  reden.  Nicht  nur  der  große  Weltkrieg,  dessen  erster  Kanonen- 
schuß in  der  sogenannten  jüdischen  Gasse  abgefeuert  wurde,  hat 
durch  die  nicht  ga,nz  freiwillige  slawisch- jüdische  und  dann  germanisch- 
jüdische Paarung  tiefe  psychologische  Spuren  m  der  jüdischen  Rasse 
hinterlassen,  sondern  jeder  Krieg,  an  dem  sich  die  Juden  beteiligten 
oder  der  in  der  jüdischen  Nachbarschaft  stattfand,  hat  die  Rassen^ 
Verhältnisse  der  Juden  modifiziert.  Bei  dieser  Sachlage  kann  kein 
wissenschaftlich  ernst  denkender  Mann  von  der  Reinheit  der  jüdischen 
Rasse  reden,  so  wie  es  nicht  anginge,  von  der  Reinheit  der  deutschen, 
französischen  oder  slawischen  Rasse  zu  reden.  Die  reine  Rasse  ist  im 
besten  Falle  eine  Fiktion  und  als  solche  die  Ausgeburt  nationaler  Eitel- 
keit und  im  schlimmsten  Falle  eine  bewußte  grobe  Unwahrheit,  und 
beiden  kann  man  keine  wissenschaftliche  Erkenntnis  abgewinnen.  Nun 
will  ich  nicht  sagen,  daß  die  Juden,  wenn  sie  auch  ökonomische,  poli- 
tische und  soziale  Gegensätze  repräsentieren,  nichts  Gemeinsames 
haben,  das  sie  umschlingt.  Die  Erinnerung  an  die  gemeinsame  Ver- 
gangenheit allein  ist  schon  ein  starkes  Band.  Die  gemeinsame  Religion, 
viele  gemeinsame  Sitten  und  Gebräuche,  gemeinsame  nationale  Hoff- 
nungen, sind  natürlich  starke,  verbindende  Momente.  Aber  auf  diesen 
rein  abstrakten  Momenten  allein  kann  man  keine  jüdische  Geistes- 
psychologie schlechthin  konstruieren,  weil  sie  ohne  das  induktive 
Material  ein  deduktives  Geistesspiel  bleiben  muß.  Nur  auf  dem  Wege 
der  Induktion  oder  mindestens  ihres  Obersatzes  kann  man  hier  einige 
Wahrheiten  zutage  fördern.  Die  geistesspielerische  Deduktion  ist  allen 
Judäologen  der  neueren  Zeit  zum  Verhängnis  geworden.  Hier  nur  ein 
Beispiel:  Werner  Sombart  setzt  sehr  geistreich  auseinander,  daß  die 
Großstadt  eine  Fortsetzung  der  Wüste  sei,  daß  Wüstenvölker,  zu 
welchen  er  auch  die  Juden  zählt,  zur  Abstraktion  neigen  (diese  Weis- 
heit stammt  von  Renan,  der  schon  den  jüdischen  Monotheismus  für 
ein  Produkt  der  Wüste  erklärte).  Daher  sind  nach  Sombart  die  Juden 
Großstädter.  In  der  Großstadt  gehen  sie  „geistigen"  Berufen  nach; 
daraus  folgert  er:  „daß  die  Juden  von  der  Urzeit  des  Hirtendaseins 
an  niemals  körperlich  schwere  oder  auch  nur  vorwiegend  körperliche 
Arbeit  zu  verrichten  Gelegenheit  gehabt  haben".  (Die  Juden  und  das 

10 


Wirtschaftsleben,  S.  420.)  Wenn  wir  aber  die  Dinge  betrachten  wie  sie 
sind,  und  nicht,  wie  sie  sich  im  Kopfe  eines  weltfremden  Professors 
widerspiegeln,  dann  kommen  wir  zu  beträchtlich  anderen  Ergebnissen. 
Tatsache  ist,  daß  die  Juden,  als  Fronarbeiter  in  die  Weltgeschichte  ein- 
getreten, die  Arena  der  Geschichte  mit  der  Psychologie  eines  Arbeiter- 
volkes betreten  haben.  Und  diese  Tatsache  ist  ihnen  bis  zum  heutigen 
Tage  zum  Fluche  geworden,  weil  die  Psychologie  eines  Fronarbeiter- 
volkes, den  jüdischen  Individualismus  und  Revolutionismus,  ihre  Hart- 
näckigkeit, die  sogenannte  Prinzipienreiterei  der  Juden  verursacht  hat. 
Auch  die  Bibel  bezeichnet  die  Juden  als  hartnäckiges  Volk.  Mit  einem 
revolutionär  gesinnten  und  individualistisch  veranlagten  Volke  kann 
man  keinen  Staat  bauen.  Der  unbeugsamen  Hartnäckigkeit  des  Ar- 
beiters und  des  Bauern  steht  immer  die  Vorliebe  des  Kaufmanns  zum 
Kompromiß  entgegen.  Schon  Montesquieu  hat  auf  diese  sozialpsycho- 
logischen Differenzen  aufmerksam  gemacht.  Nur  Bauern  und  Arbeiter 
sind  Prinzipienmenschen.  Ein  Handelsmann  ist  und  darf  nicht  hart- 
näckig sein.  Er  muß  eben  mit  sich  handeln  lassen.  Wir  werden  noch 
später  sehen,  wie  der  Rückfall  der  Israeliten  in  den  Polytheismus 
„ökonomisch"  bedingt  und  wie  das  Festhalten  Judäas  am  Monotheis- 
mus „agrarisch"  motiviert  war.  Die  Bibel  ist  jedenfalls  ein  Agrarbuch 
und  kein  Handelsbuch.  In  der  Bibel  wird  von  Regen  und  Traufe  und 
Spätregen  und  von  anderen  Arten  Regen,  die  dem  palästinischen  Bauer 
sehr  nützlich  sind,  gesprochen,  aber  nicht  von  Handeln  und  von  Ware. 
Schon  aus  diesen  kurzen  Andeutungen  ist  zu  ersehen,  wie  die  Sombart- 
sche  Behauptung,  daß  die  Juden  niemals  körperlich  schwere  Arbeit 
verrichtet  hätten,  aus  der  Luft  gegriffen  ist;  und  da  eine  völlig  falsche 
Deduktion  die  Prämisse  seines  Buches  ist,  kann  man  sich  lebhaft 
denken,  welchen  wissenschaftlichen  Wert  seine  Juden-Psychologie  hat. 
Aber  auch  die  zeitgenössischen  Juden  sehen  nicht  so  aus,  wie  sie 
in  der  Sombartschen  Deduktion  erscheinen  mögen.  Von  den  nahezu 
dreizehn  Millionen  Juden,  die  heute  in  mehr  als  dreißig  Staaten  ver- 
sprengt leben,  halten  sich  acht  Millionen  in  kleinen  Städten  und  auf 
dem  Lande  auf.  Vor  dreißig  Jahren  lebten  noch  85%  aller  Juden  in 
den  kleinen  Städten  oder  auf  dem  Lande.  Infolge  der  Industrialisierung 
der  Welt  folgten  sie,  gleich  den  anderen  Bevölkerungsschichten,  dem 
Zuge  nach  der  Großdtadt.  Aber  selbst  in  Deutschland  leben  noch  45% 
der  Juden  in  Kleinstädten.  Die  überwiegende  Mehrheit  des  jüdischen 
Volkes  ist,  Avie  aus  obiger  Angabe,  die  in  jedem  jüdischen  Volks- 
kalender nachgeprüft  werden  kann,  ersichtlich  kein  Großstadtgesindet 
Wie  nun  moderne  Forscher  dazu  kommen,  das  jüdische  Volk  für  Groß- 

11 


stadtpack  zu  erklären  und  dem  ganzen  jüdischen  Volk  eine  Großstadt- 
psychologie anzuhängen,  nur  weil  in  Westeuropa  die  Juden  seit  einer 
Generation  in  der  Großstadt  leben,  ist  kaum  verständlich.  Es  scheint, 
daß  die  jüngeren  deutschen  Forscher  sich  von  dem  häßlichen  Bilde,' 
das  die  wirklich  großen  Germanen  seit  Friedrich  dem  Großen  vom 
Judentum  und  den  Juden  entworfen  haben,  nicht  befreien  können.  Der 
Jude  ist  Händler  —  so  von  Herder  bis  Sombart.  Allein  statt  falsche 
Argumente  zu  widerlegen,  will  ich  statistische  Tabellen  sprechen 
lassen:  Diese  statistischen  Tabellen,  der  offiziellen  amerikanischen 
Immigrationsstatistik  entnommen,  reden  eine  klare,  deutliche  Sprache. 
Von  einer  Million  russischer  Juden,  die  von  1899  bis  1908  in  Amerika 
eingewandert  sind,  waren: 

Im   Jahre  Gelernte  Arbeiter  Ungelernte  Arbeiter 

15,6% 
13,3% 

23,60/o 
22,80/Q 

20,50/0 

10,7% 
15,8% 

19,9% 

Diese  statistischen  Tabellen  lassen  sich  mit  den  Behauptungen  der- 
jenigen Forscher,  die  sich  mit  Judenpsychologie  abgaben  und  die 
immer  den  jüdischen  Händler  herausstreichen,  kaum  vereinbaren *). 

Die  Zahl  der  gelernten  jüdischen  Arbeiter  und  der  groben,  un- 
gelernten Arbeiter  in  Rumänien  und  anderen  Balkanländern  ist  noch 
eine  verhältnismäßig  größere  als  die  in  Rußland.  Jeder  gebildete  Euro- 
päer weiß,  daß  die  Ghetti  in  Newyork,  London  und  Paris  zum  über- 
wiegenden Teil  jüdische  gelernte  Handwerker  zu  Insassen  haben. 
Ebenso  ist  es  ein  bekanntes  Faktum,  daß  große  Massen  orientalischer 
Juden  die  schwersten  Arbeiten  verrichten.  So  sind  z.  B.  die  Lastträger 
und  Hafenarbeiter  in  Saloniki  fast  ausschließlich  Juden.  Die  Stein- 
hauer in  Yemen  sind  ausschließlich  Juden.  In  den  Vereinigten 
Staaten  und  Kanada,  in  Argentinien,  Brasilien  und  Palästina  und 
im  Süden  Rußlands  beschäftigen  sich  Zehntausende  von  Juden 
mit  Landwirtschaft.  Die  Zahl  der  jüdischen  Kleinbauern  in  Argentinien 
allein  beträgt  23  000.   In  Rußland,  wo  die  zarische  Regierung  den  Juden 

x)  Jacob   Leschczinsky,  Der  jüdische  Arbeiter  in  Rußland,  Wilna  1906. 

12 


1899 

32,80/0 

1900 

34,70/0 

1901 

31,16o/0 

1902 

30,90/0 

1903 

35,5% 

1904 

42,50/0 

1905 

46,30% 

1906 

33,20/0 

1907 

35,00/Q 

1908 

30,0% 

die  Beschäftigung  mit  der  Landwirtschaft  so  erschwert  und  ihnen  den 
Erwerb  von  Land  untersagt  hatte,  beschäftigten  sich  3,55  Prozent  Juden 
mit  Landwirtschaft.  Auch  in  Österreich-Ungarn  und  speziell  in  Galizien, 
sowie  in  Holland  und  auf  dem  Balkan  leben  große  jüdische  Arbeiter- 
massen. Die  Diamantschleiferei  in  Amsterdam  ist  eine  spezifisch  jü- 
dische Arbeit.  Die  Schneiderei  in  Amerika  und  England  ist  eine  spe- 
zifisch jüdische  Beschäftigung.  Das  sind  Tatsachen,  die  jeder,  der  sich 
mit  jüdischen  Dingen  befaßt,  wissen  muß.  Wie  nun  moderne  Forscher 
heute  die  alte  Herdersche  Judenweisheit  wieder  aufzutischen  sich  er- 
lauben, ist  nur  aus  den  alt  eingewurzelten  antisemitischen  Traditionen 
zu  erklären. 

Bei  einem  Versuche,  die  Psychologie  eines  Volkes  zu  erkunden, 
müssen  nicht  nur  die  Verhältnisse  historisch,  d.  h.  das  aus  der  Suk- 
zession sich  ergebende  evolutive  Plus  in  Betracht  gezogen  wrerden, 
sondern  auch  die  Verhältnisse  im  räumlichen  Nebeneinander  der  Gegen- 
wart erheischen  ein  eingehendes  Studium.  Diese  beiden  Momente 
machen  es  absolut  unmöglich,  von  einer  Psychologie  des  jüdischen 
Geistes  zu  sprechen,  wie  man  etwa  von  der  Psychologie  dieses  oder 
jenes  Individuums  spricht.  Der  Geist  des  Einzelindividuums  ist  ein- 
malig und  konstant,  während  die  Volksseele  resp.  der  nationale  Geist 
dem  Wechsel,  der  Entwicklung  unterworfen  ist  und  gleich  der  Rasse 
sich  immer  im  langsamen  Fluß  befindet,  also  weder  einmalig  noch 
konstant  ist.  Jede  Völkerpsychologie,  die  nicht  an  der  historischen 
Entwicklung  orientiert  ist,  ist  im  besten  Falle  geistreiche  Spielerei,  im 
schlimmsten  Falle  irreführender  Sophismus.  Im  Reiche  des  wahren 
Seins  mag  vielleicht  Konstantes  existieren,  im  Reiche  des  wirklichen 
Werdens,  d.  h.  in  der  Natur  und  in  der  Geschichte,  gibt  es  kein  Kon- 
stantes, sondern  alles  wird,  alles  fließt,  und  das  einzig  Beständige  ist 
der  Wechsel.  Es  gibt  keinen  stillen  Moment  in  der  Geschichte,  wie 
es  keinen  leeren  Raum  in  der  Natur  gibt.  Die  deutschen  Forscher,  die 
sich  mit  Judenpsychologie  befaßten,  sprechen  aber  vom  jüdischen 
Geist,  als  wäre  er  eine  platonische  Idee  — •  ewig  —  konstant,  unver- 
änderlich, unveränderbar  und  unvernichtb'ar.  Denselben  Fehler  be- 
gehen  auch   heute  französische  und  englische  Forscher. 

Hierher  gehört  auch  noch  eine  Bemerkung  rein  technischer  Natur. 
Man  darf  von  einem  Forscher,  der  sich  dazu  anschickt,  die  Psychologie 
eines  Volkes  zu  behandeln,  verlangen,  daß  er  zumindest  das  Schrifttum 
dieses  Volkes  im  Original  kenne.  Die  deutschen  Theologen,  seit  Herder, 
die  es  als  ihre  wissenschaftliche  Pflicht  betrachten,  ihre  Werke  mit 
einer  Judenpsychologie  zu  eröffnen,  verstehen  noch  recht  und  schlecht 

13 


die  Bibel  im  Urtext.  Aber  die  nichttheologischen  Forscher  können  sich 
nicht  einmal  dieser  kleinen  Kenntnisse  rühmen  und  sind  auf  Quellen 
von  zweiter  und  dritter  Hand  angewiesen.  Aber  selbst  wenn  das  nicht 
der  ;Fall  wäre,  wäre  Kenntnis  der  Bibel  noch  kein  genügendes  Material, 
aus  dem  man  eine  Judenpsychologie  konstruieren  kann.  Die  nach- 
biblische Literatur  in  hebräischer  Sprache,  an  der  die  besten  Köpfe 
eines  begabten  Volkes  arbeiteten,  ist  etwa  30  000  Bände  stark,  und 
diese  Literatur  ist  gewiß  keine  quantite  negligeable  für  die  Beurteilung 
des  jüdischen  Geistes.  Diese  nachbiblische  Literatur  der  Juden,  speziell 
die  talmudische  und  die  rabbinische,  wie  auch  die  mittelalterliche  jü- 
dische Religionsphilosophie  und  Poesie,  die  in  der  spanisch-arabischen 
Periode  entstanden,  ist  den  modernen  Forschern  ein  Buch  mit  sieben 
Siegeln.  Aus  den  wenigen  übersetzten  Brocken  kann  man  sich  kaum 
ein  Bild  von  dieser  Literatur  machen. 

So  wenig  man  aus  einem  übersetzten  Goethe  oder  Shakespeare 
auf  die  Psychologie  des  deutschen  oder  des  englischen  Geistes  schließen 
kann,  so  wenig  kann  man  aus  einer  übersetzten  Bibel  auf  die  Psycho- 
logie des  jüdischen  Geistes  schließen. 

Selbst  die  Psychologie  des  Judentums  der  Gegenwart  setzt  die 
Kenntnisse  desjenigen  Schrifttums  im  Original  voraus,  an  dem  sich 
der  jüdische  Geist  am  meisten  bildet  —  des  hebräischen.  Dieses  Schrift- 
tum beherrscht  den  Durchschnittsjuden  in  einer  fast  unglaublichen 
Weise.  Wir  haben  nur  an  ein  Buch  zu  denken,  an  den  sogenannten 
Schulchan  Aruch.  Dieses  Buch,  nach  dem  noch  heute  die  Mehrzahl  der 
Juden  lebt,  enthält  nicht  nur  religiöse  und  synagogale  Satzungen  und 
rituelle  Vorschriften,  sondern  auch  ethische  Normen,  moralische  Wei- 
sungen, sanitäre  Vorschriften  und  Anstandsregeln.  Es  schreibt  dem 
Juden  vor,  wie  er  gehen,  stehen,  sitzen  und  schlafen  soll  usw.  Es 
ist  wahr,  nicht  alle  Juden  beobachten  alles,  was  dieses  Buch  vorschreibt, 
aber  ein  Mehr  oder  Weniger  beobachten  selbst  die  westeuropäischen 
Juden.  Die  Kenntnis  der  jüdischen  Codices  ist  absolut  unentbehrlich 
für  jeden,  der  sich  mit  der  Psychologie  des  jüdischen  Geistes  beschäftigt. 
Aber  diese  Bücher  liegen  nicht  einmal  in  einer  europäischen  Sprache 
vor.  Nun  schätze  man  richtig  den  wissenschaftlichen  Wert  der  neueren 
Judenbücher,  die  germanische  Forscher  zu  Verfassern  haben,  ein. 

Die  geistigen  Vertreter  der  Wirtsvölker  betrachten  den  in  ihrer 
Mitte  lebenden  Juden  nicht  wie  er  ist,  sondern  wie  er  ihnen  erscheint, 
und  schließen  von  dem  Exemplar  auf  die  Gattung.  In  Deutschland, 
wo  nur  der  zwanzigste  Teil  des  jüdischen  Volkes  lebt,  beschäftigen 
sich  die  Juden  in  beträchtlicher  Anzahl  mit  der  Industrialisierung  und 

14 


Mechanisierung  der  Welt.  Sie  sind  zur  Hälfte  Großstädter  und  teilen, 
wie  nicht  anders  zu  erwarten  ist,  die  Laster  aller  Großstädter.  So 
die  Hälfte  der  deutschen  Juden,  also  der  vierzigste  Teil  des  jüdischen 
Volkes.  Natürlich  leben  noch  Millionen  andere  Juden  in  der  Groß- 
stadt, aber  da  sie,  wie  in  den  großen  Ghetti  von  Newyork,  Chicago, 
London,  Paris,  Wien,  Warschau  und  Odessa  zum  großen  und  oft  zum 
größten  Teil  dem  Handwerk  obliegen,  passen  sie  wohl  nicht  zum  Bilde 
des  jüdischen  Händlers,  das  deutsche  Forscher  vom  modernen  Juden 
entworfen.  Statt  nun  die  39  Teile  als  die  Regel  und  den  40.  Teil  als 
die  Ausnahme  hinzustellen,  wie  es  die  elementarste  Vernunft  gebietet, 
bringen  sie  es  fertig,  gerade  die  Ausnahme  als  die  Regel  hinzustellen 
—  und  das  nennt  sich  wissenschaftliche  Judenpsychologie. 

Wenn  Völkerpsychologie  überhaupt  möglich  ist,  dann  ist  die 
Psychologie  des  jüdischen  Volkes  das  schwierigste  Kapitel.  Die  Völker- 
psychologie, soll  sie  nicht  akademisch-antisemitische  Propaganda  se'in, 
muß  sich  an  der  Geschichte  orientieren.  Wenn  jüdische  Geschichte 
nicht  nur  eine  Geschichte  von  Pogromen  und  Märtyrerhistorien,  from- 
men Büchern  und  rabbinischer  Gesetzesforschung  ist,  sondern  ein 
Ablauf  ökonomischer,  politischer  und  sozialer  Prozesse,  eine  Reihe 
von  zivilisatorischen  Taten  und  schöpferischen  Vollbringungen,  die  im 
wirklichen  Leben  ihren  Quell  und  ihre  Basis  haben,  dann  gibt  es  keine 
jüdische  Geschichte  der  letzten  zweitausend  Jahre,  sondern  Geschichten, 
und  im  besten  Falle  eine  jüdische  Literaturgeschichte.  Juden  haben 
sich  zu  aller  Zeit  mit  Politik,  Handel  und  Technik  beschäftigt;  aber  die 
Taten  und  Werke  der  jüdischen  Staatsminister  gehören  nicht  in  die 
Geschichte  des  jüdischen  Volkes,  sondern  in  die  Geschichte  derjenigen 
Völker,  denen  große  jüdische  Männer  ihre  Dienste  gewidmet  haben. 
Das  gleiche  gilt  vom  jüdischen  Handel.  Selbst  wenn  alle  Juden 
Händler  wären,  gäbe  es  dennoch  keinen  jüdischen  Handel.  Heute 
z.  B.  beteiligen  sich  fast  alle  deutschen  Juden  am  Handel,  deshalb 
gibt  es  aber  doch  keine  jüdischen  Handelskorporationen,  keine  jü- 
dischen Börsen  und  keine  jüdischen  Banken.  Das  zivilisato- 
rische Leben  der  jüdischen  Individuen  wurzelt  nicht 
im  Judentum,  weil  eine  nationale  Zivilisation  ohne  nationalen 
Staat  unmöglich  ist.  Daß  die  jüdische  Religion  dem  Handel  der  jü- 
dischen Individuen  Vorschub  leiste  und  sie  auf  den  Handel  weise,  ist 
eine  der  blödsinnigsten  Fabeln,  die  die  moderne  professorale  Stu- 
pidität geschaffen  hat.  Wenn  Bibel  und  Talmud  uns  über  diese  Frage 
aufklären  können,  wird  sich  bald  ergeben,  daß  genau  das  Gegenteil 
von  dem  wahr  ist,  was  moderne  Forscher  über  diese  Frage  aussagen. 

15 


Die  trockene  und  nackte  Tatsache  ist  die,  daß  das  Judentum  seit 
2000  Jahren  nur  eine  theoretisch-abstrakte  Kulturanschauung  ist,  deren 
Träger  als  solche  kein  einziges  Zivilisationswerk  hervorgebracht  haben, 
d.  h.  die  Zivilisationswerke  der  Juden  seit  der  Zerstörung  des  jüdischen 
Staates  waren  niemals  jüdisch  motiviert.  Ist  etwa  Einsteins  mathema- 
tischer Genius  aus  dem  jüdischen  Geiste  gehauen,  hat  Ehrlichs  Seiten- 
kettentheorie mit  dem  Judentum  zu  tun?  War  Weigerts  Werk  jüdisch 
motiviert?  Haben  die  Äther-Theorien  von  Graetz  mit  dem  Judentum 
etwas  zu  tun,  und  sind  die  großen  jüdischen  Entdecker  und  Erfinder 
der  neuen  Zeit,  einschließlich  Schwartz  und  Lilienthal,  die  Entdecker 
der  Aviatik  und  der  Aeronautik,  von  jüdischen  Motiven  inspiriert  wor- 
den? Die  zivilisatorische  Tätigkeit  der  Juden  hat  mit  dem  jüdischen 
Blute  und  der  jüdischen  Abstammung  wenig  zu  tun.  Nur  in  sehr 
wenigen  Fällen  läßt  sich  da  überhaupt  eine  direkte  innere  Beziehung 
nachweisen 1).  Diese  separate  Kulturanschauung,  Judentum  genannt, 
kann  im  besten  Falle  als  besondere  kuriose  literarische  Tendenz  in  der 
Weltgeschichte  betrachtet  werden.  Auf  den  Gang  des  konkreten  Le- 
bens hatte  diese  literarische  Tendenz  keinen  unmittelbaren  Einfluß. 
Wenn  Juden  sich  oft  revolutionär  gebärden  und  große  revolutionäre 
Taten  vollbringen,  wie  im  Fall  von  Trotzki,  dann  müssen  sich  die 
konservativen  Mächte  selbst  tadeln.  Wer  sich  vornimmt,  die  Juden 
auszurotten,  wie  es  das  zaristische  Regime  getan,  darf  sich  über  die 
Entstehung  ejnes  Trotzkis  —  eine  furchtbare  Reaktion  auf  eine  furcht- 
bare antisemitische  Spannung  —  nicht  wundern.  Trotzki  ist  das  Werk 
nicht  des  Judentums,  sondern  des  zarischen  Regimes,  genau  so  wie 
die  jüdischen  Sozialistenführer  in  Deutschland  nicht  Produkte  des 
Judentums,  sondern  Produkte  des  deutschen  Antisemitismus  sind.  In 
den  westeuropäischen  Ländern,  wo  der  Antisemitismus  weniger  vehe- 
ment ist,  gibt  es  keine  jüdischen  „destruktiven  Kräfte".  Wer  den 
Juden  nicht  demütigt  und  nicht  quält,  den  beißt  er  nicht,  und  die  Juden- 
quälerei gehört  nicht  notwendigerweise  zur  moralischen  Weltordnung. 
Also  wenn  die  Juden  oft  destruktive  Elemente  hervorbringen  und 
diese  destruktiven  jüdischen  Elemente  einen  tiefgehenden  Einfluß  auf 
Staat  und  Gesellschaft  ausüben,  so  hat  das  mit  dem  Judentum,  einer 
theoretisch    abstrakten    Kulturanschauung,    blutwenig  zu   tun. 

Der  Talmud  und  die  hebräische  Literatur,  die  auf  den  Talmud  folgte, 
sind  nur  nationales  Gemeingut  geblieben,  im  Gegensatz  zur  Bibel, 
die  Gemeingut  der  Menschheit  geworden,  weil  sie  ein  Buch  von  großen 

x)  Einige  Forscher  behaupten,  daß  Ehrlich  ein  ,, talmudischer  Kopf"  war  und 
daß  speziell  seine  Seitenkettentheorie  einen  kasuistisch-pilpulistischen  Geist  verrate. 

16 


Taten  und  von  großen  tätigen  Männern  ist,  und  weil  sie  in  so 
wunderbarer  Weise  die  Geschichte  aller  menschlichen  Schicksale  und 
aller  menschlichen  Zukunft  beschreibt,  weil  sie  die  ewige  Wieder- 
kehr verkündet.  Aber  selbst  dieses  ausschließlich  nationale  Kulturgut 
der  Juden  (Talmud,  Rabbinismus  usw.)  besteht  zum  großen  Teile  aus 
fremden,  nicht  jüdischen  Elementen,  die  allerdings  eine  jüdische  Form 
angenommen  haben.  Gebildete  und  Historiker  wissen,  wieviel  in  der 
jüdischen  Religion  platonisch  und  aristotelisch  ist.  Die  jüdisch-alexan- 
drinische  Religionsphilosophie  war  an  Plato  und  selbst  an  der  Stoa 
orientiert  (Philo).  Der  mittelalterliche  Rabbinismus  und  die  mittelalter- 
liche jüdische  Religionsphilosophie  waren  ganz  aristotelisch  gestimmt. 
Die  jüdische  Reformation  am  Ausgang  des  achtzehnten  und  am  Anfang 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  hat  auf  dem  Wege  von  Mendelssohn 
über  Leibniz,  von  der  Aufklärung  und  später  von  Kant  ihre  An- 
regung bekommen.  Daher  ihre  ursprüngliche  Neigung  zum  Kosmo- 
politismus. Die  spätere  jüdische  Reformation  mit  ihrem  negativen 
Verhältnis  zum  jüdischen  und  mit  ihrem  positiven  Verhältnis  zum 
deutschen,  französischen  und  englischen  Nationalismus  fußt  ganz  auf 
Hegel.  Selbst  der  Zionismus  in  allen  seinen  Abstufungen  ist  auf 
Hegeische  Anregungen  zurückzuführen.  Dafür  bürgen  die  zwei  Namen: 
Nachman  Krochmal  und  Achad  Haam.  Daraus  geht  hervor,  daß  selbst 
das  Abstrakteste  und  Luftigste  im  Diaspora-Judentum  zum  großen,  über- 
mäßig großen  Teil  fremde  Zweige  am  Baume  des  Judentums  sind. 
Da  aber  selbst  das  abstrakte  Judentum  seit  zweitausend  Jahren  aus 
fremden  Quellen  schöpft  und  fremden  Elementen  in  diesem  Maße  Ein- 
gang in  sein  Gebiet  gewährt,  so  ist  klar,  daß,  wenn  auch  das  abstrakte 
Judentum  die  Handlungen  des  jüdischen  Individuums  bestimmte,  die 
Handlungen  der  Juden  nicht  nur  jüdisch  motiviert  sind.  Diejenigen, 
die  von  einer  Kulturtendenz  abstrakter  Natur  auf  die  gesamte  psycho- 
logische Beschaffenheit  seiner  Träger  schließen  wollen,  was  natürlich 
eine  psychologische  Untersuchung  eben  dieser  Kulturtendenz  voraus- 
setzt, können  unmöglich  in  Anbetracht  dieser  Fülle  von  nichtjüdischen 
Elementen  im  Diaspora-Judentum  zu  irgendeinem  nennenswerten  Re- 
sultat gelangen.  Es  braucht  nicht  besonders  betont  zu  werden,  daß  es 
wegen  der  Vielseitigkeit  des  Lebens  unstatthaft  ist,  von  lediglich  ab- 
strakten Erscheinungen,  die  nur  zu  oft  dem  blöden  Zufall  ihre  Offen- 
barung verdanken,  auf  das  ganze,  reiche  und  vielseitige  Leben  zu 
schließen. 

Man  sagt,  daß  die  Religion.  (Mythus)   ein  Mittel  sei,  um  in  den 
Geist  einer  Nation  einzudringen.  Mag  sein.   Aber  nur  wenige  Forscher 

2     Melamed 

17 


rechnen  mit  der  Tatsache,  daß  selbst  der  jüdische  Mythus  der  letzten 
zweitausend  Jahre,  resp.  die  jüdische  Volksmetaphysik  nicht  jüdisch, 
sondern  platonisch-parsisch  ist.  Die  Vorstellung  des  Ghettojuden  von 
Geburt  und  Tod,  von  dem  Ursprung  der  Seele  und  ihrer  Unsterblich- 
keit, ist  von  Anfang  bis  Ende  nicht  jüdischen,  sondern  platonischen 
Ursprungs.  Das  gleiche  gilt  von  einem  großen  Teil  der  jüdischen 
Eschatologie  und  Angelologie,  die  persischen  Ursprungs  ist.  Wieviel 
Juden  haben  nicht  Bedrückungen  und  Verfolgungen  gelitten,  weil  sie 
dem  Volksglauben  skeptisch  gegenüberstanden?  Wie  viele  Opfer  haben 
nicht  die  Juden  selbst  diesem  fremden  Götzen  dargebracht?  Und  diese 
Volksmetaphysik  hat  doch  dem  mittelalterlich  rechtgläubigen  Judentum 
ihr  Siegel  aufgedrückt,  sich  zu  einem  großen  Moment  im  religiösen 
Leben  der  Juden  entwickelt  und  seit  zweitausend  Jahren  wie  ein  Alp- 
druck auf  dem  jüdischen  Geiste  gelastet.  Wenn  nun  selbst  die  Reli- 
gion des  Diaspora-Judentums  in  solchem  Maße  fremde  Elemente  in 
sich  aufgenommen  hat,  die  es  von  Grund  aus  umgestaltet  haben,  wie 
kann  man  da  vom  Judentum  als  etwas  Abgeschlossenem  und  Kon- 
stantem sprechen? 

Daß  die  Juden  von  heute  nicht  viel  mehr  Ähnlichkeiten  mit  dem 
antiken  Juden  haben  als  „antike"  Germanen  mit  den  zeitgenössischen 
Deutschen,  sollte  doch  jedem  ernsten  Menschen  ersichtlich  sein,  be- 
denkt man,  wie  der  europäische  Geist  den  des  jüdischen  beeinflußt, 
und  bedenkt  man,  daß  die  Geschichte  nicht  still  steht.  Man  muß  auch 
noch  in  Betracht  ziehen,  daß  die  Juden  während  der  größeren  Hälfte 
ihres  historischen  Daseins  nicht  in  ihrem  Lande  und  nicht  in  Asien, 
sondern  unter  christlichen  Völkern  in  Europa  gelebt  haben.  Haben 
die  Juden  umsonst  zweitausend  Jahre  in  Europa  gelebt?  Haben  die 
bio-soziologischen  Bedingungen  in  Europa,  die  wesentlich  anders  sind 
als  die  in  Asien,  die  jüdische  Psyche  nicht  gebildet  und  den  jüdischen 
Geist  nicht  gemodelt?  Und  hat  das  Gesetz  der  geschichtlichen  Ent- 
wicklung gerade  an  den  Juden  eine  Grenze?  Nur  heißgesottene  Pla- 
toniker  oder  Mystiker  können  die  letzte  Frage  bejahend  beantworten. 
Völkerpsychologie  aber  ist  weder  Piatonismus  noch  Mystizismus,  soll 
sie  den   Anschein   einer  Wissenschaft  wahren. 

Aus  diesen  Erwägungen  heraus  sehe  ich  mich  veranlaßt,  die  hier 
zur  Diskussion  stehende  Frage  methodologisch  anders  zu  behandeln, 
als  die  meisten  deutschen  Forscher  es  tun.  Der  Ausgangspunkt  muß 
wohl  der  sein:  1.  Das  Judentum  ist  wie  jedes  andere  „tum"  nicht 
konstant  und  nicht  unveränderlich.  2.  Das  Diaspora-Judentum  hat, 
infolge    seiner    schicksalsreichen    und    wechselvollen    Geschichte,    mit 

18 


dem  antiken-klassischen  Judentum  ebensoviel  oder  ebensowenig  ge- 
mein wie  das  antike  Hellas  mit  dem  modernen  Griechenland,  wenn 
auch  nicht  geleugnet  werden  soll,  daß  wegen  der  jüdischen  Rassen- 
inzucht der  antike  jüdische  Genius  auch  noch  heute  von  Zeit  zu  Zeit 
oft  lichterloh  aufflackert  —  um  bald  wieder  zu  erlöschen.  Die  viel- 
tausendjährige Kontinuität  des  Judentums  beweist  nicht,  daß  es  kon- 
stant und  unveränderlich  ist,  sondern  im  Gegenteil,  daß  es  sich  immer 
von  neuem  den  lokalen  Bedingungen  anpaßt  und  neue  Formen  an- 
nimmt, wie  es  sich  einer  großen  Kultur,  die  aus  dem  Geiste  des  an- 
tiken Genius  gehauen  ist,  geziemt.  Kulturen,  die  nicht  anpassungsfähig 
sind,  sind  dem  Untergange  geweiht.  Da  aber  die  Kontinuität  des 
Judentums  in  unzähligen  verschiedenen  Kulturmilieus  und  unter  den 
verschiedensten  bio-soziologischen  Bedingungen  vor  sich  gegangen  ist 
und  sie  (die  Kontinuität)  eines  einheitlichen  Quells  entbehrt  hat,  so 
setzt  sich  die  Gestalt  der  heutigen  Judenheit  und  des  Judentums  zum 
großen  Teile  aus  den  Wirkungen  von  mehr  als  dreißig  Milieus  zusam- 
men, die  noch  nicht  erforscht  sind.  Aus  diesem  Grunde  muß  das  an- 
tike Judentum  separat  und  als  besonderes  Kapitel  behandelt  werden. 
Selbst  wenn  die  Juden  während  ihres  ganzen  historischen  Daseins  in 
Palästina  gelebt  hätten,  wäre  diese  Zweiteilung  notwendig  gewesen, 
gerade  wie  die  Psychologie  des  germanischen  oder  englischen  Geistes 
eine  historische  Zweiteilung  erfordert.  Eine  germanische  Geistes- 
psychologie kann  trotz  der  notwendigen  Zweiteilung  „aus  einem  Guß" 
sein,  weil  hier  der  historische  Prozeß  ein  mehr  oder  weniger  natürlicher 
war.  Von  Kindheit  bis  zum  Mannesalter  hat  der  Germane  am  gleichen 
Ort  gelebt,  ist  mit  seiner  Erde  und  mit  seinem  Walde  gewachsen, 
resp.  hat  sich  mit  ihnen  verändert,  und  die  Veränderungen  und  Evo- 
lutionen seines  Geistes  waren  durch  „natürliche"  Momente  und  Kräfte 
veranlaßt.  Das  Gegenteil  von  dem  geschah  den  Juden.  Schon  die 
Wiege  ihrer  Kindheit  stand  auf  fremdem  Boden.  Als  sie  sich  später 
zur  nationalpolitischen  Selbständigkeit  durchgerungen  hatten,  waren 
sie  jeden  Augenblick  von  den  vielen  Völkern,  die  sie  umgaben,  bedroht. 
Sie  mußten  schwer  um  ihre  nackte  Existenz  kämpfen.  Seit  zweitausend 
Jahren  vollends  sind  sie  ihrem  heimatlichen  Boden  entrissen  und  leben 
auf  dem  ganzen  Erdball  zerstreut.  Will  man  nun  die  psychologischen 
Eigenheiten  der  zeitgenössischen  Juden  kennen,  so  muß  man  zuvor 
die  Psychologie  ihrer  Wirtsvölker  studieren,  denn  es  jüdelt  sich  überall, 
wie  es  sich  christelt  —  und  man  müßte,  wie  gesagt,  den  Einfluß  der 
klimatischen,  biologischen  und  soziologischen  Verhältnisse  von  dreißig 
grundverschiedenen  Milieus  auf  die  Juden  erforschen.    Dazu  gesellen 

2* 

19 


sich  noch'  eine  Reihe  historischer  Schwierigkeiten,  die  auch  nicht  so 
leicht  zu  überwinden  sind.  Da  nun  keine  Materialien,  die  zu  diesem 
Zwecke  gesammelt  worden  wären,  vorliegen,  so  kann  an  die  Behand- 
lung einer  Psychologie  der  zeitgenössischen  Judenheit  noch  gar  nicht 
herangetreten  werden.  Das  Problem  muß  sich  deshalb  zum  größten 
Teil  auf  das  antike  Judentum  beschränken.  Nur  sofern  die  heutigen 
Juden  als  Erben  der  antiken  Juden  mit  den  letzteren  geistespsycholo- 
gisch etwas  gemein  haben,  kann  die  Erkenntnis  von  der  Geistespsycho- 
logie des  antiken  Juden  sich  auch  auf  zeitgenössische  Juden  beziehen. 
Um  in  das  Innere  des  mir  vorliegenden  begrenzten  Problems  ein- 
zudringen, muß  ich  eine  Reihe  methodologisch-philosophischer  Fragen 
erörtern,  die  auf  den  ganzen  Gegenstand  ein  Licht  werfen.  Es  geht  nicht 
an,  mit  der  Tür  ins  Haus  zu  fallen  und  mit  einem  Versuch  der  Lösung 
des  Problems  zu  beginnen,  ohne  es  zuerst  abzugrenzen  und  seine 
richtige  Formulierung  zu  geben. 


20 


Zweites   Kapitel. 


Grundlagen  und  Voraussetzungen. 

Die  historische  Wirklichkeit.  —  Das  Erwachen  des  nationalen  Bewußtseins 
in  Europa.  —  Was  die  Franzosen  unter  Kosmopolitismus  verstehen.  —  Die 
naturalistische  Interpretation  der  Geschichte.  —  Abstrakte  Ideen  als  Geschichts- 
faktoren. —  Idealistische  Geschichtsmotive.  —  Persönlichkeit  und  anonyme  Kräfte. 

—  Zivilisation  und  Kultur.  —  Die  Aufgaben  der  Historiographie.  —  Selektive 
Kräfte.  —  Die  Tradition  als  historische  Macht.  —  Der  allgemeine  Wille.  —  Die 
organische  Volkseinheit.  —  Der  spezifische  Kulturgenius.  —  Der  römische  Genius. 

—  Der  hellenische  Genius.  —  Die  Grundlagen.  —  Religion  und  nationale  Kultur. 

—  Sprache  und  Volksseele.  —  Über  Völkerpsychologie  überhaupt.  —  Volks- 
seelische Potenzen.   — 

Die  Völkerpsychologie  als  wissenschaftliche  Sonderdisziplin  wird 
noch  heute  viel  umstritten,  obgleich  sie  ganz  und  gar  nicht  jugend- 
lichen Alters  ist.  Schon  lange  ehe  Finot  und  Hertz  auf  der  einen  und 
Hermann  Paul  auf  der  andern  Seite  mit  ihren  gegen  Völkerpsychologie 
und  Rassentheorie  gerichteten  Schriften  auf  den  Plan  getreten  waren, 
ließ  sich  John  Stuart  Mill  vernehmen:  „Of  all  vulgär  modes  of  escaping 
from  the  considerations  of  the  effect  of  social  and  moral  influences  on 
the  human  mind  the  most  vulgär  is  that  of  attributing  the  diversities 
of  conduct  and  character  to  inherent  natural  differences."  Von  jeher 
hat  es  bedeutende  Forscher  gegeben,  die  ähnlich  wie  Mill  dachten ; 
allein,  wer  an  der  Wirklichkeit  des  Lebens  orientiert  ist,  wird  über  die 
nackte  Tatsache  nicht  hinweggehen  können,  daß,  wie  alle  Unkultur 
primitive  Simplizität  ist,  alle  Kultur  subtile  Differenziation  bedeutet. 
Menschheit  ist  nur  ein  abstrakter  Begriff  oder  eine  ethische  Formel; 
im  wirklichen  Leben  gibt  es  Stämme,  Völker  und  Rassen,  die  in  ihrer 
biopsychologischen  Beschaffenheit  so  voneinander  gesondert  sind  und 
ihre  Differenzen  zu  einem  so  bedeutenden  Faktor  im  Leben  potenzieren, 
daß  sie  oft  die  Existenz  der  menschlichen  Gattung  gefährden.  Auch 
können  wir  über  das  Faktum  nicht  hinweg,  daß  die  Geschichte  eine  Ge- 

21 


schichte  der  Völker  und  Rassen  ist.    Der  antike  Geist  mit  seiner  sub- 
jektiven Tendenz  und  Form  hat  dies  auch  klar  erkannt:  Aristoteles  hat 
die   Einsicht  von   dem  Vorhandensein  bio-psychologischer  Differenzen 
in    der    menschlichen    Gattung1   zum    Ausgangspunkt    seiner   „Politik" 
gemacht,  und  die  Bibel  eröffnet  die  Weltgeschichte  mit  einer  Geschichte 
von   Völkern   und  Rassen.    Der  mit  dem   Leben  in   Kontakt  stehende 
Forscher  hatte  von  jeher  erkannt,  daß  jede  Kultur,  möge  sie  noch  so 
universalistische  Züge  aufweisen,  ein  Erzeugnis  des  spezifischen  Volks- 
geistes   ist,    daß    die   Vielgestaltigkeit   der   Menschheitskultur   ein   not- 
wendiges   Ergebnis    der   psychologischen   Sonderheiten   und    Differen- 
zierungen der  Völker  ist,  die  sich  an  der  Kultur  beteiligen,  und  daß  eine 
simple,    undifferenzierte,    monotone    Universalkultur,    von    der    mittel- 
alterliche Scholasten  a  la  Gehoch  träumten,  ein  Ding  der  Unmöglichkeit 
ist.  Denn  sowohl  das  erste  Wahre  als  das  Wirkliche  im  Leben  ist  die  Indi- 
vidualität, die  die  andere  Individualität  ausschließt.    Für  die  Richtigkeit 
dieser  historischen  Erkenntnis  zeugen  Rom  und  das  römisch-papistische 
Mittelalter   mit   seinen   universalistischen   Tendenzen.    Die   Zerstörung 
des  alten   Roms  war  eine  logische  Folge  seines  bis  zum  Extrem  ge- 
triebenen  politischen  Universalismus;  denn  die  Eroberten  majorisierten 
die    Eroberer  und   zerstörten   die   nationale   Individualität   Roms.    Der 
Zerstörung  des  alten  Roms  folgte  das  papistisch-universalistische  Rom, 
das  die   Kirchenväter  theoretisch  modellierten,  und  das  bestrebt  war, 
aus  den  vielen  Völkern  und  Rassen  ein  Volk  mit  einer  Religion  und 
einer  Sittlichkeit  zu  machen.  Tausend  Jahre  war  das  theologische  Rom 
am  Bastardierungswerk  der  Menschheit  tätig  —  während  welcher  Zeit 
die  menschliche  Vernunft  verstummt  war  und  mittelalterliche  Nacht  den 
Menschengeist  umhüllt  hatte,  —  bis  die  europäischen  Völker  —  auf 
semitischer  Erde —  während  der  Kreuzzüge  zum  nationalen  Be- 
wußtsein erwachten  und,  einmal  national  selbstbewußt,  selbst  mit  der 
Entpapisierung  der  Welt  begannen.    Die  Zänkereien   der  Kreuzfahrer 
untereinander,    von    welchen    die    Geschichte    berichtet,    waren,    wie 
alle     Historiker     zugeben,     die     ersten    Symptome     ihres     erwachten 
Nationalbewußtseins.     Als    Kinder    der   Kirche    sind    sie    nach    Klein- 
asien  gezogen,    und    als    Franzosen,    Engländer,    Deutsche    usw.   sind 
sie    nach    Europa    zurückgekehrt.     Den    Kreuzzügen    folgte    die    Re- 
naissance, die  nach  Burckhardt  die  Persönlichkeit  entdeckte  und  die  der 
Kirche  und  dem  Universalismus  den  Krieg  erklärte.  Auf  die  Renaissance 
folgte  die  germanische  Reformation,  die  erst  mit  Immanuel  Kant  ab- 
geschlossen wurde.  Das  erste  nachchristliche  Jahrtausend  nennen  christ- 
liche Historiker  die  finstere  Nacht  des  Mittelalters.    Das  erste  und  das 

22 


zweite  christliche  Jahrtausend  beweisen,  in  welchem  Maße  die  geson- 
derte, frei  sich  bewegende  und  ihren  Eigentümlichkeiten  lebende  Nation 
Kultur  und  Zivilisation  hemmen  oder  fördern  kann. 

Der  französische  Kosmopolitismus  des  achtzehnten  Jahrhunderts 
wollte  nur,  daß  alles  französisch  werde,  und  war  im  letzten  Grunde  die 
höchste  Potenzierung  des  nationalen  Individualismus.  Die  Vereinzelten, 
nach  Weltbürgerlichkeit  Strebenden  harten,  wie  viele  Große  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts,  das  zweifelhafte  Privilegium,  jedes  historischen 
Verständnisses  bar  zu  sein.  Die  Stoa  hatte  es  ihnen  angetan.  Zudem 
fehlten  ihnen  damals  diejenigen  anthropologischen  und  ethnologischen 
Kenntnisse,  die  unser  heutiges  Geschlecht  besitzt.  Wer  bei  dem 
heutigen  Stand  der  Wissenschaft  an  dem  Kosmopolitismus  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  festhält,  und  wer  da  glaubt,  alle  ethnischen  Diffe- 
renzen seien  Erzeugnisse  künstlicher  Natur,  der  verschließt  sich  selbst 
der  nackten  Wirklichkeit.  Wenn  sich  aus  der  Geschichte  Gesetze  über- 
haupt ableiten  lassen,  so  ist  das  Faktum,  daß  es  keine  Kulturentwick- 
lung ohne  das  Vorhandensein  und  Mitwirken  vieler  voneinander 
ethnisch  und  psychologisch  differenzierter  Gruppen  gibt,  das  erste 
historische  Gesetz.  Die  Menschheitskultur  gleicht  vielmehr  einer 
Symphonie,  zu  der  die  einzelnen  überindividuellen  Gesamtgeister  die 
Akkorde  bilden. 

Entgegen  dem  historischen  Naturalismus,  der  den  allgemeinen 
historischen  Prozeß,  sowie  den  überindividuellen  Gesamtgeist  einer 
Nation  oder  Rasse  nur  bio-soziologisch  interpretiert,  wie  etwa  Montes- 
quieu (klimatische  und  geographische  Bedingungen),  oder  Buckle  (kli- 
matisch-ökonomische Bedingungen),  oder  Marx  (nur  ökonomische  Be- 
dingungen) und  Gumplowicz  (Milieubedingungen),  soll  hier  der  Beweis 
für  die  Behauptung  geführt  werden,  daß  die  Nation  als  organische 
Einheit  zumindest  idealen  Faktoren  und  Momenten  ebenso  ihre  Existenz 
verdankt,  wie  rein  bio-soziologischen  Faktoren;  denn  wie  der  Mensch' 
an  der  Schwelle  zweier  Welten,  steht,  der  sinnlichen  und  übersinnlichen, 
so  auch  die  Nation.  Der  historische  Prozeß  ist  nicht  nur  ein  mechani- 
scher Naturprozeß,  sondern  auch  ein  geistiger.  Alle  äußeren  Vor- 
gänge gehen  zum  großen  Teil  aus  Seelenbewegungen  hervor;  man 
denke  nur  an  das  intellektuelle  Moment  in  der  Technik  und  in  der  Wirt- 
schaft. Selbst  diejenigen  Historiker,  die  die  Geschichte  naturalistisch 
interpretieren  und  ihre  Triebkräfte  auf  physiko-mechanische  und  bio- 
logische Ursachen  reduzieren,  reden  doch  nur  von  der  Beschaffenheit 
des  Bodens,  Klimas  usw.,  weil  sie  eben  den  Völkern  eine  psychische 
Struktur  geben.    Sie  mögen  die  Konstitution   der  Volkspsyche  deuten 

23 


wie  sie  wollen,  ihre  Existenz  leugnen  sie  nicht  und  können  sie  auch 
nicht  leugnen.  Selbst  ein  Karl  Marx  kann  das  Vorhandensein  und 
Wirken  eines  überindividuellen  Gesamtgeistes  nicht  in  Abrede  stellen 
und  tut  es  auch  nicht.  Der  historische  Naturalismus,  der  doch  die 
Existenz  eines  überindividuellen  Gesamtgeistes  zugeben  muß,  wider- 
spricht sich  selbst,  wenn  er  nach  diesem  Zugeständnis  fortfährt,  von 
dem  Wirken  rein  physiko-mechanischer  Gesetze  in  der  Geschichte  zfa 
sprechen ;  denn  dieser  von  ihm  zugegebene  überindividuelle  Gesamtgeist 
ist  doch  eine  psychologische  resp.  eine  seelische  Potenz. 

Der  Erzdemokrat  Jean  Jacques  Rousseau,  ein  Bürger  des  kosmo- 
politischen achtzehnten  Jahrhunderts,  statuiert  in  seiner  Staatslehre  den 
Unterschied  zwischen  dem  allgemeinen  Willen  und  dem  Willen  aller 
und  stellt  —  trotz  seines  Demokratismus  —  nicht  den  Willen  aller, 
sondern  den  allgemeinen  Willen  als  die  Wurzel  der  politischen  Gemein- 
schaft hin.    Dieser  allgemeine  Wille  ist  durchaus  eine  seelische  Potenz. 

Erscheinungen,  wie  die  große  Persönlichkeit,  die  Macht  der  ab- 
strakten Idee,  die  oft  blitzartig  in  dem  Hirn  eines  Einzelnen  auftritt 
und  ein  ganzes  Kultursystem  in  seinen  Grundfesten  erschüttert  oder 
viele  Kultursplitter  zu  einer  organischen  Einheit  zusammenschweißt, 
die  intellektuellen  Momente  in  Technik  und  Wirtschaft  und  eine  Reihe 
sittlicher  Momente,  die  auf  den  Gang  der  Geschichte  bestimmend  ein- 
wirken, lassen  keinen  Zweifel  darüber,  daß  die  Geschichte,  nachdem  sie 
ihren  Anfang  genommen,  zum  großen,  vielleicht  zum  größten  Teil, 
seelenhaften  Charakters  ist.  Die  Rekonstruktion  der  Vergangenheit, 
wie  sie  die  Historiker  immer  vornehmen,  ist  sicherlich  eine  subjektive 
geistige  Tat.  Alle  Versuche,  die  Geschichte  als  mechanischen  Prozeß 
zu  beschreiben  und  sie  auf  rein  physisch-mechanische  Ursachen  zurück- 
zuführen, sind  bis  jetzt  kläglich  gescheitert.  Die  Idee  von  der  Gleichheit 
aller  Menschen,  wie  sie  die  französischen  Philosophen  vor  150  Jahren 
auseinandergesetzt  haben,  hat  die  Grundlagen  der  alten  Gesellschaft 
erschüttert1).  Diese  abstrakte  Idee  verdankt  vielleicht  ihre  Entstehung 
rein  realen  Momenten,  aber  der  weitere  Gang  der  Geschichte  und  der 
ganze  Ablauf  des  historischen  Prozesses,  der  um  einen  Kampf  für  und 
gegen  diese  Idee  zentriert  ist,  bedurfte  eines  Mediums.  Ohne  die  zün- 
dende Idee  oder  die  ideale  Potenz  oder  die  geistige  Triebkraft  gibt  es 
keine  geschichtliche  Bewegung.  Die  Geschichte  wird  oft  mit  der  Ent- 
wicklung schlechthin  identifiziert.  Diese  Gleichsetzung  der  Geschichte 
mit  der  Entwicklung  ist  grundfalsch.  Entwicklung  gibt  es  auch  in  der 
Natur,  aber  in  der  Gesahichte,  die  ein  Reich  der  sittlichen  Ideen  und 

J)  Gustave  Le  Bon,  Lois  psychol.  de  l'evolution  de  peuples,  Paris  1906. 

24 


geistigen  Kräfte  ist,  wirken  auch  noch  andere  Kräfte,  speziell  die  der 
Persönlichkeit.  Wie  .weit  der  Einfluß  und  die  Macht  dieser  abstrakten 
Idee  reicht,  ist  aus  folgender  Tatsache  zu  ersehen:  Die  Weißen  in 
Amerika,  speziell  im  Süden  der  Vereinigten  Staaten,  hassen  den 
schwarzen  Mitbürger.  Der  Haß  nimmt  oft  die  Form  von  Lynchgerichten 
an.  Die  Weißen,  die  in  der  überwiegenden  Mehrheit  sind,  würden 
gewiß  nicht  zögern,  ihre  schwarzen  Mitbürger  politisch  gänzlich  zu 
entrechten,  wenn  die  amerikanische  Konstitution,  der  die  Gleichheits- 
idee zugrunde  liegt,  sie  daran  nicht  hinderte.  Der  Grundsatz  von  der 
bürgerlichen  Gleichheit  in  der  nordamerikanischen  Konstitution  beruht 
auf  der  allgemeinen  Gleichheitstheorie  des  französischen  Enzyklopädis- 
mus.  Man  denke  auch  an  das  Martyrium  der  religiösen  Minoritäten  in 
Ländern,  wo  der  Staat  mit  der  Kirche  verschwägert  ist.  In  neuerer 
Zeit  wird  auch  die  nationale  Minorität  von  der  sie  bewirtenden  natio- 
nalen Majorität  aufs  bitterste  verfolgt.  Die  Minorität,  ob  religiös  oder 
national,  ist  bereit,  im  Kampfe  für  geistige  Güter  das  größte  Martyrium) 
zu  erleiden.  Es  läßt  sich  nun  schwer  behaupten,  daß  sich  der  Idealismus 
der  Minorität  an  etwas  Materiellem  entzündet.  Ob  die  Minorität  für 
religiöse  Ideale  kämpft  und  ein  Martyrium  erleidet,  oder  ob  sie  für 
ihre  nationalen  Ideale  kämpft,  Sprache,  Literatur,  Traditionen,  Sitten 
usw.  —  der  Kampf  gilt  jedenfalls  nicht  einem  materiellen,  sondern 
einem  geistigen  Ziel.  Selbst  der  Imperialismus  gewisser  Nationen,  der 
unter  anderem  auch  bezweckt,  anderen  Völkern  eine  gewisse  Sprache 
oder  Kultur  aufzuzwingen,  ist  teilweise  idealistisch  motiviert.  Der 
Imperialismus  kann  am  besten  als  eine  Expansion  der  nationalen  Per- 
sönlichkeit definiert  werden.  Er  versucht  oft,  sich  auf  Kosten  anderer 
nationaler  Persönlichkeiten  auszudehnen  und  breit  zu  machen,  aber  wo 
von  Persönlichkeit  die  Rede  ist,  da  ist  schon  von  Geist  die  Rede. 

Der  Begriff  des  Seelischen,  Idealen,  Abstrakten  ist  unzertrennlich 
von  dem  Begriffe  der  Individualität.  Diese  Tatsache  ist  zu  selbst- 
verständlich, um  erklärt  oder  bewiesen  werden  zu  müssen.  Die  Er- 
kenntnis von  dem  seelenhaften  Charakter  der  Geschichte  könnte  aber 
zu  der  Annahme  verleiten,  daß  sie  nur  ein  „Werk  der  Persönlichkeit" 
sei.  Um  einer  individualistischen  Interpretation  der  Geschichte,  die 
sich  aus  der  bekannten  Vorherrschaft  ihrer  idealen  Momente  ergeben 
könnte,  vorzubeugen,  muß  gleich  betont  werden,  daß  eine  Reihe  kon- 
kreter Gebilde,  mit  eigenen  Bewegungsenergien  ausgerüstet,  ohne  jedes 
persönliche  Eingreifen  auftreten  und  sich  nach  den  ihnen  selbst  inne- 
wohnenden Gesetzen  entwickeln.  In  der  Geschichte  sind  nicht  nur 
geistig  individuelle,  sondern  auch  materielle  und  anonyme  Kräfte  wirk- 

25 


sam.  Neue  Gesellschafts-  und  Wirtschaftsformen  entwickeln  sich  oft 
genug  unabhängig  von  dem  Werke  des  einzelnen  Individuums.  Das 
sind  nicht  persönliche,  sondern  überpersönliche  Gebilde.  Als  solche 
können  sie  ebensowenig  niedergehalten  oder  unterdrückt  werden,  wie 
die  Zirkulation  von  Ideen,  die  die  große  Persönlichkeit  ins  Werk  setzt. 
Henry  Thomas  Buckle  hat  im  ersten  Buch  der  Geschichte  der  Zivili- 
sation in  England  eine  ganze  Reihe  von  Beispielen  dafür  angeführt, 
wie  große  historische  Gebilde  aus  unpersönlichen,  anonymen  Kräften 
entstehen  und  oft  trotz  alles  persönlichen  Eingreifens  ihren  Weg  gehen. 
Es  muß  demnach  gesagt  werden,  daß  Zivilisation,  d.  h.  Wirtschaft, 
Technik  und  zum  Teil  auch  Politik  ihrer  eigenen  Logik  folgt,  sich  nach 
ihren  eigenen  Gesetzen  entwickelt,  während  Kultur  (alle  Erzeugnisse 
des  Geistes),  möge  sie  noch  so  viel  von  der  Zivilisation  angeregt  und 
beeinflußt  sein,  eine  Schöpfung  der  Individualität  ist.  Zivilisation  und 
Kultur  sind  der  Leib  und  die  Seele  der  Geschichte. 

Daraus  ergeben  sich  nun  zwei  Folgerungen  für  die  Erkenntnis- 
theorie der  Geschichte:  erstlich,  daß  sie  allgemeinen  Entwicklungs- 
gesetzen folgt,  die  von  jedem  persönlichen  Eingreifen  frei  sind,  und 
zweitens,  daß  sie  rücksichtlich  der  Kultur  individuell  motiviert  und 
bedingt  ist.  Hier  melden  sich  aber  zwei  Schwierigkeiten.  Zivilisation 
und  Kultur,  obgleich  zwei  verschiedenen  Quellen  entspringend,  ver- 
schmelzen sich  fast  immer  in  der  Geschichte  zu  einer  Einheit.  Nur  in 
Ausnahmefällen  kommt  es  vor,  daß  Zivilisation  und  Kultur  losgelöst 
voneinander  auftreten.  Ein  Volk  mag  eine  hochentwickelte  Kultur, 
aber  keine  Zivilisation  haben.  Ein  anderes  Volk  mag  eine  hochent- 
wickelte Zivilisation,  aber  keine  Kultur  haben.  Man  denke  an  Nord- 
amerika. In  der  Regel  aber  treten  sie  gleichzeitig  auf  und  verschmelzen 
sich  fest  zu  einer  organischen  Einheit.  Auf  hoher  Entwicklungsstufe 
sind  ihre  Grenzen  in  der  Regel  halb  verwischt.  Wie  geht  der  Ver- 
schmelzungsprozeß vor  sich?  Die  Unabhängigkeit  vieler  historischer 
Gebilde  vom  Individuum  erlaubt  es  nicht,  die  Aktion  der  späteren 
organischen  Vereinigung  als  das  Werk  eines  einzelnen  hinzustellen, 
und  die  Masse  genießt  wohl  das  Licht  der  Persönlichkeit,  aber  sie  ist 
nicht  die  Wegweiserin  der  großen  schöpferischen  Individualität.  Wer 
führt  den  Prozeß  der  Vereinigung  herbei?  Daß  Kultur  und  Zivilisation 
nicht  zwei  absolut  parallele  Linien  sind,  sondern  eine  Einheit  bilden, 
geht  schon  aus  ihrem  ständigen  adäquaten  Nebeneinandersein  hervor. 
Hier  muß  die  Erkenntnistheorie  der  Geschichte  zu  einer  Apriorität  Zu- 
flucht nehmen:  zu  der  organischen  Einheit  der  sozialen  resp.  zur 
nationalen   Persönlichkeit.    Sie  ist  nicht  nur  eine  methodische  Voraus- 

26 


Setzung,  ohne  die  uns  die  Geschichte  als  ein  Bündel  blöder  Zufälle 
erscheinen  mußte,  sondern  auch  eine  Apriorität,  die  in  dem  Gegebenen 
ein  Gegenbild  findet  —  also  keine  leere  Kategorie.  Die  organische 
Einheit  der  sozialen  resp.  der  nationalen  Persönlich- 
keit ist  weder  die  Masse,  die  den  Begriff  Zivilisation 
involviert,  noch  die  große  Individualität,  die  Kultur 
schafft,  sondern  —  der  überindividuelle  Gesamtgeist 
oder,  mit  Rousseau  zu  sprechen,  der  allgemeine  Wille. 
Die  Geschichte,  die  bis  jetzt  ihre  eigene  Erkenntnistheorie  noch  nicht 
abgesucht  hat,  folgt  instinktiv  dieser  methodischen  Voraussetzung  eines 
überindividuellen  Gesamtgeistes.  Die  handelnden  Gruppen,  die  sie 
schildert,  haben  Seele  und  Leben,  und  sie  zweifelt  nicht  daran,  daß  die 
psychologischen  Verbindungsglieder  objektiv  wahr  seien.  Ohne  diese 
Annahme  würde  sie  statt  historischer  Wahrheit  zusammenhanglose 
Wirklichkeiten  der  Vergangenheit  schildern,  die  wir  gar  nicht  verstehen 
würden  und  die  kein  Interesse  für  uns  hätten.  Die  Geschichtsschreibung, 
um  nicht  nur  unser  Interesse  zu  erwecken,  sondern  um  das  Leben  der 
Vergangenheit  zu  rekonstruieren,  muß  sich  mit  abgeschlossenen  Grup- 
pen beschäftigen,  und  muß  das  Volk,  die  Nation  oder  die  Rasse  als 
lebendige  und  wirksame  Einheit,  die  mit  ihren  psychologischen  Quali- 
täten ausgerüstet  ist,  voraussetzen.  Und  wie  aus  der  Wirklichkeit  zu 
ersehen  ist,  ist  diese  Voraussetzung  nicht  eine  Fiktion,  die  der  Me- 
thode dient,  wie  es  zum  Beispiel  in  der  Chemie  der  Fall  ist,  sondern 
sie  beruht  auf  der  Wirklichkeit.  Ob  der  Staat  ein  solcher  Organismus 
ist,  daß  man  von  einer  Staatsseele  sprechen  kann,  mag  dahingestellt 
sein,  und  es  mag  auch  dahingestellt  sein,  ob  er  ein  Makrokosmus  in 
dem  Sinne  ist,  wie  ihn  der  geistreiche  Verfasser  der  „Cite  Moderne"  zu 
beschreiben  versucht  hat,  aber  daß  das  Volk  eine  organische  Einheit 
in  dem  Sinne  ist,  daß  es  eine  Seele  hat,  kann  gar  nicht  angezweifelt 
werden. 

Alle  historischen  Wissenschaften  (und  die  Völkerpsychologie  ist 
ebensoviel  Geschichtswissenschaft  wie  „Gesetzeswissenschaft")  haben 
an  dem  Ursprung  der  Dinge  ihre  Grenze.  Über  dem  Ursprung  der 
ethnischen  und  nationalen  Einheitswerdung  lagert  ebenso  ein  Dunkel 
wie  über  dem  Ursprung  der  Sprache,  des  Rechts,  der  Religion  usw. 
Wie  der  allgemeine  Wille  der  politischen  und  nationalen  Gemeinschaft 
entsteht,  wird  mit  mathematisch-logischer  Sicherheit  nicht  festzustellen 
sein.  Wir  sind  auf  Mutmaßungen  und  Hypothesen  angewiesen,  die 
entweder  aus  subjektivem  Nachkonstruieren  oder  aus  der  Analogie  ent- 
stehen.   Die  Empirie  belehrt  uns,  daß  jede  organische  Einheit  in  der 

27 


Geschichte  entweder  durch  die  langsame  Konsolidation  eines  von  der 
natürlichen  Umgebung  zusammengeschmolzenen  Kollektivums  oder 
durch  plötzliche  Einwirkungen  von  selektiven  Kräften  ins  Dasein  tritt. 
Wir  wissen  nicht,  warum  die  eine  Gruppe  zur  Hervorbringung  von 
selektiven  Kräften  fähiger  als  die  andere  war,  d.  h.  wir  kennen  nicht 
die  Motive  und  Ursachen,  welche  die  eine  Menschengruppe  fähig 
machen,  selektive  Kräfte  zu  produzieren,  und  die  andere  nicht.  An  der 
natürlichen  Umgebung  allein  kann  es  nicht  liegen.  Wenn  zum 
Beispiel  gesagt  wurde,  daß  der  jüdische  Monotheis- 
mus ein  Erzeugnis  der  Wüste  sei,  so  darf  man  doch 
mit  Recht  fragen:  Warum  haben  die  vielen  anderen 
Wüstenvölker  keinen  Monotheismus  hervorgebracht? 
Viele  Völker  haben  in  Palästina  gelebt,  und  doch  hat 
keines  dieser  Völker  einen  Jesaja  oder  einen  Psal- 
mendichter hervorgebracht.  Der  Genius  eines  Volkes  oder 
einer  Rasse  läßt  sich  nicht  immer  auf  bio-soziologische  Ursachen  zu- 
rückführen. Der  ganze  historische  Naturalismus  von  Aristoteles  bis 
auf  Gumplowicz  gar  nicht  vermocht,  dieses  Problem  zu  lösen,  Die 
geographische  Umgebung  beeinflußt  sicherlich  den  nationalen  und  den 
Rassengenius:  das  gleiche  gilt  von  vielen  anderen  bio-soziologischen 
Faktoren.  Auch  der  Zufall  mag  darin  eine  große  Rolle  spielen.  Richard 
Mayr  kann  es  jedenfalls  beweisen1).  Aber  diese  Bedingungen  schaffen 
noch  nicht  den  kollektiven  Genius  in  seiner  individuellen  Brechung. 
Was  wir  offenkundig  sehen,  ist  nur,  daß  der  durch  selektive  Kräfte 
ins  Dasein  gerufene  allgemeine  Wille  mehr  Schöpferkraft  hat  und  zu 
Größerem  bestimmt  ist  als  diejenigen  ethnischen  Einheiten,  die  auf 
dem  Wege  der  allgemeinen  Logik  des  Geschehens  entstanden  sind. 
Das  kann  man  aus  dem  Schicksal  der  drei  großen  Völker  des  Altertums, 
die  die  europäische  Kultur  geschaffen  haben,  ersehen:  Römer,  Juden 
und  Griechen.  Die  selektive  Kraft  wird  zum  Kulminationspunkt,  in 
dem  die  kollektiven  Energien  zusammenfließen,  und  sie  verhält  sich 
zum  Kollektivum,  wie  etwa  die  Summe  zu  ihren  Teilen.  Die  Summe 
ist  aber  mehr  als  ihre  Teile.  Die  Macht  des  Kollektivgenius  in  der 
Gestalt  der  schicksalschmiedenden  Persönlichkeit  übersteigt  an  Inhalt 
und  Form  die  Kraft  aller  Einzelnen.  Diese  selektive  Kraft,  einmal  ins 
Dasein  getreten,  ist  eine  vornehmlich  ideale  Potenz,  weil  sie  die  Trägerin 
des  Gattungs-  und  Zukunftsbewußtseins  ist,  und  in  doppelter  Weise 
auf  die  Gruppe  einwirkt;  sie  drückt  der  Gruppe  den  Stempel  ihres 
Genius  auf  und  wird  der  Gruppe  zum  Urquell  der  Kraft.    Die  selek- 


*)  Richard  Mayr,  Der  Zufall  in  der  Geschichte. 


28 


tive  Kraft  eines  Volkes  wird  zur  letzten  Tradition  des  Volkes.  Sie 
regt  das  Volk  zur  Nachahmung  an  und  wirkt  sonach  erzieherisch. 
„So  hätte  Bismarck  jetzt  gehandelt",  hört  man  in  Deutschland  oft 
selbst  Sozialdemokraten  ausrufen.  „So  hätte  es  Cavour  gemacht", 
seufzen  oft  italienische  Politiker.  „So  hat  Hillel  getan",  rufen  die 
Juden   periodisch   aus. 

Eine  nationale  Gemeinschaft  entsteht  nicht  an  einem  Tage,  sondern 
sie  entwickelt  sich  langsam;  aber  wenn  die  noch  lockere  Gruppe  un- 
schöpferisch ist  und  keine  selektiven  Kräfte  hervorbringen  kann,  ziehen 
lange  Jahrhunderte  hinab,  bis  die  allgemeine  Geschichtslogik  sie  zu 
einer  organischen  Einheit  zusammenschmilzt.  Ein  Dante  hat  die  ita- 
lienische Sprache  geschaffen  und  dadurch  unzählige  Stämme  zu  einer 
nationalen  Einheit  verschmolzen.  Das  Gleiche  hat  Luthers  Bibelüber- 
setzung bewirkt.  Hindostanisch  hingegen,  eine  Sprache,  die  Soldaten 
und  Volk  geschaffen  haben,  hat  nicht  das  bewirkt,  was  Dante  und 
Luther  bewirkt  haben.  80  Prozent  aller  Inder  bedienen  sich  dieses 
Hindostanischen,  ohne  daß  die  Sprache  imstande  ist,  ein  national- 
schöpferischer Faktor  zu  werden. 

Der  allgemeine  Wille  eines  Volkes  läßt  sich  nicht 
durch  eine  Volksabstimmung  erkennen.  Es  genügt  nur, 
an  die  Laufbahn  Bismarcks  und  Napoleons  III.  zu  erinnern.  Ersterer 
setzte  sich  entgegen  dem  Willen  aller  durch,  d.  h.  er  schuf  das  Deutsche 
Reich  und  modelte  die  deutsche  Politik  entgegen  dem  ursprünglichen 
Willen  seiner  Landsleute,  und  letzterer  —  obwohl  mit  überwiegender 
Mehrheit  zum  Kaiser  der  Franzosen  gewählt  und  proklamiert  —  führte 
sich  selbst  und  sein  Volk  dem  Ruin  und  der  Schmach  entgegen.  Speziell 
die  jüdische  Geschichte  ist  an  solchen  Erscheinungen  reich.  Moses 
hat  die  Juden  aus  der  Knechtschaft  befreit  —  nicht  nur  entgegen  dem 
Willen  der  Ägypter,  sondern  auch  entgegen  dem  Willen  seines  eigenen 
Volkes.  Theodor  Herzl  hat  die  Juden  renationalisiert,  entgegen  dem 
Willen  der  Mehrheit  des  Volkes.  Das  Leben  fast  aller  großen  jüdischen 
Propheten  war  ein  einziger  ununterbrochener  Kampf  gegen  den  Willen 
aller,  d.  h.  gegen  alle  Mitglieder  des  jüdischen  Volkes.  Die  Propheten, 
wie  alle  Träger  des  allgemeinen  Willens  einer  ethnischen  Gruppe,  w  aren 
weder  das  Bewußtsein  ihrer  Zeit,  noch  der  Ausdruck 
ihrer  Zeit.  Das  gleiche  gilt  vom  Staat  oder  von  irgendeiner  anderen 
menschlichen  Gemeinschaft  —  etwa  der  Partei.  Es  gibt  eine  „Staatsseele", 
wie  es  eine  „Parteiseele"  gibt,  die  die  Zukunft  vorempfindet.  Wenn 
z.  B.  die  Historiker  berichten:  „Rom  war  aufgeregt  und  wutentbrannt", 
„Athen  jubelte"  usw.,  oder  wenn  Halevy  singt:  „Zion,  du  fragst  nach 

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dem  Wohlbefinden  deiner  Kinder",  so  ist  dadurch  instinktiv  die  see- 
lische resp.  die  psychologische  Einheit  der  Nation  oder  des  Staates 
ausgedrückt  und  hervorgehoben.  Durch  solche  Redewendungen  der 
Historiker  wird  das  Seelische  und  die  seelische  Einheit  ausgedrückt 
und  hervorgehoben. 

Daß  die  organische  Volkseinheit  resp.  der  allgemeine  Wille  mehr 
ist  als  der  Wille  der  einzelnen  sozialen  oder  nationalen  Atome,  ist 
nicht  schwer  zu  erkennen.  Wie  dieser  allgemeine  Wille  entsteht,  läßt 
sich,  wie  gesagt,  nur  mutmaßen.  Wir  sehen  nur,  daß  die  lange  Koexi- 
stenz gleicher  Individuen  auf  einem  bestimmten  Raum  und  zu  einer 
bestimmten  Zeit,  die  durch  gemeinsame  Abstammung  oder  durch 
gemeinsame  Schicksale  und  Interessen  zusammengehalten  werden,  und 
die  Wechselwirkung,  die  diese  Koexistenz  zur  Folge  hat,  Erscheinungen 
zutage  bringt  und  schöpferische  Energien  ausstrahlt,  die  nicht  aus- 
schließlich auf  die  Eigenschaften  und  Kräfte  der  individuellen  Psychen 
zurückgeführt  werden  können.  Die  aus  der  Koexistenz  hervorstrahlen- 
den Energien  sind  etwas  Neues,  Ursprüngliches,  Schöpferisches  — 
sind  mehr  als  aktualisierte  Potenzialität  der  Individuen,  und  sie  ver- 
halten sich  zu  den  an  der  Koexistenz  teilnehmenden  Individuen  wie 
die  Töne,  die  ein  großer  Künstler  der  Geige  entlockt,  zu  einer  gewöhn- 
lichen Geige  selbst.  Was  im  Verlaufe  der  Zeit  aus  dieser  Koexistenz 
entsteht  —  und  es  ist  selbstverständlich,  daß  aus  der 
Koexistenz  sich  etwas  Stabiles  und  Permanentes  bil- 
det i —  das  ist  die  seelische  Einheit  der  Gruppe,  Na- 
tion, Rasse  des  Volkes.  Wie  es  einen  genius  loci  gibt,  so  gibt 
es  auch  sicherlich  einen  genius  populi,  denn  was  den  genius  loci 
schafft  —  die  lange  Koexistenz  — ,  das  schafft  auch  den  genius  populi. 

Wie  jedes  Individuum  mit  verschiedenen  Fähigkeiten  ausgestattet 
ist,  die  einander  bekämpfen  und  durch  den  Kampf  im  Gleichgewicht 
gehalten  werden,  so  eine  Volksgruppe.  Neben  der  Summation  der 
Kräfte  der  Einzelindividuen,  die  an  einer  Koexistenz  teilnehmen,  kommt 
noch  das  in  Betracht,  was  aus  der  Koexistenz  an  neuen  Energien  her- 
vorstrahlt. Diese  Energien  nehmen  oft  Formen  an,  die  den  Energien 
der  Einzelindividuen  gar  nicht  adäquat  sind.  Sie  treten  vielmehr  ein- 
seitig auf.  Die  Einzelindividuen  z.  B.  haben  ein  mehr  oder  weniger 
gleich  großes  oder  gleich  kleines  religiöses  oder  ästhetisches  Bedürfnis, 
einen  gleich  großen  oder  gleich  kleinen  Rechtssinn  und  moralischen 
Sinn.  Würde  der  allgemeine  Wille  in  derGestalt  der  gToßen  Persönlich- 
keit oder  der  aus  der  Atmosphäre  der  Koexistenz  entstandenen  großen 
Idee  nur  den  Willen  aller  umfassen  und   zum  Ausdruck  bringen,  dann 

30 


müßte  notwendigerweise  jede  große  nationale  Kultur  aus  gleichen  Teilen 
bestehen,  ebensoviel  Logik  wie  Ethik  und  Ästhetik  wie  Ethik  und  Logik 
aufweisen.  Aber  wir  sehen,  daß  jede  große  Kultur  nach  einer  be- 
stimmten Richtung  hin  gravitiert:  das  Griechentum  nach  der  künst- 
lerisch-philosophischen, das  Judentum  nach  der  religiös-ethischen,  und 
das  Römertum  nach  der  politisch-rechtlichen  Seite.  Aus  diesem  Grunde 
ist  der  allgemeine  Wille  nicht  an  allen  seinen  Hervorbringungen  in 
gleicher  Weise  zu  erkennen,  sondern  an  einer  seiner  Hauptschöpfungen: 
nicht  an  dem  Allgemeinen,  sondern  an  dem  Besonderen.  Nicht  alle 
Kräfte,  die  im  allgemeinen  Willen  schlummern,  gelangen  zur  Offen- 
barung. Deshalb  ist  die  Behauptung  Gustave  Le  Bons,  der  Geist 
eines  Volkes  finde  seinen  Ausdruck  in  den  von  ihm  geschaffenen  poli- 
tischen Institutionen,  grundfalsch.  Auch  Taine,  Ihering  und  Max 
Müller,  die  in  der  Literatur  resp.  im  Recht  oder,  wie  der  letztere,  in 
der  Religion  den  Genius  des  Volkes  manifestiert  sehen  wollen,  sind  auch 
im  Unrecht.  Wollten  wir  z.  B.  die  Römer  nach  ihren  literarischen  und 
religiösen  Leistungen,  die  Griechen  nach  ihren  politischen,  und  die 
Juden  nach  ihren  künstlerischen  Leistungen  und  Schöpfungen  ein- 
schätzen, so  würden  wir  sicherlich  zu  einer  ganz  falschen  Beurteilung 
dieser  Völker  gelangen.  Den  Juden  z.  B.  fehlt  eine  Mythologie,  weil 
die  Anschauung  von  einem  gesetzmäßigen  Walten  Gottes  den  Mythos, 
der  mit  dem  Schicksal  verschwägert  ist,  unmöglich  macht.  Daher  muß 
auch  die  Wundtsche  Konzentration  der  Völkerpsychologie  auf  Mythos, 
Sitte  und  Sprache  zurückgewiesen  werden  —  zumal  da  Sitte  und  Sitt- 
lichkeit zwei  verschiedene  Dinge  sind  und  sie  weniger  Gemeinsames 
haben,  als  Wundt  annimmt.  Unser  empirisches  Wissen  belehrt  uns 
vielmehr,  daß  der  nationale  Genius  sich  zumeist  nur  in  einem  großen 
Werk  offenbart.  Die  anderen  aktualisierten  Potenzen  erreichen  selten 
die  Höhe  dieses  großen  Werkes.  Der  Genius  Roms  z.  B.  offenbarte 
sich  in  der  Politik,  nebenbei  aber  hat  er  noch  das  formale  Recht  ge- 
schaffen. Die  in  der  Rechtsgeschichte  Bewanderten  wissen,  wie  sehr 
das  römische  Recht  eine  Folge  der  römischen  Politik  war.  Um  nur 
an  ein  Faktum  zu  erinnern:  Das  römische  Bürgerrecht  dehnte  sich  nach 
und  nach  auch  auf  die  Bundesgenossen  aus,  und  so  erweiterte  sich  das 
jus  civile  zum  jus  gentium.  Daraus  ist  zu  ersehen,  in  welchem  Maße 
die  römische  Politik  die  treibende  Kraft  des  römischen  Rechts  war. 
Schon  Heinrich  Heine  hat  bemerkt,  daß  der  Römer  zugleich  Soldat 
und  Advokat  war.  Was  er  mit  dem  Schwerte  eroberte,  suchte  er 
durch  drakonische  Gesetze  zu  schützen.  Die  Expansionspolitik  Roms 
machte  alle  Augenblicke  Kriege  notwendig.  Im  Kriege  bildete  sich  der 

31 


Kriegsgeist,  allein  die  treibende  Kraft  war  immer  die  Politik.  Aber 
da  die  Politik  immer  den  Begriff  der  Masse  involviert,  so  folgt  daraus, 
daß  man  bei  einer  psychologischen  Vertiefung  in  den  römischen  Geist 
nicht  sowohl  das  große  Individuum,  als  die  Masse  des  Volkes  selbst 
oder  den  Durchschnittstypus  als  die  Verkörperung  der  psychologischen 
Eigenart  betrachten  muß.  Der  griechische  Genius  wiederum  manifestiert 
sich  in  seinen  grandiosen  plastischen  Schöpfungen.  Selbst  der  philoso- 
phische Geist  der  Griechen  ist  nur  ein  anderer  Ausdruck  desselben 
plastischen  Strebens  und  ist  im  plastischen  Stil  verankert.  Ordnung 
und  Harmonie  im  Weltall  zu  finden,  das  Chaos  im  Geist  zu  überwin- 
den, und  die  Dinge  im  geordneten  Nebeneinander  oder  Nacheinander 
zu  erkennen,  sind  die  Grundmotive  der  griechischen  Philosophie.  Der 
plastische  Genius  offenbart  sich  in  allen  griechischen  Schöpfungen,  in 
Kunst,  Philosophie  und  Dichtung.  Die  alte  indische  Philosophie  jst 
nicht  weniger  tief-  und  scharfsinnig  als  die  griechische,  aber  sie  ist 
chaotisch,  ordnungslos,  unharmonisch,  unplastisch.  Weil  die  griechische 
Philosophie  mit  dem  plastischen!  Genius  verschwägert  war,  hat  sie 
diesen  gewaltigen  und  bestimmenden  Einfluß  auf  den  europäischen 
Gedanken  in  all  seinen  Ausstrahlungen  gewonnen,  und  aus  dem  ent- 
gegengesetzten Grund  hat  die  indische  Philosophie  diesen  Triumphzug 
nicht  antreten  können.  Wie  die  Politik  den  Begriff  des  Volkes  resp. 
der  Masse  involviert,  so  die  griechische  Kunst  (die  Kultur)  den  Be- 
griff der  Individualität,  weil  eben  alle  Kunst  individuell  ist.  Große 
Zivilisations werke  können  sich  auch  ohne  das  Eingreifen  der  großen 
schöpferischen  Persönlichkeit  entwickeln,  nicht  aber  große  Kulturwerke. 
Deshalb  muß  die  Völkerpsychologie  zum  großen  Teil  an  der  Persön- 
lichkeit orientiert  sein.  Das  gilt  insbesondere  von  den  Juden,  deren 
Geist  sich  speziell  in,  der  Hervorbringung  großer  religiöser  Schöpfungen 
kundgetan  hat.  Es  wird  noch  weiter  davon  die  Rede  sein,  inwiefern 
die  antike  jüdische  Kultur  rein  religiös  motiviert  war;  sicherlich  hat 
sie  sich  später  zu  einer  wesentlichen  Religionskultur  entwickelt  Ist 
schon  Religion  an  sich  etwas  Persönliches,  Individuelles,  weil  das 
Verhältnis  des  Einzelindividuums  zu  seinem  Gotte,  trotz  aller  vor- 
geschriebenen Formen  und  Regeln  des  Verhältnisses,  ein  rein  persön- 
liches ist,  um  wieviel  mehr  ist  es  die  jüdische  Religion,  die  einer  ur- 
alten Tradition  zufolge  einen  persönlichen  Stifter  hatte,  den  man  sich 
nicht  hinwegdenken  kann,  will  man  die  Entwicklungsgeschichte  des 
Judentums  verstehen.  Wenn  gesagt  worden  ist,  daß  jede  Kultur  ent- 
weder eine  demokratisch-völkische  oder  eine  aristokratisch-individua- 
listische ist,  so  gehört  die  jüdische  Kultur,  anlgesichts  des  Raumes,  den 

32 


die  Persönlichkeit  in  ihr  einnimmt,  zweifellos  zu  der  letzteren.  Der 
Schwerpunkt  der  Betrachtung  muß  sich  also  hier  auf  die  Werke  der 
großen  Persönlichkeit  konzentrieren.  Es  wäre  natürlich  verfehlt,  den 
jüdischen  Geist  nur  und  ausschließlich  durch  das  Prisma  der  Indi- 
vidualität zu  betrachten.  Die  Betrachtung  wird  vielmehr  auch  alle 
anderen  Manifestationen  des  jüdischen  Geistes  zu  berücksichtigen 
haben.  Im  wesentlichen  wird  sich  die  Untersuchung  auf  vier  Punkte 
erstrecken:  auf  Religion,  Politik,  auf  Sprache  und  Schrifttum  und  auf 
die  selektiven  Kräfte.  Das  wichtigste  Kapitel  scheint  mir  hier  die 
Religion;  denn  sie  ist  die  erste  Triebkraft  in  der  jüdischen  Kultur. 
Überhaupt  hat  sich  jedes  große  Volk  an  der  Religion  emporgerankt, 
und  vielfach  hat  die  Religion  große  politische  Institutionen  ins  Leben 
gerufen  und  die  ganze  Zukunft  eines  Volkes  oder  einer  Völkergruppe 
bestimmt  und  ihr  Schicksal  geschmiedet. 

Man  denke  nur  an  den  Amphiktyonenbund  der  Griechen  und  an 
die  politische  Suprematie  Jerusalems  durch  die  Religion.  Vielen  Völ- 
kern hat  sie  ganze  Rechtssysteme  gegeben,  so  den  Juden,  Brahminen 
und  den  Arabern.  Daß  viele  große  Kunstwerke,  Kunst-  und  Literatur- 
gattungen in  der  Religion  ihren  Ursprung  haben,  war  schon  den  Alten 
bekannt.  Schließlich  war  doch  die  Religion  die  erste  Erzieherin  des 
Menschengeschlechts  —  und  eines  jeden  Volkes.  Hier  hat  sie  den 
ethischen,  dort  den  ästhetischen  Geist  geweckt  und  gebildet.  Die  Re- 
ligion, ob  von  einem  allgemeinen  Willen  geschaffen,  ob  einem  Volke 
gewaltsam  aufgebürdet,  drückt  dem  Volk  ihren  Stempel  auf,  und  ein 
Volk,  das  seine  Religion  wechselt,  bemerkt  Le  Bon  mit  Recht,  erhält 
eine  ganz  andere  Gestalt.  In  der  Religion  eines  Volkes  ruht  oft  sein 
Schicksal  und  seine  Zukunft.  Das  ist  im  besonderen  von  den  zwei 
großen  semitischen  Religionen  wahr.  In  unserem  Falle  aber,  wo  sie 
den  größten  Raum  einnimmt,  wo  sie  sowohl  das  Einzelindividuum  als 
das  Kollektivum  mit  eiserner  Gewalt  umklammert,  muß  ihr  doppelte 
Aufmerksamkeit  geschenkt  werden;  ist  sie  doch  das  Elementar-Große, 
das  der  jüdische  Geist  durch  das  Medium  selektiver  Kräfte  geschaffen 
hat.  Es  fällt  hier  noch  besonders  ins  Gewicht,  daß  die  jüdische  Reli- 
gion, im  Gegensatz  zu  allen  Religionen  der  Antike,  das  Verhältnis 
auch  des  Menschen  zu  seinem  Nächsten  in  ihren  Umkreis  gezogen 
hat,  was  eine  Herausbildung  eines  Systems  der  Ethik  zur  Folge  harte. 
Die  Ethik  im  Judentum,  so  selbständig  sie  auch  vielen  erscheinen  mag, 
ist  nur  in  engster  Verbindung  mit  der  Religion  zu  verstehen. 

Aber  wie  jede  große  Kultur  entweder  in  der  Religion  ihren  Ur- 
sprung hat  oder  von  ihr  nachhaltig  beeinflußt  wird,  so  ist  Jedes  große 

3    Melamed 

33 


Kulturwerk  eine  Schöpfung  der  großen  Persönlichkeit,  die  die  Zen- 
trale aller  geistigen  Energien  des  Volkes  ist.  In  die  Persönlichkeit 
münden  Religion  und  Kultur,  und  nicht  umsonst  werden  alle  großen 
Religionen  einzelnen  großen  Persönlichkeiten  zugeschrieben  und  als 
ihr  Werk  bezeichnet.  Wir  wissen  aus  der  Erfahrung,  daß  eine  Reli- 
gion, einen  um  so  persönlicheren  Einschlag  sie  hat,  desto  kräftiger 
und  schöpferischer  ist.  Die  Persönlichkeit  gibt  nicht  nur  der  Religion 
Gestalt  und  Form,  sondern  ist  der  Quell  des  ganzen  nationalen  Lebens. 
Sitte  ist  ein  Werk  des  Volkes,  Sittlichkeit  ein  Werk  der  Vernunft  und 
ergo  der  Individualität.  Man  darf  die  Impulse  der  Masse  und  die  na- 
türliche Bewegung  der  Gruppe  für  die  Entstehung  historischer  Gebilde 
noch  so  hoch  einschätzen,  —  die  Masse  hat  noch  niemals  ein  System 
der  Philosophie  geschaffen,  ein  System  von  Gesetzen,  ein  Kunstwerk 
oder  eine  große  Religion.  Alles,  was  innere  Logik,  eigenen  Schnitt  und 
Stil  hat,  ist  ein  Erzeugnis  der  Individualität.  Sie  baut  und  sie  zerstört, 
sie  schmiedet  und  sie  löst,  wenn  ihr  auch  Material  und  Waffen  geliefert 
werden.  Man  kann  sich  oft  ein  ganzes  Volk  hinwegdenken,  nicht  aber 
eine  bestimmte  Persönlichkeit,  die  dieses  Volk  ins  Dasein  gerufen,  und 
der  das  ganze  Volk  nachträglich  seine  „Existenzberechtigung"  ver- 
dankt. Aus  diesem  Grunde  muß  die  Völkerpsychologie  einen  Teil  der 
Individualpsychologie  zum  Gegenstand  ihrer  Untersuchung  machen. 
Freilich  darf  diese  der  Völkerpsychologie  einverleibte  Individualpsycho- 
logie nicht  für  sich  behandelt  werden,  sondern  immer  im  Hinblick  auf 
das  Ganze  des  Volkes. 

Neben  Religion  und  selektiven  Kräften  werfen  Sprache  und  Schrift- 
tum eines  Volkes  ein  Licht  auf  seine  seelischen  Kräfte  und  ihre  Bewegun- 
gen. Die  Bedeutung  der  Sprache  für  die  Ergründung  der  Volksseele  war 
schon  den  Alten  bekannt.  In  jüngster  Zeit  ist  die  Sprache  als  Gegenstand 
völkerpsychologischer  Untersuchung  noch  mehr  hervorgehoben  worden. 
Seit  Herder  und  später  Taine  haben  wir  auch  die  Bedeutung  des  Schrift- 
tums für  die  Völkerpsychologie  kennen  und  schätzen  gelernt.  Auch  die 
Institutionen  eines  Volkes  werfen  ein  starkes  Licht  auf  seine  seelischen 
Bewegungen,  aber  sie  sind  in  unserem  Falle  zu  sehr  bekannt,  insbe- 
sondere durch  das  Werk  Salvadors,  um  speziell  behandelt  werden  zu 
müssen. 

Das  sind  im  kurzen  die  Grundlagen,  auf  welche  sich  eine  Psycho- 
logie des  jüdischen  Geistes,  wie  jede  Völkerpsychologie  überhaupt, 
aufbauen  muß. 

Zum  Schluß  noch  einige  Bemerkungen  über  die  Wissenschaftlich- 
keit der  Völkerpsychologie  überhaupt.    Für  die  Völkerpsychologie  kann 

34 


es  sich  keineswegs  darum  handeln,  eine  Seelenmechanik  des  Kollek- 
tivums  resp.  einer  ethnischen  Gruppe  zu  liefern,  denn  wo  sich,  wie 
bei  der  Formation  eines  nationalen  Geistes  und  seiner  Entwicklung 
soviel  seelische  mit  bio-soziologischen  Motiven  vermischen  und  wo 
der  völkerpsychologische  Prozeß  so  sehr  mit  dem  ganzen  Ablauf  des 
geschichtlichen  Geschehens  verbunden  ist,  kann  von  Gesetzen  im 
Sinne  von  Naturgesetzen  nicht  wohl  die  Rede  sein.  Die  Völkerpsycho- 
logie ist,  wie  schon  hervorgehoben,  weil  an  der  Geschichte  orientiert, 
mehr  eine  Geisteswissenschaft.  Wo  man  es  aber  unternimmt,  geistes- 
wissenschaftliche Gesetze  aufzustellen,  sei  es  in  der  Sprach-  oder  in  der 
Religionswissenschaft,  kommen  immer  nur  mehr  oder  weniger  philo- 
sophische Prinzipien  heraus.  Nur  wo  sich  der  nationale  Geist  sehr 
scharf  abhebt,  wie  z.  B.  bei  den  Griechen  und  Juden  im  Altertum  oder 
bei  Deutschen,  Franzosen  und  Engländern  in  der  Neuzeit,  wird  dieses 
gewonnene  philosophische  Prinzip  sich  mehr  zu  einer  Regel  verdichten, 
die  in  der  Wirklichkeit  eine  feste  Basis  hat  und  nicht  vom  philoso- 
phierenden Geist  vorgeschrieben  ist.  Schließlich  hat  uns  auch  die  In- 
dividualpsychologie  noch  keine  fest  abgeschlossene  Seelenmechanik  ge- 
liefert, und  es  ist  auch  nicht  anzunehmen,  daß  uns  das  Leben  der 
menschlichen  Seele  in  seinem  gesetzmäßigen  Ablauf  so  erschlossen 
werden  wird,  wie  das  Leben  der  Pflanzen.  Die  Wissenschaft  hat  aber 
trotzdem  nie  darauf  verzichtet,  den  Ablauf  des  seelischen  Prozesses 
zu  erforschen.  Wenn  es  auch  wahr  ist,  daß  der  Individualpsychologie 
mehr  induktives  Material  in  übersichtlicher  Form  zugrunde  liegt  als 
der  Völkerpsychologie  und  sie  mit  weniger  Xen  zu  rechnen  hat,  so 
müssen  deswegen  die  Ergebnisse  der  Völkerpsychologie  keine  geringe- 
ren sein ;  denn  wer  die  „Volksseele"  resp.  die  organische  Einheit  eines 
ethnischen  Kollektivums  zugibt,  der  muß  auch  das  Vorhandensein  von 
volksseelischen  Potenzen  zugeben,  die  untersucht  werden  können. 
Wenn  die  Natur  und  die  Bewegungen  des  Denkens,  der  Phantasie,  des 
Willens  und  des  Gemütes  des  Einzelindividuums  im  Gesetz  festgehalten 
werden  können,  so  muß  dasselbe  vom  ethnischen  Kollektivum  möglich 
sein.  Die  Sprache  der  Nation  beleuchtet  die  Gesetzmäßigkeit  ihres 
Denkens,  die  'Religion  ihre  Phantasie  und  ihr  Gemüt,  die  Politik  und  die 
Institutionen  beleuchten  die  Motive  ihres  Willens  usw.  Die  Unter- 
suchungen werden,  wie  gesagt,  keine  naturwissenschaftlichen  Gesetze 
zutage  fördern,  aber  Erkenntnisse  und  Regeln  zeitigen,  die  jede  Ge- 
schichtsschreibung zu  Rate  ziehen  soll. 


35 


Drittes    Kapitel. 


Die  Stellung  der  Juden  in  der  Weltgeschichte. 

Ideen  wandern.  —  Die  philosophischen  Grundlagen  des  XIX.  Jahrhunderts.  — 
Die  Ideenwanderung  von  Ost  nach  West.  —  Brahminischer  und  christlicher 
Pessimismus.  —  Emanation  der  Ost-Arier,  Evolution  der  West-Arier.  —  Das  Juden- 
tum vermittelt  zwischen  zwei  Kultursystemen.  —  Begegnung  im  XIX.  Jahrhundert.  — 
Das  geographische  Prinzip.  —  Inder  und  Griechen.  —  Palästina  als  geographische 
Mitte.  —  Alexandrien  als  Vermittlungspunkt.  —  Das  Judentum  kettet  Ost  und 
West  zusammen.  —  Die  Wanderung  der  Juden.  —  Das  erste  Ghetto.  —  Semitische 
Zivilisation.  —  Mittelalterlich-römische  Zivilisation.  —  Die  Juden  und  die 
atlantische  Zivilisation.  —  Der  Weltkrieg  vernichtet  die  atlantische  Zivilisation.  — 
Das  Ziel  der  nächsten  Judenwanderung.  —  Das  Zentrum  der  nächsten  Zivilisation. 

Die  Lehre  von  der  Seelenwanderung  ist  eine  mystische  Konzeption, 
die  Lehre  von  der  Ideenwanderung  beruht  auf  Tatsachen,  von 
welchen  jeder  gebildete  Mensch  sich  leicht  überzeugen  kann.  Die 
Grundlagen  unserer  heutigen  Kultur  sind  kein  Werk  des  modernen, 
sondern  das  des  antiken  Menschen.  Es  gibt  kein  einziges  System  der 
neueren  Philosophie,  das  den  Alten  unbekannt  wäre.  Kant  geht  auf 
Plato,  Hegel  auf  Heraklit,  Schopenhauer  auf  die  Upanishaden  und  die 
indischen  Veden,  Nietzsche  auf  den  antiken  Parsismus  und  Stirner  auf 
Protagoras  zurück.  Dem  modernen  Macht-  und  Ordnungsstaat,  genannt 
Rechtsstaat,  hat  das  alte  Rom  Modell  gestanden.  Die  großen  Religionen 
hat  der  antike  asiatische  Mensch  geschaffen,  und  alle  großen  welt- 
geschichtlichen Prinzipien  hatte  er  schon  seinem  Genius  abgerungen. 
Die  viel  umstrittene  Rassentheorie  hat  schon  der  Stagirite  zum  Aus- 
gangspunkt seiner  Politik  gemacht,  das  Klassen-  und  Standesbewußtsein 
hatte  schon  Plato  zum  höchsten  Staats-  und  Gesellschaftsprinzip  erhoben, 
und  -die  von  den  jüdischen  Propheten  gelehrte  Humanität  wird  seit 
Jahrhunderten  wiederholt  und  erneuert.  Die  Ideen  wandern.  Was  aber 
bis  jetzt  weniger  bemerkt  wurde,  ist,  daß  zu  einer  bestimmten  Zeit 
und  an  einem  bestimmten  Ort  eine  große  weltgeschichtliche  Idee  nach 
jahrtausendelanger  Wanderung  mit  augenscheinlich  verblüffender  Plötz- 

36 


lichkeit  wieder  vor  das  geistige  Auge  des  Genius  tritt,  sich  seiner  be- 
mächtigt und  so  zur  Erneuerung-  gelangt.  Die  Ideen  wandern,  treffen 
sich  in  einer  bestimmten  Mitte  und  verbinden  sich  zu  einer  Einheit 
—  auf  Grund  des  Gesetzes  der  Affinität. 

Ehe  ich  daran  gehe,  die  Wahrheit  dieses  Satzes  darzutun,  muß  ich 
noch  kurz  auf  die  Grundlagen  des  neunzehnten  Jahrhunderts  zurück- 
greifen. Im  Laufe  des  neunzehnten  Jahrhunderts  sind  vier  mächtige 
Kulturideen,  die  der  antike  Geist  geschaffen,  und  die  sich  gegenseitig1 
ausschließen,  an  einem  Ort  zur  Erneuerung  gelangt.  Diese  sind:  Die 
Lehre  Kants,  die  in  der  platonischen  Gedankenwelt  verankert  ist,  die 
Lehre  Schopenhauers,  die  in  der  indischen  Antike  ihre  Wurzel  hat, 
die  Lehre  Nietzsches,  die  auf  den  antiken  Parsismus  zurückgeht,  und 
die  Lehre  Herrmann  Cohens,  die  aus  dem  Born  der  altisraelitischen 
Prophetie  schöpft.  Wenn  ich  nicht  irre,  war  es  Theobald  Ziegler,  der 
in  seinem  Werke  über  die  Kultur  des  neunzehnten  Jahrhunderts  darauf 
hinwies,  daß  die  moderne  Sozialpolitik,  die  in  der  zweiten  Hälfte  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  angesetzt  hat,  in  der  prophetisch-biblischen 
Gedankenwelt  ihren  Ursprung  hat.  Forscher  wie  Walter,  Wellhausen 
und  Damaschke  erblicken  in  dem  Bestreben,  den  modernen  Staat  und 
die  moderne  Wirtschaft  auf  sittliche  Grundlagen  zu  stellen,  eine  Er- 
neuerung des  antik-jüdischen  Geistes.  Wellhausen  bezeichnet  die  isra- 
elitischen Propheten  als  die  Sturmvögel  der  Weltgeschichte.  Auch 
Herrmann  Cohen  weist  in  seiner  „Ethik  des  reinen  Willens"  auf  die 
gegenwärtige  Renaissance  der  jüdischen  Prophetie  hin.  Neben  diesen 
Bezeugungen  von  Autoritäten  liegen  folgende  historische  Tatsachen 
vor:  Bekanntlich  waren  die  englischen  Quäker,  mit  William  Penn  und 
George  Fox  an  der  Spitze,  radikale  Biblisten.  Sie  waren  die  ersten, 
die  mit  der  ethischen  Reformierung  der  Gesellschaft  begonnen  hatten. 
Sie  waren  beim  Anbruch  der  Neuzeit  die  ersten,  die  der  Sklaverei,  der 
politischen  Knechtung,  dem  Militarismus  und  dem  Kriege  den  Krieg 
erklärten. 

