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Full text of "Psychologie vom empirischen Standpunkte"

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6000321iej 




PSYCHOLOGIE 



EMPIRISCHEN STANDPUNKTE. 



DR- FRANZ BRENTANO, 

G. rHOFESSOB DER PHILOSOPHIE AN PtR E. K. UNiVeRÄTTÄT ZU 



IN KWEI bInKEIT. 

ERSTER BAND. 




LEIPZIG, 
VERLAG VON DUNCKER & HUMBLOT. 



=J 



Der zweite Band erscheint im Laufe dieses Jahres. 



PSYCHOLOGIE 



EMPIRISCHEN STANDPUNKTE 



D« FRANZ BEENTANO, 

[lEB I. K. UNIVEBaiTiT ZU WIEB, 



IN ZWHI BAJnS'D'ES. 



ERSTER BAND. 



0' 







LEIFZie 

VERLAG TON DONCKER A HÜMBLOT. 
1874. 



Hu f. e. 9. 




Daa Beoht der Uebersetzung wie alle anderen Rechte vorbehalten. 

Die Yerlagshandlung. 



Vorwort. 



Die Aufschrift, die ich meinem Werke gegeben, kenn- 
zeichnet dasselbe nach Gegenstand und Methode. Mein 
Standpunkt in der Psychologie ist der empirische; die Er- 
fahrung allein gilt mir als Lehrmeisterin: aber mit Anderen 
theile ich die üeberzeugung , dass eine gewisse ideale An- 
schauung mit einem solchen Standpunkte wohl vereinbar ist. 
Näher wird sich die Weise, wie ich die Methode der Psycho- 
logie auffasse, in dem ersten der sechs Bücher zu erkennen 
geben, in welche das Werk zerfällt. Dieses Buch bespricht 
die Psychologie als Wissenschaft, das nächste die psychischen 
Phänomene im Allgemeinen; und ihnen werden der Reihe 
nach folgen ein Buch, welches die Eigenthümlichkeiten und 
Gesetze der Vorstellungen, ein anderes, welches die der ür- 
theile und wieder eines, welches die der Gemüthsbewegungen 
und des Willens im Besonderen untersucht. Das letzte Buch 
endlich soll von der Verbindung unseres psychischen mit un- 
serem physischen Organismus handeln, und dort werden wir 
uns auch mit der Frage beschäftigen, ob ein Fortbestand 
des psychischen Lebens nach dem Zerfalle des Leibes denk- 
bar sei. 

So umfasst der Plan des Werkes die verschiedenen 
Hauptgebiete der Psychologie sämmtlich. 

Seine Absicht ist aber nicht die, ein Compendium der 
Psychologie zu sein, obwohl es Klarheit und Fasslichkeit auch 
für einen weiteren Kreis derjenigen, die sich fttr philosophische 



VI Vorwort. 

Forschungen interessiren , anstrebt. Es verweilt oft bei der 
einzelnen Frage mit nicht geringer Ausführlichkeit und ist 
nicht so sehr auf Vollständigkeit im Ausbau als auf Sicher- 
heit in der Grundlage bedacht. Dabei mag es geschehen, 
dass Manchem meine Sorgfalt übertrieben und lästig scheint. 
Aber ich höre diesen Vorwurf lieber als den, dass ich meine 
Behauptungen nicht genug zu rechtfertigen mich bemüht 
habe. Nicht sowohl Vielheit und Allseitigkeit in den Lehr- 
sätzen als Einheit in der Ueberzeugung ist was auf psychi- 
schem Gebiet uns zunächst Noth thut. Wir müssen hier das 
zu gewinnen trachten, was die Mathematik, Physik, Chemie 
und Physiologie, die eine früher, die andere später, schon er- 
reicht haben; einen Kern allgemein anerkannter Wahrheit, 
an welchen dann bald, durch das Zusammenwirken vieler 
Kräfte, von allen Seiten her neue Krystalle anschiessen wer- 
den. An die Stelle der Psycholog ieen müssen wir eine 
Psychologie zu setzen suchen. 

Auch eine specifisch nationale Psychologie — und wenn 
es sogar eine deutsche wäre — darf es so wenig geben, als 
es eine specifisch deutsche Wahrheit gibt. Und darum habe 
ich in meinem Werke die hervorragenden Leistungen der 
modernen englischen Philosophen nicht minder als die der 
deutschen berücksichtigt. 

Durch Compromisse freilich nach den verschiedenen Sei- 
ten hin wäre der Wissenschaft schlecht gedient Sie würden 
der Einheit und üebereinstimmung der Lehrenden die Ein- 
heit und Einheitlichkeit der Lehre in sich selbst zum Opfer 
bringen. Auch hat nie etwas Anderes mehr als der Eklek- 
ticismus zu einer Zersplitterung der philosophischen Ansichten 
geführt. 

Wie auf dem Gebiete der Politik , so ist auf dem der 
Wissenschaft eine Einigung ohne Krieg kaum durchführbar; 
nur soll es sich freilich bei den wissenschaftlichen Krämpfen 
am Allerwenigsten darum handeln, dass die Meinung dieses 
oder jenes Forschers, sondern nur darum, dass die Wahrheit 
siege. Keine Herrschbegier, sondern das Verlangen nach 
gemeinsamer Unterordnung unter die eine Wahrheit soll 



Vorwort. VII 

dazu treiben. Wenn ich darum rücksichtslos darauf ausging 
die Ansichten Anderer zu widerlegen und zu beseitigen, wo 
immer ich sie als irrig zu erkennen glaubte: so werde ich 
es doch auch gerne und dankbar annehmen, wenn ich statt 
dessen meinerseits von ihnen eine Berichtigung erfahre. Wenn 
man aber findet, dass gerade die angesehensten Forscher, wie 
Mill und Bain, Fechner, Lotze, Helmholtz uud andere 
in diesen oder den noch folgenden Untersuchungen häufiger 
oder nachdrücklicher bekämpft werden: so möge man darin 
nicht ein Streben erkennen, ihr Verdienst herabzusetzen, oder 
die Macht ihrer Einwirkung zu schwächen ; im Gegentheile ist 
es ein Zeichen, dass, wie Andere, auch ich ihren Einfluss in 
besonderem Maasse erfahren habe und, nicht bloss wo ich 
ihre Lehre annahm, sondern auch da wo ich zur Bestreitung 
ihrer Ansicht geführt wurde, mich durch sie gefördert fühlte. 
Wie ich, so wünschte ich darum, dass auch Andere aus der 
eingehenden Prüfung derselben Gewinn ziehen möchten. 

Manchmal allerdings wird sich meine Polemik gegen Mei- 
nungen wenden, denen ich in sich selbst kein so hohes In- 
teresse zugestehen kann. Und was mich dazu trieb, auch 
auf sie weitläufiger einzugehen, waren nur eine ungebührliche 
Verbreitung und ein beklagenswerther Einfluss, welchen sie 
gegenwärtig auf ein Publicum gewonnen haben, das in Sachen 
der Psychologie weniger noch als anderwärts auf wissenschaft- 
liche Strenge Anspruch zu machen gelernt hat. 

Mehr als einmal wird man finden, dass ich bisher un- 
erhörte Behauptungen aufstellte. Doch wird man, glaube ich, 
in jedem Falle sich auch leicht überzeugen, dass Neuerungs- 
sucht nicht im Geringsten dabei betheiligt war. Im Gegen- 
theile wich ich nur ungern, aber durch die überwiegende und, 
für mich wenigstens, überwältigende Macht der Gründe ge- 
nöthigt, hin und wieder in solcher Weise von allen herge- 
brachten Aulffassungen ab. Indessen wird man selbst da, wo 
ich am Meisten als Neuerer auftrete, gewöhnlich bei näherer 
Betrachtung erkennen, dass meine Ansicht, wenigstens von 
der einen oder anderen Seite her, schon angebahnt war. Ich 
habe nicht unterlassen, auf solche Vorbereitungen hinzuweisen. 



VIII Vorwort. 

und auch daun, wenn sich meine Anschauung ohne jeden 
Zusammenhang mit einer früheren, ihr ähnlichen entwickelt 
hatte , versäumte ich nicht dieser Erwähnung zu thun , weil 
es mir nicht darauf ankam, als der Erfinder einer neuen, 
sondern als der Vertreter einer wahren und gesicherten Lehre 
zu erscheinen. 

Wenn sich uns aber die seitherigen Annahmen zuweilen 
nur als die Anbahnung einer richtigeren Lehre erweisen wer- 
den: so kann, was ich gebe, natürlich auch nicht mehr sein, 
als eine schwache Vorbereitung künftiger Leistungen von 
grösserer Vollkommenheit. Eine Philosophie, die sich in un- 
seren Tagen für einen Augenblick das Ansehen eines Ab- 
schlusses aller Wissenschaft zu geben wusste, wurde sehr 
bald, nicht als unübertrefflich, wohl aber als unverbesserlich 
erkannt. Jede wissenschaftliche Lehre, die keine weitere 
Entfaltung zu vollkommenerem Leben zulässt, ist ein todtge- 
borenes Kind. Die Psychologie aber insbesondere ist gegen- 
wärtig in einem Zustande, bei welchem diejenigen eine ge- 
ringere Kenntniss von ihr verrathen, welche viel in ihr zu 
wissen behaupten, als jene, welche mit Sokrates bekennen: 
„ich weiss nur Eines; nämlich — dass ich nichts weiss." 

Doch die Wahrheit liegt in keinem der Extreme. Es 
sind Anfänge einer wissenschaftlichen Psychologie vorhanden, 
unscheinbar in sich selbst, aber sichere Zeichen für die Mög- 
lichkeit einer volleren Entwickelung , die, wenn auch späten 
Geschlechtern, einst reiche Früchte bringen wird. 

Aschaffenburg, am 7. März 1874. 



INHALTSVERZEICHNISS. 



Erstes, einleitendes Buch. 

Von der Psychologie als Wissenschaft. 

Seite. 

Erstes Capitel. Ueber Begriff und Aufgabe der psy- 
chischen Wissenschaft 3 

§. 1. Definition der Psychologie als der Wissenschaft von der 

Seele 4 

§. 2. Definition der Psychologie, als der Wissenschaft von den 

psychischen Phänomenen 10 

§. 3. Eigenthümlicher Werth der Psychologie 24 

Zweites Capitel. Ueber die Methode der Psychologie, 
insbesondere die Erfahrung, welche für sie 
die Grundlage bildet 34 

§. 1. Besonderes Interesse, welches sich an die Betrachtung der 

Methode der Psychologie knüpft 34 

§. 2. Die innere Wahrnehmung als Quelle psychologischer Er- 
fahrung. Sie darf nicht mit innerer Beobachtung ver- 
wechselt werden 35 

§. 3. Betrachtung früherer psychischer Phänomene im Ge- 
dächtnisse 42 

§. 4. Indirecte Erkenntniss fremder psychischer Phänomene aus 

ihren Aeusserungen 45 

§. 5. Studium eines Seelenlebens, das einfacher als das un- 

serige ist 49 

§. 6. Betrachtung krankhaften Seelenlebens 51 

§. 7. Studium hervorragender Thatsachen im Leben Einzelner 

wie in dem der Völker 52 

Drittes Capitel* Fortsetzung der Untersuchungen über 
die Methode der Psychologie. Von der In- 
duction der höchsten psychischen Gesetze . 55 

§. 1. Die inductive Feststellung der allgemeinsten Eigenthüm- 
lichkeiten setzt nicht die Erkenntniss der mittleren Ge- 
setze voraus 55 

§. 2. Unentbehrlichkeit einer Bestimmung der Grundclassen der 
psychischen Erscheinungen. Umstände, die sie möglich 
machen und erleichtern 55 

§. 3. Eine der ersten und allgemein wichtigsten Untersuchungen 

ist die über die psychischen Elemente 57 



X Inhaltsverzeichniss. 



Seite. 



§, 4. Die höchsten Gesetze der Succession psychischer Phäno- 
mene, zu welchen die Induction aus innerer Erfahrung 
führt, sind streng genommen empirische Gesetze ... 58 

§. 5. Ueber den Versuch von Horwicz , die Psychologie auf 

Physiologie zu gründen 60 

§. 6. Ueber die Gründe, um derentwillen Maudsley die Erfor- 
schung der psychischen Phänomene nur auf physiolo- 
gischem Wege für möglich hält 68 

§.7. Ob es bei dem gegenwärtigen Stande der Physiologie 
räthlich sei , auf Grund ihrer Data eine Bückführung 
der Succession psychischer Phänomene auf eigentliche 

Grundgesetze anzustreben? 82 

Viertes Capitel. Fortsetzung der Untersuchungen über 
die Methode der Psychologie. Ungenauig- 
keit ihrer höchsten Gesetze. Deduction und 
Verification 85 

§. 1. Ohne die Messung der Intensität der psychischen Phäno- 
mene können exacte Gesetze ihrer Aufeinanderfolge 
nicht gefunden werden 85 

§. 2. Ueber die Versuche von Herbart und Fechner Maassbe- 
stimmungen dafür zu finden 87 

§. 3. Von der Ableitung besonderer Gesetze der Aufeinander- 
folge psychischer Erscheinungen mittels der deductiven 
' und der sogenannten umgekehrten deductiven Methode 93 

§. 4. Von dem Verfahren, welches bei der Untersuchung über 

die Unsterblichkeit einzuhalten ist . 95 

Zweites Buch. 

Von den psychischen Phänomenen im All- 
gemeinen. 

Erstes Capitel. Von dem Unterschiede der psychischen 

und physischen Phänomene 101 

§ 1. Nothwendigkeit eingehenderer Untersuchung der Frage . 101 
§. 2. Erläuterung des Unterschiedes durch Beispiele .... 102 
§. 3. Die psychischen Phänomene sind Vorstellungen oder haben 

Vorstellungen zur Grundlage 104 

§. 4. Bestimmung der psychischen Phänomene durch den Mangel 
der Ausdehnung. Widerspruch, der sich gegen diese 

Bestimmung erhebt 111 

§. 5. Charakteristisch für die psychischen Phänomene ist die 

Beziehung auf ein Object 115 

§. 6. Psychische Phänomene können nur durch inneres Be- 
wusstsein wahrgenommen werden ; für physische ist nur 
äussere Wahrnehmung mÖgUch 118 



Inhalts verzeichniss. XI 

I 

Seite. 

§. 7. Physiscbe Phänomeue können nur phänomenal, psychische 

auch in Wirklichkeit existiren 120 

§. 8. Ob) und in welchem Sinne etwa, es richtig sei, dass von 
psychischen Phänomenen immer nur eines nach dem 
anderen, von physischen viele zugleich bestehen . . . 122 

§. 9. Bückblick auf die Begriffsbestimmungen der physischen * 

und psychischen Wissenschaft ] 26 

Zweites Capitel. Vom inneren Bewusstsein 131 

§. 1. In welchem Sinne wir uns des Wortes „Bewusstsein** be- 
dienen 131 

§. 2. Gribt es ein unbewusstes Bewusstsein? Uneinigkeit der 
Philosophen. Scheinbare Unmöglichkeit, die Frage zu 
entscheiden ] 33 

§, 3. Vier Wege, auf welchen der Nachweis eines unbewussten 

Bewusstseins versucht werden kann 137 

§. 4. Versuche durch Schluss von der Wirkung auf die Ur- 
sache die Existenz eines unbewussten Bewusstseins dar- 
zuthun und ihr Misslingen 138 

§, 5. Versuche durch Schluss von der Ursache auf die Wir- 
kung dasselbe zu erreichen. Auch sie erweisen sich 
als ungenügend 151 

§. 6. Versuch, welcher sich auf ein functionelles Verhältniss 
zwischen dem bewussten psychischen Phänomene und dem 
darauf bezüglichen Bewusstsein stützt. So weit ein solches 
erkennbar ist, spricht es vielmehr gegen die Annahme. 1 56 

§. 7. Versuch, welcher sich darauf stützt, dass die Annahme, 
jedes psychische Phänomen sei Object eines psychischen 
Phänomens , zu einer unendlichen Verwickelung führe. 159 

§. 8. Vorstellung und Vorstellung von der Vorstellung sind in 

ein und demselben Acte gegeben 166 

§. 9. Warum keine innere Beobachtung möglich sei, und warum 
die Annahme, jedes psychische Phänomen sei bewnsst, 
zu keiner unendlichen Verwickdung führe 168 

§. 10. Bestätigung des Gesagten durch das übereinstimmende 

Zeugniss verschiedener Psychologen 170 

§. 11. Warum man gemeiniglich glaubt, die begleitende Vor- 
stellung sei mit der begleiteten von gleicher Intensität. 174 

§. 12. Einwand, der sich auf die Wahrnehmung des Kichthörens 

stützt, und Lösung des Einwandes 176 

§. 13. Es gibt keine unbewusste psychische Thätigkeit . . . . K8 
Drittes Capitel. Weitere Betrachtungen über das in- 
nere Bewusstsein 181 

§. 1. Mit den psychischen Acten ist oft ein darauf bezügliches 

Urtheil verbunden 182 



Xn Inhaltsverzeichniss. 

Seite. 

§. 2. Die begleitende innere Erkenntniss ist in dem begleiteten 

Acte selbst beschlossen 182 

§. 3. Das begleitende innere Urtheil zeigt nicht eine Zusam- 

mensetzang aus Subject und Prädicat 185 

§. 4. Jeder psychische Act wird innerlich wahrgenommen . . 187 

§. 5. Häufig besteht in uns ausser der Vorstellung und Er- 
kenntniss noch eine dritte Art von Bewusstsein des 
psychischen Actes, ein Gefühl, das sich auf ihn bezieht 
und ebenfalls in ihm selbst enthalten ist 188 

§. 6. Auch diese Art des inneren Bewusstseins begleitet aus- 
nahmslos alle unsere psychischen Thätigkeiten . . . 193 

§. 7. Rückblick auf die Ergebnisse der beiden letzten Capitel 202 

Viertes CapiteL Von der Einheit des Bewusstseins . . 204 

§. 1. Stellung der Frage . 204 

§. 2. Unsere gleichzeitigen psychischen Thätigkeiten gehören 

sämmtlich zu einer realen Einheit 206 

§. 3. Was besagt die Einheit des Bewusstseins, und was besagt 

sie nicht? • 214 

§. 4. Die Einwände von C. Ludwig und A. Lange gegen die 

Einheit des Bewusstseins und gegen den Beweis, der 

uns dieser Thatsachen versichert 221 

Fünftes Capitel. Ueberblick über die vorzüglichsten 
Versuche einer Classification der psychi- 
schen Phänomene 233 

§. ]. Platon's Unterscheidung eines begierlichen, zommüthigen 

und vernünftigen Seelentheiles 233 

§. 2. Die Grundeintheilungen der psychischen Phänomene bei 

Aristoteles 236 

§. 3. Nachwirkung der Aristotelischen Classificationen. Wolff. 

Hume. Eeid. Brown 238 

§. 4. Die Dreitheilung in Vorstellung^ Gefühl und Begehren. 
Tetens. Mendelssohn. Kant. Hamilton. Lotze. Wel- 
ches war das eigentlich maassgebende Princip? . . . 239 

§. 5. Annahme der drei Glieder der Eintheilung von Seiten der 

Herbart'schen Schule 251 

§. 6. Die Eintheilungen von Bain 252 

§. 7. Rückblick auf die zum Behuf einer Grundeintheilung an- 
gewandten Principien 255 

Sechstes Capitel. Eintheilung der Seelenthätigkeiten 
in Vorstellungen, Urtheile und Phänomene 

der Liebe und des Hasses 256 

§. 1. Verwerfung der Grundeintheilungen, die nicht aus dem 

Studium der psychischen Erscheinungen hervorgehen . 256 



Inhaltsverzeichniss. XIII 

Sefto. 

§. 2. Eine Grundeintheiluug, welche die verschiedene Weise der 
Beziehung zum immanenten Objecte zum Principe nimmt^ 
ist gegenwärtig jeder anderen vorzuziehen 257 

§. 3. Die drei natürlichen Grundclassen sind: Vorstellungen, 

Urtheile und Phänomene der Liebe und des Hasses . 260 

§. 4. Welches Verfahren zur Rechtfertigung und Begründung 

dieser Eintheilung einzuschlagen sei 263 

Siebentes Capitel. Vorstellung und Urtheil ^wei ver- 
schiedene Grundclassen 266 

§. 1. Zeugniss der inneren Erfahrung 266 

§. 2. Der Unterschied zwischen Vorstellung und Urtheil ist ein 

Unterschied in den Thätigkeiten selbst 267 

§. 3. Er ist kein Unterschied der Intensität 270 

$. 4. Er ist kein Unterschied des Inhaltes 271 

§. 5. Es ist nicht richtig, dass die Verbindung von Subject und 
Prädicat oder eine andere derartige Combination zum 
Wesen des Urtheils gehört. Dies zeigt erstens die 
Betrachtung des affirmativen und negativen Existential- 

satzes ; 276 

§. 6. zweitens bestätigt es sich im Hinblicke auf die Wahr- 
nehmungen, und insbesondere auf die Bedingungen der 

ersten Wahrnehmungen; 277 

§« 7. drittens ergibt es sich aus der Rückführbarkeit aller 

Aussagen auf Existentialsätze * 279 

§. 8. Es bleibt hienach nichts übrig als die Eigenthümlichkeit 
des Urtheils in der besonderen Beziehungsweise auf 

seinen Inhalt zu erkennen 289 

§. 9. Alle Eigenthümlichkeiten, die anderwärts den fundamen- 
talen Unterschied in der Weise der Beziehung zum Gegen- 
stande kennzeichnen, finden sich auch in unserem Falle 290 
§. 10. Rückblick auf die dreifache Weise der Begründung . . 295 
§.11. Die irrige Auffassung des Verhältnisses von Vorstellung 
und Urtheil wurde dadurch veranlasst, dass in jedem Acte 
des Bewusstseins eine Erkenntniss beschlossen ist . . 295 
§. 12. Dazu kamen sprachliche Gründe der Täuschung : einmal 

die gemeinsame Bezeichnung als Denken; 298 

§.13. dann der Ausdruck in Sätzen 299 

§. 14. Folgen der Verkennung der Natur des Urtheils für die 

Metaphysik, 300 

§. 15. für die Logik, ... * 302 

§. 16. für die Psychologie 305 

Aehtes Capitel. Einheit der Grundclasse für Gefühl 

und Willen 306 



XIV Inha lto f fgaf i fhiiii 

Seite 

§. 1. Die mnere Erfaliniiig Idbrt die Einbeit der Gmndciasse 
für Gelohliiiid Willen; einmal, indem sie ans mittlere 
Zustände zeigt, doreh wdehe zwiselien ihnen ein all- 
mäliger, contumirlieher Uebergang gebildet wird; • . 306 

$. 2. dann, indem fcie uns den übereinstimmenden Cäiaiakter 

ihrer Beridmngen anf den Inhalt erkennen lasst ... 31 1 

§. 3. Nachweis, dass jedes Wollen und Begehren anf etwas als 
gut oder sehlecht gerichtet ist. Die Philofiophen aller 
Z^ten sind darin einig 314 

§. 4. Naehweu, dass hinsichtlich der Gefahle dasselbe gilt . 3 Iß 

§. 5. CharaJkl^ der Classennnterschiede innerhalb des Gebie- 
tes von Grefühl and WiUen: Definirbarkeit mit Hülfe 
der zu Grrande liegenden Phänomene; 323 

§. 6. untergeordnete Verschiedenheiten der Bezidiungsweise 

zum Objecte 326 

§. 7. Keine von den Eigenthümlichkeiten , weldie in anderen 
Fällen die fundamentale Verschiedenheit in der Weise 
der Beziehung zum Gegenstände kennzeichnen, charak- 
terisirt den Unterschied von Gefahl und WiUen . . . 32S 

§. S. Bnckblick auf die vorangegangene dreifache Erörterung. 333 

§. 9. Die vornehmsten Ursachen, welche die Täuschung über 
das Verhältniss von Gefühl und Willen veranlassten, 
waren folgende : Erstens die besondere Vereinigung des 
inneren Bewusstseins mit seinem Objecte war leicht mit 
einer besonderen Weise des Bewusstseins zu verwechseln 334 

§. 10. Zweitens setzt das Wollen eine aus dem Vermögen der 

Liebe unableitbare Fähigkeit des Wirkens voraus . . 336 

§,11. Dazu kam ein sprachlicher Anlass : die ungeeignete Bezeich- 
nung der gemeinsamen Classe mit dem Kamen Begehren 339 

§. 12. Auch forderte die Verkennung des Verhältnisses von Vor- 
stellung und Urtheil die Täuschung über jenes von Gefühl 
und Willen. Beziehung der drei ' Ideen des Schönen, 
Wahren und Guten zu den drei Grundclassen . . . 340 
Neuntes Capltel. Vergleich der drei Grundclassen mit 
dem dreifachen Phänomen des inneren Be- 
wusstseins. Bestimmung ihrer natürlichen 
Ordnung 346 

§. 1. Je eines der drei Momente des inneren Bewusstseins ent- 
spricht einer der drei Classen der psychischen Phänomene. 346 

§. 2. Die natürliche Ordnung der drei Grundclassen ist diese: 

erstens Vorstellung, zweitens Urtheil, drittens Liebe . 348 



PSYCHOLOGIE. 



ERSTER BAND. 



ERSTES, EINLEITENDES BUCH. 



VON DEK 



PSYCHOLOGIE ALS WLS8ENSCHAFT. 



Brentano, Psychologie. I. 



Erstes Capitel. 

Ueber Begriff nnd Aufgabe der psychischen 

Wissenschaft. 

Was im Anfang, wohlbekannt und offenbar, für das Ver- 
borgne die Erklärung schien, und was später, vor Anderem 
geheimnissvoll, Staunen und Wissbegier erweckte ; woran die 
grossen Denker des Alterthums am Meisten mit Eifer sich 
abmühten, und worüber Eintracht und Klarheit noch heute 
sm Wenigsten erzielt sind: das sind die Erscheinungen, die 
auch ich wieder forschend betrachtete, und von deren Eigen- 
thümlichkeiten und Gesetzen ich hier, in allgemeinen Zügen, 
«in berichtigtes Bild zu geben suche. Kein Zweig des Wissens 
hat geringere Früchte für Natur und Leben getragen, und 
keiner ist, von welchem wesentlichere Bedürfnisse ihre Befrie- 
digung hoffen. Kein Theil ist — die Metaphysik allein aus- 
genommen — , auf welchen die Mehrzahl mit grösserer Ver- 
achtung zu blicken pflegt, und keiner doch ist, welcher von 
Einzelnen so hoch und werth gehalten wird. Ja das gesammte 
Reich der Wahrheit würde Manchem arm ujid verächtlich 
scheinen, wenn es nicht auch dieses Gebiet mitzuumfassen 
bestimmt wäre; und alles andere Wissen glaubt er vorzüg- 
lich darum ehren zu sollen, weil es zu diesem Wissen die 
Wege bahnt. Andere Wissenschaften sind in der That der 
Unterbau; diese gleicht dem krönenden Abschlüsse. Alle be- 
reiten sie vor; von allen hängt sie ab. Aber auf alle soll sie 



4 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft 

auch wieder ihrerseits die kräftigste Rückwirkung üben. Das 
ganze Leben der Menschheit soll sie erneuern; den Fort- 
schritt beschleunigen und sichern. Und wenn sie darum 
einerseits wie die Zinne am thurmartigen Gebäude der Wissen- 
schaft erscheint, so hat sie andererseits die Aufgabe, Grund- 
lage der Gesellschaft und ihrer edelsten Güter, und somit 
auch Grundlage aller Bestrebungen der Forscher zu werden. 

§. 1. Der Namen Psychologie besagt: Wissenschaft 
von der Seele. Wirklich gab Aristoteles, der zuerst die 
Wissenschaft gliederte und besondere Zweige in besonderen 
Schriften darlegte, einem seiner Werke die Ueberschrift : negt 
ifwx%' Er verstand unter Seele die Natur oder, wie er sich 
mit Vorliebe ausdrückte, die Form, die erste Wirklichkeit,, 
die erste Vollendung*) eines Lebendigen. Lebendig aber 
nannte er das, was sich nährt, wächst und zeugt, und 
empfindend und denkend sich bethätigt, oder auch nur zu 
irgend einer von diesen Leistungen fähig ist. Weit davon, 
entfernt, einer Pflanze Bewusstsein zuzuschreiben, erklärte er 
doch auch das Pflanzenreich für lebendig und beseelt. Und so 
behandelt denn das älteste psychologische Werk nach Feststel- 
lung des Begriffs der Seele die allgemeinsten Eigenthümlichkei- 
ten, die sowohl in Bezug auf die vegetativen wie in Bezug auf 
die sensitiven und intellectiven Bethätigungen den Dingen, die 
an diesen Theil haben, zukommen. 

Das war der Kreis der Fragen, den die Psychologie ur- 
sprünglich umschloss. Später hat sich ihr Gebiet wesentlich 
verengt. Von den vegetativen Thätigkeiten sprach der Psycho- 
loge nicht mehr. Das ganze Reich der Pflanzen, wenn anders 
hier das Bewusstsein fehlt, gehörte nicht mehr in die Grenzen 
seiner Forschung, und auch das Reich der animalischen 
Wesen, so weit diese, wie Pflanze und unorganischer Körper^ 
Gegenstand äusserer Wahrnehmung sind, lag ihm ausserhalb 
seiner Sphäre. Dies galt auch da noch, wo solche Erscheinun- 



^) Die griechischen Ausdrücke sind : ifvOig, fAOQi^r^^ n^mri Mayiia, 
Ti^mri ivT€Xi/€itt. 



Capitel ]. Begriff und Aufgabe. 5 

gen in nächste Beziehung zum sensitiven Leben treten, wie 
-dies bei dem System der Nerven und Muskeln der Fall ist. 
Nicht der Psychologe, der Physiologe war es, dem von nun 
-an die Untersuchung darüber zufiel. 

Die Beschränkung war keine willkürliche. Im Gegen- 
theil, sie erscheint als eine offenbare Berichtigung, geboten 
durch die Natur der Sache selbst. Denn nur dann sind ja 
die Grenzlinien der Wissenschaften richtig gezogen, und nur 
dann ist ihre Eintheilung dem Fortschritte der Erkenntniss 
dienlich, wenn das Verwandtere verbunden, das minder Ver- 
wandte getrennt wurde. Und verwandt in vorzüglichem Maasse 
sind die Erscheinungen des Bewusstseins. Dieselbe Weise 
der Wahrnehmung gibt uns von ihnen allen Kenntniss, und 
höhere und niedere sind durch zahlreiche Analogien einander 
nahe gerückt. Was aber die äussere Wahrnehmung uns von 
den lebenden Wesen zeigt, das sehen wir, wie von einer an- 
dern Seite, so auch in einer ganz anderen Gestalt, und die 
-allgemeinen Thatsachen, welche wir hier finden, sind theils 
dieselben, theils ähnliche Gesetze wie die, welche wir die 
unorganische Natur beherrschen sehen. 

Man könnte auch nicht ohne Grund sagen, dass Aristo- 
teles selbst bereits eine Andeutung der neueren und berich- 
tigten Umgrenzung der Psychologie gegeben habe. Und wer 
ihn kennt, der weiss, wie häufig sich bei ihm mit der Dar- 
legung einer minder vorgeschrittenen Lehre solche Ansätze 
zu einer abweichenden und richtigeren Anschauung verbinden. 
Sowohl seine Metaphysik als auch seine Logik und Ethik 
liefern dafür Belege. Im dritten Buche von der Seele also, da 
wo er von der willkürlichen Bewegung handelt, entschlägt er 
sich der Forschung nach den vermittelnden Organen zwischen 
dem Begehren und dem Gliede auf dessen Bewegung das 
Begehren gerichtet ist. Denn diese aufzusuchen, sagt er, in- 
dem er ganz wie ein modemer Psychologe spricht, sei nicht 
Sache dessen, der über die Seele, sondern dessen, der über 
den Leib forsche^). Doch dies nur ganz im Vorübergehen, 



De Anim. IIT, 10. p. 433, b, 21 



6 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

um vielleicht den einen oder andern der begeisterten Anhän- 
ger, die Aristoteles auch noch in unsern Tagen zählt, leichter 
zu tiberzeugen. 

Wir sahen, wie das Gebiet der Psychologie sich enger zu- 
sammenzog. Gleichzeitig aber verengte sich der Begriff des 
Lebens, oder, wenn nicht dieser — denn gerade die Männer 
der Wissenschaft gebrauchen das Wort noch meist in dem alten^ 
weiten Sinne — , so doch jedenfalls der Begriff der Seele in 
ziemlich analoger Weise. 

Unter Seele versteht nämlich der neuere Sprachgebrauch 
den substantiellen Träger von Vorstellungen und andern Eigen- 
schaften, welche ebenso wie die Vorstellungen nur durch 
innere Erfahrung unmittelbar wahrnehmbar sind, und für 
welche Vorstellungen die Grundlage bilden; also den sub- 
stantiellen Träger einer Empfindung z. B., einer Phantasie, 
eines Gedächtnissactes, eines Actes von Hoffnung oder Furcht, 
von Begierde oder Abscheu pflegt man Seele zu nennen. 

Auch wir gebrauchen den Namen Seele in diesem Sinne. 
Und es scheint darum nichts im Wege zu stehen , wenn 
wir, trotz der veränderten Fassung, den Begriff der Psycho- 
logie auch heute noch mit den gleichen Worten wie einst 
Aristoteles bestimmen, indem wir sagen, sie sei die Wissen- 
schaft von der Seele. Aehnlich wie die Naturwissenschaft, 
welche die Eigenthtimlichkeiten und Gesetze der Körper, auf 
die unsere äussere Erfahrung sich bezieht, zu erforschen 
hat, erscheint dann sie als die Wissenschaft, welche die Eigen- 
thtimlichkeiten und Gesetze dßr Seele kennen lehrt, die wir 
in uns selbst unmittelbar durch innere Erfahrung finden und 
durch Analogie auch in Andern erschliessen. 

So scheinen bei dieser Fassung die beiden genannten 
Wissenszweige das Gebiet der allgemeinen Erfahrungswissen- 
schaften gänzlich unter sich zu theilen und in scharfer Grenze 
sich von einander zu sondern. 

Dennoch ist das Erste wenigstens nicht der Fall. Es 
gibt Thatsachen, welche auf dem Gebiete der äussern und Innern 
Erfahrung in gleicher Weise nachweisbar sind. Und diese 
umfassenderen Gesetze werden, gerade wegen ihres weiten 



Capitel 1. Begriff und Aufgabe. 7 

Umfanges, weder dem Gegenstande der Naturwissenschaft noch 
dem der Psychologie eigenthümhch sein. Indem sie mit glei- 
chem Rechte der einen wie der andern Wissenschaft zuge- 
hören, zeigt es sich, dass sie vielmehr zu keiner von beiden 
zu rechnen sind. Auch sind sie zahlreich und bedeutend ge- 
nug, um für sich einen besondern Zweig der Forschung zu 
beschäftigen, und dieser Zweig ist es, den wir als Metaphysik 
von Naturwissenschaft und psychischer Wissenschaft zu unter- 
scheiden haben. 

Aber auch die Sonderung der beiden minder allgemeinen 
unter den drei grossen Wissensgebieten ist keine vollständige. 
Wie anderwärts, wo zwei Wissenschaften sich berühren, so 
kann es auch hier an Grenzfragen zwischen Natur- und psy- 
chischer Wissenschaft nicht fehlen. Denn die Thatsachen, 
welche der Physiologe, und diejenigen, welche der Psychologe 
betrachtet, stehen, bei aller Verschiedenheit des Charakters, 
doch in der innigsten Wechselbeziehung. Zu ein und der- 
selben Gruppe finden wir physische und psychische Eigen- 
schaften verbunden. Und nicht bloss werden physische Zu- 
stände von physischen, psychische von psychischen hervorge- 
rufen, sondern auch physische haben psychische und psychische 
physische zur Folge. 

Manche haben eine eigene Wissenschaft unterschieden, 
welche sich mit diesen Fragen zu beschäftigen habe. So ins- 
besondere Fechner, welcher dieses Gebiet des Wissens Psycho- 
physik und das von ihm dafür aufgestellte, berühmt gewor- 
dene Grundgesetz das „psycho - physische Grundgesetz" ge- 
nannt hat. Andere haben der minder glücklichen Bezeich- 
nung „physiologische Psychologie" den Vorzug gegeben^). 

Hiedurch wäre den Grenzstreitigkeiten zwischen Psycho- 

^) So neuerdings Wundt in dem bedeutenden Werke: Grandzüge 
der Physiologischen Psychologie, Leipzig 1873. Wenn auch nicht hier, 
so könnte doch anderwärts der Ausdrack in der Art missverstan- 
den werden, dass man „physiologisch*^ auf die Methode bezöge. 
Denn wir werden bald hören, wie Manche die gesammte Psychologie 
auf physiologische Untersuchungen gründen wollten. (Vgl. auch Hagen, 
Psychol. Studien, Bniunsdiweig 1847. S. 7.) 



8 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

logie und Physiologie ein Ende gemacht. Aber würden nicht 
neue und zahlreichere zwischen Psychologie und Psychophysik 
einerseits, und Psychophysik und Physiologie andererseits an 
die Stelle treten? — Oder ist es nicht offenbar Sache des 
Psychologen, die ersten Elemente der psychischen Erscheinun- 
gen zu bestimmen ? — und doch wird auch dem Psychophy-» 
siker ihre Erforschung zufallen, denn physische Reize sind es, 
welche die Empfindungen hervorrufen. Und ist es nicht Auf- 
gabe des Physiologen, die Erscheinungen der willkürlich er- 
regten wie der Reflexbewegungen rückwärts hinauf an fort- 
laufender Kette bis zum Ursprünge hin zu verfolgen ? — und 
doch wird auch der Psychophysiker die erste physische Folge 
der psychischen Ursache zu suchen haben. 

Nehmen wir darum lieber an der Nothwendigkeit gegen- 
seitiger Eingriffe zwischen Physiologie und Psychologie keinen 
Anstoss. Sie werden nicht grösser sein als die, welche wir 
z. B. auch zwischen Physik und Chemie bemerken. Sie be- 
weisen nichts gegen die Richtigkeit der vollzogenen Grenz- 
bestimmung, sondern deuten nur an, dass, wie jede andere, 
auch noch so gute Eintheilung der Wissenschaften, auch diese 
etwas Künstliches an sich hat. Es wird auch keineswegs 
nöthig werden, die ganze Reihe der sogenannten psychophysi- 
schen Fragen nunmehr doppelt, d. h. sowohl in Psychologie 
als Physiologie zu behandeln. Es wird sich bei jeder einzel- 
nen leicht zeigen lassen, auf welchem Gebiete die wesent- 
liche Schwierigkeit liegt, mit deren Lösung die Lösung der 
Frage selbst so gut wie gegeben ist. So wird es z. B. jeden- 
falls Sache des Psychologen sein, die ersten durch physischen 
Reiz hervorgerufenen psychischen Phänomene zu ermitteln, 
wenn er auch dabei eines Blickes auf physiologische That- 
sachen nicht wird entbehren können. Und ebenso wird er 
bei der willkürlichen Bewegung des Leibes das letzte und 
unmittelbare psychische Antecedens für die daran geknüpfte 
Kette physischer Veränderungen zu bestimmen haben. Dem 
Physiologen dagegen wird die Aufgabe zufallen, der letzten 
und unmittelbaren physischen Ursache der Empfindung nach- 
zuforschen, obwohl er dabei natürlich auch auf die psychische 



Capitel ]. Begriff und Aufgabe. 9 

Ersdieinung blicken muss. Und wiederum wird von ihm, 
bei der Bewegung durch psychische Ursachen, die erste und 
nächste Wirkung auf physiologischem Gebiete festzustellen sein. 
Was den Nachweis des Steigerungsverhältnisses beim 
Wachsen von physischen und psychischen Ursachen und Folgen, 
die Erforschung des s. g. psychophysischen Grundgesetzes, 
betrifft, so scheint mir die Aufgabe in zwei zu zerfallen, deren 
eine dem Physiologen zukommt, während die andere Sache 
des Psychologen ist. Die erste ist die, zu bestimmen, welche 
relative Unterschiede in der Stärke der physischen Reize 
den kleinsten merklichen Unterschieden in der Stärke der 
psychischen Erscheinungen entsprechen. Die zweite aber die, 
zu erforschen, welches das Verhältniss dieser kleinsten merk- 
lichen Unterschiede zu einander sei. — Aber ist auf die letzte 
Frage die Antwort nicht gleich von vom herein einleuchtend ? 
Ist es nicht klar, dass alle kleinsten merklichen Unterschiede 
einander gleich zu setzen sind? — Man hat dies allgemein an- 
genommen, und noch Wundt argumentirt in seiner Physiologi- 
schen Psychologie (S. 295) also : „Ein solcher eben merklicher 
Intensitätsunterschied ist . . . ein psychischer Werth von con- 
stanter Grösse. Denn wäre ein eben merklicher Unterschied 
grösser oder kleiner als ein anderer, so wäre er grösser 
oder kleiner als eben merklich, was ein Widerspruch 
ist." Wundt bemerkt nicht, dass sein Beweis ein Girkel- 
schluss ist. Wenn einer bezweifelt, dass alle eben merkUchen 
Unterschiede einander gleich seien, so gilt ihm das eben - 
merklich - Sein nicht mehr als charakteristische Eigenthüm- 
lichkeit eines constanten Grössenmaasses. Richtig und a priori 
einleuchtend ist nur, dass alle eben merklichen Unterschiede 
gleichmerklich, nicht aber, dass. sie gleich sind. Es 
müsste denn jeder gleiche Zuwachs gleichmerklich, und danun 
auch jeder gleichmerkliche Zuwachs gleich sein. Das aber 
bleibt zunächst zu untersuchen, und diese Untersuchung, die, 
da es sich um Gesetze vergleichender Beurtheilung handelt, 
dem Psychologen zufällt, dürfte ein ganz anderes als das er- 
wartete Ergebniss liefern. Wird doch die phänomenale Orts- 
veränderung der Mondscheibe nah am Horizont eher merklich. 



10 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

als wenn er hoch am Himmel schwebt, obwohl sie in beiden 
Fällen gleich ist in gleichen Zeiten. Die erste Aufgabe da- 
fregen ist ohne Zweifel Sache des Physiologen. Physische Be- 
obachtungen sind es, die hier in grösster Ausdehnung zur 
Anwendung kommen. Und gewiss war es nicht zufällig, wenn 
wir einem Physiologen ersten Ranges, wie E. H. Weber, die 
erste Anbahnung und einem philosophisch gebildeten Physiker, 
wie Fechner, die Feststellung des Gesetzes in erweitertem 
Umfange zu danken hatten ^). 

So scheint denn die oben gegebene Begriflfsbestimmimg 
der Psychologie gerechtfertigt, und ihre Stellung zu den ihr 
nächsthegenden Wissenschaften klar geworden. 

§. 2. Dennoch erklären nicht alle Psychologen sich da- 
mit einverstanden, wenn einer im oben angegebenen Sinne 
sagt, die Psychologie sei die Wissenschaft von der Seele. 
Vielmehr bestimmen sie dieselbe als die Wissenschaft 
von den psychischen Phänomenen. Und sie steDen 
dabei die Psychologie mit ihrer Schwesterwissenschaft auf 
jrleiche Stufe. Auch die Naturwissenschaft, behaupten sie, 
dürfe nicht als die Wissenschaft von den Körpern, sondern 
sie müsse als die Wissenschaft von den physischen Phäno- 
menen definirt werden. 

Machen wir uns den Grund dieses Widerspruches klar. 

Was will man, wenn man sagt: Wissenschaft von den 
physischen, Wissenschaft von den psychischen Phänomenen? 
Phänomen, Erscheinung, wird oft im Gegensatze zu dem wahr- 
haft und wirklich Seienden gebraucht. So sagen wir, die 
(regenstände unserer Sinne, so wie die Empfindung sie uns 
zeige, seien blosse Phänomene ; Farbe und Schall und Wärme 
und Geschmack seien nicht ausser unserer Empfindung wahr- 



^) Dem entsprechend sagt Fechner : „Von der Physik entlehnt die 
äassere Psychophysik Hülfsmittel und Methode; die innere lehnt sich 
vielmehr an die Physiologie und Anatomie namentlich des Nerven- 
systems/* (Psychoph. I. S. 11.) Und wiederum sagt er in der Vor- 
rede (S. X.), „dass diese Schrift hauptsächlich Physiologen interessiren 
dürfte, indesB sie zugleich Philosophen zu interessiren wünscht.'* 



Capitel 1. Begriff und Aufgabe. H 

haft und wirklich bestehend, wenn sie auch auf wahrhaft und 
wirklich Bestehendes hindeuten. John Locke machte bereits 
einen Versuch, indem er, die eine Hand erwärmt, die andere 
abgekühlt, beide zugleich in ein und dasselbe Wasserbecken 
tauchte. Er empfand Wärme an der einen. Kälte an der an- 
dern Hand und bewies daraus, dass beide nicht wahrhaft in 
dem Wasser beständen. Bekannt ist ebenso, dass ein Druck 
auf das Auge dieselben Lichterscheinungen erwecken kann, 
wie die Strahlen, die von einem s. g. farbigen Gegenstande 
ausgehen. Und auch in Bezug auf Ortsbestimmtheiten ist es 
leicht in ähnlicher Weise den des Irrthums zu überführen, 
der sie so, wie sie erscheinen, für wahr und wirklich nehmen 
will. Verschiedene örtliche Bestimmtheiten erscheinen gleich 
in gleicher Entfernung und gleiche erscheinen in verschiede- 
ner Entfernung verschieden. Und hiemit hängt es zusammen, 
wenn bald Bewegung als Ruhe, bald umgekehrt Ruhe als 
Bewegung sich zeigt. Es liegt demnach für die Gegenstände 
der Sinnesempfindung der volle Beweis ihrer Falschheit vor. 
Wenn er aber auch nicht so klar erbracht werden könnte, 
so müsste man dennoch an ihrer Wahrheit zweifeln , da so 
lange keine Bürgschaft für sie gegeben wäre, als die Annahme, 
es bestehe in Wirklichkeit eine Welt, welche unsere Empfin- 
dungen hervorrufe und mit dem, was uns in ihnen erscheine, 
gewisse Analogien zeige, zur Erklärung der Erscheinungen 
genügen würde. 

Also von den Gegenständen der s. g. äussern Wahr- 
nehmung haben wir kein Recht zu glauben, dass sie so, wie 
sie uns erscheinen, auch in Wahrheit bestehen. Ja sie be- 
stehen nachweisbar nicht ausser uns. Sie sind im Gegen- 
satze zu dem, was wahrhaft und wirkhch ist, blosse Phänomene. 

Aber was von den Gegenständen der äussern Erfahrung, 
kann nicht in gleicher Weise von denen der inneren gesagt 
werden. Bei dieser hat nicht bloss keiner gezeigt, dass, wer 
ihre Erscheinungen für Wahrheit nähme, in Widersprüche 
sich verwickelte, sondern wir haben sogar von ihrem Bestände 
jene klarste Erkenntniss und jene vollste Gewissheit, welche 
von der unmittelbaren Einsicht gegeben werden. Und dess- 



12 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft 

halb kann eigentlich Niemand zweifeln , ob der psychische 
Zustand, den er in sich wahrnehme, sei, und ob er so sei, 
wie er ihn wahrnehme. Wer hier noch zu zweifeln vermöchte, 
der würde zu einem vollendeten Zweifel gelangen, zu einem 
Skepticismus, der ireilich sich selbst aufhöbe, indem er auch 
jeden festen Punkt, von dem aus er seinen Angriff auf die 
Erkenntniss versuchen könnte, zerstört hätte. 

Nicht also, um in dieser Hinsicht Natur- und psychische 
Wissenschaft einander gleich zu stellen, kann man vernünftiger 
Weise verlangen, dass man die Psychologie als die Wissen- 
schaft von den psychischen Phänomenen bestimme 0- 

Ein ganz anderer Gedanken ist es denn auch, welcher 
gemeiniglich diejenigen leitet, die eine solche Begriflfsbe- 
stimmung befürworten. Sie leugnen nicht, dass Denken und 
Wollen wahrhaft bestehen. Und sie gebrauchen den Aus- 
druck psychische Phänomene oder psychische Erscheinungen 
als vollkommen gleichbedeutend mit psychischen Zuständen, 
Vorgängen und Ereignissen, wie sie uns die innere Wahr- 
nehmung zeigt. Aber dennoch bezieht sich auch bei ihnen 
der Widerspruch gegen die ältere Begriffsbestimmung darauf, 
dass in dieser die Grenzen der Erkenntniss verkannt werden. 
Wenn einer sagt, die Naturwissenschaft sei die Wissenschaft 
von den Körpern, und unter Körper eine Substanz versteht, 
welche auf die Sinnesorgane wirkend die Vorstellung von 
psychischen Phänomenen hervorbringe, so nimmt er an, dass 
den äussern Erscheinungen Substanzen als Ursachen zu 
Grunde liegen. Und wenn einer sagt, die Psychologie sei 
die Wissenschaft von der Seele, und mit dem Namen Seele 
den substantiellen Träger psychischer Zustände bezeichnet, 
so spricht er darin die Ueberzeugung aus, dass die psychi- 
schen Erscheinungen als Eigenschaften einer Substanz zu be- 
trachten seien. Aber was berechtigt zur Annahme solcher 
Substanzen? — Ein Gegenstand der Erfahrung, sagt man, 

^) Kant allerdings hatte dies gethan, und es war dies ein Fehler, 
der schon oft, namentlich auch von Ueberweg in seinem System der 
Logik, gerügt worden ist. 



Capitel 1« Begriff und Aufgabe. 13 

sind sie nicht. Weder die Empfindung zeigt uns eine Sub- 
stanz, noch die innere Wahrnehmung. Wie uns dort die 
Phänomene von Wärme, Farbe und Schall begegnen, so bieten 
sich uns hier die Erscheinungen des Denkens, Fühlens, 
WoUens dar. Ein Wesen, dem sie als Eigenschaften an- 
hafteten, bemerken wir nicht. Es ist eine Fiction, der keiner- 
lei Wirklichkeit entspricht, oder für die, wenn ihr sogar 
ein Bestehen zukäme, es auf jeden Fall nicht nachweisbar 
sein würde. So ist sie ofiFenbar kein Gegenstand der 
Wissenschaft. Und weder die Naturwissenschaft darf als 
die Wissenschaft von den Körpern, noch die Psychologie als 
die Wissenschaft von der Seele bestimmt werden, sondern 
jene wird bloss als die Wissenschaft von den physischen^ 
und diese, in ähnlicher Weise, als die Wissenschaft von den 
psychischen Phänomenen zu fassen sein. Ein Seele gibt 
es nicht, wenigstens nicht für uns; eine Psychologie kann 
und soll es nichtsdestoweniger geben ; aber — um den para- 
doxen Ausdruck von Albert Lange zu gebrauchen — eine 
Psychologie ohne Seele*). 

Wir sehen, der Gedanken ist nicht so unmittelbar absurd, 
wie das Wort ihn erscheinen lässt. Die Psychologie bleibt 
auch nach dieser Ansicht nicht ohne ein weites Feld der 
Untersuchung. 

Dies macht schon ein Blick auf die Natui-wissenschaft 
deutlich. Denn alle Thatsachen und Gesetze, welche dieser 
Zweig der Forschung nach der Anschauung deijenigen be- 
trachtet, welchen sie als die Wissenschaft von den Körpern 
gilt, wird sie auch nach der Ansicht derer zu untersuchen 
haben, welche sie nur als die Wissenschaft von den physischen 
Phänomenen anerkennen wollen. Wirklich thun dies gegen- 
wärtig viele und bedeutende Naturforscher, welche vermöge 
der bemerkenswerthen Strömung, die jetzt Philosophie und 



^) Gesch. d. Materialismus 1. Aufl. S. 465. „Also nur ruhig eine 
Psychologie ohne Seele angenommen! Es ist doch der Name noch 
brauchbar, so lange es hier irgend etwas zu thun gibt, was nicht von 
einer andern Wissenschaft vollständig mitbesorgt wird.*' 



14 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

Naturwissenschaft einander näher führt, über philosophische 
Fragen sich eine Meinung gebildet haben. Sie beschränken 
aber dadurch in nichts den Umfang des naturwissenschaft- 
lichen Gebietes. Die Gesetze der Goexistenz und der Succession, 
die es nach Andern umfasst, fallen auch nach ihnen noch 
sämmtüch in sein Bereich. 

Aehnlich wird es sich denn auch in Betreff der Psycho- 
logie verhalten. Auch die Erscheinungen, welche uns die 
innere Erfahrung bietet, unterliegen Gesetzen. Das erkennt 
jeder an, der sich mit psychologischen Untersuchungen wissen- 
schaftlich befasst hat, und auch der Laie findet es leicht 
und schnell in der eigenen Erfahrung bestätigt. Diese Ge- 
setze von Goexistenz und Succession psychischer Erscheinungen 
bleiben auch nach dem, welcher der Psychologie die Erkennt- 
niss einer Seele abspricht, Gegenstand ihrer Forschung. Und 
hiemit ist ihr ein weites Reich von bedeutenden Angaben zu- 
gewiesen, von denen die allermeisten noch der Lösung 
harren. 

J. St. Mill, einer der entschiedensten und einfluss- 
reichsten Vertreter dieser Ansicht, hat, um die Psychologie, 
wie er sie sich denkt, besser anschaulich zu machen, in 
seiner Logik der Geisteswissenschaften einen Ueberblick 
über die Fragen, mit denen sie sich zu beschäftigen habe, 
gegeben 1). 

Als allgemeine Aufgabe der Psychologie bezeichnet er 
die Erforschung der Gesetze der Aufeinanderfolge unserer 
psychischen Zustände, d. h. der Gesetze, nach welchen der 
eine von ihnen den andern erzeuge 2). 

Von diesen Gesetzen seien einige allgemein, andere 
speciell. Allgemein z. B. sei das Gesetz, dass jeder psychische 



*) Deductive u. inductive Logik, B. VI. c. 4 §. 3. 

2) Die Empfindungen sind zwar auch psychische Zustände. Allein 
offenbar ist ihre Aufeinanderfolge dieselbe wie die der in ihnen vor- 
gestellten physischen Phänomene. Und für diese, so weit sie von der 
physischen Beizung der Sinnesorgane abhängt, hat der Naturforscher 
die Gesetze festzustellen. 



Capitel 1. Begriff und Aufgabe. 15 

Eindruck, gleichviel durch welche Ursache gegeben, zur Folge 
habe, dass eine ihm ähnliche, wenn auch minder lebendige, 
Erscheinung in Abwesenheit der zuerst erregenden Ui*sache 
hervorgebracht werden könne. Jeder Eindruck, sagt er in 
der Sprache von Hume, hat eine Idee. Ebenso seien es ge- 
wisse allgemeine Gesetze, welche das wirkliche Eintreten 
einer solchen Idee bestimmten. Und er nennt drei solche 
„Gesetze der Ideenassociation" ; erstens das Gesetz der Simi- 
larität, „dass sich ähnliche Ideen einander zu erregen suchen" ; 
dann das Gesetz der Contiguität, „dass, wenn zwei psychische 
Erscheinungen häufig in Verbindung mit einander erfahren 
worden sind, sei es gleichzeitig oder auch in unmittelbarer 
Folge, und die eine oder die Idee der einen Erscheinung, 
wiederkehrt, sie die der andern zu erregen sucht"; endlich 
das Gesetz der Intensität, „dass grössere Lebendigkeit in 
dem einen oder in den beiden Eindrücken in Bezug auf 
gegenseitige Erregung gleichbedeutend mit häufigerer Ver- 
bindung ist." 

Aus diesen allgemeinen und elementaren Gesetzen der 
psychischen Erscheinungen, ist es nach Mill die weitere Auf- 
gabe der Psychologie, speciellere und complicirtere Gesetze 
des Denkens abzuleiten. Da oft mehrere psychische Phänomene 
zusammenwirken, sagt er, so erhebe sich die Frage, ob jeder 
solche Fall ein Fall der Zusammensetzung von Ursachen sei 
oder nicht; d. h. ob Folgen und Vorbedingungen sich über- 
all so verhalten, wie auf dem Gebiete der Mechanik, wenn 
Bewegung aus Bewegungen resultirt, den Ursachen homogen 
und gewissermassen als ihre Summe ; oder ob das psychische 
Gebiet auch Fälle zeige, ähnhch dem Processe chemischer 
Mischung, wo an dem Wasser nichts von den Eigenthtimlich- 
keiten des Sauerstoffs und Wasserstoffs, an dem Zinnober nichts 
von den besondem Eigenschaften des Quecksilbers und Schwe- 
fels gefunden wird. St. Mill selbst hält es für erwiesen, dass 
Fälle von beiderlei Art auf dem Gebiete der innem Erschein- 
ungen eintreten. Zuweilen sei ein Process dem mechanischen, 
zuweilen aber dem chemischen Zusammenwirken analog. Denn 
es komme vor, dass mehrere Vorstellungen in der Art zu 



16 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

einer verschmelzen, dass sie nicht mehr als viele" sondern als 
eine einzige und ganz anders geartete Vorstellung erscheinen. 
So entwickele sich z. B. die Vorstellung der Ausdehnung und 
des Raums mit drei Dimensionen aus den Empfindungen 
des Muskelsinns. 

Hieran knüpfen sich nun eine Reihe neuer Untersuchungen. 
Insbesondere wird es sich fragen, ob der Zustand des Glau- 
bens^), und ebenso, ob der Zustand des Begehrens ein Fall 
von psychischer Chemie, ein Ergebniss verschmelzender 
Vorstellungen sei. Vielleicht, meint Mill, sei diese Frage zu 
verneinen. Wie sie aber auch immer etwa affirmativ ent- 
schieden werde, jedenfalls sei sicher, dass sich hier ganz 
andere Gebiete eröfihen. Und so ergebe sich denn die neue 
Aufgabe, die Gesetze der Succession dieser Phänomene, seien 
sie nun aus psychisch-chemischen Processen hervorgegangen 
oder nicht, auf Grund besonderer Beobachtungen zu ermitteln. 
In Betreff des Glaubens werde zu erforschen sein, welchen 
Glauben wir unmittelbar haben; und weiter, nach welchen 
Gesetzen ein Glauben den andern erzeuge; und nach welchen 
Gesetzen eine Thatsache, mit Recht oder Unrecht, als Be- 
weis für eine andere angesehen werde. In Betreff des Be- 
gehrens aber werde es vor Allem Aufgabe sein, zu unter- 
suchen, welche Gegenstände wir ursprüngUch und von Natur 
begehren; und weiter dann, die Ursachen zu bestimmen, 
welche uns ursprünglich gleichgültige oder sogar unangenehme 
Dinge zu begehren veranlassen. 

Zu dem Allen kommt dann noch ein anderes und reiches 
Feld, auf welchem die psychologische Forschung sich mehr als 
anderwärts mit der physiologischen zu verflechten beginnt. 
Der Psychologe hat nach Mill auch die Aufgabe, zu unter- 
suchen, in wie weit die Erzeugung eines psychischen Zustandes 



') Ich folge den Uebersetzern, indem ich belief durch Glauben 
wiedergebe, obwohl der Ausdruck insofern nicht ganz entsprechend ist, 
als belief, wie Mill es gebraucht, jeden Zustand einer Ueberzeugung 
oder Meinung, und das Wissen ebensogut als das Glauben im gewöhn- 
lichen Sinne in sich begreift. 



Capitel 1. Begriff und Aufgabe. 17 

durch den andern von einem nachweisbaren physischen Zu- 
stande beeinflusst werde. Ein dreifacher Grund für die ver- 
schiedene Empfänglichkeit verschiedener Menschen für die- 
selben psychischen Ursachen sei denkbar. Sie könne ursprüng- 
hche und letzte Thatsache, sie könne die Folge der Geschichte 
seines früheren inneren Lebens, und sie könne die Folge 
einer verschiedenen physischen Organisation sein. Der sorg- 
fältig prüfende Blick, meint er, werde erkennen, dass der 
Charakter eines Menschen seinem bei weitem grösseren Theile 
nach in Erziehung und äussern Umständen seine adäquate 
Erklärung finde. Der Rest aber werde selbst wieder in 
weitem Umfange nur mittelbar in organischen Unterschieden 
gegründet sein. Und offenbar gilt dies in Wahrheit nicht 
bloss von der Neigung zum Misstrauen, die man bei Tauben, 
der Lüsternheit, die man bei Blindgebonien, und der Reiz- 
barkeit, die man bei Missgestalteten zu bemerken pflegt, 
sondern ebenso in noch vielen andern und minder leicht zu 
begreifenden Fällen. Bleiben nun auch, wie Mill zugesteht, 
noch andere Erscheinungen, wie namentlich die Instincte, 
welche nicht anders als unmittelbar aus der besondem Or- 
ganisation erklärbar sind, so sehen wir doch, wie der Psycho- 
logie auch als Ethologie, d. h. als Darlegung der Gesetze der 
Charakterbildung, ein weites Feld gesichert ist. 

Dies etwa ist der Ueberblick über die psychologischen 
Probleme, welchen uns einer der bedeutendsten Vertreter der 
ausschliesslich phänomenalen Wissenschaft von seinem Stand- 
punkte gibt. Und wirkhch geschieht durch die veränderte 
Fassung und, nach der Ansicht, die zu ihr führt, in allen 
diesen Beziehungen der Psychologie kein Eintrag. Ja den 
Fragen, die J. St. Mill aufstellt, und denen, welche in ihnen 
eingeschlossen liegen, liessen sich wohl noch andere von nicht 
geringerer Bedeutung beifügen. An grossen Aufgaben fehlt 
es also den Psychologen dieser Schule nicht, und es zählen 
zu ihr in unsem Tagen Männer, die vor Andern um die 
Fortentwickelung der Wissenschaft sich verdient machen. 

Nichtsdestoweniger scheint eine Frage wenigstens aus- 
geschlossen, und diese von solcher Wichtigkeit, dass ihr Mangel 

Brentano, Psychologie. I. 2 



18 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

allein eine empfindliche Lücke zu lassen droht. Gerade die 
Untersuchung, welche die ältere Psychologie als ihre vor- 
nehmste Aufgabe betrachtete, gerade die Frage, welche zu- 
erst zu psychologischer Forschung anregte, scheint bei einer 
solchen Anschauung nicht femer aufgeworfen werden zu 
dürfen. Ich meine die Frage über die Fortdauer nach dem 
Tode. Wer Piaton kennt*, der weiss, wie die Begierde, sich 
hierüber der Wahrheit zu versichern, ihn vor aUem Andern 
in dieses Gebiet hineinführte. Sein Phädon ist ihr geweiht, 
und andere Dialoge, sei es Phädrus, sei es Timäus oder 
ßepubhk, nehmen wieder und wieder auf sie Rücksicht. Und 
bei Aristoteles tritt dasselbe hervor. Zwar wenig ausführ- 
lich legt er seine Gründe für die Unsterblichkeit dar. Aber 
der würde fehlen, welcher hieraus schliessen wollte, es sei 
ihm die Frage von minderem Gewichte gewesen. In der Logik, 
wo ihm die Lehre vom apodiktischen oder wissenschaftlichen 
Beweise nothwendig die bedeutendste sein musste, drängt 
er doch, in auffallendem Gegensatze zu andern, breitgedehnten 
Erörterungen , in den zweiten Analytiken sie auf wenigen 
Seiten zusammen. In der Metaphysik spricht er von der 
Gottheit nur in wenigen, kurzen Absätzen des letzten Buches^). 
Und doch galt ihm diese Betrachtung ausgesprochen als 
Hauptsache, so zwar, dass er der ganzen Wissenschaft neben 
den Namen der Weisheit und ersten Philosophie geradezu 
auch den der Theologie beilegte. So handelt er denn auch 
in den Büchern von der Seele von dem Geiste im Menschen 
und seiner Unsterblichkeit, selbst da, wo er ihrer mehr als 
vorübergehend erwähnt, nur in äusserster Kürze. Dass sie 
ihm aber doch als der vor Allem wichtige Gegenstand der 
Psychologie erschienen, zeigt deutlich die ZusammensteUung 
der psychologischen Fragen am Anfange des Werkes. Da 
hören wir, es sei die Sache des Psychologen, vor Allem nach 
dem, was die Seele sei, dann nach ihren Eigenthümlichkeiten zu 
forschen, von denen einige ihr und nicht dem Leibe anzu- 
haften, also geistig scheinen; und ferner, er habe zu unter- 

^) Ich meine natürlich das Buch A. 



Capitel 1. Begriff und Aufgabe. 19 

suchen, ob die Seele zusammengesetzt aus Theilen, oder ob 
sie einfach sei, und ob alle Theile körperliche Zustände 
seien, oder einige nicht, in welchem Falle ihre Unsterblich- 
keit gesichert sei. Die mannigfachen Aporieen, welche sich 
an die Aufwerfung dieser Fragen knüpfen, zeigen, dass wir 
hier auf den Punkt gestossen sind, der am Meisten die Wiss- 
begierde des grossen Denkers beschäftigte. Auf diese Auf- 
gabe also hat sich zuerst die Psychologie geworfen, sie hat 
ihr den Anstoss zur Entwickelung gegeben. Und gerade sie 
scheint jetzt, wenigstens auf dem Standpunkte derer, welche 
<lie Psychologie als Wissenschaft von der Seele leugnen, 
gefallen und unmöglich geworden. Denn gibt es keine Seele, 
so kann von einer Unsterblichkeit der Seele natürlich nicht 
die Rede sein. 

Dies scheint so unmittelbar einleuchtend, dass man sich 
nicht wundern kann, wenn es von Anhängern der hier ent- 
wickelten Auffassung, wie z. B. von A. Lange, als etwas Selbst- 
Yerständliches hingestellt wird^). Und so böte sich in der 
Psychologie ein ähnliches Schauspiel wie auf dem Gebiete der 
Ji^aturwissenschaft. Das Streben des Alchymisten, Gold durch 
Mischung zu erzeugen, hat zuerst zu chemischen Forschungen 
getrieben. Aber die aufgeblühte Wissenschaft hat darauf 
als auf etwas Unmögliches verzichtet. Und nur etwa in der 
Weise, wie in der bekannten Parabel die Verheissung des 
sterbenden Vaters, hat sich auch hier den Erben früherer 
Porscher die Voraussage der Vorfahren erfüllt. Die Söhne gru- 
ben fleissig den Weinberg um, in welchem sie den Schatz verbor- 
gen glaubten, und wenn sie das verscharrte Gold nicht fanden, 
so erwuchs ihnen anderes in den Früchten des wohldurch- 
arbeiteten Bodens. AehnUch also erging es den Chemikern, 
und ähnlich würde es auch den Psychologen ergehen. Die 
Frage nach der Unsterblichkeit wäre von der fortgeschrittenen 
Wissenschaft preis zu geben, aber das könnte man sich zum 
Tröste sagen, dass der aus der Begierde nach Unmöglichem 
entsprungene Eifer zur Lösung anderer Fragen geführt habe, 



*) Geschichte des Materialismus, 1. Aufl. S. 239. 

2* 



20 ' Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

denen eine wahre und weit tragende Bedeutung nicht ab-^ 
gesprochen werden kann. 

Denno.ch — wer möchte es leugnen — wären wir hier 
nicht ganz in dem gleichen Falle. Für die Träume des Alchy- 
misten hat die Wirklichkeit einen höheren Ersatz geboten. 
Für die Hoffnungen eines Piaton und Aristoteles, über das^ 
Fortleben unseres bessern Theiles nach der Auflösung des 
Leibes Sicherheit zu gewinnen , würden dagegen die Ge- 
setze der Association von Vorstellungen, der Entwickelung von 
Ueberzeugungen und Meinungen und des Keimens und Trei- 
bens von Lust und Liebe alles Andere, nur nicht eine wahre 
Entschädigung sein. Der Verlust erschiene darum hier bei 
Weitem beklagenswerther. Und wenn wirklich der Unter- 
schied der beiden Anschauungen die Aufnahme oder den 
Ausschluss der Frage nach der ünsterbHchkeit besagte, so wäre 
er für die Psychologie ein überaus bedeutender zu nennen, 
und ein Eingehen in die metaphysische Untersuchung über 
die Substanz als Trägerin der Zustände unvermeidlich. 

Indessen, so scheinbar die Nothwendigkeit der Beschrän- 
kung des Forschungsgebietes nach dieser Seite ist, so ist sie 
doch vielleicht nicht mehr als scheinbar. David Hume hat 
sich seiner Zeit mit aller Entschiedenheit gegen die Meta- 
physiker erklärt, welche eine Substanz als Trägerin der 
psychischen Zustände in sich zu finden behaupteten. „Ich 
für mein Theil", sagt er, „wenn ich recht tief in das, was 
ich mich selbst nenne, eingehe, stosse immer auf die eine 
oder andere besondere Wahrnehmung von Hitze oder Kälte, 
Licht oder Schatten , Liebe oder Hass , Schmerz oder Lust. 
Nie, so oft ich es auch versuche, kann ich meinerselbst 
habhaft werden ohne eine Vorstellung, und nie kann ich et- 
was entdecken ausser der Vorstellung. Sind meine Vorstell- 
ungen für irgend welche Zeit aufgehoben, wie bei gesundem 
Schlafe, so kann ich eben so lange nichts von mir selbst 
verspüren, und man könnte in Wahrheit sagen, dass ich gar 
nicht bestehe." Wenn gewisse Philosophen sich selbst als 
etwas Einfaches und Beharrendes wahrzunehmen behaupten, 
so will er nicht widersprechen, aber von sich und von jeder- 



Capttel ]. Begriff und Aufgabe. 21 

mann (diese Sorte von Metaphysikern allein ausgenommen) 
ist er tiberzeugt, „dass sie nichts sind als ein Bündel 
von verschiedenen Vorstellungen, die mit unsäglicher Schnel- 
ligkeit auf einander folgen und in beständigem Flusse 
und ununterbrochener Bewegung sind"^). Wir sehen also, 
Hume zählt unzweideutig genug zu den Gegnern der Seelensub- 
stanz. Nichtsdestoweniger bemerkt derselbe Hume, dass die 
sämmtlichen Beweise für die Unsterblichkeit bei einer An- 
schauung wie der seinigen noch ganz dieselbe Kraft be- 
sitzen, wie bei der entgegengesetzten und hergebrachten An- 
nahme. A. Lange freilich ^) nimmt diese Aeusserung für 
Spott, und er mag hierin um so eher Recht haben, als Hume 
bekanntlich auch anderwärts die Waffe boshafter Ironie nicht 
verschmähte^). Allein das, was Hume sagt, ist keine so oflfen- 
l)are Lächerlichkeit, wie es Lange und vielleicht auch ihm 
selbst dünken mochte. Denn wenn auch der, welcher die 
Seelensubstanz leugnet, von einer Unsterblichkeit der Seele 
im eigentlichen Sinne selbstverständlich nicht reden kann, 
so ist es doch durchaus nicht richtig, dass die Unsterblich- 
keitsfrage durch die Leugnung eines substantiellen Trägers 
der psychischen Erscheinungen allen Sinn verliert. Dies 
wird sofort einleuchtend, wenn man bedenkt, dass, mit oder 
ohne Seelensubstanz, ein gewisser Fortbestand unseres psy- 
chischen Lebens hier auf Erden jedenfalls nicht geleugnet 
werden kann. Verwirft einer die Seelensubstanz, so bleibt 
ihm nur die Annahme übrig, dass es zu einem Fortbestande 
wie diesem eines substantiellen Trägers nicht bedürfe. Und 
die Frage, ob unser psychisches Leben etwa auch nach der 
Zerstörung unserer leiblichen Erscheinung fortbestehen werde, 
wird darum für ihn ebensowenig wie für Andere sinnlos sein. 
Es ist eigentlich eine bare Inconsequenz, wenn Denker dieser 



') Treatise of Human Nature P. IV Sect. ü. 

«) Gesch. d. Mater. S. 239. 

^) A. Bain sagt von ihm: „Er war ein Mann, der eben so sehr 
«cbriftstellerische Wirkung als philosophische Forschung liebte, so dass 
man nicht immer weiss, ob das, was er sagt, ernsthaft gemeint sei/' 
Mental Science 3. ed. p. 207. 



22 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

Richtung die Frage nach der Unsterblichkeit auch in dieser^ 
ihrer wesentlichen Bedeutung, in welcher sie allerdings besser 
Unsterblichkeit des Lebens als Unsterblichkeit der Seele zu 
nennen ist, auf die angegebenen Gründe hin verwerfen. 

Dies hat recht wohl J. St. Mill erkannt. In der früher 
angeführten Stelle seiner Logik fanden wir die Frage nach 
der Unsterblichkeit zwar nicht unter den von der Psychologie zu 
behandelnden Fragen aufgeführt. Aber an einem andern Orte, 
in seinem Werke über Hamilton, hat er denselben Gedanken^ 
den wir hier aussprachen, mit aller Klarheit entwickelt ^). 

Ebenso ist in Deutschland gegenwärtig kaum ein Denker 
von Bedeutung, welcher seine Verwerfung der substantiellen 
Träger für psychische wie physische Zustände so oft und 
unumwunden ausgesprochen hätte wie Th. Fechner. In seiner 
Psychophysik und in seiner Atomenlehre und in anderen 
seiner Schriften tritt die Polemik dagegen bald ernst bald 
launig auf. Aber nichtsdestoweniger bekennt er unumwunden 
seinen Glauben an die Unsterblichkeit. Und so zeigt es sich 
denn , dass , wenn einer die metaphysische Ansicht annähme^ 
welche neuere Denker dazu bewog, die Begriffsbestimmung 
der Psychologie als Wissenschaft von den psychischen Phäno-^ 
menen an die Stelle der älteren, als Wissenschaft von der 
Seele, treten zu lassen, auch nach dieser Seite keine Ver- 
engung des Gebietes, und überhaupt kein wesentlicher Nach- 
theil für die Psychologie sich ergeben würde. 

Doch ohne eingehende metaphysische Untersuchung diese 
Ansicht annehmen scheint ebenso unstatthaft als sie unge- 
prüft verwerfen. Wenn angesehene Männer die substantielle» 
Träger der Erscheinungen anzweifeln und leugnen, so standen 
und stehen ihnen andere grosse Namen entgegen, welche an 
ihnen festhalten. Mit Aristoteles und Leibnitz stimmt hier 



>) Examination of Sir W. Hamilton's Philosophy Ch. XII. „Was die- 
Unsterblichkeit angeht, so ist es eben so leicht zu denken, dass eine 
Kette von Thatsachen des Bewusstseins sich in*s Unendliche verlänger» 
könne, als zu denken, dass eine Substanz immerdar fortfahre zu 
existiren; und ein Beweis, der für die eine Theorie gut ist, wird es- 
auch für die andere sein." 



Capitel 1. Begriff und Aufgabe. 23 

H. Lotze und selbst unter den englischen Empirikern unserer 
Tage Herbert Spencer zusammen ^). Und dass das Aufgeben 
der Substanz als Trägers der Erscheinungen namentlich auf 
psychischem Gebiete nicht frei von Schwierigkeit und Dunkel 
sei, hat in seiner Schrift gegen Hamilton*) selbst J. St. Mill 
mit der ihm eigenen Offenheit anerkannt. Wenn also die neue 
Begriffsbestimmung der Psychologie ebenso untrennbar mit 
der neuen, wie die ältere mit der älteren metaphysischen Lehre 
zusammenhinge, so würden wir entweder nach einer dritten 
zu forschen oder in die geftirchteten Abgründe der Metaphy- 
sik hinabzusteigen uns genöthigt sehen. 

Zum Glück ist das Gegentheil der Fall. Die neue Er- 
klärung des Namens Psychologie enthält nichts, was nicht 
auch von den Anhängern der älteren Schule angenommen 
werden mtisste. Denn mag es eine Seele geben oder nicht, 
die psychischen Erscheinungen sind ja jedenfalls vorhanden. 
Und der Anhänger der Seelensubstanz wird nicht leugnen, dass 
alles, was er in Bezug auf die Seele feststellen könne, auch 
eine Beziehung zu den psychischen Erscheinungen habe. Es 
steht also nichts im Wege, wenn wir, statt der Begriflfs- 
bestimmung der Psychologie als Wissenschaft von der Se^le, 
die jüngere uns eigen machen. Vielleicht sind .beide richtig. 
Aber der Unterschied bleibt dann bestehn, dass die eine 
metaphysische Voraussetzungen enthält, von welchen die andere 
frei ist, dass diese von entgegengesetzten Schulen anerkannt 
wird, während die erste schon die besondere Farbe einer 
Schule an sich trägt, dass also die eine uns allgemeiner 
Voruntersuchungen enthebt, zu welchen die andere uns ver- 
pflichten würde. Und indem so die Annahme der jüngeren 
Fassung uns die Arbeit vereinfacht, gewährt sie noch einen 
anderen Vortheil als den der Erleichterung der Aufgabe. Jede 
Ausscheidung einer gleichgültigen Frage ist als Vereinfachung 
auch Verstärkung. Sie zeigt die Ergebnisse der Forschung 
von wenigeren Vorbedingungen abhängig und fuhrt so mit 
grösserer Sicherheit zur Ueberzeugung hin. 



*) Vgl. seine First Principles. 

») Exaro. of Sir W. Kam. Philos. Ch. XII. 



24 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

Wir erklären also in dem oben angegebenen Sinne die 
Psychologie für die Wissenschaft von den psy- 
chischen Erscheinungen. Die vorausgegangenen Er- 
örterungen scheinen geeignet, eine solche Begriffsbestimmung 
der Hauptsache nach deutlich zu machen. Was in dieser 
Hinsicht noch fehlt, wird die spätere Untersuchung über den 
Unterschied der psychischen und physischen Phänomene er- 
gänzen. 

§. 3. Wenn Jemand das Werthverhältniss des hier um- 
schriebenen Wissensgebietes gegenüber dem der Naturwissen- 
schaft feststellen und dabei einzig und allein den Maassstab 
der Theilnahme anlegen wollte, welche die eine und andere 
Forschung heutzutage zu finden pflegt, so würde die Psy- 
chologie wohl tief in den Schatten gestellt erscheinen. Anders 
dagegen, wenn einer die Ziele, welche die eine, und die, 
welche die andere Wissenschaft verfolgt, vergleichend ins 
Auge fasst. Wir haben gesehen, von welcher Art die Er- 
kenntniss ist, welche der Naturforscher zu erringen vermag. 
Die Phänomene des Lichtes, des Schalles, der Wärme, des 
Ortes und der örtlichen Bewegung, von welchen er handelt, 
sind nicht Dinge, die wahrhaft und wirklich bestehen. 
Sie sind Zeichen von etwas Wirklichem, was durch seine Ein- 
wirkung ihre Vorstellung erzeugt. Aber sie sind desshalb kein 
entsprechendes Bild dieses Wirklichen, und geben von ihm 
nur in sehr unvollkommenem Sinne Kenntniss. Wir können 
sagen, es sei etwas vorhanden, was unter diesen und jenen 
Bedingungen Ursache dieser und jener Empfindung werde; 
wir können auch wohl nachweisen, dass ähnliche Verhält- 
nisse wie die, welche die räumlichen Erscheinungen, die 
Grössen und Gestalten zeigen, darin vorkommen müssen. 
Aber dies ist dann auch Alles. An und für sich tritt das, 
was wahrhaft ist, nicht in die Erscheinung, und das, was er- 
scheint, ist nicht wahrhaft. Die Wahrheit der physischen 
Phänomene ist, wie man sich ausdrückt, eine bloss relative 
Wahrheit. 

Anderes gilt von den Phänomenen der inneren Wahr- 
nehmung. Diese sind wahr in sich selbst. Wie sie er- 



Capitel 1. Begriff und Aufgabe. 25 

scheinen, — dafür bürgt die Evidenz, mit der sie wahrge- 
nommen werden — so sind sie auch in Wirklichkeit. Wer 
könnte also leugnen, dass hierin ein grosser Vorzug der 
Psychologie vor der Naturwissenschaft zu Tage trete? 

Noch in einer andern Hinsicht ist der hohe theoretische 
Werth der psychologischen Erkenntniss einleuchtend. Nicht 
bloss mit der Weise der Erkennbarkeit, auch mit der Würde 
des Gegenstandes wächst die Würde der Wissenschaft. Und 
die Erscheinungen, deren Gesetze der Psychologe erforscht, 
zeichneu sich nicht allein dadurch vor den physischen aus, 
dass sie in sich selbst wahr und wirklich sind, auch an 
Schönheit und Erhabenheit sind sie unvergleichlich ihnen 
überlegen. Der Farbe und dem Klange, der Ausdehnung 
und Bewegung steht hier die Empfindung und Phantasie, 
das Urtheil und der Willen entgegen, mit all der Grossartig- 
keit, zu welcher sie sich in den Ideen des Künstlers, in der 
Forschung des grossen Denkers und in der Selbsthingabe des 
Tugendhaften entfalten. Hier also zeigt sich in neuer Weise, 
wie die Angabe des Psychologen der des Naturforschers ge- 
genüber die höhere ist. 

Auch das ist richtig, dass das uns Eigene mehr als das 
Fremde auf unsere Theilnahme Anspruch macht. Die Ord- 
nung und Entstehung unseres Sonnensystems sind wir mehr 
als die einer fernen Gruppe himmlischer Gestirne zu erkennen 
begierig. Die Geschichte unseres Landes und unserer Väter 
zieht mehr unsere Aufmerksamkeit auf sich als die eines 
Volkes, zu welchem engere Beziehungen uns fehlen. Und 
auch dies ist ein Grund, welcher der Wissenschaft von den 
psychischen Phänomenen überwiegenden Werth verleiht. Denn 
sie sind das, was uns am Meisten eigen ist. Manche Philo- 
sophen haben das Ich geradezu als eine Gruppe psychischer 
Phänomene, andere als den substantiellen Träger einer solchen 
Gruppe bezeichnet. Und der gemeine Sprachgebrauch sagt 
von den physischen Veränderungen, dass sie ausser uns, 
von den psychischen, dass sie in uns stattfinden. 

Das sind sehr einfache Betrachtungen, die Jeden leicht 
von der hohen theoretischen Bedeutung des psychologischen 



26 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

Erkenntnissgebietes überzeugen können. Aber auch an prak- 
tischer Wichtigkeit — und das ist, was vielleicht mehr ver- 
wundern dürfte — stehen ihre PVagen den Fragen, welche 
die Naturwissenschaft beschäftigen, nicht nach. Ja auch in 
dieser Hinsicht ist schwerlich ein anderer Wissenszweig ihr 
gleichzustellen, wenn er nicht etwa insofern auf dieselbe Be- 
achtung Anspruch hat, als er, damit man zu ihr sich er- 
schwinge, als unentbehrliche Sprosse benützt werden muss. 

Nur ganz flüchtig weise ich darauf hin, wie in der Psy- 
chologie die Wurzeln der Aesthetik liegen, die unfehlbar bei 
vollerer Entwickelung das Auge des Künstlers klären und 
seinen Fortschritt sichern wird. Auch das sei nur mit einem 
Worte berührt, dass die wichtige Kunst der Logik, von der 
ein Fortschritt tausend Fortschritte in der Wissenschaft zur 
Folge hat, in ganz ähnlicher Weise aus der Psychologie ihre 
Nahrung zieht. Aber die Psychologie hat auch die Aufgabe, 
die wissenschaftliche Grundlage einer Erziehungslehre, des 
Einzelnen wie der Gesellschaft, zu werden. Mit Aesthetik 
und Logik erwachsen auch Ethik und Politik auf ihrem 
Felde. Und so erscheint sie als Grundbedingung des Fort- 
schrittes der Menschheit gerade in dem, was vor Allem ihre 
Würde ausmacht. Ohne Anwendung der Psychologie wird 
die Fürsorge des Vaters sowohl als die des staatlichen Len- 
kers ein unbeholfenes Tasten bleiben. Und da bisher noch 
niemals in einer gründlichen Weise psychologische Lehrsätze 
auf staatlichem Gebiete zur Anwendung gekommen sind, ja 
da die Hirten der Völker fast ausnahmslos in voller Un- 
kenntniss über sie sich befunden haben, so dürfte man wohl 
mit Piaton und mit manchem Denker auch unserer Tage 
sagen, dass, so hoher Kuhm auch einzelnen zu Theil wurde, 
ein eigentUch grosser Staatsmann noch nie in der Geschichte 
aufgetreten ist. Hat es doch auch vor einer gründlichen 
Anwendung der Physiologie in der Heilkunst an berühmten 
Aerzten keineswegs gefehlt, und grosses Vertrauen haben sie 
errungen, und staunenswerthe Curen werden von ihnen be- 
richtet. Aber dass es vor mehr als etlichen Decennien einen 
wirklich grossen Arzt gegeben habe, das wird darum nicht 



Capitel J . Begriff und Aufgabe. 27 

weniger jeder Kenner der Medicin heute als etwas Unmög- 
liches verneinen. Si6 waren alle blinde Empiriker, mehr 
oder minder geschickt, und mehr oder minder vom Glücke 
begünstigt. Aber was ein einsichtiger und gebildeter Arzt 
sein soll, das waren sie nicht, das konnten sie nicht sein. 
Aehnliches wird denn auch bis zum heutigen Tage von unseren 
Staatsmännern gelten müssen. Und wie sehr auch sie blosse 
blinde Empiriker sind, das zeigt sich jedesmal, wenn ein 
ausserordentliches Ereigniss plötzlich die politische Sachlage 
ändert, und deutlicher noch, wenn einer in ein fremdes Land 
mit fremden Verhältnissen verpflanzt wird. Von ihren em- 
pirisch erworbenen Maximen verlassen, zeigen sie sich dann 
völlig unfähig und rathlos. 

Wie viele Uebelstände könnten nicht, wie beim Einzel- 
nen so in der Gesellschaft, beseitigt werden bald durch eine 
richtige psychologische Diagnose bald durch die Erkenntniss 
der Gesetze, nach welchen ein psychischer Zustand sich ver- 
ändern lässt! Was für einen geistigen Kraftzuwachs würde 
nicht schon dadurch allein die Menschheit erlangen, wenn die 
letzten psychischen Grundbedingungen der verschiedenen An- 
lagen, zum Dichter, zum Forscher, zum praktisch tüchtigen 
Manne, durch psychologische Analyse mit Sicherheit und 
Vollständigkeit ermittelt wären, so dass man den Baum nicht 
erst an den Früchten, sondern schon an dem ersten aufkeimenden 
Blättchen erkennen und sofort in eine Lage, die seiner Natur 
entspricht, versetzen könnte! Denn jene Leistungen selbst 
sind sehr zusammengesetzte Erscheinungen und späte Er- 
gebnisse von Kräften, deren ursprüngliches Wirken in der 
That von vorn herein so wenig das spätere, wie die Gestalt 
des ersten Keimblättchens die der Frucht des Baumes 
ahnen lässt. Dabei bleibt aber der Zusammenhang in 
dem einen wie im andern Falle in gleicher Weise ein gesetz« 
massiger, und was dort die Botanik, müsste darum hier eine 
genügend entwickelte Psychologie in ähnlicher Weise voraus- 
sagen können. So also und in tausendfach anderer Weise 
noch würde ihr Einfluss der segensreichste werden. Und sie 
allein würde vielleicht im Stande sein, die Mittel gegen jenen 



28 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

Verfall an die Hand zu geben, durch den wir von Zeit zu 
Zeit eine sonst , stetig aufsteigende Entwickelung der Cultur 
in trauriger Weise unterbrochen sehen. Man hat längst und 
mit Kecht bemerkt, dasis die oft gebrauchten metaphorischen 
Ausdrücke „gealterte Nation", „gealterte Civilisation" nicht 
eigentlich treffend seien, da, während der Organismus sich 
nur unvollkommen erneuere, die Gesellschaft in jedem folgen- 
den Geschlechte vollkommen sich verjünge; nur von Krank- 
heiten der Völker und Zeiten dürfe man reden. Aber es 
sind dies Krankheiten, die bisher immer periodisch aufge- 
treten sind und wegen mangelnder Kunst der Aerzte regel- 
mässig zum Tode führten, so dass, wie auch immer die 
eigentlich wesentliche Verwandtschaft fehlen mag, die Aehn- 
lichkeit der äusseren Erscheinung mit der des Alterns un- 
leugbar ist. 

Man sieht, dass ich der psychischen Wissenschaft keine 
geringen praktischen Aufgaben stelle. Aber ist es denkbar, 
dass sie wirklich jemals auch nur Annäherndes leisten werde ? 
Der Zweifel daran scheint wohlgegründet. Ja dadurch, dass 
sie bis heute und durch Jahrtausende hindurch so viel wie 
nichts dafür geleistet hat, möchte Mancher sich zu dem 
sichern Schluss berechtigt glauben, dass sie die praktischen 
Interessen der Menschheit auch in alle Zukunft wenig för- 
dern werde. 

Allein die Antwort auf diesen Einwurf liegt nicht fem. 
Sie ergibt sich aus einer einfachen Erwägung der Stellung, 
welche die Psychologie in der Reihe der Wissenschaften ein- 
nimmt. 

Die allgemeinen theoretischen Wissenschaften bilden eine 
Art Scala, bei welcher jede höhere Stufe auf der Grundlage 
der niederen sich erhebt. Die höherstehende Wissenschaft 
betrachtet mehr verwickelte, die niedere einfachere Phäno- 
mene, und diese gehen mit in jene Verwickelung ein. So 
hat der Fortschritt der höherstehenden natürlich den der 
niederen Wissenschaft zur Voraussetzung, und jene wird da- 
her selbstverständlich, abgesehen von gewissen schwachen 
empirischen Vorbereitungen, später als diese zur Entwickelung 



I Capitel 1. BegriiF uud Aufgabe. 29 

gelangen. In jenen Zustand der Reife insbesondere, in wel- 
chem sie sich für die Bedürfnisse des Lebens fruchtbar er- 
weisen kann, wird sie nicht gleichzeitig mit ihr treten können. 
So sah man die Mathematik schon lange in praktischer An- 
wendung verwerthet, während die Physik noch immer schlum- 
mernd in der Wiege lag und nicht das geringste Zeichen 
von der später so glänzend bewährten Befähigung gab, den 
Bedürfiiissen und Wünschen des Lebens dienstbar zu werden. 
Und wiederum war die Physik schon lange zu Ansehen und 
mannigfacher Verwendung gelangt, als die Chemie durch 
Lavoisier den ersten festen Punkt entdeckte, auf den sie 
nach wenigen Decennien sich stützte, um, wenn nicht die 
Erde, doch den Anbau der Erde und mit ihm so manche' 
andere Sphäre praktischer Thätigkeit aus den Angeln zu 
heben. Wiederum hatte die Chemie schon manches schöne 
Ergebniss erzielt, während die Physiologie noch nicht zum 
Leben erwacht war. Und man braucht nicht viele Jahre 
rückwärts ^u zählen, um für sie die Anfänge einer erfreu- 
licheren Entwickelung zu finden, an die sich dann ebenfalls 
sofort Versuche für eine praktische Verwerthung knüpften; 
unvollkommen vielleicht, aber immerhin bereits genügend 
um zu zeigen, dass nur von ihr eine Wiedergeburt der 
Heilkunst zu erwarten ist. Dass die Physiologie so spät sich 
entwickelte, erklärt sich leicht. Sind doch ihre Phänomene 
viel zusammengesetzter als die der früheren Wissenschaften 
und stehen in Abhängigkeit von ihnen, wie die der Chemie 
zu denen der Physik und die der Physik zu denen der Ma- 
thematik selbst wieder im Abhängigkeitsverhältnisse stehen. 
Aber eben so leicht wird es sich dann begreifen lassen, warum 
die Psychologie bisher keine reicheren Früchte trug. W^ie 
die physicalischen Phänomene unter dem Einflüsse der mathe- 
matischen Gesetze, die chemischen unter dem Einflüsse der 
physicalischen, und die der Physiologie unter dem Einflüsse 
von ihnen allen stehen: so sind wieder die psychologischen 
Phänomene von den Gesetzen der Kräfte beeinflusst, welche 
ihnen die Organe bilden und erneuern. W^er also auch gar 
nichts von dem Zustande der bisherigen Psychologie durch 



30 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

unmittelbare Erfahrung wtlsste und nur die Geschichte der 
anderen theoretischen Wissenschaften und das jugendliche 
Alter der Physiologie, ja selbst der chemischen Wissenschaft 
kennte, der würde, ohne in psychologischen Dingen Skeptiker 
zu sein, mit Sicherheit behaupten können, dass die Psycho- 
logie noch nichts oder doch nur äusserst Weniges geleistet und 
höchstens erst in neuester Zeit einen Ansatz zu kräftigerer 
Entwickelung gezeigt haben werde. Dass die wesentlichsten 
Früchte, die sie etwa für das praktische Leben tragen kann, 
alle erst einer späteren Zeit angehörten, wäre hierin mit aus- 
gesprochen. So würde er denn, wenn er dann die Augen auf 
die Geschichte der Psychologie richtete, in ihrer bisherigen 
Unfruchtbarkeit nichts Anderes sehen, als was er erwartet 
hätte, und in keiner Weise zu einem ungünstigeren Urtheil 
über ihre künftigen Erfolge sich veranlasst jänden. 

Wir sehen, der bisherige zurückgebliebene Zustand der 
Wissenschaft erscheint als Nothwendigkeit , auch wenn die 
Möglichkeit einer späteren reichen Entwickelung nicht be- 
zweifelt wird. Und dass diese Möglichkeit besteht, beweist 
der glückliche, wenn auch schwache Anfang, den sie 
bereits wirklich genommen hat. Wird einmal ein gewisses 
Maass möglicher Entwickelung erreicht sein, so werden aber 
auch praktische Folgen nicht ausbleiben. Beim Einzelnen 
und mehr noch bei Massen, bei welchen unberechenbare 
hemmende und fördernde Umstände ihre Ausgleichung finden, 
werden die psychologischen Gesetze eine sichere Grundlage 
des Handelns bilden. 

Hienach dürfen wir mit aller Zuversicht hoffen, dass 
es an Beidem, sowohl an der inneren Ausbildung als an 
der segensreichen Anwendung der Psychologie, nicht inmier 
fehlen werde. Sind doch die Bedürfnisse, welchen sie ge- 
nügen soll, nachgerade drängend geworden. Die zerrütteten 
socialen Zustände schreien mehr als Unvollkommenheiten in 
Schifffahrt und Bahnverkehr, in Ackerbau und Gesundheits- 
pflege mit lauter Stimme nach Abhülfe. Die Fragen, denen 
sich ein freies Interesse vielleicht in geringerem Maasse zu- 
gewandt haben würde, erzwingen sich die allgemeine Theil- 



Capitel 1. Begriff und Aufgabe. 31 

nähme. Viele haben bereits hier die wesentlichste Aufjgabe 
unserer Zeit erkannt. Und mancher bedeutende Forscher 
ist zu nennen, der zu diesem Zwecke mit der Erforschung 
der psychischen Gesetze und mit Untersuchungen über die 
Methode der Ableitung und Sicherung praktisch zu verwer- 
thender Folgerungen sich beschäftigt. 

Es kann unmöglich die Aufgabe der Nationalökonomie 
sein, die eingetretene Verwirrung zu schlichten und den mehr 
und mehr im Wechselkampfe der Interessen verlorenen Frieden 
in die Gesellschaft zurückzuführen. Sie ist mit dabei bethei- 
ligt, aber ihr fällt nicht das Ganze noch auch der vorzüg- 
liche Theil der Aufgabe zu. Aber doch kann auch die wach- 
sende Theilnahme, welche dieser praktischen Disciplin ge- 
schenkt wird, mit Zeugniss geben für das Gesagte. J. St. 
Mill hat in der Einleitung zu seinen Grundsätzen der Natio- 
nalökonomie ihr Verhältniss zur Psychologie berührt. Die 
Unterschiede hinsichtlich der Hervorbringung und Verthei- 
lung des Vermögens bei verschiedenen Völkern und zu ver- 
-schiedenen Zeiten, sagt er, hätten theils in Unterschieden 
physicalischer Kenntniss ihren Grund, theils aber hätten 
sie psychologische Ursachen. „Insoweit die wirthschaftliche 
Lage der Nationen auf den2ustand physicalischer Kenntnisse 
sich bezieht", fährt er fort, „ist sie Gegenstand der Natur- 
wissenschaften und der darauf begründeten Künste. Insoweit 
aber die Ursachen moralischer oder psychologischer Art sind, 
von Maassregeln und gesellschaftlichen Verhältnissen oder 
von Principien der menschlichen Natur abhängen, gehört ihre 
Untersuchung nicht der Naturwissenschaft, sondern der Ethik 
und Gesellschaftswissenschaft an und ist Gegenstand der po- 
litischen Oekonomie oder der Volkswirthschaft." 

So scheint es denn unzweifelhaft, dass die Zukunft, und 
bis zu einem gewissen Grade vielleicht eine nicht allzuferne 
Zukunft, der Psychologie einen bedeutenden Einfluss auf das 
praktische Leben gestatten werde. Wir könnten sie, wie 
auch Andere es gethan, in diesem Sinne als die Wissen- 
schaft der Zukunft bezeichnen, als diejenige nämlich, der 
vor allen anderen theoretischen Wissenschaften die Zukunft 



32 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

gehört, die mehr als alle die Zukunft gestalten, und der 
alle in ihret praktischen Verwendung sich in Zukunft unter- 
ordnen und dienen werden. Denn dieses wird die Stellung 
der Psychologie sein, wenn sie einmal erwachsen und zum 
thätigen Eingreifen befähigt ist. Aristoteles nannte die Po« 
litik die baumeisterliche Kunst, der alle anderen handlangend 
dienen. Die Staatskunst aber, um das zu sein, was sie sein 
soll , muss , wir haben es gesehen , ebenso den I^ehren der 
Psychologie, wie geringere Künste den Naturwissenschaften, 
ihr Ohr leihen. Ihre Lehre wird, ich möchte sagen, nur 
eine veränderte Zusammenordnung und weitere Fortent- 
wickelung psychologischer Sätze zur Erzielung eines prak- 
tischen Zweckes sein. 

Wir haben ein Vierfaches hervorgehoben, was geeignet 
schien, die vorzügliche Bedeutung der psychischen Wissen- 
schaft darzuthun: die innere Wahrheit, so wie die Erhaben- 
heit ihrer Phänomene, die besondere Beziehung dieser Phä- 
nomene zu uns, und endlich die praktische Wichtigkeit der 
sie beherrschenden Gesetze. Hiezu kommt aber noch das 
besondere und unvergleichliche Interesse, welches ihr eigen 
ist, insofern sie uns über unsere Unsterblichkeit belehrt und 
hiedurch in einem neuen Sinne die Wissenschaft der Zukunft 
wird. Der Psychologie fällt die Frage über die HoflEnung 
auf ein Jenseits und auf die Theilnahme an einem. vollen- 
deteren Weltzustande zu. Sie hat, wie bemerkt, früh schon 
Versuche gemacht, die dahin zielten, und nicht alles, was 
sie in dieser Richtung unternahm, scheint ohne Erfolg ge- 
blieben. Sollte dieses wirklich der Fall sein , so hätten wir 
hier ohne Zweifel ihre höchste theoretische Leistung, die so- 
wohl selbst wieder von den grössten praktischen Folgen wäre, 
als auch ihren übrigen theoretischen Leistungen neuen Werth 
verleihen würde. Von allem dem, wofür die Gesetze der 
Naturwissenschaft gelten, scheiden wir, wenn wir das Dies- 
seits verlassen. Die Gesetze der Gravitation, die Gesetze 
des Schalles, des Lichtes und der Electricität schwinden 
uns mit den Erscheinungen, für welche die Erfahrung sie 



Capitel 1. Begriff und Aufgabe. 33 

festgestellt hat. Die psychischen Gesetze dagegen gelten 
dort wie hier für unser Leben, so weit dasselbe unsterblich 
fortbesteht. 

Wohl mit Recht hat darum schon Aristoteles im Anfange 
seiner Schrift ^ber die Seele die Psychologie über die andern 
Wissenschaften erhoben, obwohl er dabei ausschliesslich auf 
ihre theoretischen Vorzüge Acht hatte. „Wenn wir", sagt er, 
„zu dem, was edel und ehrwürdig ist, das Wissen rechnen; 
mehr aber das eine als das andere, sei es, weil seine Schärfe 
grösser, sei es, weil sein Gegenstand erhabener und wunder- 
barer ist: so möchten wir wohl aus beiden Gründen die Er- 
kenntniss der Seele mit Fug zu den vorzüglichsten Gütern 
zählen." Dass hier Aristoteles auch der Schärfe nach die 
Psychologie andern Wissenschaften überlegen nennt, mag 
freilich Wunder nehmen. Ihm hängt die Schärfe der Er- 
kenntniss mit der Un Vergänglichkeit des Gegenstandes zu- 
sammen. Das stetig und allseitig Wechselnde entzieht sich 
nach ihm der wissenschaftlichen Forschung; das, was am 
Meisten bleibt, hat am Meisten bleibende Wahrheit. Wie 
dem aber auch sei, eine bleibender bedeutende Wahrheit 
wenigstens haben den Gesetzen, die der Psychologe feststellt, 
auch wir nicht absprechen können. 



Brentano, Psychologie. I. 



Zweites Capitel. 

lieber die Methode der Psychologie, insbesondere die 
Erfahrung, welche ffir sie die Grundlage bildet 

§. 1. Die Methode der Psychologie ist der Gegenstand 
einer ganz vorzüglichen Aufmerksamkeit geworden. Und in 
der That darf man sagen, dass in dieser Hinsicht keine an- 
dere unter den allgemeinen theoretischen Wissenschaften so 
merkwürdig und lehrreich sei als sie auf der einen und die 
Mathematik auf der andern Seite. 

Beide verhalten sich zu einander wie entgegengesetzte 
Pole. Die Mathematik betrachtet die einfachsten, unabhän- 
gigsten, die Psychologie die abhängigsten und verwickeltsten 
Phänomene. Die Mathematik zeigt darum in fasslicher Klar- 
heit die Grundcharaktere jedes wahrhaft wissenschaftlichen 
Forschens. Nirgends kann man besser die erste deutliche 
Anschauung von Gesetz, Ableitung, Hypothese und vielen 
andern wichtigen logischen Begriffen gewinnen als bei ihr. 
Und es war ein Zug des Genies, wenn Pascal zur Mathe- 
matik sich wandte, um bessere Einsicht in gewisse Grund- 
begriffe der Logik sich zu verschaffen und, Wesentliches von 
Unwesentlichem scheidend, die hier entstandene Verwirrung 
zu lösen. Die Psychologie auf der andern Seite zeigt allein 
den ganzen Reichthum, zu welchem die wissenschaftliche 
Methode sich entfaltet, indem sie den mehr und mehr ver- 
wickelten Erscheinungen der Reihe nach sich anzupassen 



Capitel 2. Die Erfahrungsgrundlage der Psychologie. 35 

sucht. Beide zusammen werfen ein helles Licht auf alle 
Weisen der Forschung, die in den vermittelnden Wissensge- 
bieten zur Anwendung kommen. Der Unterschied, den jede 
folgende gegen die vorangegangene zeigt, und der Grund ihrer 
abweichenden Eigenthtimlichkeit, das Wachsen der Schwierig- 
keit im Verhältniss zur grösseren Verwicklung der Phänomene, 
aber auch das gleichzeitige Wachsen der Hülfsmittel, welches 
in gewissem Maasse wenigstens der Zunahme der Schwierigkeit 
das Gleichgewicht hält, — das alles tritt natürlich am Deut- 
lichsten dann hervor, wenn man das erste und letzte Glied 
der fortlaufenden Kette vergleichend einander gegenüber- 
stellt. 

Freilich würde die Fülle des Lichtes eine grössere sein, 
wenn die Methode der Psychologie in sich selbst klarer er- 
kannt und voUkommner ausgebildet wäre. Und in dieser 
Hinsicht bleibt noch Vieles zu thun übrig, da mit dem Fort- 
schreiten der Wissenschaft auch das wahre Verständniss ihrer 
Methode sich erst mehr und mehr entwickelt. 

§. 2. Die Grundlage der Psychologie wie der Natur- 
wissenschaft bilden Wahrnehmung und Erfahrung. Und zwar 
ist es vor Allem die innere Wahrnehmung der eigenen 
psychischen Phänomene, welche für sie eine Quelle wird. 
Was eine Vorstellung, was ein ürtheil, was Freude und Leid, 
Begierde und Abneigung, Hoffnung und Furcht, Muth und 
Verzagen, was ein Entschluss und eine Absicht des Willens 
sei, davon würden wir niemals eine Kenntniss gewinnen, 
wenn nicht die innere Wahrnehmung in den eignen Phäno- 
menen es uns vorführte. 

Man merke aber wohl, wir sagten innere Wahrneh- 
mung, nicht innere Beobachtung sei diese erste und un- 
entbehrliche Quelle. Beides ist wohl zu unterscheiden. Ja 
die innere Wahrnehmung hat das Eigenthüraliche , dass sie 
nie innere Beobachtung werden kann. Gegenstände, die man, 
wie man zu sagen pflegt, äusserlich wahrnimmt, kann man 
beobachten; man wendet, um die Erscheinung genau aufzu- 
fassen, ihr seine volle Aufmerksamkeit zu. Bei Gegenständen, 



36 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

die man innerlich wahrnimmt, ist dies aber vollständig un- 
möglich. Dies ist insbesondere bei gewissen psychischen 
Phänomenen, wie z. B. bein^ Zorne unverkennbar. Denn wer 
den Zorn, der in ihm glüht, beobachten wollte, bei dem wäre 
er offenbar bereits gekühlt, und der Gegenstand der Beobach- 
tung verschwunden. Dieselbe Unmöglichkeit besteht aber 
auch in allen andern Fällen. Es ist ein allgemein gültiges 
psychologisches Gesetz, dass wir niemals dem Gegenstande 
der innem Wahrnehmung unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden 
vermögen. Wir werden später uns eingehend damit zu be- 
schäftigen haben; für jetzt genüge der Hinweis auf die Er- 
fahrung, die jeder Unbefangene an sich selber macht. Auch 
die Psychologen, welche eine innere Beobachtung für möglich 
halten, heben sämmtlich wenigstens ihre ausserordentliche 
Schwierigkeit hervor. Und hierin liegt wohl das Zugeständ- 
niss, dass eine solche auch ihnen in den meisten Fällen nicht 
gelungen ist. In den Fällen aber, in welchen sie ausnahms- 
weise sie gelungen glaubten, sind sie ohne Zweifel einer 
Selbsttäuschung verfallen. Nur während man mit seiner 
Aufmerksamkeit einem anderen Gegenstande zugewandt ist, 
geschieht es, dass auch die auf ihn bezüglichen psychischen 
Vorgänge nebenbei zur Wahrnehmung gelangen. So kann 
die Beobachtung der physischen Phänomene in der äusseren 
Wahrnehmung, indem sie für die Erkenntniss der Natur uns 
Anhaltspunkte gibt, zugleich ein Mittel psychischer Erkennt- 
niss werden. Und die Hinwendung der Aufmerksamkeit auf 
die physischen Phänomene in der Phantasie ist sogar, wenn 
nicht ausschliesslich, doch jedenfalls zunächst und hauptsäch- 
lich für psychische Gesetze die Erkenntnissquelle. 

