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Ijfxinttimx ISboaüiftmii^.
Howard Crosby Wirren '89
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PSYCHOLOGISCHE STUDIEN
HERAUSGEGEBEN VON
WILHELM WUNDT
NEUE FOLGE DER PHILOSOPHISCHEN STUDIEN
fl. BAND
MIT 79 FIGUREN IM TEXT
LEIPZIG
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN
1907
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Inhalt des zweiten Bandes.
I. und 2. Heft.
Ausgegeben am 22. Jani 1906. Seite
Ober das Ansteigen der Helligkeitserregnng. Mit 14 Figuren im Text. Von Max
BÜCHNER I
Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes bei verschiedenen Verteilungen der *
Aufmerksamkeit. Mit 14 Figuren im Text. Von Wilhelm Wirth .... 30
Einige Bemerkungen über die Methoden und über gewisse Sitie der Gedächtnis-
forschung. Mit i Figur im Text Von Fritz Reuther S9
Kleine Mitteilungen: Ist Schwarz eine Empfindung? Von W. WüNDT 115
Einfluß der Bewegungsrichtung auf den Lokalisationsfehler. Mit 3 Figuren im Text.
Von C. Spearmam 119
3. und 4. Heft.
Ausgegeben am 14. August 1906.
Über Tiefenlokalisation von Doppelbildern. Mit 8 Figuren im Text. Von Richard
Arwed Pfeifer 129
Die Theorie der Konsonanz. Eine psychologische Auseinandersetzung vornehm-
lich mit C. Stumpf und Th. Lipps. (Fortsetzung). Von Felix Krueger 205
Ober das Ansteigen der Tonerregung. Mit 22 Figuren im Text. Von Gustav
Kafka 256
5. und 6. Heft.
Ausgegeben am 12. Februar 1907.
Die Zeitschwellen für Stimmgabeltöne mittlerer und leiser Intensität. Mit 6 Fi-
guren im Text Von Rudolf Bode 293
Versuche mit dem Komplikationspendel nach der Methode der Selbsteinstellung.
Mit 5 Figuren im Text. Von Otto Klemm 324
Über abstrahierende Apperzeption« Mit 3 Figuren im Text. Von KuNO Mittenzwey 358
Kleine Mitteilungen: Die Projektionsmethode und die geometrisch-optischen Täu-
schungen. Mit 3 Figuren im Text. Von W. Wundt 493
ir^ ^ 567049
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über das Ansteigen der Helligkeitserregung
.von
Max Bfichner.
Mit 14 Figuren im Text.
Die Frage nach dem Anstiege der Helligkeitserregung ist schon
verschiedentlich behandelt worden, und zwar sind diese Untersuchungen
zum Teil mit ruhenden Bildern (*. »»3,4,5) ^ zum Teil mit bewegten
ReizUchtem (■» ^» ^) angestellt worden. Doch wird das Hauptgewicht
vielfach auf die Feststellung der Maximalzeit (d. h. derjenigen Zeit,
die ein Lichtreiz braucht, um seine größte Helligkeitswirkung für das
Auge hervorzubringen) und auf die Abhängigkeit dieser Maximalzeit
von der Intensität gelegt. Für den Anstieg 'wird teils im Anschluß
an das Talbotsche Gesetz ein ungefähr geradliniger Verlauf bis zum
Maximum, teils eine leicht gekrümmte Kurve gefunden. Nachdem im
Leipziger psychologischen Institut vor einigen Jahren eine Untersuchung
über das Verhältnis der Maximalzeiten farbloser und farbiger Helligkeiten
') Exner, S., Ober die zn einer Gesichtswahmehmnng nötige Zeit. Sitz.-Berichte
d. Wiener Akad. 1868.
^) Kankel, A., Ober die Abhängigkeit der Farbenempfindnng von der Zeit.
Pflügers Archiv, Bd. 9, 1874.
^) Martins, G.y Ober die Daner der Lichtempfindttngen. Beiträge znr Psychol. a.
Fhüos. I, 3, 1902.
^J Dürr, E., Ober das Ansteigen der Netzhanterregangen. Wandt, PhiL Stadien,
x8. Bd., 1903.
^} Mc Doagall, W., The Variation of the intensity of visaal Sensation with the
doration of the stimalas. Jonmal of Psychology, Jone 1904.
») Hess, C, Untersachongen Über den Erregangsvorgang im Sehorgan. Pflügers
Archiv, Bd. loi, 1904.
h) Mc Doagall, W., The sensations excited by a single momentary stimolation
of the eye. Joomal of Psychol., Jan. 1904.
c) Charpentier, A., Archives de physiol. normale et path. 1892, 1896; Comptes
rendos de l'Acad. des sciences 1896.
Wundt, Psychol. Studien II. I
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2 Max Büchner,
angestellt worden war, es dabei aber an Zeit fehlte, die Anstiegskurve
näher zu untersuchen, stellte mir Herr Geheimrat Wundt die Aufgabe,
diesen Anstieg der Helligkeitserregung näher zu verfolgen.
Obwohl man also bereits Kurven für den Anstieg veröffentlicht
und sich darüber gestritten hat, hat man dabei doch versäumt, sich
über ihre wahre Bedeutung, über ihre Grundlagen und die Voraus-
setzungen, auf denen sie aufgebaut sind, Rechenschaft zu geben. Es
fragt sich zunächst: Was kann ich beobachten?
Alle Beobachtimgen über den Anstieg beruhen auf der Tatsache,
daß beim Anblick einer physikalisch bestimmten Lichtintensität deren
Empfindungsintensität (Helligkeit) sich ändert mit der Dauer der Be-
trachtung. Daraus folgt sofort die Möglichkeit, daß zwei physikalisch
yAcnse
*xAchae
Fig. I.
verschiedene Lichtintensitäten in der Empfindung als gleich erscheinen
können, wenn ihre verschiedene Dauer richtig bemessen ist. Die
Probe überzeugt ims, daß diese Möglichkeit zur Wirklichkeit wird,
\md alle meine Beobachtungen beruhen auf solchen Angleichungen.
Trage ich diese Beobachtungen in ein Koordinatensystem ein, die
Zeiten etwa als ;r-Koordinaten, die Intensitäten als ^-Koordinaten, so
erhalte ich z. B. folgendes: Fig. i.
Die Empfindungsintensität (-Helligkeit) ist dieselbe bei
der Intensität i^ und der Dauer /", (Punkt i)
wie bei » » 4 * * »4 (Punkt i) oder
^ » » » /, (Punkt 3)
usw.
•^3
USW.
3
USW.
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Ober das Ansteigen der Helligkeitserregung. ^
Ein solches System unendlich vieler Gleichungen, d. h. die Gesamt-
heit aller dieser Punkte, wird in der A^-Ebene eine Kurve bilden,
eine Linie gleicher Helligkeit (L. gl H.).
Ich nehme nun einen andern Punkt I, der etwa dieselbe Zeit t^
aber eine andere Intensität k^ hat, und suche die durch diesen Punkt
gehende L. gl. H. So kann ich weitergehen und die L. gl. H. suchen
von allen Punkten der Parallelen / zur ^-Achse. Dieses dazu nötige
System von zweifach unendlich vielen Gleichungen würde also eine
Schar von imendlich vielen L. gl. H. in der ^ry-Ebene ergeben. Ein
solches System ist jedoch nur eine Grundlage, d. h. kann wohl einen
eindeutigen Überblick geben über die gesamten physikalischen Mög-
lichkeiten, in einer Adaptationslage irgendeine bestinmite Helligkeits-
empfindung auf den verschiedensten Wegen hervorzubringen, gibt
aber noch keine Übersicht über die Anstiegsverhältnisse.
Es fragt sich vielmehr noch zweitens: Was kann ich über das
Verhältnis der Empfindung^intensitäten der einzelnen L. gl. H. aus-
sagen? — Ich könnte etwa die Helligkeit jeder einzelnen L. gl. H.
in der noch zur Verfiigfung stehenden dritten Dimension als ;8r-Ko-
ordinate auftragen und erhielte dann ein dreidimensionales Gebilde auf
der Grundebene aufgebaut, in welchem die L. gl. H. Niveaulinien
sind. Dieses Gebilde, die Gesamtheit aller Niveaulinien, bezeichne
ich kurz als Niveaufläche. Sie wird dann von der at- und ^-Achse
an in den Raum zwischen beiden etwa wie ein Hügelland ansteigen.
Dabei fragt es sich aber, wie sie ansteigt, ob erst langsam, dann
steil, oder umgekehrt, usw. Mit andern Worten, es fragt sich, in welcher
Art und Weise habe ich die Empfindungsintensitäten als ^-Koordinaten
aufzutragen?
Ein ganzes System der L. gl. H. zu geben, ist nun nicht meine
Absicht, nur ein Stück habe ich skizziert, aus den später anzuführen-
den Beobachtungen einige Punkte herausgreifend. Die beobachteten
Punkte sind gekennzeichnet, die L. gl. H. nach ihnen so eingezeichnet,
wie sie vermutlich verlaufen, doch machen sie außerhalb der beob-
achteten Punkte keinen Anspruch auf Genauigkeit. Es werden sich
in ihnen jedenfalls Schwankungen bemerkbar machen, die von den
später zu erörternden Ergebnissen herrühren, imd außerdem läßt sich
Aoch sagen, daß die L. gL H. zur ^- Achse asymptotisch verlaufen,
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^ Max Büchner,
denn jede Helligkeitsempfindimg läßt sich auch in kürzester Zeit er-
reichen, wenn die dazu verwendete Intensität groQ genug ist.
Auf das psychophysische Problem soll in dieser Arbeit nicht ein-
g^rangen werden; doch läßt sich noch verschiedenes Interessante
über den Anstieg sagen. Ich habe nämlich einige Querschnitte durch
jene Niveaufläche, die die Verhältnisse der Empfindungsintensitäten
darstellen würde, gelegt, imd zwar Schnitte parallel der ;r^- Ebene.
Die Schnittkurve einer solchen Ebene mit jener Niveaufläche wird
dann den Anstieg und Verlauf der Erregung bei einer bestimmten
Intensität aus der Gesamtheit aller Intensitäten herausgreifen. Um
diese Schnittkurven graphisch veranschaulichen zu können, muß ich,
da ich die wirklichen psychophysischen Verhältnisse noch nicht kenne,
iiir die erreichten Empfindungsintensitäten einen Maßstab annehmen,
und zwar nehme ich als das Einfachste an, daß zu einer bestimmten
Zeit z die erreichten Empfindungsintensitäten proportional seien den
dazu verwendeten physikalischen Intensitäten. Ob dies tatsächlich
der Fall ist, kommt hier nicht in Frage; die mit diesem Maßstab
gezeichneten Kurven sollen ja auch nicht die wirklichen Verhältnisse
darstellen, sondern nur das Merkwürdige im Anstieg veranschaulichen
helfen, das auch bei Anwendimg eines andern Maßstabes sich noch
zeigen würde. (Dieser provisorische Maßstab wird bei erfolgter Lösung
des psychophysischen Problems nach den gefundenen Verhältnissen
abzuändern sein, worauf dann auch die Kurven die wirklichen Anstiegs-
verhältnisse darstellen.)
Andere Autoren benutzen zur Konstruktion ihrer Kurven andere
Maßstäbe, ohne sich aber darüber Rechenschaft zu geben, daß mit
der Annahme eines solchen Maßstabes, wenn es nicht ausdrücklich
verneint wird, die Lösung des psychophysischen Problems schon
vorausgesetzt ist. Martius z. B. macht dieselbe Annahme einer
derartigen Proportionalität, und zwar gültig für jede beliebige Zeit ^,
die die Maximalzeit überschritten hat. Eine andere Annahme macht
Exner und mit ihm Mc Dougall; sie setzen die Empfindungs-
intensitäten proportional den physikalischen Intensitäten, aber nur dann,
wenn die Dauer gleich ist der Maximalzeit der betreffenden Intensität.
Ich verfolge nun die oben definierte Anstiegskurve einer Inten-
sität n (= Normalreiz), indem ich beobachte, daß der Normakeiz von
der Intensität
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über das Ansteigen der Helligkeitserregung. j
« in lo*^ ebenso hell erscheint wie cinVei^leichsreiz von der Intensität z^^ ')
» > 20 >>»»» » >>»t'
* > 30 >»»»» > * * * v^
usw. usw.,
wenn v^ v^ ^ 3 • • • alle eine bestirnte Zeit z wirken, und indem ich
in ein Koordinatensystem die Zeiten als Abszissen und als Ordinaten,
die bei der konstanten Zeit z erreichten Empfindungsintensitäten
proportional den Intensitäten v^v^v^ , , , auftrage. Zwei zugehörige
Punkte des Normal- und Vergleichsreizes liegen in Wirklichkeit auf
einer Linie gleicher Helligkeit, einer Niveaulinie, die jedoch auf dem
Querschnitt als Parallele zur Abszissenachse erscheint (vgl. Fig. 4).
Willkürlich ist in vorliegender Arbeit noch die konstante Dauer z
des Vergleichsreizes; da bei längerer Dauer des Vergleichsreizes die
Fixation erschwert wird und eine Einwirkung auf die benachbarten
Netzhautstellen nicht ausgeschlossen ist, besonders bei Dunkel-
adaptation, ging ich bei dieser nicht über 100^ hinaus; bei Helladap-
tation wählte ich neben den kurzen Zeiten von 20^ und 53*^ auch
bei einer Untersuchung eine längere Zeit r = 320^.
Zunächst seien noch einige Forderungen erwähnt, die für die
Konstruktion der Versuchsanordnung maßgebend waren. Es ist
wichtig, daß die Beleuchtung innerhalb des ganzen Beobachtungs-
feldes möglichst momentan einsetzt und wieder verschwindet. Das
läßt sich aber nur dadurch erreichen, daß das gesamte zur Beleuch-
tung des Feldes dienende Strahlenbündel von einem sehr kleinen
Räume ausgeht imd durch den Apparat zur Abgrenzung der Expo-
sitionszeit unmittelbar vor diesem Räume in kürzester Zeit, also an-
nähernd momentan, freigegeben und wieder abgeschnitten wird. Zu
diesem Zwecke wurde öfters der Brennpunktsdurchschnitt gewählt,
aber es ist optisch nicht ganz einfach, einen wirklichen Brennpunkt
bei großer Lichtstärke herzustellen; vielmehr erhält man stets eine
mehr oder minder ausgedehnte Brennfläche, und der zeitliche Abschnitt
erfolgt dann auch nicht momentan. Genauer und einfacher ist das
Camera obscura-Prinzip mit schmalem Spalt, das ich mit großem
Vorteil verwendete. Doch wird durch einen schmalen Spalt die
Lichtintensität derart vermindert, daß eine solch genaue Methode nur
») i^'ss 0,001 Sekunde.
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6 Max Büchner,
bei Dunkeladaptation anwendbar ist, während man bei Helladaptation
zur Erreichung einer größeren Helligkeit eine etwas längere Zeit
für die sukzessive Erleuchtung des Beobachtungsfeldes mit in Kauf
nehmen muD.
E^n ähnlicher 2^itfehler wäre nicht zu vermeiden, wenn ich die
Variation der Intensität bei den kurzen Vergleichsreizen durch einen
Episkotister vornehmen wollte; näherliegend ist hier die Variation
der Intensität durch Änderung der Spaltbreite.
Noch bemerken möchte ich, daß ich es als sehr nachteilig bei
Vergleichung der Resultate anderer Autoren empfand, daß nirgends
eine exakte Helligkeitsangabe zu finden war und es daher kaum
möglich ist, die gefundenen Maximalzeiten etwa mit denen anderer
Autoren in Beziehung zu setzen.
Versuchsanordnung für Dunkeladaptation.
Neben dem bereits erwähnten präzisen Lichtabschnitt wurde bei
der vorliegenden Anordnung das Hauptgewicht darauf gelegt, daß
^
Fig. 2.
der Normalreiz und der Vergleichsreiz von einer und derselben Licht-
quelle versorgt wurden. Zur Beleuchtung diente eine DifTerential-
bogenlampe B^ die, gut reguliert, ein sehr gleichmäßiges Licht lieferte.
Sie war in einem durch schwarzes Tuch vollständig verdunkelten
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über das Ansteigen der Helligkeitserregong. 7
Kasten untergebracht und erleuchtete mit der Sphäre ihrer größten
Helligkeit (etwa 30^ nach abwärts gerichtet) 18 cm von ihrem Licht-
bogen, also ziemlich intensiv, aber doch durch die abwärts gerichtete
Strahlung vollständig gleichmäßig, ein Fenster aus Milchglas M von
8,5 : 10,5 cm Ausdehnung. Für die größte bei Dunkeladaptation
verwendete Helligkeit wurde dieses Fenster gleichzeitig von zwei
Bogenlampen, die eng nebeneinander hingen, auch aus dieser Ent-
fernung erleuchtet.
Dieses diffus helleuchtende Milchglasfenster benutzte ich nun als
Lichtquelle für beide Reize. Von ihm entwarf ich nach Art der
optischen Lochcamera zwei Bilder durch zwei Öffnungen, die im
Abstand von 1 2 mm senkrecht untereinander angebracht waren. Von
diesen öffiiungen war die obere quadratisch imd unveränderlich i qmm
groß, während die andere durch eine feine Mikrometerschraube von
o bis 2 mm Breite sich variieren ließ. Die senkrechte Längenaus-
dehnung dieses variabeln Spaltes war dieselbe wie beim oberen
konstanten Spalt, also i mm. Die Ganghöhe der Mikrometerschraube
war \ mm, der runde Griff der Schraube in 10 Teile geteilt, wobei
sich aber noch 74 eines Teilstriches genau ablesen ließ.
Dieser zur Variation der Intensität dienende Spaltapparat 55 war
2(i cm vom leuchtenden Fenster M angebracht und der Zwischen-
raum mit schwarzem Karton umdunkelt. Durch die beiden Öffnungen
wurden nun von dem hellen Fenster zwei Bilder auf einer Milchglas-
platte F entworfen, deren Stellung derart reguliert war, daß der
untere Rand des oberen Bildes mit dem oberen Rande des unteren
Bildes zusammenfiel, die beiden Bilder also unmittelbar aneinander
grenzten. Durch die geringe Ausdehnung der Öffnungen waren die
Bilder genügend scharf und konnte das untere Bild, das den Ver-
gleichsreiz bildete, in seiner Intensität durch Änderung des Spaltes
von Null bis zur doppelten Helligkeit des oberen Feldes proportional
den Spaltbreiten abgestuft werden. (Eine zur Sicherheit vorgenommene
Eichung bestätigte, daß sich die Intensität proportional den Spalt-
breiten änderte.)
Zur Variation der 2^it benutzte ich ein großes Pendeltachistoskop,
Das Pendel P hatte einen Radius von 56 cm und wurde elektro-
magnetisch festgehalten. Nach Umschalten des Stromes schwang es,
um von den dadurch erregten Magneten auf der andern Seite wieder
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S Max Büchner,
aufgefangen zu werden. Eine probeweise Eichung lieferte vorzügliche
Resultate betreffs der Konstanz der Schwing^gen, und auf Grund
einer zweiten Eichung ließ ich mir einen Aluminiumsektor von neben-
stehender Form (Fig. 3) konstruieren, der an das Pendel angeschraubt
wurde. Er schwang nun unmittelbar vor den Öffnungen des oben
beschriebenen Spaltapparates vorbei, und zwar während des Ver-
suches immer in derselben Richtung (beim Rückschwingen wurde
nicht beobachtet). Das untere Feld (der Vergleichsreiz v) war während
des Vorbeiganges des unteren freien Raumes z erleuchtet (2 konstant
100^), während die Dauer der Darbietung des oberen Feldes (des
Normalreizes n) von der Einstellung eines kleineren verschiebbaren
Sektors abhing und sich von o bis 320^ in Schritten von 10 zu 10^
Fig. 3.
variieren ließ. Beim Versuche erfolgte die Schwingung immer in der
Richtung, daß beide Reize durch die Kante K gleichzeitig abge-
schnitten wurden.
Indem so die zur Erleuchtung der Beobachtungsfelder dienenden
Lichtkegel, die von den beiden Spalten N und V ausgfingen, in
kürzester Zeit freigegeben und wieder abgeschnitten wurden, war beim
Versuch vom Vorbeigehen des Randes nichts zu merken; die Bilder
erschienen imd verschwanden momentan.
Da diese Versuche bei vollständiger Dunkeladaptation angestellt
werden sollten, so wurde jeder noch etwa aus dem Bogenlampen-
kasten sich verbreitende Lichtschein durch einen vor dem Beobachter
befindlichen Schirm aus schwarzem Tuch abgehalten, durch den
allein ein etwa 60 cm langes Beobachtimgsrohr gfing. Dadurch wurde
jedes etwa seitlich ins Auge fallende Nebenlicht abgeblendet.
Eine größere Schwierigkeit bereitete mir anfangs die Fixation, die
ich auf verschiedene Art versuchte; zuerst durch einen elektrischen
Induktionsfunken, der zwischen zwei feinen, nur durch einen Messer-
schnitt getrennten Stanniolspitzen übersprang, die auf der als Beob-
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über das Ansteigen der Helligkeitserregung. g
achtungsfeld dienenden Milchglasscheibe F aufgeklebt waren. Aber
die Helligkeit dieses Funkens war schon zu groß und störte die
Dunkeladaptation. Dann beobachtete ich durch einen unter 45^ zum
Beobachtungsfelde geneigten Spiegel, dessen Bel^ an einem Punkt
entfernt war. Dieser mit Papier hinterklebte Punkt wurde nun von
rückwärts erleuchtet, und ich konnte seine Intensität so weit ab-
schwächen, daß er bei vollständiger Dimkeladaptation gerade noch
wahi^enommen wurde. Der Lichtpunkt 1^ auf der Grenze von
beiden Feldern und wurde momentan dargeboten; der Beobachter
suchte sich schnell die Richtimg und machte kurze Zeit nach Ver-
schwinden des Fixationspunktes den Versuch. Auf diese Weise ist
die Untersuchung der ersten Kurve bis zu 100^ durchgeführt.
Indem bei diesen Versuchen der Beobachter seinen Kopf auf eine
Kinnstütze legte und sein Auge an das Beobachtungsrohr brachte,
bekam er nun bereits eine ziemlich genaue Richtung nach dem
Beobachtungsfelde, und ich konnte nach einiger Übimg dazu über-
gehen, die Versuche ganz ohne Fixation anzustellen. Dabei stellte
es sich heraus, daß durch eine nicht vollständige Abdunkelung des
Spaltapparates auf dem Beobachtungsfelde ein minimaler Lichtnebel
erschien, allerdings erst nach der jeder Versuchsreihe vorangehenden
Adaptation von etwa 20 Minuten. Dieser Lichtnebel, der von andern
weniger geübten Beobachtern nicht oder nur manchmal wahrge-
nommen wurde, erleichterte mir imgemein die Fixation, ohne jedoch
die Dunkeladaptation ii^endwie zu stören.
Im Gegenteil diente mir das Erkennen dieses Lichtnebels als
Kriterium dafür, daß das Sehfeld des beobachtenden Auges wirklich
gut war, indem nämlich nur bei ganz reinem Sehfelde dieser Licht-
nebel erschien. In der Zwischenzeit nach jedem Versuche, imgefahr
2 — 3 Minuten, machten sich bald mehr, bald weniger die bekannten
subjektiven Lichtnebel bemerkbar, hauptsächlich im Anfang derjenigen
Versuchszeiten, die der Mittagsmahlzeit folgten. Nach Verschwinden
dieser subjektiven Lichtnebel wurde das Blickfeld des Auges tief-
schwarz, der objektive Lichtnebel war sichtbar, und dann erfolgte der
Versuch, indem der Beobachter selbst den Schalter umlegte. Dadurch
wurde der Strom des einen M«^neten unterbrochen, das Pendel be-
gann zu schwingen; zugleich wurde der gegenüberliegende Magnet
erregt, der das Pendel wieder auffing; dazwischen lag die 2^it der
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lO Max Büchner,
Erhellung der Felder. Dann wurde, ohne zu beobachten, der Schalter
zurücl^elegt; das Pendel schwang zurück und der Apparat war für
den nächsten Versuch fertig. Durch die eigenhändige Auslösung
konnte der Beobachter sich den günstigsten Moment für den Versuch
auswählen.
Die Urteile wurden im Dunkeln potiert, nur die neue Einstellung
der Spaltbreite besorgfte der Experimentator beim Scheine einer
kleinen elektrischen Taschenlampe, währenddessen der Beobaditer die
Augen mit einem schwarzen Tuche bedeckte. Später muDte ich aus
Mangel an Experimentatoren dazu übergehen, selbst die Veränderung
der Spaltbreite zu besorgen. Dabei verdeckte ich das rechte Auge
mit einer Kappe, und die Einstellung geschah mit dem linken Auge;
die Adaptation des rechten Auges wurde dadurch kaum gestört,
doch wurde zur Sicherheit eine etwas längere Adaptationspause ge-
macht.
Bei Dunkeladaptation wurde der Verlauf für drei verschiedene
Helligkeiten untersucht, und zwar waren es die Helligkeiten eines
i) von 0,072, 2) von 0,145 imd 3) von 0,26 Meterkerzen senkrecht
beschienenen weißen Papieres. Daß solch geringe Helligkeiten zur
Verwendung kamen, darf nicht verwundem, denn man muß die
enorme Steigerung der Empfindlichkeit für Helligkeiten bei Dunkel-
adaptation in Betracht ziehen. Die Bestimmung der Helligkeiten
geschah durch Bunsenphotometer unter Benutzung einer Normal-
Hefnerkerze.
Resultate aus den Beobachtungen für Dmikeladaptation.
Zunächst untersuchte ich den Verlauf des Anstieges bis zu 100^,
der konstanten Dauer des Vergleichsreizes, bei der mittleren Hellig-
keit von 0,145 Meterkerzen. Das Resultat zeigt die Kurve Fig. 4,
die unter Annahme des im Eingang erwähnten Maßstabes gezeichnet
ist Beobachtet sind die eingezeichneten Punkte; ihre Zusanunen-
stellung findet sich in Tabelle I. Die Kurve selbst ist nach dem
mutmaßlichen Verlaufe eingezeichnet.
Für diese und die folgenden Kurven war der Beobachter der
Verfasser selbst, für Fig. 4 außerdem Herr Dr. Wirth; eine größere
Anzahl von Punkten wurde auch, wie in den betreffenden Tabellen
Digitized by VjOOQiC
über das Ansteigen der Helligkeitserregung.
II
angegeben ist, von andern Beobachtern geprüft und ziemlich über-
einstimmend beurteilt, so daß der Verlauf in seinen Grundzügen wohl
als Norm anzusehen ist. Als Beobachter bzw. Experimentatoren
fungierten noch die Herren Dcuchler, Heyde, Kästner, Keller,
Salow, Van Cauwelaert und Wabeke. Jeder beobachtete Punkt
war durch eine Versuchsreihe gefunden, zu der durchschnittlich
25 Versuche gehörten. Man ging vom deutlichen Unterschiede der
beiden Felder (heller oder dunkler in beliebiger Abwechselung) aus,
nach der Methode der Minimaländerungen durch die Gleichheit hin-
durch bis zum deutlichen Unterschied im entgegengesetzten Sinne
und, wenn es die Zeit erlaubte, auch wieder rückwärts, ohne daß sich
eine wesentliche Verschieden-
heit in der Lage der Gleich-
heit gezeigt hätte; doch wurde
jede Versuchsreihe nicht gern
über eine Stunde ausgedehnt,
um eine eventuelle Ermüdung
auszuschließen, denn die Ver-
suche waren für die Augen
ziemlich anstrengend. Nicht
unerwähnt möchte ich lassen,
daß das Rauchen noch für den folgenden Tag bei mir die Unter-
schiedsempfindlichkeit wesentlich beeinträchtigte imd ich es daher fast
vollständig aufgeben mußte.
Einige Versuchsprotokolle mögen die Art und Weise des Vor-
gehens veranschaulichen, wobei auch jede geäußerte Abstufung in
der Größe des Helligkeitsimterschiedes zu Protokoll genommen wurde.
Die Zahlen geben die direkt abgelesenen Spaltbreiten an, die jedoch
wegen der Lage des Nullpunktes noch einer Korrektur von 3 ^/^ Teil-
strich bedurften. Es kam natürlich auch vor, daß zur Bestimmung
eines Punktes mehrere Stunden nötig waren, einmal in größeren
Schritten eine ungefähre Feststellung der Lage der Gleichheit, dann
eine genauere Einstellung.
JKfC 2an 30a 4oa sfyj ßff<r 700 sq" qo" 100°
Fig. 4.
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12
Max Büchner,
Mittw., d. 17. Aug. 04. V = loo*' n = 50^ Mont, 22. Aug. 04, v s= loo*' n = öo*'
Beob.: Büchner. Experimentator: Keller. Beob.: Büchner. Exp.: Keller.
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(gl'/ldu) (gl'he) £/ gl
Gleichheit 12^/^
J\jiu = wenig dunkler, eine Idee
dunkler u. dgl.
Gleichheit 12
Die auf diese Weise gewonnene Kurve (Fig. 4) zeigte nun als
erstes Hauptresultat imgemein deutlich eine Schwingung, die ich zu-
erst auf eine Ungenauigkeit des Spaltes zurückzufuhren geneigft war,
obgleich ich früher bei der Eichung nichts davon bemerkt hatte.
Diese ersten Versuche hatte ich mit Herrn Dr. Wirth angestellt, der
in optischen Beobachtimgen eine besondere Übung besaß, so daß
ich diese Schwingfung nicht als Versuchsfehler ansehen konnte, um so
weniger, als sie so regelmäßig verlief. Ich stellte nun selbst diese
Beobachtungen nochmals an und fand das gleiche Resultat. Um zu
sehen, ob diese Schwingung durch den Spaltapparat verschuldet war,
mußte ich denselben Verlauf durch andere Spaltbreiten messen und
erreichte dies dadurch, daß ich ausnahmsweise eine andere Dauer für
den Vergleichsreiz nahm: statt 100^ etwa 53^. War die Schwingfung
im Verlaufe des Anstieges, so mußte sie in derselben Art und Weise
wiederkehren; war sie im Spaltapparat, so mußte sie sich zwischen
den Spaltbreiten o bis 30, wo sie vorher erschienen war, auch jetzt
wieder zeigen, in diesem Falle also im Intervall bis 53^. Das Re-
sultat dieser Untersuchimg zeigt Fig. 5. Berücksichtigt man außerdem,
daß nach Fig. 4 bei 53^ nur etwa ^\^ der bei 100^ erreichten
Helligkeit zur Geltung kommen, verkürzt also die Ordinaten der beob-
achteten Kurve I in Fig. 5 im Verhältnis 16 : 30, so erhält man eine
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über das Ansteigen der Helligkeitserregnng.
13
Kurve Bf, die fast vollständig mit der in Fig. 4 gezeichneten über-
einstimmt. Dadurch war sicher erwiesen, daß die beobachtete
Schwingung tatsächlich im Verlaufe der Erregung liegt
Nachdem ich so bereits im Anfang des W. S. 1904/05 diese
Schwing^g festgestellt hatte, ging ich nun daran, den Verlauf der
Kurve bei jener Vergleichsreizdauer von 100^ und der Helligkeit von
0,145 Meterkerzen weiter zu verfolgen. Es zeigt diesen Verlauf die
Kurve 11 in Fig. 6. Die ange-
fangene Schwingung setzt sich
in einer Periode von imgefahr
80^ fort, die sich allerdings
nach imd nach etwas zu ver-
kürzen scheint und deren Am-
plitude sich zugleich bei diesem
Verlaufe vermindert. Mit der
dritten Welle erreicht der An-
stieg etwa bei 200^ sein Maxi-
mum. Danach fallt die Kurve
ziemlich steil ab, um sich dann
wieder etwas zu heben und
dem jedenfalls gleichförmig sich
langsam senkenden Verlaufe bei
längerer Dauer zuzustreben, doch konnte ich diesen Verlauf nicht
weiter verfolgen, und lag es auch nicht in meiner Absicht.
Da sich der Verlauf so exakt verfolgen ließ, so untersuchte ich
nun eine geringere Helligkeit (0,072 Meterkerzen), um speziell auch
über die eventuelle Veränderung der Maximalzeit etwas zu erfahren.
Diese Abschwächung bewirkte ich durch ein dimkles Glas, das nur
die Hälfte der Helligkeit durchließ und vor dem Spalte des Normal-
reizes befestigt wurde. Das Ergebnis dieser Untersuchung zeigt
Kurve I in Fig. 6. Das Maximum liegt bei etwa 230^ und ist im-
zweifelhaft vom vorigen verschieden. Bei dieser geringen Helligkeit
kamen aber die Schwingfungen kaum deutlich zur Geltung, wie ja
zu vermuten war. Zugleich stinmit die Maximalzeit mit der von Dürr
bei Dunkeladaptation gefundenen ziemlich gut überein; auch war in
der Tat nach meiner Erkundigung die von Dürr gewählte Helligkeit
sehr gering. Dagegen konnte ich die von Dürr ausgesprochene
Fig. 5-
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14
Max Büchner,
Fig. 6.
2iO
Fig. 7.
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über das Ansteigen der Helligkeitserregting. le
Veimutung einer konstanten Maximalzdt für verschiedene Intensitäten
nicht bestätigen; denn eine von der Intensität abhängige Variation
der Maximalzeit war schon jetzt unverkennbar und wurde durch eine
dritte Untersuchung noch deutlicher.
Um mich über die Verhältnisse der Schwingung noch genauer
zu orientieren, untersuchte ich den Verlauf bei einer Helligkeit von
0,26 Meterkerzen, indem ich das als Lichtquelle dienende Milchglas-
fenster, wie schon erwähnt, mit zwei Bogenlampen erleuchtete. Das
Resultat wird durch Kurve HI in Fig. 7 veranschaulicht. Die Schwin-
gungen sind hier wieder vollständig ausgeprägft; wieder wird mit der
dritten Schwingung das Maximum erreicht, yuid zwar bei einer be-
deutend kürzeren 2^it, bei 120^. Entsprechend dem steileren An-
süße ist auch der Abfall nach dem Maximum jäher und tiefer, und
die Kurve erhebt sich nach diesem AbM wieder ganz deutlich;
weitere Schwingungen prägen sich noch aus, und allmählich scheint
sich ein ruhigerer Verlauf bei länger dauernder Reizung einzustellen.
(Eine weitere Diskussion der Resultate findet sich am Schluß bei
gleichzeitiger Verwertung der Resultate bei Helladaptation.)
Erläuterungen zu Tabelle I.
Die ersten beiden Kolonnen geben die von mir beobachteten
Spaltbreiten und die Anzahl der zur Feststellung des Punktes be-
nötigten Versuche; die übrigen Pimkte sind dann nochmals von den
angegebenen Versuchspersonen beobachtet.
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Tabelle
n «=
0,145
M.K.
« =
53"
n es
0,145 M.K,
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»
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Salow
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Salow
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Salow
41,25
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»
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200
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35
»
50,75
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31
»
44,75
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37,25
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250
250
36,25
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25
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Kästner
32,75
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Salow
30,75
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290
32,25
34
300
300
32,75
23
»
32,75
18
310
33,25
28
320
33,25
18
Sa.: 3439 Versuche, 140 beobachtete Punkte;
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n BS 0,07» M, AT.
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Büchner
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31,12
31,25
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20,50
26,25
24,50
24,75
27,25
25,75
23,25
18
27
28
31
32
32
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Büchner | 26,25
24,66
26
19
17
14
19
12
23
20
pro Punkt darefatelmlttfich 25 Versuche.
Wundt, Psychol. Studien II.
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i8
Max Büchner,
Versuchsanordnung für Helladaptation.
Wegen der geringen Helligkeit des Beobachtungsfeldes, die sich
in der vorigen Anordnung nicht wesentlich vergrößern ließ, war diese
Anordnung für Helladaptation nicht beizubehalten. Vielmehr mußte
ich zur Erreichung einer größeren Helligkeit einen Vorteil aufgeben,
nämlich den momentanen Abschnitt der Erleuchtung und Verdunke-
lung der Felder. Hier erfolgte der Abschnitt durch den Vorbeigang
der betreffenden Kante des in der vorigen Anordnung verwendeten
Sektors über die Breite des Beobachtungsfeldes, doch kam eine voll-
ständig gleichmäßige Empfindung auf dem ganzen Felde zustande.
Eine bei allen Versuchen gleichmäßige Adaptation wurde dadurch
erreicht, daß der Beobachter auf einen Schirm F von weißem Papier
G /
=¥==
Fig. 8.
blickte, der von zwei, rückwärts rechts und links über dem Kopfe
des Beobachters befindlichen elektrischen Glühlampen erleuchtet
war. Die genaue Bestimmung der Helligkeit dieses Schirmes ergab
i8,5 Meterkerzen. Auch der Tisch vor dem Schirme war mit diesem
]Papier bekleidet, so daß der Beobachter zur Einhaltung der Adap-
tation nicht fortwährend geradeaus zu blicken brauchte, sondern auch
■bequem die Augen senken konnte, ohne die Adaptation zu stören.
^Dieses weiße Papier, ein gutes gleichmäßiges Schreibpapier, war glatt
auf ein Brett aufgezogen, das in der Mitte eine größere Öffnung F
besaß, so daß diese Stelle des weißen Schirmes gleichzeitig von rück-
wärts erleuchtet werden konnte. Durch diese Öffnung wurden nun
Digitized by VjOOQiC
über das Ansteigen der Helligkeitserregnng. Iq
von rückwärts die Helligkeiten vom Normal- und Vei^leichsreiz auf
den weißen Schirm geworfen; das durchgelassene Licht kam dann
zur Beobachtung. Die Beobachtungsfelder lagen demnach in der
Adaptationsfläche; ein Punkt zwischen beiden Feldern ermöglichte
eine exakte Fixation; die Entfernung des Auges von den Feldern
betrug wie bei Dunkeladaptation 65 cm.
Als Lichtquelle diente hier, und auch wieder für beide Reize, eine
Projektionsbogenlampe By die ihre größte Helligkeit frei nach vom,
also ohne Zwischenschaltimg der Projektionslinsen, ausstrahlte. Durch
den feststehenden Spi^el Sn wurde aus dem Lichtkegel der Bogen-
lampe die zu untersuchende Normalhelligkeit n von rückwärts auf den
weißen Schirm geworfen, und die variable Vergleichshelligkeit v durch
einen zweiten Spiegel Sv^ der auf einer optischen Bank verschoben
und durch den die Länge des Weges der Lichtstrahlen und damit
die Helligkeit des Feldes verändert werden konnte. Beide Spiegel
waren von extradünnem Glase und aus einem Stücke geschnitten,
so daß ich sie als gleich ansehen konnte.
Spiegel Sn stand außerdem derart, daß er das von ihm beleuchtete
Feld vor den von Sv ausgehenden Strahlen schützte. Dadurch ließ
sich erreichen, daß beide Felder eng nebeneinander lagen, nur durch
einen i mm breiten Streifen eines Diaphragmas getrennt, das ich,
um eine scharfe Begrenzung der Felder zu ermöglichen, auf der
Rückseite des Beobachtungsschirmes angebracht hatte. Damit ich
nim auch die Helligkeit des Feldes von Sv bequem größer machen
konnte als die von Sn und Sn sein Feld vor den Strahlen von Sv
schützte, setzte ich vor Sn ein dunkles Glas G, Dies hatte die
Wirkung, als wenn ich Sn ein Stück nach rückwärts verschoben
hätte, etwa in die Stellung 5. Die Normalhelligkeit entsprach also
dem Wege BSF^ und die Vei^leichshelligkeit ließ sich durch ein-
faches Verschieben von Sv über die Stellung 5 ohne jedes Hindernis
größer machen als die Normalhelligkeit.
Durch diese enge Aneinanderlage der Bilder ließ sich auch das
vorhin beschriebene Pendeltachistoskop als konstanteste Zeitmessung
verwenden, nur für die genaue Abstufung der ganz kurzen Zeiten bei
Untersuchung der größten Helligkeit mußte ich es durch ein Fall-
tachistoskop (vgl. Wundt, Studien, Bandrö, S. 380 fr.) ersetzen. Im
letzteren Falle lag^n die Beobachtungsfelder horizontal nebeneinander.
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20 Mtx Büolmer,
doch blieb dabei die Anordnung in ihren Gnindzügen unverändert.
Das Pendel- bzw. Falltachistoskop P stand kurz hinter dem weißen
Schirm, und im Räume zwischen F und P war zur möglichsten
AWialtuttg von Nebenlicht ein Rohr R für den Gang der Lichtstrahlen
angebracht. Die ganze Anordnung befand sich im Dunkelzimmer,
dessen schwarze Wände, Tische usw. das von der Bogenlampe aus-
gestrahlte licht nur wenig reflektierten. Dieses Nebenlicht war äußerst
gering gegenüber den zur Verwendung kommenden Helligkeiten,
wurde aber doch gemessen und mit in Rechnung gezogen.
Die Hell^eit der Bogenlampe war ungefähr 380 Meterkerzen,
doch das Papier des weißen Schirmes ließ nur 23,7 X des auffallen-
den Lichtes hindurch, so daß etwa 90 Meterkerzen zur Verwendung
kamen. Aus den Entfernungen BSnF bzw. BSvF ließ sich dann
leicht die Helligkeit der Beobachtungsfelder berechnen, und es sind
diesbezügliche Angaben bei der Besprechung der Resultate zu finden.
Die Verluste des Spiegels kommen nicht in Betracht, da auch bei
der photometrischen Bestimmung der Helligkeit der Bogenlampe der
Spiegel Sv zwischengesdialtet war.
Resultate aus den Beobachtungen bei Helladaptation.
Mit dieser neuen Anordnung machte ich zunächst einige Versuche
zur Feststellung der Maximalzeit nach der bekannten Ex n ersehen
Methode, wodurch auch
für Helladaptation eine Al>
hängigkeit der Maximalzeit
von der Intensität nachge*
wiesen wurde.
Nun untersuchte ich den
Anstieg einer Helligkeit von
9 Meterkerzen; die Dauer
desVergleichsrcizes war 53^
(den Sdrtor von 53^ konnte
ich von der Dunkeladaf^-
tation her verwenden). Das
Resultat zeigt die Kurve
Fig. ^. Der Anstieg erfo^ in derselben Art und Weise wie bei
©uftkeladaptation. Die Erregung erreicht mit der dritten Schwii^ng
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über das Ansteige« d«r HcUigkeitserregong.
2X:
bd etwa 60^ ihren Höhepunkt, fallt rasch em wenig und steigt
darauf wieder um ein geringes, sich dann der dauernden Helligkeitd-
empfindung zuwendend, die sich durch ein langsames Senken aus-
zeichnet.
Gegenüber den Beobachtungen bei Dunkeladaptation fallt es auf
und kehrt bei allen Untersuchungen für Helladaptation wieder, daß
der oszillatorische Hauptvorgang, der sich in dem kurzen Abfall nach
demMaximum äußert, schnell
zur Ruhe kommt, und daß ,^0
dieDauererr^^g nur wenig
vom Maximum überschritten
wird. (Die Zusammenstel-
lung der Beobachtimgen für
Helladaptation findet sich in ^^
Tabelle H.)
Zur Untersuchung einer
größeren Helligkeit, deren
Anstieg in ganz kurzer Zeit
erfolgen mußte, wäre die
50
Abstufung von 10^ zu 10^
nicht ausreichend gewesen.
Um noch geringere Zeitinter-
valle genauer messen zu
können, als dies beimPendel-
tachistoskop möglich war, ^^
benutzte ich ein Falltachis-
toskop (vgl. S. 19). Als
Dauer des Vergleichsreizes
nahm ich 20*^; die Abstufung
erfolgte von 3*^ zu 3^, und
konnte ich in diesen Inter-
vallen bis 45^ fortschreiten.
Wie schon erwähnt, machte es sich hier notwendig, die Felder für
Normal- und Vergleichsreiz nebeneinander zu legen. Die Unter-
suchung zeigt Kurve i in Fig. 10. Die übergelagerten Schwingungen
treten hier nicht so deutlich auf; das Maximum wird bei dieser
Helligkeit von 37 Meterkerzen bereits bei 33^ erreicht; auch ist
J 6 9^ 12 /3 18 2J 24 27 30 li3 36 39 42 AS
Fig. 10.
Digitized by VjOOQiC
22 Max Büchner,
der Abfall nach dem Maximum entsprechend der größeren Hellig-
keit tiefer.
Ein Ergebnis jedoch war sehr interessant: es stellte sich nämlich
heraus, daß die Erregbarkeit für verschiedene Stellen der Netzhaut
verschieden war.
Indem bei Helladaptation die Fixation genau innegehalten werden
kann und sich während der kurzen Zeit bis 45^ kaum ändert, zeigte
es sich, daß die Felder, wenn sie nebeneinander lagen und, wie ich
anfangs versuchte, eine Breite von etwa 2*/, Grad einnahmen, besonders
in den Außenteilen nicht gleichmäßig erschienen. Mir schien das
rechte Feld, einem andern Beobachter das linke Feld bei kurzen
Reizen an der Außenseite von einem etwas dunkleren Streifen be-
grenzt. Ich verringerte daher die Größe des Beobachtungsfeldes auf
die Hälfte, so daß das Feld gleichförmig erschien, und führte damit
die Untersuchung der Kurve i durch. Dabei hätten die bei normaler
Betrachtung gleich erscheinenden Helligkeiten von Normal- und Ver-
gleichsreiz auch bei 20^, der Dauer des Vergleichsreizes, gleich er-
scheinen sollen; das war aber nicht der Fall; vielmehr erscnien mir
das rechte Beobachtungsfeld heller. Es ergab sich also eine Ver-
schiedenheit der Erregbarkeit, und zwar eine Benachteiligung der linken
(nasalen) Seite der Netzhautmitte, bzw. eine Steigerung der Erregbar-
keit für die temporale Seite der Netzhautmitte.
War dies Ergebnis richtig, so mußte sich die so deutliche Be-
nachteiligung des linken Feldes gegenüber dem rechten in einen Vor-
teil verwandeln, wenn ich die Raumlage der Felder umkehrte. (Die
Anstiegskurve mußte bei demselben Maßstab größere Ordinaten auf-
weisen.) Ich bewirkte eine solche Vertauschung, indem ich durch
einen 45° gegen die Ebene der Felder geneigten Spiegel beobachtete.
Die Untersuchung bestätigte denn auch das frühere Ergebnis, wie
Kurve 3 zeigt (Fig. 10).
Bei Übereinanderlage der Felder (auch durch Einführung eines
Spiegels bewirkt) ergaben sich für einen andern Beobachter Zwischen-
werte: Kurve 2 in Fig. 10.
Eme solche Differenz für verschiedene Sehfelder feststellen zu
können, war sehr wesentlich, und konnte nur durch die genaue Fixation
bei Helladaptation erkannt werden, indem bei den hier verwendeten
Digitized by VjOOQiC
Ober das Ansteigen der HeUigkeitserregnng.
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Digitized by VjOOQiC
24 H^ BüchiMr,
kurzen Zeiten Blickschwankungen nur in äußerst beschränktem Maße
sich geltend machen konnten.
Die Schwierigkeit, eine genaue Fixation einzuhalten, was auch
frühere Autoren hervorheben^ fand ich schon, als ich mit langdauem-
900
den Vergleichsreizen von 320*^ eine Anstiegskurve untersudite. Die
Felder liegen wieder übereinander und die Kurve zeigt denselben
charakteristischen Verlauf für Helladaptation: Fig. 11. Er ist nicht
wesentlich verschieden von dem der Dunkeladaptation, nur viel träger.
Endergebnis.
Es fragt sich zunächst, ob die vorliegenden Untersuchungen mit
denen andrer Autoren in Einklang stehen. Es kommen hier die
Untersuchungen von Charpentier, Heß und Mc Dougall in Be-
tracht, die mit bewegften Bildern arbeiteten. Charpentier und
Mc Dougall verfolgen beide durch das Prinzip der rotierenden
Scheiben den Vorgang im Sehorgan nach einer einmaligen sehr
kurzen Reizung: Dabei finden sie einen ausgesprochenen oszillato-
Digitized by VjOOQiC
Ober das Ansteigen der Helligkeitserregang. 25
rischen Verlauf des dem einmaligen momentanen Reize folgenden
Eiodmckes, indem abwechselnd heile und dunkle Streifen sichtbar
werden. Zugleich kommt dort zum Ausdruck, daD dieses Phänomen
des oszillatorischen Verlaufes eintritt bei jeder größeren plötzlichen
Zustandsändenmg; besonders ausgeprägt sein muO es demnach bei
Dunkdadaptation und großen Helligkeiten.
Der Effekt einer solchen plötzlichen Zustandsändenmg müßte sich
nun auch wenigstens im Anfange des Veriaufe eines länger grebotenen
Reizes als ein oszillatorischer Verlauf der Anstiegskurve zeigen. Einen
solchen hat in der Tat bereits Heß (S. i, a) bei Benutzung von be*
wegten Reizlichtem konstatiert: Das von ihm dort') angegebene
Sdiema für den Anstieg (Fig. 12) deckt sich vollständig mit dem
Fig. 12.
Grundzuge des in Fig. 7 angegebenen Verlaufes nach vorausgegangener
Dunkeladaptation. Durch diese kam auch bei den sehr geringen
Helligkeiten Fig. 6 der allgemeine schematische Verlauf zur Geltung.
Der steUe Abfall nach 120*^ entspricht der tiefen Senkung im Heß-
schen Schema und würde bei größeren Helligkeiten jedenfalls noch
tiefer und in kürzerer Zeit nach Beginn der Reizung erfolgen. Die
E^rscheinung des oszillatorischen Verlaufs, wie sie Heß bei bewegten
Reizlichtem findet, ist somit auch bei ruhenden Bildern festgestellt.
Überdies findet sich bei den voriiegenden Versuchen fiir Hell-
und* Dunkeladaptation außer jenen groI^n Hauptoszillationen, die wir
auch bei Heß fanden, ebie weitere ausgeprägte Schwingung, die im
ganzen Verlaufe sieht zeigt und imgefähr dreimal so schnell wie die
erwähnte Hauptschwingung erfolgt.
Ein solcher ausgesprochener oszillatorischer Verlauf steht völlig
») Pflttgers Archiv, Bd. 101, S. 250.
Digitized by VjOOQiC
20 Max Büchner,
in Einklang mit den von Charpentter und Mc Dougall ange-
gebenen Oszillationen nach einmaliger momentaner Reizung. Im vor-
liegenden Falle zeigt sich allerdings eine Abhängigkeit der Dauer
der Schwingungen von der Intensität, die Charpentier nur inner-
halb sehr enger Grenzen findet. Doch verwendete dieser stets große
Helligkeiten, bei denen sich keine gjroße Differenz in der Schwingungs-
dauer geltend machen konnte. Ob die Schwingungen Charpentier s
mit der Hauptoszillation oder mit den kleinen übergelagerten Schwin-
g^ungen identisch sind, läßt sich ohne exakte Helligkeitsangabe nicht
entscheiden. Entsprechen, wie ich vermute, die Schwingungen Chär-
pentiers der Hauptoszillation, so wären die kleinen Schwingungen
diejenigen, die er zur Vervollständigung seiner Theorie sucht (Arch.
de phys. norm, et path. 1896: Nouvelles recherches sur les oscillations
r^tiniennes).
Was den Streit zwischen Exner und Heß anbelanget, so möchte
ich dazu folgendes bemerken: Der von Exner verlangte Nachweis,
daß der durch Heß bei bewegten Bildern festgestellte oszillatorische
Verlauf auch bei ruhenden Bildern stattfinde, ist durch die vorliegen-
den Untersuchungen geliefert. Aber aus einer solchen einzigen An-
stiegskurve auf einen Widerspruch mit dem Talbotschen Gesetz zu
schließen, ist ganz unstatthaft; denn die hier auftretende plötzliche
Zustandsänderung ist nicht zu vergleichen mit dem Totaleffekt, der
bei rotierenden Scheiben erreicht wird. Wenn Heß dagegen ver-
mutet, daß die Hauptschwingung in bedeutend kürzerer Zeit als bei
Exner erfolgt, der das Maximum seiner Intensität bei 166^ findet
und dessen Kurve als ganz falsch bezeichnet, so geht er auch zu
weit; denn es ist sicher, daß bei geringen Helligkeiten das Maximum
sehr weit hinausrückt. Zu vermissen ist allerdings in der Exner sehen
Arbeit eine Angabe über die Adaptationsverhältnisse. Eine größere
Annäherung an die Ex n ersehe Kurve zeigen dagegen die bei Hell-
adaptation gefundenen Kurven (z. B. Fig. 11). Daß kurz nach dem
Maximum ein geringer, aber ziemlich steiler Abfall erfolgt, hat Exner
deshalb übersehen, weil er das Maximum bei 166^, den nächsten
Punkt seiner Kurve aber erst bei 360^ beobachtet. Es mußten ihm
dadurch die dazwischenliegenden oszillatorischen Vorgänge entgehen.
Exner rundet das Maximum seiner Kurve auf 200*^ ab, während er
es bei 166^ beobachtet. Der Knick, der ohne diese Abrundung sich
Digitized by VjOOQiC
über das Ansteigen der Helligkeltserregung. 27
ei^eben hätte, stände dann mit dem plötzlichen Sinken der Kurve,
das ihm jedoch entgehen mußte, völlig im Einklang. Weiterhin fallt
die Kurve langsam ab, und ebenso stimmt der Anstieg, abgesehen
von den Schwingungen, mit dem von Exner skizzierten annähernd
überein, obgleich er seine Kurve unter andern Voraussetzungen kon-
struiert hat; doch würde dies nur eine geringe Veränderung in der
Höhe der Ordinaten mit sich bringen.
Unter Berücksichtigung der Ergebnisse für Dunkel- und Hell-
adaptation läßt sich schließlich über die Niveaufläche der Helligkeits-
erregung folgendes s^en:
Auf dem angegebenen Querschnitte (das ist für eine bestimmte
Intensität) steigt aus derNullage, der vollständigen Dunkeladaptation,
die Helligkeitserregung wellenförmig an bis zu ihrem Maximum, dann
folgen ein oder mehrere, zuerst tiefere, dann flacher werdende Täler,
bis diese Wellen in em ziemlich ebenes Stück, das sich in geringem
Maße senkt, übergehen. Wie ich von der Nullebene, der Dunkel-
adaptation, ansteige, so kann ich auch von einer bestimmten Adap-
tationslage ausgehen. Ich stelle diese wieder al^ eine Ebene dar und
setze eine zweite Helligkeit auf; dann erfolgt deren Anstieg in genau
derselben Art und Weise wie ein Anstieg aus der Nullage, nur sind
die Täler nicht so tief eingeschnitten. Erwähnen muß ich noch, daß
das analoge Problem, von einer bestimmten Helladaptationslage aus-
gehend den Abfall, d. h. den Verlauf der Erregung bei einer plötz-
lichen Verdunkelung, zu verfolgen, in derselben Art und Weise unter-
sucht werden kann.
Wie sich aber die absoluten Höhen in dieser Niveaufläche der
Helligkeitserregung verhalten, das ist Sache des psychophysischen
Problems.
Eine Veranschaulichung und Nachprüfung meiner Resultate, die
zugleich ein Stück aus dieser Niveaufläche vorführt, ließ sich auf die
folgende Art erreichen:
Der erwähnte Sektor des Pendeltachistoskops wurde in neben-
stehender Form gearbeitet: Fig. 13. Er schwang vor einem i cm
breiten, 3 cm langen, gleichmäßig hellen Felde in der angegebenen
Richtung und bot so die verschiedenen Zonen des Feldes verschieden
lange. Es bewegte sich scheinbar die Helligkeit des Feldes von oben
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28
Mn Büchner,
nach unten, bis schließlich beim Vorbeigehen der Kante k das ganze
Feld plötzlich abgeschnitten wurde, und zwar war die oberste Zone
270^ erhellt, jede tiefer liegende Zone eine geringere Zeit bis zur
Fig. 13.
Grenze o herunter. Dieses Feld würde den Streifen parallel zur
^- Achse aus der Niveaufläche (Fig. i) herausgreifen, also den Anstieg
der betreffenden Intensität bis 270*^
veranschaulichen. Dabei zeigte
es sich, daß, wie zu erwarten
war, das Feld nicht gleichmäßig
hell erschien, vielmehr stieg die
Helligkeit langsam an und er-
reichte ihr Maximum, welches
sich bei größeren Intensitäten
deutlich nach unten verschob.
Bei Dunkeladaptation war ganz
deutlich, bei Helladaptation in
geringerem Maße ein dunkler
Querstreifen kurz hinter dem
Maximum zu sehen. Auch im
Anstieg bis zum Maximiun waren
bei Dunkeladaptation Unregel-
mäßigkeiten zu erkennen, die
Schwingungen in der Anstiegs-
kurve. So gibt uns also diese Methode eine Illustration der auch
auf andern! Wege untersuchten Erregungsvorgänge.
Nochmals kurz zusammengefaßt, lieferte die vorliegende Unter-
suchung folgende Resultate:
I. Für die betreffenden Intensitäten wird unter Annahme des
erwähnten Maßstabes der Anstieg durch die gezeichneten
Kurven dargestellt.
250<^
200^
/50<^
100<^
50<^
Fig. 14.
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Ober das Ansteigen der Helligkeitserregang. 20
2. Die Maximalzeiten sind sicher abhängfig von den verwendeten
Intensitäten, und zwar werden sie bei Hell- und Dunkeiadap-
tation kleiner mit zunehmender Intensität.
3. Der Anstieg der Helligkeitserregung ist ausgezeichnet durch
Oszillationsvorgänge, die hier zum erstenmal mit ruhenden
Bildern nachgewiesen sind, und zwar finden sich Schwingungen
in größerer Zahl als bisher bekannt. Die Oszillationen treten
bei plötzlichen größeren Unterschieden der Beleuchtung her-
vor, besonders nach vorangegangener Dunkeladaptation.
4. Der Anstieg ist nicht gleichmäßig für alle Stellen der Netz-
haut, vielmehr sind schon innerhalb geringer Grenzen be-
deutende DiflFerenzen zu finden.
Ich kann nicht schließen, ohne Herrn Geheimrat Wundt meinen
Dank für die Anregimg und Förderung dieser Arbeit auszusprechen;
desgleichen danke ich meinen Versuchspersonen für ihre Hilfe, be-
sonders auch Herrn Dr. Wirth für manchen guten Rat.
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes bei
verschiedenen Verteilungen der Aufmerksamkeit
Wilhelm Wirth.
Mit 14 Figuren im Text.
Einleitung.
In einer früheren Abhandlung: »Zur Theorie des Bewußtseins-,
umfanges und seiner Messung«') war der Stand der Frage dargelegt
und eine spezielle Methode zur experimentellen Analyse jenes Um-
fanges empfohlen worden, wobei die Anwendbarkeit an einem kon-
plexeren Beispiel nachgewiesen wurde. Inzwischen gab ich auf dem
Psychologen-Kongfreß in Gießen") nur vorläufige Mitteilungen über
die seinerzeit noch unvollendete Bearbeitung einer einfachen Unter-
frage jenes allgemeinen Problems, nämlich über den jeweiligen
Momentanumfang der Gesichtswahmehmung, was seitdem zu einem
vorläufigen Abschluß gebracht und durch die versuchsweise Be-
handlung analoger Probleme auf andern Sinnesgebieten nebst einer
Komplikation derselben ergänzt wurde. Hier folgt nun zunächst die
Darstellung der relativ vollkommensten Versuche über die Gesichts-
wahmehmung, unter ausschließlicher Voraussetzung jener erstgenannten
Abhandlung.
Dort war wegen der Umstrittenheit der Beg^riffe des Bewußtseins
selbst und der quantitativen Analyse seines jeweiligen Gesamtbestandes
zunächst eine Erörterung der schwierigsten Vorfragen erforderlich,
worauf die Aufgabe einer möglichst vollständigen Bestimmung des
») Wundt, PhU. Stud. XX (Festschrift Bd. ü), 1902, 8.4870.
*) Bericht über den I. Kongreß für experimentelle Psychologie in Gießen 1904.
S. 72 f.
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Die KUrheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw. ^i
sog. Bewußtseinsumfai^es auf konkrete Einzeluntersuchungen zurück-
geführt werden konnte. Diese bestehen im wesentlichen in der
quantitativen Bestimmung der gleichzeitig vorhandenen Klarheits-
grade oder BewuOtseinsgrade möglichst vieler Elemente und hin-
sichtlich ihrer verschiedenen Merkmale ') in dem stets möglichst ähn-
lich erneuerten*) Gesamtbestande, bzw. in einer Region desselben^),
wobei natürlich der Nachweis des Daseins eines relativ gesonderten
Elementes innerhalb des bewußten Momentanbestandes der beson-
deren Feststellui^ in der Selbstbeobachtung überlassen bleibt^). Die
günstigrsten Bedingui^en für diese Feststellui^ überhaupt, die zu-
gleich die Messung selbst relativ geringer Klarheitsgrade ermöglichen,
erwartete ich von dem Vergleiche^ eines Bestandes mit einem
zweiten kurzdauernden Bestände, der ohne Wissen des Beob-
achters in einem Element und hinsichtlich eines gewissen Merk-
males^) von dem ersten abweicht, bzw. von dem einfachen Kon-
trast^] einer kurzdauernden Modifikation in einem im
übrigen dauernd unterhaltenen Bestände. Dem höheren Klar-
heitsgrade wird hierbei eine feinere Unterschieds- bzw. Veränderungs-
schwelle entsprechen, deren Verhältnis zu der »Normal schwelle«
für die Veränderung des nämlichen im voraus bekannten und
maximal beachteten Elementes die größte Annäherung an ein
vei^leichbares Maß des Klarheitsgrades bieten dürfte®). Die Ein-
schränkung einer bloßen »Annäherung« muß deshalb hinzugefügt wer-
den, weil die bloße Absicht trotz der Anstrengfung zur Herbeiführung
der höchsten Klarheit noch nicht mit deren tatsächlicher Erreichung
identisch ist, sondern für verschiedene Inhalte ungleich schwer und
vollständig erfüllt zu werden pflegt. Da, bei der jeweiligen Variation
nur eines einzigen Elementes in einem Einzelversuch'), für jede
Schwellenbestimmimg, wie in den sonstigen psychophysischen
») S. 521, 568, 600 (623 f.).
«) S. 500 ff., 602 ff.
3) A. a. o. S. 494.
♦) A. a. O. S.620U
5) S. 565 ff., 591.
6) A. a. O. S. 611.
7) A. a. O. S. 604 ff., 609.
8) A. a. O. S. 597 ff.
9) A. a. O. S. 611.
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32 Wilhelm Wirth,
Versuchen, eine Gruppe solcher Versuche erforderlich ist, so wird
zur Regfistrierung der Klarheitsverteilung einer ganzen Region des
<jcsamtbewußtseins natürlich eine Reihe von Versuchsgruppen, ent-
sprechend der Zahl der ins Auge gefaßten Elemente, mit fortwähren-
der Wiedemeuerung des nämlichen Gesamtbestandes notwendig werden.
Eine derartige experimentelle Auswertung kann vorläufig nur bei der
immittelbaren Wahrnehmung simultan dargebotener Reize versucht
werden, weil hier allein die experimentelle Beherrschung des zu
messenden simultanen Bewußtseinsbestandes hinreichend garantiert
ist'J. Vor allem das Sehfeld bietet hierbei noch den besonderen
Vorteil, daß jene erste, erkenntnistheoretisch den meisten Einwänden
ausgesetzte Leistung unserer Vergleichsmethode, nämlich die Präsenz
einer durch die kurzdauernde Veränderung nicht erst erzeugten, son-
dern nur auffälliger gewordenen Empfindung im Gesamtbestande
nachzuweisen, bei der Kontinuität des Sehfeldes wenigstens für die
nicht zu peripher gelegenen Stellen am leichtesten erreicht wird*),
während andere Sinnesgebiete, wenigstens beim gewöhnlichen
Stande der Übung, hierin zurückstehen. Mehrmals war seinerzeit
auch schon die einfachste Aufgabe auf diesem Gebiete hervorgehoben
worden, die Schwellen für kurzdauernde Aufhellungen ein-
zelner punktueller Stellen eines im ganzen fortgesetzt
gleichmäßig erleuchteten Sehfeldes unter verschiedenen
Verteilungen der Aufmerksamkeit abzuleiten, wie es nun im
folgenden versucht wird. Die Helladaptation gewährleistet hierbei
einfachere Ablaufsbedingungen der kurzdauernden Reizzuwüchse ^ und
vor allem eine deutlichere Differenzierung der im ganzen höheren
Schwellenwerte. Der einfachste Inhalt des Gesamtbestandes vcrschaffl
augleich leichter zu übersehende psychologische Bedingungen^) für die
Meridichkeit der Veränderungen. Dabei ist die Auffassung der Variation
auch wirklich von der bisherigen Klarheit der Stelle im Gesamt-
bestande abhängig zu denken, so daß sie nicht etwa als eine hiervon
unabhängige »Veränderungsempfindung« aus jenem bewußten Zu-
sammenhang mit dem unmittelbar vorhergehenden Bestand herausfallt^).
') A. a. O. S. 499ff. ^d bes. S. 571.
") A. a. O. S. 622.
3) A. a. O. S. 632.
^) A. a. O. S. 619.
5) A. a. O. S. 607.
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw. aj
Diese experimentelle Aufgabe verlangte nun, abgesehen von den will-
kürlichen Einstellungen der Aufmerksamkeit, deren Gelingen wir erst
im Anschluß an unsere Ergebnisse weiter diskutieren werden, die Her-
stellung einer perimetrischen Anordnung, die neben der be-
liebigen und zunächst vor allem möglichst gleichmäßigen kon-
stanten Belichtung des gesamten Sehfeldes einen beliebig
lokalisierten kurzdauernden und exakt abstufbaren Reiz-
zusatz in einer überall annähernd gleichen Gesichtswinkel-
ausdehnung gestattete, dessen Raumlage außerdem auch dem Be-
obachter, abgesehen von der Wahrnehmung der Aufhellung selbst,
weder direkt noch indirekt bekannt werden durfte. Femer mußte
jederzeit eine schnelle photometrische Bestimmung der
in Betracht kommenden Reizintensitäten möglich sein. Erst die
vierte der hierzu verwendeten Anordnungen schien allen Anforde-
rungen hinreichend zu entsprechen. Obgleich die drei früheren An-
ordnungen einen ersten Überblick über einen wesentlichen Teil der
<iuantitativen Beziehungen verschafften *) und besonders eine große
Einübung des Beobachters herbeiftihrten, zumal von der zweiten ab
ganz die nämlichen subjektiven Bedingungen erhalten blieben wie bei
der vierten Anordnung, soll im folgenden nur ganz kurz auf sie
Bezug genommen werden. Die hier beschriebenen Versuche der
vierten Anordnung enthalten auch weitaus die gfrößte Anzahl von
Einzelversuchen * und Verteilungsformen der Aufmerksamkeit unter
Wiederholung aller früher vorgenommenen Versuchsgruppen. Sie
erstrecken sich auf die Zeit vom i. Juni bis 28. August 1904'). Für
die gütige Unterstützung mit den vielen hierzu notwendigen Hilfs-
mitteln möchte ich Herrn Geheimen Rat Wundt auch an dieser
Stelle meinen herzlichsten Dank aussprechen. Bei den berichteten
Experimenten halfen mir mit großer Ausdauer von den damaligen
Mitgliedern des psychologischen Institutes in Leipzig die Herren
Abel, Däbritz, A. Kästner, Ludwig, Mitzscherling und
Thaer.
') Dem Vortrage auf dem Kongreß in Gießen lagen die Versuche mit der
zweiten Anordnung zugrunde (vgl. unten S. 37, Anm. n. a. a. O.].
^) Die erste Anordnung kam Mai und Juni 1903 zur Anwendung, die zweite, von
Herrn Tridapalli geleitet, von Dezember bis April 1904, die dritte im Mai 1905.
Wundt, Psychol. Studien II. 3
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34 WUhclm Wirth,
Die Versuchsanordnung.
I. Das Projektionsperimeter. — Die optische Vorrichtung
zu den momentanen Aufhellungen und zur dauernden Be-
leuchtung.
Nachdem bei der ersten Versuchsanordnung einfach noch ein gleich-
mäßig erleuchtetes ebenes Feld binokular beobachtet worden war, das
ohne Schwierigkeit immerhin schon ein ziemlich großes Verteilungsbereich
darbieten läßt, wurde schon von der zweiten Anordnung ab dauernd mit
einem Perimeter gearbeitet, mit dem zugleich monokulare Beobach-
timg eingeführt wurde. Freilich sind dadurch die psychologischen Voraus-
setzungen in unserer Frage gegenüber der normalen binokularen Wahr-
nehmung nicht unwesentlich verändert. Doch sind die Reizbedingungen
hier zunächst leichter zu übersehen und mit andern meist monokularen
Perimeterversuchen vergleichbar, ohne daß freilich die Notwendigkeit der
gelegentlichen Ergänzung durch binokulare perimetrische Versuche auf
diesem Gebiete dadurch aufgehoben würde. Auch genügten jene frühesten
Vorversuche mit etwa i6o Schwellenbestimmungen, um wenigstens die
prinzipielle Übereinstimmung der beiderseitigen quantitativen Ergebnisse auf-
zuzeigen. Der Umfang der Einzelfragen erforderte femer, zur Vergleich-
barkeit der peripheren Versuchsbedingungen, die Beibehaltung des näm-
lichen (linken) Auges, was aber wohl eine viel geringere Einschränkung
der Allgemeingültigkeit der psychologischen Ergebnisse bedeuten dürfte.
Dabei hängt die relative Einfachheit der peripheren und zentralen Vor-
aussetzungen bei monokularer Beobachtung auch hier vor allem von dem
richtigen Gebrauch der Augenblende ab. Die Natürlichkeit der allge-
meinen Einstellung wird durch den dauernden festen Verschluß des einen
Auges wesentlich gestört; auch ist die Belanglosigkeit der extremen
Adaptationsdiflferenz beider Augen für den Verlauf der Erregungen noch
keineswegs sicher nachgewiesen, obgleich dies hier weniger in Betracht
käme. Wenn jedoch eine Blende ohne störenden Druck und rasch genug
vor das Auge imd wieder zurück geschoben werden kann, ohne, be-
sonders am inneren Rande, an der Sicherheit ihres Abschlusses ein-
zubüßen, so wird sie für solche Versuche am besten nur während der
kurzdauernden Einzel versuche vorgeschoben. Dies läßt sich bald
fast so einfach und sicher ausführen, wie der als störende Nebenarbeit
vermiedene Lidschluß, ohne die Reinheit des objektiv gleichmäßig hellen
Feldes wesentlich zu verändern.
Zur gleichmäßigen konstanten Erleuchtung des perimetrischen Feldes
und zur Verdeckung der übrigen Anordnung für den Beobachter ist mm
eine geschlossene Transparentfläche erforderlich, auf welche von
rückwärts die konstanten und die momentanen Zusatzlichter an beliebigen
Stellen aufgesetzt werden können. Bei den von den Opthalmologen be-
reits verwendeten Halbkugelperimetem aus Milchglas wäre aber besonders
die passende Applikation der zeitlich genau abgestuften kurzdauernden
Zusatzreize nicht so einfach gewesen, wie wir es bei der Verwendung
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes nsw. ^e
der Projektionslampe mit tachistoskopischer Freilegimg ihres Brennpunktes
erreichen. Denn die Wölbung der Halbkugel läßt in der Peripherie
die Strahlen eines aidal konzentrischen Lichtkegels nicht mehr zur Gel-
tung kommen, so daß Spiegelvorrichtungen notwendig würden. Dagegen
lieferte ein einziger Strahlenkegel aus der elektrischen Projektionslampe P
(Fig. i) ohne weiteres die Zusatzlichter für sämtliche Punkte des Perimeters
zusammen, und zwar in ihrer unmittelbar verwendbaren Richtung und Inten-
sität, zugleich im Brennpunkt tachistoskopisch abstufbar, wenn wir als
Perimeterfläche eine diffus transparente Kegelfläche benützten, welche
koaxial gelegen und mit ihrer Spitze der Lampe zugekehrt ist, und in
deren Basismittelpunkt sich das Auge befindet ').
Fig. I zeigt in \^ der natürlichen Größe die optischen Verhältnisse
dieser Anordnimg im Grundriß, Fig. 4 in 'Lo Größe das Projektions-
perimeter, wie man es wegen dieser einfachen Verbindung mit der Pro-
jektionslampe nennen kann, von der Seite des Beobachters aus, also den
Kegel von innen betrachtet. In Fig. i liegt bei F^ 57 cm von der
vorderen Kollektorfläche der Lampe P in axialer Richtung entfernt, ein
neuer Brennpunkt dieses Strahlensystems durch Vermittlung einiger sofort
zu erläuternder Linsen, von dem aus ein Lichtkegel (angedeutet durch
die Grenzstrahlen /!/, j^] mit einer Öffnung von 4^ 40' die volle Mantel-
fläche des mit seiner Achse 20 konzentrisch gelegenen Perimetertrichters
T mit 50 cm Basisdurchmesser und 45^ Neigung der Mantellinie bestrahlt,
wenn ihm kein Hindernis im Wege steht. Aus diesem Strahlenkegel ßß
kann nun eine Zusatzbehchtung des Perimeters, zur Ableitung der Ver-
änderungsschwellen, von beliebiger Lage und Gesichtswinkelausdehnung
dadurch herausgeschnitten werden, daß ein mit abgestöpselten Löchern
versehener, im übrigen aber undurchsichtiger, geschwärzter Trichter t aus
dünnem, festem Blech von ähnlichem aber kleinerem Bau wie das
Perimeter, in einer Spitzenentfernung von 105 cm nach der Lichtquelle
zu, vor ihm in ganz analoger Stellung im Lichtkegel angebracht
ist. Bei seiner Entfernung und geringen Ausdehnung kann der Wechsel
der veränderten Stelle sehr bequem, schnell und vom Beobachter völlig
unbemerkt vorgenommen werden. Die Schnelligkeit kam besonders später
bei der Verwendung dieser Anordnung zu Reaktionsversuchen sehr zustatten.
In dem fireien Raum zwischen den beiden Trichtern befindet sich nun
ein Reflektor SS zur konstanten Erhellung des ganzen Peri-
meters. Wegen der einseitigen Schwankimgen weiterer zur konstanten
Beleuchtung beigezogener Lichtquellen wurde bei dieser vierten Anordnung
zum erstenmal die Bogenlampe P selbst hierzu benützt. Ihr Lichtkegel
wurde nämlich nur in seinem inneren Teil zu der eben erwähnten Zusatz-
helligkeit verwendet, während der äußere Mantel desselben noch
für die konstante Beleuchtung zur Verfügung stand. Die innere
Trenntmg der beiden konzentrisch bleibenden Strahlensysteme erfolgt durch
'] Hinsichtlich der Sehschärfe für die einzelnen Teile dieser Fläche bedeutet
der Kegel natürlich nur einen Kompromiß. Diese Anfordemng kam jedoch, wie
später deutlicher werden soll, bei unseren Versuchen in Wegfall.
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36
Wilhelm Wirth,
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw. in
die kleine mit einem dünnen geschwärzten Rand versehene Sammellinse
Z, von 4 cm Öfifnung. (Vorher ist noch die große achromatische Sanmiel-
linse Z. , nur i6 cm vom Brennpunkt der Bogenlampe F^ entfernt^ in
den gesamten Strahlenkegel ziu: weiteren Konzentration eingefügt, welche
die Strahlen weiterhin von einem virtuellen Punkte F*^ divergieren läßt.)
Aus dem ganzen Lichtkegel mit den äußersten Strahlen acr, welche von
dem kreisförmig ausgeschnittenen Diaphragma d^ d^ eben noch nach außen
durchgelassen werden, sammelt die Linse Z, den innersten Kegel
zu dem vorhin bereits genannten neuen Brennpunkte F^ von
welchem die Zusatzhelligkeit nach dem Perimeter weitergeht und völlig
unabhängig von der konstanten Beleuchtung in ^beliebig abgesperrt und
tachistoskopisch freigegeben werden kann. Der äußere Kranz des
Lichtkegels aber läßt nun seinerseits den Perimeterkegel T in seinem von
Z, und / abgeschatteten Inneren auf dem Hinwege zunächst unberührt
und trifift die innere Kegelstumpffläche des Rdlektors SS aus weißem
Papier, der mit dem Ringe seiner kleineren Basis rings um die Basis des
Perimetertrichters befestigt ist, u. zw. auf dem Holzkranze b by welcher
auch das Perimeter an der Holzwand festhält
Der Neigungswinkel und die Seitenlänge des Kegelstumpfes sind nun
so gewählt, daß das Licht des ganzen Strahlenkranzes möglichst gleich-
mäßig nach innen auf die Außenwand des Perimeters geworfen
wird, wozu der freie Raum zwischen T' und / ausreicht. Nach
Anwendung des einfachen Spiegelprinzipes auf die einzelnen Mantel-
linien S kann der Divergenzpunkt F'^ bei passendem Neigungswinkel von
SS durch die Reflexion nach je einem in der Ebene des Strahls a, der
Achse und S gelegenen Punkt eines Kreises verlegt werden, der die Mittel-
senkrechten auf die Perimetermantellinien ringsherum in konstantem
Abstand vom Mantel T schneidet. Dem virtuellen Punkte F\ entspricht
also jetzt ein in allen Teilen gleich hell leuchtender Lichtring senkrecht
über der Mitte des Perimetermantels*), dem, bei richtiger Länge der
Reflektorseite, auch sämtliche Punkte des Mantels zugänglich sind, ohne
daß innerhalb des Reflektormantels weitere nicht vom Perimeterkegel
selbst aufgefangene innere Reflexionen möglich wären. Zu diesem Zwecke
') Bei den beiden früheren Perimeteranordnnngen verwendeten wir einen, gleich
diesem virtnellen Kreis, auf den Mittelsenkrechten etwa 60 cm über dem Mantel orien-
tierten Kranz von sechs gleichmäßig verteilten Glühlampen (punktiert //, Fig. i). Die
von der Bogenlampe anabhllngigen Schwankungen derselben fUhrten zmn Ersatz dieser
Anordnung durch die oben dargestellte. In der zweiten Anordnung war femer noch
statt des Schattentrichters / eine Scheibe mit einem Loch fUr den Zusatzstrahl in der
gewöhnlich vom Diapositiv eingenommenen Ebene unmittelbar vor dem Kollektor der
Lampe verwendet und durch eine vordere Linse auf den Trichter des Perimeters projiziert
worden. In die Scheibe war zunächst eine mit der optischen Achse konzentrisch
verdrehbare Kreisscheibe und in diese wieder ein radial verschiebbarer Schlitten eingefügt,
m welch letzteren erst das elliptische Loch von 0,3X0,5 mm eingeschnitten war.
Dieses konnte daher an jeden einer beliebigen Perimeterstelle konjugierten Punkt der
projizierten Ebene verschoben werden und entwarf dann einen annähernd kreisförmigen
Fleck. Im Brennpunkt der Lampe stand das Falltachistoskop. Diese Anordnung
wurde auch in Gießen demonstriert.
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38 Wilhelm Wirth,
muß die Richtung der Mantellinie S des Reflektors der Höhe eines
gleichschenkligen Dreiecks entsprechen, dessen Spitze sich auf dem Rande
des Reflektormantels in d befindet tmd dessen Basisecken von F\ und
von einem Punkte jenes neuen virtuellen Lichtkreises J*"\ gebildet wer-
den, nach welch letzterem alle die in Figur i nicht weiter ausgezogenen
Richtungen a, y, d, 7t von S aus konvergieren. Da der Punkt F'\ zu-
gleich auf der Mittelsenkrechten y liegt, so findet man ihn durch deren
Schnitt mit dem Kreisbogen um ^ mit dem Radius ^^V Mit dem Drei-
eck F\ d F*\ ist auch dessen Höhenrichtung S gegeben, auf welcher
die äußere Grenze von S durch 1F'\ abgeschnitten wird, während
andererseits die Verbindung der von b nur wenig entfernten Perimeter-
basis mit F'\ einen für das Perimeter unnötigen innersten Rand des
Reflektors abgrenzt, der geschwärzt werden kann. Der äußere größere
Rand des aus starkem Papier gefertigten Reflektors war von einem festen
Holzreif getragen tmd weiterhin durch Stative gestützt. Das ganze System
besitzt bei diesen festen Widerlagern völlige Dauerhaftigkeit auch in der
Lage der Reflektorwände.
2. Das Brennpunkttachistoskop.
Natürlich war durch diese Ausnützung des äußeren Strahlenmantels
zur dauernden Beleuchtimg des Reflektors der für das Tachistoskop
beim Brennptmkt F innen übrig bleibende Raum ein eng begrenzter.
Ein Pendel- oder Fall-Tachistoskop der gebräuchlichen Konstruktionen,
welche freilich die exaktesten Zeitwerte auf die einfachste Art gewähr-
leisten, hätte über den Querschnitt des von der Linse L^ abgeschatteten
Bereiches bei dem Punkte F hinausgereicht und einen bei seiner Größe
störenden Schatten auf den Reflektor geworfen. Bei Verwertung solcher
größerer Tachistoskope könnte also unter Beibehaltung dieses optischen
Prinzipes höchstens der ganze Strahlenkegel bei F durch einen in der
Achse diurchbohrten Spiegel von möglichst geringer Dicke des Glases ab-
gelenkt werden, wobei das Tachistoskop an Stelle der Expositionsöffhung
des Schlittens einen möglichst weit an die ELauptspiegelebene heranreichen-
den Spiegel von verschiedener Ausdehnung bzw. Abbiendung hinter der
Öflhung vorbeiführen würde. Eine kleine Exzentrizität des inneren tmd
äußeren Kegels nach Passierung dieser Spiegel wäre natürlich hierbei
nicht zu vermeiden. Indessen versuchte ich mit Erfolg, ohne eine solche
Ablenktmg der Strahlen, mit einem in den hier verfügbaren Raum hinein-
passenden Apparat auszukommen, der eine zeitlich genau abgrenzbare Frei-
legung einer kleinen, für den Brennpimkt bestimmten Stelle bewirkte, tmd
den man deshalb als Brennpunkts-Tachistoskop bezeichnen kann (siehe Fig. 3).
Seine Teile reichen bis auf einen dünnen, in der Region des äußeren
Strahlenkegels schmal geschlifienen Stativstab T nicht über seine kreis-
förmige Grundplatte W von 8 cm Durchmesser hinaus, welche in dem
zur Verfügung stehenden Querschnitt ß F ß (Fig. i) konzentrisch und
senkrecht zur optischen Achse bequem Platz hatte, während wiederum in
ihrem mittleren Ausschnitt O (Fig. 3) von 6 mm Höhe und 16 nmi Breite
der etwas kleinere Brennpunkt des Lichtbogens in F (Fig. i) sich voll
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Die KlarHeitsgrade der Regionen des Sehfeldes osw.
39
entfalten konnte. Dieser Ausschnitt ist durch einen kleinen um die Achse a
(Fig. 3) drehbaren Hebel H^ (auf der Rückseite von W) verschlossen, der aber
nun vom Magnet J/, (s. auch Fig. i) in einer oberen Lage festgehalten werden
konnte, in welcher er den mittleren Ausschnitt O eben vollständig freigab.
Um die nämliche Achse dreht sich auf der
andern (dem Beobachter, bzw. dem Peri-
meter zugekehrten) Seite der Grundplatte IV
ein zweiter, ähnlich gebauter Hebel H^ , der
in seiner Ruhelage O freiließ, während er
in seiner oberen Stellung am Magnet M^
den Ausschnitt völlig verschloß. Die obere
Grenze dieses den Ausschnitt O verdecken-
den Teiles von H^ und die untere bei H^
müssen bei ihrer Anlagerung mit den Anker-
platten [b^ ftir ZT, ) an ihren Magnet parallel
in einer Höhe liegen, wozu H^ besonders
geformt war. An den Ankerplatten ziehen
die mit Feinstellung / j, versehenen Spann-
federn / vom Magnet kräftig nach unten
und, zur Vermeidung von Reibung, zugleich
etwas nach außen, wobei die Hebel in der Ruhe-
lage auf je einen kleinen Zapfen / als Wider-
lager auftreflfen. Die Exaktheit der Funktion
des Apparates beruht, wie bei den Schreibern
des Chronographen, in der Hauptsache auf
einem kräftigen imd für H^ imd H^ möglichst
gleich eingestellten Antagonismus zwischen
den Federn / und den Elektromagneten, da die kiu'zdauernde Exposition
des Brennpunktes, nachdem die beiden Hebel im Beginn des Versuches in
ihre obere Lage an die Elektromagnete emporgehoben wurden, durch die
sukzessive Unterbrechung der Stromkreise für M^ imd für Af^ erreicht wird.
Die Prüfung der Zeitverhältnisse der beiderseitigen Hebelbewegung zur Öff-
nung und zum Wiederverschluß nach den Stromunterbrechungen wurde
vor, während und nach den Versuchen so genau als möglich vorgenommen.
Zu dieser Kontrolle diente zunächst die graphische Aufzeichnung des
Verlaufes der beiden Hebelbewegungen am Pendelmyographion durch zwei
von den Hebeln rückwärts über die Achse a je etwa 3 cm hinausreichen-
de feste Schreiber aus Kupferblech mit Papierspitze, welche die ge-
samte Bewegung der Hebel in einer Kurve von 10 bzw. 9 mm auf-
schrieben. Vor einem gleichzeitig geschriebenen Stimmgabelsignal « = 476
treffen auf die gesamte Bewegung für beide Hebel bei gleichmäßiger Ein-
stellung der Feder konstant 7 Schwingungen. Dabei ist aber auch die Form
der Kurven im einzelnen so gleichartig, daß beide Hebelgrenzcn den Mittel-
punkt des Brennpunktes, der für den Intensitätserfolg der Exposition am
wichtigsten ist, nach der genau gleichen (zufällig gerade halben) Zeit von
3,5 Schwingungen (die Hebel legen nach der Brennptmktmitte noch einen
etwas weiteren Weg zurück) passierten. Eine Zeitdiflferenz zwischen den
Stromunterbrechungen läßt also für jede einzelne Stelle des Brennpunktes
J
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40 Wilhelm Wirth,
eine gleich lange Expositionszeit resultieren, wenn auch die Zeitverschiebung
zwischen den Gesamtexpositionen der benachbarten Stellen durch keine
gleichförmige oder gleichförmig beschleunigte Bewegung eines einzigen festen
Schirmspaltes nachgeahmt werden kann. Bei hinreichender Kürze der
Gesamtzeit ist aber natürlich der Reizefifekt für die tachistoskcpische Zusatz-
helligkeit trotzdem der Gesamtwirkung einer gleich langen Exposition des
Brennpunktes mit einem einzigen bewegten Spalt gleich.
Die Abstufung der Expositionszeit des Brennpunkttachistoskopes
konnte nun bis auf Y2 ^ genau an dem sehr präzis arbeitenden und
mit Stimmgabelschwmgung von « = 476 auf einer Glasplatte geeichten
Kontaktpendel / (Fig. i) vorgenommen werden, das auf dem Tische II
direkt neben dem Tische I unbeweglich fixiert war').
Der in einem Ausschnitte der Schiene s Sj aber von ihr unabhängig
direkt auf dem Tisch montierte Öffnungskontakt c^ war mit dem Mag-
neten Af^ in den Stromkreis i eingefügt, dessen Unterbrechung durch
die Ruhe der Pendelstange x den Hebel vor O (Fig. 4) freigab, während
der auf der Schiene s s bis auf Y2 ^ (= etwa 2 mm) genau verschiebbare
Öffnimgskontakt r^, der durch jene Loslösung des c^ von der Schiene
vor jeder vorzeitigen Erschütterung geschützt war, den Stromkreis für
Af^ bis zu seiner Berührung geschlossen hält. Beide Stromkreise gingen
von dem nach jeder Exposition gewendeten Kommutator IV^ aus. Vom
Wender IV^ ging ein dritter Stromkreis 3 nach dem Magnet J/3, welcher
die Pendelstange x zunächst festhielt, und zugleich nach dem Brettvor-
sprung an der Wand des Projektionsperimeters A A zu dem Reaktions-
taster jR^y diurch dessen Niederdrücken also der Beobachter, zu einem
ihm überlassenen Zeitpunkte, die Auslösung des Pendels / und damit die
kurzdauernde Exposition der Zusatzhelligkeit bewirken konnte.
Die nicht nur vom Kontaktpendel, sondern auch von einer etwaigen
Differenz der Latenzzeiten für M^ imd Af^ abhängige Zeitdifferenz zwischen
dem im einzelnen bereits als gleichartig nachgewiesenen Beginn der Öff-
nungs- und Schließungsbewegimg des Tachistoskopes konnte (außer durch
die obengenannte graphische Registrierung, mit der sie zuerst noch
hinsichtlich ihrer genauen Übereinstimmung mit dem Kontaktpendel
geprüft worden war) auch mit den später angebrachten Kontaktvorrich-
tungen ^, r, c\ bzw., c^ r, (c\) Fig. 3 kontrolliert werden, welche die
gleiche Genauigkeit nachweisen ließ. Durch die Berührung der an H^
befestigten und mit Platin belegten Kontaktplatte c\ mit der Platinspitze
der Kontaktschraube r, in dem Zuleitungsstück c^ (tmd ganz analog bei
r, usw.) wtu-de je ein Stromkreis in der oberen Lage der Hebel ge-
schlossen*) und im Moment ihres Herabschnellens wieder unterbrochen,
der im übrigen durch je einen Schreibmagnet des großen Chronographen^)
') Vgl. die AbbUdong des nämlichen Pendels in Wandt, Physiol. PsycHol. 1902,
ms, S. 405.
') Eine besonders feine Einstellung wnrde dadurch erreicht, daß die Schranbe
rx bzw. r, erst nach der gewöhnlichen Anlagemng der Hebelplatten d an ihre Magnet-
pole sor^ßlltig aaf die Platinplatten c^ bis zam eben sicher erreichten Stromschluß im
Chronographen herabgeschranbt wurde.
3) Siehe Wundt, Grundzüge der Physiol. Psychol. ms, S. 406.
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw.
41
geleitet wurde. Für die Reaktionsversuche konnte auch noch gleich-
zeitig mit der Freilegung des Brennpunktes beim Herabschnellen des
vorderen Hebels H^ ein Quecksilberkontakt geschlossen werden, indem
die an H^ befestigte Nase n^ in den verstellbaren (von der Platte W durch
das Hartgunmiiplättchen g isolierten und mit Klemmschraube k versehenen)
Quecksilbemapf Q eintaucht. Hiervon wurde jedoch hier noch kein Ge-
brauch gemacht.
3. Das Sehfeld des Perimeters. — Lage und Ausdehnung
der Zusatzlichter.
Die Anordnung am Platze des Beobachters zeigt Fig. 4. Die
starke Holzwand W^ die den schweren Glastrichter P des Perimeters
trägt und deshalb auch einen festen, am Boden angeschraubten Holz-
unterbau besitzt, ist für den Kopf des Beobachters konzentrisch mit der
optischen Achse (Fig. i) in einem Kjeise von 40 cm Durchmesser aus-
geschnitten. An einer von den Muffen /«, w, gehaltenen Eisenstange
L L trägt die Muffe m^ die Einbeißvorrichtung aus Helioswachs ZT
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42 WUhelm Wirth,
am Stabe /, (z in Fig. i), durch deren Gebrauch das linke Auge sicher
im Mittelpunkte der Kegelbasis des Perimeters fixiert wurde. Die übrigen
am Querstab Z befestigten Stücke kommen für die Beobachtung selbst
noch nicht in Betracht. Der Tischvorsprung T TJ welcher eine bequeme
Auflagerung der Hände und Arme bei der Beobachtung ermöglicht, trägt
den schon genannten Taster jR^ , zur Auslösung der Veränderung mit dem
2^igefinger der rechten Hand, der zusammen mit dem hier noch nicht
verwendeten Taster ^3 später auch zu Reaktionsversuchen beigezogen wurde.
Außer der bereits oben erwähnten gleichmäßigen Beleuchtung be-
durfte es mm zur Herstellung eines in allen Teilen homogenen Gesichts-
feldes vor allem auch einer an allen Stellen gleich transparenten Sub-
stanz des Glastrichters. Das vorzüglichste Mittel zu diesem Zweck,
ein geschliflfener Milchglastrichter dieser Größe, wäre natürlich unver-
hältnismäßig teuer gewesen. Da aber bei unserer Aufgabe eine scharfe
Kontur der einzelnen durchscheinenden Lichtflecke nicht beabsichtigt war,
(vgl. Abschnitt 5), so genügte auch vollkommen ein genau geblasener
Trichter aus 8 mm starkem wasserhellen Glase^), der außen mit einem
genau angepaßten Papiermantel belegt wurde imd zur Verwischung des
Klebestreifens in dem von innen aus sichtbaren Bilde und zugleich zur
Vermeidung von Spiegelungen innen durch Sandgebläse sehr gleichmäßig
mattiert war*). In der Spitze des Kegels war ein kleiner schwarzer Punkt
als Fixationsmarke angebracht, auf dessen Kontur auch bei allen
Verteilungen der Aufmerksamkeit zugleich mit der Fixation
unwillkürlich akkommodiert worden ist. (Vgl. unten S, 59.) Bei
dieser Blickrichttmg sah nun das Auge in der Tat das gesamte Sehfeld
in eine einzige gleichförmige Helligkeit getaucht, ähnlich wie beim Blick
in den Zenit eines mit einer ganz gleichmäßigen Wolkenschicht bedeckten
^) Einen solchen sehr gleichmäßig hergestellten Glastrichter von 50 cm Basis-
dnrchmesser und 25 cm Höhe bezog das Psychologische Institut durch R. Goetze,
Leipzig, Härtelstr. 4.
*) Eine sehr feine Fügnngslinie des Papiertrichters, die zur Vermeidung von
Störungen für die Aufmerksamkeitsverteilung dieser Mattierung von der Innenseite
kaum mehr bedurft hätte, erreichte ich durch Verbindung des Papiermantels aus
bestem weißen RoUenpapier mit einem kongruenten, außen aufliegenden Mantel aus
Transparentpapier, welche sich gegenseitig, also ohne Verdoppelungsnaht, als Kleb-
unterlagen an der Fügungsstelle dienten. Diese wurde nur mit etwas wasserhellem
Gummi an der ihr entsprechenden Stelle des andern Mantels, der mit seiner Naht
von derjenigen des andern um den halben Umfang entfernt war, völlig durchsichtig
angeklebt. Leider soll die Papiertechnik keine gleichmäßige Herstellung eines fertigen
Mantels ohne Naht gestatten. Das nämliche gilt für das sonst auch ohne Glasunter-
lage wegen seiner Festigkeit sehr empfehlenswerte Zelluloid, das durch entsprechen-
den Zusatz wie Milchglas präpariert und mattiert werden kann. Auch für dieses wird
ein Klebstreifen notwendig. Für viele Versuche wird aber nun ein Klebstreifen über-
haupt wenig stören, wie sich insbesondere auch aus unseren Resultaten ergeben hat.
Auch läßt sich der Trichter mit dem Klebstreifen leicht beliebig verdrehen (was nur
bei Glas wegen seiner Schwere jedesmal eine etwas horizontalere Neigung des Brettes
W erfordern würde). Auch an dieser Stelle möchte ich Herrn Direktor Faber der
deutschen Zelluloidfabrik in Leipzig-Schleußig meinen besten Dank für seine freund-
liche Unterstützung bei den Vorversuchen aussprechen.
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw. ^^
Himmels. Das unvermeidliche Korn der Umgebung des Fixationspunktes,
welches durch die ruhige Fixation und die hierdurch hervorgerufene
Simultaninduktion allerdings stets sehr schnell auf ein Minimum reduziert
wurde, genügte jedoch zur Vermeidtmg ähnlicher Schwindelerscheinungen,
wie sie bei Fixation eines hellen Pimktes auf völlig dunklem Grunde
vorkommen. Freilich ist noch nicht mit Sicherheit ermittelt, wieviel
Anteil an solchen Erscheinungen die Eigentümlichkeiten der hier ver-
miedenen Dunkeladaptation besitzen. Es herrschte eine mittlere Hell-
ad^^tation, welche eben der Gesamtbeleuchtung des Sehfeldes mit der
unten angegebenen Lichtstärke entsprach, die jedenfalls ohne Blendung
dauernd betrachtet werden konnte. Auch in den Pausen zwischen den
Einzelexpositionen wurde deshalb der Blick von dem hellen Perimeter
nicht entfernt, wenn auch die Einbeißvorrichtung sowie die Blende (vgl.
oben) nur während der kurzen Dauer eines Einzelversuchs benützt wurde.
Nach WiederhersteUung folgten dann stets noch mehrere Sekunden Spezial-
adaptation durch die Einstellung der Aufmerksamkeit.
Die Messung des Klarheitsgrades an den einzelnen Stellen dieses Seh-
feldes setzte nun die kurzdauernde Erleuchtung möglichst beliebig gelegener
kleinerer Stellen voraus. Bei der Benützimg einer Reihe konstant wieder-
holter Stellen, welche zur genaueren Elimination der rein peripher bedingten
Schwellendififerenzen an den einzelnen Punkten ratsam ist, muD wegen
der Bekanntheit der Lage, die durch die öftere übermerkliche Reizung
dieser Stellen allmählich entsteht, wenigstens eine hinreichende
Anzahl solcher Punkte von vornherein ins Auge gefaßt werden, da-
mit sich nicht unwillkürlich zu spezielle Verteilungsformen der Aufmerksamkeit
entwickeln. Es war indessen schon in den Versuchen der zweiten Gruppe von
Tridapalli festgestellt worden^), daß die mittleren Schwellenwerte für
Momentanänderungen bei der Verteilung der Aufmerksamkeit auf das
gesamte Sehfeld in ihrem Verhältnis zu den Werten bei Konzentration
auf die einzelnen Stellen nicht wesentlich anders ausfallen, insbesondere
nicht etwa kleiner, wenn nur i8 imgefahr gleichmäßig auf das gesamte
Sehfeld verteilt wurden, als wenn es 92 waren. Obgleich sich dies bei
weiterer Einübung leicht noch etwas ändern könnte, schien man jeden-
ÜEÜls dann gewissermaßen vor speziellen inneren Unstedgkeiten der Dichte
des Aufimerksamkeitsfeldes gesichert zu sein, wenn auf das gesamte für
uns in Betracht kommende Bereich des monokularen Sehfeldes etwa
40 Punkte in möglichst gleichmäßiger Verteilimg ausgewählt wurden, was
einer Verteilung von etwa 84 Punkten auf die gesamte der Trichterfläche
entsprechende Halbkugel in der Projektion des Sehfeldes entsprach. Dieser
spezielle Verteilungsmodus ergab sich daraus, daß eine Kongruenz
der Lage dieser Stellen innerhalb der vier Quadranten er-
strebt wurde, welche von dem Vertikal-und Horizontalmeridian im
Sehfeld abgeteilt werden, imi dadurch besonders die Ergebnisse bei Ver-
teilung auf die Quadranten und Hälften leichter unter sich abtrennbar
und ihrem Gewichte nach vergleichbarer zu machen. In der zentralsten
') Vgl. Bericht über den I. Kongreß für experimentelle Psychologie in Gießen
1904, S. 73-
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44
Wilhelm Wirtb,
Region um die Fovea waren also dann mindestens 4 Punkte, je einer
für jeden Quadranten, erforderlich. Dadurch war dann für die übrigen
Breitenzonen für jeden Quadranten die Ztmahme der Punktzahl auf
2, 3, 4, 5 und 6 festgelegt, womit eben jene Gesamtzahl 84 aller
Pimkte erreicht war. Eine möglichst gleichmäßige Verteilung ergab sich
also bei Abtragung von 6 zum Fixationspunkt konzentrischen Kugelzonen,
deren Flächeninhalte, bestimmt durch ihre Höhen, sich in der Reihenfolge
nach außen zu wie 1:2:3 usw. verhalten mußten. Hieraus ergibt sich
FinS.
^A -vVf-V--
::>>,^ -^^--
v-A— •^^
H/
die aus Fig. 5 ersichtliche Konstruktion tmter Abteilung des gesamten Halb-
messers in 21 Teile. Die von der Zusatzhelligkeit getroffenen Punkte
mußten dann in der Mitte der sämtlich inhaltsgleichen imd innerhalb
jedes Quadranten auch kongruenten Abschnitte liegen, die aus den Zonea
weiterhin durch Meridiane in gleichen Winkelabständen in einer der
Punktzahl der Zone 2, 3, usw. entsprechenden Anzahl abgeschnitten wer-
den. Die ebene Darstellung in der gewöhnlichen Projektion perimetrischer
Verhältnisse in Fig. 6 zeigt die Anordnung der 37 Felder, welche aus-
den 84 der gesamten Halbkugel als die innere Region für das linke
Sehfeld herausgenommen wurden imd je etwa 4° Gesichtswinkel be-
saßen. Dabei ist allerdings kein einziger Punkt der sechsten Breiten-
zone mehr dabei, weil die beiden hiervon noch zugänglichen Punkte des
äußersten linken Sehfeldes bereits zu inkonstante SchweUenwerte ergaben.
Die Einstellung der seitlich konzentrierten Aufmerksamkeit sollte ja doch
keine allzu tmnatürlichen Verhältnisse einführen, zumal hier noch größere
peripherer bedingte Schwankungen der ErregHiarkeit hinzutreten mögen.
Die Breitendistanz der Mittelpunkte der fünf Regionen vom Fixationspunkte
betrug: 9,15°; 24,7*^; 37,8*^; 51,5*^; 66,8°. Die in Fig. 6 angegebene
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Die KlarHeitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw.
45
Numerierung der 37 Punkte ist auch in allen späteren
Darstellungen beibehalten. Die Anordnung hatte dabei
noch den Vorteil, daß der blinde Fleck umgangen wurde,
der zwischen Nr. 6 und 7 hinreichend Raum fand.
Eine ganz genaue Übereinstimmung der aufgehellten Stellen mit
diesem Schema würde nun vermittelst unserer Schattenprojektion von Trich-
ter / auf T (Fig. i) bei der Kegelform
des Perimeters nur dann erreicht, wenn
man die Flächen bestimmt, in denen
kleine Strahlenkegel mit der Spitze im
Augenpunkt O imd mit den kleinen
Kreisen unseres eben beschriebenen
Punktschemas auf der Halbkugel als
Basis den Mantel unseres der Halb-
kugel gemäß Fig. 5 einbeschriebenen
Kegels T^ bzw. / durchdringen. Diese
Flächen müssen im Mantel des Schat-
tenkegels / ausgestochen werden und
liefern dann die richtigen Aufhellungen
für T, Wegen der relativ geringen
Abweichung bei einer so geringen
Ausdehnung des Gesichtswinkels der
einzelnen aufgehellten Stellen wurden dafür einfach nur die Mittel-
punkte der auf der Mantellinie des Schattenkegels bei jener Konstruktion
ausgeschnittenen Flächen festgehalten und um diese konzentrische kleine
Kreise von überall gleicher Größe mit i cm Durchmesser ausgestanzt,
wie es in dem hellen Querschnitt dieses Kegels in Fig. 5 angedeutet ist^).
Sämtliche Löcher waren für gewöhnlich bis auf eines mit numerierten
Stöpseln verschlossen. Daneben war auch noch die Zahl weiß auf den
schwarzen Blechtrichter geschrieben, um dem Experimentator ein schnelles,
richtiges Aufsuchen zu ermöglichen. Fig. i zeigt das einfache Prinzip,
nach welchem die Öffnung ^ in / der entsprechenden Stelle Eva T eine
0 1 C' \ 0 v 0 sy
^J^l^l
Fig. 6.
') In der späteren Anordnung für Reaktionsversuche wurde mit einer größeren
Ausdehnung des aufgehellten Punktes zu je 8^ auch eine Verschiedenheit der aus-
gestanzten Kreise je nach der Breitenregion eingefiihrt, indem wenigstens die Pro-
jektion des in der Richtung der Mantellinie gelegenen Durchmessers vom Kegel auf
die Halbkugel berücksichtigt wurde, also unter voller Ausnützung der Konstruktion
Fig. 5. Auch hierbei resultiert freilich ein kleiner Vorsprung der Peripherie und ein
Nachteil der innersten Region, Funkt i — 4, gegenüber den mittleren Zonen, der aber
zugleich einen gewissen Vorteil der Kompensation der besonderen Schwierigkeit, bzw.
Leichtigkeit der Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Peripherie, bzw. die Mitte
besitzt. Sind alle Punkte im Kegelmantel aber gleich groß ausgestanzt, wie in unserer
obigen Anordnung, so besteht vor allem ein kleiner Nachteil der innersten Punkte,
auf die ohnehin die Aufinerksamkeit leichter zu konzentrieren ist. Eine genauere
Ausgleichung der Ausdehnung verlor durch die wesenüiche Einschränkung der Re-
sultate auf die Verhältnisse von Schwellenwerten, nicht ihre absolute Größe, sehr
an Bedeutung.
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40 Wilhelm Wirth,
Zusatzhelligkeit zukommen läßt. Zum vollen Überblick über die Anord-
nung ist jetzt nur noch der Einblick in die photometrische Bestimmtmg
der beiden Helligkeiten notwendig, welche an jeder beliebigen Stelle des
Trichters T^ von innen gesehen, konstant herrschen imd welche ihr durch
jene Öffnung in / noch aufgesetzt werden konnten.
4. Das Photometer.
Zur Lichtmesstmg war eine möglichst direkte Einführung des Normal-
lichtes neben die Zusatz- und die konstante Helligkeit der eben benützten
Stelle genau unter den nämlichen äußeren Bedingimgen erforderlich, wie
sie auch im Versuche selbst wirken. Dies ermöglichte eine Spiegelvorrich-
tung, wie sie in Fig. 4 durch die Muffe m^ am Stabe L L befestigt zu sehen
ist. Den Grundriß der ganzen Photometeranordnimg zeigt Fig. 2, welche
als Fortsetzung der Hauptanordnung Fig. i nach rechts zu denken ist, wieder-
aufgenommen durch den Perimetertrichter T mit der Spitze in I? und dem
Augenpunkt in O, Da alles Licht von O aus aufgefaßt wird, so muß der
Beobachter auch bei der Photometrierung wieder stets über O hinweg
nach der variierten Stelle visieren, z. B. entlang dem Strahl a, der bei
einer Stelltmg des Beobachters in A^ also rückwärts und seitlich von O
eine entsprechende Seitwärtswendung, Erhöhimg oder Erniedrigung der
Kopflage erfordert, wie sie in dem hier notwendigen Umfange bequem
genug zu längerem Aushalten erreichbar war. Diese Lage war erforderlich,
weil nun das Normallicht von rückwärts aus dem Photometer frei auf den
feinen Silberspiegel s (Fig. 2, in Fig. 4 S) fiel, der (Fig. 4) durch die
beliebige Drehung um das Kugelgelenk g und die Einstellung an den
Muffen Wj, eventuell auch w^, jederzeit rasch so eingestellt werden konnte,
daß die Hälfte einer hereingespiegelten, in ihrer Intensität variablen
Lichtscheibe auf dunklem Grunde, von A aus gesehen, genau neben dem
Lichte der variierten Stelle lag.
Für die Einstellung war zunächst eine genaue Angabe des Punktes O
notwendig, der beim Versuch selbst vom Auge durch die Einbeiß Vor-
richtung erreicht, jetzt aber durch die Spitze der Metallzunge Z markiert
wurde, wenn sie um ihr Gelenk an der Holzscheibe B herabgeschlagen
worden war. War der Spiegel, bzw. das Photometer in der richtigen
Lage, so konnte Z wieder entfernt werden, weil dann die Einhaltung der
einmal richtig gefundenen gegenseitigen symmetrischen Lage der Normal-
und Vergleichsscheibe zu beiden Seiten der rechten fein geschliflfenen und
ungefaßten Spiegelgrenze zugleich die Beibehaltung der konstanten Visier-
linie a gewährleistete.
Ziun Überblick über die Photometereinrichtung gehen wir dem Ge-
sichtswinkel zwischen a imd y entlang, dessen Grenze a der mittleren
Gesichtslinie des Beobachters entspricht. Verfolgt man die Gesichtslinie
vor die Spiegelung in s nach dem Photometer selbst zurück, so trifft man
auf die Hälfte der Photometerscheibe T^ welche nun neben a /? im Peri-
meter erscheint. Die Scheibe T ist auf einem geschwärzten Rahmen an-
gebracht. Dieser ist mit einer Lage gleichmäßig weißen Papiers über-
zogen, von dem durch eine vordere kreisförmig ausgeschnittene schwarze
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Die KlArheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw. aj
Bedeckung^) nur eine Kreisscheibe von 8 cm Durchmesser transparent
sichtbar bleibt, wenn sie von rückwärts beleuchtet wird. Als Lichtquelle
dient die Hefnersche Normallampe, die mit dem Mittelpunkt der Flamme
in FÄ aufgestellt ist. Um eine durch F/i gedachte Achse drehbar befestigt,
erstreckt sich nun die Gleitschiene M M jmt Maßstab 2,5 m weit auf
das Trichterperimeter zu. Auf Af ist der Photometerschirm T schlitten-
artig verschiebbar, wodurch eben die Variation der Helligkeit erreicht
wird. Bei /% ruht der Stab auf dem Tisch für die Lampe, nach dem
Perimeter zu auf den durch Rollen r, r leicht verschiebbaren Tische IV W^
wo er, nur durch die Zapfen b b seitlich geführt, aufliegt. Diese Ver-
schiebbarkeit der Schiene ist erforderlich, um sie schnell immer so genau
auf den Augenpunkt O einstellen zu lassen, daß die Verschiebung
des Schlittens keine Entfernung des Spiegelbildes aus der erforderlichen
Lage bewirkt. Dies ist schon nach dem Augenmaße leicht erreichbar.
Zwischen dem Tisch W und dem Perimeter ist noch bequem Platz für
einen hinreichenden Umfang der Bewegxmgen des Beobachters bei der
Messung, etwa 1,20 m. Die Messung geschah durch Selbsteinstelltmg seitens
des Beobachters, der bei seinem hier rechts von der Trichterachse ge-
legenen Standpunkte die beiden Zügel z^ z^ handhabt, deren ersterer
über die RoUe r, in der Nähe der Photometerlampe lief und den Schirm T
zu seiner Aufhellung näher an das Licht Ph heranzog, während z^ ihn
davon entfernte.
Ziu: Genauigkeit der Messung gehörte der möglichst vollständige Ab-
schluß aller schädlichen Lichter. Zunächst war die Photometerbank
selbst der Länge nach vollständig in einen engen Schacht aus matt-
schwarzem Tuch und Papier eingehüllt, während auf der Lichtseite des
verstellbaren, geschwärzten Diaphragma D^ der Raum auf die Breite der
transparenten Scheibe = 8 cm beschränkt war. Ebenso war nach dem
Perimeter zu ein im ganzen beweglicher Diaphragmaschirm D^ vorgesetzt,
dessen Öfl&iung bis zur Auffindung des Bildes im Spiegel und seiner
Verschiebung an die richtige Stelle rasch beliebig erweitert und verschoben
werden konnte. Zunächst wurde durch eine horizontale Verschiebung
sein in der Höhenausdehnung anfangs weiter geöffneter, 10 cm breiter
Längsspalt an die richtige Stelle gebracht und dann der Spalt weiter von
oben und unten durch zwei selbständig bewegte Hebel so weit eingeengt,
daß nur noch das Bild der Photometerscheibe durchgelassen wurde.
Dadurch wurde in der Tat erreicht, daß die Abstufung des Lichtes nach
dem einfiachen Gesetz der Abhängigkeit von der Lichtdistanz erfolgte
und von einem hier in Betracht kommenden konstanten oder variabeln
Fehler einer Zusatzhelligkeit so gut wie frei war (wie sich aus der unten
beschriebenen genauen Kontrolle ergab). Zu diesem Zwecke war aber
*) Zur schDelleren Auffindung der Scheibe im Spiegel kann die vordere un-
durcHsicHtige Bedeckung herantergeklappt werden. Dann ist darunter die ganze Fläche
innerhalb des Rahmens (25 cm im Quadrat) bell erleuchtet sichtbar. Durch eine
genau der Bedeckung entsprechende zweite Papierauflage ist aber doch bereits der
eigentliche Photometerkreis deutlich herauszuerkennen, da es auf ihn bei der Einstellung
ankommt.
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48 Wühclm Wirtb,
nun natürlich auch die ganze übrige Anordnung (Fig. i) bis auf die Öffnung
des Diaphragmas //, bei der Bogenlampe und die Öffnung des Reflektors
mit Tuch und schwarzem Papier lichtdicht verschlossen. Auch der Reflektor
war außen mit undurchsichtigem Papier umkleidet und die ganze Region
des Beobachters und des Photometers durch einen die Wand des Perimeters
zu einer Fläche von etwa 4X2 m ergänzenden Abschluß abgegrenzt.
Zur Messung der Helligkeit des Veränderungsreizes, die stets zuerst
vorgenommen wurde, mußte die gesamte Belichtung des Reflektors ab-
geschnitten und nur das vom Brennpunkt F des Tachistoskopes kom-
mende Strahlenbündel durchgelassen werden. Dazu diente das um ein
oberes Scharnier umklappbare Diaphragma d^ (Fig. i), dessen innerer
Ausschnitt von //, nur noch das Licht des Brennpunkttachistoskopes frei-
gab, dessen Spalt für diese Messung geöffnet wurde. Nun
war das ganze Perimeter bis auf die zur Veränderung aufgesetzte Hellig-
keit finster, bzw. bis auf einige kaum merkliche innere Reflexlichter, die
infolge der Mattierung der Innenfläche des Perimeters bei konstanter
Helligkeit völlig verschwanden. Dieser annähernd kreisrunde Fleck
wurde dann zur Hälfte neben dem hellen Photometerkreis gesehen.
Natürlich war je nach der Entfemimg der Photometerscheibe der Ge-
sichtswinkel zwischen a, y dem zwischen a, ß mehr oder weniger über-
legen. Es war deshalb dem Spiegel ein Diaphragma aufgesetzt, das der
tmgefahren scheinbaren Größe des Kreises im Perimeter von der bei der
Messtmg des Beobachters eingehaltenen Entfernung aus entsprach. Auch
die verschiedene Akkommodation wirkte etwas erschwerend. Dennoch sind
die konstanten Resultate und die geringen mittleren Variationen sowie
die unter ganz ähnlichen Bedingungen vorgenommene objektive Eichung
des Photometers selbst (s. u.) eine hinreichende Gewähr für die Genauigkeit
der im übrigen imter ganz gleichen physikalisch- optischen Bedingungen
erfolgenden Messung.
Die Einstellung auf den aufgehellten Punkt gab zugleich die Rich-
tung nach der Perimeterstelle überhaupt an, die dann auch, nach
Abschluß des Tachistoskopes, genau so weit neben dem Photo-
meterkreis im Spiegel zu sehen war, als sie die konstante Grundlage
für die Veränderungsschwelle abgab. Gerade von der Helligkeit dieser
Stelle war ja die Schwelle nach dem Web ersehen Gesetz abhängig.
Sie erschien nach Wiederöffnnng des Diaphragma d^ (Fig. i) mit Frei-
gabe der Beleuchtung des Reflektors in der gewohnten Helligkeit. Gerade
für diese etwas größere Beleuchttmg des Zimmers im ganzen war das
Photometer so sorgfältig geschützt. Nach kurzer Einübung konnte in
wenigen Minuten (2 Min. im Durchschnitt) eine mehrfache Einstelltmg
für die aufgesetzte und die konstante Helligkeit vom Beobachter ausgeführt
werden, während der Experimentator an das Photnometer trat und nach
Kontrolle der Lampe auch die Einstellung von T durch ein aufdeckbares
Fenster ablas, nachdem er das Innere des Photometers durch das Auf-
drehen einer Glühlampe für diese Zeit aufgehellt hatte.
Die Eichtmg des Photometers wurde unter ganz analogen Bedingungen
Hir die Beobachtung der Scheibe T vorgenommen, nämlich unter Ein-
schiebung des nämlichen Spiegels ^, auf welchen nun der Beobachter von
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw. Ag
Ä aus, entlang dem Strahle d in der Längsrichtung des Tisches WW
visierte, senkrecht zur Richtung a. Das Normallicht für die Eichung bot
hier wiederum die Photometerlampe Ph selbst, nur war es hier das trans-
parente Fenster T',, senkrecht zum Diaphragma D^ D^ gestellt, dessen Bild
durch zwei Spiegel G^ tmd G^ abgelenkt neben der halben Kreisscheibe T
als die andere Hälfte des ELreises erschien. Es konnte bei E durch
einen rotierenden Episkotister beliebig abgestuft werden. Um den Modus
der Eichung an denjenigen der Messtmg selbst möglichst anzupassen,
stellte der Beobachter die Distanz der Photometerscheibe wieder mittels
der Zügelvonichtung auf Gleichheit mit einer bestinunten, von Reihe zu
Reihe veränderten Episkotisteröflfnung ein. Ebenso konnte durch Stellung
des Episkodsters vor T das Licht dieser Scheibe selbst vermindert werden.
Die volle Helligkeit der Scheibe T^ erschien gleich T' für die mittlere
Entfernung T Fh = 53 cm.
Die Entfernungen größer als 53 cm ordneten sich wie folgt den
durch den Episkotister erzeugten Bruchteilen von T^ zu:
h 1x9 U Is /8 k /a4 74 l»4 /ö
63 68,3 76,4 81,7 88,6 91,8 99,9 108,6 118,7 140,6.
Die (mittleren) Entfernungen, kleiner als 53 cm ergaben in fol-
genden Bruchteilen Gleichheit mit dem ungeschwächten T^:
h 19 /a /ta I3 16
29;8 34,1 35,7 40,1 43,8 48,4
Diese 17 Punkte genügten zur Ableitung einer empirischen Kurve
und Tabelle, deren große Annäherung an die ideale Abhängigkeit vom
tmigekehrten Quadrat der Entfernungen sehr einfache Interpolationen
ergab.
Die Angabe des Photometers geschieht im folgenden in relativen
Zahlenwerten, welche dem Maßstab- Skalenteil 130 den Lichtwert 6,75
imd dem Skalenteil 30 den Wert 350 entsprechen ließen, ein Variations-
umfang, in welchem jedoch die Messungen nur dadurch Platz fanden, daß
vor die gesamte Lichtquelle der Bogenlampe während der
Photometrierung eine abdunkelnde und im Farbenton der
Hefner- Flammenfarbe gehaltene Gläserkombination vorge-
setzt wurde, was durch ein graues, ein bläuliches und ein orange-
farbenes Glas von der gesamten Absorption von ®/„ erreicht wurde*).
Diese Abdtmkelung war durch Vorversuche als Herbeiführung der mittelsten
Lage der abgedunkelten gebräuchlichen Helligkeit im Gesamtumfising des
*) Die Gisserkombination ftlr die Messung {G Fig. i) konnte durch eine verdreh-
bare Statiyvorrichtang mit Anschlag immer mit einem Handgriff genan wieder in die
nämliche Lage bei F^ gebracht werden. Bei der geringen Apertur des Strahlenkegels
von wenigen Graden kamen hierbei trotz der Schichtdicke keine wesentlichen Un-
gleichheiten zwischen den verschiedenen Regionen vor. Vor allem handelte es sich
aber hier ja ohnedies nur um die wechselseitige Beziehung zwischen den Werten für
den nXmlichen Raumpnnkt zu verschiedenen Zeiten.
W u n d t , Psychol. Studien II. 4.
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50 Wilhelm Wirth,
Photometers gefunden worden, dessen oberer Teil, etwa von dem rela-
tiven Helligkeitswert 120 (Skalenteil 45) an aufwärts zur konstanten, der
untere von 40 (Skalenteil etwa 70) an abwärts zur Zusatzhelligkeit aus-
zureichen pflegte. Drei Messungen jeder von beiden Helligkeiten brachten
bei der vorhandenen Präzision meist eine hinreichend genaue Bestimmung
mit der m. V. von etwa 0,5 für die Zusatzhelligkeit und etwa a fOr die
konstante. Oft genügten auch schon zwei sehr benachbarte Einstellungen von
verschiedensten beliebigen Ausgangspunkten, besonders bei der Zusatzhellig-
keit. Bei sehr seltenen größeren Schwankungen wturden einige Ein-
stellungen mehr vorgenommen. Auch hier geschah die Messung fast aus-
schließlich mit dem linken Auge. Bei den mittleren Punkten i — 4 wurde
manchmal das rechte Auge, der bequemeren Haltung wegen, mit bei-
gezogen, ohne merkliche Differenzen zu bringen. Einige Übung im Photo-
metrieren ist zu einer hinreichend schnellen Handhabung der Messung
natürlich erforderlich, da sie sonst eher störend als förderlich wirken
könnte, während sie hier eine angenehme Abwechselung in den Pausen
zwischen 2 Reihen bildet.
Die wichtige Möglichkeit, unsere in der folgenden Haupttabelle überaU
mitgeteilten Helligkeitswerte (die zweite Zahl über dem Bruchstrich
bedeutet die Zusatzhelligkeit, die unter dem Bruchstrich
die konstante H., vgl. nächsten Abschnitt) an absolute Maße anzu-
gleichen, wurde endlich dadurch erreicht, daß unser Photometerschirm T
in einer besonderen Anordntmg, als Transparent im Spiegel s gesehen, mit
dem direkt von der Flamme auf i m Entfernung beleuchteten und direkt
betrachteten weißen Papier des gebräuchlichen Photometers verglichen
wurde. Bei unserer relativen Helligkeit 89 ergab sich Gleichheit. Alle
Helligkeitsangaben der folgenden Darstellung wären also mit
der Zahl 1,12 zu multiplizieren, wenn wir diesen Wert als 100
in absoluter Einheit ansetzen würden.
I. Die Wahl des Schwellen- Maßes als Funktion der Reizzeit,
des Zusatzreizes und des konstanten Lichtes.
Bei den gewöhnlichen psychophysischen Versuchen über die Reiz-
bzw. Veränderungsschwelle bezog sich die Fragestellung zum Teil
nur auf die Angleichung eben merklicher Empfindungen, bzw. Unter-
schieds- oder Veränderungserkennungen, an die Verhältnisse der ab-
soluten physikalischen Reize überhaupt, ohne daß die vermittelnden
physiologfischen oder psychologfischen Maßverhältnisse selbst imter
äch in Beziehung gesetzt werden sollten. Wo aber diese letzteren
Fragen beigezogen wurden, kamen meistens längere Reizzeiten in
Betracht, bei welchen hinsichtlich der Empfindungsintensität die
Maximalwirkung oder eine nur wenig hiervon verschiedene und nur
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw. ei
in langsamem Verlauf sich weiter verändernde Stärke erreicht war.
Allerdings wird mm auch hier in neuerer Zeit der Blick mehr auf die
Verlaufsverhältnisse der Erregungen gerichtet, aus denen z.B. A. Leh-
mann*) Gresetze für die Maßverhältnisse der Empfindungen als solcher
ableiten will, wie sie in den Abstufungsmethoden zur Geltung kommen.
Doch geschieht dies immerhin von seiner Seite bereits allzu sehr
unter bestimmten Voraussetzungen für die Maßverhältnisse der Em-
pfindungen als solcher, wie sie auch bei den kürzeren Reizzeiten in
Betracht kommen und wie sie eben nicht etwa aus den gewöhnlichen
Darstellungen der sog. Erregungskurven entnommen werden können.
Wo diese als ein Abbild vom absoluten Verlauf derEmpfindungs- bzw.
Erregungsintensitäten betrachtet werden, setzt man diese letzteren
vielmehr immer schon als selbständiges Ergebnis besonderer Analysen
der zum Vergleich beigezogenen Empfindungen als solcher, z. B. nach
Abstufimgsmethoden, voraus'). Alle diese Schwierigkeiten steigern
sich natürlich, wenn für die Lösung der psychologischen Aufgabe,
welche wir durch die Abgrenzung eines möglichst momentanen Ge-
samtbestandes anstreben, ein möglichst schneller Verlauf der Ver-
änderung durch einen einmaligen kurzdauernden Reiz bzw. Reizzusatz
eingeführt wird, während doch gleichzeitig zur quantitativen Ana-
lyse dieser VeAältnisse gewisse Maßbeziehungen zwischen den ent-
sprechenden physiologischen Reizenergien bestimmbar bleiben müssen.
Die große Abhängigkeit der Form der Erregimgskurve für die ersten
Momente von der Reizintensität, wie sie für Lichtreize von Exner
sogleich bei der ersten Analyse richtig erkannt wurde, zeigt nun zu-
nächst, daß die Abstufimg der Reizintensität bei konstanter Expositions-
zeit (wenigstens bei etwas längeren Zeiten von ca. einer hundertstel
Sekunde, die hier bereits zu deutlich übermerklichen Empfindungen
auf hellem Grunde ausreichen), zum mindesten nicht diejenigen Em-
pfindungsverhältnisse liefert, die uns bei der normalen länger dauern-
den Betrachtung der Dinge unter konstanter Beleuchtung erscheinen,
daß vielmehr die größeren Intensitäten mit ihrem steileren Anstieg
der Erregungskurve einen bedeutenden Vorsprung besitzen.
*) Wnndt, Phil. Stnd. XX, 1902, S. 72ff.
^) Vgl. oben <Ke aasfühxüche Darlegung bei M. Bachner, Ober das Ansteigen
der Helligkeitserregnng, S. 1—29.
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52 Wühelm Wirth,
Nun ist ja allerdings der Verlauf der Kurven trotz ähnlicher Reiz-
zuwüchse im einzelnen stets nur bei gleichem absoluten Niveau der
resultierenden Gesamterr^ung unmittelbar vergleichbar. Es könnte
sich also bei der zur eben merklichen Erregung ausreichenden Reiz-
stärke diese Proportionalität zur Reizintensität bei gleicher Reizzeit günstiger
gestalten, weil vielleicht ein Teil der Eigentümlichkeiten der Erregungs-
kurve für eine einmalige kurzdauernde Veränderung des bisherigen
Reizungszustandes auf dem plötzlichen Antriebe zu einer wesentlichen
Erhöhung oder Erniedrigung des bisherigen Erregungszustandes beruht.
Diese Vorfrage kann aber nur durch eine große Anzahl von Ableitungen
eben merklicher kurzdauernder Reizzusätze zu einer dauernden Be-
leuchtung unter genauen physikalischen Bedingungen gelöst werden. Im
einfachsten Falle müßte sich gewissermaßen ein Grenzfall des Talbot-
schen Gesetzes, d. h. die Konstanz des Produktes aus Reizintensität und
Zeit ergeben, was für die Begründung solcher perimetrischer Versuche
auch für alle Teile des Sehfeldes abgeleitet werden müßte. Eine aus-
führliche Voruntersuchtmg dieser Art von Tridapalli, welche allerdings
nicht abgeschlossen wurde, schien immer noch einen Nachteil der ge-
ringeren Reizintensitäten zu ergeben, jedoch ohne auf&ndbaren Unterschied
zwischen den verschiedenen Regionen des Sehfeldes bei Helladaptation.
Eine gewisse Annäherung an die Proportionalität der resultierenden
physiologischen Reizenergie ist aber bei so kurzen Zeiten bis zu etwa
10*^ oder 20^ vielleicht von der genau durchführbaren Abstufung
der Reizzeit bei gleicher Intensität zu erwarten, wo der Grad
der Steigung des untersten Kurvenzweiges im Verhältnis zu den
Kurven für andre Reizintensitäten überhaupt nicht in Betracht kommt,
sondern nur die annähernde Geradlinigkeit aller Kurven vom Null-
punkte aus, die bei diesem untersten Teil der Kurven tatsächlich zu
beobachten ist. So weit die Konstanz unserer Lichtverhältnisse es
zuließ, wurde nun in der Tat diese Form des Schwellenmaßes in den
folgenden Versuchen als das eigentliche Idealmaß betrachtet und alle
weiteren Bestimmungen der konstanten und der aufgesetzten Helligkeit
dienten nur dazu, um gewisse Inkonstanzen nach dieser Seite hin nach
Möglichkeit zu eliminieren.
Bei Schwankungen des Zusatzlichtes ist die Merküchkeit des Reiz-
zusatzes, die für unsere Versuche allein in Betracht kommt, inner-
halb enger Grenzen vielleicht durch eine proportionale Veränderung
seiner tachistoskopischen Zeit zu kompensieren. Seine psycholog^he
Wirksamkeit ist aber natürlich vor allem noch von der dauernden
Beleuchtung des Feldes abhängig, wobei es sich nun um die
Annäherung an die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes für diese
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes osw. ^3
Schwellen bei Momentanveränderungen handelt. Die tatsächlichen
Versuche an unserm Perimeter ließen aber beide Faktoren nur schwer
trennen, da die im einzelnen Augenblick zwar gleichmäßige Beleuch-
tung des Perimeters zugleich mit der Zusatzintensität Veränderungen
unterworfen war. Zudem bringt natürlich der Verbrauch der Kohle
auch wechselnde Ungleichheiten innerhalb der einzelnen Partieen des
Strahlenkegels mit sich, so sehr sie auch durch die konzentrierenden
Medien verringert werden. Aber auch abgesehen hiervon würde
selbst ein für alle Perimeterpunkte gleicher Veränderungsfaktor der
konstanten und kurzdauernden Beleuchtung nur bei strenger Gültigkeit
des Web ersehen Gesetzes und jenes Grenzfalles des Talbot sehen
Gesetzes für einmalige kurzdauernde Reize aus den Schwellenwerten
herausfallen. In Anbetracht dieser Schwierigkeiten erschien es als
das Geratenste, aufler der zuverlässigen Bestimmung der kurzdauern-
den Reizzeit, nach jeder Schwellenmessung eine genaue photo-
metrische Bestimmung der konstanten und Zusatzbeleuch-
tung durchzuführen, welche anfangs zwar als Erschwerung erschien,
bei der Einfachheit der Handhabung des oben beschriebenen Photo-
meters aber bald sehr geübt wurde und ohne wesentlichen Zeitverlust
die Resultate von jeder Voraussetzung einer der soeben
genannten Gesetzmäfligkeiten unabhängig machte. Nur
mußten diese Helligkeiten wenigstens innerhalb der wenigen Minuten
der entscheidenden Schlußbeobachtungen jeder Reihe und der Messung
konstant bleiben, was bei der guten Funktion der benutzten Lampe
nach ca. 15 Minuten Brennzeit vollständig gewährleistet war.
Doch ergab die Prüfung einiger Schwellenbestimmungen, die bei
gleichmäßiger Konzentration der Aufmerksamkeit auf eine Stelle in meh-
reren eigens hierzu tmtemommenen Versuchsreihen mit jenen photo-
metrischen Bestinunungen abgeleitet wurden, daß für die bei uns in
Betracht kommenden Bereiche der beiden Helligkeiten in
der Tat eine gewisse Annäherung an ein Zusammenbestehen
jener vermutlichen Gesetzmäßigkeiten vermutet werden kann,
vielleicht unter teilweiser gegenseitiger Kompensation gewisser Ab-
weichungen. Die Variation der Zusatzhelligkeit wmrde durch Einsetzen
von Gläsern vor F^ die Herabsetzung der Helligkeit im Ganzen durch
Gläser vor F^ bewirkt. Unter Anwendtmg der Formel:
Zusatzhelligkeit X Zeit
konstante Helligkeit
als Maß für die relativen Schwellenwerte ergab sich z. B. für Punkt Nr. 18:
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54
WUhelm Wirth,
Konstante HelL
Zusatzhell.
Zeitdauer der Zusatzhell.
Relativer Schwellenwert
I6S,5
26,8
6,25
1,01
io8,6
18,8
5^5
0,96
132,7
16
8,5
1,03
Andere Reihen zeigen eine etwas geringere Konstanz des Schwellen-
wertes bei gleichen Aufmerksamkeitsbedingungen für einen Punkt, z. B.
für Punkt Nr. 26:
Konstante Hell.
ZnsatzhelL
Zeitdaaer der Zusatzhell.
Relativer Schwellenwert
137,6
14,5
9,25
0,98
167.5
16
12
1^15
165,5
16
13,5
1.39
213
25,3
9,5
1.16
Hier erscheint vor allem die relativ geringste konstante Helligkeit auch
einen relativ geringeren Zusatzreiz zu bedürfen, während anderseits die
Differenz bei dem zweiten und vierten Versuch die Konstanz des relativen
Schwellenwertes nicht störte. Andre Reihen mit Pimkt Nr. 37 zeigen
die Unschädlichkeit einer sehr starken Herabsetzung der Zusatzintensität
für die Konstanz unseres relativen Wertes, wenn nur die konstante
Intensität nicht proportional abnimmt:
Konstante Hell.
Zasatzhell.
2:eitdaner der Zasatzhell.