Wir  stehen  somit  vor  einer  Kulturbewegung,  die  aus  verschiedenen 
Elementen  sich  zusammensetzt,  von  welchen  ein  jedes  örtlich  aus  dem 
Orient  und  zeitlich  aus  der  Antike  stammt.  Dieses  vierfache  Zusammen- 
treffen zu  einer  Zeit  (im  neunzehnten  Jahrhundert)  und  an  einem  Ort 
(Zentraleuropa)  ist  auch  schon  deswegen  von  Bedeutung,  weil  die 
ersten  Schöpfer  dieser  Ideen  auch  Bürger  einer  gleichen  Kulturperiode 
waren. 

Wir  stehen  einer  merkwürdigen  Erscheinung  gegenüber.  Nachdem 
die   parsisch-zoroastrische,   brahminisch-buddhistische  und  prophetisch- 

37 


platonische  Gedankenwelt  etwa  25  Jahrhunderte  augenscheinlich  umher- 
gewandert  war  und  Splitter  dieser  Gedankenwelten  sich  für  kürzere  oder 
längere  Zeit  in  den  Köpfen  verschiedener  Phantasten  und  Sektengründer 
festgesetzt  harten  (ich  erinnere  nur  an  die  Bogumilen,  Manichäer,  Albi- 
genser  und  Waldenser),  ohne  den  Gang  der  Geschichte  positiv  zu  be- 
stimmen, tauchen  sie  wieder  zu  einer  Zeit  und  an  einem  Ort  auf  Und 
entwickeln  sich  zu  mächtigen  Kulturfaktoren.  Während  ihrer  langen 
Wanderung  von  Ost  nach  West  haben  sie  nichts  von  ihrer  ursprüng- 
lichen Kraft  und  Gestaltungsmöglichkeit  verloren,  sondern  umgekehrt. 
So  scheint  Nietzsche  Zarathustra  besser  verslanden  zu  haben,  als  der 
große  Parsi  sich  selbst  verstanden  hat.  Das  gleiche  gilt  von  Kant  und 
Schopenhauer  mit  Bezug  auf  Piatonismus  und  Brahminismus. 

Es  heißt  zwar  „ex  Oriente  lux" ;  es  ist  aber  interessant  zu  beobach- 
ten, daß  fast  alle  großen  Gedanken,  die  vom  Orient  auf  uns  gekommen 
sind,  mit  Ausnahme  der  israelitischen  Prophetie  und  des  griechischen 
Kulturideals  der  Kalokagathie,  finstere  Gedanken  sind,  als  härte  sie 
der  Genius  in  finsterer  Mitternacht  auf  dem  Friedhof  geboren.  Nicht 
nur  der  Schopenhauersche  Pessimismus,  resp.  der  brahminisch-buddhisti- 
sche  Gedanke,  sondern  auch  die  „fröhliche  Wiederkehr"  Nietzsches 
ist  ein  finsterer  Gedanke.  Wenn  die  Geschichte  wirklich  nichts  anderes 
ist  als  ein  langer,  leidensreicher  Umweg,  um  ein  paar  große  Menschen 
hervorzubringen,  so  verdient  sie  sicherlich  nicht,  daß  sie  fortgesetzt 
werde.  Nach  christlicher  Ansicht  hat  das  irdische  Leben  des  Menschen 
gar  keinen  Sinn  und  Zweck,  und  die  Menschen  sind  so  schlecht  und 
sündbeladen,  daß  der  Sohn  Gottes  selbst  kommen  mußte,  den  Tod  zu 
erleiden,  um  die  sündbeladenen  Menschen  zu  erlösen  —  und  wie  wir 
wissen,  ist  ihm  dies  nicht  einmal  gelungen;  denn  die  Menschen  sind 
heute  ebenso  schlecht  und  sündbeladen  wie  zuvor. 

Auch  Plato,  der  Höhepunkt  des  griechischen  Geistes,  schlägt  Töne 
an,  die  die  kommende  Verdunkelung  des  menschlichen  Geistes  deut- 
lich antizipieren. 

Von  diesen  vier  weltgeschichtlichen  Ideen,  die  die  Grundlagen 
unserer  heutigen  Kultur  bilden,  sind  drei  Schöpfungen  der  arischen 
Rasse,  obgleich  sie  sich  gegenseitig  ausschließen.  Verschiedene  For- 
scher haben  schon  öfters  die  inneren  Widersprüche  im  Umkreise  der 
arischen  Gedankenwelt  aufzulösen  gesucht,  aber  mit  wenig  Erfolg. 
Wenn  es  —  mit  Renan  —  wirklich  wahr  wäre,  daß  alle  in  der  Geschichte 
herrschenden  Kulturen  lediglich  Schöpfungen  des  Rasseninstinktes  sind, 
wie  würde  sich  die  Gegnerschaft  zwischen  Athen  und  Delhi,  zwischen 
griechischem   und  indischem  Wesen,  zwischen   Kalokagathie  und  Nir- 

38 


wana  erklären?    Diese  Frage  bezieht  sich  sowohl  auf  den  Gegensatz 
des  abstrakten  Gedankens,  als  auf  den  der  praktischen  Zivilisation. 

Betrachten  wir  nur  kurz  den  wesentlichen  Unterschied  zwischen 
dem  indischen  und  dem  griechischen  Gedanken.  Die  Ost-Arier  er- 
kannten in  der  Welt  nur  das  Allgemeine,  das  Besondere  war  ihnen  eine 
trügerische  Erscheinung,  ein  vorbeihuschender  Schatten,  ohne  Ziel 
und  ohne  Sinn.  Dieses  Allgemeine  entwickelte  sich  später  zum  Nirwana, 
zum  bloßen  Nichts.  Das  wirkliche  Sein  sei  nur  Irrtum,  Schein,  Trug. 
In  dem  Maße,  in  dem  die  Ost-Arier  den  Gedanken  des  Allgemeinen  ent- 
wickelten, brachten  die  West-Arier  die  Idee  des  Besonderen,  der  Indi- 
vidualität hervor,  wie  sie  uns  in  der  griechisch-römischen  Kultur  ent- 
gegentritt. Die  Götterrepublik  in  Griechenland,  die  griechische  Polis 
und  der  griechische  Heros,  den  die  Stoiker  zum  Ideal  des  Weisen  um- 
gewandelt resp.  potenziert  haben,  sowie  die  römische  Idee  der  Per- 
sönlichkeit, die  im  römischen  Erbrecht  ihren  Niederschlag  gefunden, 
und  die  Gestalt  der  römischen  Cäsaren  sind  nur  verschiedene  Ab- 
stufungen und  Brechungen  der  gleichen  westarischen  Individualitäts- 
idee. Die  Ost-Arier  bekannten  sich  zur  Emanation,  die  West-Arier  zur 
Evolution,  die  Ost-Arier  zur  Deszendenz,  die  West-Arier  zum  auf- 
steigenden Fortschritt,  die  Ost-Arier  zum  Pessimismus,  die  West-Arier 
zum  Optimismus.  Die  Ost-Arier  betrachteten  die  Vernunft  als  ein  Organ 
des  Todes,  die  West-Arier  als  ein  Organ  des  Lebens.  Das  Ziel  des 
Lebens,  so  wurde  im  alten  Indien  verkündet  und  gelehrt,  ist,  das 
Leben  zu  überwinden.  Das  ist  nur  durch  die  Erkenntnis  möglich.  Die 
Vernunft  ist  dazu  da,  den  Schein  und  Trug  des  Lebens  zu  erkennen. 
Aber  die  Griechen  wie  die  Juden  machten  aus  der  Vernunft  ein  Organ 
des  Lebens.  Sokrates  wie  die  Propheten  hatten  der  Welt  verkündet, 
daß  der  Sinn  des  Lebens  in  der  Verwirklichung  der  Gerechtigkeit  be- 
stehe, die  nur  durch  intellektuelle  Erkenntnis  möglich  sei.  Der  Brahmi- 
nismus  ist  das  Reich  des  Gefühls,  der  Hellenismus  das  Reich  der 
Vernunft.  Auf  der  einen  Seite  Romantik,  auf  der  anderen  Intellektua- 
lismus und  Klassizismus.  Goethe  und  Schiller  vertieften  sich  in  das 
griechische,  Schlegel  und  Schopenhauer  in  das  indische  Wesen. 

Diese  zwei  sich  gegenseitig  ausschließenden  „arischen"  Gedanken- 
systeme begegneten  sich  zweimal  in  der  Geschichte  —  einmal  in  der 
jüdischen  und  einmal  in  der  germanischen  Gedankenwelt.  In  Alexan- 
drien,  wo  alle  Strömungen  der  antiken  Kulturwelt  zusammengeflossen 
waren,  vereinigten  sich  durch  das  Medium  der  jüdischen  Gedankenwelt 
der  griechische  mit  dem  indischen  Gedanken  —  und  aus  der  Synthese 
der  brahminisch-buddhistischen  und  platonisch-hebräischen  Ideen  ist  das 

39 


Christentum  hervorgegangen.  Die  platonisch-jüdischen  Elemente  im 
Christentum  sind  bekannt.  Welchen  Einfluß  der  Brahminismus  resp. 
der  Buddhismus  auf  das  Christentum  genommen,  hat  jüngst  der 
Tübinger  Indologe  Richard  Garbe  festgestellt.  So  hat  dieser  ausge- 
zeichnete Forscher  nachgewiesen,  daß  die  christlichen  Legenden  von 
St.  Eustachius  und  St.  Christophorus  aus  dem  buddhistischen  Jataka- 
Buche  stammen.  Daß  die  christlichen  Legenden  von  Barlaam  und 
Josaphat  buddhistischen  Ursprungs  sind,  war  schon  längst  bekannt. 
Garbe  erklärt:  „Dem  Buddhismus  und  dem  Christentum  sind  folgende 
kultische  Elemente  gemeinsam:  Die  Klöster  mit  dem  Mönchs-  und 
Nonnenwesen  und  dem  Unterschied  von'  Novizen  und  ordinierten 
Mönchen  und  Nonnen,  Zölibat  und  Tonsur  der  Geistlichkeit,  die  Ver- 
ehrung der  Reliquien,  der  oben  gekrümmte  Hirtenstab  in  der  buddhisti- 
schen und  in  der  katholischen  Kirche,  der  Kirchturmbau,  zu  dem  die 
turmförmigen  buddhistischen  Reliquien  und  Gedächtnismonumente  eine 
Parallele  bilden,  der  Gebrauch  des  Räucherwerks  und  der  Glocken. " 
Allerdings  beziehen  sich  diese  Parallelen  auf  die  Kirche,  aber  wäre 
das  Christentum  dem  Buddhismus  nicht  innerlich  verwandt  durch  die 
Aufnahme  großer  buddhistischer  Elemente,  so  hätten  sich  solche  ana- 
loge Formen  und  Erscheinungen  nicht  herausbilden  können.  Es  gibt 
im  Neuen  Testament  keinen  einzigen  Gedanken,  kein  einziges  Wort, 
das  nicht  jüdisch-semitischen,  westarischen  oder  ostarischen  Ursprungs 
ist.  Natürlich  stößt  man  auch  im  Neuen  Testament  auf  parsische 
Elemente,  aber  diese,  weil  aus  zweiter  Hand  übernommen,  sind  weniger 
wesentlich.  Noch  sind  nicht  alle  buddhistischen  Bestandteile  des  Neuen 
Testaments  bekannt,  aber  wenn  das  ungeheure  Material  aus  Turkestan, 
welches  wir  Forschern  wie  Grünwedel,  Huth,  Müller  und  Stein 
verdanken,  verarbeitet  sein  wird,  wird  man  erst  erkennen,  welchen 
gewaltigen  Einfluß  der  Buddhismus  auf  das  Christentum  ausgeübt  hat. 
Nicht  ohne  Grund  ist  Buddha  zum  Heiligen  der  katholischen  Kirche 
erklärt  worden.  Der  Pessimismus,  die  Gegnerschaft  zum  Intellektualis- 
mus, die  Vorherrschaft  des  Gefühls  und  des  Universalismus  —  diese 
wesentlichsten  Merkmale  der  antiken  indischen  Gedankenwelt  sind  auch 
dem  Christentum,  insbesondere  dem  katholischen  Christentum,  eigen: 
Seit  der  Rückkehr  Alexanders  des  Großen  aus  Indien  sehen  wir  den 
altindischen  Gedanken  von  Ost  nach  West  wandern,  um  später  in  das 
Zentrum  der  westarischen  Kulturwelt  einzumünden.  Sehr  früh  suchen 
buddhistische  Missionare  Stätten  der  westarischen  Kultur  auf. 

Zum   zweitenmal   treten    diese   beiden   Ideenwelten   der  Ost-   und 
West-Arier  im  neunzehnten  Jahrhundert  in  Deutschland  auf.    Hier  sei 

40 


noch  an  die  gewaltigen  biblischen  Motive  der  deutschen  Kultur  seit 
der  Reformation  erinnert.  Was  das  deutsche  neunzehnte  Jahrhundert 
betrifft,  muß  bemerkt  werden,  daß  Schopenhauer,  der  Verkünder  des 
ostarischen  Gedankens,  sich  selbst  für  einen  Christen  im  metaphysischen 
Sinne  hielt,  und  von  Kant  sagen  die  Deutschen  selbst  aus,  er  habe  die 
Reformation  abgeschlossen.  Der  Indologe  und  Romantiker  Schlegel 
hielt  zum  Katholizismus,  der  rationalistische  Protestantismus  zur  Bibel. 
Aus  biblischen  Motiven  wächst  in  Deutschland,  wie  früher  in  England, 
die  sittlich  motivierte  Gesellschafts-  und  Wirtschafts  reform  heraus,  aus 
katholisch-romantischen  Motiven  die  politische  Reaktion.  In  den  vier- 
ziger Jahren  steht  ein  großer  Jude  auf,  Jacoby,  und  sucht  die  Not- 
wendigkeit der  Staatsreform  und  der  Konstitution  biblisch  zu  begründen,, 
und  in  der  zweiten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  setzt  ein 
anderer  Jude,  Herrmann  Cohen,  sein  Werk  fort  und  versucht  eine 
Erneuerung  der  Lehre  Kants,  der  die  biblisch  motivierte  Reformation 
abgeschlossen,  auf  Grund  einer  Vereinigung  mit  dem  prophetischen 
Gedankensystem  zu  vollenden. 

Dieses  Zusammentreffen  ist  kein  Zufall,  sondern  „geschichtsgesetz- 
lich"  bedingt  und  läßt  sich  auf  ein  „chemisches"  und  „geographisches" 
Prinzip  zurückführen. 

Betrachten  wir  das  geographische  Prinzip,  um  das  erste 
Zusammentreffen,  das  zum  Schicksal  für  die  Menschheit  wurde,  zu  ver- 
stehen und  seine  Bedeutung  würdigen  zu  können.  Das  zweite  Zu- 
sammentreffen kann  hier  nicht  erörtert  werden,  weil  es  nicht  unmittel- 
bar zur  Sache  .gehört. 

Die  Völkerwanderung  ergoß  sich  bekanntlich  in  zwei  großen  Strö- 
men. Ein  Teil  der  Wanderer  drang  nach  Europa  durch  den  Kaukasus 
und  durch  die  Länder  der  Wolga  und  des  Don  vor  und  siedelte  sich 
auf  dem  Balkan  und  der  Apenninischen  Halbinsel  an.  Der  zweite  Teil 
bog  südlich  ein  und  blieb  in  der  Tiefebene  des  Ganges  und  des  Indus. 
Wahrscheinlich  durch  klimatische  Bedingungen  und  durch  die  ein- 
schläfernde Natur  jener  Länder  sind  die  Ost-Arier  nach  und  nach  um 
ihr  intellektuelles  Gleichgewicht  gekommen  und  unter  die  Herrschaft 
des  Gefühls  und  der  Phantasie  gelangt.  Aus  der  Sagengeschichte  der 
alten  Inder  ist  zu  ersehen,  wie  dieser  Prozeß  des  Herausgeworfen- 
werdens aus  dem  intellektuellen  Gleichgewicht  vor  sich  gegangen  ist. 
Die  ältesten  indischen  Sagen  bekunden  noch  Mut,  Kühnheit,  Tapfer- 
keit und  Energie.  Nach  und  nach  gehen  diese  Eigenschaften  ver- 
loren. Unter  der  glühenden  Sonne  und  dem  blauen  Himmel  entschlum- 
mern  nach   und   nach   die   intellektuellen   Energien,   und   der   Mensch 

41 


befindet  sich  bald  im  Zustande  eines  leichten,  süßen  Schlummers  und 
angenehmer  Träume.  Die  Vernunft  kommt  unter  die  Herrschaft  des 
Gefühls.  Die  Inder  sind,  um  es  kurz  zu  sagen,  von  der  sie  umgebenden 
Natur  unterjocht  worden,  und  diese  Natur  beherrscht  sie  ganz  und 
absolut.  Bis  auf  den  heutigen  Tag  sehen  wir  in  den  Ländern  des  Ganges 
Fakire  auf  der  Erde  liegen,  die  halb  schlafen  und  halb  wach  sind,  mit 
offenen  Augen  träumen,  ihre  Umgebung  träumerisch  anschauen  und 
Verse  oder  Weisheitssprüche  lispeln.  Der  alte  Inder  betrachtete  halb- 
träumend die  Natur  und  erblickte  in  ihr  nur  die  ewige  Wiederkehr. 
Vom  unendlichen,  ewigblauen  Himmel  schloß  er  auf  das  Allgemeine 
und  von  der  Bosheit  der  Naturgeschöpfe  in  seiner  Umgebung  schloß 
er  auf  die  Herrschaft  des  Zufalls  und  auf  die  Abwesenheit  einer  ver- 
nünftigen, sittlichen  Ordnung  in  der  Welt  dieser  Erscheinungen.  Der 
Einzelne,  das  mußte  er  aus  seiner  Naturbeschauung  schließen,  ist  ein 
Geschöpf  des  Zufalls,  und  was  er  im  Halbwachen  und  Halbschlummer 
mit  seinem  Auge  geschaut  und  was  ihm  auf  dem  Wege  des  Zufalls 
aufgegangen  ist,  erhob  er  zu  einer  metaphysischen  Erkenntnis.  In  dem 
Maße  nun,  in  dem  die  Ost-Arier  von  der  sie  umgebenden  Natur  unter- 
worfen worden  sind,  in  dem  Maße  haben  sich  die  West-Arier  mit  der 
Natur  vereinigt,  oder  gar  sie  zu  meistern  gesucht.  Das  bezeugt  schon 
die  Geschichte  der  griechischen  Philosophie,  die  in  ihren  Anfängen 
noch  Naturerkenntnis  ist.  Ein  normales  und  schönes  Naturmilieu,  die 
erhebende  Ruhe,  die  aus  ihm  spricht,  ermöglichte  es  dem  Griechen, 
sich  in  die  Natur  und  ihre  Gesetze  zu  vertiefen  und  ihre  Bewegung 
zu  erforschen.  Was  er  in  der  Natur  erkannte,  erhob  er  zu  metaphy- 
sischer Erkenntnis.  Die  von  der  umgebenden  Natur  bedingte  seelische 
Ruhe  und  das  intellektuelle  Gleichgewicht  haben  in  Hellas  die  Heraus- 
bildung des  analytischen  Gedankens  gefördert,  wie  diese  Momente, 
weil  umgekehrt,  das  gleiche  im  alten  Indien  verhindert  haben.  Der 
griechische  Gedanke  ist  ebenso  klar  und  harmonisch,  wie  der  alt- 
indische disharmonisch  und  konfus  ist.  In  Griechenland  entwickelten 
sich  Logik  und  Ästhetik,  in  Indien  Mystizismus  und  düstere  Phantasie. 
Diese  beiden  Extreme,  zwei  verschiedenen  Naturmilieus  entsprun- 
gen, vermittelte  der  jüdische  Gedanke.  —  Betrachten  wir  die  geogra- 
phische Lage.  Denken  wir  uns  eine  geographische  Linie,  die  das  Kap 
Vincenz  mit  dem  Kap  Komorin  verbindet.  Wenn  wir  diese  Linie  hal- 
bieren, finden  wir,  daß  sich  im  Mittelpunkt,  d.  h.  zwischen  den  beiden 
Teilen  der  Linie,  Palästina  befindet.  Wenn  wir  in  den  Kreis  vom  Mittel- 
punkt der  zwei  Linienhälften  eine  Linie  nach  dem  Norden  ziehen, 
werden    wir    finden,    daß    innerhalb    dieses    Kreises    die    westarischen 

42 


Völker  gelagert  sind.  Wir  sehen  also,  daß  die  geographische  Richtung, 
aus  der  das  Judentum  hervorgegangen  ist,  zwischen  der  Siedelung 
der  Ost-  und  West-Arier  liegt.  —  Diese  Tatsache  ist  von  Bedeutung, 
wenn  wir  das  Verhältnis  der  West-Arier  zum  jüdischen  Volk  betrach- 
ten. Wie  Palästina  geographisch  die  Mitte  hält  zwi- 
schen Ost-  und  West-Ariern,  so  vermittelt  der  jüdische  Ge- 
danke zwischen   Indien   und   Hellas. 

Die  Ost-Arier  bekannten  sich  zum  Allgemeinen,  zum  Unendlichen, 
die  West-Arier  zum  Individuellen.  Der  jüdische  Gottesbegriff  umfaßt 
diese  beiden  Extreme.  Der  jüdische  Gott  ist  der  Inbegriff  aller  Indi- 
vidualität, aber  er  ist  der  allgemeine  Gott,  der  das  Universum  ge- 
schaffen, der  Gott  der  ganzen  Menschheit.  Für  seine  Individualität 
und  Universalität  zeugt  schon  die  biblische  Kosmogonie.  Wie  er  die 
Individualität  und  die  Universalität  in  sich  vereinigt,  so  auch  das  Ge- 
fühl und  die  Vernunft.  ,,0  Gott,  o  Gott,  du  bist  erbarmungsvoll  und 
gnädig",  wurde  einmal  den  alten  Juden  vom  Wesen  Gottes  ausgesagt. 
Daß  Gott  selbst  der  Inbegriff  des  Denkens  und  der  Vernunft  ist,  lehrten 
die  Propheten.  Wie  die  biblische  Metaphysik  die  beiden  Extreme  des 
arischen  Gedankens  vermittelt,  so  vermittelt  der  jüdische  Geist  durch 
seine  innere  Organisation  zwischen  dem  griechischen  und  dem  indischen 
Gedanken.  Es  fehlt  ihm  die  kalte  analytische  Intellektualität  des  grie- 
chischen und  das  Mystisch-Phantasmagorische  des  alten  indischen 
Geistes.  Aber  auf  der  andern  Seite  wird  die  Vernunft  gepriesen  und 
die  Erkenntnis  sehr  hoch  gestellt,  während  das  Gefühl  nicht  abgetötet 
wird.  Der  Prophet  ist  kein  Individualist  und  kein  verschwommener 
Universalist,  sondern  er  ist  zu  gleicher  Zeit  ein  aufopferungsfähiger 
Patriot,  der  um  seines  Patriotismus  willen  alle  Marter  erleidet,  und 
dennoch  ein  Kosmopolit,  der  mit  seinem  Herzen  voll  Liebe  die  ganze 
Menschheit  umfaßt. 

Als  sich  nun  die  zwei  arischen  Kulturgedanken  in  Alexandrien  und 
Rom  vor  Zerstörung  der  antiken  Welt  begegneten,  trat  der  jüdische 
Gedanke  hinzu  und  wirkte  vermittelnd  zwischen  diesen  zwei  Extremen. 
Freilich  ist  es  von  jüdischer  Seite  nicht  absichtlich  geschehen,  aber 
wir  können  uns  Philos  Einfluß  auf  den  Gang  der  Dinge  nicht  hinweg- 
denken. Vielmehr  haben  verschiedene  Momente  und  Ursachen  dazu 
beigetragen,  daß  dem  Judentum  die  Vermittlerrolle  zugefallen  und 
daß  es  gleich  einem  Keil  zwischen  diese  zwei  Extreme  hineingetrieben 
worden  ist.  Wesentlich  maßgebend  für  die  Vermittlung  war  in  erster 
Reihe  die  mittlere  Linie,  auf  der  sich  das  Judentum  bewegte.  Es 
war    beiden    verwandt    und    konnte    deshalb    beide    zusammenführen. 

43 


Darauf  beruht  die  große  Stellung  des  Judentums  in 
der  Weltgeschichte.  Die  Juden,  ein  kleines  vorder- 
asiatisches Volk,  haben  dank  einer  merkwürdigen 
Verkettung  von  Tatsachen  und  Zufällen  eine  Zirku- 
lation von  Ideen  zuwege  gebracht,  die  später  den  Kitt 
für  die  Zusammen. Schließung  anderergroßen  Kulturen 
der  arischen  Rasse  abgeben  sollte.  Das  Christentum 
ist  keine  Fortsetzung  des  Judentums,  wie  christliche 
Theologen  uns  glauben  machen  wollen;  eher  ist  es  der 
Buddhismus  oder  der  Piatonismus.  Was  das  Judentum  zum 
Bau  des  Christentums  beitrug,  ist  mehr  die  Form,  die 
Architektonik  und  die  zusammenhaltende  Kraftseiner 
in  ihm  vereinigten  Elemente.  Wenn  es  also  wahr  ist, 
daß  die  Juden  die  ewigen  Vermittler  sind,  so  sind  sie 
das  nicht,  weil  sie  seit  fast  zweitausend  Jahren  unter 
fremden  Völkern  wirtschaftlich  oder  politisch  ver- 
mittelnd herumschmarotzen,  sondern  weil  sie  die 
Vereinigung  von  zwei  sich  gegenseitig  ausschließen- 
den Gedankenwelten  vermittelt  haben.  Durch  diese  Ver- 
mittlung haben  sie  trotz  ihrer  grotesken  Eigenheiten  des  Geistes 
ihren  eigenen  Geist  den  andern  aufgeprägt  und  sich  ihre  große  und 
merkwürdige  Stellung  in  der  Weltgeschichte  erworben. 

Allein  nicht  nur  die  geistige  Wechselwirkung  zwischen  Judentum 
und  Ariertum,  sondern  auch  die  Wanderungen  der  Juden  seit  ihrem 
ersten  Erscheinen  als  ethnische  Einheit,  haben  ihnen  eine  merkwürdige 
Stellung  in  der  Weltgeschichte  angewiesen.  Die  diese  Wanderungen 
begleitenden  Umstände  sind  ebenso  interessant  und  eigenartig  wie 
die  geistigen  Energien,  die  das  Judentum  ausgelöst  hat.  Es  ist  nicht 
allgemein  bekannt,  daß  die  Juden,  die  Heinrich  Heine  als  wasserscheues 
Volk  bezeichnete,  von  der  See  angezogen  werden,  wie  das  Eisen  vom 
Magnet.  Es  ist  wahr,  die  Juden  sind  nie  ein  seefahrendes  Volk  ge- 
wesen, wahrscheinlich  weil  die  Häfen  Palästinas  nie  unter  der  Kon- 
trolle der  Juden  standen.  Die  Juden  haben  nie  eine  Flotte  besessen, 
haben  nie  Flüsse  oder  Meere  beherrscht,  und  doch  konnte  jüdisches 
Leben  nur  nahe  den  Wässern  blühen.  Als  Volk  begannen  sie  ihre 
Laufbahn  an  den  Ufern  des  Niles,  und  der  erste  Jude  Abraham  kam 
aus  dem  Lande  des  Euphrat  und  Tigris.  Die  Länder  um  den  Euphrat 
und  Tigris  waren  jahrtausendelang  der  Schauplatz  großer  Kämpfe 
vieler  mächtiger  Nationen,  denn  diese  zwei  Flüsse  waren  die  Zentren 
der  prä-antiken  semitischen  Zivilisation.   Aus  dem  Reiche  jener  Euphrat- 

44 


und-Tigris-Zivilisation,  die  wahrscheinlich  mehrere  Jahrtausende  lang 
die  herrschende  Zivilisation  der  Welt  war,  hören  wir  zuerst  in  der 
jüdischen  Stimme  die  Stimme  Abrahams,  und  aus  jener  Weltgegend 
hören  wir  auch  das  erste  revolutionäre  Signal.  Für  seine  Zeit  war 
Abraham  sicherlich  ein  Revolutionär;  umgeben  von  Götzendienst,  ver- 
lautbart  Abraham  zum  ersten  Male  die  Stimme  des  Monotheismus;  um- 
geben von  grobem  Materialismus  läßt  er  zum  ersten  Male  die  Stimme 
des  Gewissens  hören.  Die  Abraham-Legende,  wie  sie  die  Bibel  er- 
zählt, ist  nicht  nur  für  den  weiteren  Ablauf  der  jüdischen  Geschichte, 
sondern  auch  für  die  ganze  Stellung  des  Judentums  in  der  Welt- 
geschichte charakteristisch.  Der  erste  Jude  erscheint  als  der  erste 
Monotheist  und  Ethizist.  Ob  Abraham  eine  historische  Figur  ist,  wie 
die  gesetzestreuen  Juden  glauben,  oder  nur  eine  legendäre  Figur,  wie 
die  Bibelkritiker  glauben,  mag  dahingestellt  sein.  Die  Figur  des  Abra- 
ham als  solche,  sein  revolutionäres  Wirken  und  die  Örtlichkeit,  jn  der 
er  sich  bewegt,  sind  charakteristisch  für  den  Anfang  der  jüdischen 
Geschichte.  In  der  Zivilisation,  die  um  den  Euphrat  und  Tigris  zen- 
triert war,  erschien  der  erste  Jude,  dem  die  erste  große  Revolution 
in  der  Geschichte  des  Geistes  zugeschrieben  wird.  Die  Euphrat-und- 
Tigris-Zivilisation  hat  sich  natürlich  nicht  verewigt.  Zivilisationen  wan- 
dern wie  Völker  und  bauen  immer  ihre  Zelte  an  den  Wassern,  ent- 
weder an  einem  Fluß  oder  an  den  Ufern  des  Meeres.  Die  ägyptische 
Zivilisation  ist  nach  dem  Verfall  der  Euphrat-und-Tigris-Zivilisation 
zur  herrschenden  geworden,  und  kaum  stand  Ägypten  auf  der  Höhe 
seiner  Macht  und  seines  Glanzes,  ein  Mittelpunkt  der  Welt  und  ein 
Mittelpunkt  großer,  menschlicher  Betätigungen,  als  die  Juden  kaum 
mehr  als  ein  kleiner  Stamm  in  Ägypten  einbrachen.  Sie  lebten  dort 
viele  Jahrhunderte  ihr  eigenes  Leben.  In  Ägypten  bildete  sich 
das  erste  große  jüdische  Ghetto.  Ob  nun  die  Juden  tatsäch- 
lich in  Goschen  lebten  oder  über  dem  ganzen  Land  in  Gruppen  zer- 
streut waren,  jedenfalls  lebten  sie  ihr  eigenes  Leben  und  vermengten 
sich  nicht  mit  ihrer  Umgebung,  trotzdem  das  sie  bewirtende  Volk 
zivilisatorisch  auf  einer  viel  höheren  Stufe  stand  als  sie.  Wie  ein  Jude 
in  Mesopotamien  eine  Revolution  organisierte  durch  die  Proklamierung 
des  Glaubens  an  einen  Gott,  so  organisierten  die  Juden  in  Ägypten 
eine  Revolution,  eine  nationale  und  eine  geistige,  und  wie  aus  den 
Maßnahmen  der  Ägypter  gegen  die  Juden  zu  schließen  ist,  hat  ihre 
Wirksamkeit  sicherlich  zur  Erschütterung  des  ganzen  ägyptischen  Le- 
bens beträchtlich  beigetragen.  Wenn  eine  Zivilisationsordnung  einmal 
in  ihren  Grundfesten  erschüttert  wird,  kann  sie  nie  mehr  ihre  frühere 

45 


Stärke  und  Macht  zurückgewinnen,  in  der  Regel  geht  sie  dann  dem 
Verfall  entgegen.  Ägypten  hat  noch  lange  als  Großmacht  existiert, 
nachdem  die  Juden  das  Land  verließen,  aber  es  war  sicherlich  nicht 
mehr  so  mächtig  und  kernig  wie  zuvor. 

Große  welthistorische  Ereignisse  führten  die  Juden  zurück  von 
Nordost-Afrika  nach  West-Asien,  Wo  sich  die  Zivilisation  der  zwei 
großen  semitischen  Völker,  Assyrer  und  Babylonier,  entwickelt  hat. 
Die  sjrische  Küste  des  Mittelländischen  Meeres  wurde  wieder  zum 
Schwerpunkt  der  Zivilisation.  Aber  diese  Zivilisation,  obgleich  mächtig 
in  ihrer  Art,  war  nicht  stark  genug,  um  die  Zivilisation  der  Welt  zu 
werden.  Die  großen  semitischen  Völker,  die  sie  geschaffen,  Assyrer  und 
Babylonier,  mußten  vom  Schauplatz  der  Weltgeschichte  verschwinden, 
und  auch  ein  anderes  großes  Hebräervolk,  die  Phönizier,  mußte  ebenfalls 
verschwinden,  um  Rom  Platz  zu  machen,  und  erst  Rom  gelang  es,  das 
Mittelländische  Meer  zum  Zentrum  der  Welt  und  die  mittelländische  Zivi- 
lisation zur  herrschenden  zu  machen.  Und  solange  die  römische 
Zivilisation  die  herrschende  war,  lebten  die  Juden 
in  Palästina  als  M  i  tt  el  m  e  e  r  volk  und  brachten  große 
Propheten  hervor,  deren  Lehren  nicht  nur  für  ihre 
Zeit  revolutionär  waren,  sondern  auch  für  unsere 
heutige  Zeit.  Die  Art  Gerechtigkeit,  die  die  antiken  jüdischen  Pro- 
pheten lehrten,  würden  den  heutigen  Machthabern  als  aufwieglerische 
Propaganda  erscheinen.  Das  'jüdische,  monotheistische  Palästina  war 
von  polytheistischen  und  barbarischen  Völkern  umgeben,  und  diese 
Völker  waren  sicherlich  in  jeder  Beziehung  stärker  als  die  Juden, 
und  obgleich  zwischen  diesen  polytheistischen  Völkern  eingeschlossen, 
konnte  sich  das  monotheistische  Judentum  in  Palästina  jahrhunderte- 
lang erhalten  und  zu  einer  großen  Weltmacht  im  Reiche  des  Geistes 
werden. 

Aber  auch  die  römische  oder  die  Mittelmeer-Zivilisation  konnte 
sich  nicht  verewigen,  und  noch  ehe  der  Untergang  dieser  Zivilisation 
dem  Auge  ersichtlich  war,  verließen  schon  die  Juden  Palästina,  um 
sich  über  den  ganzen  Erdball  zu  zerstreuen.  Die  Mittelmeer-Zivilisation 
war  zerstört,  das  römische  Volk  vernichtet,  das  Chaos  folgte.  Die 
Periode,  die  dem  Untergange  des  römischen  Reiches  und  dem  Zu- 
sammenbruch folgte,  war  eine  Periode  des  historischen  Zwielichts, 
das  sich  gar  bald  in  finsteres  Mittelalter  verwandelte.  Während  dieses 
Zwielichts  nun  im  Anbeginn  des  Mittelalters  wanderte  die  Zivilisation 
langsam  von  den  Ufern  des  Mittelländischen  Meeres  zu  denen  des  At- 
lantischen, und  schlug  ihr  Zelt  in   Spanien  auf.    Während   die  Erben 

46 


Roms  in  einem  Zustand  von  Chaos  und  Anarchie  lebten,  bauten  die 
Mauren  in  Spanien  an  den  Ufern  des  Atlantischen  Meeres  eine  von  Rom 
unabhängige   Zivilisation    auf,    und   mehr   als    ein    halbes   Jahrtausend 
waren  Mauren  und  Juden  ihre  Vertreter  und  Träger.   Solange  Spanien 
der  Mittelpunkt  der  Zivilisation   war,   war  es   auch  das  Zentrum  des 
Judentums.    Jahrhundertelang   lebten   die  Juden    in  Spanien    glücklich 
und  ruhig,  bis  die  große  Krisis  ausbrach  —  der  Kampf  zwischen  Mauren 
und  Spaniern  auf  der  einen  Seite,  und  der  Kampf  zwischen  England  und 
Spanien  auf  der  andern  — .    Im  Verlauf  dieses  Kampfes  wurde  Spanien 
als  Zentrum  der  Zivilisation  vernichtet,  und  deshalb  konnte  es  auch  nicht 
mehr  das  Zentrum   der  Juden   sein,   denn   die  Juden   können  nur  im 
Zentrum    der   herrschenden    Zivilisation    leben    und    gedeihen.    Wenn 
Ferdinand   und   Isabella   das   Ausweisungsdekret  gegen   die   Juden   in 
Spanien    nicht   unterzeichnet    hätten,     würden     die    Juden    das    Land 
doch   verlassen   haben,    weil  der   Mittelpunkt   des   Judentums  nur   im 
mächtigsten  Land  der  Welt  sein  kann.   Spanien  konnte  die  Juden  nicht 
mehr  bewirten,  denn  die  Zivilisation  wanderte  von  den  Engen  Gibral- 
tars zu  den  Nordseen  und  dem  Ärmelkanal.    Während  noch  im  fünf- 
zehnten Jahrhundert  Spanien  das  Zentrum  des  Judentums  war,  weil  es 
sozusagen  das  Zentrum  der  Welt  war,  war  schon  im  siebzehnten  Jahr- 
hundert kein  einziger  Jude  mehr  in  Spanien  zu  finden,  und  das  Auf- 
blühen der  englischen  Macht  und  die  Wanderung  der  Zivilisation  von 
den  Engen  Gibraltars  zur  Nord-  und  Ostsee  ist  auch  von  einer  Wande- 
rung der  Juden  vom  Südosten  Europas  nach  West-  und  Zentraleuropa 
begleitet.    Innerhalb  200  Jahren  wurden  die  Hinterländer  des  Atlanti- 
schen Ozeans,  Deutschland,  Polen  und  Litauen  Zentren  des  Judentums, 
und   die  spanischen   Juden   wandern   von   Spanien  nach   England  und 
Frankreich,  d.  h.  sie  wandern  mit  dem  Wandern  der  Zivilisation.  Genau 
so  wie  einst  in  Mesopotamien,  Ägypten  und  später  in  Palästina  wirkten 
auch  die  Juden  in  Spanien  revolutionär  auf  das  Leben  ihrer  Umgebung 
ein  und  der  sich  auf  sie  konzentrierende  Haß  des  Wirtsvolkes  und  der 
herrschenden   Mächte,   speziell   der  Kirche,   ist   zum   großen   Teil   das 
Resultat  ihrer  „zersetzenden  Wirkung"  auf  das  Leben  ihrer  Umgebung. 
Das  ausgesprochen  monotheistische  und  ethische  Judentum  paßte  gar 
nicht  zum  Panorama   des  mittelalterlichen  katholischen  Spaniens;  die 
Gegensätze  waren  zu  groß  und  zu  scharf  und  eine  Katastrophe  war 
unvermeidlich.    Innerhalb  einer  Periode  von  zweihundert  Jahren  waren 
die  Juden  in  den  Hinterländern  des  Atlantischen  Ozeans  konzentriert, 
und  als  um  die  Mitte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  die  aufblühenden 
Vereinigten  Staaten  sich  zum  Zentrum  der  atlantischen  Zivilisation  zu 

47 


entwickeln    anfingen,    setzte    auch    die    Einwanderung    der    Juden    in 
Amerika  ein.   Im  ersten  Dezennium  des  zwanzigsten  Jahrhunderts  allein 
wanderten  mehr  als  eine  Million  Juden  von  den  europäischen  nach  den 
amerikanischen   Häfen  des  Atlantischen  Ozeans  aus.    Wenn  nicht  der 
Krieg   der    Einwanderung   aus   dem    Osten    ein    Ende  gemacht   hätte, 
würden  heute  statt  dreieinhalb,  mindestens  sechs  Millionen  Juden  in  den 
Vereinigten  Staaten  leben,  und  nach  einem  weiteren  Jahrzehnt  würde 
die  Mehrheit  des  jüdischen  Volkes  in   den  Vereinigten  Staaten  leben. 
Während  der  Kampf  um  die  Vorherrschaft  der  atlantischen  Zivilisation 
vor  sich  ging,  brach  der  Krieg  aus  und  verursachte  eine  weitere  Ver- 
schiebung des  Schwerpunktes  der  Zivilisation.    Was  auch  die  histori- 
schen Motive  des  großen  Weltkrieges  gewesen  sein  mögen,  das  große 
historische  Motiv  war  die  Beherrschung  des  Atlantischen  Ozeans,  die 
die  Anglo-Sachsen  für  sich  beanspruchten  und  die  die  Deutschen  ihnen 
entreißen  wollten.    Nahezu  fünf  Jahre  waren  alle  großen  Kulturvölker 
an  diesem  großen  Kampf  beteiligt.     Der  Kampf  endete  allerdings  mit 
einer  furchtbaren   Niederlage   Deutschlands,   aber  wer  da  glaubt,  daß 
die   Engländer  aus   diesem   Krieg  siegreich   hervorgegangen  sind,   der 
irrt  sich  gewaltig,  weil  im  Verlauf  des  Kriegesdas  Zentrum 
der   Zivilisation   vom    Atlantischen    nach    dem    Stillen 
Ozean  sich  verschoben   hat.    England  hat  den  Kampf  um  die 
Beherrschung  des  Atlantischen  Ozeans  gewonnen,  aber  da  der  Atlan- 
tische Ozean  heute  nicht  mehr  seine  frühere   Bedeutung  hat,  ist  der 
Sieg   Englands   ein    Pyrrhussieg.    Durch   den   Zusammenbruch 
der   europäischen,   atlantischen   Zivilisation   ist   auch 
das   europäische  Judentum   zermalmt  worden,   gerade 
so  wie  mit  dem  Zusammenbruch  der  spanischen  Zivi- 
lisation das  spanische   Judentum   zerstört   wurde.    Die 
ewige  Wiederkehr  ist  sehr  klar  und  ersichtlich.    Die  Zivilisation  folgt 
dem  Meer  und  die  Juden  folgen  dem   Zentrum  der  Zivilisation,  und 
jeder  Katastrophe,  die  über  eine  Zivilisation  hereinbricht,  geht  ein  jüdi- 
scher   revolutionärer   Sturm    voraus,    der    die    Form    eines    intensiven 
Ethizismus  annimmt  und  sich  dann  zur  revolutionären  Macht  potenziert. 
Der  Zusammenbruch  des   römischen   Reiches  und  die  Zerstörung  der 
Mittelmeer-Zivilisation  ist  durch  die  Wahrnehmung  und  .Verlautbarung 
einer  jüdischen  geistigen  Unruhe  angekündigt  worden.    Diese  Unruhe 
nahm    die   erratische   Form   in  der  Gestalt  des  Christentums  an.    Der 
letzten  welthistorischen   Katastrophe  ging  der  jüdische  Revolutionaris- 
mus  im  Osten  voraus.  Wie  Paulus  den  Zusammenbruch  des  römischen 
Reiches  vorbereitete,  so  bereiteten  Trotzki  und  seine  Freunde  den  Zu- 

48 


sammenbruch  des  zarischen  Imperialismus  vor,  und  Trotzki  ist  nur  der 
Kulminationspunkt  des  jüdischen  Revolutionarismus,  der  sich  bei  jeder 
ausbrechenden  Weltkatastrophe  kundtut1). 

Die  Stellung  der  Juden  in  der  Weltgeschichte  ist  also  eine  ziemlich 
klare.  Auf  der  einen  Seite  sind  sie  die  Vermittler  zwischen  zwei  gegen- 
sätzlichen Kulturen,  und  auf  der  andern  Seite  wandern  sie  immer  mit 
der  Wanderung  der  Zivilisation,  die  von  See  zu  See  wandert  und  die 
Juden  nach  sich  zieht.  Zivilisation  ist  etwas  Organisches  und  lebt  das 
Leben  eines  Organismus,  und  wie  jeder  Organismus,  hat  sie  die  Peri- 
oden der  Jugend,  der  Reife  und  des  Verfalls,  und  wenn  der  Verfall 
kommt,  wird  der  jüdische  Geist  unruhig,  weil  in  Zeiten  des  Verfalls 
die  Juden  mehr  verfolgt  werden  als  sonst.  Als  Reaktion  auf  diese  durch 
den  Verfall  verursachten  Judenverfolgungen  entsteht  der  jüdische  Revo- 
lutionarismus, der  den  endlichen  Zusammenbruch  ankündigt.  So  war's 
in  Rom,  so  war's  in  Spanien,  und  so  war's  in  Rußland  und  Deutschland. 

Soweit  die  passive  Stellung  des  Judentums  in  der  Weltgeschichte.  Das 
Fundament  seiner  aktiven  Weltstellung  kann  aber  nur  in  seiner  Religion 
gefunden  werden.  Da  auch  die  jüdische  Religion  das  größte  und  be- 
deutendste Erzeugnis  des  jüdischen  Geistes  ist,  ist  es  methodisch  richtig, 
mit  ihr  anzusetzen,  wenn  wir  über  die  Formation  des  jüdischen  Geistes 
etwas  mehr  informiert  sind. 


,  x)  Es  ist  also  klar,  daß  die  nächste  Wanderung  der  Juden  nicht  mehr  den 
Osten  der  Vereinigten  Staaten  zum  Ziel  haben  wird,  sondern  den  Westen,  wo 
infolge  des  Erwachens  der  mongolischen  Rasse  eine  neue  Zivilisation  entsteht, 
die  vom  Westen  der  Vereinigten  Staaten  inspiriert  und  gefördert  werden  muß, 
weil  Amerika  der  nächste  große  Nachbar  Chinas  ist,  der  mehr  für  die  Zivili- 
sierung Chinas  tun  kann  als  jede  andere  europäische  Nation.  Die  nächste  jüdische 
Einwanderung  nach  Amerika  wird  sich  auch  über  den  Stillen  Ozean  ergießen. 
Es  ist  interessant  zu  beobachten,  daß  schon  heute  eine  jüdische  Wanderung  in 
Amerika  vom  Osten  nach  dem  Westen  des  Landes  vor  sich  geht.  Die  Juden 
wandern  eben  dorthin,  wo  ein  neues  Zentrum  der  Zivilisation  entsteht,  und  ver- 
lassen ein  Land,  wenn  es  aufhört,  ein  Zentrum  der  Zivilisation  zu  sein.  Innerhalb 
der  nächsten  hundert  Jahre  wird  die  größte  Mehrheit  der  Juden  aus  den  sla- 
wischen Ländern  ausgewandert  sein. 

4     Melamed 

49 


Viertes    Kapitel. 


Formation  des  jüdischen  Geistes. 

Geschichtsinterpretationen.  —  Ökonomie  des  Denkens  Ursprung  alles  histo- 
rischen Generalisierens.  —  Die  jüdische  Urgesellschaft.  —  Semitischer  Ernst.  — 
Semitische  Nüchternheit  und  biblische  Poesie.  —  Unterbrochene  Entwicklung.  — 
Wirkungen  des  Aufenthaltes  in  Ägypten.  —  Ursachen  des  ägyptischen  Zorns  gegen 
die  Juden.  —  Änderungen  in  der  jüdischen  Psyche.  —  Die  Erscheinung  Moses.  — 
Die  geniale  Persönlichkeit  und  das  Volk.  —  Das  Judentum  ein  Werk  der  großen 
Individualität.  —  Das  Judentum  ermangelt  der  Empirie.  —  Die  Thora  —  eine 
Zivilisationstheorie.  —  Anfang  des  jüdischen  Rationalismus.  —  Überspringen 
notwendiger  Entwicklungsreihen.  —  Mangel  an  Sinn  für  die  Wirklichkeit  — 
Charakteristik  des  antiken  jüdischen  Geistes.  —  Die  Wüste  als  Beruhigungsmittel. 

—  Das  Wüstengeschlecht.  —  Keine  jüdische  Zivilisation  in  Judäa.  —  Das  Judentum 
zivilisationshemmend.  —  Die  Juden  in  Ägypten.  —  Ignorierung  und  Überwindung 
der  biologischen  Natur.  —  Der  jüdische  Geist  ist  nicht  an  der  Natur  orientiert.  — 
Die  Folgen.  —  Gotteserkenntnis  bei  Griechen  und  Juden.  —  Der  Prophet  und  das 
Volk.  —  Die  Persönlichkeit  und  das  Gesetz.  —  Die  Einheit  des  jüdischen  Kultur- 
gedankens. —  Die  jüdische  Weltanschauung  und  die  griechischen  Weltanschauungen. 

—  Die  innere  Geschlossenheit  des  jüdischen  Kultursystems.  —  Die  jüdische  Geistig- 
keit ein  sozial-ökonomisches  Produkt.  —  Das  Lyrische  am  Judentum.  —  Jüdischer 
Universalismus.  —  Der  Wesensinhalt  der  jüdischen  Kultur.  —  Das  Judentum 
nicht  an  der  Wirklichkeit  orientiert.  —  Der  Subjektivismus  der  alten  Semiten.  — 
Die  Neigung  zum  Intellektualismus.  —  Die  Propheten  waren  an  der  Vernunft 
orientiert.  —  Synthese  von  Emotionalismus  und  Rationalismus.  —  Der  jüdische 
Optimismus.  —  Der  Optimismus  das  Substrakt  vitaler  Energien.  —  Das  Judentum 
setzt  universalistisch  und  optimistisch  ein.  —  Der  Wille  zur  Macht  und  das  Natur- 
wunder. —  Der  Subjektivismus  der  antiken  Juden.  —  Jüdischer  Extremismus.  — 
Der  impressionistische  Stil.  —  Das  Gesetz  wirkt   rationalisierend.  — 

Die  europäische  Geschichtsschreibung  in  den  letzten  drei  Jahr- 
hunderten war  bestrebt,  den  Ablauf  des  historischen  Geschehens 
aus  zwei  Momenten  heraus  zu  erklären:  aus  dem  klimatisch-geographi- 
schen und  aus  dem  ökonomisch-soziologischen.  Von  der  Mitte  des  sech- 
zehnten bis  zum  Anfang  des  achtzehnten  Jahrhunderts  war  die  klima- 
tisch-geographische Interpretation  vorherrschend.  Als  ihr  bedeutendster 
Vertreter  ist  Montesquieu  anzusehen.    Das  achtzehnte  Jahrhundert  mit 

50 


seiner  Verständnislosigkeit  für  die  Geschichte  ist  arm  an  geschichtsphilo- 
sophischen  Versuchen.  Im  neunzehnten  Jahrhundert,  als  die  Herrschaft 
der  Maschine  sich  auszubreiten  begann,  trat  mehr  und  mehr  die  sozial- 
ökonomische Geschichtsinterpretation  in  den  Vordergrund.  Der  Eng- 
länder Buckle  operierte  mit  den  beiden  Momenten  und  stellte  ihr  Ver- 
hältnis zueinander  wie  Ursache  zur  Wirkung  dar.  Die  zwei  Sätze,  auf 
denen  die  neue  Geschichtsphilosophie  sich  aufbaut,  besagen  im  wesent- 
lichen: 

1.  Jede  Gesamtheit  ist  ebenso  äußeren  Einflüssen  unterworfen  und 
ein  Produkt  dieser  Einflüsse,  wie  das  Einzelindividuum.  Als  „äußere 
Einflüsse"  sind  lediglich  klimatisch-geographische  Verhältnisse  anzu- 
sehen. In  der  heißen  Zone,  so  läßt  sich  Montesquieu  aus,  ist  der 
Mensch  faul,  entnervt  und  feig,  in  der  kalten  Zone  fleißig,  stark  an 
Körper  und  Geist  und  kühn.  In  Asien  herrscht  politische  Knechtschaft, 
in  Europa  politische  Freiheit. 

2.  Jede  Gesamtheit  ist  in  ihrer  äußeren  und  inneren  Anlage  ein 
Produkt  bestimmter  ökonomischer  und  sozialer  Bedingungen.  An  der 
ökonomisch-sozialen  Struktur  bildet  sich  der  Geist  eines  Volkes,  und 
lediglich  ökonomisch-soziale  Momente  sind  die  Triebfedern  der  Ge- 
schichte. 

Es  ist  nun  interessant  zu  beobachten,  daß  gerade  die  vornehmsten 
Vertreter  dieser  beiden  Geschichtsinterpretationen  samt  Buckle,  der 
sie  zu  einer  Einheit  zu  verschmelzen  suchte,  dem  antiken  Judentum 
verständnislos  gegenüberstehen.  Da  alle  Asiaten  für  die  Knechtschaft, 
alle  Europäer  für  die  Freiheit,  alle  Asiaten  faul  und  feig,  alle  Europäer 
fleißig  und  mutig,  und  die  Juden  ein  asiatisches  Volk  sind,  so  versteht 
es  sich  von  selbst,  daß  die  Juden  alle  Laster  der  Asiaten  teilen.  So 
dachte  Montesquieu,  so  ungefähr  dachte  auch  Buckle,  und  gemäß  seiner 
ökonomisch-materialistischen  Geschichtsinterpretation  dachte  auch  Karl 
Marx  so  von  den  Juden.  Die  Ökonomie  des  Denkens  macht  die  Tendenz 
zum  Generalisieren  verständlich,  und  nichts  ist  psychologisch  verständ- 
licher als  die  Deduktion  und  das  Streben  nach  Formeln.  Es  ist  auch 
verständlich,  daß  der  deduktive  Forscher  einer  Erscheinung  nicht  sym- 
pathisch gegenüberstehen  kann,  die  seine  Deduktion  nicht  umfaßt.  Die 
antike  jüdische  Wirklichkeit  ist  sehr  kompliziert  und  läßt  sich  beim 
besten  Willen  nicht  auf  eine  einheitliche  Formel  spannen;  denn  weder 
die  eine  noch  die  andere  Deduktion  deckt  sich  hier  ganz  mit  den  Tat- 
sachen und  Erscheinungen.  Die  folgende  Untersuchung  über  die  For- 
mation des  jüdischen  Geistes  wird  ergeben,  daß  sie  weniger  gesetzmäßig 
vor  sich  gegangen  ist,  als  die  deduktiven  Forscher  anzunehmen  gewillt 

4* 

51 


sind.  Man  kann  aber  von  der  Frage  des  Ursprungs  absehen,  weil  sie 
ziemlich  belanglos  ist.  Ob  die  Juden  ursprünglich  aus  dem  einen  oder 
dem  anderen  Winkel  Westasiens  kamen,  ob  sie  mit  den  Hirtiten  ver- 
schwägert waren,  ob  sie  reine  Südsemiten  sind  oder  nicht,  ist  hier  ziem- 
lich belanglos.  Über  diese  und  ähnliche  Fragen  sind  dickleibige  Bücher 
geschrieben  worden,  und  wir  sind  bisher  nicht  mehr  orientiert  wie  vor 
hundert  oder  zweihundert  Jahren;  und  wer  überzeugt  ist,  daß  Tier- 
psychologie mit  Menschen-  und  Völkerpsychologie  blutwenig  zu  tun 
hat,  den  können  auch  diese  rassentheoretischen  und  rassengeschicht- 
lichen Fragen  in  diesem  Zusammenhang  gar  nicht  interessieren. 

Betrachten  wir  die  Tatsachen,  wie  sie  uns  in  Legende  und  Tradi- 
tion, die  sicherlich  eine  Basis  der  Wirklichkeit  hat,  vorliegen. 

Wenn  wir  dem  biblischen  Bericht  Glauben  schenken  dürfen,  und  es 
liegt  kein  Grund  vor,  das  nicht  zu  tun,  wanderten  die  Häupter  der  jüdi- 
schen Urgesellschaft  von  Mesopotamien  nach  Ägypten.  Hier  haben 
wir  schon  eine  Anomalie;  denn  nach  allgemeiner  Annahme  entwickelt 
sich  die  politische  Gemeinschaft  auf  dem  Boden  der  sozialen  Gemein- 
schaft. Wenn  der  Stamm  oder  die  Gruppe  sich  an  einem  bestimmten 
Ort  ansässig  gemacht  und  sich  akklimatisiert  hat,  wächst,  der  inneren 
Logik  der  Dinge  zufolge,  die  politische  Gemeinschaft  heraus.  Bei  den 
alten  Juden  erfährt  dieser  Prozeß  eine  jahrhundertlange  Unterbrechung. 
Der  junge  Organismus  der  jüdischen  Urgesellschaft  findet  sich  plötzlich 
in  einer  fremden  Mitte,  mit  der  er  nicht  das  geringste  gemein  hat.  Als 
kleine  und  schwache  Minorität  und  ohne  innere  Festigkeit  ist  sie  den 
Einflüssen  eines  verhältnismäßig  hochentwickelten  Milieus  wehrlos  aus- 
gesetzt. Ihre  Jugend  macht  sie  fremden  Einflüssen  doppelt  zugänglich. 
Was  aber  einmal  das  Keimplasma  verändert  hat,  wirkt  weiter  fort. 
Durch  den  Aufenthalt  in  Ägypten  ist  die  natürliche  Entwicklungsreihe 
unterbrochen  worden,  und  die  Schicksale,  die  über  die  Juden  in  Ägypten 
ergangen  sind,  haben  diese  Entwicklungsreihe  einer  ganz  anderen  Rich- 
tung zugetrieben. 

Die  Rudimente  der  jüdischen  Religion  und  Ansätze  zum  Monotheis- 
mus waren  schon  in  der  jüdischen  Urgesellschaft  ausgebildet.  Was  die 
Juden  nach  Ägypten  mitbrachten,  waren  ihre  soziale  Gemeinschaft, 
einige  kultische  Traditionen  und  religiöse  Erinnerungen  —  und  das 
Verlangen  nach  Brot.  Die  jüdische  Geschichte  setzt  mit  der  Hungersnot 
ein.  Was  wäre  natürlicher  und  selbstverständlicher  gewesen,  als  das 
Verschlungenwerden  dieser  kleinen,  kulturarmen  Minorität  von  dem 
hochstehenden  Kulturmilieu  Ägyptens?  Hier  tritt  zum  erstenmal  das 
Moment  der  Rasse  als  entscheidend  und  bestimmend  auf.    Die  Juden 

52 


bilden  einen  Zweig  der  semitischen  Rasse,  und  die  semitische  Rasse, 
so  beginnen  alle  Historiker,  nimmt  alles  Religiöse  in  vollem  Ernst.  Den 
Semiten  ist  die  Religion  ein  Teil  des  praktischen  Lebens  und  nicht  der 
Sonntagsartikel.     Der    eigentliche    Begründer    der    Völkerpsychologie, 
Steinthal,  sagt  von  den  alten  Semiten  aus:  „Die  Semiten  dagegen  (im 
Gegensatz  zu  den,  Indogermanen  und  insbesondere  zu  den  Griechen) 
nahmen  alles   Religiöse  in  vollem   Ernst,   und   ihr  Kultus  war  leiden- 
schaftlich'.  Je  nachdem  sie  sich  eine  Gottheit  in  Freude  oder  in  Trauer 
dachten,  waren  sie  bei  den  Festen  selbst  rasend  vor  Lust  oder  Schmerz, 
so  daß  sie  sich  in  vollster  Sinnlosigkeit  verwundeten.    Daher  gab  es 
bei  ihnen  auch  Menschenopfer,  nicht  aus  Roheit,  und  nicht  gefangene 
Feinde  wurden  geopfert,   sondern  die  edelsten   Familien  gaben  ihren 
Sohn  dem  Gotte  hin,  nicht  bloß  symbolisch,  sondern,  indem  sie  wirklich, 
obwohl  mit  blutendem  Herzen,  das  Kind  im  Feuer  verbrannten  und  so, 
wie    sie    wähnten,    mit    der   Gottheit   vereinten."     Dieses    Bild,    das 
Steinthal  von  dem  Verhältnis  der  Semiten  zur  Religion  entwirft  und  das 
von  der  Geschichte  bestätigt  wird,  paßt  allerdings  nicht  zu  dem  Bild, 
das   Richard   Mayr  von   den   Semiten   und  ihren   Beziehungen   zu  der 
Religion   entwirft.     Richard  Mayr  und   mit  ihm   auch  Otto  Pfleiderer 
sind  fest  überzeugt,  daß  das  Verhältnis  der  Semiten  zur  Religion  ein 
nüchternes,    kaltes    und    berechnendes   war.     Alle    Religionshistoriker, 
Historiker  und  Semitologen  sagen  das  gleiche  von  den  Semiten,  d.  h. 
alle  heben  ihre  religiöse  Leidenschaftlichkeit  und  ihren  religiösen  Ernst 
hervor.   Die  lyrische  Poesie  der  zwei  großen  semitischen  Völker,  Juden 
und  Araber,  würde  die  Aussage  Steinthals  bestätigen,  denn  wenn  eswrahr 
wäre,  was  Richard  Mayr  von  den  Semiten  behauptet,  daß  sie  in  der 
Religion  nüchtern  und  berechnend  seien,  wie  könnte  man  die  lyrischen 
Ergüsse  der  Juden  und  Araber  erklären?  Es  ist  doch  nicht  anzunehmen, 
daß  ein  Volk  mit  einer  nüchternen  und  berechnenden   Erziehung  zur 
Religion  das  tiefste  poetische  Religionsbuch  der  Menschheit,  die  Psal- 
men, hätte  hervorbringen  können.   Ein  poetisch  hochbegabtes  Volk  wie 
die  Juden  kann  wohl  nicht  eine  nüchterne  Beziehung  zu  der  Religion 
unterhalten?    Was  wir  von  der  Religion  und  Literatur  der  Juden  und 
Araber   heute   wissen,   bestätigt  nur   die   Aussage  von   Steinthal.    Die 
Semiten  nahmen  alles   Religiöse  in  vollstem   Ernst.    Nur  diese  Eigen- 
schaft der  alten  Semiten  kann  die  merkwürdige  Erscheinung  der  Er- 
haltung der  kleinen   jüdischen  Gesellschaft  in   Ägypten   erklären.    Da 
der  antike  Staat  mit  der  Religion  verschwägert  war  und  der  Staats- 
bürger gleichzeitig  Glaubens-  und  Kirchengenosse  sein  mußte,  so  blieb 
die  kleine  Judengruppe  in  Ägypten  auch  sozial  separiert,  d.   h.  von 

53 


der  allgemeinen  Gesellschaft  isoliert.  Jahrhundertelang  existierte  eine 
jüdische  Gesellschaft  und  eine  jüdische  „Religion"  in  einer  fremden 
politischen  Gemeinschaft.  Infolge  der  engen  Verbindung  zwischen 
Staat  und  Gesellschaft  (der  Kastenstaat)  konnte  eine  separate  Gemein- 
schaft nicht  in  die  allgemeine  politische  Gemeinschaft  eintreten,  selbst 
wenn  nicht  religiöse  Momente  sie  daran  gehindert  hätten.  Aber  das 
religiöse  Moment  war  wohl  der  hauptsächlichste  Grund,  warum  die 
Juden  in  Ägypten  sich  nicht  assimilierten.  Ihr  eigener  religiöser  Ernst 
und  ihre  eigenen  lebhaften  Erinnerungen  und  Traditionen  verhinderten 
jede  Assimilationsmöglichkeit,  und  sie  blieben  deshalb  in  ethischem  Takt. 

Die  erste  sichtbare  Wirkung  der  Unterbrechung  der  natürlichen 
Entwicklungsreihe  durch  den  Aufenthalt  in  Ägypten  war  die  Heraus- 
bildung einer  gewaltigen  Vitalität.  In  Ägypten  ist  die  Grundlage  zu 
der  unerschöpflichen  jüdischen  Vitalität  gelegt  worden;  denn  in  dieser 
Bedrückung  und  unter  diesen  mörderischen  Lebensbedingungen  konnte 
sich  nur  das  stärkste  Individuum  erhalten,  das  schwache  Individuum 
mußte  im  Kampfe  ums  Dasein  unterliegen.  Es  ging  also  eine  natürliche 
Auslese  vor  sich.  Ähnliche  Erscheinungen  sehen  wir  noch  heute  bei 
vielen  Völkern,  die  hart  um  ihr  Dasein  kämpfen,  oder  die  einer  sani- 
tären Organisation  entbehren.  Alle  Nord-Afrika-Forscher  berichten  ein- 
stimmig, daß  sich  die  Senussi,  die  einen  schweren  Daseinskampf  führen, 
durch  große  Körperkraft  auszeichnen  und  ein  kerngesundes  Geschlecht 
erziehen,  weil  die  Schwachen,  Krüppelhaften  und  Kränklichen  schon 
im  jugendlichen  Alter  hinweggerafft  werden.  Nur  die  von  Natur  mit 
Gesundheit  und  starker  Körperkraft  Ausgestatteten  können  sich  er- 
halten. Anderseits  sehen  wir,  daß,  wo  die  Zivilisation  auf  hoher  Stufe 
steht,  wie  in  Skandinavien,  England  und  Deutschland, .  auch  die  von 
Natur  Schwachen  sich  am  Leben  erhalten,  weil  der  Staat  sie  durch 
sozialhygienische  Gesetzgebung  beschützt.  Es  versteht  sich  also  von 
selbst,  daß  ein  Volk,  das  aller  sozialhygienischen  Schutzmittel  entbehrt, 
in  der  Fremde  in  schwerer  Bedrückung  lebt  und  schwere  Fronarbeit 
zu  verrichten  gezwungen  ist,  nur  ein  gewählt  gesundes  und  starkes 
Geschlecht  aufbringen  kann.  Aber  je  größer  die  vitalen  Energien,  desto 
größer  die  Lebensbejahung,  desto  stärker  der  Wille  zum  Leben. 

Noch  in  einer  anderen  Beziehung  war  der  Aufenthalt  der  Juden 
in  Ägypten  schicksalsbestimmend  für  ihre  spätere  Zukunft  und  wirkte 
formend  auf  ihren  Geist.  Unter  der  glühenden  Sonne  Ägyptens  ver- 
wandelte sich  durch  äußeren  Zwang  ein  Hirten-  und  Handelsvolk  in 
ein  Arbeitervolk.  Bekanntlich  verbreitete  sich  der  Handel  (zunächst 
Tauschhandel)    zuerst   unter   den    Hirtenvölkern.     Darauf   deutet   auch 

54 


der  Ursprung  des  Wortes  pecunia,  (von  pecus).  Das  Vieh  war  das 
erste  Tauschhandelsobjekt.  Das  hebräische  Wort  Mikneh  bedeutet 
sowohl  Vieh  als  Kauf.  In  jedem  Falle  ist  es  eine  natürliche  Erschei- 
nung, daß  ein  Hirtenvolk  sich  mit  Tauschhandel  beschäftigt.  Die  Bibel 
selbst  nennt  viele  Hirtenvölker,  die  sich  mit  dem  Handel  abgaben.  Als 
die  Juden  in  Ägypten  ihren  Einzug  hielten,  waren  sie  ein  kleines  Hirten- 
völkchen, das  im  Naturzustande  und  in  politischer  Ungebundenheit 
gelebt  hatte.  Ägypten  war  damals  schon,  ein  politisch  und  sozial  fest 
organisierter  Staat,  der  in  seiner  Mitte  für  vagabundierende  Hirten 
keinen  Raum  hatte.  Die  neuen  Ankömmlinge  machten  sich  nur  zu 
bald  fühlbar.  Der  baldige  Ausbruch  eines  Haßgefühles  von  Seiten  der 
Einheimischen  war  die  unmittelbare  Folge  des  jüdischen  Auftretens. 
Dieser  Haß  der  Ägypter  gegen  die  Juden,  von  dem  die  Bibel  berichtet, 
war  sowohl  ethnisch  wie  politisch  und  sozial  motiviert.  Der  ägyptische 
Staat  war  ein  festgeschlossener  Kastenstaat,  der  von  den  Priestern 
und  Kriegern,  mit  dem  König  an  der  Spitze,  regiert  wurde.  In  einer 
solchen  festgefügten  politischen  und  sozialen  Organisation  ist  kein 
Raum,  weder  für  politische  noch  für  soziale  Freiheit.  Der  ägyptische 
Bürger  war  in  eine  Kastenorganisation  eingeschlossen  und  jeder  Be- 
wegungsfreiheit beraubt  Auf  ihm  lastete  ein  dreifacher  Druck,  der 
des  Priesters,  der  des  Kriegers  und  der  Despotismus  des  Königs.  Plötz- 
lich sieht  er  in  seiner  Mitte  eine  fremde  Menschengruppe,  die,  als 
Bekennerin  einer  anderen  Religion,  keiner  Kaste  angehört  und  mithin 
auch  politischer  und  sozialer  Freiheit  sich  erfreut  und  sozusagen  über 
dem  Gesetze  steht.  In  Ägypten  mit  seiner  entwickelten  Zivilisation  und 
mit  seiner  göttlichen  Verehrung  der  Tiere  konnten  die  Juden  ihr  Hirten- 
leben nicht  mehr  fortsetzen,  und  da  jeder  Hirte  auch  ein  halber  Händ- 
ler ist,  wandten  sie  sich  bald  dem  Handel  zu,  und  sie  handelten,  da  sie 
„Privilegien"  hatten  und  sich  frei  bewegen  durften,  mit  Erfolg.  Dieser 
Wechsel  in  ihrem  Berufsleben  hatte  zur  Folge,  erstens  daß  der  Haß  der 
Eingeborenen  gegen  sie  große  Dimensionen  annahm,  zweitens  daß  an 
dem  Beispiel  der  von  den  Juden  genossenen  Bewegungsfreiheit  eine 
revolutionäre  Bewegung  unter  den  Einheimischen  entstand  und  daß 
der  Haß  der  Herrscher  sich  gegen  die  Juden  kehrte.  Mittlerweile  ver- 
mehrten sich  die  Juden  (waren  sie  doch  gerade  aus  der  freien,  wilden 
Natur  gekommen)  und  entwickelten  sich  zu  einem  bedeutenden  Faktor 
in  Ägyptens  Wirtschaftsleben.  Der  Haß  gegen  sie  wuchs  parallel  mit 
ihrer  Vermehrung.  Die  Kastenführer  und  Herrscher,  um  ihre  Führer- 
schaft und  Herrschaft  besorgt  und  die  Ursache  der  um  sich  greifenden 
revolutionären    Bewegung    erkennend,    beschlossen,     diese    Bewegung 

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samt  ihrer  Ursache  mit  einem  Schlag  aus  der  Welt  zu  schaffen'.  Sie 
entzogen  den  Juden  die  ihnen  ursprünglich  gewährten  Privilegien, 
d.  h.  die  Bewegungsfreiheit,  und  um  das  politische  Gleichgewicht  der 
Ägypter  herzustellen,  wurden  die  Juden  noch  in  Zwangsarbeit  genom- 
men, das  heißt,  zu  Arbeitsknechten  des  ägyptischen  Staates  gemacht. 
Wir  wissen  heute  nicht,  ob  sich  die  ägyptischen  Politiker  verrechnet 
haben  oder  nicht,  aber  ihre  neu  inaugurierte  Judenpolitik  ist  von  schick- 
salsvoller Bedeutung  für  die  Juden  geworden;  denn  indem  sie  die 
Juden  zwangen,  schwere  Fronarbeit  zu  verrichten,  schwere  körper- 
liche Arbeit  zu  tun,  gewöhnte  sich  das  Volk  überhaupt  an  beständige 
Arbeit,  und  so  ward  aus  einem  vagabundierenden  Hirten-  und  Handels- 
volk ein   Arbeitervolk. 

Wir  merken  es  an  Hand  der  biblischen  Erzählung,  wie  die  ganze 
geistige  Konstitution  und  seelische  Beschaffenheit  des  Volkes  sich 
änderte,  sobald  es  in  staatliche  Zwangsarbeit  genommen  worden  war. 
Die  ursprüngliche  idyllische  Atmosphäre  wird  verscheucht,  und  eine 
schwere,  dumpfe  Stimmung  greift  Platz.  An>  Stelle  der  naiven  Lebens- 
freude und  stillen-  Zufriedenheit  tritt  eine  nagende  Unruhe,  eine  tiefe 
innere  Verbitterung,  die  sich  zuweilen  in  revolutionärem  Aufflackern 
Luft  macht.  Dem  folgt  wieder  eine  tiefe  Depression  und  Verzweiflung. 
Der  Geist  ist  nur  auf  sich  selbst  und  auf  den  engsten  Umkreis  kon- 
zentriert. Der  intellektuelle  Umkreis,  durch  unaufhörliche  Willensakte 
eingeengt,  und  der  Wille  selbst,  das  ganze  Leben  auf  sich  konzen- 
trierend, wird  immer  stärker,  größer,  gewaltiger  —  denn  die  Funktion 
wird  nach  und  nach  selbst  zum  Organ.  Die  Umwandlung  eines  ur- 
wüchsigen Natur-  und  Hirtenvolkes  in  ein  Volk  von  staatlichen  Arbeits- 
knechten dürfte  selbst  den  ägyptischen  Despoten  nicht  leicht  gefallen 
sein.  Die  Bibel  berichtet  von  häufigen  Zwistigkeiten  zwischen  den 
ägyptischen  Arbeitsinspektoren  und  den  jüdischen  Fronarbeitern,  und 
es  ist  zu  vermuten,  daß  es  mehr  als  einmal  zu  Aufständen  von  seiten 
der  Fronarbeiter  und  zu  scharfen  Gegen  maß  regeln  kam.  Der  Druck 
wurde  unerträglich,  die  in  Zwangsarbeit  Gesteckten  verbittert  und 
gallig  —  das  Volk  ahnte,  daß  es  dem  Untergang  geweiht  war.  In 
diesem  Augenblick  der  höchsten  Not  und  der  größten  Gefahr  erscheint 
ihnen  von  außen  ein  Erlöser  —  Moses. 

In  einer  relativ  kurzen  Zeit  hat  also  die  jüdische  Gesellschaft 
folgende  Wandlungen,  die  ihre  ganze  Bewußtseinsdisposition  revo- 
lutioniert haben  mußten,  durchgemacht: 

1.  ökonomische, 

2.  Soziale. 

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3.  Politische, 

4.  Wechsel   des   natürlichen    und   historischen    Milieus   durch 
die  Wanderung  von  Westasien  nach  Nordafrika. 

Wie  diese  Wandlungen  in  biologisch-psychologischer  Beziehung 
auf  sie  eingewirkt  haben  mußten,  ist  schon  oben  angedeutet  worden ; 
aber  welchen  Eindruck  die  große  ägyptische  Zivilisation  auf  diese  aus 
natürlicher  Ungebundenheit  kommende,  aufnahmsfähige  und  jedem 
Einfluß  zugängliche  Gruppe  gemacht,  wie  diese  durch  ihre  mannig- 
fachen Eigenschaften  hervorstechende  Zivilisation  auf  die  Formation 
des  jüdischen  Geistes  bestimmend  eingewirkt  haben  muß,  läßt  sich 
kaum  ahnen.  Der  biblische  Bericht  deutet  nur  kurz  an,  daß  ein  be- 
trächtlicher Teil  des  Volkes  an  die  ägyptischen  Lebensverhältnisse 
gewöhnt  war.  Einer  talmudischen  Tradition  zufolge  gab  es  schon  in 
Ägypten  eine  ganze  Assimilationspartei,  die  von  einem  Auszug  aus 
Ägypten  nichts  wissen  wollte.  Die  Verwandlung  von  einem  Hirten- 
und  Händlervolk  in  ein  Zwangsarbeitervolk,  das  auf  der  einen  Seite 
einen  tiefen  Eindruck  von  der  ägyptischen  Zivilisation  hatte,  auf  der 
anderen  Seite  seine  Bedrücker  gründlich  haßte,  was  zur  Stärkung  des 
eigenen  Volksbewußtseins  beigetragen  haben  mußte,  war  zum  großen 
Teil  ausschlaggebend  für  die  Formation  des  jüdischen  Geistes. 

Die  Geschichte  des  jüdischen  Volkes  beginnt  mit  dem  Auftreten 
Moses'.    Der  Tradition  zufolge  ist  der  erste  Erlöser  und  Befreier  nicht 
aus  der  Mitte  des  eigenen  Volkes  hervorgegangen,  sondern  von  außen 
gekommen.    Die  große  Fronarbeitermasse,  intellektuell  eingeengt  und 
durch  die  Zwangsarbeit  und  den   Druck   demoralisiert,   bewegte  sich 
im   engsten   Umkreis   des  Augenblicks   und   dachte  gar  nicht  an  die 
Zukunft.    Aus  diesem  Grunde  hatte  es  keinen  aus  der  eigenen  Mitte 
hervorbringen  können,   der,   die  sittlichen   Kräfte   der  ganzen  Gruppe 
verkörpernd,  aufstehen  und  seinen  Brüdern  zurufen  sollte:    „Was  wird 
das  Ende  sein?    Wollen  wir  zusammenhalten  und  unser  Schicksal  in 
unsere  eigene  Hände  nehmen.    Wir  haben  doch  nichts  zu  verlieren." 
Es  mußten  lange  Jahrzehnte  vergehen,  bis  einer  aus  der  Fremde,  der 
am  Hofe  erzogen  war,  kommen  sollte,  um  sein  Volk  vor  dem  Unter- 
gang zu  bewahren,    Hier  offenbart  sich  zum  ersten  Male  ein  Grund- 
charakter des  jüdischen  Volkes,  der  für  den  ganzen  Verlauf  der  jü- 
dischen Geschichte  typisch  geworden  ist:  die  Wirkung  der  selektiven 
Kraft,   der  genialen   Persönlichkeit.    Es   wird   noch   weiter  davon   die 
Rede  sein,  in  welchem  Maße  die  geniale  Persönlichkeit  das  Judentum 
geformt  und  gemodelt,   und   die   Juden   —   fast  immer   wider  ihren 
Willen  —  gestoßen,  und  geführt  hat.   Oft  genug  war  Moses  in  Lebens- 

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gefahr,  oft  genug  hatten  sich  die  Juden  selbst  gegen  ihn  verschworen, 
und  oft  genug  trachteten  sie  sein  ganzes  Lebenswerk  zu  zerstören! 
Schon  in  der  ersten  Zeit  seines  Auftretens  hörte  er  die  Worte:  „Ge- 
denkst du  mich  auch  zu  erschlagen,  wie  du  den  Ägypter  erschlagen 
hast?"  Bald  steht  er  und  klagt  zu  Gott:  „Noch  eine  Weile,  und  sie 
werden  mich  steinigen."  Bald  ruft  ihm  der  Pöbel  zu:  „Wir  haben  es 
dir  doch  in  Ägypten  gesagt  —  laß  von  uns  —  wir  wollen  weiter 
Ägypten  dienen."  Aus  diesen  biblischen  Berichten  ist  zu  ersehen, 
daß  er  schon  in  Ägypten  mit  seinen  eigenen  Volksgenossen  zu  kämpfen 
hatte  und  daß  er  gegen  ihren  Willen  das  Befreiungswerk  durchführen 
mußte.  Welche  sittliche  Energie  mußte  dieser  Mann,  der  gegen  den 
despotischen  Bedrücker  und  gegen  die  demoralisierten  Bedrückten 
in  gleicher  Weise  zu  kämpfen  hatte,  besessen  haben?  Und  das  Ende 
dieses  Helden?  Wie  er  von  außen  zu  seinem  Volke  gekommen,  so 
ist  er  auch  außerhalb  der  Pfähle  seines  Volkskreises  gestorben  —  er 
ist  gegangen  wie  gekommen  —  „Und  keiner  weiß,  wo  seine  Grab- 
stätte ist,  bis   auf  den  heutigen  Tag." 

So  hat  die  jüdische  Geschichte  mit  einer  genialen  und  gewaltigen 
Persönlichkeit,  die  einem  Volke  nur  alle  zweitausend  Jahre  einmal  er- 
stehen, begonnen.  Das  Lebens-  und  Schaffensbild,  das  die  Bibel  von 
der  Persönlichkeit  Moses'  entwirft,  ist  so  frisch  und  wirklichkeitstreu, 
daß  die  oft  aufgeworfene  Frage,  ob  Moses  eine  historische  Figur  sei 
oder  nicht,  eine  müßige  ist.  Man  kann  sich  eben  die  Entstehung  des 
Judentums  ohne  Moses  nicht  denken.  Im  Gegenteil  kann  man  sich 
sehr  wohl  die  Entstehung  des  Christentums  ohne  die  historische  Figur 
Jesus'    denken. 

In  dem  Maße,  in  dem  das  Volk  durch  äußeren  Druck  und  innere 
Demoralisation  korrumpiert  und  verkommen  war,  erhob  sich  die  ge- 
niale Persönlichkeit  über  das  Volk,  und  mit  allen  Kräften  des  Lebens 
ausgestattet,  versuchte  sie,  das  Volk  zu  sich  emporzuheben.  Alle  Kräfte 
sittlicher  und  intellektueller  Art,  die  potenziell  im  Volke  schlummerten, 
aktualisierten  sich  in.  der  einen  genialen  Individualität  —  so  geht 
der  Selektionsprozeß  immer  vor  sich. 

Moses'  Aufgabe  war  eine  zivilisatorische  —  die  Organisation  der 
Gesellschaft  und  des  Staates  — ,  war  er  doch  selbst  in  einer  großen 
Zivilisation  aufgewachsen  — ,  aber  da  der  Genius  die  Dinge  vom  Ge- 
sichtswinkel der  Ewigkeit  betrachtet  und  Lokales  und  Temporäres 
oft  übersieht,  und  da  die  Masse  die  Grundabsicht  ihres  Helden  nicht 
fassen  und  begreifen  konnte  —  gingen  Führer  und  Volk  aneinander 
vorbei.    Moses  mit  seinem  die  Ewigkeit  schauenden  und  die  Zeitlich- 

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keit  übersehenden  Blick  hat  sich  dem  langsamen  natürlichen  Prozeß 
des  Lebens  nicht  anzupassen  vermocht,  und  da  er  ebensoviel  Geistes- 
wie  Tatenmensch  war,  stieß  er  absichtlich  das  Volk  in  die  Gedanken- 
sphäre, in  der  Hoffnung,  daß  es  dadurch  seine  zivilisatorischen  Ab- 
sichten schneller  verwirklichen  würde.  Er  fing  an,  das  noch  rohe  Volk- 
Gesetze  und  Gebete  zu  lehren,  es  in  abstrakten  Theorien  zu  unter- 
weisen. Das  Volk  war  noch  nicht  einmal  für  eine  elementare  Zivi- 
lisation reif  —  geschweige  denn  für  Zivilisationsgesetze  und  Theorien. 
Der  Genius  glaubt  immer,  er  habe  keinen  Erfolg,  weil  er  nicht  ver- 
standen werde.  An  der  bekannten  Regel:  Wissen  ist  Tugend,  haben 
nicht  nur  Sokrates  und  Plato,  sondern  auch  Moses  festgehalten.  In 
gewissem  Sinne  bewahrheitet  sich  auch  dieser  Satz;  denn  die  Er- 
kenntnis ist  die  psychologische  Grundlage  jeder  höheren  Zivilisation. 
Ohne  die  Kenntnis  der  Mathematik  und  Mechanik  sind  weder  Technik 
und  Handel  noch  Strategie  möglich.  Solche  Kenntnis  erfordert  aber 
nur  eine  hochentwickelte  Zivilisation,  die  man  mit  lediglich  natürlichen 
Mitteln  nicht  mehr  befördern  kann.  Ganz  anders  aber  verhält  es  sich 
mit  einer  elementaren  Zivilisation,  die  aus  einfachen,  natürlichen  Be- 
dingungen hervorwachsen  muß  und  keiner  Förderung  von  Seiten  des 
theoretischen  Geistes  bedarf.  Der  Mensch  muß  jahrtausendelang  Er- 
fahrungen sammeln,  bis  er  darangehen  kann,  das  abstrakte  Prinzip  aus- 
findig zu  machen. 

Aus  den  oben  angedeuteten  Gründen  war  es  der  hebräischen  Zivi- 
lisation nicht  vergönnt,  sich  natürlich  zu  entwickeln,  bodenständig  her- 
vorzuwachsen. Zu  ihrem  größten  Unglück  begegnete  sie  in  ihren 
ersten  Anfängen  der  großen  Individualität,  die  das  ganze  Volk  an  Ein- 
sicht, Können  und  Geist  überragte,  und  die  Begegnung  führte  zu  einem 
furchtbaren  Kampf  zwischen  einem  jungen  und  unreifen  Volk,  das 
gerade  das  Joch  der  Knechtschaft  abgeschüttelt  hatte,  und  der  voll- 
reifen,  genialen  Individualität,  die  aus  den  ersten  Quellen  des  Lebens 
und  aus  dem  Schauen  in  die  Ewigkeit  Kraft  schöpfte.  Dieser  Kampf, 
der  die  natürliche  Entwicklungsreihe  verschoben  hat,  hatte  weiter  zur 
Folge,  daß  ein  Arbeiter-  und  Sklavenvolk,  das  aus  eigener  Kraft  noch 
nicht  das  geringste  zivilisatorische  Werk  hervorgebracht  hatte,  gewalt- 
sam in  ein  Volk  des  Buches  und  des  theoretischen  Gesetzes  umgewan- 
delt und  dem  natürlichen  Leben  entfernt  wurde.  Es  hatte  zu  einer  Zeit 
Gesetze  und  Prinzipien  zu  lernen  angefangen,  als  es  noch  nicht  für  das 
Buch  reif  war.  Diese  gezwungene  und  gewaltsame  Entwicklung  be- 
zeugt eine  uralte  jüdische  Tradition.  Gottte*  lautet  die  Tradition, 
stellte  die  Juden  an  den  Fuß  des  Berges  uncTnef  ihnen  zu:  „Wenn  ihr 

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meine  Thora  annehmen  wollet,  ist  es  recht,  und  wenn  ihr  dazu  nicht 
bereit  seid,  werdet  ihr  hier  unter  dem  Berge  euern.  Tod  finden/'  Da 
Moses  seine  wuchtige  Geistesfaust  auf  das  Volk  niedersausen  ließ  und 
dem  Volk  einschärfte,  Tag  und  Nacht  die  Thora  zu  studieren,  und  da 
man  das  Thorastudium,  die  Beschäftigung  mit  dem  theoretischen  Ge- 
setz, mit  Glaubensartikeln  und  ethischen  Prinzipien  als  den  höchsten 
Sinn  des  Daseins,  als  Gott  gefällig  und  als  einträglich  (die  schnelle  Er- 
reichung einer  hohen  Zivilisationsstufe)  schilderte,  fing  es  an,  fleißig 
die  Thora  zu  studieren,  sich  in.  sie  zu  vertiefen  und  sich  mit  ihr  ernst 
zu  beschäftigen,  wie  der  Bauer  sich  mit  seinem  Acker  beschäftigt. 
Und  bis  auf  den  heutigen  Tag  brütet  es  über  der  Thora.  Was  dem 
Keimplasma  eingeimpft  wird  —  wirkt  noch  im  entwickelten  Organis- 
mus nach.  Die  von  Ägypten  befreiten  „jüdischen"  Staatssklaven  waren 
ein  historisches  Keimplasma,  und  Moses,  um  dieses  Keimplasma  ßo 
schnell  wie  möglich  zum  Organismus  auszubilden,  impfte  ihm  etwas 
ein,  dessen  Wirkung  noch  im  Alter  nicht  aufgehört  hat.  Der  Einfluß 
des  Thorastudiums  auf  das  junge  Volksgemüt  ist  dem  Volke  zum 
Schicksal  und  zum  entscheidenden  Faktor  in  seiner  späteren  Geschichte 
geworden.  Während  unseres  ganzen  historischen  Daseins  haben  wir 
uns  mit  Zivilisationstheorie  beschäftigt,  ohne  daß  es  uns  je  gelungen 
ist,  irgendein  bedeutendes  zivilisatorisches  Werk  aus  eigener  Kraft 
hervorzubringen.  Das  jüdische  Volk  hat  nicht  die  Stadien  einer  natür- 
lichen Entwicklung  durchlaufen  und  ist  der  grauen  Theorie  zugeführt 
worden,  bevor  es  genug  Lebenserfahrung  hatte.  Der  Aufenthalt  in 
einer  Zivilisationsmitte,  wie  Ägypten,  hat  diesen  Prozeß  zweifellos 
möglich  gemacht;  denn  in  Ägypten  lernte  es  eine  reife  Zivilisation 
kennen.  Niemals  selbst  zuvor  zivilisatorisch  tätig  gewesen,  glaubte  es. 
Kenntnis  der  Sache  sei  genug,  um  sie  selbst  machen  zu  können.  Auch 
die  Hartnäckigkeit  des  Fronarbeiters,  wie  die  eines  Arbeiters  über- 
haupt, mag  zu  der  Verprinzipialisierung  seines  Geistes  beigetragen 
haben.  Hartnäckigkeit  ist  ein  Schwesterkind  des  Prinzips.  Hier  stehen 
wir  am  Anfang  des  jüdischen  Rationalismus  und  Intellektualismus,  der 
sich  wie  ein  roter  Faden  durch  die  ganze  jüdische  Geschichte  zieht. 

Noch  in  einer  anderen  Beziehung  ist  der  gewaltsame  Versuch  einer 
Verwirklichung  des  Sollens  in  der  Gegenwart  durch  die  geniale  Per- 
sönlichkeit dem  jüdischen  Volk  an  der  Schwelle  seiner  Geschichte  zum 
Verhängnis  geworden,  indem  sie  dem  jüdischen  Geist  eine  sonderbare 
Prägung  gegeben  hat.  Durch  das  Übersehen  der  Gegenwart  und  der 
elementaren  Notwendigkeiten  des  Seins  sind  die  zivilisatorischen  Po- 
tenzen des  Volkes  in  dem  Maße  verkümmert  worden,  daß  sie,  soweit 

60 


gewisse  soziale  Gebilde  in  Frage  kommen,  niemals  zur  Aktualisierung 
gelangten.  Wir  kennen  vier  Phasen  der  sozialen  Entwicklung:  die  des 
freien  Naturzustandes,  wo  jedermann  nur  für  sich  und  seine  Familie 
arbeitet;  die  der  persönlichen  Herrschaft,  wo  der  Herr  der  Eigentümer 
seiner  Arbeitskräfte  resp.  Sklaven  ist;  die  der  Kapitalherrschaft,  in 
der  das  immobile  Kapital  durch  das  mobile  überholt  wird,  und  die  der 
freien  Assoziation,  die  sich  jetzt  langsam  aber  sicher  herausbildet.  Jede 
kulturfähige  ethnische  Gruppe  ist  durch  diese  Entwicklungsphasen  ge- 
gangen, mit  Ausnahme  /der  Juden,  die  als  selbständige  Gruppe  die 
zweite  Phase  auf  Geheiß  des  Gesetzes  übersprungen»  haben ;  denn  die 
Sklaverei  bei  den  Juden,  war  von  Religions  wegen  verboten.  In  Exodus 
20,  1  heißt  es:  So  du  einen,  hebräischen  Knecht  kaufst,  der  soll  dir  sechs 
Jahre  dienen,  im  siebenten  soll  er  frei  ausgehen  umsonst.  Und  im  Levi- 
ticus  25,  35  wird  den  Juden  eingeschärft:  „Wenn  dein  Bruder  verarmt 
neben  dir  lund  verkauft  sich  dir,  so  sollst  du  ihn  nicht  lassen  dienen  als 
einen  Leibeigenen,  sondern  wie  ein  Tagelöhner  und  Gast  soll  er  bei  dir 
sein,  und  bis  zum  Halljahr  bei  dir  dienen."  Und  die  Begründung:  „Denn 
sie  sind  meine  Knechte,  die  ich  aus  Ägyptenland  geführt  habe,  darum 
soll  man  sie  nicht  auf  leibeigene  Weise  verkaufen. "  Die  Juden  sind 
noch  bis  auf  den  heutigen  Tag  auf  diese  Sätze  in  der  Bibel  stolz.  Aber 
indem  die  Juden  die  zweite  Phase  aller  gesellschaftlichen  Entwicklung 
übersprungen  haben,  sind  sie  immer  eine  simple  Kleinbauerngesellschaft 
ohne  komplizierte  Wirtschaft  geblieben».  Wo  aber  die  Struktur  simpel 
ist,  kann  sie  leicht  zusammengerissen  werden.  Sehen  wir  uns  doch  die 
Dinge,  an»,  wie  sie  sind.  In  der  Periode  der  persönlichen  Herrschaft, 
wo  der  'Herr  Eigentümer  seiner  Sklaven  ist,  findet  er  es  bald  in  seinem 
Interesse,  eine  Arbeitsteilung  unter  seinen  Leibeigenen  einzuführen, 
und  da  ihre  Arbeit  mehr  abwirft,  als  er  und  die  Sklaven  brauchen,  kann 
er  den  Überschuß  in  produktive  Anlagen  investieren,  was  eine  unge- 
heure Anhäufung  des  Nationalreichtums,  der  allerdings  nur  dem  Herrn 
gehört,  zur  Folge  hat.  Diese  soziale  Entwicklungsstufe  ist  aber  die  not- 
wendige Vorbereitung  für  die  dritte.  Die  Kapitalherrschaft  bedeutet 
eine  Industrialisierung  der  Welt,  die  eine  komplizierte,  weitausgebrei- 
tete und  innerlich  verästelte  Wirtschaft  notwendig  macht.  Wie  eine 
solche  entwickelte  Wirtschaft  zur  Stärkung  der  politischen  Ordnung  bei- 
trägt, braucht  nicht  einmal  angedeutet  zu  werden.  Eine  simple  wirt- 
schaftliche Struktur  hingegen  macht  den  politischen  Despotismus  nötig, 
weil  die  politische  Ordnung  keine  Stütze  in  der  ökonomisch-sozialen  hat. 
Nicht  die  Ideen  Rousseaus  allein,  sind  als  die  Ursachen  der  heutigen 
politischen  Freiheit  in  Westeuropa  anzusehen,  sondern  auch  die  kom- 

61 


plizierte  Wirtschaft  und  die  Industrialisierung  der  Welt  Aus  diesen 
Darlegungen  geht  hervor,  daß  die  Humanität  des  antiken  Judentums, 
die  dem  natürlichen  Ablauf  der  Dinge  hindernd  in  den  Weg  trat,  die 
jüdische  Zivilisation  im  Keime  erstickt  und  den  jüdischen  Menschen 
der  Wirklichkeit  noch  mehr  entzogen  hat.  Schon  die  Begründung, 
warum  man  den  „verarmten  Bruder"  nicht  zum  Sklaven  machen  soll, 
„denn  sie  sind  meine  Knechte,  die  ich  aus  dem  Ägypterlande  geführt 
habe",  zeugt  von.  weltfremdem  Rationalismus.  Jede  natürliche  Gesell- 
schaftsordnung bildet  sich  an  den  Notwendigkeiten  und  aus  dem 
Wechsel  des  Lebens  selbst  heraus,  und  wo  sie  eine  Schöpfung  der 
wirklichkeitsleeren  Vernunft  ist,  ist  sie  im  besten  Falle  eine  verwirk- 
lichte Utopie  und  von  kurzer  Dauer.  Wir  werden  noch  später  sehen, 
wie  die  ganze  jüdische  Ethik  ein  Erzeugnis  der  Vernunft  ist,  weltfremd 
und  ohne  jede  Basis  in  der  Wirklichkeit,  weil  sie  eine  Antizipation  des 
Sollens  im  Sein  und  rationalistisch  resp.  intellektualistisch  motiviert 
ist.  Der  sittlichen  Satzung  folgt  fast  immer  die  Begründung  „denn  ihr 
wäret  selbst  Knechte  im  Lande  Ägypten",  d.  h.  die  Erinnerung  an 
eigenes  Leiden  wird  zum  Motiv  des  Guten  gemacht  —  mit  andern 
Worten :  Die  Vernunft  ist  der  Quell  der  Sittlichkeit  und  nicht  das  wirk- 
liche Leben. 

Dieser,  dem  in  Bildung  begriffenen  jüdischen  Geist  aufgebürdete 
Rationalismus  hat  den  Juden  weltfremd  gemacht  und  ihm  den  Sinn  für 
die  Wirklichkeit  geraubt.  Mangel  an  Sinn  für  die  Wirklichkeit  ist  eine 
charakteristische   Eigenschaft   des   jüdischen  Geistes. 

Das  Überspringen  gewisser  Phasen  der  sozialen  Entwicklung,  das 
das  Volk  um  die  Erfahrungen  der  Wirklichkeit  gebracht  und  es  politisch 
nie  reif  werden  ließ,  ist  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  ursprüngliche  Kon- 
zeption des  jüdischen,  Monotheismus  geblieben.  Die  ersten  traurigen 
Erfahrungen,  die  die  Juden  bei  ihrem  Eintritt  in  die  Geschichte  gemacht 
haben,  der  Druck  von  außen,  aufreibende  Fronarbeit,  soziale  Ächtung 
und  politische  Entrechtung  haben  ihre  Seele  mit  Erbitterung  erfüllt. 
Ein  Volk,  dessen  Wiege  auf  fremder  Erde  stand,  und  das  schon  in  der 
ersten  Zeit  seines  historischen  Daseins  so  viel  gelitten  hat,  neigt  eher 
zum  Individualismus,  wie  überhaupt  jeder  Erbitterte  und  Bedrückte 
zum  Individualismus  neigt.  Viele  negative  und  zerstörerische  Kräfte, 
die  sich  während  der  Fronarbeitszeit  aufgespeichert  hatten,  kamen  bald 
nach  der  Befreiung  zum  elementaren  Ausbruch  und  vermischten  sich 
mit  den  in  Ägypten  gebildeten  vitalen  Energien,  und  diese  Vermengung 
gab  dem  jungen,  in  Bildung  begriffenen  jüdischen  Geist  einen  eigenen 
Schnitt  und  Form.   Die  Hartnäckigkeit  der  Arbeiter  gesellte  sich  zu  der 

62 


politischen  und  sozialen  Wildheit  des  der  Sklaverei  Entronnenen,  zu  der 
strotzenden  Kraft  des  starken  Menschen,  zu  einer  starken  Lebens- 
bejahung und  der  Taumel-  und  Freudenstimmung  des  Geretteten. 
Nur  der  große,  starke  und  -gefürchtete  Gott,  der  eifervoll  ist  und  rächt, 
der  hart  straft  und  Furcht  und  Schrecken  in  die  Welt  schickt,  hat  der 
Beherrscher  dieses  Volkes  werden  können.  Man  darf  wohl  annehmen, 
daß,  wäre  dieses  Geschlecht  mit  seinem  es  verzehrenden  Subjektivis- 
mus, mit  seiner  seelischen  Verbitterung  und  kraftstrotzenden  Gesund- 
heit bald  nach  seiner  Befreiung  in  eine  politische  Ordnung  gekommen, 
es  hätte  diese  Ordnung  sicherlich  bald  zerstört.  Daher  konnte  nur  die 
große,  unendliche,  angstverbreitende  Wüste  seinen  Geist  beruhigen 
und  seine  Unruhe  bändigen,  und  nur  die  Einsamkeit  der  monotonen 
Wüste  allein  konnte  die  tobende,  von  Erbitterung  vergiftete  Seele  zur 
Ruhe  bringen.  Die  Wüste  und  der  große,  starke  Gott  mit  seinem 
starken  Gesetz,  das  ewig  und  unveränderlich  ist,  vermochten  allein 
diese  wilden,  verbitterten  Menschen,  politische  Atome  zu  einer  Einheit 
zusammenzuhalten.  Aber  das  selbst  so  doppelt  gebändigte  Geschlecht 
hat  noch  kein  Material  für  eine  politische  Gemeinschaft  abgeben 
können.  Einer  psychologisch  feinsinnigen  Überlieferung  zufolge  mußte 
das  ganze  „Wüstengeschlecht"  aussterben.  Ihre  Nachkommen  erst 
sollten  in  das  gelobte  Land  ziehen.  Wir  wissen  natürlich  nicht,  ob  und 
in  welchem  Maße  dieser  biblische  Bericht  auf  Tatsachen  beruht,  allein, 
wer  den  Gang  der  beginnenden  jüdischen  Geschichte  mit  offenem  Blick 
verfolgt,  der  wird  die  psychologische  Wahrheit  des  Berichtes  sofort 
erkennen.  Das  Bild,  welches  die  Bibel  vom  jüdischen  Volkscharakter 
zu  dieser  Zeit  entwirft,  läßt  den  Bericht  von  dem  Aussterben  des 
Wüstengeschlechtes  nur  als  den  letzten  Akt  einer  Tragödie  erscheinen. 
.  .  .  Ohne  im  eigenen  ethnischen  Umkreis  die  den  Willen  bildenden 
sozialen  Phasen  durchgegangen  zu  sein,  und  mit  mehr  Wissen  als 
Können  ausgestattet,  dazu  von  leidenschaftlichem  Affekt  beherrscht, 
war  dieses  Geschlecht  von  einem  seelischen  Extrem  ins  andere  ge- 
worfen. Bald  hoffnungsfreudig,  begeistert  und  auf  eigene  Kraft  ver- 
trauend, gehorchend  und  unternehmungslustig,  bald  verzweifelt,  zu 
Tode  betrübt  und  energielos,  skeptisch  und  kritisch.  Der  Sinai- 
begeisterung folgt  das  goldene  Kalb,  der  Beteuerung  des  Gehor- 
sams folgt  eine  Revolte;  jede  unternommene  Aktion  ward  durch  einen 
nachträglich  aufkommenden  Skeptizismus  gelähmt.  So  schildert  der 
biblische  Bericht  jenes  Geschlecht.  Psychologische  Beobachter  wollen 
oemerkt  haben,  daß  selbst  die  heutigen  Juden  sich  durch  ähnliche 
Charaktereigenschaften   auszeichnen. 