Nicht ohne Grund heben wir diesen Unterschied zwischen 
innerer Wahrnehmung und innerer Beobachtung hervor und 
betonen mit Nachdruck, dass die eine, nicht aber ebenso die 
andere bei den in uns bestehenden psychischen Phänomenen 
statthaben könne. Denn bis jetzt hat dies, meines Wissens, 
noch kein Psychologe gethan, und die nachtheiligen Folgen, 
welche sich an eine solche Vermischung und Verwechslung 
knüpften, waren beträchtlich. Ich weiss Beispiele von jungen 



Capitel 2. Die Erfalirongsgrundlage der Psychologie. 37 

Leuten, die, im Begriffe mit dem Studium der Psychologie 
sich zu beschäftigen, an der Schwelle der Wissenschaft an 
der eigenen Befähigung verzweifeln wollten. Man hatte sie 
auf die innere Beobachtung als die vorzüglichste Quelle 
psychologischer Erkenntniss hingewiesen. Sie hatten sie ver- 
sucht, sie hatten angestrengt sich darum gemüht und waren 
wiederholt dazu zurückgekehrt; aber ganz vergeblich hatten 
sie sich gequält, ein Taumel verworrener Ideen und ein müder 
Kopf waren das Einzige, was sie davontrugen. So kamen 
sie denn zu dem allerdings richtigen Schlüsse, dass sie zur 
Selbstbeobachtung keine Fähigkeit besässen, und hieran 
knüpfte sich ihnen, vermöge der ihnen beigebrachten Meinung, 
der Glauben, dass es ihnen für psychologische Forschung an 
Begabung fehle. 

Andere, die nicht in dieser Weise, wie durch einen Po- 
panz zurückgeschreckt, im Weiterschreiten aufgehalten wurden, 
kamen zu anderen Irrthümem. Viele fingen an, physische 
Phänomene, wie namentlich alle diejenigen, welche unsjii 
der Phantasie erscheinen, für psychische zu nehmen unB 
so das Heterogenste bunt durcheinander zu werfen. Die 
vorausgehenden Bemerkungen über den Vortheil, welchen 
die Psychologie aus der aufmerksamen Betrachtung der Phan- 
tasiegebilde zieht , lassen diesen Missgriflf begreiflich erschei- 
nen. Aber so lange er ohne Berichtigung blieb, konnte 
natürlich weder die Classification der psychischen Phänomene 
gehngen, noch der Versuch einer Feststellung der Eigen- 
thümlichkeiten und Gesetze für die einzelnen Classen einen 
befriedigenden Erfolg haben. Mit der Verwirrung hinsichtlich 
der Phänomene hingen dann nothwendig weitere Unordnungen 
zusammen, und so konnte es geschehen, dass das angebliche 
Feld der Beobachtungen oft zum Tummelplatze willkürlicher 
Einfälle wurde. Fortlage in seinem „System der Psychologie 
al^mpirischer Wissenschaft aus der Beobachtung des inneren 
Sinnes", aber keineswegs er allein, liefert hiefür reiche Be- 
lege. Und ganz richtig ist, was Lange in seiner Geschichte 
des Materialismus über ihn bemerkt: „Zuerst macht er sich 
den inner n Sinn zurecht, dem er eine Reihe von Functionen 



38 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

zuschreibt, die sonst dem äusseren Sinn zugeschrie- 
ben wurden; dann steckt er sich sein Beobachtungsfeld 
ab" (indem er sagt, das Beobachtungsfeld der Psychologie 
sei der Mensch, [insofern er mit dem inneren Sinn wahrge- 
nommen werde) „und beginnt zu beobachten." Und die 
Kritik wird scharf, bleibt aber nicht ohne Wahrheit, wenn 
Lange fortfährt: „Man würde vergeblich einen Preis darauf 
setzen, wenn Jemand in den beiden dicken Bänden eine ein- 
zige wirkliche Beobachtung auftriebe. Das ganze Buch be- 
wegt sich in allgemeinen Sätzen mit einer Terminologie von 
eigener Erfindung, ohne dass je eine einzelne bestimmte Ei*schei- 
nung mitgetheilt wird, von welcher Fortlage angeben könnte, 
wann und wo er sie gehabt hätte, oder wie man es etwa 
machen müsste, um sie auch zu haben. Es wird uns ganz 
schön beschiieben, wie z. B. bei der Betrachtung eines 
Blattes, sobald man die Gestalt desselben auffallend findet, 
diese Gestalt zum Focus der Aufmerksamkeit wird , „wovon 
die nothwendige Folge ist , dass die der G estalt des Blattes 
nach dem Gesetz der Aehnlichkeit angeschmolzene Ge- 
staltscala dem Bewusstsein hell wird". Es wird uns ge- 
sagt, dass das Blatt nun „im Einbildungsraum in der Scala 
der Gestalten zergeht", aber wann , wie und wo dies einmal 
so begegnet ist, und auf welche Erfahrung sich eigentlich 
diese „empirische" Erkenntniss begründet, bleibt ebenso un- 
klar, als die Art und Weise, wie der Beobachter den „in- 
neren Sinn" anwendet, und die Beweise dafür, dass er sich 
eines solchen Sinnes bedient, und nicht etwa seine Einfälle 
und Erfindungen aufs Gerathewohl zum System krystallisiren 
lässt 1)." 

Solche Verirrungen, die keineswegs vereinzelt geblieben 
sind — war ja doch die innere Beobachtung der in uns 
gegenwärtigen psychischen Zustände bis zur Stunde ein fast 
aUgemein angenommenes Dogma der Psychologen — , führten 
auf anderer Seite zu einer Kritik dieses Begriffes. Man 
kam zur Einsicht, dass eine solche innere Beobachtung in 



>) Gesch. d. Mater. 1. Aufl. S. 466. 



r 



Capit^ 2. Die Erfahrungsgrundlage der Psychologie. 39 

Wahrheit gar nicht bestehe; aber indem man wiederum die 
Unterscheidung zwischen Beobachtung und Wahrnehmung 
vernachlässigte, leugnete man nun zugleich die Möglichkeit 
der inneren Wahrnehmung. 

Comte ist in diesen Fehler gefallen. „Illusorisch'' nennt 
er in seinem „Cours de Philosophie Positive" ^) die Psychologie, 
welche „den Anspruch erhebe, die Grundgesetze des mensch- 
lichen Geistes, indem sie ihn in sich selbst betrachte, zu 
entdecken". „Durch eine seltsame Spitzfindigkeit hat man in 
letzter Zeit zwei Arten von Beobachtung von gleicher Be- 
deutung unterscheiden wollen, eine äussere nämlich und 
eine innere Beobachtung, von welchen die letztere einzig der 
Untersuchung der intellectuellen Phänomene geweiht sein 
sollte. Ich muss mich hier darauf beschränken, nur einen 
Gedanken anzudeuten, der vor Anderem deutlich beweist, wie 
diese directe Betrachtung des Geistes durch sich selbst eine 
reine Illusion ist. Noch vor Kurzem glaubte man, das Sehen 
erklärt zu haben, indem man sagte, dass die Lichteinwirkung 
der Körper ein Gemälde von deren äusserer Gestalt und 
Farbe auf der Retina entwerfe. Und dagegen haben die Phy- 
siologen mit Recht eingewendet, dass wenn die Lichteindrücke 
wie Bilder wirkten, ein anderes Auge nöthig sein würde, 
um sie anzuschauen. Liegt aber nicht der gleiche Fall in 
noch verstärktem Maasse auch hier vor? In der That ist 
es offenbar, dass vermöge einer unabänderlichen Nothwendig- 
keit der menschliche Geist alle, nur nicht die eigenen Phä- 
nomene direct beobachten kann, fehlt es ja doch hier an 
dem, welcher die Beobachtung machen könnte." Hinsichtlich 
der moralischen Phänomene, meint Comte, könne man aller- 
dings geltend machen, dass die Organe, deren Function sie 
sind, von denen des Denkens verschieden seien, so dass bei 
ihnen nur der Umstand hinderlich werde, dass ein sehr aus- 
gesprochener Aflfect mit dem Zustande der Beobachtung sich 
nicht vertrage. „Was aber die Beobachtung eigner intellec- 
tueller Phänomene während ihres Verlaufes anlangt, so besteht 

• 

') Conrs de Philosophie Positive, 2. dd. Paris 1864, I, p. 30 ss. 



40 Buch T. Die Psychologie als Wissenschaft. 

dafür eine offenbare Unmöglichkeit. Das denkende Indivi- 
duum kann sich nicht in zwei zertheilen, von welchen das 
eine nachdenkt, während das andere es nachdenken sieht. 
Das Organ, welches beobachtet, und das, welches beobachtet 
wird, sind in diesem Falle identisch, wie könnte also die Be- 
obachtung stattfinden? Diese angebliche psychologische Me- 
thode ist also schon von der Wurzel aus nichtig in ihrem 
Principe. Und zu welchen ganz widersprechenden Weisen 
des Verfahrens wird man nicht allsogleich dadurch geführt! 
Auf der einen Seite wird man angewiesen, sich von jeder 
äusseren Wahrnehmung möglichst zu isoliren und insbesondere 
jede intellectuelle Arbeit sich zu untersagen ; denn was sollt«, 
wenn man sich auch nur mit dem einfachsten mathematischen 
Exempel beschäftigte, aus der inneren Beobachtung werden? 
Auf der andern Seite, wenn man endlich durch solcherlei 
Maassnahmen zu diesem Zustande vollkommenen intellectuellen 
Schlafes gelangt ist, soll man sich mit der Betrachtung der 
Thätigkeit^n abgeben, die sich im Geiste abspielen, wenn nichts 
mehr in ihm vorgeht. Unsere Nachkommen, ohne Zweifel, 
werden ein Unternehmen wie dieses zu ihrer Belustigung ein- 
mal auf die Bühne gebracht sehen." 

So verwirft denn Comte nicht bloss die innere Beobach- 
tung, deren Unmöglichkeit er richtig erkannt hat, wenn auch 
die Erklärung, die er davon gibt, von zweifelhaftem Werthe 
ist, sondern mit ihr zugleich und unterschiedslos auch die 
innere Wahrnehmung der eignen intellectuellen [Phänomene. 
Und was soll für sie einen Ersatz geben? „Ich schäme mich 
fast, es zu sagen," bemerkt St. Mill, wo er über ihn berich- 
tet, „es ist die Phrenologie!" Und leicht gelingt es seiner 
Kritik, zu zeigen, wie aus den Phänomenen, die sich uns 
äusserlich darbieten, eine Vorstellung von Urtheil oder Schluss 
nie hätte gewonnen werden können. Allein Mill ist seiner- 
seits dem, was Wahres in den Bemerkungen von Comte 
liegt, nicht vollkommen gerecht geworden; und so vermochte 
sein Ansehen nicht zu verhindern, dass die von ihm be- 
kämpfte Ansicht bei vielen seiner Landsleute Eingang fand. 
So verwirft z. B. auch Maudsley in seiner „Physiologie und 



Capitel 2. Die Erfiahrungsgnmdlage der Psychologie. 41 

Pathologie der Seele" das Selbstbewusstsein als eine Quelle 
psychologischer Erkenntniss. Und sein wesentlichster Grund 
ist das Ai^ument von Comte, auf welchen er auch ausdrück- 
lich hinweist^). Da Maudsley, hierin von dem französischen 
Denker abweichend, dieselben Nervencentren als den Sitz der 
moralischen wie intellectuellen Phänomene betrachtet, so hat 
bei ihm das Argument eine noch grössere Tragweite. Doch 
hält er nicht streng an den Consequenzen, die sich ergeben 
müssten, fest, und hie und da erkennt er dem Zeugnisse des 
Selbstbewusstseins (welches er eigentlich ganz leugnen sollte) 
wohl auch eine gewisse untergeordnete Bedeutung zu. 

In Deutschland wurde A. Lange durch die Verwechslung 
von innerer Beobachtung und innerer Wahrnehmung und die 
daran sich knüpfende Verwirrung, von der oben die Rede 
war, ebenfalls zur Leugnung der inneren Wahrnehmung ge- 
führt. Dass es nicht richtig sei, wie Kant neben dem äusseren 
einen inneren Sinn zu unterscheiden, der ebenso die psychi- 
schen Phänomene wie jener die physischen beobachte, scheint 
ihm schon aus dem, was Kant selbst über die Folgen solcher 
innerer Beobachtungsversuche berichtet, hervorzugehen. Sagt 
er ja doch, sie seien „der gerade Weg, in Kopfverwirrung zu 
gerathen", und wir machten hier „vermeinte Entdeckungen 
von dem, was wir selbst in uns hineingetragen haben". Die 
Vermengung aber, die Lange bei Fortlage findet, bringt ihn auf 
den Gedanken, dass „zwischen innerer und äusserer Beob- 
achtung in keiner Weise eine feste Grenze zu ziehen" sei. 
Bezüglich der sogenannten subjectiven Farben oder Töne z. B. 
wirft er die Frage auf, in welches der beiden Gebiete sie 
zu zählen seien. Er würde aber nicht so fragen, wenn er nicht 
gefunden hätte, dass man die Betrachtung der Farben, die 
in der Phantasie erscheinen, zu den Beobachtungen des in- 
neren Sinnes rechnete. Indem er nun mit Recht die Ver- 
wandtschaft der aufmerksamen Betrachtung solcher Phäno- 
mene , welche wir in der Phantasie vorstellen , mit der 



*) Phys. u. Path. d. Seele von H. Maudsley, nach d. Orig. 2ter 
Aufl. deutsch bearbeitet von R. Boehm, Würzburg 1870, S. 9. 35. 



42 Buch J. Die Psychologie als Wissenschaft. 

Beobachtung beim Sehen geltend macht, kommt er dazu, zu 
erklären, „dass die Natur aller und jeder Beobachtung die- 
selbe ist, und dass der Unterschied hauptsächlich nur darin 
liegt, ob eine Beobachtung so beschaffen ist, dass sie von 
Anderen gleichzeitig oder später ebenfalls gemacht werden 
kann, oder ob sie sich jeder solchen Aufsicht und Bestätigung 
entzieht" ^). Mit der inneren Beobachtung gibt er gerade so 
wie Comte die innere Wahrnehmung auf und hält die äussere 
allein fest, indem er bei ihr nur den Namen als unstatthaft 
tadelt. 

So führt hier dieselbe Unterlassung einer einfachen Un- 
terscheidung Verschiedene nach verschiedener und entgegen- 
gesetzter Seite in Irrthümer. Denn, dass es wirklich Irrthümer 
sind, dürfte schon aus dem bisher Gesagten erhellen, deutlicher 
aber noch wird es sich zeigen, wenn wir von dem Unter- 
schiede der physischen und psychischen Phänomene und von 
dem inneren Bewusstsein handeln werden. 

Also die innere Wahrnehmung der eigenen psychischen 
Phänomene ist die erste Quelle der Erfahrungen, welche für 
die psychologischen Untersuchungen unentbehrlich sind. Und 
diese innere Wahrnehmung ist nicht mit einer inneren Be- 
obachtung der in uns bestehenden Zustände zu verwech- 
seln, da eine solche vielmehr unmöglich ist. 

§. 3. Es ist offenbar, dass hier die Psychologie den an- 
dern allgemeinen Wissenschaften gegenüber in grossem Nach- 
theile erscheint. Denn ohne Experiment sind zwar manche 
unter ihnen, wie namentlich die Astronomie; ohne Beobach- 
tung aber ist keine. 

In Wahrheit würde die Psychologie geradezu zur Un- 
möglichkeit werden, wenn für den Mangel kein Ersatz sich 
böte. Einen solchen findet sie aber, bis zu einem gewissen 
Grade wenigstens, durch die Betrachtung früherer psychischer 
Zustände im Gedächtnisse. Dieses wurde schon oft als das 
vorzüglichste Mittel, sich von psychischen Thatsachen Kenntniss 



'j Gesch. d. Mat. 1. Aufl. S. 469. 



Capitel 2. Die Erfahrnngsgrundlage der Psychologie. 43 

ZU verschaffen, geltend gemacht, und Denker ganz verschie- 
dener Richtungen stimmten darin überein. Herbart hat 
nachdrücklich darauf hingewiesen, und J. St. Mill bemerkt 
in seiner Schrift über Comte, es sei möglich, eine psychische 
Erscheinung in dem darauffolgenden Augenblicke mittels des 
Gedächtnisses zu untersuchen. „Und dieses ist", fügt er 
bei, „in Wahrheit die Weise, in der wir gemeiniglich den 
besten Theil unserer Kenntniss psychischer Acte uns erwer- 
ben. Wir reflectiren auf das, was wir gethan, wenn der Act 
vorüber, aber sein Eindruck noch frisch im Gedächtniss ist." 

Wenn der Versuch, den Zorn, der uns bewegt, beobach- 
tend zu verfolgen , durch Aufhebung des Phänomens unmög- 
lich wird, so kann dagegen ein Zustand früherer Aufregung 
offenbar keine Störung mehr erleiden. Auch gelingt es wirk- 
lich , dem vergangenen psychischen Phänomene so wie einem 
gegenwärtigen physischen mit Aufmerksamkeit sich zuzuwen- 
den und es in dieser Weise so zu sagen zu beobachten. Ja 
man könnte sagen, dass sogar das Experiment mit eigenen 
Seelenerscheinungen auf diesem Wege möglich werde. Denn 
wir können absichtlich durch mannigfache Mittel gewisse 
Seelenerscheinungen in uns hervorrufen, um zu erfahren, ob 
sich diese oder jene Erscheinung als Folge daran knüpfe, 
indem wir dann das Resultat des Versuches mit aller Ruhe 
und Aufinerksamkeit im Gedächtniss betrachten. 

So schiene denn einem Uebelstande wenigstens abge- 
holfen. Das Gedächtniss, wie es in allen Erfahrungswissen- 
schaften die Ansammlung beobachteter Thatsachen zum 
Behuf der Feststellung allgemeiner Wahrheiten möglich macht, 
ermöglicht in der Psychologie zugleich die Beobachtung der 
Thatsachen selbst. Und ich zweifle nicht, dass die Psycho- 
logen, welche ihre eignen psychischen Phänomene in innerer 
Wahrnehmung beobachtet zu haben glaubten, in Wahrheit 
das gethan hatten, wovon Mill in der angezogenen Stelle 
sprach. Sie hatten jüngst vergangenen Acten, deren Ein- 
druck noch frisch im Gedächtnisse war, ihre Aufmerksamkeit 
zugewandt. 



44 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

Freilich ist das, was wir in dieser Weise Beobachtung 
im Gedächtnisse nennen könnten, offenbar kein volles Aequi- 
valent für die eigentliche Beobachtung gegenwärtiger Ereig- 
nisse. Das Gedächtniss ist, wie Jeder weiss, in vorzüglichem 
Maasse Täuschungen unterworfen, während die innere Wahr- 
nehmung untrüglich ist und jeden Zweifel ausschliesst. In- 
dem die Erscheinungen, welche das Gedächtniss bewahrt, für 
die der inneren Wahrnehmung als Ersatz eintreten, kommt 
mit ihnen zugleich Unsicherheit und die Möglichkeit vielfäl- 
tiger Selbsttäuschungen in das Gebiet. Und ist einmal die 
Möglichkeit dafür gegeben, so liegt auch die WirkUchkeit 
nicht fern, da gewiss hinsichtlich der eigenen psychischen Acte 
jene vorurtheilslose Stimmung, deren der Beobachter bedarf, 
am Schwersten zu erreichen ist. 

So kommt es, dass, während die Einen die Untrüglich- 
keit des Selbstbewusstseins anpreisen, Andere, wie z. B. auch 
Maudsley ^), ihm die grösste Unzuverlässigkeit zum Vorwurfe 
machen. Und wenn die Ersteren sich auf die Evidenz der 
inneren Wahrnehmung berufen, so können dafür die Letzteren 
auf die häufigen Illusionen hinweisen, denen nicht etwa bloss 
Geisteskranke, sondern, man darf sagen, in gewissem Grade 
alle Menschen hinsichtlich ihrer selbst sich hingeben. Auch 
wird es so begreiflich, wie sich unter den Psychologen oft 
Streit erhob, obwohl die Lösung der Frage in der inneren 
Wahrnehmung, mit unmittelbarer Evidenz gegeben, vorlag. Dass 
die Beobachtung nur im Gedächtnisse stattfinden konnte, hatte 
dem Zweifel die Thüre geöffnet. Wenn man noch heute über 
die Frage uneinig ist, ob eine Gefühlserregung, Lust oder 
Unlust, jedes psychische Phänomen begleite, so ist dies die 
Folge der eben angedeuteten Verhältnisse. Und die grund- 
legende Frage über die höchsten Classen der psychischen 
Phänomene würde ohne sie längst zur Entscheidung und zum 
Abschlüsse gebracht worden sein. Das Hinderniss ist so be- 
deutend, dass wir uns öfter in die Noth wendigkeit versetzt 
sehen werden , durch förmliche Beweisführung und durch 



») a. a. 0. S. 9 f. 



Capitel 2. Die Erfahrnngsgrundlage der Psychologie. 45 

reductio ad absurdum Meinungen zu widerlegen, welche 
eigentlich durch die Evidenz der inneren Wahrnehmung un- 
mittelbar als falsch zu erkennen sind. 

Doch wie gross auch immer der Nachtheil sein mag, der 
sich an die mangelhafte Zuverlässigkeit des Gedächtnisses 
knüpft, es wäre offenbar eine thörichte üebertreibung , wenn 
man der eigenen inneren Erfahrung desshalb allen Werth ab- 
sprechen wollte. Wäre das Zeugniss des Gedächtnisses für 
die Wissenschaft unbrauchbar, so würden mit der Psycholo- 
gie auch alle anderen Wissenschaften unmöglich werden. 

m 

§. 4. Aber ein anderer Umstand bleibt, der die Psy- 
chologie den Naturwissenschaften gegenüber mehr noch in 
Nachtheil zu bringen droht. Was immer wir innerlich wahr- 
nehmen und nach der Wahrnehmung im Gedächtnisse beob- 
achten mögen, sind psychische Erscheinungen, die in unserem 
eigenen Leben aufgetreten sind. Jede Erscheinung, welche 
nicht zum Verlaufe dieses individuellen Lebens gehört, hegt 
ausserhalb des Gesichtskreises. Aber wie reich auch ein 
Leben an merkwürdigen Phänomenen sein mag — und jedes, 
auch das ärmste, zeigt eine wunderbare Fülle — , ist es nicht 
offenbar, dass es arm sein muss im Vergleiche mit dem, was, 
in tausend und aber tausend anderen beschlossen, unserer 
inneren Wahrnehmung entzogen ist? Diese Beschränkung 
ist um so fühlbarer, als das Verhältniss des einen zum an- 
deren menschlichen Individuum, was das innere Leben an- 
geht, nichts weniger als demjenigen gleicht, welches zwischen 
zwei Individuen derselben Species unorganischer. Körper, z. B. 
zwischen zwei Wassertropfen, besteht. Vielmehr, wie auf phy- 
siologischem Gebiete zwei Individuen derselben Art immer 
gewisse Abweichungen zeigen, so ist dies, und in noch viel 
höherem Maasse, auch auf psychischem Gebiete der Fall. 
Auch da, wo zwischen zwei Menschen, wie man sagt, die in- 
nigste geistige Verwandtschaft besteht, bleibt die Verschie- 
denheit so bedeutend, dass es Gelegenheiten gibt, bei welchen 
der eine mit dem anderen weder übereinzustimmen, noch 
sein Verhalten zu begreifen vermag. Und wie gross sind 



46 Bach I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

nicht die Unterschiede und Gegensätze in Talent und Cha- 
rakteranlage, die in andern Beispielen sich zeigen, wenn wir 
die individuelle Begabung eines Pindaros und Arehimedes, 
eines Sokrates und Alcibiades vergleichen , . oder auch allge- 
mein den männlichen und weiblichen Charakter einander 
gegenüberstellen ? von Erscheinungen an Kretinen und Wahn- 
sinnigen, die wir als anormal und krankhaft bezeichnen, gar 
nicht zu sprechen. Wenn wir nun in unserer Beobachtung 
auf ein einziges Individuum beschränkt sind, ist es dann 
anders denkbar, als dass unsere Uebersicht über die psychi- 
schen Phänomene eme äusserst unvollständige sein werde? 
Und werden wir nicht unvermeidlich in den Fehler fallen, 
individuelle Eigenheiten mit allgemeinen Zügen zu verwech- 
seln? Unleugbar ist dies der Fall, und der üebelstand 
scheint um so grösser, als nicht einmal das eigene Seelenleben 
in seiner ganzen Entwickelung unserer Untersuchung vor- 
liegt. Wie weit auch der Blick unseres Gedächtnisses zu- 
rückreiche, die ersten Anfänge sind in undurchdringlichen 
Nebel gehüllt. Und doch würden gerade diese am Besten 
die allgemeinsten psychischen Gesetze uns erkennen lassen, 
da im Beginn die Erscheinungen am Einfachsten auftreten, 
während die spätere Zeit, da jeder psychische Eindruck sich 
in gewissen Nachwirkungen erhält, einen bis ins Unendliche 
verwickelten, unentwirrbaren Knäuel unzähliger Ursachen 
darbietet. 

Noch nach einer anderen Seite zeigt sich der Nachtheil 
einer solchen Lage. Wie der Gegenstand der Beobachtung 
ein einziger ist, — ein einziges und, wie wir sagten, nur theil- 
weise zu überblickendes Leben — so ist auch der Beobachter 
ein einziger, und kein Anderer ist im Stande, seine Be- 
obachtung zu controliren. Denn, so wenig ich die psychischen 
Phänomene eines Anderen, so wenig vermag ein Anderer die 
meinigen durch innere Wahrnehmung zu erfassen. Die Na- 
turwissenschaft erscheint hier wiederum viel günstiger ge- 
stellt. Dieselbe Sonnenfinsterniss und derselbe Komet werden 
von Tausenden wahrgenommen, und eine Beobachtung, die 
nur Einer gemacht hätte, und die kein Zweiter zu bestätigen 



Capitel 2. Die Erfahrungsgrandlage der Psychologie. 47 

vermöchte, wie etwa die eines neuen Planeten, welchen ein 
Astronom gesehen haben wollte, ohne dass ein Anderer den 
Stern wiederaufzufinden fähig wäre, würde . mit wenig sicherem 
Vertrauen aufgenommen werden. 

So bliebe denn immer noch die Erfahrungsgrundlage der 
Psychologie eine ebenso ungenügende als unzuverlässige, wenn 
sie sich allein auf die innere Wahrnehmung der eigenen psy- 
chischen Phänomene und ihre Betrachtung im Gedächtniss 
beschränkte. 

Dieses jedoch ist nicht der Fall. Zu der directen Wahr- 
nehmung unserer eigenen kommt eine indirecteErkennt- 
niss fremder psychischer Phänomene. Die Erschei- 
nungen des inneren Lebens pflegen, wie man es nennt, sich 
zu äussern, d. h. sie haben äusserlich wahrnehmbare Ver- 
änderungen zur Folge. 

Am Vollkommensten äussern sie sich, wenn Jemand 
geradezu in Worten sie beschreibt. Freilich würde diese 
Beschreibung unverständlich oder vielmehr unmöglich sein, 
wenn das psychische Leben des Einen von dem des Anderen 
so verschieden wäre, dass sie keinerlei homogene Phänomene 
enthielten. Dann wäre der Austausch ihrer Gedanken wie 
zwischen einem von Geburt Blinden und Geruchlosen, wenn 
dieser die Farbe, jener den Geruch des Veilchens dem An- 
deren angäbe. Allein so ist der Fall nicht. Es zeigt sich 
im Gegentheil, dass unsere Fähigkeit zu gegenseitiger ver- 
ständlicher Mittheilung sich über alle Gattungen der Er- 
scheinungen erstreckt, und dass wir uns selbst von psychi- 
schen Zuständen, die Jemand im Fieber oder unter anderen 
abnormen Bedingungen erfuhr, nach seiner Beschreibung eine 
Vorstellung machen können. Auch kommt es nicht wohl vor, 
dass ein Gebildeter, wenn er über seine inneren Zustände 
berichten will, in der Sprache keine Mittel findet, sicli 
auszudrücken. Und hieraus entnehmen wir einerseits den 
Beweis , dass die individuelle Verschiedenheit von Per- 
sonen und Lagen doch keine so tiefgreifende ist, wie 
man sonst hätte vermuthen können, und dass, wenigstens 
den Gattungen nach, die psychischen Phänomene jedem, der 



48 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

nicht eines Sinnes beraubt, oder sonst abnorm gebildet 
oder unreif ist, vollzählig in der inneren Erfahrung geboten 
werden; andererseits aber erwächst uns daraus die Möglich- 
keit, mit den eigenen inneren Erfahrungen das, was ein An- 
derer in sich beobachtet hat, zu verbinden und da, wo die 
Beobachtungen sich auf gleichartige Erscheinungen bezie- 
hen, 'die eigenen durch die fremden in derselben Weise zu 
controliren, wie das, was ein amerikanischer Forscher mit 
Licht und Wärme experimentirt, durch den Versuch, den ein 
anderer in Europa an specifisch gleichen Erscheinungen 
macht, bestätigt oder auch erschüttert wird. Auch die 
Sprache selbst, welche die beiden, die mit einander über ihr 
Inneres reden, gemeinsam von ihrem Volke oder von der 
früheren Wissenschaft ererbt haben, kann, wie anderwärts 
in Bezug auf äussere Phänomene , so hier hinsichtlich der 
psychischen Erscheinungen ihre Kenntniss fördern, indem sie 
ihnen in einer Art von vorläufiger Classification die verschie- 
denen vorzüglichen Classen von Phänomenen, nach dem Ge- 
sichtspunkt besonderer Verwandtschaft übersichtlich zusam- 
mengeordnet, vorführt. 

Endlich ergibt sich aus dem Gesagten der Werth, den 
das Studium der Selbstbiographieen für den Psychologen hat, 
wenn man nur dem Umstände, dass der Beobachter und Be- 
richterstatter hier mehr oder minder befangen ist, gebührend 
Rechnung trägt. Feuchtersieben sagt in dieser Beziehung, 
man dürfe bei einer Selbstbiographie nicht sowohl auf das, 
was sie berichte, als auf das, was sie unwillküi'lich verrathe. 
Acht haben. — 

Minder vollkommen zwar, aber dennoch oft in genügend 
deutlicher Weise köniien die psychischen Zustände auch ohne 
sprachUche Mittheilung sich äusserlich kundgeben. 

Hierher gehören vor Allem die Handlungen und das 
willkürliche Thun. Ja der Schluss, den diese auf die inneren 
Zustände, aus welchen sie hervorgehen, gestatten, ist oft viel 
sicherer als der, welcher auf mündliche Aussagen sich gründet. 
Das alte „verba docent, exempla trahunt'* würde nicht eine 
täglich sich bestätigende Wahrheit sein , wenn nicht das 



s 



Capitel 2. Die Erfahrungsgrundlage der Psychologie. 49 

praktische Verhalten allgemein als der zuverlässigere Aus- 
druck der Ueberzeugung betrachtet würde. 

Ausser diesen willkürlichen gibt es aber auch unwillkür- 
liche physische Veränderungen, welche gewisse psychische 
Zustände naturgemäss begleiten oder ihnen nachfolgen. Der 
Schrecken erblasst, die Furcht zittert, die Köthe der Scham 
überzieht die Wangen. Und schon ehe man, wie es Darwin 
in neuester Zeit wieder gethan, mit dem Ausdrucke der Ge- 
müthsbewegungen sich wissenschaftlich beschäftigt hatte, war 
man durch die einfache Gewohnheit und Erfahrung in weitem 
Umfange über diesen Zusammenhang belehrt, so dass nun 
die physische Erscheinung, die man beobachtete, der unsicht- 
baren psychischen als Zeichen diente. Es ist offenbar, dass 
diese Zeichen nicht das Bezeichnete selbst sind, und dass 
darum nicht, wie Manche thöricht genug glauben machen 
wollten, diese äussere und, wie mau sie rühmend nannte, „ob- 
jective" Beobachtung psychischer Zustände losgelöst von der 
„subjectiven" inneren eine Quelle psychologischer Erkennt- 
niss werden könnte. Aber mit ihr vereint wird sie in hohem 
Maasse dazu dienen, unsere eigenen inneren Erfahrungen 
durch das, was Andere in sich erleben, zu bereichem und zu 
ergänzen, und Selbsttäuschungen, in die wir verfallen sind, 
zu berichtigen. 

§. 5. Von einem ganz vorzüglichen Werthe wird es sein, 
wenn wir auf die eine oder andere der angegebenen Weisen uns 
einen Einblick in die Zustände eines einfacheren Seelen- 
lebens als das unsrige verschaffen können, sei nun das- 
selbe bloss darum einfacher, weil es minder entwickelt ist, oder 
darum, weil gewisse Gattungen von Phänomenen gänzlich da- 
von ausgeschlossen sind. Das Erste ist insbesondere bei 
Kindern, und bei ihnen in um so höherem Grade der Fall, 
ein je geringerer Zeitraum seit der Geburt verflossen ist. 
Man hat daher mehrfach an Neugeborenen Beobachtungen 
und Experimente gemacht, x^iber auch die Betrachtung der 
Erwachsenen bei Völkerstämmen, welche in der Cultur zu- 
rückgeblieben sind, ist in dieser Hinsicht werthvoU. Erscheint 

Brentano , Psychologie. I. 4 



50 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

ihre Bedeutung nach der einen Seite geringer, so hat man 
dafür den Vortheil, dass an die Stelle mehr oder minder 
missverständlicher Zeichen die deutlichere Aeusserung sprach- 
licher Mittheilung treten kann. Schon Locke hat darum 
auch von diesem Mittel Gebrauch gemacht, und mehr noch 
wandte man in neuester Zeit im Interesse der Psychologie 
den Erscheinungen bei den Naturvölkern seine Aufmerksam- 
keit zu. 

Ein Fall der zweiten Art ist der von Blindgeborenen, 
bei welchen die Vorstellungen von Farben sowie alle die- 
jenigen fehlen, welche etwa noch ausser denselben durch den 
Gesichtssinn allein erworben werden können. Bei ihnen wird 
ein Doppeltes von Interesse sein, einmal zu sehen, in wie weit 
sich ohne Hülfe des Gesichts ein Vorstellungsleben entwickelt, 
und namentlich, ob sie von den räumlichen Verhältnissen in 
ähnlicher Weise wie wir Kenntniss haben; dann aber, wenn 
etwa eine gelungene Operation ihnen später das Sehen mög- 
lich macht, die Natur der ersten Eindrücke, welche sie auf 
diesem Wege empfangen, zu erforschen. 

Weiter noch gehören hieher die Beobachtungen, die 
man zu psychologischen Zwecken an Thieren macht. Nicht 
bloss das psychische Leben der niederen und des einen oder 
anderen Sinnes beraubten, auch das der höchst gestellten 
Thierarten erscheint dem des Menschen gegenüber ausser- 
ordentlich einfach und beschränkt, sei es nun, weil sie die- 
selben Fähigkeiten wie er in einem ungleich geringeren 
Grade besitzen, sei es, weil gewisse Classen psychischer Phä- 
nomene gar nicht bei ihnen vorhanden sind. Die Entscheidung 
dieser Frage selbst ist offenbar von der höchsten Bedeutung. 
Und sollte etwa die letztere Ansicht, welcher, wie in früheren 
Zeiten Aristoteles und Locke, noch heute die grosse Mehrzahl 
der Menschen huldigt, als die richtige sich ergeben, so hätten 
wir hier gewiss den allermerkwürdigsten Fall von isolirter 
Bethätigung gewisser psychischer Kräfte vor uns. Uebrigens 
wird nach jeder Theorie , die sich nicht so weit von dem ge- 
sunden Menschenverstände entfernt, dass sie den Thieren 
alles psychische Leben abspricht, die Erforschung und die 



Capitel 2. Die Erfahrungsgrundlage der Psychologie. 51 

Vergleichung ihrer psychischen Eigenthümlichkeiten mit denen 
des Menschen für den Psychologen von grösstem Werthe sein. 

§. 6. In einer anderen Weise ist die aufmerksame Ver- 
folgung krankhafter Seelenzustände von Bedeutung, 
und mehrfach hat das theoretische, viel häufiger aber noch 
das praktische Interesse zu Beobachtungen an Idioten und' 
Irren getrieben, welche für die Psychologie werthvoUes Ma- 
terial lieferten. Wie die hieher gehörigen Erscheinungen 
selbst , so sind natürlich auch die Dienste , welche sie der 
Psychologie leisten können, von sehr verschiedener Art. Bald 
zeigt sich die Krankheit in dem Einflüsse einer constanten 
oder, wie man sagt, „fixen" Idee, welche in weitem Kreise 
das Seelenleben afficirt; von den Ursachen der Erscheinung 
ganz abgesehen, können hier die Gesetze der zusammenge- 
setzten Ideenassociation werthvoUe Illustrationen finden, Bald 
erscheinen gewisse Functionen in übermässiger Weise gestei- 
gert oder in äusserstem Maasse geschwächt, und indem an- 
dere im Zusammenhange mit ihnen gehoben oder herabge- 
stimmt werden, wird dadurch auf die Gesetze ihres Zusammen- 
hanges ein Licht geworfen. Einen ganz besonderen Werth 
haben die Phänomene des Blödsinns und Wahnsinns und an- 
derer krankhafter Erscheinungen für die Untersuchungen über 
die Weise der Verbindung der psychischen Phänomene mit 
unserem leibUchen Sein, wenn, wie es fast immer der Fall 
ist, diese entarteten psychischen Erscheinungen mit wahr- 
nehmbaren Abnormitäten körperlicher Organe verknüpft sind. 
Im Uebrigen sind diejenigen im Unrecht, welche diesen 
krankhaften Zuständen eine vorzüglichere oder auch nur 
eine gleich grosse Aufmerksamkeit wie denen des gesunden 
Seelenlebens zugewandt wissen wollen. Zunächst wird es 
auf die Feststellung der Verhältnisse der Coexistenz und Suc- 
cession bei normalen physiologischen Zuständen ankommen, 
und erst wenn diese in sich selbst, bis zu einem gewissen 
Maasse wenigstens, genügend beobachtet und verallgemeinert 
sind, wird das Herbeiziehen jener Anomalieen sich nützhch 
erweisen. Dann wird einerseits für sie eine richtigere 

4* 



52 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

Beurtheilung möglich werden, indem sich ja bei ihnen so zu 
sagen unter veränderten Zusammenstellungen und unter neuen 
Verwickelungen, welche die Folge von Revolutionen auf vegeta- 
tivem Gebiete sind, dieselben Gesetze, die das normale Leben 
beherrschen, wirksam zeigen. Und dann — aber erst dann — 
wird auch andererseits das Verständniss dieser Gesetze und 
des gewöhnhchen Verlaufs der Phänomene , indem sie auch 
scheinbare Ausnahmen erklärend mit umfassen, selbst durch 
ihre Berücksichtigung erweitert und vertieft werden. Gerade 
hinsichtlich derjenigen Fälle, die wir am Meisten mit Neu- 
gier anstaunen , wird die Wissbegier am Spätesten solche 
Erfolge erzielen. Nur Schritt für Schritt kann man sich 
ihrer Erklärung nähern. Und bis zu einem vorgeschritteneren 
Stadium der Entwickelung von Psychologie und Physiologie 
wird die Beschäftigung damit fast ebenso müssig und un- 
fruchtbar sein, als es ihrer Zeit die Liebhaberei der Zoo- 
logen an seltsamen Missgeburten gewesen ist. 

§. 7. Weil es also vor Allem darauf ankommt, das Nor- 
male kennen zu lernen, so wird zunächst die Beobachtung 
ausserordentlicher Erscheinungen bei gesunder physischer 
Disposition im Ganzen für uns lehrreicher sein. Die Bio- 
graphieen von Männern, welche als Künstler, Forscher oder 
grosse Charaktere hervorleuchteten, aber auch die von grossen 
Verbrechern, und ebenso das Studium des einzelnen hervor- 
ragenden Kunstwerkes, der einzelnen merkwürdigen Ent- 
deckung, der einzelnen grossen Handlung und des einzelnen 
Verbrechens, soweit ein Einblick in die Motive und vorberei- 
tenden Umstände möglich ist, werden der psychologischen 
Forschung schätzbare Anhaltspunkte bieten. So liefert die 
Geschichte in den grossen Persönlichkeiten, die sie uns vor- 
führt, und in den epochemachenden Begebenheiten, von denen 
sie erzählt, und die gewöhnhch in irgendwelchem bedeuten- 
den Manne, in dem der Geist einer Zeit oder einer socialen 
Bewegung gleichsam verkörpert erscheint, ihren Träger ha- 
ben, gar manche für den Psychologen wichtige Thatsache. 



Capitel 2. Die Erfahrungsgrundlage der Psychologie. 5B 

• 

Das helle Licht, in welchem dieselbe sich darbietet, kommt 
ganz besonders der Beobachtung zu Statten. 

Aber auch der Gang der Weltgeschichte an und für 
sich, die Aufeinanderfolge der Erscheinungen, die sich in den 
Massen darstellen, die Fortschritte und die Rückschritte, 
das Aufblühen und der Untergang der Völker mögen oft dem- 
jenigen grosse Dienste leisten, welcher die allgemeinen 
Gesetze der psychischen Natur des Menschen aufsuchen 
will. Die vornehmsten Eigenthümlichkeiten des Seelenlebens 
können da, wo es sich um Massen handelt, oft sichtbarer 
hervortreten , während untergeordnete Besonderheiten sich 
ausgleichen und verschwinden. Schon Piaton hoffte, auf den 
Staat und die Gesellschaft hinblickend in grossen Zügen das 
geschrieben zu finden, was die Seele des Einzelnen in klei- 
nerer Schrift in sich enthielt. Er glaubte, dass seine drei 
Seelengebiete den drei wesentlichen Classen im Staate, dem 
Nährstande, dem Wehrstande und dem Stande der Herrscher 
entsprächen, und fand eine weitere Bestätigung für sie in 
dem Vergleiche der Grundzüge der verschiedenen Völker- 
gruppen, der Aegyptier und Phönicier, der tapferen nordischen 
Barbaren und der bildungsliebenden Hellenen. Vielleicht 
würde ein Anderer in den erhabenen Phänomenen der Kunst, 
Wissenschaft und Religion einen Hinweis auf verschiedene 
Orundanlagen des höheren psychischen Lebens vermuthen. 
Und auch das ward schon oft und gewiss nicht ohne Wahr- 
lieit gesagt, dass die Entwickelungsgeschichte der Mensch- 
Tieit im Grossen darstelle, was sich in analoger Weise in der 
Entwickelungsgeschichte des Einzelnen im Kleinen wieder- 
hole. Freilich, wenn die Betrachtung der Phänomene der 
menschlichen Gesellschaft auf die psychischen Phänomene des 
Einzelnen Licht wirft, so ist doch auch das Umgekehrte, und 
wohl in reicherem Maasse, der Fall, und es wird im Allge- 
meinen der naturgemässere Weg sein, wenn man aus dem 
was man beim Einzelnen gefunden für das Verständniss der 
Oesellschaft und ihrer Entwickelung, als wenn man umgekehrt 
aus der Betrachtung dieser für die Probleme der individuellen 
Psychologie Aufechlüsse zu gewinnen sucht. 



54 



Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 



Das Gesagte genügt, um zu zeigen, welchem Kreise der 
Psychologe die Erfahrungen entnimmt, die er seiner Forschung- 
nach den psychischen Gesetzen zu Grunde legt. Wir fanden für 
sie als erste Quelle die innere Wahrnehmung, welcher der 
Nachtheil anhaftete, dass sie nie Beobachtung werden kann^ 
Zu ihr kam das Betrachten unserer früheren psych* ^ 
Erlebnisse im Gedächt niss, und hier war eine Hinwc - po 
der Aufmerksamkeit und so zu sagen eine Beobachtung ^3ö 
lieh. Das bis dahin auf die eigenen inneren Phänome ^^3 
schränkte Feld der Erfahrung erweiterte sich dann, ' 




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uns die A e u s s e r u n g e n des psychischen Lebens Ande g w 
direct einen Einblick in fremde psychische Phänome) ^ ^^ Jj 
währten. Gewiss wurde hiedurch die Zahl der für di g ^ ^^ 
chologie merkwürdigen Thatsachen tausendfach vermehr! J/T* ° 
diese letzte Art von Erfahrungen setzte die Beobacht «^^ 
Gedächtniss, so wie diese die innere Wahrnehmung 
wärtiger psychischer Erscheinungen voraus, welche so 
beide die letzte und unentbehrliche Vorbedingung 
Auf der inneren Wahrnehmung also — darin bleibt dit 
Psychologie Comte gegenüber im Rechte — erhebt sie 
eigentlich der Bau dieser Wissenschaft wie auf seiner 
läge. 



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Drittes Capitel. 

Fortsetznng der Untersnehnngen über die Methode 
der Psychologie. Von der Indnction der höchsten 

psjehisehen Gesetze. 

§. 1. Eine Aufgabe, der sich der Psychologe vor anderen 
zu unterziehen hat, ist die Feststellung der gemeinsamen 
Eigenthümlichkeiten aller psychischen Phänomene; vorausge- 
setzt nämlich, dass es solche gemeinsame Eigenthümlichkeiten 
gebe, denn Manche stellen dies in Abrede. Die Behaup- 
tung von Bacon, dass man immer zunächst die mittleren 
und dann erst, in allmäligem Aufsteigen, die höchsten Ge- 
setze aufzusuchen habe, hat sich bekanntlich in der Geschichte 
der Naturwissenschaften nicht bewahrheitet, und kann darum 
auch für den Psychologen keine Geltung haben. Kichtig ist 
nur so viel, dass man bei der Induction der allgemeinsten 
Gesetze die gemeinsame Eigenthümlichkeit, wie natürlich zu- 
nächst an Individuen, so dann an speciellen Gruppen findet, 
bis sie zuletzt in ihrem vollen Umfange feststeht. 

§. 2. Aus der Betrachtung der allgemeinen Eigenthüm- 
lichkeiten wird sich das Eintheilungsprincip der psychischen 
Phänomene ergeben, und daran sofort die Bestimmung ihrer 
Grundclassen knüpfen, wie die natürliche Verwandtschaft sie 
fordert. Denn ehe dies geschehen, wird es unmöglich sein, 



56 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

in der Erforschung der psychischen Gesetze, die ja grössten- 
theils nur für die eine oder andere Gattung von Phänome- 
nen gelten, weitere Fortschritte zu machen. Was sollte aus 
den Forschungen des Physikers werden, der mit Wärme, 
Licht und Schall experimentirte , wenn ihm nicht diese Phä- 
nomene durch eine, allerdings sehr naheliegende, Classifica- 
tion in natürliche Gruppen geschieden wären? So würde 
sich denn auch der Psychologe, der noch nicht die verschie- 
denen Grundclassen psychischer Erscheinungen gesondert 
hätte, vergeblich um die Feststellung der Gesetze für ihre 
Succession bemühen. Wir haben schon bemerkt, dass die 
gewöhnliche Sprache durch die allgemeinen Namen, welche 
sie psychischen Phänomenen gibt, der Untersuchung vor- 
arbeitet. Aber natürlich bietet sie keine genügende Bürg- 
schaft und würde den, welcher sich zu sehr auf sie verliesse, 
ebensogewiss in Irrthümer führen, wie sie dem, der ihre Be- 
stimmungen mit Vorsicht benützt, die Auffindung der Wahr- 
heit erleichtert. Es wurde bereits erwähnt, dass wir einen 
sicheren Beweis dafür haben, dass keine Grundclasse von 
psychischen Phänomenen, die sich bei anderen Menschen fin- 
det, in dem Bereiche unseres eigenen individuellen Lebens 
fehle. Hiedurch wird die Vollständigkeit der Aufzählung er- 
möglicht. Auch lässt sich leicht erkennen , dass trotz der 
grossen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen die Zahl ihrer höch- 
sten Classen eine sehr beschränkte ist, was die Untersuchung 
wesentlich erleichtert und die Besorgniss ausschliesst , man 
möge ein Phänomen, welches einer andern Grundclasse als 
alle bis dahin betrachteten angehöre, gänzlich übersehen 
haben. Die ganze Schwierigkeit entspringt dem früher be- 
sprochenen Umstände , dass die innere Wahrnehmung nie 
innere Beobachtung werden kann. Und hier zeigt sich deut- 
lich, wie gross unter Umständen dieses Hemmniss ist, denn 
heute noch sind die Psychologen über die fundamentale 
Frage der höchsten Classen nicht einig. Wie die Zalil, so 
werden wir aber auch die natürliche Ordnung für sie fest- 
stellen müssen. 



Capitel 3. Induction der höchsten Gesetze. 57 

§. 3. Zu den ersten und allgemein wichtigen Unter- 
suchungen wird auch die über die letzten psychischen Ele- 
mente gehören, aus welchen die verwickeiteren Phänomene 
hervorgehen. Unmittelbar wäre eine Lösung dieser Frage 
möglich, wenn die Anfänge unseres psychischen Lebens uns 
in deutlicher Erinnerung gegeben wären. Aber in dieser 
glücklichen Lage befinden wir uns leider nicht. Und die 
Beobachtungen an Neugeborenen bieten dafür zwar einigen, 
aber keineswegs einen hinreichenden Ersatz. Die Zeichen 
sind oft vieldeutig, und wenn auch unsere Schlüsse sicherer 
wären, so bliebe der Einwand, man habe es auch hier nicht mit 
ersten Anfängen eines psychischen Lebens zu thun, da dieses 
vielmehr bis in die Zeit vor der Geburt zurückreiche. Wir 
sind also zu einer Analyse genöthigt, die man mit der des 
Chemikers verglichen hat. Und die Aufgabe ist keines- 
wegs eine, leichte. Denn nicht damit ist die Sache gethan, 
dass man die verschiedenen. Seiten, welche ein Phänomen 
darbietet, unterscheidet; das wäre, wie wenn ein Chemiker 
die Farbe und den Geschmack des Zinnobers als elementare 
Bestandtheile von ihm angeben wollte ; ein lächerUcher Fehler, 
wenn auch viele Psychologen, nicht ohne eine gewisse Schuld 
von Seiten Locke's, wirklich darein verfielen. Der Chemiker 
trennt die Bestandtheile des zusammengesetzten Stoffes, und 
80 scheint auch hier eine Herauslösung der elementaren Er- 
scheinungen aus den zusammengesetzten anzustreben. Wenn 
sie nur hier eben so vollkommen und sicher wie auf chemi- 
schem Gebiete zu erreichen wäre! Aber wie überhaupt das 
psychische Leben niemals von einem späteren zu einem frü- 
heren* Stadium zurückkehrt, so scheint es insbesondere un- 
möglich, ein elementares Phänomen später in der Reinheit 
und Einfachheit, in welcher es ursprünglich auftrat, wieder 
in sich zu erneuern^). Sollte unter diesen Umständen das 



^) Schon Kant klagt, es sei unmöglich, dass die Psychologie „als 
systematische Zergliederungskunst*' der Chemie jemals nahe komme, 
^weil sich in ihr das Mannigfaltige der inneren Beobachtung nur 
durch blosse Gedankentheilung von einander absondern, nicht aber 



58 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

Zusammenwachsen von Vorstellungen geradezu eine Ver- 
schmelzung, sollte es, ähnlich der chemischen Mischung, eine 
Transformation in ganz neue Arten von Erscheinungen sein, 
so würde dies, wenigstens wenn es allgemein stattfände, 
nothwendig die Schwierigkeit bis zur Unmöglichkeit steigern. 
Zum Glück geht kein Psychologe in seinen Behauptungen 
so weit, und der, welcher es thun wollte, wäre leicht zu wi- 
derlegen ; überhaupt hat die Lehre einer psychischen Chemie 
von Vorstellungen bis jetzt noch keineswegs widerspruchslose 
Annahme gefunden. 

Die Untersuchung über die ersten psychischen Elemente 
dreht sich vorzüglich um die Empfindungen ; denn dass diese 
für andere psychische Phänomene eine Quelle sind, steht fest, 
und nicht Wenige sagen, sie seien die einzige Quelle für alle. 
Die Empfindungen sind Folgen physischer Einwirkungen. Ihre 
Entstehung also ist ein psycho - physischer Process, und daher 
kommt es, dass die Physiologie, insbesondere die Physiologie 
der Sinnesorgane, der Psychologie hier wesentliche Hülfe lei- 
stet. Doch sind auch die rein psychologischen Mittel, welche 
sich für ihre Lösung bieten, oft nicht genügend benützt wor- 
den. Man wäre sonst nicht dazu gekonmien, Phänomenen, 
von welchen das eine das andere einschliesst , einen geson- 
derten Ursprung zuzuweisen. Hier ist es auch, wo, wie schon 
bemerkt, die Beobachtungen an operirten Blindgeborenen 
wichtig werden; und dies nicht bloss für den Gesichtssinn, 
sondern für das ganze Gebiet, weil bei keinem anderen die 
Untersuchung so vollkommen wie bei diesem unserem vor- 
züglichsten Sinne sich führen lässt. 

§. 4. Die obersten und allgemeinsten Gesetze der Suc- 
cession psychischer Phänomene, mögen sie nun für alle 
schlechthin oder nur für die Gesammtheit einer Grundclasse 
gelten, sind nach den allgemeinen Regeln der Induction direct 
festzustellen. Sie sind, wie A. Bain^) in seiner inductiven 



abgesondert aufbehalten und beliebig wiederum verknüpfen^* lasse. 
(Metaph. Anfangsgr. d. Naturw. Vorrede.) 
^) Logic, II. (Induction) p. 284. 



Capitel 3. Induction der höchsten Gesetze. 59 

Logik mit Recht bemerkt, nicht oberste und letzte Gesetze 
in dem Sinne, in welchem wir etwa das Gesetz der Gravita- 
tion und das der Trägheit als solche bezeichnen dürfen. Da- 
für sind die psychischen Phänomene, auf welche sie sich be- 
ziehen, zu sehr von einer Mannigfaltigkeit physiologischer 
Bedingungen abhängig, von welchen wir sehr unvollkommen 
Kenntniss haben. Sie sind streng genommen empirische Ge- 
setze, die zu ihrer Erklärung einer genauen Analyse der phy- 
siologischen Zustände, an welche sie sich knüpfen, bedürfen 
würden. 

Was ich sage, ist nicht so zu verstehen, als ob ich 
glaubte, man solle es sich als Aufgabe stellen, die höchsten 
Gesetze psychischer Succession aus Gesetzen physiologischer 
und in weiterer Folge vielleicht gar chemischer und in 
engerem Sinne physischer Phänomene abzuleiten. Dies wäre 
eine Thorheit. Es gibt unüberschreitbare Grenzen der Na- 
turerklärung, und auf eine solche Grenze stösst man, wie J. 
St. Mill ganz richtig lehrt i), wo es sich um den Uebergang 
vom physischen Gebiet in das der psychischen PhÄnomene han- 
delt. Auch wenn die Physiker die Ursachen, welche in uns 
Empfindungen von Farben, Tönen, Gerüchen u. s. f. erzeugen, 
sämmtlich auf moleculare Schwingungen und auf Druck und 
Stoss zurückgeführt hätten, blieben doch für die Empfindung 
der Farbe, ja jeder einzelnen Farbenspecies , und ebenso für 
die Empfindungen der Töne und Gerüche besondere letzte Ge- 
setze anzunehmen, und jeder Versuch, die Zahl derselben 
noch zu verringern, wäre hoffnungslos und unvernünftig. 
Nicht also eine Ableitung psychischer Gesetze aus phy- 
sischen ist es, was ich zu ihrer weiteren Erklärung für wün- 
schenswerth und nöthig erachte ; die Erklärung, die ich meine, 
würde vielmehr in einfacheren Fällen in nichts Anderem als 
in einer Angabe der nächsten und unmittelbaren physiologi- 
schen Vor- oder Mitbedingungen, sowie in deren genauester 
Präcision mit Ausschluss jedes nicht unmittelbar betheiligten 
Momentes bestehen. Da, wo es sich um den Einfluss früher 



») Ded. u. ind. Log. B. III. C. 14. 



60 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

aufgetretener psychischer Erscheinungen auf ein Phänomen 
späterer Zeit handelt , nachdem vielleicht ein längeres Inter- 
vall alle psychische Lebensthätigkeit gänzlich unterbrochen 
hat, würde es nöthig sein, die rein physiologischen Pro- 
cesse, die sich inzwischen vollzogen, so weit sie das Verhält- 
niss zwischen der früheren psychischen Ursache und ihrer 
späteren psychischen Wirkung beeinflussen, in Rechnung zu 
bringen. Wäre dies erreicht, so würden wir höchste psy- 
chische Gesetze von einer Fassung erhalten, welche zwar 
nicht dieselbe durchsichtige Klarheit, wohl aber dieselbe 
Schärfe und Genauigkeit wie die Axiome der Mathematik 
besässen, höchste psychische Gesetze, welche als Grundgesetze 
im vollen Sinne des Wortes zu betrachten wären. Unsere 
jetzigen höchsten Gesetze aber würden in etwas veränderter 
Form als derivative Gesetze wiederkehren , und der grösste 
Theil, wenn nicht das Ganze der Psychologie einen halb 
und halb psychophysischen Charakter erhalten. 

§. 5. Die unverkennbare Abhängigkeit der psychischen 
von den physiologischen Processen hat wiederholt zu dem 
Gedanken geführt, die Psychologie geradezu auf die Physio- 
logie zu gründen. Wir hörten, wie Comte die Phrenologie 
als Werkzeug psychologischer Forschung benützen wollte, ob- 
wohl in einer Gestalt, die mit der von Gall entwickelten 
keine nähere Aehnlichkeit zeigt. In Deutschland hat Hor- 
wicz neuerdings durch seine interessanten „Psychologischen 
Analysen auf physiologischer Grundlage" einen verwandten 
Versuch zur Neubegründung der Seelenlehre gemacht, nach- 
dem er sich über die Methode, welche er auf psychologischem 
Gebiete als die richtige betrachtet, in der Zeitschrift für 
Philosophie und philosophische Kritik in längerer Erörterung 
ausgesprochen hatte. 

Horwicz fällt nicht in den Fehler von Comte, welcher 
das Selbstbewusstsein bei Seite wirft. ImGegentheil würde ich 
ihm zum Vorwurfe machen, dass er dasselbe „zur wissenschaft- 
lichen Selbstbeobachtung" sich steigern lässt, und nur mit 
den anderen selbstbeobachtenden Psychologen zugibt, dass 



Capitel 3. Induction der höchsten Gesetze. 61 

„eine gute psychologische Beobachtung nicht Jedermanns 
Sache und überhaupt nicht jederzeit ausführbar" sei *). Aber 
trotzdem ist es nicht das Selbstbewusstsein , auf welches 
er eigentlich baut. Er will sich seiner nur vorbereitend be- 
dienen. Es soll ihm bloss einen vorläufigen rohen üeberblick 
über das Ganze der Seelenthätigkeit gewähren *). Alles Wei- 
tere erwartet er von der Physiologie. Daraus, dass diese 
„uns die speciellen Bedingungen des Vorkommens der Seele 
im Organismus, sowie des Wechselverkehrs beider liefert",, 
schöpft er „die methodologische Ueberzeugung , dass die 
Organisation der Seele — in ihren allgemeinsten und frühe- 
sten Umrissen — der Organisation des Leibes entsprechen . . . 
müsse ^)." Wir können nach ihm auf die Frage „nach 
der allgemeinsten Organisation und Gliederung des Seelen- 
lebens" eine Antwort nur dann erhalten, „wenn wir zuvor 
die Organisation und Gliederung des leiblichen Lebens stu- 
diren". Und so haben wir zunächst eine Rundschau über die 
Physiologie des Leibes zu halten, und dann zu versuchen, ob 
diese uns einen gesicherten Üeberblick über die Gesammt- 
Organisation der Seele gestattet. Für die Vollständigkeit der Auf- 
zählung der verschiedenen Seelenprocesse bürgt ihm „die physio- 
logische Grundlage, wenn es irgend richtig ist, dass kein see- 
lischer Process ohne stoffliches Substrat sich vollziehen kann*)." 
Aehnlich ist ihm bei allen folgenden Untersuchungen die Physio- 
logie, wie er anderwärts sich ausdrückt, „nicht bloss ein nütz- 
liches Beiwerk, sondern das methodologische Vehikel der For- 
schung^)", und er hofft namentlich, durch die physiologische 
Vergleichung aller Lebensprocesse „den Leitfaden zu finden. 



*) Methodologie der Seelenlehre. Zeitschr. f. Phil. u. philos. Kr, 
1872, LX. S. 170. Wie er damit die Behauptung: „wir sind unfähig, 
zu gleicher Zeit mehr als eine Vorstellung zu haben^' (Psych. Anal. L 
S. 262), vereinigen will, ist schwer einzusehen. Doch später (ebend. 
S. 326) scheint er selbst an ihrer Richtigkeit stark zu zweifeln. 

») Methodol. d. Seelenl. S. 187. Vgl. Psych. Anal. S. 155 ff. 

*) Methodol. d. Seelenl. S. 189. 

•) ebend. S. 190. 

») Psych. Anal. I. S. 175. 



62 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

der uns zu den gesuchten einfachsten Seelenelementen führt, 
von welchen aus dann die Entwickelung genetisch erfolgt ^)." 

Das sind verlockende Aussichten, namentlich in einer 
Zeit, wo die Naturwissenschaft alles, die Philosophie so gut 
wie kein Vertrauen besitzt. Die psychologische Wahrneh- 
mung, die mehr als Sache der Philosophen gilt, soll mit 
allem, was ihr entnommen wird, nur eine einleitende Vor- 
untersuchung bleiben. Dann nimmt der Naturforscher die 
Aufgabe in die Hand. Er bestimmt auf physiologischem 
Wege sogar die Zahl der Classen der psychischen Phänomene 
und ihren relativen Charakter. Er stellt ebenso fest, welches 
das primitive Seelenelement sei, entdeckt die Gesetze der 
Complication und leitet die höchsten psychischen Erschei- 
nungen ab. 

Doch wir dürfen uns durch das, was uns vielleicht wün- 
schenswerth erscheint, nicht unbedacht zu Illusionen fort- 
reissen lassen. Und es scheint nicht schwer zu zeigen, dass 
Horwicz die Dienste, welche die Physiologie der Psychologie 
leisten kann, in ganz ähnlicher Weise wie Comte überschätzt. 
Er gründet seine Ueberzeugung auf das Verhältniss der Psy- 
chologie zur Physiologie, welche, da sie von dem nächsthöhe- 
ren Begriffe, dem des Lebens nämlich, handle, in einer ähn- 
lichen Beziehung zu ihr, wie „die Mathematik zur Physik, 
und die Astronomie zur Geographie" stehe ^). Aber wie auch 
immer die Mathematik dem Physiker förderlich und unent- 
behrlich sein mag, wer sieht nicht ein, dass diese, wenn er 
in der Art sich an sie halten und sie zum Vehikel der For- 
schung machen wollte, wie Horwicz es vom Psychologen der 
Physiologie gegenüber verlangt, nicht das geringste Kesultat 
erzielen würde ? Was sollte , um nur auf Eines hinzuweisen, 
die Mathematik über die Zahl der Grundclassen der Phäno- 
mene lehren, von welchen der Physiker handelt? 

Vielleicht wird Horwicz erwidern, der Vergleich mit dem 
Verhältniss zwischen Mathematik und Physik sei, wie jeder 
Vergleich, nicht ganz genügend. Die Physiologie habe eine 

1) Methodol. d. Seelenl. S. 189. 
*) ebend. S. 188. 



Capitel 3. Induction der höchsten Gesetze. 63 

ganz besonders innige Beziehung zu dem psychologischen 
Oebiete , indem , wie er auch hervorgehoben habe , die 
Phänomene, welche sie betrachte, die Bedingungen für das 
Vorkommen der psychischen seien und in innigstem Wechsel- 
verkehr mit ihnen stehen. Aber angenommen, dies sei bei 
der Mathematik gegenüber der Physik nicht ebenso der Fall, 
ßo können wir dafür um so sicherer auf das Verhältniss 
zwischen der Chemie und Physik der unorganischen Phäno- 
mene einerseits und der Physiologie andererseits hinweisen. 
Das Unorganische enthält die Bedingungen für die Organis- 
men, und diese bestehen nur in dem steten und innigsten 
Wechselverkehr mit ihm. Allein wie gross auch die Hülfe 
sein möge, welche unorganische Chemie und Physik dem Phy- 
siologen gewähren, würde dieser jemals von ihnen genügen- 
den Aufschluss über die Gliederung der Organismen erwarten 
dürfen? Wird er nicht vielmehr sowohl das Ganze dieser 
Gliederung als die Functionen der einzelnen Theile an den 
physiologischen Phänomenen selbst zu erforschen haben? In 
dieser Hinsicht kann wohl kein Zweifel bestehen. 

Doch auch hier wird der Vergleich vielleicht als unzu- 
länglich beanstandet werden. Die unorganischen Phänomene, 
wird man sagen, sind zwar in stetem Wechselverkehr mit 
denen des Organismus, aber sie sind doch nicht in gleicher 
Weise, wie die physiologischen für die psychischen, ihr „stoff- 
liches Substrat". Nun ist es aber einmal schon nach Horwicz 
selbst nicht ganz leicht, die Besonderheit dieses Verhältnisses 
zu erklären, und noch schwieriger dürfte sein, dasselbe als 
universell für die Gesammtheit der psychischen Phänomene 
in gleicher Weise nachzuweisen. Nur das Eine allerdings 
leuchtet sofort ein, dass die Beziehungen zwischen den psy- 
chischen und den sie begleitenden physiologischen Phänome- 
nen von denen zwischen den unorganischen Phänomenen, die 
der Chemiker, und den Organismen, die der Physiologe be- 
handelt, jedenfalls sehr verschieden sind. Aber das Ergeb- 
niss eines sorgsameren Vergleichs und einer Berücksichtigung 
aller Umstände scheint uns mit Sicherheit vielmehr dahin zu 
fühi-en, dass bei weitem mehr Aufschluss von den chemischen 



64 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft 

über die physiologischen, als von diesen über die psychischen 
Erscheinungen zu erwarten ist. Die physiologischen Processe 
erscheinen den chemischen und physischen gegenüber in 
Wahrheit nur wie eine höhere Complication. Die Lebens- 
kraft, adeligeren Geschlechtes, ist seit Lotze eine mehr und 
mehr abgethane Sache. Der umfassendere Begriff des chemi- 
schen Phänomens ist als ein einheitlicher für die Umwand- 
lungen des Unorganischen wie für das Leben im physiologi- 
schen Sinne nachgewiesen. Es fehlt viel daran, dass von dem 
Begriffe des Lebens, wenn er auf physiologischem und psy- 
chischem Gebiete angewandt wird, das Gleiche gesagt werden 
könnte. Im Gegentheil sieht man sich, wenn man den Blick 
von Aussen nach Innen wendet, wie in eine neue Welt ver- 
setzt. Die Erscheinungen sind völlig heterogen, und selbst 
die Analogien verlassen uns gänzlich oder nehmen einen sehr 
vagen und künstlichen Charakter an^). Das war ja auch 
der Grund, wesshalb wir vorher bei der fundamentalen Ein- 
theilung des empirischen Wissensgebietes die psychische und 
die physische Wissenschaft als Hauptzweige von einander 
schieden. 

Der unglückliche Erfolg, den man hienach dem Versuche 
von Horwicz von vom herein verkünden konnte , bewährt 
sich auch thatsächlich. Eine tiefer und sicherer begründete 
Seelenlehre hoffte er zu geben, aber er hält sich an ober- 
flächliche Aehnlichkeiten und baut Hypothesen auf Hypothe- 
sen. Ein Beispiel für viele sind die Äwei „wichtigen Analo- 
gieen des seelischen Lebens mit dem leiblichen", welche er 
in seinen psychologischen Analysen am „Ariadnefaden des 
Nervensystems" findet 2). Die eine ist die zwischen der Ver- 
dauung im gewöhnlichen Sinne des W^ortes, die aus den von 
Aussen aufgenommenen Rohstoffen durch allmälige Umwand- 
lung und stufenweise Erhebung das arterielle Blut und aus ihm 
unsere Muskeln, Sehnen, Knochen, Nerven u. s. w. bildet, und der 
tropisch sogenannten Verdauung auf dem Gebiete des See- 
lenlebens. Der Assimilationsprocess, meint er, sei hier ganz 



^) Vgl. Lotze, Mikrokosmus I. S. 160 f. 
«) Psych. Anal. I. S. 148 ff. 



Capitel 3. Indttction der höchsten Gesetze. 65 

ähnlich. „Von Aussen treten die Einwirkungen der Dinge 
als Reize an die Perceptionsorgane der sensiblen Nerven. 
Aus ihnen als dem Rohmaterial nimmt die Seele (was wir 
nun einmal so nennen) ihre Nahrung in Form von Empfin- 
dungen auf. Wir sagen mit Recht, wenn uns eine Menge 
ganz fremder Eindrücke auf einmal trifft, wir müssten das 
erst verdauen. Die Seele aber verdaut, indem sie das ihr 
durch die Nerven zugeführte Rohmaterial zu Empfindungen 
und zu seelischen Producten immer höherer Art als Vor- 
stellungen, Begriffe, Urtheile, Schlüsse, Gefühlsrichtungen, 
Entschlüsse, Pläne, Maximen u. s. w. verarbeitet." Die an- 
dere Analogie soll die zwischen dem Gegensatze sensibler 
und motorischer Nerventhätigkeit, welcher das ganze Nerven- 
system beherrsche, während das sogenannte Centralorgan nur 
in Einschaltungsstücken zwischen diesen polarisch entgegen- 
gesetzten Strömen bestehe, und dem „eben so polarisch feind- 
lichen, eben so tief und eben so allgemein durchgreifenden", 
in verschiedenen Formen sich offenbarenden Gegensatze der 
seelischen Processe sein. Es ist dies der Gegensatz zwischen 
theoretischer und praktischer Grundrichtung, welcher, wie 
Horwicz glaubt, das ganze Gebiet des Seelenlebens durchsetzt. 
Auf diese beiden Analogieen gestützt, kommt er nach phy- 
siologischer Methode zu seiner Grundeintheilung der psychi- 
schen Phänomene, von der er selbst sagt, dass sie mit dem 
„eigentlich ganz richtigen Skelett des Seelenlebens, das Wolff 
aufstellte," wesentlich zusammentreffe. Die psychischen Phä- 
nomene zerfallen einerseits in niedere und höhere, anderer- 
seits in Phänomene des Erkennens und Begehrens, und beide 
Eintheilungen kreuzen einander. Nur gibt es, wie zwischen 
den niederen und höheren Phänomenen, so auch zwischen 
denen des Erkennens und Begehrens Uebergangsstufen , und 
hier findet die Classe der Gefühle, welche neuere Psycholo- 
gen zu unterscheiden pflegen, ihre Stelle. Auf sie weisen 
jene Einschaltungsstücke des Centralorgans hin. Und so 
gelangen wir denn auf Grund physiologischer Betrachtung 
ziemlich zu den gemeinüblichen Grundeintheilungen , nur 

Brentano,. Psychologie. I. 5 



66 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

vermöge eines exacteren Verfahrens, das, was es lehrt , auch 
sichert und erklärt. 

Es ist in der That schwer begreiflich, wie, trotz aller 
Voreingenommenheit für die Untersuchung auf dem Wege 
physischer Betrachtung, ein so urtheilsfahiger Kopf wie Hor- 
wicz sich darüber täuschen konnte, dass mit diesen rohen 
Analogieen (von welchen die eine nicht einmal auf das „Ner- 
vensubstrat des Seelenlebens*' mehr als auf andere Bestand- 
theile des Organismus sich bezieht) für das, was man etwa 
auf dem Wege psychischer Beobachtung gefunden, auch nicht 
die geringste Bekräftigung, geschweige ein Ersatz zu gewin- 
nen war. Wenn jene psychischen Classificationen nicht sicher 
waren, so ist es die Hypothese, wonach die sensiblen Nerven 
für das Erkennen, die motorischen für das Begehren als 
Substrat zu betrachten wären, noch viel weniger. Andere 
Physiologen haben diese Phänomene in Nervencentren und 
zwar Denken und Wollen in dieselben Nervencentren verlegt. 
Und in der That, warum sollten nicht, wie viele und verschie- 
dene Gattungen von physischen, so auch viele und verschie- 
dene Gattungen von psychischen Eigenschaften ein und dem- 
selben Stoffe -zugeschrieben werden können ? Es wird sich also 
schlechterdings auf diesem Wege über die Zahl der Seelen- 
vermögen nichts ermitteln lassen^). 

Wie nun hier schon die angestrebte Begründung und 
Sicherung vielmehr nur die Beigabe einer ganzen Zahl ge- 
wagter Hypothesen war, so finden wir etwas Aehnliches fast 



^) Horwicz selbst sagt: Wir müssen „bestimmt anDehmen. dass alle 
seelische Action an die Centralorgane des Nervensystems geknüpft sei. 
Wir konnten es . . . nicht wahrscheinlich finden, dass die verschiedenen 
Eigenschaften, Kräfte, Vermögen (oder wie man sich aasdrücken will) 
der Seele sich, wie die Phrenologen wollen, in bestimmte Partieen der 
Nervenmasse getheilt haben , sahen uns vielmehr zu der Annahme ge- 
nöthigt, dass die verschiedenen Organe und Gruppen und Systeme von 
Organen im Wesentlichen dieselben Functionen verrichteten, dass den 
einzelnen Centralorganen , resp. Theilen derselben, nicht verschiedene- 
Seelenkräfte entsprechen u. s. w/^ (Psych. Anal. I. S. 223.) Was für 
ein Werth soll aber dann der von ihm durchgeführten Analogie zu- 
kommen ? 



Capitel 3. Induction der höchsten Gesetze. 67 

bei jedem weiteren Schritte. Und da mit jeder neuen Hy- 
pothese die Wahrscheinlichkeit in geometrischem Verhältnisse 
abnimmt, so dürfen wir längst die moralische Ueberzeugung 
haben, von dem Wege der Wahrheit abgekommen zu sein, 
wenn wir, von dem Verfasser unerschrocken weitergeführt, 
zu dem Satze gelangen, „dass die innige und nothwendige 
Verbindung von Empfindung und Bewegung das einfache 
Element bildet, aus dem sich alle seelischen Processe bloss 
durch Wiederholung und Complication aufbauen". 

Dass das Wort Newton's „hypotheses non fingo" auf ihn 
als physiologischen Analytiker psychischer Erscheinungen 
nicht anzuwenden sei , dessen ist Horwicz selbst ^ith wohl 
bewusst, und er scheint sich zuweilen über die Unmöglich- 
keit seines Unternehmens völlig klar zu werden. So sagt er 
einmal (S. 156), die Physiologie vermöge „nicht in das fei- 
nere Detail der Seelenprocesse einzudringen'' (wie helles 
Licht sie auf die höchsten Classificationen geworfen, haben 
wir gesehen). Und wieder (S. 175) bekennt er, dass es zur 
erklärenden Zurückführung eines seelischen Gebildes auf seine 
physiologische Grundlage „vorläufig immer noch an sehr we- 
sentlichen Bindeghedern fehlt". Er stellt (S. 183) der Phy- 
siologie zwar die „grosse Aufgabe", die ganze Mannigfaltig- 
keit der Empfindungen und Bewegungen aus einem einzigen 
Erregungszustand der Nerven abzuleiten, aber er gibt zu- 
gleich zu, dass yär von diesem Ziele „noch weit entfernt" 
sind. Und wiederum sagt er (S. 224), es sei „höchst miss- 
lich, die physiologischen Erfahrungen zu Schlüssen über das 
Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Bewusstsein zu 
verwerthen". Er erkennt (S. 235) an, dass „die physiologi- 
schen Bedingungen des Schlafes unbekannt" seien, worin ent- 
halten ist, dass wir auf physiologischem Wege nicht ein- 
mal von der Existenz eines so merkwürdigen Phänomens 
eine Ahnung haben würden. Alles, was der Physiologe 
hier bieten kann, sind auch nach ihm (S. 250) „für jetzt nur 
fromme Wünsche und Phantasieen". Sehr offen und um- 
fassend endlich ist das Geständniss, das er (S. 288) gelegent- 
lich der Phänomene der Erinnerung ablegt: „Wir erinnern 



gg Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

wiederholt, dass es sich bei dem gegenwärtigen Stande der 
Wissenschaft nur um Hypothesen und denkbare Möglichkei- 
ten handeln kann. Es kann bei einer Materie, bei welcher 
Messer und Nadel so vollständig im Stiche lassen, selbstver- 
ständlich nicht darauf ankommen, zu sagen, wie die Dinge 
wirklich sein müssen; was man eben nicht weiss." Also auf 
Grund der Physiologie können wir, meint er, zwar Einiges 
als irrig bezeichnen, aber was die Wahrheit sei, keineswegs 
bestimmen. Es bleibt für mannigfache Hypothesen ein Spiel- 
raum. Liegt aber die Sache so, dann mögen wir der Phy- 
siologie zwar manchmal für einen warnenden Wink dankbar 
sein, aber sie im eigentlichen Sinne zur Führerin nehmen, wie 
Horwicz es thun will, das können wir sicher nicht. Nicht 
einmal eine Erklärung schon festgestellter psychischer That- 
Sachen wird sie uns geben können, oder diese wird von der 
Art sein, wie z. B. die, welche Horwicz (S. 325 flf.) für die 
von ihm anerkannte Einheit des Bewusstseins gibt. Auch 
hier sagt er selbst wiederholt und in aller Bescheidenheit, 
die Sache liege „noch zu sehr im Dunkeln". Das einzige 
zur Zeit Erreichbare sei, „anzugeben, auf welche physiologisch 
denkbare Weise es sich verhalten könnte, was in dieser 
Hinsicht wenigstens physiologisch möglich wäre". „Wel- 
cher Besonnene", ruft er aus, „macht sich auch an psycholo- 
gische Untersuchungen in der Erwartung, das letzte Räthsel 
de5 physisch - psychischen Zusammenhanges durch seine Ana- 
lysen erschlossen zu sehen." Er wolle, sagt er, nicht mehr 
als andeuten, „wie ungefähr die Theorie beschaffen sein 
müsse, welche die Erscheinungen der Reproduction auch 
physiologisch einigermaassen denk- und begreifbar mache", 
er suche sich „nur ein Bild zu machen, eine Vorstellung zu 
gewinnen, wie die Sache physiologisch sich verhalten könne". 
Ob er aber auch nur dieses wirklich erreicht habe, dürfte 
Manchem zweifelhaft bleiben. 

§. 6. Wenn nicht mehr, so doch sicher auch nicht we- 
niger als Horwicz hat Maudsley die Nothwendigkeit hervor- 
gehoben, die Psychologie auf Physiologie zu gründen. Manchmal 



Capitel 3. Induction der höchsten Gesetze. 69 

scheint er, wie wir auch oben schon erwähnten, geneigt, mit 
Comte das Selbstbewusstsein ganz und gar zu leugnen; wo 
er es aber anerkennt, da hebt er mit Nachdruck sein gänz- 
liches Ungenügen hervor. 

In einer Kritik von St. Mill's Werk über Hamilton, die 
er im „Journal of Mental Science" 1866 veröffentlichte, macht 
Maudsley es diesem Denker zum grossen Vorwurfe, dass er 
auf die physiologische Methode, die sich an Ergebnissen für 
die Psychologie bereits so fruchtbar erwiesen, keine Rück- 
sicht nehme, dass er sich einbilde, mit dem alten, auf innere 
Wahrnehmung gegründeten Verfahren das erreichen zu kön- 
nen, was Piaton, Descartes, Locke, Berkeley und vielen Andern 
nicht gelungen sei. „Wir haben", sagt er, „die feste Ueber- 
zeugung, dass auch tausend Mill nicht im Stande sein wer- 
den, etwas, was diese grossen Männer nicht erreicht haben, 
mit derselben Methode wie sie zu Stande zu bringen, wäh- 
rend es keinem Zweifel unterliegt, dass Herr Mill, wenn er 
sich hätte entschliessen können, sich des neuen Materials 
und der neuen Methode, die seinen grossen Vorgängern nicht 
zu Gebote standen, zu bedienen, Erfolge wie kein anderer 
Sterblicher erzielt haben würde." 

In seiner Physiologie und Pathologie der Seele sucht er 
sehr eingehend die Unmöglichkeit darzuthun, mit jener alten 
Methode irgend etwas Erkleckliches zu erzielen. Er hat 
freilich keine ganz entsprechende Vorstellung von ihr, inso- 
fern er glaubt, die älteren Psychologen hätten immer nur 
auf die ihnen individuell eigenen Phänomene geachtet, und auf 
alle anderen keine Rücksicht genommen, wesshalb er ihnen 
den drastischen Vorwurf macht, sie hätten mit einem Talg- 
licht das Universum beleuchten wollen ^). Schon dass der 
eine die Untersuchungen des anderen benützte, hätte ihn 
hier des Irrthums überführen können ; und hätte er sich sorg- 
faltiger umgesehen, so würde er bei James Mill und früher 
noch bei Locke, ja schon vor zwei Jahrtausenden bei Aristo- 
teles psychologisch merkwürdige Erscheinungen an anderen 

>) Phys. u. Path. d. Seele (übers, von Böhm) S. 23. 



70 Buch ]. Die Psychologie als Wissenschaft. 

Menschen so wie auch an Thieren berücksichtigt gefunden 
haben. Aber dies bleibt Nebensache, denn „Physiologie oder 
Psychologie", das ist die Frage, wie sie Maudsley selbst mit 
Klarheit formulirt, und er entscheidet sie ganz zu Gunsten 
der erstgenannten^). Jeder Versuch einer Psychologie gilt 
ihm von vom herein als verfehlt, wenn er nicht methodisch 
auf die Physiologie gegründet wird. 

Da Maudsley bei seinem Angrifife auf Mill von den 
fruchtbringenden Ergebnissen gesprochen, welche die phy- 
siologische Methode bereits für die Psychologie gehefert, und 
da er erklärt hatte, nur weil Mill sich nicht ihrer bedient habe, 
sei es ihm hier versagt geblieben, Erfolge wie kein anderer 
SterbKcher zu erzielen, so durfte ich wold mit der Erwartung, 
reiche Belehrung über psychologische Fragen zu gewinnen, 
die ßlätter seines Buches entfalten. Aber bald musste ich 
gewahren, dass sie zwar wiederholte Angrifife auf die alte 
Methode, nichts aber von den Errungenschaften der neuen 
enthielten. Ja, Angesichts der Aufgabe, an welche er phy- 
siologisch Hand anlegen soll, schwindet Maudsley in der Art 
der Muth, dass er sich selbst und sogar unsere ganze Zeit 
für unfähig erklärt, sie zu lösen. Er bekennt (S. 7) offen, 
„dass es bei dem gegenwärtigen Stande der physiologischen 
Wissenschaften unmögUch sei, sich durch Beobachtung und 
Experimente über die Natur derjenigen organischen Processe 
zu unterrichten, welche die körperliche Grundlage der See- 
lenvorgänge sind." Und wiedeinim sagt er (S. 26) : „Alles, 
was die Physiologie gegenwärtig thun kann, besteht in der 
Entkräftung der Sätze einer falschen Psychologie.*' Unsere 
Unwissenheit auf dem betreffenden physiologischen Gebiete, 
gesteht er, sei so gross, dass sie sehr begreiflicher Weise 
Zweifel errege, ob die Physiologie jemals im Stande sein 
werde, eine sichere Grundlage für die Seelenkunde zu legen. 
Und er tröstet uns damit, dass ja auch auf anderen Gebieten 
der Wissenschaft einer späteren Zeit Dinge gelungen seien, 
die vergangenen Jahrhunderten naturgemäss wie etwas Un- 



») Ebend. S. 22. 



Capitel 3. Inductioii der höchsten Gesetze. 71 

mögliches erschienen wären. Dann aber fügt er bei: „Frei- 
lich ist gegenwärtig noch keine Aussicht auf eine positive 
Psychologie vorhanden." 

Dies scheint in der That auf dem Standpunkte der phy- 
siologischen Methode eine unbestreitbare Wahrheit, deren 
offenem Bekenntniss selbst Horwicz manchmal nicht fern 
stand. Und vergleicht man seine kühneren und reicheren 
Ausfuhrungen mit den vorsichtigeren, spärlichen psychologi- 
schen Aufstellungen, welchen wir in dem Verlaufe des Werkes 
bei Maudsley begegnen, so. dient der Widerspruch der bei- 
den in den wesentlichsten Punkten wohl kaum dazu, die ver- 
blichene Hoffnung wieder aufzufrischen. Wir sehen also, 
nicht sowohl „psychologische oder physiologische Methode", son- 
dern „Sein oder Nichtsein der Wissenschaft", das ist, für die 
Gegenwart wenigstens, die Frage, um die es sich handelt. 
Und es wird darum unumgänghch nöthig sein, sich über sie 
volle Klarheit ^u verschaffen, damit wir nicht an einem von 
vom herein unmöglichen Unternehmen nutzlos unsere Kraft 
vergeuden. 

Wir haben gehört, wie Maudsley die Frage entschied. 
Hören wir auch die Motive seiner Entscheidung; denn 
Maudsley hat in seiner Physiologie der Seele viel eingehen- 
der, als Horwicz es gethan, die Gründe für die Noth wendig- 
keit, die Psychologie methodisch auf Physiologie zu basiren, 
dargelegt. 

Sie sind im Wesentlichen die folgenden. Vor Allem lie- 
gen nach Maudsley dem Seelenleben materielle Bedin- 
gungen zu Grunde, verschieden bei Verschiedenen und 
wechselnd bei Ein und Demselben , deren Besonderheiten 
Besonderheiten des Seelenlebens zur Folge haben. Nur die 
Physiologie kann über sie Aufschluss geben, das innere Be- 
wusstsein lehrt darüber offenbar nichts ^). 

Ferner hat das Gehirn, als dessen Function nach Maudsley 
alles Seelenleben zu betrachten ist, auch ein vegetatives 
Leben. Es unterliegt einem organischen Stoffwechsel, der 

») Ebend. S. 12. 



72 Buch I. Die Psjrchologie als Wissenschaft. 

zwar gewöhnlich, bei gesundem Zustand, unbewusst verläuft, 
jedoch oft, auch in's Bewusstsein sich drängend, ab- 
norme Erscheinungen in ihm bedingt. Es treten unwillkür- 
liche Gemüthsbewegungen auf, und ihnen folgt eine Ver- 
wirrung der Ideen. So führt z. B. die Gegenwart von Alcohol 
oder einem andern schädlichen Agens im Blute zu Vorstel- 
lungen, die weit ab vom gewöhnlichen Wege der Ideenasso- 
ciation liegen. Wie kann man anders als mittels einer phy- 
siologischen Methode über diese Erscheinungen Aufschluss 
gewinnen? und wie kann anders als durch sie auch die nor- 
male psychische Thätigkeit, die ja nicht minder auf dem 
organischen Leben des Gehirns beruht, erklärt werden? 
Dieses besteht in der Assimilation verwendbaren Materials 
aus dem Blute durch die Nervenzellen, und hiedurch wird 
nach jeder Leistung, und also auch nach dem Verbrauche, 
der durch die Vorstellungsthätigkeit in den Nervenzellen ge- 
setzt wurde, das statische Gleichgewicht wieder hergestellt. 
„Auf diese Weise folgt durch nutritive Attraction eine stän- 
dige (habituelle?) Vorstellung auf den Stoflverbrauch, der 
durch die functionelle Abstossung (functional repulsion) der 
activen Vorstellung bedingt war. Die Elemente der Gang- 
lienzelle erreichen so allmälig die Entwickelungsstufe, auf der 
sie zur Entfaltung ihrer Energien fähig sind." Ueber alles 
dies schweigt das innere Bewusstsein vollständig^). 

Ferner. Das Seelenleben involvirt nach Maudsley 
nicht nothwendig seine Bethätigung. Descartes 
behauptete allerdings, dass die Seele immer denke, und dass 
ihr nicht -Denken ihr nicht -Sein bedeuten würde. Aber 
das Gegentheil ist richtig. Was mit einer gewissen Vollstän- 
digkeit einmal im Bewusstsein vorhanden war, lässt, wenn es 
daraus verschwunden, eine Spur, eine potentielle oder latente 
Vorstellung zurück. Weit entfernt also, dass die Seele 
fortwährend thätig wäre, ist es vielmehr Thatsache, dass in 
jedem Moment der grösste Theil des Seelenlebens unthätig 
ist. „Die Kraft der Seele besteht eben so gut in der Auf- 



') Ebeod. S. 20 f. 



Oapitel 3. Induction der höchsten Gresetze. 73 

rechthaltung des Gleichgewichts, wie in der Kundgebung von 
Energie .... Kein Mensch kann in einem Moment auch nur 
den tausendsten Theil seines Wissens sich in's Bewusstsein 
rufen. Wie ungemein geringe Rechenschaft kann uns also 
das Bewusstsein von dem statischen Zustand unserer Seele 
geben! Aber, da das Gleichgewicht der Seele in Wirklich- 
keit eben nur der Gleichgewichtszustand der organischen 
Elemente ist, welche ihren Aeusserungen zu Grunde liegen, 
so ist es klar, dass, wenn wir irgend etwas von dem un- 
thätigen Zustand der Seele wissen wollen, wir die Fort- 
schritte der Physiologie zu unserer Belehrung in's Auge fassen 
müssen ^)." 

Noch mehr! Nicht bloss schliesst das Seelenleben nicht 
noth wendig Seelenthätigkeit, auch die Seelenthätigkeit 
schliesst nicht nothwendig Bewusstsein ein. 
Maudsley beruft sich hier auf Leibnitz und auf seinen Lands- 
mann Sir W. Hamilton, welcher nach dessen Vorgang eben- 
falls die Lehre von unbewussten Vorstellungen vertrat. Auch 
glaubt Maudsley , es sei nachweisbar , dass das Organ der 
Seele sich oft, ja gewöhnlich, unbewusst mittels der Sinne 
die Einflüsse seiner Umgebung aneigne, nämlich im Zustande 
völliger Unachtsamkeit. Obwohl der Eindruck dann keine 
bewusste Vorstellung hervorbringe, so bleibe er nichts- 
destoweniger und beeinflusse fortwährend das Seelenleben*). 
Ebenso erfahre das Gehirn als Centralorgan unbewusst ver- 
schiedene innere Reize von andern Organen , auf welche es 
seinerseits reagire. Der Einfluss der Sexualorgane auf das 
Gehirnleben sei dafür ein deutliches Beispiel^). Auch ver- 
arbeite es unbewusst das Material und rufe ohne Bewusst- 
sein die latenten Residua wieder wach. „Des Schriftstellers 
Bewusstsein", sagt er, „ist hauptsächlich mit seiner Feder 
imd mit der Gestaltung der Sätze beschäftigt, während die 
Früchte der unbewussten Seelenthätigkeit, unbewusst heran- 



») Ebend. S. 15 f. 
«) Ebend. S. 13 f. 
») Ebend. S. 19 f. 



74 Buch I. Die Psychologie als Wissenscbaft. 

gereift aus unbekannten Tiefen, in das Bewusstsein empor- 
steigen und mit seiner Hülfe in passende Worte eingekleidet 
werden^)." Er citirt das Wort Goethe's: „Ich habe nie an 
Denken gedacht", welches ihn auf die Vermuthung bringt, 
dass der Mensch in seiner höchsten Entwickelung zu einer 
ähnlichen Unbewusstheit seines Ich wie das Kind gelangt 
sei und mit kindlicher unbewusstheit in seiner organischen 
Entwickelung fortfahre*). So kommt er denn zu der Be- 
hauptung, dass nicht bloss das Seelenleben nicht nothwendig 
Seelenthätigkeit und die Thätigkeit der Seele Bewusstsein 
einschliesse , sondern „dass der wichtigste Theil der 
Seelenthätigkeit, der wesentlichste Process, von dem 
das Denken abhängt, in einer unbewussten Thätig- 
keit der Seele bestehe". Er wiederholt demnach die 
Frage : „Wie kann das Bewusstsein hinreichen, uns die That- 
sachen für eine wahre Kenntniss der Seele zu liefern?"^) 

Zu dem Allem kommt schüesslich, wenn anders ich 
Maudsley recht verstehe, noch ein Hinweis auf das Princip 
der Vererbung von Geschlecht zu Geschlechte*). Wie 
in dem Einzelnen Residua des früheren Seelenlebens fortbe- 
stehen, so erhalten sie sich auch in der Art. Das Genie 
unterscheidet sich von der gemeinen Menge der Sterblichen, 
wie der Schmetterling, der fliegt und von Honig sich nährt, 
von der Raupe, welche kriecht und von Blättern lebt. Aber 
doch ist das Kriechen der Raupe die Vorbedingung für den 
Flug des Schmetterlings; und das mühselige bewusste Wir- 
ken der gewöhnlichen Arbeitskraft liefert die Vorbedingungen 
zu den unbewussten Schöpfungen des reichgebomen Geistes. 
Es ist klar, dass dieser Einfluss der Vererbung wiederum 
dem Gebiete des Bewusstseins entzogen ist. 

Dieses sind im Wesentlichen die Gründe, durch welche 
Maudsley es für erwiesen hält, dass kein psychologischer 
Versuch, ausser ein solcher, der die Seelenerscheinungen von 

*j Ebend. S. 16. 

») Ebend. S. 32. 

») Ebend. S. 19. 

*) Ebend. S. 32 flP., vgl. S. 17 f. 



Capitel 3. Induction der höchsten Gesetze. 75 

der physiologischen Seite erforsche, der Aufgabe genügen 
könne. 

Dass nun dieses in einer gewissen Weise wahr ist, 
würde ich wenigstens auch vor seinen Argumenten ihm zu- 
gestanden haben; ob es aber in dem Sinne und in dem Maasse 
wahr sei, in welchem er selbst glaubt, muss untersucht werden, 
und wir wollen zu dem Zwecke seine Gründe in etwas nähere 
Erwägung ziehen. 

Vor Allem ist es bemerkenswerth , dass von den That- 
sachen, auf welchen Maudsley fusst, um die Unfähigkeit der 
psychischen und die Noth wendigkeit der physiologischen Me- 
thode darzuthun, ein guter Theil selbst nur durch psychische, 
der Rest aber jedenfalls ohne tiefergehende physiologische 
Betrachtujigen gewonnen wurde, da er vielmehr, noch ehe 
man von Gehimphysiologie eine Ahnung hatte, bekannt war. 
Auf psychischem Wege kam man zu den Annahmen angeborener 
Kenntnisse und einer Genialität, die leicht und durch unmittel- 
bare Intuition das erfasse, welchem Andere nur mühsam durch 
langwierige Erörterung sich nähern. Ebenso waren es psy- 
chische Ei-scheinungen, die zuerst Leibnitz dahin führten, an 
unbewusste Vorstellungen zu glauben, und die später Hamilton 
imd Andere bestimmten, seiner Lehre beizupflichten. Und 
wiederum geschah es auf Grund von inneren Erfahrungen, 
wenn schon im Alterthum Aristoteles jene unbewussten Ha- 
bitus und Dispositionen lehrte, die Maudsley als statischen 
Zustand des Seelenlebens bezeichnet. Der Einfluss der vege- 
tativen Processe und die psychis(*hen Störungen in Folge des 
Genusses berauschender Getränke, sowie der Zusammenhang 
physischer mit psychischen Eigenthümlichkeiten überhaupt 
sind aber Thatsachen, deren Kenntniss sich bis in eine graue 
Vorzeit zurückverfolgen lässt. Es hätte also diese Erkennt- 
niss des eigenen Unvermögens wenigstens die psychische Me- 
thode nicht eigentlich der physiologischen, sondern der Haupt- 
sache nach sich selbst zu danken. 

Dann aber ist zu beachten, dass Einiges von dem, was 
Maudsley zum Stützpunkt seiner Angriffe macht, keineswegs 
so vollkommen, wie er zu glauben scheint, gesichert ist. Dies 



76 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

gilt z. B. hinsichtlich der Vererbung, wenn anders Maudsley 
wirklich eine Vererbung von Kenntnissen meint, und 
wir werden hierauf, wenn wir von den angeborenen Ideen han- 
deln , zu sprechen kommen. Sollte dagegen Maudsley nur 
eine Vererbung von besonderen Anlagen behaupten wollen, 
welche einen grossen psychischen Unterschied zwischen ver- 
schiedenen Individuen begründe, so wäre die Schwierigkeit, 
welche hieraus der psychologischen Erforschung erwüchse, 
keine, die nicht schon in den früher hervorgehobenen ent- 
halten wäre, und mit ihnen zugleich würde dann auch sie 
sich erledigen. 

Auch die Existenz unbewusster Vorstellungen 
ist weit davon entfernt, als eine gesicherte Thatsache gelten 
zu können. Die Mehrzahl der Psychologen verwirft sie. Und 
was mich betrifft, so scheinen mir nicht bloss die für ihre 
Annahme erbrachten Gründe nicht schlagend', sondern ich 
hoffe später in einer Weise, die kaum einem Zweifel Raum 
lassen dürfte, die Wahrheit des Gegentheils darzuthun^). 
Maudsley beruft sich auf Thatsachen, wie die bekannte Ge- 
schichte, „welche Goleridge von einem Dienstmädchen er- 
zählt, das im Fieberdelirium lange Stellen in hebräischer 
Sprache recitirte, die es nicht verstand und in gesunden Ta- 
gen nicht wiederholen konnte, die es aber, als es bei einem 
Geistlichen wohnte, diesen laut vortragen gehört hatte", 
ebenso auf das starke Gedächtniss, welche gewisse Idioten 
zeigen, und dergleichen mehr. Diese Erscheinungen, meint er, 
lieferten einen klaren Beweis für unbewusste Seelenthätigkeit. 
Ich sehe nicht ein, aus welchem Grunde. Sowohl beim Hören 
hatte jenes Dienstmädchen vom Hören, als auch bei der Wieder- 
kehr des früher Gehörten in der Phantasie von den in ähn- 
licher Weise erneuerten Erscheinungen ein Bewusstsein. 
Wenn aber Goethe sagt, er habe nie an Denken gedacht, 
während es bei ihm doch gewiss nicht an Denken fehlte, so 
will er wohl nichts Anderes sagen, als dass er sich nie bei 



^) Vgl. das II. Buch, 2. Capitel, welches in den §§. 4 und 5 auch 
auf Maudley's Argumente zurückkommt. 



Capitel 3. Induction der höchsten Gesetze. 77 

seinem Denken beobachtet habe, was nach unserer früheren 
Erörterung noch keineswegs bedeutet, dass sejin Denken ein 
unbewusstes gewesen sei. Denn sonst könnte man ihn fra- 
gen, auf welchem Wege er zu dem Begriffe des Denkens 
selbst gekommen sei, von dem er redet. 

Das Alles scheint also weder gesichert, noch auch wahr. 
Unzweifelhaft dagegen ist der Bestand jener habituellen 
Dispositionen in Folge früherer Acte. Und dass ihre 
Existenz nicht geleugnet werden kann , ist ein Zeichen, dass 
die psychische Methode nicht so ganz machtlos ist, wie 
Maudsley glaubt; denn, wie gesagt, nur auf psychischem 
Wege kam man zu ihrer Erkenntniss. Freilich zeigt es auf 
der anderen Seite unleugbar auch eine Schranke, welche mit psy- 
chologischen Mitteln nicht zu übersteigen ist. Denn wollen wir 
überhaupt es als sicher zugeben, dass diese erworbenen Fähig- 
keiten und Dispositionen an Wirklichkeiten geknüpft sind 
(und ich wenigstens nehme keinen Anstand, es zu thun, ob- 
wohl mancher andere Metaphy siker , wie z. B. J. St. Mill, 
Bedenken tragen würde), so müssen wir eingestehen, dass 
dieselben keine psychischen Phänomene sind, da sie sonst, 
wie wir darthun werden, bewusst sein würden. Die psychi- 
sche Betrachtung lehrt sie nur als in sich unbekannte Ur- 
sachen, welche das Entstehen von späteren psychischen Phä- 
nomenen beeinflussen, sowie als in sich unbekannte Wirkungen 
von früheren psychischen Erscheinungen kennen. Auf dem 
einen sowohl als auf dem andern Wege kann sie in einem 
einzelnen Falle nachweisen, dass sie sind; ein Wissen von 
dem, was sie sind, kann sie uns dagegen niemals und in kei- 
ner Weise geben. 

Allein wird unsere Erkenntniss der „statischen Zustände 
des Seelenlebens", die wir auf psychischem Wege in so be- 
schränkter Weise gewinnen, desshalb als werthlos zu be- 
trachten sein? — Wenn dies, was für einen Werth sollten 
wir dann der Naturwissenschaft beilegen, die viel früher auf 
solche Schranken stösst? Denn, wie schon gesagt, geben 
uns die physischen Phänomene der Farbe, des Tones und der 
Temperatur, sowie auch das der örtlichen Bestimmtheit von 



78 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

den Wirklichkeiten, durch deren Einfluss sie in uns zur Er- 
scheinung kommen, keine Vorstellung. Wir können sagen, 
dass es solche Wirklichkeiten gibt, wir können gewisse re- 
lative Bestimmungen von ihnen aussagen : was aber und wie 
sie an und für sich sind, bleibt uns völlig undenkbar. Und 
wenn darum die Physiologie des Gehirns sogar eine voll- 
endete Ausbildung erlangt hätte, so würde sie über das, was 
die Wirklichkeiten, an die sich jene erworbenen Dispositionen 
knüpfen, in Wahrheit sind, nicht mehr als die rein psy- 
chische Betrachtung uns belehren können. Sie würde nichts 
als gewisse physische Erscheinungen angeben, denen dasselbe 
unbekannte x als Ursache zu Grunde läge. 

Dennoch würde sie in einer andern Beziehung wenigstens 
uns mehr bieten. Wenn ein psychisches Phänomen eine 
Disposition zurücklässt, aus welcher später einmal wieder 
ein ihrer Ursache ähnliches Phänomen erzeugt wird, so zeigt 
uns die innere Erfahrung zwar den früheren und den spä- 
teren psychischen Zustand und lässt uns einen gesetzmässigen 
Zusammenhang zwischen ihnen erkennen, aber über Alles, 
was etwa zwischen beiden vermittelt, gibt sie uns keine Andeu- 
tung. Anders würde es sein, wenn wir die physischen Phäno- 
mene kennten, welche man unter geeigneten Bedingungen in der 
Zwischenzeit im Gehirn auf einander folgen sähe. Wir hätten 
dann eine Reihe von Zeichen, welche in ihrer Aufeinanderfolge 
der Aufeinanderfolge des unbekannten wirklichen Seins ent- 
sprechen würden, und könnten in Relation zu diesen Zeichen 
verschiedene vermittelnde Glieder zwischen den beiden in- 
nerlich bewussten Phänomenen einschalten. So würden wir 
das psychisch gefundene Gesetz in einer ähnlichen Weise er- 
klären, wie anderwärts ein Naturgesetz, wenn wir bei einem 
mittelbaren Zusammenhang von Ursache und Wirkung Zwi- 
schenglieder entdecken. Und da es sich zeigt, dass jene 
vermittelnden physischen Phänomene nicht immer gleichför- 
mig verlaufen, und dass an die Verschiedenheit ihres Ver- 
laufs eine Verschiedenheit der späteren psychischen Erschei- 
nung sich knüpft, so würde die Vermehrung unserer Kennt- 
nisse von noch grösserer Wichtigkeit sein. Wenn in jedem 



Capitel 3. Induction der höchsten Gesetze. 79 

FaUe das empirische Gesetz für den Zusammenhang der bei- 
den psychischen Phänomene durch die physiologischen Ent- 
deckungen eine Erklärung und vollkommenere Sicherung gefun- 
den hätte, so würde ihm nun zugleich eine genauere Präcision 
gegeben werden. Denn die Abweichungen von einer strengen 
Regelmässigkeit offenbaren sich allerdings auch dem bloss 
psychisch Betrachtenden, aber er kann ihnen nicht anders 
Rechnung tragen, als indem er sein Gesetz durch ein „gewöhn- 
lich" und „ungefähr'* abschwächt. Der durch die Physiologie 
unterstützte Psychologe dagegen wird mit der Erklärung des 
Gesetzes auch die genauere Angabe der Fälle von Ausnahme 
und Modification zu verbinden im Stande sein. 

So hat Maudsley hier allerdings mit Recht auf eine 
Schwäche jeder nicht physiologischen Psychologie hingewie- 
sen. Aber Unrecht hatte er, wenn er ihrer Leistung statt 
eines beschränkten Werthes gar keinen Werth zuerkannte. — 
Wir geben zu, das auf psychischem Wege gefundene Gesetz 
der Succession ist empirisch und weiterer Erklärung bedürf- 
tig. — Aber hat die Naturwissenschaft nicht auch manches 
empirische und weiterer Erklärung bedürftige Gesetz, wel- 
chem sie dennoch einen hohen Werth beilegt? Oder waren 
die von Kepler entdeckten Gesetze etwa werthlos, ehe Newton 
die Erklärung für sie gegeben hatte? — Wir geben ferner 
zu, das auf psychischem Wege gefundene Gesetz der Succes- 
sion entbehrt der vollkommenen Genauigkeit und Schärfe. — 
Aber hat nicht auch die Naturwissenschaft Gesetze, von wel- 
chen dasselbe gilt? Waren nicht, um zu demselben grossen 
Beispiel zu greifen, die Gesetze Kepler's selbst von mangel- 
hafter Genauigkeit? und um wie viel mehr erst diejenigen, 
welche Kopemikus den Lauf der Planeten beherrschend 
dachte? Und doch war die von ihm gelehrte Kreisdrehung 
der Erde um die Sonne bereits eine werthvoUe, epoche- 
machende Annäherung. Es folgt also, wie gesagt, aus der vor- 
angegangenen Betrachtung zwar eine Einschränkung, keines- 
wegs aber eine Vernichtung des Werthes der Forschungen 
auf psychischem Wege. 



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Capitel 3. Induction der höchsten Gesetze* 81 

normalen Zustände feststeUen. Es ist von vom herein nicht 
unwahrscheinlich, und die Erfahrung bestätigt es deutlich, 
dass diQse besonderen Gesetze von complicirter Art sind, und 
dass in ihre Complication die gewöhnlichen Gesetze mitein- 
gehen. Darauf, dass man auch die Gesetze psychischer Suc- 
cession bei anomalen Zuständen bis zu einem gewissen Maasse 
kennt, gründet sich der vielleicht wesentlichste Theil der 
ärztlichen Behandlung geistesgestörter Personen, nämlich die 
sogenannte moralische Behandlung der Irren. 

Das Ergebniss der Prüfung dieses Einwandes, der sich 
auf die Unzugänglichkeit von Mitbedingungen psychischer 
Erscheinungen bezog, ist also ganz ähnlich demjenigen, zu 
welchem die Prüfung des vorigen Einwandes führte, der die 
Unzugänglichkeit von Vorbedingungen psychischer Erschei- 
nungen für die psychische Untersuchung geltend machte. 