Relativer Schwellenwert
129
16,5
15
1.91
130
17
15
1,96
110
7,5
28
1,90
In all diese Messungen der Einflüsse der objektiven Helligkeits-
verhältnisse auf die Schwelle für die Momentanveränderung gehen
aber natürlich bereits wichtige psychologische Faktoren mit ein,
weil ja die Erkennung dieses Schwellenreizes selbst bereits ein End-
ergebnis des gesamten Empfindungsverlaufes an der bestimmten Stelle
bildet. Eine geringere Intensität könnte z. B. schon wegen des lang-
sameren, allmählicheren Verlaufes der ihr entsprechenden Erreg^g
nicht so viel Auffälligkeit besitzen, als eine plötzlicher und schneller
verlaufende mit ähnlicher » Gesamtintensität c, wie man etwa die von der
Kurve eingeschlossene Fläche oder ein irgendwie entsprechendes Stück
aus ihr bezeichnen könnte. Es ist sehr schwierig, hier eine hypothetische
Unterscheidung peripher und central bedingter Anteile am gesamten
Quantum der Schwelle abzuleiten. Würde dies fiir die Ableitung der
einfachen Schwellen als solcher an den verschiedenen Punkten noch
relativ wenig in Betracht kommen, wenn es sich um ihre Ableitung
unter konstanten Aufmerksamkeitsbedingfungen handelt, so kompli-
zieren doch jene eventuellen psychologischen Einflüsse der Verlaufsform
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw. j-j
die Vergleichung unter verschiedenen Aufmerksamkeiteverhältnissen
schon viel mehr. Denn man übersieht nicht ohne weiteres, wieviel zu
der beiderseitigen Differenz als geringere » Auffalligkeitc der Verlaufe-
form des geringeren von beiden Schwellenreizen hinzuzufügen ist.
Auch von dieser Seite ist also vorläufig eine Allgemeingültigkeit der
Resultate im einzelnen nur unter den speziellen absoluten Helligkeits-
maßen gegeben.
n. Die Bedeutung der räumlichen Ausdehnung der Zusatzhelligkeit.
Eine Komplikation aller bisher behandelten Schwierigkeiten, so-
wohl der rein peripher bedingten Gesamtwirkung als solcher, als auch
der im Verlauf liegenden centraleren Erkennungsbeding\mgen und
anderweitiger psychologischer Faktoren, brachte nun aber femer die
Frage nach der Ausdehnung der kurzdauernden Reize mit sich.
Es ist bekannt, daß die Reizschwelle schon für dauernd dargebotene
Reize von der Ausdehnung abhängig ist*).
Es fragt sich aber nun, wie sich diese Verhältnisse bei Schwellen
für kurzdauernde Veränderungen gestalten werden, wobei viel
größere Reizintensitäten und vielleicht eine Summation bis zu viel
weiterem Umfange stattfindet. Natürlich wäre zur ausführlichen
Lösung dieser Spezialfrage eine exaktere Gestaltung der Ausdehnungs-
verhältnisse nötig gewesen. Indessen war diese Bedingfung, wie wir
oben sahen, nur schwer genau zu erfüllen. Mehr noch als bei den
gewöhnlichen Schwellen für dauernde Reize dürften sich übrigens hier
die psychologischen Beziehungen zwischen den benachbarten
Stellen zur Geltung bringen, was vor allem aus dem Einflüsse der
Übung hervorzugehen scheint, und insbesondere aus der Bedeutung
der Größe des Punktes, auf welche eine längere Einübung und
»Einstellung € stattfand. Die größte Differenz der in unseren Ver-
suchen benützten Punktflächen (in der centralsten und mittleren Breiten-
') Für die spezielle Gesetzmäßigkeit, besonders für Dankeladaptation, erschien
auch die Lage im Sehfeld von Bedeatnng, was m«n in den neaeren Theorien hierüber
an <Ue histologischen Untenchiede nnd die mit ihnen zusammenhängenden Venohie-
denheiten der Nervenschaltang anzugleichen versacht Für den von uns angewandten
Grad der Helladaptation wären anch von diesem Gesichtsponkte aas bei völlig gleicher
Flächenansdehnnng aller VeränderangssteUen ziemlich vergleichbare Verhältniise vor-
handen gewesen.
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56 Wühelm Wirth,
Zone) entsprach dem Verhältnis 2 : 3 (mittlerer Durchmesser etwa 4®
Gesichtswinkel) und bei späteren im Anschluß an die Reaktionsversuche
nur kurze Zeit gemachten Kontrollbestimmungen (vgl. oben S. 45, Anm.)
etwa 3 : 4 mit etwa 8° Gesichtswinkel im Durchmesser. . Bei einer viel
größeren Einübung zeigte jene dauernd kleiner eingehaltene Punkt-
größe unserer Hauptversuche (am Schlüsse des ganzen) nur einen
relativ geringen Nachteil hinter der größeren Ausdehnung jener
späteren Versuche ohne erneute maximale Übung.
Bei den geübtesten Hauptversuchen schien aus dem Vergleich der
gewöhnlichen Ausdehnung mit einer wesentlich größeren und einer
andern wesentlich geringeren Ausdehnung bei allerdings wenigen
Versuchen, welche für die neuen Ausdehnungen an ihrer räumlichen
Stelle keine volle Einübung erzeugen konnten, eine gewisse Annähe-
rung an das umgekehrte Verhältnis der Schwelle zur 4. Wurzel her-
vorzugehen. Die Zahlen über den Schwellenwerten bedeuten das
Verhältnis der Ausdehnung, wobei sich die zweite (5) auf die ge-
wöhnliche des hierzu beigezogenen Punktes Nr. 16 bezieht
I 5 11,2
IliLiJM « ,,38 JiiiiliL - 0,88 -^li:^!^ «= 0,78;
150,7 '"^ 175,5 ' 150,7
berechnet man für x = i, 1,5 und 11,2 und multipliert es mit
1,38, so ergibt sich
1,38 0,92 0,73
wobei also die Steigerung der Schwelle von -F = 5 nach abwärts
relativ etwas größer ist, entsprechend einem Werte zwischen der 4.
und 3. Wurzel, die Abnahme nach oben al^er etwas geringer, zwischen
der 4. und 5. Wurzel. Unsere maximale Einübung gewährleistete also
auch für die Vergleichbarkeit sämtlicher nur wenig in der Ausdehnung
difTerierender Stellen eine relativ große Annäherung an die Be-
dingungen bei völlig gleicher Ausdehnung sämtlicher Punkte. Den-
noch muß auch von dieser Seite auf eine Einschränkung der Allge-
meingültigkeit der absoluten Zahlen im allgemeinen hingewiesen
werden (zumal dieser Faktor natürlich ähnlich wie der Verlauf im
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw. ty
allgemeinen für die verschiedenen Aufmerksamkeitseinstellungen noch
besonders in Betracht kommt}").
in. Ausschaltung von Akkommodationseinflüssen.
Die Anschauimg, daß eine Analyse auch psychologischen Tat-
sachen, also z. B. Aufmerksamkeitserscheinungen gegenüber, nur (vir
die objektiven Äußerungen der inneren Zustände, also unter
Umgehimg der unmittelbaren Erfahrung des Bewußtseinserlebnisses,
in wissenschaftlicher Exaktheit möglich sei, wurde u. a. für
W. Heinrich zum heuristischen Prinzip, um umgekehrt solche ver-
meintlich allein diskutable Begleiterscheinungen auch für die
in der Selbstbeobachtung längst unstreitig und zum Teil quantitativ
festgestellten psychologischen Tatsachen aufzusuchen, für welche uns
bisher noch jegliche Kenntnis analoger Ausdrucksbewegungen fehlte.
Dabei beschäftigte sich Heinrich gerade auch mit der Konzentration
der Aufmerksamkeit auf einen in der Peripherie des subjektiven Seh-
feldes gelegenen Punkt bei fortgesetzter Fixation eines andern objektiven
Punktes. Hierauf war schon von Joh. Müller, Helmholtz, Volk-
mann, Wundt u. a. als besonders deutliches Beispiel zur Abtrennung
der Klarheit (im Sinne unseres » Bewußtseinsgrades c) von peripher
bedingten Deutlichkeits- und Sehschärfegraden des optischen Inhaltes
hingewiesen worden. Heinrich glaubte nachweisen zu können, daß
bei der extrafovealen Einstellung der Aufmerksamkeit, je nach der
Lage des Punktes im Sehfeld, eine besondere Akkomodation von
Linse und Pupille stattfinde, welche nach den dioptrischen, insbesondere
periskopischen Verhältnissen des Auges maximal günstige Bedingungen
für die Wahrnehmung mit diesen seitlichen Netzhautstellen dar-
') Dagegen ergaben die an and für sich mit geringerer Übnng arbeitenden
spftteren Versnobe beim Herabsteigen von der vollen Aasdehnnng anf zwei tiefere
Stnfen för den nicht viel von Nr. l6 entfernten Punkt Nr. 7 eine gewisse Annäherung
an die indirekte Proportionalität znm Quadrat, wenn wir von der untersten Ausdehnung
aufsteigen, wobei der Unterschied wieder anfangs etwas schneller, später etwas lang-
samer fortschreitet. Da absolute Ausdehnung und HeUigkeit in diesem Bereiche zum
Teil den früheren völlig entsprechen und keine sonstigen Versuchsfehler vorlagen,
kann es sich nur um die allgemeinen Obungsbedingungen handeln.
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58 Wilhelm Wirth,
biete*). Mit seinen zur Lösung einer so schwierigen dioptrischen
Frage wohl kaum noch ausreichenden Untersuchungen war selbst-
verständlich auch im Falle ihrer Richtigkeit nicht erwiesen, daß die
Eigentümlichkeit des Bewußtseinsgrades oder der Klarheit mit der
Modifikation der Wahrnehmungen auf Grund jener peripheren Akkom-
modationseinstellungen identisch ist. Es wäre vielmehr höchstens
eine weitere Begleiterscheinung des Apperzeptionsaktes erwiesen,
welche dessen Bedeutung für die äußere Sinneswahmehmung noch
erhöht.
Diese Erscheinung könnte dann, soweit wirklich ihre eindeutige
Abhängigkeit von der apperzeptiven Einstellung durch spezifisch
psychologische Methoden nachgewiesen wäre, wiederum zu wert-
vollen quantitativen Analysen der Bewußtseinslage selbst beigezogen
werden. Auch wenn aber sogar der größte Teil des Effektes der
seitlich eingestellten Aufmerksamkeit für die äußere Auffassung auf
diesen Vorgängen beruhen würde, könnte er nicht den ganzen Vor-
teil der apperzeptiven Stellung für den Erkenntniswert ausmachen.
Der Prozeß im ganzen wäre ja doch, wenigstens in den experimentell
beigezogenen Fällen mit ihrer willkürlichen Aufmerksamkeitseinstellung,
durch eine innere apperzeptive Heraushebung allgemeiner Art der
zu klärenden Stelle eingeleitet, wie sie bei allen Vorstellungsinhalten,
nicht nur bei äußeren Wahrnehmungen, fortwährend vorkommt und
auch ohne äußerlich bedingte Modifikationen des Bildes, z. B. seiner
inneren Kontraste usw., nach unseren allgemeinen psychologischen
Prinzipien die Auffassungs-, Vergleichs- und Merkfahigkeit unterstützt.
Niemals könnte also der ganze Vorteil der seitiich gerichteten Apper-
zeption für den Erkenntniswert eines Auffassungsaktes in jenen Akkom-
modationsverbesserungen aufgehen.
Für alle quantitativen Untersuchungen von Einflüssen des Bewußt-
seinsgrades auf die Erkennung äußerer Vorgänge ist also gewiß
zunächst stets die Möglichkeit einer Vermittlung feinerer Auffassungen
durch die Akkommodation mit ins Auge zu fassen. Wenn es nur gälte,
die Unterschiede der Auffassung in physikalischen Maßen im ganzen
in ein gegenseitiges Verhältnis zu setzen, wäre ja diese Frage der
') W. Heinrich: »Die Aufmerksamkeit nnd die Funktion der Sinnesorgane«,
Zeitschrift für Psychologie nnd Physiologie der Sinnesorgane. Bd. IX, S. 342 nnd
XI, S. 410.
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw. 5 g
Zurückfuhrung auf einzelne Faktoren stets eine sekundäre. Wenn
jedoch ausdrücklich eine allgemeingültigere quantitative Analyse jener
eben genannten primären Seite des willkürlich eingeleiteten Apper-
zeptionsvorganges erstrebt wird, die zur Begleiterscheinung der Akkom-
modation selbst erst die psychologische Voraussetzung bildet, so ist
eben hiermit bereits der Versuch zur Analyse der beteiligten Faktoren
inbegriffen, der es , ratsam erscheinen läßt, alle akkommodativen
Veränderungen in den etwa zu erwartenden Richtungen in
ihrem Einflüsse auf das Versuchsergebnis möglichst herab-
zusetzen. In dieser Hinsicht kommen vor allem Pupillen- und Linsen-
einstellungen, sowie Veränderungen der absoluten nervösen Erregbar-
keit überhaupt in Betracht. Die Verwendung eines erhellten Sehfeldes,
welche nicht absolute Reizschwellen, sondern nur Veränderungsschwellen
einfuhren ließ, setzte zunächst den Einfluß der Pupillenweite und Erreg-
barkeitsveränderung auf einen in unseren Grenzen zu vernachlässigenden
Betrag herab, weil ja die konstante und die Zusatzintensität physi-
kalisch und in ihrer physiologischen Wirkung hierdurch in gleichem
Sinne beeinflußt werden mußte. Die eventuellen Konzentrations-
wirkungen der Linse aber, welche eine schärfere Kontur des er-
leuchteten Fleckes hätte herbeifuhren können, kamen zunächst über-
haupt nur zu einem verschwindend kleinen Teil in Betracht, weil die
Aldcommodation der Linse auch bei allen Aufmerksamkeitsverteilungen
und seitlichen Konzentrationen jederzeit mit dem stets nötigen Fixa-
tionsakt vor allem von dem Blick auf die Perimeterspitze beherrscht
war, die für mein myopisches linkes Auge auf 25 cm eben schart
gesehen ') werden konnte. Indessen waren Schwankungen und Kom-
promißeinstellurigen nicht ausgeschlossen. Sie wurden aber nun jeden-
falls durch eine objektiv so unscharf als möglich genommene
Kontur der Flecke für die Schwelle möglichst irrelevant gemacht,
insofern überhaupt nur noch die Gesamtwirkung an Licht überhaupt
') Es ist dies ein Hanptargnment, das sich gegen die Präzision all
dieser Versache über die Notwendigkeit einer peripheren Akkommo-
dation bei seitlicher Aufmerksamkeit erheben läiSt Man kann die fixierte
SteUe mit genan der nXmlichen Sehschärfe im Auge behalten, wie sie nnr bei einer för
diese Distanz mit größter Genauigkeit eingestellten Akkommodation mögUch ist, und
trotzdem gleichzeitig die Peripherie mit der Hingebuig beachten, wie sie nach den
Erüüirmigen onserer Arbeit die relative höchste Leistong in der peripheren Verände-
nrngsanffassmig für Helligkeiten mit sich bringt.
Digitized by VjOOQiC
6o Wilhelm Wirth,
in Frage kam. Dazu kommt, daß die kurzdauernde Erreg^g an
und fiir sich von einer Gleichmäßigkeit innerhalb des Reizfleckes so
weit als möglich entfernt ist, so daß auch in der zentralsten Region, bei
Punkt I — 4 niemals etwas anders als eine solche Gesamtwirkung in Frage
kam *). Diese unscharfe Kontur des Bildes ergab sich zunächst aus der
einfachen Schattenprojektion der Öffnungen des Blechtrichters / auf die
Außenfläche des Perimeters Z (siehe Fig. i), welche ohne Dazwischen-
kunft einer Linse nur eine verschwommene Grenze geben konnte.
Außerdem zerstreute aber der Glastrichter selbst dieses transparent
betrachtete Bild weiterhin dadurch, daß er auf seiner Außenfläche
mit einer doppelten Lage Papier belegt, auf seiner Innenfläche aber
nochmals mattiert war, wobei die Distanz beider mit verschiedener
Zerstreuungswirkung arbeitender Schichten bei der Dicke des Glases
einen vollen Centimeter betrug. Für den einzelnen Punkt selbst aber
waren die Verhältnisse jederzeit konstant und für die verschiedenen
Punkte hinreichend vergleichbar, so daß hier die Steigerung des
physikalischen Reizes auch wiederum eine einfache Proportionalität
jener Gesamtwirkung herbeifuhrt.
Trotzdem hielt ich es für geraten, diese vereinfachende Wirkung
der unscharfen Kontur noch durch direkte Versuche nachzuprüfen.
Und zwar kamen vor allem zweierlei Möglichkeiten in Betracht. Die
erste wurde am Abschlüsse der hier beschriebenen Versuchsreihen
mit der hier gebräuchlichen Punktgröße (im August 1904) verwirklicht
und bestand im Vergleich der Schwelle bei verteilter und der bei kon-
zentrierter Aufmerksamkeit nach maximaler Atropinisierung des
beobachtenden Auges (hier des rechten'). Nach mehreren Einübungs-
versuchen wurde bei der starken Angegriffenheit des Auges im ganzen,
für das der Trichter ohne Pupillenregulierung doch etwas blendend
') Es mag liinzngefUgt werden, daß der bekannte phasische Ablauf der Er-
regung bei kurzdauernden Eindrücken die durch eine Akkonunodation nur wenig in sich
abklärbare Komplikation des Veränderungsvorganges so sehr erhöhte, daß beim un-
wissentlichen Verfahren in einigen Fällen erst die dunkleren (negativen) Phasen als
ein gewissermaßen eben noch erfaßter Schatten heraustraten, wenngleich sie natürlich
nicht den einzigen Reiz für die Aufmerksamkeit gebildet hatten. Die Proportionalität
der Gesamtenergie des Vorgangs zum Reiz bleibt trotzdem erhalten.
^) Mein etwas stärker myopisches (4,5) rechtes Auge wurde beigezogen, um
eventuell noch spätere Versuche mit dem linken in den nächsten Tagen unter den
früheren Bedingungen möglich zu machen, was jedoch dann zur Schonung der Augen
überhaupt unterblieb.
Digitized by VjOOQiC
Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw. 6l
erschien, allerdings nur ein einziger Hauptversuch korrekt durchgeführt,
der aber auch die Übereinstimmung in der Dimension der Differenz
zwischen verteilter und konzentrierter Aufmerksamkeit deutlich er-
kennen ließ. Punkt 20: Unwissentlich aufsteigend (vgl. nächsten Ab-
schnitt) ii*', wissentlich 8^ [Helligkeit j, also ein Verhältnis der
Schwellenwerte von 1,83, wie es an die größeren unter normalen
Akkommodationsbedingungen gefundenen Differenzen zwischen beiden
Aufmerksamkeitseinstellungen heranreicht.
Inzwischen hatte ein Schüler Heinrichs, Herr St.- Loria, dem
auch als Schüler Wundts meine Versuche bekannt waren, die
Untersuchungen über Akkommodation für peripheres Sehen fort-
gesetzt Während seine erste Mitteilung der Versuchsresultate noch
keine weiteren Konsequenzen zieht, will Loria in seiner neueren
ausführlicheren Darlegung ') , allerdings ohne spezielle Bezugnahme
auf derartig angestellte Versuche, in einer kurzen Notiz auch alle Er-
gebnisse über den sog. Umfang des Bewußtseins *) oder der Aufmerk-
samkeit wieder auf Akkommodationseinflüsse zurückführen. Nach den
obigen Ausführungen braucht hier zur Kritik dieser Schlußfolgerungen
aus den an sich ja selbständig wertvollen Beobachtungen nichts hin-
zugefügt zu werden. Trotzdem nahm ich mir nochmals die Mühe,
für die Schwelle bei seitlich konzentrierter Aufmerksamkeit
selbst verschiedene Linseneinstellungen beizuziehen, durch
welche sogar die volle Konstanz, wenigstens bei unserer unscharfen
Kontur, innerhalb der Grenzen unserer Genauigkeit nachgewiesen wurde.
Die Variation des Brechungszustandes wurde hier auf die nächstliegende
Weise durch Einfüg^ung einer randfreien Konvexlinse (von 30 cm
Apertur und 12 cm Brennweite) 8 cm vor dem Fixationspunkt in die
Gesichtslinie herbeigeführt, durch welche ich wiederum auf den mm
bedeutend vergrößerten aber wiederum stets völlig scharfen schwarzen
Fixationspunkt hindurchblickte, während sämtliche für die Veränderung
in Betracht kommenden Stellen wie sonst frei lagen.
Um neben der äußersten Peripherie auch die nach Heinrich
relativ besonders anpassung^sfahige Mittelzone zu untersuchen, kamen
') Zeitschrift fUr Psychologie nnd Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 40, S. l6o.
•) A. a. O. S. 185.
Digitized by VjOOQiC
62 Wühelm Wirth,
hierfür Punkt Nr. 37, 35 und 16 zur Prüfung, und zwar bereits mit
der neuen, für die Reaktionsversuche beigezogenen Punkl^fröße.
Punkt 37 mit Linse 14,5^ (aufsteigend 15,5^, absteigend 13,5*^)
ohne Linse genau so (14,5^). Helligkeit
14
135,1
Punkt 35 mit Linse 14^ (absteigend 12,5^, aufsteigend 15,5^)
ohne Linse 14'' (absteigend 13,5^, aufsteigend 14,5^)
15,7
170
21,8
Helligkeit
Punkt 16 mit Linse 11^ (absteigend 10,5, aufsteigend 11,5)
ohne Linse genau so (11^) Helligkeit
Als einziger Unterschied läßt sich höchstens bei Punkt 35 eine
größere Schwankungsbreite der Urteile bei Einsatz der Linse erkennen,
wie sie aber auch sonst gelegentlichen Verschiedenheiten unterworfen
ist. Punkt 37 und 16 zeigen auch in diesem Umfange keine Verände-
nmg. Damit dürfte für unsere Versuchsbedingungen wenigstens der
Einfluß peripherer Akkommodationsbedingungen auf die Endresultate
sehr reduziert erscheinen.
IV. Die Methode der Schwellenbestimmung.
Für die Ableitung der Normalschwellen bei voller Konzentration der
Aufmerksamkeit konnten am ehesten die allgemeinen Anforderungen
der psychophysischen Methoden erfüllt werden, weil die Wissentlichkeit
hinsichtlich der variierten Stelle beliebig den Wechsel von über- und
imtermerklichen Veränderungsgrößen gestattete. Dagegen bestand das
Hauptprinzip zur Erfialtung gleicher Verteilung der Aufmerksamkeit
in einer völligen oder teilweisen Unwissentlichkeit hinsichtlich der
variierten Stelle, so daß also hier bei Einfügung übermerklicher
Veränderungen ein fortwährender Wechsel des Punktes notwendig
gewesen wäre. Die Beibehaltung eines Punktes (oder einiger weniger) in
einer Versuchsreihe nötigte jedoch zur Darbietung unter merklicher
Werte bis zur Erreichung der Schwelle im aufsteigenden Verfahren.
Die Ergebnisse der wissentlichen Normalschwelle und der allgemeinen
Erfahrung in den Vorversuchen, zusammen mit einer Beurteilung der
allgemeinen Lichtverhältnisse des Tages, konnten hierbei den unteren
Ausgangspunkt mit mehr oder weniger Glück und Gewandheit aus-
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw. 63
wählen lassen, um einer zu langen oder zu kurzen Reihe bis zur
Erkennung des Variationsortes vorzubeugen. Für die durchgängige
Einhaltung des letzteren Verfahrens entschied neben der Konstanz
der Resultate im allgemeinen und neben der Leichtigkeit, nach einiger
Übimg des Experimentators in der Wahl des Ausgangspunktes wirklich
homogene Reihen von gleichem psychologischen Gewichte bei Er-
haltung der Unwissentlichkeit zu erlangen, vor allem die auch bei der
Bogenlampe unvermeidliche, wenn auch sehr langsam fortschreitende
Veränderung des konstanten und des Zusatzlichtes, die be-
sonders für die extremer gelegenen Punkte vorhanden war und hier
in größerer beiderseitiger Unabhängigkeit erfolgte '). Grelang es, unter
Beibehaltimg der Aufmerksamkeitsverteilung in einer Reihe von etwa
fünf bis acht Einzelexpositionen an die eben merkliche Veränderung
heranzukommen, so konnten die beiden sofort photometrisch be-
stimmten Helligkeitswerte mit Sicherheit auf sämtliche für die Auf-
findung dieses Schwellenwertes benützten Versuche bezogen werden.
Der gewöhnliche Fortschritt erfolgte zu je 7a ^ unterhalb 10*^ und
zu je i*' oberhalb 10^ (gelegentlich auch hier zu %^j s. unten). Dieser
Veriauf einer Reihe war aber nach kurzer Einübung des Experimen-
tators der übliche, mit verschwindenden Ausnahmen des Fehlgreifens
in den Ausgangswerten, wo dann etwa zehn bis zwölf Versuche nötig
wurden. Die Übung des Beobachters hätte auch über diese etwas
andersartig gebauten Reihen hinweggeholfen, die aber dann meistens
bei Gelegenheit wiederholt wurden.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen bei diesem Verfahren frei-
lich auch die unsicheren oder mit bezug auf die wirkliche Reizlage
bestimmt »imrichtigenc (nicht nur relativ ungenauen) Wahrnehmungen
des Beobachters, welche natürlich nicht als Schwellenwerte betrachtet
werden konnten. Bei einem Abbruch der Reihe wegen der Befürch-
tung einer Störung der verabredeten Klarheitsverteilung hätten sich
indessen zu große Weiterungen und schließlich doch auch wiederum
Unvergleichbarkeiten der allgemeinen psychologischen Einstellungen
in den vielen dann nötig gewordenen Reihen ergeben.
') Z. B. war ftr Punkt 25 an einem Tage die Zosatzhelligkeit von 6 Uhr 2 Äfin.
bis 7 Uhr 7 Min. ungeföhr konstant anf 21 geblieben, während die konstante Be-
lenchtang von 150 anf 158 sich erhöhte.
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64 Wühelm Wirth,
Allen derartigen Annäherungen an die sichere Wahrnehmung, die
allein den vergleichbaren Maßstab bilden sollte, konnte mit tatsächlich
bestem Erfolg in der Weise begegnet werden, daß einerseits der
Experimentator vor einer gleichzeitig sicheren und richtigen Angabe
sich absolut schweigsam verhielt und mit einigem Takt gelegentlich
den nämlichen Wert wiederholte, bzw. zu einem tieferen zurück^ff,
bis ein sicherer Wert sich ergab, und. daß der Beobachter lernte, bis
zu diesem Einverständnis des Experimentators seinen bisherigen Wahr-
nehmungen nicht so zu vertrauen, daß er ihnen einen Einfluß auf die
fernere Verteilung im Sinne einer Bevorzugung jener Stelle oder einer
etwaigen Vernachlässigung eines Teiles des ordnungsgemäß gleich
zu beachtenden Feldes eingeräumt hätte, und daß er gleichzeitig jeder-
zeit Vexierversuche gewärtigte. Dieser Tendenz des Beobachters kam
dabei sehr zustatten, daß die unsicheren Angaben mindestens
zur Hälfte zugleich völlig unrichtig lokalisiert wurden und
sich sogar als teilweise rein subjektive Vorgänge bekundeten, da sie
selbst bei Vexierversuchen gelegentlich vorkamen. Man lernte da-
durch von der örtlichen Lage solcher unsicheren Angaben sehr leicht
abstrahieren. Dieser Erfolg ergab sich auch daraus mit aller Deut-
lichkeit zu erkennen, daß nach gelegentlichen unsicheren oder falschen
Angaben meistenteils auch wiederum völlige Unmerklichkeit ange-
geben wurde, falls jene ersten Angaben wirklich hinreichend weit
unter der tatsächlichen Schwelle bei dieser Verteilungsform lagen.
Ein Teil solcher »Ausreißer« mag sich auf Blickschwankungen zurück-
fuhren lassen, die aber dann offenbar zugleich mit einer Störung der
allgemeinen Lokalisation oder wenigstens ihrer Genauigkeit Hand in
Hand gingen und sogar völlige Inversionen der Lage zum Fixations-
punkte ermöglichten.
Etwas anders lagen die Verhältnisse natürlich, falls die tatsächliche
objektive Reizung einer ungefähren Stelle bereits ziemlich sicher er-
kannt und nur die genauere Lage noch nicht bestimmt werden konnte.
In diesem Falle war man ohnehin bereits direkt in der Nähe des ge-
suchten Wertes. Es war also ein Aufgeben dieser ganzen Reihe und
völlige Neuanknüpfung unter neuen Umständen nicht erforderlich,
wenn es nur gelang, in den nächsten Versuchen mit einem gleichen
oder höheren Werte die alte Verteilung der Aufmerksamkeit beizu-
behalten, was in diesem Falle natürlich schwieriger war. Bei der
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes nsw. 5^
völligen Sdiweigsamlceit des Experimentators gelang auch dies, nach-
dem besonders in den entsprechenden Reihen (vgl. unten S. 74)
die Konzentration auf bestimmte engere Gebiete trotz der gleichzeitig
bewußten Möglichkeit der Reizung andrer Stellen eingeübt worden
war. Auch dies zeigte sich besonders darin, daß der sichere Wert
nicht immer sogleich bei dem nächsten Schritt um 7»^ höher gefun-
den wurde, sondern mitunter auch noch eine weitere Stufe höher.
Dennoch wurden in allen diesen Fällen einer (wenn auch subjektiv
unsicheren) Angabe der ungefähren Region Mittelwerte unter Berück-
^htigung auch des geringsten unsicheren Wertes gebildet, wobei ein
Grad, in selteneren Fällen auch zwei Grade der geringeren Sicherheit
zugelassen wurden. Im ersteren Falle wurde einfach die Zwischen-
strecke halbiert, in den andren Fällen kam sogar eine Dreiteilung
zur Anwendung, die aus den nicht mit 0,50 oder 0,25 schließenden
Zeitwerten der Tabelle ersichtlich ist. Weitaus in der Mehrzahl der
Fälle trat jedoch der endgültige Wert nach völliger Unbemerktheit bei
den nächst niederen Stufen mit einer auch als ungefähr gleichwertig
zu erkennenden Sicherheit des »eben bestimmt bemerkt« über die
Schwelle. Dennoch kann der allgemeine Satz ausgesprochen werden,
der übrigens für den allgemeinen Charakter des Einflusses vom Bewußt-
seinsgrad auf die VeränderungsaufTassung nicht unwesentiich ist, daß
innerhadb der gesamten Sphäre von der Minimalschwelle bei wissent-
licher Konzentration an aufwärts gelegentlich Unsicherheitsurteile
oder sonstige indirekt vermittelte mehr gefühlsmäßige Wirkungen
innerhalb des Bewußtseins vorkamen.
Besonders wichtig war bei den verschiedenen Verteilimgen natür-
lich die Beseitigung der Möglichkeit, aus der Zahl der bereits erledig-
ten Punkte einen Rückschluß auf die noch zu erwartenden Stellen
zu ziehen. Auch hier mußte vor allem die Selbstkontrolle des Be-
obachters die negative Hauptarbeit leisten, jeder besonderen Beachtung
der Reihenfolge und jeder Reflexionstendenz von Anfang an bei sich
selbst entgegenzutreten. In diesem Falle reicht bei genügender Streuung
ftist allein schon die Anzahl der 37 Punkte als solche aus, um die stets
auf einige Tage verteüte Gesamtreihenfolge gründlich zu vergessen.
Dazu kam noch die besondere Freiheit des Experimentators in der
völlig imgebundenen Struktur der Reihen mit beliebigen Wiederho-
lungen, von denen jedoch nicht viel Gebrauch gemacht zu werden
Wundt, PsychoL Stadien II. 5
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66 WOhelm Wirth,
brauchte. Nach dieser Seite machte sich denn auch in der Tat im
ganzen Verlaufe der Arbeit keine Schwierigkeit geltend.
Bei dieser immerhin nicht allzu großen Präzision der Bestimmung
der einzelnen Schwelle muß übrigens berücksichtigt werden, daß es
sich hier überhaupt nicht um eine Ausgleichung durch Wiederholung
des nämlichen Falles handelte, sondern vor allem um die Durch-
musterung des ge samten Verteilungsfeldes. Die Stetigkeit des
letzteren gestattete es, die gesetzmäßigen Abweichungen hinsichtlich des
Bewußtseinsgrades von einem Punkt zum andern von den zufalligen
einigermaßen zu unterscheiden und einen mittleren Gesamtwert der
Aufmerksamkeitsleistung in der Verteilung abzuleiten. Die Präzision
dieses resultierenden Wertes fiir das gesamte Feld ist aber auch schon
bei diesem Grade der Präzision und inneren Homogenität der Ableitungs-
weise der Schwellen für die einzelnen Punkte ziemlich hoch zu ver-
anschlagen.
Bei jenem Grade der Genauigkeit der Verteilungswerte hätte eine
wesentlich ausfuhrlichere Prüfung der Minimalwerte bei wissentlicher
Konzentration eine unverhältnismäßige Erhöhung der Präzision an-
gestrebt, welche nur die Zeit zur Untersuchung neuer Verteilungsformen
weggenommen hätte. Dennoch konnte hier wenigstens eine Ergänzung
durch verschiedene Richtungen des Fortschrittes und eine durchgängige
Einhaltung von 7a ^ ^ds des größten Minimalschrittes in der] Nähe
der Schwelle durchgeführt werden. Dabei schien der psydiologischen
Bedeutung dieser Schwelle vor allem das absteigende Verfahren
zu entsprechen, in welchem ein jeder Versuch für den folgenden
als Steigerung der Konzentrationsbedingung wirkt, solange keine Er-
müdung eintritt. Tatsächlich konifte auch im Verlauf einer solchen
Reihe häufig von einem bestimmten Zeitpunkte an eine Steigerung
der allgemeinen Leichtigkeit in der Konzentration auf eine seitliche
Stelle (bei fortgesetzt genauer Einhaltung der Fixation) bemerkt wer-
den, von der an erst der Minimalwert, gewissermaßen in einem letzten
intensivsten »Antriebe, erlangt wurde. Doch ist dieser rein subjektiven
Analyse der Leichtigkeit nicht zu viel Gewicht beizulegen, da sie
auch aus der Leichtigkeit in der Überwindung allmählich entgegen-
tretender Schwierigkeiten nach erneuter Anpassung resultieren kann,
die z. B. am Anfang einer neuen Reihe überhaupt fehlen. Einen
Entscheid kann abo hier nur ein Vergleich des von vornherein nur
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Die KlArhdtsgrade der Regionen des Sehfeldes osw.
67
auf- oder absteigenden Verfahrens unter möglichst ähnlichen Be-
dingungen bringen.
Diese Frage des Einflusses der Richtung des Fortschreitens
auf die Größe der Minimalschwellen bei voller Aufmerksamkeitskon-
zentration wurde denn auch später nochmals ausfuhrlicher als Spezial-
untersuchung vorgenommen, und zwar wieder mit der oben erwähnten
(S. 45, Anm.) Größe der aufgehellten Punkte, die bei den Reaktions-
versuchen zur Verwendimg kam. Dabei ergab sich, daß eine hin-
reichende Anspannung der Aufmerksamkeit auch beim Heraufsteigen
von unbemerkten Reizwerten in Schritten von je '/a^ z^ einem ganz
ähnlichen Werte führte, wenn man nur bei Beginn der Reihe durch
eine kurze Darbietung die Lage genau dem Gedächtnis eingeprägft hatte.
Diese langsame Annäherung an die Schwelle von unten her kann
jedenfalls die sensibilisierende Wirkung auf die peripheren Erregbar-
keitsverhältnisse, falls eine solche stattfindet, in ähnlicher Weise ohne
Rücksicht auf die Merklichkeitsverhältnisse ausüben, weil doch die
physiologischen Erregungswerte etwas unter der Grenze von denen
darüber nicht wesentlich verschieden sind. Die Vergleichung beider
Richtungen erstreckte sich dabei auf 14 Punkte, wobei der Ab- und
Aufstieg in zwei aufeinanderfolgenden Reihen getrennt untersucht wurde.
Nr. absteigend
135
^ 108,5 ^
7 • ga»9
4
5
9
IX
13
137,6
S,S'26
156
II 18,8
127,6
140,1
15. 17,1
M7
M2
1,62
1,37
IJ3
aufsteigend
7,5 • 18,9
1,08
131,7
7.5 • 18
93
1,45
7,5 • 19,8
rf6
127,6
10 • 18,9
1,39
136,3
9,5.16,8
1,72
92,8
9. 21,6
142,6
1,36
15.17,1
1,59
147,8 — 161,5 —
Nr.
absteigend
aufsteigend
21
10 -21,5
181,5
1,18
7,5.20,6
142,6
1,08
23
12,5 . 25,1
165,5
1,90
13-18,4
148,7
1,61
25
18,5 15,9
156
1,89
15,5 17,1
152,1
1,73
31
9.5 • 18
108,4
1,57
10,5 • 15,8
100,6
1,65
33
14 24
181,5
1,85
13-21,6
170,5
1,65
35
18 . 17,1
217
M«
16- 14
153,4
1,46
37
16,5 . 15,1
1,93
17 IS
1,96
129
130
Im Mittel ergibt sich für den Abstieg 1,56, für den Aufstieg 1,50
oder ein beiderseitiges Verhältnis von 1,04. Der Vorteil des Aufstiegs
könnte auf einen neuen Übungsfortschritt zurückzuführen sein, da der
5*
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68 Wühtlm Wirth,
Aufstieg an zweiter Stelle untersucht wurde. Ein etwaiger Nachtdl
des Ansteigens könnte also höchstens noch kleiner sein als dieser
Fortschritt. Darnach erscheint auch das geringe Steigen der Schwelle
um */a bis i^, das bei unserem im allgemeinen absteigenden Verfahren
für die wissentliche Normalschwelle auf der Rückkehr nach vorheriger
Überschreitung des noch merklichen Minimalwertes manclmial be-
obachtet wurde, im wesentlichen wohl eher als die Wirkung einer
Ermüdung, die am Ende des ganzen Einzelversuches erklärlich erscheint.
Die Beibehaltung des beim Abstieg eben noch erreichbaren Minimal-
wertes für den Erfolg der vollen Konzentration dürfte darnach gerecht*
fertigt erscheinen. Anderseits ist damit auch eine für unsere Zwecke
voriäufig hinreichende Vergleichbarkeit mit den in aufsteigfendem Ver-
fahren gewonnenen Werten bei Verteilung der Aufmerksamkeit ge-
währleistet. Bei spezielleren Neubearbeitungen einzelner Verteilungs-
fbrmen kann aber auch nach dieser Seite eine noch größere Präzision
äer Methode auf Grund mehrfacher Wiederholungen angestrebt werden.
Als wesentliche Voraussetzung für die Gleichmäßigkeit der Ein-
teilung mußte natürlich die Zeit für die willkürliche Verteilung oder
{Konzentration der Aufmerksamkeit dem Beobachter selbst überlassen
bleiben, worauf er den Reaktionstaster, bei der großen Einübung
ohne Störung dieses statischen Zustandes, leise niederdrückte. Von
einer Messung dieses zu dem gemessenen Enderfolge der psychischen
Leistung erforderlichen Zeitaufwandes wurde vorläufig abgesehen.
Soviel trat jedoch schon durch die einfachste Beobachtung hervor,
daß er zur Schwierigkeit der Verteilungsform in einem deutlichen
Verhältnis steht und daß die gesamte Anstrengung in diesem Vor-
stadium zur vollständigen Erklärung der jeweiligen Leistung später
iA umfassenderer Weise beizuziehen sein wird, ohne daß freilich der
Beobachter deshalb auf diese Zeitverhältnisse beim Erleben selbst
reflektieren dürfte.
Die Schwierigkeiten der Aufgaben für die Verteilungsform der
Aufmerksamkeit, die ich vorläufig untersuchen wollte, erforderten
femer eine so große Gesamtzeit der Untersuchungen auch schon für
die Ehircharbeitung an einer einzigen Person, daß ich mich wiederum
hier nur auf die Mitteilung solcher individueller Ergebnisse und
zwar von mir selbst als einzigem Beobachter beschränken muß,
in der Erwartung, daß die genaue Angabe der allgemeinen Reiz-
Digitized by VjOOQiC
Die Klarheitsgrade der Regionem des Sehfeldes usw. 69
bedingungen die Vergleichung mit andern ähnlich vollständigen
Werten anderer in psychologischer Analyse hinreichend geübter
Personen vollständig ermöglichen wird. Die gesuchten allgemeinen
quantitativen Beziehungen fiir die verschiedenen Verteilungsformen
mußten auch für eine Person unter relativ konstanten allgemeinen
dispositionellen Verhältnissen, die hier tatsächlich in vollem Maße
vorhanden waren, zur Genüge erkennbar werden. Doch hatte ich mich
sogleich in der ersten Anordnung, bei jener oben genannten binoku-
laren Beobachtung eines ebenen Feldes, welches auch dem Ungeübteren
relativ einfachere Versucbsbedingungen darbot, mit Sicherheit davon
überzeugt, daß, wenigstens der allgemeinen Dimension nach, selbst
bei den extremsten Verteilungsformen, bei der Verteilung auf das
ganze Feld und der Konzentration auf die einzelnen Punkte, kein
wesentlich verschiedenes Verhältnis zwischen mehreren Personen
bestand. Natürlich war ich ganz besonders auf die Zuverlässigkeit
der Experimentatoren angewiesen und bin daher den oben gensumten
Herren sehr zu Danke verpflichtet, daß sie sich sämtlich so gut in
die Handhabung der Methode eingearbeitet haben, was wiederum
andererseits die Handlichkeit ihrer praktischen Anwendung in weiteren
Kreisen verbürgen kann.
V. Die Veränderungsschwellen bei den verschiedenen Ver-
teilungen der Aufmerksamkeit
I. Die Normalschwellen bei Konzentration der Auf-
merksamkeit auf die einzelnen Punkte. Der Einfluß der Ver-
teUung unserer Aufmerksamkeit, der sich nach den in derEmleitung
rekapitulierten Voraussetzungen durch eine Erhöhung der Schwellen
gegenüber einem bei konzentrierter Beobachtung gewonnenen Normal-
wert herausheben soll, kommt bereits ohne besondere Vorübung in
dieser Konzentration zur Geltung. In den früheren Anordnungen
konnte sogar eine gewisse Konstanz des mittleren Verhält-
nisses überhaupt nachgewiesen werden, wenn man unter be-
liebigen Übungsbedingungen zimächst fiir eine beliebige Stelle
den unwissentlichen Schwellenwert mit einer bestimmten VerteUungs-
form ableitet und dann sogleich, also unter möglichst ähnlichen phy-
sikalisch-optischen Bedingungen, die wissentliche Schwelle bei
Digitized by VjOOQiC
yo WiUielm Wirth,
Konzentration aufsucht. Bezeichnen f^ und f^ die Reizzeit der un-
wissentlich lind wissentlich abgeleiteten Schwelle und die Faktoren A
und H'die zugesetzte und die konstante Helligkeit, so feilen diese
letzteren offenbar aus dem Verhältnis der oben als relative Schwellen-
t • h t » h
werte bezeichneten Ausdrücke **^ : ^^^ „ heraus, anscheinend aber
eben auch noch ein relativ konstanter Faktor, welcher von der Übung
abhängt und die Schwellen der verschiedenen Aufmerksamkeits-
einstellungen in gleichem Sinne modifiziert. So ergab sich schon
bei den ersten binokularen Versuchen für verschiedene Personen ein
Wert von etwa' 1,25 für das Verhältnis der nur als Reizzeiten
abgeleiteten Schwellen bei der Verteilung auf die ganze Fläche und
bei der Konzentration, und dieser Wert blieb für alle späteren
Reihen gleicher Art bei dieser Einstellungsform auch unter völlig
neuen Übungsbedingungen erhalten. Der hierbei eliminierte Übungs-
faktor besitzt aber doch selbst eine großenteils apperzeptive Be-
deutung, d. h. er betrifft die Klarheit, welche bei einer bestimmten
Konzentrations- oder Verteilungsanstrengung unter den jeweils be-
stehenden Energieverhältnissen wirklich erreicht wird. Die Messung
dieses Klarheitsgrades selbst an der Normalschwelle setzt also für
die letztere auch maximale Übungsbedingungen voraus. Bei
der in unserer vierten Anordnung gegebenen Möglichkeit, den
jeweiligen absoluten Schwellenwerten nachzugehen, konnte also
diese Variation innerhalb der Normalschwelle selbst bei größtmög-
licher Konzentrationsanstrengung genauer verfolgt werden. Die erste
Rubrik der Haupttabelle zeigt die maximalen Werte, welche meistens
am Anfange dieses vierten Teiles der Arbeit gewonnen wurden, der
von dem dritten doch wiederum durch etwa i Monat getrennt war.
Manchmal traten jedoch die relativ ungünstigeren Verhältnisse für
eine Schwelle erst bei einem späteren Versuch ein, jedoch stets im
ersten Abschnitt der ganzen Arbeit. Sie sind also zwar nicht Reprä-
sentanten der durchschnittlich aus dem alltäglichen Leben mi^ebrachten
Einübung, zeigen aber doch in ihrem Mittelwert von 1,53 gegenüber
dem späteren mittieren Minimalwert der zweiten Rubrik von 1,19 noch
eine Steig^gsmöglichkeit der Apperzeption um das 1,2 9 fache.
Diese äußersten Minimalwerte, bis zu denen in dieser Arbeit vor-
gedrungen wurde, entstammen dem ganzen weiteren Arbeitsverlauf
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Die Klarheittgrade der R^onen des Sehfeldes osw.
7^
während 27, Monaten, meistens aber der späteren Zeit, während der
sie fortwährend eingestreut wurden. Diese Kontrollen wurden aller-
dings etwas nach Maßgabe der Kontinuität der Minimalwerte
zwischen den benachbarten Stellen geregelt, so daß ein auf^
falliges Zurückbleiben dem Experimentator zu gelegentlichen späteren
Nachprüfungen immer erneuten Anlaß gab (ohne daß die auch nach
wiederholten Versuchen deutlich heraustretenden Differenzen unterdrückt
worden wären und ohne daß für einen Punkt im allgemeinen mehr als
fünfmal die Normalschwelle bestimmt wurde). Es galt hier vor allem
eine wahrscheinlichste allgemeinere Grundlage für die Verhältniswerte
zu finden, wodurch jene Ausgleichungstendenz gerechtfertigt erscheint
Bei zwei besonders herausfallenden Minimalwerten, die vielleicht
Lichtschwankungen zu verdanken sind, (beiP. 24 und 31) wurden Mittel-
werte zwischen den beiden geringsten Werten in die Verhältnisse
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I^ig. 7.
Flg. 8.
eingeführt, ohne daß natürlich mit Sicherheit ein neuer Vorstoß zu
einem höheren späteren Übungsstadium bei diesem Punkt geleugnet
werden könnte. Die größten Differenzen zwischen Maximal- und
Minimalwerten zeigen sich entschieden auf der rechten Seite des
Sehfeldes, (besonders bei den peripheren Punkten, z. B. 23, 31,
32 usw.), wo dem mittler^ Maximalwert 1,66 der mittlere Minimal-
wert 1,14 gegenübersteht, also ein Verhältnis 1,46, während auf
der linken Seite 1,44 sich nur auf 1,22 erniedrigte, also nur um
1,18. Nahe beim Verhältnis i : 1 liegen z. B. die Punkte: i, 2, 6,
8, 14, 16, 17, 27 und selbst ein so extremer Punkt wie 34. Dies
erklärt sich unschwer aus der Einübung, die das linke Auge für die
monokulare Beobachtung der rechten Region erst erwerben muß,
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72 Wilham Wirth,
wie es auch aus den anfänglichen gelegentKch störend auftretenden
Wettstreiterscheinungen er^chtiich war, während es dieselbe für die
Unke Region z. T. schon besitzt. Anderseits zeigt die Ähnlichkeit der
späteren Minimalwerte beider Seiten (mit einem vielleicht nur zufalligen
Vorsprung sogar der rechten Seite), wieviel die Übung gerade in dieser
Beherrschung der sonst gemeinsam betrachteten Stellen, vor allem
durch eine entsprechende Einstellung des Wettstreites, auch bei stets
nur ganz kurzdauernder monokularer Betrachtung zu leisten vermag.
Wenn auch unter den vorhandenen Ausdehnungsverhältnissen eine
ganz genaue Vergleichbarkeit zwischen den peripheren Reizbe-
dingungen der gereizten Stellen nicht vorhanden war, wobei besonders
die centralen Punkte relativ am meisten zurückstanden (s. oben S. 45),
so ist jedenfalls schließlich eine hinreichende Gleichmäßigkeit der
Minimalwerte vorhanden'), um in der Schwelle für die Helligkeits-
veränderung ein gutes Reagens für die Verschiebungen durch die
Verteilung der AufTassungsfahigkeit erkennen zu lassen, soweit sie auf
zentraleren Faktoren als der äußeren Akkommodation oder der Erreg-
barkeit einer Stelle für Helligkeit überhaupt beruhten.
2. Die Verteilung auf das ganze monokulare (linke) Sehfeld.
Zugleich mit den ersten Normalschwellen war auch bei dieser Anord-
nung sogleich wiederum ab erste Verteilungsform das Extrem der
Verteilung auf das ganze Sehfeld behandelt worden, nur eben durch-
gängig mit der Ermöglichung absoluter Bestimmungen durch die
Photometrie (Haupttabelle 3. Vertikalreihe). Das eigentliche psycho-
logische Endresultat ist jedoch nach unseren Voraussetzungen der
*) Die höheren Werte der Peripherie zeigen zugleich, daß hier, bei diesem
Grade der Helladaptation, vielleicht keine absolut größere Begünstigung vorli^, zn«
mal die Aosdehnnngsverhftltnisse bereits etwas zugunsten der Peripherie verschoben
sind. Über die physiologischen Err^barkeitsverhältnisse ist "aus diesen Schwellen-
beobachtungen jedoch nicht ohne weiteres etwas Bestimmtes zu entnehmen. Zu
diesen wenigstens relativ dem Centrum nahe stehenden Werten können bereits Kompen-
tationen der geringeren Zahl perzipierender Elemente und der dioptrischen Schwierig-
keiten durch günstigere Erregbarkeits- und Ablaufsverhältnisse mitgeholfen haben.
Übrigens läßt diese Anordnung des Projektionsperimeters sehr schneU den sicheren
Nachweis der schon von Exner beobachteten späteren Verschmelzung inter-
mittierender Eindrücke in der Peripherie simultan und bei wirklich gleicher
subjektiver Helligkeit Überblicken. Ein im Brennpunkt F^ oder F langsam rotieren-
der Episkotister läßt die peripheren Flächen oder einzelnen Punkte noch lange stark
flimmern, während die Gebiete um die Fovea längst verschmolzen sind«
Digitized by VjOOQiC
Die Klarheitsgrade der Rtgioaen des Sehfeldes usw.
73
EiilleituJD^ nur in jenen Verhältniswerten zu sehen, die nun für
die verschiedenen Verteilungsformen, gewissermaßen als ein Grundriß
des Klarheitsreliefs, gemäß dem oben Fig. 6 erläuterten Schema, hier
überall beigefügt sind, weil die hierbei entscheidenden Raumbezie«-
bungen in dieser Darstellung allein vollständig und zugleich am ein*
fiMchsten zu überblicken sind Der Verhältniswert der Normalschwellen
ist also hier überall = i angesetzt. Der Wert dieser Karten ist
ganz unabhängig von unserer psychologischen Deutung,
die z. B. auch im Sinne rein dispositioneller Verhältnisse
erfolgen könnte.
Das mittlere Verhältnis zu den Minimalwerten ist nun hierbei für
diese Totalverteilung sehr groß, nämlich 1,65. Dagegen weichen
sie von den mittleren Maximalwerten, die wie gesagt, keineswegs
alle dieser ersten Reihe entstammen, nur imi 1,08 ab und erst
von dem Mittelwerte zwischen beiden um die auch früher ge-
wöhnlich ohne weiteres ungefähr gefundene Verhältniszahl von
1,22. Jedenfalls scheint aber soviel gewiß, daß diese Werte für
die Totalverteilung bei späteren Wiederholungen, in unmittelbarer
Ausnutzung der Gesamtübung, be-
deutend gesunken wären. Leider
konnte bei der Begrenztheit der
Zeit diese Rekapitulation nicht vor-
genommen werden, zumal die Atro-
pinversuche eine längere Pause
notwendig machten. Die übrigen
Versuche mit ganz ähnlichen Ver-
teilungsbereichen bei maximalem
Übungsstande geben jedoch hierfür
hinreichende Gewähr. Eine spätere
Wiederaufnahme der nämlichen
Versuche mit den schon öfter erwähnten größeren Ausdehnungen
der Zusatzreize (nach den Reaktionsversuchen) ergab nach der Reihe
mit den oben erwähnten Normalschwellen (im auf- und absteigenden
Verfahren) mit einer ähnlichen räumlichen Streuung der Werte wiederum
ein Verhältnis von 1,25 (vglS. 70). Interessant und aus dem subjektiven
Verfahren bei dieser Verteilung der Aufmerksamkeit wohlverständlich
ist die relativ geringe Benachteiligung der peripheren Region
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Fig. 9.
Digitized by VjOOQiC
74
Wilhelm Wirth,
(P. 32 — 37), welche sich nur um 1,45 verschlechtert, während die
Punkte der mittleren Breitenzone, also 5 — 31, die wesent-
lichste Veränderung erleiden. Die Steigerung beträgt hier sogar 1,75.
Das Zentrum des Sehfeldes muß eben schon wegen der Fest^
haltung der Fixation mit im Auge behalten werden, so daß P. i — 4
auch hier nur um 1,20 schlechter als bei voller Konzentration auf-
gefaßt werden. Anderseits klammert sich die Verteilungstendenz,
zumal bei den ersten Versuchen, mit besonderer Energie an die Peri-
pherie des Sehfeldes, während die mittlere Zone am meisten über-
gangen wird, wenn man das Bewußtsein einer wirklichen Verteilung
auf das Ganze in seinen vollen Grenzen erlangen will. Einen Teil
der geringeren Variabilität der Peripherie wird man freilich, wie später
noch ausführlicher zur Sprache kommen soll, der zu geringen Klänmgs-
fahigkeit überhaupt bei den seitlichen Konzentrationsversuchen zuzu-
schreiben haben, die eben eine relative Zunahme der Normalschwelle
nach der Peripherie zu bewirkt, während die mittlere Zone in dieser
Hinsicht noch günstiger gestellt ist. Die an und für sich geringere
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Fig. 10. Fig. II.
Klarheit der Peripherie beim Konzentrationsversuch, der die ohne
besondere Beachtung vorhandene Auffälligkeit von Veränderungen in
dieser Region nicht wesentlich zu erhöhen vermag, wird also anderer-
seits auch durch die geringere Beachtung der einzelnen Stelle durch
die VerteUung nicht wesentlich vermindert
3. Die Verteilung auf eine Hälfte (zwei Quadranten) des
Sehfeldes. — Versuch einer Messung der Klarheitsgrade
in der unbeachteten Region. Von besonderem Interesse ist
natürlich die Frage der Abhängigkeit unseres Klarheitsmaßes von der
Größe des Verteilungsbereiches. Zur genaueren Beantwortung dieser
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw. -^5
Hauptfrage wären freilich völlig gleichartige Übungsbedingungen für
sämtliche Verteilungsfonnen notwendig. Die Einschränkung auf die
Hälfte des Sehfeldes, deren Prüfung an zweiter Stelle begonnen und
durch die ganzen Versuche hindiu-ch fortgesetzt wurde, zeigte in
den am einheitlichsten durchgeführten Reihen der Verteilung auf die
rechte, bzw. auf die linke Hälfte (Quadrant. III und IV, bzw. I und II)
ein mittleres Verhältnis von 1,33 für die jeweils beachtete der
Hälften. Dabei ist dieser Wert in der Tat den Minimalwerten für die
Normalschwellen gut vergleichbar, da die Reihen für ihre Ableitung
zu gleicher Zeit stattfanden. Daß dagegen der Wert zugleich eine
ungefähre Mittelstellung zwischen dem Verhältniswerte für die Total-
verteilung unserer letzten Versuche (1,65) und dem Konzentrations-
werte I einnimmt, kann nach dem oben über die Totalverteilung
Gesc^en nicht als endgültiges Ergebnis unter vergleichbaren Übungs-
bedingungen betrachtet werden. Der vergleichbare Wert liegt für die
Hälfte vielmehr demjenigen für die Totalverteilung viel näher. In der
Tat wiu-de auch schon früher von Tridapalli mit der zweiten Anord-
nung fes^estellt, daß die ungefähre Mitte zwischen dem Verhältnisse
der Totalverteilung von etwa 1,25 (1,22 bis 1,27) und dem Konzen-
trationswert von dem Werte für die Quadranten-Verteilung einge-
nonmien werde. Mit der Überschreitung des Gebietes für den ein-
zelnen Punkt scheint man sich also schnell den oberen Werten für
die größte Verteilung im Sehfeld überhaupt zu nähern. Die Gesamt-
leistung erscheint hierbei der subjektiven Leichtigkeit der Verteilungs-
aufgabe gut zu entsprechen. Die Anstrengung der Verteilung über-
haupt wächst zwar zunächst mit der Größe des Bezirkes; indessen wohl
keinesw^s proportionsü. Denn die gleichmäßige Ausspannung der
Beobachtung über das ganze Sehfeld hat in gewissem Sinne deshalb
auch wieder leichteres Spiel, weil die stets behutsame Berücksich-
tigimg einer bestimmten Abgrenzung der Verteilung in Wegfall
kommt. Letztere ist ja von der Konzentration auf einen einzelnen
Punkt (vgl. S. 82) verschieden, wo man sich einheitlich an eine Stelle
hält, ohne weiter zu beachten, ob noch bestimmte Teile der Umge-
bung unwillkürlich etwas mitbeachtet werden. Wenn indessen der Be-
reich größer wird, so muß zunächst neben einer positiven Ausdehnungs-
tendenz zugleich eine Einschränkung hinzutreten, wobei die Grenzen
mit der Größe des Bereiches selbst immer schwieriger zu überschauen
Digitized by VjOOQiC
76 Wilhelm Wirth,
sind, also selbst innere Konkurrenz oder gewissermaßen Reibung
hinzubringen, welche der Beobachtung^sleistung nicht zi:^te kommt.
Auch bildet die unvermeidliche Beachtung der fovealen Region zur
Aufrechterhaltung der Fixation eine Art von konstanten Summanden
für alle Verteilungsformen, auch bei kleinster Ausdehnung. Dazu kommt
nun bei der Hälfte, daß das Hindurchgehen der Grenzlinie der Region
durch denFixationspunkt selbst dem ganzen neuen Gleichgewichtszustand
die systematische Erleichterung raubt, welche bei der Totalverteilung
durch die zentrale Lage des Fixationspunktes, sozusagen im Schwer-
punkt des Ganzen, gegeben ist.
Der Schwierigkeit der Verteilung der Aufmerksamkeit auf das
Innere des zu beachtenden Bereiches selbst entspricht hier aber nun
auch eine gleichgroße Erschwerung der Lösung einerneuen
Frage, über die wir hier zum ersten Male berichten können,
nämlich der Analyse des gesamten Sehfeldes bei bestimmter
Einschränkung der Beachtung in engere Grenzen. Bei der
Verteilung der Aufmerksamkeit auf das Ganze fehlt natürlich die Mög-
lichkeit hierzu, weil hier eine nicht zu beachtende Region eben durch
die Voraussetzung ausgeschlossen sein sollte. Bei der Hälftenvertei-
lung kommt aber nun ein annähernd ebenscr großes nicht zu beach-
tendes Feld vor. Für die Frage der Konkurrenz der einzelnen
Klarheitsgrade unter sich besitzt natürlich diese Frage ein besonderes
Interesse, weil sie über diejenige Region des Gesamtbestandes Auf-
schluß geben soll, der nach jenem Bilde der Konkurrenz gewisser-
maßen die Kräfte zur Leistung der VeränderungsaufTassung, welche
sonst der Beachtung zugute kommen, am meisten entzogen werden
müßten. Die schon von andrer Seite experimentell in Angriff ge-
nommene Frage ') wurde meist sehr skeptisch behandelt, da man aus
dem Bewußtsein des Beobachters, daß auch in dem nicht zu beach-
tenden Gebiet überhaupt etwas vor sich gehen solle, die Unmög^ch-
keit ableitete, jene volle unbefangene Konzentration auf das der Ver-
abredung nach zu beachtende Gebiet aufrecht zu erhalten. In der
Tat g^ndete sich ja auch unsere Methode zunächst vor allem darauf,
daß wir von der vollen Unwissentlichkeit über den speziell zu ver-
ändernden Punkt bei Kenntnis des Gesamtbereiches aller Reiz-
») Vgl. Wundt, Phil. Sted. XX, S. 625 mit Anm. i.
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Die Klarhdtsgnde der Regionen des Sehfeldes usw. ^y
mögUchkeiten einen unwillkürlichen Antrieb der Beachtungstetidenz
zur Sicherung der Verteilung gerade nur auf dieses Gebiet erwarteten.
Dennoch überzeugte ich mich durch die Ausfuhrung dieser Versuche,
daß eine hinreichende Aufrechterhaltung der Verabredung möglich sei,
wenn man nur das positive Interesse bei sich wach erhält, dem
Minimalwerte, der zunächst bei konzentrierter Aufmerksamkeit
(oder bei merklich innerlich ungestörter Erwartung von
Reizen ausschließlich in dem zu beachtenden Gebiete)
erlangt worden war, wieder möglichst nahe zu kommen.
Diese Hilfsvorstellung muß aber nun weiterhin durch fortwährende
Darbietung von etwas über- und untermerklichen Reizen in der zu
beachtenden Region seitens des Experimentators unterstützt werden,
worin außerdem zugleich eine objektive Kontrolle für die
wirkliche Einhaltung der Hauptforderung zur Beachtung des
verabredeten Gebietes enthalten ist. Der objektive Hinweis auf
dieses Nachlassen der Leistung, der mit dem subjektiven Nachlaß
der geforderten Tätigkeitsrichtung durchw^ übereinzustimmen pflegte,
also gewissermaßen wie ein rechtzeitiger Mahnruf stets auf die richtige
Einstellung zurückleitete und dadurch einen Maßstab für die Selbst-
kontrolle an die Hand gab, schuf in der Tat eine große Annäherung
an den Zustand, in welchen man sich um das nicht zu beachtende
Gebiet überhaupt nidit kümmert und nur innerhalb des verabredeten
das Beste zu leisten sucht Auch hier ist natürlich das andere Extrem
ferne zu halten, daß man durch ängstliche Scheu vor einer Ablenkung
dem » verbotenen € Bereiche nur eine um so größere Aufmerksamkeit
zukommen läßt. Anderseits kann man doch auch das Gelingen
dieser Einhaltung nicht etwa durch den Begriff der »Autosuggestion«
auf das Gebiet des Abnormen hinüberschieben wollen. Wenn auch
diese Versuche auf die extremen Fälle wirklich abnormer Aufmerk-
samkeitseinschränkungen tatsächlich manches Licht werfen können,
so geschieht es doch immer von normalen Bedingungen aus, welche
mit einer selbständigen, freien, in dem Interesse für die Versuche
im ganzen eingeschlossenen natürlichen Triebfeder der willkürlichen
Aitfmerksamkeit arbeiten und daher auch nur eine ganz bestimmte,
sogar relativ geringe Einschränkung der Wahrnehmungsleistung in
dem nicht zu beachtenden Gebiete hervorbringen. Gerade dies sind
aber auch die Verhältnisse des normalen alltäglichen Lebens, während
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-jS Wilhelm Wirth,
eine abnorme Versenkung in engere Bereiche durch eine abnorme
relativ viel geringere » Ablenkungsfahigkeit« ausgezeichnet sein müßte.
Der Verlauf der Reihen, die zur Auswertung der unbeachteten
Region dienten, war ein ganz analoger, wie für das unwissentliche
Verfahren überhaupt Auch wurde hier von der Möglichkeit zur
schnellen Auswechselung eines Punktes fiir die beachtete und die
unbeachtete Region nach dem soeben Gresagten fortwährend Gebrauch
gemacht. Auch hier blieb übrigens die oben S. 65 genannte Regel
bestehen, daß Unsicherheitsurteile schon in dem ganzen Bereiche
zwischen der sicheren Schwelle bei Ablenkung und dem wissent-
lichen Konzentrationswerte vorkamen. Doch kamen auch relativ viel
mehr völlig falsche Lokalisationen im Unsicherheitsbereiche vor, ein
Umstand, dessen Erfahrung seitens des Beobachters andererseits auch
wiederum die spätere Wiederherstellung des unbefangenen Stadiums
proportional erleichterte.
Glücklicherweise waren aber die Versuche bei der Hälftenverteilung
weder überhaupt die einzigen noch zeitlich die ersten dieser Art
Denn ihr Ergebnis könnte zunächst wenigstens scheinbar eher einer
Leugnung der exakten Durchführbarkeit solcher Versuche das Wort
reden. Bei ausdrücklicher Beachtung nur der rechten Hälfte zeigte
sich hier (Qu. HI und IV) der Mittelwert 1,35. Für die Punkte der
unbeachteten linken Hälfte aber ergab sich nun fast ganz
genau der nämliche Wert : 1,36. Und ganz analog war bei
Beachtung der linken Hälfte der Wert für die linke Seite 1,305,
und bis auf die dritte Dezimale stimmt hiermit der Mittelwert für die
hier unbeachtete rechte Hälfte überein. Leider waren für die vorher
vorgenommenen Beobachtungen der oberen bzw. der unteren Hälfte
nicht alle Punkte der zu beachtenden Region auch exakt photo-
metriert worden. Ein mittlerer Vergleichswert dieser Punkte ist
ftir die Beachtung der oberen Hälfte 1,33, für die der unteren
Hälfte 1,38. Dem stehen aber in der unbeachteten Region nur
die Werte 1,34 für die unteren Punkte (Qu. 11 u. IE) und 1,32 für
die oberen (I u. IV) gegenüber, also ebenfaUs Werte, die im Mittel
nur ganz wenig von dem Mittelwert ftir die Hälftenbeachtung unter
ganz ähnlichen Übungsbedingungen abweichen. Auch durch
eine Zerlegung in peripherere und zentralere Regionen ist hier höchstens
bei einzelnen, z. B. ganz extremen Punkten der Einfluß der Beachtung
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Die Klarbeitsgrade der Regionen des Sehfeldes asw. yg
und der Nichtbeachtung der Region zu verdeutlichen, z. B. bei Fig. 1 1
der unbeachtete P. 37 mit dem Verh. zur Normalschwelle 1,82, während
dagegen die beachteten P. 3 mit 1,33, P. 32 mit 1,17 die niedrigsten
Werte aufzeigen. Bei der umgekehrten Verteilung (Fig. 10) besitzt
dagegen P. 37 ™t i»^? seinen niedrigsten Wert, dagegen zeigen die
hier unbeachteten P. 3 1,78 und P. 32 wenigstens 1,39. Der Haupt-
eindruck, der in diesen durchschnittlich gleich niedrigen Schwellen
des gesamten Sehfeldes zur Geltung kommt, ist eben der, daß die
Klarheit im Sinne der tatsächlichen apperzeptiven Abhebung der
Veränderungsinhalte aus der Wahrnehmung ihres Hintergrundes auch
in der nichtbeachteten, aber doch wenigstens noch überhaupt be-
wußten Region trotz korrekter Einhaltung der Verabredung, also
auch ohne triebartige Ablenkung der Aufmerksamkeit, relativ sehr
groß wird '), wenn einmal eine durch die ganze Breite des Sehfeldes
sich hinziehende Aufklänmg in einem größeren Bereiche willkürlich
erreicht worden ist. Gerade die völlige Übereinstimmung der Mittel-
werte nötigt zu dieser Annahme, daß dem größeren Verteilungs-
bereiche der beachteten Region nicht etwa nur eine größere
Störung der übrigen Auffassungsmöglichkeit entspricht, als ob in der
unbeachteten Region nur gesteigerte Konkurrenz bestehe. Denn eine
so vollständige Gleichstellung der Mittelwerte könnte doch nicht etwa
nur durch eine bloße Ablenlamg erreicht werden, wenn wirklich die
tatsächliche Klarheit, also das apperzeptive Heraustreten selbst, mit
der Richtung unseres Interesses, unserer Willensanspannung oder unseres
Impulses zur Erreichung bestimmter Klarheitsgrade im engeren Sinne
identisch wäre, die sich natürlich nur auf die beachtete Region bezieht.
Die in größerer Breite tatsächlich erreichte Klarheit kommt eben auch
') Die theoretischen Ansfühningen, die erst nach Abschloß der Darstellung meiner
analogen Versoche anf anderen Sinnesgebieten beigefügt werden, haben auch die Frage
zn diskutieren, ob nnd inwieweit gerade in der nicht beachteten Region die Mög^
Hchkeit positiver Faktoren für eine bessere tatsächliche Erkennung von Verände*
ntngen vorhanden ist. Mit der apperzeptiven Rnhe einer Region könnte neben der
mangelnden Obnng and der Begünstigung von Assimilationen und Verschmelzungen,
welche die Auffassung neuer objektiver Momente überdecken, eine Art apper*
zeptiver Erholung zusammen bestehen, wahrend in dem beachteten Gebiete eine
Art Abnutzung entsteht Hierher gehört femer auch der wichtige Begriff der »Ab-
fluBtendenz« von Th. Lipps (Grundtatsachen des Seelenlebens, 1883, S. 330 ff.,
Leit&den der Psychologie, S. 77 und 104 ff. u. a.).
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8o
Wilhelm Wirtb,
dem gesamten Sehfelde in seinen übrigen unbeachteten Teilen zugute,
die ja bei so großer Ausdehnung des beachteten Gebietes nur noch
um so kleiner sein können und räumlich fast überall bis auf die Extreme
zu jenen beachteten Teilen in innigster Beziehung der Nachbarschaft
stehen. Allerdings geht damit Hand in Hand, daß auch die wirkUdien
Ablenkungen, wie sie ohne Kenntnis gelegentlicher Veränderungen im
nicht zu beachtenden Gebiet nicht vorkämen, zahlreichere und tief-
gehendere sind. Von den wirklichen Fehlern dieser Methode, die
ohne weiteres zugestanden werden müssen, wird also jedenfalls hier
bei der Hälftenverteilung relativ eine gfrößere Aufbesserung der nicht
zu beachtenden Region erfolgt sein, als bei den später zu berichten-
den Versuchen. Leider stand uns keine Zeit zu neuen Versuchen
mehr zu Gebote, durch welche die Hälftenverteilung usw. ohne diese
gleichzeitige Messung des gesamten Feldes gemessen wurde. Die
vorher vorgenommenen hier nicht mit angeführten Vorversuche zeigen
sog^ etwas höhere Schwellen, was der geringeren Übung entsprach.
3. Die Verteilung auf einen (den ersten) Quadranten.
Bei dieser Enge des Verteilungsbereiches war bereits eine deutliche
Abhebung des beachteten von dem
nicht beachteten Gebiete zu er-
kennen, welch letzteres von jetzt
ab überall in die Analyse mit ein-
bezogen wurde. Der erste allein
beachtete Quadrant zeigt als Ver-
hältnis zum Konzentrationswert das
Mittel 1,24, wobei die leichte Verbin-
dung mit der Fixationstendenz vor
allem im inneren Bereich bei P. 1,
5 und 6 mit dem Mittel von nur
1,16 zur Geltung kommt, während außen 1,32 bleibt Für die nicht
beachteten drei anderen Quadranten ergibt sich hingegen 1,43, wobei
nur wiederum die centrale Region relativ besser gestellt ist.
Leider entstammen die Mittelwerte für die Untersuchung mit Be-
achtung der übrigen Quadranten aus den ersten noch nicht voll ein-
geübten und nicht stets photometrisch kontrollierten Beobachtungen.
Ihr annähernder Mittelwert von 1,34 zeigt indessen zur Genüge, daß
die Einfuhrung der Analyse der unbeachteten Region für die Wieder-
Fig. 12.
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw. 3i
holqng beim i. Quadranten die Differenzierung der Apperzeption
nicht aufgehoben hat. Am besten tritt dies nun aber zutage, wenn
wir hier innerhalb der unbeachteten Region Zonen von
verschiedener Entfernung vom beachteten Gebiet zu-
sammenfassen und die allmähliche Steigerung der relativen
Schwellenwerte verfolgen. Hier ist der unbeachtete Teil des Seh-
feldes wirklich groO genug und nicht wie bei der Hälftenregion in
der ganzen Breite der beachteten Region entlang angespannt,
sondern es bleibt deutlich erkennbar in dem entgegengesetzten
Winkel eine Reg^ion von der willkürlichen Beachtung tatsächlich be-
sonders unberührt. Die Gruppierung wurde ohne jegliche Kenntnis
des Resultates nach einem einfachen Prinzip, natürlich nicht völlig
frei von Zufälligkeiten so ausgewählt, daß man den inneren Grenzen
des I. Quadranten entlang die gleich entfernten Punkte zusammen-
sucht:
L QmadiaBt Entfernung I Entfcmimg n Entfernung m Entfemvng IV
(9 Punkte,
Punkt
Punkt
Punkt
Punkt
s. Hanpttabelle)
35» 27, i6,
36, 28,
37, 29,
30, 31,
7, 2, 3, 4,
17, 8, 9,
18, 19, 20,
32, 33
12 n. 24
10, u, 23
21, 32.
I^Gttelwcrt des Verhftltnisses
zom
K.-W. I.
1,24
1,326
1,37
1,475
1,57
Differenz o
,08
0,044
0,
105
0,0095
VerhältnU i
,06
1,04
I,
07
1,065
Entfernt man sich also von der Horizontal- Vertikalgrenze immer
weiter nach der unbeachteten Region zu^ so steigen die ab Klar-
heitsmaße benutzten Verhältniswerte zuerst etwas langsamer, dann
etwa3 schneller 9 aber stetig an, und das mittlere Verhältnis des
GröQenfortschrittee beträgt von Region zu Region in der hier ge-
wä}iltea Breite mit sehr geringer mittlerer Variation ca. z,o6« Auch
hier ist neben dieser Abnahme die tatsächlich noch übrig bleibende
KUurheit der HeUigkeitsaußassung in den übrigen Quadranten he;-
merkenswert. Vergleicht man endlich den Mittelwert des gesamten
Sehfeldes 1,3^ dieser Verteilung mit der Hälftenbeaohtung, so hat
m9A. hierin bei gut vergleichbaren Übungsbedingung^n, ein gewisses
Abbild der etwas ungültigeren Situation für das gesamte Feld, welche.
mit der Erhöhung der Klairheit in dem einen Quadrai^en verbunden
ist Diese Erhöhung kommt eben hkr^ ganz anders wie bei der Hälften-
Wnndt, Psychol. Studien U. 6
Digitized by VjOOQiC
82 Wilhelm Wirth,
Verteilung, für den beachteten Quadranten im Verhältnis zum übrigen
Sehfeld wirklich zustande und setzt den Schwellenwert etwa in das
obere Drittel zwischen dem Hälftenwerte 1,33 und i herab.
4. Die Konzentration auf einen einzelnen Punkt von be-
liebiger Lage im Sehfelde. Von dieser Seite kehren wir also nun
unter einem allgemeineren und erweiterten Gesichtspunkte zu dem
Experimente zurück, von dem wir bei der Ableitung unserer sog.
Normalschwellen ausgingen, nämlich zu der Beachtung eines einzelnen
Punktes, und zwar zunächst von beliebiger Lage, um auch hier den uns
bereits bekannten Effekt dieser Einstellung ftir den einzelnen Punkt
selbst hinsichtlich der noch verbleibenden Klarheitsverteilung
im gesamten übrigen Sehfelde zu ergänzen. Die Schwierig-
keiten einer Einhaltung der Konzentration überhaupt trotz der
Kenntnis beliebiger Reizmöglichkeiten, welche bei der Hälftenver-
teilimg so große waren, bei der Quadrantenverteilung aber, von
der nächsten Grenze vielleicht abgesehen, bereits leichter überwunden
werden koimten, erschienen hier abermals etwas verringert, insofern
das Erlebnis der Konzentration auf einen einzelnen Punkt der ge-
wöhnlichen natürlichen Einstellung an und für sich näher liegt, da
ja der einzelne Punkt ihr gewißermaOen einen besonderen Halt verleiht,
ein Bild, das überhaupt die verschiedene Bezeichnung der Einstellung
als >Verteilung€ vorhin und als > Konzentration c hier zu rechtfertigen
vermag, während doch das Endziel, die Klarheitssteigerung an be-
stinmiten Stellen überhaupt, ein gemeinsames ist. Das Bewußtsein
einer äußeren Grenze, bis zu welcher allein man noch achtgeben soll
oder will, fallt hier vollkommen weg; es ist allein noch die innere
Bestimmung der Lage selbst, von welcher man nur wie von einem
Punkte aus eine Abschweifung nach außen überhaupt möglichst hint-
anzuhalten sucht Die dankbarste Aufgabe erschien zunächst ein
peripherer gelegener Punkt, wenn auch nicht zu peripher, um den
Ablenkungstendenzen nicht durch eine allzu unnatürliche Exzentrizität
zuviel Unterstützung zukommen zu lassen. Denn auch in dieser
Einstellung muß ja nun einmal der Fixationspunkt notwendig im
Auge behalten werden. Es war der Punkt 25 mit 7,8° Breite und
im Meridian 32® über der Horizontalen links von der Mittellinie.
Ein Blick auf das (stark umgrenzte) Feld der verabredeten Ten-
denz zeiget aber hier keineswegs den Wert i, sondern sogar 1,35,
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Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw.
83
also einen der mittleren Hälftenverteilung entsprechenden Wert, und
selbst wenn man den hier in der Tat aus der Umgebimg des P. 26
und 14 etwas herausspringenden Normalwert des P. 25 0,99 auf
etwa 1,12 erhöhen wollte*), so bliebe immer noch ein bedeutend
höherer Wert 1,12 als die unterste Grenze für seine Erkennung
bei solchen Nebenbedingungen übrig. Dagegen stimmt P. 14
vöUig mit seinem Minimalwert überein. Der ähnlich peripher ge-
l^ene Punkt 26 aber wird sogar zufallig noch etwas feiner aufgefaßt
als bei dem oben genannten Minimalwert. Man gewinnt also durch-
aus den Eindruck, daß die Absicht, Punkt 25 zu beachten, gegen-
über der Kenntnis jener fortwährend eingestreuten Nebenversuche
nicht vollständig stand zu halten vermag. Die Richtung nach dem
Fixationspunkte zu (zugleich also
nach dem übrigen, nicht beachteten
Sehfelde) und außerdem die spezielle
Gr^entendenz gegen die schwierige
»Erhöhung« der Aufmerksamkeits-
richtung über die Horizontale,
welche mit den Fixations-
tendenzen auch psychologisch
aufs engste verknüpft ist, läßt
schließlich eine Art Kräfteparallelo-
gramm zustande kommen, woraus
sich eine Verschiebung des Feldes größter Klarheit nach innen, unten
und in die Breite ergfibt
Der Fehler, der in dieser gleichzeitig dem Beobachter bekannten
Messung des nicht beachteten Sehfeldes als vorhanden jedenfalls
zugestanden werden muß, der uns aber nicht zur Aufgabe des ganzen
Unternehmens verleiten darf, läßt sich also hier wie auch bei andern
Problemen durch einen Überblick über die Funktion selbst bis zu
einem gewissen Grade eliminieren, sodaß trotzdem ein Einblick in
einige Verhältnisse der unbeachteten Region, insbesondere über das
ungefähre Verhältnis des Fortschrittes der Klarheitsabnahme übrigbleibt.
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Fig. 13.
') Es ist nicht ansgeschlossen, daß der reine Minimalwert fUr P. 25 auf Gmnd
dieser Einübung, ihn trotz der Ablenkongstendenzen bei seinem Vorkommen kon-
zentriert za beachten, bei ausschließlicher PrüfiMig relativ noch niedriger wnrde.
6*
Digitized by VjOOQIC
84 Wilhelm Wirth,
Wir setzen demaswA die Gruppen zur Übersicht über den Fort-
schritt der Sdbwellensteigeruflg wiederum wie folgt zusammoi:
P.»5,i4,a6 J4, 15, 6, 5, 13 35»27, I«, 36,28,17,8, 37, «9, 18, 3, 30,31,19,20,
7,1,12,24 2,4,11,23 9,10,22 21,32,33
i,oi 1,29 (1,55) hZl Ml ',587 '>43
•+- Oy2S + 0,02 + 0,10 •+• 0,10 -
1,2a 1,015 1,08 1,07 1,51
Eine auflfalüge Diskontinuität bei P. 16, Gruf^ m wurde hier
im nicht eingeklammerten Mittel weggelassen, obgleich nun der Wert
vieBtticbt etwas zu klein ist. Außerdem lieD sich Gruf^ V und
VI leicht in eine zusammenziehen. Indessen ist nicht ausgeschlossen,
daß hier eigenartige Differenzierungen hervortreten, die aus dem
unmittelbarem Erleben der Konzentration nicht unerldärbar wären.
Denn auch hier gilt bis zu einem gewissen Grade der Satz, daß sich
die Extreme berühren, und dadurch Gruppe VI wiederum vor V w^en
der symmetrischeren Lage zum P. 25 einen gewissen Vcn^ug hat.
Andererseits kann unser korrigiertes Mittel von HI deshalb richtige
sein, weil die foveale Region durch die Festhaltung der Fixations-
tendenz sogar wiederum eine Erhöhung der Klarheitsgrade geg^enüber
der durch die Konzentration auf 25 bedingten Konkurrenz zeitigen
müßte. Tatsächlich stimmt das ganze Mittel III auch mit dem von
I, 2, 3 und 4 (1,30) sehr gut zusammen. Die sonstigen z. T. wohl
zufälligen Differenzierungen innerhalb der Querrichtung der Zusammen-
fassimg selbst, also senkrecht zur Fortschrittsrichtung lassen sich am
besten auf dem Plane überblicken. Betrachtet man audi hier wiedw
vor allein das Mittel der Faktoren für die Zunahme von einer (redu-
zierteti) Gruppe zur anderen 1,1 1, so zeigt dies eine ziemliche Steigfe-
rung gegenüber der Verteöung auf einen Quadranten. Indessen
führt dieser mittlere Fortschritt in vier Abschnitten auch viel weiter
von der beachteten Regfion hinweg, da }a hier schlie^ch fest das
gesamte Sdifeld dazwischen liegen kann. Der höchste Gruppenwert
1,38 ist auch dabei nicht höher wie bei der Quadrantenverteilung, und
beginnt nur eben (^ Erhöhung in den an 23 angrenz«nd«i RegicMien
wirklich auf einem Niveau nahe bei i, was beim Quadranten nicht der
Fall sein konnte. Der Mittelwert d^ gesamten unbeachteten Seh-
feldes (also wt Au^sclUuß der wSlkürüch maximal beachteten Region)
ist 1,41 (hierbei ist der jedenfalls zu grofie Wert von 16 mitgerechnet,
Digitized by VjOOQiC
Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw.
«15
sonst 1,39), also ganz ähnlich wie bei der Quadrafttea^be'-
achtung. Auch nach dieser Seite sdieiaeQ also die Vetbältilisoe
der inneren, von emem niedrigeren Niveau bei 25 a»89trahlewtea
Werterhöhungen ganz analoge zu sein. Einer weiteren Ausbeutung
der Ergebnisse zu Detailberechnungen stehen auch hier vorläufig die
schwer genau kontrollierbaren Fehler der unwillkürlichen Ablenkung
im Wege.
5. Konzentration auf die Mitte des Sehfeldes. Iti allea
bisherigen Verteäungsaufgaben und in der Ableitung der Norawi*
schwellen war neben der eigentlich allein zum Experiment erfordere
liehen Konzentrationsabsicht die Beachtung der fovealeii Regier zur
Aufrediterhaltimg der Ffacation erforderlich. Zur gröüereft Einlicät-
lidikdt waren daher auch sämtliche 37 Punkte extra-foveal gewillt
worden. Audi ließ das Trichterperimeter ja in der Tat kt der Wer
verwandten zuge^itzten Form, die sich natürlich auch kioht Ä*
ändern BeÖe, eine gleichartige Prüfung der fovea mdht zu. Dcamoch
erschien es von besonderem Interesse, den Fixatioöspxöikt selbst in
einer besonderen Reihe als einzigen Apperzeptionspunkt festzuhalten,
aber zugletdi sämtliche andere Punkte mit zu untersuchen, tmd als
Kontrollreiz für das Fehlen von Ablenkungen die Helligkeit so zu
wählen, wie sie sich bei Öffiiung einer mittleren Durdtbolirang der
Blechtrichterspitze ergab. Die Verändenmgsschwelle cfieses zentralen
Punktes lag in der Nähe der übrigen und ergab wiederum in der Tat
die präzise Möglichkeit der Aufrechterhaltung dieser Schwelle trotz jener
Nebenumstände. Das interessante
Ergebnis, das auf einem Übungs-
stadium ähnlich demjenigen der Mini-
malwerte und der Beachtung der
rechten und linken Hälften gewonnen
wurde, entsprach durchaus der Tat-
sache, dafi wir hier die natürlichste
Einstellung der Aufmerksamkeit vor
uns hatten; denn sowohl die mitt-
lere Leistung als auch die Abstufung
der Klarheitsgrade im gesamten Seh-
feld zeigt hier die günstigsten Verhältnisse. Das Mittel aus sämÄchen
Verhältnissen zu den Minimalwerten ist nur 1,20. Der Ansti^ nach
1Z4
m
x^
/5/^x
120
101
v^\^
f2o\m[f4slm^
Tm
^
^fZf\l22\f0f\^
fSs\foo\r/o\f/s^
^
ml
^mlfezjm]
m
m
m
^jfy^^^"^
Fig. 14.
Digitized by VjOOQiC
86 Wilhelm Wirth,
außen aber zeigft hier überhaupt nur sehr wenig Differenzierung. Die
fünf Gruppen entsprechen einfach den Punkten der verschiedenen
konzentrischen Kreisringe, wie sie aus Fig. 6 zu ersehen sind.
I n m IV V
i,i6 1,23 1,23 1,14 1,26
+ 0,16 + 0,07 o — 9 + 0,12
Von einem stetigen Anstieg nach außen kann hier kaum die
Rede sein. Schon bei dem i. Punkt ist beinahe der Mittelwert des
Ganzen erreicht, der in der mittleren imd äußersten Entfernung
nur wenig überschritten wird, während dazwischen sogar wieder ein
geringerer Wert als in I vorkommt. Selbst wenn dies mehr zufallig
wäre, gewinnt man das Bild einer nur sehr mäßigen Abnahme der
Helligkeitsklarheit, also eine ziemliche Gleichheit der Auffassungs-
bedingungen für die gesamte extra -foveale Region. Höchstens die
innerste Gruppe ist also relativ schlechter gestellt, was zugleich
auf eine gute Heraushebung der Konzentration auf die Spitze selbst
gegenüber der nächsten Umgebung hinweist.
Nun ist ja allerdings bei der mittleren Lage des maximal beach-
teten Punktes auch die Entfernung nach allen Seiten eine geringere
als für die Punkte mit den hohen Werten, die bei der Konzentration
auf den Punkt 25 gefunden wurden, oder selbst auf den I. Qua-
dranten, bei dem der Hauptnachdruck, der die Form der Abstufung
stärker beeinflußte, doch auch auf einem seitlichen Schwerpunkt
ruhte oder ihn umspielte. Dennoch ist auch bei ausschließlicher
Berücksichtigfung ähnlicher Entfernungen ein Vorteil der Konzen-
tration auf die Mitte unverkennbar. Er erklärt sich leicht aus
dem Wegfall der inneren Zwiespältigkeit, welche für alle seitlichen
Konzentrationen bei Festhaltung der Fixation vorhanden ist. Die
letzte Gruppe dürfte daher noch der reinste Ausdruck des mittleren
Klarheitsgrades der einzelnen Stellen sein, der ausschließlich durch
die Konkurrenz mit anders lokalisierten höheren Klarheitsgraden
innerhalb des Sehfeldes eingeschränkt ist, ohne daß zugleich die all-
gemeine Anstrengfung zur Herbeiführung und Aufrechterhaltung der
gewollten Verteilung störend eingriffe. Bei allen einseitigen Kon-
zentrationen sowohl auf einzelne Punkte als auch auf größere Gebiete,
wie den Quadranten, die Hälfte usw. findet dagegen außer der Herab-
setzung des Grades auf ein mittleres Niveau, so lange der Punkt
Digitized by VjOOQiC
Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes nsw. g?
nicht besonders beachtet wird, und außer der positiven Klarheits-
verminderung durch die Konkurrenz anderer mehr beachteter Inhalte,
wie sie auch bei der Beachtung der Mitte zu beobachten ist, eine
direkte Schädigung der Gesamtleistung durch schwierige Einstellungs-
anstrengungen statt, deren Anteil an der ganzen Erhöhung natürlich
nicht leicht abgeschätzt werden kann,
Zusammenfassung. Betrachtet man für die einzelnen Punkte
des Sehfeldes das Verhältnis der bei beliebig eingestellter Aufmerk-
samkeit vorhandenen Schwelle für momentane Aufhellungen zu der
Schwelle bei Konzentration auf einen Punkt als jeweiliges von der
peripheren Akkommodation unabhängiges Klarheitsmaß der Hellig-
keitsauffassung, so zeigt unter unseren Beobachtungsbe-
dingungen die Klarheitserhöhuug bei wissentlicher
Konzentration nur eine relativ geringe Steigerung des
mittleren Bewußtseinsgrades (im Verhältnis von etwa
1,2), gegenüber der ohne jede besondere Zuwendung der
Aufmerksamkeit zu dem gleichen Punkte und bei der
natürlichen Konzentration auf den Fixationspunkt der
Fovea vorhandenen Klarheit Mit dem Quadranten ist un-
gefähr bereits die Hälfte der Herabsetzung des Klarheitsgrades er-
reicht, die durch Verteilung überhaupt zustande kommen kann.
Indessen begannt bereits die Anstrengung der besonderen Tätigkeit
zur eigentlichen Verteilung der Aufmerksamkeit sich konkurrierend
geltend zu machen. Bei der Verteilung auf das ganze Sehfeld
fallt wahrscheinlich der Hauptanteil der Erniedrigung des Klar-
heitswertes dieser Störung zu. Doch trägt die Verteilung der
Aufmerksamkeit auf ein Gebiet jederzeit die Möglichkeit in sich,
einem beliebigen bei der Verteilung gerade maximal beachteten Punkt
einen höheren Klarheitsgrad zukommen zu lassen, als ohne diese
Verteilung. Die Art der Anordnung der Werte innerhalb des be-
achteten Gebietes läßt keine Konstanz eines bestimmten Klarheits-
reliefs im Sehfeld bei festgehaltener Fixation auffinden. Es sind
höchstens allgemeinere Gruppen in ihren Mittelwerten relativ konstant,
z. B. die Peripherie im ganzen usw. Vielmehr scheint eine fort-
währende Bewegfung der relativen Maximajnnerhalb solcher Regionen,
aber auch über sie hinaus für die Verteilung selbst charakteristisch
zu sein. Hierin ist eben zugleich der oben genannte Vorteil für *
Digitized by VjOOQiC
88 Wilhelm Wirth, Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes usw.
einzelne Punkte begründet, der dagegen in den Mittelwerten allein
nicht zum Ausdruck kommen kann. Die ungünstigste Stellung
bringt hierbei in seltenen Fällen höchstens eine Steigerung
der Schwelle auf das Doppelte mit sich, meistens aber
um sehr viel weniger. Das ungünstigste Gesamtmittel des Verhält-
nisses bei Verteilung ohne wesentliche Einübung ist etwa i,6o.
Die nicht zu beachtende Region wird bei der Kenntnis ihrer
experimentellen Analyse etwas aus ihrer völlig unbeachteten Stellung
herausgehoben, ohne daß die charakteristische Stellung im ganzen
dadurch unerkennbar würde. Je größer bereits die beachtete Region
ist und je mehr räumliche Begehung sie zur unbeachteten besitzt,
um so unmöglidier ist eine deutliche Unterscheidung innerer Ab-
stufungen abgesehen von den Extremen. Die Auffassung inner-
halb derselben wird aber hier ebenfalls durch die Verteilungsan-
strengung als solche noch besonders gestört, weshalb bei der Beach-
tung der Mitte der Klarheitsg^ad des übrigen Sehfeldes ohne Beach-
tung relativ noch am besten zum Ausdruck kommt. Die Herab-
setzung der Klarheit beträgt hier etwa 1,20. Bei Konzentrationen
auf seitlicher gelegene Stellen läßt sich innerhalb der unbeachteten
Region eine mit der Entfernung vom beachteten Raum im Mittel
stetig wachsende, jedoch von großen Diskontinuitäten einzelner Punkte
nicht freie Erniedrigung des Klarheitsgrades erkennen. Die extremen
Werte entsprechen Werbei völlig denen innerhalb eines Verteilungs-
bereiches von ähnlicher Größe wie die unbeachtete Region. Audi
hier ist selbst bei konstant verabredeter Konzentrationsrichtung kein
ruhendes Relief vorhanden. Die gleichzeitige Klarheit des ge-
samten Sehfeldes für die Helligkeitsauffassung ist also als
eine überaus große zu bezeichnen und bildet einen großen
Teil des jeweiligen Umfanges unseres gesamten Wahr-
nehmungsbewußtseins. Die subjektiven Bedingungen für die
Verschiebung der Klarheitsverhältnisse, die in unserem Wollen und
Tun liegen und als apperzeptive Impulse unmittelbar erlebt werden,
sowie das wahrscheinliche Wesen des Effektes dieser Tätigkeit in
der Klaiiieit selbst soll erst im Anschluß an unsere Beobachtungen auf
anderen Sinnesgebieten noch einmal genauer ins Auge gefaßt werden.
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Einige Bemerkung^i über die Methoden und über
gewisse Sätze der Gedächtnisforschung
von
Fritz Reuther.
Mit einer Fignr im Text.
Wenn ich es im Folgenden unternehme, den in der »Zeit-
schrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane« Bd. 39,
S. 462 ff. von G. E. Müller über meine Abhandlung »Beiträge zur
Gedächtnisforschung« (Psycholog. Stud. I, S. 4 ff.) gegebenen Aus-
fuhrungen, soweit sie sachlicher Natur sind, einiges hinzuzufügen, so
geschieht dies vor allem deshalb, weil die Einwände des Herrn Re-
ferenten, die sich ja nur gegen die von mir entwickelte spezielle Form
der Wiedererkennungsmethoden, gegen die Methode der identischen
Reihen richten, dazu angetan erscheinen, die Wiedererkennungs-
methoden als solche den Methoden der selbständigen Reproduktion
gegenüber zu diskreditieren. G. E. Müller scheint nämUch durch
Aufsdgung gewisser bei Anwendung der Methode der identischen
Reihen angeblich auftretender Schwierigkeiten den glänzen Versuch,
die Tatsachen der Wiedererkennung bez. des Vergleichs für die Ge-
dächtnisforschung fruchtbar zu machen, als eriedigt anzusehen.
Wenigstens verziditet er darauf, den Leser des Referats mit diesem
allgemeineren Versuch überhaupt erst bekannt zu machen und selbst
Stellung zu einem Punkte von so jMinzipieller Bedeutung zu nehmen.
Bevor ich mich aber zu dieser Frage allgememeren Charakters
wende, mag es mir vcrstarttet sein, zu den gegen die spezielle Me-
thode der identischen Reihen beigebrachten Einwendungen eimge
Bemeikungen zu madien. Diese Methode wird nach der Meinung
G. E. Müllers zunächst eiimial deswegen kaum eine Zukunft haben,
weil man bei Benutzung derselben auf die im allgemeinen besten
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go Fritz Renther,
Versuchspersonen, die Fachpsychologen, werde verzichten müssen.
Denn es sei anzunehmen, daß ihnen die Methode bekannt sein werde.
Hierauf darf zunächst mit dem Hinweis erwidert werden, bei wievielen
psychologischen Versuchen, die ebenfalls eine gewisse Naivität des
Beobachters voraussetzen, Fachpsychologen als Versuchspersonen
mitgewirkt haben. Das »hinter den wahren Sachverhalt kommen c
denkt sich aber G. E. Müller offenbar zu leicht, und es tut mir fast
leid, daß meine von ihm angeführte Erklärung, meines Wissens sei
keiner der Beobachter hinter den wahren Sachverhalt gekommen,
wenig glücklich abgefaßt zu sein scheint. Ich wiederhole darum, daß
ich ganz bestimmt weiß, daß keine meiner Versuchspersonen die
Methode in ihrem Wesen erkannt hatte. Daß ihnen dies unmöglich
war, liegt aber zum großen Teil mit daran, daß ich ein Mittel an-
wandte, welches eine Garantie dafür zu bieten scheint, daß die Ver-
suchsperson naiv bleibt, womit sich zugleich der zweite Einwand
G. E. Müllers erledigt, man müsse schließlich bei jeder Versuchs-
person damit rechnen, daß sie ihre Naivität in dieser Hinsicht ver-
liere. Wie ich nämlich g^nz im Anfang meiner Untersuchungen
(vgl. S. 26 meiner Arbeit) bereits mit objektiven Variationen inner-
halb der Vergleichsreihe gearbeitet habe, so habe ich auch später,
nachdem ich zur Methode der identischen Reihen übergegangen war,
daran festgehalten, zwischen die Versuche mit identischen Vergleichs-
reihen solche mit objektiven Variationen einzustreuen. Dabei brauchen
diese »Verhütungsreihen« für die Untersuchung durchaus nicht
etwa verloren zu gehen. Man kann sie vielmehr zur Entscheidung
wichtiger Fragen verwenden, sofern man sie nur systematisch zur
Anwendung bringt.
Femer wendet G. E. Müller gegen die Methode der identischen
Reihen ein, dieselbe biete keine Kontrolle dafür, inwieweit die Ver-
suchsperson bei ihren Aussagen, ein Reihenglied sei alt, gewissen-
haft gewesen sei. Es fehle hier diejenige Kontrolle, welche bei
anderen Verfahrungsweisen das Verhalten der falschen Fälle gewähre.
Gewiß kann es auch bei unserer Methode vorkommen, daß einmal
der Beobachter nur auf Grund mangelnder Gewissenhaftigkeit sich
für das Urteil »alt« entscheidet, geradeso wie es bei der Treffer-
methode vorkommen kann, daß eine Versuchsperson auf g^t Glück
ein ihr bekanntes Reihenglied nennt, von dem sie aber nicht genau
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Einige Bemerkungen über die Methoden nsw. qi
weiß, ob es an die betreffende Stelle, d. h. zu dem eben vorgezeigten
Glied, gehört, und das zufällig doch richtig sein kann. Die Dienste,
welche in solchem Falle für die Treffermethode das Verhalten der
falschen Fälle leisten mag, können in dem unseren von denjenigen
Resultaten geleistet werden, welche uns die »Verhütungsreihen« liefern.
Femer werden sich die Reihen einer Versuchsperson, welche ihre
Urteile durch andere Gesichtspunkte als die ihr gegebenen beein-
flussen ließe, dadurch als unzuverlässig verraten, daß gewisse betreffs
der absoluten Stellen der als alt wiedererkannten Glieder auftretende
Gesetzmäßigkeiten ausbleiben. Wie nämlich bei der Erlernung einer
Reihe die Anfangsglieder samt dem Endglied derselben zuerst die
Aufmerksamkeit auf sich ziehen (vgl. S. 67 meiner Arbeit), so sind
es in regulären Reihen gerade diese Glieder, die am häufigsten als
alt wiedererkannt worden sind ; in gefälschten Reihen würde dies aber
nicht der Fall sein. Sollte aber auch dieses Kriterium infolge zu
großer »Raffiniertheit der Versuchsperson« versagen, so besitzen wir
schließlich in der Streuung der Werte der Menge des Behaltenen
ein noch viel vertrauenswürdigeres Kriterium für die Zuverlässigkeit
der Beobachter.
Eine nur selten vorkommende, durch äußere Umstände irgendwie
bedingte Fahrlässigkeit im Urteilen nämlich, die übrigens ebensogut
einmal das Urteil »neu« an einer Stelle herbeifuhren kann, wo die
zu einem solchen Urteile notwendigen subjektiven Vorbedingungen
gar nicht erfiiUt sind, wird sich in ihren Wirkungen, namentlich wenn
man eine genügend große Anzahl von Resultaten zu einem Mittel-
wert zusammenfaßt, selbst aufheben, und in dem regelmäßigen Gang
der Streuungswerte wird sich alsdann die Zuverlässigkeit dieser Ver-
suchsreihe dokumentieren. Werden dagegen die Resultate infolge
eines Urteilens der Versuchsperson auf Grund der bloßen Einbildung,
die eine Versuchskonstellation müsse eine höhere Zahl von Wieder-
erkennungen ergeben als die andere, oder, weil die Versuchsperson
die Methode als diejenige der identischen Reihen erkannt haben sollte,
als direkte Fälschungen den Endergebnissen der Untersuchung ge-
fahrlich — wenn wir nach G. E. Müllers Meinung eben doch auch
mit der Eventualität einer groben Gewissenlosigkeit oder gar Unehr-
lichkeit des Beobachters rechnen müssen — , so wird uns eine starke
Unregelmäßigkeit der Streuungsverhältnisse von der Unbrauchbarkeit
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gz Fritz Renther,
dieser Reihen unterrichten. Wenn wir nämlich die Versuche in einer
für die Versuchsperson scheinbaren Regellosigkeit aufeinander folgen
lassen — also z. B.: i. Versuchszahl der Darbietungen D. «s 3,
E3q>ositioHsdauer Exp. = 0,5", Reihenlänge R.-L. = 8, Zwischenzeit
Zw.*Z. cÄ 5 min.; 2. Versuch: D. «= 3, Exp. ** 1,0'^', R.-L. «» 13,
Zw.-Z. ae: 5 min.; 3. Versuch: D. «= 9, Exp. «*= 0,5'', R,-L. «= 8, Zw.-
Z. !£= 5 min. usw. usw. ^-^ so muß sich für den Fall, daß sich der
Beobachter in seinen Urteilen durch irgendwelche Reflexioiien oder
gar durch das bloße Gutdünken bestimmen läßt, bd Vereinigung der
zusarnmengehörigen Resultate und Bestimmung der mittleren quadra-
tischen Abweichung ein ganz r^elloser Gang dieser Streuongswerte
ergeben. Es könnte sich so z. B. innerhalb deijenigen Reihoi, welche
einer Variation der Darbietui^szaU gewidmet sind, bei einer nicht
gewissenhaften Versuchsperson für D. =aa= 3 eine sehr große, für D.
««= 6 dne beträchtlich kleinere, für D. = 9 eine noch größere Streu-
ung als für D. =r 3 ergeben usw. Somit ist uns auch bei Anwendung
der Methode der identischen Reihen eine 30gsac recht sichere Kon-
trolle über die Zuverlässigkeit der Beobachter gegeben*)
Von den Vorteilen der Methode der identischen Reihen, welche
sie zum größten Teil mit allen sonst noch denkbaren Mdiioden der
Wiedererkennung und des Vergleichs teilt und unter denen die Mög-
lichkeit, mit so kurzen Versuchszeiten zu arbeiten, wie ich es tun
koimte, besonders hoch einzuschätzen sein dürfte, erwähnt G. E. Müller
keinen einzigen. Es hat mir nun stets fem gelegen, die Methode
der identischen Reihen als eine Universal- oder gar als die ideale
Methode hinzustellen, wie sie denn überhaupt den ersten, aber meiner
Ansicht nach auch weiterhin brauchbaren Versuch der Entwicklung
emer Wiedererkennungsmethode für komplexes Gedächtnismaterial
darstellt Ich habe vielmehr den hauptsächlichsten Mangel, den sie
aber mit allen bisher entwickelten Methoden der selbständigen Re-
produktion teilt, daß ihr nämlich die »unterwertigen« Dispositionen
nicht erreidibar sind, und daß jwe ebensowenig über die eventuell
bestehende »Überwertig^eit« der anderen Dispositionen Auskunft zu
') Ich hoffe, in nicht allzofemer Zeit dnrch Veröffentlichong dieser imd anderer
ebenfalls wichtiger Werte, welche die Beobachtnngsreihen charakterisieren, ans dem
von mir gewonnenen Beobachtongsmaterial den Überzeugendsten Beweis führen zu
tomen, daß die Methode der identischen Reihen volles Vertrauen beansprachen darf.
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Einige Bemerkongen ttber die Methoden usw. q2
geben vermag, ausdrücklich hervorgehoben (vgl. S. 28 ff. meiner Ar-
beit). Nur habe ick atisgefUhrt, daß man hoffen darf, dieser Übel-
Stand werde sich bei den Wiedererkennungsmethoden minder umm-
genehm fühlbar machen als bei den Methoden der selbständigen
Reproduktion. Die prinzipiell bedeutsame Frage aber, ob bei den
letzteren oder bei den Wiedererkennungsmethoden die Mängel durch
die Vorteile in höherem Maße überwogen werden, ist nicht so leicht
a priori, sondern eigentlich nur auf Grund einer ihr speziell gewid-
meten experimentellen Untersuchung zur Entscheidung zu bringen,
in welcher gewisse auf Grund einer in derselben Weise bewirkten
Einprägung nach Möglichkeit einheitlich gegebene Tatbestände des
Bewußtseins mittels beider Methoden zu prüfen und die sich dabei
ergebenden Streuungsverhältnisse besonders mit zu berücksichtigen
wären.
Wir besitzen in der Gedächtnisforschung bereits einen Anfang —
leider ist es bei diesem Anfang geblieben — systematisch angestellter
Versuche, welche zur Entscheidung rein auf die Methoden
bezüglicher Fragen beitragen können. Es sind dies die von Jost ')
auf S. 459 ff. angeführten, aber allerdings nicht so sehr aus metho-
dischen Ge^chtspunkten als zum Beweis eines später noch zu er-
wähnenden Satzes unternommenen Versuche, welche ihm das »psycho-
logische Paradoxon« ergaben, daß die Versuchsperson von einer
gewissen Art von Reihen »nur wenig wissen«, d. h. (nach Jost!) bei
der Prüfung nur wenig Treffer liefern kann, und doch nur relativ
weniger Wiederholungen bedarf, um diese Reihen wiederzuerlemen,
während sie von ein^ anderen Art von Reihen »relativ viel weiß«
und doch noch vieler Wiederholungen bedarf, um dieselben voll-
ständig zu erlernen.
Da ich auf dieses »Paradoxon« noch mehrfach zurückkommen
werde, mag es mir erlaubt sein, die betreffeaden Resultate luer in
Kürze zu verzrichnen. Jost ließ Reihen von bestinmiter Art je
dreilUgmal lesen und pri^ite dieselben nach einer Zwischenzeit von
24 Stunden t^ nach dem Ersparnis-, teils nach dem Trefferverfahren;
er nennt sie die »ahen« Reihen; daneben ließ er Reihen von g^her
') A. Jost, Die As9oaationsfcstigkelt in ihrer Abhjbigigkeit von der Verteilung
der Wiederholungen. Zeitschr. f. Psychol. nnd Physiol. der Sinnesorgane, 1897,
Bd. 14, S. 43^— 47*.
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Alte Reihen
Jange Reihen
0,9
2,7
5,85
9,6
Q4 Fritz Renther,
Art nur je viermal lesen und prüfte dieselben bereits eine Minute
nach Abschluß der letzten Lesung wiederum mit dem Ersparnis-,
beziehentlich dem Trefferverfahren; sie heißen die »jungen« Reihen.
Das Resultat ist aus folgender Tabelle zu ersehen:
Trefferzahl
Wiederholnngszahl
wobei unter der Wiederholungszahl die zur Zeit der Prüfung für die
vollständige Erlernung der Reihen nötige Zahl an Wiederholungen
zu verstehen ist. Es beanspruchten also in der Tat die alten Reihen
trotz ihrer geringeren Trefferzahl zur Erlernung weniger Wieder-
holungen als die mit einer größeren Trefferzahl versehenen jungen
Reihen.
Wie ich später näher ausfuhren werde, neige ich dazu, dieses
zunächst allerdings paradoxe Resultat vollständig auf das verschiedene
Verhalten der Ersparnis- und der Treffermethode zu den unterwertigen
Dispositionen zurückzuführen, während Jost durch dieses Resultat
einen von ihm aufgestellten Satz zu stützen sucht Freilich beweist
dasselbe für meinen Standpunkt alsdann, wie sehr sich die Unmög-
lichkeit, die unter der Treffergrenze befindlichen Dispositionen mit-
zuzählen und hinsichtlich ihres Stärkegrades zu würdigen, für die
Treffermethode unangenehm fühlbar macht, während im Gegensatz
dazu bei der Erspamismethode alle unterwertigen Dispositionen voll
zur Geltung kommen, woraus sich eben das Paradoxon erklären dürfte.
Daß die Erspamismethode dafür andere wesentliche Mängel aufweist,
habe ich in meinen früheren Ausführungen gezeigt (vgl. S. 12 ff.).
Ich verweise aber hiermit ausdrücklich auf dieses »psychologische
Paradoxon« als auf eine wichtige Ergänzung des von mir bezüglich
der Methoden Ausgeführten. Es wäre übrigens interessant, zu er-
fahren, ob sich auch zwischen der Methode der identischen Reihen
und der Erspamismethode ein solches Paradoxon bezüglich der beider-
seitigen Resultate über einen einheitlich gegebenen Tatbestand her-
stellen läßt, da nach dem oben Bemerkten dadurch zugleich eine
Auskunft über die Größe der bei Anwendung der Methode der iden-
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Einige Bemerkangen über die Methoden nsw. ge
tischen Reihen auftretenden Stärkedifferenzen zwischen den einzelnen
Dispositionen zu erhalten wäre.
Die Tatsache der verschiedenen Wertigkeit psychischer Disposi-
tionen, die man doch bei der Einprägung möglichst gleichmäßig zu
stäricen sich bemüht hat, ist es eben, die allen den bisher ausge-
bildeten Methoden der selbständigen Reproduktion und der Wieder-
erkennung, welche samt und sonders dadurch charakterisiert sind, daß
sie einen einzigen Effekt (wie z. B. das fehlerfreie Aufsagen, die
Reproduktion nach dem Trefferverfahren, das Wiedererkennen) als
Kriterium für die Stärke der Dispositionen verwenden, ebenso
verhängnisvoll wird, wie sie auf der anderen Seite für die meisten
dieser Methoden die unerläßliche Vorbedingung ihrer Anwendbarkeit
ist. Verhängnisvoll wird sie ihnen insofern, als sowohl die unter-
wertigen Dispositionen sich als nicht erreichbar der Bestimmung
entziehen, wie auch die Überwertigkeit gewisser Dispositionen über
den kritischen Effekt vernachlässigt werden muß, während doch im
letzten Grunde alle diese Methoden darnach streben, — sei es mit
den Ersparniswerten, sei es mit der Trefferzahl oder der Zahl der als
alt wiedererkannten Glieder — ein möglichst gutes Maß der wirklich
vorhandenen Dispositionsstärken zu geben. Die Voraussetzung der
Verwendbarkeit unserer Methoden bildet jene Tatsache aber insofern,
als nur in der verschiedenen Geschwindigkeit, mit welcher die einzelnen
Dispositionen die Grenze des kritischen Effekts erreichen, eine Mög-
lichkeit, die Wirksamkeit irgendwelcher Faktoren zu bestimmen, ge-
geben ist Würde nämlich diese Grenze von allen Dispositionen zur
selben Zeit erreicht, so würden sich eben in diesem Moment mit dem
ersten Treffer lauter Treffer oder mit dem ersten wiedererkannten
Glied die Wiedererkennbarkeit aller Glieder auf einmal ergeben,
während noch kurz vorher kein einziger Treffer und kein einziges
Urteil »alt« zu erzielen gewesen wäre. Nur für die Erlernungs- und
Erspamismethode wären damit insofern ideale Vorbedingungen ge-
geben, als sie dann nicht mit überwertigen Dispositionen für den
Moment des erstmaligen erfolgreichen Hersagens zu rechnen hätte;
sie wäre unter den hier fingierten Verhältnissen die einzige überhaupt
anwendbare Methode, denn für alle anderen Methoden ist nach dem
Gesagten eine gewisse Verschiedenheit in der Wertigkeit der Dis-
jpositionen die unumgängÜche Vorbedingung ihrer Anwendbarkeit
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q5 Fritz Reuther,
Unter den wirklich bestehenden Verhältnissen nun, welche diese
Voraussetzung in so hohem Maße erfüllen, daß jene Unterschiede
den Methoden den Weg zur Erreichung ihres Zieles gferadezu zu
versperren scheinen, muß es uns also bei der Entwicklung von Me-
thoden, welche sich nur eines einzigen kritischen Effekts
zur Prüfung der Dispositionen bedienen, vor allem darauf
ankommen, jener fatalen Wirkung der Voraussetzung, auf die sie
sich gründen, nach Möglichkeit zu entgehen, indem wir den kritischen
Effekt in solche Regionen der Dispositionsstärke zurückverlegen, inner-
halb deren die Unterschiede in der Stärke der Dispositionen relativ
gering sind. Die Annahme nun, daß in den Regionen geringerer
Dispositionsstärke auch diese Unterschiede weniger g^oß seien, könnte
fürs erste mit den Ergebnissen, welche das »psychologische Paradoxon«
ausmachen, im Widerspruch zu stehen scheinen, insofern dort gerade
die jungen Reihen trotz größerer Treflferzahl mehr Wiederholungen
bis zur Erlernung forderten als die alten, was auf große Unterschiede
in den Dispositionsstärken der Einzelglieder hinweist. Dagegen ist
aber geltend zu machen, daß jene Ergebnisse durchaus nicht den
Beweis erbringen, daß diese Unterschiede bei Anwendung von mehr
Wiederholungen abnehmen würden, denn die entschieden vorhandene
größere Ausgeglichenheit der alten Reihen bezüglich dieser Unter-
schiede wird wesentlich dem Einfluß der bis zu ihrer Prüfung ver-
strichenen Zeit zuzuschreiben sein. Die bereits bei so wenigen Dar-
bietungen auffällig großen Stärkeunterschiede zwischen den einzelnen
Dispositionen aber werden durch die offenbar ganz ungleichmäßige
Verteilung der auf Erzielung einer relativ hohen, bereits nach vier
Darbietungen zu erwartenden Leistung (die selbständige Reproduktion)
eingestellten Aufmerksamkeit zu erklären sein. Denn die Versuchs-
person wird bei dem regelmäßigen Wechsel der verschiedenen Ver-
suche, durch den sie bei jeder einzelnen Einprägung vorher unter-
richtet war, ob dieselbe zur Einengung alter oder junger Reihen
bestimmt sei, bei der Lesung der letzteren hinsichtlich der Aufmerk-
samkeitsv^dkmg von dem Wunsche beherrscht gewesen sein, trote
der wenigen Lesung^ bei der bereits eine Minute später erfolgenden
Prüfung möglichst viele Treffer zu erhalten. Darin beruht aber gerade
der Vorzug der Wiedererkennungsmethoden, daß sie die kritische
Leistung bezüglich des zu ihrer Ermöglichung erforderlichen Krafl-
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Einige Bemerkungen über die Methoden usw. qj
aufwandes um ein Bedeutendes herabsetzen und dadurch schon eine
gleichmäßigere Aufmerksamkeitsverteilung möglich machen, die nun
ihrerseits wieder so große Differenzen der Dispositionsstärken gar
nicht erst entstehen lassen wird. Man wird also gegen die Erwartung,
daß die Wiedererkennungsmethoden in ihren Resultaten durch die
aus der Verschiedenwertigkeit der Dispositionen sich ergebenden
Fehler weniger getrübt sein werden, die Ergebnisse des »psycho-
logischen Paradoxons« nicht ins Feld fuhren können, sondern darf
vielmehr hoffen, mit der so unter Zugrundelegung einer geringeren
Leistung^) definierten »Menge des Behaltenen« als der Summe der
diesem kritischen Effekt genügenden Glieder, sich einem Maß der
wirklichen Dispositionsstärke um ein gutes Stück angenähert zu
haben.
Es ist übrigens zu bemerken, daß eine zweite, bisher allerdings
noch gamicht benutzte Möglichkeit zur Entwicklung von Methoden
der Gedächtnisforschung darin gegeben ist, daß man eine ganze
Anzahl stufenweise geordneter kritischer Effekte bei der
Prüfung der Dispositionsstärken der Einzelglieder zur Anwendung
bringt, indem man ein jedes Glied einer Reihe durch einen be-
stimmten Effekt charakterisiert, zu dessen Erreichung seine Dispo-
sitionsstärke gerade noch ausreicht Man könnte also z. B. ein jedes
Glied der zu prüfenden Reihe zunächst bezüglich seiner ganzen oder
teilweisen Reproduktionsbereitschafl untersuchen und erst dann, wenn
auch nicht die geringste selbständige Reproduktion möglich wäre,
^) Im Archiv f. d. ges. Psychol. VI, S. 82 bezeichnet es H. J. Watt gelegent-
lich einer Erörtemng meiner Methode als eine psychologisch sehr anfechtbare Be-
liauptang, »daß die Wiedererkennong bzw. Vergleichnng eine einfachere Ge-
•dilchtnisleistnng darsteUe als die Reproduktion«. Es sei mir daza die Bemerkung
^gestattet, daß ich bei der Begründang der Wiedererkennongsmethoden immer nur
(vgL S. 24, 29 osw. meiner Arbeit) von einer geringeren psychischen Leistung
spreche, insofern sie einen geringeren Arbeitsaufwand zu ihrer Ermöglichnng erfordert.
Es hat mir also fem gelegen zu behaupten, daß die Wiedererkennung gegenüber der
selbständigen Reproduktion den weniger komplizierten psychischen Prozeß darstelle,
sondern ich habe lediglich die doch wohl unanfechtbare Tatsache herangezogen, daß
^eine Wiedererkennung durch einen bei weitem geringeren Aufwand an Kraft und Zeit
beim Erlernen ermöglicht wird als eine selbständige Reproduktion, welche einen zeit-
lich viel ausgedehnteren Erlemungsakt erfordert Vgl. dazu S. 38 meiner Arbeit:
>Häufig äußerten sich die Beobachter vielmehr dahin, daß sie auch nicht eine einzige
Zahl zu reproduzieren imstande seien, die Wiedererkennung aber gehe leicht von-
^statten.«
Wundt, Psychol Studien Tl. 7
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gZ Fn^ Reather^
das Kriterium der Wiedererkennung (eventuell unter Verwendung-
objdctiver Variationen) in Anwendung bringen und erhielte so für
eine Reihe von Gliedern eine Reihe von kritischen Effekten, welche
durch die zugehörigen Dispositionen eben noch ermöglicht würden.
Natürlich bedürfte eine derartige Methode erst einer sorgfaltigen Aus-
bildung, sie hätte aber den Vorteil, daß durch Einfuhrung verschie-
dener Kriterien auch die im Falle nur eines kritischen Effektes
unerreichbaren imterwertigen Dispositionen mit in Rechnung gfestellt
werden könnten. Auch sie würde freilich noch nicht ein vollkommenes
Maß der Dispositionsstärke einer Reihe liefern, da auch bei ihr noch
die Unter- bez. Überwertigkeit der Dispositionen eine Rolle spielen
würde; jedoch ließe sich dieselbe durch Zwischenschiebung möglichst
vieler, eindeutig bestimmter kritischer Effekte in ihren Ausdehnungsr
möglichkeiten stark beschränken. Jedenfalls wäre wohl ein solcher
Versuch nicht von vornherein als aussichtslos zu bezeichnen, und es
wäre wiederum Sache einer rein methodischen Gesichtspunkten dienen-
den experimentellen Untersuchung, eine derart ausgebildete Methode
mit den bisher üblichen hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit zu vergleichen.
Hier dürfte der Ort sein, eine in meiner Arbeit vorhandene Lücke
auszufüllen, auf die ich leider zu spät aufmerksam geworden bin,
als daß ich sie noch hätte schließen können, auf die aber auch
G. E. Müller mit Recht hingewiesen hat. Ich habe nämlich die
Bemerkung nachzuholen, daß bei meinen experimentellen Unter-
suchungen die Versuchsperson in jedem Falle vor dem Versuche von
der Anzahl der Darbietungen, die derselbe umfassen werde, unter-
richtet worden ist. Zu dieser Maßregel hatte ich mich deshalb ent-
schlossen, weil im anderen Falle durch die Spannungsgefühle, welche
dann infolge der fortwährenden Erwartung des Abschlusses der Dar-
bietungen auftreten, der Aufmerksamkeitsverlauf in der ungünstigsten
Weise beeinflußt wird. Freilich hat diese vorherige Bekanntgabe der
kommenden Darbietungszahl an den Beobachter den einen Nachteil,
daß in den einer Variierung der Darbietungszahlen gewidmeten Ver-
suchen Schwankungen des Anfangswertes der Aufmerksamkeits-
spannung nicht zu vermeiden sein werden, insofern sich die Versuchs-
person bei einer größeren Anzahl von Darbietungen weniger an-
strengen zu müssen meint. Doch glaube ich, durch diese Maßregel
von zwei Übeln das kleinere gewählt zu haben.
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Einige Bemerkangen über die Methoden nsw. qq
Ein Gegenstand besonders zahlreicher Einwendungen ist für G.
E. Müller das, was ich über die Wirksamkeit des »Intervalls«, d. h.
der zwischen den Einzeldarbietungen verfließenden Zeit, und über die
Beziehungen meiner darauf bezüglichen Resultate zu den von Jost
und Steffens *) erhaltenen ausgefiihrt habe. Schon was meine Ver-
suchsreihen selbst anlangt, scheinen ihm die für Vp. Hr. (S. 51) ge-
fundenen Differenzen der Mengen des Behaltenen so gering, daß
ihm der Verdacht, es handele sich hier um ein Resultat unausge-
glichener Zufälligkeiten, keineswegs ausgeschlossen ist. Ich würde selbst
dieser Versuchsreihe nur wenig Wert beigemessen haben, wenn sie
nicht ihrer zur vorhergehenden innerhalb engerer Grenzen entschieden
vorhandenen Analogien wegen ein gewisses Vertrauen beanspruchen
dürfte. Gern hätte ich diese in der Besprechung angezweifelte Ver-
suchsreihe durch Einführung noch größerer Intervalle vervollständigt,
hätten mich nicht — es sind dies die letzten Versuche, die ich an-
gestellt habe — Gründe persönlicher Natur zu einem Abschluß ge-
drängt, zumal Versuche dieser Art, wie man sich leicht überzeugen
wird, besonders viel Zeit in Anspruch nehmen. Ich kann daher auf
Grund meiner schon früher ausgesprochenen Überzeugfung, daß die
Frage des Intervalls in der Gedächtnisforschung eine Fülle von Auf-
gaben umschließt und auch für das allgemeinere psychologische
Problem der Pausenwirkung bei sich regelmäßig wiederholenden
psychischen Prozessen von großer Bedeutung ist, nur den bereits auf
S. 51 meiner Arbeit geäußerten Wunsch wiederholen, daß die Fragen
des sogenannten kritischen Intervalls bald weitere experimentelle
Bearbeitungen mittels verschiedener Methoden erfahren möchten.
Dadurch allein kann auch die Frage, ob meinen Versuchen mit Vp.
Hr. eine allgemeinere Bedeutung zuzusprechen ist, endgültig ent-
schieden werden.
Bei dem Versuche nun, die Existenz eines kritischen Intervalles,
d. h. eines solchen, für welches die ausgibigste Verteilung der Dar-
bietungen gegenüber den Nachbarintervallen von geringerer oder
größerer Länge ein Maximum der Menge des Behaltenen ergibt, zum
einen Teil aus der durch die Pause gegebenen Kompensation der
*) L. Steffens, ExperimenteUe Beiträge zur Lehre ▼om ökonomischen Lernen.
Zdtschr. f. Psychol. und Physiol. d. Sinnesorg., 1900, 22, 321—382.
7
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lOO ^^^ Reuther,
Ermüdung zu erklären, war es natürlich meine Pflicht, zunächst die
früher von Jost gegen einen solchen Erklärungfsversuch geltend ge-
machten ^Bedenken als nicht stichhaltig zu erweisen. Dies glaube
ich auch auf S. 5 3 f. getan zu haben, wo ich gewisse von Jost für
seine Behauptung beigebrachte Versuchsresultate als nicht in diesem
Sinne beweiskräftig nachweise. Dagegen behauptet G. E. Müller
»Bei der Diskussion dessen, was Jost für seine Behauptung anführt,
daß der von ihm konstatierte Einfluß der Verteilung der Wieder-
holungen im wesentlichen nicht auf Ermüdung beruhe, wird das
wichtigste Argument von Jost (S. 451 ff.) verschwiegen, nämlich dies,
daß sich ja der erforderliche Einfluß der ausgibigeren Verteilung
auch dann sehr deutlich zeige, wenn man statt an 6 Tagen je 4, an
12 Tagen je 2 Lesungen stattfinden lasse, wo ja die Vermutung,
daß sich bei der Aufeinanderfolge von 4 Lesimgen eine Ermüdung
geltend mache, durch die Beobachtung ganz ausgeschlossen ist.«
Ich kann hiergegen nur die schon in meinen ersten Ausführungen
zum Ausdruck kommende Überzeugung aufrecht erhalten, daß Jost,
ganz wie ich es dargestellt habe, vielmehr in den Resultaten der von
mir auf S. 5 3 f. meiner Arbeit behandelten Versuchsreihe das wich-
tigste Argument seiner Behauptung, daß die Ermüdung der wesent-
lich wirksame Faktor nicht sein könne, gesehen hat. Dies beweisen
mir die Worte, mit denen er das Fazit jener von mir besprochenen
Versuchsreihe zieht (S. 445), »so kann man daraHS mit ziemlicher
Sicherheit abnehmen, daß die Ursache des Einflußes der Verteilung
nicht lediglich in der größeren Ermüdung beim Lesen der Kumulations-
reihen bestehen kann« und wenige Zeilen tiefer »die allgemeine Er-
müdung hat sich in den letzten Versuchsreihen als unzureichend er-
wiesen«. Damit ist für Jost die Ermüdung ein- für allemal aus der
Betrachtung ausgeschieden. Denn diejenige bei Jost auf S.45iflr.
wiedergegebene Versuchsreihe, welche nach G. E. Müller angeblich
das wichtigste Argument Josts für seine Behauptung liefern soll,
dient zur Entscheidung über eine nach Jost gänzlich neue Erklärungs-
möglichkeit, die auf ein Heranziehen des Ermüdungsfaktors von vorn-
herein ausdrücklich verzichtet Es bliebe nämlich nach Jost immer
noch die Möglichkeit offen, anzunehmen, »daß die letzten Wieder-
holungen einer Reihe mit großer Kumulation, selbst wenn sie
mit ungeschwächter Aufmerksamkeit absolviert werden.
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Einige Bemerkongen Über die Methoden nsw. loi
aus noch unbekannten Gründen einen geringeren Wert für Einprägen
und Behalten besäßen als die ersten Wiederholungen«, und daß so
der Nachteil der Kumulation gegenüber der Verteilung verständlich
würde. Die »noch unbekannten Gründe«, die für den ersten Augen-
blick etwas mystisch anmuten mögen, weU sie mit der Ermüdung,
Entspannung der Aufmerksamkeit usw. nichts zu tun haben sollen,
brauchen hier keine Rolle weiter zu spielen, da ja Jost durch seine
auf S. 45 1 ff. angeführten Versuche nachgewiesen zu haben glaubt,
daß die nach ihm für höhere Ordnungszahlen der Wiederholungen
— beispielsweise etwa von der zehnten Wiederholung an — ent-
schieden bestehende Gesetzmäßigkeit der Abnahme der Wirkung der
Wiederholungen mit wachsender Ordnungszahl derselben den von ihm
konstatierten größeren Erfolg einer mit Verteilung gegenüber einer
kumuliert erlernten Reihe nicht zu erklären vermöge. Denn — so
glaubt Jost seinen Beweis indirekt führen zu können — da die
Selbstbeobachtung lehre, daß bis hinauf zu neun Wiederholungen
vielmehr eüie Überlegenheit einer jeden Darbietung über die vorher-
gehende zu bemerken sei, so daß von einer geringeren Wirksamkeit
dieser Wiederholungen keine Rede sein könne, so würde auf Grund
unserer oben gemachten Annahme, die Minderwertigkeit kumulierter
Darbietungen sei lediglich aus der geringeren Wirksamkeit der Wie-
derholungen mit höherer Ordnungszahl zu erklären, folgen, daß bei so
kleinen cumulis von 8 oder 4 oder gar nu( 2 Wiederholungen die aus-
gedehntere Verteilung nicht mehr die g^stigeren Resultate liefern
dürfe. Dem widerspricht nun aber das experimentell gewonnene
Resultat, daß je 8 Wiederholungen an 3 Tagen in ihrer Wirkung
durch je 4 Wiederholungen an 6 Tagen und diese wiederum durch
je 2 Wiederholungen an 1 2 Tagen übertroflfen werden, und daß mit-
hin das Gesetz von der Überlegenheit der ausgibigeren Verteilung
über die weniger ausgibigen bis herab zu den kleinsten cumulis Gel-
tung hat. »Da aber ferner, so beschließt Jost auf S. 453 seine
Ausführungen über diese Versuchsreihe, bei 4 Wiederholungen, die
nicht einmal ^/^ Minuten Zeit beanspruchen, von Abstumpfung der
Aufmerksamkeit, Abnahme des Interesses und dergleichen mehr wohl
kaum die Rede sein kann, so ist offenbar jede Ansicht zur Erklärung
der Verteilungswirkung unzureichend, welche die hier untersuchten
Erscheinungen darauf zurückfuhrt, daß die späteren Wiederholungen
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I02 Fritz Renther,
eiaer Reihe im Vergleich zu den früheren für das Aneignen und Be-
halten von geringerem Wert sei.« Jost zieht also aus den experi-
mentell gewonnenen Resultaten nicht den Schluß, daß nicht in
der Kompensation der Ermüdung die wesentliche Ursache der Intervall-
wirkung zu suchen sei, sondern wiederholt in dem Vordersatz ledig-
lich das schon früher angeführte Resultat der Selbstbeobachtung, daß
für niedrige Wiederholungszahlen vielmehr eine erhöhte Wirksamkeit
einer jeden Darbietimg über die vorhergehende sich geltend zu machen
scheine, ein Resultat also, welches vielmehr die Voraussetzung
für die Richtigkeit des von ihm gezogenen Schlüsse ist. Es kann
also keine Rede davon sein, daß ich das wichtigste Argument Josts
gegen eine Benutzung der Ermüdungs- bez. Auffrischungserscheinungen
zur Erklärung der Intervallwirkung einfach »verschwiegen« hätte. Mir
konnte es an jenem Orte nur darauf ankommen, die von Jost gegen
eine solche Erklärung wirklich geltend gemaditen Bedenken zu
zerstreuen, und ich hätte höchstens in zweiter Linie insofern auf diesen
angeblichen Beweis eingehen können, als er einen Satz zu widerl^en
unternimmt, der aus der von mir gemachten Annahme einer schon
bei ganz niedrigen Wiederholungszahlen sich geltend machenden
Ermüdung notwendigerweise wieder folgt, während für Jost diese
Annahme durch seine von mir früher besprochenen Versuche bereits
als unzulässig erwiesen galt.
Nun gebe ich aber zu, daß man die Resultate der von Jost auf
S. 45 1 flf. behandelten Versuche wirklich auch gegen meine Annahme
einer derart ermüdenden Wirkung auch der ersten Darbietungen ins
Feld führen kann — wie dies G. E. Müller fälschlich Jost zu-
schreibt— , sofern man nur die geringere Wirksamkeit späterer Wieder-
holungen nicht auf »noch unbekannte Grriinde«, sondern eben auf die
Ermüdung zurückführt. Der »Beweis« nimmt dann denselben Lauf
wie vorher, nur daß man das Resultat der Selbstbeobachtung aus-
drücklich dahin formuliert, daß sich bei einer Zahl von 4 Wieder-
holungen, die insgesamt ^/^ Minute erforderten, unmöglich schon
Ermüdungserscheinungen zeigen können. Da nun, falls die Intervall-
wirkung aus der Ermüdungskompensation zu erklären wäre, wiederum
für sehr kleine cumuli die ausgibigere Verteilung nicht mehr die
günstigere sein dürfte, so scheinen die Jostschen Versuche mit
ihrem dieser Erwartimg entgegengesetzten Resultat also doch zu
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Einige Bemerkimgen filber die Methoden usw. iqj
beweisen, daß nicht die Ermüdung als der ausschlaggebende Faktor
zu betrachten ist?
Der ganze »Beweis« gründet sich ja auf die Resultate von Selbst-
beobachtungen! Jost (vgl. S. 446) will die erhöhte Wiricsamkeit
späterer Wiederholungen sogar noch bei 8 oder 9 Wiederholungen^
die also reichlich i7a Minute in Anspruch nahmen, durch Sdbst-
beobachtung konstatiert haben, daß man nämlich »erst beim vierten
oder fünften Durchlesen so recht in Zug komme«. Als ob damit
gesagt wäre, daß deshalb noch keine Ermüdung eingetreten sei, wo
doch gerade die auf die allerersten Wiederholungen entfallenden Bc*
mühungen, recht in Zug zu kommen und die diesem Bemühen im
Wege stehenden Hemmnisse zu überwinden, einen besonders großen
Kraftaufwand erfordern dürften! Man wird eben auch in solchen Fragen
sich dazu verstehen müssen, mit unendlich kleinen Inkrementen zu
redmen, was man ja bei anderen Gelegenheiten schon unbedenklich
tut, und wird nicht erst dort an eine Ermüdung glauben dürfen, wo
sie bereits tmangenehm spürbar wird. Ich kann darum auch die
Resultate dieser weiteren Jost sehen Versuche nicht als einen stich-
haltigen Einwand gegen eine Verwendung der restaurierenden Wir-
kung des Intervalls für die Erklärung der verschiedenen Intervall-
wirkungen anerkennen.