63 


So  mußte  dem  biblischen   Bericht  zufolge  das  Wüstengeschlecht, 
unfähig,  sich  zu  einer  sozialen  und  politischen  Ordnung  zu  fügen,  aus- 
sterben,  weil  selbst   der  große,   starke  und  fürchterliche  Gott  oft  an 
diesem  Geschlecht  verzweifeln  mußte.   Unvd  der  Herr  sprach  zu  Moses: 
„Ich  sehe,  daß  es  ein  halsstarrig  Volk  ist.  Und  nun  laß  mich,  daß  mein 
Zorn  über  sie  ergrimme  und  sie  vertilge;  so  will  ich  dich  zum  großen 
Volke   machen. "    Und  Moses  muß   erst  den  starken,  an  seinem  Volk 
verzweifelnden  Gott  an  seinen  Schwur  erinnern,   um  ihn  von  seinem 
Vernichtun,gswerk    abzubringen.     Der    nicht   domestizierte    Wille    war 
nicht   zu   bändigen,    selbst  die   Allmacht   des  großen,    starken   Gottes 
konnte  ihn  nicht  unterkriegen,  und  in   Ermangelung  eines  politischen 
Despotismus  trat  der  Despotismus  des  Gesetzes  des  großen  und  starken 
Gottes  als  Bändiger  auf  und  setzte  dem   wilden  Individualismus  eine 
Grenze.    Wo  immanente  Kräfte  nicht  regieren  können,  muß  eine  ord- 
nungschaffende  Kraft  von   außen  kommen.    Je  stärker  der  Geist  der 
Rebellion,   „desto  aktiver  die  Kriegsgerichte".    Das   rigorose  jüdische 
Gesetz  ist  nur  als  ein  Kriegsgericht  zu  verstehen.   Ein  rigoroses  Gesetz 
von  außen,  ohne  Basis  in  der  normalen  Wirklichkeit,  hat  verwilderte 
Individuen   zu   einem   Volke  zusammengeschweißt,   und  zu   einem  ge- 
wissen Grade  ist  dieses  Gesetz  die  einzige  Ursache  der  Fortexistenz 
dieses    Volkes    durch    die  schicksalsreichen    und    wechselvollen    Jahr- 
tausende.   So  hat  sich  der  werdende  jüdische  Geist  nicht  an  den  Er- 
fahrungen des  Lebens,  sondern  an  einem  Abstraktum  gebildet.   Überall 
sonst   erkennen   wir  aber  das   abstrakte  Gesetz   als   ein   Substrat  des 
Lebens,  als  die  Formulierung  der  Lebenserfahrung.    Die  Folgen  dieses 
Formationsprozesses     sind     kaum     zu    übersehen.      Dem     wirklichen 
Leben  entfremdet  und  der  natürlichen   Erfahrung  entrissen,   hatte  der 
antike  Jude  niemals  Gelegenheit,  sich  in  die  Natur  zu  vertiefen.    Ein 
Volk  von  der  Begabung  des  jüdischen,  hat  so  gut  wie  nichts  auf  dem 
Gebiete  der  Naturerkenntnis  geleistet.   Da  auch  künstlerisches  Schaffen 
das  Orientiertsein  an  der  Natur  voraussetzt,  hat  auch  der  antike  Jude 
auf   diesem    Gebiet  nichts   Wesentliches   hervorgebracht.     Plastik   war 
nie  Sache  des  Juden.   Auch  seine  technischen  Fähigkeiten  mußten  un- 
entwickelt bleiben.    Selbst   zur  Zeit   Salomos,    als   die  politische   und 
soziale  Ordnung  schon  stabilisiert  war  und   das   Volk  auf  der  Höhe 
seiner   Macht   und  seiner  Zivilisation    stand,   gab   es  keinen    einzigen 
Juden,  der  „Holz  zu  hauen  wußte".   Salomo  schreibt  an  König  Hiram: 
„So  befiehl  nun,  daß  man  mir  Zedern  aus  dem  Libanon  haue,  und  daß 
deine  Knechte  mit  meinen  Knechten  seien.  Und  den  Lohn  deiner  Knechte 
will  ich  dir  geben,  alles,  wie  du  sagtest.    Denn  du  weißt,  daß  bei  uns 

64 


niemand  ist,  der  Holz  zu  hauen  wisse,  wie  die  Sidonier."  Der  antike 
jüdische  Geist  war  also  an  der  Erfahrung  und  an  der  Natur  so  gut  wie 
gar  nicht  orientiert,  und  seine  intellektuellen  Potenzen  aktualisierten 
sich  nur  in  Religion,  Ethik  und  Dichtung  —  drei  Schwesterkinder  des 
auf  sich  selbst  angewiesenen  Geistes. 

Dieser  Prozeß  mag  auch  noch  in  gewissen  Potenzen  der  semiti- 
schen Rasse  begründet  sein.  Der  von  den  Arabern  hervorgebrachte 
vIslam"  kann  insofern  als  Analogon  zum  antiken  Judentum  angesehen 
werden,  als  auch  er  zivilisationshemmend  und  kulturfördernd  gewirkt 
und  gleich  dem  Judentum  den  ganzen  Schwerpunkt  des  Lebens  auf 
das  Glaubensgesetz,  auf  ein  Prinzip,  das  nicht  im  Leben  selbst  be- 
gründet ist,  gelegt  hat.  ; 

Der  Leser  könnte  einwenden,  daß  dieses  von  dem  Werden  des 
jüdischen  Geistes  entworfene  Bild  nur  auf  Spekulation  beruhe,  weil 
es  isich  nur  auf  den  biblischen  B'ericht  aufbaue.  Die  Bibel  ist  aber  in 
erster  Reihe  ein  religiöses  Dokument.  Ihre  Geschichtlichkeit  mag  an- 
gezweifelt werden,  und  es  ist  fraglich,  ob  ihre  Geschichtlichkeit  sich 
überhaupt  verwerten  läßt.  Es  ist  wahr,  daß  die  Bibel  im  engeren  Sinn 
des  Wortes  kein  Geschichtsbuch  ist  und  daß  ihre  Berichte  über  das 
Leben  und  Treiben  der  Juden  vor  und  seit  dem  Auszug  aus  Ägypten 
bis  Ezra  und  Nehemia  njcht  den  Wert  von  historischen  Dokumenten 
haben  können.  Es  ist  aber  zu  bedenken,  'daß  wir  auf  der  einen  Seite 
keinen  anderen  Bericht  über  die  ersten  'geschichtlichen  Phasen  des 
jüdischen  Volkes  besitzen,,  auch  keine  indirekten  —  trotz  aller  Speku- 
lationen der  Rassentheoretiker  und  der  Historiker  der  Antike,  und 
daß  andererseits  der  biblische  Bericht,  mag  er  mit  noch  so  vielen 
Legenden  und  folkloristischen  Elementen  vermengt  sein,  so  viel  Ur- 
sprünglichkeit und  Frische  hat,  daß  man  aus  ihm  die  psychologische 
Wahrhaftigkeit  gleich  erkennen  kann.  Vom  Gesichtspunkt  des  engeren 
Begriffes  der  Geschichte  kann  selbstverständlich  die  Bibel  als  keine 
historische  Unterlage  für  eine  historische  Rekonstruktion  dienen,  aber 
es  gibt  eine  höhere  Geschichtsschreibung  als  die,  die  bloß  auf  Doku- 
menten 'und  trocktenen  Fakten  beruht,  eine  Geschichtsschreibung,  die 
aus  dem  Gebiet  der  Ewigkeit  schöpft,  weil  sie  in  jeder  von  ihr  festge- 
haltenen Tatsache  nicht  nur  die  Vergangenheit  beschreibt,  sondern 
auch  die  Zukunft,  also  die  ewige  Wiederkehr  erzählt.  Die  biblischen 
Berichte  über  das  Leben  und  Treiben  der  Juden  seit  ihrer  Werdung 
atmen  den  Geist  der  ewigen  Widerkehr,  sonst  wäre  auch  nicht  die 
Bibel  zum  Buche  der  Menschheit  geworden.  Es  ist  ein  Menschheits- 
buch, weil  es  an  dem  Exempel  eines  Volkes  die  Schicksale  der  Mensch- 

5    Melamed 

65 


heit  beschreibt.  Die  biblischen  Berichte  sind  zu  treuherzig  und  tragen 
zu  sehr  den  Stempel  der  Wahrhaftigkeit,  als  daß  es  nicht  gestattet 
wäre,  sich  ihrer  bei  einer  historischen  Rekonstruktion  der  Dinge  zu 
bedienen.  Eine  Zeitlang  wurde  zum  Beispiel  der  biblische  Bericht  von 
dem  Aufenthalt  der  Juden,  in  Ägypten  angezweifelt,  bis  man  auf  dem 
alten  Stein,  der  in  den  Ausgrabungen  in  Ägypten  gefunden  wurde,  das 
Wort  „Israel"  eingeritzt  sah,  und  bis  Orientalisten  entdeckten,  daß 
in  den  ersten  zwei  Büchern  Moses,  wo  viel  von  Ägypten  gesprochen 
wird,  viele  ägyptische  Wörter  gebraucht  werden.  So  ist  zum  Beispiel 
der  biblische  Ausdruck  ^,beachu"  —  auf  der  Wiese  —  ein  ägyptisches 
Wort  und  noch  ähnliche  Ausdrücke.  Wenn  die  Juden  nie  in  Ägypten 
gewesen  wären,  wie  würden  diese  ägyptischen  Wörter  gerade  in  den 
ersten  zwei  Büchern.  Moses,  wo  viel  von  Ägypten  gesprochen  wird, 
Eingang  gefunden  haben?  Man  mag  den  Bibelkritikern  zugestehen, 
daß  die  biblischen  Berichte  von  gewissen  folkloristischen  Momenten 
durchsetzt  sind,  aber  dieses  fokloristische  Moment  modifiziert  kaum 
den  Geschichtswert  der  Berichte.  Es  wäre  vielleicht  psychologisch 
unzuverlässig,  die  biblischen  Berichte  für  eine  historische  Material- 
sammlung zu  verwenden,  aber  die  Bibelkritik  ist  nicht  der  Weisheit 
letzter  Schluß,  denn  sie  ist  oft  genug  subjektiv  und  nicht  selten  rein 
hypothetisch. 

Betrachten  wir  nun  den  jüdischen  Geist  aus  einer  Vogelperspek- 
tive, wie  er  sich  in  seinen  großen  Erzeugnissen  offenbart.  Was  sofort 
ins  Auge  fällt,  ist  sein  indifferentes,  wenn  nicht  gar  negatives  Ver- 
hältnis zur  Natur,  im  Gegensatz  zum  griechischen  mit  seinem  positiven 
Verhältnis  zur  natürlichen  Wirklichkeit.  Das  Bestreben  des  jüdischen 
Geistes  war,  wie  aus  der  Religion  und  Ethik  zu  ersehen  ist,  auf  die 
Überwindung  der  Natur  konzentriert,  aber  das  sollte  geschehen  nicht 
durch  Meistern,  Beherrschen  und  Erobern  der  Natur,  sondern  durch 
ein  selbstbewußtes  Sich-Entfernen  von  der  Natur.  Seit  400  Jahren 
ist  es  das  Bestreben  des  europäischen  Geistes,  der  Natur  Herr  zu  wer- 
den, aber  nicht  durch  Ignorieren  der  Natur,  sondern  durch  die  Er- 
forschung ihrer  Gesetze.  Der  antike  Jude  dachte  auch  nicht  daran, 
die  Natur  für  seine  Privatzwecke  auszubeuten,  wie  etwa  Lord  Bacon 
es  im  Auge  hatte,  sondern  sein  Bestreben,  die  Natur  zu  überwinden, 
war  nur  ethisch  motiviert.  Die  ethische  Überwindung  der  Natur  be- 
deutet „Weg  von  der  Natur";  die  zivilisatorische  Überwindung  der 
Natur  bedeutet  „Das  Naturreich  zu  meistern  und  die  Kräfte  in  der 
Natur  zu  beherrschen".  Die  Natur  ist  amoralisch,  weil  sie  alogisch 
ist,    während    der    Mensch    ein    vernünftiges   und    mithin    ein    sittliches 

66 


Wesen  ist.  Sie  erscheint  dem  Juden  von  vornherein  als  der  Ursprung 
des  Übels,  das  radikale  Böse,  und  verdiente  nicht,  daß  man  sich  mit 
ihr  beschäftige.  Die  Sünde  und  das  Übel  verkörpernd,  kann  sie  un- 
möglich des  Menschen  Lehrmeisterin  sein,  und  deshalb  lautete  die 
Parole  des  antiken  Juden  „Weg  von  der  Natur".  Diese  bewußte 
negative  Beziehung  der  antiken  Juden  zu  den  ersten  Kräften  des 
Lebens  war  von  großem  Einfluß  auf  die  weitere  Entwicklung  des 
Judentums.  Durch  seine  ethisch  motivierte  Gegnerschaft  zur  Natur, 
weil  er  sie  nie  kannte,  entzog  er  sich  der  Möglichkeit  der  analytischen 
Ausbildung  und  Schärfung  seines  Geistes  und  der  Handhabung  des 
Experiments.  Aus  diesem  Grunde  hat  der  antike  jüdische  Geist  auch 
keine  Philosophie  im  Sinne  einer  Schulphilosophie  hervorgebracht, 
sondern  eine  Gottesweisheit. 

Die  griechische  Philosophie  ist  ursprünglich  Naturphilosophie  resp. 
Naturwissenschaft.  Der  erste  griechische  Philosoph  Thaies  erklärte, 
alles  ist  Wasser,  Anaximenes  wollte  alles  aus  der  Luft  ableiten.  Das 
Wesen  aller  Dinge,  erklärte  Heraklit,  ist  das  Feuer.  Dann  kam  De- 
mokrit  mit  seiner  Lehre  vom  Zentralfeuer  und  mit  seiner  Musiklehre, 
die  auf  Naturbeobachtung  zurückgeht.  Auch  der  Name  Aristoteles  ist 
unzertrennlich  mit  der  Geschichte  der  Naturwissenschaft  verbunden. 
Was  folgt  daraus?  Der  griechische  Geist  hatte  sich  an  der  Natur  ge- 
bildet, und  seine  Naturphilosophie  ist  nichts  anderes  als  Naturwissen- 
schaft und  deren  begriffliche  Abstraktion.  Was  hingegen  der  jüdische 
Geist  geschaffen  hat,  ist  nicht  aus  einer  Orientierung  an  der  Natur 
hervorgegangen.  Seine  Schöpfungen  sind,  wenn  man  so  sagen  darf, 
Schöpfungen  des  reinen  Geistes,  der  intellektuellen  „Erfahrung"  und 
der  rein  intellektualistisch-moralischen  Einsicht.  Weder  der  jüdische 
Gottesglaube,  noch  die  jüdische  Ethik,  noch  die  jüdische  Politik,  deren 
^Grundsätze  der  Überlieferung  nach  schon  in  der  Wüste  festgelegt 
waren  (woraus  Philo  auf  ihre  Weisheit  schließt),  sind  Produkte  der 
äußeren  Erfahrung,  weil  nicht  die  biologische  Natur  seine  Lehrmeisterin 
war.  Der  jüdische  Geist  war  theozentrisch  disponiert,  der  griechische 
Geist  geo-  und  anthropozentrisch.  Der  Grieche  vertiefte  sich  in  die 
Natur  und  ihre  Gesetze.  Was  er  in  der  Natur  für  wahr  erkannt  zu 
haben  glaubte,  übertrug  er  auf  die  Metaphysik.  Der  theozentrische 
Geist  der  Juden  hielt  sich  von  der  Natur  fern,  um  sie  auf  dem  Wege 
des  Geistes  zu  überwinden.  Diese  Tendenz  seines  Geistes  war  es, 
die  ihn  von  der  bildenden  Kunst  ablenkte,  und  nicht  das  religiöse 
Verbot;  denn  kein  Volk,  das  nach  künstlerischem  Schaffen  strebt, 
wird    ein    solches    Verbot   hinnehmen.     Vielmehr    müssen    wir   dieses 

5* 

67 


Verbot  als  eine  Bestätigung  und  als  einen  Ausdruck  seiner  geistigen 
Eigenschaften   betrachten. 

Mit  dem  Verhältnis  zur  Natur  hat  es  sein  eigenes  Bewenden. 
Ein  positives  logisches  Verhältnis  zur  Natur  führt  zum  Experiment 
und  zur  Analysis.  Der  Gipfelpunkt  in  der  griechischen  Philosophie 
ist  Aristoteles,  und  der  Stagirite  ist  die  Verkörperung  des  analytischen 
Denkens.  Er  ist  bekanntlich  der  Schöpfer  der  formalen  Logik.  Ein 
negatives  Verhältnis  zur  Natur,  wie  es  die  alten  Juden  unterhalten 
hatten,  umgrenzte  den  Bewegungsumkreis  des  Geistes,  indem  es  ihn 
auf  sein  eigenes  Innere  beschränkte.  Ist  nun  der  Geist  einmal  auf 
sich  selbst  angewiesen  und  gar  nicht  an  der  Natur  orientiert,  dann 
schafft  er  nicht  analytisch,  sondern  synthetisch,  nicht  diskursiv,  son- 
dern intuitiv.  Die  intuitive  Disposition  des  jüdischen  Geistes  ist  aus 
dem  völligen  Mangel  an  Problemen  bei  seinen  Vertretern  zu  erkennen. 
Die  ganze  Philosophie,  die  griechische  inbegriffen,  ruht  auf  dem  Grunde 
des  Problems.  Die  Geschichte  der  Philosophie  ist  nichts  mehr  als 
eine  Geschichte  von  Problemen  und  Versuchen  zu  ihren  Lösungen. 
Das  ist  aus  der  Geschichte  der  Wissenschaftslehre  zu  ersehen.  Dem 
Träger  des  antik-jüdischen  Geistes  war  die  methodologische  Medi- 
tation, die  kritische  Erwägung  und  das  problematisch-analytische  For- 
schen und  Denken  absolut  unbekannt.  Der  Prophet  verkündete  seine 
Lehre  augenscheinlich  aus  einer  Improvisation  heraus,  die  aber  nichts 
weniger  als  eine  Improvisation  war.  Er  lehrte  vielmehr  aus  dem 
tiefsten  inneren  Wissen,  er  schöpfte  aus  dem  Quell  seiner  eigenen 
sittlichen  Persönlichkeit.  Für  ihn  gab  es  keine  Zweifel,  keine  Probleme, 
keine  analytisch-kritischen  Erwägungen;  so  sicher  war  er  seiner  Sache. 
Dieses  absolut  sichere  innere  Wissen,  das  niemals  unterbrochen  wurde, 
ist  nur  dem  intuitiven  Genius  gegeben;  denn  das  analytische  Denken 
ist  immer  mit  dem  Problem  verschwägert.  Da  heißt  es  prüfen,  unter- 
suchen, vergleichen  und  feststellen.  Auch  die  Griechen  sind  letzten 
Endes  zur  Gotteserkenntnis  gekommen,  nachdem  sie  ein  Jahrtausend 
analysiert  und  experimentiert  harten.  Bei  den  Griechen,  die  an  der 
Natur  orientiert  waren,  ist  die  Gotteserkenntnis  der  Endpunkt,  bei 
den  Juden,  die  an  dem  ^reinen  Geist"  orientiert  waren,  ist  der  Gottes- 
gedanke Ausgangspunkt.  Bei  den  Griechen  ist  aber  der  Monotheis- 
mus, selbst  in  seiner  aristotelischen  Gestalt,  niemals  Gemeingut  der 
Massen  geworden;  denn  es  ist  nicht  Sache  des  gemeinen  Mannes,  zu 
philosophieren.  Die  Juden,  die  zu  Gott  ohne  analytische  Philosophie 
kamen,  sind  bis  auf  den  heutigen  Tag  die  Träger  des  Gottesgedankens 
resp.  des   reinen   geistigen   Monotheismus,  geblieben. 

68 


Innerhalb  des  Umkreises  der  jüdischen  Kultur  gibt  es  nur  eine 
Ethik,  eine  Theologie,  eine  Politik,  ein  Recht  usw.  Innerhalb  des  Um- 
kreises der  griechischen  Kultur  gibt  es  etwa  zwanzig  verschiedene 
und  einander  sich  ausschließende  Systeme  der  Metaphysik,  der  Ethik 
und  der  Politik.  Trotzdem  ist  der  Quell  des  griechischen  Geistes  das 
Kollektivum,  der  Born  des  jüdischen  Geistes  die  Persönlichkeit.  Das 
ist  kein  Paradox,  sondern  ein  nacktes  Faktum.  In  Griechenland  war 
auch  nicht  jeder  ein  aktueller  Künstler,  aber  jeder  Grieche  liebte  und 
förderte  die  Kunst.  Denn  der  griechische  Mensch  unterhielt  ein  inniges 
Verhätnis  zum  Schönen,  und  die  gebildeten  Kreise  auch  zum  Guten. 
Kunst  und  Philosophie  waren  in  Griechenland  Produkte  des  Kollek- 
tivums,  der  einzelne  Künstler  und  Philosoph  nur  Vertreter  der  geistigen 
Bewegungen  und  Strebungen  des  Kollektivums.  Das  Schönheitsbewußt- 
sein lag  jedem  Griechen  dermaßen  im  Blut,  daß  man  ohne  Übertrei- 
bung sagen  .kann,  jeder  Grieche  war  potenziell  ein  Künstler.  Kann 
man  dasselbe  von  den  Juden  der  Antike  sagen?  Stand  nicht  jeder 
Prophet  im  absoluten  Gegensatz  zu  den  eigentlichen  Bestrebungen 
und  Tendenzen,  Wünschen  und  Absichten  und  Bewegungen  seines 
Volkes?  Das  Volk  war  ungerecht;  der  Prophet  lehrte  es  Gerechtig- 
keit; das  Volk  war  von  seinem  Gott  abgewandt,  der  Prophet  trieb 
es  fast  gewaltsam  und  mit  der  Flamme  seines  Wortes  zu  Gott  zurück; 
das  Volk  lebte  in  Luxus  und  Ausschweifung;  der  Prophet  "führte  es 
gewaltsam  in  das  schlichte  Leben  zurück;  das  Volk,  einem  natürlichen 
Triebe  nachgebend,  folgte  dem  Einfluß  des  Milieus  und  gewährte 
fremden  Kulturgütern  Eingang  in  seine  Mitte;  der  Prophet  trieb  wider 
den  Willen  des  Volkes  die  von  der  Fremde  in  Juda  geschlagenen 
Kulturwellen  zurück.  Jeder  Jude  war  nicht  etwa  ebenso  ein  kleiner 
Jesaja  oder  Jeremia,  wie  jeder  Grieche  ein  kleiner  Homer  und  ein 
kleiner  Aristoteles  war.  Der  Prophet  war  nicht  an  der  Zeitlichkeit  des 
Volkes,  sondern  an  der  Ewigkeit  einer  Idee  orientiert.  Sein  Geist 
begegnete  sich  feindlich  mit  dem  des  Volkes.  Daher  das  ständige 
Martyrium  des  Propheten,  daher  seine  Strafpredigten  und  rigorosen 
Ermahnungen. 

Das  Zeitliche  vergeht;  das  Ewig- Wahre  (nicht  Wirkliche)  ist  un- 
sterblich und  unvergänglich.  Als  das  griechische  Volk,  der  Nährboden 
des  griechischen  Geistes,  erstarb,  hörte  auch  die  griechische  Philo- 
sophie und  die  griechische  Kunst  auf.  Es  hinterließ  der  Menschheit 
viele  philosophische  Systeme  und  die  Weltanschauung,  von  der  man 
sagen  kann,  sie  sei  der  Ausdruck  des  griechischen  Geistes.  Als  aber 
das  jüdische  Volk   als  Volk,  d.  h.  als  politische  Einheit,  erstarb  und 

69 


die  Juden  nach  allen  Himmelsrichtungen  sich  zerstreuten,  blieb  ein 
Buch,  das  Buch  der  Menschheit,  die  Bibel;  blieb  eine  Weltanschauung-, 
die  Zugkraft  genug  besaß,  der  große  Magnet  für  die  vielen  Eisen- 
splitter —  das  Zentrum  für  das  zerstreute  Volk  zu  werden.  So  einfach 
dieses  Faktum  ist  und  erscheinen  mag,  so  verwickelt  sind  seine  Gründe. 
Das  Judentum  ist  bekanntlich  ein  System  von  umschriebenen  Ge- 
setzen. Der  jüdische  Geist  ruht  aber  auf  individualistischem  Grund, 
offenbart  sich  nur  in  individueller  Brechung.  Wie  reimt  sich  das  nun? 
Gesetz  und  Individualität  —  Allgemeines  und  Besonderes  —  schließen 
sich  doch  immer  aus?  Die  Tatsache  ist  aber  diese,  daß  das  Gesetz 
kein  Gesetz  der  Wirklichkeit  und  keine  Formulierung  der  Lebens- 
erfahrung war,  sondern  ein  „Gesetz"  des  Geistes,  der  Persönlichkeit 
—  .des  Religions-  und  Staatsgründers,  geschaffen  als  Barriere  für  die 
vielen  gegeneinander  existierenden  Individuen  einer  Gruppe.  Der  Geist 
dieser  Persönlichkeit,  nicht  auf  das  Dasein  der  Welt,  sondern  auf  das 
Dasein  des  Menschen  konzentriert  und  gerichtet,  war  selbst  der  Träger 
und  Verkörperer  des  Gesetzes.  Sein  einziges  Ziel  war:  die  Erhaltung 
und  Erziehung  des  eigenen  Volkes,  die  nur  durch  das  Gesetz  möglich 
wurde.  So  war  die  Persönlichkeit  in  sich  selbst  Gesetz  —  ihre  histo- 
rischen Bestrebungen  machten  'sie  selbst  zur  Quelle  des  Gesetzes  — 
zum  Wesen  des  Gesetzes.  Aus  diesem  Grunde  blieb  der  intuitive 
Gedanke,  der  sonst  einer  wilden,  regellosen  Strömung  gleicht  und  sich 
oft  selbst  überflutet,  in  bestimmten  Grenzen.  Die  Persönlichkeit  hatte 
sich  selbst,  d.  h.  das  Gesetz,  dem  Volke  so  eingeschärft,  des  Volkes 
Bewußtsein  und  Geist  mit  dem  Inhalt  des  Gesetzes  so  sehr  ausgefüllt, 
•daß  das  Gesetz  zur  ersten  treibenden  Kraft  im  Volksleben  wurde.  So- 
bald aber  das  Gesetz  sich  so  inhaltsvoll  erhalten  konnte,  das  Fort- 
leben des  Gedankens  der  schicksalschmiedenden  Persönlichkeit  ge- 
sichert blieb,  war  auch  die  weitere  Existenz  des  jüdischen  Volkes  ge- 
sichert; denn  dieser  jüdische  Kulturgedanke,  so  sehr  er  auch  gegen 
die  nackte  Wirklichkeit  des  Lebens  verstoßen  ma,g,  so  wirklichkeits- 
leer er  im  Verhältnis  zum  Kulturgedanken  der  asiatischen  Völker  ist, 
und  so  wenig  Basis  er  im  Leben  auch  haben  mag,  ist  nichtsdestoweniger 
so  gewaltig  und  mächtig,  reich  und  schöpferisch,  daß  er  auf  die  in 
seinem  Umkreise  Lebenden  wirkt  wie  die  Sonne  auf  die  Erde.  Er 
treibt  immer  wieder  große  Pflanzen  des  Geistes  hervor,  er  ruft  immer 
wieder  große  Männer  an  das  Licht  des  Tages,  die  den  Gedanken  weiter 
pflegen  und  entwickeln  und  bilden.  Von  der  Stilgröße  dieses  Ge- 
dankens macht  man  sich  einen  Begriff,  wenn  man  bedenkt,  daß  er 
zwei  Religionen,  die  inhaltlich  mit  der  jüdischen,  wie  wir  bald  sehen 

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werden,  fast  gar  nichts  gemein  haben,  Form  und  Relief  gegeben  und 
seit  zwei  Jahrtausenden  die  größten  Geister  der  Menschheit  im  Banne 
hält.  So  beruht  bei  näherem  Zusehen  die  Existenz  des  jüdischen  Volkes 
auf  dem  jüdischen  Kulturgedanken  und  auf  der  großen  Persönlichkeit, 
die  dieser  Gedanke  hervorzubringen  immer  wieder  imstande  ist.  Nie- 
mals war  irgendein  konkreter  soziologischer  Faktor,  wie  etwa  das 
Land  oder  die  Dynastie,  die  zusammenhaltende  und  nationaleinigende 
Kraft  der  Juden,  sondern  immer  nur  das  Gesetz,  die  Thora,  der  ab- 
strakte Gedanke,  das  ethische  Prinzip;  kurzum  der  jüdische  Kultur- 
gedanke, der  dem  Europäer,  der  die  Bibel  kennt,  als  ein  idealistisches, 
wirklichkeitsleeres  Gebild,  ein  Luftschloß,  erscheinen  mag,  war  die 
zusammenhaltende  Kraft. 

Man  mag  nun  diesen  jüdischen  Kulturgedanken  (die  Einheit  Gottes, 
die  Einheit  des  Menschengeschlechts  und  die  Einheit  der  Geschichte) 
bewerten  wie  man  will  (und  es  gibt  selbst  viele  europäische  Juden, 
die  ihn  gering  einschätzen),  seine  innere  harmonische  Einheit  und 
Abgeschlossenheit  muß  man  bewundern.  Burckhardt  spricht  vom  grie- 
chischen Kulturgedanken,  Deußen  von  dem  indischen  und  Nietzsche 
von  dem  iranisch-parsischen.  Es  gibt  griechische  Weltanschaungen, 
wenn  auch  die  Kalokagathie  alle  umfassen  kann;  es  gibt  indische  Welt- 
anschauungen, die  vielleicht  alle  eine  oberste,  sie  verbindende  Tendenz 
haben  —  es  gibt  aber  nur  eine  jüdische  Weltanschauung  des  antiken 
Judentums,  die  ihre  Einheitlichkeit  selbst  dort  dokumentiert,  wo  sie 
über  den  Rahmen  des  Gesetzes  hinausgeht  und  mehr  literarisch-philo- 
sophische Richtung  in  der  Weltgeschichte  ist.  Die  alten  Inder  z.  B. 
glaubten  an  viele  Götter  und  zu  gleicher  Zeit  an  einen  Weltgeist;  sie 
glaubten  an  die  Freiheit  des  Willens  und  zu  gleicher  Zeit  an  den 
Determinismus,  an  die  Realität  der  Welt  und  an  die  Idealität  der  Welt. 
Ähnliches  gilt  von  den  antiken  Griechen;  denn  hier  ist  der  Geist  Zeit- 
bewußtsein und  temporäres  Volksbewußtsein.  Aber  nicht  nur  in  Kul- 
tursystemen großer  Völker,  sondern  auch  in  einzelnen  Philosophie- 
Systemen  finden  wir  Widersprüche.  Kant  z.  B.  lehrte  die  Autonomie 
des  Willens  und  zu  gleicher  Zeit  das  Ding  an  sich,  das  ein  unterirdi- 
sches, unsichtbares  Verhältnis  zum  Menschen  unterhält  und  seine 
Handlungen  bestimmt.  Er  lehrte,  daß  Zeit  und  Raum  Anschauungs- 
formen a  priori  sind,  und  übersah,  daß  es  keine  Form  ohne  Inhalt 
gibt,  daß  vielmehr  jede  Form  die  Form  eines  bestimmten  Inhaltes 
ist.  Und  Kant  nennt  man  doch  den  kritischen  Philosophen.  Der  an- 
tiken jüdischen  Weltanschauung  sind  solche  Widersprüche  absolut 
unbekannt.   Was  der  eine  Prophet  lehrte,  lehrte  auch  der  zweite,  und 

71 


nie  widerlegte  oder  verleugnete  der  eine  Prophet  die  Lehre  eines  an- 
deren Propheten,  während  die  Philosophie  zu  drei  Vierteln  daraus 
besteht,  daß  der  eine  Philosoph  die  Lehre  seines  Vorgängers  zu 
widerlegen  sich  bemüht.  Der  jüdische  Geist  bewegt  sich,  trotz  seiner 
individuellen  Brechung,  immer  in  einer  Richtung  —  nicht  nur,  weil 
er  sich  durch  das  Gesetz  seine  Bewegungen  vorgeschrieben  hat,  son- 
dern weil  ihm  wegen  mehrerer  antizipativer  Erkenntnisse  auf  dem 
Wege  der  Intuition,  wie  z.  B.  der  Erkenntnis  der  genannten  drei  Ein- 
heiten, die  Beschäftigung  mit  vielen  Erscheinungen  erspart  geblieben 
ist,  so  daß  er  seine  Bewegungen  auf  einen  bestimmten  Umkreis  be- 
schränken konnte.  Gott  war  erkannt,  der  Plan  der  Geschichte  erkannt, 
die  Einheit  des  Menschengeschlechtes  ebenfalls.  Die  höchste  Gewiß- 
heit war:  die  Möglichkeit  des  Guten  und  die  Pflicht  zum  Guten. 
Metaphysische  Grübeleien  waren  demnach  zwecklos,  ebenso  Sozial- 
und  Geschichtsphilosophie.  So  konnte  der  Geist  sich  auf  die  Aktuali- 
sierung sittlicher  Potenzen  konzentrieren.  Daß  die  antizipativen  Er- 
kenntnisse vermittels  der  Intuition  den  philosophischen  Trieb  von  vorn- 
herein töteten,  versteht  sich  von  selbst.  Aus  diesem  Grunde  konnten 
auch  keine  anderen  Wissenschaften  aufkommen.  Es  blieb  also  nur  die 
eine  Lehre,  diese  eine  Erkenntnis.  Sie  mag  als  die  Kultur  einer  ganzen 
Nation  ärmlich  erscheinen,  aber  sie  ist  innerlich  so  geschlossen  und 
konsequent,  daß  sie  fast  einem  gut  funktionierenden  Mechanismus 
gleicht.  Von  einem  Ausgangspunkt  ergibt  sich  das  Ganze.  Sobald 
das  erste  Prinzip  begriffen  ist,  ist  das  ganze  innere  Räderwerk  leicht 
erkennbar.  Wenn  es  seine  Richtigkeit  hat,  daß  jeder  große  Kultur-, 
gedanke  entweder  deduktiv  oder  induktiv  beginnt  und  sich  entwickelt, 
wie  etwa,  was  schon  Buckle  bemerkt  hat,  der  deutsche  und  der  ameri- 
kanische Kulturgedanke,  so  ruht  der  jüdische  ganz  auf  dem  Grunde 
der  Deduktion.  Der  Geist  des  antiken  Judentums  äußert  sich  nicht, 
wie  der  des  alten  Griechentums,  in  unzähligen  Variationen,  in  tausend 
bunten  schillernden  Farben,  sondern  einerlei,  simpel,  monoton  .  .  . 
Die  Monotonie  ist  aber  groß  und  gewaltig  und  bezwingend  wie  die 
der  Wüste.  Der  große  jüdische  Geistesträger,  immer  an  demselben 
begrenzten  Objekt  orientiert,  hat  die  vollste  Kontrolle  über  die  Be- 
wegungen des  Gedankens;  denn  wie  gesagt,  er  ist  nicht  der  personi- 
fizierte Ausdruck  der  Volkswünsche,  nicht  das  Bewußtsein  seiner 
Gegenwart,  sondern  umgekehrt,  der  Bildner  seiner  Zeit  .  .  .  Der 
Widerspruchsgeist  entwickelte  sich  bei  den  Juden  erst  dann,  als  — 
durch  das  Zusammentreffen  mit  Hellas  und  Rom  —  die  intuitive  Kraft 
des  Denkens  gebrochen  und  das  Licht  der  Prophetie  verglommen  war. 

72 


In  das  Judentum  drangen  fremde  Elemente  ein,  wodurch  es  in  einen 
Defensiv-Zustand  versetzt  wurde.  Daraus  war  die  Notwendigkeit  der 
Apologie  und  des  Beweises  entstanden.  Aber  selbst  im  Talmud,  der 
ganz  auf  der  Analysis  ruht  (und  teilweise  aus  diesem  Grunde  nicht 
wie  die  Bibel,  Menschheitsgut,  sondern  nur  nationales  Gut  geworden 
ist),  leuchtet  noch  hie  und  da  das  intuitive  Feuer  auf.  Oft  wird  da  mit 
einem  Wort,  mit  einer  Wendung  eine  ganze  Gedankenwelt  offenbart. 
Die  Begrenztheit  der  Bewegung  des  jüdischen  Geistes  auf  das 
Menschendasein  ist,  wie  gesagt,  nur  aus  seiner  Entwicklungsgeschichte 
heraus  zu  verstehen.  Die  Geburt  des  jüdischen  Volkes  erfolgte  unter 
Qualen  und  Pein.  Seine  Wiege  stand  auf  fremder  Erde,  seine  Kind- 
heit verbrachte  es  in  Feindesland.  Noch  bevor  es  zur  eigentlichen 
Besinnung  gekommen  war,  hörte  es  schon  die  pharaonischen  Pogrom- 
rufe: „Jeder  neug'eborene  Knabe  soll  in  den  Fluß  geworfen  werdend 
Wo  der  Volkskörper  so  bedrückt  ist,  ist  der  Volksg^eist,  auch  in  seiner 
individuellen  Brechung,  nicht  dazu  disponiert,  aus  dem  engsten  Um- 
kreis seiner  momentanen  Bedürfnisse  herauszutreten  und  sich  in  weite 
Geisteswelten  zu  vertiefen.  Dazu  gehört  die  Möglichkeit  einer  kühlen 
Betrachtung  der  Dinge,  die  einen  ruhigen  und  friedlichen  Zustand 
voraussetzt.  Statt  über  die  Natur  und  ihre  Gesetze  zu  meditieren, 
fing  der  Jude  an,  in  der  Welt  des  Menschen  Umschau  zu  halten.  Die 
Frage  nach  Gut  und  Böse  ging  ihm  sofort  auf,  als  er  sich  dessen 
bewußt  wurde,  daß  ihm  Böses  zugefügt  ward.  Das  Leidensbewußtsein 
fördert  die  Entwicklung  des  Gefühls,  und  je  größer  das  Leiden,  desto 
stärker  das  Gefühl.  Sobald  das  Jndividuum  oder  das  Kollektivem 
unter  die  Herrschaft  des  Leidens  kommt,  verstärkt  sich  das  Ich- 
Bewußtsein  ,und  potenziert  sich  oft  zur  Hartnäckigkeit  und  zum  Eigen- 
sinn, insbesondere  wo  diese  zwei  Eigenschaften  schon  sowieso  durch 
sozialökonomische  Momente  bedingt  sind.  Das  schwächt  aber  in  dem 
Maße  das  objektive  Vermögen,  in  dem  es  das  subjektive  stärkt. 
Das  objektive  Vermögen  ist  aber  Grundlage  und  Voraussetzung  aller 
wissenschaftlichen  Erkenntnis.  Der  Individualist  mag  sich  über  die 
Natur  begeistern  und  sie  in  seinem  Herzen  umfassen,  in  seinem  Kopfe 
umfaßt  er  sie  nicht.  Er  dringt  nicht  in  das  Innere  der  Natur,  sondern 
schildert  ihr  Gesicht  und  besingt  sie.  Aus  diesem  Grunde  haben  die 
antiken  Juden  keine  Naturphilosophie,  sondern  eine  Naturpoesie  ge- 
schaffen, von  der  Alexander  von  Humboldt  und  Georg  Brandes  aus- 
sagen, daß  sie  wegen  ihrer  stillen  Größe  und  Erhabenheit  kein  Ana- 
logon  in  der  ganzen  Weltliteratur  habe.  Und  bis  auf  den  heutigen 
Tag   leidet   die   hebräische   Literatur   an    einer   Hypertrophie   des   Ly- 

73 


rischen.  Logisch  und  ethisch  hatte  der  antike  Jude  zur  Natur  kein 
Verhältnis,  Jhingegen  steht  sein  poetisches  Verhältnis  zur  Natur  wegen 
dessen  Schlichtheit  und   Erhabenheit   einzig  da. 

Poesie  und  Ethik  waren  also  wegen  der  ersten  Schicksale  des 
jüdischen  Volkes  die  zwei  großen  Erbgüter  seines  Geistes.  Wie  der 
antike  griechische  Geist  auf  dem  Wege  der  Analogie  die  Wirklichkeit 
des  Universums  zu  erforschen  suchte,  so  suchte  der  antike  jüdische 
Geist  jaüf  dem  Wege  der  Synthesis  die  Wahrheit  in  der  Welt  der 
Menschen  zu  erforschen.  Der  griechische  Geist  war  ruhig  und  abge- 
klärt und  harmonisch,  daher  konnte  sein  Verhältnis  zur  Natur  ein 
wissenschaftliches  sein.  In  der  griechischen  Poesie  kehrt  diese  innere 
Ruhe  und  Abgeklärtheit  wieder.  Aus  ihr  spricht  eine  erhebende  Seelen- 
ruhe und  eine  harmonische  Überlegenheit  des  Geistes,  und  von  jedem 
griechischen  Kunstwerk  spricht  ein  plastischer  Genius.  Anders  der 
antike  Jude.  Aus  seinem  Gesang  bricht  ein  stürmisches,  wallendes  Ge- 
fühl hervor,  eine  mächtige  Begeisterung,  eine  stürmische,  gepeitschte 
Leidenschaft.  Nur,  wo  er  die  Natur  in  ein  Verhältnis  zu  ihrem  Schöpfer 
bringt,  übermannt  ihn  ein  kosmisches  Bewußtsein,  das  ihm  eine  hehre 
Ruhe  gibt.  Da  geht  er  über  die  Natur  hinaus  und  erhebt  sich  auf  den 
Flügeln  des  Allbewußtseins  zu  seinem  Gott.  In  einem  solchen  seeli- 
schen Zustand  ist  der  Psalm  104  gesungen  worden.  Dieses  Allbewußt- 
sein, ein  Schwesterkind  der  genannten  drei  Einheiten,  erschloß  dem 
antiken  Juden  neue  Welten  und  erweiterte  seinen  theoretisch-politischen 
Horizont.  Schon  Steinthal  hat  auf  die  universalistische  jüdische  Ge- 
schichtsschreibung aufmerksam  gemacht.  „Die  Griechen,  die  Germanen 
usw.  hatten  sich  in  ihrem  Mythus  einen  Stammbaum  der  griechischen, 
der  germanischen  Völker  oder  Staaten  gebildet.  Aber  wo  ist  das  Volk, 
das  in  seiner  Vorgeschichte  einen  Stammbaum  der  ganzen  Menschheit 
versucht  hätte?"  (H.  Steinthal,  Jahrbuch  für  jüdische  Geschichte  und 
Literatur,  Bd.  IV,  Seite  65  ff.)  Dieses  Volk  sind  die  Juden,  und  nur  sie 
allein  haben  in  der  Bibel  einen  Stammbaum  der  ganzen  Menschheit 
versucht.  Dieser  früh  erkannte  Universalismus,  ebenfalls  ein  Produkt 
nicht  der  Erfahrung,  sondern  der  Deduktion,  war  der  jüdischen  Politik 
und  dem  jüdischen  Staatswesen  gar  nicht  förderlich.  Er  kollidiert  aller- 
dings nicht  mit  dem  Patriotismus,  da  der  jüdische  Patriotismus  das 
Gesetz  und  seine  Fragen  sind  —  und  nicht  die  Liebe  zu  einer  bestimm- 
ten Scholle. 

Der  Genius  der  antiken  Juden,  um  das  oben  Auseinandergesetzte 
zusammenzufassen,  äußerte  sich  in  vierfacher  Gestalt:  1.  in  Religion, 
2.  in  Poesie,  3.  in  Ethik  und  4.  in  Musik.    Die  Musik  der  alten  Juden 

74 


ist  uns  verloren  gegangen,  aber  daß  sie  in  Judäa  gute  Tage  gesehen., 
steht  außer  Zweifel;  denn  die  Voraussetzungen,  die  temperamentvolle 
und  gefühlvolle  Persönlichkeit  und  eine  Art  rhythmisches  Bewußtsein 
(neuere  Forschungen  haben  fast  überall  in  der  Bibel  einen  Rhythmus 
nachgewiesen)  waren  vorhanden.  Zudem  sind  in  der  Bibel  eine  große 
Anzahl  von  Musikinstrumenten  genannt  (die  Geige,  die  Harfe,  die  Trom- 
pete usw.),  die  auf  das  Vorhandensein  einer  hochentwickelten  Musik  in 
Judäa  schließen  lassen.  Es  ist  sicher,  daß  die  antiken  Juden  ein  ebenso 
warmes  Verhältnis  zur  Musik  unterhalten  haben,  wie  zur  Poesie  und 
Religion.  Auch  die  Beteiligung  der  modernen  Juden  an  der  Musik 
(einem  englischen  Musikhistoriker  zufolge  sollen  sie  das  begabteste 
Musikvolk  der  Welt  sein),  die  man  in  Halevy,  Rubinstein,  Mendelssohn 
und  an  der  übermäßig  großen  Zahl  der  ausübenden,  resp.  reprodu- 
zierenden jüdischen  Musiker,  erkennen  kann,  läßt  auf  die  musikalische 
Begabung  der  antiken  Juden  schließen. 

Die  drei  uns  bekannten  Schöpfungen  des  jüdischen  Geistes  zeichnen 
sich  durch  eine  geradezu  groteske  Originalität  und  starre  Einseitigkeit 
aus.  Auf  die  vielen  Eigentümlichkeiten,  die  die  jüdische  Religion  und 
Ethik  auszeichnen,  komme  ich  in  einem  besonderen  Kapitel  zurück. 
Hier  mögen  nur  einige  allgemeine  Bemerkungen  Platz  greifen. 

Religion  ist  im  allgemeinen  nichts  anderes  als  ein  bestimmtes  Ver- 
hältnis zu  Gott,  resp.  zum  Übersinnlichen.  Aber  der  Jude  verquickte 
Religion  mit  der  Sittlichkeit,  d.  h.  das  Verhältnis  zu  Gott  wird  mit  dem 
Verhältnis  zum  Nebenmenschen  vermengt.  Er  machte  Gott  zum  Quell 
v.nd  zum  Wesen  aller  Sittlichkeit.  Es  ßfibt  im  hebräischen  Schrifttum 
für  diese  Mischung  zweier  Relationen  eine  bestimmte  Formel:  „Mahu 
raehum  af  atta  rachum"  (Wie  er  [Gott]  barmherzig  ist,  so  sei  auch  der 
Mensch  barmherzig).  Die  Propheten  haben  sich  ähnlicher  Redewen- 
dungen bedient  und  die  Sittlichkeit  Gottes  dem  seinsollenden  Guten 
des  Menschen  als  Analogie  hingestellt.  Dieses  Durchdringen  der  Reli- 
gion mit  der  Sittlichkeit,  die  in  der  Antike  zumindest  einzig  dasteht, 
schuf  eine  ganz  neue  Lebensanschauung,  einen  neuen  Lebenssinn.  Sie 
machte  die  Gerechtigkeit  und  Sittlichkeit  zum  Sinne  des  Lebens.  „Ohne 
die  Gerechtigkeit  hat  das  Leben  keinen  Sinn",  sagten  die  jüdischen 
Propheten  in  Übereinstimmung  mit  —  Immanuel  Kant.  An  dem  Blinken 
des  Schwertes  weidete  sich  das  Auge  des  Römers,  an  dem  Heros,  der 
Verkörperung  der  Gewalt  und  Macht  des  Stärkeren,  erfreute  sich  der 
Grieche,  und  nach  der  Herrschaft  der  Gerechtigkeit  sehnte  sich  der 
israelitische  Prophet. 

Wie  diese  Verquickung  von  Religion  und  Sittlichkeit  zustande  ge- 

75 


kommen  ist^  braucht  nach  der  Erörterung  über  die  Formation  des  jüdi- 
schen Geistes  nicht  mehr  auseinandergesetzt  zu  werden.  Es  sei  hier 
nur  vorwegnehmend  gesagt,  daß  sowohl  die  jüdische  Religion  als  die 
jüdische  Ethik  nicht  an  der  Wirklichkeit  des  Lebens  und  an  der  bio- 
logischen Natur  orientiert,  sondern,  wie  die  jüdische  Politik  und  das 
jüdische  Recht,  zwei  Aprioritäten  sind,  die  der  Geist  sich  verschrieben 
hat.  Die  jüdische  Sittlichkeit  nimmt  keinen  Bezug  auf  die  Erfahrung  der 
Wirklichkeit,  und  die  jüdische  Religion  ignoriert  die  sexuelle  Potenz, 
die  der  Lebensnerv  jeder  Religion  ist.  Durch  seine  Ethik  und  Religion 
hat  sich  das  jüdische  Volk  allen  geschichtlichen  Mächten  entgegen- 
gestellt —  und  isoliert.  Der  Gegensatz  zwischen  jüdischer  und  nicht- 
iüdischer  Ethik  setzt  sich  bis  auf  den  heutigen  Ta^g  fort.  Man  nehme 
«ur  die  Ethik  Wilhelm  Wundts  und  die  Ethik  Herrmann  Cohens  zur 
Hand.  Wundt  führt  die  Sittlichkeit  auf  die  Sitte  —  auf  die  Erfahrung 
zurück  und  stellt  die  Sitte  als  Vorstufe  der  Sittlichkeit  hin,  während 
Herrmann  Cohen,  der  eher  die  Bezeichnung  Neo-Jeremianer  oder  Neo- 
Jesajaner  als  Neo-Kantianer  verdient,  die  Ethik  auf  die  Logik  aufbaut. 

Über  den  Subjektivismus  der  Semiten  und  insbesondere  der  Juden 
sind  sich  alle  Forscher,  die  berufen  sind,  ein  Urteil  abzugeben,  einig. 
Subjektivismus  ist  aber  mit  dem  Affekt  und  mit  der  Leidenschaft  ver- 
schwägert. Aus  diesem  Grunde  ist  es  merkwürdig  und  wunderbar  zu- 
gleich zu  sehen,  wie  die  antiken  Juden  gerade  die  Erkenntnis  und  das 
Wissen  auf  den  Schild  hoben.  Das  Wort  „denken"  kann  nach  Jellinek 
im  Hebräischen  durch  zwölf  Bezeichnungen  ausgedrückt  werden.  Das 
Höchste,  was  der  Prophet  zu  verkünden  hat,  ist:  „Und  die  ganze  Welt 
werde  voll  von  Erkenntnis  Gottes,  wie  das  Wasser  das  Meer  bedeckt", 
und  den  Juden  wird  eingeschärft:  „Erkenne  Gott,  deinen  Vater,  und 
ehre  ihn." 

Das  Wort  glauben  oder  Glaube  kommt  nur  wenige  Male  in  der 
Bibel  vor.  Immer  ist  da  von  Erkenntnis  Gottes  die  Rede.  Für  das 
Streben  nach  Vernunft  und  Erkenntnis  (nicht  nur  nach  Gotteserkenntnis) 
im  alten  Judäa  ist  die  Bitte  Salomos  an  Gott  bezeichnend:  „So  wollest 
du  deinem  Knecht  geben  ein  verständiges  Herz,  daß  er  dein  Volk 
richten  möge,  und  verstehen,  was  gut  und  böse  ist." 

Die  zwei  Grundbücher  des  Judentums,  die  Bibel  und  der  Talmucf, 
werden  schlechthin  Lehre  genannt.  Der  Talmud  hat  diese  rationalisti- 
schen Überlieferungen  festgehalten,  indem  er  lehrte:  Ein  gelehrter 
Bastard  ist  mehr  als  ein  unwissender  Priester;  ein  Gelehrter  geht  vor 
dem  König;  selbst  ein  Nicht-Jude,  der  sich  mit  der  Thora  beschäftigt, 
ist  soviel  wie  ein  Hohepriester.    Die  Pirke  Abot  gehen  sogar  so  weit, 

76 


zu  erklären,  daß  ein  Unwissender  überhaupt  nicht  fromm  sein  kann. 
Fast  alle  jüdischen  Religionsphilosophen  des  Mittelalters  haben  sich 
für  den  Primat  des  Wissens  über  den  Glauben  ausgesprochen,  und  da 
sie  mit  wenigen  Ausnahmen  auf  dem  festen  Boden  der  jüdischen  Über- 
lieferung und  des  jüdischen  Gesetzes  standen,  so  ist  wohl  anzunehmen, 
daß  sie  mit  der  Höherstellung  des  Wissens  über  den  Glauben  der  Tra- 
dition gefolgt  sind. 

Gerade  das  rational-intellektualistische  Moment  im  Judentum  wird 
von  allen  Forschern  rühmend  oder  tadelnd  hervorgehoben.  Es  wird 
schon  seinen  psychologischen  Grund  haben,  warum  man  gerade  am 
Ausgang  des  Altertums  den  Aristotelismus  und  den  Piatonismus  mit 
dem  Judentum  in  Verbindung  zu  bringen  bestrebt  war,  und  warum  das 
Judentum  immer  mit  rationalistisch-intellektualistischen  Philosophie- 
systemen sich  verschwägert  hat.  Selbst  die  rationalistische  Bibelkritik 
ist  aus  dem  mittelalterlich-rabbinischen  Judentum  hervorgegangen.  Man 
sollte  denken,  daß  ein  semitisches  Volk,  das  unter  der  glühenden  Sonne 
Nordafrikas  aufwuchs,  ein  Volk,  dessen  erste  Schicksale  seinen  Intellekt 
eingeengt  und  ein  übermäßig  starkes  Gefühlsleben  in  ihm  entwickelt 
haben,  nicht  dem  Intellektualismus  nachzugehen  berufen  ist. 

Salomo,  der  nach  seines  Sohnes  eigener  Aussage  das  Volk  mit 
Ruten  gezüchtigt,  also  ziemlich  despotisch  regiert  hat,  klagt  seinem 
Gott:  „Wer  kann  denn  dieses  harte  (hartnäckige)  Volk  richten"  (Recht 
sprechen),  was  doch  zumindest  bezeugt,  daß  die  Juden  damals,  als  der 
jüdische  Staat  seine  besten  Tage  gesehen,  noch  ein  nicht  zu  bändigen- 
des, von  subjektiven  Launen  und  Gefühlsstürmen  hin  und  her  gewor- 
fenes Volk  waren.  Also  ist  der  Intellektualismus  im  Judentum  nicht 
selbstverständlich. 

Zum  Verständnis  dieses  Phänomens  muß  folgendes  vorausgeschickt 
werden.  Die  antiken  Juden  bezeichneten  Vernunft  (Verstand)  mit  dem 
Wort  lew  (Herz),  d.  h.  sie  verlegten  den  Sitz  der  Vernunft  ins  Herz. 
Die  logisch  motivierte  jüdische  Ethik  bezeichnete  die  mittelalterlichen 
Rabbiner  als  die  „Pflichten  des  Herzens"  (Chowath  Halwawoth).  Das 
kann  zweierlei  bedeuten:  entweder,  daß  der  intellektuelle  Akt  gleich- 
zeitig ein  Gefühlsakt  ist,  oder  daß  jeder  Gefühlsakt  gleichzeitig  ein 
intellektueller  Akt  ist.  Für  diese  Identifizierung"  des  Gefühls  mit  dem 
Denkakt  spricht  auch  schon  die  Tatsache,  daß  Erkenntnis  im  Hebräi- 
schen gleichzeitig  Liebe  bedeutet  (Herrmann  Cohen,  Ethik  des  reinen 
Willens). 

Während  des  langen  Kampfes  zwischen  Gefühl  und  Vernunft  in  der 
Seele  des  Juden,  den  man  aus  jeder  Zeile  der  Bibel  ersehen  kann,  war 


immer  die  Vernunft  vom  Gefühl  beeinflußt,  weil  der  Gesetzgeber  oder 
Prophet  mit  seinem  Volke  im  Kampfe  lag;  aber  nie  war  die  Vernunft 
von  dem  stürmischen  Gefühlsmeer,  das  in  seinem  Innern  tobte,  über- 
flutet, so,  daß  seine  Handlungen  immer  Weisungen  des  Gefühls  ge- 
wesen wären.  Vielmehr  ist  es  Tatsache,  daß  das  Gefühl  die  Vernunft 
nur  beeinflußt,  um  sich  mit  ihr  zu  einer  wunderbaren  harmonischen 
Einheit  zu  verschmelzen.  In  diese  Vereinigung  von  Gefühl  des  Volkes 
und  Vernunft  (des  Gesetzes)  der  Persönlichkeit  mündet  die  Intuition  des 
jüdischen  Geistes.  Dem  Subjektivismus  und  Individualismus  des  Volkes 
stand  das  Gesetz  des  großen  und  mächtigen  Gottes  gegenüber.  Das 
Gesetz  bändigte  den  Subjektivismus.  Aus  dem  Kampf  zwischen  beiden, 
die  sich  gegenseitig  beeinflussen,  ist  jene  wunderbare  Geistesrichtung 
hervorgegangen,  die  in  der  Prophetie  ihren  Niederschlag  gefunden  hat. 
Aber  die  Mächte  der  Vernunft  sind  trotz  der  starken  subjektiven  Um- 
gebung doch  Sieger  geblieben.  Dafür  spricht  das  merkwürdige  Faktum, 
daß  trotz  des  ursprünglichen,  mächtigen  Subjektivismus  der  alten 
Juden  und  der  späteren  intuitiven  Geistesrichtungen,  die  zu  roman- 
tischer Verschwommenheit  neigten,  das  Judentum  eine  Gesetzesherr- 
schaft und  der  jüdische  Staat  ein  nomokratischer  war,  während  das 
Christentum  Poesie  und  Stimmung  ist  und  jedes  nomokratischen  An- 
satzes entbehrt,  und  der  christliche  Staat  ein  Cäsar-  (Papst-)  Staat, 
also  ein  despotischer  Staat  ist.  Nicht  umsonst  hat  die  Romantik  mit 
dem   Despotismus  und  dem  Katholizismus  geliebäugelt. 

Die  Folge  dieser  Vereinigung  von  Gefühl  und  Vernunft  in  der* 
Seele  des  antiken  Juden  war,  daß  er  mit  seinem  durch  diese  Vereini- 
gung gebildeten  Seherblick  erspähte,  was  Philosophen  und  Forscher 
nach  vieltausendjähriger  wissenschaftlicher  Analysis  erkannten.  „Sinn 
und  Zweck  des  Lebens  ist,  das  Gute  zu  verwirklichen,  und  wenn  keine 
Gerechtigkeit  in  der  Welt  vorhanden  ist,  hat  das  Leben  keinen  Sinn." 
So  Immanuel  Kant,  der  hierin  einer  platonischen  Tradition  folgte.  Zu 
dieser  Erkenntnis  gelangte  der  Philosoph,  nachdem  er  die  vor  ihm  ge- 
schaffenen Systeme  der  Philosophie  kritisch  zertrümmerte  und  ein 
eigenes  kritisches  System  begründet  hatte;  nachdem  er  die  Organi- 
sation der  Vernunft  erforscht  und  den  größtmöglichsten  Scharfsinn  an- 
gewendet hatte,  um  den  Mechanismus  des  Geistes  in  seine  Teile  zu  zer- 
legen. Nach  dieser  Tat  des  Genius  setzte  er  sich  hin  und  schrieb  seine 
Kritik  der  praktischen  Vernunft,  um  zu  beweisen,  daß  die  Ethik  auf 
der  Vernunft  begründet  sei.  Erst  als  dieses  Werk  fertig  war,  war  eine 
ganze  Lebensanschauung  gewonnen.  Die  Herrschaft  der  Vernunft,  der 
Sittlichkeit  und  des  Friedens  war  gut  fundiert.    Dieses  Resultat  zwei- 

78 


tausendjähriger  Geistesarbeit  antizipierte  der  jüdische  Prophet  in  einem 
Satz:  „O  Mensch,  Gott  hat  dir  gesagt,  was  gut  ist,  und  was  anders  ver- 
langt er  von  dir,  als  das  Gute  zu  tun?"  Um  noch  ein  anderes  Exempel 
zu  bringen:  Die  Idee  des  Guten  nimmt  bekanntlich  in  der  platonischen 
Ideenlehre  den  ersten  Rang  ein.  Plato  gilt  als  der  eigentliche  Begrün- 
der der  Ethik.  Der  jüdische  Prophet  lehrte:  „Armen  und  Bedrückten 
Recht  angedeihen  lassen  ist  das  Gute,  das  heißt,  Mich  kennen,  spricht 
Gott."  Nur  ist  die  Idee  des  Guten,  d.h.  die  höchste  Idee,  bei  Plato  meta- 
physisch, während  sie  bei  Jeremia  sittlich-religiös  ist.  Gott  ist  nach 
Auffassung  des  Propheten  ganz  Vernunft,  ganz  Sittlichkeit,  und  der 
Zweck  des  Lebens  ist,  die  Wege  Gottes  zu  wandeln.  Mensch,  Gott  hat 
dir  gesagt,  was  gut  ist,  indem  er  dir  eine  Vernunft  zu  prüfen,  ein  Herz 
zu  fühlen  und  Freiheit  des  Willens  gab.  Gott  hat  dir  gesagt:  Wähle 
das  Gute,  damit  du  lebest.  Diese  ganze  Konzeption  bedingt  die  Be- 
jahung der  Zukunft.  Aus  dem  Verhältnis  des  antiken  Juden  zur  Zukunft 
erkennen  wir  zweierlei:  Seine  gewaltige  Vitalität  und  seine  Intellek- 
tualität.  Die  Vergangenheit  ist  böse,  die  Zukunft  allein  ist  gut.  Daher 
kann  die  Vergangenheit  keine  Führerin  sein.  Ältere  Bibelexegeten 
haben  schon  erkannt,  daß  jedesmal,  wo  die  Bibel  mit  „Waihi"  (es  war) 
einen  Bericht  anfängt,  immer  von  Pein  die  Rede  ist.  Und  wie  das 
Perfektum  das  Böse  andeutet,  so  das  Futurum  das  Gute.  Der  Prophet 
beginnt  seine  Weissagungen  für  die  Zukunft  mit:  „Es  wird  in  den 
letzten  Tagen  sein."  Dieser  unverwüstliche  Optimismus,  der  sich  wie 
ein  roter  Faden  durch  die  Bibel  zieht  und  uns  den  Haß  eines  Voltaire 
und  Schopenhauer  eingetragen,  ist  nur  intellektuell  motiviert.  Freilich 
bekundet  auch  dieser  antik-jüdische  Optimismus,  daß  der  Jude  sich 
nicht  an  der  Wirklichkeit  gebildet  und  seinen  Willen  nicht  domestiziert 
hat;  denn  wer  selbst  durch  die  Schule  des  harten  Lebens  gegangen,  ist 
nicht  Optimist.  Der  Optimismus  ist  immer  an  der  Vernunft  und  nicht 
am  Leben  orientiert,  er  ist  vom  Intellektualismus  unzertrennlich.  Der 
Gefühlsmensch  hingegen  neigt  ebenso  zum  Pessimismus  wie  der  Intel- 
lektualist  zum  Optimismus.  Die  richtige  Mitte  findet  der,  der  durch 
die  harte  Schule  des  Lebens  gegangen  ist.  Die  Romantik  neigte  zum 
Pessimismus.  Der  Begründer  des  Intellektualismus  im  neuen  Europa, 
Leibniz,  war  auch  bekanntlich  der  Philosoph  des  Optimismus.  Von  den 
Amerikanern  sagte  jüngst  ein  geistvoller  Franzose:  „II  est  ni  optimiste, 
ni  pessimiste  —  il  est  un  homme  raisonnable."  Wäre  das  antike  Juden- 
tum nur  Gefühl,  Stimmung  und  Poesie,  wie  das  Christentum  oder  der 
Buddhismus,  und  hätte  ihm  nicht  das  Gesetz  (ein  abstraktes  Prinzip) 
soviel  Rationalismus  und  Intellektualismus  imprägniert  —  nein,  gerade- 

79 


zu  intellektualisiert,  dann  hätte  es  niemals  so  gewaltige  optimistische 
Energien  ausgestrahlt.  In  Indien  z.  B.,  wo  die  Vernunft  verneint  und 
der  Intellekt  als  Organ  des  Todes  hingestellt  wurde,  ist  auch  das  Leben 
verneint  worden.  Der  antik-jüdische  Optimismus  ist  auch  das  geistige 
Substrat  der  großen  vitalen  Energien,  die  der  selektive  Prozeß  dem 
Volke  zuführte,  die  in  den  alten  Juden  lebten.  Diese  vitalen  Energien 
hätten  auch  negativ  wirken  und  das  Volk  selbst  vernichten  können, 
wären  sie  nicht  vom  Gesetze  des  großen  und  mächtigen  Gottes  ge- 
bändigt, rationell  durchstrahlt  und  in  einen  bestimmten  Fluß  gelenkt 
worden.  Der  Optimismus  war  es  auch,  der  den  Mythus  im  Umkreis 
der  jüdischen  Weltanschauung  unmöglich  gemacht  hat;  denn  der 
Mythus  schaut  immer  rückwärts  und  ist  dem  Fatum  verwandt.  Fatum 
aber  ist  blind,  alogische  Natur,  Zufall  und  Chaos. 

Auch  hier  wieder  tritt  die  Bedeutung  des  Gesetzes  für  die  ganze 
Bildung  und  Richtung  des  Gesetzes  hervor.  Die  Welt  wird  von  Gott 
nach  bestimmten  Gesetzen  regiert.  Aber  wo  das  Gesetz  herrscht,  wo 
alles  nach  einer  Skala  von  Ursache  und  Wirkung  abläuft,  da  ist  für 
den  Mythus  kein  Raum.  Es  muß  deutlich  hervorgehoben  werden:  Das 
jüdische  Gesetz  will  nicht  nur  Kirchendogma  sein,  sondern  Weltgesetz. 
Seine  Richtigkeit  kann  man  zur  Diskussion  stellen,  aber  nicht  seinen 
Universalismus;  denn  das  jüdische  Gesetz  umfaßt  nicht  nur  den  Men- 
schen in  allen  seinen  Beziehungen  und  Verhältnissen,  sondern  das 
ganze  Weltall  vom  Staub-Atom  bis  zum  gewaltigsten  Himmelsgebilde. 

Man  lese  doch  nur  die  Schöpfungsgeschichte.  Wo  alles  im  Weltall 
so  in  das  ewige  Gesetz  eingeschlossen  ist  mit  Ausnahme  des  sittlichen 
Willens,  und  wo,  wie  in  diesem  von  ehernen  ewigen  Gesetzen  regier- 
ten Universum,  ein  kleines  irdisches  Wesen,  dessen  Dasein  ein  be- 
messenes ist,  kraft  eigener  Energie  und  sittlicher  Anstrengung  zu  einem 
gottesähnlichen  Wesen  sich  entwickeln  kann,  da  ist  weder  Platz  für 
Mythus  noch  für  Pessimismus.  Kundige  der  Philosophiegeschichte 
wissen  es;  wie  Intellektualismus  immer  mit  optimistischer  Lebens- 
bejahung Hand  in  Hand  geht,  so  sind  Voluntarismus  und  Pessimismus 
Zwillingskinder.  Wie  beginnt  doch  Schopenhauer?  Die  Welt  ist  mein 
Wille  und  meine  Vorstellung.  Dieser  Wille  ist  blind,  gesetzlos,  fatal; 
aber  neben  Intellekt  (Vernunft)  stehen  Kategorie  und  Gesetz. 

Der  Intellektualismus  war  die  Fuchtel,  die  über  dem  jüdischen 
Subjektivismus  und  Voluntarismus  geschwungen  wurde,  und  mit  der 
er  gebändigt  wurde.  Die  Vernunft  involviert  den  Begriff  der  Ökonomie. 
Ökonomie  des  Denkens.  Gesetze.  Ökonomie  des  Willens.  Ethische 
Normen.    Das  Ausmaß   dieser  Ökonomie  läßt  auf  ihre  Notwendigkeit 

80 


schließen.  Ein  ruhiges,  nüchternes  Volk  bedarf  weniger  harter  Gesetze 
als  ein  hartnäckiges,  „wildes",  zum  Individualismus  neigendes  Volk. 
Der  „Verstärkte  Schutz"  oder  der  ^Kriegszustand"  wird  doch  nur  da 
verhängt,  wo  der  normale  Ablauf  des  Geschehens  durch  individualisti- 
sche Ausbrüche  gestört  wird.  Das  jüdische  Gesetz,  das  alle  Verhält- 
nisse, Zustände,  Beziehungen  und  Interessen  des  jüdischen  Einzel- 
individuums regelt,  den  ganzen  Juden  wie  mit  einem  eisernen  Reifen 
umklammert,  ist  eine  Art  permanenter  verstärkter  Schutz  oder  Kriegs- 
zustand —  so  zügellos  wild,  so  hartnäckig  und  willensgewaltig  war  der 
antike  jüdische  Mensch,  als  er  der  nationalschaffenden  Persönlichkeit 
begegnete.  Wie  das  Gesetz  den  Intellektualismus  des  jüdischen  Genius 
in  seiner  individuellen  Erscheinung  widerspiegelt,  so  das  Wunder  den 
Voluntarismus  des  Volkes.  Das  Wunder,  von  dem  die  Bibel  berichtet, 
bezieht  sich  fast  immer  auf  das  ganze  Volk,  ist  durch  eine  bestimmte 
Situation  des  Volkes  hervorgerufen  und  ist  ein  Ausdruck  der  vitalen 
und  Willensenergien  des  ganzen  Volkes.  Da  Pharao  das  Volk  nicht 
ziehen  lassen  will,  müssen  heraufbeschworene  Elementargewalten 
seinen  Willen  brechen,  das  Volk  steht  vor  dem  Meer  und  kann  nicht 
weiter,  da  muß  sich  das  Meer  spalten;  die  Träger  der  Bundeslade  stehen 
vor  dem  Jordan  und  können  nicht  weiter,  da  muß  der  Jordan  weichen 
und  sich  wie  eine  „Wand  stellen" ;  die  Mauer  von  Jericho  hindert  die 
Eroberung  der  Stadt,  da  muß  die  Wand  durch  Schofarblasen  zum  Sturze 
gebracht  werden;  und  Josua  gar,  um  den  Sieg  zu  sichern  und  aus- 
zunützen, befiehlt: 

Sonne  stehe  still  zu  Gibeon 

Und  du  Mond  im  Tale  Ajalon. 

Da  stand  still  die  Sonne  und  der  Mond  blieb  stehen, 

Bis  das  Volk  sich  gerächt  an  seinen  Feinden! 

Nichts  geht  über  den  Willen  des  Volkes,  so  gewaltig  und  unbeug- 
sam ist  er.  Er  bricht  und  suspendiert  ewige  Naturgesetze,  um  sich 
selbst  durchzusetzen.  Diese  Wunderlegenden  und  Überlieferungen  er- 
zählen von  den  voluntarischen  Kräften,  die  in  der  fast  unglaublichen 
Vitalität  der  alten  Juden  verankert  waren,  mehr  als  tausend  historisch 
unanfechtbare  Beweise  es  tun  konnten.  Das  jüdische  Wunder  ist  nicht 
ein  Glaubenswunder,  wie  das  christliche.  Da  werden  keine  Blinden 
sehend  und  Tote  lebend  gemacht,  da  ist  das  Wunder  nicht  individuell 
motiviert  (um  die  Gottessohnschaft  darzutun  oder  dergleichen  Dinge 
mehr),  sondern  kollektiv;  hier  ist  nicht  wie  im  „Neuen  Testament" 
der  Himmel  der  eigentliche  Schauplatz  und  Hintergrund,  sondern  die 

6    Melamed 

81 


Erde,  das  Leben  auf  der  Erde.  Also  kann  man  das  jüdische  Wunder 
als  das  „soziologische"  bezeichnen,  im  Gegensatz  zu  mystisch-theo- 
logischen Wundern  des  Christentums.  Verschiedene  Ursachen  haben 
verschiedene  Wirkungen.  Hier  ist  das  Wunder  vitalistisch  und  lebens- 
bejahend, zukunftswollend  motiviert.  Die  Hauptsache  ist  das  Reich 
Gottes,  das  Himmelreich,  die  himmlische  Zukunft  usw.  Nicht  auf 
diese  Unterscheidung  kommt  es  hier  an,  sondern,  daß  man  die  psy- 
chischen  Potenzen   des   antiken  jüdischen   Individuums   erkenne. 

Diesen   wilden  Willen,   diesen   eingefleischten   Subjektivismus  und 
Individualismus,  der  unter  der  kochenden  Sonne  Nordafrikas  und  unter 
dem  Schwingen  der  Zuchtruten  pharaonischer  Beamter  sich  entwickelt 
hatte  und  groß  geworden  war,  konnten  das  Gesetz  selbst  des  großen 
und    starken    Gottes,    die    Vernunft    und    willensstarke    Persönlichkeit 
und   die   bangemachende   Allmacht  Gottes   nur  teilweise   überwinden. 
Ein  solcher  Wille  kann  nur  sozial  und  ökonomisch  ganz  domestiziert 
werden,  nicht  aber  durch  das  abstrakte,  von   außen  (wenn  auch  von 
Gott  selbst)  kommende  Gesetz.   Aus  dem  Kampf  des  unbändigen  Wil- 
lens mit  dem  kriegsartigen  Gesetz,  das  die  Vernunft  diktierte  (wo  Ver- 
nunft   ist,   da    ist   auch   Gattungs-   und    Zukunftsbewußtsein,    das    die 
Gattung  präserviert  und  die  Zukunft  sichert),  ist  jene  Zweiseelenheit 
im    Juden    entstanden,    die   auf   der   einen   Seite  das   intuitive  Denken 
gefördert,   wenn   nicht   gar  ganz  gebildet   hat,   auf  der  anderen  Seite 
aber   den   Juden   zu   einem   unberechenbaren   Menschen   gemacht  hat, 
der  immer  an  der  Schwelle  zweier  Welten  steht,  nur  in  extremen  La- 
gern zu  finden  ist  und  nur  zu  oft  bald  in  die  eine,  bald  in  die  andere 
Welt  fällt.    Von  dem  antiken   (und   teilweise   auch  von   dem  heutigen 
Juden)    gilt   das   Wort:   Les    extremes    se   touchent.    Ein   feinsinniger 
Kenner  des  antiken  und  des  modernen  Judentums,  Martin  Buber,  be- 
merkt: „Kein  anderes  Volk  hat  so  niederträchtige  Spieler  und  Verräter, 
kein  anderes  Volk  so  erhabene  Propheten  und  Erlöser  hervorgebracht. 
Und   es   sind   oft  dieselben   Menschen,   in   denen  und   um  die   das   Ja 
mit    dem    Nein    ringt,    die    durch    seltsame    Erschütterungen,    Krisen, 
Entscheidungen   den   einen   oder  den    anderen    Pol    erreichen.    Keine.- 
hat  solche  Fülle  der  Anlage  und  solche  Fülle  der  Hemmung  wie  der 
Jude."    Und   zu    dem    talmudischen   Satz:    „Liebe   verdirbt  die   Linie, 
und   Haß  verdirbt  die  Linie"  bemerkt  Jellinek  in  seiner  Schrift  „Der 
jüdische  Stamm":   „  .  .  .  Denn  der  Jude  verfällt  häufig  dem   Extrem, 
liebt   die    Hyperbel    (Gusma)   und   hält   selten    Maß    ein."    Die  innere 
politische    und    oft    auch    moralische    Unsicherheit    des    Volkes,    seine 
plötzlichen    Hemmungen    und    Wallungen,    Disziplinlosigkeit   und   skla- 

82 


vische  Subordination,  sein  Selbsterhaltungs-  und  Selbstzerstörungstrieb 
spiegelt  sich  in  seinem  Schrifttum,  in  der  Bibel  treu  und  wahrhaftig 
wider.  Daher  kann  man  bei  den  Propheten  die  größten  Verwünschun- 
gen neben  dem  göttlichen  Segen,  die  herrlichsten  Trostworte  neben 
den  schauderhaftesten  Rache-Verkündungen  lesen;  denn  das  Volk  be- 
wegte sich  nicht  im  Rhythmus,  sondern  im  Zickzack  .  .  . 

Diese  zickzackartigen,  ganz  und  gar  unrhythmischen  Bewegungs- 
reihen, man  möchte  fast  sagen  die  Stillosigkeit,  die  selbst  Stil 
ist,  findet  auch  in  der  hebräischen  Sprache  ihren  Ausdruck.  Es  ist 
schon  darauf  aufmerksam  gemacht  worden,  daß  fast  jeder  Satz  der 
Bibel  mit  einem  „Und"  anfängt.  Der  Prophet  beginnt  in  der  Regel: 
„Und  es  wird  in  den  letzten  Tagen  sein",  der  biblische  Bericht  be* 
ginnt  fast  immer:  „Und  es  war  zu  den  Tagen"  us\v.  Nicht  nur  ge- 
danklich, sondern  auch  grammatikalisch  nimmt  sich  ein  biblischer  Text 
wie  eine  nebeneinandergeworfene  Reihe  von  Sätzen  aus,  welchen  oft 
jeder  innere  Zusammenhang  fehlt.  Der  Satz  ist  kurz  abgelenkt,  weil 
die  Meditation  eine  unkonzentrierte  ist.  Der  lange,  an  Einschachte- 
lungen reiche  Satz  des  Römers,  der  ineinandergewickelte  und  dann 
kunstvoll  entrollte  Satz  der  Griechen  zeugen  zumindest  von  einer 
inneren  Ruhe,  von  einer  Abgeklärtheit  und  von  einem  systematischen 
Denken.  Der  domestizierte  Wille  gibt  dem  Intellekt  Form  und  Stil. 
Der  unruhige,  von  Extrem  zu  Extrem  geworfene  (oder  sich  selbst 
werfende)  alte  Jude  mit  seinem  stürmischen  Gemüt  und  seiner  Leiden- 
schaftlichkeit konnte  nur  in  kurzen,  abgehackten  Sätzen  reden.  Ein 
Opfer  des  „genialen  Einfalls"  und  der  mit  Plötzlichkeit  aufleuchtenden 
Intuition,  konnte  er  keinen  angefangenen  Gedanken  ruhig  zu  Ende 
denken. 

Für  dieses  Sprunghafte,  Impressionistische  im  Denken  und  in  der 
Rede  der  alten  Juden  ist  schon  der  Dekalog  bezeichnend.  Die  „zehn 
Gebote"  enthalten:  1.  Religion,  2.  Recht,  3.  Ethik  und  4.  Soziologie 
—  alles  durcheinandergeworfen.  Charakteristisch  sind  auch  die  Reden 
Jeremias.  Finsternis  und  hellstes  Sonnenlicht,  Segen  und  Fluch,  Ver- 
wünschung und  Segen,  Verzweiflung  und  Trost  oft  in  einer  Rede.  Die 
Sprache  des  Talmud  ist  ein  Muster  der  „Stillosigkeit".  Dieses  Sprung- 
hafte, Unruhige,  Impressionistische  im  Denken  und  in  der  Rede  machen 
von  vornherein  jede  epische  Breite  unmöglich.  Epik  ist  ein  Schwester- 
kind der  Plastik,  und  Plastik  ist,  wie  gesagt,  nie  die  starke  Seite  des 
Juden  gewesen. 

Das  Sprunghaft-Impressionistische  kommt  bei  keinem  großen  jü- 
dischen Dichter  der  Neuzeit  so  zum  Ausdruck  wie  bei  Heinrich  Heine. 

6* 

83 


Viele  wollen  in  Heines  Stil  „Gedankenflucht"  sehen.  In  Wahrheit 
aber  ist  dieses  öftere  Abschweifen  vom  Thema  bei  Heine  nicht  Ge- 
dankenflucht im  gewöhnlichen  Sinne,  sondern  antike  jüdische  Eigenart. 
Nicht  nur  in  der  Bibel,  sondern  auch  im  Talmud,  der  doch  auf  dem 
Grunde  der  Analysis  ruht,  findet  man  auf  derselben  Seite  neben  einer 
trockenen  halachischen  Auseinandersetzung  eine  Legende  oder  ein 
Märchen  von  poetischer  Schönheit  und  Zartheit.  Also  nicht  klassisches 
Neben-  und  Nacheinander,  sondern  ein  impressionistisches  „Durch- 
einander" buntscheckig,  mannigfaltig.  Auch  dieses  Unrhythmische  ist, 
da  es  konstant  ist  und  immer  wiederkehrt,  ein  Rhythmus,  allerdings 
eigener  Art. 

Wo  aber  das  Gesetz  rationalisierend  und  ordnend  gewirkt  hat, 
wie  bei  der  Konzeption  Gottes,  der  Welt  und  der  Geschichte,  da  hat 
dieser  unruhige  jüdische  Geist  plastische  Einheiten  und  harmonisch 
abgerundete  Erzeugnisse  hervorgebracht.  Das  ist  das  Originale  und 
Wunderbare  am   jüdischen   Geist. 

So  stehen  sich  im  Altertum  zwei  diametral  entgegengesetzte 
Geistesrichtungen  und  Geisteseigenarten  gegenüber,  die  jüdische  und 
die  indisch-griechisch-römische.  Auf  der  einen  Seite  intuitives  Schauen, 
hervorgegangen  aus  einer  merkwürdigen  Vereinigung  von  Gemüt  und 
Vernunft,  auf  der  anderen  Seite  diskursiv  analytisches  Denken,  das 
nach  Aristoteles  in  die  Brüche  gegangen  war  und  die  Herrschaft  des 
Arationalen  heraufbeschworen  hatte;  auf  der  einen  Seite  sittlich  moti- 
vierte Überwindung  der  Natur,  die  der  antizipative  Geist  der  Persön- 
lichkeit diktiert  hat,  auf  der  anderen  Seite  Verschwägerung  mit  der 
Natur  und  Nachahmung  der  Natur;  auf  der  einen  Seite  Impressionis- 
mus und  undomestizisierter  Wille,  auf  der  anderen  Seite  Klassizismus 
und  ein  durch  Erfahrung  gebildeter  Wille,  und  schließlich  auf  der  einen 
Seite  Lyrismus,  auf  der  anderen  Seite  Epik  und  Plastik. 

Wie  der  jüdische  Geist  mit  seiner  schier  grotesken  Sonderlichkeit 
doch  den  Gang  der  Menschheitsgeschichte  mitbestimmen  und  sich 
den  indo-germanischen  Völkern  so  aufprägen  konnte,  will  ich  im  fol- 
genden Kapitel  auseinandersetzen. 


84 


Fünftes  Kapitel. 


Religion  des  reinen  Glaubens. 

Religion,  Glaube  und  Kirche.  —  Kirche  und  Milieu.  —  Die  jüdische  Religion 
nicht  an  der  biologischen  Natur  orientiert.  —  Religion  und  Geschichte.  —  Die 
jüdische  Religion  allein  ist  asexuell.  —  Religion  und  Gefühl.  —  Selbst  der 
Protestantismus  ist  am  Affekt  orientiert.  —  Die  Religion  des  reinen  Glaubens.  — 
•Der  jüdische  Gott.  —  Die  intuitive  und  analytische  Gottesidee.  —  Die  isolierte 
Stellung  der  jüdischen  Religion.  —  Die  jüdische  Religion  hat  keine  Basis  im 
Leben.  —  Der  tragische  Antagonismus.  —  Anonyme  und  gestiftete  Religion.  — 
Erlösungs-  und  Gesetzesreligion.  —  Die  Inquisition.  —  Die  Religion  als  der 
unsichtbare  Staat.  —  Das  Judentum  hält  fest  an  der  intellektualistischen  Tradition. 

—  Die  Stellung  des  Gelehrten.  —  Primat  der  Vernunft.  —  Bejahung,  Erkenntnis 
und  Zukunft.  —  Voluntarismus  und  Pessimismus.  —  Pessimistische  Töne.  —  Das 
Grundbuch  der  Juden  das  eines  besiegten  Volkes.  —  Die  Theodice.  —  Die  jüdische 
und  die  christliche  Zukunft.  —  Die  Voraussetzung  der  Ethik.  —  Voluntarismus 
und  Immanenz.  —  Die  Zukunft  der  Natur.  —  Die  jüdische  und  christliche  Messias- 
gestalt. —  Der  jüdische  Messias.  —  Der  griechische  Heros  und  Christus.  — 
Himmlischer  Vater  und  himmlischer  Richter.  —  Die  Lebhaftigkeit  des  jüdischen 
Gottes.  —  Die  religiöse  Poesie  des  Judentums.  —  Gott  als  Verkünder  des  Guten. 

—  Das  sittliche  Gesetz.  — 

Glaube,  Religion  und  Kirche  sind  keine  Synonyma.  Der  Glaube  des 
Einzelindividuums  ist  teils  logisch,  teils  ethisch  motiviert.  Er  ist 
als  Abstraktion  eine  Denknotvvendigkeit  und  ein  Denkakt  oder,  in 
Anbetracht  der  Soziabilität  der  menschlichen  Natur,  ein  sittliches 
Wollen.  Die  Religion  oder  der  „religiöse  Glaube"  ist  eine  psycholo- 
gische Kategorie.  Er  ist  im  Gefühl  verankert  und  entzündet  sich  an 
dem  Gefühl,  wie  der  abstrakte  Glaube  an  dem  Intellekt.  Die  Kirche 
als  pragmatisches  Religionssystem  ist  eine  historische  Kategorie.  Sie 
bezieht  ihren  Inhalt  weder  aus  der  Vernunft,  wie  der  abstrakte  Glaube, 
noch  aus  dem  Gefühl,  wie  der  religiöse  Glaube,  sondern  aus  dem 
Leben,  aus  der  Geschichte  und  aus  unzähligen  Faktoren  des  Lebens1. 
Durch  ihr  Dogma  stellt  sie  sich  in  einen  Gegensatz  zum  Intellekt, 
und  durch  ihren  Universalismus  kommt  sie  in  Konflikt  mit  der  indi- 

$5 


viduellen  Religiosität,  die  ihrer  Natur  nach  ganz  subjektiv  ist.  Im 
großen  und  ganzen  aber  verhält  sich  die  Kirche  zur  Religion  des  Ein- 
zelnen wie  etwa  die  nivellierende  Grammatik  zu  der  Sprache,  wie  der 
Staat  zur  Individualität.  Sie  ist  eine  Manifestation  des  Gattungsbewußt- 
seins für  die  Domäne  des  Glaubens,  wie  der  Staat  für  das  politische 
und  soziale  Wollen  des  Individuums.  Nur  in  diesem  Sinne  kann  auch 
die   Kirche   als   psychologische  Kategorie  angesprochen   werden. 

Man  ersieht  nun  daraus,  wie  verwickelt  das  Problem  der  Reli- 
gionspsychologie ist.  Ihre  unmittelbaren  Nachbargebiete  sind  Er- 
kenntnistheorie und  Psychologie  auf  der  einen  und  Geschichte  und 
Soziologie  auf  der  anderen  Seite.  Dann  kommt  noch  das  rassentheore- 
tische resp.  völkerpsychologische  Moment  hinzu;  denn  jede  ethnische 
Gruppe  drückt  ihr  Siegel  selbst  einer  Universalreligion  ,auf.  Man 
denke  z.  B.  an  den  spanischen  und  ,an  den  amerikanischen  Katholizis- 
mus. Noch  schwieriger  gestaltet  sich  das  Problem,  wenn  man  die 
Frage  nach  dem  Ursprung  der  Religion  berücksichtigt;  denn  dies  setzt 
die  Absuchung  des  ganzen  Prozesses  der  religiösen  und  metaphysischen 
Potenzierung  der  biologischen  Natur  voraus.  Mag  über  dem  Ursprung 
der  Religion  ein  noch  so  großer  Nebel  gelagert  sein,  —  daß  sie  die 
biologische  Natur  zum  Springquell  hat,  kann  man  aus  jedem  Blatte 
der  Religionsgeschichte  ersehen.  Das  gilt  sowohl  von  der  Religion 
als  System  und  Kirche,  wie  von  der  Religion  des  Einzelindividuums. 
Der  Versuch  einer  Psychologie  der  jüdischen  Religion  würde  sich  daher 
ungemein  schwierig  .gestalten,  wenn  sie  nicht  eine  Ausnahme  von  der 
Regel  gebildet  hätte.  Diese  Ausnahme  erleichtert  nicht  nur  die  For- 
mulierung des  Problems,  sondern  ist  schon  an  und  für  sich  religions- 
psychologisches Kapitel.  Sie  besteht  nun  darin,  daß  von  allen  Reli- 
gionen (Religionssystemen)  der  Welt  die  jüdische  Religion  die  einzige 
ist,  die  nicht,  aber  auch  gar  nicht  —  an  der  biologischen  Natur  orien- 
tiert ist.  Die  jüdische  Religion,  um  es  gleich  vorwegzunehmen,  ist  auf 
ihrer  höchsten  Entwicklungsstufe  eine  Religion  des  reinen  Glaubens. 
Ihr  Inhalt  wird  ihr  nicht  von  der  Außenwelt,  von  der  Natur,  von  der 
brutalen  Wirklichkeit  des  Lebens  zugeführt,  er  ist  ihr  nicht  von  außen 
gegeben,  sondern  er  wird  ihr  von  dem  reinen  Glauben,  der  sich  an 
dem  Intellekt  entzündet,  geliefert.  Der  Gegenstand  der  Religion  ist 
hier  nicht  mehr  als  das,  was  der  religiöse  Glaube,  sagen  wir  das  reli- 
giöse Denken,  selbst  erzeugt.  Während  andere  Religionen  von  der 
primitivsten  bis  zur  höchst  ausgebildeten  sich  ihren  Inhalt  von  der 
biologischen  Natur  (vom  Affekt,  vom  Erlebnis,  vom  Gefühl)  geben 
lassen,  ist  ihr  Inhalt  sowohl  bei  den  Propheten  wie  bei  den  Rabbinern 

86 


nur  der  selbsterzeugte,  an  der  Vernunft  sich  entzündende  Glaube. 
Dadurch  charakterisiert  sie  sich  sowohl  als  idealistische  als  auch  als  in- 
tellektualistische  Religion.  Für  die  Maxime  Tertullians:  „credo  quia 
absurdum"  hat  sie  keinen  Raum.  Die  Parole  der  Propheten  lautet 
ganz  anders:  „Und  die  Welt  werde  voll  von  Erkenntnis  Gottes."  Das 
höchste,  religiöse  Ideal  eines  Jeremia  ist,  daß  der  Tag  kommen  werde, 
an  dem  alle  Menschenkinder  Gott  erkennen  werden.  Das  Schwer- 
gewicht der  jüdischen  Religion  ist  die  Erkenntnis  und  nicht  das  Ge- 
fühl. Es  ist  daher  nur  folgerichtig,  wenn  sich  diese  Religion  letzten 
Endes  in  Ethik  auflöst  und  als  idealistische  Ethik  sich  in  Recht  und 
Politik   fortsetzt. 

Es  handelt  sich  also  darum,  die  Wahrheit  der  obigen  Sätze  an  der 
Hand   von   Tatsachen    nachzuweisen. 

Von  Max  Müller  stammt  die  religionspsychologische  Formel: 
„Nihil  est  in  fide  quod  non  antea  fuerit  in  sensu".  Unzählige  Tatsachen 
bestätigen  diese  sensualistische  Deutung  alles  Religiösen.  Man  denke 
an  die  anthropomorphischen  und  sexualistischen  Elemente  in  jeder 
Religion  mit  Ausnähme  der  jüdischen.  Daß  das  Religiöse  im  allge- 
meinen seinen  Sitz  im  Willen  und  Gefühl  hat,  ist  aus  der  Ekstase,  aus 
dem  religiösen  Rausch  und  aus  der  religiösen  Inbrunst  zu  ersehen, 
die  sich  mit  einem  gesteigerten  Geschlechtsbewußtsein  (positiv  und 
negativ)  treffen  und  alle  Sinne  aufstacheln  und  peitschen.  Das  Ver- 
hältnis von  Natur  zur  Religion  hat  Arnold  Rüge  auf  die  Formel  ge- 
preßt: „Die  Mystik  ist  theoretische  Wollust,  und  die  Wollust  prak- 
tische Mystik",  weil  eben  die  sexuelle  wie  die  religiöse  Sehnsucht 
im  Gefühlsleben  des  Menschen  ihren  Ursprung  haben.  In  den  ver- 
schiedensten Kulten  des  Altertums  war  das  religiöse  Zeremoniell  nur 
als  Weihe  der  sexuellen  Handlung  gedacht.  Oft  war  die  sexuelle  Hand- 
lung der  ganze  Inhalt  des  religiösen  Kultus.  Der  Melittadienst  forderte 
die  geschlechtliche  Hingabe  des  Weibes,  der  Astartedienst,  der  be- 
wiesenermaßen  im  Mariakultus  seine  Fortsetzung  hat,  involvierte  eben- 
falls den  Geschlechtsakt. 

Die  ältesten  Gottheiten  der  Araber  waren  die  weiblichen  Allat 
oder  Alilat  (die  Herrin),  Uzza  (die  Großmächtige)  und  Manat  (Schick- 
sal), alle  drei  oder  doch  die  beiden  ersten  nur  verschiedene  lokale  Be- 
nennungen jener  gemeinsemitischen  Göttin,  die  uns  unter  dem  Namen 
Astarte  oder  Istar  bekannt  ist,  ursprünglich  die  göttliche  Ahnfrau  aus 
der  Zeit  des  Matriarchats,  wo  die  Herrschaft  der  Stammutter  und 
nicht  dem  Stammvater  zukam.  Später  wurden  die  oben  genannten 
drei  Göttinnen  als  die  Töchter  Allahs   erklärt.    Auch  sind  die  Bezie- 

87 


hungen  der  Allat  zur  Sonne  und  der  Uzza  zum  Stern  Venus  hervor- 
zuheben. Die  Sonne  wurde  als  Göttin  Schams,  der  Gewitterhimmel 
als  Gott  Quzah  verehrt.  Von  all  diesen  Spezialgöttern  der  einzelnen 
Stämme  unterscheidet  sich  Allah  als  der  allgemeine  Gott  der  Araber1). 

Die  Hauptgöttin  des  babylonischen  Pantheon  ist  unter  dem  Namen 
fstar,  d.  h.  die  Herrin,  bekannt  und  von  allen  Nordsemiten  verehrt. 
Sie  ist  die  göttliche  Ahnfrau  aus  der  Urzeit  des  Matriarchats,  und  er- 
scheint überall  als  die  fruchtbare  Mutter  der  Lebendigen  und  die 
furchtbare  Herrin  der  Toten.  Sie  ist  Liebes-  und  Todesgöttin  zur 
gleichen  Zeit.  Ihr  Hauptkultort  Uruk  war  nicht  nur  die  Stätte,  wo 
man  sich  begraben  Zu  lassen  wünschte,  sondern  auch  die  Stätte  desi 
wollüstigen  Kultus  und  der  heiligen  Prostitution,  welche  die  ehelose 
Geschlechtsverbindung  aus  der  Zeit  der  matriarchalischen  Polyandrie 
fortsetzte.  Die  von  der  Göttin  Istar  erzählten  Mythen  haben  ihre  Ana- 
logien in  ganz  Ostasien  und  Griechenland2).  Alle  Religionshistoriker 
wissen  von  jenen  Göttern  und  Göttinnen  —  Pantheon  —  aller  Völker 
zu  berichten,  nur  nichts  von  den  jüdischen,  weil  der  jüdischen  Reli- 
gion jedes  sexuelle  Moment  fehlt.  Ob  es  nun  wahr  ist,  daß  die  jüdische 
Religion  ursprünglich  aus  dem  Ahnenkultus  hervorgegangen  ist,  wie  Ro- 
bertson Smith,  Schwally  und  viele  andere  annehmen,  oder  ob  sie  aus  alten 
Mythen  hervorgegangen  ist:  auf  alle  Fälle  fehlt  .ihr  jedes  sexuelle  Mo- 
ment, und  es  ist  einfach  nicht  wahr,  wenn  behauptet  wird,  daß  die  An- 
fänge der  israelitischen  Religion  den  Anfängen  anderer  Religionen  we- 
sentlich analog  sjnd.  Ob  man  annimmt,  daß  die  Religion  Israels  ein 
Erbe  der  Urzeit  'oder  eine  Moses  offenbarte  Lehre  ist,  oder  daß  sie 
aus  dem  Ahnenkultus  sich  entwickelte,  jedenfalls  wird  man  vergebens 
nach  Istar  und  Astarte  und  nach  Alilat  und  nach  Allat,  nach  Zeus 
und  Venus  oder  den  Götterpaaren  Soma  und  Agni,  Mitra  und  Va- 
runa  suchen. 

Die  jüdische  Religion  selbst  in  ihren  ersten  Anfängen  beginnt 
keusch,  sie  ist  asexuell.  Der  jüdische  Gott  in  all  seinen  Entwicklungs- 
phasen, obgleich  er  oft  anthropomorphistische  Spuren  verrät,  weist 
nie  ein  sexuelles  Moment  .auf.  Die  katholische  Kirche  hat  die  innere 
Beziehung  zwischen  Religion  und  Natur  resp.  zwischen  Mystik  und 
Wollust  wohl  erkannt,  als  sie  den  Frauen  in  Christus  den  himmlischen 
Bräutigam  und  den  Männern  in  Maria  die  himmlische  Braut  schenkte. 
Geistige  Erlöeung  und  Erhebung  im  Religiösen  ist  ebenso  ein  Lust- 
begehren wie  Liebessehnsucht  im  Körperlich-Fleischlichen.  Sowohl 
hier  wie  dort  fordern  die  Gefühlsqualitäten   eine   Erlösung.    In   dem 

*)  Otto  Pfleiderer,  Religionsphilosophie.       2)  Abid.  P.  40. 

88 


einen  Falle  erfolgt  die  Erlösung1  durch  Vereinigung  mit  dem  religiösen 
Partner,  in  dem  anderen  Falle  in  der  Vereinigung  mit  dem  sexuellen 
Partner.  Auf  religiösem  Gebiete  ist  der  Partner  ein  gedachtes  Symbol 
oder  Gott.  Liebestaumel  entspringt  dem  gleichen  Quell  wie  religiöse 
Ekstase  —  dem  Bedürfnis,  sich  anzupassen,  sich  fortzupflanzen,  sich  zu 
verewigen,  sich  unendlich  fortzusetzen,  aus  der  Einsamkeit,  der  Be- 
grenztheit in  das  unbegrenzt  unendliche  All  zu  treten  und  es  zu  um- 
fassen. Dieses,  dem  Einzelindividuum  unbewußte  Motiv  ist  der  letzte 
Ankergrund  aller  Religion  und  aller  Liebe  und  in  gesteigertem  Maße 
der  letzte  Grund  aller  Mystik  und  aller  Wollust.  Aber  dieses  Motiv  ist 
ein  Gefühlsmotiv.  Und  Gefühl  ist  Natur,  biologische  Natur,  Sinn; 
Fleisch   und  Blut  und  unendliche   Lust  .  .  . 

Es  ist  deshalb  nicht  übertrieben,  was  der  englische  Forscher 
Hargrave  Jennings  in  seinem  Buche  „Phallicism"  erklärte,  daß  näm- 
lich: „Religion  is  to  be  found  alone  with  its  justification  and  explanation 
in  the  relation  of  the  sexes.  There  and  therein  only"  Mythologien- 
Historiker  haben  festgestellt,  daß  die  Göttin  ein  Produkt  der  Mat- 
riarchie  ist  und  daß  schon  während  des  Überganges  der  Herrschaft 
vom  Weibe  auf  den  Mann  die  Zähl  der  Göttinnen  zurückgeht,  während 
die  der  Götter  zunimmt.  Das  Christentum  selbst,  die  Religion  der 
Europäer,  ist  ein  klassisches  Beispiel  dafür,  in  welchem  Maße  die 
Religion  von  sexuellen  Momenten  durchtränkt  ist.  Daß  Gott  an  Mannes 
Stelle  bei  der  Zeugung  Jesu  tritt,  ist  die  erste  grundlegende  Lehre  des 
Christentums.  Die  Tatsache,  daß  im  Urchristentum  von  der  Gott- 
vaterschaft nicht  die  Rede  ist,  zeugt  für  und  nicht  gegen  die  Wahrheit 
meiner  Sätze;  denn  nicht  das  asexuelle  Urchristentum,  sondern  das 
sexuelle   Christentum  hat   sich  später  durchgesetzt. 