Hienach sieht Jeder, was auch auf das erste Argument 
zu antworten ist, das einzige, auf welches uns noch zu ent- 
gegnen erübrigt. Wenn dem psychischen Leben, wie Maudsley 
sagt, materielle Bedingungen zu Grunde liegen: so 
beweist dies nur, dass die auf psychischem Wege allein zu 
findenden Gesetze der Succession keine eigentlich letzten 
Grundgesetze sind und eine Erklärung zu wünschen übrig 
lasseh, die nur mittels physiologischer P'orschung erreichbar 
i«t. Mehr beweist es nicht. Und wenn die Unterschiede 
dieser physischen Bedingungen bei verschiedenen Personen 
Unterschiede ihres Seelenlebens zur Folge haben: so beweist 
dies nur, dass in demselben Maasse, als dies der Fall ist, die 
in unterschiedsloser Allgemeinheit aufgestellten Gesetze an 
Präcision verlieren ; und dass es, um diesem Mangel abzuhel- 
fen, wünschenswerth ist, dass eine specielle Psychologie (wie 
z. B. eine Psychologie der Frauen einerseits, der Männer an- 
dererseits), um nicht zu sagen eine individuelle Psychologie, 
wie Bacon sie wollte, und wie Mancher sie sich bis zu einem 
gewissen Grade für einzelne Bekannte bildet, zur allgemeinen 
hinzukomme. Im Uebrigen zeigt es sich an den allgemeinen 
Beschreibungen der Zoologen wie Botaniker, die doch auch 
mit Arten zu thun haben, in welchen kein Individuum dem 

Brentano, Psychologie. I. .6 



82 Bach L Die Psychologie ala Wissenschaft 

anderen vollkommen deicht, da^ auch in solchen Fällen die 
allgemeinen and dnrciisdmittlichen Bestinunangen nicht ohne 
hohen Werth bleiben. Ein solcher wird denn auch den auf 
rein paychologiach«n Wege gefundenen Gesetzen nicht abge- 
sprochen werden können. 

§. 7. Wir haben die Ansicht derjenigen geprüft, welche 
sagen, die Psychologie könne allein auf physiologischer Grund- 
lage ihre Angabe lösen; jeder Versuch dagegen, der sich 
nur auf die Betrachtung psychischer Erscheinungen stütze, 
müsse erfolglos bleiben. Indem wir die Behauptung auf ihr 
richtiges Maass zurückführten^ kamen wir zu einem Ergebniss, 
das mit früheren Bestimmungen im Einklang war. Es er- 
wies sich als unrichtig, daas auf psychischem Wege nichts 
erreichbar sei: als richtig, dass auf ihm nicht Alles erreicht 
werden könne. Es erwies sich als unrichtig, wenn man glau- 
ben machen wollte, es liessen sich auf Grund psychischer 
Erfahrungen keine Gesetze feststellen: als richtig, wenn man 
sich darauf beschränkte, zu sagen, es sei nur auf Grund phy- 
siologischer Thatsachen ein Vordringen zu eigentlichen Grund- 
gesetzen für die Succession psychischer Erscheinungen möglich. 
Die höchsten Generalisationen auf Grund ausschliesslicher 
Betrachtung der Aufeinanderfolge psychischer Erscheinungen 
konnten nichts anderes als empirische Gesetze sein, behaftet 
mit Mängeln und UnvoDkommenheiten , wie sie auch sonst 
secundären Gesetzen, für welche die Ableitung fehlt, eigen 
zu sein pflegen. 

Wirft man nun die Frage auf, ob die Psychologie wohl 
thun werde, auf Grund physiologischer Data jene letzte Rück- 
führung ihrer höchsten Gesetze auf eigenthche Grundgesetze 
anzustreben : so ist es wohl klar, dass die Entscheidung ähn- 
lich derjenigen sein muss , welche A. Bain ^) hinsichtlich der 
Vortheile einer Einmischung physiologischer in psychologische 
Untersuchungen in allgemeinerer Weise gegeben hat. Auf 
einer Stufe der Erkenntniss mag der Versuch dienhch sein. 



*) Logic II, p. 276. 



Capitel 3. Indnction der höchsten Gesetze. 83 

während er auf einer andern nachtheilig ist. Obwohl wir nun 
hoffen und sehnlichst wünschen, dass die Physiologie des 
Gehirns einmal jene Ausbildung erreichen werde, die sie 
zu einer Erklärung der höchsten Gesetze psychischer Succes- 
sion anwendbar macht : so glauben wir doch, dass die Geständ- 
nisse derjenigen selbst, welche am Eifrigsten eine Benützung 
der Physiologie befürworteten, mit zweifelloser Klarheit zei- 
gen, dass die Stunde dafür noch nicht gekommen ist. Und 
so sagt denn J. St. Mill mit vollem Rechte: „Die Hülfs- 
mittel der psychologischen Analyse zu verwerfen und die 
Psychologie auf Data zu gründen, wie sie die Physiologie bis 
jetzt darbietet, scheint mir ein sehr grosser Irrthum im Prin- 
cipe zu sein und ein sehr ernstticher Irrthum in der Praxis. 
Wie unvollkommen auch die psychische Wissenschaft sein 
mag, so stehe ich doch nicht an zu behaupten, dass sie be- 
deutend weiter vorgeschritten ist, als der ihrentsprechende Theil 
der Physiologie : und die erstere für die letztere hinwegzugeben, 
scheint mir eine Verletzung der wahren Regeln der inductiven 
Philosophie, eine Verletzung, welche in einigen sehr wichtigen 
Zweigen der Wissenschaft von der menschlichen Natur irrige 
Schlüsse nach sich zieht und ziehen muss^)." Wir können 
noch mehr sagen. Nicht bloss das Hinweggeben der psycho- 
logischen Untersuchung für die physiologische, auch die Bei- 
mischung der letzteren in bedeutendem Umfange scheint 
wenig räthlich. Es gibt bis zur Stunde überhaupt nur 
wenige gesicherte Thatsachen der Physiologie, welche auf die 
psychischen Erscheinungen Licht zu werfen geeignet sind. 
Zur Erklärung der Gesetze ihrer Succession wären wir an 
die luftigsten Hypothesen gewiesen ; und würden viele geist- 
reiche Köpfe sich hier versuchen, so würden wir bald eine 
solche Fülle seltsam combinirter Systeme und einen solchen 
Gegensatz divergirender Meinungen sehen, wie sie etwa das 
Gebiet der Metaphysik heutigen Tages aufzuzeigen hat. 
Weit entfernt, hiedurch etwas für die Sicherung der psychi- 
schen Gesetze gewonnen zu haben, würden wir diese dem 



*) Deduct. u. Induct. Logik, Buch VI. Cap. 4. §. 2. (Uebers. v. Schiel.) 

6* 



g4 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

Verdacht aussetzen, selbst in gleicher Weise hypothetisch zu 
sein. Aus demselben Grunde, wesshalb es uns gut schien, mög- 
lichst von allen metaphysischen Theorien Umgang zu 
nehmen, wird es also zweckmässig sein, auch von den Hypo- 
thesen zum Behuf physiologischer Erklärung abzusehen. 
Dass Hartley dies nicht gethan, war, wie J. St. Mill in sei- 
ner Vorrede zur Analyse der Phänomene des menschlichen 
Geistes bemerkt, ein wesentlicher Grund, warum sein genialer 
Versuch lange Zeit nicht die verdiente Berücksichtigung fand. 



Viertes Capitel. 

Fortsetzung der Untersnchnngen über die Methode 

der Psychologie. Ungenauer Charakter ihrer höchsten 

Gesetze. Dednction nnd Yerification. 

§. 1. Die höchsten Gesetze, auf welche wir heutigen 
Tages, und wohl auch lange noch, die Erscheinungen psychi- 
scher Succession zurückführen können, sind, wie wir sahen, 
bloss empirische Gesetze. Noch mehr ! sie sind auch Gesetze 
von einem gewissen unbestimmten, inexacten Charakter. Und 
dies hat, wie wir bereits in Kürze gezeigt haben, zum Theil 
in dem Vorigen seinen Grund; zum Theil aber ist die ünge- 
nauigkeit Folge eines anderen ümstandes. 

Kant hat seiner Zeit der Psychologie die Befähigung 
abgesprochen, jemals zum Range einer erklärenden Wissen- 
schaft und einer Wissenschaft im eigentlichen Sinne sich zu 
erheben. Der wesentlichste Grund, der ihn dabei bestinmite, 
war der, dass die . Mathematik auf psychische Phänomene 
nicht anwendbar sei, da diese zwar einen zeitlichen Verlauf, 
aber keine räumliche Ausdehnung hätten ^). 

Wundt in seiner „Physiologischen Psychologie" sucht 
diesen Einwand zu entkräften. „Es ist", sagt er hier, „nicht 
richtig, dass das innere Geschehen nur eine Dimension, die 



I) Metaph. Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Vorred^. 



86 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

Zeit, hat. Wäre dies der Fall, so würde allerdings von einer 
mathematischen Darstellung nicht die Rede sein können, weil 
eine solche immer mindestens zwei Dimensionen, d. h. zwei 
Veränderliche, die dem Grössenbegriflf subsumirt werden kön- 
nen, verlangt. Nun sind aber unsere Empfindungen, Vor- 
stellungen, Gefühle intensive Grössen, welche sich in der 
Zeit an einander reihen. Das innere Geschehen hat also 
jedenfalls zwei Dimensionen, womit die allgemeine Möglich- 
keit, dasselbe in mathematischer Form darzustellen, gegeben 
ist^)." Wundt zeigt sich also darin mit Kant einverstanden, 
dass, wenn die psychischen Erscheinungen keine andere con- 
tinuirliche Grösse als die zeitliche Ausdehnung hätten, der 
wissenschaftliche Charakter der Psychologie eine bedeutende 
Einbusse erfahren würde. Nur der Umstand, dass in der In- 
tensität der psychischen Phänomene eine zweite Art stetiger 
Grösse, die Wundt etwas uneigentlich eine zweite Dimen- 
sion nennt, gefunden wird, macht, wie es scheint, nach ihm 
die Psychologie als exacte Wissenschaft möglich. 

Leider fürchte ich, dass das Gegentheil der Fall ist. 
Jener Einwand von Kant würde mir wenig Bedenken machen. 
Denn einmal scheint mir immer noch Gelegenheit zur An- 
wendung der Mathematik zu bleiben, so lange nur etwas da 
ist, was gezählt werden kann. Wenn gar keine Unterschiede 
der Intensität und des Grades stattfänden, so wäre es eine 
Sache der Mathematik, zu entscheiden, ob eine Idee durch 
Association hervorgerufen würde, wenn drei Umstände dafür, 
zwei dagegen wirkten. Und dann scheint mir die Mathema- 
tik zur exacten Behandlung aller Wissenschaft nur darum 
nöthig, weil wir nun einmal thatsächlich in jedem Gebiet auf 
Grössen stossen. Würde es ein Gebiet geben, worin nichts 
der Art vorkäme, so wären dafür exacte Feststellungen 
möglich auch ohne Mathematik. Beständen auf dem Gebiete 
der psychischen Erscheinungen keine Intensitäten, so wäre 
der Fall ähnlich, wie wenn allen Erscheinungen eine gleiche 
und invariabele Intensität zukäme, von der man füglich 



') Grundzüge d. physiol. Psych. S. 6. 



Capitel 4. Ungenauigkeit der höchBten Gesetze. 87 

gänzlich absehen könnte. Offenbar wären alle Bestimmun- 
gen der Psychologie dann nicht weniger exact als jetzt, 
und nur ihre Aufgabe wäre wesentlich vereinfacht und er- 
leichtert. Nun aber bestehen thatsächlich jene Unterschiede 
der Intensität in Vorstellungen und Aflfecten; und an sie 
knüpft sich die Nothwendigkeit mathematischer Messung: 
wenn anders die Gesetze der Psychologie jene Bestimmtheit 
und Genauigkeit wieder erlangen sollen, die ihnen, wenn 
keine Intensität, oder wenigstens kein Unterschied der In- 
tensität ihrer Phänomene bestände, zukommen würden. 

§.2. Herbart war es, der zuerst das Bedürfniss sol- 
cher Messungen betonte; und das Verdienst, welches er 
sich dadurch erwarb, ist ebenso allgemein anerkannt, als das 
gänzliche Misslingen seines Versuches, wirkUch Maassbestim- 
mungen zu finden. Die Willkürlichkeit der letzten Prin- 
cipien, die er seiner mathematischen Psychologie zu Grunde 
legt, kann durch das consequente sich-Binden an die strengen 
Gesetze der Mathematik bei der Ableitung der Folgerungen 
nicht wieder gut gemacht werden. Und so zeigt es sich 
denn, dass für die Erklärung der psychischen Phänomene, 
wie die Erfahrung sie zeigt, auf diesem Wege nicht das Ge- 
ringste gewonnen wird. Keinerlei Voraussagung lässt sich 
auf sie gründen ; ja dem, was man nach ihnen am Sichersten 
erwarten müsste, widerspricht das, was man thatsächlich ein- 
treten sieht. 

Später hat, nach dem Vorgange von E. H. Weber, 
Fe ebner in seiner „Psychophysik" einen neuen Versuch ge- 
macht, der auf die Messung der Intensität psychischer Phä- 
nomene abzielte. Fechner vermied den Fehler Herbart's. 
Er wollte nicht anders als an der Hand der Erfahrung ein 
grundlegendes Gesetz für die Messung finden. Und ähnlich 
wie man den zeitlichen Verlauf psychischer Phänomene schon 
lange an physischen Phänomenen, an regelmässigen örtlichen 
Veränderungen gemessen hatte, suchte er auch für ihre In- 
tensität nach einem physischen Maasse. Als ein solches 
bot sich ihm fiir die Stärke der Empfindung die Stärke 



88 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

des äusseren, die Empfindung verursachenden Eindruckes; 
und das von ihm so genannte „Weber'sche oder psychophy- 
sische Grundgesetz" bestimmte für alle Sinne, wenigstens in- 
nerhalb gewisser Grenzen, die eine von beiden als Function 
der anderen. 

Ich habe schon früher (Capitel 1 §. 1) auf ein nicht un- 
wichtiges Versehen hingewiesen, welches bei dieser Bestim- 
mung untergelaufen sein möchte. Man hatte gefunden, dass 
der Zuwachs des physischen Reizes, der einen eben merk- 
lichen Zuwachs in der Stärke der Empfindung hervorbringt, 
zu der Grösse des Reizes, zu welchem er hinzukommt, immer 
im gleichen Verhältnisse steht. Nun nahm man als ein- 
leuchtend an, dass jeder eben merkliche Zuwachs der Em- 
pfindung als gleich zu betrachten sei. Und so kam man zu 
dem Gesetze, dass die Intensität der Empfindung um gleiche 
Grössen zunehme, wenn der relative Zuwachs des physischen 
Reizes der gleiche sei. In Wahrheit ist es aber keineswegs 
von vom herein einleuchtend, dass jeder eben merkliche 
Zuwachs der Empfindung gleich, sondern nur, dass er 
gleich merklich ist; und es bleibt zu untersuchen, welches 
Grössenverhältniss zwischen gleich merklichen Zuwächsen der 
Empfindung bestehe. Diese Untersuchung führt zu dem 
Ergebnisse, dass jeder Zuwachs der Empfindung gleich merk- 
lich ist, welcher zu der Intensität der Empfindung, zu wel- 
cher er hinzukommt, in gleichem Verhältnisse steht. Denn 
auch bei anderen Veränderungen der Phänomene gilt dieses 
Gesetz. So ist z. B. die Zunahme eines Zolles um eine Linie 
ungleich merklicher als die Zunahme eines Fusses um die- 
selbe Grösse, wenn man nicht etwa beim Vergleiche beide 
Strecken aufeinanderlegt; denn dann allerdings macht die 
Länge der Strecke, welche den Zusatz erfährt, keinen Unter- 
schied, indem nur noch die beiden Ueberschüsse in Betracht 
kommen. In anderen Fällen dagegen findet die Verglei- 
chung vermöge des Gedächtnisses statt, das die Erscheinun- 
gen um so leichter miteinander verwechselt, je mehr sie 
einander ähnlich sind. Leichter -Verwechseln besagt aber 
nichts Anderes als schwerer - Unterscheiden, d. h. den Unter- 



Capitel 4. Ungenauigkeit der höchsten Gesetze. 89 

schied der einen von der anderen weniger leicht bemerken. 
Nun ist oflFenbar der um eine Linie verlängerte Fuss dem 
Fuss ähnlicher, als der um eine Linie verlängerte Zoll dem Zoll, 
und nur bei einem verhältnissmässig gleichen Zuwachs 
des Fusses, also bei einem Zoll Zuwachs, würde die spätere der 
früheren Erscheinung in demselben Grade unähnlich, nur 
dann also der Unterschied zwischen beiden gleich merklich 
sein. Ganz dasselbe muss aber jederzeit bei der Vergleichung 
zweier aufeinanderfolgender Erscheinungen statthaben, die, 
im Uebrigen gleich, der Intensität nach von einander ver- 
schieden sind. Das Gedächtniss vermittelt ja auch hier. 
Nur wenn die beiden Erscheinungen in gleichem Grade ein- 
ander unähnlich sind, wird also ihre Verschiedenheit in glei- 
cher Weise auffallen. Mit anderen Worten: Ihr Unterschied 
wird nur dann gleich merklich sein, wenn das Verhältniss 
des Zuwachses zu der zuvor gegebenen Intensität das- 
selbe ist. 

Wir haben also die beiden Gesetze: 

1) Wenn der relative Zuwachs des physischen Reizes 
der gleiche ist, so nimmt die Empfindung um gleich 
merkliche Grössen zu. 

2) Wenn die Empfindung um gleich merkliche Grössen 
zunimmt, so ist der relative Zuwachs der Empfin- 
dung der gleiche. 

Hieraus folgt: 

3) Wenn der relative Zuwachs des physischen Reizes der 
gleiche ist, so ist der relative Zuwachs der Empfin- 
dung der gleiche. Mit andern Worten : W e n n d i e 
die Stärke des physischen Reizes um ein 
Gleichvielfaches wächst, so wächst auch 
die Intensität der Empfindung um ein 
Gleichvielfaches. 

Dies widerspricht nicht mehr dem, was der gemeine 
Menschenverstand und mit ihm auch Herbart von vom herein 
angenommen hatte : „In der Region, wo die Fundamente der 
Psychologie liegen, . . . wird man ganz einfach sagen, dass 
zwei Lichter doppelt so stark leuchten als eines; dass drei 



90 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

Saiten auf einer Taste dreimal so stark tönen als eine ; ^' u. s. w. 
(V, S. 358.) Aber andererseits ist diese Behauptung auch 
noch nicht bewiesen. Unser Gesetz verlangt nicht , dass, so 
oft der Reiz um ein Gleichyielfaches wächst, die Empfindung 
um dasselbe Gleichyielfache wächst; es würde ihm ge- 
nügen, wenn, so oft der Beiz um die Hälfte, die Empfindung 
um ein Dritttheil sich steigerte. Auch kann es sich bei ihm, 
wie bei dem Weber'schen, nur um eine Gültigkeit innerhalb 
gewisser Grenzen handeln. Darum bleibt es ein unbestreit- 
bar grosses Verdienst, wenn Weber und Fechner das XJr- 
theü des gemeinen Verstandes als Vorurtheil verwarfen und 
ims zu einem sicheren Nachweis den Weg zeigten: obwolü, 
wenn ich nicht irre, sie sich zu früh am Ziele glaubten, und 
so in ihrer Correctur der ursprünglichen Vermuthung zu- 
nächst nur eine unrichtige Bestimmung an die Stelle einer 
möglicher Weise richtigen setzten. Die Ergänzung, die ich 
der Untersuchung beifügte, auch wenn sie allgemeine Zu- 
stimmung finden sollte, ändert nichts daran, dass das aus- 
schliessliche Verdienst der Arbeit den beiden grossen For- 
schem zugehört. Und ich brauche auch kaum zu bemerken, 
dass die Feststellung des Verhältnisses zwischen dem Wachs- 
thum der Reize und einem fortwährend gleich merklichen 
Wachsthum der Empfindungen in sich selbst von hoher Be- 
deutung ist. 

Mag man nun aber den Versuch von Weber und Fech- 
ner in der von mir angegebenen Weise berichtigen, oder 
auch ohne dies für richtig und abgeschlossen halten: jeden- 
falls kann auch er nicht zu dem von uns gewünschten Ziele 
fuhren. 

Einmal beschränkt sich die Möglichkeit der Messung 
von Intensitäten nach der von ihnen angegebenen Methode 
gänzlich auf solche Phänomene, welche durch äussere Rei- 
zung der Sinnesorgane hervorgebracht sind. Für alle psy- 
chischen Phänomene , welche in physischen Vorgängen im In- 
neren des Organismus ihren Grund haben, oder durch andere 
psychische Phänomene hervorgerufen werden, fehlt uns also 
nach wie vor ein Maass der Intensität. Dazu gehören aber 



Capitel 4. Ungenau igkeit der höchsten Gesetze. 91 

die allermeisten und allerwichtigsten Erscheinungen. So die 
ganze Classe der Begierden und der Bewegungen des Willens ; 
femer Ueberzeugungen und Meinungen der mannigfachsten 
Art, und ein weites Reich von Phantasievorstellungen. Es 
bleiben unter allen psychischen Phänomenen einzig und 
allein die Empfindungen, und diese nicht alle, als mess- 
bar übrig. 

Aber noch mehr! Die Empfindungen selbst hängen 
nicht allein von der Stärke des äusseren Reizes, sie hängen 
auch von psychischen Bedingungen, wie z. B. von dem Grade 
der Aufmerksamkeit, ab. Es wird also nothwendig sein, die- 
sen Einfluss zu eliminiren, meinethalben indem man den Fall 
der höchsten und vollsten Aufmerksamkeit voraussetzt. Dann 
aber ergibt sich, wenn nicht anderes Inconvenientes, zum 
Mindesten eine neue und bedeutende Beschränkung. 

Endlich könnte einer sagen, dass, wenn man sich recht 
klar mache , was denn eigentlich nach Fechner's Methode 
gemessen werde, nicht sowohl ein psychisches als ein physi- 
sches Phänomen als Gegenstand der Messung sich heraus- 
stelle. Oder was ist denn dasjenige, was wir physische Phä- 
nomene nennen, wenn dazu nicht die Farben, die Töne, die 
Wärme und Kälte u. s. f. gehören, die uns in unserer Em- 
pfindung erscheinen ? — Misst man also, wie Fechner es gethan, 
die Intensitäten von Farben, Tönen u. s. f., so misst man 
die Intensitäten physischer Phänomene. Die Farbe ist nicht 
das Sehen, der Ton ist nicht das Hören, die Wärme ist nicht 
das Empfinden der Wärme. — Man wird hierauf erwidern, das 
Sehen, wenn es nicht die Farbe sei, entspreche doch in sei- 
ner Intensität der Intensität der Farbe, die dem Sehenden 
erscheine ; und in ähnlicher Weise seien die anderen Empfin- 
dungen den physischen Phänomenen, welche in ihnen vorge- 
stellt werden, der Intensität nach gleichzusetzen. So sei denn 
mit der Stärke des physischen die des psychischen Phäno- 
mens zugleich bestimmt. Ich will nicht leugnen, dass sich 
dieses so verhalte, obgleich es, wie wir später hören werden, 
Psychologen gibt, die zwischen der Intensität des Vorgestell- 
ten und der Intensität des Vorstellens unterscheiden ; ich gebe 



92 Buch J. Die Psychologie als Wissenschaft. 

darum meinestheils zu, dass, wenn für das physische, auch für 
das psychische Phänomen, worin das physische vorgestellt wird, 
nach Fechner's Methode eine Maassbestimmung gefunden wer- 
den kann : dodi scheint es mir nöthig, die neue Beschränkung 
hinzuzufügen, dass das psychische Phänomen nur nach einer 
Seite hin, nämlich in seiner Beziehung zum primären Ob- 
ject, seiner Intensität nach gemessen wird; denn wir wer- 
den sehen, dass es noch andere Seiten hat und nicht in 
dieser Beziehung sich erschöpft. 

Aus allen diesen Gründen scheint es mir demnach offen- 
bar, dass durch Fechner's bewunderungswürdigen Versuch 
der Messung psychischer Intensitäten, nicht oder doch nur 
zu einem verschwindend kleinen Theile dem besprochenen 
Mangel abgeholfen werden kann. 

Man wird jetzt erkennen, mit welchem Rechte ich zu- 
vor erklärte, dass ich leider, im Gegensatze zu Wundt, in 
dem Bestehen der von ihm sogenannten zweiten Dimension 
der psychischen Erscheinungen keineswegs etwas erblicken 
könne, was die wissenschaftliche Exactheit der Psycholo- 
gie ermögliche, sondern etwas, was sie stark benachthei- 
Uge und vor ier Hand gänzlich unmöglich mache. Denn, 
wo Fechner's Mittel uns verlässt, da verlässt uns, bis jetzt 
wenigstens, jede Möglichkeit, die Intensität psychischer Er- 
scheinungen anders als nach einem vagen Mehr oder Minder 
vergleichend zu bestimmen. 

Das also sind die zwei Gründe, welche eine präcise 
Fassung der höchsten Gesetze psychischer Succession hin- 
dern : einmal, dass sie nur empirische Gesetze sind, abhängig 
von dem veränderlichen Eilbusse unerforschter physiolo- 
gischer Processe; dann, dass die Intensität der psychischen 
Erscheinungen, welche wesentlich mit maassgebend ist, bis jetzt 
einer genauen Messung nicht unterworfen werden kann. Für 
Anwendung der Mathematik wird dabei immer Raum blei- 
ben; liefert uns doch auch die Statistik Zahlenangaben, und 
ein statistisches Verfahren wird in dem Maasse an Ausdeh- 
nung gewinnen, als die Gesetze an Bestimmtheit verlieren, 
und nur aus durchschnittlichen Verhältnissen die constante 



Capitel 4 ' Dedaction und Verification. 93 

Mitbetheiligung einer Ursache zu entnehmen ist. So be- 
währt sich die Mathematik • als die unentbehrliche Gehülfin 
aller Wissenschaften auf allen Stufen der Exactheit und in 
allen Unterschieden der Verhältnisse. 

§. 3. Obwohl unsere psychische Induction nicht bis zu 
den eigentlichen Grundgesetzen vordringen kann, so erreicht 
sie doch Gesetze von einer sehr umfassenden Allgemeinheit. 
Es wird darum möglich sein, aus ihnen wieder speciellere 
Gesetze abzuleiten. So können wir am Besten für compli* 
cirtere psychische Phänomene Gesetze gewinnen, indem wir 
das Verhalten, welches der Naturforscher in verwickeiteren 
Fällen, und darum namentlich auch der Physiologe einzu- 
halten pflegt, uns zum Vorbilde nehmen. Wie aber dieser 
sich nicht damit begnügt, das Gesetz für die complicirte Er- 
scheinung aus höheren Gesetzen abgeleitet zu haben, sondern 
auch Sorge trägt, das abgeleitete durch directe Induction 
aus der Erfahrung zu verificiren: so wird auch der Psycho- 
loge für das Gesetz , welches er deductiv gefunden , auf in- 
ductivem Wege eine Bestätigung suchen müssen. Ja bei ihm 
erscheint eine solche Verification ganz besonders geboten, 
weil, wie wir sahen, die höheren Gesetze, aus welchen er 
deducirt, in Bezug auf Präcision oft Vieles zu wünschen 
übrig lassen. Schon der Hinweis auf einzelne hervorragende 
Fälle ist bei solcher Lage der Dinge eine willkommene Be- 
kräftigung, namentlich da, wo keine anderen entgegenstehen, 
welche zu widersprechen scheinen. Ist dies der Fall, so wird 
ein Nachweis durch überwiegende Zahlen die verlangte Probe 
liefern. So wird denn die Psychologie reich an Beispielen 
sein, die der deductiven Methode auf empirischem Gebiete 
und den drei Stadien, welche die Logiker für sie unterschie- 
den haben, zu einer vorzüglichen Erläuterung dienen: In- 
duction der allgemeineren Gesetze ; Deduction des besonderen ; 
und Verification desselben durch Erfahrungsthatsachen. 

So wenig hienach die Psychologie bei der Feststellung der 
Gesetze für complicirtere Phänomene des Nachweises durch 
directe Erfahrung entbehren kann: so wenig wird sie auch 



1 



94 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

andererseits einen solchen als genügend betrachten dürfen. 
Nicht bloss das wissenschaftliche Interesse, die Vielheit der 
Thatsachen möglichst aus einer Einheit zu begreifen, verlangt 
das Zurückgehen auf die höchsten für uns erreichbaren Prin- 
cipien: die Ableitung, wie sie eine voUere Einsicht gibt, 
gewährt auch eine grössere Sicherheit; denn wie anderwärts, 
so sind auch hier die allgemeineren Gesetze die zuverlässi- 
geren. Fehlt den allgemeineren Gesetzen die letzte Schärfe 
und Genauigkeit, so wird dies bei den besonderen noch viel 
mehr der Fall sein. Kann man die allgemeineren nur in der 
Art fassen, dass man angibt, was gewöhnlich eintrete, indem 
man für Ausnahmen eine Stelle freilässt: so werden bei den 
besonderen die Ausnahmen sich mehren. Und natürlich; 
denn was bei jenen der wesentlichste Grund mangelnder Prä- 
cision ist, das ist derselbe Umstand, der bei den beson- 
deren in noch vorzüglicherem Maasse sich gegeben findet; sie 
haben ja noch weniger Anspruch darauf als Grundgesetze 
betrachtet zu werden. Gleichwie die Entdeckung der höch- 
sten Grundgesetze sowohl von unseren jetzigen höchsten psy- 
chischen Gesetzen als auch von ihren Ausnahmen und Schran- 
ken Rechenschaft geben würde : so wird oft die Ableitung der 
specielleren Gesetze aus ihnen zugleich die Gesetze selbst 
und ihre Ausnahmen erklären und die Fälle der Ausnahme 
genauer bestimmen. 

Doch Eines wenigstens ist zulässig: wir können das 
Verhältniss zwischen Ableitung und bestätigender Induction 
verkehren ; denn es macht offenbar keinen Unterschied, 
weder in Rücksicht auf den Einblick, noch auf die 
Sicherheit, die wir gewinnen: ob wir ein Gesetz, nachdem 
wir es deducirt haben, durch Induction veriticiren; oder ob 
wir es durch Induction finden und es dann im Hinblicke auf 
die allgemeineren Gesetze erklären. Wir vertäuschen dann 
die sogenannte deductive Methode des Naturforschers mit 
derjenigen, welche man die umgekehrte deductive Methode 
genannt hat. Auch den Namen der historischen Methode hat 
man ihr beigelegt^), weil sie sich vorzügUch zur Auffindung 



») Vgl. J. St. Mill, Ded. u. Induct. Logik, Buch VI. Cap. 10. 



Capitel 4. Deduction und Verification. 95 

der Gesetze der Geschichte eignet. Comte fand auf diesem 
Wege die Gesetze, die er seinem merkwürdigen Versuche 
einer Philosophie der Geschichte zu Grunde gelegt hat. 

Diese sogenannte historische Methode ist auch ausser- 
halb der Geschichte auf psychischem Gebiete oft mit grösse- 
rem Vortheile als die gewöhnliche deductive Methode an- 
wendbar. Die vorbereitende directe Induction zeigt der 
Ableitung Weg und Richtung. Die Erfahrung des gemeinen 
Lebens hat sich bereits oft zu solchen niederen empirischen 
Gesetzen erhoben und sie selbst in die Form von Sprtich- 
wörtem gekleidet. „Jung gewohnt, alt gethan", „aller An- 
fang ist schwer", „neue Besen kehren gut", „Abwechselung 
gefällt" und dergleichen mehr — sind Ausdrücke für solche 
empirische Generalisationen. Und so bleibt denn nur noch die 
Erklärung, Verification und schärfere Begrenzung durch Un- 
terordnung unter die allgemeineren und einfacheren Gesetze, 
von denen das Volk nichts weiss, als Aufgabe des Psycho- 
logen übrig. Einen etwas verwandten Versuch hat bekannt- 
lich Pascal in einer seiner Pensöes gemacht. 

§. 4. Auch bei der Untersuchung über die Unsterblich- 
keit wird das Verfahren ein deductives sein, und die Deduc- 
tion auf allgemeine Thatsachen sich stützen, die in früheren 
Erörterungen inductiv festgestellt wurden. Die Forschung, 
die hier sich um die Frage bewegt, welche zu allen Zeiten 
das lebhafteste Interesse hervorgerufen hat, wird offenbar 
einen in mancher Beziehung neuen Charakter annehmen 
müssen. Sie wird einerseits nicht umhin können, auf einige 
Gesetze der Metaphysik, mehr als es sonst eine phänomenale 
Psychologie thut, Rücksicht zu nehmen; und andererseits 
wird auch von den Ergebnissen der Physiologie hier mehr 
noch als in den früheren Untersuchungen Anwendung zu 
machen sein. Denn die Frage nach der Möglichkeit eines 
Fortbestandes des psychischen Lebens bei der Auflösung des 
leiblichen Organismus, ist eigentlich eine psychophysische 
Frage; nur eine von denen, die nach unserer früheren Aus- 
einandersetzung, wegen des Uebergewichts psychischer Be- 



96 Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft. 

trachtungen, der Psychologie, nicht der Physiologie zuzu- 
weisen sind. Ob es uns freilich möglich sein wird, durch 
Induction auf psychischem Gebiete allgemeine Thatsachen zu 
finden, welche für eine Deduction zur Entscheidung der Un- 
sterblichkeitsfrage die Prämissen liefern; ob wir nicht ge- 
nöthigt sein werden, so tief in die Metaphysik einzugehen, 
dass der sichere Pfad in unbestimmten , haltlosen Träume- 
reien sich verliert; ob nicht auch die Thatsachen, welche 
wir der Physiologie zu entlehnen haben, bei dem jetzigen Zu- 
stande dieser Wissenschaft, auf allzuwenig Vertrauen An- 
spruch machen können: — das sind Fragen, die wohl nicht 
mit Unrecht aufgeworfen werden dürften, über die aber hier 
zu entscheiden nicht des Ortes ist. Auch im Uebrigen 
wollen wir auf die Methode, die bei der Untersuchung dieses 
Punktes zu befolgen sein wird, hier nicht weiter eingehen. 
Wie jede frühere Wissenschaft in ihrer Entwickelung füt die 
Methode der späteren Winke gibt: so kann auch oft bei ein 
und derselben Wissenschaft die Entwickelung des früheren 
Theiles über die Weise der Behandlung des späteren Auf- 
schlüsse gewähren. Und diese Untersuchung ist ja der 
Natur der Sache nach diejenige, der in der Reihe der psy- 
chologischen Erörterungen jedenfalls am Besten die letzte 
Stelle angewiesen wird. 

Nur Eines sei, da es von vom herein offenbar ist, auch 
jetzt schon bemerkt; nämlich, dass eine Verification durch 
directe Erfahrung bei der Unsterblichkeitsfrage jedenfalls 
nicht stattfinden kann. Hier scheint also eine gefährliche 
Lücke zu bleiben. Doch an die Stelle der directen Erfah- 
i-ung kann vielleicht eine indirecte treten, insofern zahlreiche 
Erfahrungserscheinungen unter Voraussetzung der Unsterb- 
lichkeit besser als ohne sie begreiflich werden. In ähnlicher 
Weise sind es ja auch nur indirecte Fingerzeige, welche die 
Erscheinungen an fallenden Körpern für die Drehung der 
Erde um ihre Axe geben. 

Indem wir unsere Erörterungen über die Methode der 
Psychologie abschliessen , fügen wir eine letzte, allgemeinere 
Bemerkung bei. Sie bezieht sich auf ein Mittel, welches 



Capitel 4. Dedaction und Verification. 97 

zwar auch anderwärts, insbesondere aber auf psychologischem 
Gebiete, häufig die Forschung vorbereitet und erleichtert. 
Ich meine das Mittel, das Aristoteles so gerne anzuwenden 
pflegte, die Zusammenstellung der „Aporien". Sie zeigt die 
verschiedenen denkbaren Annahmen sowie für Jede von ihnen 
die ihr eigenthümlichen Schwierigkeiten und gibt insbeson- 
dere über die widerstreitenden Ansichten, sei es einzelner 
bedeutender Männer, sei es der Massen eine dialektisch kri- 
tische üebersicht. Auch J. St. Mill hat noch in seinem 
letzten Aufsatze über Grote's Aristotle, den er wenige Mo- 
nate vor seinem Tode in der „Fortnightly Review" veröffent- 
lichte, die Vorzüge dieser Voruntersuchung in einsichtsvoller 
Weise gewürdigt. Ich glaube, es ist einleuchtend, warum 
gerade der Psychologe aus den sich bekämpfenden Meinungen 
Anderer mehr noch als ein Forscher auf anderem Gebiete 
Gewinn ziehen kann. Jeder dieser Meinungen liegt, wenn 
auch vielleicht einseitig berücksichtigt oder irrig beurtheilt, 
irgend welche Wahrheit, irgend welche Erfahrung als Anhalt 
zu Grunde. Und wo es sich um psychische Erscheinungen 
handelt, hat jeder Einzelne seine besonderen Wahrnehmun- 
gen, die keinem Anderen in gleicher Weise zugänglich sind. 



Brentano, Psychologie. I. 



ZWEITES BUCH. 



VON DEN 



PSYCHISCHEN PHAENOMENEN IM 

ALLGEMEINEN. 



7* 



102 Buch IL Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

auf Aeusserungen wie die, dass Empfindung und Phantasie 
sich dadurch unterscheiden, dass die eine in Folge eines phy- 
sischen Phänomens entstehe, während die andere, nach den 
Gesetzen der Association, durch ein psychisches Phänomen 
hervorgerufen werde. Dabei geben dieselben Psychologen 
aber zu, dass dasjenige, was in der Empfindung erscheine, 
der einwirkenden Ursache nicht entsprechend sei. Und so- 
mit stellt sich heraus, dass, was sie physische Erscheinungen 
nennen, uns in Wahrheit nicht erscheint, ja dass wir gar 
keine Vorstellung davon haben; gewiss eine merkwürdige 
Art, den Namen Phänomen zu missbrauchen! Bei solcher 
Lage der Dinge können wir nicht umhin, uns noch etwas 
eingehender mit der Frage zu beschäftigen. 

§. 2. Die Erklärung, die wir anstreben, ist nicht eine 
Definition nach den herkömmlichen Regeln der Logiker. 
Diese haben in letzter Zeit mehrfach eine vorurtheilslose 
Kritik erfahren, und dem, was ihnen zum Vorwurfe gesagt 
wurde, wäre noch manches weitere Wort beizufügen. Das, 
worauf wir ausgehen, ist die Verdeutlichung der beiden 



nennt) sei auf Selbstbewusstsein oder introspective Aufmerksamkeit 
gegründet; das Auge, das Ohr, das Tastorgan seien Media zur Beob- 
achtung der physischen Welt, des „object world", wie er sich ausdrückt. 
S. 198 No. 4, I. heisst es dagegen: „Die Wahrnehmung von Materie 
oder das objective Bewusstsein (object consciousness) ist verknüpft mit 
der Aeusserung von Muskelthätigkeit im Gegensatz zu passivem Ge- 
fühl." Und in der Erläuterung fügt er hinzu: „Bei rein passivem Ge- 
fühle, wie bei denjenigen Empfindungen, bei welchen unsere Muskel- 
thätigkeit nicht betheiligt ist, nehmen wir nicht Materie wahr, wir sind 
in einem Zustande subjectiven Bewusstseins (subject consciousness).** 
Er erläutert dies an dem Beispiele der Empfindung von Wärme, wenn 
man ein warmes Bad nimmt, und an. jenen Fällen sanfter Berührung, 
in welchen keine Muskelthätigkeit stattfindet, und erklärt, unter den- 
selben Bedingungen könnten Töne, ja möglicherweise auch Licht und 
Farbe, eine rein subjective Erfahrung (subject experience) sein. Er 
entnimmt also Beispiele für das Subject - Bewusstsein gerade den Em- 
pfindungen durch Auge, Ohr und Tastorgan, welche er an der anderen 
Stelle im Gegensatz zum Subject -Bewusstsein als Vermittler des Ob- 
ject -Bewusstseins bezeichnet hatte. 



^ Capitel 1. Unterschied der psych, und phys. Phänomene. 103 

Namen : physisches Phänomen — psychisches Phänomen. Wir 
wollen in Betreff ihrer Missverständniss und Verwechselung 
ausschliessen. Und dabei kömmt es uns nicht auf die Art 
der Mittel an, wenn sie nur wirklich der Deutlichkeit dienen. 

Zu solchem Zwecke ist nicht allein die Angabe allge- 
meinerer, übergeordneter Bestimmungen brauchbar. Wie auf 
dem Gebiete des Beweisverfahrens der Deduction die In- 
duction, so steht hier der Erklärung durch das Allgemeinere 
eine Erklärung durch das Besondere, durch das Beispiel, ent- 
gegen. Und diese wird so oft am Platze sein, als die be- 
sonderen Namen deutlicher als die allgemeinen sind. So ist 
es vielleicht ein wirksameres Verfahren , wenn man den 
Namen Farbe dadurch erklärt, dass man sagt, er bezeichne 
die Gattung für Roth, Blau, Grün und Gelb, als wenn man 
umgekehrt Roth als eine besondere Art von Farbe verdeut- 
lichen will. Doch noch mehr wird bei Namen wie die, um 
welche es sich in unserem Falle handelt, Namen, welche im 
Leben gar nicht üblich sind, während die der einzelnen dar- 
unter befassten Erscheinungen häufig gebraucht werden, die 
Erläuterung durch die besonderen Bestimmungen gute Dienste 
leisten. Suchen wir also zunächst durch Beispiele die Be- 
griffe deutlich zu machen. 

Ein Beispiel für die psychischen Phänomene bietet jede 
Vorstellung durch Empfindung oder Phantasie ; und ich verstehe 
hier unter Vorstellung nicht das, was vorgestellt wird, son- 
dern den Act des Vorstellens. Also das Hören eines Tones, 
das Sehen eines farbigen Gegenstandes, das Empfinden von 
Warm oder Kalt, so wie die ähnlichen Phantasiezustände 
sind Beispiele, wie ich sie meine ; ebenso aber auch das Den- 
ken eines allgemeinen Begriffes, wenn anders ein solches 
wirklich vorkommt. Ferner jedes Urtheil, jede Erinnerung, 
jede Erwartung, jede Folgerung, jede Ueberzeugung oder 
Meinung, jeder Zweifel — ist ein psychisches Phänomen. Und 
wiederum ist ein solches jede Gemüthsbewegung , Freude, 
Traurigkeit, Furcht, Hoffnung, Muth, Verzagen, Zorn, Liebe, 
Hass, Begierde, Willen, Absicht, Staunen, Bewunderung, Ver- 
achtung u. s. w. 



104 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Beispiele von physischen Phänomenen dagegen sind eine 
Farbe, eine Figur, eine Landschaft, die ich sehe ; ein Accord, 
den ich höre; Wärme, Kälte, Geruch, die ich empfinde; 
sowie ähnliche Gebilde, welche mir in der Phantasie er- 
scheinen. 

Diese Beispiele mögen hinreichen, den Unterschied der 
beiden Classen anschaulich zu machen. 

§. 3. Doch wir wollen noch in einer anderen und ein- 
heitlicheren Weise eine Erklärung des psychischen Phänomens 
zu geben suchen. Hieftir bietet sich uns eine Bestimmung 
dar, von der wir schon früher Gebrauch machten, indem wir 
sagten, mit dem Namen der psychischen Phänomene bezeich- 
neten wir die Vorstellungen, sowie auch alle jene Erschei- 
nungen, für welche Vorstellungen die Grundlage bilden. 
Dass wir hier unter Vorstellung wiederum nicht das Vorge- 
stellte , sondern das Vorstellen verstehen , bedarf kaum der 
Bemerkung. Dieses Vorstellen bildet die Grundlage des ür- 
theilens nicht bloss, sondern ebenso des Begehrens, sowie 
jedes anderen psychischen Actes. Nichts kann beurtheilt, 
nichts kann aber auch begehrt, nichts kann gehofft oder ge- 
fürchtet werden, wenn es nicht vorgestellt wird. So umfasst 
die gegebene Bestimmung alle eben angeführten Beispiele 
psychischer Phänomene und überhaupt alle zu diesem Ge- 
biete gehörigen Erscheinungen. 

Es ist ein Zeichen des unreifen Zustandes, in welchem 
die Psychologie sich befindet , dass man kaum einen Satz 
über psychische Phänomene aussprechen kann, der nicht von 
Manchen bestritten würde. Doch in dem, was wir eben 
sagten, Vorstellungen seien die Grundlage für die anderen 
psychischen Phänomene, kommt wenigstens die grosse Mehr- 
zahl mit uns überein. So sagt Herbart ganz richtig: 
„Jedesmal, indem wir fühlen, wird irgend etwas, wenn auch 
ein noch so vielfältiges und verwirrtes Mannigfaltiges, als 
ein Vorgestelltes im Bewusstsein vorhanden sein; so dass 
dieses bestimmte Vorstellen in diesem bestimmten Fühlen 
eingeschlossen liegt. Und jedesmal, indem wir begehren, . . . 



Capitel 1. Unterschied der psych, und phys. PJiänomene. 105 

haben [wir] auch dasjenige in Gedanken, was wir be- 
gehren ^)." 

Herbart geht dann aber weiter. Er sieht in allen an- 
deren Phänomenen nichts als gewisse Zustände von Vorstel- 
lungen, welche aus VorsteUungen ableitbar sind; eine An- 
sicht, die schon wiederholt und insbesondere von Lotze mit 
entscheidenden Gründen bestritten worden ist. Unter Anderen 
trat in neuester Zeit auch J. B. Meyer in seiner Dar- 
stellung von Kant's Psychologie in längerer Erörterung ihr 
entgegen. Aber dieser begnügte sich nicht damit zu leugnen, 
dass die Gefühle und Begierden aus Vorstellungen abgeleitet 
werden könnten; er behauptete, dass Phänomene dieser Art 
auch ohue jede Vorstellung zu bestehen vermöchten 2). Ja, 
Meyer glaubt, dass die niedersten Thiere. nur Gefühle und 
Begierden, aber keine Vorstellungen haben, und dass das 
Leben auch der höheren Thiere und der Menschen mit 
blossem Fühlen und Begehren anfange, während das Vor- 
stellen erst bei fortschreitender Entwickelung hinzukomme*). 
Hiedurch scheint er auch mit unserer Behauptung in Gon- 
flict zu kommen. 

Doch, wenn ich nicht irre, so ist der Widerspruch mehr 
scheinbar als wirklich. Aus mehreren seiner Aeusserungen 
scheint mir hervorzugehen, dass Meyer den Begriff der Vor- 
stellung enger fasst, als wir es gethan haben, während er 
den Begriff der Gefühle in demselben Maasse erweitert. „Vor- 
stellen", sagt er, „tritt erst da auf, wo die empfundene Ver- 
änderung des eigenen Zustandes als Folge eines äusseren Reizes 
aufgefasst werden kann, wenn sich dies auch zuerst nur in dem 
unbewusst erfolgenden Umherblicken oder Umhertasten nach 
einem äusseren Object ausspricht." Würde Meyer unter 
Vorstellung dasselbe wie wir verstehen, so würde er unmög- 
lich so sprechen können. Er würde einsehen, dass ein Zu- 
stand, wie der, welchen er als den Anfang des Vorstellens 

*) Psych, als Wissensch. Th. II. Abschn. l.Cap. l.§. 103. Vgl. auch Dro- 
bisch, Empir. Psychol. S. 38 und 34S, und Andere aus der Schule Herbart^s. 
•) Kant's Psychologie, Berlin 1870. S. 92 ff. 
») Ebend. S. 94. 



106 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

beschreibt, bereits eine reiche Zahl von Vorstellungen ent- 
halten würde, Vorstellungen von zeitlichem Nacheinander 
z. B., Vorstellungen von räumlichem Nebeneinander, und Vor- 
stellungen von Ursache und Folge. Wenn alles dies der 
Seele schon gegenwärtig sein muss, damit eine Vorstellung 
in J. B. Meyer's Sinne sich bilde, so ist es freilich klar, 
dass eine solche nicht die Grundlage jeder anderen psy- 
chischen Erscheinung sein kann. Allein jenes Gegenwär- 
tig -sein jedes einzelnen der genannten Dinge ist eben schon 
ein Vorgestellt - sein in unserem Sinne. Und ein solches 
kommt überall vor, wo etwas im Bewusstsein erscheint : mag 
es gehasst oder geliebt oder gleichgültig betrachtet; mag es 
anerkannt oder verworfen oder, bei völliger Zurückhaltung 
des Urtheils, — ich kann mich nicht besser ausdrücken 
als — vorgestellt werden. Wie wir das Wort „vor- 
stellen" gebrauchen, ist „vorgestellt werden" so viel wie 
„erscheinen". 

Dass ein Vorstellen in diesem Sinne von jedem, auch 
dem niedrigsten Gefühle der Lust und Unlust vorausgesetzt 
werde, das erkennt J. B. Meyer selbst an, obwohl er, in sei- 
ner Terminologie von uns abweichend, es nicht ein Vorstellen, 
sondern selbst bereits ein Fühlen nennt. Dies scheint mir 
wenigstens aus folgenden Worten hervorzugehen: „Zwischen 
nicht - Empfinden und Empfinden gibt es kein Mittleres . . . 
Nun braucht die einfachste Form der Empfindung nicht mehr 
zu sein als ein blosses Empfinden der zufolge irgend eines 
Reizes eingetretenen Veränderung des eigenen Leibes 
oder eines Theiles desselben. Wesen mit solcher Empfin- 
dung ausgestattet, hätten dann nur ein Gefühl ihrer 
eigenen Zustände. Mit diesem Lebensgefühl für 
die Vorgänge unter der eigenen Haut könnte wohl unmittel- 
bar eine verschiedene Reizbarkeit der Seele für die ihr 
förderlichen oder schädlichen Veränderungen verbunden sein, 
wenn auch diese neue Reizbarkeit nicht einfach aus 
jenem Gefühl abzuleiten wäre, eine solche Seele könnte Ge- 
fühle der Lust und Unlust neben der Empfindung 
haben . . . Eine so ausgestattete Seele besässe noch keine 



Capitel 1. Unterscliied der psych, und phys. Phänomene. 107 

Vorstellung . • .^)." Wir sehen wohl, dass, was nach uns 
allein den Namen Gefühl verdienen würde, auch nach J. B. 
Meyer als Zweites nach einem Ersten auftritt, welches unter 
den Begriff der Vorstellung, wie wir ihn fassen, fällt und für 
jenes die unentbehrliche Voraussetzung bildet. So scheint es 
denn, dass, wenn Meyer's Ansicht in unsere Sprache über- 
setzt wird, der Widerspruch von selbst verschwindet. 

Ein Gleiches ist vielleicht auch bei Anderen der Fall, 
die ähnlich wie Meyer sich äussern. Doch mag es immerhin 
vorkommen, dass bei einigen Arten von sinnlichen Lust - und 
Unlustgefiihlen Jemand in Wahrheit der Ansicht ist, es liege 
ihnen auch in unserem Sinne keine Vorstellung zu Grunde. 
Eine gewisse Versuchung dazu kann wenigstens nicht ge- 
leugnet werden. Dies gilt z. B. hinsichtlich der Gefühle, 
welche durch Schneiden oder Brennen entstehen. Wird einer 
geschnitten, so hat er meist keine Wahrnehmung von Berüh- 
rung, wird er gebrannt, keine Wahrnehmung von Wärme 
mehr, sondern nur Schmerz scheint in dem einen und an- 
deren Falle vorhanden. 

Nichtsdestoweniger liegt auch hier ohne Zweifel dem 
Gefühle eine Vorstellung zu Grunde. Immer haben wir in 
solchen Fällen die Vorstellung einer örtlichen Bestimmtheit, 
die wir gewöhnlich in Relation zu dem einen oder anderen 
sichtbaren und greifbaren Theil unseres Körpers bezeichnen. 
Wir sagen, es thue der Fuss, es thue die Hand uns weh, es 
schmerze uns diese oder jene Stelle des Leibes. Und so 
werden denn vor Allem diejenigen, welche eine solche ört- 

*) Kant's Psychol. S. 92. J. B. Meyer scheint die Empfindung 
ebenso wie Ueberweg in seiner Logik I. §. .36 (2. Aufl. S. 64) zu fassen : 
„Von der blossen Empfindung . . . unterscheidet sich die Wahrnehmung 
dadurch, dass das Bewusstsein in jener nur an dem subjectiven Zu- 
stand haftet, in der Wahrnehmung aber auf ein Element geht, welches 
wahrgenommen wird und daher . . . dem Acte des Wahrnehmens als 
ein Anderes und Objectives gegenüber steht." Wäre diese Ansicht 
Ueberweg^s über die Empfindung im Unterschiede von der Wahrneh- 
mung richtig, so würde nichtsdestoweniger das Empfinden ein Vor- 
stellen in unserem Sinne einschliesscn. Warum wir sie nicht für 
richtig halten, wird sich später zeigen. 



108 Buch II. Von den psycliisehen Phänomenen im Allgemeinen. 

liehe Vorstellung als etwas ursprünglich durch die Reizung 
der Nerven selbst Gegebenes betrachten, eine Vorstellung 
als Grundlage dieser Gefühle nicht leugnen können. Aber 
auch Andere können derselben Annahme nicht entgehen. 
Denn nicht bloss die Vorstellung einer örtlichen Bestimmt- 
heit, auch die einer besonderen sinnlichen Beschaffenheit, 
analog der Farbe, dem Schall und anderen sogenannten sinn- 
lichen Qualitäten, ist in uns vorhanden, einer Beschaflenheit, 
die zu den physischen Phänomenen gehört und von dem be- 
gleitenden Gefühle wohl zu unterscheiden ist. Wenn wir 
einen angenehm milden oder einen schrillen Ton, einen harmo- 
nischen Klang oder eine Disharmonie hören, so wird es Nie- 
mand einfallen, den Ton mit dem begleitenden Lust- oder 
Schmerzgefühle zu identificiren. Aber auch da, wo durch 
Schneiden, Brennen oder Kitzeln ein Gefühl von Schmerz 
oder Lust in uns erweckt wird, müssen wir in gleicher Weise 
ein physisches Phänomen, das als Gegenstand der äusseren 
Wahrnehmung auftritt, und ein psychisches Phänomen des 
Gefühles, welches sein Erscheinen begleitet, auseinanderhalten, 
obwohl der oberflächUche Betrachter hier eher zur Verwech- 
selung geneigt ist. 

Der hauptsächliche Grund, der die Täuschung veranlasst, 
ist wohl folgender. Unsere Empfindungen werden bekannt- 
lich durch die sogenannten sensibeln Nerven vermittelt. Früher 
glaubte man, dass jeder Gattung von sinnlichen Qualitäten, 
wie Farbe, Schall u. s. f., besondere Nerven als ausschliess- 
liche Leiter dienen. In neuester Zeit neigt sich dagegen 
die Physiologie mehr und mehr der entgegengesetzten An- 
sicht zu^). Namentlich lehrt sie fast allgemein, dass die 
Nerven für die Berühnmgsempfindungen , in einer anderen 
Weise gereizt, die Empfindungen der Wärme und Kälte und, 
wieder in einer anderen Weise erregt, die sogenannten 
Lust- und Schmerzempfindungen in uns hervorbringen. In 
Wahrheit gilt aber etwas Aehnhches für alle Nerven, inso- 
fern ein sinnliches Phänomen der zuletzt erwähnten Gattung 



*) Vgl. insbesondere Wandt, Physiol. Psychol. S. 845 ff. 



Capltel 1. Unterschied der psych, und phys. Phänomene. 109 

durch jeden Nerven in uns hervorgerufen werden kann. 
Wenn sie sehr stark gereizt werden, bringen alle Nerven 
schmerzliche Phänomene hervor, die sich der Art nach nicht 
von einander unterscheiden ^). Vermittelt ein Nerv verschie- 
dene Gattungen von Empfindungen, so geschieht es oft, dass 
er mehrere zugleich vermittelt, wie z. B. der Blick in ein 
elektrisches Licht zugleich eine „schöne", d. h. uns angenehme 
Farbenerscheinung und zugleich eine uns schmerzliche Er- 
scheinung anderer Gattung zur Folge hat. Die Nerven des 
Tastsinnes vermitteln häufig zugleich eine sogenannte Empfin- 
dung der Berührung, eine Empfindung von Wärme oder 
Kälte und eine sogenannte Lust- oder Schmerzempfindung. 
Nun zeigt es sich, dass, wenn mehrere Empfindungsphänomene 
zugleich erscheinen, sie nicht selten als eines betrachtet 
werden. In einer auffallenden Weise hat man dies in Be- 
treff der Geruchs- und Geschmacksempfindungen nachgewie- 
sen. Es steht fest, dass fast alle Unterschiede, die man als 
Unterschiede des Geschmacks anzusehen pflegt, in Wahrheit 
nur Unterschiede gleichzeitig entstehender Geruchsphänomene 
sind. Aehnlich ist es, wenn wir eine Speise kalt oder warm 
gemessen: wir glauben oft Unterschiede des Geschmacks zu 
haben, welche in Wahrheit nur Unterschiede der Temperatur- 
erscheinungen sind. Da ist es denh nicht zu verwundern, 
wenn wir das, was ein Phänomen der Temperaturempfindung, 
und das, was ein Phänomen der Berührungsempfindung ist, 
nicht immer genau auseinanderhalten. Ja wir würden sie 
vielleicht gar nicht scheiden, wenn sie nicht gewöhnUch un- 
abhängig von einander aufträten. Betrachten wir nun die 
Gefühlsempfindungen, so finden wir im Gegentheil, dass mit 
ihren Phänomenen meistens Empfindungen aus einer anderen 
Classe verbunden sind, welche höchstens im Falle einer sehr 
starken Erregung neben ihnen verschwinden. Und so er- 
klärt es sich recht wohl, wenn man sich über das Auftreten 
einer besonderen Gattung von sinnlichen Qualitäten täuschte, 
und statt zweier eine einzige Empfindung zu haben glaubte. 



') Vgl unten Buch II. Capitel 3 §. 6. 



110 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Da die hinzukommende Vorstellung von einem verhältniss- 
mässig sehr starken Gefühle begleitet war, ungleich stärker 
als dasjenige, welches der ersten Art von Qualität folgte, so 
betrachtete man diese psychische Erscheinung als das Einzige, 
was man neu empfangen habe. Und fiel dann die erste Art 
von Qualität ganz weg, so glaubte man nichts als ein Ge- 
fühl ohne zu Grunde liegende Vorstellung eines physischen 
Phänomens zu besitzen. 

Ein weiterer Grund, der die Täuschung begünstigt, ist 
der, dass die Qualität, welcher das Gefühl folgt, und dieses 
selbst nicht zwfei besondere Namen tragen. Man nennt das 
physische Phänomen, welches mit dem Schmerzgefühle auf- 
tritt, in diesem Falle selbst Schmerz. Man sagt nicht so- 
wohl, dass man diese oder jene Erscheinung im Fusse mit 
Schmerz empfinde, sondern man sagt, man empfinde Schmerz 
im Fusse. Dies ist eine Aequivocation, wie wir sie allerdings 
auch anderwärts häufig finden, wo Dinge in enger Beziehung 
zu einander stehen. Gesund nennen wir den Leib und, in 
Bezug auf ihn, die Luft, die Speise, die Gesichtsfarbe u. dgl. 
mehr, aber offenbar in einem anderen Sinne. In unserem 
Falle nennt man nach dem Gefühle der Lust oder des 
Schmerzes, welches das Erscheinen eines physischen Phäno- 
mens begleitet, dieses selbst Lust und Schmerz, und auch 
hier ist der Sinn ein modificirter. Es ist, wie wenn wir von 
einem Wohlklang sagen würden, er sei uns eine Lust, weil 
wir bei seiner Erscheinung ein Gefühl der Lust empfinden; 
oder auch, der Verlust eines Freundes sei uns ein grosser 
Kummer. Die Erfahrung zeigt, dass die Aequivocation eines 
der vorzüglichsten Hindemisse ist, unterschiede zu erken- 
nen. Am Meisten musste sie es hier werden, wo an und 
für sich eine Gefahr der Täuschung gegeben, und die Ueber- 
tragung des Namens vielleicht selbst Folge einer Confusion 
war. Daher wurden viele Psychologen getäuscht, und weitere 
Irrthümer hingen mit diesem zusammen. Manche kamen 
zu dem falschen Schlüsse, das empfindende Subject müsse an 
der Stelle des verletzten Gliedes, in welchem ein schmerz- 
liches Phänomen in der Wahrnehmung localisirt wird, gegen- 



Capitel 1. Unterschied der psych, und phys. Phänomene. Hl 

wärtig sein. Denn indem sie das Phänomen mit dem beglei- 
tenden Schmerzgefühle identificirten, betrachteten sie es als 
ein psychisches, nicht als ein physisches Phänomen. Und 
eben darum glaubten sie, seine Wahrnehmung in dem Gliede 
sei eine innere, also evidente und untrügliche Wahrnehmung '). 
Allein ihrer Ansicht widersprach die Thatsache, dass die 
gleichen Phänomene in der gleichen Weise oft nach der Am- 
putation des Gliedes erscheinen. Andere argumentirten da- 
her vielmehr umgekehrt skeptisch gegen die Evidenz der 
inneren Wahrnehmung. Alles löst sich, wenn man zwischen 
dem Schmerze in dem Sinne, in welchem der Namen die 
scheinbare Beschaifenheit eines Theiles unseres Leibes be- 
zeichnet, und zwischen dem Gefühle des Schmerzes, das sich 
an seine Empfindung knüpft, zu unterscheiden gelernt hat. 
Hat man aber dieses gethan, so wird man nicht mehr geneigt 
sein zu behaupten, dass dem Gefühle des sinnlichen Schmer- 
zes, den man bei einer Verletzung empfindet, keine Vor- 
stellung zu Grunde liege. 

Wir dürfen es demnach als eine unzweifelhaft richtige 
Bestimmung der psychischen Phänomene betrachten, dass sie 
entweder Vorstellungen sind, oder (in dem erläuterten Sinne) 
auf Vorstellungen als ihrer Grundlage beruhen. Hierin hätten 
wir also eine zweite, in wenigere Glieder zerfallende Erklä- 
rung ihres Begriffes gegeben. Inunerhin igt sie nicht ganz 
einheitlich, da sie vielmehr die psychischen Phänomene in 
zwei Gruppen geschieden uns vorführt. 

§. 4. Eine vollkommen einheitliche Bestimmung, die alle 
psychischen Phänomene gegenüber den physischen kennzeich- 
net, hat man negativ zu geben gesucht. Alle physischen 
Phänomene, sagte man, zeigen Ausdehnung und örtliche Be- 
stinmitheit: seien sie nun Erscheinungen des Gesichts oder 
eines anderen Sinnes; oder seien sie Gebilde der Phantasie, 
die ähnliche Objecte uns vorstellt. Das Gegentheil aber gilt 



') So noch der Jesuit Tongiorgi in seinem vielverbreiteten Lehr- 
buche der Philosophie. 



112 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

von den psychischen Phänomenen ; Denken, Wollen u. s. f. er- 
scheinen ausdehnungslos und ohne räumliche Lage. 

Hienach wären wir im Stande, die physischen Phänomene 
leicht und genau gegenüber den psychischen zu charakteri- 
siren, indem wir sagten, sie seien diejenigen, welche ausge- 
dehnt und räumlich erscheinen. Und auch die psychischen 
wären dann den physischen gegenüber mit derselben Exactheit 
als diejenigen Phänomene zu bestimmen, welche keine Aus- 
dehnung und örtliche Bestimmtheit zeigen. Descartes und 
Spinoza könnte man zu Gunsten einer solchen Unterschei- 
dung anrufen; besonders aber Kant, der den Raum für die 
Form der Anschauung des äusseren Sinnes erklärt. 

Dieselbe Bestimmung gibt neuerdings A. Bain : „Das Ge- 
biet des Objects oder die objective (äussere) Welt," sagt er, 
„ist genau umschrieben durch eine Eigenthümlichkeit , die 
Ausdehnung. Die Welt der subjectiven Erfahrung (die innere 
Welt) entbehrt dieser Eigenthümlichkeit. Von einem Baume 
oder von einem Bache sagt man, er besitze eine ausgedehnte 
Grösse. Ein Vergnügen hat nicht Länge, Breite oder Dicke ; 
es ist in keiner Hinsicht ein ausgedehntes Ding. Ein Ge- 
danken oder eine Idee mag sich auf ausgedehnte Grössen 
beziehen, aber man kann nicht von ihnen sagen, sie hätten 
eine Ausdehnung in sich selbst. Und ebensowenig können 
wir sagen, dass ein Willensact, eine Begierde, ein Glauben 
einen Raum nach gewissen Richtungen erfülle. Daher spricht 
man von Allem, was in das Bereich des Subjects fällt, als 
von dem Unausgedehnten. Gebraucht man also, wie es ge- 
meiniglich geschieht, den Namen Geist für die Gesammtheit 
der inneren Erfahrungen, so können wir ihn negativ durch 
eine einzige Thatsache definiren, — durch den Mangel der 
Ausdehnung i)." 

So, scheint es, haben wir wenigstens negativ eine ein- 
heitUche Bestimmung für die Gesammtheit der psychischen 
Phänomene gefunden. 



•) Mental Science, Introd. eh. 1. 



Capitel 1. Unterschied der psych, und phys. Phänomene. 113 

Allein auch hier herrscht nicht Einstimmigkeit unter den 
Psychologen; und aus entgegengesetzten Gründen hört man 
oft die Ausdehnung und den Mangel an Ausdehnung als 
unterscheidende Merkmale zwischen physischen und psychi- 
schen Phänomenen verwerfen. 

Viele erklären die Bestimmung darum für falsch, weil 
nicht allein die psychischen, sondern auch manche von den 
physischen Phänomenen ohne Ausdehnung erscheinen. So 
lehrt eine grosse Zahl nicht unbedeutender Psychologen, 
class die Phänomene gewisser oder auch sämmtlicher Sinne 
ursprünglich von aller Ausdehnung und räumlichen Be- 
stimmtheit sich frei zeigen. Besonders von den Tönen und 
von den Phänomenen des Geruches glaubt man dies sehr 
allgemein. Nach Berkeley gilt von den Farben , nach 
Platner von den Erscheinungen des Tastsinnes, nach Her- 
bart und Lotze, sowie nach Hartley, Brown, den bei- 
den Mill, H. Spencer und Anderen von den Erscheinungen 
aller äusseren Sinne dasselbe. Allerdings kommt es uns so 
vor, als seien die Erscheinungen, welche die äusseren Sinne, 
namentlich das Gesicht und der Tastsinn uns zeigen, alle 
räumlich ausgedehnt. Aber dies, sagt man, komme daher, 
dass wir die allmälig entwickelten räumlichen Vorstellungen 
auf Grund früherer Erfahrung damit verbinden ; ursprüng- 
lich ohne örtliche Bestimmtheit, werden sie später von uns 
localisirt. Sollte wirklich nur dieses die Weise sein, .in wel- 
cher die physischen Phänomene örtliche Bestimmtheit er- 
langen, so könnten wir offenbar nicht mehr in Kücksicht 
auf diese Eigenthümlichkeit die beiden Gebiete scheiden; 
um so weniger, als auch psychische Phänomene in solcher 
Weise von uns localisirt werden, wie z. B. wenn wir ein Phä- 
nomen des Zornes in den gereizten Löwen, und unsere eigenen 
Gedanken in den von uns erfüllten Raum verlegen. 

Das also wäre die eine Weise, in welcher auf dem 
Standpunkte einer grossen Zahl bedeutender Psychologen die 
gegebene Bestimmung beanstandet werden muss. Im Grunde 
genommen ist auch Bain, der sie zu vertreten schien, diesen 
Denkern beizuzählen; denn er folgt ganz der Hartley'schen 

Brentano, Fsycliologie. ■ I. 8 



114 Buch n. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Richtung. Nur darum konnte er sprechen, wie er gesprochen 
hat , weil er (obwohl nicht mit durchgängiger Consequenz) 
die Phänomene der äusseren Sinne an und f&r sich nicht zu 
den physischen Phänomenen rechnet^). 

Andere, wie gesagt, werden aus einem entgegengesetzten 
Grunde die Bestimmung verwerfen. Nicht sowohl die Be- 
hauptung, dass alle physischen Phänomene ausgedehnt er- 
scheinen, erregt ihnen Anstoss, als vielmehr die, dass alle 
psychischen der Ausdehnung entbehren; auch gewisse psy-^^ 
chische Phänomene zeigen sich nach ihnen ausgedehnt. Ari- 
stoteles scheint dieser Ansicht gewesen zu sein, wenn er 
im ersten Capitel seiner Abhandlung über Sinn und Sinnes- 
object es als unmittelbar und ohne vorgängigen Beweis ein- 
leuchtend betrachtet, dass die sinnliche Wahrnehmung Act 
eines körperlichen Organes sei*). Neuere Psychologen und 
Physiologen äussern sich zuweilen ähnlich hinsichtlich gewisser 
Aflfecte. Sie sprechen von einem Lust- und Schmerzgefühl^ 
das in den äusseren Organen auftrete, manchmal sogar noch 
nach der Amputation des Gliedes; und doch ist Gefühl wie 
Wahrnehmung ein psychisches Phänomen. Auch von sinn- 
lichen Begierden behaupten Manche, dass sie localisirt er- 
scheinen ; und damit stimmt es recht wohl, wenn die Dichter, 
nicht zwar von einem Denken, wohl aber von einer Wonne 
und einem Sehnen sprechen, die Herz und alle Glieder durch- 
dringen. 

So sehen wir, dass sowohl hinsichtUch der physischen 
als auch hinsichtlich der psychischen Phänomene die gege- 
bene Unterscheidung angefochten wird. Vielleicht ist der 
eine wie der andere Widerspruch in gleicher Weise unbe- 
gründet^). Aber dennoch ist jedenfalls noch eine weitere 



1) Vgl. oben S. 101 Anm. 1. 

*) De sens. et sens. 1. p. 436, b, 7. Vgl. auch, was er De Anim. 
I. 1. p. 403, a, 16 von den Affecten, insbesondere von denen der Furcht, 
sagt. 

^) Die Behauptung, auch psychische Phänomene erschienen ausge- 
dehnt, beruht offenbar auf einer Verwechselung physischer und psy- 
chischer Phänomene, ähnlich derjenigen, von welcher wir oben uns 



Capitel I. Unterschied der psych, und phys. Phänomene. 115- 

gemeinsame Bestimmung für die psychischen Phänomene wün- 
schenswerth: denn einmal zeigt der Streit darüber, ob ge- 
wisse psychische und physische Phänomene ausgedehnt er- 
scheinen oder nicht, dass das angegebene Merkmal zur 
deutlichen Scheidung nicht hinreicht; und dann ist es für die 
psychischen Phänomene nur negativ. 

§. 5. Welches positive Merkmal werden wir nun anzu- 
geben vermögen? Oder gibt es vielleicht gar keine positive 
Bestimmung, die von allen psychischen Phänomenen gemein- 
sam gilt? A. Bain meint in der That, es gebe keine*). 
Nichtsdestoweniger haben schon Psychologen älterer Zeit auf 
eine besondere Verwandtschaft und Analogie aufmerksam ge- 
macht, die zwischen allen psychischen Phänomenen bestehe,, 
während die physischen nicht an ihr Theil haben. 

Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisirt,. 
was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch 
wohl mentale) ^) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben,, 
und was wir , obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Aus- 
drücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Kichtung auf 
ein Object (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist)^ 
oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes 
enthält etwas als Object in sich, obwohl nicht jedes in glei- 
cher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem 
Urtheile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe 
geliebt, in dem Hasse gehasst, in dem Begehren begehrt u. s. w.^) 



überzeugten, da wir eine Vorstellung als nothwendige Grundlage auch 
der sinnlichen Gefühle nachwiesen. 

') TheSenses and the Intellect, Introd. 

*) Sie gebrauchen auch den Ausdruck „gegenständlich (objective) ii^ 
etwas sein^*, der, wenn man sich jetzt seiner bedienen wollte, umge- 
kehrt als Bezeichnung einer wirklichen Existenz ausserhalb des Geistes 
genommen werden dürfte. Doch erinnert daran der Ausdruck „imma- 
nent gegenständlich sein'S <i6n man zuweilen in ähnlichem Sinne ge- 
braucht, und bei welchem offenbar das „immanent'^ das zu fürchtende 
Missverständniss ausschliessen soll. 

*) Schon Aristoteles hat von dieser psychischen Einwohnung ge- 
sprochen. In seinen Büchern von der Seele sagt er, das Empfundene 

8* 



hf/UMp*i 7>t\'/\ *::twa^ A^irijujiciie«, Und boiiiit kanuen -«rir 
|^ey<;hj.y;iAi?ü J^'jiäfy/meiA^ <lf4iijir*fJüL iiid«ri vir fiÄgec ae 
^/Idiiij l^kiiM/miihe ^ urd'rbt iiiteixtional esn« GegensJaML in 

K^^^.r ümkU hi^r hU/a^u wir auf Streit und Wida^ndi. 
I,'ii4 iuiJip^^fuA^trtt ibt e)^ HanriilUin, der fior eme ganze weite 
i(;j;A.si>4^ voo j/^y^tii^'jK^n Kr^^heinungen , namlieh for alle die- 
j^sUitmf AUi er al« Gefühle (feelings) bezeidmet, fnr Lust 
und K'^timer;; iii ihren rrianriigCaehsten Arten und Abstofiingen, 
die Hingegebene Kigentliamlichkeit leugnet. Hinacfatlich der 
VUimimtm i\m Denken» und Begehrens ist er mit nns einig. 
(/ttenhur gehe e« kein Denken ohne ein Object, das gedacht, 
km\ Hi^gehren ohne einen Gegenstand, der begehrt werde. 
,,ln den l'hänonienen des Gefühles dagegen," sagt er, „(den 
i'hünoiiHMirtn von Luht und Schmerz) stellt das Bewusstsein 
(Ihm pHydilHchen Kindruck oder Zustand nicht vor sich hin, 
ew h<*triicht(jt ilin nicht für sich (apart), sondern ist so zu 
m^i'W \\\ Kinn mit ihm verschmolzen. Die Eigen- 

aU Kinpfuiiüt^uaH ual In dorn Empfindenden, der Sinn nehme das £m- 
|ii'und»no oliiia die Materie auf, da» Gedachte sei in dem denkenden 
Vertitaude, Hai Philo finden wir ebenfalls die Lehre von der mentalen 
KKUten» und InexUteua. Indem er aber diese mit der Existenz im 
ainentliphen Hlnna oonfundirt, kommt er zu seiner widerspruchsvollen 
l^OKOK- und Ideanlehre. Aehnliohes gilt von den Neuplatonikem. 
AugUKtlnua iu ialuar Lehre vom Verbum mentis und dessen inner- 
liiiham Ausgange berührt dieselbe Thatsache. Anseimus thut es iu 
naiuaiu barUhmteu outologisohen Argumente; und dass er die mentale 
wia v\\\iy wirkliehe Kxlstena betrachtete, wurde von Manchen als Grund- 
Ugt^ »eine« l^at^alogisu^u» hervorgehoben (vergL Ueberweg» Gesch. der 
rhil. 11). Thoma» von Aquiu lehrt» das Gedachte eei intentional in 
Uom IVuk^ndt^u, der Gegenstand der Liebe in dem Liebenden > das 
lU^g^hrto iu dem Uegehrenden» und beniitat dies au theologisehen 
Zwivkeu. Weuu die Schrift von einer £inwohnuug des hl €rebtes 
»^'iohtft »o erklärt er diec^e aU eine intentionale Einwohnong, durch die 
Li\>be« i'ud iu der iuteutionalen Inexistent beim Denken und Liebea 
aucht ev auvK für da» Geheimnis» der TrinltHt und den HetTosgan^ 
4^ WV^te«» uud Geiste«» ad iatra eine gewi^^e Analogie zu &ideu^ 



Capitel 1. Unterschied der psych, und phys. Phänomene. 117 

thümlichkeit des Gefühles besteht claher darin, dass in ihm 
nichts ist, ausser was subjectivisch subjectiv (subjectively subjec- 
tive) ist ; hier findet sich weder ein von dem Selbst verschie- 
denes Object, noch irgend welche Objectivirung des Selbst ^y'^ 
In dem ersten Falle wäre etwas da, was nach Hamilton'^ 
Ausdrucksweise „objectiv", in dem zweiten etwas: was „ob-^ 
jectivisch subjectiv" ist, wie bei der Selbsterkenntniss, deren 
Object Hamilton darum Subject- Object nennt; Hamilton 
stellt, indem er Beides in Betreff des Gefühles leugnet, jede 
intentionale Inexistenz für dasselbe auf das Entschiedenste 
in Abrede. 

Indessen ist, was Hamilton sagt, jedenfalls nicht durch- 
gängig richtig. Gewisse Gefühle beziehen sich unverkennbar 
auf Gegenstände, und die Sprache selbst deutet diese durch 
die Ausdrücke an, deren sie sich bedient. Wir sagen, man 
freue sich an-, man freue sich über etwas, man trauere 
oder gräme sich über etwas. Und wiederum sagt man: das 
freut mich, das schmerzt mich, das thut mir leid u. s. L 
Freude und Trauer folgen, wie Bejahung und Verneinung^ 
Liebe und Hass, Begehren und Fliehen, deutlich einer Vor- 
stellung und beziehen sich auf das in ihr Vorgestellte. 

Am Meisten dürfte einer in den Fällen Hamilton bei- 
zustimmen geneigt sein, in welchen man, wie. wir früher 
sahen , am Leichtesten der Täuschung verfällt , es liege 
dem Gefühle keine Vorstellung zu Grunde; also z. B. beim 
Schmerze , der durch Schneiden oder Brennen erweckt 
wird. Aber der Grund ist kein anderer als eben die Ver- 
suchung zu dieser, wie wir sahen, irrthümlichen Annahme. 
Auch Hamilton erkennt übrigens mit uns die Thatsache an, 
dass Vorstellungen ausnahmslos, und somit auch hier, die 
Grundlage der Gefühle bilden. Um so auffallender erscheint 
daher seine Leugnung eines Objects für die Gefühle. 

Eines freilich ist wohl zuzugeben. Das Object, auf wel- 
ches sich ein Gefühl bezieht, ist nicht immer ein äusserer 
Gegenstand. Auch da, wo ich einen Wohlklang höre, ist d^e 



*) Lect. on Metaph. I. S. 432. 



118 Buch II, Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Xust, die ich fühle, nicht eigentlich eine Lust an dem Tone, 
sondern eine Lust am Hören. Ja man könnte vielleicht 
nicht mit Unrecht sagen, dass sie sich in gewisser Weise so- 
gar auf sich selbst beziehe, und dass darum mehr oder min- 
der das eintrete, was Hamilton sagt, dass nämlich das Ge- 
fühl mit dem Gegenstand „in Eins verschmolzen" sei. Aber 
dies ist nichts, was nicht in gleicher Weise bei manchen 
Phänomenen der Vorstellung und Erkenntniss gilt, wie wir 
hei der Untersuchung über das innere Bewusstsein sehen 
werden. Dennoch bleibt bei ihnen eine mentale Inexistenz, 
ein Subject-Object, um mit Hamilton zu reden; und dasselbe 
wird darum auch bei diesen Gefühlen gelten. Hamilton hat 
Unrecht, wenn er sagt, dass bei ihnen Alles „subjectivisch 
subjectiv" sei; ein Ausdruck, der ja eigentlich sich selbst 
widerspricht; denn, wo nicht mehr von Object, ist auch nicht 
mehr von S üb j e c t zu reden. Auch wenn Hamilton von einem 
in -Eins -Verschmelzen des Gefühles mit dem psychischen 
Eindruck sprach, gab er genau betrachtet gegen sich selbst 
Zeugniss. Jedes Verschmelzen ist eine Vereinigung von Meh- 
rerem; und somit weist der bildliche Ausdruck, welcher die 
EigenthümUchkeit des Gefühles anschaulich machen soD, im- 
mer noch auf eine gewisse Zweiheit in der Einheit hin. 

Die intentionale Inexistenz eines Objects dürfen wir also 
mit Recht als eine allgemeine Eigenthümlichkeit der psychi- 
schen Phänomene geltend machen, welche diese Classe der 
Erscheinungen von der Classe der physischen unterscheidet. 

§. 6. Eine weitere gemeinsame Eigenthümlichkeit aller 
psychischen Phänomene ist die, dass sie nur in innerem Be- 
wusstsein wahrgenommen werden, während bei den physischen 
nur äussere Wahrnehmung mögUch ist. Dieses unterschei- 
dende Merkmal hebt Hamilton hervor^). 

Es könnte einer glauben, mit einer solchen Bestimmung 
sei wenig gesagt, da es vielmehr das Naturgemässe scheine, 
dass man umgekehrt den Act nach dem Object, also die 

*) Ebend. 



Capitel 1. Unterschied der psych, und phys. Phänomene. 119 

innere Wahrnehmung im Gegensatze zu jeder anderen als 
Wahrnehmung psychischer Phänomene bestimme. Allein die 
innere Wahrnehmung hat, abgesehen von der Besonderheit 
ihres Objectes, auch noch Anderes, was sie auszeichnet; na- 
mentlich jene unmittelbare, untrügliche Evidenz, die unter 
allen Erkenntnissen der Erfahrungsgegenstände ihr allein zu- 
kommt. Wenn wir also sagen, die psychischen Phänomene 
seien diejenigen, welche durch innere Wahrnehmung erfasst 
werden, so ist damit gesagt, dass ihre Wahrnehmung un- 
mittelbar evident sei. 

Ja noch mehr ! Die innere Wahrnehmung ist nicht bloss 
die einzige unmittelbar evidente ; sie ist eigentlich die einzige 
Wahrnehmung im eigentlichen Sinne des Wortes. Haben wir 
doch gesehen, dass die Phänomene der sogenannten äusseren 
Wahrnehmung auch auf dem Wege mittelbarer Begründung 
sich keineswegs als wahr und wirklich erweisen lassen; ja 
dass der, welcher vertrauend sie für das nahm, wofür sie 
sich boten, durch den Zusammenhang der Erscheinungen des 
Irrthums überführt wird. Die sogenannte äussere Wahr- 
nehmung ist also strenggenommen nicht eine Wahrnehmung; 
und die psychischen Phänomene können somit als diejenigen 
l)ezeichnet werden, in Betreff deren allein eine Wahrnehmung 
im eigentlichen Sinne des Wortes möglich ist. 

Auch durch diese Bestimmung sind die psychischen Phä- 
nomene genügend charakterisirt. Nicht als ob alle psychi- 
schen Phänomene für jeden innerlich wahrnehmbar, und 
darum alle, die einer nicht wahrnehmen kann, von ihm den 
physischen Phänomenen zuzurechnen seien; vielmehr ist es 
offenbar und wurde von uns schon früher ausdrücklich bemerkt, 
dass kein psychisches Phänomen von mehr als einem Einzigen 
wahrgenommen wird ; allein wir haben damals auch gesehen, 
dass in jedem vollentwickelten menschlichen Seelenleben 
jede Gattung psychischer Erscheinungen sich vertreten findet 
und dainim dient der Hinweis, auf die Phänomene, welche 
das Gebiet der inneren Wahrnehmung ausmachen, in genü- 
gender Weise unserem Zwecke. 



120 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

§. 7. Wir sagten, die psychischen Phänomene seien die- 
jenigen, von welchen allein eine Wahrnehmung im eigent- 
lichen Sinne möglich sei. Wir können eben so gut sagen, sie 
seien diejenigen Phänomene, welchen allein ausser der inten- 
tionalen auch eine wirkliche Existenz zukomme. Erkenntniss, 
Freude, Begierde bestehen wirklich; Farbe, Ton, Wärme nur 
phänomenal und intentional. 

Es gibt Philosophen, welche so weit gehen zu sagen, e& 
sei durch sich selbst evident, dass einer Erscheinung wie die, 
welche wir eine physische nennen, keine Wirklichkeit entspre- 
chen könne. Sie behaupten, dass, wer dies annehme und phy- 
sischen Phänomenen eine andere als mentale Existenz zu- 
schreibe, etwas sich selbst Widersprechendes behaupte. So 
sagt z. B. Bain, man habe die Erscheinungen der äusseren 
Wahrnehmung durch die Annahme einer physischen Welt zu 
erklären gesucht, „welche zuerst ohne wahrgenommen zu 
werden bestehe, und dann durch Einwirkung auf den Geist 
zur Wahrnehmung gelange". „Diese Anschauung", sagt er, 
„enthält einen Widerspruch. Die herrschende Lehre ist, dass 
ein Baum etwas in sich selbst, abgesehen von aller Wahr- 
nehmung, sei, dass er durch das Licht, welches er entsende^ 
in unserem Geist einen Eindruck hervorbringe und dann 
wahrgenommen werde ; so zwar, dass die Wahniehmung eine 
Wirkung, und der unwahrgenommene" (d. h. wohl der ausser 
der Wahrnehmung bestehende) „Baum die Ursache sei. Allein 
der Baum ist nur durch Wahrnehmung bekannt; was er vor 
der Wahrnehmung und unabhängig von ihr sein mag, können 
wir nicht sagen; wir können an ihn als wahrgenommenen, 
aber nicht als unwahrgenommenen denken. Es liegt ein 
offenbarer Widerspruch in der Annahme; man verlangt von 
von uns in demselben Augenblicke, wir sollten das Ding 
wahrnehmen, und wir sollten es nicht wahrnehmen. Wir 
kennen die Berührungsempfindung von Eisen, aber es ist 
nicht möghch, dass wir die Berührungsempfindung, abgesehen 
von der Berührungsempfindung, kennen^)." 



*) Mental Science 3. edit. p. 198. 



Capitel 1. Unterschied der psych, und phys. Phänomene. 121 

Ich muss eingestehen, dass ich nicht im Stande bin^ 
mich von der Richtigkeit dieser Argumentation zu tiberzeu- 
gen. So gewiss es auch ist, dass eine Farbe uns nur er- 
seheint, wenn wir sie vorstellen: so ist doch hieraus nicht zu 
schliessen, dass eine Farbe ohne vorgestellt zu sein nicht 
existiren könne. Nur wenn das Vorgestellt -sein als ein 
Moment in der Farbe enthalten wäre, so etwa wie eine ge- 
wisse Qualität und Intensität in ihr enthalten ist, würde eine 
nicht vorgestellte Farbe einen Widerspruch besagen, da ein 
Ganzes ohne einen seiner Theile in Wahrheit ein Widerspruch 
ist. Dieses aber ist offenbar nicht der Fall. Wäre es doch 
sonst auch geradezu unbegreiflich, wie der Glauben an die 
wirkliche Existenz der physischen Phänomene ausserhalb un- 
serer Vorstellung, ich will nicht sagen, entstehen, aber zu 
der allgemeinsten Ausbreitung gelangen, mit äusserster 
Zähigkeit sich erhalten, ja selbst von Denkern ersten Ranges 
lange Zeit getheilt werden konnte. — Wenn das richtig wäre, 
was Bain sagt : „wir können an einen Baum als wahrgenom- 
menen, nicht aber als unwahrgenommenen denken; es liegt 
ein offenbarer Widerspruch in der Annahme": so wären seine 
weiteren Folgerungen allerdings nicht mehr zu beanstanden. 
Allein gerade dies ist nicht zuzugeben. Bain erläutert den 
Ausspruch, indem er bemerkt: „man verlangt von uns in 
demselben Augenblicke, wir sollten das Ding wahrnehmen, 
und wir sollten es nicht wahrnehmen." Aber es ist nicht 
richtig, dass man dies verlangt: denn einmal ist nicht jedes 
Denken eine Wahrnehmung; und dann, selbst wenn dies der 
Fall wäre, würde nur folgen, dass einer nur an von ihm 
wahrgenommene Bäume, nicht aber, dass er nur an Bäume 
als von ihm wahrgenommene denken könne. Ein weisses 
Stück Zucker schmecken, heisst nicht, ein Stück Zucker als 
weisses schmecken. Recht deutlich zeigt sich der Fehl- 
schluss, wenn man ihn auf die psychischen Phänomene an- 
wendet. Wenn einer sagen würde: „ich kann an ein psy- 
chisches Phänomen nicht denken, ohne daran zu denken; 
also kann ich nur an psychische Phänomene als von mir ge- 
dachte denken; also existiren keine psychischen Phänomene 



122 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

ausser meinem Denken": so wäre dies ein völlig gleiches 
Schlussverfahren, wie das, dessen Bain sich bedient. Nichts- 
destoweniger wird Bain selbst nicht leugnen, dass sein indi- 
viduelles psychisches Leben nicht das einzige ist, dem wirk- 
liche Existenz zukommt. Wenn Bain beifügt: „wir kennen 
die Berührungsempfindung von Eisen, aber es ist nicht mög- 
lich, dass wir die Berührungsempfindung als etwas für sich, 
abgesehen von der Berührungsempfindung, kennen": so ge- 
braucht er das Wort Berührungsempfindung zuerst offenbar 
im Sinne des Empfundenen, dann im Sinne des Empfindens. 
Das sind verschiedene Begriffe, wenn auch der Namen derselbe 
ist. Und somit würde nur der , welcher durch die Aequi vo- 
cation sich täuschen Hesse, das von Bain verlangte Zuge- 
ständniss unmittelbarer Evidenz machen können. 

Nicht also das ist richtig, dass die Annahme, es existire 
ein physisches Phänomen, wie die, welche intentional in uns 
sich finden, ausserhalb des Geistes und in Wirklichkeit, einen 
Widerspruch einschliesst : nur eines mit dem anderen ver- 
glichen, zeigen sie Conflicte, welche deutUch beweisen, dass der 
intentionalen hier keine wirkliche Existenz entspricht. Und 
gilt dies auch zunächst nur, so weit unsere Erfahmng reicht, 
so werden wir doch nicht fehl gehen, wenn wir ganz allge- 
mein den physischen Phänomenen jede andere als intentio- 
nale Existenz absprechen. 

§. 8. Man hat noch einen anderen Umstand als unter- 
scheidend für physische und psychische Phänomene geltend 
gemacht. Man sagte, dass von psychischen Phänomenen 
immer nur eines nach dem anderen, von physischen dagegen 
viele zugleich auftreten. Nicht immer jedoch ist dies in ein 
und demselben Sinne gesagt worden; und nicht jeder Sinn, 
den man mit der Behauptung verband, zeigte sich im Ein- 
klänge mit der Wahrheit. 

In neuester Zeit hat H. Spencer sich also darüber aus- 
gesprochen : „Die zwei grossen Classen von lebendigen Thätig- 
keiten, welche die Physiologie und die Psychologie beziehungs- 
weise umfassen, sind dadurch weit von einander geschieden, dass, 
während die eine sowohl gleichzeitige als auch auf einander 



Capitel 1. Unterschied der psych, und phys. Phänomene. 123 

folgende Veränderungen, die andere nur auf einander folgende 
Veränderungen einschliesst. Die Phänomene, welche den Ge- 
genstand der Physiologie bilden, stellen sich als eine Unzahl 
verschiedener mit einander verknüpfter Reihen dar. Diejenigen, 
welche den Gegenstand der Psychologie bilden, stellen sich 
nur dar als eine einzige Reihe. Ein Blick auf die vielen 
fortdauernden Bethätigungen, welche das Leben des Körpers 
in seiner Gesammtheit ausmachen, zeigt sofort, dass sie 
gleichzeitig sind, — dass Verdauung, Blutumlauf, Athmung, 
Excretion, Secretion u. s. f., in allen ihren zahlreichen Unter- 
«intheilungen zugleich und in gegenseitiger Abhängigkeit vor 
sich gehen. Und die kürzeste Selbstbetrachtung lässt deut- 
lich erkennen, dass die Thätigkeiten , welche das Denken 
ausmachen, nicht zusammen, sondern die eine nach der an- 
deren, verlaufen 0-" — H, Spencer fasst also im Besonderen die 
physiologischen und physischen Erscheinungen bei ein und 
demselben mit psychischem Leben verbundenen Organismus 
vergleichend ins Auge. Würde er dies nicht gethan haben, 
so hätte er nothwendig zugeben müssen, dass auch von psy- 
chischen Erscheinungsreihen mehrere gleichzeitig verlaufen, 
da ja von psychisch begabten lebenden Wesen mehr als eines 
in der Welt sich findet. Aber auch in der Beschränkung, 
die er ihr gibt, bleibt die von ihm aufgestellte Behauptung 
nicht durchgängig wahr. Und H. Spencer selbst ist so weit 
davon entfernt , dies zu verkennen , dass er sofort auf jene 
Arten von niederen Thieren, wie z. B. auf die Strahlenthiere, 
hinweist, bei welchen ein mehrfaches Seelenleben in einem 
Leibe gleichzeitig sich abspinnt. Hier, meint er' darum — was 
Andere aber nicht leicht zugestehen werden — sei zwischen 
psychischem und physischem Leben wenig Unterschied^). 
Und er macht noch weitere Zugeständnisse, wonach die an- 
gegebene Verschiedenheit zwischen physiologischen und psy- 
chischen Erscheinungen zu einem blossen mehr oder minder 
sich abschwächt. — Noch mehr! wenn wir uns fragen, was 
Spencer unter den physiologischen Phänomenen versteht, 

*) Principles of Psychol. 2. edit. I. §. 177. p. 395^. 
*) Ebend. p. 397. 



124 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

deren Veränderungen im Gegensatze zu den ps}xhischen zu- 
gleich verlaufen sollen, so scheint es, dass er nicht eigent- 
liche physische Erscheinungen, sondern die in sich selbst 
unbekannten Ursachen dieser Erscheinungen mit dem Namen 
bezeichnet; denn hinsichtlich der physischen Erscheinungen, die 
in der Empfindung auftreten, möchte es unleugbar sein, dass 
sie sich nicht gleichzeitig verändern können, wenn nicht auch 
die Empfindungen gleichzeitigen Veränderungen unterliegen. 
In dieser Weise können wir also nicht wohl zu einem unter- 
scheidenden Merkmale für die eine und andere Classe ge- 
langen. 

Andere haben darin eine Besonderheit des Seelenlebens 
sehen wollen, dass immer nur ein Object, nie mehrere gleich- 
zeitig im Bewusstsein erfasst werden könnten. Sie wiesen 
auf den merkwürdigen Fall des Fehlers in der Zeitbestim- 
mung hin, der bei astronomischen Beobachtungen regelmässig 
eintritt, indem der gleichzeitige Pendelschlag nicht gleich- 
zeitig, sondern früher oder später zum Bewusstsein kommt, 
als der beobachtete Stern mit dem Faden in dem Fernglase 
sich berührt^). So folge denn von psychischen Phänomenen 
in einfacher Reihe immer nur eines dem anderen nach. — 
Allein sicher hatte man Unrecht, das, was ein solcher Fall 
von äusserster Concentration der Aufmerksamkeit zeigt, ohne 
Weiteres zu verallgemeinem. H. Spencer wenigstens sagt: 
„Ich finde, dass man zuweilen nicht weniger als fünf gleich- 
zeitige Reihen von Nervenveränderungen entdecken kann, 
welche in verschiedenen Graden zum Bewusstsein kommen, 
so dass wir keine von ihnen schlechthin unbewusst nennen 
können. Wenn wir gehen , ist die Reihe der Ortserschei- 
nungen vorhanden; unter gewissen Umständen mag eine 
Reihe von Berührungserscheinungen sie begleiten ; sehr häufig 
ist (bei mir wenigstens) eine Reihe von Tonerscheinungen da, 
welche eine Melodie oder das Bruchstück einer Melodie bil- 
den, die mich verfolgt; und zu ihnen kommt die Reihe der 



*) Vgl. Bessel, Astronom. Beobachtungen, Abthl. VIII. Königsb. 
1823, Einl. Struve, Expedition cbronometrique etc. Petersb. 1S44, p. 29. 



Capitel 1. Unterschied der psych, und phys. Phänomene. 125 

Oesichtserscheinungen: welche alle, dem herrschenden Be- 
wusstsein, das durch einen Zug von Reflexionen gebildet wird, 
untergeordnet, denselben kreuzen und sich darein ver- 
weben^)." Aehnliches berichten Hamilton, Cardaillac und 
andere Psychologen auf Grund ihrer Erfahrungen. Angenom- 
men aber, es wäre richtig, dass alle Fälle der Perception 
demjenigen des Astronomen ähnlich seien, müsste man nicht 
immer wenigstens anerkennen, dass wir oft zugleich etwas 
vorstellen und ein Urtheil darüber fällen oder danach be- 
gehren? Es bliebe also dennoch eine gleichzeitige Mehrheit 
psychischer Phänomene. Ja man könnte mit besserem Rechte 
die umgekehrte Behauptung aufstellen, dass von psychischen 
Phänomenen wohl oft mehrere zugleich, von physischen aber 
ide mehr als eines vorhanden sei. 

In welchem Sinne kann man also allein etwa sagen, dass 
von psychischen Phänomenen stets nur eines, von physischen 
dagegen viele zu gleicher Zeit auftreten? Man kann es, in- 
sofern die ganze Mannigfaltigkeit der psychischen Phänomene, 
die Jemanden in innerer Wahrnehmung erscheinen, ihm 
immer als eine Einheit sich zeigt, während von den phy- 
sischen Phänomenen , die er gleichzeitig durch sogenannte 
äussere Wahrnehmung erfasst, nicht dasselbe gilt. — Wie 
anderwärts häufig, so ist auch hier von Manchen Einheit 
mit Einfachheit verwechselt worden, und sie behaupteten 
darum, sich selbst als etwas Einfaches in innerem Bewusst- 
sein wahrzunehmen. Andere wieder leugneten, indem sie 
mit Recht dei: Einfachheit der Erscheinung widersprachen, 
zugleich die Einheit. Aber wie die Ersteren sich nicht con- 
sequent bleiben konnten, da vielmehr, sobald sie ihr Inneres 
beschrieben, eine reiche Vielheit verschiedener Momente Er- 
wähnung fand: so konnten auch die Letzteren sich nicht er- 
wehren, unwillkürlich der Einheit der Seelenphänomene 



') Ebend. p. 398. Ebenso sagt Drobisch, es sei „Thatsache, dass 
mehrere Reihen von Vorstellungen zugleich durch das Bewusstsein 
gehen können, aber gleichsam in verschiedenen Höhen/* Empir* 
Psychol. S. 140. 



126 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Zeugniss zu geben. Sie sprechen, wie Andere, von einem „Ich'*- 
und nicht von einem „Wir" und bezeichnen dasselbe bald ais- 
ein „Bündel" von Erscheinungen, bald durch andere Namen, 
die das Zusammengehen in eine innige Einheit charakteri- 
siren. Wenn wir Farbe, Schall, Wärme, Geruch gleichzeitig 
wahrnehmen, so hindert uns nichts, jedes einem besonderen 
Dinge zuzuschreiben. Dagegen die Mannigfaltigkeit der ent- 
sprechenden Empfindungsacte, Sehen, Hören, Empfinden der 
Wärme und Riechen, und mit ihnen das gleichzeitige Wollen 
und Fühlen und Nachdenken, so wie die innere Wahrneh- 
mung, die uns von ihnen allen Kenntniss gibt, sind wir 
genöthigt, für Theilphänomene eines einheitlichen Phänomens^ 
in dem sie enthalten sind, und für ein einziges einheitliches 
Ding zu nehmen. Worin der Grund dieser Nöthigung be- 
steht, das werden wir etwas später eingehend erörtern und 
dann auch noch manches hieher Gehörige ausfuhrlicher dar- 
legen. Denn das, was wir hier berührten, ist nichts Anderes^ 
als die sogenannte Einheit des Bewusstseins, eine der folgen- 
reichsten und immer noch angefochtenen Thatsachen der 
Psychologie. 

§. 9. Fassen wir abschliessend die Ergebnisse der Er-^ 
örterungen über den Unterschied der psychischen und phy- 
sischen Phänomene zusammen. Wir machten zunächst die 
Besonderheit der beiden Classen an Beispielen anschauUch^ 
Wir bestimmten dann die psychischen Phänomene als Vor- 
stellungen und solche Phänomene, die auf Vorstellun-- 
g e n als ihrer Grundlage beruhen ; aUe übrigen gehören zu den 
physischen. Wir sprachen darauf von dem Merkmale der 
Ausdehnung, welches von Psychologen als EigenthümUch- 
keit aller physischen Phänomene geltend gemacht wurde; 
allen psychischen sollte es mangeln. Die Behauptung war 
aber nicht ohne Widerspruch geblieben, und erst spätere Unter- 
suchungen können über sie entscheiden ; nur dass die psychi- 
schen Phänomene wirklich sämmtlich ausdehnungslos erschei- 
nen, konnte schon jetzt festgestellt werden. Wir fanden dem- 
nächst als unterscheidende Eigenthümlichkeit aller psychischen 



Capitel 1. Unterschied der psych, und phys. Phänomene. 127 

Phänomene die intentionale Inexistenz, die Beziehung 
auf etwas als Object; keine von den physischen Erschei- 
nungen zeigt etwas Aehnliches. Weiter bestimmten wir die 
psychischen Phänomene als den ausschliesslichen Gegen- 
stand der inneren Wahrnehmung; sie allein werden 
darum mit unmittelbarer Evidenz wahrgenommen; ja sie allein' 
werden wahrgenommen im strengen Sinne des Wortes. Und 
hieran knüpfte sich die weitere Bestimmung, dass sie allein 
Phänomene seien, denen ausser der intentionalen auch 
wirkliche Existenz zukomme. Endlich hoben wir ab 
unterscheidend hervor, dass die psychischen Phänomene, die 
Jemand wahrnimmt, ihm trotz aller Mannigfaltigkeit immer 
als Einheit erscheinen, während die physischen Phäno- 
mene, die er etwa gleichzeitig wahrnimmt, nicht in derselben 
Weise alle als Theilphänomene eines einzigen Phänomens 
sich darbieten. 

Dasjenige Merkmal, welches die psychischen Phänomene 
unter allen am Meisten kennzeichnet, ist wohl ohne Zweifel 
die intentionale Inexistenz. Durch dieses, so wie durch die 
anderen angegebenen Eigenthümlichkeiten dürfen wir sie den 
physischen Erscheinungen gegenüber nunmehr als deutlich 
bestimmt betrachten, — 

Es kann nicht fehlen, dass die gegebenen Erklärungen 
der psychischen und physischen Phänomene auch unsere 
früheren Begriffsbestimmungen von psychischer und Natur- 
wissenschaft in helleres Licht setzen; haben wir ja von dieser 
gesagt, sie sei die Wissenschaft von den physischen, und von 
jener, sie sei die Wissenschaft von den psychischen Phäno- 
menen. Es ist nunmehr leicht zu erkennen, dass die beiden 
Bestimmungen stillschweigend gewisse Beschränkungen ein- 
schliessen. 

Vor Allem gilt dies von der Bestimmung der Natur- 
wissenschaft. Denn sie handelt nicht von allen physischen 
Phänomenen; nicht von denen der Phantasie, sondern nur 
von denen, welche in der Empfindung auftreten. Und auch 
für diese stellt sie die Gesetze nur insoweit, als sie von der 
physischen Reizung der Sinnesorgane abhängen, fest. Man 



128 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

könnte die wissenschaftliche Aufgabe dex Naturwissenschaft 
etwa so ausdrücken, dass man sagte: die Naturwissenschaft 
sei jene Wissenschaft, welche die Aufeinanderfolge der phy- 
sischen Phänomene normaler und reiner (durch keine beson- 
deren psychischen Zustände und Vorgänge mitbeeinflusster) 
Sensationen auf Grund der Annahme der Einwirkung einer 
raumähnlich in drei Dimensionen ausgebreiteten und zeit- 
ähnlich in einer Richtung verlaufenden Welt auf unsere 
Sinnesorgane zu erklären suche ^). Ohne über die absolute 
Beschaffenheit dieser Welt Aufschluss zu geben, begnüge sie 
sich damit, ihr Kräfte zuzuschreiben, welche die Empfindun- 
gen hervorbringen und sich gegenseitig in ihrem Wirken 
beeinflussen, und stelle für diese Kräfte die Gesetze der Co- 
existenz und Succession fest. In ihnen gibt sie dann 
indirect die Gesetze der Aufeinanderfolge der physischen 
Phänomene der Empfindungen, wenn diese, durch wissen- 
schaftliche Abstraction von psychischen Mitbedingungen, als 
rein und bei unveränderlicher Empfindungsfähigkeit statt- 
findend gedacht werden. — In dieser etwas complicirten Weise 
muss man also den Ausdruck „Wissenschaft von den physi- 
schen Phänomenen" deuten, wenn man ihn mit der Natur- 
wissenschaft als gleichbedeutend setzt 2). « 

Indessen haben wir gesehen, wie man den Ausdruck 
-„physisches Phänomen" missbräuchlich zuweilen auf die eben 



*) Vgl, darüber Ueberweg (System der Logik), in dessen Ausein- 
iindersetzung freilich nicht Alles zu billigen ist. Namentlich hat er 
Unrecht, wenn er die Welt der äusseren Ursachen statt raumähnlich 
geradezu räumlich, statt zeitähnlich geradezu zeitlich sich erstreckend 
denkt. 

*) Ganz so, wie Kant sie fordern würde, wäre die Erklärung nicht, 
doch so weit als thunlich seinen Erklärungen angenähert. In gewissem 
•Sinne kommt sie den Ansichten von J. St. Mili in der Schrift gegen 
Hamilton (eh. 11) näher, ohne doch auch mit ihnen in allen wesent- 
lichen Beziehungen zu stimmen. Was MiU bleibende Möglichkeiten 
Von Sensation (Permanent Possibilities of Sensation) nennt, hat mit 
-dem, was wir ELräfte nannten, enge Verwandtschaft. Die Verwandt- 
schaft sowohl als auch die vorzüglichste Abweichung von Ueberweg's 
Anschauung wurde bereits in der vorigen Anmerkung berührt. 



Capitel ]. Unterschied der psych, und phys. Phänomene. 129 

erwähnten Kräfte selbst anwendet. Und da naturgemäss das 
als der Gegenstand einer Wissenschaft bezeichnet wird, wo- 
für sie direct nnd ausdrücklich die Gesetze feststellt, so 
glaube ich nicht fehl zu gehen, wenn ich annehme, dass auch 
bei der Definition der Naturwissenschaft als der Wissenschaft 
von den physischen Phänomenen häufig mit diesem Namen 
der Begriff von Kräften einer raumähnlich ausgebreiteten und 
zeitähnüch verlaufenden Welt verbunden wird , die durch 
ihre Einwirkung auf die Sinnesorgane die Empfindungen her- 
vorrufen und einander in ihrer Wirksamkeit beeinflussen, und 
für welche die Naturwissenschaft die Gesetze der Coexistenz 
und Succession erforscht. Betrachtet man diese Kräfte als 
das Object, so hat dies auch das Conveniente, dass als Ge- 
genstand der Wissenschaft etwas erscheint, was wahrhaft und 
wirklich besteht. Das Letzte wäre wohl auch zu erreichen, 
wenn man die Naturwissenschaft als Wissenschaft von den 
Empfindungen bestimmte, stillschweigend dieselbe Beschrän- 
kung, die wir so eben besprachen, ergänzend. Was dem 
Ausdrucke „physisches Phänomen" den Vorzug geben Uess, 
war wohl vorzüglich der Umstand , dass man die äusseren 
Ursachen der Empfindung den in ihr auftretenden physischen 
Phänomenen entsprechend dachte: sei es, wie es anfänglich 
der Fall war, in jeder Hinsicht; oder sei es, was noch jetzt 
geschieht, wenigstens hinsichtlich der Ausdehnung in drei 
Dimensionen. Daher ja auch der sonst unpassende Namen 
„äussere Wahrnehmung". Dazu kommt aber, dass der Act 
des Empfindens ausser der intentionalen Inexistenz des phy- 
sischen Phänomens auch noch andere Eigenthümlichkeiten 
zeigt, mit welchen der Naturforscher sich gar nicht beschäf- 
tigt, da durch sie die Empfindung nicht in gleicher Weise 
Andeutungen über die besonderen Verhältnisse der Aussen- 
welt gibt. 