Die eben besprochene Jost sehe Ableitung des Satzes, daß die
Intervallwirkung nicht aus der geringeren Wirksamkeit der späteren
Wiederholungen zu erklären sei, ist übrigens ein lehrreiches Beispiel
dafiir, zu was allem Selbstbeobachtungen herhalten müssen. Hier
verhelfen sie nämlich sogar zur Entscheidung einer prinzipidl wich-
tigen Frage über eine bestimmte Erklärungsmöglichkeit Mit dem
durch Selbstbeobachtung konstatierten Fehlen spürbarer Ermüdungs-
erscheinungen bei niedriger Ordnungszahl der betreffenden Wieder-
holungen glaubt man zi:^leich objektiv jede Ermüdimg in Abrede
stellen und einen bezüglich der dispositionsschaffenden Wirkung er-
höhten Wert jeder folgenden Wiederholung über die vorhergehende
innerhalb dieser Grenzen annehmen zu dürfen. Unter dieser Voraus-
setzung ist dann freilich jener Beweis unanfechtbar. Ich glaube aber
durch meine Versuche, soweit sie sich auf die funktionelle Abhängt
keit der Menge des Behaltenen von der Darbietungszahl beziehen,
bewiesen zu haben, daß eben jene aus der Selbstbeobachtung für
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I04 Tntz Reather,
niedrige Darbietungszahlen abgeleitete Voraussetzung, mit welcher der
Jostsche Beweis steht und fällt, der Wirklichkeit nicht entspricht.
»Instruktive Selbstbeobachtungen« sind es aber besonders, die
G. E. Müller in meiner Arbeit so stark Vermißt, daß er ihr sogar
den Charakter einer rein psychologischen Untersuchung absprechen
zu wollen scheint. Nun habe ich es allerdings mit Absicht vermieden,
derart wichtige Fragen wie die oben behandelte durch Resultate der
Selbstbeobachtung zu entscheiden, wenn ich sie auf anderem Wege
einer Entscheidung zufuhren konnte. Man wird mir aber wohl glauben^
daß ich während der zwei Jahre, innerhalb deren ich fast täglich
neben der Versuchsperson vor dem Apparate gesessen habe und
eigentlich ständig selbst mit Versuchsperson gewesen bin, gar manche
Selbstbeobachtung gemacht und an der Analyse der Vorgänge des
Erlemens und der Wiedererkennung gearbeitet habe. Freilich habe
ich darauf verzichtet, diese Resultate in ermüdender Folge aufzu-
zählen, sondern ich bin bestrebt gewesen, eine jede am rechten Orte
in den allgemeinen Zusammenhang zu verweben. So bietet besonders
der von G. E. Müller stark angefochtene dritte Teil meiner Ab-
handlung viel durch Selbstbeobachtung teils gewonnenes, teils be-
stätigtes Material. So haben sich mir z. B. alle die auf S. 67 meiner
Arbeit aufgeführten, auf das Erlernen einer Reihe bezüglichen Re-
sultate des Experiments, auch durch Selbstbeobachtung ergeben; man
wird es mir aber wohl kaum verübeln, daß ich den experimentellen
Daten vor den mit ihnen übereinstimmenden Ergebnissen der sub-
jektiven Beobachtung den Vorzug gegeben habe.
Ganz ungerechtfertigt aber ist es, wenn mir G. E. Müller den
Vorwurf macht, ich vermöchte den Steffens sehen Satz, welcher
sich auf die Verteilung einer konstanten Anzahl von Wiederholungen
über einen Zeitraum von konstanter Länge bezieht, von dem
ersten Jo st sehen Satze, der von der Verteilung einer ebenfalls kon-
stanten Anzahl von Wiederholungen über Zeiträume von variabler
Länge handelt, nicht zu unterscheiden. Dem letzteren auf S. 49
meiner Arbeit angeführten Satze »Sind zwei Assoziationen von gleicher
Stärke, aber verschiedenem Alter, so hat für die ältere eine Neu-
wiederholung größeren Wert« stelle ich nämlich den Steffensschen
Satz in folgender Form gegenüber »Sind zwei Assoziationen (sc. Dis-
positionen) von verschiedener Stärke (aber gleichem Alter), so fallt
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Einige Bemerkaogen über die Methoden usw. 105
der Erspamiswert (und mit ihm die Dispositionsstärke) der schwächeren
Assoziation, absolut genommen, in der Zeit langsamer ab« (S. 54).
Durch Einfügung der Parenthese »aber von gleichem Alter« glaube
ich doch genügend bewiesen zu haben, daß mir der zwischen beiden
Sätzen bestehende wichtige Unterschied bezüglich der Annahmen
über das Verhältnis der Assoziationsstärken und das Alter der
Assoziationen, welche Annahmen ihrerseits wieder durch die von
G. E. Müller hervorgehobene inhaltliche Verschiedenheit der Jost-
schen und Steffensschen Untersuchungen bedingt süid, nicht nur
nicht entgangen, sondern vielmehr der ausdrücklichen Betonung wert
erschienen ist Das einzige Mißverständnis, das mir bei diesen Aus-
einandersetzungen untergelaufen ist, besteht darin, daß ich gemeint
habe, Lottie Steffens könne die mittelbare Beziehung nicht ent-
gangen sein, in welche sich der von ihr (a. a. O. auf S. 374) aufge-
stellte Satz zu dem ersten Jo st sehen Satz bringen läßt, sofern man
ihn nur, wie ich es in den beigefügten Parenthesen getan hatte, auch
auf die Dispositionsstärken selbst ausdehnt, was nach dem allgemeinen
Gesetz des Abfalls der Dispositions- (Assoziations-) stärke mit wach-
sender Zwischenzeit durchaus erlaubt ist (vgl. S. 58fr. meiner Arbeit).
Wie ich mich aber inzwischen überzeugt habe, macht sie keinerlei
Versuch, eine solche Verbindung herzustellen; sie begnügt sich viel-
mehr damit, ihren Satz auf den Abfall des Erspamiswertes in der
Zeit zu beschränken.
Ich werde nun zunächst den Versuch machen, diesen durch den
zweiten Jo st sehen Satz vermittelten Zusammenhang des Steffens-
schen mit dem ersten Jostschen Satze herzustellen, ein Versuch, der
vor allem aus dem Grunde allgemeineres Interesse beanspruchen dürfte,
weil damit die bisher zusammenhangslos nebeneinanderstehenden drei
Sätze in eine enge Beziehung gebracht werden und zugleich eine
Reduktion auf ein einfacheres Prinzip erfahren. Obwohl sich näm-
lich Jost darauf beschränkt, seine beiden Sätze völlig unvermittelt
nebeneinander zu stellen, läßt sich doch aus dem zweiten von ihm
aufgestellten Satze »Sind zwei Assoziationen von gleicher Stärke, aber
verschiedenem Alter, so fallt die ältere in der Zeit weniger ab«
(S. 467) der erste Satz (vgl. vor. S.) — allerdings nur in einer äußer-
lich zwar wenig, inhaltlich jedoch stark modifizierten Gestalt — her-
leiten, in der Form nämlich einer nur scheinbaren Gesetzmäßigkeit
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Io6 Fntz Renther,
»Sind zwei Assoziationen von gleicher Stärke, aber verschiedenem
Alter, so scheint eine Neuwiederholung für die ältere einen größeren
Wert zu haben«. Nur in dieser modifizierten Form läßt sich der
erste Jostsche Satz in seiner Allgemeinheit überhaupt aufredit
erhalten, während er in der ihm von Jost gegebenen Form einer
wirklich stattfindenden gesetzmäßigen Beziehung nur inner-
halb gewisser Grenzen gilt. Wie ich nämlich aufS. soff, meiner
Arbeit gelegentlich ausgeführt habe, besteht dieser Satz nur innerhalb
jener Grenzen zu Recht, welche dadurch bezeichnet sind, daß die
jüngere Disposition ihre Stärkung zu einem Zeitpunkte erfahrt, in
welchem die Ermüdungswirkimgen von ihrer Einprägung her sich
noch geltend machen, dann aber sogar ohne die einschränkende
Bedingung, welche gleiche Stärkegrade der verschiedenaltrigen Asso-
ziationen erfordert (vgl. auch später S. 112). Wir haben es hier aber
lediglich mit dem ersten Jost sehen Satz in seiner vollen Allgemein-
heit zu tun, und als solcher ist er, wie ich zeigen werde, als der
Ausdruck der oben formulierten nur scheinbaren Gesetzmäßigkeit aus
dem zweiten Jost sehen Satze ableitbar.
Da aber dieser Auffassung im Gegensatze zu dem Inhalte des
Satzes in der Jost sehen Fassung die Annahme zugrunde liegt, daß
in Wirklichkeit außerhalb jenes eben umgrenzten Gebietes eine
jede Darbietung für jede Assoziation von demselben Stärkegrade den
gleichen dispositionsschaffenden Wert hat, mögen die Altersunter-
schiede der verschiedenen Assoziationen auch noch so groß sein, so
haben wir uns zunächst mit den »Beweisen« abzufinden, welche Jost
für seine Auffassung einer Verschiedenwertigkeit der einzelnen Neu-
wiederholung für Assoziationen verschiedenen Alters geltend macht.
Bezeichnenderweise sind nun beide Tatsachen, welche er beizubringen
vermag und als vollkommen beweiskräftig ansieht, dadurch charakte-
risiert, daß sie sich als Folgen aus dem ersten Satze ergeben müßten,
falls er gültig wäre. Sie lassen sich aber sehr wohl auch auf anderem
Wege erklären, so daß durchaus nicht der erste Jostsche Satz als
ihre notwendige Bedingung anzusehen ist.
Von den zwei Gründen nämlich, die Jost für seine Auffassung
anführt, ist die erstere Tatsache, die günstigere Wirkung der aus-
gedehnteren Verteilung gegenüber der Kumulierung innerhalb der
von Jost eingehaltenen Grenzen, ebensogut unter Zuhilfenahme der
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Einige Bemerkungen tlber die Methoden asw. 107
Ennüdiingswirkung aufeinanderfolgender Dartrietiingen zu erklären,
wie ich dies früher schon angedeutet habe. Die zweite Tatsache
aber, durdi die er seinen Satz zu stützen sucht, ist das oben schon
behandelte »psychologische Paradoxon« verschiedenartiger Resultate
des Treffer- und des Erspamisverfahrens, das man, wie ich gezeigt
habe, sehr wohl auch daraus ableiten kann, daß bei Anwendung der
Erspamismethode alle die unterwertigen Dispositionen im Ersparnis-
wert mit zur Geltung kommen, während sie für das Trefferverfahren
unerreichbar bleiben, so daß die von Jost erhaltenen Trefferzahlen
durchaus keine Entscheidung darüber zulassen, ob die alten oder die
jungen Reihen in dem gegebenen Falle eine größere mittlere Asso-
ziationsstärke besessen haben ^).
Der erste Jostsche Satz in seiner ursprünglichen Fassung ist somit
als Vorlauf^ noch unbewiesen zu betrachten, und es steht demnach
unserer Annahme gleicher Wirksamkeit der Einzeldarbietung auf
alte wie auf weniger alte Dispositionen, wenn nur die vorhin bezeich-
neten Grenzen überschritten sind, nichts im Wege. Wir brauchen
nur noch, um den ersten Jostschen Satz in seiner Allgemeinheit
als den Ausdruck einer nur scheinbaren Gesetzmäßigkeit aus dem
'J Ganz abgesehen davon, daß, wie gesagt, das »Paradoxon« aach noch diese
andere Deutung zulSßt, kann auch Jost dasselbe seinen Zwecken nur dadurch dienst-
bar machen, daß er eine große Inkonsequenz begeht, auf die ich bereits auf S. 29
meiner Arbeit aufmerksam gemacht habe. Obwohl er nämlich noch kurz vorher
klargestellt hat, daß uns die TrefTermethode über die Assoziationsst&rken unterwertiger
Assoziationen keine Auskunft geben könne, interpretiert er auf S. 463 die oben mit-
geteilten zahlenmSßigen Resultate des »Paradoxons« mit dem Satze »Die Zahlen ftlr
die Treffer beweisen, daß die mittlere Assoziationsstftrke der jungen Reihen zur Zeit
der Prüfung eine viel größere war«, wobei er unter der mittleren Assoziationsstärke
laut Definition (vgl. S. 447) die durchschnittliche Größe der Tendenz eines Gliedes
der Kette versteht, das nächstfolgende zu reproduzieren, eine Größe also, die nach
dem früher von ihm Bemerkten durch die Trefferzahl gandcht charakterisiert werden
kann. Nur diese Inkonsequenz konnte Jost dazu verleiden, fUr seinen ersten Satz
das »Paradoxon« ins Feld zu führen, das, wäre er konsequent gewesen, für
ihn garnicht hätte beweisend sein dürfen. Man vergleiche übrigens die be-
deutend vorsichtigere Fassung des Satzes bei Otto Lipmann (»Die Wirkung der
einzelnen Wiederholungen auf verschieden starke und verschieden alte Assoziationen«
Zeitschr. f. Psychol. 35, S. 223): »Liefern zwei verschieden alte, gleichlange Reihen
gleich viele Treffer, so wird die Zahl der letzteren durch Neuwiederholungen bei der
älteren schneller vermehrt als bei der jüngeren.« Auf die methodisch in verschiedener
Hinsicht durchans anfechtbare Ableitung dieses Satzes bei Lipmann kann ich mich
4tn dieser Stelle nicht einlassen.
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io8
Fritz Reuther,
zweiten Jo st sehen Satze ableiten zu können, die für den jetzigen
Stand der Frage durchaus statthafte und in der Reihe der gegebenen
Möglichkeiten nächstliegende Annahme zu machen, daß das für irgend
einen bestimmten Zeitpunkt genommene Verhältnis der Abfallsten-
denzen der Stärkegrade zweier Assoziationen (Dispositionen) von ver-
^ KjHspositmism
Stärke
schiedenem Alter für den Fall, daß beide Assoziationen in denjenigen
beiden Zeitpunkten, in welchen sie eine jede auf einen gewissen
Stärkegrad herabgesunken waren, dieselbe absolute Stärkung durch
dieselbe Anzahl von Darbietungen erfahren haben, genau dasselbe
ist, wie wenn diese Stärkungen nicht erfolgt wären.
Nehmen wir nämlich nunmehr beispielsweise an, die beiden Dis-
positionen a und ^, von denen a die ältere sei, haben in den Zeit-
punkten Z, beziehentlich Z^ dieselbe Stärke h und erfahren in diesen
Punkten durch eine neue Darbietung') die gleiche absolute Stärkung
') Da sich das Verhältnis der beiden Abfallstendenzen durch das Verhältnis der
beiden Knnrenkrümmongen in bestimmten Zeitpunkten darstellt, die Konstanz eines
Verhältnisses zweier Krümmungen sich aber schwer anschaulich machen läßt, wenn
die absoluten KrUmmnngswerte sich verändern, was ja in Wirklichkeit bei jeder noch
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Einige Bemerkungen über die Methoden asw. loo
k^ SO zeigt sich in den auf Z^ folgenden Zeitpunkten, daß die Diffe-
renz der Dispositionsstärken immer kleiner wird, bis sie im Punkte Z^
ganz verschwindet, worauf dann sogar die Dispositionsstärke von b'
unter diejenige von d herabsinkt. Eis scheint also in allen auf Z^
folgenden Zeitpunkten, als hätte die neue Darbietung fiir die ältere
Disposition a einen größeren Wert als fiir die jüngere b gehabt.
Da nun aber in meiner Figur in dem Verlauf der Kurven a und b
lediglich die graphische Darstellung der im zweiten Jo st sehen Satze
ausgesprochenen Gesetzmäßigkeit »Sind zwei Assoziationen von gleicher
Stärke, aber verschiedenem Alter, so fallt die ältere in der Zeit weni-
ger ab« zu sehen ist, so darf es wohl als nachgewiesen betrachtet
werden, daß der erste Jo st sehe Satz in modifizierter Form »Sind
zwei Assoziationen von gleicher Stärke, aber verschiedenem Alter,
so scheint eine Neuwiederholung fiir die ältere einen größeren Wert
zu haben« aus dem zweiten Jostschen Satz ableitbar ist. Daß aber
weiterhin der letztere mit dem Steffensschen Satze in engstem Zu-
sammenhange steht, ist schon von vornherein daraus zu erschließen,
daß sich beide Sätze auf den Abfall der Dispositionsstärken in der
Zeit beziehen. Ein Vergleich des Verlaufs der Kurven a und b in
der obigen Figur aber als Ausdrucks der im zweiten Jostschen Satze
ausgesprochenen Gesetzmäßigkeit mit der von Steffens auf S. 375
ihrer Abhandlung gegebenen graphischen Veranschaulichung ihres
Satzes und schließlich mit der von mir als Darstellung des durch
meine Versuche im Einklang mit früheren Untersuchungen gefundenen
Abfalls der Dispositionsstärke mit wachsender Zeit gegebenen Kurve
Xin meiner Arbeit läßt leicht erkennen, daß der zweite Jostsche
imd der Steffens sehe Satz lediglich Folgerungen aus diesem all-
gemeinsten Gesetz des Abfalls der Dispositionsstärke darstellen imd
mithin untereinander aufs engste verknüpft sind.
80 kleinen Siltärknng der Dispositionen geschehen wird, habe ich eine so geringe
Stärknng gewählt, nm, ohne in der graphischen Darstellung einen großen Fehler zn
begehen, die orsprünglichen Karyen einfach dnrch ihre Parallelkurven ersetzen za
können, wobei dann unmittelbar klar werden dürfte, was nnter der Konstanz des
Verhiltnisses der Abfallstendenzen für jeden Zeitpunkt gemeint ist. Die Zeitpunkte
Zj and Z9 sind Übrigens so gewählt za denken, daß jene Grenzen überschritten sind,
innerhalb deren wirklich ein größerer Wert der Darbietung ftlr die ältere Disposition
zu konstatieren ist.
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HO Fritz Reother,
Es muß nun aber eine ganz falsche Vorstellung von meinen be*
züglich der Wirksamkeit des Intervalls unternommenen Versuchen
(S. 48 ff.) hervorrufen, wenn G. E. Müller behauptet, meine Versuche
bezögen sich auf den Jost sehen Satz. Sie beziehen sich vielmehr
ebensoviel und ebensowenig auf die Jostschen wie auf die Steffens-
schen Untersuchungen. Mit den ersteren nämlich haben sie gemein-
sam, daß die Gesamtzeit variiert wurde, auf die sich die konstant
gehaltene Zahl der Darbietimgen verteilte, mit letzteren dagegen, daß
die Intervalle variiert wurden, welche bei Steffens die cumuli, bei
mir die Einzeldarbietungen trennten. Von beiden Untersuchungen
sind aber die meinen dadurch unterschieden, daß bei ihnen die Frage
der Häufung und Verteilui^ ganz aus dem Spiele gelassen und immer
mit der ausgibigsten Verteilung gearbeitet worden ist. Das an meinen
Versuchen über die Wirksamkeit des Intervalls Charakteristische ist
vielmehr die systematische Variierung der Intervallgröße, und das
meiner Meinung nach wichtigste Resultat dieser Versuchsreihen besteht
darin, daß sich die Existenz eines kritischen Intervalles ergab, für
welches die Menge des Behaltenen ein Maximum erreichte; dadurch
komplizierte sich die Frage der Häufimg und Verteilung der Darbietungen
ungemein (vgl. S. 5 1 f. meiner Arbeit). Es trat aber weiter die Frage auf,
ob sich dieses Resultat unter Zuhilfenahme der von Jost beziehentlich
Steffens aufgestellten Sätze erklären läßt, und es stellte sich heraus,
daß sich diese erst dispositionsschaffende, später aberdispositionsstörende
Wirkung der Intervallgröße restlos erklären läßt, sobald man dem
Intervall als einer Zeitgröße eine teils positive aus der Kompensation
der Ermüdung, teils negative Wirkung, wie sie sich im Vergessen
äußert, zuschreibt, wie ich dies auf S. 5 5 ff. getan habe. Man wird
sich weiter leicht überzeugen, daß dieses Erklärungsprinzip der Inter-
vallwirkung auch die von Jost und Steffens innerhalb gewisser
Grenzen bewiesene Überlegenheit jeder ausgibigeren Verteilung über
jede weniger ausgibige verständlich zu machen imstande ist, so daß
man des Umweges über die Jostschen und Steffens sehen Sätze
gar nicht erst bedarf. Daß aber dieser von mir eingeschlagene Weg,
welcher die Ermüdungswirkungen aller, auch der allerersten Darbie-
timgen zur Erklärung herbeizieht, noch immer beschritten werden
darf, glaube ich teils in meinen ersten Ausfuhrungen, teils an dieser
Stelle dadurch erwiesen zu haben, daß ich die von Jost bzw. von
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Einige Bemerknngen über die Methoden usw. 1 1 1
G. E. Müller gegen eine Herbeiziehung der Ermüdung geltend ge-
machten Bedenken als nicht bindend nachwies.
Es scheinen mir also, um die Ergebnisse in Kürze zu rekapitu-
lieren, der zweite Jos t sehe Satz »Sind zwei Assoziationen (Dispo-
sitionen) von gleicher Stärke, aber verschiedenem Alter, so fällt die
ältere in der Zeit weniger ab« und der von den bloßen Ersparnis-
werten auf die Dispositionsstärken selbst ausgedehnte Steffenssche
Satz »Sind zwei Assoziationen (Dispositionen) von verschiedener Stärke,
aber gleichem Alter, so fällt die schwächere hinsichtlich ihrer Stärke,
absolut genommen, in der Zeit langsamer ab« als wertvolle Folge-
rungen aus dem allgemeinen Gesetz des Abfalls der Dispositionsstärke
in der Zeit von selbständiger Bedeutung zu sein. Dagegen bedarf
man ihrer nicht zur Erklärung der günstigeren Wirkung einer aus-
gibigen Verteilung gegenüber der Kumulierung, welche sich samt
den sonst aufgefundenen Eigenschaften der Intervallgröße einfacher
aus der Superposition der positiven und der negativen Wirkung des
Intervalls imd aus der innerhalb der früher bezeichneten Grenzen
durch die Ermüdung beziehentlich Auffrischung bewirkten Verschie-
denwertigkeit der durch verschieden große Intervalle getrennten Dar-
bietungen erklären lassen. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, daß die
sogenannte negative Wirkung der Zeitgröße des Intervalls insofern jene
beiden Sätze einschließt, als sie ebenfalls nur eine direkte Anwendung
jenes beiden Sätzen zugrundeliegenden allgemeinen Gesetzes darstellt
Der erste Satz Josts dagegen, den dieser gewissermaßen auf
Gnmd eines repressiven Verfahrens aus zwei Tatsachen beweisen zu
können glaubte, die sich, falls er zu Recht bestände, als seine Folgen
ergeben müßten, nämlich aus der günstigeren Wirkung der ausgibi-
geren Verteilung und aus der Möglichkeit der Statuierung jenes »psy-
diologischen Paradoxons«, wird in seiner allgemeinen Formulierung
einfach als eine zwecklos gewordene Hypothese fallen
zu lassen sein, weil sich die beiden angeführten Tatsachen befrie-
digender auf dem von mir eingeschlagenen Wege ableiten lassen, befrie-
digender vor allem deshalb, weil die dazu herbeigezogenen Erklärungs-
gründe durchaus gesichert erscheinen, während der erste Jostsche
Satz stets der Ausdruck einer jedenfalls durchaus problematischen und
nach Josts Meinung anscheinend nicht weiter erklärbaren Gresetzmäß^-
keit gewesen ist, worauf ich schon früher (vgl. S. 50 und 52 meiner Arbeit)
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112 Fritz Renther,
gelegentlich hingewiesen habe. Es dürfte sich aber auch kaum lohnen,
diesen allgemeinen Satz in der modifizierten Form einer nur scheinbaren
Gesetzmäßigkeit »Sind zwei Assoziationen (Dispositionen) von gleicher
Stärke, aber verschiedenem Alter, so scheint eine Neuwiederholung
für die ältere einen größeren Wert zu haben« als Ballast weiter mit-
zuschleppen, zumal er, wie ich gezeigt habe, unter der Voraussetzung,
daß durch gleichgroße Stärkezuwüchse in Punkten gleicher Stärke
das für bestimmte Zeitwerte genommene Verhältnis der Abfalls-
tendenzen zweier Assoziationen (Dispositionen) nicht geändert wird,
in dem zweiten Jost sehen Satz eigentlich schon enthalten und jeder-
zeit aus ihm herleitbar ist. Daß aber, wie ich dies auf S. 50 meiner
Arbeit ausgeführt habe, innerhalb gewisser Grenzen der Satz
plt »Für eine ältere Disposition hat eine Neuwiederholung einen
größeren absoluten Wert hinsichtlich der Stärkung dieser Disposition
als fiir eine jüngere Disposition, mag die erstere nun von geringerer,
gleicher oder größerer Stärke als die letztere sein«, das erklärt sich
völlig aus der bei der älteren Disposition durch das Intervall bewirkten
Auffrischung der Lernfähigkeit für den betr. Inhalt gegenüber der
bei der Neudarbietung der jüngeren Disposition noch nachwirkenden
Ermüdung, und der Satz wird trotz eines etwa vorhandenen bedeuten-
den Altersunterschiedes der beiden Dispositionen seine Gültigkeit
verlieren, sobald die Stärkung der jüngeren Disposition erst in einem
Zeitpunkte erfolgt, zu welchem jede von der Zeit ihrer Stiftung her-
rührende Ermüdung durch die restaurierende Wirkung des Intervalls
kompensiert worden ist In diesem und allen folgenden Zeitpunkten
hat eine Neudarbietung vielmehr — von störenden Einflüssen abge-
sehen — für beide Dispositionen denselben dispositionsschafTenden
bez. -stärkenden Wert, und es kann höchstens noch, wie oben des
näheren ausgeführt worden ist, der Schein entstehen, als ob dies
nicht der Fall wäre.
Was sich ferner in dem Referate, um noch einmal kurz auf das-
selbe zurückzukommen, von meinen Ausführungen über die Bedeutung
des Rhythmus für die Gedächtniserscheinungen angeführt findet, muß
allerdings so, aus dem Zusammenhang gelöst, den Schein erwecken,
als hätte ich oberflächlich über die so überaus komplizierte Frage
des Rhythmus entschieden. Innerhalb jenes gegebenen Zusammen-
hanges aber, von dem freilich der Leser des Referats nichts erfährt.
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Einige Bemerkungen Über die Methoden lUW. 1 1 j
im Rahmen des zum Teil auf experimentelle Daten gegründeten
Versuches nämlich, die Gedächtniserscheinungen als in ihrem gesetz-
mäßigen Verlauf durch die Aufmerksamkeitsvorgänge bedingt aufzu-
weisen '), dürften jene Ausfuhrungen wohl kaum als »Dekretierung«
eines allgemeingültigen Entscheids wirken. Ebenso wie über das
Fehlen jeder Notiz über meinen Versuch, die Gedächtniserscheinungen
zu den Aufmerksamkeitsvorgängen in gesetzmäßige Beziehung zu
setzen, darf man sich bUligerweise darüber wundem, daß in jenem
Referat über zwei andere Hauptpunkte meiner Arbeit geschwiegen
wird, nämlich über die von mir erhobenen und besonders eingehend
begründeten Einwendungen gegen eine Verwendung der Wieder-
holungszahl als eines Maßes der Gedächtnisleistung innerhalb der
Ersparnismethode wie auch über den von mir ganz allgemein unter-
nommenen Versuch einer Herausarbeitung der Vorteile der Wieder-
erkennungfsmethode als solcher gegenüber den Methoden der selb-
ständigen Reproduktion, auf den ich ja im Eingang dieser Bemerlomgen
noch einmal zurückgekommen bin. Jenes Referat ist daher trotz
seines Umfanges als sehr lückenhaft zu bezeichnen, was um so mehr
überraschen muß, als in demselben verhältnismäßig viel Worte auf
die Erörterung von Dingen verwendet worden sind, welche fiir ein
psychologisches Publikum wohl kaum von Interesse sein dürften.
Was die von mir gegebene Bibliographie der Gedächtnisliteratur
betrifft, sei mir schließlich noch die Bemerkung gestattet, daß von
den Arbeiten W. G. Smiths gerade die eine »The Place of Repetition
in Memory« (Psych. Rev. 3, 21) deshalb genannt worden ist, weil ich
in meiner Arbeit wiederholt auf dieselbe Bezug genommen habe. Die
andere Abhandlung dagegen, »The Relation of Attention to Memory«
(Mind, N. S. 4, 47), die G. E. Müller zu vermissen scheint, findet
sich in der von Kennedy gegebenen Bibliographie, auf die ich aus-
') Im Arch. f. d. ges. Psych ol. VII, i und 2, Literatarbericht S. 9 bezeichnet es
J. Watt als eine Inkonsequenz meinerseits, daß ich erst zwar die Zeit als Maß der
Gedächtnisleistang kritisiert, später aber trotzdem den Versuch unternommen habe,
eine Abhängigkeitsbeziehung zwischen der absoluten Menge des Behaltenen und der
Apperzeptionszeit aufzuzeigen. Ich sehe nicht ein, inwiefern eines das andere aus-
schließen soll. Kann doch sehr wohl eine Abhängigkeitsbeziehung dieser Art be-
stehen, ohne daß darum die Zeit als Gedächtnismaß verwendbar wird, was Pro-
portionalität von Leistung und Zeitaufwand — also eine ganz spezielle Art von
Abhängigkeit — voraussetzen würde.
Wundt, Psychol. Studien 11. 8
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114
Fritz Reather.
drücklich als auf eine Ergänzung der meinigen verwiesen habe. Die
andern beiden Abhandlungen von W. G. Smith aber, »Zur Frage
der mittelbaren Assoziation«, Leipzig 1894, und »Mediate Association*
(Mind 1894), habe ich ebenfalls mit Absicht nicht aufgeführt, weil
ich sie der Literatur der Assoziationspsychologie zurechne, die ich
wiederum ausdrücklich aus meiner Bibliographie ausgeschieden habe.
Schließlich darf ich daraufhinweisen, daß ich mit den Worten: »Leider
dürfen wir bei dem Umfang des Materials nicht hoffen, eine ganz
vollständige Bibliographie zu bieten« selbst auf den Anspruch ver-
zichtet habe, eine durchaus lückenlose Anfuhrung der einschlägigen
Literatur zu bieten.
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Kleine Mitteilungen.
Ist Schwarz eine Empfindung?
Unter diesem Titel veröffentlicht James Ward in dem »British Journal
of Psychology« (Vol. I, part 4, p. 407ff.) einen Artikel, in welchem er
die geschichüiche Entwicklang behandelt^ die der Begriff der »Schwarz-
empfindung« in der neueren Psychologie durchgemacht hat, von der Zeit
an, wo Schwarz im Sinne der noch heute verbreiteten populären Vor-
stellung überhaupt als keine Empfindung galt, bis zu den modernen An-
schauungen, die sämtlich das Sdiwarz irgendwie in das System der posi-
tiven Lichtempfindungen einzureihen bemüht sind. Ich habe keinen Anlaß,
hier auf die eigenen Ansichten von James Ward, die auf den Versuch
einer Rekonstruktion der populären Meinung von der Nichtexistenz einer
Schwarzempfindung hinauslaufen, hier näher einzugehen, und lasse auch
die sonstigen Teile seines historischen Referates auf sidi beruhen. Nur
dem Teil desselben, der meine eigenen Arbeiten über den Gegenstand
betrifft, möchte ich einige Worte widmen. Nach James Ward habe ich
zuerst die Empfindtmgen Weiß-Grau-Schwarz als eine reine Intensitätsreihe
aufgefaßt, dann diese Position aufgegeben und Weiß und Schwarz als
Gegensätze betrachtet, endlich noch einmal meine Ansicht gewechselt
usw., und alles das, ohne dem Leser jemals Rechenschaft über die Gründe
solch unbegreiflicher Gesinntmgsänderung zu geben, — meiner Gewohn-
heit gemäß (»more suo«), wie James Ward hinzufügt Ich gedenke nun
nicht, das Wirrsal sprachlicher und sachlicher Mißverständnisse aufzuklären,
auf Grund dessen James Ward seinen Bericht abgefaßt hat Ich be-
schränke mich darauf, hier kurz die Geschichte zu erzählen, wie sie wirk-
lich gewesen ist. Wenn übrigens Ward, wie ich aus dem mißbilligenden
»more suo« schließen möchte, mit manchen Philosophen der Meinung
sein sollte, es zieme sich auch für einen Psychologen, die Standhaftigkeit
seines Charakters darin zu betätigen, daß er an seinen einmal gefaßten
Meinungen festhält, was auch sonst in der Wissenschaft sich ereignen
mag, so kann ich allerdings diese Meinung nicht teilen. Ich lasse mich
gern, wo es immer geschehen kann, durch neue Tatsachen eines Besseren
belehren, tmd ich habe es mir mein Leben lang zum Grundsatze gemacht,
dem Neuen, wo es gute Gründe für sich geltend zu machen weiß, eben-
sowenig mein Ohr zu verschließen, wie ich hergebrachte Überzeugungen
deshalb für unumstößlich halte, weil sie von aller Welt geteilt werden.
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1 1 5 Kleine MitteUangen.
Ich muß es also auch über mich ergehen lassen, wenn James Ward und
andere Philosophen es mir zum Vorwurfe machen, daß ich im Jahre 1905
nicht mehr in allen Stücken derselben Meinung bin, der ich vor dreißig
oder 40 Jahren gewesen bin. Zufällig verhält es sich jedoch im vor-
liegenden Falle anders, so daß, von wenigen Punkten abgesehen, in der
Tat heute noch meine Anschauungen über das Wesen der Lidit- und
Farbenempfindungen die nämlichen sind, wie in den Jahren 1873 und 1874,
als die erste Auflage der »Grundzüge der physiologischen Psychologie«
ausgegeben wurde.
Ich darf wohl hier darauf hinweisen, daß beim Erscheinen der die
Lichtempfindungen behandelnden ersten Hälfte des genannten Werkes die
Heringsche Theorie noch nicht existierte. Erst in den folgenden Jahren
publizierte Hering seine hierher gehörigen Arbeiten »zur Lehre vom
Lichtsinn«. Die Position, die ich in jenem Werke einnahm, war aber
die folgende: die damals allein zur Diskussion stehende Young-Helm-
holtzsche Dreifubentheorie lehnte ich ab, weil sie mit dem sonst überall
bewährten Grundsatze des Parallelismus der Empfindungs- und der physio-
logischen Erregungsvorgänge im Widerspruch stehe, und weil sich die
Erscheinungen der partiellen Farbenblindheit, auf die man damals einen
entscheidenden Wert legte, leicht auch anders deuten ließen. Im An-
schlüsse daran entwickelte ich dann die Grundzüge derjenigen Farben-
theorie, die ich später den Drei- und Vierkomponententheorien gegenüber
die »Stufentheorie« genannt habe, tmd an der ich für die Farben auch
heute noch festhalte. Die farblosen Empfindungen führte ich dagegen
damals noch, übereinstinmiend mit den verbreiteten Anschauungen, auf
einen spezifischen Reizungsvorgang zurück, der aus dem Zusammenwirken
entgegengesetzter Farbenerregungen eines oder mehrerer Komplementär-
fiarbenpaare entspringe, und ich betrachtete Schwarz und Weiß mit ihren
grauen Zwischenstufen als eine reine Intensitätsreihe dieser spezifischen
Helligkeitsempfindungen. Als im Jahre 1880 die zweite Auflage der
»Grundzüge« erschien, war indessen Herings Farbendieorie ans Licht
getreten und hatte vielen Beifall, namentlich im Kreise der Ophthalmo-
logen, gefunden. Ich machte dann g^en die Theorie der vier Haupt-
farben dieselben Einwände geltend, an denen ich noch heute festhalte,
nur daß in den späteren Auflagen weitere, besonders den indessen ge-
sammelten reicheren Erfahrungen über die Farbenbb'ndheit entnonmiene,
hinzugekommen sind. Dagegen erkannte ich an, daß die Auffassung
des Farblosen als einer resultierenden Empfindung unzulänglich ist, daß
vielmehr die schwarz -weiße Reihe, wie sie Hering nannte, eine selb-
ständige Qualitätenreihe, tmd die Aufhebung der Komplementärfarben zu
Weiß oder Grau nicht sowohl als eine Resultante denn als ein Rest-
phänomen aufzufassen sei, indem man anzunehmen habe, daß die Emp-
findung des Farblosen je nach der Intensität als Weiß, Grau oder Schwarz
auch alle Farbenempfindungen begleite (2. Aufl. S. 453, 461). Aber ich
erhob Einspruch dagegen, daß nunmehr, wie es in der Heringschen
Theorie geschah, das Verhältnis von Schwarz und Weiß mit dem der Kon-
trastüeurben zu einander auf gleiche Linie gestellt, und daß also jenes Ver-
hältnis, ebenso wie hier, als ein rein qualitatives aufgefaßt werde. Vielmehr
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Kleine Mitteilong^en. 1 1 ^
betonte ich, daß Schwarz und Weiß zugleich maximale Unterschiede der
Intensität der Empündmig sind. Dies führte zu der Hervorhebung des Satzes,
der im Grunde stillschweigend schon in allen dreidimensionalen Konstruk-
tionen des Systems der Lichtempfindungen ausgesprochen liegt, daß im Ge-
biet dieser Empfindungen jede Intensitätsänderung einer gegebenen Farben-
ebenso wie der farblosen Empfindung zugleich mit einer Qualitätsänderung
verbunden ist. Der weiteren Auseinandersetzung dieses Punktes, sowie dem
Versuch, die Bevorzugung der sogenannten Hauptfarben auf bestimmte
psychologische Momente zurückzuführen, ist hauptsächlich die Abhandlung
über »die Empfindung des Lichts und der Farben« in Bd. 4 der Philo-
sophischen Studien vom Jahre 1888 gewidmet. Neu hinzugekommen ist in
ihr neben der erwähnten Ableitung der Hauptfarben aus gewissen in der
Natur verbreiteten Färbungen und aus dem Gefühlsausdruck anderer der
Hinweis darauf, daß Schwarz und Weiß nicht nur mit dem Verhältnis von
Gelb und Blau, sondern auch mit dem solcher subjektiver Kontraste wie
Kalt und Warm unvergleichbar seien. Denn die letzteren gehen durch eine
empfindungslose Indifferenzzone ineinander über, während das Grau uns
subjektiv als eine positive Zwischenempfindung zwischen Weiß und Schwarz
erscheint, so daß wir die farblosen Empfindungen als ein Mischsystem aus
zwei Qualitäten, Schwarz und Weiß, auffassen können. Dabei sind aber
die einzelnen Qualitäten dieses Systems immer zugleich Intensitätsstufen
der Empfindung, gemäß dem oben hervorgehobenen Satze vom Zusammen-
hang der Intensitäts- und Qualitätsänderungen in diesem Empfindungs-
system (S. 367). Ich habe dann weiterhin ausgeführt, daß jenem Ver-
halten der reinen Helligkeitsempfindungen die Voraussetzung eines dauern-
den, alle sonstigen Erregungsvorgänge begleitenden und bei ihrem Wegfall
allein zurückbleibenden Prozesses der Schwarzempfindung entspreche,
welcher Prozeß ebensowohl über den stetigen Übergang des Schwarz
durch Grau in Weiß wie über den Übergang aller Farbenempfindungen
bei abnehmender Lichtstärke in Schwarz Rechenschaft gebe. Wenn wir trotz-
dem geneigt seien, Weiß und Schwarz nicht als Abstufungen einer zwischen
zwei größten Unterschieden der Komponenten abgestuften Empfindungs-
reihe, sondern als Gegensätze anzusehen, so glaubte ich, dies, ebenso
wie andere sogenannte Kontraste der Empfindungen, z. B. die von Kalt
und Warm, nicht auf die Empfindungen als solche, sondern auf die Gefühls-
kontraste zurückführen zu sollen, die an diese qualitativen Empfindungs-
unterschiede gebunden sind (S. 381 f.). Das sind in allen wesentlichen
Punkten die Anschauungen, die ich noch heute vertrete, und denen ich
noch jüngst in der 5. Aufl. der Physiolog. Psychologie nxu* einige neben-
sächliche ergänzende Zusätze beigefügt habe. So ist hier insbesondere
bemerkt, jener dauernde Prozeß der Schwarzerregung lasse sich wohl im
Einklang mit anderen neurophysiologischen Erfahrungen als ein Hemmungs-
oder Restitutionsprozeß auffassen, tun verständlich zu machen, wie er
sowohl jede beliebige Lichtreizung begleite als auch nach dieser in
der Netzhaut andaure, tun nun im letzteren Fall in der entsprechen-
den Schwarzempfindung zum Ausdruck zu kommen (Physiol. Psychol. ^ II,
S. a42f.).
Demnach habe ich i) in bezug auf die Farbenempfindungen bis heute
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1 1 8 Kleine Mitteilongen.
in allen meinen Arbeiten über diesen Gegenstand die gleichen Anschau-
ungen vertreten, die ich vor dem Erscheinen von Herings Farben-
theorie dargelegt hatte. 2) In bezug auf die Reihe der reinen Helligkeits-
oder der schwarz-weißen Empfindungsreihe hielt ich mich in der i. Aufl.
der Physiolog. Psychologie allerdings noch im wesentlichen an die ältere
Intensitätsauffassung, und ich bekenne gern, daO ich hauptsächlich durch
Herings Arbeiten darauf aufmerksam wurde, daO alle Erscheinungen
dazu drängen, in diesen ein System von Empfindungen zu sehen, bei dem
Intensitäts- und Qualitätsänderungen aneinander gebunden sind, und von
dem aus sich dann diese Abhängigkeit auch auf das System der Farben-
empfindungen überträgt. An dieser Anschauung, welche eingehend zuerst
in der Abhandlung »über die Empfindung des Lichts und der Farben«
dargelegt wurde, habe ich dann unverändert bis heute festgehalten. Wenn
James Ward es, wie es scheint, ftir einen inneren Widerspruch hält,
daß in einem Empfindungssystem eine Intensitätsänderung zugleich eine
Qualitätsänderung bedeutet, so kann ich dem nur entgegenhalten, daß
ich in diesem wie in andern Fällen die Erfahrung selbst und nicht das
willkürlich fixierte Verhältnis der aus ihr abstrahierten Begriffe ftir maß-
gebend halte, ebensowenig wie ich in dem Umstand, daß sich die
Tonempfindungen wesentlich anders verhalten, irgendeine Gegeninstanz
erblicken kann. Für den Lichtsinn ist die Gebundenheit der Intensitäts-
an Qualitätsunterschiede und umgekehrt jedenfalls eine Tatsache, auf die,
wie gesagt, imausgesprochen schon in den alten Versuchen, das System
der Lichtempfindungen in einem dreidimensionalen geometrischen Gebilde
darzustellen, von Lamberts Farbenpyramide an bis auf die neuesten
Konstruktionen, hingewiesen ist.
Auf Wards eigene Ansichten näher einzugehen, verzichte ich nun
um so mehr, weil sie sich im wesentlichen, analog wie in der Frage nach
der Beziehung der Intensitäts-* zur Qualitätsänderung, nur auf dem Boden
begrifflicher Betrachtungen bewegen. Nur eine Frage, zu der diese Er-
örterungen herausfordern, möchte ich nicht unterdrücken. Wenn Schwarz
keine Empfindung, sondern die Abwesenheit einer Empfindung ist, wie kommt
es dann, daß das Sehfeld total Erblindeter, solcher, deren Netzhäute voll-
ständig zerstört sind, nicht schwarz ist? Wie man von Personen dieser Art,
die sich eine Erinnerung an fiühere Lichtempfindungen bewahrt haben, und
die gebildet genug sind, um über ihre Selbstbeobachtungen Rechenschaft
geben zu können, leicht erkunden kann, sind sie zwar meist noch einzelner
farbiger wie farbloser Erinnerungsbilder fähig. Aber wo diese fehlen, da
ist ihr Sehfeld weder weiß noch schwarz, sondern sie sehen in ihm die
Dinge genau so, wie wir die Dinge sehen, die hinter unserem Rücken
liegen, nämlich gar nicht, obgleich ja auch wir mit einigem Zwang Er-
innerungsbilder nach rückwärts verlegen können. Wenn man also von
der dauernden »Nacht« der Blinden redet, so ist dieser Ausdruck eigent-
lich falsch, ähnlich wie so manche andere populäre Meinung, z. B. die,
daß Schwarz keine Empfindung sei, fiedsch ist Schwarzempfinden und
Nichtempfinden ist zweierlei, das lehren uns die Blinden ebenso, wie wir
es im Grunde schon aus der Beobachtung unseres eigenen blinden Flecks
lernen können, obgleich im letzteren Fall die Erscheinungen durch andere
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Kleine Mitteilni^eii. HO
Einflüsse, ähnlich wie bei den Blinden, die früher gesehen haben, eventuell
durch Erinnerungsbilder, kompliziert werden.
W. Wundt.
Einfluß der Bewegungsrichtung auf den Lokalisationsfehler
von C. Spearman.
Mit drei Figuren im Text.
Im letzten Band dieser Studien, in meinem Aufsatz über »Die Nor-
maltäuschungen in der Lagewahmehmung« (S. 429), befindet sich die
Mitteilung, daß, wenn eine Versuchsperson auf die Lage eines Hautreizes
von oben hinzudeuten versucht, ihr Fehler durch die Ausgangsrichtung
der hindeutenden Hand beeinflußt wird*). Wenn man die mittlere Lo-
kalisation bei jeder einzelnen Ausgangsrichtung mit der gesamten
mittleren Lokalisation verglich, so fand sich bei den meisten Personen
eine Neigung, jedesmal nach dem Ausgangspunkte hin zurückzubleiben;
>->
Fig. I.
bei den wenigen Personen dagegen, wo dies nicht zutraf, war eine, aller-
dings weniger ausgeprägte, Neigung vorhanden, jedesmal zu weit vorzu-
dringen. Dieses Phänomen hoffe ich jezt durch folgende Figuren
anschaulicher zu machen, wo
-f- die wirkliche Reizstelle,
O die mittlere Lokalisation bei einer einzelnen Ausgangsrichtung
# die gesamte mittlere Lokalisation,
darstellt
') Ich erinnere daran, daß die gereizte Hautfläche durch einen großen horizon-
talen, unmittelbar darttberliegenden Schirm völlig verdeckt war.
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I20
Kleine Mitteüangen.
Fig. I und 2 stellen die Ergebnisse bei zwei (von den vier) Beob-
achtern dar, welche geneigt waren, zurückzubleiben; in beiden Fällen ist
der Einfluß der Ausgangsrichtungen offenbar fast identisch ausgefallen.
>-o
Fig. 2.
trotzdem daß die mittlere Größe der Täuschung in bezug auf die wirk-
liche Reizstelle sehr verschieden war. Fig. 3 gibt die Ergebnisse bei
Fig. 3.
einem von den zwei Beobachtern wieder, welche zu weit vordrangen.
Ich erinnere daran, daß alle diese Beobachter fest tiberzeugt waren, daß
die Ausgangsrichtung keine konstante Tendenz hervorzubringen ver-
möchte, da ja die lokalisierende Hand, »einmal an der scheinbaren Region
der Reizung angelangt, zur näheren Ortsbestimmung derselben überall
bequem (auf dem Schirme) herumtasten durfte«. Dagegen glaubten sie
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Kleine l^tteUnngen. I2i
gern, daß die Lokalisationsschärfe ') sich bei den weniger gebräuch-
lichen Richtungen etwas abstumpfen könnte, da »das erste instinktmäßige
Herankonmien der Hand etwas an Sicherheit zu verlieren scheine«; ob-
jektiv jedoch war kein Unterschied in dieser Hinsicht zwischen irgend
welchen der Ausgangsrichtungen zu spüren.
Diese Ergebnisse werfen, wie ich meine, ein gewisses Licht auch auf
manche andere psychologische Vorgänge. Zunächst empfangt nuui wieder
einmal eine Miümung zur Vorsicht, wenn man Schwellenwerte mitein-
ander zu vergleichen hat, welche von verschiedenen Individuen herrühren.
') Wie sie durch den variabeln Fehler gemessen wird.
Berichtigung
sinnstörender Fehler im Artikel >Die Normal täaschongen in der Lagewahmehmong«
in Heft 5/6 der psychologischen Stadien, B. I :
S. 420, Z. 9 — 10. Statt >yermeinten< lies >vemeinten<.
S. 493, Z. 26. Statt »sin ( — -^ 1 « lies »sin / '^ ^ | «.
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über Tiefenlokalisation von Doppelbildern.
Von
Richard Arwed Pfeifer«
Mit 8 Figuren im Text.
I. Kapitel.
Historisehe Übersieht.
§ I.
Als wir an unsere Arbeit herantraten, konnten wir nicht erwarten,
die ersten zu sein, die die Tiefenlokalisation der Doppelbilder zum
Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung machten. Es sind in der
Tat früher bereits nicht allein Beobachtungen angestellt, sondern auch
experimentelle Veranstaltungen getroffen worden, um den Ort der
Doppelbilder näher zu bestimmen. Bevor wir mit der Darlegung
imserer eigenen Untersuchungen beginnen, sei es daher gestattet, kurz
anzugeben, inwieweit die Lösung des Problems in früheren Zeiten
versucht worden ist. Ihre Aufgabe wird eine solche historische Über-
sicht weniger in Lückenlosigkeit als vielmehr darin zu suchen haben,
daß aller jener Forscher gedacht wird, die durch Originalität in ihren
Beobachtui^en, Versuchsmethoden oder Erklärungsweisen einen Bei-
trag zur Geschichte des Problems der Tiefenlokalisation von Doppel-
bildern geliefert haben.
§ 2.
Die ersten Angaben über die Tiefenlokalisation der Doppelbilder
finden sich bei einem Zeitgenossen Keplers, dem Jesuitenpater
Aguilonius (i) von Antwerpen. Durch ihn wird der Begriff des
Horopters in die Wissenschaft eingeftihrt. Als Horopter bezeichnet
Wundt, Ptychol. Stadien II. g
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IßO Richard Arwed Pfeifer,
Aguilonius eine parallel zur Angesichtsfläche durch den jeweils fixierten
Punkt gehende gerade Linie oder Fläche, in welcher alle gesehenen Dinge
ihren scheinbaren Ort haben. Der Horopter selbst kann nun zwar
nicht wahrgenommen werden, aber wir können uns, wie Aguilonius
betont, der Annahme eines solchen als Erklärungsprinzips in gleicher
Weise bedienen, wie etwa die Astronomen Hypothesen aufstellen, um
ihre Beobachtungen in ursächlichen Zusammenhang zu bringen.
1. Das subjektive Sehfeld entsteht durch bipolare Projektion aller
gesehenen Dinge in den Horopter mittels Strahlenbüschel, die von
beiden Augen ausgehend gedacht werden. Das Doppeltsehen findet
darin seine Erklärung. »Primo quidem efficax hujus rei argumentum
est, quod nisi statuamus omnia in horoptere videri, nulla idonea causa
reddi possit, ob quam certa oculorum dispositione res quaedam ge-
minae conspiciuntur« '). In der Tat ist leicht zu ersehen, daß der
Bipolarität der Projektion zufolge nur die im Horopter selbst gelege-
nen Dinge eine einfache Projektion ergeben können, während sich
alle vor und hinter diesem befindlichen Gegenstände in das durch
den Horopter gegebene Sehfeld gekreuzt und ungekreuzt doppelt
eintragen müssen.
2. Die von Aguilonius als radii optici bezeichneten Projektionslinien
sind identisch mit der Richtung, in der die Dinge gesehen werden; wo,
d. h. in welcher Tiefe die Gegenstände in dieser Richtung im Raum
erscheinen, bleibt durch den radius opticus an sich noch unbestimmt
Die Beobachtung lehrt nun nicht allein Fälle kennen, in denen die
Sehrichtung durch das Objekt hindurch und darüber hinaus bis zu
einer gewissen Grenze hin verfolgt wird (gekreuzte Doppelbilder),
sondern auch solche, in denen die monokularen Sehrichtungslinien
abzubrechen scheinen, noch bevor sie sich im Objekt kreuzen können
{ungekreuzte Doppelbilder). Die Tatsachen nötigen zu der Annahme,
daß die radii optici in einer ganz bestinmiten Tiefe eine energische
Abgrenzung erfahren müssen, wodurch dann gleichzeitig innerhalb
der Sehrichtung den Dingen ein Tiefenort angewiesen wird. Als
jene Grenze (Sqoq), »quae visum finit ac terminat«, muß aber der
Horopter gedacht werden. »Nusquam vero commodius ac etiam verius
apparens rei locus statui potest quam in horoptere citra vel ultra
') 1. c. Hb. n, i48f.
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Ober Tiefenlokalisatioii yon Doppelbildern.
131
quem nihil reperiri est, quod radium opticum ab oculo per rem
extensum definiat.«
3. Gestalt und Lage des Horopters
kann auch erschlossen werden aus jenem
Experiment, nach welchem zwei in die
Sehachsen gehaltene Objekte ein dreifaches
Bild ergeben: »Cum enim duae res in
axibus opticis constitutae tribus numerantur
locis tum tres apparentes phantasiae in
rectam lineam, illi quae centra visuum
connectit parällelam, dispositae conspi-
ciuntur. At mediam constat in horopterem
transfimdi eo scilicet loco ubi inter se axes
committuntur. Igitur et reliquae (phan-
tasiae) in eodem horoptere apparentem
locum habent: is quippe per axium con-
cursum mediamque phantasiam incedit.«
Es ist danach unzweifelhaft gewiß, daß,
nach der Anschauung des Aguilonius,
die Doppelbilder ihren scheinbaren Ort im
Horopter haben, d. h. in der Tiefe des
Fixationspunktes gesehen werden.
Bei Schulz (1816) (39) finden wir ein
Schema (vgl. Fig. 1) angegeben, welches als
einVersuchbezeichnet werden kann, dieLage
der Doppelbilder allein aus der relativen
Lage ihrer Netzhautbildchen und der Pro-
jdction nach Richtungslinien zu erklären.
Durch die Lage des Netzhautbildes ist
zunächst die Sehrichtung der Dinge be-
stimmt. Der Sehort innerhalb dieser
Richtung ist gegeben durch die Schnitt-
punkte der Richtungslinien des einen Auges
mit der Hauptrichtungslinie (Sehachse) des
andern Auges. Sind G und F die beiden Augen und Ay B, C^ D
Stäbchen oder Lichtkerzen, die in der Medianebene Aufstellung ge-
funden haben, so zeigft sich, wenn A fixiert wird:
Fig. I.
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132
Richard Arwed Pfeifer,
^fiir(7in^iiiidfür/'i]iy4,
B ■» * ■» a >>>>&,
C * > > c >>>»^,
D > > * e >>>>^j
wenn C fixiert wird:
A ^ G In d und für /" in ^,
> m usw. usw.
Die Doppelerscheinungen sind gleichzeitig von einer scheinbaren Ver-
größerung und Aufhellung des Objekts begleitet, die für gekreuzte
Doppelbilder in dem Verhältnis mäßiger ist, als die scheinbare Ver-
rückung des Ortes für gekreuzte Doppelbilder einen geringeren Betrag
aufzeigt als für ungekreuzte. Von der Richtigkeit dieser Angaben
soll man sich, wie Schulz auffordert,
durch eigene Beobachtung überzeugen.
Johannes Müller (1826) (33) ist hin-
sichtlich derXiefenlokalisation der Doppel-
bilder ganz befangen in der Anschauung
des Aguilonius. >Wenn (vgl. Fig. 2) der
Durchkreuzungspunkt der Sehachsen in
f/, die Gegenstände in e und ^, so muß,
da alle Bilder in der Ebene des Dekus-
sationspunktes der Achsen scheinbar
sind, ^für^zin^, für^in^/, e für^z
in /«, für ^ in « erscheinen, c (S. 185)*).
J. Müller geht aber nun weiter und
setzt die Doppelbilder nicht nur in Be-
. Ziehung zum Fixationspunkt, sondern
'T'^ \ auch zu dem in Doppelbilder zerfallten
^-^ Objekt. Er statuiert funktioneUe Ab-
Plg 2. hängigkeiten zwischen dem gegenseitigen
Abstand, den die Halbbilder eines
Doppelbildes in der Tiefe des Fixationspunktes haben, einerseits und
der Entfernung des doppelt gesehenen Objektes vom Fixationspunkt
') Jene Ebene des DeknsMtionspnnktes der Sehachsen (Horopter des Agnilonins)
heiBt bei Müller nicht mehr Horopter; als solcher wird vielmehr der scheinbare
Ort aller binokular einfach gesehenen Dinge definiert.
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Ober Tiefenlokalisation von Doppelbüdern. i%%
oder dem Beobachter anderseits. »Ist die Entfernung eines Gegen-
standes gleichbleibend, die Entfernung des Konvergenzpunktes der
Sehachsen von dem Auge abnehmend, so wächst die scheinbare
(laterale) Entfernung der Doppelbilder des Gegenstandes im Verhältnis
der Summe der Sehwinkel, unter welchem jedes Auge den Gegen-
stand von der Sehachse entfernt sieht. In gleichem Verhältnis wächst
die scheinbare (laterale) Entfernung der Doppelbilder, wenn bei gleich
bleibender Entfernung des Konvergenzpunktes die Entfernung des
Gegenstandes vom Auge wächst.«
Dieses Setzen von Abhängigkeiten, so knüpft nun Meißner (1854)
(31) an Joh. Müller an, ist das einzige, was durch das Verlegen
der Doppelbilder in den Horopter für die RaumaufTassung geleistet
werden kann. Aus dem gegenseitigen Abstand der Doppelbilder
kann man g^ünstigstenfalls auf die Entfernung des doppelt gesehenen
Objektes schließen; die Doppelbilder selbst aber haben weder im
Horopter ihren wirklichen Ort, noch irgendwo anders: die Doppel-
bilder haben gar keinen Ort. »Ein Doppelbild ist eine allein
durch ein Auge vermittelte Wahrnehmung. Nennen wir ,Ort* die
Lokalisation eines Eindruckes nach drei Dimensionen, so haben die
Doppelbilder gar keinen Ort; denn alle qualitativen Eindrücke, zu
denen die Erregfung nur eines Auges Veranlassung ist, sind in der
Vorstellung nicht mit einem Tiefenwert ausgestattet. Jedes Doppel-
bild hat einen Breiten- und Höhenwert, aber dies sind seine einzigen
räumlichen Beziehungen. Handelt es sich nun darum, diesen Breiten-
und Höhenwert zu bestimmen, so heißt das nichts anderes als dem
Doppelbild einen Ort, den scheinbaren Ort, in der Horopterfläche
anweisen. Jene beiden Werte sind (laterale) Beziehungen zu dem
fixierten Punkt in der Horopterfläche, und es ist daher vollkommen
richtig, lun den Ort der Doppelbilder voneinander zu messen, den
Ort derselben dort anzunehmen, wo die Richtungslinien den Horopter
schneiden; einen wahren Ort haben die Doppelbilder nicht, sondern
nur einen scheinbaren, und ein scheinbarer Ort bezieht sich eben
stets auf die jeweilige Horopterfläche.«
Einen ganz eigenartigen Ausbau hat die Theorie des Aguilonius,
nach welcher die Doppelbilder ihren Ort in einer Projektionsebene
(Horopter) haben, durch Albrecht Nagel (1861) (34) erfahren. Zwei
durch den Fixationspunkt gehende Kugelflächen, deren Zentren die
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1^4 Richard Arwed Pfeifer,
Kreuzungspunkte der Visierlinien sind, werden von ihm als die Flächen
bezeichnet, auf welche im allgemeinen die Doppelbilder projiziert wer-
den. >£ und R (vgl. Fig. 3) seien die Kreuzungspunkte der Visierlinien
der beiden Augen, .b a c ist der Durchschnitt der Projektionssphäre
des rechten, d a e der des linken Auges; beide schneiden sich im
Fixationspunkt a. Der jenseits der Projektionssphäre liegende Punkt
m wird, falls Einfachsehen am wahren Ort irgendwie verhindert, vom
linken Auge in m^ gesehen, wo die Projektionslinie des Punktes die
diesem Auge zugehörige Projektionssphäre trifft; das rechte Auge
verlegt das Bild desselben Punktes nach w" . . . . m! und mf* sind die
scheinbaren oder, richtiger ausgedrückt, die vorgestellten oder wahr-
Fig. 3.
genommenen Orte der Doppelbilder; die Länge einer Linie, welche
beide verbindet, würde den Abstand der Doppelbilder bezeichnen.
Der diesseits der Projektionssphären gelegene Punkt n wird vom
linken Auge in «', vom rechten in ti' gesehen.« n g^ibt also ge-
kreuzte Doppelbilder, während m ungekreuzte ergab. Für sehr große
Entfernungen kann man sich die beiden Projektionssphären ersetzt
denken durch eine einzige ellipsoidische oder kugelförmige, deren Mittel-
punkt im Halbierui^spunkte der Basaldistanz lieg^ (Himmelsgewölbe).
Wie Aguilonius, so beruft sich auch Nagel in der Begründung
seiner Lehre darauf, daß eine große Anzahl ihm bekannter Tatsachen,
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Ober Tiefenlokalisation von DoppelbÜdem. 1^5
von denen er eine ganze Reihe auch auffuhrt, seine Theorie gerecht-
fertigt erscheinen lasse *).
In den Jahren 1862 — 68 veröffentlichte nun Ewald Hering eine
Reihe epochemachender Schriften, in denen er sein Theorem vom
»Ortssinn der Netzhäute entwickelt und im ei^en Anschluß hieran
das »Gesetz der identischen Sehrichtungen t aufstellt Es bildet dabei
eine wichtige Stütze für die auf diesen Grundlagen basierende Theorie
des Sehens, daß sich ihr nach Hering auch die Phänomene des
Doppeltsehens widerspruchslos einreihen. Die Anhänger der bis
dahin im allgemeinen maßgebenden »Projektionstheorie« stellt Hering
geradezu vor die Alternative, entweder ausreichenden Aufschluß über
die Lokalisation der Doppelbilder zu geben oder aber zu bekennen,
daß die Theorie dir ein ganzes Gebiet von Tatsachen unzulänglich
sei. Alle bisherigen Versuche, den Ort der Doppelbilder aus der
Projektion nach Richtungslinien zu erklären, involvieren große Irr-
tümer. Der Theorie Nagels stellt Hering eine Menge Tatsachen
gegenüber, die dem Schema der Projektionssphären direkt wider-
sprechen; aber auch gegen die Lokalisation der Doppelbilder inner-
halb einer ebenen Fläche in der Tiefe des Fixationspunktes, wie es
die Anschauung der älteren Physiologen war, lassen sich gewichtige
Gründe anfuhren:
1. »Halte ich einen Finger in einer Entfernung von i Fuß vors
Gesicht und dahinter ein beliebiges Objekt, welches fixiert und lang-
sam weiter entfernt wird, so zerfallt der Finger in Doppelbilder, die
nicht etwa mit dem fbderten Objekt in immer größere Feme rücken,
sondern lediglich ihre seitliche Distanz vergrößern, während der Fixa-
tionspunkt entfernt wird« (17)').
2. »Das Bild des Fingers liegft in dem einen Auge da, wo im
andern die Wand abgebildet ist; beide Bilder erscheinen deshalb in
einer und derselben Richtung, aber nicht auch an demselben Orte,
sondern werden in verschiedener Entfernung gesehen, nicht bloß
gedacht; denn ein auf die betreffende Wand gezeichneter Finger, der
ein gleich großes Netzhautbild wie der wirkliche Finger gibt, erscheint
riesengroß, wenngleich die Augenstellung und überhaupt alle andern
') 1. c. 99f.
») 1. c. 46.
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l-9 5 Riehard Arwed Pfeifer,
Verhältnisse die nämlichen sind. Liegt der Fixationspunkt dem Ge-
sicht nahe, so erscheint ein auf Papier gezeichneter Finger, den man
in die Entfernung des Fixationspunktes bringt und sich genau auf
derselben Netzhautstelle abbildet, die zuvor der wirkliche Finger ein-
nahm, höchst winzig — Beweis genug, daß der Finger wirklich femer
gesehen wird, als der Fixationspunkt« (17)*).
3. >Man halte einen Finger 8 Zoll entfernt vor das Besicht und
einen andern 24 Zoll entfernt, zwischen beiden ein beliebiges Fixa-
tionsobjekt, so wird man von beiden Fingern Doppelbilder erhalten,
die soweit vom Gesicht entfernt erscheinen als die wirklichen Finger,
wenn man sie fixiert. Dies geht schon daraus notwendig hervor,
daß beim Schließen des einen Auges und dauernder Fixation des
erwähnten Objektes die dem offenen Auge zugehörigen Doppelbilder
in ziemlich richtiger Distanz vor und hinter dem Fixationspunkt und
keineswegs in gleicher Feme mit ihm gesehen werden« (16)*).
4. Herings Fallversuch: Der Beobachter blickt durch eine
Röhre, die die Wahmehmung der seitlich gelegenen Objekte ver-
hindert, nach einem bestimmten Fixationspunkt. Läßt man nun bald
vor, bald hinter dem Fixationspunkt ein Kügelchen durch das Seh-
feld fallen, so unterscheidet das normale Doppelauge deutlich das
»Davor« von dem »Dahinter« und hat sogar eine annähemde Vor-
stellung von der absoluten Distanz der Fallbahnen vom Fixations-
punkt (18) 3).
Die angeführten Versuche beweisen fiirHering, daß die Doppelbilder
nicht in der Tiefe des Fixationspunktes ihren Ort haben, sondem in
einer Entfernung gesehen werden, in welcher sich das doppelt ge-
sehene Objekt bei direkter Fixation zu befinden scheint Diese Tat-
sache ist mit der Annahme einer Projektion nach Richtungslinien
unvereinbar. Die Bilder müßten, wenn sie auf den Richtungslinien
hinausgetragen würden, allemal nach dem richtigen Orte, von welchem
sie herstammen, versetzt werden, womit aber gerade jener Grund weg-
fallt, den die Projektionstheorie für das Auftreten der DoppelbUder
geltend macht.
') 1. c. 45.
*) 1. c. 144.
3) 1. c. 153.
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Ober Tiefenlokmlifation yon Doppelbildern. j^j
Die Theorie Herings selbst sagt nun über die Tiefenlokalisation
der Doppelbilder folgendes aus: In unserem Bewußtsein ist nichts
enthalten von einer bipolaren Projektion der Sehdinge nach außen;
alle sichtbaren Dinge erscheinen vielmehr in einer einheitlichen Orien-
tierung zu einem zwischen beiden Augen gelegenen Punkte. Diese
Erfahrungstatsache beschreibt das »Gesetz der identischen Sehrich-
tungen«. Der scheinbare Ort von einem Doppelbild ist danach zu-
nächst bestimmt durch die der betreffenden Netzhautstelle zugehörige
Sehrichtung. Die beiden auf den Fixationspunkt eingestellten Gesichts-
linien haben ein und dieselbe Sehrichtung gemeinschaftlich, deren
Verlauf durch die Halbierungslinie des parallaktischen Winkels wieder-
gegeben wird. Von dieser Hauptrichtung weicht die Richtung, in
der die Doppelbilder gesehen werden, um den gleichen Winkel ab,
den die durch den optischen Knotenpunkt des Auges nach dem
doppelt gesehenen Objekt gezogene Richtungslinie mit der Sehachse
bildet. Die Motive zur Lokalisation der Doppelbilder innerhalb ihrer
Sehrichtung sind gegeben durch die Raumgefühle der Netzhaut und
die Erfahrung im weitesten Sinne des Wortes. In gewissen Grenzen
wird indes der Sehort innerhalb der Sehrichtung immer variabel sein
und von Fall zu Fall wechseln, schon deshalb, weil die jeweilige Um-
gebung durch den Wettstreit der Sehfelder einen Einfluß gewinnt,
der die Tiefenwerte ebenso wie die Lichtwerte der Doppelbilder stark
modifiziert. Daher ist es ganz falsch, von einem Orte der Doppelbilder
im allgemeinen zu sprechen. Nur die Sehrichtung läßt sich allgemein
bestimmen, weil sie abhängt lediglich von der Lage des entsprechen-
den Netzhautbildes; der Sehort ist immer von Nebenumständen ab-
hängig (17)'). — Das von Hering entworfene Schema vom Orte
der Doppelbilder gibt denn auch nur über die Sehrichtung Aufschluß.
Gleichwohl lasse sich unter sehr einfachen Bedingungen, wie sie etwa
der Fallversuch darsteUt, nachweisen, daß auch beim binokularen
Doppeltsehen die Tiefenauffassung im wesentiichen durch die ange-
borenen Raumwerte der Netzhaut vermittelt wird. >Es läßt sich
zeigen, daß gekreuzte doppelseitige Doppelbilder im allgemeinen
näher, ungekreuzte femer erscheinen als der Fixationspunkt, und
daß ihr scheinbarer Abstand vom Fixationspunkt, d. i. zugleich
') 1. c. 45.
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1^8 Richard Arwed Pfeifer,
von der Kerafläche, zunimmt mit der Disparation ihrer Lage, daher
ihre scheinbare Ferne mit der wirklichen des bezüglichen Objektes
für gewöhnlich annähernd im Einklang ist.€ Diese Tatsachen aber
ordnen sich nach H. widerspruchslos dem Theorem vom Ortssinne
der Netzhaut unter, nach welchem, auf die Kemfiäche mit dem »Tiefen-
wert 0* bezogen, nasalgelegenen querdisparaten Netzhautstellen ein
»Fernwert« , temporalgelegenen querdisparaten Netzhautstellen ein
»Nahwert« entspricht.
Durch Hering anger^, hat Helmholtz (1864) {22) ebenfalls
experimentelle Veranstaltungen getroffen, um zu entscheiden, ob die
Doppelbilder im Horopter oder in der Tiefe des doppelt gesehenen
Objektes ihren scheinbaren Ort haben. In den Versuchen wurden
die Ergebnisse Herings durchgängig bestätiget. Zunächst erwies sich
das Gesetz der identischen Sehrichtung als zutreffend: Ubertrs^ man
beide Netzhautbilder auf die Netzhaut eines zwischen beiden Augen
gedachten imagfinären Auges (Zyklopenauges), so geben die Richtungs-
linien dieses unmittelbar die Sehrichtui^en der Doppelbilder an.
Es ist femer gar nicht wahr, sagt Helmholtz, daß wir Gegenstände,
welche in deutlich getrennten Doppelbildern erscheinen, in der Entfer-
nung des Fixationspunktes zu sehen glauben. Wir haben vielmehr eine
ziemlich richtige Vorstellung von ihrer Ls^e und lokalisieren sie in
die Ebene des in Doppelbilder zerfallten Objektes. Eine doppelt
gesehene Stricknadel wird, auch wenn sie in ihrer jeweiligen Lage
nie binokular einfach gesehen worden ist, mit der Hand beim ersten
Versuche richtig erfaßt werden können (23)'). Nur bei sehr weit ge-
trennten Doppelbildern, wie sie namentlich von weit entfernten Ob-
jekten sich bilden, wenn ein naher Gegenstand fixiert wird, und an
denen kaum noch die Zusammengehörigkeit beider Bilder erkannt
wird, hört die binokulare Tiefenwahmehmung ganz auf, und es kann
dann wie beim monokularen Sehen die Winkelgröße des entfernten
Objektes mit der Winkelgröße des fixierten verglichen werden {23) *).
Die Annahme angeborener Raumwerte auf der Netzhaut glaubt
Helmholtz entbehren zu können; die Raumanschauung ist nach ihm
ein Produkt von Erfahrung und Einübung.
^) 1. c. 868.
«) 1. c. 869.
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über TlefenlokaUsation von Doppelbildern. i^g
Donders (1871) (7) hält an der Projektion nach Richtungslinien
fest. In welcher Entfernui^ liegen aber nun die Doppelbilder auf
den Richtungslinien? Wenn alle weiteren Andeutiuigen (wie im dunkeln
Räume) fehlen, dann li^en sie, beim unbeweglichen Fixieren, mit
dem fixierten Punkt absolut in demselben Horopter. Inzwischen ist
es wahr, daß beim gewöhnlichen Sehen, wobei man es durchgehends
mit bekannten Gegenständen zu tun hat und diese durch die Be«
wegungen des Kopfes je nach ihrem Abstände parallaktisch bewegft
werden, die Doppelbilder, sofern man darauf achtet, auf die wahre
Entfernung von dem Gegenstande versetzt werden, dem sie ange-
hören, so daß, wenn man vom fixierten Punkt z. B. zu einem näher
gelegenen übergehen will, man sogleich ziemlich genau den erforder-
lichen Impuls zur Bewegung zu geben weiß, um ihn binokular zu
fixieren ').
Auf Grund seiner eigenen Beobachtung hat femer Cornelius (1864)
(3) in seiner Theorie des Sehens die Projektionstheorie g^en die
Lehre Herings in Schutz genommen. Er sagft darüber etwa folgen-
des: Man kann der Projektion nach Richtungslinien nicht unrecht
geben, wenn sie hinsichtlich der Entfernung der Doppelbilder von
einer Täuschung spricht. Die Doppelbilder des indirekt gesehenen
Objektes li^en nämlich in der Tat dem Fixationspunkt näher als
dasselbe Objekt, wenn es einfach gesehen wird. Davon kann man
sich leicht überzeugen, wenn man die betreffenden Entfernungen
unmittelbar nacheinander soweit als tunlich miteinander vergleicht.
Die Doppelbilder scheinen dann dem Fixationspunkte um so näher
zu liegen, je mehr man sich gewissermaßen in die Anschauung des
letzteren vertieft, ohne jedoch die ersteren dabei ganz unbeachtet
zu lassen. Achtet man bei übrigens eingehaltener Fixation schärfer
auf die Doppelbilder, so erscheinen diese eher in der Entfernung, welche
dem wahren Abstand des indirekt gesehenen Objektes entspricht.
Stellt man den Versuch, wie häuf^, mit zwei Fingern an, die man
hintereinander in verschiedenen Distanzen vor das Gesicht hält, so
hat man freilich im voraus ein ziemlich genaues Urteil über den
wahren Abstand der Objekte, ein Umstand, der einen Einfluß auf
») 1. c. 44ff.
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1^0 Richard Anred Pfeifer,
die beschriebene Lokalisationsveränderung in dem Sinne ausüben
wird, daß diese geringer ausfallen muB.
Auch Wundt (44) hat nie der Behauptung beipflichten können,
daß die Doppelbilder in der Ebene des in Doppelbilder zerfallten
Objektes ihren scheinbaren Ort haben sollen. So oft er sich der
Betrachtung von Doppelbildern hingab, konnte er konstatieren, daß
diese hinsichtlich der Tiefenlokalisation nach dem Fixationspunkt hin
variierten und bei lang andauernder Fixation mit ihm in gleicher
Tiefe erschienen. »Der scheinbare Ort der Doppelbilder nähert sich
umsomehr dem Blickpunkt, je mehr der Blick fes^ehalten wird, und
bei vollkommen starrer Fbcation entsteht wiridich die Vorstellung, daß
er sich in gleicher Entfernung befinde« ^. Das von Hering (vgl.
oben S. 135 Versuch i) geltend gemachte Experiment gegen die Mög-
lichkeit einer Lokalisation der Doppelbilder in der Tiefe des Fixations-
Punktes fallt bei Wundt zugunsten des von ihm Behaupteten aus,
wenn man die dort geforderte Konvei^enzveränderui^ nicht kontinu-
ierlich, sondern sprungweise vollzieht Wechselt man zwischen zwei
Fixationsobjekten rasch die Konvergenz, während die Doppelbilder
eines dritten, davor oder dahinter befindlichen Objektes der Beobach-
tui^ unterstehen, so gewahrt man, daß bei unveränderter räumlicher
Lage des Doppelbildobjektes die Doppelbilder ihren Ort wechseln
entsprechend der Lageveränderung des Blickpunktes'). Aus dem
Heringschen Fallversuch resultiert für Wundt nur soviel mit Ge-
wißheit, daß man beim ersten Anblick der Doppelbilder in der Regel
eine deutliche Vorstellung von dem »vorc oder >hinter« dem Fixa-
tionspunkt besitzt; von der absoluten Entfernung der fallenden Körper
gewinnt man dabei nur eine annähernde, ziemlich ungenaue Vorstel-
lung. Damit befindet sich auch eine Beobachtung im Einklang, die
man machen kann an einem geneigft gehaltenen Stabe, der von dem
fixierten Punkt an in Doppelbildern divergiert. Man sieht nämlich, so
sagt Wundt, zwar »in der Regel noch, welche Teile des Doppelbildes
näher und welche femer liegen als der Fixationspunkt; eine bestimmte
Vorstellung über die Tiefenausdehnung des Stabes fehlt aber ganz
und gar. Man überzeugt sich hiervon am besten, wenn man den
') 1. c. n, 608.
"} 1. c. ebenda.
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Ober Tiefenlokalisation von Doppelbildern. i^I
Stab eben noch kurz genug nimmt, damit eine Vereinigung möglich
ist, und dann abwechsehid durch starre Fixation Doppelbilder hervor-
bringt imd durch rasche Blickbewegungen wieder vereinigte '). Damit
steht keineswegs in Widerspruch, daß, wenn etwa das Netzhautbild
einer geläufigen Vorstellung entspricht, auf Grund assoziativer Ein-
flüsse den Doppelbildern annähernd diejenige Entfernung angewiesen
wird, die dem ihnen entsprechenden Objekt wirklich zukommt. Im
allgemeinen aber ist die Raumauffassung insbesondere hinsichtlich der
Tiefendistanzen beim direkten Einfachsehen und binokularen Doppelt-
sehen durchaus verschieden.
Unter der Voraussetzung, daß die größte Genauigkeit in der Auf-
fassung des wirklichen Raumes beim Binokularsehen durch sukzessive,
direkte Fixation erreicht wird, erhebt Wundt die ständigen Unter-
schiede, die zwischen der Raumauffassung beim direkten Einfach- und
binokularen Doppeltsehen bestehen, geradezu zu einem Kriterium
des DQppeltsehens und sagt: »Wir sehen einfach, sobald das objek-
tive Sehfeld (Form der uns zugekehrten Oberfläche der Gegenstände)
mit dem subjektiven Sehfeld (räumliche Anordnung der Objektpunkte,
wie sie auf Grund der Augenbewegungen und Konvergenzempfindun-
gen vorgestellt wird) übereinstimmt; diejenigen Punkte des objektiven
Sehfeldes aber erscheinen uns doppelt, die nicht in dem subjektiven
Sehfeld gelegen sind')c.
Hatte Wundt bereits den Gedanken angeregt, die Richtung, in
der die Doppelbilder gesehen werden, in Abhängigkeit zu bringen
von dem Konvergenzmechanismus, so ist von Th. Lipps (28) der
Versuch gemacht worden, nun auch den Tiefenort der Doppelbilder
aus den »Lagegefiihlenc der Augen konsequent abzuleiten. Für ein
Doppelbild, so erwägt Th. Lipps, ist es charakteristisch, daß es
aus zwei gleichen unokularen Eindrücken besteht. Die gleichen Ein-
drücke streben nun eben wegen ihrer Gleichheit aus dem Wettstreit
der Sehfelder heraus zur stereoskopischen Vereinigung. Nun istBe-
dingfung für die Verschmelzung diejenige Richtung der Augen, die
ihnen erlaubt, auf identische Punkte zu fallen. Also besteht ein
Streben zur Herstellung dieser Richtung ; es besteht speziell ein Stre-
') 1. c. n, 610.
«) 1. c. n, 604.
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IA2 Richard Arwed Pfeifer,
ben zur binokularen Fixation, weil überhaupt die Stellen des deut-
lichsten Sehens vor andern bevorzuget sind. Die Fixation ist aber
in mir überhaupt nie vorhanden außer] in Form von Fixationsemp-
findungen oder der Lagegefiihle, wie sie die Fixation in mir erzeugt.
Ich strebe nach Fixation, und die Fixations- und Lagegefiihle streben
in mir auf, streben nach Verwirklichung in der unmittelbaren Emp-
findung — diese beiden Sätze sagen ein und dasselbe. Von da aus
gelangen wir leicht zu der Einsicht, wie Doppelbilder ein Tiefen-
bewußtsein ergfeben können, auch ohne tatsächliche sukzessive Fixation.
Zunächst ist erforderlich, daß irgendwelche Eindrücke oder Teile der
Bilder sich vor andern herausheben oder Gegenstand besonderer
Aufmerksamkeit seien. Indem sie sich herausheben, tritt auch das
Streben derselben nach Überfiihrung auf die Stellen deutlichsten
Sehens vor den gleichen Strebungen anderer Teile, d. h. es tritt die re-
produktive Vorstellung des Lagegefiihls, das aus der Überfuhrung sich
ergeben würde, aus der Menge der sonstigen Reproduktionen von
Lagegefiihlen heraus. Nun macht aber die Gleichheit je zweier ent-
sprechender Teile der Bilder, daß das Streben des einen nach solcher
Überfuhrung nicht (in der Reproduktion) hervortreten kann, ohne daß
das gleiche Streben des ihm entsprechenden, dem andern Auge zu-
gehörigen Büdteiles zugleich mit heraustritt. Die beiden Lagegefuhle
schaffen sich danach gemeinsam reproduktive Geltung. In ihrer
Gemeinsamkeit aber repräsentieren sie das binokulare LagegefiLhl,
wie es eben der tatsächlichen gleichzeitigen Überführung der beiden
Eindrücke erfahrungsgemäß zugehört. Mit diesem binokularen Lage-
gefuhl ist aber das Tiefenbewußtsein unauflöslich verbunden. Dies
muß sich deshalb an die beiden gleichen Eindrücke ohne weiteres
in dem Sinne heften können, daß nun auch das Doppelbild einen
Tiefenort angewiesen erhält, welcher der Entfernung, in der sich das
in Doppelbilder zerfällte Objekt bei direkter Fbcation zu befinden
scheint, annähernd genau entspricht.
Rein objektivistischer Natur sind die Betrachtungen, die Fr. v.
Martini (1888) (29) im Anschluß an Hering und Le Conte (1883)
(2) über die Lage der Doppelbilder im Räume anstellt Wir wissen
erstens, daß alle im Müller sehen Horopterkreise gelegenen Dinge
einfach gesehen werden; wir wissen zweitens, daß alle Doppelbilder
nach einem zwischen beiden Augen gelegenen Orientierungspunkt
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Ober Tiefenlokalisation von Doppelbildern.
143
orientiert erscheinen; wir wissen drittens, daß die doppelseitigen
Doppelbilder in der Tiefe des in Doppelbilder zerfallten Objektes
lokalisiert sind; — es folgt daraus, daß die Lage anderer Doppelbilder
durch Interpolation auf dem Wege rein mathematischer Konstruktion
gefunden werden kann. Für die
beiden Augen R und L (vgl. Fig. 4)
ist, wenn F der Fixationspunkt,
die Lage der Doppelbilder des
Dreiecks i4jB Cgegeben diutrh abC
und aßC. Trotz der scheinbaren
Exaktheit werden solcherlei Kon-
struktionen nur allzuleicht einer
abfalligen Kritik anheimfallen
können, weil man nur an einer
der Voraussetzungen zu rütteln
braucht, um das ganze Gebäude
zu stürzen.
Durch eine ganze Reihe von
Forschem: — Albr. v. Graefe
(i854)(i2), Förster(i859){io), Al-
fred Graefe(i86o)(i4), A. Nagel
(i862)(35), Mauthner(i889)(3o),
M. Sachs (1890) (37) und R.
Fröhlich (1895) (11) — sind
Tiefenunterschiede nachgewiesen
und studiert worden an Doppelbildern, die bei pathologisch bedingter
oder auch künstlich durch Vorlegen von Prismen erzeugter Höhen-
disparation entstehen. Dieser Forschungsergebnisse soll, so weit es
erforderlich erscheint, weiter unten im Verlaufe der Darlegung unserer
eigenen Untersuchungen gedacht werden.
In neuester Zeit haben A- Tschermak und P. Hoefer (40) (1903)
gemeinsam Untersuchungen veröffentlicht »über binokulare Tiefen-
wahmehmung auf Grund von Doppelbildern «. Wegen der prinzipi-
ellen Bedeutung, die diese Arbeit für unsere eigenen Untersuchungen
in methodischer Hinsicht gehabt hat, sei es gestattet, die bisher
innegehaltene, rein referierende Darstellungsweise ausnahmsweise zu
verlassen und gleich hier zu den Tschermak-Hoeferschen Unter-
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144 Richard Arwed Pfeifer,
suchungen in einigen Punkten kritisch Stellung zu nehmen. — Der
Ähnlichkeit des Titels zufolge könnte man versucht sein, anzunehmen,
daß die Problemstellung dort und hier dieselbe sei. Das ist keines-
wegs der Fall. Bei Tschermak-Hoefer handelt es sich um die
Ermittelung der Empfindlichkeit beider Augen für Tiefenunterschiede
im indirekten Sehen. Das Resultat der Arbeit gipfelt denn auch in
dem Satze: »Die Genauigkeit dieses unzweifelhaft binokularen Loka-
lisationsvermögens erwies sich in unseren messenden Versuchen als
keineswegs unbeträchtlich«. Über den Ort, wo die Doppelbilder ge-
sehen werden, sagt die Untersuchung selbst nichts aus. Die Abhand-
lung steht nun allerdings unter der Voraussetzung, daß die Feme
der Doppelbilder unmittelbar gegeben, d. h. identisch sei mit der Ent-
fernung des in Doppelbilder zerfallten Objektes vom Beobachter, wes-
halb denn auch ausdrücklich die Versuche als »messende« bezeichnet
werden. Ob diese Voraussetzung zu Recht besteht oder nicht, wird
nxu- durch eine Neuaufnahme diesbezüglicher Untersuchungen zu ent-
scheiden sein. Es erscheint uns aber von vornherein] gewagt ^ die
Gültigkeit jener Voraussetzung ohne jede Einschränkung auch auf
die Dunkeladaptation zu erweitem, wie dies bei Tschermak-Hoefer
geschieht hinsichtlich der rechtzeitigen Abwehrbewegungen gegenüber
plötzlich auftretenden oder etwa bei Momentbeleuchtung (Blitz) be-
merkten Hindernissen (1. c. 320). Die allgemeine Erfahrung spricht
gegen die Richtigkeit einer solchen Annahme. Geht man z. B. bei
vollkommener Dunkelheit während eines Gewitters auf freiem Felde,
so überschätzt man in der Regel, bei plötzlicher Aufhellung durch
den Blitz, alle in der Medianebene gelegenen Distanzen derart, daß
das Bahnwärterhäuschen etwa, auf welches der Weg zufuhrt, im Augen-
blick der Momentbelichtung in viel größerer Entfemung erscheint.
Dagegen scheinen sich seitlich gelegene Objekte formlich an den
Beobachter heranzudrängen; man erschrickt vor einem Steinhaufen
am Wege oder einem Pflug am Feldrande und kommt zufolge der
Distanzunterschätzung mit der Abwehrbewegfung (vorzeitiges Aus-
weichen oder Stehenbleiben, um ^ Anstoßen zu vermeiden) meist
viel zu früh.
Zu einer weiteren Diskussion gibt die Bemerkung der Verfasser
Anlaß, daß beim binokularen Doppeltsehen in unserem Bewußtsein
unmittelbar etwas enthalten sei nicht aUein von der Zusanmiengehörig-
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Ober Tiefenlokalisation von Doppelbildern. iac
keit je zweier Halbbilder zu einem Gesamteindruck, sondern auch
von einer >Bd;iehung je zweier Halbbilder auf ein gemeinsames Ob-
jekt«. Bei der Wiederholung des Heringschen Fallversuchs be-
merken Tschermak-Hoefer: »Stets erhielt der Beobachter den
Eindruck näher oder femer wie die fixierte Nadel, und zwar mehr
oder weniger nahe oder femer: er (der Beobachter) bezieht dabei die
beiden Bilder auf ein einziges Objekt«. Seite 312 lesen wir: »Auf
die bekannte Tatsache, daß die beiden zugehörigen Halbbilder ohne
weiteres auf ein Objekt, also »richtig«, aufeinander bezogen werden,
kommen wir noch später zurück...« und Seite 318: »Auch die
schon bekannte Erscheinung, daß die Halbbilder eines Objektes ohne
weiteres aufeinander bezogen werden, sei hier nochmals angeführt«.
In der Literatur ist uns eine Behauptung ähnlicher Art bereits bei
Hei mholtz \md Lipps begegnet Als Substrat einer solchen gegen-
seitigen Beziehung der unokularen Eindrücke eines Doppelbildes auf-
einander kann zweifelsohne nur die Tendenz zur stereoskopischen
Vereinigung der Halbbilder gedacht werden. Es ist aber nun eine
hinreichend bekannte Tatsache, daß man sich durch Übung im Doppelt-
sehen dieses Zwanges zur Stereoskopie — für deutlich getrennte
Halbbilder sehr leicht — fast vollkommen entwöhnen kann. Infolge
dieser Übung sträuben sich dann sogar in das Stereoskop eingelegte
Bilder gegen die Vereinigung; diese Erfahrung bestätigt ims auch
He ring (16): »Daher vermag der im Doppeltsehen sehr Geübte die ein-
fachen, nicht schattierten, nur mit Punkten und Linien auf gleich-
farbigem Grunde ausgeführten stereoskopischen Zeichnungen öfters
gar nicht mehr oder nur mühsam stereoskopisch einfach zu sehen,
während sie dem Ungeübten den schönsten Eindruck machen«
(1. c. V, 337). Wo die unokularen Eindrücke eines Doppelbildes sich
nicht zu dem Bild eines Gegenstandes vereinigen, machen sie den
Eindruck von zwei Gegenständen *). Der geübte Beobachter ist im-
stande, das stereoskopisch einfach gesehene Bild des Gegenstandes
beim raschen Übergang zum Doppeltsehen momentan in zwei Halb-
bilder auseinanderfliegen zu lassen, die dann ohne jeden größeren
Energieaufwand, also frei vom Zwang zur Stereoskopie, wie fest-
gebannt an ihrem Orte beharren. Der Empfindungsinhalt an sich
*) A. a. O. Donders.
Wundt, Psychol. Studien II. lO
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14.6 Richard Arwcd Pfeifer,
sagt alsdann nichts mehr aus über die Zusammengehörigkeit je zweier
Halbbilder zu einem Doppelbildeindruck oder gar über einen ursäch-
lichen Zusammenhang der beiden Halbbilder mit dem vorher ge-
sehenen, stereoskopisch einfachen Bilde des Gegenstandes. Wir sind
genötigt anzunehmen, daß bei der oben zitierten Beschreibung des
Tatbestandes der Reflexion weit mehr entsprochen worden ist als
der tatsächlichen Beobachtung. Beim Gebrauche des Ausdruckes
> Halb bilde für den [^unokularen Eindruck eines binokularen Doppel-
bildes aber wird man sich stets bewußt bleiben müssen, daß das
Merkmal des Sinneseindruckes, welches mit dieser Bezeichnung
charakterisiert werden soll, kein deskriptives, sondern ein auf Ent-
stehung^ursachen bezügliches, also genetisches ist
Der die Forschungsergebnisse zusammenfassende Satz (siehe oben!)
bei Tschermak-Hoefer scheint den Schluß zuzulassen, daß die
Lokalisation der Doppelbilder eine bestimmte (konstant unter kon-
stanten äußeren Bedingungen) sei. Gleichwohl finden wir S. 3 1 2 die
Bemerkung: >Nach einer gewissen Zeit, welche individuell stark ver-
schieden zu sein scheint, rücken die beiden unokularen Eindrücke
oder HalbbÜder geradezu in dieselbe Entfernung wie der fixierte Punkt
bzw. in die sogenannte Kemebene«, so daß damit die Lokalisation
der Doppelbilder wieder unbestinmit (variabel unter konstanten äußeren
Bedingungen) zu werden scheint. Wir sind dadurch veranlaßt worden,
in unseren Versuchen gleichzeitig auch der Frage nach der Be-
stimmtheit bzw. Unbestimmtheit der Doppelbildlokalisation experi-
mentell näher zu treten.
§3.
Ein Resüme über die bisher gezeitigten Forschungsergebnisse
hinsichtlich der Tiefenlokalisation von Doppelbildern ergibt folgende
Zusammenstellung.
I. Die Doppelbilder sind in einer durch den Fixationspunkt gehen-
den geraden oder gekrümmten Fläche lokalisiert:
1. Horopter des Aguilonius,
2. Projektionssphären bei Nagel.
n. Die Doppelbilder haben keinen wirklichen Ort, sondern sind
lediglich ihrer Richtung nach, in der sie gesehen werden, be-
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über Tiefenlokalisation von Doppelbildern. iaj
stimmbar (Meißner; vorbereitend für diesen Gredanken Joh.
Müller).
in. Die Doppelbilder haben ihren Ort zwischen Fixationspunkt und
dem doppelt gesehenen wirklichen Objekt (Schulz, Cornelius).
rV. Die Doppelbilder haben ihren Ort in derjenigen Feme, in wel-
cher das in Doppelbilder zerfallte Objekt bei direkter Fixation
erscheint, und zwar
1. Aus nativistischen Gründen (bei Hering, LeConte, Fr.
V. Martini usw.),
2. Aus empiristischen Gründen (Helmholtz, Th. Lipps).
V. Der Tiefenort der Doppelbilder ist ein wechselnder und variiert
1. Je nachdem der Raum Anhaltspimkte für die Tiefenlokalisation
gewährt oder nicht (Donders),
2. Mit der Länge der Fixationsdauer (Wundt) oder der Expo-
sitionsdauer des Doppelbildeindruckes (Tschermak-Hoefer),
3. Durch die willkürliche Konzentration der Aufmerksamkeit auf
das Doppelbild oder den Fixationspunkt (Cornelius).
2. Kapitel.
Vorbemerkungen und erste Yersuchsergebnisse.
§ 4. Problemstellung.
Die Frage nach dem scheinbaren Orte der Doppelbilder läßt sich
in eine Reihe von Spezialproblemen auflösen, deren präzise Formu-
lierung wir nachstehend geben:
1. Ist die Tiefenauffassung beim direkten Einfach- und indirekten
Doppeltsehen dieselbe, d. h. behaupten die Dinge hinsichtlich der
Tiefe den gleichen scheinbaren Ort, gleichviel ob sie direkt fixiert
oder binokular doppelt gesehen werden?
Sollten sich für das binokulare Doppeltsehen Lokalisationsunter-
schiede ergeben, so haben sich die nächsten Fragen auf Richtung
und Maß dieser Unterschiede zu erstrecken.
2. Erfolgt die Tiefenlokalisation beim indirekten Doppeltsehen,
verglichen mit der Ffacation bei direkter Fixation, im Sinne einer
Über- oder Unterschätzimg der Distanzen? (qualitative Ortsbestimmung
der Doppelbilder), und
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148 Richard Arwed Pfeifer,
3. Wie groß ist der begangene Schätzungsfehler? (quantitative
Ortsbestimmung der Doppelbilder).
Es gilt femer zu ermitteln:
4. Ist die Lokalisation der Doppelbilder eine bestimmte (konstant
unter konstanten äußeren Bedingungen) oder unbestimmte (variabel
unter konstanten äußeren Bedingungen)?
Es wird endlich der zu entwickelnden Theorie anheimfallen, fest-
zustellen:
5. Läßt sich die für das binokulare Doppeltsehen maßgebende Raum-
auffassung erklären aus der Herrschaft jener Faktoren, die im direkten
Sehen die binokulare TiefenaufTassung bestimmen, oder nötigt sie zur
Annahme neuer Raumfaktoren, die dem binokularen Doppeltsehen,
hinsichtlich der Auffassung von Tiefendimensionen, ein vom stereo-
skopischen Einfachsehen abweichendes spezifisches Gepräge verleihen?
Im Interesse der befriedigenden Lösung des Gesamtproblems macht
sich aber gleichzeitig eine Beschränkung der Untersuchimg nötig auf
ganz bestimmte Fälle des Doppeltsehens. Der Ausfall des stereo-
skopischen Sehens ist für das binokulare Doppeltsehen charakteristisch.
Gleichwohl macht sich bisweilen ein Zwang geltend, die Halbbilder
eines Doppelbildes stereoskopisch zu vereinigen. Diese Tendenz be-
steht für alle Doppelbilder, deren Halbbilder direkt hintereinander
stehen oder sich teilweise überdecken oder mit den Rändern berühren.
Um diesen störenden Faktor zu eliminieren, wird sich die Unter-
suchung zu beschränken haben auf Doppelbilder, deren Halbbilder
dem Beobachter deutlich getrennt erscheinen und auf Grund eines
ausreichenden Abstandes voneinander der Tendenz zu stereosko-
pischer Vereinigung entbehren.
§ 5. Terminologie.
Da der Gebrauch des Beg^flTes »Doppelbildc in der Literatur kein
einheitlicher ist, halten wir es für angezeigt, darauf hinzuweisen, daß
für vorliegende Arbeit die Terminologie nach dem Vorgange Wundts
gewählt worden ist Wird ein und derselbe Objektpunkt binokular
doppelt gesehen, so heißt das: er erscheint in einem Doppelbild.
Dieses besteht aus zwei Halbbildern, deren jedes einem einzelnen
Auge angehört. Das Doppelbild ist danach ein binokularer, das
Halbbild ein unokularer Sinneseindruck.
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Ober Tiefenlokalisation von Doppelbildern. i^q
§ 6. Vorversuche.
1. Steht man an dem einen Ende eines gut erhellten, langen
Korridors und fixiert seinen etwa 30 cm vor das Gesicht in die
Medianebene gehaltenen Finger, indes die Aufmerksamkeit der Tiefen-
dimöision des Korridors zugewandt ist, so erscheint dieser ungemein
verlängert. — Der Versuch läßt sich mit dem gleichen Erfolg in
jeder Baumallee wiederholen.
2. Man setze sich auf einen Stuhl und strecke die Beine so weit
nach vom, daß die Füße bequem gesehen werden können. Vor das
Gesicht halte man alsdann ein Fixationsobjekt, während die Aufmerk-
samkeit gleichzeitig auf die Füße gerichtet ist: die Beine erscheinen
um vieles verlängert; man schätzt ihre Länge auf mehrere Meter.
3. Auf einem Tische werden drei sehr dünne Stricknadeln, denen
je eine Korkscheibe als Fuß dient, in gleichen Abständen voneinander
(etwa 40 — 50 cm) so zur Aufstellung gebracht, daß sie für den Be-
obachter hintereinander in der Medianebene stehen. Jede Nadel trägt
an ihrer Spitze ein schwarzes Kartonscheibchen (1,0 — 1,5 cm Durch-
messer), dessen breite Fläche dem Beobachter zugekehrt ist. Fixiert
man den mittleren Punkt (F), so zerfällt der vordere (A) in ein ge-
kreuztes, der hintere (B) in ein ungekreuztes Doppelbild. Vergleicht
man jetzt die beiden Doppelbilder miteinander hinsichtlich ihres Ab-
standes vom Fixationspunkt, so ergibt sich, daß das Doppelbild von
A sehr viel näher an i^zu stehen scheint als das Doppelbild von B.
4. Dem Landhaus gegenüber, in dem ich wohne, steht eine alte
Feldscheune mit sehr hohem Dach. Fixiere ich von meinem Zimmer-
fenster aus einen Funkt von dem untersten Teil des Daches (Dach-
rinne), so verändert sich Neigungswinkel und Tiefendimension der
Dachfläche auffallend : das Dach scheint sehr flach zu liegen und er-
streckt sich weit in die Tiefe; würde ich aufgefordert, meinen Abstand
von dem Dachfirst in Metern zu schätzen, so würde ich bestimmt
überschätzen. Fixiere ich dagegen die Mitte des Dachfirstes, so
nimmt die Steilheit des Daches zu: die Dachfläche steht nahezu
senkrecht. Der Versuch, jetzt die Entfernung der Dachrinne vom
Beobachter zu schätzen, ist schwieriger, fällt aber dennoch im Sinne
einer Überschätzung aus. Es erscheint mir aber außerdem, je nach«?
dem der obere oder untere Teil des Daches fixiert wird, auch der
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IjO Richard Arwcd Pfeifer,
senkrechte Abstand zwischen Dachrinne und Dachfirst verschieden
groß : er wird im ersten Falle überschätzt, im zweiten dagegen unter-
schätzt.
5. Zwei Holzstäbchen, denen je eine Korkscheibe als Fuß dient,
stelle man auf einem langen Tisch derart auf, daß, wenn der Be-
obachter an dem einen Ende der Tafel sitzt, sich das erste Stäbchen
(A) ihm gegenüber am andern Ende befindet, während das zweite
Stäbchen [B) um zwei Dritteile der Entfernung des ersten näher steht
imd gleichzeitig ein Stück rechts seitwärts aus der Medianebene
herausgerückt ist. Fixiert man Ay so erscheint B in einem gekreuzten
einseitigen Doppelbild. Wird aber nun zwischen A und B die Fixation
rasch gewechselt, so fuhrt B in demselben Moment, in dem man
mit der Konvergenz von A nach B übergeht, eine sprunghafte Schein-
bewegung auf den Beobachter zu aus: das Stäbchen scheint sich
nach der Medianebene zu und gleichzeitig nach vom zu bewegen.
6. Ich sitze an meinem Schreibtisch vor einem aufgeschlagenen
Buche; beim Ausruhen von der Arbeit blicke ich von ungefähr, ohne
feste Fixation, über den oberen Rand des Buches hinweg auf den
Tisch. Ich habe dann sehr oft, namentlich bei ermüdetem Auge,
die überaus eindringliche Täuschung, als ob das Buch plötzlich in
sehr weite Ferne rücke. Ich kann dann immer konstatieren, daß die
Gesichtslinien auf einen hinter dem Buche gelegenen imaginären
Fixationspunkt eingestellt sind.
7. Auf einer großen weißen Fläche (mit Papier überspannter vertikal
stehender Holzrahmen), die als Hintergrund dient, wird eine schwarze
Scheibe von 10 cm Durchmesser befestigt. Der Beobachter nimmt
vor diesem Schirm so Aufstellung, daß dieser der Angesichtsfläche
parallel steht. Die Fixation eines 40 cm vor das Gesicht gehaltenen
dünnen Stäbchens zerfällt den Punkt in ein gleichnamiges Doppel-
bild. Verlegt man nun den Fixationspunkt unter eines der beiden
Halbbilder, so tritt ein Tiefenunterschied evident zutage. Das jeweils
außerhalb der Medianebene gelegene HalbbUd steht um vieles näher.
Die Erscheinung ist, da man durch Bewegen des fbderten Stäbchens
nach links und rechts abwechselnd das rechte bzw. das linke Halb-
bild nach vom rücken lassen kann, unabhängig von der etwa durch
die Belichtung der Augen bedingten Farbenverschiedenheit (vgl.
Fechners Fensterversuch (9)) der beiden Halbbilder.
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über Tiefenlokalisatioii von Doppelbildern. lei
8. Ein rundes Korkstückchen von der Größe eines Pfennigstückes
wird, indem man es befeuchtet, an der Glasscheibe eines Zimmer-
fensters befestig^. Die Versuchsperson nimmt etwas tiefer Platz, um
den grauen Himmel als Hintergrund benützen zu können. Leg^ man
vor das eine Auge ein Prisma, so erscheint das Korkstück n einem
Doppelbild, dessen Halbbilder, unabhängig von der Lage des ibrechen-
den Winkels — bei Höhendisparation indes auffälliger als bei Quer-
disparation — in ungleichen Abständen vom Beobachter gesehen
werden. Man kann nun die Halbbilder ihren Ort hinsichtlich der
Tiefe durch einen Fixationswechsel beliebig austauschen lassen. Fbciert
man bei bestehender Höhendisparation das obere Halbbild, so scheint
das untere und umgekehrt bei Fixation des unteren das obere Halb-
bild näher zu stehen. Mit dem scheinbaren Näherstehen ist ständig
auch scheinbare Verkleinerung des betreffenden Halbbildes verknüpft.
Die Erscheinung wird sehr eindringlich, wenn man erst das in ein
Doppelbild zu zerfallende Objekt fixiert und dann rasch ein Prisma
(14°) vor das Auge führt; das dem überdeckten Auge zugehörige
Halbbild ist alsdann unter allen Umständen das näherstehende und
kleinere.
Ergebnisse der Vorversuche.
1. Die Vorversuche lassen den Schluß zu, daß die Raumauffassung
für das direkte Einfach- und das indirekte Doppeltsehen durchaus
verschieden ist.
2. Die Lokalisationsunterschiede fallen für das binokulare Doppelt-
sehen im Sinne einer Überschätzung aus, und zwar für hinter dem
Blickpunkt gelegene Tiefendistanzen in weitaus höherem Maße als für
Strecken vor dem Fixationspunkte.
3. Auch innerhalb eines Doppelbildes treten Tiefenunterschiede
auf, sobald die Lage desselben zur Medianebene eine asymmetrische ist.
§ 7. Methodische Grundlegung.
Die neue Versuchsanordnung sollte vor allen Dingen die Mög-
lichkeit gewähren, den Ort der Doppelbilder quantitativ zu bestinmien.
Damit war von vornherein die Einführung eines Maßstabes in das
Sehfeld gefordert. Da sich nun das Unternehmen, dem Beobachter
mit der zu beurteilenden Doppelbild- Tiefendistanz gleichzeitig eine
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152
Richard Arwed Pfeifer,
andere, zum Vergleich dienende (etwa monokular einfach gesehene)
Strecke zu exponieren, als unangängig erwiesen hatte, weil alle simul-
tan eingeführten Objekte das Sehfeld zum Nachteil der psychologisch
einfachsten Vergleichsbedingungen komplizieren, anderseits aber auch,
wenn die Situation bei der Schätzung der Doppelbilder möglichst
wenig verlassen werden soll, eine längere Zeit nachher dargebotene
Vergleichsstrecke, die nicht ganz die gleiche Lage im Sehfeld ein-
nimmt, nicht zu gebrauchen war, so haben wir ims schließlich für
eine Spiegelungsmethode entschieden, die es gestattet, für die zu
beurteilende Doppelbildstrecke eine andere Distanz, die mit der
Fixation durchlaufen werden kann, an der gleichen Stelle des Raumes
sukzessiv zu substituieren. An der Hand des nachstehenden Schemas
^U
tV
• F'
•0'
7t
Fig. 5.
sei die Anordnung kurz skizziert: d ist der Spalt, durch den der
Beobachter hindurchblickt, Sp ein Spiegel, der in einem vertikalen
Geleise beweglich ist und durch einen Fadenzug aus dem Sehfeld
entfernt werden kann, h — h und h! — K bilden den Hintergrund. Ist
F der Fixationspunkt und 0 das in Doppelbilder zerfallte Objekt, so
ist F 0' die zum Vergleich dienende Distanz.
Die Versuchsmethode ist folgende: Der Spiegel, dessen
Ränder durch das Diaphragma d verdeckt sind, füllt das ganze Seh-
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Ober Tiefenlokalisation von Doppelbildern. ij^
feld aus, d. h. während F 0' widergespiegelt werden, bleibt F 0 dem
Beobachter unsichtbar. Durch Fixation von O versucht man sich
nun einen Eindruck von der Entfernung dieses Objektes zu ver-
schaffen. Inzwischen zerfallt zwar F in ein gekreuztes Doppelbild;
wählt man aber F* hinreichend klein, so wird durch dieses Doppel-
bild die Tiefenauffassung von 0' in keiner Weise beeinträchtigt. Hat
der Beobachter den Tiefenort von 0' möglichst deutlich erfaßt, so
geht er mit der Fixation rasch nach F* über, indes gleichzeitig durch
einen Ruck der Spiegel Sp aus dem Sehfeld entfernt wird, wodurch
F* 0* der Beobachtung entzogen und dafür F 0 zu der gleichen
Stelle im Räume substituiert erscheint. Im gleichen Moment also,
in dem der Beobachter von (7 aus mit der Fixation in F angelangt
zu sein meint, fixiert er in Wirklichkeit F, und 0 erscheint ihm
doppelt. — Es soll nun ein Urteil darüber abgegeben werden, ob
das vorher einfach gesehene Objekt 0' oder das jetzt wahrgenom-
mene Doppelbild von 0 näher zu stehen scheint. Da stets 0' ein-
fach und F' doppelt, 0 doppelt und F einfach gesehen wird, ist die
Situation des Vergleichs folgende: Eine Strecke, die vom von einem
Doppelbild und hinten durch einen binokular einfach gesehenen
Punkt begrenzt wird, soll verglichen werden mit einer solchen, die
begrenzt wird durch einen binokular einfach gesehenen Punkt vorn
und hinten von einem Doppelbild. Die beiden Distanzen stehen sich
dabei räumlich und zeitlich so nahe als nur möglich, und der Ver-
gleich hinsichtlich ihrer Größe wird bei einiger Übung unschwer aus-
zufuhren sein. Je nachdem die eine oder die andere Distanz variabel
gehalten wird, kann das Urteil auf das Objekt 0 oder 0' bezogen
und durch die Ausdrücke: »Zu weit!« »Zu nahe!« »Gut!« präzisiert
werden.
§ 8. Beobachtete Kautelen.
1. Aus Gründen der experimentellen Einfachheit wurde die
Medianebene und deren nächste Umgebung für das Studium
der Doppelbilder in Aussicht genommen.
2. In allen früheren Arbeiten fanden zur Erzeugung von Doppel-
bildern lineare Objekte Verwendung (Fäden, Nadeln usw.). Ist nun
schon der Punkt im Vergleich zur Linie das psychologisch Einfachere,
so war für vorliegende Arbeit der Gebrauch von Punkten um so
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Ij^ Richard Arwed Pfeifer,
näher gelegt, als Linien für die Tiefenwahrnehmung stets sekundäre
Merkmale an die Hand geben. Daneben sind aber auch in allen
Fällen, wo Höhendisparation in Frage kommt, ständige Korrekturen
der Richtung der Linien notwendig, damit die Halbbilder als Parallelen
erscheinen. Der Eindruck aber von »in der Luft frei schwebenden
Punkten« wird zu erzielen sein, wenn man die Punkte auf Glasplatten
— um die Schärfe der Konturen nicht zu beeinträchtigen, auf der
dem Beobachter zugekehrten Seite — anbringt, die bei durchfallen-
dem Lichte und Verdeckung der Ränder durch ein Diaphragma,
selbst nicht gesehen werden können. Für eine Mehrzahl von hinter-
einander liegenden Punkten wird dann allerdings je nach der Zahl der
zwischen Punkt und Beobachter befindlichen Glasplatten Helligkeit
und Komturenschärfe verschieden sein. Kann aber dieser Mangel
zum Teil schon durch die Wahl der Glassorte und die geringe Stärke
der Platten (0,9 mm starkes Salinglas, das ist Deckglas, wie es beim
Mikroskopieren Verwendung findet) gehoben werden, so geht er
außerdem fiir den Vergleich noch seines störenden Einflusses ver-
lustig durch die ganze Art der Vergleichsmethode, nach welcher der
Nachteil dann für die Doppelbilddistanz in gleichem Maße besteht
wie für die gespiegelte Vergleichsstrecke.
3. Es ist eine beim Studium der Literatur auffallende Erschei-
nung, daß der Behauptung, »die Doppelbilder sind in der Tiefe des
Fixationspunktes lokalisiert«, stets die Fixation während einer längeren
Zeit bzw. eine größere Expositionsdauer des in Doppelbilder zer-
fallten Objektes korrespondiert (Wundt, Donders, Cornelius,
Tschermak-Hoefer), während diese Tatsache, daß Doppelbilder
in der Ebene des Fixationspunktes erscheinen können, heftig von
jenen bestritten wird, die mit Momenteindrücken experimentierten
(Herings Fallversuch). Bedarf also die Expositionsdauer einer
sorgfaltigen Überwachung, so glaubten wir doch dieselbe nicht dahin
regulieren zu dürfen, daß ihre Auslösung durch einen selbsttätigen
Mechanismus für objektiv bestimmte, gleiche Zeiträume erfolgt. Um
ein sicheres Urteil über eine Tiefendimension abgeben zu können,
ist zweifelsohne eine geraume Zeit nötig — das lehrt schon das all-
tägliche Leben. Die hierfür günstigste Zeit ist aber nicht allein indi-
viduell durchaus verschieden, sondern wechselt auch für den einzelnen
Beobachter je nach der Aufmerksamkeitsdisposition. Wir können
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über Tiefenlokalisation von Doppelbildern. jec
also gewiß sein, die besten Bedingungen zu statuieren, wenn die
Regelung der Expositionsdauer durch die Versuchsperson selbst ge-
schieht. Der Beobachter schaut sich die Doppelbilder so lange an,
bis er in seinem Urteil über die Tiefenlokalisation sicher ist. Für
den Fall aber, daß inzwischen die Doppelbilder Lageveränderungen
obengenannter oder auch anderer Art erfahren sollten, wird die
Exposition von der Versuchsperson selbst aufgehoben (Herabfallen-
lassen des Spiegels). Daß bei längerer Fixation Lageveränderungen
der Doppelbilder tatsächlich vorkommen können, konnte im Verlaufe
der Untersuchungen sehr bald konstatiert werden. Sie machen sich
aber sofort kenntlich an der großen Unsicherheit oder gänzlichen
Unmöglichkeit, überhaupt ein Urteil zu fällen, sowie an der Inkonstanz
der Gleicheinstellungen. Für die weitaus meisten Fälle genügte es,
einigemal den Spiegel bei gleichzeitigem Fixationswechsel auf und
ab zu bewegen, um die momentane Störung zu beseitigen; andern-
falls wurde der Versuch durch eine Pause unterbrochen.
4. Um die Helligkeit regulieren zu können, wurde anfangs für die
Untersuchungen die künstliche Beleuchtung in Aussicht genommen.
Das Unternehmen scheiterte jedoch an den technischen Schwierig-
keiten, ja man kann sagen, an der Unmöglichkeit, das Licht ebenso
diffus imd vor allem ebenso hell herzustellen, wie es in der Tages-
beleuchtung geboten wird. Jeder Grad von Dunkeladaptation aber
macht die Bedingungen ungünstiger.
5. Nach Helmholtz kann die Größe des Fixationspunktes
eventuell ein relatives Maß abgeben für die Größe der Doppelbilder,
um daraus auf deren Ferne zu schließen. Dieser Faktor soll vor-
läufig eliminiert bzw. kontrollierbar gestaltet werden. Der Ffaaitions-
punkt wird so klein als nur möglich gewählt und dient lediglich zur
Arretur der Konvergenz. Seine Farbe, die, wie Versuche an Herings
Fallapparat zeigten, durchaus nicht willkürlich sein kann, ist, wie die
der in Doppelbilder zeriallten Punkte, schwarz. Die jeweilige Lage
zum Diaphragma Wird für jeden einzelnen Versuch besonders an-
gegeben.
6. Die Augen der Versuchspersonen wurden einer sorgfaltigen
Funktionsprüfung unterzogen. Die Korrektur der Sehschärfe allein
genüget dabei nicht. Es ergeben sich vor allem, wie weiter unten
dargetan werden soll, aus der Verschiedenheit der beiden Augen des
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156 Richard Arwed Pfeifer,
Beobachters und der in vielen Fällen damit verknüpften Lagever-
änderung des Orientierungspunktes Störungen in der binokularen
Lokalisation, die auch beim Doppeltsehen eigenartige Erscheinungen
bedingen.
7. Für die Färbung des Hintergrundes erwiesen sich Braun
und Grau als die Farben, die den störenden Einfluß des Kontrastes
am besten beseitigten. Braun (etwa das Hellbraun von Kartonpappe
oder der gebräuchlichen Fußbodenfarbe) wurde deshalb gewählt, weil
es technisch leichter hergestellt werden konnte.
8. Von der Arretur des Kopfes während der Beobachtung wurde
im Verlauf der Versuche wieder Abstand genommen, weil sie die
Anstrengungen, denen die Beobachter durch die starre Fixation aus-
gesetzt waren, noch um eine Unbequemlichkeit vermehrte. Überdies
g^ng aus der Konstanz der Ergebnisse sehr bald hervor, daß die
Schwankungen des Kopfes, die die verwendete annähernde Kopf-
arretur um einige Millimeter zuließ, von keinerlei Einfluß auf die
Sicherheit der Doppelbilder-Tiefenlokalisation waren.
9. Tschermak-Hoefer haben es in ihrer Versuchsanordnung für
nötig befunden, Garantie leisten zu müssen, daß während der Fixation
keinertei Blickschwankungen eintraten, indem sie dem Beobachter
im indirekten Sehen ständig zwei Nadeln von solchem gegenseitigen
Abstand exponierten, daß die inneren Halbbilder der Nadeln in der
Medianebene stereoskopisch vereint erscheinen; der jedesmalige Zerfall
der stereoskopisch einfach gesehenen Nadel in die Halbbilder zeigte
dann momentan die Blickschwankungen an. Wir glaubten eine der-
artige Kontrolle entbehren zu können. Aus den Ergebnissen vor-
liegender Arbeit wird erhellen, wie ungemein rasch sich psychologisch
die Bedingungen komplizieren, wenn mehrere Objekte im Gesichts-
felde sich befinden. Wir sind aus diesem Grunde schon gewiß, das
kleinere von zwei Übeln gewählt zu haben, wenn wir gegenüber der
Möglichkeit geringer Blickschwankungen die Sauberkeit des Sehfeldes
aufrechterhielten. Außerdem muß man nach Hering geradezu an-
nehmen, daß das Auge, um sich der Lage des optischen Bildes auf
der Netzhaut gewissermaßen zu versichern, Oszillationen von geringem
Umfang immer ausfuhrt. Daß aber mit den Blickschwankungen ein
gewisses Maß nicht überschritten wurde, dafür leistete in unseren
Versuchen die geringe Größe des Fixationspunktes hinreichende
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Ober Tiefenlol^alisation von Doppelbildern. ley
Garantie, indem ein sehr kleines Objekt an sich, um deutlich gesehen
zu werden und deutlich zu bleiben, ein genaueres Hinsehen erfordert
und überdies schon bei unbeträchtlichen Blickschwankungen für den
geübten Beobachter in Doppelbilder zerfällt.
§ 9. Die provisorische Versuchsanordnung.
Unter Anwendung der vorstehend entwickelten Prinzipien be-
dienten wir uns während zweier Semester einer provisorischen Ver-
suchsanordnung, deren ausfuhrliche Beschreibung hier um so eher
unterbleiben kann, als alle daran wahrgenonmienen Vorteile beim Bau
des weiter unten zu erklärenden Doppelbilderapparates Berücksichtigung
gefunden haben. Die Glasplatten wurden in der provisorischen An-
ordnung auf rechtwinklig zueinander stehenden Tischreihen entlang
gerückt, während ein großer Lattenverschlag, der mit fimißgetränktem^
dünnem Pergamentpapier überspannt war, das Licht so weit diflflis ge-
staltete, daß störende Schatten abgeblendet und Glanz und Spiegelung
ausreichend von den Glasscheiben entfernt wurden. Es galt vorerst,
lediglich festzustellen, ob eine quantitative Ortsbestimmung nach den
oben entwickelten Ideen möglich sei oder nicht Der gespiegelte
Vergleichspunkt blieb während einer und derselben Versuchsreihe in
konstanter Entfernung von 50 cm, in einer weiteren Reihe in 75 cm
Abstand, dann in 100 cm Distanz usw. vom Fixationspimkt aufge-
stellt, indes das Doppelbild so lange variiert wurde, bis die Distanz
desselben vom Blickpunkt der jeweils eingestellten Vergleichsstrecke
gleichkam. Das Doppelbild und nicht den Vergleichspunkt zu vari-
ieren, erwies sich für den Beobachter als die bequemste Vergleichs-
weise. Um aber dem Einwand zu begegnen, daß die Konstanz der
Ergebnisse bestimmt worden sein könne von dem gedächtnismäßigen
Merken des gegenseitigen Abstandes der Halbbilder voneinander oder
der projektivischen Lage des Doppelbildes im Spalte, haben wir
später — die Übimg der Versuchspersonen war inzwischen weit vor-
geschritten — am Doppelbilderapparat ständig die Vergleichsstrecke
variiert. Es würde uns zu weit führen, von der gesamten Vorarbeit
Rechenschaft abzulegen. Die ersten definitiven Ergebnisse einer
quantitativen Ortsbestimmung der Doppelbilder gibt Tabelle I wieder.
Unsere experimentellen Untersuchungen erstreckten sich in ihrer
Gesamtheit über einen Zeitraum von vier Semestern, vom Winter 1905
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158 Richard Arwcd Pfeifer,
bis zum Sommer 1905. Außer den im Text genannten Versuchs-
personen danken wir den Herren Dr. Fröbes, cand. phil. Ziembinsky,
cand. phil. F. von Spitzbarth, und vor allem Herrn Professor Dr.
W. Wirth für di^ fleißige Mitarbeit und rege Anteilnahme an dem
Fortschritt unserer Untersuchung. Insonderheit ist es uns noch ein
Bedürfnis, Herrn Geh. Rat Prof. Dr. W. Wundt für das Interesse,
mit dem er den Fortgang unserer Arbeit begleitete, unseren Dank
zu sagen.
Tabelle I.
Die Entfernung des Fixationsponktes vom Beobachter beträgt konstant 40 cm.
A: Variierte Distanz des in Doppelbilder zerfäUten Objektes vom Fixationsponkte
im Mittelwert (n Gleicheinstellangen).
B: Geschätzte Distanz der nngekreazten Doppelbilder vom Fixationspnnkt.
Vp, Herr Dr. Moore (Emmetropisches Auge).
« = 30
A: 16,2 20,8 26,0 35,5 46,0 55,8 66,2
B: 50,0 75,0 100,0 150,0 200,0 250,0 300,0
Vp. Herr Dr. Büchner (Emmetropisches Auge).
» = 5
A: 18,3 23,8 28,5 37,0 47,2 58,3 68,5
B: 50,0 75,0 100,0 150,0 200,0 250,0 300,0
Vp. Herr cand. phil. Kästner (Emmetropisches Auge).
ff =15
A: 15,0 18,8 23,3 33,5 44,8 55,7 65,0
B.* 5o>o ISP i<^»o iS^jO 200,0 250,0 300,0
3. Kapitel.
Die exakte Ortsbestimmung für Doppelbilder am Apparat
§ 10. Der Doppelbilderapparat.
T^_^ und f^_^ sind genau rechtwinklig zueinander stehende Tische,
auf denen sich die Versuchsanordnung befindet. In der Längsrichtung
eines jeden Tisches verläuft, auf einem starken Brett als UnterU^e
befestigt, je ein Vierkantholz von 3 m und 2 m Länge (F, v). Diese
Vierkanthölzer, die durch beiderseitige, breite Nuten einen T-förmigen
Querschnitt (v in Fig. 6) erhalten, sind mit einer Zentimeterskala
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über TiefenloluUsation von Doppelbildern.
159
-jZ
hT
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l6o Riehard Arwed Pfeifer,
ausgestattet und bilden die Bahnen, auf denen die Holzrahmen Ra^, Ra^ ,
Ra^^ Ra^ und ra^^ ra^^ ra^^ ra^ hin und her bewegt werden können
mittels Holzklötzen [K^^^^ ^1-4)» die auf der Unterseite einen dem
Querschnitt von V und v konformen Ausschnitt tragen (>fe, in Fig. 6)
und groß genug sind, um die Rahmen in senkrechter Stellung zu
erhalten. Die Rahmen sind an den Seiten geschlitzt und für das
Einschalten von Glasplatten, auf denen der zu beobachtende Punkt
sich jeweils befindet, horizontal entsprechend genutet. Jeder Rahmen
ist auswechselbar gegen einen oben geschlitzten und vertikal genuteten,
für den Fall, daß die Verschiebbarkeit des Punktes nach links und
rechts ersetzt werden soll durch eine solche nach oben und unten
(Fig. 6). Untereinander sind die Rahmen durch optisch dichte Balgen
verbunden, deren lichte Weite zwischen Ra^ und Ra^ sowie ra^ und
ra^ von 18X20 cm zu 46X51 cm ansteigt, zwischen ra^ und ra^ die
Größe 46X51 cm beibehält, dagegen zwischen i?^, \xx\ARa^ 100X80 cm
beträgt Die Längenausdehnung der beiden konischen Balgen [Ra^-
Ra^i ra^'Xa^) ist von 20 cm bis zu 175 cm, die der zylindrischen
{R^-R^y R^'R^y ra^-ra^y ra^-ra^) von 20 cm bis zu 120 cm variierbar.
B ist der Sitz des Beobachters. Durch ein 10 cm langes Rohr (a)
blickt dieser in einen innen geschwärzten Würfel von 30 cm Kanten-
länge [w). Der Ausschnitt an der Vorderseite des Würfels, auf wel-
chem das im Querschnitt um ein geringes größere, elliptische Ansatz-
rohr [a) aufgesetzt ist, hat die Form eines Rechteckes in Größe von
15X6 cm ^ Der dem Beobachter zugekehrte Teü des Rohres ist, um
das Durchblicken zu erleichtem, den die Augen umgebenden Gresichts-
partien angepaßt, ähnlich wie bei guten Stereoskopen, nur fehlt der
Steg, welcher bei letzteren Apparaten die Augen durch je eine ge-
sonderte ÖfTnimg blicken läßt: beide Augen blicken durch eine große
öfTnung. In der Diagonalebene des Würfels — wir geben einen
horizontalen Querschnitt durch denselben in Fig. 7 wieder — , die be-
grenzt wird durch die linke vordere und rechte hintere Würfelkante, ist
ein Spiegel [Sp) in senkrechter Richtung auf und ab bewegbar. Ein
vertikal stehender Rahmen, der für den Spiegel das Geleise büdet,
erhält gleichzeitig den ganzen Würfel in Augenhöhe. Rückwand und
rechte Seitenwand des Würfels sind als Schieber, die sich bequem
entfernen bzw. auswechseln lassen, gearbeitet und mit je einem recht-
eckigen Diaphragma [d^^ d^) versehen, welches so groß als möglich
Digitized by VjOOQiC
über Tiefenlokalisation von Doppelbildern.
i6i
gewählt wurde derart, daß die Rahmen Ra^ und ra^ in ihrer größt-
möglichen Entfernung dadurch eben noch verdeckt wurden. Zieht
man den Spiegel in seinem Geleise in die Höhe, so blickt der Be-
obachter durch die Spaltöffnungen d^ und d^ nach dem Hintergründe
h-h\ befindet sich der Spiegel dagegen unten, d. h. füllt er die
Diagonalebene des Würfels aus, so erscheint der Spalt d^ an Stelle
von d^y und die Blicklinien nehmen ihren Weg durch d^ und d^ nach
V'T? ^
Fig. 7-
H
Flg. 8.
dem Hintergrund H-H, Es ist zu ersehen, daß bei gleicher Größe
von d^ und d^ für beide Spaltbilder leicht eine Lage gefunden werden
kann, in der sie beim Auf- und Niederbewegen des Spiegels sich
vollkommen decken und dann wechselsweise — in gleicher Entfernung
vom Beobachter — an derselben Stelle im Raum füreinander substituiert
erscheinen. Bei einer ganzen Gruppe von Versuchen mit hinter
dem Ffacationspunkt gelegenen Doppelbildern befand sich je ein zu
fixierender Punkt auf einer Salinglasplatte im Diaphragma d^ und dy
Soll der Fixationspunkt in größere Feme verlegt werden, so geschieht
dies, während d^ und d^ aus dem Würfel entfernt werden, mittels
der Rahmen Ra^ und ra^^ welche mit dem Würfel durch je einen
bis zu 40 cm ausziehbaren Balgen optisch dicht verbunden sind. Der
Ausgleich der scheinbaren Größe bei zunehmender Entfernung wird
durch einen in Ra^ und ra^ befestigten variabeln Spalt von der in
Fig. 8 beschriebenen Form bewerkstelligt, der es gestattet, das Dia-
phragma um so viel zu vergrößern, als es durch die Änderung der
WuDdt, Pgychol. Studien n. II
Digitized by VjOOQIC
l()2 Richard Arwed Pfeifer,
Entfernung verkleinert erscheint. Erheblichen Schwierigkeiten be-
gegnete das Beginnen, unter Beibehaltung der Tageshelladaptation zwei
vollkommen gleiche Hintergründe herzustellen. F^, F^, F^ vgl. S. 159
bezeichnen die nach Westen gerichteten Zimmerfenster des Instituts.
H^H und A-A sind zwei große mit Leinwand überspannte Rahmen,
die in gleicher Tiefe des Zimmers aufgestellt sind. Zwei objektiv
gleiche Hintergründe erwiesen sich nun, durch das Instrument be-
trachtet, in bezug auf Helligkeit und Farbton verschieden. Einmal
konnte, abgesehen von der Lichtabsorption durch den Spiegel, wegen
der Kostbarkeit großer Glasscheiben, für die großen Rahmen Ra^
und Ra^ nicht das äußerst lichtdurchlässige Salinglas (Deckglas)
verwendet werden wie für die kleineren Rahmen ra^y ra^j ra^ und Ra^,
Für die größeren Rahmen gelangte zwar eine blasenfreie, aber immer-
hin schwach grünlich gefärbte Glassorte zur Verwendung, wie sie zur
Herstellung guter Spiegel dient. Dies hatte zur Folge, daß sich zu
dem Farbton des Hintergrundes H-H noch das Graugrün des Glases
gesellte. Zum andern entstanden aber auch durch den wechselnden
Stand der Sonne große Helligkeitsunterschiede. Es erwiesen sich
deshalb die Morgen- und Mittagstunden als die für die Untersuchung
günstigsten, während die Tagesstunden gemieden wurden, in denen
der helle Sonnenschein auf den Fenstern auflag. Die Beobachtungen
unterblieben ferner bei sehr trübem Wetter und an Tagen, wo die
Helligkeit durch den Zug der Wolken großen Schwankungen unterlag.
Die Farbe des Hintergrundes H-H war so gewählt, daß sie im Spiegel
betrachtet hellbraun (etwa das Braun der gewöhnlichen Kartonpappe)
erschien. Durch einen Maler von Beruf wurde dieser Farbton sorg-
fältig nachgemischt und der Hintergrund k-k damit überzogen. Als-
dann wurde der Hintergrund h-k um eine senkrechte Achse [sä) drehbar
gestaltet, und nun gestattete das Hinwenden nach dem Fenster F^
bzw. das Abdrehen des Hintergrundes vom Lichte überaus feine Ab-
stufungen der Helligkeit und ermöglichte so die Gleicheinstellung zu
jeder Stunde der Versuchszeit.
Es soll zuletzt nicht unerwähnt bleiben, daß der Doppelbilder-
apparat auch die Möglichkeit der Selbsteinstellung gewährt. Durch
den über die Rollen R^, R^ bis R^, laufenden Fadenzug kann ein etwa
im Rahmen Ra^ befindlicher Punkt vom Beobachter* in beliebiger
Distanz entfernt oder ihm angenähert werden, während der Standort
Digitized by VjOOQiC
über Tiefenlokalisation von Doppelbildern. 163
von ra^ durch den Doppelfaden r^r^-r^r^y welcher unter dem Tisch
über die in der Zeichnung nicht sichtbaren Rollen r^r^ und r^r^ nach
r,r, zurückkehrt, vom Platze des Beobachters aus beliebig variiert
werden kann. Es bot das die Annehmlichkeit, daß der Versuchsleiter,
unabhängig von einem Gehilfen, auch für sich allein am Apparat
arbeiten konnte. • Ein ausgiebiger Gebrauch der Selbsteinstellung ist
indes für die exakten Untersuchungen nicht gemacht worden, weil
der Hände Bewegung nicht nur die Konzentration der Aufmerksam-
keit störte (der Beobachter hat ja auch noch den Spiegel zu dirigieren),
sondern auch der Ortswechsel der Glasplatte, der immerhin großen
Last des Rahmens zufolge, zu langsam erfolgte. Es erwies sich als
weit vorteilhafter, wenn ein Gehilfe den Distanzwechsel rasch imd
geräuschlos vollzog.
In Fig. 6 (S. 159) endlich ist noch die Vorrichtung dargestellt, die dazu
diente, um den gegenseitigen Abstand der Halbbilder eines Doppel-
bildes in der Tiefe des in Doppelbilder zerfallten Objektes zu messen.
In den horizontal genuteten Rahmen wird ein Zinkblechstreifen ein-
geschaltet, der in seiner Höhe bis nahezu an die horizontale Visier-
ebene heranreicht An Stelle des in ein Doppelbild zerfällten Punktes,
der inzwischen entfernt wird, befindet sich eine vertikal stehende,
starke Nadel [N], Zu beiden Seiten davon ragen über die beweg-
lichen Schieber s^ und s^ die zueinander parallel stehenden Spitzen
zweier Nähnadeln hervor, die mit der Schieb Vorrichtung starr ver-
bunden sind (»,, »,). Zerfallt man, durch Fixation eines davor oder
dahinter gelegenen Punktes, iV in ein Doppelbild, so erscheint gleich-
zeitig innerhalb des Doppelbildes von N je ein Halbbild der Doppel-
bilder von », imd »a, die mittels der Schiebvorrichtung zur Deckung
gebracht werden können. Die objektive Distanz zwischen n^ und n^
gibt dann unmittelbar für die Entfernung der Nadel N vom Beobachter
die Größe der Lateraldistanz (Äquivalentstrecke des Gesichtswinkels
der EHsparation) der beiden Halbbilder des Doppelbildes von N an.