Wie  Religion  durch  die  Natur  geht,  ist  aus  der  Divination  der  ver- 
schiedenen Naturelemente  oder  aus  der  Anbetung  der  Natur  zu  er- 
sehen. Dieses  Naturanbeten  ging  wieder  durch  die  sexuellen  Sinne. 
In  den  alten  Religionen,  so  bemerkt  Max  Müller,  wird  der  Himmel 
als  der  Gemahl  der  Erde  und  die  Erde  als  die  Mutter  aller  Götter  an- 
gerufen und  angebetet  (Origin  and  growth  of  religion  p.  279).  In 
allen  Urreligionen  werden  die  creativen  Prinzipien  als  Götter  oder 
Göttinnen  angebetet.  Also  selbst,  wenn  man  zugeben  wollte,  daß  die 
Vergöttlichung  der  Naturelemente  in  den  primitiven  Religionen  Gene- 
ralisationsakte  der  primitiven  religiösen  Einsicht  sind,  kann  doch  die 
Tatsache  der  geschlechtlichen  Teilung  der  Naturelemente  und  der  reli- 
giösen Symbole  so  gedeutet  werden,  daß  das  religiöse  Bewußtsein 
des  alten  Menschen  nur  durch  die  Geschlechtssinne  geht.    Selbst  die 

89 


vergeistigte  Religion  der  Europäer,  der  Protestantismus,  ist  an  dem 
Affekt  orientiert.  Affekt  ist  Natur,  Affekt  ist  Sinnlichkeit.  Mit  anderen 
Worten:  Religiosität  ist  entweder  wie  in  den  primitiven  Religions- 
systemen unmittelbare  metaphysische  Potenzierung  des  Sexualbewußt- 
seins (der  Geschlechtsakt  als  kultisches  Zeremoniell  oder  als  Inhalt 
des  Kultes,  Götter  und  Göttinnen,  religiöse  Ekstase,  die  im  sehnsüch- 
tigen Begehren  ihren  Ausgangspunkt  hat  und  im  wirklichen  oder  ver- 
meintlichen Geschlechtsakt  ihren  Höhepunkt  erreicht)  oder  metaphy- 
sische Potenzierung  des  durch  die  Vernunft  schon  domestizierten  und 
daher  sexuell  geschwächten  Gefühls,  wie  in  der  modernen  Religion. 
Wir  können  uns  von  der  Religiosität  vieles  hinwegdenken,  nur  nicht 
das  Gefühl  resp.  den  Willen.   Also  Ist  Religiosität  Religion  des  Gefühls. 

Wenn  man  demnach  die  Religion  (das  Religiöse)  als  die  metaphy- 
sische Potenzierung  bestimmter  Sinnesprozesse  definieren  wollte,  so 
gäbe  es  überhaupt  keine  jüdische  Religion;  denn  was  die  Juden  Reli- 
gion nennen,  ist  reiner,  vom  Intellekt  selbst  erzeugter  Glaube,  der  in 
keiner  Weise  an  der  Natur  orientiert  ist  und  von  der  Natur  bestimmend 
und  richtunggebend  beeinflußt  wird.  Selbst  wenn  man  Robertson 
Smith  und  anderen  Forschern  zustimmt,  daß  die  jüdische  Religion 
auf  den  Ahnenkultus  zurückgeht,  ist  auch  ihr  letzter  Ankergrund  nicht 
das  Gefühl,  sondern  der  Intellekt,  die  Erinnerung.  Der  Glaube  in  der 
jüdischen  Religion,  der  sich  an  der  Vernunft  entzündet,  unterscheidet 
sich  nur  dadurch  von  der  allgemeinen  Abstraktion,  daß  er  nicht,  wie 
diese,  überlegt,  bedacht  und  künstlich  ist,  sondern  instinktiv,  spontan 
und  natürlich.  Er  kommt  also  nicht,  wie  die  analytische  Abstraktion, 
durch  die  Qualitäten  des  Objekts  zustande,  sondern  durch  den  Willen 
des  Subjekts.  Nur  soweit  ist  auch  dieser  Glaube  „voluntaristisch" 
motiviert.  Sonst  ist  ihm  nichts  gegeben,  alles  ist  selbst  erzeugt.  Sogar 
die  jüdischen  Staatsgesetze  sind,  wie  schon  Philo  mit  Recht  bemerkte, 
keine  Rubrizierung  der  Erfahrung,  sondern  Schöpfungen  des  Geistes. 
Wir  werden  noch  später  sehen,  wie  die  ganze  jüdische  Literatur  des 
sexuellen  Moments  entbehrt  und  daß  die  Bibel  nicht  ein  Buch  der 
Liebe,  sondern  ein  Buch  des  Hungers  ist. 

Der  ganze  abstrakte,  durchaus  intellektualistische  Gottesbegriff, 
wie  ihn  die  jüdischen  Propheten  gelehrt  haben,  und  die  absolute  Einheit 
Gottes  des  vorprophetischen  Judentums,  die  schon  wegen  ihrer  abso- 
luten Einheit  jedes  sexuelle  Element  ausschließt,  müssen  uns  davon 
überzeugen,  daß  die  jüdische  Religion  insbesondere  auf  der  Höhe  ihrer 
Entwicklung  jedes  sinnlichen  oder  sonst  außergeistigen  Elements  ent- 
behrt.   Frei  von  jeder  naturalistischen  Beimischung,  ist  sie  das  Prag- 

90 


matische  eines  reinen  Glaubens,  resp.  eines  Glaubens  des  reinen  Geistes. 
Schon  die  jüdische  Kosmonogie  beginnt  im  Gegensatz  zu  allen  andern 
Kosmogonien  absolut  keusch.  Die  Welt  geht  nicht  aus  dem  Zeugungs- 
akt eines  Paares  oder  aus  dem  Kampf  eines  Götterpaares  hervor, 
sondern  „Am  Anfang  schuf  Gott  Himmel  und  Erde"  —  unter  Aus- 
schluß jedes  sexuellen  Moments.  Im  ersten  Augenblick  nun  mag  diese 
„Religion"  des  reinen  Glaubens  eines  kleinen  politisch  wie  wirtschaft- 
lich gleich  unbedeutenden  Völkchens  als  wenig  merkwürdige  Erschei- 
nung angesehen  werden.  Allein,  wenn  man  bedenkt,  daß  dieses  kleine 
Völkchen  von  mächtigen  götzendienerischen  Nachbarn  umgeben  war, 
die  es  darauf  abgesehen  hatten,  ihren  Religionen  bald  gewaltsam,  bald 
durch  friedliche  Mittel  in  Judäa  Eingang  zu  verschaffen;  und  wenn 
man  ferner  bedenkt,  daß  dieses  kleine,  an  Zivilisation  arme  Volk  in 
vieler  Hinsicht  auf  seine  Nachbarn  angewiesen  war  und  mit  ihnen 
verkehren  mußte  und  es  trotzdem  vermochte,  seine  religiöse  Eigen- 
art und  Selbständigkeit  zu  wahren,  so  wird  man  diese  Erscheinung 
nicht  zu  hoch  einschätzen,  wenn  man  sie  als  eine  der  originellsten  und 
wunderbarsten  in  der  Geschichte  des  Geistes  bezeichnet.  Der  Mono- 
theismus an  sich  ist  noch  lange  nicht  ein  Erzeugnis  des  reinen  Glaubens. 
Der  Gott  Mohammeds  ist  zwar  einzig,  aber  nicht  heilig,  einzig, 
aber  nicht  sittlich,  einzig,  aber  nicht  geistig  resp.  abstrakt.  Zu- 
dem ist  der  Schwerpunkt  des  jüdischen  Monotheismus  nicht  auf  die 
Einheit  allein  zu  legen,  sondern  auf  das  Sein.  Moses  beschreibt  hier 
zum  erstenmal  als  ehje  ascher  ehje  als  das  ewig  Seiende  —  und  wie 
Herrmann  Cohen  geistreich  und  scharfsinnig  auseinandersetzt,  hat 
dieses  ehje  ascher  ehje,  von  dem  im  2.  Buch  Mosis  die  Rede  ist,  sein 
Analogon  im  Seinproblem  der  Eleaten. 

Die  islamische  Gottesidee  ist  zwar,  da  sie  monotheistisch  ist, 
keusch,  aber  um  so  mehr  ist  das  mohammedanische  Paradies  unkeusch. 
Die.  jüdische  Religion  ist  nicht  eine  Religion  des  reinen  Glaubens,  weil 
sie  den  Monotheismus  lehrt,  sondern  weil  sie  die  absolute  Geistigkeit, 
Heiligkeit  und  Sittlichkeit  Gottes  lehrt  und  Gott  zum  Wesen  und  Inhalt 
aller  Geistlichkeit,  Heiligkeit  und  Sittlichkeit  macht.  Wäre  sie  an  der 
biologischen  Natur  orientiert,  und  wäre  ihr  Inhalt  von  der  Natur  ge- 
geben, so  könnte  sie  höchstens  —  nach  dem  Beispiele  Aristoteles'  — 
einen  Gott  lehren,  aber  dieser  Gott  wäre  weder  heilig  noch  sittlich, 
weil  in  der  biologischen  Natur  weder  Heiligkeit  noch  Sittlichkeit  vor- 
handen ist.  Gott  als  der  Weisheit  letzter  Schluß,  wie  bei  Aristoteles, 
kann  ein  großer  Architekt,  Mechaniker  und  Ingenieur  sein,  aber  er 
braucht  und  muß  nicht  das  Wesen  der  Sittlichkeit  und  Heiligkeit  sein. 

91 


Die  auf  dem  Wege  der  Analysis  gewonnene  Gottesidee  involviert  weder 
den  Begriff  der  Sittlichkeit  noch  den  der  Heiligkeit,  genau  wie  die  über- 
legte, vorbedachte  und  künstliche  Abstraktion  keine  organische  Dich- 
tung schaffen  kann. 

Die  Idee  der  Heiligkeit  Gottes  ist  so  alt,  wie  der  jüdische  Gott 
selbst.  „Wer  ist,  wie  Du,  herrlich  in  Heiligkeit",  heißt  es  schon  in 
Moses  II,  15,  11.  „Wem  wollt  ihr  mich  vergleichen,  daß  ich  ähnlich  sei, 
spricht  der  Heilige",  Jes.  40,  25.  Der  Heilige  schlechthin  ist  Gort.  Oder 
umgekehrt:  Gott  schlechthin  ist  die  Heiligkeit.  Oft  wird  auch  seine 
Heiligkeit  durch  seine  Einzigkeit  motiviert:  „Keiner  ist  heilig  wieGott; 
denn  keiner  ist  außer  Dir,"  I.Sam.  2,  2.  In  seiner  großen  Vision  ver- 
nimmt Jesaia  den  Ruf  der  Engel:  „Heilig,  heilig,  heilig  ist  Gott  der 
Herr,  dessen  Herrlichkeit  die  ganze  Welt  erfüllet." 

Diese  Gottesidee  des  Judentums  kann,  weil  sie  im  Gegensatz  zum 
aristotelischen  Ausgangspunkte  ist,  als  organische  bezeichnet  werden. 
Ein  Gegenstück  zur  organischen  Gottesidee  bildet  die  mechanische 
Staatsidee  im  Judentum.  Der  jüdische  Staat  ist  zerstört  worden  bis  auf 
den  Grund  und  wieder  aufgebaut  worden;  zerstört  worden  und  wieder 
aufgebaut  worden,  bis  er  ganz  von  der  Bildfläche  verschwunden  war. 
Ein  gebrechlicher  Mechanismus,  konnte  er  leicht  zerstört  werden. 
Anders  die  jüdische  Religion  mit  ihrer  organischen  Gottesidee.  Sie 
steht  schon  seit  mehr  als  dreitausend  Jahren  wie  eine  isolierte  Insel 
im  stürmischen  Meere,  dessen  erboste,  gepeitschte  Wasser  sie  wegzu- 
spülen trachten,  ohne  daß  ihnen  ihr  feindliches  Unterfangen  gelänge. 
Man  mag  über  die  Juden  denken  wie  man  will,  man  mag  ihnen  niedrige 
oder  hohe  moralische  Qualitäten  zuschreiben,  die  Tatsache,  daß  sie  ein 
so  gefährliches,  weil  einzigartiges  Erbe,  wie  die  jüdische  Religion, 
trotz  ihrer  schicksalsreichen  und  wechselvollen  Geschichte  bis  auf  den 
heutigen  Tag  zu  erhalten  gewußt  haben,  bezeugt  zumindest,  daß  sie 
keine  Utilitarier  sind  und  auch  keine  Händlerseelen,  wie  Werner  Som- 
bart  die  Welt  glauben  machen  will.  Nun  gibt  es  nicht  wenige  Europäer, 
die  da  sagen:  Die  Juden  haben  überhaupt  keine  Religion,  sondern  eine 
Nomokratie  (Gesetzesherrschaft),  die  im  Grunde  genommen  ganz  pro- 
fan ist.  Was  ist  Religion  ohne  Mystik  und  Ekstase,  ohne  Gnadenlehre 
und  ohne  Jenseitshoffnungen?  Da  also  die  Juden  gar  keine  Religion 
haben  resp.  da  die  jüdische  Religion,  weil  sie  nicht  im  Leben  wurzelt, 
unwirklich  ist,  konnte  sie  weder  absorbiert  noch  beeinflußt  werden. 
Diese  Auffassung  hat  etwas  für  sich,  wenn  man  die  großen  herrschen- 
den Erlösungsreligionen  als  Maßstab  nimmt.  Nimmt  man  aber  mit  den 
Juden  an,  daß  Religion  ein  Verhältnis  des  einzelnen  zum  Übersinnlichen 

92 


(zu  Gott)  ist,  der  ganz  Geist,  ganz  Heiligkeit  und  ganz  Erhabenheit  ist, 
dann  muß  man  auch  zugeben,  daß  diese  Religion,  d.  h.  die  intimere 
Beziehung  zwischen  dem  Individuum  und  diesem  Gott  nicht  natura- 
listisch und  sensualistisch  motivierte  Mystik  und  Wollust  sein  kann, 
weil  Religion  da  aufhört,  wo  die  Natur  auf  den  Plan  tritt.  Das  Juden- 
tum ist  von  Natur  aus  nicht  asketisch.  Als  optimistische  Religion  mit 
ihrer  Betonung  des  Diesseits,  kann  sie  nicht  wohl  asketisch  sein,  aber 
der  hebräische  Begriff  Tahara,  Reinheit,  Reinigung,  involviert  ein 
asketisches  Moment,  weil  die  Tahara  sowohl  ein  sanitärer  als  ein 
rein  religiöser  Begriff  ist,  und  daher  eine  asketische  Beimischung  hat. 
Dieser  Tahara-Begriff  involviert  nicht  nur  ein  Sichentfernen  von  der 
sinnlichen  Natur  so  weit  wie  möglich,  sondern  er  ist  auch  zu  gleicher 
Zeit  der  absolute  Gegensatz  zur  religiösen  Ekstase  aus  dem  religiösen 
Rausch.  Der  Jude  kann  es  noch  bis  heute  nicht  fassen,  daß  der  religiöse 
Rausch  der  Ausdruck  der  Beziehungen  zwischen  dem  Juden  und  Gott 
sein  kann,  und  daher  erscheint  ihm  jede  Religion,  die  an  der  Natur  oder 
dem  Geschlechtsbewußtsein  orientiert  ist,  wenn  auch  nur  indirekt,  eine 
Art  Baal-  oder  Astartedienst.  Wenn  also  die  arischen  Kritiker  der  jüdi- 
schen Religion  behaupten,  daß  sie  gar  keine  Religion  sei,  sondern  nur 
eine  Nomokratie,  weil  sie  sich  nicht  an  den  ursprünglichen  Kräften  des 
Lebens  orientiert,  so  erwidern  darauf  die  Juden,  daß  den  arischen 
Völkern  der  Begriff  der  reinen  Religion  noch  gar  nicht  aufgegangen  ist 
und  daß  sie  noch  bis  auf  den  heurigen  Tag  in  einem  sublimierten 
Götzendienst  stecken,  weil  Religion  etwas  absolut  Geistiges  ist  und  frei 
von  jeder  sensualistischen  Beimischung  sein  muß.  Es  ist  also  wahr: 
Die  jüdische  Religion  hat  keine  „Basis  im  Leben",  ihr  Inhalt  ist  ihr  nicht 
vom  Leben  zugeführt,  und  sie  ist,  wenn  man  will,  da  ein  Produkt  des 
Geistes,  unnatürlich,  oder  sagen  wir,  außernatürlich.  Die  heidnischen 
Völker,  die  in  und  mit  der  Natur  leben,  konnten  sich  eine  solche,  in  der 
Natur  nicht  wurzelnde  Religion  nicht  aufbürden  lassen.  Nur  die  Juden, 
die  kein  logisches  Verhältnis  zur  Natur  unterhielten,  konnten  eine  solche 
Religion  hervorbringen  und  entwickeln.  Die  jüdische  Religion  mußte 
also  naturgemäß  auf  Judäa  lokalisiert  bleiben. 

Hier  beginnt  die  große  Tragödie.  Zwei  Geistesrichtungen  und 
Weltanschauungen  stehen  sich  entgegen.  Die  Religion  der  arischen 
Völker,  die  zum  Imperialismus  neigt  und  alle  andern  Religionen,  insbe- 
sondere die  neben  ihr  existierenden  zu  verschlingen  trachtet,  und  die 
Religion  eines  kleinen,  über  den  ganzen  Erdball  versprengten  Volkes, 
die,  einem  ganz  andern  Quell  entspringend,  gar  keine  Berührungs- 
punkte mit  der  großen  anationalen  Religion  hat,  weil  selbst  aus  dem 

93 


Geiste  eines  nationalen  Genius  gehauen',  sie  von  der  großen  Religion 
nicht  absorbiert  werden  kann.  So  ist's  heute,  so  war  es  im  Mittelalter 
und  im  Altertum.  Dieser  einzige,  unüberbrückbare  Gegensatz  zwischen 
Judentum  und  Christentum  ist  schon  allein  eine  zureichende  Erklärung 
für  die  Martyriumsgeschichte  des  jüdischen  Volkes  in  der  Diaspora  und 
für  die  Reibungen  zwischen  Judentum  und  NichtJudentum  in  der  alten 
Zeit. 

Mit  der  „Unnatürlichkeit"  und  der  reinen  Geistigkeit  der  jüdischen 
Religion  hängt  es  auch  zusammen,  daß  sie  als  gestiftete  Religion  ange- 
sprochen wird  und  daß  sie  das  Werk  der  großen  überragenden  Persön- 
lichkeit und  nicht  das  der  Masse  ist.  Selbst,  wenn  uns  der  Name  Moses 
unbekannt  wäre,  hätte  man  auf  einen  jüdischen  Religionsstifter  schließen 
—  einen  Moses  erfinden  müssen.  Ob  Moses  eine  historische  Persönlich- 
keit ist  oder  nieht,  steht  hier  nicht  zur  Diskussion,  aber  daß  ein  Moses 
(nennen  wir  die  Persönlichkeit  wie  wir  wollen)  gelebt  und  in  dem  be- 
kannten Sinn  gewirkt  hat,  kann  nicht  angezweifelt  werden.  Wie  wir  bei 
der  Entstehung  des  aus  Stimmungen  zusammengegossenen  Christen- 
tums die  Masse  an  dem  Christentum  mitschaffen  sehen,  so  sehen  wir 
das  Judentum  gegen  den  Willen  der  Masse  entstehen.  Natürlich  hätten 
Moses  und  die  ihm  folgenden  Männer  das  jüdische  Volk  unter  die 
Fuchtel  der  von  ihnen  „gestifteten"  resp.  ausgebildeten  Gesetzesreligion 
nicht  bringen  können,  wenn  cfas  Volk  nicht  jene  geistigen  Eigenschaften 
gehabt  hätte,  die  es  zur  Annahme  dieser  Religion  befähigten.  Die  „ge- 
stiftete Religion",  darauf  hat  schon  Jakob  Burckhardt  aufmerksam 
gemacht,  steht  überhaupt  der  anonym  entstandenen  Religion  in  mancher 
Beziehung  entgegen.  Die  „gestiftete"  Religion  ist  national,  die  anonym 
entstandene  ,anational,  die  erstere  leitet  eine  neue  Epoche  in  der  Ge- 
schichte ein,  die  zweite,  aus  katastrophalen  Erschütterungen  hervor- 
gegangen, bedeutet  den  Abschluß  einer  großen  Epoche.  Judentum  und 
Islam  leiten  neue  Epochen  in  der  Weltgeschichte  ein,  der  Entstehung 
des  Christentums  folgt  der  Zusammenbruch  des  römischen  Reiches.  Die 
gestiftete  Religion  ist  eine  Gesetzesreligion,  die  anonym  entstandene  ist 
eine  Erlösungsreligion.  Die  eine  bejaht  das  irdische  Leben,  die  andere 
verhält  sich  negativ  zum  Diesseits.  Aus  Gefühl  und  Ekstase  lassen  sich 
keine  Gesetze  schmieden.  Die  Bejahung  des  Lebens  bedingt  die  Statu- 
ierung der  Lebensformen,  des  Gesetzes.  Die  Christen  reden  von  Sünde 
und  Seligkeit,  die  Juden  von  gesetzlich  und  ungesetzlich,  von  recht  und 
unrecht.  Die  Gesetzesreligion  ist  letzten  Endes  ein  System  der  Sittlich- 
keit, die  Stimmungs-  und  Erlösungsreligion,  da  sie  dem  Menschen 
keine  irdische  Bestimmung  zuweist,  ist  nicht  nur  nicht  mit  der  Ethik 

94 


verschwägert,  sondern  sie  schließt  überhaupt  jede  wirkliche  Ethik  aus. 
Wie  soll  eine  Ethik,  die  die  Verhältnisse  und  Beziehungen  zwischen 
Menschen  durch  Normen  zu  regulieren  hat,  aufkommen,  wenn  die 
menschliche  Gesellschaft  keinen  Sinn  und  das  irdische  Leben  gar  keinen 
Plan  und  kein  Ziel  hat.  Dann  bedenke  man  noch  folgendes.  Alle  Er- 
lösungsreligion wurzelt  im  Affekt,  alle  Ethik  strebt  aber  danach,  den 
Affekt  zu  überwinden*  denn  wahrhafte  Ethik  ist  an  der  Vernunft  orien- 
tiert. Also  muß  die  Erlösun'gsreligion  entweder  ganz  losgelöst  sein 
von  der  Ethik  oder,  wo  sie  ein  Verhältnis  zur  Ethik  sucht,  sich  selbst 
widersprechen.  Im  Christentum  tritt  auch  dieser  Widerspruch  gar  zu 
deutlich  hervor.  Auf  der  einen  Seite  verneint  es  das  Leben,  auf  der 
andern  Seite  predigt  es  das  Gute,  das  doch  die  Bejahung  fördern  muß. 
Die  Erlösungsreligion  hat  auch  kein  Verhältnis  zur  Vernunft  oder  ein 
ausgesprochen  negatives  Verhältnis.  Die  Ethik,  die  nicht  an  der  Ver- 
nunft -orientiert  ist,  verdient  dodh  gewiß  nicht  diesen  Namen.  Eine 
Erlösungsreligion,  weil  im  Grunde  prinzipienlos,  verträgt  sich  mit  jeder 
Staatsform  und  findet  sich  mit  jedem  politischen  und  sozialen  Status, 
sowie  mit  jeder  herrschenden  Philosophie  ab.  Gesetzesreligion  hin- 
gegen limitiert  das  Leben ;  das  über-  und  außernatürliche  Gesetz  engt 
das  Leben  ein  und  ist  bestrebt,  es  in  seinem  Rahmen  zu  halten.  Die 
Gesetzesreligion  ist  demnach  die  Mörderin  aller  Politik.  Treten  aber 
die  Mächte  des  Lebens  auseinander  und  erschüttern  katastrophale  Er- 
eignisse seine  organisierten  Mächte,  so  tritt  die  Gesetzesreligion  als 
Bändigerin  der  tobenden  Gewalten  auf  und  erweist  sich  als  domesti- 
zierende, zivilisatorische  Macht,  während  die  Erlösungsreligion  den 
Ereignissen  gegenüber  hilflos  dasteht  oder  noch  zur  Entfesselung  der 
wilden  Gewalten  beiträgt,  indem  sich  ihre  Triebfeder,  der  Affekt,  mit 
den  andern  Affekten  vereinigt.  Nur  bei  gefestigter  politischer  Ordnung 
und  dem  Staat  subordiniert,  kann  sie  ohne  Schaden  für  die  Gesamtheit 
wiricen.  Wenn  der  Fall  umgekehrt  ist,  wie  etwa  im  Mittelalter,  erweist 
sie  sich  als  eine  vom  Käfig  losgerissene  Bestie,  die,  von  wilden  Affekten 
und  Trieben  gepeitscht  und  von  einem  wahnsinnigen  Herrschertrieb 
gestachelt,  am  Schmoren  von  Menschenleibern  sich  ergötzt.  Was  war 
denn  die  Inquisition  anders  als  der  exaltierte  Affekt,  verbunden  mit 
Herrschsucht,  die  eine  wollüstige  Grausamkeit  erzeugt?  Nicht  ohne 
Grund  haben  die  besten  Geister  der  arischen  Völker  nahezu  ein  halbes 
Jahrtausend  an  der  Überwindung  und  Vernichtung  des  sogenannten 
„christlichen  Staates"  gearbeitet.  Das  Christentum  hat  überhaupt  kein 
Verhältnis  zum  Staat,  so  wenig  es  irgendeine  andere  Erlösungsreligion 
hat.    Es  findet  sich  ebenso  mit  der  Despotie  wie  mit  der  Anarchie  ab. 

95 


Wenn  nun  dieses  staatliche  Christentum  der  Inhalt  des  Staates  wird, 
so  muß  der  Staat,  da  die  menschliche  Gesellschaft  in  Anarchie  nicht 
existieren  kann,  despotisch  sein  —  despotisch  plus  wollüstig. 

Die  Gesetzesreligion  hingegen  (Judentum,  Islam,  Parsismus)  ist 
nicht  nur  eine  Nomokratie  im  theologischen  Sinne,  sondern  sie  regelt 
auch  alle  Bewegungen,  Beziehungen  und  Verhältnisse  des  sittlichen, 
sozialen,  ökonomischen  und  politischen  Menschen.  Sie  tritt  an  Stelle 
aller  anderen  bändigenden  Gewalten  des  Lebens,  zügelt  die  Un- 
gebundenheit  des  Individuums  und  macht  es  zum  zivilisierten  Wesen. 
An  Stelle  des  Polizisten  und  Richters  tritt  der  Rabbi,  an  Stelle  des  Staats- 
oberhauptes, in  dessen  Namen  man  das  Gesetz  verkündet,  tritt  Gott. 

Kurzum:  die  Religion  ist  hier  der  unsichtbare  Staat  und  mithin 
ein  Zivilisations-Institut.  Der  Schwerpunkt  ist  hier  die  Erde,  nicht  der 
Himmel,  die  Gerechtigkeit  und  nicht  die  Seligkeit.  Aber  in  keiner  der 
Gesetzesreligionen  wird  der  Gedanke  der  Lebensbejahung  so  stark 
betont  wie  in  der  jüdischen,  weil  eben  in  diesem  kleinen  Volke  un- 
glaublich starke  vitale  Kräfte  leben.  Schon  im  ersten  Abschnitt  der 
Bibel  wird  den  Menschen  eingeschärft:  Seid  fruchtbar  und  mehret 
euch  und  füllet  die  Erde.  Und  später  wurden  die  Juden  eindringlich 
gemahnt:  Nicht,  daß  sie  wüst  bleibe,  hat  er  die  Erde  geschaffen,  son- 
dern daß  sie  besiedelt  werde.  Und  sowohl  in  der  Bibel  wie  im  Talmud 
wird  des  öfteren  auf  die  Beziehung  zwischen  Lehre  und  Leben  hin- 
gewiesen. Die  Lehre  ist  und  soll  eine  Lehre  des  Lebens  sein.  „Die 
Thora  ist  nicht  im  Himmel,  sie  wurde  nicht  den  Engeln,  sondern  den 
Menschen  gegeben."  Aber  wie  ein  roter  Faden  zieht  sich  durch  alle 
Erlösungsreligionen  der  Gedanke:  „Das  irdische  Leben  ist  nur  eine 
ewige  Widerkehr  von  Geburt  und  Tod,  ein  ewiger  zielloser  Wechsel, 
dem  jeder  rationale  Grund  fehlt."  Das  große  und  einzige  Ziel  sei  die 
Erlösung,  Brahma,  Nirwana  oder  die  himmlische  Seligkeit,  wie  sie  etwa 
die  Kirchenväter  erträumt  haben.  Wenn  das  Christentum  nicht  solche 
starke  Töne  für  die  Willensverneinung  gefunden  hat  wie  die  anderen 
Erlösungsreligionen,  obgleich  es  das  Diesseits  nicht  minder  verneint, 
so  ist  es,  weil  es  nicht  so  originell  und  in  seinem  Ursprung  nicht  so 
rein  ist  wie  etwa  Brahminismus  und  Buddhismus.  Wer  jedoch  an  der 
Verneinung  des  Lebens  durch  das  Christentum  zweifelt,  der  möge 
nur  nach  seinem  Verhältnis  zur  Vernunft  fragen.  Dieses  Verhältnis  ist 
ein  negatives.  Die  Bejahung  ist  aber  immer  an  der  Vernunft  orientiert. 
Der  Pessimismus  ist  und  war  immer  mit  dem  Gefühl  verschwägert. 
Wer  nur  durch  das  Prisma  des  Gefühls  das  Leben  betrachtet,  dem 
muß   es   als   böse   erscheinen.    Anstatt   Ordnung  sieht   er  überall   nur 

96 


Chaos,  anstatt  Logik  Schicksal,  anstatt  Normen  Willkür;  denn  das 
Alogische,  Chaotische  und  Schicksalsmäßige  des  Gefühls  projiziert  sich 
selbst  in  die  Natur  hinein.  Verdient  ein  solches  Leben  voll  Bosheit 
und  Sünde  gelebt  zu  werden?  Verzweifelnd  an  diesem  Jammertal  sehnt 
er  den  Himmel  oder  das  Nichts  herbei. 

Gemäß  dem  Gesetz  von  Ursache  und  Wirkung  hat  das  spätere 
Judentum,  mit  Ausnahme  des  relativ  jungen  Chassidismus:,  zu  dem 
sich  nur  ein  kleiner  Bruchteil  des  jüdischen  Volkes  bekennt,  die  in- 
tellektualistische  Tradition  festgehalten  und  gepflegt,  das  Christentum, 
mit  Ausnahme  des  großen  Aquitaners,  die  antiintellektualistisch-roman- 
tischen.  Seit  Jahrtausenden  beten  die  Juden  dreimal  täglich:  Gelobt 
seist  du  Gott,  der  du  den  Menschen  mit  Erkenntnis  begünstigt  hast. 
Man  denke  an  den  Gegensatz  zwischen  Talmud  und  Patristik.  Die 
Patristik  findet  Töne  gegen  die  Vernunft,  wie  sie  nur  noch  im  Brahmi- 
nismus  wiederkehren.  Der  Talmud,  ein  rationalistisches  Werk,  besteht 
zu  neun  Zehnteln  aus  Halacha  und  zeichnet  sich  durch  seine  rationa- 
listische Trockenheit  aus,  die  an  die  deutsche  Rechtssprache  erinnert. 
Wie  sich  der  Talmud  zur  Erkenntnis  verhält,  mögen  folgende,  dem 
Talmud  entnommene  Sätze,  die  nirgends  widersprochen  werden,  dartun: 

l.Wer  selber  kein  Gelehrter  ist,  soll  zumindest  Gelehrte  unter- 
stützen. 

2.  Der  Gelehrte  ist  mehr  als  der  Prophet. 

3.  Der  Gelehrte  geht  vor  dem  unwissenden  Hohepriester. 

4.  Der  Gelehrte  geht  vor  dem  König  Israels;  denn  jeder  Jude 
kann  dem  gestorbenen  König  in  der  Regierung  folgen,  während 
der  gestorbene  Gelehrte  unersetzlich  ist. 

5.  Ein  Ignorant  kann  nicht  fromm  sein. 

6.  Schulkinder  dürfen  dem  Unterricht  nicht  entzogen  werden,  selbst 
wenn   es  sich   darum  handelt,   den  Tempel  wieder  aufzubauen. 

'7.  Niemand  darf  seine   Bücher  verkaufen. 

8.  Wer  gelehrt,  aber  nicht  intelligent  ist,  ist  dem  vergleichbar,  der 
Brot  hat  und  niemanden  hat,  der  es  essen  soll,  und  einer,  der 
intelligent,  aber  nicht  gelehrt  ist,  ist  dem  vergleichbar,  der  ein 
Eßgericht,  aber  kein  Brot  dazu  hat. 

9.  Die  Wissenschaft  eines  Gelehrten,  der  gefehlt  hat,  darf  nicht 
verachtet  werden,  und  trage  keinem  Gelehrten  in  der  Nacht  nach, 
was  er  am  Tage  gefehlt  hat. 

10.  Jerusalem   ist   zerstört   worden,   weil   der  Jugendunterricht   auf- 
gehört hatte. 

7    Melamed 

97 


In  einer  Diskussion  zwischen  jüdischen  und  nichtjüdischen  Ge- 
lehrten über  eine  wissenschaftliche  Frage,  so  berichtet  der  Talmud 
selbst,  haben  die  jüdischen  Gelehrten  die  Richtigkeit  der  Argumente 
ihrer  Gegner  anerkannt  und  ihnen  zugestimmt.  Aus  diesem  einen 
Schlußsatz  „vvehodu  chachme  Israel  lechachme  umot  haolam"  (die 
jüdischen  Gelehrten  haben  sich  zu  der  Meinung  der  nicht-jüdischen 
bekannt)  ist  zu  ersehen,  daß  der  jüdische  Wissenschaftsbegriff  ein 
autonomer   ist. 

Wie  die  mittelalterliche  jüdische  Religionsphilosophie,  die  auf  dem 
Umwege  des  Maimonides  nicht  ohne  Einfluß  auf  den  gesamten  philo- 
sophischen Gedanken  jener  Kulturepoche  blieb,  die  großen  mittelalter- 
lichen Traditionen  des  Judentums  gepflegt  und  weiter  gebildet,  und 
wie  sie  im  Kampfe  zwischen  Glauben  und  Wissen  dem  Wissen  den 
Primat  gab,  ist  jedem  Eingeweihten  bekannt.  Ich  möchte  nur  ein 
Exempel  anführen.  Der  bei  den  frömmsten  Juden  in  hoher  Achtung 
stehende  Religionsphilosoph  Rabbi  Isaak  Arama,  der  Verfasser  der 
berühmten  „Akeda",  läßt  sich  über  die  Frage  Glauben  oder  Wissen 
folgendermaßen  vernehmen:  Zuerst  kommt  die  Forschung  (Chakira) 
und  dann  der  Glaube  (Emuna),  und  nur  derjenige  Glaube  hat  Be- 
stand, der  vernünftig  motiviert  ist.  Daß  die  führenden  Juden  aller 
Zeiten  sich  der  intellektualistischen  Motive  der  jüdischen  Religion 
bewußt  waren,  bekundet  die  Aussage  des  Josephus  den  Römern  gegen- 
über: „Die  Religion  der  Peruschim"  (Pharisäer)  steht  den  Lehren  und 
Anschauungen  Piatos  sehr  nahe."  Daß  sich  Josephus  in  seiner  Mei- 
nung nicht  geirrt  hat,  beweist  der  Einfluß  Piatos  auf  das  Judentum. 
Nur  dieser  starke  Intellektualismus  im  Judentum  erklärt  die  häufigen 
Hinweise  in  der  Bibel  auf  die  Beziehung  zwischen  Verwirklichung 
und  Kenntnis  des  Gesetzes  und  Belohnung.  „Damit  Chi  lange  lebest", 
„und  Du  wirst  lange  leben",  „Und  sie  (die  Lehre)  ist  Euer  Leben  und 
Eure  lange  Lebensdauer",  „Ihr,  die  Ihr  Euch  Eurem  Gott  anschließt, 
werdet  lange  leben",  und  ähnliche  Aussprüche  sind  fast  auf  jeder  Seite 
in  der  Bibel  zu  lesen.  Am  schärfsten  hat  der  große  Prophet  Jeremia 
auf  das  Verhältnis  zwischen  Lehre,  Erkenntnis  und  Leben  hingewiesen. 
Nach  der  Verkündung:  „Und  es  wird  keiner  den  andern,  noch  ein 
Bruder  den  andern  lehren  und  sagen:  Erkenne  den  Herrn;  denn  sie 
werden  mich  alle  kennen,  Klein  und  Groß,  spricht  der  Herr",  wird 
hinzugefügt:  „So  spricht  der  Herr:  Der  die  Sonne  dem  Tag  zum  Lichte 
gibt  und  den  Mond  und  die  Sterne  nach  ihrem  Lauf  der  Nacht  zum 
Lichte,  der  das  Meer  bewegt,  daß  seine  Wellen  brausen;  Herr  Zeboat 
ist  sein  Name.    Wenn  solche  Ordnung  vergehen  wird,  wird  auch  auf- 

98 


hören  der  Same  Israels,  daß  er  nicht  mehr  ein  Volk  vor  mir  sei  ewig- 
lich." Mit  anderen  Worten:  Der  letzte  Mensch  wird  der  letzte  Jude 
sein,  wenn  er  Gott  erkennen  wird. 

So  sind  die  Begriffe  Bejahung,  Erkenntnis  und  Zukunft  eng  mit- 
einander verschwistert,   weil   der  eine  aus   dem   andern  folgt. 

Der  jüdische  Optimismus,  den  die  jüdische  Religion  so  nachdrück- 
lich betont,  geht  noch  auf  ein  anderes  Motiv  zurück.  Nach  jüdischer 
Anschauung  ist  der  Mensch  die  Krone  der  Schöpfung,  Herr  der  Natur. 
Ihm  ist  das  Recht  eingeräumt,  die  Natur  nach  Gutdünken  zu  beherr- 
schen, sofern  die  Herrschaft  für  sein  Dasein  notwendig  ist.  „Und 
Gott  segnete  sie  und  sprach  zu  ihnen:  Seid  fruchtbar  und  mehret  Euch 
und  füllet  die  Erde  und  machet  sie  Euch  Untertan  und  herrschet  über 
Fische  im  Meer  und  über  Vögel  unterm  Himmel  und  über  alles  Tier, 
das  auf  Erden  kreucht."  Die  Natur  ist  dem  Menschen  zur  Verfügung 
gestellt,  weil  nicht  die  biologische  Natur,  sondern  der  Mensch  als 
vernünftiges  und  sittliches  Wesen  Sinn  und  Zweck  des  Lebens  ist. 
Die  Natur  ist  vorerst  nicht  Zweck,  sondern  Mittel.  Eine  ganz  andere 
Anschauung  über  das  Recht  des  Menschen  auf  die  Natur  tragen  die 
Erlösungsreligionen  vor.  Der  Mensch  sei  nur  ein  Ausschnitt  der  Natur 
und  die  Natur  ist  die  Verkörperung  der  Sünde.  Der  Mensch  ist  sünd- 
beladen,  weil  die  Natur  die  Stätte  der  Sünde  ist.  Die  Sünde  ist  mit 
der  Natur  gesetzt,  also  von  der  Natur  unzertrennlich,  woraus  folgt, 
daß  der  Mensch,  der  nur  ein  Ausschnitt  der  Natur  ist,  die  zweibeinige 
Sünde  ist.  Die  philosophischen  Vertreter  der  Erlösungsreligion  in  der 
deutschen  Philosophie,  Schopenhauer  und  Deußen,  wiederholen  diese 
Lehre  bis  zum  Überdruß.  So  läßt  sich  z.  B.  Deußen  in  seinem  Buche 
„Elemente  der  Metaphysik"  vernehmen:  „Wir  erkannten,  daß  der  Leib 
nichts  anderes  ist  als  der  objektive,  im  Räume  sich  darstellende  Wille 
zum  Leben  selbst,  so,  daß  wir  anstatt  Bejahung  des  Willens  auch 
sagen  können,  Bejahung  des  Leibes.  Die  Bejahung  des  Leibes  ist 
nur  möglich  durch  die  Ernährung,  d.  h.  wir  können  unser  Dasein  nicht 
anders  bejahen,  als  indem  wir  ohne  Unterlaß  fremdes  Dasein  (von 
Pflanzen  und  Tieren)  verneinen.  Wollen  wir  nicht  selbst  zugrunde 
gehen,  so  müssen  wir  uns  entschließen,  anderen  Wesen,  die  das  Leben 
nicht  weniger  heftig  als  wir  begehren,  und  welche  ebenso  gut  und 
Selbstzweck  sind  wie  wir,  fortwährend  dasjenige  anzutun,  das,  wenn 
es  uns  selbst  geschähe,  als  das  größte  Unrecht  betrachtet  würde: 
Hiernach  wird  deutlich,  wie  die  Sündhaftigkeit  mit  dem  Dasein  selbst 
gesetzt  ist,  folglich  nur  mit  diesem  aufgehoben  werden  kann."  Ähnlich 
dachten    die    Kirchenväter,    die   Schöpfer    des    Katholizismus,    der   am 

7* 

99 


konsequentesten  die  buddhistisch-christliche  Metaphysik  vertritt.  Daß 
solche  Anschauungen  den  schwarzgalligsten,  wehklagenden  Pessimis- 
mus bedingen  und  notwendig  machen,  versteht  sich  von  selbst. 

Den  Juden  ist  das  Erdenleben  gewiß  nicht  heiter  und  sonnig  auf- 
gegangen, und  doch  rangen  sie  sich  zu  einer  optimistischen  Welt- 
anschauung durch.  Der  griechische  Mythus  dagegen,  der  die  Welt  zu 
einem  Idyll  verklärte,  in  welchem  Gott  und  Menschen  einen  gemein- 
samen Verkehr  pflegen,  hat  am  Ende  zum  größten  pessimistischen 
Katzenjammer  geführt.  Das  heitere  Griechenvolk  hat  seine  Ansicht 
über  den  Wert  und  Sinn  des  Lebens  gründlich  geändert.  Was  ist  die 
Welt  im  Lichte  der  religiösen  Spekulation  des  Neuplatonismus  be- 
trachtet? Ein  Jammertal,  eine  Stätte  des  Dunkels  und  des  Irrsais. 
Sophokles  und  mit  ihm  alle  großen  Tragiker  Griechenlands  drückten 
oft  genug  einen  tiefen  Unwillen  über  das  unverständliche  Walten  der 
Götter  aus.  Sophokles  speziell  drückt  eine  weltmüde,  durchaus  pessi- 
mistische Stimmung  in  den  Worten  des  Chorus  ödipus  auf  Kolonos 
aus.  „Nie  geboren  zu  sein  ist  das  Allerbeste.  Das  Zweitbeste  aber 
ist,  möglichst  bald  wieder  dahin  zurückzukehren,  woher  Du  gekom- 
men." Diese  weltflüchtige  Stimmung  beherrschte  nicht  nur  die  Tra- 
giker, sondern  auch  die  Historiker  und  Philosophen.  Auch  die  Philo- 
sophie Piatos  wird  zum  großen  Teil  von  dieser  Stimmung  beherrscht. 
Nach  Plato  ist  der  materielle  Leib  für  unsere  Seele  eine  Fessel,  und 
die  Übel  der  Welt  sind  unvermeidliche  Folgen  ihrer  stofflichen  Natur. 
Die  Sünde  und  das  Übel  sind  also  mit  der  Natur  gesetzt.  Zum  Sterben 
reif  zu  sein,  sich  für  die  große  Reise  ins  Jenseits  fertig  zu  machen, 
ist  der  Weisheit  letzter  Schluß.  Hier  stehen  wir  schon  mit  beiden 
Füßen  im  Pessimismus  und  im  Christentum. 

Eine  noch  drückendere  weltflüchtige  Stimmung  beherrscht  den 
Brahamismus  und  den  Buddhismus.  Ihnen  erscheinen  die  Übel  als  der 
eigentliche  Kern  des  Daseins.  Alles  Leben  ist  Leiden,  und  beide  sind 
identisch.  Der  Wille  zum  Leben,  das  Haften  und  Hangen  am  Leben 
und  das  Begehren  nach  der  Sinnenwelt,  ist  die  Ursünde,  die  durch  den 
ewigen  Kreislauf  des  Leidens  sich  rächt  und  bestraft.  Die  Grundfrage 
der  brahmanischen  und  buddhistischen  Frömmigkeit  ist  nicht:  Wie 
überwinde  ich  das  Übel  und  erreiche  das  Gute,  sondern,  wie  fliehe  ich 
am  schnellsten  aus  dem  Reiche  des  Lebens,  aus  dem  Jammertal  de9 
Leidens  in  das  mystische  Jenseits  des  Willens,  in  das  blaue  Nichts,, 
in  das  Nirwana.  Der  zart  empfindende  Brahmaismus  setzt  ateleologisch 
an,  und  die  tieftragischen  Töne,  die  er  verlautbart,  sind  nur  die  logische 
Folge   seines   Ausgangspunktes.    Aber  anders   das   Griechentum,    das 

100 


nicht  nur  teleologisch  ansetzt,  sondern  auch  vom  Anbeginn  an  eine 
erquickende  Heiterkeit  an  den  Tag  legt.  Und  siehe  da,  je  kräftiger  und 
stärker  es  sich  entfaltet,  je  mehr  es  sich  geistig  entwickelt,  desto 
düsterer  wird  seine  Disposition.  Das  Judentum  hingegen  bleibt  sich 
von  Anfang  bis  Ende  treu.  Es  setzt  an  mit  der  klassischen  Formel 
des  Optimismus:  „Und  Gott  sah,  daß  alles  gut  war",  und  schließt 
auch  optimistisch,  trotz  des  wechselvollen  und  tragischen  Schicksals 
des  jüdischen  Volkes. 

Die  Grundbücher  der  Griechen  und  Römer  sind  Bücher  der  Siege, 
und  vielfach  können  sie  nur  in  dem  Geiste  des  Siegers,  des  Siegens 
und  des  Eroberns  verstanden  werden.  Das  Grundbuch  der  Juden  hin- 
gegen, die  Bibel,  ist  ein  Buch  der  Niederlagen,  ein  Buch  der  Besiegten 
und  Niedergetretenen.  Es  ist  das  Buch  eines  besiegten  Volkes,  das 
Buch  besiegter  Propheten,  das  Buch  eines  besiegten  Messias,  und  laut 
christlicher  Annahme  auch  das  Buch  eines  besiegten  Gottes.  Und 
dieses  Buch  der  Besiegten,  das,  wie  wir  bald  sehen  werden,  auch  das 
Buch  der  Hungrigen  ist,  ist  zum  Grundbuch  des  ethischen  Idealismus 
und  des  ethischen  Optimismus  geworden.  Darin  offenbart  sich  die 
Originalität  und  die  Größe  dieses   Buches. 

Natürlich  wurden  auch  im  antiken  Judäa  pessimistische  Stimmen 
vernehmbar.  Man  denke  nur  an  die  Bücher  Hiob  und  Koheleth.  Auch 
den  antiken  Juden  konnte  es  nicht  unverborgen  bleiben,  daß  der  Ge- 
rechte oft  am  meisten  leiden  müsse,  während  der  Ungerechte  des 
Glücks  sich  erfreut.  Der  Verfasser  des  Buches  Hiob  hat  mit  diesem 
Problem  hart  gerungen,  ohne  es  gelöst  zu  haben.  Koheleth  hingegen  ver- 
lautbart  schon  Töne  der  Verzweiflung.  „Einerlei  Schicksal  hat  der 
Gerechte  und  der  Frevler,  der  Gute  und  Reine  wie  der  Unreine.  Ich 
sah  alle  Bedrückung  unter  der  Sonne,  siehe,  da  waren  Tränen  der 
Unrecht  Leidenden  und  sie  hatten  keinen  Tröster,  und  die  Unrecht 
Überwindenden  waren  zu  mächtig.  Ich  sah  alles  Tun,  das  unter  der 
Sonne  geschieht,  und  siehe,  es  war  alles  eitel  und  nichtig."  Und  dann 
klingt  es  verzweifelt  aus:  „Wer  weiß,  ob  der  Lebenshauch  des  Men- 
schen aufwärts  fährt."  Aber  die  antike  jüdische  Frömmigkeit  konnte 
sich  bei  dieser  Resignation,  bei  dieser  bitteren  Verzweiflung  nicht  be- 
ruhigen, weil  das  Judentum  seinem  Grundwesen  nach'  ein  System 
des  hoffenden  Idealismus  ist.  Das  antike  Judentum  konnte  über  die 
Theodice  nicht  schweigend  hinweg  gehen,  wie  es  sich  mit  der  Antwort 
des  Koheleth  nicht  beruhigen  konnte.  Eine  Lösung  mußte  für  das  Problem 
gefunden  werden,  sollte  nicht  das  ganze  System  in  die  Brüche  gehen. 
Der  große,  unbekannte  Prophet,  als  Deutero-Jesaia  bekannt,  gab  die 

m 


Antwort  auf  die  Frage,  und  die  Antwort  ist  ebenso  originell,  weil  der 
Prophet  an  der  Wirklichkeit  des  eigenen  Volkes  orientiert  ist.  Die 
Antwort  besteht  darin,  daß  das  Leiden  des  Individuums,  das  Leiden 
des  gerechten  und  frommen  Mannes,  oder  wie  er  später  heißt,  des 
Knechtes  Gottes,  nicht  vergebens  ist.  Der  Knecht  Gottes,  der  Fromme, 
Leidende,  mag  persönlich  nicht  das  Glück  erleben,  aber  die  Gemein- 
schaft, das  Kollektivum  erntet  in  Freude,  was  der  Duldende  und  Lei- 
dende mit  Tränen  gesät.  Es  ist  dem  Propheten  nicht  verborgen  ge- 
blieben, daß  gerade  die  Frommen  und  Gerechten,  die  am  meisten  litten, 
wesentlich  zu  der  Restaurierung  Zions  beitrugen,  daß  dank  ihren  Be- 
mühungen, ihrer  Arbeit  und  ihrer  Ausdauer  dem  jüdischen  Volke  ge- 
holfen wurde.  Diese  Beobachtung  lehrte  ihn,  daß  der  Fromme,  der 
Dulder,  der  Leidende  der  Heilsbringer  des  Volkes  ist,  und  daß  das 
geduldige  Leiden  des  Gottesknechtes  ein  von  Gott  auserlesenes  Sühne- 
mittel ist  zur  Tilgung  der  Sündenschuld  der  Völker  und  zur  Herstellung 
eines  Heilszustandes  für  alle,  also  daß  der  fromme  Dulder  das  wirk- 
same Organ  der  göttlichen  Gnadenabsicht  am  Volksganzen  ist.  Der 
fromme  Dulder  also  leidet  nicht  vergebens.  Sein  Martyrium  bedeutet 
oft  das  Glück  der  Gesamtheit.  Dieses  Bewußtsein  muß  natürlich  das 
Leiden  verklären  und  auf  das  Martyrium  einen  hehren  Schein  werfen. 

Natürlich  ist  nicht  immer  der  Dulder  und  der  Knecht  Gottes  als 
das  wirksame  Organ  der  göttlichen  Gnadenabsicht  zu  erkennen,  und 
die  Lehre  von  der  Mission  des  Dulders  läßt  sich  mit  der  Wirklichkeit 
oft  nicht  vereinbaren.  Wir  stehen  da  also  wieder  vor  der  alten  Frage. 
Der  Gerechte  leidet  vergebens,  und  der  Böse  erfreut  sich  des  Glücks. 
Um  seinem  hoffenden  Idealismus  treu  zu  bleiben,  flüchtet  der 
Prophet  von  der  elenden  Gegenwart  in  die  lichtvolle  Zukunft  und 
führt  den  Begriff  der  Zukunft  ein,  um  die  Widersprüche  der  Gegen- 
wart zu  überwinden.  Die  Gegenwart  ist  eine  Zeit  der  Strafe  Gottes, 
aber  „es  wird  in  den  letzten  Tagen  geschehen"  —  so  wird  die  Zu- 
kunft dazu  benützt,  die  Widersprüche  der  Gegenwart  zu  überwinden 
und  den  ethischen  Idealismus  und  Optimismus  noch  mehr  zu  be- 
festigen. Aber  wie  schon  erwähnt:  die  Zukunft,  von  der  der  Prophet 
spricht,  ist  nicht  das  christliche  Himmelreich,  sondern  das  Reich  der 
Menschen  auf  dieser  Erde,  ein  Reich  der  Gerechtigkeit,  der  Herzens- 
reinheit und  der  Heiligkeit. 

Die  theologische  Deszendenzlehre  (der  Abstieg  vom  goldenen 
Zeitalter,  das  weit  hinter  uns  liegt,  der  Sündenfall),  mit  der  der 
heilige  Augustinus  seine  Staatslehre  einleitet,  und  die  in  allen  Erlösungs- 
religionen   wiederkehrt,    wird    von   christlichen    Theologen    auch    dem 

102 


Judentum  untergeschoben.  Daß  das  Judentum  die  großartigste  opti- 
mistische Weltanschauung  hervorgebracht  hat,  gegen  die  sich  die 
Leibnizsche  wie  eine  schlechte  Kopie  ausnimmt,  kümmert  sie  wenig. 
Der  Optimismus,  der  in  der  jüdischen  Religion  so  nachhaltig  zum 
Ausdruck  kommt,  hätte  doch  die  christlichen  Theologen  belehren 
müssen,  daß  die  Erzählung  von  dem  Sündenfall  in  der  Bibel  nicht  ein 
Motiv  für  die  brahminisch-buddhistisch-christliche  Deszendenzlehre,  die 
Voraussetzung  des  geschichtsphilosophischen  Pessimismus  abgeben 
kann.  Wäre  dem  so,  so  könnte  doch  das  Judentum  nicht  diesen  un- 
verwüstlichen Optimismus  verkündet  haben.  Das  Judentum  lehrt  viel- 
mehr, daß  es  im  Universum  kein  Übel  an  sich  gibt.  Das  Übel  besteht 
nur  in  dem  Verhältnis,  das  der  Mensch  dem  Dinge  oder  dem  Vor- 
gange in  seiner  Beziehung  zu  sich,  dem  Individuum,  beilegt,  d.  h.  nur 
ein  relatives  Übel,  das  aber  nicht  ein  Übel  an  sich  ist.  Weder  der 
Blitz  noch  der  Sturm  auf  hoher  See  sind  an  sich  Übel,  denn  sie  ge- 
hören zum  Ganzen  der  Natur.  Auch,  daß  das  Bilden  des  Menschen- 
herzens von  der  Jugend  an  (nicht  von  der  Geburt  an,  wie  das  Christen- 
tum lehrt)  böse  ist,  kann  noch  kein  pessimistisches  Motiv  sein,  im 
Gegenteil,  diese  Konzeption  ist  in  Anbetracht  der  Bestimmung  des 
Menschen  die  erste  Begründung  der  Ethik.  Wozu  wäre  eine  Ethik 
überhaupt  notwendig,  und  wie  könnte  die  sittliche  Handlung  verdienst- 
lich sein,  wenn  der  Mensch  von  Natur  aus  nur  gut  wäre?  Der  Mensch 
ist  ein  vernünftiges  Wesen.  Die  Vernunft  hat  die  Bestimmung,  die 
Wahl  zu  treffen.  „Das  Leben  und  den  Tod  lege  ich  Euch  heute  vor^ 
den  Segen  und  den  Fluch,  so  wählet  das  Leben. "  .  Erst  die  Wahlmög- 
lichkeit, die  Möglichkeit  der  Selbstbestimmung  macht  den  Menschen 
zu  einem  moralischen  Wesen.  Die  Selbstbestimmung  ist  nur  durch 
die  Vernunft  möglich.  Wie  sich  nun  im  Judentum  an  dem  Problem  der 
Willensfreiheit  die  Ethik  entzündet,  so  in  den  Erlösungsreligionen  an 
dem  Problem  des  Determinismus,  jene  barbarische  Theologie,  die 
unter  dem  Namen  Gnadenlehre  bekannt  ist.  Der  Mensch  ist  nur  ein 
Ausschnitt  der  Natur,  die  Natur  ist  Sünde,  wie  ist  also  die  Seligkeit 
möglich?  Darauf  antwortete  das  große  Kirchenlicht  Augustinus: 
„Durch  die  Prädestination  zur  Seligkeit  oder  zur  ewigen  Verdammnis 
durch  die  Gnade,  die  allein  vereinzelte  Individuen  von  der  Erbsünde 
befreit."  Aus  dieser  Lehre  folgern  wir  zweierlei:  erstens  daß  der 
Mensch  unverdient  zum  sündbeladenen  Wesen  herabgedrückt  wird, 
wobei  ihm  die  Möglichkeit  einer  Besserung  geraubt  und  jede  sitt- 
liche Verantwortung  genommen  wird,  und  zweitens  daß  Gott  selbst, 
indem   er  nur  wenige  Einzelne  zur  Seligkeit  prädestiniert,  nicht  die 

103 


Sittlichkeit  will,  selbst  ungerecht  ist  und  vom  Affekt  geleitet  wird. 
Wenn  einer  zur  Seligkeit  prädestiniert  ist,  so  ist  er  es  doch,  weil  er 
auf  Grund  seiner  guten  Handlungen  die  Seligkeit  verdient,  also  ist 
die  Prädestination  nur  ein  Kapriccio  Gottes,  eine  Laune,  ein  Affekt. 
Auch  kann  gefragt  werden:  Was  ist  das  für  ein  g-erechter  und  sittlicher 
Gott,  der  eine  Natur  schafft,  mit  der  die  Sünde  gesetzt  ist,  der  ein 
Leben  schafft,  das  nicht  wert  ist,  gelebt  zu  werden?  Auf  diese  Frage 
gibt  es  nur  eine  Antwort:  ,Der  Gottesbegriff '  der  Erlösungsreligion 
ist  ein  ganz  anderer  als  der  der  Gesetzesreligion;  denn  vom  Stand- 
punkte der  Gesetzesreligion  mit  ihrem  transzendenten  Gottesbegriff 
ist  der  Pessimismus  mit  allem,  was  drum  und  dran  hängt,  wie  Deszen- 
denz, Prädestination  und  Erbsünde,  eine  Blasphemie  schlimmster  Ord- 
nung. Der  Voluntarismus,  in  dem  jede  Erlösungsreligion  verankert 
ist,  kann  nur  einen  immanenten  Gott  postulieren  und  sich  nur  mit 
einem  immanenten  Gott  abfinden.  Dieser  immanente  Gott  des  Vo- 
luntarismus ist  nicht  frei.  Prädestination  ist  der  theologische  Ausdruck 
für  Determinismus,  und  Gnade  die  religiös-metaphysische  Potenzierung 
des  Schicksals  —  des  Zufalls  .  .  .  Hier  wird  die  naturalistische  Grund- 
lage der  Erlösungsreligion   ersichtlich. 

Der  jüdischen  Religion  ist  der  Begriff  des  Fatums  fremd.  Nicht 
ein  blindes  Schicksal  waltet  und  herrscht  unbeschränkt  über  Menschen 
und  Dinge,  sondern  göttliche  Ordnung  in  der  Natur,  die  autonom  ist, 
und  der  freie  sittliche  Wille  in  der  Geschichte.  Für  das  blind  waltende 
Schicksal  ist  im  Judentum  kein  Raum.  Die  Juden  kennen  den  Begriff 
Gesera  (göttliche  Verordnung),  aber  die  göttliche  Verordnung  ist  das 
Resultat  der  sittlichen  oder  unsittlichen  Handlungen  des  Menschen 
und  kann  je  nach  der  guten  oder  schlechten  Handlung  jeden  Augenblick 
abgeändert  werden.  Gott  ist  absolut  frei,  aber  seine  absolute  Freiheit 
hat  an  der  Gerechtigkeit  und  Vernunft  eine  Grenze.  Freiheit  ist  hier 
nicht  Laune,  sondern:  Tun  und  Lassen  nach  vernünftigen  und  sittlichen 
Motiven  zu  beschließen.  Durch  das  ganze  hebräische  religiöse  Schrift- 
tum zieht  sich  dieser  Gedanke.  In  Genesis  18,  wo  mit  großartiger 
antiker  Naivität  die  Zwiesprache  zwischen  Gott  und  Abraham  wieder- 
gegeben wird,  kommt  schon  dieser  Gedanke  des  gerechten  göttlichen 
Urteils  zum  Ausdruck.  Wenn  nur  zirka  zehn  Gerechte  in  Sodom  da 
sind,  will  er  sein  Vernichtungsurteil  aufheben  und  die  Stadt  verschonen. 
In  Exodus  32  heißt  es:  Gott  bereute  das  Böse,  das  er  seinem  Volke 
hatte  antun  wollen.  Er  hatte  also  die  „Gesera"  aufgehoben.  Da  Reue 
etwas  Sittliches  ist,  warum  sollte  nicht  Gott,  der  doch  der  Grund  und 
das  Wesen  aller  Sittlichkeit,  bereuen  können?    Er  wäre  kein  sittlicher 

104 


Gott,  wenn  er  nicht  seine  Verordnungen  selbst  aufheben  könnte ;  denn 
es  gibt  keine  Sittlichkeit  ohne  Willensautonomie.  Den  Juden  ist  die 
talmudische  Formel  geläufig:  Hakoddosch  —  baruchhu  —  goser 
vvezzadik  mewattel  (Gort  bestimmt,  verordnet  und  der  Gerechte  hebt  die 
Verordnung  Gottes  auf),  weil  sich  die  Verordnung  Gottes  nach  der 
Gerechtigkeit  oder  Ungerechtigkeit  richtet.  Kurz:  Gott  ist  nicht  Laune 
oder  starres  Gesetz,  sondern  der  Grund  aller  Vernunft  und  Sittlichkeit. 
Da  es  in  der  Natur  weder  Vernünftigkeit  noch  Sittlichkeit  gibt,  kann 
der  Gott  der  Erlösungsreligion  weder  vernünftig  noch  sittlich  sein, 
wogegen  der  über-  resp.  außernatürliche  Gott  der  idealistisch  motivier- 
ten Gesetzesreligion,  da  er  nicht  an  der  Natur  orientiert  ist,  nur  mit 
der  Vernünftigkeit  und  Sittlichkeit  sein  Sein  rechtfertigen  kann.  Wie 
die  Erlösungsreligion  Gott  vernatürlicht,  so  versittlicht  die  Gesetzes- 
religion die  Natur.  Jesaja  und  Micha  haben  geweissagt:  „Die  Wölfe 
werden  bei  den  Lämmern  wohnen  und  die  Pardel  bei  dem  Böcklein 
liegen.  Ein  kleiner  Knabe  wird  Kälber  und  junge  Löwen  und  Mastvieh 
miteinander  treiben. "  So  wird  auch  die  „böse"  Natur  in  das  Reich  des 
Guten  aufgenommen.  Man  kann  nicht  behaupten,  daß  diese  Weis- 
sagung von  realistischem  Sinne  zeugt  und  eine  Kenntnis  der  Natur  be- 
kundet. Sie  hat  sicherlich  keine  Basis  in  der  natürlichen  Wirklichkeit, 
aber  sie  spricht  für  den  idealistischen  Geist  des  Judentums  und  be- 
stätigt nur  den  Satz,  daß  das  Judentum  nicht  an  der  biologischen  Natur 
orientiert  ist.  Wenn  nun  der  brutalen  Natur  diese  großartige  Ent- 
wicklungsmöglichkeit zugesprochen  wird,  kann  man  sich  denken,  welche 
Entwicklungsmöglichkeiten  dem  Menschen,  einem  vernünftigen  Wesen, 
eingeräumt  werden.  Es  genügt  schon  zu  betonen,  daß  selbst  diejenigen 
Rabbiner,  die  sich  für  die  Willensfreiheit  nicht  vorbehaltlos  entscheiden 
konnten,  doch  auch  ausdrücklich  gelehrt  haben:  Alles  hängt  vom  Himmel 
ab,  nur  nicht  die  Furcht  vor  dem  Himmel.  Der  talmudische  Terminus 
Jirath  Schamaim  (Furcht  vor  dem  Himmel),  bedeutet  bekanntlich  nicht 
nur  Religion,  sondern  auch  Ethik.  Nach  dem  Verbot:  Du  sollst  keinen 
Wucher  und  Zins  nehmen,  folgt  der  Nachsatz  als  Begründung,  wie  als 
Mahnung:  Du  sollst  deinen  Gott  fürchten. 

Aber  an  nichts  ist  der  unüberbrückbare  Gegensatz  zwischen  Mo- 
tiven und  Lehren,  Idealen  und  Postulaten  der  Gesetzesreligion  und  der 
Erlösungsreligion  so  scharf  zu  erkennen,  wie  an  der  Messiasgestalt,  die 
der  Geist  beider  Religionen  geschaffen  hat.  Der  christliche  Erlöser 
ist  ein  himmlischer  Sohn,  der  die  Armen  im  Geiste  selig  werden  läßt 
und  den  geplagten  Bewohnern  des  Jammertals  eine  himmlische  Zu- 
kunft zusichert.   Die  jüdische  Messiasgestalt  schildert  der  Prophet  wie 

105 


folgt:  Und  es  wird  ruhen  auf  ihm  der  Geist  Gottes,  der  Geist  der 
Weisheit  und  der  Vernunft,  der  Geist  des  Rates  und  der  Stärke,  der 
Geist  der  Erkenntnis  und  der  Furcht  des  Herrn",  Jes.  XI,  2.  Diese 
Messiasgestalt  hat  wenig  Ähnlichkeit  mit  dem  christlichen  Messias, 
noch  weniger  mit  dem  Nietzscheschen  Übermenschen  und  gar  keine 
Ähnlichkeit  mit  dem  griechischen  Heros.  Im  Neuen  Testament  heißt 
es  vom  christlichen  Erlöser:  Ihr  sollt  nicht  wähnen,  daß  ich  kommen 
sei,  Frieden  zu  senden  auf  die  Erde.  Ich  bin  nicht  kommen,  Frieden 
zu  senden,  sondern  das  Schwert;  denn  ich  bin  kommen,  den  Menschen 
zu  erregen  wider  seinen  Vater  und  die  Tochter  wider  ihre  Mutter  und 
die  Schnur  wider  ihre  Schwieger"  (Matth.  X,  34—35).  Demgegenüber 
sagt  der  jüdische  Prophet  von  der  Mission  des  jüdischen  Messias  aus: 
„Er  wird  mit  Gerechtigkeit  richten  die  Armen  und  recht  Urteil  sprechen 
den  Armen  im  Lande,  und  wird  mit  der  Rute  seines  Mundes  die  Erde 
schlagen  und  mit  dem  Hauch  seiner  Lippen  den  Bösewicht  töten. 
Gerechtigkeit  wird  der  Gurt  seiner  Lenden  sein  und  der  Glaube  der 
Gurt  seiner  Hüften"  (Jes.  XII,  4,  5).  Im  jüdischen  Messiasideal  drückt 
sich  der  Wille  zum  Leben  aus,  der  Wille  zur  Vernunft  und  zur  Sittlich- 
keit und  der  Wille  zum  schaffenden,  tätigen  Leben.  Der  jüdische 
Messias  in  der  Schildeiung  des  Propheten  ist  ein  denkender  und 
wirkender  Mensch,  voll  Aktivität,  Lebensfrische  und  Lebenskraft.  Er 
ist  keine  blasse  Erscheinung  aus  dem  Reiche  der  Geister,  der  die 
Seelen  selig  machen  will,  sondern  ein  sittlicher  Übermensch  aus  dem 
Diesseits,  ,der  die  Menschen  durch  sittliche  Handlung  zur  Seligkeit 
führt,  und  dessen  Erscheinen  eine  neue  erhabene  Epoche  in  der  Welt- 
geschichte ankündigt.  Wie  doch  ganz  anders  der  christliche  Erlöser. 
Er  ist  die  Verkörperung  des  Leidens  und  nicht  des  Tuns.  Er  verkündet 
den  Untergang  des  irdischen  Lebens  und  die  Herrschaft  des  Himmel- 
reiches, des  Reiches  der  Geister.  Die  jüdische  Messiasidee  ist,  wie 
Joseph  Klausner  in  seiner  ausgezeichneten  Abhandlung  über  die  Ent- 
wicklung der  Messiasidee  im  Judentum  nachgewiesen  hat,  aus  den 
Vorstellungen  der  alten  Juden  über  und  aus  ihrer  Sehnsucht  nach  einem 
sittlichen  politischen  Heros  hervorgewachsen.  Wer  sich  in  der  Bibel 
nach  dieser  Richtung  hin  orientieren  will,  kann  die  organische  Ent- 
wicklung dieser  wunderbaren  messianischen  Heroengestalt  aus  den 
sittlichen  Vorstellungen  des  Volkes  wahrnehmen  —  mit  erleben.  Auch 
der  christliche  Messias  hat  seine  Entwicklungsgeschichte.  Sie  beginnt 
mit  dem  griechischen  Heros,  der  sich  bei  der  Stoa  in  das  Ideal  des 
Weisen  verwandelt.  Diese  Traditionen  vermengten  sich  mit  der  Vor- 
stellung des  spiritualisierten,  resignierten  Cäsar,  und  aus  diesen  Über- 

106 


lieferungen  und  Vorstellungen  goß  sich  die  christliche  Messiasgestalt 
zusammen.  Sie  entstand  so  aus  gebrochener  oder  gebogener  "Natur. 
Daher  handelt  sie  auf  Eingebung  des  Affekts. 

Als  die  Macht  des  antiken  Subjektivismus  gebrochen  war,  und  als 
die  auf  Raub  und  Brutalität  aufgebaute  Zivilisation  darniederlag,  flüch- 
tete der  resignierte  Cäsar  in  das  Reich  der  Geister,  und  der  Wolf  von 
gestern  verwandelte  sich  in  ein  frommes  Lamm  —  der  Cäsar  in  Christus. 
So  entstand  die  christliche  Messiasgestalt,  an  der  Griechen  und  Römer 
mitgebildet  haben.  Sie  wäre  noch  dann  formlos  geblieben,  wenn  sie 
nicht  an  die  Tradition  der  jüdischen  Messiasgestalt  angeknüpft  hätte. 
Wie  das  Christentum  eklektisch  ist,  so  sein  Messias.  Der  jüdische 
Messias  hingegen  ist  eine  original-nationale  Figur,  wie  die  jüdische 
Religion  nur  eine  originelle  Schöpfung  des  nationalen  Genius  ist. 

So  hat  das  an  dem  reinen  Geist  orientierte  Judentum  einen  dies- 
seitigen Erlöser  erträumt,  dagegen  das  an  dem  Willen  (im  metaphysi- 
schen Sinne)  orientierte  Christentum,  das  mehr  in  der  Natur  wurzelt, 
als  man  im  ersten  Augenblick  zu  erkennen  in  der  Lage  ist  —  einen  spiri- 
tualistischen,  jenseitigen  Messias. 

Die  Gesetzesreligion  lehrt  einen  Gott  als  Herr  und  Herrscher, 
die  Erlösungsreligion  lehrt  einen  Gott  als  Vater  —  als  himmlischen 
Vater.  Der  Begriff  der  Herrschaft  schließt  den  der  Liebe  nicht  aus, 
auch  nicht  den  Begriff  der  Väterlichkeit.  Im  hebräischen  religiösen 
Schrifttum  wird  Gott  oft  als  Vater  oder  als  himmlischer  Vater  be- 
zeichnet. Im  allgemeinen  wird  er  als  Herr  oder  als  Herr  der  Welten 
(adon  kol  haolamim)  bezeichnet  und  angesprochen.  Der  Herrscher 
schafft  oder  überwacht  die  Gesetze,  er  sorgt  für  Ordnung  und  Pflicht. 
Der  Herrscher  übt  in  Ausnahmefällen  Gnade.  So  der  jüdische  Gott.  Der 
christliche  Gott,  der  nur  himmlischer  Vater  ist,  verhält  sich  zum  jüdi- 
schen wie  die  vom  Affekt  diktierte  väterliche  Liebe,  die  alle  Verbrechen 
des  Kindes  verzeiht,  zu  der  strengen  Gerechtigkeit  und  Unparteilichkeit 
eines  nach  streng  vernünftigen  und  sittlichen  Grundsätzen  und  über 
den  Parteien  stehenden  Herrschers.  Das  merkwürdigste  dabei  ist, 
daß  der  nur  liebende,  mit  den  Affekten  der  Väterlichkeit  behaftete  Gott 
einer  gemeinen,  sündbeladenen  Welt  gegenübersteht,  während  die  Welt 
des  strengen  Herrschergottes,  der  jeden  nur  nach  seinen  Taten  richtet, 
und  der  nur  ausnahmsweise  Gnade  übt,  einer  guten  Welt  gegenübersteht. 

Und  der  Psalter  singt:  „Barmherzig  und  gnädig  ist  der  Herr,  ge- 
duldig und  von  großer  Güte.  Er  wird  nicht  ewig  hadern,  noch  ewiglich 
Zorn  halten.  Er  handelt  nicht  mit  uns  nach  unsern  Sünden  und  ver- 
gilt uns  nicht  nach  unserer  Missetat.    Denn  so  hoch  der  Himmel  über 

107 


der  Erde  ist,  läßt  er  seine  Gnade  walten  über  denen,  so  ihn  fürchten. 
So  ferne  der  Morgen  ist  vom  Abend,  lasset  er  unsere  Übertretungen 
von  uns  sein.  Wie  sich  ein  Vater  über  Kinder  erbarmet,  so  erbarmet 
sich  der  Herr  über  die,  so  ihn  fürchten."  Psalm  103.  Oder:  „Du  aber, 
Herr,  Gott,  bist  barmherzig  und  gnädig,  geduldig  und  von  großer  Güte 
und  Treue."   Psalm  S6,  15. 

Und  durch  seinen  Propheten  läßt  er  verkünden:  „Denn  also  spricht 
der  Hohe  und  Erhabene,  der  ewiglich  wohnet,  des  Name  heilig  ist:  Der 
ich  in  der  Höhe  im  Heiligtum  wohne,  und  bin  bei  denen,  so  zerschlagen 
und  gedemütigten  Geistes  sind,  auf  daß  ich  erquicke  den  Geist  der 
Gedemütigten  und  das  Herz  der  Zerschlagenen.  Ich  will  nicht  immer- 
dar hadern  und  nicht  ewiglich  zürnen,  sondern  es  soll  von  meinem 
Angesicht  ein  Geist  wehen,  und  ich  will  Odem  machen."  Jes.  57, 15, 16. 

So  sieht  der  gestrenge  Weltenrichter  aus. 

Und  nun  gar  der  monotone  Wüstengott,  der  einzig,  langweilig, 
simpel,  starr,  färb-  und  klanglos  ist.  Diesen  Wüstengott  besingt  der 
Psalmendichter: 

„Des  Ewigen  Stimme  über  Fluten  erbrauset 

Über  gewaltigen   Strömen  sie  stürmet  und  sauset.   — 

Des   Ewigen   Stimme  gewaltig  erdröhnet, 

Des  Ewigen  Stimme  majestätisch  ertönet. 

Von  des  Ewigen  Stimme  werden  Zedern  erschlagen, 

Des  Libanon  Zedern,  die  himmelhoch  ragen, 

Sie  läßt  wie  ein  Kalb  sie  hüpfen,  sich  schwingen, 

Libanon  und  Sirjon  wie  ein  Büffelkalb  springen. 

Der  Ewige  thronet  auf  erhabenem  Sitze, 

Des  Ewigen  Stimme  schleudert  Blitze, 

Des  Ewigen  Stimme  die  Wüste  erschüttert."  Ps.  29. 

Also  doch  ein  merkwürdiger  Wüstengott  .  .  . 

Das  Christentum,  die  Religion  der  Liebe  und  der  Innerlichkeit  hat 
die  Psalmen  zu  seiner  hauptsächlichen  religiösen  Poesie  übernommen 
—  ein  Poesiebuch,  das  gemüt-  und  herzlose  Wüstensöhne  crsungen 
haben.  Warum  haben  nicht  die  tiefreligiöscn  christlichen  Völker  selbst 
ein  solches  Psalmenbuch  ersungen?  Chamberlain  und  Sombart  be- 
haupten, daß  die  jüdische  Religion  materialistisch  resp.  utilitaristisch 
und  trocken  rationalistisch  sei.  Wenn  aber  ticfreligiöse  Christen  von 
„höchstem  Gottcsvcrlangen"  und  gewaltiger  religiöser  Sehnsucht  gepackt 
werden,  stillen  sie  ihren  religiösen  Durst  mit  dem  Gedicht,  das  der 
materialistisch,  rationalistisch-ulilitaristische  Wüstensohn  gedichtet  hat: 

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„Wie  der  Hirsch  schreit  nach  frischem  Wasser, 

So  schreit  meine  Seele,  Gott,  zu  Dir. 

Meine  Seele  dürstet  nach  Gott,  nach  dem  lebendigen  Gott. 

Wann  werde  ich  dahin  kommen,  daß  ich  Gottes  Angesicht  schaue?" 

Diese  starre,  engherzige  Gesetzesreligion  hat  Psalmendichter  ans 
Tageslicht  gerufen  und  Propheten  hervorgebracht  und  eine  religiöse 
Poesie  errungen,  von  der  man  sich  seit  zwei  Jahrtausenden  nährt  .  .  . 

Endlich  wird  die  Differenz  zwischen  Gesetzesreligion  und  Er- 
lösungsreligion in  der  Gesinnung  gefunden.  Gesetz  schließe  Gesinnung 
aus,  und  jede  Sittlichkeit,  die  zwangsweise  dem  Individuum  abgerungen 
wird,  verdiene  nicht  einmal  diesen  Namen.  Die  Erlösungsreligion 
verlege  Gott  in  den  Menschen  (Gott  ist  in  mir).  Die  sittlichen  Hand- 
lungen dieses  so  mit  Gott  vereinigten  Menschen  haben  nur  das  Ge- 
wissen und  die  Gesinnung  zu  ihrer  Triebfeder,  während  der  außer- 
und  überweltliche  Gott  dem  Menschen  im  besten  Falle  die  Sittlichkeit 
durch  starre  Gesetze  und  unbeschriebene  Normen  abzwingt.  Dieser 
schon  so  oft  unternommene  Versuch,  das  Judentum  als  gesinnungslos 
hinzustellen,  beruht  weniger  auf  Bosheit  als  auf  Unkenntnis  der  jüdischen 
Ethik.  Und  diese  Unkenntnis  kommt  daher,  weil  man  das  Judentum, 
statt  es  philosophisch  zu  durchforschen  und  in  sein  Inners  einzudringen, 
nur  philologisch  durchforscht.  Nach  jüdischer  Lehre  ist  ein  Gesetz 
nicht  um  deswillen  sittlich,  weil  Gott  es  befohlen  und  diktiert  hat,  son- 
dern: weil  es  sittlich  ist,  muß  es  von  Gott  diktiert  worden  sein;  denn 
Gott  ist  der  Grund  und  das  Wesen  aller  Sittlichkeit.  Gott  ist  an  die 
Sittlichkeit  absolut  gebunden,  an  ihr  hat  seine  Bewegungsmöglichkeit 
eine  Grenze.  Jedes  Sittengebot,  das  Gott  befohlen,  ist  an  sich  sittlich 
und  wäre  ein  sittliches  Gebot  selbst  dann,  wenn  es  Gott  nicht  befohlen 
hätte.  Der  die  Sittlichkeit  ausmachende  Gott  hat,  um  den  Menschen 
den  Weg  zum  Guten  zu  erleichtern,  gesagt,  was  sittlich  ist  —  d.  h.  um 
ihnen  die  großen  Schmerzen  der  Erfahrung  zu  ersparen.  Die  pro- 
phetische Formel  lautet  dafür:  ,,0  Mensch!  Der  Herr  hat  Dir  gesagt, 
was  gut  ist."  Also  entsteht  das  Sittengesetz  nicht  durch  einen  gött- 
lichen Machtspruch  und  es  wird  dem  Menschen  nicht  aufgezwungen. 
Dem  Satze:  „Ihr  sollt  heilig  sein"  folgt  die  Begründung:  denn  ich 
bin  Jieilig.  Der  Mensch,  gottähnlich,  hat  die  Bestimmung,  durch  die 
Verwirklichung  der  Sittlichkeit  diese  Ähnlichkeit  zu  vergrößern.  Da 
Gott  aber  das  Wesen  der  Sittlichkeit  ist  und  nur  das  Gute  des  Men- 
schen will,  so  steht  er  dem  Menschen  nicht  nur  als  Richter,  Herrscher 
und  Vater,  sondern  auch  als  Lehrer  gegenüber.    Er  lehrt  ihn  die  Sitt- 

109 


lichkeit  durch  sein  Exempel.  Die  Formel  dafür  lautet:  Mahu  rachum 
af  atta  rachum  usw.  (Wie  er  [Gott]  barmherzig  ist,  so  sei  auch  Du 
barmherzig.)  So  ist  Gott  also  auch  pädagogisches  Prinzip  der  Sittlich- 
keit. Nicht  an  der  Natur  soll  die  Sittlichkeit  orientiert  sein,  sondern 
an  Gott.  Das  Dasein  Gottes  wird  aber  nur  durch  das  Dasein  der  Sitt- 
lichkeit bewiesen  und  nicht  durch  Beweise  metaphysischer  Natur.  So 
will  es  der  Geist  der  Synthesis,  auf  der  das  Judentum  ruht. 

Gott  ist,  um  mich  platonisch  auszudrücken,  das  Urbild  der  Sittlich- 
keit und  nicht  der,  der  dem  Menschen  Sittlichkeit  aus  Laune  oder  aus 
unvernünftigem  Grund  aufzwingt.  Daher  die  rabbinische  Wendung: 
Die  Thora  hat  schon  Jahrtausende  vor  der  Schöpfung  der  Welt  existiert. 
Moses  selbst  erklärt  den  Juden:  Das  Gesetz  ist  eure  Weisheit  und 
eure  Vernunft.  Wie  sehr  das  Judentum  die  freie  Überzeugung  höher 
stellt  als  die  strikte  Gesetzeserfüllung,  möge  die  Stelle  im  Talmud 
bekunden,  wo  gelehrt  wird:  Der  Fremde,  der  aus  freier  Überzeugung 
das  Gesetz  annimmt,  steht  höher  in  den  Augen  Gottes  als  jene  Schar 
Juden,  die  am  Berge  Sinai  standen.  Ein  anderer  Grundsatz  der  jü- 
dischen Ethik  besagt:  Der  Reuige  steht  höher  als  der  absolut  Gerechte. 
Oder:  Einem  Bösen  während  seines  ganzen  Lebens,  werden,  sobald 
er  bereut,  seine  bösen  Taten  nicht  angerechnet.  Strikte  Gesetzes- 
erfüllung, sobald  sie  nicht  aus  der  Gesinnung  kommt  (lischmah),  wird 
wenig  angerechnet.  Das  gilt  von  allen  religiösen  und  sittlichen  Geboten 
und  selbst  vom  Studium.  Aber  wegen  des  oben  erwähnten  pädago- 
gischen Prinzips  wird  ausdrücklich  gelehrt:  Mittoch  schelo  lischmah  ba 
lischmah,  d.  h.  was  anfänglich  nicht  aus  der  Gesinnung  kommen  mag, 
wird  schon  später  aus  der  Gesinnung  kommen.  Warum  soll  sich  die 
Ethik  nicht  der  Psychologie  der  Übung  bedienen  dürfen? 

Das  sittliche  Gesetz  ist  also  nicht,  wie  manche  Theologen  plausibel 
machen  wollen,  ein  despotischer  Ukas  des  allgewaltigen  Gottes,  son- 
dern das  formulierte  ewig  Sittliche,  ein  Geschenk  eines  gütigen  Gottes. 
Als  gütiges  Geschenk  wird  auch  die  Gesetzgebung  bezeichnet.  Mattan 
Thora.  Was  Gott  selbst  ist,  hat  er  den  Menschen  in  väterlicher  Güte 
geschenkt  —  Vernunft  und  Sittlichkeit.  So  wollte  er  die  Menschen 
selig  machen  und  nicht  durch  Erleiden  des  Martertodes  als  Opfer  für 
die  sündbeladenen  Menschen.  Der  eine  Gott  hat  gelehrt,  der  andere 
hat  gelitten  ...  An  diesem  unüberbrückbaren  Gegensatz  zwischen  Lehre 
an  die  Menschen  und  Leiden  für  die  Menschen,  zwischen  Vernunft 
und  „Wille"  wird  jeder  Versöhnungs-  und  Einigungsversuch  scheitern. 
Beide  Religionen  reden  zwei  verschiedene  Sprachen  und  entspringen 
zwei  verschiedenen  Quellen. 

110 


Sechstes  Kapitel. 


Die  jüdische  Religion 
und  das  zivilisatorische  Leben. 

Die  jüdische  Religion  kein  zivilisatorischer  Faktor.  —  Das  jüdische  Religions- 
gesetz und  das  Leben.  —  Das  Judentum  wirkt  hemmend  auf  das  wirtschaftliche 
Leben.  —  Der  Prophet  und  das  Gesetz.  —  Die  Bitte  des  Ben  Sakkai.  —  Das 
jüdische  Gesetz  will  Weltgesetz  sein.  —  Nomos  und  Thesis.  —  Konservierung  des 
Judentums  durch  Isolierung.  —  Die  Wahrheit  ist  ein  Gesetz.  —  Das  unwirkliche 
jüdische  Gesetz.  —  Das  alte  Palästina  ein  Bauernstaat.  —  Handwerk  im  alten 
Judäa.  —  Abneigung  gegen  Handel.  —  Arbeit  und  Handel.  —  Die  niedrige 
Stellung  des  Händlers.  —  Talmudisches  Handelsrecht.  —  Zinsen.  —  Die  Rabbinen 
und  der  Handel.  —  Werner  Sombart  und  der  Talmud.  —  Die  Ephraimiten  und 
der  Handel  im  alten  Judäa.  —  Der  Handel  bei  den  Juden  ein  Zeichen  des 
nationalen  Verfalls.  —  Die  Kirche  und  der  Handel.  —  Die  Gesetzesreligion  und 
der  Handel.  —  Der  jüdische  Staat.  —  Der  Ursprung  des  jüdischen  Staates.  — 
Die  „jüdische  Theokratie".  —  Staatsmann  und  Priester.  —  Das  Naturalisations- 
recht im  alten  Judäa.  —  Die  griechische  Polis.  —  Der  jüdische  Staat  eine  Ge- 
setzesgemeinschaft. —  Der  prophetische  Staatszweck.  —  Der  jüdische  Staat  und 
das  jüdische  Volk.  —  Rom  und  Judäa.  —  Der  platonische  Staat.  —  Die  Eigenart 
des  jüdischen  Staates.  —  Konskription  im  alten  Judäa.  —  Das  Recht  des  Königs. 
—  Der  Staat  als  Mechanismus.  — 

Das  Judentum  ist  dogmenlose  Gesetzesreligion,  das  Christentum  ge- 
setzeslose Dogmenreligion.  Das  Dogma  ist  lediglich  religiöses 
Dogma;  das  Gesetz  ist  aber  nicht  nur  Religionsgesetz,  da  es  alle  Be- 
ziehungen des  Menschen  auch  zu  seinem  Nächsten,  zum  Staat  und  zur 
Gesellschaft  regelt.  Das  Christentum  ist  demnach  nur  Religion,  das 
Judentum  auch  Religion.  Da  das  Judentum  im  letzten  Grunde  nur 
ein  Zivilisationsstatut1)    resp.  Zivilisationstheorie  ist,   ist   es  klar,  daß 

x)  Der  Zweck  der  Gesetzgebung  Moses  war  weder  Opfern  noch  Sünden 
vergeben;  sondern  Glückseligkeit  seines  Staates,  politische  Wohlfahrt  des  Volkes 
Jehova,  sagte  schon  Joh.  Gottfr.  Herder. 

111 


es  von  ausschlaggebender  Bedeutung  für  das  gesamte  zivilisatorische 
Leben  sein  mußte.  Die  Religion  als  solche  ist  es  nicht,  insbesondere 
nicht  Erlösungsreligion,  da  sie  entweder  das  diesseitige  Leben  ganz 
negiert  oder  es  seinem  Schicksal  selbst  überläßt.  In  dem  einen  oder 
dem  anderen  Falle  organisiert  sich  das  Leben  nach  einem  von  der  Re- 
ligion unabhängigen  Prinzip.  Die  Religion  schaut  gen  Himmel,  wäh- 
rend sich  die  Erde  um  sich  selbst  bewegt.  Somit  sind  die  allgemeinen 
Voraussetzungen,  mit  welchen  Max  Weber  und  Werner  Sombart  an 
ihre  Untersuchungen  herangetreten  sind,  grundfalsch.  Max  Weber  z.  B. 
weist  auf  die  Puritaner  hin.  Man  könnte  ebensogut  auf  die  Parsees 
in  Indien,  auf  die  Karaiten  in  Rußland,  auf  die  Domnes  in  der  Türkei, 
auf  die  Frankisten  in  Polen  oder  auf  die  Protestanten  in  Frankreich 
hinweisen;  auch  hier  sehen  wir  kleine  religiöse  Sekten,  die  in  den 
genannten  Ländern  eine  ähnliche  wirtschaftliche  Stellung  einnehmen 
wie  die  Puritaner  und  Quäker  in  England.  Es  wird  aber  trotzdem 
keinem  ernsten  Forscher  einfallen,  den  wirtschaftlichen  Wohlstand  der 
parseeischen  Sonnenanbeter  oder  der  mystisch-traditionalistischen  Fran- 
kisten mit  ihrem  religiösen  Kult  oder  'mit  ihren  religiösen  Anschau- 
ungen zu  erklären.  Die  so  oft  wiederkehrende  Erscheinung,  daß  kleine 
religiöse  Minoritäten  sich  wirtschaftlich  hervortun,  hat  wohl  ihren 
sozial-psychologischen  Grund,  der  aber  nicht  in  dem  Wesen  der  Re- 
ligion selbst  zu  finden  ist.  So  falsch  also  diese  allgemeine  Voraussetzung 
Webers  und  Sombarts  ist,  so  richtig  ist  die  besondere,  für  ihre  engeren 
Untersuchungen  bestimmte  Voraussetzung,  daß  Puritanismus  ejne  Art 
Judaismus  ist.  Man  braucht  nicht  einmal  die  Bedeutung  der  jüdischen 
Religion  für  das  jüdische  Volk  so  genau  zu  demonstrieren,  um  sofort 
einzusehen,  daß  die  jüdische  Religion  resp.  das  jüdische  Gesetz,  indem 
es  das  Leben  zu  meistern  sucht,  für  die  Gestaltung  sowohl  des  politisch- 
sozialen als  des  wirtschaftlichen  Lebens  von  schicksalsschwerer  Be- 
deutung ist.  Nur  muß  man  sich  zuerst  über  eine  Frage  klar  werden: 
Hat  das  jüdische  Gesetz  heute  so  viel  Basis  im  Leben  und  enthält  es 
soviel  Wirklichkeit,  daß  es  auch  heute  noch  bestimmenden  Einfluß 
auf  das  Leben  nehmen  kann?  Keine  Gruppe  des  Diaspora-Judentums 
erfreut  sich  einer  Kultur-Autonomie,  und  überall,  wo  Juden  leben,  sind 
sie  dem  betreffenden  Staatsgesetz  unterworfen.  Wenn  zwei  Juden  in 
Konflikt  geraten,  rufen  sie  nicht  den  Rabbiner,  sondern  das  weltliche 
Gericht  an.  Der  jüdische  geistliche  Gerichtshof  (Beth  Din),  der  noch 
in  Ost-Europa  wie  in  manchem  westeuropäischen  Ghetto  besteht,  befaßt 
sich  nur  mit  dem  Ritual-  und  Zeremonialgesetz.  Nur  in  den  seltensten 
Fällen    wird    er   in    zivilrechtlichen    Streitigkeiten    angerufen;    auch    da 

112 


kann  er  nur  ein  moralisches  Urteil  fällen,  da  er  die  Exekution  des  Ur- 
teils nicht  erzwingen  kann.  Das  jüdische  Gesetz  hat  also  heute  nur 
so  weit  Wirklichkeit,  soweit  es  Ritual-  und  Zeremonialgesetz  ist.  Nun 
ist  es  wahr,  daß  die  jüdische  Religion  immer  im  Bunde  mit  der  Ethik 
auftritt.  Ethik  ist  aber  das  Prinzip,  an  dem  das  jüdische  Gesetz  über- 
haupt orientiert  ist.  Allein  man  darf  nicht  übersehen,  daß  die  über- 
wiegende Mehrheit  der  heutigen  westeuropäischen  Juden,  die  wirt- 
schaftlich gut  gestellt  sind,  nicht  mehr  das  jüdische  Religionsgesetz 
beachtet.  Unter  dem  Einfluß  der  europäischen  Philosophie  im  neun- 
zehnten Jahrhundert  hat  sich  die  jüdische  Religion  in  Westeuropa  zu 
einer  farblosen  und  blutleeren  Konfession  modifiziert.  Diese  sogenannte 
israelitische  Konfession  hat  mit  der  jüdischen  Religion  in  pragmatischer 
Beziehung  sehr  wenig  Ähnlichkeit.  Gerade  die  großen  Judenmassen 
in  Ost-Europa,  Nord-Afrika  und  Vorder-Asien,  die  das  jüdische  Reli- 
gionsgesetz streng  beachten,  sind  wirtschaftlich  auf  dem  Hund  und 
dürfen  ohne  Übertreibung  als  der  hungrigste  Teil  der  Menschheit  be- 
zeichnet werden.  Gewiß  ist  nicht  das  israelitische  Religionsgesetz  allein 
daran  schuld,  aber  als  eine  der  Ursachen  dieser  Erscheinung  muß  es 
doch  angesehen  werden.  Die  westeuropäischen  Juden  hatten  bald  nach 
ihrer  Emanzipation  instinktiv  erkannt,  daß  das  rigorose  jüdische  Reli- 
gionsgesetz ihren  wirtschaftlichen  Kampf  erschweren  könnte;  was  sie 
veranlaßt  haben  mochte  (in  tausenden  Fällen  läßt  es  sich  nachweisen), 
das  jüdische  Religionsgesetz  in  eine  Konfession  umzuwandeln.  Daraus 
geht  doch  wohl  hervor,  daß  die  jüdische  Religion  heute  nicht  gerade 
als  wirtschaftliche  Triebkraft  und  als  kapitalistischer  Bazillus  bezeichnet 
werden  kann.  Mithin  kann  die  Frage  keineswegs  lauten:  Welche  Be- 
deutung hat  die  jüdische  Religion  resp.  das  jüdische-  Gesetz  für  das 
Wirtschaftsleben  schlechthin  und  insbesondere  für  die  Herausbildung 
des  modernen  Kapitalismus,  da  der  wirtschaftliche  Aufschwung  der 
Juden  eine  Schwächung  des  Gesetzes  zur  Folge  hat,  sondern:  Welche 
Bedeutung  hat  das  jüdische  Gesetz  für  das  zivilisatorische  und  ins- 
besondere für  das  wirtschaftliche  Leben,  wenn  dieses  Gesetz  Anwen- 
dung findet?  Da  das  jüdische  Gesetz  heute  im  besten  Falle  nur  noch 
Religionsgesetz  ist  und,  soweit  es  politisches,  bürgerliches  und  Straf- 
gesetz ist,  nur  noch  rechtsgeschichtliche  Bedeutung  hat,  kann  die  Frage 
sich  unmöglich  auf  das  Diaspora-Judentum  beziehen.  Soweit  das  Juden- 
tum nur  Religionsgesetz  ist,  wirkt  es,  wie  wir  bald  sehen  werden,  eher 
hemmend  als  fördernd  auf  das  wirtschaftliche  Leben.  Die  großen 
Träger  des  Judentums  aller  Zeiten  hatten  dies  erkannt,  und  unsere 
tägliche  Erfahrung  belehrt  uns,  daß  das  naive,  gesetzestreue  Judentum 

8    Melamed 

113 


immer  Sache  der  kleinen  Leute  ist.  Schon  in  der  Bibel  Weißt  es:  „Da 
aber  Jeschurun  fett  ward,  ward  er  übermütig-.  Er  ist  fett  und  dick 
und  stark  worden  und  hat  den  Gott  fahren  lassen,  der  ihn  gemacht 
hat.  Er  hat  den  Fels  seines  Heils  gering  geachtet."  (5.  Mos.  32,  15.) 
An  vielen  Stellen  im  Talmud  begegnet  man  folgenden  Aussprüchen: 
„Armut  geziemt  Israel"  (Ja'a  anjutha  lejisrael).  „Wie  ein  Keil  zwi- 
schen zwei  Pflöcke,  so  ist  die  Sünde  zwischen  Kauf  und  Verkauf  hin- 
eingetrieben." Und  Josephus  erklärte  in  seiner  Schrift  gegen  Apion: 
Wir  Juden  finden  keine  Freude  am  Handel.  Durch  das  glänze  tal- 
mudischc  und  rabbinische  Schrifttum  zieht  sich  der  Gedanke,  daß  der 
Handel  und  der  aus  ihm  resultierende  Reichtum  das  Gesetz  untergrabe. 
Wir  werden  bald  aus  der  Natur  des  jüdischen  Gesetzes  ersehen,  wie 
folgerichtig  diese  talmudische  und  rabbinische  Anschauung  war. 

Das  jüdische  Gesetz  schlechthin  weist  zwei  Entwicklungsphasen 
auf,  wie  die  gesamte  jüdische  Geschichte  eigentlich  nur  zwei  Perioden 
aufweist.  Zuerst  war  das  Gesetz  bekanntlich  für  das  Leben,  obgleich 
es  nicht  aus  dem  Leben  kommt.  Später  entwickelte  es  sich  zu  einem 
Gesetz  gegen  das  Leben.  Diese  Entwicklung  war  durch  seinen  Ur- 
sprung bedingt.  Da  es  das  Gesetz  des  vernünftigen  und  sittlichen 
Gottes  ist  und  die  Aufgabe  hatte,  den  urwüchsigen  Subjektivismus 
der  alten  Juden  zu  bändigen,  war  es  von  vornherein  antipsychologisch, 
insofern  es  darauf  ausging,  die  wilden  Sinne  zu  zügeln  und  den  un- 
domestizisierten  Willen  eines  urwüchsigen  Volkes  zu  meistern.  So- 
lange dieses  Gesetz  das  primitive  Leben  eines  werdenden  Volkes  formte 
und  das  Leben  in  seine  Buchstaben  »hineinzupressen  suchte,  hatte  es 
noch  ein  wenig  Wirklichkeit  und  wirklichen  Inhalt.  Wenn  später  das 
Gesetz  die  lebendigen  sittlichen  Kräfte  durch  Verbureaukratisierung 
des  Judentums  hintanzuhalten  drohte  oder  die  psychologischen  Mächte 
des  Lebens  das  Gesetz  zu  verdrängen  suchten,  da  erschien  der  Prophet 
und  unternahm  einen  Kampf  nach  beiden  Seiten,  um  das  Gesetz  in 
Harmonie  mit  dem  Leben  zu  halten.  Er  wetterte  auf  der  einen  Seite 
gegen  die  Priester,  auf  der  anderen  Seite  gegen  Achab.  Der  Prophet 
war  nicht  gegen  das  Gesetz,  wie  moderne  Reformrabbis  annehmen, 
sondern  gegen  seine  Auswüchse.  Das  Gesetz  sollte  das  Leben  regeln, 
es  sollte  wirklich  sein,  ohne  daß  es  die  Kräfie  des  Lebens  unterbinde. 
Solange  der  synthetische  Geist  im  Judentum  lebendig  geblieben  ist, 
hatte  das  Gesetz,  das  selbst  ein  Produkt  des  synthetischen  Geistes  ist, 
keine  antipsychologischen  Tendenzen  hervorgekehrt.  Erst  mit  der  Zer- 
rüttung und  der  nachträglichen  Zerstörung  des  jüdischen  Staates  und 
mit  der  ihr  folgenden  Ausbildung  der  Analyeis  (Beginn  des  Rabbinismus) 

114 


ist  das  jüdische  Gesetz,  da  es  gar  keine  Basis  im  Leben  mehr  hatte, 
zu  einem  antipsychologischen  Gesetz  geworden.  Aus  einem  Gesetz 
für  das  Leben  ist  ein  Gesetz  gegen  das  Leben  geworden.  Dem 
willensstarken,  tatenfrohen  Propheten  folgte  der  weltfremde,  gegen 
die  Welt  gekehrte  Rabbi,  der  Epoche  der  großen  Handlung  des 
starken  Mannes  folgte  die  Epoche  des  Buches  und  des  Buch- 
stabens und  der  theoretischen  Haarspalterei.  Den  ersten  Abschnitt 
seines  dritten  Kapitels  der  Geschichte  der  jüdischen  Literatur  leitet 
Gustav  Karpeles  mit  dem  bekannten  historischen  Bericht  ein:  „Durch 
die  Straßen  der  alten  Zionstadt  bewegte  sich  in  der  Dämmerstunde 
ein  Leichenzug.  Schüler,  heißt  es,  die  ihren  Lehrer  zu  Grabe  tragen. 
Scheu  und  ehrerbietig  weicht  alles  zur  Seite;  selbst  die  römische  Wache 
am  Stadttor  läßt  den  Zug  ungehindert  durchziehen.  Da,  vor  der  Stadt, 
macht  er  halt,  die  Schüler  stellen  den  Sarg  nieder,  öffnen  den  Deckel, 
und  aus  diesem  steigt  der  ehrwürdige  Rabbi  Jochanan  ben  Sakkai, 
der  sich  lebendig  tot  aus  der  Stadt  tragen  läßt,  um  ohne  Gefahr  in 
das  Römerlager  gehen  zu  können.  Dort  tritt  er  vor  Vespasian,  auf  den 
die  Erscheinung  des  greisen  Lehrers  Eindruck  macht,  und  der  ihm 
gestattet,  sich  die  Erfüllung  eines  Wunsches  zu  erbitten.  Aber  nicht 
für  sein  Volk,  nicht  für  die  heilige  Stadt,  ja  nicht  einmal  für  den 
Tempel  erfleht  der  Rabbi  Schonung,  sondern:  Laß  mich  in  Jabhne  eine 
Schule  gründen !  so  lautet  seine  Bitte.  Und  lachend  winkt  der  stolze 
Römer  ihm  Gewährung."  Jetzt  mache  man  sich  eine  Vorstellung  von 
der  ganzen  Weltfremdheit  dieses  Judentums,  von  der  Reduktion  des 
ganzen  Lebens  auf  die  Lehre,  auf  das  Buch  .  .  .  Durch  die  allgemeine 
politische  Resignation  und  die  Erstarrung  des  Lebens  harte  das  Gesetz 
an  dem  Leben  keine  Opposition  mehr,  und  da  es  auch  noch  im  Leben 
später  nicht  mehr  angewendet  werden  konnte,  wurde  das  von  Anfang 
an  zur  Unbedingtheit,  weil  göttlichen  Ursprungs,  neigende  Gesetz 
zu  einem  vollendeten  Absolutum.  Da  keine  exekutive  Gewalt  zu  seiner 
Ausführung  mehr  bestand,  wurde  es  durch  unzählige  „Versuchungs- 
verbote" ummauert.  Viele  Bewegungen  und  Handlungen  des  Men- 
schen, die  an  sich  erlaubt  waren,  wurden  untersagt,  aus  Angst,  sie 
könnten  zur  Übertreibung  oder  Verletzung  des  wirklichen  Gesetzes 
führen.  Das  jüdische  Gesetz,  speziell  in  seiner  rabbinischen  Fassung, 
ist  rigoros,  starr,  ehern,  unmodifizierbar  und  unantastbar,  weil  es 
nichts  Sinnliches  an  sich  hat.  Man  spricht  oft  von  der  Entwicklung  des 
jüdischen  Gesetzes,  aber  man  übersieht,  daß  es  sich  nur  innerhalb 
seines  Umkreises  „entwickelt",  d.  h.  daß  es  sich  mechanisch  ausge- 
wickelt, ausgerollt  hat,  wie  etwa  die  höhere  Mathematik  von  der  ein- 

8» 

115 


fachen  Arithmetik.  Dieses  Gesetz  ist  ein  Gesetz  des  Sollens,  bean- 
sprucht aber  für  sich  die  Unwandelbarkeit  und  Ewigkeit  eines  Ge- 
setzes des  Seins,  eines  ehernen  Naturgesetzes.  Es  will  „chok  olarn" 
(Weltgesetz)  sein.  Da  es  die  Satzung  nicht  als  Gegenüberstellung  duldet, 
damit  es  eventuell  selbst  nicht  zur  Satzung  degradiert  werde,  erhebt 
es  die  Satzung  und  selbst  die  völkische  Tradition  (Minhag)  zum  Ge- 
setz und  stellt  den  Grundsatz  auf:  Minhag  jisrael  din  (die  Tradition 
Israels  ist  auch  Gesetz). 