Hinsichtlich der Begriffsbestimmung der Psychologie 
möchte es zwar zunächst den Anschein haben, als ob der 
Begriff der psychischen Phänomene eher zu erweitem als zu 
verengern sei, indem die physischen Phänomene der Phan- 
tasie wenigstens ebenso wie die psychischen in dem früher 

Brentano, Psychologie. I. 9 



130 Buch II. \on den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

bestimmten Sinne ganz ihrer Betrachtung anheimfallen, und 
auch diejenigen, welche in der Empfindung auftreten, in der 
Lehre von der Sensation nicht unberücksichtigt bleiben 
können. Allein es ist offenbar, dass sie nur als Inhalt psy- 
chischer Phänomene bei der Beschreibung der Eigenthümlich- 
keit derselben in Betracht kommen. Und dasselbe gilt von 
allen psychischen Phänomenen, die ausschliesslich phänomenale 
Existenz haben. Als eigentlichen Gegenstand der Psycholo- 
gie werden wir nur die psychischen Phänomene in dem Sinn 
von wirklichen Zuständen anzusehen haben. Und sie aus- 
schliesslich sind es, in Bezug auf welche wir sagen, die Psy- 
chologie sei die Wissenschaft von den psychischen Phänomenen. 



Zweites Capitel. 



Vom inneren Bewnsstsein 0- 



§.1. Es ist nicht jedesmal ein unnützer Kampf um 
Worte, wenn man darüber streitet, welchei Begriff mit einem 
Namen zu verbinden sei. Manchmal gilt es, die allgemein- 
übliche Bedeutung festzusteUen , von der es immer misslich 
ist, sich zu entfernen ; manchmal aber handelt es sich darum, 
die naturgemässe Abgrenzung einer einheitlichen Classe auf- 
zufinden. 

Ein Fall der letzteren Art muss wohl in dem Streite um 
die Bedeutung des Namens „Bewusstsein" vorliegen, wenn 
wir ihn nicht als eitles Wortgezänke verurtheüen sollen. 
Denn von einem allgemeinüblichen, ausschliesslichen Sinne, 
der mit dem Worte verbunden würde, kann keine Rede sein. 
Davon überzeugt man sich sofort, wenn man auf die Ueber- 
sicht blickt, die in England Bain *) , oder auf die , welche in 
Deutschland Horwicz ^) von dem verschiedenen Gebrauche des 
Wortes gegeben hat. Bald versteht man darunter Erinnerung 
an eigene frühere Acte, besonders wenn sie moralischer Natur 



^) Aehnlich wie man die Wahrnehmung einer gegenwärtig in uns 
bestehenden psychischen Thätigkeit ,,innere^^ Wahrnehmung nennt, 
nennen wir hier das darauf gerichtete Bewusstsein „inneres** Be- 
wusstsein. 

') Mental and Moral Science. Append. p. 93. 

») Psych. Anal. I. S. 211 ff. 

9* 



132 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

waren, wie wenn man sagt : ich bin mir keiner Schuld bewusst^ 
Bald bezeichnet man damit jede Art von unmittelbarer Er- 
kenntniss eigener psychischer Acte, insbesondere auch eine 
Wahrnehmung, welche gegenwärtige psychische Acte beglei-^ 
tet. Bald gebraucht man das Wort in Bezug auf äussere 
Wahrnehmung,, wie z. B. wenn man von dem, welcher aus 
Schlaf oder Ohnmacht erwacht, sagt, er sei wieder zum Be- 
wusstsein gekommen. Bald nennt man nicht bloss Wahrneh- 
men und Erkennen , sondern auch jedes Vorstellen ein Be- 
wusstsein. \ Erscheint nun etwas in der Phantasie^ so sagen 
wir, es trete im Bewusstsein auf. Manche haben jeden psy- 
chischen Act als ein Bewusstsein bezeichnet, mochte es nun 
ein Vorstellen, ein Erkennen, eine irrthtimliche Annahme, ein 
Gefühl, ein Wollen oder irgend eine andere Art von psychi- 
scher Erscheinung sein; und diese Bedeutung scheint von 
den Psychologen (freilich nicht von allen) insbesondere auch 
dann mit dem Namen verknüpft zu werden, wenn sie von 
der Einheit des Bewusstseins, d. i. von einer Einheit gleich- 
zeitig bestehender psychischer Phänomene, sprechen. 

Für irgend einen bestimmten Gebrauch des Wortes wer- 
den wir uns entscheiden müssen, wenn es uns nicht, statt 
guter, schlechte Dienste leisten soll. Würden wir auf den 
Ursprung des Namens Gewicht legen, so würden wir ihn 
ohne Zweifel auf Phänomene der Erkenntniss, sei es auf alle,, 
sei es auf einige, zu beschränken haben. Allein darauf 
kommt es offenbar weniger an; geschieht es ja auch sonst 
häufig ohne Nachtheil, dass Worte ihrer ursprünglichen Be- 
deutung entfremdet werden. Viel dienlicher ist es offenbar, ihn 
so zu gebrauchen, dass er eine wichtige Classe bezeichnet, be- 
sonders wenn sonst ein entsprechender Namen dafür vermisst,. 
also durch ihn eine fühlbare Lücke ausgefüllt wird ^). So ge- 
brauche ich ihn denn am Liebsten als gleichbedeutend mit 
psychischem Phänomen oder psychischem Acte; denn einmal 
würde die beständige Anwendung einer solchen zusammen- 



*) Vgl. die Bemerkung Herbart's, Lehrb. zur Psychol. I. Cap. 2. 
§.17, und Psychol. als Wissenschaft, Th. I. Abschn. II. Cap. 2. §. 48 ► 



Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein. '13B 

•gesetzten Bezeichnung schwerfällig sein; und dann scheint 
der Ausdruck Bewusstsein, da er auf ein Object hinweist, 
von welchem das Bewusstsein Bewusstsein ist, die psychischen 
Phänomene gerade nach der sie unterscheidenden Eigenthüm- 
lichkeit der intentionalen Inexisten;^ eines Objectes zu charak- 
terisiren geeignet, für welche uns ebenso ein gebräuchlicher 
Namen mangelt. 

§. 2. Dass kein psychisches Phänomen bestehe, welches 
nicht in dem angegebenen Sinne Bewusstsein von einem Ob- 
jecte ist, haben' wir gesehen. Eine andere Frage aber ist 
die, ob kein psychisches Phänomen besteht, welches nicht 
Object eines Bewusstseins ist. Alle psychischen Phänomene 
sind Bewusstsein ; sind aber auch alle psychischen Phänomene 
bewusst, oder gibt es vielleicht auch unbewusste psychische 
Acte? 

Mancher wird über eine solche Frage den Kopf schüt- 
teln. Ein unbewusstes Bewusstsein anzunehmen, scheint ihm 
absurd. Und auch bedeutende Psychologen, wie z. B. Locke 
und J. St. Mill, wollten darin einen unmittelbaren Wider- 
spruch erblicken. Allein wer auf die vorangehenden Be- 
stimmungen achtet, wird kaum, mehr so urtheilen. Er wird 
erkennen, dass, wer die Frage erhebt, ob es ein unbewusstes 
Bewusstsein gebe, nicht in ähnlicher Weise lächerlich fragt, 
"Wie einer, der wissen möchte, ob es eine nicht- rothe Röthe 
gebe. Ein unbewusstes Bewusstsein ist so wenig als ein un- 
gesehenes Sehen eine Contradictio in adjecto^). 

Doch auch ohne durch falsche Analogien, die der ge- 
brauchte Ausdruck nahelegt, bestimmt zu sein, werden die 
meisten Laien in der Psychologie sich sofort gegen die An- 
nahme eines unbewussten Bewusstseins erklären. Hat es 



*) Wir gebrauchen „unbewusst" in zweifacher Weise; einmal, 
activ, von dem, was sich einer Sache nicht bewusst ist; dann, passiv, 
von einer Sache, deren man sich nicht bewusst ist. In dem ersteren 
Sinne wäre „unbewusstes Bewusstsein*' ein Widerspruch, nicht aber in 
dem zweiten , und dieser ist es , in welchem das Wort „unbewusst^* 
hier genommen wird. 



134 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

doch ein paar Jahrtausende gewährt, ehe unter den Philoso- 
phen einer auftrat, der ein solches lehrte. Natürlich waren 
sie mit der Thatsache wohl bekannt, dass man einen Schatz 
erworbener Erkenntnisse, ohne an sie zu denken, besitzen 
könne; aber ganz richtig fassten sie dieselben als Dispositio- 
nen zu gewissen Acten des Denkens, wie auch den erwor- 
benen Charakter als Disposition zu gewissen Aflfecten und 
Willensbethätigungen, nicht aber selbst als ein Erkennen und 
Bewusstsein. Einer der ersten, die ein unbewusstes Be- 
wusstsein gelehrt haben, ist wohl Thomas von Aquin^). 
Später sprach Leibnitz von „perceptiones sine appercep- 
tione seu conscientia", „perceptiones insensibiles *)", und Kant 
folgte seinem Vorgange. In neuester Zeit aber findet die 
Lehre von unbewussten psychischen Phänomenen zahlreiche 
Vertreter, und zwar in Männern, die sonst nicht gerade ver- 
wandten Richtungen angehören. So sagt der ältere Mill, es 
gebe Empfindungen, deren wir uns aus gewohnter Unachtsam- 
keit nicht bewusst werden. Hamilton lehrt, dass die Kette un- 
serer Ideen oft nur durch unbewusste Mittelglieder verbunden 
sei. Ebenso glaubt Lewes, dass viele psychische Acte ohne 
Bewusstsein stattfinden. Maudsley macht die, wie er glaubt, 
sicher erwiesene Thatsache unbewusster Seelenthätigkeit zu 
einem der Hauptgründe für seine physiologische Methode. 
Herbart lehrt Vorstellungen, deren man sich nicht bewusst 
sei, und Beneke glaubt, nur diejenigen, welche ein höheres 
Maass von Intensität besitzen , seien von Bewusstsein be- 
gleitet. Auch Fechner sagt, die Psychologie könne von un- 
bewussten Empfindungen und Vorstellungen nicht Umgang 
nehmen. Wundt^), Helmholtz, Zöllner u. A. behaupten, dass 
es unbewusste Schlüsse gebe. Ulrici sucht durch gehäufte 

^) Davon unten t?. 7. 

*) Nouveaux Essais II. 1. Monadologie §. 14. Principes de la 
nature et de la grace §. 4. 

') Wenigstens in seinem früheren Werke „Vorlesungen über Men- 
schen - und Thierseele". Einige Stellen seiner Physiol. Psychologie, 
so weit sie bis jetzt vorliegt, scheinen anzudeuten, dass er von der An- 
nahme unbewusster Seelenthätigkeiten zurückgekommen ist. 



Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein. 135 

Argumente darzuthun, dass sowohl Empfindungen als auch 
andere psychische Acte, wie Liebe und Sehnsucht, oft unbe- 
wusst geübt würden. Und v. Hartmann hat eine ganze „Phi- 
losophie des ünbewussten" ausgearbeitet. 

Indessen, so gross die Schaar derjenigen geworden ist, 
welche den unbewussten psychischen Phänomenen das Wort 
reden, fehlt doch viel daran, dass sie zu allgemeiner An- 
erkennung gelangt wären. Weder Lotze hat sie sich zu eigen 
gemacht, noch haben die berühmten englischen Psychologen 
A. Bain und H. Spencer sich ihr angeschlossen; und J. St. 
Mill hat die hohe Achtung, die er durchwegs den Ansichten 
seines Vaters zollt, nicht abgehalten, hier seiner Lehre ent- 
gegenzutreten. Ja auch von denen, welche unbewusste Vor- 
stellungen behaupten, sind viele nur darum ihre Vertheidiger, 
weil sie mit den Worten einen anderen Sinn verbinden. Dies 
ist z. B. bei Fechner der Fall, der offenbar, wenn er von 
unbewusster Empfindung und Vorstellung spricht, mit den 
Namen Empfindung und Vorstellung etwas anderes 
bezeichnet als wir, so zwar, dass er gar kein psychisches. 
Phänomen darunter versteht. Die psychischen Phänomene 
sind nach ihm sämmtlich beWusst, und er ist also der Sache 
nach ein Gegner der neueren Anschauung^). Ulrici aber 
versteht unter Bewusstsein etwas Anderes, und leugnet 
in unserem Sinne ebenso wie Fechner jeden unbewussten 



*) Dies zeigt deutlich eine Stelle der Psychophysik (II. S. 438): 
„Die Psychologie kann von unbewussten Empfindungen, Vorstellungen, 
ja von Wirkungen unbewusster Empfindungen, Vorstellungen nicht ab- 
strahiren. Aber wie kann wirken, was nicht ist; oder wodurch unter- 
scheidet sich eine unbewusste Empfindung, Vorstellung von einer sol- 
chen , die wir gar nicht haben ? ** Fechner antwortet hierauf, dass im 
ersteren Fall zwar nicht eigentlich eine Empfindung, aber etwas, wozu 
die Empfindung in functioneller Beziehung stehe, gegeben sei. „Em- 
pfindungen, Vorstellungen haben fireilich im Zußtande des Unbewusst- 
seins aufgehört, als wirkliche zu existiren, sofern man sie 
abstract von ihrer Unterlage fasst, aber es geht etwas in uns fort, die 
psychophysische Thätigkeit, deren Function sie sind, und woran die 
Möglichkeit des Wiederhervortrittes der Empfindung hängt, u. s. f." 



136 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

psychischen Act^). Wir möchten wohl auch von Hartmann 
sagen, dass er mit „Bewusstsein" etwas Anderes als wir be- 
zeichnen wolle, denn seine Definition, das Bewusstsein sei 
„die Emancipation der Vorstellung vom Willen . . . und die 
Opposition des Willens gegen diese Emancipation", es sei 
„die Stupefaction des Willens über die von ihm nicht ge- 
wollte und doch empfindlich vorhandene Existenz der Vor- 
stellung", scheint sich, wenn überhaupt auf etwas mcht rein 
Imaginäres, jedenfalls auf etwas Anderes als dasjenige, was wir 
Bewusstsein nannten, zu beziehen^). Doch die von ihm ge- 
brachten Gründe wenigstens zeigen ihn deutlich als einen 
Verfechter der unbewussten . psychischen Thätigkeiten in dem 
Sinne, in welchem wir davon reden. 

Die Uneinigkeit der Psychologen in diesem Punkte kann 
uns nicht auffallen; begegneten wir ihr ja «luch sonst bei 
jedem Schritte. Aus ihr lässt sich vernünftiger Weise kein 
Grund dafür entnehmen, dass die Wahrheit nicht mit Sicher- 
heit erkennbar sei. Dagegen ist die besondere Natur der 
Frage allerdings von der Art, dass Mancher glauben möchte, 
es stehe die Unmöglichkeit einer Beantwortung ihr auf der 
Stime geschrieben, und sie könne darum wohl Gegenstand 
geistreichen Gedankenspieles, nicht aber ernster wissenschaft- 
licher Untersuchung werden. Denn, dass keine unbewussten 
Vorstellungen im Bereiche unserer Erfahrung vorkommen, ist 
selbstverständlich und nothwendig der Fall, auch wenn solche 
in reicher Anzahl in uns vorhanden sein sollten; wären sie 
ja sonst nicht unbewusst. Wenn man aber darum, wie es 
scheint, die Erfahrung nicht gegen sie anrufen kann, so 
scheint dieselbe doch ebensowenig und aus demselben Gi-unde 



1) Gott und Mensch I. 283 sagt er, dass „wir überhaupt von un- 
seren inneren Zuständen, Vorgängen, Bewegungen und Thätigkeiten, 
ein unmittelbares Gefühl haben**, und dass es keinem Zweifel unter- 
liege, jjdoBs es alle, auch die alltäglichsten Sinneseindrücke (Percep- 
tionen) begleite'^ dass wir in dieser Weise ,,auch fühlen*, daäs wir 
sehen, hören, schmecken etc/' 

«) Phil. d. ünbew. 2. Aufl. S. 366. 



Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein. 137 

für sie Zeugniss geben zu können. Und wie sollen wir, von 
der Erfahrung verlassen, die Frage zur Entscheidung führen ? 

Doch gegenüber diesem Vorwurfe haben die Verthei- 
diger des unbewussten Bewusstseins mit Recht geltend ge- 
macht, dass, was nicht unmittelbar erfahren, vielleicht mittel- 
bar aus Erfahrungsthatsachen erschlossen werden könne*). 
Und sie haben nicht versäumt, solche Thatsachen zu sammeln, 
und so durch viele und mannigfache Argumente den Beweis 
für ihre Behauptung zu versuchen. 

§. 3. Vier verschiedene Wege sind es, die hier mit 
einer gewissen Hofl&iung auf Erfolg eingeschlagen werden 
konnten. 

Man konnte Erstens nachzuweisen suchen, dass gewisse 
in der Erfahrung gegebene Thatsachen die Annahme eines 
unbewussten psychischen Phänomens als ihre Ursache ver- 
langen. 

Man konnte Zweitens darzuthun streben, dass eine in 
der Erfahrung gegebene Thatsache ein psychisches Phänomen 
als Wirkung nach sich ziehen müsse, während doch keines 
im Bewusstsein erscheine. 

Man konnte Drittens darauf ausgehen zu zeigen, dass 
bei den bewussten psychischen Phänomenen die Stärke des 
begleitenden Bewusstseins eine Function ihrer 
eigenen Stärke sei, und dass in Folge dieses Verhält- 
nisses in gewissen Fällen, in welchen die letztere eine posi- 
tive Grösse sei, die erstere jedes positiven Werthes entbehren 
müsse. 

Man konnte endlich Viertens den Beweis versuchen, dass 
die Annahme, es sei jedes psychische Phänomen Object eines 
psychischen Phänomens, zu einer unendlichenVer Wicke- 
lung der Seelenzustände führe, welche sowohl von vornher- 
ein unmöglich, als auch der Erfahnmg entgegen sei. 



*) Vgl. Kant, Anthropol. §. 5. 



138 Buch IT. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

§. 4. Am Häufigsten ward und wird der erste Weg 
betreten. Gewöhnlich aber hat man nicht genug auf die 
Bedingungen geachtet, unter welchen er allein zum Ziele 
führen kann. Soll aus einer gewissen Thatsache als Wirkung 
auf ein unbewusstes psychisches Phänomen als Ursache ein 
gültiger Schluss gezogen werden, so muss vor Allem die That- 
sache selbst hinreichend gesichert sein. Dies ist die erste 
Bedingung. Aus diesem Grunde schon wird den Beweis ver- 
suchen, welche sich auf die Erscheinungen des sogenannten 
Hellsehens, der Ahnungen, Vorgefühle u. dgl. stützen, ein 
zweifelhafter Werth zukommen. Hartmann selbst, der auf 
sie hinweist^), ist sich recht wohl bewusst, dass der Aus- 
gangspunkt des Beweises hier nicht auf grosses Vertrauen 
rechnen darf. Von diesen Argumenten werden vrir darum 
gänzlich Umgang nehmen können. Aber auch was Maudsley 
von Leistungen des Genies erzählt^), die nicht aus bewuss- 
tem Denken hervorgehen, sind keine Thatsachen, welche 
genugsam gesichert sind, um als Grundlage eines triftigen 
Arguments benützt zu werden. Die genialen Denker sind 
seltener noch als die Somnambulen, und überdies berichte- 
ten manche von ihnen, wie z. B. Newton, in der Art über 
ihre herrlichsten Entdeckungen, dass wir deutlich erkennen, 
wie dieselben nicht die Frucht unbewussten Denkens ge- 
wesen sind. Wir begleiten sie auf dem Wege ihrer For- 
schung und begreifen ihren Erfolg, ohne ihn darum weniger 
zu bewundern. Wenn aber andere von ihren Leistungen 
nicht in gleicher Weise Rechenschaft geben konnten, ist es 
dann eine gewagtere Annahme, dass sie der bewussten Ver- 
mittelung sich nicht mehr erinnerten, als dass ein unbewuss- 
tes Denken die Brücke geschlagen habe ? Goethe, der sicher 
Anspruch hat, unter den Genies einen Platz zu erhalten, 
sagt in seinem Wilhelm Meister, dass ungewöhnliches Talent 
„nur eine geringe Abweichung von gewöhnlichem" sei. Gibt 



>) Philos. d. Unbew. 2. Aufl. S. 81 fi". 

«) Physiol. u. Pathol. d. Seele, deutsch von Böhm, S. 17 f. 32 fi*.; 
vgl. oben Buch I. Capitel 3. §. 6. 



Capitel 2. Vom inneren Bewußstsein. 139 

es unbewusste psychische Vorgänge, so werden sie sich also 
auch an minder seltenen Exemplaren nachweisen lassen. 

Eine weitere Bedingung ist diese, dass die Erfahrungs* 
thatsache durch die Annahme eines psychischen Phänomens, 
von dem vrir kein Bewusstsein haben, wirklich wie eine Wir- 
kung durch die entsprechende Ursache eine Erklärung finden 
kann. Dazu gehört vor Allem, dass bewusste psychische 
Phänomene erfahrungsgemäss ähnliche Folgen nach sich zo- 
gen. Femer, dass diese nicht zugleich auch andere Folgen 
nach sich zogen, welche in dem betreffenden Falle fehlen, 
obwohl kein Grund ist, zu vermuthen, sie seien an das hier 
mangelnde begleitende Bewusstsein geknüpft gewesen. Fer- 
ner ist nöthig, dass die unbewussten psychischen Phänomene, 
welche die Hypothese zu Hülfe nimmt, in ihrem Verlaufe so 
wie in ihren anderen Eigenthümlichkeiten mit den anerkann- 
ten Gesetzen der bewussten psychischen Phänomene nicht im 
Widerspruche stehen, so zwar, dass etwaige Besonderheiten 
aus dem Mangel des begleitenden Bewusstseins hinreichend 
begreiflich sind. Unmittelbar können ihr Verlauf und ihre 
anderen Eigenthümlichkeiten natürlich nicht wahrgenommen 
werden, aber in ihren Wirkungen werden sie sich offenbaren, 
wie ja auch die Gesetze der Aussenwelt, das Gesetz der 
Trägheit, der Gravitation u. s. f. in den Empfindungen als 
ihren Wirkungen zu Tage treten. So muss denn insbeson- 
dere auch die Entstehung des psychischen Phänomens , wel- 
ches man trotz mangelnden Bewusstseins annimmt , nicht 
selbst als etwas ganz und gar Undenkbares erscheinen. 

Diese Forderungen werden ganz besonders dann unab- 
weislich sein, wenn, wie es fast ausnahmslos geschieht, die 
angenommenen unbewussten Seelenthätigkeiten den bewussten 
homogen gedacht werden. Auch kann man sagen, dass die- 
jenigen, welche aus Erfahrungsthatsachen auf unbewusste 
psychische Acte als ihre Ursache schlössen, in ihrer grossen 
Mehrzahl wenigstens nicht auffallend gegen sie zu Verstössen 
pflegen. Nur bei einzelnen Denkern , wie namentlich bei 
Hartmann, liegt das Gegentheil zu Tage. Er aber unter- 
scheidet sich auch darin von der grösseren Schaar der Ver- 



140 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

treter unbewusster psychischer Acte, dass er sie den be- 
wussten heterogen, ja in den wesentlichsten Beziehungen 
von ihnen abweichend denkt. Es ist einleuchtend, dass wer 
dieses thut, von vorn herein die Hypothese schwächt. Viele 
Forscher, welche in ihren logischen Ansichten mit J. St. 
MilP) übereinkommen, werden sie. in dieser Gestalt, weil sie 
keiner „Vera Causa" als Erklärungsprincips sich bediene, 
sogar ohne Weiteres als unwissenschaftlich verwerfen. Sicher 
ist, dass der Schluss als Analogieschluss in dem Maasse an 
Kraft verliert, in welchem die Aehnlichkeit der angenommenen 
Ursache mit den beobachteten schwindet. Schon die erste 
abweichende Bestimmung bringt also in dieser Hinsicht Nach- 
theil, und mit jeder neuen, welche sich aus den früheren 
nicht als nothwendige Consequenz ergibt, wird die Wahr- 
scheinlichkeit der Hypothese auch wegen der wachsenden 
Comphcation eine bedeutende Einbusse erleiden. Im Uebrigen, 
glaube ich, kann man die Annahme nicht als eine bodenlose 
und wUlkürMche Fiction abweisen, wenn sie nur dasjenige 
erfüllt, was von den zuvor erwähnten Forderungen nach wie 
vor in Kraft bleibt, oder an deren Stelle tritt. Auch wenn 
wir aus den Erscheinungen unserer Empfindungen auf eine 
raumähnlich ausgebreitete Welt als ihre Ursache schliessen, 
nehmen wir etwas an, was nie als unmittelbare Erfahrungs- 
thatsache gefunden wurde, und doch ist der Schluss vielleicht 
nicht unberechtigt. Aber warum nicht? Darum allein, weil 
wir, indem wir mit der Annahme einer solchen Welt die 
Annahme gewisser allgemeiner Gesetze verbinden, die in ihr 
herrschen, die sonst unverständhche Succession unserer Em- 
pfindungsphänomene in ihrem Zusammenhang zu begreifen, 
ja vorherzusagen im Stande sind. So wird es denn auch 
hier nöthig sein, die Gesetze jener angeblichen unbewussten 
Phänomene darzulegen und durch die einheitliche Erklärung 
einer Fülle von Erfahrungsthatsachen , die sonst unerklärt 
blieben, und durch die Voraussagung anderer, die sonst Nie- 
mand erwarten würde, zu bewähren. Femer, da die un- 



^) Ded. u. Ind. Log. B. III. c. 



Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein. 141 

bewussten Phänomene, die man voraussetzt, wenn auch nicht 
den bewussten homogen, doch in einem gewissen Maasse ihnen 
ähnlich gedacht werden (würden sie ja sonst mit Unrecht 
den psychischen Thätigkeiten zugezählt): so wird man nach- 
zuweisen haben, dass, was sich an das ihnen Gemeinsame 
knüpft, nicht verletzt wird ; und überhaupt, dass man in ihrer 
Annahme nicht widersprechende Bestimmungen vereinigt. 

Diesen Forderungen hat Hartmann eben so wenig wie 
den früher angegebenen genügt. Vielmehr zeigt sich da, wo 
man die Gesetze für die unbewussten psychischen Phänomene 
erwarten sollte^); dass diese gar keine psychischen Phäno- 
mene sind. Sie lösen sich in ein ewig Unbewusstes, in ein 
alleiniges ^) , allgegenwärtiges , allwissendes und allweises ^) 
Wesen auf. Ein Gott tritt an die Stelle, dem, um diesen 
Namen vollkommen zu verdienen , nur das Bewusstsein 
mangeln soll *), der aber freilich auch sonst noch mit einigen 
kräftigen Widersprüchen behaftet ist. Er ist das An - sich - 
seiende^), er erkennt das An -sich -seiende^), er erkennt aber 
doch nicht sich selbst. Er ist erhaben über alle Zeit '), obwohl 
er doch zeitlich nicht bloss wirkt, sondern auch leidet^). Er 
ermüdet nicht ^), geht aber doch sehr darauf aus, sich mög- 
lichst alle Mühe zu ersparen ^^). Die Maschinerien, die er 
zu dem Zwecke erfindet, bleiben freilich sehr unvollkommen,, 
und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als fort und fort und 



») Philos. d. Unbew. 2. Aufl. S. 334 ff. 

2) Ebend. S. 473 ff. 

») Ebend. S. 552 ff. 

*) Ebend. S. 486 ff. 

^) Ebend. S. 480. Es gibt nichts ausser dem Unbewussten (ebend. 
S. 720). 

6) Ebend. S. 337. 

') Ebend. S. 338. 

®) Ebend. S. 472 wird z. B. von einer „Wechselwirkung gewisser 
materieller Theile des organischen Individuums mit dem Unbewussten^'^ 
gesprochen. 

•) Ebend. S. 336. 

") Ebend. S. 554. 



142 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Überall durch unmittelbares Eingreifen nachzuhelfen^). Aber 
auch das thut er nicht immer und lässt es im Widerspruche 
mit seinem sonstigen Verhalten geschehen, dass die Ziele, 
die durch sein unmittelbares „allweises" Eingreifen sicher zu 
erreichen wären, verfehlt werden ^) , ja dass die von ihm zur 
Erhaltung geschaffenen Einrichtungen zur Zerstörung führen ®). 
Mit einem Worte, er spielt ganz die Rolle eines Dens ex 
machina, die vor Zeiten Piaton und Aristoteles an dem Nus 
des Anaxagoras rügten, der überall als Lückenbüsser bei der 
Hand ist, wo die mechanische Erklärung im Stiche lässt*). 
Ein solches hypothetisches Unding wird jeder, auch wenn er 
nicht die von J. St. Mill der wissenschaftlichen Hypothese 
angewiesenen Schranken anerkennt, wenn er nur einiger- 
maassen ein exacter Denker ist, als unzulässig verwerfen. 
Es kann darum keinem Zweifel unterliegen, dass die sämmt- 
liehen Argumente, die Hartmann für die Annahme unbewusster 
psychischer Thätigkeit anführt , so wie er sie bringt , der 
zweiten Bedingung nicht genügen. Er hat nicht nachgewie- 
sen, dass die Erfahrungsthatsachen , aus welchen die unbe- 
wusste psychische Thätigkeit erschlossen werden soll, durch 
eine solche Annahme eine wirkliche Erklärung finden würden. 
Eine dritte Bedingung für die Gültigkeit des Schlusses 
auf unbewusste psychische Phänomene als Ursache gewisser 
Erfahrungsthatsachen ist endlich die, dass nachgewiesen werde, 
wie die betreffenden Erscheinungen gar nicht oder wenigstens 
nicht ohne die grösste Unwahrscheinlichkeit auch ohne ihre 
Annahme auf Grund anderer Hypothesen denkbar sind. 
Wenn feststeht, dass in gewissen Fällen bewusste psychische 
Phänomene ähnliche Erscheinungen als Folgen nach sich 
zogen, so ist damit noch nicht erwiesen, dass diese niemals 
in Folge anderer Ursachen entstehen. Es ist nicht richtig, 

Ebend. S. 555. 

*) Vgl. ebend. S. 339 f. 

») Vgl. ebend. S. 129. 

*) Man vergleiche, um recht schlagende Belege dafür zu finden, 
2. B. das Capitel über die aufsteigende Entwickelang des organischen 
Lebens auf der Erde. 



Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein. 143 

dass ähnliche Wirkungen immer ähnliche Ursachen haben. 
Sehr verschiedenartige Körper sind der Farbe nach oft nicht 
von einander zu unterscheiden. Die Wirkung ist also hier 
die gleiche, die Ursachen aber sind darum nicht weniger von 
einander verschieden. Dass Bacon diese Möglichkeit ausser 
Acht liess, war der vorzügliche Grund, wesshalb seine in- 
ductiven Versuche so wenig von glücklichem Erfolge gekrönt 
wurden. Was aber hier auf physischem, ist auch auf psychi- > 
schem Gebiete möglich. Wirklich gelangen wir oft, schon 
Aristoteles hat dies erkannt und hervorgehoben, von ver- 
schiedenen Prämissen ausgehend, zu demselben Schlusssatze. 
Und derselbe grosse Denker hat auch bereits bemerkt, dass 
Urtheile, welche das eine Mal im eigentlichen Sinne er- 
schlossen, das andere Mal nur erfahrungsmässig oder (wie 
wir, um Missverständnisse zu vermeiden, uns vielleicht besser 
ausdrücken werden) vermöge der Gewohnheit, unvermittelt 
gefällt werden. Gewohnheit ist es, die ihre Kraft zeigt, wenn 
gewisse, häufig angewandte, aber nichts weniger als selbst- 
verständliche Principien uns unmittelbar einleuchtend schei- 
nen, indem sie sich mit einer fast unabweisbaren Macht uns 
aufdrängen; und wiederum ist es vielleicht Gewohnheit und 
nichts Anderes, wenn Thiere in ähnlichen Fällen Aehnliches 
erwarten. Was aber hier eine erworbene, könnte anderwärts 
eine angeborene Disposition zu unmittelbaren Urtheilen be- 
wirken ^), und wir hätten auch dann Unrecht, von unbewuss- 
ten Schlüssen, d. h. von Schlüssen, deren Prämissen unbe- 
wusst geblieben sind, zu sprechen. 

Wenn man fragt, inwieweit die verschiedenen hieher ge- 
hörigen Beweisversuche für die Existenz unbewusster psychi- 
scher Phänomene dieser dritten Bedingung genug gethan 
haben, so nehme ich keinen Anstand zu sagen, dass kein 
einziger ihr gebührend Rechnung trug, und will dies an 
den wichtigsten unter ihnen im Einzelnen nachweisen. 



^) £in 80 genanntes „instinctives*^ Urtheilen. 



144 Bach II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Hamilton^) und mit ihm viele Andere haben die An- 
nahme unbewusster Vorstellungen daraus gefolgert, dass bei 
der Erneuerung eines früheren Gedankenzuges in der Er- 
innerung zuweilen eine ganze Reihe von Mittelgüedem über- 
sprungen erscheint. Diese Thatsache wäre ohne Zweifel mit 
den Gesetzen der Association in Einklang gebracht, wenn 
man annähme, dass die betreffenden Zwischenglieder auch 
hier vermittelt hätten, aber nicht in's Bewusstsein getreten 
wären. Allein weder Hamilton noch Andere haben gezeigt 
oder auch nur zu zeigen versucht, dass dies die einzig mög- 
liche Erklärungsweise sei. In Wahrheit ist dies keineswegs 
der Fall. J. St. Mill, wo er Hamilton kritisirt*), konnte 
leicht zwei andere angeben; und da, wo wir von der Asso- 
ciation der Ideen handeln, werden wir sehen, dass die Zahl 
dieser möglichen Hypothesen, von denen bald die eine, bald 
die andere eine ganz überwiegende Wahrscheinlichkeit besitzt, 
sich noch bedeutend vermehren lässt. 

Lange 3) bemerkt hinsichtlich der Erscheinungen dea 
blinden Fleckes, von welchen auch wir später zu sprechen 
haben werden, das Auge schliesse auf die Farbe, die ihn 
scheinbar ausfülle, und mache bei längeren, in geeigneter 
Weise fortgesetzten Experimenten die Entdeckung, dass es 
sich getäuscht habe. Da hätten wir also wieder ein un- 
bewusstes Denken; denn wir sind uns des vermittelnden 
Schlussverfahrens in keiner Weise bewusst^). Ich lasse es 



^) Lect. on Metaph. I. p. 352 s. 

*} Examination of Sir W. Hamilton's Philos. eh. 15 und Jame» 
Mill, Anal, of the Phenom. of the Human Mind, 2. edit. note 34. I» 
p. 106 BS. 

») Gesch. d. Material. 1. Ausg. S. 494 ff. Vgl. auch E. H. We- 
her, Ueher den Raumsinn und die Empfindungskreise in der Haut und 
im Auge (Ber. d. K. Sachs. Ges. d. Wissensch. 1852, p. 158). 

*) Es ist nicht ganz klar, oh Lange wirklich einen vermittelndeu 
Vorgang, ähnlich dem hewussten Schliessen, anerkennen will. S. 494 
sagt er: ,,Das Auge macht gleichsam einen Wahrscheinlichkeits- 
schluss, einen Schluss aus der Erfahrung, eine unvollständige Induc- 
tion.^* Und S. 495: „Das Auge kommt gleichsam zu dem Be- 
wusstsein, dass an dieser Stelle nichts zu sehen ist, und corrigirt seinen 



' Capitel 2. Vom iuneren Bewusstsein. 145 

dahingestellt,- ob die von Lange gegebene Erklärung auch 
nur der Bedingung entspricht, dass sie selber nach jeder 
Seite hin möglich erscheint, obwohl Manches ist, was hier 
zum Zweifel berechtigt. Jedenfalls aber hat Lange es unter- 
lassen, die Möglichkeit jeder anderen Hypothese auszu- 
schliessen. Hätte er auf die Gesetze der Association ge- 
achtet, so würde er gefunden haben, was wir an einem 
späteren Orte finden werden, dass diese Gesetze das Auftreten 
wie das Verschwinden der Erscheinung, und das eine ohne 
unbewussten Fehlschluss, das andere ohne unbewusste Be- 
richti^ng, mit Leichtigkeit begreifen lassen. 

Des gleichen Versäumnisses haben sich Helmholtz^), 
Zöllner ^) und ausnahmslos auch die übrigen, wie auch immer 
tüchtigen Forscher schuldig gemacht, welche die Kaumvor- 
stellungen, die wir in Folge früherer Erfahrungen mit den 
gesehenen Farben verbinden, und eine Reihe anderer optischer 
Erscheinungen auf unbewusste Schlüsse zurückführten. Sie 
trugen niemals den Mitteln Rechnung, welche die Psychologie 
auch heute schon bietet, um ohne solche unbewusste Zwi- 
schenglieder den Thatsachen gerecht zu werden. Es wäre 
unzweckmässig, auf diese Mittel schon hier näher einzugehen ; 
erst spätere Erörterungen werden uns damit bekannt machen. 
Für jetzt gentigt es hervorgehoben zu haben, dass die an- 
geblichen Folgerungen aus unbewussten Schlüssen so lange 
keinen Beweis für das Dasein unbewusster psychischer Thä- 
tigkeit liefern können, als der Nachweis der Unmöglichkeit 
oder überwiegenden Unwahrscheinlichkeit jeder anderen Auf- 
fassung nicht geführt wird, und dass dieser Bedingung bis 
jetzt von Niemand entsprochen wurde. Es gilt dies bei 
den vorerwähnten optischen Erscheinungen; es gilt ebenso 
da, wo man den in zartem Alter schon vorhandenen Glauben 
an die Existenz der Aussenwelt einer unbewussten Induction 

arsprünglicfaen Trugscfalass.^' Doch spricht er ebendaselbst davon als 
von einem Vorgange im rein sinnlichen Gebiet, welcher „mit den Ver- 
standesschlüssen wesensverwandt" sei. 

>) Physiol. Optik, S. 430. S. 449 u. a. a. Stellen. 

2) Ueber die Natur der Cometen, S. 378 ff. 

Brentano, Tsychologie. I. 10 






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Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein. 147 

uiibekaniite Vorstellungen erscheinen, sich auf solche unbe- 
wusste Assimilationen während des Tages zurückführen lassen. 
Hieher gehören Geschichten wie die wohlbekannte, welche 
Coleridge von einem Dienstmädchen erzählt, das im Fieber- 
delirium lange Stellen in hebräischer Sprache recitirte, die 
es nicht verstand und in gesunden Tagen nicht wiederholen 
konnte , die es aber , als es bei einem Geistlichen wohnte, 
diesen laut vortragen gehört hatte. Das wunderbare Ge- 
dächtniss von gewissen Idioten, welche trotz sehr geringer 
Intelligenz die längsten Geschichten mit der grössten Ge- 
nauigkeit wiederholten, liefert auch einen Beweis für solche 
unbewusste Seelenthätigkeit, und die Art und Weise, in wel- 
cher Erregung durch einen grossen Kummer oder andere 
Ursachen, wie z. B. das letzte Aufflackern des erlöschenden 
Lebens, oft bei Idioten Kundgebungen von einem Seelenleben 
hervorrufen, dessen sie immer unfähig schienen, machen es 
sicher, dass Vieles von ihnen unbewusst assimilirt wurde, 
was sie gar nicht äussern konnten, was aber Spuren in der 
Seele zurückgelassen hatte ^)." 

Ulrici gibt einige andere merkwürdige Beispiele ver- 
wandter Erscheinungen. „Oft genug", sagt er, „begegnet es 
uns, dass Jemand mit uns spricht, wir aber zerstreut sind und 
daher im Augenblick nicht wissen, was er sagt; einen Augen- 
blick später indess sammeln wir uns, und nun kommt uns 
zum Bewusstsein, was wir gehört haben. Wir gehen durch 
eine Strasse, ohne auf die Aushängeschilder, die wir sehen, 
auf die Namen und Ankündigungen derselben zu achten ; wir 
vermögen unmittelbar nachher keinen dieser Namen anzu- 
geben; und doch erinnern wir uns, vielleicht einige Tage 
später, wenn uns einer derselben anderweitig begegnet, dass 
wir ihn auf einem Aushängeschild gelesen haben. Wiederum 
also müssen wir die Gesichtsempfindung gehabt haben so 
vollständig wie jede andere, deren wir uns unmittelbar be- 
wusst werden; sonst könnten wir uns ihrer offenbar nicht 
erinnern. Ebenso erinnern wir uns oft mehrere Tage später, 



*) Ebend. S. 14. 

10 



148 Bö<^*> ^^' ^^" *^®" psychischen Phänomenen im AHgemelneD. 

beim Schreiben oder Sprechen einen Fehler gemacht m 
haben, dessen wir uns während des Schreibens selbst nicht 
bewusst wurden. Auch hier muss ich das falsch geschriebene 
Wort gesehen, die Gesichtsempfindung vollständig gehabt 
haben; aber weil ich während des Schreibens nur auf die 
niederzuschreibenden Gedanken und die Verknüpfung der äe 
ausdrückenden Worte geachtet hatte, so bemerkte ich den 
Schreibfehler, d. h. die falschen Schriftzeichen, nicht. Gleich- 
wohl war die Sinnesempfindung zum Momente meiner Seele 
geworden, und als ich daher hinterdrein nicht mehr auf die 
niederzuschreibenden Gedanken, sondern auf die wirklich 
niedergeschriebenen Worte reflectirte, kam mir die gehabte 
Sinnesänderung des falschgeschriebenen Wortes zum Be- 
wusstsein ^)." 

Es ist leicht zu erkennen, dass diese und ähnliche Ar- 
gumente unkräftig sind, wenn man eine in unserem Sinne 
unbewusste Seelenthätigkeit dadurch begründen will. Die 
Annjihme unbewusster psychischer Phänomene ist nicht die 
einzige Hypothese, aus welcher sich die Erscheinungen er- 
klären lassen. Für das erste und dritte Beispiel , die ich 
Ulrici entnommen, gentigt die Annahme, dass etwas mit Be- 
wusstsein empfunden und später in dem Gedächtniss erneuert 
wurde, und dass bei diesem zweiten Auftreten gewisse Asso- 
ciationen und andere Seelenthätigkeiten an die Erscheinung 
sich knüpften, die das erste Mal in Folge besonderer hin- 
dernder Umstände unterblieben waren. In dem einen Bei- 
spiele war mit den gehörten Worten nicht ihre Bedeutung 
verbunden worden , in einem anderen hatte man das unrich- 
tig geschriebene Wort gesehen, aber keine Reflexion über 
seine Uebereinstimmung mit den Regeln der Orthographie 
daran geknüpft 2). Der Fall mit den Aushängeschildern ist 
noch einfacherer Art. Er beruht einzig darauf, dass nicht 



^) Gott und der Mensch, I. S. 286. 

') Eß ißt etwas Anderes „den Schreibfehler", und etwas Anderes 
„die falschen Schriftzeichen** nicht bemerken. Ulrici hat mit Unrecht 
beides identificirt. 



-i 



f ' 



Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein. 149 

bloss die Aufnahme eines Eindnickies im Gedächtnisse, son- 
dern auch seine wirkliche Erneuerung an gewisse Bedingungen 
geknüpft ist, welche das eine Mal fehlen, das andere Mal 
aber vorhanden sind. Die spätere ähnliche Erscheinung rief 
die frühere nach einem bekannten Gesetze der Ideenassocia- 
tion hervor, welches sich, so lange die Vorbedingung fehlte, 
natürlich nicht wirksam erwiesen hatte. 

Etwas ganz Aehnliches gilt hinsichtlich des ersten von 
Maudsley erbrachten Beispiels. Dem Dienstmädchen, von dem 
er erzählt, kamen Worte, deren es sich zu einer Zeit nicht 
erinnern konnte, zu einer anderen von selbst in's Gedächt- 
niss zurück, offenbar unter Umständen, welche Vorbedingun- 
gen der Association enthielten, die im ersten Falle gefehlt 
hatten; Umständen, die unserer Analyse nicht unterworfen 
^ein mögen, von denen wir aber annehmen müssen, dass sie 
der betreffenden Association so günstig waren, dass sie den 
Nachtheil einer verhältnissmässig schwachen Vorbereitung 
aufwogen. Dass das l)ienstmädchen gehört habe, ohne sich 
seines Hörens bewusst zu sein, folgt sicher nicht daraus, dass 
es den Sinn der gehörten Worte nicht verstand. In der- 
selben Weise zeigt es sich, dass die Erscheinungen von star-^ 
kem Gedächtnisse, welche bei Idioten, sei es während sei es 
nach ihrem geisteskranken Zustande, hervortreten, keinen 
Schluss auf unbewusste Seelenerscheinungen gestatten ^). 



*) Was Maudsley ebend. S. 19 f. über den unbewussten Einfluss 
von inneren Stimulis sagt, d. h. über die unbewusste Seelenthätigkeit 
in Folge der Einwirkung innerer Organe, z. B. der Sexualorgane, auf 
das Gehirn, erledigt sich in analoger Weise, wie die im Texte ange> 
führten, auf einen unbewussten Einfluss äusserer Stimuli abzielenden 
Bemerkungen. Die Einwirkungen rufen bewusste Empfindungen her- 
vor, an welche sich in dem speciell erwähnten Falle lebhafte Affecte 
knüpfen, die dann das ganze psychische Leben mächtig beeinflussen. 

Lewes führt die nicht gerade seltenen Fälle an, in welchen einer 
während der Predigt einschläft und bei ihrer plötzlichen Beendigung 
erwacht; was beweise, dass er die Schallempfindungen gehabt habe, 
aber unbewusst, denn sonst hätte er wissen müssen, was gesprochen 
worden. Durch unsere Antwort auf die von Ulrici und Maudsley er- 
brachten Beispiele sind auch diese Fälle erledigt. Dass die Empfin- 



V 



150 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Auch von Gefühlen der Zuneigung und Liebe sagt man 
wohl manchmal, dass man, nachdem man sie lange schon ge- 
hegt , sich ihrer plötzlich bewusst werde ^). Die Wahrheit 
ist, dass man sich jedes einzelnen Actes bewusst war, als 
man ihn übte, dass man aber nicht in einer Weise darüber 
reflectirte, welche die Gleichartigkeit der Seelenerscheinung 
mit denjenigen, welche man gemeinsam mit diesem Namen 
zu bezeichnen pflegt, erkennen liess. 

Man sagt auch oft, es wisse einer selbst nicht was er 
wolle; denn nachdem er lange nach etwas verlangt, sei er 
verdriesslich wenn es ihm zu Theil werde ^). Man übersieht 
aber, dass diese Erscheinung sich leicht daraus erklärt, dass 
dem Verlangen nur die Licht-, nicht auch die Schattenseite 
des verlangten Gegenstandes vorgeschwebt hatte, so dass die 
Wirklichkeit der Erwartung nicht entsprach, oder daraus, 
dass dieselbe Veränderungslust das Ferne herbeiwünschen 
und das Gegenwärtige von sich stossen lässt, und d&ss so 
auch noch andere Hypothesen der Thatsache genügen können. 

Häufig haben blosse Vorstellungen oder Gefühle, die von 
keinem bewussten Willen begleitet sind , körperliche Be- 
wegungen zur Folge. Man glaubte daraus auf ein unbewusstes 

düng vorhanden war, ist erwiesen; dass sie unbewusst vorhanden war, 
ist nicht erwiesen. — Lewes erzählt auch , wie er einmal in einer Re- 
stauration einen Kellner mitten im Lärm eingeschlafen gefunden und 
ihn vergebens beim Namen und Vornamen gerufen habe. Sobald er jedoch 
daa Wort „Kellner" ausgesprochen, sei derselbe erwacht. Darauf, dass der 
Kellner auch das frühere Bufen gehört habe, lässt sich mit Recht schliessen, 
nicht aber darauf, dass es unbewusst geblieben sei. Der Grund, wesshalb 
der eine Ruf weckte, während die anderen es nicht thaten, war, dass 
sich an ihn durch die Gewohnheit sehr stark begründete Associationen 
und zwar nicht bloss von V(»:stellungen , sondern auch von Gefühlen, 
knüpften, die trotz der Hindernisse, welche im Zustande des Schlafes 
gegeben waren, zu einer mächtigen Erregung der Seelenthätigkeiten 
führten. Dem gleichen Umstände ist es zuzuschreiben, wenn Admiral 
Codrington als Seedienst - Aspirant nur durch das Wort „Signal'^ aus 
tiefem Schlafe erweckt werden konnte. (Lewes, Physiol. of com. life, 
tom IT.) 

') Vgl. Ulrici a. a. 0. S. 288. 

*) Vgl. Hartmann a. a. 0. S. 216. 



Capitel 2. Vom iDneren Bewusstsein. 151 

Wollen schliessen zu dürfen, welches auf dieselben gerichtet 
sei; denn das Wollen sei es, welches nach Aussen wirke ^). 
Es ist aber nicht im Geringsten unwahrscheinlich, dass auch 
an andere Phänomene eine solche Wirkung sich knüpft 2). 
Es würde ermüdend sein, wollte ich noch weitere Bei- 
spiele häufen. Nur eine Bemerkung sei darum beigefügt. 
Selbst wenn man in gewissen Fällen zugestehen müsste, dass 
wir ohne die Annahme der Einwirkung unbewusster psychi- 
scher Phänomene unfähig seien eine Erscheinung zu begrei- 
fen: würde der Beweis keine Kraft haben, so lange diese 
Unfähigkeit aus der Mangelhaftigkeit unserer Kenntniss des 
betreffenden Gebietes sich unschwer erklären lässt. Es ist 
ein allzukühnes Wort, wenn Hartmann behauptet ^), die Ver- 
mittelung zwischen dem Willen und der dem Willen gehor- 
chenden Bewegung könne unmöglich eine mechanische sein ; 
sie setze also unbewusste geistige Zwischenglieder, insbeson- 
dere die unbewusste Vorstellung der Lage der entsprechen- 
den motorischen Nervenendigungen im Gehirne voraus. Kein 
besonnener Physiologe wird ihm hier Zeugniss geben. Einen 
Theil der Vermittelung können wir als mechanisch nachwei- 
sen, und erst da endet die Möglichkeit des Nachweises, wo 
das bis jetzt so wenig zugängliche Gebiet der Gehirnphysio- 
logie beginnt. Auch die Psychologie selbst ist, wie ^vir schon 
wiederholt bekennen mussten, noch in einem sehr zurückge- 
bliebenen Zustande; und es ist darum recht wohl denkbar, 
dass, was man als Folge unbewusster Thätigkeit betrachten 
zu müssen glaubt, bei vollkommenerer Erkenntniss der psy- 
chischen Gesetze auf die bewussten Phänomene allein als ge- 
nügende Ursache zurückgeführt werden könne. 

§. 5. Der zweite Weg, auf welchem sich, wie wir sagten, 
ein Nachweis unbewusster psychischer Acte versuchen liess. 



») Vgl. ebend. S. 143. 

") Hartmann*B Gründe für das GegentheU (a. a. 0. S. 93) sind 
ein Muster von willkürlicher aprioristischer Speculation, in grellem Ge- 
gensatze zu den im Eingange gemachten Verheissungen natui*wis8en- 
schaftlicher Methode. 

') a. a. 0. S. 56. 



•WÄT ier fyhl^r* Tr.n d«?r Ur=*cbe 4^ iäe WirtaciZ- Wenn 



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Ai;di ü^ ;zibt €s aber sewisöe Bedfsg;a;feii. die nidi* 
aa»^i?r AeLt L-elassen verdeo dürfeiL Einsal imiss fest- 
•t-ecen, das» das za erwartende {»STchiSfrhe PlÜBCMneB Didii 
:a Bevusstfiein aof jetieten und dann sc»fort Tereessen wor- 
den ist- Ferner m1ls^ nadigewksen sdn. dass in dem be- 
treffeüden FaEe eine den anderen Fallen volüg ^eidie Ur- 
sache Toriag. Und eiidlich ist. (»bwohl eigentlich in don 
TOTigen Punkte mitenthahen. insbesondere noch die Forderung 
des Nachweises geltend za machen, dass die Uisachen, wddie 
hier das beeleitende Bewußtsein Terhinderten. und wdche 
offenbar in d^i anderen Fällen nicht vorhanden waren, nicht 
auch dem psychischen Phänomene, dessen Existenz »sddoss^i 
werden soH entgegenwirkten, nnd dass überhaupt für dieses 
keiiie besonderen Hindemi^e bestanden. 

Legen wir diesen Maassstab an die wenigei hidieige- 
hörigen Beweisrersuche. so ergibt sich, dass aadi Ton ihnen 
nicht ein einziger gelungen ist. Wir wollen aach dies im 
Einzelnen zeigen. 

Wenn die Meereswoge an das Ufer schlägt^ so hören wir 
das Getöse ihrer Brandung, und sind uns des Hörens be- 
wusst Wenn aber nur ein Tropfen bewegt wird, glauben 
wir kein Geräusch zu hören. Und dennoch, sagt man, müssen 
wir annehmen, dass wir auch in diesem Fall eine SdiaU- 
empfindung haben; denn die Bew^ung der Woge ist tine 
gleichzeitige Bewegung ihrer einzelnen Tropfen, und nur aus 
den SchaDempfindungen, welche die Tropfen hervorbringen, 
kann sich die Empfindung der rauschenden Woge zusammen- 
setzen. Wir hören also, aber wir hören unbewusst^). 

^) Dieses Argument geht bis auf Leibnitz zuräck; ja, wenn man 
will, so kann man sagen, dass schon Zeno der Eleate daran geröhrt 
habe, nur benutzte dieser die Schwierigkeit in anderem Sinne (Sim- 
pUeiiis zu Arist Phys. VIL 5.) 



Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein. 153 

Der Fehler dieses Arguments ist handgreiflich. Es ver- 
stösst gegen die zweite der von uns aufgestellten Bedingungen. 
Eine Summe von Kräften unterscheidet sich in ihrer Wirkung 
nicht bloss quantitativ, sondern sehr oft auch quaUtativ von 
den einzelnen Summanden. Eine geringere Abkühlung als 
Null Grad verwandelt das Wasser nicht theilweise oder in 
einem geringeren Maasse in Eis; eine geringere Erwärmung 
als achtzig Grad führt nicht zu einem bloss quantitativ ver- 
schiedenen Gaszustande. So muss auch , wenn der grössere 
physische Reiz eine Schallempfindung erzeugt, der kleinere 
nicht nothwendig die Erscheinung eines Geräusches zur Folge 
haben, das nur seiner Intensität nach geringer ist. 

Aehnlich ist der folgende Beweisversuch. „Wir ver- 
mögen",- sagt Ulrici, „sehr kleine Objecto, deren Grösse noch 
nicht den zwanzigsten Theil einer Linie beträgt, nicht wahr- 
zunehmen .... Gleichwohl muss auch von solchen Objecten 
nothwendig eine Reizung des Nervus opticus und somit ein 
Sinneseindruck ausgehen. Denn auch grössere Gegenstände 
werden ja nur dadurch sichtbar, dass jeder kleinste (für sich 
allein unsichtbare) Punkt einer leuchtenden, gefärbten Fläche 
einen Lichtstrahl in das Auge sendet, und dieser den über 
die Retina ausgebreiteten Nerven afficirt, — dass also die 
stärkere, merkbare, zum Bewusstsein kommende Gesichts- 
empfindung sich gleichsam zusammensetzt aus einer Menge 
schwacher, unmerklicher Sinneseindrücke ^)." So gefasst, ist 
der Schluss auf unbewusste Empfindungen aus dem oben be- 
sprochenen Grunde ungültig. Man könnte ihm aber eine 
etwas andere Wendung geben. Man könnte sagen, die In- 
tensität des Reizes ist häufig in solchen Fällen nachweisbar 
gross genug, um eine Empfindung zu erzeugen. Denn im 
Mikroskope betrachtet werde oft das Unsichtbare sichtbar, 
und doch werde der Lichtreiz beim Durchgange durch die 
brechende Linse nicht verstärkt, im Gegentheile geschwächt, 
und auch durch die Vertheilung des Reizes auf eine grössere 
Fläche müsse die Reizung jeder einzelnen Stelle vermindert 

*) Gott u. der Mensch, S. 294. 



154 Buch IL Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

werden. So sei es denn sicher, dass ohne Beihülfe des In^ 
struments ebenfalls eine Farbenerscheinung, ja eine lebhaf- 
tere und nur etwa minder ausgedehnte Farbenerscheinung, 
empfunden werden müsse, die aber nicht zum Bewusstseiu 
komme. 

Allein auch in dieser Gestalt kann das Argument nicht 
der zweiten Bedingung entsprechend genannt werden. Durch 
das Mikroskop ist die einwirkende Ursache, wenn nicht in 
ihrer Intensität verstärkt, doch jedenfalls irgendwie ge- 
ändert. Es liegen also nicht wahrhaft gleiche Ursachen 
vor. Wir haben kein Recht zu sagen, dass, weil in dem 
einen Falle die Intensität der Reizung nicht geringer war als 
in dem anderen, ebenfalls eine Empfindung eingetreten sein 
müsse; denn eben so gut lässt sich denken, dass durch die 
Reizung der Retina in einer grösseren Ausdehnung eine noth- 
wendige und zuvor nicht vorhandene Vorbedingung der Em- 
pfindung realisirt worden sei. Vielleicht wird der Mangel 
der Beweiskraft noch deutlicher, wenn man insbesondere die 
dritte Bedingung in Betracht zieht. Was soll der Grund 
sein, warum die angeblich nur dem Räume nach beschränk- 
tere, aber nicht minder starke, ja stärkere Empfindung nicht 
zum Bewusstsein kommen konnte ? — Wir wissen keinen an- 
zugeben, und es scheint vielleicht weniger begreiflich, wie die 
beschränkte Reizung der Netzhaut das Entstehen des Be- 
wusstseins unter Voraussetzung der Empfindung, als wie sie 
die Empfindung selbst verhindert haben sollte. 

Von grösserem Gewichte scheint die folgende Thatsache. 
Helmholtz ^) berichtet, dass er nicht selten an den sogenann- 
ten Nachbildern Einzelheiten bemerkte, die er beim Sehen 
des Gegenstandes nicht wahrgenommen hatte. Auch mir ist 
oft dasselbe begegnet, und ein Jeder kann leicht die Thatsache 
durch eigene Erfahrung bestätigen. Hier war der Reiz offen- 
bar sehr intensiv, sonst hätte er kein Nachbild erzeugt; und 
ebenso kann man nicht sagen, die Netzhaut sei nicht in ge- 
nügender Ausdehnung gereizt worden, denn auch dann hätte 



^) Physiol. Opt., S. 337. 



Capitel 2. Vom inneren Bewusstgein. 155 

derselbe Umstand die Erscheinung im Nachbilde verhindert. 
Es scheint also sicher, dass eine Empfindung des betreffenden 
besonderen Zuges eintreten musste. Wenn er nun nichts- 
destoweniger unbemerkt blieb, so scheint nur die Annahme 
übrig zu bleiben, dass er unbewusst von uns vorgestellt wor- 
den sei. 

Dennoch fehlt viel daran, dass diese Beweisführung ge- 
sichert wäre. Nicht einmal der ersten der drei von uns ver- 
zeichneten Bedingungen wird genügt; denn wer bürgt dafür, 
dass das betreffende Phänomen nicht wirklich von Bewusst- 
sein begleitet war und nur sofort vergessen worden ist ? Was 
wir später von dem Einflüsse der Aufmerksamkeit auf die 
Begründung der Association hören werden, wird dies als voll- 
kommen denkbar zeigen. Aber auch die zweite und dritte 
Bedingung sind nicht erfüllt.. Der äussere Reiz allerdings 
war an und für sich stark und ausgedehnt genug, um eine 
Empfindung hervorzurufen. Aber waren auch die nöthigen 
psychischen Vorbedingungen gegeben? — Warum ist denn, 
die Thatsache als sicher vorausgesetzt, keine bewusste 
Empfindung entstanden ? Man antwortet : weil die Aufmerk- 
samkeit auf etwas Anderes völlig concentrirt war. Aber 
kann diese gänzliche Absorption durch andere Gegenstände 
nicht eben so gut die Empfindung selbst als das blosse Be- 
wusstwerden der Empfindung verhindert haben? Ulrici ent- 
gegnet hierauf: Das Nachbild, weil es nur „Nachbild eines 
bestimmten Urbildes ist, konnte unmöglich mehr oder An- 
deres enthalten, als was bereits im Urbilde, d. h. in der ur- 
sprünglichen Sinnesempfindung, enthalten war. Die Einzel- 
heiten, die wir am Nachbilde bemerken, müssen mithin 
nothwendig auch im Urbilde vorhanden gewesen sein in der- 
selben, ja in grösserer Stärke und Deutlichkeit als am Nach- 
bilde ^)." Allein wer sähe nicht, dass er sich hier auf einen 
Strohhalm stützt? Sein ganzer Halt ist der Namen „Nach- 
bild", der aber hier durchaus nicht eine Nachbildung in dem 
Sinne einer im Hinbhcke auf ein Vorbild ausgeführten Copie 



*) a. a. 0. S. :m4; vgl. ebend. S. 285. 



156 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

bedeuten soll ^) , sondern wahrscheinlich in Rücksicht auf die- 
zeitliche Succession gewählt wurde. Das Nachbild erscheint 
merklich später als der Lichtstrahl die Netzhaut afficirte. 
Thatsache ist es, dass nicht die frühere Empfindung, sondern 
der Fortbestand des früheren physischen Reizes oder ein an- 
derer physischer Process, der auf ihn folgt ^), als Ursache 
des sogenannten Nachbildes zu betrachten ist. Nehmen wir 
nun an, der anfängliche physische Reiz habe wegen eines 
psychischen Hindernisses nicht zur Empfindung geführt, so 
wird er darum vielleicht doch nicht weniger lang fortbestan- 
den und nicht minder starke physische Folgen gehabt haben. 
Somit ist es keineswegs eine Unmöglichkeit, dass Nachbilder 
oder Theile von Nachbildern von uns empfunden werden, 
ohne dass eine dem eindringenden Strahl gleichzeitige Em- 
pfindung derselben vorangegangen ist. 

§. 6. Wir kommen zur dritten Classe möglicher Beweis- 
versuche. Auch dann, sagten wir, werde man die Existenz 
unbewusster psychischer Acte als gesichert betrachten dür- 
fen, wenn es sich zeige, dass bei den bewussten psychischen 
Acten die Stärke des darauf bezüglichen Bewusstseins eine 
Function ihrer eigenen Stärke sei, und dass aus diesem Ver- 
hältnisse hervorgehe, wie in gewissen Fällen, in welchen die 
letztere eine positive Grösse ist, die erstere jedes positiven 
Werthes entbehren müsse. 

Dass die Stärke des Bewusstseins vom psychischen Phä- 
nomene eine derartige Function seiner Stärke sei, ist ein Ge- 
danken, dem wir z. B. bei Beneke^) begegnen. Mit einem 
gewissen Höhegrade der Intensität einer Vorstellung stellt 
sich darum nach ihm das Bewusstsein ein und wächst und 
vermindert sich in Abhängigkeit von ihm. Allein dass er 



^) In dem Falle, in welchem nach dem Blicke auf eine rothe Fläche 
ein grüner Schein auftritt , dürfte diese Copie nicht sehr getreu ge- 
nannt werden. 

') Hierin sind alle Physiologen einig, obwohl sonst noch manche 
Meinungsverschiedenheit hier besteht. 

») Lehrb. d. Psych., 2. Aufl. §. 57. 



Qipitel 2. Vom inneren Bewusstsein. 157 

oder ein Anderer einen einigermassen genügenden Beweis 
für das Bestehen eines entsprechenden Abhängigkeitsverhält- 
nisses zwischen der einen und anderen Intensität erbracht 
habe, wird Niemand behaupten ^). Auch sollte man meinen, 
dass die Ungenauigkeit unserer psychischen Maassbestimmun- 
gen, von welcher wir in der Untersuchung über die Methode 
gesprochen 2), der exacten Bestimmung eines solchen functio- 
nellen Verhältnisses unübersteigliche Hindernisse in den Weg 
lege. Die grosse Mehrzahl der Menschen aber wird geneigt 
sein, die Stärke der bewussten Vorstellungen und die Stärke 
der Vorstellungen, die sich auf sie beziehen, einfach einander 
gleichzusetzen. ' 

Doch ein besonderer Umstand scheint in diesem Falle 
wirklich einen genauen und sicheren Nachweis des Intensi- 
tätsverhältnisses zu gestatten. 

Die Intensität des Vorstellens ist immer gleich der In- 
tensität, mit welcher das Vorgestellte erscheint; d. h. sie ist 
gleich der Intensität der Erscheinung, welche den Inhalt des 
Vorstellens bildet. Dies darf als selbstverständlich gelten und 
wird darum fast ausnahmslos voa den Psychologen und Phy- 
siologen entweder ausdrücklich behauptet oder stillschweigend 
vorausgesetzt. So fanden wir oben ^), dass E. H. Weber und 
Fechner voraussetzten, die Intensität des Empfindens sei 
gleich der Intensität, mit welcher das physische Phänomen 
in der Empfindung auftrete, und nur unter dieser Bedingung 
war das von ihnen begründete Gesetz ein psychophysisches. 



^) Um ein etwaiges Missverständniss auszuschliessen , mache ich 
hier nochmals darauf aufmerksam, dass, was Fechner eine unbewusste 
Vorstellung nennt, nichts Anderes als die mehr oder minder ungenü- 
gende Disposition zu einer Vorstellung ist, die an einen gewissen 
physischen Process sich knüpft, insofern dieser bei grösserer Stärke 
von einer Vorstellung im eigentlichen Sinne begleitet sein würde. Die 
Schwelle, unter welche Fechner das Bewusstsein der Empfindung zu 
negativen Werthen hinabsinken lässt, ist zugleich die Schwelle der 
Empfindung selbst als eines wirklichen psychischen Actes. 

*) Vgl. oben I. Buch, Capitel 4, S. 85 ff. 

8) Vgl. I. Buch, Capitel 4, S. 91. 



158 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Ist nun dieses richtig, ist die Intensität des Vorstellens 
allgemein gleich der Intensität der Erscheinung, welche sei- 
nen Inhalt bildet: so ist klar, dass auch die Intensität des 
Vorstellens von einem Vorstellen gleich sein muss der Inten- 
sität, mit welcher dieses Vorstellen erscheint. Es fragt sich 
also nur, wie die Intensität, welche die eigenen bewussten 
Vorstellungen in der Erscheinung haben, sich zu ihrer wirk- 
lichen Intensität verhalte. 

Doch in dieser Hinsicht kann kein Zweifel bestehen. 
Beide müssen einander gleich sein, wenn anders die innere 
Wahrnehmung untrüglich ist. Wie ihr statt des Hörens kein 
Sehen, so kann ihr auch statt eines schwachen kein starkes, 
und statt eines starken kein schwaches Hören erscheinen. 
So kommen wir denn zu dem Schlüsse, dass bei jeder be- 
wussten Vorstellung die Stärke der auf sie bezüglichen Vor- 
stellung ihrer eigenen Stärke gleich ist. 

Hiemit ist nun in der That ein mathematisches Ver- 
hältniss zwischen der einen und anderen Intensität gef&nden, 
und zwar das einfache Verhältniss völliger Gleichheit. Aber 
wenn dieses einfachste aller denkbaren functionellen Verhält- 
nisse es ist, welches eine Veränderung der Intensität der 
begleitenden Vorstellung als nothwendige Folge jeder Zu- 
und Abnahme der Intensität des begleiteten psychischen 
Phänomens erkennen lässt : so ist dies so weit entfernt, einen 
Beweis für die Existenz unbewusster psychischer Acte zu 
liefern, dass wir vielmehr das Gegentheil daraus werden fol- 
gern müssen. Es gibt keinen unbewussten psychischen Act; 
denn wo immer er in einer grösseren oder geringeren Stärke 
besteht, wird die gleiche Stärke einer mit ihm gegebenen 
Vorstellung zukommen, deren Object er ist. Dies scheint 
denn auch die Ansicht der grossen Mehrzahl, und selbst 
unter denjenigen Psychologen, welche den Worten nach das 
Gegentheil lehren, sind einige, deren Widerspruch sich löst 
und in volle Zustimmung übergeht, sobald man nur ihre Aus- 
sprüche in unsere Sprachweise übersetzt. " 

Aber noch ein vierter Weg bleibt zu berücksichtigen, 
auf welchem Manche nicht bloss die Falschheit, sondern so- 



Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein. 159 

gar die Absurdidät der Annahme, dass jede Seelenthätigkeit 
eine bewusste sei, erweisbar glaubten. Blicken wir, ehe wir 
endgültig unsere Schlüsse ziehen, auch auf diese Art von 
Beweisversuchen. 

§. 7. Das Hören ist als Vorstellung leines Tones ein psy- 
chisches Phänomen und sicher eines der einfachsten Beispiele. 
Nichtsdestoweniger scheint es, wenn alle psychischen Phäno- 
mene bewusst sind, nicht ohne eine unendliche Verwickelung 
des Seelenzustandes möglich zu sein. 

Vor Allem, wenn kein psychisches Phänomen ohne ein 
darauf bezügliches Bewusstsein möglich ist, so hat man mit 
der Vorstellung eines Tones zugleich eine Vorstellung von 
der Vorstellung des Tones. Man hat also zwei Vorstellungen, 
und zwar zwei Vorstellungen sehr verschiedener Art. Nennen 
wir die Vorstellung des Tones „Hören", so hat man ausser der 
Vorstellung des Tones eine Vorstellung des Hörens, die von 
diesem selbst so verschieden ist wie das Hören vom Tone. 

Aber hiebei wird es nicht sein Bewenden haben. Denn 
wenn jedes psychische Phänomen, so muss auch die Vorstel- 
lung des Hörens ebenso wie die des Tones in bewusster 
Weise gegenwärtig, also auch von ihr eine Vorstellung vor- 
handen sein. Wir haben demnach in dem Hörenden drei 
Vorstellungen: die des Tones, die des Hörens und die der 
Vorstellung des Hörens. Aber diese dritte Vorstellung kann 
nicht die letzte sein. Auch sie ist bewusst, also vorgestellt, 
und ' die auf sie bezügliche Vorstellung ist wiederum vorge- 
stellt, kurzum die Reihe wird entweder unendlich sein oder 
mit einer unbewussten Vorstellung abschliessen. Wer also 
leugnet, dass es unbewusste psychische Phänomene gebe, der 
wird bei dem einfachsten Act des Hörens eine unendliche 
Menge von Seelenthätigkeiten anerkennen müssen. 

Auch das scheint einleuchtend, dass der Ton nicht bloss 
im Hören, sondern auch in der gleichzeitigen Vorstellung des 
Hörens als vorgestellt enthalten sein muss. Und auch in 
der Vorstellung von der Vorstellung des Hörens wird er 
nochmals, also zum dritten Male, das Hören aber zum zweiten 



160 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Male vorgestellt werden. Ist dies richtig, so liegt darin ein 
neuer Grund zu unendlicher Verwickelung, insofern wir nicht 
eine unendliche Reihe von Phänomenen von gleicher Einfach- 
heit, sondern eine unendliche Reihe von Phänomenen erhal- 
ten, in der die einzelnen Glieder selbst mehr und mehr und 
in's Unendliche sich verwickeln. 

Das scheint nun aber eine sehr missliche Annahme; 
ja die Annahme ist offenbar absurd ^) , und Niemand wrd 
sich zu ihr bekennen wollen. Wie also soll es möghch sein, 
auf der Leugnung unbewusster psychischer Acte zu be- 
harren ? 

Nur eine Annahme scheint, wenn es kein unbewusstes 
Bewusstsein geben soll, der Folgerung einer unendlichen 
Verwickelung entgehen zu können ; diejenige nämlich, welche 
Hören und Gehörtes für ein und dasselbe Phänomen er- 
klärt , indem sie das Hören auf sich selbst als sein Objeet 
gerichtet denkt. Ton und Hören wären dann entweder nur 
zwei Namen für ein und dasselbe Phänomen, oder der Un- 
terschied ihrer Bedeutung bestände etwa darin, dass man mit 
dem Namen Ton die äussere Ursache bezeichnete, die man 
früher gemeinighch dem Phänomene im Hörenden ähnlich 
dachte, und von der man darum sagte, dass sie im Hören 
erscheine, während sie in Wahrheit unserer Vorstellung sich 
entzieht. 

Es gibt unter den engUschen Psychologen mehrere, welche 
eine solche Ansicht vertreten. Im vorigen Capitel besprachen 
wir eine Stelle von A. Bain, worin dieser Philosoph die Ge- 
fühlsempfindung im Sinne des Empfindens und des Empfun- 
denen völUg identificirt und für alle übrigen Gattimgen von 
Sinneseindrücken dasselbe Verhältniss der Identität zwischen 
Act und Objeet des Actes andeutet. Auch bei J. St. Mill 
fehlt es nicht an Aeusserungen, welche die gleiche Anschauung 



■) In neuerer Zeit hat Herbart an diese Schwierigkeiten gerührt 
(Psychol. als Wissensch., Theil U. Abschn. H. Cap. 5. §. 127; vergl. 
ebend. Theil I. Abschn. I. Cap. 2. §. 27). Im Alterthume hat Aristo- 
teles sie hervorgehoben (De Anim. III. 2. princ), ohne sie jedoch für 
unüberwindlich zu halten. 



Capitel 2. Vom innereo Bewusstsein. 161 

ZU verrathen scheinen^). Aber weder richtig scheint mir 
diese Auffassung zu sein, noch würde sie, wenn sie richtig 
wäre, die Schwierigkeit in ihrem ganzen Umfange zu besei- 
tigen vermögen. Sie ist nicht richtig, sage ich; denn mit 
unmittelbarer Evidenz zeigt uns die innere Wahrnehmung, 
dass das Hören einen von ihm selbst verschiedenen Inhalt 
hat, der im Gegensatze zu ihm an keiner der Eigenthüm- 
lichkeiten der psychischen Phänomene participirt. Unter dem 
Tone versteht darum auch Niemand ein ausser uns befind- 
liches, anderes Hören, das durch die Einwirkung auf das Ohr 
unser Hören als sein Abbild hervorbrächte. Und auch nicht an 
eine unvorstellbare Kraft, die das Hören erzeugt, denkt man 
dabei, sonst würde man nicht von Tönen die in der Phan- 
tasie erscheinen sprechen. Vielmehr bezeichnet man mit 
dem Namen das, was als Erscheinung den immanenten, von 
unserem Hören verschiedenen Gegenstand unseres Hörens 
bildet, und je nachdem wir glauben oder nicht glauben, dass 
sie ausser uns eine ihr entsprechende Ursache habe, glauben 
wir, dass es auch in der Aussenwelt einen Ton gebe oder nicht. 
Der Anlass zur Entstehung einer Meinung, die so deutlich 
der inneren Erfahrung und dem Urtheile jedes Unbefangenen 
widerspricht, scheint in Folgendem zu suchen. Die frühere 
Zeit glaubte bei dem bewussten Hören nicht bloss ausser 
der Vorstellung vom Hören eine Vorstellung vom Tone, sondern 
auch ausser der unmittelbaren Erkenntniss der Existenz des 
Hörens, eine unmittelbare Erkenntniss der Existenz des Tones 
zu besitzen. Man glaubte den Ton mit derselben Evidenz 
wahrzunehmen, wie das Hören. Dieser Glauben ward als 
Irrthum erkannt, man sah ein, dass dem Hören niemals ein 
Ton als äusseres, durch das Gehör wahrnehmbares Object 
gegenüberstehe. Allein man hatte sich daran gewöhnt, das 
Hören als ein Erkennen und den Inhalt des Hörens als einen 
wirklichen Gegenstand zu denken, und so kam man nun 
dazu, da nichts als das Hören sich als real erwies, dieses als 

^) Sowohl in seiner Schrift über die Philosophie von Hamilton als 
in seinen Noten zur Analjsis von James Mill. 

Brentano , Psychologie. I. H 



\Q2 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Aligemeinen. 

aul* sich selbst gerichtet zu betrachten. Dies war ein Irr- 
thum nach der entgegengesetzten Seite hin. Wenn beim 
Hören nichts Anderes als es selbst im eigentlichen Sinne 
wahrgenommen wird, so ist doch daixim nicht weniger etwas 
Anderes als es selbst als vorgestellt in ihm vorhanden und 
bildet seinen Inhalt. 

Aber noch mehr. Wenn diese Auffassung sogar richtig 
wäre, so ist doch leicht zu zeigen, dass sie auch dann nicht 
dazu dienen würde, die Schwierigkeit, um die es sich han- 
delt, in ihrem ganzen Umfange zu heben. Angenommen es 
hätte das Hören nichts Anderes als sich selbst zum In- 
halte, so könnte doch Niemand bezüglich anderer psy- 
chischer Acte, wie der Acte der • Erinnerung und Erwar- 
tung, z. B. der Erinnerung eines früheren oder der Er- 
wartung eines späteren Hörens, das Gleiche annehmen, ohne 
sich der handgreiflichsten Absurdität schuldig zu machen. 
J. St. Mill selbst sagt darum an einer Stelle, wo er seine 
von uns verworfene Ansicht über die Empfindung auch zu er- 
kennen gibt: „Eine Empfindung enthält nichts Anderes; aber 
eine Erinnerung an eine Empfindung enthält den Glauben, 
dass eine Empfindung oder Vorstellung, deren Abbild sie ist, 
wirklich in der Vergangenheit bestanden habe ; und eine Er- 
wartung enthält einen mehr oder minder festen Glauben, 
dass eine Empfindung oder ein anderes Phänomen, worauf 
sie sich bezieht, in der Zukunft bestehen werde *)." Ist nun 
dieses richtig und unleugbar, so tritt derselbe Einwand, 
der in Betreff des Hörens durch die Identificirung des Hörens 
mit dem Gehörten zurückgewiesen war, bei der Erinnerung 
und Erwartung des Hörens in alter Kraft hervor. Wenn es 
keine unbewussten psychischen Phänomene gibt, so habe ich, 
wenn ich mich eines früheren Hörens erinnere, ausser der 
Vorstellung von dem Hören eine Vorstellimg von der gegen- 
wärtigen Erinnerung an das Hören, die nicht mit ihr iden- 
tisch ist. Auch diese soll bewusst sein, und wie wäre dieses 
denkbar ohne die Annahme einer dritten Vorstellung, die zu 

*) Examin. of Sir W. Hamilton*s Philos. chapt. 12. 



Capitel 2. Vom inneren Bewusst&ein. 163 

ihr in dem gleichen Verhältnisse, wie sie selbst zur Erinne- 
rung stehen würde? Diese dritte verlangt aber darin ebenso 
eine vierte Vorstellung u. s. f. in's Unendliche. Der Annahme 
einer unendlichen Verwickelung der psychischen Zustände 
scheint man also, wenn jedes psychische Phänomen bewusst 
gedacht wird, in einer grossen Zahl sehr einfacher Fälle nicht 
entgehen zu können. J. St. Mill erklärt nun zwar in sei- 
ner Schrift über Comte, indem er seiner Behauptung, der 
Verstand könne seine eigenen Acte nicht wahrnehmen, ent- 
gegentritt, dass der Geist mehr als einen Eindruck, ja sogar 
eine beträchtliche Anzahl von Eindrücken (nach Hamilton's 
Meinung nicht weniger als sechs) zugleich zu erfassen fähig 
sei; aber für eine Unendlichkeit von Vorstellungen wird jeden- 
falls seine Kraft nicht ausreichen, ja es wäre absurd, wenn 
einer sie ihm zuschreiben wollte. So scheint denn die An- 
nahme unbewusster psychischer Phänomene unvermeidlich. 

Indessen ist Eines, was von vom herein vermuthen 
lässt, dass die Schwierigkeit nicht ganz unlösbar sein möge. 
Zu verschiedenen Zeiten sind grosse Denker darauf ge- 
stossen ; aber nur wenige haben um ihretwillen eine unbe- 
wusste Seelenthätigkeit anerkannt. Aristoteles, der zuerst 
darauf aufmerksam machte, hat es nicht gethan. Und wenn 
in neuerer Zeit Herbart das Dasein unbewusster Vorstellun- 
gen als nothwendig daraus folgerte ^), so that er es doch nur, 
nachdem ihm die Existenz unbewusster psychischer Phäno- 
mene schon aus anderen Gründen feststand. Zudem ist es 
von ihm bekannt, dass er allzuleicht einen bloss scheinbaren 
Widerspruch unlösbar findet. Der einzige Philosoph von 
Bedeutung, der, wie es scheint, auf einem wenigstens ähn- 
lichen Wege zur Annahme unbewusster Seelenthätigkeiten 



^) „Unter den mehreren Vorstellungsmassen, deren jede folgende 
die Yorhergehende Appercipirt, oder von denen wohl auch die dritte 
sich die Verbindung oder den Widerstreit der ersten und zweiten zu 
ihrem Gegenstande nimmt, muss irgend eine die letzte sein; diese 
höchste appercipirende wird nun selbst nicht wieder ap- 
percipirt." (Psychol. als Wissensch., Theil II. Abschn. II. Cap. 5. 

§. 199.)' 

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Capite] 2. Vom inneren Bewuseteein. 165 

dessen man sich der Folgerung eines unbewussten Bewusst- 
seins entziehen kann. 



liehe sich vervielfältigen. (Summ. theo!. P. I, Q. 87, A. 3, 2 und ad 2.) 
Thatsächlich wird dies natürlich nie der Fall sein, und so kommt man 
auch hier wieder auf ein Denken , das unhewusst ist und bleibt , als 
letztes Glied der Reihe. 

Nur ganz kurz will ich auf einige wesentliche Mängel, welche die- 
ser Lehre anhaften, hinweisen. Vor Allem ist es ineonvenient, dass 
Thomas eine ganz andere Theorie für das Bewusstsein von der Sinnes- 
thätigkeit und für das von der Thätigkeit des Verstandes gibt, da doch 
nach dem Zeugnisse der inneren Erfahrung das eine Phänomen voll- 
ständig dem anderen analog erscheint. Dann erregt aber auch jede 
der beiden Theorien für sich ihre grossen Bedenken. Wir sollen uns 
nie bewusst sein , dass wir uns des Hörens , Sehens u. s. f. bewusst 
sind. Schon dies scheint eine harte Annahme. Aber noch d^tlicher 
beweist ein anderer Umstand die Unmöglichkeit der Auffassung. Das 
Verhältniss des inneren Sinnes zu seinem Object und das des äusseren 
zu der Ursache, welche eine Empfindung hervorruft, werden einander 
völlig gleich gedacht. Dem widerspricht aber die untrügliche Evidenz 
der inneren Wahrnehmung, an welcher die äussere nicht im Geringsten 
Theil hat Die innere Wahrnehmung der Empfindungen könnte un- 
möglich unmittelbar evident sein, wenn sie auf einen ihr fremden Zu- 
stand, isiuf den Zustand eines von ihrem Organe verschiedenen Organs, 
gerichtet wäre. Ebensowenig befriedigt die Theorie von dem Bewusst- 
sein der Verstandesthätigkeit. Nach ihr sollen wir uns nie des gegen- 
wärtigen, sondern immer nur eines vergangenen Denkens bewusst sein, 
eine Behauptung, die mit der Erfahrung nicht im Einklänge erscheint. 
Wäre sie aber richtig; so könnte man strenggenommen nicht von einer 
inneren Wahrnehmung des eigenen Denkens, vielmehr nur von einer 
Art Gedächtniss sprechen, welches auf einen unmittelbar vergangenen 
eigenen Act sich bezöge; und dies hätte die Folge, dass auch hier die 
unmittelbare untrügliche Evidenz unbegreiflich würde. Und wie wür- 
den wir nach dieser Theorie den Denkact wahrnehmen? als gegen- 
wärtig oder vergangen oder als zeitlich unbestimmt ? Als gegenwärtig 
nicht; dann wäre ja die Wahrnehmung falsch. Aber auch nicht als 
zeitlich unbestimmt; sonst wäre sie nicht die Erkenntniss eines in- 
dividuellen Actes. Als vergangen also ; und somit ist klar , dass sein 
Erfassen in der That nicht bloss als etwas dem Gedächtnisse Aehn- 
liches, sondern als ein reiner Gedächtnissact gedacht werden müsste. 
Seltsam aber wäre es gewiss, wenn wir von dem, was, da es gegen- 
wärtig war, von uns unbemerkt geblieben ist, nachher eine Erinnerung 
haben sollten. 

Es sei schliesslich noch bemerkt, dass es nach der Thomistisphen 



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Capitel 2. Vom inneren Bewasstsein. 167 

Aber dennoch ist dies nicht der Fall. Vielmehr scheint die 
innere Erfahrung unzweifelhaft zu zeigen, dass die Vorstel- 
lung des Tones mit der Vorstellung von der Vorstellung des 
Tones in so eigenthümlich inniger Weise verbunden ist, dass 
sie, indem sie besteht, zugleich innerlich zum Sein der an- 
deren beiträgt. 

Dies deutet auf eine eigenthümliche Verwebung des Ob- 
jects der inneren Vorstellung mit dieser selbst und auf eine 
Zugehörigkeit beider zu ein und demselben psychischen Acte 
hin. Diese müssen wir in der That annehmen. So gewiss 
wir in unserem Falle die Frage nach der Mehrheit der Vor- 
stellungen affirmativ entscheiden mussten, wenn wir sie nach 
der Zahl der Objecte bestimmten: so gewiss müssen wir sie 
negativ beantworten, wenn wir sie nach der Zahl der psy- 
chischen Acte bestimmen, in welchen vorgestellt wird. Die 
Vorstellung des Tones und die Vorstellung von der Vorstel- 
lung des Tones bilden nicht mehr als ein einziges psychisches 
Phänomen, das wir nur, indem wir es in seiner Beziehung 
auf zwei verschiedene Objecte, deren eines ein physisches, 
und deren anderes ein psychisches Phänomen ist, betrachte- 
ten, begrifilich in zwei Vorstellungen zergliederten. In dem- 
selben psychischen Phänomen, in welchem der Ton vorgestellt 
wird, erfassen wir zugleich das psychische Phänomen selbst, 
und zwar nach seiner doppelten EigenthUmlichkeit , insofern 
es als Inhalt den Ton in sich hat, und insofern es zugleich 
sich selbst als Inhalt gegenwärtig ist. 

Wir können den Ton das primäre, das Hören selbst das 
secundäre Object des Hörens nennen. Denn zeitlich treten 
sie zwar beide zugleich auf, aber der Natur der Sache nach 
ist der Ton das frühere. Eine Vorstellung des Tones ohne 
Vorstellung des Hörens wäre, von vom herein wenigstens, 
nicht undenkbar; eine Vorstellung des Hörens ohne Vor- 
stellung des Tones dagegen ein offenbarer Widerspruch. Dem 
Tone erscheint das Hören im eigentlichsten Sinne zugewandt, 
und indem es dieses ist, scheint es sich selbst nebenbei und 
als Zugabe mit zu erfassen. 



168 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

§. 9. Ist dieses richtig, so ergibt sich daraus die Er- 
klärung mehrerer auffallender Erscheinungen, und mit an- 
deren löst sich auch d i e Schwierigkeit, welche zuletzt gegen 
die Annahme, es seien alle psychischen Phänomene bewusst, 
geltend gemacht wurde. 

Nehmen wir psychische Phänomene wahr, die in uns be- 
stehen ? — Die Frage muss mit entschiedenem Ja beantwortet 
werden ; denn woher hätten wir ohne eine solche Wahrneh- 
mung die Begriffe des Vorstellens und Denkens? Aber es 
zeigt sich andererseits, dass wir nicht im Stande sind, unsere 
gegenwärtigen psychischen Phänomene zu beobachten, und 
wie soll man dies erklären, wenn nicht daraus, dass wir un- 
fähig sind sie wahrzunehmen ? — Früher, in der That, schien 
eine andere Erklärung nicht wohl denkbar ; jetzt aber sehen 
wir den wahren Grund deutlich ein. Die einen psychischen 
Act begleitende, auf ihn bezügliche Vorstellung gehört mit 
zu dem Gegenstande , auf welchen sie gerichtet ist. Würde 
jemals aus einer inneren Vorstellung eine innere Beobach- 
tung werden , so würde eine Beobachtung auf sich selbst 
gerichtet sein. Das aber scheinen auch die Vertheidiger 
der inneren Beobachtung nicht für möglich zu halten, und 
J. St. Mill, wo er gegen Gomte die Möglichkeit vertritt, dass 
Jemand sich beim Beobachten beobachte, beruft sich darum 
auf unsere Thätigkeit, Mehreres gleichzeitig mit Aufmerk- 
samkeit zu verfolgen^). Eine Beobachtung soll. also auf die 
andere Beobachtung , nicht dieselbe auf dieselbe gerichtet 
sein können. In Wahrheit kann etwas, was nur secundäres 
Object eines Actes ist, zwar in ihm bewusst, nicht aber in 
ihm beobachtet sein; zur Beobachtung gehört vielmehr, dass 
man sich dem Gegenstande als primärem Objecto zuwende. 
Also nur in einem zweiten, gleichzeitigen Acte, der einem in 
uns bestehenden Acte als primärem Objecto sich zuwendete, 
könnte dieser beobachtet werden. Aber die begleitende in- 
nere Vorstellung gehört eben nicht zu einem zweiten Acte. 
Somit sehen wir, dass überhaupt keine gleichzeitige Be- 
obachtung des eigenen Beobachtens oder eines anderen eigenen 

^) In der Abhandlung über A. Comte und den Positivismus. I. Theil. 



i. 



Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein. 169 

psychischen Actes möglich ist. Die Töne die wir hören 
können wir beobachten, das Hören der Töne können wir 
nicht beobachten; denn nur im Hören der Töne wird das 
Hören selbst mit erfasst. Einem früheren Hören dagegen, 
welches wir im Gedächtnisse betrachten, wenden wir uns als 
einem primären Objecte, und darutn mitunter auch in ähn- 
licher Weise wie ein Beobachtender zu. Der gegenwärtig 
bestehende Act der Erinnerung ist in diesem Falle das psy- 
chische Phänomen, das nur secundär erfasst werden kann^). 
Dasselbe gilt bei der Wahrnehmung aller anderen psychischen 
Erscheinungen. 

Somit bewähit sich hier das Sprichwort; denn zwischen 
den früheren von uns besprochenen*) entgegengesetzten An- 
sichten eines Comte, Maudsley, Lange einerseits, und der 
grossen Mehrzahl der Psychologen andererseits, liegt die 
Wahrheit in der Mitte. 

Eine andere* Frage. Hat , wer einen Ton oder ein an- 
deres physisches Phänomen vorstellt und dieser Vorstellung 
sich bewusst ist, auch von diesem Bewusstsein ein Bewusst- 
sein, oder nicht? — Thomas von Aquin hat dies in weitem 
Umfange geleugnet. Aber jeder Unbefangene wird zunächst 
wenigstens geneigt sein, die Frage zu bejahen. Erst, wenn 
man ihm dann vorrechnet, wie er in diesem Falle ein drei- 
faches und dreifach ineinandergeschachteltes Bewusstsein, und 
ausser der ersten Vorstellung und der Vorstellung der Vor- 
stellung auch noch eine Vorstellung der Vorstellung der Vor- 
stellung haben müsse, wird er vielleicht schwankend werden. 
Denn diese Annuhme scheint inconvenient und nicht mehr 
der Erfahrung entsprechend. Doch das Ergebniss unserer 
Untersuchung zeigt, wie diese Folgerung mit Unrecht gezogen 
wird; denn nach ihr fällt das Bewusstsein von der Vorstel- 
lung des Tones mit dem Bewusstsein von diesem Bewusstsein 



') Dieser Umstand macht es begreiflieber, wie Thomas von Aquin 
darauf verfallen konnte , das Bewusstsein , welches das Denken beglei- 
tet, als ein nachfolgendes zu denken, und das Bewusstsein von diesem 
Bewusstsein als drittes Glied einer Beihe von Reflexionen zu betrach- 
ten, von welchen jede folgende auf die vorhergehende sich bezieht. 

») Buch 1. Capitel 2. §. 2. 



170 I^uch ir. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

offenbar zusammen. Ist ja das Bewusstsein, welches die Vor- 
stellung des Tones begleitet, ein Bewusstsein, nicht sowohl 
von dieser Vorstellung, als von dem ganzen psychischen Acte, 
worin der Ton vorgestellt wird, und in welchem es selber 
mitgegeben ist. Der psychische Act des Hörens wird, ab- 
gesehen davon, dass er das physische Phänomen des Tones 
vorstellt, zugleich seiner Totalität nach für sich selbst Ge- 
genstand und Inhalt. 

Und hienach löst sich auch mit Leichtigkeit der zuletzt 
betrachtete Beweisversuch für das Dasein unbewusster psy- 
chischer Phänomene. Eine unendliche Verwickelung des See- 
lenzustandes sollte daraus folgen, wenn jedes psychische Phä- 
nomen von einer darauf bezüglichen Vorstellung begleitet 
wäre. Und wirklich schien es einen Augenblick, als sei eine 
solche unen(Hiche Verwickelung unvermeidlich. Aber, wenn 
der Gedanken so ganz absurd ist, wie lässt es sich erklären, 
dass man ihn fast allgemein angenommen ,* und dass selbst 
von den Philosophen, welche unbewusste psychische Acte 
lehrten, die wenigsten auf jene Absurdität sich berufen haben ? 
Schon von vorn herein ^chien es uns darum wahrscheinlich, 
dass irgend ein Ausweg offen stehen müsse. Und nun sehen 
wir deutlich, dass die Verumthung richtig war, und dass die 
Folgerung jener unendlichen Verwickelung in Wahrheit nicht 
nothwendig ist. Weit entfernt, dass mit mehr und mehr 
sich verwickelnden Gliedern eine unendliche Reihe von Vor- 
stellungen zugleich in uns aufgenommen werden müsste, zeigt 
es sich vielmehr, dass schon mit dem zweiten Gliede die 
Reihe sich abschliesst. 

§. 10. Die eigenthümliche Verschmelzung der begleiten- 
den Vorstellung mit ihrem Objecte, wie wir sie dargestellt 
haben, wurde von der grossen Mehrzahl der Psychologen wohl 
erkannt ^), obwohl nicht eben häufig eingehend und genau er- 
örtert. Und ohne Zweifel war dies der Grund, warum die 
einen die Schwierigkeit nicht sahen, und andere sich nicht 
dadurch beirren Hessen. 

^) So in neuester Zeit von Bergmann, Grundlinien einer Theorie 
des Bewusstseins, Berlin 1870. Cap. 1 und 2. 



Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein. 171 

Das Letztere ist besonders bei Aristoteles unzweideutig 
erkennbar, der fast eben so wie wir' die scheinbare Noth- 
wendigkeit unendlicher Verwickelung hervorhob. Es fiel ihm 
nicht ein, desshalb einen unbewussten Seelenzustand anzu- 
nehmen. Vielinehr kommt er sofort zu der Folgerung, dass 
in dem bewussten psychischen Phänomene selbst das Be- 
wusstsein von ihm mitbeschlossen sein müsse ^). 

Wie dies zu denken sei, das sucht er bezüglich der Em- 
pfindungen mehrfach und nicht ganz glücklich zu erläutern. 
Es stehe fest, meint er, dass wir durch das Gesicht, Gehör 
u. s. f. in mehr als einer Weise etwas wahrnehmen ; denn durch 
das Gesicht nehmen wir nicht bloss das Licht sondern auch 
die Finsterniss, durch das Gehör nicht bloss die Töne son- 
dern auch die Pausen, nicht bloss das Geräusch sondern auch 
die Stille, den Mangel jeglichen Geräusches wahr; aber nicht 
in derselben Weise. Wir haben also erwiesenermassen durch 
das Gesicht, durch das Gehör u. s. f. ein Wahrnehmen mehr- 
facher Art, und so sei es auch recht wohl denkbar, dass 
wir durch das Gesicht nicht bloss die Farben sondern auch 
unser Sehen, durch das Gehör nicht bloss die Töne sondern 
auch unser Hören wahrnehmen, obwohl die letztere Wahr- 
nehmung kein eigentliches Hören sei. Noch mehr. Wie das 
Tönen, so sei auch das Hören eine Einwohnung des Tones. 
Sie verhalten sich zu einander wie Wirken und Leiden. Sie 
seien darum in Wirklichkeit immer gleichzeitig gegeben. 
Man könne nur sagen dass etwas wirklich töne, wenn auch 
etwas sei was wirklich den Ton vernehme. Ausserdem 
dürfe man nur von einem Tönen in Möglichkeit reden. 
Tönen und Hören seien also, wie allgemein das Wirken und 
das dem Wirken entsprechende Leiden, sachlich Eins und 
den Begriflen nach correlativ und darum nie anders als 
zusammen und in ein und demselben Acte verstellbar^). 



*) De Anim IIL' 2 : hi d^€i xal kriqu eirj rijg oipSMg aiodijaig, rj sig 
uitiiQov €tciiv rj avrrj Tvg ^(nai> avT7}g. 

*) Ebend. : (paveQov xolvvv ot* ov/ ^v to j^ otpti «lad-av^a&ai ' xal 
yitQ oxav fxi] oqtafAiv , r^ oi//€* xq(vo/li€V xal xb axoxog xkI xb (p£g, ull^ 
oifX uiöttvxfog. hl- 6k xa) xb uQtov äaxiv wg xf/Qto/jnxtaTtti' xb yng 



172 Buch ir. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen, 

Der Vergleich der V^Tahmehinung des Hörens mit der 
Wahrnehmung der Stille durch das Gehör ist wenig treffend, 
und die Unterordnung des Begriflfspaares, Hören und Tönen, 
unter das des Leidens und Wirkens gänzlich verfehlt. Der 
Begriff Ton ist kein relativer Begriff. Wäre dies der Fall, 
so würde nicht das Hören ein secundäres, sondern mit dem 
Tone zugleich das primäre Object des psychischen Actes 
sein, und dasselbe würde in jedem anderen Falle gelten, was 
unverkennbar der Ansicht des Aristoteles selbst entgegen 
ist^). Auch könnten wir gar nichts denken ausser gewissen 
Kelationen zu uns selbst und unseren Gedanken, und dies 
ist ohne Zweifel falsch. Allein wenn an dieser Stelle Ari- 
stoteles zum Mindesten ungenau spricht, so finden wir ander- 
wärts bei ihm die richtige Ansicht mit aller Klarheit aus- 
gesprochen. So sagt er im zwölften Buche der Metaphysik: 
„Das Wissen und die Empfindung und die Meinung und das 
Nachdenken scheinen immer auf etwas Anderes zu gehen. 



ttiad-tijriQkov öexTtxov tov txia&rjjov avtv rijs ilXrjg txttarov. tfio xal 
ttTield-ovTtov Tüiv afad-jjTÖiv €veiaiv al aiaSi^aeig xal (pavTaafai Iv toTs 
edo^TtjQ^otg. ff (ff TOV aladTiTov Iv^QyHa xal rrlg ato&ri(f€b)g ij uvrii fxiv 
lan xal fi(a, to ifeJvtti, ov TavToy avraTg' Xfy(o 6*olov -kpoipog 6 xut 
iv^()y€tttv xal ttxorj tj xut iv^Qysiav' ean yag axorjv exovra /biri dxoveiv, 
xal TO f/ov ipoif.ov ovx afl -kpotpel. orav d^lvegy^ tö övvdfievov uxovsiv 
xal ^lJ0(p^ TO ffvvdfiivov \po(f€iv, tot« ij x«t' Mgyetav dxorj afjia yCverai 
xal 6 ä«t' h'iqyeiav yj6(pogj aiv stmiev av rtg t6 filv elvai axovaiv to 
ök jfjotpriaiv. €l Stativ ri x(vri(ftg xal tf noCtiütg xal t6 TtdO-og ir t^ 
noiovfiävffi, dvdyxri xal tov \p6q>ov xal t^v dxoi]v t^v xat IviQyiiar iv 
T^ xaTa ^vvafiiv sivni,' tj ydq tov notrjTixoü xal xivriTixov ivigyeia ir 

TO} nda/orTt iyyCviTai, di6 ovx dvdyxri to xivovv xivsTaS-ai 6 

^avTog loyog xal inl töÜv dlkfov aia&riaetov xai a!a&r)T(5v, Santq yaQ 
Tj nolriaig xal rj ndd-rjaig iv rqt nda/oVTt dXl* ovx iv Ttp noiovviiy oÜTta 
xal ri TOV aiad-fjTov ivSQyeia xal rj tov aiad-vjnxov iv t^ aiu&ijTix^ .. .. 
in€l (f^ fzia fji^v ianv iviqyBia ri tov ata&TjTOV xal ^ tov aia^Tixov to 
6" etvai eTiqov, dvdyxrj ^äfia (pd-e^Qead-ai xal aaCsa&at Ttiv ovtio keyojLt^tiv 
dxoijv xal \p6(pov, xal xvfAov 6ri xal yevaiv xal tu alla 6fjio(<ag\ to, 6k 
xaTcc SvvajJtv Xeyofieva ovx dvdyxrj. 

^) Sonst wüi*de er uns wie die Farbe auch das Sehen sehen lassen, 
und nicht y damit das Sehen sich selbst erfasse, der oxfjcg eine zweite 
Art von ala&drea&at (,,«U' ov/ (oOavTtag'^) zuschreiben. 



Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein. 173 

aui' sich selbst aber nebenbei ^)." Hier zeigt sich seine Auf- 
fassung der unserigen vollkommen conform , und so' hat sie 
ihm gewiss auch vorgeschwebt, als er die zuvor betrachtete 
Stelle niederschrieb, und um ihretwillen die unendliche Ver- 
wickelung der Seelenthätigkeit als unberechtigte Folgerung 
zurückwies. Doch da er hier seine Ansichten von der eigen- 
thümlichen Vereinigung des Hörens und der Wahrnehmung 
des Hörens in einem Acte anschaulich machen wollte, und 
keine passenden Analogien dafür fand , begegnete es ihm, 
dass er sie vielmehr in ein falsches Licht setzte. 

Dass auch die übrigen Psychologen fast allgemein einer 
verwandten Anschauung sich zuneigen, davon kann man sich 
leicht tiberzeugen. J. St. Mill, dessen abweichende Ansicht 
über die Empfindungen wir früher kennen lernten und zu 
widerlegen suchten, spricht hinsichtlich der Erinnerungen und 
Erwartungen eine mit der unserigen congruente Ueberzeu- 
gung aus. Er gibt ihnen (und wie sollte er es nicht thun ?) 
ein von ihnen verschiedenes, ein als früher oder später ge- 
dachtes Phänomen zum Inhalte; aber er glaubt, dass sie zu- 
gleich selbst für sich selbst Gegenstand seien, indem er sie 



^) Metapb. w^, 9 : (paCverai cTm«* aXXov 17 iTttarrj/uri xal rj aXadriaig 
x«l 7} öo^a xttl ij ötavoia, avxrs iT^v nagi^yt^. Vgl. auch ebend. 1, 7. 
p. 1072, b, 20. Anderwärts hat es den Anschein, als ob Aristoteles 
ähnlich wie Thomas v. A. für die Empfindungen einen besonderen 
inneren Sinn annehme, und so der Lehre von einer Verschmelzung 
der begleitenden inneren Vorstellung mit der Empfindung in einem 
Acte untreu werde. Seine allgemeine Theorie von den Seelenver- 
mögen scheint auch mit einer solchen Ansicht leichter vereinbar. Und 
darum habe ich selbst in naeiner „Psychologie des Aristoteles*' mit der 
Mehrzahl der Erklärer sie ihm zugeschrieben. Doch die SteUe De 
Anim IIT, 2. spricht so klar dagegen, und es ist so misslich, einen 
Widerspruch seiner verschiedenen Aussagen in diesem Punkte anzuneh- 
men, dass ich mich jetzt zu der hier im Texte dargelegten Auffassung 
bekenne. H. Schell in seiner Schrift: „Die Einheit des Seelenlebens 
aus den Principien der Aristotelischen Philosophie entwickelt", Frei- 
burg 1873, hat mit vielem Scharfsinne den Versuch gemacht, die ihr 
entgegenstehenden Aussagen damit zu versöhnen und auch die meta- 
physischen Anschauungen des Aristoteles über Act und Potenz u. s. w. 
damit in Einklang zu bringen. Vgl. auch unten Buch II. Cap. 3. §. 5. 



\ 



J74 Buch II. Von den psychiscben Phänomenen im Allgemeinen. 

in dieser Hinsicht in nichts von den Empfindungen unter- 
schieden denkt. „In sich selbst", sagt er, „sind sie gegen- 
wärtige psychische Phänomene, Zustände eines gegenwärtigen 
Bewusstseins , und sie unterscheiden sich in diesei* Hinsicht 
in nichts von den Empfindungen^)." Wenn wir an das, 
was Mill über die Empfindungen lehrte ; und namentlich an 
die Weise zurückdenken, wie er sie sich selbst erfassen 
liess, so sehen wir wohl, dass er nicht deutlicher uns zu- 
stimmen konnte. Bein ist zweifellos derselben Meinung. 
Ebenso glaubt Lotze, dass ein Bewusstsein von den in uns 
bestehenden psychischen Phänomenen in ihnen selbst gegeben 
sei; ja, wir dürfen sagen, dass unter allen, welche die Exi- 
stenz unbewusster psychischer Phänomene (in unserem Sinne) 
leugnen, keiner einer anderen Ansicht ist. Zu diesen gehört 
aber auch Ulrici, und dem entsprechend erklärt er aus- 
drücklich, dass „alle unsere Empfindungen zugleich Selbst- 
empfindungen der Seele" seien 2). Aber auch von denjenigen, 
welche nicht jedes psychische Phänomen für ein bewusstes 
halten, geben die Meisten uns Zeugniss, wie z. B. Beneke. 
Wo immer er ein psychisches Phänomen von einem darauf 
bezüglichen Bewusstsein begleitet denkt, glaubt er nicht, dass 
dieses als ein zweiter, besonderer Act hinzukomme, sondern 
dass es, wie eine besondere Bestimmtheit und Eigenheit des 
Phänomenes selbst, mit demselben gegeben sei ^). Die Allge- 
meinheit dieser Ueberzeugung ist offenbar der Grund, wess- 
halb der vierte Weg zum Nachweise unbewusster psychischer 
Phänomene so wenig betreten worden ist, und durch sie wird 
die Richtigkeit unserer Auseinandersetzung in wiUkommener 
Weise bestätigt. 

§.11. Die eigenthümüch innige Verbindung des psy- 
chischen Actes mit der darauf bezüglichen Vorstellung, die 
ihn begleitet, machte es uns möglich, auch die letzte Art von 



*) Exam. of Sir W. Hamilton's Philos. chapt. 12. 
*) Gott UDd der Mensch I. 284. 
3; Lehrb. d. Psych. 2. Aufl. §. 57. 



Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein. 175 

Beweisversuchen für das Dasein unbewusster psychischer Acte 
zu entkräften. Sehen wir, ob wir im Stande sein werden, 
noch weitere Aufschlüsse daraus zu gewinnen. 

Wir haben früher die Frage besprochen, ob zwischen 
der Intensität der bewussten psychischen Erscheinungen und 
der Intensität der darauf bezüglichen begleitenden Vorstel- 
lungen ein fiinctionelles Verhältniss bestehe. Es zeigte sich, 
dass die gewöhnliche Ansicht einer solchen Annahme günstig 
ist, indem sie die Vorstellungen von Vorstellungen, wo immer 
sie diese begleiten, der Intensität nach ihnen gleichzustellen 
pflegt, und eine nähere Untersuchung diente dieser Ansicht 
zur Bestätigung. Aber die Erörterung war, wenn nicht ge- 
rade sehr verwickelt, doch auch nicht von der Art, dass man 
glauben könnte, sie sei der Weg auf welchem die gewöhn- 
liche Meinung sich gebildet habe. Ihre Entstehung blieb 
also damals unerklärt. Jetzt dagegen sind wir, wenn ich 
nicht irre , in Stand gesetzt , die mangelnde Erklärung zu 
geben. 

Wenn wir eine Farbe sehen und von diesem unserem Sehen 
eine Vorstellung haben, so wird in der Vorstellung vom Sehen 
auch die gesehene Farbe vorgestellt; sie ist Inhalt des Sehens, sie 
gehört aber auch mit zum Inhalte der Vorstellung des Sehens ^). 
Würde nun die Vorstellung des Sehens mehr oder minder 
intensiv sein als das Sehen, so würde die Farbe in ihr mit 
einer anderen Intensität als in dem Sehen vorgestellt wer- 
den. Erscheint dagegen diese, insofern sie gesehen wird, und 
insofern sie zum Inhalt der Vorstellung vom Sehen gehört, 
gleich intensiv, so werden auch das Sehen und die Vorstel- 
lung vom Sehen der Intensität nach einander gleich sein. 
Hier also ist für das ürtheil ein nahehegender Anhaltspunkt 
gegeben. Nun haben wir erkannt, dass das Sehen und die 
Vorstellung vom Sehen in solcher Weise verbunden sind, dass 
die Farbe , indem sie Vorstellungsinhalt des Sehens ist , zu- 
gleich zum Vorstellungsinhalt der Vorstellung vom Sehen 
beiträgt. Die Farbe wird darum, obwohl sie im Sehen und 



^> Vgl. oben §. 8. 



176 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

in der Vorstellung vom Sehen vorgestellt wird, doch nicht 
mehr als einmal vorgestellt^). Von einem Unterschiede 
der Intensität kann also selbstverständlich nicht die Bede 
sein. Somit erklärt es sich sehr einfach, w^rum man allge- 
mein glaubt, auch das Sehen und die Vorstellung des Sehens 
seien der Intensität nach nicht von einander verschieden, 
und dieser Glauben erscheint neuerdings als vollkommen ge- 
rechtfertigt. Steigt also oder sinkt die Stäike einer be- 
wussten Empfindung oder einer anderen bewussten Vorstel- 
lung, so steigt oder sinkt die Stärke der begleitenden, darauf 
bezüglichen inneren Vorstellung in gleichem Maasse , so dass 
beide Erscheinungen ihrer Intensität nach immer auf! gleicher 
Höhe stehen. 

§. 12. Doch ein Einwand. Wenn mit cier Intensität 
des Hörens die Intensität der Vorstellung des Hörens immer 
in gleichem Maasse steigt und fällt, so wird, wenn die Inten- 
sität des Hörens Null wird, auch die der begleitenden Vor- 
stellung Null werden. Aber das Gegentheil scheint richtig. 
Wie sollten wir sonst wahrnehmen, dass ^r nicht hören, 
was wir doch thun, indem wir in der Musik die Pausen und 
die Länge der Pausen und auch sonst das Eintreten voll- 
kommener Stille, das Aufhören jegliches Geräusches bemer- 
ken? Recht intensiv sogar scheint manchmal die Vorstellung 
des Nichthörens zu sein, da der Müller, der beim Klappern 
der Mühle ruhig schläft, wenn sie plötzlich stifle steht, aus 
tiefstem Schlafe erweckt wird; und dasselbe zeigt sich in 
einem Falle, den wir früher nach Lewes anführten, wenn der 
in der Predigt friedlich entschlummerte Zuhörer bei ihrem 
Schlüsse erwacht, auch ehe noch das Geräusch der sich er- 
hebenden Menge ihn erwecken konnte. 

Der Einwurf mag in der That für einen Augenblick Be- 
denken erregen. Ist es doch, als ob er nicht bloss unserer 
eben verfochtenen Theorie gefährlich sei, sondern sogar die 
Existenz von Wahrnehmungen ohne ein positives Object 

^) Ebend. 



Capitel 2. Vom inneren BewuBstsein. 177 

beweise; denn der Mangel des Hörens ist offenbar kein po- 
sitives Object. Betrachtet man aber die Thatsache etwas 
näher, so findet man wohl eine Lösung. Wenn wir die 
Vorstellung von einer Pause und von der Länge einer 
Pause haben, so erscheinen uns die Töne, von welchen die 
Pause begrenzt ist, mit ihren verschiedenen zeitlichen 
Bestimmtheiten; wird ja doch ein jeder Ton, nachdem er 
als gegenwärtig erschienen ist, noch eine Zeit hindurch als 
vergangen, und als mehr oder minder vergangen vor- 
gestellt. Die Grösse dieser Verschiedenheit ist die so- 
genannte Länge der Pause. Auch hier haben wir also eine 
Vorstellung von Tönen wie bei der Vorstellung von conti- 
nuirlicher Musik ; nur etwa Töne von einer gewissen mittleren 
zeitlichen Bestimmtheit werden nicht vorgestellt. Da wir 
nun eine Vorstellung von Tönen haben, so ist es nicht zu 
verwundem, wenn diese von einer gleich intensive darauf 
bezüglichen Vorstellung begleitet ist. 

Die Wahrnehmung bei eingetretener Stille ist ein ähn- 
licher, nur einfacherer Fall. Ein Geräusch, das früher als 
gegenwärtig erschien, erscheint hier als unmittelbar vergangen, 
wenn auch keines als gegenwärtig erscheint. Und die Vor- 
stellung des als vergangen erscheinenden Geräusches ist, nach 
dem was wir festgestellt haben, von einer gleich intensiven 
Vorstellung dieser Vorstellung begleitet. 

Man entgegnet vielleicht, diese Erklärung genüge nicht. 
So lange die Mühle fortfahre zu klappern, habe der Müller eben 
so gut die Vorstellung von einem Klappern, das als unmittelbar 
vergangen erscheine, wie wenn sie anfange still zu stehen, und 
nur ausser ihr noch die von einem als gegenwärtig erscheinen- 
den Klappern. Er habe also auch dann die Vorstellung, die ihn 
nach unserer Ansicht beim Stehenbleiben der Mühle weckte, 
und nur noch eine andere dazu. Somit fehle nach wie vor eine 
Ursache, die das Erwachen wirklich erklären könnte, und sie 
werde so lange fehlen, als man sich nicht entschliesse, eine 
besondere Wahrnehmung des Nichthörens anzuerkennen. — 
Allein das Verhältniss ist hier ähnlich, wie bei Vorstel- 
lungen einer Farbe, wenn sie einmal einen grösseren, ein- 

Brentano, Psychologie. I. 12 



178 Bach II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

mal einen kleineren Kaum, einen Theil jenes grösseren Rau- 
mes, ausfüllt. Wie die Farbe dann räumlich beschränkter 
erscheint, so erscheint das Geräusch, wenn es abbrach, zeit- 
lich beschränkter. Das Bild wird in beiden Fällen ein an- 
deres , die Contoure wird verrückt. Und wie es wohl ge- 
schehen kann, dass die enger umgrenzte Farbenfläche uns 
auffällt, während sie, wenn sie sich weiter ausdehnte, unsere 
Aufmerksamkeit nicht erregen würde, so kann Aehnliches bei 
dem Geräusche der Fall sein. Es wird dies von den beson- 
deren Associationen abhängen, welche sich an die eine und 
andere Erscheinung knüpfen. Bei dem Müller, der die Pflicht 
hat, sobald das Rad stehen bleibt, der eingetretenen Störung 
abzuhelfen, während er, so lange das Werk regelmässig fort- 
geht, die Mühle sich selbst überlassen kann, ist es in ähn- 
licher Weise begreiflich, warum gerade das abbrechende Ge- 
räusch ihn weckt, wie bei dem Aufwärter in der Restauration, 
von dem Lowes uns erzählte, warum ihn kein anderer Ruf 
mit solcher Leichtigkeit wie der Ruf: Kellner! weckte, durch 
den man seine Dienste gemeiniglich in Anspruch nahm. 

Es liesse sich der Gegenstand noch eingehender erörtern, 
und man könnte namentlich darauf hinweisen, dass allgemein 
die Contoure die Aufmerksamkeit auf sich zieht; eine That- 
sache, für welche der Wettstreit der Sehfelder so merkwür- 
dige Belege bietet. Doch es scheint besser, dies einem spä- 
teren Orte vorzubehalten. 

§. 13. Es bleibt also bei dem, was wir früher gefunden. 
Wenn die Stärke einer bewussten Vorstellung steigt und 
sinkt, so steigt und sinkt die Stärke der darauf bezüglichen 
begleitenden Vorstellung in gleichem Maasse, und beide Er- 
scheinungen stehen ihrer Intensität nach immer auf gleicher 
Höhe. 

Ist dieses richtig, so liegt darin nicht bloss die Wider- 
legung eines etwaigen Versuches, aus dem betreffenden fünc- 
tionellen Verhältnisse das Dasein unbewusster Vorstellungen 
darzuthun: es kann vielmehr, wie wir auch früher schon 
andeuteten, zugleich als ein Beweis dafür betrachtet werden. 



y 



;li^-- 



t^ 



Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein. 179 

dass es wirklich keine unbewussten Vorstellungen in unserem 
Sinne gibt. Hiemit ist allerdings noch nicht ausgesprochen, 
dass alle psychischen Phänomene während ihres Bestehens 
von Bewusstsein begleitet sind; denn ausser dem Vorstellen 
gibt es auch andere psycTiische Thätigkeiten , wie z. B. Ur- 
theil und Begehren; doch sind wir einem solchen Schlüsse 
um ein Bedeutendes näher gerückt. 

Und wie etwa wird es uns möglich sein, das Fehlende 
:zu ergänzen ? Der Analogie nach könnte einer vermuthen, 
dass auch bei anderen bewussten psychischen Thätigkeiten 
zwischen ihrer eigenen Intensität und der Intensität der dar- 
auf bezüglichen begleitenden Vorstellungen ein functionelles 
Verhältniss, und zwar dasselbe Verhältniss einfacher Gleich- 
heit bestehe, welches wir in Betreff des bewussten Vorstellens 
nachgewiesen haben. Allein wenn wir unter der Intensität 
eines ürtheils den Grad der Zuversicht verstehen, mit dem 
es gefällt wird, so lehrt uns die Erfahrung, dass eine schwache 
Meinung von einer nicht minder starken, ja von einer stär- 
keren Vorstellung als eine volle Ueberzeugung begleitet sein 
kann, wenn nur die der Meinung zu Grunde liegende Vor- 
stellung recht intensiv ist. Auch wird man bei einigem Nach- 
denken erkennen, dass man von einer Gleichheit, so wie von 
einem Mehr und Minder der Stärke einer Vorstellung gegen- 
über der Stärke einer Ueberzeugung gar nicht reden kann; 
dass es sich hier um Unterschiede handelt, die gar nicht mit 
einander vergleichbar sind. 

Wenn aber die Stärke der Vorstellung von Urtheilen 
nicht mit dem Grade ihrer Zustimmung oder Verwerfung ver- 
glichen werden kann, so ist es doch sicher, dass den Ur- 
theilen auch eine Intensität zukommt, in Bezug auf welche 
der Vergleich möglich ist. Wie die Intensität der Vor- 
stellung eines Gegenstandes gleich ist der Intensität, mit 
welcher der Gegenstand in ihr erscheint, so participirt auch 
das Urtheil an der Intensität seines Inhaltes. Die Intensität 
der Vorstellung, die dem Urtheile zu Grunde liegt, ist zu- 
gleich eine Intensität des Ürtheils in demselben Sinne. Wenn 
wir nun mit dieser Intensität die Intensität der begleitenden, 

12* 



180 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

auf das Urtheil bezüglichen Vorstellung vergleichen, so ist es 
leicht, auf dem doppelten Wege, auf welchem wir für die Vor- 
stellung und die Vorstellung der Vorstellung die Gleichheit 
der Intensitäten nachwiesen, auch hier dasselbe Verhältniss 
darzuthun. Es ergibt sich einmal' als Consequenz der Un- 
trüglichkeit der inneren Wahrnehmung, und findet femer da- 
durch seine Bestätigung, dass die Vorstellung vom Urtheile 
mit dem Urtheile in derselben Weise verbunden erscheint, 
wie die Vorstellung von der Vorstellung mit dieser. Der In- 
halt des Urtheils gehört, wie zum Urtheile selbst, so auch zu 
der Vorstellung von ihm ohne irgendwelche Verdoppelung zu 
erfahren, und für einen Unterschied der Intensität ist darum 
keine Möglichkeit gelassen. Was aber vom Urtheile gilt, gilt 
aus denselben Gründen von jeder anderen Gattung bewusster 
Seelenthätigkeiten. 

So dürfen wir denn das functionelle Verhältniss, welches 
wir bei der bewussten Vorstellung zwischen ihrer Intensität 
und der Intensität der darauf bezüglichen inneren Vorstellung 
gefunden haben, auf das ganze Gebiet der bewussten Seelen- 
erscheinungen ausdehnen. Durchgehends haben die beglei- 
tende und die begleitete Erscheinung gleiche Stärke, und 
dieses beweist, dass niemals ein psychisches Phänomen in 
uns besteht, von welchem wir keine Vorstellung haben. 

Die Frage: gibt es ein unbewusstes Bewusstsein, in dem 
Sinne in welchem wir sie gestellt hatten, ist demnach mit 
entschiedenem Nein zu beantworten. 



Drittes Capitel 



Weitere Betrachtungen fiber das innere Bewnsstsein. 

§.1. Die Untersuchungen des vorigen Capitels haben 
ergeben, dass jeder psychische Act von einem darauf bezüg- 
lichen Bewusstsein begleitet ist. Es fragt sich aber, wie 
vielfach und von welcher Art das begleitende Bewustsein sei. 

Vielleicht ist es gut, die Frage mit ein paar Worten zu 
erläutern. 

Mit dem Kamen Bewusstsein bezeichnen wir nach un- 
serer früheren Erklärung eine jede psychische Erscheinung, 
insofern sie einen Inhalt hat. Nun sind die psychischen Er- 
scheinungen von verschiedener Gattung; sie haben, wie be- 
reits bemerkt, in verschiedener Weise etwas zum Inhalte. 
Es fragt sich also, ob die psychischen Phänomene, wenn sie 
Gegenstand eines Bewusstseins sind, in einer oder in meh- 
reren Weisen bewusst sind, und in welchen? Bis jetzt ist 
nur erwiesen, dass sie von uns vorgestellt werden, und, wenn 
in irgend einer, so müssen sie natürlich in dieser Weise uns 
bewusst sein; denn die Vorstellungen sind für alle übrigen 
psychischen Phänomene die Grundlage, fis handelt sich also 
darum, ob sie bloss vorgestellt oder auch noch in anderer 
Weise uns bewusst sind. 

Sicher ist es, dass häufig eine Erkenntniss sie begleitet. 
Wir denken , wir begehren etwas , und erkennen dass wir 
dieses thun. Erkenntniss aber hat man nur im Urtheile. Es 



182 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

steht also ausser Zweifel, dass mit dem psychischen Acte in 
vielen Fällen nicht bloss eine darauf bezügliche Vorstellung, 
sondern auch ein darauf bezügliches Urtheil in uns besteht. 
Ob es auch Fälle gebe, in welchen ein solches Urtheil 
mangele, wollen wir jetzt untersuchen. 

§. 2. Dass die Annahme, jedes psychische Phänomen 
sei Gegenstand einer begleitenden Erkenntniss, zu einer un- 
endlichen Verwickelung des Seelenzustandes führe und darum 
in sich selbst unmöglich sei, wird Niemand behaupten, der 
an unsere Erörterung in Betreff der Vorstellungen zurück- 
denkt. Denn eben so deutlich wie dort zeigt sich auch hier 
jene eigenthümliche Verschmelzung von Bewusstsein und Ob- 
ject des Bewusstseins. Wo immer ein psychischer Act Ge- 
genstand einer begleitenden inneren Erkenntniss ist, enthält 
er, ausser seiner Beziehung auf ein primäres Object, sich 
selbst seiner Totalität nach als vorgestellt und erkannt. 

Dies allein macht auch die Untrüglichkeit und unmittel- 
bare Evidenz der inneren Wahrnehmung möglich. Wäre die 
Erkenntniss eines psychischen Actes, welche ihn begleitet^ 
ein Act für sich, der als zweiter Act zum ersten hinzukäme; 
wäre ihr Verhältniss zu ihrem Objecte kein anderes, als das 
einer Wirkung zu ihrer Ursache, ähnlich wie es auch zwischen 
der Empfindung und dem physischen Reize besteht, der die 
Empfindung hervorruft: wie könnte sie dann in sich selbst 
gesichert sein? ja wie sollten wir überhaupt von ihrer ün- 
trüglichkeit uns überze^ugen? 

Man hat oft gesagt, eine untrügliche Controle der Wahr- 
nehmung sei da möglich, wo man fähig sei, den Inhalt der 
Vorstellung mit dem wirklichen Gegenstande zu vergleichen. 
Bei der sogenannten äusseren Wahrnehmung vermöge man 
dieses nicht zu thun, da hier nur die Vorstellung des Gegen- 
standes, nicht aber der wirkliche Gegenstand in uns bestehe. 
Sie ßei und bleibe darum unzuverlässig. Dagegen besitze 
man hinsichtlich der Treue der inneren Wahrnehmung volle 
Gewissheit; denn hier bestehe, wie die Vorstellung, so auch 
der wirkliche Gegenstand der Vorstellung in uns. 



Capitel 3. Weitere Betrachtungen über das innere ßewusstsein. 183 

Der Fehler, der hier begangen wird, ist leicht erkenn- 
bar. Der Vergleich zwischen einem Vorstellungsinhalte und 
einer Wirklichkeit wird nicht dadurch möglich, dass die 
Wirklichkeit in uns ist, sondern nur dadurch, dass sie von 
uns erkannt ist. Nichts von dem, was in Jemand ist, ohne 
dass er davon weiss, kann er mit dem, was er vorstellt, als 
übereinstimmend erkennen. Somit setzt der Vergleich eben 
das als sicher erkannt voraus, dessen sichere Erkenntniss 
aus ihm gewonnen werden soll, was sich selbst widerspricht. 

Eben so wenig genügt die Art, wie Ueberweg das Ver- 
trauen auf die innere Wahrnehmung rechtfertigt : „Die innere 
Wahrnehmung oder die unmittelbare Erkenntniss der psy- 
chischen Acte und Gebilde", sagt er, „vermag ihre Objecte 
so, wie sie an sich sind, mit materialer Wahrheit aufzufassen. 
Denn die innere Wahrnehmung erfolgt, indem das einzelne 
psychische Gebilde durch den Associationsprocess als ein in- 
tegrirender Theil der Gesammtheit unserer psychischen Ge- 
bilde aufgefasst wird .... Nun aber kann die Association 
des einzelnen Gebildes mit den übrigen dasselbe nach Inhalt 
und Form nicht verändern; es geht so, wie es ist, in die- 
selbe ein; wie daher gegenwärtig unsere Vorstellungen, Ge- 
danken, Gefühle, Begehrungen, überhaupt die Elemente 
unseres psychischen Lebens und deren Verbindungen unter 
einander wirklich sind, so sind wir uns ihrer bewusst, und 
wie wir uns ihrer bewusst sind, so ist ihr wirkliches Sein, 
indem bei den Seelenthätigkeiten als solchen Bewusstsein und 
Dasein identisch ist^)." 

Wir sehen, Ueberweg hält die innere Wahrnehmung nicht 
für gesichert, durch Vergleiche zwischen dem Inhalte der Vor- 
stellung und der wirklichen Beschaffenheit des Gegenstandes. 
Er glaubt, dass die Wahrnehmung eines psychischen Actes 
in einer Verknüpfung des Actes mit anderen Acten bestehe. 
In Folge dieser Verknüpfung wird der wirkliche Act Theil 
von einem zusammenhängenden Ganzen, welches aus der 
Gesammtheit der wirklichen Acte gebildet ist. Das Auf- 



*) System der Logik. 2. Aufl. S. 67 f. 



Ig4 Buch II. Von den psycHischen Phänomenen im Allgemeinen. 

genommensein in dieses Ganze ist das Wahrgenommen- und 
Erkanntsein des Actes. Er wird nothwendig so wahrgenom- 
men und erkannt, wie er wirklich ist, da er seiner Wirklich- 
keit nach aufgenonmien wird. 

Das Alles wäre schön und gut, wenn es nur richtig wäre, 
dass eine Vereinigung und Verkettung wirkhcher Dinge, eine 
Aufnahme von Theilen in ein festverbundenes Ganzes, wie 
z. B. von Bädern, Cylindem, Platten und Stangen in den 
Organismus einer wohlgefügten Maschine, mit einer Erkennt- 
niss dieser wirklichen Dinge gleichbedeutend wäre. Ueber- 
weg hat in seiner Geschichte der Philosophie Anseimus den 
Vorwurf gemacht, dass er in seinem ontologischen Argumente 
das Gedachtsein mit dem wirklichen Sein confiindire. Aber 
hier hat er selbst den gleichen Fehler begangen, indem er 
aus der wirklichen Existenz von Theilen in einem Ganzen 
unter der Hand eine Existenz in dem Sinne werden liess» in 
welchem man von dem Erkannten sagt, dass es in dem Er- 
kennenden bestehe. 

Diese Versuche, die Untrüglichkeit der inneren Wahr- 
nehmung zu begründen, sind demnach vollständig misslungen , 
und dasselbe gilt von jede^ anderen, den man etwa an die 
Stelle setzen möchte. Die Richtigkeit der inneren Wahr- 
nehmung ist in keiner Art erweisbar, aber sie ist mehr als 
dies, sie ist unmittelbar evident; und wer skeptisch diese 
letzte Grundlage der Erkenntniss antasten wollte, der würde 
keine andere mehr finden, um ein Gebäude des Wissens 
darauf zu errichten. Einer Rechtfertigung unseres Ver- 
trauens auf die innere Wahrnehmung bedarf es also nicht; 
wohl aber bedarf es einer Theorie über das Verhältniss die- 
ser Wahrnehmung zu ihrem Objecte, welche mit ihrer un- 
mittelbaren Evidenz vereinbar ist; und eine solche ist, wie 
gesagt, nicht mehr möglich, wenn man Wahrnehmung und 
Object in zwei verschiedene psychische Acte verlegt, von 
welchen nur etwa der eine Wirkung des anderen wäre. Das 
macht schon die bekannte Bemerkung von Descartes klar; 
denn ein etwa bestehendes, unendlich mächtiges Wesen würde 
jedenfalls dieselbe Wirkung wie das Object hervorzubringen 



Capitel 3. Weitere Betrachtungen über das innere Bewusstsein. 185 

im Stande sein. Wenn also nicht jene reale Einheit, jene 
eigenthümlich innige Verbindung, die wir früher zwischen 
dem psychischen Acte und der begleitenden Vorstellung ge- 
funden, auch zwischen ihm und der inneren Wahrnehmung 
bestände, so wäre die Evidenz ihrer Erkenntniss eine Un- 
möglichkeit. 

Man kann sagen, dass dieses Argument aus der Evidenz 
der inneren Wahrnehmung in seiner Kraft weiter reicht, und 
dass es selbst für die Weise der Vereinigung der inneren 
Vorstellung mit ihrem wirklichen Objecte, die wir früher 
auf anderem Wege erkannten, zur Bestätigung dient. Die 
Erkenntniss eines wirklichen Gegenstandes kann nicht inniger 
mit ihm vereinigt sein als seine Vorstellung, indem diese für 
die Erkenntniss die Grundlage bildet. Für beide gilt also 
nicht bloss dasselbe, sondern auch dasselbe aus denselben 
Gründen. Es ist darum nicht zu verwundem, wenn die Psycho- 
logen, welche, ähnlich wie wir, die begleitende Vorstellung 
eines psychischen Actes accessorisch in ihm selbst einge- 
schlossen dachten, sowohl die modernen als auch Aristoteles, 
in derselben Weise auch die begleitende Erkenntniss mit 
darin enthalten glaubten. 

§. 3. Aber wenn die Folgerung einer unendlichen Ver- 
wickelung der Seelenthätigkeit nicht zu furchten ist, so 
scheint es doch als stehe der Annahme, jeder psychische Act 
sei von einer darauf bezüglichen Erkenntniss begleitet, eine 
andere Schwierigkeit im Wege. Jede Erkenntniss ist ein 
Urtheil, und jedes ürtheil, sagt man gemeiniglich, bestehe 
darin, dass ein Prädicat einem Subjecte beigelegt' oder ihm 
abgesprochen werde. Im Falle der Erkenntniss durch innere 
Wahrnehmung ist das Urtheil ohne Zweifel affirmativ, das 
beigelegte Prädicat aber müsste wohl die Existenz sein; 
denn man nimmt wahr, dass ein psychischer Act existirt. 
Was nun der Namen Existenz eigentlich besage, darüber 
sind die Philosophen nicht einig, obwohl nicht bloss sie, son- 
dern jeder einfache Mann ihn mit aller Sicherheit zu ge- 
brauchen weiss. Aber es scheint nicht schwer einzusehen. 



/ 



Ig6 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemein^i. 

dass es ein sehr allgemeiner, also ein sehi' abstraeter Begriff 
ist, wenn anders er wirklich aus der Erfahrung gewonnen 
wurde und nicht (was anzunehmen immer sein Missliches 
hat) als apriorischer Begriff vor aller Erfahrung in uns vor- 
handen war. Sollte es hienach denkbar sein, dass schon 
das erste Empfinden eines Kindes nicht bloss von einer Vor- 
stellung des Empfindungsactes , sondern zugleich von einer 
Wahrnehmung desselben begleitet sei ? von einer Erkenntniss, 
dass er ist? von einem ürtheile, welches mit dem psychischen 
Phänomene als Subject den Begriff der Existenz als Prädicat 
verknüpft ? Ich glaube Niemand verkennt, wie unwahrschein- 
lich, ja unmöglich eine solche Annahme ist. 

Dieses Argument wäre sicher unwiderleglich, wenn die 
herkömmliche Theorie, wonach jedes Urtheil eine Mehrheit von 
Begriffen verbindet, und insbesondere das im Eidstentialsatze 
ausgedrückte Urtheil den Begriff der Existenz zu irgend 
welchem Subjectsbegriffe fügt, auf Wahrjieit beruhte. Wir 
werden später diese Ansicht in allgemeiner Weise als irrig 
nachweisen^), denn die Zusammensetzung aus Subject und 
Prädicat ist keineswegs etwas, was der Natur des Urtheils 
wesentlich ist, und die Unterscheidung der beiden Bestand- 
theile hängt vielmehr nur mit einer gemeinüblichen Form des 
sprachlichen Ausdruckes zusammen. In der Erkenntniss 
durch innere Wahrnehmung liegt uns aber im Besonderen ein 
Urtheil vor, das recht augenscheinlich den^ gewöhnüchen An- 
sichten der Psychologen und Logiker widerspricht. Keiner, 
der auf das achtet, was in ihm vorgeht, wenn er hört oder 
sieht und sein Hören oder Sehen wahrnimmt, kann sich 
darüber täuschen, dass dieses Urtheil der inneren Wahrneh- 
mung nicht in der Verbindung eines psychischen Actes als Sub- 
ject mit der Existenz als Prädicat, sondern in einer einfachen 
Anerkennung des im inneren Bewusstsein vorgestellten psy- 
chischen Phänomens besteht. So erweist sich auch dieses 
Argument gegen die Allgemeinheit einer Erkenntniss der psy- 
chischen Acte durch inneres Bewusstsein als unhaltbar. 



») Buch II. Cap. 7. § 5 ff 



Capitel 3. Weitere Betrachtimgen über das innere Bewusstsein. 187 

§. 4. Versuchen wir, ob es uns gelingt, sogar den po- 
sitiven Beweis für die Allgemeinheit einer solchen begleiten- 
den Erkenntniss zu erbringen. 

Wir erinnern uns des Weges , den wir einschlugen , als 
es sich darum handelte, ob jeder psychische Act von einer 
darauf bezüglichen Vorstellung begleitet sei. Wir zeigten, 
dass bei bewussten Seelenerscheinungen die Intensität der be- 
gleitenden Vorstellung mit der Intensität des begleiteten 
Actes (beziehungsweise der dem Acte zu Grunde liegenden 
Vorstellung) gleichmässig zu- und abnimmt und immer auf 
gleicher Höhe steht. Hieraus folgte, dass die begleitende 
Vorstellung nur in solchen Fällen mangelt, in welchen der 
Act selber aiifeehoben ist. Bezüglich der begleitenden Er- 
kenntniss scheint der Nachweis nicht so einfach. Als Urtheil 
besitzt sie, dem früher Bemerkten entsprechend, eine zwei- 
fache Intensität: einmal eine Intensität in dem Sinne, in 
welchem eine solche auch Vorstellungen zukommt ; dann eine 
dem Urtheil eigenthümliche Art von Stärke, nämlich den 
Grad der Ueberzeugung, mit welchem das Urtheil gefällt wird. 
Würde die eine oder andere Null werden, so würde das Urtheil 
nicht mehr bestehen. 

Doch unsere früheren Untersuchungen haben uns reich- 
lich vorgearbeitet. Wir wissen, dass, was die erste Weise 
der Intensität anlangt, jedes Urtheil an dem Grade der In- 
tensität der zu Grunde liegenden Vorstellung theilnimmt. 
Da nun die Intensität der begleitenden Vorstellung nur in 
dem Falle Null wird, in welchem das Object selbst aufhört, 
so wird, so weit es auf sie ankommt, niemals ein Grund vor- 
handen sein, wesshalb die den psychischen Act begleitende 
Erkenntniss wegfiele. Wir haben also nur noch auf die dem 
Urtheile als Urtheile eigenthümliche Stärke, auf den Grad 
der Ueberzeugung zu achten. Hier finden wir nun nichts, 
was dem besprochenen functionellen Verhältniss ähnlich sehen 
würde, ja das Maass der Ueberzeugung, welche der be- 
gleitenden Erkenntniss inwohnt, ist überhaupt nicht eine 
Function der Intensität des begleiteten psychischen Actes. 
Mag derselbe eine Vorstellung, mag er ein Urtheil, eine 



]g^ Bmth IL Ton den peycbitdien Phtnomenen im Allgemeinen. 

Begierde oder irgend welche andere Art psychischer Erschei- 
BODg sein, die Zu- oder Abnahme seiner Intensität berührt 
nicht die Intensität der üeberzeognng , mit welcher wir ihn 
eri^ennen. Aber trotzdem sind die Verhältnisse von der Art, 
das» sie einen sicheren Schluss gestatten. Die Stärke der 
Ueberzeugung in dem begleitenden, das psychische Phänomen 
anerkennenden Urthei]e zeigt sich als eine in allen Fällen 
gleiche, constante Grosse, und diese Grosse ist nicht etwa 
jener geringe Grad Ton Zustimmung, wie er einer schwach 
aufkeimenden Meinung eigen ist, sondern sie ist die denkbar 
höchste; wir haben bei jeder inneren Wahrnehmung jene 
Vollkommenheit der Ueberzeugung, welche den unmittelbar 
eridenten Erkenntnissen innewohnt. Dieses Verhalten ist 
natürlich dasjenige, welches yor aDen anderen die Annahme 
der Allgemeinheit der begleitenden Erkenntmss begünstigt. 
Wenn hinsichtlich der Stärke der Ueberzeugung die innere 
Wahrnehmung niemals anders als in der höchsten Vollkom- 
menheit auftritt; wenn sie nie und unter keinerlei Umständen 
aus diesem Grunde eine Hinneigung zum Verschwinden zeigt : 
so dürfen wir mit Sicherheit annehmen, dass nur etwa wegen 
des Verlustes jener anderen, wandelbaren Intensität die in- 
nere Wahrnehmung fehlen werde. Da aber auch diese nach 
solchen Gesetzen und in solchem Verhältnisse zur Intensität 
des begleiteten Actes sich ändert, dass sie nur bei dessen 
gänzlichem Verschwinden auf den Nullpunkt herabsinkt: so 
dürfen wir behaupten, dass die darauf bezügliche Er- 
kenntniss selbst nur in diesem Falle mangeln wird. Mit 
jedem psychischen Acte ist daher ein doppeltes inneres Be- 
wusstsein verbunden, eine darauf bezügliche Vorstellung und 
ein darauf bezügliches Urtheil, die sogenannte innere Wahr- 
nehmung, welche eine unmittelbare, evidente Erkenntniss des 
Actes ist. 

§. 5. Die Erfahrung zeigt, dass nicht bloss eine Vor- 
stellung und ein Urtheil, sondern häufig auch noch eine dritte 
Art von Bewusstsein des psychischen Actes in uns besteht, 
nämlich ein auf den Act bezügliches Gefühl, eine Lust oder 



Capitel 3* Weitere Betrachtungeu über das innere Bewusstsein. IgQ 

Unlust, die wir an ihm Haben. Blicken wir auf unser altes 
Beispiel zurück, so ist das Hören eines Schalles oft nicht 
bloss von einer Vorstellung und Erkenntniss des Hörens, 
sondern unverkennbar auch von einem Gefühle begleitet, sei 
es von einer Lust, wie bei dem Klang einer sanften und 
reinen jugendlichen Stimme , sei es von einer Unlust , wie 
beim Kratzen eines schlechtgeführten Geigenstriches. Auch 
dieses Gefühl hat nach früheren Erörterungen^) einen Ge- 
genstand, worauf es sich bezieht. Und dieser ist nicht 
das physische Phänomen des Schalles, sondern das psychische 
Phänomen des Hörens; denn offenbar ist es nicht eigentlich 
der Schall, der uns angenehm und lieb ist oder uns quält, 
sondern das Hören des Schalles. Demnach gehört auch die- 
ses Gefühl zum inneren Bewusstsein. Aehnliches finden wir 
beim Sehen von schönen und hässlichen Farben und in an- 
deren Fällen. 

Auch dieses begleitende Gefühl zeigt sich da, wo es auf- 
tritt, in ähnlicher Weise dem begleiteten Phänomen innig 
zugehörig und in ihm enthalten, wie die darauf bezügliche 
Vorstellung und Wahrnehmung. Wäre das Verhältniss hier 
ein anderes, so wäre das begleitende Gefühl ein zweiter psy- 
chischer Act, der selbst wieder von Bewusstsein begleitet 
wäre. In der auf ihn bezüglichen Vorstellung würde aber 
nothwendig nicht bloss er selbst, sondern auch sein In- 
halt, der psychische Act, auf welchen er sich bezieht, vor- 
gestellt werden. Somit würde dieser zweimal vorgestellt: 
einmal durch die zu ihm selbst gehörige, in ihm selbst 
gegebene Vorstellung seiner selbst, und dann durch die 
zu dem begleitenden GefQhlsacte gehörige Vorstellung des 
Gefühles. Nichts von dem zeigt uns die Erfahrung ; vielmehr 
lässt sie nur die eine Annahme als möglich bestehen, dass, 
wie die innere Vorstellung und Wahrnehmung, auch das in- 
nere Gefühl des Hörens, des Sehens und jedes anderen Actes, 
der in dieser Weise uns innerlich bewusst ist, mit seinem 



*) Buch IL Cap. 1. §. 5. 



190 Bach II. Von den psychiscLen Phänomenen im Allgeineinen. 

Objecte verschmolzen und in ihm selbst mitenthalten sei. 
Unsere frühere analoge Darlegung enthebt uns der Mühe, 
das Gesagte durch ausführlichere Erörterung zu verdeuthchen. 

Dagegen ist es vielleicht nicht ohne Werth, auf die vie- 
len und mannigfachen Spuren hinzuweisen, welche Zeichen 
für die Eichtigkeit unserer Auffassung sind. 

Wir erinnern uns der eigenthümüchen Ansicht Hamilton's 
in Betreff der Gefühle von Lust und Unlust. Bei ihnen, 
meinte er, bestehe nicht ein ähnliches Verhältniss von Sub- 
ject und Object wie bei anderen psychischen Phänomenen; 
beide seien so in Eins verschmolzen, dass von einem Objecte 
eigentlich gar nicht mehr die Rede sei^). Einen gewissen 
Anhalt für seine Lehre musste Hamilton doch wohl in der 
Erfahrung haben, wenn er ihre Erscheinungen auch nicht 
ganz richtig beschrieb. Und es wäre sein Irrthum in der 
That ganz unbegreiflich, wenn, im vollen Gegensatze zu dem 
was er von dem Gefühle behauptete , gerade das Gefühl 
es wäre, das niemals, auch nur in dem Sinne in welchem es 
von der inneren Vorstellung und Erkenntniss nachgewiesen 
wurde, mit seinem Objecte verschmölze. 

Femer haben wir gesehen, wie bei manchen Sinnes- 
empfindungen das begleitende Gefühl von Lust und Unlust 
nicht bloss mit der Empfindung selbst, sondern sogar mit 
dem immanenten Gegenstande der Empfindung, mit dem phy- 
sischen Phänomene verwechselt wurde , auf welches der Em- 
pfindungsact als auf sein primäres Object gerichtet ist. Dies 
fanden wir namentlich beim Schmerz und bei der Lust des 
sogenannten Gefühlssinnes ; Philosophen wie Nicht -Philosophen 
sahen wir hier in den gleichen Fehler fallen. Auch er ist gewiss 
ein Zeichen, welches auf die Innigkeit der Verbindung des 
Gefühles mit dem von ihm begleiteten Acte hindeutet. 

Aber auch direct gibt die übereinstimmende Ansicht 
älterer wie neuerer Psychologen dem von uns dargelegten 
Verhältnisse Zeugniss. Die bedeutendsten unter den eng- 
lischen Psychologen, die der empirischen Schule angehören. 



^) S. oben Buch II. Cap. 1. §. 5. S. 116. 



Capitel 3. Weitere BetrachtuDgen über das innere Bewusstsein. 191 

halten dafür, dass die einen Empfindungsact begleitende Lust 
oder Unlust in dem Acte selbst enthalten sei. So z. B. 
James Mill in seiner Analyse der Phänomene des mensch- 
lichen Geistes^), und ebenso A. Bain, der nur einen zwei- 
fachen Theil oder eine zweifache Eigenthümlichkeit der Em- 
pfindung unterscheidet: ihre, wie er sich ausdrückt, intel- 
lectuelle und ihre emotionelle Eigenthümlichkeit, unter welcher 
er die daran geknüpfte Lust oder Unlust versteht. Auch der 
jüngere Mill vertritt dieselbe Anschauung. Indem er für die 
Mehrzahl der Fälle sie als unzweifelhaft richtig voraussetzt, 
wirft er in einer Note zu dem genannten Werke seines Va- 
ters nur die Frage auf, ob nicht etwa in gewissen besonderen 
Fällen die Lust oder Unlust, die eine Empfindung begleite, 
vielmehr etwas für sich sei, was zur Empfindung hinzukomme, 
als eine blosse besondere Seite oder Beschaffenheit der Em- 
pfindung^). Nachdem er angeführt, was in Betreff ihrer zu 
einer abweichenden Ansicht veranlassen könnte, neigt er sich 
aber trotzdem auch .bei ihnen der gleichen Auffassung zu 
und sucht die Bedenken zu heben ^). 

In Deutschland zeigt sich dasselbe. Domrich z. B. in 
einem allgemein als werthvoU anerkannten psychologischen 
Werke nennt mit ganz ähnlichem Ausdrucke wie Mill das 
Fühlen, welches eine Empfindung begleitet, „eine Qualität 
des Empfindens". Und bei allen von einem Gefiihle begleite- 
ten Vorstellungen fasst er das Verhältniss in dieser Weise, 
und nennt das Gefühl „die Art , wie das Bewusstsein durch 
die Perception erregt wird"*). Auch Nahlowsky glaubt die 
an eine Empfindung geknüpfte Lust oder Unlust in ihr selbst 
gegeben. Er nennt sie „Ton der Empfindung", weigert sich 
dagegen, ihr den Namen Gefühl beizulegen, da sie vielmehr 



^) Anal, of the Phen. of the Human Mind, 2. edit. II. eh. 17. 
p. 184 f. 

•) „rather than a particular aspect or quality of the Sensation". 

«) Anal, of the Phen. of the Human Mind, 2. edit. II. eh. 17. 
p. 185, wo auch über Bäin's Ansicht berichtet wird. 

^) Die psychischen Zustände, S. 166 f. 



192 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im AUgemeineo. 

etwas dem eigentlichen Gefühle völlig Heterogenes sei ^). Hiezu 
hat ihn wohl das Streben gefuhrt, mit den allgemeinen Prin- 
cipien der Herbartischen Gefühlslehre in Einklang zu bleiben ; 
denn Herbart und seine Schule, wenn sie auch die Gefühle 
als Zustände von Vorstellungen bezeichnen, lassen doch nur 
aus einem Verhältniss mehrerer Vorstellungen zu einander 
Gefühle entspringen. Allein da Nahlowsky nun doch einmal' 
auf dem Wege war, sich in diesem Gebiete von Herbart zu 
emancipiren, so hätte er besser gethan, das Princip selbst 
aufzugeben, als eine Unterscheidung zu macjien, die offen- 
bar unhaltbar ist, und ihn nicht bloss mit allen anderen Psy- 
chologen, sondern auch mit den hervorragendsten Herbartia- 
nern, wie Drobisch, Zimmermann u. a., in Widerspruch 
bringt. Auch Wundt, Aer mit Recht darauf hinweist, dass 
aus den Gefühlen, die Nahlowsky nur als „Töne der Empfin- 
dung" gelten lassen will, häufig zusammengesetztere Ge- 
müthsbewegungen wie aus ihren elementaren Factoren her- 
vorgehen 2), und darum den Namen „Gefühlston der Empfin- 
dung" und „sinnliches Gefühl" als gleichbedeutend gebraucht, 
lehrt zugleich auf das Bestimmteste, dass dieses sinnliche 
Gefühl „ein Bestandtheil" der Empfindung sei, „eine dritte 
Bestimmung", die zur Qualität und Intensität hinzutrete , in- 
sofern jede Empfindung „Bestandtheil eines Bewusstseins" 
sei ^). So ist auch er, und vielleicht mehr noch als die früher 
Genannten, unserer Ansicht günstig. 

Aber nicht bloss diese und andere moderne Psychologen 
neigen sich ihr zu. Im Alterthume schon hat Aristoteles sie 
anticipirt. Da, wo er in der Nikomachischen Ethik von der 
Lust spricht, welche gewisse psychische Thätigkeiten begleite, 
sagt er, dass sie zur Vollkommenheit des Actes beitrage, 
aber nicht wie eine vorbereitende Disposition, sondern wie 
eine, formale Ursache; dass sie den Act vollendend zu ihm 



^) Das Gefühlsleben, Einleitung. Aehnlich wie Nahlowsky äussern 
sich Volkmanu , Grundriss der Psychol. , S. 55 , und Waitz , Psychol. 
als Naturwissenschaft, 8. 286. 

*) Grundz. d. physiol. Psychologie, S. 428. 

5) Ebend. S. 426. 427. 



Capitel 3. Weitere Betrachtungen über das innere Bewusstsein. 193 

hinzukomme; dass sie zu der von ihr begleiteten Thätigkeit 
gehöre, wie die Reife zu dem, der in der Blüthe des Lebens 
steht ; dass sie in der Thätigkeit enthalten sei ^) ; und dass 
sie als Vollendung des Actes specifisch verschieden sei je nach 
der specifischen Verschiedenheit des Actes ^). Das Alles gibt un- 
zweideutig die üebereinstimmung auch dieses scharfen psycholo- 
gischen Beobachters mit unseren Bestimmungen zu erkennen ^). 

§. 6. Es fragt sich nun, ob diese dritte Weise begleiten- 
den Bewusstseins auch darin den früher betrachteten gleicht, 
dass sie allgemein mit den psychischen Acten verbunden ist. 

Die Psychologen sind hier in ihren Ansichten -^etheilt. 
James Mill z. B. behauptet, es gebe auch indifferente Em- 
pfindungen; doch erkennt er an, dass in jeder Gattung von 
Empfindungen solche, woran Lust und Unlust sich knüpfen, 
vorkommen^); und dieses geben wohl alle Psychologen zu. 
Aber Andere gehen weiter. A. Bain^) z. B. und J. St. Mill 

*) Eth. Nie- X. c. 4. Unter Anderem heisst es: Tsletot dh ttjv 

yiyvoficvov rt r^Xog, oiov lolg dx/zaCoig 13 (oga. s(og av ovv 
t6 rc vorirov ^ aia&rjTOv y oiov ^6i xttl t6 xqTvov xal &€(oqovv, earat 
iv Ty ivsgyeCa rj rj^ovr}. 

*) Ebend. c. 5. 

') Ohne Zweifel liegt darin eine Bestätigung dafür, dass Aristote- 
les bezüglich der begleitenden inneren Wahrnehmung eine analoge 
Ansicht gehegt hat. 

*) Anal, of the Hum. Mind, 2. edit. II. chapt. 17. p. 185. Der glei- 
chen Meinung scheint Aristoteles gewesen zu sein. Eth. Nie. X, 4. 
p. 1174, b, 20 beweist, dass er in jeder Gattung von Empfindungen 
Gefühle anerkannte; ja er that dies auch bei den übrigen Gattungen 
von Seelenthätigkeit, wie beim Denken (ebend.) und Begehren (ebend- 
5. p. 2176, a, 26). Doch De Anim. III, 7. p. 431, a, 9 scheint zu zei. 
gen, dass er auch gleichgültige Empfindungen angenommen habe, ob- 
wohl der Schluss nicht ganz sicher ist. 

*) Bain glaubt, dass alle Empfindungen Gefühle genannt werden 
können, indem sie alle einen gewissen emotionellen Charakter haben. 
Eigenthümlich ist es bei ihm, dass er ausser angenehmen und unange- 
men auch völlig neutrale Gemüthsbewegungen annimmt, wie z. B. die 
Ueberraschung (Mental Science, 3. edit. p. 215. p. 217). Die sogleich 
erwähnende Auffassung von J. St. Mill ist hier wohl sicher die richtigere. 

Brentano, Psychologie. I. 13 



194 Buch 11. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

sind der Ansicht, dass jede Empfindung von einem Gefühle 
begleitet sei. Von denjenigen, von welchen man dies zu 
leugnen geneigt ist, sagt der letztere in seiner Schrift über 
Hamilton : „Ohne schlechthin indifferent zu sein, sind sie doch 
nicht in ausschliesslichem Maasse peinlich oder angenehm ^). ' 
H. Spencer erklärt, dass, wie jede Gemüthsbewegung eine Er- 
kenntniss, auch jede Erkenntniss eine Gemüthsbewegung ein- 
schliesse *). Hamilton, obwohl einer entgegengesetzten Richtung 
angehörig, ist hier der gleichen Meinung. Jeder psychische 
Zustand ist nach ihm mit einem Gefühle verbunden^). In 
Deutschland hat dieselbe Ansicht zahlreiche und bedeutende 
Vertreter. So sagt Domrich, dass Gefühl und Gemüth von 
den anderen Seelenerscheinungen nicht ganz zu trennen 
seien. Seine Untersuchungen haben ihn zu der Ueberzeu- 
gung geführt, dass jede Empfindung oder Vorstellung gleich- 
zeitig von einem Gefühle begleitet werde, dessen Intensität 
aber freilich sehr verschieden gross sein könne*). Und noch 
deutlicher fast spricht Lotze sich aus. „Man wird vor Allem 
sich entwöhnen müssen", sagt er in seinem Mikrokosmus, 
„die Gefühle als Nebenereignisse zu nehmen, die im Verlauf 
der inneren Zustände zuweilen einträten, während der grössere 
Theil der letzteren in einer gleichgültigen Reihe leid- und 
lustloser Veränderungen bestände .... Von jeder [Erregung] 
werden wir einen Eindruck der Lust oder Unlust erwarten 
müssen, und eine genauere Selbstbeobachtung, soweit sie die 
verblassten Farben dieser Eindrücke zu erkennen vermag, 
bestätigt diese Vermuthung, indem sie keine Aeusserung un- 
serer geistigen Thätigkeit findet, die nicht von irgend einem 
Gefühle begleitet wäre. Verblasst sind jene Farben aller- 
dings in dem entwickelten Gemüthe vor dem übermächtigen 
Interesse, das wir einzelnen Zwecken unserer persönlichen 
Bestrebungen zuwenden, und nur eine absichtliche Aufinerk- 



') Ezam. of Hamilt. Philos. chapt. 13. 

>) Vgl. Bibot, Psychologie Anglaise Contemporaine, p. 195. 

3) Lectures on Metaph. I. p. 188 f. II. p. 433 f. 

*) Die psych. Zustände, S. 163. 



Capitel 3. Weitere Betrachtungen über das innere Bewusstsein. 195 

"- samkeit findet sie wieder auf, ebenso wie unsere mikrosko- 
^-- pische Beobachtung die regelmässige Bildung unscheinbarer 
^' Gegenstände, über die unser Blick gewöhnlich unachtsam 
hinwegsieht. Jeder einfachen sinnlichen Empfindung, jeder 
Farbe, jedem Tone entspricht ursprünglich ein eigener Grad 
;:. der Lust oder Unlust; aber gewöhnt, diese Eindrücke nur 
i >: in ihrer Bedeutung als Merkmale der Gegenstände aufzu- 
t:i: fassen, deren Sinn und Begriff uns wichtig ist, bemerken wir 
l< den Werth des Einfachen nur dann noch, wenn wir mit ge- 
lir sammelter Aufmerksamheit in seinen Inhalt uns vertiefen. 
1- Jede Form der Zusammensetzung des Mannigfaltigen erregt 
,L neben ihrer Wahrnehmung in uns einen leisen Eindruck ihres 
i;- Uebereinstimmens mit den Gewohnheiten unserer eigenen 
[. Entwickelung, und diese oft unklaren Gefühle sind es, welche 
. für jedes einzelne Gemüth jedem Gegenstand eine besondere 
fr Färbung geben .... Aber selbst die einfachsten und schein- 
[ bar trockensten Begrifie des Denkens sind nie von diesem 

i nebenhergehenden Gefühle ganz entblösst; wir fassen den 

Begriff der Einheit nicht, ohne zugleich ein Glück der Be- 
friedigung zu geniessen, das sein Inhalt einschliesst, den des 
Gegensatzes nicht, ohne zugleich die Unlust der Feindselig- 
keit mit zu empfinden; Ruhe, Bewegung und Gleichgewicht 
beobachten wir weder an den Dingen, noch entwickeln wir 
. uns ihre Vorstellungen, ohne uns mit unserer ganzen Lebendig- 
keit in sie hineinzuversetzen und den Grad und die Art der 
Förderung oder der Hemmung mitzufühlen, die für uns aus 
ihnen hervorgehen könnte.'' „Auf dieser Allgegenwart 
der Gefühle beruht ein guter Theil unserer höheren mensch- 
lichen Ausbildung^)." Wie gesagt, sind noch viele Andere 
derselben Ueberzeugung, so dass es wenigstens der Wahrheit 
nahe kommt, wenn Horwicz sagt: „Dass übrigens alle Em- 
pfindungen mehr oder weniger betont .(d. h. angenehm oder 
unangenehm) und keine ganz tonlos sind, wird heutzutage 
wohl von allen Psjxhologen anerkannt*)." 



») Mikrokosmus L S. 264 f. 
») Psychol. Anal. I. S. 230. 



13 



196 ^- Buch Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Indessen zeigen sich auch hier Schwierigkeiten. Yor 
Allem könnte gegen die Annahme, dass jede psychische Thä- 
tigkeit von \einer darauf bezüglichen Lust oder Unlust be- 
gleitet sei, wieder geltend gemacht werden, dass sie, da auch 
die Lust und Unlust selbst zu den Seelenthätigkeiten ge- 
hören, zu einer unendlichen ^'ervielfältigung gleichzeitiger 
Acte führen müsste. Doch diesem Einwurfe hat eine frühere 
Betrachtung vorgebeugt. Dagegen bleibt ein anderer Ein- 
wand zu berücksichtigen. 

Wundt, obwohl er Gefühle der Lust oder Unlust in sehr 
weitem Umfange den Empfindungen zugesdlt, hält es doch 
für unmöglich, dass jede Empfindung von einem Gefühle be- 
gleitet sei, und sein Grund ist folgender. „Wir bezeichnen", 
sagt er, „das sinnliche Gefühl als angenehm oder unangenehm^ 
als ein Lust- oder Unlustgefühl. Lust und Unlust sind aber 
, gegensätzliche Zustände, welche durch einen Indifferenzpunkt 
in einander übergehen. Darin liegt ausgesprochen, dass es 
Empfindungen geben muss, welche unbetont, nicht von 
sinnlichen Gefühlen begleitet sind." — Angenommen, die 
Prämissen seien richtig, so würde wohl die absolute Möglich- 
keit einer Empfindung ohne Gefühl sich aus ihnen ergeben, 
es würde aber noch keineswegs folgen, dass irgend einmal 
auch nur die kürzeste Zeit hindurch eine solche wirklich be- 
stände. Dies ist, was Wundt selbst zugesteht, indem er fort- 
fährt: „Aber da die Beziehung der Empfindungen zum Be- 
wusstsein fortwährenden Schwankungen unterworfen ist, so 
entspricht jener Indifferenzpunkt im Allgemeinen immer nur 
einer vorübergehenden Gemüthslage, von welcher aus leicht 
ein Uebergang zu Lust- oder Unlustgefühlen stattfindet. 
Ebendesshalb muss jede Empfindung als verbunden mit einem 
gewissen Grade von Gefühl betrachtet werden^)." Es ist 
mir indessen mehr als zweifelhaft, ob auch nur die Voraus- 
Setzungen des Schlusses selbst zugestanden werden, können^ 
und ob nicht vielmehr die Empfindungen, welche zwischen 
den entschieden angenehmen und den entschieden unange- 



*) PhysioL Psychologie, S. 426. 



Capitel 3. Weitere Betrachtungen über das innere Bewusstsein. 197 

nehmen als indifferente eingeschaltet werden, mit J. St. Mill 
als solche zu bezeichnen sind, bei welchen eine Mischung von 
Lust und Unlust stattfindet, so dass keine von beiden ent- 
schieden überwiegt. Das, was Wundt für seine Auffassung 
anführen kann, ist insbesondere die Abhängigkeit des beglei- 
tenden Gefühles von der Intensität. Wenn wir den Einfluss 
eliminiren, den der Zusammenhang unserer Vorstellungen 
auf die den einzelnen Empfindungen beigesellten Gefühle hat, 
so soll nach Wundt die Erfahrung lehren, dass jede Art von 
Empfindung bei massiger Stärke von einem Lustgefühle, bei 
sehr grosser Intensität von einem Schmerzgefühle begleitet 
sei. Allerdings, sagt er, sei bei einer sehr schwachen Em- 
pfindung das Lustgefühl geifing und wachse zunächst, indem 
die Empfindung zunehme. Aber dann komme es zu einem 
Höhe- und Wendepunkte, üeber ihn hinaus nehme das 
Lustgefühl rasch ab und verwandle, durch einen Indifferenz- 
punkt hindurchgehend, sich in Unlust, die in Folge weiterer, 
stetiger Steigerung bei dem Reize, welcher der Empfindungs- 
höhe entspreche, eine unendliche Grösse erreiche. Ist diese 
Theorie richtig , so muss sie bei den höchsten Sinnen , bei 
welchen jede Untersuchung am Vollkommensten zu führen 
ist, am Meisten sich erproben. Wirklich lässt es sich nicht 
leugnen, dass an eine schwache Lichterscheinung an und für 
sich ein gewisses, schwaches Lustgefühl sich knüpft, dass, in- 
dem das Licht in lebendigerer Farbe strahlt, das Lustgefühl 
in erheblichem Maasse zunimmt , dass aber, wenn die Hellig- 
keit einen gewissen Grad überschreitet, eine Unlust entsteht, 
die bei directem Blick in die Sonne zu einem unerträglichen 
Schmerze sich steigert. Bei der ersten Betrachtung scheint 
also Alles die Auflassung von Wundt zu bestätigen. Aber 
der Schein schwindet sofort, wenn man den Thatbestand 
sorgfältiger untersucht. Ist es wirklich Lichtemptindung , an 
welche jener höchste Schmerz sich knüpft, den Wundt als 
einen unendlichen bezeichnen zu dürfen glaubt? Wundt 
selbst muss dies verneinen. Vielmehr hat diese Empfindung 
eine Qualität, die sich von den Qualitäten in gleicher Weise 
schmerzlicher Empfindungen, die mittels anderer Sinnesnerven 



198 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

erregt werden , in nichts unterscheidet ^). Wie nun ? Ist in 
alhnäligem üebergange bei der Steigerung der Empfindung 
aus einer Farbe eine ganz heterogene Qualität geworden ? Das 
scheint in der That nicht minder undenkbar, als von Farben 
zu Tönen durch allmälig variirende Zwischenglieder den 
Uebergang zu vermitteln. In Wahrheit lehrt auch die Er- 
fahrung etwas ganz Anderes. Wenn die Lichtempfindung 
jene Stärke erreicht, bei welcher ein Unlustgefiihl erregt 
wird, so finden wir die Lichterscheinung selbst nicht minder 
schön. Der Anblick der Sonne oder eines electrischen Lich- 
tes entzückt uns, obwohl ein Schmerz damit verbunden ist. 
Es entsteht ein Widerstreit von Begierden in uns, insofern 
wir den Schmerz vermeiden, und doch von solcher Schönheit 
das Auge nicht abwenden möchten. Wir haben also hier ein 
gemischtes, oder vielmehr wir haben zwei verschiedene Ge- 
fühle, die sich an zwei gleichzeitig durch denselben Nerven 
vermittelte, aber darum nicht minder verschiedene, ja hetero- 
gene Empfindungen knüpfen. Darum erscheint auch die Un- 
lust ähnüch den Schmerzen, die sonst von sogenannten Ge- 
fühlsnerven hervorgerufen werden; sie hat keine Verwandt- 
schaft mit der Unlust, wie sie z. B. ein fahles Grau, sei es 
an sich, sei es im Zusammenhange der Erscheinungen, zu 
geben pflegt, und nur die Lust zeigt sich als eine gesteigerte 
Freude, wie der Anblick von Farben sie gewährt. Bei jedem 
ferneren Wachsthum des Reizes scheinen mir beide, sowohl 



^) Ebend. S. 433. Wundt drückt sich so aus , dass er sagt, da» 
höchste Unlustgefiihl zeige „keine qualitativen Differenzen mehr'^, und 
erklärt dies daraus, dass die Empfindungen vollständig in dem Unlust- 
gefUhle aufgegangen seien. Diese Bemerkung ist schwer verständlich ; 
denn es ist nach seiner ganzen Theorie vom Gefühle (vgl. S. 426 und 
427) nicht wohl glaublich, dass er damit sagen wollte, es seien die Be- 
standtheile, aus welchen „die Empfindung an und für sich besteht^'^ 
ganz weggefallen. Wäre dies dennoch seine Meinung, so würde er 
hier denselben Fehler begangen haben , den wir früher an Anderen 
rügten, indem wir an der Nothwendigkeit einer Vorstellung als Grund- 
lage für das Gefühl festhielten; und unsere damaligen Vermuthungen 
über die Gründe, welche den Irrthum veranlassten, würden sich be- 
stätigt finden. (S. oben Buch 11. Cap. 1. §. 3.). 



Capitei 3. Weitere Betrachtungen über das innere Bewusstsein. 199 

Lust als Schmerz, gemeinsam zu wachsen, aber offenbar in 
sehr ungleichen Verhältnissen. Im Anfange mag darum die 
Schönheit des Anblickes das Unangenehme der zweiten Em- 
pfindung missachten lassen; aber bald wird der Schmerz so 
gross, dass die Schönheit nicht mehr lockt, und die Begierde 
den Schmerz zu vermeiden allein uns beherrscht. Dann wird 
es geschehen, dass wir die Empfindung auch einfach als eine 
unangenehme bezeichnen, obwohl wir, so lange überhaupt 
eine Farbenerscheinung bleibt, dieselbe nie eine hässliche. 
nennen werden. So dient das, was Wundt's Ansicht am 
Meisten zu bestätigen schien, näher untersucht, am Meisten 
dazu, sie zu widerlegen. Aehnlich wie bei den Gefühlen der 
Gesichtsempfindungen verhält es sich bei denen der anderen 
Sinne. Hier ist es noch schwerer, die eine Empfindung von 
der anderen zu isoliren. Die Empfindungen beim Riechen 
z. B. sind nicht bloss eigentliche Gerüche; andere sind Fol- 
gen der Erregung von Gefühlsnerven, und wieder andere 
haben eine Beziehung zu den Lungen oder zum Magen, die 
z. B. bei den, Erscheinungen, die wir als frische oder dumpfe, 
und wiederum bei denen, die wir als ekelhafte Gerüche zu 
bezeichnen pflegen, in Betracht kommen. Eine Mischung von 
angenehmen und unangenehmen Gefühlen wird also auch 
hier, das müssen wir schon von vorn herein mit der grössten 
Wahrscheinlichkeit vermuthen, statt eines wahrhaft indiffe- 
renten Empfindungszustandes zwischen Lust- und Unlustge- 
fühlen in der Mitte stehen. 

Dass es von vom herein nothwendig sei, ausser den von 
Gefühl begleiteten auch indifferente psychische Thätigkeiten 
anzunehmen, ist also nicht richtig. Sind wir aber auch im 
Stande den positiven Nachweis dafür zu erbringen, dass diese 
dritte Art inneren Bewusstseins den früher betrachteten an 
Allgemeinheit nicht nachsteht? 

Natürlich werden wir hier eines früher eingeschlagenen 
Weges uns erinnern. Wir haben die Allgemeinheit beglei- 
tender Vorstellungen aus dem functionellen Verhältnisse 
zwischen ihrer Intensität und der Intensität der begleiteten 
Erscheinung dargethan. Können wir vielleicht auf ähnüche 



200 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Weise die Allgemeinheit begleitender Gefühle darthun? Es 
ist nicht schwer zu erkennen, dass dieses unmöglich ist. 
Wie bei einem ürtheile, so finden wir auch bei einem 
Gefühle eine zweifache Art von Stärke, von welchen die 
eine ihm mit der zu Grunde liegenden Vorstellung gemein, 
die andere aber eigenthümlich ist. Bei der inneren Wahr- 
nehmung fanden wir, dass nur die erste Art von Intensität 
Function einer Intensität des wahrgenommenen Actes war; 
die ihr eigenthümliche Stärke, die Stärke der üeberzeugung, 
war dieses nicht und zeigte sich überhaupt unveränderlich. 
Bei dem inneren Gefühle ist es anders. Es ist sicher, — 
und in den vorausgegangenen Erörterungen wurde es bereits 
berührt, — dass auch die dem Gefühl eigenthümliche Stärke, 
der Grad des Gefallens und Missfallens, abhängig ist von der 
Stärke des angenehmen oder unangenehmen Phänomens. 
Aber während die Intensität, welche dem inneren Gefühle mit 
der ihm zu Grunde liegenden Vorstellung gemein ist, ganz 
in derselben Weise wie die entsprechende Intensität der in- 
neren Wahrnehmung mit einer Intensität des gefühlten Actes 
immer auf gleicher Höhe steht, gilt von der dem inneren 
Gefühle eigenthümlichen Stärke nicht dasselbe; ja es zeigt 
sich, dass dieselbe psychische Erscheinung, z. B. dieselbe 
Empfindung, unter verschiedenen Umständen ganz verschie- 
den gefühlt wird, dass sie bald mehr, bald minder gefällt, 
und sogar bald Lust, bald Unlust erregt. Wenn wir die 
Tonleiter aufwärts oder abwärts spielen, so hören wir diesel- 
ben Töne, aber mit anderen Gefühlen, und noch deutlicher 
und mannigfaltiger werden die Unterschiede bei anderen 
Anordnungen der Töne. Passt der Ton in den Zusammen- 
hang der Melodie, so erscheint er angenehmer ; passt er nicht, 
so wird er, wie sonor er sonst sein möge, von einem unan- 
genehmen Gefühle begleitet sein. Wird eine Melodie in einer 
anderen Tonart gespielt, so gibt jeder Ton ein ganz ähnliches 
Gefühl, wie derjenige, den er zu ersetzen dient, und ein ganz 
anderes Gefühl als dasjenige, welches an ihn, als er damals 
erschien, geknüpft war. Auf dem Gebiete der Farben zeigt 
sich dasselbe. Es gibt solche, von denen wir sagen, dass sie 



Capitel 3. Weitere Betrachtungen über das innere Bewusstsein. 201 

wohl zusammen stimmen, und es gibt andere, bei denen das 
Gegentheil der Fall ist. Während die ersteren, nach- oder 
nebeneinander gesehen , ganz besonders . angenehm werden, 
beleidigen die letzteren, in gleicher Weise in Verbindung 
gebracht, unser Auge. Wir werden später von den Er- 
scheinungen des simultanen Contrastes sprechen, bei welchen 
eine Farbe, obwohl in ihrer Erscheinung ganz unverändert, 
für eine andere gehalten wird. In diesem Falle ist auch das 
merkwürdig, dass das Gefühl, welches die Empfindung der 
Farbe begleitet, verändert ist. Aehnlich wie bei der Ueber- 
tragung einer Melodie in eine andere Tonart mit jedem ein-r 
zelnen Ton ein dem Gefühle des Toi^es, der früher die be- 
treffende Stelle einnahm, verwandtes Gefühl verknüpft wird, 
finden wir hier, dass die Farbe, welche man mit einer an- 
deren Farbe verwechselt, ein dem Gefühl, welches diese ge- 
wöhnlich erweckt, verwandtes Gefühl mit sich führt. Hält man 
z. B. grau für rosenroth oder grün, so erscheint es ausser- 
ordentlich verschönert und erhält ganz den besonderen Reiz, 
welcher die betreffende Farbenerscheinung auszeichnet. So 
viel ist also einleuchtend, dass, wie auch immer eine Ab- 
hängigkeit der Intensität des begleitenden Gefühles von 
der Intensität der begleiteten psychischen Erscheinung nicht 
geleugnet werden kann, diese Intensität doch nicht der ein- 
zige Factor ist, von dem sie abhängt. Es kommen noch 
viele andere Mitbedingungen in Betracht, von welchen einige 
noch ganz unbekannt sein mögen, andere hinsichtlich der 
Grösse ihres Einflusses noch nicht genau bemessen werden 
können. Wir sehen also wohl, dass auf diesem Weg ein 
Beweis für die Aligemeinheit begleitender Gefühle unmöglich 
zu erbringen ist. 

Somit sehen wir uns auf die einfache Erfahrung hin- 
gewiesen; denn dieser Weg, der, als es sich um die innere 
Vorstellung und innere W^ahrnehmung handelte, uns nicht offen 
war, ist durch die damaligen Erörterungen uns gebahnt. 
Als es noch nicht fest stand, dass jeder psychische Act von 
uns wahrgenommen werde, konnten wir durch einfache In- 
duction keine Sicherheit darüber gewinnen, ob diese oder 



202 Bach U. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

jene Weise des Bewusstseins allgemein unsere psychischen 
Thätigkeiten begleite. Ja es wäre eine oflFenbare Lächer- 
lichkeit gewesen, danach zu forschen, ob im Kreise unserer 
inneren Wahrnehmung kein Act, der nicht innerlich wahr- 
genonmien werde, uns beg^ne. Jetzt aber wissen wir, dass, 
was von psychischen Thätigkeiten in uns ist, auch in das 
Bereich unserer Wahrnehmung fällt, und wir können mit 
allem Fug die Frage aufstellen: zeigt uns die innere Wahr- 
nehmung nur Thätigkeiten, die mit. einem inneren Gefühle ver- 
knüpft sind, oder zeigt sie uns auch einen Fall der Ausnahme ? 
Ein so ausgezeichneter Psychologe wie Lotze hat keinen 
gefunden, und mit dem seinigen verbinden sich, wie wir 
sahen, hier noch andere bedeutende Namen. Ja wenn wir die 
Aussagen von Wundt beachten, so sehen wir deutlich, dass 
auch er keine psychische Thätigkeit ohne begleitendes Ge- 
fühl gefunden hat. Vielmehr ist er nur deductiv zu der 
Ueberzeugung gelangt, dass es auch Ausnahmen geben müsse. 
Ist es uns gelungen zu zeigen, dass diese Deduction nichts 
weniger als auf einer sicheren Grundlage beruht, so dürfen 
wir erwarten, dass auch von dieser Seite die .Annahme der 
Allgemeinheit begleitender Gefühle statt des Widerspruchs 
die willkommene Unterstützung durch ein neues und werth- 
volles Zeugniss finden werde. 

§. 7. Fassen wir, indem wir auf die Untersuchungen 
dieses so wie des vorigen Capitels zurückblicken, ihr Ergeb- 
niss in kurzen Worten zusammen. 

Jeder psychische Act ist bewusst; ein Bewusstsein von 
ihm ist in ihm selbst gegeben. Jeder auch noch so einfache 
psychische Act hat darum ein doppeltes Object, ein pri- 
märes und ein secundäres. Der einfachste Act, in welchem 
wir hören, z. ß. hat als primäres Object den Ton, als se- 
cundäres Object aber sich selbst, das psychische Phänomen, 
in welchem der Ton gehört wird. Von diesem zweiten Ge- 
genstande ist er in dreifacher Weise ein Bewusstsein. Er 
stellt ihn vor, er erkennt und fühlt ihn. Und somit hat jeder, 
auch der einfachste psychische Act eine vierfache Seite, von 
welcher er betrachtet werden kann. Er kann betrachtet 



Capitel 3. Weitere Betrachtungen über das innere Bewusstsein. 203 

werden als Vorstellung seines primären Objectes, wie z. B, 
der Act, in welchem ein Ton empfunden wird, als Hören; 
er kann aber auch betrachtet werden als Vorstellung seiner 
selbst, als Erkenntniss seiner selbst und als Gefühl seiner 
selbst. Und in der Gesammtheit dieser vier Beziehungen ist 
er Gegenstand sowohl seiner Selbstvorstellung, als auch sei- 
ner Selbsterkenntniss , als auch so zu sagen seines Selbst- 
gefühles, so dass ohne weitere Verwickelung und Vervielfäl- 
tigung nicht bloss die Selbstvorstellung vorgestellt, sondern 
auch die Selbsterkenntniss sowohl vorgestellt als erkannt, und 
das Selbstgefühl sowohl vorgestellt, als erkannt, als gefühlt ist. 
Die Intensität der Vorstellung des secundären Objectes 
ist der Intensität der Vorstellung des primären Objectes in 
jedem Falle gleich, und dasselbe gilt von der Intensität, die 
dem begleitenden ürtheile und dem begleitenden Gefühle 
zukommen, insofern eine Vorstellung ihre Grundlage ist. 
Die der Erkenntniss des secundären Objectes eigenthümliche 
Intensität, die Stärke der Ueberzeugung , mit der es wahr- 
genommen wird, ist unveränderlich, sie ist immer die denk- 
bar höchste. Die dem begleitenden Gefühle eigenthümliche 
Intensität dagegen, die Grösse des Gefallens oder Missfallens, 
zeigt nicht eine ähnliche Regelmässigkeit. Sie ist weder 
constant, wie die Stärke der Ueberzeugung in der inneren 
Wahrnehmung, noch auch wächst sie und mindert sich, indem 
die Intensität der Vorstellung zu- und abnimmt, in einem 
regelmässigen Verhältnisse zu ihr. Sie hängt von ihr, aber 
zugleich auch von einer Mannigfaltigkeit anderer Facto- 
ren ab, die, so weit wir von ihrem Einflüsse Rechen- 
schaft geben können, den Gegenstand einer späteren Unter- 
suchung bilden werden. Ursprüngliche Verschiedenheit der 
Anlagen , Unterschiede erworbener Dispositionen , Unter- 
schiede des Zusammenhanges mit anderen Phänomenen wir- 
ken hier mit der Intensität und Qualität des primären 
Objectes, so wie mit der Verschiedenheit der Beziehungen 
zu ihm zusammen, um dieses Gebiet zu einem der vielge- 
staltigsten und wechselreichsten zu machen. 






Vm io* BiliHt ies BevvsisriK. 



>. I. Uz:*^T^ Umersi^ii^ Läi ersrr^tcs, di5&. in> imsm' 



^jjh T^j^,:^':^''ifKffCi k^-eLt. €ii*e rewisse \b2ir5gfali 

T/^'^^jrj-*J^zA*: ist eü dcpj-rher ijÄ€i5tar:d cmnanait ge- 
'i^iii^r^'a. ^A der eise zusk iCnieÄen s mehrfach be- 
wv^t^X: er lit uicbt b>jes Gezeiistaiid ein«- TorsteDong. 
yßA^^m auch eines Urtheib und (iefähles. Xbo" d» Mai^:el 
an EißfaeLheit war nicht ein Manzel an EnJidt. Das Be- 
wtt*Ät-rfn vorn primären und das Tom secundiröi Objecte 
waren nicht jedes ein Phänomen für sieh, sondern sie waren 
Tbeflpliänomene ein und desselben einheitlichen Phänomens; 
und eben so wenig hob die mehrfache Weise, in welcher das 
Äe^mndäre Object bewusst war, die Einheit des psychischen 
A^:te$ aal Wir fassten sie und mnssten sie fassen als Theile 
eine» einheitlichen wirklichen Seins. 

In Wahrheit kommt ein so wenig zusanmiengesetzter 
Zuiitand wohl niemals vor. Und häufig geschieht es, dass 
eine nicht unbedeutende Zahl von G^enständen uns gleich- 
zeitig vorschwebt, zu welchen wir in sehr mannigfache Be- 
ziehungen des Bewusstseins treten. Es bleibt die Frage, ob 
(t% auch bei einem solchen grösseren Reichthume psychischer 
Kr8cheinungen immer noch eine reale Einheit sei, die alle 



Capitel 4. Von der Einheit des Bewusstseins. 205 

I 

umfasse, ob auch sie alle als Theilphänomene zu einem reell 
einheitlichen Ganzen gehören, oder ob wir es hier mit einer 
Vielheit von Dingen zu thun haben, so dass die Gesammt- 
heit des Seelenzustandes als ein CoUectiv, als eine Gruppe 
von Phänomenen zu betrachten sei, deren jedes ein Ding flir 
sich ist oder einem besonderen Dinge zugehört. 

Ich glaube, die Fragestellung ist klar. Dennoch will 
ich, da Missverständnisse hier sehr gewöhnlich sind, es nicht 
unterlassen, sie durch einige kurze Bemerkungen zu erläu- 
tern. Es ist unmöglich, dass etwas zugleich ein wirkliches 
Ding und eine Vielheit wirklicher Dinge sei. Das hat schon 
Aristoteles ausgesprochen^), und seit seiner Zeit ist es wie- 
derholt und mit Recht geltend gemacht worden. Wir können 
allerdings eine Vielheit von Dingen zusammenfassen, und 
ihre Summe mit einem Namen bezeichnen, wie wenn wir 
sagen „Heerde" oder „Pflanzenreich". Aber desshalb sind 
die zusammengefassten vielen Dinge nicht ein Ding; das^ 
was der Namen bezeichnet, ist kein Ding, sondern ein GoN 
lectiv. Ein solches Collectiv ist auch eine Stadt, ja jedes 
einzelne Haus einer Stadt und jedes Zimmer in dem Hause 
und der Boden eines jeden Zimmers, der aus vielen Dielen 
zusammengefügt ist. Und vielleicht ist auch die Diele nur 
ein Collectiv, das aus vielen Dingen gebildet ist, mögen nun 
diese Dinge Punkte oder unsichtbare Atome, oder mögen sie 
grössere Einheiten sein; — denn dies zu untersuchen ist 
hier nicht unsere Sache und nur das ist sicher, dass es ohne 
irgend welche sachliche Einheiten auch keine Vielheiten, ohne 
Dinge keine CoUective geben würde ^), 

Aber wenn es klar und von vom herein einleuchtend 
ist, dass ein Ding nie eine Vielheit von Dingen sein kann^ 
so ist damit nicht gesagt, dass nicht irgend welche Vielheit 
an ihm unterschieden werden könne. Einheit und Einfach- 



Metaph. Z, 16. 

*) Dass der Umfang, den wir dem Begriffe „Collectiv" geben, ein 
anderer ist als der , welchen er bei den Grammatikern hat , bedarf 
kaum der Bemerkung, und ebenso leuchtet der Grund, wesshalb wir 
es thun, Yon selber ein. 



206 Buch II. Von den psychischen Phänomenen* im Allgemeinen. 

heit — das hat wiederum schon Aristoteles mit Nachdruck 
geltend gemacht^) — sind Begriffe, die nicht miteinander 
verwechselt werden dürfen. Wenn ein wirkliches Ding nicht 
«ine Mehrheit von wirklichen Dingen, so kann es doch eine 
Mehrheit von Theilen enthalten, und in jenen beziehungs- 
weise wenig verwickelten Seelenzuständen , von welchen wir 
im vorigen Capitel handelten, liegt uns ein Beispiel dafür 
deutlich vor. Das, wozu das primäre und das mehrfache se- 
cundäre Bewusstsein gemeinsam gehörten, war ein Ding, aber 
selbstverständlich kein völlig einfaches Ding. Natürlich kön- 
nen wir eben so, wie wir eine Mehrheit von Dingen zusam- 
menfassend mit einem Namen belegen, auch von den Theilen 
eines Dinges jeden wie etwas für sich betrachten und be- 
nennen. Aber wie dort das Benannte kein Ding, sondern 
ein blosses CoUectiv war, so wird auch hier das Benannte 
kein Ding sein, und wir können es, in Ermangelung eines 
gemeinüblichen, unzweideutigen Namens (da der Namen „Theil" 
auch wirklichen Dingen in Bezug auf CoUective zukommt), 
als ein Divisiv bezeichnen. 

Unsere oben gestellte Frage können wir demnach in kür- 
zeren Worten also wiederholen : Haben wir bei verwickeiteren 
Seelenzuständen ein CoUectiv von Dingen anzunehmen, oder 
gehört, wie bei den einfachsten, so auch bei den am Meisten 
zusammengesetzten Zuständen die Gesammtheit der psychi- 
schen Erscheinungen einem Dinge an, in welchem wir nur 
Divisive als Theile zu unterscheiden vermögen? 

§. 2. Statt des beziehungsweise einfachen Zustandes bei 
der Vorstellung eines Tones oder einer Farbe ist eine dop- 
pelte Art von Verwickelung möglich. Einmal kann dasselbe 
primäre Object mehrfach bewusst sein, wie z. B. wenn wir 
etwas nicht bloss vorstellen, sondern auch begehren. Und 
zweitens kann auch dadurch eine grössere Verwickelung ent- 
stehen, dass unsere Seelenthätigkeit auf mehrere primäre 
Objecte sich richtet, wie z. B. wenn wir zugleich sehen und 






») Metaph. A, 7. 



Capitel 4. Von der Einheit des Bewusstseins. 207 

hören. Die beiden Arten von Verwickelung können auch zu- 
sammen eintreten, und dann wird ein noch mehr zusammen- 
gesetzter Seelenzustand sich ergeben. Es ist aber klar, dass 
die Entscheidung der Fälle, in welchen je eine Weise der 
Verwickelung vorkommt, auch über diesen Fall mit entschei- 
det. Wenn keine der beiden Weisen der Verwickelung die 
reale Einheit aufhebt, so werden es auch beide zusammen 
nicht thun, und die psychischen . Phänomene , die Jemand 
gleichzeitig in sich hat, werden immer eine solche Einheit 
bilden. 

Die Annahme hat ihre Schwierigkeiten. Wären unsere 
gleichzeitigen psychischen Acte nie etwas anderes als Divi- 
sive ein und derselben einheitlichen Sache, wie könnte die 
eine der anderen gegenüber selbständig sein? Und doch 
ist dieses der Fall; weder in ihrem Entstehen noch in ihrem 
Vergehen zeigen sie sich aneinander gebunden. Von Sehen 
und Hören tritt bald dieses, bald jenes ohne das andere auf, 
und wenn sie einmal gleichzeitig bestanden, so schwindet 
vielleicht das eine, während das andere fortbesteht. In die- 
sem Falle der Verwickelung zeigt sich eine gegenseitige, in 
dem anderen wenigstens eine einseitige Unabhängigkeit. Ich 
kann etwas nur begehren , wann und so lange ich es vor- 
stelle; ich kann es aber vorstellen ohne es zugleich zu be- 
gehren. So hatte ich es vielleicht schon eine Zeit lang vor- 
gestellt, als ich erst anfing, es zu begehren, und meine 
Begierde danach kann aufgehört oder auch in ihr Gegentheil 
sich verwandelt haben, während meine Vorstellung immer 
noch darauf gerichtet bleibt. 

Femer, wenn wir das Verhältniss zwischen dem gleich- 
zeitigen Sehen und Hören mit jenem früher betrachteten Ver- 
hältnisse zwischen den mehrfachen Formen inneren Bewusst- 
seins vergleichen, so zeigt sich sofort und unverkennbar, dass 
das letztere ein ungleich innigeres Verhältniss war. Zwischen 
Sehen und Hören zeigt sich nichts von einer wechselseitigen 
Verwebung wie zwischen den drei Momenten des inneren 
Bewusstseins, von denen jedes auf jedes als seinen Gegen- 
stand sich bezog. Würden nun wie die drei Arten des inneren 



208 Buch n. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Bewusstseins auch Sehen und Hören von derselben realen 
Einheit umfasst, so sollte man im Gegentheil glauben, dass 
ein Unterschied in der Innigkeit der Verbindung nicht mehr 
möglich wäre. Denn mehr eins al& das, was wirklich und 
der Sache nach eins ist, kann etwas offenbar nicht sein. 
Demnach scheint die Gesammtheit eines verwickeiteren See- 
lenzustandes nothwendig als ein CoUectiv gedacht werden zu 
müssen. 

Nichtsdestoweniger ist Manches, was dafür spricht, dass 
auch in diesen Fällen an die Stelle der Einheit der Realität 
keineswegs eine reale Vielheit trete. Und namentlich scheint 
es unmöglich, dass die Verwickelung, welche entsteht, wenn 
ein und dasselbe primäre Object in mehrfacher Weise be- 
wusst ist, also z. B. wenn etwas zugleich vorgestellt und ge- 
liebt wird, coUectivisch als eine Zusammensetzung aus meh- 
reren Dingen begriffen werde. Dass etwas geliebt werde, 
was nicht vorgestellt wird, erscheint uns unmittelbar absurd ; 
und mit Recht halten wir es für widersprechend, da, wie wir 
früher dargethan haben, jeder anderen Weise des Bewusst- 
seins ein Vorstellen zu Grunde liegt und in ihm beschlossen 
ist^). Wären dieses Vorstellen und das Lieben jedes ein 
Act, jedes ein Ding für sich und nur etwa das eine die Ur- 
sache des anderen, so wäre es denkbar, dass die Ursache 
durch eine andere ersetzt würde, und dass wir hebten, was 
uns in keiner Vorstellung erschiene. Es gehört also jeden- 
falls mit dem Lieben auch ein Vorstellen des geliebten Ge- 
genstandes zu derselben sachlichen Einheit. Wollten wir nun 
trotzdem annehmen, dass die Vorstellung, weil sie oft bleibt, 
während die Liebe aufhört, ein Ding für sich sein müsse, so 
bliebe uns nichts übrig, als zu sagen, der Gegenstand sei, 
als wir ihn liebten, zweimal vorgestellt worden, was inconve- 
nient und der Erfahrung entgegen ist. 

Aber auch bei einer gleichzeitigen Hinwendung zu meh- 
reren primären Objecten, also z. B. bei gleichzeitigem Sehen 
und Hören fehlt es nicht an Gründen, die man für die 



>) Buch jr. Capitel I. §. 3. 



Capitel 4. Von der Einheit des Bewusstseins. 209 

• 

Zugehörigkeit des einen und anderen Phänomens zu derselben 
realen Einheit anführen kann. Es geschieht, dass wir eine 
Farbe, die wir sehen, und einen Ton, den wir hören, mit 
einander vergleichen, ja wir thun dies so oft, als wir er- 
kennen, dass sie zwei verschiedene Erscheinungen sind. 
Wie sollte diese Vorstellung ihrer Verschiedenheit denkbar 
sein, wenn von den Vostellungen der Farbe und des To- 
nes jede einem anderen Dinge zugehörte? Sollten wir 
dem einen oder dem anderen oder beiden zusammen oder 
einem dritten Dinge die Vorstellung ihres Unterschiedes zu- 
schreiben ? Dem einen für sich, allein offenbar so wenig als 
dem anderen, da jedem einer der beiden verglichenen Ge- 
genstände fremd ist; und eben darum auch keinem drit- 
ten, wenn wir nicht in ihm die Vorstellungen der Farbe und 
des Tones wiederholt und vereinigt denken wollen. Also 
beiden zusammen? — Aber wer sähe nicht ein, dass auch 
dies eine lächerliche Behauptung wäre? Es wäre in der 
That, wie wenn Jemand sagte, dass zwar kein Blinder und 
kein Tauber Farben und Töne mit einander vergleichen 
könne, dass aber, wenn der eine höre und der andere sehe, 
beide zusammen ihr Verhältniss zu erkennen vermögen. 
Und warum erscheint uns dies so absurd? Darum, weil die 
vergleichende Erkenntniss eine wirkliche sachliche Einheit 
ist, wir aber, wenn wir Thätigkeiten des Blinden und Tauben 
zusammenfassen, immer nur ein CoUectiv, niemals ein ein- 
heitliches wirkliches Ding gewinnen. Ob der Blinde und 
Taube einander fern oder einander nahe sind, das macht darum 
offenbar keinen Unterschied ; und wenn sie bleibend zusammen 
Wohnung nähmen, ja wenn sie wie die Siamesischen Zwil- 
linge, oder noch mehr als diese und wahrhaft untrennbar 
mit einander verwüchsen, es würde die Annahme nicht mög- 
licher machen. Nur wenn in ein und derselben Realität Ton 
und Farbe gemeinsam vorgestellt sind, ist es denkbar, dass 
beide mit einander verglichen werden. Auch stellen wir 
nicht bloss Vergleiche zwischen verschiedenen primären Ob- 
jecten an, sondern wir bringen sie auch sonst in unseren 
Gedanken und Wünschen in mannigfache Beziehungen. Wir 

Brentano, Psychologie. I. 14 



210 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

• 

ordnen Mittel zu Zwecken und spinnen umfassende Pläne aus. 
Alle diese Ordnungen und Combinationen würden, wenn wir 
die einzelnen Glieder unserer Gedanken auf eine Vielheit 
von Dingen vertheilten, in eine Vielheit oder vielmehr in ein 
Nichts sich auflösen. Schliesst nicht das Begehren nach dem 
Mittel das Verlangen nach dem Zwecke ein, und enthält 
darum mit der Vorstellung des Mittels auch die des Zweckes ? 
Enthält nicht der einheitliche Act des Wählens nothwendig 
die Vorstellungen der Gegenstände der Wahl und der Motive, 
die für den einen oder anderen sprechen? — Das Alles ist 
so einleuchtend, dass es überflüssig wäre, auch nur mit einem 
Worte länger dabei zu verweilen. 

Dasselbe ergibt sich, wenn wir auf die innere Seite des 
Bewusstseins achten. Wenn einer etwas vorstellt imd begehrt, 
oder wenn er zugleich mehrere primäre Objecto vorstellt, so er- 
kennt er nicht bloss die eine und andere Thätigkeit, sondern 
auch die Gleichzeitigkeit beider. Wer eine Melodie hört, 
erkennt, dass er, während er den einen Ton als gegenwärtig, 
den anderen als vergangen vorstellt; wer erkennt, dass er 
sieht und hört, erkennt auch, dass er beides zugleich thut. 
Wenn nun die Wahrnehmung des Sehens in einem, die Wahr- 
nehmung des Hörens in einem anderen Dinge sich findet, in 
welchem findet sich die Wahrnehmung ihrer Gleichzeitigkeit? 
Offenbar in keinem. Vielmehr sieht man deutlich, dass die 
innere Erkenntniss des einen mit der des anderen zu der- 
selben realen Einheit gehören muss. Und wenn von der in- 
neren Erkenntniss der Seelenthätigkeiten , dann gilt auf 
Grund unserer früheren Untersuchimgen dasselbe auch für 
diese Thätigkeiten selbst. Es scheint also, als ob weder die 
eine noch die andere Weise der Verwickelung uns jemals 
abhalten dürfe, die Gesammtheit unserer psychischen Thätig- 
keiten als eine sachliche Einheit zu betrachten. 

Unstreitig ist die letzte Ansicht die richtige, und die 
dafür erbrachten Gründe können in keiner Weise widerlegt 
werden. Die entgegenstehenden aber verlieren ihre Kraft, 
wenn man den eigentlichen Fragepunkt sich klar macht. 

Nicht darum handelt es sich, ob die gleichzeitigen 



Capitel 4. Von der Einheit des BewusstseixiB. 211 

psychischen Thätigkeiten alle real identisch seien. Real iden- 
tisch nennt man das, wovon das eine das andere ist, im Ge- 
gensatze zur begrifflichen Identität. So ist Jeder mit sich 
selbst real identisch. Verschiedene Menschen dagegen sind 
zwar als Menschen begriflElich identisch, real aber sind sie 
nicht identisch. Dabei ist es gleichgültig, ob das, was mit 
etwas real identisch genannt wird, ein Ding oder ein Divisiv 
oder ein CoUectiv oder eine Privation ist oder dergleichen, 
wie z. B. wenn wir sagen, die Blindheit sei ein Mangel, eine 
Heerde sei eine Schaar gleichartiger Thiere. Um eine solche 
reale Identität handelt es sich, wie gesagt, in unserem Falle 
nicht, und es ist offenbar, dass sie nicht durchgehends 
zwischen unseren gleichzeitigen Seelenthätigkeiten besteht, 
ja dass sie nicht einmal zwischen jenen früher unterschiede- 
nen mehrfachen Seiten der einfachsten psychischen Acte ge- 
funden wird. Die Wahrnehmung des Hörens ist nicht das 
Gefühl des Hörens. Sie sind Divisive derselben Realität, 
aber sie sind desswegen nicht mit ihr und darum mit ein- 
ander real identisch. So wenig ein wirkliches Ding, das mit 
anderen in einem Collective zusammengefasst wird, mit die- 
sem Collective oder mit einem anderen Dinge, das zu ihm 
gehört, identisch ist — denn Niemand wird es einfallen zu 
sagen, das Heer sei ein Soldat, oder der eine Soldat sei der 
andere — : so wenig ist ein Divisiv, das ich als Theil an einem 
wirklichen Dinge unterscheide, mit diesem Dinge und in 
Folge dessen mit den anderen Divisiven, die man an ihm 
unterscheiden kann, identisch zu nennen. Es ist nie ein Di- 
visiv mit einem davon verschiedenen real identisch , sonst 
wäre es nicht ein anderes , sondern dasselbe Divisiv ; aber 
es gehört mit ihm gemeinsam zu e i n e r Realität. Und diese 
gemeinsame Zugehörigkeit zu einem wirklichen Dinge ist 
die Einheit, von welcher in unserem Falle die Rede ist. 

•Haben wir durch diese Betrachtung die Gefahr einer 

Verwechselung beseitigt, zu welcher ein von der Scholastik 

überkommener Sprachgebrauch sonst leicht veranlassen könnte, 

so ergibt sich uns sofort die Lösung der Gegenargumente. 

Mehr eins als das, was real eins ist, wurde gesagt, könne 

14* 



212 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

etwas nicht sein; wenn also alle gleichzeitigen psychischen 
Thätigkeiten eine reale Einheit umfasste, so könnte es nicht 
geschehen, dass die Innigkeit der Verbindung zwischen einigen 
unter ihnen von der Innigkeit der Verbindung, die zwischen 
anderen und namentlich zwischen den verschiedenen Weisen 
inneren Bewusstseins besteht, tibertroflfen würde. Hier liegt 
uns deutlich ein Beispiel jener Verwechselung, vor der wir 
^warnten, vor Augen. Das Verhältniss der realen Identität 
ist nothwendig immer dasselbe, wo immer es in Wahrheit 
vorhanden ist, sei es dass ein Ding, sei es dass ein Collec- 
tiv oder ein Divisiv oder irgend etwas Anderes mit sich iden- 
tisch genannt werde. Das eine ist nicht mehr mit sich selber 
identisch als das andere. Nicht so das Verhältniss der 
Theile, die zu einer realen Einheit gehören. Wenn es wirk- 
lich kleine einheitliche Dinge gibt, wie die, welche man Atome 
genannt hat, so besteht ein anderes Verhältniss zwischen 
den verschiedenen Eigenschaften dieser Atome und zwischen 
den verschiedenen quantitativen Theilen, die auch das un- 
sichtbar kleine Körperchen noch als Divisive umfasst. Seine 
quantitativen Theile sollen yon ihm nicht abgetrennt werden 
können, und auch manche seiner Eigenschaften sollen unver- 
lierbar sein. Aber von anderen gilt offenbar nicht dasselbe, 
obwohl auch sie nicht als Dinge für sich zu betrachten sind. 
Es geht z. B. von der Ruhe zur Bewegung und von der 
Bewegung zur Ruhe über. Nichtsdestoweniger ist die Be- 
wegung, wenn sie an ihm besteht, nicht ein Ding für sich» 
sonst wäre es denkbar, dass sie getrennt vom Atom fortbe- 
stände. Hiemit will ich in keiner Weise die Richtigkeit der 
atomistischen Theorie als gesichert voraussetzen und auf 
die Verhältnisse bei den Atomen als auf ein der Wirklichkeit 
entnommenes Beispiel mich berufen. Vielmehr ist nichts An- 
deres meine Absicht, als an einer beliebten Hypothese zu 
veranschaulichen, wie sich da, wo es sich um Theile handelt, 
die zu einem einzigen wirklichen Dinge gehören, ganz wohl 
eine mehrfache und bald innigere, bald minder innige Weise 
ihrer Verbindung denken lässt. So mag denn auch zwischen 
den verschiedenen Theilen, die wir an der Gesammtheit 



Capitel 4. Von der Einheit des Bewusstseins. 213 

unseres Seelenzustandes unterscheiden , die Weise der Ver- 
einigung sehr verschieden sein, obwohl alle als Divisive dem- 
selben einheitlichen Dinge zugehören. 

Inniger ist gewiss das Hören mit dem dreifachen Be- 
wusstsein des Hörens als mit dem gleichzeitigen Sehen ver- 
bunden. Ja insofern die Vorstellung und Wahrnehmung des 
Hörens nur in Abhängigkeit vom Hören, das begleitende Ge- 
fühl aber auch aus anderen Gründen Veränderungen erleidet, 
könnte man sagen, dass selbst hier noch ein Unterschied von 
Innigkeit der Vereinigung bestehe. Ebenso könnte man be- 
haupten, dass die Verbindung von zwei auf dasselbe primäre 
Object gerichteten Thätigkeiten, von denen die eine auf .der 
anderen basirt, wie das Begehren auf dem entsprechenden 
Vorstellen, eine innigere als die Verbindung von Thätigkei- 
ten sei , die auf verschiedene primäre Objecte gehen. Wie- 
derum scheinen die gleichzeitigen Vorstellungen der Worte 
eines Satzes, den ich eben aussprechen hörte, inniger ver- 
bunden als die gleichzeitigen Empfindungen verschiedener 
Sinne, und ähnlich Hessen sich noch mancherlei Unterschiede 
der Innigkeit der Vereinigung gleichzeitiger Seelenthätigkeiten 
bezeichnen. Dass es solche Unterschiede gibt, ist in der That 
bemerkenswertii, und mag in vieler Hinsicht, wie namentlich 
in Bezug auf die Geset;ze der Ideenassociation wichtig wer- 
den; einen triftigen Einwand dagegen,, dass sie alle zu ein 
und derselben realen Einheit gehören , kann man aber , wie 
wir sehen, nicht daraus entnehmen. 

Das zweite unter den Argumenten gegen die reale Ein- 
heit verwickelterer Seelenzustände ist somit erledigt. 

Aber auch das erste, welches sich auf das unabhängige 
Auftreten und Fortbestehen gewisser Seelenthätigkeiten stützt, 
ist einschliesshch bereits abgethan. Was real identisch ist, 
kann allerdings keine Lostrennung erfahren ; denn das hiesse, 
dass etwas von sich selbst getrennt werde. Was aber als 
unterschiedener Theil mit anderen zu einem realen Ganzen 
gehört, das mag vielleicht ohne Widerspruch aufhören, wäh- 
rend die anderen fortbestehen. 



214 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. , 

§. Si Das Ergebniss unserer Untersuchung ist, dass die 
Gesammtheit unseres psychischen Zustandes, wie verwickelt 
er auch sein möge, immer eine reale Einheit bildet. Dieses 
ist die berühmte Thatsache der Einheit des Bewusst^ 
Seins, welche man mit Recht als einen der wichtigsten 
Punkte der Psychologie zu betrachten pflegt 

Häufig jedoch ist dieser Punkt missverstanden worden,, 
sowohl von solchen, welche für ihn eintraten, als auch von 
solchen, die ihn bestritten. Ihnen gegenüber wollen wir in 
scharfen Bestimmungen sowohl nochmals aussprechen, was 
die Einheit des Bewusstseins ist, als auch erklären, was sie 
nicht ist. 

Die Einheit des Bewusstseins, so wie sie mit Evidenz 
aus dem, was wir innerlich wahrnehmen, zu erkennen ist^ 
besteht darin, dass alle psychischen Phänomene, welche sich 
gleichzeitig in uns finden, mögen si« noch so verschieden sein^ 
wie Sehen und Hören , Vorstellen , Urtheilen und Schliessen, 
Lieben und Hassen, Begehren und Fliehen u. s. f., wenn sie 
nur als zusammenbestehend innerlich wahrgenommen werden^ 
sämmtlich zu einer einheitlichen Reahtät gehören ; dass sie 
als Theilphänomene ein psychisches Phänomen ausmachen,, 
wovon die Bestandtheile nicht verschiedene Dinge oder 
Theile verschiedener Dinge sind, sondern zu einer realen Ein- 
heit gehören. Dies ist, was zur Einheit des Bewusstseins 
nothwendig ist; ein Weiteres aber verlangt sie nicht. 

Vor Allem ist demnach, wenn wir die Einheit des Be- 
wusstseins lehren, nicht das unsere Behauptung, dass niemals 
mit ein und derselben zusammenhängenden Körpermasse ver- 
schiedene Gruppen von psychischen Phänomenen verbunden 
sein können, welche nicht zu ein und derselben realen Ein- 
heit gehörig sind. Wir finden ein solches Verhältniss bei 
den Korallen, bei welchen zahllose Thierchen ein und dem- 
selben Stamme einverleibt erscheinen. Die gleichzeitigen 
psychischen Phänomene des einen und anderen Thierchens 
bilden keine reale Einheit. Aber es besteht auch keine in- 
nere Wahrnehmung, welche ihr gleichzeitiges Bestehen er- 
fasst. So würde es denn auch keineswegs unseren Bestim- 



/Capitel 4. Von der Einheit des Bewasstseins. 215 

mungen zuwiderlaufen, wenn innerhalb meines Leibes ausser 
mir noch ein anderes Ich gegenwärtig wäre, wie etwa, wenn 
er von einem jener bösen Geister besessen wäre, von deren 
Exorcismen die Schrift so Vieles berichtet. Eine reale Ein- 
heit zwischen dem Bewusstsein dieses Geistes und meinem Be- 
wusstsein würde nicht bestehen; aber ich würde auch nicht 
seine psychischen Phänomene mit den meinigen direct in 
innerer Wahrnehmung erfassen. Dasselbe würde gelten, wenn 
mein Leib, ähnlich wie Leibnitz es sich dachte, in Wahrheit 
nichts anderes als eine Unzahl von Monaden, von reell ver- 
schiedenen Substanzen wäre, deren jeder ein gewisses psy- 
chisches Leben zukäme. Ueber mein Ich, die herrschende 
Monade, hinaus, würde meine innere Wahrnehmung nicht 
reichen. Mag eine solche Theorie also wahr oder falsch sein, 
jedenfalls streitet sie nicht gegen die Einheit des Bewusst- 
seins, wie sie aus der inneren Wahrnehmung erkennbar ist. 
Femer besagt die Einheit des Bewusstseins nicht, dass 
es, wie es in Wirklichkeit besteht, jede Vielheit von Theilen 
irgend welcher Art ausschliesst. Im Gegentheile haben wir 
schon gesehen, dass, was die innere Wahrnehmung uns zeigt, 
eine Mannigfaltigkeit von Thätigkeiten unterscheiden lässt; 
imd die innere Wahrnehmung ist untrüglich. Herbart aller- 
dings war der Meinung, dass jedes Ding einfach sein müsse. 
Nur ein CoUectiv von Dingen könne eine Mehrheit von Thei- 
len haben. Ein nicht- einfaches Ding sei ein Widerspruch, 
und an dem Gesetze des Widerspruches müsse unter allen 
Bedingungen festgehalten werden. Das Letzte ist sicher 
richtig, und wer das Gesetz des Widerspruches irgendwo und 
irgendwie in Zweifel ziehen wollte, der würde gegen das- 
jenige seine Argumente kehren , was , sicherer als jeder Be- 
weis, durch unmittelbare Evidenz erkennbar ist. Aber ganz 
dasselbe gilt auch bezüglich der Thatsachen unserer inneren 
Wahrnehmung; und das war der grosse Fehler Herbart's 
und vor ihm Kant's, dass sie die Phänomene der inneren 
Wahrnehmung in derselben Weise wie die Erscheinungen, 
auf welche die sogenannte äussere Wahrnehmung sich 
richtete, als einen blossen Schein, der auf ein Sein hin- 



216 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

weise ^), nicht als etwas, was selbst wirklich sei, anerkannten 
und ihren Forschungen zu Grunde legten. Hätte Herbart 
dies gethan: so würde die Unvereinbarkeit ßeiner metaphy- 
sischen Lehren mit dem, was die innere Wahrnehmung zeigt, 
ihn hier und anderwärts auf gewisse Sprünge und Aequivo- 
cationen in seinen Beweisführungen aufmerksam gemacht 
haben; und es hätte nicht des Scharfsinnes eines Anderen 
bedurft, um zu zeigen, dass die von ihm geltend gemachten 
Widersprüche bloss scheinbare Widersprüche seiend). Wir 
also, indem wir die reale Einheit des Bewusstseins behaup- 
ten, behaupten damit keineswegs, dass es etwas völlig Ein- 
faches sei; nur werden die Theile, welche es unterscheiden 
lässt, als blosse Divisive einer realen Einheit zu betrach- 
ten sein. 

Auch das wäre noch zu viel gesagt, dass die Einheit 
des Bewusstseins, wenn sie keine Einfachheit verlange, doch 
nur mit einer Mehrheit von Theilen sich vertrage, die nicht 
von einander getrennt werden können. Im Gegentheile 
haben wir gesehen, wie die Erfahrung zeigt, dass von den 
Thätigkeitefa, welche wir in uns finden, die eine oft aufhört, 



*) Nach Herbart ist das Sein, auf welches die psychischen Erschei- 
nungen hinweisen, die Seele ; d. i. ein einfaches reales Wesen mit einer 
einfachen Qualität, welches gegenüber anderen einfachen realen Wesen 
sich selbst erhält. Was uns als eine Vorstellung erscheint, ist in 
Wahrheit nichts als eine solche Selbsterhaltung, und daher ist in kei- 
ner Weise wegen der Mehrheit . der Vorstellungen , die wir in uns 
wahrnehmen, eine Mehrheit von Eigenschaften und Theilen irgend 
einer Art in unserem wahrhaften Sein anzuerkennen. So wenigstens 
scheint die Lehre Herbart's gefasst werden zu müssen, damit seine 
Metaphysik mit seiner Psychologie nicht in allzuschroffem Widerspruche 
stehe. Oder sollte Herbart vielleicht geglaubt haben, unsere Vorstel- 
lungen seien zwar nichts anderes als Selbsterhaltungen, unveränderter 
Fortbestand bei drohenden Störungen; sie seien aber dennoch das, als 
was sie uns erscheinen? Dann würde er hierin selbst entweder des 
offenbarsten Widerspruches sich schuldig gemacht oder das Zeugniss 
der inneren Wahrnehmung in der entschiedensten Weise verleugnet 
haben. 

') Vgl. Trendelenburg, Historische Beiträge zur Philosophie, 
U. S. 313 ff. 



Capitel 4. Von der Eiiiheit des Bewusstseins. 217 

während die andere bleibt, die eine sich umwandelt, während 
die andere keinem Wechsel unterliegt. 

Weiter noch ist insbesondere hervorzuheben, dass in der 
Einheit des Bewusstseins auch nicht der Ausschluss einer 
Mehrheit quantitativer Theile und der Mangel jeder räum- 
lichen Ausdehnung (oder eines Analogons derselben) ausge- 
sprochen liegt. Es ist gewiss, dass die innere Wahrnehmung 
uns keine Ausdehnung zeigt; aber etwas nicht zeigen und 
zeigen , dass etwas nicht ist , ist verschieden. Sonst würde 
ja auch jener Richter vernünftig geurtheilt haben, von dem 
man erzählt, er habe einen Angeklagten von dem Vergehen 
der Beleidigung freigesprochen, weil der Kläger nur fünf 
Zeugen, welche die Schimpfrede gehört, der Beklagte aber 
hundert Zeugen, die sie nicht gehört, zu stellen sich an- 
heischig machte. Sicher ist allerdings, dass wir die psy- 
chischen Thätigkeiten, welche zu der Einheit unseres Be- 
wusstseins gehören, nicht in jeder Weise quantitativ vertheilt 
denken können. Es ist nicht möglich, dass in einem quan- 
titativen Theile das Sehen, in einem anderen die darauf be- 
zügliche innere Vorstellung oder Wahrnehmung oder Lust an 
dem Sehen sich findet. Das widerspräche allem, was wir 
von der besonderen Innigkeit der Verbindung und Verwebung 
dieser Phänomene gehört haben. Auch das ist sicher, dass 
jedenfalls nicht in einem quantitativen Theile eine Vorstel- 
lung, in einem anderen ein auf das Vorgestellte gerichtetes 
Urtheilen oder Begehren sich findet. In diesem Falle würde 
nicht, wie die innere Wahrnehmung es uns zeigt, in den 
letzteren Thätigkeiten die Vorstellung als Grundlage be- 
schlossen sein. Dagegen haben wir, bis jetzt wenigstens, 
keinen Grund, zu bestreiten, dass vielleicht eine Vorstellung 
ausgedehnt sei, oder verschiedene raumähnlich neben ein- 
ander bestehen u. dgl. 