Um bei der Messung dem störenden Einfluß negativer Nachbilder zu
entgehen — es geschieht nämlich oft, daß bei der Annäherung der
zur Deckung zu bringenden Halbbilder das eine davon plötzlich ver-
schwindet, um erst nach geraumer Zeit wieder aufzutauchen — , kann
man es so einrichten, daß die Spitzen der Nadeln n^ und n^ mit dem
Fixationspunkt in gleicher Höhe liegen. Vorerst unabhängig von der
II*
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164 Richard Arwed Pfeifer,
ZU erzielenden Deckung wird nun erst das eine, dann das andere
Nadelhalbbild so weit in die Medianebene hereingerückt, bis der Fixa-
tionspunkt auf der Spitze des Nadelhalbbildes genau aufzusitzen scheint.
Ist das erreicht, so kehrt man das Gesicht vom Apparat einen Augen-
blick weg. Blickt man darauf wieder in den Apparat, so muß jetzt,
wenn die Einstellung ausreichend genau sein soll, die Nadel haarscharf
stereoskopisch einfach gesehen werden.
§ II. Qualitative OrtsbcBtimmung fUr ungekreuzte Doppelbilder
am Apparat
Im Spalte öf,, 40 cm vom Beobachter entfernt, befindet sich der
Fixationspunkt (i mm Durchmesser) F^ in ra^^ etwa i m hinter dem
Fixationspunkt der in Doppelbilder zerfällte Punkt P [16 mm Durch-
messer). Beide Punkte liegen auf der horizontalen Orientierungslinie.
Der Spalt rechts seitwärts am Würfel [d^] ist geschlossen; der Spiegel
ist aus dem Sehfeld entfernt.
1. Ein Vergleich der Halbbilder (P^P^) des Doppelbildes von P
mit dem Eindruck, den man von P bei direkter Fixation hat, ei^bt
folgenden Unterschied: Die Halbbilder erscheinen relativ (Bildgröße
im Verhältnis zum gesamten Sehfelde) sehr viel verkleinert, ab-
solut (gedachte Objektgröße) sehr viel vergrößert; die Konturen
sind überaus verwaschen, und das Schwarz des einfach gesehenen
Punktes hat in den Halbbildern unter dem Einfluß der binokularen
Mischung einem Hellg^u Platz gemacht. Entfernt man P noch weiter
vom Fixationspunkt, so erscheinen die Halbbilder fast kugelig: ein
schwarzer Kern in der Mitte ist umgeben von einer dunstigen Hülle.
2. Auf die an die Versuchsperson gerichtete Frage nach der
Tiefenlokalisation des Doppelbildes verlautete die Antwort: »Wenn
ich nicht wüßte, daß dort (Zimmerwarid) das Zimmer zu Ende wäre,
so würde ich sagen, das Doppelbild stehe ganz am Ende des Nachbar-
zimmers; in Metern geschätzt, können es 10 oder auch 20 m sein:
jedenfalls stehen die Halbbilder sehr, sehr weit weg«.
3. Der Tiefenunterschied zwischen dem direkt einfach und alsdann
indirekt doppelt gesehenen Punkt P kommt sehr deutlich zum Be-
wußtsein bei einem raschen Fixationswechsel zwischen P und F: das
von P entstehende Doppelbild fliegt dann förmlich in die Feme.
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Ober Tiefenlokalisatioa von Doppelbildern. i5e
4. Erfahrt ra^ durch den Versuchsleiter eine Distanzveränderung
zum Beobachter von 5 — 10 cm, so schätzt die Versuchsperson die
dadurch bedingte Lageveränderung des Doppelbildes auf etwa 50 cm.
5. Bewegt man die in ra^ als Objektträger fui^fierende Glasplatte
in vertikaler Richtung auf und ab, so beschreibt das Doppelbild von
P in Hinsicht der Tiefenlokalisation eine Parabel in dem Sinne, daß
das Doppelbild in der horizontalen Visierebene liegend in größter Ferne
erscheint und sich dem Beobachter nähert fiir den Fall, daß es da-
rüber oder danmter liegt. — Achtet man dabei auf die Lateraldistanz
der Halbbilder (gegenseitiger Abstand derselben voneinander), so ist
diese am größten in der horizontalen Visierebene und wird kleiner
nach unten und oben, d. h. während oben gedachter Bew^fung be-
schreiben die Halbbilder gleichzeitig seitlich gekrümmte Bahnen.
6. Befestigt man in ra^ etwa 1,5 cm senkrecht über oder unter P
einen zweiten Punkt von gleicher Größe, dann ergibt sich für die
außerhalb der Visierebene befindlichen Doppelbilder ein deutliches
Näherstehen, welches in seinem Gefolge eine scheinbare Verkleinerung,
Verschärfung der Konturen und deutliche Zunahme der Intensität
dieser DoppelbUder aufzeigt (sie erscheinen schwärzer; schließt man
die Augen, so sind ihre NachbUder entsprechend heller).
7. Während der Fixationspunkt seine Lage auf der horizontalen
Orientierungslinie beibehält, wird der in Doppelbilder zu zerfällende
Punkt etwa 2 cm über der horizontalen Visierebene befestigt und so
weit nach rechts oder links seitwärts horizontal verschoben, daß eines
seiner Halbbilder für den Beobachter über den Fixationspunkt in die
Medianebene zu liegen konmit. Dw Tiefenunterschied zwischen den
Halbbildern des Doppelbildes ist jetzt auflallig. Das äußere, also
außerhalb der Medianebene befindliche Halbbild steht um vieles näher
und zeigt als Begleiterscheinung scheinbare Verkleinerung, intensivere
Schwarzfärbung und Verschärfung der Konturen.
8. Die Punkte F und P liegen wieder beide auf der horizontalen
Orientierungslinie. Die Halbbilder des dadurch entstehenden doppel-
seitigen, symmetrisch zur Medianebene gelegenen Doppelbildes er-
scheinen in ungleichen Abständen vom Beobachter, wenn
a) die dioptrischen Verhältnisse in den beiden Augen der Versuchs-
person verschiedene sind (verschiedener Grad von Myopie usw.) und
ohne Augenkorrektur beobachtet wird;
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l66 Richard Arwed Pfeifer,
b) bei korrigierter Dioptrik anderweitige Unterschiede zwischen den
beiden Augen bestehen, die darum aber noch keine Dislokation des
Orientierungspunktes zur Folge haben;
c) die binokulare Lokalisation gestört ist durch eine anormale Lage
des Orientierungspunktes.
9. Zeitweise Tiefenunterschiede zwischen den Halbbildern von
symmetrisch zur Medianebene gelegenen doppelseitigen Doppelbildern
ergeben sich
a) bei partieller Inversion (siehe unten),
b) bei ungleicher Adaptation der beiden Augen für hell und dunkel
(man überdecke ein Auge einige Zeit mit der Hand und blicke dann
in den Apparat),
c) bei Beeinflussung der Akkommodation des einen Auges durch
ein schwaches Mydriatikum (Homathropin).
10. Die Halbbilder aller einseitigen Doppelbilder zeigen ständig
ungleiche Abstände vom Beobachter in dem Sinne, daß das äußere
jeweils immer als das nähere empfunden wird.
§ 12. Quantitative Ortsbestimmung für symmetrisch zur Median-
ebene gelegene ungekreuzte Doppelbilder.
Die in d^ und d^ befindlichen Diaphragmen sind mit einer Salin-
glasplatte verschlossen und tragen in ihrer Mitte je einen Fixations-
punkt (/, F) von gleicher Größe (1 — 1,5 mm Durchmesser); für größere
Ferne werden die Spaltbilder mit Fixationspunkt in Ra^ und ra^ an-
gebracht. Der in ein Doppelbild zerfällte Punkt/ (16 mm Durch-
messer) befindet sich je nach der zu beurteilenden Distanz in ra^
oder ray Ein zum Vergleich dienender Punkt P (24 mm Durchmesser)
ist in Ra^ befestigt. Die Zentren aller Punkte liegen auf der horizon-
talen Orientierungslinie. Die Spaltgröße beträgt für
39 cm Entfernung vom Beobachter 4,5X 6,2 cm
49 > > » » 6,6 X 9,0 »
59 > » > > 8,6X11,9 >
Vor Beginn des Versuchs werden durch Auf- und Niederziehen
des Spiegels die beiden Hintergründe auf subjektive Gleichheit ein-
gestellt und die Diaphragmen in d^ und d^ samt den in ihrer Mitte
befindlichen Fixationspunkten/und -/^sorgfältig zur Deckung gebracht.
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über Tiefenlokalisation von Doppelbildern. 167
Zur Versuchsmethode vergleiche das oben S. i52f. Gesagte.
Einübung der Versuchspersonen. Blickt man zum erstenmal
in den Apparat, so ist die Lokalisation der jeweils darin sichtbaren
Punkte eine ziemlich unsichere. Ein frei in der Luft schwebender
Punkt ist ein durchaus ungewohnter Eindruck. Man neigt deshalb
anfangs dazu, den Punkt auf den Hintergrund zu verlegen. Von
dieser Täuschung wird man jedoch augenblicklich frei, wenn ein
Gegenstand, dessen Größe und Aussehen bekannt ist (etwa die Hand
des Versuchsleiters) zwischen der Endöffnung der Balgen und den
Hintergfrund gehalten wird: der Punkt schwebt dann wirklich frei in
der Luft. Für die ersten Übungsversuche blieb deshalb zweckmäßig
ein dem Beobachter bekannter Gegenstand dauernd zwischen Punkt
und Hintergrund aufgestellt.
Die weitere Übung der Versuchspersonen zielte ab auf Elimination
der »Spaltwirkung« oder »Fenstertäuschung«, die eine durchgängige
Überschätzung der Tiefendistanzen zur Folge hat. Der Beobachter
soll eine möglichst deutliche, der Wirklichkeit entsprechende Vor-
stellung von der Entfernung des Punktes P bekommen. Er nimmt
deshalb von der Größe des Punktes P an Ort und Stelle Kenntnis
dadurch, daß er hingeht und ihn ansieht, oder man gibt ihm einen
gleich großen Punkt zum Vergleich in die Hand. Die Tiefendistanz
wird femer vom Versuchsleiter in cm angegeben oder durch eine
Meßlatte auf dem Fußboden markiert. Der Rahmen, in dem sich
die Glasplatte mit dem Punkte befindet, wird äußerlich irgendwie für
den Beobachter gekennzeichnet. Bei kleinen Distanzen faßt die Ver-
suchsperson wohl auch mit der Hand danach, während größere
Distanzen abgeschritten oder mit ausgespreizten Armen ausgemessen
werden. Es konnte jedenfalls konstatiert werden, daß die Sicherheit
in der räumlichen Auffassung der in der Luft schwebenden Punkte
von Tag zu Tag zunimmt. Sollte aber ein Rest von der in Rede
stehenden Spaltwirkung noch vorhanden gewesen sein, so wkd dieser
Fehler überaus herabgesetzt durch den Umstand, daß diese Täuschung
dann nicht nur für die gespiegelte Strecke, sondern auch für die da-
mit verglichene, direkt gesehene besteht.
Für die exakten Versuche bedurfte es nur einer kurzen Zeit der
Übung, um den Aufzug des Spiegels mit dem Moment des Fixations-
wechsels zusammenfallen zu lassen. Die falsche Handhabung des
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i68
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Riehard Arwed Pfeifer,
Tabelle IV.
§ 13. Der Grenzfall zwischen einseitigen und doppelseitigen
Doppelbildern.
Vp.: Herr Dr. Reuther.
1. Entfemtmg des Fixationsptmktes vom Be-
obachter. 39,0
2. Entfemang des in Doppelbilder zerfällten
Objektes vom Beobachter. 64,0
3. Distanz des in Doppelbilder zerföllten
Objektes vom Fixationspankt. 25,0
4. Geschätzte Distanz des doppelseitigen
Doppelbildes bei symmetrischer Lage zur Mittdwert:
Medianebene. 83,5 83,0 82,0 84,0 83,0 83,1
5. Geschätzte Distanz der Halbbilder bei
asymmetrischer Lage zur Medianebene.
Das in Doppelbilder zerfällte Objekt
befindet sich:
a) Links seitwärts v. d. M. (rechtes
Halbbild über dem Fixationspmikt)
a] Geschätzte Distanz des linken
Halbbildes vom Fixationspankt: 67,5 68,5 68,0 66,0 69,0 67,8
ß) Geschätzte Distanz des rechten
Halbbildes vom Fizationspnnkt: 87,0 86,0 86,0 87,0 86,0 86,4
b) Rechts seitwärts v. d. M. (linkes
Halbbild über dem Fixationspankt)
a) Geschätzte Distanz des linken
Halbbildes vom Fixationspankt: 85,5 86,0 87,0 88,5 87,5 86,9
ß) Geschätzte Distanz des rechten
Halbbildes vom Fixationspankt: 66,0 69,0 66,5 65,5 67,0 67,0
Digitized by VjOOQiC
über Tiefeiilok«lisation von Doppelbildern. ij^
Spiegels zeigt sich in dem gleichzeitigen Doppeltsehen des fixierten
und des davor oder dahinter gelegenen Punktes.
Wie oben bereits bemerkt wurde, ist es dem Beobachter gestattet,
zur Erlangung eines sicheren Urteils den Eindruck, so oft und so-
las^e er nur mag, auf sich einwirken zu lassen; die individuellen
Abweichungen in der Ausnützung dieser Freiheit waren denn audt
sehr große.
§ 14. Ergebnisse^
1. Die Doppelbilder haben ihren scheinbaren Ort weder in der
Tiefe des Fixationspuidctes noch in der Feme des in Doppelbilder
zerfallten Objektes*
2. Ungekreuzte DoppelbiWer werden durcligängig in weit größere
Entfernung verlegt als das bezügliche stereoskopisch einfach ge-
sehene Objekt.
3. Die Tiefentäuschung beherrscht die Vorstellung in solchem
Maße, daß auch der Abstand beider Halbbilder des Doppelbildes und
die Größe des Doppelbildobjektes approximativ entsprechend größer
gedacht werden.
4. Bei konstanter Entfernung des Fixationspunktes vom Beobachter
nimmt der absolute Schätzungsfehler zu mit der Größe des Abstandes
des in Doppelbilder zerfallten Objektes vom Blickpunkt; bei konstanter
Entfernung des in Doppelbilder zerfallten Objektes nimmt der abso-
lute Schätzung^ehler ab mit zunehmender Feme des Fixationspunktes
vom Beoba<Ater.
5. Im Grenzfalle von einseitigen und doppelseitigen ungekreuzten
Doppelbildern steht das jeweils außerhalb der Medianebene befindliche
HalbbUd in scheinbar größerer Nähe. Die Differenz des Abstandes
der Halbbilder des Doppelbildes vom Beobachter ist von solcher
Konstanz, daß sie quantitativ bestimmbar ist (Tabelle IV).
6. Ein Vergleich der Tabelle IV, 4 mit Tabelle II, 5 {2. Kolonne)
ergibt auch für außerhalb der horizontalen Visierebene gelegene Doppel-
bilder ein deutliches, scheinbares Näherstehen.
Digitized by VjOOQiC
IjA Richard Arwed Pfeifer,
§ 15. Qualitative Ortsbestimmung fvir gekreuzte Doppelbilder
am Apparat.
Jn ra^y 2 m vom Beobachter entfernt, befindet sich ein Ffacations-
punkt von 4 mm Durchmesser (F), in ra^ , etwa i m vom Beobachter
entfernt, der in ein Doppelbild zerfallte Punkt P (16 mm Durchmesser).
Beide Punkte liegen in der horizontalen Orientierungslinie.
1. Ein Vergleich der Halbbilder (P^P^) des Doppelbildes von P
mit dem Eindruck, den man von P bei direkter Fixation hat, ergibt
zwar ebenfalls Unterschiede, aber bei weitem nicht so sinnenfallige
wie die bei ungekreuzten Doppelbildern beobachteten: die Halbbilder
erscheinen merklich vergrößert, zeigen verschwommenere Umrisse,
weichen aber in bezug auf ihre Intensitätsverhältnisse und die Hellig-
keitsverteilung innerhalb der Fläche des Fleckes nur ganz gering von
Pab.
2. Der rasche Übergfang vom direkten Einfachsehen zum indirekten
Doppeltsehen des Punktes P läßt gleichfalls Änderungen in der
Tiefenlokalisation erkennen: das Doppelbild rückt in größere Feme.
3. Erfährt ra^ durch den Versuchsleiter eine Distanzveränderung
nach dem Beobachter hin oder von diesem weg, so wird die Größe
derselben von der Versuchsperson an der dadurch bedingten Lage-
veränderung des Doppelbildes annähernd richtig geschätzt.
4. Gekreuzte Doppelbilder, die von Objekten herrühren, die unter
oder über der horizontalen Visierebene ihren Ort haben, erscheinen
näher als solche, die in der horizontalen Visierebene selbst liegen.
Begleiterscheinungen für die näherstehenden Doppelbilder sind:
scheinbare Verkleinerung, intensivere Schwarzfarbung, schärfere Kon-
turen und scheinbar geringere Lateraldistanz der Halbbilder.
5. Im Grenzfalle von einseitigen und doppelseitigen gekreuzten
Doppelbildern steht das außerhalb der Medianebene liegende Halb-
bild dem Beobachter näher als das in derselben befindliche. Das
näherstehende Halbbild ist scheinbar kleiner, schwärzer (Nachbild
heller) und von schärferer Kontur.
Die oben fiir ungekreuzte Doppelbilder veranstalteten Versuche
S. lösf.: Nr. 5, 8, 9 und 10 fallen für gekreuzte Doppelbilder in
gleichem Sinne aus.
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über Tiefenloluluation yon Doppelbildern. ije
§ i6. Quantitative Ortsbestimmung fUr sjrmmetrisch zur Median-
ebene gelegene gekreuzte Doppelbilder.
In ra^ befindet sich der Fixationspunkt (4 mm Durchmesser) in
ra^y auf einer in vertikaler Richtung beweglichen Glasplatte der in
ein Doppelbild zu zerfallende Punkt / (16 mm Durchmesser) und in
Ra^ der zum Vergleich dienende Punkt P (24 mm Durchmesser). Alle
Punkte liegen in der horizontalen Orientierungslinie.
Versuchsmethode: Durch einen Fadenzug (vgl. Fig. 6) wird die
den Punkt p tragende Glastafel so weit emporgezogen, daß p aus
dem Sehfeld verschwindet. Das Glas ist von solcher Größe, daß
dabei der untere Rand desselben für den Beobachter unsichtbar bleibt.
Man stellt nun die Gesichtslinien auf den Blickpunkt F in ra^ ein
und läßt alsdann/ herabfallen. Ist die Glasscheibe in ihrer Ruhelage
angelangt, dann befindet sich das Doppelbild von / in der horizon-
talen Visierebene. Hat der Beobachter einen deutlichen Eindruck
vom Orte des Doppelbildes erlangt, so versucht er es durch direkte
Fixation von / zum Verschwinden zu bringen, wobei er gleichzeitig
den Spiegel herabfallen läßt. Für das Doppelbild von / wird da-
durch der binokular einfach gesehene Vergleichspunkt P substituiert.
Es soll alsbald eine Entscheidung getroffen werden: Was steht näher,
das Doppelbild oder der Vergleichspunkt? Die Urteile werden auf
den in seiner Tiefe variabeln Vergleichspunkt bezogen und mit »Zu
nahe!«, »Zu weit!«, »Gut!« bezeichnet. Diese Gleicheinstellungen
sind durch das Gefühl großer Sicherheit ausgezeichnet. Über
die Entfernung des Fixationspunktes Fdarf bei diesen Versuchen keiner-
lei Täuschung bestehen; jede vorgenommene Änderung desselben
wird dem Beobachter angezeigt Einigen Versuchspersonen diente es
zu großer Bequemlichkeit, daß sie davon abstrahieren konnten, wenn
sie den Punkt / gelegentlich einfach sahen; die vertikal bewegliche
Glasplatte brauchte dann nicht aufgezogen zu werden, sondern blieb
ständig an ihrem Ort.
§ 17. Ergebnisse.
Die Gesetzmäßigkeiten, nach denen die Tiefenlokalisation von
Doppelbildern verläuft, erweisen sich für gekreuzte Doppelbilder im
allgemeinen als komplizierter. Es ergibt sich zunächst ein Unterschied
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für den Blick in die Nähe und in die Feme. Betrug der Abstand
des Fixationsobjektes vom Beobachter 150 cm und mehr, so erfolgte
die Tiefenlokalisation der gekreuzten Doppelbilder, bezogen auf die
scheinbare Ferne des in Doppelbilder zerfällten Objektes, bestimmt
im Sinne einer Überschätzung (Tabelle V und VI). Für geringere
Distanzen des Fixationspunktes vom Beobachter konnte — bei indi-
viduell verschiedener Abweichung — für direktes Einfach- und bino-
kulares Doppeltsehen annähernde Übereinstimmung in der Auf-
fassung von Tiefendistanzen konstatiert werden, während für noch
größere Nähe (80 cm und darunter) des Blickpunktes beim Doppelt-
sehen eine Distanzunterschätzung Platz zu greifen schien.
Für einen gegebenen Fixationspunkt ergab der begangene, abso-
lute Schätzungsfehler bei wechselnder Ferne des in Doppelbilder
zerfallten Objektes mit großer Annäherung eine Konstante, erwies
sich aber in allen Fällen des gekreuzten Doppeltsehens geringer als
der bei ungekreuzten Doppelbildern beobachtete.
§ 18. Vergleich zweier durch Doppelbilder abgegrenzter Tiefen-
distanzen durch Gleicheinstellungsversuche am Apparat.
Sind Uj b und c drei in der Medianebene hintereinander gelegene
Punkte, deren gegenseitiger Abstand so gewählt ist, daß ab = bc^
so wird
1. bei Fixation von b die Distanz des gekreuzten Doppelbildes
a^o^ mit der Distanz des ungekreuzten Doppelbildes c^c^ vom Fixa-
tionspunkt,
2. bei Fixation von a die Entfernung der beiden ungekreuzten
Doppelbilder b^b^ und c^c^ vom Blickpunkt und
3. bei Fixation von c die Tiefendistanz des einen gekreuzten
Doppelbildes a^a^ mit der des andern b^b^ vom Fixationspunkt ver-
glichen werden können.
Zur Ermöglichung quantitativer Einstellungen würde es dann nur
der geringen Modifikation bedürfen, daß, wenn im ersten Falle a und
b in konstanter Entfernung vom Beobachter sich befinden, c zum
Zwecke der Gleicheinstellung variabel gehalten wird, während im
zweiten und dritten Falle b in seiner Entfernung vom Beobachter
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1^2 Richard Arwcd Pfeifer,
variiert werden kann, bis die Tiefendistanzen a — c^c^ bzw. a^a^ — c der
Versuchsperson durch das Doppelbild 6^6^ von b halbiert erscheinen.
I. Versuchsgruppe.
In ra^ befindet sich der Fixationspunkt 6 (2 mm im Durchmesser),
in ra^ der Punkt a (5 mm Durchmesser) und in ra^ der Punkt c
(5 mm Durchmesser). Die Anordnung involviert durch den Gebrauch
von Glasplatten einen geringen Fehler; Punkt a (auf der dem Be-
obachter abgekehrten Fläche der Glasplatte befestigt) wird durch ein-
faches Salinglas hindurch, Punkt c (auf der dem Beobachter zuge-
kehrten Seite befestigt) durch zweifaches Salinglas hindurch gesehen.
Der dadurch bedingte Helligkeitsunterschied ist indes minimal.
Die Versuchsergebnisse waren ganz überraschende. Ist der
wirkliche Abstand der Objekte gegeben durch ad = dq so erscheint die
Doppelbilddistanz d — c^c^ um sehr viel größer als die Doppelbild-
distanz a^a^ — d. Wider Erwarten war aber der Unterschied zwischen
den beiden Doppelbildstrecken so groß, daß er durch Bewegen des
Objektes c in entgegengesetzter Richtung, also nach dem Beobachter
hin, nicht mehr ausgeglichen werden konnte und quantitative Versuche
dadurch unmöglich wurden. Die Rahmen ra^ und ra^ konnten ein-
ander, der als Fuß dienenden Holzklötze wegen, nur bis auf 14 cm
angenähert werden. Befindet sich aber Punkt a in etwa 50 cm Ent-
fernung vom Beobachter, so erweist sich dieser Abstand von 14 cm
zwischen den Objekten 6 und c unter allen Umständen, auch wenn
man den Balgen ra^ ra^ bis zu seiner vollen Länge auszieht, die
Distanz zwischen a und b also 150 cm beträgt, noch als zu groß,
um beim Vergleich der Doppelbildstrecken a^a^ — b und b — c^c^ den
Eindruck der Gleichheit zu haben '). — Nach unserem Ermessen kann
der Beweis, daß die Doppelbilder ihren Ort nicht in der scheinbaren
Feme des in Doppelbilder zerfällten, wirklichen Objektes haben,
glänzender kaum erbracht werden.
') Die Distanz ab noch weiter za vergrößern, schien uns deshalb nicht ratsam,
weil das Doppeltsehen dann Schwierigkeiten bereitet und jener Zwang zur Stereoskopie
wieder Einfloß gewinnt, den wir in allen Versnchen auszuschließen ans bemühten.
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über Tiefenlokalisation von Doppelbildern. ig^
2. Versuchsgruppe.
In d^ befindet sich der Fixationspunkt a (i mm Durchmesser), in
ra^ der Punkt b (5 mm Durchmesser) und in ra^ der Punkt ^ (10 mm
Durchmesser). Der Gebrauch von Glasplatten involviert hier keinerlei
Fehler, da Punkt b auf der dem Beobachter abgekehrten, c aber auf
der dem Beobachter zugekehrten Seite der entsprechenden Glasscheibe
befestigt ist.
Die vorgenommenen Versuche ergaben zunächst, daß sich die
Schätzungsbedingungen unter den gegebenen Verhältnissen psycho-
logisch äußerst schwierig gestalten. Wird b sehr dicht an a heran-
gerückt, so ist der Intensitätsunterschied zwischen den beiden Doppel-
bildern b^b^ und c^c^ so groß, daß b^b^ weit mehr als um die Hälfte
näher erscheint als c^c^\ versucht man alsbald die Distanz ab dem-
entsprechend zu vei^ößem, so erhält man den Eindruck einer Kontrast-
wirkimg in dem Sinne, daß die Doppelbilder unter sich aneinander
zu rücken scheinen und nun b^b^ als weit über der Mitte hinaus-
stehend geschätzt wird. Eine Versuchsperson äußerte sich dahin, daß
sie den Eindruck habe, als ob die Doppelbilder magnetisch wären
und sich gegenseitig anzögen. Was das Tiefenbewußtsein anbelangt,
so hat man die deutliche Vorstellung von einer sehr großen Tiefen-
distanz [a — b^b^ und dann noch von einer sehr großen Tiefendistanz
[a — r,r,), die uns größer dünkt als die erste; ein Urteil darüber aber,
wieviel der Unterschied beträgt, zu fällen, ist geradezu unmöglich. —
Diesen Schwierigkeiten zu begegnen haben wir nichts unterlassen.
Eine größere Annäherung an den psychologischen Tatbestand einer
»Distanzhalbierung« oder »Mitteneinteilung« erreichten wir dadurch,
daß wir dem Beobachter eine perspektivische Betrachtung der Punkt-
reihe a^ b^ c ermöglichten, indem die Lage des Fixationspunktes a
etwas tiefer, des Doppelbildes c^c^ aber etwas höher gewählt wurde
als der Ort, den jeweils das Doppelbild b^b^ einnahm. Die Versuchs-
methode erfuhr weiterhin die Modifikation, dem Beobachter vorerst
nur das äußerste Doppelbild c^c^ zu exponieren, um, ähnlich wie
oben bei der Ortsbestimmung für ungekreuzte Doppelbilder (vgl. S. 95),
das andere Doppelbild b^b^ erst später im Sehfeld auftauchen zu
lassen; die Versuchsperson kann sich dann nicht allein der Tiefen-
distanz des Doppelbildes c^c^ besser vergewissem, sondern wird auch
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iSa Richard Arwed Pfeifer,
vorbereitend bereits eine Vorstellung zu gewinnen versuchen können,
an welcher Stelle etwa das zweite Doppelbild b^ b^ auftauchen müßte,
um die Strecke a — c^c^ annähernd zu halbieren. Das Gefühl der
Sicherheit gewinnt dadurch ungemein; gleichwohl ist die Beurteilung
noch sehr schwierig. Unter Beobachtung dieser Kautelen ist es als-
dann bei großen Distanzen [ab = 65 cm, ^^ = 130 cm), weil das
entfernte Doppelbild sich nicht allzu deutlich vom mittleren abhebt,
noch schwer, zu sagen, ob die objektive Mitte scheinbare, Subjekte
Gleichheit ergibt oder nicht Bei kleineren Distanzen [ab = 20 cm,
ac = 40 cm) hingegen ist es absolut gewiß, daß, wenn ab = bc, die
Strecke a — c^c^ nicht halbiert erscheint, sondern die Objekte für schein-
bare Gleichheit eine Anordnung etwa im Verhältnis abibc =i ^: i
erfahren müssen.
3. Versuchsgruppe.
In ra^ befindet sich der Fixationspunkt ^, die beiden Punkte a
und b in ra^ und ra^. Alle drei Punkte haben einen Durchmesser
von 5 mm und sind so angeordnet, daß c höher, a aber tiefer in der
Medianebene gelegen ist als b.
Punkt a und b wird durch einfaches, Punkt c durch doppeltes
Salinglas hindurch gesehen.
Die Versuchsmethode ist so wie in der 2. Versuchsgruppe:
Das nähere Doppelbild (ö'jöa) wird zuerst allein exponiert, das mittlere
(b^b^) später eingeschaltet.
In diesen Versuchen konnte durchgängig eine Kontrasterscheinung
in dem Sinne konstatiert werden, daß die nicht fixierten Punkte, hin-
sichtlich ihres Tiefenabstandes voneinander, enger zusammentreten
und zwar so, daß der extremere Punkt den andern anzuziehen scheint.
Bei kleinen Distanzen ist das Phänomen weit eindringlicher als bei
großen. Unter keinen Umständen aber ergibt die objektive Mitte
[ab = bc) scheinbare Gleichheit beim Doppeltsehen. Das Doppelbild
a^a^ scheint im Vergleich zu dem zugehörigen Objekt 0: nach hinten,
das Doppelbild b^ b^ im Vergleich zu b sehr weit nach vom zu rücken,
während der Fixationspunkt c, wahrscheinlich auf Grund der Luft-
perspektive durch das Glas, in etwas größere Feme verlegt wird.
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über Tiefenlokalisation von Doppelbildern. ige
4. Kapitel
Lageveränderungen der Doppelbilder im Räume.
§ 19. Lrageveränderungen der Doppelbilder im Räume auf Grund
objektiver Faktoren.
Aus der Möglichkeit einer quantitativen Bestimmung des Ortes
der Doppelbilder fließt mit Notwendigkeit die Konsequenz hervor,
daß die Lokalisation der Doppelbilder eine bestimmte (konstant unter
konstanten äußeren Bedingungen) ist. Eine weitere Frage ist nun
die, wie die Lokalisation der Doppelbilder bei wechselnden äußeren
Umständen sich gestaltet. Es ergibt sich alsbald, daß bei Variation
der Versuchsbedingfungen auch Lageveränderungen der Doppelbilder
auftreten. So ist es eine hinreichend bekannte Erscheinung, daß beim
Heringschen Fallversuch nicht nur infolge der schwankenden Auf-
merksamkeit oder zu kurzer Expositionsdauer Fehler im allgemeinen
begangen werden, sondern auch objektiv die Bedingungen so her-
gestellt werden können, daß die Fehler nach einer bestimmten
Richtung hin ausfallen. Man erlebt z. B. die Täuschimg, daß die
Mehrzahl der Kugeln, auch von den hinten herabfallenden, vom
herabzufallen scheint, wenn der Fixationspunkt von solcher Größe
und Farbe ist, daß seine Helligkeit einen wirksamen Faktor abgibt
gegenüber der fallenden Kugel. Die hellere Kugel scheint dann, auch
wenn sie hinten herabfiel, vom zu fallen, weil, wie G. Hirth (25),
M. Pickert (36) und R. Fröhlich (11) betonen, bei gleicher Ent-
femung der reflektierenden Körper im allgemeinen hellere Lichter
als näher empfunden werden.
Oder man legt, wie es A. van der Meulen (32) und R. Greff (15)
taten, prismatische Gläser vor die Augen, deren Ablenkungswinkel
groß genug gewählt ist, um einen vor dem Fixationspunkt gelegenen
doppelt gesehenen Punkt auf nasalwärts gelegene Netzhautstellen
abbilden zu lassen im Vergleich zu den Bildpunkten des Fixations-
punktes. Alle Kugeln, auch die vom fallenden, scheinen dann hinten
herabzufallen, weil für das Auge objektiv ähnliche Bedingungen be-
stehen wie für ein ungekreuztes Doppelbild bei normalem Sehen.
Es haben endlich auch, unabhängig von Hering, M. Sachs (37)
und R. Fröhlich (11) experimentelle Veranstaltungen getroffen, aus
Digitized by VjOOQiC
l86 Ricliard Arwed Pfeifer,
denen hervorgeht, daß die Lokalisation der Doppelbilder bzw. deren
Halbbilder sich ändern kann auf Grund der Umgebung, in der sie
sich dem Beobachter präsentieren und ein Wechsel hier konsekutiv
einen Wechsel dort bedingt.
Ist sonach der Einfluß der Umstände, unter denen die Beobachtung
erfolgt, auf die Lokalisation der Doppelbilder unzweifelhaft, so war
es aber weiterhin für vorliegende Arbeit eine Frage von hohem
Interesse, ob es auch Bedingungen geben kann, unter denen Doppel-
bilder in der Ebene des Blickpunktes lokalisiert erscheinen, eine Frage
übrigens, die unsers Wissens Gegenstand einer wissenschaftlichen
Untersuchung noch nicht war. Die Lokalisation der Doppelbilder im
Horopter ist von den Gelehrten einerseits als Tatsache behauptet,
anderseits heftig bestritten worden. Nun kann aber streng genommen
eine Tatsache kein strittiger Punkt sein. Tatsachen, die auf Allge-
meingültigkeit Anspruch erheben, müssen auch der Beobachtung zu-
gängig sein, man muß sich von ihnen überzeugen können. Das war
aber damals gerade deshalb ausgeschlossen, weil auf seiten derer, die
die Möglichkeit der Doppelbilderlokalisation im Horopter behaupteten,
die Kenntnis jener Bedingungen fehlte, unter denen ihre Behauptung
der Nachprüfung stand hielt.
§ 20. Lageveränderungen der Doppelbilder im Räume auf
Grund subjektiver Faktoren.
Es wurde oben bereits dargetan, daß Hering die Möglichkeit,
Doppelbilder in der Ebene des Fixationspunktes zu lokalisieren, schon
aus theoretischen Gründen ausschließt Würden die Doppelbilder in
der Tiefe des Blickpunktes gesehen, so müßten gekreuzte Doppel-
bilder ungemein vergrößert, ungekreuzte überaus verkleinert erscheinen,
was aber nach Hering der Erfahrung widerstreitet. — Wir konnten
im Gegensatz hierzu nun allerdings konstatieren, daß zwischen dem
Doppelbild und dem in dieses Doppelbild zerfallten Objekte nicht
allein auffallende Größenunterschiede bestehen, sondern diese sogar
in dem von Hering geforderten Sinn ausfallen. Das Objekt erscheint
fiir gekreuzte Doppelbilder relativ vergrößert, ftir ungekreuzte sehr
viel verkleinert.
Auch die Behauptung von Donders, daß die Leere des Raumes
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über Tiefexilokalisation von Doppelbildern. 187
die Bedingung sei, unter welcher die Doppelbilder in der Ebene des
Blickpunktes erscheinen, kann nach dem gegenwärtigen Stand der
Untersuchung nicht mehr aufrecht erhalten werden. Der Doppel-
bilderapparat bietet im Sinne von Donders einen leeren Raum dar,
der außer dem Fixationspunkt und dem Hintergrund keinerlei Anhalts-
punkte gewährt und doch erfolgte die Lokalisation, je nach der Lage
des Blickpunktes, mit großer Sicherheit vor oder hinter demselben.
Wundt und Tschermak-Hoefer endlich behaupten die Lokali-
sation der Doppelbilder in der Tiefe des Blickpunktes als eine Modi-
fikation, die bei längerer Fixation eintritt. So gewiß nun auch diese
Modifikation nicht die notwendige Folge der Expositionsdauer an
sich sein kann, weil es, wie wir feststellen konnten, Beobachter gibt,
für die das Doppelbild, auch wenn es noch so lange exponiert bleibt,
eine Lageveränderung nicht erfahrt, so gewiß schienen uns die von
Wundt und Tschermak-Hoefer beschriebenen Beobachtungen im
Zusammenhang zu stehen mit jenen Störungen (vgl. oben S. 155) bei
der Ortsbestimmung der Doppelbilder am Apparat, die sich darin
äußerten, daß die Doppelbilder für Momente hinsichtlich ihrer Tiefen-
lokalisation etwas Vages und Schwebendes und Unbestimmtes an-
nahmen. Da aber nun in unseren Versuchen die äußeren Bedingungen
konstant waren, so kann das Phänomen seinen Grund nur im Be-
obachter selbst haben; damit war gleichzeitig die Richtung gekenn-
zeichnet, in der die weiteren Untersuchungen zu erfolgen hatten.
§ 21. Vorversuche.
I. Bei den Übungen im Doppeltsehen, denen wir oblagen, be-
nützten wir eine kleine Glasplatte, auf der ein Punkt von 10 mm
Durchmesser befestigt war; eine dahinter gehaltene Stricknadel diente
zur Fixation. Es gelingt leicht, das von dem Punkte herrührende
gekreuzte doppelseitige Doppelbild nicht auf der Glasscheibe zu
lokalisieren, sondern zwischen Nadel und Glas zu sehen. Neigt man
aber nun die Nadel etwas gegen das Licht, so daß ihre glänzende
Spitze einen intensiveren Ffacationspunkt abgibt, so steht das Doppel-
bild auf einmal zu beiden Seiten des Ffacationspunktes. Richtet man
jetzt die Nadel wieder auf, so ist der Eindruck folgender: in der
linken Hand hält man ein Stück Glas, dann kommt die von der
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l88. Richard Arwcd Pfeifer,
rechten Hand gehaltene fixierte und binokular einfach gesehene Nadel
und hinter dieser steht das Doppelbild des in Wirklichkeit auf der Glas-
platte befindlichen Punktes, d. h. es erscheint in diesem Fall ein
Doppelbild, das von einem Objekt vor dem Fixationspunkt
herrührt, hinter demselben. Das ganze Phänomen ist namentlich im
Anfang äußerst labil; die geringste Blickschwankung, ja schon das Ge-
räusch vom Öffnen einer Tür versetzt das Doppelbild an seinen alten
Ort vor dem Blickpunkt zurück. Hat man aber die Erscheinung nur
erst einmal gehabt, so ist sie auch leicht wieder zu erzeugen, und der
Versuch gelingt mit jeder Wiederholung immer besser. Man ist bald
auch in der Lage die Größenverhältnisse genauer studieren zu können
und findet, daß die Halbbilder, sobald sie hinter den Fixationspunkt
treten, stark vergrößert erscheinen und weit verschwommenere Um-
risse aufzeigen. Diese Tatsache gibt der Vermutung Raum, daß nicht
allein die Akkommodation dabei im Spiele ist, sondern auch die
gleichfarbige Induktion größeren Einfluß zu gewinnen scheint, während
außerdem, wenn eine das Phänomen stets begleitende eigenartige
Empfindung im Auge als Kompensationsdruck gedeutet werden darf,
auch Konvergenzantagonismen wirksam zu werden scheinen.
2. Der bei Hering (Beiträge zur Physiologie, 5. Heft, S. 340)
beschriebene Versuch wird wiederholt und bestätigt gefunden: > Halte
ich eine Stecknadel nahe vors Gesicht und fixiere sie symmetrisch,
halte ferner einen feinen, schwarzen Draht ein wenig nach links von
der linken Gesichtslinie, aber näher als die fixierte Nadel . . ., so sehe
ich zunächst... die beiden Trugbilder des näheren Drahtes zwar ge-
sondert, aber beide näher als die fixierte einfach erscheinende Nadel.
Fixiere ich aber anhaltend fest und konzentriere ich meine ganze
Aufmerksamkeit möglichst auf die fixierte Stecknadel, so tritt das eine,
dem linken Auge angehörige Trugbild plötzlich hinter die Stecknadel.
Die Erscheinung tritt gerade dann am sichersten ein, wenn ich am
wenigsten daran denke. Die geringste Schwankung des Blickes aber,
oder auch nur der Gedanke an das zweite, näher erscheinende Trug-
bild versetzt das andere sogleich wieder vor die Kemfläche.« —
Helmholtz, der diesen Versuch gleichfalls nachprüfte, erklärt das
Gelingen desselben aus dem Entstehen negativer Nachbilder (vgl.
Physiol. Optik, S. 965 f.).
Nach Kenntnisnahme vorstehender Versuche dürfte man sich der
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Ober Ticfenlokalisation von Doppelbildern. i8q
Überzeugung nicht mehr verschließen können, daß es tatsächlich
subjektive Faktoren g^bt, die unabhängig von den sonstigen äußeren
Bedingungen Lageveränderungen der Doppelbilder herbeiführen
können. Es zeigte sich aber auch im weiteren Verlaufe der Versuche,
daß man es in der Erzeugfung solcher Lageveränderungen durch
Übung zu einer überaus großen Fertigkeit bringen und die im Seh-
organ sich zweifelsohne dabei vollziehenden Veränderungen fast voll-
ständig in seine Gewalt bekommen kann, um sie dann willkürlich
herbeizuführen. Es gelingt alsdann, nicht allein ein gekreuztes Doppel-
bild hinter dem Blickpunkt oder ein ungekreuztes vor diesem zu
sehen, sondern man kann auch von dem gekreuzten Doppelbild nur
das eine Halbbild nach hinten verlegen, während das andere vom
bleibt, und umgekehrt von einem ungekreuzten Doppelbild nur das
eine Halbbild nach vorn versetzen, indes das andere seinen Ort hinter
dem Fixationspunkt beibehält. Bringt man im Doppelbilderapparat
hinter oder vor dem Fixationspunkt in verschiedenen Abständen vom
Beobachter eine Anzahl Punkte an, so ist es in der Tat eine über-
raschende Erscheinung, wie man die einzelnen Halbbilder gleich Bällen
im Räume willkürlich umherwerfen kann.
§22. Terminologie.
Im Interesse einer besseren Charakteristik der Beobachtungen
dürfte es wünschenswert erscheinen, eine Vereinbarung zu treffen über
die zu gebrauchende Terminologie.
T. Als Tiefenvariation eines Doppelbildes bezeichnen wir alle
Lageveränderungen, welche dieses bei gleichbleibenden äußeren Be-
dingungen eingeht auf Grund von zentral oder peripher ausgelösten
Vorgängen im beobachtenden Subjekt.
2. Den Spezialfall von Tiefenvariation, wo das Doppelbild von
einem vor dem Blickpunkt gelegenen Gegenstand hinter diesem und
vice versa das Doppelbild eines Gegenstandes hinter dem Fixations-
punkt vor demselben lokalisiert erscheint, nennen wir Tiefen-
inversion.
3. Die Lokalisation eines Doppelbildes in der Ebene des Blick-
punktes bildet den Grenzfall der Tiefeninversion und ist ein weiterer
Spezialfall der allgemeinen Tiefenvariation.
Digitized by VjOOQIC
IQO Richard Arwed Pfeifer,
4. Scheint endlich das eine Halbbild des Doppelbildes vor, das
andere aber hinter dem Fixationspunkt zu stehen, so kann das eine
partielle Inversion dieses Doppelbildes genannt werden.
Versuche am Apparat.
Die Versuche am Doppelbilderapparat setzen sich die Beantwortung
folgender Fragen zum Zweck:
1. Wo d. h. an welchem Ort im Räume können Doppelbilder auf
Grund eintretender Tiefenvariationen gesehen werden?
2. Welche Veränderungen gehen bei den Tiefenvariationen am
Doppelbildeindruck vor sich?
3. Welche Umstände erleichtern oder erschweren den Eintritt einer
Tiefenvariation ?
§ 23. Tiefenvariationen und speziell Inversionen bei symmetrisch
zur Medianebene gelegenen gekreuzten Doppelbildern.
Die Spaltöffnung rechts seitwärts am Würfel ist geschlossen; der
Spiegel wird aus dem Würfel entfernt. In d^ befindet sich ein
Diaphragma von 4,5X6,2 cm Größe. Der Fixationspunkt ist in ra^
angebracht und hat 5 mm im Durchmesser; der in em Doppelbild
zerfällte Punkt (16 mm Durchmesser) befindet sich in ra^. Beide Punkte
liegen auf der horizontalen Orientierungslinie. Achten wir zunächst auf
den Ort, an welchem das Doppelbild gesehen werden kann, so ergibt
sich folgendes:
I. Beim ersten Anblick präsentiert sich das Doppelbild dem Be-
obachter in seiner normalen Tiefenlokalisation, wie sie oben quantitativ
bestimmt wurde. Diese Lokalisation ist eine vor allen andern aus-
gezeichnete einmal dadurch, daß sie große Stabilität besitzt Für die
Mehrzahl der Beobachter, denen die Tatsache der Inversion unbe-
kannt ist, scheint das Doppelbild diesen Ort nie oder doch nur in
Ausnahmefällen und momentan zu verlassen'^); aber auch für Be-
obachter, die im Invertieren geübt sind, ist dieser Ort gekennzeichnet
*) Herr Dr. Moore hat am Apparat im Verlauf vt)ii zwei Semestern gegen
1000 Gleicheinstellongen vollzogen, ohne daß ihm — wir haben es absichtlich ver-
mieden, ihn darin zu üben — das Phänomen der Inversion bekannt geworden wäre.
Ebenso blieb diese Erscheinung den Herren Dr. Reuther und cand. philos. Hoff-
mann bis zur letzten Gleicheinstellung fremd.
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Ober TiefeDlokalisation von Doppelbildern. igi
durch die Beharrlichkeit, mit der er vom Doppelbild behauptet wird
und die starke Tendenz dislozierter Doppelbilder, in diese Ausgangs-
stellung zurückzukehren. Zum andern ist aber auch der gesamte
Totaleindruck iiir diese Lokalisation charakteristisch. Die beiden
Halbbilder sind zwar größer als das binokular einfach gesehene Ob-
jekt, lassen aber in bezug auf die Farbenintensität kaum einen Unter-
schied erkennen und haben noch relativ scharfe Konturen, — bei
dislozierten Doppelbildern ist das anders.
2. Das Doppelbild ist invertiert und scheint seinen Ort auf dem
Hintergrund h-h zu haben. Die Halbbilder erscheinen dann stark
vergrößert, sind viel heller und zeigen so verschwommene Umrisse,
daß man meint, sie seien von einer Dunstzone umgeben. Beim
Schließen der Augen läßt sich eine stark simultane Induktion an den
kräftigen, negativen Nachbildern erkennen.
3. Das Doppelbild hat seinen Ort zwischen Hintergrund und
Fixationspunkt. Diese Lokalisation ist sehr selten und muß als
metalabil bezeichnet werden, weil es nur für Momente gelingt, das
Doppelbild dort festzuhalten. Das Urteil eines Beobachters lautete:
»Jetzt eben stand das Doppelbild dicht vor dem Hintergrund«.
4. Die Halbbilder erscheinen in gleicher Tiefe mit dem Fixations-
punkt. Dieser Eindruck ist leicht zu erzeugen und hält der Be-
obachtung sehr lange stand; er besitzt unter allen Tiefenvariationen
die geringste Labilität.
5. Das Doppelbild ist teilweise invertiert: Das eine Halbbild steht
vor, das andere hinter dem Fixationspimkt, Das näherstehende Halb-
bild erscheint dabei kleiner, schwärzer und schärfer umrandet.
6. Die Doppelbilder erscheinen in einer zweiten Etappe lokalisiert:
dem Fixationspunkt näher, aber noch davor. Diese Variation ist eine
metalabile, an der Verschwommenheit der Konturen aber noch deut-
lich als solche zu erkennen.
7. Es ist xms nie gelungen, das Doppelbild in den Spalt [d^) zu
verlegen.
8. Bewegt man die Glasplatte, welche das in ein Doppelbild zerfälltc
Objekt trägt, in vertikaler Richtung auf und ab, während das Doppel-
bild invertiert ist, so scheinen sich die invertierten Halbbilder an
ihrem jeweiligen Ort (Hinterg^nd, Ebene des Fixationspunktes usw.)
in einer senkrechten Ebene zu bewegen.
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IQ2 Richard Arwed Pfeifer,
An den Anhaltspunkten im Räume, die der Doppelbildcrapparat
dem Beobachter für die Tiefenlokalisation gewährt, nämlich dem an
der Rückwand des Würfels befindlichen Spalt, dem Hintergrund und
dem Fixati onspunkt, konnten wir während der Inversion nur an dem
letzteren eine auffallende Ändenmg bemerken: der Fixationspunkt
wird bei eintretender Tiefeninversion an den Beobachter merklich
herangedrückt.
Inversionen werden durch momentane Exposition ver-
hindert und durch die Möglichkeit längerer Fixation be-
günstigt; sie werden durch einen sehr kleinen Fixationspunkt er-
schwert, durch einen größeren, von dem in Doppelbilder zerfallten
Objekt indes verschieden großen Fixationspunkt erleichtert
Die Lageveränderung, die das Doppelbild durch Inversion erfahrt,
ist eine plötzliche und sprungweise; die Veränderung im Aussehen
der Halbbilder dagegen ist eine kontinuierliche: die Punkte scheinen
sich rasch aufzublähen — dann stehen sie plötzlich hinter dem
Fixationspunkt; sie schwinden alsdann wieder rasch zusammen, wobei
sie an Intensität gewinnen und schärfere Umrisse annehmen — dann
stehen sie mit einem Ruck wieder vorn.
§ 24. Tiefenvariationen und speziell Inversionen bei symmetrisch
zur Medianebene gelegenen imgekreuzten Doppelbildern.
Die Spaltöffnung d^ ist geschlossen, der Spiegel aus dem Würfel
entfernt Der in ein Doppelbild zerfallte Punkt (16 mm Durchmesser),
mit dem Fixationspunkt auf der horizontalen Orientierungslinie liegend,
befindet sich in ra^,
I. Ein winzig kleiner Fixationspunkt wird im Diaphragma d^ an-
gebracht.
Außer der normalen Lokalisation des Doppelbildes weit hinter
dem Ffacationspunkt und dem doppelt gesehenen Objekt konnten wir
konstatieren:
1. Die Lokalisation des Doppelbildes in einer zweiten Etappe,
näher dem Fixationspunkt, aber noch hinter diesem (etwa in der Tiefe
des in Halbbilder zerfallten Objektes),
2. Die Lokalisation der Halbbilder zu beiden Seiten des Fixations-
punktes im Spalt,
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Ober Tiefenlokalisation von Doppelbildern. igi
3. In einigen wenigen Fällen sogar vor dem Spalte innerhalb des
Würfels. Dabei scheint der Fixationspunkt vom Beobachter weg-
gedrückt zu werden.
n. Ein größerer Fixationspunkt (5 mm Durchmesser) wird in d^
befestigt.
Eine Erleichterung der Inversionen ist sofort zu bemerken. Bei
eintretender Tiefenvariation wird der Fixationspunkt alsdann in größere
Ferne verlegt imd erscheint deutlich vergrößert.
IQ. Der Fixationspunkt ist 40 cm hinter dem Spalt in ra^ be-
festigt; der in Halbbilder zerfallte Punkt wird dementsprechend weiter
weggerückt
1 . Das Doppelbild erscheint jetzt in einer neuen Etappe zwischen
Fixationspunkt und Spalt und zwar um ein Dritteil der Distanz näher
am Fixationspunkt.
2. Das Doppelbild wird weniger leicht in die Ebene des Fixations-
punktes (obwohl es auch dort gesehen werden kann) verlegt, dafür
aber um so leichter in den Spalt.
3. Bei dieser Lage des Fixationspunktes gelingt es um keinen
Preis, das Doppelbild vor dem Spalt, also im Würfel drin, zu sehen.
In allen Fällen steht das invertierte Doppelbild nicht so weit vor
dem Fixationspunkt als es ehedem, bei normaler Lokalisation, hinter
diesem lokalisiert zu sein schien ; die Halbbilder auf den Hintergrund
zu verlegen, konnte durch keinerlei Variation erreicht werden.
Zu den Veränderungen, die der Gesamteindruck des Doppelbildes
bei der Tiefeninversion erfährt, ist zu bemerken, daß diesfalls die
Halbbilder verkleinert, an Intensität heller und in ihren Konturen ver-
waschener erscheinen; das Phänomen ist aber hier bei weitem nicht
so eindringlich wie bei der Tiefeninversion gekreuzter Doppelbilder.
5. Kapitel.
§ 25. Zur Theorie der Tiefenlokalisation von Doppelbildern.
Nach der Problemstellung hat eine erklärende Zusammenfassung
der Ergebnisse vorliegender Arbeit den Versuch zu machen, die
Tiefenlokalisation der Doppelbilder aus den Raumfaktoren zu ent-
wickeln, die das normale Einfachsehen bedingen. In gewissem Sinne
scheint dieser Weg in der Tat mit Erfolg beschritten werden zu
Wunde, Psychol. Stadien 11. 13
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IQ4 Richard Arwed Pfeifer,
können. Helmholtz weist wiederholt darauf hin, daß für deutlich
getrennte Doppelbilder hinsichtlich ihrer Tiefenlokalisation ähnliche
Bedingungen Platz zu greifen scheinen, wie sie für das monokulare
Einfachsehen bestehen. Durch einen größeren Abstand der Halb-
bilder eines Doppelbildes voneinander werden wir frei von dem Zwang,
sie stereoskopisch vereinigen zu müssen; damit hört aber gleichzeitig,
so sagt Helmholtz, die binokulare Tiefenwahmehmung ganz auf;
»man kann die wahre Entfernung des ferneren G^enstandes gar nicht
mehr erkennen und daher nur, wie beim monokularen Sehen, seine
scheinbare Größe mit der scheinbaren des fixierten Objektes ver-
gleichen, und als Maßstab für beide die durch zweiäugiges Sehen
bestimmte wahre Größe des letzteren benützen, wobei dann natürlich
die danüt verglichene Größe des entfernten viel zu klein ausfallen
muß {22)^)*,
Fixiert man seinen Finger, während die Aufmerksamkeit gleich-
zeitig einer gegenüberliegenden Häuserreihe zugewandt ist, so wechseln
die Häuser ihre scheinbare Größe, je nachdem das Fixationsobjekt in
größere oder geringere Feme vom Gesicht gehalten wird. »Entfernt
man den Finger, so nimmt die Winkelgröße des Fingers ab, relativ
zu ihm wird die Winkelgröße der Häuser also größer, und wir brauchen
den Finger als konstanten Maßstab, da dessen lineare Größe und
Entfernung fortdauernd deutlich wahrgenommen wird, die der ent-
fernten Häuser aber nicht (23)')«. Was Helmholtz zunächst darzu-
legen beabsichtigt, ist klar: dem monokularen Einfach- und bino-
kularen Doppeltsehen sind Größentäuschungen gemeinsam! Wir
können aber nun von der Relation der Gesichtswinkelgrößen leicht
zu einem Tiefenbewußtsein gelangen, wenn wir eine deutliche Vor-
stellung von der wirklichen Größe des zu schätzenden Objektes be-
sitzen. Diese Kenntnis wird aber dadurch vermittelt, daß wir einen
Füiger und ein Haus, in gleichen Abständen vom Beobachter be-
findlich, miteinander vergleichen können. Bewegt man nun, wie oben
beschrieben, den als Fixationsobjekt fungierenden Finger von sich
weg oder auf sich zu, so kann die Relation der beiden Gesichts-
winkelgrößen eine doppelte Deutung erfahren: entweder die Häuser
1. c. 27.
1. c. 869.
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über Tiefenlokalisation von Doppelbildern. 1^5
werden bald größer, bald kleiner vorgestellt — dann werden sie in
ungeänderter Entfernung gesehen, oder aber die Häuser werden in
ihrer wirklichen, also konstanten Größe gedacht — dann werden sie
dem Beobachter in wechselnder Tiefe erscheinen müssen. Das Pro-
dukt aus Tiefenbewußtsein und Größenbewußtsein ist danach immer
annähernd eine Konstante. Für das monokulare Sehen hat Hering
neben der Größentäuschung auch diese Tiefentäuschung schon be-
obachtet. Wir zitieren von ihm die nachstehenden beiden Versuche.
Zunächst die Größentäuschung; »Wenn ich von meinem Arbeits-
tische aufsehe, steht mir ein Schrank gegenüber, dessen Größe mir
selbstverständlich annähernd bekannt ist. Halte ich mm meine Hand
8 Zoll vor ein Auge, während das andere geschlossen ist, und be-
wege sie nicht zu schnell, so daß mein Auge ihr folgen kann, gerade
vorwärts bis auf 24 Zoll Entfernung, indem ich meinen Blick auf sie
hefte, so sehe ich den etwa 8 Ellen von meinem Auge entfernten
Schrank deutlich größer werden; führe ich die Hand in ähnlicher
Weise zurück, so schrumpft er wieder zusammen (16) *)«.
Nun wird weiterhin aber auch die Tiefentäuschung beobachtet:
»Wenn ich mich vor einem großen Spiegel so aufstelle, daß ich ihn
eben noch mit der Hand erreichen kann, dann ein Auge bedecke und
zwischen das andere und das Spiegelbild meines Gesichts eine Hand
bringe, so scheint mir diese Hand, wenn ich sie zwischen Spiegel
imd Gesicht hin- und herführe, abwechselnd größer und kleiner zu
werden, während ich das von meiner Hand teilweise bedeckte Spiegel-
bild meines Kopfes betrachte. Sammle ich aber meine Aufmerk-
samkeit fast ganz auf der Hand, während ich gleichwohl meinen Kopf
im Spiegel nebenher leicht beachte, so scheint mir derselbe, wenn
die Hand sich meinem Auge nähert, zwar nicht gerade kleiner zu
werden, wohl aber sich entsprechend vom Spiegel zu entfernen;
kommt dagegen die Hand zum Spiegel zurück, so kommt auch das
Spiegelbild meines Kopfes wieder näher')*«
So gewiß mm auch die Helmholtzsche Vermutimg bezw. An-
nahme, die Gesetzmäßigkeiten des monokularen Einfachsehens mutatis
mutandis auf das binokulare Doppeltsehen übertragen zu können,
^) 1, c. I, 16.
«) L c. I, 18.
13*
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iq6 Richard Arwed Pfeifer,
gerechtfertigt zu sein scheint, so gewiß ist es aber auch, daß speziell
bei der Tiefenlokalisation der Doppelbilder das Tiefen-
bewußtsein im Wesentlichen nicht aus dem Größenbewußt-
sein abgeleitet sein kann. Aus drei Gründen:
1. Die bei der Lokalisation von Doppelbildern beobachtete Tiefen-
täuschung besteht, wenn auch nicht in vollem Umfange, so doch
eindringlich genug fort für den Fall, daß man überhaupt kein Fixa-
tionsobjekt benützt, sondern durch einfaches Schielen die Gesichts-
linien auf einen vor dem zu schätzenden Objekt gelegenen, imaginären
Fixationspunkt einstellt.
2. Die Tiefenschätzung auf Grund der relativen Größenschätzung
nach dem Gesichtswinkel muß sich notgedrungen beschränken auf
bekannte Objekte. In unsem Versuchen über die Tiefenlokalisation
von Doppelbildern aber konnte dargetan werden, daß das, was den
Tiefenort bestimmen soll, nämlich die deutliche Vorstellung der Größe
des wirklichen in Doppelbilder zerfällten Objektes, dem Beobachter
vollständig fehlte.
3. Verhütet man es, daß die Versuchsperson das in Doppelbilder
zerlallte Objekt vorher stereoskopisch einfach sieht, so wählt diese,
wenn sie veranlaßt wird, die wirkliche Objektgröße nach dem Doppel-
bildeindruck zu schätzen, aus einer ihr dargebotenen Serie von Punkten
stets einen zu großen Punkt aus (vgl. Tabelle II, 13, S. 168) d. h. im
Anschluß an die von uns beobachtete Tiefentäuschung tritt eine
Größentäuschung in Erscheinung entgegengesetzt verschieden von
derjenigen, wie sie auf Grund der Gesichtswinkeltäuschung beo-
bachtet wird.
Wir schließen daraus, daß die Tiefentäuschung bei der Lokali-
sation von Doppelbildern mit der in Rede stehenden Gesichtswinkel-
täuschimg in gar keinem oder doch nur losem Zusammenhang steht
Immerhin aber dürfte es bemerkenswert sein, daß die Konsequenz
der Gesetzmäßigkeit, die wir fanden (scheinbare absolute Vergröße-
rung des Objekts), unter Umständen versteckt erscheinen kann hmter
jenem Nebenerfolg der relativen Schätzung nach dem Gesichtswinkel.
Die Helmholtz-HeringscheBeobachtung über die Größentäuschung
zeigt nämlich, daß ein bekanntes Objekt, unter denselben Bedingungen,
unter denen die Tiefentäuschung und ihre Konsequenz eintreten muß,
sogar unterschätzt wird in seiner schembaren absoluten Größe. Die
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über Tiefenlokalisation von Doppelbildern. igy
Überdeckung der Konsequenz der Tiefentäuschung durch die GröOen-
täuschung bei bekannten Objekten hat offenbar die völlig selbständige,
von Größenschätzung unabhängige Tiefenschätzung vollständig über-
sehen lassen. Hering erwähnt die Tiefentäuschung neben der
Größentäuschung, ohne indes auf die theoretische Begfründung näher
einzugehen. — Es war aber die weitere Gefahr vorhanden, die
Größentäuschung, welche die Konsequenz der von uns beobachteten
Tiefentäuschung überdeckt, sogar ihrerseits mit dieser für identisch
zu halten; denn nachdem einmal die vollständig selbständig begründete
Größentäuschung das Objekt (absolut) kleiner erscheinen läßt, konnte
man annehmen, daß dadurch eine Tiefentäuschung in dem Sinne
entstehe, daß durch eine Verwechslung von absoluter und relativer
scheinbarer Größe das Objekt in größere Ferne verlegt werde. Viel-
leicht — einige Äußerungen deuten darauf hin — hat Helmholtz
tatsächlich die auch bei bekannten Objekten vorhandene, wirkliche
Vergrößerung der scheinbaren Tiefe nicht nur beobachtet, sondern
theoretisch in dieser Weise sich auch zu erklären versucht, während
aus unserer ganzen Betrachtung erhellen wird, daß die scheinbar
größere Entfernung des bekannten Objektes nur die restierende
Täuschung auf völlig selbständiger Grundlage darstellt, die sogar alle
ihr entgegen gerichteten Einflüsse der Schätzimg nach dem relativen
Gesichtswinkel zu überwinden imstande ist.
Bisher sind aber nun auch alle weiteren Versuche gescheitert, die
Phänomene des Doppeltsehens aus bekannten Raumfaktoren einwand-
frei abzuleiten. Es könnte naheliegend erscheinen, die Veränderung
der dioptrischen Präzision für außerhalb der Ffacationsebene befindliche
Reize für die Tiefentäuschung beim Doppeltsehen verantwortlich zu
machen. In der Tat würden die Akkommodationsunterschiede nicht
allein eine Verschiebung sämtlicher nicht fixierter Objekte in die
Tiefe erklären, sondern vielleicht auch die objektiv richtigere Auf-
fassung der räumlichen Anordnung von Objekten vor dem Fixations-
punkt wegen der relativ geringen Verschwommenheit begreiflich er-
scheinen lassen. Ein Widerspruch bildet sich indes heraus, wenn
man sein Augenmerk darauf richtet, inwieweit z. B. für imgekreuzte
Doppelbilder (bei zunehmender Entfernung vom Fixationspunkt) die
Zunahme der Tiefentäuschung mit der Zunahme des Grades der
Verschwonmienheit gleichen Schritt hält. Es ergibt sich alsdann,
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iq8 Richard Arwed Pfeifer,
daß die Tiefentäuschung anfangs langsam und später sehr rasch zu-
nimmt, während es sich mit der Zunahme der Zerstreuungskreisc
gerade umgekehrt verhält. Die Schwierigkeit dieser Ableitung aus
den rein dioptrischen Verhältnissen läßt darum auf weitere psycho-
logische Ursachen schließen, deren Kenntnis uns heute noch mangelt.
Müssen wir also zurzeit noch darauf verzichten, unsere Arbeit
durch eine umfassende Theorie abzxischließen, so glaubten wir doch,
das von uns gesammelte Tatsachenmaterial der Öffentlichkeit nicht
länger vorenthalten zu dürfen. Eine nachträgliche Ergänzung unserer
Abhandlung in theoretischer Hinsicht behalten wir uns indes für später
vor und hoffen eine solche in allernächster Zeit schon beibringen zu
können, da speziell auf die Gewinnung einer Theorie gerichtete Ver-
suche bereits in Angriff genommen worden sind.
Was die theoretische Begründung der Tiefenunterschiede
unter den Halbbildern ein und desselben Doppelbildes
betrifft, so werden wir uns hier auf das kürzeste fassen können, da
dieses Phänomen schon vielfach Gegenstand wissenschaftlicher Unter-
suchung gewesen ist
In unserer eigenen Arbeit haben wir zunächst versucht, so weit
sich dazu die Gelegenheit bot, das Beobachtungsmaterial durch Bei-
träge zu vermehren. In theoretischer Hinsicht bemerken wir hierzu,
daß neben andern Faktoren vor allem den verschiedenen Bedingungen
des Wettstreites der Sehfelder, wie sie durch die zentrale bzw. ex-
zentrische Lage der Bildpunkte eines Halbbildes auf der Netzhaut
gegeben sein können, ein bisher wenig beachteter Einfluß zuzukommen
scheint. Die Bedingungen für binokulare Mischung sind offenbar in
der fovea centralis am günstigsten; daher mischt sich denn auch im
Grenzfall von einseitigen und doppelseitigen Doppelbildern das Schwarz
des median gelegenen Halbbildes leicht mit dem Braun des Hinter-
grundes, wodurch das Halbbild ein helleres und gleichzeitig ver-
wascheneres Aussehen erhält. Für das exzentrisch gelegene Nctz-
hautbüd des andern Halbbildeindruckes dagegen besteht ein wirklicher
Wettstreit der Sehfelder, in welchem auf Grund der Herrschaft von
Konturen das Halbbild Sieger bleibt. Infolge der schärferen Um-
randung hebt CS sich deutlicher vom Hintergrund ab und erscheint
eben wegen der damit gegebenen Kontrastwirkung alsdann auch
intensiver und deshalb näher.
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über Tiefenlokalisation von Doppelbildern. iqq
Durch ein eingehendes Studium der Tiefenvariation^n beim
Doppeltsehen sind wir befähigt worden, zwischen den soweit aus-
einandergehenden Ansichten über die Möglichkeit einer Lokalisation
der Doppelbilder im Horopter eine vermittelnde Stellung einnehmen
zu können. Nach der individuell stark verschiedenen Disposition der
Beobachter zu Tiefeninversionen beim Doppeltsehen muß es begreif-
lich erscheinen, daß sich tatsächliche Beobachtungen bis heute schein-
bar als Widersprüche gegenüberstehen konnten. Gleichwohl ist das
Phänomen der Doppelbild -Tiefenvariation nicht ein Vorzug einiger
weniger Beobachter, sondern durch Übung jedermann in ähnlicher
Weise zugänglich, wie etwa die Umkehrtäuschungen bei geometrisch-
perspektivischen Figuren, mit denen wir auch jene Doppelbild-
inversionen am ehesten vergleichen möchten. Ihre Labilität läßt sie
ims am besten als momentane Störung der normalen Lokalisation
charakterisieren. Der Versuch Herings einer nativistischen Er-
klärung der schon von ihm beobachteten Erscheinimg einer partiellen
Inversion (siehe oben S. i88, 2!) aus den »Raumgefühlen der Netzhäute
hat sich für die Ableitung der räumlichen Lage einseitiger Doppel-
bilder als unzulänglich erwiesen. »Die beiden Trugbilder eines ein-
seitigen d. h. auf entsprechenden Netzhauthälften liegenden Doppel-
bildes haben — nach dem Theorem vom Ortssinn der Netzhaut —
entgegengesetzte Tiefenwerte, d. h. das eine müßte der Theorie nach
vor, das andere hinter der Kemfläche erscheinen ... Es ist vom
höchsten Interesse« fahrt Hering fort »imd war mir ein zwingender
Beweis für die wesentliche Richtigkeit der oben entwickelten Theorie,
daß ich die einseitigen Doppelbilder bei ganz fester Fixation wirklich
so sehe, wie es die Theorie erfordert. Es handelt sich hierbei nicht
um einen Einfluß der Reflexion, sondern die Erscheinung tritt auch
gegen meine Intention ein und oft, wenn ich es am wenigsten er-
warte . . . (lö)*)« Hierauf folgt die Beschreibung jenes von uns
(S. 188, 2) zitierten Versuches, bei welchem Hering eine charak-
teristisch normale partielle Tiefeninversion eines Doppelbildes erlebt.
Trotz der großen Labilität des Phänomens hält Hering diese partielle
Inversion für die normale Lokalisation des Doppelbildes und umge-
kehrt die durch große Konstanz ausgezeichnete wirklich normale
') 1. c. V, 340.
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200 Richard Arwed Pfeifer,
Lokalisation des Doppelbildes flir eine durch störende Einflüsse
modifizierte, während durch die Ergebnisse vorliegender Arbeit ge-
nugsam bewiesen sein wird, daß die nach der nativistischen Theorie
a priori zu erwartende Lokalisation der Halbbilder eines einseitigen
Doppelbildcs sich als eine, nur momentan bestehende, partielle Tiefen-
inveision erweist, und eine Lokalisation entgegengesetzt der zu er-
wartenden als die normale betrachtet werden muß. Aber auch der
von Helmholtz unternommene Versuch, die von Hering beobachtete
Inversion aus dem Entstehen negativer Nachbilder zu erklären, muß
als unzulänglich bezeichnet werden, schon deshalb, weil man — ent-
sprechende Übung vorausgesetzt — Tiefeninversionen beim Doppelt-
sehen in jedem Augenblick willkürlich eintreten lassen kann. Ein
energisches Hineinversetzen in eine bestimmte Tiefenvorstellung ge-
nügt, um den Sinneseindruck momentan entsprechend abgeändert
erscheinen zu lassen.
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Doppeltsehen c zwei Werke namhaft: »Lucas Din, de visione quae oculo fit gemino,
Jen. 1714« und »Wedel, de visione quae oculo fit gemino, in HaUeri disputat.
select. T. IV.«, die sich beim Nachsehen als ein und dasselbe Schriftstück erweisen;
Joh. Ad.Wedel war im Sommersemester 17 14 Dekan, Lucas Din Doktorandus an
der Universität Jena.
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Inhaltsübersicht.
1. Kapitel: Historische Übersieht. g^.^^
§ I. Einleitiing 129
§ 2. Die bisherigen Versuche der Lösong des Problems vom Tiefenorte der
Doppelbilder 129
$ 3. Kurzgefaßte Znsammenstellmig der bisherigen Ergebnisse 146
8. Kapitel: VorbemerkoDgen und erste Versnohsergebnisse.
i 4. Die Problemstellnng 147
§ 5. Terminologie 148
§ 6. Vonrersüche nnd ihre Ergebnisse 149
$ 7. Methodische Gnmdlegimg 151
S 8. Beobachtete Kantelen 153
§ 9. Die provisorische Versuchsanordnmig nnd die ersten Ergebnisse einer
quantitativen Ortsbestimmung lUr ungekreuste Doppelbilder 157
8. Kapitel: Die exakte Ortsbestimmang für Doppelbilder
am Apparat.
§ 10. Der Doppelbilderapparat 158
I.
§ II. Qualitative Ortsbestimmung für ungekreuste Doppelbilder
am Apparat 164
$ 12. Quantitative Ortsbestimmung für ungekreuzte Doppelbilder am Apparat 166
i 13. Der Grenzfall von einseitigen und doppelseitigen Doppelbildern ... 172
i 14. Ergebnisse 173
n.
$ 15. Qualitative Ortsbestimmung für gekreuzte Doppelbilder am
Apparat 174
§ 16. Quantitative Ortsbestimmung fUr gekreuzte Doppelbilder am Apparat . 175
§ 17. Ergebnisse 175
m.
§ 18. Vergleich zweier durch Doppelbilder abgegrenzter Tiefen-
distanzen durch Gleicheinstellungsversuche am Apparat ... 181
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4. Kapitel: Iiageveranderungen der Doppelbilder im Baume«
§ 19. Lageverändernngen der Doppelbilder im Ranme anf Gmnd objektiver
Faktoren 185
§ 20. Lageverändenmgen der Doppelbilder im Räume anf Gmnd subjektiver
Faktoren 186
§ 21. Vorversuche und ihre Ergebnisse 187
§ 22. Terminologie 189
§ 23. Tiefenvariationen und speziell Tiefeninversionen bei symmetrisch zur
Medianebene gelegenen, gekreuzten Doppelbildern 190
§ 24. Tiefenvariationen und speziell Tiefeninversionen bei symmetrisch zur
Medianebene gelegenen, ungekreuzten Doppelbildern 192
5« Kapitel: § 25. Zur Theorie der TiefenlokaliBation von Doppel-
bildern 193
liiteratomaohweiB 200
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Die Theorie der Konsonanz.
Sine psychologische Auseinandersetzung vomehnüich mit
C. Stumpf und Th. Lipps.
(Fortsetzung.)
Von
Felix SLru^er.
Der bisher erschienene erste Teil dieser Arbeit ') hatte es mit
«lethodischcn imd allgemeinpsychologischen Fragen zu tun, deren
Erörterung beim gegenwärtigen Stande des Konsonanzproblems ge-
fordert schien. Wie schon angekündigt, sollen jetzt im Zusammen-
hange alle die Einwände und Bedenken zur Sprache kommen, die
speziell gegen meine tonpsycholog^chen Beobachtungen und die
darauf gegründete Auffassung von der Konsonanz erhoben worden
sind. Ich beginne mit der von Lipps hieran geübten Kritik. Diese
Kritik bewegt sich durchweg mehr im Abstrakten und allgemein
Theoretischen als die von Stumpf veröffentlichte. Sie bedeutet eine
entschiedene Ablehnung aller meiner konsonanztheoretischen Arbeiten.
III. Lripps' Einwände.
A. Seine allgemeine Stellungnahme.
Wie früher erwähnt worden ist (oben, Bd. I, 311 f.), bestreitet Lipps
jeden Zusammenhang meiner akustischen Untersuchungen mit der
Frage der Konsonanz und Dissonanz. Ein Kapitel seiner neuen
Abhandlung über das Konsonanzproblem trägt die Überschrift
»Kruegers Theorie« und enthält kritische Gedanken über einige
meiner Ergebnisse.
*) S. Bd. I dieser Zeitschrift (1906), S. 305—387.
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2o6 Felix Kroeger,
Die Wiedergabe dieser Ergebnisse, von der mein Kritiker, wie
billig, ausgeht, ist leider so summarisch imd imgenau, daß niemand
daraus eine einigermaßen deutliche Vorstellung von der zu be-
kämpfenden Theorie oder den zug^runde liegenden Tatsachen gewinnen
kann. Erklingen, sagtLipps, die beiden Töne 200 und 300 gleich-
zeitig, so kann man »bei genügender Aufmerksamkeit« zugleich den
Ton 100 hören. Das ist ein Differenzton erster Ordnung. »Zu den
Differenztönen erster Ordnung treten bei Zusammenklängen Differenz-
töne zweiter Ordnung usw. Mitunter [?] nun liegen, wenn zwei Töne
zusammenklingen, irgendwelche dieser Differenztöne einander so nahe,
daß sie einen ,verstimmten Einklang* ergeben. Von diesen ver-
stimmten Einklängen, meint Krueger, sie machen zum wesentlichen
Teile die Dissonanz aus. Oder, wenn wir die Sache allgemeiner und
vollständiger fassen, das Wesen der Dissonanz besteht für Krueger
der Hauptsache nach in gewissen Nebentönen oder akustischen
Nebengebilden, die gleichzeitig mit den dissonanten Tönen hörbar
werden. Diese Nebengebilde tragen in sich etwas Unreines oder
Unsauberes; dies bringen sie in den Zusammenklang hinein und da-
durch wird derselbe dissonant«.
Welcher Art diese von mir als »charakteristisch« bezeichneten
und recht genau beschriebenen »Nebengebilde« sind, die ganze reiche
und wohlabgestufte Mannigfaltigkeit der Kombinationserscheinungen
überhaupt, nach Anzahl, Tonlage, Toncharaktcr, Stärkeverhältnissen
und dgl, — alles dieses scheint Lipps von vornherein für so »un-
wesentlich« zu halten, daß er, über die angeführten Sätze hinaus,
schlechterdings nichts davon berichtet. Nirgends erwähnt er die
strenge Gesetzmäßigkeit, mit der jene Teilempfindungen bei
jeder Änderung des primären Intervallverhältnisses sich ändern, —
in durchgängigem Parallelismus zu den Unterschieden des Kon-
sonanzbewußtseins, einschließlich der begleitenden Gefühle. Meine
Auffassung von der Konsonanz wird so dargestellt, als erklärte ich
das Bewußtsein der Konsonanz ausschließlich durch »die Abwesen-
heit von etwas« (S. 156), die Abwesenheit nämlich der die Dissonanz
charakterisierenden Empfindimgsinhalte. Lipps vergißt zu erwähnen,
daß ich in allen konsonanten Zusammenklängen ganz bestimmte,
qualitativ und intensiv ausgezeichnete Teiltöne experimentell nach-
gewiesen habe: Differenztöneinsbesondere, die in ihren Eigenschaften
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Die Theorie der Konsonanz.
207
und Relationen von den entsprechenden Teilempfindungen der Dis-
sonanzen in immer der gleichen Richtung wesentlich abweichen (in
derselben Richtung nämlich, in der der reine musikalische Einzelklang
sich vom verstimmten Einklang unterscheidet); während zugleich die
verschiedenen Konsonanzen unter sich durch die Anzahl, die Quali-
täten und die Stärkeverhältnisse ihrer Diflferenztöne weitgehende,
gesetzmäßig abgestufte Verschiedenheiten darbieten, — Verschieden-
heiten, die nach meiner und jetzt auch nach der AufTassimg anderer
Akustiker eine empfindungsmäßige Grundlage bilden sowohl für die
unmittelbar zu erle'benden Unterschiede der Konsonanzen (die Arten
oder Vollkommenheitsstufen der Konsonanz) als für die zugehörigen
Verschmelzungsgrade.
»Konsonanz ist nun einmal nicht die Abwesenheit von etwas, son-
dern sie ist das bestimmte Positive, das jedermann unter dem Namen
,Konsonanz^ kennt« (156), — diesen Einwand überträgt Lipps, wie
vieles andere, aus seiner Kritik der Helmholtzschen Konsonanztheorie
(142) auf die meinige. Nun ist selbst die reine »Schwebungstheorie« von
Helmholtz mit diesem Einwände keineswegs erledigt. Denn jede Ver-
änderung der Zahl, der Höhenlage, ja der Intensität von Schwebungen,
die einem Tonkomplexe anhaften, ändert auch die Qualität dieses
Komplexes; und ein schwebungsfreier Tonkomplex vor allem ist für die
unmittelbare Wahrnehmung positiv von jedem schwebenden verschieden.
Ich habe aber überall betont, daß dieses (qualitativ sehr mannigfaltig ab-
gestufte) Wahmehmungsmoment, der Rauhigkeit oder Glätte, regelmäßig
begleitet wird von anderen, charakteristisch verschiedenen Eigentümlich-
keiten der Differenztöne (wie : große oder geringe Anzahl ; Ungleichartig-
keit, qualitative Unsauberkeit, Verworrenheit, Undeutlidikeit oder das
Gegenteil). Alle diese ausführlich beschriebenen Eigenschaften der
Teiltöne oder Teilkomplexe wirken nach meiner Auffassung, auch ohne
daß sie gesondert wahrgenommen werden, in regelmäßiger Weise zu-
sammen zu dem konkreten, qualitativ ganz bestimmten Gesamteindruck
der verschiedenen Zusammenklänge. Und dieser »konsonante« oder
> dissonante« Gesamteindruck wird femer durch die teils angleichende,
teils kontrastierende Nachwirkung früherer Wahrnehmungen in ent-
scheidender Weise jeweils mitbestimmt.
Statt die von mir herangezogenen Tatsachen und meinen Versuch
ihrer psychologischen Verknüpfung wenigstens den Hauptzügen nach
zu charakterisieren, macht Lipps immer wieder die in solcher All-
gemeinheit nichtssagende Bemerkung, ich suchte das »Wesen« der
Dissonanz in irgendwelchen »Nebentönen« oder »Nebengebilden«.
Nicht weniger als achtmal liest man schon auf der ersten Seite seiner
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2o8 Felix Krucger,
Kritik diese unbestimmten, aber präsumierenden Wendungen (vgl.
dazu oben Bd. I, S. 323 f.).
Um die konkreten Bewußtseinserlebnisse bei den verschiedenen
konsonanten und dissonanten Zusammenklängen zu erklären, habe ich
mich nicht begnügt, die jeweils vorhandenen Teilempfindungen mög-
lichst vollständig herauszuanalysieren, ihre Eigenschaften und Unter-
schiede festzustellen und vergleichend zu beschreiben. Das deutlich
formulierte Hauptziel der Untersuchung waren vielmehr die psycho-
logischen Zusammenhänge aller jener Empfindungsfaktoren mit dem
konsonanten oder dissonanten, angenehmen oder unangenehmen Ge-
samteindruck. Diese psychologischen Zusammenhänge erschöpfen
sich aber keineswegs in den Eigenschaften und Relationen der je-
weils gegebenen Teilempfindungen als solcher; sondern überall weist
gerade die vollständige Analyse der Wahrnehmungen über die gegen-
wärtigen Empfindungselemente hinaus auf Nachwirkungen früheren
Erlebens hin. Für das entwickelte Konsonanzbewußtsein — von dem
allein wir unmittelbare Kenntnis haben — bestehen, mitwirksam zu
jedem gegenwärtigen Gesamteindruck eines Tonkomplexes, zahlreiche
Erfahrungszusammenhänge zwischen jeder Konsonanz und
anderen, mehr oder weniger ähnlichen Konsonanzen, ebenso zwischen
den verschiedenen Dissonanzen, femer zwischen den Zusammen-
klängen und den Einzelklängen, endlich zwischen jeder Konsonanz
und den benachbarten Dissonanzen (des zugehörigen Verstimmungs-
gebietes). Ohne Rücksicht auf diese assimilativ wirkenden Erfahrungs-
zusammenhänge sind insbesondere zwei Tatsachen des musikalischen
Bewußtseins nicht zu verstehen: die Auffassung der Konsonanz und
Dissonanz als gegensätzlich aufeinander bezogener Wahrnehmungen;
und die zentrierende Bedeutung des herrschenden Intervallsystems fiir
unsre Auffassung einer jeden Tonmehrheit'). Alle diese Erwägungen,
die in meinen akustischen Arbeiten einen beträchtlichen Raum ein-
nehmen, glaubt Lipps abfertigen zu können, indem er seinem hier
wiedergegebenen Referate die Bemerkung hinzufügt: >Im übrigen
') Vgl. 3 (des oben, Bd. I, 306 angeführten Literaturverzeichnisses), S. 42flf., 36 —
von der »assoziativ gewirkten, aber jeweils unmittelbar erlebten Gegensätzlich-
keit zwischen Konsonanz and Dissonanz«; dazu oben, Bd. I, S. 367 ff.
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Die Theorie der Konsonanz. 200
Operiert Krueger noch mit gewissen assoziativen Elementen, von
denen wir aber einstweilen absehen können. Im Grunde ist ihre Be-
deutungslosigkeit bereits oben dargetan." Der letzte Satz kann nur
auf einige gegen Helmholtz gerichtete Ausführungen des vorher-
gehenden Kapitels bezogen werden. (Lipps 138, 144). Meine Dar-
stellung der dort in Frage stehenden Verhältnisse weicht von der
Helmholtz'schen. wesentlich ab. Sowohl die tatsächliche Kenntnis der
Inhalte, zwischen denen hier assoziative Verbindungen anzunehmen
sind, als die Psychologie der Assoziation (und namentlich der Assi-
milation) sind seit Helmholtz erheblich fortgeschritten. Aber auch
den Beitn^en, die Helmholtz zu diesen Fragen geleistet hat, wird
die Lippssche Darstellung keineswegs gerecht. Für Lipps scheinen
assoziative Zusammenhänge bei der Konsonanzwahmehmung über-
haupt nicht zu existieren; oder sie gelten ihm dafür als ebenso
nebensächlich, wie die regelmäßig in der Empfindimg gegebenen
> akustischen Nebengebilde.« Wir müssen im Folgenden auf die
assoziativen Faktoren der Konsonanzwahmehmung mehrfach zurück-
kommen.
Was nun jene akustischen Nebengebilde betrifft, und zwar die
»imsauberen« Empfindungskomplexe, die ich bei den Dissonanzen
nachgewiesen habe, so könne, nach Lipps, meine »Meinung eine
doppelte sein«.
Einmal diese: ich höre »neben« den beiden Primärtönen, »als
etwas von ihnen Unterschiedenes« irgend welche jener Nebengebilde;
und das Bewußtseinserlebnis »Dissonanz« »bestehe« in dem geson-
derten Hören dieser Nebengebilde. »Ich habe das Bewußtsein der
Dissonanz zweier Töne, dies würde heißen, ich höre außer den zwei
Tönen noch etwas drittes, das mir nicht behagt«. Diese atomistische
und sehr schiefe Auffassung wird ausdrücklich als eine mögliche
Interpretation meiner Ausführungen dai^cstellt. Aber sachlich könne
sie nicht meine Meinung sein; denn — und mm folgt eine Analogie
aus dem optischen Grebiete: zwei »zusammenpassende« oder »nicht
zusanunenpassende« Farben, gleichzeitig gesehen, und daneben eine
dritte, etwa eme schmutzige Farbe. »Eine Beziehung zwischen zwei
Farben ist nun emmal nicht eine dritte schmutzige Farbe«. Das Bei-
spiel beweist theoretisch ebenso wenig wie zahlreiche ähnliche, die
in dem Lipps sehen Aufsatze immer wiederkehren. Denn die beson-
Wundt, Psychol. Studien II. I4
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2IO Felix Kraeger,
deren Bedingfungen jener optischen Erlebnisse werden nirgends genau
genug bestimmt. ^)
Aber die ganze Interpretation und Analogisierung wäre unnötig
gewesen, hätte Lipps nur die bekämpfte Darstellung einfach so
genommen und seiner Kritik zug^runde gelegt, wie sie wörtlich da-
steht. In meinen tonpsychologischen Veröffentlichungen ist kein
Gedanke, den ich so oft und stark betonte als der: das Wahmehm-
ungserlebnis der Konsonanz und Dissonanz ist nicht bedingt durch
die Analyse des jeweiligen akustischen Empfindungsganzen, d. h.
durch die gesonderte Wahrnehmung oder Unterscheidung der
darin enthaltenen Teilempfindungen. Diese Unterscheidung ist ursprüng-
lich und bei der gewöhnlichen Konsonanzwahmehmung immer in
hohem Maße unvollständig. Konsonanz und Dissonanz sind Eigen-
schaften, qualitative »Färbungen« des Gesamteindrucks als
solchen. — Diese theoretische Anschauung habe ich in den verschie-
densten Zusammenhängen so oft und deutlich formuliert, daß ich die
Leser zu ermüden fürchtete. Eben diesen meinen Grundgedanken
entwickelt nunmehr, großenteils mit meinen eigenen Worten Lipps
als das, was >Krueger muß sagen wollen«.
Nur der einleitende Satz entspricht noch nicht ganz den psycholo-
gischen Tatsachen, wie ich sie glaube beschreiben zu müssen : »Indem
ich die beiden Töne [d. h. die Primärtöne eines Zweiklanges] höre,
fasse ich sie zusammen oder fasse sie als ein Ganzes; und in dies
Ganze nehme ich zugleich dies Dritte, den verstimmten Einklang oder
etwas dergleichen, mit hinein«. Dieses Ausgehen von der Zweiheit
der objektiv gegebenen »Töne«, als wäre sie für die Wahrnehmung
überall das Ursprüngliche, ist es gerade, was in der Tonpsychologie
überwunden werden muß. Dieses aktive und scheinbar beliebige Zu-
sammenfassen oder Auffassen, dieses »Hineinnehmen«, insbesondere
von Teilinhalten, die den meisten Hörenden niemals und auch den
der Analyse Fähigen für gewöhnlich nicht gesondert zum Be-
wußtsein kommen, — alles das erinnert noch an den Herbart'schen
^) Daraber wird weiteres noch zu sagen sein. — Bei gewissen räumlichen und
qualitativen Verhältnissen kann übrigens sehr wohl der »harmonische« Gesamt-
eindruck zweier Farben durch das Hinzutreten einer dritten Farbe aufgehoben oder
in sein GegenteU verkehrt werden.
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Die Theorie der Konsonanz. 211
Vorstellungsantagonismus und an die dinghafte Objektivierung der
Ergebnisse physikalischer und psychologischer Analyse.
Des weiteren erwähnt Lipps ein »Analogon, das für diesen
Tatbestand scheint herangezogen werden zu können«, wie ich es in
der Tat mehrfach, auch Lipps persönlich gegenüber herangezogen
habe: die Auffassung des musikalischen Einzelklanges. In einem
solchen Empfindungskomplexe ist bekanntlich jederzeit eine Mehr-
heit von Teiltönen auch psychisch, in dem Sinne »enthalten«, daß
sie unter gewissen Bedingfungen gesondert können herausgehört
werden. Das geschieht aber in der Regel nicht, und fast niemals
vollständig. Dagegen kommen die Obertöne jederzeit als eine »eigen-
tümliche Färbung« des (verschmolzenen) Klangganzen, die hier »Klang-
farbe« genannt wird, zu bewußt psychischer Geltung. ')
»Doch dies Analogon«, meint Lipps, »würde in Wahrheit nicht
stimmen«. Beim Einzelklang verschmelzen die Töne [soll heißen:
für gewöhnlich vollständig]; der »Klang« ist ein einfaches und
unterschiedsloses Gebilde. Anders bei dissonanten Zusammenklängen.
»Daß die Töne für sich gehört werden, dies ist vielmehr die erste
Voraussetzung für das Bewußtsein einer ,zwischen* ihnen bestehenden
Dissonanz.«
Darauf ist zu erwidern: daß Dissonanz und also auch wohl Kon-
sonanz nur als »zwischen« zwei gesondert wahrgenommenen »Tönen«
bestehend erlebt werden können, ist eine unbestimmte und ganz un-
bewiesene Behauptung, die dadurch psychologisch nicht wertvoller
wird, daß sie dem gegenständlichen Sprachgebrauche des Alltags
geläufig ist. Das populäre Denken hat dabei die beiden objektiven
Tonquellen im Sinn und weiß nichts, weder von den Bedingungen,
Arten und Stufen der Tonverschmelzung, noch von den Kombinations-
erscheinungen. Würden die Teilempfindungen der Einzelklänge »in
gleicher Weise« (Lipps) verschmelzen wie die der Zusammenklänge,
') Über die psychologische Beziehung zwischen Klangfarbe und Konsonanz, so-
wie Über den zusammenfassenden Begriff der Gesamt->Färbnng« eines jeden [auch
unanalysierten) Komplexes gleichzeitiger Tonempfindungen vgl. 3, 254, 275; 43 und
passim.
Ebbinghaus hat in der neuen (2.) Auflage seiner Grundzüge der Psychologie
(1905) nahezu genau in dem von mir vertretenen Sinne die Bedeutung der Differenz-
töne lUr den Charakter der Zusammenklänge in Parallele gesetzt zu der psychischen
Wirkung der nicht analysierten Obertöne (S. 327).
14*
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212 Felix Krueger,
SO wäre eben psychologisch kein Unterschied zwischen Einzel- und
Zusammenklang, und die »Analogie« verwandelte sich in Identität.
Aber der Unterschied ist hinsichtlich des von Lipps herangezogenen
Verschmelzungsgrades (im Sinne der Mehrheitsauffassung, des Grades
der Analyse) nur partiell und durchaus relativ. Auch wenig Geübte
hören aus einem Einzelklange etwa des Klaviers oder der Trompete
nicht selten mehrere Obertöne deutlich gesondert heraus, — ohne
darum die Klangfarbe des Ganzen zu verlieren. ') Andrerseits sind
dieselben Personen oft außerstande (der Geübtere kann es unter-
lassen), einen Zusammenklang vollkommenerer Konsonanz, etwa
eine reine Oktave, Duodezime, Quinte, in seine Teiltöne zu zerlegen,
überhaupt als Tonmehrheit aufzufassen ; und das dann im Bewußtsein
vorhandene »einfache und unterschiedslose Gebilde« wird doch mit
Bestimmtheit als im höchsten Maße konsonant erfaßt und beurteilt.
Und das Analoge gilt von ausgesprochnen Dissonanzen, etwa der
verstimmten Prime 500:515 oder der verstimmten Oktave 500:985.
Die auch von Stumpf gelegentlich vertretene Ansicht: deuüiche
Unterscheidung der beteiligten Primärtöne sei Vorbedingung der
psychologischen Konsonanz und Dissonanz, ist nur für gewisse hohe
und mannigfach vermittelte Entwicklungsstufen des »Konsonanz-
bewußtseins« oder der musikalischen, sowie der begrifflichen Auf-
fassung richtig. Darüber hinaus verallgemeinert, ist sie ein irre-
führendes, aus falscher Objektivierung sich nährendes Dogma.
Übrigens erklärt Lipps einige Seiten später (178) gegen Stumpf,
im Widerspruche zu seiner soeben mi^eteilten Beweisführung: »Ein
schriller Klang klingt mir dissonant . . er tut dies, obgleich die dis-
sonanten Teiltöne verschmelzen. Dissonanz kann also bestehen
bei völliger Verschmelzung')«.
'] So hebt auch die yoUständige Zerlegung eines Zusammenklanges, insbesondere
das gesonderte Heraashören der Differenztöne den Konsonanz- oder Dissonanz-
charakter des Klangganzen nicht auf; freilich kann hier wie dort, nnd wie in vielen
andern FäUen, die KomplexqnalitXt (Dissonanz; Klavierklangfarbe) im Bewußtsein
zurücktreten, ja anbestimmt werden durch einseitige Richtung auf die Analyse (v^.
Bd. I, S. 595).
') Man vergleiche dazu S. 193 und die »Grundlegung der Äsdietik«, wo die
Theorie der Melodie von dem Satze ausgeht: »Der einfache Klang reprSsentiert in
gewisser Weise das Ganze der Musik« — womit freilich selbst für die europäische
Musik meines Erachtens erheblich zu viel behauptet ist.
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Die Theorie der Konsonaxu. 213
Das gegenwärtig ziemlich verbreitete Vorurteil, als könne von
Konsonanz oder Dissonanz nur bei deutlicher Unterscheidung von
mindestens zwei Tönen die Rede sein, hängt, wie ich glaube, mit der
— früher erörterten — Zweideutigkeit des Stumpfschen Ver-
schmelzungsbegriffs zusammen. Danach bedeutet die mit der
Konsonanz gleichgesetzte oder ihr zug^nde gelegte »Verschmelzung«
einerseits die relative Einheitlichkeit des Gesamteindrucks*).
Andrerseits hat Stumpf die Grade der Verschmelzung oder Kon-
sonanz zu messen versucht, indem er die Häufigkeit der Einheits-
urteile seiner Beobachter bestimmte, welche Einheitsurteile er auf
das Erlebnis numerischer Einheit, auf das Unterbleiben oder die
Schwierigkeit der Mehrheitserkenntnis zurückführte. Nun ist das
Konsonanzbewußtsein keineswegs identisch mit der Nichtunterscheidung
oder dem Eindruck der numerischen Ein(s)heit; auch eine strenge
und einfache Abhängigkeit zwischen beiden Tatbeständen ist nicht
zu konstatieren. Dieser durch zahheiche Tatsachen geforderten Er-
kenntnis hat sich Stumpf nicht verschlossen; aber ebensowenig hat
er seine eigene Konsonanztheorie und im besonderen die Deutung
seiner Verschmelzungsversuche damit in vollen Emklang gebracht. Die
beiden VerschmelzungsbegrifTe werden von Stumpf als verschieden
erkannt, aber psychologisch nicht zureichend bestimmt und verbunden
(nur durch weitergehende psychologische Analyse kann der funk-
tionelle Zusammenhang der beiden Erscheinungsgruppen deutlich
werden). Eben darum steigert sich bei Stumpf ihre tatsächlich in
weitem Umfang bestehende Unabhängigkeit zur ausschließenden (und
objektivierten) Gegensätzlichkeit, — so als ob bei numerischer
Einheit eines Tonkomplexes, bei gänzlicher Nichtunterschekiung,
Konsonanz oder Dissonanz überhaupt nicht erlebt werden könnte.
Ob diese (bei gewöhnlichem Hören, auch von Zusammenklängen,
sehr häufigen) Fälle auszuschließen sind von dem psychologischen
') Lipps gibt jetzt Stumpf gegenüber zu, was ich überall erklärt babe, daß
diese Qualität des Wahrnehmongsganzen, und nur sie, das allgemeine Merkmal des
unmittelbaren Konsonanzbewußtseins ist, und betont, mit meinen eigenen Worten,
daß diese qualitative Färbung des Gesamteindrucks scharf zu unterscheiden sei von
der »numerischen Einheit« bezw. Mehrheit (S. 157, 168 und passim. vgl. dazu
3, 236 f.; 54fr.). Wo es sich um »Kruegers Theorie« handelt, läßt Lipps diese
entscheidenden Punkte außer betracht.
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214 ^^^^ Kruegcr,
Konsonanzbegriflfe, scheint manchem vielleicht eine Sache bloß der
Definition und Benennung zu sein. Aber es wäre eine sehr imzweck-
mäßige und gar nicht konsequent durchfuhrbare Begriffsbildung.
Qualitativ nahe Zusammengehöriges, ja kontinuierlich ineinander Über-
gehendes würde dadurch äußerlich geschieden, in einer Weise, die
wichtigen Tatsachen des Konsonanzbewußtseins wie der Mehrheits-
aufTassung nicht gerecht würde {\ 54 ff.). Für das eigenartige Er-
lebnis einer konsonanten oder dissonanten Komplexqualität ist es eben
nicht wesentlich, ob zugleich das Bewußtsein der Toneinsheit
oder Mehrheit besteht, oder ob vielleicht — ein keineswegs seltener
Fall — das Wahmehmungsganze in dieser Hinsicht unbestimmt oder
undeutlich bleibt. Selbst sukzessive z. B. rhythmische Komplexe
sind in ihrem spezifischen Gesamteindruck nicht durchaus abhängig
davon, ob an ihnen zugleich eine Mehrheit von Elementen tatsäch-
ich unterschieden (überhaupt aufgefaßt) wird oder nicht. Hätte
Stumpf bei seinen Verschmelzungsversuchen noch das unmittelbare
Bewußtsein der Konsonanz oder Dissonanz vergleichend geprüft, und
hätte er zweitens die Dissonanzen etwas ausgibiger berücksichtigt, so
hätten ohne Zweifel dieselben Versuchspersonen ein ausgeprägtes
und sicheres Konsonanz- oder Dissonanzbewußtsein auch in solchen
Fällen bewiesen, wo sie die Mehrheitlichkeit der Tonkomplexe in
keiner Weise auffaßten. Bei allen jenen Versuchen wurde nach der
Toneinheit oder Mehrheit ausdrücklich gefragt, die Aufmerksamkeit
also besonders auf diese Seite der Eindrücke hingelenkt. In noch
höherem Maße gilt das oben Gesagte von der gewöhnlichen Auffassung
der Tonkomplexe, etwa in musikalischen Zusammenhängen, wo es
auf die Tonmehrheit, auf die Anzahl der wahrgenommenen Teile,
überhaupt auf die Analyse im allgemeinen viel weniger ankommt, als
auf die immittelbar sich aufdrängenden, etwa: konsonanten oder disso-
nanten Qualitäten des unanalysierten Gesamteindrucks.
Man muß nur Ernst machen mit dem einfachen Gedanken, daß
Konsonanz und Dissonanz ursprünglich Komplexqualitäten sind,
d. h. unmittelbar und ohne jede Analyse wahrzunehmende Eigen-
schaften des jeweils vorhandenen Tonganzen als solchen; dann wird
man auch die theoretische Verknüpfung nicht mehr unmöglich, son-
dern notwendig finden, die ich zwischen der Konsonanz und der
Klangfarbe zu vollziehen versuche. Es handelt sich hier wie dort
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Die Theorie der Konsonanz.
215
um nahe verwandte Formen akustischer Wahrnehmung. Klangfarbe
und Konsonanz sind nur Spezialfälle einer und derselben Sache: der
allen gleichzeitigen Tonkomplexen als solchen anhaftenden Eigenart
oder qualitativen Färbung. Genauer gesagt: die Klangfarben und
die verschiedenen Arten der Konsonanz oder Dissonanz sind — nicht
identische, aber psychologisch zusammengehörige und sogar ohne
scharfe Grenze ineinander übergehende (s. oben), teilweise sich über-
deckende Systeme von spezifischen Qualitäten akustischer Komplexe.
Besser als die Tatsachen des Einzelklanges und der Klangfarbe
scheinen Lipps zwei weitere optische Beispiele mit der Konsonanz
im Sinne der jetzt zugelassenen >Interpretation< meiner Theorie ver-
gleichbar zu sein: »Ich sehe zwei Linien oder Linienzüge, die zu-
sammenpassen und ein einheitliches Ornament ausmachen, aber auf
unsauberem Papier aufgezeichnet sind. Oder ... die Linienzüge sind
mit Bleistift gezeichnet und es hat dann . . . jemand darübar gewischt.
Diese Analogie aber beweist direkt gegen Krueger. Betrachte ich
hier, wie ich zunächst tun werde, das Ganze . . ., also die Linienzüge
einschließlich der Unsauberkeit, als Ganzes, dann werde ich die
Unsauberkeit dieses Ganzen bedauern; ich \verde mich in der Auf-
fassung dieses Ornamentes gestört fühlen. Das Ganze . . . hat als
Ganzes oder im ganzen den Charakter des Unbefriedigenden, uner-
freulich Befremdenden . . . Damit hören aber doch die [?] Linienzüge
nicht auf, zueinander zu passen. Es verwandelt sich nicht das Be-
wußtsein der Übereinstimmung der Linienzüge oder des Zusammen-
stimmens derselben zu einem einheitlichen Ornament in ein Bewußt-
sein der Nichtübereinstimmung oder des Nichtzueinanderpassens
derselben. Sondern die Linien passen zueinander genau so [?], wie
sie es, abgesehen von der Unsauberkeit, tun würden . . . Treten bei
aller Unsauberkeit die Linien noch genügend klar als dasjenige heraus,
was sie sind [?], so bleibt es freilich dabei, daß dem Ganzen etwas
Befremdendes anhaftet. Aber indem ich das Gefühl der Befremdung
habe, habe ich zugleich das volle Bewußtsein der Übereinstim-
mung. Ich fasse in dem Maße, in dem ich die Linie [n] sicher auf-
fasse, auch ihre Übereinstimmung sicher auf.«
Fürs erste ist hier zu sagen, daß diese beiden Fälle optischer
Raumauffassung wenig geeignet sind, unsre Frage nach der Bedeu-
tung der Kombinationserscheinungen für die Konsonanz zu erläutern
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2i6 Felix Krneger,
oder gar zu lösen, viel weniger m. E. ak die Erscheinungen der
Klangfarbe. Die Theorie der Klangfarben und der Einzelklänge über-
haupt ist, wenn auch manche psychologischen Zusammenhänge noch
weiterer Bearbeitung bedürfen (s. oben, Bd. I S. 364), durch die ex-
perimentellen Untersuchungen eines Helmholtz, Stumpf, u. a. ver-
hältnismäßig weit gefördert, während die, von Hause aus, wie ich
glaube, verwickeiteren Probleme der Raumästhetik bekanntlich wenig
aufgeklärt und fast in allen Punkten noch umstritten sind. Der all-
gemeine methodische Grundsatz, daß Erscheinungen des gleichen
Sinnesgebietes auch theoretisch unter sich enger zusammengehören,
als mit heterogenen Erscheinimgen, wird in diesem Falle von Lipps
selber dadurch anerkannt, daß er, wie wir sahen, auch Einzelklängen
Dissonanzcharakter im engsten und eigentlichen Sinne des Wortes,
freilich inkonsequenterweise, zuspricht. In welchem psychologischen
Sinne bei Linien oder Ornamenten von konsonanzartigen Eindrücken
gesprochen werden darf, durch welche Bedingungs-Ändenmgen solche
optisch -räumliche »Konsonanz c gestört oder in ihr Gregenteil verkehrt
würde, darüber ist bisher wenig Sicheres bekannt. Eher wird man
bei gesehenen Raumformen Analogien erwarten dürfen zu den Erleb-
nissen der taktilen Bewegungs- und Gewichtswahrnehmung, sowie
zum Rhythmus. Die Wahrnehmung gleichzeitiger Tonmehrheiten
unterliegt wesentlich andern Beding^gen vor allem deshalb, weil ein
räumliches Neben- und Außereinander der Teilempfindungen hier
nicht besteht. Daher sind die mit der Konsonanz innig zusammen-
hängenden Formen und Unterschiede der Verschmelzung im Ton-
gebiete so wesentlich andere als im Gebiete des Sehens, daß eine
wirklich passende optische Analogie zur Konsonanz schwerlich wird
zu konstruieren sein, am wenigsten eine Analogie, aus der man mit
Lipps ableiten dürfte, welche Wirkung eine Teiltonmasse bestimmter
Art in einem Zusammenklang nicht haben »könne«, und welche
Gedanken über eigentliche Dissonanz »unmöglich« seien. Um die
Analogie zu den Kombinationserscheinungen bei der Dissonanz eini-
germaßen zu wahren, hätte Lipps außer der Unsauberkeit des
Grundes oder den verwischten Hauptlinien noch weitere unsaubere
und wenig deutliche aber störende Linienzüge müssen hinzutreten
lassen; Linien, die jedenfalls nicht von vornherein in »passenden«
Verhältnissen zueinander und zu der Hauptlinie ständen, die vielmehr
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Die Theorie der Konsonanz. 217
unter Umständen (analog den ausgeprägtesten Dissonanzen) die Haupt-
linien verworren kreuzten oder, für die Auffassung, von deren eigener
Richtung ablenkten ; ferner wären wahrscheinlich auch i. e. S. quali-
tative, also Farbenunterschiede gleichzeitig heranzuziehen.
Bei der Beschreibung seiner eigenen Beispiele schreitet Lipps
keineswegs zu einer vollständigen Zergliederung des psychologischen
Tatbestandes vor (Formen und Größenverhältnisse? begrenzende und
eingeschlossene Flächen? Augenbewegungen? assoziative Faktoren?):
sondern er bleibt stehen bei unanalysierten Gefühlen des Befremden-
den, des Unerfreulichen, und bei dem dinghaft objektivierten Begriff
der >zueinander passenden Linien«. Gibt es in der Verwaschenheit
der Konturen oder der Unsauberkeit des Grundes keine Grenze, wo
die Linien aufhören, als das herauszutreten, »was sie sind«, »eben
diese zueinander passenden Linien« überhaupt zu sein? Die Beweis-
führung setzt überall das, was ich bestreite, und was zu beweisen
war, bereits voraus: daß die Konsonanz, etwa^/, die Dissonanz ^ ^^
ausschließlich auf (konstant gedachten) Eigenschaften dieser Primärtöne
c f bzw. fis beruhe. Endlich ist bei der g^zen Konstruktion ein
Moment außer acht gelassen, worauf ich großes Gewicht lege: die
Regelmäßigkeit, mit der die fraglichen Unsauberkeiten den Disso-
nanzen, im Gegensatze zu allen Konsonanzen, beigemischt sind, und
die assimilative Wirkung dieses erfahrungsmäßigen Zusammenhanges.
B. Ein experimentum crucis?
Mit Recht vermutet Lipps, daß diese Widerlegungsversuche
mich nicht überzeugen würden. Daher begibt er sich auf das aku-
stische Gebiet zurück und weist, zum ersten und einzigen Male, auf
eine wenigstens im Prinzip mögliche experimentelle Behandlung
der Frage hin. Mit starker Betonung stellt er als die »erste« von
mir zu erfüllen gewesene, die »synthetische« Aufgabe hin, die darin
bestanden hätte, zu zwei konsonanten Tönen, etwa C und E^
»irgend einen beliebigen verstimmten Einklang oder irgend ein son-
stiges imsauberes akustisches Nebengebilde« hinzuzufügen und fest-
zustellen, ob die Konsonanz dadurch in eine entsprechende Dissonanz
umschlage.
Schon bei seiner Kritik der Schwebungstheorie hat Lipps an deren
Hauptvertreter Helmholtz »die gleiche verwunderte Frage« gerichtet:
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2i8 Fe^ Kruegcr,
»Wie konnte es Helmholtz unterlassen«, durch künstliche periodi-
sche Unterbrechung der Primärtöne »die Probe auf seine Theorie
zu machen«? Hätte Lipps beachtet, was ich über meine Unter-
brechungsversuche eben solcher Art mitgeteilt habe (^, 15, 32 f.), so
hätte er hier vielleicht etwas weniger zuversichtlich theoretisiert. Ich
komme in jenem Zusammenhange zu dem Ergebnis, daß unter ge-
wissen (näher bezeichneten) Bedingungen der Eindruck in der Tat
dem der Dissonanz ähnlich wird; aber er bleibt »immer noch ein
anderer, als wenn man, ohne künstliche Intermittenzen, das primäre
Intervall verstimmt Es kann nicht anders sein; denn wichtige
Elemente des Wahrnehmungsganzen sind in beiden Fällen
verschieden«.
Das Analöge g^t von dem zuerst genannten und viel schwieriger
exakt anzustellenden Versuche, den ich nach Lipps »offenbar unterlas-
sen« habe, während er »jederzeit, auch unter den gewöhnlichsten Bedin-
g^gen« durchgeführt werden könne. Ich habe auch derartige Ver-
suche recht oft, unter sorgfaltiger Abstufung der Bedingfungen ge-
macht, ohne freilich ein so entscheidendes Ergebnis zu erzielen, wie
Lipps, der die fraglichen Zusammenklänge gelegentlich am Klavier
»angeschlagen* zu haben scheint. Er berichtet von sich: »Ich habe,
wenn nicht der verstimmte Einklang so stark ist, daß ich die Ton-
höhe zweier Töne nicht mehr feststellen kann, genau das Konso-
nanzbewußtsein, das ich vorher hatte, nur mit der Besonderheit, daß
ich in der vollen Auffassung der Konsonanz oder [?] im vollen Genuß
derselben durch den verstimmten Einklang gestört bin«. Demgegen-
über erlaube ich mir folgende Fragen: Hat Lipps den Versuch auch
im unwissentlichen Verfahren angestellt, mit musikalisch ungebil-
deten Personen und ohne vorher die reine Konsonanz für sich allein
angegeben zu haben? Und wie ist es bei der Oktave und den andern
multiplen Intervallverhältnissen, wo, wie ich nachgewiesen habe, bei der
Verstimmung die charakteristischen Differenztonerscheinungen dicht
neben dem tieferen Primärton entstehen und diesen aus seiner vorigen
Tonhöhe ablenken, ohne durch extreme starke Intensität ihn zu über-
täuben? Im Falle obertonreicher Mehrklänge tritt dasselbe auch bei
andern Intervallen ein. Lipps aber hat sein negatives Ergebnis » allemal «
erhalten. Ich finde dagegen, daß die unmittelbare »Auffassung« solcher
ungewöhnlichen Zusammenklänge — und nur sie steht hier in Frage —
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Die Theorie der Konsonanz.
219
im Gegensatz zur reinen Konsonanz entschieden in der Richtung der
Dissonanz tatsächlich verändert zu sein pflegt. Es bleibt freilich
für den musikalisch einigermaßen Erfahrenen und besonders für
den hochgeübten Musiker nicht selten etwas Fremdartiges oder Neu-
trales in dem Erlebnis, ein Unterschied namentlich gegenüber »natür-
lichen« Dissonanzen. Konsonanz und Dissonanz wären eben nicht
Eigenschaften des Wahmehmungsganzen, wenn es anders wäre.
Eine Tonzusammenstellung wie die von Lipps vorgeschlagene
enthält eben tatsächlich einen Teilkomplex {C Emit den Folgeerschei-
nungen ihres Zusammenklingens), den jeder tausendfach ohne jene
»unsauberen Nebengebilde« als eine entschiedene Konsonanz wahr-
genommen hat'). Dieser Teilkomplex überwiegt in dem Ganzen
durch seine relative Stärke, die Anzahl und erfahrungsgemäße Zusam-
mengehörigkeit seiner Elemente und durch die Bekanntheit seiner
charakteristischen Eigenart. Er färbt seinerseits den Gesamteindruck,
auch des ungeübten Hörers, im Sinne der Konsonanz; er tut dies
namentlich bei wissentlichem Verfahren, und wenn er immittelbar
vorher für sich allein angegeben war. Wer der Analyse fähig ist,
kann natürlich diesen herrschenden Teilkomplex für sich heraushören
und »erkennt« darin ohne Schwierigkeit die »Konsonanz« oder noch
genauer: die (bekannte) große Terz wieder.
In dem allgemeinen Begriffe des »Konsonanzbewxißtseins« unter-
scheidet Lipps hier wieder nicht hinreichend das »Erkennen der Konso-
nanz«, ja das Intervallurteil, von der unmittelbaren sinnlichen Wahrneh-
mung. Das unter den verschiedensten akustischen Bedingungen als
gleichbleibend gedachte Etwas, die »erkannte« Konsonanz, ist eben »die«
Konsonanz im früher zurückgewiesenen dinghaften Sinne, — ein in das
unmittelbare Erlebnis hineinverlegter, hypostasierter Begriff, wie im
vorigen Beispiel »die zu einander passenden Linien«. Andrerseits löst
Lipps hier im Widerspruche mit den Grundlagen seiner eigenen Konso-
nanztheorie wie auch mit seinem weitgefaßten GeftihlsbegrifFe die Ge-
fühlsseite des Erlebnisses und sogar dessen »Auffassung« so gänzlich
vom »Konsonanzbewußtsein« los, daß das »Konsonanzbewußtsein« sich
wesentlich auf einen begrifflichen Tatbestand reduziert.
»Ich ärgere mich«, heißt es schließlich bei Lipps, »über den ver-
stimmten Einklang, weil er mich in der reinen Hingabe an die von
*) Ich fasse hier (mit Lipps, S. 205) das Symbol C E als allgemeine Bezeich-
nung der großen Terz.
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220 Felix Kmeger,
mir erkannte Konsonanz stört, ungefähr so, wie ich mich in einem
Konzert über das Rutschen von Stühlen oder über das Flüstern meiner
Nachbarn ärgere. So wenig aber durch dergleichen jemals die Kon-
sonanzen der Musik in Dissonanzen sich verwandeln, so wenig ge-
schieht dergleichen durch die verstimmten Einklänge, c
Darauf ist zu erwidern: Die Wahrnehmung einer Tonmehrheit
im musikalischen Zusammenhange ist ein so komplexes und
mannigfach bedingtes Erlebnis, daß seine psychologische Erklärung
noch vieles andre voraussetzt, außer der theoretischen Analyse
isolierter Zusammenklänge. Es ist bekannt, daß das Verständnis
imd sogar der Genuß eines musikalischen Ganzen in überraschend
hohem Maße erhalten bleiben kann bei unsauberer Intonation oder
stark verstimmten Instrumenten. Das zufallige Stuhlrücken oder
Flüstern, diese dem Hörenden wohlbekannten Geräusche, neben der
einheitlich in sich zusammenhängenden Musik, sind ohne weiteres als
nicht dazu gehörig charakterisiert und treten verhältnismäßig leicht
in den Hintergrund des — anderweitig ganz erfüllten — Bewußtseins.
Dagegen die hier umstrittenen imsauberen Teilempfindungen der Dis-
sonanz, obwohl sie in vielen Fällen auch Geräusche mit sich fuhren,
bestehen keineswegs allein aus reinen Geräuschen, sondern überwiegend
aus bestimmt gearteten Teil tönen oder Teiltonkomplexen. Sie ge-
statten keine objektive Deutung; sie sind von den meisten Menschen
niemals gesondert wahrgenommen worden. Und was die Hauptsache
ist, die Lipps hier wieder gänzlich außer acht läßt: sie werden regel-
mäßig mit den betreflfenden Mehrklängen zusammen gehört. Man
setze den Fall, ein bestimmtes »konsonantes« Intervall werde regel-
mäßig auch nur von Geräuschen der bei Lipps angeführten Art
begleitet, und frage sich psychologisch, wie weit für dieses Intervall
ein unmittelbares sinnliches Konsonanzbewußtsein sich würde ent-
wickeln können.
Daß manche exotischen Musiksysteme die Unterschiede der Konso-
nanz und der Dissonanz gar nicht oder in unvollkommener Weise be-
sitzen, wird neuerdings mit Recht darauf (teilweise) zurückgeführt, daß die
Musik dieser Völker regelmäßig von starken und zahlreichen Geräuschen
begleitet wird; entweder spielen dabei die Schlaginstrumente eine be-
herrschende Rolle, oder es sind, wie bei den Siamesen, Instrumente von
geräuschartigem (und kurzem) Klange vorwiegend im Gebrauch.
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Die Theorie der Konsonanz. 221
C. Komplex qualitäten.
Nunmehr beschließt Lipps, »bei der Betrachtung der Krueger-
schen Theorie etwas mehr in die Tiefe« zu gehen. »Dann finden wir
als letzten Grund . . . den BegriflF der Gestaltqualität, oder wie Krueger
sagt, der , Komplexqualität*. Ich [Lipps] sage statt dessen lieber:
Gesamtqualität oder Form eines Ganzen.« In der Tat handelt es sich
hier um einen von mir sehr ausführlich erörterten psychologischen
Grundbegriflf, der in meinen Arbeiten, soviel ich sehe, zuerst aus-
drücklich und unzweideutig in den Mittelpunkt der Konsonanzlehre
gestellt ist, — weshalb er schon bei der »Interpretation« meiner
Theorie nicht wohl durfte übergangen werden.
Zu der von Lipps angedeuteten Frage seines geschichtlichen Ur-
sprungs und seiner Benennimg mögen hier folgende Bemerkungen genügen.
Nachdem die Psychologie und besonders die Lehre von den Sinneswahr-
nehmungen lange Zeit in objektivistisch - atomistischen Begriffen einer
fälschlich übertragenen physikalischen Betrachtungsweise befangen gewesen
war, hat sie erst in den letzten Jahrzehnten angefangen, Ernst zu machen
mit der aristotelischen Einsicht, daß, gerade psychologisch, fürs unmittel-
bare Erleben, das Ganze immer mehr ist als die Summe seiner Teüe;
genauer gesagt: daß jeder psychische Komplex als solcher besondere
psychische Eigenschaften besitzt, über die Eigenschaften seiner Elemente
imd Teile hinaus. Diese Grundauffisissung des seelischen Geschehens
wurde am entschiedensten vertreten und theoretisch durchgeführt von
Wundt (in seinen Prinzipien der »schöpferischen Synthese« und der
»psychischen Resultanten«, speziell auch in seiner Lehre von der Assi-
milation); dann durch A. v. Meinong (in zahlreichen Untersuchtmgen
zur Relationstheorie), durch Chr. v. Ehrenfels, der für einen großen
(theoretisch von ihm bearbeiteten) Teil der hierher gehörigen Erscheinun-
gen den Ausdruck »Gestaltqualitäten« vorschlug, durch G. E. Müller
(namentUch in seinen von Schumann veröffentlichten Vorlesungsdiktaten),
und ganz besonders durch H. Cornelius. Dieser Psychologe hat, an-
knüpfend an V. Ehrenfels, den Begriff der Gestaltqualitäten außer-
ordentlich bereichert und fruchtbar gemacht; er hat namentlich diesen
Begriff konsequent auch auf die spezifischen Eigenschaften des Gesamt-
bewußtseinsinhaltes übertragen. ')
Auf dem Gebiete der Tonwahmehmung bewegte sich Stumpf zum
Teil in der gleichen Richtung, indem er die unmittelbare Auffiassung ver-
schiedenartiger Tonmehrheiten dem Verschmelzungsbegriff unterordnete
und diese »Tonverschmelzung« ztmächst als größere oder geringere Ein-
heitlichkeit des Gesamteindrucks, als ein primär, d. h. vor aller Analyse
') Psychologie als Erfaliningswissenschaft, S. 70, 34, 74, 143, 362 ff. nnd passim.
— Vgl. oben, Bd. I, 382«:
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22 2 Felix Krueger,
gegebenes Moment der Wahrnehmung beschrieb. Die hier in einigen
Hauptpunkten wiedergegebene geschichtliche Entwicklung der psycho-
logischen Theorie und zugleich die fortschreitende experimentelle Ana-
lyse der Erscheinungen haben, soviel ich sehe, die Tonpsychologie mit
Notwendigkeit dazu geführt: daß einmal der genannte Verschmelzungs-
begriff schärfer abgegrenzt wurde gegen einen anderen, der nicht primäre,
unmittelbar vorzufindende Eigenschaften des Wahrnehmungsganzen zum
Inhalt hatte; daß femer die Erscheinungen der Tonverschmelzung, in
jenem ersten Sinne des Wortes, in psychologischen Zusanmienhang ge-
bracht wiurden mit den Eigenschaften und Verhältnissen der jeweils vor^
handenen Teilempfindungen; daß endlich eine qualitative Differenzie-
rung des Verschmelzungsbegriffes über die von Stumpf unterschiedenen
Grade oder Stufen der Verschmelzung hinaus Platz griff. ')
Was die, wie immer sekundäre, Frage der Namengebung betrifft, so
war es meines Erachtens notwendig, für die unmittelbar vorgefundenen
und überaus mannigfaltigen Qualitäten psychischer Komplexe einen zu-
sammenfassenden, besonderen Ausdruck zu besitzen, um so mehr als diese
Komplexe mit ihren spezifischen Eigenschaften keineswegs sämtlich durch
bewußte, in der Zeit verlaufende Verbindungsprozesse (synthetisch) erst
entstehen, sondern größtenteils vor aller gesonderter Walunehmung ihrer
Elemente fertig gegeben sind. Der Ausdruck »Gestaltqualitäten« wird
wohl immer Mißverständnissen ausgesetzt bleiben; einmal, weil er zu stark
an die Auffasstmg räumlicher Gebilde mit ihren ganz besonderen Be-
dingungen erinnert, was seine Übertragung auf unräumliche Komplexe
(wie Melodien, Akkorde, Geschmäcke, Stimmungen, Bekanntheitserlebnisse)
erschwert; ein anderes hängt hiermit zusammen und scheint mir auch,
ja noch mehr gegen den Lippsschen Terminus »Form« zu sprechen,
abgesehen von der außerordentlichen und kaum zu überwindenden Viel-
deutigkeit des Wortes »Form« — : bei diesen Ausdrücken (»Gestaltquali-
tät«, wie »Form« eines Ganzen) denkt man zunächst an etwas im präg-
nanten Sinne, d. h. relativ bestimmt und deutlich »Geformtes«,
»Gestaltetes« und femer meist an relativ Dauerndes. Die Komplexe aber,
um die es sich handelt, sind mindestens ebenso sehr wie ihre Elemente
in den Fluß des aktuellen psychischen Geschehens gestellt; und ihre
Eigenschaften können alle Gradabstufungen der qualitativen Bestimmtheit,
wie der apperzeptiven Deutlichkeit aufweisen. Den von Lipps in zweiter
Linie vorgeschlagenen Ausdrack »Gesamtqualität« halte ich deshalb fiir
wenig geeignet, weil, wie wir sahen, auch dem jeweiligen Gesamtinhalt
des Bewußtseins als solchem spezifische Eigenschaften zukommen, welche
Gesamt-(Komplex)qualitäten eine wichtige und eigenartige Gruppe der
gemeinten Tatbestände ausmachen. Dagegen erscheint mir der Ausdruck
»Komplexqualität« sich durch eine gewisse Neutralität zu empfehlen, in-
dem er weder durch andere Bedeutungen schon belegt ist, noch über die
Größe oder die konkreten Eigenschaften der Komplexe, zu deren Be-
schreibung er dienen soll, irgend etwas voraussetzt.
') Vgl. % 6i7flf.; 3, 239fr., 27—80; dazu oben, Bd. I. ßöifif.
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Die Theorie der Konsonanz. 223
Lipps erklärt zunächst, deutlicher als sonst, es gebe in der Tat
»solche Komplexqualitäten«; d. h. »es g^bt Qualitäten vom Ganzen,
die nicht Qualitäten der Teile des Ganzen sind«. Er fuhrt des weite-
ren drei treffende Beispiele dafür an : ein poetisch rhythmisches Ganze,
ein Bauwerk, ein dreidimensionales geometrisches Gebilde. Auch der
Zusanmienklang oder die Folge von Tönen, etwa CE oder EGis^
besitze eine solche Komplexqualität. Im folgenden (S. 153) hören wir
von der »Komplexqualität«, »Konsonanz oder Dissonanz genannt«.
Und der gleiche Gedanke, der, wie man sich erinnert, der Grund-
gedanke der von Lipps hier bekämpften Konsonanztheorie ist, kehrt
auch in den späteren Kapiteln seines Buches, nicht nur in den ton-
psychologischen, mehrfach wieder. Was zur psychologischen Er-
klärung der genannten Tatbestände angedeutet wird (Relationscharakter,
Übertragbarkeit auf inhaltlich Verschiedenes usw.), stimmt im wesent-
lichen mit meiner Auffassung überein. Wenn es im Eingang dieser
ganzen Erörterung heißt, es handle sich um einen Begriff, »der schon
manche Psychologen irregeführt hat«, so wird nicht völlig deutlich,
ob und inwiefern auch ich zu diesen Irregeführten gehöre. Es mag
dabei eine Reminiszenz mitwirken an einen psychologischen Streit
mit Cornelius aus den Jahren 1899 und 1900"). Damals hat Lipps
allerdings den Sinn und die Tragweite des in Frage stehenden Be-
griffes m. E. in hohem Maße verkannt und mit unzureichenden
Argumenten bekämpft; inzwischen aber scheint er selbst ziemlich
weit hinausgeschritten zu sein über den dinghaften Objektivismus,
den dogmatischen Atomismus und auch über den unbestimmt weiten
Gefühlsbegriff, die jene Argumentation beherrschten.
Aber auch seine gegenwärtigen Ausfuhrungen sind noch keines-
wegs frei von den genannten, früher (im I. Kapitel, oben Bd. I) aus-
führlich dargelegten Unklarheiten erkenntnistheoretischen und metho-
dischen Ursprungs.
Lipps fahrt fort, wir müßten hier »nun aber fragen: Worauf
beruhen solche Komplexqualitäten?« Diese Frage steht natürlich
nicht im Gegensatze zu meinen Untersuchungen, deren Hauptziel viel-
mehr ausgesprochenermaßen und überall die Beantwortung eben dieser
*) Zeitschr. f. Psychol. usw. 22, loiff.; 383 flf. VgL auch Sitznngsber. d. bayer.
Akad., Philos.-pliiloL Kl. 1899, S. 379ff.
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224 Felix Krneger,
Frage hinsichtlich der feonsonanten oder dissonanten Komplexquali-
täten war. Lipps antwortet: sie beruhen »auf Verhältnissen«; näher:
sie »beruhen jederzeit auf Verhältnissen zwischen den Teilen oder
Gliedern des Komplexes«. Sie seien nicht identisch mit den Ver-
hältnissen oder Beziehungen; denn Verhältnisse seien an sich keine
Qualitäten. »Aber auf Grund der Verhältnisse der Teile gewinnt
das Ganze als Ganzes eine bestimmte Qualität oder Form.« — Jetzt
käme natürlich alles darauf an, welche psychologischen Tatbestände
hier unter dem vieldeutigen Ausdruck »Verhältnisse« verstanden wer-
den. Es ist nicht leicht, über diesen wesentlichen Punkt aus der
Lippsschen Darstellung Klarheit zu gewinnen. In dem Beispiel des
dreidimensionalen Liniensystems sei es »das Größenverhältnis der
Linien unter sich und zu ihrem Abstände« (1:2; 1:1 u. dergl.); die
Komplexqualität des rhythmischen Ganzen beruhe »auf Zeitverhält-
nissen«; die des Bauwerks wiederum auf »Verhältnissen zwischen
Raumgrößen«. Hier schieben sich der psychologischen Analyse die
objektiven, streng genommen nur gedachten Raum- oder Zeitver-
hältnisse unter, die man mit Zirkel und Metermaß oder mit dem
Chronographen messen kann, und die bei den verschiedensten abso-
luten Werten konstant durch die gleichen 2^1en ausgedrückt werden.
Dann aber hat jenes »Beruhen« oder »Begründetsein« offenbar einen
ganz andern Sinn, als wenn von unmittelbar vorzufindenden psychi-
schen Gegebenheiten die Rede wäre. Die psychologische Unter-
suchimg hat von diesen, von den Bewußtseinstatbeständen aus-
zugehen. Sie fragt erst jedesmal, was denn die als physikalische Reize
etwa dargebotenen objektiven Raum- oder Zeitverhältnisse für das
erlebende Bewußtsein bedeuten. Sie findet etwa im ersten Falle
gewisse Bewegungsempfindungen verschmolzen mit den optischen
Qualitäten, im zweiten einen periodischen Wechsel von mannigfach
zusammengesetzten psychologischen Spannungszuständen, dazu regel-
mäßig gewisse Nachwirkungen früherer Erfahrung, als wesentliche
Faktoren der erlebten Komplexe. Und sie erkennt ohne Mühe, daß
das »gleiche« objektive Raum- oder Zeitverhältnis, z. B. i : 2,
psychologisch und qualitativ sehr verschiedenes, auch verschiedene
psychische »Verhältnisse, Beziehimgen, Relationen« bedeuten kann,
je nachdem die objektiven Raumgrößen etwa in Zentimetern oder in
Metern, die objektiven 2^itgrößen in Sekunden oder Zehntelsekunden
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Die Theorie der Konsonanz. 225
oder Minuten bestehen; ob die »Linien c gleich oder verschieden dick
und gefärbt sind, welche Qualität, welche absolute und relative Stärke
die rhythmischen Schalleindrücke besitzen; welche erfahrungsmäßige
und welche unmittelbare Vorbereitung das erlebende Bewußtsein mit-
bringt usw. Dann enthüllt es sich als eine fragwürdige Behauptung,
daß die » Verhältnisse c keine »Qualitäten« seien. Die unmittelbar er-
lebte Ähnlichkeit der einem Tonkomplex angehörigen und, nehmen
wir an, deutlich unterschiedenen Tonempfindungen c und c\ im Gegen-
satze etwa zu der ebenso unmittelbar gegebenen relativen Unähnlich-
keit zwischen c und^, — jene Ähnlichkeit und diese Unähnlichkeit
sind gewiß Qualitäten oder Seiten des jeweiligen Empfindungskom-
plexes: von anderer Art als die Qualitäten der Einzelempfindungen
c^ c\ fis\ sie ordnen sich auch psychologisch anderen funktionellen
Zusammenhängen, z. B. ihrerseits andern Ähnlichkeitsbeziehungen ein
und können eben deshalb von den Empfindungsqualitäten der her-
kömmlichen Terminologie unterschieden werden. Aber für eine rein
empirische Betrachtung, die sich freihält von dinghafler Objektivierung
der psychologischen Begriffe, sind auch die »elementaren« Empfin-
dungen zunächst nichts anderes als Qualitäten oder Seiten eines
jederzeit komplexen Erlebnisses, die psychologisch in verschiedenen
einander kreuzenden Zusammenhängen stehen. Es ist eine nur termino-
logische Frage, ob man den Ausdruck »Qualitäten« auf die Eigen-
schaften der einzelnen, nicht weiter zerl^baren Teilempfindungen als
solcher beschränken will (dann ist z. B. die Klangfarbe folgerichtig
nicht mehr eine tonpsychologische »Qualität«), und ob man dem-
entsprechend alle durch mehr als eine elementare Empfindung fun-
dierten Eigenschaften des Wahrgenommenen anders benennen will:
als Relationen, Verhältnisse, Modifikationen (mit G. E. Müller), ab-
strakte Teile, fundierte Inhalte oder wie sonst. Solche für viele
theoretische Zwecke nützliche Verschiedenheit der Namengebung darf
aber darüber nicht täuschen, daß die »Verhältnisse« oder Modifika-
tionen dieser Art psychologisch ebenso primär gegeben sind, ebenso
unmittelbar erlebt werden, ja für gewöhnlich noch unmittelbarer als
die Qualitäten der Einzelempfindungen. Und andrerseits darf man
hinter den verschiedenen Bezeichnungen die funktionellen Zusammen-
hänge nicht aus dem Auge verlieren, die zwischen den bezeichneten
Tatbeständen offenbar vorliegen.