Dem  griechischen  Nomos  steht  die  Thesis  gegenüber.  Die  Ge- 
schichtsbetrachtung belehrte  den  Griechen  zwischen  Naturgesetz  und 
Satzung  zu  unterscheiden.  Der  Begriff  der  Thesis,  den  die  Sophisten 
auf  die  Spitze  trieben,  ist  doch  historisch  und  subjektivistisch  moti- 
viert. Auch  der  antike  jüdische  Mensch  beobachtete  mit  scharfem  Blick 
die  Wechselfälle  der  Geschichte,  aber  statt  wie  der  Grieche  dadurch 
seinen  Glauben  an  das  ewige  Gesetz  zu  verlieren  und  dem  ursprüng- 
lich auch  auf  das  geschichtliche  Leben  sich  beziehenden  Nomos  die 
Thesis  entgegenzustellen,  bestärkte  ihn  diese  Betrachtung  noch  mehr 
in  dem  Glauben  an  das  Gesetz.  Das  ist  aus  jeder  Seite  der  Propheten 
zu  ersehen.  Dem  Griechen  war  es  von  vornherein  klar,  daß  in  der 
Natur  unwandelbare  Gesetze  "herrschen.  Dem  Juden  ward  es  aber  von 
vornherein  ebenso  zur  Gewißheit,  daß  in  der  Geschichte  im  Reiche 
des  Geistes  unwandelbare  Gesetze  herrschen.  Die  Natur  kannte  er 
überhaupt  nicht,  und  wo  er  von  Naturgesetzen  spricht,  da  hat  er 
eigentlich  nur  ein  Gesetz  im  Auge,  das  auch  in  der  Natur  vorhanden 
sein  muß.  Aber  das  Gesetz  als  solches  ist  außerhalb  der  Natur.  Diese 
generelle  und  transzendentale  Fassung  des  Gesetzes  ließ  schon  im 
Judentum  von  vornherein  den  Begriff  der  Thesis  gar  nicht  aufkom- 
men. Der  Chok  blieb  unangefochten  und  Alleinherrscher.  Dieses 
absolute,  von   außen  kommende  Gesetz  war  die  Realität. 

Ist  nun  dieses  Gesetz  aller  bio-soziologischen  Wirklichkeit  bar  und 
hat  es  mit  dem  biologischen  oder  physikomcchanischen  Gesetz  nicht 
die  geringste  Ähnlichkeit,  so  ist  es  seiner  formalen  Seite  nach  sofern 
ein  „wirkliches"  Gesetz,  als  es  einerseits  alle  Erscheinungen  und  Be- 
wegungen des  Lebens  berührt  und  gleich  dem  wirklichen  Gesetz  Ab- 
solutheit beansprucht.  Heute  behandelt  es  die  neuesten  Erscheinungen 
auf  dem  Gebiete  der  Elektrizität,  wie  es  vor  hundert  Jahren  zu  den 
neuesten  Errungenschaften  des  Verkehrs  Stellung  genommen  hatte. 
Für  jede  noch  so  neue  Erscheinung  findet  es  ein  Prinzip,  von  welchem 
aus  es  sich  zu  dieser  Neuerung  stellt;  über  jede  Bewegung  des  Men- 
schen führt  es  strenge  Kontrolle,  und  über  alles,  was  in  der  Menschen- 

116 


weit  vorgeht,  hat  es  zu  entscheiden,  wenn  auch  keine  Kraft,  diese  Ent- 
scheidung  auszuführen. 

Während  überall  das  Gesetz  des  Lebens,  und  ein  solches  ist  doch 
auch  das  jüdische  Gesetz,  Mittel  zum  Zweck  ist,  will  dieses  dem 
Leben  so  fremde  Gesetz  Selbstzweck  sein.  Anfänglich  war  es  aller- 
dings nicht  so.  „Damit  Ihr  lange  lebet",  dafür  war  es  doch  ursprüng- 
lich gegeben.  Als  die  von  diesem  Gesetz  formierte  Zivilisation  in  die 
Brüche  gegangen  und  das  jüdische  Volk  zivilisationslos,  weil  staatslos, 
war,  trat  wieder  das  Gesetz,  wie  zuallererst,  an  Stelle  des  wirklichen 
Lebens  .  .  .  Nur  hatte  es  jetzt  nicht  mehr  die  Aufgabe,  den  zügellosen 
Subjektivismus  eines  halbwilden  und  verwahrlosten  Volkes  zu  zügeln, 
sondern  ein  reifes,  sozialisiertes  Volk,  in  dem  messianisch-kosmopo- 
litische  Ideen  keimten,  zu  konservieren.  Das  konnte  nur  durch  eine 
gründliche  Spiritualisierung  des  Lebens  geschehen,  durch  ein  Nieder- 
ringen aller  normal-psychologischen  Mächte  des  Lebens.  Staatslos  und 
versprengt,  konnte  es  nur  durch  eine  gründliche  Isolierung  konserviert 
werden.  Dieses  Isolierungswerk  besorgte  und  vollbrachte  das  rabbi- 
nische  Gesetz.  Jetzt  bedenke  man,  wieviel  es  dem  natürlichen  Leben 
entgegenarbeiten  mußte.  So  ward  aus  einem  ursprünglichen  Zivili- 
sationsgesetz ein  Kulturgesetz,  weil  das  Zivilisationsgesetz  schon  für 
die  Hervorbringung  einer  Zivilisation  nicht  getaugt  hatte;  denn  mit 
dem  sittlichen  Leben  allein  kann  man  das  wirkliche  brutale  Sein  nicht 
regieren.  Das  Gesetz  des  fürchterlichen,  starken  und  allmächtigen, 
gewaltigen  Gottes  hat  aus  verwahrlosten  Sklaven  ein  Volk  gemacht, 
und  das  rabbinische  Gesetz  hat  das  Volk  durch  ein  gründlich  voll- 
brachtes Isolierungswerk  konserviert.  Das  erste  Werk  konnte  nur 
im  Verein  vom  Gesetz  mit  dem  Spiritualismus  (nicht  mit  dem  Mysti- 
zismus ;  denn  Mystik  ist  dem  Judentum  fremd)  vollbracht  werden. 

Nun  wurde  gegen  das  ursprüngliche  Gesetz  schon  heftig  gekämpft. 
Die  Bibel  berichtet  genug  über  die  Rückfälle  in  den  Götzendienst;  aber 
der  starke,  fürchterliche  und  allgewaltige  Gott  hat  sich  als  der  Stärkere 
im  Kampfe  erwiesen,  und  ungleich  dem  Nomos  in  Griechenland  ist 
in  Judäa  der  chok  olam  Sieger  geblieben,  das  absolute  Gesetz  des 
absoluten  Gottes.  Bei  der  Fassung  des  Gesetzes  durch  die  Rabbinen 
war  schon  der  psychologische  Mensch  im  Juden  niedergerungen,  er 
war  schon  mürbe.  Das  Gesetz  als  solches  war  ihm  schon  in  Fleisch 
und  Blut  übergegangen,  und  die  Rabbinen  hatten  es  nicht  mehr  schwer, 
das  schon  längst  eingebürgerte  Gesetz  dem  Juden  so  einzuprägen, 
daß  es  bei  ihm  zu  einer  Denkkategorie  werde. 

Die  Wahrheit  ist  nicht  im  Leben,  sondern  im  Gesetz.   Das  ist  das 

117 


Grundmotiv  der  rabbinischen  Weltanschauung,  wogegen  der  euro- 
päische Geist  seit  mehr  als  zwei  Jahrtausenden  (mit  Unterbrechung 
des  Mittelalters)  für  den  Satz  kämpft:  Die  Wahrheit  ist  nicht  außer- 
halb des  Lebens,  sondern  im  Leben.  Die  Träger  dieser  zwei  ver- 
schiedenen Anschauungen  sind  auch  zu  zwei  verschiedenen  Resultaten 
gelangt.  Die  einen  schufen  große  Bibliotheken,  Gesetzbücher,  reli- 
gionsphilosophische und  philosophische  Systeme,  die  anderen  schufen 
die  Maschine  und  den  modernen  Rechtsstaat  (Raubstaat),  der  in  Afrika 
und  Asien  „Zivilisation"  verbreitet,  damit  seine  eigenen  Bürger  Arbeit 
haben  und  dem  Handel  seiner  Bürger  neue  Absatzgebiete  erschlossen 
werden  Von  diesem  Gesichtspunkte  muß  man  an  die  Behandlung  der 
Frage  herantreten:  Welche  Bedeutung  hatte  die  jüdische  Religion  für 
das  zivilisatorische  Leben?  Wie  hemmend  sie  aber  für  das  zivilisa- 
torische Leben  (Mechanisierung  und  Industrialisierung  der  Welt)  ge- 
wirkt hat,  kann  man  auch  noch  aus  dem  unwirklichen  Rationalismus 
der  Rabbinen  seit  dem  Talmud  ersehen.  Im  halachischen  Teil  des 
Talmud  wird  z.  B.  ernstlich  die  Frage  erörtert,  „wenn  ein  Mann  vom 
Dach  gestürzt  und  zufällig  auf  eine  Frau  gefallen  ist?",  oder  ob  ein 
Ei,  das  am  Feiertag  „geboren"  wurde,  gegessen  werden  darf  oder 
nicht.  Im  rabbinischen  Schrifttum  werden  häufig  etwa  folgende  Fragen 
erörtert:  Darf  am  Purim  (ein  jüdisches  Volksfest)  geheiratet  werden? 
Ein  Verbot  könnte  damit  begründet  werden,  daß  man  dem  Gesetz 
zufolge  zwei  freudige  Anlässe  nicht  vermengen  darf  (en  mearwin 
simchah  besimchah),  und  bei  einer  Hochzeitsfeier  könnte  man  die 
Bedeutung  und  die  Freude  des  allgemeinen  Festes  vergessen.  Aber 
andererseits  ist  Purim  ein  Feiertag,  an  dem  man  sich  soweit  betrinken 
dürfe,  daß  man  zwischen  „Verflucht  Haman"  zu  „Gesegnet  Mordechai" 
nicht  unterscheiden  könne,  woraus  zur  Evidenz  hervorgehe,  daß  man 
die  Freude  dieses  Purimfestes  vergessen  dürfe.  Aus  diesem  Grunde 
könne  die  Heirat  am  Purim  freigegeben  werden.  Das  rabbinische 
Buch,  in  dem  diese  und  ähnliche  Fragen  erörtert  werden,  die  selbst 
vom  Gesichtspunkte  des  jüdischen  Gesetzes  lächerlich  unwirklich  sind, 
nennt  sich  das  Buch  des  Lebens  (Sefer  hachajim) 1).  Natürlich  ist 
das  nicht  die  Regel  im  talmudischen  und  rabbinischen  Schrifttum, 
Im  großen  und  ganzen  beschäftigt  sich  der  halachische  Teil  des  Talmud 
mit  allen  wichtigen  Fragen  des  Zivil-  und  Strafrechts,  und  eine  ganze 
Reihe  von  Traktaten  sind  allein  dem  Eigentums-,  Handels-  und  teil- 
weise auch  dem  Wechselrecht  gewidmet.  Aber  das  talmudische  Recht, 
sowohl  des  Sachen-  als  des  Personenrechts,  ist  dermaßen  „ethisch 
l)  Zitiert   nach   Erters  Hazophe  lebeth   Israel,   Warschau   1908. 

118 


belastet",  daß  man  aus  dieser  ethischen  Voreingenommenheit  allein 
ersehen  kann,  wie  wenig  dieses  Recht  an  der  Erfahrung  des  Lebens 
orientiert  ist. 

Betrachten  wir  die  Frage  jetzt  rein  pragmatisch. 

Als  die  Juden,  ein  in  Ägypten  zur  Arbeit  erzogenes  Volk,  nach 
Palästina  kamen,  fanden  sie  einen  kultivierten  Boden  vor.  Sowohl 
aus  der  jüdischen  Agrargesetzgebung,  die  einen  beträchtlichen  Raum 
in  dem  ersten  Buch  Moses  ausfüllt,  als  aus  den  kleinbäuerlichen  Idealen 
der  Propheten  (Jeder  wird  unter  seinem  Weinstock  und  unter  seinem 
Feigenbaum  sitzen),  sowie  aus  der  Tatsache,  daß  die  Bibel  auf  Schulden- 
recht gar  keine  Beziehung  nimmt,  geht  wohl  zur  Evidenz  hervor,  daß 
die  Juden  in  Palästina  sich  mit  Landwirtschaft  befaßten.  Da  die  Bibel 
von  mehreren  jüdischen  Handwerkerzünften  berichtet,  so  muß  man 
daraus  schließen,  daß  sich  die  alten  Juden  auch  mit  dem  Handwerk 
beschäftigt  haben.  Hingegen  kommt  der  Name  Karfaaniter  als  Bezeich- 
nung für  den  Handelsmann  noch  recht  spät  vor.  Auch  das  Faktum, 
daß  das  Gesetz  von  keinem  Kreditsystem  weiß,  spricht  dafür,  daß 
Josephus  in  seiner  genannten  Schrift  richtig  ausgesagt  hat.  Noch  das 
Deuteronomium  kann  sich  das  Schuldverhältnis  unter  Juden  nur  in 
der  Verarmung  des  einzelnen  denken.  Kommt  noch  hinzu,  daß  den 
Juden  der  Seehandel  abgeschnitten  war,  da  sie  keine  Häfen  zur  Ver- 
fügung hatten  und  niemals  eine  seefahrende  Nation  waren.  Wohl 
erfahren  wir,  daß  alle  paar  Jahre  Schiffe  nach  Palästina  kamen,  die 
Industrieerzeugnisse  ins  Land  brachten,  aber  wir  hören  nicht,  daß 
Industrieerzeugnisse  von  Palästina  exportiert,  sondern  nur,  daß  allerlei 
Früchte  exportiert  werden.  Ferner  ersieht  man  auch  aus  den  Be- 
richten der  Evangelien,  daß  noch  zu  jener  Zeit  Palästina  ein  Agrar- 
land war.  Die  Propheten  bedienen  sich  oft  dem  Landleben  entnom- 
mener Gleichnisse.  Der  noch  heute  fast  unübertroffene  Michaelis  sagt 
in  seiner  lapidaren  Art:  Der  Ackerbau  allein,  im  weitläufigen  Verstände 
genommen,  so  wie  er  Wein-,  öl-  und  Gartenbau  in  sich  schließt,  war 
es,  den  Moses  zur  Grundfeste  seines  Staates  wählte1).  Aus  der 
agrarischen  Natur  des  jüdischen  Staates  leitete  er  den  jüdischen  De- 
mokratismus ab.  Liegt  also  kein  Grund  vor,  an  dem  agrarischen 
Charakter  des  jüdischen  Staates  zu  zweifeln,  da  die  ganze  Sprache  der 
Bibel  mit  Metaphern  durchtränkt  ist,  die  dem  naiven  Bauernleben 
entnommen  sind,  was  doch  nicht  der  Fall  sein  könnte,  wenn  der  alte 
jüdische  Staat  kein  Agrarstaat  gewesen  wäre,  so  ersehen  wir  auf  der 
anderen   Seite    aus   vielen   Stellen   in    der   Bibel,    daß   im   alten  Judäa 

i)  J.  D.  Michaelis,  Mos.  Recht,  erster  Teil  S-   160  ff. 

119 


Handwerk  und  Hausindustrie,  soweit  sie  jede  staatliche  Gemeinschaft 
haben  muß,  sehr  ausgebildet  waren.  Alan  geht  nicht  fehl,  wenn  man 
behauptet,  daß  im  alten  Judäa  ausgebildete  Arbeiterzünfte  in  der 
Form  von  abgeschlossenen  Arbeiterquartieren  existiert  haben.  In 
Jercmia  37,  21  wird  von  der  Bäckergasse  berichtet,  in  Nehemia  II,  35 
vom  Tal  der  Zimmerleute,  in  Jesaia  7,  3  vom  Walkcrfeld,  und  wieder 
in  Nehemia  3,  33  vom  Quartier  der  Goldschmiede.  Josephus  berichtet 
noch  vom  Quartier  der  Eisen-  und  Erzarbeiter.  Aus  I.  Chr.  4,  21  und  23 
ist  noch  zu  ersehen,  daß  Leinweber-  und  Töpferzünfte  existiert  haben. 
Ferner  ergibt  sich  aus  demselben  Kapitel,  daß  Zimmerei  und  Leinweberei 
sich  vom  Vater  auf  den  Sohn  vererbt  haben1).  Jedes  Handwerk  war 
entweder  in  Freundschaften,  in  Häusern  oder  in  Quartieren  organi- 
siert. Landwirtschaft  und  Handwerk  waren  demnach  die  hauptsäch- 
lichsten, wenn  nicht  gar  die  ausschließlichen  Beschäftigungen  der  alten 
Juden.  Nur  so  erklärt  sich  die  Anpreisung  dieser  zwei  Berufe  im  Talmud 
und  die  Abneigung  der  Rabbinen  gegen  den  Handel.  Und  daraus  er- 
klärt sich  auch  teilweise  die  hohe  Ausbildung  des  sozialethischen  Be- 
wußtseins im  alten  Judäa.  Die  führenden  Politiker  der  Nation  und  ins- 
besondere die  Propheten,  wie  später  die  Rabbinen,  hatten  noch  einen 
andern  Grund,  der  Ausbreitung  des  Handels  in  Judäa  entgegen- 
zuarbeiten. 

Der  Stamm  Ephraim  eroberte  sich  bekanntlich  den  Norden  des 
Kanaans,  ein  sehr  fruchtbares  Land.  Die  ej>hraimitischen  Siedlungen 
waren  nahe  dem  Zentrum  der  damaligen  kanaanitischen  Kultur.  Die 
Ephraimiten,  im  Gegensatz  zu  den  Judäern,  kamen  mit  ihren  Nachbarn 
viel  in  Berührung,  was  eine  Einführung  von  fremdländischen  Sitten 
und  Gebräuchen  und  fremden  Göttern  in  Palästina  zur  Folge  hatte. 
Die  Judäer,  die  wegen  ihrer  geographischen  Lage  isoliert  blieben, 
bildeten  auch  die  Elite  der  Gesetzestreuen.  Von  Anfang  an  waren  die 
Rückfälle  der  Ephraimiten  in  den  Götzendienst  „kommerziell"  motiviert, 
da  sie  in  Handelsbeziehungen  mit  denen  ihnen  benachbarten  kanaaniti- 
schen Völkern  standen  und  ihrem  Einflüsse  oft  unterlegen2).  Dem 
Wächter  über  das  jüdische  Gesetz  konnte  diese  Tatsache  nicht  entgangen 
sein.  Dieses  allein  war  ihnen  Grund  genug,  gegen  die  Beteiligung  der 
Juden  am  Handel  aufzutreten  und  ihn  zu  verhindern.  Aber  nicht  allein 
das  Beispiel  Ephraims  hat  den  Führern  der  Nation  Veranlassung  ge- 
geben, gegen  den  Handel  in  Judäa  überhaupt  aufzutreten,  sondern  das 
national-wirtschaftliche  Ideal,   daß  das  Land  durch   Beschäftigung  aller 

!)  Herzogs  Real-Enzykl.  3.  Aufl.  Bd.  7  S.  393. 

2)  Joseph  Klausner,  Isr.  Geschichte,  Odessa  1909,  S.  25  ff. 

120 


mit  dem  Handwerk  sich  selbst  ernähren  könne.  Also  die  Sorge  für  die 
religiöse  und  sittliche  Integrität  des  Volkes,  die  durch  einen  steten 
Verkehr  mit  fremden  Völkern  nicht  erhalten  werden  konnte,  und  das 
Bestreben,  das  Land  ökonomisch  unabhängig  zu  halten,  waren  im 
wesentlichen  zwei  Motive  für  das  spätere  Auftreten  der  Propheten 
gegen  den  Versuch,  Palästina  zu  kommerzialisieren1).  Die  negative 
Haltung  der  Rabbinen  dem  Handel  gegenüber  war  hingegen  mehr 
religiös  motiviert.  Mit  dem  Handel  ist  die  Sünde  gesetzt,  das  war  ihre 
Überzeugung.  Natürlich  spricht  auch  aus  ihrer  Abneigung  gegen  den 
Handel  und  aus  ihrer  Vorliebe  für  Handwerk  und  Ackerbau  die  jüdische 
Tradition.  Wenn  es,  wie  Sombart  meint,  im  Talmud  auf  die  Masse 
der  Aussprüche  ankommt,  so  wird  man  wohl  folgern  müssen,  daß  aus 
dem  Talmud  geradezu  ein  Haß  gegen  den  Handel  und  eine  Anhimme- 
lung  des  Handwerks  und  Ackerbaues  zum  Ausdruck  kommt.  Das 
mögen  die  folgenden  Stellen  im  Talmud  und  im  späteren  rabbinischen 
Schrifttum  bezeugen. 

1.  Gott  hat  nicht  bei  den  Juden  geruht,  bis  sie  Handwerk  taten. 

2.  Handwerk  ist  mehr  als  vererbtes  Privileg. 

3.  Lege  dir  zum  Studium  ein  Handwerk  zu. 

4.  Jedes  Thorastudium  ohne  Handwerk  ist  wertlos  und  bereitet 
Sünde. 

5.  Liebe  das  Handwerk  und  hasse  das  Rabbinat. 

6.  Selbst  Adam  hat  nichts  genossen,  bevor  er  Arbeit  getan  hat. 

7.  Schinde  lieber  einen  Kadaver  in  der  Straße,  als  dich  zu  brüsten, 
daß  du  ein  großer  Mann  seiest. 

8.  Der  Handel  bringt  oft  Leute  in  die  Höhe,  aber  er  stürzt  sie 
auch  oft  in  die  Tiefe ;  aber  das  Handwerk  bewahrt  den  Menschen  auch 
in  schlimmsten  Zeiten  vor  äußerster  Not. 

9.  Der  Arbeiter  ist  insofern  besser  gestellt  als  der  Kaufmann,  als 
er  nicht,  wie  der  Kaufmann,  von  den  verschiedensten  Bedingungen  des 
Lebens,  der  Stadt  und  des  Landes  abhängig  ist,  und  er  in  eine  andere 
Stadt  ziehen  kann,  wenn  es  ihm  schlecht  geht. 

10.  Ein  Mensch  soll  das  Handwerk,  das  sein  Vater  und  Großvater 
schon  ausgeübt  haben,  nicht  wechseln. 

11.  Der  göttliche  Segen  fällt  nur  auf  den,  der  mit  seinen  Händen 
arbeitet. 

12.  Ein  Vater,  der  seinen  Sohn  kein  Handwerk  lehrt,  ist,  als  würde 
er  ihn  zum  Raub  anhalten. 


x)  Franz  Walter,  Die  Propheten  in  ihrem   soz.  Beruf,  München   1905,  S.  55. 

121 


Landwirtschaft. 

1.  Die  Erdarbeit  ist  die  beste  Garantie  für  die,  die  ihr  obliegen, 
und  gewährt  Gesundheit  und  seelische  Ruhe. 

2.  Wer  keine  Erde  hat,  der  ist  kein  Mensch. 

3.  Der  sich  auf  fertiges  Brot  verläßt,  ist  seines  Lebens  nicht  sicher. 

4.  Wer  Getreide  auf  dem  Markte  kauft,  läuft  immer  Gefahr. 

5.  Einer,  der  dem  Gelde  nachläuft  und  kein  Land  besitzt,  genießt 
nicht  recht. 

6.  Selbst  wenn  du  auf  den  Genuß  deiner  eigenen  Erdarbeit  nicht 
angewiesen  bist,  bist  du  nichtsdestoweniger  verpflichtet,  die  Erde  zu 
bearbeiten. 

7.  Ein  Mensch  soll  nicht  sein  Land  verkaufen. 

8.  Wenn  du  Land  hast,  bearbeite  es  selbst;  denn  nur  wenn  ein 
Mensch  sich  zum  Knecht  seines  Bodens  macht,  wird  er  satt  werden. 

9.  Du  sollst  nie  Land  kaufen,  das  angefochten  wird. 

10.  In  der  Zukunft  werden  alle  Handwerker  mit  der  Erdarbeit  ver- 
bunden sein. 

Gegen  den  Handel. 

1.  Ein  Kaufmann  kann  schwer  dem  Unrecht  entrinnen,  und  ein 
Krämer  kann  der  Sünde  nicht  entgehen,  sagte  Ben  Sirach. 

2.  Nicht,  der  am  meisten  handelt,  ist  der  Klügste. 

3.  Handle  weniger  und  beschäftige  dich  mehr  mit  der  Thora. 

4.  Kenntnis  der  Thora  findet  man  weder  bei  Händlern  noch  bei 
Kaufleuten. 

5.  Bist  du  aber  dennoch  ein  Krämer,  so  gleich  nicht  jenen,  deren 
Beschäftigung  im  Rauben  besteht. 

6.  Gehöre  nicht  zu  denjenigen,  die  die  Marktpreise  in  die  Höhe 
treiben. 

7.  Das  erste,  wonach  ein  Mensch,  wenn  er  vor  Gott  kommt,  ge- 
fragt werden  wird,  ist:  Hast  du  ehrlich  gehandelt? 

10.  Es  ist  nicht  erlaubt,  sich  Mühe  zu  geben,  mehr  als  statthaft  ist, 
zu  verdienen.    Mehr  als  ein  Sechstel  darf  nicht  verdient  werden. 

9.  Es  ist  unstatthaft,  große  Reklame  für  den  Handel  zu  machen. 

10.  Es  ist  verboten,  dem  Schuldner  zu  begegnen,  wenn  man  weiß, 
daß  er  nicht  bezahlen  kann. 

Solche  und  ähnliche  Aussprüche,  Ge-  und  Verbote,  die  auf  den 
Handel  Bezug  nehmen,  zeugen  gewiß  nicht  von  einer  Vorliebe  der 
Rabbinen  für  den  Handel.  Wie  verständnislos  auch  die  Rabbinen  dem 
Handel  gegenüberstanden,  ergibt  sich  auch  aus  der  folgenden  kurzen 
Zusammenfassung  der  Prinzipien  des  Handelsrechts  und  der  Handels- 

122 


moral  im  Talmud.  Vorausgeschickt  sei,  daß  das  ganze  talmudische 
Handelsrecht  sich  auf  die  wirtschaftlichen  Prinzipien  der  Bibel  aufbaut. 
Hier  sieht  man,  wie  sich  das  Recht  ganz  an  der  Ethik  und  gar  nicht  an 
dem  Leben  orientiert. 

Ein  Grundprinzip  des  talmudischen  Handelsrechts  ist  eSj  daß  der 
Gewinn  an  der  Ware  kein  ganzes  Sechstel  betragen  dürfe.  Beträgt  der 
Gewinn  ein  Sechstel,  dann  liegt  Übervorteilung  vor,  und  das  Geschäft 
kann  rückgängig  gemacht  werden,  wenn  der  Verkäufer  den  übervor- 
teilten Betrag  nicht  ausbezahlt,  der  Handel  ist  als  nicht  abgeschlossen 
anzusehen,  wenn  der  Gewinn  mehr  als  ein  Sechstel  beträgt.  Fand  eine 
Übervorteilung  durch  Gewicht  und  Maß  statt,  ist  das  Geschäft  eo  ipso 
null  und  nichtig. 

Wenn  der  Verkäufer  ausdrücklich  erklärt:  Soundsoviel  verdiene 
ich  daran,  dann  liegt  keine  Übervorteilung  vor,  selbst,  wenn  der  Gewinn 
100°/0  beträgt,  allein  die  Behörden  sind  verpflichtet,  dafür  zu  sorgen, 
daß  ein  allgemeiner  Warenwert  aufgestellt  wird,  damit  niemand  mehr 
als  ein  Sechstel  verdiene.  Wer  den  Fremdling  übervorteilt,  übertritt 
drei  Verbote,  denn  es  heißt:  Einer  soll  seinen  Nächsten  nicht  über- 
vorteilen, einer  soll  seinen  Bruder  nicht  übervorteilen,  und  du  sollst 
den  Fremdling  nicht  übervorteilen.  Man  darf  nicht  verschiedene  Früchte 
vermengen,  resp.  die  eine  mit  der  andern  verwechseln,  nicht  frische 
mit  alten  und  nicht  billige  mit  teuern;  denn  der  Käufer  hatte  eine  be- 
stimmte Frucht  angekauft. 

Stellt  sich  nachträglich  heraus,  daß  der  gekaufte  Weizen  schlecht 
ist,  kann  er  dem  Verkäufer  zurückgegeben  werden.  Man  darf  keine 
Frucht  aufspeichern,  damit  ihre  Preise  nicht  in  die  Höhe  getrieben 
werden.  An  Dingen,  die  das  Leben  retten  können,  darf  überhaupt  nicht 
verdient  werden. 

Der  sein  Geld  auf  Zinsen  verleiht,  ist,  als  würde  er  Menschenblut 
vergießen  und  hat  keinen  Anteil  am  Jenseits.  Nicht  nur  der  Verleiher 
macht  sich  eines  Verbrechens  schuldig,  sondern  auch  der  Leiher,  der 
Schreiber  und  die  Zeugen.  Wer  einem  Geld  leiht  (zinsenlos),  darf  nicht 
in  der  Behausung  des  Leihers  ohne  Entgelt  wohnen,  und  selbst,  wenn 
er  schon  früher  umsonst  gewohnt  hat,  muß  er  ihm  Miete  bezahlen, 
sobald  er  ihm  Geld  geliehen  hat.  Wenn  der  Leiher  den  Verleiher  nie- 
mals zu  begrüßen  pflegte,  so  ist  es  ihm  verboten,  jetzt  zu  grüßen,  weil 
er  von  ihm  geliehen  hat.  Wer  sein  Geld  im  Geschäft  so  anlegt,  daß  für 
Verdienst  sehr  viel  und  für  Verlust  sehr  wenig  Wahrscheinlichkeit 
vorhanden  ist,  der  ist  ein  Bösewicht,  weil  ein  solches  Investment 
„Zinsenstaub"  (kleine,  mögliche  Zinsen)  einbringt,  die  ebenfalls  unter- 

123 


sagt  sind.  Nur  Waisengelder  darf  man  so  investieren.  Einer,  der 
seinen  Nächsten  übervorteilt  oder  betrügt,  kann  weder  durch  Reue 
noch  durch  Buße  seine  Sünde  sühnen,  und  selbst  Gott  kann  ihm  die 
Sünde  nicht  vergeben.  Er  muß  sein  Unrecht  vielmehr  dem  Geschädigten 
gegenüber  selbst  gutmachen.  Das  Aufdrängen  von  Waren  an  den 
Käufer  ist  untersagt.  Sich  unredlich  bereichern,  wird  dem  Götzendienst 
gleichgestellt;  denn  die  Bibel  bezeichnet  beide  mit  dem  gleichen  Aus- 
druck,  Belijaal,  Niederträchtiger. 

Der  Vater  von  Samuel,  so  wird  in  Baba  Batra  90  h  berichtet,  pflegte 
sein  Getreide  gleich  von  der  Tenne  weg  zu  verkaufen,  damit  er  durch 
Zurückhaltung  des  Getreides  nicht  zu  dessen  Preissteigerung  auf  dem 
Markte  beitrage.  Der  Sohn  hingegen  behielt  es  zurück  und  verkaufte 
es  in  der  späteren  Jahreszeit  zum  ursprünglich  billigeren  Preis.  Man 
lobte  die  Haltung  des  Vaters  mehr  als  die  des  Sohnes,  weil,  wenn  die 
Preise  einmal  gestiegen  sind,  sie  nicht  wieder  so  schnell  sinken.  Wenn 
er  also  selbst  später  aus  Wohlwollen  zu  niederem  Preise  verkaufte, 
so  hat  er  doch  durch  Zurückziehung  der  Getreide  zur  allgemeinen 
Preissteigerung  beigetragen. 

Betrachtet  man  den  handelsrechtlichen  Grundsatz  vom  zulässigen 
Gewinne  eines  knappen  Sechstels  (ein  volles  Sechstel  ist  schon  Über- 
vorteilung) und  den  wirtschaftspolitischen  Grundsatz  des  allgemeinen 
konstanten  Warenwertes,  den  aufzustellen  die  Behörden  die  Pflicht 
haben,  und  denkt  man  an  minutiöse  Zinsverbote  des  Talmud  (Wucher, 
Zins,  Zinsstaub,  Wortzins,  Eßwareninteressen  [Tarbith]),  so  wird  man 
erst  begreifen,  wie  verständnislos  die  Rabbinen  dem  Handel  gegenüber- 
standen und  wie  abgeneigt  sie  ihm  waren.  Sie  wendeten  auf  das 
seiner  Natur  nach  bewegliche,  pendelnde  Wirtschaftsleben  das  unbe- 
wegliche starre  Prinzip  des  Gesetzes  an  und  glaubten  durch  die  Auf- 
stellung eines  allgemeinen  Warenpreises  das  unruhige,  keine  Fesselung 
duldende,  ökonomische  Leben  in  einen  normal  funktionierenden  Mecha- 
nismus umwandeln  zu  können.  Wer  solche  Ansichten  vom  Handel  hat 
und  diese  Ansichten  zum  Gesetz  zu  erheben  sucht,  der  bekundet  naive 
Weltfremdheit  und  wirkt  hemmend  auf  das  wirtschaftliche  Leben.  Wohl 
hat  Hillel  die  Prosbolreform  eingeführt,  und  wohl  wurden  später  die 
rigorosen  Zinsverbote  in  jeder  materiellen  und  moralischen  Art  durch 
„Hetter-iska-Reform"  einigermaßen  geschwächt.  Das  beweist  doch  nur, 
daß  das  Leben  stärker  als  das  Buch  ist  und  man  mit  dem  theoretischen 
Gesetz,  des  nicht  aus  dem  Leben  kommt,  das  Leben  nicht  meistern  kann. 
Die  wirtschaftlichen  Nöte  des  Volkes  mußten  eine  katastrophale  Wen- 
dung nehmen,  bevor  man  sich  von  der  rabbinischen  Lehrstube  aus  zu 

124 


formellen  Reformen,  die  das  Materielle  des  Verbots  keineswegs  auf- 
heben, entschlossen  hat.  Daher  muß  die  Frage,  ob  die  jüdische  Religion 
auf  das  zivilisatorische  Leben  der  Nation  fördernd  gewirkt  hat,  ent- 
schieden verneint  werden. 

Wollte  mir  aber  jemand  entgegenhalten,  Werner  Sombart  habe 
aus  dem  Talmud  das  Gegenteil  bewiesen,  so  muß  ich  darauf  antworten: 
1.  kennt  Sombart  den  Talmud  überhaupt  nicht,  weil  eine  Kenntnis  des 
Talmud  aus  Übersetzungen  (er  ist  noch  nicht  einmal  ganz  übersetzt) 
schlechterdings  unmöglich  ist;  2.  hat  er,  statt  die  Grundprinzipien  des 
talmudischen  Handelsrechts,  die  im  Traktat  Baba  Meziah  niedergelegt 
sind,  zu  erforschen  und  anzuführen,  nur  zusammenhanglose,  verstreute 
Aussprüche  gelesen  (in  falscher  Übersetzung,  wie  ihm  nur  zu  deutlich 
nachgewiesen  wurde)  und  zitiert;  3.  hat  er  nur  dem  naiven  Laien,  aber 
keinem  ernsten  Forscher  bewiesen.  Gegen  die  Juden  ist  schon  alles 
mögliche  bewiesen  worden,  selbst  daß  sie  christliches  Blut  für  rituelle 
Zwecke  brauchen.  Indessen  betrachte  ich  den  Sombartschen  Beweis, 
daß  die  jüdische  Religion  ein  kapitalistischer  Bazillus  ist,  während  sie 
in  Wirklichkeit  durch  ihr  Gesetz  den  Handel  unterbindet  und  den  Zins 
in  jeder  Form  verbietet,  für  den  kühnsten,  der  bis  jetzt  geführt  wurde. 
Wer  die  Bibel  liest  und  nicht  Erdgeruch  spürt,  nicht  Kleinbauern  sieht 
und  große  bebaute  Landstrecken  bemerkt,  obwohl  Gottes  höchster 
Segen  ist  „Ich  werde  Euch  Regen  geben,  Früh-  und  Spätregen",  sondern 
behauptet,  diese  Vollblutbauern  waren  alle  verkappte  Krämer  und 
Bankiers,  der  kann  alles  beweisen. 

Ich  wollte  gar  nicht  beweisen,  sondern  feststellen.  Und  ich  glaube 
festgestellt  zu  haben,  daß  das  Judentum  eine  Gesetzesreligion  ist  und 
durch  das  Medium  des  absoluten,  alleinherrschenden  Gesetzes  das 
zivilisatorische  Leben  des  Volkes  hemmen  mußte,  wie  die  Regierung 
vom  grünen  Tisch  die  Bewegung  des  Lebens  hemmt.  Diese  Grund- 
erkenntnis habe  ich  nur  durch  Tatsachen  erläutert. 

Bevor  ich  das  Verhältnis  der  jüdischen  Religion  zu  andern  zivilisa- 
torischen Gebilden  untersuche,  muß  ich  noch  kurz  zwei  Fragen  er- 
örtern, 1.  wann  hat  sich  ein  Teil  des  Volkes  dem  Handel  zugewendet 
und  2.  welche  Ursachen  haben  dazu  geführt,  daß  der  Jude  schlechthin 
zum  Händler  herabgesunken  ist? 

Ich  habe  schon  oben  der  Tatsache  Erwähnung  getan,  daß  die 
Ephraimiten  (Israeliten)  durch  ihre  geographische  Lage,  die  sie  in  Be- 
rührung mit  den  handeltreibenden  kanaanitischen  Völkern  brachte, 
zuerst  Gelegenheit  hatten,  sich  teilweise  dem  Handel  zuzuwenden.  Ihr 
Land  war  sehr  fruchtbar  und  lieferte  ihnen  so  viel,  daß  sie  einen  Teil 

125 


der  Produkte  veräußern  konnten.  Ihr  Handel  beschränkte  sich  auf 
den  Verkauf  ihrer  Landesprodukte.  Es  scheint,  daß  sie  oft  mehr  expor- 
tiert haben,  als  dem  Lande  gut  tat;  denn  sowohl  die  Propheten  wie 
später  die  Rabbinen  betonen  die  Notwendigkeit  der  Selbsternährung 
des  Landes,  und  die  letzteren  verboten  sogar  den  Export  von  Landes- 
produkten. Aber  die  Anleitung  zum  Handel  im  größeren  Stil  erhielten 
die  Juden  später  von  den  benachbarten  Syrern  und  Phöniziern.  Da 
sich  der  gesamte  Handel  in  durchaus  griechischer  Form  bewegt  und 
das  Wort  Ware  im  Hebräischen  griechischen  Ursrungs  ist,  so  muß  man 
sagen,  daß  ein  nennenswerter  Handel  in  Judäa  sich  erst  in  hellenischer 
Zeit  bemerkbar  macht.  Ein  Werk  dieser  Zeit,  das  Buch  Sirach,  erwähnt 
zum  erstenmal  den  Großhändler. 

Der  Handel  findet  also  in  Palästina  Eingang  zu  einer  Zeit  der 
jüdischen  Dekadenz  und  der  nationalen  Auflösung.  Je  lockerer  die 
nationalen  Bande  waren,  desto  mehr  nahm  der  Handel  an  Aus- 
breitung  zu. 

Je  mehr  der  nationale  Auflösungsprozeß  fortschreitet,  desto  mehr 
werden  die  Juden  ihrem  Boden  entwurzelt  und  desto  mehr  erliegen  sie 
dem  Handel.  Weitblickende  Rabbinen  sehen  sorgenvoll  diesem  merk- 
würdigen Wandel  der  Dinge  zu  und  versuchen  mit  Mitteln  der  Kultur 
wie  des  theoretischen  Gesetzes,  dieser  zivilisatorischen  Strömung  Ein- 
halt zu  tun.  Da  aber  das  Leben  sich  als  stärker  erweist  als  das  Gesetz, 
suchen  sie  den  umsichgreifenden  Handel  in  Judäa  durch  die  soziale 
Degradation  des  Händlers  zu  unterbinden.  ,,Der  Händler  ist  kein 
Mann  der  Thora,  der  Händler  ist  ein  sündbeladenes  Individuum"  ver- 
künden sie  dem  Volke.  Im  ganzen  Talmud  zittert  der  Kampf  der 
Rabbinen  gegen  den  Handelsmann  nach.  Sie  waren  bestrebt,  den 
Handelsmann  zu  der  Stellung  herabzudrücken,  die  der  Metöke  in 
Griechenland  einnahm.  Aber  während  die  Griechen  ihre  Degradation 
der  Metöken  ästhetisch  motivierten,  erfolgte  sie  durch  die  Rabbinen 
aus  ethischen  und  religiösen  Gründen. 

Die  Juden  sind  erst  ganz  zu  Händlern  geworden,  als  das  Christen- 
tum seinen  Siegeszug  durch  die  Länder  anzutreten  begann.  Das  war 
so  gekommen:  Die  Kirche  hatte  die  Anschauungen  der  Römer  und 
Griechen  über  den  Handel  übernommen.  Den  klassischen  Völkern  war 
der  Handel  verhaßt.  Sowohl  Plato  wie  Aristoteles  weisen  in  ihrem 
Staatsrecht  dem  Kaufmann  eine  politisch  und  sozial  untergeordnete 
Stellung  an.  Bei  Plato  gehört  der  Händler  in  den  letzten  und  dritten 
Stand,  in  den  Nährstand,  dem  der  Wehr-  und  Lehrstand  übergeordnet 
ist.  Der  Nährstand  ist  der  Bauch  des  Staates.  Also  verhält  sich  der  Nähr- 

126 


stand  zum  Lehrstand  wie  der  Bauch  zum  Kopfe.  Nicht  viel  besser 
schneidet  der  Kaufmann  im  aristotelischen  Staatsrecht  ab.  Diese  han- 
delsfeindlichen Anschauungen  konnten  in  das  Christentum  um  so 
leichter  eindringen,  als  es  sie  seiner  damaligen  Tendenz  der  Negation 
des  Diesseits  anpassen  und  für  diese  Tendenz  ausbeuten  konnte.  Die 
Kirchenväter  des  ersten  Jahrhunderts  betrachteten  den  Handel  als  die- 
jenige Betätigung,  die  den  Menschen  vom  religiösen  Leben  ablenkt 
und  das  profane  irdische  Leben  fördert.  Aus  diesen  Gründen  gaben 
sie  die  Parole  aus:  Nullus  Christianus  debet  esse  mercator  (kein  Christ 
soll  Handelsmann  sein).  Selbst  Thomas  d'Aquino,  der  im  dreizehnten 
Jahrhundert  lehrte,  also  zu  einer  Zeit,  in  der  der  Handel  blühte,  hielt 
noch  an  dieser  christlichen  Anschauung  fest.  Da  aber  die  Welt  ohne 
Handel  nicht  existieren  kann,  gestattete  die  Kirche  den  Juden,  diese 
den  Christen  verbotene  Funktion  auszuüben,  und  gewährte  ihnen  sogar 
diesbezügliche  Privilegien.  Die  Kirche  mag  noch  in  ihrem  Verhältnis 
zum  jüdischen  Handel  von  einem  anderen  psychologischen  Motiv  ge- 
leitet worden  sein:  die  Träger  des  Christentums  wußten  so  gut  wie 
wir  heute  und  so  gut  wie  die  jüdischen  Rabbinen  schon  vor  zwei- 
tausend Jahren,  daß  der  Handel  schlechthin  das  Prinzip,  speziell  das 
ethische  und  religiöse  Prinzip  untergräbt.  Hat  doch  die  Kirche  aus 
dieser  Einsicht  heraus  den  Christen  die  Beschäftigung  mit  dem  Handel 
untersagt.  Da  die  Kirche  von  Anfang  an  bestrebt  war,  die  jüdische 
Hartnäckigkeit  zu  überwinden,  führte  sie  sie  durch  Privilegierung  dem- 
jenigen Beruf  zu,  der  den  ethischen  Menschen  resp.  das  Prinzip  ver- 
nichtet .  .  .  Ein  jüdischer  Bauer  oder  Arbeiter  läßt  in  Glaubenssachen 
nicht  mit  sich  handeln,  ein  jüdischer  Handelsmann  eher  .  .  .  Wenn 
man  noch  heute  die  jüdischen  Taufstatistiken  auf  diesen  Punkt 
hin  prüft,  wird  man  finden,  daß  alle  Neubekehrten  entweder  dem 
Handels-  oder  dem  Akademikerstand  angehören:  von  der  Taufe  eines 
jüdischen  Arbeiters  hört  man  selten,  sehr  selten,  und  von  der 
Taufe  eines  jüdischen  Bauern  hat  man  noch  niemals  gehört.  Diese 
Tatsache  ist  bis  jetzt  von  allen  jüdischen  Wirtschaftshistorikern  seit 
Herzfeld  übersehen  worden. 

Aus  all  dem  geht  zumindest  so  viel  hervor,  daß  der  Handel  unter 
den  Juden  dann  eingesetzt  und  sich  zum  großen  Faktor  in  ihrem  Leben 
entwickelt  hat,  als  das  Judentum  im  eigentlichen  Sinne  aufgehört  hatte, 
und  als  das  Gesetz  durch  den  Untergang  des  jüdischen  Staates  sich 
zu  einem  Ritual-  und  Zeremonialgesetz  „entwickelt"  hatte,  das  zwar 
noch  genug  die  Bewegung  des  jüdischen  Individuums  kontrollierte  und 
hemmte,  das  aber  nicht  mehr  die  Gewalt  über  den  jüdischen  Menschen 

127 


hatte  wie  zu  der  Zeit,  als  es  im  Staate  seinen  Vollzieher  und  Exekutor 
hatte. 

Und  so  muß  auf  die  Frage,  welchen  Einfluß  die  jüdische  Gesetzes- 
religion auf  die  Gestaltung  des  zivilisatorischen  Lebens  genommen 
hat,  da  das  Gesetz  doch  ursprünglich  mehr  eine  Zivilisationstheorie 
war,  geantwortet  werden,  daß  es  einen  negativen,  hemmenden  Einfluß 
hatte;  denn  es  hatte  sich  zum  „Kulturgesetz"  entwickelt,  das  jeder 
Wirklichkeit  entbehrt.  Durch  die  Richtung,  die  das  jüdische  Gesetz 
genommen  hat  (von  Zivilisation  zu  Kultur,  von  der  Tat  zum  Buch, 
von  der  Praxis  zu  der  Theorie),  mußte  es  zur  zivilisationshemmenden 
Macht  werden. 

Aus  diesem  Grunde  ist  es  höchst  lächerlich,  die  jüdische  Religion 
resp.  das  jüdische  Gesetz  für  den  heutigen  jüdischen  Kapitalismus 
sowie  für  die  heutige  ganze  kapitalistische  Wirtschaftsordnung,  die 
Europa  langsam  aber  sicher  dem  Schicksal  Roms  zuführt,  verantwort- 
lich zu  machen.  Wer  dies  tut,  kann  mit  ebensoviel  Berechtigung  die 
Entwicklung  Deutschlands  von  einem  Agrarstaat  zu  einem  Industrie- 
staat Immanuel  Kant  in  die  Schuhe  schieben. 

In  welchem  Maße  das  jüdische  Gesetz  durch  seine  allerdings  not- 
wendige Entwicklung  zum  Kulturgesetz  auf  die  Gestaltung  des  zivili- 
satorischen Lebens  hemmend  gewirkt  hat,  kann  man  an  dem  alten 
jüdischen  Staate  ersehen. 

Die  alte  Frage,  ob  der  Staat  aus  dem  Gesetz  oder  das  Gesetz  aus 
dem  Staat  hervorgegangen  sei,  hat  die  heutige  Wissenschaft  dahin 
beantwortet,  daß  das  Gesetz  ein  Werk  des  Staates  ist,  und  nicht  um- 
gekehrt. Dieser  Satz  mag  von  allen  Staaten  gelten,  nur  nicht  vom 
jüdischen;  denn  der  jüdische  Staat  ist  ein  Werk  des  Gesetzes.  Der 
jüdische  Staat  ist  nicht  wie  jeder  andere  Staat  aus  natürlichen  soziolo- 
gischen Bedingungen  hervorgewachsen,  sondern  von  dem  theoretischen 
Gesetz  ins  Dasein  gerufen  worden.  Schon  in  der  Bibel  heißt  es,  nach 
dem  Bericht  der  Offenbarung:  Heute  bist  Du  zu  einem  Volke  geworden, 
d.  h.  durch  die  Annahme  des  Gesetzes.  Philo  von  Alexandrien,  der 
doch  gewiß  auf  der  Höhe  der  Bildung  seiner  Zeit  stand  und  zugleich 
guter  Jude  war,  berichtet  in  seinem  Buch  „Über  den  Dekalog"  von 
alten  Traditionen,  die  auf  die  Entstehung  des  jüdischen  Staates  Bezug 
hatten;  da  heißt  es  unter  anderem:  „Einige  geben  noch  einen  vierten 
Grund  an,  der  gar  nicht  ungereimt  klingt,  sondern  der  Wahrheit  recht 
nahe  kommt.  Da  die  Gemüter  die  Überzeugung  gewinnen  sollten, 
daß  die  Gesetze  nicht  etwa  Erfindungen  eines  Menschen,  sondern 
ganz   klare   Offenbarungen  Gottes   sind,   führte   er   (Moses)    das   Volk 

128 


weit  weg  von  den  Städten  in  eine  tiefe  Wüste,  die  nicht  nur  der  edleren 
Früchte,  sondern  selbst  eines  trinkbaren  Wassers  entbehrte."   An  einer 
Stelle  in  der  Mechilta  zu  Moses  2,  19  wird  angedeutet,  daß  die  Gesetz- 
gebung in    der  Wüste  stattfand,   um   ihren  unlokalen  und  universalen 
Charakter  zu  demonstrieren.   Philo  selbst  sagt  über  die  Entstehung  des 
jüdischen  Staates  aus  dem  Gesetz  folgendes:  Der  dritte  Grund  aber  ist 
dieser:  Wie  solche,  die  eine  lange  Fahrt  zu  machen  haben,  nicht  erst, 
wenn  sie  bereits  das  Schiff  bestiegen  und  sich  aus  dem  Hafen  entfernt 
haben,   anfangen,   Segel  und  Steuerruder  und  Steuergriff  herzustellen, 
sondern,  während  sie  noch  am  Land  sind,  alles  wohl  vorbereiten,  was 
zur  Fahrt  gehört,  ebenso  wollte  er,  daß  sie  nicht  erst  ihren  Landanteil 
empfingen  und  die  Städte  besiedelten   und   dann  nach   Gesetzen  ver- 
langen, nach  denen  sie  verfassungsgemäß  leben  könnten;  sondern  zu- 
vor sollten  sie  'die  Grundlinien   einer  Verfassung  erhalten,   um  dann 
erst  völlig  vertraut  mit  den  Grundsätzen,   durch  die   ein  Volk  regiert 
wird,  feste  Wohnsitze  zu  nehmen,  deren  sie  dann  sich  gleich  der  Stützen 
•der  Gerechtigkeit  :zu  bedienen  hätten  in  Eintracht  und  inniger  Gemein- 
schaft und  bei  gerechter  Verteilung  dessen,  was  einem  jeden  zukommt/' 
Daraus  ersehen  wir,  daß  die  ältesten  jüdischen  Traditionen  den  Satz 
von   der   Entstehung  des  Staates   aus   dem  Gesetze  bestätigen.    Selbst 
wenn  man  die  Bibel  nicht  gerade  als  historisches  Dokument  betrachtet, 
son'dern  als  eine  Sammlung  von  in  der  Schrift  festgehaltenen  Traditio- 
nen, so  kann  man  sich  des  Eindruckes  nicht  erwehren,  daß  ihr  Bericht 
von  den  Grundlagen  und  von  der  Entstehung  des  jüdischen  Staates, 
zum  großen  Teil  zumindest,  den  Tatsachen  entspricht.    So  geschaW  es 
zum  ersten  Male  in  der  Geschichte,  daß  das  theoretische  Gesetz  allein, 
ein   ideologischer    Faktor,    einen   soziologischen    Prozeß    herbeigeführt 
und  vollendet  hat,   der  sonst   nur  durch  Stahl  und  Menschenblut  zu- 
stande kommt,  und  es  wird  sich  gleich  zeigen,  daß,  wie  er  seine  Ent- 
stehung  einem   unwirklichen  Gesetze  verdankt,   so   seinen   Untergang 
dem  Zusammentreffen  mit  der  Wirklichkeit. 

Der  hebräische  Terminus  für  Staat  ist  Medinah  von  Din  (Gesetz) 
und  Dajan  (Richter).  Dieser  Terminus  allein  besagt  genug.  Der  deut- 
sche Terminus  Staat,  der  englische  state,  der  französische  etat,  der 
italienische  stato  und  der  russische  Gosudarstwo  (von  gosudar  Herr), 
sowie  der  griechische  Terminus  polis  oder  politea  und  der  römische 
dominium  odei  imperium  weisen  auf  eine  andere  Entstehungsart  des 
Staates  hin  und  besagen,  daß  entweder  die  Stabilisierung  von  ge- 
wissen Lebensbedingungen  oder  die  Herrschaft  des  Despoten  die  po- 
litische  Gemeinschaft   ins   Leben   gerufen   hat.    In   den    ersten   Zeiten 

<9    Melamed 

129 


konnten  die  Juden  zwischen  Staat  und  Volk  nicht  unterscheiden.  Der 
Begriff  Volk  diente  mehr  für  den  Begriff  des  Staates.  Da  das  Volk, 
wie  die  Bibel  selbst  bekundet,  durch  das  Gesetz  geeint  und  zusammen- 
geschlossen war  und  das  Volk  der  Träger  des  Gesetzes  gewesen  ist, 
versteht  es  sich  von  selbst,  daß  das  Volk  eo  ipso  der  Staat  war.  Der 
Terminus  Medinah  entstammt  einer  späteren  Periode.  Wenn  Jeremia 
droht:  „Ich  werde  mein  Volk  verlassen",  so  meint  er  auch  zugleich 
den  jüdischen  Staat.  Daraus  ist  auch  zu  ersehen,  daß  der  jüdische 
Staat  nicht  aus  realen  Bedingungen  entstanden  ist.  Der  Tradition  zu- 
folge hatten  schon  die  Juden  Gesetze  für  den  König,  noch  bevor  sie 
einen  König  hatten,  und  eine  Staatsverfassung,  ehe  sie  einen  Staat 
hatten. 

Christliche  Gelehrte  pflegen  den  jüdischen  Staat  als  Theokratie 
zu  bezeichnen,  und  Ranke  sah  sogar  im  Kampf  zwischen  Samuel  und 
Saul  das  Urbild  des  Karripfes  zwischen  Kaiser  und  Papst.  Die  Tat- 
sachen aber,  daß  im  jüdischen  Staat  der  Priester  dem  Gesetz  unter- 
worfen war,  daß  er  keinen  Grundbesitz  sein  eigen  nennen  durfte,  daß 
Saul  weder  abgesetzt  noch  exkommuniziert,  sondern  im  Felde  gefallen 
ist,  beweisen,  wie  grundlos  der  jüdische  Staat  als  Theokratie  be- 
zeichnet wird. 

Moses,  der  weltliche  Herr,  kommt  überall  vor  Aaron,  und  nicht 
ein  Priester,  sondern  der  Vorsteher  der  weltlichen  Gewalt  führt  die 
Juden  ins  heilige  Land.  Wo  die  Priester  ökonomisch  so  machtlos  sind 
wie  im  alten  jüdischen  Staat,  kann  von  einer  Theokratie  nicht  wohl 
die  Rede  sein ;  denn  ohne  ökonomische  ist  politische  Macht  unmöglich. 

Der  alte  jüdische  Staat  war  nicht  einmal  dann  eine  Monarchie  im 
vollendeten  Sinne  des  Wortes,  als  ein  König  sein  Haupt  war;  denn 
das  Grundprinzip  der  alten  Monarchie,  der  Wille  des  Königs  ist  Ge- 
setz, oder  der  König  steht  über  dem  Gesetz,  war  den  alten  Juden  ab- 
solut unbekannt.  Weder  war  des  Königs  Wille  Gesetz,  noch  stand 
er  über  demselben,  sondern  er  war  ihm  unterworfen  wie  jeder  Bürger. 
Hatte  der  König  das  Gesetz  übertreten,  dann  hatte  er  sich  auf  eine 
Auseinandersetzung  mit  dem  Propheten  gefaßt  zu  machen.  Es  er- 
übrigt sich  auch  noch  hervorzuheben,  daß  der  jüdische  Staat  weder 
Oligarchie,  noch  Tyrannis,  noch  aristokratische  Despotie  war.  Die 
äußere  Form  des  Staates  wechselte  im  Laufe  der  Zeiten.  Aus  einer 
Föderation  von  Stämmen  wurde  eine  zentralistische  Republik,  und 
aus  dieser  eine  Monarchie.  Aber  die  erste  und  eigentliche  Triebkraft 
des  Staates  war  und  blieb  immer  dieselbe:  das  Gesetz.  Aus  diesem 
Grunde  hatte  der  jüdische  Staat  an  dem  jüdischen  Volke  eine  Grenze, 

130 


wie  die  jüdische  Religion.  Volk,  Staat  und  Religion  waren  organisch 
vereint  und   durch   tausend  Bande   aneinander  gefesselt. 

Daher  konnte  der  Staat  seinem  natürlichen  Trieb  der  Expansion 
nicht  folgen ;  er  konnte  nie  ein  Eroberungsstaat  werden.  Der  politische 
Feind  des  jüdischen  Volkes,  sofern  die  Feindschaft  in  der  Natur  der 
Dinge  begründet  war,  konnte  in  keinem  Falle  einen  Teil  der  jüdischen 
staatlichen  Gemeinschaft  bilden.  Im  Kriege  mußte  er  besiegt  und 
vollständig  vernichtet  werden,  oder  siegen  und  vernichten.  Die  Gegner- 
schaft zwischen  den  Juden  und  den  sie  umgebenden  Völkern  war  wegen 
der  jüdischen  Religion  immer  unüberbrückbar,  daher  konnten  auch 
die  Juden  nicht  „kolonisieren"  oder  in  einen  anderen  Staat  friedlich' 
eindringen.  Wo  die  Gegnerschaft  sehr  akut  geworden  war,  wie  z.  B. 
im  Falle  Amalek,  da  gab  es  nur  einen  Ausweg:  die  vollständige  Aus- 
rottung des  Feindes.  Vom  Standpunkte  der  jüdischen  Staatsraison  muß 
die  Grausamkeit  des  alten  Propheten  Samuel  gerechtfertigt  erscheinen. 
Amalek  leben  lassen,  konnte  für  den  jüdischen  Staat  später  Gefahren 
heraufbeschwören,  und  ihn  jn  die  jüdische  Gemeinschaft  aufnehmen, 
war  auch  nicht  möglich;  daher  erging  der  rigorose  Befehl:  Ihr  sollt 
keine  Seele  leben  lassen. 

Aus  dem  jüdischen  Einbürgerungsrecht  ist  zu  ersehen,  wie  eng 
die  Grenzen  des  jüdischen  Staates  gezogen  waren.  DieAmmoniter  und 
Moabiter  waren  schlechterdings  von  der  Erlangung  des  jüdischen 
Bürgerrechts  ausgeschlossen  und  konnten  es  nicht  einmal  im  zehnten 
Geschlecht  erlangen.  Edomiter  und  Ägypter,  da  sie  nicht  für  unrein 
gehalten  waren,  konnten  das  Bürgerrecht  zwar  erlangen,  aber  erst 
im  dritten  Geschlecht.  Das  Verbot  der  Erteilung  des  Bürgerrechts  an 
Ammoniter  und  Moabiter  wird  mit  der  Erinnerung  an  die  Vergangen- 
heit, mit  der  Vernunft  begründet.  Das  gleiche  gilt  von  der  Erlaubnis, 
ägyptischen  Nachkommen  das  Bürgerrecht  zu  verleihen;  das  Gebot: 
Ihr  sollt  den  Fremden  lieben!  wird  auch  damit  begründet:  Denn  ihr 
wart  selbst  Fremde  im  Lande  Ägypten.  Dieses  sind  Beispiele  dafür, 
wie  die  pragmatischen  Gesetze  des  Staates  sich  immer  an  dem  In- 
tellekt, an  der  Erinnerung  orientieren  und  nicht  an  den  gegebenen 
Verhältnissen  des  Lebens.  Wenn  es  andererseits  in  der  Bibel  heißt: 
Ein  Gesetz  und  ein  Recht  für  den  Fremden  und  für  den  Bürger,  so 
ist  auch  hier  das  Gesetz  nicht  an  den  Tatsachen  des  Lebens,  sondern 
an  dem  ethischen  Prinzip  orientiert.  In  der  griechischen  Polis  gab  es 
nicht  für  Einheimische  und  Fremde  ein  Gesetz,  und  Rom  ist  erst  zur 
Zeit  des  Claudius  durch  politische  Umstände  gezwungen  worden, 
das  römische  Bürgerrecht  an  fremde  Völkerschaften  zu  verleihen.     Es 

9* 

131 


zeugt  zwar  von  einem  großen  ethischen  Bewußtsein,  aber  von  ge- 
ringem Sinn  für  die  Wirklichkeit,  wenn  ein  kleines  politisches  Gemein- 
wesen, das  von  so  vielen,  ihm  feindlich  gegenüberstehenden  Staaten 
umgeben  ist,  dem  Fremden  das  gleiche  Recht  gewährt.  Schon  die 
Begründung  des  fremden  Rechtes  in  der  Bibel  bekundet  die  Absicht 
des  Gesetzgebers,  dieses  Fremdenrecht  nicht  auf  die  Erfahrung,  son- 
dern auf  religiösen  Grund  zu  stellen. 

Dem  Satze:  Einerlei  Recht  soll  euch  sein,  der  Fremde  soll  wie 
der  Eingeborene  sein,  folgt  die  Begründung:  Ich  bin  der  Ewige,  euer 
Gott.  Wie  die  rechtliche  Gleichstellung  des  Fremden  mit  dem  Ein- 
heimischen auf  religiösen  und  ethischen  Grund  gestellt  war,  so  die 
Gleichstellung  aller  Juden  selbst  vor  dem  Gesetz.  Mag  der  agrarische 
Unterbau  des  jüdischen  Staates  fördernd  auf  den  Demokratismus  ein- 
gewirkt haben,  die  absolute  Demokratie,  wie  sie  sich  in  diesem  Staate 
in  geradezu  erschreckender  Weise  offenbarte,  war  ethisch,  gesetzlich 
motiviert,  was  zur  Folge  hatte,  daß  der  Bürger  des  jüdischen  Staates 
keine  Gelegenheit  hatte,  seinen  Geist  politisch  zu  schulen  und  sich 
politisch  durchzukämpfen.  Es  soll  keinesfalls  behauptet  werden,  daß 
die  Demokratie  dem  Bürger  keine  politische  Schule  sein  könne,  heute 
ist  gewiß  die  Demokratie  die  höchste  politische  Schule.  Aber  die  alte 
jüdische  Demokratie  war  nicht,  wie  die  heutige,  eine  im  Leben  er- 
kämpfte politische  Ordnung,  sondern  eine  Art  prädestinierte  Harmo- 
nie, ein  ivon  einer  äußeren  Macht  geschaffenes  System  der  Koordination. 

Sie  war  nicht  der  Schlußpunkt  der  Entwicklung,  sondern  der  Aus- 
gangspunkt. Wenn  die  Politik  im  allgemeinen  mit  dem  Meer  verglichen 
wird,  so  darf  die  Politik  der  alten  Juden  mit  dem  Toten  Meer  ver- 
glichen werden,  weil  sie  nicht  von  den  natürlichen  Kräften  und  Quellen 
des  Lebens,  sondern  von  außerhalb  des  Lebens  stehenden  Mächten 
getrieben  wurde.  Sie  war,  um  es  kurz  zu  sagen,  eine  verwirklichte 
Utopie.  Jede  Politik  ist  sich  selbst  Zweck;  die  jüdische  Politik  war 
es  nicht,  sie  war  Mittel  zum  Zweck,  Mittel  zur  Verwirklichung  eines 
ethischen  Ideals.  Der  Staat  hatte  a  priori  einen  Zweck:  die  Verwirk- 
lichung der  Gerechtigkeit.  Der  Staat  sollte  die  verkörperte  Tugend 
sein.  Gemäß  dieser  Anschauung  vom  Zwecke  des  Staates  mußten 
seine  ökonomischen  Grundlagen  und  seine  Verwaltung  mit  den  Grund- 
gesetzen über  Wahrheit  und  Gerechtigkeit  übereinstimmen.  Also  war 
in  diesem  Staate  von  vornherein  die  Akkumulierung  von  politischer 
Macht  in  einer  Hand  so  gut  wie  ausgeschlossen.  Dafür  sorgte  schon 
die  Gleichheit  vor  Gott  und  vor  dem  Gesetze,  die  mit  dem  Monotheis- 
mus gegeben  war.    So  war  dieser  Staat  im   letzten  Grunde  eine  Ge- 

132 


setzesgemeinschaft  oder,  wenn  man  will,  ein  von  außen  regierter 
politischer  Mechanismus.  Auf  der  höchsten  Stufe  der  Entwicklung  ver- 
schwägerte sich  diese  Nomokratie  mit  dem  schwungvollen  prophe- 
tischen Idealismus,  der  das  Sein  mit  dem  Sollen  total  verwechselte. 
Wahr  ist  nicht  mehr,  was  jetzt  ist  und  was  wirklich  ist,  sondern  was 
sein  soll.  Der  prophetische  Politiker  potenziert  den  Gerechtigkeitsstaat 
zum  Vorbilde  einer  ethischen  Universalgemeinschaft.  Er  erblickt  das 
allgemeine  Menschenheil  in  der  Verwirklichung  der  Sittlichkeit  im 
jüdischen  Staate.  Dieser  Staat  soll  ein  Exempel  sein,  von  ihm  sollte 
ein  Licht  über  die  Welt  ausgehen.  „Alle  Völker  werden  zu  ihm  strö- 
men", weissagte  Jesaja.  So  wurde  der  jüdische  Staat  ein  Medium 
zwischen  dem  einzelnen  Volke  und  der  Menschheit.  Der  Niedergang 
der  Sittlichkeit  und  der  Gerechtigkeit  im  jüdischen  Staate  bildete  dem- 
nach nicht  nur  eine  unmittelbare  Gefahr  für  die  Existenz  des  jüdischen 
Staates,  sondern  die  Sittlichkeit  und  die  sittliche  Zukunft  der  Mensch- 
heit wäre  dadurch  in  Frag'e  gestellt.  Der  universalistisch  interessierte 
Prophet  hatte  es  trotz  seiner  tiefen  nationalen  Gesinnung  doch  auf 
die  Menschheit  abgesehen.  Der  jüdische  Staat  war  ihm  nur  der  sichere 
ethische  Punkt,  von  dem  er  den  Weg  zur  Allgemeinheit  fand;  nicht 
aber  der  einzige  Zweck  und  das  alleinige  Ziel.  Seine  Politik  konzen- 
trierte sich  auf  die  Bemühung,  die  Gerechtigkeit  zu  verwirklichen. 
„Übet  Recht  un|d  Gerechtigkeit,  errettet  den  Unterdrückten  aus  der 
Hand  des  Gewalttätigen,  betrübet  nicht  Fremdlinge,  Waisen  und  Wit- 
wen, verübt  nicht  Druck  und  Unfecht  an  ihnen  und  vergießet  kein 
unschuldig  Blut  an  diesem  Orte"  donnert  Jeremia  (23,  3).  „Säet  Ge- 
rechtigkeit und  erntet  Barmherzigkeit,  brecht  euch  um  ein  neues  Feld; 
denn  Zeit  ist  es,  den  Herrn  ziu  suchen,  bis  er  kommt,  euch!  Gerechtig- 
keit zu  lehren"  (Hosea  10,  2).  Und  noch  stärker  läßt  sich  Jesaia  aus: 
„Weh  euch,  die  ihr  Haus  an  Haus  reiht  und  Acker  mit  Acker  ver- 
verbimdet,  bis  kein  Platz  mehr  übrig  ist"  (5,  8).  Der  Prophet  kennt 
nur  ein  Grundprinzip  des  Staates  und  einen  Staatszweck :  die  Gerech- 
tigkeit, wie  sie  aus  dem  Gesietz  und  aus  der  Idee  des  Guten  gefolgert 
werden  muß.  Ohne  die  Gerechtigkeit  als  Prinzip  und  Inhalt  des  Staates 
hat  er  für  den  Propheten  keinen  Sinn.  Speziell  Jeremia  hat  diesen 
Gedanken  unzählige  Male  verkündet.  „Wer  gäbe  mir  in  der  Wüste 
ein  Nachtquartier",  ruft  er  aus.  Der  3taat  ohne  das  Prinzip  der  Ge- 
rechtigkeit ist  eben  nur  der  klägliche  Naturzustand  oder  noch  schlimmer 
als  der  Naturzustand.  Der  Prophet  ist  doch  aber  die  größte  politische 
Figur  in  der  jüdischen-  Geschichte.  In  der  Tat  ist  diesem  gewaltigen 
Sozialreformer  das  Wesen  der  eigentlichen  Politik,  der  Politik  der  Tat- 

133. 


Sachen,  nie  aufgegangen.  Was  er  unter  Politik  verstand,  war  ledig- 
lich die  ethische  Gemeinschaft,  die  Verwirklichung  sozialethischer  und 
religiöser  Ideale.    Aber  das  Leben  ist  stärker  als  das  Prinzip  .  .  . 

Der  jüdische  Staat  hatte,  wie  gesagt,  an  dem  jüdischen  Volke  eine 
Grenze,  obschon  er  dem  reinen  Fremden  gleiche  Rechte  gewährte. 
In  dieser  Beziehung  hat  er  viele  Ähnlichkeit  mit  der  griechischen  Polis. 
In  der  griechischen  Polis  wie  im  alten  Judäa  waren  Staat  und  Ge- 
sellschaft eins,  wenn  auch  die  Polis  den  Fremden  als  Barbaros  ansah; 
in  der  Polis  wie  im  alten  Judäa  überwogen  die  abstrakten  Interessen. 
Allein  die  Polis  hat  zumindest  eine  ökonomische  Organisation  her- 
vorgebracht, die  ihr  die  Möglichkeit  gab,  Tausende  von  Sklaven  in 
ihrer  Mitte  zu  halten.  In  mancher  Polis  übertraf  die  Zahl  der  Sklaven 
die  der  Bürger.  Aber  trotz  des  Vorteils  dieser  ökonomischen  Orga- 
nisation mußte  auch  die  Polis  vor  dem  Winde  des  Lebens  ver- 
wehen. 

Ein  Volk,  das  keinen  Willen  oder  Fähigkeit  zu  Eroberung  und  zur 
Expansion  hat,  ein  Volk,  das  sich  in  sein  Land  und  in  sein  Gesetz 
einschließt  und  sich  dadurch  von  der  Welt  abschließt,  muß  politisch 
zugrunde  gehen.  Das  kann  man  aus  dem  Schicksal  der  Islam-Länder 
ersehen.  Logik  und  Politik  sind  zweierlei.  In  der  Logik  schließt  eine 
Determination  die  zweite  aus.  Da  gibt  es  keine  Kompromisse.  Omnis 
determinatio  est  negatio.  So  ist  das  Gesetz.  Aber  in  der  praktischen 
Politik  kommt  man  ohne  Kompromisse  nicht  vorwärts,  ja  die  Politik 
involviert  notwendigerweise  Kompromisse.  Sie  sind  mit  der  Politik 
gesetzt.  Wenn  aber  der  Staat  nur  ein  verwirklichter  Begriff  ist  und 
nur  auf  dem  Grunde  des  Prinzips  ruht,  muß  er  sich  notwendigerweise 
negativ  zum  andern  Staat  verhalten.  Der  „reine  Kulturstaat"  kann 
unmöglich  den  .Mächten  -des  realen  Lebens  Widerstand  bieten,  und 
daher  kann  seine  Existenz  nicht  von  langer  Dauer  sein.  Im  letzten 
Grunde  ist  dieser  Staat  ein  Feind  des  Lebens,  weil  er  das  Leben  be- 
grenzt und  einengt.  Er  hemmt  die  Bewegungen  des  Lebens  durch  das 
Gesetz  von  außen  mit  Gesetzen,  die  keine  Rubrizierung  der  Lebens- 
erfahrung sind,  sondern  Gesetze  des  Buches  und  des  Kopfes.  Da  das 
Gesetz  des  Lebens  nicht  außerhalb  des  Lebens,  sondern  im  Leben 
selbst  liegt,  erweist  sich  das  Leben  stärker  als  das  Gesetz,  und  selbst 
als  das  Gesetz  Gottes.  Das  Leben  strebt  nach  Bewegung  und  Aus- 
spannung der  Kräfte.  Der  jüdische  Staat  hat  den  Bürger  mittels  des 
Gesetzes  in  seinen  engen  Kreis  gepreßt  und  ihm  jede  Bewegungsfreiheit 
geraubt.  Der  jüdische  Staat  mit  all  seinen  ethischen  Vorzügen  war 
ein   Feind   des  Lebens,  weil   er,  statt  ein  lebendiger  Organismus,  ein 

134 


künstlicher   Mechanismus    war,    der   nach    einem    deduktiven    Prinzip 
konstruiert  wurde. 

Das  Wunderliche  und  Eigenartige  am  jüdischen  Staat  geht  uns 
erst  recht  auf,  wenn  wir  ihm  Rom  und  den  platonischen  Staat  —  das 
philosophisch  potenzierte  Sparta  —  gegenüberstellen.  Rom  schuf  das 
Gesetz,  und  das  jüdische  Gesetz  schuf  den  jüdischen  Staat.  In  Rom 
waren  der  Feldherr  und  der  am  Leben  orientierte  Politiker  die  trei- 
benden Kräfte,  und  in  Judäa  das  unwandelbare  Gesetz.  In  Rom  war 
das  Gesetz  das  Produkt  eines  Willensaktes  und  die  großen  Römer 
Herren  und  nicht  Sklaven  des  Gesetzes.  In  Rom  herrschte  die  Er- 
kenntnis vor,  daß  der  Umkreis  des  Rechts  durch  den  der  Macht  be- 
stimmt ist,  und  in  Judäa  war  die  Macht  durch  das  Recht  begrenzt. 
Die  Römer  waren  Diplomaten,  die  Juden  ethische  Rigoristen.  Das 
politische  Ideal  Roms  hat  in  der  gewaltigen  Cäsargestalt  seinen  Nieder- 
schlag gefunden,  und  das  politische  Ideal  Judäas  in  der  des  Messias. 
In  Rom  war  die  Religion  der  Politik  Untertan,  und  in  Judäa  bestimmte 
die  Religion  die  Politik.  Das  jüdische  Recht  ist  ein  Analogon  zur 
Ethik,  während  das  römische  Recht  im  wirklichen  Leben  sein  Analogon 
hat.  So  stehen  sich  Rom  und  Judäa  als  zwei  absolute,  sich  gegenseitig 
immer  ausschließende  Gegensätze  gegenüber. 

Aber  selbst  der  platonische  Staat,  der  gleich  dem  jüdischen  ethisch 
motiviert  ist,  nimmt  sich  auch  im  Verhältnis  zum  alten  Judäa  sehr 
merkwürdig  aus.  Im  platonischen  Staat  regiert  der  Herrscher-Philo- 
soph ohne  Verfassung  oder  sonst  eine  gesetzliche  Schranke.  Er  re- 
giert als  Philosoph.  Die  Vernunft  regiert.  In  diesem  Staat  sind  die 
Stände  absolut  getrennt.  Lehrstand,  Wehrstand  und  Nährstand.  Den 
Kriegern  und  Beamten  ist  jede  Beschäftigung  mit  Landwirtschaft  oder 
einem  anderen  Gewerbe  untersagt.  Der  dritte  Stand,  Landbauer  und 
Gewerbetreibende,  ist  aller  politischen  Rechte  beraubt.  Jeder  Bürger 
des  Staates  ist  nur  ein  Teil  des  Staates.  Die  staatliche  Omnipotenz 
verschlingt  das  Individuum.  Für  die  höheren  Stände  sind  Ehe,  Familie 
und  Privateigentum  aufgehoben.  Alle  ehelichen  Verhältnisse,  die  ganze 
Erziehung  wird  Vom  Staat  geordnet.  Alle  Aktivbürger  werden  auf 
Staatskosten  gespeist  und  erzogen.  Der  Staat  ist  der  Vater  des  Bür- 
gers. Jede  subjektive  Äußerung  selbst  künstlicher  Natur  wird  vom 
Staat  unterdrückt,  jede  individuelle  Regung  mit  despotischer  Gewalt 
niedergehalten. 

Was  Piatos  Staat  bezweckt,  nämlich  die  Bürger  von  der  Beschäf- 
tigung mit  der  Sinnen  weit  (Natur)  fernzuhalten,  deckt  sich  im  letzten 
Grunde  mit  den  Intentionen  des  jüdischen  Gesetzes:  Nieder  mit  der 

135 


alogischen  brutalen  Natur.  Aber  während  der  arische  Idealist  vom 
Leben  ausgeht,  Ton  unten,  vom  Staate  anfängt,  geht  der  jüdische 
Politiker  vom  Gesetz  aus  —  er  fängt  von  oben  an.  Hier  soll  der 
Staat,  dort  das  Gesetz  die  biologische  Natur  überwinden.  Allein  trotz 
der  gleichen  Absicht:  wie  verschieden  sind  doch  die  beiden  Staats- 
gebilde! Im  platonischen  Staat  umklammert  der  politische  Organis- 
mus das  Individuum,  im  jüdischen  Staat  umklammert  es  das  Gesetz. 
Außerhalb  des  Gesetzes  ist  das  Individuum  frei,  seine  Bewegungen 
unbegrenzt  und  die  einzelne  Persönlichkeit  sich  selbst  Zweck.  Alle 
Bürger  sind  gleichberechtigt,  die  Masse  nicht  in  Ständen,  sondern  zu 
Stämmen  und  zu  Orts-  und  Provinzialgemeinden  organisiert.  Die  Ar- 
beit ist  geschätzt  und  die  Berufswahl  frei.  Ein  Beamtenstand  existiert 
überhaupt  nicht.  Der  Regent  ist  an  das  Gesetz  gebunden.  Ehe  und 
Erziehung  sind  private  Angelegenheiten,  und  die  Ehe  darf  nach  freier 
Wahl  geschlossen  und  wieder  gelöst  werden.  Der  Fremdenverkehr 
wird  nicht,  wie  im  platonischen  Staat,  unterbunden,  sondern  durch 
das  geradezu  überhumane  Fremdengesetz  gefördert.  Dieser  Staat,  frei- 
lich ohne  das  Gesetz,  müßte,  wenn  er  heute  wieder  verwirklicht 
würde,  das  'Entzücken  aller  Freisinnigen  sein.  Und  doch  ist  dieser 
Staat  nur  eine  Utopie.  Ein  Staat,  in  dem  der  menschliche  Machtwille 
nicht  zum  Ausdruck  kommt,  sondern  vom  Gesetz  geregelt  wird,  wenn 
auch  von  dem  ethischen  Ges.etz3  ist  gar  kein  Staat  im  europäischen 
Sinne,  sondern  'im  besten  Falle  ein  schöner,  gläserner,  politischer 
Mechanismus,  der  alle  Augenblicke  in  seine  Teile  sich  auflösen  kann, 
ohne  daß  von  ihm  nur  eine  Spur  übrigbleiben  wird.  Der  Staat  im 
europäischen  Sinne  ist  mindestens  soviel  Wille  als  Intellekt,  und  selbst 
die  eingefleischten  Rationalisten  würden  den  Staat  nicht  nur  als  Ver- 
nunftschöpfung ansprechen.  Je  mehr  der  Staat  Wille  ist,  desto  näher 
steht  er  den  'Mächten  des  wirklichen  Lebens,  wenn  es  auch  wahr  ist, 
daß  er  in  diesem  Falle  weniger  ethisches  Institut  ist.  Der  platonische 
Staat,  obwohl  auch  vernünftig  und  sittlich  motiviert,  hat  doch  den 
Willen  zum  Ausgangspunkt,  der  Wille  bleibt  in  ihm  vorherrschend. 
Da  gibt  es  Staatszwang,  Staatsbefehle,  absoluten  Staatswillen,  „Unter- 
drücker" und  „Unterdrückte",  Herrscher  und  Beherrschte,  abgegrenzte 
Machtsphären  usw.  Obwohl  dieser  platonische  Staat  auch  nur  eine 
Utopie  ist,  steht  er  dem  Leben  sehr  nah;  denn  er  ist  eine  politische 
Gemeinschaft.  Der  Staat  als  solcher  ist  dem  Gesetz  gegenüber 
souverän,  der  jüdische  Staat  aber  ist  dem  Gesetz  gegenüber  nicht 
souverän,  sondern  er  hat  an  dem  Gesetz  eine  Grenze.  Das  „Schlimmste" 
aber  an  ihm  ist,  daß  in  ihm  keinerlei  Machtwille  vorwaltet.    Da  alle 

136 


seine  Bürger  einander  gleich  und  voneinander  frei  sind  und  ihre  Be- 
wegungen in  der  Gemeinschaft  nur  durch  das  Gesetz  geregelt  werden 
und  die  Äußerung  jedes  Machtwillens  vom  Gesetz  als  unethisch  oder 
ungesetzlich  zurückgewiesen  und  abgewehrt  wird,  hat  diese  Gemein- 
schaft als  Staat  gar  keine  Berührungspunkte  mit  dem  Leben  und 
seinen  Impulsen.  Wie  wenig  dieser  altjüdische  Staat  sich  selbst  omni- 
potent dachte,  und  wie  wenig  er  Machtinstitut  war,  sein  sollte  (und 
sein  konnte),  weil  er  nicht  von  den  Kräften,  des  Willens  getragen 
war,  ist  aus  seinen  Konskriptionsvorschriften  zu  Kriegszeiten  zu  ersehen. 

,,Aber  die  Amtleute  sollen  mit  dem  Volke  reden  und  sagen:  Wel- 
cher ein  neu  Haus  gebauet  -hat  und  hat's  noch  nicht  eingeweihet,  der 
gehe  hin  und  bleibe  in  seinem  Hause,  auf  daß  er  nicht  sterbe  im  Kriege 
und  ein  anderer  weihe  es  ein." 

„Welcher  einen  Weinberg  gepflanzt  hat,  seiner  Früchte  noch 
nicht  genossen,  der  gehe  hin  und  bleibe  daheim,  daß  er  nicht  im 
Kriege  sterbe  und  ein  anderer  genieße  seine  Früchte." 

„Welcher  ein  Weib  sich  verlobet  hat,  und  hat  sie  noch  nicht  heim- 
geholet,  der  'gehe  hin  und  bleibe  daheim,  daß  er  nicht  im  Kriege 
sterbe  und  ein  anderer  hole  sie  heim." 

„Und  die  Amtleute  sollen  weiter  mit  dem  Volke  reden  und 
sprechen:  Welcher  sich  fürchtet  und  ein  verzagtes  Herz  hat,  der  gehe 
hin  und  bleibe  daheim,  auf  daß  er  nicht  seiner  Brüder  Herz  feige 
mache,  wie  sein  Herz  ist." 

Man  darf  in  allen  Gesetzbüchern  aller  Völker  der  Erdenrunde 
stöbern,  und  man  wird  vergeblich  eine  solche  ethische  Selbstlosigkeit 
des  Staates,  die  den  Staat  zu  einer  ethischen  Gesellschaft  reduziert  (de- 
gradiert), wiederfinden. 

Der  Staat  als  Gesetzesgesellschaft,  als  ethische  Gemeinschaft  und 
bei  den  Propheten  als  ethische  Mustergemeinschaft,  ist  vielleicht  ästhe- 
tisch ein  angenehmer  Anblick,  wie  die  Friedensidylle  Jesaias  ästhetisch 
entzückend  ist;  aber  zivilisatorisch  wirkt  ein  solcher  Staat  hemmend 
und  ist  vom  Gesichtspunkt  der  arisch-europäischen  Staatsauffassung 
überhaupt  kein  Staat,  weil  er  dem  wirklichen  Leben  entrückt  ist. 

Als  der  jüdische  Staat  schon  längst  verschwunden  und  in  Palästina 
weder  jüdische  Könige  noch  jüdische  Hohepriester  mehr  zu  sehen 
waren,  hörten  die  Juden  noch  lange  nicht  auf,  über  ihren  Staat  zu 
meditieren  und  ihre  Staatsideale  zu  pflegen.  Der  Talmud,  bekanntlich 
nicht  in  Palästina,  sondern  in  Babylon  entstanden,  setzt  noch  die  alten 
„politischen"  Traditionen  der  Juden  fort.  In  talmudischer  Schrift- 
sprache wird  zwischen  Malka  (König)   und  Malkuta  (Regiererei,   Re- 

137 


gierung)  unterschieden.  Auch  der  Talmud  erkennt  dem  König  keinerlei 
legislative  Befugnisse  zu.  Malka  gilt  ihm  gar  nichts,  dagegen  Malkuta 
alles;  denn  er  lehrt  Dina:  demalkuta  dina,  das  Gesetz  der  Regierung  ist 
Gesetz,  nicht  aber  der  Wille  des  Königs.  Die  Herrschaft  des  Gesetzes 
ist  eine  absolute:  „Die  irdische  Regierung",  so  heißt  es  im  Talmud, 
„gleicht  der  himmlischen  Regierung",  d.  h.  das  Gesetz  ist  nicht  Satzung, 
Konvention,  Thesis,  sondern  Nomos. 

Bis  auf  den  heutigen  Tag  hat  sich  diese  Anschauung  vom  Staat 
im  Judentum  erhalten.  Er  ist  ihnen  ein  Mechanismus,  der  zu  jeder  Zeit 
und  an  jedem  Ort  konstruiert  werden  kann.  Die  Bestrebungen  der  so- 
genannten Territorialisten,  die  ein  Land  für  die  Ostjuden  suchen,  das 
ihnen  von  vornherein  Autonomie  gewährt,  sind  sehr  charakteristisch. 
Viele  Zionisten  begründen  die  Notwendigkeit  eines  Judenstaates  in 
Palästina  mit  der  Tatsache,  daß  die  jüdische  Kultur  und  der  jüdische 
Geist  in  der  Diaspora  sich  nicht  entwickeln  können.  Selbst  ein  Mann 
wie  Herzl  glaubte  anfänglich  einen  Judenstaat  durch  einen  Charter  des 
Sultans  im  Handumdrehen  schaffen  zu  können. 

So  vernichtend  hat  das  jüdische  Gesetz  auf  die  jüdische  Zivilisation 
gewirkt.   Es  hat  sie  niemals  aufkommen  lassen. 


138 


Siebentes  Kapitel. 


Das  historische  Weltbild. 

Das  Diasporajudentum   ist   geschichtslos.   —  Die   Bibel   als   Geschichtsbuch. 

—  Die  Bibel  und  der  Künstler.  —  Griechische  Geschichtsschreibung.  —  Der 
jüdische  Gott  und  die  Geschichte.  —  Historiographische  Schwierigkeiten.  — 
Geschichte  und  Natur.  —  Griechische  Kosmologie.  —  Gesetze  und  Freiheit.  — 
Determination  und  Freiheit.  —  Die  Tat  als  Erlöserin.  —  Biblischer  Pessimismus. 

—  Der  Freie  Gott  der  Bibel.  —  Der  griechische  No.mos.  —  Die  Erlösung.  — 
Optimistischer  Evolutionismus.  —  Kosmologie  und  Geschichte.  —  Die  mensch- 
liche Auffassung  des  Lebens.  —  Jüdische  Einseitigkeit.  —  Natur  der  prophetische 
Idealismus.  —  Eine  mögliche  Synthese.  — 

Das  Diaspora-Judentum  ist  geschichtslos  und  der  Diasporajude  ent- 
behrt jedes  historischen  Bewußtseins.  Speziell  dem  Ghettojuden 
fehlt  jeder  historische  Sinn.  So  behaupten  jedenfalls  Kritiker  des 
Diaspora-Judentums.  Man  kann  heute  noch  oft  zwei  ältere  Ghetto- 
juden über  die  historische  Doktorfrage  streiten  sehen,  ob  Alexander 
das  große  Persien  tatsächlich  aus  eigener  militärischer  Kraft  erobert 
oder  durch  Korrumpierung  der  persischen  Generäle  in  den  Besitz  des 
Landes  gekommen  ist.  Selbst  die  gelehrten  Ghettojuden  wissen  nichts 
von  Geschichte.  Die  Geschichte  des  jüdischen  Volkes  schließt  mit  der 
Zerstörung  des  zweiten  Tempels  ab  und  was  dazwischen  liegt,  ist 
ein  leerer  Raum  oder  eine  ereignislose  Zeit.  Und  doch  ist  das  Grund- 
buch der  Juden  die  Bibel,  eines  der  größten,  wenn  nicht  das  größte 
historische  Werk,  das  bisher  geschaffen  wurde.  Wenn  von  der  Bibel 
als  historischem  Werk  gesprochen  wird,  so  darf  darunter  nicht  ver- 
standen werden,  daß  die  Bibel  ein  Buch  von  historischen  Dokumenten 
sei,  sondern  ein  großes  geschichtsphilosophisches  Buch,  weil  der  oder 
die  Verfasser  der  historischen  Erzählungen  und  weil  der  oder  die 
Chronisten  die  historischen  Ereignisse,  die  in  der  Bibel  beschrieben 
werden,  ihres  Chronistenamtes  so  treuherzig  walten,  daß  man  oft  den 

139 


Eindruck  hat,  daß  sie  über  den  Ereignissen  standen.  Sie  beschreiben 
die  Ereignisse  mit  einer  wunderbaren  Objektivität,  die  in  der  ganzen 
Geschichtsschreibung  nicht  ihresgleichen  hat.  Zudem  projizieren  sie, 
um  sich  nicht  gegen  die  historische  Objektivität  zu  versündigen,  das 
rein  menschliche  Element  in  ihr  Werk  hinein,  so  daß  alles  verlebendigt 
und  vermenschlicht  vor  uns  dasteht.  Dadurch  erhebt  sich  der  biblische 
Historiograph  zum  Geschichtsschreiber  des  ganzen  Menschengeschlechts. 
Nur  kleinköpfige  Menschen  können  das  historische  Material,  das  in 
der  Bibel  zusammengetragen  ist,  als  das  historische  Material  eines 
Volkes  betrachten,  als  eine  Art  Lokalgeschichte.  Viele  andere  Klein- 
völker haben  Tüchtiges  auf  dem  Gebiete  der  Geschichtsschreibung 
geleistet,  aber  keines  ihrer  Werke  ist  zur  treibenden  Kraft  in  der  Kultur- 
geschichte der  Menschheit  geworden,  wie  die  Bibel.  Das  Geschichts- 
material der  Bibel  zeichnet  sich  gerade  dadurch  aus,  daß  es  seiner 
Natur  nach  nicht  lokal  ist,  obgleich  das  formale  Geschichtsobjekt  die 
Juden  sind.  Die  biblische  Geschichte  oder, genauer  gesprochen, 
das  Geschichtsmaterial  der  Bibel  ist  die  Geschichte 
der  Vergangenheit  und  der  Zukunft  des  ganzen  Men- 
schengeschlechts, die  Geschichte  der  ewigen  Wieder- 
kehr in  der  Welt  des  Menschen.  Darin  besteht  ihre  Größe. 
Wenn  wir  nun  bedenken,  daß  die  antiken  Juden  sich  gerade  durch 
einen  extremen  Subjektivismus  auszeichneten,  daß  sie  das  hartnäckige 
Volk  waren,  als  das  die  Bibel  sie  beschreibt,  so  hartnäckig,  daß  Bie 
sich  weder  dem  allgemeinen  Willen,  noch  dem  Willen  des  großen, 
fürchterlichen,  starken  Gottes  und  seinen  ehernen  Gesetzen  unter- 
werfen wollten,  wird  unsere  Bewunderung  über  die  große  Objektivität, 
die  uns  in  der  Bibel  entgegentritt,  um  so  größer  sein.  Es  ist  fast  rätsel- 
haft, wie  ein  so  subjektives  Volk,  wie  die  alten  Juden,  zu  einer  solchen 
historischen  Objektivität,  wie  wir  sie  aus  der  Bibel  erkennen,  sich 
emporheben  konnte.  Es  war  diese  Objektivität  in  der  biblischen  Ge- 
schichtsschreibung —  das  allgemein  Menschlich-Allzumenschliche,  das 
uns  in  der  biblischen  Geschichte  entgegentritt  —  das  die  Bibel  zum 
Buch  der  Bücher  und  zum  Buch  der  Menschheit  machte.  Diese  histo- 
rische Objektivität  der  Bibel  wirkte  auf  alle  Großen  im  Reiche  des 
Geistes  ein  und  ganz  besonders  auf  die  Großen  im  Reiche  der  Kunst. 
Wenn  ein  großer  Maler,  von  den  biblischen  Erzählungen  gepackt,  sich 
entschlossen  hat,  ihren  Inhalt  auf  der  Leinwand  in  Farben  darzustellen, 
tat  er  es  nicht,  weil  das  formale  Material  der  Erzählung  ihn  so  ent- 
zückte, sondern  weil  das  frischsprudelnde  Leben,  das  aus  den  Erzäh- 
lungen   hervordringt,    ihn   faszinierte.     Die    Naivität,    das    Menschlich- 

140 


Allzumenschliche  und  die  stille  Größe,  die  aus  den  biblischen  Erzäh- 
lungen zu  uns  sprechen,  überwältigen  des  Künstlers  Seele  und  feuern  sie 
zu  künstlerischen  Schöpfungen  an.  Daher  die  so  intimen  Beziehungen 
der  Künstler  zur  Bibel.  Und  wer  steht  der  Wahrhaftigkeit  des  Lebens 
näher  als  der  große  Künstler  mit  seinen  entwickelten  Sinnen  und  seiner 
bewegten  Seele,  die  auf  jede  Bewegung  und  auf  jeden  Ton  in  der  Natur 
reagiert?  Wer  schöpft  mehr  aus  den  ersten  Quellen  des  Lebens  als  der 
.große  Künster?  Die  traditionelle,  intime  Beziehung  aller  großen 
Künstler  zur  Bibel  ist  der  beste  und  schlagendste  Beweis  dafür,  daß  die 
Bibel  sich  durch  eine  größere  Betonung  des  Menschlich-Allzumensch- 
lichen auszeichnet  als  jedes  andere  Geschichtsbuch  in  der  Welt.  Wenn 
es  in  der  Welt  überhaupt  Wahrheit  gibt,  ist  sie  nicht  zu  finden  in  der 
Wissenschaft  oder  Politik,  sondern  in  der  Kunst,  und  die  Kunst  in  all 
ihren  Auszweigungen  und  Verästelungen  hat  stets  in  der  Bibel  einen 
jungfräulichen  Boden  für  ihre  Wirksamkeit  gefunden. 

Man  kann  also  demnach  nicht  behaupten,  daß  die  alten  Juden 
gleich  den  Diasporajuden  ein  geschichtsloses  Volk  waren,  oder  eines 
entwickelten  historischen  Bewußtseins  entbehrten.  Die  alten  Griechen 
wie  die  alten  Inder  waren  jedes  historischen  Bewußtseins  bar  und  ihre 
Weltanschauungen  von  Anfang  bis  Ende  ganz  unhistorisch.  Ihnen  fehlte 
jedes  Menschheitsbewußtsein.  Die  Begriffe  Menschheit,  Menschen- 
geschlecht usw.  waren  ihnen  total  fremd.  Ihre  Mythologien  und  ihr 
Polytheismus  sowie  das  übertriebene  Stammes-  oder  Volksbewußtsein, 
kurzum  die  ganze  Ordnung  ihres  Lebens  hat  dazu  beigetragen,  ihnen 
das  Menschheitsbewußtsein  zu  rauben.  Da  jeder  Gott,  ob  ein  allge- 
meiner oder  besonderer,  gleichzeitig  das  Exempel  aller  Sittlichkeit  ist, 
war  der  Sittlichkeitsbegriff  jener  Völker  beschränkt  und  eingeengt. 
Ohne  die  Erkenntnis  der  Einheit  des  Menschengeschlechts  ist  keine 
Sittlichkeit  möglich,  und  ohne  universale  Ethik  ist  keine  Universal- 
geschichte möglich,  und  es  braucht  nicht  erst  gesagt  zu  werden,  daß 
unter  solchen  Umständen  keine  objektive  Geschichtsschreibung  möglich 
ist.  Aus  diesem  Grunde  offenbart  sich  auch  in  der  griechischen  Ge- 
schichtsschreibung der  alte  griechische  Subjektivismus.  Der  Gegenstand 
jeder  objektiven  Geschichtsschreibung  muß  das  Menschengeschlecht 
sein,  und  in  welchem  Maße  den  Griechen  der  Menschheitsbegriff  fremd 
war,  kann  man  aus  der  Organisation  des  griechischen  Polis  und  aus 
den  Anschauungen  des  Aristoteles  über  Völkerrecht,  Krieg  und  Frieden 
ersehen.  Aristoteles  betrachtet  den  Krieg  als  eine  Art  Sport  oder 
Völkerjagd.  Der  griechische  Begriff  des  Barbaren  ist  nicht  mit  dem 
Begriff  Wilder  identisch,  sondern  er  bedeutet  schlechthin  Nichtgrieche. 

141 


Die  Menschheit  wird  in  zwei  Teile  eingeteilt;  in  Griechen  und  Barbaren, 
und  die  Barbaren  stehen  außerhalb  des  Rechts  und  außerhalb  der 
Sittlichkeit.  Wo  immer  in  der  altgriechischen  Literatur  von  Gerech- 
tigkeit die  Rede  ist,  ist  immer  von  Gerechtigkeit  zwischen  Griechen 
die  Rede.  Nur  Sokrates  und  Plato  bilden  eine  Ausnahme.  Es  versteht 
sich  deshalb  von  selbst,  daß,  da  den  Griechen  das  formale  Material 
fehlte  —  das  Menschheitsbewußtsein  und  der  Menschheitsbegriff  — , 
sie  auch  keine  objektive  Geschichtsschreibung  schaffen  konnten. 

Das  antike  Judentum  hat  weder  eine  Philosophie  noch  eine  Kunst, 
noch  eine  analytische  Wissenschaft  hervorgebracht.  Hingegen  hat 
es  aber  eine  wunderbare  Historiographie  geschaffen,  weil  dem  antiken 
Juden  der  Begriff  Menschheit  geläufig  war.  Die  Vertreter  des  antiken 
Judentums  hatten  es  immer  auf  die  Menschheit  abgesehen,  so  wie  sie 
es  immer  auf  die  Sittlichkeit  schlechthin,  ohne  jede  Begrenzung,  ab- 
gesehen hatten.  Der  jüdische  Gott,  seitdem  er  sich  dem  jüdischen 
Volke  offenbarte,  wollte  immer  als  der  allgemeine  Gott,  als  der 
Schöpfer  von  Himmel  und  Erde  angesprochen  werden,  und  er  reprä- 
sentierte sich  gleich  dem  jüdischen  Volk  als  das  ewig  Seiende.  Mit  dem 
Judenvolk  wuchs  auch  der  Judengott  und  wuchs  sich  zu  einem  Mensch- 
heitsgotte  aus.  Der  jüdische  Gort  stand  und  steht  keinem  Stamm  oder 
keiner  Rasse  gegenüber,  sondern  dem  Menschheitsgeschlecht,  und 
dieser  Gott  der  Menschheit  fordert  nicht  nur  das  Gute  in  Jehuda, 
sondern  er  fordert  das  Gute  schlechthin  und  überall,  zu  allen  Zeiten 
und  von  allen  Völkern.  Diese  doppelte  Erkenntnis,  die  Erkenntnis  des 
einen  Gottes  und  die  Erkenntnis  der  allgemeinen  Sittlichkeit,  wie  sie 
der  einzige,  erkenntnisreiche  und  barmherzige  Gott  empfiehlt,  verhalf 
dem  antiken  Judentum  zu  der  Möglichkeit  einer  objektiven  Betrach- 
tung der  Vergangenheit. 