Wenn man einen Wurm zerschneidet, so gibt oft jedes 
Stück die unzweideutigsten Zeichen von willkürlicher Bewe- 
gung, also auch von Gefühl und Vorstellung. Manche, und 
schon Aristoteles, haben dies so erklärt, dass' mit dem Thiere 
auch die Seele des Thieres so zu sagen zerschnitten worden 



218 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

sei. Es wäre demnach das einheitliche Bewusstsein des zer- 
schnittenen Thieres nothwendig raumähnlich ausgedehnt ge- 
wesen. Andere wollten dies nicht gelten lassen, und nahmen 
lieber an, es hätten in dem Wurme schon vor der Zerthei- 
lung mehrere Seelen bestanden; verschiedene in verschiede- 
nen GUedern. In wie weit es diesen überhaupt gelungen sei, 
ihre Ansicht wahrscheinlich zu machen, wollen wir hier nicht 
untersuchen; erst' an einer viel späteren Stelle wird diese 
Frage unsere Aufinerksamkeit in Anspruch nehmen^). Nur 
das sei hier bemerkt, dass, wenn man, wie man es wirklich 
gethan hat, gegen die ältere Theorie die Thatsache der Ein- 
heit des Bewusstseins anrufen wollte, diese, wenigstens für 
sich allein, nicht das Geringste gegen sie entscheiden würde. 
Wir haben gesehen , dass sie sich mit einier Mehrheit von 
Thätigkeiten vereinbaren lässt, die keineswegs unlöslich ver- 
bunden sind. Auch eine Mehrheit von einander trennbarer 
quantitativer Theile würde ihr darum nicht widerstreiten. 

Wie die Einheit des Bewusstseins nicht die Mehrheit 
der Theile ausschliesst , so auch nicht ihre Mannigfaltigkeit. 
Nicht das ist nöthig, dass die Theile gleichartig sind, sondern 
nur, dass sie zu derselben realen Einheit gehören. So fanden 
wir bereits, dass die Gesammtheit unseres Bewusstseins nicht 
bloss eine Mehrheit psychischer Thätigkeiten, sondern auch 
Thätigkeiten sehr verschiedener Art umfasst, und nicht bloss 
Vorstellungen, sondern auch Gefühle. Einheit ist nicht so 
viel wie Einfachheit; Einheit ist aber auch nicht so viel wie 
Gleichtheihgkeit. Es stände darum bis jetzt wenigstens auch 
nichts im Wege, wenn Jemand, der sich die Gruppe unserer 
psychischen Phänomene ausgedehnt denken wollte, annähme, 
dass ihre quantitativen Theile ungleichartig seien, und sich 
auch in unseren physischen Phänomenen als ungleichartig 
zu erkennen geben. Dass diese oder eine ähnUche Annahme 
richtig sei, wollen wir nicht behaupten: wenn sie aber auch 
einer als richtig erwiese, so würde dadurch in keiner Weise 
gegen die von uns behauptete Einheit des Bewusstseins etwas 

») Buch VI. 



Capitel 4. Von der Einheit des Bewusstseins. 219 

entschieden sein. Sahen wir doch, wie sie jedenfalls eine 
Vielheit von Theilen unter mannigfachen Theilverhältnissen 
umfasst. ' 

Endlich gehört auch das nicht zur Einheit des Bewusst- 
seins, dass die psychischen Phänomene, welche wir als unsere 
früheren Seelenthätigkeiten zu bezeichnen pflegen, Theile 
desselben wirklichen Dinges waren, welches unsere gegen- 
wärtigen psychischen Erscheinungen umfasst. Eines aller- 
dings ist ausser Zweifel. Wie die innere Wahrnehmung uns 
direct nur eine , real einheitliche Gruppe von psychischen 
Phänomenen zeigt, so zeigt uns auch das Gedächtniss für 
jeden Moment der Vergangenheit direct nicht mehr als eine 
solche Gruppe. Ton anderen gleichzeitigen psychischen Phä- 
nomenen gibt es uns nur etwa indirect Kenntniss, indem 
es uns zeigt, wie innerhalb jener Gruppe eine Erkenntniss 
von ihnen bestand, ähnlich wie in der Gmppe, welche die 
innere Wahrnehmung uns zeigt, der Glauben an das Bestehen 
anderer Gruppen enthalten sein kann. So zeigt uns denn 
das Gedächtniss direct nicht mehr als eine zeitlich fortlau- 
fende Reihe von Gruppen, von iienen jede eine reale Einheit 
war, und diese Reihe bildet ein Continuum, welches nur hie 
und da durch eine Lücke unterbrochen wird. Bei längerem 
Besinnen gelingt es uns zuweilen, auch solche Lücken aus- 
zufüllen. In der Continüität der Reihe liegt zugleich ausge- 
sprochen, dass die einander folgenden Gruppen meistentheils 
eine Verwandtschaft zeigen; sei es nun eine völlige Gleich- 
heit bei bloss zeitlichem Unterschiede, oder eine durch in- 
finitesimale Differenzen allmälig sich steigernde Verschieden- 
heit. Denn es ist undenkbar, dass eine continuirliche Ver- 
änderung in jedem Momente einen Sprung von endlicher 
Grösse oder einen Uebergang zu ganz heterogenen Erschei- 
nungen enthielte. In Wahrheit pflegt sich aber auch nach 
den stärksten plötzlichen Veränderungen eine Verwandtschaft 
zwischen den früheren und späteren Gliedern kund zu geben. 
So zeigt uns das Gedächtniss in dem Gliede unmittelbar nach 
dem Eintreten einer grösseren Veränderung, ein Bewusstsein 
von dem Gegensatze des neuen zu dem vorausgegangenen 



220 Buch n. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Zustande, und auch sonst, man darf sagen durchgehends, Ge- 
dächtnissacte , die sich oft sogar auf entfernt vergangene 
Glieder der Reihe, aber niemals direct auf eine Gruppe 
zurück beziehen , die nicht zu der Reihe gehörig ist. Das 
abschliessende Glied der Reihe bildet die Gruppe, welche 
wir in der inneren Wahrnehmung unmittelbar erfassen. Wir 
pflegen diese, Kette psychischer Erscheinungen als unser 
früheres Leben zu bezeichnen, und wie wir sagen: „ich sehe*', 
„ich höre", „ich will", wenn uns die innere Wahrnehmung 
ein Sehen, Hören oder Wollen zeigt, so sagen wir, wenn uns 
das Gedächtniss direct ein Sehen, Hören oder Wollen zeigt: 
„ich sah", „ich hörte", „ich wollte". Wir betrachten also 
die Phänomene, welche es uns direct zeigt, gemeiniglich 
als Thätigkeiten , welche zu derselben realen Einheit gehör- 
ten, von welcher jetzt die durch innere Wahrnehmung er- 
kannten Thätigkeiten umfasst werden. Die Neigung zu einer 
solchen Anschauung ist auch, nach dem Charakter, welchen 
diese Gedächtnisserscheinungen zeigen, und welchen wir in 
einigen seiner wesentlichsten Züge schilderten, sehr begreif- 
lich. Allein, dass es einleuchtend sei, dass dieselbe reale 
Einheit, welche unsere gegenwärtigen psychischen Phänomene 
umfasst, sich wirklich früher auf diejenigen, welche wir „un- 
sere früheren" zu nennen pflegen, mit erstreckt habe, können 
wir desshalb noch nicht behaupten. Und auch von den Be- 
weisen, durch welche wir die reale Einheit der gegenwärtigen 
Phänomene dargethan haben, ist keiner darauf anwendbar. 
Unsere gegenwärtigen Acte der Erinnerung allerdings müssen 
zu derselben Realität wie unsere übrigen gegenwärtigen psy- 
chischen Acte gehören. Aber der Inhalt eines Erinnerungs- 
actes ist nicht der Erinnerungsact. Und wer bürgt uns da- 
für, dass die Erinnerung und der Inhalt der Erinnerung, wie 
nicht identisch, so auch nicht derselben realen Einheit zuzu- 
rechnen sind? Wenn eine Erkenntniss, welche uns das Ge- 
dächtniss gibt, unmittelbar evident wäre, so könnten wir dies 
ähnlich wie bei der inneren Wahrnehmung folgern. Aber 
das Gedächtniss ist bekanntlich nicht evident, ja sogar man- 
nigfachen Täuschungen unterworfen. Es bleibt also zunächst 



Capitel 4. Von der Einheit des Bewusstseins. 221 

eine offene Frage, ob der Fortbestand des Ich das Beharren 
ein und desselben einheitlichen Dinges oder etwa eine Auf- 
einanderfolge verschiedener Dinge sei, von welchen nur das 
eine an das andere sich anschliesst und so zu sagen an seine 
Stelle tritt. Es würde darum z. B. unseren Auseinander- 
setzungen nicht widerstreiten, wenn einer glaubte, dass das 
Ich ein körperliches Organ sei, welches fortwährendem Stoff- 
wechsel unterliegt, wenn er nur annimmt, dass die Eindrücke, 
die es* erfahre, auf die Weise, in welcher es sich erneuere, 
von Einfluss seien , dass also , ähnlich wie die Wunde die 
Narbe hinterlässt, auch das frühere psychische Erlebniss nach- 
wirkend eine Spur von sich und in ihr die Möglichkeit einer 
Erinnerung daran vererbe. Die Einheit des Ich in seinem 
früheren und späteren Bestände wäre dann keine andere als 
die eines Flusses, in welchem die eine Woge der anderen 
Woge folgt und ihre Bewegung nachbildet. Nur der atomi- 
stischen Hypothese, welche jedes Organ als eine Vielheit von 
Dingen ansieht, dürfte Jemand, der ein Organ als Träger 
des Bewusstseins betrachten wollte, sich natürlich nicht an- 
schliessen, sondefn nur etwa so wie Du Bois-Reymond in 
seinem Vortrage vor der Versammlung der Naturforscher in 
Leipzig ihr als einer Art von regulativem Princip bei For- 
schungen auf naturwissenschaftlichem Gebiete einen Werth 
zuerkennen ^). 

§. 4. Die Behauptung der Einheit des Bewusstseins, wie 
wir sie hier umgrenzten, hat einen bescheideneren Inhalt als 
den, welchen man ihr häufig gegeben hat. Dafür ist sie aber 
durch die vorausgegangenen Erörterungen wirklich und voll- 
kommen erwiesen und zeigt sich gegen jeden Einwand ge- 
schützt, obwohl nicht bloss die früher betrachteten, sondern 
noch andere Gründe gegen sie geltend gemacht werden. 

C.Ludwig in seinem Lehrbuche der Physiologie erklärt, 
dass der realen Einheit unserer psychischen Phänomene „eine 
ganz unlösbare" Schwierigkeit entgegenstehe. „Wie wir schon 



^) Ueber die Grenzen der Naturerkenntniss. 1872. 



222 Buch n. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

wiederholt bemerkten", sagt er, „liegen nirgends Gründe vor, 
die uns bestimmen konnten, eine wesentliche Verschiedenheit in 
den empfindenden und bewegenden Nervenrohren anzunehmen. 
Und wenn diese nicht besteht, woher soll denn die Verschie- 
denheit in der Besultirenden der Gegenwirkungen der gleich- 
artigen Nerven und der gleichartigen Seele erläutert wer- 
den? — Diese Schwierigkeit mahnt uns, wenigstens daran 
zu denken, dass das, was man Seele nennt, ein sehr compli- 
cirtes Gebilde sei, dessen einzelne Theile in einer kmigen 
Wechselbeziehung stehen, vermöge deren die Zustände eines 
Theiles sich dem Ganzen leicht mittheilen ^)." 

Nehmen wir an, der Beweis, den Ludwig hier filhi-t, sei 
schlagend und dränge mit Gewalt zu der Folgerung, bei wel- 
cher er endet, so würde doch die reale Einheit des Bewusst- 
seins, wie wir sie erklärten, keineswegs dadurch widerlegt 
sein. Wenn diese Einheit quantitative und ungleichartige 
Theile hätte und ein sehr complicirtes Gebilde wäre, so würde 
sie den Anforderungen von Ludwig Genüge leisten. Aller- 
dings könnte einer auf Grund der Atomistik eine solche An- 
nahme als unmöglich bestreiten. Aber die atomistische Hypo- 
these, wie viel auch inuner für sie sprechen möge, dürfte 
ihre Wahrscheinlichkeit nicht gegenüber der Evidenz der in- 
neren Thatsachen geltend machen. 

Noch mehr. Ludwig spricht von einer Mittheilung der 
Zustände der einzelnen Theile an das Ganze, d. h. wohl an 
seine sämmtlichen übrigen Theile. Somit wird jeder Theil 
Zustände haben, wie die anderen Theile; also jeder wird 
sehen, hören u. s. f., wenn auch ein Theil zunächst durch 
den Lichtreiz, ein anderer durch den Beiz des Schalles er- 
regt wird. Wenn nun auch das Ganze ein Collectiv und nur 
die Theile reale Einheiten wären, so würde doch jeder dieser 
Theile für sich allein eine Gruppe von psychischen Thätig- 
keiten, wie wir sie innerlich wahrnehmen, enthalten, und es 
wäre daher nicht nöthig, dass unsere innere Wahrnehmung 
über eine reale Einheit hinausreichte; ja nicht einmal wahr- 



^) Lehrbuch der Physiologie des Menschen, I. S. 606. 



Capitel 4. Von der Einheit des Bewusstseins. 223 

scheinlich wäre es, da sie uns sonst dieselbe Gruppe mehr- 
mals zeigen würde. Somit wäre nach Ludwig das Verhältniss 
nur dieses, dass ausser unserem einheitlichen Bewusstsein 
noch andere, ihm völlig gleiche, in demselben Leibe bestän- 
den, was wiederum der Einheit des Bewusstseins, wie wir 
sie lehren, nicht widersprechen würde. 

Vielleicht ist aber auch das Argument selbst nicht so 
zwingend, wie Ludwig glaubt. — Man hat, sagt er, keine 
wesentliche Verschiedenheit in den Nervenröhren gefunden. — 
Ist man desshalb sicher, dass keine vorhanden ist, die man 
noch nicht entdeckte? und kann man mit Zuverlässigkeit 
behaupten, dass Unterschiede, die in anderem Betracht un- 
bedeutend erscheinen, nicht vielleicht in Bezug auf die Em- 
pfindungen „wesentlich" sind? In neuester Zeit hat man 
behauptet, dass auch zwischen den Ganglien keine wesent- 
lichen Unterschiede sich zeigten, und darum in dem Unter- 
schiede der äusseren Organe den ganzen Grund der Unter- 
schiede der Empfindungen sehen wollen^). Mag dies nun 



') Wundt, Physiol. Psychol. Cap. 5. S. 173 ff. Cap. 9. S. 345 ff. 
,,Es ist'', sagt Wundt, „in hohem Grade wahrscheinlich, dass der Satz 
von der fiinctionellen Indifferenz im selben Umfange, in welchem er 
in Bezug auf die Nervenfasern angenommen ist, auch auf die centra- 
len Endigungen derselben ausgedehnt werden muss. Die Unterschiede, 
die an den letzteren gefanden werden, sind nicht grösser als diejeni- 
gen, welche die verschiedenen Nervengattungen darbieten; und der 
Erfahrung, dass verschiedenartige Nervenenden mit einander verheilt, 
und dann z. B. durch Reizung sensibler Fasern motorische Wirkungen 
ausgelöst werden können, treten die umßuagreichen Stellvertretungen 
zwischen den centralen Endgebilden als nahehin gleichberechtigte That- 
Sachen zur Seite. Offenbar hat man bei dieser Verlegung in die Cen- 
traltheile nur den Kunstgriff gebraucht, den Sitz der specifischen 
Function in ein Grebiet zu verschieben, das noch hinreichend unbe- 
kannt war, um über dasselbe beliebige Behauptungen wagen zu kön- 
nen.*' (S. 347.) Wundfs eigene Erklärung der Thatsachen enthält 
jedoch den Widerspruch, dass sie davon ausgeht, die physische Aehnlich- 
keit der Nerven (ja der Endgebilde) sei zu gross, als dass in ihrem Un- 
terschiede der Grund der specifischen Function gesucht werden könnte, 
und damit endet, dass dennoch ein Unterschied der Nerven, nämlich ein 
durch Gewohnheit entstandener, der Grund der specifischen Function sei. 



224 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

zulässig oder unzulässig sein, jedenfalls zeigt es die Unsicher- 
heit des Beweises. Denn, wenn es unzulässig ist, so zeigt es 
an einem Beispiele, wie uns physiologische Unterschiede ent- 
gehen oder unbedeutend erscheinen können, die nichtsdesto- 
weniger einflussreich werden. Endlich wäre denkbar, dass 
die Verschiedenheit der centralen Gebilde, zu welchen die 
Empfindungsnerven führten, zwar wirklich die Unterschiede 
von Schall- und Farbe -Empfindungen bedingten, ab^r nur 
in der Weise, in welcher wir die Verursachung den Nerven 
selbst, wenn sie sich auffallend verschieden zeigten, zuschrei- 
ben würden, nämUch als Glieder in einer noch weiter fäh- 
renden Kette. 

A. Lange hat, wie auch viele Andere, auf die Erschei- 
nungen der Theilung, durch welche oft ein Thier in zwei 
Thiere zerlegt werden kann, als etwas mit der Einheit des 
Bewusstseins Unvereinbares hingewiesen, und ebenso auf die 
ihnen gegenüberstehende Verschmelzung zweier Thiere in 
eines. „Die Strahlen füsschen", sagt er, „eine Genera- 
tionsfolge der Glockenthierchen (vorticella), nähern sich 
häufig einander, legen sich innig aneinander, und es entsteht 
an der Berührungsstelle zuerst Abplattung und dann voll- 
ständige Verschmelzung. Ein ähnlicher Copulationsprocess 
kommt bei den Gregarinen vor, und selbst bei einem 
Wurme, dem Diplozoon, fand Siebold, dass er durch 
Verschmelzung zweier Diporpen entsteht^)." 

Wir haben schon bemerkt, dass die Theilungserscheinun- 
gen, wenn sie uns auch zwingen sollten, die Zerlegung einer 
Gruppe psychischer Phänomene in mehrere quantitative Theile 
anzunehmen, nichts gegen die Einheit des Bewusstseins be- 
weisen würden, da in dieser weder die Einfachheit noch Un- 
theilbarkeit behauptet wird. Aus demselben Grunde kann 
man auch die Verschmelzungserscheinungen nicht gegen sie 
geltend machen. Würde man diesen niederen Thieren Ge- 
dächtniss zuschreiben und annehmen, dass sich in den beiden 
durch Theilung entstandenen Thieren Erinnerungen aus dem 



1) Gesch. d. Material. S. 409. 



Capitel 4. Von der Einheit des Bewusstseins. 225 

Leben des zerfällten Thieres erhielten, so dass nun das gleiche 
Bewusstsein in zwei Qualitäten bestehe, so spräche auch 
dies nicht gegen die Einheit des Bewusstseins in unserem 
Sinne. Würden wir behauptet haben, dass die psychischen 
Thätigkeiten , die das Gedächtniss unmittelbar zeigt, immer 
zu derselben Realität wie diejenigen gehören, welche in der 
inneren Wahrnehmung erfasst werden, so kämen wir hier 
allerdings zu dem Widerspruche, dass von zwei Gruppen von 
Phänomenen jede zu derselben Realität gehörte, und dass 
sie doch zugleich als zwei verschiedene Realitäten zu begreifen 
wären. Aber unsere Behauptung beschränkte sich ja nur 
auf die Thätigkeiten der gegenwärtigen psychischen Gruppe. 
Somit kann man aus ihr jene widersprechenden Folgerungen 
nicht ziehen. Und wenn einer annähme, dass in dem durch 
Verschmelzung mehrerer Thiere entstandenen einheitlichen 
Thiere Erinnerungen aus einem doppelten Leben beständen, 
so würde auch dies nicht der Einheit des Bewusstseins wider- 
streiten ; denn das Gedächtniss würde dann zwar unmittelbar 
eine Mehrheit gleichzeitig bestehender realer psychischer 
Einheiten zeigen, aber der Gesichtskreis der inneren Wahr- 
nehmung nie über die Grenzen einer realen Einheit sich er- 
strecken. 

Eigenthümlich ist es, dass Lange, wenn er einerseits be- 
hauptet, dass gewisse Thatsachen der Einheit des Bewusst- 
seins widersprechen, andererseits anerkennt, dass eine Gruppe 
von psychischen Thätigkeiten, wie wir sie in uns finden, ohne 
reale Einheit undenkbar sei. So ergibt sich ihm hier ein 
Widerspruch, der an die Kant'schen Antinomien erinnert, und 
er löst ihn als ein ächter Schüler dieses Philosophen, indem 
er den einander widerstreitenden Erscheinungen keine andere 
als eine phänomenale Wahrheit zuerkennt. Damit kein Wider- 
spruch zwischen Einheit und Vielheit existire, müssen wir 
nach ihm annehmen, dass weder Einheit noch Vielheit in 
Wirklichkeit bestehe, sondern dass beide Begriffe nur sub- 
jective Auffassungsweisen unseres Denkens seien. „Die ein- 
zige Rettung'^, sagt er, „besteht darin, dass der Gegensatz 
von Vielheit und Einheit als eine Folge unserer Organisation 

BrentanOi Psychologie. 1. .15 



226 Buch U. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

gefasst wird, dass man annimmt, er sei in der Welt der 
Dinge an sich auf irgend eine uns unbekannte Weise gelöst 
oder vielmehr gar nicht vorhanden. Damit entgehen wir 
denn dem innersten Grunde des Widerspruches, der über- 
haupt in der Annahme absoluter Einheiten besteht, die uns 
nirgends gegeben sind. Fassen wir alle Einheit als relativ" 
(nämlich zu unserem Denken, und zwar zu diesem oder jenem 
besonderen Denkacte), „sehen wir in der Einheit nur die 
Zusammenfassung in unserem Denken, so haben 
wir damit zwar nicht das innerste Wesen der Dinge erfasst, 
wohl aber die Consequenz der wissenschaftlichen Betrachtung 
möglich gemacht." (Mit anderen Worten, wir können trotz 
der Widersprüche, die zu Tage getreten, getrost die Unter- 
suchung weiter fuhren, indem wir sie als bloss phänomenale, 
in keiner Weise der Wirklichkeit zukommende Widersprüche 
betrachten.) „Die absolute Einheit des Selbstbewusstseins 
fährt zwar schlecht dabei, allein es ist kein Uebelstand, 
wenn eine LiebUngsvorstellung einiger Jahrtausende beseitigt 
wird 1)." 

Allerdings würde die Einheit des Bewusstseins schlecht 
dabei fahren, wenn auch den Erscheinungen der inneren 
Wahrnehmung nur phänomenale Wahrheit zukäme. Nicht ein- 
mal die Existenz eines Bewusstseins wäre ja dann gesichert. 
Aber wir haben schon wiederholt bemerkt, dass der Weg 
Kant's, auf welchem Lange ihm hier folgt, ein Irrweg sei. 
Es ist geradezu ein Widerspruch, wenn man, wie Kant es 
thut, den inneren und äusseren Wahrnehmungen, beiden in 
gleicher Weise, bloss phänomenale Wahrheit zuerkennt. Denn 
die phänomenale Wahrheit der physischen Phänomene ver- 
langt die reale Wahrheit von psychischen ; wären die psychi- 
schen Phänomene nicht in Wirklichkeit , so wären physische 
wie psychische auch nicht einmal als Phänomene vorhanden. 
Auf diese Weise ist also der Widerspruch nicht zu beseitigen. 
Dagegen haben wir oben gesehen, wie die von Lange geltend 
gemachten Erscheinungen mit der Thatsache der Einheit des 



*) Ebend. S. 405. 



Capitel 4. Von der Einheit des Bewussts^ins. 227 

I 

Bewusstseins, wenn man nur ^iese richtig versteht, ganz leicht 
in Einklang zu bringen sind. 

Lange betont noch eine Erscheinung mit besonderem 
Nachdrucke. „Die relative Einheit", sagt er, „tritt bei den 
niederen Thieren besonders merkwürdig hervor bei jenen 
Polypen, welche einen gemeinsamen Stamm besitzen, an wel- 
chem durch Knospung eine Menge von Gebilden erscheint, 
die in gewissem Sinne selbständig, in anderer Hinsicht da- 
gegen nur als Organe des ganzen Stammes zu betrachten 
sind. Man wird auf die Annahme geführt, dass bei diesen 
Wesen auch die Willensregungen theils allgemeiner, theils 
specieller Natur sind, dass die Empfindungen aller jener halb 
selbständigen Stämme in Rapport stehen und doch auch ihre 
besondere Wirkung haben. Vogt hat ganz Recht, wenn er 
den Streit um die Individualität dieser Wesen einen Streit 
um des Kaisers Bart nennt. „Es finden allmälige Ueber- 
gänge statt; die Individualisation nimmt nach und nach 
zu ^)." " — Als reale Einheit, das ist wahr, lassen sich die psy- 
chischen Thätigkeiten in einem Polypenstamme nicht wohl 
begreifen. Aber sollten sie darum als ein Uebergang zwischen 
Einheit und Vielheit, als etwas, was nicht mehr eigentlich 
Eins und doch auch noch nicht Vieles ist , gefasst werden 
müssen? Ich sehe nicht ein, was uns hier zu der Annahme 
einer solchen widerspruchsvollen Mitte nöthigte und davon 
abhielte, geradezu eine Vielheit von realen psychischen Ein- 
heiten in dem Stamme anzuerkennen. Wenn Lange von 
diesen Polypen sagt, „die Willensregungen seien bei ihnen 
theils allgemeiner, theils specieller Natur", so ist dies nur 
in dem Sinne etwa eine richtige Deutung der Phänomene, in 
welchem man auch bei einer Menge zu einer Stadt oder zu 
einem Volke gehöriger Menschen dasselbe sagen könnte. 
Jedes einzelne Bewusstsein ist in einer solchen Thiercolonie, 
wie Lotze treffend bemerkt, unabhängig von dem anderen in 
der Ausübung der spärlichen Aeusserungen lebendiger Reg- 
samkeit, die ihnen möglich sind, und doch sind sie „durch 



^) Ebend. S. 409. 

15* 



228 Buch U. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

ihre Verbindung unter einander gemeinsam manchen äusseren 
Einflüssen unterworfen')." Und diese gemeinsam erfahrenen 
Einflüsse mögen eine gleichzeitige Erregung gewisser mitein- 
ander übereinstimmender Begierden und Bethätigungen zur 
Folge haben. So also kommen wir nicht zu widersprechen- 
den Begriffen, denen wir unser Vertrauen auf die innere 
Erfahrung und auf das , was wir nach sicherer Analogie aus 
ihr erschliessen, zum Opfer bringen müssten. 

Während Lange zugesteht, dass, wenn man die Erschei- 
nungen, wie sie uns das innere Bewusstsein zeigt, als real 
anerkennen wollte, unsere psychischen Phänomene als wirk- 
liche Einheit gefasst werden müssten, hat C. Ludwig dies 
geleugnet und die Argumente der Psychologen für die Ein- 
heit des Bewusstseins aus diesem Grunde für nichtig erklärt. 
Es ist vielleicht nicht überflüssig, wie zuvor den Angriff die- 
ses bedeutenden Physiologen auf die Einheit des Bewusst- 
seins, so jetzt auch seinen Angriff auf die Beweise dafür, so 
weit wir selbst sie für überzeugend erklärten, mit einigen 
Worten zu besprechen. 

Ludwig repioducirt dieselben in folgender Weise. Zu 
der Annahme, dass Empfindung, Willen und Gedankenbil- 
dung zu einer realen Einheit gehörten, „glaubt man", sagt 
er, „sich berechtigt, weil das Bewusstsein sagt, dass dasselbe 
einfach die drei besonderen Functionen erfülle." Dies ist 
nicht sehr deutlich gesprochen; doch aus dem Folgenden 
scheint hervorzugehen, dass Ludwig sagen will, man führe 
für jene Annahme als Beweis an, dass dasselbe und eine Be- 
wusstsein der drei besonderen Functionen sich bewusst sei. 
Denn, zur Kritik übergehend, fährt er also fort : „Diese That- 
sache erscheint aber so lange als nichtssagend, als man nicht 
ermittelt hat, welche Stellung das Bewusstsein zu den drei 
Functionen einnimmt, indem sich denken Hesse, dass sie in 
dasselbe fallen^ ohne mit ihm identisch zu sein." Man kann 
— das ist offenbar der Sinn seiner Worte — aus dieser 
Thatsache nur dann schliessen, dass die drei Functionen zu 



^) Mikrokosmus I. S. 1G6. 



Capitel 4. Von der Einheit des Bewusstseins. 229 

einer realen Einheit gehören, wenn vorausgesetzt wird, 
dass sie, um vom Bewusstsein wahrgenommen zu werden, 
mit diesem zu einer realen Einheit* gehören müssen. Denn 
dann gilt der Satz, zwei Dinge, die mit einem dritten iden- 
tisch sind, sind unter sich identisch. Aber jene Voraus- 
setzung, meint er, sei unberechtigt. Wird bei anderen Wahr- 
nehmungen, z. B. bei denen des Gesichtssinnes, etwas wahr- 
genommen, was nicht zu derselben Realität wie die Wahr- 
nehmung gehörig ist, warum sollte nicht Aehnliches auch bei 
den inneren Wahrnehmungen, nämlich den Wahrnehmungen 
der psychischen Functionen, der Fall sein können? Und er 
fügt bei: „Diese letztere Unterstellung erhält sogar aus den 
Traumerscheinungen einige Wahrscheinlichkeit, indem hier 
unsere eigenen Empfindungen und Vorstellungen uns als 
absolut äussere erscheinen, die wir z. B. fragen^)." 

Denken wir an unsere frühere Erörterung zurück, so 
erkennen wir sofort, dass das Argument für die Einheit hier 
sehr unvollkommen vorgeführt wird. Davon z. 9., dass dem 
Wollen nothwendig ein Vorstellen zu Grunde liege, so dass 
es ohne ein solches ganz undenkbar sei, ist hier gar nicht 
die Bede, und doch beweist gerade dieser Umstand recht 
schlagend die Vereinigung beider. Auch ist es eine unrich- 
tige Darlegung der Sachlage, wenn Ludwig so spricht, als 
habe man ganz willkürlich die Annahme gemacht, dass die 
innere Wahrnehmung einer psychischen Thätigkeit mit ihr 
zu derselben realen Einheit gehöre. Wir sahen, wie so- 
wohl vieles Andere als insbesondere der Umstand dieses 
verlangt, dass sonst die Evidenz der inneren Wahrnehmung 
unmöglich wäre. Der von Ludwig verlangte Nachweis, dass 
die , psychische Function, die in innerem Bewusstsein wahr- 
genommen wird, mit diesem zu derselben realen Einheit ge- 
hören müsse, ist also bereits wirklich erbracht. Den Hinweis 
endlich auf die Traumerscheinungen, der es sogar wahr- 
scheinlich machen soll, dass Empfindungen und Vorstellungen 
nicht zu derselben Realität mit dem auf sie bezüglichen 



1) Physiol. d. Menschen 1. S. 605 f. 



230 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Bewusstsein gehören, dürfen wir wohl als völlig verfehlt be- 
zeichnen. 

Vor Allem ist es gewiss ein sonderbarer Schluss, dass, 
weil unsere eigenen Empfindungen und Vorstellungen uns 
im Traume als äussere erscheinen, sie es wahrscheinlich auch 
sind. Denn mit demselben Rechte könnte einer auch weiter 
noch schliessen, dass, weil sie uns als Bäume, Häuser und 
Menschen erscheinen (die wir, wie Ludwig bemerkt, oft fra- 
gend anreden), sie wahrscheinlich auch Bäume, Häuser und 
Menschen seien. Darein pflegt man ja gerade das Unter- 
scheidende des Traumes vom Wachen zu setzen, dass er 
uns Falsches vorspiegelt, und höchstens nur dann und wann 
auch etwas Wahres einmischt. Die Voraussetzung, auf welche 
der Schluss sich gründet, dass, wenn uns unsere Vorstel- 
lungen u. s. f. im Traume als etwas Aeusseres erscheinen, 
sie wahrscheinlich auch etwas Aeusseres seien, ist also im 
höchsten Grade unstatthaft. 

Aber nicht bloss der Obersatz, auch der Untersatz ist 
falsch. Es ist nicht richtig, dass unsere Vorstellungen und 
Empfindungen uns im Traume als „absolut äussere" er- 
scheinen, wenn anders man unter den Vorstellungen die 
Acte des Vorstellens, unter den Empfindungen die Acte 
des Empfindens versteht. Denn die Namen an und für 
sich gestatten allerdings einen Gebrauch in noch anderem 
Sinne, indem wir „Vorstellung" nicht bloss das Vorstel- 
len, sondern auch das Vorgestellte, „Empfindung" nicht 
bloss das Empfinden, sondern auch das Empfundene nennen. 
In unserem Falle handelt es sich um unsere psychischen 
Thätigkeiten. Diese psychischen Thätigkeiten nun erscheinen 
uns im Traume wie im Wachen in gleicher Weise als innere, 
und in Bezug auf sie besteht auch im Traume keine Täu- 
schung ; denn es ist wahr, dass wir im Traume Vorstellungen 
von Farben und Tönen und mancherlei Gebilden haben; dass 
wir uns fürchten, erzürnen, freuen und anderen Gemüthsbe- 
wegungen unterliegen. Das aber, worauf sich diese psychi- 
schen Thätigkeiten als auf ihren Inhalt beziehen, und was 
uns in Wahrheit als Aeusseres erscheint, besteht in Wirk- 



Capitel 4. Von der Einheit des Bewusstseiiis. 231 

lichkeit eben so wenig ausser uns als in uns, es ist ein blosser 
Schein; wie ja eigentlich auch die physischen Phänomene, 
die uns im Wachen erscheinen, ohne Wirklichkeit sind, die 
ihnen entspräche, obwohl man häufig das Gegentheil annimmt. 
Wir haben früher gesehen, wie die Psychologen, nachdem sie 
diese Existenz der scheinbaren Aussenwelt als irrig erkannt 
hatten, in Folge der Gewohnheit die Gegenstände der Em- 
pfindungen als etwas Wirkliches zu denken, die Empfindungs- 
thätigkeit als diese Wirklichkeit betrachteten und sie selbst 
auf sich selbst gerichtet glaubten^). In einer etwas ähn- 
lichen Weise ist, wie es scheint, Ludwig dazu gekommen, die 
Empfindungs- und Vorstellungsacte, wie wir sie im Traume 
haben, für das zu nehmen, was uns in ihnen erscheine; und 
dabei mag die Aequivocation der Worte Vorstellung und 
Empfindung das ihrige dazu beigetragen haben, seinen Fehler 
ihm zu verdecken. Es könnte einer so argumentiren : Was 
uns im Traume als etwas Aeusseres erscheint, besteht nicht 
wirklich ausser uns ; es besteht also bloss als von uns vorge- 
stellt; es ist also nichts anderes als unsere Vorstellung und 
gehört wie unsere Vorstellungen überhaupt zu unseren psy- 
chischen Thätigkeiten ; also erscheinen eigene psychische Thä- 
tigkeiten uns im Traume als etwas Aeusseres. Aber das 
Argument enthielte dann einen offenbaren Paralogismus der 
Aequivocation, indem das Wort „Vorstellung" zuerst im 
Sinne des Vorgestellten, und dann im Sinne des Vorstellens 
genommen würde. 

Wir sehen demnach, wie Ludwig eben öo wenig da glück- 
lich ist, wo er den Beweis für die Einheit des Bewusstseins 
entkräften will, als er da, wo er ihr Gegentheil zu be- 
gründen suchte, erfolgreich war. In ähnlicher Weise, wie 
die Angriffe von Ludwig und Xange , gelingt es leicht , auch 
jeden anderen Versuch, der sich gegen diese Thatsache 
richtet, zurückzuweisen. Da die Fehler im Wesentlichen 
dieselben sind, wie di6, welchen wir bei diesen bedeutenden 
Forschern begegneten: so wäre es in keiner Weise lohnend, 
wenn wir uns im Einzelnen bei ihnen aufhalten wollten. 



*) Vgl. oben Buch II. Cap. 2. §. 5. 



232 Bach II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Die Thatsache der Einheit des Bewusstseins, wie wir sie 
erklärten, ist also als etwas unzweifelhaft Gresichertes zu 
betrachten ^). 



') Wie von einem Bewusstsein, so spricht man auch von einer 
Kinheit des Bewusstseins in mehrfachem Sinne; ja die Unterschiede 
der Bedeutung sind hier noch mannigfaltiger, indem nicht hloss die 
des Namens Bewusstsein variirt, sondern auch die Einheit zuweilen 
statt auf das Subject auf das Object bezogen wird. So verstehen 
Manche darunter die Thatsache, dass man gleichzeitig nur eine Ge- 
dankenreihe aufmerksam und consequent verfolgen, nur mit einer 
Sache wahrhaft sich beschäftigen kann. In dieser Bedeutung werden 
wir später von der Einheit des Bewusstseins handeln, da sie so gefasst 
mit den Gesetzen der Ideenassociation in engstem Zusammenhange steht. 



Fünftes CapiteL 

Ueberblick über die Yorzfigliehsten Yersnehe einer 
Classification der psjcliisclien Pliänomene. 

§. 1. Wir kommen zu einer Untersuchung, die nicht 
bloss an sich, sondern auch für alle folgenden von grosser 
Wichtigkeit ist. Denn die wissenschaftliche Betrachtung be- 
darf der Eintheilung und Ordnung, und diese dürfen nicht 
willkürlich gewählt werden. Sie sollen, so viel als möglich, 
natürlich sein und sind dieses dann, wenn sie einer möglichst 
natürlichen Classification ihres G^enstandes entsprechen. 

Wie anderwärts, so werden auch in Bezug auf die psy- 
chischen Phänomene Haupteintheilungen und Untereintheilun- 
gen zu treffen sein. Zunächst aber wird es sich um die 
Bestimmung der allgemeinsten Classen handeln. 

Die ersten Classificationen, wie überhaupt so auch auf 
psychischem Gebiete, ergaben sich Hand in Hand mit der 
fortschreitenden Entwickelung der Sprache. Diese enthält 
allgemeinere wie minder allgemeine Ausdrücke für Phänomene > 
des inneren Gebietes, und die frühesten Erzeugnisse der 
Dichtkunst beweisen, dass schon vor Beginn der griechischen 
Philosophie der Hauptsache nach dieselben Unterscheidungen 
gemacht waren, welche noch jetzt eine im Leben gangbare 
Bezeichnung finden. Bevor jedoch Sokrates zur Definition 
anregte, mit welcher die wissenschaftliche Classification aufs 
Innigste zusammenhängt, wurde von keinem Philosophen ein 



i 

i 



234 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

nennenswerther Versuch zu einer Grundeintheilung der psy- 
chischen Erscheinungen gemacht. 

Pia ton gebührt wohl das Verdienst, hier die Bahn ge- 
brochen zu 'haben. Er unterschied drei Grundclassen der 
psychischen Phänomene, oder vielmehr, wie er sich aus- 
drückte , drei Theile der Seele , von denen jeder besondere 
Seelenthätigkeiten umschloss; nämlich den begierlichen, 
den zornmüthigen und den vernünftigen Seelentheil^). 
Diesen drei Theilen entsprachen, wie wir schon gelegentlich 
bemerkten*), die drei Stände, welche Piaton als die haupt- 
sächlichsten im Staate unterschied: der Stand der Erwer- 
benden, welcher die Hirten, Ackerbauer, Handwerker, Kauf- 
leute und andere umfasste, der Stand der Wächter oder 
Krieger und der Stand der Herrscher. Auch sollten sich 
nach denselben drei Seelentheilen und in Rücksicht auf ihr 
relatives Uebergewicht die drei hauptsächlichen Völkergrup- 
pen, die der verweichlichten, nach den Genüssen des Keich- 
thums jagenden Südländer (Phönicier und Aegypter), die der 
tapferen aber rohen nördlichen Barbaren und die der bil- 
dungsliebenden Hellenen unterscheiden. 

Wie Piaton seine Eintheilung bei der Bestimmung der 
wesentlichsten Unterschiede von Richtungen des Strebens als 
Anhalt benützte, so scheint er sie im Hinblicke auf solche 
Verschiedenheiten auch aufgesteUt zu haben. Er fand in 
dem Menschen einen Kampf von Gegensätzen ; einmal zwischen 
den Forderungen der Vernunft und den sinnlichen Trieben; 
dann aber auch zwischen den sinnlichen Trieben selbst; und 
hier schien ihm der Gegensatz von heftig aufbrausender Lei- 
denschaft, die dem Schmerz und Tod entgegenstürmt, und 
weichlichem Hang zum Genüsse, der vor jedem Schmerze sich 
zurückzieht, besonders auffallend und nicht minder gross als 
der Gegensatz zwischen vernünftigem und unvernünftigem 
Verlangen selbst. So glaubte er drei, auch ihrem Sitze nach 



') Die griechischen Ausdrücke sind t6 intd^v/j,riTix6v, t6 S-vfio€&^^ 
und t6 XoyiOTixov. 

«) Buch 1. Cap. 2. §. 7. 



Capitel 5. Die vorzüglichsten Classificationsv ersuche. 235 

verschiedene, Seelentheile anerkennen zu sollen. Der ver- 
nünftige Theil sollte im Haupte, der zommüthige im Herzen, 
der begierliche im Unterleibe wohnen ^) ; der erste jedoch so, 
dass er vom Leibe trennbar und unsterblich sei, und nur die 
beiden anderen an ihm haftend und in ihrem Bestehen an 
ihn gebunden. Auch hinsichtlich ihrer Verbreitung über einen 
engeren oder weiteren Kreis von lebenden Wesen glaubte 
Piaton sie verschieden. Der vernünftige Theil sollte unter 
allem, was auf Erden lebt, nur dem Menschen zukommen, 
den zoinmüthigen sollte der Mansch mit den Thieren , den 
begierlichen endlich sowohl mit ihnen als auch mit den Pflan- 
zen gemein haben. 

Die ünvollkommenheit dieser Eintheilung ist leicht er- 
kennbar. Ihre Wurzeln liegen einseitig auf ethischem Ge- 
biete, und dem widerspricht es nicht, wenn ein Theil als der 
vernünftige bezeichnet wird, da Piaton wie Sokrates die Tu- 
gend als ein Wissen betrachtete. Sobald man bestimmen 
will, welchem Theile diese oder jene einzelne Thätigkeit zu- 
zuschreiben sei, kommt man in Verlegenheit. Die sinnliche 
Wahrnehmung z. B. scheint sowohl dem begierlichen als zom- 
müthigen zugeschrieben werden zu müssen und an gewissen 
Stellen scheint Piaton mit anderen Weisen der Erkenntniss 
auch sie dem vernünftigen Theile beizulegen 2). Auch die 
Anwendungen, die Piaton von der Eintheilung macht, und 
in deren vermeintem Gelingen er eine Bestärkung finden 



^) Schon Demokrit hat^ geglaubt, das Denken habe im Gehirn, 
der Zorn im Herzen seinen Sitz. Die Begierde hatte er in die Leber 
verlegt. Dies wäre ein anbedeutender Unterschied von der späteren 
Platonischen Lehre. Aber nichts macht wahrscheinlich, dass Demokrit 
in diesen drei Theilen 'die Gesammtheit der Seelenthätigkeiten begrei- 
fen wollte; vielmehr verlangte der Zusammenbang seiner Ansichten, 
dass er jedes Organ mit besonderen Seelenthätigkeiten begabt dachte, 
und eben darauf scheint eine Stelle Plutarch*s hinzudeuten. (Plac. IV. 
4. 3.) So können wir denn überhaupt nicht sagen, dass von Demokrit 
bereits ein Versuch zu einer Grundeintheilung der psychischen Phä- 
nomene gemacht worden sei. 

') Vgl. Zeller's Bemerkungen in seiner Philosophie der Griechen, 
II, a. 2. Aufl. S. 540. 



236 Buch II. YoD, den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

mochte, zeigen vielmehr aufs Neue ihre Schwäche. Es wird 
heutzutage kaum Jemand geneigt sein, mit Flaton in den 
drei Ständen der Erwerbenden, Krieger und Herrscher die 
hauptsächlichen Berufsthätigkeiten , welche in der Gesell- 
schaft sich auseinanderzweigen, in erschöpfender Weise dar- 
gestellt zu sehen. Weder die Kunst findet in ihr die ge- 
bührende Stelle, noch die Wissenschaft. Denn die Erfah- 
rung zeigt zu deutlich die Verschiedenheit der Begabung für 
theoretische und praktische Leistungen, als dass wir in der 
Tüchtigkeit des wissenschaftüchen Denkers nicht eine ganz 
andere Art von Vollkommenheit als in der Tüchtigkeit des 
Herrschers anerkennen müssten ; abgesehen davon, dass durch 
die Herrschaft eines Philosophen, die Piaton als Ideal vor- 
schwebte, die Freiheit der Wissenschaft, und somit ihr un- 
gehemmter Fortschritt, am Allermeisten gefährdet sein würde. 
Nichtsdestoweniger lagen in der Platonischen Eintheilung 
die Keime für die Bestimmungen, welche bei Aristoteles ihre 
Stelle einnahmen, und welche, ungleich bedeutender als die 
Platon^s selbst, für Jahrtausende maassgebend geworden sind. 

§. 2. Wir finden bei Aristoteles drei Grundeinthei- 
lungen der psychischen Phänomene, von welchen jedoch zwei, 
in ihrer Gliederung vollkommen sich deckend, als eine be- 
trachtet werden können. 

Einmal unterschied er die Seelenerscheinungen, insofern 
er die einen für Thätigkeiten des Central Organs, die 
anderen für immateriell hielt, |ilso in Phänomene eines 
sterblichen und unsterblichen Seelentheiles. 

Dann unterschied er sie nach ihrer grösseren oder ge- 
ringeren Verbreitung in allgemein animalische und 
eigenthtimlich men-schliche. Diese Eintheilung er- 
scheint bei ihm dreigliederig, indem Aristoteles vermöge sei- 
nes weiteren Begriffes des Seehschen, wie wir schon früher 
hörten, auch die Pflanzen für beseelt erklärte. Er zählt 
darum einen vegetativen, sensitiven und intellectiven Theil 
der Seele auf. Der erste, der die Phänomene der Ernährung, 
des Wachsthums und der Erzeugung in sich schüesst, soll 



Capitel 5. Die Torzüglichsten Classificationsversuclie. 237 

allen irdischen lebenden Wesen, auch den Pflanzen, gemein- 
sam zukommen. Der zweite, der Sinn und Phantasie und 
andere verwandte Erscheinungen und mit ihnen die Aflfecte 
enthält, gilt ihm als der speciflsch animalische. Den dritten 
endlich, welcher das höhere Denken und Wollen in sich be- 
greift, glaubt er unter den irdischen lebenden Wesen dem 
Menschen ausschliesslich eigenthümlich. Aber in Folge der 
Beschränkung, welche der Begrifif der psychischen Thätigkeit 
später erfuhr, fällt das erste der drei Glieder gänzlich ausser- 
halb ihres Bereiches. Die Seelenthätigkeiten im neueren 
Sinne des Wortes hat also Aristoteles vermöge dieser Ein- 
theilung nur in die zwei Gruppen der allgemein animalischen 
und eigenthümlich menschlichen zerlegt. Diese Glieder fallen 
mit den Gliedern der ersten zusammen. Ihre Ordnung aber 
bestimmt der Grad der Allgemeinheit ihres Bestehens. 

Eine andere Haupteintheilung, die Aristoteles gibt, schei- 
det die psychischen Phänomene, — das Wort in unserem 
Sinne genommen^), — in Denken und Begehren, vovg 
und oge^cg, im weitesten Sinne. Diese Eintheilung kreuzt 
sich bei ihm mit der vorigen, so weit sie für uns in Betracht 
kommt. Denn in der Classe des Denkens fasst Aristoteles 
mit den höchsten Verstandesbethätigungen , wie Abstraction, 
Bildung allgemeiner ürtheile und wissenschaftlicher Schluss- 
folgerung, auch Sinneswahrnehmung und Phantasie, Gedächt- 
niss und erfahrungsmässige Erwartung zusammen. In der 
des Begehrens aber sind . ebenso das höhere Verlangen und 
Streben wie der niedrigste Trieb, und mit ihnen alle Geflihle 
und Affecte, kurzum alles, was von psychischen Phänomenen 
der ersten Classe nicht einzuordnen ist, begriffen. 

Wenn wir untersuchen, was Aristoteles dazu geführt habe, 
vermöge dieser Eintheilung zu verbinden, was die frühere 
Eintheilung geschieden hatte: so erkennen wir leicht, dass 
ihn dabei eine gewisse Aehnlichkeit bestimmte, welche das 
sinnliche Vorstellen und Scheinen mit dem intellectuellen, 
begrifflichen Vorstellen und für - wahr - Halten und ebenso das 



*) Vgl. De Anim. III, 9. Anf. 10. Anf. 



238 Buch ir. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

niedere Begehren mit dem höheren Streben zeigt. Er fand 
hier und dort, um es mit einem Ausdrucke, den wir schon 
früher einmal den Scholastikern entlehnten, zu bezeichnen, 
die gleiche Weise der intentionalen Inexistenz. Und aus 
demselben Principe ergab sich dann auch die Trennung von 
Thätigkeiten, welche die frühere Einthellung verbunden hatte, 
in verschiedene Classen. Denn die Beziehung auf den Gegen- 
stand ist bei Denken und Begehren verschieden. Und darein 
eben setzte Aristoteles den Unterschied der beiden Classen. 
Nicht auf verschiedene Objecte glaubte er sie gerichtet, son- 
dern auf dieselben Objecte in verschiedener Weise. Deutlich 
sagt er, sowohl in seinen Büchern von der Seele als in sei- 
ner Metaphysik, dass dasselbe Gegenstand des Denkens und 
Begehrens sei und, zuerst im Denkvermögen aufgenommen, 
dann das Begehren bewege^). Wie also bei der früheren 
Eintheilung (üe Verschiedenheit des Trägers der psychischen 
Phänomene so wie die Verbreitung über einen weiteren oder 
engeren Kreis psychisch begabter Wesen den Eintheüungs- 
grund bildete, so bildet ihn bei dieser der Unterschied in 
ihrer Beziehung auf den immanenten Gegenstand. Die Ord- 
nung der Aufeinanderfolge der Glieder ist durch, die relative 
Unabhängigkeit der Phänomene bestimmt 2). Die Vorstel- 
lungen gehören zur ersten Classe; ein Vorstellen aber ist 
die nothwendige Vorbedingung eines jeden Begehrens. 

§.3. Im Mittelalter blieben die Aristotelischen Ein- 
theilungen wesentüch in Kraft; ja bis in die neue Zeit hin- 
ein reicht ihr Einfluss. 

Wenn Wolff die Seelenvermögen einmal in höhere 
und niedere und dann in Erkenntniss- und Begeh- 
rungsvermögen scheidet und diese zwei Eintheilungen 
sich kreuzen lässt, so erkennen wir hierin leicht ein der 
doppelten Aristotelischen Gliederung wesentlich entsprechen- 
des Schema. 



*) De Anim. III, 10. Metaph. A^ 7. 
*) Vgl. die oben citirten Stellen. 



Capitel 5. Die vorzüglichsten ClaBsifici^tioasversaclie. 239 

Auch in England hat wenigstens die letzte Eintheilung 
sehr lange nachgewirkt. Den Untersuchungen von Hume 
liegt sie zu Grunde; und Reid sowohl als Brown brachten 
nur unbedeutende und keineswegs glückliche Aenderungen 
an, wenn jener intellective und active^) Seelenvermögen 
unterschied, und dieser, nachdem er zunächst die Empfin* 
düngen als äussere Aflectionen allen übrigen als inneren 
Affectionen gegenübergestellt hatte, die letzteren dann in 
intellectuelle Geisteszustände und Gemüthsbe- 
wegungen sonderte*). Alles, was Aristoteles unter seiner 
oQB^ig, begreift Brown unter der letztgenannten Glasse. 

§. 4. Eine Eintheilung, die in ihrer Abweichung be- 
deutender und in ihrem Einflüsse nachhaltiger war, und die 
gemeiniglich noch heute als ein Fortschritt ih der Classifica- 
tion der psychischen Erscheinungen betrachtet wird, wurde 
in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von Tetens 
und Mendelssohn aufgestellt. Sie schieden die Seelenthä- 
tigkeiten in drei coordinirte Classen und nahmen für jede 
von ihnen ein besonderes Seelenvermögen an. Tetens 
nannte seine drei Grundvermögen Gefühl, Verstand und 
Thätigkeitskraft*) (Willen); Mendelssohn bezeichnete 
sie als Erkenntnissvermögen, als Empfindungs- 
oder Billigungsvermögen („vermöge dessen wir an einer 
Sache Lust oder Unlust empfinden") und als Begehrungs- 
vermögen*). Kant, ihr Zeitgenosse, machte die neue 



^) Aristoteles hatte das Begehren zugleich fiir das Princip der will- 
kürlichen Bewegung erklärt (De Anim. III, 10.) 

*) Extemal — internal affections; intellectual states of mind — 
emotions. 

') Ueber die menschliche Natur I. Versuch X. S. 625. (1777 er- 
schienen.) 

^) In einer Bemerkung über das Erkenntniss - , Empfindungs- und 
Begehrungsvermögen, die, obwohl erst in den gesammelten Schriften 
(TV. S. 122 ff.) gedruckt, aus dem Jahre 1776 stammt, und in den 1785 
erschienenen Morgenstunden, Vorles. YII. (ges. Schriften II. S. 295). 



240 Bach II. Von den peychischen Phfinomenen im Allgemeinen. 

Classification in seiner Weise ^) sich eigen; er nannte die 
drei Seelenvermögen das Er kenn tnissv er mögen, das 
Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungs- 
vermögen und legte sie der Eintheilung seiner kritischen 
Philosophie zu Grunde. Seine „Kritik der reinen Vernunft'^ 
bezieht sich auf aas Erkenntnissvermögen , insofern es die 
Principien des Erkennens selbst, seine „Kritik der Urtheils- 
kraft" auf das Erkenntm'ssvermögen, insofern es die Principien 
des Fühlens, seine „Kritik der praktischen Vernunft" end- 
lich auf das Erkenntnissvermögen, insofern es die Principien 
des Begehrens enthält. Hiedurch vorzüglich gewann die Clas- 
sification Einfiuss und Verbreitung, so dass sie noch heute 
ziemlich allgemein herrschend ist. 

Kant hält die Eintheilung der Seelenthätigkeiten in Er- 
kennen, Fühlen und Wollen darum für fundamental, weil er 
glaubt, dass keine der drei Classen aus der anderen ableit- 
bar sei, oder mit ihr auf eine dritte als ihre gemeinschaft- 
liche Wurzel zurückgeführt werden könne ^). Die Unter- 
schiede zwischen dem Erkennen und Fühlen seien zu gross, 
als dass etwas Derartiges denkbar scheine. Wie auch immer 
Lust und Unlust ein Erkennen voraussetzen, so sei doch" 
eine Erkenntniss schlechterdings kein Gefühl, und ein Gefühl 
schlechterdings keine Erkenntniss. Und ebenso zeige das 
Begehren sich der einen und dem anderen völlig heterogen. 
Denn jedes Begehren, und nicht bloss das ausgesprochene 
Wollen, sondern auch der ohnmächtige Wunsch, ja selbst die 
Sehnsucht nach dem anerkannt UnmögUchen *) , sei ein Stre- 
ben nach der Verwirklichung eines Objectes, während die 
Erkenntniss das Object nur erfasse und beurtheile, das Ge- 
fühl der Lust aber gar nicht auf das Object, sondern bloss 



*) Vgl. darüber J. B. Meyer, Kantus Psychologie S. 41 ff. 

2) „Alle Seelenvermögen oder Fähigkeiten können auf die drei 
zurückgeführt werden, welche sich nicht ferner aus einem gemeinschaft- 
liehen Grunde ableiten lassen: das Erkenntnissvermögen, das Gefühl 
der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen.*' (Kritik der Ur* 
theibkraft, Einleit, III.) 

') Ebend. Anm. 



Capitel 5. Die vorzügUcbsten ClaasificationBversuche. 241 

auf das Subject sich beziehe, indem es für sich selbst Grund 
sei, seine eigene Existenz im Subjecte zu erhalten^). 

Die Bemerkungen Kant's zur Begründung und Rechtfer- 
tigung seiner Eintheilung sind spärUch. Da aber später 
manche Philosophen, wie Carus, Weiss, Krug und andere, 
die wieder auf die Zweitheilung von Vorstellungs - und Be- 
strebungsvermögen zurückgingen, sie nicht bloss angriffen, 
sondern sie als von vorn herein unmöglich hinstellen wollten, 
übernahmen Andere, und namenthch W. Hamilton, ihre Ver- 
theidigung und fuhrtendie Gedanken, die Kant bloss angedeu- 
tet hatte, weiter aus. 

Die Angriflfe waren freilich sonderbar. So argumentirte 
Krug, nur darum seien Vorstellungs- und Bestrebungsver- 
mögen als zwei anzusehen, weil die Thätigkeit des Geistes 
eine doppelte Richtung, eine Richtung einwärts und eine Rich- 
tung auswärts, habe. Daher seien die Bethätigungen des 
Geistes in immanente oder theoretische und in transeunte 
oder praktische zu scheiden. Unmöglich aber sei es, zwischen 
ihnen eine dritte Classe einzuschieben; denn diese müsste 



') In dem Abschnitte der Abhandlung über die Philosophie über- 
haupt, in welchem Kant „Von dem System aller Vermögen des mensch- 
lichen Gemüths^' handelt und ausführlicher als anderwärts seine Lehre 
vorträgt und begründet, sagt er, man habe von Seiten gewisser Philo- 
sophen sich bemüht, die Verschiedenheit des Erkenntuissvermögens, 
des Gefühles für Lust und Unlust und des Begehrungsvermögens „nur 
für scheinbar zu erklären und alle Vermögen aufs blosse Erkenntniss. 
vermögen zu bringen*^ Aber vergeblich. „Denn es ist immer ein 
grosser Unterschied zwischen Vorstellungen, so ferne sie, bloss aufs 
Object und die Einheit des Bewnsstseins desselben bezogen, zum Er- 
kenntniss gehören, ingleichen zwischen derjenigen objectiven Be- 
ziehung, da sie, zugleich als Ursache der Wirklichkeit dieses Objects 
betrachtet, zum Begehrungsvermögen gezählt werden , und ihrer 
Beziehung bloss auf's Subject, da sie für sich selbst Gründe sind, ihre 
eigene Existenz in demselben bloss zu erhalten, und so ferne im Ver- 
hältnisse zum Ge fühle derLusjt betrachtet werden, welches letztere 
schlechterdings kein Erkenntniss ist noch verschafft, ob es zwar der- 
gleichen zum Bestimmungsgrunde voraussetzen mag/^ (Kant's Werke, 
Ausgabe v. Rosenkranz 1. S. 586 ff.) 

Brentano, Psychologie. I. 16 



I» 



242 Such IL Voa den psychiBchen Phänomenen im Allgemeinen. 

eine Richtung haben, die weder einwärts noch auswärts ging, 
was undenkbar sei. 

Hamilton musste es leicht werden, ein solches Raison- 
nement als nichtig darzuthun. Warum, fragt er mit Biunde, 
sollten wir nicht vielmehr sagen, dass drei Gattungen von 
Thätigkeiten in der Seele zu denken seien, von welchen die 
einen ineunt, die anderen immanent, die dritten transeunt 
wären ^)? — Und wirklich käme man auf diesem, allerdings 
etwas abenteuerlichen, Wege zu ein«r Classification, die in 
ihren drei GHedem mit dem, was Kant in der oben citirten 
Stelle: von Erkenntniss, Gefühl und Begehren sagte, ziemlich 
gut stimmen würde. 

Aber Hamilton weist nicht bloss diesen Angriff zurück; 
er versucht auch eine positive Begründung der Nothwendig- 
keit der Annahme der Gefühle als einer besonderen Grund- 
classe. Zu diesem Zwecke zeigt er, dass es gewisse Zustände 
des Bewusstseins gebe, die weder als ein Denken noch auch 
als ein Bestreben classificirt werden können. Solche seien 
die Gemüthsbewegungen, die in Jemand erregt werden, wenn 
er den Bericht vom Tode des Leonidas bei den Thermopylen 
lese, oder wenn er die folgende schöne Strophe aus einer 
bekannten alten Ballade höre: 

„Um Widdrington hüllt Gram mein Haupt, 
Weil ihn der Tod rafff hin, 
Der, als die Füsse ihm gerauht, 
Noch focht auf seinen Knien/* 

Solche Gemüthsbewegungen seien kein blosses Denken; und 
auch als Wollen oder Begehren lassen sie sich nicht bezeich- 
nen. Aber doch gehören auch sie zu den psychischen Phä- 
nomenen, und somit sei es nothwendig, den beiden Classen 
eine dritte zu coordiniren , die man mit Kant als die der 
Gefühle bezeichnen könne*). 

Dass dieses Argument ungenügend sei, ist leicht erkenn- 
bar. Es könnte sein, dass die Ausdrücke Wollen und Be- 
gehren nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauche zu eng 

^) Sir W. Hamilton, Lectures on Metaphysics II. p. 423. 
>) £bend. II. p. 420. 



Capitel 5. Die Torzüglichsten ClassificationsYenache. 243 



wären, um alle psychischen Phänomene ausser den Phänome- 
nen des Denkens zu umfassen, und dass überhaupt ein hiezu 
geeigneter Namen in der gewöhnlichen Sprache fehlte, dass 
aber nichtsdestoweniger die Erscheinungen, die wir Begierden 
und die, welche wir Gefühle nennen, zusammen eine einheit- 
liche^ weitere und den Phänomenen des Denkens naturgemäss 
coordinirte Classe psychischer Phänomene bildeten. Eine 
wahre Rechtfertigung der Eintheilung ist nicht möglich ohne 
Darlegung des Eintheilungsprindps. Und Hamilton versäumt 
nicht, an einer anderen Stelle eine solche zu geben, indem 
er mit Kant die drei Classen für Phänomene verschiedener 
Vermögen der Seele erklärt, von welchen keines einer Ab- 
leitung fähig sei. 

Descartes, Leibnitz, Spinoza, Wolflf, Platner und andere 
Philosophen, sagt er, haben, weil die Erkenntniss des inneren 
Bewusstseins alle Phänomene begleitet, das Vorstellungsver- 
mögen als das Grundvermögen des Geistes betrachten zu 
müssen geglaubt, von dem die anderen nur abgeleitet seien. 
Allein mit Unrecht. „Diese Philosophen bemerkten nicht, 
dass obwohl Lust und Schmerz und ebenso Begehren und 
Wollen nur sind, insofern sie als seiend erkannt werden, den- 
noch in diesen Modificationen eine absolut neue Qualität, ein 
absolut neues Geistesphänomen hinzugekommen ist, welches 
niemals in der Fähigkeit der Erkenntniss inbegriffen war 
und daher auch nie aus ihr entwickelt werden konnte. Die 
Fähigkeit des Erkennens ist unstreitig die erste der Ordnung 
nach und so die conditio sine qua non der anderen, und wir 
sind fähig ein Wesen zu denken, das etwas als seiend zu 
erkennen fähig ist und doch gänzlich aller Gefühle von Lust 
und Schmerz, aller Fähigkeiten zum Begehren und Wollen 
ermangelt. Auf der anderen Seite sind wir völlig unfähig 
ein Wesen zu denken, welches, im Besitze von Gefühl und 
Begehren, — zugleich ohne Erkenntniss irgend welchen Ob- 
jectes, auf welches seine Affecte sich richteten und ohne ein 
Bewusstsein von diesen Affectionen selbst wäre. 

„Wir können femer ein Wesen denken, welches mit Er- 
kenntniss und Gefühl allein ausgestattet wäre, ein Wesen, 

16* 



244 Buch II. Von den phsycbischen Phänomenen im Allgemeinen. 

begabt mit einer Fähigkeit, Objecte zu erkennen und sich 
freuend in der Ausübung, sich betrübend bei der Hemmung 
seiner Thätigkeit, — und dennoch beraubt jener Fähigkeit 
zur Willensenergie, jenes Bestrebens, welches wir im Menschen 
finden. Solei} einem Wesgn würden Gefühle von Schmerz 
und Lust, nicht aber Begehren und Willen im eigentlichen 
Sinne zukommen. 

„Auf der anderen Seite jedoch können wir unmöglich 
denken, dass eine Willensthätigkeit unabhängig von allem 
Gefühle bestehe ; denn die Willensbestrebung ist eine Fähig- 
keit, welche nur durch einen Schmerz oder eine Lust zur 
Bethätigung bestimmt werden kann, — nämlich durch eine 
Schätzung des relativen Werthes der Objecte^." 

Diese Rechtfertigung der Classification in Bezug auf 
Princip, Zahl, Art und Ordnung der Glieder darf wohl als 
eine weitere Ausführung der Bemerkungen Kant' s im gleichen 
Sinne betrachtet werden. 

Hören wir auch noch Lotze, der gegenüber Herbart's 
neuem Versuche, jede Mehrheit von Vermögen zu beseitigen, 
in seiner Medicinischen Psychologie und mehr noch in seinem 
Mikrokosmus der Kant'schen Dreitheilung eine eingehende 
Vertheidigung widmet. 

„Die frühere Psychologie", sagt Lotze, „hat geglaubt, dass 
Gefühl und Wille eigen thümliche Elemente enthalten, welche 
weder aus der Natur des Vorstellens fliessen, noch aus dem 
allgemeinen Charakter des Bewusstseins , an dem beide ^mit 
diesem zugleich Theil haben; dem Veimögen des Vorstellens 
wurden sie desshalb als zwei ebenso ursprüngliche Fähigkeiten 
zugesellt, und neuere Auffassungen scheinen nicht glücklich 
in der Widerlegung der Gründe, die zu dieser Dreiheit der 
Urvermögen veranlassten. Zwar nicht das können wir 
behaupten wollen, dass Vorstellen, Gefühl und Wille als drei 
unabhängige Entwickelungsreihen mit geschiedenen Wurzeln 
entspringend sich in den Boden der Seele theilen, und jede 
für sich fortwachsend, nur mit ihren letzten Verzweigungen 



^) Lect. on Metaph. I. p. 187 s.; vgl. II. p. 431. 



/ 



Capitel 5. Die vorzüglichsten ClassificatioDBYersüche. 245 

sich ZU mannigfachen Wechselwirkungen berühren. Zu deut- 
lich zeigt die Beobachtung, dass meistens Ereignisse des Vor- 
stellungslaufes die Anknüpfungspunkte der Gefühle sind und 
dass aus diesen, aus Lust und Unlust, sich begehrende und 
abstossende Strebungen entwickeln. Aber diese offen vor- 
liegende Abhängigkeit entscheidet doch nicht darüber, ob hier 
das vorangehende Ereigniss in der That als die volle und 
hinreichend bewirkende Ursache aus eigener Kraft das nach- 
folgende erzeugt, oder ob es nur als veranlassende Gelegen- 
heit dieses nach sich zieht, indem es zum Theil mit der frem- 
den* Kraft einer unserer Beobachtung entgehenden, im Stillen 
mithelfenden Bedingung wirksam ist. . . . 

„Die Vergleichung jener geistigen Erscheinungen nöthigt 
uns, wenn wir nicht irren, zu dieser letzteren Annahme. 
Betrachten wir die Seele nur als vorstellendes Wesen, so 
werden wir in keiner noch so eigenthümlichen Lage, in welche 
sie durch die Ausübung dieser Thätigkeit geriethe, einen hin- 
länglichen Grund entdecken, der sie nöthigte, nun aus dieser 
Weise ihres Aeusserns hinauszugehen und Gefühle der Lust 
und Unlust in sich zu entwickeln. Allerdings kann es 
scheinen, als verstände im Gegentheil nichts so sehr sich von 
selbst, als dass unversöhnte Gegensätze' zwischen mannig- 
fachen Vorstellungen, deren Widerstreit der Seele Gewalt 
anthut, ihr Unlust erregen, und dass aus dieser ein Streben 
nach heilender Verbesserung entspringen müsse. Aber nur 
uns scheint dies so, die wir eben mehr als vorstellende Wesen 
sind; nicht von selbst versteht sich die Nothwendigkeit jener 
Aufeinanderfolge, sondern sie versteht sich aus dem allgemei- 
nen Herkommen unserer inneren Erfahrung, die uns längst 
an ihre thatsächliche Unvermeidlichkeit gewöhnt hat und uns 
darüber hinwegsehen lässt, dass in Wahrheit hier zwischen 
jedem vorangehenden und dem folgenden Gliede der Reihe 
eine Lücke ist, die wir nur durch Hinzunahme einer noch 
unbeobachteten Bedingung ausfüllen können. Sehen wir ab 
von dieser Erfahrung, so würde die bloss vorstellende Seele 
keinen Grund in sich finden, eine innere Veränderung, wäre 
sie selbst gefahrdrohend für die Fortdauer ihres Daseins, 



246 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

anders als mit der gleichgültigen Schärfe der Beobachtung 
aufzufassen, mit der sie jeden anderen Widerstreit von 
Kräften betrachten würde; entstände femer aus anderen 
Quellen doch neben der Wahrnehmung noch ein Gefühl, so 
würde doch die bloss fühlende Seele selbst in dem tödtenden 
Schmerze weder Grund noch Befähigung in sich finden, zu 
einem Streben nach Veränderung überzugehen; sie würde 
leiden, ohne zum Wollen aufgeregt zu werden. Da dies nun 
nicht so ist, und damit es anders sein könne, muss die 
Fähigkeit, Lust und Unlust zu fühlen, ursprünglich in der 
Seele liegen, und die Ereignisse des Vorstellungslaufes, zurück- 
wirkend auf die Natur der Seele, wecken sie zur Aeusserung, 
ohne sie erst aus sich zu erzeugen ; welche Gefühle femer das 
Gemüth beherrschen mögen, sie bringen nicht ein Streben 
hervor, sondern sie werden nur zu Beweggründen für ein 
vorhandenes Vermögen des Wollens, das sie in der Seele 
vorfinden, ohne es ihr jemals geben zu können, wenn es ihr 

fehlte. ... 

« 
„So würden nun diese drei ürvermögen sich als stufen- 
weise höhere Anlagen darstellen, und die Aeussemng der 
einen die Thätigkeit der folgenden auslösen^)." 

Lotze führt seine Erläuterung und vertheidigende Begrün- 
dung der Kant'schen Classification noch weiter fort. Doch 
genügt die angezogene Stelle, um uns zu zeigen, dass er ihr 
Princip eben so fasst wie Hamilton, und dass er auch in einer 
ganz ähnlichen Weise sowohl die Dreiheit der Vermögen, als 
auch ihre Ordnung feststellt. Beide thun eben nichts Ande- 
res, als dass sie den Gedanken Kant'ß weiter ausführen. 

Indessen scheint das Princip, welches Kant bei seiner 
Grundeintheilung der psychischen Phänomene anwandte, und 
welches Hamilton sowohl als Lotze und mit ihnen viele Andere 
sich eigen mächten, zur Bestimmung der höchsten Glassen 
wenig geeignet ; und dies nicht etwa, weil Herbart 's Meinung 



1) Mikrokosmus I. S. 193 ff. 



Capitel 5. Die Torzüglichsten Classificationsyersuche. 247 

sich aufrecht erhalten liesse, sondern, ich möchte sagen, aus 
einem entgegengesetzten Grunde. 

Wenn zwei psychische Phänomene, schon desshalb, weil aus 
der Fähigkeit zu dem einen auf die Fähigkeit zu dem anderen 
nicht von vorn herein geschlossen werden kann, verschiedenen 
Grundclassen zuzurechnen wären, so müsste man nicht bloss, 
wie Kant, Hamilton und Lotze wollen, das Vorstellen vom 
Fühlen und Begehren, sondern auch das Sehen vom Schmecken, 
ja das Roth-Sehen vom Blau-Sehen als von einem Phänomene 
scheiden, das zu einer anderen höchsten Classe gehörte. 

In Betreff des Sehens und Schmeckens ist, was ich sagte, 
einleuchtend ; gibt es ja zahlreiche Gattungen von niederen 
Thieren^ die am Geschmacke, nicht aber am Gesichte Theil 
haben. Aber auch für Roth-Sehen und Blau-Sehen gilt, wie. 
gesagt, dasselbe ; und ein handgreiflicher Beweis liegt in der 
Thatsache der Rothblindheit, dem sogenannten Daltonismus, vor. 
Der Rothblinde sieht nur die mittleren Farben des Spectrums, 
während die stärker oder schwächer gebrochenen Licht- 
strahlen wie Roth und Violett ihm entgehen. Auch gibt es 
bekanntlich Lichtarten, welche selbst das normale Auge nicht 
zu sehen fähig ist; jene nämlich, die stärker als Roth und 
schwächer als Violett gebrochen werden, und von denen wir 
nur durch ihre chemischen Wirkungen und* durch ihren Ein- 
fluss auf die Temperatur, so wie durch solche Experimente 
Kenntniss gewinnen, durch welche es gelingt, eine prisma- 
tische Farbe in eine andere von stärkerer oder schwächerer 
Brechung zu verwandeln. Auf diese Weise verwandeln wir 
auch uns unsichtbare Lichtstrahlen in sichtbare. Es steht 
offenbar nichts im Wege anzunehmen, dass bei anderen Augen 
oder bei einem anderen Gesichtssinne als dem unsrigen, eine 
ausgedehntere Farbenscala möglich sein würde, welche auch 
die uns unempfindlichen Lichtarten in sich begriffe und so sich 
zu der unsrigen, wie diese zu der des Rothblinden, verhielte. 

Diese Betrachtungen zeigen gewiss aufs Deutlichste, dass 
die Fähigkeit tür eine Farbenwahmehmung nicht von vorn 
herein auf die Fähigkeit für eine andere schliessen lässt. 
Und in der That würden wir, auf das Sehen des Grünen 



248 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

beschränkt, nie eine Ahnung vom Gelben bekommen. Auch 
J. St. MiU betrachtet darum die Erscheinung jeder einzelnen 
Farbe als eine letzte unableitbare Thatsache^). 

Nun sieht aber jeder ein, dass es ungereimt wäre, die 
Vorstellungen von Roth und anderen einzelnen Farbenarten, 
als Phänomene, die auf verschiedenen ursprünglichen, nicht 
von einander ableitbaren Vermögen beruhten, verschiedenen 
höchsten Classen zuzuweisen. Und somit sehen wir uns zu 
dem Schlüsse genöthigt, dass dieses Eintheilungsprincip fllr 
die Bestimmung der höchsten Classen der psychischen Phä- 
nomene in keiner IVeise geeignet ist. Wäre dies aber der 
Fall, so würden wir offenbar nicht Denken, Fühlen und 
Streben, sondern eine ungleich grössere Zahl von höchsten 
Classen der psychischen Phänomene zu unterscheiden haben. 

Es ist gewiss etwas Missliches, zu behaupten, dass Kant 
und die bedeutenden Männer, welche nach ihm seine Drei- 
theilung vertraten, sich über das Princip, welches sie bei ihrer 
Classification bestimmte, selbst nicht genügend Rechenschaft 
gegeben hätten. Und zudem finden wir, dass auch schon 
die Vorläufer Kant's, Tetens und Mendelssohn, sich auf 
die Unableitbarkeit der Vermögen als Bürgschaft für ihre 
Grundeintheilung beriefen. Dennoch lässt sich, wenn man 
das Missverhältniss zwischen dem angeblichen Eintheilungs- 
grunde und der Gliederung der Eintheilung in's Auge fesst, 
die Annahme nicht umgehen, dass alle diese Denker, sich 
selbst mehr oder minder unbewusst, durch ganz andere 
Motive geleitet wurden. Und in ihren Aeusserungen finden 
sich deutliche Spuren, die darauf hinweisen. 

Was Kant in Wahrheit bestimmte, die psychischen 
Thätigkeiten in seine drei Classen zu scheiden, war, glaube 
ich, ihre Uebereinstimmung oder Verschiedenheit unter einem 
ähnlichen Gesichtspunkte wie der, welcher Aristoteles bei 
seiner Unterscheidung von Denken und Begehren maassgebend 
gewesen ist. Eine Stelle, welche wir oben seiner Abhand- 



^) Deduct. und Induct. Log. Buch III. Cap. 14. §. 2. 



Capitel 5. Die yorzüglichsten Ciassificationsyersuche. 249 

lung über die Philosophie tib'erhaupt entlehnten, setzt die 
Verschiedenheit zwischen Erkennen und Begehren deut- 
lich in einen Unterschied der Beziehung aufs Object, während 
die Besonderheit des Fühle ns darin gesucht wird, dass hier 
jede derartige Beziehung mangele, indem das psychische Phä- 
nomen bloss aufs Subject Bezug habe ^). Das also war die 
grosse Differenz, aus welcher sich die gegenseitige ünableit- 
barkeit allerdings als eine Folgerung ergeben mochte, welche 
aber in .sich selbst eine tiefer einschneidende Kluft als die 
Unmöglichkeit der Ableitung war; eine Kluft, welche nicht 
ebenso in jenen anderen Fällen besteht, die zur Annahme be- 
sonderer ursprünglicher . Vermögen nöthigen. 

Dasselbe zeigt sieht bei Hamilton. Fragen wir ihn, 
warum er Gefühle und Strebungen als Phänomene besonderer 
Urvermögen bezeichne , und es für unmöglich halte , dass sie 
aus dem einen Grundvermögen erklärbß.r seien: so gibt er 
in dem zweiten Bande seiner Vorlesungen über Metaphysik 
folgende Antwort. Darum, sagt er, thue er dies, weil das 
Bewusstsein uns in diesen Phänomenen, obwohl ihnen wegen 
der inneren Wahrnehmung allgemein eine Erkenntniss bei- 
gemischt sei, ausser ihr gewisse Beschaffenheiten (certain 
qualities) zeige, die weder explicite noch implicite in den Phä- 
nomenen der Erkenntniss selbst erbalten seien. „Die Eigen- 
thümlichkeiten , wodurch [diese drei Classen gegenseitig sich 
von einander unterscheiden, sind folgende: Bei den Phäno- 
menen der Erkenntniss unterscheidet das Bewusstsein ein er- 
kanntes Object von dem erkennenden Subject. . . . Bei dem 
Gefühle, bei den Phänomenen von Lust und Schmerz ist dies 
dagegen nicht der Fall. Das Bewusstsein stellt hier nicht 
den psychischen Zustand sich selbst gegenüber, sondern ist 
gleichsam mit ihm in Eins verschmolzen. In dem Gefühle 
ist daher nichts, als was subjectivisch subjectiv (subjectively 
subjective) ist" — ein Ausspruch , dessen wir schon einmal 
Erwähnung gethan haben. „In den Phänomenen des Stre- 
bens, den Phänomenen der Begierde und des Willens, endlich 



^) S. 241. Anm. 1. 



250 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

findet sich zwar wie bei denen der Erkenntniss ein Object 
und zwar ein Object, das auch ein Object der Erkenntniss 
ist. Aber obwohl beide, Erkenntniss und Strebung, eine Re- 
lation zu einem Objecte in sich tragen, so sind sie doch unter- 
schieden durch die Verschiedenheit dieser Rela- 
tion selbst. Bei der Erkenntniss besteht kein Bedür&iss; 
und das Object wird weder gesucht noch gemieden ; während 
bei der Strebung ein Mangel und eine Neigung vorausgesetzt 
wird, welche zu dem Versuche fuhrt, entweder das Object 
zu erreichen (im Falle nämlich die Erkenntnissfähigkeiten es 
so geartet darstellen, dass es den Genuss dessen, was man 
bedarf, zu gewähren verspricht) oder das Object abzuhalten, 
wenn diese Thätigkeiten es so angethan erscheinen lassen, 
dass es den Versuch jenem Bedürfnisse zu genügen zu ver- 
eiteln droht »)." 

Diese Stelle aus Hamilton erscheint fast wie eine com- 
mentirende Paraphrase der zuvor erwähnten Bemerkung 
Kant's. Im Wesentlichen übereinstimmend, spricht sie nur 
ausführlicher und klarer. Und offenbar ist nach ihr der Ge- 
sichtspunkt, von welchem aus Hamilton, wenn man auf den 
letzten Grund geht, die psychischen Phänomene in verschie- 
dene höchste Classen zerlegt hat, wie bei Aristoteles jener 
der intentionalen Inexistenz. Bei einigen psychischen Phäno- 
menen findet sich, wie Hamilton meint, gar keine intentionale 
Inexistenz eines Objectes und als solche gelten ihm die Ge- 
fühle. Aber auch diejenigen, bei welchen sich eine finde, 
sollen nach ihm hinsichtlich der Weise dieser Inexistenz einen 
fundamentalen Unterschied zeigen und so in Gedanken und 
Strebungen zerfallen. 

Was schliesslich L o t z e betrifft, so fehlt es auch bei ihm 
nicht an Zeichen , dass ein bedeutenderes Moment als die 
blosse Unableitbarkeit der Vermögen ihn die drei Classen 
des Vorstellens, Fühlens und Strebens als die verschiedenen 
Grundclassen der Seelenerscheinungen betrachten liess. Nur 
der Umstand, dass die Unmöglichkeit der Ableitung von der 



^) Lect. on Metaph. II. p. 431, 



Capitel 5. Die vorzüglichsten Classificationsversuche. 251 

Herbart'schen Schule geleugnet worden war, fuhrt ihn dazu 
gerade diesen Punkt mit besonderem Nachdrucke zu betonen. 
Lotze verkennt so wenig, dass die nicht von dner anderen 
ableitbaren Fähigkeiten der Seele sich nicht auf eine Dreizahl 
beschränken : dass er vielmehr ebenso wie wir die Anlagen zum 
Sehen und HörjBn als verschiedene ursprüngliche Anlagen be- 
trachtet; und gerade bei seiner Untersuchung über die drei 
Grundclassen finden wir diese Wahrheit berührt^). Warum 
hat er nun die Vorstellungen von Tönen und Farben dennoch 
derselben Grundclasse zugetheilt, und ebenso andere Unter- 
schiede, welche man, namentlich innerhalb des Bereiches der 
Gefühle, leicht als ähnlich unableitbar nachweisen kann, 
bei seiner Grundeintheilung nicht maassgebend werden lassen ? 
Die Wahrnehmung eines ganz besonders tiefgehenden Unter- 
schiedes, der, zwischen jenen drei Classen vorhanden, nicht in 
gleicher Weise in anderen Fällen unmöglicher Ableitung gefun- 
den wird, muss hier bestimmend gewesen sein. Nach dem, was 
wir bei Kant und Hamilton gefunden, ist es aber von vorn herein 
zu vermuthen, dass eine Verschiedenheit der Seelenthätigkeiten 
in Rücksicht auf die Beziehung zum Objecte, auch Lotze dazu 
führte, gerade diese drei Classen als die am Meisten ver- 
schiedenen und als die Grundclassen der psychischen Erschei- 
nungen anzusehen. 

So bleibt denn nur noch zu untersuchen, ob man wirk- 
lich gut gethan habe, diesen Gesichtspunkt bei einer Haupt- 
eintheilung der Seelenthätigkeiten geltend zu machen ; so wie, 
ob die Dreitheilung in Denken, Fühlen, Streben mit den fun- 
damentalen Unterschieden, welche die psychischen Phänomene 
in dieser Beziehung zeigen, in Wahrheit coincidire und sie 
erschöpfe. Wenn wir am Ende dieses Ueberblickes über die 
bisher versuchten Classificationen uns selbst über die Frage 
zu entscheiden haben, werden wir auch diesen Punkt 
behandeln. 

§. 5. Wie schon bemerkt, ist die eben besprochene 



>) Mikrokosmus I. S. 198. 



252 Buch U. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Eintheilung des Bewusstseins in Vorstellung, Gefühl und 
Willen in neuerer Zeit sehr allgemein geworden. Auch 
Herbart und seine Schule haben sie angenommen; und bei 
den Darstellungen der empirischen Psychologie pflegen die 
Herbartianer in derselben Weise wie Andere sie der Ordnung 
des Stoffes zu Grunde| zu legen. Das Unterscheidende bei 
ihnen ist nur dies, dass sie die beiden letzten Classen nicht 
auf besondere Urvermögen zurückführen, sondern aus der 
ersten ableiten wollen; ein, wie schon wiederholt bemerkt, 
offenbar vergebliches Bemühen. 

§. 6. Unter den Vertretern der empirischen Schule in 
England, die in einem gewissen Gegensatze zur Schule 
Hamilton's steht, hat Alexandei' Bain ebenfalls seine Drei- 
theilung unter ähnlichen Namen aufgestellt. Er unter- 
scheidet: erstens Gedanken, Verstand oder Erkenntniss 
(Thought, Intellect or Cognition); zweitens Gefühl (Feeling); 
und endlich drittens Streben oder Willen (Volition or the 
' Will). Auch hier scheint also dieselbe Grundeintheilung uns 
zu begegnen, und Bain selbst beruft sich auf diese Ueberein- 
stimmung als auf eine Bestätigung. 

Wenn man indessen auf die Erklärungen achtet, die 
Bain von den drei Gliedern seiner Classification gibt, so 
zeigt sich, dass die Gleichheit der Ausdrücke eine grosse 
Verschiedenheit der Gedanken verdeckt. Unter der dritten 
Classe, dem Streben oder Willen, versteht Bain etwas ganz 
Anderes , als was die deutschen Psychologen so wie auch 
Hamilton mit dem Worte zu bezeichnen pflegen nämlich das 
von psychischen Phänomenen ausgehende Wirken, So erklärt 
er im Anfang seines umfangreichen Werkes über die Sinne 
und den Verstand, das Streben oder der Willen umfasse das 
Ganze unserer Activität, so weit sie von unseren 
Gefühlen geleitet werde*). Und weiter unten erläutert er den 
Begriff also : „Alle Wesen", sagt er, „die wir als mit Bewusst- 
sein begabt kennen, haben nicht bloss die Fähigkeit zu 



^) The Senses and the Intellect p. 2. 



Capitel 5. Die vorzüglichsten Classificationsversuche. 258 

fühlen, sondern auch zu handeln (act). Die Anwendung 
einer Kraft zur Erreichung eines Zweckes ist das Zeichen 
einer psychischen Natur. Essen, Gehen, Fliegen, 
Bauen, Sprechen, — sind Bethätigungen, die aus psychi- 
schen Bewegungen hervorgehen. Sie entspringen alle aus 
gewissen Gefühlen, die befriedigt werden sollen, und dieses 
gibt ihnen den Charakter eigenthümlicher psy- 
chischer Thätigkeiten. Wenn ein Thier seine Nahrung 
zerreisst, kaut und verschlingt, auf Beute Jagd 
macht oder vor einer Gefahr flieht, so sind es 
Empfindungen oder Gefühle, die seine Thätigkeit anregen 
und erhalten. Dieser dem Gefühle entstammten 
Activität geben wir den Namen Streben (Voli- 

tion)"0- 

Essen, Gehen, Sprechen und dergleichen würden wir 
nicht als Wollen, sondern nur etwa als Wirkungen eines 
Wollens bezeichnen. Kant allerdings spricht manchmal von 
dem Begehren, als verstehe er darunter ein Hervorbringen 
der begehrten Objecte. Er definirt in seiner Kritik der 
praktischen Vernunft das Begehrungsvermögen als „das Ver- 
mögen, durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklich- 
keit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein"*). Aber 
nimmermehr glaube ich, dass er sich dazu verstanden 
hätte, das Essen oder Gehen als ein Begehren zu bezeich- 
nen ; sondern Alles weist darauf hin, dass er nur in ungeeig- 
neter Weise seinen Gedanken erklärte^). Anders ist es bei 
Bain. Seine oben betrachteten Aussprüche nöthigen uns 
anzunehmen, dass er mit dem Namen ,, Willen" in Wahrheit 



') The Senses and the Indellect p. 4. Vgl. Mental and Moral 
Science p. 2. 

*) Kritik der praktischen Vernunft, Vorrede. Vgl. Kritik der 
UrtheiUkraft, Einleitung III. Anm. und die oben angezogene SteUe 
aus der Abhandlung über die Philosophie überhaupt (p. 241 Anm. 1). 

') £r würde sonst nicht jeden Wunsch und jede Sehnsucht zum 
Begehren rechnen (was Bain nicht thut), noch auch die Freiheit in das 
Begehrungsvermögen verlegen. 



254 Bach H. Von den psjcfaisehen Phänomenen im Allgemeinen. 

einen abweichenden Sinn verband, und auch das unmittelbar 
Folgende bestätigt diese Auffassung, indem Bain den Unter- 
schied von seinem Wollen gegenüber den Naturkräften des 
Windes, Wassers, der Schwere, des Pulvers u. s. f. und dann 
ebenso gegenüber unbewussten physiologischen Functionen, 
wie z. B. dem Blutumlaufe, festzustellen sucht — was alles 
er offenbar nicht nöthig hätte, wenn er nicht unter dem 
Wollen nicht sowohl ein innerliches, psychisches Phänomen 
als eine von psychischen Phänomenen ausgehende (physische) 
Wirkung, also ein physiologisches oder, wenn man will, psycho- 
physisches Phänomen verstände. 

So stimmt Bain's Eintheilung der Seelenerscheinungen 
der Sache nach mehr mit der Aristoteüschen Zweitheilung in 
Denken und Begehren (an welches letztere unter Umständen 
eine willkürliche Bewegung sich knüpft) als mit der späteren 
Dreitheilung in Vorstellenj, Fühlen und Begehren zusammen. 
Was wir Begehren und Wollen nennen, gehört bei Bain zu 
dem Gefühl. Und es erscheint Gefühl und Begehren bei ihm 
wiederum zu einer Classe verbunden. Ausserdem hat er 
das Gebiet der Gefühle auch nach einer anderen Seite erwei- 
tert, indem er die Sinnesempfindungen, welche nach den 
meisten Neueren und auch nach Aristoteles der ersten Classe 
zuzurechnen wären, mit in ihr Bereich zieht. 

Ausser dieser Eintheilung gibt Bain noch eine andere, 
die sich mit der vorerwähnten kreuzt. Er scheidet die psy- 
chischen Phänomene in primitive und in solche, welche sich 
aus diesen in weiterer Entwicklung ergeben. Zu den erste- 
ren rechnet er die Empfindungen, die aus den Bedürfuissen 
des Organismus hervorgehenden Begierden und die Instincte, 
worunter er die Bewegungen versteht, die man, ohne sie erlernt 
oder sich angeübt zu haben, ausführt. Diese Zweitheilung 
hat er in den späteren Ausgaben seines grossen psycholo- 
gischen Werkes, so wie in seinem Compendium vor allen 
anderen bei der Anordnung des Stoffes zu Grunde gelegt. 
Die Anregung zu ihr scheint Bain durch Herbert Spencer 
erhalten zu haben, bei welchem sich eine ähnliche Scheidung 
in primitive und entwickeltere psychische Phänomene erken- 



Capitel 5. Die vorzüglichsten Classificationsversuche. 255 

nen lässt, wie überhaupt die Idee der Evolution in seinen 
„Principien der Psychologie" jede andere beherrscht. Die 
entwickelteren, Seelenthätigkeiten scheidet Spencer in cognitive 
(Gedächtniss, Vernunft) und affective (Gefühl, Willen) und 
denkt die Anfänge der einen wie der anderen Classe in den 
primitiven Erscheinungen vorhanden, so dass man vielleicht 
sagen könnte, er lasse mit der ersten eine zweite Eintheilung 
sich kreuzen, welche in ihrer Gliederung an die Aristotelische 
Scheidung von vovg und OQS^tg erinnert^). 

§. 7. Hiemit können wir unsere Uebersicht über die 
vorzüglichsten Classificationsversuche abschliessen. Achten 
wir auf die Principien, welche wir bei ihnen angewandt fanden, 
so erkennen wir, dass sie von vier verschiedenen Gesichts- 
punkten aus gemacht wurden. Drei davon waren uns schon 
bei Aristoteles begegnet. Er hatte die psychischen THätig- 
keiten geschieden: einmal, insofern er sie theils an dem Leibe 
haftend, theils nicht an ihn gebunden glaubte ; dann, insofern 
er sie theils dem Menschen mit den Thieren gemein, theils 
ihm ausschliesslich eigenthümlich dachte, und endlich nach 
dem Unterschiede der Weise der intentionalen Inexistenz 
oder, wie wir sagen könnten, nach dem Unterscliiede der 
Weise des Bewusstseins. Das letzte Eintheilungsprincip sehen 
wir besonders häufig und zu allen Zeiten angewandt. Hiezu 
kommt dann noch das Princip der zweiten Eintheilung von 
Bain, welche die psychischen Erscheinungen in primitive und 
in solche zerlegt, welche sich aus primitiven entwickeln. 

Wir werden nun in den folgenden^Untersuchungen sowohl 
hinsichtlich des Principes als hinsichtlich der Gliederung der 
Grundeintheilung unsererseits eine Entscheidung zu treffen 
haben. 



*) Vgl. Bibot, Psychologie ÄDglaise Coniempoiaine, Paris 1870, 
(p. 191), eine Schrift, in welcher insbesondere über Herbert Spencer's 
psychologische Ansichten ein sehr hübscher Ueberblick gegeben wird* 



Sechstes Capitel. 

Eintheilnng der Seelenthätigkeiten in Yorstellnngen^ 
Urtheile nnd Phänomene der Liebe nnd des Hasses. 

§.1. An welche Grundsätze haben wir uns bei der 
Grundeintheilung der psychischen Phänomene zu halten? — 
Offenbar an diejenigen, welche auch anderwärts bei der Classi- 
fication in Betracht kommen, und von deren Anwendung uns 
die Naturwissenschaft mehr als ein ausgezeichnetes Beispiel 
bietet. 

Eine wissenschaftliche Classification soll von der Art sein, 
dass sie in einer der Forschung dienlichen Weise die Gegen- 
stände ordnet. Zu diesem Zwecke muss sie natürlich sein; 
d. h. sie muss das zu einer Classe vereinigen, was seiner 
Natur nach enger zusammengehört, und sie muss das in ver- 
schiedene Classen trennen, was seiner Natur nach sich relativ 
fern steht. Daher wird sie erst bei einem gewissen Maasse 
von Kenntniss der Objecte möglich; und es ist die Grund- 
regel der Classification, dass sie aus dem Studiimi der zu 
classificirenden Gegenstände, nicht aber aus apriorischer Con- 
struction hervorgehen soll. Krug fiel in diesen Fehler, wenn 
er von vorn herein argumentirte, dass die Seelenthätigkeiten 
von zweifacher Gattung sein müssten : solche die von aussen 
nach innen, und solche die von innen nach aussen gerichtet 
seien. Und auch Hör wicz verstiess gegen das Princip, wenn 
er, wie wir früher sahen *), statt duich ein genaueres Studium 



Buch I. Cap. 3. §. 5. 



Capitel 6. Eintheilting der Seelenthätigkeiten. 



257 



der Seelenerscheinungen selbst eine Sicherung oder Berich- 
tigung der üblichen Grundeintheilung anzustreben, auf dem 
Grunde physiologischer Betrachtungen, die ihm den Gegensatz 
von Empfindungs- und Bewegungsnerven zeigten, zur Annahme 
eines ähnlichen, das ganze Seelengebiet durchdringenden 
Gegensatzes von Denken und Begehren sich verstieg. Aller- 
dings begreift es sich bei dem zurückgebliebenen Zustande 
der Psychologie sehr wohl, dass man gerne auf andere Unter- 
suchungen als die der psychischen Phänomene gestützt eine 
entsprechende Glassificatipn gewinnen möchte. Allein wenn 
der naturgemässe Weg noch wenig gangbar ist, so knüpft sich 
doch an keinen anderen eine Hofi&iung dem Ziele näher zu 
kommen. Derjenige aber, welcher die bis jetzt erlangten 
Kenntnisse der psychischen Erscheinungen maassgeberid wer- 
den lässt, wird selbst dann, wenn es ihm heute noch unmög- 
lich wäre, eine endgültig beste Grundeintheilung festzustellen, 
eine solche wenigstens vorbereiten , indem wie anderwärts 
auch hier Classification und Kenntniss der Eigenthümlichkeiten 
und Gesetze sich in der weitei*en Entwickelung der Wissen- 
schaft dann gegenseitig vervollkommnen werden. 



§. 2. Die in dem vorigen Capitel betrachteten Einthei- 
lungsversuche sind sämmtlich in so weit zu billigen, als sie 
aus dem Studium der psychischen Phänomene selbst hervor- 
gegangen sind. Auch waren ihre Urheber darauf bedacht, 
dass die Gliederung naturgemäss sei, indem sie die Unab- 
hängigkeit der einen Erscheinungen von den anderen oder 
eine tiefgreifende Unähnlichkeit maassgebend werden Hessen. 
Freilich ist damit nicht gesagt, dass nicht vielleicht die Un- 
voUkommenheit ihrer Kenntniss des psychologischen Gebietes 
sie bei diesem Streben missleitet habe. Und jedenfalls sind 
einige von den Eintheilungsversuchen nicht in gleichem Maasse 
wie andere ver werthbar ; sowohl weil ihre Grundlage noch 
strittig ist , als auch weil die Vortheile , welche sie der For- 
schung zu gewähren versprechen, in Folge besonderer Hinder- 
nisse verloren gehen. 

Machen wir dies im Einzelnen klar. 

Bre nt an , Psychologie. I. 17 



258 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Aristoteles schied die psychischen Phänomene in solche, 
welche dem Menschen mit den Thieren gemein, und solche, 
welche ihm eigenthtimlich seien. Stellen wir uns auf den 
Standpunkt der Aristotelischen Lehre, so wird diese Eintei- 
lung in vieler Hinsicht vorzügUch scheinen. Denn Aristoteles 
glaubte gewisse Seelenvermögen dem Menschen ausschliess- 
lich eigen, und hielt diese für immateriell, die allgemein ani- 
malischen dagegen für Vermögen eines körperlichen Organes. 
Es sondert also, wenn wir die Richtigkeit seiner Anschau- 
ungen voraussetzen, jene Eintheilung in dem ersten Gliede 
Erscheinungen für sich ab, welche auch in der Natur von 
den anderen isoUrt auftreten; und der Umstand, dass die einen 
Functionen eines Organs sind, die anderen nicht, lässt erwarten, 
dass jede der beiden . Classen wichtige gemeinsame Eigen- 
thümlichkeiten und Gesetze zeigen werde. Aber die Aristo- 
tehschen Ansichten, auf Grund deren die Eintheilung sich 
empfehlen würde, enthalten gar Manches, was bestritten wer- 
den kann. Viele stellen in Abrede, dass dem Menschen im 
Gegensatze zum Thiere geistige Kräfte eigen seien; ja über- 
haupt ist man schon darüber nicht einig, welche psychischen 
Erscheinungen dem Menschen mit dem Thiere gemein seien 
und welche nicht. Während Descartes den Thieren alle psy- 
chische Thätigkeit abspricht, lassen andere und nicht unbe- 
deutende Forscher die höheren Thierclassen an allen Arten 
unserer einfacheren psychischen Phänomene Theil haben. Nur 
graduell glauben sie ihre Thätigkeiten von den unsrigen ver- 
schieden und sind der Meinung, dass der gesammte Unter- 
schied ihrer Leistungen sich genugsam daraus erklären lasse. 
Wenn insbesondere Aristoteles der Ansicht ist, dass den Thie- 
ren das Vermögen für allgemeine, abstracto Begriffe fehle, so 
stinmit zwar Locke ihm bei, aber von anderen und entgegen- 
gesetzten Seiten streitet man dagegen, dass hierin eine fun- 
damentale Verschiedenheit zwischen der psychischen Begabung 
von Mensch und Thier zu finden sei : die Einen wollen all- 
gemeine Begriffe mit Bestimmtheit auch bei Thieren nach- 
gewiesen haben; die Anderen, Berkeley an der Spitze, 



Capitel 6. Eintheilung der Seelentbätigkeiten. 259 

leugnen, dass sie auch nur dem Menschen in Wirklichkeit zu- 
kommen. 

Die Ansicht von Descartes, wenn auch Manche im Hin- 
blick auf die Reflexerscheinungen sich neuerdings ihr zunei- 
gen, wird uns wohl weniger beirren : für die entgegengesetzte 
treten aber auch jetzt noch angesehene Denker von sonst ver- 
schiedenen Eichtungen ein; und insbesondere sind die Berkeley- 
aner in England zahlreich geworden und fangen auch auf dem 
Continent sich auszubreiten an. Fände sich nun wirklich 
zwischen der psychischen Begabung von Menschen und Thieren 
kein, wie man sich ausdrückt, qualitativer Unterschied: so 
würde offenbar die Eintheilung der psychischen Phänomene 
in allgemein animalische und eigenthümlich menschHche viel 
von ihrer Bedeutung verlieren. Und jedenfeUs erlaubt es uns 
schon der Streit der Ansichten und die Schwierigkeit ihn zu 
entscheiden nicht, diese Eintheilung bei der Anordnung unseres 
Stoffes als Grundeintheilung zu benützen. 

* Zudem wird der vorzüglichste Vortheil, welchen die Classi- 
fication im besten Falle der Forschung bieten könnte, näm- 
lich das isolirte Studium eines Theiles unserer psychischen 
Phänomene, dadurch wesentlich beeinträchtigt, dass wir in 
das psychische Leben der Thiere nur indirect einen Einblick 
besitzen. Und dieser Umstand sowohl als auch der Wunsch 
keine unerwiesenen Voraussetzungen zu machen, hat selbst 
Aristoteles abgehalten, sie bei der systematisch geordneten 
Darlegung seiner Seelenlehre als Grundeintheilung zu ver- 
wenden. 

Bain, wie wir hörten, hat die Seelenerscheinungen in ele- 
mentare und in solche geschieden, welche aus diesen in wei- 
terer Entwickelung sich ergeben. Auch hier umfasst die erste 
Classe Erscheinungen, welche in der Natur von den anderen 
unabhängig auftreten. Aber auch hier gilt Aehnliches wie 
das, was wir eben bemerkten, dass sie nämlich da, wo sie 
unabhängig auftreten, nicht direct von uns zu beobachten 
sind. Auch hat es keine geringen Schwierigkeiten, sich über 
den Charakter der ei-sten Anfänge des Seelenlebens ein 
sicheres Urtheil zu bilden. Wenn in späteren Jahren ein 

17* 



260 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

physischer Reiz eine Empfindung hervorruft, so können er- 
worbene Dispositionen einen mächtig umgestaltenden Einflüss 
auf die Erscheinung üben. Und so finden wir thatsächlich, 
dass dieses Feld heutzutage ein vorzügliches Gebiet des 
Streites ist. Wie wir daher auch immer den Bain'schen Ge- 
sichtspunkt bei der Anordnung unserer Untersuchungen zu 
berücksichtigen haben werden, für die Grundeintheilung wer- 
den wir besser thun einen anderen Maassstab zu wählen. 

Es bleiben von den betrachteten Classificationen noch 
diejenigen übrig, welche die verschiedene Beziehung zum im- 
manenten Gegenstande der psychischen Thätigkeit oder die 
verschiedene Weise seiner intentionalen Existenz zum Ein- 
theilungsgrunde haben. Dieser Gesichtspunkt war es, deu 
Aristoteles bei der Anordnung des Stoffes vor allen übrigen 
bevorzugte, und den häufiger als irgend einen anderen auch 
die verschiedensten Denker späterer Zeit, mehr oder minder 
bewusst, bei der Grundeintheilung der psychischen Phänomene 
einnahmen. Die psychischen Phänomene unterscheiden sich 
von allen physischen durch nichts so sehr als dadurch, dass 
ihnen etwas gegenständlich inwohnt. Und darum ist es sehr 
begreiflich, wenn die am Tiefsten greifenden Unterschiede in 
der Weise, in welcher ihnen etwas gegenständlich ist, zwi- 
schen ihnen selbst wieder die vorzüglichsten Classenunter- 
schiede bilden. Je mehr die Psychologie sich entwickelte, um 
so mehr hat sie auch gefunden , dass an die fundamentalen 
Unterschiede in der Weise der Beziehung zum Object sich 
mehr als an irgendwelche andere gemeinsame Eigenthümlich- 
keiten und Gesetze knüpfen. Und wenn die zuvor bespro- 
chenen Classificationen dem Bedenken unterlagen, dass ihr 
Nutzen grossentheils durch die Stellung des Beobachters ver- 
loren geht, so ist dagegen diese frei von einer solchen Be- 
einträchtigung ihres Werthes. Somit werden wir durch die 
mannigfachsten Erwägungen dazu geführt, das gleiche Princip 
auch bei unserer Grundeintheilung zu benützen. 

§. 3. Aber wie viele und welche höchste Classen wer- 
den wir zu unterscheiden haben? — Wir sahen, dass in 



Capitel 6. Eintheilung der Seelenthätigkeiten. 261 

dieser Hinsicht zwischen den Psychologen keine Einigkeit be- 
steht. Aristoteles hat zwei verschiedene Grundclassen unter- 
schieden, Denken und Begehren. Unter den Modernen aber 
ist eine Dreitheilung in Vorstellung, Gefllhl und Streben (oder 
wie man sonst die drei Gattungen zu benennen liebt) anstatt 
jener Zweitheilung üblich geworden. 

Um sogleich unsere Ansicht auszusprechen, so halten 
auch wir dafür, dass hinsichtlich der verschiedenen Weise 
ihrer Beziehung zum Inhalte drei Hauptclassen von Seelen- 
thätigkeiten zu unterscheiden sind. Aber diese drei Gattun- 
gen sind nicht dieselben wie die, welche man gemeiniglich 
aufstellt, und wir bezeichnen in Ermangelung passenderer 
Ausdrücke die erste mit dem Namen Vpr Stellung, die 
zweite mit dem Namen Urtheil, die dritte mit dem Namen 
Gemüthsbewegung, Interesse oder Liebe. 

Keine dieser Benennungen ist von der Art, dass sie nicht 
missverständlich wäre; vielmehr wird jede häufig in einem 
engeren Sinne angewandt. Aber unser Wortvorrath bietet uns 
keine einheitlichen Ausdrücke, welche sich besser mit den 
Begriffen decken. Und obwohl es etwas Missliches hat. Aus- 
drücke von schwankender Bedeutung als Termini bei so wich- 
tigen Bestimmungen zu benützen, und mehr noch, sie in einem 
vielleicht ungewöhnlich erweiterten Sinne anzuwenden: so 
scheint mir dies in unserem Falle doch besser als die Ein- 
führung vöUig neuer und unbekannter Benennungen. 

Darüber, was wir Vorstellen nennen, haben wir ims 
auch früher schon erklärt. Wir reden von einem VorsteDen, 
wo immer uns etwas erscheint. Wenn wir etwas sehen, 
stellen wir uns eine Farbe; wenn wir etwas hören, einen 
Schall ; wenn wir etwas phantasiren, ein Phantasiegebilde vor. 
Vermöge der Allgemeinheit, in der wir das Wort gebrauchen, 
konnten wir sagen, es sei unmöglich, dass die Seelenthätig- 
keit in irgend einer Weise sich auf etwas beziehe, was nicht 
vorgesteDt werde 0- Höre und verstehe ich einen Namen, so 
stelle ich mir das, was er bezeichnet, vor ; und im Allgemeinen 



^) Buch II. Cap. 1. §. 3. 