Wundt PsjchoL Studien II. Ij
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226 Felix Knieger,
Das führt uns zurück zu Lipps' Darstellung der »Komplexquali-
täten«. Ein notwendiges Glied in der Kette seiner Argumente g^en
»Kruegers Theorie« ist die stark betonte These: Komplexquali-
täten »beruhten« jederzeit ausschließlich auf Verhältnissen zwischen
den Teilen des Komplexes. Aber das ist, so wie Lipps es versteht,
eine m. E. ganz dogmatische und unhaltbare Behauptung. Daß
die Komplexqualitäten, also die Eigenschaften, die den Komplexen
als solchen zukommen, nicht allein aus den Eigenschaften der
Elemente können begriflFen werden, bestreitet niemand; gerade dies
macht ja den Begriff der Komplexqualitäten allererst möglich und
notwendig. Aber wenn zu einer Mehrheit gleichzeitiger Töne bei-
spielsweise ein brummendes Geräusch hinzutritt, und dadurch die
Qualität des Ganzen in der Richtung der Eigenqualität eben dieses
Geräusches sich ändert; oder — um für einen Augenblick das optisch-
räumliche Gebiet zu betreten — wenn in ein Ornament aus dunklen
und strengen Linien ein helles Band von heiter belebter Form ein-
gezeichnet wird, und dadurch in das neuentstandene Ganze etwas
hineinkommt von der Helligkeit und Bewegung, die eben jenem
Bande, auch für sich allein, nur etwa in höherem Maße, eigentümlich
ist, — : welchen Sinn hat es da, zu sagen, die Änderung der Kom-
plexqualität beruhe jedesmal ausschließlich auf den veränderten Ver-
hältnissen? Sicherlich wirken auch diese jeweils mit zu dem Ge-
samteindruck. Aber schon um die »Verhältnisse zwischen den Teilen
oder Gliedern des Komplexes« festzustellen, ist es doch wohl not-
wendig, diese Teile oder Glieder selbst, und zwar sämtliche, rein
empirisch genau zu bestimmen.
Eben diese Aufgabe hat Lipps bisher vernachlässigt, wo es sich
um die Komplexqualitäten »Konsonanz oder Dissonanz« handelt, und
wo sie freilich nur durch systematische Versuchsreihen allgemeingültig
zu lösen ist; aber diese Aufgabe umgeht er auch jetzt noch, nach-
dem zahlreiche Beiträge dazu bereits vorliegen. Erklingen zwei Töne,
etwa die im »konsonanten Verhältnis« der großen Terz stehenden:
400 und 500 (Schwingungen) zusammen, so hört man jederzeit zu-
gleich die Differenztöne 300, 200 und (gewöhnlich als den stärksten)
100. Diese fünf Teilempfindungen (von denen die drei tieferen für
gewöhnlich nicht gesondert heraustreten), jede mit ihren besonderen
Eigenschaften und mit ihren eigentümlichen, qualitativ denen des be-
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Die Theorie der Konsonanz. 227
kanaten Einzelklanges überaus ähnlichen Verhältnissen, wirken nach
der in Frage stehenden Theorie zusammen und verbinden sich mit
den Nachwirkungen vieler ähnlicher Erlebnisse zu dem eigentüm-
lichen Ganzen der reinen großen Terz. Und verstimmt man nun den
höheren Primärton um, sagen wir lo Schwingungen, so verändert
sich zugleich die Teilempfindung 300 in 290; 200 in 180; und,
worauf ich besondres Gewicht lege, die starke und qualitativ sehr be-
stimmte Basis jenes konsonanten Tonkomplexes, 100, verwandelt sich
jetzt in eine rauhe, z. T. diskontinuierliche, geräuschhaltige, qualitativ
unsaubere imd schwer bestimmbare Tonmasse, aus der bei sorg-
fältiger Analyse die Töne iio, 70, 40 und noch zwei dazwischenge-
legene (von fremdartig unsaubrer Qualität) können herausgehört werden.
Für gewöhnlich werden hier wiederum — auf dem Hintergnmde des
Ganzen — nur die den beiden Primärtönen entsprechenden Teil-
empfindungen gesondert wahrgenommen. Aber alle jene Teilempfind-
ungen, mit ihren besondren Qualitäten, sowie auch mit ihren durch-
gängig veränderten »Verhältnissen« (für welche Verhältnisse freilich
aus dem Sprachgebrauche der Musiker oder gar der Physiker keine
einfachen Benennungen zur Verfugung stehen), und die assimilativen
Färbungen aller dieser Teilempfindungen und Teilkomplexe wirken,
nach derselben AufTassimg, zusammen zu dem eigentümlichen »disso-
nanten« Gesamteindruck dieses »Zweiklanges«. Und analog in allen
Fällen wahrgenommener Konsonanz oder Dissonanz. Das ist das
Wesentliche meiner Erklärung dieser Komplexqualitäten. Ich brauche
nicht noch einmal zu sagen, daß es eine Karrikatur dieser Theorie
ist, wenn Lipps mir die »Sinnlosigkeit« vorhält, ich wollte die
»Beziehung« der Konsonanz oder Dissonanz »zurückfuhren auf ein
drittes gegenständliches Element, das ii^endwie zu den in Beziehung
stehenden Elementen hinzutritt»
In der Erfahrung gegeben sind beim Zusanmienklang dieser und
dieser Töne, diese und diese Komplexqualitäten, von denen wir eine
gewisse Anzahl mit den beiden Namen »Konsonanz« bezw. »Disso-
nanz« zusammenfassen. Diese Gleichartigkeit der Benennung beruht
zunächst, hier wie dort, auf gewissen, größeren oder geringeren Ähn-
lichkeiten (keineswegs auf Gleichheit) der konkreten Komplexquali-
täten. Eine psychologische »Erklärung« der so benannten Komplex-
qualitäten kann auf keinem andern Wege gewonnen werden, als durch
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228 Felix Krneger,
genaue Bestimmung und Vergleichung alles dessen, was bei sorgfaltiger
Analyse in jedem dieser Komplexe regelmäßig vorgefunden wird, als
(psychisch} in ihm enthalten oder zu ihm gehörig; seien das nun
»gegenständliche Elemente« oder »Zusammenfassimgen«, »sinnliche«
oder nicht sinnliche Tatbestände. Solche und viele andere unbe-
stimmte Ausdrücke nämlich wirft Lipps meinem Versuche einer
möglichst einfachen und vollständigen Beschreibung der Tatsachen
entgegen; schließlich steigert sich seine Darstellung zu dem Satze,
Konsonanz und Dissonanz sei jederzeit »das Ergebnis einer inneren
oder apperzeptiven Aufeinanderbeziehung«. Ich verzichte auf eine
Zergliederung dieser empirisch nicht begrründeten imd hier, wie ich
meine, größtenteils unnötigen Begriffe. Nur den am häufigsten wieder-
kehrenden Begriff »Relation« oder »Beziehung« müssen wir noch
etwas genauer betrachten.
Da ergabt sich denn, daß Lipps mit diesen Ausdrücken gamicht
oder nur zum geringsten Teile einen unmittelbar in der konkreten
Wahrnehmung vorgefundenen Tatbestand meint; sondern es ist, wie
so oft in seinen eigfenen Theorien, ein dinghaft objektiviertes, ab-
straktes Gebilde seines spekulativen Denkens; und die »Relationen«
oder »Beziehungen«, die bald den eigentlichen Inhalt der Konsonanz-
wahmehmung, bald das ihr »zu Grunde Liegende« ausmachen sollen,
enthüllen sich bei näherem Zusehen als alte Bekannte, nämlich ab
die imbewußten »Übereinstimmungen« oder Nichtübereinstimmungen
unbewußter Tonmikrorhythmen, wie sie die Lipps sehe Konsonanz-
theorie zu jeder Wahrnehmung einer Tonmehrheit, analog den
Schwingungsverhältnissen physikalischer Töne, hinzukonstruiert. Nur
an diesem Faden wird man sich hindurchfinden können durch alles,
was Lipps über meinen Begriff der Komplexqualitäten sagt. Der
Gedanke, daß das Konsonante oder Dissonante an einer Tonwahr-
nehmung jederzeit Komplexqualitäten der früher mehrfach definier-
ten Art seien, dieser m. E. allerdings weitreichende und nicht mehr
bestreitbare Gedanke scheint Lipps für einige Augenblicke überzeugt
zu haben. Aber im Banne seiner eigenen dogmatischen Überzeugung
verwandelten sich alsbald und ohne empirische Begründung diese
Komplexqualitäten in »Relationen«, und zwar in die dingartig objek-
tivierten Relationen oder »Beziehungen« seiner Konsonanztheorie.
So erklärt sich die schon im Eingang auftretende halbwahre Be-
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Die Theorie der Konsonanz. 2 20
hauptimg, daß »diec Komplexqualität der Töne C E beliebig auf
andere Töne übertragen werden könne; daß z. B. das Ganze auf E
und Gis »dieselbe« Komplexqualität besitze wie C E. Jeder
Musiker, der nicht bei dem gleichen Namen (große Terz) stehen
bleibt, wird hier widersprechen. Das Ganze eines Terzenzweildanges
behält als Ganzes keineswegs dieselben Eigenschaften, gleichviel
wie ich die Terz transponiere; sondern die Komplexqualitäten sind
inmier nur mehr oder weniger ähnlich, in dem Maße, in dem die
Teilrelationen und andrerseits die gewählten und mitentstehenden
Teiltöne selbst ähnlich bleiben. In jedem Falle aber wirken die
»gegenständlichen« Teilinhalte oder »Elemente« selbst und deren
eigene Qualitäten mit zu der jeweils in concreto erlebten Qualität
des Ganzen. Lipps aber, statt diese experimentell großenteils aufge-
zeigten Empfindungsinhalte einschließlich ihrer wirklich in der Wahr-
nehmung gegebenen Relationen zu betrachten, hat von vornherein
nur die abstrakte »Beziehung« im Auge, die seiner Rh3rthmentheorie
entspricht, d. h. »die« Beziehung der Übereinstinmiung (z. B. 4:5)
oder Nichtübereinstimmung der unbewußten Tonerregungen, die den
physikalischen Schwingungen der beiden Primärtöne zur Seite
gehen sollen. So kommt er zu einer von ihm selbst hervorgehobenen
doppelten Bedeutung der Worte Konsonanz und Dissonanz, wo-
nach diese Worte »das eine Mal die Komplexqualität« bezeichnen,
»das andere Mal die [!] Beziehung, auf welcher diese beruht«. Er
findet sich mit dieser Doppeldeutigkeit durch die Behauptung ab:
falls nur die »beiden Töne« als ein Ganzes aufgefaßt würden, sei »mit
der [?] Beziehung auch die Komplexqualität ohne weiteres gegeben«.
Aber beides müsse auch wieder auseinander gehalten werden, und
wir müßten »uns dessen bewußt sein, daß die Komplexqualität der
Zusammenklänge und der Tonfolgen, so wie alle Komplexqualitäten,
auf Beziehungen beruhen«. Diese in ihrer Unklarheit von der sonst
so durchsichtigen und zugespitzten Darstellungsweise seltsam abstechen-
den Ausführungen kann man garnicht verstehen, wenn man, wie es
sein sollte, allein die Tatsachen der Wahrnehmung im Auge hat, —
wenn man nicht Lipps^ eigene dogmatische Rhythmentheorie und
seinen dinghaft objektivierenden BegrifTsgebrauch sich immer gegen-
wärtig hält. »Die« Beziehung, die man nach Lipps »zunächst ins
Auge fassen« müsse, um jene Komplexqualitäten zu erklären, ist
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230 Felix Krneger,
eben keineswegs ein konkretes > Bewußtseinserlebnis c, sondern es ist
die von der Theorie der unbewußten Tonrhythmen hypostasierte
»Beziehung« der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung, die
beim Gegebensein eines bestimmten physikalischen Schwingungsver-
hältnisses (der Primär töne) in immer gleicher Weise dem seelischen
»Geschehen« zugnmde liegen soll Dergleichen ist aber in der
psychologischen Erfahrung nicht zu finden; und die ganze (ebenso
geistreiche wie komplizierte) Konstruktion erweist sich als über-
flüssig, wenn man nur die in der Wahrnehmung immittclbar gege-
benen Tatsachen vollständig imd ohne Vorurteil ins Auge faßt.
Hätte Lipps statt aller »Interpretation« und Begfriffsdialektik einige
systematisch vergleichende Beobachtungen angestellt, zimächst über
den Gesamteindruck der verschiedenen Zusammenklänge, danach auch
über die jeweils vorhandenen Teilempfindungen, so wäre ihm der
psychologische Zusammenhang wahrscheinlich unzweideutig zum Be-
wußtsein gekommen, der zwischen den Eigenschaften jener komplexen
Erlebnisse auf der einen — , den bewußt wahrnehmbaren Eigenschaften
und Relationen dieser Teilempfindungen auf der anderen Seite besteht
Dann hätte er es zum mindesten nicht als selbstverständlich ange-
sehen, daß die Wahrnehmungserlebnisse der Konsonanz und Dissonanz
auf eine »Beziehung« der jeweils objektiv gegebenen Primärtöne zu-
rücl^efiihrt werden müßten, — wodurch der allgemeinste Gedanke
der von ihm bekämpften Theorie, der Gedanke der Komplexquali-
täten, in eine ebenso unbegründete wie unfruchtbare Verbindung mit
der Hypothese der unbewußten Schwingungsrhythmen gebracht wird.
D. Speziellere Einwände.
Schließlich richtet Lipps (S. i55f) an mich »noch ein paar
weitere Fragen«.
i) Er bezweifelt zunächst, auf gfrund meiner eigenen Darstellung,
daß die danach primär bestimmenden Empfindungsfaktoren überall
vorhanden und hörbar seien, »wo ich das Bewußtsein der Dissonanz
habe. Ich (Lipps) denke etwa an die tieferen Töne«. — Nun nehmen,
wie ich mehrfach ausgeführt habe, gerade in der Tiefe der musika-
lisch überhaupt brauchbaren Tonreg^on die Verstimmungszonen der
Konsonanzen mit ihren charakteristischen Kombinationserscheinungen
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Die Theorie der Konsonanz.
231
dermaßen an relativem Umfang zu, daß sie, zunächst die unvoll-
kommeneren, mehr und mehr aber auch die vollkommenen Konso-
nanzen selbst überdecken. Eis könnte daher eher gefragt werden,
wie die Wahrnehmung der Konsonanz tiefer Töne sich mit der
DifTerenzton-Theorie vertrage. In jedem Falle müßte der Fragende
zunächst darüber Aufschluß geben, wie weit denn nach seiner Mei-
nung das zu erklärende »Konsonanzbewußtsein« selbst primär und im-
erschüttert in die tiefe Tonlage hinabreicht; und es wäre zu dieser not-
wendigen Vorfrage unter anderem auf die bekannte Tatsache
hinzuweisen, daß mit zunehmender Vertiefung der Zusammenklänge
schon weit oberhalb der musikalischen Tongrenze die Konsonanzen
unbestimmter, den Dissonanzen ähnlicher werden, und zwar zuerst die
unvollkonmiensten, zuletzt die vollkommensten Konsonanzen, — ganz
wie es nach den früher ausfuhrlich beschriebenen Verhältnissen der
Diflferenztöne zu erwarten ist *). Aber solche Tatsachenfragen zu stellen,
ist im Sinne der Lippsschen Tonpsychologie eigentlich inkonsequent,
imd es erscheint fruchtbarer, sie im folgenden Kapitel auf grund der
verwandten, aber viel präziser formulierten Bedenken Stumpfs zu
beantworten.
Alles Wesentliche, was Lipps kurz zuvor gegen die Helmhol tz sehe
»Theorie der Schwebungen« vorgebracht hat, soll, wie er mehrfach be-
merkt, auch gegen meine Auffassung von der Konsonanz and Dissonanz
gelten. So habe ich ohne Zweifel auch folgende Ausführungen auf die
von mir herangezogenen »akustischen Nebengebüde« zu tibertragen.
S. 135: »Jede Mühe, auf dem Wege des Versuches zu ermitteln, wie weit
Schwebungen hörbar sind, ist für die hier in Rede stehende Frage
gänzlich verloren. Besteht die Dissonanz in Schwebungen oder
sind die Schwebungen die Dissonanz [was freilich auch Helmholtz
niemals behauptet hat], dann ist das Dissonanzbewußtsein das Bewußt-
sein der Schwebungen«. Man beachte den Doppelsinn des Wortes
»Bewußtsein«, mit dem zahlreiche Beweisführungen Lipps' stehen und
fallen: es bedeutet einmal das psychische Vorhandensein eines Teilinhaltes
überhaupt, sein Enthaltensein in irgend einem Wahmehmungskomplexe,
wodurch in der Tat nach den bekämpften Theorien der wahrgenommene
Charakter dieses Komplexes gesetzmäßig mitbestimmt wird. Das Wort
»Bewußtsein« hat aber bei Lipps, ohne jede scharfe Scheidung, zweitens
die viel engere Bedeutung: des gesondert Bemerkten, für sich Wahr-
genommenen oder gar als vorhanden Beurteüten. Denn Lipps fahrt
') ', 348 E, 359, 366; Tab. II, V, VI; °, 201 und passim. Zosammenfassend
3, 4ff., 20flf.
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232 Felix Kroeger,
gegen Helmhol tz fort: »Habe ich also das Bewußtsein der Dissonanz
beim oberflächlichen Anhören zweier Töne, dann kann die Dissonanz nur
bestehen in Schwebungen, die ich bei genau demselben oberflächlichen
Anhören vernehme. Oder fallt mir die Dissonanz zweier Töne unmittel-
bar auf, so müssen mir die Schwebungen, oder es muß mir die Diskon-
tinuität, die damit identisch [?] sein soll, unter genau den gleichen objek-
tiven und subjektiven Bedingungen genau ebenso unmittelbar auffaUen.
Und habe ich das Bewußtsein einer unangenehmen Dissonanz, so
muß ich, indem ich es habe, ein genau ebenso deutliches Bewußtsein
einer unangenehmen Rauhigkeit oder Diskontinuität haben.» Und
Lipps schließt aus alledem, Dissonanz und Diskontinuität von Tönen
hätten »schlechterdings nichts miteinander gemein«. »UnendHch
viel klüger« als ein solcher Gedanke wäre die Behauptung, Farben be-
ständen in Tönen.
Es braucht nicht genauer ausgeführt zu werden, daß jene Argumen-
tation es sich mit der Schwebungstheorie erheblich zu leidit macht Ob-
wohl diese psychologisch bei Helmholtz keineswegs einwandfrei durch-
geführt ist, war Helmholtz als Tonpsychologe doch weit entfernt von
dem naiven Atomismus, von dem geradezu phantastischen Intellektualis-
mus, der ihm hier zugemutet wird, und der freilich der Lipps sehen
Argumentation größtenteils zu gründe liegt Helmholtz würde tmter an-
derem auf das »Bewußtsein« der Klangfarben hinweisen, zu dessen
Erklärung er bekanntlich mehr als irgend ein Psychologe beigetragen hat.
(Vgl. oben S. 2 1 1 ff.) Man setze in dem angeführten dialektischen Ge-
dankengange probeweise einmal Hir Dissonanz Klangfarbe ein, etwa
schrille, unangenehme Klangfarbe, — und sehe zu, welche psychologischen
Unmöglichkeiten sich sofort ergeben. Übrigens scheint Lipps bei der
Niederschrift der angeführten Sätze sich mit dem Begriff der Komplex-
qualitäten noch nicht näher bekannt gemacht zu haben, den er später
teilweise akzeptiert, ohne freilich ihn konsequent durchzuführen (s. oben C.).
2) Gegen meine Konsonanztheorie macht Lipps des weiteren
geltend: Sollten bei gewissen Dissonanzen die »verstimmten Ein-
klänge« nicht vorhanden und hörbar sein, so scheine dann »das Be-
wußtsein der Dissonanz auf dem Wege der Analogie zustande kommen
zu sollen». Hiergegen aber sei dasselbe einzuwenden, was er schon
anläßlich der Helmholtzschen Theorie (S. 144) gegen »solche
Analogie-Konsonanz und Dissonanz« bemerkt habe. »Das Bewußt-
sein der Dissonanz müßte hier in sein Gegenteil umschls^en.« Es
folgen die alten Beispiele von Liniensystemen und »zu einander
passenden« Linien, von ganzen »Tonstücken«, deren Genuß durch
Flüstern gestört oder nicht gestört wird.
Man weiß aber, daß schon Helmholtz die assoziativen Fak-
toren der Konsonanzwahrnehmung nicht als Analogien oder irgend-
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Die Theorie der Konsonanz. 233
welche logische Operationen, sondern als Elemente der »Erinnerung«
beschreibt. Diese Beschreibung war psychologisch ohne Zweifel
unzureichend und entstammte einer atomistischK)bjektivierenden Psy-
cholc^ie, die allerdings dadurch nicht verbessert wird, daß man, wie
Lipps, die assoziativen Zusammenhänge der Konsonanzwahmehmung
überhaupt vernachlässigt (s. oben Bd. I. S. 386}.
Ich habe dieser Seite des Konsonanzproblems besondere Aufmerk-
samkeit gewidmet und assoziative Faktoren der Wahrnehmung keines-
wegs bloß als Lückenbüßer, bei gewissen Intervallen, sondern für
jedes Konsonanz- oder Dissonanz-Erlebnis des entwickelten Bewußt-
seins herangezogen. Ich versuchte, diese erfahrungsmäßige Bedingt-
heit des Konsonanzbewußtseins in ihren Hauptrichtungen einzeln
aufzuzeigen. Überall aber betonte ich das assimilative Ver-
sehmolzensein, das (im Ergebnis) einheitliche Zusammenwirken der
Empfindungselemente mit den Nachwirkungen des früheren Erlebens.
Gerade im Gebiete der akustischen Wahrnehmungen, weil hier die
praktischen Lebensbedürfnisse und andere psychologische Bedingun-
gen (Unräumlichkeit der Tonempfindungen; relative Abgeschlossen-
heit jedes musikalischen Ganzen) verhältnismäßig wenig Anlaß bieten
zur Entstehung objektiver Begriffe und diskreter isolierter Erinnerungs-
bilder, — läßt sich die assimilative Form verhältnismäßig leicht
und allseitig erkennen, in der überall die Nachwirkungen früheren
Erlebens mit den Elementen der gegenwärtigen Sinneseindrücke zu-
sammengeschmolzen sind. Das gerade ist eines der fruchtbarsten
Ergebnisse vorurteilsloser tonpsychologischer Beobachtungen, daß sie
den Psychologen frei machen von dem unkritischen Intellektualismus
und Objektivismus, der die alte Assoziationslehre wie das naive Denken
beherrscht.
Wer durch eigene Beobachtungen auf diese psychologischen Zu-
sammenhänge einmal aufmerksam geworden ist, der wird auch in dem
logizistischen Vorurteil nicht länger befangen bleiben, aus dem heraus
Lipps weiter argumentiert, — in dem Vorurteil, als könnte die er-
gänzende und umgestaltende Wirkung des früheren auf gegenwärtiges
Erleben immer nur einen gegensätzlichen Gesamterfolg, im Sinne
des Kontrastes, haben').
') Lipps 138, 144 and mehrfach. — Vgl. dagegen, was oben (Bd. I) über Assi-
milation und resnltative Angleichong gesagt ist. — In anderem Zusammenhange
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234 Felix Krneger,
3) fragt Lipps: »Wie erklärt sich das Bewußtsein der Konso-
nanz, das ich angesichts solcher Töne habe, die ich nur vorstelle?
Das Mitvorstellen der verstimmten Einklänge kann ich ja dabei unter-
lassen«. — Dagegen muß zunächst gefragt werden: »Ist dieses »Be-
wußtsein der Konsonanz« psychologisch dasselbe, wie das ich ange-
sichts eines wirklich wahrgenommenen Zusammenklanges habe?
Sicherlich nicht; sondern es unterscheidet sich von diesem in der-
selben Weise, wie die Erinnerungsvorstellung des frischenden »Ge-
schmacks« einer Orange von dem sinnlichen, aus Geschmacks-,
Geruchs-, Tast- und gewöhnlich auch Temperatur- und Gesichts-
empfindungen zusammengesetzten Erlebnisse, das ich beim wirklichen
Verspeisen einer solchen Frucht genieße. Es ist nicht nötig, daß ich
diese Komponenten des originalen Erlebnisses von einander und von
den begleitenden Grefühlen jemals unterschieden habe; es genügt,
daß ich die eigenartige Komplexqualität des Ganzen einige Male
mit Aufmerksamkeit wahrgenommen habe; dann kann ich mir diese
erfrischende Wahrnehmung in der Tat lebhaft vorstellen. Wenn ich,
und soweit ich sie in den angedeuteten Richtungen früher analy-
siert habe, dann, aber auch nur dann, und im besten Falle nur so
weit kann ich auch in der Erinnerungs- oder Phantasievorstellung
entsprechende Komponenten vorfinden. Ganz analog verhält es sich
mit der Vorstellung akustischer Komplexe, wie Klangfarben oder
Zusammenklänge.
In der Abhandlung über Differenztöne und Konsonanz (3, Kapitel
»Fragestellung«, S. 243 f.) heißt es, schon im Hinblick auf ähnliche
frühere Ausführungen von Lipps: »Bekanntlich ist es auch möglich, eine
wirkliche Konsonanz oder Dissonanz sich in der Phantasie oder Erinne-
rung vorzustellen. Diese Möglichkeit beruht, wie überaU, auf eigenen
früheren Wahrnehmungen derselben Art; sie setzt Empfindungserleb-
nisse der Konsonanz und Dissonanz notwendig voraus. Man darf aber
keineswegs erwarten, alle die TeUe auch in der Vorstellung aufzufinden,
die aus dem entsprechenden Wahmehmungserlebnis sich herausanalysieren
lassen. Selbst was man in dem Wahmehmungskomplexe wiederholt ge-
sondert bemerkt hat, pflegt wegen der Ungenauigkeit alles Erinnems in
(Theorie der Melodie, S. 228) zieht Lipps selbst die Angleichung heran, als eine
»nns sehr gelfinfige Sache«. Ebenso macht er in seiner Theorie der optischen Ranm-
wahmehmnng — deren Haltbarkeit hier auf sich beruhen kann — einen umfassen-
den Gebranch von der angleichenden Modifikation gegenwärtiger Wahrnehmungen
durch frühere (S. i — 114; besonders 54ffi).
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Die Theorie der Konsonanz. 235
die bloße Vorstellting nicht vollständig (als unterscheidbarer Teilinhalt)
mit einzugehen. Was man aber in der Wahrnehmung bisher niemals
unterschieden hat, das kann unter keiner Bedingung in dem Vorstellungs-
komplexe gesondert vorgefunden oder aus ihm herausanalysiert werden.
Das gilt auch von solchen Teilen des Wahmehmungserlebnisses, deren
Vorhandensein etwa primär den psychischen Unterschied (der Komplex-
qualitäten) von Konsonanz und Dissonanz bedingt«.
Wenn Lipps jetzt sagt, das »Mitvorstellen« der nach der be-
kämpften Auffassung die Konsonanz primär charakterisierenden Emp-
findungfselcmente könne man bei der bloßen Vorstellung einer Kon-
sonanz »ja unterlassen«, — so beweist mir diese Wendung von neuem,
daß er die entscheidende Tatsache der Komplex qualitäten und ins-
besondere der Qualitäten unanalysierter Komplexe sich noch nicht
völlig deutlich gemacht hat Wir haben es hier m. E. nur mit einer
spekulativen (und wieder dinghaft atomisierenden) Behauptung, nicht
mit einem Ergebnis vergleichender oder gar experimentell geregelter
Beobachtung zu tun. Wer nämlich wie die meisten, selbst musi-
kalischen Menschen und wie, ich fiirchte, auch Lipps, die in Frage
stehenden unsauberen oder sauberen »Nebengebilde« aus wirldich
wahrgenommenen Zusammenklängen niemals oder nur ganz vereinzelt
einmal herausgehört hat, wer nicht eine außerordentliche Übung in
der vollständigen Analyse von Zusammenklängen sich erworben hat,
— der ist völlig außerstande, das »Mitvorstellen« der fraglichen
Elemente beliebig zu »imterlassen«, eben weil er sie in den orig^alen
Erlebnissen regelmäßig, wie jeder andere, mitempfunden, aber nicht
unterschieden hat. Solch ein beliebiges und willkürliches Unterlassen
ist psychologisch ein Unding, ganz wie das oben (S. 210) zurückge-
wiesene »Mithineinnehmen«. Es ist den allermeisten Menschen ebenso
unmöglich wie die willkürliche Veränderung einer oft gehörten und
wohlbekannten Klangfarbe in der Phantasie, durch beliebiges Fort-
lassen oder Verändern irgendwelcher Obertöne: sie haben zwar diese
Obertöne bei der Wahmehmimg dieser Klänge regelmäßig mit emp-
funden, sonst hätten sie eben nicht diese, sondern eine andere Klang-
farbe erlebt; aber weil sie den wahrgenommenen Klang für gewöhnlich
nicht in seine Teiltöne zerlegt, noch weniger diese Teilempfindungen
systematisch variiert und die Ergebnisse aufmerksam verglichen haben,
sind sie nicht in der Lage, die bloße Vorstellung entsprechend zu
zerlegen und zu variieren, sondern sie stellen sich den Klang regel-
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236 Felix Krucgcr,
mäßig in seiner unanalysierten Ganzheit vor und erleben seine Kom-
plexqualität, »Klangfarbe« genannt, in der Phantasie oder Erinnerung
nicht anders, als sie die Qualität einer isoliert wahrgenommenen Ein-
zelempfindung (rot, sauer, hell u. dgl.) unmittelbar vorstellen.
Selbst wer in der Analyse von Tonkomplexen eine hohe Fertig-
keit besitzt, dessen akustische Vorstellungen und Wahmehmimgen
werden doch jederzeit durch seine früheren ähnlichen Erlebnisse
assimilativ bestimmt imd am meisten durch die häufigsten, die be-
kanntesten, — das sind die ganz oder teilweise unanalysierten Ton-
gebilde, mit ihrer Komplexqualitäten. Ich erinnere an die zahlreichen
früher beschriebenen Tatsachen solcher assimilativer Modifikation
akustischer Erlebnisse, gerade bei musikalisch und akustisch erfahrenen
Beobachtern. (Bd. I, 367 ff.) Aber Lipps ist nicht frei genug
von dem objektivierenden Atomismus der Herbartischen, wie der
populären Psychologie, um die Tatsache der primär gegebenen ein-
heitlichen Komplexe und ihrer spezifischen Eigentümlichkeiten
(der Komplexqualitäten) gebührend würdigen zu können. Diese
Komplexe imd ihre Eigenschaften sind immer resultativ mitbestimmt
durch die verdichteten Nachwirkungen früherer Erfahrung. Aber nach
Lipps sind von vornherein alle »assoziativen Elemente« für das
Konsonanzbewußtsein »bedeutungslos«, soweit nicht entsprechende
Erinnerungsbilder sich gesondert nachweisen lassen, und (was mit
alledem zusammenhängt): sofern die assoziativen Wirkungen nicht
alsKontraste erscheinen, als »Umschlagen« oder »Sichverwandeln«
des Erlebnisses in ein »ganz anders geartetes« oder »entgegengesetz-
tes« (s. S. 138 ff.).
Nachdem einige meiner Mitarbeiter und ich selbst monatelang
wahrgenommene Zusammenklänge vollständig analysiert und darin
eine ungewöhnliche Übung erlangt hatten, fiel es uns allerdings auf,
wie leer imd sozusagen »neutral« die beiden Primärtöne eines Diffe-
renzton-haltigen Zusammenklanges sich anhören, wenn man es, mit
Anstrengung, erreicht, ausschließlich auf sie die Aufmerksamkeit zu
konzentrieren.
Man spürt dann deutlich, wie im gleichen Maße die — bei ge-
wöhnlichem Hören vielleicht sehr ausgeprägte — Komplexqualität
des glänzen Zusammenklanges, einschließlich seiner Gefiihlsfarbung, bis
zum Verschwinden undeutlich wird. (Vgl. % 595, 617 ff.). Entspre-
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Die Theorie der Konsonanz.
237
chendes kann man bei der Analyse von Einzelklängen und andern
komplexen Erlebnissen, namentlich auch von Gefühlen, hinreichende
Übimg vorausgesetzt, erfahren. Hat man es bei Zusammenklängen
einmal soweit gebracht, dann kann es auch gelingen, daß man die
Primärtöne eines regelmäßig Differenztöne enthaltenden Zweiklanges
als gleichzeitig für sich allein erklingend vorstellt, also ohne die
Differenztöne. Und in dem Maße, in dem dies gelingt, scheint mir
allerdings auch in der Vorstellung die charakteristische, konsonante
oder dissonante Komplexqualität dieses Zusammenklanges zu schwin-
.den. Aber es gelingt kaum jemals vollständig; denn die Erfahrungen
solcher Analyseversuche stehen an Zahl und Festigkeit ihrer assoziativen
Verbindungen in gar keinem Verhältnis zu der tausenfach erlebten
gewöhnlichen d. h. unanalysierten , und gerade hinsichtlich der
Differenztöne imanalysierten Wahrnehmung » derselben c und aller
ähnlichen Komplexe. Daher »hört« sich auch ein so, möglichst isoliert
beobachteter Zweiklang noch inmier anders an, als ein von Hause aus
differenztonloser, etwa die Oktave. Ebenso wie ein aus einem Einzel-
klange herausgehörter Oberton sich nicht völlig von dem Hintei^^runde
des Gesamtklanges lösen läßt, imd immer noch anders sich ausnimmt
als eine isoliert gegebene einfache Tonempfindung.
Lipps aber fahrt fort: »Und wenn ich sie [die verstimmten Ein-
klänge] mit vorstelle, dann muß wiederum der Umstand, daß
ich sie nicht empfinde, mir die Dissonanz besonders erfreulich
machen.« Von diesem Gedankengang gestehe ich, daß ich ihn kaum
begreifen kann, auch wenn ich das mehrfach beleuchtete Kontrast-
vorurteil mit heranziehe. Er findet sich auch in der gegen Helmholtz
gerichteten Polemik, in ausgesprochener Verbindung mit jenem Kontrast-
vorurteil; und Lipps legt hier besonderes Gewicht darauf, daß bloß
vorgestellte oder mitvorgestellte Schwebungen nicht »in meinem Ohr
zustande kommen« (S. 138 ff., 144). Aber ist denn die bloße Vor-
stellung oder Mitvorstellung irgend einer Tonempfindung psychisch
unwirksam, weil sie nicht im Ohre — , einer Farbenempfindung,
weil sie nicht im Auge zustande kommt? Und wenn ich z. B. einer
jüngst erlebten widerwärtigen (komplexen) Geschmackswahmehmung
mich jetzt lebhaft erinnere, und ich stelle, wie ich gewöhnlich gar
nicht anders kann, die den widerwärtigen Gesamteindruck bedingen-
Kicn Teilempfiadungcn mit vor, — muß jetzt die Gesamtvorstellung
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238 Felix Kraeger,
darum zu einer »besonders erfreulichen« werden, weil ich diese Teil-
inhalte jetzt nicht empfinde, sondern eben nur mit vorstelle?
Die Schwebungen und verwandte Teüempfindungen »entstehen«,
sagt Lipps, im Falle der sinnlichen Wahrnehmung, »nebenbei im Ohre«
(S. 130). Hier rächt sich die früher zurückgewiesene, unklare, aber prä-
judizierende Unterscheidung von Haupt- und Nebenempfindungen (oben
S. 207 f.). Natürlich »entstehen« die den objektiven Tönen entsprechen-
den physiologischen Vorgänge primär ebenso (teilweise) im Ohre wie die
physiologischen Korrelate der Di£ferenztöne und ähnhcher Teilempfindun-
gen, für die ein adäquater physikalischer Reiz in der Luft aulierhalb des
Ohres zum Teil nicht nachzuweisen ist. Aber schon seit Helmhol tz
darf der dogmatische Objektivismus als überwunden gelten, der aus
solchen physikalisch-physiologischen Tatsachen Unterschiede der psychischen
Realität und Wirksamkeit oder auch nur Unterschiedenheiten inneriialb
des jeweiligen Vorstellungsganzen ableitete.
Die Kombinationserscheintmgen als etwas »nebenbei« Entstehendes zu
bezeichnen, ist femer in Anbetracht der nachgewiesenen Regelmäßig-
keit ihres Auftretens psychologisch irreführend.
4) Bei streng ungleichzeitig aufeinander folgenden Tönen ist
natürlich von Kombinationsempfindungen keine Rede. Lipps erhebt
daher von neuem, wie gegen Helmholtz und Stumpf (S. 139, 167),
den Einwand: »Wie ist es bestellt mit der Dissonanz der Tonfolgen?«
Früher pflegte er, entsprechend seinem dogmatischen BegrifTsgebrauche,
die sogenannte »Konsonanz« und »Dissonanz« der Tonfolgen und die
bei Zusammenklängen ursprünglich wahrzunehmende Konsonanz und
Dissonanz psychologisch gar nicht zu unterscheiden. Allmählich
mehrten sich in seinen eigenen Schriften die Einschränkungen, die
Zugeständnisse, daß tatsächlich in beiden Fällen »nicht durchaus das-
selbe« vorliege, »nicht absolut identische Dinge«. Aber »Konsonanz
und Dissonanz von Tonfolgen ... ist auch Konsonanz und Dissonanz«
(138 f., 144 f.). — Fragt sich nur: in welchem Siime? Welche psycho-
logischen Tatsachen sind gemeint mit dem »allgemeinen Wesen der
Konsonanz«, das »beiden Fällen gemeinsam« sei. Was bleibt von
diesem allgemeinen Wesen übrig, wenn man zunächst den abstrakten,
objektiven Begriff beiseite läßt, von dem freilich Lipps auszugehen
pflegt, und der natürlich in psychologisch höchst verschiedenen Fällen,
z. B. beim Gegebensein des objektiven Schwingungsverhältnisses 3 : 4,
immer der gleiche bleiben kaim. Daß die Gleichzeitigkeit oder das
Nacheinander zweier Töne keinen »prinzipiellen Unterschied« ihrer
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Die Theorie der Konsonanz. 230
»Konsonanz« bedinge'), diese Ansicht versucht Lipps jetzt durch
zwei Gründe zu stützen. Der eine besteht lediglich in einer willkür-
lichen und, wie ich meine, psychologisch nur verwirrenden Erweite-
rung der Begfriffe »Klang« und »Zusammenklang«. Auch beim
strengen Nacheinander zweier Töne treffe doch die Empfindung des
zweiten mit einem »Erinnerungsnachklang« des ersten zusammen.
Also sei auch die Klangfolge »psychologisch jederzeit eine Art des
Zusammenklanges«. Der andere Versuch einer Begründung hält sich
näher an psychologische Tatsachen. »Ich kann«, sagt Lipps wieder-
holt, »den Zusammenklang stetig in eine ausgesprochene Klangfolge
verwandeln«, oder umgekehrt. Und dabei »kommt nirgends ein
Punkt, wo das eigentümliche Bewußtsein der Verwandtschaft oder
Gegensätzlichkeit, das ich anfangs hatte, in ein ganz anders geartetes
Bewußtseinserlebnis umschlüge« (139, 145). — Em solcher plötzlicher
Umschlag, unter diesen Bedingungen, in etwas gänzlich anders
Geartetes liegt aber keineswegs in der Konsequenz der bekämpften
Theorien. Wollte man einem Beobachter den qualitativen Unterschied
verbergen oder undeutlich machen, der zwischen dem Zusammen-
klang und der Folge »derselben« Töne tatsächlich besteht, dann
allerdings wäre es angezeigt, das von Lipps vorgeschlagene Ver-
fahren zu befolgen; denn dabei wird jeder augenblickliche Empfin-
dungszustand von den Nachwirkungen der immittelbar vorangegange-
nen, minimal verschiedenen dermaßen assimilativ beeinflußt, daß
ein deutliches Unterschiedsbewußtsein und ebenso eine Scheidung der
Empfindungs- von den assoziativen Faktoren außerordentlich erschwert
wird. Ich kann auch stetig und ohne plötzlichen Umschlag weiß m
schwarz überfuhren, oder jede farblose Lichtempfindung in jede ge-
sättigte Farbe, oder einen Ton in ein Geräusch, eine Konsonanz in
eine Dissonanz, oder Lust in Unlust. Folgt aber daraus, daß es sich
in diesen Fällen psychologisch jeweils um wesentlich dasselbe handle?
Wie weit denn die tatsächliche Überemstimmung zwischen Tonfolge
und Zusammenklang reiche, worin die angedeutete Verschiedenheit
des unmittelbaren Eindrucks bestehe, wird in keiner der Lipps sehen
Darstellungen deutlich. Noch weniger werden die assoziativen
') Stampf gegenüber kehrt sogar die Behauptoog wieder, >die Konsonanz der
Töne« sei in diesen und noch andern Fällen >dieselbe« (170)«
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240 Felix Krneger,
Zusammenhänge berücksichtigt, die zwischen gleichzeitigen und
sukzessiven Tonkomplexen in der mannigfaltigsten Weise — im Laufe
der individuellen, wie der Gattungsentwicklung — sich bilden müssen.
Die Urteile über »Konsonanz« oder »Dissonanz« von Tonfolgen hatte
ich in erster Linie auf die Wahrnehmungen der »gleichen« Intervalle
bei vollständig oder teilweise simultaner Tongebung, imd auf deren
assimilative Nachwirkungen zurückgeführt. Stumpfs Darlegungen
über das Verhältnis von Melodie und Harmonie hatten wesentlich
dieselbe Tendenz, wenn er die von Lipps und andern Akustikern
früher behauptete Homophonie aller ursprünglichen Musik und die
daraus gefolgerte Priorität unserer Melodik vor unserer Harmonie
bestritt *). Eine auf Erscheinungen des Zusanunenldanges basierte
Theorie der Konsonanz, betont Stumpf mit Recht, »verlangt gar
nicht, daß die Musik im Anfang harmonisch oder mehrstimmig ge-
wesen sein müßte, sondern nur: daß die Entdeckung und Aus-
wahl der Intervalle, die in der Melodie gebraucht wur-
den, durch Phänomene des gleichzeitigen Hörens veranlaßt
wurde.« Meine konsonanztheoretische Fragestellimg, wonach die
psychologische Analyse der Zusammenklänge den Ausgangspunkt
zu bilden habe und eine Voraussetzung sei fiir das Verständnis etwa
der europäischen Melodik oder unseres Intervallurteils bei Ton-
folgen, — diese Fragestellung habe ich durch zahlreiche Tatsachen
der vergleichenden Musikwissenschaft, wie der experimentellen Beob-
achtung begründet (unbeabsichtigte und partielle Mehrstimmigkeit;
unreine Intonation und irrationale Intervalle bei überwiegend homo-
phoner Musik u. a.). Zu diesen tatsächlichen imd theoretischen Aus-
führungen sollte eine Argumentation, wie die angeführte von Lipps,
zunächst Stellung nehmen.
Vgl. ^, 244flf.; 253: »Was Lipps und Meyer zur Theorie der melo-
dischen Tonfolge oder ,der* Tonleiter beibringen, stützt sich ausschließ-
lich auf die Betrachtung unsrer europäischen Musik, einer Musik, die
anerkanntermaßen in hohem Grade von der Harmonie im Zusammen-
klange bestimmt ist. Wenn, wie sie meinen, auch bei strenger Sukzession
die Töne von einfachem Schwingungsverhältnis verwandtschaftlich einander
zugeordnet wären, wenn sie als ursprünglich konsonant oder harmonisch
notwendig auf einander hinwiesen, so wären Tonsysteme wie das der
Siamesen oder das der Javaner psychologisch kaum zu begreifen«. . . .
») Stumpf, Beiträge i,6off. Vgl. Wandt, II, 425.
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Die Theorie der Konsonanz. 24 1
»Wo und soweit die Intervalle von relativ einfachem Schwingungsverhält-
nis wirklich auch in der Tonfolge irgendwie ausgezeichnet smd, z. B.
hinsichtlich des Intervallurteils, da läDt sich das ebenfalls nur aus den
Erfahrungen an Zusammenklängen (einschließlich der zusammengesetzten
Einzelklänge [vgl. dazu Stumpf, a. a. O. S. 60]) begreifen«. •
Jeder weitere Fortschritt unserer tatsächlichen Einsicht in die
Musiksysteme außereuropäischer Völker verstärkt die (m. E. schon
aus einer unbefangenen Selbstbeobachtung zu gewinnenden) Gründe,
die es unmöglich machen, das Konsonanzbewußtsein ohne Rück-
sicht auf die Wahmehmui^ relativ dauernder Zusammenklänge zu
erklären. Ein sicheres und differenziertes Konsonanzbewußtsein, wie
es in Europa jeder Musikalische besitzt, kann sich nur an mannig-
faltigen und regelmäßig wiederkehrenden Zusammenklängen ent-
wickeln, wie sie unsere mehrstimmige, harmonische Musik bietet.
Abraham und v. Hornbostel haben bei genauer Untersuchung
die Musik der Japaner als einstimmig und harmonielos befunden.
Dementsprechend zeigt auch diese Musik weitgehende Abweichungen
der Intonation von den durchschnittlich bevorzugten und wahrschein-
lich beabsichtigten Intervallen; femer fehlen in ihr alle Anzeichen
eines »Konsonanz-« oder >Harmoniegefuhls«. Auch die Begriffe
Klangfverwandtschaft, Dur und Moll, Tonika und Leitton können
auf diese Musik keine Anwendung finden, so sehr jeder europäische
Beobachter geneigt ist, dergleichen [assimilativ] hineinzuhören. Wesent-
lich dasselbe hat die vergleichende Analyse türkischer und indi-
scher Melodien ergeben. Bei den Indern fanden sich »schwache
Ansätze zur Polyphonie« (ausgehaltene Oktaven und Quinten) imd
dementsprechend auch geringe Spuren eines »Gefühls« für Konsonanz
und Dissonanz; aber auch hier ist von Toniken oder Leittönen in
unserem Sinne des Wortes und von Dur und Moll keine Rede; auch
hier finden sich zahlreiche Intonations- und Melodieformen, die nur
in einer wesentlich homophonen Musik sich behaupten können*).
Was das sog. Konsonanzbewußtsein oder Harmoniegefühl betrifft,
dessen Vorhandensein oder Fehlen, so muß psychologisch zweierlei scharf
auseinander gehalten werden: i) ob Unterschiede der Konsonanz und
*) O. Abraham und E. v. Hornbostel, Sammelbände d. Internat. Musik-
Gesellsch. IV. (1903), Sonderdr. S. 26—31, 39. Ebendort V (1904), 383, 387. Zeit-
schrift f. Ethnologie 36 (1904), 23oflf.; 203 ff. — Vgl. oben, Bd. I, 372 ff.
Wundt, Psychol. Studien II. 16
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242 Felix Kraeger,
Hannonie in einem bestimmten Musiksystem und in seinen praktischen
Anwendungen eine Rolle spielen, — wie diese Unterschiede unsre gegen-
wärtige Musik durchgängig beherrschen. Diese Frage ist für die bisher
tmtersuchten orientalischen Musiksysteme ganz oder größtenteils zu ver-
neinen. — Eine wesentlich andere Frage ist 2): ob die einzelnen Men-
schen, die etwa in einem solchen harmonielosen Musiksystem aufge-
wachsen sind und seiner sich bedienen, ein Konsonanzbewußtsein
irgend welcher Art, ob sie die Unterscheidungsfähigkeit für Kon-
sonanz oder Dissonanz überhaupt besitzen. — Gleichviel, ob und wie-
weit dergleichen in ihrer eigenen Musik zur Geltung kommt; das
kann verhindert werden durch technische Ursachen: kurze Dauer oder
Geräuschartigkeit der verwendeten Klänge, UnvoUkommenheit der Instru-
mente und ihrer Abstimmung; femer durch religiöse und andere psycho-
logische Momente musikalischer wie außermusikalischer Art: Zahlenmystik,
einschließlich der bei den Orientalen hoch entwickelten Zahlentheorie und
Meßkunst; Freude am bloßen Lärm; Überwiegen der rhythmischen oder
der Bewegungskomponenten; der religiösen, wirtschaftlichen, erotischen,
poetischen und konventionellen Faktoren in den »musikalischen« Gesamt-
erlebnissen *).
Die hier an zweiter Stelle genannte, psychologisch fundamentale
Frage: nach dem lebendigen Konsonanzbewußtsein der einzelnen Men-
schen, läßt sich mit Sicherheit und Genauigkeit nur durch experimen-
telle Methoden entscheiden. Eine solche experimentelle, . d. h. die Be-
dingungen systematisch variierende Untersuchung sollte überall, wo es
sich um noch lebende Musik handelt, die Zergliederung der originalen
musikalischen Darbietungen und ihrer graphischen oder phonographischen
') Nach Abraham und ▼. Hornbostel Ist in Japan absolnte Musik über-
haupt selten; die Musik dient fast ausschließlich dazu, Gesang oder Tanz — oder
Arbeit (K. Bücher) — , dramatische Spiele und religiöse Zeremonien zu begleiten.
Dies wurde mir von einem japanischen Musiker, Herrn Shimasaki in Leipzig be-
stätigt. Der Psychologe, Prof. Dr. Tsukahara fügte hinzu, daß in den mebten dieser
Fälle das eigentlich Musikalische gar nicht im Vordergrunde des erlebenden Bewußt-
seins zu stehen pflege. Unter diesem Gesichtspunkte wird namentlich die uralte,
durch strenge Traditionen gebundene religiöse Musik der Japaner zu beurteUen sein,
von der die Reisenden übereinstimmend berichten, daß sie >für europäische Ohren
unerträgliche sei. Es ist bemerkenswert, daß diese Musik von den genannten Japanern
als Musik ähnlich charakterisiert wurde. Beide fanden Gefallen an guter de utscher
Musik, hatten aber jenes abfällige musikalische Werturteil schon in ihrer Heimat sich
gebildet. — Übrigens kann man musikalische Darbietungen, die als solche regelmäßig
sehr unschön sind, ohne doch eine weihevolle Gesamtstimmnng durchaus zu stören,
auch in christlichen Kirchen der Gegenwart beobachten, z. B. beim gemeinschaft-
lichen Gesänge der Priester in den Domen von Assisi und Florenz oder in S. Pietro
in Vincolis zu Rom.
Die absolute Musik ist natürlich fiberall ein spätes Produkt kultureller Differen-
zierung. Von allen Naturvölkern gilt in verstärktem Maße, was oben von der ge-
bundenen Musikpflege der Japaner gesagt wurde.
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Die Theorie der Konsonanz.
243
Niederschläge ergänzen. Mir ist nur ein Fall bekannt, wo das einiger-
maßen ausgiebig geschehen ist: Stumpfs Beobachtungen an siamesischen
Musikern '). Während die Siamesen ihre eigene, durchaus unharmonische
Tonleiter nur sehr ungenau herzustellen vermochten, konnten sie den —
in ihrer Musik nicht vorkommenden — Durdreiklang »recht rein nach-
singen«. »Quinten sangen sie ebenüalls befriedigend, ebenso den Gang
G — C — g.« Die MoUterz nahmen sie etwas zu hoch. Gefühlsmäßig
wurden unsre Quarte und unsre beiden Terzen im Nacheinander der
Töne von ihnen nicht gebilligt.
Wurden auf der Violine die beiden oberen Saiten zugleich ange-
strichen, so beurteilte das am genauesten untersuchte Mitglied der siame-
sischen Kapelle richtig die zu hohe oder zu tiefe und sehr genau die
reine Stimmimg der Quinte. »Vielleicht«, fügt Stumpf hinzu, »daß die
Gleichzeitigkeit ihm hier auch die natürliche Stimmung zum Bewußtsem
brachte.«
Einige siamesische Motive, einfach in unserem Sinne harmonisiert,
klangen demselben Beobachter: »Nicht übel, aber zu viele Töne«. End-
lich hatte er eine (leider nur zu kleine) Anzahl Zusammenklänge des
Klaviers nach ihrer Annehmlichkeit zu beurteilen. Die Dissonanzen und
der Mollakkord waren ihm jedesmal unangenehm, der Durakkord dagegen,
trotz der tmgewohnten Klangfarbe des Instruments, jedesmal entschieden
angenehm, »und zwar um so mehr^ je mehr sich die Zusammenstellung
derjenigen der harmonischen Teiltöne eines Klanges näherte«.
Die bisher ermittelten Tatsachen der (völker-)vergleichenden Musik-
psychologie stimmen psychologisch g^t übercin mit der Art, wie auch
innerhalb imseres Kulturkreises wenig geübte Personen auf Zusammen-
klänge imd auf Tonfolgen reagieren. Ich habe Europäer der ver-
schiedensten Übungsstufen, und gelegentlich einige Japaner, daraufhin
untersucht. Alle diese Beobachtungen führen zu dem theoretischen
Ergebnis: Es besteht für Zusammenklänge ausgeprägterer Kon-
sonanz oder Dissonanz ein unmittelbares, zunächst gefühlsmäßiges
Konsonanzbewußtsein, auch unabhängig von der Erfahrung. Bei Ton-
folgen dagegen ist hiervon keine Rede; soweit überhaupt in der Ton-
folge die Intervalle einfachen Schwingungsverhältnisses für das erlebende
Bewußtsein charakteristisch von den andern unterschieden sind, läßt
sich das auf die Erfahrung, namentlich an Zusammenklängen
zurückführen. Beides erklärt sich großenteils durch die gesetzmäßigen.
') Stampf, Beiträge 3, I04ff. Vgl. Zeitschr. f. Psychol. 27. Dem von Stomp f
gelegentlich nntersachten Bellakula- Indianer fiel es nicht schwer, singend seine Me-
lodien in jede beliebige Tonhöhe seines Stimmumfangs za transponieren. Viertel-
jahrsschr. f. Musik wissensch. 2 (1886), 408.
i6*
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244 Felix Knieger,
früher ausführlich beschriebenen Eigenschaften und Unterschiede der
Kombinationserscheinungen. Diese primären, sinnlichen Grundlagen
der Konsonanz fallen eben bei aufeinander folgenden Tönen fort
In meiner Studie über DifTerenztöne und Konsonanz hatte ich
behauptet (^, 253 f), »beim Nacheinander der Töne bestehe ein un-
mittelbares Bewußtsein der Konsonanz gar nicht, und hier könne von
Konsonanz oder Dissonanz selbst mit Bezug auf das europäische Ohr
nur in einem andern, übertragenen und abstrakten Sinne die Rede
sein.« Inzwischen haben mehrere in akustischen Beobachtungen wohl-
geübte Personen, darunter hochmusikalische mir bestätigt, daß die
Behauptung »konsonanter oder dissonanter« Tonfolgen für sie gar
keinen eigentlichen Sinn besitze. Dasselbe hatte ich auf Grund meiner
Selbstbeachtung konstatiert. Und als Ergebnis vergleichender Ver-
suche über simultane und sukzessive Tonmehrheiten fiigte ich hinzu,
»daß auch das Gefüh Ismomen t bei sukzessiven Tönen für die An-
wendung des Konsonanzbegriflfes keinen Anhalt bietet.«
Dieses letztere Ergebnis zum mindesten hätte Lipps m. E.
widerlegen oder berücksichtigen müssen, ehe er aus der sogenannten
»Konsonanz« von Tonschritten kritische Folgerungen zog. Denn die
Gefühle des Angenehmen oder Unangenehmen und das allgemeine,
gefühlsmäßige Zumutesein haben ja in seiner eigenen Konsonanz-
theorie eine grundlegende Bedeutung. Inzwischen habe ich die ge-
nannten Versuche mehrfach kontrolliert, mit Beobachtern sehr ver-
schiedenen Lebensalters und Übungsgrades. Auch unter denen, die
sich als gänzlich unmusikalisch bezeichneten und in anderen Hinsichten
als außerordentlich ungeübt sich erwiesen, war keiner, »dem nicht
in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die konsonanten Zusam-
menklänge angenehmer gewesen wären als die dissonanten« (3, 30).
Auch junge Kinder, von 8 bis 3 Jahren, soweit der sprachliche und
mimische Ausdruck bei ihnen irgend sichere Schlüsse auf die
Gefühlswirkung gestattete, reagierten in diesem Sinne auf Zu-
sammenklänge. Dagegen war bei der paarweisen Vergleichung
von je zwei aufeinander folgenden Tönen das Gefühlsurteil durch-
weg unsicherer und schwankender, die Gefühlswirkung selbst offenbar
viel schwächer als bei den Zusammenklängen. Die Tonfolgen waren
in der Richtung der Lust-Unlust, auch den Musikalischen sehr häufig
»gleichgültig« oder »indifferent«. Öfter noch als relative Annehmlich-
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Die Theorie der Konsonanz.
245
keit oder Unannehmlichkeit wurden andere Gefuhlslarbungen bemerkt,
wie »spannend, interessant, anregend, frisch; langweilig (am häufigsten
bei der Oktave); fremdartig oder vertraut.« Bei jedem einigermaßen
Musikalischen spielt hier das Wiedererkennen bekannter oder be-
kannten ähnlicher Intervalle eine vorwiegende Rolle, auch im Gefühb-
eindruck (vergl. 3, 48; ', 622). Soweit aber bei solchen isolierten
Tonfolgen Unterschiede der relativen Annehmlichkeit überhaupt regel-
mäßig und bestimmt hervortreten, ordnen sich die Intervalle danach
ganz erheblich anders als bei den entsprechenden Zusammenklängen.
Die Oktave erscheint dann als einer der angenehmsten Tonschritte.
Ausgeprägte »Dissonanzen« sind bevorzugt vor vollkommenen Kon-
sonanzen. Namentlich rückt der Ganztonschritt regelmäßig an eine
der ersten, nicht selten an die erste Stelle. Selbst die kleine Sekunde,
dieses im Zusammenklange besonders unangenehme Intervall, ist im
Nacheinander der Töne für viele Beobachter relativ wohlgefällig. (Die
Ungeübtesten empfinden diesen kleinsten Tonschritt unseres Musik-
systems, namentlich in der Tiefenregion, als weniger angenehm, »weil«
der Höhenunterschied der beiden Töne dabei unsicher oder doch
schwieriger aufzufassen sei.) Ein geweckter und musikalisch offenbar
begabter Junge von 37, Jahren fand auf- und absteigende Ton-
leitern in der Mittellage des Klaviers entschieden hübsch, ebenso
die chromatische, aus lauter Halbtonstufen bestehende Leiter, diese
aber, wie es schien, mit etwas geringerer Bestimmtheit. Staccatissimo
gespielt, also kurz, mit ausgesprochenen Pausen zwischen Ton und
Ton, machten ihm beide Leitern einen mehr komischen Eindruck.
Dagegen waren ihm dieselben Tonleitern, und namentlich die chroma-
tische entschieden unangenehm, wenn ich sie mit aufgehobenem Pedal-
dämpfer, also zusammenklingend spielte').
*) Nachträglich bemerke ich eine Stelle bei Stampf, wo es, in anderem Zu-
sammenhange heißt (Beiträge I, 34): >Nan ist bei einer kleinen Sekunde aufeinander*
folgender Töne von Unannehmlichkeit nichts zu bemerken, der Eindruck vielmehr
so befriedigend, als er nur von zwei aufeinanderfolgenden Tönen hervorgerufen wer-
den kann.« »Schon PI ntarch bezeichnete diese kleinen Intervalle als emmelische, d. h.
zur Melodie geeignete, und stellte sie in Hinsicht der Annehmlichkeit in der Auf-
einanderfolge den Konsonanzen gleich.« Nach Stumpf sind >an die Sukzession der
Töne nicht minder lebhafte Gefühle geknüpft als an die Gleichzeitigkeit.« Dieser
letzte Satz mag fUr ganze zusammenhängende Melodien vielleicht richtig sein; für
isolierte und paarweise verglichene Tonschritte trifft er, wie gesagt, nach meinen
Beobachtungen nicht zu.
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246 Felix Knieger,
Auch Stumpf hält fiir auf einander folgende Töne an den Be-
griiTen Konsonanz und Dissonanz fest, obwohl seine eigene Konso-
nanztheorie durchaus auf die Eigenschaften von Zusanunenklängen
basiert ist und, soweit sie bisher entwickelt ist, für jene Übertragung
meines Erachtens keinen brauchbaren Anhalt bietet '). Den Widerstreit
zwischen Tonfolge und Zusanmienklang, der dann aus den »seltsamen
Verschiebungen« der Gefühlswerte im ersten g^enüber dem zweiten
Falle zu resultieren scheint, sucht Stumpf dadurch zu lösen, daß er,
entschiedener als alle anderen Akustiker, die Gefühlsfarbung der Ton*
Wahrnehmungen von dem »primären Kriterium« der Konsonanz
gänzlich lostrennt und erst sekundär ein Zusammenwirken der beiden
Momente zuläßt (s. alle seine neueren konsonanztheoretischen Ar-
beiten), — ein in dieser Form psychologisch für mich imdurchführ-
bares Unternehmen").
Viel einfacher und den Tatsachen gemäßer scheint es mir, die
Begriffe wahrgenommener Konsonanz oder Dissonanz, entsprechend
ihrer ursprünglichen Wortbedeutung, auf Zusammenklänge, ein-
schließlich ihrer regelmäßigen Gefühlswirkung zu beschränken. Die
spezifischen Eigentümlichkeiten der Ton folge können durch andere
Begriffe hinreichend und eindeutiger beschrieben werden, wie:
»Tonika«, erfahrungsmäßig gewordene »Verwandtschaft«, Inter-
vallurteil, Intervallbegriff. Die Übertragung des Konsonanzbegriffes
auf Tonschritte wäre wohl nie erfolgt, oder sie bliebe unverständlich,
faßten wir nicht aus Gründen, die über das gegenwärtig Wahr-
genonmiene hinausreichen, namentlich auf Grund physikalischer oder
musiktheoretischer Begaffe den Zusammenklang zweier Töne und die
Folge »derselben« Töne imter den gleichen Namen (Quinte, Halb-
ton; »dasselbe Intervall« u. a.) zusammen. Man frage sich unbe-
fangen beim Anhören etwa der diatonischen oder auch der chroma-
tischen Tonleiter, ob hier die unmittelbare Wahrnehmung Anlaß
bietet zu dem Urteil: man höre eine Folge von lauter ausgeprägten
Dissonanzen.
Hervorragend musikalische Personen erklärten mir auch in diesem
Falle, ein solches Urteil habe, genau genommen, gar keinen Sinn.
') Vgl. dazu Lipps (167fr.), dessen Kritik der Verschmelzangslehre mit der von
mir vorgetragenen {^) jetzt großenteils übereinstimmt.
*) Vgl. auch Lipps, S. 157 unten.
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Die Theorie der Konsonanz.
247
Diese Erkenntnis wird freilich dieselben Musiker nicht hindern, »der
Einfachheit wegenc, wie sie sagten, von »konsonanten» oder >disso>
nanten« Intervallen zu sprechen, gleichviel, ob die beteiligten Töne
zusammen erklingen, oder ob sie nur als möglicherweise gleichzeitig
gedacht werden.
Zwischen den Erlebnissen bei gleichzeitigen und solchen bei
sukzessiven Tonkomplexen bestehen Wirkungszusammenhänge und
auch gesondert wahrnehmbare Relationen der verschiedensten Art.
Das kann nicht anders sein bei den zahlreichsten Erfahrungs- und
Ähnlichkeitsbeziehimgen der beiden Erscheinungsgruppen (häufig er-
lebte Kontinuität des Überganges, teilweise Gleichheit der Ele-
mente). Aber gerade um diese psychologischen Zusammenhänge
rein empirisch vollständig zu b^jreifen*), ist es notwendig, Tonfolge
und Zusammenklang streng auseinander zu halten. Wo das nicht
geschieht, wo die verschiedensten Fragestellungen (3, 239 ff.) von
vornherein konfimdiert werden, da ergeben sich unlösbare Schein-
problcme und auf der anderen Seite irreführende spekulative Lösun-
gen, da kommen sowohl die Fragen des Zusammenklanges wie die
der Tonfolge zu kurz, da werden die wichtigsten Aufgaben der Ton-
psychologie verschoben oder verhüllt, besonders eben diejenigen, die
es mit den Beziehungen zwischen Tonfolge und Zusammenklang zu
tim haben.
Das hier Gesagte versuche ich zum Schluß an einer tonpsycho-
logischen Frage zu verdeutlichen, die in Lipps' Konsonanztheorie
eine entscheidende Rolle spielt: an der Frage der sog. Tonika.
Werden einem europäischen Hörer (von einiger musikalischer Er-
fahrung) zwei oder mehr aufeinander folgende Töne dargeboten,
deren Intervallverhältnisse unserem Musiksystem angehören, so ist es
einem solchen Hörer in vielen Fällen nicht gleichgültig, mit welchem
Tone dieser sukzessive Tonkomplex, diese längere oder kürzere
Melodie schließt Gewisse Töne erscheinen ihm nicht als befriedigen-
der Abschluß der vorliegenden Tonreihe; er fühlt bei ihnen das Be-
dürfnis einer weiteren Fortführung der Melodie, eines Fortganges, im
'] Das Reinheitsbewußtsein z. B. beschränkt sich keineswegs auf >konso-
nante« Intervalle: man kann auch die »Reinheit« einer Sekunde, einer Septime auf-
fassen nnd beurteilen. Andrerseits ist die Reinheitsaaffassung nachweislich anfs stärkste
von den Erfahrungen an Zusammenklängen beeinflußt.
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248 Felix Krueger,
allgemeinen, zu einem ganz bestimmten oder zu einigen wenigen
anderen Tönen. Ein bestimmter Ton erscheint vielfach als der ge-
forderte, der relativ befriedigendste Schlußton; in manchen Fällen
sind zwei oder mehr verschiedene Töne in diesem Sinne mehr oder
weniger gleichwertig, welche Töne dann unter sich in relativ ein-
fachen Schwingungsverhältnissen zu stehen pflegen. Der am meisten
befriedigende Schlußton wird als Tonika bezeichnet.
Die Erscheinungen der Tonika sind hier geflissentlich auf einen
möglichst hypothesenfreien und phänomenologischen Ausdruck ge-
bracht worden. Denn was die verschiedenen Musiktheoretiker und
neuerdings auch einige Tonpsychologen darüber hinaus an »Gesetzen«
der Melodiefiihrung, insbesondere der Tonika lehren, stimmt unter sich
wenig überein und steht in gar keinem Verhältnis zu den rein er-
fahrungsmäßigen Fundamenten eben dieser Theorien. Es fehlt auf
diesem Gebiete noch ganz an hinreichend kontrollierten, experimen-
tellen Beobachtungsreihen, die den methodischen Anforderungen der
exakten Psychologie genügten. Lipps hat wiederholt ein allgemeines,
aber schon bestimmteres Gesetz der Tonika aufgestellt, das er neuer-
dings, in wesentlicher Übereinstimmung mit Max Meyer, so formu-
liert (S. 197): »Wenn in dem durch möglichst kleine ganze Zahlen
ausgedrückten Schwingungsverhältnisse zweier genügend nahe ver-
wandter Töne das eine Verhältnisglied 2 oder eine Potenz von 2 ist
(einschließlich 2 °= i), so ist der diesem Verhältnisglied entsprechende
Ton gegenüber dem anderen der Zielton [= Tonika]«. Dieses Ge-
setz, sowie die von Lipps und Meyer dafür mitgeteilten Beispiele
und Modifikationen bedürfen meines Erachtens, wie gesagt, noch der
experimentellen Prüfung. Aber in einigen Fällen ist es auch nach
meiner Beobachtung, an musikalischen Europäern, ein treffender Aus-
druck der Tatsachen. Mit Sicherheit kann ich es bisher nur für die
beiden besonders einfachen Fälle bestätigen, auf die auch Lipps be-
sonders Gewicht legt: der Quinte (2:3; Tonika 2 [oder i]) und der
Quarte (3:4; Tonika 4 [oder 2 oder i]). Wenn also innerhalb einer
breiten Mittellage des Tongebietes beispielsweise ein ® und seine
Quinte @ einmal oder auch öfter aufeinander folgen, so ist @ und
nicht @ der befriedigende Abschluß ; bei der Quarte S 5 dagegen :
5 und nicht ®. Im ersten Falle ist dem (Ausgangs-) 6 seine tiefere
Oktave (i) als Schluß ton mindestens gleichwertig; im zweiten Falle
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Die Theorie der Konsonanz.
249
kann für das ursprünglich verwendete 5 mit dem gleichen Erfolge
dessen tiefere Oktave (2) oder Doppeloktave (i) eintreten. Auch das
stimmt mit den Angaben von Lipps übercin und ebenso mit seiner
theoretischen Deutung des Tatbestandes.
Lipps* Theorie der Tonika, imd der Tonfolge überhaupt, bringt nun
die fraglichen Erscheinungen in engste Verbindung mit der »Konsonanz«
und »Dissonanz« und daher mit der Lehre von den unbewussten
Schwingungsrhythmen, die, den physikalischen Tonschwingimgen
entsprechend, bei jeder Tonempfindung in der Seele ablaufen sollen
(s. oben, Bd. I, S. 335). Es war von vornherein ausgesprochener-
maßen eines der Hauptargumente dieser Lippsschen Konsonanz-
theorie, daß sie die Konsonanz, einschließlich der sogenannten
Konsonanz der Tonschritte, und die hier in Frage stehenden Regel-
mäßigkeiten der Tonfolge zugleich erkläre.
Zu diesem Zwecke wird allerdings die »Rhythmen «-Hypothese
durch zwei weitere Hilfshypothesen ergänzt. Erstens (Lipps, S. 194):
»Die Zusammenfaßung von je zwei Elementen einer Folge von
gleichen Elementen ist die einfachste und natürlichste Art der Zu-
sammenfassung sukzessiver Elemente überhaupt. Sie ist die in sich
gegensatzloseste. Vielmehr, sie ist die einzig m sich gegensatslose
oder die schlechthin natürliche. Sie allein entspricht vollkommen
dem Prinzip der ,Wiederkehr des Gleichen*. Dagegen trägt die
Zusammenfassung von je drei Elementen, noch mehr die von fünf
oder sieben Elementen — weil dieselben in wachsendem Maße diesem
Prinzip zuwiderlaufen — ein Moment des Widerstreites in sich. « Man
sieht, wie erst durch diesen Zusatz die Theorie der unbewussten
rhythmischen Tonerregungen, über die »Einfachheit« oder »Über-
einstimmung« (= Konsonanz) der Schwingungsverhältnisse hinaus, den
Erscheinungen der Tonika angepasst wird (2:3; dagegen 3 : 4 oder 2).
Was die zugrunde liegende Analogie der bewussten rhythmischen
Erlebnisse angeht, von denen allein wir empirische Kenntnis haben,
so kann die Behauptung einer natürlichen Überlegenheit des zwei-
gliederigen über den ungeradzahlig gegliederten Rhythmus sich auf
gewisse Erfahrungen des akustischen, mehr noch vielleicht des körper-
lichen Bewegfungs-Rhythmus berufen, — welche Erfahrungen (der
Zweitakt sei der natürliche und schlechthin überlegene) freilich wieder-
um der experimentellen Untersuchung noch bedürfen. Um weiterhin
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250 Ftlbi Kraeger,
die oben angedeutete Tatsache zu erklären, daß in gewissen Fällen
der Tonfolge die Verhältniszahl 2 oder deren Multipla durch die Ver-
hältniszahl I, also der nächstliegende »Zielton« durch seine tieferen
Oktaven ersetzt werden kann, macht Lipps (2.) die Hilfskonstruk-
tion: mit jeder sukzessiven wie gleichzeitigen Mehrheit von »Ton-
rhythmen« sei für die Seele noch ein »Grundrhythmus« wirksam ge-
geben, der der grössten gemeinsamen Teilungszahl entspreche, und
so wiesen die Töne z. B. 200 und 300, oder 300 und 400, oder 400 und 700
jeweils primär auf den Ton 100 (von der Verhältniszahl i) hin, als auf
ihr »letztes, natürliches Gravitationszentrum«, ihre »Basis« oder «voU-
konmienste Ruhelage« {194 f., 118 f., 124, 205 ff.). — Selbst unter
Voraussetzung der fundamentalen Hypothese von den unbewussten
Tonerregfungen und ihrer »rhythmischen« Gliederung, wäre hier wieder-
um noch genauer zu prüfen, ob und wieweit jenem idealen »Grund-
rhythmus« Erfahrungen des bewußten rhythmischen Erlebens zur
Seite stehen.
Aber lassen wir diese notwendige Voraussetzung, mit der sich
Lipps, wie ich glaube, zu rasch abfindet, hier auf sich beruhen
und bleiben bei den in Frage stehenden Erscheinungen der Ton-
wahmebmung. Es ist also nach Lipps ein besonderer Vorzug seiner
Konsonanztheorie vor denen von Helmholtz, Stumpf und Wundt
wie vor der meinigen, daß seine »Rhythmen« -Theorie [einschließlich
der zuletzt angeführten beiden Zusätze] nicht nur die Konsonanz der
Zusammenklänge in ihrem Wesen verständlich mache, sondern zugleich
die »Konsonanz« der Tonfolge und die Erscheinungen der Tonika.
Schon aus dem bisher Gesagten dürfte hervorgehen, daß es sich hier
um eine nur scheinbare und aus mehr als einem Grunde unannehm-
bare Vereinfachung der Probleme handelt Wie es die Art spekulativer
Hypothesen ist, »eridärt« die fragliche von Lipps in einigen Hin-
sichten zu wenig, in andern erheblich zu viel. Was es mit der
»Konsonanz« aufeinanderfolgender Töne auf sich hat, haben wir
gesehen. Ein unmittelbares, sinnlichesKonsonanzbewußtsein von der Art
des bei Zusammenklängen primär gegebenen existiert bei Tonschritten
überhaupt nicht, — trotz derTheorie der » rhythmischen Übereinstimmung«
aller Töne einfachen Schwingungsverhältnisses. Soweit bei der Tonfolge
die »konsonanten« Intervalle gegenüber den »dissonanten« irgend
ausgezeichnet sind, handelt es sich entweder um eine spezifische
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Die Theorie der Konsonanz.
251
Ähnlichkeit (namentlich der Oktaventöne) ^), die innerhalb wirklicher
Konsonanzwahmehmungen eine gewisse Rolle spielen dürfte (vgl. auch
^, S. 42 fr.), die aber fiir sich allein nicht ausreicht, die spezifische
Komplexqualität der Konsonanz zu bewirken und von dieser qualitativ
verschieden ist. Die besondere Ähnlichkeit der Oktaventöne ist selbst,
großenteils, durch Erfahrung bedingt, und in erster Linie durch
frühere Wahrnehmung gleichzeitiger Tonmehrheiten (häufiges Zu-
sammengegebensein der Oktaventöne in allen musikalischen Einzel-
klängen und in allen konsonanten Zusammenklängen; gleiche Teiltöne
bei — zusammengesetzten — Oktavenklängen). Die meisten dieser
Erfahrungsfaktoren sind überall, auch in der primitivsten Musik wirksam;
imd es ist sehr fraglich, ob ohne sie eine spezifische Ähnlichkeit auch
nur der (einfachen) Oktaventöne bestehen würde ; dagegen bleibt bei
Zusammenklängen einfacher Töne auch nach Abzug aller Erfahrung^
faktoren ein Fundament rein sinnlicher Gegebenheiten (der Empfindung)
übrig, auf dem eben das unmittelbare Konsonanzbewusstsein (bei
Zusammenklängen) beruht.
Lipps' Theorie der »Tonverhältnisse«, wie sie beim Gegebensein
dergleichen objektiven Schwingungsverhältnisse in psychologisch immer
wesentlich gleicherweise durch die »zugfrundeliegenden« »Rhythmen«
der unbewussten Erregungen zustande kommen sollen, — diese viel-
umfassende Theorie rückt die Erscheinungen der Tonfolge und des
Zusammenklanges so sehr auf eine und dieselbe Linie, daß die weit-
gehenden tatsächlichen Unterschiede der beiden Erscheinungs-
gruppen dadurch unbegreiflich werden oder nur durch eigens dazu
erdachte Hilfshypothesen könnten begriffen werden.
Ob eine Tonreihe dem oben angegebenen Gesetze der Tonika
gehorcht oder nicht, das pflegt selbst im Falle der Quinte oder Quarte
weniger sicher und weniger lebhaft aufgefaßt zu werden, als bei Zu-
sammenklängen der Unterschied einer jeden voUkommneren Konsonanz
gegenüber einer jeden ausgeprägteren Dissonanz. Vor allem sind diese
*) Nor fiir das Oktavenintervall scheint mir die Beobachtung eine solche spezi-
fische Ähnlichkeit entschieden zu bestätigen, — übereinstimmend mit den Angaben
der mebten Akustiker. Stumpf verhält sich auch hierzu skeptisch; er betont vor
allem, daß die Konsonanz, und die akustische Verschmelzung überhaupt, auf der-
gleichen Ähnlichkeiten nicht könne zurückgeführt werden (Tonpsychologie 11, 193 ff.;
s. oben, Bd. I, 357).
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252 Felix Krueger,
Unterschiede (der wahrgenommenen Konsonanz) von viel lebhafteren
Gefühlen begleitet als jene (des tonalen Abschlusses). Nur im Falle
des unbefriedigenden Abschlusses kann man durch einfache Ton-
schritte (Quarte oder Quinte) ein einigermaßen intensives Gefühl er-
zeugen; und auch dieses (Unlust-)Gefuhl ist von qualitativ erheblich
anderer Art als die Unannehmlichkeit eines dissonanten oder die
Annehmlichkeit eines konsonanten Zweiklanges.
Die Bewußtseinserscheinungen der Tonika treten erst auf einer
viel höheren Stufe der Übung überhaupt hervor als die der Kon-
sonanz und Dissonanz von Zusammenklängen. Die Konsonanzwahr-
nehmung setzt, wie wir sahen, irgend welche musikalische Erfahrungen
nicht notwendig voraus. Dagegen ist die Tonika, im hier gemeinten
(Lipps sehen) Sinne des Wortes, wesentlich bedingt durch regel-
mäßige Erfahrungen an konsonanten Zusammenklängen.
Anders wären die Haupttatsachen der exotischen Musik nicht zu
begreifen. Wo die Konsonanz (des Zusammenklanges) fehlt, da gibt
es auch keine Tonika. Was man in gewissen orientalischen Musik-
systemen als »Hauptton« oder »melodischen Schwerpunkt« bezeichnet,
ist etwas wesentlich anderes als die Tonika unsrer harmonischen
Musik. In indischen Melodien z. B. pflegt ein einzelner Ton, der
keineswegs immer der Schlusston ist, durch häufige Wiederkehr, durch
längere Dauer, durch schleifende oder trillerartige Verbindung mit
den Nachbartönen und dei^leichen ausgezeichnet zu sein'). Solche
Art der »Tonalität« hat mit der Konsonanz nichts zu tim; — sie
findet denn auch keine Stelle in Lipps' »Theorie der Melodie«,
welche Theorie überall in unanalysierter Weise die Tatsachen der
Konsonanz voraussetzt.
Nach der Theorie der unbewußten Schwingungsrhythmen wären
auch im Nacheinander, ohne jeden Einfluß der Zusammenklänge, die
»konsonanten« Töne (einfachen Schwingungsverhältnisses) verwandt-
schaftlich einander zugeordnet; sie forderten sich g^enseitig; sie
drängten aufeinander zu. Bei dieser Grundauffassung bleibt, ich
wiederhole es, unverständlich, daß die meisten exotischen Völker, von
deren Musik wir wissen, unsre konsonanten Intervalle gar nicht oder
*) Abraham und v. Hornbostel, Sammelbände d. Internat. Musik-Gesellsch. V,
384, 39off., 395-
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Die Theorie der Konsonanz. 253
nur zum geringsten Teile gefunden haben (die Siamesen kennen davon
nur die Oktave), daß sie ihre — ziel- und schwerpunktlosen, ja be-
ziehungslosen? — Melodien nicht nur ertragen, sondern den unsrigen
vorziehen. Was den Rhythmus im eigentlichen Sinne betrifft, nament-
lich die rhythmische Gliederung aufeinanderfolgender Schalleindrücke,
so sind dessen Formen bei eben diesen Völkern bekanntlich den
unsrigen mindestens ebenbürtig, wenn nicht weit überlegen.
Die vergleichende Untersuchung der fremden Musiksysteme stimmt
mit der rein empirischen Analyse unsres gegenwärtigen musikalischen
Bewußtseins in dem Ergebnis überein: Tonfolge und Zusammenklang
lassen sich, auch in ihren allgemeinsten Erscheinungen, nicht auf
dieselbe Formel bringen; homophone Musik gestattet, eben als homo-
phone, die allerverschiedensten Intervalle und Melodieformen; Kon-
sonanz und Dissonanz sind ursprüngliche Eigenschaften lediglich von
Zusammenklängen; imser diatonisches Intervallsystem, unsre Melodik
und Tonalität sind Produkte einer Entwickelung, die wesentlich
durch die Erfahrung konsonanter und dissonanter Zusammenklänge
bestimmt ist.
Die Erscheinungen der Konsonanz und Dissonanz sind letzlich auf
die gesetzmäßigen Eigenschaften der Differenztöne zurückzufiihren.
Nun besteht zwischen diesen »Nebentönen« — und der Tonalität
in unserm Sinn des Wortes ein tatsächlicher Zusammenhang, der sich
bei der Analyse namentlich von Quinten und Quarten geradezu auf-
drängt. Weil wir noch keine exakten Beobachtungen über die
Tonalität besitzen, habe ich es bisher unterlassen, diesen Zusammen-
hang hervorzuheben ; er ist aber sicherlich nicht ohne psychologische
Bedeutung und mag daher anhangsweise hier Erwähnung finden.
Vergleicht man unbefangen und noch ohne Analyse der DifTerenz-
töne eine simultane Quarte mit einer ebensolchen Quinte, so kann
man ein gewisses Übergewicht bei der Quarte des höheren, bei der
Quinte dagegen des tieferen Primärtones finden. Stehen z. B. die Zwei-
klänge beide auf dem Grundton 6 — wodurch freilich eine merkliche
Kontrasthebung beidemale des höheren Primärtones zustande kommt
— so hat in der Regel die Quarte entschieden »g- Charakter«, die
Quinte dagegen mehr »(S-Charakter«. Diese Beobachtung wurde mir
von mehreren, theoretisch unbefangenen Musikern bestätigt. Nun
enthält, wie man sich erinnert, die Quinte (2:3) einen einzigen, relativ
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2 54 ^«^^^ Krneger,
sehr starken Differenzton 6, die tiefere Oktave des Grund tones
(Verhältniszahl i); die Quarte {3:4) enthält als Differenztöne die beiden
5 I und 2, also die tiefere Oktave und Doppeloktave des höheren
Primärtones. Jeder hört diese Differenztöne regelmäßig bei simul-
tanen Quinten und Quarten und auch noch bei den entsprechenden.
Tonschritten, wie sie in der Musik gewöhnlich erzeugt werden
(ligato; Zusammenwirken mehrerer Stimmen oder Instrumente). Daß
man die Differenztöne im allgemeinen nicht gesondert heraus-
hört, kann nach allem früher Gesagten ihre Wirkung im unmittel-
baren Gesamteindruck nicht aufheben, sondern eher verstärken. Die
Erfahrungen solcher, vollständigen oder partiellen Zusammenklänge
sind für jedes Mitglied unsres Kulturkreises zahlreich und wirksam
genug, um die Auffassung derselben Intervalle auch bei strenger
Ton folge entscheidend zu bestimmen.
Berechnet man, und beobachtet unter diesem Gesichtspunkte die
Differenztöne der übrigen konsonanten Zusammenklänge — immer
stellt sich unterhalb des Grundtones die ganze Reihe der Verhältnis-
zahlen her, und immer hat der »charaktistische« Hauptdifferenzton
die Verhältniszahl i — , so dürften noch andere Zusammenhänge mit
der Tonalität hervortreten. Bei der Oktave z. B. (1:2) ist ein starkes
Übergewicht des Grundtones schon manchem Beobachter aufgefallen;
und Lipps behauptet entschieden eine entsprechende Tonika des
Oktavenschrittes. Hier fallen bekanntlich beim Zusammenklang alle
Differenztöne mit dem Grundton (i) zusammen, der dadurch an wirk-
licher Empfindungsintensität erheblich zunimmt. Die unvollkommenen
Konsonanzen sind hinsichtlich eines solchen Schwerpunktes schlechter
gestellt, was durch die früher geschilderten Verhältnisse ihrer Differenz-
töne begreiflich wird (verschiedene Tonhöhe der zunehmend zahl-
reichen, geringere Intensität und Deutlichkeit des charakteristischen
Differenztones bei zunehmender Entfernung — nach der Tiefe — von
den Primärtönen). Die Dissonanzen, für sich allein gehört, ermangda
notwendig des Schwerpunktes überhaupt.
Hier hätten wir genau die von Lipps gesuchte »wirksame Basis«
der Intervalle, den »Schwerpunkt« oder »herrschenden Ton« seiner
Theorie der Melodik; wir brauchen nur hinzuhören, nur festzustellen^
was bei Zusammenklängen tatsächlich imd regelmäßig in der bewußten
Empfindung g^eben ist. Auch von dieser Seite her erweist sich
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Die Theorie der Konsonanz.
255
die geistvolle Hypothese der unbewußten Tonschwingfungsrhythmen
als unnötig, ja — auf die Dauer — als ein Hindernis der rein er-
fahrungswissenschaftlichen Erkenntnis.
Der nächste, abschließende Teil dieser Arbeit hat im einzelnen
Stellung zu nehmen zu den Bedenken, die Stumpf gegen die Dififerenz-
tontheorie der Konsonanz ausgesprochen hat. Hieraus werden sich einige
konkrete Aufgaben der weiteren experimentellen Forschung ergeben.
(Schloß folgt.)
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über das Ansteigen der Tonerregung
Gustav Kafka.
Mit 22 Figuren im Text.
I. Einleitung und allgemeine Prinzipien der Messung.
Allgemeines über die Problemstellung.
Es mag als Beitrag zur Lehre von den sprachlichen Analogie-
bildungen dienen, daß bereits A. Fiele in seiner Abhandlung »Über
den zeitlichen Verlauf der Erregung in der Netzhaut« (Arch. f. Anat.
u. Phys. 1863, S. 747) den Ausdruck des »Anklingens« der Err^fung,
in Analogie zu dem von ihm »im Anschluß an den bestehenden
Sprachgebrauch« verwendeten Ausdruck des Abklingens einfuhrt.
An einer exakten Untersuchung des Anklingens, d. h. des allmäh-
lichen Ansteigens der Empfindungsintensität bei Einwirkung eines
konstanten Reizes hat es aber gleichwohl bisher gerade auf aku-
stischem Gebiet gefehlt. Hier sind ja die peripheren Bedingungen
des Erregungsprozesses so beschaffen, daß auf sie am ehesten der
physikalische Begriff des Anklingens nach den Prinzipien der Reso-
nanz anwendbar wäre. Da wir aber vorläufig nicht imstande sind,
eine Abgrenzung jener peripheren von den zentraleren Bedingungen
vorzunehmen, die auch hier für die bloß allmähliche Entwickelung
der Erregung in Betracht kommen, kann jener Ausdruck des An-
klingens wiederum nur bildlich das allmähliche Ansteigen der Emp-
findung zum Ausdruck bringen, das im folgenden rein nach seinem
subjektiven Effekt untersucht werden soll.
Der Bedeutung analoger Untersuchungen über den zeitlichen Ver-
lauf der Erregung, wie sie auf optischem Gebiet zur Erklärung des
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Ober das Ansteigen der Tonerregnng. 257
Talbotschen Gesetzes, der Nachbilder usw. herangezogen werden,
wendet man nunmehr auch in der Akustik größere Aufmerksamkeit
zu^. Eine nicht geringere Bedeutung aber muß eine derartige Fest-
stellung für spezifisch psychologische Probleme besitzen, zu deren
Untersuchung kurzdauernde akustische Reize verwendet werden').
Um nun den Verlauf des Ansteigens der Empfindung verfolgen
zu können, bedarf es natürlich eines Maßes der Intensität für kon-
stante Tonquellen und genauer Methoden zur zeitlichen Abgrenzung
ihrer Einwirkung. Da sich aber bisher weder das Eine noch das
Andere in befriedigender Weise erreichen ließ, ist es allen Arbeiten,
die sich mit dem Ansteigen der Tonerregung befaßt haben, gemein-
sam, daß sie zwar ganz allgemein über eine Zunahme der Toninten-
sität mit der Tondauer referieren, daß sie aber den Verlauf des An-
stieges selbst nicht zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machen.
So geben bereits Exner^), Max Meyer*), Abraham und BrühP)
in ihren Arbeiten über kürzeste Töne an, daß innerhalb kurzer Zeiten
die Intensität eines Tones nicht nur von der Amplitude, sondern
auch von der Anzahl der zur Perzeption gelangenden Schwingungen,
also von der absoluten Zeit seiner Einwirkung abhänge. Exner
will sogar die Zeit bestimmt haben, in welcher der Ton das Maxi-
mum seiner subjektiven Intensität erreiche, und gibt dieselbe für
den Ton C mit 44 Schwingungen, d. i. 0,69 Sek., für den Ton c
mit 48 Schwingungen, d. i. 0,375 Sek. an. Doch bemerkt er selbst,
daß seine Angaben keinen Anspruch auf Genauigkeit erhöben, da
die Intensität anfangs sehr schnell, später aber sehr langsam anwachse,
so daß die Bestimmung des Maximums auf Schwierigkeiten stoße.
Auch Urbantschitsch^) macht ausführliche Angaben über das
Anklingen akustischer Empfindungen. Er konstatiert, daß ein leiser
Stimmgabelton erst nach i — 2 Sek. in seiner vollen Intensität
wahrgenommen werde, und daß die Empfindung um so später
ihre volle Intensität erreiche, je geringer der Schallreiz sei. Dieses
*) Marbe, Pflügers Arch. C. 1903.
*) Schulze, Phiios. Stnd. XIV, S. 5. Stumpf, Ztschr. f. Psych, u. Phys.
XXVII, S. 148.
3) Pflügers Arch. XUI, 1876, S. 234.
^) Zeitschr. f. Psych, u. Physiol., XI, S, 207.
*) Zeitschr. f. Psych, u. Physiol., XVm, S. 203.
6) Pflügers Arch. XXV, 1881, S. 323.
Wundt, Psychol. Studien II. I7
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258 Gustav Kafka,
Resultat stimmt völlig mit den Angaben Dennerts') überein, daß
ein leiser Ton eine größere Darbietungszeit beanspruche, um zur
Perzeption zu gelangen. Urbantschitsch") weist femer auf Sum-
mationserscheinungen im Gehörorgan hin, die darin ihren Aus-
druck finden, daß der Prüfungston ungewöhnlich viel rascher an-
klinge, wenn die einzelnen Prüfungen unmittelbar aufeinander folgen,
als wenn sie durch längere Pausen getrennt seien, und macht endlich
Angaben über einen starken Abfall der Perzeptionsfähigkeit
des Ohres für einen Ton, der einige Zeit in starker Intensität ein-
gewirkt hat; danach wäre ein Absinken der subjektiven Intensität
des Tones nach erreichtem Maximum zu erwarten, doch hat sich
diese Erwartung in den vorliegenden Versuchen offenbar wegen der
relativ geringen verwendeten Intensitäten nicht betätigt. Auch
Schäfer^) ist übrigens der Ansicht, daß bei Reizen von geringer
und mäßiger Stärke eine Intensitätsabnahme der Empfindung nicht
zu beobachten ist und verhält sich den entg^enstehenden Argu-
menten gegenüber durchaus ablehnend. Im folgenden soll nun der
erste Versuch einer genauen Anstiegmessung an der Hand eines
Intensitätsmaßes und genauer Zeitabstufungen mitgeteilt werden, der
sich aber^ da er. noch mit großen methodischen Schwierigkeiten zu
kämpfen hatte, auf die Untersuchung der allgemeinsten Verhältnisse
des Anstieges beschränken mußte.
Es dürfte hier nunmehr der Ort sein, kurz daran zu erinnern,
was es heißt, das Ansteigen einer Sinneserregung überhaupt einer
Messung zu unterziehen. Dasselbe Problem hat bereits Büchner
(Psychol. Studien II, 2) einer eingehenden und streng analytischen
Untersuchung unterzogen, so daß ich mich hier auf eine kurze und
mehr anschauliche Darstellung beschränken kann.
Der direkten Messung sind natürlich im gegebenen Falle nur die
Zeiten und die physikalischen Intensitäten unterworfen, und der Ver-
such liefert nur eine Angleichung zwischen zwei Empfindungen, deren
eine einem Vergleichsreiz von konstanter Intensität und variabler
Dauer, und deren andere einem Hauptreiz von variabler Intensität
') Arch. f. Ohrenheilkunde XXXIV, 1892, S. 165.
») Pflügers Arch. XXIV, 1881, S. 574.
3) Nagels Hdb. d. Phys. IH, S. 509 f.
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über das Ansteigen der Tonerregung.
259
und konstanter Dauer entspricht. Der Gang einer Versuchsreihe
läßt sich somit durch die Figur i in folgender Weise versinnlichen.
Auf der Ordinate sind die physikalischen Intensitäten, auf der Abszisse
die Zeiten aufgetragen zu denken. Die Vergleichsreize P^ P^ P
liegen somit sämtlich in einer Geraden mit konstanter Ordinate toy
die Hauptreize P'^ P\ P^ in einer Geraden mit konstanter Abszisse
to' Mit dem Anwachsen der Darbietungszeit des Vergleichsreizes,
das dem Fortschreiten auf der Geraden i = io entspricht, wächst
auch die zur Herstellung einer gleichen Empfindung erforderliche
physikalische Intensität des Hauptreizes entsprechend dem Fort-
schreiten auf der Geraden /=/^. Die Gleichheit der den beiden
i
4«
iL,
f'tc
Fig. I.
Reizen zugeordneten Empfindungen ist durch die Verbindung der
die beiden Reize darstellenden Punkte durch eine »Isohypse« an-
gedeutet. Dieses Schema sucht den tatsächlichen Verhältnissen darin
nachzukommen, daß das Ansteigen der physikalischen Intensitäten,
erst rasch, dann immer langsamer erfolg^, bis es endlich ein Maxi-
mum erreicht hat. Die durch die Punkte 11^ , JT^ usw. gelegte Kurve
symbolisiert somit die Gleichwertigkeit bestimmter Vergleichsreize
und Hauptreize im vorher festgelegten Sinne, indem sie das an-
fänglich raschere, dann immer langsamere Anwachsen der i Werte
des Hauptreizes bei konstantem Anwachsen der / Werte des Ver-
gleichsreizes unmittelbar veranschaulicht. Ein solches Bild nun bringt
die tatsächlichen Beobachtungen über die Empfindungs-Äquivalenz
17*
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200 Gustav Kafka,
von Reizen verschiedener Intensität und Dauer zu erschöpfender
Darstellung, ohne jedoch über das Verhältnis der Empfindungs-
intensitäten zueinander den mindesten Aufschluß zu geben, das somit
außerhalb des Rahmens einer derartigen Untersuchung liegt.
Prinzip des Intensitätsmaßes.
Es handelt sich nach dem Gesagten nun vor allem um ein In-
tensitätsmaß, das in bequemer Weise in eine Röhrenleitung eingefügt
und zur Durchführung der obengenannten Vergleichungsmethode
rasch und mit konstanter Abstufung variiert werden kann. Diese
Aufgabe schien durch ein System von Röhren gelöst, welche in die
Leitung des in seiner Intensität zu variierenden Tones eingefügt
wurden und eine für eine bestimmte Röhre konstante Abdämpfung
des Tones bewirkten. Die Abdämpfung wurde hierbei durch eine
verschiedene Anzahl von feingebohrten Löchern herbeigeführt, die
einen schalldichten Boden in der Röhre in symmetrischer Anordnung
auf einem konzentrischen Kreis durchsetzten. Selbstverständlich
wäre die Abstufung der Intensität von einer Proportionalität zur An-
zahl der Bohrungen weit entfernt, wenn die Einrichtung der Röhre
nichts enthielte, als eine bestimmte Anzahl von Verbindungen
zwischen dem ersten und zweiten Teil der Röhre, und die Wan-
dungen im übrigen abgeschlossen wären. Denn wenn auch die
Intensität zunächst infolge der symmetrischen Verteilung als eine
Summe gleichartiger Wirkungen betrachtet werden kann, so ist doch
das symmetrisch aufzuteilende und wieder zusammenzufassende Ganze
selbst von der jeweiligen Anzahl der Öffnungen im Röhrenboden
insofern abhängig, als die Reflexion der Luftwellen an dem Abschluß
dieser Röhren den fortgeleiteten Ton in seiner Intensität immer mehr
verstärken würde, je mehr Röhren geschlossen sind, so daß die Be-
ziehung zwischen Schwächung des Tones und Zahl der verschlossenen
Röhren eine überaus verwickelte würde. Sodann aber könnten sich
bei einer derartigen aus längeren Röhren bestehenden Leitung leicht
Interferenzen einstellen, welche jene Beziehung noch mehr kompli-
zieren würden. Eine derartige Komplikation durch Interferenz und
Resonanz zeigte sich besonders stark bei den Vorversuchen, bei
welchen die symmetrische Verteilung und Sammlung des Schalles
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über das Ansteigen der Tonerregung.
261
R
durch einen Kranz längerer durch Abstöpselung zu unterbrechender
Röhren vorgenommen wurde*).
Deshalb wurde dieses Prinzip der Leitung durch mehrere Röhren
dahin modifiziert, daß in verschiedene Röhren gleichen Kalibers, die
immer in dieselbe Leitung eingesetzt wurden, eine verschiedene An-
zahl von Öffnungen in der in Figur 2 angegebenen Weise gebohrt
wurde. Die Figur 2 stellt eine derartige Röhre im Längsschnitt dar.
Die zylindrische Röhre i?, die direkt in die Schall-
leitung eingefügt ist, endete in einen verbreiterten
zylindrischen Raum uff, der ebenfalls direkt in die
Leitung eingefügt und durch den — wie es sich
herausstellte — vollständig schalldichten Metallboden
M von R getrennt war. Von B aus wurden nun bei
allen verwendeten Röhren 20 über die Peripherie sym-
metrisch verteilte Gänge in der auf der Figur ange-
gebenen kreuzförmigen Weise gebohrt. Diese Gänge
wurden nun entweder in der bei a angedeuteten
Weise durch eingeschlagene Stöpsel verschlossen:
dann stand B direkt mit R in Verbindung. Oder
aber es wurde wie bei d eine zweite Öffnung nach
außen gebohrt und der andere Teil der Leitung in
der angedeuteten Weise durch zwei Metallstöpsel ver-
schlossen, so daß die von B kommende Luft welle
direkt in die freie Luft austrat (natürlich aber so ge- Fig. 2.
schwächt, daß sie nicht zur Erregung einer Tonemp-
findung hinreichte), die sich in R ausbreitende Luftwelle aber nicht
durch Reflexion an einer Wand verstärkt werden konnte, da sie
ebenfalls durch die zweite Öffnung mit dem umgebenden freien Luft-
raum in Verbindung stand. Bei der Röhre / mündeten sämtliche
Öffnungen ins Freie ; je höher die Röhrenzahl stieg, destomehr Boh-
rungen waren zwischen B und R geöffnet, bis schließlich bei Röhre 20
die Verbindung zwischen B und R durch sämtliche Bohrungen her-
B
') Aach die Variation der Intensität mit Hilfe eines Ventils ergab nur eine sehr
komplizierte Funktion zwischen Ventilstellnng und Intensität, weil bereits eine sehr
kleine öffnnng des Ventils eine relativ große Zunahme der Tonintensität zur Folge
hatte, und hier überdies die sukzessive hinzukommenden Teile der Öffnung nicht
symmetrisch zur Leitung lagen.
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202
Gustav Kafka,
gestellt war. Daß sich nun mit diesen Röhren tatsächlich eine genaue
und leicht meßbare Abstufung der Tonmtensität erzielen ließ, er-
gibt sich aus den folgenden Versuchen, bei denen eine rein em-
pirische Eichung der Röhren vorgenommen wurde. Zu diesem
Zwecke wurden von dem Resonanzkasten einer elektromagnetischen
Stimmgabel {G Figur 3), die sich in einem Nebenzimmer des Be-
obachtungszimmers befand und von diesem somit durch eine Wand
getrennt war, zwei Leitungen abge-
nommen und mittels Röhren durch
die Wand geführt; in jede dieser
Leitungen war im Beobachtungs-
zimmer ein Ventil Feingeschaltet.
Diese Leitungen waren mit Einrich-
tungen zum Einsetzen der Röhren
R versehen und mündeten jede mit
einem besonderen Schlitz in dem
Kasten K, der an seiner Vorderseite
zwei verschiebbare, mit je einem
Schlitz versehene Schlitten S^S^
trug, von denen jeder sukzessive vor
den entsprechenden Schlitz im Kasten
K geschoben werden konnte, so daß
die durch beide Leitungen dringenden Töne bequem miteinander ver-
glichen werden konnten. Um die dabei angewendete Vergleichungs-
methode leichter darstellen zu können, bediene ich mich einer gra-
phischen Symbolisierung (Fig. 4). In der Ebene xy sind als
Abszissen die Ordnungszahlen der einzelnen Röhren, als Ordinaten
die durch dieselben fortgeleiteten Tonintensitäten aufgetragen zu
denken. Zwischen Röhrenzahl und Intensität wird sich nun eine
Beziehung ausfindig machen lassen, die wir vorderhand bIs ysss/(x)
bezeichnen und durch die Kurve A B darstellen wollen. Wenn ich
nunmehr die Intensität des Tones auch in anderer Weise, etwa durch
ein Ventil, abschwächen kann, so muß ich diese Schwächung der
Tonintensität in der dritten Dimension des Raumes auftragen. Es
ist dann diese Schwächung bei einer bestimmten Ventilstellung für
alle Röhren proportional zu denken.
Man braucht also nur von P, einem Punkt außerhalb der Ebene
Fig. 3.
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über das Ansteigen der Tonerregong.
263
xy nach allen Punkten von AB Strahlen zu ziehen, die in ihrer
Gesamtheit eine gekrümmte Fläche darstellen. Jeder zur Ebene xy
parallele Durchschnitt durch diese Fläche wird dann eine der Kurve
A B ähnliche Kurve bilden, welche die Intensitätsverhältnisse aller
Röhren für eine bestimmte Ventilstellung darstellt. Der Einfachheit
halber ist auf der Figur ein
solcher Durchschnitt ge-
wählt, bei dem die Intensi-
tät des Tones durch Zu-
drehen des Ventils gerade
auf die Hälfte der Intensität
gebracht ist, die er besäße,
wenn das Ventil vollkommen
geöffnet wäre. Es wird da^-
her der Punkt A mit der
Abszisse x^ in der xy Ebene
die gleiche Ordinate y be-
sitzen können, wie der
Punkt C mit der Abszisse
x\ in der xf y* Ebene. Auf
die Verhältnisse des Ver-
suches selbst übertragen,
bedeutet dies somit, daß
dem Ton, der durch die
Leitung / bei vollständig geöffnetem Ventil drang, wenn die Röhre /
eingesetzt war, der durch die Leitung // dringende Ton, welcher
die Röhre 4 passierte, durch Zudrehen des Ventils gleichgemacht
worden war.
Wurde nun, ohne die Stellung des Ventils zu verändern, in der
Leitung / eine andere Röhre eingesetzt und die Röhre gesucht,
welche in die Leitung // eingefügt werden mußte, um beide Töne
als gleich erscheinen zu lassen, so läßt sich dies wieder graphisch
symbolisieren dadurch, daß man in der Kurve A B einen Punkt mit
einer anderen Abszisse (etwa x>f fixiert und nunmehr in A E die
Abszisse (im gegebenen Fall xf^^ desjenigen Punktes bestimmt, der
die gleiche Ordinate besitzt Auf diese Weise erhält man die Glei-
chungen:
Fig. 4.
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264 Gustav Kafka,
Ein System von Gleichungen, das ich aus Beobachtungen ableitete,
die nach ganz unwissentlicher Methode angestellt waren, erwies sich
in erster Annäherung erfüllt durch f{x) = x + C^ wobei C im all-
gemeinen = 4, für Röhre / und 2 etwas kleiner war. Die Konstante
blieb sich unter gleichen Leitungsverhältnissen für die Töne von
256 — 512 Schwingungen und bei allen verwendeten Intensitäten der
Gabel gleich. Die Präzision der Vergleichung war eine derartige,
daß Röhre p und 10, also die Intensitäten 13 und 14 noch ohne
weiteres bei unwissentlichem Verfahren richtig unterschieden werden
konnten.
Damit ist nach der Methode der Minimaländerungen für konstante
Töne eine viel feinere Unterschiedsschwelle festgestellt, als man bis-
her, vor allem auf Grund von Untersuchungen mit Fallgeräuschen
angenommen hatte.
Prinzipien der Zeitvariation.
Wenn ferner auch in den Arbeiten über die Zeitschwellen der
Tonempfindung bereits verschiedene Methoden zur Herstellung kür-
zester Darbietungszeiten angegeben waren*), so entsprach doch keine
derselben den Anforderungen, welche die vorliegende Untersuchung
an die leichte Meßbarkeit der Dauer eines zugeleiteten Tones inner-
halb ziemlich weiter Grenzen und an das geräuschlose Funktionieren
des Apparates stellte. Es kamen im vorhinein nur diejenigen Me-
thoden in Betracht, bei denen die Schwingungen einer Stimmgabel
während einer abstufbaren Zeit auf das Ohr einwirkten. Da ergab
sich denn bei der Exnerschen Vorrichtung"*), bei welcher die Ab-
klemmung eines Zuleitungsschlauches eine bestimmte Zeit hindurch
aufgehoben wurde, daß sich bei rascher Öffnung des Schlauches
überaus störende Nebengeräusche ergaben, während bei langsamer
Öffnung zwar die Geräusche verschwanden, die Zeitbestimmung dafür
aber um so ungenauer wurde. Die von Schulze^ angegebene An-
') Vgl Schäfer, Nagels Handbuch der Physiol. III, 500 ff.
') a. a. O. S. 232.
3) Phüos. Studien XTV. S. 487.
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über das Ansteigen der Tonerregung. 265
Ordnung, bei welcher ein durchschwingendes Pendel bei seinem
Durchgang durch die Ruhelage eine Hahnvorrichtung faßte und
durch deren Drehung den Ton für eine bestimmte Zeit durchließ,
zeigte vor allem den Nachteil sämtlicher Hahnvorrichtungen, daß
nämlich das allmähliche Öffnen des Hahns nur ein allmähliches An-
steigen des Tones auf seine volle Intensität gestattet, und daß sich
ferner die Hahndrehung in der angegebenen Weise nur unter den
größten Kautelen tatsächlich geräuschlos durchführen läßt. Ein
anderes einfaches Prinzip, einen Ton für kurze Zeit darzubieten, wie
es bereits von Mach ') angegeben worden ist, besteht darin, die
Leitung zu unterbrechen und an der Unterbrechungsstelle eine ver-
schiebbare Lamelle einzufügen, so daß der Ton die Leitung nur
passieren kann, wenn die Lamelle die Unterbrechungsstelle freigibt.
Mach selbst bewirkte die Verschiebung durch Rotation einer Kreis-
scheibe mit radialem Ausschnitt. Urbantschitsch endlich verwen-
dete eine in eine Spitze ausgezogene und an einem Pendel befestigte
Glasröhre, die an einer ebensolchen, aber fest aufgestellten vorbei-
schwang. (Pflügers Archiv XXIV, S. 574 — 595.)
Im Anschluß an das bekannte Prinzip des Tachistokops, in wel-
chem ein Spalt von beliebiger Ausdehnung für eine bestimmte Zeit
ein Expositionsobjekt freigibt, wurde nun im Leipziger psycholo-
gischen Institut zunächst ein Apparat konstruiert, in welchem ein
mit einem spaltförmigen Schlitz versehener Schlitten zwischen zwei
einander gegenüberstehenden spaltförmig verengten Röhrenenden
geräuschlos durchgezogen wurde. Zur leichteren Abstufung der Ex-
positionszeit sowie zur Herstellung einer konstanten Situation in der
Leitung während der Exposition, wurde die Öffnung und Schließung
je einem von zwei in die nämliche Leitung nahe beieinander ein-
gefügten Schlitten übertragen, die bei sukzessiver Öffnung zweier
Kontakte nacheinander von den sie zunächst festhaltenden Magneten
losschnellten. Eine derartige Anordnung findet gegenwärtig im
Leipziger psychologischen Laboratorium bei Untersuchungen über
die Zeitschwellen der Tonwahrnehmung Verwendung. Statt eine
einfache Wiederholung dieses Apparates zu benutzen, wurde nun
dieses Prinzip weiter vereinfacht, indem auch noch die Apparate für
*) Lotos 23, S. 146 nach Nagel, Handb. d. Phys. III.
Digitized by VjOOQiC
206 Gnstav Kafka,
Öffnung und Schließung von der Spaltvorrichtung abgetrennt wurden,
an deren Stelle ein Hahn eingesetzt wurde. Bei den mit der Hahn-
vorrichtung angestellten Versuchen zeigte sich aber, daß ein voll-
ständig geräuschloses Funktionieren des Apparates nicht zu erreichen
war. Ich entschloß mich daher, den Vorteil der Hahnvorrichtung,
den Ton schon durch einen ganz schmalen Spalt in ungeschwächter
Intensität fortzuleiten, fürs erste aufzugeben und die Versuche zu-
nächst mit tatsächlich vollständig geräuschlos funktionierenden La-
mellenvorrichtungen zu beginnen, die aus den von Mach und Urban-
tschitsch getroffenen Anordnungen kombiniert warem^ Um nämlich
eine Ausbreitung des Tones vom Ende der zur Stimmgabel führen-
den Zuleitungsröhre in die Umgebung zu verhindern, wurde diese
und daher auch die ihr gegenüberliegende, zur Aufnahme des Tones
dienende Röhre in eine Spitze mit möglichst feiner Öffnung aus-
gezogen, wodurch die Intensität des Tones natürlich sehr herab-
gesetzt war. Trotzdem gelang es bei der einen Spitzenleitung nicht,
die Ausbreitung des Tones bei geschlossener Leitung völlig hintan-
zuhalten', so daß der durch die Leitung gehende Ton sich immer
erst auf einen konstanten, wenn auch überaus schwachen Ton auf-
setzte. Daß aber dieser überaus leise Ton auf die Resultate keinen
merklichen Einfluß ausgeübt haben kann, glaube ich daraus schließen
zu dürfen, daß die mit den Lamellenvorrichtungen angestellten Ver-
suche dasselbe Bild liefern wie jene, bei welchen die Hahnvorrichtung
angewendet wurde.
Die beiden Gruppen der von mir angestellten Versuche stehen
somit unter verschiedenen Bedingungen. Die Versuche mit Spitzen-
leitung einerseits hatten den Vorteil einer völlig geräuschlosen
Darbietung des Tones, dagegen den Nachteil, daß sich der erste
Prüfungston immer erst auf einen konstant hörbaren, wenn auch
sehr leisen Ton aufsetzte. Außerdem konnten nur schwache
Intensitäten untersucht werden. Die Versuche mit der Hahnvor-
richtung hatten andererseits den Vorteil einer völlig schall-
dichten Leitung; doch ließ sich ein leises Geräusch beim
Öffnen und Schließen der Leitung nicht vermeiden. Die ver-
wendete Intensität war dagegen eine viel stärkere als bei der
anderen Versuchsgruppe.
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über das Ansteigen der Tonerregung.
267
II. Versuche mit geringer Intensität.
(Spitzenleitung.)
Die Fig. 5 gibt eine schematische Darstellung der hier verwen-
deten Versuchsanordnung. Die in einem Resonanzkasten befindliche
und in einen anderen schalldichten Kasten eingebaute elektromagne-
tisch betriebene Stimmgabel war in einem neben dem Beobachtungs-
Fig. 5.
Zimmer gelegenen Räume autgestellt, damit ihr Ton nicht direkt im
Beobachtungszimmer gehört werde. Aus dem Resonanzkasten der
Gabel, der auf der Skizze mit G angedeutet ist, führen drei Lei-
tungen durch die Wand in das Beobachtungszimmer'). Die Leitung /
mündete direkt in die an dem Lamellenpendel (Fig. 6) angebrachte
Spitzenleitung 5,. Die Leitungen IIa und IIb vereinigten sich im
Beobachtungszimmer selbst zur Leitung //, und diese führte zur
Spitzenleitung S^ des Lamellenhebels (Fig. 7). Diese Anordnung
mußte getroffen werden, um die Intensität des Tones, der durch die
Spitzenleitung 5, überaus geschwächt wurde, zu verstärken, da der
Ton in der Spitzenleitung 5, weniger an Intensität verlor. Die aus
den Spitzenleitungen 5, und S^ kommenden Leitungen /* und IP
wurden schließlich wieder durch ein Gabelrohr vereinigt, und diese
gemeinsame Leitung durch eine Hörspitze direkt in den äußeren
Gehörgang des Beobachters eingeführt.
Das Lamellenpendel (dazu Fig. 6) bestand im wesentlichen aus
einer massiven, ankerförmig gebogenen Pendelstange, deren beide
unteren Arme einen Teil eines Kreisringes K bildeten, dessen Mittel-
*) Im schraffierten Teil der Leitung waren metallische Röhrenstücke eingesetzt,
während die übrige Leitung durch Kautschukschlänche gebildet wurde.
Digitized by VjOOQiC
268
Gustav Kafka,
punkt im Drehpunkt D* der Pendelstange lag, so daß jener Kreis-
ring einen konstanten kleinsten Abstand von der Bodenfläche behielt.
Der Kreisring trug an seinem unteren Rande eine Nut, in welcher
zwei dünne Stahllamellen Z, imd L^ von ebenfalls ringförmigem
Zuschnitt verschiebbar waren und durch Schrauben fixiert werden
konnten. Die Spitzenleitung 5 war so angebracht, daß die Achse
der beiden Röh-
ren durch die Mit-
tellinie des Pendels
ging und senkrecht
auf der Schwin-
gungsebene des
Pendels stand. Die
Höhe der Spitzen
war so reguliert,
daß die Lamelle
die Leitung völlig
abschloß, wenn
sie sich zwischen
den Spitzen be-
. fand. Die hintere
Röhre trat durch
den vertikalen Teil
des Pendelstativs
ein, und beide
Röhren konnten
einander bis auf
die Dicke der
Lamelle genähert
werden. Der Versuch erfolgte in der Weise, daß das Pendel zu-
nächst bis an den Anschlag A emporgehoben wurde. Dann war die
Leitung durch die Lamelle L^ unterbrochen. Sobald das Pendel
losgelassen wurde, schwang es völlig geräuschlos zwischen den bei-
den Spitzen durch und gab die Leitung für eine Zeit frei, welche
dem Abstand der beiden Lamellen voneinander entsprach. Sobald
die Lamelle Z, zwischen die Spitzen trat, war die Leitung natürlich
wieder unterbrochen. An der Pendelstange war ferner ein Faden F
Fig. 6.
Digitized by VjOOQiC
über das Ansteigen der Tonerregung. 269
befestigt, der zu einem mit einer Hahnvorrichtung [H in Fig. 5) in
Verbindung stehenden Hebel führte. Sobald das Pendel durch seine
Ruhelage geschwungen war, spannte sich der Faden und zog den
Hebel in die Höhe, der nun mittels des Hahnes die ganze Leitung /'
abschloß, so daß beim Zurückschwingen des Pendels der Ton nicht
mehr hörbar war. Außerdem war an der Pendelstange ein Lauf-
gewicht befestigt, durch welches die Schwingungsdauer des Pendels
reguliert werden konnte. Anfänglich sollte das Pendel an jenem An-
schlag A elektromagnetisch festgehalten werden, da aber der Magnet
beim Loslassen des Pendels heftig in die Höhe schnellte und somit
einen Eigenton erzeugte, mußte das Pendel durch einen an der
linken Seitenfläche des Stativs angebrachten Hebel gegen den An-
schlag gedrückt werden. Dieser Hebel war um eine auf jener Fläche
senkrechte Achse drehbar und ließ das Pendel ohne Geräusch los,
sobald er nach oben gedreht wurde. Die bei dieser Konstruktion
angegebene Spitzenleitung war in Wirklichkeit nicht in vollständiger
Präzision erreichbar, da die beiden Röhren nicht in eine Spitze, son-
dern in einen schmalen vertikalen Schlitz endigten. Diese Anord-
nung schwächte zwar die Intensität des Prüfungstones weniger ab,
erwies sich aber deshalb als unzweckmäßig, weil die Lamelle L^ die
Leitung / nicht vollkommen schalldicht verschloß, sondern sobald
der Hahn geöffnet worden war, wie dies zu Beginn eines jeden Ver-
suches geschehen mußte, einen konstanten Ton durchklingen ließ.
Diesen konnte ich nur dadurch auf ein Minimum reduzieren, daß
ich die Schlitze bis auf eine möglichst punktuelle Öffnung mit Wachs
verklebte. Ich glaube aber, daß derselbe völlig verschwunden wäre,
wenn auch an dem Pendel eine so feine Spitzenleitung wie an dem
Lamellenapparat angebracht gewesen wäre. Bei diesem nämlich war
die Spitzenöffnung tatsächlich punktuell und der Lamellenverschluß
daher vollkommen schalldicht. Sobald übrigens der Hahn geschlossen
war, war auch die durch das Schallpendel gehende Leitung voll-
kommen schalldicht abgesperrt, so daß jener Ton nur als konstante
Unterlage für den durch Leitung / gehenden Ton in Betracht kam,
da derselbe dem Beobachter immer als erster Ton zugeführt wurde.
Der Lamellenhebel (Fig. 7) bestand im wesentlichen aus zwei
an ihrem unteren Ende mit quadratischen Stahllamellen L versehenen
Stricknadeln A^, welche in einen Rahmen R derartig eingespannt
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270
Gustav Kafka,
waren, daß sie sich am oberen Ende desselben um eine zur
Figur senkrechten Achse drehen konnten, während der Spiehaum
dieser Bewegung durch zwei am unteren Rand des Rahmens be-
festigte Anschläge A^ und A^ ger^elt werden konnte. Der Nadel
gegenüber befand sich ein Elektromagnet M. War der Magnet in
Fig. 7.
Ruhe, so l^en sich beide Nadeln vermöge ihres eigenen Gewichtes
auf den Anschlag A^^ und zwar so, daß die beiden Lamellen un-*
mittelbar aneinander anschlössen. Sobald aber der Magnet anzog,
hob er die ihm gegenüberli^ende Nadel bis zum Anschlag A^ em-
por. Natürlich mußte bei der Einstellung die größte Sorgfalt darauf
gelegt werden, daß sich beide Lamellen genau in derselben Ebene
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über das Ansteigen der Tonerregung. 271
bewegten. Die Spitzen der Röhren nun, die ebenfalls in einem Rah-
men fixiert waren, standen einander an der mit 5 bezeichneten Stelle
senkrecht auf die Ebene, in welcher sich die Lamellen bewegten, genau
gegenüber, auch hier wieder nur durch die Dicke der Lamellen von-
einander getrennt. Der Versuch gestaltete sich daher in folgender
Weise: Sobald der obere Magnet anzog, drehte sich die obere
Nadel bis zum Anschlag A^ und hob somit die Lamelle L von der
mit 5 bezeichneten Stelle fort. Damit war die Leitung freigegeben.
Sobald aber der zweite Magnet anzog, drehte sich die untere
Nadel bis an den Anschlag ^,, so daß die Leitung wieder abge-
sperrt war.
Die Zeit zwischen dem Anziehen des ersten und des zweiten
Magneten wurde durch ein außerhalb des Beobachtungszimmers be-
findliches Kontaktpendel in folgender Weise reguliert. Eine Pohlsche
Wippe W (Fig. 5) war durch die Drähte / und 2 mit dem Hochstrom
des städtischen Netzes verbunden. Von der Wippe führten zwei
Drähte zu einem Ausschalter A. Befand sich derselbe in der auf
der Figur angedeuteten Lage, so war natürlich Kurzschluß herge-
stellt. Wurde der Ausschalter aber um einen rechten Winkel ge-
dreht, dann mußte sich der Hochstrom in dem dargestellten Draht-
netz verzweigen. Von dem Ausschalter A ging direkt der für die
beiden Magneten M^ und M^ gemeinsame Draht 5 ab. Von M^
führte nun der Draht 4 zum Kontakt C, , von M^ der Draht 3 zum
Kontakt C^. Vom Kontakt C^ führte der Draht 4', von C, der
Draht 3' zur Wippe zurück, aber nicht ohne vorher je zwei als
Widerstand eingeschaltete Glühlampen Z, und L^ zu passieren. Auf
der Figur sind die Kontakte C, und C^ geöffnet. Ihre Schließung
wurde durch das Herabfallen des Kontaktpendels bewerkstelligt, und
zwar wurde demnach durch die zuerst erfolgende Schließung des Kon-
taktes C, zuerst der Elektromagnet M^j sodann durch die Schließung
des Kontaktes C, der Elektromagnet M^ magnetisch. Um ein ge-
naues Funktionieren des Apparates zu ermöglichen, mußte der Strom
nach jedem Versuch mittels der Wippe W gewendet werden^ auch
wurde der Strom, sobald es nach erfolgter Schließung möglich war,
wieder geöffnet. Doch durfte die Öffnung nicht zu früh erfolgen,
da durch das Zurückfallen der Nadeln ein Ton entstand.
Da das Pendel aber beim Schließen der Kontakte ein ziemliches
Digitized by VjOOQiC
272 Gustav Kafka,
Geräusch hervorbrachte, mußte es in einem dritten Raum, sowohl
von der Schallquelle, als auch vom Beobachter entfernt aufgestellt
und mit möglichst schalldämpfenden schweren Tüchern umhängt
werden. Da auch vor der Türe, welche das Beobachtungszimmer
von dem Räume trennte, in welchem sich das Pendel befand, eine
schwere Portiere angebracht war, so war im Beobachtungszimmer
vom Geräusch des herabfallenden Pendels tatsächlich nichts mehr zu
hören. Um aber dem im Beobachtungszimmer befindlichen Experi-
mentator ein rechtzeitiges Fallenlassen des Pendels zu ermöglichen,
war folgende Anordnung getroffen. Von einem der die Stimmgabel
versorgenden Akkumulatoren (je nach ihrer Spannung uiirden ein
bis drei verwendet) gingen zwei Drähte aus, die mit den die Wand
durchbohrenden metallischen Röhren der Leitung / und IIa leitend
verbunden waren. Von der Röhre IIa ging eine Leitung zum
Taster 7) von der Röhre / eine solche durch den Draht / an den
zum Festhalten des Pendels bestimmten Magneten P.M. Von diesem
ging die Leitung durch Draht 5 wieder zum Taster Z zurück. Wurde
nun der Taster T niedergedrückt, so war die Leitung unterbrochen,
der Magnet P, M ließ das Pendel fallen, und dieses schloß bei seiner
Schwingung nacheinander die Kontakte C, und C,.
Wie bereits aus der Beschreibung der Apparate klar geworden sein
dürfte, diente bei den Versuchen das Lamellenpendel zur Variation
der Darbietungszeiten, der Lamellenhebel zur Variation der Inten-
sitäten.
Die Variation der Darbietungszeiten erfolgte in der Weise,
daß die Lamelle i, des Lamellenpendels immer weiter hinausge-
schoben wurde. Zu Beginn der Versuche war eine Eichung des
Pendels in der Weise vorgenommen worden, daß eine Gabel von
476 Schwingungen ihre Schwingungen auf die berußten und un-
mittelbar aneinander geschobenen Lamellen schrieb. Die Lamellen
wurden sodann fixiert, und wenn ich nun auf der Lamelle L^ eine
bestimmte Anzahl von Schwingungen in den Zirkel nahm und die
Lamelle L^ um eben diese Distanz von der Lamelle Z, entfernte,
hatte ich die Gewißheit, daß die Zeit, während welcher die Leitung
für den Ton freigegeben war, der Zahl der in den Zirkel genom-
menen Schwingungen entsprach. Auf diesem Wege konnte ich bis
zu einer Zeit von 0,68 Sekunden gelangen. Um längere Zeiten zu
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Ober das Ansteigen der Tonerregong. 273
erreichen entfernte ich die Lamelle L^ überhaupt, so daß die Lei-
tung während des Hin- und Zurückschwingens des Pendels geöffnet
war*). Durch Verschieben der Lamelle Z, konnte ich auch diese
Zeiten noch varüren. Die längste mir zur Verfugfung stehende Zeit
erhielt ich endlich durch Aufsetzen eines schwereren Laufgewichtes
auf die Pendektange. Alle diese zuletzt erwähnten Zeiten eichte
ich mit Hilfe des aus dem Leipziger Institut hervorgegangenen
Kehltonschreibers*) in der Weise, daß ich zunächst die Borste des-
selben durch genaue Einstellung zur Resonanz auf die Schwingungen
einer Gabel von iio Schwingungen brachte, und die Schwingung
der Borste auf ein Kymographion aufzeichnete; sodann verband ich
den Luftraum des Kehltonschreibers durch einen mit einer seitlichen
Öffnung versehenen Schlauch mit der einen Röhre der Spitzen-
leitung, während ich in einen Schlauch, der mit der anderen Röhre
verbunden war, hineinbließ. Auf diese Weise wurde während der
Öffnung der Leitung die Membran des Kehltonschreibers und somit
die ihr aufliegenden Borste gehoben, und die Zahl dieser sich von
den übrigen deutlich absetzenden Schwingungen gab mir die 2^it
der Öffnung an. In derselben Weise wurde die konstante Öffnungs-
zeit des Lamellenhebels gemessen. Diese Eichungen ergaben durch-
aus konstante Resultate.
Die Variation der Intensitäten erfolgte durch Einsetzen der
verschiedenen Intensitätsröhren (s. S. 262 f.) in die Leitung II an der
mit R bezeichneten Stelle.
Um auch am Lamellenpendel Versuche mit zwei konstanten In-
tensitäten ausführen zu können, setzte ich bei einer Versuchsgruppe
in die Leitung /' zwischen 5, und H ebenfalls eine Intensitätsröhre
als Dämpfung ein, die natürlich während der ganzen Gruppe durch
keine andere ersetzt wurde.
Mit dieser Anordnung habe ich nun drei Versuchsgruppen aus-
geführt. Bei Gruppe i und 2 wurde als Schallquelle eine Gabel
von 512, bei Gruppe 3 eine von 128 Schwingungen verwendet. Bei
') In diesen Fällen konnte der in die Leitung / eingeschaltete Hahn natürlich
nicht mehr selbsttätig durch den an der Pendelstange angebrachten Faden zugezogen
werden, sondern der Experimentator mußte nunmehr den Hahn schließen, sobald er
sah, daß die Lamelle L^ die Leitung wieder geschlossen hatte.
») Psychol. Stud. I, i.
Wundt, Psychol. Studien II. iS
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2 JA Gnstav Kafka,
Gruppe 2 war in die Leitung P die Intensitätsröhre 16 als Dämpfung
eingesetzt. Die Zeitlage war bei allen diesen Versuchen derart, daß
zuerst der Vergleichsreiz mit variabler Zeit dargeboten wurde. Das
Urteil bezog sich auf den zweiten Reiz, indem der Beobachter an-
geben mußte, ob ihm derselbe lauter, leiser oder dem ersten gleich
erscheine.
Die Versuche wurden in der Weise angestellt, daß zunächst am
Lamellenpendel eine bestimmte Zeit eingestellt und nunmehr nach
der Methode der Minimaländerung die Röhre gesucht wurde,
welche in die Leitung // eingesetzt werden mußte, um beide Reize
als gleich erscheinen zu lassen').
Auf ein geflüstertes »jetzt« des Beobachters gab der Experimen-
tator die beiden Reize in der Reihenfolge, daß er zuerst den Hebel
des Lamellenpendels und dann, sobald der Hahn der Leitung / ge-
schlossen war, den Taster geräuschlos niederdrückte").
Hierauf wurde das Urteil des Beobachters notiert. Sobald der
das Kontaktpendel bedienende Gehilfe durch ein Zeichen andeutete,
daß er mit der Aufstellung des Pendels und der Kontakte fertig
sei, mußte der Experimentator nur mehr das Schallpendel an den
Anschlag heben, den Hahn der Leitung / öffnen und eine neue
Intensitätsröhre einsetzen, um einen neuen Versuch beginnen zu
können.
Die bei diesen Versuchen verwendeten Zeiten waren zunächst
Vielfache von 19 • — 7 = 0,04 Sekunden bis 0,68 Sekunden, sodann
^ 476 ' '
die Zeiten 1.68, 2.13, 2.65, 3.03 und 3.91 Sekunden.
') Diese Methode ergab durchaus konstante Resultate. Wenn hier und da ein
Wert aus der Reihe herausfiel, so dürfte dies aus einem gelegentlichen Zeitfehler
am Lamellenhebel zu erklären sein, wie sich denn auch bei der Eichung desselben
von 15 Resultaten 2 fanden, von denen eines eine längere, das andere eine kürzere
Zeit als alle anderen untereinander übereinstimmenden Resultate ergab.
^) Doch durfte die Zwischenzeit zwischen den beiden Reizen nicht zu kurz ge-
wählt werden, da sonst Summationserscheinungen auftraten, welche sich darin
äußerten, daß eine Tendenz bestand, den zweiten Reiz als lauter zu bezeichnen, da
er sich auf den ersten noch nicht völlig abgeklungenen aufsetzte. Wurde die
Zwischenzeit jedoch zu lang gewählt, so wurde die Vergleichung dadurch sehr er-
schwert. Der Vorteil, die Zwischenzeit durch elektromagnetisches Loslassen des
Pendels konstant zu halten, mußte des auf Seite 269 erwähnten Obelstandes halber
aufgegeben werden.
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über das Ansteigen der Tonerregnng. 275
Die konstante Öffnungszeit des Lamellenapparates betrug 0,36 Se-
kunden.
Die Stimmgabel blieb im allgemeinen während einer Versuchs-
reihe in ihrer Intensität durchaus konstant. Sobald aber eine
Schwankung der Intensität auftrat, welche sich in den Resultaten
ausdrückte, gaben alle Beobachter sofort an, daß sich ihnen die
Intensität des Tones geändert zu haben scheine. In diesem Fall
waren von da ab die Resultate einer solchen Versuchsreihe mit den
früheren nicht mehr ohne weiteres zu vergleichen. Da aber, wie
leicht begreiflich, für die einzelnen meist um einen Tag auseinander
liegenden Versuchsreihen der Ton sich erst recht nicht immer auf
die gleiche physikalische Intensität bringen ließ, ist es natürlich
nicht zu erwarten, daß die in verschiedenen Versuchsreihen für eine
bestimmte Zeit gefundenen Intensitäten vollständig miteinander über-
einstimmen. Übereinstimmend ist nur der Verlauf der in den ein-
zelnen Versuchreihen gefundenen Teile der Kurve, so daß sich eine
stetige Kurve ergeben müßte, wenn man die einzelnen Versuchs-
ergebnisse aufeinander beziehen wollte. Ich will im folgenden aber
nur die tatsächlich gewonnenen Werte darstellen, aus denen ein
derartiger stetiger Anstieg der Kurve bei konstanten Intensitäts-
verhältnissen des Prüfungstones deshalb leicht ersichtlich ist, weil zu
Beginn einer jeden Versuchsreihe ein aus der vorhergehenden Reihe
stammender Versuch wiederholt wurde, so daß man die für den ge-
gebenen Punkt gefundene Differenz der Intensitäten bloß auf alle
Punkte derselben Versuchsreihe zu übertragen hätte.
Bezüglich des psychologischen Aktes der Vergleichung der beiden
Intensitäten ließe sich nun allerdings einwenden, daß, da doch zwei
eine gewisse Zeit lang dauernde Reize miteinander verglichen werden
müssen, und die Empfindungsintensität des Reizes mit der Dauer
seiner Einwirkung steige, die ganze Vergleichung notwendigerweise
unsicher sei, weil sie davon abhänge, in welchem Punkte ihres An-
stieges man die beiden Reize gerade mit der Aufmerksamkeit fixiere.