Die  Geschichte  ist  keine  exakte  Wissenschaft,  und  selbst  wo  sie 
angeblich  exakte  Wissenschaft  ist,  wie  in  der  modernen  Geschichts- 
schreibung, ist  sie  es  nur  teilweise,  ist  sie  es  nur  fragmentarisch.  Der 
Naturforscher  steht  der  Wirklichkeit  und  seinem  Forschungsobjekt 
gegenwärtig  gegenüber.  Aber  der  Geschichtsschreiber  steht  seinem 
Forschungsobjekt  nicht  gegenwärtig  gegenüber,  und  schon  aus  diesem 
Grund  allein  kann  nicht  die  Geschichte  exakte  Wissenschaft  sein.  Die 
historische  Erscheinung,  einmalig,  kehrt  niemals  in  derselben  Folge 
wieder,  und  die  gleiche  historische  Erscheinung  ist  immer  einer  sub- 
jektiven Interpretation  unterworfen.  Ganz  anders  das  Objekt  des 
Naturforschers.  Die  Naturerscheinung  kehrt  immer,  wenn  auch  nicht 
absolut  in  derselben  Form,  wieder,  und  über  das  Natürliche  und  über 

142 


die  natürliche  Erscheinung  kann  es  keine  zweierlei  Meinungen  geben. 
Von  vielen  Epochen  in  der  Entwicklungsgeschichte  der  Menschheit 
wissen  wir  so  gut  wie  gar  nichts,  und  viele  geschichtliche  Erschei- 
nungen bleiben  uns  daher  unerklärlich.  Aus  der  Analogie  allein  können 
wir  nicht  alles  schließen.  Viele  Jahrhunderte  sind  hinabgerollt,  bevor 
die  Geschichtsschreibung  die  Mittel  und  Methoden  entdeckte,  mit 
deren  Hilfe  sie  sich  in  die  Lage  gesetzt  fand,  die  Vergangenheit  zu 
erklären.  Auch  der  antike  jüdische  Historiograph  begegnete  diesen 
Hindernissen,  aber  es  gelang  ihm,  sie  auf  eine  wunderbare  Weise  zu 
überwinden.  Seine  erste  Tat  war  die  Linie  eines  historischen  Anfangs 
zu  markieren.  Er  setzte  einen  Anfang  der  Dinge.  Jeder  Anfang  ist 
natürlich  eine  Hypothese,  und  selbst  der  Anfang  der  Natur,  wie  ihn 
die  Naturforscher  sich  vorstellen,  ist  nur  eine  Hypothese,  Methode  oder 
ein  Gesichtspunkt,  mit  dessen  Hilfe  wir  bestimmte  Erscheinungen  uns 
erklären  können.  Wenn  diese  Hypothese  des  Anfangs  in  der  Natur- 
lehre gestattet  ist,  warum  sollte  sie  in  der  Geschichte  —  in  der  Geistes- 
lehre —  nicht  gestattet  sein?  Die  Festsetzung  des  historischen  Anfangs 
hat  das  sogenannte  freie  Feld  der  Geschichte  nicht  begrenzt  und  hat 
den  historischen  Blick  des  antiken  Juden  nicht  eingeengt,  denn  er  be- 
trachtete die  Ereignisse  und  Geschehnisse  des  Lebens  nicht  vom  lokalen 
Gesichtspunkt,  sondern  von  dem  der  Ewigkeit.  Die  Anfangssetzung 
in  der  Vergangenheit,  d.  h.  die  Hypothesierung  des  Anfangs,  ermög- 
lichte dem  antiken  jüdischen  Historiker,  an  die  Geschicjhte  als  ganze 
Wirklichkeit  heranzutreten,  d.  h.  sie  ermöglichte  ihm,  die  Geschehnisse 
der  Vergangenheit  von  allen  Seiten  zu  betrachten  und  die  ihr  unter- 
liegenden Prinzipien  und  Gesetze  festzustellen.  Diese  Methode  führte 
ihn  dazu,  gleich  mit  einer  Universalgeschichte  zu  beginnen,  und  in  der 
Tat  setzt  auch  die  Bibel  mit  einer  Universalgeschichte  ein.  Die  Fest- 
setzung des  Anfangs  ward  so  dem  jüdischen  Historiker  eine  Art  Hügelr 
von  dem  aus  er  auf  das  breite  Tal  des  Lebens  herabschauen  und  seine 
Bewegungen  beschreiben  konnte.  Weil  er  das  Leben  vom  Gesichts- 
punkt der  ewigen  Wiederkehr  betrachtete,  gelang  es  ihm  auch,  eine 
Geschichte  der  Vergangenheit  und  der  Zukunft  zugleich  zu  schreiben, 
um   die   der  Geschichte  unterliegenden   „Gesetze"  festzustellen. 

Die  Geschichte  ist  entweder  ein  Reich  für  sich,  eine  Menschheits- 
geschichte, oder  lediglich  eine  Fortsetzung  der  Naturgeschichte.  Wer 
die  Geschichte  nur  vom  Gesichtspunkt  der  biologischen  Natur  be- 
trachtet, läuft  immer  Gefahr,  das  Menschliche,  Allzumenschliche  in  ihr 
zu  übersehen  und  sich  selbst  der  menschlichen  Wirklichkeit  zu  ver- 
schließen,  oder   er  entdeckt  in   der  Geschichte,   was   entweder  in  der 

143 


Wirklichkeit  gar  nicht  existiert  oder  was  nur  halb  wirklich  ist:  Natur- 
gesetz. So  erging  es  den  Griechen  und  den  modernen  Forschern,  die 
die  biologische  Natur  zum  Ausgangspunkt  für  ihre  Geschichtsbetrach- 
tungen nahmen.  Die  kosmologische  Keuschheit  und  Naivität  des 
antiken  Judentums  rettete  es  von  dieser  Gefahr.  Anstatt  von  der  bio- 
logischen Natur  auf  die  Geschichte  zu  schließen,  schloß  das  antike 
Judentum  von  der  Geschichte  auf  die  Natur  und  projizierte  in  die 
biologische  Natur  das  sittliche  Element  und  sittliche  historische  Hoff- 
nungen hinein.  Der  Wolf  und  das  Lamm  werden  friedlich  beisammen- 
hausen, weissagten  Jesaja  und  Micha.  Das  ist  natürlich  eine  extreme 
Ansicht  einzelner  großer  Juden.  Aber  das  allgemeine  Streben  ging 
dahin,  die  die  Geschichte  beherrschenden  Prinzipien  in  der  Geschichte 
selbst  zu  finden  und  sich  nicht  der  Analogie  der  Natur  zu  bedienen. 
Der  moderne  Mensch  weiß,  daß  jeder  Wissenschaftszweig  seine  eigenen 
Methoden  hat.  Dem  antiken  Menschen  war  dieses  Prinzip  weniger  ge- 
läufig, und  die  Grenzen,  die  die  einzelnen  Wissenschaften  absondern, 
waren  verwischt.  Der  antike  Mensch  wußte  oft  nicht,  zwischen  der 
Naturtatsache  und  dem  abstrakten  Gedanken  eine  Grenze  zu  ziehen 
und  die  Grenzlinie  sowie  die  Methoden  beider  Gebiete  abzustecken. 
In  welchem  Maße  diese  Grenzverwischung  und  Methodenvermischung 
nachteilig  auf  die  griechische  Geschichtsschreibung  einwirkt,  ist  daraus 
zu  ersehen,  daß  die  antiken  Griechen  oft  Kosmologie  mit  Geschichte 
verwechselten. 

Wenn  es  überhaupt  möglich  ist,  einen  historischen  Grundgedanken 
in  Hellas  zu  entdecken,  ist  es  der  kosmologische.  Diese  griechische 
Kosmologie  tritt  uns  in  zwei  Systemen  entgegen  —  in  Emanation  und 
Evolution.  Die  an  der  Emanation  festhielten,  versetzten  das  goldene 
Zeitalter  in  den  Anfang  der  Geschichte.  Am  Anfang  war  es  gut  und 
schön,  und  in  dem  Maße,  in  dem  wir  uns  vom  historischen  Anfang 
entfernen,  in  dem  Maße  nähern  wir  uns  dem  Bösen  und  dem  Häß- 
lichen —  dem  eisernen  Zeitalter  —  der  Finsternis,  der  Wirrnis  und 
dem  Chaos.  Dieser  Gang  der  Dinge  ist  eine  Art  Vorbestimmung  des 
Schicksals,  an  dem  nicht  zu  ändern  ist.  Hier  beginnt  das  Weinen  und 
das  Zähneknirschen  der  Pessimisten.  Aber  auch  das  System  der  Ent- 
wicklung, wie  es  Heraklit  und  andere  großen  Griechen  lehrten,  be- 
schränkte sich  im  letzten  Grund  auf  Kosmologie.  Es  gibt  wohl  eine 
Entwicklung,  aber  diese  Entwicklung  ist  im  letzten  Grund  nur  Änderung 
und  Veränderung.  Das  Leben  ist  eine  ewige  Wiederkehr,  die  einen 
bestimmten  Kreis  beschreibt  und  in  eine  bestimmte  Richtung  geht. 
Es  ist  wahr,  alles  bewegt  sich,   aber  nur  innerhalb  vorgeschriebener, 

144 


eherner  Gesetze,  und  selbst  die  Gottheit  bewegt  sich  in  diesem  engen 
Kreis  des  vorgeschriebenen  ehernen  Gesetzes.  Kurzum,  sowohl  das 
statische  Prinzip,  das  Konstante  der  Dinge,  als  das  dynamische  Prinzip, 
die  Entwicklung  der  Dinge  in  der  griechischen  Weltlehre,  führen  nicht 
zu  historischer  Erkenntnis.  Das  Reich  der  Geschichte,  ob  von  dem 
einen  oder  anderen  Gesichtspunkt  betrachtet,  ist  kein  Reich  der  Frei- 
heit und  der  Sittlichkeit,  sondern  ein  Reich  der  Gesetze,  und  wer  in 
der  Geschichte  nur  die  Wirksamkeit  des  Gesetzes  sieht,  übersieht  die 
historische  Wirklichkeit.  Wer  nur  die  Herrschaft  des  ehernen  Gesetzes 
in  der  Geschichte  erblickt,  bejaht  das  Schicksal  oder  das  Fatum  und 
führt  dadurch  die  Tragik  —  und  den  Sentimentalismus  —  herbei.  Die 
Weltlehre  der  Griechen  schuf  die  Frage  von  Sünde  und  Schuld,  wie 
sie  später  im  Christentum  ihren  Ausdruck  gefunden  hat  —  und  diese 
Frage  der  Sünde  führte  zur  Inquisition.  Der  antike  jüdische  Welt- 
gedanke,  der  ganz  und  gar  unkosmologisch  ist,  entwickelte  sich  auf 
andere  Weise.  Anstatt  des  Gesetzes  erblickte  er  die  Freiheit  im  Reiche 
der  Geschichte.  Nicht  das  vorgeschriebene,  eherne  Gesetz  ist  im 
Reiche  der  Geschichte  wirksam,  sondern  die  Freiheit.  Europa,  das  an 
der  griechischen  Tradition  festhielt,  übersah  diese  wunderbare  Erschei- 
nung und  war  deswegen  auch  unfähig,  das  jüdische  Weltbild  zu  ver- 
stehen; und  weil  die  Europäer  die  historischen  Motive  in  der  jüdischen 
Gedankenwelt  nicht  erkannten,  erkannten  sie  auch  nicht  ihre  sittlichen 
und  religiösen  Motive.  Seit  3000  Jahren  sagen  die  Juden  Freiheit, 
während  die  Europäer  Gesetz  sagen.  Unter  solchen  Umständen  ist 
es  auch  nicht  möglich,  daß  sie  sich  gegenseitig  verstehen.  Diese  zwei 
Worte,  Gesetz  und  Freiheit,  sind  die  zwei  Ausgangs-  und  Endpunkte 
zweier  Weltlehren,  der  griechischen  und  der  jüdischen,  und  es  verlohnt 
sich,  sie  beide  näher  zu  betrachten. 

Betrachten  wir  nun  für  einen  Augenblick  die  Konsequenzen  dieser 
beiden  Lehren,   Determination  und  Freiheit. 

Alle  großen  historischen  Religionen  und  speziell  die  Erlösungs- 
religionen beginnen  mit  der  Frage  der  Schulderkenntnis.  Am  Anfang 
der  Dinge  ist  ja  alles  vorher  bestimmt  worden,  alles  komme,  alles 
geschehe  mit  der  Notwendigkeit  des  Gesetzes,  und  diese  Prädeter- 
mination kann  nicht  überwunden  werden.  Ganz  gleich,  wie  wir  die 
Erscheinungen  der  Welt  erklären  werden,  ob  durch  das  Walten  eines 
persönlichen  Gottes,  eines  Schöpfers  der  Welt,  der  seine  Gesetze  nicht 
beseitigt,  oder  durch  ein  furchtbares  Fatum,  das  Götter,  Menschen 
und  Dinge  zugleich  beherrscht,  oder  durch  ewig  waltende  Naturgesetze, 
die  Prädetermination  muß  ihren  Lauf  nehmen,  und  da  alles  Prädeter- 

10  Melamed 

145 


mination  ist,  so  ist  natürlich  das  Gute  und  Böse  Prädetermination. 
Seit  dem  Anfang  der  Dinge  entwickelt  sich  alles  laut  einer  gewissen 
Vorbestimmung,  und  der  Mensch  mit  all  seinen  Fähigkeiten,  Eigen- 
schaften, Handlungen  und  Schöpfungen  ist  nichts  mehr  als  eine  Art 
Maschine,  deren  Bewegungen  streng  vorgeschrieben  sind.  In  diesem 
Falle  ist  es  dem  Menschen  unmöglich,  das  Urböse  und  die  Grund- 
schuld zu  überwinden.  Dieses  Problem  der  Schuld  und  des  Urbösen 
ist  mit  der  kosmologischen  Auffassung  des  Lebens  gesetzt,  wie  sie  im 
alten  Hellas  geschaffen  wurde,  und  es  ist  gewiß  kein  Zufall,  daß  die 
griechischen  Tragiker  sich  so  viel  mit  diesem  Problem  beschäftigt  haben. 
Auch  die  altindischen  Denker,  die  Kirchenväter  und  viele  andere  im 
Reiche  des  Geistes  beschäftigten  sich  ebenfalls  mit  dieser  Frage. 
Brahmanismus  und  Buddhismus,  die,  wie  festgestellt,  auf  das  Christen- 
tum einen  starken  Einfluß  genommen  haben,  behaupteten,  daß  dieses 
Problem  unlösbar  sei.  Die  Griechen  lösten  die  Frage  nicht,  und  auch 
Kirchenväter  entschieden,  daß  es  für  diese  Frage  keine  Lösung  gäbe. 
Der  Islam  antwortete  auf  diese  Frage  mit  dem  Kismet.  Unsere  natur- 
wissenschaftlichen Erfahrungen,  und  speziell  unsere  Erfahrungen  auf 
dem  Gebiete  der  biologischen  Heredität  besagen,  daß  der  Determinis- 
mus eine  Wirklichkeit  sei  und  daß  alles  in  der  Welt  sich  mit  Notwen- 
digkeit vollziehe,  so  daß  die  Frage  von  der  Überwindung  des  Bösen 
unlösbar  sei.  Da  alles  vorher  bestimmt  sei,  —  mit  welchem  Recht 
strafen  wir  den  Bösen  und  belohnen  den  Gerechten?  Und  wie  ist  in 
diesen  Fällen  die  Ethik  überhaupt  möglich?  Wie  kann  die  Seele 
erlöst  werden,  wenn  sie  keine  Erlösungsmöglichkeit  infolge  der 
Prädetermination  hat?  Das  rechtgläubige  Christentum  führte  die  As- 
kese ein,  um  die  Seele  zu  retten,  begründete  Inquisitionen,  um  die  Seele 
zu  erlösen  und  den  Satan  zu  überwinden,  und  bis  auf  den  heutigen 
Tag  beschäftigt  diese  Frage  die  besten  Geister  und  gibt  ihnen  keine 
Ruhe.  Trotz  aller  Mittel  und  aller  Anstrengung,  die  das  Christentum 
und  seine  Vertreter  machten,  um  die  Frage  zu  lösen,  blieb  sie  ungelöst. 
Die  Lehre  des  heiligen  Augustinus,  des  eigentlichen  Schöpfers  der  In- 
quisition, die  da  sagt,  daß  jeder  Mensch  zur  Gnade  oder  Verdammnis 
geboren  sei,  ward  zur  geltenden  Lehre  der  christlichen  Kirche.  Auch 
die  großen  Reformatoren,  wie  Martin  Luther  und  Calvin,  hielten  an 
dieser  barbarischen  Lehre  fest,  und  selbst  der  große  Immanuel  Kant 
konnte  sich  nicht  gänzlich  von  ihr  befreien ;  denn  da  das  Ding  an  sich, 
das  die  Menschen  beeinflusse,  existiere,  wie  könne  die  Autonomie  des 
Willens  gesichert  werden?  Das  Ding  an  sich  widerspricht  der  Auto- 
nomie des  Willens.    Es  kann  demnach  auch  gefragt  werden:  Da  jeder 

146 


Mensch  ja  doch  gut  oder  böse  in  die  Welt  kommt,  wozu  dann  Inqui- 
sitionen und  all  die  Erlösungsversuche,  um  die  Seele  zu  retten?  Aber 
die  christliche  Theologie  hat  ihre  eigene  Logik.  Vom  Gesichtspunkt 
dieser  Lehre  gibt  es  und  kann  es  keine  Weltgeschichte  geben,  kann 
es  überhaupt  keine  Geschichte  geben,  sondern  nur  die  Abwick- 
lung eines  bestimmten  Prozesses,  dessen  Verlauf  Prädetermination 
ist.  In  diesem  Prozeß  der  Abwicklung  gibt  es  nur  Veränderung",  aber 
keine  Fortschritte.  Aber  die  Veränderung  allein  ändert  gar  nichts. 
Le  changement  ne  change  den.  Geschichte  jedoch  ist  mehr  als  eine 
Reihe  von  Veränderungen  als  Folge  einer  Prädetermination,  wie  sie 
sich  die  griechische  Kosmologie  und  die  christliche  Theologie  vor- 
gestellt; sie  ist  ein  Prozeß  von  Entwicklung,  der  immer  Neues  schafft, 
nicht  nur  neue  Formen,  sondern  auch  neuen  Inhalt.  Das  antike  Juden- 
tum, das  sich  nie  mit  der  Jagd  nach  Seelen  abgegeben,  keine  Inqui- 
sitionen gegründet  und  nicht  den  Tod  des  Bösen,  sondern  seine  Reue 
herbeigewünscht  hat,  fand  eine  Lösung  für  dieses  schwierige  Problem. 
Die  biblische  Anschauung  über  die  moralische  Natur  des  Men- 
schen ist  anfänglich  pessimistisch.  Laut  der  biblischen  Tradition  be- 
reute der  Herr,  daß  er  den  Menschen  geschaffen  hatte,  und  selbst 
nach  der  Sündflut  hieß  es:  „Das  Sinnen  des  menschlichen  Herzens 
ist  böse  von  seiner  Jugend  an".  Dieser  Ansicht  schloß  sich  später 
auch  der  Talmud  an.  Wie  kann  aber  das  moralische  BuapunAusqn  aso 
werden,  wenn  das  Sinnen  des  Herzens  vom  Hause  aus  schlecht  ist? 
Wie  kann  der  Mensch  von  der  Sünde  erlöst  werden?  Die  Antwort, 
die  das  antike  Judentum  auf  diese  Frage  gab,  ist  einzigartig  und 
originell.  Laut  der  biblischen  Anschauung  ist  Gott  absolut  frei  und 
steht  über  seinem  Gesetz.  Er  allein  ist  nicht  seinen  Gesetzen  unter- 
worfen, wie  etwa  die  Menschen  dem  sie  beherrschenden  Gesetz.  Er 
kann  seine  Willensbestimmung  ändern.  Gott  ist  die  absolute  Freiheit. 
Diese  Erkenntnis  ist  die  metaphysische  Grundlage  der  antiken  hebräi- 
schen Weltanschauung.  Jeder,  der  an  dieser  Anschauung  rüttelt,  rüttelt 
an  der  Grundlage  des  Judentums,  und  da  Spinoza  an  dieser  Grund- 
lage zu  rütteln  begann,  indem  er  Gott  dem  Gesetz  untertänig  machte, 
mußte  er  aus  dem  Judentum  ausgeschlossen  werden.  Laut  christlicher 
Anschauung,  die  an  der  Lehre  der  antiken  Griechen  und  Inder  orien^ 
tiert  ist,  ist  Gott  nicht  frei  und  kann  seine  Gesetze  nicht  aufheben. 
Nur  in  einem  Grundbuch  der  großen  Religionen,  in  der  Bibel,  wird 
die  absolute  Freiheit  Gottes  durch  festgestellte  Willensänderung  aus- 
gedrückt. Gott  ist  da  nicht  ein  versteinertes  System  von  Gesetzen 
und  Prinzipien,  sondern  die  absolute  Freiheit,  und  wo  es  Freiheit 
10* 

147 


gibt,  gibt  es  auch  Bewegungs-  und  Entwicklungsmöglichkeit.  Zuerst 
hieß  es:  „Ich  werde  den  Menschen  von  der  Erdfläche  wegwischen", 
oder  „Das  Ende  alles  Lebendigen  ist  gekommen",  aber  dann  heißt 
es  „Ich  werde  nicht  mehr  fortfahren,  alles  Lebendige  zu  schlagen,  wie 
ich  es  getan".  So  ändert  Gott  also  seine  Entschlüsse,  gibt  seine  Ge- 
setze auf  und  bewegt  sich  frei.  In  dieser  Beschreibung  göttlicher  Ent- 
schlüsse und  Willensänderung  hat  die  biblische  Metaphysik  den  Ent- 
wicklungsbegriff ausgedrückt.  Später  hat  sich  dieser  Entwicklungs- 
begriff in   der  jüdischen 'Gedankenwelt  festes    Bürgerrecht   erworben. 

Der  freie  Gott,  wie  ihn  das  antike  Judentum  aufgestellt  hat,  ist 
nicht  nur  zum  Quell  der  Sittlichkeit,  sondern  auch  zu  einem  mächtigen 
historischen  Motiv  geworden,  denn  die  Freiheit  des  göttlichen  Willens 
hebt  die  Prädetermination  auf,  und  durch  die  Aufhebung  der 
Prädeterrhination  verwandelt  sich  die  Abwicklung 
eines  mechanischen  Prozesses  zu  der  Entwicklung 
eines  historischen  Prozesses.  Die  Lehre  von  der  Freiheit 
Gottes  schuf  die  jüdische  Eschatologie,  die  in  dem  Satz  „Und  es  wird 
geschehen  in  den  letzten  Tagen"  ihren  erhabensten  Ausdruck  fand. 
Die  Freiheit  Gottes  ist  der  Quell  jedes  moralischen  historischen  Be- 
wußtseins und  übt  auch  einen  guten  Einfluß  auf  die  böse  Natur  aus. 
Die  antike  hebräische  Eschatologie  ist  das  hohe  Lied  der  Zukunft,  und 
diesem  hohen  Lied  der  Zukunft  steht  der  griechische  Mythus  gegen- 
über, der  stets  nach  rückwärts  schaut  und  klagt:  „Das  Gute  ist  hinter 
uns,  und  jetzt  nähern  wir  uns  mehr  dem  Bösen,  dem  Häßlichen,  dem 
Lasterhaften.  Es  wird  geschehen  in  den  letzten  Tagen  —  und  das 
Böse  wird  herrschen,  das  Chaos  regieren  und  das  Übel  sich  breit 
machen."  Aber  die  historische  Auffassung  des  antiken  Judentums, 
die  sich  an  der  Freiheit  Gottes  entzündete,  betrachtete  die  Zukunft 
in  einem  ganz  anderen  Licht.  Das  goldene  Zeitalter  ist  da  nicht  hinter 
uns,  sondern  vor  uns.  Der  griechische  Mensch  begriff  die  Herrschaft 
des  Gesetzes  überall.  Er  betrachtete  alles  durch  das  Prisma  des 
Nomos.  Diese  Betrachtungsweise  beraubte  ihn  seiner  historischen 
Intelligenz,  und  es  war  auch  diese  Betrachtungsweise,  die  endlich  sein 
Gemüt  mit  tragischen  Motiven  erfüllte.  Wenn  alles  einem  blinden 
Gesetz  folgt,  welchen  Sinn  kann  da  das  Leben  haben,  welches  Ziel 
und  wozu?  Diese  Frage  stellten  die  großen  Tragiker,  aber  diese« 
Problem,  wie  es  die  Griechen  definierten,  war  schon  an  sich  tragisch, 
weil   es   nicht  gelöst  werden   kann. 

Eine  ganz  andere  Entwicklung  nahm  dieses  Problem  im  antiken 
Judäa.    Der   antike   Jude   stellte   die   gleiche   Frage,   aber   er  fand  die 

148 


Erlösung  in  der  Tatsache  der  Freiheit  Gottes.  Gott  erschien  ihm  nicht 
als  ein  Despot,  und  da  seine  Grundqualitäten  Vernunft  und  Sittlich- 
keit sind,  fordert  er  dasselbe  auch  von  den  Menschen.  Solange  die 
Vernunft  nicht  entwickelt  ist,  kann  nur  das  Böse  herrschen,  kann  nur 
das  Übel  regieren.  Aber  durch  die  Entfaltung  der  Vernunft  wächst 
die  Freiheit  des  normalen  Willens,  und  der  Mensch  hat  die  Freiheit 
der  Wahl  —  das  Gute  oder  das  Bösie  —  er  kann  sich  korrigieren  oder 
reformieren.  Die  Tat  als  Folge  der  überlegenden  Vernunft  —  das  ist 
wahre  Sittlichkeit,   die  das   Böse  überwinden   kann. 

Dem  Menschen  kommt  die  Erlösung  durch  die  gute  Tat,  die  das 
Urböse  überwindet.  In  Hellas  gab  es  nur  wenige  Männer,  die  die 
Frage,  ob  Tugend  bzw.  das  Gute  erlernt  werden  kann,  positiv  beant- 
wortet haben  —  Sokrates  und  seine  Freunde.  In  Judäa  war  die  Lehre, 
daß  das  Gute  erlernt  werden  kann,  und  daß  das  Böse  durch  die  Ver- 
nunft überwunden  werden  ikann,  die  vorherrschende  Anschauung  — 
das  geistige  Gemeingut  der  Nation.  Und  so  durchdrungen  waren  die 
Vertreter  des  antiken  Judentums  von  der  Wahrheit  dieser  Lehre,  daß 
sie  so  weit  gingen,  zu  behaupten,  daß  schon  die  gute  Absicht  allein 
von  dem  Herrn  als  eine  gute  Tat  anerkannt  werde.  Die  Erlösung 
vom  Bösen  kann  nur  durch  das  Gute  herbeigeführt  werden,  und  da- 
her der  Grundsatz  der  Rabbinen:  „Deine  Taten  werden  Dich  ihm 
nahebringen,  Deine  Taten  werden  dich  von  ihm  entfernen/'  Und 
wunderbarerweise  kam  Johann  Wolfgang  von  Goethe,  der  sich  oft 
genug  mit  dieser  Frage  beschäftigte,  nach  vielem  Nachdenken  zum 
halben  Resultat  wie  die  Vertreter  des  jüdischen  Gedankens.  Zuerst 
klagt  er  im  Faust: 

Ihr  führt  ins  Leben  ihn  hinein, 
Ihr  laßt  den  Armen  schuldig  werden, 
Dann  überlaßt  ihr  ihn  der  Pein, 
Denn  alle  Schuld  rächt  sich  auf  Erden. 

Dann   aber  kommt  der  Trost: 

Wer  nur  erstrebend  sich  bemüht, 
Den  können  wir  erlösen. 

So  verstand  auch  Goethe,  daß  nur  die  Ausübung  der  guten  Tat  allein 
die  Erlösung  des  Menschen  herbeiführen  kann.  Indem  das  antike 
Judentum  das  Individuum  von  der  schweren  Last  der  Erbsünde  in- 
sofern befreite,  als  sie  ihm  den  Weg  zeigte,  auf  dem  er  seine  Er- 
lösung finden   kann,   entdeckte  sie   den   Begriff  des  Menschen,   erhob 

149 


den  Menschen  zu  einer  Stellung  des  doppelten  Bürgertums  —  zum 
Bürger  der  sinnlichen  und  übersinnlichen  Welt  und  gab  seinem  Leben 
Sinn  und  Zweck.  Der  Mensch  ist  demnach  nicht  eine  vorübergehende 
Erscheinung  ohne  Zweck  und  Ziel,  wie  der  griechische  Kosmologismus 
und  Mythos  in  all  seinen  Ausstrahlungen  und  Brechungen  lehrt,  son- 
dern er  ist  eine  Welt  für  sich  mit  einem  bestimmten  Plan  und  Ziel 
im  Leben.  Dieses  Ziel  ist  vorwärts  gen  Gerechtigkeit  und  Wahr- 
haftigkeit und  somit  Annäherung  an  Gott,  der  die  Verkörperung  der 
Wahrhaftigkeit  und  Gerechtigkeit  ist.  Das  ist  ein  hohes  und  erhabenes 
Ziel,  das  dem  menschlichen  Leben  Wert  und  Sinn  gibt,  das  mensch- 
liche Herz  mit  idealem  Streben  erfüllt  und  den  Menschen  ermutigt, 
Großes  zu  unternehmen,  Großes  zu  leisten.  Das  Ziel  der  Gesamtheit 
ist  dem  des  Individuums  gleich.  Vorwärts  gen  Gerechtigkeit  und 
Wahrhaftigkeit,  unendliche  Entwicklung  bis  zur  Göttlichkeit,  und  da- 
her heißt  es:  „Und  es  wird  geschehen  in  den  letzten  Tagen".  Das 
Böse  liegt  hinter  uns  und  das  Gute  vor  uns.  Hier  stehen  wir  am  Ur- 
quell der  prophetischen  Ethik  mit  einem  Evolutionismus  und  Optimis- 
mus. Ihr  Gegensatz  ist  der  griechische  Kosmologismus  und  Emanation, 
die  den  Menschen  rückwärts  blicken  läßt,  sein  Gemüt  mit  Tragik  und 
Pessimismus  erfüllt,  ;weil  sie  den  Menschen  zur  flüchtigen,  ziel-  und 
zwecklosen  Naturerscheinung  herabsinken  läßt.  Wenn  die  Menschheit, 
wie  der  heilige  Augustinus  und  sein  Kreis  gelehrt  hat,  in  zwei  Teile 
eingeteilt  wird,  in  einen  Sund-  und  Verbreoherpöbel,  bestimmt  zur 
ewigen  Verdammnis,  und  in  eine  kleine  Gemeinde  von  Gerechten, 
erscheint  auch  das  Leben  des  Einzelindividuums  sinn-  und  wertlos. 
Der  Brahmanismus  zum  Beispiel,  der  die  Frage  der  Möglichkeit  der 
Überwindung  des  Übels  und  der  Erlösung  negativ  beantwortet,  wies 
dem  Individuum  eine  bestimmte  Stellung  im  Leben  an,  in  der  es  von 
Geburt  bis  zum  Tod  bleiben  muß,  und  auch  Paulus  lehrte,  daß  der 
Mensch  dort  bleiben  muß,  wo  Gott  ihn  gefunden  hat.  So  wird  das 
Individuum  zum  ewigen  Gefangenen,  weil  es  aller  Bewegungsfreiheit 
beraubt  ist,  und  wenn  das  Einzelindividuum  seiner  Bewegungsfreiheit 
beraubt  ist,  wie  kann  dann  das  Kollektivum  sich  frei  bewegen?  Ohne 
Bewegungsfreiheit  des  Individuums  und  Kollektivums  gibt  es  keinen 
historischen   Fortschritt,   keinen  Fortschritt  überhaupt. 

So  hat  der  griechische  Kosmologismus  zur  statischen  Auffassung 
des  Lebens  geführt  und  dadurch  jede  Historik  unmöglich  gemacht, 
während  die  jüdische  Lehre  von  einer  absoluten  Freiheit  Gottes  zur 
dynamischen  Auffassung  des  Lebens  geführt  und  dadurch  zu  einer 
historischen  Auffassung  des  Geschehens  gelangt  ist.    Es  ist  deshalb  gar 

150 


nicht  übertrieben,  wenn  Georg  Mehlis  in  seinem  Lehrbuch  der  Ge- 
schichtsphilosophie von  dem  Verhältnis  des  Griechentums  zur  Historik 
aussagt:  „Und  so  ist  die  ganze  Weltanschauung  des  Griechentums 
vollkommen  unhistorisch.  Seine  Größe  und  Schwäche  liegt  in  der 
Negation  des  Geschichtlichen1)/' 

Der  Weltanschauung  der  antiken  Juden,  gar  nicht  an  der  biolo- 
gischen Natur  orientiert,  ist  jeder  Kosmologismus  fremd  und  ist  rein 
historisch,  und  die  Bibel  setzt  nicht  nur  mit  dem  Versuch  einer  Uni- 
versalgeschichte ein,  sondern  sie  ist  ein  großes  historisches  Buch  vom 
Anfang  bis  zum  Ende.  Weil  die  Historik  der  Bibel  sich  an  der  Ethik 
entzündet,  ist  sie  wohl  das  größte  Geschichtswerk,  das  der  Mensch 
seinem  Genius  je  abgerungen  hat. 

Der  Prophet,  der  Staatsmann,  Moralprediger,  Rhapsode  und  Dich- 
ter zugleich  war,  steht  immer  auf  der  Plattform  der  Geschichte,  und 
von  einer  universalgeschichtlichen  Höhe  aus  schaut  er  auf  das  Leben 
hinab,  betrachtet  seine  Bewegungen,  rügt  seine  Unebenheiten  und  ist 
bestrebt,  die  Bewegungen  des  Lebens  in  eine  bestimmte  Richtung  zu 
regulieren.  Daher  die  erhabene,  historische  Wahrhaftigkeit  der  Pro- 
pheten und  ihr  ungetrübter  historischer  Blick.  Ihr  Interesse  galt  in 
erster  Reihe  dem  Reich  der  Menschen,  der  Geschichte,  während  das 
vornehmste  Interesse  der  Griechen  dem  Kosmos  galt.  Diese  rein 
menschliche  Auffassung  vom  Leben  hat  den  Propheten  auch  eine  neue 
politische  Welt  eröffnet.  Es  kam  bis  jetzt  nur  ein  einziges  Mal  in  der 
Geschichte  vor,  daß  eine  Gruppe  von  Staatsmännern  versuchte,  ihre 
staatsmännische  Anschauung  nicht  mit  physischen  Machtmitteln  zu 
verwirklichen.  Die  alten  jüdischen  Propheten  haben  den  Versuch  ge- 
macht, das  politische  Leben  ihres  eigenen  Volkes  und  der  Menschheit 
nicht  auf  Grund  der  physischen  Macht,  sondern  auf  Grund  einer  poli- 
tischen Theorie  zu  verwirklichen.  Sie  proklamierten  die  Lehre,  daß 
die  Grundlage  aller  Politik  nicht  Macht,  sondern  Sittlichkeit  sein  müsse. 
Den  Ariern  aber  erschienen  die  Propheten  immer  als  Träumer  und 
Enthusiasten,  im  besten  Falle  als  unpraktische  Idealisten.  Ob  sie  in 
der  Tat  so  unpraktisch  waren,  wird  sich  aus  der  folgenden  Ausein- 
andersetzung bald   ergeben. 

Die  Propheten  waren  in  erster  Reihe  Staatsmänner,  und  wie  aus 
ihren  Mahnungen  zur  Bundestreue  zu  ersehen  ist,  betrachteten  sie  die 
Lage  ihrer  Zeit  unter  einem  ganz  praktischen  Gesichtspunkt.  Allein 
sie  hatten  ihren  eigenen  Begriff  der  Wirklichkeit.    Die  politische  Wirk- 

x)  Lehrbuch  der  Geschichtsphilosophie  von  Dr.  Georg  Mehlis,  Berlin. 
Verlag  von  Julius  Springer.    1915.    S.  354. 

151 


lichkeit  war  ihnen  nicht  physische  Macht  allein,  sondern  das  Menschen- 
tum  im   Menschen.    Aus   dem   Sündenregister,   das  sie  ihrem   eigenen 
Volke   oft  vorhielten,   ist  wohl   klar   zu    ersehen,   daß   sie  keineswegs 
dazu    geneigt    waren,    den    Menschen    als    Engel    zu    betrachten.     Sie 
wußten  sehr  wohl,  daß  der  Mensch  oft  nur  allzu  menschlich  und  auch 
oft  allzu  bestialisch  ist.    Aber  wahrend  die  arischen  Staatsmänner  den 
Menschen  nur  als  einen  Bürger  der  sinnlichen  Welt  betrachteten  und 
ihr  Streben   dahin  ging,  die   Bewegungen  dieses  sinnlichen  Menschen 
mit  physischen   Mitteln  zu  regulieren,   betrachteten   die  prophetischen 
Staatsmänner    den    Menschen   als    einen    Bürger    zweier   Welten:    der 
sinnlichen  und   übersinnlichen  Welt.    Die  Wirklichkeit  im   Reiche  der 
Menschen    ist    ihrer   Anschauung   zufolge    nicht   nur   Natur,     sondern 
auch   Geist,    und   daher   müssen    alle    menschlichen    Beziehungen    auf 
Grund  dieses  Doppelbürgertums  des  Menschen  reguliert  werden.    Da- 
her muß  das  politische  Leben  nicht  mit  Hilfe  physischer  Macht  allein, 
d.    h.   nur  mit  der   halben   Wirklichkeit   kontrolliert   werden,   sondern 
auch  mit  geistiger  Macht.    Infolge  lokaler  Bedingungen  und  verschie- 
dener Umstände  der  Zeit  und  des  Ortes  und  ganz  speziell  infolge  des 
unglaublichen   Subjektivismus   des   antiken   Juden,    der   den   gerechten 
Zorn   der   Propheten   hervorrief,   wurden   sie   in   eine  mehr   einseitige 
Auffassung   des   politischen  Lebens  hineingetrieben.    Je   mehr  sie  die 
Vorherrschaft  von    physischer   Macht   und    Brutalität    im    Leben   ihres 
eigenen  Volkes  und  im  Leben  anderer  Völker  sahen,  desto  mehr  verlor 
die  prophetische  Politik  ihr  Gleichgewicht  und  desto  extremere  For- 
men nahm  sie  an,  bis  sie  auf  ihrer  höchsten  Entwicklung,  reiner  Idealis- 
mus reine  Zukunftsmusik  wurde  und  den  Zusammenhang  mit  der  wahren 
Wirklichkeit  verlor.  Die  prophetische  Politik  entwickelte  sich  in  einer 
solch   extremen   Richtung,  daß  sie   einen  Gegensatz  zu  jeder  anderen 
damals  vorherrschenden   Politik  bildete.    Alle  größeren   und  kleineren 
zivilisierten  Völker  jener  Zeit  waren  gänzlich  an  der  Macht  orientiert. 
Daß  Recht  die  Quelle  von  Macht  sein  müsse,  war  nur  einer  kleinen 
Gruppe  Menschen   in  Judäa  bekannt.    Kurzum,   die  ganz  und  gar  un- 
kosmologische  Auffassung  von  der  Welt  führte  in  Judäa  zu  der  Lehre 
vom   Recht   als   Basis  der  Macht   zum   ethischen   Idealismus,   der  sich 
in   der   Politik  fortsetzt. 

Es  istjedoch  interessantzu  beobachten,  daß  dieser 
politsche  Idealismus  der  Propheten  seiner  Natur  nach 
nicht  theologisch  war  und  noch  dazu  ein  gewisses 
realistisches  Motiv  hatte.  Ich  weiß  nicht,  ob  schon  jemand 
auf  die  Tatsache  aufmerksam  gemacht  hat,   daß  die  prophetische  Po- 

152 


litik,  die  sich  auf  Ethik  aufbaute,  auch  ein  starkes  ökonomisches  Motiv 
hatte.  Parallel  mit  der  Betonung,  daß  das  Leben  nur  einen  Sinn  habe, 
wenn  es  ein  sittliches  und  reines  sei,  läuft  auch  bei  ihnen  die  Beto- 
nung, Ungerechtigkeit  bezahle  sich  nicht,  und  alle  Flüche,  Straf- 
androhungen und  Strafpredigten  sind  auf  die  Behauptung  gegründet, 
daß  die,  die  unrecht  handeln,  am  Ende  für  ihre  Ungerechtigkeit  schwer 
bezahlen  müssen.  Das  Vergeltungsprinzip  —  alle  Schuld  rächt  sich 
auf  Erden  — ,  das  die  Propheten  immer  hervorheben,  wird  nicht 
theologisch,  sondern  soziologisch  motiviert.  Natürlich  mahn- 
ten die  Propheten  zur  Gerechtigkeit  nicht  nur  aus  dem  Grund,  weil 
sich  Ungerechtigkeit  nicht  bezahlt.  Für  sie  war  vielmehr  das  Gute 
und  das  Gerechte  an  und  für  sich  wertvoll,  ohne  Rücksicht  auf  Lohn 
und  Strafe,  denn  die  Propheten  waren  alles  andere  als  Utilitarier. 
Allein  es  ist  wertvoll,  auch  das  Nützliche  und  Praktische,  das  die 
Ausübung  der  Gerechtigkeit  mit  sich  bringt,  hervorzuheben,  und  da- 
her der  Grundsatz:  Eher  mich  verlassen,  denn  die  Thora  verlassen. 
Der  wirklich  große  Staatsmann,  der  über  dem  Philosophen  und 
Künstler  oder  Krieger  steht,  war  noch  immer  ein  Prophet.  Er  bestimmt 
das  Schicksal  von  vielen  Generationen  und  ihre  Entwicklung,  und  er 
kann  es  tun,  weil  er  nicht  wie  der  Politiker  die  Dinge  vom  Gesichts- 
punkt der  nächsten  Jahre,  sondern  der  nächsten  Jahrhunderte  be- 
trachtete. Die  Entwicklung  der  Zukunft  und  der  nächsten  Generation 
kann  aber  nur  der  voraussehen,  der  die  Dinge  durch  das  Prisma  der 
fundamentalen  Prinzipien  betrachtet  und  sie  zur  Basis  seiner  Politik 
macht.  Die  jüdischen  Propheten  schufen  eine  politische  Lehre,  deren 
Bedeutung  früher  oder  später  anerkannt  werden  wird  und  schon  längst 
anerkannt  worden  wäre,  wenn  sie  nicht  so  extrem  wäre  und  wenn 
sie  mehr  die  andere  Hälfte  der  Wirklichkeit,  die  sinnliche  Wirklich- 
keit, anerkannt  hätte.  Wie  die  jüdische  Religion  eine  Religion  der 
reinen  Erkenntnis  ist  unter  Ausschluß  jedes  sexuellen  Prinzips,  so  ist 
die  antike  jüdische  Politik  eine  Politik  des  reinen  sittlichen  Willens, 
und  ganz  ohne  Grund  wird  die  antike  jüdische  Politik  theologisch 
gescholten.  Wegen  ihrer  angeblichen  theologischen  Anrüchigkeit  ist 
sie  seit  2000  Jahren  von  allen  Großen  und  Kleinen  der  Erde  ignoriert 
worden.  Aber  wenn  die  sozialphilosophische  Grunderkenntnis  der 
Propheten,  daß  der  Mensch  an  der  Schwelle  der  sinnlichen  und  über- 
sinnlichen Welt  steht,  wahr  ist,  dann  kann  der  Tag  vorausgesehen 
werden,  an  dem  sich  die  einseitige  prophetische  Politik,  die  ganz  an 
dem  Geist  orientiert  ist,  mit  der  ebenso  einseitigen  römischen  Politik, 
die   ganz    an    der   Sinnlichkeit    orientiert    ist,    verschwägert,   und    erst 

153 


aus  der  Synthese  beider  wird  die  Menschheit  zu  ihrer  politischen  Er- 
lösung kommen.  Ob  diese  Synthese  sich  in  Palästina  vollziehen  wird, 
wohin  die  Juden  nach  einem  zweitausendjährigen  Leben  im  römischen 
Kulturkreis  zurückströmen,  wird  die  Zukunft  zeigen.  Ausgeschlossen 
wäre  es  allerdings  nicht,  daß  die  seit  2000  Jahren  im  römischen  Kultur- 
kreis lebenden  Juden,  die  wohl  genügend  angerömelt  sind,  auf  dem 
Boden  ihrer  nationalen  Heimat  diese  große  Synthese  herbeiführen 
und  dadurch  das  größte  Vermittlungswerk  in  der  Weltgeschichte  voll- 
bringen. Da  alle  bisherigen  Vermittlungsversuche  der  Juden  im  Reiche 
des  Geistes  (der  Versuch,  das  Judentum  mit  dem  Hellenismus  aus- 
zusöhnen [Philo],  das  Judentum  mit  Aristoteles  auszusöhnen  [Maimo- 
nides],  und  Kant  mit  dem  Judentum  auszusöhnen  [Herrmann  Cohen]) 
fehlschlugen,  weil  ihnen  die  politische  Wirklichkeit  als  Basis  fehlte, 
gelingt  vielleicht  dieser  Versuch  jetzt. 


154 


Achtes  Kapitel. 


Das  philosophische  Weltbild. 

Die  antiken  Juden  und  ihre  Beziehungen  zur  biologischen  Natur.  —  Die 
Bibel  enthält  nur  philosophische  Weisheit.  —  Die  Philosophen  und  die  Bibel.  — 
Die  Bibel  und  die  Kunst.  —  Das  Judentum  ist  die  Schöpfung  der  selektiven 
Persönlichkeit.  —  Die  Einseitigkeit  des  jüdischen  Gedankens.  —  Der  Wert  der 
jüdischen  Wertanschauung.  —  Die  logische  Kontinuität  in  der  Geschichte  des 
Geistes.  —  Indisches  Denken.  —  Griechisches  Denken.  —  Jüdisches  Denken.  — 
Die  Wurzel  der  jüdischen  Ethik.  —  Der  jüdische  Dualismus.  —  Wo  ist  Gott?  — 
Wie  sich  der  jüdische  Gott  charakterisiert.  —  Das  Judentum  setzt  teleologisch  an. 
—  Das  Judentum  in  seiner  Beziehung  zu  Logik  und  Ethik.  —  Die  Individualität 
Gottes.  —  Gott,  Zeit  und  Raum.  —  Der  philosophische  Hintergrund  des  antiken 
Judentums.  —  Biblische  Physik  und  biblische  Metaphysik.  —  Anthropomorphismus 
des  jüdischen  Gottes  und  der  Biologismus  des  christlichen.  —  Die  biblische 
Metaphysik  drückt  sich  in  Bildern  aus.  —  Jüdischer  und  arischer  Dualismus.  — 
Das  Schwergewicht  der  biblischen  Metaphysik.  —  Die  hebräische  Ethik  ist  nicht 
extremistisch.  —  Die  biblische  Metaphysik  klingt  optimistisch  aus.  —  Das  Sein 
Gottes  und  die  Attribute  Gottes.  — 

Die  antiken  Juden  waren  kein  philosophisches  Volk  wie  die  alten 
Inder  oder  die  alten  Griechen,  denn  die  philosophische  Erkennt- 
nis, soweit  sie  systematisch  ist,  entwickelt  sich  auf  Grund  einer  be- 
stimmten Beziehung  zur  biologischen  Natur,  und  die  alten  Juden  hatten 
zu  ihr  keine  Beziehung,  beobachteten  sie  wenig  und  versuchten  gar 
nicht,  in  ihre  Geheimnisse  einzudringen.  Aus  diesem  Grunde  schufen 
sie  keine  wissenschaftliche  Philosophie  im  engeren  Sinne  des  Wortes, 
keine  Zivilisation  und  keine  plastische  Kunst.  Die  plastische  Kunst 
beginnt  mit  einer  Darstellung  der  Natur,  wie  jeder  Philosoph  mit 
einer  Betrachtung  der  Natur  beginnt.  Die  ersten  griechischen  Philo- 
sophen von  Thaies  bis  Demokrit  waren  wesentlich  Naturforscher. 
Aus  bestimmten  Gesetzen,  die  sie  in  der  Natur  erkannten,  schlössen 
sie  auf  das  Sein  und  versuchten  die  Welträtsel  zu  lösen.  Selbst  die 
Philosophie  der  italienischen  Renaissance  des  fünfzehnten  und  sech- 
zehnten   Jahrhunderts    beginnt   mit   einer   Erneuerung   des    alten   grie- 

155 


chischen  Hylozoismus.  Parazelsus,  Kardanus  und  Bruno  und  viele 
andere  machten  die  Natur  zu  ihrem  Ausgangspunkt.  Da  die  alten 
Juden  keine  wissenschaftliche  Beziehung  zur  Natur  unterhielten,  sich 
in  ihre  Gesetze  nicht  vertieften  und  in  ihre  Geheimnisse  nicht  ein- 
zudringen versuchten,  konnten  sie  keine  wissenschaftliche  Philosophie 
schaffen.  Die  speziellen  Eigenschaften  des  antiken  jüdischen  Geistes, 
die  intuitive  und  synthetische  Auffassung  der  Dinge,  die  das  Produkt 
des  antiken  semitischen  Subjektivismus  ist,  befähigten  die  alten  Juden 
nicht,  bis  zur  Philosophie  vorzudringen,  die  ohne  Analysis  und  Kritik 
nicht  möglich   ist. 

Aber  trotzdem  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  daß  die  Bibel  viele 
philosophische  Gedanken  und  philosophische  Erkenntnisse  enthält, 
wenn  schon  sie  keineswegs  ein  philosophisches  Buch  ist.  Die  philoso- 
phischen Gedanken  und  Erkenntnisse,  die  wir  in  der  Bibel  vorfinden, 
können  aber  nicht  als  Philosophie,  sondern  müssen  als  Weisheit  cha- 
rakterisiert werden.  Wir  finden  in  der  Bibel  eine  streng  abgeschlossene 
Anschauung  über  das  Leben  und  die  Welt,  ein  metaphysisches  Pan- 
orama, ein  System  der  Ethik,  grundlegende  soziologische  Lehren,  eine 
Philosophie  der  Geschichte  usw.  Die  Fülle  philosophischen  Materials, 
die  wir  in  der  Bibel  vorfinden,  ist  nicht  weniger  wertvoll  als  die 
Fülle  des  philosophischen  Materials,  die  wir  in  manchen  Grundbüchern 
der  indischen  Philosophie  finden,  obgleich  diese  Grundbücher  der 
indischen  Philosophie  gleich  der  Bibel  auch  viel  Poesie  und  Religion 
enthalten.  Aber  die  Bücher  der  altindischen  Weisheit  sind  vornehm- 
lich philosophische  Bücher,  während  die  Bibel  es  nicht  ist,  denn  während 
den  Schöpfern  der  Upanishaden  die  philosophische  Erkenntnis  die 
Hauptsache  war,  war  sie  den  Schöpfern  der  Bibel  nur  Nebensache. 
Die  alten  Juden  waren  überhaupt  nicht  philosophisch  disponiert,  und 
das  in  der  Bibel  oft  vorzufindende  philosophische  Material  ist  kein 
Produkt  des  bewußten  philosophischen  Geistes,  sondern  Sentenzen 
der  Weisen  des  Volkes.  Der  philosophische  Gedanke  zeichnet  sich 
dadurch  aus,  daß  er  einem  bestimmten  Ziel  der  Erkenntnis  zustrebt. 
Ein  solches  Streben  nach  einer  bestimmten  philosophischen  Erkenntnis 
war  den  alten  Juden  durchaus  fremd.  Der  philosophische  Denker  be- 
schäftigt sich  mit  den  Fragen  des  Lebens,  mit  der  Frage  von  Religion 
und  Gesellschaft,  Staatsordnung,  Ethik,  Ästhetik  usw.,  nachdem  er 
eine  ihn  befriedigende  Antwort  auf  die  Frage  der  Fragen  —  auf  die 
Frage  des  Seins  gefunden  hat.  Von  Logik-  und  Erkenntnistheorie  geht 
er  zu  Ethik  und  Ästhetik  über.  In  der  Bibel  aber  finden  wir  nur  meta- 
physische,   dogmatische   Voraussetzungen,   aber  keine   metaphysischen 

156 


Probleme  und  keine  kritische  Denkweise.  Selbst  wenn  die  alten  Juden 
größere  und  tiefere  philosophische  Gedanken  zutage  gefördert  hätten, 
hätten  sie  den  Namen  eines  philosophischen  Volkes  noch  lange  nicht 
verdient,  denn  es  gibt  keine  Philosophie  ohne  Logik  und  Erkenntnis- 
theorie, und  beides  war  den  alten  Juden  fremd.  Selbst  eine  Philosophie, 
die  der  wissenschaftlichen  Kritik  nicht  standhält,  kann  insofern  wissen- 
schaftlich sein,  als  sie  sich  wissenschaftlicher  Methoden  bedient,  d.  h. 
sie  ist  das  Produkt  des  philosophischen  Geistes,  des  prüfenden,  verglei- 
chenden, analytischen  und  kritisierenden  Geistes.  Der  antike  jüdische 
Geist  war  aber,  wie  gesagt,  weder  kritisch  noch  analytisch  veranlagt. 
Möglich,  daß  die  alten  Juden  ein  gewisses  philosophisches  Streben 
hatten,  aber  sie  hatten  jedenfalls  keine  philosophischen  Methoden,  und 
deshalb  konnten  sie  trotz  ihrer  intimen  Beziehung  zur  Abstraktion  nur 
Weisheit,  aber  keine  Philosophie  scharfen,  sie  "konnten  Religion  und 
Ethik,  aber  keine  Erkenntnis  und  Logik  scharfen.  Sie  konnten  philo- 
sophische Aphorismen,  aber  keine  philosophischen  Systeme  schaffen. 
Selbst  diejenige  philosophische  Erkenntnis,  die  sie  sich  erworben, 
konnten  sie  nicht  philosophisch  ausdrücken,  weil  sie  nicht  in  philo- 
sophischen Begriffen,  sondern  in  poetischen  Bildern  dachten.  Ein 
philosophisch  veranlagtes  Volk  schafft  eine  Kosmologie,  aber  die  alten 
Juden,  wie  die  anderen  semitischen  Völker  des  Altertums,  konnten 
nur  eine  Kosmogonie  hervorbringen.  Es  ist  wahr,  daß  die  biblische 
Kosmogonie  in  ihrer  Schönheit  erhaben,  in  ihrer  Einfachheit  und 
Keuschheit  erbauend  ist,  aber  ein  philosophischer  Wert  kann  ihr  nicht 
beigemessen  werden.  Dies  erklärt,  warum  die  meisten  Philosophen 
sich  feindlich  zur  biblischen  Kosmogonie  verhalten.  Kosmogonie  ist 
Dogma  und  Religion  Mythus.  Vom  Gesichtspunkt  der  Philosophie  ist 
selbst  eine  minderwertige  Kosmologie  viel  höher  einzuschätzen  als 
eine  erhabene  Kosmogonie,  weil  die  Kosmologie  nach  allem  ein  Produkt 
des  wissenschaftlichen  Geistes  ist,  während  die  Kosmogonie  es  nicht 
ist.  Man  sieht  also,  daß  der  Weisheitsgeist  der  alten  Juden  von  dem 
philosophischen  Geist  der  alten  Griechen  zu  grundverschieden  ist,  als 
daß  die  Vertreter  des  einen  mit  den  Vertretern  des  andern  sich  ver- 
ständigen konnten.  Es  wird  dem  Leser  jetzt  ersichtlich  werden,  warum 
hier  nicht  von  der  antiken  jüdischen  Philosophie  die  Rede  sein  kann 
und  warum  nur  von  der  Weisheit  der  alten  Juden  gesprochen  werden 
kann.  Es  erübrigt  sich  aber,  hinzuzufügen,  daß  man  aus  dem  Fehlen 
einer  Philosophie  in  Judäa  nicht  auf  die  philosophische  Begabung  des 
jüdischen  Volkes  schlechthin  schließen  kann.  In  dem  Augenblick,  in 
dem    die    Juden   aus   ihrer   geistigen    Isoliertheit   heraus  und  mit  den 

157 


großen  arischen  Völkern  in  Berührung  treten,  offenbart  sich  das  philo- 
sophische Talent  der  Juden.  Die  tiefsinnigen  Gedanken  über  Religion 
und  Ethik  und  Moral,  die  wir  in  der  Bibel  finden,  beweisen  zur  Genüge, 
daß  die  alten  Juden  eine  intime  Beziehung  zum  abstrakten  Gedanken 
schlechthin  unterhielten.  Auch  das  ästhetische  Element  in  der  Bibel 
zeugt  für  ihre  Intellektualität.  Ein  Volk,  das  keine  Beziehung  zum 
abstrakten  Gedanken  unterhält,  ist  auch  aller  Ästhetik  bar.  Die  Archi- 
tektonik der  biblischen  Gedankenwelt  zeichnet  sich  durch  ihre  außer- 
gewöhnliche Schönheit  aus  und  zeugt  von  gutem  Geschmack  und  von 
Ordnungssinn.  Es  ist  wahr,  daß  das  Gedankenpanorama  der  Bibel 
nicht  vom  ganzen  Volk,  sondern  von  den  paar  selektiven  Kräften 
geschaffen  wurde,  von,  Gesetzgebern,  Propheten,  Staatsmännern  und 
Dichtern,  die  dem  Volke  ihre  Ideen  aufzwangen.  Im  alten  Indien  und 
Griechenland  ging  die  geistige  Entwicklung  ganz  anders  vor  sich.  Der 
abstrakte  Gedanke  war  sozusagen  organisch,  und  die  Vertreter  dieses 
Gedankens  schöpften  aus  dem  reinen  und  lauteren  Quell,  aus  dem  Quell 
des  Volksgeistes  und  Volksgemütes.  In  Judäa  aber  .sagten  die  paar 
Großen  zum  Volk  „ihr  müsset"  und  unterjochten  das  Volk  geistig, 
ohne  Rücksicht  auf  die  Neigungen  des  Volkes.  Seit  den  ersten  An- 
fängen der  jüdischen  Geschichte  standen  die  Großen  des  Volkes 
immer  im  Kampf  gegen  das  Volk,  aber  trotz  dieses  Antagonismus 
gelang  es  ihnen  doch,  tiefsinnige  Gedanken  hervorzubringen  und  ihnen 
auch  eine  schöne  Form  und  Gestalt  zu  geben. 

Die  Form  des  antiken  jüdischen  Gedankens  ist  schön  und  originell 
zugleich,  aber  sie  ist  auch  einseitig,  weil  sie  die  Schöpfung  der  ein- 
zelnen Persönlichkeit  und  weil  sie  ganz  subjektiv  ist,  und  der  subjek- 
tive Gedanke  ist  immer  einseitig,  während  der  organische  oder  der 
kollektive  Gedanke  farbenreich  und  vielseitig  ist.  In  Judäa  ist  nur 
eine  Thora,  eine  Lehre  geschaffen  worden,  allerdings  eine  Lehre  für 
viele  Generationen,  aber  im  alten  Griechenland  und  im  alten  Indien 
sind  viele  Lehren  und  viele  Systeme  geschaffen  worden.  Die  geistigen 
Bewegungen  eines  denkenden  und  trachtenden  Volkes  sind  verwickelt, 
kompliziert  und  verzweigt.  Die  alten  Griechen  und  die  alten  Inder 
drückten  in  ihren  verschiedenen  Systemen  und  Lehren  die  mannigfal- 
tigen geistigen  Bewegungen  des  Volkes  aus  und  bereicherten  die 
Menschheit  mit  dem  wunderbaren  Farbenreichtum  ihres  philosophi- 
schen Gedankens.  In  Judäa  sehen  wir  das  Gegenteil.  Die  alten  Juden 
schufen  nur  eine  einzige  geistige  Struktur,  ein  einziges  System,  weil 
das  antike  Judentum  das  Produkt  der  selektiven  Persönlichkeit  ist 
und  die  Persönlichkeit  nur  ein  System  schaffen  kann. 

158 


Als  der  antike  jüdische  Gedanke  sich  zum  organischen,  d.  h.  zum 
kollektiven  entwickelt  hatte,  d.  h.  als  das  Judentum,  die  Schöpfung  der 
selektiven  Persönlichkeit,  die  Juden  eroberte,  erlosch  das  Licht  und 
brach  die  Kraft  des  antiken  jüdischen  Genius.  Die  synthetische  und 
intuitive  Schöpfungskraft  versagte,  und  die  Vielen  waren  schon  der 
Möglichkeit  beraubt,  sich  direkt  an  der  Entwicklung  des  abstrakten 
Gedankens  zu  beteiligen.  Das  Volk  stand  schon  unter  dem  Joch  des 
ehernen  Gesetzes,  das  ihm  die  Persönlichkeit  auferlegt  und  aufge- 
zwungen hatte,  und  des  Volkes  Pflicht  war,  nur  zu  hören  und  zw 
wiederholen,  was  es  gehört,  zu  handeln  im  Geiste  des  Gesetzes  und 
das  Gesetz  streng  zu  beobachten.  An  dem  Werden  und  an  der  Ent- 
wicklung des  Gesetzes  hatte  es  keinen  Anteil,  und  sobald  das  Gesetz 
formuliert  war  und  im  Volke  Wurzel  gefaßt  hatte,  war  das  Volk 
seiner  geistigen  Bewegungsfreiheit  beraubt.  Die  geistige  Schöpfungs- 
kraft des  Volkes  ist  infolge  der  strikten  Herrschaft  des  Gesetzes  nicht 
nur  geschwächt,  sondern  tatsächlich  vernichtet  worden,  und  aus  diesem 
Grunde  blieb  das  Judentum  bis  auf  den  heutigen  Tag  eine  in  sich 
abgeschlossene  und  harmonisch  abgerundete,  aber  einseitige,  wenn 
auch  einzigartige  Lehre.  Das  Judentum  besteht  sonach  aus  einem 
einzigen  System,  während  die  griechische  und  indische  Kultur  aus 
vielen  Systemen  besteht.  Auch  die  jüdische  Philosophie  des  Mittel- 
alters hat  an  dieser  Sachlage  nichts  geändert.  Die  philosophischen 
Lehren  des  Saadja  Gaon,  Ben  Gabirols,  Jahuda  Halevis  und  des 
Maimonides,  apologetisch  in  ihren  Motiven  und  jedenfalls  das  Gemein- 
gut nur  Weniger,  sind  kein  Gemeingut  des  Volkes  geworden  und  haben 
in  das  starre  System  des  Judentums  keine  wesentlichen  Veränderungen 
einzuführen  vermocht. 

Die  von  späteren  jüdischen  Denkern  geschaffenen  Lehren  können 
von  jedem  Juden  nach  Gutdünken  interpretiert  werden,  aber  jeden- 
falls bilden  sie  keinen  organischen  Bestandteil  des  Judentums.  Nur 
zwei  Bücher  müssen  als  die  Grundbücher  des  Judentums  anerkannt 
werden,  die  Bibel  und  der  Talmud.  Wer  die  in  diesen  Büchern  nieder- 
gelegten Lehren  bestreitet,  der  schließt  sich  selbst  aus  dem  Juden- 
tum aus. 

Die  entsetzliche  Monotonie,  die  aus  dem  Judentum  hervorsticht 
und  die  auf  die  Einseitigkeit  und  Einheitlichkeit  seiner  Lehre  zurück- 
zuführen ist,  hat  viel  dazu  beigetragen,  daß  es  einen  so  starken  Ein- 
druck auf  die  Menschheit  gemacht  und  daß  es  den  Gang  der  Geschichte 
vielleicht  mehr  beeinflußt  hat  als  alle  die  verschiedenen  Lehren  vom 
alten   Hellas   und  Indien  zusammengenommen.    Das   antike  Judentum 

159 


als  Lebensanschauung  ist  einheitlich  aus  einem  Guß,  aus  einem  Felsen 
gehauen,  während  die  griechischen  und  indischen  Kulturen  mehr  einem 
Mosaik  gleichen  und  aus  diesem  Grunde  mehr  ästhetisch  wirken. 
Aber  da  das  Judentum  einseitig  und  einheitlich  ist,  ist  es  desto  kräf- 
tiger. Die  Wirkung,  die  das  antike  Judentum  auf  die  Menschheit  aus- 
übte, ist  der  Wirkung,  die  die  Wüste  auf  den  Wanderer  ausübt,  ver- 
gleichbar, —  eine  entsetzliche  und  fürchterliche  Monotonie.  Aber  diese 
Monotonie  hat  etwas  Erhabenes  und  Großes  an  sich.  Das  antike 
Judentum  als  abstrakte  Idee  ist  wunderbar  in  seiner  Einfachheit,  in 
seiner  Naivität  und  in  seiner  Größe,  und  vielleicht  aus  diesem  Grunde 
ist  es  dem  Philosophen  und  dem  Scholasten,  deren  Gedankenwelt 
kompliziert  und  verwickelt  ist,  von  jeher  verhaßt  gewesen.  Selbst 
wo  sie  dem  Judentum  sehr  nahe  stehen,  wie  zum  Beispiel  im  Falle 
Kants,  hassen  sie  es  mit  einem  unauslöschlichen  Haß.  Gott  als  mo- 
ralisches Postulat  war  Kants  Weisheit  letzter  Schluß.  Gott  als  mo- 
ralisches Postulat  war  auch  der  Propheten  Weisheit  letzter  Schluß, 
und  dennoch  war  Kant  fest  überzeugt,  daß  das  Judentum  nicht  ein- 
mal eine  Religion  sei,  geschweige  denn  eine  Sittlichkeit.  Man  darf 
nicht  annehmen,  daß  ein  Mann  wie  Kant  sich  bewußt  gegen  die  Wahr- 
heit versündigt  hat,  und  daß  es  ihm  mit  seiner  Behauptung  betreffs 
des  Judentums  nicht  ernst  war,  denn  Kant  war  nicht  nur  der  scharf- 
sinnigste Denker  aller  Zeiten,  sondern  eine  der  größten  sittlichen 
Persönlichkeiten  aller  Zeiten,  grundehrlich,  bescheiden  und  fromm. 
Aber  sein  Ausgangspunkt  war  grundverschieden  von  dem  des  Juden- 
tums, obgleich  beide  am  Ende  zum  gleichen  Resultat  kommen.  Der 
Protest  fast  aller  Philosophen  gegen  das  Judentum,  gegen  die  ab- 
strakte Idee  des  Judentums  ist  wohl  der  beste  Beweis  dafür,  daß  es 
keine  antike  hebräische  Philosophie  gibt,  obgleich  es  eine  jüdische 
Weltanschauung  und  ein  jüdisches  Kultursystem  gibt.  Den  Wert  dieser 
jüdischen  Weltanschauung  und  ihren  philosophischen  Gehalt  kann  man 
am  besten  verstehen  und  schätzen  lernen,  wenn  man  sie  den  großen 
philosophischen  Lehren  der  antiken  Griechen  und  Inder  gegenüberstellt. 
In  dem  der  Erscheinung  Christi  vorangehenden  Jahrtausend  mani- 
festierte sich  der  Kulturgenius  der  Menschheit  in  drei  großen  Zentren: 
Indien,  Hellas  und  Judäa.  Warum  er  sich  gerade  in  diesen  Zentren 
manifestierte  und  nicht  in  großen  Zivilisationsmittelpunkten  wie  etwa 
in  Babylon,  Ägypten,  Persien,  ist  eines  jener  Geheimnisse  der  Ge- 
schichte, das  wohl  schwerlich  je  gelöst  werden  wird.  Wenn  es  wahr 
ist,  daß  die  abstrakte  Idee  und  speziell  die  Philosophie  sich  an  der 
Naturwissenschaft   entzündet,    warum   schufen   dann   die   Ägypter  und 

160 


Babylonier    keine    Philosophie    und   keine    Kultur,    da   sie   doch    über 
größere    naturwissenschaftliche    Erfahrungen    verfügten    als    Griechen, 
Inder  und   Juden   zusammengenommen?    Es   ist  eine  historische  Tat- 
sache,   daß    die   antiken  Griechen   sich   einen  großen  Teil   der  Natur- 
kenntnis in   Ägypten  holten.    Überhaupt  waren   im  Orient  die  mathe- 
matischen,  meteorologischen   und   astronomischen  Wissenschaften  ver- 
breitet, weil  die  Verwaltung  der  großen  Reiche,  für  Ägypten  auch  die 
jährlichen  Überschwemmungen,  Zeit-  und  Landmessungen  erforderten1). 
In   Hellas  ist  der  philosophische  Gedanke  ziemlich  früh  zur  Reife  ge- 
langt,   ja    schon   zu   einer   Zeit,    als   die  griechische   Zivilisation   noch 
keine  großen  Triumphe  feiern  konnte.   Die  Juden  dachten  in  abstrakten 
Begriffen,   ohne   überhaupt  eine  praktische  Zivilisation  hervorgebracht 
und   ohne   irgendwelche   Beziehung  zur  Natur   unterhalten   zu  haben. 
Also  die  Frage,  warum  die  abstrakte  Idee  gerade  in  Mittelpunkten 
sich  entzündete,  wo  die  Zivilisation  entweder  gar  nicht  oder  ungenü- 
gend  entwickelt   war,   kann   nur   damit   beantwortet   werden,   daß   die 
Kulturfähigkeit   eines    Volkes   weniger  soziologisch    als  geistespsycho- 
logisch zu  erklären  ist.   Es  ist  sehr  interessant,  festzustellen,  daß  diese 
drei    großen    Zentren    der    antiken    Kultur    keinerlei    Beziehungen    zu 
einander    unterhielten.     Die    antiken    Juden    wußten    wohl   von    Indien 
und  China,  aber  standen  mit  ihnen  nicht  in  Beziehung,  und  die  alten 
Griechen  wußten  kaum  von  der  Existenz  der  Inder.  Alle  Behauptungen 
der    älteren    Kirchenväter,    daß    die    Griechen    sich    ihre   Weisheit    in 
Indien  holten,  sind  grundlos,  und  auch  die  Behauptungen  von  Hilaire 
Calbrook  und  Schröder,  daß  Pythagoras  aus  indischen  Quellen  schöpfte, 
sind  bis  jetzt  unbewiesen  geblieben.    Auf  der  anderen  Seite  bemerken 
wir  oft,   daß  sich  in  verschiedenen  Zentren  und  zu  gleicher  Zeit  der 
eine  oder  der  andere  abstrakte  Gedanke  herausarbeitet,  ohne  daß  die 
Schöpfer  dieses  Gedankens  sich  gegenseitig  beeinflußten  oder  gar  in 
Berührung  kamen.    Diese  Tatsache  zeugt  von  der  logischen  Kontinuität 
in  der  Geschichte  des  Geistes,  und  es  ist  deshalb  wohl  verständlich, 
daß  in  mehreren  Mittelpunkten  der  Kultur  ein  und  dieselbe  abstrakte 
Idee  zum  Vorschein  kommt,  ohne  daß  ihre  Schöpfer  sich  gegenseitig 
irgendwie    behilflich   waren.    Noch   mehr.     Da   der  Mechanismus   des 
Geistes  überall  der  gleiche  ist,   ist   es  möglich,  daß  man  in  verschie- 
denen Kulturzentren  zu  gleichen  Erkenntnissen  gelangt,  oder  daß  man 
sich  der  gleichen  Methoden  der  Erkenntnis  bedient. 

In  der  oben  genannten  Periode,  deren  geistige  Schöpfungen  zum 
Schicksal    für    den   ganzen    Ablauf    der   Geschichte    wurden,    standen 
x)  ^arl  Joel,   Ursprung  der  Naturphilosophie,   S.   3. 

11    Melamed 

161 


Männer  auf  in  drei  verschiedenen  Zentren,  und  jeder  fragte  in  seiner 
eigenen  Sprache  und  seiner  eigenen  Weise:  „Was  ist  das  Geheimnis 
des  Seins?  Was  ist  das  letzte  Prinzip?  Wer  beherrscht  die  Dinge 
und  die  Menschen?  Was  war  am  Anfang,  und  was  wird  am  Ende 
sein?  Zu  welchem  Zweck,  woher  und  wohin?"  Es  ist  interessant  zu 
beobachten,  wie  diese  Fragen  gestellt  und  formuliert  wurden.  In 
Indien  sehen  wir  den  philosophischen  Genius  lange  mit  sich  kämpfen, 
lange  mit  sich  ringen,  ehe  es  ihm  gelingt,  die  Kardinalfrage  zu  defi- 
nieren: „Wer  ist  der  große  Beweger  und  wer  leitet  das  Reich  der 
Dinge?"  Er  philosophiert  nicht  nur  mit  seinem  Kopf,  sondern  auch 
mit  seinem  Herzen,  mit  seinen  Gefühlen.  Er  philosophiert  tatsächlich 
mit  seinem  Gemüt.  Sein  Verstand  ist  nicht  so  abgeklärt  wie  der  der 
Griechen,  und  er  verfügt  nicht  über  die  genügenden  metaphysischen 
Erfahrungen,  um  sich  einen  soliden  Ausgangspunkt  für  seine  Philosophie 
zu  bilden.  Aber  sein  Gemüt  sagt  ihm,  daß  das  Sein  ein  unendliches, 
tiefes  Geheimnis  ist.  Er  möchte  in  das  Geheimnis  des  Seins  ein- 
dringen und  den  Urgrund  aller  Dinge  erkennen.  Im  alten  Indien  wie 
im  ganzen  Orient  überhaupt  wird  mit  dem  Gemüt  philosophiert.  Der 
abstrakte  Gedanke  geht  durchs  Herz,  und  das  Sehnen  der  Vernunft 
ist  nur  das  Sehnen  des  Herzens.  Diese  gewaltige  Sehnsucht  des 
Herzens  der  alten  Inder  fand  einen  gewaltigen  Ausdruck  in  den 
Upanishaden,  Bücher  voll  tiefer  Gedanken  und  Poesie  zugleich'.  In 
der  Poesie  der  alten  Inder  wird  über  das  Sein  philosophiert,  über 
alle  metaphysischen  Fragen  tiefe  Betrachtungen  angestellt  und  über 
alle  die  Probleme,  die  den  Menschen  seit  3000  Jahren  bewegen,  medi- 
tiert. Die  tiefsten  metaphysischen  Erkenntnisse  drückt  das  alte  Indien 
durch  eine  oft  ganz  unklare  Andeutung  oder  durch  einen  poetischen 
Spruch  aus. 

Auf  ganz  andere  Weise  sind  diese  großen  philosophischen  Probleme 
in  Hellas  beantwortet  worden.  Die  Griechen  fingen  mit  dem  analy- 
tischen Gedanken  an,  und  ihr  Ausgangspunkt  war  ihre  naturwissen- 
schaftliche Erfahrung.  Von  einem  bestimmten  naturwissenschaftlichen 
Ausgangspunkt  kommen  sie  zu  Schlüssen  auf  das  ganze  Sein.  Der  alte 
Grieche  mit  seiner  mehr  ruhigen  und  kontemplativen  Natur  ist  nicht 
von  solcher  Sehnsucht  gepackt  wie  der  alte  Inder.  Ihm  sind  auch  die 
Geburts-  und  Schaffungswehen  des  alten  Inders  bekannt.  Seine 
philosophischen  Betrachtungen  sind  Betrachtungen  des  ruhig  denken- 
den und  abgeklärten  Menschen,  dem  das  Philosophieren  viel  Ver- 
gnügen macht  und  den  jede  philosophische  Erkenntnis  hoch  erfreut. 
Nicht  der   Durst  nach  dem  Wort  Gottes,   nicht  gewaltige  Sehnsucht, 

162 


sondern  ein  ruhiger  Wille  zur  Erkenntnis  führte  ihn  auf  die  philoso- 
phische Bahn.  Aus  diesem  Grunde  entwickelte  sich  die  griechische 
Philosophie  normaler,  und  man  möchte  fast  sagen  erfolgreicher  als 
im  alten  Indien.  Die  Entwicklungslinie  ist  eine  ziemlich  gerade  von 
der  Naturwissenschaft  zur  Naturphilosophie  und  von  der  Naturphilo- 
sophie zum  Seinsproblem  und  vom  Seinsproblem  zu  einem  verwickel- 
ten und  einem  stark  verzwickten  Philosophie-System,  das  alle  Fragen 
des  Lebens  umfaßt.  Diese  wunderbare  philosophische  Struktur  hat 
rein  philosophische  Begriffe  zur  Grundlage  und  nicht  Poesie  und  Ge- 
müt, wie  im  alten  Indien. 

Im  alten  Judäa  finden  wir  nicht  die  gewaltige  philosophische  Sehn- 
sucht und  den  gewaltigen  philosophischen  Erkenntnistrieb  der  alten 
Inder,  der  im  schwerfälligen,  poetischen  Stammeln  Ausdruck  findet, 
und  auch  nicht  die  klaren  und  zielbewußten  philosophischen  Bestre- 
bungen der  alten  Griechen,  weil  die  philosophische  Zentralfrage:  „Was 
ist  das  Geheimnis  des  Seins  und  wer  ist  der  erste  Weltbeweger?" 
weder  das  Gemüt  noch  den  Verstand  des  antiken  Juden  interessierte. 
Diese  Frage  beschäftigte  ihn  überhaupt  nicht,  und  wenn  er  sie  doch 
beantwortete,  tat  er  das  nur  nebensächlich.  Die  einzig  große  Frage, 
die  das  Gemüt  und  den  Verstand  der  antiken  Juden  beschäftigte,  war 
die  Frage  des  menschlichen  Lebens,  der  menschlichen  Lebensordnung. 
In  den  ersten  Abschnitten  der  indischen  und  griechischen  Philosophie 
sehen  wir  eine  starke  Tendenz  und  ein  starkes  Bestreben,  nämlich 
das,  einen  gewissen  Rhythmus  im  Reiche  der  Dinge,  im  Reiche  der 
Natur  zu  entdecken,  aber  in  den  ersten  Abschnitten  in  der  Bibel  sehen 
wir  ein  Bestreben,  einen  Rhythmus  im  Reiche  der  Menschen  zu  ent- 
decken, eine  Genealogie  des  Menschengeschlechts,  eine  Geschichts- 
philosophie. Das  Auge  des  Inders  und  des  Griechen  schaut  nach 
oben  gen  Himmel  und  nach  Unten  auf  die  Erde  und  versucht  ausfindig 
zu  machen,  was  oben  und  was  unten  ist,  was  am  Anfang  und  am 
Ende  der  Dinge  ist,  aber  der  alte  Jude  betrachtet  und  vertieft  sich 
mehr  in  die  Bewegungen  des  menschlichen  Lebens,  und  das  Reich 
des  Menschen  interessiert  ihn  mehr  als  das  Reich  der  Natur  und  als 
all  die  großen  Fragen,  die  die  antiken  Inder  und  Griechen  bewegten. 
Diese  merkwürdige  Erscheinung  können  wir  nur  durch  den  Subjekti- 
vismus der  alten  Juden  und  durch  ihre  ersten  historischen  Erfahrungen 
als  Volk  erklären.  Jede  philosophische  Bestrebung,  jede  philosophische 
Erkenntnis  erfordert  eine  gewisse  Seelenruhe,  einen  gewissen  ruhigen 
Gemütszustand  und  eine  gewisse  Erkenntnis.  Die  erforderliche  Ge- 
mütsruhe ging  den  alten  Indern  ab,  aber  sie  hatten  Erkenntnisgelegen- 
11* 

163 


heit.  Sie  fingen  nicht,  wie  die  Juden,  ihre  Karriere  in  der  Weltgeschichte 
als  Fronarbeiter  an.  Den  alten  Juden  fehlte  beides,  Gemütsruhe  und 
Erkenntnisgelegenheit.  Seit  ihrem  ersten  Auftreten  in  der  Geschichte 
kannten  sie  weder  körperliche  noch  Seelenruhe.  Ein  finsteres  Schick- 
sal zwang  ihnen  schon  in  frühester  Zeit  den  Wanderstab  in  die  Hand, 
und  ihr  Kampf  um  die  Existenz  war  schwerer  als  der  jedes  anderen 
Volkes.  Die  alten  Griechen  und  auch  die  alten  Inder  lebten  in  ihrem 
Land,  lebten  ruhig  und  glücklich  und  waren  ökonomisch  so  gestellt, 
daß  sie  sich  ganz  der  ruhigen  Betrachtung  hingeben  und  sich  in  die 
Welträtsel  vertiefen  konnten.  Die  ersten  Erfahrungen  der  alten  Juden 
aber  waren  ganz  andere.  Der  Kampf  im  Reiche  der  Menschen,  von 
dem  sie  aus  eigener  Erfahrung  ein  trauriges  Lied  singen  konnten, 
machte  auf  ihr  Gemüt,  das  Gemüt  eines  subjektiven  Volkes,  einen 
unauslöschlichen  Eindruck.  Diese  Erfahrungen  lehrten  sie,  daß  das 
wesentliche  Problem,  das  ihre  eigene  Existenz  berührte,  die  Frage 
des  Lebens,  die  Frage  des  Lebensorganismus  sei,  und  so  sehr  waren 
sie  in  diese  Frage  vertieft,  daß  sie  nicht  einmal  Zeit  und  Gelegenheit 
fanden,  die  Kardinalfrage  zu  stellen:  „Was  ist  das  Geheimnis  des 
Lebens?" 

Daraus  ergibt  sich,  wie  die  praktischen  Lebensbedingungen  zum 
Emporblühen  des  ethischen  Gedankens  in  Judäa  beitrugen  und  warum 
die  Philosophie  im  alten  Judäa  vernachlässigt  wurde.  Der  ethische 
Gedanke  blieb  bis  auf  den  heutigen  Tag  der  Schwerpunkt  der  jüdischen 
Gedankenwelt.  Auf  dem  Gebiet  der  Ethik  haben  sich  die  Juden  seit 
jeher  ausgezeichnet  und  Vortreffliches  geleistet.  Nicht  „Was  ist  das 
Sein?",  „Was  ist  der  Anfang?"  und  „Was  ist  das  Ende  aller  Dinge?", 
sondern  „Wie  muß  das  menschliche  Leben  organisiert  sein?"  war 
die  Hauptfrage,  die  man  sich  im  alten  Judäa  stellte.  Während  also 
die  Ethik  in  Verbindung  mit  der  Religion  der  Schwerpunkt  der  antiken 
jüdischen  Gedankenwelt  war,  wäre  es  ganz  verfehlt  zu  behaupten, 
daß  den  antiken  Juden  philosophische  Erkenntnis  ganz  fremd  war. 
Es  ist  wahr,  die  antiken  Juden  haben  keine  wissenschaftliche,  keine 
systematische  Philosophie  hervorgebracht,  aber  sie  harten  gewisse 
philosophische  Vorstellungen  und  Anschauungen,  ein  gewisses  philo- 
sophisches  Panorama,   das   betrachtet   zu    werden   verdient. 

Eines  der  merkwürdigsten  Paradoxe  in  der  Geschichte  des  euro- 
päischen Geistes  und  in  der  Geschichte  der  Philosophie  ist  es,  daß 
eine  der  zwei  großen  metaphysischen  Lehren,  der  Dualismus,  der 
seit  zwei  Jahrtausenden  den  menschlichen  Geist  im  Bann  hielt  und 
jahrhundertelang  die  philosophische  Überzeugung  der  Menschheit  war, 

164 


aus  Judäa  stammt,  das,  wie  gesagt,  keineswegs  ein  Zentrum  der 
Philosophie  war.  Der  metaphysische  Dualismus,  Gott  und  die  Welt 
im  Gegensatz  zum  Pantheismus,  lehrt  das  Vorhandensein  zweier  sich 
gegenüberstehender  Welten.  Diese  Lehre,  die  noch  bis  auf  den  heutigen 
Tag  die  vorherrschende  Volksmetaphysik  ist,  ist  nicht  als  philosophi- 
sches System,  sondern  als  theologische  Lehre  in  Judäa  entstanden. 
Zur  Zeit,  als  diese  Lehre  zuerst  in  Judäa  auftauchte,  blühten  im  alten 
Indien  die  Lehren  des  materialistischen  Atheismus  und  Pantheismus, 
und  in  Griechenland  der  grobkernige  Hylozoismus.  Nach  und  nach 
wurde  in  beiden  Zentren  der  Philosophie  die  innere  Einheit  der  Welt 
erkannt,  in  Indien  mehr  als  geistige  Einheit,  in  Griechenland  mehr  als 
materielle  Einheit.  In  Indien  haben  selbst  die  Vertreter  einer  mehr 
idealistischen  Weltanschauung  die  Existenz  eines  außerweltlichen  Gottes 
geleugnet,  und  nur  in  Judäa  bekannten  sich  die  Menschen  zum  Dualis- 
mus —  Gott  und  Natur,  Leib  und  Seele.  Bis  auf  den  heutigen  Tag 
gibt  diese  Lehre  allen  Philosophen  zu  schaffen ;  später  erwarb  sich 
auch  der  Dualismus  in  Griechenland  festes  Bürgerrecht.  Lange  vor 
Plato  hatte  schon  Anaximenes  einen  Dualismus  gelehrt,  aber  dieser 
Dualismus  hatte  keinen  starken  Einfluß  auf  den  philosophischen  Ge- 
danken in  Hellas  ausgeübt.  Erst  als  Plato  erschien  und  die  große  Lehre 
von  den  Dingen  und  ihrer  Veränderlichkeit  und  den  unveränderlichen 
ewigen  Ideen  aufstellte,  reifte  auch  der  Dualismus  in  Griechenland. 
Es  ist  interessant  zu  beobachten,  daß  der  platonische  wie  der  hebräische 
Dualismus,  obgleich  sie  voneinander  grundverschieden  sind,  eine  Schöp- 
fung des  ethischen  Genius  ist.  Im  Reiche  der  platonischen  Ideen  ist 
die  Idee  des  Guten  die  höchste  Idee.  Der  nachplatonische  Dualismus 
in  Griechenland  nähert  sich  mehr  und  mehr  dem  antiken  jüdischen 
Dualismus  von  einer  Gegenüberstellung  von  Leib  und  Seele,  Geist 
und  Materie,  sensuelle  Welt  und  intellektuelle  Welt  usw.  Das  ganze 
Mittelalter  hält  an  diesem  Dualismus  fest,  und  mit  der  Erneuerung  der 
Philosophie  im  sechzehnten  Jahrhundert  erfährt  auch  der  Dualismus 
eine  Erneuerung.  Cartesius  eröffnet  seine  große  Philosophie  mit  der 
Erneuerung  des  Dualismus.  Wie  so  viele  vor  ihm,  unterscheidet  auch 
er  zwischen  Leib  und  Seele,  die  sich  nur  kraft  der  göttlichen  Existenz 
vereinigen.  (Concursus,  existencia  dei.)  Philosophisch  ist  der  Dua- 
lismus noch  lange  nicht  überwunden.  Selbst  die  neueste  Philosophie 
entzündet  sich  noch  oft  an  dem  dualistischen  Problem. 

Wenn  wir  die  kleine  Zahl  Forscher,  die  sich  zum  Atheismus  in 
dieser  oder  jener  Form  bekennen,  übersehen,  wird  uns  gleich  Klar- 
heit  darüber,    daß   alle    Bemühungen    des    philosophischen   Geistes   in 

165 


die  Frage  zusammengepreßt  werden  können:  „Wo  ist  Gott,  innerhalb 
oder   außerhalb   der  Natur?" 

Zu  der  Voraussetzung  der  Existenz  Gottes  kam  der  Mensch  wohl, 
als  er  sich  in  die  Frage  von  der  Beziehung  zwischen  Geist  und  Ma- 
terie vertiefte.  Wer  ordnet  und  reguliert  diese  Beziehung?  Auf  diese 
Frage  antwortete  man  zuerst  in  Griechenland,  daß  das  Prinzip  des 
Lebens  im  Leben  selbst  begründet  sei,  während  man  in  Indien  lehrte, 
daß  die  Natur  nur  ein  Ausschnitt  des  Geistes  sei.  Allein  der  Pantheis- 
mus in  seinen  verschiedenen  Brechungen  hat  den  menschlichen  Geist 
nicht  beruhigt,  und  nach  einer  langen  philosophischen  Entwicklung 
gelangte  er  nach  und  nach  zur  dualistischen  Erkenntnis,  die  Gott 
über  die  Natur  stellt,  also  zu  einer  Zeit,  als  man  in  Griechenland  mit 
den  pantheistischen  Lehren  zu  Ende  war,  und  als  man  mit  dem  Dua- 
lismus begann,  war  er  in  Judäa  schon  auf  einer  ziemlich  hohen  Ent- 
wicklungsstufe. Während  der  Dualismus  in  Hellas  das  Produkt  einer 
langsamen  philosophischen  Entwicklung  war,  war  er  in  Judäa  spon- 
tane intuitive  Erkenntnis,  eine  Art  philosophischer  Eingebung.  Der 
antike  jüdische  Monotheismus  hat  sich  natürlich  auch  entwickelt  und 
Formen  angenommen,  aber  im  Prinzip  war  er  mit  dem  ersten  Erschei- 
nen der  Juden  in  der  Weltgeschichte  sozusagen  gegeben.  Die  antiken 
Juden  fingen  da  an,  wo  die  Griechen  endeten.  Und  das  mag  vielleicht 
mit  die  Ursache  gewesen  sein,  warum  der  philosophische  Gedanke 
in  Judäa  nicht  aufkommen  konnte.  Dort  anzufangen,  wo  die  Anderen 
endeten,  verhinderte  diejenige  philosophische  Entwicklung,  die  wir 
in  Hellas  sahen  und  die  im  antiken  Judäa  ganz  und  gar  fehlte.  Seit 
dem  ersten  Erscheinen  der  Juden  in  der  Weltgeschichte  hatten  sie 
ein  bestimmtes  philosophisches  Panorama:  der  außerweltliche  Gott, 
der  der  Welt  gegenübersteht  und  sie  beherrscht. 

Wenn  schon  dieses  Überspringen  einer  langen  philosophischen  Ent- 
wicklung im  antiken  Judäa  den  Werdegang  des  philosophischen  Ge- 
dankens nachträglich  beeinflußte,  so  ist  doch  letzten  Endes  in  vieler 
Beziehung  das  Resultat  in  Judäa  und  Hellas  fast  das  gleiche.  Auch 
in  Hellas  vermochte  man  nicht  das  Sein  zu  erkennen,  und  letzten 
Endes  mußte  man  sich  mit  der  Erklärung  begnügen:  Gott  ist  das  Sein. 
In  der  Geschichte  der  arischen  Völker  ist  diese  These  zum  Inhalt  der 
Metaphysik  und  in  Judäa  zum  Inhalt  der  Religion  gemacht  worden. 

Wenn  schon  in  Judäa  keine  philosophischen  Lehrsätze  aufgestellt 
wurden,  so  hatten- doch  die  alten  Juden  eine  ziemlich  klare  Ansicht 
über  viele  philosophische  Probleme,  über  Gott  und  seine  Attribute, 
über  seine  Beziehungen  zur  Welt.    Der  alttestamentarische  Gott  führt 

166 


sich  selbst  mit  der  Bezeichnung  ein:  „Ich  werde  sein,  der  ich  sein 
werde,  dies  ist  mein  Name  und  ist  mein  Gedächtnis  für  alle  Zeiten1)." 
Aus  dieser  seiner  Selbstcharakterisierung  wird  es  ziemlich  klar,  daß 
das  Wesen  des  einzigen  Gottes  in  den  Begriff  des  Seins  gelegt  ist. 
Gott  macht  sich  also  als  das  Sein  geltend,  oder  Gott  ist  das  Sein, 
und  mit  Recht  bemerkt  Kautzsoh,  daß  diese  Stelle  im  Alten  Testament 
Moses  zum  Stifter  des  israelitischen  Monotheismus  macht.  Wenn 
Gott  sich  als  das  Sein  geltend  macht,  kann  wohl  der  Monotheismus, 
wie  ihn  die  Juden  geschaffen  haben,  nicht  mehr  als  rein  theologische 
Proposition  angesprochen  werden.  Gott,  der  sich  als  das  Sein  geltend 
macht,  führt  sich  auch  mit  den  Pronomen  ein:  „Ich  werde  sein,  der 
ich  sein  werde".  Gott  ist  also  nicht  das  allgemeine  Sein,  wie  es  ver- 
schiedentlich vom  Pantheismus  aufgefaßt  wird,  sondern  dieses  gött- 
liche Sein  ist  ein  individuelles  Sein,  und  dadurch  stellt  sich  der  jü- 
dische Gott  in  Gegensatz  zum  brahminischen  Atman,  der  weder 
individuell  noch  extramundal  ist.  Gewiß,  es  ist  kein  zweites  außer 
Atman,  aber  es  ist  doch  kein  Anderes,  von  ihm  Verschiedenes.  Seine 
Einheit  ist  gewahrt,  aber  nicht  seine  Individualität.  In  der  hebräischen 
Charakterisierung  Gottes  durch  Ejeh  ascher  ehje:  „Ich  werde  sein, 
der  ich  sein  werde",  drückt  sich  aber  beides,  die  Individualität  und 
die  Universalität  Gottes,  aus.  Und  wenn  man  einwenden  wollte,  daß 
der  Begriff  der  Individualität  den  Begriff  der  Endlichkeit  involviert 
und  daß  der  jüdische  Gott  wohl  individuell  und  deshalb  endlich  ist, 
so  braucht  man  sich  nur  daran  zu  erinnern,  daß  Gott  sich  als  das 
Sein  schlechthin  geltend  machen  will. 

Wie  schon  oben  angedeutet,  legt  das  antike  Judentum  das  Schwer- 
gewicht auf  die  Ethik.  Der  Begriff  der  Ethik  involviert  den  Begriff 
des  Zweckes.  Aus  diesem  Grunde  setzt  das  antike  Judentum  teleolo- 
gisch ein.  Der  Universalismus  aber  hebt  die  Teleologie  von  vornherein 
auf,  und  was  beide,  Religion  und  Ethik,  verlangen  und  worauf  sie  in 
erster  Reihe  bestehen  müssen,  ist  die  Verwirklichung  göttlicher  Zwecke. 
Der  menschliche  Verstand  könnte  sich  vielleicht  bei  dem  Gedanken 
beruhigen,  daß  alle  endlichen  Ursachen  bloße  Erscheinungsformen 
des  göttlichen  Wesens  sind,  aber  das  ethische  und  das  religiöse  Ge- 
fühl des  Menschen  können  unmöglich  zugeben,  daß  die  Allmacht 
Gottes,  anstatt  die  Welt  zu  begründen  und  zu  regieren,  sie  geradezu 
verschlingt,  weil  sie,  wenn  pantheistisch  universalistisch  aufgefaßt, 
für  alle  endlichen  Ursachen  keinen  Raum  läßt.  Auch  die  Gewißheit 
unseres  eigenen  Ichs  empört  sich  gegen  diese  allverschlingende  Macht 

*)  Herrmann  Cohen,  Der  Begriff  der  Religion  im  System  der  Philosophie,  S.  20. 

167 


des  universalistischen  Gottes.  Es  waren  noch  mehr  ethische  als  rein 
philosophische  Bedenken,  die  den  antiken  Juden  die  Gewißheit  von 
der  Individualität  Gottes  verschafften.  Ist  Gott  nicht  individuell,  son- 
dern nur  universell,  dann  ist  unser  Denken  und  Wollen  nur  das  Tun 
Gottes  in  uns,  und  ist  dies  der  Fall,  wie  sind  dann  Sünde  und  Irrtum 
zu  erklären,  ohne  die  Möglichkeit  von  Sünde  und  Irrtum  auch  Gott 
zuzuschreiben?  Eine  solche  Möglichkeit  würde  jedoch  den  ganzen 
Gottesbegriff  vernichten.  Gibt  man  aber  nicht  zu,  daß  unser  Denken 
und  Wollen  nur  das  Tun  Gottes  in  uns  ist,  so  muß  man  auch  die  In- 
dividualität Gottes  zugeben.  Das  antike  Judentum,  weil  von  vornherein 
teleologisch,  verhält  sich  positiv  zu  der  Frage  der  Willensfreiheit  und 
zur  sittlichen  Verantwortung  des  Individuums.  Unter  anderem  ist 
auch  der  jüdische  Gott  ein  sittliches  Exempel.  Nicht  nur  hat  Gott  dem 
Menschen  gesagt,  was  gut  ist,  um  ihm  die  Wahl  des  Guten  zu  er<- 
leichtern,  sondern  er  steht  immer  vor  seinen  Augen  als  sittliches 
Exempel,  als  das  große  sittliche  Schulbeispiel  —  Gerechtigkeit  und 
Barmherzigkeit,  Vergebung  und  Geduld,  Liebe  zu  der  Welt  und  Liebe 
zum  Menschen  und  all  die  anderen  sittlichen  Prädikate  Gottes,  die  der 
Mensch  kennt.  Gott  als  sittliches  Schulbeispiel  ist  aber  nur  möglich, 
wenn  er  individuell  ist  und  nicht,  wenn  er  universalistisch  ist.  Der 
universalistische  Gott  hat  dem  Menschen  gar  nichts  zu  sagen.  Er 
mag  zu  uns  in  tausend  Sprachen  der  Natur  reden,  aber  er  kann  zu  uns 
nicht  in  der  Sprache  der  Sittlichkeit  reden,  weil,  verbunden  mit  der 
Natur  und  gebunden  an  die  Natur,  ihm  jedes  sittliche  Bewußtsein 
abgeht. 

Durch  die  Verbindung  Gottes  mit  dem  Sein  —  „Ich  werde  sein, 
der  ich  sein  werde"  —  bleibt  das  Verhältnis  der  jüdischen  Religion 
zur  Logik  gesichert  und  durch  seine  Selbstcharakterisierung  als  Indi- 
vidualität —  ich  werde  sein,  der  i  ch  sein  werde  —  bleibt  sein  positives 
Verhältnis  zur  Ethik  gesichert.  Das  Wesen  des  jüdischen  Monotheis- 
mus besteht  also  nicht  allein  in  der  Einheit  Gottes,  sondern  in  der 
Einzigkeit  des  Seins  Gottes.  Was  die  ganze  Wesenheit  des  Seins  aus- 
macht, soll  dem  Menschen  verborgen  bleiben.  „Mein  Gesicht  soll 
nicht  gesehen  werden",  sagte  Gott  zu  Moses.  Nur  nachträglich  mag 
man  ihn  an  seinen  Taten  und  an  seinem  Werke  erkennen. 

Gegen  die  Individualität  Gottes  ist  von  philosophischer  Seite  der 
Einwand  erhoben  worden,  daß,  obgleich  sie  von  der  selbständigen 
Realität  der  Welt  ausgeht,  Gott  entweder  die  Welt  vernachlässige  oder 
daß  er  sie  nur  oberflächlich  von  außen  stoße,  und  mit  beiden  Even- 
tualitäten kann   sich  die  menschliche  Vernunft  nicht  zufrieden  geben. 