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Capitel 6. Eintheilung der Seelenthätigkeiten. 263 

Auch den Ausdruck Interesse 'pflegt man vorzugsweise 
nur für gewisse Acte, die zu dem hier umschriebenen Gebiete 
gehören, zu gebrauchen ; namentlich in Fällen, wo Wissbegier 
oder Neugier erregt wird. Doch kann man wohl nicht leug- 
nen, dass jede Lust oder Unlust an etwas, sich nicht ganz 
unpassend als Interesse bezeichnen lässt, und dass auch jeder 
Wunsch, jede Hofifnung, jeder Willensentschluss ein Act des 
Interesses ist, welches an etwas genommen wird. 

Statt mit dem einfachen Namen Liebe, hätte ich die 
Glasse streng genommen als Lieben oder Hassen bezeichnen 
müssen ; 'und nur weil man auch anderwärts, wie z. B. wenn 
man das Urtheilen als ein für-wahrrHalten bezeichnet, oder 
von Phänomenen des Begehrens in weiterem Sinne redet ^), 
den Gegensatz mit eingeschlossen denkt, habe ich der Kürze 
halber den einen Namen für sich allein das Namenpaar ver- 
treten lassen. Aber auch abgesehen davon wird vielleicht 
Mancher mir vorwerfen, dass ich den Namen zu weit ge- 
brauche. Und es ist sicher, dass er nicht in jedem Sinne das 
ganze Gebiet umspannt. In einem anderen Sinne sagt man 
nämlich, dass man einen Freund, in einem anderen, dass man 
den Wein liebe; jenen liebe ich indem ich ihm Gutes 
wünsche, diesen, indem ich ihn selbst als etwas Gutes be- 
gehre und mit Lust geniesse. In einem Sinne wie dem, welchen 
das Wort in dem zweiten Falle' hat, glaube ich nun, dass 
in jedem Acte, der zu dieser dritten Classe gehört, etwas 
geliebt, genauer gesprochen etwas geliebt oder gehasst wird. 
Wie jedes Urtheil einen Gegenstand für wahr oder falsch 
nimmt, so nimmt in analoger Weise jedes Phänomen, welches 
der dritten Classe zugehört, einen Gegenstand für gut oder 
schlecht. Spätere Erörterungen werden dies näher erklären 
und hoffentlich vollkommen ausser Zweifel setzen. 

§. 4. Vergleichen wir unsere Dreitheilung mit derjenigen, 
welche seit Kant in der Psychologie vorherrscht, so finden 

^) Wie Kant, wenn er das eine seiner drei Grundvermögen Be- 
gehrungsvermÖgen nennt, und Aristoteles, indem er cgi^ig als Namea 
einer Grundclasse verwendet. 








/>;5>ÄU' .i^j.' 







^i>^>^ tr.0^:kL^A' Vri iisat awür ^il ^^oiässK 

ix^w,, #^ntt ^AiSP^joams^ mit ^^ cn«^rsacftr Ter- 
v^^^'.>, <.*^ I-^^ <^ fejin«i:aaK jskt ^se ättka, so 
^'4^f\ <>, *V«fe^rvÄ4if VÄ^ ^^rklkn ^>!r P^r^iiki!». 4iss die Er- 
k^^rf/P4r'Mt 4^ lfr*^;\aut u^^ix wetzz trstkwax kl Es ge- 
A'V//^ 44^^//i i^/^4 ^j^ t^>»bcr Wktospnidi gi«n fie heige- 
^^ff$HM f4^4fftfhi( utA ^ff^ AaSrjrdennig ziT Mocr Betracb- 
Uhh/ , n*i*h UVSA i4u Hinwe» auf die PimUe, ib welchen die 
k^hi^p i\Hr lit/tSmhimiii hegea, die man berichtigen will, 



Capitel 6. Eintheilang der Seelenthätigkeiten. 265 

und eine Entgegenstellimg des wahren Thatbestandes : vielmehr 
wird es nöthig sein, die Aufmerksamkeit zugleich auf solche 
Eigenthümlichkeiten zu lenken, die damit in Zusammenhang 
stehen, und namentlich auch auf solches, was gemeinsam an- 
erkannt, aber im Widerspruche mit der angeblichen Beob- 
achtung ist. Endlich muss man suchen, nicht allein die 
Täuschung, sondern auch den Grund der Täuschung aufzu- 
decken. 

Wenn irgendwo, so ist alles dieses auch in unserem Falle 
geboten; und wir werden auf solche Weise im nächsten Ca- 
pitel imsere Trennung von Vorstellung und Urtheil, und in 
dem darauf folgenden unsere Zusammenfassung von Gefühl 
und Streben sorgfältig zu rechtfertigen uns bemühen. 



Siebentes Capitel. 

Yorstellniig und Urtheil zwei yerscliiedene Grnnd- 

classen. 

§. 1. Wenn wir sagen, Vorstellung und ürtheil seien 
verschiedene Grundclassen psychischer Phänomene, so meinen 
wir damit nach dem zuvor Bemerkten, sie seien zwei gänz- 
lich verschiedene Weisen des Bewusstseins von einem Gegen- 
stande. Dabei leugnen wir nicht, dass alles Urtheilen ein 
Vorstellen zur Voraussetzung habe. Wir behaupten vielmehr, 
dass jeder Gegenstand, der beurtheilt werde, in einer dop- 
pelten Weise im Bewusstsein aufgenommen sei, als vorgestellt 
und als anerkannt oder geleugnet. So wäre denn das Ver- 
hältniss ähnlich dem, welches mit Recht, wie wir sahen, von 
der grossen Mehrzahl der Philosophen, und von Kant nicht 
minder als von Aristoteles, zwischen Vorstellen und Begehren 
angenommen wird. Nichts wird begehrt, was nicht vorge- 
stellt wird; aber doch ist das Begehren eine zweite, ganz 
neue und eigenthümliche Weise der Beziehung zum Objecte, 
eine zweite, ganz neue Art von Aufnahme desselben in's Be- 
wusstsein. Nichts wird auch beurtheilt, was nicht vorgestellt 
wird; aber wir behaupten, dass, indem der Gegenstand einer 
Vorstellung Gegenstand eines anerkennenden oder verwerfen- 
den ürtheils werde, das Bewusstsein in eine völlig neue Art 
Von Beziehung zu ihm trete. Er ist dann doppelt im Be- 
wusstsein aufgenommen, als vorgestellt und als für wahr ge- 



Capitel 7. Vorstellung u. Urtheil zwei verschiedene Grundclassen. 267 

halten oder geleugnet, wie er, wenn die Begierde auf ihn 
sich richtet, als vorgestellt zugleich und als begehrt ihm 
inwohnt. 

Das sagen wir ist, was die innere Wahrnehmung und 
die aufmerksame Betrachtung der Erscheinungen des Urthei- 
lens im Gedächtnisse klar erkennen lassen. 

§. 2. Freilich hat dies nicht verhindert, dass das wahre 
Verhältniss zwischen Vorstellen und Urtheilen bis, jetzt all- 
gemein verkannt wurde , und ich muss desshalb darauf rech- 
nen, dass ich, wenn ich auch nichts Anderes sage, als was 
das Zeugniss der inneren Wahrnehmung unmittelbar bestä- 
tigt, mit meiner Aufstellung zunächst dem grössten Misstrauen 
begegne. 

Aber wenn man nicht annehmen will, dass im Urtheilen 
zum blossen Vorstellen eine zweite, grundverschiedene Weise 
der Beziehung des Bewusstseins zum Gegenstand hinzutrete, 
so leugnet man doch nicht und kann nicht leugnen, dass 
irgend ein Unterschied zwischen dem einen und anderen Zu- 
stande bestehe. Vielleicht wird eine nähere Erwägung dar- 
über, worin die Verschiedenheit des Urtheilens, wenn sie 
nicht in unserer Weise aufgefasst wird, eigentlich liegen möge, 
zur Annahme unserer Behauptung geneigter machen, indem 
sie zeigt, dass keine einigermaassen haltbare Antwort gegeben 
werden kann. 

Käme im Urtheilen nicht eine zweite und eigenthüm- 
liche Weise der Beziehung zum Vorstellen hinzu; wäre also 
die Weise, wie der Gegenstand des Urtheils im Bewusstsein 
ist, wesentlich dieselbe wie die, welche Gegenständen, inso- 
fern sie vorgestellt werden, zukommt: so könnte ihr Unter- 
schied wohl nur gefunden werden entweder in einem Unter- 
schiede des Inhalts, d. h. in einem Unterschiede zwischen 
den Gegenständen, auf welche sich Vorstellung und Urtheil 
beziehen, oder in einem Unterschiede der Vollkommenheit, 
mit welcher derselbe Inhalt beim blossen Vorstellen und beim 
Urtheilen von uns gedacht wird. Denn zwischen dem Denken? 



268 Buch II. Von den psychiBchen Phänomenen im Allgemeinen. 

welches wir Vorstellen, und demjenigen, welches wir Urthei- 
len nennen, besteht ja doch ein innerer Unterschied. 

A. Bain allerdings hatte den unglücklichen Gedanken, 
den Unterschied zwischen Vorstellen und Urtheilen nicht in 
diesen Denkthätigkeiten selbst, sondern in den daran ge- 
knüpften Folgen zu suchen. Weil wir dann, wann wir etwas 
nicht bloss vorstellen, sondern auch für wahr halten, in be- 
sonderer Weise bei unserem Wollen und Handeln es maass- 
gebend werden lassen, so meinte er, der Unterschied des 
für -wahr- Haltens von dem blossen Vorstellen bestehe in 
nichts Anderem als in diesem Einflüsse auf den Willen. Das 
Vorstellen, welches einen solchen Einfluss übe, sei dadurch, 
dass es ihn übe, em Glauben (bellef). Ich nannte diese 
Theorie eine unglückliche. Und in der That, woher kommt 
es denn, dass das eine Vorstellen des Gegenstandes jenen 
Einfluss auf das Handeln hat, das andere aber ihn nicht 
hat? — Das blosse Aufwerfen der Frage genügt, um das 
Versehen , dessen Bain sich schuldig machte , deutlich zu 
zeigen. Die besonderen Folgen würden nicht sein, wenn 
nicht ein besonderer Grund dafür in der Beschaffenheit des 
Denkens gegeben wäre. Weit entfernt, dass der Unterschied 
in den Folgen die Annahme einer inneren Verschiedenheit 
zwischen der blossen Vorstellung und dem Urtheil entbehr- 
lich machte , weist er vielmehr nachdrücklich auf eine solche 
innere Verschiedenheit hin. Von John Stuart Mill be- 
kämpft^), hat darum Bain selbst die von ihm in seinem 
grossen Werke über die Gemüthsbewegungen und den Wil- 
len^), so wie in den ersten Ausgaben seines Gompendiums 
der Psychologie vertretene Behauptung in einer Schlussbe- 
merkung zu dessen dritter Auflage als irrig anerkannt und 
zurückgenommen ^). 



*) In einer Note zur Analjsis of the Phenomena of the Human 
Mind von James Mill, 2. edit. I. p. 402. 

*) The EmotionB and the Will. 

') Mental and Moral Science, 3. edit. London 1872. Note on the 
chapter on Belief, Append. p. 100. 



Capitel 7. Vorstellung u. ürtheil zwei verschiedene Grandclassen. 269 

In einen ähnlichen Fehler ist der ältere Mill *) und in 
neuester Zeit wieder Herbert Spencer *) gefallen. Diese bei- 
den Philosophen sind der Meinung, das Vorstellen einer Ver- 
einigung von zwei Merkmalen sei dann mit Glauben (belief) 
verbunden, wenn sich in dem Bewusstsein zwischen den bei- 
den Merkmalen eine untrennbare Association gebildet habe,, 
d. h. wenn die Gewohnheit zwei Merkmale verbunden vorzu-' 
stellen so stark geworden sei, dass die Vorstellung des einen 
Merkmals unausbleiblich und unwiderstehlich auch das andere 
in's- Bewusstsein rufe und mit ihm verknüpfe. In nichts An- 
derem als in einer solchen untrennbaren Association, lehren 
sie, bestehe das Glauben. Wir wollen hier nicht untersuchen, 
ob wirklich in jedem Falle, in welchem eine gewisse Verbin- 
bindung von Merkmalen für wahr gehalten wird, eine un- 
trennbare Association zwischen ihnen bestehe, und ob wirk- 
lich in jedem Falle, in welchem eine solche Association sich 
gebildet hat, die Verbindung für wahr gehalten werde. An- 
genommen vielmehr, Beides sei richtig, so ist es doch leicht 
erkennbar, dass diese Bestimmung des Unterschiedes zwischen 
ürtheil und Vorstellung nicht genügen kann, da, wenn der 
angegebene Unterschied allein zwischen dem Ürtheil und der be- 
treffenden Vorstellung bestände, beide in sich selbst betrach- 
tet ein völlig gleiches Denken sein würden. Die Gewohnheit 
zwei Merkmale vereinigt zu denken ist nicht selbst ein Den- 
ken oder die besondere Beschaffenheit eines Denkens, sondern 
eine Disposition, die einzig und allein in ihren Folgen sich 
offenbart. Und die Unmöglichkeit von zwei Merkmalen das 
eine ohne das andere zu denken, ist eben so wenig selbst 
ein Denken oder die besondere Beschaffenheit eines Denkens ; 
sie ist vielmehr nach der Ansicht der genannten Philosophen 
nur ein besonders hoher Grad jener Disposition. Wenn sich 
diese Disposition nur darin offenbart, dass die Verbindung 



^) Anal, of the Phenom. of the Human Mind. Chapt. XI. 

') Principles of Psychology, 2. edit. I. London and Edinburgh, 
1870. Sieh darüber J. St. Mill in einer Note zu dem eben citirten Ca- 
pitel der Anal. p. 402. 



s 
I 



270 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

von Merkmalen ausnahmslos, aber ganz in derselben Weise 
wie vor ihrer. Erwerbung gedacht wird, so ist es klar, dass, 
wie wir sagten, zwischen dem Denken vorher, welches ein 
blosses Vorstellen, und dem Denken nachher, welches ein 
Glauben sein soll, in sich selbst kein Unterschied besteht. 
Wenn sich die Disposition aber noch in anderer Weise von 
Einfluss zeigt, so dass nach ihrer Erwerbung das Denken 
der Verbindung modificirt ist und eine neue, besondere Be- 
schaffenheit erlangt hat, so muss man sagen, dass in dieser 
Beschaffenheit, nicht aber in der inseparabelen Association, 
aus welcher sie hervorgeht, der eigentliche Unterschied des 
für - wahr - Haltens vom blossen Vorstellen anzuerkennen sei. 
Darum sagte ich, der Fehler von »James Mill und Herbert 
Spencer sei demjenigen von Bain verwandt. Denn, wie Bain 
eine Besonderheit der Folgen mit der inneren Besonderheit 
des für* wahr -Haltens verwechselte, so haben der ältere Mill 
imd Spencer etwas als Besonderheit dieser Weise des Den- 
kens geltend gemacht, was sie nur etwa als Ursache seiner 
Besonderheit hätten bezeichnen dürfen. 

§. 3. So viel also steht fest, dass der Unterschied 
zwischen Vorstellen und Urtheilen ein innerer Unterschied 
des einen Denkens vom anderen sein muss. Und wenn dies, 
so gilt, was wir oben gesagt haben, dass nämlich, wer unsere 
Anschauung über das Urtheilen bestreitet, die Verschieden- 
heit, die zwischen ihm und dem blossen Vorstellen besteht, 
nur in einem von Beidem, entweder in einem Unterschiede 
der gedachten Gegenstände, oder in einem Unterschiede der 
Vollkommenheit, mit welcher sie gedacht werden, suchen 
kann. Ziehen wir von diesen zwei Annahmen zunächst die 
letztere in Erwägung. 

Wo es sich um einen Unterschied der Vollkommenheit 
zweier psychischer Thätigkeiten handelt, die sowohl hinsicht- 
lich der Weise ihrer Beziehung auf das Object als auch hin- 
sichtlich des Inhalts, auf welchen sie sich beziehen, überein- 
stunmen, da kann wohl von nichts Anderem als von einem 
Unterschiede der Stärke des einen und anderen Actes die 



Capitel 7. Vorstellung u. Urtheil zwei verschiedene Grundclassen. 271 

Bede sein. Die Frage, die wir zu untersuchen haben, ist 
also keine andere als die, ob etwa darin die Besonderheit 
dös Urtheilens gegenüber dem Vorstellen bestehe, dass beim 
Urtheilen der Inhalt mit grösserer Intensität gedacht, also 
das Vorstellen eines Objectes durch eine Zunahme seiner In- 
tensität zum für -wahr -Halten gesteigert werde. Es leuchtet 
ein, dass eine solche Auffassung nicht richtig sein kann. Nach 
ihr wäre das ürtheil eine stärkere Vorstellung, die Vorstel- 
lung ein schwächeres Urtheil. Aber ein Vorgestellt -sein, 
wenn auch noch so klar und deutlich und lebendig, ist nicht 
ein Beurtheilt-sein, und ein mit noch so geringer Zuversicht 
gefälltes Urtheil ist nicht eine blosse Vorstellung. Allerdings 
mag es geschehen, dass einer etwas, was ihm mit fieberhafter 
Lebhaftigkeit in der Phantasie erscheint wie etwas, was er 
sieht, für wirklich nimmt, was er nicht thun würde, wenn es 
ihm in schwächerem Eindrucke erschiene; aber wenn mit 
der grösseren Stärke einer Vorstellung in gewissen Fällen 
ein für -wahr -Halten gegeben ist, so ist sie desshalb nicht 
selbst das für - wahr - Halten. Die Illusion kann darum 
schwinden, während die Lebendigkeit der Vorstellung beharrt. 
Und in anderen Fällen hält man mit aller Zuversicht etwas 
für wahr, obwohl der Inhalt des Urtheils nichts weniger als 
lebendig vorgestellt wird. Wie endlich sollte, wenn die An- 
erkennung eines Gegenstandes ein starkes Vorstellen wäre, 
die verneinende Verwerfung desselben gefesst werden? 

Gewiss wäre es unnütz, wollten wir uns länger mit der 
Bekämpfung einer Hypothese aufhalten, bei welcher schon 
von vom herein nur Wenige geneigt sein werden, sie zu ver- 
treten. Sehen wir vielmehr, ob es uns ebenso gelingen wird, 
den anderen Weg, auf welchem man mit grösserem Scheine 
unsere Annahme für vermeidlich halten könnte, als einen 
unmöglichen nachzuweisen. 

§. 4. In der That geht eine sehr gewöhnliche Meinung 
dahin, dass das Urtheilen in einem Verbinden oder Trennen 
bestehe, welches in dem Bereiche unseres Vorstellens sich 
vollziehe, und das bejahende Urtheil und, in etwas modificirter 



272 BochO. y^^a^ psychischen Phänomenen im AMgemeinen. 

Art, auch das vemeinende werden darum im Gegensatze zur 
blossen VorsteUung selir gewöhnlich als ein zusammengesetz- 
tes oder auch beziehendes Denken bezeichnet. So gefasst 
wttrde das was den Unterschied des Urtheilens vom blossen 
Vorstellen ausmachte, wirklich nichts Anderes sein als ein 
Unterschied des ürtheilsinhaltes vom Inhalte des bloss vor- 
stellenden Denkens. Würde eine gewisse Art von Verbin- 
dung oder Beziehung zweier Merkmale gedacht, so wäre der 
Gedanken ein Urtheil, während jeder Gedanken, der nicht 
eine solche Beziehung zum Inhalte hätte, eine blosse Vor- 
stellung genannt werden müsste. 

Aber auch diese Ansieht ist unhaltbar. 

Nehmen wir an, es sei richtig, dass immer nur eine ge- 
wisse Art von Verbindung mehrerer Merkmale den Inhalt 
eines Urtheils bilde, so wird dies die ürtheile zwar von 
einigen, keineswegs aber von allen Vorstellungen unterschei- 
den. Denn offenbar konmit es vor, dass ein Denkact, wel- 
cher nichts als ein blosses Vorstellen ist, eine vollkommen 
ähnliche, ja eine völlig gleiche Zusammensetzung mehrerer 
Merkmale zum Inhalte hat, wie diejenige, welche in einem 
anderen Falle den Gegenstand eines Urtheils bildet. Wenn 
ich sage: irgend ein Baum ist grün, so bildet das Grün als 
Eigenthümlichkeit mit einem Baume verbunden den Inhalt 
meines Urtheils. Es könnte mich aber einer fragen: ist 
irgend ein Baum roth? und ich, in der Pflanzenwelt nicht 
genugsam erfahren und uneingedenk der herbstlichen Farbe 
der Blätter, könnte mich jedes Urtheils über die Frage ent- 
halten. Aber dennoch würde ich die Frage verstehen und 
mir in Folge dessen einen rothen Baum vorstellen. Das Both, 
ganz ähnlich wie zuvor das Grün als Eigenthümlichkeit mit 
einem Baume verbunden, würde dann den Inhalt einer Vor- 
Stellung bilden, mit welcher kein Urtheil gegeben wäre. Und 
hätte Jemand nur Bäume mit rothen und. niemals einen mit 
grünen Blättern gesehen, so würde er vielleicht bei einer 
Frage über grüne Bäume nicht bloss eine ähnliche, sondern 
sogar dieselbe Verbindung von Merkmalen, die der Inhalt 
meines Urtheils war, in blosser Vorstellung erfassen. 



Gapitel 7. Vorstellung u»Urtheil zwei verschiedene Grundclassen. 273 

Oflfeiibar hatten James Mill und Herbert Spencer dies 
erkannt, da sie bei der Bestimmung der Eigenthümlichkeit 
des Urtheils nicht wie die meisten Anderen dabei stehen 
blieben, dass der Inhalt des Urtheils eine gewisse Art von 
Verbindung vorgestellter Merkmale sei, sondern als eine wei- 
tere Bedingung hinzufügten, dass eine inseparabele Asso- 
ciation zwischen denselben bestehen müsse. Und auch A. 
Bain hatte darum für nöthig gehalten, noch eine besondere 
Bestimmung hinzuzufügen, nämlich den Einfluss des Denkens 
auf das Handeln. Der Fehler, den sie begingen, war nur 
der, dass sie nicht in der Angabe einer inneren Besonderheit 
des urtheilenden Denkens, sondern in einem Unterschiede 
von Dispositionen oder Folgen die Ergänzung suchten. Glück- 
Mcher war hier John Stuart Mill, der den besprochenen Punkt 
mit grossem Nachdrucke hervorhob und überhaupt mehr 
als irgend ein anderer Philosoph einer richtigen Würdigung 
des Unterschiedes zwischen Vorstellung und Urtheil nahe 
gekommen ist. 

„Es ist", sagt er in seiner Logik, „ganz richtig, dass 
wir, wenn wir urtheilen „Gold ist gelb", die Idee von Gold 
und die Idee von gelb haben, und dass beide Ideen in un- 
serem Geiste zusammengebracht werden müssen. Es ist aber 
klar, dass dies nur ein Theil von dem ist, was vorgeht ; denn 
wir können zwei Ideen zusammenstellen, ohne dass ein Glau- 
ben stattfindet, wie wenn wir etwas, z. B. einen goldenen 
Berg, nur erdichten, oder wenn wir geradezu nicht glau- 
ben; denn sogar um nicht zu glauben, dassMuhammed ein 
Apostel Gottes war, müssen wir die Idee von Muhammed 
und die eines Apostels Gottes zusammenstellen. Zu be- 
stimmen, was im Falle von Zustimmung oder Leugnung 
ausser dem Zusammenstellen zweier Ideen noch weiter vor- 
geht, ist eines der verwickeltsten metaphysischen Probleme ^)." 

In seinen kritischen Noten zu James Mill's Analyse der 
Phänomene des menschlichen Geistes geht er tiefer in die 
Sache ein. Er bekämpft in dem Capitel über die Aussage 



') Ded. u. Ind. Logik Buch I. Cap. 5. §. 1. 

Brentano, Psychologie. I. 18 



274 Ba<^^ ^I- ^^^^ ^<^ ptychiflcium Phanomane» im AügemeiiieiL 

i Präiiif^ation) die Ansicht, welche in ihr in ähnlicher Weise den 
Auadnirk fftr eine gewisse Ordnung von Ideen wie in dem 
Namen den Anadruck flff eine einzelne Idee sehen wollte. 
Der charakteristische Unterschied zwischen einer Aussage 
und einer anderen Form des Sprechens, behauptet er seiner- 
seits, sei vielmehr der, dass sie nicht bloss ein gewisses Ob- 
jert vor den Geist bringe, sondern dass sie etwas darüber 
behaupte, dass sie nicht bloss zur Vorstellung einer ge- 
wissen Ordnung von Ideen, sondern zum Glauben an sie an- 
reere, indem sie anzeige, dass diese Ordnung eine wirkliche 
Thatsache sei^. Wiederholt kommt er darauf zurück, so- 
wohl bei demselben ^) als bei späteren Capiteln , wie beim 
Capitel über das Gedächtniss, wo ausser der Idee von dem 
Din^e und der Idee davon, dass ich es gesehen, nebst An- 
derem auch noch der Glauben, dass ich es gesehen habe, 
hinzukommen müsse ^). Besonders ausführlich handelt er aber 
in einer langen Anmerkung zum Capitel „Belief von der 
ei^enthümlichen Natur des Urtheils gegenüber der blossen 
Vorstellung. Er zeigt wiederum deutlich, dass es sich nicht 
in blosse Vorstellungen auflösen und durch blosse Zusammen- 
setzung von Vorstellungen bilden lasse* Vielmehr, sagt er, 
müsse man jeden Versuch einer Ableitung der einen aus der 
anderen Erscheinung als etwas unmögliches anerkennen und 
den unterschied zwischen Vorstellung und Urtheil als öne 



I) The characteristic differeQce between a predication and 
othei* form of speeeh, is tbat it does not merely bring to mind a 
tftJTi object . . .; it asserts something respecting it . . . . 
v'tf^w WA ftdopt of the psychological natnre of Belief, it is ne c c Baaiy to 
difltingnifih b(>tween tbe mere snggestion to the mind of a certain 
iimong fl^^nfiations or ideas — such aa takes place when we tlunk of 
ftlphnh^tf or the nnmeration table — and the indication that 
iH an aotual fact, which is occnnring, or which has occurred oaee or 
oftoner, or which, in certain definite circumstances , always 
whieh are the things indicated as true hj an affirmative 
ftnd M false by a negative one. (Anal, of the Phenom. of the 
Mind 2. edit. Ch. IV. Sect. 4. Note 48. I. p. 162 s.) 

«) Kbend. Note 66. I. p. 187. 

•) Ebend. Ch. X. Note 91. 1. p. 329. 



CapitelT. Vorstellung u. Urtheil zwei verschiedene Grundclasseu. 275 

letzte und ursprüngliche Thatsache betrachten. „Kurzum"^ 
fragt er am Schlüsse einer längeren Erörterung, „was ist für 
unseren Geist der Unterschied zwischen dem Gedanken, es 
sei etwas wirklich, und der Vorstellung eines von der Ein- 
bildungskraft entworfenen Gemäldes ? Ich gestehe , dass ich 
keinen Ausweg finde, auf dem man sich der Ansicht ent- 
ziehen könnte, dass der Unterschied ein letzter und ursprüng- 
licher ist 0." Wir sehen, J. St. Mill erkennt hier einen Un- J 
terschied an, ähnlich dem welchen Kant und Andere zwischen 
Denken und Gefühl geltend gemacht haben. In ihrer Sprache 
ausgedrückt, würde die Behauptung von Mill diese sein, dass 
für Vorstellen und Glauben oder, wie w i r sagen würden, für 
Vorstellen und Urtheilen zwei verschiedene Urvermögen an- 
genommen werden müssen. Nach unserer Ausdrucksweise 
aber ist seine Lehre die, dass Vorstellen und Urtheilen zwei 
völlig verschiedene Arten der Beziehung auf einen Inhalt, 
zwei grundverschiedene Weisen des Bewusstseins von einem 
Gegenstande seien. 

Also, wie gesagt, angenommen sogar es finde wirklich 
bei jedem Urtheilen ein Verbinden oder Trennen vorgestell- 
ter Merkmale statt — und John Stuart Mill war in der 
That dieser Ansicht^) — : so besteht hierin doch nicht die 
wesentliche EigenthümKchkeit des urtheilenden im Gegen- 
satze zu dem bloss vorstellenden Denken. Eine solche Eigen- 
thümlichkeit des Inhaltes würde die Urtheile zwar von einigen, 
nicht aber schlechthin von allen Vorstellungen unterscheiden. 
Und sie würde darum die Annahme einer anderen und mehr 



^) „that the distinction is ultimate and primordial''. (Ebend. I. 
p. 412.) 

*) Sowohl in seiner Logik gibt sie sich zu erkennen, wo Mill von 
dem Inhalte der Urtheile handelt (Buch I. Cap. 5) als auch in seinen 
Noten zu dem genannten Werke seines Vaters. So z. B. in folgender 
Stelle : , J think it is true, that every assertion, every object of Belief, 
— everything that can be true or false — that can be an object of 
assent or dissent — is some order of sensations or of ideas : some co- 
existence or succession of sensations or ideas actually experienced, or 
supposed capable of being experienced." (a. a. 0. Ch. lY. Note 48. 
p. 162.) 

18* 



276 Bach n. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

charakteristischen Besonderheit, wie die, welche wir in dem 
Unterschiede der Weise des Bewusstseins anerkennen, nicht 
entbehrlich machen. 

§. 5. Aber noch mehr. Es ist nicht einmal richtig, dass 
bei allem ürtheilen eine Verbindung oder Trennung vorge- 
stellter Merkmale statt hat. So wenig als das Begehren oder 
Verabscheuen, so wenig ist auch das Anerkennen oder Ver- 
werfen ausschliesslich auf Zusammensetzungen oder Beziehun- 
gen gerichtet. Auch ein einzelnes Merkmal, das wir vor- 
stellen, kann anerkannt oder verworfen werden. 

Wenn mt sagen, „A ist", so ist dieser Satz nicht, wie 
Viele geglaubt haben und noch jetzt glauben, eine Prädica- 
tion, in welcher die Existenz als Prädicat mit A als Subject 
verbunden wird. Nicht die Verbindung eines Merkmals 
„Existenz" mit „A", sondern „A" selbst ist der Gegenstand, 
den wir anerkennea Ebenso wenn wir sagen, „A ist nicht", 
so ist dies keine Prädication der Existenz von A in entge- 
gengesetztem Sinne, keine Leugnung der Verbindung eines 
Merkmals „Existenz" mit „A", sondern „A" ist der Gegen- 
stand, den wir leugnen. 

Damit dies recht deutlich werde, mache ich darauf auf- 
merksam, dass, wer ein Ganzes anerkennt, jeden einzelnen 
Theil des Ganzen einschliesslich anerkennt. Wer immer da- 
her eine Verbindung von Merkmalen anerkennt, erkennt 
einschliesslich jedes einzelne Element der Verbindung an'. 
Wer anerkennt, dass ein gelehrter Mann, d. h. die Verbin- 
dung eines Mannes mit dem Merkmale „Gelehrsamkeit" sei, 
erkennt einschliesslich an, dass ein Mann sei. Wenden wir 
dies an auf das Urtheil „A ist". Wäre dieses ürtheil die 
Anerkennung der Verbindung eines Merkmals „Existenz" mit 
„A", so würde darin einschliesslich die Anerkennung jedes 
einzelnen Elementes der Verbindung, also auch die Anerken- 
nung von A liegen. Wir kämen also an der Annahme einer 
einschliesslichen einfachen Anerkennung von A nicht vorbei. 
Aber wodurch würde sich diese einfache Anerkennung von 
A von der Anerkennung der Verbindung von A mit dem 



CapitelT. VorstelliiDga.Urtheil zwei verschiedene GrundclaBsen. 277 

Merkmale „Existenz", welche in dem Satze „A ist" ausge- 
sprochen sein soll, unterscheiden? Ofifenbar in gar keiner*- 
Weise. Somit sehen wir, dass vielmehr die Anerkennung von 
A der wahre und volle Sinn des Satzes, also nichts anderes 
als A Gegenstand des Urtheils ist. 

Erwägen wir in derselben Weise den Satz „A ist nicht" ; 
vielleicht wird seine Betrachtung die Wahrheit unserer Auf- 
fassung noch einleuchtender machen. Wenn derjenige, wel- 
cher ein, Ganzes anerkennt , jeden Theil des Ganzen ein- 
schliesslich anerkennt, so gilt doch nicht ebenso, dass der- 
jenige, welcher ein Ganzes leugnet, jeden Theil des Ganzen 
einschliesslich leugnet. Wer leugnet, dass es weisse und 
blaue Schwäne gibt, leugnet darum nicht einschliesslich, dass 
es weisse Schwäne gibt. Und natürlich; da, wenn auch nur 
ein Theil falsch ist, das Ganze nicht wahr sein kann. Wer 
daher eine Verbindung von Merkmalen verwirft, verwirft da- 
durch keineswegs- einschliesslich jedes einzelne Merkmal, wel- 
ches Element der Verbindung ist. Wer z. B. leugnet, dass 
es einen gelehrten Vogel, d. h. die Verbindung eines Vogels 
mit dem Merkmale „Gelehrsamkeit" gebe, leugnet damit nicht 
einschliesslich, dass ein Vogel, oder dass Gelehrsamkeit in 
Wirklichkeit bestehe. Machen wir auch hievon auf unseren 
Fall Anwendung. Wäre das Urtheil „A ist nicht" die Leug- 
nung der Verbindung eines Merkmals „Existenz" mit „A", 
so würde damit keineswegs A selbst geleugnet sein. Das 
aber wird unmöglich Jemand behaupten. Vielmehr ist klar, 
dass nichts Anderes als eben dies der Sinn des Satzes ist. 
Somit ist auch nichts Anderes als A der Gegenstand dieses 
verwerfenden Urtheils. 



§. 6. Dass die Prädication nicht zum Wesen eines jeden 
Urtheils gehört, geht auch daraus recht deutlich hervor, dass 
jede Wahrnehmung zu den Urtheilen zählt; ist sie ja eine 
Erkenntniss oder doch ein, wenn auch irrthümliches , für- 
wahr -Nehmen. Wir haben dies, da vrir von den verschie- 
denen Momenten des inneren Bewusstseins sprachen, schon 



278 Buch n. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

berührt^). Und e? wird auch von solchen Denkern nicht 
geleugnet, welche dafür halten, dass jedes Urtheilen in einem 
Verbinden von Subject und Prädicat bestehe. So erkennt 
z. B. J. St. Mill es ausdrücklich an sowohl anderwärts als 
auch an der zuletzt von uns citirten Stelle, Es liege, fügt 
er hier bei, keine grössere Schwierigkeit darin, so, wie er es 
gethan, den Unterschied zwischen dem Anerkennen einer 
Realität und dem Vorstellen eines imaginären Gebildes für 
einen letzten und ursprünglichen zu halten, als darin, den 
Unterschied zwischen einer Sensation und einer Idee 2) für 
einen ursprünglichen zu erklären. Es scheine dieser kaum 
etwas Anderes als dieselbe Differenz unter verändertem Ge- 
sichtspunkte, betrachtet^). Nun dürfte es aber nicht leicht 
etwas geben, was offenbarer und unverkennbarer wäre, als 
dass eine Wahrnehmung nicht in der Verbindung eines Sub- 
ject - und Prädicatbegriffes bestehe, oder sich auf eine solche 
beziehe, dass vielmehr der Gegenstand einer inneren Wahr- 
nehmung nichts Anderes als ein psychisches Phänomen, der 
Gegenstand einer äusseren nichts Anderes als ein physi- 
sches Phänomen, Ton, Geruch oder dergleichen sei. Alsa 
. haben wir hier einen recht augenscheinlichen Beleg für die 
Wahrheit unserer Behauptung. 

Oder sollte einer auch hier noch Bedenken hegen? Sollte 
er, weil man nicht bloss sagt, man nehme eine Farbe, einen 
Ton, man nehme .ein Sehen, ein Hören wahr, sondern auch^ 
man nehme wahr, dass ein Sehen, Hören existire, sich zu 
dem Glauben verleiten lassen, auch die Wahrnehmung be- 
stehe in der Anerkennung der Verbindung eines Merkmals 

M Buch IL Cap. 3. §. I ff. 

■) Im Sinne Hume's, s. 0. Buch I. Cap. 1. §. 2. S. 15. 

') £r fährt fort : There is no more difficulty in holding it to be 
80, than in holding the difference between a Sensation and an idea to 
be primordial. It seems almost another aspect of the same difference. 
Ebenso sagt er im Verlaufe derselben Abhandlung: The difference 
[between recognising something as a reality in nature, and regarding 
it as a mere thought of our own] presents itself in its most elementary 
form in the distinction between a Sensation and an idea. (a. a. O^ 
p. 419.) 



Capitel 7. YorstelluDg u. Urtheil zwei verBchiedene Grundclassen. 279 

„Existenz" mit 'dem betrefifenden Phänomene? Mir scheint 
eine solche Verkennung offen liegender Thatsachen fast un- 
denkbar. Doch aufs Neue und mit einer vorzüglichen Klar- 
heit wird sich die ünhaltbarkeit einer solchen Meinung aus 
der Erörterung des BegriiBFes der Existenz ergeben. Manche 
waren der Ansicht, dass dieser Begriff nicht der Erfahrung 
entnommen sein könne. Wir werden darum bei der Unter- 
suchung über die sogenannten angeborenen Ideen ihn in die- 
ser Hinsicht zu prüfen haben. Und wir werden dann finden, 
dass er allerdings der Erfahrung, aber der inneren Erfah- 
rung entstammt und nur im Hinblicke auf das Urtheil ge- 
wonnen wurde. So wenig daher der Begriff des Urtheils in 
dem ersten Urtheile Prädicat sein konnte, so wenig der 
Begriff der Existenz. Und darum erkennt man auch auf die- 
sem Wege, dass wenigstens die erste Wahrnehmung, die- 
jenige, welche in dem ersten psychischen Phänomene gegeben 
war, unmöglich in einer solchen Prädication bestanden haben 
kann. 

J. St. Mill definirt in der letzten (achten) Ausgabe sei- 
ner Logik den Begriff Existenz in folgender Weise. Sein, 
sagt er, heisse so viel als irgendwelche (gleichviel- 
w eiche) Sinnesempfindungen oder sonstige Bewusstseinszu- 
stände erregen oder erregen können'). Obwohl ich diese 
Bestimmung nicht vollkommen billige, so würde doch auch 
sie genügen, um die Unmöglichkeit, dass bei der ersten Em- 
pfindung der Begriff Existenz als Prädicat des Urtheils be- 
nützt werden konnte, recht anschaulich zu machen. Denn 
darin stimmt sie mit derjenigen, welche wir als die richtige 
darzuthun hoffen, überein, dass sie erst im Hinblick auf psy- 
chische Thätigkeiten gewonnen werden konnte, die in jenem 
Falle umgekehrt ihrerseits ihn voraussetzen und als einen 
schon gegebenen verwenden würden. ' 

§. 7. Dass nicht jedes Urtheil auf eine Verbindung vor- 
gestellter Merkmale sich beziehe, und die Prädication eines 

*) UebersetzuDg von Gomperz, Anhang, HI. S. 373. 




2#^r iitttt i: Ti 

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t^etze dae ^Kf in dem Eijstents&lsaiz ^iem fi im iiirf xb 
l^esa^liuiig a.uf niesi«e3D Begriff". Jl*«- GpgriHteri^, sagt er. 
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I>ie^ var eiiie imldiare imd vider^nidHi^ile TfiWihi ii 
Herbart mdiite ihr em Eode. iBdcB er die EiisteHüalsitBe 



^' A«db dieig Bcrt Jiniwga i gebe : 
Ikb iüdbt Mif dk betreffendea UrtLcIe 
UoterMKictiJDj^ai l»erroiigciKa virdj, kzndert aidit 
ibrer Uefc f rfifriwMiiig siit der Aasiclit. die ■■ 
ibiMw bit, MS gfimrirt in fc^ ^M M g^ jf ^ ^Jf « , 

^^ Dttw Kaat die UfÜieüe der ExistentiabitBe iiodb nt n 
lutf^orUch«a Urtbeüeti leefaneCe, enielit isan daran, daa er ihrer bei 
der l&^&tion der UrtbeOe mdit befonders ervilint. 

G«iiz eben so nabe wie Kant ist im Mittelaher TliaBas von Aq vin 
der Wabrb^ gduMnineii, und merkwärdiger Wetse in BeAexioB mf 
denselben £teU tt^ott iat^. Aneh nach ihm soll das Jst* kein reales 
FrUäueat^ soodera ein Zeichen des ffir > wahr- Haltens sein. (Somm. 
'iheol R L Q. 3. A. 4. ad 2.) Aber andi er haU dennoch den Satx 
für fcategorifcb (ebend.) und glanbt, dass das Urtheil einen Vergleich 
tioMrer Vorstellong mit ihrem Gegenstande enthalte^ was nach ihm ron 
Jedem Urtbeile gelten solL (Q. 16. A. 2.) Dass dies unmöglich ist, 
haben wir früher gesehen. (VgL Bach U. Cap. 3. §. 2, S. 182 ff.) 



CapitelT. Yorstellangu.Urtheil zwei verschiedene Grundclassen. 281 

deutlich als eine besondere Art von den kategoriscnen Sätzen 
unterschied^). Andere Philosophen, und nicht bloss seine 
'zahlreichen Anhänger, sondern bis zu gewissem Maasse auch 
Solche, die, wie Trend elenburg, der Herbart'schen Schule 
gewöhnlich polemisch entgegentreten, haben sich ihm in die- 
sem Punkte angeschlossen*). 

Aber noch mehr. Wenn auch nicht alle Denker die von 
uns vertretene Auffassung des Existentialsatzes bereits als 
richtig anerkennen, so geben doch gegenwärtig alle ohne 
Ausnahme eine andere Wahrheit zu, aus welcher sich die- 
selbe mit grösster Stringenz erschliessen lässt. Auch die- 
jenigen, welche die Natur des „ist" und „ist nicht" in dem 
Existentialsatze missdeuten, beurtheilen doch das „ist" und 
„ist nicht", welche als Copula zu einem Subject und Prädicat 



*) Vgl. darüber Drobisch, Logik, 3. Aufl. S. 61. 

') Logische Untersuchungeu 2. Aufl. II. S. 208. Vgl. auch das 
Citat aus Schlei er macher (ebend. S. 214, Anm. 1). Anklänge an 
die richtige Auffassung der Existentialsatze finden sich sclibn bei Ari- 
stoteles. Doch scheint er nicht zu voller Klarheit über sie gelangt 
zu sein. In seiner Metaphysik, 0, 10 lehrt er, dass, da die Wahrheit 
des Denkens in seiner Uebereinstimmung mit den Dingen bestehe, die 
firkenntniss einfacher Gegenstände im Gegensatze zu anderen Erkennt- 
nissen nicht eine Verbindung oder Trennung von Merkmalen, sondern 
ein einfaches Denken, ein Wahrnehmen (er nennt es Berühren, ^^^lyeTv) 
sein müsse. In der Schrift „De Interpretatione*' (Cap. 3) spricht er 
klar aus, dass das ,,Sein^' der Copuia nicht etwas für sich bedeute 
wie ein Namen, sondern nur den Ausdruck eines Urtheils ergänze, 
und von diesem „Sein^* der Copula hat er das „Sein'* im Existential- 
satze nie als etwas wesentlich Anderes, und als etwas, was schon für 
sich eine Bedeutung habe, unterschieden. Zeller sagt mit Recht : „Dass 
jeder Satz, selbst der Existentialsatz , logisch betrachtet aus drei Be- 
standtheilen besteht , sagt Aristoteles nirgends.'^ Und er macht darauf 
aufmerksam, wie vielmehr Manches eine entgegengesetzte Ansicht bei 
Aristoteles erkennen lasse. (Philos. d. Griechen II. 2. S. 158» Anm. 2.) 
Wäre dies richtig, so würde Aristoteles hiedurch nicht hinter der Lehre 
der gewöhnlichen späteren Logik zurückstehen, wie Zeller zu glauben 
scheint, sondern im Gegentheile hier wie in manchem anderen Punkte 
eine richtigere Anschauung anticipirt haben. (Man vgl. auch die Re- 
production der Aristotelischen Lehre bei Thomas von Aquin, Summ. 
Theol. P. L Q. 85. A, 5.) 



282 Bach II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

hinzukommen, vollkommen richtig. Wenn sie glauben, dass 
das „ist" und „ist nicht" im Existentialsatze etwas für sich 
allein bezeichne, dass es die Vorstellung des Prädicats „Exi- 
stenz" zu der Vorstellung des Subjects hinzubringe, um beide 
mit einander zu verknüpfen: so erkennen sie dagegen hin- 
sichtlich der Gopula an, dass sie, für sich allein genommen 
ohne alle Bedeutung, nur den Ausdruck von Vorstellungen 
zum Ausdrucke eines anerkennenden oder verwerfenden ür- 
theils ergänze. Hören wir z. B. J. St. Mill, der in der Auf- 
fassung des Existentialsatzes unser Gegner ist: „Ein Prädicat 
und ein Subject", sagt er, „sind alles, was nöthig ist, um 
ein ürtheil zu bilden. Da wir aber aus der blossen Zusam- 
menstellung zweier Namen nicht ersehen können, dass sie 
Prädicat und Subject sind, d. h. dass das eine von dem an- 
deren behauptet oder verneint werden soll, so muss ein Mo- 
dus oder eine Form da sein, woraus sich das erkennen lässt, 
irgend ein Zeichen, um eine Prädication von jeder anderen 
Eedeform zu unterscheiden . . . Diese Function wird bei einer 
Affirmation gewöhnlich von dem Worte „ist", bei einer Ne- 
gation von „ist nicht" oder durch einen anderen Theil des 
Zeitwortes „sein" übernommen. Ein solches als Zeichen der 
Prädication dienendes Wort wird Copula genannt^)." Von 
diesem „ist" oder „ist nicht" der Copula unterscheidet er 
dann ausdrücklich dasjenige, welches den Begriff der Existenz 
in seiner Bedeutung einschliesse. Das ist die Lehre nicht 
allein von Mill, son'dem man darf sagen von Allen, welche 
in der Auffassung des Existentialsatzes nicht mit uns über- 
einstimmen. Ausser von Logikern findet man sie auch von 
Grammatikern und Lexicographen vertreten ^). Und wehn J. 
St. Mill erst James Mill diese Auffassung klar entwickehi 
lässt ®), so ist er sehr im Unrecht. Er hätte sie z. B. in der 
Logik von Port Royal schon ganz ebenso dargelegt finden 
können *). 

^) Ded. u. Induct. Logik. Uebers. v. Schiel, I. S* 93. 
•) Vgl. z. B. Ueyse's Wörterbuch der Deutschen Sprache. 
») Ebend. S. 95. 
*) Logique ou TArt de Fenser, II. Partie, Chap. 3. 



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I 



Capitel 7. Vorstellung u. Urtbeil zwei verschiedene Grundclassen. 283 

Wohlan denn, — es bedarf nicht mehr als dieses Zuge- 
ständnisses, welches unsere Gegner allgemein in Betreff der 
Copula machen, um daraus mit Nothwendigkeit zu folgern, 
dass auch dem „ist" und „ist nicht*' des Existentialsatzes 
keine andere Function zugeschrieben werden könne. Denn 
aufs Deutlichste lässt sich zeigen, dass jeder kategorische 
Satz ohne irgend welche Aenderung des Sinnes in einen 
Existentialsatz übersetzt werden kann, und dass dann das 
„ist" und „ist nicht" des Existentialsatzes an die Stelle der 
Copula tritt. 

Ich will dies an einigen Beispielen nachweisen. 

Der kategorische Satz „irgend ein Mensch ist krank" 
hat denselben Sinn wie der Existentialsatz „ein kranker 
Mensch ist" oder „es gibt einen kranken Menschen". 

Der kategorische Satz „kein Stein ist lebendig" hat den- 
selben Sinn wie der Existentialsatz „ein lebendiger Stein ist 
nicht" oder „es gibt nicht einen lebendigen Stein". 

Der kategorische Satz „alle Menschen sind sterblich" 
hat denselben Sinn wie der Existentialsatz „ein unsterblicher 
Mensch ist nicht" oder „es gibt nicht einen unsterblichen 
Menschen" 0- ^ 

Der kategorische Satz „irgend ein Mensch ist nicht 
gelehrt" hat denselben Sinn wie der Existentialsatz „ein 
ungelehrter Mensch ist" oder „es gibt einen ungelehrten 
Menschen". 

Da in den vier Beispielen, die ich wählte, die sämmt- 
lichen vier Classen von kategorischen ürtheilen, welche die 
Logiker zu unterscheiden piäegen 2), vertreten sind, so ist die 

^) Die gewöhnliche Logik erklärt, die Urtheile „alle Menschen sind 
sterblich'' und „kein Mensch ist nicht sterblich** für aequipoUent (vgl. 
z. B. Ueberweg, Logik, Th. 5. §. 9G. 2. Aufl. S. 235); in Wahrheit 
sind sie identisch. 

') Die particulär bejahenden, die allgemein verneinenden, und die 
irrthümlich sogenannten allgemein bejahenden und particulär vernei- 
nenden. In Wahrheit ist, wie die obige Rückführung auf die ezisten- 
tiale Formel deutlich erkennen lässt, kein bejahendes Urtheil allgemein 
(es müsste denn ein Urtheil mit individueller Materie allgemein ge- 
nannt werden) und kein verneinendes Urtheil particulär. 






~.^*' 








Soo- 




CapitelT. Vorstellung u.Urtheil zwei verschiedene GrundclasseD. 285 

unmögliche Zumuthung, zu glauben, dass der Satz „irgend 
ein Mensch geht spaziren" oder auch der oben angeführte 
„irgend ein Mensch ist krank" die stillschweigende Voraus- 
Setzung „wenn es nämlich einen Menschen gibt" enthalte. 
Und ebenso ist es nicht bloss nicht richtig, sondern es hat 
auch nicht den mindesten Schein für sich, dass der Satz 
„irgend ein Mensch ist nicht gelehrt" diese Voraussetzung 
mache. Bei dem Satze „kein Stein ist lebendig" wtisste ich 
gar nicht, was die Beschränkung „wenn es* nämlich einen 
Stein gibt" für eine Bedeutung haben sollte. Wenn es kei- 
nen Stein gäbe, so wäre es ja sicher eben so richtig, das» 
es keinen lebendigen Stein gibt, als jetzt, da Steine existiren. 
Nur bei dem! Beispiele „alle Menschen sind sterblich", einem 
von den gewöhnlich sogenannten allgemein bejahenden Sätzen, 
hat es allerdings einen gewissen Schein, als ob eine beschrän- 
kende Bedingung darin enthalten sei. Er scheint die Ver- 
bindung von „Mensch" und „sterblich" zu behaupten. Diese 
Verbindung von Mensch und sterblich besteht oflfenbar nicht, 
wenn kein Mensch besteht. Und doch lässt sich aus dem 
Satze „alle Menschen sind sterblich" die Existenz eines Men- 
schen nicht erschliessen. Somit scheint er die Verbindung 
von Mensch und sterblich nur unter der Voraussetzung der 
Existenz eines Menschen zu behaupten. Doch ein Blick auf 
den diesem kategorischen Satze äquivalenten Existentialsatz 
löst die ganze Schwierigkeit. Er zeigt, dass der Satz in 
Wahrheit keine Bejahung, sondern eine Verneinung ist, und 
darum gilt von ihm Aehnliches wie das, was wir so eben 
über den Satz „kein Stein ist lebendig" bemerkten. 

Wenn ich übrigens die Lehre Herbart's , dass alle kate- 
gorischen Sätze hypothetische Sätze seien, hier behämpfte, so 
that ich es nur, um meine oben gegebenen Uebersetzungen in 
Existentialsätze im Einzelnen zu rechtfertigen, nicht aber, 
weil in dem Falle, dass Herbart Recht hätte, eine solche 
Rückführung unmöglich sein würde. Im Gegentheile gilt 
von den hypothetischen Sätzen dasselbe, was ich von den 
kategorischen sagte; auch sie lassen sich sämmtlich in die 
existentiale Formel kleiden, und es ergibt sich dann, dass sie 



286 Bach II. Von den psychischen Ph&nomenen im Allgemeinen. 

lauter verneinende Behauptungen sind. Ein Beispiel wiri 
genügen , um zu zeigen , wie dasselbe ürtheil ohne die g^ 
ringste Veränderung sowohl in der Formel eines hypothe- 
tischen als in der eines kategorischen und eines Existential- 
Satzes ausgesprochen werden kann. Der Satz „wenn eis 
Mensch schlecht handelt , schädigt er sich selbst" ist ein bj- 
pothetischer Satz. Er ist aber dem Sinne nach derselbe ^e 
der kategorische Satz „alle schlechthandelnden Menschen 
schädigen sich ' selbst''. Und dieser wiederum hat keine an- 
dere Bedeutung als der Existentialsatz „ein sich selbst nicit 
schädigender schlechthandelnder Mensch ist nicht" ,oder, etwas 
gefälliger ausgedrückt, „es gibt keinen sich selbst nicht schä- 
digenden schlechthandelnden Menschen". Die schwerfällige 
Gestalt, die der Ausdruck des Urtheils in der existentialen 
Formel erhält, macht es sehr begreiflich, warum die Sprache 
ausser ihr auch andere syntaktische Einkleidungen erfunden 
hat, aber mehr als ein Unterschied sprachlichen Ausdruckes 
liegt in der Verschiedenheit der drei Sätze nicht vor, obwohl 
der berühmte Philosoph von Königsberg sich verleiten lies?, 
um derartiger Verschiedenheiten willen fundamentale Unter- 
schiede der Urtheile anzunehmen , und besondere aprioriscie 
Kategorien auf diese „Relation der Urtheile" zu gründen. 

Die Rückführbarkeit der kategorischen, ja die RückMr- 
barkeit aller Sätze, welche ein Urtheil ausdrücken, äufEsi- 
stentialsätze ist also zweifellos ^). Und dieses dient in doppelter 



*) Es gibt noch gewisse Fälle , in welchen eine solche Bückfubr- 
barkeit aus specielleren Gründen beanstandet werden könnte. Obwonl 
ich ihretwegen den Gang der Untersuchung im Texte nicht aufhalten 
will (denn Mancher wird sich von vorn herein wenig daran stossenl 
80 scheint es mir doch andererseits gut , sie wenigstens in einer An- 
merkung zu berücksichtigen.' J. St. Mill , wo er in seiner Logik di« 
verschiedene Natur des „Seins" der Copula und des „Seins" des Exi- 
stentialsatzes , welches nach ihm den Begriff der £xistenz einscbliesst, 
klar machen will , beruft sich zur Verdeutlichung auf den Satz „ö^ 
Centaur ist eine Erfindung der Poeten'*. Dieser, sagt er, könne ud' 
möglich eine Existenz aussagen, da vielmehr im Gegentheil daraas 
hervorgehe, dass das Subject kein reales Dasein besitze. (Buchl. 
Cap. 4. §. 1.) Ein anderesmal führt er zu ähnlichem Zwecke denSaU 



Capitel 7. Vorstellung u.Urtheil zwei verschiedene Grundelassen. 287 

Weise die irrige Meinung deqenigen zu widerlegen, welche 
den wesentlichen Unterschied des ürtheils von der Vorstellung 



an: ,,Jupiter ist ein Non-£ns'S In der That sind diese Sätze von der 
Art, dass bei ihnen die Bückführbarkeit auf ezistentiale Sätze am 
Wenigsten möglich scheint. Im Briefwechsel mit Mill hatte ich ein- 
mal die Frage über ^ie Existentialsätze zur Sprache gebracht, und 
namentlich auch die Möglichkeit der Zurückführung einer jeden Aus- 
sage auf einen Existentialsatz dagegen geltend gemacht, dass das 
,,Sein** desselben sich zu dem der Copula so, wie er glaubte, verhalte. 
In seiner Antwort beharrte Mill auf seiner alten Auffassung. Und 
obwohl er nicht ausdrücklich der von mir dargelegten Bückführbarkeit 
aller anderen Aussagen auf existentiale widersprach, so vermuthete ich 
doch, ich möge diesen Punkt meiner Beweisführung ihm nicht genug- 
sam einleuchtend gemacht haben. Ich kam darum nochmals auf ihn 
zurück und besprach auch speciell die Beispiele in seiner Xiogik. Da 
ich unter meinen Papieren gerade ein Brouillon des Briefes finde, so 
will ich die kleine Erörterung hier wörtlich wiederholen. „Es dürfte", 
schrieb ich, „nicbt undienlich sein, wenn ich die Möglichkeit einer sol- 
chen Reduction specieU an einem Satze zeige, welchen Sie in Ihrer 
Logik so zu sagen als ein Beispiel, an dem das Gegentheil ersichtlich 
sei, anführen. Der Satz „ein Centaur ist eine Erfindung der Poeten'' 
verlangt, wie Sie mit Becht bemerken, nicht, dass ein Centaur existire, 
vielmehr das Gegentheil. Allein er verlangt, um wahr zu sein, wenig- 
stens dass etwas Anderes existire, nämlich eine Fiction der Poeten, die 
in einer besonderen Weise Theile des menschlichen Organismus und 
Theile des Pferdes verbindet. Wenn es keine Fiction der Poeten 
gäbe, und wenn es keinen von den Poeten fingirten Centauren gäbe, 
'"''r so wäre der Satz falsch; und seine Bedeutung ist thatsächlich keine 

i^^^^ andere als die, „es gibt eine poetische Fiction, welche einen mensch- 

lichen Oberleib mit dem Bumpfe eines Pferdes zu einem lebenden We- 
>5oklr sen vereinigt denkt", oder (was dasselbe sagt) „es gibt einen von den 

\^ Poeten fingirten Centauren". Aehnliches gilt, wenn ich sage, Ju- 

, üji piter fiel ein Non-Ens, d. h. wohl, er sei etwas, was bloss in der Einbildung} 

nicht aber in Wirklichkeit bestehe. Die Wahrheit des Satzes verlangt 
nicht, dass es einen Jupiter, wohl aber, dass es etwas Anderes gebe. 
Gäbe es nicht etwas, was bloss in der Vorstellung existirte, 
so wäre der Satz nicht wahr, — Der besondere Grund, warum man 
bei Sätzen wie „der Cent-aur ist eine Fiction" geneigt ist, ihre Rück- 
. führbarkeit auf Existentialsätze anzuzweifeln, liegt in einem, wie mir 
scheint, von den Logikern bisher übersehenen Verhältniss ihrer Frädi-' 
cate zu ihren Subjecten. Aehnlich wie die Adjectiva für das ihnen 
beigefügte Substantiv, sind auch die Prädicate für das mit ihnen ver- 



288 Bach II. Von den pejchischen Phänomenen im Allgemeinen. 

dann finden wollten, dass es eine Verbindung von Merkmalen 
zum Inhalte habe. Einmal tritt bei der Rückführung des 



bnndene Sabject gewohnlich etwas, was den Begriff durch neue Be- 
stimmungen bereichert, manchmal aber etwas,, was ihn modificirt Das 
Erste gilt z^ B. , wenn ich sage „ein Mensch ist gelehrt''; das Zweite^ 
wenn ich sage „ein Mensch ist todt**. Ein gelehrter Mensch ist ein 
Mensch; ein todter Mensch ist aber kein Mensch. So setzt denn der 
Satz „ein todter Mensch ist*' nicht, um wahr zu sein, die Existenz eine» 
Menschen, sondern nur die eines todten Menschen voraus; und ahn« 
lieh fordert der Satz „ein Centaur ist eine Fiction'' nicht, dass es einen 
Centauren, sondern einen fingirten Centauren, d.i. die Fiction eines 
Centauren gebe, u. s. f Vielleicht dient diese Erklärung dazu, ein 
Be^ienken , das in Jemand entstanden sein konnte , zu beseitigen. 
Was Mill selbst betrifft, so zeigte es sich, dass sie bei ihm gar nicht 
nöthig gewesen wäre, denn er antwortete mir unter tlem 6. Februar 
1873: „You did not, as you seem to suppose fail to convince me of 
the invariable convertibilitj of all categorical affirmative propositions 
into predications of existence (er meint affirmative Existentialsätze, die 
ich natürlich nicht als „Pradicationen von Exjstenz*' bezeichnet hatte). 
The Suggestion was new to me, but I at once saw its truth when 
pointed out. It is not on that point that our difference hinges etc^* 
Dass Mill trotz der zugestandenen Bückführbarkeit aller kategorischen 
Sätze auf Existentialsätze seine Meinung, das „ist** und „ist nicht*' in 
ihnen enthalte einen Prädicatsbegriff ,,Exi8tenz" wie früher festhielt, 
zeigt sich schon in der mitgetheilten Stelle seines Briefes, und er sprach 
es in dem darauf Folgenden noch entschiedener aus. Wie er aber da- 
bei an seiner Lehre von der Copula festhalten könne, zeigte er nicht. 
Consequent hätte er sie aufgeben und überhaupt noch Vieles in seiner 
Logik (wie z. B. Buch L Cap. 5. §. 5) wesentlich umbilden müssen. 
Ich hoffte, im Frühsommer seiner Einladung nach Aviguou folgend, 
über diese wie über andere zwischen uns schwebende Fragen mündlich 
mich leichter mit ihm verständigen zu können, und urgirte den Punkt 
nicht weiter. Doch sein plötzlicher Tod vereitelte meine Hoffaungen. 
Nur noch eine kurze Bemerkung will ich meiner Erörterung gegen 
Mill beifügen. Die Sätze von der Art wie „ein Mensch ist todt*' sind 
im wahren Sinne des Wortes gar nicht kategorisch zu nennen, weil 
todt kein Attribut, sondern, wie gesagt, eine Modification des Subjectes 
enthält. Was würde einer zu dem kategorischen Schlüsse sagen: „aUe 
Menschen sind lebende Wesen; irgend ein Mensch ist todt; also ist 
irgend ein Todtes ein lebendes Wesen**? Er wäre aber, wenn die 
Minor ein wahrer kategorischer Satz wäre, ein gültiger Schluss der 
dritten Figur. Wollten wir nun mit Kant, solchen verschiedenen 



Capitel 7. Yorstelltiiig u Urtheil zwei verschiedene Grundclassen. 289 

kategorischen auf den Existentialsatz das „Sein'^ des Existen- 
tialsatzes an die Stelle der Gopula und lässt so erkennen, 
dass es so wenig wie diese ein Prädicat enthält. Dann sieht 
man recht anschaulich, wie die Verbindung mehrerer Glieder, 
die man für die allgemeine und besondere Natur der ürtheile 
so wesentlich glaubte, die Combination von Subject und Prä- 
dicat, von Antecedens und Consequens u. s. f., in Wahrheit 
nichts anderes als « Sache des sprachlichen Ausdruckes ist. 

Hätte man dies von Anfang erkannt, so wäre wohl Nie- 
mand auf den Gedanken gekommen, Vorstellungen und ür- 
theile dadurch zu unterscheiden, dass der Inhalt der ersteren 
ein einfacher, der Inhalt der letzteren ein zusammengesetzter 
Gedanken sei. Denn in Wahrheit besteht hinsichtlich des 
Inhaltes nicht der geringste Unterschied. Der Bejahende, 
der Verneinende und der ungewiss Fragende haben denselben 
Gegenstand im Bewusstsein ; der letzte, indem er ihn bloss 
vorstellt, die beiden ersten, indem sie ihn zugleich vorstellen 
und anerkennen oder verwerfen. Und jedes Object, das In- 
halt einer Vorstellung ist, kann unter Umständen auch Inhalt 
eines Urtheils wenden. 

§. 8. Ueberblicken wir noch einmal rasch den Gang 
unserer Untersuchung in seinen wesentlichsten Momenten. 
Wir sagten, wenn man nicht zugebe, dass zwischen Vorstel- 
lung und Urtheil ein Unterschied wie zwischen Vorstellung 
und Begehren, d. h. ein Unterschied in der Weise der Be- 
ziehung zum Gegenstand bestehe, so leugne doch Niemand, 
dass irgend ein Unterschied zwischen beiden anerkannt 
werden müsse. Ein bloss äusserer Unterschied, eine blosse 
Verschiedenheit in den Ursachen oder Folgen könne aber 



AaBsageformeln entsprechend, verschiedene Classen von „Relation" der 
ürtheile annehmen, so hätten wir hier wieder neue „transcendentale'^ 
Entdeckungen zu machen. In Wahrheit ist aber die besondere Aus- 
sageformel leicht abgestreift, indem der Existentialsatz „es gibt einen 
todten Menschen^* ganz und gar dasselbe besagt. Und somit, hoffe ich, 
wird man endlich einmal aufhören, hier sprachliche Unterschiede mit 
Unterschieden des Denkens zu verwechseln. 

Brentano, Psychologie. I. '19 



290 Buch n. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

dieser Unterschied oflfenbar nicht sein. .Vielmehr sei er, wenn 
man die Verschiedenheit der Beziehungsweisen ausschliesse, 
nur in zweifacher Art denkbar ; entweder als ein Unterschied 
in dem, was gedacht wird, oder als ein Unterschied der 
Intensität, mit welcher es gedacht wird. Wir prüften 
bei4e Hypothesen. Die zweite erwies sich sofort als hinfallig. 
Aber auch die erste, zu der man zunächst eher geneigt sein 
konnte, zeigte sich bei näherer Betrachtung als völlig un- 
haltbar. Wenn eine noch immer sehr gewöhnliche Meinung 
dahin geht, dass die Vorstellung auf einen einfacheren, das 
Urtheil auf einen zusammengesetzteren Gegenstand, auf eine 
Verbindung oder Trennung gehe, so wiesen wir dagegen nach, 
dass auch blosse Vorstellungen diese zusammengesetzteren 
Gegenstände, und andererseits auch Urtheile jene einfacheren 
Gegenstände zum Inhalte haben. Wir zeigten, dass die Ver- 
bindung von . Subject und Prädicat und andere derartige 
Combinationen durchaus nicht zum Wesen des Urtheils ge- 
hören. Wir begründeten dies durch Betrachtung des affir- 
mativen wie negativen Existentialsatzes ; wir bestätigten es 
durch den Hinweis auf unsere Wahrnehmungen und insbe- 
sondere unsere ersten Wahrnehmungen, und endlich durch 
die Rückführung der kategorischen, ja aller Arten von Aus- 
sagen auf Existentialsätze. So wenig also ein Unterschied 
' der Intensität , so wenig kann ein Unterschied des Inhaltes 
es sein, was die Eigenthümlichkeit des Urtheils gegenüber 
der Vorstellung ausmacht. Somit bleibt nichtsTAnderes übrig 
als, wie wir es gethan, die Eigenthümlichkeit des Urtheils 
als eine Besonderheit in der Beziehung auf den immanenten 
Gegenstand zu begreifen. 

§. 9. Ich glaube, die eben beendete Erörterung ist eine 
kräftige Bestätigung unserer These; so zwar, dass sie jeden 
Zweifel daran niederschlägt. Dennoch wollen wir wegen der 
fundamentalen Bedeutung der Frage den Unterschied von 
Vorstellung und Urtheil nochmals und von einer anderen 
Seite her beleuchten. Denn nicht bloss die Unmöglichkeit 
sonstwie von ihm Rechenschaft zu geben^ auch vieles Andere 



Capitel 7. Vorstellung a.Urtheil zwei verschiedene Grundclassen. 291 

weist uns auf die Wahrheit hin,, die nach unserer Behaup- 
tung unmittelbar in der inneren Erfahrung vorliegt. 

Vergleichen wir zu diesem Zwecke das Verhältniss von 
Vorstellung und ürtheil mit dem Verhältniss zwischen zwei 
Classen von Phänomenen, deren tie%reifende Verschiedenheit 
in der Beziehung zum Object ausser Frage steht: nämlich 
mit dem Verhältniss zwischen Vorstellungen und Phänomenen 
von Liebe oder Hass. So sicher es ist, dass ein Gegenstand, 
der zugleich vorgestellt und geliebt, oder zugleich vorgestellt 
und gehasst wird, in zweifacher Weise intentional im Be- 
wusstsein ist: so sicher gilt dasselbe auch in Betreff eines 
Gegenstandes, den wir zugleich vorstellen und anerkennen, 
oder zugleich vorstellen und leugnen. 

Alle Umstände sind hier und dort analog; alle zeigen, 
dass wenn in dem einen auch in dem anderen Falle eine 
zweite, grundverschiedene Weise des Bewusstseins zu der 
ersten hinzugekommen ist. 

Betrachten wir dies im Einzelnen. 

Zwischen Vorstellungen finden wir keine Gegensätze 
ausser die der Objecte, die in ihnen aufgenommen sind. In- 
sofern Warm und Kalt, Licht und Dunkel, hoher und tiefer 
Ton u. dgl. Gegensätze bilden, können wir die Vorstellung 
des einen und des anderen entgegengesetzte nennen; und in 
einem anderen Sinne findet sich überhaupt auf dem ganzen 
Gebiete dieser Seelenthätigkeiten kein Gegensatz. 

Indem Liebe und Hass hinzutreten, tritt eine ganz an- 
dere Art von Gegensätzen auf. Ihr Gegensatz ist kein Gegen- 
satz zwischen den Objecten, denn derselbe Gegenstand kann 
geliebt oder gehasst werden : er ist ein Gegensatz zwischen 
den Beziehungen zum Object; gewiss ein deutliches Zeichen, 
dass wir es hier mit einer Classe von Phänomenen zu tbun 
haben, bei welchen der Charakter der Beziehung zum Object 
ein durchaus anderer als bei den Vorstellungen ist. 

Ein ganz analoger Gegensatz tritt aber unverkennbar 
auch dann in dem Bereiche der Seelenerscheinungen auf, wenn 
nicht Liebe und Hass, sondern Anerkennung und Leugnung 
auf die vorgestellten Gegenstände sich richten. 

19* 



Iruiem I^ehe ubi EEjs^ icLmkammsL. kannii: äiie aaz 

In xxaz 3auj)a^ ^^^^äe liniiäL wir stber msA «ne toS- 

ücaskU^jttideA. Urrfarile^ Imhh ctä:s xrösKn?^ oder somsere 

i^jA^hor ni^iiTj». ira5 «fem Uatersdiiafcr in »ier Suirke 1er Vor- 
strf^iiTw?«!. Terw^uiiiter sren^nnt werden i^&unte äl& der Uitfcr- 
^iiif:A in der Stärke der liebe- 

>VJi mehr. In den YorsteGTingen wlÄat keime Tm- 
^end und keine sittliehe Sckleehtigkeit. keime 
Erkenntnistft und kein Irrtham. Das ASes isl Auen 
tnnerü^rb fremd, and boefasteis in homonjiner Weise Imnen 
wir eine Vorstelhing sittlich gut oder sehledit. wahr oder 
fakefa nennen; wie z. B. eine Yofstelhii^ sddedit goannt 
wird, weil wer das Vorgestellte liebte sandten« und dne 
andere falsch , weil wer das Vorgestellte anerkennte irroi 
wfirde; oder auch, weil in der Vorstrihmg eine Gre&hr zu 
jener Liebe, eine Gefahr zu dieser Anerkennung gegeben ist ^). 

Das Gebiet der Liebe und des Hasses zeigt uns also 
eine ganz nene Galtong ron Vollkomnienheit und UnroD- 
kommenheit , ron welcher das Gebiet der Vorstello]^ nicht 
die leJi^^te Spnr enthalt. Indem Liebe und Hass zn den Vor- 
j^tellnngspbänomenen sich gesellen, tritt — wenigstens hanfig, 
und da wo es sich nm znrechnongsQUiige psychische Wesen 
handelt — das sittUch Gute und Böse in das Bdch der Seelen- 
thätigkeit ein. 



*) Vghf was schon Aristoteles in dieser Hinsicht bemerkt bat, in 
mmner Abhandlnng „Von der Mannigfachen Bedeutung des Seienden 
fia<:b ArittoteW S. 31 f. 



Capitel 7. Vorstellung u.Urtheil zwei verschiedeDeGrundclassen. 293 

Doch auch hier gilt in Bezug auf das Urtheil Aehnliches. 
Denn die andere eben so neue und wichtige Gattung von 
Vollkommenheit und Un Vollkommenheit, an der, wie wir 
sagten, kein blosses Vorstellen Theil hat, ist in ähnlicher 
Weise das Eigenthum des Gebietes des ürtheils wie die erst- 
genannte das Eigenthum des Gebietes der Liebe und des 
Hasses ist. Wie die Liebe und der Hass Tugend oder Schlech- 
tigkeit sind, so sind die Anerkennung oder Leugnung Erkennt- 
niss oder Irrthum. 

EndUch noch Eines. Obwohl von den Gesetzen des Vor- 
stellungslaufes nicht unabhängig, unterliegen doch Liebe und 
Hass, als eine besondere, in der ganzen Weise des Bewusst- 
seins grundverschiedene Gattung von Phänomenen, noch be- 
sonderen Gesetzen der Succession undEntwicke- 
lung, welche vornehmlich die psychologische Grundlage der 
Ethik ausmachen. Sehr häufig wird ein Gegenstand wegen 
eines anderen geliebt und gehasst, während er an und für 
sich in keiner von beiden Weisen oder vielleicht nur in einer 
entgegengesetzten uns bewegen würde. Und oft haftet die Liebe, 
einmal in dieser Weise übertragen, ohne Rücksicht auf den 
Ursprung bleibend an dem neuen Objecte. 

Auch in dieser Hinsicht aber finden wir eine ganz ana- 
loge Thatsache bei den Urtheilen. Auch bei ihnen kommen 
zu den allgemeinen Gesetzen des Vorstellungslaufes, deren 
Einfluss auf dem Gebiete des ürtheils nicht zu verkennen 
ist, noch besondere Gesetze hinzu, die speciell für die Ur- 
theile Geltung haben, und in ähnlicher Beziehung zur Logik, 
wie die Gesetze der Liebe und des Hasses zur Ethik 
stehen. Wie eine Liebe aus der anderen nach besonderen 
Gesetzen entsteht, so wird ein Urtheil aus dem anderen nach 
besonderen Gesetzen gefolgert. 

So sagt denn mit Recht J. St. Mill in seiner Logik der 
Geisteswissenschaften: „Li Betreff des Glaubens werden die 
Psychologen immer durch specifisches Studium nach 
den Regeln der Induction zu untersuchen haben, welchen 
Glauben wir durch unmittelbares Bewusstsein haben, und 
nach welchen Gesetzen ein Glauben den anderen erzeugt; 




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'l ^fTTi^limcÄL i#er.^^iki»- 

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\^^nA^y;*:sj^ dmer Su'Töessioii od«- Coexsteaz m 
Uri^rtrvii. u^bdiaiikdi Ikerrorgebndit woidn iäi, 
iraiiiM bJU» ^ da$ treSeud duu^aktedäit wird dmtli die g^ 
u^^tfhifYu'iih hemdmum^ elvas fär-walur-Haltiai, vefl mui 
^ üdi lö diw Kr/pf gesetzt hat** *). 

Ki$ wäre ülßerHüsstis jetzt länger bei emem Pmihle zu 
terwdU:«, der genügend Uar und. mit geringiNi Ansnihmea, 
au^i irr;o alk» Denkern anerkannt wird. Spätere Erwtenin- 
iTifU werden dm^ waa hier über die besonderai Gesetze der 

^ i)4t4, o. Ind. Logik B. VL Cap. 4. §. 3. 

^ «t, a. 0. C\h XL Hole 108; I. p. 407. 




CapitelT. Vorstellung u.Urtheil zwei verschiedene Grundclassen. 295 

Urtheile und der Gemüthsbewegungen gesagt worden ist, noch 
m^hr in's Licht setzen^). 

Unser Ergebniss ist also dieses: Aus der Analogie aller 
begleitenden Verhältnisse ist aufs Neue ersichtlich,, dass, 
wenn zwischen Vorstellung und Liebe, und überhaupt irgend- 
wo zwischen zwei verschiedenen , psychischen Phänomenen, 
auch zwischen Vorstellung und Urtheil eine fundamentale Ver- 
schiedenheit der Beziehung zum Objecto angenommen werden 
muss. 

§. 10. Fassen wir die Beweisgründe für diese Wahrheit 
kurz zusammen, so sind es folgende: 

Erstens zeigt die innere Erfahrung unmittelbar die Ver- 
schiedenheit in der Beziehung auf den Inhalt, die wir für 
Vorstellung und Urtheil behaupten. 

Zweitens würde, wenn nicht ein solcher, überhaupt 
kein Unterschied zwischen ihnen bestehen. Weder die An- 
nahme einer verschiedenen Intensität, noch die Annahme eines 
verschiedenen Inhaltes für die blosse Vorstellung und das Ur- 
theil ist haltbar. 

Drittens endKch findet man, wenn man den ünterr 
schied von Vorstellung und Urtheil mit anderen Fällen psychi- 
scher Unterschiede vergleicht, dass von allen Eigenthümlich- 
keiten, welche sich anderwärts zeigen wo das Bewusstsein in 
völlig verschiedenen Weisen zu einem Gegenstande in Be- 
ziehung tritt, auch hier nicht eine einzige mangelt. Also, 
wenn nicht hier, so dürften wir wohl auch in keinem an- 
deren Falle einen solchen Unterschied auf psychischem Ge- 
biete anerkennen. 

§.11. Es bleibt uns nun noch eine Aufgabe zu lösen. 
Ausser dem Irrthum in der gewöhnhchen Ansicht müssen 
wir auch den Anlass des Irrthums nachweisen. 

Die Ursachen der Täuschung waren, wie mir scheint, von 
doppelter Art. Der eine Grund war ein psychischer, d.h. 



») Buch IV und V. 



296 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

eine psychische Thatsache, welche die Täuschung begünstigte ; 
der andere ein sprachlicher. 

Der psychische Grund scheint mir vorzüglich darin zu 
liegen, dass in jedem Acte des Bewusstseins , so einfach er 
auch sein mag, wie z. B. in dem, worin ich einen Ton vor- 
stelle, nicht bloss eine Voi*stellung , sondern zugleich auch 
ein Urtheil, eine Erfeenntniss bescUossen ist. Es ist dies die 
Erkenntniss des psychischen Phänomens im inneren Bewusst- 
sein, deren Allgemeinheit wir früher nachwiesen^). Dieser 
Umstand, der manche Denker dazu veranlasst hat , alle psy- 
chischen Phänomene unter den Begriff des Erkennens als 
unter eine einheitliche Gattung zu subsumiren, hat andere 
bestimmt, wenigstens Vorstellung und Urtheil, weU sie nie ge- 
trennt erscheinen, in Eins zu fassen, indem sie nur für die 
Phänomene, die, wie Gefühle und Bestrebungen, in besonderen 
Fällen hinzukommen, besondere neue Classen aufstellten. 

Ich brauche, um diese Bemerkung zu .bestätigen, nur 
eine schon früher einmal angezogene Stelle aus Hamilton's 
Vorlesungen in Erinnerung zu bringen. „Es ist offenbar", sagte 
er, „dass jedes psychische Phänomen entweder ein Act der 
Erkenntniss oder einzig und allein durch einen Act der Er- 
kenntniss möglich ist, denn das innere Bewusstsein 
ist eine Erkenntniss; und dies ist der Grund, wess- 
halb viele Philosophen — wie Descartes, Leibnitz, Spinoza, 
Wolff, Platner u. A. — dazu geführt wurden, die vorstellende 
Fähigkeit, wie sie sie nannten, die Fähigkeit der Erkennt- 
niss , als das Grundvermögen der Seele zu betrachten , von 
dem alle anderen sich ableiteten. Die Antwort darauf ist 
leicht. Jene Philosophen beachteten nicht, dass obwohl Lust 
und Unlust, Begierde und Willen bloss sind, insofern sie 
als seiend erkannt werden, dennoch in diesen Modifica- 
tionen ein absolut neues Phänomen hinzugekom- 
men ist, welches nie in der blossen Fähigkeit der Er- 
kenntniss enthalten war, und daher auch nie daraus ent- 
wickelt werden konnte. Die Fähigkeit der Erkennt- 



Buch II. Cap. 3. 



CapitelT. Vorstellung u. Urtheil zwei verschiedene Grundclasseu. '297 

niss ist sicher die erste der Ordnung nach und insofern 
die conditio sine qua non der übrigen u. s. w."^) 

Wir sehen, weil kein psychisches Phänomen möglich ist, 
ausser insofern es von innerer Erkenntniss begleitet ist, so 
glaubt Hamilton, ein Erkennen sei der Ordnung nach das 
Erste in uns, und unterscheidet, indem er das Vorstellen mit 
ihm in Eines fasst, nur noch fftr Gefühl und Streben beson- 
dere Classen. In der That ist es aber nicht richtig, dass ein 
Erkennen der Ordnung nach das Erste ist, da ein solches 
zwar in jedem und darum auch in dem ersten psychischen 
Acte auftritt, aber nur secundär. Das primäre Object des 
Actes ist nicht immer erkannt (sonst könnten wir nie etwas 
falsch beurtheilen) und auch nicht immer beurtheilt (sonst 
würden die Frage und Untersuchung darüber wegfallen), son- 
dern oft und in den einfachsten Acten nur vorgestellt. Und 
auch hinsichtlich des secundären Objects bildet die Erkennt- 
niss in gewisser Weise nur das zweite Moment, indem sie wie 
jedes Urtheil die Vorstellung des Beurtheilten zur Vorbedin- 
gung hat, also diese (wenn auch nicht zeitlich, doch der Natur 
nach) das Frühere ist 

Auf dieselbe Weise, wie Hamilton für die Erkenntniss, 
könnte man auch für das Gefühl den ersten Platz in der 
Ordnung der Phänomene in Anspruch nehmen und in 
Folge davon auch dieses mit Vorstellung und Urtheil con- 
fundiren. Denn, wie wir gesehen haben, kommt auch ein 
Gefühl als secundäres Phänomen in jedem psychischen* Acte 
vor*). Wenn dieses nicht oder doch nicht so häufig wie die 
Allgemeinheit der begleitenden inneren Wahrnehmung zu 
einem ähnlichen Missgriffe veranlasste: so erklärte sich dies 
nur daraus, dass einerseits die Allgegenwart der Gefühle nicht 
so allgemein erkannt wurde; und andererseits gewisse Vor- 
stellungen uns wenigstens relativ gleichgültig lassen, und die- 
selbe Vorstellung zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen, 
ja entgegengesetzten Gefühlen begleitet ist^). Die innere 

') Lectnres on Metaphysics 1. p. 187. 
«) S. 0. Buch n. Cap. 3. §. 6. 
») Vgl. ebend. 



298 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Wahrnehmung dagegen besteht immer und wechsellos mit 
derselben Fülle der üeberzeugung, und wenn sie einem Unter- 
schiede der Intensität unterliegt, so ist es ein solcher der mit 
einer Intensität des von ihr begleiteten Phänomens in glei- 
chem Grade steigt und fällt ^).' 

Dies also ist, was ich den psychischen Grund des Irr- 
thums nannte. 

§. 12. Zu ihm kommt, wie gesagt, auch ein sprach- 
licher. 

Wir können nicht erwarten, dass Verhältnisse, die sogar 
scharfsinnigen Denkern der Anlass einer Täuschung wurden, nicht 
auch auf die gewöhnlichen Ansichten einen Einfluss gewonnen 
haben sollten. Aus diesen aber erwächst die Sprache des 
Volkes. Und so müssen wir von vorn herein vermuthen, dass 
unter den Namen, mit welchen das gemeine Leben die psy- 
chischen Thätigkeiten zu bezeichnen pflegt, sich einer finde, 
welcher auf Vorstellungen wie ürtheile, aber auf kein anderes 
Phänomen anwendbar, beidie wie zu einer einheitlichen, wei- 
teren Classe gehörig zusammenfasst. Dies zeigt sich in der 
That. Wir nennen Vorstellen und ürtheilen mit gleicher Un- 
gezwungenheit ein Denken; auf ein Fühlen oder Wollen da- 
gegen können wir den Ausdruck nicht ^ohl anwenden, ohne 
der Sprache Gewalt anzuthun. Auch finden wir in fremden 
Sprachen, antiken wie modernen, Bezeichnungen, die in dem- 
selben Umfange gebräuchlich sind. 

Wer die Geschichte der wissenschaftlichen Bestrebungen 
kennt , wird mir nicht widersprechen, wenn ich diesem Um- 
stände einen hindernden Einfluss zuschreibe. Wenn sehr be- 
rühmte Philosophen der Neuzeit, ein um das andere Mal, so- 
gar dem Paralogismus der Aequivocation erlegen sind: wie 
sollte nicht eine Gleichheit der Benennung bei der Classifica- 
tion eines Erscheinungsgebietes verführerisch für sie gewesen 
sein? Whewell in seiner Geschichte der inductiven Wissen- 
schaften zeigt solche Versehen und andere ihnen verwandte 



*) S. ebend. §. 4. 



Capitel 7. Vorstellung u. Urtheil zwei verschiedene Grundclassen. 299 

Fehler in reichen Beispielen; denn wie zu einem Verbinden, 
wo keine Gleichheit, so führte die Sprache oft zu einem 
Unterscheiden, wo keine Verschiedenheit vorlag, und die Scho- 
lastiker waren nicht die einzigen, die Distinctioneü aiif 
blosse Worte gründeten. Es ist also sehr natürlich, wenn 
die Homonymie des Namens „Denken" in unserem Falle nach- 
theilig gewirkt Hat. 

§. 13. Aber weit mehr ohne Zweifet hat eine andere 
Eigenheit des sprachlichen Ausdrucks die Erkenntniss des 
richtigen Verhältnisses erschwert. 

Die Aussage eines Urtheils ist, man kann sagen, durch- 
gehends ein Satz, eine Verbindung mehrerer Worte, was sich 
auch von unserem Standpunkte leicht begreifen lässt. Es hängt 
damit zusammen, dass eine Vorstellung die Grundlage eines 
jeden ürtheiles ist, und dass bejahende und verneinende ür- 
theile hinsichtlich des Inhalts auf den sie sich beziehen über- 
einstimmen, indem das negative Urtheil nur den Gegenstand 
leugnet, den das entsprechende affirmative anerkennt. Ob- 
wohl der Ausdruck des Urtheils der vorzügliche Zweck sprach- 
licher Mittheilung war, so war es daher sehr nahe gelegt, 
den einfachsten sprachlichen Ausdruck, das einzelne Wort, 
nicht für sich allein dazu zu verwenden. Benützte man es 
für sich als den Ausdruck der einem UrtheUspaare gemein- 
sam zu Grunde liegenden Vorstellung, und fügte man, um 
Ausdrücke für die Urtheile selbst zu erhalten, eine doppelte 
Art von Flection oder auch eine doppelte Art von stereotypen 
Wörtchen (wie „sem" und „nicht sein") hinzu : so ersparte man 
durch diesen einfachen Kunstgriff dem Gedächtniss die Hälfte 
der Leistung, indem dieselben Namen in den affirmativen und 
in den entsprechenden negativen Urtheilen Verwendung fan- 
den. Ausserdem hatte man den Vortheil, bei der Weglassung 
jener Ergänzungszeichen den Ausdruck einer anderen Glasse 
von Phänomenen, der Vorstellungen, rein für sich zu be- 
sitzen, welcher, da die Vorstellungen auch für Begehren und 
Fühlen die Grundlage sind, in Fragen, in Ausrufungen, in 



800 Bach II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Befehlen u. s. f. noch weitere treffliche Dienste leisten 
konnte. 

So konnte es nicht fehlen, dass längst vor den Anfangen 
eigentlich wissenschaftlicher Forschung der Ausdruck des Ur- 
theils eine Zusammensetzung aus mehreren unterscheidbaren 
Bestandtheilen geworden war. 

Danach bildete man sich die Ansicht, das ürtheil selbst 
müsse ebenfalls eine Zusammensetzung, und zwar — da die 
Mehrzahl der Worte Namen, Ausdrücke von Vorstellungen, 
sind — eine Zusammensetzung von Vorstellungen sein^). Und 
stand einmal dieses fest, so schien ein unterscheidendes Merk- 
mal des Urtheils von der Vorstellung gegeben, und man 
fühlte sich nicht aufgefordert näher zu untersuchen, ob dies 
der ganze Unterschied zwischen Vorstellung imd Urtheil sein 
könne, ja ob ihre Verschiedenheit nur irgendwie in dieser 
Weise sich begreifen lasse. 

Nach allem dem vermögen wir es uns recht wohl zu er- 
klären, wesshalb das wahre Verhältniss zwischen zwei funda- 
mental verschiedenen Classen psychischer Erscheinungen' so 
lange Zeit verborgen blieb. 

$ 
§. 14. Inzwischen hat natürlich die falsche Wurzel man- 
nigfache Schösslinge des Irrthums hervorgetrieben, welche in 
weiter Verzweigung nicht bloss über das Gebiet der Psycho- 
logie, sondern auch über das der Metaphysik und Logik sich aus- 
breiteten. Das ontologische Argument für das Dasein Gottes 
ist nur eine ihrer Früchte. Die gewaltigen Kämpfe, welche 
die mittelalterlichen Schulen über essentia und esse, ja 
über esse essentiae und esse existentiae führten, 
geben von den convulsivischen Anstrengungen einer energi- 
schen Denkkraft Zeugniss, welche sich müht des unverdau- 
lichen Elementes Herr zu werden. Thomas, Scotus, Occam, 
Suarez — alle betheiligen sich lebhaft an dem Kampfe ; jeder 
hat in der Polemik, keiner in seinen positiven AufsteUungen 



') Mau vergleiche zum Beleg das erste Capitel der Aristotelischen 
Schrift De Interpretatione. 



Capitel 7, VorstelluDg u. Urtheil zwei verschiedene Grundclassen. 301 

Recht Iminer dreht sich die Frage nur darum, ob die Exi- 
stenz des Wesens eine andere, oder ob sie dieselbe Realität 
wie das Wesen sei. Scotus, Occam, Suarez leugnen mit 
Recht, dass sie eine andere Realität sei (was besonders Scotus 
sehr hoch anzurechnen und schier bei ihm wie ein Wunder 
zu betrachten ist); aber sie fallen in Folge dessen in den 
Irrthum, die Existenz eines jeden Dinges gehöre zum Wesen 
des Dinges selbst, sie betrachten dieselbe als seinen allge- 
meinsten Begriff. Hier war nun der Widerspruch der Tho- 
misten im Rechte, obwohl ihre Kritik den eigentlich schwachen 
Punkt nicht traf und sich vornehmlich auf die Grundlage ge- 
meinsamer irriger Annahmen stützte. Wie, riefen sie, die 
Existenz eines jeden Dinges sein allgemeinster Begriff? — 
Das ist unmöglich! — Würde doch seine Existenz sich dann 
aus seiner Definition ergeben, und folglich die Existenz des 
Geschöpfes so selbstevident und von vom herein nothwendig 
wie die des Schöpfers selber sein. Aus der Definition eines 
creatürlichen Seins ergibt sich nicht mehr, als dass es ohne 
Widerspruch, also möglich ist. Das Wesen einer Creatur ist 
demnach ihre blosse Möglichkeit, und jede wirkliche Creatur 
ist aus zwei Bestandtheilen, aus einer realen Möglichkeit und 
einer realen Wirklichkeit zusammengesetzt, deren eine von 
der anderen im Existentialsatz ausgesagt wird, und die sich 
ähnlich wie nach Aristoteles Materie und Form in den Körpern 
zueinander verhalten. Die Grenzen der Möghchkeit sind natür- 
lich auch die der in ihr aufgenommenen Wirklichkeit. Und so ist 
die Existenz, die an sich etwas Schrankenloses und Allum- 
fassendes wäre, in der Creatur eine beschränkte. Anders ist 
es bei Gott. Er ist das in sich selbst nothwendig Seiende, 
auf welches alles Zufällige zurückweist. Er ist also nicht 
aus Möglichkeit und Wirklichkeit zusammengesetzt. Sein 
Wesen ist seine Existenz; die Behauptung, dass er nicht 
sei, ein Widerspruch. Und eben darum ist er unendlich. In 
keiner Möglichkeit aufgenommen, ist die Existenz bei ihm un- 
beschränkt; und so ist er der Inbegriff aller Realität und 
Vollkommenheit. 

Das sind hochfliegende Speculationen, die aber Niemanden 



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n&^reresa al^ za ecuun t^Zzj^^ Usstnz aber aark m eineü 
Wkd^iLC^iaii der ekfl&ntam Loeik &kit. Uad Alks vir: 
dann eiiisieher, durtb^d^tiser und cxacter. Xvr in eoisei 
bfn:*:pMen wiü kh den Contiast zwisckea dem Begeln diee 
refenutiten Lo^ und der ahliergebndileB nachweiseii. ifi- 




dem tum hier die ToCstan&e DnrcfafiälinBig md Begründizng 
natHrliefa zo lange aufhalten md zu weit rom unseron Theou 
abfahren wfirde'j« 



V EiowiikmigeB auf Kaai'« Tm'TTT'*T-^*f''''^**^*r'"^ wuidea im 
Voraofgebeodeii bernfart. 

*) Zorn Behuf mdiier Yorleso^gen ober Logik, die ich im Winter 
1^70/71 an der Wfirzborger Hochiehide hielt, babe ich eine nnf die 
neue Bans gegründete logiache Elementariehre ToUstindig und syste- 
matisch ansgearbeitet Da ne nicht bloss bei meinen Zohorem, son- 
dern aaeh bei Faehmünnem in der Philosophie, denen ich davon Mit- 
theilttng machte, Interesse erregte, so ist es meine Absicht, sie nach voll- 
endeter Iferaosgabe meiner Psychologie nochmak zu revidiren und xa 
rerfiiFentlichen« Die Regeln, die ich hier im Texte beispielsweise folgen 
lasse, werden, mit den übrigen, in dieser Schrift jene sorgfältige Be- 
gründung finden, die man bei einem Widersprach gegen die gesammte 
Tradition seit Aristoteles gewiss zu verlangen berechtigt ist Uebrigens 
wfirdmi Viele vielleicht von selbst die nothwendige Verkettung mit der 
dargelegten Ansicht von der Natur des Urtheils erkennen. 



Capitel 7. Vorstellung u. Urtheil zwei yerschiedeue Grundclassen. 303 

An die Stelle der früheren Regeln von den kategorischen 
Schlüssen treten als Hauptregeln, die eine unmittelbare An- 
wendung auf jede Figur gestatten, und für sich allein zur 
Prüfung eines jeden Syllogismus vollkommen ausreichend sind, 
folgende drei: 

1. Jeder kategorische Syllogismus enthält 
vierTermini, von denen zwei einander entgegen- 
gesetzt sind und die beiden andern zweimal zu 
stehen kommen. 

2. Ist der Schlusssatz negativ, so hat jede 
der Prämissen die Qualität und einen Terminus 
mit ihm gemein. 

3. Ist der Schlusssatz affirmativ, so hat die 
eine Prämisse die gleiche Qualität und einen 
gleichen Terminus, die andere die entgegenge- 
setzte Qualität und einen entgegengesetzten 
Terminus. 

Das sind Regeln, die ein Logiker der alten Schule zu- 
nächst nicht ohne Grauen hören wird. Vier Termini soll 
jeder Syllogismus haben: — und er hat die Quaternio ter- 
minorum immer als Paralogismus verdammt^). Negative 
Schlusssätze sollen lauter negative Prämissen haben : — und 
er hat immer gelehrt, das» aus zwei negativen Prämissen 
nichts gefolgert werden kann. Auch unter den Prämissen 
des affirmativen Schlusssatzes soll sich ein negatives Urtheil 
finden: — und er hätte darauf geschworen, dass er unum- 



') In der allemeuesten Zeit hat auch ein englischer Logiker, B o o le, 
richtig erkannt, dass manche kategorische SyUogismen vier Termini haben, 
von denen zwei einander contradictorisch entgegengesetzt seien. Andere 
haben ihm beigepflichtet, und auch A. Bain, der in seiner Logik ausführlich 
über Boole's Zusätze zur Syllogistik berichtet , gibt seine Zustimmung 
unzweideutig zu erkennen (I. p. 205). Obwohl Boole diese Syllogismen 
mit vier Terminis nur neben Syllogismen mit drei Terminis stellt, statt 
die Quaternio terminorum als allgemeine Regel anzuerkennen, und ob- 
wohl die ganze Weise seiner Ableitung mit der meinigen keine Aehn- 
lichkeit hat: so war sie mir doch interessant als ein Zeichen, dass man 
auch jenseits des Canals an dem Gesetze der Dreiheit der Termini zu 
zweifeln anflingt. 



304 Bnch n. Von den psychischen Phänomenen im ADgememen. 

gängUch zwei affirmative Prämissen verlange. Ja, für einen 
kategorischen Schluss aus affirmativen Prämissen ist gar kein 
Baum gelassen: — und er hatte docirt, dass die affirmativen 
Prämissen die vorzüglichsten seien, indem er, wo eine nega- 
tive sich dazu gesellte, diese als die „pejor pars'^ bezeichnete. 
Von „allgemein" imd „particulär" endlich hört man in den 
neuen Kegeln gar nichts : — und ihm waren diese so zu sagen 
nicht aus dem Munde gekommen. Und haben nicht seine 
alten Regeln sich bei der Prüfung der Syllogismen so geeig- 
net erwiesen, ^Siss nun umgekehrt wieder die tausend an 
ihrem Maassstabe gemessenen Schlüsse fCir sie selbst Probe 
und Bewährung sind? Sollen wir den berühmten Schluss: 
„Alle Menschen sind sterblich, Gajus ist ein Mensch, also ist 
Gajus sterblich", und alle seine Begleiter nicht mehr als bün- 
dig anerkennen? — Das scheint eine unmögliche Zumuthung. 

Doch so schlinmi steht die Sache auch nicht. Da die 
Fehler, aus welchen die früheren Regeln der Syllogistik ent- 
sprangen, in der Verkennung der Natur der Urtheile nach 
Inhalt und Form bestanden, so glichen sie, bei der Anwen- 
dung derselben consequent festgehalten, meistens ihre nach- 
theilige Wirkung selber aus^). Von allen Schlüssen^ die man 
nach den bisherigen Regeln für richtig erklärte, waren nur 
die nach vier Modis gefolgerten ungültig, wogegen auf der an- 
deren Seite freilich auch eine nicht unbedeutende Zahl rich- 
tiger Modi übersehen wurde ^). 

Schädlicher waren die Folgen in der Lehre von den so 
genannten unmittelbaren Schlüssen. Nicht bloss ist z. B. die 
richtige Regel für die Conversion, dass jeder kategorische 
Satz simpliciter convertibel ist (man muss nur über das wahre 



^) Sagte man z. B. in Folge des Missverstandnisses der Sätzer 
zum richtigen kategorischen Schlosse gehören drei Termim', so bewirkte 
dasselbe MissverständnisB, dass man im einzelnen Schlüsse drei Termini 
sah, wo in Wahrheit vier gegeben waren. 

*) Letzteres wurde auch von den vorerwähnten englischen Logi- 
kern bereits erkannt. Die vier ungültigen Modi, von denen ich spreche, 
sind in der dritten Figur Darapti und Felapton und in der vierten Ba* 
malip und Fesapo. 



Capitel 7. Vorstellung u. Urtheil zwei verscliiedene Grundclassen. 305 

Subject und über das wahre Prädicat im Klaren sein), son- 
dern man erklärte nach den alten Regeln auch viele Con- 
versionen für gültig, die in Wahrheit ungültig sind, und 
umgekehrt. Bei den so genannten Schlüssen durch Subal- 
temation und Opposition ergibt sich dasselbe*). Auch stellt 
sich, wenn man kritisch die alten Regeln mit einander ver- 
gleicht, seltsam genug heraus, dass sie zuweilen miteinander 
im Widerspruch stehen, so dass, was nach der einen als 
gültig nach der anderen als ungültig zu bezeichnen wäre.' 

§. 16. Doch wir überlassen es einer künftigen Revision 
der Logik , dies im Einzelnen auszuführen und zu bewähren. 
Uns gehen hier weniger die nachtheiligen Folgen an, welche 
die Verkennung der Natur des ürtheils* für Logik oder Meta- 
physik hatte, als diejenigen, welche für die Psychologie sich 
ergaben und, wegen des Verhältnisses der Psychologie zur 
Logik, allerdings auch für diese ein neues Hinderniss frucht- 
barer Entwickelung wurden. Die bisherige Psychologie hat, 
man kann sagen, durchwegs die Erforschung der Gesetze der 
Entstehung der Urtheile in ungebührlicher Weise vernach- 
lässigt; und dies kam daher, weil man immer Vorstellen 
und Urtheilen als „Denken" zu einer Classe zusammenrechnete, 
und mit der Erforschung der Gesetze der Aufeinanderfolge 
der Vorstellungen auch für die Urtheile das Wesentliche ge- 
than glaubte. So sagt selbst ein so eminenter Psychologe 
wie Hermann Lotze: „In Bezug auf die Urtheüskraft und 
Einbildungskraft werden wir ohjae Bedenken zugeben, dass 
diese beiden nicht zu dem angeborenen Besitze der Seele 
gehören, sondern Fertigkeiten sind, die sich durch die Bildung 
des Lebens, die eine langsam, die andere schnell entwickeln. 
Wir werden zugleich zugestehen, dass zur Erklärung ihrer 
Entstehung nichts als die Gesetze des Vorstellungs- 

*) Unzulässig ist die Conversion eines so genannten aUgemein be- 
jahenden in einen particulär bejahenden Satz ; die gewöhnlichen Schlüsse 
durch Subalternation sind sammtlich ungültig, und von denen durch 
Opposition die Schlüsse auf die Unwahrheit der s. g. conträren so wie 
die auf die Wahrheit der s. g. subconträren Urtheile. 

Brentano, Psychologie. I. . 20 ^ 



306 Buch II. Von den psychischen Phänomenen un Allgemeinen. 

lauf es nöthig sind"^). Hier zeigt sich der Grund des 
grossen Versäumnisses unverhüllt. Er lag in der mangelhaften 
Classification, die Lotze von Kant überkommen hatte. 

Richtiger hat hier J. St. Mill geurtheilt. In den früher 
von uns citirten Stellen sahen wir ihn mit Nachdruck eine 
specifische Erforschung der Gesetze des für-wahr-Haltens als 
unumgängliches Bedürfhiss betonen. Eine blosse Ableitung 
aus den Gesetzen des Vorstellungslaufes schien ihm in keiner 
Weise genügend. Aber die Vorstellungsverbindung, die Zu- 
sammensetzung von Subject und Prädicat, die er bei sonst 
sehr richtigen Ansichten über die Natur des ürtheils immer 
noch für wesentlich hielt, liess den Charakter desselben als 
einer besonderen, den andern ebenbürtigen Grundclasse nicht 
hinreichend hervortreten. Und so ist es gekommen, dass nicht 
einmal Bain, der Mill so nahe stand, die von ihm gegebenen 
Winke zur Ausfüllung einer weitklaflfenden Lücke der Psycho- 
logie benützt hat. 

Das Wort, welches die Scholastik von Aristoteles ererbt 
hatte, „parvus error in principio maximus in fine" hat also in 
unserem Falle nach jeder Seite hin sich bewährt. 



^) Mikrokosmus 1. Aufl. L S. 192. 



Achtes Capitel. 



Einheit der Grundclasse für Gefähl und Willen. 

§. 1. Nachdem Vorstellung und ürtheil als verschiedene 
Grundclassen psychischer Phänomene festgestellt sind, haben 
wir uns noch in Betreff unserer zweiten Abweichung von der 
herrschenden Classification zu rechtfertigen. Wie wir Vor- 
stellung und Urtheil trennen, so vereinigen wir Gefühl und 
WiUen. 

Hier sind wir nicht so sehr wie im früheren Punkte 
Neuerer : denn von Aristoteles bis herab auf Tetens, Mendels- 
sohn und Kant hat man allgemein bloss eine Grundclasse 
für Fühlen und Streben angenonmien; und unter den psy- 
chologischen Autoritäten der Gegenwart sahen wir Herbert 
Spencer nur zwei Seiten des Seelenlebens, eine cognitive und 
eine affective, unterscheiden. Doch dies soll uns bei der 
Wichtigkeit der Frage nicht abhalten, mit der gleichen 
Sorgfalt und unter Benützung der sämmtlichen uns zu Gebote 
stehenden Hülfsmittel unsere Lehre zu begründen und zu 
sichern. 

Wir halten hier denselben Gang wie bei der Unter- 
suchung über das Verhältniss von Vorstellung und ürtheil 
ein; wir berufen uns daher vor Allem auf das Zeugniss 
unmittelbarer Erfahrung. Die innere Wahrnehmung, sagen 
wir, zeigt deutlich hier den Mangel, wie dort das Vorhanden- 
sein eines fundamentalen Unterschiedes ; und hier eine wesent- 

20* 



308 Bach U. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

liehe üebereinstimmung, wie dort eine völlige VerscMedenheit 
in der Weise der Beziehung zum Object. 

Wenn wirklich der rückständige Theil der psychischen 
Phänomene, von welchem wir jetzt handeln, einen ähnlich 
tiefgreifenden Unterschied wie das vorstellende und urthei- 
lende Denken zeigte; wenn wirklich auch zwischen Fühlen 
und Streben von der Natur selbst eine scharfe Grenzlinie 
vorgezeichnet wäre : so könnten vielleicht in die Bestimmung 
der eigenthümlichen Natur der einen und anderen Classe 
Irrthümer sich einmischen; aber die Abgrenzung der Gattun- 
gen, die Angabe, welche Erscheinungen der einen und welche 
der anderen Gattung angehörten, würde sicher ein Leichtes 
sein. So wird man ohne Zögern sagen, dass „Mensch" eine 
blosse Vorstellung, „es gibt Menschen*' ein für- wahr - Halten 
ausdrücke, auch wenn man über die Natur des ürtheils völlig 
im Unklaren ist; und Aehnliches gilt für das ganze Gebiet 
der einen und anderen Gattung des Denkens. Aber bei der 
Frage, was ein Gefühl und was ein Begehren, Wollen oder 
Streben sei, verhält es sich ganz anders; und ich wenigstens 
weiss in Wahrheit nicht, wo die Grenze zwischen beiden 
Classen eigentlich liegen sollte. Zwischen den Gefühlen der 
Lust und Unlust und dem, was man gewöhnlich Wollen oder 
Streben nennt, stehen andere Erscheinungen in der Mitte; 
und zwischen den Extremen mag der Abstand gross erschei- 
nen : wenn man aber die mittleren Zustände mit in Betracht 
zieht; wenn man immer nur das nächststehende mit dem 
nächststehenden Phänomene vergleicht : so zeigt sich auf dem 
gesammten Gebiete nirgends eine Kluft, sondern ganz allmä- 
lig finden die Uebergänge statt. 