Für kurz dauernde Reize dürfte nun dieser Einwand kaum zutreffen,
da ein Schwanken der Aufmerksamkeit während der Dauer ihrer
Einstellung kaum stattfinden kann, und sich die Aufmerksamkeit
unwillkürlich auf das Ende der Darbietungszeit richtet. Bei länger;
dauernden Reizen kann aber ein derartiges Schwanken der Aufmerk-
i8*
Digitized by VjOOQiC
276 Gustav Kafka,
samkeit bereits vorkommen, wie mir denn auch ein Beobachter die
Reize, deren Zeitdauer über 2 Sekunden betrug, als »direkt lang-
weilig« bezeichnete. Derselbe Beobachter gab mir auch an, daß er,
wenn der länger dauernde Reiz an zweiter Stelle käme, wie dies bei
einer Gruppe von Versuchen der Fall war, zuweilen denselben Reiz
als leiser denn der vorhergegangene angeben könne, wenn er seine
Aufmerksamkeit auf den Beginn, aber als lauter, wenn er sie auf
das Ende der Darbietungszeit konzentriere, und daß er, wenn er seine
Aufmerksamkeit während der ganzen Dauer des Reizes angespannt
halte, an das merkliche Ansteigen der Reizintensität das Bild einer
aufsteigenden Linie assoziiere. Kam der länger dauernde Reiz da-
gegen an erster Stelle, so war diese Erscheinung des Anstieges nicht
so deutlich, sondern die Aufmerksamkeit stellte sich auch hier un-
willkürlich auf das Ende der Darbietung ein. Trotzdem habe ich
es für nötig befunden, meine Versuchspersonen ausdrücklich anzu-
weisen, nur die am Ende der Darbietungszeit erreichten Inten-
sitäten miteinander zu vergleichen.
Ich gebe im folgenden eine Übersicht der in den einzelnen Ver-
suchsgruppen erlangten Resultate. Bei der graphischen Darstellung
sind die vorher erwähnten wechselnden Intensitätsverhältnisse in Be-
tracht zu ziehen. Wenn ein aus einer früheren Versuchsreihe stam-
mender Versuch nicht dasselbe Resultat gab wie zuvor, kommt dies
i
Oi 0-2 03 0» 05 t
Flg. 8.
in der Kurve darin zum Ausdruck, daß sie nicht stetig verläuft, son-
dern einem Zeitwert zwei verschiedene Intensitätswerte zugeordnet
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Ober das Ansteigen der Tonenegong.
277
sind. Auch in den Tabellen sind die Versuchsreihen, bei denen der
die Vermittelung bildende Wiederholungsversuch nicht beide Male
denselben Wert ergab, getrennt dargestellt. Die linke Vertikalkolonne
gfibt stets die einzelnen Versuchsreihen, die oberste Horizontalkolonne
die Zeiten in Sekunden an.
Gruppe I.
Tabelle i» (dazu Fig. 8). Beobachter W.
Zeiten in Sekunden.
Versuchs-
reihen
0.04
0.08
0.12
0.16
0.24
04
0.56
0.68
1.68
2.X2
beliebig
lang
I
n
III
IV
V
VI
4.5')
3.75
6.5
5.5
6
10.5
8
9.5
10
14
II
11.5
13
16
13.5
13.5
13-5
In der Rubrik III sind zwei Versuchsreihen zusammengezogen,
von denen die erste die Zeiten 0.08 und 0.24, die zweite die Zeiten
0.24 und 0.4 umfaßt.
Tabelle i^ (Fig. 9). Beobachter B.
Zeiten in Sekunden.
Versuchs-
reihen
0.040.08
0.120.16
0.20
0.24
0.28
0.32
0.44
0.56
0.68
1.68
2.12
2.65
3.03
3.91
bei
lang
I
3.5
5
5-75
6.5
7
7.5
7.75
8.5
9.5
10
10.25
n
9
9.5
9.75
in
12
13
B
14
14
14
14
14
IV
6
7.25
8..5,
9
9.5
10.25
10.75
II
1
In der Rubrik I sind vier Versuchsreihen zusammengezogen, von
denen die erste von 0.04 bis 0.16, die zweite von 0.16 bis 0.32, die
dritte von 0.12 bis 0.44 und die vierte von 0.44 bis 0.68 reicht.
*) Im folgenden bedeutet eine Bezeichnung wie 3.75, daß die Röhre 4 eben
noch zn lant, eine solche wie 10.25, daß die Röhre 10 eben noch zu leise war, und
eine solche wie 4.5 daß die Röhre 5 um ebensoviel lauter, wie die Röhre 4 leiser
erschien.
Digitized by VjOOQiC
278
Gtistav Kafka,
Flg. 9.
Tabelle i^ (dazu Fig. 10). Beobachter K.
Zeit
en
in Se
kund
len.
Versuchs-
rdheo
0.04
0.08
0.12
0.16
0.2
0.24
0.28
0.4
0.44
0.56
0.68
1.68
2.12
2.65
3.03
3.91
bei.
I
II
ni
4.5
1
5.75
7
8
9
9.75
10
II
12
12.75
13.75
14.75
15
16
I.0..5I
16.25
16.25
16.25
16.25
In der Rubrik I sind zwei Versuchsreihen zusammengezogen, von
denen die erste bis 0.12 reicht, ebenso in der Rubrik II zwei Reihen,
von denen die erste bis 0.28 reicht.
Ol ot irj o^ 05
10
Fig. 10.
Digitized by VjOOQiC
Ober das Ansteigen der Tonerregnn^.
279
Aus den Versuchen ei^ibt sich unmittelbar ein anfangs rasches,
dann immer langsameres Ansteigen der Intensität. Diese erreicht
für die Beobachter W und B bereits bei 1.68 Sekunden, bei K erst
etwas s$)äta' ihr Maximum. Die Figuren, welche die Verhältnisse
der Tabellen graphisch darstellen, sind nur soweit ausgeführt, bis
die Intensität ihr Maximum erreicht hat.
Gruppe IL
Tabelle 2» (dazu Fig. 11). Beobachter W.
Zeiten in Sekunden.
Versuchs-
reihen
0.12
0.16
0.24
0.4 0.56
0.68
1.68
2.12
2.65
303
3-9"^
I
5.25
5.5
6.75
9
n
8
8.75
9.25
m
9.75
10.5
Ei)
II
II
II
II
S'f ^i ^'3 <>'« Si
-tr
Fig. II.
Tabelle 2*» (dazu Fig. 12). Beobachter B.
0.040.08I0.I2
0.16
0.2 '0.24 0.28
0.32
0.36
044
o.56[o.68
1.68
2.12
a.65 3.03
3.91
I
S-2S
5-75
II
6
6.5
7
7.5
8
ni
1
7.75
8
8.25
IV
3-5
5.«S
6.25
7
7.75
8
8.25
8.75
ED
9.S
9.5
9.5
9.5
In der Rubrik IV sind zwei Versuchsreihen zusammengezogen,
von denen die eine von 0.44 bis 0.68 reicht.
Digitized by VjOOQiC
28o
Gustav Kafka,
01 0 2 03 Ot 05
Flg. 12.
Tabelle 2* (dazu Fig. 13). Beobachter K.
0.04
0.08
0.12
0.16
0.2
0.24
0.28
04
044
0.56
0.68
1.68 2.12
2.65
3.03 I3.91
I
3-75
5.25
6
11
5.5
6.5
7.5
8.5
in
8-75 9.25
9-75
10.25
12
13
B
14
14
14
14
In der Rubrik III sind drei Versuchsreihen zusammengezogen,
von denen die erste von 0.24 bis 0.28 und die zweite von 0.28 bis
0.68 reicht.
Aus diesen Versuchen ergibt sich, daß die Herabsetzung der
konstanten Intensität, welche durch Einsetzen der Röhre 16 als
/♦-
/f.
// •
Wi öi Wi ö^ öT^
Fig. 13.
Digitized by VjOOQiC
über das Ansteigen der Tonerregung.
281
Dämpfung in der Leitung / bewirkt wurde, nicht genügte, um die
Erreichung des Maximums merklich zu verzögern, da es sich wiederum
bei 1.68 Sekunden einstellt.
Gruppe in.
Tabelle 3» (dazu Fig. 14). Beobachter W.
0.04
0.12
0.2
0.28 0.36
0.44
0.56 0.68
1.68
2.12
2.65
3-03
bei.
lang
8
U.25
12.25
1325
14
14.25
H.7S
'5
16
16.75
16.75
16.25
I16.75I
Die Tabelle ist aus zwei Versuchsreihen zusammengezogen, von
denen die erste von 0.04 bis 0.68 reicht.
o-f arg 03 <n as
Fig. 14.
Tabelle 3^ (dazu Fig. 15). Beobachter K.
0.04
0.12
0.2
0.28
0.36
0.44
0.56
0.68
1.68
2.12
2.65
3.03
3.91
I
II
9
II.5
12.25
13
13.25
13.75
14
14.25
15
16
\l^\
16.25
16.25
16.25
^ Diese mit einem tiefen Ton angestellten Versuche geben deshalb
kein eindeutiges Bild von dem Einfluß der Tonhöhe auf das An-
steigen der Erregung, weil der Ton nur eine sehr geringe Intensität
besaß, und die bei dieser Gruppe bemerkbare geringe Verzögerung
des Maximums vielleicht auf diese Ursache zurückzufuhren ist.
Digitized by VjOOQiC
282 Gustav Kafka,
/«-
n-
16-
15-
it-
13-
12'
n ■
(tt 0^ 03 (TH 05 ro rs 20
Fig. 15.
III. Versuche mit größerer Intensität.
(Hahn Vorrichtung.)
Die Anordnung der akustischen und elektrischen Leitungen war
im wesentlichen dieselbe, wie die auf Fig. 5 skizzierte. Die einfache
Leitung / und die aus der Vereinigung von IIa und IIb gebildete
Leitung // führten zu je einem Hahn. Bei / (Fig. 16) wurde dieser
durch eine Schleudervorrichtung, bei // (Fig. 1 7) durch eine Fendel-
vorrichtung geöffnet und geschlossen. Diese beiden Hähne werde
ich im folgenden kurz als Schleuderhahn und als Pendelhahn be-
zeichnen. Der bei der früheren Anordnung in die Leitung /' ein-
geschaltete Hahn entfiel natürlich. Da auch die Schleudervorrich-
tung des Schleuderhahnes durch zwei Elektromagneten bedient
wurde, konnte die Anordnung der elektrischen Leitungen dieselbe
bleiben wie bei den früheren Versuchen. Nur wurde an die Drähte
/ und 2 nicht mehr der Hochstrom des städtischen Netzes, sondern
der Strom einer Akkumulatorenbatterie angeschlossen. Deshalb
entfiel auch das Schaltbrett mit Ausschalter und Glühlampen, und
der Draht 5 einerseits, die Drähte 3' und 4' andrerseits wurden
direkt von der Wippe abgezweigt. Auch insofern ergab sich eine
Veränderung der Versuchsanordnung, als statt der Schließungkon-
takte nunmehr Öffnungskontakte angewendet werden mußten, wie
sich bei der Besprechung des Schleuderhahnes ergeben wird.
Der Schleuderhahn, dessen Einrichtung auf Fig. 16 im Quer-
Digitized by VjOOQiC
Ober das Ansteigen der Tonerregnng.
283
schnitt dargestellt ist, bestand aus einem mit einer schlitzförmigen
Bohrung B versehenen Metallzylinder K^ der in eine ebensolche durch
einen Kasten gehende Bohrung B' um seine Längsachse drelÜMu*
eingefügt war, so daß je nach der Stellung der Bohrung B^ die
durch die Bohrung B* gebildete Leitung geöffnet und geschlossen
werden konnte. Trotzdem diese Schlitze nur genau 0.5 mm breit
waren, ließen sie die Töne in sehr wenig geschwächter Intensität
Fig. 16.
durchtreten, was als allgemeiner Vorteil des Hahnprinzips zu gelten
hat (vgl. S. 266). Der die Bohrung B tragende Metallzylinder K
besaß einen so großen Durchmesser, daß bereits bei einer kleinen
Drehung die Bohrung B eine relativ große Verschiebung erfuhr.
Dieser Zylinder trug ferner einen längeren seitlichen Fortsatz A^ an
dessen äußerstem Ende E ein Metallstäbchen senkrecht zu A ein-
gefügt war. An dieses Metallstäbchen traten nun die Hebelarme
der eigentlichen Schleuderapparate 5, und S^ heran. Diese bestanden
im wesentlichen aus je einem zweiarmigen im Punkte F fixierten
Digitized by VjOOQiC
284 Gustav Kafka,
Hebel H. Auf diesen Hebel wirkte an seinem freien äußeren Ende
eine Feder P, an der dem Metallstäbchen zugewendeten Seite aber
trug der Hebel ein Eisenklötzchen Z, das gerade gegenüber dem
Magneten M eingestellt war. Zog der Magnet an, so vermochte er
den Klotz Z trotz des Zuges der Feder festzuhalten; wurde aber der
den Magneten durchfließende Strom geöffnet, so schnellte der den
Klotz tragende Hebelarm infolge der Federspannung von dem Mag-
neten fort. Um einen Zusammenstoß der beiden Hebelarme bei
ihrem Losschnellen zu vermeiden, griff der Hebelarm des Apparates
5, höher an dem durch E gehenden Metallstäbchen an, als der
Hebel des Apparates S^. Nur auf dem Schema liegen also 5, und
5, in einer Ebene. Die Versuchsanordnung war nun folgender-
maßen getroffen, daß zu Beginn des Versuches der Strom beider
Magnete geschlossen war, und die Hebelarme H die auf der Figur
dargestellte Stellung einnahmen; der seitliche Fortsatz A war so
gestellt, daß der Hahn die Leitung B' verschloß und das durch E
gehende Stäbchen sich an den Hebelarm des Apparates 5, an-
lehnte^. Wurde nun der Strom des zu 5, gehörigen Magneten
geöffnet, so schnellte der Hebel H in der angegebenen Weise ab
und schleuderte das durch E gehende Stäbchen, das er eben nur
tangential streifte, nach links, so daß nunmehr die Bohrung B so
gedreht wurde, daß sie den durch die Leitung B* dringenden Ton
durchließ. Die Kraft des abschnellenden Hebels schleuderte das
Metallstäbchen jedoch nur soweit hinüber, daß es nunmehr dem
Hebel des Apparates S^ anlag. Wurde nun auch hier der Strom
des Magneten geöffnet, so schleuderte der abschnellende Hebel den
Hahn wieder in seine ursprüngliche Stellung zurück, so daß die
Leitung nunmehr wieder unterbrochen war. Der Hebel des Appa-
rates 5, mußte durch die Feder natürlich soweit zurückgezogen
werden, daß er die Rückbewegung des Metallstäbchens nicht hinderte.
Wie ich bereits früher erwähnt habe, war es nicht möglich, das
Losschnellen des Hebelarmes und ihr Angreifen an dem Metall*
Stäbchen, trotz sorgfaltiger Umhüllung mit Kautschuk vollständig
*) Die anfangs gehegte BefUrchtang, daß der Ton sich trotzdem von der Seite
her durch die Bohrung B fortpflanzen könnte, erwies sich als unbegründet. Es war
daher nicht nötig, die Bohrung B' mit einer Mündung nach außen zu versehen, wie
es anfangs beabsichtigt gewesen war.
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Ober das Ansteigen der Tonerregung.
285
geräuschlos zu machen. Das dabei auftretende leise Geräusch ver-
mochte aber bei den verwendeten Intensitäten die Vergleichung der
beiden Töne nicht zu beeinflussen. Die Zeit zwischen dem Los-
lassen der Magnete wurde wie bei den früheren Versuchen durch
das Kontaktpendel reguliert, das nacheinander zwei geschlossene
Kontakte öffnete, welche die beiden Magneten mit Strom versorgten.
Das Loslassen des Pendels erfolgte ebenso wie vorher mittels des
Tasters 7!
Als Pendelhahn (Fig. 17} wurde der bei den früheren Versuchen
in die Leitung F eingeschaltete Hahn verwendet. Nur war an dem
die Bohrung B tragenden Metall-
zylinder nicht mehr der seitliche
Fortsatz befestigt, an dem der mit
der Pendelstange des Lamellen-
pendels in Verbindung stehende
Faden angegriffen hatte, sondern
statt desselben war eine um die-
selbe Achse wie der Hahn drehbare
dünne Metallstange P angebracht,
durch deren Drehung nunmehr
der Verschluß und die Öffnung
des Hahnes bewerkstelligt wurde.
Diese Metallstange trug an ihrem
unteren Ende ein Eisenklötzchen
Z, das in der durch die Figur dar-
gestellten Weise von einem Mag-
neten M festgehalten werden konnte. An dem jenseits des Fixations-
punktes liegenden Ende der Stange war ein zur Regulierung der
Schwingungszeit dienendes Laufgewicht angebracht. Der Versuch
gestaltete sich daher so, daß die Pendelstange zunächst mittels des
Klötzchens an den Magneten angehängt wurde. Dem Magneten
wurde der Strom auf dieselbe Weise zugeleitet wie dem Magneten
des Kontaktpendels. In dieser Stellung war die Bohrung B* durch
den Hahn vollständig verschlossen. Nunmehr wurde durch den
Taster T der Stromkreis des Magneten unterbrochen, das Pendel
schwang durch und drehte somit die Bohrung B durch ihre Öffnungs-
stellung hindurch. Um auf diesen Drehungswinkel der offenen
Fig. 17.
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286
Gustav Kafka,
Stellung einen möglichst großen Teil der gesamten Schwingungszeit
fallen zu lassen, war die Richtung des festen Teiles der Hahnleitung
so eingestellt, daß die jenseitige Umkehr ung der Pendelschwingung
bei eben noch völlig geöffnetem Hahne stattfand. War das Pendel
zurückgeschwungen und hatte die Leitung abgeschlossen, so mußte
es mit der Hand aufgefangen und wieder an den Magneten an-
gehängt werden.
Die Variation der Darbietungszeiten erfolgte diesmal am
Kontaktpendel dadurch, daß der zweite ÖfTnungskontakt immer
weiter vom ersten entfernt wurde. Da aber die auf diese Weise
erreichbaren Zeiten zu kurz gewesen wären, mußte eine Anordnung
getroffen werden, um den zweiten Kontakt erst durch das Zurück-
schwingen des Pendels öffnen zu lassen. Zu diesem Behuf mußte
vor allem der zweite Kontakt tiefer gestellt werden als der erste,
damit er von dem Pendel nicht schon bei seinem Hingange erfaßt
werde; sodann aber mußte dafür Sorge getragen werden, daß nun-
mehr beim Zurückschwingen das Pendel den zweiten Kontakt doch
wieder erfassen könne. Es wurde daher am unteren Ende der
Pendelstange der in Fig. 18 dargestellte Apparat angebracht. Der-
selbe bestand im wesentlichen aus einem mit einem seitlichen Vor-
sprung V versehenen Rahmen Ä, der längs
seiner Unterlage verschiebbar war und durch
eine Feder F^ nach abwärts gezogen wurde.
Nach unten setzte sich der Rahmen in ein
Stäbchen fort, das eine zur Aufnahme eines
zweiten zweimal rechtwinklig gebogenen Stäb-
chens N bestimmte Scheibe 5 trug. Der
Spielraum, innerhalb dessen sich der Rahmen
auf seiner Unterlage verschieben konnte, war
durch zwei Anschlagstifte begrenzt. Mittels
seines seitlichen Vorsprungs V konnte der
Rahmen an einem durch die Feder F^ nach
seitwärts gebogenen Eisenplättchen P aufgehängt werden. Wenn
aber das Plättchen P von dem gegenüberliegenden Magneten J/ an-
gezogen wurde, verlor der Rahmen R seine Unterstützung und
wurde von der Feder F^ nach abwärts gezogen, so daß sich der
Rahmen mit dem an ihm befestigten Stäbchen um die der Distanz
Fig. i8.
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über das Ansteigen der Tonerregung. 287
zwischen Aufhängepunkt und Anschlagstift entsprechende Höhe
senkte. Wenn somit die Nase N den zweiten Öffnungskontakt noch
nicht erreichte, solange der Rahmen R an dem Plättchen P auf-
gehängt war, die Senkung des Rahmens R aber, welche erfolgte,
sobald der Magnet das Blättchen aivzog, genügte, um die Nase in
die Höhe des zweiten Kontaktes zu bringen, handelte es sich nur
mehr darum, die Schließung des Magneten im geeigneten Moment
zu bewerkstelligen. Zu diesem Zwecke wurde von der Po h Ischen
Wippe ein Draht abgezweigt, welcher längs der Pendelstange ver-
laufend, ohne deren Bewegung zu hindern, zu einer Klemme der
Magneten M führte; die andere Klemme war durch einen zweiten
Draht mit der Pcndelstange leitend verbunden; ferner wurde ein
ganz feiner Neusilberdraht, der mittels eines gewöhnlichen Leitungs-
drahtes zur Wippe zurückführte, so am Stativ des Kontaktpendels
befestigt, daß die Stange des Pendels knapp vor der Umkehrung
ganz leicht an ihm vorbeistreifte, so zwar, daß die Geschwindigkeit
des Pendels nicht verzögert wurde, der geschilderte Stromkreis aber
nunmehr doch geschlossen wurde. In diesem Augenblick zog der
Magnet das Plättchen an, der Rahmen senkte sich, und die Nase N
vermochte beim Zurückschwingen den zweiten Kontakt zu öffnen.
Auf diese Weise gelang es natürlich, bedeutend längere Öffnungs-
zeiten für den Schleuderhahn zu erzielen.
Auch bei diesen Versuchen eichte ich die von mir verwendeten
Zeiten an beiden Hähnen mit Hilfe des Kehltonschreibers in der auf
Seite 273 angegebenen Weise, nur daß ich der größeren Genauigkeit
halber die niedrigen Zeiten mit einer Gabel von 256 Schwingungen
eichte, auf welche die Borste nicht zur Resonanz zu bringen war.
Ich mußte daher sowohl die Schwingungen der Gabel als auch die
durch die Abhebung der Borste über die Abszisse gegebene Kurve
aufzeichnen und die Zahl der Schwingungen zählen, welche auf die
Zeit der Öffnung der Leitung entfielen, während welcher sich die
Borste gehoben hatte. Beim Pendelhahn verstrichen wegen der
Breite der Bohrung und der langsamen Bewegung ungefähr 0.06 Se-
kunden, bevor sich der Hahn vollständig geöffnet hatte, während der
Abschluß beim Zurückschwingen während einer noch etwas längeren
Zeit erfolgte. Bei der ausschließlichen Verwendung dieses Hahnes
zur konstanten Zeit kam dies jedoch nicht in Betracht Beim
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288 Gustav Kafka,
Schleuderhahn betrug die Zeit der unvollständigen Öffnung wegen
der feinen Bohrung und schnellen Bewegung überhaupt nur wenige
Tausendstel Sekunden.
Die bei diesen Versuchen verwendeten Zeiten betrugen für den
Pendelhahn 0.9 Sekunden, für den Schleuderhahn 0.12, 0.16, 0.21,
0.26, 0.52, 1.13 und 1.41 Sekunden. Mit dieser Anordnung habe
ich nun zwei Versuchsgruppen ausgeführt, bei denen ich mir vor
allem über den Einfluß der Zeitlage auf die Resultate Rechenschaft
zu geben versuchte. Eine derartige Untersuchung war bei der An-
ordnung mit Spitzenleitung deshalb auf Schwierigkeiten gestoßen,
weil daselbst neben dem Einfluß der Zeitlage noch der konstante
Ton in Berücksichtigung gezogen werden mußte, auf den sich bei
der umgekehrten Zeitlage auch der Reiz von konstanter Inten-
sität aufsetzte. Die bei derartigen Versuchen erhaltenen Resultate
beruhen daher auf einem so komplexen psychologischen Tat-
bestand, daß ich von ihrer Verwertung vorläufig Abstand nehmen
mußte. Bei der zuletzt beschriebenen Anordnung aber konnte der
Einfluß der Zeitlage tatsächlich ohne alle weitere Nebeneinflüsse
untersucht werden. In beiden Versuchsgruppen wurde als Schall-
quelle die Gabel von 512 Schwingungen verwendet. Bei Gruppe I
erhielt der Beobachter den Reiz mit konstanter Intensität und variabler
Dauer zuerst, und es wurde hierauf wieder nach der Methode der
Minimaländerung die Röhre gesucht, welche in die zweite Röhre ein-
gesetzt werden mußte, um die gleiche Empfindung zu erzeugen. Bei
Gruppe n wurde dem Beobachter umgekehrt zuerst der durch eine
bestimmte Röhre in seiner Intensität modifizierte Ton zugeleitet, und
diese Intensität wurde dann wiederum nach derselben Methode ab-
gestuft, bis der Beobachter die durch beide Leitungen dringenden
Töne als gleich bezeichnete. Alle näheren Bestimmungen der Ver-
suchstechnik blieben dieselben wie zuvor. Eine ungefähre Ver-
gleichung der vorherigen mit der nunmehr verwendeten Intensität
wurde in der Weise durchgeführt, daß in die durch den Schleuder-
hahn gehende Leitung noch die am Lamellenpendel befestigte
Spitzenleitung eingesetzt und die Röhre gesucht wurde, welche in
die Leitung des Pendelhahns eingesetzt werden mußte, damit der
durch dasselbe zugeleitete Ton von konstanter Dauer dem anderen
Ton bei beliebig langer Darbietungszeit gleich sei. Dabei ergab
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Ober dfts Ansteigen der Tonerregusg.
289
sich die Röhre / als notwendig, während die Röhre // zur Her-
stellung der Gleichheit erforderlich war, wenn der Ton ohne durch
die Spitzenleitung des Lamellenpendels gedämpft zu sein, direkt
durch den Schleuderhahn dem Beobachter zugeführt wurde.
Ich gebe im folgenden die Übersicht der in beiden Gruppen er-
langten Resultate.
Gruppe I.
Tabelle i» (Fig. 19). Beobachter W.
0.16
0.21
0.26
0.52
I.I3
I.4I
beliebig
lang
I
II
II
II
II.5
II.5
ni
IV
unter
I
3.S
6.75
6.25
9.5
12
0/ 02 0-3 0¥ 05
Fig. 19.
Tabelle i^ (Fig. 20.) Beobachter K.
0.12
0.16
0.21
0.26
0.52
1.13
1.41
beliebig
lang
I
u
m
unter
I
3
6.5
5.5
8
6.5
II
11.5
13
13
13
Wundt, Psycho!. Studien II.
19
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290
Gustav Kafka,
Aus diesen Versuchen ergibt sich somit, daß der Ton bei dieser
stärkeren Intensität bereits viel früher sein Maximum erreicht und
innerhalb der kürzesten Zeiten einen bedeutend rascheren Anstieg
zeigt.
13
12
n
10
9
a
7
6
5 -
3
«■
11-
n-
9-
8-
7-
6-
5-
0-1 0-2 03 ort Oi
Fig. 20.
Gruppe n.
Tabelle 2» (Fig. 21). Beobachter W.
0.16
0.21
0.26
0.52
1.13
1.41
beUebig
lang
I
»5
IS
15
II
7
II
13
15
m
2.,S
6.25
10.25
01 02 03 a¥ 05
Flg. 21.
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Ober das Ansteigen der Tonerregnng.
Tabelle 2^ (Fig. 2z), Beobachter K.
291
0.12
0.16
0.21
0.26
0.52
1.13
1.41
beliebig
lang
I
II
unter
I
1
4
7.5
7
10
8.5
13
15.75
1575 15.75
1
i6
/5
/*
13
12
t1
W
9 ■
ef
7
6
5
07 0 2 03 Oh OS
Fig. 22.
Aus dem Vergleich dieser Tabellen mit den voranstehenden er-
gibt sich, daß der Einfluß der Zeitlage dahin gewirkt hat, die zur
Herstellung der Gleichheit erforderliche Intensität des Hauptreizes
um eine für längere Zeiten annähernd konstante Differenz zu ver-
größern, wenn er an erster Stelle kam. Diese Tatsache dürfte wohl
daraus zu erklären sein, daß bei der durch die Versuche geforderten
konzentrierten Aufmerksamkeit beim Vergleich die dem zweiten Reiz
zukommende Klarheit und Deutlichkeit den Eindruck auch seiner
Intensität nach dem ersten gegenüber begünstigte, so daß ein Reiz,
der bereits genügte, um die Gleichheit herzustellen, wenn er an
zweiter Stelle kam, zu leise erschien, wenn er als erster dargeboten
wurde. Um daher diesen durch die Zeitlage bedingten Fehler zu
eliminieren, müßte man wohl aus den bei beiden Zeitlagen gefun-
denen Resultaten die Mittelwerte suchen, doch würde dies das all-
gemeine Bild des Anstiegsverlaufs nicht ändern. Daß die durch die
Zeitlage bedingte absolute Differenz sich bei der kürzesten Zeit ein
wenig zu verringern scheint, ist wohl darauf zurückzuführen, daß in
diesem Fall die schwache Empfindungsintensität vom psychologischen
19*
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2Q2 Gustav Kafka, Über das Ansteigen der Tonerregung.
Prinzip der Abschwächung in der Erinnerung relativ stärker betroffen
wird.
Wie ich bereits anfangs erwähnte, mußte sich die vorliegende
Untersuchung darauf beschränken, die allgemeinsten Verhält-
nisse des Anstiegsverlaufes zu bestimmen. Als solche all-
gemeinste Verhältnisse glaube ich aus den angeführten Ergebnissen
folgende feststellen zu können.
Die akustische Erregung bedarf einer meßbaren Zeit,
um ihre volle subjektive Intensität zu erreichen und zwar
beträgt diese bei geringen objektiven Intensitäten ungefähr 1.5 Se-
kunden; mit wachsender Intensität (und anscheinend auch mit
wachsender Tonhöhe), nimmt die zur Erreichung des Maxi-
mums erforderliche Zeit immer mehr ab. Der Anstieg er-
folgt zuerst sehr rasch, dann immer langsamer. Eine Er-
müdung ist bei den von mir verwendeten Zeiten (bis ca. 5 Sek.),
und Intensitäten nicht zu konstatieren.
Es ist mir schließlich eine angenehme Pflicht, Herrn Geheimrat
Wundt für seine Anteilnahme an dieser Arbeit meinen ergebenen
Dank auszusprechen. Insbesondere aber sage ich Herrn Professor
Wirth, der mich nicht nur bei der Ausarbeitung der Methodik,
sondern auch bei der Ausfuhrung der Versuche mit Rat und Tat
unterstützt hat, meinen aufrichtigsten Dank. Auch Herrn Professor
Bazala, der sich mir als trefflicher Beobachter zur Verfügung
stellte, Herrn Dr. Klemm und allen anderen Herren, die mir bei
der Ausführung meiner Versuche als Mitarbeiter zur Seite gestanden
haben, danke ich an dieser Stelle herzlichst.
Digitized by VjOOQiC
Die Zeitschwellen für Stimmgabeltöne mittlerer
mid leiser Intensität
Von
Rudolf Bode.
Mit 6 Figuren im Text.
I. Einleitung.
In dieser Arbeit wird von neuem die Frage nach der geringsten
Anzahl von Schwingungen, welche zur Erzeugung einer Tonempfin-
dung nötig ist, gestellt. Seit mehr als 70 Jahren ist das Problem
des minimum perceptibile von den verschiedensten Forschern und
nach den verschiedensten Methoden behandelt worden. Eine mög-
lichst exakte Beantwortung dieses Problems hat weittragende Kon-
sequenzen für das gesamte Gebiet, nicht nur der Ton-, sondern auch
der Geräuschempfindungen. Die Frage nach dem Wert oder Un-
wert der Resonanztheorie überhaupt, nach dem spezifischen Verhalten
des Resonanzapparates im menschlichen Ohr ist aufs engste verknüpft
mit unserem Problem. Die Tatsache, daß die Perzeption einer Ton-
empfindung gebunden ist an eine erst durch Summation isochroner
Schwingungen erreichte nötige Elongation der Schwingungsfasern,
hätte starke Beweiskraft für die Richtigkeit der Resonanztheorie.
Die an verschiedene Tonhöhen und verschiedene Intensitäten der
Reize gebundenen relativen Gesetzmäßigkeiten ergänzen in notwen-
diger Weise unsere durch die anatomisch-histologische Untersuchung
gewonnenen Kenntnisse vom Bau des Resonanzapparates.
Alle bisherigen Untersuchungen zeigen deutlich, daß die Zeit-
schwelle abhängig ist von der spezifischen Beschaffenheit der ein-
wirkenden Schwingungen, sodaß S. Exner zu dem Ergebnis kommt:
Wundt, Psychol. Studien II. 20
Digitized by VjOOQiC
204 Rudolf Bode,
»Es kann aus dieser und anderen Ursachen die Frage nach der An-
zahl von Tonwellen, welche genügen, eine wohlcharakterisierte Ton-
empfindung zu erzeugen, unseres Erachtens immer nur für einen
bestimmten Fall beantwortet werden.« Ein solcher Schluß ist ge-
eignet, die Problemstellung zu verwischen und die Lösimg in aeter-
num zu vertagen. Soll die Theorie des Hörens wirkliche För-
derung durch eine solche Untersuchung erfahren, so muß diese unter
den einfachsten Bedingungen angestellt werden. Solche einfachste
Bedingungen herzustellen ist unsere Aufgabe, und der Übergang von
komplizierteren zu einfacheren Bedingungen bedingt den Fortschritt
in der Lösung eines Problems.
Wollen wir aus unseren Ergebnissen einen Schluß auf die Existenz
oder Nicht-Existenz eines akustischen Resonanzapparates machen,
so müssen die Reize auch geeignet sein, alle Erscheinungen der
Resonanz nach unseren Kenntnissen eines akustischen Resonanz-
apparates zu erzeugen. Mit anderen Worten: wir dürfen objektiv
wo möglich nur mit Sinusschwingungen arbeiten und müssen alle
diese Schwingung störenden Momente möglichst beseitigen.
Die Theorie der Geräusche hat bisher die bei der Entstehung
einer Tonempiindung auftretenden Erscheinungen so gut wie gamicht
verwerten können. Zwei Gründe sind für diese Vernachlässigung
anzuführen. Erstens waren die bisherigen Untersuchungen durchweg
nicht exakt genug in der Ausschaltung der objektiven durch die
Apparate bedingten Geräusche. Subjektive Geräuscherscheinungen
kamen so überhaupt nicht zur Geltung oder wurden in psychologisch
komplizierten Verbindungen perzipiert. Das Material, welches aus
den Untersuchungen über die Zeitschwellen für die Theorie des Ge-
räusches hätte nutzbar gemacht werden können, blieb unsicher und
trügerisch. Der zweite hauptsächliche Grund für die Vernachlässigung
der Geräuscherscheinungen lag aber in der unzulänglichen Frage-
stellung. Statt daß man ohne Vorurteil das tatsächlich im Bewußt-
sein erlebte möglichst vollständig und genau beschrieb, richtete man
die Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf »den« Ton, welcher »er-
wartet« wurde. Ein Beispiel wird das gesagte noch deutlicher machen.
In der Arbeit von Abraham und Brühl finden sich folgende Sätze:
»Die Intensität der kurzen Töne war sehr gering und es war schwer
den Ton aus dem Geräusch herauszuhören« oder: »Wir be-
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Die Zeitschwellen für Stimmgabeltöne mittlerer und leiser Intensität 295
haupten, daß in der überwi^enden Mehrzahl der Fälle wohl durdi
dieselbe« (die geringe Anzahl der Schwingungen) »eine Tonempfin-
dung hervorgerufen wird, nur ist der Ton sehr schwer heraus-
zuhören.« Gleichgültig, ob das Geräusch objektiv (man arbeitete
mit Sirenentönen) oder subjektiv oder durch beide Arten zugleich
bedingt war, auf keinen Fall entspricht eine derartig bewußt isolierende
Auffassung des tatsächlich in der Empfindung g^ebenen den Grund-
sätzen empirischer Forschung. Erst durch den Vergleich der ein-
zelnen Gesamterlebnisse darf nachträglich eine Isolation der einzelnen
im Gesamterlebnis verschmolzenen Elemente stattfinden. Das ob-
jektive Geräusch (sofern es konstant bleibt und sich nicht mit der
Höhe und Intensität des Reizes in seiner Qualität ändert) wird die
durch den gewollten Reiz hervorgerufenen subjektiven Erscheinungen
in konstanter Weise nach einer bestimmten Richtung hin beein-
flussen. Es kann daher vielleidit durch Vergleichung der einzelnen
Gesamterlebnisse in seiner objektiven Konstanz erkannt und von den
die Mannigfaltigkeit bedingenden subjektiven Geräuschelementen be-
grifilich isoliert werden. Hinzukommt, daß durch den psychischen
Zustand der Erwartung, einen bestimmten Ton zu hören, das Er-
lebnis selbst in seiner Qualität verändert wird. Ich glaube, daß die
kleinen Schwellenwerte z. T. diesem subjektiven, assimilierenden Faktor
der Erwartung ihren Ursprung verdanken. Das Gesamterlebnis wird
nach der Richtung tonaler Färbung verändert. Diese Veränderung
ist keineswegs als Urteilstäuschung aufzufassen, sondern in der Emp-
findung b^fründet (vergl. Krueger »Die Theorie der Konsonanz«
Wundt, Psychologische Studien. Heft 4. 1906). In einer Unter-
suchung, die wie die vorliegende hauptsächlidi der physiologischen
Interpretation die peripher bedingten psychischen Empfindungs-
korrelate bieten will, müssen' aber derartige zentral psychologische
die Empfindung verändernde Faktoren der Auffassung, wie die Assi-
milation, nach Möglichkeit ausgeschaltet werden. In dieser Richtung
bewegte sich schon die Methode von R. Schulze, welcher das un-
wissentliche Verfahren innehielt und daher auch schon über die Ge-
räuschqualitäten wertvolle Beobachtungen machte.
Die Fragestellung, welche dieser Untersuchung ihre Richtung ge-
geben hat, lautet daher: Welcher Art sind die subjektiven Er-
lebnisse, welche an die Einwirkung nur weniger Tonschwin-
Digitized by VjOOQiC
296 Rudolf Bodo,
gungen verschiedener Höhe und Intensität gebunden sind?
und: Welche konstanten gesetzmäßigen Zusammenhänge
ergibt die vorurteilslose Vergleichung des quantitativen
und qualitativen Befundes?
IL Historische Übersicht und Kritik der bisherigen Unter-
suchungen.
A. Allgemeine Vorbemerkungen.
a. Obertöne.
Eine exakte Lösung des Zeitschwellenproblems hat zur Voraus-
setzung, daß dem perzipierenden Organe eine Anzahl einfacher Sinus-
schwingungen von bestimmter Frequenz geboten werden, mit anderen
Worten, daß alle Töne anderer Frequenz d. h. die Obertöne aus-
geschaltet werden. In keiner der vorliegenden anderen Untersudiungen
sind die Obertöne hinreidiend berücksichtigt worden. Man b^^ügte
sich mit qualitativen Angaben, die Obertöne seien nur sehr schwach
in dem Tone enthalten oder der Ton sei auch bei wenig dargebotenen
Schwingungen in seiner Höhe deutlich bestimmbar, eine »Täuschung«
ausgeschlossen gewesen. Aber solange wir das Verhalten der per-
zipierenden Organe nicht genau kennen, haben derartige Angaben
wenig Wert. Auf keinen Fall darf die Resonanzhypothese bereits
bei der Beobachtung als richtig vorausgesetzt und der Wert oder
Unwert einer Beobachtung darnach bestimmt werden. Wir wissen
nicht, welchen Anteil und welchen Einfluß gleichzeitige Schwingungen
anderer Frequenz auf die Wahrnehmung eines bestimmten Tones
haben. So ist z. B. mit Sicherheit anzunehmen, daß die subjektive
Verstärkung des Grundtones durch sekundäre DifTerenztöne der Ober-
töne auch im perzipierenden Organ ihr Korrelat hat. Bei den bisher
vorliegenden Untersuchungen ist es keineswegs ausgeschlossen, daß
ein Oberton in einer der höheren Oktaven mit dem objektiven Ge-
räusch zu einem einheitlichen tonalen Erlebnis verschmilzt, dessen
Tonhöhe der erwarteten und durch die Erwartung assimilativ vor-
bereiteten Tonhöhe gleich ist, umsomehr als eine direkte Analyse
der Empfindung bei der Kürze des Reizes schwierig ist. Es muß
somit an eine exakte Untersuchung die Forderung der Auslöschung
aller irgendwie in Betracht kommenden Obertöne gestellt werden.
Digitized by VjOOQiC
Die Zeitschwellen für Sdmmgabeltöne mittlerer and leiser Intensität 297
Durch den von Krueger beschriebenen, nach dem zuerst von Grütz-
ner und Sauberschwarz eingeführten Prinzip (Pflügers Archiv
Bd. 61, S. I ff.) konstruierten Interferenzapparat läßt sich dies auch
leicht erreichen (s. u.).
b. Intensität
Es ist das Verdienst der Arbeit von Abraham und Brühl, den
Einfluß der Intensität wieder stark betont zu haben. Vor ihnen
haben auch schon Kries und Auerbach die These aufgestellt, daß
die Zahl der nötigen Schwingungen nicht von der Tonhöhe, sondern
von der Intensität der Erregung abhängig sei. Auch Villari und
Marangoni haben mit verschiedenen Intensitäten gearbeitet. Die
objektive Intensitätsmessung gehört bis auf den heutigen Tag zu
den schwierigsten Problemen der physikalischen Akustik. Wir haben
noch keine Möglichkeit auf eine einfache und schnelle Art die Inten-
sität exakt zu bestimmen. Aber die Feststellung der objektiven In-
tensität ist bei unserem Problem nicht unbedingt erforderlich. Es
genügt die subjektive Vergleichung. Denn die stets herrschenden
Gesetzmäßigkeiten müssen, soweit sie von der Intensität abhängig
sind, auch bei gleicher subjektiver Intensität, wenn auch vielleicht
in einer transformierten Form, zu Tage treten. Wir werden hierauf
später zurückkommen in dem Kapitel, in welchem wir die auf Grund
objektiv gleicher Intensitäten gewonnenen Ergebnisse von Hensen
den unserigen gegenüberstellen. Eine exakte Untersuchung erfordert
jedoch, daß Einrichtungen getroffen werden, welche die beiden sub-
jektiv auf Intensität zu vergleichenden Töne von einander isolieren
und welche eine schnelle Veränderung der Intensität des anzugleichen-
den Tones zulassen.
Der Einfluß der Intensität muß uns auch verhindern, Ergebnisse,
welche aus der Untersuchung nahe beieinanderliegender Töne von
mittlerer Tonhöhe gewonnen werden, auf das ganze Tongebiet zu
erweitem. Daß z. B. die größere Empfindungsintensität hoher Töne
u. a. auch in funktionellem Zusammenhang mit der Zeitschwelle
steht, ist sehr wahrscheinlich.
B. Die bisherigen Versuchsmethoden und ihre Ergebnisse.
Alle bisherigen Untersuchungen haben zur Voraussetzung zwei
toto genere von einander verschiedene Versuchsanordnungen, je nach-
Digitized by VjOOQiC
.298 Rudolf Bode,
dem sie auf eine plötzliche oder konstante Tonerzeugung hinzielen.
Im ersten Falle werden nur wenige Schwingungen überhaupt ob-
jektiv erzeugt und in ihrer Gresamtheit als Reiz verwendet, im anderen
Falle wird eine konstant tönende Tonquelle vom Beobachter akustisch
isoliert und deren Schwingungen durch geeignete Vorrichtungen
während eines bestimmten variierbaren Zeitintervalls als Reiz dem
Beobachter zugeführt. Im ersten Falle wird durchweg mit Sirenen-
tönen gearbeitet, im letzten Falle mit Stimmgabeltönen. In der
Mitte zwischen beiden Versuchsanordnungen steht die Versuchsan-
ordnung von Exner und Pollak (s. u.).
a. Die Versnche mit plötzlicher iTonerzeagnng.
Gegen diese Methode muß der prinzipielle Einwand erhoben
werden, daß der Reiz nicht in der nötigen Einfachheit erzeugt werden
kann. Die Entstehung eines Schwingungsvorganges erzeugt in dem
umgebenden Medium kompliziertere Verhältnisse als die Ausbreitung
der Schallwellen eines elastisch schwingenden Körpers über ein
größeres räumliches Gebiet. Dieser Einwand muß umsomehr er-
hoben werden, als bei den Untersuchungen mit plötzlicher Ton-
erzeugung der Beobachter durchweg in unmittelbarer Nähe des ton-
erzeugenden Instrumentes beobachtete.
Die Sirene (Loch- und 2^hnradsirene) ist wenig geeignet als ton-
erzeugendes Instrument zu dienen. Nicht Schwingungen eines elas^
tischen Körpers, sondern Luftstöße mit allen ihren spezifischen nicht
abtrennbaren Eigenschaften veranlassen den Erregungsvorgang im
perzipierenden Organ. Dazu kommen Tongeräusche der mannig-
fachsten Art, die alle in der Tonerzeugung selbst ihren Ursprung
haben und deren Beseitigung kaum möglich ist: Unterbrechungstöne,
Schwingungen des Lochrandes (Aluminium!), sehr intensive Ober-
töne, Wirbelgeräusche bei der plötzlichen Luftverdünnung, Anblase-
geräusche. Die Intensität des einzelnen Luftstoßes ist überdies ab-
hängig vom Luftquantum.
Vor allem aber sind es psychologische Fehler, welche die Sirene
als eine sehr ungeeignete Schallquelle erscheinen lassen. Die rasche
Wiederholung der einzelnen Stoßperioden bedingt nicht nur eme
Veränderung des Gesamtzustandes des Beobachters, sondern auch
der Gehörsempfindung. Es wird eine stärkere Heraushebung des
Digitized by VjOOQiC
Die Zeitschwellen für Stimmgabeltöne mittlerer und leiser Intensität 299
erwarteten tonalen Teilinhaltes herbeigeführt. Bei den hohen Tönen
können die einzelnen Perioden zuletzt kaum noch auseinandergehalten
werden, wenn nicht gar eine Summation der Energien im Gehör-
organ eintritt.
Alle diese Faktoren, zusammen mit den bereits früher erwähnten
psychologischen Faktoren der Erwartung und der Assimilation mögen
es bewirkt haben, daß die Zahl der zur Perzeption einer Tonempfindung
nötigen Schwingungen von allen Forschem, die mit Sirenentönen
(oder diesen ähnlichen) gearbeitet haben, viel kleiner angegeben wird
als von den mit Stimmgabeln arbeitenden Forschern. Als Minimum
werden durchschnittlich zwei Impulse angegeben. Nach dem oben
gesagten darf aber dieses Ergebnis nicht dahin verallgemeinert werden,
daß auch zwei Schwingungen jedes elastischen Körpers hinreichen,
um eine Tonempfindung zu erzeugen. Bei Savart (vgl. Lit.) heißt
es: »II r&ulte de lä, i** que deux chocs (!) ou battements successifs
suffisent pour constituer un son comparable, et que, par consöquent (I),
il faut quatre vibrations simples (!) pour donner le m6me r&ultat;
3° enfin, que le temps pendant lequel un son doit durer
pour etre pergu dopend uniquement de l'intervalle qui existe entre
deux des battements pä-iodiques qui le constituent; par cons^
quent, que ce temps est d'autant plus court que le son est plus aigu.«
Dieselbe Angabe von zwei Schwingungen finden wir bei Seebeck
und Ohm (vgl. Lit.). Pfaundler (Lochsirene) kommt zu dem Re-
sultat: »Daß im Minimum zwei Schallimpulse auf die mitschwingen-
den Teile des Ohres genügen können, um die Empfindung eines
Tones hervorzubringen, und daß diese Empfindung durch rasche
Wiederholung zum Bewußtsein gebracht werden kann\« Zu ähnlich
') Diese zweideutige Stelle ist dahin interpretiert worden, daB Pfaundler Emp-
findung mit Erregong verwechsele nnd durch die Wiederholung eine Sunmiation der
physiologischen Energien herbeigeführt werde. Die Wiederholung scheint bei
Pfaundler einerein psychologisch-apperzeptive Wirkung auszuüben. Denn bei der
Deutung dieser SteUe ist doch zu berücksichtigen, daß bei der Pfaundler 'sehen An-
ordnung zwischen den Doppelschwingungen immer eine größere (physikalisch) leere
Zeitstrecke eingeschoben ist, welche zwar infolge der längeren Dauer der physio-
logischen nnd psychischen Erregung (als die physikalische) subjektiv ausgefüllt wird,
aber doch einer Steigerung der Intensität der physikalischen Erregung und Empfin-
dung entgegenwirkt. Die Wiederholxmg führt also doch vor allem nur zu einer
zeitlich längeren Darbietung der Qualität des Reizes, welche für die Apperzeption
der Qualitäten der so entstehenden Vorstellung günstig ist. Eine einmalige Dar*
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300 Rudolf Bode,
niedrigen Zahlen kommt Max Meyer (Holzsirenenscheibe, welche
bis auf eine kleine Anzahl von Löchern durch Korkstückchen ver-
stopft werden konnte. Das Anblasen geschah durch eine Glasröhre).
Er fand folgende Zahlen:
1. Tonhöhe « 176 Tonstöße pro Sek.:
bei vier Tonstößen »nahmen die Tonstöße einen tonähnlichen Cha-
rakter an«,
fdnf Tonstöße ergaben »deutliche Tonstöße von der richtigen Ton-
höhe 176«.
2. Tonhöhe ■» 352 Tonstöße pro Sek.:
bei drei Tonstößen war die Tonhöhe »deutlich erkennbar«,
3. Tonhöhe = 704:
Der Ton der Stöße war »bei drei sowohl wie auch bei »wei geöffneten Löchern
erkennbar. Man konnte die Tonhöhe bestimmen, würde den Ton dabei aber wahr-
scheinlich um ein oder zwei Oktaven (!) zn tief geschätzt haben«.
4. Tonhöhe «352 (die einzelnen Perioden hatten gegeneinander Ver-
schiebung der Phase):
bei zwei Löchern war »keine Spur von Toncharakter« zu hören,
drei Löcher ergaben »etwas tonähnliches im Geräusch«,
bei vier Löchern wurde die Tonhöhe »merklich«,
bei fünf Löchern war sie klar erkennbar.
Abraham hat die Versuche nachgeprüft und gefunden, daß auch
bei ganz verstopfter Löcherreihe ein wenn auch schwacher Ton
gehört wurde, dessen Tonhöhe der Anzahl der Korkstückchen ent-
sprach. Dasselbe hat mir Krueger mündlich bestätigt. Abraham und
Brühl (Lochsirene) kommen zu dem Ergebnis, »daß wir für höchste
Töne mehr Schwingungen brauchen als für tiefere und daß die
Höhengrenzen ziemlich proportional den absolut erforderlichen
Schwingungszahlen wachsen.« Als Höhengrenzen werden angegeben
für 2 Schwingungen die Tonhöhe 3168
»3 > > > 3960
»4 > > » 5060
»5 » > » 6000
»10 » » » 7040.
Die Abhängigkeit dieses Ergebnisses von der Intensität wird stark
betont. — Von den anderen Arbeiten unterscheidet sich die Abra-
ham-Brühlsche durch die sorgfältige Registrierung der Geräusch-
bietung von zwei Schwingungen würde dagegen nicht nur eine schwächere, sondern
vor aUem eine kürzere Empfindung erzeugen, so daß ihrer qualitativen Wieder-
erkennung Schwierigkeiten erwachsen können.
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Die Zeitschwellen fUr Stiinmgabeltöne mittlerer and leiser Intensität 30 1
crscheinungen. Leider waren die objektiven Geräusche so stark,
daß eine hinreichende Isolation des subjektiven Faktors, der zweifel-
los vorhanden war, unsicher bleibt.
Kohlrausch lies ein Stück Zahnrad durch ein fallendes Pendel
an einem Kartenblatt vorbeischlagen und erzeugte durch die Anzahl
der Zähne die gewünschte Anzahl von Impulsen. Er fand zwei Im-
pulse als hinreichend. Doch lassen sich aus diesen Versuchen keine
zwingenden Schlüsse ziehen. Durch die Interruptionen wird der
Ton in seiner Qualität stark verändert. Nachschwingungen, Eigen-
töne und Obertöne des Kartenblattes und der Apparate sind schwer
zu isolieren. Die wechselnde Geschwindigkeit des fallenden Pendels
verleiht den einzelnen Impulsen verschiedene Energie. Die ersten
Schwingungen einer zum Tönen gebrachten Tonquelle benutzten
auch von Kries und Auerbach, sowie Martins bei ihren Reak-
tionsversuchen. Ihre Ergebnisse hängen zum Teil von psycholo-
gischen und zentralphysiologischen Bedingungen ab und können
daher zur physiologischen Interpretation elementarer Sinneserlebnisse
nicht ohne weiteres verwandt werden.
Eine eigenartige Methode finden wir bei Exner und Pollak
(vgl. Lit.). Sie benutzten rotierende Stimmgabeln und bestimmten
die Zahl der Umdrehungen, bei welcher die durch schnellere Rotation
auch immer schneller eintretende Phasenverschiebung den gleich-
zeitig immer leiser werdenden konstanten Ton gerade auslöschte.
Die Schwingungen wurden entweder dem Ohre direkt zugeführt oder
durch ein Telephon weitergeleitet. Im ersten Fall (starke Töne) ge-
nügen »zur Wahrnehmung des Tones nährungsweise zehn bis zwölf
Schwingungen, ob derselbe eine Höhe von 240 oder nur von 160
hat. Bei der zweiten Versuchsreihe (schwache Töne), welche Töne
von 240 bis 384 Schwingungen umfaßt, sind zur Erkennung der-
selben nährungsweise 13 Schwingungen erforderlich«. Die größere
Anzahl der nötigen Schwingungen glaube ich dem Umstand zu-
schreiben zu müssen, daß die Untersuchungen einfache Schwingungen
einer Stimmgabel zur Voraussetzung hatten.
Den Untersuchungen von Hensen, welche mit den Ergebnissen
dieser Arbeit in engster Beziehung stehen, werden wir am Schlüsse
ein besonderes Kapitel widmen.
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902 RndoH Bode,
b. Die Versnclie mit konstanter Tonerzengung.
Die Versuche mit konstanter Tonerzeugung erfordern eine viel
größere Differenzierung der Versuchsanordnung als die Versuche
mit plötzlicher Tonerzeugung, zumal wenn man die Intensität hin-
reichend berücksichtig^. Die hauptsächlichsten Schwierigkeiten sind
folgende:
1. Schalldichter Abschluß des konstant klingenden Tones vom
Beobachter;
2. Herstellung geräuschloser Tonquellen, deren subjektive Inten-
sität innerhalb einer bestimmten Grenze beliebig variiert wer-
den kann, ohne daß die objektive Intensität, d. h. die Ampli-
tude des schwingenden Körpers geändert wird;
3. Ausschaltung aller objektiven Geräusche;
4. Herstellung genau meßbarer Zeitminima durch möglichst exakte
momentane Öffnung und Schließung der Schalleitung;
5. Ausschaltung der Knochenleitung.
Die bisherigen Untersuchungen haben diese Schwierigkeiten der
Technik mehr oder minder vollkommen zu lösen versucht. Die
Versuchsergebnisse zeigen durchweg eine größere Anzahl von nötigen
Schwingungen als bei der oben besprochenen Methode, sie variieren
auch innerhalb viel weiterer Grenzen. Diese Variation ist vor allem
bedingt durch die mehr oder minder unvollkommene Öffnung und
Schließung der Leitung. Die älteste Arbeit ist die von Villari und
Marangoni (vgl Lit). Sie fanden die Zahlen:
Tonhöhe:
288 Schwingungen 640
1280
Schwelle:
3,3 > 5,0
6,8 für leise Töne
2,7 > 4,5
5,8 ftlr starke Töne.
Der Wert dieser Zahlen liegt in ihren relativen Verhältnissen. Starke
Töne brauchen weniger Schwingungen als leise Töne gleicher Ton-
höhe.
Mach stellte Verschluß und Öffnung der Leitung durch ein ro-
tierendes, mit einem Ausschnitt versehenes Rad her. Er fand fol-
gendes Resultat: »Erhält das Ohr zu wenige Schwingungen, so
nimmt man keinen Ton mehr wahr, sondern einen kurzen trockenen
Schlag, an dem man keine Tonhöhe mehr unterscheidet Ein tiefer
Ton von 256 einfachen Schwingungen war erst bei vier bis fünf
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Die Zeitschwellen für Stimingabeltöne mittterer xmd leiser Intensität 303
Schwingungen als Ton von bestimmter Höhe erkennbar, bei zwei
bis drei Schwingungen gab er bloß einen trockenen Schlag. Bei
tiefen Tönen treten die Obertöne (!) deutlich erkennbar hervor,
wenn der Grundton durch die Kürze seiner Dauer bereits unkennt-
lich ist«.
Exner benutzte durch Resonatoren verstärkte elektrische Gabeln.
Durch einen von der Atwoodschen Fallmaschine getriebenen Rah-
men wurde fiir kurze, variable und meßbare Zeiten Verschluß und
Öffnung eines Schlauches beigestellt. Bei der Tonhöhe 128 gaben
17, bei der Tonhöhe 64 gaben 16,8 Schwingungen »die erste Spur
einer Tonempfindung«. Der tiefere Ton braucht also doppelt soviel
Zeit als der höhere. Den Tonwellen, die in das Ohr geleitet
wurden, ging eine mächtige Talwelle voraus, welche beim Auf-
schnellen des zugequetschten Schlauches entstand und eine intensive
Gehörsempfindung (dumpfer Stoß) auslöste. Diese Abklemmung
eines Schlauches ist übrigens eine wenig exakte Form des Ver-
schlusses.
Rudolf Schulze r^^lierte die Zeit der Einwirkung durch ein
schweres Pendel, das eine in den Schlauch eingeschaltete Hahnvor-
richtung öffnete und schloß'). Er untersuchte die Tonhöhen von
64 bis 360. Die Zahlen differieren sehr stark in den verschiedenen
sukzessiven Übungsperioden und sind zuletzt außerordentlich klein
(1,8 Schwingung!)'). Ähnlich geringe Zahlen fanden Gross und
Maltby bei ihren Telephonuntersuchungen (für O 0,88, für C* 1,78
Schwingung). Doch ist die Versuchsanordnung ganz unrein. Die
niedrigen Schwellenwerte sind höchstwahrscheinlich durch Eigentöne
der Telephonplatte bedingt.
') Vgl. die Besclireibimg der Anordnung bei Wandt, Physiol. Psychologie ü'
1902, S. 81 n. 91 und R. Schulze, Wandt, Phil. Stad. Bd. 14, S. 471.
') Die Resaltate seiner nicht selbständig veröffentlichten Versuche über die
Zeitschwelle siehe Wandt, Phys. Psych, a. a. O. Da bei seinen Versachen, wie
oben erwähnt, die Unwissentlichkeit des Verfahrens strenge eingehalten war, be-
mhen seine kleinen Zeitwerte wahrscheinlich vor allem auf der größeren Intensität
der Reize. Daza kommt noch ein Nachhallen des Tones in der langen Leitang nnd
die in seiner Eichung nicht inbegriffene Zeit karz vor and nach der voUen öfihang
des Hahnes, in der, wie Schalzes Protokolle selbst angeben, der Ton nicht völlig
abgeschlossen war.
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304
Rudolf Bode,
III. Die Versuchsanordnung.
Die folgenden Untersuchungen wurden ausgeführt im Psycho-
logischen Institut Leipzig in der Zeit von WS. 1904/5 bis WS. 1905/6.
Dem Direktor des Instituts Herrn Geheimrat Professor Dr. Wundt
bin ich für die freundliche Unterstützung und das Interesse, welches
er meiner Arbeit entgegenbrachte, zu großem Dank verpflichtet,
ebenso Herrn Professor Dr. Krueger, unter dessen Leitung die Ver-
suche ausgeführt wurden. Auch allen Herren, die als Versuchs-
personen an der Arbeit teilnahmen, danke ich noch einmal an dieser
Stelle, vor allem Herrn Professor Dr. Bazala und Herrn stud.
Kästner, ohne deren bereitwillige Mitarbeit ein großer Teil der
zeitraubenden Versuche nicht hätte ausgeführt werden können^.
\ii\i
— s»
Fig. I. Schematbcbe Darstellung der Gesamtanordottiig.
Für die Anordnung standen mir drei Räume zur Verfügung, welche
in einer Flucht am Ende des Laboratoriums lagen. Das mittlere
Zimmer war das sogenannte Stillzimmer (genaue Beschreibung bei
Krueger, Philosophische Studien Bd. 18). Das Beobachterzimmer
ging auf den Hof hinaus, dessen Geräusche im dritten Stockwerk
nicht zu hören waren. 1,50 m über dem Boden befand sich eine
runde Öffnung zum Durchlegen der Schalleitung. Die Leitungsrohre
(Messing) waren in ihrer ganzen Länge umgeben von einer dichten
*) Versuchspersonen waren außer den genannten die Herren Dr. Vancau-
velaert, Dr. Reuther, Dr. Spearmann, Dr. S6gal, stud. Kafka, stud. Cle-
ment, stud. Ziembinski, stud. Stefanowski, stud. Nikitin.
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Die Zeitschwellen für Stimmgabeltöne mittlerer ond leiser Intensität. 305
Wattepackung, die sich an den Durchbruchsstellen zu großen Bäuschen
erweiterte. Die Versuchsanordnung hat im Laufe der ersten zwei
Semester kleinere und größere Umänderungen erfahren. Es würde
viel zu weit führen, diese Abänderungen im einzelnen anzuführen.
Ich begnüge mich damit, die Versuchsanordnung in ihrer endgültigen
Form zu beschreiben, indem ich die zu überwindenden Schwierig-
keiten der Reihe nach bespreche.
a. Isolation des Tones.
Die Tonquellen (el. Stimmgabeln) standen in länglichen Holz-
kisten (vgl. Fig. I, /und 11). Diese waren inwendig quadratisch mit
Eisenblech ausgeschlagen, dessen Ränder und Ecken verlötet wurden.
Zwischen den sehr starken Holzwänden und dem Eisenblech befand
sich eine 2 mm dicke Pappschicht. Eine an den Rändern mit Polstern
versehene Klapptür schloß den Kasten. Zur Aufnahme der Schall-
wellen diente ein runder, durch Zeug völlig gedämpfter Eisenblech-
trichter (Fig. 6, a). Diese Untersuchung hat aufs neue bewiesen,
daß die Isolation akustischer Wellen eins der schwierigsten Kapitel
der physikalischen Akustik ist. Trotzdem zwischen dem Beobachter-
und dem Experimentatorzimmer das Stillzimmer lag, konnte nicht
in allen Fällen ein schalldichter Abschluß erzielt werden. Die tiefen
Töne können viel weniger isoliert werden als die hohen Töne. Um-
gekehrt verloren in der Schalleitung die tiefen Töne viel stärker an
Intensität als die hohen Töne. Es war unmöglich, mittelstarke tiefe
Stimmgabeltöne von direkter Leitung zu isolieren, andererseits sank
die Intensität leiser tiefer Stimmgabeltöne innerhalb der Leitung
sehr schnell unter die Grenze des Hörbaren. Ein großer Teil der
Versuchsreihen mit tiefen Tönen mußte abgebrochen oder von der
Verwertung zu Schwellenbestimmungen ausgeschlossen werden. Das
Optimum der Intensität mußte vor jeder Versuchsreihe neu bestimmt
werden. Oft trat der Fall ein, daß der Ton nicht mehr direkt, d. h.
bei geschlossener Leitung gehört wurde, bei offener Leitung aber
zu schwach war, um noch brauchbar zu sein. Es kam vor, daß
die Störungen durch direkte Leitung erst während der Versuche
hervortraten, indem der Beobachter, der die Tonhöhe des Reizes
nicht kannte, den Ton »irgendwo in der Umgebung« zu hören
glaubte, sobald die Schwelle überschritten war. Qualitativ zeigten
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3o6 Rudolf Bode,
sich derartige Störungen in starken Kontrasterscheinungen. — Ganz
anders verhielten sich die hohen Töne. Mittelstarke hohe Töne
von der Tonhöhe 256 wurden nur selten, von der Tonhäie 384
tmd höhere nie direkt gehört
b. Die Tonqnellen.
Als Tonquellen dienten elektrische Gabeln neuester Konstruktion
von Zimmermann. Die Tonhöhen waren 128, 256, 384, 512 und
640 Schwingungen. Die Gabel 640 mußte aber schließlich aus-
geschaltet werden, da die Intensität auch bei starken Strömen unter-
halb der brauchbaren Grenze blieb. Die Kontakte waren Trocken-
kontakte (Platindrähte). Die Gabeln 384 und 512 funktionierten
ausgezeichnet. Die Gabeln 128 und 256 störten oft den Gang der
Versuche dadurch, daß die Kontakte infolge der starken Amplituden
verbogen wurden, wenn sie nicht gar, was oft vorkam, brachen.
Am besten bewährte sich ein Kontakt, der einmal schleifenartig ge-
bogen durch innere elastische Kräfte beim Anschlagen nach oben
ausweichen konnte und an der Anschlagstelle in ein dünnes Blätt-
chen auslief (vgl. Fig. 2). Der Unterbrechungsfunke und damit das
an der Unterbrechungsstelle entstehende
/fS^^ Geräusch wurde r^elmäßig durch eine
/ 1^ Nebenleitung mit starkem Widerstände
^^^0F beseitigt (vgl. Helmholtz, L. v. d. T.
' ■ ■ ^ Anhang). Die Gabeln waren auf festen
Holzbrettem montiert und zur Ver-
stärkung der Resonanz von an der
Fig. a. Kontakt der elektrischen . /-v .^ «- ^ 1 .. ^
Stimmgabeln. emen Querseite offenen Resonanzkästen
überdeckt. Die durch das Aufschlagen
der Kontakte entstehenden Nebengeräusche wurden von der Leitung
völlig absorbiert, der Beobachter hörte ruhig klingende reine Stimm-
gabeltöne. Im allgemeinen klangen die Gabeln, was für die Haupt-
versuche unerläßlich ist, ungestört und ohne merkliche Intensitäts-
schwankungen halbe bis ganze Stunden fort. Die Störungen traten
immer im Verlauf längerer Reihen auf.
c. Die Tachistophone.
Zur Herstellung meßbarer Zeitminima bei möglichst exakter
momentaner Öffnung und Schließung der Leitung dienten die beiden
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Die Zeitschwellen fUr Stimmgabeltöne mittlerer und leiser Intensität. ßo?
von Krueger und Wirth konstruierten >Tachistophone< (Fig. i, ///
und IV; Fig. 3). Die Konstruktion ist folgende: Innerhalb eines
Eisenrahmens a befindet sich ein massiver
Messingschlitten 6, in welchem ein läng-
liches Kästchen c aus Ebonit hinauf- und
hinuntergleitet. Der Schlitten ist sorgfaltig
aus gehärtetem Stahl gearbeitet und das
Kästchen gleitet geräuschlos. Die Schlitten-
wand, sowie das Kästchen sind zur Auf-
nahme je eines Rohrstückchens e von der
Weite des Leitungsrohres durchbrochen.
Im Hintergrunde des Kästchens wie im
Hintergrunde der Schlittenwand befindet
sich je eine dünne Platte, die mit sehr ge-
ringem Zwischenraum aneinander vorüber-
gleiten und einen kleinen viereckigen Aus-
schnitt haben. Der Ausschnitt in der Schlit-
tenwand ist 3 mm in der Horizontallinie
lang, I mm breit; der Ausschnitt in der
Hinterwand des Kästchens ist i mm breiter.
Bei geschlossenem Strom wird das Kästchen
vom Magneten angezogen, bei geöffnetem Strom von den beiden Federn,
deren Spannkraft durch eine Schraube vergrößert und verringert
werden kann, herabgerissen. Bei der Ausgangsstellung (Kästchen
angezogen) stehen die beiden Ausschnitte im ersten Tachistophon
wie in Fig. 4, im zweiten Tachistophon wie
in Fig. 5. Beim ersten Tachistophon ist
also die Leitung geschlossen, beim zweiten
Tachistophon offen. Getrennte Stromkreise
(Fig. i) verbinden jedes Tachistophon mit
den Hebelkontakten eines Pendels (s. u.).
Öffnen wir nun durch Fallenlassen des Pendels nacheinander beide
Stromkreise, so fallen beide Kästchen nacheinander herab. Beim ersten
Tachistophon schiebt sich die Öffnung des Kästchens über die Öffnung
der Schlittenwand, es entsteht Öffnung der Leitung; beim zweiten
Tachistophon wird die Öffnung der Schlittenwand geschlossen, es
entsteht Schluß der Leitung. Während der Zeit, die zwischen dem
Fig. 3. Tachistophon (Va der
natürlichen Größe).
Flg. 4. Flg. 5.
Verschluß . und Öffnung im
ersten und zweiten Tachisto-
phon bei Ausgangsstellung.
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3o8 , Rndolf Bode,
Fallen des ersten und zweiten Kästchens li^, ist die ganze Leitung
geöffnet. Die Falldauer des Kästchen betrug bei beiden Tachisto-
phonen^ wie graphisch festgestellt wurde, 2 bis 3 a. Eine noch
weitere Steigerung der Geschwindigkeit würde durch stärkere Feder-
spannung leicht zu erreichen sein, hätte aber wenig Zweck, da schon
die geringste Öffnung den Ton in maximaler Stärke hören läßt.
Andrerseits entstehen durch die starke * Hemmung der Bewegung
Knallgeräusche. Die Hemmung wurde hergestellt durch entgegen-
wirkende Gummibänder verschiedener Spannung. Durch empuisches
Ausprobieren wurde das Optimum, d. h. diejenige Spannung der
hemmenden Gummibänder bestimmt, welche das Geräusch ver-
schwinden lies. Um Eigentöne der Federn zu verhindern, wurden
diese mit kleinen Wattebäuschen umgeben. Die Geräusche, welche
beim Öffnen des Stromes an den sich berührenden und nunmehr
plötzlich auseinander gehenden Eisenteilen des Magneten und des
Kästchens entstanden, wurden dadurch beseitigt, daß in die Eisen-
platte des Kästchens ein kleiner Stift d eingelassen und dadurch die
Berührungsflächen auf ein Minimum reduziert wurden.
Große Schwierigkeit bot die Ausschaltung des Knallgeräusches,
welches bei Öffnung oder Schluß der Tachistophone an die im
Innern des Apparates entstehende und sich bis zum Ohr des Be-
obachters fortpflanzende Luftwelle gebunden war. Das Knallgeräusch
wurde auf folgende Weise beseitigt. Beim Niederfallen des Tachisto-
phons wurde gleichzeitig die Öffnung eines kleinen durch die
Schlittenwand nach außen führenden Kanals freigelegt. Dadurch
konnte sofort ein Ausgleich der Luftspannung nach außen statt-
finden und das Entstehen eines Knalles wurde verhindert. Das Ent-
stehen einer schwachen Luftdruckwelle konnte dagegen nicht ver-
hindert werden. Gelegentlich behaupteten meine besten Versuchs-
personen, wenn ich die Tachistophone ohne Ton fallen lies, eine
leise Geräuschempfindung wahrzunehmen. Sie beschrieben diese
Empfindung als >leise Hauchempfindung«, »nur mit größter An-
strengung hörbares Geräusch, taktiU, »sehr leises ph< u. a. Auf
jeden Fall darf behauptet werden, daß für die im folgenden ver-
werteten Versuchsreihen die Anordnung für den Beobachter ge-
räuschlos funktionierte, daß alle durch die Bew^rung der Apparate
bedingten objektiven Geräusche beseitigt waren.
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Die Zeitschwellen fUr Stimmgabeltöne mittlerer and leiser Intensität 30Q
d. Die Abstufung der Hörzeiten.
Die Zeiten, welche zwischen dem FaUen des ersten und dem des
zweiten Tachistophons verflossen, wurden variiert durch ein schweres,
sehr exakt funktionierendes Kontaktpendel mit Schneidelager, welches
im Zimmer des Experimentators stand. Die beiden Kontakte, welche
die durch die Elektromagneten der Tachistophone gehenden Ströme
schlössen und öffneten, konnten auf einer Millimeterskala gegen-
einander verschoben werden. Als Stromquellen dienten sowohl für
die Tachistophone als auch für die Stimmgabeln Akkulumatoren.
Die exakte Bestimmung der Zeitwerte geschah in folgender Weise.
Die Kästchenröhre (Fig. 3, e) des ersten Tachistophons wurde durch
ein Stück Schlauch, die Schlittenröhre des zweiten Tachistophons
gleichfalls durch ein längeres Stück Schlauch verlängert. Das letztere
endete in den von Krueger und Wirth zu phonetischen Versuchen
konstruierten Kehltonschreiber (Psychol. Stud. I, S. 103), dessen Mem-
bran und darauf liegende Borste auf die geringsten Druckschwan-
kungen reagierte. Brachte man die Borste an eine von Rußpapier
umhüllte rotierende Trommel und rief man gleichzeitig durch Hinein-
blasen in den anderen Schlauch vor dem geschlossenen, ersten Ta-
chistophon einen Luftdruck hervor und ließ dann das Pendel und
dadurch die Tachistophone fallen, so konnte man die Größe der
Zeit an der Kurve einer mit der Borste in gleicher Vertikalebene
schwingenden elektrischen, mit einer Borste versehenen Stimmgabel
ablesen. Die Zahl der Schwingungen, welche der Erhöhung der
Kehltonschreiberlinie parallel liefen, ergab die Größe des Zeitinter-
valls. Korrigiert werden müßten die gefundenen Zahlen dann noch
durch Addition der Differenz der Zeiten, in welcher die Luftdruck-
welle und die Schallwelle vom ersten Tachistophon zum zweiten ge-
langte, da die Öffnung der Leitung beim ersten, der Schluß beim,
zweiten Tachistophon eintrat. Die unten angegebenen Hörzeiten
sind also noch ein wenig zu klein. — Kontrolliert wurden diese Zeit-
bestimmungen durch eine direkte Eichung des Pendels, indem die
beiden Kontakte je mit einem elektromagnetischen Zeitschreiber ver-
bunden wurden, welche die Öffnung der Stromkreise auf eine rotierende
berußte Trommel markierten. Die Schwingungskurve einer mit
den beiden Zeitschreibern in gleicher Vertikalebene schwingenden
Wundt, Psychol. Studien IL 21
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3IO
Rudolf Bode,
elektrischen Gabel lieferte die Größe des Zeitintervalls, welches dann
noch wie oben korrigiert werden mußte.
e. Die Knochenleitung.
Das Leitungsrohr endete im Beobachterzimmer in einen Trichter
aus. Der Rand des Trichters war umgeben mit einem Gummischlauch.
Legte man das Ohr an diesen Trichter, so hörte man bei geöffneter
Leitung den Ton bedeutend lauter als in einiger Entfernung. Die
Verstärkung war wesentlich durch direkte Knochenleitung bedingt.
Die Knochenleitung aber muß ausgeschaltet werden, weil sie für ver-
schieden hohe Töne verschieden wirkt. Es wurde daher, völlig un-
abhängig vom Trichter, auf einem besonderen Stativ, ein eiserner
Ring von lo cm Durchmesser, 2 cm vom Trichterrand, 5 cm von
der Öffnung der Schallleitung (die Schallleitung ragte etwas in den
Trichter hinein) entfernt, senkrecht zur Richtung der Schallleitung,
parallel zum Trichterrand sicher befestigt. Der Beobachter legte
seinen Kopf so an den Ring, daß die Ohrmuschel ungefähr in der
Mitte war. Dadurch wurde erstens die direkte Knochenleitung aus-
geschlossen und zweitens erreicht, daß das Ohr immer in gleicher
Entfernung von der Trichtermündung blieb.
f. Die Intensität.
Da diese Untersuchung zu dem Zwecke unternommen wurde,
verschiedene Tonhöhen bei gleicher subjektiver Intensität zu unter-
suchen, so mußten Einrichtungen getroffen werden, um i. zwei gleich-
zeitige Töne genügend isolieren und sie kurz nacheinander dem Be-
obachter darbieten zu können, 2. die Intensität des subjektiv in be-
zug auf Intensität anzugleichenden Tones beliebig variieren zu können.
Fig. 6. Teilrohr mit Intensitätsvariator.
Die erste Forderung erfüllten die beiden oben beschriebenen Kasten.
(Fig. I, I und //, Fig. 6 b.) Sie waren durch ein Gabelrohr (Fig. i,
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Die Zeitschwellen für Stimmgabeltöne mittlerer und leiser Intensität 311
V, Fig. 6, c) mit der Hauptieitung verbunden. Jedes der beiden Teil-
rohre hatte am Anfang und kurz vor der Vereinigung mit dem an-
deren Teilrohr je einen Hahn (Fig. 6, d und d) um die Leitung
dicht abschließen zu können. Der zweite Hahn (^f ), diente gleich-
zeitig dazu, eine Interferenzwirkung des Teilrohres zu verhindern.
Die zweite Forderung wurde in vollkommener und einfacher Weise
erfüllt durch einen dreieckigen 2 cm langen Ausschnitt in jedem
Teilrohr, dessen Öffnung durch einen hin- und herzuschiebenden
Mantel von Messing vergrößert und verringert werden konnte. Voll-
ständige Öffnung bewirkte trotz Öffnungsstellung der Tachisto-
phone volktändige Auslöschimg des Tones für den Beobachter. Der
einzige Mangel bestand darin, daß die Intensitätsschwankungen auch
bei sehr geringem Hin- und Herschieben außerordentlich groß waren,
sodaß es sich empfehlen dürfte, künftig die Bewegung des Mantels
durch eine Mikrometerschraube zu bewirken.
g. Die Interferenz.
Der von Krueger (Philos. Studien 17, 223) beschriebene Inter-
ferenzapparat war im sogenannten Stillzimmer in die Hauptleitung
eingefügt. Die Interferenzröhren wurden so eingestellt, daß bei den
Tönen mittlerer Tonhöhe die beiden ersten Obertöne durch je drei
Röhren, bei den tiefen Tönen (128 Schw.) durchweg die ersten vier
Obertöne ausgelöscht wurden.
IV. Die Methode.
Den Untersuchungen zu Grunde gelegt wurde die Methode der
Minimaländerungen. Das Zeidben zum Beginn jedes einzelnen Ver-
suches wurde durch ein elektrisches Klingelsignal vom Beobachter
gegeben. Fünf Sekunden vor Auslösung des Reizes (Fallenlassen
des Pendels) erhielt dieser als Signal dai trocknen, leisen Schlag
einer gedämpften elektrischen Glocke. Darauf beschrieb der Be-
obachter die qualitative Beschaffenheit des Gehörten und bestimmte
die Tonhöhe an einem großen Königschen Monochord. Bei der
ersten Minimalreihe wurde beim kleinsten Zeitintervall (:= o) ange-
fangen, und das Intervall solange vergrößert, bis der Ton deutlich
gehört wurde. Als Einheit der Intervallvergrößerung wurde das
21*
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OI2 Rudolf Bode,
MilKmeter auf der Pendelskala festgehalten. Sobald der Beobachter
den Ton hörte, wurde die Reihe abgebrochen und nunmehr an diesen
jetzt konstant dargebotenen Ton ein anderer höherer oder tieferer in
bezug auf Intensität angeglichen. Die Töne konnten innerhalb der Lei-
tung bei dauernd geöffneten Tachistophonen durch Schluß und Öffnung
der Hähne in den Zweigleitungen abwechselnd gegeben werden. Die
Umschaltung des Interferenzapparates erforderte einige Zeit. Infolge
fortschreitender Übung genügte später für die Vergleichung nur eine
einmalige Darbietung des ersten Tones. Die Intensitätsvariation war
durch den oben beschriebenen dreieckigen Ausschnitt leicht herzu-
stellen. Sobald die Töne angeglichen waren, wurde mit dem zweiten
Tone eine zweite Minimalreihe hergestellt, nunmehr von großen Hör-
zeiten bis o abschreitend. Es wurden auf diese Weise in Doppel-
reihen untersucht die Töne 384, 5i2Schw. und 512, 384 Schw. und
zwar beide von leiser und von mittelstarker Intensität. Tripelreihen
wurden hergestellt von den Tönen:
leise: 128, 384, 512
mittelstark: 284, 384, 512
In diesen Tripelreihen wurden alle Einzelreihen, um gleichwertiges
Material zu erhalten, mit allmählich aufsteigenden Hörzeiten unter-
sucht und die Monochordbestimmung fortgelassen, da diese die Un-
kenntnis des Beobachters mit dem dargebotenen Tone zur Voraus-
setzung hat.
Untersuchungen mit allen vier Tönen anzustellen, verbot die starke
Ermüdung des Beobachters, welche vor allem durch die angestrengte
Beobachtung bedingt war.
Bei allen Einzelreihen wurde am Anfang oder Schluß, je nach-
dem mit ansteigenden oder absteigenden Hörzeiten gearbeitet wurde,
die Hörzeit o ohne Ton (Leitung durch Hähne verschlossen) dar-
geboten. Auf diese Weise konnte der Zustand der Tachistophone
beständig kontrolliert werden. Veränderungen in den Spannungen
der Gummibänder (s. o.) verrieten sich durch Geräuscherscheinungen,
welche durch Änderung der Spannungsverhältnisse jeweils beseitigt
wurden.
Um das im einzelnen innegehaltene Verfahren zu veranschaulichen,
teile ich im folgenden im Wortlaut mit die Protokolle von zwei voll-
ständigen Versuchsreihen. Das erste enthält zwei Reihen der Töne
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Die Zeitschwellen für Stimmgabeltöne mittlerer und leiser Intensität. 313
384 und 512 und stammt von Herrn Professor Bazala. Das zweite
enthält drei Reihen der Töne 256, 384 und 512 und stammt von
Herrn Dr. Kafka.
I.
Monochord : 384 Schw. = 36,8 cm.
Tonhöhe: 384. Intensität: mittelstark.
Reihen-
folge
der Ver.
suche
mm
Pendel
Monochord
cm Schw.
a
Schw.
I
□ ')
0
0
nichts,
2
gl^)
0
0
Geräusch??
3
12
6,3
2,43
Geräusch, sehr kurz, ezplosivartig.
4
14
29,4
11,34
> schlagartig, etwas tonartig.
5
16
43
16,5
unklares tonartiges Geräusch, kurz,
6
18
54,6
21
37,8
373 +
klares tonartiges Geräusch,
7
20
64
24,6
37,4
377 4-
Ton unklar, etwas geräuschvoll.
8
22
74
28,5
38,0
373 +
Ton am Ende geräusch- und explosivartig.
9
24
85
32,7
37,0
381 +
» > » > > >
10
26
94,5
36,45
37,6
375 +
kurzer Ton, ziemlich stark.
II
28
105
40,5
37,0
371 +
Ton, am Ende nicht geräuschlos.
Tonhöhe: 5
[2.
I
28
105
54
kurzer Ton, Ausgang nicht geräuschlos.
2
26
94,5
48,6
> > , Ausgang abgebrochen, leiser,
3
24
85
43,6
ganz kurzer Ton, leise aber doch hörbar,
4
22
74
38
Ton verliert sich in einem ziemlich lauten
Explosivgeräusch,
5
20
64
32,8
Ton sehr geräuschvoll endend,
6
18
54,6
28
Geräusch tonartig, abgebrochen, leise und
7
16
43
22
kurz,
Geräusch tonartig und explosiv.
8
H
29,4
15,12
ganz leises abgebrochenes dumpfes Ge-
räusch (Schlag),
9
12
6,3
3,24
Geräusch kaum hörbar,
10
gl
0
0
?
II
□
0
0
nichts,
Tonh
öhe
= 256.
n.
Intensität: mittelstark.
Reihen-
folge
der Ver-
suche
Pendel
r.
<F
Sch\^
I
□
0
0
nichts,
2
gl
0
0
Geräusch?
3
12
6,3
1,62
Geräusch (P-Laut),
*) □ bedeutet; Hörzeit o bei geschlossenen Hähnen (ohne Ton],
gl » > o > offenen » (mit Ton).
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314
Rndolf Bode,
Reihen-
folge
der Ver-
suche
Pendel
mm
(T
Schw.
4
14
29,4
7,56
Geräusch mit leisem hellen Beiklang.
5
i6
43
II
> » P-Laut ohne jeden Beiklang,
6
i8
54,6
H
» » dnmpferem Beiklang,
7
20
64
16,4
> : P-K„ Toncharakter schon dentlicher,
8
22
74
19
noch kein ausgesprochener Ton, aber deutlich Ton-
charakter,
9
24
85
21,8
Toncharakter wieder etwas undeutlich.
lO
26
94,5
24,3
Geräusch: T-T, dazwischen Ton wie erstickt,
II
28
105
27
noch kein reiner Ton,
12
30
117,6
30,24
Ton deutlich, daneben zwei labiale Geräusche.
Tonhöhe = 384.
I
□
0
0
nichts,
2
gl
0
0
Hauch,
3
12
6,3
2,43
nichts.
4
14
29,4
11,34
nichts.
5
16
43
16,5
Geräusch, dumpf,
6
18
54,6
21
> , bereits ein gewisser tonartiger Beiklang,
7
20
64
24,6
Hauchartiger Ton zwischen zwei Labialgeräuschen,
8
22
74
28,5
Ton schon etwas deutlicher.
9
24
85
32,7
zuerst ein Explosivlaut, dann ein Ton,
10
26
94,5
36,45
Ton zuerst, dann ein Explosivgeräusch,
II
28
105
40,5
leiser Ton.
Tonhöhe = 512.
I
□
0
0
hauchartiges Geräusch,
2
gl
0
0
nichts.
3
12
6,3
3,24
h
4
14
29,4
15,12
h
5
16
43
22
bereits eine Spur von Toncharakter,
6
18
54,6
28
ganz leiser hauchartiger Ton zwischen zwei Labial-
lauten,
7
20
64
32,8
Ton deutlicher.
8
22
74
38
» »
9
24
85
43,6
Ton ganz deutlich, wenn auch leise.
In der ersten Reihe des ersten Protokolls wird der Ton 384 durch-
weg am Monochord zu tief bestimmt. In der ersten Reihe (384)
liegt das erste Auftauchen tonartiger Qualitäten zwischen zwei und
elf Schwingungen. In der zweiten Reihe (512) sind 15 Schwingungen
kaum noch als Geräusch wahrnehmbar.
Im zweiten Protokoll finden wir bei steigender Tonhöhe eine Ab-
nahme der zur Wahrnehmung tonartiger Qualitäten nötigen Hörzeiten
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Die Zeitschwellen für Stimmgabeltöne mittlerer und leiser Intensität. 31 j
(64 er, 54,6 a, 43 a). Die Zahl der nötigen Schwingungen dagegen
steigt mit wachsender Tonhöhe {16,4; 21; 22).
V. Die quantitativen Ei^ebnisse.
Die Schwelle wurde in jeder Reihe dort als erreicht angenommen,
wo zum ersten Male etwas »tonartiges«, eine »Tonfarbung« usw. im
Gesamterlebnis zu konstatieren war. Für die Berechnung der Schwellen
wurden endgültig, als unter hinreichend gleichen Bedingungen stehend
verwertet:
von mittelstarken Tönen
Smnme
6 Tripelreihen der Töne 256
384
512
18 Reihen
12 Doppelreihen » >
384
512
24 >
13 > > >
S12
384
26 »
I Einzelreihe des Tones
512
I »
von leisen Tönen
4 Tripelreihen der Töne 128
384
512
12 »
I Doppelreihe des Tones 128
384
2 >
S Doppelreihen > >
384
512
10 »
3 > » »
512
384
6 >
99 Reihen.
Die Berechnung der Schwellen geschah in der Weise, daß von
den Tonhöhen 128, 256 die Schwellen direkt durch Mittelziehung,
von den Tonhöhen 384, 512 aus den Reihen mit aufsteigenden Hör-
zeiten die imtere, aus den Reihen mit absteigenden Hörzeiten die
obere Schwelle bestimmt und dann aus beiden Schwellen die mittlere
Schwelle bestimmt wurde.
Im Mittel ergaben sich folgende Werte:
leise: mittelstark:
Tonhöhe ff Schw. <r Schw.
128 94,6 12,1088
256 69,08+ 17,604
384 62,72 24,08 44,5 + 17,088
512 57,9 29,64 42,74 21,88
Die Störungen, welche durch direkte Leitung, durch zu geringe
Intensität oder durch Brechen der Stimmgabelkontakte eintraten,
haben verhindert, daß von den tiefen Tönen eine gleiche Anzahl von
Reihen hat für die Schwellenbestimmung zur Verwendung kommen
können. Die herrschenden Gesetzmäßigkeiten springen aber auch
so deutlich hervor.
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3i6 Rudolf Bode,
Zur Perzeption brauchen
1. Die leisen Töne bei gleicher Tonhöhe größere Hör-
zeiten und eine größere Anzahl Schwingungen als die
mittelstarken Töne;
2. Die hohen Töne bei gleicher subjektiver Intensität
kleinere Hörzeiten aber eine größere Anzahl Schwin-
gungen als die tiefen Töne;
3. Bei gleicher subjektiver Intensität und bei steigen-
der Tonhöhe erfolgt die Zunahme (Abnahme) der
minimalen Schwingungszahlen (Hörzeiten) bei den
tiefen Tönen schneller als bei den Tönen mittlerer
Tonhöhe.
Eine Abweichung von der Regel 2 zeigen die Zahlen 17,604 und
17,088. Doch dürfte diese Abweichung verschwinden, wenn von
256 eine größere Zahl Reihen hätte verwertet werden können.
Andrerseits ist sie ein Beweis für das langsame Steigen der zur
Perzeption nötigen Anzahl Schwingungen bei den Tönen mittlerer
Tonhöhe (vgl. Regel 3).
VI. Die qualitativen Ergebnisse.
a. Intensität.
Es bestätigt sich die auch von anderen Experimentatoren gefun-
dene Tatsache, daß die Tonerregung mit der Hörzeit ansteigt. Un-
erwähnt gefunden habe ich in den früheren Arbeiten den Einfluß
der Intensität auf die
b. Klangfarbe.
Der Verlauf der Klangfarbenänderung ist ein außerordentlich
differenzierter. Bis zur vollen Apperzeption des Tones finden wir
eine große Mannigfaltigkeit der verschiedensten Komplexqualitäten.
Auf keinen Fall ist der Beginn einer Gehörsempfindung, die an ein-
fache Schwingungen gebunden ist, immer ein Knallgeräusch. Die
qualitative Beschaffenheit ändert sich nicht nur mit der Größe der
Hörzeit, sondern auch mit der Intensität. Der charakteristische,
durch die verschiedene Intensität bedingte Unterschied bleibt auch
während des Verlaufs der leisen und mittelstarken Reihen bis zur
vollen Apperzeption bestehen. Wir besprechen im folgenden die
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Die Zeitschwellen für Stimmgabeltöne mittlerer und leiser Intensität 317
qualitativen Erscheinungen in der Reihenfolge, wie sie sich bei der
Minimalmethode von der kleinsten Hörzeit an darbieten.
I. Reine Geränschempfindnngen (bis zur SchweUe).
Bei den kürzesten Hörzeiten wurden nur reine Geräusche wahr-
genommen. Wir finden eine große Mannigfaltigkeit der verschie-
densten Geräuscharten. Der Oiarakter der Geräuscherscheinungen
bei mittelstarken Tönen ist spezifisch verschieden von den Geräusch-
erscheinungen bei leisen Tönen. Er ändert sich mit zunehmenden
Hörzeiten in folgender Weise:
bei mittelstarken Tönen:
(die Klammem fassen annähernd gleiche
Hörzeiten zusammen)
»sehr leises ph<
»abgerissenes Geräusche
»kurzes Schnappen«
»ganz kurzer Knax«
»unbestimmtes schlagartiges Geräusch«
»P-Laut«
»Schnalzlaut«
»knallartiges Geräusch«
»dumpfes Geräusch wie ein Schlag«
»unbestimmtes Explosivgeräusch«
»zwiespältiges Geräusch«
»zweiteiliges Geräusch«
»hauchartiges Geräusch«
/ »kaum hörbares dumpfes Geräusch«
»ganz schwaches Geräusch«
Der Gegensatz wird oft geradezu gegeben durch die Zeichen
I
bei leisen Tönen:
A-.
nicht
Hieran schließen sich an die
2. Klanggeräusche (bis zur Apperzeption).
Eine noch viel größere Mannigfaltigkeit der Klangfarben finden
wir in dem Reizgebiet von der Schwelle bis zur Apperzeption eines
deutlichen Tones. Es findet sich ein kontinuierlicher Übergang vom
Überwiegen des Geräusches in dem Klangganzen bis zum Über-
wiegen des Tones. Auch hier zeigen sich charakteristische Gegen-
sätze zwischen mittelstarken und leisen Tönen, sowohl hinsichtlich
der Mannigfaltigkeit, als auch in der Klangfarbe. Der Übergang
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3i8
Rudolf Bode,
vollzieht sich in folgender Weise. (Die Klammem bedeuten wieder
annähernd gleiche Hörzeiten):
> Geräusch mit Toncharakter«
>iinklares tonartiges Geräusch«
bei mittelstarken Tönen:
'.
bei leisen Tönen:
»Geräusch dumpf , tongeförbt«
/ >hauchartige Tonfärbung«
»Ton umhüllt«
»ausgesprochene Tonfärbung«
»Ton, aber geräuschvoll«
»stoßartiger Ton«
»rauher Ton«
»schlagartiger Ton«
»abgerissener Ton«
»heiserer Ton«
»disharmonischer Ton«
»pfiff artiger Ton«
»Klang in weiter Feme«
»Ton leise verhtlllt«
»ganz leises weiches Pfeifgeräusch«
»Spur von Ton, stärkere Hauchgeränsche«
»Ton mit Rauhigkeit«
Hinsichtlich der größeren qualitativen Mannigfaltigkeit unter-
scheiden sich auch die hohen Töne von den tieferen. Einer meiner
besten Beobachter charakterisierte die qualitativen Erscheinungen
bei leisen, tiefen Tönen als »diffuse Tastempfindungen«. Die Inten-
sität des Tones ließe sich kaum von den anderen Klangbestandteilen
absondern. Das ganze bildete eine größere »Einheit«.
c. Tonhöhe.
Die Tonhöhe wurde durchschnittlich unterschätzt, d. h. am Mono-
chord zu tief bestimmt. Bei 512 Schwingungen betrug die Ab-
weichung im Mittel acht Schwingungen nach unten (=504), bei
384 Schwingungen betrug sie drei Schwingungen nach unten (=381).
Verschiedene gleichzeitig zusammenwirkende Faktoren können diese
Tatsache erklären. Ein objektiver Grund kann gesehen werden in
dem Unterschiede der Klangfarben zwischen dem Stimmgabelton und
dem Vergleichston des Monochord. Es ist sichergestellt, daß der-
artige Klangfarbenunterschiede die Angleichung eines Tones sehr
erschweren können. Subjektiv ließe sich diese Herabziehung der
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Die Zeitschwellen für Stimmgmbeltöiie mittlerer und leiser Intensität. 3 ig
Tonhöhe durch die assimilierende Wirkung gleichzeitiger tieferer Ge-
räuschkomplexe verständlich machen. Doch läßt sich vielleicht auch
eine objektive physiologische Erklärung geben, in dem Sinne, daß
durch die ersten Schwingungen von einer bestimmten Frequenz tiefer
abgestimmte Teile der Basilarmembran im weiteren Umfang erregt
werden, als der Teil von gleich abgestimmter Frequenz (s. u.).
d. Physiologische Interpretation.
Es kann hier nicht der Ort sein, die viel umstrittene Frage zu
erörtern, ob wir für die Geräusche ein besonderes nur Geräusche per-
zipierendes Organ besitzen. Es darf aber betont werden, daß die
groQe Einheitlichkeit und der kontinuierliche Übergang aller Geräusch-
erscheinungen in mehr oder minder bestimmte Tonerlebnisse, wie
wir oben gezeigt haben, es wahrscheinlich macht, daß auch die
Schnecke, abgesehen von etwaigen anderen Organen, gleichfalls im
Stande ist, Geräuschempfindungen zu vermitteln. Ob die Schnecke
im Stande ist, auf diffuse äußere Reize, wie sie den Geräuschempfin-
dungen zu Grunde liegen, zu reagieren, ist eine ganz andere Frage.
Ziu* Perzeption objektiver Geräusche könnten immerhin besondere
Organe vorhanden sein, ohne daß dadurch die Möglichkeit aufgehoben
würde, daß in der Schnecke selbst auch durch regelmäßige objektive
Schwingungen Geräuschempfindungen ausgelöst werden könnten. Es
ist auch nicht einzusehen, welche physiologischen Gründe dagegen
sprechen sollten. Nehmen wir mit Hensen an, daß die Cortischcn
Zellen mit ihren Stäbchen sich von der Cortischen Membran trennen
und an sie wieder anstoßen müssen, damit eine Tonerregung physio-
logisch zu Stande konunt, so würde die Zahl der sich nach dem
zweiten Impuls abtrennenden Stäbchen keineswegs auf die spezi-
fische Membranstelle gleicher Frequenz beschränkt sein. Wenn wir
von den Obertönen absehen, so könnten alle Stäbchen, welche Env-
pfindungen bis einschließlich der tieferen Quarte und der höheren
großen Terz vermitteln, durch Summation der Energ^egrößen gegen
die membrana Corti anschlagen. Denn alle Fasern der Basilarmem-
bran innerhalb dieser Zone müssen in dem Augenblick des zweiten
Impulses gleiche Schwingungsrichtung nach der membrana Corti zu
haben, wenn die Resonanzhypothese als richtig vorausgesetzt wird.
Erst im Verlauf der weiteren Impulse treten dann bei allen Fasern
Digitized by VjOOQiC
220 Rudolf Bode,
ungleicher Frequenz durch Interferenz, plötzlichen Phasenwechsel
Störungen ein, während die Fasern gleicher Frequenz die zur Er-
regung einer Tonempfindung nötige Elongation erlangen und etwa
noch vorhandene leise Geräuschempfindungen übertäuben. Daß die
Erregung einiger weniger Fasern und die Gesamterregung einer ganzen
Zone auch in der Empfindung spezifisch verschiedene Erlebnisse zur
Folge haben, ist sehr wahrscheinlich. Die Tatsache, daß die Ton-
höhe am Monochord durchschnittlich tiefer bestimmt wurde, scheint
mir in der größeren Breite der unteren Geräuschzone (= Quarte) mit-
begründet zu sein. Doch sind weitere Untersuchungen nach dieser
Richtung hin notwendig.
VII. Die Versuche von Mensen.
Daß leisere Töne größere Hörzeiten brauchen, um wahrgenommen
zu werden als die mittelstarken Töne gleicher Tonhöhe ist eine Ge-
setzmäßigkeit, welche in paralleler Weise auch in anderen Sinnes-
gebieten zur Geltung kommt. Ob diese Abhängigkeit der Zeitschwelle
von der Intensität des Reizes wesentlich zentral oder peripher be-
dingt ist, läßt sich auf Grund der vorliegenden Versuche nicht ent-
scheiden. Die Resonanzhypothese würde diese Tatsache erklären,
insofern die zur Perzeption nötige Schwingungsamplitude der reso-
nierenden Organe durch die geringere Summation bei leisen Tönen
später erreicht wird, als bei lauten Tönen.
Das weitere Ergebnis, daß die Anzahl der nötigen Schwingungen
bei gleicher subjektiver Intensität mit der Tonhöhe wächst, befindet
sich in bemerkenswerter Übereinstimmung mit den Versuchen von
Hensen (vgl. Lit). Hensen fand bei schneller kontinuierlicher
Erhöhung oder Vertiefung eines Tones und bei gleicher objektiver
Tonstärke, »daß es bedeutend schwerer ist, die tiefen Töne auszu-
löschen, als die viel lauteren hohen Töne.« (Vgl. Kongreßbericht.)
Hensen fand ferner, daß die hohen Töne bei langsamer Steigerung
der Geschwindigkeit viel leichter an Intensität verlieren als die
niedrigen Töne.
Bei gleicher objektiver Intensität und gleichen überschwelligen
Hörzeiten hatten die hohen Töne eine größere Empfindungsintensi-
tät als die tiefen Töne. Verminderte man hier die Hörzeiten, so
Digitized by VjOOQiC
Die Zeitschwellen für Stimmgabeltöne mittlerer nnd leiser Intensität. 321
erlangten die tiefen Töne nach Qualität und Intensität das Übergewicht.
Sie beanspruchten also zu gleicher Merklichkeit weniger Schwingungen
als die hohen Töne. Diese Tatsache muß sich in noch höherem
Grade bei subjektiv gleicher Intensität geltend machen, da in diesem
Fall die objektive Intensität bei den hohen Tönen geringer ist, als
bei den tiefen Tönen.
VIII. Ergebnisse dieser Untersuchung.
Wir fassen die Ergebnisse dieser Untersuchung zusammen:
1. Zur Perzeption brauchen die leisen Töne bei gleicher Ton-
höhe größere Hörzeiten und eine g^rößere Anzahl Schwin-
gungen als die mittelstarken Töne.
2. Zur Perzeption brauchen die hohen Töne bei gleicher sub-
jektiver Intensität kleinere Hörzeiten, aber eine größere
Anzahl Schwingungen als die tiefen Töne.
3. Bei gleicher subjektiver Intensität und bei steigender Ton-
höhe erfolgt die Zunahme (Abnahme) der minimalen Schwin-
gungszahlen (Hörzeiten) bei den tiefen Tönen schneller als
bei den Tönen mittlerer Tonhöhe.
4. An die Perzeption weniger einfacher Schwingungen ist eine
große Mannigffaltigkeit der verschiedensten Geräusche ge-
bunden (reine Geräusche, Klanggeräusche). Diese Geräusche
sind subjektiven Ursprung^ und entstehen mit großer Wahr-
scheinlichkeit im Cortischen Organ (unter Voraussetzung der
Resonanzhypothese).
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222 Rudolf Bode,
Literatur.
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(1879/80), 30.
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Martius, G., Ober die Reaktionszeit und Perzeptionsdauer der Klänge. Phüos.
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Abraham, O. und Brühl, L., Wahrnehmung kürzester Töne und Geräusche. Z. für
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Stumpf, C, Über das Erkennen von Intervallen und Akkorden bei sehr kurzer
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Digitized by VjOOQiC
Versuche mit dem Komplikationspendel nach der
Methode der Selbsteinstellimg.
Von
Otto Klemm.
Mit 5 Figuren im Text.
I. Methode und Problemstellung.
Bei den bisherigen Versuchen mit dem Komplikationspendel las
der Beobachter entweder an der Skala, vor welcher sich der Zeiger
bewegte, den scheinbaren Ort des Klingelschlags ab, oder er bekam
die Skala nicht zu Gesicht, sondern hielt die Stelle innerlich fest
und bezeichnete sie durch eine geignete Vorrichtung dem Experi-
mentator, der nunmehr erst die Verschiebung notierte. Durch diese
zweite Beobachtungsweise wurde der störende Einfluß, den die Skala
auf die Aufmerksamkeit ausübte, eliminiert. Zwei Nachteile aber
stellten diesen Vorteil in Frage, Erstens war die Lokalisation da-
durch erschwert, daß das Ringgebiet, in welchem der Zeiger be-
obachtet wurde, nun überhaupt keine Merkmale mehr bot, welche
der Aufmerksamkeit als Anhaltepunkte dienen konnten, und zweitens
gewannen die Versuche infolge der nachträglichen Bezeichnung der
fraglichen Stelle den Charakter von Gedächtnisversuchen. Die
Methode läßt sich von ihren Nachteilen befreien, ohne daß doch
zugleich ihre Vorteile preisgegeben würden, wenn wir eine Marke
einführen, die der Beobachter innerhalb des im übrigen auszeich-
nungslosen Ringgebietes nach Belieben zu bew^en vermag. Die
Marke übt unter diesen Verhältnissen einen starken Einfluß auf die
Apperzeption aus, und die durch den Beobachter herbeigeführte
Stellung der Marke kann ohne Schwierigkeit durch den Experimen-
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Versuche mit d. Komplikatioospendel nach d. Methode d. Selbsteinstellimg. 325
tator in Teilstrichen einer dem ersteren unsichtbaren Skala abgelesen
werden.
In einer solchen Beobachtungsweise liegen nun zugleich Be*
dingungen y welche den bei der Anwendung psychischer Maßmetho«
den vorhandenen analog sind. Der Zeiger, der an einem bestimmten
Punkte seiner Bahn der Träger des Klingelzeichens zu sein scheint,
entspricht dem Normalreiz , die Marke , die an jenen selben Punkt
gebracht werden soll, als den einzigen, an welchem sie auch der
Träger des Klingelzeichens zu sein scheint, entspricht dem Ver-
gleichsreiz. Es lassen sich auch in demselben Sinne die Zeit, die
zwischen dem Vorübergange des Zeigers an jenem ausgezeichneten
Punkte seiner Bahn und dem Vorübergange an dem Punkte des
Klingelzeichens liegt, und die Zeit, die während der Bewegung des
Zeigers von der Marke bis zum Klingelzeichen verstreicht, gegen-*
überstellen: nur muß dann hinzugefügt werden, daß ungeachtet der
objektiven Zeitdifferenzen stets das Bewußtsein der Gleichzeitigkeit
herrscht.
Da die Möglichkeit besteht, mit der Marke von beiden Richtimgen
her den Punkt subjektiver Gleichzeitigkeit zu überschreiten, so ist die
Methode der Minimaländerungen nahe gelegt; da femer die Be-
wegung der Marke stetig erfolgt und in der Hand des Beobachters
liegt, sind auch die Bedingungen für die Anwendbarkeit der Methode
der mittleren Fehler erfüllt Sofern die Einstellung der Marke dem
Beobachter überlassen war, geschahen die Versuche nach der Me-
thode der mittleren Fehler, und zwar im mittelbaren Verfahren.
Denn die Annahme eines Punktes subjektiver Gleichzeitigkeit, die
den früheren Versuchen zugrunde gelegen hatte, entsprach nicht
mehr den geschilderten Bedingungen. Vielmehr stellte sich der
Einfluß der Marke auf die Aufmerksamkeit als kräftig genug
heraus, um innerhalb eines gewissen Bereiches oder Sektors das
Bewußtsein der Gleichzeitigkeit aufrecht zu erhalten. Innerhalb
eines gewissen Bereiches konnte jeder Punkt als Träger des Klingel-
zeichens aufgefaßt werden, wenn nur die Marke auf ihn eingestellt
war. Darum ist dieser ganze Bereich als Simultaneitätsbereich oder
-Sektor aufzufassen. Wenngleich nun die Innigkeit der Verbindung
zwischen Zeigerstellung und Klingelschlag innerhalb des ganzen
Simultaneitätsbereiches nicht als konstant vorausgesetzt werden kann,
Wundt, Psychol Studien ü. 32
Digitized by VjOOQiC
4 20 Otto Kjdnm,
sondern ohne Zweifel ein Maximum vorhanden ist, so erscheint es
doch nicht ratsam, dieses Maximum etwa dadurch aufzusuchen,
daß man den Beobachter auf den Punkt der innigsten Verbindung
einstellen läßt. Denn die Marke muß sich bei der Annäherung an
das Maximum in dem Simultaneitätsbereich bewegen und der Ein«
fluß der Art und Weise der Annäherung läßt die ganze Einstellung
hinfällig werden. Außerdem scheint der Punkt der Gleichzeitigkeit
während der einzelnen Vorübei^fänge, die bis zur Abgabe des Urteils
beobachtet werden, im allgemeinen sich negativ zu verschieben.
Möglicherweise beruht diese Erscheinung, die sich vor allem in den
ersten Übungsstadien aufdrängt, auf einer subjektiven Verkürzung
des akustischen Rhythmus, die z. B. auch bei Versuchen über
das Nachtaktieren objektiv g^ebener Takte beobachtet worden ist
Hieraus ergab sich von selbst die Beschränkung auf die Fest-
stellung der Grenzen, innerhalb deren der Punkt der subjektiven
Gleichzeitigkeit hin und her wandern kann. Ob auf Grund der Be*
schaffenheit dieser Grenzen nicht doch auch etwas über die Vertei-
lung im Innern ausgesagt werden kann, ist eine Frage, die im An-
schluß an die Beobachtungsergebnisse erörtert werden soll.
Bei der Bestimmung der Grenzen des Simultandtätsbereiches ist
den verschiedenen Bedingungen Rechnung zu tragen, unter denen
die Grenzen zustande kommen. Bei dem mittelbaren Verfahren
nach der Methode der mittleren Fehler bestimmt man die untere
und die obere Grenze des Bereiches der Gleichheitsialle, indem man
einmal von einem Punkte ausgeht, in dem der Vergleichsreiz kleiner
erscheint, und sodann von einem Punkte, in dem der Vergletchsreiz
größer erscheint. Zu diesem Bereich der Gleichheitsfalle kann der
Simultaneitätsbereich in Analogie gesetzt werden; über den Verlauf
der Grenzen dieses Bereiches aber gibt nur eine erweiterte Anwen-
dung jenes mittelbaren Verfahrens Aufschluß. Während nämlich
etwa bei der Vergleichung zweier Reize, deren Differenz stetig ab-
nimmt, die Ungleichheit durch eine Folge von Zwischenzuständen
in Gleichheit übei^eht, stehen Sukzession und Simultaneität bei den
Komplikationsversuchen viel schroffer nebeneinander. Der Über-
gang zwischen ihnen ist durchaus qualitativ; darum müssen die
untere und die obere Grenze in beiden Richtungen des Überganges
einzeln bestimmt werden. Bei der Ausfuhrung der Versuche ist
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Versuche mit d. Komplikationspendel nach. d. Methode d. Selbsteiostellimg. J27
deutlich etwa ein »Abreißen« des Zeigers zu spüren^ das sdion
beim Austritt aus dem Simukaneitätsbereiche die Marke mit ein^n
Gebiete der Sukzession umgibt und die Grenze jenes Bereiches
sich gleichsam zurückziehen läßt. Wenn man bedenkt, daß die
Zuordnung von Zeigerstellung und Klingelzeichen eine Leistung
der Aufmerksamkeit ist, so erscheint es nicht überflüssig, solchen
qualitativen Unterschieden eine besondere Beachtung zu schenken,
zumal ja auch bei der Methode der Minimaländerungen meistens
die untere und die obere Unterschiedsschwelle im aufsteigenden
und absteigenden Verfahren ermittelt werden.
Der Simultaneitätsbereich wird demnach im ganzen durch vier
Einstellungen bestimmt. Da der Pendelzeiger ihn im Sinne des
Uhrzeigers durchläuft, ist die linke Grenze sein Anfang, die rechte
sein Ende. Der Beobachter kann diesen Anfang von links her er*
retchen; dann bewegt er die Marke im Sinne des Uhrzeigers bis
das Bewußtsein der Simultaneität eintritt. Diese Einstellung heiße
Ai, Er kann den Anfang aber auch erreichen, indem er die Marke
beliebig auf einen Punkt einstellt, der eine simultane Apperzeption
gestattet, und nun von rechts her sie gegen den Sinn des Uhrzeigers
solange verschiebt, bis das Bewußtsein der Ungleichzeitigkeit eintritt.
Diese Einstellung heiße Ar. Entsprechende Einstellungsweisen
gelten für das Ende des Bereiches. Der Punkt des Umschlags des
Simultaneitätsbewußtseins in das Sukzessionsbewußtsein bei Drehung
der Marke von links nach rechts oder im Sinne des Uhrzeigers sei
durch die Einstellung Ei bezeichnet; und der Punkt des en^egen*
gesetzten Umschlags bei entg^engesetztem Drehungssinn der Marke
durch die Einstellung Er- Vielleicht scheint die Aufistellung dieser
vier Beobachtungsweisen auf den ersten Blick deshalb nicht zu be-
friedigen, weil das Sukzessionsbewußtsein wiederum zwei verschie-
dene Fälle in der Zeitfolge von Klingelzeichen und Zeigerstelhin^
unter sich begreift. Bei Ei etwa > klingelt es nicht mehr«, d. h. der
Klingelschlag erfolgt zeitiger als der Vorbeigang des Zeigers; bei
Ar dagegen »klingelt es noch nicht«, d. h. der Klingelschlag erfolgt
später als der Vorbeigang des Zeigers. Immerhin haben diese bei-
den Fälle der Sukzession etwas gemeinsames in ihrem Gegensatze
zur Simultaneität: und eben dieses gemeinsame ist hier zugrunde
gelegt Die qualitativen Unterschiede, die außerdem zwischen jenes
22*
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328 Otto Klemm,
vier Einstellungen Ai^ £ij E^ Ar bestehen, müssen bei der Be-
handlung dieser Werte berücksichtigt werden. Insbesondere berech-
tigt jene Analogie noch nicht dazu, die Prinzipien für die Behand-
lung solcher Grenzwerte, die im allgemeinen bei den psychischen
MaOmethoden gültig sind, auf diesen Fall zu übertragen.
Ob die Annahme eines einheitlichen Simultaneitätsgebietes, das
beiderseits durch doppelte Ränder b^^enzt ist, oder ob die Annahme
zweier Sektoren, deren einer durch Ai Ei und deren anderer durch
A^Er bestimmt ist oder durch eine entsprechende Kombination von
Ai Er und Ar Ei^ vorzuziehen ist, das ist eine Frage, die sich durch
die unter den Versuchsbeding^ungen auftretenden Gruppierungen der
Werte entscheidet. Auf jeden Fall werden sich immer die Größe
eines gewissen Sektors und seine Lage zum Klingelzeichen heraus-
stellen. Im Sinne der Methode der mittleren Fehler ist die erste
Größe als Maß einer Unterschiedsschwelle, die zweite als ein kon-
stanter Fehler aufzufassen. Die Unterschiedsschwelle ist hier eine
Sukzessionsschwelle; und der konstante Fehler ist die 2^itverschie-
bung. Um die Beziehung auf den Simultaneitätsbereich aufrecht zu
erhalten, ist im folgenden die Sukzessionsschwelle gleich der Summe
(nicht gleich der halben Summe) des im absteigenden und des im
aufsteigenden Verfahren beobachteten mittleren variabeln Fehlers ge-
setzt. Außerdem scheint sich der ganze Bereich, welchen die Punkte
subjektiver Gleichzeitigkeit erfüllen, der Wahrnehmung so unmittelbar
aufzudrängen, daß vielleicht auch prinzipiell hier die Schärfe der
Gleichzeitigkeitsauffassung reziprok der Ausdehnung des ganzen Be-
reiches zu setzen ist.
Während nun bei sonstigen Schwellenbestimmungen der kon-
stante Fehler aus Einflüssen herrührt, die zu dem untersuchten Ge-
biet disparat sind, und daher eliminiert werden muß, sind hier die
beiden so gleichartig, daß sie nicht voneinander getrennt werdea
können.
Da nunmehr zur Charakterisierung der unter den angegebenen
Bedingungen auftretenden Komplikationserscheinungen die bloße An-
gabe der Sukzessionsschwellen ebensowenig hinreicht wie die bloße
Angabe der Zeitverschiebungen, erwächst das allgemeinere Problem,,
die zwischen der Sukzessionsschwelle und der Zeitver-*
Schiebung bestehenden Beziehungen zu ermitteln.
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Versuche mit d. KomplikatioDspendel nach d. Methode d. Selbsteinstellimg. «20
Dieses Problem ist eine Erweiterung der bisher auf dem Gebiete
der Komplikationserscheinungen üblichen Fragestellungen. Da die
Gesetze der Zeitverschiebimg im allgemeinen bekannt sind, scheint'
es nicht unangemessen, gleich den allgemeineren Fall ins Auge zu
fassen in der Hoffnung, hier noch eine weitere Einsicht in die Bedin-
gungen zu erlangen, unter denen die Komplikationserscheinungen
zustande kommen.
Für die Anregung zu dieser Arbeit spreche ich Herrn Geheimrat
Wundt, für die Hilfe im einzelnen Herrn Professor Wirth meinen
aufrichtigen Dank aus.
2. Die Versuchsanordnung.
Die Versuche wurden mit einem neuen Modell des von Wundt
angegebenen Komplikationspendels angestellt, dessen Skala aus einem
Vollkreis mit einem inneren Durchmesser von 28 cm bestand. Durch
eine möglichst stabile Konstruktion war dafür Sorge getragen, daß
der Gang des Zeigers durch die mechanische Auslösung des Klingel-
zeichens keine Beunruhigung erlitt
Die Selbsteinstellung der Marke war durch folgende Vorrichtung
ermöglicht. Vor dem Pendel P (siehe Fig. i) stand in der Entfernung
Skizze der Versachsanordnung.
von 1,35 m parallel zur Fläche der Pendelskala ein Schirm 5, hinter
welchem der Beobachter saß. Auf der dem Pendel zugewandten
Seite des Schirms war ein weißer Ring R^ dessen innerer Durchmesser
28 cm betrug, also mit dem der Pendelskala übereinstimmte, so
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J30 Otto Klemm,
angebracht, daß sein Mitte^unkt die senkrechte Projektion des Mittel-
punktes der Pendelskala auf die Ebene des Schirms war. In eine
kreisförmige Durchbohrung des Schirms, die denselben Mittelpunkt
hatte, war eine Scheibe ^eingelassen, die an beiden Seiten über-
stehende Ränder hatte und durch eine an der Seite des Beobachters
befindliche steuerradähnliche Vorrichtung U gedreht werden konnte.
An der anderen Seite trug diese Scheibe einen dicht vor dem weißen
Ring sich bew^enden Zeiger mit der Marke M. Sie war schließlich
zentral durchbohrt und mit einer Visiervorrichtung V für den Beob-
achter versehen. In der Mitte zwischen dem Schirm und dem Pendel
stand parallel zu beiden und dem ersten zugewendet ein Spiegel T, Er
hatte eine kreisförmige Öffnung, deren Mittelpunkt auf der Ver-
bindungslinie des Mittelpunktes des weißen Ringes mit dem der
Pendelskala lag, und dessen Radius halb so groß als der innere
Radius des weißen Ringes war. Durch die Durchbohrung der Achse
hindurch sah der Beobachter den inneren gleichmäßig weißen Teil
der Pendelscheibe. Die Skala Ä* war durch den Spiegel verdeckt; an
ihrer Stelle sah er im Spiegel in gleicher Entfernung den weißen
Ring, vor dem er seine Marke bewegen konnte. Die Hellig-
keiten waren so angeglichen, daß die Grenze zwischen dem wirk-
lichen Bild der Pendelscheibe und dem Spiegelbild des Ringes ver-
schwand.
Nach jedem Versuche bewegte ich den Pendelzeiger so weit, bis
mir der Beobachter das Zusammenfallen mit seiner Marke ankündigte,
und las an der Skala ab. Ich arbeitete mit zwei Schwingungsdauem
7"= 1,2 und Z=2,i (T'ist eine Doppelschwingung), hielt die Am-
plitude konstant gleich 32°, was für den Zeiger wegen der Übertragung
I : 10 eine Schwingungsweite von 320° bedeutete, und beschränkte
mich auf fünf Stellen (265°, 300°, 360**, 60°, 120**) in der ersten Haupt-
lage, bei der der Zeiger in der Ruhelage senkrecht nach oben stand,
und auf die entsprechenden fünf Stellen (85°, 120°, 180°, 240°, 300**)
in der zweiten Hauptlage, bei der der Zeiger in der Ruhelage senk-
recht nach unten stand. Da zu jedem Werte vier Einstellungen ge-
hörten, waren zu jeder Reihe 20 Versuche notwendig, die sich auf
eine Stunde verteilten. Die Einstellungen Ai und Er ließ ich stets
für denselben Wert unmittelbar aufeinander folgen und gab später
wiederum Ei und Ar^ so daß also jedesmal aufsteigendes und ab-
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Versnche mit d. Komplikatioiispendel nach d. Methode d. Selbsteinstellung. 331
steigendes Verfahren entweder mit Bestimmung der oberen oder der
unteren Grenze verbunden waren.
Ich suchte jede Reihe unter den gleichen Verhältnissen mindestens
zehnmal herzustellen. Bei den im folgenden mitgeteilten Mittelwerten
wurden die ersten Stadien des Übungsverlaufs, die sich überall durch
starke negative Verschiebungen verraten, als Vorversuche angesehen
und nicht zur Berechnung herangezogen. Da das Ohr des Beobachters
von der Schallquelle 1,37 m entfernt war, wurde an allen Mittelwerten
eine Korrektion von — 4^ angebracht
Meine Beobachter waren die Herren Kästner, Henseling und
Schott, denen ich für die Unterstützung meiner Arbeit herzlich danke.
3. Der Einfluß der Bewegungsrichtung des Zeigers und der
Geschwindigkeitsänderung.
Für die unter den besonderen Bedingungen des Komplikations-
pendels auftretenden Zeitverschiebungen sind, neben den allgemeinen
Verhältnissen des Spannungswachstums der Aufmerksamkeit die Be-
w^ungsrichtung des Zeigers und die von Stelle zu Stelle variable
Geschwindigkeitsänderung als maßgebend erkannt worden. Die verti-
kale Komponente der Bewegung des Zeigers bewirkt je nachdem,
ob sie aufwärts oder abwärts gerichtet ist, einen Antrieb zu negativer
oder positiver Verschiebung; andrerseits ergibt sich an den Stellen
positiver Beschleunigung eine Tendenz zu negativer Verschiebung,
an den Stellen negativer Beschleunigung eine solche zu positiver Ver-
schiebung, da der Zeiger an den Stellen langsamerer Bewegung leichter
aufgefaßt werden kann. Diese beiden Faktoren sind ganz verschiedener
Natur. Der erste ist peripher; er rührt aus den mechanischen Be-
dingungen der Augenbewegungen her; der zweite ist wesentlich zen-
tralen Ursprungs.
In den Bedingungen des Apparates liegt es nun, daß diese Fak-
toren niemals unabhängig voneinander zur Geltung kommen. Wenn
etwa in Fig. 2 der Punkt 360° diejenige Stelle bezeichnet, an welcher
die Beschleunigung Null ist, und der Zeiger sich in der durch den
Pfeil angegebenen Richtung bewegt, dann wirken an den Stellen
265'' und 300 "^ Aufwärtsbewegung und Zunahme der Geschwindigkeit
als Antriebe zu negativer Verschiebung; an den Stellen 60** und 120''
wirken Abwärtsbewegung und Abnahme der Greschwindigkeit als An-
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332
Otto Klemm,
triebe zu positiver Verschiebung. In beiden Fällen ist die beobachtete
Verschiebung als abhängig von der Summe der beiden Einflüsse
360''
f20'' 2^"*
/. Haupüuge,
180"
2. Hcaiptloße .
Fig. 2. Die Stellung des Zeigers zur Pendelskala.
aufzufassen. Das quantitative Verhältnis der beiden Einflüsse ist nur
dann zu erkennen, wenn es gelingt, sie zu isolieren und ein Bild von
der Wirksamkeit eines jeden der beiden Faktoren zu geben.
Eine solche Isolation wird durch eine einfache Variation der Be-
dingungen erreicht. Wenn nämlich der Schwingungsmittelpunkt um
180'' gegen die vorige Lage verschoben wird, so ergeben sich folgende
Verhältnisse: Der Zeiger bewegt sich mit derselben Amplitude und
in derselben Richtung wie vorhin um den Punkt 180** als Schwingungs-
mittelpunkt. An den Punkten 85**, 120°, 240°, 300° herrschen die-
selben Beschleunigungen wie bei der früheren Anordnung an den
Stellen 265**, soo"*, 60'', 120°. Die vertikalen Geschwindigkeitskompo-
nenten haben an den entsprechenden Stellen zwar denselben abso-
luten Betrag, aber entgegengesetztes Vorzeichen.
Falls die Verschiebungen unter solchen Bedingungen verglichen
werden, gibt sich also die Differenz der beiden Einflüsse zu erkennen.
In den folgenden Tabellen sind die Mittelwerte der Beobachtungen
für die einzelnen Stellen in a angegeben. Je zwei zusammengehörige
Stellen der Tabelle I haben entgegengesetzt gleiche Vertikalkompo-
nenten der Bewegung, wie es durch die Pfeile angedeutet. Bei den
Versuchen dieser Tabelle betrug die Dauer T einer ganzen Schwin-
gung 1.2 Sek.
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Versache nut d. Komplikationspendel nach d. Methode d. SelbsteinsteUnng. 3^3
Tab
eile
I.
Beobachter S.
T*
=» i.a
u
Beobachter K.
SteUe
Ai
El
Er
Ar
Ai
El
Er
Ar C
265-
850
-IS
— S
+ 5
+ 15
+ I
+ 24
— 13
— 6
— 2
+ 6
+ 22
4-ao
+ 17
+ 17
4-10 t 23.4
4-15 1 23.4
300**
120°
— 19
— 5
— I
+ 5
— 8
+ 3
— 12
— 7
— 9
— 8
+ 5
+ 8
+ 2
4-12
— 6t 27.0
— 4 1 27.0
600
240°
+ 4
— 8
+ 11
+ I
+ 17
+ 0
+ 5
— II
+ 6
— 6
+ 13
+ 9
+ 19
+ 5
4-15 1 27.0
— I t 27.0
I20<*
300°
— 8
— 28
+ 6
— 2
+ 8
— 8
— 2
-27
- 5
-27
+ I
4- 0
— 9
— 13
4- 0 1 19.3
— 20 t 19.3
In dieser Tabelle tritt der Einfluß einer Erleichterung oder Er-
schwerung der Blickbewegung auf die Zeitverschiebungen in der
Differenz zwischen den entsprechenden Einstellungen zutage. Ob
die Verschiebungen im einzelnen positiv oder n^ativ sind, ist eine
weitere Frage; hier handelt es sich nur darum, daß die Differenz
zwischen den bei absteigender und den bei aufsteigender Bewegungs-
richtung gewonnenen Einstellungen unter sonst übereinstimmenden
Bedingungen fast ausnahmslos positiv ist
Der Grad der Abhängigkeit dieses Einflusses von der absoluten
Geschwindigkeit des Zeigers läßt sich durch den Vergleich mit
Tabelle 11 erkennen, welche für eine fast doppelt so große Schwin-
gungsdauer 7"= 2.1 Sek. gewonnen ist.
Tabelle IL
T = 2.1.
Beobachter S.
Beobachter H.
Stelle
Ai
El
Er
Ar
Ai
El
Er
Ar
c
2650
-23
— 8
— 4
— 31
— II
+ 34
+31
— 10
1 13-4
85^^
— 26
— 4
— I
— 33
— 10
+ 33
+24
— 21
\ 13-4
300«'
— 34
-15
— 20
— 34
— 17
4-22
+ 18
-15
t i5.a
120**
— 23
4- 3
4- 4
— 18
— 22
4-22
+ 12
- 8
+ iS-a
600
— 4
+ 14
+ 3
— 17
— 8
+ 21
+ 29
— 2
1 iS.a
240®
— 21
— 9
-13
— 20
— 20
+ 18
+ 17
-32
+ IS-*
120**
— 32
— 13
4- 0
— 35
— 29
+ 6
+ 11
-37
\ 11.0
3000
— 41
— 15
— 22
-38
— 40
— 3
— 2
-51
t 11.0
Die Verminderung des Einflusses der Augenbewegungen, die bei
der kleineren Geschwindigkeit zu erwarten ist, dokumentiert sich
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^^^ Otto Klemm,
nicht unmittelbar in einer Verkleinerung der Differenzen, sondern in
einer größeren Schwankungsbreite der Differenzen. An den Stellen
265'' und Ss'' ist der Einfluß wegen der geringen Geschwindigkeit
und der starken Annäherung an den Umkehrpunkt kaum mehr zu
erkennen.
Dieselben Beobachtungen lassen sich dazu verwerten, den Einfluß
der Geschwindigkeitsänderung c' darzustellen. Es ist nur nötig
solche Stellen zu vergleichen, die bis auf die an ihnen herrschende
Geschwindigkeitsänderung die gleichen Bedingungen aufweisen. Diese
Forderung aber ist erfüllt für die Stelle 60°, die bei der ersten
Hauptlage, deren Schwingxmgsmittelpunkt 360** ist, beobachtet wurde,
und die Stelle 120**, die bei der zweiten Hauptlage, deren Schwin-
gungsmittelpunkt 180** ist, beobachtet wurde. Entsprechendes gilt
für die beiden Stellen 300** und 240**.
In Tabelle III sind die hierfür gewonnenen Werte zusammen-
gestellt, die Geschwindigkeit c ist 27.0; die Geschwindigkeitsänderung
^' ist in Bogenmaß ausgedrückt.
Tab
eile
III.
T
= 1.2.
Beobachter S.
Beobachter K.
SteUe
Ai El
Er
Ar
AI
El
Er Ar
c'
600
+ 4 +11
+ 17
+ 5
+ 6
+ 13
+ 19 +15
-11.5
120°
-5+5
+ 3
— 7
— 8
+ 8
+ 12-4
+ 11.5
300°
— 19 — I
— 8
— 12
— 9
+ 5
4-2-6
+ 11.S
240«'
-8+1
+ 0
— II
— 6
+ 9
+ 5-1
-11.5
Die Gesetzmäßigkeit, mit der eine positive Geschwindigkeitsände-
rung negative Verschiebung und eine negative Geschwindigkeits-
änderung positive Verschiebung erzeugt, ist unverkennbar. Nach
den Voraussetzungen, unter denen die Werte dieser Tabelle entstan-
den sind, tritt in der Differenz zwischen den für 60** und 120** einer-
seits und den für 300° und 240® andrerseits erhaltenen Werten un-
mittelbar jener Einfluß der Beschleunigung zutage.
Auch hier vervollständigt eine zweite für andere Beschleunigungs-
verhältnisse zusammengestellte Tabelle die Einsicht in die Wirksam-
keit dieses Faktors. In Tabelle IV ist die Geschwindigkeit ^=15,2;
die entsprechenden c' sind wiederum angegeben.
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Versache mit d. Komplikationspendel nach d. Methode d. Selbsteinstellang. ^^ j
Tab
eile
IV.
T
mm 3.1.
Beobachter S.
Beobachter K.
Stelle
Al El Er
Ar
Ai
El Er Ar
^'
6o<'
— 4 +14 +13
-17
+ 9
+ 28 +32 +18
— 3.9
ico^
-23 +3 +4
-18
— 12
+ 10 -f- 9 — 10
+ 3.9
300°
— 34 -15 —20
— 34
— 19
+ 2+0 —II
+ 3.9
240«'
— 21 — 9 —13
— 20.
— 13
4-2 4-6 — 10
— 3.9
Obgleich der hier zugrunde gelegte Wert von c' viermal so klein
ist als der in Tabelle III, sind die Differenzen im Durchschnitt kaum
kleiner als in der vorigen Tabelle. Dies weist auf die Bedeutung
der momentanen Geschwindigkeit c hin, die an der betrachteten
Stelle herrscht. Da die Quotienten — sich umgekehrt wie die Schwin-
gungszeiten verhalten, könnte man in ihnen am ehesten noch ein Maß
für die Wirksamkeit des Einflusses der Beschleunigung erblicken. Der
später ang^ebenen allgemeinen Tabelle lassen sich nach denselben
Gesichtspunkten einige Reihen entnehmen, in denen Abweichungen
von dem Verhältnis der Verschiebungen auftreten, das durch die
alleinige Wirksamkeit dieser Einflüsse gefordert wäre. Dadurch wird
die Gültigkeit jener Einflüsse, die überdies zum Teil auch schon ex-
perimentell (durch Beobachtungen der Nachbilder des Zeigers) nach-
gewiesen worden ist, nicht in Frage gestellt. Es konnte nur er-
wartet werden, daß sich im allgemeinen die Wirksamkeit der Ein-
flüsse aus den zweckmäßig zusammengestellten Verschiebungszeiten
würde ablesen lassen, während die Abweichungen darauf hinweisen,
mit welcher Vorsicht unter allen Umständen eine solche Vergleichung
von Reihen aufzunehmen ist, die schließlich doch unter zu kom-
plexen Bedingungen entstanden sind, als daß die subjektive Auf-
fassung in so eindeutiger Abhängigkeit von den objektiven Verhält-
nissen gedacht werden könnte.
Endlich ist es noch beachtenswert, daß die Einflüsse in den vor-
stehenden Tabellen sich gleichmäßig für alle vier Einstellungen gel-
tend machen. Die Schwankungen sind unregelmäßig über alle vier
Einstellungen verteilt, so daß sich keine bestimmte Zuordnung voll-
ziehen läßt. Hiermit sind die beiden Einflüsse als allgemeine Be-
dingungen gekennzeichnet; zugleich aber kann angenommen werden,
daß das Verhältnis zwischen den vier Einstellungen nicht durch
Digitized by VjOOQiC
336 Otto Klemm,
diese allgemeinen Einflüsse bestimmt wird. Darum braucht die fol-
gende Betrachtung des Verhältnisses zwischen den vier Einstellungen
nicht auf diese Einflüsse zurückzugreifen; wohl aber war eine Dar-
legung dieser Einflüsse notwendig, um die Voraussetzungen der
folgenden Betrachtungen zu rechtfertigen.
4. Die Gestalt und die Lage des Simultaneitätsbereichs.
Die Aufzeigung der Bedingungen, unter denen im einzelnen
die vier genannten Einstellungen stehen, führt schrittweise zur
Beantwortung der im Anfang gestellten allgemeinen Frage. Es ist
indessen zweckmäßig, der Untersuchung der quantitativen Verhält-
nisse, auf die es hier ankommt, einige qualitative Erörterungen vor-
auszuschicken.
Durch die Reihenfolge, in der die Beobachtungen angestellt
wurden, ist es nahe gelegt, die Einstellungen Ai und Er , und ebenso
die Einstellungen Ei und Ar als Grenzen eines Simultaneitätsbe-
reiches aufzufassen. Da die beiden Glieder jedes dieser Paare für
dieselbe Stelle des Klingelschlags aufeinanderfolgten, während die
beiden Paare selbst durch eine hinreichende Anzahl von Versuchen
voneinander getrennt waren, so bietet sich die Annahme dar, daß
der ganze Bereich durch diese zwei Sektoren, die in verschiedener
Weise zu einander liegen können, gebildet wird.