168 


Der  Frage  Goethes:  „Was  wäre  es  für  ein  Gott,  der  nur  von  außen 
stieße",  sind  schon  die  Männer  der  großen  Synagoge  vor  mehr  als 
zwei  Jahrtausenden  mit  den  berühmten  Wort  zuvorgekommen:  „Er, 
der  in  seiner  Güte  die  Weltschöpfung  jeden  Tag  erneuert",  und 
dieses  berühmte  Wort  wird  von  jedem  rechtgläubigen  Juden  jeden 
Tag  in  einem  Gebet  wiederholt.  Der  jüdische  Gott  stößt  weder  nur 
von  außen,  noch  verhält  er  sich  gegen  das  Getriebe  der  Welt  indifferent, 
sondern  er  ist  jeden  Augenblick  tätig,  er  ist  ständig  und  immerfort 
mit  der  Welt  verbunden,  weil  er  nicht  nur  ein  individuell  separater  und; 
distinkter,  sondern  auch  ein  allgemeiner  Gott  ist.  Seine  Allgegenwart 
hat  der  Prophet  Jesaja  mit  dem  Worte  zusammengefaßt:  Melo  kol 
Haarez  K'wodo  —  das  ganze  Universum  ist  voll  seiner  Herrlichkeit. 
Die  alte  hebräische  Metaphysik,  die  sich,  wie  gesagt,  nur  in 
Bildern  und  Metaphern  ausdrückt,  gibt  natürlich  keine  schulmäßige 
Behandlung  der  Probleme  Universalismus  und  Individualismus ;  aber 
es  scheint,  daß  die  alten  Juden  sich  der  Tragweite  der  Probleme  und 
ihres  inneren  Gegensatzes  bewußt  waren  und  versuchten,  so  gut  sie 
es  konnten,  beide  miteinander  in  Einklang  zu  bringen,  so  wie  sie  die 
Probleme  von  der  Allweisheit  Gottes  und  dem  Prädeterminismus  in 
Einklang  zu  bringen  versuchten.  Dasselbe  gilt  auch  vom  Problem  der 
Ewigkeit  Gottes.  Nach  antiker  jüdischer  Lehre  ist  Gott  allmächtig, 
allgegenwärtig  und  ewig,  d.  h.  das  göttliche  Wirken  hat  keine  Grenze 
an  Zeit  und  Raum.  Gott  ist  völlig  unzeitlich,  d.  h.  über-  und  außer- 
zeitlich und  daher  auch  über-  und  außerörtlich,  und  doch  sind  Zeit 
und  Raum  nicht  bloß  Anschauungsformen  a  priori  und  letzten  Endes 
Illusionen.  Der  Psalmendichter  singt:  „Tausend  Jahre  sind  nur  wie 
gestern  in  deinen  Augen."  Wenn  Gott  überräumlich  und  überzeitlich' 
wäre,  so  müßte  man  zugeben,  daß  Raum  und  Zeit  für  Gott  gar  nicht 
existierten,  daß  sie  also  bloße  Anschauungsformen  unseres  Denkens 
seien  und  daß  die  Grundformen  des  endlichen  Daseins  leerer  Schein 
—  also  unwirklich  seien.  Mit  diesem  Gedanken  konnte  sich  die  antike 
jüdische  Metaphysik  nicht  befriedigen,  und  sie  nahm  daher  an,  daß, 
obgleich  Gott  ewig  ist,  d.  h.  außer-  und  überzeitlich  und  außer-  und 
überräumlich,  Raum  und  Zeit  auch  für  Gott  etwas  seien.  Ob  sich  die 
antike  jüdische  Metaphysik  die  Ewigkeit  Gottes  so  vorstellte,  daß  sie 
eine  nachweltliche  oder  eine  vorweltliche  sei,  oder  wie  sonst  sie  sicH 
seine  Außerzeitlichkeit  und  Unendlichkeit  vorgestellt,  wird  mit  keinem 
Punkt  angedeutet.  Aber  was  uns  geistespsychologisch  interessiert, 
ist  das  Faktum,  daß  das  antike  Judentum  bestrebt  war,  den  Universa- 
lismus und   Individualismus  in  Gott  zu  vereinigen,   es  sich  Gott  zu- 

169 


gleich  als  zeitlich  und  außerzeitlich  vorstellte.  Seine  Zeitlichkeit  hängt 
mit  seiner  Persönlichkeit  und  seine  Außerzeitlichkeit  mit  seiner  Allge- 
meinheit zusammen.  Auch  in  dem  Begriff  der  Heiligkeit  Gottes,  wie 
ihn  die  alte  jüdische  Metaphysik  motiviert  hat,  drückt  sich  klar  der 
Gedanke  aus,  daß  Gott  nicht  universal,  sondern  auch  individuell  ist. 
Denn  die  antike  hebräische  Heiligkeit  Gottes  ist  grundverschieden 
von  der  brahmanischen  und  buddhistischen.  Die  letztere  ist  negativ 
rein  passiv  und  gemahnt  an  das  Priesterliche,  an  das  Kultische.  Aber 
die  hebräische  Heiligkeit  Gottes  ist  gar  nicht  kultische  Heiligkeit, 
sondern  Erhabenheit  über  menschliche  Sünde  und  nicht  passiv  und 
negativ,  sondern  positiver  Widerwille  gegen  das  Böse.  Die  hebräische 
Heiligkeit  Gottes  ist  sonach  der  Grund  der  sittlichen  Weltordnung  und 
heilig  ist  fast  identisch  mit  Gerechtigkeit,  eine  Manifestation  des  sitt- 
lichen Wesens  Gottes.  Dieser  Begriff  der  Heiligkeit  Gottes  kehrt  bei 
fast  allen  Propheten  und  ganz  speziell  bei  Jesaja  wieder. 

Wenn  man  die  Bibel  auf  ihren  philosophischen  Grundgehalt  unter- 
suchen wollte  -  bis  jetzt  ist  es  leider  noch  nicht  geschehen  —  so  wird 
man  finden,  daß  alle  großen  methaphysischen  Probleme,  auch  die 
Gemüter  in  Judäa  bewegten,  nur  daß  diese  Probleme  keinen  schul- 
mäßig philosophischen  Ausdruck  fanden  und  nicht  in  systematischer 
Reihenfolge  wie  im  antiken  Hellas  auftraten.  Das  antike  Judentum, 
ein  System  der  Religion  und  Ethik,  hat  wohl  ein  philosophisches  Pano- 
rama, einen  philosophischen  Hintergrund,  aber  ist  selbst  keine  Philo- 
sophie. Dies  erklärt,  warum  'die  Juden  um  rein  philosophische  Lehr- 
meinungen innerhalb  des  Judentums  so  wenig  stritten.  Der  Kampf 
gegen  Maimonides  war  ein  persönlicher  und  rabbinischer,  aber  kein 
philosophischer,  und  der  Kampf  gegen  Spinoza  war  zum  größten  Teil 
politisch  motiviert.  Das  antike  Judentum  hat  die  philosophischen 
Probleme  zu  vage  formuliert,  um  die  Juden  zu  veranlassen,  sich  um 
philosophische  Lehrmeinungen  herumzustreiten.  Jeder  rechtgläubige 
Jude  bekennt  sich  noch  heute  zu  dem  Satze:  „Die  Lehre  Moses  ist 
wahr",  aber  er  faßt  diesen  Satz  durchaus  nicht  dogmatisch  auf  wie 
etwa  die  Vertreter  der  Kirche.  Der  Kampf  zwischen  Wissenschaft  und 
Religion,  der  die  Gemüter  des  europäischen  Menschen  viele  Jahr- 
hunderte lang  in  Unruhe  und  Aufregung  hielt,  war  den  Juden  immer 
fremd.  Die  Rabbiner  haben  diesem  Kampf  mit  dem  Satz  vorgebeugt: 
„Die  Thora  hat  viele  Gesichter",  d.  h.  sie  kann  verschiedenartig 
interpretiert  werden.  Nicht  die  Kosmologie  und  die  Biologie,  die  zwei 
Kampfobjekte  zwischen  Religion  und  Wissenschaft,  sind  das  Wesent- 
liche im  philosophischen  Weltbild  der  alten  Juden,  sondern  die  Meta- 

170 


physik.  Die  jüdische  Metaphysik,  wie  sie  in  der  Bibel  ihren  Ausdruck 
gefunden  hat,  ist  weder  von  .der  modernen  Kosmologie,  noch  von  def 
modernen   Biologie  vernichtet  worden. 

Die  Vertreter  der  neueren  Philosophie,  die  sich  fast  alle  negativ 
zum  Judentum  und  speziell  zum  /jüdischen  philosophischen  Weltbild 
verhalten,  faßten  sie  gar  zu  grob  auf.  Sie  alle  nahmen  Anstoß  an  der 
hebräischen  Physik,  an  der  Kosmologie  und  an  der  Biologie  und  über- 
sahen vollständig  ihre  Metaphysik.  Die  Wahrheit  ist  aber  die,  daß  die 
antike  hebräische  Metaphysik  sich  im  wesentlichen  kaum  von  der  arischen 
Metaphysik  unterscheidet.  Wir  finden  in  beiden  dieselbe  Problem- 
stellung und  dieselbe  Problemreihe,  nur  daß  die  Probleme  verschieden 
formuliert  werden,  und  wenn  ein  Unterschied  vorhanden  ist,  so  ist 
dieser  Unterschied  ein  Unterschied  des  Systems  und  der  Methode,  aber 
nicht  ein  Unterschied  im  Inhalt.  . 

Die  moderne  Philosophie  wird  nicht  müde,  den  hebräischen  Gottes- 
begriff als  anthropomorphistisch  zu  brandmarken,  und  behauptet,  daß 
der  anthropomorphistische  Gott  das  Produkt  einer  niedrigen,  fast 
barbarischen  Kultur  wäre,  mit  der  sich  der  moderne  Mensch  nicht  ab- 
finden könne.  Aber  schließlich  können  wir  doch  nicht  aus  unserer 
eigenen  Haut  fahren.  Der  Homomensuras-Satz  des  Anaxagoras  besteht 
noch  immer  in  einem  gewissen  Sinn  zu  Recht,  und  Goethe,  der  den 
letzten  Dingen  doch  näherstand  als  gewöhnliche  Sterbliche,  weil  er  von 
den  ursprünglichen  Quellen  des  Lebens  schöpfte,  meinte  auch,  daß  all 
unsere  Erkenntnis  anthropomorphistisch  ist  und  so  motiviert  sein 
muß.  Einen  ähnlichen  Standpunkt  nahm  auch  Friedrich  Nietzsche  ein, 
und  Reinke,  den  man  sicherlich  nicht  einer  besonderen  Liebe  zum 
Judentum  verdächtigen  kann,  sagt  in  seiner  Einleitung  in  die  theore- 
tische Biologie  klar  und  deutlich:  „Wir  können  über  die  Natur  nur 
nach  Maßgabe  unseres  Erkenntnisvermögens  denken,  das  ist  die  Grund- 
voraussetzung alles  Forschens,  durch  die  allerdings  die  Gewißheit 
eine  anthropomorphistische  Grundlage  erhält."  Heute,  wo  wir  wissen, 
daß  die  ganze  Zivilisation  eine  rein  anthropomorphistische  Grundlage 
hat,  läßt  sich  kaum  mehr  behaupten,  daß  der  Anthropomorphismus  das 
Produkt  der  niederen  Kulturstufe  ist.  Siehe  da!  das  Christentum  be- 
kennt sich  zwar  nicht  zu  einer  anthropomorphistischen,  aber  doch  zu 
einer  biologischen  Gottheit,  denn  die  christliche  Gottheit  ist  durch 
Geburt  und  Tod  gegangen,  und  trotzdem  hat  noch  kein  christlicher 
Philosoph  dem  Christentum  daraus  einen  Vorwurf  gemacht.  Immanuel 
Kant,  der  sich  über  den  jüdischen  Anthropomorphismus  so  aufregte, 
ignorierte  gänzlich  den  Biologismus  der  christlichen  Gottheit.   In  Wahr- 

171 


heit  ist  weder  der  jüdische  Gottesbegriff  anthropomorphistisch,  noch 
ist  der  christliche  Gottesbegriff  biologisch.  Die  Persönlichkeit  des 
jüdischen  Gottes  und  die  Menschlichkeit  des  christlichen  Gottes  — 
Geburt  und  Tod  —  verhindern  nicht  den  metaphysischen  Wesensgehalt 
beider.  Beide  sind  aus  dem  Geist  der  Metaphysik  geboren.  Menschen 
können  aber  nur  menschlich  denken  und  können  auch  nur  in  rein 
menschlichen  und  nicht  in  göttlichen  Begriffen  denken,  und  wer  Gott 
sagt,  der  muß  auch  Gott  in  der  einen  oder  in  der  anderen  Form  Persön- 
lichkeit zuschreiben,  oder  er  schwört  auf  den  Pantheismus.  Das  Grund- 
legende jeder  Metaphysik,  die  den  Namen  Metaphysik  verdient,  ist 
dieses,  daß  die  Welt  der  Sinne  und  Erscheinungen,  die  sich  unserem 
Auge  offenbart,  nur  ein  Teil  und  eine  Manifestation  des  Seins  ist, 
und  daß  es  außer  diesem  Teil  und  außer  dieser  Manifestation  des 
Seins  noch  etwas  anderes  gibt,  was  über-  und  außernatürlich  ist,  d.  h. 
die  Welt  der  Sinne  und  der  Erscheinungen  bildet  nicht  den  ganzen 
Inhalt  des  Seins.  Der  Mensch,  dessen  Geist  in  fünf  Sinne  eingeschlossen 
ist  und  nur  vermittels  dieser  Sinne  mit  der  Welt  kommunizieren  kann, 
kann  eben  von  dem,  was  jenseits,  über  und  außer  diesen  Sinnen  ist, 
nichts  begreifen  und  nicht  mit  ihm  in  Berührung  treten.  Dieser,  dem 
Menschen  nicht  erkennbare  Teil  des  Seins,  ob  wir  es  Ding  an  sich 
nennen,  ob  das  Konstante  im  Wechsel  der  Erscheinungen,  ob  das  Sein 
ist  der  Mittelpunkt  aller  Metaphysik,  und  im  letzten  Grunde  auch  aller 
Religion.  Was  Plato  unter  Idee  versteht,  was  Kant  unter  Ding  an 
sich  versteht,  verstanden  die  antiken  Juden  unter  dem  ehje  ascher 
ehje,  das  ist  ewiges  Sein  ohne  Anfang  und  ohne  Ende.  Die  biblische 
Metaphysik  drückt  sich  nicht  in  philosophischen  Begriffen  aus  wie  die 
arische,  sondern  in  Bildern  und  gibt  dem  Seinsbegriff  eine  individuelle 
Brechung.  Aber  diese  individuelle  Brechung  ist  nur  etwas  Formelles. 
Sie  ist  „menschlich",  aber  sie  darf  nicht  als  anthropomorphistisch  an- 
gesprochen werden,  insbesondere  da  auch  das  biblische  an  und  für 
sich  Seiende  weder  Zeit  noch  Raum  noch  Kausalität  unterworfen  ist. 
Die  biblische  Metaphysik  stipuliert  klar  und  deutlich,  daß  Gott  ewig 
und  unendlich  ist,  daß  er  ohne  Anfang  und  ohne  Ende  im  Raum  ist, 
daß  er  das  Konstante  im  Wechsel  der  Erscheinungen  ist,  d.  h.  keiner 
Veränderung  und  keiner  Ursächlichkeit  unterworfen  ist.  Wer  die 
Bibel  vom  Gesichtspunkt  der  Metaphysik  gelesen,  hat,  weiß,  daß  es 
im  Wesentlichen  keinen  prinzipiellen  Unterschied  gibt  zwischen  dem 
Seins-  und  Gottesbegriff  rjer  Bibel  und  dem  der  arischen  Philosophie. 
Die  Prädikate  Gottes  werden  in  der  Bibel  zu  oft  genau  beschrieben, 
als  daß   irgendeine  andere  Auffassung  zulässig  wäre.    Und  wenn   es 

172 


irgendeinen  wesentlichen  Unterschied  zwischen  der  biblischen  und 
der  arischen  Metaphysik  gibt,  so  besteht  dieser  Unterschied  darin, 
daß,  während  über  der  biblischen  Metaphysik  ein  poetischer  Geist 
schwebt  und  sich  in  menschlichen  Bildern  ausdrückt,  die  arische  Meta- 
physik abstrakt  und  begrifflich  ist.  Weil  die  jüdische  Metaphysik  nicht 
schulphilosophisch  ist,  ist  sie  das  Gemeingut  des  ganzen  Volkes  ge- 
worden, während  die  arische  Metaphysik  nur  Schulphilosophie  ge- 
blieben ist. 

Der  aus  der  antiken  jüdischen  Metaphysik  hervorstechende  Dua- 
lismus hat  auch  sein  Analogon  in  der  arischen  Metaphysik.  Plato  teilt 
die  Welt  ein  in  die  Welt  der  Dinge  und  dinglichen  Erscheinungen,  die 
dem  Wechsel  unterworfen  sind,  und  in  eine  Welt  der  Ideen,  die  kon- 
stant und  der  Veränderlichkeit  nicht  unterworfen  sind.  Auch  Aristo- 
teles führt  ein  dualistisches  Moment  in  die  Philosophie  ein  dadurch, 
daß  er  Materie  und  Form  unterscheidet,  und  die  Neoplatoniker  lehren 
ausdrücklich  das  Vorhandensein  zweier  Welten,  die  rein  körperliche 
und  die  rein  geistige  Welt.  Descartes  erneuert  den  antiken  Dualismus. 
Er  unterscheidet  zwischen  Res  extensae  und  Res  cogitatae  und  be- 
hauptet, daß  beide  nur  durch  das  Zwischentreten  Gottes  zusammen- 
gehalten werden.  Bei  Kant  kehrt  der  Dualismus  wieder  in  der  Postu- 
lierung einer  phänomenalen  und  numenalen  Welt  wieder,  bei  Schopen- 
hauer in  der  scharfen  Gegenüberstellung  von  Wille  und  Vernunft. 
Dieses  dualistische  Analogon  in  der  arischen  Metaphysik  zeugt  nur 
von  der  logischen  Kontinuität  in  der  Geschichte  des  Geistes,  und  diese 
Kontinuität  ist  darauf  begründet,  daß  die  Menschen  überall  und  zu 
allen  Zeiten  den  gleichen  Naturgesetzen  unterworfen  sind  und  daß  die 
menschliche  Logik  überall  die  gleiche  ist.  Die  Erkenntnis  des  Menschen 
mag  sich  verschiedenartig  ausdrücken  —  der  Ausdruck  ist  schon  ein 
Produkt  der  Zeit  und  der  Umgebung,  aber  der  Inhalt  der  Erkenntnis 
muß  überall  der  gleiche  sein.  Dies  erklärt  die  augenscheinlich  merk- 
würdige Erscheinung,  daß  zwei  so  grundverschiedene  Systeme  der 
Kultur,  wie  das  arische  und  das  hebräische  zu  einer  ähnlichen  oder 
zu  einer  gleichen  Erkenntnis  der  letzten  Dinge  gekommen  sind  und 
eine  ähnliche  Metaphysik  geschaffen  haben. 

Wenn  ein  Unterschied  zwischen  dem  metaphysischen  Gedanken 
der  Arier  und  der  antiken  Juden  existiert,  ist  dieser  Unterschied  kein 
prinzipieller,  sondern  ein  gradueller.  Beide  geben  den  Dualismus  zu, 
beide  legen  Gott  ähnliche  Prädikate  bei  und  beide  interessieren  sich 
für  dieselben  Probleme  usw.  Nur  daß  die  hebräische  Metaphysik  nicht 
dieselben  tragischen  Töne  verlautbart  wie  die  arische.   Seit  den  Tagen 

173 


von  Plato  hören  wir  die  arischen  Philosophen  über  die  Welt  der  Sinne 
klagen.  Sie  klagen  über  die  Dinge  oder  über  den  Willen,  der  die  Men- 
schen mit  Blindheit  schlägt  und  der  wie  eine  eiserne  Wand  zwischen 
ihnen  und  der  wahren  Welt,  zwischen  der  Wirklichkeit  und  der  Wahr- 
heit steht.  Über  der  hebräischen  Metaphysik  jedoch  schwebt  ein  Geist 
von  Freundlichkeit  und  Ruhe,  weil  sie  auf  die  Biologie  we- 
niger Gewicht  legt  und  weil  sie  den  Konflikt  zwischen 
der  sinnlichen  und  der  übersinnlichen  Welt  nicht  so 
scharf  hervortreten  läßt  wie  die  arische  Metaphysik. 
Die  arische  Metaphysik  zum  Beispiel,  die  sich  ursprünglich  an  der 
Physik  entzündet,  mußte  mit  mechanischer  Notwendigkeit  zum  theo- 
logischen Schuldbegriff  kommen,  denn  Prädestination,  wie  sie  der 
heilige  Augustinus  auffaßt,  ist  nur  ein  Analogon  zum  Determinismus 
in  der  Biologie.  Auch  die  jüdische  Metaphysik  spricht  vom  Schuld- 
begriff. „In  Sünde  hat  mich  meine  Mutter  gezeugt",  klagt  der  Psalm- 
dichter, oder:  „Das  menschliche  Sinnen  ist  schlecht  von  seiner  Jugend 
an",  klagt  schon  der  Verfasser  des  ersten  Buches  Mosis.  Aber  der 
Schuldbegriff  in  der  hebräischen  Metaphysik  ist  so  abgetönt  und  ist 
so  hingeworfen,  daß  er  den  metaphysischen  Horizont  nicht  verfinstert, 
wie  es  bei  den  Ariern  der  Fall  ist.  Auch  die  synthetisch-intuitive  Denk- 
weise der  antiken  Hebräer  hat  viel  mit  der  Ruhe,  die  die  hebräische 
Metaphysik  auslöst,  zu  tun.  Die  hebräische  Metaphysik  ist,  wie  schon 
angedeutet,  ein  Produkt  des  intuitiven  Denkens  im  Gegensatz  zu  der 
arischen  Metaphysik,  die  ein  Produkt  des  analytischen  Denkens  ist. 
Trotz  des  Dualismus,  den  die  hebräische  Metaphysik  lehrt,  hat  sich 
in  ihr  kein  Riß  zwischen  Wahrheit  und  Wirklichkeit  oder  Sinnenwelt 
und  Ideenwelt  entwickelt,  weil  sie  eben  synthetisch-intuitiven  Ur- 
sprungs ist.  Dies  erklärt  auch  die  Annäherung  zwischen  Willen  und 
Vernunft  in  der  hebräischen  Metaphysik,  eine  Annäherung,  die  ihren 
höchsten  Ausdruck  in  dem  synthetischen  Begriff  Deah  gefunden  hat. 
Deah  heißt  im  Hebräischen  sowohl  Erkenntnis  als  Liebe,  und  selbst 
ein  solcher  Häretiker  wie  Spinoza  konnte  sich  über  diese  uralte  he- 
bräische Tradition  nicht  hinwegsetzen,  als  er  sein  Amor  Dei  Intellek- 
tualis  lehrte.  Aus  diesem  Grunde  finden  wir  in  der  hebräischen  Ethik 
auch  nicht  den  Extremismus,  den  wir  in  der  arischen  Ethik  finden. 
Die  hebräische  wie  die  arische  Ethik  anerkennt  die  Existenz  von  Gut 
und  Böse  in  dieser  Welt,  aber  sie  schließt  nicht  wie  die  arische  Ethik 
damit,  daß  diese  Welt  nur  aus  absolut  guten  und  absolut  bösen  Men- 
schen besteht,  und  will  auch  nicht  gestehen,  daß  die  Welt  der  Sinne 
oder  die  Welt  der  Erscheinungen  im  ganzen  sündenbeladen  ist,   wie 

174 


es  die  arische  Metaphysik  lehrt.  Denn  wäre  nach  hebräischer  Auf- 
fassung die  Sünde  mit  der  Natur  gesetzt,  dann  würde  der  Prophet 
nie  dazu  kommen,  eine  Zeit  vorauszusagen,  in  der  der  Wolf  und  das 
Lamm  zusammenhausen  werden,  d.  h.  daß  die  biologische  Natur  auch 
ethisch   entwicklungsfähig  sei. 

Alles  in  allem  bietet  die  hebräische  Metaphysik  ein  merkwürdiges 
Bild  von  den  geistigen  Bewegungen  und  von  der  geistigen  Intensität  im 
alten  Judäa.  Obgleich  naturwissenschaftlich  ganz  ungeschult  und  philo- 
sophisch auch  nicht  geschult  und,  ohne  den  Verstand  an  philosophischen 
Begriffen  geschärft  zu  haben,  ist  es  doch  den  antiken  Juden  gelungen, 
ein  metaphysisches  Panorama  zu  schaffen,  das  in  seinen  Grundstrichen 
von  dem  philosophischen  Weltbild  der  alten  Griechen  gar  nicht  so  ver- 
schieden ist.  Nur  daß,  wie  gesagt,  die  arische  Metaphysik  wohl  selbst- 
bewußte und  ernst-tragische  Töne  findet  und  zuletzt  in  Pessimismus  aus- 
klingt, während  die  hebräische  Metaphysik  grundsätzlich  nicht  sehr  ver- 
schieden von  der  arischen,  ein  einziges,  ununterbrochenes  Hohes  Lied 
des  Optimismus  ist  und  optimistisch  ausklingt.  Der  antike  Jude  betrach- 
tete eben  die  Welt  als  die  Welt  ewiger  Wiederkehr  innerhalb  des  Weltalls 
mit  frohem,  lebensfrischem  Gemüt  und  nicht  nur  mit  dem  Verstand 
allein,  wie  es  der  arische  Denker  tut.  Dies  erklärt  auch,  warum  die 
hebräische  Metaphysik,  zum  größten  Teil  wenigstens,  zum  Gemeingut 
der  Menschheit  geworden  ist,  während  die  Schulphilosophie  der  ari- 
schen Denker  nur  zum  Gemeingut  einer  kleinen  Gelehrtenrepublik 
werden  konnte.  Die  arische  Philosophie  hat  die  formale  Logik  ge- 
schaffen. Die  einfache  und  oft  naive  Gedankenwelt  der  antiken  Juden 
hat  keine  Logik  geschaffen,  aber  trotzdem  ist  der  hebräische  Gottes- 
begriff logisch  viel  solider  als  der  arische  Gott  es  begriff.  Der  Schwer- 
punkt im  arischen  Gottesbegriff  ist  die  Tatsache  des  Seins  Gottes. 
Seine  Attribute  und  Prädikate  interessieren  den  arischen  Gläubigen 
kaum.  Er  fragt  selten:  „Was  ist  Gott?"  Ihn  interessiert  nur  die  Tat- 
sache der  Existenz  Gottes.  Der  Jude  dagegen  legt  weniger  Schwer- 
gewicht auf  die  Tatsache  des  Seins  Gottes,  als  auf  die  Attribute  Gottes, 
die  den  Inhalt  des  religiösen  Glaubens  bilden.  Nicht  der  Glaube  an 
Gott  an  sich  interessiert  ihn,  sondern  der  Inhalt  des  Glaubens,  denn 
der  hebräische  Gottesbegriff  ist  teleologisch,  er  ist  zwecksetzend,  er 
ist,  wie  schon  oben  angedeutet,  ein  ethisches  Schulbeispiel.  Die  Grund- 
lage des  hebräischen  Gottesbegriffes  ist  die  ethische  Erkenntnis,  die 
sittliche  Verwirklichung,  die  Annäherung  an  Gott.  Der  Jude  bekennt 
sich  zum  Glauben  an  das  Dasein  Gottes,  weil  er  Gott  definieren  kann. 
Er  kann  manches  von  ihm  aussagen,  er  kann  seine  Weisheit  teilweise 

175 


erklären,  aber  welche  Logik  steckt  in  dem  formalen  Glauben  an  das 
Dasein  Gottes,  dessen  Attribute  keinem  bekannt  sind,  dessen  Wesens- 
inhalt unbekannt  ist?  Ein  solcher  Gottesbegriff  ist  ein  leerer  Begriff. 
Der  Satz,  der  Gott  Israels  lebt  und  existiert,  ist  nicht  nur  eine  religiöse 
Phrase,  sondern  er  enthält  einen  tiefen  philosophischen  Gedanken. 
Gott  lebt  und  erscheint  uns  lebendig  durch  seine  Attribute  und  Prä- 
dikate, aber  der  Gott  der  arischen  Schulphilosophie  ist  ein  toter  Gott, 
weil  er  nur  ein  leerer  Begriff  ist,  und  daher  auch  natürlich  ein  ateleolo- 
gischer Gott.  Und  so  kommt  es,  daß  das  sozusagen  alogische  Judentum 
einen  logischen  Gott  geschaffen  hat,  während  das  logische  Ariertum 
einen  Gott  geschaffen  hat,  der  weder  logisch  noch  ethisch  ist,  sondern 
nur  ein  leerer  metaphysischer  Begriff.  So  zeugt  auch  die  hebräische 
Metaphysik  oder  das  metaphysische  Weltbild  der  alten  Hebräer  für 
die  Eigenartigkeit  und  Individualität  des  antiken  jüdischen  Geistes, 
der,  obwohl  dem  arischen  Geist  so  wesentlich  verwandt,  ihm  doch 
in  vieler  Hinsicht  fremd  gegenübersteht. 


176 


Neuntes  Kapitel. 


Sprache  und  Schrifttum. 

Das  jüdische  Volk  und  die  jüdische  Literatur.  —  Die  linguistische  Begabung 
der  Juden.  —  Das  hebräische  Element  in  jüdischen  Dialekten.  —  Die  Kontinuität 
der  hebräischen  Literatur.  —  Die  Sprache  der  alten  Juden.  —  Charakteristische 
Merkmale  der  hebräischen  Sprache.  —  Hebräisch  —  eine  Sprache  von  Haupt- 
wörtern. —  Hebräische  Synonyme.  —  Die  Unmittelbarkeit  des  Ausdrucks.  — 
Ausdrucksweise  der  antiken  Juden.  —  Hebräisch  eine  Sprache  der  Affekte.  —  Die 
althebräische  Prosa.  —  Die  prophetische  Beredsamkeit.  —  Der  Gedankenrhythmus 
in  den  prophetischen  Büchern.  —  Die  Naivität  der  althebräischen  Poesie.  — 
Charakter  der  hebräischen  Poesie.  —  Die  althebräische  Poesie  ist  nicht  differen- 
ziert. —  Die  Bibel  ist  ein  Buch  von  Bekenntnissen.  —  Althebräische  Offenherzig- 
keit. —  Das  naiv-kosmische  Bewußtsein  der  Propheten.  —  Die  antiken  Juden  und 
das  Drama.  —  Die  Juden  werden  Gesetzesvolk  —  die  Konsequenzen.  —  Bibel 
und  Talmud.  — 

Zu  den  großen  geistigen  Schöpfungen  des  jüdischen  Volkes  gehört 
auch  seine  Literatur,  die,  nach  einem  schönen  Worte  Gustav  Karpeles 
vor  allen  anderen  den  Namen  einer  nationalen  Literatur  verdient,  weil 
die  Zeit  seiner  nationalen  Größe  auch  die  Blüte  seiner  Literatur  sei 
Die  hebräische  Sprache  hingegen  ist  keine  besondere  Schöpfung  der 
alten  Juden,  da  sie  sie  mit  anderen  Völkern  teilten.  Wie  andere  No- 
maden- und  Wüstenvölker  semitischer  Rasse  keinen  Monotheismus 
geschaffen  und  keine  Propheten  hervorgebracht  haben,  so  haben  auch 
die  hebräisch  sprechenden  Völker  keine  Literatur  für  die  Juden  ge- 
schaffen. Die  hebräische  Literatur  ist,  wie  wir  bald  sehen  werden, 
trotz  der  hebräischen  Sprache  entstanden.  Die  Juden  fingen  an  —  nach 
Ansicht  der  modernen  Semitologie  — ,  sich  des  Kanaanischen  (He- 
bräischen) zu  bedienen,  als  diese  Sprache  die  Höhe  ihrer  Entwicklung 
schon  längst  überschritten  hatte.  Trotzdem  aber  vermochten  es  die 
alten  Juden,  dieser  schon  im  Verfall  befindlichen  Sprache  eine  eigene 
Ausbildung  zu  geben.    Die  Tatsache,  daß  die  alten  Juden  eine,  wenn 

12   Melamed 

177 


auch  der  ihrigen  (dem  Chaldäischen)  verwandte  Sprache  übernommen 
haben,  dient  dazu,  die  verworrenen  Sprachverhältnisse  der  Juden  zu 
klären,  seit  Hebräisch  aufgehört  hat,  eine  „lebendige"  Sprache  zu 
sein.  War  es  nicht  ein  atavistischer  Rückfall,  daß  die  Juden  noch  vor 
der  Zerstörung  Jerusalems  wieder  zum  Aramäischen  griffen?  Manche 
Forscher  vertreten  die  Ansicht,  daß  Hebräisch  als  die  Volkssprache 
der  Juden  gleich  nach  der  babylonischen  Gefangenschaft  zu  leben  auf- 
gehört habe.  Demnach  habe  Hebräisch  unter  den  Juden  nur  etwa 
ein  halbes  Jahrtausend  gelebt.  Es  ist  nicht  hier  die  Stelle,  diese  Be- 
hauptung auf  ihre  Richtigkeit  hin  zu  prüfen.  Es  sei  nur  beiläufig  er- 
wähnt, daß  die  Juden  alter  und  neuer  Zeit  ihre  Sprache  leicht  wech- 
seln und  die  neu  angenommene  Sprache  ebenso  schnell  und  leicht 
meistern  wie  die  alte.  Von  Daniel  und  Philo  bis  auf  die  jüdischen 
Troubadoure  in  Spanien  und  auf  die  jüdischen  Minnesänger  in  Deutsch- 
land, von  den  arabisch  schreibenden  Juden  des  Mittelalters  bis  auf 
Mendelssohn,  Heine  und  Börne  kehrt  diese  Erscheinung  immer  wieder. 
Die  Juden  haben  immer  eine  linguistische  Begabung  an  den  Tag  ge- 
legt. Der  beste  deutsche  Metriker  der  Gegenwart  ist  ein  Jude,  Ludwig 
Fulda,  dessen  deutsche  Moliere-Übersetzung  die  französischen  Gelehr- 
ten entzückt.  Der  französische  Philosoph  Bergson,  der  Enkel  eines  pol- 
nischen chassidischen  Rabbi,  wird  von  den  Franzosen  als  maitre  ecrivain 
gefeiert,  und  Israel  Zwangwill  rühmen  die  Engländer  als  den  zeitgenössi- 
schen Schriftsteller,  der  das  Englische  fast  so  meistert  wie  Dickens. 
Trotz  der  linguistischen  Begabung  der  Juden  gilt  von  der  he- 
bräischen Sprache,  wie  sie  von  Juden  geschaffen  worden  war,  was 
einst  Fornelli  von  der  Sprache  einer  Nation  im  allgemeinen  aussagte. 
Die  hebräische  Sprache,  wie  sie  die  Juden  übernommen  und  ent- 
wickelt haben,  bildet  bis  auf  den  heutigen  Tag  einen  bedeutenden 
Faktor  in  ihrem  Leben  und  kontrolliert  die  Bewegungen  ihres  Geistes 
-  obwohl  sie  schon  mehr  als  zwei  Jahrtausende  „tot"  ist.  Die  Juden 
haben  das  Hebräische  nicht  entdeckt,  aber  sie  haben  der  Sprache 
das  Siegel  ihres  Geistes  so  aufgedrückt,  daß  sie  nur  noch  als  rein 
jüdisches  Produkt  angesprochen  werden  darf. 

Wenn  man  nun  dagegen  einwenden  wollte,  daß  die  Juden  doch 
schon  mehr  als  zwei  Jahrtausende  ohne  ihre  nationale  Sprache  exi- 
stieren und  daraus  geschlossen  werden  müßte,  daß  Hebräisch  gar 
keinen  bedeutenden  Faktor  in  ihrem  Leben  gebildet  hätte,  so  wäre  dar- 
auf zu  erwidern:  1.  Es  braucht  hier  nicht  speziell  auseinandergesetzt 
zu  werden,  daß  die  jüdische  Religion,  die  eine  heilige  Schrift  hat, 
wenn  auch  nicht  die  einzige  Ursache  der  jüdischen  Erhaltung,  so  doch 

178 


jedenfalls  eine  der  Ursachen  war,  die  das  Judenvolk  vor  dem  Unter- 
gang bewahrt  hat.  Und  die  jüdische  Religion  kann  nur  hebräisch  ge- 
pflegt werden,  es  sei  denn,  daß  man  amerikanischen  Reformrabbis 
es  nachtue  und  eine  blut-,  nerven-  und  farblose  Afterreligion  schaffe, 
die  mit  dem  eigentlichen  Judentum  ebensowenig  zu  tun  habe,  wie  der 
leblose  Theismus  gewisser  anglo-sächsischer  Prediger  mit  dem  Christen- 
tum etwas  gemein  hat.  Unter  den  verschiedensten  Umständen  be- 
dienten sich  die  Juden  der  Sprache  ihrer  Wirtsvölker,  aber  was  die 
Juden  innerlich  zum  großen  Teil  zusammenhielt,  die  gemeinsame  Re- 
ligion mit  ihrem  heiligen  Schrifttum,  das  war  ihre  gemeinsame  innere 
Sprache,  das  geistige  Verständigungsmittel  der  Juden  zu  allen  Zeiten. 
Seit  zwei  Jahrtausenden  oder  schon  länger  wird  von  den  jüdischen 
Massen  nicht  mehr  hebräisch  gesprochen,  aber  deswegen  hat  die 
hebräische  Literatur  doch  nicht  aufgehört  zu  leben  oder  zu  blühen. 
Was  gedanken-  und  gemürsreiche  Juden,  die  ihrem  Volke  ergeben  sind, 
ihrem  Volke  und  der  Menschheit  zu  sagen  haben,  sagen  sie  in  he- 
bräischer Sprache.  Nicht  nur  verstand  jeder  Jude  mehr  oder  weniger 
diese  Sprache,  mochte  er  in  Spanien,  in  Polen  oder  in  Deutschland 
leben,  sondern  er  bediente  sich  ihrer  in  einer  Weise,  die  dem  Fernr 
stehenden  kaum  verständlich  war.  Alle  abstrakten  Begriffe  im  jüdisch- 
deutschen Jargon,  oder  im  Ladino,  im  spanisch-jüdischen  Jargon,  der 
in  den  Balkanländern  viel  gebraucht  wurde,  sind  durchwegs  hebräisch. 
Das  gleiche  gilt  vom  arabisch-jüdischen  und  vom  persisch-jüdischen 
Jargon.  Der  Gebrauch  von  hebräischen  Abstrakta  in  diesen  von  Juden 
gebrauchten  Dialekten  geht  so  weit,  daß  ganz  neue,  aus  dem  Hebräi- 
schen abgeleitete  Formen  gebildet  werden.  Zudem  ist  zu  bedenken, 
daß  die  große  Mehrzahl  des  Volkes  und  bis  vor  kurzem  auch  das 
ganze  Volk  rechtgläubig  war  und  alle  religiösen  Gesetze  und  Gebräuche 
beobachtete.  Das  Gesetz  aber  ist  in  hebräischer  Sprache  abgefaßt. 
Der  strenggläubige  Jude  macht  keine  Bewegung  im  Leben,  ohne  sich 
an  dem  Gesetz  zu  orientieren.  Das  hebräisch  abgefaßte  Gesetz  kon- 
trolliert die  Bewegungen  des  jüdischen  Individuums  von  der  Wiege 
bis  zur  Bahre  noch  genauer  als  das  Gefängnis  die  Bewegungen  eines 
Sträflings.  Der  strenggläubige  Jude  betet  nicht  nur  dreimal  täglich 
hebräisch,  sondern  er  verrichtet  auch  einige  Dutzend  kleinere  he- 
bräische Gelegenheitsgebete  im  Laufe  des  Tages.  Die  ganz  From- 
men verrichten  hundert  solcher  Gebete  im  Laufe  des  Tages.  Jeden 
Samstag  wird  dem  Juden  ein  Abschnitt  der  Thora  in  der  Synagoge 
im  Original  vorgelesen.  An  jedem  Freitag  liest  er  selbst  diesen  Ab- 
schnitt zweimal  hintereinander.    Die  im  Talmud  Bewanderten  widmen 

12* 

179 


bis  auf  den  heutigen  Tag  einen  großen  Teil  ihrer  Zeit  dem  Talmud- 
studium. Wer  weniger  gelehrt  ist,  lispelt  PsaJmen  auswendig.  Jetzt 
mache  man  sich  einen  Begriff,  wie  weit  noch  der  heutige  streng- 
gläubige Jude  mit  der  hebräischen  Sprache  verwachsen  ist.  Im  Hin- 
blick auf  diese  Tatsache  hat  Ernest  Renan  mit  Recht  die  hebräische 
Sprache  als  noch  lebend  bezeichnet.  Die  hebräische  Literatur  hat 
immer  gelebt  und  blüht  jetzt  stärker  und  prächtiger  denn  je.  Noch 
nie  hat  es  so  viele  phantasiereiche  und  ausdrucksgewaltige  hebräische 
Dichter  gegeben  wie  jetzt.  Der  hebräischen  Sprache  sind  zu  allen 
Zeiten  große  Dichter  und  Denker  entstanden;  das  hätte  nicht  wohl 
der  Fall  sein  können,  wenn  diese  Sprache  dem  Volksbewußtsein  gänz- 
lich abgestorben  wäre.  Das  Verhältnis  der  Juden  zu  der  nationalen 
Sprache  in  den  letzten  zwei  Jahrtausenden  beweist,  daß  sie  neben 
der  Religion  der  wichtigste  Faktor  im  nationalen  Leben  war.  Aus 
diesem  Grund  ist  es  doppelt  wichtig,  die  Sprache  und  das  Schrifttum 
in  den  Kreis  unserer  Betrachtungen  zu  ziehen.  Die  hebräische  Sprache 
bildet  selbst  heute  nicht  nur  eine  zusammenhaltende  Kraft,  sondern 
sie  regelt  durch  ihre  Formen  die  Bewegungen  des  Geistes.  Einem 
zeitgenössischen  hebräischen  Schriftsteller,  dem  eine  europäische 
Sprache  zur  Gewohnheit  geworden  ist,  mag  sie  weniger  ihr  Siegel 
aufdrücken.  Sie  muß  aber  den  antiken  Juden  ganz  in  ihren  Bann  ge- 
halten haben,  denn  die  Geschlossenheit  und  Festigkeit  ihrer  Formen 
weisen  den  Gedankenreihen  bestimmte,  unabweisbare  Bewegungen, 
so  daß  sie  geradezu  despotisch  sich  dem  Geiste  aufbürdet. 

Wie  der  hebräische  Kulturgedanke  aus  einer  geographischen 
Mitte  hervorgegangen  ist,  so  die  hebräische  Sprache  aus  einer  völ- 
kischen. Die  Sprache  der  alten  Juden  gehört  zu  einer  Sprachenfamilie, 
die  man  seit  Einhorn  als  die  semitische  bezeichnet.  Da  aber  in  der 
Genealogie  des  Alten  Testaments  die  Kanaaniter  nicht  als  Nach- 
kommen Scheins  bezeichnet  werden  und  Hebräisch  im  Alten  Testament 
als  die  Sprache  Kanaans  charakterisiert  wird,  so  ist  die  Bezeichnung 
des  Hebräischen  als  semitisch  formell  unanfechtbar  formell,  aber 
nicht  in  der  Sache  selbst:  denn  die  althebräische  Sprache  gehört,  ob- 
gleich sie  von  vollständig  eigenartiger  Ausbildung  ist,  dem  semitischen 
Sprachstamm  an  und  nimmt  eine  Mittelstellung  zwischen  nordsemitisch- 
aramäisch  und  südsemitisch-arabisch  ein.  Wie  alle  semitischen  Spra- 
chen weist  auch  das  Hebräische  das  Charaktermerkmal  des  Triliteris*- 
mus  auf.  Alle  Begriffswurzeln  bestehen  nur  aus  zwei  Konsonanten. 
Die  begleitenden  Vokale  werden  zur  Nuancierung  der  Wurzel  in  den 
verschiedenen    Formen    von    Nomen    und    Verbum    verwendet.    Nur 

180 


die  Konsonanten  werden  als  Buchstaben  geschrieben,  während  die 
Vokale  durch  Zeichen  ausgedrückt  und  angedeutet  werden.  Von  dem 
Wortreichtum  dieser  Sprache  ist  sehr  viel  verloren  gegangen,  gegen- 
wärtig sind  etwa  10  000  Worte  bekannt. 

Was  in  dieser  Sprache  sofort  auffällt,  ist  der  Reichtum  an  Sub- 
stantiven und  die  Armut  an  Verben.  Bekanntlich  exemplifizierte  schon 
Baruch  Spinoza  seine  Substanzlehre  an  dem  übermäßigen  Reichtum 
an  Substantiven  in  der  hebräischen  Sprache.  Alle  großen  Hebräisten 
seit  Gesenius  haben  auf  dieses  Faktum  hingewiesen,  ohne  eine  psycho- 
logische Erklärung  versucht  zu  haben.  Mir  scheint  der  Grund  für 
diese  Erscheinung  sehr  einfach.  Die  Sprache  bildet  sich  an  dem  Leben. 
Ein  an  Zivilisation  reiches,  tätiges  Volk  wird  eine  an  Verben 
reiche  Sprache  schaffen  und  bilden,  während  ein  an  Zivilisation  armes 
und  ein  primitives  Leben  führendes  Volk,  das  noch  dazu  einer  un- 
wirklichen Geistigkeit  ergeben  ist,  nur  substantivisch  denkt  und  spricht. 
Man  kann  die  Probe  aufs  Exempel  stellen,  wenn  man  die  Zahl  der 
Verben,  die  ein  Hirt  oder  Bauernknecht  am  Tage  gebraucht,  und 
die  Zahl  der  Verben,  die  ein  Arbeiter  am  Tage  gebraucht,  zählt  und 
vergleicht.  Es  wird  sich  dann  ergeben,  daß  der  Industriearbeiter  oder 
Handwerker  oder  Handelsmann  drei-  bis  fünfmal  so  viele  Verben  ge- 
braucht als  der  Hirt  oder  Bauernknecht. 

Ein  zweites  und  sehr  wichtiges  Charakteristikum  der  hebräischen 
Sprache  sind  die  vielen  Synonyma  und  die  sinnverwandten  Wörter. 
So  zum  Beispiel  hat  die  hebräische  $P räche  für  Regen  zehn  Aus- 
drücke, die  alle  unglaublich  feine  Nuancierungen  aufweisen ;  für  den 
Begriff  Bedrückung  elf  verschiedene  Ausdrücke;  für  die  Beobachtung 
des  Gesetzes  fünfundzwanzig  Synonyma;  für  den  Ausdruck  des  Gottes- 
vertrauens vierzehn  Synonyma;  für  die  Vernunft  zwölf  Synonyma  usw. 
Daraus  ist  wohl  zu  ersehen,  daß  die  Armut  an  Verben  in  der  hebräi- 
schen Sprache  wohl  für  den  Mangel  an  Zivilisation  (Industrie,  Tech- 
nik, Handel,  Politik  usw.)  zeugt,  nicht  aber  für  den  Mangel  an  Kultur. 
Ein  Hirt,  der  für  seine  tägliche  Sprache  nur  weniger  Verben  bedarf, 
hat  auch  keine  zwölf  Bezeichnungen  für  Vernunft.  Der  übergroße 
Reichtum  der  hebräischen  Sprache  an  Wörtern,  die  sich  speziell  auf 
das  Landleben  beziehen,  besagt  aber  zumindest  so  viel,  daß  die  alten 
Juden  Ackerbau  und  Viehzucht  trieben,  denn  an  kommerziellen  und  in- 
dividuellen Begriffen  ist  das  Althebräische  so  arm,  daß  selbst  der  Aus- 
druck für  Handel  fehlt. 

Wegen   des   Reichtums   an   Substantiven,   so   bemerkt   Ewald  mit 
Recht,  eignet  sich  die  hebräische  Sprache  wie  keine  andere  zur  Dar- 

181 


Stellung  des  raschen  Wechsels  aufeinanderfolgender  Bilder.  Die  Er- 
zählung der  alten  Hebräer,  das  kann  man  aus  dem  Buche  Ruth  oder 
aus  dem  Buche  Esther  ersehen,  ist  sehr  einfach  und  naiv,  und  von 
der  Naivität  der  Erzählung  darf  man  mit  Recht  auf  die  intellektuelle 
Unerfahrenheit  der  alten  Juden  schließen.  Die  einzelnen  Tatsachen 
und  Bilder  werden  handgreiflich  nebeneinander  hingeworfen.  Daß 
die  Bilder  immer  richtig  sind  und  auf  ihrem  richtigen  Platz  stehen, 
ist  auf  den  ungetrübten  und  ungebrochenen  Instinkt  des  naturfrischen 
Menschen  und  nicht  auf  irgendeine  Reflexion  zurückzuführen.  Wenn 
nun  gesagt  wurde,  daß  die  hebräische  Sprache  wegen  ihrer  Armut  an 
Verben  sich  für  oratorische  Zwecke  nicht  eignet,  insbesondere  weil 
die  Grammatik  der  semitischen  Sprachen  die  Einschachtelung  von 
Satzgliedern  nicht  zuläßt  und  daher  die  Sätze  kürzer  sein  müssen, 
so  ist  darauf  mit  dem  Faktum  zu  erwidern,  daß  die  Propheten  als 
Redner  doch  wohl  Beträchtliches  geleistet  haben.  Eine  wirksame  und 
zündende  Beredsamkeit  richtet  mit  dem  Substantiv  immer  noch  mehr 
aus  als  mit  dem  Verbum,  insbesondere  wenn  demselben  einige  Kraft- 
adjektive vorangehen.  Speziell  für  die  geistliche  Rede  hat  sich  die 
Bibel  als  Fundgrube  erwiesen.  Wenn  man  alle  großen  Stilisten  der 
Neuzeit  bis  auf  Nietzsche  auf  ihre  Sprachtechnik  genau  beobachtet, 
wird  es  einem  gleich  klar,  daß  die  Wirkung  eines  Stils  auf  den  über- 
mäßigen Gebrauch  des  Substantivs  zurückzuführen  ist.  Friedrich 
Nietzsches  „Also  sprach  Zarathustra"  ist  wohl  ein  bezeugendes  Bei- 
spiel. Der  übermäßig  lange  Satz,  der  beim  Leser  und  beim  Zuhörer 
ein  Gähnen  auslöst,  ist  überreich  an  Verben.  Der  berüchtigte  juristische 
Packpapierstil  ist  mit  Verben  verankert,  die  Prosa  Ludwig  Börnes, 
Goethes   und   Schopenhauers   mit  Substantiven. 

Dem  Reichtum  an  Substantiven  in  der  hebräischen  Sprache  steht 
nicht  die  relative  Armut  an  Verben,  sondern  auch  an  verbalen  und 
temporalen  Formen  gegenüber.  Hebräisch  hat  sieben  und  Arabisch 
elf  Konjugationen.  Dem  Hebräischen  fehlt  auch  das  eigentliche  Pas- 
sivum  und  das  ursprüngliche  Energeticum.  Die  Armut  an  tempo- 
ralen Formen  teilt  es  jedoch  mit  vielen  anderen  semitischen  Sprachen. 
Gleich  diesen  fehlen  auch  dem  Hebräischen  die  zwei  Hilfsverben  Sein 
und  Haben.  Auch  die  Entwicklung  des  Modus  ist  mangelhaft  geblieben. 
Reicher  hingegen  sind  die  Formen  für  die  Intensität  der  Handlung 
und  für  die  reziproken  und  akkusativen  Bezeichnungen.  An  ver- 
balen und  temporalen  Formen  ist  *auch  die  Syntax  nicht  genügend  aus- 
gebildet. Der  hebräische  Periodenbau  ist  klein  und  primitiv  und  be- 
ruht  auf   dem   System   der   Koordination.     Die   Rede  dagegen   ist  frei 

182 


und  fließend,   weil  sie  nicht  mit  zu  vielen  Hilfszeitwörtern  und  Für- 
wörtern  belastet  ist,   aber  ihr  fehlt   die  Fähigkeit,  durch  Zusammen- 
setzungen leicht  neue  Wörter  zu  bilden.    Liest  man  jedoch  die  Pro- 
pheten oder  die  Psalmen,  so  geht  einem  gleich  auf,  was  die  Juden 
aus  dieser  armen  Sprache  gemacht  und  wie  sie  ihren  schweren  Ge- 
dankenrhythmus in  sie  gepreßt  haben,  ohne  ihre  Fesseln  zu  sprengen. 
Die  Tätigkeit  des  Essens  z.  B.  wird  auch  zugeschrieben:  1.  dem  Feuer, 
2.   der   Hitze,   3.   dem    Eifer,   4.    dem   Zorn,   5.   der  Schande,   6.  dem 
Schwert,  7.  der  Krankheit,  8.  dem  Fluche  und  9.  dem  Lande.   Die  Be- 
deutung  dieses    einen   Wortes    erweitert   sich    dann   zum    Verderben, 
Verschlingen,  Vernichten,  Verzehren,  Vertilgen,  Ausrotten,  Vergehen, 
Verglühen  usw.    In  ähnlicher  Weise  erweitert  sich  das  Wort  Trinken 
und  noch  eine  Reihe  anderer  dem   animalischen  Leben  entnommener 
Wörter.    Das   Wort  Kleid  wird   z.    B.   von  unzähligen   Umdeutungen, 
Handlungen  und  Zuständen  verwendet.    Es  bekleidet  sich  der  Gottes- 
mann mit  dem  Geiste  Gottes,  es  bekleidet  sich  das  Fleisch  des  kranken 
Hiob  mit  Gewürm  usw.,  man  bekleidet  sich  mit  Hoheit,  Herrlichkeit,, 
mit   Pracht,   Glanz,   Sieg   usw.    Man   kann   mit   einem   Substantiv  im 
Hebräischen   oft   15   bis  20   Substantive    einer   anderen   Sprache   aus- 
drücken.   Wer  denkt  nicht  an  die  ersten  Verse  von  Psalm  104: 

Preise  den  Herrn,  meine  Seele! 

Du  mein  Gott,  Du  bist  sehr  groß, 

Mit  Hoheit  und  Herrlichkeit  bist  Du  bekleidet, 

Er  hüllet  sich  in  Licht  wie  ein  Gewand, 

Er  spannt  den  Himmel  aus  wie  ein  Zelttuch 

Und  wölbt  mit  Wasser  seinen  Söller. 

Oft  wird  eine  verblüffende  Anschaulichkeit  der  Rede  mit  den 
primitivsten  Sprachmitteln  erreicht.  Anstatt  zum  Beispiel  dem  ganzen 
Körper  des  Menschen  eine  Tätigkeit  zuzuschreiben,  wird  sie  nur 
einem  Glied  zugeschrieben.  „Die  Füße  laufen  zum  Bösen. "  „Jakob 
hob  auf  seine  Füße  und  ging",  oder  „Rede  in  die  Ohren  des  Volkes" 
usw.  Durch  die  sinnfälligsten  Dinge  werden  Zustände  und  die  Ab- 
sicht Gottes  veranschaulicht,  so  z.  B.  von  Naturgewalten,  wie  Erd- 
beben, Gewitter,  Heuschrecken  und  Pest.  „Der  Donner  wird  Gottes- 
stimme, Licht  sein  Kleid,  der  Himmel  sein  Zelt,  die  ganze  Natur  ein 
Heer  von  Lebendigen."   (Herder,  Vom  Geiste  der  hebräischen  Poesie.) 

Da  Zeitwörter  fehlen,  müssen  Substantive,  abstrakte  Gegenstände 
und  Zustände  veranschaulichen.  Es  darf  als  Grundcharakter  der  hebräi- 
schen Sprache  angesehen  werden,  daß  sie  alles  Abstrakte  und  Geistige, 

183 


alles  Religiöse  und  Spirituelle  mit  den  all  er  einfachsten  Mitteln  wieder- 
gibt, weil  das  eigentliche  Mittel,  um  ein  Abstraktum  auszudrücken, 
das  Verbum,  unentwickelt  geblieben  ist.  Dadurch  blieb  die  lebendige 
Anschauung  der  Schilderung  gewahrt,  aber  diese  Anschaulichkeit  ging 
auf  Kosten  der  dichtenden  Fiktion:  Denn  der  Mangel  an  Verben  zwang 
den  dichterisch  schaffenden  Juden,  sich  auf  die  Andichtung  der  Dinge 
zu  beschränken.  Das  erklärt  die  relative  Monotonie  der  althebräischen 
Poesie,  sowie  den  recht  fühlbaren  Mangel  an  außernaturpoetischen 
Motiven.  Mit  dem  Substantiv  kann  man  in  der  Lyrik  recht  Beträcht- 
liches leisten,  nicht  aber  in  der  Epik.  Ich  bin  der  Meinung,  daß  der 
Mangel  an  Verben  in  der  hebräischen  Sprache  mit  ein  Grund  dafür  ist, 
daß  die  Juden  trotz  einiger  Ansätze  auf  dem  Gebiete  des  Epos  so  wenig 
geleistet  haben.  Selbst  das  Buch  Hiob  ist  von  lyrischen  Momenten 
durchsetzt. 

Eine  an  verbalen  und  temporalen  Formen  arme  Sprache  wie  die 
hebräische  ist  für  anaturale  Wissenschaften,  insbesondere  für  Logik 
und  Metaphysik,  ungeeignet.  Wie  schon  oben  auseinandergesetzt, 
findet  man  in  der  Bibel  recht  tiefsinnige  philosophische  Gedanken  und 
ein  an  sich  abgerundetes  philosophisches  Panorama.  Aber  da  die 
philosophischen  Gedanken  nicht  wissenschaftlich  vorgetragen  und  die 
Probleme  nicht  wissenschaftlich  formuliert  werden,  sind  sie  eben  nicht 
Wissenschaft,  sondern  Weisheit.  Der  alte,  hebräisch  sprechende  Jude 
sprach  nicht  wie  der  alte  Grieche  oder  Römer  im  syntaktischen  Nach- 
einander, sondern  im  bildlichen  Nebeneinander.  Den  Zusammenhang 
der  Gedanken  hält  er  durch  das  Wörtchen  „und"  aufrecht.  Wie  oft 
beginnt  nicht  in  der  Bibel  selbst  eine  ganz  neue  Gedankenreihe  mit 
dem  Wörtchen  „und".  „Und  Gott  sprach",  „Und  es  wird  in  den 
letzten  Tagen  geschehen"  usw.  Allerdings  ist  das  Wörtchen  „und" 
oft  das  Synonym  von  „nun",  „nunmal"  oder  „also".  Statt  des 
algebraischen  Systems  der  Sukzession,  des  Nacheinander  und  der  Aus- 
wicklung und  Einschachtelung  haben  wir  es  im  Hebräischen  mit  dem 
System  des  geometrischen  Nebeneinander  zu  tun. 

Wie  alle  Semiten,  stand  auch  der  alte  Jude  der  Zeit  unerfahren 
und  naiv  gegenüber.  Er  kannte  nur  zwei  temporale  Formen,  Ver- 
gangenheit und  Gegenwart.  Selbst  diese  zwei  Formen  sind  ungenügend 
entwickelt.  Je  weniger  er  aber  seinem  Geist  Begriffe  abringt,  desto 
mehr  Bilder  malt  er  aus  dem  Raum.  Der  Satz  ist  kurz  und  lapidar, 
aber  trotz  der  substantivischen  Ungeschlachtheit  dieser  Sprache  hat 
der  alte  Jude  doch  vermocht  —  durch  originelle  Kombinationen  und 
Parallelen  tiefe  Schöpfungen  von   großer   Ursprünglichkeit  auszu- 

184 


drücken,  Bilder  von  lieblicher  Anschaulichkeit  darzustellen  und  schwere, 
oft  geradezu  berauschende  Stimmen  hervorzubringen.  Die  oft  geradezu 
verblüffende  Kürze  des  Satzes  und  des  Ausdrucks  verrät  nicht  nur 
den  naiven,  sondern  .auch  den  tief  empfindenden,  von  starken  Impulsen 
getriebenen  Menschen,  der,  in  starren  Sprachformen  eingeengt,  sich 
durch  eine  kräftige  Wendung  Luft  macht.  Nur  wenige  Sprachen  haben 
für  seelische  Emotionen  so  viele  Bezeichnungen  wie  die  hebräische. 
Hebräisch  ist,  um  es  kurz  zu  sagen,  eine  Sprache  des  Gemüts  und  des 
Herzens.  Bei  den  Juden  hat  sie  die  höchste  Entwicklung  mit  der 
höchsten  Steigerung  des  Affekts  erreicht.  Wenn  der  Prophet  im 
höchsten  Zorn  seine  Strafpredigt  donnert,  oder  aber  wenn  er  liebe- 
volle Trostworte  spendet,  dann  erblüht  diese  arme  Hirten-  und  Bauern- 
sprache zu  einem  schönen  und  erhabenen  Stil,  der  in  der  ganzen  Welt- 
literatur nicht  seinesgleichen  findet.  Daß  diese  Hirten-  und  Bauern- 
sprache dem  geistesgewaltigen  Propheten  Bewegungsfreiheit  bieten 
konnte,  spricht  mehr  für  den  Sprachgenius  der  Juden  als  für  das  alte 
Hebräisch.  Die  Fesseln  des  Hebräischen  sind  erst  gesprengt  worden, 
als  die  Analysis  in  Judäa  (einzog  und  das  jüdische  Gesetz,  statt  ver- 
kündet und  gelehrt,  auch  begrifflich  abgewandelt  zu  werden  anfing. 
Das  Aramäische  mußte  herangezogen  werden,  damit  der  neue  analy- 
tische Gedanke  einen  adäquaten  Ausdruck  fand.  In  diesem  Gemisch 
von  Hebräisch  und  Aramäisch  sind  Mischna  und  Talmud  abgefaßt. 
Auch  eine  große  Anzahl  lateinischer  und  griechischer  Wörter  haben 
in  Mischna  und  Talmud  Eingang  gefunden. 

Der  althebräische  Stil  ist  neckisch,  naiv,  aber  kolossal.  Die  Ein- 
heitlichkeit und  die  Konzentration  des  £chon  an  sich  kurzen  Satzes 
wirkt  wie  ein  Donnerschlag.  Im  Gegensatz  zur  hebräischen  Poesie, 
in  der  sich  fa!st  alles  auf  'das  Subjekt  bezieht,  zeichnet  sich  die  alt- 
hebräische Prosa  durch  die  Konzentration  "auf  ein  Objekt  aus.  Selten 
verweilt  der  Erzähler  bei  seiner  Person,  'und  der  Prophet  nur  da,  wo 
es  absolut  nötig  ist.  Die  ganze  Kraft  des  Ausdrucks  und  des  Sprach- 
mittels wird  durch  die  Darstellung  der  Idee,  durch  Anschaulichkeit 
und  nicht  wie  im  Talmud  durch  Begriffe  vereinigt.  Gebildet  wurde 
dieser  an  der  Intuition  genährte  Stil  noch  von  dem  Trieb  zur  ganzen 
Menschheit,  der  immer  eine  Grundcharakteristik  des  Genius  ist.  Die 
Bibel  setzt  mit  einer  Universalgeschichte  an  und  hält  bis  zum  Schluß 
diese  Tendenz  fest. 

Der  Inhalt  der  Prophetenreden  würde,  weil  sie  auf  einen  Gedanken 
konzentriert  ist,  in  jeder  arischen  Sprache  monoton  erscheinen  und  im 
Munde  eines  alten  Römers  äußerst  langweilig  wirken.   Man  denke  sich 

185 


zum  Beispiel  eine  Jeremianische  Strafpredigt  oder  eine  Jesajanische  Vision 
In  der  römischen  Juristensprache  mit  ihren  langen  Perioden  und  ihren 
vielen  Schaltsätzen  und  Einkapselungen  oder  in  der  griechischen  Philo- 
sophiesprache mit  ihren  reichen  philosophischen  Ausdrücken,  die  auf 
das  Gemüt  gar  nicht  wirken.  In  dem  an  wissenschaftlichen  Ausdrücken 
armen  Hebräisch  mußte  der  Redner  jeden  Augenblick  pausieren,  um 
nicht  das  gleiche  zu  wiederholen,  und  war  gezwungen,  immer  neue 
Bilder  heranzuziehen.  Diese  fand  er  entweder  in  der  farbenreichen 
Naturumgebung  oder  im  Geschiditsleben  der  Völker.  So  entstanden 
prächtige,  durch  unmittelbare  Wirklichkeit  verblüffende  Bilder  und 
durch  ihre  Naturtreue  entzückende  Gleichnisse.  Natürlich  spricht  und 
schreibt  jeder  Redner  und  Schriftsteller  die  Sprache  seines  Milieus 
und  seines  Berufs,  wie  auch  sonst  jeder  Mensch  die  Sprache  seines 
Berufs,  seiner  Klasse  oder  seines  Mileus  spricht.  Der  prophetisierende 
Hirt  bedient  sich  der  naiven  Sprache  des  Hirtenlebens  und  der  Staats- 
mann und  Politiker  entnimmt  seine  Gleichnisse  dem  bewegten  Völker- 
leben. Daher  die  Buntscheckigkeit  und  Mannigfaltigkeit  in  Stil  und 
Ausdruck. 

Infolge  der  großen  ethischen  Motive  und  der  universalistischen 
Tendenzen  der  alten  hebräischen  Dichter  und  Redner  erhebt  sich  ihr 
Stil  oft  zu  einer  schwindelnden  Höhe.  Er  ist  oft  jeder  Lokalität  und 
Temporalität  entrückt  und  hört  sich  an  wie  eine  Stimme  aus  der 
Ewigkeit.  Die  Rede  des  großen  Propheten  knüpft  entweder  an  lokale 
Ereignisse  an,  um  sich  zu  großen,  universalistischen  Ausblicken  zu  er- 
heben, oder  sie  beginnt  gleich  universalistisch,  um  von  dieser  Höhe 
zu  lokalen  Ereignissen  zurückzukehren.  Der  erstere  Fall  jedoch  trifft 
öfter  ein.  Hier  nur  ein  paar  Beispiele:  „So  spricht  der  Herr:  Der 
Himmel  ist  mein  Stuhl  und  die  Erde  meine  Fußbank.  Was  ist's  denn 
für  ein  Haus,  das  ihr  mir  bauen  wollet?  Oder  welches  ist  die  Stätte, 
da  ich  ruhen  soll?"  „Meine  Hand  hat  alles  gemacht,  was  da  ist,  spricht 
der  Herr:  Ich  sehe  aber  an  den  Elenden,  und  der  zerbrochenen  Geistes 
ist,  und  der  sich  fürchtet  vor  meinem  Wort."  (Jesaja  66,  1,  2.) 

Nachdem  so  universalistisch  ausgeholt  wird,  kehrt  er  zu  den 
einfachen  irdischen  Dingen  zurück.  „Wer  einen  Ochsen  schlachtet, 
ist  eben,  als  er  einen  Mann  erschlüge",  usw.  Oder:  „Höret,  ihr 
Himmel!  Und  Erde,  nimm  zu  Ohren.  Denn  der  Herr  redet.  Ich  habe 
Kinder  auferzogen  und  erhöhet,  und  sie  sind  von  mir  abgefallen." 
Solcher  einfachen  und  doch  großen  Mittel  der  Thesis  und  Antithesis 
bedienen  sich  alle  Propheten,  der  eine  mehr,  der  andere  weniger,  und 
sie  verleihen   dadurch  ihrem  Stil  einen  Schwung  und  eine  Lebhaftig- 

186 


keit,  wie  sie  nur  noch  bei  den  vier  großen  Dichtern  hier  und  da  wieder- 
kehren. Der  Stil  der  Propheten  kann  keinem  andern  Sprachstil  zu- 
gesellt, mit  keinem  andern  verglichen  werden,  wie  die  prophetische 
Literatur  kein  Analogon  in  der  ganzen  Weltliteratur  hat.  Er  ist  Prosa 
und  doch  Poesie;  impressionistisch  und  doch  rhythmisch,  naiv  und 
doch  kunstvoll.  Jüngst  ist  von  einem  bedeutenden  Forsc,her  der  Ver- 
such gemacht  worden,  in  den  prophetischen  Büchern  Strophenbau 
und  Responsionen  nachzuweisen.  „In  der  Responsion  korrespondieren 
Strophe  und  Antistrophe  im  Metrum,  in  der  Gliederung,  in  den  Ein- 
schnitten der  Sätze,  häufig  auch  im  Gedanken  miteinander,  und  diese 
Übereinstimmung  wird  oft  durch  gleiche  und  klingende  Worte  erkenn- 
bar gemacht/'  Ob  sich  das  jedoch  überall  in  den  prophetischen  Büchern 
nachweisen  läßt,  mag  vorläufig  mit  Recht  bezweifelt  werden.  Der  Ge- 
dankenrhythmus hingegen  läßt  sich  überall  in  den  prophetischen  Büchern 
nachweisen;  denn  der  prophetische  Mensch  war  nur  von  einem  ein- 
zigen Gedanken  beseelt,  von  dem  Gedanken  der  Sittlichkeit  —  von  der 
Idee  des  Guten.  Dieses  überall  wiederkehrende  gleiche  Motiv  —  das 
Gute  und  das  Gerechte  —  bedingte  die  erstaunliche  Unmittelbarkeit 
des  prophetischen  Urteils.  Wo  es  verkündet  wird,  gleicht  es  einem 
Schlagwort  eines  gewaltigen  Demagogen.  Es  mag  hier  nur  an  das 
berühmte  „Harazachta  wegam  jaraschta"  (Du  hast  gemordet  und 
geerbt),  das  der  Prophet  dem  Achab  entgegenschleuderte,  erinnert 
werden.  Weil  der  Prophet  viel  voraussetzt,  spannt  er  alles  auf  die 
kürzeste  Formel.  Ob  ihn  daher  die  alten  Juden  verstanden  haben, 
ist  eine  andere  Frage.  Auch  in  den  großen  politischen  Reden  und  Weis- 
sagungen wirken  die  Bilder  wie  Schlagworte.  Jeremiah  ruft:  „Se 
pesurah  Jisrael"  (Du  gleichst  einer  verstreuten  Schafherde,  o  Israel). 
Damit  war  kurz  eine  verworrene  Situation  geschildert.  Beim  Anhören 
solcher  Reden  muß  sich  den  Hörern,  die  nur  hören  wollten,  eine  ganze 
Welt  aufgetan  haben.  Die  knappe  Situationsschilderung,  die  mit  einem 
Schlagwort  bezeichnet  wird,  erhebt  sich  selbst  zu  einem  großen  Urteil 
und  zu  einer  gewaltigen  Verkündung  der  ewigen  Wahrheit. 

Naiv  und  unkompliziert,  wie  die  althebräische  Prosa,  ist  die  alt- 
hebräische Poesie  der  Juden,  und  wie  der  Prosa-Schriftsteller  zur 
Menschheit  sprach,  so  besang  der  althebräische  Dichter  das  All,  das 
Ganze  der  Natur.  Kein  Geringerer  als  Alexander  von  Humboldt  hatte 
sich  zu  folgendem  Urteil  über  die  althebräische  Poesie  verstanden, 
„Es  ist  ein  charakteristisches  Kennzeichen  der  Nationalpoesie  der 
alten  Hebräer,  daß,  als  Reflex  des  Monotheismus,  sie  stets  das  Ganze 
des  Weltalls  in  seiner  Einheit  umfaßt,  sowohl  das  Erdenleben  als  die 

187 


leuchtenden  Himmelsräume.  Sie  weilt  selten  bei  dem  Einzelnen  der 
Erscheinungen,  sondern  erfreut  sich  der  Anschauungen  großer  Massen. 
—  Bemerkenswert  ist  auch  noch,  daß  diese  Poesie  trotz  ihrer  Größe, 
selbst  im  Schwünge  der  höchsten,  durch  den  Zauber  der  Musik  her- 
vorgerufenen Begeisterung,  fast  nie  maßlos  wie  die  indische  ist."  Kos- 
mos II,  S.45.  Nie  maßlos  wie  die  indische  —  aber  auch  nie  so  formen- 
reich wie  die  griechische.  Auch  hier  bewährt  sich  der  Gedanke  von 
der  geographischen  Mitte.  Im  Gegensatz  zur  Prosa  ist  diese  Poesie, 
trotz  ihrer  universalistischen  Tendenz,  durchaus  subjektiv;  denn  ihr 
Wesen  ist  Eifer,  ihr  Grundton  Leidenschaft,  beseelende  Energie  des 
Affekts.  Wegen  der  vollständigen  Abwesenheit  von  mythologischen 
Motiven  mußte  sie  sich  auf  das  Subjekt  konzentrieren.  Sie  ist  also 
Zusammenfassung  und  nicht  Entfaltung.  Eine  elementare  Kraft  des 
Gemüts  bricht  hervor,  die  sich  entweder  als  Lyrik  oder  als  gedanken- 
schwere Didaktik  manifestiert.  Zwischen  beiden  steht  die  prophetische 
Vision,  wie  der  Prophet  überhaupt  Dichter  und  Lehrer  zugleich  war. 
Der  hebräische  Dichter  gebiert  im  Zorn;  daher  hat  die  Elegie  mehr 
•denn  jede  andere  Poesiegattung  gute  Tage  in  Judäa  gesehen.  Nirgends 
wird  auch  so  viel  geflucht  wie  im  Alten  Testament.  Ob  die  dichte- 
rische Form  im  Parallelismus  membrorum  —  eine  Art  Gedanken- 
rhythmus, dessen  Ursprung  man  in  der  Übung  des  Wechselgesanges 
gefunden  hat  —  besteht,  oder  ob  ein  Metrum  —  wie  manche  Forscher 
nachzuweisen  versucht  haben  —  sie  beherrscht:  die  Hebung  läßt  sich 
in  dieser  Poesie  überall  nachweisen.  Der  Vers  zerfällt  in  zwei  Halb- 
zeilen, deren  jede  eine  gleiche  Anzahl  Hebungen  besitzt.  So  hat  sich' 
der  starke  Affekt  auch  in  der  Form  behauptet.  Die  alten  Inder  hatten 
sicherlich  mehr  Phantasie  als  die  Hebräer  und  entwickelten  eine  größere 
dichterische  Produktion  als  die  Juden,  aber  in  formaler  Beziehung 
hebt  sich  die  hebräische  Poesie  so  vorteilhaft  von  der  indischen  ab„ 
wie  die  griechische  von  der  hebräischen.  In  ganz  maßloser  Willkür 
ist  in  der  indischen  Poesie  alles  zusammengeworfen,  das  Schöne  mit 
dem  Häßlichen,  das  Erhabene  mit  dem  Gemeinen,  das  Anmutige  mit 
dem  Ungeheuerlichen.  Die  atemraubende  Beweglichkeit  zwischen 
diesen  Extremen  rechtfertigt  den  Vergleich  von  einem  Goldschatz  in 
einem  Misthaufen.  Die  althebräische  Poesie  ist  gewiß  nicht  formen- 
reich wie  etwa  die  griechische,  aber  sie  ist  nicht  maßlos  —  sie  ist  auch 
in  ihrer  Form  keusch.  Die  arabische  Poesie  hingegen,  um  auch  ein 
Exempel  der  Poesie  einer  Schwesternation  anzuführen,  ist  von  mäch- 
tigen Affekten  getragen  und  formenreich  zugleich  aber  nicht  naiv 
und  keusch  wie  die  hebräische.   Der  alte  hebräische  Dichter,  in  welcher 

188 


Form  er  auch  dichten  mochte,  war  sich  der  Form  nicht  bewußt.  Seine 
Schöpfungen  sind  dichterische  Äußerungen  des  sich  selbst  unbewußten 
Genius,  während  die  arabische  Poesie  schon  in  vormohammedanischer 
Zeit  feste,  gültige  Formen  hatte.  Der  Überlieferung  gemäß  soll  schon 
Muhalhal  dem  poetischen  Ausdruck  bestimmte  Regeln  gegeben  haben, 
welchen  zufolge  der  dichterischen  Form  nicht  nur  die  Silbenmessung, 
sondern  auch  der  Reim  wesentlich1  ist.  Die  Ergüsse  der  althebräischen 
Dichter  sind  Gottesglauben,  Gottvertrauen  und  religiöse  Sehnsucht, 
nationale  Hoffnungen  und  Enttäuschungen  oder  religiös  motivierte 
Naturbetrachtungen;  die  des  arabischen  Dichters  sind  Tapferkeit  und 
Unabhängigkeit,  Rache  und  Feindschaft,  Ehre  und  Sieg.  Also  weder 
inhaltlich  noch  formell  besteht  irgendeine  Verwandtschaft  zwischen 
hebräischer  und  arabischer  Poesie.  Aus  diesem  Grunde  allein  schon 
ist  est  zumindest  sehr  gewagt,  von  semitischer  Poesie  schlechthin  zu 
reden.  In  noch  einer  anderen  Beziehung  ist  die  althebräische  Poesie 
charakteristisch,  nämlich  in  dem  friedlichen  Beieinanderruhen  verschie- 
dener Poesiegattungen.  Wer  vermag  zu  sagen,  was  in  der  althebräi- 
schen Poesie  reine  Lyrik  oder  reine  Epik  oder  reine  Didaktik  ist?  Die 
Lyrik  ist  von  epischen  und  die  Epik  von  lyrischen  Elementen  durch- 
setzt. Ein  so  ausgezeichneter  Kenner  der  althebräischen  Poesie,  wie 
der  Bonner  Hebraist  Eduard  König,  hat  den  Versuch  gemacht,  die 
Poesie  der  alten  Hebräer  nach  Gattungen  zu  ordnen,  und  nach  mühe- 
voller Arbeit  ist  der  Versuch  gründlich  mißlungen.  In  seinem  Buch 
„Die  Poesie  des  alten  Testaments"  (Leipzig  1907)  gibt  König  folgende 
Einteilung: 

1.  Die  episch-lyrischen  Dichtungen  in  der  althebräischen 
Literatur, 

2.  die  episch-didaktische  Poesie, 

3.  die  rein  didaktische  Poesie, 

4.  die  rein  lyrische  Poesie, 

5.  die  dramatisch  geartete  Poesie. 

Nach  dieser  Gruppierung  ist  man  aber  so  klug  wie  zuvor;  denn 
auch  die  „rein  lyrische"  Poesie,  zu  der  König  die  Elegien  zählt,  ist 
eben  nicht  rein  lyrisch,  wie  viele  „rein"  epische  Poesien  nicht  rein 
episch  sind.  Es  kommt  mir  hier  gar  nicht  auf  eine  Kritik  des  König- 
schen  Buches  an,  sondern  auf  die  Betonung  des  Faktums,  daß  die  alt- 
hebräische Poesie,  weil  ganz  naiv,  auch  nicht  ganz  differenziert  blieb. 
Wie  im  Alten  Testament  die  verschiedenen  Sphären  des  Lebens  noch 
nicht  voneinander  getrennt  sind,  so  sind  in  der  althebräischen  Poesie 
die  einzelnen  Gattungen  noch  nicht  ausgebildet. 

189 


Der  Genius  schafft  im  Zustande  des  Unbewußten.  Daher  wirken 
seine  Schöpfungen  so  sehr  auf  unser  Gemüt.  Dieses  Unbewußt-Naive 
in  der  biblischen  Poesie  wie  in  der  Prosa,  das  auf  die  unteren,  naiven 
Volksschichten  eine  solche  Anziehungskraft  übt,  ist  auch  der  eigent- 
liche Grund,  auf  dem  der  antike  jüdische  Optimismus  ruht.  Der  psy- 
chologische Optimismus  ist  ein  Produkt  der  Naivität.  Sobald  der  Blick 
durch  die  Erfahrung  getrübt  wird,  stellt  sich  ein  nörgelndes  Gefühl 
ein,  ein  Gefühl  des  Zweifels,  das  sicher  zu  irgendeiner  Art  Pessimismus 
führt.  Mehr  noch  als  der  religiöse  Bekenntnisdrang  der  alten  Juden 
war  das  Naiv-Kindliche  ihres  Geistes  die  Ursache  ihrer  Offenheit 
und  ihres  uneingeschränkten  Bekennens.  In  wenigen  Büchern  der 
Weltliteratur  wird  so  offen  bekannt  wie  in  den  Büchern  des  Alten 
Testaments.  Mit  welcher  geradezu  kindlichen  Naivität  wird  nicht 
in  der  Bibel  über  die  Laster  und  Verbrechen  Davids  berichtet,  über 
die  Schwächen,  Verkehrtheiten  und  Charakterlosigkeiten  Salomos  und 
Rechabeams.  Dabei  sind  doch  David  und  Salomo  nach  Moses  die 
zwei  populärsten  Figuren  in  der  jüdischen  Geschichte.  Augustinus, 
Rousseau  und  Tolstoi  werden  als  große  Bekenner  gefeiert.  Wie 
nehmen  sie  sich  aber  gegen  die  Psalmen  aus?  Daß  keiner  von  ihnen 
die  Psalmen  erreicht  hat,  braucht  kaum  gesagt  zu  werden.  Es  ist 
auch  zur  Genüge  bekannt,  daß  Augustinus  die  Psalmen  Modell  ge- 
standen haben,  als  er  seine  Confessiones  schrieb.  Sind  doch  die  ersten 
fünfzehn  Kapitel  der  Confessiones  geradezu  eine  fast  wörtliche  Imi- 
tation der  Psalmen.  In  welchem  anderen  nationalen  Religions-  und 
Geschichtsbuch  wird  das  eigene  Volk  so  seelisch  entblößt  und  all  seine 
Charakterschwächen  und  Laster  so  treuherzig  beschrieben  wie  in  den 
Büchern  des  Alten  Testaments?  Dieses  offene,  naive  Urteil  über  sich 
selbst  und  andere  kehrt  auch  noch  später  im  Talmud  wieder.  Da 
treffen  wir  Sätze,  wie  z.  B.  „Row  ganwe  Jisrael  ninhu"  (die  meisten 
Diebe  sind  Juden),  womit  gesagt  werden  soll,  daß  die  jüdischen  Ver- 
brecher meistens  Diebe  und  nicht  Mörder  sind;  oder  den  schon  oben 
zitierten  Satz:  Armut  geziemt  den  Juden.  Die  Bekenntnisse  im  Talmud 
mögen  vom  Geiste  der  bewußten  Sittlichkeit  diktiert  worden  sein, 
die  der  Bibel  sind  aber  Äußerungen  des  „unbewußten  Geistes",  der 
kindlichen  Naivität.  Da  sie  auf  der  einen  Seite  Form  und  Stil  haben, 
auf  der  anderen  Seite  tiefe  Religiosität  atmen,  sind  diese  bunten, 
farbenprächtigen  und  seltsamen  Geschichten,  wie  etwa  die  von  Abra- 
ham und  Sarah,  Jakob  und  seinen  Söhnen,  Joseph  und  seinen  Brüdern, 
das  Ergötzen  frommer  Menschenkinder. 

Diesem  seelisch  ganzen  Menschen  der  Bibel  ist  ein  merkwürdiger 

190 


geschichtlicher  Sinn  aufgegangen.  Er  betrachtete  das  Völkerleben  in- 
teresselos. Später  trat  allerdings  das  ethisch-religiöse  Interesse,  das 
aber  auch  nicht  an  der  Wirklichkeit,  sondern  an  der  ^wirklichkeits- 
losen"  Wahrheit  orientiert  ist,  hinzu.  Wir  haben  in  den  ersten  Ab- 
schnitten des  ersten  Buches  Moses  den  Versuch  einer  Universal- 
geschichte. Inwiefern  diese  erste  Universalgeschichte  mit  dem  Stand 
der  heutigen  Wissenschaft  übereinstimmt,  steht  hier  nicht  zur  Dis- 
kussion. Von  der  Größe  des  Gedankens,  der  sich  in  dieser  ersten 
Universalgeschichte  kundgibt,  macht  man  sich  einen  Begriff,  wenn  man 
an  die  Enge  und  Kleinlichkeit  des  historischen  Bewußtseins  der  an- 
deren großen  Völker,  selbst  der  Griechen  und  Römer,  in  noch  viel 
späterer  Zeit,  denkt.  Von  dem  ersten  Abschnitt  im  ersten  Buche 
Moses  bis  zum  letzten  Abschnitt  des  letzten  Propheten  hält  dieses 
naiv-kosmische  Bewußtsein  an;  denn  der  antik-jüdische  Geistesmensch, 
von  zivilisatorischen  Interessen  unbeeinflußt,  betrachtete  immer  das 
Weltganze  und  erhob  sich  zu  einer  objektiven  Höhe,  die  man  nur 
bei   dem  großen  interessenlosen  Menschen  findet. 

Es  hieße  natürlich  Wissentliches  verschweigen,  wollte  ich  nur  den 
antiken  Juden  diese  von  Naivität  und  Interesselosigkeit  diktierte 
Kosmizität  zuschreiben.  Man  trifft  sie  vielmehr  auch  in  Indien  und 
Griechenland  an  —  aber  sporadisch.  Sokrates  verkörpert  sicherlich 
die  Psychologie  eines  vom  kosmischen  Bewußtsein  und  von  gewaltigen 
ethischen  und  intellektuellen  Mächten  getriebenen  Propheten.  Auch 
der  göttliche  Plato  hat  vieles  vom  Propheten  an  sich.  Aber  sie  bilden 
nur  Ausnahmen  —  unerreichte  Höhepunkte  in  der  Gesamtgeschichte 
ihres  Volkes.  Was  im  alten  Hellas  die  Ausnahme  ist,  ist  aber  in  Judäa 
die  Regel.   Und  darauf  kommt  es  doch  wohl  an. 

Ist  es  nun  nicht  merkwürdig,  daß  der  gleiche  antike  Jude,  der  so 
subjektiv  und  konzentriert  in  seiner  Poesie  war,  in  seinem  historischen 
Bewußtsein  so  objektiv  und  entfaltend  gewesen  ist?  Bei  näherer  Be- 
trachtung jedoch  löst  sich  dieser  anscheinend  unlösbare  Widerspruch 
von  selbst  auf.  Es  besteht  eine  Verwandtschaft  zwischen  Kind  und 
Genie.  —  Beide  sind  naiv,  beide  sind  subjektiv  in  ihren  Empfindungen 
und  objektiv  in  ihren  Vorstellungen.  Natürlich  ist  diese  Objektivität 
nur  eine  graduelle.  Beim  Kinde  ist  diese  naiv,  beim  Genie  kosmisch. 
Der  antik-jüdische  schaffende  Mensch  hatte  vieles  vom  Kinde  und 
vom  Genie  zugleich.  Daher  der  in  der  Bibel  zutage  tretende  Gegensatz 
von   eingefleischter  Subjektivität  und  kosmischer  Objektivität. 

Wenn  die  epische  Dichtung  und  das  Drama  keine  guten  Tage  in 
Judäa  gesehen  haben,  so  hat  das  Grund  darin,  daß  erstens  die  gesetzes- 

191 


mäßige  Auffassung  alles  Weltgeschehens  den  Begriff  des  Schicksals 
nicht  aufkommen  ließ,  und  zweitens  daß  das  kosmische  und  universa- 
listische Bewußtsein,  von  welchem  das  althebräische  Schrifttum  ge- 
tragen war,  dem  Juden  das  Verständnis  für  das  individuelle  Spiel  der 
Kräfte  geraubt  hatte.  Zudem  hatte  er  von  seinem  ersten  Eintritt  in 
die  Geschichte  an  so  viel  Tragisches  erlebt,  daß  er  weder  Zeit  noch 
Muße  hatte,  die  antagonistischen  Kräfte  im  Leben  dichterisch  zu  ob- 
jektivieren. Wurde  er  doch  von  vornherein  in  den  Kampf  gegen  den 
einen  allmächtigen  und  starken  Weltengott  gestellt,  der  ihm  sein 
Gesetz  und  seinen  Willen  aufzudrängen  suchte.  Der  Grieche  stand 
vielen  Göttern  gegenüber;  da  mußte  ihm  gleich  der  Sinn  des  indi- 
viduellen Konflikts  aufgehen.  Der  eine  Gott  aber,  der  keine  anderen 
Götter  neben  sich  duldet,  nivelliert  zugleich  alles  Individuelle  .  .  . 
Aber  ist  nicht  schon  dieser  eine  mächtige  und  gewaltige,  allen  Willen 
und  alle  Vernunft  verkörpernde  Gott  selbst  ein  gewaltiges  Epos,  das 
gewaltigste  epische  Gedicht,  das  je  ein  dichterisches  Genie  ersungen 
hat?  Dieser  eine  gewaltige  Weltschöpfer,  Weltenherr  und  Held  liegt 
seit  undenklicher  Zeit  im  Kampfe  mit  einem  willensstarken  Volk  — 
er  kämpft  wie  ein  Gott  für  ein  Gesetz,  das  Volk  kämpft  heldenhaft 
dagegen  —  bis  es  unterliegt.  Was  ist  das  ganze  Alte  Testament  an- 
ders als  die  Geschichte  eines  langen  Kampfes  zwischen  einem  Gott 
und  einem  Volk?  In  diesem  Kampf  und  in  seiner  Darstellung  hat 
sich  die  ganze  epische  Kraft  des  Volkes  erschöpft. 

Als  aber  dieses  Buch  zu  Ende  geschrieben  war,  waren  auch  schon 
dem  Volke  seine  Ursprünglichkeit  und  poetische  Regsamkeit  verloren 
gegangen.  Dieser  Prozeß  kommt  auch  in  der  Zusammenstellung  des 
biblischen  Schrifttums  zum  Ausdruck.  Es  beginnt  mit  der  wunder- 
baren kosmogonischen  Dichtung  und  schließt  mit  einem  trockenen 
historisch-chronologischen   Bericht. 

Nach  einem  mehr  als  tausendjährigen  Kampfe  ist  das  willens- 
gewaltige Volk  von  ehemals,  das  gegen  den  großen,  fürchterlichen 
und  starken  Gott  einen  Kampf  aufgenommen  hatte,  ein  treues  .Ge- 
setzesvolk geworden.  Das  Gesetz  potenzierte  sich  selbst  zum  ersten 
Faktor  im  Leben,  um  so  mehr,  als  das  wirkliche  Volksleben  bald  auf- 
gehört hatte.  Das  Gesetz  wollte  gekannt  und  studiert  werden  ...  An 
Stelle  des  gemüts-  und  geistesgewaltigen  Propheten  tritt  der  nüchterne 
Sopher,  der  Gesetzesausleger.  „Auf  drei  Dingen  besteht  die  Welt", 
so  lehrt  der  Sopher  — ,  „auf  der  Lehre,  auf  dem  Gottesdienst  und  auf 
der  Wohltätigkeit".  Das  erste  ist  aber  die  Lehre.  Der  Stil  dieser 
Männer  ist  gleich  ihrer  Lehre         prosaisch,  trocken,  nüchtern.    Keine 

192 


herzzerreißenden  Elegien  werden  mehr  vernommen,  keine  feurigen 
Prophetenvisionen  werden  verlautbart,  sondern  die  nüchterne  Para- 
phrasierung  des  Gesetzes  ...  Da  hört  man  von  Schiure  Sopherim 
(von  sopherischen  Erklärungen,  Tikkune  Sopherim),  von  sopherischen 
Modifikationen  und  von  Dikduke  Sopherim  (von  sopherischen  Er- 
örterungen), die  bezwecken,  den  Zaun  (Geder)  um  das  Gesetz  zu  bilden. 
An  Stelle  der  prophetischen  Dichtung  mit  ihrem  lebendigen  Inhalt  tritt 
eine  rationalistische,  leblose  Theologie,  und  das  noch  ein  wenig  vi- 
brierende und  pulsierende  Leben  wird  in  ein  System  von  Haupt-  und 
Nebengesetzen  eingemauert  und  erstickt. 

Auf  die  Sopherim  folgen  die  Tannaiten,  die  großen  Gesetzesformu- 
lierer,  und  auf  diese  die  Amoräer,  die  Interpreten  der  formulierten  Grund- 
gesetze. Ein  ganzes  geistesstarkes  Volk  fängt  an,  seine  ganze  Kraft 
auf  die  Forschung  und  Interpretierung  von  Gesetzen  zu  konzentrieren 
—  ein  ganzes  Volk  beginnt,  trockene  Jurisprudenz  zu  studieren.  Die 
vom  Gesetz  zurückgedrängten  poetischen  Kräfte  finden  nur  noch  hie 
und  da  in  der  Agada  und  im  Midrasch  einen  schüchternen  Ausdruck. 
Der  synthetisch  schöpferische  Geist,  der  die  Bibel  geschaffen  hatte, 
ist  mit  dem  Beginn  des  Talmuds  schon  längst  verschwunden  und  statt 
seiner  hält  die  Analysis  ihren  Einzug  in  Judäa.  Mit  der  Hilfe  der» 
Analysis  ist  nicht  etwa  die  Natur  erforscht  oder  irgendeine  konkrete 
Wissenschaft  geschaffen  worden,  sondern  das  Gesetz  hat  sie  in  seinen 
Dienst  genommen.    Das  ist  das  Tragische  an  diesem  Wechsel. 

Nur  in  einer  Beziehung  ähnelt  das  zweite  große  Schriftwerk,  das 
das  jüdische  Volk  geschaffen,  der  Talmud,  der  Bibel  —  er  ist  so  naiv 
wie  die  Bibel.  Während  aber  die  Bibel  Stil  hat,  ist  der  Talmud  ganz 
stillos.  Ist  er  doch  in  Babylonien  und  nicht  in  Palästina,  das  den  Juden 
so  viel  Stil  gab,   entstanden. 


13    Melamed 

193 


Zehntes  Kapitel. 


Die  psychologischen  Motive  in  der 
hebräischen  Literatur. 

Die  Bibel.  —  Ihre  psychologische  Eigenart.  —  Hunger  und  Liebe.  —  Die 
Beschreibung  der  ewigen  Wiederkehr.  —  Die  Bibel  und  die  Erotik.  —  Die 
hebräische  Literatur  eine  Literatur  des  Hungers.  —  Die  Bibel  ein  Buch  des 
Hungers.  —  Göttlicher  Segen  und  göttlicher  Fluch.  —  Die  Juden  —  der 
hungernde  Teil  der  Menschheit.  —  Juden  und  Griechen.  —  Ursprung  der  prophe- 
tischen Ethik.  —  Der  Hunger  in  der  modernen  Literatur.  —  Die  Juden  und  das 
Drama.  — 

Es  ist  sicherlieh  keine  alltägliche  Erscheinung-,  daß  eine  Sprache 
wie  die  hebräische,  wortarm  in  jeder  Beziehung-,  und  ungeeignet  so- 
wohl für  Philosophie  als  für  Wissenschaft,  das  Medium  einer  Literatur 
wurde,  die  an  Ursprünglichkeit  und  Eigenartigkeit  kaum  ihresgleichen 
hat.  Keine  andere  Literatur,  einschließlich  der  griechischen  und  rö- 
mischen, hat  die  Literaturen  der  europäischen  Völker,  und  keine  Sprache, 
einschließlich  der  griechischen  und  lateinischen,  hat  die  Sprachen  der 
europäischen  Völker  so  beeinflußt  wie  die  hebräische.  Was  wäre  das 
moderne  Englisch  ohne  die  Bibelübersetzung,  und  was  wäre  das  Hoch- 
deutsch ohne  Luthers  Werk,  und  trotzdem  ist  die  hebräische  Literatur, 
trotz  ihres  mächtigen  Einflusses  auf  die  Literaturen  der  europäischen 
Völker,  vielen  gebildeten  Europäern  ein  Buch  mit  sieben  Siegeln. 
Selbst  die  professionellen  Hebraisten  haben  bis  auf  den  heutigen  Tag 
die  Triebkräfte  in  der  hebräischen  Literatur  kaum  erfaßt.  Genau  so 
wenig  wie  die  Völker,  die  die  Juden  bewirten,  von  den  Juden  wissen 
und  ihren  Geist  verstehen,  so  wenig  wissen  und  verstehen  sie  von 
der  hebräischen  Literatur,  obgleich  sie  anderen  Literaturen  ihr  Siegel 
aufgedrückt  hat.  Sie  mögen  eine  hohe  oder  eine  niedrige  Meinung 
von  der  hebräischen  Literatur  haben,  aber  ein  richtiges  Verständnis 
für  sie  haben  sie  noch  nie  an  den  Tag  gelegt,  weil  ihnen  der  richtige 

194 


Maßstab  für  ihre  Ab-  und  Einschätzung  noch  fehlt.  Von  den  vielen 
Büchern,  die  in  moderner  Zeit  über  die  hebräische  Literatur  geschrieben 
worden  sind,  ist  Franz  Delitzsch'  Geschichte  der  althebräischen  Poesie 
fast  das  Einzige,  das  von  einem  großen  Verständnis  seines  Verfassers 
für  die  hebräische  Literatur  zeugt.  Die  anderen  hebräischen  Literatur- 
historiker und  Literaturhistoriker,  einschließlich  Ernest  Renans,  tasten 
im   Dunkeln,  seit  sie  in   ihren  Geist  einzudringen  versuchten. 

Welche  sind  die  psychologischen  Eigenarten  dieser  Literatur,  die 
sich  von  so  kleinen  Anfängen,  mit  solch  kleinen  Sprachmitteln  zu  einer 
Höhe  emporgerungen  hat,  die  bis  auf  den  heutigen  Tag  die  Bewun- 
derung aller  herausfordert,  die  mit  ihr  vertraut  sind  und  der  so  viele 
verständnislos  gegenüberstehen?  Was  ist  ihre  Haupteigenart  und  ihr 
wesentliches  ästhetisches  Element?  Selbst  der  entschiedenste  jüdische 
Nationalist  muß  zugestehen,  daß  von  einem  rein  ästhetischen  Ge- 
sichtspunkte aus  die  griechische  Literatur  das  Hebräische  bei  wei- 
tem überragt.  Was  das  ethische  und  das  religiöse  Element  in  der 
hebräischen  Literatur  betrifft,  muß  man  sagen,  daß  die  Literatur  der 
alten  Inder  der  hebräischen  in  keiner  Weise  nachsteht.  Was  ist  also 
die  magnetische  Kraft  der  hebräischen  Literatur  und  worin  besteht 
ihre  Größe?  Auf  diese  Frage  kann  ich  nur  eine  Antwort  geben:  Die 
hebräische  Literatur  ist  einzig  wie  die  hebräische  Religion,  weil  sie 
rein  und  naiv  ist  wie  die  hebräische  Religion.  Genau  so  wie  die 
Religion  der  alten  Juden  im  Gegensatz  zu  allen  anderen  Religionen 
rein  und  keusch  ist  und  jedes  sexuellen  Momentes  entbehrt,  so  ist 
die  hebräische  Literatur  als  Ganzes  keusch  und  rein  und  entbehrt  jedes 
sexuellen  Momentes.  Kurz,  die  hebräische  Literatur  im  Gegensatz  zu 
allen  anderen  Literaturen  ist  keine  Literatur  der  Liebe.  Dies  mag 
paradox  erscheinen,  aber  wenn  wir  die  vorherrschenden  Elemente  in 
der  hebräischen  Literatur  mit  denen  in  anderen  Literaturen  vergleichen, 
können  wir  uns  leicht  überzeugen,  daß  die  hebräische  Literatur  nicht 
eine  Literatur  der  Liebe  ist,  sondern  die  des  Hungers.  Darin  besteht 
ihre  Einzigkeit  und  ihre  Größe,  und  dies  erklärt  den  mächtigen  Ein- 
fluß, den  sie  auf  die  Menschheit  ausgeübt  hat. 

Jüngst  hat  sich  ein  amerikanischer  Schriftsteller  darüber  beschwert, 
daß  das  sexuelle  Moment  in  der  englischen  Literatur,  speziell  im  Ro- 
man, so  vorherrschend  ist,  daß  er  sich  oft  wie  ein  psycho-pathologisches 
Dokument  ausnimmt.  Diese  Beschwerde  ist  nicht  nur  heute  angebracht, 
sondern  sie  wäre  auch  vor  100x  200  oder  300  Jahren  zutreffend  ge- 
wesen. Man  braucht  nur  die  Hauptwerke  der  Literatur  der  arischen 
Völker  aller  Zeiten  zu  durchblättern,  um  gleich  zu  entdecken,  daß  sie 

13* 

195 


von  ausschließlich  erotischen  Momenten  durchsetzt  ist.  Das  gilt  von 
der  antiken  Literatur,  von  der  Literatur  der  Renaissance  und  von  der 
modernen  Literatur.  Ein  zweites  Element  in  der  arischen  Literatur 
ist  der  Kampf  um  Macht.  Das  klassische  Drama  aller  Zeiten  seit  den 
Tagen  von  Sophokles,  Euripides  und  Äschylus  bis.  auf  den  heutigen 
Tag  ist  von  diesen  zwei  Elementen  durchsetzt:  Liebeshunger  und 
Machthunger.  Wenn  wir  jedoch  die  Hauptwerke  der  hebräischen 
Literatur  durchblättern,  die  Bibel,  den  Talmud,  die  mittelalterliche 
hebräische  Literatur,  wie  auch  die  moderne  hebräische  Literatur,  emp- 
finden wir,  daß  diese  zwei  Elemente  nicht  nur  nicht  vorherrschend 
sind,  sondern  gänzlich  fehlen. 