Betrachten wir als Beispiel die folgende Reihe : Traurig- 
keit — Sehnsucht nach dem vermissten Gute — Hoflfnung^ 
dass es uns zu Theil werde — Verlangen, es uns zu ver- 
schaffen — Muth, den Versuch zu unternehmen — WiUens- 
entschluss zur That. Das eine Extrem ist ein Gefühl, das 
andere ein Willen ; und sie scheinen weit von einander abzu- 
stehen : aber wenn man auf die Zwischenglieder achtet 4ind 



Capitel 8. Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen. 309 

immer nur die nächststehenden miteinander vergleicht, zeigt 
sich da nicht überall der innigste Anschluss und ein fast 
unmerklicher Uebergang? — Wenn wir classificirend in Ge- 
fühle und Strebungen sie scheiden wollen, zu welcher von 
beiden Grundclassen sollen wir die einzelnen rechnen ? — 
Wir sagen : „ich fühle Sehnsucht", „ich fühle Hoffnung", „ich 
fühle ein Verlangen, mir dieses zu verschaffen", „ich fühle 
Muth, dieses zu versuchen"; — nur, dass er einen Willens- 
entschluss fühle, wird wohl keiner sagen : ist darum vielleicht 
hier die Grenzmarke und gehören alle Mittelglieder noch der . 
Grundclasse der Gefühle an ? Wenn wir durch den Sprach- 
gebrauch des Volkes uns bestimmen lassen, werden wir aller- 
dings so urtheilen; und in der That verhalten wenigstens die 
Traurigkeit über die Entbehrung und die Sehnsucht nach 
dem Besitze sich etwa so, wie sich die Leugnung eines Gegen- 
standes und die Anerkennung seines Nichtseins zu einander 
verhalten: aber liegt nicht demungeachtet schon in der 
Sehnsucht ein Keim des Strebens? und spriesst dieser nicht 
auf in der Hoffnung, und entfaltet sich, bei dem Gedanken 
an ein etwaiges eigenes Zuthun, in dem Wunsche zu handeln 
und in dem Muthe dazu ; bis endlich das Verlangen darnach 
zugleich die Scheu vor jedem Opfer und den Wunsch jeder 
längeren Erwägung überwiegt und so zum Willensentsdüuss 
gereift ist ? — Sicher , wenn wir diese Reihe von Phänomenen 
nun doch einmal in eine Mehrheit von Grundclassen zertheilen 
wollen, so dürfen wir die mittleren Glieder ebensowenig mit 
dem ersten Gliede dem letzten unter dem Namen Gefühl, als 
mit dem letzten Gliede dem ersten unter dem Namen Willen 
oder Strebung entgegensetzen: vielmehr wird nichts übrig 
bleiben, als jedes Phänomen für sich als eine besondere 
Classe zu betrachten. Dann aber, glaube ich, ist es für Jeden 
unverkennbar, dass die Unterschiede der Glassen hier keine 
so tief einschneidenden Differenzen wie die zwischen Vor- 
stellung und ürtheil, oder zwischen ihnen und allen übrigen 
psychischen Phänomenen sind; und so nöthigt. uns der 
Charakter unserer inneren Erscheinungen, die Einheit der- 



310 Buch n. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

selben natürlichen Grundclasse über das ganze Reich des 
Fühlens und Strebens auszudehnen^). 



^) Es ist interessant und lehrreich, das vergebliche Bemühen der 
Psychologen um eine feste Grenzhestimmung zwischen Gefühl und 
WiUen oder Streben zu beobachten. Sie widersprechen dabei dem her- 
kömmlichen Sprachgebrauche ; und der eine widerspricht dem anderen, 
ja nicht selten sogar sich selbst. Kant rechnet schon die hoffnungs- 
lose Sehnsucht nach anerkannt Unmöglichem zum Begehr ungsver- 
mögen, und ich zweifle kaum, dass er auch die Heue dazu gerechnet 
haben würde; und doch stimmt dies ebensowenig mit der gewöhn- 
lichen Weise der Bezeichnung, da man von einem Gefühle der Sehn- 
sucht spricht, als mit seiner Definition des Begehrungsvermögens al» 
„Vermögens durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit 
der Gegenstände dieser VorsteUungen zu Eein" (s. o. S. 253). Hamilton 
wundert sich über die, wie er anerkennt, sehr häufige Confusion von 
Erscheinungen der beiden Classen, da es doch so leidit sei, die natür- 
liche Grenzscheide zwischen ihnen zu erkennen (Lect. on Metaph. 11. 
p. 433) : aber seine wiederholten Bemühungen, eine genaue Bestimmung 
dafür zu geben, zeigen, dass dies keineswegs eine leichte Sache ist. 
Er bestimmt, wie wir schon hörten, dass die Gefühle objectlos im 
vollen Sinne des Wortes, dass sie „subjectivisch subjectiv" seien (II, 
432 ; vgl. 0. S. 249), während nach ihm die Strebungen alle auf ein Object 
gerichtet sind ; und hierin, sollte man meinen, werde man ein einfache» 
imd leicht anwendbares Kriterium besitzen: aber so sicher dies der 
Fall sein müsste, wenn die Bestimmung der Eigenthümlichkeit der 
Erscheinungen entspräche, so wenig konnte Hamilton bei ihrer that. 
sächlichen Unrichtigkeit mit ihr ausreichen ; selbst bei den entschieden- 
sten Gefühlen, wie Freude und Trauer, wird eben jeder sagen, auch 
sie schienen ihm ein Object zu haben. Da macht denn Hamilton noch 
einen anderen Unterschied, obwohl vieUeicht nicht ohne einigen Wider- 
spruch zum ersten, geltend ; er bestimmt, dass das Gefühl es bloss mit 
Gegenwärtigem zu thim habe, während die Strebung auf Zukünftige» 
sich richte. — „Lust und Unlust*', sagt er, „als Gefühle, gehören aus- 
schliesslich der Gegenwart an, während die Strebung sich einzig und 
aUein auf die Zukunft bezieht; denn Strebung ist ein Verlangen, ein 
Trachten, entweder den gegenwärtigen Zustand dauernd zu erhalten, 
oder ihn gegen einen anderen zu vertauschen** (II. p. 633). Diese 
Bestimmungen sind nicht wie die vorigen in der Art verfehlt, dass der 
einen von ihnen in Wahrheit kein psychisches Phänomen entspräche. 
Das ist aber auch ihr einziges Lob ; denn die Scheidung des Gebietes 
nach Gegenwart und Zukunft; ist sowohl unvoUständig als willkürlich. 
Sie ist unvollständig, denn wohin soUen wir jene Gemüthsbewegungen 



Capitel 8. Einheit der Grundclassen für Gefühl und WiUen. 311 

§. 2. Wenn die Gnindclasse für die Phänomene des 
Gefühls und Willens dieselbe ist, so muss, nach dem von uns 
angenommenen Principe der Eintheilung, die Weise der 



rechnen, die nicht auf Gegenwärtiges oder Zukünftiges, sondern wie die 
Keue und das Dankgefühl auf Vergangenes sich beziehen? — Man 
müsste wohl für sie eine dritte Classe bilden. Doch das wäre das 
geringere Uebel ; viel schlimmer ist die Willkürlichkeit, mit welcher, in 
Rücksicht auf verschiedene Zeitbestimmungen der Objecte, psychische 
Erscheinungen, die sich vorzüglich nahe stehen, hier in verschiedene 
Grundclassen zu sondern wären. So z. B. gehen die Phänomene, die 
man als Wünsche zu bezeichnen pflegt, theils auf Zukünftiges, theils 
auf Gegenwärtiges, theils auf Vergangenes. Ich wünsche dich oft zu 
sehen; ich möchte, ich wäre ein reicher Mann; ich wünschte, ich hätte 
das nicht gethan; das sind Beispiele, welche die drei Zeiten vertreten; 
und wenn die letzten beiden Wünsche unfruchtbar und aussichtslos 
sind, so bleibt doch, wie Kant, Hamilton's vorzüglichste Autorität, aner- 
kennt, der allgemeine Charakter des Wunsches dabei gewahrt. Es 
kann aber sogar geschehen, dass, indem einer wünscht, sein Bruder sei 
glücklich in America angekommen, sein Wunsch sich auf Vergangenes 
bezieht, ohne darum auf etwas zu gehen, dessen Unmöglichkeit offen- 
bar ist. SoUen wir nun die psychischen Zustände, welche die Sprache hier 
unter dem Namen der Wünsche vereinigt, als in keiner Weise enger 
verwandt betrachten? sollen wir sie von einander scheiden, vaa einen 
Theil mit den Willensacten, einen anderen mit Lust und Unlust, einen 
dritten mit der für die Vergangenheit zu bildenden Classe zu vereini- 
gen? Ich glaube , keinem entgeht, wie ungerechtfertigt und widernatür- 
lich ein solches Verfahren wäre. £& ist demnach auch dieser Versuch 
einer Grenzbestimmung zwischen Gefühl und WiUen völlig verunglückt. 
Kein Wunder daher, wenn die Confusion zwischen Gefühlen und 
Strebungen, die Hamilton an Andern tadelte, ihm selbst in keiner Weise 
erspart bleibt. Hört man die Begriffsbestimmungen, die er von den 
specielleren Erscheinungen gibt , so wird man oft schwerlich errathen, 
zu welcher von seinen zwei Grundclassen er die eine oder andere 
rechnen wollte. Die Eitelkeit definirt er als ,,den Wunsch Anderen zu 
gefallen aus Begierde von ihnen geachtet zu werden^* und rechnet sie 
— zu den Gefühlen (U. p. 519); und ebendazu rechnete er die Reue 
und die Scham, d. i. „die Furcht und Sorge, die Missachtung Anderer 
sich zuzuziehen" ; als ob nicht bei beiden ihre Bichtung auf ein Object, 
und — bei der einen an sich schon, bei der anderen nach der Definition, 
die Hamilton gibt — ihre Beziehung auf etwas nicht Gegenwärtiges 
aufs Deutlichste ersichtlich wäre. Dieser vollständige Misserfolg eines 
so angesehenen Denkers bestätigt, glaube ich,'* in einer schlagen- 



312 Buch n. Von den psychischen Phänomenen im Allgem^nen. 

Beziehung des einen und anderen Bewusstseins eine wesentlich 
verwandte sein. Was aber sollen wir als den gemeiBsamen 
Charakter ihrer Sichtung auf die Gegenstände angeben ? Auch 
hierauf muss, wenn unsere Ansicht richtig ist, die innere 
Erfahrung antworten. Sie thut dies wirklich und liefert so 
noch unmittelbarer den Beweis für die Einheit der höchsten 
Classe. 

Wie die aDgemeine Natur des Urtheils darin besteht, 
dass eine Thatsache angenommen oder verworfen wird: so 
besteht nach dem Zeugnisse der inneren Erfahrung auch der 
aUgemeine Charakter des Gebietes, welches uns jetzt vorli^, in 
einem gewissen Annehmen oder Verwerfen ; nicht in demselben, 
aber in einem analogen Sinne. Wenn etwas Inhalt eines Urtheils 
werden kann, insofern es als wahr annehmlich oder als falsch 
verwerflich ist : so kann es Inhalt eines Phänomens der drit- 
ten Grundclasse werden, insofern es als gut genehm (im wei- 
testen Sinne des Wortes) oder als schlecht ungenehm sein 
kann. Es handelt sich, wie dort um Wahrheit und Falsch- 
heit, hier um Werth und Unwerth eines Gegenstandes. 

Ich glaube. Niemand wird meine Worte so verstehn, als 
woDte ich sagen, die Phänomene dieser Classe seien Erkennt- 
nissacte, vermöge deren Güte oder Schlechtigkeit, Werth oder 
Unwerth in gewissen Gegenständen wahrgenommen werde ; doch 
bemerke ich ausdrücklich, um jede solche Auslegung vollends 
unmögUch zu machen, dass dies eine gänzliche Verkennung 
meiner wahren Meinung wäre. Einmal, würde ich ja sonst 
diese Phänomene zu den Urtheilen rechnen; ich trenne sie 
aber von ihnen als eine besondere Classe; und dann, würde 
ich die Vorstellungen von Güte und Schlechtigkeit, Werth 
und Unwerth für diese Classe von Phänomenen allgemein 
voraussetzen, während dies so wenig der Fall ist, dass ich 
vielmehr zeigen werde, wie alle derartigen Vorstellungen erst 



den Weise, was ich über den Mangel einer von der Natur selbst ror- 
gezeichneten, deutlichen Abgrenzung zwischen den angeblichen zwei 
Grundclassen bemerkt habe. 



Capitel 8. Einheit der GrundclaBse für Gefühl und WiUen. 313 

aus der inneren Erfahrung dieser Phänomene entspringen. 
Auch die Vorstellungen von Wahrheit und Falschheit werden, 
wie wohl Niemand bezweifelt, im Hinblick auf Urtheile und 
unter Voraussetzung ihrer uns zu Theil. Wenn wir sagen, 
jedes anerkennende ürtheil sei ein für -wahr -Halten, jedes 
verwerfende ein für - falsch - Halten , so bedeutet dies also 
nicht, dass jenes in einer Prädication der Wahrheit von dem 
für -wahr -Gehaltenen, dieses in einer Prädication der Falsch- 
heit von dem für -falsch -Gehaltenen bestehe; unsere früheren 
Erörterungen haben vielmehr dargethan, dass, was die Aus- 
drücke bedeuten, eine besondere Weise intentionaler Auf- 
nahme eines Gegenstandes, eine besondere Weise der psychi- 
schen Beziehung zu einem Inhalte des Bewusstseins ist. Nur 
das ist richtig, dass, wer etwas für wahr hält, nicht bloss den 
Gegenstand anerkennt, sondern dann, auf die Frage ob der 
Gegenstand anzuerkennen sei, auch das Anzuerkennen - sein 
des Gegenstandes, d. h. (denn nichts Anderes bedeutet der 
barbarische Ausdruck) die Wahrheit des Gegenstandes eben- 
falls anerkennen wird. Und damit mag der Ausdruck „für 
wahr halten" zusammenhängen. Der Ausdruck „für falsch 
halten" aber wird in analoger Weise sich erklären. 

Ebenso bedeuten uns denn die Ausdrücke, die wir hier 
in analoger Weise gebrauchen, „als gut genehm sein", „als 
schlecht ungenehm sein" nicht, dass in den Phänomenen 
dieser Classe Güte einem als - gut - Genehmen, oder Schlech- 
tigkeit einem als - schlecht - Ungenehmen zugeschrieben 
werde, vielmehr bedeuten auch sie eine besondere Weise der 
Beziehung der psychischen Thätigkeit auf einen Inhalt. 
Nur das ist auch hier richtig, dass einer, dessen Bewusstsein 
sich in solcher Weise auf einen Inhalt bezieht, die Frage, ob 
der Gegenstand von der Art sei, dass man zu ihm in die 
betreffende Beziehung treten könne, in Folge davon bejahen 
wird; was dann nichts Anderes heisst, als ihm Güte oder 
Schlechtigkeit, Werth oder Unwerth zuschreiben. 

Ein Phänomen dieser Classe ist nicht ein Urtheil: „dies 
ist zu lieben", oder „dies ist zu hassen" (das wäre ein Urtheil 



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UHummir in. rwrii mmirriiinar^r mit *^nigngr 



^SLX*^ jLs .iIa;<?mt^nL aii^rkunc itfiiracfLCdC venia. IHkim wir 
tÄ»^jiur<*r i«*r ±aiiiiai«sr:-ijöi. Siaiäira^ vqä Gc&U imd 

sust eia Wi:i3»rti 2bs&«aL xiii a^»3i. «;!;$ «ka wü- sei gieidi 
a^iem grTer5y^n:;^:t'ri«m ■Vn v-srie". seoc djs Wesen d€S 

i'^'ien oirfT *«:riL«iL>F'nLd«ai. •y:ir die Gewis^dl lieDadit. 
daä^ i^^a haadeia werie'*, SLp <3-. ..maif diddigdteiid sein 
mit nezci Wisseik meöes WöIIens, ^bä- dum wird in dem 
JBejni£e des fiandeoiß j^ai€s ci^en:±^iiili^'he Eknent der 
Biliignng. der ZuLässGiig oder Ali^cht dngescUossen sein, 
weu:nes den Willen zmn WiHen Gi^eKt.'' Und wiederum, gegen 
diejenigen gewendet, welche den Willen ab dne gewisse Macht 
zom Wirken begreifen wollen, erklärt er: .^^iese Billigung 
nnn. durch welche nnser WiHe den Entschloss, wdchen die 
drängenden Beweggründe des Yorstellangslanies ihm dar- 
bieten, als den seinigen adoptirt, oder die Missbillignng, 
mit welcher er ihn Ton sich zornckwdst, beide wurden denk- 
bar sein, auch wenn keiner Ton beiden die geringste Macht 
hef&»»e^ bestimmend und yerändemd in den Ablauf der 



Capitel 8. Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen. 315 

inneren Ereignisse einzugreifen"^). — Was ist diese Billigung 
oder Missbilligung von der Lotze spricht? Es ist klar, dass 
er nicht ein gut- oder schlecht- Finden im Sinne eines prak- 
tischen Urtheils meint, da er die Urtheile, wie wir sahen, 
zur Classe der Vorstellungen rechnet. Was lehrt er also 
Anderes, als dass das Wesen des Wollens in einer besonderen 
Beziehung der psychischen Thätigkeit auf den Gegenstand als 
gut oder schlecht bestehe? 

Aehnlich könnten wir Stellen von Kant und von Men- 
delssohn, den vorzüglichsten Begründern der üblichen Drei- 
theilung, anführen, die dafür sprechen, dass eine solche 
Beziehung auf den Gegenstand als gut oder schlecht den 
Grundcharakter eines jeden Begehrens ausmache^). Doch wir 
greifen lieber sogleich in das Alterthum zurück, um das 
Zeugniss der antiken Psychologie mit dem der modernen zu 
verbinden. , 

Aristoteles spricht hier mit einer Deutlichkeit, die 
nichts zu wünschen übrig lässt. „Gut" und „begehrbar" sind 
ihm gleichbedeutende Ausdrücke. „Der Gegenstand des 
Begehrens" (t6 oqsktov), sagt er in seinen Büchern von der 
Seele, „ist das Gute oder das als gut Erscheinende"; und 
am Anfange seiner Ethik erklärt er: „Jede Handlung und 
jede Wahl scheint nach einem Gute zu streben; wesshalb 
man mit Eecht das Gute als dasjenige bezeichnet hat, wonach 
Alles strebt^^^). Daher identificirt er auch die Zweckursache 
mit dem Guten*). Dieselbe Lehre erhielt sich dann im Mit- 
telalter. Thomas von Aquin lehrt mit aller Klarheit, 
dass, wie das Denken zu einem Object als erkennbarem, das 
Begehren zu ihm als gutem in Beziehung trete. So könne 
es geschehen, dass ein und dasselbe Gegenstand ganz hete- 
rogener psychischer Thätigkeiten sei^). 



^) Mikrokosmus, 1. Aufl. I. p. 280. 

>) Vgl. Mendelssohn, Gresammelte Schriften IV. p. 122 if. 
>) De Anim. HI, 10. Eth. Nie. I, 1. Metaph. ui, 7. Vgl. auch 
Khet. I, 6. 

*) Metaph. u^, 10, u. anderwärts. 

5) Vgl. z. B. Summ. Theol. P. I. Q. 80. A. 1. ad 2. 



316 BoefcIL V 



Wir sebeo an «fiesen Bei^Men, wie die h u. ftaiap afeei 
Denker Tenefaiedener Penoden Imisiditfidi des SCzriieK cl 
WoDens in der Anerkemnaig der tod ims geltend gem^- 
ten Erfahnmgrthatsafhe einig sind, wom sie mmmA räOdJ:: 
nicht aDe in gleicher Weise ihre Bedentong w&rdigeB. 

§. 4 Wenden wir nns za den andern Flüuioineiien. c 
die es sidi handelt^ nnd namenUidi zn Lnst und Unhist, die sc 
Meisten als GefiBhle Ton dem Willen gesondert zn weris. 
pflegen« Ist es richtig, dass anch hier die inn^ie Ei&hxcL: 
jene eigenthümliche Weise der Beziehung zum Inhalte, jenes 
^Is gut Genehm - sein'^ oder ,^ schledit Ungenelim-scir 
als Grundcharakter der Erscheinungen mit Klarheit a^^ennec 
lässt? Handelt es sich auch hier deutlich in ähnUcher Weise 
um den Werth und ünwerth, wie beim Urthefle um die Wahr- 
heit und Falschheit der G^enstände? — Was mich betrifit 
so scheint mir dies bei ihnen nicht minder einleachtend ab 
beim Begehren. 

Weil man aber glauben könnte, dass eine VoreiiigeDom- 
menheit hiebei im Spiele sei und mich die Erscheiniu^^ 
missdeuten lasse, so will ich mich auch hier wieder zagleidi 
auf die Zeugnisse Anderer berufen. 

Hören wir auch in diesem Punkte vor Allem L o t z e. „^^r 
es eine ursprüngliche Eigenthümlichkeit des Geistes'', sagt er 
in seinem Mikrokosmus^), „Veränderung^ nicht nur zu erfak- 
ren , sondern sie auch vorstellend wahrzunehmen , so ist es 
ein ebenso ursprünglicher Zug desselben, sie nicht nur vor- 
zustellen, sondern in Lust und Unlust auch des Werthes 
inne zu werden, den sie für ihn haben." Unmittelbar darauf 
äussert er sich ähnlich : „Im Gefühle der Lust wird die Seele 
sich der Uebung ihrer Kräfte als einer Steigerung iß ^^^ 
Werthe ihres Daseins bewusst." So wiederholt er nock 
öfter den Gedanken und hält bei höheren wie medem | 
Gefühlen gleichmässig ihn fest. Der eigentüche Kern des 
sinnlichen Triebes ist nach ihm immer nur „ein Gefühl, d^ 



^) Mikrokosmus 1. Aufl. I, p. 261. 



i 



Capitel 8. Einheit der Grondclasse für Gefühl und Willen. 317 

in Lust und .Unlust uns den Werth eines vieDeicht nicht 
zur bewussten Einsicht kommenden körperlichen Zustandes 
verräth" ^) ; und „die sittlichen Grundsätze jeder Zeit waren 
Aussprüche des werthempfindenden Gefühles''; sie 
„wurden stets von dem Gemüthe in einer anderen Weise 
gebilligt als die Wahrheiten der Erkenntniss"*). 

Wie sich Lotze das Empfinden des Werthes in dem 
Gefühle denkt, wage ich nicht mit voller Sicherheit zu 
bestimmen: dass er aber das Gefühl selbst nicht als die 
Erkenntniss eines Werthes ansah, ist unzweifelhaft, nicht 
bloss aus einzelnen Aeusserungen^), sondern auch schon daraus, 



*) Mikrokosmus 1. Aufl. I. p. 277. 
>) Ebend. p. 268. 

>) So setzte er in der eben mitgetheilten Stelle die Billigung durch 
das Gefühl als eine „andere Weise der Billigung^* jeder Anerkennung 
einer Wahrheit entgegen. Und p. 262 sagt er, die Gefühle der Lust 
oder Unlust würden „immer von uns auf irgend eine unbekannte För- 
derung oder Störung gedeutet werden*'. Die Annahme folgt also 
erst dem Fühlen, wenn auch vielleicht auf dem Fusse. — Fragen wir 
aber, warum jene Gefühle immer so gedeutet werden, so bekommen 
wir von Lotze, wie mir scheint, keine ganz genügende Antwort. Dass 
die Vorstellung einer Lust ohne eine gleichzeitige Förderung wie die, 
auf welche wir sie nach Lotze deuten, eine Contradiction enthalten 
würde, scheint nicht seine Ansicht; woher also jene Noth wendigkeit 
oder unüberwindliche Neigung? — Wir, auf unserem Standpunkte, 
können, glaube ich, die Frage beantworten. Mit derselben Nothwen- 
digkeit, mit welcher Jemand dem Objecte eines anerkennenden oder 
verwerfenden Urtheils in Folge dieses Urtheils Wahrheit zuschreibt, mit 
derselben Nothwendigkeit schreibt er bei der Ausübung einer Thätig- 
keit der dritten Grundclasse in Folge dieser Thätigkeit ihrem Objecte 
einen Werth oder Unwerth zu (s. o. S. 313). So denn auch bei 
Lust und Unlust, Haben wir also eine von Lust begleitete sinnliche 
Empfindung, so schreiben wir der Empfindung einen Werth zu, und in 
so weit ist der Process offenbar nothwendig. Wir werden aber alsbald 
weiter geführt. Indem wir z. B. bemerken, dass die angenehmen 
Empfindungen von gewissen körperlichen Processen abhängen, werden 
uns nothwendig auch diese wegen ihrer Folgen werthvoU sein; und 
vermöge der eigenthümlichen Gesetze, welche wir später für dieses 
Gebiet der Seelenerscheinungen festzustellen haben, wird es dann 
geschehen, dass sie allmälig auch ohne Berücksichtigung der Folgen 



318 Buch IL Von^den psychiBchen Phänomenen im Allgemeinen. 

dass er es sonst seiner ersten Classe untergeordnet haV: 
würde. Danach scheint aber der Ausdruck nur mehr J 
einer Weise, und zwar im Sinne unserer Anschammg ^ 1 
rechtfertigen zu lassen. Es ist auch bemerkenswertJi, L- 
Lotze nicht bloss sagt, dass das Gefühl Werth und Unwer 
empfinde, und es so zu dem Gegenstand als gut und schlr. 
in Beziehung setzt, sondern bei ihm auch ganz derselr 
Bezeichnung „billigen" sich bedient, die er zuvor angewan 
hatte, um das „eigenthümliche Element, welches den TTil- 
zum Willen macht", zu benennen. Umgekehrt sagt erc 
anderes Mal für „Wollen" „herzliche Theilnahme*'^), *-: 
Ausdruck, der gewöhnlich für Phänomene von Lust undLc 
gebraucht wird. Wie sollte nicht in dieser Uebertragung c: 
am Meisten charakteristischen Benennungen des ein^ 
Gebietes auf das andere ein unwillkürliches aber bedeutuBc 
volles Zeugniss für die wesentliche Verwandtschaft in d: 
Beziehungsweise der beiderseitigen Erscheinungen zu to- 
Objecten und somit für ihre Zusammengehörigkeit zu eine 
Grundclasse liegen? 

Hamilton — denn auch diesen grossen Vertheidig::: 
der SondersteUung der Gefühle wollen wir nicht unberüci 
sichtigt lassen — nennt mit ganz ähnlichen Ausdrücke 



Gegenstand unserer Liebe und Werthschätzung werden. Ja es ki:- 
dazu kommen, dass wir ihnen Vorzüge beilegen, für deren Annahtf 
wir nicht den mindesten vernünftigen Anhalt besitzen , wie wenn ^ 
ohne jede Erfahrung, dass wohlschmeckende Speisen der Gresundbe: 
zuträglicher seien, ihnen um ihres Wohlgeschmackes willen auch die^« 
gute Eigenschaft zuschrieben. Hat ja der Aberglauben des Volkes i: 
dem Golde, weil es in anderer Hinsicht sich vielfach werthvoll as> 
nützlich erwies , in Folge dessen auch ein treffliches Heilmittel rer 
muthet. Doch gibt es in imserem Falle auch specifische firfahroDges 
die einen sehr weitgehenden Zusammenhang von Lust und organiscbs 
Förderung erkennen lassen, und so eine vernünftigere Yermatbus: 
gestatten, es möge auch in dem einzelnen, vorliegenden Falle dasselbe 
gelten. Auch diese mögen, wenn nicht allgemein, doch in der Best 
zu den vorher besprochenen Motiven hinzukommen und mit ihce: 
zusammenwirken. 

*) Ebend. p. 280. 



Capitel 8. Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen. 319 

wie Lotze „Lust und Unlust" „eine Schätzung des relativen 
Werthes der Objecte"^), wobei wir es freilich ihm selbst über- 
lassen müssen, diesen Ausspruch mit dem, wie er uns lehrte, 
„subjectivisch subjectiven" Charakter der Gefühle i^ Einklang 
zu bringen. Solche Aeusserungen, welche die Beziehung der 
Gefühlsphänomene auf die Gegenstände als gut und schlecht 
deutlich anerkennen, kehren bei ihm auch anderwärts, ja sehr 
häufig wieder^). 

Kant endlich, in seiner Kritik der Urtheilskraft, bezeich- 
net gerade da, wo er Gefühl und Begehren scheiden will, beide 
als ein Wohlgefallen, nur das eine als umnteressirtes, 
das andere als praktisches. Näher untersucht, läuft dies 
darauf hinaus, dass man in dem Gefühle bloss an der Vor- 
stellung eines Gegenstandes, in dem Begehren an der 
Existenz eines Gegenstandes ein Interesse habe; und auch 
dieser Unterschied würde aufgehoben, wenn es sich zeigen 
sollte , dass was Kant hier Gefühl nennt , in Wahrheit auf 
.jene Vorstellung selbst als seinen Gegenstand gerichtet ist. 
In einer früheren Schrift aber sagt Kant geradezu: „Man 
hat es in unseren Tagen allerst einzusehen angefangen, dass 
das Vermögen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntniss, 
dasjenige aber, das Gute zu empfinden, das Gefühl 
sei, und dass beide ja nicht miteinander müssen verwechselt 
werden"^). 

Solche Zeugnisse aus dem Munde der am Meisten her- 
vorragenden Gegner sind gewiss von unleugbarer Bedeutung. 
Und auch hier verbinden sich mit den modernen*) die über- 



1) Lect. on Metaph. I. p. 188. 

*) Vgl. ebend. II. p. 434 ff., besonders p. 436 Nr. 3 u. 4. 

*) Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natür- 
lichen Theologie und Moral (I. S. 109), eine Schrift aus dem Jahre 1763. 

*) Einige andere, freilich sehr unfreiwülige neuere Zeugnisse für 
den übereinstimmenden Charakter von Gefühl und WiUen führt Her- 
bart an. Wenn man die Psychologen nach dem Ursprünge der Grenze 
zwischen Fühlen und Begehren fragt, sagt er: „drehen sich ihre 
Erklärungen im Cirkel" . . . . „Maass in dem Werke über die Gefühle 
(S. 39 des I. Th.) erklärt Fühlen durch Begehren („ein Gefühl ist 
angenehm, so fem es um seiner selbst wiUen begehrt wird'^), aber 



320 Bocb II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

einstimmenden Aussagen längst vergangener Perioden. Wie 
wenig es richtig ist, dass man, wie Kant meinte, erst zu seiner 
Zeit ein besonderes Vermögen, welches sich auf etwas als 
gut bezieht, dem, welches auf etwas als wahr gerichtet ist, 
zur Seite zu stellen anfing, hat uns unser historischer lieber- 
blick gelehrt. Die ältere Psychologie, so weit und go lange 
Aristoteles sie beherrschte, schied ja in diesem Sinne 
Denken und Begehren. In dem Begehren — so sehr ent- 
schränkte sie den Ausdruck — waren auch die Gefühle von 
Lust jund Unlust und überhaupt alles, was nicht ein vor- 
stellendes oder urtheilendes Denken ist, begriffen. Hierin lag, 
was uns bei unserer Frage vorzüglich interessirt, die Anerken- 
nung, dass die Relation zu den Objecten als guten oder 
schlechten, die wir als den allgemeinen wesentlichen Grund- 
charakter der Gefühle behaupten, bei ihnen nicht minder als 
beim Begehren und Wollen gegeben sei. Dasselbe zeigen die 
Aussprüche des Aristoteles über die Beziehung der begleiten- 
den Lust zur Vollkommenheit des Actes, die man in der 
Nikomachischen Ethik findet, und die wir bei der Unter- 
suchung über das Bewusstsein erwähnt haben, sowie einige 
Stellen seiner Rhetorik^). Die Peripatetische Schule des 
Mittelalters, insbesondere Thomas vonAquin in seiner 



eben derselbe, in dem Werke über die Leidenschaften (S. 2, vgl. S. 7) 
sagt: es sei ein bekanntes Naturgesetz, zu begehren was als gut, zu 
▼erabscheuen, was als böse vorgesteÜt werde. Wobei die Frage ent- 
steht, was denn gut, und was denn böse sei? Darauf nun erhal- 
ten wir die Antwort: die Sinnlichkeit steUe als gut vor das, woYon sie 
angenehm afficirt werde u. s. w. Und hiemit sind wir im Cirkel 
herum gefuhrt. — Hoffbauer, in seinem Crrundrisse der Erfahrungs- 
seelenlehre, fangt die Capitel vom Gefühlsvermögen und Begehrungs- 
vermögen so an: „Wir sind uns mancher Zustande bewusst, welche wir 
uns bestreben herrorzubringen , diese nennen wir angenehm; 
gewisse VorsteUungen erzeugen in uns das Bestreben ihren Gregen- 
stand wirklich zu machen, dies nennen wir Begehren*' u. s. w Hier 
ist einerlei Grund, das Bestreben, den Gefühlen und Begierden unter- 
gelegt** (Lehrbuch zur Psychologie Th. 2, Abschn. 1, Cap. 4, §. 96). 
*) S. o. Buch n. Cap. 3. §. 6 und Bhel I. 11, besimdeis p. 1370, 
a, 16. U. 4. p. 1381, a, 6. 



Capitel 8. Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen. 321 

interessanten Lehre von dem Zusammenhange der Gemtiths- 
bewegungen vertritt aufs Unzweideutigste dieselbe An- 
schauung^). 

Auch die Sprache des gewöhnlichen Lebens deutet dar- 
auf hin, dass bei Lust und Unlust eine Beziehung zum 
Gegenstand bestehe, die derjenigen des WoUens wesentlich 
verwandt ist. Sie liebt es, Ausdrücke, die sie zunächst 
auf dem einen Gebiete anwandte, dann auf das andere zu 
übertragen. So nennen wir angenehm das, was uns Lust, 
unangenehm das, was uns Unlust gewährt, wir sprechen aber 
auch von einem Genehm -sein und einer Genehmigung auf 
der Seite des Willens. Ebenso wurde das „Placet" im Sinne 
einer Gutheissung offenbar aus dem Gebiete des Gefühls auf 
einen Willensentschluss übertragen; und nicht minder deut- 
lich hat der deutsche Ausdruck ,,Gefallen" in „thue, was dir 
gefällt!" oder „ist Ihnen etwas gefällig ?"u. s. f. dasselbe er- 
fahren. Ja selbst das Wort ;,Lust" wird in der Frage : „hast du 
Lust?" zur unverkennbaren Bezeichnung einer Willensrich- 
tung. Andererseits ist der „Unwillen'^ kaum ein Willen zu 
nennen, obwohl der Ausdruck daher entlehnt ist, und der 
„Widerwillen" als Bezeichnung gewisser Erscheinungen des 
Ekels ist unverkennbar der Namen eines Gefühls geworden. 

Die Sprache thut aber mehr als dass sie gewisse Namen 
von Erscheinungen des einen auf Erscheinungen des anderen 
Gebietes überträgt. Sie hat in den Ausdrücken „Liebe" und 
„Hass" ein Mittel der Bezeichnung, das in ganz eigentlicher 
Weise bei jedem Phänomen in dem gesammten Bereiche anwend- 
bar ist. Denn, sind sie auch in dem einen oder anderen Fall 
minder üblich, so versteht einer doch, wenn man sie gebraucht, 
was damit gemeint ist, und erkennt, dass sie ihrer eigent- 
lichen Bedeutung nicht entfremdet werden. Das Einzige, was 
in solchen Fällen gegen sie spricht, ist, dass der Sprach- 
gebrauch hier specielleren Bezeichnungen den Vorzug zu 
geben pflegt. Denn in Wahrheit sind sie in einem sehr 
gewöhnlich, obwohl nicht ausschliesslich damit verbundenen 



1) Summ. Theol. P. II, 1. q. 26 ff. 
Brentano» Psychologie. 1. 21 



322 Buch II. Von den psydiiscben PhänomeneD im Allgemeinen. 

Sinne Ausdrücke, welche die unserer dritten Grundclasse 
eigenthümliche Weise der Beziehung zum Gegenstande in 
ihrer Allgemeinheit kennzeichnen. 

Die Zusammenstellungen von „Lust und Liebe" „lieb 
und leid" und dgl. zeigen den Ausdruck „Liebe" auf die 
entschiedensten Gefühle angewandt. Und wenn wir sagen 
„lieblich" „hässHch", was meinen wir Anderes als eine Lust 
oder Unlust erweckende Erscheinung? Andererseits weisen 
Aeusserungen wie „es beliebt mir", „thue was dir lieb 
ist" deutlich auf Phänomene des Willens hin. In dem 
Satze „er hat eine Vorliebe für wissenschaftliche Beschäf- 
tigung" ist etwas ausgesprochen, was vielleicht Manche 
zu dem Gefühle rechnen, während es Andere für eine 
habituelle Richtung des Willens erklären werden. Ebenso 
überlasse ich es Anderen zu entscheiden, ob bei Namen wie 
„missliebig" „unliebsam" „Liebling" („Lieblingspferd" und 
„Lieblingsstudium" miteinbegriffen)- mehr Gründe für die Ein- 
ordnung des Liebens, von dem die Rede ist, in das Gebiet, 
das sie Gefühle nennen, oder in das, welches sie dem Willen 
zuweisen, sich anführen lassen. Was mich betrifft, so glaube 
ich, dass es als allgemeinerer Ausdruck auch in diesem ein- 
zelnen Falle beide umspannt. 

Wer sich nach etwas sehnt, der liebt es zu haben; wer 
über etwas trauert, dem ist das unlieb, worüber er trauert; 
wer sich über etwas freut, liebt, dass es so ist; wer etwas 
thui^ will, liebt es zu thun (wenn nicht an und für sich, so 
doch in Rücksicht auf diese oder jene Folge) u. s. f., und 
die genannten Acte sind nicht etwas was bloss mit einem Lie- 
ben zusammen besteht, sondern sie selbst sind Acte der Liebe. 
So zeigt sich, dass „gut sein" und „irgendwie zu lieben sein" 
so wie andererseits „schlecht sein" und „irgendwie zu hassen 
sein" dasselbe besagen, und wir sind gerechtfertigt, wenn wir 
den Ausdruck „Liebe" zum Namen unserer dritten Grundclasse 
wählten, indem wir dabei, wie schon bemerkt, wie man bei 
Begehren und Wollen ähnlich zu thun pflegt, den Gegensatz 
miteinbegriffen. 

Als Ergebniss unserer Erörterung dürfen wir also aus- 



Capitel 8. Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen. 323 

sprechen, dass die innere Erfahrung deutlich die Einheit der 
Grundclasse für Gefühl und Willen offenbart. Sie thut es, 
indem sie uns zeigt, dass nirgends zwischen ihnen eine scharf 
gezogene Grenze ist, und dass ein gemeinsamer Charakter 
ihrer Beziehung auf den Inhalt sie von den übrigen psychi- 
schen Phänomenen unterscheidet. Was die Philosophen der 
verschiedensten Bichtung und selbst die, welche das Gebiet 
in zwei Grundclassen sondern, darüber äusserten, wies deutlich 
auf diesen gemeinsamen Charakter hin und bestätigte, ebenso 
wie die Spräche des Volkes, die Richtigkeit unserer Beschrei- 
bung der inneren Erscheinungen. 

§. 5. Verfolgen wir weiter den Plan unserer Unter- 
suchung. 

Als es sich darum handelte, Vorstellung und Urtheil als 
zwei verschiedene Grundclassen psychischer Phänomene zu 
erweisen, begnügten wir uns nicht damit, das directe Zeug- 
niss der Erfährung anzurufen; vielmehr haben wir auch ge- 
zeigt, dass der grosse Unterschied, der unleugbar zwischen 
dem einen und anderen Phänomene besteht, gänzlich auf 
Rechnung der verschiedenen Weisen ihrer Beziehungen zum 
Objecte zu setzen ist. Von diesem Unterschiede abgesehen, 
würde jedes Urtheil mit einer Vorstellung sich gedeckt haben 
und umgekehrt. Werfen wir jetzt in Betreff der Gefühle und 
des Willens die gleiche Frage auf. Wäre, wer keiner- 
lei Unterschied in der Weise des Bewusstseins zwischen einem 
Fühlen von Freude und Schmerz und einem Wollen aner- 
kennte, vielleicht ebenfalls ausser Stande irgend etwas als 
unterscheidend namhaft zu machen? würde auch zwischen 
ihnen jede Verschiedenheit dann ausgeglichen sein ?—- Sicher 
ist dieses nicht der Fall. 

Wir haben früher gesehen, wie zwischen dem Fühlen 
einer Freude oder eines Schmerzes und dem Wollen im 
eigentlichsten Sinne eine Reihe von Seelenzuständen so zu sagen 
in der Mitte steht, von welchen man nicht recht weiss, ob 
sie bei einer Scheidung des Gebietes in Gefühl und Willen 
besser der einen oder anderen Seite zugerechnet werden. 

21* 



324 Buch n. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Sehnsucht, Hoffnung, Muth und andere Erscheinungen ge- 
hören hieher. Gewiss wird Niemand behaupten, jede dieser 
Classen sei von der Art, dass sich ausser einer etwaigen Be- 
sonderheit der Beziehung zum Objecte kein Unterschied da- 
für angeben lasse. Eigenthümlichkeiten der Vorstellungen und 
Eigenthümlichkeiten der Urtheile, die ihnen zu Grunde liegen, 
dienen dazu, die eine von der anderen zu unterscheiden; 
und an solche Unterschiede hat man sich darum gehalten, da 
man in älterer wie neuerer Zeit Versuche machte , sie defi- 
nirend gegen einander abzugrenzen. Dies hat schon Aristo- 
teles in seiner Ehetorik, so wie in der Nikomachischen Ethik 
gethan, und Andere wie z. B. Cicero im vierten Buch der 
Tusculanae Quaestiones sind seinem Beispiele grfolgt. Später 
finden wir ähnliche Versuche bei Kirchenvätern wie Gregor 
von Nyssa, Augustiaus und anderen, und in einem vorzüg- 
lichen Maasse im Mittelalter bei Thomas von Aquin in seiner 
Prima Secundae. Wiederum begegnen sie uns in der Neuzeit 
bei Descartes in seiner Abhandlung über die Leidenschaften, 
bei Spinoza im dritten Theile seiner Ethik, wohl dem ver- 
dienstvollsten des ganzen Werkes ; femer bei Hume, Hartley, 
James Mill u. s. f. bis auf unsere Zeit. 

Natürlich konnten solche Definitionen, indem sie die 
einzelne Classe nicht bloss gegen , eine , sondern gegen jede 
andere abgrenzen wollten, nicht immer von dem Gegensatze 
absehen, welcher dieses Gebiet, wie Anerkennung und Leug- 
nung das der Urtheile durchdringt, und ebenso mussten sie 
auf die Unterschiede in der Stärke der Phänomene mitunter 
Rücksicht nehmen. Mehr aber ist in der That nicht nöthig, 
um Im Uebrigen mit den zuvor erwähnten Mitteln bei der 
Bestimmung eines jeden zu diesem Gebiete gehörigen Glassen- 
begriffes vollkommen auszureichen; womit selbstverständlich 
nicht gesagt sein soll, dass jeder Versuch, den man mit 
ihrer Hülfe gemacht hat, auch wirklich gelungen sei. 

Lotze, der in seiner medicinischen Psychologie hinsicht- 
lich verschiedener Classen, die er zu den Gefühlen rechnet^ 
denselben Weg der Definition betritt, enthält sich dagegen 
in Betreff der Besonderheit des WoUens eines jeden solchen 



Capitel 8. Einheit der Gnindclasse für Gefühl und Willen. 325 

Versuches, indem er ihn für nothwendig erfolglos hält. „Vergeb- 
lich", sagt er, „sucht man das Vorhandensein des WoU^ns 
zu leugnen, ebenso vergeblich, als wir uns bemühen würden, 
seine einfache Natur, die nur unmittelbar sich erleben lässt, 
durch umschreibende Erklärungen zu verdeutlichen ^)". Dies 
ist auf seinem Standpunkt consequent geurtheilt*) ; richtig aber 
scheint es mir in keiner Weise. Jedes Wollen participirt an 
dem gemeinsamen Charakter imserer dritten Gnindclasse; 
und wer darum das Gewollte als etwas was Jemand lieb 
ist bezeichnet, hat dadurch schon einigermassen und in 
äusserster Allgemeinheit die Natur der Willensthätigkeit ge- 
kennzeichnet. Fügt man dann Bestimmungen über die Be- 
sonderheit des Inhaltes, über die Eigenthümlichkeit der Vor- 
stellung und des Urtheils hinzu, die dem Wollen zu Grunde 
liegen, so ergänzt sich die erste Angabe in ähnlicher Weise 
zu einer genau abgrenzenden Definition, wie in anderen Fäl- 
len die einer Classe von Gefühlen. Jedes Wollen geht auf 
ein Thun, von dem wir glauben, dass es in unserer Macht 
liege, auf ein Gut, welches als Folge des WoUens selbst er- 
wartet wird. An diese specialisirenden Bestimmungen hat 
schon Aristoteles gerührt, indem er das Wählbare als ein 
durch Handeln zu erreichendes Gut bezeichnete. Eingehen- 
der haben James Mill und Alexander Bain die besonderen 
Bedingungen des Phänomens, die in den zu Grunde liegenden 
Vorstellungen und Urtheilen gegeben sind, analysirt. Diese Ana- 
lysen, selbst wenn einer das Eine oder Andere noch daran auszu- 
setzen fände, werden doch, glaube ich, in jedem, der sie be- 
achtet, die Ueberzeugung erwecken, dass man wirklich auch 



>) MikrokosmuB 1. Aufl. I. S. 280. 

*) Kant und Hamilton haben freilich die Consequenz nicht ge- 
zogen; aber einerseits waren sie bei ihren Yersachen wenig glücklich, 
andererseits so weit sie Erfolg hatten, ^eben sie dadurch nur selbst 
gegen ihren Grundgedanken eines fundamentalen Classenunterschiedes 
Zeugniss. So Kant, wenn er das Wohlgefallen des Willens, als Wohl- 
gefallen am Sein, dem Wohlgefallen des Gefühles als dem uninteressir- 
ten Wohlgefallen , welches durch die blosse VorsteUung befriedigt ist, 
gegenüberstellt, (s. o. S. 319.) 



326 Buch n. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

das Wollen in ähnlicher Weise und mit ähnlichen Mitteln 
wie die einzelnen Glossen der Gefühle definiren kann, und 
dass es nicht so unbeschreiblich einfach ist, wie Lotze uns 
lehrte 0- 

§. 6. Wenn wir indessen sagten, dass das Wollen 
durch Hinzufilgung von solcherlei Bestimmungen zum allge- 
meinen Begriffe der Liebe definirbar sei, so meinen wir da- 
mit nicht, dass Jemand, der das specielle Phänomen nie 
selbst in sich erfahren hätte, durch die Definition zu voll- 
kommener Klarheit darüber gelangen könnte. Dies ist keines- 
wegs der Fall. Es besteht in dieser Beziehung ein grosser Unter- 
schied zwischen der Definition des WoUens und der BegriflFsbe- 
stimmung einer besonderen Classe von Urtheilen durch Angabe 
der Gattung des Inhaltes, aufweichen sie anerkennend oder ver- 
werfend gerichtet sind. Wenn man nur irgendwelche bejahende 
und verneinende Urtheile gefällt hat, so kann man sich jedes 
andere Urtheil anschaulich vorstellen, so bald man weiss, worauf 
es bejahend oder verneinend gerichtet ist. Hätte sich dagegen 
Jemand auch noch so häufig liebend und hassend bethätigt und 
in mannigfachen Abstufungen der Stärke, so würde doch für 
ihn, wenn er nie in specie etwas gewollt hätte , aus der An- 
gabe der Besonderheit des Wollens in den erwähnten Bezie- 
hungen das Phänomen in seiner eigenthtimlichen Natur nie 
vollkommen vorstellbar werden. Wenn Lotze nichts Anderes 
hätte sagen wollen, so würden wir uns vollkommen mit ihm 
einverstanden erklären. 

Aber dies ist nichts, was nicht ebenso für andere spe- 
cielle Classen, die man gewöhnlich dem Gefühle unterordnet, 
gelten würde ; denn auch von ihnen zeigt, um mich eines Aus- 
druckes von Lotze selbst zu bedienen, jede eine besondere 
Färbung. Wer nur Gefühle der Freude und der Trauer ge- 
habt hätte, dem würde durch eine Definition des Hoffens 
oder Fürchtens dessen innere Eigenthümlichkeit unmöglich voll- 



^) Im fünften Buche werden wir uns eingehend mit der Frage zu 
beschäftigen haben. 



Capitel 8. Einheit der GrundcUsse für Gefühl und Willen. 327 

kommen anschaulich werden; ja schon hinsichtlich verschie- 
dener Arten von Freude gilt dasselbe : die Freude des guten 
Gewissens und die Lust bei angenehmer Erwärmung, die 
Freude beim Anblick eines schönen Gemäldes und die Lust 
beimo Whigeschmacke einer Speise sind nicht etwa bloss quan- 
titativ, sie sind qualitativ von einander verschieden, und ohne 
eine specifische Erfahrung würde die Angabe des besonderen 
Objects zur Erweckung einer vollkommen entsprechenden Vor- 
stellung nicht führen können. 

Um dieser qualitativen Verschiedenheiten willen wird 
man allerdings zugeben müssen, dass innerhalb des Gebietes 
der Liebe noch Unterschiede in der Weise der Beziehung zum 
Objecto bestehen. Aber damit ist nicht gesagt, dass nicht die 
Einheit derselben Grundclasse alle Phänomene der Liebe um- 
fasse. Wie vielmehr zwischen qualitativ verschiedenen Farben, 
so besteht auch zwischen qualitativ verschiedenen Phänomenen 
der Liebe eine wesentliche Verwandtschaft und Ueberein- 
stimmung. Auch der Vergleich mit dem Gebiete des Ur- 
theils macht dies deutlich. Fehlen hier andere Unterschiede in 
der Weise der Beziehung zum Objecto, so sind doch wenigstens 
Anerkennung und Verwerfung zwei verschiedene Weisen der 
Beurtheilung ; man nennt sie mit Recht qualitativ verschieden. 
Dennoch erstreckt sich , da sie in ihrem allgemeinen Charak- 
ter miteinander übereinstimmen, die Einheit derselben Grund- 
classe über beide, und ihre Scheidung, obwohl ebenfalls durch 
die Natur vorgezeichnet, ist doch keine, welche auch nur an- 
nähernd eine ähnlich fundamentale Bedeutung wie die zwischen 
Vorstellung und Urtheil hätte. Ganz dasselbe gilt in un- 
serem Falle. Ja es ist wo möglich noch einleuchtender, 
dass bei einer Grundeintheilung der psychischen Phänomene 
die qualitativen Unterschiede specieller Weisen des Liebens 
nicht in Betracht kommen können, als dass die Unterschiede 
der Qualität der Urtheile nicht dabei zu berücksichtigen 
sind. Die höchsten Classen würden ausserordentlich zahl- 
reich oder vielmehr geradezu unzählig werden, nament- 
lich da dasjenige, was zu einem geliebten oder gehass- 
ten Gegenstande in Beziehung tritt, selbst wieder Gegenstand 
einer Liebe oder eines Hasses wird, und sehr gewöhnlich mit 



328 Buch II. Von den psTchischen Phfinomenen im Allgemeinen. 

einer venlnderten Färbung des Phänomenes. Auch würde die 
enge Umgrenzung, die jede von diesen höchsten Classen er- 
hielte, dem Zwecke einer ersten und fundamentalen Einthei- 
lung entgegen sein. 

Darum haben auch diejenigen, welche das von uns ein- 
heitlich umschriebene Gebiet in mehrere Grunddassen zer- 
legten, bei ihrer Eintheilung nicht allen diesen Unterschieden 
Bechnung getragen. Sie scheiden nur zwei Classen, Grefohl 
und Willen; alle speciellen Färbungen der Phänomene der 
Liebe und des Hasses, welche innerhalb des Gebiets, das sie 
Willen nennen, und zahl)reicher noch innerhalb des Bereiches 
der Gefilhle bestehen, lassen sie dagegen unberiieksichtigt. 
So erkennen sie durch ihr praktisches Verhalten in der bei 
weitem grösseren Zahl der Fälle an, dass solche untergeordnete 
Unterschiede nicht eine Sonderung in verschiedene Grund- > 
classen rechtfertigen, und hiemit ist, wenn unsere Auseinander- 
setzung richtig ist, auch die Verwerfung ihrer Unterscheidung i^ 
von Gefühl und Willen als höchster Classen im Prindpe zu- \ 
gegeben. 



§. 7. Wir kommen zu einer dritten Reihe von Erörte- 
rungen, welche die von uns behauptete Zusammengehörigkeit 
von Gefühl und Willen zu einer natürlichen Grundclasse be- 
stätigen wird. 

Da es sich um die Feststellung der fundamentalen Ver- 
schiedenheit von Vorstellung und Urtheil handelte, zeigten 
wir, wie alle Umstände darauf hinweisen, dass ein grundver- 
schiedenes Verhältniss zum Inhalte das eine von dem anderen 
Phänomen unterscheidet. Wo das Urtheil zur Vorstellung 
hinzutritt, findet man eine ganz neue Gattung von Gegen- 
sätzen, eine ganz neue Gattung von Intensität, eine ganz 
neue Gattung von Vollkommenheit und Unvollkommenheit 
und eine ganz neue Gattung von Gesetzen der Entstehung 
und Aufeinanderfolge. Auch die Classe der Liebe und des 
Hasses, als Ganzes genommen, zeigte sich uns damals der 
Vorstellung und dem Urtheile gegenüber in derselben all- 
seitigen Weise durch Eigenthünüichkeiten ausgezeichnet. Sollte 



I 



Capitel 8. Einheit der Grundclasae für Gefühl und Willen. 329 

innerhalb dieser Classe selbst noch ein fundamentaler Unter- 
schied in der Beziehungsweise zum Objecte bestehen, so dür- 
fen wir demnach erwarten, dass auch hier in ähnlicher Art das 
eine Gebiet von dem anderen in jeder der angegebenen Rich- 
tungen die Besonderheit seines Charakters offenbaren werde. 

Aber in keiner Weise ist dies fler Fall. 

Vor Allem wird man sich leicht überzeugen, dass inner- 
halb des ganzen Gebietes von Gefühl und Willen nirgends 
eine Verschiedenheit von Gegensätzen auftritt, von denen 
das eine Paar dem anderen so heterogen wäre, wie es der 
Gegensatz von Liebe und Hass dem von Anerkennung und 
Leugnung ist. Auch wenn wir Freude und Traurigkeit mit 
Wollen und Nicht-wollen vergleichen, erkennen wir, dass hier 
und dort im Grunde genommen derselbe Gegensatz von Lieb- 
und IJnlieb-sein , Gefallen und Missfallen uns entgegentritt. 
Allerdings erscheint er in jedem der beiden Fälle etwas modi- 
ficirt, entsprechend der verschiedenefn Färbung der Phäno- 
meie: aber der Unterschied ist nicht grösser als der, wel- 
cher zwischen den Gegensätzen von Freude und Trauer, 
Hofhung und Furcht, Muth und Verzagen, Verlangen und 
Fliehen und vielen anderen in der Classe gefunden wird. 

Dasselbe gilt in Betreff der Stärke. Die Gesammtheit 
der Classe ist deutlich durch eine besondere Gattung von 
Intensität ausgezeichnet. Die Unterschiede der Gewissheit 
sind, wie schon früher bemerkt, mit den Unterschieden der 
Grade des Liebens und Eassens unvergleichbar; ja geradezu 
lächerlich würde es sein, wenn einer sagte: es ist mir dies 
doppelt so wahrscheinlich, als mir jenes lieb ist od. dgl. 
Aber innerhalb der Classe selbst gilt nirgends dasselbe. Wie 
die verschiedenen Stufen der Ueberzeugung im Anerkennen 
und Verwerfen, so lassen auch die Gradunterschiede im Lie- 
ben und Hassen sich mit einander vergleichen. Wie ich ohne 
bconvenienz sagen kann, dass ich das Eine mit grösserer 
Gewissheit annehme, als ich das Andere leugne: so kann 
ich auch sagen, dass ich das Eine in höherem Maasse 
liebe als ich das Andere hasse. Und nicht bloss die 
Stärke von Gegensätzen, sondern auch die von Freude und 



330 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Verlangen und Willen und Vorsatz kann ich im Verhältnisse 
zu einander als grösser und geringer bestimmen. Ich freue 
mich mehr darüber, als ich nach jenem verlange; mein Ver- 
langen ihn wieder zu sehen ist nicht so stark, als mein Vor- 
satz ihn meine Missbilligung empfinden zu lassen u. s. £. 

Aehnliches zeigt sich in Hinsicht auf die Vollkommen- 
heit und Unvollkommenheit. Wir sahen, wie in den 
Vorstellungen einerseits weder Tugend noch sittliche Schlech- 
tigkeit, andererseits weder Erkenntniss noch Irrthum liegt. 
Mit den Phänomenen des Urtheilens kommen die letzten bei- 
den hinzu; das erste Paar dagegen liegt, wie schon gesagt, aus- 
schliesslich in dem Gebiete der Liebe und des Hasses. Findet 
es sich nun vielleicht nur in der einen der beiden Classen, in 
welche man das Gebiet zerlegt hat, in dem Willen; nicht 
aber in dem der Gefühle ? — Man erkennt leicht, dass dies 
nicht der Fall ist, sondern dass es wie einen sittlich guten 
und sittlich schlechten Willen, auch sittlich gute und sittlich 
schlechte Gefühle gibt, wie z. B. Mitleid, Dankbarkeit, Hel- 
denmuth, Neid, Schadenfreude, feige Furcht u. s. f. Wegen 
des besprochenen Mangels . deutlicher Abgrenzung weiss ich 
freilich nicht, in wie weit einer einzelne von diesen Beispielen 
vielleicht lieber zum Gebiete des Willens rechnet ; aber . audi 
nur eines von ihnen würde zu unserem Zwecke genügen^). 



^) Es ist richtig, dass die Namen Tugend und Schlechtigkeit von 
uns in einem zu engen Sinne gebraucht zu werden pflegen, als dass 
man von jedem Acte der Liebe oder des Hasses sagen könnte, er sei 
tugendhaft oder schlecht Nur gewisse ausgezeichnete Acte, in welchen 
das wahrhaft Liebenswürdige geliebt, das wahrhaft Hassenswürdige 
gehasst wird, ehren wir mit dem Namen Tugend; und ebenso legen 
wir nur gewissen ausgezeichneten Acten, in welchen ein entgegenge* 
setztes Verhalten stattfindet, den Namen Schlechtigkeit bei. Acte yoq 
Liebe und Hass, bei welchen ein entsprechendes Verhalten selbstrer- 
ständlich erscheint, werden wir nicht als tugendhaft bezeichnen. Wir 
könnten vielleicht zeigen, wie sich die Begriffe zu einer vollkommen 
allgemeinen Anwendbarkeit entschränken Hessen. Doch genügt es uns 
hier, dargethan zu haben, dass sie so, wie man sie gemeiniglich anwendet, 
wenigstens der üblichen Unterscheidung von Gefühl und Willen keine 
Stütze bieten. 



Capitel 8. Einheit der Grrundclasse für Gefühl und Willen, 381 

Auch kann man nicht behaupten, dass zwar Tugend und 
Schlechtigkeit beiden Gebieten gemein, aber im Willen noch 
eine neue, besondere Classe von Vollkommenheit und UnvoU- 
komnienheit zu ihnen hinzugekommen sei ; und bis jetzt wenig- 
stens hat, meines Wissens, Niemand eine solche bezeichnet. 
Wenden wir uns zu dem letzten Punkte des Vergleiches, 
zu den Gesetzen der Succession der Erscheinungen. 

Bei den Urtheilen, obwohl sie von den allgemeinen Ge- 
setzen des Vorstellungslaufes sich keineswegs unabhängig 
zeigen, kommen doch noch andere, besondere Gesetze hinzu, 
welche aus ihnen nicht abgeleitet werden können. Wir be- 
merkten bereits, dass diese Gesetze die vorzügliche psycho- 
logische Grundlage der Logik ausmachen. Bei Liebe und 
Hass, sagten wir damals, sei etwas Aehnliches der Fall; und 
in der That sind zwar diese Phänomene weder von den Ge- 
setzen des Vorstellungslaufes noch von denen der Entstehung 
und Succession der ürtheile unabhängig : aber dennoch zeigen 
auch sie besondere unableitbare Gesetze ihrer Aufeinander- 
folge und Entwickelung , welche die psychologische Grundlage 
der Ethik bilden. 

Fragen wir nun, wie es mit diesen Gesetzen sich ver- 
halte. Sind sie vielleicht auf die Classe des Willens allein 
beschränkt? oder beherrscht wenigstens nur ein Theil von 
ihnen Gefühle und Willensthätigkeiten gemeinsam, während 
ein anderer, durch einen neuen und eigenthümlichen Cha- 
rakter ausgezeichnet, für die Phänomene des Wollens aus- 
schliesslich Geltung hat? — Keines von Beidem ist richtig; 
vielmehr gehen in ganz ähnlicher Weise in einem Falle Acte 
des Wollens wie in einem anderen Acte der Freude und Trau- 
rigkeit auseinander hervor. Ich freue mich oder betrübe mich 
über einen Gegenstand um eines Anderen willen, während er 
sonst mich unberührt gelassen hätte ; und ebenso begehre und 
will ich etwas wegen eines Anderen, obwohl ich sonst nicht 
danach verlangte. Auch erzeugt die Gewohnheit des Genusses 
bei eingetretenem Mangel eine stärkere Begierde, wie umge- 
kehrt ein vorausgegangenes längeres Verlangen den einge- 
tretenen Genuss verstärkt und hebt. 



332 Bach n. Von den psychischen Phänomenen im Allgenaeinen. 

Doch wie? — wir sagen, dass wesentlich dieselben Ge- 
setze auf dem Gebiete der Gefühle und auf dem des Willens 
Geltung haben? und doch scheint gerade hier der grosste 
Gegensatz zu bestehen, der überhaupt auf psychischem Ge- 
biete sich zeigt. Denn der Willen,- im Unterschiede Tön allen 
übrigen Gattungen, gilt als das Reich der Freiheit, welches, 
wenn nicht jeden Einfluss, doch sicher eine Herrschaft von 
Gesetzen, wie sie auf den anderen Gebieten besteht, Ton sich 
ausschliesse. Somit scheint hier ein starker Grund für die 
herkömmliche Scheidung von Gefühl und Willen vorzuliegen. 

Die Thatsache der Willensfreiheit, auf welche sich dieser 
Einwand stützt, hat bekanntlich von Alters her den Gegen- 
stand eifrigen Streites gebildet, an dem wir selbst uns 
erst an einem späteren Orte betheiligen werden^). Aber 
ohne dem künftigen Ergebniss irgendwie vorzugreifen, sind 
wir, glaube ich, schon jetzt das Argument zurückzuweisen 
im Stande. Angenommen es finde sich auf dem Gebiete des 
Willens wirklich jene volle Freiheit, welche in demselben ein- 
zelnen Fall ein Wollen und Nichtwollen und ein entgegen- 
gesetztes Wollen als möglich erscheinen lässt: so besteht 
dieselbe doch sicher nicht auf dem ganzen Gebiete, sondern 
nur etwa da , wo entweder verschiedene Arten des Han- 
delns oder wenigstens Handeln und nicht - Handeln , jedes 
in seiner Weise als ein Gut in Betracht kommt. Dies 
wurde von den bedeutendsten Vertretern der Willensfreiheit 
immer und ausdrücklich anerkannt. Was aber, obwohl viel- 
leicht minder deutlich ausgesprochen, dennoch ebenso unver- 
kennbar als ihre Ueberzeugung sich zu erkennen gibt, ist, 
dass sich unter jenen Seelenthätigkeiten , die nicht als ein 
Wollen bezeichnet werden können, und die man den Gefühlen 
zurechnet, gleichfalls freie Acte finden. So hält man den 
Schmerz der Reue über ein früheres Vergehen, die schaden- 
frohe Lust und viele andere Phänomene der Freude und Traurig- 
keit für nicht weniger freie Acte, als den Vorsatz sein Leben 
zu ändern und die Absicht Jemand einen Nachtheil zuzu- 

1) Buch V. 



-* 



Capitel 8. Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen. 333 

fügen. Ja die Gefühle einer contemplativen Gottesliebe 
gelten Vielen als verdienstlicher als die hülfreiche Bethätigung 
des Willens im Dienste des Nächsten, obwohl sie nur bei 
freien BetKätigungen von Verdienst und Missverdienst sprechen 
wollen. Wenn man trotzdem im Allgemeinen nur von Wil- 
lensfreiheit sprach, so hing dies bei älteren Philosophen 
mit dem, wie wir sahen, erweiterten und auf Gefühl und 
Willen im engeren Sinne gleichmässig ausgedehnten Ge- 
brauche dieses Namens ; bei modernen aber häufig mit anderen 
Unklarheiten zusammen, die sich in ihre Untersuchung ein- 
mischten. So hat selbst Locke die Unterscheidung zwischen dem 
Vermögen, eine Handlung, je nachdem man sie will oder nicht 
will, zu üben oder zu unterlassen, und der Möglichkeit, unter 
denselben Umständen sie zu wollen oder nicht zu wollen, 
niemals klar vollzogen. Es ist also sicher, dass, wenn über- 
haupt auf dem Gebiete der Liebe und des Hasses Freiheit 
besteht, dieselbe nicht auf Acte des WoUens allein, sondern 
ebenso auf gewisse Bethätigungen der Gefühle sich erstreckt, 
und dass andererseits ebensowenig jeder Act des Wollens 
als jeder Act des Fühlens frei genannt werden kann. 
Dies genügt, um zu zeigen, wie durch die Anerkennung der 
Freiheit die Kluft zwischen Gefühl und Willen nicht erweitert 
und der hergebrachten Classeneintheilung keine Stütze ge- 
boten wird. 

§. 8. Wir haben nun den vorgezeichneten Weg unserer 
Untersuchung auch seinem dritten Theile nach zurückgelegt. 
Es war wesentlich derselbe Gang , den wir jetzt einhielten, 
da wir das Verhältniss von Gefühl und Begehren prüften, 
wie früher, als es sich um den Nachweis des fundamentalen 
Unterschiedes zwischen Vorstellung und Urtheil handelte. 
Aber Schritt für Schritt waren unsere Wahrnehmungen dieses 
Mal die entgegengesetzten. 

Fassen wir das Ergebniss kurz zusammen: 
Erstens hat uns die innere Erfahrung gezeigt, wie 
zwischen Gefühl und Willen nirgends eine scharfe Grenze 
gezogen ist. Wir haben bei allen psychischen Phänomenen, 



834 Buch IL Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

die nicht Vorstellungen oder Urtheile sind, einen überein- 
stimmenden Charakter der Beziehung auf den Inhalt gefun- 
den, und können sie alle in einem einheitlichen Sinne als Phä- 
nomene der Liebe und des Hasses bezeichnen. 

Zweitens, wenn bei Vorstellung und Urtheil mit der 
Leugnung einer Verschiedenheit in der Weise des Bewusst- 
seins die Angabe eines Unterschiedes überhaupt unmöglich 
wurde : so haben wir auf dem Gebiete von Gefühl und Willen 
im Gegentheile gesehen, dass unter zu Hülfe Nähme des Gegen- 
satzes von Liebe und Hass und ihrer Gradunterschiede sich 
jede einzelne Classe durch Berücksichtigung der besonderen 
zu Grunde liegenden Phänomene definiren lässt. 

Drittens endlich haben wir gesehen, dass eine Varia- 
tion von Umständen, wie sie bei einer Verschiedenheit der 
Weise des Bewusstseins anderwärts sich zu zeigen pflegt, bei 
Gefühl und Willen nicht gefunden wird. 

Somit dürfen wir wohl die Einheit unserer dritten Grund- 
classe als vollkommen erwiesen betrachten, und es blbibt 
uns nur noch übrig, wie früher bei Vorstellung und Urflieil, 
so jetzt bei Gefühl und Willen die Gründe aufzudecken, welche 
eine Verkennung des wahren Verhältnisses begünstigten. 

§. 9. Diese Anlässe der Täuschung scheinen mir von 
dreifacher Art gewesen zu sein: psychische, sprach- 
liche und, wenn wir sie so nennen wollen, historische, 
d. h. solche Anlässe, welche durch vorausgegangene Verirrun- 
gen der Psychologie in anderen Fragen gegeben wurden. 

Betrachten wir zunächst die vornehmsten psychischen 
Gründe. 

Wir haben früher gesehen, wie die Phänomene des in- 
neren Bewusstseins in eigenthümlicher Weise mit ihrem Ob- 
ject verschmolzen sind. Die innere Wahrnehmung ist in 
dem Acte, den sie wahrnimmt, mitbegriflfen, und ebenso ist 
das innere Gefühl, welches einen Act begleitet, selbst Theil 
seines Gegenstandes. Es lag nahe, diese besondere Weise 
der Verbindung mit dem Objecte mit einer besonderen Weise 
von intentionaler Beziehung zu ihm zu verwechseln, und so 



Capitel 8. Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen. 335 

die ^zum inneren Bewusstsein gehörigen Phänomene der Liebe 
und des Hasses von allen übrigen, wie eine Grundclasse 
von einer anderen zu sondern. 

Wenn wir an die Weise zurückdenken, in welcher Kant 
über den Unterschied des Gefühls und Begehrens sich äusserte, 
so glaube ich werden wir deutliche Spuren eines Zusammen- 
hanges seiner Lehre mit dem eben erwähnten Unterschiede 
erkennen; sagte er doch, dass das Begehrungsvermögen eine 
„objective Beziehung" habe, während das Gefühl „bloss aufs* 
Subject" sich beziehe^): 

Bei Hamilton tritt dasselbe in dem Maasse auffälliger 
hervor, als er sich ausführlicher über die Scheidung von Ge- 
fühl und Streben verbreitet; und Bestimmungen, die im 
. Uebrigen schwer mit einander in Einklang zu bringen 
sind, weisen doch übereinstimmend darauf hin , dass ihm bei 
der Classe des Gefühls hauptsächlich die zum inneren Be- 
wusstsein gehörigen Gefühlsphänomene vorschwebten. Seine 
Bestimmung, dass das Gefühl ausschliesslich der Gegenwart 
angehöre, ist dann gerechtfertigt; und seine Charakteristik 
der Gefühle als „subjectivisch subjectiv" wenigstens begreif- 
lich geworden. Auch steht die Untersuchung über die Ent- 
stehung der Gefühle, wie man sie im zweiten Bande seiner 
Vorlesungen findet, vollkommen mit einer solchen Auffassung 
im Einklänge 2). 

Wie kommt es aber, dass wenn hier die besondere Ver- 
bindung der inneren Phänomene mit ihrem Objecto zu einer 
Unterscheidung zweier Grundclassen führte, auf dem Gebiete 
der Erkenntniss nicht dasselbe der Fall war? Warum hat 
man nicht auch die innere Wahrnehmung von jeder anderen 
Erkenntniss als. eine eigene, grundverschiedene Weise des 
Bewusstseins abgesondert ? — Die Antwort hierauf ist leicht. 
Wir haben gesehen , wie es eine Eigenthümlichkeit unserer 
dritten Grundclasse ist, eine Menge von Arten in sich 
zu schliessen, die mehr als besondere Classen von Ur- 

^) S. oben S. 241 Anm. 1. 

2) Lectores on Metaphysics IL p. 436 ss. Vgl. auch Lotze, Mikro- 
kosmus 1. Aufl. I. S. 261 ff. und a. a. 0. 



336 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

theilen von einander verschieden sind. So war es denn hier 
überhaupt . leichter , die Uebereinstimmung im allgemeinen 
Charakter der Beziehung zum Objecte zu verkennen als bei 
den Phänomenen der Erkenntniss; und derselbe Umstand, 
der auf diesem Gebiete keinerlei Versuchung mit sich führte, 
konnte auf dem anderen die Täuschung veranlassen. 

§. 10. Zu dem angegebenen kommt aber noch ein an- 
derer psychischer Grund. Wie wir uns erinnern, machten 
Kant und seine Nachfolger für die fundamentale Verschie- 
denheit des WoUens von dem Gefühle seine Unableitbarkeit 
aus den Phänomenen dieser Glasse geltend. Es ist ausser 
Frage, dass die Erscheinungen des Willens wirklich aus an- 
deren psychischen Phänomenen nicht abgeleitet werden kön- 
nen. Und ich meine hier nicht etwa dies, dass die besondere 
Färbung der Willensbethätigungen nur durch specifische Erfah- 
rung erkannt werden kann ; denn das ist etwas, was ebenso für 
andere specielle Classen der Liebe und des Hasses gilt. Die 
besondere Färbung der HoflEnung gegenüber dem besitzen- 
den Genüsse, die besondere Färbung der edelen geistigen 
Freude gegenüber der niederen Sinnenlust sind ebenfalls 
unableitbar. Ein anderer Umstand ist, der in einer ganz 
vorzüglichen Weise gerade das Wollen als unableitbar er- 
scheinen und gerade bei ihm die Neigung entstehen lässt, 
es als Bethätigung eines besonderen Urvermögens zu fassen. 

Jedes Wollen oder Streben im eigentlicheren Sinne be- 
zieht sich auf ein Handeln. Es ist nicht einfach ein Begehe 
ren, dass etwas geschehe, sondern ein Verlangen, dass etwas 
als Folge des Verlangens selbst eintrete. Ehe Jemand die Er- 
kenntniss oder wenigstens die Vermuthung gewonnen hat, dass 
gewisse Phänomene der Liebe und des Verlangens die ge- 
liebten Gegenstände unmittelbar oder mittelbar als Folge 
nach sich ziehen, ist ein Wollen für ihn unmöglich. 

Wie soll er nun aber zu einer solchen Erkenntniss oder 
Vermuthung gelangen? — Aus der Natur der Phänomene 
der Liebe, seien sie Phänomene der Lust oder Unlust, des 
Verlangens, der Furcht oder andere, lässt sie sich nicht 



piteL 8. Einheit der Grondclasse für aefühl and Willen. 337 



a •« 



Jen. Es bleibt also nur übrig, entweder anzunehmen 

.. ne ihm angeboren sei , oder dass sie , ähnlieh wie auch 

-^ , e Erkenntnisse von Kraftbeziehungen, von ihm der Er- 

. .Jjig entnommen werde. Das Erste wäre offenbar die 

. JTime einer ganz ausserordentlichen Thatsache, die, wenn 

^ i etwas , keine Ableitung zuliesse. Das Zweite aber, 

gewiss von vorn herein unvergleichlich wahrscheinlicher 

\ _ setzt, deutlich einen besonderen Kreis von Erfahrungen 

' 'l die Existenz und wirkliche Bethätigung einer besonderen 

2 ^ung von Kräften voraus, auf welche diese Erfahrungen 

*'* ' beziehen. Somit ist die Kraft gewisser Phänomene der 

*^ j-e zur Verwirklichung der Gegenstände, auf welche sie 

" -2htet sind, eine Vorbedingung des Wollens, und gibt, 

-'i wenn man nicht, wie Bain es gethan hat, das Vermö* 

~ - zu ha.ndeln als das Vermögen des Wollens selbst be- 

- - :htet, in gewisser Weise erst die Fähigkeit zu ihm. Da 

- '. diese Kraft zur Aeusserung und Bethätigung der Liebe 
'- -l des Terlangens der Fähigkeit zu diesen Phänomenen 

. -i-:3St völlig heterogen ist, und darum nicht mehr, ja eher 

- i^h viel weniger aus ihr als sie aus dem Vermögen 

- • Erkenntniss ableitbar erscheint: so erscheint natürlich 
ch die Fähigkeit zum Streben und Wollen als ein in ganz 

. . rzüglicher Weise unableitbares Vermögen , obwohl die Un- 
^iglichkeit der Ableitung nicht darin ihren Grund hat, 
-.SS die betreffenden Phänomene selbst einen von den übrigen 
- -länomenen der Liebe fundamental verschiedenen Charakter 
_ :?igen. 

Im Gegentheile wird man bei näherer Erwägung 
., nden, dass sich hier aufs Neue ein Zug der Verwandt- 
_ .^haft der Willensphänomene mit anderen Erscheinungen 
"7 ,er Liebe und des Verlangens offenbart. Wenn das Wollen 
de Erfahrung eines Einflusses von Phänomenen der Liebe 
' ' air Hervorbringung des geliebten Gegenstandes voraus- 
setzt , so setzt es offenbar voraus , dass auch Phänomene 
, der Liebe , welche kein Wollen genannt werden können, 
■' ähnlich wie das Wollen, wenn auch vielleicht in schwächerem 
^ Grade, sich wirksam erweisen. Denn würde eine solche 

" Brentano, Psychologie. I. 22 



338 ' Bach n. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Einwirkung sich ausschliesslich an das Wollen knüpfen, so 
würde man in einen verhängnissvollen Zirkel verwickelt. 
Das Wollen würde die Erfahrung des WoUens voraussetzen, 
während natürlich umgekehrt auch diese das Wollen voraussetzt. 
Anders, wenn auch schon das blosse Verlangen nach gewissen 
Ereignissen ihr Eintreten zur Folge hat; es kann dann mit 
der Modification, welche die Kenntniss von dieser Kraftbe- 
ziehung ihm gibt, d. i. als Wollen sich wiederholen. 

Mögen diese Andeutungen genügen, bis wir später uns 
eingehend mit dem Probleme der Entstehung des WoUens 
beschäftigen werden. 

Wenn wir aus einer früher betrachteten Aeusserung 
Kant's über die Eigenthümlichkeit der Gefühle den Zusam- 
menhang seiner Classification mit der Zugehörigkeit gewisser 
Phänomene der Liebe zum inneren Bewusstsein ,erkannten, 
so weisen andere, und nicht wenige, sehr deutlich auf die 
eben betrachteten Verhältnisse hin. Hat doch Kant das Be- 
gehrungsvermögefn geradezu als das „Vermögen durch seine 
Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände 
dieser Vorstellungen zu sein" definirt, und an derselben Stelle, 
an welcher er von einer Beziehung von Vorstellungen „bloss 
aufs Subject" redet, hinsichtlich welcher sie „im Verhältnisse 
zum Gefühle der Lust betrachtet werden", spricht er von 
einer anderen, „objectiven Beziehung, da sie, zugleich als Ur- 
sache der Wirklichkeit dieses Objectes betrachtet, zum Be- 
gehrungsvermögen gezählt werden". Nun fällt aber die Ab- 
grenzung der beiden Classen, welche sich ergibt, wenn man 
die inneren Phänomene der Liebe als Gefühle zusammenfasst 
und allen übrigen entgegenstellt, keineswegs mit jener zu- 
sammen, zu welcher man gelangt, wenn man das Streben 
nach einem Gegenstande, das die besprochene Kraftbeziehung 
als bekannt voraussetzt, von allen übrigen Phänomenen der 
Liebe scheidet. Daher finden wir bei Kant jene befremdende 
Behauptung, dass jeder Wunsch, und wenn es ein anerkannt 
unmöglicher wäre, wie z. B. der Wunsch Flügel zu haben, 
schon ein Bestreben sei, das Gewünschte zu erlangen, und die 



Capitel 8. Einheit der Gnindclasse für Gefühl und* Willen: 339 

Vorstellung dei" Causalität unserer Begehrung enthalte^). 
Sie ist ein verzweifelter Versuch die Grenzlinie der beiden 
Glassen, so wie die eine Rücksicht sie verlangt, auch mit 
der anderen in Einklang zu bringen. Andere haben es vor- 
gezogen, die Classe der Gefühle weiter und bis zur Grenze 
des eigentlichen WoUens auszudehnen, und wieder Andere 
haben jeder der beiden Glassen mehr oder minder beträcht- 
liche Theile von dem Zwischengebiete zugevriesen. Daher 
die Unsicherheit der Grenzscheidung, die wir gefunden 
haben. 

■ 

§. 11. Wir sagten, zu den psychischen Gründen, die in 
der eigenthümlichen Natur der Phänomene selbst liegen, seien 
sprachliche Anlässe hinzugekonmien. 

Aristoteles, welcher die Einheit unserer dritten Grund- 
classe richtig erkannt hatte, bezeichnete sie, wie wir hörten, 
mit dem Namen Begehren (pge^cg). Der Ausdruck war wenig 
passend gewählt *) ; denn nichts liegt dem Sprachgebrauche 
des gewöhnlichen Lebens femer, als die Freude ein Begeh- 
ren zu nennen. Doch dies hinderte nicht, dass das Mittel- 
alter sich hier wie in so mancher anderen Beziehung von der 
Autorität des „Philosophen" und seiner üebersetzer leiten 
liess und das Vermögen zu den sämmtlichen hieher gehörigen 
Acten als „facultas appetendi" bezeichnete *) ; und an die Aus- 
drücke der Scholastiker schloss sich später Wolff bei der Unter- 
scheidung seines Erkenntniss- imd Begehrungsvermögens an. 



*) Kritik der ürtheilskraft, Einleitung HI. Anm. 

^) Aristoteles wurde auf ihn wahrscheinlich durch eine verallge- 
meinemde Zusammenfassung von ^fiog und ini^v/iCa gefuhrt, die in 
Platon's Eintheilung neben dem Xoyta/iog erscheinen ; ein Zeichen mehr 
für die Wahrheit unserer früheren Bemerkung, dass sich die Grund- 
eintheilungen des Aristoteles sämmtlich aus der Platonischen entwickelt 
haben. Nach anderen Seiten hin ist der Zusammenhang ohnehin un- 
verkennbar. 

*) Nur einzelne Male zeigen sich Spuren von Emancipation , wie 
z. B. bei Thomas von Aquin, wenn er Summ. Theol. P. I. Q. 37. art. 1 
und Öfter den Ausdruck „amare'* als allgemeinsten Classennamen ge- 
braucht 

22* 



840 Baeh II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

Da nun der Namen Begehren im Leben eine viel zu enge 
Bezeichnung hat , als dass er alle psychischen Phänomene 
ausser denen des Denkens umfassen könnte, so lag der Ge- 
danken nahe, dass es Phänomene gebe, die in den bisher 
aui^estellten Classen nicht einbegriffen seien, und dass somit 
diesen eine neue Glasse coordinirt werden müsse. Dass 
wirklich auch dieser Umstand nicht ohne Einfluss ,blieb, zeigt 
eine früher aus Hamilton angezogene Stelle^). 

§. 12. Wir sagten aber, die Täuschung hinsichtlich der 
Einheit dieser Classe psychischer Phänomene habe auch noch 
eine dritte Art von Ursachen gehabt; in früheren Unter- 
suchungen begangene Fehler haben hier nachtheilig 
eingewirkt. 

Der Irrthum, den wir hier vorzüglich im Auge hatten, 
war der, dass man Vorstellung und Urtheil als Phänomene 
derselben Grunddasse betrachtete. Man fand die drei Ideen 
(wie man sie oft mit Auszeichnung nennt) des Wahren, 
Guten und Schönen; und sie schienen einander co- 
ordinirt. Man glaubte, sie müssten eine Beziehung zu drei 
coordinirten , grundverschiedenen Seiten unseres Seelenlebens 
haben. Die Idee des Wahren theilte man dem Erkenntniss- 
vermögen, die Idee des Guten dem Begehrungsvermögen zu; 
da war denn das dritte Vermögen, das der Gefühle, eine will- 
kommene Entdeckung, um ihm die Idee des Schönen als sei- 
nen Antheil zuzuweisen. So ist schon bei Mendelssohn, wo er 
von den drei Seelenvermögen spricht, von dem Wahren , Guten 
und Schönen die Eede. Und Kant wird es von späteren 
Vertretern einer ähnlichen Dreitheilung zum Vorwurfe ge- 
macht, dass er das Gefühl der Lust und Unlust „einseitig 
auf das ästhetische Geschmacksurtheil" beschränkte, und 
ebenso „das Begehrungsvermögen nicht als rein psychologische 
Kraft, sondern in Beziehung zum Ideal des Guten, dem es 
dienen soll, betrachtete*)." 



^) Lectures on Metaph. ü. p. 420 ; vgl. oben Buch II. Cap. 5. §. 4. 
*) J. B. Meyer, Kant's PBychologie, S. 120. 



Capitel 8. Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen. 341 

Bei einer genaueren Untersuchung , ob die Vertheilung 
des Wahren, Guten und Schönen auf die drei Classen des 
Erkenntniss - , Begehrungs - und Gef&hlsvermögens wirklich 
izu rechtfertigen sei, wird sich freilich manches Bedenken 
erheben. 

Wir haben früher eine Stelle von Lotze angeführt, worin 
dieser Denker, der doch selbst Willen und Gefühl als Grund- 
yermögen scheidet, „die sittlichen Grundsätze jeder Zeit" 
als „Aussprüche eines werthempfindenden Gefühles" bezeich- 
net. In der That hat Herbart ^ die ganze Ethik, wie einen 
besonderen Zweig, der Aesthetik als der allgemeineren Wis- 
senschaft zugewiesen, so dass bei ihm das Ideal des Guten 
ganz in dem des Schönen unterzugehen droht, oder doch als 
eine besondere Gestaltung dem umfassenderen Gedanken sich 
unterordnet. 

Andere haben einen entgegengesetzten Versuch gemacht ; 
sie haben das Schöne unter den Begriff des Guten gestellt. 
Wie z. B. Thomas von Aquin , indem er sagt , gut sei das, 
was gefalle , schön das , dessen Erscheinung gefalle *). Hier 
Wird zunächst die Erscheinung des Schönen als etwas Gutes 
betrachtet, und dann natürlich ist auch das, was die Erschei- 
nung hervorruft, in Rücksicht darauf ein Gut. In der That 
gehört die Schönheit in diesem Sinne ohne Zweifel unter die 
Oüter; aber auch von der Wahrheit muss Aehnliches gesagt 
werden ; und somit scheint der Charakter des Begehrenswer- 
then allen dreien gemeinsam zu sein, wie es ja auch darum 
weil es sich um drei Ideale handelt nicht anders denkbar ist. 



*) Im Grunde genommen schon Adam Smith, wenn anders Kant 
Becht hat, indem er sagt, schön sei was uninteressirtes Wohlgefallen 
errege. Ja lange vor ihnen sagte Augustinus: „Honestum voco io- 
telligibilem pulchritudinem , quam spiritualem nos proprie dieimus.'' 
(83 Q. Q. quaest. 30 nahe am Anf.) 

>) De ratione boni est quod in eo quietetur appetitus. Sed ad ra- 
tionem pulchri pertinet quod in ejus aspectu seu cognitione quietetur 
appetitus .... Pulchrum addit supra bonum quemdam ordinem ad 
Tim cognoscitivam; ita quod bonum dicatur id quod simpliciter com- 
placet appetitui; pulchrum autem dicatur id cujus ipsa apprehensio 
placet. (Summ. Theol. P. IL 1. Q. 27. A. 1 ad 3.) 



342 Buch n. Von den psjchiflcheii Phänomenen im Allgemdnen. 

Es thot also Noth, in einer etwas anderoi Weise die 
Dreiheit des Schonen, Wahren nnd Guten zu fiissen, 
und es wird sich dann zeigen , dass sie wirklich zu einer 
Dreiheit der Seiten unseres Seelenlebens in Beziehung steht; 
nicht aber zu Erkenntniss, Gefühl und Willen, sondern zu 
jener Dreiheit, die wir in dea drei Grunddassen der psydd- 
sehen Phänomene unterschieden haben. 

Jede Grunddasse yon psychischen Phänomenen hat eine 
ihr eigenthümliche Gattung von Vollkommenheit; und diese 
gibt sich in dem inneren Gef&hle, welches, wie wir sahen^ 
jeden Act begleitet, zu erkennen. Den vollkonmiensten Acten 
jeder Grunddasse wohnt eine darauf bezügliche, wie wir 
sagen, edle Freude inne. Die höchste Yollkonmienheit der 
vorstellenden Thätigkeit liegt in der Betrachtung des 
Schönen, sei diese nun durch die Einwirkung des Objectes 
unterstützt, oder von einer solchen unabhängig. An sie 
knüpft sich der höchste Genuss, welchen wir in der vorstellen- 
den Thätigkeit als solcher finden können. Die höchste Voll- 
kommenheit der urtheilenden Thätigkeit liegt in der 
Erkenntniss der Wahrheit; am Meisten natürlich in der Er« 
kenntniss solcher Wahrheiten, die mehr als andere eine 
reiche Fülle des Seins uns offenbaren. Dies ist z. B. dann 
der Fall, wenn wir ein Gesetz erfassen, durch welches, wie 
durch das Gesetz der Gravitation, mit einem Schlage ein 
weites Gebiet von Erscheinungen erklärt wird. Darum ist 
das Wissen eine Freude imd ein Gut an und für sich und 
abgesehen von allem praktischen Nutzen, den es gewährt. 
„Alle Menschen verlangen von Natur nach dem Wissen", sagt 
der grosse Denker, der mehr als viele Andere die Freuden 
der Erkenntniss verkostet hat. Und wiederum sagt er: „die 
erkennende Betrachtung ist das Süsseste und Beste ^)." Die 
höchste Vollkommenheit der liebenden Thätigkeit endlich 
liegt in der durch Rücksicht auf eigene Lust und eigenen 
Gewinn ungehemmten freien Erhebung zu höheren Gütern, 
in der opferwilligen Hingabe ihrer selbst an das, was um 



*) Ariflt. Metaph, A, 1, ui, 7. 



Capitel 8. Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen. 343 

seiner Vollkommenheit willen mehr und über Alles liebens- 
würdig ist, in der Uebung der Tugend oder def Liebe des 
Guten um seiner selbst willen und nach dem Maasse seiner 
Vollkommenheit. Die Freude, die der edlen Handlung und 
überhaupt der edlen Liebe innewohnt, ist es, die in ähnlicher 
Weise dieser Vollkommenheit, wie die Freuden der Erkennt- 
niss und der Betrachtung des Schönen* der Vollkommenheit 
der anderen beiden Seiten des Seelenlebens, entspricht. Das 
Ideal der Ideale besteht in der Einheit alles Wahren, 
Guten und Schönen, d. i. in einem Wesen, dessen Vorstel- 
lung die unendliche Schönheit und in ihr wie in ihrem un- 
endlich überragenden Urbilde alle denkbare endliche Schön- 
heit zeigt; dessen Erkenntniss die unendliche Wahrheit 
und in ihr wie in ihrem ersten und allgemeinen Erklärungs- 
grunde alle endliche Wahrheit offenbart ; und dessen Liebe 
das unendliche, allumfassende Gut und in ihm jedes andere 
liebt, welches in endlicher Weise an der Vollkommenheit 
Theil hat Das, sage ich, ist das Ideal der Ideale. Und die 
Seligkeit aller Seligkeiten bestände in dem dreifachen Ge- 
nüsse dieser dreifachen Einheit, indem die unendliche Schön- 
heit angeschaut, und aus ihrer Anschauung durch sich selbst 
als nothwendige und unendliche Wahrheit erkannt, und 
als unendliche Liebenswürdigkeit offenbar geworden mit gänz- 
licher und nothwendiger Hingabe als das unendhche Gut 
geliebt würde. Dies ist auch die Verheissung der Seligkeit, 
welche in der vollkommensten der Religionen , die in der 
Geschichte aufgetreten sind, in dem Christenthume, gegeben 
wird, und mit ihm stimmen die grössten Denker des Heiden- 
thums und namentlich der gottbegeisterte Piaton in der 
Hoffnung auf ein solches beseligendes Glück überein. 

Wir sehen, auch wenn man mit uns das Gefühl als eine 
Grundclasse verwirft, wenn man nur zugleich im üebrigen 
unsere Grundeintheilung sich eigen macht, lässt die Dreiheit 
der Ideale, des Schönen, Wahren und Guten, sich aus dem 
System der psychischen Vermögen wohl erklären. Ja sie wird 
dadurch erst in voller Weise verständlich gemacht ; und selbst 
bei Kant fehlt es nicht an Aeusserungen, welche dafür zeu- 



344 Baeh IL Von den peyehkdien FhinoaMnen im ASgememen. 

gCT, dass nur durch die von uns dnrcl^ef&hrte Begehung 
des Schonen zor vorstellenden Thätigkeit die riehtigis Stel- 
lang ihm gßgeben wird. Unter vielen wiD ich hier nnr die 
eine oder andere SteDe aas verschiedenen seiner Schriften 
hervorheben» In der Kritik der ürtheüskraft sagt Kant: 
„Wessen G^enstandes Form in der blossen Reflexion über 
dieselbe als der Gnmd einer Lust an der Vorstellung 
eines solchen Objectes beurtheilt wird; mit dessen 
Vorstellung wird dieseLust auch als nothwendig 
verbunden geurtheilt, folglich als nicht bloss iiir das 
Subject, welches diese Form auffasst, sondern für jeden Ur- 
theOenden überhaupt. Der Gegenstand heisst alsdann 
schön; und das Vermögen durch eine solche Lust 
(folglich auch allgemeingültig) zu urtheilen, der Ge- 
schmack^)/' In den metaphysischen Anfangsgründen der 
Rechtslehre (1797) wiederholt er nochmals, dass es eine Lust 
gebe, welche mit gar keinem Begehren des Gegenstandes, 
sondern mit der blossen Vorstellung, die man sich von 
einem Gegenstande macht, schon verknüpft sei, und bemerkt : 
„Man würde die Lust, die mit dem Begehren des Gegen- 
standes nicht nothwendig verbunden ist, die also im Grunde 
nicht eine Lust an der Existenz des Objectes der Vorstellung 
ist, sondern bloss an der Vorstellung allein haftet, 
bloss contemplative Lust oder unthätiges Wohlgefallen nennen 
können. Das Gefühl der letzteren Art von Lust nennen wir 
Geschmack ^y 

So bewährt sich unsere Behauptung, dass die Verken- 
nung der fundamentalen Verschiedenheit von Vorstellung und 
Urtheil die Annahme eines anderen fundamentalen Unterschie- 



*) Krit. d. ürtheilskr. Einl. VI. 

') Metaph. Anfangsgr. der Rechtslehre Cap. 1. — Aucli Thomas 
von Aquin, der, wie überhaupt die Peripatetische Schale, den Fehler 
der Vereinigung von Vorstellung und Urtheil in derselben Grundclasse 
mit Kant gemein hatte, gibt in der oben (S. 341 Anm. 2) mitgetheilten 
Stelle der Beziehung des Schönen zur Vorstellung Zeugniss. An einem 
anderen Orte sagt er : „Bonum proprie respicit appetitum . . . Pulchrom 
autem respicit vim cognoscitivam : pulchra enim dicuntur, quae visa 
placent." (Summ. Theol. P. I. Q. 5. A. 4 ad 1.) 



Capitel 8. Einheit der Grondclasse für Grefähl und Willen. 345 

des, der nicht wirklich vorhanden ist, vorbereitete ; und dass 
so der erste in der Eintheilung der psychischen Phänomene 
begangene Fehler zur Entstehung des zweiten wesentlich bei- 
trug. Es scheint, als ob dieser Umstand nicht am Wenigsten 
ein störendes Moment geworden sei. 

Ausserdem wurde der neue Irrthum natürlich auch durch 
den Mangel an Klarheit über das eigentliche Princip der 
Eintheilung begünstigt. Wir haben davon schon früher ge- 
sprochen und können uns darum Jetzt jedes weitere Wort 
ersparen. 

Was immer sonst noch dazu beigetragen haben mag, 
dass man Gefühl und Willen irrthümlich für zwei verschie- 
dene Grundclassen psychischer Erscheinungen hielt : die haupt- 
sächlichsten Anlässe der Täuschung haben wir, glaube ich, 
in der vorausgegangenen Untersuchung zusammengestellt. 
Sie sind so mannigfach und bedeutend, dass wir uns nicht 
darüber verwundem können, wenn sich auch mancher her- 
vorragende Denker dadurch verführen liess; und tso, hoffe 
ich, wird durch ihre Darlegung das letzte Bedenken gegen 
die von uns verfochtene Zusammengehörigkeit von öefühl 
und Willen verschwunden sein. Dann aber scheint unsere 
Grundeintheilung überhaupt gesichert. Wir dürfen es daher 
uls feststehend betrachten, dass die psychischen Phänomene 
flicht mehr und nicht weniger als einen drei&chen funda- 
mentalen Unterschied hinsichtlich ihrer Beziehung zum In- 
halte, oder, wie wir uns ausdrücken können, hinsichtlich der 
Weise des Bewusstseins zeigen ; und dass sie hienach in drei 
Grundclassen zerfallen: in die Classe der Vorstellungen, 
in die der- Urtheile und in die der Phänomene der 
Liebe und des Hasses. 



N 



Nenntes GapiteL 

Yergleieli der drei Gnutdelasseft mt d« dreifiiek^ 
Pliiiemefte des inereft Bewnsstseiis. Bestmwiig 

ilirer utiirlidieft Ordnug. 

§. 1. Die drei von uns festgestellten Gnmddassen der 
Yorstellung, des Urtheils nnd der Liebe erinnern uns an eine 
froher gefundene Dreiheit von Phänomenen. In dem inneren 
Bewosstsein, das jede psychische Erscheinung begleitet^ sahen 
wir eine darauf gerichtete Vorstellung, eine Erkenntniss und 
ein Gefühl beschlossen, und offenbar entspricht je eines die- 
ser Momente einer der drei Classen der Seelenthätigkeiten, 
die sich uns jetzt ergeben haben. 

Hieraus ersehen wir, dass Phänomene der drei Grund- 
classen aufs Innigste sich miteinander verflechten. Denn 
eine innigere Verbindung als die zwischen den drei Momenten 
des inneren Bewusstseins ist nicht mehr denkbar. 

Wir erkennen femer, dass die drei Classen von äuss^>- 
ster Allgemeinheit sind; es gibt keinen psychischen Act, bei 
welchem nicht alle vertreten wären. Jeder Classe kommt 
eine gewisse Allgegenwart in dem ganzen Seelenleben zu. 

Daraus folgt aber, wie auch früher bemerkt, nicht, dass 
sie auseinander ableitbar sind. Aus jedem Gesammtzustande 
des psychischen Lebens lässt sich erkennen, dass ein Ver- 
mögen zu jeder der drei Gattungen von Thätigkeiten vor- 



Capitel 9. Y ergleich der Grundclassen mit dem inneren Bewusstsein. 347 

handen ist. Aber ohne Widerspruch Hesse es sich denken, 
dass ein psychisches Leben bestände, dem die eine oder auch 
zwei von den Gattungen, so wie die Fähigkeit zu ihnen 
mangelte. Ebenso bleibt ein Unterschied zwischen psychi- 
schen Acten, die in einem relativen Sinne blosse Vorstellungs- 
acte zu nennen sind, und solchen, bei welchen dies nicht der 
Fall ist, insofern das primäre Object eines Actes bald bloss 
vorgestellt, bald auch anerkannt oder geleugnet, bald zugleich 
in irgendwelcher Weise geliebt oder gehasst wird. Bei den 
letzteren werden Saiten, die in dem ersten Falle nur mitge- 
klungen hatten, so zu sagen direct angeschlagen. 

Die Thatsache gibt also nur der universellen Bedeutung 
jeder der drei Classen Zeugniss ; und dieses Zeugniss ist, wo 
es sich um die Frage nach dem fundamentalen Charakter 
der Classe handelt, gewiss willkommen. Die übliche Drei- 
theilung in Erkenntniss, Gefühl und Willen kann es nicht in 
gleicher Weise 'für sich anführen. Hamilton, wahrscheinlich 
weil er die Bedeutsamkeit des ümstandes begriff, hat freilich 
auch für die Willensthätigkeit den Anspruch vollkommener 
Allgemeinheit erhoben. „In unseren philosophischen Büchern", 
sagt er, „da mögen allerdings Erkenntniss, Gefühl und Be- 
strebung, jedes von dem anderen getrennt in Büchern und 
Capiteln stehen ; in der Natur sind sie aber miteinander ver- 
woben. In jeder, auch der einfachsten Modification des Gei- 
stes finden sich Erkenntniss, Gefühl und Willen zusammen, 
um den psychischen Zustand zu bilden"^), u. s. f. Aber dem- 
jenigen, welcher den Begriff des Wollens analysirt, kann es 
nicht zweifelhaft bleiben, dass Hamilton für seine dritte 
Grundclasse Unmögliches behauptet. Wird doch ein Wollen, 
wie wir auch früher sagten, erst durch den Gedanken an ein 
eigenes Wirken möglich ; ein Umstand, der, wie er überhaupt 
den weniger generellen Charakter dieses Classenbegriffes an- 
zeigt, insbesondere beweist, wie weit er davon entfernt ist, 
auf eine primitive Bethätigung Anwendung finden zu können. 

') Lect on Metaph. I. p. 188. Später (ebend. 11. p. 433) wieder- 
holt er nochmals denselben Gedanken, aber nicht mehr mit der glei- 
chen Zuversicht. 



848 Buch IL Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

So sehen wir auch nach dieser Seite hin unsere Classi- 
fication gegenüber der gegenwärtig üblichen im Vortheile, 
obwohl ich diesem Umstände nicht eine gleich entscheidende 
Bedeutung wie manchen Ergebnissen früherer Erörterung bei- 
legen möchte. 

§. 2. Es bleibt uns jetzt nur noch eine Frage zu be- 
antworten, und auch für sie ist die Entscheidung in den vor- 
angegangenen Untersuchungen vorbereitet, ja gewissermassen 
schon anticipirt. Es ist die Frage nach der natürlichen Reihen- 
folge der drei Classen. 

Wie überall, so muss auch in unserem Falle die relative 
Unabhängigkeit, Einfachheit und Allgemeinheit der Classen 
für ihre Ordnung bestimmend werden. 

Nach diesem Principe ist es klar, dass der Vorstellung 
der erste Platz gebührt : denn sie ist das einfachste der drei 
Phänomene, indem Urtheil und Liebe immer eine Vorstellung 
in sich schliessen; sie ist ebenso das unabhängigste unter 
ihnen, da sie die Grundlage der übrigen ist ; und ebendarum 
ist dieses Phänomen auch das allgemeinste. Ich sage dies 
nicht, als wollte ich leugnen, dass auch Urtheil und Liebe 
in jedem psychischen Zustande irgendwie vertreten seien; 
dies haben wir vielmehr so eben noch ausdrücklich hervorge- 
hoben. Aber wir haben dennoch zugleich einen gewissen 
Unterschied der Allgemeinheit bemerkt, insofern das primäre 
Object nothwendig und allgemein nur in der dem Vorstellen 
eigenen Weise der intentionalen Einwohnung im Bewusstsein 
gegenwärtig ist. Auch könnte man sich ohne Widerspruch 
ein Wesen denken, welches, ohne Vermögen für Urtheil und 
Liebe, allein mit dem Vermögen der Vorstellung ausgestattet 
wäre; nicht aber umgekehrt; und die Gesetze des Vorstel- 
lungslaufes bei einer solchen psychischen Fiction könnten 
einige von den Gesetzen sein, die auch jetzt in unserem psy- 
chischen Leben ihren Einfluss offenbaren. 

Aus ähnlichen Gründen gebührt dem Urtheile die zweite 
Stelle. Denn das Urtheil ist nächst der Vorstellimg die ein- 
fachste Classe. Es hat nur die Vorstellung zu seiner Grund- 



Capitel 9. Die natürliche Ordnung der Grundclaseen. 349 

läge, nicht aber die Phänomene der Liebe und des Hasses. 
Der Gedanken eines Wesens, das mit der Thätigkeit zum 
Vorstellen die zum Urtheilen verbände, aber ohne jede Re- 
gung der Liebe oder des Hasses bliebe, enthält keinen Wider- 
spruch; und wir sind im Stande zu jenen Gesetzen des 
Vorstellungslaufes, von welchen wir sprachen, einen gewissen 
Kreis von besonderen Gesetzen des Urtheiles hinzuzufligen, 
worin noch von allen Phänomenen der Liebe gänzlich Um- 
gang genommen wird. Anderes gilt dagegen von diesen 
Erscheinungen , wenn man sie in ihrem Ver^ältniss zu den 
Urtheilen betrachtet. Es ist gewiss nicht nötiiig, dass der- 
jenige, welcher etwas liebt, glaubt, dass es existire, oder auch 
nur existiren könne; aber dennoch ist jedes Lieben, ein Lie- 
ben, dass etwas sei ; und wenn eine Liebe die andere erzeugt, 
wenn Eines um des Anderen willen geliebt wird, so geschieht 
dies nie, ohne dass ein Glauben an gewisse Beziehungen des 
Einen zum Anderen dabei betheiligt ist. Je nach dem Ur- 
theile über das Sein oder Nichtsein, die Wahrscheinlichkeit 
oder UnWahrscheinlichkeit dessen, was man liebt, ist der Act 
der Liebe bald Freude, bald Trauer, bald Hoflfnimg, bald 
Furcht, und nimmt so noch mannigfache andere Formen an. So 
scheint es in der That undenkbar, dass ein Wesen mit dem 
Vermögen der Liebe und des Hasses begabt wäre , ohne an 
dem des Urtheiles Theil zu haben. Und ebenso ist es un- 
möglich, irgend welches Gesetz der Aufeinanderfolge fllr diese 
Gattung von Phänomenen aufzustellen, welches von den Phä- 
nomenen des Urtheiles gänzlich absieht. In Bezug auf Un- 
abhängigkeit , in Bezug auf Einfachheit, und eben darum 
auch in Bezug auf Allgemeinheit steht also diese Glasse der 
des Urtheiles nach; an Allgemeinheit natürlich nur in dem 
Sinne, in welchem allein auch bei Vorstellung und Urtheil 
von einem Unterschiede der Allgemeinheit gesprochen wer- 
den konnte. 

Man erkennt aus dem Gesagten, wie vollständig die- 
jenigen den wahren Zusammenhang der Thatsachen verken- 
nen, welche, wie es gerade in unseren Tagen von mehreren 
Seiten geschieht, den Willen unter allen psychischen Phäno- 



350 Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. 

menen als das erste betrachten. Nicht bloss das Vorstellen 
ist offenbar eine Vorbedingung des WoUens; die eben ge- 
führten Erörterungen zeigen , dass auch das Urtheilen dem 
Lieben und Hassen überhaupt, und um so mehr dem relativ 
späten Phänomene des WoUens vorgeht. Jene Philosophen 
verkehren also die naturgemässe Ordnung geradezu in ihr 
Gegentheil. 

Wie die gefundene natürliche Classification, so werden 
wir auch die natürliche Ordnung ihrer Glieder den folgenden 
specielleren Untersuchungen zu Grunde legen. Wir werden 
zuerst von den Gesetzen der Vorstellungen, dann von denen 
der ürtheile, endlich von denen der Liebe und des Hasses 
sprechen. Allerdings wird es unmöglich sein, bei der Be- 
trachtung der jfrüheren Classe einen Blick auf die spätere 
völlig auszuschliessen, da ihre Unabhängigkeit ja nur in einem 
beschränkten und relativen Sinne von uns behauptet wurde 
und behauptet werden konnte. Der Willen greift herrschend 
nicht bloss in die Aussenwelt , sondern auch in das innere 
Gebiet der Vorstellungen ein und auch die Gefühle beeinflussen 
ihren Lauf. Ebenso ist es bekannt, wie häufig die Menschen 
etwas darum für wahr halten, weil es ihrer Eitelkeit schmei- 
chelt oder sonst ihren Wünschen entspricht. Wie die natür- 
lichste Eintheilung, so ist auch die natürlichste Ordnung ihrer 
Glieder immer noch etwas Künstliches. Da Comte in seiner 
berühmten Hierarchie der Wissenschaften alle theoretischen 
Disciplinen in eine Keihe ordnete, stellte ihr Herbert Spencer 
seine Lehre von dem „Consensus'' aller Wissenschaften ent- 
gegen, welcher es verbiete, die eine der anderen gegenüber 
als die frühere zu bezeichnen. Vielleicht ging diese Behaup- 
tung zu weit; aber Comte selbst hatte zugegeben, dass seine 
Stufenleiter keine absolute sei, und dass auch die frühere 
Wissenschaft vielfach duirch die spätere gestützt und ge- 
hoben werde. 



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