Der durch AiEr gebildete Sektor heiße der eingeschlossene,
der durch Ar Ei gebildete der gekreuzte Sektor; dann bestehen
folgende vier Möglichkeiten:
I. Der eingeschlossene Sektor liegt innerhalb des gekreuzten
Sektors; d. h. die Reihenfolge der Einstellungen ist Ar Ai
Er El.
II. Der gekreuzte Sektor liegt innerhalb des eingeschlossenen
Sektors, d. h. die Reihenfolge der Einstellungen ist AiAr
El Er.
I». Der gekreuzte Sektor ist gegen den eingeschlossenen negativ
verschoben; die Reihenfolge der Einstellungen ist Ar AiEiEr,
II». Der eingeschlossene Sektor ist gegen den gekreuzten negativ
verschoben; die Reihenfolge der Einstellungen ist Ai Ar Er Ei.
In der folgenden Fig. 3 sind die vier Gruppierungen, die nun-
mehr nur noch nach den angegebenen Ziffern genannt werden
Digitized by VjOOQiC
Versuche mit d. Komplikationspendel nach d. Methode d. Selbsteinttelliing. 33 y
sollen, veranschaulicht. Hiermit sind die geometrisch möglichen
Fälle nicht erschöpft; in den Gruppierimgen, die sich als Mittelwerte
der Beobachtungen ergaben, sind aber nur diese Fälle verwirklicht
Fig. 3. Die vier Gruppierungen der einzelnen Einstellungen.
und darum besteht es zu Recht| sie als die psychologisch möglichen
Fälle zu bezeichnen. Die Lage des Simultaneitätsbereiches zum
Klingelschlage kann in demselben Sinne, wie bisher die Lage eines
einzelnen Punktes, als negativ oder positiv bezeichnet werden, falls
alle vier Einstellungen in bezug auf den Ort des Klingelschlags
gleiches Vorzeichen haben. Ist aber der Ort des Klingelschlags ein
innerer Punkt des Bereiches, so muß im allgemeinen von einer Null-
Lage gesprochen werden. Sie ist eine totale Null-Lage (t), wenn der
Klingelschlag sowohl innerhalb des eingeschlossenen als des ge-
kreuzten Sektors liegt, und eine partielle, wenn er nur innerhalb des
einen der beiden Sektoren liegt, und zwar jenachdem ob er inner-
halb der beiden linken oder der beiden rechten Grrenzlinien des
ganzen Bereiches liegt, eine linkspartielle (Ip) oder eine rechts-
partielle (rp).
Tabelle V gibt einen Überblick über das Vorkommen dieser
Gruppen und Lagen.
Tabelle V.
Stelle Beob. K. Beob. S. Beob. H. Beob. K. Beob. S. Beob. H.
I. HauptL
r =
2.1
T =: 1.2.
26s^
iip
In
n*t
n«ip
ii*t
np
300°
n«t
n*n
n*t
n»ip
n»n
i*ip
3600
n«ip
n*t
Hat
n*p
II*n
n*p
600
np
It
nt
np
np
iip
120**
II*n
I»rp
i»t
nt
nt
nat
Digitized by VjOOQiC
38
Otto Klemm,
Stelle
Beob. K.
Beob. S.
Beob. H.
a. HaiipÜ.
Beob. K.
Beob. S.
Beob. H.
T
= 2.1.
T = 1.2.
85«
n*t
lan
It
nap
lat
It
120**
Hat
nt
nat
II t
It
It
1800
—
It
It
—
Ilt
Hat
240**
Ut
nan
It
Hat
larp
Hat
3000
larp
nan
lan
narp
nan
nat
Die totalen Null-Lagen (t) kommen in dieser Tabelle am häufigsten
vor. Von einem bestimmten Sinne der Zeitverschiebung kann in
diesem Falle zunächst nicht mehr gesprochen werden. Erst auf
Grund der Verteilung, welche möglicherweise der Innigkeit der Ver-
bindung zwischen Klingelzeichen und Zeigerstellung im Innern des
Bereiches zuzuschreiben ist, oder auf Grund einer Beziehung zwischen
der Gestalt und einem bestimmten Verschiebungssinn des Simul-
taneitätsbereiches, kann darüber geurteilt werden. Die Tatsache
aber, daß die totalen Null-Lagen doch nur etwa die Hälfte aller Fälle
ausmachen, weist darauf hin, daß die Bedingungen der Zeitverschie-
bung nicht in jener besonderen Einstellung des Beobachters liegen,
die ihn die Grenzen des Simultaneitätsbereiches erreichen läßt. Wenn
die Zeitverschiebungen überhaupt nur durch ein solches Bemühen des
Beobachters, etwa recht zeitig zu hören, zustande kämen, dann
müßten die -4 -Werte stets negativ und umgekehrt die £"- Werte
stets positiv sein, d. h. die Lage des Simultaneitätsbereiches müßte
stets eine totale Null-Lage sein. Dies aber steht in starkem Wider-
spruch mit den wirklich beobachteten Verhältnissen. Die Lagen p
und Ip, in denen eine positive Tendenz herrscht, kommen bei der
kürzeren Schwingungsdauer häufiger vor, während die Lage n und
rp, in denen sich eine negative Tendenz geltend macht, häufiger
bei der längeren Schwingungsdauer auftreten. Dies steht in Ein-
klang mit den früher schon für punktuelle Lokalisationen festgestellten
Bedingungen.
Auf die Gestalt des Simultaneitätsbereichs wirkt im besonderen
der Drehungssinn der Marke derart, daß Ai und Ei nach links und
Er Ar in gleicher Weise nach rechts gezogen werden. Dazu kommt
noch, daß die Bewegung des Zeigers den Bogen Ai Ei gleichsam aus-
weitet, während sie den Bogen Er Ar, in welchem sich die Marke
gegen den Drehungssinn des Zeigers bewegt, zusammenzieht. Der
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Venache mit d. Komplikationspenclel nach d« Methode d. Selbsteinstellang. ^^q
erste Einfluß auf das Lageverhältnis der Sektoren begünstigt das Auf-
treten der Gruppe 11, der zweite auf das Größenverhältnis zieht die
Gruppe n* nach sich. Da beide Einflüsse immer wirken, sind die
Gruppen II und 11^ im allgemeinen begünstigt, unter den 58 Fällen
der Tabelle treten sie 41 mal auf, während nur 17 mal die Gruppen I
und I^ vorkommen.
Eine Zuordnung zwischen bestimmten Lagen und Gruppen be-
steht zunächst darin, daß die Gruppe I niemals positiv, und die
Gruppe n niemals negativ liegt. Auf diese Tatsache kommen wir
später zurück. Femer kommen die partiellen Null-Lagen Ip und rp
nur bei den Gruppierungen I* und IE* vor. Nun hat bei den partiellen
Null-Lagen der eine der beiden Sektoren, aus denen der ganze Simul-
taneitätsbereich gebildet ist, eine Null-Lage, während der andere positiv
oder n^^tiv li^. Die beiden Sektoren sind also gegeneinander ver-
schoben und müssen sich bei annähernd gleicher Größe überschneiden,
wie es bei I* und H» der Fall ist. Den komplizierteren Lageverhält-
nissen entspricht also ein komplizierterer Aufbau des Simultaneitäts-
bereiches: ein Hinweis auf die Beziehungen zwischen diesem Bereiche
und den Bedingungen der Zeitverschiebung.
5. Die Winkelöffnung des Simultaneitätsbereiches.
Bei dem Übergange zu quantitativen Bestimmungen, die als 2^iten
berechnet werden, darf nicht außer acht gelassen werden, daß die
beobachteten Sektoren zunächst räumliche Distanzen sind, die der
Zeiger mit einer bestimmten Geschwindigkeit durchmißt. Die Größe
des Bereiches läßt sich in a ausdrücken als Quotient aus dem ein-
geschlossenen Winkel und der Winkelgeschwindigkeit (nach der von
Wundt Physiol. Psychol. III, 84 angegebenen Formel). Darum braucht
aber noch nicht auch unsere Zeitaufiassung stets nur durch diesen
Quotienten bestimmt zu sein. Es ist vielmehr zu vermuten, daß
gerade hier, wo sich die räumliche Ausdehnung neben der Ge-
schwindigkeit als anschauliches Substrat der Zeitvorstellung geltend
macht, die räumliche Größe des Sektors eine besondere Rolle spielen
wird.
Um aber der Forderung einer unmittelbaren Vergleichbarkeit zu
genügen, können die einzelnen Verschiebungen doch nicht anders
als in Zeiten ausgedrückt werden. Eine allgemeine Übersicht g^bt
Digitized by VjOOQiC
340
Otto Klemm,
die folgende in a
berechnete Tabelle VI der Mittelwerte aller meiner
Beobachtungen;
.
Tabelle VI.
r« 2.1. I. HanptL
Beobachter K.
Beobachter S.
Beobachter H.
Stelle
Ai
El
Er
Ar
Al El Er
Ar
Al
El
Er
Ar
3650
-h 0
+ 13
4-23
4- 4
-23 - 8 4- 4
— 31
— II
+ 34
+ 31
— 10
300<>
— 19
4- a
4- 0
— 11
— 34 —15 — ao
— 34
— 17
+ 22
+ 18
— 15
3600
- 5
4-16
4-14
4- 3
-32 4-9 4-8
— 12
— 16
+ 21
+ 17
— 15
60°
H- 9
4-28
4-3«
4-18
— 4 +14 4-13
— 17
— 8
+ ai
+ »9
— 2
120°
— 22
— 2
— 6
— i8
— 32 —13 4- 0
r = 2.1. 2. Hauptl.
— 35
— 29
+ «
+ 11
— 37
850
— 9
4-10
4- 9
— 4
— 26 — 4 — I
— 33
— lO
+ 33
+ »4
— 31
120*»
— 12
4-10
4- 9
— IG
— 23 4-3 4-4
— 18
— 32
+ 22
+ «
— 8
180°
—
—
—
—
— 14 -i- 4 4-4
— «3
— 3»
+ 19
+ 19
— 44
240°
— 13
4- 2
4- 5
— IG
— 21 — 9 —13
— 20
— 20
+ 18
+ 17
-3«
300°
— 14
- 5
4- 0
— 23
— 41 —15 —22
T = 1.2. I. Hauptl.
-38
— 4f>
— 3
— 2
— 51
2650
— 2
4-22
4-17
4-10
-15 4- 5 4- I
— 13
+ 2
+ 38
+ 38
+ 6
3OOO
— 9
4- 5
4- 2
— 6
— 19 — I — 8
— 12
+ *
+ 26
+ 34
— 5
360°
+ 0
+ 22
4-16
4-14
— 17 -h o — 7
— lO
+ 8
+ 43
+ 35
+ 17
60°
H- 6
4-13
4-19
4-15
4. 4 +1, +,7
4- 5
+ 3
+ 35
+ 36
+ 7
I20<*
— 5
4- I
4- 9
4- 0
-84-64-8
T = 1.2. 2. Hauptl.
— 2
-'S
+ 15
+ 10
— 14
85-
-h 6
+ 30
4-17
4-15
- 5 4-15 4-24
— 6
— 6
+ 3«
+ »4
— 17
I20<>
— 8
4- 8
4-13
— 4
-54-54-3
— 7
— 16
+ «9
+ 13
— 32
1800
— .
—
—
—
— 9 4- II 4-13
— 8
— 22
+ 22
+ 4
— «3
240°
— 6
4- 9
4- 5
— I
-8+1 +0
— II
— 22
+ 3»
+ 23
— 8
300**
— 27
4- 0
— 13
— 2G
— 28 — 2 — 8
— »7
-38
+ 11
+ 4
-36
Welche Größen durch diese Zahlen gemessen werden, ergibt sich
wiederum aus den Bedingungen, unter denen sie gewonnen sind.
Wenn die Anziehung, die die Marke auf die Aufmerksamkeit aus-
übt, und die Tendenz zur Lokalisation des Klingelschlags ab Kräfte
aufgefaßt werden, dann ist jede der vier Einstellungen ein Gleich-
gewichtszustand zwischen diesen Kräften.
Dabei scheint es zugleich, als wenn etwa bei Ei und Ar .mit zu-
nehmender Entfernung der Marke vom Klingelschlage die Anziehung
der Marke auf die Aufmerksamkeit ein immer größeres Gegei^ewicht
zu überwinden habe, bis der Gleichgewichtszustand und damit die Grenz-
linie zwischen Simultaneität und Sukzession erreicht sei. Einer solchen
Digitized by VjOOQiC
Versuche mit d. Komplikationspendel nach d. Methode d. Selbsteinstellung, ^ai
Interpretation liegen offenbar die Voraussetzungen zugrunde, daß die
Tendenz zur Lokalisation nach dem wirklichen Punkte des Klingel-
zeichens hin wirke, und daß bei jedem Versuche, außerhalb des
Punktes zu lokalisieren, auf den sich die Lokalisationstendenz richtet,
eine Gegentendenz auftrete, deren Stärke mit wachsender Entfernung
von dem Punkte des Klingelzeichens zunehme.
Während die zweite Voraussetzung der psychologischen Erfahrung
entspricht, würde die Annahme der ersten Voraussetzung einen Rück-
fall in Anschauungen bedeuten, die längst durch die Erforschung der
Zeitverschiebungen widerl^t worden sind. Das scheinbare Zusammen-
fallen hängt von dem Spannungswachstum der Aufmerksamkeit ab.
In diesem Spannungswachstum der Aufmerksamkeit ist ein Täuschungs-
faktor gegeben. An Stelle der ersten Voraussetzung muß darum die
Annahme eines solchen Täuschungsfaktors treten. Die Richtung des
Täuschungsfaktors ist zunächst nicht bekannt und müßte liir jeden
Fall ermittelt werden. Außerdem aber ist noch die Möglichkeit zu
bedenken, daß die Wirksamkeit des Täuschungsfaktors in verschiedener
Entfernung von dem Punkte des wirklichen Zusammenfallens eine
verschiedene ist.
Auch hier ist das einzige Mittel dieses unbekannten Faktors Herr
zu werden, daß er konstant erhalten wird. Die Frage nach den
Größenverhältnissen des Simultaneitätsbereiches kann nur dann ge-
stellt werden, wenn ein bestimmter Täuschungsfaktor vorausgesetzt
wird. Es handelt sich hier zunächst um das Größenverhältnis des
eingeschlossenen und des gekreuzten Sektors. Falls die Winkel-
öffnungen des eingeschlossenen und des gekreuzten Sektors unter
den gleichen Täuschungsfaktoren einer bestimmten Gesetzmäßigkeit
unterliegen, dann können hieraus Schlüsse nicht allein auf die Be-
dingungen des Simultaneitätsbewußtseins, sondern auch auf die Natur
der Täuschungsfaktoren gezogen werden. Die Täuschungsfaktoren
sind bisher bloß durch die verschiedenen Lagen des Simultaneitäts-
bereiches charakterisiert; für das fönende soll die Unterscheidung
positiver und negativer Täuschungsfaktoren genügen, und zur ersten
Gruppe sollen auch die bei der Lage Ip, und zur zweiten Gruppe
die bei der Lage rp wirksamen gehören. Tabelle VII bringt diese Ver-
hältnisse der eingeschlossenen Sektoren {eS) und gekreuzten Sek-
toren {gS), deren Größe jedesmal in a ausgedrückt ist, zur Anschau-
Wundt, Psychol. Studien IL 3^
Digitized by VjOOQiC
342 Otto Klemm,
ung. Neben den Sektoren ist außerdem die Gestalt und die Lage
des Simultaneitätsbereiches unter Verwendung der früher erklärten
Symbole angegeben.
Tabelle VII.
Beob. K. Beob. S. Beob. H. Beob. K. Beob. S. Beob. H.
I. Hanptl.
T — 3.1. T « 1.3.
SteUe eS gS eS gS eS gS eS gS eS gS eS gS
365^ 23 9 IIp 19 32 In 20 44 Hat 19 13 nMp 16 18 Ilat 36 33 IIp
300° 19 13 Hat 14 19 Ilan 35 37 n^t 11 II Ilalp II II n^n 33 19 IMp
360° 19 13 Ilalp 40 31 Hat 33 36 Hat 16 8 Ilap lo lO Ilan 37 26 Ilap
60° 23 10 IIp 17 31 It 37 23 Ilt 13 3 nap 13 6 IIp 33 a8 np
I30^ 16 16 Ilan 33 48 larp 40 43 lat I4 I Ilt 16 8 Ilt 2$ 39 IJat
3. Hanptl.
r-s a.1. T tsx 1.3.
85® 18 16 Hat 35 39 lan 34 54 It II 5 Ilap 29 31 lat 30 47 It
I30° 21 30 Hat 37 31 Ht 34 30 nat 30 13 Ilt 8 13 It 39 4I It
1800 _ _ _ 18 37 It 50 63 It — 33 17 Ilt 36 35 Hat
340«^ 18 12 Ilt 8 II Han 37 40 It II 10 Hat 8 10 larp 45 39 Hat
300° 14 18 larp 21 23 Ilan 38 48 I»n 14 30 Ilarp SO 35 Han 43 47 Hat
Aus dieser Tafel geht hervor, daß bei der Wirksamkeit eines
positiven Täuschungsfaktors der eingeschlossene Sektor größer ist
als der gekreuzte, und daß bei der Wirksamkeit eines negativen
Täuschungsfaktors der eingeschlossene Sektor kleiner ist als der ge-
kreuzte. Da nun bei der Gruppe I der eingeschlossene Sektor stets
kleiner ist als der gekreuzte, kann sie niemals positiv liegen, und da
bei der Gruppe II das umgekehrte Verhältnis besteht, kann diese
niemals negativ liegen — eine Bedingung, die schon im Anschluß
an Tabelle V ausgesprochen wurde.
Ein positiver Täuschungsfaktor kommt dann zustande, wenn die
Anpassung der Aufmericsamkeit noch nicht vollendet ist, ein nega-
tiver, wenn sie früher vollendet ist. Obgleich nun die scheinbare
Stelle des Klingelzeichens jedesmal diejenige ist, an welcher die An-
passung der Aufmerksamkeit gerade vollendet ist, kommen doch hier,
wo es sich um einen Bereich handelt, innerhalb dessen ein Verlauf
dieser Anpassung anzunehmen ist, die Unterschiede des positiven und
des n^fativen Täuschungsfaktors in Betracht Der Verlauf der An-
passung wird nämlich im ersten Falle bei den Einstellungen Ai und
Digitized by VjOOQiC
Versuche mit d. Komplikationspendel nach d. Methode d. Selbsteinstellnng. ^a^
Ery die den eingeschlossenen Sektor begrenzen, durch die Anziehungs-
kraft der Marke unterstützt; d. h. der eingeschlossene Sektor wird
ausgedehnt, während im zweiten Falle, in dem die Anpassung sich
schneller vollzieht, die Einstellungen Ar und £i das Simultaneitäts-
bewufltsein über ein größeres Gebiet auszudehnen vermögen und so-
mit die Winkelöffnung des gekreuzten Sektors zunimmt
In zweiter Linie steht wiederum der gekreuzte Sektor bei dem
positiven Täuschungsfaktor insofern unter ungünstigen Bedingungen,
als sich hier die Anpassung langsamer vollzieht, und daher die Aus-
dehnung des Simultaneitätsbewußtseins durch die Bewegung der Mark-
erschwert, während es bei dem negativen Täuschungsfaktor der ein-
geschlossene Sektor ist, dessen Grenzlinien jetzt wegen des rascheren
Verlaufs der Anpassung aneinanderrücken. Aus allen diesen Eine
Aussen resultiert das angegebene Größenverhältnis des eingeschlossenen
zu dem gekreuzten Sektor in seiner Abhängigkeit von der positiven
oder negativen Richtung des Täuschungsfaktors.
Hieraus ergibt sich auch ein Fingerzeig für die Auffassung der
totalen Null-Lagen. Wenn in einer solchen Lage die mittlere Ver-
schiebung der vier Grenzeinstellungen beträchtlich von Null verschieden
ist, so scheint sich doch die Wirksamkeit eines Täuschungsfaktors
aufzudrängen. Falls dann außerdem das Größenverhältnis den für die
positiven und negativen Lagen aufgestellten Bedingungen entspricht
ist ein weiterer Grund für die Annahme eines Täuschungsfaktors vor-
handen. Der Vergleich mit Tabelle VI zeigt, daß einem großen Teil
der totalen Null-Lagen darum doch ein bestimmter Verschiebungssinn
zugesprochen werden kann; zumal im allgemeinen der aus dem
Größenverhältnis der Sektoren erschlossene Verschiebungssinn der
mittleren ^Verschiebung entspricht.
Nach Erledigung dieser besonderen Einflüsse, unter denen der
gekreuzte und der eingeschlossene Sektor zu stehen scheinen, läßt
sich ein mittlerer Bereich substituieren, der gleich dem arithmetischen
Mittel der Winkelöffnung der beiden Sektoren ist. Dieser mittlere
Bereich ist als eigentliche Sukzessionsschwelle anzusehen; er schwankt
bei Beob. K. zwischen 7^ und 21*^; bei Beob. S. zwischen 10*^ und
31*^; bei Beob. H. zwischen 26^ und 56*^. Die individuellen Ver-
schiedenheiten sind daraus verständlich, daß es sich hier um Leistungen
der Aufmerksamkeit handelt, und es ist immerhin beachtenswert, daß
23*
Digitized by VjOOQiC
\AA Otto Klemm,
Überhaupt innerhalb einer gewissen Schwankungsbreite eine solche
Schwelle existiert.
Dabei ist eine Abhängigkeit der Schwelle von der jeweiligen Ge-
schwindigkeit in dem Sinne zu beobachten, daß sie bei geringen Ge-
schwindigkeiten höher liegt als bei großen Geschwindigkeiten. Schon
innerhalb der einzelnen Reihen von je fünf Stellen, bei deren mittel-
ster die Geschwindigkeit am stärksten ist, liegt die Schwelle hier im
allgemeinen tiefer als an den äußeren Stellen. Diese Beziehungen
lassen sich aus Tabelle VII ablesen, wenn jedesmal das Mittel von eS
und gS genommen wird.
Deutlicher aber noch ist das Steigen der Schwelle bei geringen
Geschwindigkeiten, wenn der Mittelwert aller bei der Schwingungs-
dauer 7^= 2,1 gewonnenen Schwellen mit dem entsprechenden Mittel-
wert der Schwingungsdauer 7"= 1,2 verglichen wird. Bei dem Beob.
K. beträgt die mittlere Schwelle für 2"= 2,1 16^, für 2"= 1,2 12^;
bei dem Beob. S. finden sich die Werte 25^ und 16^ und schließ-
lich bei dem Beob. H. 40^ und 33*^. Das Sinken der Schwelle bei
der größeren durchschnittlichen Geschwindigkeit deutet darauf hin,
daß die räumliche Auffassung des Simultaneitätsbereichs sich nicht
genau reziprok zu den Geschwindigkeiten ändert, sondern daß sie
bei großen Geschwindigkeiten sich langsamer ändert. Der Winkel-
raum der Sektoren in Graden gemessen nimmt zwar bei großen
Geschwindigkeiten zu, aber weniger als die Konstanz des Quotienten
aus Weg und Geschwindigkeit erfordern würde.
Auch ohne Weitere Voraussetzungen über die Art und Weise,
wie aus den vier Einstellungen eine mittlere Verschiebung abgeleitet
werden könnte, ist ersichtlich, daß die hier auftretenden Verschie-
bungen beträchtlich geringer sind, als die von früheren Beobachtern
ermittelten. Die Abnahme der Verschiebungen rührt augenschein-
lich von der exakteren Beobachtungsweise her: es ist hier im all-
gemeinen darauf hinzuweisen, daß jede psychische Täuschung von
den Bedingungen abhängig ist, unter denen der Vergleich angestellt
wird, und bei exakteren Vergleichsbedingungen in der Regel ab-
nimmt.
Obgleich also die zugrunde gellte Beobachtungsweise jedesmal
zu einem Grenzwerte führte, haben doch die günstigeren Vergleichs-
bedingungcn die Größe der Zeitverschiebung beträchtlich herabgesetzt
Digitized by VjOOQiC
Versuche mit d. Komplikationspendel nach d. Methode d. Selbsleinstellung. 345
Es wäre ein fakcher Objektivismus, von der Größe der Zeitverschie-
bung schlechthin zu sprechen, die unter bestimmten objektiven Be-
dingungen notwendig eintreten müßte. Es treten vielmehr immer
auch die Bedingungen unserer Auffassung hinzu: und es ist Sache des
psychologischen Experimentes, ebenso, wie den Einfluß der objektiven
Bedingungen, auch den Einfluß dieser Bedingungen unserer Auf-
fassung auf den Ausfall der Resultate nachzuweisen. In zweiter Linie
gibt die Ableitung einer Sukzessionsschwelle aus diesen Beobach-
tungen Veranlassung, an die Schwellen für die Gleichzeitigkeit von
momentanen Eindrücken aus disparaten Sinnesgebieten zu erinnern,
die von Weyer (Philos. Stud. Bd. 14, 1898) in großem Umfange
untersucht worden sind. Der Unterschied, den er zwischen den
Schwellen je nach der Einstellung der Aufmerksamkeit fand, ent-
spricht der hier abgebildeten Sukzessionsschwelle. Er ist im Durch-
schnitt etwas größer als die von mir gefundene Schwelle; ein
Hinweis darauf, daß die Schwankungsbreite der zeitlichen Ein-
ordnung eines momentanen Eindrucks in eine Reihe kontinuierlicher
Eindrücke wegen der günstigeren Vergleichsbedingungen in engere
Grenzen eingeschlossen ist.
6. Der Simultaneitätsbereich als Punktion der mittleren
Verschiebung.
In derselben Weise wie bei der Methode der mittleren Fehler im
mittelbaren Verfahren aus den einzelnen Einstellungen der mittlere
variabele Fehler gewonnen wird, läßt sich auch hier ein mittlerer
Simultaneitätsbereich ableiten, welchem der mittlere variabele Fehler
proportional gesetzt werden darf. Als Verschiebung dieses Simul-
taneitätsbereiches ist die mittlere Verschiebung der einzelnen Ein-
stellungen anzusehen. Der in dieser Weise definierte Simultaneitäts-
bereich ist das Maß der Sukzessionsschwelle. Die mittlere Verschie-
bung, die aus den in bekannter Weise wirkenden Täuschungsfaktoren
entsteht, ist im folgenden als unabhängige Variabele gedacht, als
abhängige Variabele die Sukzessionsschwelle: diese Abhängigkeit
darzutun ist unsere Aufgabe.
Vielleicht ruft die zur Rechtfertigung der Problemstellung heran-
gezogene Analogie, der zufolge die mittlere Verschiebung gerade
der Schätzungsdifferenz entsprechen muß, den Einwand hervor, es
Digitized by VjOOQiC
ß^5 ^^o Klemm,
sei unbegründet, von vornherein überhaupt die Abhängigkeit des
Simultaneitätsbereiches von der mittleren Verschiebung vorauszu-
setzen. Wenn es nicht gelingt die Abhängigkeit aus allgemeinen
psychologischen Erwägungen zu begründen, dann muß tatsächlich
die Möglichkeit zugegeben werden, daß der Verlauf, der sich dann
ergibt, wenn den einzelnen Verschiebungen jedesmal die dort ge-
fundene Sukzessionsschwelle zugeordnet wird, nichts anderes be-
deutet als das Schwanken um einen mittleren Wert, der als solcher
unabhängig von der Verschiebung besteht.
Dieser Nachweis nun ist nicht schwierig zu führen. Schon die
Tatsache, daß der Simultaneitätsbereich oder die Sukzessionsschwelle
nur innerhalb eines Gebietes existiert, das durch die größten posi-
tiven und negativen Verschiebungen begrenzt wird, die sich be-
obachten lassen, legt den Gedanken an die Abhängigkeit von den
Verschiebungen nahe. Außerdem ist ganz allgemein die Lokalisation
eines momentanen Schalleindrucks, der in eine Reihe von Gesichts-
eindrücken eintritt, die im Bewußtsein die simultane Vorstellung
eines Zeitverlaufes bilden, von den Bedingungen des Eindruckes
selbst und seiner Apperzeption abhängig. Zu den Bedingungen des
Eindrucks gehört aber auch sein objektives Vorkommen an diesem
Punkte der Zeitreihe. Je nach der Verschiebung, die an diesem
objektiven Vorkommen gemessen wird, ist der wirksame Täuschungs-
faktor ein anderer, und da die Breite desjenigen Intervalls, innerhalb
dessen die Lokalisation der Willkür anheimgegeben ist, von diesem
Täuschungsfaktor abhängt, ist sie ihrerseits als eine Funktion der
objektiven Verschiebungen aufzufassen.
Über die Art und Weise der Abhängigkeit können nur die Be-
obachtungen Aufschluß geben. Wohl lassen sich schon rein theo-
retisch auch spezielle Abhängigkeitsformen aufstellen. Man könnte
etwa vermuten, der Täuschungsfaktor habe eine ursprüngliche Ten-
denz des Eindrucks, an die ihm objektiv gebührende Stelle lokalisiert
zu werden, zu überwinden. Bei einer großen Verschiebung wird
dieser Tendenz stark entgegengearbeitet oder bildlich gesprochen,
die Nachgiebigkeit des Bandes zwischen dem Eindruck und seiner
Stelle in der Zeitreihe wird stark in Anspruch genommen. Infolge-
dessen ist jetzt die Schwankungsbreite gering. Bei kleinen Ver-
schiebungen dagegen ist diese Nachgiebigkeit nur wenig in Anspruch
Digitized by VjOOQiC
Versuche mit d. Komplikationspendel nach d. Methode d. Selbsteinstellimg. ^av
genommen: darum ist jetzt eine viel größere Schwankungsbreite
möglich. Den kleinen Verschiebungen wären also große, den großen
kleine Simultaneitätsbereiche zugeordnet. Diese Überlegungen könnten
unmittelbar an den Beobachtungen geprüft werden, und zwar würden
sie in diesem Falle nicht bestätigt werden. Es verhält sich hier wie
so oft bei experimentellen Untersuchungen. Aus allgemeinen Er-
wägungen ergibt sich die Problemstellung, für die theoretisch meh-
rere Lösungen vermutet werden können: das Experiment entscheidet
für eine dieser Lösungen und wirkt auf eine schärfere Fassung der
Voraussetzungen zurück.
Die Zahlen, um die es sich hier handelt, lassen sich durch ein-
fache Mittelziehung der Tabelle VI entnehmen; die Verhältnisse
lassen sich am leichtesten in einer graphischen Darstellung veran-
schaulichen, in welcher als Abszissen die Verschiebungen und als
Ordinaten die Winkelöffnungen der Simultaneitätsbereiche jedesmal
in a eingetragen sind. Die Bedingungen der Geschwindigkeit, der
Beschleunigung, der Bewegungsrichtung, der Lage zur Symmetrie-
achse sind nun nicht mehr isoliert; sie alle konstituieren den jeweils
wirksamen Täuschungsfaktor und einzig dieser Täuschungsfaktor ist
hier als unabhängige Variabele gedacht. Für den Verlauf der Kurve
ergaben sich so für jeden Beobachter 20 Funkte; jeder dieser Punkte
aber ist in der besprochenen Weise schon als ein Mittelwert gegeben.
Falls zu verschiedenen Simultaneitätsbereichen die gleiche Abszisse
gehörte, wurde nur ihr Mittel als Ordinate angegeben; daher ent-
halten die Kurven im allgemeinen weniger als 20 Punkte. Aller-
dings nehmen die Abszissen dieser Punkte nicht gleichmäßig zu;
da die kleinen Verschiebungen häufiger sind als die großen, liegen
in der Nähe des Nullpunktes mehr bekannte Punkte der Kurve als
in großer Entfernung. Eine rechnerische Behandlung der Resultate
würde hierdurch sehr erschwert^ während das graphische Verfahren
immer noch die Gestalt der Kurve erkermen läßt Entsprechend der
allgemeinen Methode des Mittelziehens mußte schließlich auch den
totalen Null-Lagen eine mittlere Verschiebung zugesprochen werden.
Unter den auf diese Weise gewonnenen Kurven hat die des Be-
obachters K. (Fig. 4 a) den einfachsten Verlauf. Außerhalb eines
Intervalls von etwa 6^, welches den Nullpunkt einschließt, mißt der
Simultaneitätsbereich mit geringen Schwankungen 16^; mit negativ
Digitized by VjOOQiC
348
Otto Klemm,
zunehmenden Verschiebungen scheint die Kurve zu steigen und mit
positiv zunehmenden so zu schwanken, daß das Niveau im ganzen
sinkt. In dem kleinen Bereich von 4^, der den Nullpunkt enthält,
^ö*
'20^
-W^
O''
tlC*
*20'*
^JO"
Fig. 4a. Abszisse: Mittlere Verschiebung. Ordinate: Ausdehnmig des Simultaneitäts-
bereiches. (Beob. K.)
folgt auf ein Maximum ein Minimum. In der Kurve des Beobach-
ters H. (Fig. 4b), der zu positiven Verschiebungen neigt, ist der all-
mähliche Abfall mit zunehmenden positiven Abszissen deutlich zu
sehen; zwischen — 12^ und +2*^ liegen in derselben Reihenfolge
wiederum das Maximum und das Minimum, die sich gegen ein
Niveau von 43*^ abheben; der weitere Verlauf im negativen ist nicht
ausgebildet. Die Kurve des Beobachters S. (Fig. 4 c) schließlich
zeigt ein längeres Stück dieses negativen Verlaufes; Maximum und
Minimum liegen hier zwischen — 9^ und +2^ gegen ein Niveau
von 20^; der positive Teil sinkt wiederum gegen die Abszissenachse.
Die Gemeinsamkeiten dieser Kurven sind um so bedeutungsvoller,
als sie für eine so verschiedene mittlere Größe des Simultaneitäts-
bereiches gelten. Die Sukzessionsschwelle steigt mit zunehmenden
negativen Verschiebungen und sinkt mit zunehmenden positiven Ver-
schiebungen; in einem den Nullpunkt einschließenden Gebiete folgt
auf ein Maximum der Schwelle ein ebenso ausgesprochenes Minimum.
Die Interpretation dieser Erscheinungen muß von den Eigen-
schaften des Täuschungsfaktors ausgehen. Bisher wurde der Täu-
schungsfaktor nur durch die aus ihm resultierende Verschiebung
charakterisiert; neben dieser Richtung aber hat der Täuschungsfaktor
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Venuche mit d. Komplikationspendel nach d. Methode d. Selbsteinstellnng. 34g
*20^
*JÖ'
Fig. 4b. Abszisse: Mittlere Verschiebung. Ordinate: Ausdehnung des Simultaneitäts-
bereiches. (Beob. H.)
auch eine Stärke, die an der Innigkeit der Verbindung gemessen
wird, welche zwischen Zeigerstellung und Klingelzeichen besteht.
-30'
mr
Fig. 4c. Abszisse: Mittlere Verschiebung. Ordinate: Ausdehnung des Simultaneitäts-
bereiches. (Beob. S.)
Digitized by VjOOQiC
350 Otto Klemm,
Allerdings steht die Größe der Sukzessionsschwelle nicht in einer
eindeutigen Beziehung zur Stärke des Täuschungsfaktors: neben
der Vermutung, daß die Schwelle mit zunehmender Stärke des
Täuschungsfaktors auf Grund eines von der Stelle der Lokalisation
ausgehenden assimilativen Einflusses steige, steht mit gleichen An-
sprüchen die Vermutung, daß die Schwelle in diesem Falle sinke
auf Grund eines kontrastierenden Einflusses, der gerade wegen der
innigen Verbindung zwischen Zeigerstellung und Klingelzeichen zur
Geltung käme.
Darum scheint die Stärke des Täuschungsfaktors, die vielleicht
bei verschiedenen Richtungen des Täuschungsfaktors sehr verschie-
den ist, nicht von entscheidendem Einfluß auf die Größe des Simul-
taneitätsbereichs zu sein: vielmehr handelt es sich hier um das Ver-
hältnis der assimilierenden und der kontrastierenden Einflüsse, die
den Verlauf der Grenzen eines Bereiches bestimmen, innerhalb dessen
die von der Stärke des Täuschungsfaktors abhängige Innigkeit der
Verbindung das Gleichgewichtsbewußtsein aufrecht erhält. Das Ver-
hältnis, in dem diese beiden Einflüsse zur Geltung kommen, ist nun
aber durch die Richtung des Täuschungsfaktors bestimmt.
Bei dem positiven Täuschungsfaktor hat sich die Anpassung der
Aufmerksamkeit von einem Eindruck zum andern noch nicht voll-
endet; die Verbindung zwischen den disparaten Eindrücken löst sich
wegen des Kontrastes schon bei geringer Änderung der Lokalisation:
die Schwelle sinkt. Umgekehrt ist bei dem negativen Täuschungs-
faktor die Anpassung schon vollendet; von der Stelle der Lokali-
sation geht ein assimilativer Einfluß aus: die Schwelle steigt. Bei
der Annäherung an den Nullpunkt von der negativen Seite her wird
ein Punkt erreicht, in welchem die Kontrasteinflüsse am meisten zu-
rückgedrängt sind, weil der Nullpunkt selbst ziemlich weit in die
Mitte des Bereiches rückt: dies ist das Maximum der Schwelle. Es
liegt bei kleinen negativen Verschiebungen, in denen nur ein gering-
fügiger Täuschungsfaktor wirksam ist. Schließlich sinkt die Schwelle
auf ihr Minimum, wenn auch dieser geringe negative Täuschungs-
faktor zurücktritt. Das Minimum liegt also positiv zu jenem Maxi-
mum in großer Nähe des Nullpunktes.
Falls ein solcher Antagonismus des assimilierenden und des kon-
trastierenden Einflusses besteht, muß er auch in der Gruppierung der
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Vertoche mit d. Komplikationspendel nach d. Methode d. Selbsteinstellang. 3^1
vier Einstellungen zutage treten Es ist nämlich die Differenz zwischen
Ar und Ai auf der einen und Ei und Er auf der anderen Seite, d. h. das
Grenzintervall oder der Rand des Bereiches als ein Maß für die Wirk-
samkeit dieser Einflüsse aufzufassen. Dieser Rand ist entweder ein Ge-
biet zwischen Einstellungen, die sich von entgegengesetzten Seiten her
bewegen und sich nicht erreichen, oder seine Winkelöffnung ist gleich
dem Betrage, um den sich zwei einander entgegengesetzt fortschrei-
tende Einstellungen überschneiden. Im ersten Falle herrscht in dem
Rande jedesmal der zu dem außerhalb bestehenden entgegengesetzte
Apperzeptionszustand; seine Grenzen entstehen also durch eine Kon-
trastwirkung; darum rücken diese Grenzen um so weiter auseinander,
je stärker die Wirksamkeit des kontrastierenden Einflusses ist Im zweiten
Falle dagegen herrscht in dem Rande derjenige Apperzeptionszustand,
welcher sich schon außerhalb mit der Marke verknüpfte. Hier tritt
also eine assimilierende Tendenz zutage; und je größer die Über-
schneidung der Grenzlinien ist, eine um so stärkere Tendenz zur
Assimilation muß vorausgesetzt werden. Bei der Gruppe I sind beide
Ränder durch Assimilationen gebildet, bei der Gruppe II beide durch
Kontrast; bei der Gruppe I* ist der linke Rand von der ersten, der
rechte von der zweiten Art; und bei der Gruppe II* liegt das um-
gekehrte Verhältnis vor.
Da die beiden Einflüsse stets zusammen wirken, kann schließlich
die Größe des Randes nur ein Maß für die Differenz der beiden Ein-
flüsse sein; wenn der Rand verschwindet, sind die beiden Einflüsse
als gleich stark anzunehmen. Die Wirksamkeit der beiden Einflüsse
kann hier keine andere sein, als sie für den ganzen Simultaneitäts-
bereich angenommen wurde, und gerade die Variation der Bedingungen
hat zur Folge, daß die Darlegung der Gesetzmäßigkeit dieser Ränder
zu einem wahren experimentum crucis für die Triftigkeit der vorhin
Versuchten Interpretation wird. Zunächst steht mit der allgemeinen
Verteilung, bei der die Gruppe I niemak positiv und die Gruppe II
niemals negativ liegt, in Einklang, daß I nur assimilierte Ränder
und II nur Kontrastränder hat, woraus wiederum der Schluß zu ziehen
ist, daß im negativen die assimilierende, im positiven die kon-
trastierende Tendenz vorherrscht Ferner läßt sich den Tabellen V
und VI leicht entnehmen, daß folgende Verteilung gilt:
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352
Otto Klemm,
I*p: IR < rR\ Ra < Rc [IR = linker Rand,
I*n: lR'>rR\ Ra'> Rc rR = rechter Rand,
n*p : lR>rR\ Rc^ Ra Ra = assimilierter Rand,
n*n: lR<irR\ Rc <i Ra Rc = Kontrast-Rand).
Auch diese Relationen bestätigen die für die Wirksamkeit der
beiden Tendenzen angegebene Regel Ein anschauliches Bild dieser
Verhältnisse läßt sich vollends durch eine in Analogie zu der vorigen
gebildete graphische Darstellung entwerfen (Fig. 5 a, b, c). Rc und
(RcKKK
-30^ '20
t20^
Fig. 5 a. (Beob. K.)
V-'
,^"""^-^. 10'
'5(f -W^
'30''
'20^ -10^
tlO^
+20''
^ao"" f^
Fig. 5 b. (Beob. H.)
(RJ ''V''
*20^
Fig. 5 c. (Beob. S.)
Abszisse : Mittlere Verschiebung des Randes. Ordinate : Breite des Randes.
Ra werden als Ordinaten eines Linienzuges dargestellt [Ra ist ge-
strichelt) und als zugehörige Verschiebungszeit ist diesmal die mittlere
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Versnche mit d. Komplikationspendel nach d. Methode d. Selbsteinstellnng. ae a
Verschiebung des Randes genommen. Dabei wurde die ganze Ab-
szisse in Intervalle von 2^ eingeteilt und für den Fall, daß mehrere
Ordinaten in dasselbe Intervall fielen, nur jeweils der Mittelpunkt
dieser Ordinaten als ein Punkt des Linienzuges angegeben. Die
Linienzüge Rc und Ra sind daher im allgemeinen nicht aus der
gleichen Anzahl von Punkten gebildet: indessen scheint die aus-
schließliche Betrachtung der Differenzen der Ordinaten hierdurch
noch nicht hinfällig zu werden. In allen drei Figuren tritt der Ab-
fall der iJa-Linie vom negativen ins positive und der Anstieg der
i?c-Linie in der gleichen Richtung zutage. Die beiden Linien schneiden
sich in der Nähe des Nullpunkts. Daß hier ein Schnittpunkt beider
Linien liegt, ist schon deshalb zu erwarten, weil die Anpassung der
Aufmerksamkeit mit der Reihenfolge der Eindrücke gleichen Schritt
hält, und darum das Verhältnis der beiden Antagonisten durch die
Art und Weise der Anpassung der Aufmerksamkeit überhaupt nicht
beeinflußt wird.
Wenn die Punkte dieses Linienzuges, die gleiche Abscissen haben,
aufeinander bezogen werden dürfen, obgleich die zugehörigen Be-
reiche nicht dieselbe mittlere Verschiebung haben, dann kann auch
die Differenz zwischen der Ä^-Ordinate und der iSa-Ordinate als Maß
dieser Einflüsse benutzt werden. Rc — Ra ist nämlich gleich der
doppelten Differenz des kontrastierenden und des assimilierenden Ein-
flusses. Ist der erste dem zweiten überlegen, so ist diese Differenz
positiv: das findet bei positiven Verschiebungen statt. Ist aber der
zweite dem ersten überlegen, so ist diese Differenz negativ, das findet
bei negativen Verschiebungen statt. Zu Null werden kann die Differenz
nur, wenn die beiden Einflüsse gleich sind. Daß dies nur in der
Nähe des Nullpunktes stattfindet, ist eine erneute Bestätigung für
die Abhängigkeit des Verhältnisses der beiden Einflüsse von dem
Spannungswachstum der Aufmerksamkeit.
Neben dieser Abhängigkeit der Schwelle von der mittleren Ver-
schiebung steht die Abhängigkeit von der Geschwindigkeit, auf die
früher hingewiesen wurde. Ist die Schwelle aber als Funktion der
Verschiebung und zugleich als Funktion der Geschwindigkeit bekannt,
so ist hiermit auch eine Funktion zwischen Verschiebung und Ge-
schwindigkeit gegeben. Eine solche Abhängigkeit ist längst bekannt,
als die R^el, daß mit zunehmenden Geschwindigkeiten die Ver-
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354 ^^^ Klemm,
Schiebungen einer positiven Tendenz unterliegen. Im ganzen herrschten
an den beobachteten Stellen acht verschiedene Geschwindigkeiten;
in der folgenden Tabelle VIII ist für jede Geschwindigkeit der Mittel-
wert der zugehörigen Simultaneitätsbereiche in a angegeben.
Ta
belle
VIII
,
r =
2.1.
r —
1.2.
Beob. c:
II.O
13.4
15.2
16.6
19.3
25.4
27.0
29.1
K.
i6
16
17
16
12
12
II
12
S.
31
23
19
27
17
21
10
15
H.
42
38
34
45
35
36
33
28
Die kleinen Unterschiede, welche daher rühren, daß die Simul-
taneitätsbereiche von den Stellen, für welche die Geschwindigkeiten
berechnet sind, um den Betrag der mittleren Verschiebung abweichen,
sind vernachlässigt.
Soweit nun in dieser Tabelle ein Sinken der Schwelle mit zu-
nehmender Geschwindigkeit besteht, um genau so viel ist auch in
dem Verlauf der in Fig. 4 gezeichneten Kurven die Wirksamkeit
dieses Einflusses anzuerkennen: denn bei kleinen Geschwindigkeiten
besteht eine Tendenz zu negativen, bei großen eine solche zu posi-
tiven Verschiebungen. Da nun im allgemeinen die stark negativen
mittleren Verschiebungen bei geringen, und die stark positiven bei
starken Geschwindigkeiten beobachtet wurden, ist schon hiemach ein
Steigen der Kurven mit negativ wachsenden, und ein Sinken mit
positiv wachsenden Verschiebungen zu erwarten. Trotzdem ist die
vorhin versuchte Interpretation, welche diesen Einfluß noch nicht
heranzog, nicht überflüssig. Denn sonst müßte nicht nur durch die
Geschwindigkeit die Verschiebung eindeutig bestimmt sein, sondern
es müßte auch die Verschiebung eine eindeutige Funktion der Schwelle
sein; d. h. jedem Werte der Schwelle müßte nur eine ganz bestimmte
Verschiebung zugeordnet sein. Nun zeigt ein Blick auf die Kurven,
daß derselbe Wert der Schwelle bei ganz verschiedenen Verschiebungs-
zeiten vorkommen kann, andrerseits zeigt die Tabelle VI für dieselben
Geschwindigkeiten verschiedene Verschiebungszeiten. Es ist demnach
anzunehmen, daß auch die Schwelle nicht eindeutig durch die Ge-
schwindigkeit bestimmt sei. Wenn man die einzelnen Werte wirk-
lich bildet, deren Mittel in Tabelle VIII verzeichnet sind, finden sich
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Versnche mit d. Komplikationspendel nach d. Methode d. Selbsteinstellung. ^^^
beträchtliche Differenzen, die eine eindeutige Abhängigkeit der Schwelle
von der Geschwindigkeit sehr in Frage stellen. Andrerseits kommt
auch wieder der gleiche Wert der Schwelle bei verschiedenen Ge-
schwindigkeiten vor. Daher ist es nicht möglich, die Verschiebung
und die Schwelle als eindeutig abhängig von der Geschwindigkeit
darzustellen, sondern die Geschwindigkeit steckt nur als Teilbedingung
in dem Täuschungsfaktor, dessen Maß die mittlere Verschiebung ist:
diesen Verhältnissen suchte die obige Interpretation Rechnung zu
tragen.
7. Die Verteilung im Iimem des Simultaneitätsbereiches.
Im Anschluß an diese Betrachtungen, in denen es sich nur um
die Grenzen des Simultaneitätsbereiches handelte, erhebt sich schließ-
lich noch die Frage nach der Verteilung der Innigkeit der Verbin-
dung zwischen Zeigerstellung und Klingelschlag im Innern des Be-
reiches. Sofern im vorhergehenden die Abhängigkeit des Simul-
taneitätsbereiches von der mittleren Verschiebung dargelegt wurde,
ist zugleich auch jedem Täuschungsfaktor ein Bereich zugeordnet;
d. h. die Wirksamkeit des Täuschungsfaktors verrät sich zunächst
darin, daß die Lokalisation innerhalb eines bestimmten Bereiches
zu erfolgen vermag. Der Täuschungsfaktor wirkt demnach nicht
nach einem Punkte, sondern schon nach einem Bereiche hin.
Nun kann aber doch auch wieder innerhalb eines solchen Be-
reiches eine Verteilung angenommen werden und zwar auf Grund
der Streuung, die sich bei den einzelnen Einstellungen findet, durch
welche die Grenzen des Bereiches bestimmt werden. Die Streuung
der einzelnen Einstellungen ist reziprok der Schärfe des Übergangs
von dem Simultaneitätsbereich in die anschließende Zone oder um-
gekehrt. Aus der Schärfe dieses Übergangs können auf die Ver-
teilung im Innern unmittelbar keine Schlüsse gezogen werden. Denn
wenn die Innigkeit der Verbindung als Funktion der inneren Punkte
des Bereiches gedacht ist, so ist diese Funktion nur an den vier
Punkten Ai^ Ei^ Er und Ar gegeben, und bei Ei und Ar ist sie
außerdem gleich Null. Sicherlich ist von dem Anstieg der Kurve in
diesen vier Punkten die Streuung der einzelnen Einstellungen in irgend
welcher Weise abhängig; wenn diese Abhängigkeit bekannt wäre,
könnten die Tangenten der Kurve in diesen vier Punkten und aus
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356 Otto Klemm,
ihrem Schnittpunkt wenigstens die ungefähre Lage des Maximums
ermittelt werden. Andrerseits könnte aus der Lage des Maximums
die Art und Weise der Abhängigkeit erschlossen werden.
Da aber hier weder die Art und Weise der Abhängigkeit noch
auch die Lage des Maximums bekannt ist, kann aus den Streuungen
allein nicht auf die Verteilung im Inneren geschlossen werden. Auch
die Herstellung einer zweiten Versuchsreihe, in welcher der Punkt
der günstigsten Verbindung als Punkt der häufigsten Lokalisationen
direkt zu bestimmen wäre, würde deshalb nicht zum Ziele führen,
weil die Bedingungen, unter denen dieses Maximum gewonnen würde,
von den hier vorliegenden zu sehr abwichen, als daß eine unmittel-
bare Angleichung der Resultate möglich wäre').
Nur soviel ist sicher, daß aus der Gleichheit der Streuung für
die vier Einstellungen auf eine symmetrische Verteilung im Innern
geschlossen werden kann. Ich habe mich an einer Reihe von Bei-
spielen überzeugt, daß namentlich für die kleinen Bereiche die Streu-
ungen an den vier Punkten nicht allzusehr voneinander abwichen;
so daß das Maximum der Verbindung und damit 'die eigentliche
Richtung des Täuschungsfaktors unbedenklich an den Ort der mitt-
>) Unter der Voranssetznng, daß das Produkt aus der Streuung und der an der
inneren Grenze des Streuungsbereiches bestehenden Innigkeit der Verbindung kons-
stant sei, ist das Steigmaß der Kunre dem Quadrate der Streuung reziprok. Die
Abszissen der vier Einstellungen seien x^ , . , x^^ die Winkel zwischen den Tangenten
und der A'-Achse a^ , ,, a^\ wenn dann angenommen wird, daß die Abszisse des
Maximums Xm zusammenfalle mit der Abszisse des Schnittpunktes der Winkelhalbie-
renden der für die beiden ^-Einstellungen und die beiden JS^Einstellungen ermittelten
Tangenten, so ergibt sich der folgende analytische Ausdruck:
^^ Xr sin ar COS «r + a
r= X
Xm = ■
^/ sin ar cos «r + a
rssi
in welchem die Indizes in zyklischer Vertauschung die Zahlen i bis 4 durchlaufen.
Ist dieser Ausdruck gleich — "^ Xr , dann föUt das Maximum mit dem arithme-
4 ^*
r = I
tischen Mittel zusammen, ist er größer, so liegt das Maximum positiv, ist er kleiner,
so liegt es negativ zu ihm. Dies nur als ein Beispiel. Im Übrigen sind die Vor-
aussetzungen viel zu unsicher, als dass es ratsam erschiene, eine solche Betrachtung
wirklich durchzufuhren.
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Vertnche mit d. Komplikationspendel nach d. Methode d. Selbsteinstellong. ley
leren Verschiebung verlegt werden konnte. Immerhin traten doch
an manchen Stellen auch beträchtliche Unterschiede auf.
In der fönenden Tabelle IX, die sich auf einige Beispiele be-
schränkt, ist nach der von Wundt (Physiol. Psychol. I, 478) ange-
gebenen Formel der wahrscheinliche Fehler der Einzelbeobachtung
in a ausgedrückt.
Tabelle IX.
7* =
2.1.
I. Hanptl.
T = 2.1.
Beob. K.
Beob. H.
Beob. S.
SteUe
Ai
El Er
Ar
AI
El Er
Ar
Stelle
Ai El
Er
Ar
2650
7.0
5-9 7.5
10.7
lOw^
15.6 15.2
11.7
85°
7.2 10.9
15.6
6.9
300®
6.6
6.7 6.3
6.0
14.8
9.9 8.8
II.4
120°
10.8 14.0
14.0
12.6
360»
4.6
8.1 7.2
5.3
11.4
9.6 9.9
8.3
180»
12.3 9.7
13.0
12.3
60«
"•3
5.4 5-4
8.3
12.3
18.2 9.9
Ilu^
240*»
8.2 10.2
4.7
7.2
120«
12.0
10.2 8.5
14.6
16.0
9.6 17.6
164
300«»
137 13.3
9.0
10.4
Eine Beziehung der Größe der Streuungen zur Größe des Simul-
taneitätsbereiches ist unmittelbar nicht abzulesen. Die Streuung
scheint vielmehr den individuellen Unterschieden viel weniger unter-
worfen zu sein als der Simultaneitätsbereich.
Die Schwankungen, welche diese Streuungen bei dem einzeben
Beobachter aufweisen, sind möglicherweise wieder den Geschwindig-
keiten zuzuordnen. Aus demselben Grunde, der die Schwelle bei
stärkeren Geschwindigkeiten etwas sinken läßt, muß auch die Streu-
ung kleiner werden. (In Tabelle IX herrscht die größte mittlere
Streuung an den Stellen kleinster Geschwindigkeit.) Immerhin aber
bleiben noch die Unterschiede zwischen den für jede einzelne der
vier Einstellungen bestehenden Streuungen. Vielleicht geben die
Unregelmäßigkeiten dieser Streuungen nur die schwankende Natur
der apperzeptiven Bedingungen zu erkennen, unter denen diese Ein-
stellungen zustande gekommen sind; vielleicht aber spiegeln sie auch
eine in den Verhältnissen begründete Asymmetrie des Täuschungs-
faktors zu der Gestalt des Simultaneitätsbereiches wieder.
Jedenfalls sind diese Fragen nur in einem allgemeinen Zusammen-
hange zu entscheiden, hier mündet die Betrachtung der Kompli-
kationserscheinungen schließlich in die Psychologie der Aufmerksam-
keit, in deren Erforschung die experimentelle Psychologie gegen-
wärtig eine ihrer dankbarsten Au%aben findet.
Wundt, Psychol. Studien 11. 24
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über abstrahierende Apperzeption.
Von
Kuno Mittenzwey.
Mit 3 Fignren im Text.
Einleitung.
Wenn ich im folgenden einige Untersuchungen über abstrahierende
Apperzeption mitteilen will, so halte ich schon inne bei der Frage,
was unter »abstrahieren« zu verstehen sei. Soviel nämlich schon
über Abstraktion geschrieben worden ist, so wenig einheitlich ist der
Gebrauch dieses Wortes, so wenig pfl^en auch die verschiedenen
Schriftsteller aufeinander Rücksicht zu nehmen. Hält man aber die
tatsächlich verwendeten Bedeutungen aneinander, so stößt man auf
eine Menge von Unterschieden, und es kann einem geschehen wie
Husserl, der beiläufig sechs verschiedene Begriffe von »abstrakt«
gegeneinander abgrenzt'). Noch wirrer wird das Bild, wenn man
die verschiedenen Abstraktionstheorien betrachtet, die das psy-
chische Zustandekommen abstrakter Inhalte erklären sollen.
Um sich hier zu verständigen, wäre der beste Weg die histo-
rische Analyse. Nun ist eine Monographie der Entwicklung des
Abstraktionsproblems noch nicht geschrieben worden*), und die Ein-
leitung einer Untersuchung ohne historische Absichten gibt dafür
gewiß nicht Raum. Nur im schematischen Umriß wollen wir hier
die äußersten Pole der Problembehandlung aufzeichnen und vor
allem das Auftreten derjenigen Gedanken anmerken, die in der heu-
') Hasse rl, Logische Untersachangen ü, 1901 S. 215 ff.
*) Gans ungenügend die histor. Übersicht bei Maennel, Ober Abstraktion, Diss.
Gütersloh 1890. Recht branchbar die Zitate in Eislers philos. Wörterbach* 1904.
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Kuno Mittenzwey, Über abstrahierende Apperzeption. ^cq
tigen Diskussion noch wirksam sind. Dieser historische Exkurs mag
außer der terminologischen Verständigung auch den Gewinn bringen,
daß man die ganze Weite des Problems erkennt und einsieht, einen wie
kleinen Ausschnitt wir nur zur Untersuchung stellen — auf daß man
uns nicht am Ende den Fürwitz unterschiebe, als glaubten wir »das
Abstraktionsproblem« »gelöst« zu haben. Und auch diese histo-
rische Einleitung wolle man nicht dahin mißverstehen, als wenn eine
Vollständigkeit auch nur des Schemas erstrebt würde. Wir werden
vielmehr von vornherein die Willkür in Anspruch nehmen müssen,
unter den verschlungenen Wegen der Geschichte den einzuschlagen,
der uns zu unserm Ziele fuhrt, während wir die Seitenwege nur an
ihren Abzweigstellen bezeichnen.
Um den Ausgangspunkt kann man verlegen sein. Denn die
Abstraktion war zunächst nicht selbständiger Gegenstand des Nach-
denkens, sondern wurde mittelbar erörtert in ihren Produkten, den
Begriffen. Den Anfangspunkt für die Behandlung der Begriffe aber
kann man kaum früh genug ansetzen. Es ist bekannt, wie die
Eleaten und Sophisten gegen eine al^emeingültige Erkenntnis des
Wirklichen nominalistisch argumentierten, wie dagegen Sokrates
zuerst die Begriffe als Erkenntnisideale aufstellte und ihre indukto-
rische Gewinnung praktisch zeigte, wie endlich Plato ihre Bedeutung
bis zur metaphysischen Existenz steigerte. Aber eben dies meta-
physische Interesse engte die Fragestellung eigentümlich ein: die
Begriffe, die als Ideen eine transzendente Existenz führen, sind Gat-
tungsbegriffe — eine Einengung, die die Logik auf Jahrhunderte
beeinflußt hat. Auch die Behandlung der Abstraktion ist an dieser
Problemstellung orientiert; Plato braucht iq>aiQ€iv für die Gewin-
nung der Allgemeinbegriffe: iTtb tCjv &XX(op Ttdvriov ätpeXcov rJ/y
Tov iyadov idiay*). Für den Prozeß der Gewinnung ist wesentlich,
daß die Unmöglichkeit einer rein sinnlichen Entstehung mit Ent-
schiedenheit aufgezeigt wird"). Da sich aber anderseits Plato nicht
dazu erhebt, der Seele eine schöpferische Tätigkeit zuzuerkennen,
so sucht er schließlich die Lösung in der bekannten ivdfivqaig.
') Rp. vn, p. 534 B.
*) Theaet. p. 185 D. E.: /nol &oxei trjv aQXV*^ ^^^ elrai xoiovioy ol&ky
xovTOis (den Begriffen) oqyavov iSiov &0neq kxsivoig (den sinnl. Eigenschaften),
itXX' a6jTj cfft' avt^g rj tffvxv tit xoivd (AOi fpaivezai n6q\ nayttjy kniaxonety.
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a(^0 Kiino Mittenzwey,
Aristoteles erkannte wohl die Einseitigkeit der Einengung auf
die Gattungsbegriffe, denen er die Eigenschaftsb^riffe gegenüber-
s^llt'). Gleichwohl behalten die allgemeinen Gattungsbegriffe ihr
Interesse, da sie das Wesen der Dinge bezeichnen^). So ist auch
für ihn Abstraktion^) das Absehen vom Zufälligen, um das Allge-
meine, Gattungsmäßige zu erhalten, z. B.: 8aa fik$f oiv q>aivB%ai
ejufiyv&iieva IcpkxiQiav t^ eidec, olov xincXog Iv x^^^ ^^^ llStp
xßl Svk(f}j xavxa fikv drjXa elyai öoxei 8ti äOiv xijg t& xixXs öoiag
b xßihwg öd' b Udog diii tb x(aQÜ^€odoiL airCtv. 8oa de firj bfätai
Xfa^ö^itvay oidhv fiiv xiaXifst bfiolmg exeiv fävoig^ äoTtsq x&r
ei Ol Tiimi^i Ttivteg kii}Q€}vro x^^'*-ol [hQIv yciQ &v fjzror ^ b x^^^S
ädhv T« eXdsg\ x^^^^^^ ^^ &(peXelv tovto zf^ dtavoUf% Die Ge-
winnung abstrakter Inhalte geschieht durch Induktion: vh i^ itpai^i-
aemg Xeyö^eva egai di ejtayfayfjg yyÜQifia 7toiet/if% Aber bekannt-
lich ist Aristoteles von einem platten Sensualismus weit entfernt.
Vielmehr hypostasiert er, um das %ad6Xov zu erklären, eine eigne
psychische Kraft, den vovg Ttouririxög, Durch ihn erfaßt die Seele
die begrifflichen Formen in den sinnlichen Eindrücken^), er ist das
von Plato gesuchte Organ hierfür^). Er ist aber kein selbständ^es
»Vermögen«, er kann vielmehr gar nicht ohne den voi)g Ttadrjrixög
tätig sein^), da sich der Intellekt in den Formen der Wahrnehmung
bewegt. Den Nachfolgern des Aristoteles bereitete diese Anschau-
') Zell er, Philosophie d. Griechen IL T. 2. Abt. ^ 1879 p. 204-
^) Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande I, 1855 p. 219 ff. — Zeller
a. a. O. p. 205 nnd die zit. Belege in der Anmerkg. 3).
3) ii(palQ8aig. — Abstrakt heißt meist tu i| ag>aiQiaBto^, z. B. Met. 1077 ^ 9« —
Aoal. post. 81 b 3. — De an. 432 a 5 : ja tb iy ätpatgiaBi Xeyofieya. — Ebend.
429b 18; 431b 12. Gern heißen abstrakt die Gegenstände der Mathematik: Met.
1061 a 29: xaSaneg (f b /nadij/natixos negl ta J| äfpaiqiaBtos ti]v deaQiav noiBljat, —
De an. 403 b 15. — De caeL 299 a 16. — Ethic. Nicom. 1142 a 18. — Bemerkt sei
noch, daß cKpai^iy gewöhnlich transitiv steht (das passive Partizip AnaL post. 74 a
37). Dieser Gebranch warde auf das abstrahere übernommen, nnd erst sdt knner
Zeit datiert nnr die präpositionale Verwendung.
*) Met 1036 a 31.
5) Anal. post. 81 b 3.
^) De an. 431 b 2 : ra f4iy iy etdij jo vorjxixoy iy tolg tpaytaafjtaci yoel.
7) Ebend. 431 b 29: « yicQ o Xidos Iy tp ^vxv, «^^a ^^ eldoc' w<rrfi 17 ^fjvxh
üauuQ ff x^i^ kmy xal ykq ij x^^ o^yaroy iany 6^ay»y,
^) Ebend. 431a 16: MncrtB yoei arBtt (payidafitftog t] tf^vxV' — 430a 24: b
&i na$rfZtnoc vovg <i^%u^t6g, xal ay$v ririK adey yoei.
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über abstrahierende Apperzeption. ^^I
ung in der outrierten Form der Lehre vom doppelten rcFifg unüber-
windliche Schwierigkeiten'); für uns hat sie um so mehr kistorisdies
Interesse, beweist sie doch, wie bald man zur Erklänmg des ab-
strahierenden und verallgemeinernden Denkens, nachdem man es
nur einmal in seiner Besonderheit erkannt hatte, eines aktiven psy-
chischen Prinzipes bedurfte. —
EHes muß genügen, um die ersten Anfange zu skizzieren, wie
sie für den ferneren Weg richtunggebend gewesen sind. Dieser ist
bestimmt durch die metaphysischen Absichten; infolgedessen gilt die
Erörterung ausschließlich den Allgemeinbegriffen. Das Abstraktions-
Problem erscheint so doppelt eingewickelt in die Frage nach dem
Allgemeinen und in die Frage nach dessen Existenz und wird -Ober-
haupt nicht als selbständiges Problem formuliert.
Diese Problemfassung ist dann im ganzen Mittelalter geblieben.
Die verschiedene Definition von »abstrakt« spiegelt so getreu den
ganzen Verlauf des Universalienstreites. Wesentlich neue Gedanken
gegenüber dem ererbten Bestand wurden nicht produziert, nur daß
sich der scholastische Scharfsinn darin gefiel, zahlreiche Unteraiten
von Abstraktion zu definieren, deren Merkmale dann bald metaplty-
sischen, bald grammatischen Unterscheidungen entnommen wurden.
Die neuere Philosophie ist eine neue vor allem in den Motiven,
die sie bewegen. War früher Herzensangelegenheit die Frage nach
der Existenz Gottes, so ist jetzt brennendes Interesse die Möglichkeit
der Wissenschaft. Waren früher Gegenstand der Untersuchung vor-
nehmlich die allgemeinen Gattungsbegriflfe, so sind es jetzt die all-
gemeinen Beziehungsbegrifie, insbesondere als wissenschaftlich brauch-
bare Begriffe. Ihre Gewinnung interessiert nicht als psychischer
Vorgang, sondern durch ihren wissenschaftlichen Wert. So wird jetzt
die Abstraktion untersucht als logische Methode. Besonders m dem
»clare et distincte« Descartes' wird die Verkettung von Abstraktion
und methodologischer Erkenntnisforderung*) deutlich. Seitdem ist cSe
Abstraktion als logische Methode immer wieder Gegenstand norma-
') Zeller a. a. O. p. 578 Anm. i.
^) Besonders wären hier die regnlae ad directionem ingenii (veröffentlicht 1701)
zn nennen. Als einzelnes Beispiel die regnla XIII: Si quaestionem peifecte intelli-
gamns, illa est ab omni soperflao conceptn abstrahenda, ad simplicissimam revocanda,
et in quam minimas partes cnm enumeratione dividenda.
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-262 Kuno Mittenzwey,
tiver Untersuchung gewesen. Wir verfolgen diesen Weg nicht weiter,
sondern halten Umschau nach den Ansätzen einer psychologischen
Analyse des Abstraktionsprozesses. Bei Descartes ist hierfür die Aus-
beute nur gering, entsprechend seiner rationalistischen Art zu analy-
sieren. Um so interessanter ist es zu sehen, wie dieser rationalistische
Gedankenblock von Anfangen einer psychologfischen Analyse durch-
setzt wird in einem Werke, das sich in der Hauptsache ganz zu
Descartes' Schule bekennt, in der Logique de Port-Royal.
Schon die Grundeinteilung des Werkes nach den vier Grund-
Operationen des Denkens: concevoir, juger, ndsonner et ordonner*),
die dann in den Unterteilen in gleicher Weise weitergeführt wird,
mutet an wie aus dem Geiste der späteren Vermögenspsychologie.
Für das Abstraktionsproblem ist zunächst hervorzuheben die reinliche
Scheidung zwischen abstrakt imd allgemein. Die Abstraktion geht
der Verallgemeinerung voraus und ermöglicht erst die Verallgemeine-
rung"). Abstrahieren im allgemeinen Sinne ist »consid^rer par parties«.
Aber sogleich wird genauer unterschieden. Man kann erstens con-
sid^rer une partie sans consid^rer Tautre, parce que ces parties sont
r^ellement distinctes; aber ce n*est pas meme ce qu*on appelle abs-
traction. Eine zweite Art ist es, quand on consid^re un mode sans
faire attention ä la substance, ou deux modes qui sont joints ensemble
dans une meme substance en les regardant chacun ä part Derart
ist die geometrische Abstraktion. Die dritte Art endlich liegt vor,
quand une meme chose ayant divers attributs, on pense ä Tun sans
penser ä Tautre, quoiqu'il n'y ait entre eux qu'une distinction de
raison. Wie man sieht, liegt hier dieselbe Unterscheidung vor wie
in der cartesianischen Lehre von der distinctio realis, modalis et ra-
tionis^). Es geschieht hier zum ersten Male, daß das Abstraktions-
problem in Beziehung gesetzt wird zur Distinktionenlehre. Es wäre
für unsem Zweck nutzlos, nun etwa diese ganze Lehre mit ihren
subtilen Unterscheidungen durch die scholastische Philosophie bis auf
Descartes zu verfolgen. Genug, daß bei allen diesen Schriffetellem
die distinctio als etwas Seiendes (= Unterschied, Geschiedenheit, im
Gegensatz zur identitas oder unitas) gefaßt wird. Von solcher Dcnk-
*) 6dit. noüv. par FouilUe, Paris 1879, p. 27.
•) Hierzu und zum folgenden I»^« Partie, chap. V.
^) Princ. phüos. I, 60 — 62.
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Ober abstrahierende Apperzeption. ^53
weise ist auch Descartes noch nicht frei. Obgleich er ab Kriterium
der vollzogenen distinctio das clare et distincte intelligere regelmäßig
anfuhrt, fallt er doch gelegentlich wieder in ganz scholastische Argu-
mentation zurück, z. B. : Itemque ex hoc solo, quod unusquisque in-
telligat se esse rem cogitantem, et possit cogitatione excludere a se
ipso omnem aliam substantiam, tam cogitantem quam extensam, cer-
tum est unumquemque sie spectatum, ab omni alia substantia cogi-
tante, atque ab omni substantia corporea realiter distingui. In der
Logik von Port-Royal wird nun reinlich die Distinktion als Trennung
in unserem Denken aufgefaßt, wie die mitgeteilten Zitate wohl ge-
nügend erkennen lassen, und sofort stellt sich auch die Beziehung
der Distinktion zur Abstraktion ein.
Noch deutlicher fast als in der Distinktionenlehre wird aber der
Fortschritt der art de penser in psychologischer Richtung, als es
gilt, die Abstraktion aus allgemeineren Eigenschaften des Bewußt-
seins zu erklären. Es heißt da: Le peu d'ötendue de notre esprit
fait qu'il ne peut comprendre parfaitement les choses un peu com-
pos^s, qu'en les considä-ant par parties, et comme par les diverses
faces qu'elles peuvent recevoir. C'est ce qu'on peut appeler göi6-
ralement connaitre par abstraction. — Man sieht hier, in welch eigen-
tümlicher Weise die Abstraktion in Beziehung gebracht wird zu der
B^renztheit unseres Bewußtseinsumfanges, als ein Ersparen gewisser-
maßen an psychischer Kraft. Die Gradverschiedenheit der Be-
wußtseinsinhalte aber, die mit dem begrenzten Umfang gegeben ist,
wird noch nicht bemerkt.
Im ganzen sehen wir in der Logique einen beträchtlichen Fort-
schritt. Die Abstraktion am singulären Objekt wird deutlich von der
Generalisation geschieden, wenn sie auch nur als Vorstufe zu dieser
erscheint. Sie ist identisch mit der distinctio modalis und rationis
und wird in Beziehung gebracht zur Begfrenztheit unseres Bewußtseins.
Trotz aller psychologischen Ansätze ist die Grundabsicht des
Werkes metaphysisch, geht sie doch darauf aus, einen Rationalismus
cartesianischer Observanz zu fundieren. Eine psychologische Analyse
in rein empirischer Absicht finden wir erst bei Locke, und in diesem
Sinne kann Meinong in Locke den Begründer der modernen Psycho-
logie verehren').
*) Hume -Studien II, Ber. der Wiener Aktd. phil.-hist. Kl. 18S2 p. 576.
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^54 Kimo Mittenswey,
Sein unmittelbarer Vorgänger, Th. Hobbes, bei dem scholastische
und moderne Gedanken sich so eigentümlich beieinander finden, hatte
in der Logik noch einmal die Überlieferung des scholastischen Nomi-
nalismus erneuert So definiert er abstrakt und konkret als einen
Unterschied der Namen. Concretum . . est quod rei alicujus quae
esdstere supponitur nomen est ... ; ut corpus, mobile, motum, figru-
ratum, cubitale, calidum, frigidum, simile, aequale . . . Abstractum
est, quod in re supposita existentem nominis concreti causam denotat,
ut esse corpus, esse mobile, esse motum vel nomina his aequi-
valentia, quae commimiter Abstracta dici solent, ut corporeitas, mo-
bilitas, motus, quantitas . . . ')
Bei Locke merkt man noch etwas von der Nähe der mittelalter-
lichen Problemstellimg und des Universalienstreites; er wehrt sich
dag^en entschieden nominalistisch: »Das ganze Geheimnis von genera
und species, was so viel Lärm in den Schulen verursacht, und außer-
halb derselben mit Recht so wenig beaditet wird, besteht in nichts
anderem als in den abstrakten Ideen, die mehr oder weniger um-
fassend und mit Namen versehen sind«^). Man sieht aus diesem
Zitat zi^leich ein zweites: abstrakt und allgemein werden von Locke
synonym gebraucht, eine Scheidung der G^ensatzpaare abstrakt-
konkret und al^emein-partikulär kennt er nicht ^). Demzufolge stdit
Abstraktion synonym mit Verallgemeinerung: »Die dritte (Tätigkeit
des Greistes) ist ihre (der einfachen Ideen) Absonderung von allen
anderen Ideen, die sie in ihrer wirklichen Existenz begleiten; das
nennt man Abstraktion, und so werden alle allgemeinen Ideen ge-
bildet«*). Bringt er hier die Abstraktion mit der Verallgemeinerung
zusammen, so nennt er anderwärts die Verallgemeinerung Abstraktion:
» . . der Geist bewirkt, daß die von den einzelnen Objekten empfiwi-
genen einzelnen Ideen sich verallgemeinem, was dadurch geschieht,
daß sie als im Geiste vorhandene Erscheinungen gewisser Art be-
trachtet werden, abgesondert von allen anderen Existenzen und den
Umständen des reellen Daseins, wie Zeit, Ort oder sonstige beglei-
') Op. pliilos. quae latine scripsit VoL I. Compntatio I, cap. III, 3.
*) Ess. c. h. n. 1 III, ch3, § 9, deutsch von Th. Schnitze.
3) Es bleibe nicht nnerwähnt, daß er gelegentlich aneh dem Sprachgebranch das
Hobbes folgt, so im ganzen III ch 8 1; es ist aber so isoliert, daß wir nicht darauf
Bezug zu nehmen brauchen.
♦) 1. c 1 II, ch 12, § I.
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über abstrahierende Apperzeption. ^^e
tende Ideen. Dies nennt man Abstraktion, wodurch von einzelnen
Dingen entnommene Ideen zu allgemeinen Repräsentanten für alle
von derselben Art, und ihre Namen zu allgemeinen Namen werden,
die auf alles Existierende anwendbar sind, was solchen abstrakten
Ideen entspricht« '). Man darf aber darum nicht schließen, daß Locke
den Unterschied zwischen Abstraktion und Verallgemeinerung nicht
doch gekannt hätte, wenn er ihn auch nirgends formuliert. Er be-
schreibt: »Wird z. B. heute dieselbe Farbe an der Kreide oder dem
Schnee beobachtet, die der Geist gestern von der Milch empfangen
hatte, so betrachtet er nur diese Erscheinung allein, macht sie zum
Repräsentanten aller von derselben Art, gibt ihr den Namen »WeiOe^,
. . . und so werden allgemeine Begriffe . . . gebildet«'). Wie man
sieht, scheidet hier Locke deutlich zwischen der Abstraktion am
einzelnen Objekt und der Verallgemeinenmg, wenn er auch diesen
Unterschied nirgends herausarbeitet. Wie die Abstraktion geschieht,
untersucht er ebensowenig; interessant ist es, an der mitgeteilten
Stelle zu sehen, wie sich die »Vergleichstheorie« leise ankündigt. Die
Verallgemeinenmg aber wird bei Locke überhaupt weniger aus Ur-
sachen, als aus Zwecken erklärt: um die Notwendigkeit unendUoh
vieler Namen zu vermeiden^).
Im ganzen sehen wir, daO bei Locke die Probleme der Abstrak-
tion und Verallgemeinerung enge und ungeschieden beieinander liegen,
bis zum synonymen Gebrauch der Bezeichnungen; und wenn noch
heutigen Tages gelegentlich »abstrakt« und »allgemein« durchein-
ander geworfen werden, so ist nicht zum geringsten Locke dafür
verantwortlich zu machen. Der Grund der mangehiden Scheidung
ist, daß ihn im Grunde nur die Frage der Verallgemeinerung interes-
sierte. Zu deren Lösung aber bildete er die bekannte Theorie von
der »allgemeinen Idee« aus; und wie er die Frage nach der meta-
physischen Existenz der Universalien scharf nominalistisch zurückge-
wiesen hatte, so wurde er bei der Untersuchung ihrer psychischen
Existenz der Vertreter des extremsten Konzeptualismus.
Lockes großer Widersacher, Leibniz, hat gegen die psycho-
logistische Analyse des Abstraktionsproblems Einwendungen aus dem-
') loc. cit. 1 n, eh II, § 9.
«) ibid.
3) ibid.; cf tußerdem III, ch32, §§ 6, 7, 8.
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^56 Knno Mittenzwey,
selben Geiste, wie er die ganzen Nouveaux essais beherrscht: die
Selbsttätigkeit des Intellekts darzutun. Auch die Tiere, sagt er, er-
kennen augenscheinlich die Weiße und bemerken sie in der Kreide
und im Schnee, aber ce n'est pas encore abstraction, car eile demande
une consid^ration du commun, s6pax6 du particulier, et par cons6-
quent il y entre la connaissance des v^rit& universelles, qui n'est
point donn^e aux betes'). Während Leibniz hier dem Lockeschen
Sprachgebrauch folgt") und Abstraktion und Verallgemeinerung syno-
nym verwendet, definiert er anderwärts konkret und abstrakt aus
metaphysischen Kriterien, wenn er z. B. schreibt: omne accidens est
abstractum quoddam, sola vero substantia est concretum^) — oder:
concreta vere res sunt, abstracta non sunt res sed rerum modi, modi
autem nihil aliud sunt quam relationes rei ad intellectum, seu appa-
rendi facultates*).
Die psychologischen Untersuchungen aber des Locke wurden
von Berkeley weitergeführt In ihm ist die psychologische Frage-
stellung vollendet; das mittelalterliche Existenzproblem besteht für
ihn nicht mehr, er ist ganz orientiert an den Analysen Locke s,
gegen dessen Konzeptualismus er den Nominalismus hn modernen
Sinne ausbildet. Dazu gelangt er dadurch, daß er die Bedeutung
von »Idee«, welche bei Locke bekanntlich promiscue im Sinne von
anschaulicher Vorstellung und von Bedeutungsvorstellung steht ^, ein-
seitig auf die anschauliche Vorstellung einengt. Da nun alle An-
schauung individuell ist, und zwar nach der sensualistischen Ansicht
jener Zeit individuell wie die Wirklichkeit, so erscheint eine »allge-
meine Idee« als evidenter Widersinn. Jene Einengung aber wirkt
bis auf den heutigen Tag fort in der Neigung mancher Psychologen,
bei der Analyse z. B. des Lesens, der Begriffe usw. nur auf die be-
gleitenden anschaulichen Wortvorstellungen u. dgl. zu reflektieren, so
daß es demgegenüber beinahe der Entdeckung der »intentionalen«
Akte bedurfte.
Aber Berkeley wendet sich nicht gegen die allgemeinen Ideen
') Nouv. ess. n, eh. ii § lo.
') Ich übergehe aoch hier die jener oben erwähnten korrespondierende Stelle
über das Nebeneinanderbestehen abstrakter Wörter in einem Urteil, cf. 1. III ch 8.
^) Ad Des Bosses epistula XXI.
*) De stilo philosophico Nizolii XVII.
5) Husserl a. a. O. S. 128.
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über abstrahierende Apperzeption. ^57
als solche, sondern ausdrücklich gegen die »abstrakten allgemeinen
Ideen«'). Dies könnte den Anschein erwecken, als wenn er erstens
»abstrakt« in einer von »allgemein« verschiedenen Bedeutung ge-
brauchte, und als wenn zweitens gerade in dieser Abstraktheit der
Angriffspunkt für die nominalistische Kritik gegeben wäre, da er »all-
gemeine Ideen« gelten läßt. Des Rätsels Lösung ist die, daß er in
dieser Verbindung »abstrakt« im Lockeschen Sinne einer generali-
sierenden Abstraktion verwendet*), während »allgemeine Idee« für
ihn die repräsentative Einzelvorstellung ist, welche ihre stellvertretende
Funktion bekanntlich durch den begleitenden Namen erhält.
Aber die generalisierende Abstraktion ist nicht die einzige Be-
deutung, in welcher er von Abstraktion spricht; er stellt jener aus-
drücklich eine zweite Bedeutung gegenüber, nämlich: »diejenigen
Eigenschaften voneinander durch Abstraktion zu trennen oder geson-
dert zu betrachten, welche nicht möglicherweise ebenso gesondert
existieren können«^. Man sieht, wie er im Gegensatz zu Locke
auch die Abstraktion am Einzelobjekt als eignes Problem kennt und
dabei auf die Distinctio rationis kommt, wenn er auch die Bezeich-
nung nicht anfuhrt. Aber auch diese Abstraktion ist unmöglich.
Denn nur die Distinctio realis ist vollziehbar: »ich finde mich selbst
befähigt zur Abstraktion in einem Sinne, nämlich wenn ich gewisse
einzelne Teile oder Eigenschaften gesondert von anderen betrachte,
mit denen sie zwar in irgendwelchem Objekt vereinigt sind, ohne die
sie aber in Wirklichkeit existieren können«*). Doch dies ist nicht die
eigentliche Abstraktion. Für jene aber, die Distinctio rationis, gibt
er eine gewisse pointierende Betrachtung zu, nämlich »daß es mög-
lich ist, eine Figur bloß als Dreieck zu betrachten, ohne daß man
auf die besonderen Eigenschaften der Winkel oder Verhältnisse der
Seiten achtet«^). Man sieht hieraus, wie sehr einerseits das psycho-
logische Denken jener Zeit noch an den Gegenständen haftet, so daß
es das Vorkommen in der Außenwelt zum Entscheid über das psy-
chische Vorkommen anruft, und wie anderseits Berkeley doch ge-
') Treat. intr. XII.
^) ibid. X: ». . . einen allgemeinen Begriff durch Abstraktion ... zu bilden« urd
die ganzen Sect. VIII u. IX.
3) Treat intr. X.
*) ibid.
5) ibid. XVI.
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«68 Kuno Mittenzwey,
rade bei der Analyse der Abstraktion am Einzelobjekt genötigt wind,
ein pointierendes Betrachten gelten zu lassen, obgleich dies einem
konsequenten Nominalismus zuwider sein muß.
Diesen Widerspruch beseitigt und den Nominalismus bis zur letz-
ten Konsequenz reinlich durchgeführt zu haben — ob in bewußter
Verschiedenheit von Berkeley ist ungewiß — , ist die Tat Humes.
Er beginnt in seinem Treatise das Kapitel >Of abstract ideas« fol-
gendermaßen: »A very material question has been started concemiiig
abstract or general ideas, whether they be general or particular in
in the mind's conception of them«'). Nichts könnte besser zeigtn
als dies Nebeneinander der verschiedenen Adjektive in diesem einen
Satze, wie ungeschieden noch die Probleme beieinander lagen. Es
ist bekannt) wie Hume das Vorkonunen von allgemeinen Vorstel-
lungen leugnet. Mit drei Argumenten will er die individuelle Be-
stimmtheit aller Vorstellungen dartun, von denen die wichtigsten aus
dem Principium individuationis und aus der absoluten Korrespondenz
zwischen impressions und ideas geführt werden. Als ein Motiv mag
dazu gekommen sein die Rücksicht auf die Assoziationspsychologie.
Denn die Assoziationen spinnen sich zwischen den Vorstellungen, für
diese selbst aber ist einfache und unteilbare Existenz zu fordern. Von
diesen Voraussetzungen wird wie die allgemeine Vorstellung, so auch
die abstrahierende Betrachtung am Einzelobjekt, die Distinctio rationis,
unmöglich. Zur Rettung hilft beidemal dasselbe Mittel. Bekanntlich
erhält die Einzelvorstellung eine allgemeine Funktion dadurch, daß
der begleitende allgemeine Name eine Mehrheit von Einzelvorstellungen
derselben BegriflTssphäre in potentielle Bereitschaft (in power) ruft.
Den gleichen Rekurs auf eine Mehrheit von Einzelvorstellungen nimmt
er vor bei der Distinction of reason. »Es ist gewiß, der Geist würde,
da eine Gestalt und ein gestalteter Körper in Wirklichkeit weder
unterscheidbar, noch verschieden, noch trennbar sind, nie daran ge-
dacht haben, sie zu unterscheiden, hätte er nicht bemerkt, daß selbst
in dem, was anscheinend so einfach ist, doch allerlei verschiedene
Ähnlichkeiten und Beziehungen enthalten sein können. Wenn uns
beispielsweise eine Kugel von weißem Marmor vorgeführt wird, so
bekommen wir nur den Eindruck einer weißen Farbe, die in dne
Treat. Part I. sect. VII.
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über abstrahierende Apperzeption. 750
bestimmte Form gebracht ist . . . Wenn wir aber später eine Kugel
von schwarzem und einen Würfel von weißem Marmor sehen und
die beiden mit jenem ersteren Objekte vergleichen, so finden wir
zwei verschiedene Ähnlichkeiten in dem, was früher völlig untrennbar
erschien und in der Tat (!) auch ist Haben wir hierin etwas mehr
Übung erlangt, so fangen wir an, die Gestalt von der Farbe vermöge
einer Unterscheidung durch die Vernunft zu sondern, d. h. wir be-
trachten die Gestalt und die Farbe zumal, weil sie in der Tat das-
sdbe und voneinander nicht unterscheidbar sind; aber wir betrachten
sie nach verschiedenen Gesichtspunkten, den Ähnlidikeiten ent-
sprechend, welche sie mit anderen Objekten haben. Wenn wir nur
die Gestalt der Kugel aus weißem Marmor betrachten wollen . . .
richten wir . . . stillschweigend imser Augenmerk auf ihre Ähnlich-
keit mit der Kugel aiis weißem Marmor . . . Auf diese Weise be-
gleiten wir unsere Vorstellungen mit einer Art Reflexion, von der
wir jedoch vermöge der Gewöhnung nur ein sehr undeutliches Be-
wußtsein haben« '). Humes Meinung ist also die, daß die unselbstän-
digen sinnlichen Merkmale von Vorstellungen eigne psychische
Existenz nicht haben; sie kommen erst zustande durch Relationen
zu anderen Vorstellungen. Die sinnlichen Eigenschaften werden da-
mit faktisch für identisch erklärt mit begrifflichen Attributen, für die
ja der Grund in solcher Relationenbildung besteht. Wenn ich also
z. B. eine Pflanze als grün auffasse, so soll ich dabei gerade so
zu fremden Inhalten bezugnehmen, als wie wenn ich sie als Berg-
pflanze erkenne. Gewiß zeigt der phänomenale Tatbestand keinerlei
Identität dieser Erlebnisse, und die angebliche Reflexion des Be-
trachters der weißen Kugel darf man wohl getrost als eine Reflexion
Humes bezeichnen. Aber Hume hatte ja auch keine rein deskrip-
tiven Absichten, sondern wollte den inneren Erfahrungstatbestand auf
einen assoziativen Mechanismus zurückfuhren — wobei wir hier nicht
fragen wollen, wo die Humesche Erkenntnistiieorie fiir diesen Mecha-
nismus Platz ließ, auf den sie doch aufgebaut war. — Die ganze eng-
lische Psychologie jener Zeit — imd damit kommen wir auf ihre
Grundabsichten — geht von dogmatischen Voraussetzungen aus,
welche sensualistisch sind insofern, als sie den Vorstellungen, welche
') ibid. deutsch von Th. Lipps.
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^jQ Kmio Mittenzwey,
Abbilder der Außenwelt darstellen, mindestens g^öDere psychische
Wirklichkeit zuspricht *Von diesen Voraussetzungen aus interessiert
zunächst das Universalienproblem. Seine extrem nominalistische Lö-
sung gab Hume. Wenn man sich gewöhnt hat, ihm gegenüber
Locke und Berkeley als ganz oder teilweise konzeptualistisch den-
kend zu bezeichnen, so ist dies vornehmlich richtig in n^^tivem
Sinne, da sie die nominalistischen Konsequenzen in populärer Rede-
weise vermeiden: für die Eigenart von B^riffsgefiihlen und Bedeu-
tungserlebnissen fehlt ihnen bei ihren sensualistischen Voraussetzungen
noch der Sinn. Da nun aber das Universalienproblem als Problem
der psychischen Mechanik, imd zwar von der Einzelvorstellung her,
in Angriff genommen wird, so begegfnet man auf diesem Wege auch
dem Problem der abstrahierenden Betrachtung der Einzelvorstellung
und behandelt es nebenbei unter der scholastischen Etikette der
Distinctio rationis. Und das ist es, was das Abstraktionsproblem der
englischen Philosophie verdankt: die abstrahierende Betrachtung der
Einzelvorstellung wird als selbständiges Problem erkannt imd psycho-
logisch behandelt. Immerhin kam diese Selbständigkeit nicht so
deutlich zum Bewußtsein, daß sie auch nur zu einer terminologischen
Säubenmg gefuhrt hätte. Gleichwohl können wir von jetzt ab das
Verallgemeinerung^sproblem vernachlässigen und werden nur mehr
das >Distinktionenproblem«, d. h. das Problem der abstrahierenden
Betrachtung eines Einzelobjektes verfolgen.
Für dies Problem bedeutet gleichwie wie für das Universalien-
problem Humes Theorie eine letzte Vollendung des Nominalismus,
und darum haben sich später Nominalisten gern nach ihm benannt
Von seinen Zeitgenossen wurde die Theorie häufig bekämpfl, freilich
mit weniger Scharfsinn als Behagen. Man bediente sich dabei, nach-
dem die Literatur einen reicheren vulgärpsychologischen Wortschatz
entwickelt hatte, gern der »Aufmerksamkeit« zur Erklärung der ab-
strahierenden Betrachtung — wobei freilich diese Aufmerksamkeit
stets unklar und im besten Fall als ein Vermögen gefaßt wurde. So
Reid im bewußten Gegensatz zu Hume, auf dem Festland Condillac.
Zur Charakterisierung will ich hier einige Stellen gleich von einem
Schüler Condillacs, Laromiguifere, zitieren, darum weil dieser den
Hamilton fruchtbar beeinflußt hat Interessant sind die Arten der
Abstraktion, die er unterscheidet: Chacun de mes sens a . . . pour
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Ober abstrahierende Apperzeption. ^yi
objet une qualit^ speciale qui lui correspond . . . Chacun de mes
sens s^pare de toutes les autres qualit^ la qualit^ qui lui est ana-
logue; il Tabstrait"). So verblüffend diese »abstraction des sens«
zunächst erscheint, so ist sie doch gar nicht so unberechtigft. Denn
wir erleben ja die Gegenstände der Außenwelt, insofern wir sie als
Gegenstände erleben, auch in nicht sinnlich gegebenen Eigenschaften,
eventuell fremder Sinnesgebiete, die wir assimilierend dazu tun; diesen
gegenüber erscheinen die sinnlich gegebenen Inhalte apperzeptiv be-
vorzugt. — Der Abstraction des sens stellt Laromiguifere die Abs-
traction de Tesprit und die Abstraction du langage gegenüber. Alle
aber sind Leistungen der »attention qui s'arrete sur une qualit^ d'un
objet, et qui, en la faisant dominer sur les autres, Ten s^are en
quelque maniä^e, Ten abstrait«^).
Dasselbe Verhältnis zwischen Abstraktion und Aufmerksamkeit
gibt Hamilton an. »The notion of the figure of the desk before
me is an abstract idea, — an idea that makes part of the total
notion of that body, and on which I have concentrated my attention,
in Order to consider it exclusively. This idea is abstract, but it is
the same time individual«^). Diese Abstraktion fiihrt nun Hamilton
weiter zurück auf die Enge des Bewußtseins: »We have**. found
that the comprehension of the mind is extremely limited; that it can
only take cog^isance of one object at a time, if that be known with
ull intensity; and that it can accord a simultaneous attention to a
very small plurality of objects, and even imperfectly. Thus it is
that attention fixed on one object is tantamount to a withdrawal,
— to an abstraction, of consciousness from every other«*). Wir
sehen hier, wie die psychologfische Analyse schon so weit vorge-
drungen ist, daß neben dem Umfang des Bewußtseins auch die Grad-
verschiedenheit berücksichtiget wird — für die die dogmatische Asso-
ziationspsychologie absolut keinen Blick hatte. Hamilton hat diese
Gradverhältnisse besonders untersucht: ». . . attention is not a separate
faculty, or a faculty of intelligence at all, but merely an act of will
or desire, subordinate to a certain law of intelligence. This law is,
') Legons de philosophie II ^ 1823 p. 321.
«) ibid. p. 327.
3) Lectnres on Metaphysiks ^ 1870, U, p. 288.
*) ibid. p. 285.
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ß72 Knao Mittcnzwey,
that the greater the number of objects, to whidi our ccmsciousiiess
is simultaneously extended, the smaller is the intensity, widi which it
is able to consider each. ..<').
Wenn der jüngere Mill gegen Hamilton nominalistisch polemi-
siert hat, so bezog sich das wesentlich auf das Universalienproblem.
Dagegen folgt Mill Hamilton in der Auffassung der Abstraktion
als einer Funktion der Aufmerksamkeit. »The formation ... of a
concept does not consist in separating the attributes which are said
to compose it, from all other attributes of the same object, and
enabling us to conceive those attributes, disjoined from any others.
We neither conceive them, nor think them, nor cognise them in any
way, as a thing apart, but solely as forming, in combination with
numerous other attributes, the idea of an individual object But,
. . . whe have the power of fbcing our attention on^ them, to the
neglect of the other attributes with which we think them combined.
Vfhüe the concentration of attention actually lasts, if it is sufficiently
intense, we may be temporarily unconscious of any of the other
attributes, and may really, for a brief interval, have nothing present
to our mind but the attributes constituent of the concept«*). —
Bis hierher wollten wir die englische Philosophie verfolgen, weil
sie durch J. St. Mill zum letztenmal das Festland nachhaltig beein-
fhiOt hat. Genug, daß in England das Problem von einer einhelligen
Lösung wie vordem entfernt ist, daß sich Stellen bei A. Bain lesen
wie Humes Distinctio rationis, während Galton die reale typische
Vorstellung experimentell abfangen will. — Wir wenden ims jetzt der
deutschen Philosophie zu.
Die deutsche Psychologie hat bekanntlich keine so kontinuierliche
Tradition aufzuweisen wie die englische; die Ansätze des i8. Jahr-
hunderts sind seinerzeit vollständig zur Vergessenheit gebracht worden
durch die erkenntnistheoretischen Probleme des Idealismus. \A^e sehr
dieser aber eine psychologische Argumentation vermied, ist bekannt.
Wenn Kant z. B. sagt: »Wir müssen nicht sagen etwas abstrahieren
(abstrahere aliquid), sondern von etwas abstrahieren (abstrahere ab
aliquo)«^) und seitdem den Sprachgebrauch bleibend verändert hat,
*) ibid. I, p. 237
') An Examinatioii of Sir W. Hamiltons philosophy p. 321.
3) Logik § 6.
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Ober abstrahierende Apperzeption. ^n^
SO denkt er dabei gar nicht daran, psychologische Gründe dafür an-
zugeben, — und der psychische Tatbestand dürfte auch kaum seine
Neuerung befürworten. Wir übei^ehen die Problemwandlungen,
welche der Idealismus brachte, übergehen auch Herbarts') mecha-
nistische Konstruktionen (welche wesentlich zur Erklärung abstrakter
Phänomene eine Mehrheit der metaphysisch bestinmiten Vorstellungen
herbeiziehen) — und geben nur noch ein paar Worte zur Charakteri-
sierung der empirischen Forschung des 19. Jahrhunderts.
In allgemein philosophischer Beziehung brachte diese eine pein-
liche Verarbeitung des historischen Materials (man denke an Mei-
nongs erste Hume-Studien) und darüber eine DifTerenzierung der
Probleme und Begriffe. Für uns ist wesentlich die Auseinanderhaltung
der BegrifTspaare konkret-abstrakt, singulär-allgemein. Wir können
hier nicht die ganz merkwürdig schwankende Definition dieser Be-
griffe durch die logische Literatur des 19. Jahrhunderts verfolgen; es
würde auch nur ein ziemlich lai^^eiliger Katalog herauskommen.
Im speziellen bewährte sich der empirische Sinn des 19. Jahr-
hunderts in der Begründimg der exakten Psychologie. In doppelter
Weise wurde diese Disziplin unserm Problem forderlich. Emmal
lehrte sie die > einfachen« Vorstellungen der alten Assoziationspsycho-
logie als höchst komplizierte Produkte erkennen. Damit gewann ihre
Struktur, das Verhältnis der Elemente, besonderes Interesse, und
während früher die abstrahierende Bearbeitung der Einzelvorstellung
nur imtersucht wurde, weil sie zur Begriffsgewinnung führte, erscheint
ims die Begriffsbildung als eine Frage höherer Ordnung, vor deren
Beantwortung elementarere Untersuchimgen not tun. Der entdeckte
Reichtum der Elemente machte gleichzeitig einen neuen B^^ff nötig,
der zur Erklärung ihrer Rangordnung erfordert wurde, den der Apper-
zeption^). Die Anwendung dieser beiden B^riffe, der zusanmien-
gesetzten Struktur unserer einfachen Vorstellungen und der Apper-
zeption, auf das Abstraktionsproblem dienten dazu, es mit anderen
Bewußtseinstatsachen zu verbinden und in neuen Zusammenhängen
zu zeigen, es anderseits von der Verknüpfung mit dem Universalien-
problem definitiv zu lösen.
Man merkt die geschilderte Wirkung, wenn sich Wundt über
') Lehrbach zur Psychologie §§ 179, 180.
') Wandt in der Festschrift für Kano Fischer 1904, I. S. 44.
Wundt, Psychol. Studien II. 25
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3^^ Knno Bfittenzwey,
das Abstraktionsproblem z. B. folgendermaßen äußert: »SchM der
sprachliche Vorgang weist darauf hin, daß es sich hier nicht sowcdif
um eine absichtliche oder unabsichtliche Vernachlässigung ... als
vielmehr um die aktive Apperzeption bestimmter Elemente einer
Vorstellui^ handelt. Daß diese Elemente vielen Vorstellungen
gleichzeitig angehören, ist ein . . . nebensächlicher Umstand, da
weder psychologische noch logische Gründe es hindern können,
schon einer einzigen Vorstellung gegenüber eine solche auswählende
Apperzeption auszufuhren«*).
Dasselbe Verhältnis zwischen Apperzeption und Abstraktion nimmt
Th. Lipps an. Er untersucht zunächst systematisch die Arten der
Einheitsapperzeption, die er der Einzelapperzeption gegenüberstellt
Die Einheitsapperzeption zerfallt in die numerische und die kom-
plexe. Letztere kann wieder sein Verflechtung, d. i. ». . . die Verein-
heitlichung des qualitativ Disparaten« ^, und zwar entweder aprio-
rische (z. B. Höhe, Stärke und Klangfarbe) oder empirische Ver-
flechtung (z. B. Härte und Süße im Zucker). Der Verflechtung
steht gegenüber die Verwebung, d. i. »die Vereinheitlichung, in der
oder soweit in ihr Ähnlichkeit oder qualitative Übereinstimmung
das Vereinheitlichende ist«^). Sie ist entweder rein qualitativ (Akkord),
oder qualitativ und extensiv zugleich (Melodie, Wald). Wichtiger
ist die Unterscheidung der Verwebungen in empirische und aprio-
rische. Für die ersteren vergleiche man die eben genannten Bei-
spiele, für die apriorischen nennt Lipps regelmäßig Rotgelb ^). Diesen
Arten der Einheitsapperzeption entsprechen nun ebensoviel Arten
der Analyse, d. i. >die Aufhebung oder relative Aufhebung der un-
geschiedenen Einheitsapperzeption oder die apperzeptive Verselb-
ständigung von Teilgegenständen« ^. So korrespondiert der Ver-
flechtung die zerlegende, der Verwebung die differenzierende Ana-
lyse.
Unter diese Arten wird nun die Abstraktion eingeordnet. »Die
differenzierende und zerlegende Analyse a priori einheitlicher Gegen-
») Logik I. » p. 52.
*) Leitfaden der Psychologie 1903, p. 68.
3) ibid.
♦) ibid. p. 113, p. 115.
S) ibid. p. III.
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über abstrahierende Apperzeption. jye
stände könnte abstrahierende Analyse heiDen. Die durch solche
Analyse herausgehobenen Teilgegenstände sind »Abstrakta«. Mit
dieser Analyse ist jedoch die Abstraktion selbst nicht identisch. Jene
besagt, daß ich abstrakte Teilgegenstände im ganzen relativ ver-
selbständige, die Abstraktion, daD ich von solchen absehe.« Die
Abstraktion »schließt ein, daß ich in das Apperzipierte die Bezie-
hung der Zugehörigkeit zu dem, wovon ich abstrahiere, mit hinein-
nehme«. Darum ist das Abstraktum dasjenige, >in dem, bei aller
apperzeptiven Verselbständigung, jederzeit der Hinweis (I) auf ein
anderes, nämlich dasjenige, von dem ich abstrahiere, notwendig
mitapperzipiert wird ... Es ist in diesem Sinne ein ,unselb-
ständiger' Teilgegenstand ... es ist nicht ein abgetrennter, son-
dern ein in die ,unterapperzeptive Sphäre* herabweisender Gegen-
stand« *). — Ob bei der diffizilen Abgrenzung von Abstraktion und
abstrahierender Analyse nicht der leidige Sprachgebrauch des »ab-
strahieren von« im Spiele gewesen ist? Jedenfalls, wenn es das
Merkmal der »a priori einheitlichen« Gegenstände ist, daß die apper-
zeptive Verselbständigung ihrer Teile nur unvollkommen gelii^, so
kann dies Merkmal nicht noch einmal verwandt werden, um von der
abstrahierenden Analyse dieser Gegenstände die Abstraktion abzu-
grenzen. Über das Zustandekommen aber der Abstraktion lehrt
Lipps: »Die geflissentliche Abstraktion kommt im gegebenen
Falle zustande, indem irgendwelches Moment in uns auf die Apper-
zeption des Gegenstandes der abstrahierenden Apperzeption hinwirkt
und nicht zugleich mit hinwirkt auf die Apperzeption dessen, wovon
abstrahiert werden soll. Es vollzieht sich dann eine Absorption
dieses durch jenes. Jede Abstraktion ist eine solche Absorption«*).
Damit ist gerade die aktive Abstraktion zurückgeführt auf die Ab-
sorption, d. h. auf das »Sichverlieren der Vorgänge« 3). Wir wollen
die eigenartige Vorstellungsmechanik, die mit dieser Reduktion er-
strebt wird, nicht näher darstellen und nur anmerken, daß diese,
wie alle solche Konstruktionen, der Aktivität der geflissentlichen Ab-
straktion nicht gerecht zu werden scheint. Lipps scheint das ge-
«)ibid. p. 115 f.
*) ibid. p. 123.
3) ibid. p. 103. — Ober psychische Absorption, Sitznngsber. der btyr. Akademie,
phil.-bist. Kl. 1901 p. SA9^'
25»
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^^5 KoDO Mittenzwey,
legentlich in seinem Aufsatz »Über psychische Absorption« selbst
zu fühlen« Denn während er da erst versichert: »Die heraus-
sondernde Abstraktion könnte aligemein als abstrahierende bezeichnet
werden . . . Abstraktion im engeren Sinne ist diejenige heraussondemde
Absorption, die am unmittelbarsten als solche auffallt«, wendet er
dann selbst ein : »Indessen zur Abstraktion gehört . . . noch mehr,
^Abstraktion' ist immer mein Abstrahieren, d, h. es liegt in
dem Abstrahieren das Moment der Aktivität . , . Demgemäß ist auch
die heraussondernde Absorption, die den darakter der ,Forderung'
hat, nicht eigentiich , Abstraktion*«'). — Um die Darstellung voll-
ständig zu machen, müßten wir nun noch den Li pps sehen Apper-
zeptionsb^^ifT entwickeln, insbesondere in den Abweichungen von
Wundt Doch würde auch dies zu weit fuhren; hier war wesent-
lich nur auf das übereinstimmende Verhältnis hinzuweisen, in dem bei
beiden Schriftstellern die Abstraktion zur Apperzeption steht.
Damit haben wir die Auflassung des Abstraktionsproblems durch
die Apperzeptionspsychologie in deren beiden bedeutendsten Ver-
tretern charakterisiert. Demgegenüber kann sich eine kleinere Zahl
von Psychologen, besonders die der österreichischen Schule, zur
Annahme des ApperzeptionsbegrifTes nicht entschließen und behält
zur Erklärung der Abstraktion den vulgären AufmerksamkeitsbegrifT').
Immerhin erkennt sie in Übereinstimmung mit der Apperzeptions-
psychologie die reale psychische Besonderheit der Abstraktions-
phänomene an.
Dagegen wird diese nominalistisch in Abrede gestellt von einer
Richtung^), die Humes Theorie neu beleben will. Dies geschah
») 1. c. p. 580.
') Meinong, Humestadien I. Berichte der Wiener Akademie 1877, phil.-hist.
Klasse p. 193, 200. — Vgl. auch die folgende Anmerkting.
3) Die Diskussion über diese Frage ist eigentümlich verschränkt mit der über
die Gestaltqnalitäten. Da sie jetzt abgeschlossen scheint, so ist vielleicht eine Über-
sicht über die Literatur willkommen:
1. Zuerst fundierte Ehrenfels die »Gestaltqualitäten«. Ztsch. f. wiss. Philo-
sophie 1890 p. 249 ff.
2. Meinong, >Zur Psychologie der Komplezionen und Relationen«, Ztsch.
f. Psych, u. Physiol. II p. 245 ff, akzeptierte sie im wesentlichen.
3. Schumann gab der Diskussion einen neuen Anstoß durch Veröffentlichung
der Müll er sehen Abstraktionstheorie (Ztsch. f. Psych. XVII p. 107 ff.), in deren
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Ober abstrahierende Apperzeption. 3yy
zunächst durch G. E. Müller*), der aber keine besondere Veröffent-
lichung darüber gegeben hat Dagegen hat sich die Weiterbildung
dieser Theorie besonders Cornelius angelegen sein lassen. Die
Erklärung ist wesentlich dieselbe wie bei Hume; sie geschieht eben-
falls mit Hilfe der Ähnlichkeitsrelation, die sich in »Ähnlichkeits-
reihen« betätigen soll. »Ein . . . Abstrahieren ist nichts anderes als
das . . . Unterlassen einer Vergleichung mit Rücksicht auf ii^end-
welche Ähnlichkeitsreihen, denen der . . . Inhalt noch angehören mag,
abgesehen von derjenigen, innerhalb deren man augenblicklich eine
Relation desselben zu anderen Inhalten konstatiert hat«*). Aber die
Motive dieser Reduktion sind reicher. Wohl wird auch noch im
Geist der Assoziationspsychologie die Untrennbarkeit der einfachen
Vorstellung behauptet^). Daneben wird aus Gründen der Denk-
ökonomie erstrebt, die psychologischen Tatsachen auf eine möglichst
geringe 2^hl von Begriffen, wenn auch mit rationalistischer Ver-
gewaltigui^, zu reduzieren. Als so ein zurückzuführender B^^riff
wird ganz dogmatisch plötzlich im Fortgang des Systems die Auf-
merksamkeit erklärt*), und zwar wird sie zurücl^efiihrt auf die
Wiedererkennung, deren Einfachheit behauptet wird. Neben diesem
dogmatischen hat dann Cornelius noch einen genetischen Gesichts-
Verfolg er die Gegenstände höherer Ordnung ablehnte. Ihm entgegnete betreffs der
letzteren
4. Meinong, »Ober die Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältnis
zur inneren Wahrnehmung«, Ztsch. f. Psyohol. XXI, p. 182 ff. Jetzt wollte
5. Cornelius >Über Gestaltqualitäten«, Ztsch. f. Psych. XXII, p. loi ff. rer-
mittein, indem er die Gestaltqualitäten gerade aus der Schumann-Müllerschen
Abstraktionstheorie herleiten wollte. Ihm trat entgegen
6. Lipps, >Zu den Gestaltqualitätcn«, Ztsch. f. Psych. XXII, mit der These,
daß die Ähnlichkeit die Abstraktion voraussetze, dsgl.
7. Mally, »Abstraktion und Ähnlichkeitserkenntnis«, Archiv f. System. Philos.
VI, 1900 p. 291 ff, endlich
8. »Meinong, Abstrahieren und Vergleichen«, Ztsch. f. Psych. XXTV, 1900
p. 34 ff. In diesem Aufsatz äußert sich Meinong lediglich zum Abstraktionsproblem,
wobei er die »Abstraktionsansicht« der »Vergleichsansicht« gegenüberstellt (p. 37).
Auf diese Angriffe hat dann nochmals
9. Cornelius geantwortet: »Zur Theorie der Abstraktion«, Ztsch. f. Psych.
XXIV, p. 117 ff.
*) Vgl. vorige Anmerkung 3.
') Psychologie als Erfahrungswissenschaft 1897 p. 5$.
3) Einleitung i. d. Philosophie 1903 p. 182.
^) Psychologie p. 35.
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9nS Kuno Mittenzwey,
punkt geltend gemacht: »An einem Ton ohne gleichzeitigen Hin-
weis auf andre Töne kann ich einem Kinde, das jene Begriffe noch
nicht besitzt, den Unterschied von Höhe und Klangfarbe nicht klar
machen. Die Begriffe dieser Merkmale erhalten erst durch die Er-
fahrungen ihren Inhalt, welche an einer Reihe von Tönen verschie-
dener Höhe, an Klängen verschiedener Klangquellen gemacht wer-
Werden« *). Wir wollen von diesem psychogenetischen Abstraktions-
problem wohl Notiz nehmen. —
In eigentümlicher Weise nähert sich endlich Külpe der alten
Lehre vom »inneren Sinn«. Er ist zugleich m. W. der einzige, der bis
jetzt die Abstraktionsvorgänge zum Gegenstand besonderer Experi-
mente gemacht hat'). Die Versuche tragen anscheinend einen sehr
vorläufigen darakter: ihre Zahl ist ziemlich gering, die dargebotenen
Objekte waren zu kompliziert (Silben), die nebeneinander gestellten
Aufgaben ganz unvergleichbar (Aussagen über »Zahl, Farben, Figur,
Elemente«) und nicht bei gleichartiger Apperzeptionslage zu lösen.
Aber interessant sind die theoretischen Folgerungen, zu denen Külpe
kommt. »Ich lege Wert darauf zu konstatieren, daß in den Ab-
straktionstatsachen unmittelbare Bewußtseinsphänomene vorliegen . . .
Die Vp. glaubten tatsächlich die Eindrücke in der angegebenen Un-
bestimmtheit zu sehen, bzw. tatsächlich keine Farbe . . . wahrgenom-
men zu haben. Da nun die Psychologie als Wissenschaft den Emp-
findungen r^elmäßig bestimmte Eigenschaften beilegt, sie aus be-
stimmten Teilinhalten bestehen läßt, so geht daraus hervor, daß sie
zwischen den psychischen Vorgängen und dem Bewußtsein von ihnen
unterscheidet . . . Daß dieser Unterschied gemacht werden muß, . . .
daß m. a. W. die alte Lehre von einem inneren Sinn . . . eine
zeitgemäße Erneuerung finden muß — das ist das prinzipielle Er-
gebnis, das ich meinen Versuchen entnehmen möchte . . . Für unser
Bewußtsein gibt es demnach abstrakte Vorstellungen, für die psy-
chische Realität gibt es nur konkrete Vorstellungen. Damit sei zu-
gleich der alte Streit zwischen Nominalismus und Realismus seiner
Entscheidung näher gefuhrt.« Auf die erkenntnistheoretischen Be-
denken gegen diese Auffassung will ich hier nicht näher eingehen;
») Ztsch. f. Psych. XXIV p. 119.
*) Bericht üb. d. I. Kongreß für cxperiment. Psycholog, in Gießen 1904 p. 56 ff.
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Ober abstrahierende Apperzeption. -i^n
auf die experimentellen Resultate Kiilpes und ihr Verhältnis zu
den in der folgenden Untersuchung gewonnenen werde ich am Schluß
zurückkommen.
Die Entwicklung der Problemstellung«
I.
So schematisch auch der historische Überblick nur gegeben wer-
den konnte, so wird er doch genügen, um die ganze Weite des
Problems und zugleich den elementarsten Angriffspunkt erkennen zu
lassen. Wir werden uns beschränken auf das Studium der abstra-
hierenden Beachtui^, die sich an der individuellen und zwar sinnlich
gegebenen Vorstellung vollzieht Damit schalten wir alle Fragen
der sog. generalisierenden Abstraktion aus. Wir beabsichtigen nicht,
wie Mi 11 u. a. wollten, durch die Abstraktheit des beachteten Merk-
mals seine Funktion in allgemeiner Bedeutung zu erklären. Wir
en^ehen damit dem Vorwurf, der mit Recht g^en die »Aufmerk-
samkeitstheoretiker« geltend gemacht worden ist, daß nämlich dais
Beachten eines Merkmals dessen Individualität nicht behebt. Diese
Abstraktion an der einfachen Vorstellung wollen wir als Gradver-
stärkung zu erweisen suchen und damit dem allgemeinen Begriff der
Apperzeption subsumieren. Dieser Erweis wird zu erbringen sein
durch experimentelle, womöglich messende Beschreibung. Bestimmen
wir also die Abstraktion in ihren generellen Eigenschaften als Apper-
zeption, so erhält sie ihre spezifische Determination als abstrahierende
Apperzeption durch die Art der Inhalte, an denen sich die Apper-
zeption vollzieht. Diese sind Merkmale einer Vorstellung, »unselb-
ständige Teilinhalte«, »Idealteile«. — Das imgenügende dieser Be-
stimmung zwingt uns zu näherer Überl^img.
Wir können uns hier zum Zweck der Verständigung eine syste-
matische Betrachtui^ dieser Teilinhalte oder Merkmale nicht er-
sparen, gibt es doch für sie und ihren Zusammenhang nicht einmal
einheitliche Bezeichnungen in der Literatur. Wir schalten dabei zu-
nächst die Merkmale aus, über deren Bezeichnung die größte Ver-
schiedenheit herrscht, nämlich diejenigen, welche nur Gesamtvor-
stellungen zukommen, und beschränken uns auf die Merkmale der
»einfachen« Vorstellungen. Dabei nehmen wir »einfach« im Sinne
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3 So Knno Mittenzwey,
der apperzeptiven Einfachheit, daß nämlich die Vorstellungen weder
in einfachere unmittelbar »von selbst« zerfallen, noch in höhere Ein-
heiten eingehen. Es ist das derselbe Begriff der einfachen Vorstel-
lung, wie er bei den Apperzeptionsmessungen meist praktisch ver-
wendet wurde, derselbe Begriff, den die Assoziationspsychologie mit
ihren > einfachen Ideen« meinte. Solchen einfachen Vorstellungen
kommen nun zunächst dieselben Merkmale zu wie den Empfin-
dungen, aus denen sie aufgebaut sind. Wir nennen dabei Merkmal
die individuelle Bestimmtheit, also z. B. die bestimmte Farben-
qualität, den bestimmten Helligkeitsgrad. G. E. Müller nennt dies
»Modifikationen«*). Die Mannigfaltigkeit, welcher der bestimmte
Qualitäts- oder Intensitätsgrad angehört, heißt vulgär »Seite«, »Hin-
sicht«; wir wollen außerdem die Bezeichnungen »Dimension«, »Kon-
tinuum«') verwenden, dagegen werden wir die sehr übliche Bezeich-
nung »Richtung« später als doppeldeutig ablehnen. G. E. Müller
spricht hier von »Modifikationsart«. Solche Kontinuen sind zimächst
die intensiven und qualitativen. Jede einfache Vorstellung ist nun
ein eigentümliches Zusammen von individuellen Merkmalen innerhalb
dieser Kontinuen (Lipps hat für diese Vereinigung individuell be-
stimmter Merkmale die Bezeichnung »apriorisch einheitiicher Gegen-
stand«^).
Außerdem gehört jede Vorstellung einer extensiven Ordnungs-
form an. Der einfachen Empfindung schreiben wir das Zeit- und
ev. das Lokalzeichen zu. Die einfache Vorstellung aber besteht
stets aus einer Sunmie von Empfindungen. Nun zeigt es sich, daß
der Intensitäts- und Qualitätsgrad einer Mehrheit von Empfindungen
konstant sein kann, daß aber ihre Zeit- und Lokalzeichen notwendig
voneinander verschieden sind, wenn überhaupt von einer Mehrheit
von Empfindungen soll gesprochen werden können. Also können
in einer Vorstellung wohl qualitativ und intensiv gleiche, es müssen
aber notwendig extensiv verschiedene Empfindungen beieinander sein.
Die Folge ist, daß zur Bestimmung des Qualitäts- und Intensitäts-
grades einer Vorstellung u. U. je eine absolute Angabe genügt,
») Ztech. f. Psych. XVH, p. 107.
') Die Bezeichntmgen hier und im folgenden im allgemeinen nach Wnndt,
z. B. Grandriß § 17, 7.
^) Leitfaden z. B. p. 113.
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Ober abstrahierende Apperzeption. 38t
nicht aber zur extensiven Bestimmung. Denn jede Vorstellung weist
auDer der absoluten Lage in Raum und Zeit in sich selbst eine
extensive Beschaffenheit auf als zeitliche Dauer und ev. als räum-
liche Ausdehnung. Die Vereinigung, die die extensiven Merkmale
der Empfindungen in der Vorstellung eingehen, heißt seit Wundt
fast allgemein Verschmelzung — die österreichische Schule sieht
darin eine »Gestaltqualität«.
Jede Vorstellung weist nun ebenso notwendig extensive wie in-
tensive imd qualitative Merkmale auf. Man hat sich darum ge-
wöhnt, die Merkmale der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung den
intensiven und qualitativen Merkmalen zu koordinieren. Wir dürfen
aber dabei nicht vergessen, daß räumliche und zeitliche Ausdehnung
Verschmelzungsprodukte aus den eingehenden Empfindungen sind,
daß es praktisch gesprochen Intensitäts- und Qualitätsunterschiede
sind, mit deren Hilfe wir die Grenzen einer Ausdehnung wahr-
nehmen, daß es m. a. W. der psychologischen Analyse gelungen
ist, über die Vorstellungen hinaus zu den Empfindungselementen
vorzudringen, welchen von der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung
der Vorstellungen nur das Raum- und Zeitzeichen verbleibt. Wir
müssen schon hier auf das verschiedene Verhältnis der Merkmale
der verschiedenen Kontinuen einer Vorstellung zu den eingehenden
Empfindungen hinweisen, weil wir nur so späterhin ihre verschie-
dene apperzeptive Geltung werden verstehen können. Um es noch-
mals zu wiederholen: die extensiven Merkmale sind im eminenteren
Sinne Verschmelzimgsprodukte; sie sind zugleich die reicheren Merk-
male, weil sie außer der absoluten Orientierung in den extensiven
Ordnungsformen das extensive Auseinander der Vorstellung in sich
selbst, die Ausdehnung, aufweisen.
Mit diesem Vorbehalt können wir das Zusammenbestehen der
extensiven, intensiven und qualitativen Merkmale in einer Vorstel-
lung ohne Gefahr ab Koordination betrachten. Wir erleben dies
Zusammen als ein notwendiges, in gewissem Sinne unlösbares (von
der Verschiedenheit der Bewußtseinsgrade sehen wir hier noch ab).
Höfler spricht darum hier von »vorfindlichen Komplexionen«"). In
') Psychologie S. 149. Die Bezeichnung als > Komplexion« nach Meinong,
vgl. Ztseh. f. Psych. Xu, S. 355: »Wer die Farbe ausgedehnt vorstellt, steUt eine
Komplexion vor.«
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ßS2 Kano Mittenzwey,
bezug auf diese notwendige Verknüpfung erscheint dann das einzeln^
Merkmal als »unselbständiger Inhalt« oder »unselbständiger Teil«.
Dieser Zusammenhang ist aber nicht derart, daß etwa eine bestimmte
Farbe notwendig eine bestimmte Ausdehnung haben müßte; die
konkrete Ausdehnung ist beliebig, notwendig ist nur, daß sie über^
haupt Ausdehnung hat und diese Ausdehnung individuell (wenn auch
ev. unklar) bestimmt ist. Wir können diese Tatsache gleich mit
den oben gewonnenen Begriffen ausdrücken und werden dann sagen:
Unselbständigkeit besteht nicht zwischen Merkmalen oder Inhalten,
wie man in Nachwirkung der Argumentation aus dem prindpium
individuationis immer wieder zu lesen bekommt'), sondern zwischen
Kontinuen. Unselbständig nennen wir ein Kontinuum, in welchem
kein bestimmtes Merkmal gegeben sein kann, ohne daß in einem
oder mehreren anderen bestimmten Kontinuen ein beliebiges, aber
individuelles Merkmal gegeben ist. Wir gründen also unsere* Defi-
nition nicht auf die Unmöglichkeit der Realteilung konkreter Merk-
male in der Außenwelt, sondern auf die psychische Tatsache der
mehrfachen Bestimmung jeder Vorstellung in zusammenhängenden
Kontinuen.
Wir haben die oft diskutierte Unselbständigkeit von Teilen er-
kannt als Unselbständigkeit verwandter Kontinuen, innerhalb welcher
beliebige Merkmale gegeben sind. Dies fuhrt uns darauf zu über-
legen, ob eine analoge Unselbständigkeit besteht innerhalb eines
Kontinuums zwischen eng beieinander liegenden Bestimmungen. Hier
ist nun bekannt, daß ein Inhalt in gewissem Sinne psychisch un-
selbständig ist gegenüber seiner Umgebung. Wir können eine Linie
nicht apperzipieren, ohne ihre nächste Umgebung mit zu apperzi-
pieren. Man sieht an solchen und verwandten Beispielen, wie mit
einem Merkmal die unmittelbar benachbarten in ganz ähnlicher Weise
mit aufgefaßt werden, wie mit der Farbe die Ausdehnung oder Hellig-
keit, natürlich mit viel geringerem Bewußtseinsgrad, der sich mit
Entfernung vom Hauptinhalt bald der Null nähert Diese Unselb-
ständigkeit eines Inhaltes gegen die Umgebung ist in der älteren
Literatur ziemlich vernachlässigt worden. In ihrer außenweltiichen
Denkweise glaubte sie mit der unbeschränkten Variabilität eines
') Zum Ganzen Hnsserls Untersuchting: Znr Lehre von den Ganzen und den
Teilen — im zweiten TeU der logischen Untersnchnngen.
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Ober abstrahierende Apperzeption. ^g^
Gegenstandes gegen seine Umgebung auch seine psychische Selb-
ständigkeit gegeben. Heute ist die Mitapperzeption der Umgebung
im extensiven Kontinuum geläufig; am deutlichsten stellt sie sich
dar in den Erscheinungen des binokularen Kontrastes. Daneben
mag sie auch in den intensiven und qualitativen Kontinuen bestehen,
worauf aber hier nicht näher eingegangen werden soll. Nur soviel sei
bemerkt, daß mir darin die Tatsache der Unterschiedsschwellen zu
gründen scheint — wohlgemerkt nur die Tatsache, daD es Unterschieds-
schwellen gibt, nicht ihr GröDengesetz usw. Denn zugegeben, daß
die Apperzeption z. B. eines Intensitätsgrades sich ebenso über ein
gewisses intensives Bereich ausbreitet wie die Apperzeption eines
Striches über seine Umgebung, daß also die unmittelbar benach-
barten Grade mitapperzipiert sind mit einem zwar schnell fallenden,
aber stetig fallenden Bewußtseinsgrad — so folgt daraus unmittelbar,
daß erst ein gewisses Intervall überschritten sein muß, ehe ein zweiter
Grad zur apperzeptiven Selbständigkeit gelangen kann.
Mit dieser letzteren Art der Unselbständigkeit aber werden wir
uns nur gelegentlich beschäftigen. Wir werden vornehmlich zu tun
haben mit unselbständigen Inhalten im vorher behandelten Sinne,
welche identisch sind mit den »abstrakten« Inhalten im ausgesproche-
nen Sinne, und werden die Mitbeachtung der Umgebung nur ge-
legentlich erwähnen, um sie mit der Mitbeachtung der Hinsichten in
Beziehung zu setzen. —
Wir haben im vorstehenden die Merkmale einer Vorstellung nur
in ihrer Unselbständigkeit diskutiert, ohne sonst die Art ihres Vor-
kommens näher zu berücksichtigen. Es wäre ja möglich, daß all
diese Merkmale nichts wären als die begrifflichen Produkte eines
reflektierenden Denkens, das die betrachtete Vorstellung mit anderen
in Beziehung setzte, wie ähnlich Hume meint. Dies würde zu-
treffen, wenn eine Vorstellung stets nur im ganzen einen bestimmten
Bewußtseinsgrad besäße. Dann könnten wir die Vorstellungen mit-
einander in Relationen bringen und auf Grund dieser Relationen
gewisse Prädikate von ihnen aussagen; aber diese Prädikate wären
nicht Merkmale im Sinne unmittelbar anschaulicher Teilinhalte, son-
dern begriffliche Attribute. Demgegenüber zeigt nun schon die all-
tägliche Erfahrung, daß ein Merkmal sehr wohl einen besonderen
Bewußtseinsgrad erhalten kann, vor allem in dem extremen Fall
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ig^ Knno Mittenzwey,
der heraushebenden Beachtung. Hier erlebt man unmittelbar, wie
das beachtete Merkmal einen Grad>rorrang vor den anderen erhält.
Bei der unpointierten Auffassung dagegen ist man geneigt, den
Merkmalen völlige Einheit und Gradgleichheit zuzuschreiben, und
man fragt nun: Wie ist es der Abstraktion möglich, durch bloDen
Willensimpuls aus der Einheit eine Vielheit zu machen?
In dieser groben Fassung macht das Abstraktionsproblem den
Eindruck des absolut Rätselhaften. Um hier weiter zu kommen,
müssen wir vor allem die Gradverhältnisse der Merkmale bei un-
pointierter Auffassung untersuchen. Wenn es uns gelänge nachzu-
weisen, daß gegenüber der vulgären Meinung die einzelnen Teil-
inhalte bereits an der unpointierten Auffassung mit verschiedenem
Grade beteiligt sind und also schon eine gewisse Gradselbständigkeit
aufweisen, so würde offenbar der rätselhafte Unterschied gegenüber
der Besonderung selbständiger Inhalte beseitigt, und vom Problem
der abstrahierenden Apperzeption bliebe nur das Problem der Apper-
zeption überhaupt.
II.
Wir finden uns auf diese Weise zurückgeführt auf die allgemeine
Tatsache der Verschiedenheit der Inhalte nach ihren Bewußtseins-
graden. Diese Tatsache hat bekanntlich ihren Ausdruck gefunden
in der begrifflichen Unterscheidung der perzipierten und apperzipierten
Inhalte. Dabei bedeuten »perzipiertc und »apperzipiertc lediglich
Gradunterschiede, zwischen denen ein stetiger Übergang besteht
Es kann mir nun nicht beikommen, die verschiedenen Gestaltungen
des ApperzeptionsbegrifTes etwa ebenso zu untersuchen, wie oben
die des Abstraktionsbegriffes. Es genüge die Bemerkung, daß die
ganze Untersuchung orientiert ist am Wundt sehen Apperzeptions-
begriff. Wir wollen nur noch einige Erinnerungen geben und Be-
griffsabgrenzungen vornehmen, die uns dienen werden, die Formu-
lierung der Aufgabe und der Resultate zu erleichtern.
Das »alleinbestimmende objektive Merkmal« der Apperzeption
findet Wundt in der »relativen Klarheit der Bewußtseinsinhalte«*).
Hält man dies zusammen mit seinen Definitionen der Apperzeption
*) Phys. Psych. III 5, p. 349.
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Ober abstrahierende Apperzeption. tgc
ab »Eintritt in den Blickpunkt«') des Bewußtseins oder als »Vor-«
gang, durch den irgend ein psychischer Inhalt zu klarer Auffassung
gebracht wird«'), so könnte es scheinen, als würde in jenem aus-
schließlichen Merkmal der Klarheit einseitig nur der Erfolg der
Apperzeption im Sinne des Eintritts, nur das Eingetretensein be-
rücksichtigt Man muß sich aber daran erinnern, daß ein solcher
Klarheits»zustand«, wie alles seelische Leben, sich als ein Geschehen
darstellt, daß also die Klarheit dem apperzipierten Inhalte gewisser-
maßen immer von neuem gewonnen werden muß. So gefaßt, er-
scheint die Apperzeption als das Geschehen, in welchem ein psy-
chischer Inhalt einen größeren Klarheitsgrad hat bzw. fortgesetzt
behauptet. Der Vorgang, durch welchen ein Inhalt den Klarheits-
grad neu gewinnt, erscheint dann lediglich als ein spezielles Stadium
in diesem Geschehen. Dies schließt natürlich nicht aus, daß wir
die zwei Phasen scharf werden unterscheiden müssen: Klarheits-
gewinnung und Klarheitsbehauptung, Klarerwerden und Klarersein.
Daß aber am Apperzeptionsvorgang zwei solche Phasen unterschie-
den werden können, liegt nicht etwa an einer unreinlichen B^^ffs-
bildung, sondern daran, daß die Apperzeption Willenshandlung ist
und als solche zureichend nur durch einen Verlauf und durch einen
Erfolg definiert werden kann.
An dieser Unterscheidung der beiden Stadien des Apperzeptions-
verlaufs sind nun die beiden Arten der phänomenalen Merkmale, die
objektiven und die subjektiven^), in verschiedenem Maße beteiligt.
Den Apperzeptionserfolg können wir an der größeren Klarheit der
objektiven apperzipierten Vorstellung leicht erweisen. Dagegen
können wir den Prozeß der Klarheitszunahme an der objektiven
Vorstellung nur sehr ungenügend beobachten; es gelingt höchstens
bei gewaltsamer experimenteller Zerlegung in die einzelnen Apper-
zeptionsstufen^). Hier 'sind wir darum zur Charakterisierung vor-
nehmlich auf die subjektive Seite des Tatbestandes verwiesen. Wir
finden hier bei der aktiven Apperzeption den eigenartigen Impuls,
bei passiver den Gefühlschok. Ist aber die Apperzeption erreicht,
') Ebenda p. 333.
«») Grundriß § 15, 4.
3) Diese Unterscheidung nach der Fassung Wnndts Phyi. Psych. HI 5 p. 341.
^) Phys. Psych. III 5, p. 337 oben.
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^86 Kuno Mittenzwey,
die Klarheit hergestellt, so bleiben die subjektiven Merkmale erhalten
in dem Tätigkeitsgefühl usw., kurz als »Aufmerksamkeit«. Eben ein
Beweis, daß die Klarheit immer von neuem erworben sein will.
Der Apperzeptionserfolg, die Klarheit, ist also sowohl nach der
subjektiven wie nach der objektiven Seite charakterisiert Macht
man einseitig nur die Merkmale der einen Art zum Kriterium der
Apperzeption, so kommt man auf Schwierigkeiten. Nehmen wir
z. B. an, es werden eine größere Zahl Buchstaben tachistoskopisch
dargeboten und der Beobachter gibt an, er habe nichts Deutliches
gesehen. Dann pflegt man zu sagen, die Buchstaben seien nicht
apperzipiert worden. Aber anderseits sind doch alle subjektiven
Merkmale einer Apperzeption vorhanden, denn der Beobachter hat
es gewiß an Aufmerksamkeit nicht fehlen lassen. Das lUtsel löst
sich, wenn man das Maß des »klar und deutlich« nicht dem objek-
tiven »Reiz« entnimmt, hier den Buchstaben, welche gelesen werden
sollen, sondern dem relativen Verhältnis zu anderen Bewußtseins-
inhalten. Tatsächlich hat in unserem Falle eine Apperzeption statt-
gefunden: apperzipiert worden ist eben der Gesamteindruck, welcher
wohl undeutlich war im Verhältnis zu der Erkennbarkeit, die für die
objektiven Gegenstände unter günstigsten Bedingungen erreicht wer-
den konnte, aber klar und deutlich als Bewußtseinsinhalt gegenüber
den gleichzeitigen Inhalten.