Literatur  im  allgemeinen  strebt  und  versucht  die  elementaren 
Leidenschaften  des  Menschen  zu  beschreiben  und  die  typischen  Ver- 
treter dieser  Leidenschaft  zu  charakterisieren.  Unter  den  vielen  Leiden- 
schaften, welche  den  Menschen  beherrschen,  seine  Handlungen  beein- 
flussen und  seine  Lebensart  bestimmen,  sind  Hunger  und  Liebe  die 
allerstärksten.  Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  im  Sturm  des  Lebens 
der  Mensch  auch  von  anderen  Leidenschaften  überwältigt  wird,  Leiden- 
schaften wie  Haß,  Rache,  Ehrgeiz,  Eifer,  Herrschsucht  usw.  Allein 
nur  in  Ausnahmefällen  geschieht  es,  daß  diese  sekundären  Leiden- 
schaften den  Menschen  ganz  beherrschen.  Die  Hauptfaktoren  im 
Leben  des  Menschen  sind  Hunger  und  Liebe.  Erst  nachdem  der  Mensch 
jede  dieser  Leidenschaften  mehr  oder  weniger  befriedigt  hat,  läßt  er 
sich  von  anderen  Leidenschaften  tragen.  Der  literarische  Genius  offen- 
bart uns  diese  zwei  Elementargewalten,  welche  in  der  menschlichen 
Seele  wirken,  und  zeigt  uns  den  Rhythmus  der  Bewegung  dieser  Ele- 
mentargewalten. Je  mehr  der  Dichter  sich  der  ewigen  Wahrheit  nähert, 
d.  h.  je  mehr  es  ihm  gelingt,  in  die  Tiefen  der  menschlichen  Seele  ein- 
zudringen, um  uns  die  Bewegung  dieser  Elementargewalten  zu  zeigen, 
desto  mehr  zeigt  er  von  seinem  künstlerischen  oder  literarischen  Genie. 
Darin  besteht  die  Größe  eines  Goethe,  Shakespeare,  Schiller,  Ibsen, 
und  das  Geheimnis  ihrer  Unsterblichkeit.  Sie  sind  unsterblich,  weil 
die  Helden,  welche  sie  beschreiben,  typische  Vertreter  der  elemen- 
taren menschlichen  Leidenschaften  sind  und  sie  als  typische  Vertreter 
dieser  Leidenschaften  in  ewiger  Wiederkehr  immer  wieder  erscheinen. 
Sie  offenbaren  uns,  was  konstant  und  permanent  in  der  menschlichen 
Seele  ist  und  nicht  nur,  was  vorübergehend  ist.  In  dieser  Schilderung 
der  ewigen  Wiederkehr,  des  Menschlichen,  allzu  Menschlichen,  er- 
kennen wir  ihre  Größe.  Alle  die  großen  arischen  Dichter  und  Künstler 
haben  stets   das  erotische  Moment  als   die  stärkste  Triebkraft  in  der 

196 


Seele  des  Menschen  erkannt.  Nicht  nur  die  ganze  dramatische  Literatur 
aller  Zeiten  ist  erotisch,  sondern  auch  der  Roman  und  die  lyrische 
Poesie  sind  von  erotischen  Momenten  durchsetzt.  Die  hebräische 
Literatur  dagegen  hat  kein  Drama  geschaffen  und  ist  sehr  arm  an 
Liebesliedern.  Unter  den  24  Büchern  der  Bibel  finden  wir  nur  zwei 
Liebesbücher,  die  kleine  Novelle  Ruth  und  das  Hohelied.  Bis  auf 
den  heutigen  Tag  wundern  sich  die  rechtgläubigen  Juden,  wie  es  kam, 
daß  das  Hohelied  in  die  Bibel  aufgenommen  wurde.  Es  existiert 
eine  ganze  Literatur  über  diese  Frage.  Diese  Literatur,  von  recht- 
gläubigen Juden  geschaffen,  sucht  zu  beweisen,  warum  das  Hohe- 
lied einen  Bestandteil  der  Bibel  bilden  darf.  Das  Hauptargument 
ist,  daß  das  Hohelied  nur  symbolisch  zu  verstehen,  ist  und  daß  in 
der  Form  eines  Liebesliedes  große,  tiefsinnige  Ideen,  die  sich  auf 
Moral  und  Religion  beziehen,  ausgedrückt  werden.  Im  babylonischen 
und  jerusalemitischen  Talmud  wird  Liebe  nur  vom  Gesichtspunkt 
des  Asketen  oder  des  Moralisten  behandelt.  Dem  Talmud  zufolge 
ist  selbst  die  Stimme  einer  Frau  etwas  Unreines,  und  bis  auf  den 
heutigen  Tag  wird  kein  rechtgläubiger  Jude  einer  weiblichen  Sing- 
stimme lauschen.  Die  ganze  Haltung  der  rabbinischen  Literatur  zum 
Erotischen  kann  mit  der  Haltung  der  früheren  Patrologie  verglichen 
werden.  Der  Unterschied  zwischen  Rabbiner  und  Kirchenvater  in 
dieser  Frage  ist  dieser:  Der  Asketismus  der  Rabbinen  war  echt  und 
wirklich  und  hatte  eine  positive  ethische  Basis,  der  Asketismus  der 
Kirchenväter  dagegen  war  nur  ein  negativer  Sexualismus.  Es  war 
Asketismus  verschleppt  von  der  Erde  in  den  Himmel,  weil  die  Grund- 
idee des  Christentums,  die  Empfängnis  und  die  Geburt  Gottes  durch 
ein  Weib  mittels  des  Heiligen  Geistes,  und  die  ganze  theologische 
sexuelle  Imagination  der  Vertreter  der  Kirche  (himmlische  Braut, 
himmlischer  Bräutigam,  heilige  Jungfrau  usw.)  das  sexuelle  Moment 
in  der  Gedankenreihe  der  Kirchenväter  nicht  vernichten  konnten.  Die 
Vertreter  der  Synagoge  jedoch  brauchten  sich,  nachdem  sie  sich  einmal 
zum  Asketismus  bekannt  hatten,  mit  theologischen  sexuellen  Begriffen 
nicht  plagen,  und  daher  war  ihr  Asketismus  positiv  und  rein.  Einige 
hebräische  Liebesbücher,  Schöpfungen  der  hebräischen  mittelalterlichen 
Literatur,  wie  die  des  Emanuel  des  Römers,  Dantes  Freund,  sind  von 
Juden  immer  als  häretisch  betrachtet  worden,  und  sie  konnten  den 
Gang  der  hebräischen  Literatur  nicht  beeinflussen.  Vor  einigen  Jahren 
ist  allerdings  in  der  hebräischen  Literatur  ein  Kampf  um  die  Erotik 
ausgefochten  worden.  Als  der  moderne  hebräische  Dichter  Tscher- 
nichovsky  in  der  literarischen  Arena  erschien,  fühlten  sich  seine  hebräi- 

197 


sehen  Zeitgenossen  tief  bewegt  und  provoziert,  denn  Tschernichovsky 
wagte  es,  mit  hebräischen  Liebesliedern  hervorzutreten.  Der  größte 
hebräische  Dichter  der  Neuzeit,  Nachman  Bialik,  hat  sich  seinen  Ruhm 
nicht  durch  seine  paar  Liebesliedchen  erworben,  die  uns,  nebenbei 
bemerkt,  stark  an  Ruth  erinnern,  sondern  weil  er  mit  seinen  Ge- 
dichten des  Zorns  Millionen  gequälter  Juden  aus  der  Seele  spricht. 
Was  von  Bialik  wahr  ist,  ist  auch  vom  größten  hebräischen  Erzähler 
der  Neuzeit,  Mendele,  wahr.  Nicht  das  Liebesmotiv,  sondern  das 
Hungermotiv  bewegt  ihn,  und  alle  seine  Helden  kämpfen  gegen  den 
Hunger,  wie  die  Helden  in  den  Romanen  der  arischen  Literatur  für 
die  Liebe  kämpfen.  „Was  werde  ich  essen,  wie  werde  ich  Brot  be- 
kommen?" Das  sind  die  Fragen,  die  in  der  hebräischen  Literatur  seit 
den  Tagen  Ägyptens  bis  auf  den  heutigen  Tag  behandelt  werden.  Die 
Geschichte  des  Menschen  auf  Erden  beginnt  in  der  Bibel  mit  dem 
Satz:  „Im  Schweiße  Deines  Angesichts  sollst  Du  Dein  Brot  essen". 
So  ist  das  Menschenschicksal  auf  Erden  beschrieben  worden.  Der 
hebräische  Genius  betrachtet  das  Leben  durch  das  Prisma  des  Hun- 
gers. Ein  Volk,  dessen  Schicksal  im  Leben  darin  besteht,  daß  es  von 
einem  Land  zum  andern,  von  einem  Weltteil  zum  andern  wandern 
muß,  ist  ein  Volk,  das  überall  zu  Hause  und  überall  fremd  ist  und, 
weil  immer  auf  der  Wanderung  begriffen,  nie  Zeit  hat,  große  Güter 
zu  sammeln  und  sich  einen  dauernden  Wohlstand  zu  erwerben.  Es 
muß  daher  immer  vor  der  Frage  stehen:  „Was  werde  ich  essen?" 
Es  ist  in  jeder  Beziehung  charakteristisch,  daß  die  Geschichte  des 
jüdischen  Volkes  mit  einer  Hungersnot  beginnt.  Der  biblischen  Tra- 
dition zufolge  war  es  eine  Hungersnot,  die  Jakob  bewog,  nach  Ägyp- 
ten zu  wandern,  und  eine  andere  biblische  Überlieferung  erzählt,  daß 
die  Nachkommen  dieses  Erzvaters,  nachdem  sie  von  der  ägyptischen 
Knechtschaft  befreit  worden  waren,  vor  Gott  dem  Erlöser  standen 
und  klagten:  „Wer  wird  uns  Fleisch  zum  Essen  geben?"  Sie  gedenken 
auch  wohl  der  Fische,  die  sie  in  Ägypten  umsonst  aßen.  Als  sie  durch 
die  Wüste  wanderten  und  Gott  ihnen  Manna  gab,  um  ihren  Hunger 
zu  stillen,  zittern  sie  noch  immer  vor  der  Möglichkeit  des  Hungers. 
Obwohl  Moses  ihnen  befahl,  nicht  zuviel  Manna  einzusammeln,  nur 
so  viel,  wie  sie  für  ihren  täglichen,  Bedarf  gebrauchten,  mißachteten 
sie  seinen  Befehl  und  sammelten  mehr,  als  sie  brauchen  konnten,  weil 
sie  von  der  Furcht,  am  folgenden  Tage  wieder  hungern  zu  müssen, 
geplagt  wurden. 

Als  Belohnung  für  die  Befolgung  des  Gesetzes  verspricht  der  Gott 
Israels  seinem  Volk,  daß   er  ihnen   rechtzeitig  Regen  schicken  wolle, 

198 


so  daß  die  Erde  Frucht  tragen  werde.  Er  versichert  ihnen  immer 
wieder,  daß  das  Land,  das  er  dem  Volk  Israel  versprochen,  ein 
gutes  und  fruchtbares  Land  sei,  ein  Land,  das  von  Milch  und  Honig 
triefe.  Immer  wieder  verspricht  er  ihnen,  daß  er  ihren  Hunger 
sättigen   werde. 

„Werdet  ihr  in  meinen  Satzungen  wandeln,  und  meine  Gebote 
halten  und  tun,  so  will  ich  euch  Regen  geben  zu  seiner  Zeit,  und  das 
Land  soll  sein  Gewächs  geben,  und  die  Bäume  auf  dem  Felde  ihre 
Früchte  tragen. "    3.  Moses,  26,  3,  4. 

„Werdet  ihr  meine  Gebote  hören,  die  ich  euch  gebiete,  daß  ihr 
den  Herrn,  euern  Gott,  liebet  und  ihm  dienet  von  ganzem  Herzen 
und  von  ganzer  Seele,  so  will  ich  eurem  Lande  Regen  geben  zu  seiner 
Zeit,  Frühregen  und  Spätregen,  daß  du  einsammelst  dein  Getreide, 
deinen  Most  und  dein  Öl,  und  will  deinem  Vieh  Gras  geben  #uf 
deinem   Felde,  daß  ihr  esset  und  satt  werdet."    5.  Moses,  11,  13 — 15. 

Aber  wenn  es  dazu  kommt,  daß  er  fluchen  muß,  weil  sie  das 
Gesetz  nicht  beobachten,  dann  ist  der  schrecklichste,  der  allerschreck- 
lichste Fluch,  den  er  über  seine  Lippen  bringen  kann,  dieser:  „Und 
das  Fleisch  Eurer  Söhne  und  das  Fleisch  Eurer  Töchter  werdet  Ihr 
essen/'  —  „Und  daß  dann  der  Zorn  des  Herrn  ergrimme  über  Euch, 
und  schließe  den  Himmel  zu,  daß  kein  Regen  komme,  und  die  Erde 
ihr  Gewächs  nicht  gebe  und  Ihr  bald  umkommet  von  dem  guten 
Lande,    das   Euch   der  Herr  gegeben   hat."    5.   Moses,    11,   17. 

Hunger  und  immer  wieder  Hunger  ist  das  Hauptmotiv  in  der 
alten  biblischen  Literatur,  und  dieses  Motiv  zieht  sich  wie  ein  roter 
Faden  durch  die  ganze  Bibel.  Der  Hungrige  ist  immer  zum  Morali- 
sieren geneigt  und  ist  immer  zornig.  Es  ist  immer  der  Hunger,  der 
die  Frage  von  Recht  und  Unrecht,  Gut  und  Böse  hervorruft.  Hunger 
ist  der  letzte  Ankergrund  alles  Moralisierens,  aller  Weltverbesserei, 
aller  Gerechtigkeitssucherei.  Aus  diesem  Grunde  haben  die  Juden 
eine  wesentlich  moralische  Weltanschauung  geschaffen,  und  aus  diesem 
Grunde  haben  die  Arier  eine  wesentlich  ästhetische  Weltanschauung 
geschaffen.  Der  Schlachtruf  der  alten  Propheten  war:  „Habt  Erbarmen 
mit  den  Witwen  und  Waisen,  speiset  die  Hungrigen,  helft  den  Armen." 
Das  Christentum  lehrt:  „Wenn  einer  dich  auf  die  eine  Wange  schlägt, 
biete  ihm  die  andere  auch  dar."  Das  Judentum  lehrt:  „Wenn  dein  Feind 
hungrig  ist,  gib  ihm  Brot."  Das  Judentum  macht  den  Armen,  den 
Ebjon,  zum  Objekt  der  Ethik,  und  das  Ideal  der  Propheten  war  Brot 
für  die  Hungrigen  und  Gerechtigkeit  für  die  Unterdrückten,  während 
das  Ideal  der  Griechen  das  Schöne  und  speziell  das  subjektiv  Schöne 

199 


war.  Dieser  Unterschied  zwischen  den  Hauptmotiven  in  der  hebräischen 
Literatur  und  denen  der  arischen  Literaturen  ist  keineswegs  ein  ZufalL 
sondern  er  hat  seine  bio-soziologischen  Gründe.  Schon  ein  Blick  auf 
die  Landkarte  des  alten  Griechenland  und  des  alten  Judäa  liefert  uns 
die  Erklärung  für  den  wesentlichen  Unterschied  in  den  literarischen 
Schöpfungen  beider  Völker.  Die  Fruchtbarkeit  des  Bodens  des  antiken 
Hellas  und  die  ökonomische  Basis  der  griechischen  Polis  löste  für  die 
alten  Griechen  die  Hungerfrage  und  gab  ihnen  die  Möglichkeit  und 
die  nötige  Ruhe,  um  sich  dem  Kultus  des  Schönen  zu  widmen  und  sich 
den  Betrachtungen  der  Natur  hinzugeben.  Ob  die  ursprüngliche  Heimat 
der  alten  Arier  die  Ufer  des  Ganges  waren,  wie  es  Gelehrte  am  An- 
fang des  neunzehnten  Jahrhunderts  wahrhaben  wollten,  oder  ob  sie 
die  Ufer  des  Rheins  und  der  Schwarzwald  waren,  wie  L.  Geiger  in 
der  Mitte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  erklärte,  oder  ob  sie  das 
fruchtbare  Wolhynien  war,  wie  andere  Gelehrte  annahmen,  —  jeden- 
falls war  die  ursprüngliche  Heimat  der  Arier  ein  fruchtbarer  Boden, 
der  seine  Bevölkerung  reichlich  ernähren  und  sie  von  allen  ökono- 
mischen Sorgen  befreien  konnte.  Die  alten  Griechen  hatten  keine 
Hungertradition  wie  die  Juden,  als  sie  sich  in  Palästina  niederließen, 
und  selbst  als  die  Juden  sich  dort  schon  heimisch  fühlten,  war  ihre 
wirtschaftliche  Lage  noch  keine  beneidenswerte.  In  einem  Gebirgsland 
lebend  und  auf  der  einen  Seite  durch  die  Arabische  Wüste  und  auf 
der  anderen  durch  das  Meer  von  der  Außenwelt  abgeschnitten,  konnten 
sie  sicherlich  kein  luxuriöses  Leben  führen,  denn  sie  Waren  nie  ein 
seefahrendes  Volk.  Der  schwerarbeitende  Bauer  in  Judäa  war  immer 
arm,  und  was  seinen  Geist  beschäftigte,  war  nicht  der  Gedanke  an 
das  Schöne  noch  irgendein  anderer  abstrakter  Gedanke^  sondern  die 
Hoffnung  auf  Regen,  für  welchen  das  Hebräische  unzählige  Ausdrücke 
hat.  Sein  Gedächtnis  mit  Hungertraditionen  belastet,  seine  Gegenwart 
bewölkt  von  der  Furcht  einer  wirtschaftlichen  Katastrophe  (Mangel 
an  Regen,  Heuschrecken-  und  andere  Plagen),  umgeben  auf  der  einen 
Seite  von  der  Arabischen  Wüste  und  auf  der  anderen  von  der  See, 
eingesperrt  in  ein  Gebirgsland:  wie  konnte  der  alte  Hebräer  da  irgend- 
eine Beziehung  zum  Schönen  haben?  Es  kommt  noch  hinzu,  daß  ihm 
zu  all  seinem  Unglück  jedes  Organisationstalent  abging  und  er  keine 
Möglichkeit  hatte,  eine  Zivilisation  zu  schaffen.  Das  Resultat  war,  daß 
er  die  Eingeborenen  im  Lande  nicht  so  ausbeuten  konnte  wie  die 
Griechen.  Er  konnte  auch  daher  seinen  Willen  nicht  domestizieren  und 
bilden  und  seinen  ursprünglichen  Subjektivismus  unterdrücken.  Der 
grenzenlose  Subjektivismus   der   alten    Hebräer   in    Palästina   war  die 

200 


Ursache  (so  vieler  ökonomischer  und  politischer  Übel,  daß  der  Ethi- 
zismus  der  Propheten  die  einzig  mögliche  Reaktion  war,  und  so  war 
in  Judäa  also  ein  Geisteszustand  vorherrschend,  welcher  nur  die  Ent- 
wicklung einer  ethischen  Kultur  gestattete.  Die  Griechen  aber,  von 
ökonomischen  Sorgen  frei,  weil  der  Boden  fruchtbar  war  und  die 
Sklaven  für  sie  arbeiteten,  waren  von  Anfang  an  so  gestellt,  daß  sie 
mit  -allen  ihren  Sinnen  die  Natur  genießen  konnten,  mit  ihren  Ohren, 
Augen  und  den  anderen  Sinnen.  Sie  waren  so  gestellt,  daß  sie  den  Rhyth- 
mus dm  Leben  der  Natur  erlauschen,  ihre  Harmonie  entdecken,  ihre 
Formen  .erforschen  und  alles,  was  schön  im  Leben  ist,  genießen  konnten. 
So  wurde  das  Schöne  zum  vorherrschenden  Element  im  griechischen 
Leben,  wie  das  Ethische  zum  vorherrschenden  Element  im  Hebräischen 
sich  entwickelte,  und  so  geschah  es,  daß  die  Triebkräfte  der  griechi- 
schen Literatur  und  in  den  Literaturen  aller  anderen  arischen  Völker 
das  Erotische  und  das  Schöne  waren,  während  in  der  hebräischen 
Literatur  das  Moralische  und  Ethische  herrschte. 

Viele  Vertreter  der  Bibelkritik  sind  der  Ansicht,  daß  die  Propheten 
wesentlich  Träumer  waren  und  für  die  Wirklichkeit  des  Lebens  kein 
richtiges  Verständnis  hatten.  Diesen  Bibelkritikern  zufolge  sahen  die 
Propheten  nur  unwirkliche  Gesichter  und  prophezeiten  eine  Zukunft, 
die  nie  Wirklichkeit  werden  wird.  Sie  prophezeiten,  daß  ein  Tag 
kommen  werde,  an  dem  der  Wolf  und  das  Lamm  zusammenhausen 
würden  und  daß  in  der  biologischen  Natur  dieselben  ethischen  Gesetze 
herrschen  würden  wie  in  der  Menschenwelt.  Das  ewige  Gesetz  vom 
Kampfe  der  Existenz  schließe  die  Möglichkeit  einer  solchen  Zukunft 
a|us,  und  wenn  die  Propheten  keine  richtige  Beziehung  zum  Leben 
hatten,  worin  bestehe  dann  ihre  Größe  Und  ihre  Bedeutung?  Der 
Träumer,  der  unwirkliche  Träume  träume,  sei  nicht  zur  Unsterblich- 
keit berechtigt.  Mag  sein,  daß  die  Verheißungen  der  Propheten  nie 
Wirklichkeit  (werden,  aber  es  ist  wichtig,  festzustellen,  daßi  die  Pro- 
pheten eine  sehr  reale  Basis  als  Ausgangspunkt  hatten.  Diese  Basis 
war  der  Hunger  und  alles,  was  aus  ihm  folgt,  Gerechtigkeit  und  Un- 
gerechtigkeit, Gut  und  Böse  usw.  Nicht  der  letzte  Gedanke  einer  Lehre 
zeugt  für  ihre  Beziehung  zum  Leben,  sondern  ihr  Ausgangspunkt,  und 
der  Ausgangspunkt  der  Propheten  war  die  Wirklichkeit  ihrer  Zeit 
und  ihrer  Lokalität. 

Alles,,  was  die  Propheten  auf  dem  Gebiete  der  Politik,  der  Ethik, 
der  Religion  und  des  Wirtschaftslebens  verlautbart  haben,  hat  seinen 
Ursprung  im  Hunger,  und  der  biblische  Genius  entzündete  sich  am 
Hunger.   Die  Bibel  ist  das  große  Buch  des  Hungers  in  der  Weltlitera- 

201 


tur.  Natürlich  sind  auch  andere  Große  im  Reiche  der  Literatur  dem 
Hunger  nachgegangen  und  haben  ihn  in  allen  Formen  beschrieben, 
aber  in  ihren  Händen  ist  der  Hunger  keine  ethische  treibende  Kraft 
geworden.  Wenn  Maxim  Gorki  den  Hunger  beschreibt,  erweckt  er 
höchstens  das  Mitleid  des  Individuums.  Wenn  Knut  Hamsun  den 
Hunger  beschreibt,  zeigt  er  uns  lediglich  dessen  physische  Wirkungen, 
und  wenn  Tolstoi  den  Hunger  beschreibt,  zeigt  er  uns  dessen  mora- 
lische und  politische  Misere.  Etwas  Großes  haben  nur  die  Propheten 
aus  dem  Hunger  gemacht.  Nur  sie  haben  ihn  zum  Ausgangspunkt  einer 
großen  ethischen  Weltanschauung  gemacht,  und  die  Propheten  können 
deshalb  mit  Recht  als  die  Führer  der  hungrigen  Sklaven  in  der  Welt- 
literatur bezeichnet  werden.  Wenn  die  Propheten  den  Hunger  zum 
Urquell  der  Ethik  machten,  haben  die  hebräischen  Dichter  ihn  zum 
Quell  der  Elegie  gemacht.  Die  ganze  hebräische  Poesie  atmet  den 
Geist  der  Elegie,  nicht  Wein,  Weib  und  Gesang,  sondern  Brot,  Brot 
und  wieder  Brot  ist  das  Grundmotiv  der  hebräischen  Poesie.  Ganz 
wie  die  hebräische  Poesie  aus  dem  Geiste  des  Hungers  geboren  wurde, 
so  die  hebräische  Elegie. 

Hunger  und  Liebe  sind  die  zwei  mächtigsten  Instinkte  und  die 
zwei  Grundleidenschaften  im  Menschen,  und  der  Hunger  ist  elemen- 
tarer als  die  Liebe.  Zuerst  sucht  der  Mensch  seine  ökonomische  Exi- 
stenz zu  sichern,  dann  erst,  sich  zu  reproduzieren,  und  da  der  Hunger 
die  treibende  Kraft  in  der  Bibel  ist,  ist  ihre  Wurzel  im  Leben  ebenso 
tief  und  fest  wie  das  erotisch-ästhetische  Motiv  der  Literatur  der 
arischen  Völker.  Dieses  Hunger-Motiv  in  der  Bibel  bildet  später  die 
Grundlage  der  hebräischen  Literatur  jedes  Zeitalters,  und  solange  die 
Juden  ein  Wandervolk  und  deshalb  ein  hungriges  Volk  sein  werden, 
solange  werden  sie  den  Gesang  des  Hungers  in  all  seinen  traurigen 
Melodien   singen. 

Den  europäischen  Völkern  ist  die  hebräische  Literatur  ein  Buch 
mit  sieben  Siegeln.  Sie  können  ihren  Geist  nicht  verstehen  und  ihr 
Wesen  nicht  fassen,  so  wie  sie  den  Geist  der  hebräischen  Religion 
nicht  verstehen  können.  Die  hebräische  Literatur  ist  in  der  Sprache 
des  Hungers  geschrieben,  wie  die  arische  Literatur  in  der  Sprache  der 
Liebe.  Aber  obgleich  die  europäischen  Völker  das  Wesen  und  den 
Geist  der  hebräischen  Literatur  nicht  verstehen  können,  weil  sie  das 
Schicksal  des  jüdischen  Volkes  nicht  teilen,  fühlen  sie  doch  instinktiv 
die  Größe  und  die  Macht  der  hebräischen  Literatur,  weil  diese  Litera- 
tur ihnen  notwendigerweise  eine  natürliche  Ergänzung  zu  ihrer  eigenen 
Literatur  bietet.    Die  hebräische   Literatur  ist   die  Literatur  der  einen 

202 


Hälfte  des  Menschen,  des  Hungers.  Ohne  sie  wäre  die  Literatur  ein- 
seitig. Erst  ergänzt  durch  die  hebräische  Literatur  wird  die  Literatur 
an  sich  zu  einer  Medaille  mit  zwei  Seiten  vervollständigt,  denn  sie 
wird  dadurch  zum  Ausdruck  der  zwei  hauptsächlichsten  Leidenschaften 
im  Menschen,  des  Hungers  und  der  Liebe.  Wenn  die  arischen  Völker 
sich  unter  den  Einfluß  der  hebräischen  Literatur  stellten  und  sie  in 
ihren  eigenen  Kunsttempel  aufnahmen,  so  taten  sie  es  nicht,  weil  sie 
ihren  Geist  klar  verstanden,  sondern  weil  sie  instinktiv  fühlten,  daß  die 
hebräische  Literatur  eine  notwendige  Ergänzung  zu  ihrer  eigenen  war. 

Alle  Denker  von  Aristoteles  bis  auf  Deußen  erklären,  daß  das 
Drama  die  höchste  Form  der  Kunst  ist  und  daß  es  die  schwierigste 
Kunst  ist.  Die  hebräische'  Literatur  hat  alle  Literaturgattungen  ge- 
pflegt und  entwickelt,  mit  Ausnahme  des  Dramas,  weil  das  Drama 
ohne  das  erotische  Element  unmöglich  ist.  Während  das  Drama  gänz- 
lich unentwickelt  ist,  sind  die  Elegie  und  die  Klagelieder  übermäßig 
entwickelt.  In  keinem  Buch  der  Weltliteratur  wird  so  viel  gejammert, 
so  viel  geklagt  und  so  viel  geflucht  wie  in  der  Bibel.  Das  Fluch-  und 
das  Klagelied  sind  Produkte  des  elegischen  Gemüts.  Dieser  Geistes- 
zustand setzt  natürlich  starken  Subjektivismus  voraus,  und  er  setzt 
ferner  voraus  einen  starken  Emotionalismus,  der  das  Pathos  hervor- 
ruft. Das  tragische  Bewußtsein  dagegen  setzt  einen  ruhigen  Geist 
voraus  und  die  Fähigkeit,  die  Dinge  objektiv  zu  betrachten  und  Zeuge 
des  Sturzes  der  Großen  und  der  Mächtigen  zu  sein.  Beides,  die  Be- 
schreibung des  Konflikts  und  sein  fataler  Ausgang,  setzen  einen  kon- 
templativen abgeklärten  Geist  voraus.  Dieser  fehlte  gänzlich  in  Judäa, 
war  aber  übermäßig  in  Hellas  entwickelt. 

Man  sieht  also,  daß  der  Hunger  und  alles,  was  mit  ihm  verbunden 
ist,  das  Pathetische,  das  Elegische,  die  hebräische  Literatur  von  Anfang 
bis  Ende  beherrscht,  während  das  Erotische  und  alles,  was  damit  zu- 
sammenhängt, das  Schöne,  den  Geist  der  arischen  Literaturen  be- 
herrscht, und  daß  der  Eindruck,  den  die  Bibel  auf  die  Welt  gemacht 
hat,  darauf  beruht,  daß  sie  das  Grundbuch  des  Hungers  ist. 


203 


Elftes  Kapitel. 


Die  selektiven  Kräfte. 

Jüdische  Literatur  der  Inhalt  der  jüdischen  Geschichte.  —  Bibel  und 
Talmud.  —  Philosemiten  berufen  sich  auf  die  Bibel,  Antisemiten  auf  den  Talmud. 
—  Literarische  Entwicklung.  —  Propheten  und  Rabbinen.  —  Der  Talmud  das 
Werk  des  analytischen  Geistes.  —  Ursprung  des  mündlichen  Gesetzes.  —  Die 
Stillossigkeit  des  Talmud.  —  Die  Natur  des  jüdischen  Gesetzes.  —  Der  Abstieg 
vom  Leben  zum  Buch.  —  Priester  und  Prophet.  —  Prophetische  Wirksamkeit.  — 
Die  Propheten  und  die  Wirklichkeit.  —  Rabbinische  Tätigkeit.  —  Die  Juden  und 
die  Bibel.   —  Das  Geheimnis  der  Macht   des  Talmud.   — 

Ein  bedeutender  jüdischer  Literaturhistoriker,  Gustav  Karpeles,  be- 
teuert in  der  Einleitung  zu  seiner  Geschichte  der  jüdischen  Literatur, 
es  sei  keine  Phrase,  wenn  man  von  dem  jüdischen  Volke  sagte,  „daf> 
seine  Geschichte  auch  zugleich  seine  Literatur  sei".  Der  größte  jü- 
dische Historiker  der  Neuzeit,  Graetz,  hat  eine  zwölfbändige  Geschichte 
der  Juden  geschrieben.  Wodurch  sich  dieses  große  Werk  von  einer 
jüdischen  Literaturgeschichte  unterscheidet,  kann  niemand  sagen;  denn 
weit  mehr  als  eine  Geschichte  von  Taten,  zivilisatorischen  Werken  und 
Handlungen,  ist  es  eine  Geschichte  von  Büchern,  Ideen,  geistigen 
Strömungen  der  Persönlichkeiten.  Sowohl  Graetz  wie  die  anderen  jü- 
dischen Historiker  haben  ehrliche  Arbeit  getan,  fleißig  gesammelt, 
geordnet,  rubriziert  und  gewissenhaft  dargestellt.  Wenn  dennoch 
keine  Geschichte,  sondern  nur  eine  Literaturgeschichte  herausge- 
kommen ist,  so  ist  es  sicherlich  nicht  ihre  Schuld.  Nun,  eine 
Literaturgeschichte  ist  eine  Geschichte  von  Ideen  und  deren  Trägern, 
eine  Geschichte  von  literarischen  Persönlichkeiten.  Denkt  man  sich 
nämlich  die  Literatur  von  der  jüdischen  Geschichte  hinweg,  dann  bleibt 
ein  bares  Nichts,  ein  absolutes  Nichts.  Dieses  Faktum  allein  ist  ein  aus- 
reichender Grund,  die  jüdische  Geschichte  vom  Gesichtspunkt  der 
Individualität,  die  ihre  erste  treibende  Kraft  ist,  zu  interpretieren,  um 

204 


auf  diesem  Wege  in  ihre  Eigenart  —  und  damit  in  die  Eigenart  des 
jüdischen  Geistes   einzudringen. 

Der  Schwerpunkt  des  angehenden  antiken  Judentums  .ist  der  Tal- 
mud, und  bis  auf  den  heutigen  Tag  ist  es  so  geblieben.  Die  Juden 
selbst  betrachten  den  Talmud  als  das  erste  Buch,  ja  seit  dem  Abschluß 
des  Talmuds  herrscht  sogar  eine  gewisse  „Abneigung"  gegen  die 
Bibel.  Man  findet  noch  bis  auf  den  heutigen  Tag  große  Talmud- 
autoritäten, die  die  Propheten  nie  gelesen  haben.  Die  meisten  Talmud- 
juden kennen  die  Bibel  nur  aus  den  Sentenzen,  die  der  Talmud  an- 
führt. In  vielen  großen  Talmudhochschulen  wird  den  Studenten  das 
Lesen  der  Propheten,  wenn  nicht  direkt  verboten,  so  doch  nicht  emp- 
fohlen. Speziell  der  des  Talmuds  unkundige  fromme  Jude  behandelt 
die  Bibel  mit  Ausnahme  der  fünf  Bücher  Mosis  als  eine  Art  revo- 
lutionärer Literatur.  Man  darf  mit  Recht  sagen,  daß  es  wohl  wenige 
Völker  gibt,  die  sich  einer  so  großen  Unkenntnis  der  Bibel  rühmen 
können  wie  die  Juden.   Ist  das  nicht  an  sich  ein  Mysterium,  ein  Rätsel? 

Ein  fast  umgekehrtes  Verhältnis  unterhalten  die  christlichen  Völker 
zu  den  beiden  Büchern,  die  das  eine  Volk  hervorgebracht  hat.  Die 
Philosemiten  berufen  sich  immer  auf  die  Bibel,  die  Antisemiten  auf 
den  Talmud.  Wegen  der  Bibel  sind  die  Juden  das  auserwählte  Volk 
Gottes,  wegen  des  Talmuds  Parias,  Tschandallas.  In  die  Bibel  werden 
alle  großen  und  heiligen  Gedanken  hineingelesen,  aus  dem  Talmud 
die  menschenunwürdigsten  Gebote  herausgelesen.  Es  ist  mir  nicht 
bekannt,  daß  irgendeine  Autorität  zu  irgendeiner  Zeit  die  Verbrennung 
der  Bibel  befohlen  hätte;  hingegen  ist  der  Talmud  im  sechzehnten 
Jahrhundert  allein  mehr  als  sechsmal  dem  Feuertod  übergeben  worden. 

Könige  und  Päpste  wetteiferten  Jahrtausende  in  ihrem  Kampf 
gegen  das  ihnen  verhaßte  Buch.  Während  mehrerer  Jahrhunderte 
trug  es  sogar  den  wenig  ehrenvollen  Namen  liber  demeabilis  (ver- 
dammtes Buch).  Als  Pius  IV.  nach  vielem  Zögern  die  Erlaubnis  zu 
einer  Neuaflage  des  Talmuds  erteilte,  machte  er  zur  Bedingung,  daß 
das  Vorderblatt  nicht  das  Wort  „Talmud"  tragen  solle.  „Si  tarnen 
prodierit  sine  nomine  Talmud  tolerari  deberet",  schrieb  der  Papst 
in  seinem  Dekret.  Selbst  heute  ist  dieses  Buch  sogar  in  freisinnig 
christlichen  Kreisen  aufs  gründlichste  verhaßt.  Mit  dem  Wort  Talmud 
verbinden  sich  Vorstellungen  von  einem  Buche,  das  der  Wahnwitz 
eines  bigotten  Volkes  geschaffen  hat.  Jedesmal,  wenn  die  antisemi- 
tische Bestie  das  Ritualmordmärchen  aufzufrischen  sucht,  wird  der 
Talmud  in  den  Mittelpunkt  der  Diskussion  gerückt.  Man  bedenke  also 
den  Gegensatz!  Wegen  der  Bibel,  die  die  Juden  am  wenigsten  kennen, 

205 


sind  sie  ein  Volk  Gottes,  und  wegen  des  Talmuds  werden  sie  zu 
fanatischen  Meuchelmördern  und  zu  abergläubischen  Haitinern  ge- 
stempelt. Dieselben  Leute,  die  bei  jeder  Ritualmordaffäre  gegen  die 
Juden  als  Kronzeugen  auftreten,  sind  in  der  Regel  selbst  bibelfeste 
Christen.  Wie  ist  diese  Erscheinung  zu  erklären?  Der  Talmud  liegt 
jetzt  fast  ganz  übersetzt  vor,  und  in  früheren  Zeiten  gab  es  immer 
große  christliche  Gelehrte,  die  den  Inhalt  des  Talmuds  mehr  oder 
weniger  gründlich  kannten.  Es  wäre  also  weit  gefehlt,  die  juden- 
feindliche Welle,  die  um  den  Talmud  schlägt,  auf  die  Unkenntnis 
dieses  Buches  zurückzuführen.  Der  Talmud  enthält  nichts,  was  diese 
seit  Jahrtausenden  andauernde  Abneigung  gegen  ihn  rechtfertigen 
könnte.  Wenn  irgendein  großes  Werk  der  Weltliteratur  als  harmlos 
bezeichnet  werden  darf,  so  ist  es  sicherlich  der  Talmujd.  Das  Werk  ent- 
hält, wie  jeder,  der  über  den  Talmud  urteilt,  wissen  sollte,  religions- 
gesetzliche Abhandlungen  und  Bestimmungen,  sowie  ein  System  des 
Zivil-  und  Strafrechts,  das  an  einer  idealistischen  Ethik  motiviert  ist, 
und  nebenbei  noch  allerlei  Volkssagen  und  Poetika,  Agada  genannt. 
Das  so  positive  Verhältnis  der  Juden  zum  Talmud  und  die  vorbehalt- 
lose Abneigung  der  Christen  gegen  ihn  muß  also  einen  anderen  als 
einen  philologischen  oder  ethischen  Grund  haben.  Die  Stellung  des 
Talmuds  im  Judentum  wie  im  Christentum  kann  nur  psychologisch  ver- 
standen werden,  wie  die  Stellung  der  Bibel  im  Judentum  und  Christen- 
tum nur  psychologisch  verstanden  werden  kann.  Da  aber  der  Talmud 
noch  mehr  als  die  Bibel  ein  Werk  von  Individualitäten  ist,  so  ist  es 
geboten,  die  Psychologie  dieser  Individualität  zu  untersuchen.  Es  wird 
sich  dann  ergeben,  daß  die  christliche  Abneigung  gegen  den  Talmud 
psychologisch  ebenso  begründet  ist  wie  die  Vorliebe  der  Juden  für 
den  Talmud.  In  der  jüdischen  Geschichte,  d.  h.  in  der  jüdischen  Lite- 
ratur, treten  nacheinander  vier  Persönlichkeiten  auf,  die  sich  zum  Teil 
gegenseitig  ausschließen:  1.  Der  willensstarke  und  tatenreiche3)  Ge- 
setzgeber der  frühesten  Zeit,  der  zugleich  Politiker,  Tribun,  Organi- 
sator und  Richter  war.  2.  Der  Priester,  der  neben  seinen  gottesdienst- 
lichen Funktionen  auch  Sanitätsbeamter  war,  und  der,  wie  alle  Priester, 
immer  auf  der  Seite  der  Starken  und  Mächtigen  seinen  Platz  einnahm. 
3.  Der  Prophet,  der  Dichter  und  Politiker,  Patriot  und  Tribun  war, 
und  4.  Der  Rabbi  (vom  Sopher  bis  auf  den  heutigen  Talmudrabbi), 
der  Gesetzesausleger,  der  halb  Priester  und  halb  Richter  ist  und  nur  im 

*)  Bei  dieser  Gelegenheit  sei  auf  die  ausgezeichneten  psychologischen  Moses- 
Essays  von  Adolf  Gelber  und  Achad-Haam,  die  im  Sammelbuch  „Moses", 
Berlin   1905,   erschienen   sind,   hingewiesen. 

206 


Buche  wurzelt.  Im  Altertum  stand  der  Prophet  u.  a.  auch  dem  Priester 
gegenüber.  Der  Prophet  vertrat  den  Geist,  der  Priester  den  Buch- 
staben. Der  Prophet  war  an  der  Sittlichkeit,  der  Priester  an  der  Le- 
galität orientiert.  Allein  der  Prophet  stand  nicht  nur  dem  Priester 
gegenüber;  denn  er  vertrat  das  sittliche  Sollen  gegen  das  unsittliche 
Sein  auf  der  ganzen  Linie.  Der  Priester  war  aber  nur  eine  der  vielen 
Mächte  des  Seins.  Wenn  christliche  Theologen  in  neuerer  Zeit,  nach 
dem  Schema  von  Tardes  „Opposition  Universelle"  im  Nebeneinander 
der  geschichtlichen  Mächte  vorgehend,  die  Sache  so  darstellen,  als 
hätte  der  Kampf  zwischen  Priester  und  Prophet  im  alten  Judäa  den 
Inhalt  der  antiken  jüdischen  Geschichte  gebildet,  so  ist  dem  entgegen- 
zuhalten, daß  der  prophetische  Mensch  nicht  gegen  die  Priesterschaft 
an  sich,  sondern  gegen  die  Ausartung  des  Priestertums  gekämpft  hat; 
wie  er  gegen  jede  sittliche  Ausartung  im  Kampfe  lag. 

Solange  die  Prophetie  lebte  und  wirkte,  hatte  die  Legalität,  die 
sich  immer  mit  der  sittlichen  Niedertracht  zu  verschwägern  weiß, 
eine  Grenze.  Als  nun  aber  der  Geist  der  Prophetie  verglommen  war 
und  dem  sittlichen  religiösen  Niedergang  eine  Grenze  gesetzt  werden 
mußte,  trat  zuerst  der  Sopher  und  dann  der  Rabbi  auf,  um  einen  Teil 
der  prophetischen  Funktion  zu  übernehmen.  Während  aber  der  Pro- 
phet, obschon  selbst  auf  der  Tradition  fußend,  aus  dem  Born  des 
Lebens,  des  tätigen,  wirklichen  Lebens  schöpfte,  weil  zu  seiner  Zeit 
das  nationale  Leben  noch  einige  Wirklichkeit  hatte,  mußte  die  Tätigkeit 
des  Rabbi  auf  das  Buch  beschränkt  bleiben,  da  das  nationalpolitische 
Leben  mittlerweile  ganz  aufgehört  hätte.  Obgleich  nun  der  Rabbi  der 
Nachfolger  des  Propheten  und  des  Priesters  zugleich  ist,  ist  er  trotz- 
dem der  Antipode  des  letzteren.  Der  Prophet  war  ein  Künstler,  der 
Rabbi  ein  Jurist,  der  Prophet  ein  an  dem  Leben  orientierter  schöpfe- 
rischer Geist,  der  Rabbi  ein  Kommentator  und  Erklärer,  der  Prophet 
ein  „Wirklichkeits"mensch,  der  Rabbi  ein  Bücherwurm.  Der  Prophet 
mahnt  zur  sittlichen  Handlung,  der  Rabbiner  zum  Studium,  zum  „Ler- 
nen". Vor  der  babylonischen  Gefangenschaft  gab  es  keinen  einzigen 
hebräischen  Terminus  für  Schule,  während  die  talmudische  Sprache 
nicht  weniger  als  zehn  Bezeichnungen  für  Schule  hat.  Die  Propheten 
kündigen  den  Untergang  des  Staates  an,  weil  das  Volk  sittlich  und 
religiös  verkommen  ist,  die  Rabbinen  begründen  die  Zerstörung  Jeru- 
salems mit  dem  Aufhören  des  Jugendunterrichts.  Der  Prophet  stellt 
als  das  Höchste  die  sittliche  Tat,  die  Verwirklichung  des  Guten,  hin, 
der  Rabbiner  lehrt  „We  talmud  Torah  k'neged  kullam"  (über  allem 
steht  das  Thorastudium).    Des  Gegensatzes  zum   Propheten  sich  be- 

207 


wüßt,  lehrte  der  Rabbi:  Ein  Gelehrter  ist  mehr  als  ein  Prophet.  Die 
Bibel  berichtet  von  großen  Taten  und  von  großen  Männern,  sie  ist 
voller  Handlung  und  Leben.  Der  Talmud  hingegen  berichtet  nur  von 
formulierten  Gesetzen,  von  Deutungen,  Erklärungen  und  Auslegungen 
der  Gesetze  —  er  verhält  sich  zur  Bibel  wie  Didaktik  zu  Epik.  Der 
Rabbi  ist  der  Prototypus  des  religiösen  Puritaners  und  des  ethischen 
Intellektualisten.  Jedes  Willensmotiv  ist  ihm  fremd,  jedes  psycholo- 
gische Motiv  verhaßt.  Seine  Lehre  ist  prosaisch,  nüchtern,  trocken, 
emotionslos  —  und  was  das  schlimmste  ist,  stillos.  Die  Bibel  ist  auch 
nicht  sehr  formenreich,  aber  sie  hat  ihren  Stil;  denn  sie  ist  ein  natür- 
liches Gewächs  .  .  .  Der  Stil  des  Talmuds  ist  die  absolute  Stil-  und  Form- 
losigkeit. Dieses  Faktum  ist  nicht  darauf  zurückzuführen,  daß  er  baby- 
lonisch, sondern  darauf,  daß  er  apsychologisch  ist.  Aller  Stil  ist  psycho- 
logisch-persönlich —  le  style  c'est  l'homme  — ,  und  der  Talmud  ist  in 
seinem  halachischen  Teil  purer  Intellektualismus  —  „Nihilismus"  .  .  . 

Betrachtet  man  also  die  Entwicklungsgeschichte  des  antiken  jüdi- 
schen Geistes  nach  seinen  sukzessiven  Vertretern,  so  muß  man  sagen: 
der  ursprüngliche  synthetische,  ebensoviel  Intellektualismus  wie  Vo- 
luntarismus enthaltende  Geist  der  Propheten  verwandelte  sich  beim 
Rabbiner  resp.  beim  Halachisten  in  einen  trockenen,  analytischen  In- 
tellektualismus unter  Ausschluß  jedes  Voluntarismus  und  Psycholo- 
gismus. Die  Absolutheit  des  jüdischen  Gesetzes  sowie  die  eingefleischte 
Prinzipialität  und  Extremität,  die  den  jüdischen  Geist  immer  „aus- 
zeichneten", haben  den  rabbinischen  apsychologischen  Intellektualis- 
mus zum  Primat  gemacht. 

Diese  Geistesentwicklung  von  Synthesis  zur  Analysis,  von  Psy- 
chologismus zum  Intellektualismus  war  durch  den  Ablauf  des  histo- 
rischen Prozesses  bedingt,  wenn  wir  auch  nicht  alle  Phasen  dieser 
eigenartigen,  weil  extremen,  Entwicklung  kennen.  „Wenige  Kapitel 
in  der  Geschichte  der  Jurisprudenz",  so  bemerkt  Emanuel  Deutsch, 
„sind  so  obskur  wie  der  Ursprung  des  mündlichen  Gesetzes."  Die 
vielen  Stöße  und  Bewegungen,  die  der  Staat  von  innen  oder  von  außen 
erhalten  hat,  machten  neue  Gesetze  oder  Verordnungen  erforderlich. 
Da  das  Gesetz  kein  Gesetz  der  Majorität,  sondern  das  der  göttlichen 
Autorität  war  und  die  Urim  Wethumim,  das  Orakel  des  Hohepriesters, 
mit  der  Zerstörung  des  ersten  Tempels  verloren  ging  und  auch  kein 
Prophet  mehr  lebte,  der  das  Richtige  hätte  sagen  können,  mußte  das 
neue  Gesetz  auf  anderem  Wege  als  übereinstimmend  mit  dem  Gött- 
lichen nachgewiesen  werden.  Man  mußte  anfangen  abzuleiten,  zu  ver- 
gleichen, Anhaltspunkte  zu  finden,  Analogien  zu  suchen  usw.    Für  alte 

208 


Traditionen  und  Volkssitten  mußten  gesetzliche  Anhaltspunkte  aus- 
findig gemacht  werden.  Auf  diese  Weise,  so  denken  sich  viele,  soll 
das  mündliche  Gesetz  seinen  Anfang  genommen  haben  und  der  Rabbi- 
nismus  entstanden  sein. 

Aber  da  melden  sich  schwerwiegende  Bedenken. 

Im  Talmud  befindet  sich  eine  beträchtlich  große  Anzahl  von  Ge- 
setzen und  Verordnungen,  die  gar  keine  Basis  im  Leben  jener  hatten, 
so  z.  B.  religionsgesetzliche  Vorschriften,  die  nur  Geltung  hatten,  so- 
lange der  Tempel  bestand;  straf-  und  zivilrechtliche  Verordnungen, 
die,  weil  der  jüdische  Staat  nicht  mehr  existierte,  gar  keine  Anwen- 
dung finden  und  mithin  nicht  aus  den  Bedürfnissen  des  realen  Lebens 
hervorgegangen  sein  konnten.  Das  gleiche  gilt  auch  von  vielen  Zere- 
monialgesetzen,  die  wegen  der  veränderten  Lebensbedingungen  schon 
eo  ipso  außer  Kraft  waren.  Und  selbst  diejenigen  religionsgesetzlichen 
Vorschriften,  die  noch  heute  Gültigkeit  haben,  sind  im  Talmud  mit 
so  viel  grauer  Theorie  belastet,  daß  sie  von  erschreckender  Welt- 
fremdheit der  Rabbinen  zeugen.  Das  Gesetz  wurde,  damit  es  nicht 
übertreten  werde,  mit  „Zäunen  und  Gittern"  (Gedarim  und  Sejagim) 
umgeben.  Über  diese  Sejagim  und  Gedarim  wird  oft  mehr  diskutiert 
als  über  das  Gesetz  selbst.  Ganze  Traktate  im  Talmud,  wie  etwa 
Sebachim  und  Menachoth,  die  vom  Opfergesetz  handeln,  Sanhedrin, 
der  vom  Strafrecht  handelt,  u.  a.  sind  einfach  graue  Theorie,  die 
keinerlei  Beziehung  zum  realen  Leben  der  Zeit  und  zu  den  Bedürf- 
nissen des  Volkes  hatten.  Mithin  scheint  der  Satz,  der  Talmud  ist  der 
theoretische  Ausdruck  des  Lebens  jener  Zeit,  sehr  gewagt. 

Die  einzige  ausreichende  Erklärung  für  den  weltfremden  Ratio- 
nalismus, der  den  Rabbiner  auszeichnet,  ist  in  der  Natur  des  jüdischen 
Gesetzes  und  in  dem  Erlahmen  der  psychologischen  Kraft  am  Aus- 
gang der  Antike  zu  finden.  Eine  ähnliche  Wandlung  des  Geistes  sehen 
wir  auch  in  Griechenland.  Auf  den  göttlichen  Plato  folgt  der  „Chinese" 
Aristoteles.  Der  aristotelische  Rationalismus  war  aber  an  der  Natur 
orientiert  und  konnte  schon  aus  diesem  Grunde  nicht  so  schnell  in 
Scholastik  ausarten.  Der  Universalienstreit  setzte  doch  erst  dann  ein, 
als  der  aristotelische  Gedanke  den  Zusammenhang  mit  der  Natur- 
wissenschaft verloren  hatte.  In  Judäa  war  aber  der  beginnende  Ratio- 
nalismus durch  die  Rabbinen  von  vornherein  auf  ein  anderes  Vernunft- 
gebilde —  auf  das  Gesetz  —  gestellt,  und  daher  artete  er  auch  gleich 
in  Scholastizismus  aus.  Der  Rabbi  operiert  im  Talmud  mit  bestimmten 
Kategorien  und  mit  einer  dem  Talmud  adäquaten  Logik  wie  die 
Aristoteliker.    Nur  hatte  jeder  große  Rabbi  seine  eigenen  Kategorien 

14    Melaraed 

209 


und  seine  eigene  Methodologie.    (Also  auch  in  rein  formaler,   metho- 
dologischer Beziehung  ist  der  Talmud  System-  und  stillos.) 

Das  jüdische  Gesetz,  weil  das  Gesetz  der  großen  intellektuellen 
Persönlichkeit  und  des  vernünftigen  Gottes,  war  von  vornherein,  wie 
schon  erwähnt,  a  priori  Vernunftgesetz.  Solange  im  jungen  Volk  große 
voluntaristische  Kräfte  lebten,  die  mit  dem  Gesetz  oft  zusammen- 
stießen, lebten  auch  noch  der  poetische  und  der  religiöse  Geist.  Religion 
und  Poesie  waren  immer  Schwesterkinder.  Neben  dem  Deuteronomium 
findet  man  in  der  Bibel  noch  den  Psalter,  ein  Buch  voll  inniger  reli- 
giöser Lyrik.  Gesetz  und  Religion  (religiöse  Sehnsucht,  für  die  im 
Gesetz  kein  Raum  ist)  lebten  in  ältester  Zeit  oft  nebeneinander  oder 
gegeneinander  -  in  jedem  Falle  bildeten  sie  zwei  parallele  Richtungen 
des  antiken  jüdischen  Geistes,  obschon  sie  sich  oft  schnitten.  Das 
Gesetz,  absolut,  konnte  aber  keine  anderen  Mächte  neben  sich  dulden 
und  strebte  immer  danach,  sich  selbst  an  erste  Stelle  zu  setzen  .  .  . 
Diese  Tendenz  hatte  mannigfache  Erschütterungen  zur  Folge,  aus 
denen  es  aber  immer  gestärkt  hervorging.  Als  das  Leben  am  Ausgang 
der  Antike  immer  komplizierter  wurde  und  das  Gesetz  immer  neue 
Wirkungssphären  gefunden  hatte,  wurde  die  andere  Kraft  mehr  und 
mehr  zurückgedrängt,  bis  sie  zeitweise  ganz  erlosch,  um  allerdings 
in  gewissen  Zeitabständen  mit  um  so  heftigerer  Gewalt  zu  explodieren. 
Dahin  gehören  auf  der  einen  Seite  der  öfters  aufflackernde  Geist  der 
Rebellion,  auf  der  anderen  Seite  der  um  sich  greifende  Mystizismus 
in  grotesken  Formen.  Diese  Ausbrüche  gefährdeten  aber  den  Be- 
stand des  Volkes.  Der  rebellische  Geist  erlahmte  von  selbst,  und  der 
Mystizismus  wurde  teils  vom  Gesetz  überwunden,  da  es  mit  dem 
Untergange  des  Staates  der  einzige  und  mächtigste  Faktor  im  Leben 
der  Nation  war,  und  teilweise  wurde  er  ausgestoßen  und  außerhalb 
des  Umkreises  des  Judentums  gestellt.  Er  wurde  dann  ein  Ferment 
des  entstehenden  Christentums.  Was  noch  an  poetischer  Kraft  im 
Volke  fortlebte,  fand  in  der  Agada  und  im  Middrasch  einen  sinnigen, 
aber  stil-  und  formenlosen  Ausdruck.  Und  selbst  diese  Schöpfung  eines 
noch  leise  nachzitternden  Psychologismus  mußte  sich  mit  dem  hala- 
chischen  Rabbinismus  verschwägern;  denn  diese  Agadisten  waren 
zum  übergroßen  Teil  auch  Halachisten.  Und  die  wenigen  Agadisten, 
die  sich  an  der  Halacha  nicht  beteiligten,  wie  etwa  Rabbi  Pinchas  bar 
Jair,  Rabbi  Schmuei  bar  Nachmani  u.  a.,  hießen  offiziell  Rabbanan 
d'Agadta,  d.  h.  Agada-Rabbinen.  Nun  ist  es  interessant,  zu  beobachten, 
wie  der  anfänglichen  Gleichstellung  von  Agada  und  Halacha  eine 
langsame,    aber  sichere  Zurückdrängung  der  Agada  folgte,  bis  in  der 

210 


gaonäischen  (dem  Abschluß  des  Talmuds  folgenden)  Zeit  die  Agada 
ganz  an  Ansehen  und  Bedeutung  verlor,  dafür  aber  die  Halacha  allein 
ausschlaggebend  wurde.  Mit  anderen  Worten:  je  mehr  das  Gesetz 
(die  Halacha)  zum  Lebensfaktor  sich  potenzierte,  desto  mehr  wurden 
die   anderen   Tendenzen   des  Geistes   zurückgedrängt. 

Diese  Deszendenz  vom  Leben  zum  Buch,  vom  Willen  zur  „Ver- 
nunft" läßt  sich  von  den  ersten  Anfängen  der  jüdischen  Geschichte 
an  nachweisen. 

Von  Moses  berichtet  die  Bibel  viele  Handlungen  und  heldenhafte 
Taten.  Das  ganze  Leben  dieses  Mannes,  ohne  den  man  sich1  das  Juden- 
tum gar  nicht  denken  kann,  ist  ein  einziger,  ununterbrochener,  taten- 
reicher Kampf  gegen  die  mächtigen  Ägypter  und  ihren  König,  gegen 
ein  in  der  Sklaverei  verkommenes  Volk,  gegen  den  großen  und  all- 
mächtigen Gott,  der  an  diesem  Volke  verzweifelt  und  es  ausrotten 
will,  und  gegen  unzählige  anonyme  Mächte  des  Lebens,  die  sich  ihm 
in  den  Weg  stellen  und  ihn  an  dem  großen  Werk  der  Schaffung  einer 
Nation  hindern  wollen.  Wenige  Großen  der  Weltgeschichte  standen 
in  ihrem  Leben  vor  so  vielen  neuen  und  gefährlichen  Situationen  und 
Problemen  wie  dieser  Mann,  und  wenige  richteten  so  viel  Dauerndes! 
aus  wie  er,  weil  er  ganz  Taten-  und  Willensgenius  war.  Auf  Moses 
folgten  Richter,  Priester  und  Könige.  Keiner  reichte  an  ihn  heran, 
aber  jeder  war  in  seiner  Weise  tätig,  jeder  schaffte,  wirkte,  handelte. 
Man  hörte  von  Kämpfen  und  Kriegen,  von  Helden  und  Schlachten- 
führern, von  großen  Affekten  und  gewaltigen  Leidenschaften.  Noch 
spielte  das  Gesetz  keine  Rolle.  Froh  und  frisch  tobte  die  Sinnlichkeit 
des  jungen  Volkes,  es  lief  oft  leichtsinnig  und  seelenvergnügt  zu  an- 
deren Göttern  der  Freude  und  der  Lust  hin,  um  allerdings  bald  reue- 
voll zu  seinem  eigenen  Gott  zurückzukehren.  Kurz:  es  handelte,  be- 
wegte sich,  sündigte  und  bereute  —  es  lebte.  Aber  das  „Religions- 
gesetz" war  doch  auch  gleichzeitig  das  Sittengesetz,  und  das  Volk 
—  ein  semitischer  Stamm  —  mit  seiner  Neigung  zum  Radikalen  und 
zum  Extremen,  lief  Gefahr,  seiner  sittlichen  Integrität  verlustig  zu 
gehen.  Der  Priester  war  außerstande,  die  Sprünge  des  Volkes  zu  ver- 
hindern und  dem  Ablauf  des  Lebens  einen  gewissen  Rhythmus  zu 
sichern.  Auch  die  Politik  konnte  das  nicht;  denn  sie  mußte  sich  von 
Anfang  an  nach  Mächten  richten,  die  nicht  im  Leben  vorhanden 
sind.  Im  Moment  der  höchsten  politischen,  sittlichen  und  reli- 
giösen Not  tauchte  der  willens-  und  geistesstarke  Prophet  auf. 
Man  spricht  von  einer  zielbewußten  Entwicklung  der  Prophetie  im 
Judentum.    Nichts  dünkt  mir  falscher  als  das.   Gerade  die  „geschulten 

u* 

211 


Propheten"  waren  die  falschen  Propheten,  die  der  Gemeinheit  Vor- 
schub leisteten.  Die  großen  Propheten,  die  die  höchste  Entwicklungs- 
stufe des  Judentums  bilden  und  dem  jüdischen  Volke  für  alle  Zeiten 
die  Unsterblichkeit  sichern,  sind  gerade  die  „ungeschulten  Propheten", 
Männer  aus  allen  Ständen  und  Berufen,  die  um  deswillen  Propheten 
waren,  weil  sie  als  Propheten  geboren  waren  —  sittliche  Genien  und 
geistige  Helden.  Sie  erstanden  dem  Volke  ebenso  plötzlich  wie 
einst  Moses. 

Die  Prophetie  ist  kein  ökonomischer  Beruf,  keine  soziale  Würde 
und  kein  politischer  Rang.  Jeder,  der  das  Gute  und  das  Wahre  ver- 
künden konnte,  den  Trieb  zur  Verkündigung  der  Wahrheit  hatte, 
konnte  es  tun  —  und  Prophet  sein.  Die  Propheten  waren  keine  Ge- 
setzesausleger und  Dozenten,  sondern  freie  Volkstribunen,  die  dem 
Volke  ungeschminkt  die  Wahrheit  verkündeten,  ohne  um  ihr  eigenes 
Wohl  oder  Weh  bekümmert  zu  sein.  Beispiellos  war  ihr  Mut.  Wenn 
es  auf  Verkündung  der  Wahrheit  ankam,  fürchteten  sie  weder  die 
Caprice  des  Despoten  noch  die  Laune  des  Volkes.  Rücksichtslos  warn- 
ten und  mahnten  sie  und  verkündeten  drohend  das  herannahende  Un- 
glück Sie  erfüllten  nicht  nur  den  göttlichen  Beruf,  sondern  die  Sorge 
um  die  Zukunft  des  Volkes,  die  nur  durch  die  Verwirklichung  des 
Guten  gesichert  werden  konnte,  trieb  sie  hinaus  in  die  wildbewegte 
Masse,  um  mit  übermenschlicher  Ausdauer  die  sittliche  Tat  zu  voll- 
enden. Sie  waren  weder  Asketen  noch  Mystiker,  sondern  Männer 
von  weitem  Blick  und  von  unendlicher  Liebe  für  ihr  Volkstum,  von 
dessen  sittlicher  Vervollkommnung  sie  das  sittliche  Heil  der  Mensch- 
heit erwarteten.  Sie  zauberten  ihrem  Volke  einen  Gott  hervor,  der 
die  Sittlichkeit  fordert,  und  der  selbst  der  Grund  aller  Sittlichkeit  ist. 
Ihr  ganzes  Seelenleben  wird  nur  von  diesem  einzigen  Gedanken  ab- 
sorbiert. Infolge  der  Konzentrierung  ihrer  ganzen  Innenwelt  auf  den 
sittlichen  Gedanken  gelangen  sie  zu  einer  Einseitigkeit  in  der  Welt- 
betrachtung. 

Aber  mit  der  ganzen  Kraft  ihrer  willensstarken  Persönlichkeit 
kämpfen  sie  für  die  Verwirklichung  des  sittlichen  Gedankens.  Ihre 
eigene  sittliche  Persönlichkeit  projizieren  sie  in  die  Außenwelt  hinein; 
das  geschieht  mit  einer  Elementargewalt,  die  Eindruck  machen  muß; 
um  so  mehr,  als  sie  ihre  Weissagungen  mit  einer  geradezu  grotesken 
Eigenart  und  mit  mächtigem,  von  poetischem  Schwung  getragenem 
Pathos  verlautbaren.  Haben  auch  alle  großen  Propheten  auf  dem 
Boden  der  Vernunft  gestanden,  so  ist  das,  was  aus  ihnen  hervorströmt, 
nicht  nur  Vernunft,  sondern  Wille.    Das   ist  schon  aus   der  Wirkung 

212 


ihrer  Worte  zu  ersehen.  Nicht  vom  Talmud  ist  die  große  Gedanken- 
welt ausgegangen,  die  noch  heute  ununterbrochen  fortrollt  und  eine 
lebendige  Kraft  ist,  sondern  von  den  Propheten. 

Obschon  die  Propheten  tatenreiche  Willensmenschen  waren  und 
mit  genialem  Weitblick  alle  großen  Bewegungen  ihrer  Zeit  beobachtet 
hatten,  so  waren  auch  sie  nur  große  Träumer;  denn  sie  waren  Rigo- 
risten  und  verstanden  nichts  von  Kompromiß.  Sie  waren  zu  einseitig, 
um  mit  der  Wirklichkeit  in  Kontakt  zu  bleiben.  Da  sie  ihr  Streben 
unerfüllt  sahen,  mußten  sie  zu  einer  Verneinung  der  Gegenwart  ge- 
langen, mit  der  Wirklichkeit  brechen,  um  sich  eine  eigene  Wirklichkeit 
in  der  Zukunft  zu  schaffen.  Sie  verwechselten  das  Sein  mit  dem 
Sollen,  und  in  ihrer  gewaltigen  Phantasie  sahen  sie  ein  Sollen,  wie 
sie  es  erträumt,  verwirklicht  vor  sich  stehen.  Daher  die  Sicherheit 
und  die  Bestimmtheit,  mit  der  die  Propheten  die  Zukunft  verkünden 
und  ihre  Zustände  schildern. 

Hatten  schon  die  Propheten  kein  Verhältnis  zur  grausamen  Wirk- 
lichkeit, da  sie  alles  durch  das  Prisma  ihres  ethischen  Rigorismus  be- 
trachteten, obgleich  sie  von  den  Zuständen  der  Wirklichkeit  ausge- 
gangen waren,  um  wieviel  weniger  hatten  es  die  Rabbinen,  die  nicht 
vom  Leben,  sondern  vom  abstrakten  Gesetz  ausgingen.  Auch  der 
spätere  Rabbiner  wollte  im  letzten  Grunde  nicht  viel  anderes  als  der 
Prophet;  auch  er  war  ethischer  Rigorist  und  Patriot,  aber  seinem 
Wollen  fehlte  der  Flug  des  Genius,  und  statt  eine  gewaltige  Faust 
niedersausen  zu  lassen  und  ein  tatenreiches  Werk  zu  vollbringen,  er- 
läuterte er  seinen  Schülern  das  Gesetz  und  vertiefte  sich  mit  Ruhe 
in  seine  Verwicklungen,  als  würde  Israel  unter  seinem  Weinstock  und 
Feigenbaum    sitzen. 

Während  der  Prophet  immer  an  das  Leben  dachte,  wenn  auch  an 
das  Leben  der  (irdischen)  Zukunft,  so  dachte  der  Rabbiner  nur  an  das 
Buch,  an  das  Gesetz,  an  die  Thora,  und  sein  Geist  bewegte  sich  immer 
in  abstrakten  Gedanken,  die  im  Leben  der  Wirklichkeit  weder  Abbild 
noch  Basis  haben.  Dabei  verwendete  der  Rabbiner  ebensoviel  Scharf- 
sinn und  Geist  auf  die  Auslegung  der  Gesetze,  wie  einst  der  Prophet 
Wille  und  Energie  auf  die  Reform  des  Lebens.  Während  die  Willens- 
äußerung des  Propheten  immer  einen  bestimmten  „praktischen"  Zweck 
verfolgt,  theoretisiert  oft  der  Rabbiner  ins  Blaue  hinein,  so  daß  seine 
Theorien  und  Diskussionen  selbst  für  seine  Wissenschaft  frucht-  und 
zwecklos  sind.  Es  ist  im  Talmud  oft  sehr  schwer  zu  unterscheiden, 
was  am  Schluß  der  verwickelten  Diskussion  feststehendes  Gesetz  oder 
individuelle    Lehrmeinung1   ist.    Die   Diskussion   ist   zum   großen  Teil 

213 


ebenso  uferlos  als  zwecklos.  Es  ist  daher  begreiflich,  daß,  da  nur 
das  Gesetz  den  Gedanken  des  Rabbi  beschäftigt,  seine  Weltanschauung 
eine  viel  engere  und  inhaltlich  ärmere  ist  als  die  des  Propheten.  Der 
Prophet  war  mindestens  soviel  Kosmopolit  wie  Nationalist,  der  Rabbi 
hingegen  nur  Nationalist.  Im  Talmud  wird  alles,  Gott,  Leben  usw., 
nationalisiert,  und  nur  von  Zeit  zu  Zeit  bricht  in  einem  kurzen  Spruch 
die  universalistische  Tendenz  durch.  So  bilden  Prophet  und  Rabbi, 
die  zwei  bedeutendsten  Vertreter  des  jüdischen  Gedankens,  zwei  ent- 
gegengesetzte Persönlichkeiten,  zwei  sich  gegenüberstehende  Typen, 
die  sich  oft  sogar  gegenseitig  ausschließen.  Man  versteht  daher,  daß 
der  prophetische  Willensmensch  und  der  universalistische  Geist  zum 
sittlichen  und  religiösen  Gemeingut  der  ganzen  zivilisierten  Mensch- 
heit werden  konnte,  während  der  rationalistische,  absolut  weltfremde 
Rabbi,  dem  das  Gesetz  die  Weltanschauung  einengt,  nur  jüdisches 
Nationalgut  bleiben  konnte.  Der  europäische  Mensch,  der  vornehm- 
lich ein  Willensmensch  ist,  steht  diesem  rationalistischem  Rabbi  und 
mithin  auch  dem  Talmud  ebenso  verständnislos  und  unsympathisch 
gegenüber,  wie  er  dem  Propheten  und  der  Bibel  sympathisch  gegen- 
übersteht. Eines  weiß  aber  der  europäische  Mensch  nicht,  nämlich, 
daß  das  Denken  und  Trachten  des  Rabbi  ebenso  naiv  und  keusch  ist 
wie  das  der  Propheten.  Wäre  dem  nicht  so,  dann  hätten  Rabbi  und 
Prophet  keine   Berührungspunkte. 

Aus  dem  entgegengesetzten  Grunde  steht  der  Jude  der  Bibel  fast 
verständnislos  gegenüber.  Er  ist  selbst  ein  Werk  des  Gesetzes.  Das 
Gesetz  hat  ihn  rationalisiert,  und  ohne  richtige  Willensbildung  ist  er 
Rationalist  geblieben.  Wenn  auch  die  Propheten  keine  Gegner  des 
Gesetzes  waren,  so  hatten  sie  doch  nicht  den  Schwerpunkt  des  Juden- 
tums auf  das  Gesetz  verlegt.  Das  hat  in  dem  Juden  immer  einen 
undefinierbaren  Verdacht  gegen  die  Propheten  hervorgerufen;  zudem 
ist  die  prophetische  Weltanschauung  zu  groß  und  reich  und  durch 
ihren  Mangel  an  rein  legalen  Elementen  zu  wenig  „konkret",  als  daß 
sie  in  dem  an  dem  formalen  Gesetz  geschulten  Juden  viel  Verständnis 
und  Begeisterung  hervorrufen  könnte.  Ich  halte  es  nicht  für  einen 
Zufall,  daß  noch  heute  so  wenig  Juden  sich  an  der  Bibelwissenschaft 
beteiligen  .  .  .  Aber  daß  der  Talmud  und  nicht  die  Bibel  der  Schwer- 
punkt des  Judentums  geblieben  ist,  hat  seinen  Grund  auch  noch  darin, 
daß  die  Bibel  allein  die  Existenz  des  jüdischen  Volkes  in  der  Diaspora 
nicht  sichern  konnte.  Die  prophetische  Weltanschauung  ist  nach  beiden 
Dimensionen  zu  gewaltig,  um  auf  den  täglichen  Gang  der  Dinge  einen 
bestimmenden    Einfluß    auszuüben.    Das    tägliche    Leben    erfordert    zu 

214 


seiner  Organisation  eine  unmittelbar  treibende  Macht;  als  solche  kann 
das  rabbinische  Gesetz,  aber  nicht  die  prophetische  Vision  oder  der 
prophetische  Gedanke  angesehen  werden.  Nicht  ohne  Grund  wirft 
sich  der  alte  Jude  nach  der  ersten!  großen  nationalen  Katastrophe  auf 
das  Gesetz.  Es  ging  ihm  instinktiv  auf,  daß  nur  das  Gesetz  sein  Volks- 
tum vor  dem  Untergang  bewahren  konnte,  und  je  mehr  er  von  seinem 
Boden  entwurzelt  wurde,  desto  mehr  ergab  er  sich  der  Herrschaft 
des  Gesetzes.  Alle  diejenigen,  ob  Individuen  oder  Gruppen,  die  das 
rabbinische  Gesetz  ablehnten,  mußten  sich  vom  jüdischen  Volkstum 
trennen,  um  in  anderen  Völkern  aufzugehen.  Aus  diesem  Grunde  ist 
der  Talmud  noch  mehr  als  die  Bibel  das  nationale  Buch  der  Juden 
geblieben,  und  solange  die  Juden  kein  wirkliches  politisches  Leben 
führen,  werden  sie  durch  das  rationalistische  Gesetz  des  Talmuds  zu 
einem  Volk  zusammengehalten  werden.  Wer  sich  heute  vom  Talmud 
prinzipiell  losreißt,  reißt  sich  auch  früher  oder  später  vom  jüdischen 
Volkstum  los. 

Der  Talmud  behält  aber  nur  dort  seine  Vormachtstellung,  wo  die 
Lebensbedingungen  noch  primitiv  sind  —  wo  es  gar  kein  Leben  im 
eigentlichen  Sinne  gibt  — ,  oder  wo  der  Staat  die  Juden  von  dem 
Anteil  am  Leben  ausschließt.  Aus  diesem  Faktum  ergibt  sich  von 
selbst,  welcher  Zukunft  der  Talmud  und  mit  ihm  die  Juden  Westeuropas 
entgegengehen  .  .  .  Der  Ruf:  „Rückkehr  zur  Bibel"  (d.  h.  los  vom 
Talmud),  den  die  Führer  des  sogenannten  Reformjudentums  in  West- 
europa haben  erschallen  lassen,  hat  sich  nachträglich  als  Einladung 
zur  Taufe  herausgestellt.  Der  Talmud  ist  in  der  Diaspora  entstanden, 
und  das  Diasporajudentum  wird  entweder  talmudisch  sein  oder  gar  nicht. 

Diese  kleine  Abweichung  war  für  das  Verständnis  des  rabbinischen 
Judentums  notwendig.  Wie  heute,  so  war  der  Rabbi  allein  schon  am 
Ausgang  des  Altertums  die  zusammenhaltende  und  die  Fortexistenz 
bedingende  Kraft.  Das  Wesen  des  postexilischen  Judentums  ist  der  Tal- 
mud, und  das  Wesen  des  Talmuds  das  rationalistisch-formulierte  Gesetz. 

So  hat  sich  der  Geist  der  antiken  Juden  gewandelt:  vom  Willen 
zur  Vernunft,  von  der  Tat  zum  Buch,  vom  Leben  zum  Gesetz,  von 
der  Synthesis  zur  trockenen  Analysis  und  von  der  Intuition  zur  Dis- 
kussion. Diese  Wandlung  war  aber  schon  durch  die  ursprüngliche 
Fassung  und  durch  das  Wesen  des  Gesetzes  determiniert. 

Nur  in  vereinzelten  großen  jüdischen  Individuen  aber  flackert 
noch  hie  und  da  der  antike  jüdische  Geist  in  seiner  ganzen  Größe 
auf.  Als  solcher  —  um  nur  ein  Beispiel  anzuführen  —  muß  einer  der 
größten   Juden   der  Neuzeit,   Baruch   Spinoza,,  angesprochen   werden. 

215 


Zwölftes  Kapitel. 


Baruch  Spinoza. 


Spinoza  überall.  —  Spinoza  und  die  neue  Kultur.  —  Nietzsche  und  Spinoza. 
—  Spinoza  und  die  Ethik.  —  Die  Juden  und  die  Ethik.  —  Spinozas  Geist.  — 
Adaptabilität.  —  Spinoza  und  der  Monismus.  —  Die  Zukunft  des  Rabbinismus.  — 

Ein  kleiner  jüdischer  Brillenschleifer  in  Amsterdam  und  Flüchtling 
der  Inquisition,  der  einige  philosophische  Bücher  in  lateinischer 
Sprache  geschrieben  und  der,  obgleich  nie  getauft,  in  einer  christlichen 
Kirche  seine  letzte  Ruhestätte  gefunden,  hat,  ist  zum  Wegweiser 
Goethes  und  Herders,  zum  Freunde  Bismarcks  und  zum  Lehrer  Jacobys 
geworden.  Spinoza,  der  Schüler  Kreskas,  hat  auf  die  Entwicklung  der 
christlichen  Theologie  einen  bestimmenden  Einfluß  genommen.  Spinoza, 
der  Inquisitionsflüchtling  und  der  Sohn  eines  staatslosen  und  unpoli- 
tischen Volkes,  hat  ein  großes  System  der  Staatsphilosophie  geschaffen 
und  politische  Lehren  entwickelt,  die  noch  heute  fruchtbar  sind. 

Der  Optimist  Spinoza  hat  die  finstere  und  schwarzgallige  Poesie 
eines  Lenau  beeinflußt,  Spinoza,  der  Rationalist,  der  more  geometrico 
philosophierte,  ist  zum  Wegweiser  des  Romantikers  Schleiermacher 
geworden.  Überall  Spinoza  — -  in  der  Politik,  in  der  Naturwissenschaft 
(Haeckel),  in  der  Theologie,  in  der  Poesie,  in  der  Bibelkritik,  in  der] 
Geschichtsschreibung  usw. 

Wenn  man  Max  Grunwalds  trockenes  Spinozabuch  durchliest,  geht 
einem  recht  auf,  wie  dieser  jüdische  Brillenschleifer  die  ganze  Philo- 
sophie und  Poesie  der  Neuzeit  beeinflußt  hat.  Keiner  der  großen 
deutschen  Dichter  und  Denker  hat  diesen  Juden  ignorieren  können  — 
alle  mußten  sie  sich  mit  ihm  auseinandersetzen. 

Röllius  schrieb  über  Spinozas  Einfluß  in  Holland,  Pollock  und 
Clarke  schrieben  über  seinen  Einfluß  in  England,  Trinius  über  seinen 
Einfluß  in  Italien,  und  Bouillier  über  seinen  Einfluß  in  Frankreich. 
Noch  ist  das  Thema  nicht  erschöpft,  und  noch  ist  Spinoza  nicht  tot. 

216 


In  Deutschland  feiert  er  jetzt  durch  Constantin  Brunner  seine  Auf- 
erstehung, und  auch'  in  Frankreich,  England  und  Italien  lebt  jetzt 
Spinoza  wie  vielleicht  nie  zuvor.  Man  kann  sich  viele  große  Männer 
aus  der  neueren  Geschichte  des  Geistes  hinwegdenken,  nur  Spinoza 
nicht;  man  kann  ihm  Irrtümer  und  Widersprüche  nachweisen,  man 
kann  ihn  aber  nicht  ignorieren. 

Spinoza  ist  der  Mittelpunkt  des  neuen  europäischen  Kulturgedan- 
kens. Die  neue  europäische  Kultur  ohne  Spinoza  ist  wie  das  Christen- 
tum ohne  Paulus,  wie  der  Sozialismus  ohne  Marx,  wie  das  neue 
Deutschland   ohne    Bismarck. 

Wer  und  was  war  Spinoza?  Worin  besteht  seine  Kraft  und  sein 
Einfluß? 

Constantin  Brunner  teilt  alle  Menschen  in  Spinozisten  und  Kanti- 
aner ein.  Kantianer  sind  alle  trockenen  Rationalisten,  und  Spinozisten 
sind  alle,  die  eine  lebende,  sich  sehnende  und  dürstende  Seele  in 
ihrer  Brust  tragen.   Mithin  ist  Spinoza  ein  Romantiker. 

Herrmann  Cohen  setzt  in  seiner  Ethik  auseinander,  daß  Spinoza 
eigentlich  nur  ein  Religionsphilosoph  wäre.  Von  Ethik  hätte  er  nichts 
verstanden. 

Chamberlain  macht  sich  über  den  gemütlosen  Juden  Spinoza  lustig, 
weil  er  more  geometrico  philosophiert  hat.  Mithin  ist  Spinoza  ein 
trockener  Rationalist.  Die  Philosophiegeschichtskundigen  wissen,  daß 
jeder  Philosoph  der  letzten  zwei  Jahrhunderte  Spinoza  anders  ge- 
deutet, erklärt  und  konzipiert  hat.  Jeder  hat  in  ihn  entweder  hinein.'- 
gelesen  oder  aus  ihm  herausgelesen. 

Somit  bleibt  die  Frage  zu  Recht  bestehen:  Wer  war  Spinoza, 
was   war   er? 

Friedrich  Nietzsche,  den  oft  eine  Art  prophetischen  Gefühls  über- 
kam, betrachtete  das  Bild  des  jüdischen  Brillenschleifers  aus  Amster- 
dam und  dichtete: 

An  Spinoza. 
Dem  „Eins  in  allem"  liebend  zugewandt 
Amor  Dei,  selig  aus  Verstand. 
Die  Schuhe   aus!    Welch   dreimal  heilig  Land! 
Doch  unter  dieser  Liebe  fraß 
Ein  heimlich  glimmender  Rachebrand 
—  Am  Judengott  fraß  Judenhaß  — 
Einsiedler,  hab'  ich  dich  erkannt? 
Nietzsche  hat  auch  hier,  wie  immer,  übertrieben;  aber  er  ist  der 
Wahrheit  nahegekommen  wie  kein  anderer  vor  ihm.    Die  Erscheinung 

217 


Spinozas  ist  ein  psychologisches  Problem  —  und  Nietzsche,  der  psy- 
chologische Erschauer  und  gedankenreiche  Dichter,  schaute  Spinoza 
an  und  erkannte  in  ihm  seinen  Gegner  —  den  Juden  —  Spinoza. 
Spinoza  war  weder  Mystiker  noch  Rationalist,  weder  Religionsphilosoph 
noch  Politiker,  sondern  atalmudischer  Jude  —  ein  irrender  und  ver- 
sprengter Prophet.  Alle  Elemente  des  jüdischen  Stils  findet  man  in 
Spinoza  wieder.  —  Dieser  antike  jüdische  Stil  hat  auch  Spinoza  sein 
Siegel  aufgedrückt. 

Diese  Behauptung  mag  paradox  erscheinen,  ist  aber  trotzdem 
wirklich    und    wahr. 

Die  Beweise:  Spinoza  nannte  sein  Hauptwerk,  das  seine  ganze 
Philosophie  umfaßt,  Ethik,  obgleich  es  auch  Metaphysik,  Psychologie, 
Erkenntnistheorie  und  Soziologie  enthält.  Mit  dem  Titel  seines  Buches, 
der  gar  nicht  zum  Inhalt  paßt,  wollte  Spinoza  auf  das  vornehmlich 
ethische  Motiv  seiner  Philosophie  hindeuten.  Wäre  dem  nicht  so, 
würde  er  seinem  Buch  einen  anderen,  adäquaten  Titel  gegeben  haben. 
Bei  der  Lektüre  der  anderen  Traktate  Spinozas  fällt  sofort  die  ethische 
Motivierung  seiner  Philosophie  durch  den  großen  Raum  auf,  den 
die  ethischen  und  sozialpolitischen  Probleme  in  seinen  Büchern  ein- 
nehmen. In  der  Ethik  sind  mehrere  Kapitel  diesem  Problem  ge- 
widmet, ebenso  im  Tractatus  theologicus  politicus,  sowie  in  dem 
Kleinen  Traktat.  Bei  allen  anderen  großen  Philosophen  nimmt  die 
Ethik  schon  rein  quantitativ  einen  kleinen  Raum  in  ihren  Büchern 
ein.  Kant  z.  B.,  der  doch  als  der  Ethiker  angesehen  wird,  hat  nur 
den  achten  Teil  seiner  Schriften  der  Ethik  gewidmet.  Bei  Descartes: 
spielt  die  Ethik  kaum  eine  Rolle.  Keiner  der  alten  und  der  neuen 
Philosophen  (mit  Ausnahme  von  Herrmann  Cohen)  hat  dem  ethischen 
Problem  eine  solche  große  Stellung  in  seinem  System  zugewiesen 
wie  Spinoza.  Wie  ist  diese  Erscheinung  zu  erklären?  Die  antiken 
Juden  wie  die  großen  modernen  Juden  hatten  es  immer  auf  die  All- 
gemeinheit abgesehen  —  und  eine  Ethik  und  Soziologie  geschaffen. 
Die  zwei  Begründer  der  Völkerpsychologie  waren  Juden,  während  die 
Individualpsychologie  von  „arischen"  Denkern  ausgebildet  worden  ist. 
Schon  Herder  hatte  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  die  jüdische 
Tradition  die  ganze  Menschheit  umfaßt. 

Das  ethische  Bewußtsein  liegt  sozusagen  dem  Juden  im  Blute. 
Von  diesem  Bewußtsein  kann  er  sich  nicht  befreien.  Und  auch  Spinoza 
konnte  sich  über  dieses  Bewußtsein  nicht  hinwegsetzen.  Ist  es  ein 
Zufall,  daß  alle  großen  jüdischen  Denker  der  Neuzeit  sich  vornehmlich 
mit  ethisch-soziologischen  Problemen  befassen?    Steinthal,  ein  Sprach- 

218 


forscher,  hat  eine  Ethik  geschrieben ;  Lazarus,  ein  wohlbestallter  Philo- 
sophieprofessor, hat  eine  zweibändige  Ethik  des  Judentums  geschrie- 
ben; Herrmann  Cohen  hat  eine  Ethik  des  reinen  Willens  geschrieben; 
sein  großer  Schüler  Stammler  ist  heute  der  Sozialphilosoph  in  Deutsch- 
land, Simmel  beschäftigte  sich  sein  Leben  lang  mit  Soziologie.  In 
Frankreich  grübeln  Rene  Worms  und  Levy-Brühl  über  ethische  und 
soziale  Probleme,  und  von  fünf  Großen  auf  dem  Gebiete  des  inter- 
nationalen Rechts  sind  mindestens  vier  Juden.  Soll  ich  noch  die  Na- 
men von  Marx  und  Lassalle  nennen?  Die  Frage  des  ethischen  und 
sozialen  Menschen  hält  immer  den  jüdischen  Geist  in  Spannung,  und 
ihr  widmet  er  seine  Kraft.  Und  Spinoza  war  ein  Jude  ...  Es  ist 
natürlich  nicht  notwendig,  daß  alle  Juden  an  einem  System  der  Ethik 
festhalten.  Die  Hauptsache  ist  nur,  daß  sich  jüdische  Denker  immer 
mit  ethischen  und  sozialen  Problemen  beschäftigen.  Diese  Beschäfti- 
gung mit  ethisch-sozialen  Problemen  ist  Stil.  —  Und  auch  bei  Spinoza 
ist  sie  Stil  —  der  jüdische  Stil. 

Aber  nicht  dieses  Faktum  allein  stempelt  Spinoza  zum  Juden, 
sondern  er  spricht  schon  aus  der  Grundlegung  seiner  Philosophie. 
Er  prüft  gar  nicht  erst,  i  wie  sein  „Lehrer"  Descartes,  ob  Erkenntnis 
überhaupt  möglich  sei,  sondern  er  beginnt  gleich  mit  Axiomen,  die 
die  Möglichkeit  der  Erkenntnis  voraussetzen.  Bevor  Descartes  seinem 
Geiste  den  Satz  abgerungen:  „cogito  ergo  sum",  hatte  er  gezweifelt, 
gekämpft  und  ein  Gelübde  getan  .  .  .  hatte  geprüft,  untersucht,  alle 
Mittel  und  den  ganzen  Scharfsinn  seines  Geistes  angewendet,  um  die 
Erkenntnis  auf  eine  sichere  Grundlage  zu  stellen.  Was  bei  Descartes 
Schlußpunkt  ist,  ist  bei  Spinoza  Ausgangspunkt:  er  beginnt  einfach 
und  elementar:  „Per  causam  sui  intellego  id,  cujus  essentia  involvit 
existentiam,  sive  id,  cujus  natura  non  potest  concipi  nisi  existens". 
Und  statt  der  Substanzlehre  eine  kritisch-erkenntnistheoretische  Vor- 
untersuchung vorauszuschicken,  begnügt  er  sich  mit  einer  kurzen  De- 
finition der  Substanz:  „Per  substantiam  intelligo  id  quod  per  se  est 
et  per  se  concipitur".  Und  so  geht  es  weiter  mit  der  Definition  der 
Attribute  und  der  Modi.  Das  ist  einfacher,  biblischer  Stil.  „Am  An- 
fang schuf  Gott  Himmel  und  Erde."  Dieser  synthetische  Stil  setzt  die 
unmittelbare  intuitive  Erkenntnis  voraus.  Spinoza  selbst  lehrte  im 
antiken  jüdischen  Geist,  daß  man  Gott  selbst  nicht  durch  etwas  an- 
deres erkennen  könne.    (Tractatus  de  Deo  et  homine,  II,  22.) 

Kurzum:  Was  Spinoza  auszeichnet  und  ihn  von  anderen  Philoso- 
phen neuerer  Zeit  unterscheidet,  ist  sein  synthetisch-intuitiver  Geist. 
Jeder  Philosoph  setzt  mit  der  Kritik  eines  anderen  Systems  an,  wäh- 

219 


rend  Spinoza  jüdisch-biblisch  beginnt  .  .  .  Spinoza  ist  aber  ebensoviel 
oder  ebensowenig  Dogmatiker  wie  die  jüdischen  Propheten.  Daß  jeder 
in  sein  System  etwas  anderes  hineinliest,  ist  ebensowenig  seine  Schuld, 
wie  es  Schuld  der  Propheten  ist,  daß  man,  in  sie  alles  hineinliest.  Auch 
ist  es  nicht  seine  Schuld,  daß  man  Hegel  und  Hartmann  vorwarf,  sie 
hätten  ihre  Lehren  Spinoza  entlehnt.  Wie  heute  Religion -in  Europa 
nicht  ohne  die  Bibel  möglich  ist,  so  ist  keine  Philosophie  ohne  Spinoza 
möglich.  Wenn  Grillparzer  in  Verteidigung  der  spinozistischen  Philo- 
sophie nachzuweisen  versuchte,  daß  auch  schon  Spinoza  „das  Ding 
an  sich"  kannte,  da  er  nur  von  zwei  uns  bekannten  Attributen  spricht, 
und  wenn  Knauer  in  seinem  Anti-Hartmann  behauptet,  Hartmann  habe 
lediglich  Spinoza  erneuert;  wenn  Schopenhauer  in  einem  Brief  an 
seinen  Freund  Frauenstädt  zugibt,  von  Spinoza  beeinflußt  zu  sein,  und 
ferner  Hegel  beschuldigt,  Spinoza  abgeschrieben  zu  haben,  und  zu- 
allerletzt noch  Haeckel  Spinoza  für  sich  in  Anspruch  nimmt,  so  zeugt 
es  jedenfalls  von  dem  mächtigen  Einfluß,  den  Spinoza  auf  die  neuere 
Philosophie  ausübt,  wie  die  Bibel  auf  die  Religion. 

Diese  „Anpassungsfähigkeit"  des  biblischen  Judentums  wie  der 
spinozistischen  Philosophie  ist  auf  den  Ewigkeitsgedanken,  den  beide 
zur  Grundlage  haben,  zurückzuführen.  Auch  Spinoza  betrachtete  die 
Dinge  wie  die  Propheten  sub  specie  aeternitatis.  Die  Betrachtung  der 
Dinge  vom  Gesichtswinkel  der  Ewigkeit  ist  nur  dem  synthetisch  in- 
tuitiven Genius  gegeben,  der  aus  den  ersten  Quellen  des  Lebens  schöpft. 
In  Übereinstimmung  mit  der  Bibel  und  im  Gegensatz  zur  griechischen 
Philosophie  beginnt  Spinoza  mit  der  Gottes-Erkenntnis.  Der  Schluß- 
punkt jeder  anderen  Philosophie  ist  sein  Ausgangspunkt.  Schon  im 
ersten  kurzen  Traktat  über  Gott  und  Menschen,  der  die  erste  Fassung 
der  spinozistischen  Philosophie  enthält,  wird  die  Gorteslehre  voraus- 
geschickt. So  sehen  wir  in  der  philosophischen  Persönlichkeit  Spinozas 
vier  Grundeigenschaften  des  antik-jüdischen  Geistes:  1.  die  ethische 
Motivierung,  2.  den  synthetisch-intuitiven  Gedanken,  3.  die  Betrach- 
tung der  Dinge  vom  Gesichtspunkt  der  Ewigkeit,  und  die  Voranstel- 
lung der  Gotteslehre.  In  diesem  Zusammenhang  muß  noch  auf  zwei 
Tatsachen  hingewiesen  werden:  erstens  auf  die  Einheit  der  Substanz, 
d.  h.  auf  den  metaphysischen  Einheitsgedanken,  der  von  alters  her  ein 
Erbgut  des  jüdischen  Geistes  war,  und  zweitens  auf  die  enge  Bezie- 
hung zwischen  Liebe  und  Erkennen  Gottes,  die  sowohl  in  der  Bibel 
als  bei  Spinoza  zu  finden  ist.  Die  Vertreter  des  arischen  Geistes 
konnten  sich  mit  dem  reinen  Monismus  (Monotheismus)  nie  recht 
abfinden;   es   ist  charakteristisch,   daß    Houston   Stewart   Chamberlain 

220 


den  Monismus  als  pervers  bezeichnet.  Die  dualistische  Weltauffassung 
zieht  sich  seit  Aristoteles  durch  die  ganze  Geschichte  der  Philosophie. 
Aristoteles  kannte  eine  sublunare  und  superlunare  Welt,  Plato  die  Welt 
der  Ideen  und  die  Welt  der  Erscheinungen,  Descartes  zwei  Substanzen 
und  Kant  die  phänomenale  und  noumenale  Welt.  Dieser  Dualismus 
tritt  auch  zutage  in  fast  allen  arischen  Systemen  der  Ethik,  der  Reli- 
gion usw.  Der  Jude  Spinoza  allein  hat  den  metaphysischen  Einheits- 
gedanken vorbehaltlos  zur  Grundlage  seines  philosophischen  Systems 
gemacht.  „Es  gibt  nur  eine  Substanz",  so  lehrte  der  jüdische  Brillen- 
schleifer in  Amsterdam.  So  wie  der,  der  den  jüdischen  Monotheismus 
zugibt,  auch  das  ganze  Judentum  annehmen  muß,  so  muß  der,  der 
Spinozas  Substanz  zugibt,  auch  weiter  mit  Spinoza  gehen.  Und  wie 
das  antike  Judentum  seinen  Gottesbegriff  durch  seine  absolute  Einheit 
ausdrückt,  so  Spinoza,  als  er  die  Worte  niederschrieb:  „Per  Deum 
intellego  ens  absolute  infinitum".  Wer  denkt  nicht  dabei  an  den  bibli- 
schen Satz:  „Ich  bin  erster  und  ich  bin  letzter,  und  außer  mir  gibt  es 
keinen  Gott". 

Spinoza  beginnt  mit  einer  Substanz  und  schließt  mit:  „Amor  Dei 
Intellectualis".  In  der  Bibel  heißt  es:  „Und  Du  sollst  Deinen  Gott 
lieben  mit  Deinem  ganzen  Herzen  und  Deiner  ganzen  Seele". 

Herrmann  Cohen  bemerkte  schon,  daß  in  der  hebräischen  Sprache 
Liebe  und  Erkennen  mit  einem  Terminus  bezeichnet  werden. 

Amor  Dei  intellectualis  ist  nicht  nur  formell,  sondern  auch  inhalt- 
lich antik-jüdisch.  Da  es  keine  Liebe  ohne  Wissen  und  Erkenntnis 
gibt,  versteht  es  sich  von  selbst,  daß  die  Grundlage  des  spinozistischen 
Systems  die  intellektuelle  Erkenntnis  ist.  So  gibt  es  im  letzten  Grunde 
nichts  in  Spinozas  Lehre  und  Stil,  das  nicht  schon  im  antiken  Juden- 
tum enthalten  ist,  und  dennoch  sind  Spinozismus  und  Judentum  zweier- 
lei. Der  jüdische  Gott  ist  ein  persönlicher  und  freier  Gott  und  steht 
über  dem  Gesetz,  während  der  Gott  Spinozas  unpersönlich  und  unfrei 
und  dem  Gesetz  unterworfen  ist.  Spinozas  Gott  ist  eine  geistige  Fort- 
setzung der  Natur,  während  im  Judentum  die  Natur  eine  Schöpfung 
Gottes  ist. 

Inhaltlich  sind  also  Spinozismus  und  Judentum  zweierlei,  aber 
stilistisch-architektonisch  sind  sie  einander  gleich  —  daher  ihre  welt- 
geschichtliche Macht. 

Wieviel  antiker  jüdischer  Geist  in  dieser  oder  jener  Form  bei 
anderen  großen  Juden  lebte,  wird  noch  zu  untersuchen  sein.  Daß  viele 
der  wirklich  großen  Juden  der  Neuzeit,  obgleich  sie  bewußt  kein 
eigentliches  Verhältnis  zum  Judentum  mehr  unterhalten,  sich  trotzdem 

221 


des  antiken  Judentums  erinnern  (im  platonischen  Sinne),  kann  gar 
keinem  Zweifel  unterliegen.  Allein  dieses  plötzliche  Aufflackern  des 
antiken  jüdischen  Geistes  muß,  da  er  im  arischen  Milieu  keinen  Re- 
sonanzboden hat,  bald  wieder  erlöschen.  Innerhalb  des  heutigen  tal- 
mudisch-gesetzlichen Judentums  hat  er  gewiß  keinen  Raum  .  .  .  Der 
Talmud,  ein  Werk  des  „Golus"  der  Diaspora,  ist  nur  für  das  Diaspora- 
Judentum  und  wird  sich  nur  in  der  Diaspora  erhalten.  Sollte  es  den 
Juden  gelingen,  einen  Bruchteil  des  Volkes  wieder  in  der  alten  Heimat 
anzusiedeln  und  dort  ein  hebräisches  Milieu  zu  gründen  und  ein  ge- 
sundes jüdisches  Leben  zu  schaffen,  dann  werden  sich  die  Fesseln 
des  Rabbinismus  und  des  starren  Legalismus  von  selbst  lösen,  und 
der  jüdische  Geist  wird  wieder  autonom  werden,  wie  er  einst  —  zur 
Zeit  der  Propheten  —  war.  Nur  wird  er  nicht  so  spiritualistisch- 
idealistisch  sein  —  denn  nicht  umsonst  werden  die  Juden  2000  Jahre 
in  Europa  gelebt  haben. 


222 


Die  Lehren  des  Judentums 

—  Nach  den  Quellen  — 
Herausgegeben  vom  Verband  der  Deutschen  Juden. 

Unter  Mitwirkung  von  Rabbiner  Dr.  L.  Baeck,    Prof.  Dr.  J.  El* 

bogen,    Rabbiner   Dr.  S.  Hochfeld,    Direktor   Dr.  M.  Holzman, 

Rabbiner  Dr.  A.  Loewenthal  bearbeitet  von 

Dr.  Simon  Bernfeld. 

Erster  Teil:    Die  Grundlagen  der  judischen  Ethik. 

Preis  M.  7,50,  geb.  M.  10,50. 

Zweiter  Teil:  Die  sittlichen  Pflichten  des  Einzelnen. 

Preis  M.  24—,  geb.  M.  30- 

„.  .  .  Trotz  der  unverkennbar  apologetischen  Tendenz  der  Auswahl  der 
Belegstellen  darf  man  dankbar  sein,  daß  uns  ein  so  umfassendes  Bild  der 
sittlichen  Gedankenwelt  des  Judentums  gezeichnet  und  zugleich  die  Beurs 
teilung  von  christlicher  Seite  in  lehrreichen  Ausschnitten  geboten  wird.  Ein 
nützliches  Quellenwerk!"  Theologisches  Literaturblatt,  Leipzig. 

Weitere,    in    kurzen    Zwischenräumen    erscheinende 
Teile  der  „Lehren  des  Judentums"  sollen  behandeln: 

Gott/ Kultus  und  Gemeinde  /Das  Judentum  unter  den 
Religionen  /  Das  religiöse  Schrifttum  alter  undneuer  Zeit 

Die   Legenden  der   Juden 

Von  Rabbiner  Dr.  J.  Bergmann. 

Preis  elegant  geb.  M.  13,—. 

„.  .  .  Ein  ausgezeichnetes  Buch,  das  sich  sowohl  durch  klare  Bearbeitung 
des  Materials,  als  auch  durch  übersichtliche  Darstellung  und  fließenden  Stil 
besonders  empfiehlt."  Jüdische  Korrespondenz,  Wien. 

„.  .  .  Eine  wertvolle  Studie,  in  der  die  psychologische  Tiefe  der  jüdischen 
Legendenbildung  verständnisvoll  erfaßt  ist.  Die  Arbeit  ist  ein  wertvoller 
Beitrag  zur  Religionsgeschichte  und  zur  Volkpsychologie." 

Jahrbuch  für  jüdische  Geschichte  und  Literatur. 

„Eine  Arbeit,  die  von  großer  Liebe  zu  ihrem  Gegenstande  zeugt.  Der 
Verfasser  zeigt  sich  außerordentlich  belesen,  führt  talmudische  und  kabbali* 
stische  Literatur  an  und  bringt  Parallelen  aus  dem  nichtjüdischen  Schrifttum. 
Für  diesesWerk  gebührt  ihm  hohe  Anerkennung."  Isr.  Familienblatt,  Hamburg. 

„Bergmann  behandelt  in  den  Legenden  eine  wichtige  und  noch  wenig 
ausgeschöpfte  Quelle  für  die  Kenntnis  der  jüdischen  Religion  und  führt  die 
wichtigsten  Objekte  der  Legendenbildung  an  instruktiven  Beispielen  vor.  Die 
Quellennachweise  zeugen  von  ungewöhnlicher  Belesenheit  in  der  hier  besonders 
umfangreichen  Literatur  und  bieten  auch  dem  Fachmann  reichen  Stoff  für  die 
vergleichende  Legendenforschung."       Allgemeine  Zeitung  des  Judentums. 

C.  A.  Schwetschke  &  Sohn  /  Verlag  /   Berlin  W  30 


Werke  von  Dr.  Josef  Meisl: 

Haskalah 

Geschichte  der  Aufklärungsbewegung 
unter  den  Juden  Rußlands. 

Preis  M.  12-,  geb.  M.  18,-. 

„Die  von  Mendelssohn  ausgehende  Entwicklung  in  ihrem  Hauptstrom 
wissenschaftlich  erfaßt  zu  haben,  ist  das  hohe  Verdienst  des  Verfassers.  Das 
Werk  ist  eine  der  wichtigsten  Vorarbeiten  für  die  heißersehnte  Geschichte 
des  Judentums  im  19.  Jahrhundert."  Jüdisches  Volksblatt,  M.-Ostrau. 


Geschichte  der  Juden  in  Polen  u.  Russland 

Erster  Band,  Preis  M.  34,-,  geb.  M.  42,50 

Zum  ersten  Male  wird  hier  eine  zusammenfassende  Darstellung  nach  dem  jüngsten 
Stande  der  Einzelforschung  gegeben.   Der  zweite  Band  erscheint  im  Januar  1922. 

Wie  weit  hat  Delitzsch  recht? 

Beantwortet  durch  kritische  Beleuchtung  des  zweiten  Teils  von 

Delitzschs  „Die  große  Täuschung" 

Von  Geh.  Rat  Prof.  D.  Dr.  Eduard  König  /  Preis  M.  3,60 

Jüdische   Geheimgesetze? 

Mit  drei  Anhängen : 

Rohling,  Ecker  und  kein  Ende?  /    Artur  Dinter  und 

Kunst,    Wissenschaft,    Vaterland.    /  „Die    Weisen    von 

Zion"  und  ihre  Gläubigen. 

Von  Geh.  Rat  Prof.  D.  Dr.  Herrn.  L.  Strack 
7.  Aufl.  —  21.— 24.  Tausend  -  M.  2,50 

C.  A.  Schwetschke  &  Sohn  /  Verlag  /  Berlin  W  30 

Druck  von  F.  E.  Haa?,  Melle  i.  H. 


£>i .»-....  ^,  i JT.         ■  i  2     »y <  / 


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DS 
113 

1921 


Melamed,  Samuel  Max 

Psychologie  des  judischen 
Geistes 


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