Unsere Fassung der Apperzeption als einer aktuellen Tätigkeit
verflüchtigt den Unterschied zwischen der Klarheitsverstärkung am
konstant gehaltenen Objekt und der im Fortgang von einem Inhalt
zu einem anderen. Letztere Gradverstärkung, die dadurch zustande
kommt, daß an einem Punkte der kontinuierliche Fortgang gestört
ist, hat man bekanntlich als besonderes Phänomen angesprochen und
als »Stauung« bezeichnet*). Tatsächlich ist das Initialstadium jeder
passiven Apperzeption eine solche Stauung. Immerhin werden wir
die Bezeichnung wegen ihrer Prägnanz gern benutzen und besonders
von »abstrahierender Stauung« reden, wenn sie sich an einem ab-
strakten Merkmal vollzieht; nur müssen wir uns dabei gegenwärtig
halten, daß sich auch diese Erscheinung dem Apperzeptionsb^[riff
unterordnet.
') Lipps, Leitfaden p. 109 ff.
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Ober abstrahierende Apperzeption. ^gy
Nachdem wir im vorstehenden die Definition der Apperzeption
idurch den Klarheitsgrad durchgeführt haben, müssen wir die Apper-
zeption noch nach außen hin abgrenzen gegen die Erkennung. Denn
die Vernachlässigung dieser Unterscheidung scheint mir die Inter-
pretation mancher Versuchsergebnisse, z. B. der von Erdmann und
Dodge"), empfindlich zu beeinträchtigen.
Dazu müssen wir festhalten: während die Apperzeption durch
den Klarheit^ad bestimmt ist, ist die Erkennung Assimilations^
efTekt; fiir den Begriff der Assimilation aber ist wesentlich, daß er
eine Nachwirkung früherer Erlebnisse umfaßt Im Begriff der Assi*
milation findet sich also von einem Merkmal der Klarheit zunächst
gar nichts. Allerdings können Assimilationen objektive Ursachen
der Apperzeption werden und damit Klarheit bewirken, z. B. wenn
aus einer Summe gleichzeitiger Eindrücke ein kurz vorher gesondert
apperzipierter herausgehoben wird^). Doch können sie auch kon-
trastierend (Neuheit) und apperzeptionsmindernd (Gewöhnung) wirken,
und jedenfalb sind sie ja nicht die einzigen Ursachen der Apper^
zeption.
Nun findet sich freilich eine durchaus regelmäßige Zuordnung
zwischen Assimilation und Apperzeption anscheinend in der Erken-
nung. Tatsächlich können wir ja kaum apperzipieren, ohne zu er-
kennen. Diese Zuordnung läßt sich weiter dahin durchfuhren, daß
verschiedenen Apperzeptionsgraden anscheinend verschiedene Er-
kennungsgrade im Fortschritt von der unbestimmten generellen Er-
kennung zur speziellen entsprechen. Infolgedessen ist es begreiflich,
wenn man die Apperzeption überhaupt in ein Erkennen hat auf-
lösen wollen und die beachteten Teile für erkannte erklärt hat^).
Dagegen ist an die Fälle zu . erinnern, wo man einen Inhalt trotz
aller Beachtung nicht erkennt, bis plötzlich vielleicht mit starker Ge-
fiihlsbetonung die richtigen Assimilationen gefunden werden und die
Erkennung sich einstellt Man wende nicht ein, daß in diesen Fällen
*) Psychol. Untersnchnngen über das Lesen, Halle 1898. Die Gleichsetznng von
Apperzeption und Erkennen dnrcbans, ebenso p. 145 Verkenmingen ^ falsche
Apperzeptionen.
*) Wnndt, Phys. Psych. lü 5, p. 336.
^) Cornelius, Psychologie p. 135 f. Cornelius Terwendet >WiedererkennQngc
im Sinne Ton Wnndts >ErkennQng<.
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jgg Kano Mittenzwey,
neue Elemente aufgefaßt werden, daß also die verschiedenen Fhasea
sich nicht als Beachtung und Erkennung, sondern als verschiedene
Auffassungs- und parallele Erkennungsstufen voneinander unterschei-
den. Denn dies zugegeben — zugegeben, daß ich neue Elemente
apperzipiere, wenn ich eine undeutliche Gestalt im Dunklen plötzlich
als Busch erkenne, wenn ich ein etwas merkwürdiges Stück Birken-
reisig plötzlich als Raupe eines Birkenspanners erkenne: so sind es
jedenfalls nur Teile, die zum Apperzeptionsbestand hinzutreten,
während durch diese Teile die ganze Assimilationslage verändert
wird. Die Unterscheidung zwischen Apperzeption und Erkennung
stellt sich somit wieder ein.
Schwieriger ist zu sagen, ob auch der gegenteilige Fall vorkommt,
daß man etwas erkennt, ohne es zu beachten. Man denke hier an
die Fälle, wo wir innerlich beschäftigt spazieren gehen und doch
wohl wissen, ob wir zwischen Häusern oder im Freien sind, wo wir
nicht angeben können, ob wir unsere Tür verschlossen haben oder
nicht, obgleich doch auch zum mechanisierten Verschließen wohl
nötig war, daß wir das Schlüsselloch erkannten.
Jedenfalls erleben wir den phänomenalen Unterschied zwischen
dem Tätigkeitsgefühl der Beachtung und dem Erkennungsgefühl und
sind schon deshalb zur Unterscheidung von Apperzeption und Er-
kennung berechtigt.
Was nun die objektive Seite der Apperzeption im speziellen an-
betrifft, so ist es eine der bekanntesten Tatsachen, daß wir ihr einen
begrenzten Umfang zuschreiben. Diesen Umfang pflegt man in der
Regel anzugeben durch >Einheiten<, wobei als Einheiten zunächst
Einheiten im oben definierten Sinne, dann auch »höhere« Einheiten
dienen. Wir sehen aber sofort, daß eine solche Umfangsbestimmung
unvollständig ist. Denn wir haben ja eben gezeigt, daß eine solche
einfache Vorstellung selbst wieder ein komplexes Zusammen von
Merkmalen ist. Darum ist es wohl möglich, daß bei einer Umfangs-
angabe von etwa fünf Vorstellungen diese Vorstellungen nur mit einem
Merkmale in den Apperzeptionsumfang eingehen. Tatsächlich kommt
ja z. B. bei den Leseversuchen nur der Form der Buchstaben ein
solcher Bewußtseinsgrad zu, welchen wir mit »Apperzeption« be-
zeichnen. Dies beweist, daß der Apperzeptionsumfang außer nach
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über abstrahierende Apperzeption. ^gg
den Vorstellungen auch nach den Hinsichten abzugrenzen ist, auf
die sich die Apperzeption erstreckt. Eine geringe Überl^rung ge-
nügt, um zu zeigen, daß eine solche Begrenzung geschehen kann in
all den Dimensionen, denen die Merkmale der apperzipierten Vor-
stellung angehören. Denn die Apperzeption verändert ja nicht den
Merkmalsbestand der Vorstellung. Vielmehr kennen wir die Merk-
male bzw. die Kontinuen, denen sie angehören, nur dadurch, daß
die Merkmale einer apperzeptiven Verselbständigung fähig sind. Wir
wiederholen im Grunde nur den obigen Gedankengang, den wir dort
von der Vorstellungsseite aussprachen, hier von der Klarheitsseite
aus. Damit geben wir aber nicht etwa eine Tautologie; denn wäh-
rend wir dort die Einheit der Vorstellung analysierten, haben wir es
hier abgestellt auf die Einheit der Apperzeption, die ja bekanntlich
über dem Wechsel der Vorstellungen einen kontinuierlichen Zusam-
menhang bewahrt. Sovielen Dimensionen also die Merkmale einer
Vorstellung angehören, soviel Grenzlinien können für den Apper-
zeptionsumfang bei der Auffassung dieser Vorstellung gezogen werden.
Innerhalb dieser Kontinuen ist der Umfang der Apperzeption be-
grenzt auf ein Gebiet. Die räumliche Gebietsabgrenzung bei visu-
ellen Vorstellungen ist aus den tachistoskopischen Versuchen ge-
läufig — ob sie allen Sinnesgebieten gemeinsam ist, ist noch nicht
untersucht. Außer in den extensiven Kontinuen ist die Apperzeption
aber auch in einem intensiven oder qualitativen Kontinuum auf ein
Gebiet oder Bereich begrenzbar. Ich kann z. B. meine Aufmerk-
samkeit auf Tonintensitäten und hier im speziellen auf das Gebiet
der leisen Töne einschränken, so daß mich dann ein lauter Ton
ebenso unvorbereitet treffen kann wie ein disparater Sinnesreiz.
Außer dieser quantitativen Gebietsabgrenzung unterli^ aber die
Apperzeption endlich auch noch einer numerischen Abgrenzung nach
Einheiten — die geläufigste Art der Umfangsangabe. Dabei kann
die Zahl der Einheiten innerhalb des konstant gehaltenen Gebietes
(z, B. der Expositionsfiäche) variieren. Als Einheiten fungieren
>apperzeptive« Einheiten im schon verwendeten Sinne, die nur durch
ihr Verhältnis zu den apperzeptiven Relationen, aber nicht ander-
wärts charakterisiert werden können. Daß aber der Umfang der
Apperzeption in solchen Einheiten angegeben werden kann, deren
Bestimmung wieder nur dem jeweiligen apperzeptiven Tatbestande
Wundt, Psychol. Studien II. 26
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^go Kimo Mittenzwejr,
entnommen wird, daß vor allem diese Umfangsbestimmung in Ein-
heiten verschiedenen Grades geschdien kann — das ist nur zu er-
klären aus der eigentümlichen strukturellen Natur der Apperzeption.
Wir haben im vorstehenden alle Möglichkeiten der Umfangs-
bestimmung aufgezeigt. Außer durch den Umfang ist aber die ob-
jektive Seite der Apperzeption noch bestimmt durch einen Grad.
Für diesen Grad gilt nun die ungefähre R^el, daß er zum Umfang
der Apperzeption in einem reziproken Verhältnis steht'). Dies Gresetz
besteht sowohl für die subjektiv erstrebte wie für die objektiv er-
reichte Apperzeption. Das heißt: habe ich die Absicht einen Inhalt
recht intensiv aufzufassen, so schränke ich unwillkürlich meine Auf-
merksamkeit auf ein enges Gebiet bzw. auf nur eine Hinsicht ein.
Aber auch die objektiv erreichte Intensität der Apperzeption nimmt
mit wachsendem Umfang ab.
Innerhalb dieses Umfanges weisen nun die einzelnen darin apper-
zipierten Inhalte nicht notwendig Gradgleichheit auf, vielmehr nimmt
jeder Teilinhalt einen ganz bestimmten Grad ein. Diese spezielle
Gradbestimmtheit läßt schon die alltägliche Erfahrung erkennen in
Fällen, wo sie zur deutlichen Gradverschiedenheit wird. Man nehme
folgendes Beispiel: Ich stelle meine Aufmerksamkeit aktiv ein auf
eine Person, welche durch die Tür treten soll. Sie tritt ein und
ich bemerke zunächst ihre rote Krawatte. Hier kann sich aus dem
Komplex die Farbe so stark aufdrängen, daß ich durchaus das pas-
sive Gefühl des Erleidens habe. Man hat dies Gefühl bekanntlidi
benutzt, um dadurch eine ganze Apperzeptionsart zu definieren, die
passive Apperzeption, im Gegensatz zur aktiven, die vom Tätig-
keitsgefuhl b^leitet ist. Dies ist völlig einwandsfrei, solange es sich
um die Apperzeption einfachster Inhalte handelt, denn dann ist das
begleitende Gefühl in der Tat ausschließlich Funktion der Stellung
des Subjektes zu diesem Inhalte. Bei der Apperzeption von Kom-
plexen dagegen wird die Sache verwickelter, wie das Beispiel lehrt
Wundt deutet einmal an, daß »bei der passiven die Vorstellung
selbst als die Ursache ihrer Apperzeption erscheint« •). Mit einer
Mehrheit von Vorstellungen ist also eine Mehrheit von Ursachen
'y Wundt formuliert dies Gesetz nicht ausdri&cklich ; ygL aber ^e Beispiele
Phys. Psych. III 5, 334 f., Grundriß ' p. 256.
•) Phys. Psych, in 5, p. 333.
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über abstrahierende Apperzeption. 3g I
gegeben. Wir müssen die damit gegebenen Verhältnisse noch einen
Augenblick untersuchen. Denn wir haben ja gelernt, die einfache
Vorstellung als eine Mehrheit von Teilinhalten zu erkennen; ihre
Apperzeption wird uns darum nur verständlich werden, wenn wir sie
als Apperzeption dner Mehrheit konkurrierender Elemente, emes
Komplexes fassen.
Phänomenal gegeben ist uns ja immer nur die aktuelle Apper*
zeptionshandlung. Für diese aber finden wh* stets mehrere Bedin-^
gungen vor, und nun sind wir logisch berechtigt, einzeUie Bedin-
gungen zu isolieren und mit eignen Begriffen zu bezeichnen. Diese
Begriffe sind dann Potentialbegriffe ; sie drücken die bloße abstrakte
Möglichkeit der Apperzeption aus, welche aktuell realisiert wird erst
im Zusammentreffen mit den änderet! Bedingungen, sie bezeichnen
niciit ein reales, beharrendes »Vermögeile'). Bei der Apperzeption
eines einfachen Inhaltes müssen wir da unterscheiden, wozu uns
schon die erwähnten Gefiihlsgegensätze berechtigen, zwischen der
Möglichkeit des Subjektes zu apperzipieren, seiner Apperzeptions-
fahigkeit, und dem potentiellen Anspruch des Objektes apperzipiert
zu werden, seiner Eindrucksfähigkeit, »Enei^e«, »Quantität«, Apper-
zeptionswert. Gelangt ein Komplex zur Apperzeption, so tritt jedes
Element mit einem eignen apperzeptiven Anspruch auf. Die feineren
Wechselwirkungen, die hier entstehen, werden wir später analysieren;
für jetzt genügt die Erinnerung an die Tatsache der sogenannten
Konkurrenz. Diese Konkurrenz der Eindrucksfahigkeiten bestimmt
den Gradanteil, mit welchem jedes Element an der in toto zugewen-
deten Apperzeption des Subjektes aktuell teil hat Sind diese Grad-
anteile so verschieden, daß ein Teilinhalt den deutlichen Vorrang
'} Daß dem so ist, folgt nicht ohne weiteres ans methodologischen Gründen,
sondern ans dem speziellen Bestände des einzelnen Falles, was aber hier nicht all-
gemein dargelegt werden kann. Nor ein Beispiel: Gratitations- wie Strahlnngs-
wirknng eines Körpers erfahren wir nnr, wenn ein zweiter Körper gegeben. Fttr
den isolierten Körper betrachten wir sein Potential als einen bloßen Begriff, da-
gregen nehmen wir seit Prevosts Theorie an, daß die Wärmestrahlnng eines Kör«
pers unabhängig von der Anwesenheit eines anderen real besteht Fttr die Psycho-
logie ist diese verschiedene Geltang der Begriffe noch nicht methodisch heraus-
gearbeitet, und hier wnrzeln zahlreiche Mißverständnisse. Immer wieder ist der nn-
erkannte Streitpunkt der, daß ein Forscher die Bedingungen des psychischen Ge-
schehens isoliert und daß ihm dann vorgeworfen wird, er statuiere ein Vermögen —
wie auch Wnndt mit seinem Apperzeptiossbegriff hat erfahren mflssen.
26»
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5 02 Knno Mittenzwey,
erringt, so können wir von besondernder Verdrängung reden. Ein
solcher Fall liegt vor in dem obigen Krawattenbeispiel. Die Hervor-
drängung ist hier durch die objektive Beschaffenheit der Farbe be-
stimmt und macht sich innerhalb der dem Komplex aktiv zugewen-
deten Apperzeptionstätigkeit so energisch geltend, daß sie das Pas-
sivitätsgefühl hervorruft. Daraus folgt weiter: Objektive und sub-
jektive Ursachen der Apperzeption superponieren und schließen sich
nicht etwa aus, wie sich die durch sie hervorgerufenen gegensätz-
lichen Gefühle ausschließen. Diese Gefühle sind nicht symptoma-
tisch für die Anwesenheit dieser Ursachen, sondern für den relativen
Vorrang der einen von beiden.
Dieser Besonderung, die durch die Hervordräng^ng eines Ele-
mentes kraft seiner Eindrucksfahigkeit gegeben ist, stellen wir nun
die andere gegenüber, die durch die Tätigkeit des Subjektes erfolgt.
Diese Heraussonderung durch tätige Beachtung ist stets gleichzeitig
Einengung, und es bewährt sich hier das reziproke Verhältnis zwi-
schen Umfang und Intensität. Wir untersuchen dabei nicht, was
»Ursache« und was »Wirkung« sei, ob Einengung oder Beachtung,
sondern begnügen uns mit deren regelmäßigem Verbundensein (daß
wir hierbei »Einengung« nicht bloß räumlich fassen, sondern in der
kritischen Bedeutung, die aus dem eben gewonnenen Umfangsbegriff
folgt, braucht kaum bemerkt zu werden). Dementsprechend können
wir den Gradzuwachs, welcher einem Inhalt durch Beachtung ge-
wonnen wird, im allgemeinen als Eineng^ngsefTekt bezeichnen. Dieser
wird dadurch erreicht werden, daß die Konkurrenz der Elemente
ausgeschaltet wird, welche vor der Einengung zumal zur Apperzeption
gelangten. Je energischer also die Beachtung oder Einengung ge-
schieht, um so mehr wird die Einbuße an Eindrucksfahigkeit auf-
gehoben werden, die die Elemente durch die Konkurrenz erlitten.
Umgekehrt wird bei maximaler Einengung der EinengungseflTekt
um so größer sein, je größeren Verlust das Element durch die Kon-
kurrenz erleiden mußte, und dieser Verlust wird um so größer sein,
yc geringere eigne Eindrucksfahigkeit das Element verhältnismäßig
aufzubieten hatte. So gelangen wir zu dem Prinzip der Rezipro-
zität von Beachtungszuwachs und Eindrucksfähigkeit. Die alltägliche
Erfahrung gibt ihm recht. So erleben wir den Hauptton eines
Einzelklangs kaum wesentlich anders, wenn wir ihn isoliert beachten,
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Ober abstrahierende Apperzeption. ^qj
als wenn wir den Klang im ganzen auffassen; dagegen können wir
die Obertöne durch die isolierende Betrachtung geradezu erst »ent-
decken«. Umgekehrt ist, wie Lipps einmal anmerkt, »die Not-
wendigkeit, unsere Aufmerksamkeit auf ein Objekt zu richten, falls
dasselbe einen Grad der psychischen Wirkungsfahigkeit haben soll,
jedesmal gleichbedeutend mit einem Mangel der eignen Quantität
des betreffenden psychischen Vorgangs«'). Und so schließt man
wissenschaftlich aus dem zur Analyse benötigten Grade der Auf-
merksamkeitsspannung auf die InnigkeiJ der Verschmelzung von
Tönen.
Was ist nun mit dem Prinzip gewonnen? Es berechtigt uns,
aus dem Mehr, das einem Inhalt durch besondere Beachtung gegen-
über der Auffassung im Komplex erworben wird, zu schließen auf
den Bewußtseinsgrad, der diesem Element bei Auffassung des Kom-
plexes im ganzen zukommt. Damit sehen wir theoretisch die Mög-
lichkeit, Messungen von Bewußtseinsgraden von im Komplex apper-
zipierten Elementen vorzunehmen, was wir ja oben (S. 384) als
unser Ziel erkannten. Wie wir diese Messungen praktisch durch-
fuhren, werden wir von den bisherigen Apperzeptionsmessungen
lernen.
III.
Die gewonnenen Begfriffsabg^enzungen geben uns gerade die Mög-
lichkeit, die bisherigen Apperzeptionsmessungen zu charakterisieren.
Wir haben gesehen, wie zahlreiche Variable die inhaltliche Seite der
Apperzeption aufweist. Dementsprechend müssen wir, um noch einmal
daran zu erinnern, für jede Apperzeptionsbestimmung fordern: i. Eine
dimensionale Begrenzung, d. h. Angabe der Hinsichten, welche mit
maximaler Klarheit aufgefaßt werden; 2. innerhalb der beachteten
Hinsicht eine Abgrenzung nach Gebiet oder Zahl und 3. eine Angabe
des Bewußtseinsgrades der aufgefaßten Inhalte.
Den ersten Apperzeptionsversuchen nun, wie sie zuerst von
Cattell ausgeführt wurden*), imd wie sie dann häufiger speziell als
^) Die Quantität in psych. Gesamtvorgängen. Bayr. Akademiebericht phil.-hist.
Kl. 1899 p. 387.
*) Cattell, Ob. d. Trägheit der Netzhaut und des Sehzentrums, Phllos. Stud.
in, p. 94 ff.
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394 Knno Mittenzwey,
Leseversudie angestellt wurden, war zunächst dies gemeinsam, daß
ein Wahmehmungskomplex nur iur den zu analysieienden Moment
neu gegeben und dann vom Beobachter sprachlich reproduziert wurde.
Hierbei wurde die Qualität und die Intensität der Objekte konstant
erhalten. Darum waren die qualitativen und intensiven Merkmale,
weniger infolge absichtlicher als übungsmäOiger Vernachlässigung, nur
mit relativ geringem Grad im Bewußtsein vertreten. Ebenso war
konstant das räumliche Gebiet, die Expositionsfläche. Variabel da-
gegen war die Zahl und ev. die räumliche Form der Objekte, und
die Absicht ging nun dahin, diese Zahl so weit zu steigern, als dies
ein gewisser geforderter Klarheitsgrad zuließ. Für diesen Klarheits-
grad aber bestand keine ausdrückliche Vorschrift, vielmehr war er
mi^egeben durch die Versuchsmethode, daß nämlich die Strichzahl
bzw. die Buchstaben erkannt, gemerkt und sprachlich wiedergegeben
werden sollten. Es wurde also bei allen diesen Versuchen die Treue
der Reproduktion dem Bewußtseinsgrad unmittelbar proportional ge-
setzt. Da so nach dem ganzen Wesen der Methode ein bestimmter
mittlerer und zwar maximaler Klarheitsgrad für die entscheidenden
Einheiten selbstverständlich war, so konnte der Umfang ohne weiteres
durch eine ziemlich bestimmte Zahl dieser Einheiten ausgedrückt
werden*). Als Einheiten fimgierten dabei zunächst Striche, welche
aber den Vorteil apperzeptiver Einfachheit im oben verwendeten
Sinne mit dem Nachteil verbanden, daß sich die Aufmerksamkeit
leicht auf den Komplex im ganzen verlegfte, weil die Striche nur
durch ihre Zahl und nicht durch ihre Eigenart interessierten. Die
Buchstaben und Zahlen vermieden diesen Nachteil, führten aber ander-
seits die komplizierenden Bedeutungsassoziationen ein.
Demgegenüber hat Wirth zum erstenmal die Darbietung quali-
tativ diflferenzierter, aber bedeutungsloser Elemente gefordert*). Der
größere Fortschritt aber seiner Untersuchungen liegt darin, daß er
zum erstenmal die Verschiedenheit der Bewußtseinsgrade zu messen
unternahm. Hierzu war freilich die bisher geübte Methode der un-
mittelbaren Wiedei^abe durchaus unzureichend. Denn erstens sind
ihr überhaupt nur verhältnismäßig maximal beachtete Inhalte zugäng-
') Wilhelm Wirth, Znr Theorie des BewußtseiDsnmfangs und seiner Messung,
Philos. Stnd. XX, p. 487 ff., cf. p. 570.
«) Ebenda p. 513.
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über abstraliierende Appeneption. ^gc
lieh; wollte man aber bezüglich dieser vom Beobachter noch eine
Angabe über die Gradverschiedenheit verlangen, so hieße das fordern,
daß nicht sowohl der Inhalt, als sein Klarheitsgrad apperzipiert werden
sollte. So schwierig jedoch solche Beobachtung ist, so arm ist imsere
Sprache an Bezeichnungen für Gradunterschiede. Darum galt es,
eine neue Methode für Apperzeptionsmessui^en auszubilden. Um
auch die Inhalte geringen Bewußtseinsgrades möglichst festzuhalten,
kam es darauf an, sich nach einer ein&chsten Wirkung des Apper-
zeptionserlebnisses umzusehen, welche auch den Inhalten niedrigen
Grades erreichbar ist. Wirth fand diese im Vei^leich. Er folgte
dabei einer Anregung Wundts, welcher bekanntlich die Vergleichs-
methode zum erstenmal für Umfangsbestimmungen benutzt haf).
Während aber Wundt vom Beobachter eine Vergleichung bis auf
ein Reihenelement genau forderte, verlangte Wirth nur die Ausbil-
dung eines Vei^leichsbewußtseins überhaupt zwischen den aufeinander
bezogenen Inhalten^). Damit erweiterte er die Vergleichsmethode zu
einer Anwendung des allgemeinsten Prinzipes der Bewußtseinsphäno-
menologie, daß nämlich uns soweit bewußte Momente gegeben sind,
ab das VergleichsurteU reicht^). Um nun diese Vergldchsmethode
zur Gradbestimmimg zu verwenden, führte er stufenweise Variationen
der einzelnen Teile des Vet^ldchsobjektes ein imd leitete die Schwellen
für eine deutliche Erkennung der Verschiedenheit ab; diese Unter-
schiedsschwellen gaben dann ein Maß ab für den Klarheitsgrad des
betreffenden Teües^).
Das spezielle Problem nun, das Wirth mit dieser Methode in
Angriff nahm, war die Feststellung der Verteilimg der Bewußtseins-
grade über ein extensives Gebiet, des »Klarheitsreliefis«. Er arbeitete
dabei mit visuellen Objekten. Konstant gehalten wurden hier die
qualitativen und intensiven Merkmale bis auf die einer bekannten
Dimension, in welcher die Veränderungen erfolgten^); ebenso waren
') Vgl. Dietze, Untersnchnngen üb. d. Umfang des Bewußtseins, Philos. Stnd.
n, p. 362 ff. — Wundt, Ob. d. Methoden zur Messung des Bewußtseinsumfangs,
ebenda VI, p. 250 ff. — Wundt, Zur Frage des Bewußtseinsumfangs, ebenda VII,
p. 322 ff.
*) Wirth a. a. O. p. 543 ff.
3) Ebenda p. 567.
^) Ebenda p. 594.
^) Ebenda p. 600 ff.
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3q6 Kuno Mittenzwey,
räumliches Gebiet und Zahl der Objekte konstant. Um die Ab-
hängigkeit des Bewußtseinsgrades von dem Ort festzustellen, mußte
er das extensive Gebiet in einzelne Teile zerlegen. & verwendete
also ebenso wie alle früheren Autoren ein extensiv gegliedertes Ob-
jekt, und zwar teils eine Mehrheit von einfachen geometrischen Fi-
guren^), teils eine Mehrheit von Örtem der Helligkeitsvariation im
Sehfeld '). Die Veränderung bestand im ersteren Falle in einer maxi-
malen Variation der Figuren von weiß zu schwarz oder umgekehrt,
im letzteren in Helligkeitsveränderungen von verschiedener Dauer.
Mit ihrer Hilfe wurden Unterschiedsschwellen für die einzelnen Stellen
des Objektes abgeleitet Die gefällten Vergleichsurteile bedurften
also offenbar außer der Angabe der Gleich- oder Verschiedenheit
noch einer Angabe des veränderten Ortes. Damit die Aufmerksam-
keit gleichmäßig über das ganze Gebiet verteilt blieb, mußte natür-
lich der Ort der Veränderung unbekannt sein; dag^en war die
Variationshinsicht zur Vereinfachung der Bedingungen konstant und
bekannt. Die erhaltenen Schwellenwerte waren nun freilich, weil von
verschiedener Raumlage usw., nicht unmittelbar miteinander ver-
gleichbar. Um sie vergleichbar zu machen, nahm Wirth dieselben
Schwellenbestimmungen bei maximaler Beachtung des zu variierenden
Ortes vor und dividierte die für denselben Ort bei verschiedener
Einstellung gewonnenen Schwellen durcheinander^). Dabei fielen alle
Faktoren, die von der objektiven Beschaffenheit des Elementes ab-
hängig waren, heraus, der Faktor der maximalen Beachtung war in
allen konstant: so gaben die Werte der Quotienten ein Bild von dem
verschiedenen Gradanteil der Elemente an der unwissentlichen Auf-
fassung. Wir sehen also, wie Wirth <iazu gefuhrt wurde, verschie-
dene Einstellungen der Aufmerksamkeit zu verwenden. Ihn interessiert
nicht die Beachtimg als solche, und er würde für sie auch wen^
Ausbeute finden, da ja gleichartige Einengungen verwendet werden.
Er will die Abhängigkeit der unwissentlichen Klarheitsverteilung vom
') Ebenda Tafel II.
') Wirth, Zur Frage des Bewußtseins- und Aufmerksamkeitsnmfanges. Beiicht
üb. d. I. Kongreß f. experim. Psych. Gießen 1904, p. 72 f. — Die Klarheitsgrade
der Regionen des Sehfeldes bei verschiedenen Verteilungen der Aufmerksamkeit,
Psychol. Stud. II, p. soff.
3) Wirth, Phüos. Stud. XX, p. 59>.
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Ober abstrahierende Apperzeption. ^oy
Ort bestimmen; nun ist diese Klarheitsverteilung von zahlreichen Be-
dingungen abhängig; um die Abhängigkeit vom Ort zu isolieren,
stellt er der unwissentlichen Auffassung eine andere gegenüber, die
die Abhängigkeit vom Ort nicht enthält, darum weil überhaupt die
räumliche Konkurrenz ausgeschlossen ist, nämlich die Auffassung bei
ausschließlicher Beachtung des Variationsortes. Gleichzeitig sehen
wir, wie die Schwellendivision nichts anderes ist als eine implizite
Verwendung des oben formulierten Prinzips der Reziprozität von Ein-
drucksiahigkeit und Beachtungszuwachs. Denn die geschilderte Auf-
einanderbeziehung der Schwellen zeigt unmittelbar den Einengungs-
effekt, und geschlossen wird daraus auf die Klarheitsverteilung, d. i.
auf die Eindrucksfahigkeit der einzelnen Elemente in Abhängigkeit
von ihrem Ort.
Die skizzierte Verwendung der Unterschiedsschwellen zur Messimg
des Bewußtseinsgrades stellt die letzte Vollendung der psychologischen
Auffassung des Web ersehen Gesetzes und zugleich deren praktische
Verwendung dar, indem sie die Schwellengröße nicht mit der phy-
sikalischen Intensität des Reizes, sondern mit anderen Schwellen in
Beziehung bringt und demgemäß keine Schlüsse zieht auf das Ver-
hältnis zwischen Reiz und Empfindung, sondern auf die verschiedene
Stellung der veränderten Elemente im Bewußtsein.
IV.
Nachdem wir jetzt Methoden zur Messung von Bewußtseinsgraden
kennen gelernt haben, sind wir endlich in der Lage, unsere Aufgabe
klar zu übersehen. Wir hatten uns ja das Problem gestellt, die Ab-
straktion als eine relative Verstärkung des Bewußtseinsgrades eines
Merkmals vor den anderen und damit als eine besondere Apper-
zeptionsart zu erweisen. Hierzu müssen wir nicht sowohl den Grad-
zuwachs eines Merkmals diu'ch die geflissentliche Beachtimg als vor
allem seinen Gradanteil an der abstraktionsfreien Auffassung zu
messen versuchen. Beide Aufgaben sind praktisch identisch; denn
den Gradanteil an der unpointierten Auffassung können wir nur be-
stimmen durch Rückschluß aus dem Beachtungszuwachs. Doch wird
die Beachtung für uns nicht bloß, insofern sie diesen Rückschluß
gestattet (wie bei Wirth), sondern an sich selbst Interesse haben,
Digitized by VjOOQiC
^q8 Kuno Mittenswey,
darum weil wir verschiedenartige Einengungen auf die verschiedenen
Mericmale verwenden. Der Schluß auf den Gradanteil der Merkmale
bei unbeschränkter Auffassung kann nun entweder Gradgleichheit er-
geben, und dann wäre die Einheitlichkeit der einfachen Vorstellung
in der Tat erwiesen. Erhalten wir dagegen Gradverschiedenheit, so
ist dies gleichbedeutend mit relativer Selbständigkeit der Merkmale,
und die abstrahierende Apperzeption verliert damit ihre rätselhafte
Besonderheit
Praktisch werden wir also mit verschiedenen Apperzeptionslagen
der Vp. zu arbeiten haben. Um die ganz uneingeeng^te, > gewöhn-
liche« AufEassungsweise aufrecht zu erhalten, die \ms so sehr inter-
essiert, und um die Beachtung der verschiedenartigen Merkmale zu
untersuchen, verwenden wir im G^ensatz zu allen früheren Messun-
gen mehrfache Variationshinsichten. — Es bleibe nicht unbemerkt,
daß Wirth gelegentlich diese Versuchsmöglichkeit erwähnt*). Er
lehnt sie für seine Zwecke natürlich ab, da ihm ja die räumliche
Verteilung der Aufmerksamkeit die zu untersuchende Variable ist
und er darum alle anderen Bedingungen möglichst konstant halten
muß. Wir dag^en werden konstant halten den Gebietsiunfang
und die Zahl. Um hier die einfachsten Bedingungen herzustellen und
die Einflüsse der räumlichen Verteilung der Aufmerksamkeit m^-
lichst zu vermeiden, wird es sich empfehlen, zunächst nur eine einzige
einfachste Vorstellung darzubieten. Wir wählen dazu eine optische
Vorstellung, weil hier die Variationen physikalisch leichter herzustellen
sind. Es ergab sich freilich auch hier, daß in Zwei Dimensionen die
Variationen praktisch nicht bewerkstelligt werden konnten, nämlich
in Farbenqualität und Sättigung, und zwar nicht sowohl wegen der
Schwierigkeit momentaner Variation als wegen der einer exakten
Messung. So blieb als einzige intensive Variation die der Helligkeit.
Ab einfache Vorstellung nun soll uns dienen nicht etwa ein Strich,
geschweige denn ein Punkt. Da vielmehr auch die einfachsten Ge-
sichtsvorstellungen zweidimensionale Beschaffenheit haben, so ist die
natürlich gebotene Vorstellung die einfachste zweidimensionale, ein
Kreis. Um die Helligkeitsvariation wirksam vornehmen zu können,
wählen wir einen hellen Kreis in dunklem Felde. Von extensiven
') Ebenda p. 6oi.
Digitizfed by VjOOQiC
über abstrahierende Apperzeption. igo
V^ationen bieten sich uns dar, wie erwähnt, Veränderungen der ab-
soluten Lage und der Ausdehnung. Von den letzteren wollen wir,
wegen ihrer Unvergleichbarkeit, solche vermeiden, welche eine Ge-
staltsveränderung darstellen würden. Wir geben darum nur solche
Veränderungen der Ausdehnung, bei denen die Gestalt erhalten bleibt,
also Größenveränderui^en.
Wenn wir an diesem Objekt die Abstraktion mit Hilfe der Ver-
gleichsmethode untersuchen, so erhalten wir zugleich willkommene
Kenntnis von derjenigen abstrahierenden Besonderung, die sich voll-
zieht im Fortgange von einer Vorstellung zu einer zweiten: von der
abstrahierenden Stauung. Denn die Vergleichsmethode ist ja gerade
die systematische Anwendung dieser Stauung. Freilich ist gerade
darum diese Stauung zunächst nur Mittel zum Zweck; wir können
sie nicht aus imseren Resultaten herausziehen, da sie in alle als ge-
meinsamer Faktor eingeht. Aber wir werden sie studieren in ihren
verschiedenen Graden und in ihrer Abhängigkeit von den verschie-
denen Apperzeptionslagen.
Die Vergleichsmethode.
I.
Ehe wir mm aber auf die Versuche selbst eingehen können,
müssen wir noch die Vergleichsmethode ausfuhrlicher besprechen
und die Besonderheiten herausarbeiten, die imsere Aufgabe erfordern
wird. Dazu müssen wir schon auf die Grundlagen der Methode
zurückgehen.
Das Wesen der Methode ist ja schon im historischen Bericht kurz
auseinandergesetzt worden: es besteht darin, daß der zu bestimmende
Inhalt mit einem vorgegebenen, konstanten Inhalt in Beziehung ge-
bracht wird. Dieser erste Inhalt, der »Urkomplex«, bildet dann ge-
wissermaßen die Wage für den verglichenen Inhalt*). Natürlich muß
dieser Urinhalt, da es ja keine dauernden psychischen Inhalte gibt,
inuner wieder neu erzeugft werden durch vorherige Wiederholung des
Reizkomplexes. Außerdem muß er selbstverständlich, um genügend
Anhaltspunkte für die Vergleichung zu bieten, dem Vergleichsobjekt
Wirth, ebenda p. 576.
Digitized by VjOOQiC
400 Kuno Mittenzwey,
im weitesten Maße ähnlich sein. Die Folge ist, daß für die Auf-
fassung des Vergleichsobjektes die denkbar günstigsten Bedingungen
gegeben sind und zwar immer von neuem geschaffen werden, indem
ihm der Urinhalt assimilierend entgegenkommt. Man könnte diese
Gunst der Umstände abnorm finden und daraus einen Einwand g^en
die Vergleichsmethode herleiten. Man könnte sagen: Soweit die
Apperzeption des Vergleichsobjektes von dem präsenten Urinhalt
assimilativ unterstützt wird, soweit kommt ihr offenbar die Arbeit zu-
gute, die vorher zum Aufbau des Urkomplexes nötig war. Kein
Wunder darum, wenn die Umfangsbestimmungen nach der Vergleichs-
methode reicher ausfallen, da vorgeleistete Arbeit in sie eingeht. —
Ein solcher Einwand vergäße, daß ja jeder psychische Inhalt von
den vorhergegfangenen Ereignissen kausal bedingt ist. Man denke
nur an den Übungseinfluß, der ja zum guten Teil auf der Wiricung
solcher Assimilationen beruht. Dagegen hat die Vergleichsmethode
den Vorzug, daß sie den »Fehler« der assimilativen Einwirkung
früherer Erlebnisse dadurch eliminiert, daß sie ihn maximal macht
und konstant erhält. Daraus folgt aber gleich ein zweites. Da
nämlich das Urobjekt bis zur maximalen Beherrschung eingeübt wird,
so wird, wenigstens wenn es verhältnismäßig kompliziert ist, ein ziem-
lich beträchtlicher Übungseffekt zu erwarten sein.
Was nun die Vergleichung selbst angeht, so ist bekannt, daß
eine Vergleichung zweier unmittelbar aufeinander folgender ähnlicher
Inhalte — vorausgesetzt natürlich, daß sie überhaupt in vergleichender
Absicht aufgefaßt werden — nicht durch eine nachträglich hinzu-
tretende, selbständige Vergleichshandlung geschieht; vielmehr wird
der zweite Inhalt unmittelbar erlebt als assimilativ auf den ersten be-
zogen*). Er erscheint, wenn er gegen den ersten verschieden, aber
ähnlich ist, nicht als ein »anderer« Inhalt, sondern als »veränderter«.
— Wir müssen aber den Mechanismus dieses Aufeinanderbeziehens
noch näher betrachten. Nachdem der Urkomplex in allen seinen
Teilen vollständig aufgefaßt worden ist, stellt seine aktuelle Beherr-
schung einen geschlossenen, fest umschriebenen Zustand der Apper-
zeption dar. Die Auffassung des Vergleichsobjektes geschieht im
For^ang von diesem Zustande, und zwar wird die objektive Gleich-
Wund t, Phys. Psych. III s, p. 508.
Digitized by VjOOQiC
über abstrahierende Apperzeption. ^OI
heit als Identität des Objektes erlebt'), während die Verschiedenheit
eine eigenartige Unterbrechung der Apperzeption") herbeiführt. Diese
Unterbrechung kann verhältnismäßig »chaotisch« sein, indem sie zum
bloßen Eindruck des imbestimmten Verändertseins fuhrt. Sie kann
aber auch zu einer ganz detailliert bestimmten Umlagerung der Apper-
zeption fuhren. Diese geschieht dann regelmäßig so, daß das ob-
jektiv veränderte Element vor den anderen apperzeptiv stark bevor-
zugt ist; es »springt heraus«. Man hat diese Tatsache mit dem schon
erwähnten B^^flf der »Stauung« bezeichnet. Ninmit man ihn an,
so kann die Vergleichsmethode geradezu als eine systematische Ver-
wertung dieser Stauui^ charakterisiert werden^). Wir werden nun
lediglich solche Fälle als richtig notieren, wo diese Umlagerung und
dies Herausspringen wirklich erfolgt, und werden die Schwelle dort
anzusetzen haben, wo dies eben eintritt. Darum wollen wir einen
Augenblick theoretisch überlegen, wovon der Grad dieses Heraus-
springens abhängt, um zu sehen, welche Schlüsse wir daraus werden
ziehen dürfen, während wir die experimentelle Beschreibimg des
Herausspringens erst später geben werden.
Wir erwähnen dabei nicht die Bedingungen, welche diesem
Herausspringen als einer psychischen Leistung überhaupt zukommen.
Wir übelgehen auch die, welche die erkennende Auffassung des
Herausspringens als Assimilationsprodukt bestimmen; denn auch die
daraus folgende Forderung, die Nähe der Assimilationen durch maxi-
male Einübung konstant zu erhalten, ist unseren Versuchen nicht
eigentümlich. Was die Stauung als solche anbetrifft, so ist sie
wesentlich von zwei Faktoren bedingt: von der Größe der Verände-
rung und von dem Bewußtseinsgrad des zu verändernden Elementes
vor der Veränderung. Beides sind Tatsachen, die die alltägliche Er-
fahrung allenthalben bestätigt, die aber nicht ohne weiteres weiter
zurückgeführt werden können. Auf dieser Zweiheit der Faktoren
beruht die ganze Verwendung der Vergleichsmethode bzw. der
Stauung zur Messung von Bewußtseinsgraden. Diese geschieht nun
so, daß das Produkt, das Heraustreten, in konstanter Größe, nämlich
als ebenmerkliches, hergestellt wird. Dies wird erreicht durch Va-
') Das nähere nnten bei den Versuchen mit mehrfachen Objekten.
«) Wirth, a. a. O. p. 566/7.
3) Ebenda p. 611.
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±02 Kimo Mittenzwey,
riation des einen Faktors, nämlich der Veränderungsgröße; diesem
Faktor ist dann der andere, der Bewußtseinsg^rad des l^emaites, um«
gekehrt proportional. Auf diese Weise wird die Schwierigkeit ver-
mieden, die den Reproduktionsmethoden die Gradbestimmung uner-
reichbar macht, nämlich den Bewußtseinsgrad selbst zum Inhalt einer
inneren Beobachtimg zu machen und dann ii^endwie zu reproduzieren.
Gegenüber dem veränderten Elemente treten alle anderen Ele-
mente des Vergleichsobjektes an Bewußtseinsgrad stark zurück. Ihre
Stellung im Vergleichsbewußtsein ist stark benachteiligt; es kommt
hier selten zur Ausbildung eines Gleichheitsbewußtseins, das an
Sicherheit der Auffassung der Veränderung vergleichbar wäre, in der
R^el bleibt es bei dem Mangel eines Verschiedeidieitsbewußtseins.
Wenn aber auch die unveränderten Elemente nicht Gegenstand eines
bestimmten Gleichheitsbewußtseins sind, so sind sie gleichwohl im
resultierenden Vergleichsbewußtsein mit vertreten, umfaßt das Ver-
gleichsbewußtsein den Komplex als ganzen. Denn einmal sind sie
flötig, um jene Kontinuität herzustellen, in deren Rahmen das heraus-
gesprungene Element als Veränderung des Urinhaltes erscheint. So
groß nämlich auch die Verselbständigung des veränderten Elementes
sein mag, so tritt es doch immer auf in Begleitung des charakte-
ristischen Verschiedenheitsbewußtseins'). Enger noch sind die un-
veränderten Elemente an dem Herausspringen insofern beteiligt, als
sie durch simultane assoziative Verbindungen den Bewußtseinsgrad
des zu verändernden Elementes im Urkomplex mitbestimmen. Inso-
fern dieser den Grad des Herausspringens bedingt, tragen sie mittelbar
zu dem Heraustreten bei. Umgekehrt können diese stützenden Ele-
mente von dem Verschiedenheitsbewußtsein mitergriiTen werden, das
sie haben hervorbringen helfen. Teilten sie erst dem später vari-
ierten Elemente von ihrer Eindrucksfahigkeit mit, so reißt dieses sie
jetzt gewissermaßen mit fort, oder wie man gesagt hat, die Stauung
> strahlt aus«.
n.
Aus dieser Analyse der Vergleichung bestimmt sich die Art der
Darbietung der zu vergleichenden Objekte fast von selbst. Zunächst
') Ebenda S. 621.
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Ober abstrahierende Apperzeption. 4.03
braucht kaum bemerkt zu werden, daß die Darbietung des Vei^leich»i>
komplexes kurzzeitig erfolgen muß, um eine Bestimmung des simul-
tanen Apperzeptionszustandes zu ergeben. Für den Urkomplex da-
g^en haben wir schon wiederholt, zur konstanten Nähe der As-
similationen, maximale Bereitschaft gefordert Diese würde durch
eine kurzzeitige Exposition gewiß nicht erreicht werden, vielmehr
empfiehlt sich hier eine längere, vom Beobachter selbst zu begrenzende
Darbietung'). Es zeigt sich nämUch, daß die vom einzekien Beob-
achter für die Beherrschung erforderte Expositionsdauer große und
zwar sehr konstante individuelle Differenzen aufweist — ein noch gar
nicht angebrochenes Forschungsgebiet für eine differentielle Psycho-
logie. Nunmehr bleibt für uns nur noch eine Frage: ob wir das
tachistoskopisch gebotene Vergleichsobjekt als Momentphase in ein
kontinuieilich dargebotenes Bild einfügen oder selbständig abgrenzen
wollen^). Zum Entscheid müssen wir daran denken, daß wir die
verschieden«! Einstellungen der Apperzeption in den Schwellenver-
hältnissen finden wollen, daß uns also daran gelegen sein muß, die
Schwellen möglichst auseinanderzuziehen, daß wir femer zunächst mit
einem einfachsten Objekt arbeiten wollen. Für ein solches würden
wir aber voraussichtlich bei kontinuierlicher Darbietung so feine
Schwellen erhalten, daß ihre Veränderung durch die verschiedene
Konzentration kaum durch mühsamste Messungen festzustellen wäre.
Aus diesem Grunde werden wir uns für die diskrete Darbietung des
Vergleichsobjektes entscheiden. Dabei müssen wir natürlich von vorn-
herein mit dem Nachteil rechnen, daß durch diese Trennung die
assimilative Verarbeitung des Vergleichsobjektes erschwert und einem
unanalysierten Gesamteindruck ein häufigeres Vorkommen eingeräumt
wird. Will man aber diese Trennung vornehmen, so muß man
offenbar das Urobjekt, um es dem tachistoskopisch gesehenen Ver-
gleichsobjekt im weitesten Maße vergleichbar zu machen, ebenfalls
tachistoskopisch darbieten und muß die oben geforderte längere
Darbietung durch beliebig häufige Wiederholung der tachistosko-
pischen Exposition gewähren. Diese Wiederholung wird, wie kaum
erwähnt zu werden braucht, am erfolgreichsten sein, wenn sie rhyth-
') Ebenda p. 575.
^) Über die beiden Möglichkeiten vgl. Wirth, ebenda p. $81.
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404 Knno Mittenzwey,
misch geschieht Freilich bringt diese Rhythmisierung den Nach-
teil, daß sie ein gewisses Minimum der Zwischenzeit zwischen den
Expositionen der beiden Objekte vorschreibt und ihre möglichst enge
Aneinanderrückung verbietet'). Aber anderseits muß man daran
denken, daß ja die Apperzeption wellenförmigen Schwankungen unter-
liegt. Wählt man nun eine Expositionsfolge, die dem Beobachter
angenehm ist, so stellen sich die Apperzeptionsschwankungen ganz
von selbst auf die Expositionen ein (was man leicht konstatiert, wenn
man nachträglich versucht, sich über das in den Zwischenzeiten Be-
merkte Rechenschaft zu geben). So bewirkt die Rhythmisierung, daß
die entscheidende Vergleichsexposition nicht nur mit maximaler Er-
wartung, sondern auch mit einem »Wellenberg« von Apperzeption
aufgefaßt wird.
Von einer wiederholten Darbietung des ersten Objektes nach Dar-
bietung des Vergleichsobjektes wurde, da Wirth hier keinen Unter-
schied fand""), vollständig abgesehen — wenn auch die Fn^ bei
mehrfacher Variation noch zu imtersuchen sein mag.
m.
Die Angabe der Vergleichung der beiden Komplexe erfolgt im
reflektiven Vergleichsurteil. Wir wollen einen Augenblick über-
legen, was für Vergleichsurteile wir gemäß unserer Aufgabe zu for-
dern haben werden. Bei den Wundt-Dietzeschen Versuchen, wa
es nur auf die Schätzung des Umfangs einer sukzessiven Reihe
bis auf ein Glied genau ankam, wurden einfache Gleichheits- und
Verschiedenheitsurteile gefallt. Wirth, der die Aufmerksamkeits-
verteilung über ein räumliches Gebiet untersuchte, ließ die Urteile
durch eine Angabe des Variationsortes ergänzen. Wir, die wir die
Veränderungshinsicht als Variable haben, werden eine Angabe der
veränderten Dimension verlangen müssen, und wenn wir mehrfache
Objekte verwenden, darüber noch eine Bestimmung des veränderten
Objektes. Es könnte nun scheinen, als würde dadurch das Ver-
gleichsurteil so überlastet, daß der Wert der ganzen Methode in
Frage käme. Dagegen ist zu bedenken, daß diese determinierte
*) Ebenda p. 586.
^) Ebenda p. 616.
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über abstrahierende Apperzeption. aqc
Angabe nur für einen Teil des apperzipierten Inhaltes verlangt wird,
nämlich für den veränderten, und diese kann bequem gegeben
werden, da die Veränderung in der auseinandei^esetzten Weise
herausspringt und nun festgehalten werden kann, während der übrige
Inhalt ohne Not verloren gegeben werden mag. Vor allem wird
aber auch durch die komplizierteste Determination nicht das berührt,
was die Vergleichsmethode zur Messung von Bewußtseinsgraden so
geschickt macht.
Diese Angaben der variierten Hinsicht bzw. des variierten Ele-
mentes treten also als Determinationen zum einfachen Vergleichs-
urteil hinzu. Da nun offenbar gleichzeitig in den verschiedenen De-
terminationsrichtungen verschieden große Veränderungen bemerkt
werden können, so erhalten wir eine Kreuzung von Verschiedenheits-
grad imd Dimension. Dies wird für uns wichtig bei den Schwellen-
bestimmungen. Es können nämlich die verschiedenen Determina-
tionen der Veränderung in dem Maße selbständig voneinander auf-
treten, als die zugehörigen objektiven Veränderungsgrößen selbständig
die Unterschiedsschwelle überschreiten. So kann z. B. bei einer
aufsteigenden Reihe von Versuchen die Angabe des Ortes der Ver-
änderung früher auftreten als die der Qualität.
Hierzu kommt noch die bei jedem Apperzeptionsurteil auftretende
Kreuzung des Urteilsinhaltes mit dem Sicherheitsgrad. Wir müssen
dabei unterscheiden zwischen der Sicherheit der vollzogenen Apper-
zeptionshandlung als solcher und der Sicherheit des einzelnen apper-
zipierten Inhaltes. Diese Unterscheidung wird vielleicht am besten
an einem Beispiel Idar. Gibt die Vp. nach einem Versuch an: »Ich
habe nichts Sicheres gesehene, so fragt man wohl: »Waren Sie ge-
stört oder haben Sie nichts bemerken können?« Die erste
Art der Sicherheit ist die Sicherheit ^^s »gelungenen Versuchs«;
sie entspringt bei imserer speziellen Aufgabe dem Bewußtsein,
Urobjekt und Vergleichsobjekt so Mar aufgefaßt und die Beziehung
zwischen den einzelnen Darbietungen so hergestellt zu haben, wie es
der Beobachtungspfiicht entspricht. Diese Sicherheit kommt also
dem Versuchsergebnis im ganzen zu. Da sie Voraussetzung aller
psychologischen Versuche ist, brauchen wir ims hier nicht weiter mit
ihr zu beschäftigen; nur bei Ausarbeitung unserer Versuchspraxis
werden wir sie nochmals erwähnen müssen. Innerhalb des sicher
Wandt, Psychol. Studien II. 27
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^o6 Knno Mitteazwey,
gelungenen Versuchs werden nun die einzelnen Inhalte, in unserem
Fall Veränderungen, mit verschiedenen Sicherheitsgraden aufgefaßt
Diese Sicherheit kommt oft schon in der Stimmlage zum Ausdrudr,
ohne daß auf sie reflektiert wird, indem die sicher beobachteten lor
halte mit sinkender, akzentuierter und schnellerer, die unsicher beob-
achteten mit höherer, schwebender und zögernder Stimme ausgesagt
werden.
Da diese letztere Sicherheit verschiedenen gleichzeitig bemerkten
Veränderungen in verschiedenem Grade zukommt, so kreuzt sie sich
mit dem bereits analysierten Bestand des Vergleichsurteils. Bei den
Gleichheitsurteilen verbirgt sich unter den extremen Sicherheitsstufen
eine Artverschiedenheit: nämlich die zwischen dem (selteneren) posi-
tiven Gleichheitsurteil zum Ausdruck eines deutlichen Gleichheits-
bewußtseins und dem negativen als Ausdruck mangelnder Verschie-
denheit. Nach dem, was wir bei Gelegenheit der Stauung über das
Zurücktreten der imvariierten Elemente gesagt haben, ist zu erwarten,
daß das partielle Gleichheitsurteil vorwiegend von der negativen Art
sein wird. Aber auch als totales ist das positive Gleichheitsurteil
selten. Es ist praktisch, die Vp. anzuweisen, das mangelnde Ver-
schiedenheitsbewußtsein durch »Nichts« oder »Keine Veränderung«
anzugeben. Man erhält dann das positive »Gleich« recht selten, imd
zwar um so seltener, je vorsichtiger eine Vp. ist.
Bei den Verschiedenheitsurteilen kann die Angabe der Unsicher-
heit implizit enthalten sein in dem Mangel der Bestimmung der
Variationshinsicht, da ja diese Bestimmung den Vp. aufg^eben ist
Diese Unbestimmtheit kann «dann wieder eine totale oder partieUe
sein. Bei mehrfachen Objekten kann entweder der Ort erkannt und
die Qualität unbestimmt gelassen oder überbestimmt, oder es kann
die Qualität erkannt und der Ort weggelassen bzw. verwechselt
werden. Besonders ist noch eine Möglichkeit zu erwähnen, für die
es aber erst einer terminologischen Verständig^ung bedarf. Das Wort
»Variationsrichtimg« ist nämlich doppelsinnig: man kann darunter
verstehen einmal die Hinsicht, Dimension, dann aber auch die »Rich-
tung« der Veränderung innerhalb einer Dimension relativ zum kon-
stanten Reiz, ob aufsteigend oder absteigend. Wir wollen darum
»Richtung« nur in ganz unmißverständlichem Zusammenhang ge-
brauchen und für die letztere Bedeutung das vollere, wenn auch
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Ober abstrahierende Apperzeption. ^n
weoiger schöne »Richtungssüin« setzen. Es ist nun die Möglichkeit,
daß in einem Vergleichsurteil der Richtungssinn ohne die Dimension
angegeben wird. Dies geschieht dann in Ausdrücken wie »eindruckst
voller«, »minderwertiger«, oder aber, da die Sprache für den bloßen
Richtungssinn keine speziellen Bezeichnungen ausgebildet hat, durch
Überbestinunung: »Größer oder heller«.
Wir werden sehen, daß die überlegten Möglichkeiten nicht müßige
Denkprodukte sind, sondern psychische Existenz haben. Zugleich
wird uns ihre relative Häufigkeit wertvollen Aufschluß über das
psychische Verhältnis der einzelnen Hinsichten geben. Erfo^^en
nämlich die verschiedenen möglichen Urteile mit gleicher Häufigkeit,
so wäre wahrscheinlich, daß die Hinsichten eine ebenso unabhäng^e
psychische Existenz haben, wie wir sie eben als logische Deter-
minationen des einfachen Vergleichsurteils unabhäi^g voneinander
eingeführt haben. Dagegen werden etwaige bevorzugte Verbindungen
auf eine Verwandtschaft der Dimensionen und auf Neigung zu Ver-
schmelzungen schließen lassen.
IV.
Indem nun objektiv verschieden große Veränderungen dargeboten
werden, können aus den abgegebenen Urteilen Schwellen bestimmt
werden. Mit welchem Rechte diese Schwellen als ein Maß des Be-
wußtseinsgrades betrachtet werden können, haben wir bereits ge-
sehen. Es bleibt noch zu erörtern, wie wir diese Schwellen zu ver-
wenden haben. Dabei erinnern wir uns unserer doppelten Problem-
stellung, daß wir die Gradverschiedenheit kennen lernen wollten
sowohl eines Merkmals, welche es durch die Beachtung gegenüber
der unbeschränkten Auffassung erfahrt, wie der konkurrierenden
Merkmale untereinander bei abstraktionsfreier Auffassung.
Zunächst bringen wir die bei verschiedenen Einstellungen der
Aufmerksamkeit gewonnenen Schwellen desselben Merkmals mit-
einander in Beziehung und erkennen daran das Gelingen der ver-
schiedenen Beachtungsweisen. Da die Identität des Merkmals die
Konstanz der sonstigen, objektiven Bedingungen der Apperzeption
verbürgt, so ist die Verschiedenheit der Schwellen lediglich bedingt
durch den Beachtungsfaktor; die Division der Werte ergibt darum
27*
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AQg Knno Mittenzwey,
unmittelbar den Beachtungszuwachs. Je mehr sich der wissentliche
Wert gegen den unwissentlichen senkt, je kleiner also das Verhältnis
Wissentlicher Wert. ^ •/>... j- o i.^ t.
-Y= — : Wert *^^ "°^ ^^ großer ist dieser Beachtungszuwachs.
Anderseits ist aber, wie schon oft auseinandergesetzt, der Beachtungs-
effekt der Einengungsfahigkeit umgekehrt proportional. So ist ein
jeder solcher Quotient gleicherweise von der subjektiven Beachtungs-
tätigkeit wie von der objektiven Eindrucksfahigkeit abhängig.
(=^= — : ^ = Eindrucksfahigkeit = = — r— ar-rr- 1 Wenn z. B.
Unwissentl. ^ Beachtungseffekt /
die wissentliche Schwelle mit der unwissentlichen übereinstimmt, so
kann das sowohl die Ursache haben, daß der Inhalt sehr eindrucks-
voll ist, oder daß die Beachtung nur unvollkommen realisiert wird.
Diese beiden Bestimmungsstücke zu isolieren, gibt der Quotient
selbst natürlich kein Mittel an die Hand. Um trotz dieser doppelten
Determiniertheit den Quotienten zum Rückschluß auf die Eindrucks-
fähigkeit verwenden zu können, muß konstante maximale Beachtung
gefordert werden.
Die Bildung der Verhältniswerte gibt nun gleichzeitig die Mög-
lichkeit, über die Schwellen einer Veränderung hinauszugehen und
den Bewußtseinsgrad verschiedener Merkmale zu vergleichen. Nur
in Ausnahmefällen werden wir uns gestatten, die absoluten Schwellen
verschiedener Veränderungen zu vergleichen: dann nämlich, wenn
dies Veränderungen desselben Merkmals und derselben Dimension
sind und sich nur durch den Richtungssinn unterscheiden, und auch
hier werden wir lieber die Verhältniswerte benutzen.
I W i\
Aus diesem Verhältnis [jt— = — ) schließen wir auf den Grad
der verschiedenen Merkmale bei gleicher Apperzeptionslage. Dieser
Schluß kann nun wieder in doppelter Weise geschehen. Entweder
man schließt auf die unbeschränkte Auffassung und fragt, welcher
Teil der bei maximaler Beachtung erreichbaren Auffassung bei der
unwissentlichen vertreten ist ( Uw = n • W), Da hier die bei maxi-
maler Beachtung gewonnenen Werte als Einheiten fungieren, so
können hier nur gleichartige Werte verwendet werden, d. h. prak-
tisch nur solche, wo die objektive Veränderung der beachteten ent-
sprach. Man kann aber auch umgekehrt aus dem Verhältnis auf
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über abstrahierende Apperzeption. aoq
die wissentlichen Werte schließen und fragen, wie weit bei den ein-
zelnen Merkmalen die Beachtung gelang ( H^s±= i Uzv). Hierbei
können durch die unwissentlichen Werte auch diejenigen wissent-
lichen Veränderungen gemessen werden, von denen die Beachtung
grade abgewendet war, und wir können fragen, wie weit diese Ab-
kehr die unwissentliche Lage veränderte.
Die erste Anordnung«
Die Anforderungen, die wir nach Maßgabe unserer Methode an
die Versuchsanordnung stellen mußten, waren nach dem Gesagten
folgende: Es mußte das Objekt beliebig oft tachistoskopisch dar-
geboten und dann in einem vom Beobachter selbst zu bestimmenden
Augenblick gegen das Vergleichsobjekt ausgewechselt werden können.
Die Anforderungen, die an jede tachistoskopische Anordnung zu
stellen sind, hat Wundt ausführlich besprochen'). Wir können sie
wie folgt zusammenfassen: Ausschluß von Augenbewegungen, Be-
schränkung auf die Stelle des deutlichsten Sehens, verhältnismäßige
Gleichzeitigkeit der Einwirkung aller Teile des Objekts, günstige
Adaptation, Vermeidung von Nachbildern, Ausschluß von Aufmerk-
samkeitswanderungen^
Den erstgenannten speziellen Anforderungen wurde in der Weise
genügt, daß die wiederholte tachistoskopische Darbietung durch ein
Rotationstachistoskop, die Auswechselung durch ein Falltachistoskop
geschah. Dabei wurde das eine Objekt im Spi^el, das zweite direkt
gesehen.
Hiemach wird man die Beschreibung der Anordnung mit Hilfe
des Grundrisses sofort verstehen. R (Fig. i) ist das Rotations-
tachistoskop, und zwar benutzte ich das Gestell des Wir th sehen
Spiegeltachistoskops'). Als Scheibe bediente ich mich anfanglich
der von Wirth benutzten Spiegelscheibe, sah aber dann davon ab,
weil hier stets der Rand der Spiegelscheibe mitgesehen wurde und
dieser einen verfälschenden Anhaltspunkt für die Lageverschiebungen
bot. Ich zog deswegen auf das Gestell eine Pappscheibe von 42 cm
*) Phüos. Stud. XV, p. 288 f.
«) Philos. Stud. XVni, p. 687 ff.
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4IO
Knno Mittenzwey,
Durchmesser, also mit weit über das 30 cm messende Gestell über-
greifendem Rande. Die übrigen Maße, insbesondere des Ausschnittes
(5 cm breit, beginnend 9 cm vom Zentrum, endend 7 cm vor der
Peripherie) hielt ich, wie sie Wirth verwandte, so daß ich für alles
übrige, insbesondere für die Berechnung der Expositionsdauer, auf
die Wirth sehe Beschreibung verweisen kann. Ich habe nur nodi
©
^
Flg. I. (Vg nat Gr.)
hinzuzufügen, daß das Tachistoskop mit einer Geschwindigkeit von
einer Umdrehung pro Sekunde rotierte, angetrieben durch einen (in
der Figur weggelassenen) Elektromotor, dessen Geschwindigkeit durch
aufmerksame Widerstandsregulierung konstant erhalten wurde. Die
Expositionsfolge von einer Darbietung pro Sekunde wurde von allen
Beobachtern angenehm gefunden. Diese Zwischenzeit ist kürzer als
die, welche sonst als günstigste Zeit für die Reproduktion ai^^eben
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über abstrahierende Apperzeption. ^I I
wird (2 Sekunden)'). Man muß aber bedenken, daß die Bedingungen
insofern abweichende sind, als die Reproduktionsversuche mit nur
einmaliger Darbietung des Normakeizes angestellt wurden. Bei
solchen Versuchen ist allerdings eine Zwischenzeit von i Sek. zu
kurz, man wird hierbei vom Vergleichsreiz einigermaßen über-
rascht, weil man mit der apperzeptiven Verarbeitung des Normal-
objiektes gewissermaßen noch nicht fertig ist. Bei unseren Versuchen
fallt diese Verarbeitung noch durchaus in die Zeit der wiederholten
Darbietung des Urkomplexes. Die Darbietung des Vergleichsobjektes
findet darum den Beobachter schon nach der Zwischenzeit von i Sek.
durchaus zum Vergleich bereit, wie am besten die Gefiihlslage des
Beobachters (keine Überraschung) beweist.
Schräg zur Ebene des Rotationstachistoskopes war das Fall-
tachistoskop aufjgfestellt. Der entsprechendste Winkel zwischen Blick-
linie und Ebene des Tachistoskopes wäre 45^ gewesen; mir war zu-
fällig durch den Unterbau ein solcher von 55^ gegeben. Zwischen
den Pfeilern TT' des Tachistoskopes (lichte Weite 10 cm) bewegte
sich als Schlitten ein Rahmen, der den 8,5 cm breiten Spiegel 5
trug. Über dem Spiegel trug der Rahmen eine Fahne aus ge-
schwärztem Aluminiumblech, 10 cm breit, die ebenfalls zwischen den
Pfeilern glitt und einen Zwischenraum von 9 cm Höhe zwischen sich
und dem oberen Spiegelrande frei ließ. Um den Rahmen in den
verschiedenen Stellungen festzuhalten, dienten zwei von dem Grund-
brett vertikal aufragende Träger von 9 cm Höhendifferenz. Ruhte
der Rahmen auf dem obersten Träger, so sah der Beobachter 0 durch
den Spalt des Rotationstachistoskopes den Spi^el und in dem
Spiegel das seitwärts aufgestellte Normalobjekt Q. Diese Stellung
war so einzurichten, daß sie beliebig lange beibehalten und infolge-
dessen die Darbietung beliebig oft erfolgen konnte. Wenn dagegen
der Rahmen auf dem zweiten, niedrigeren Träger ruhte, so war der
Durchblick zwischen Spiegel und Fahne frei, und der Beobachter
sah direkt das Vergleichsobjekt Q\ Diese Stellung durfte nur so
lange währen, daß eine Darbietung erfolgte, und wurde dann von
der dritten Stellung abgelöst. Bei dieser war der Spiegel bis zur
Grundfläche gefallen und die Fahne verdeckte den Durchblick.
') Nach den Versuchen von Wolfe und Radoslawow, vgL Phys. Psych. III s,
p. 483 und 487.
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^12 Kuno Mittenzwey,
Die Auswechselung dieser Stellungen erfolgte durch kurzzeitigen
Akkumulatorenstrom. Um diesen wirksam werden zu lassen, waren
die Träger als einarmige, um je eine horizontale, am Grundbrett
gelagerte Achse drehbare Hebel vor kräftigen Elektromagneten mon-
tiert. In der Ruhelage wurde jeder Träger von einer starken, dem
Magneten entgegengesetzt gerichteten Spiralfeder festgehalten und
trug so den Rahmen, indem er ihn an einer kurzen Nase am un-
teren Rande stützte. Wurde der Träger vom Magneten angezogen,
so gab er den Rahmen dem Falle auf den kürzeren Träger bzw. auf
das Grundbrett preis. Um diesen Fall zu bewirken, genügte ein
ganz kurz dauernder Strom, stark genug, um den Träger unter der
Nase hinwegzuziehen. Dieser Stromimpuls mußte insofern in das
Belieben der Vp. gestellt werden, als er nach beliebig vielen Dar-
bietungen einzuführen war; er war aber in seinem Verhältnis zur
Rotationsphase des Spiegeltachistoskopes von der Vp. unabhängig
zu machen, denn der Fall durfte nicht während des Vorübeiganges
des Spaltes sichtbar sein. Endlich mußte eine Umdrehung nach
dem ersten Fall, welcher das Vergleichsobjekt hatte sehen lassen,
der zweite Fall eintreten, welcher es verschwinden machte. Dies
alles von der Vp. zu leisten, hätte offenbar bedeutende Aufmerk-
samkeit gekostet. Es durfte daher nur der Beginn der Auswechse-
lung überhaupt ihrer Tätigkeit zugeschoben werden, alles übrige,
die Wahl des rechten Momentes und die Aufeinanderfolge der beiden
Auswechselungen, mußte mechanisch geregelt werden. Darum be-
schränkte sich die Tätigkeit der Vp. darauf, wenn sie das Vergleichs-
objekt sehen wollte, auf den Taster Z zu drücken und diesen nieder-
gedrückt zu halten, bis der doppelte Fall erfolgt war. Um den
Stromschluß dem rechten Phasenmoment zuzuordnen, wurde die
Stromleitung von dem Taster zunächst zu einem Schleifkontakt C C
geführt, welcher am Rand der rotierenden Scheibe angebracht war
und den Stromschluß nur in einer bestimmten Stellung der Scheibe
erfolgen ließ und auch nur für die Dauer des Vorüberganges auf-
recht erhielt. Dieser kurze Strom war nun zuerst durch den Mag-^
neten am längeren Träger, eine Umdrehung später durch den am
kürzeren Träger zu leiten. Zur Umschaltung diente eine einfache
Kontaktwechselvorrichtung, die rechts vom Pfeiler T des Falltachisto-
skopes angebracht war. Sie bestand aus einem zweiarmigen Messing-
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über abstrahierende Apperzeption. ^17
hebel, dessen kürzerer Arm in zwei um einen kleinen Winkel ver-
schiedenen Stellungen auf zwei verschiedenen Kontaktplatten ruhte.
Durch jede der beiden Platten* führte ein Zweig des gegabelten
Stromes, welcher von da durch je einen der beiden Magnete lief.
Die Auswechselung der beiden Stellungen des Kontakthebels geschah
durch den fallenden Rahmen, welcher mit Hilfe des Stiftes P den
längeren Arm des Kontakthebels niederdrückte und dadurch den
kürzeren Arm von der unteren Kontaktplatte zur oberen umstellte.
Wenn der Stift P den Hebelarm erreichte und von der Kontakt-
platte loszureißen begann, war der Schleifkontakt bereits vorüber-
gegangen und der Strom wieder unterbrochen, so daß an der Kon-
taktplatte kein ÖfTnungsfunke entstand. Der tatsächliche Verlauf einer
Auswechselung geschah folgendermaßen: Zunächst ruhte der Rahmen
auf dem längeren Träger und der Kontakthebel auf der unteren Kon-
taktplatte. Drückte die Vp. den Taster nieder, so wurde beim
nächsten Vorübergang der Kontaktfeder C an der Kontaktschraube C
der Strom geschlossen. Der Strom ging durch die untere Kontakt-
platte zum Magneten des längeren Trägers, der Magnet riß den
Träger an sich und der Rahmen fiel auf den kürzeren Träger. Im
Fall wurde der Kontakthebel auf die obere Kontaktplatte umgestellt.
Beim nächsten Vorübergang des Schleifkontaktes erfolgte abermaliger
Stromschluß; diesmal wurde der Magnet des kürzeren Trägers durch-
flössen, infolge wovon der Rahmen auf das Grundbrett fiel. Jetzt
konnte die Vp. den Taster freigeben. Schleifkontakt und Fall
des Rahmens verursachten ein nicht ganz zu beseitigendes Geräusch,
für das ich keine bessere Entschuldigung habe, als daß es kon-
stant war.
Als Normal- und als Vergleichsobjekt diente je ein heller Kreis,
weldier auf der weißen Papierfläche erschien, die über den Holz-
rahmen Q bzw. Q* ausgespannt war. Um diesen Kreis erscheinen
zu lassen, war hinter jedem dieser Papierbogen eine Blende auf-
gestellt, und zwar hinter Q zur Erzeugung des Normalobjektes eine
feste Blende von 20 mm Durchmesser, hinter ß' zur Erzeugung des
variablen Vergleichsobjektes eine Irisblende. Diese war als Iris-
blende in der Größe veränderlich; zur Erzeugung der Lageänderungen
war sie auf einen Schlitten montiert, dessen Schlittenfuhrung ihrer-
seits wieder auf einer Drehscheibe sich befand, die in einer Kreis-
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^14 Kuno Mittenzwey, ' ^
führung drehbar war. Durch Zusammenwirken der Schlitten- und
Kreisfiihrung konnte die Blende an jeden Punkt der Fläche (nach
Art von Polarkoordinaten) gebracht werden. Vom Auge des Be-
obachters betrug die wirkliche resp. scheinbare Entfernung des Ob-
jektes 40 cm. Diese Entfernung gewährte günstige Akkommodations-
verhältnisse; zugleich fiel bei ihr das Objekt von 2 cm Durchmesser
mit allen Lageveränderungen, die verwendet wurden, noch voll-
ständig in das Gebiet des deutlichsten Sehens.
Zur Beleuchtung dienten zwei Glühlampen: eine gedämpfte be-
leuchtete Papierschirme und Tachistoskopscheibe, eine hellere gab
die Helligkeit der Kreise. Um die Helligkeitszonen der beiden
Lampen voneinander abzugrenzen, war die ganze Anordnung mit
einer ca. 80 cm hohen Wand W auf drei Seiten abgeschlossen,
welche nur für die Belichtung der Blenden und die Beobachtung
Öffnungen hatte. Letztere Öffnung fixierte zugleich die Stellung des
Auges 0 für die monokular erfolgende Beobachtung. Die gedämpfte
Glühlampe befand sich oberhalb der Anordnung; sie war so ange-
bracht, daß der Papierschirm von Q', das Spiegelbild des Schirmes
von Q und die Vorderfläche der Tachistoskopscheibe gleiche Hellig-
keit zeigten. Daß die beiden Schirme leicht auf gleiche Helligkeit
gebracht werden konnten, ist deutlich; daß mit ihnen die Tachisto-
skopfläche in Übereinstimmung gebracht werden konnte, bewirkte
der diffuse Reflex von der hellen Vorderwand W.
Die Helligkeit für die beiden hellen Kreise gab die Glühlampe ^
vermittels der beiden Spiegel 2 und 2\ Diese Spiegel waren in
der Normalstellung so aufgestellt, daß das Spiegelbild des Normal-
objektes gleiche Helligkeit wie das Vergleichsobjekt zeigte. In
dieser Stellung verhielt sich der helle Kreis zu seinem Hintergrund
wie 15:4. Dies Verhältnis der geeignet gewählten absoluten Werte
bewirkte es, daß Nachbildstörungen vollständig ausgeschlossen waren.
Zur Variation der Helligkeit des Vergleichsobjektes war der Spiegel
2' auf der Schiene M verschiebbar. Die Eichung erfolgte mittels
Episkotisters. Ist a die Beleuchtung der gedämpften Lampe von
vom, X die Beleuchtung von hinten in der Normalstellung des Spie-
gels, x.x^ . . bei Verschiebungen, so wurde — ; — , — ; , — ; — . .
X X
gemessen und hieraus -^ , -^ . . bestimmt. Diese Verhältnisse cr-
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Ober abstrahierende Apperzeption. aj^
gaben eine gute Übereinstimmung mit den umgekehrten Verhält-
nissen der Quadrate der scheinbaren Lampendistanzen (= der ge-
brochenen Lichtwege). Die zwischen den empirisch bestimmten
übenden Werte wurden dann rechnerisch fixiert.
Im ganzen bewährte sich die Anordnung sehr gut. Die Über-
einstimmung zwischen dem Normalobjekt und dem unveränderten
Vei^leichsobjekt war so vollkommen, daß gelegentlich die Vp., wenn
der Gleicheitsfall gegeben wurde, annahm, die Auswechselvorrichtung
hätte versagt.
Zur Versuchspraxis.
Ehe wir aber über die einzelnen Ergebnisse der Versuche be-
richten können, die mit dieser Anordnung angestellt wurden, müssen
wir zuvor ein paar allgemeine Eigenheiten der Versuche besprechen.
Unsere Aufgabe führte ims ja dazu, mit verschiedenen Einstellungen
der Apperzeption zu arbeiten. Wie dies geschah, ist vorerst zu be-
richten. Insbesondere ist auseinanderzusetzen, wie im unwissentlichen
Verfahren die Unterschiedsschwellen bestimmt wurden. Denn, daß
man hier brauchbare Werte erhielt, davon war das Gelingen der
ganzen Untersuchung abhängig. Da gab es nicht viel zu theoreti-
sieren; es galt einfach zu probieren und aus den Versuchen zu lernen.
Darum nehmen die folgenden Bemerkungen eine gewisse Mittel-
stellung ein zwischen der theoretischen Problementwicklung und dem
Versuchsbericht, indem die Ergebnisse, die bezüglich der Ver-
fahrungsweisen gewonnen wurden, zur Norm für die fernere Versuchs-
praxis wurden.
Es ist ja leicht zu ersehen, daß sich unsere Aufgabe wie durch
die Mehrheit der objektiv veränderten Hinsichten, so auch durch den
Umfang der Unwissentlichkeit von früheren Untersuchungen unter-
scheidet. Wundt behandelt in Besprechung der Maßmethoden nur
die Unwissentlichkeit hinsichtlich des Richtungssinnes'), Wirth brauchte
Unwissentlichkeit über den Ort der Variation"); dagegen ist die Dimen-
sion der Veränderung in beiden Fällen bekannt imd konstant. Wir,
die wir den Anteil der Dimensionen an der Apperzeption unter-
M Phys. Psych. I 5, p. 491.
») PhUos. Stnd. XX, p. 600.
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^l6 Kuno Mittenzwey,
suchen, bedürfen einer Unwissentlichkeit hinsichtlich der Dirnen^
sionen.
Diese Unwissentlichkeit wurde erzeugt durch die Instruktion, das
Objekt gleichmäßig, »natürlich«, ohne einseitige Pointierung zu be-
trachten« Aufrechterhalten wurde sie durch dasselbe Mittel, das
Wundt für die Unwissentlichkeit hinsichtlich des Richtungssinnes
empfiehlt, durch die Unregelmäßigkeit der Variationen. Darum
mußten in die Reihe der Versuche aus der Dimension, in weichet-
man die Schwelle suchte, immer wieder Versuche anderer Variations-
hinsichten eingestreut werden.
Aber auch in der beliebig variierten Versuchsfolge gibt es noch
Fehlerquellen in den feinen Wirkungen, die sich von Versuch zu
Versuch spinnen. So sehr sich nämlich der Beobachter mühen mag,
jeder neuen Darbietung unwissentlich gegenüberzustehen, so zeigen
doch die objektiven Resultate, daß jeder Versuch Nachwirkungen
hinterläßt und den darauf folgenden kontrastierend oder angleichend
zu beeinflussen vermag. Wir werden dies noch in anderem Zusam-
menhang besprechen; hier braucht es außer der Konstatierung der
Tatsache nur noch die Bemerkung, daß diese Wirkung auch von
unterschwelligen Veränderungen ausgehen kann, wie z. B. in der
Versuchsfolge:
Durchmesser des Kreises um 0,25 mm vergrößert.
Urteil: Sehr unsicher. Vielleicht Verschiebung.
Dieselbe Darbietung. Urteil: Größer. (Sicher.)
Für die Versuchspraxis folgt daraus, daß man möglichst heterogene,
nicht kontrastierende Veränderungen aufeinander folgen lassen muß,
die geeignet sind, sich gegenseitig auszulöschen. Und zwar ist das
nicht bloß nötig für die Werte an und über der Schwelle. Man darf
nicht etwa glauben, daß man im unterschwelligen Bereich ohne fremde
Zwischenversuche aufsteigen dürfe; dadurch könnte man eine vor-
zeitige Erkennung herbeifuhren. Bei Aufsuchen der Resultate aber
darf man die aufeinander folgenden Angaben des Protokolls nicht
wie die selbständigen Ergebnisse einer physikalischen Versuchskette
ganz isoliert in Rechnung ziehen, sondern muß sie auf etwaige suk-
zessive Beeinflussungen prüfen. Dazu müssen aber sämtliche Ver-
suche protokolliert und dürfen nicht etwa solche, welche nur zur Er-
haltung der Unwissentlichkeit eingefügt wurden, weggelassen werden.
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über abstrahierende Apperzeption. aj-j
Es ist nur eine Summe solcher angleichender Wirkungen über
eine größere Zahl von Versuchen, wenn man gelegentlich plötzlich
entdeckt, daß man im Beobachter unwillkürlich eine Einschränkung
der Aufmerksamkeit hervorgebracht hat. Man muß ja notwendig
einige Veränderungen bevorzugen, um zu geschlossenen Resultaten
zu kommen. Zeigt man darum z. B. eine kurze Zeit nur Größen-
und Lageänderungen imd bietet dann eine Helligkeitsänderung, so
kann diese den Beobachter geradezu überraschen; er hatte die Hellig-
keit »ganz vergessen«. Diese Einschränkung, die man so im Beob-
achter, ihm selbst imbewußt, hervorbringt, ist ja leicht zu erklären
aus der relativen Einseitigkeit der abstrahierenden Stauungen, die er
erlebt. Sie ist gar nicht so unmittelbar zu beseitigen; oft wird, mn
die Unwissentlichkeit wieder herzustellen, das bisher Vernachlässigte
nun einseitig akzentuiert. So dringend solche Einschränkungen selbst-
verständlich zu vermeiden sind, indem man stets Veränderungen aller
Hinsichten wechseln läßt, auch wenn eine große Zahl solcher Zwischen-
versuche keine Resultate geben — so interessant sind sie in theore-
tischer Hinsicht. Denn die Neigung zu solchen Einschränkungen —
und die Neigung ist sehr groß — beweist, daß die abstrahierende Be-
achtung auch ohne besondere willentliche Anstrengung sich einstellen
kann. Wenn die Meinung ziemlich populär ist, als sei die Abstraktion
eine besonders hohe und anstrengende Leistung, so wird dabei wohl
zumeist an die abstrakte Begriffsbildimg gedacht.
Der Übergang aus der unwissentlichen in die wissentliche Ein-
stellung geschah durch einfache innere Willenshandlung. Die Be-
achtung wurde am sinnlich gegebenen Objekt unmittelbar vollzogen;
es war weiter nichts im Bewußtsein als der Sinneseindruck in einer
etwas gespannten, eigentümlich pointierten Auffassung. Wahrschein-
lich, daß zu Beginn dieser Einstellung, wenn noch keine der zu be-
achtenden Veränderungen gesehen war, die Veränderungen reprodu-
zierend vorausgenommen wurden. Jedenfalls zeigten sich häufiger
Erwartungsfehler. War nämlich eine Veränderung im unwissentlichen
Verfahren als überschwellig erkannt und wurde sie gleich darauf im
wissentlichen Verfahren dargeboten, so konnte gleichwohl die Er-
kennung ausbleiben. Wenn dies — wie zumeist — auf einem Er-
wartungsfehler beruhte, so konnte dieser durch Darbietung des Gleich-
heitsfalles rasch und regelmäßig beseitigt werden.
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^l8 Kuno Mittenzwey,
Bei da* wissentlichen Einstellung zeigte es sich auch ab möglich,
Schwellenbestimmungen in den Hinsichten vorzunehmen, die durch
die Einschränkung gerade vernachlässigt wurden. Das Interesse an
der beachteten Hinsicht wurde dabei durch häufige Darbietungen von
Veränderungen in ihr aufrecht erhalten. Der Beobachter erhielt die-
selbe Instruktion wie bei jeder wissentlichen Einstellung, nur mit dem
Zusatz, er möge auch Veränderungen in den unbeachteten Dimen-
sionen angeben, falls sich solche aufdrängten. Dieser Zusatz betraf
also nicht die Beachtung, sondern nur die Beurteilung der Verände-
rung; er sollte verhindern, daß die Vp. die Angabe der unbeachteten
Veränderung unterließ, in der Meinung, es »Idime nicht darauf an«.
Die entwickelte Versuchspraxis zusammengehalten mit den in den
methodologischen Betrachtungen entwickelten Absichten bestimmt
nun ohne weiteres die Maßmethode, die wir werden zu verwenden
haben. Unsere Absicht geht ja dahin. Schwellen, die bei verschie-
dener Einstellung gewonnen worden sind, miteinander in Verhältnis
zu setzen. Dies werden wir mit Erfolg nur tun können mit Schwellen,
die bei gleichem Übungsstande und auch im übrigen unter möglichst
vei^leichbaren Bedingungen, am besten am selben Tage gewonnen
sind. Außerdem läßt es die große Labilität eines so komplexen Ge-
bildes wie des Apperzeptionszustandes angezeigt erscheinen, nur
Tagesschwellen abzuleiten. Nun müssen wir uns aber erinnern, daß
wir im unwissentlichen Verfahren nur einen kleinen Teil der Tages-
versuche ein- und derselben Veränderung widmen können. Aus
diesen Gründen finden wir uns auf die Methode verwiesen, die aus
einer kleinen Zahl von Versuchen bereits Resultate zu liefern im-
stande ist, auf die Minimalmethode. Für das unwissentliche Verfahren
muß diese Methode wegen der unregelmäßigen Variation in Kombi-
nation mit der Abzählungsmethode verwendet werden.
Es wurden prinzipiell nur Tagesschwellen abgeleitet. Darum
wurde auch darauf verzichtet, aus den Zwischenversuchen verschie-
dener Tage durch ein Abzählverfahren Resultate zu gewinnen und
sie so nutzbar zu machen. Wo es gelang — was immer das Ziel
sein mußte — am selben Tage die wissentliche und unwissentliche
Schwelle abzuleiten, wurden die Werte in den mitgeteilten Tabellen
vertikal untereinander gestellt»
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über abstrahierende Apperzeption. ^ig
Die Versuche mit dem einfachen Objekt.
Ich komme nun dazu, über die Ei^ebnisse der Versuche mit dem
einfachen Objekte zu berichten. Es wurden ihrer etwa 3000 ange-
stellt. Über die Erscheinungen, welche die Vergleichshandlungen
unmittelbar darboten: wie das Objekt bei den mehrmaligen tachisto-
skopischen Darbietungen aufgefaßt wurde, wie die psychische Stauung
sich mit den wachsenden Veränderungen gestaltete, endlich über die
Übungserscheinungen — bitte ich bei den Versuchen mit mehrfachen
Objekten berichten zu dürfen. Alles das tritt dort reicher in die
Erscheinung, und ich müßte mich sonst dort nur wiederholen. Hier
nur soviel, daß der Übungseinfluß ein recht bedeutender war. Denn
die Schwierigkeit der tachistoskopischen Beobachtung sowohl wie die
immer wiederholte Darbietung desselben Objektes geben einer be-
trächtlichen Übung Raum. Ich teile darum die frühen Werte mit
(natürlich mit Ausnahme der der Vorversuche), auch wenn sie zu
Vergleichimgen nicht verwertbar sind. (Ziun folgenden die Tab. I — ^lU
am Schluß der Abhandlung.)
I.
Es wurde mit den Versuchen bei einseitiger Beachtung einer ein-
zelnen Dimension begonnen, weil dadurch am schnellsten eine Ein-
übung erreichbar schien.
I. Die Größenbeachtung. War den Vp. aufgegeben, die
Objekte auf ihre Größe hin zu beachten, so ergaben sich für die
Größenveränderungen folgende Schwellen:
a) Für die Vergrößerung ergab sich eine Unterschiedsschwelle
von 0,3 mm. Diese Schwelle war sofort konstant und unterlag kaum
einem Übungseinfiuß. Es ergab sich wohl einmal in einer ersten
Versuchsreihe eine vorläufige SchweUe von 0,8 mm (L.), diese sank
aber noch in derselben Stunde auf 0,3 mm. Gelegentlich gelang es
wohl bei sehr gespannter Aufmerksamkeit und scharfen Augen den
absteigenden. Wert auf 0,2 mm zu erniedrigen, so daß ein Mittelwert
von 0,25 mm anzusetzen war; doch war diese Erniedrigung kein
dauernder Erwerb.
b) Die Verkleinerungsschwelle zeigte nicht dieselbe Konstanz.
Ihr Mittelwert für die verschiedenen Vp. war 0,65 mm. Die Ver-
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420 Kuno Mittenzwey,
kleinerungsschwelle war also reichlich doppelt so groß wie die Ver-
größenmgsschwelle. Dies Resultat ist auffällig, denn es scheint zu-
nächst in Widerspruch mit dem Weberschen Gesetz zu stehen. Wir
müssen uns aber erinnern, daß die Resultate, die das Webersche
Gesetz bestätigen, unter Ausgleichung der Raum- und Zeitlage ge-
wonnen wurden: mit vollem Recht, denn es kam hierbei auf das
Verhältnis von »Reiz« und Empfindung an. Für uns, die wir Auf-
merksamkeitsverhältnisse untersuchen, hat gerade das Interesse, was
für psychophysische Zwecke als Fehler erscheint. Unsere Methode
schreibt uns vor, den einmaligen, eindeutig gerichteten Vergleich zu
studieren. Zugleich folgt aus unseren Ei^ebnissen indirekt fiir die
Psychologie des Vergleichs, daß die Vergleichung simultan und
dauernd gegebener Objekte, welche bekanntlich das Webersche
Gesetz unmittelbar bestätigt, eine mehrmalige, unter den Objekten
hin- imd herlaufende ist.
Wenn wir also für den einmaligen in der Zeit gerichteten Ver-
gleich aus den beiden Schwellen Schlüsse ziehen wollen, so scheint
daraus zu folgen, daß die Vergrößerungen empfindlicher aufgefaßt
werden als die Verkleinerungen. Die Schwellen der beiden verschie-
denen Veränderungen so unmittelbar aufeinander zu beziehen, wäre
nicht ganz unberechtigt, da sie Veränderungen desselben Merkmals
sind, nur in verschiedenem Richtungssinne. Immerhin werden wir
jenes Ergebnis mit Zuversicht erst aussprechen können, wenn es sich
an den Verhältnissen zwischen wissentlichen und unwissentlichen
Schwellen bestätigt. Vorläufig können wir nur erwarten, wie sich die
Schwellen im unwissentlichen Verfahren verändern werden. Ist näm-
lich die relative Größe der Verkleinerungsschwelle ein Zeichen, daß
die Verkleinerung trotz konzentrierter Beachtung apperzeptiv weniger
betont ist, so wird sich dies im unwissentlichen Verfiahren noch deut-
licher zeigen und die Schwelle wird voraussichtlich energfischer sinken
als die Vergrößerungsschwelle.
2. Die Lage des Kreises wurde vor allem in der horizontalen
und vertikalen Achse variiert, nur sekundär auch nach den Schräg-
richtungen. Während nun die Größenvariationen, wie noch näher
auszuführen sein wird, im Gegensatz des An- und Abschwellens
stehen, muten ims die Lageveränderungen emigermaßen gleichwertig
an; es war also ein ähnlicher Unterschied nicht zu erwarten. Gldch-
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über abstrahierende Apperzeption. 42 1
wohl ergab sich auch keine völlige Gleichheit. Die Schwellen für
die Rechts- und Linksverschiebung zeigten allerdings so g^t wie
völlige Übereinstimmung; gegen beide waren die Werte für die Ab-
wärtsverschiebung geringer, für die Aufwärtsverschiebung größer.
Für die Horizontalverschiebung bewegte sich die Schwelle um
3 mm herum, senkte sich dann auf i y, mm und konnte bei beson-
ders günstiger Versuchslage auf 7, mm erniedrigt werden. Die Über-
einstimmung zwischen den Werten der Rechts- und Linksverschiebung
wurde nicht etwa dadurch herbeigeführt, daß abwechselnd mit ver-
schiedenem Auge beobachtet wurde imd sich so ein Ausgleich unter
den Resultaten einstellte. Vielmehr wurden die Werte auch unter
Berücksichtigung der Orientierung der Verschiebung zum Auge als
Innen- imd Außenverschiebung notiert, doch war hier eine konstante
und hinreichend deutliche Verschiedenheit nicht aufzufinden.
Von den Vertikalverschiebungen war für die Abwärtsver-
schiebung der Schwellenwert fast regelmäßig kleiner als die Tages-
schwelle aller anderen Verschiebungen, und nach genügender Ein-
übung konnte der Wert von y^ mm ziemlich regelmäßig erhalten werden.
Für die Aufwärtsbewegung dagegen blieb die Schwelle um 3 mm;
W. hatte Schwierigkeit, den Eindruck der Aufwärtsbewegung über-
haupt rein zu erhalten. Er sah zunächst nur eine Ausweitung nach
oben, wie wenn eine Kugel aufgeblasen würde. Bei einer Hebung
von 57, mm war diese Ausweitung so deutlich, daß sie als über-
schwellig angesetzt werden konnte. Erst bei großen Verschiebungen
von 7 — 8 mm stellte sich regelmäßig der Eindruck der reinen Auf-
wärtsbewegung ohne Gestaltveränderung ein.
Wurde demgegenüber auf die Gleichheitsfalle rekurriert, so zeigte
sich, daß geradezu der subjektive Nullpunkt gegen den objektiven
nach aufivärts verschoben, bei W., wo der Unterschied am stärksten
war, um 2 mm. War dieser Schluß aus den GleichheitsurteÜen be-
rechtigt, so mußte sich die Erscheinung bei den schrägen Ver-
schiebungen wiederfinden. Die BeurteUung der Schräglagen erfolgte
durch unmittelbare Reproduktion an einer auf den Tisch gezeichneten
Quadranteneinteilung. Ob bei dieser Darbietung von Verschiebungen
unter beliebigem Winkel die Schwellen für die achsialen Verschie-
bungen stiegen, läßt sich schwer sagen, da wegen der gleich zu be-
sprechenden Erscheinimg die Aussonderung der richtigen und fabchen
Wundt, Psychol. Studien II. 28
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^22 Knno BÜttenzwey,
I^e fast nur mit Willkür zu vollziehen gewesen wäre. Es zeigte
sich nämlich die ganz durchgängige Neigung, die Richtung der Ver-
schiebung als zu tief aufzufassen. So wurden Verschiebungen in der
Horizontale beurteilt als gegen diese imi etwa 20° (10® — 45*^) gesenkt;
schräge Verschiebungen erschienen entsprechend geneigt. Diese
Senkung war nicht etwa ein Fehler kleiner Veränderungen, der bei
hinreichend großen geschwunden wäre. Bei weit überschwelligen
Veränderungen verminderte sich nur der Winkel der Verschiebung
entsprechend. Eine regelmäßig reine Beurteilung der Verschiebung
war auch bei Veränderungen von i cm und darüber nicht zu er-
reichen.
Zur Erklärung dieser Erscheinungen ist es naheliegend, an Augen-
bewegungen zu denken. Das Instantane der tachistoskopischen Dar-
bietung verleitet ja besonders zu Augenbewegungen, und durch das
unvermeidbare Geräusch, das bei Auswechselung des Objektes durdi
das Fallen des Spiegels verursacht wurde, mögen solche reflektorische
Bewegungen noch verstärkt worden sein. Daß dann die Wirkung
dieser Augenbeweg^ngen sich nicht als eine gleichmäßige Streuung
äußerte, sondern so eigentümlich die vertikale Richtung bevorzugte,
erinnert unmittelbar an den bekannten Beweg^ngsmechanismus des
Auges. Immerhin kann ein solcher Erklärungsversuch natürlich nicht
bewiesen werden. Sicher ist nur, daß die Erscheinung nicht etwa
durch die Rotationsrichtung gegeben war. Denn abgesehen davon,
daß bei Akkomodation auf das Objekt keine Vorstellung von der
Bewegungsrichtung vorhanden war, blieb die Differenz zwischen der
Aufwärts- und Abwärtsverschiebung auch erhalten, wenn man das
Tachistoskop entgegengesetzt rotieren ließ (vgl. in der Tab. 11 die
letzte Kolumne der Werte von KL).
3. Gegenüber diesen extensiven Veränderungen war die Hellig-
keitsdimenaion subjektW wie objektiv stark benachteiligt, subjektiv
in der Schwierigkeit der Beachtung, objektiv in der Verschiedenheit
der Werte. Die individuellen Differenzen waren so g^oß, daß die
Mitteilung eines gemeinsamen Mittelwertes nicht angeht. Die Schwellen
schwankten zwischen ^^^ und y^ der Ausgangshelligkeit Die Be-
achtung von Helligkeitsunterschieden ist ja entsprechend den Anfor-
derungen des täglichen Lebens so wenig entwickelt, daß im Laufe
eines Semesters ein bleibender Zustand der Eingeübtheit kaum er-
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über abstrahierende Apperzeption. ^23
reicht werden kann. Außerdem muß man, um die großen Diffe-
renzen zwischen unseren Werten zu verstehen, unterschdden zwischen
der zeitweiligen Übung, mit der etwa ein Dilettant ein Musikstück
erlernt, und der Übung des Virtuosen.
n.
Doch kommt es uns hier nicht sowohl auf die Mitteilung absoluter
Werte an, als auf die Verhältnisse der Werte im wissentlichen und
unwissentlichen Verfahren. Zu letzterem wurde übergegangen, sobald
die wissentlichen Werte nur einige Konstanz zeigten.
I. Bei den Größenänderungen ergab sich der wissentliche Wert
der Vergrößerungsschwelle als völlig gleich mit dem unwissent-
lichen Wert, nämlich 0,3 mm. Möglich, daß bei einer Messung
in noch kleineren Einheiten sich eine geringe Differenz der Werte
herausgestellt hätte. Aber jedenfalls betrug diese noch nicht 0,1 mm,
und kleinere Werte als Zehntel Millimeter abmessen zu wollen, er-
schien bei der immerhin gebrochenen Linie der Irisblende unange-
messen. Wir wollen darum das Verhältnis der Schwellen als y, an-
setzen. Es besagt für die Auffassung der Größenveränderung bei
den verschiedenen Einstellungen der Apperzeption, daß der Ver-
größerung bei uneingeschränkter Auffassung ebenso starke apperzeptivc
Geltung zukommt wie bei wissentlicher Beachtung. Es ist dies zu-
gleich die einzige Veränderung, wo eine solche Übereinstimmung
zwischen dem wissentlichen imd unwissentlichen Werte auftrat.
Für die Verkleinerung dagegen stieg die Schwelle bei un-
wissentlichem Verfahren unverkennbar, gelegentlich bis zu i mm.
Das Verhältnis der wissentlichen Schwelle zur unwissentlichen be-
wegte sich zwischen 0,6 und 0,86; im Mittel betrug es 0,75. Es
besagt, daß der Verkleinerung im unwissentlichen Verfahren nur drei
Vierteile des Bewußtseinsgrades zukommen, den sie im wissentlichen
Verfahren erhalten kann.
Vergleichen wir die beiden Schwellenverhältnisse und die Schlüsse,
die wir daraus ziehen, so folgt, daß der Verkleinerung durch sub-
jektive Zuwendung mehr gewonnen werden kann, nämlich Yj des
unwissentlichen Wertes, daß ihr anderseits an sich selbst eine ge-
ringere apperzeptive Geltimg zukommt. Damit bestätigt sich der
Schluß aus den absoluten Schwellenziffem, den wir oben zu ziehen
28*
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^24 Kuno Kfittenzwey,
zauderten. Wir haben aber hier ausnahmsweise eine gewisse Be-
rechtigung, aus den Schwellenziifem verschiedener Veränderungen
bei gleicher Einstellung zu schließen, weU es Veränderungen des
gleichen Merkmals von verschiedenem Richtungssinne sind, während
Veränderungen verschiedener Hinsichten natürlich absolut unver-
gleichbar wären. Vollziehen wir aber diesen Schluß — und wir
können ihn anstellen an den absoluten Werten aus dem wissentlichen
Verfahren sowohl wie aus dem unwissentlichen — so zeigt sich will-
kommene Übereinstimmung mit dem Schluß aus den Verhältnissen.
Denn den größeren absoluten Werten entsprechen die größeren
Differenzen und damit die niedrig^eren Verhältnisziffem. Umgekehrt
ist uns diese Übereinstimmung eine wertvolle Bestätigung des Prinzips
von der Reziprozität der subjektiv und der objektiv bedingten Apper-
zeption, das wir oben (S. 392) nur an der alltäglichen Erfahrung
verdeutlichen konnten.
Wenn wir diese Verschiedenheit der beiden Veränderungen er-
klären wollen, so müssen wir uns gegenwärtig halten, daß wir es
mit einer Verschiedenheit des »Apperzeptionsanspruchs«, der ob
jektiv bedingten Apperzeption zu tun haben. Nun wissen wir schon
aus der Erfahrung des alltäglichen Lebens, daß sich diejenigen Ver-
änderungen unserer Aufmerksamkeit stärker aufdrängen, die im Sinn
der Anschwellung, Intensivierung verlaufen, und zu diesen gehört
auch die Vei^rößerung. Was also die Größenzunahme leichter be-
merkbar macht, ist dasselbe, was Lipps »Intensitätsenei^ie« ') nennt.
Dies wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, wie die
Vergrößerung objektiv geschieht. Sie ist Aufhellung der neu zum
Objekt hinzutretenden Teile. Wir haben ja oben ausführlich aus-
einandergesetzt, daß die extensiven Merkmale sich aufbauen aus
Intensitätsunterschieden. Die Vergrößerung ist also tatsächlich ein
Helligkeitszuwachs. — Freilich wollen wir schon hier bemerken,
daß zwischen Aufhellung und Verdunkelung kein derartig auffallen-
der Unterschied besteht wie zwischen Vergrößerung und Verkleine-
rung. Aber wir behaupten ja auch nicht, daß die Vergrößerung
eine Aufhellung des Objektes oder daß gar das Größenbewußtsein
ein Helligkeitsbewußtsein sei. Es kommt nicht nur an auf die Zunahme
») Leitfaden S. 31.
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Ober abstrahierende Apperzeption. ^25
der wirksamen Lichtenergie im ganzen. Wesentlich ist: die Auf-
hellung, welche die Größenveränderung ausmacht, ist Auihellui^
neuer Teile, und zwar gerade der Teile, die vorher die Grenzlinie
als unmittelbare Umgebung kontrastierend heraushoben; diese Teile
treten jetzt zum Objekt hinzu und machen es im ganzen ein-
drucksvoller. So gefaßt, kommt der extensive Charakter der Ver-
größerung voll zu seinem Rechte; die Vergrößerung erscheint her-
vorgebracht durch Intensitätssteigerungen, die extensiv hinzutreten
zu intensiv bevorzugten Teilen. Auf diesem Zusammenwirken von
Intensitätszunahme und extensiver Veränderung scheint mir das Ein-
drucksvolle der Vergrößerung zu beruhen.
Aber für uns waren ja schließlich die Veränderungen nur Mittel
zum Zweck, um daraus für die Struktur der Merkmale zu lernen.
Da zeigt sich nun deutlich, und wir haben es eben erst erwähnt, daß
der Kreis nicht aufgefaßt wird als geometrische Linie, sondern als
Material angefüllt mit Helligkeit im Gegensatz zur dunkleren Um-
gebung. Aber vielleicht können wir noch weiter schließen auf
die verschiedene Art, wie Kreis und Umgebung mit Aufmerksamkeit
bel^ sind. Die Umgebung wird anscheinend aufgefaßt von der
Kreislinie aus mit nach außen zu abfallendem Bewußtseinsgrad; un-
mittelbar an der hellen Grenze liegt, um im Bilde des Reliefs zu
bleiben, ein kraterartiger Ring von Bewußtheit, wie die Empfindlich-
keit gegen das geringste Vordringen beweist Dagegen scheint die
Benachteiligung der Verkleinerung zu beweisen, daß die Aufmerk-
samkeit auf dem Kreis nicht so dicht an der Grenze angesammelt
ist; sie scheint vielmehr über die ganze Scheibe auszustrahlen. —
Doch sollen dies natürlich nur Andeutungen sein; man müßte viel
speziellere Variationen verwenden, um hierüber etwas Bestimmteres
zu sagen.
2. Für die Lageveränderungen stiegen die Schwellen im un-
wissentlichen Verfahren regelmäßig und deutlich. Für das Verhältnis
der wissentlichen Schwelle zur unwissentlichen ergaben sich als Mittel-
werte bei Kl. 0,62, bei W. 0,68, bei L. 0,71. Die Unterschiede unter
den vier Richtungen traten auch hier wieder auf, insbesondere war
die Auflassung der Aufwärtsverschiebung benachteiligt. W. sah auch
hier zunächst eine elliptische Ausweitung nach oben, und erst bei
ziemlich großen Verrückungen stellte sich der Eindruck reiner Auf-
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A26 Kuno Mittenzwey,
wärtsbewegung unter Erhaltung der Kreisgestalt ein. Ich habe die
Schwellen für den Eindruck der Ausweitung in Klammem beigefugt;
dieser Eindruck herrscht dann noch bei den nächst größeren Ver-
änderungen, bis die Schwellen für die reine Aufwärtsbew^^ng
erreicht werden. Natürlich waren nur die letzteren Werte in Rech-
nung zu ziehen, weil sie allein den Anforderungen einer deutlichen
Veränderung genügten. Um diese Werte mit den wissentlidien in
ein brauchbares Verhältnis zu setzen^ war noch erforderlich, die
Werte für die Auf- und die Abwärtsverschiebung auf den Sdiätzungs-
wert des Reizes, den subjektiven Nullpunkt (bei W. 2 mm) zu redu-
zieren. Allerdings ist solche Reduktion bei unseren rein psycho-
logischen Untersuchungen nicht so unbedenklich wie bei den psycho-
physischen, wo die SchätzungsdifTerenz durch ihr Verhältnis zum
objektiven Reiz selbständige Bedeutung hat. — Erst gegen Sdiluß
der Versuche zeigte sich, daß der besprochene Fehler g^rößtenteüs
vermieden werden konnte durch eine bewußte Fixation des Auges
— also durch einen Vorsatz, der in der Aufmerksamkeitseinstellung
zunächst nicht enthalten ist. Kl. hatte diesen Vorsatz stillschweigend
während der Versuche durchgeführt, weshalb eine entsprechende
Reduktion unterlassen wurde.
Diese bewußte Fixation ist in doppelter Weise interessant Nicht
nur, daß sie das Bestreben zeigt, alle Veränderungen relativ aufzu-
fassen — findet man im Objekt keine Anhaltspunkte zu solchen
Relationen, so sucht man sie im beobachtenden Subjekt herzustellen.
Vor allem zeigt sie, wie durch die bewußte Beachtung eines Merk-
mals geradezu die Empfindungsgrundlage des Subjekts verändert
werden kann. Die Veränderung des Empfindungszustandes durch
assoziative Miterregung z. B. des Trommelfellspanners, ist ja bekannt.
Aber in diesen Fällen kommt die betreffende Spannung der ganzen
Sinnesempfindung mit allen ihren Merkmalen zugute. Spanne ich
dagegen die Bewegungsmuskeln des Auges, und zwar nicht zur
Fixation eines bestimmten Objektes, sondern so, daß ich das Auge
selbständig gegenüber dem beobachteten Objekt absolut festhalte,
so erreiche ich damit eine schärfere Auffassung nur von Verände-
rungen der absoluten Lage. Zugleich erlebe ich durch diese Fixation
das Merkmal der absoluten Lage viel intensiver, weil durch diese
Empfindungsgrundlage gestützt.
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Ober abstrahierende Apperzeption. ^27
Wenn wir aus den Schwellenverhältnissen auf die Auffassung der
Lage im einfachen Objekt schließen wollen, so zeigt sich, daß diesem
Merkmal durch einseitige Beachtung ein ziemliches Teil gewonnen
werden kann und daß ihm darum bei uneingeschränkter Auffassung
nur verhältnismäßig geringe Beachtung {^j^ der wissentlichen) zu-
kommt. Wir müssen dabei bedenken , daß doch die Beobachter
durch das wissentliche Verfahren auf die Auffassung der absoluten
Lage besonders eingeschult waren und sich auch im unwissentlichen
einer Lageänderung stets gewärtig halten mußten. Im alltäglichen
Leben dürften wir der absoluten Orientierung der Objekte noch viel
hilfloser gegenüberstehen.
3. Bei den Helligkeitsveränderungen endlich zeigten die Schwellen-
verhältnisse ebenso starke individuelle Differenzen wie oben die ab-
soluten wissentlichen Werte. Am energischsten sank die Schwelle
bei W.y bis auf drei Hundertteile der Ausgangshelligkeit. Als Mittel-
wert für das Verhältnis ergab sich 0,43. Die Niedrigkeit dieses Ver-
hältnisses beweist, daß die Feinheit des absoluten Wertes durch eine
starke subjektive Zuwendung der Apperzeption auf die Helligkeits-
qualität erreicht wurde, die eben in diesem Falle durch lange Übung
außerordentlich gesteigert war. Bei Kl. betrug das Verhältnis im
Mittel 0,66. Bei L. war bei den wenigen Versuchen, die ich mit
ihm zu machen Gelegenheit hatte, überhaupt kein Sinken bemerkbar.
Leider konnte mir dieser Beobachter nicht die Zeit zur Verfugung
stellen, daß ich hätte versuchen können, ob sich durch Übung der
wissentliche Wert vom unwissentlichen entfernte. Übrigens sei be-
merkt, daß der Beobachter sich keineswegs ganz im Anfangsstadium
der Übung befand; vielmehr brachte gerade er von stroboskopischen
Versuchen eine Übung zu derartigen Beobachtungen mit. — Daß
ich aber diese alleinstehenden Werte überhaupt notiere, geschieht
vornehmlich aus folgendem Interesse: Wir finden hier gerade wie
bei der Vergrößerung das Verhältnis 7,. Nun hatten wir schon in
den methodischen Vorbetrachtungen auseinandergesetzt, daß das
Schwellenverhältnis lediglich ein Verhältnis zwischen Zuwendung
und Eindrucksfahigkeit darstellt, daß wir aber diese beiden Größen
daraus nicht isolieren können. So besagt das Verhältnis Y, ledigUch,
daß die objektiv bedingte Auffassung ebenso stark ist wie die bei
hinzukommender Beachtung; es sagt aber nichts darüber, ob diese
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^28 Knno Mittenzwejr,
Übereinstimmung auf einer besonderen Intensität der Eindrucksfahig-
keit oder auf einer besonderen Schwache und Unfähigkeit der sub-
jektiven Zuwendung beruht. Wenn wir zu einem solchen Urteil
über die einzelnen Verhältnisgrößen gelangen wollen^ so müssen wir
versuchen, noch von anderwärts Bestimmungsstücke heranzubringen.
Dafür ist nun unser Fall lehrreich. Wenn wir den wissentlichen
Schwellenwert von L. mit denen anderer Beobachter vergleichen
("'^/loo g^cß ^/ioo)> wenn wir ferner den Schwellenwert zur Intensität
des Normalreizes in Beziehung setzen ('/j der Ausgangshelligkeit),
und wenn wir endlich an die Unterschiedsschwelle bei dauernder,
simultaner Vergleichung denken (Vxoo)- so werden wir nicht zweifeln,
daß die Übereinstimmung des wissentlichen und unwissentlichen
Wertes darauf beruht, daß der wissentUche Wert nidit zurückgeht,
daß also die erstrebte Beachtung nicht erreicht wird. Dagegen er-
scheint die Vergrrößerungsschwelle, auf den Normalreiz bezogen, so
fein, daß man kaum eine größere Leistung erwarten könnte; und
wenn hier die beiden Werte übereinstimmen, so werden wir das dem
schuld geben, daß der unwissentliche Wert nicht steigt, daß also
die Veränderung im unwissentlichen Verfahren ihre Eindrucksfahig-
keit behält.
Wir sehen also, daß wir hier aus dem Verhältnis '/, nicht den-
selben Schluß ziehen dürfen, den wir oben bei den Vergfrößerungen
anstellten. Von diesen einmaligen Werten bei L. abgesehen,
beweisen die Verhältnisziffern bei den anderen beiden Vp. und
namentlich die großen individuellen Differenzen, daß der Auffassung
der Helligkeit durch wissentliche Beachtung und vor allem durch
jahrelange Übung viel gewonnen werden kann, und dies beweist
wiederum, daß dem Helligkeitsgrad bei der uneingeschränkten Auf-
fassung des Objektes nur verhältnismäßig geringe apperzeptive Gel-
tung zukommt. Das steht nicht damit in Widerspruch, daß, wie
wir wiederholt auseinandersetzten, das ganze Objekt sozusagen aus
Helligkeit aufgebaut ist. Denn daß der Eindruck des Kreises zu-
stande kommt, dazu bedarf es nur der Auffassung der Helligkeit
überhaupt und der weit überschwelligen Differenz gegen den Hinter-
grund, nicht aber der Auffassung des speziellen Helligkeitsgrades,
welche durch die Schwellen für die Helligkeitsveränderungen ge-
messen wird.
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Ober abstrahierende Apperzeption. ^20
Halten wir nun die bei den verschiedenen Merkmalen gewonnenen
Verhältnisse aneinander^ um daraus zu schließen, welcher Bewußt-
seinsgrad ihnen zumal bei dimensional uneingeschränkter Apper-
zeption zukommt, so finden wir: Wenn wir eine Vorstellung >im
ganzen« auffassen, ohne ein Merkmal besonders zu beachten, so ver-
teilt sich gleichwohl die Apperzeption nicht auf die Merkmale der
verschiedenen Hinsichten gleichmäßig, sondern nach eigenartigen
Gesetzen, die durch die Struktur des speziellen Inhaltes und die
Einübung bestimmt sind. Dabei sind die relativen Merkmale, die
durdi die Gliederung des Objektes selbst gegeben sind, bevorzugt
vor den absoluten, und die in einer extensiven Mannigfaltigkeit ge-
gebenen Merkmale bevorzugt vor denen, die in einem intensiven
Kontinuum durch einen bloßen Grad bestimmt sind. Letzteres Er-
gebnis stimmt überein mit der Verlängerung der Reaktionszeiten bei
Unterscheidung von Intensitätsgraden*).
m.
Nachdem so ein ungefähres Bild von dem Anteil der Merkmale
bei uneingeschränkter Auffassung und von ihrer Besonderung bei
geflissentlicher Beachtung gewonnen war, schenkte mir Herr Pro-
fessor W. noch einige Versuchsstunden, um die Vernachlässigung
der unbeachteten Merkmale zu untersuchen. Wir haben ja schon
gesehen, daß man berechtigt ist, auch die Werte für die bei wissent-
icher Einstellung vernachlässigten Merkmale mit den bei vollstän-
diger Unwissentlichkeit gewonnenen in Beziehung zu bringen, haben
auch gesehen, wie die Ableitung solcher Werte versuchstechnisch
möglich ist Ich teile die Werte in der Tab. IV mit. Sie zeigen,
wie die Schwellen der beachteten Dimension dabei ziemlich (wenn
auch nicht durchaus) in der Kleinheit erhalten blieben, die sie ein-
genommen hatten, wenn nur Veränderungen der beachteten Hinsicht
dargeboten wurden. Die Schwellen der unbeachteten Hinsiditen da-
gegen erhoben sich deutlich über den wissentlichen Wert. Am
deutlichsten zeigte sich bei den wiederum verwendeten drei Einstel-
lungen auf Größe, Lage und Helligkeit die Vernachlässigung der
Helligkeit, wo sie unbeachtet war. Daneben wurde versucht, die
») Vgl. Wnndt, Phys. Psych. UI ', p. 456.
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^\0 Knno Mittenzwey,
Aufmerksamkeit auf eine einzige Richtung in der Raumdimension,
speziell auf Rechtsverschiebungen zu konzentrieren. Hier erhoben
sich aber die Schwellen der unbeachteten Raumrichtungen nicht über
den wissentlichen Wert; es zeigte sich nur eine Bevorzugung der hori-
zontalen Verschiebung überhaupt. Die einzelne Richtung im räumlichen
Kontinuum ist also den anderen Richtungen gegenüber viel unselb-
ständiger als den anderen Hinsichten gegenüber. — Auf jeden Fall
ist hervorzuheben: die Schwellen der unbeachteten Hinsichten stiren
liicht oder kaum über die unwissentlichen Werte. Wo wir aber
auch ein solches Steigen wahrnehmen als Ausdruck einer Vernach-
lässigung, können wir damit doch ziemlich wenig anfangen. Die
Zahlen würden offenbar beredter werden, wenn wir sie in Beziehung
setzen könnten mit der Einschränkung auf ein räumliches Gebiet
und der daraus folgenden Vernachlässigung. Darum wurde eine ein-
gehendere Untersuchung verschoben auf die Versuche mit mehreren
Objekten, wo sowohl die Beschränkung nach Hinsichten wie nach
der Zahl der Objekte möglich ist. Immerhin lassen die wenigen
hier angestellten Versuche bereits erkennen, daß die Abstraktion
wesentlich eine positive Zuwendung ist. Das » Absehen < ist nur
ein geringes; die vernachlässigten Hinsichten sind fast ebensogut
mitbeachtet wie im unwissentlichen Verfahren. Dies beweist, daß
das Zusammensein der verschiedenen Hinsichten in einer Vorstellung
nur unvollkommen apperzeptiv zerlegbar ist, und daß die unbeach-
teten Hinsichten stets in gewissem Grade im Bewußtsein vorhanden
und am Aufbau der Vorstellung beteiligt sind.
IV.
Dies fuhrt uns sofort auf die gegenseitigen Beziehungen zwi-
schen den Merkmalen der verschiedenen Hinsichten. Wir haben ja diese
Merkmale bisher etwas »atomistisch« behandelt Denn uns war daran
gelegen, nicht nur ihre Verselbständig^ng in der Abstraktion zu
studieren, sondern auch ihre selbständige Gradbestimmtheit in der
abstraktionslos apperzipierten Vorstellung, wo sie anscheinend un-
getrennt beieinander liegen, zu erweisen. Jetzt hat uns die geringe
Möglichkeit der Vernachlässigung die Grenzen dieser Selbständigkeit
angedeutet: und da werden wir uns fragen, ob wir noch andere
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über abstraliierende Apperzeption. ^jl
Zeichen für einen engeren Zusammenhang auffinden. Dazu erinnern
wir uns, wie ein solcher Zusammenhang bei Versuchen nach der
Vergleichsmethode wirksam werden kann. In dem Maße, sahen wir,
als ein Merkmal den Bewußtseinsgrad einer anderen unterstützt, kann
es an dem Heraustreten mitbeteiligt sein und darum der Beurteilung
der Verändertheit mit unterliegen.
Es geschieht nun tatsächlich bei den berichteten Versuchen sehr
häuiigy daß objektiv konstant erhaltene Merkmale assimilativ als ver-
ändert erscheinen. Solche Assimilationen werden in der Regel als
Mehrbestimmungen neben der erkannten objektiven Veränderung
angegeben; sie können aber auch als einzige Aufgabe auftreten. Sie
sind zumeist mit einer gewissen Unsicherheit verbunden , können
aber auch den größten Sicherheitsgrad erreichen. Sie werden am
häufigsten von unterschwelligen Veränderungen hervorgerufen, weil
hier das veränderte Element die stützenden Merkmale weniger weit
hinter sich läßt; doch werden sie auch durch weit überschwellige
Veränderungen nicht mit Sicherheit ausgeschlossen. Ihr breit&tes
Vorkommen ist im unwissentlichen Verfahren; bei wissentlicher Ein-
schränkung sind sie, wenn die gegebene Veränderung der beach-
teten entspricht, weit seltener, werden aber auch hier von sorgfal-
tigen Vp. des öfteren angegeben.
Es fragt sich nun, ob die Beziehungen zwischen den Hinsichten,
die in den Assimilationen zum Ausdruck kommen, allerseits gleich
eng sind, oder ob besondere Verwandtschaffebeziehungen bestehen.
Hier zeigte sich eine außerordentliche Bevorzugung der Assimila-
tionenketten: heller — größer — höher und dunkler — kleiner — tiefer.
Ein aufgehellter Kreis wurde sehr häufig gleichzeitig, oft auch
ausschließlich als vergrößert bezeichnet. Häufig wurde auch eine
Vergrößerung als gleichzeitige Aufhellung beurteilt, aber nur selten
trat der Eindruck der Vergrößerung gegen den der Aufhellung voll-
ständig zurück. Die Aufwärtsbewegung endlich wurde mit außer-
ordentlicher Vorliebe als Vergrößerung bezeichnet und nur als Ver-
größerung, so z. B.
Kreis 4 mm aufwärts verschoben. Urteil: größer (absolute Sicher-
heit). (W.)
Die Helligkeitsassimilation trat bei objektiver Aufwärtsbewegung
gelegentlich zu der Größenassimilation hinzu:
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^^2 Kuno Mittenzwey,
Kreis 3 mm aufwärts verschoben. Urteil: größer, heller (Kl.);
niemals unmittelbar an die Erkennung der Aufwärtsbewegung heran.
Die Umkehrung y daß ein aufgehellter oder vergrößerter Kreis
als gehobener beurteilt worden wäre, kam nicht vor.
Die Assimilationenkette dunkler — kleiner — tiefer bildet hierzu
das Gegenstück; nur daß »tiefer« öfter genannt wurde als vorhin
»höher«. Ich begnüge mich mit ein paar Beispielen für die vor-
erwähnten Arten:
Durchmesser um 0,9 mm verkleinert. Urteil: kleiner, dunkler,
nach unten und wenig nach rechts verschoben. (Kl.) —
Durchmesser um 0,8 mm verkleinert. Urteil: dunkler, tiefer. (W.)
Helligkeit "/,^^ dunkler. Urteil: dunkler, kleiner. (Kl.) —
Helligkeit %o^ verdunkelt. Urteil: kleiner, dunkler. (Reihen-
folge!) (W.) —
Dieselbe Veränderung. Urteil: dunkler, tiefer. (W.) —
Die bei einer noch tmterschwelligen Veränderung gewonnene
Assimilation bleibt bei einer darauf folgenden überschwelligen er-
halten:
Kreis i*/, mm gesenkt: Urteil: tiefer und kleiner.
» 3 mm > : Urteil: tiefer und viel kleiner. (W.)
Die Assimilation war durch die Aufgabe der Lagebeachtung be-
sonders nahe gelegt bei folgender Versuchsreihe:
Verkleinerung um 0,2 mm. Urteil: gleich
> » 0,4 mm. > tiefer
> »0,5 mm. > tiefer (Kl.)
> > 0,6 mm. > tiefer
» > 0,8 mm. > tiefer.
Ähnlich wie in vorstehendem Beispiele konnten auch die im un-
wissenüichen Verfahren auftauchenden Assimilationen durch hinzu-
tretende Aufmerksamkeitskonzentration verstärkt oder beseitigt wer-
den, z. B.:
Kreis 2 7a oam gehoben. Unwissentliches Urteil: höher, größer.
> > > Auftrag, die Größe zu beachten. Urteil:
größer.
> > > Auftrag, die Lage zu beachten. Urteil:
höher. (Kl.)
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Ober abstrahierende Apperzeption. a^^
Wenn man über die Ursachen dieser Assimilationen und der in
ihnen ausgedrückten Verwandtschaftsbeziehungen reflektieren will^
so muß man zunächst für die Verbindung zwischen Größe und
Helligkeit bedenken, daß die Veränderung der Ausdehnung des
hellen Objekts stets auch die Gesamthelligkeit verändert Für die
Beziehung zwischen der Ausdehnung der Gesamthelligkeit und dem
Helligkeitsgrad der einzelnen Stelle in dieser Gesamthelligkeit haben
sich periphere Bedingungen nachweisen lassen. Immerhin gelangen
die daran angeschlossenen Versuche, die Intensitätsänderung durch
Veränderung der Ausdehnung zu kompensieren, nur fiir verhältnis-
mäßig kleine Winkel. Darum möchten wir für unser großes Objekt
diese Erklärung zu ergänzen suchen. Dazu bemerken wir, daß die
Größen- und Helligkeitsveränderungen von gleichem Richtungssinne
assimilieren; es ruft also die Veränderung einer Hinsicht die Ver-
änderung in einer anderen Hinsicht vom gleichen Richtungssinn
angleichend hervor. Diese angleichende Wirkung geschieht viel-
leicht durch Vermittlung des begleitenden Gefühls. Wenigstens sind
Beweis dafür Urteile wie »eindrucksvollere, »minderwertiger«, die
nicht nur selbst eine gewisse Gefühlswertung enthalten, sondern auch
in der Regel mit Gefuhlsbetonung ausgesprochen werden.
Für die Assimilationen der Aufwärts- und Abwärtsverschiebung
mag es dann dahingestellt bleiben, ob sie etwa durch begleitende
Bewegungsempfindungen einen gleichen Intensitätsgegensatz des an-
und abschwellenden Richtungssinnes darstellen, der dann ebenfalls
vermittels der Gefühlswirkung den beiden anderen Gegensätzen an-
geglichen wird. Vielleicht kann man auch zur Erklärung auf den
natürlichen Horizont rekurrieren, demgegenüber eine Erhöhung als
Entfernung in der Tiefe, eine Senkung als Annäherung sich dar-
stellen und demgemäß bei gleichem Gesichtswinkel eine Vergröße-
rung bzw. Verkleinerung erscheinen lassen. Daß bei der Beobach-
tung keine Tiefenveränderung zum Bewußtsein kommt, wäre dagegen
kein Einwand, da ja die Orientierung des Objektes in der Tiefe
stets vernachlässigt wird.
V.
Die Beziehungen unter den verschiedenen Veränderungen, welche
in den Assimilationen zum Ausdruck kommen, eigens zu untersuchen
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434 Kuno Mittenzwey,
geben Versuche mit mehrfachen Variationen ein Mittel. Es ist zu
erwarten, daß Variationen, die in assimilativer Verwandtschaft stehen,
bei gleichzeitiger Darbietung sich in der Erkennung begünstigen.
Man vergleiche daraufhin folgende Beispiele (die folgenden Versuche
sämtlich bei Helligkeitsbeachtung):
^1^^^ dunkler, 0,5 mm kleiner. — Urteil: ganz sicher dunkler, kleiner.
7xoo heller, 0,3 mm größer. — Urteil: ganz sicher größer, ganz sicher
heller. (W.)
%oo dunkler, 0,5 mm tiefer. — Urteil: dunkler, tiefer. (KL)
Diese Urteile beweisen zunächst gar nichts, denn man kann ja
nicht entscheiden, ob die richtige Angabe zweier sehr feiner Ver-
änderungen tatsächlich auf Erkennung oder aber teilweise auf zufallig
richtiger Assimilation beruht. Man muß aber bedenken, daß die
mitgeteilten Beispiele von der Regel abweichen. Der regelmäßige
Fall bei gleichzeitiger Darbietung mehrerer nicht allzu überschwel-
ligen Variationen ist der, daß die zuerst erkannte Variation nach
dem Gesetz der psychischen Stauung die gesamte Aufmerksamkeit
an sich reißt zu Ungunsten der anderen Variation, z. B.
*/,oo dunkler, 0,3 mm größer. — U.: ganz sicher dunkler, Größe
gleich.
%oo dunkler, 0,3 mm größer. — U.: größer, Helligkeit gleich. (W.)
7,^ heller, 0,5 mm kleiner. — U.: kleiner, dunkler.
Dieselbe Darbietung. — U.: heller, größer.
Dieselbe Darbietung. — U.: kleiner, dunkler. (Kl.)
Welche von den konkurrierenden Veränderungen den Vorrang
erhielt, war vornehmlich von den Wirkungen der unmittelbar voraus-
gegangenen Versuche (Summations- und Kontrastwirkimgen) ab-
hängig. Jedenfalls war nicht ohne weiteres die größere Verände-
rung bevorzugt. Darum wäre auch die Feststellung von Schwellen
hier schwierig und gar für unsere Frage zwecklos gewesen. Bei ge-
nügender Vergrößerung der einen Variation gegen die andere hätte
sich vielleicht ein Punkt der sicheren Überlegenheit dieser Variation
gewinnen lassen. Derartige Schwellen wären aber keine Maßstäbe
für die Konkurrenz der Merkmale, sondern für die Konkurrenz der
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über abstrahierende Apperzeption. 40 e
Stauungen ihrer Veränderungen, und darum mit den vorher mit-
geteilten Werten unvergleichbar. Darum wurden diese Versuche
nicht weiter verfolgt.
VI.
Das wesentliche Ergebnis der Versuche am einfachen Objekt
ist, daß der Beachtungseffekt bei den einzelnen Merkmalen verschie-
den groß ist Da die Beachtung selbst ihrer Art nach dieselbe ist,
so ist diese Verschiedenheit nur dadurch zu erklären, daß den ein-
zelnen Merkmalen schon bei beachtungsfreier Auffassung verschie-
dene »Auffälligkeit«, Eindrucksfahigkeit zukommt. Damit ist er-
wiesen, daß die Merkmale nicht die begrifflichen Attribute einer
»einfachen« Vorstellung sind, sondern daß sie auch bei beachtungs-
freier Auffassung psychische Selbständigkeit haben. Diese Selb-
ständigkeit darf man aber nicht etwa im realistischen Sinne miß-
verstehen, als meinten wir, diese Merkmale wären einfachste psy-
chische Elemente, und die einfachen Empfindungen das Produkt
ihrer realen Vereinigung (wie bei Stumpf der Verschmelzung). Die
Merkmale in dieser Weise absolut zu vervollständigen, verbietet
schon die Unselbständigkeit der Kontinuen (oben S. 382). Überhaupt
untersuchen wir die Selbständigkeit der Merkmalsgrade bei unpoin-
tierter Auffassung nicht aus Gründen der Realitätsfrage, sondern um
sie dem Gradgewinn bei der Beachtung gegenüberzustellen und
daraus die Leistung der abstrahierenden Apperzeption zu erkennen.
— Auf die Größe der Gradverschiedenheit kommt es hier nicht an;
die war ja doch bei unseren Versuchen abhängig von dem willkürlich
gewählten Normalobjekt Darum wäre es auch zwecklos, die Ver-
suche zu häufen zur Erlangung sorgfaltiger Mittelwerte. Denn diese
Zahlen sind ja keine psychischen Konstanten wie etwa die Unter-
schiedsschwellen, sondern haben lediglich exemplifikatorischen Wert.
Man könnte nun weiter gehen und in verschiedenen Versuchsreihen
die Verhältnisse der Merkmalsgrade im Normalobjekt variieren. Dann
erhielte man Aufschluß z. B. über die Abhängigkeit der Eindrucks-
fahigkeit der Helligkeit vom Helligkeitsgrade bei konstanter Größe
und konstantem Hintergrund — sehr reizvolle Probleme (deren Lö-
sung vielleicht auch Aufschluß über die Abhängigkeit der Gefühls-
wirkung von der Reizintensität gäbe), welche im unmittelbaren Fort-
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^j6 Kuno Mittcnzwey,
gang unserer Untersuchung liegen. Doch werden wir unser Problem
nach andrer Richtung weiterfuhren.
Auch die an unserem konstant gehaltenen Objekt gewonnenen
Zahlen liefern schon manches Ergebnis, das über die Zufälligkeit des
Normalobjektes hinaus gültig sein dürfte. Da ist zunächst die große
Distanz in der Auffassung absoluter und relativer Merkmale. Wir
haben gesehen, wie man sich bemüht, zur Auffassung der Lage
irgend welche Relationen herzustellen. Aber wie, wenn die Auffassung
relativer Merkmale erleichtert ist, hätte dann Hume nicht doch
recht? Wenn die Lage als Orientierung zum Objekt, die Helligkeit
als Verhältnis zum Hintergrund aufgefaßt wird, bestehen dann die
Merkmale nicht überhaupt bloß in diesen Beziehungen zu dritten
Gegenständen? Das wäre ein grobes Mißverständnis. Denn dies
sind bei näherem Zusehen nicht die Relationen, mit deren Hilfe
Hume das Abstraktionsphänomen erklären will, sondern sie ent-
sprechen dem allgemeinen psychischen Prinzip der beziehenden Re-
lationen; sie eignen nicht den Abstraktionsvorgängen im besonderen,
sondern dem psychischen Leben überhaupt.
Unter den relativen Eigenschaften hatten wir einen Unter-
schied zwischen den intensiven und extensiven Merkmalen aufgefun-
den. Leider konnten wir die Empfindungsqualitäten nur in der
Helligkeit untersuchen und wissen darum nicht, ob die Benach-
teiligung den Empfindungsqualitäten überhaupt gegenüber ihren Ver-
schmelzungsprodukten zukommt. Aber gerade die Schwierigkeit der
Reizmessung, weswegen wir die Untersuchung von Farbe und Sätti-
gung unterließen, ist ja nichts anderes als die Schwierigkeit der
Abstufung in der psychischen Schätzung. So erhalten wir eine un-
gefähre Bestätigung dafür, daß die Merkmale der konstituierenden
Empfindungen benachteiligt sind gegenüber den extensiven Vor-
stellungsmerkmalen. Diese Verschiedenheit ist rätselhaft, wenn man
intensive wie extensive Bestimmungen nach Art der formalen Logik
als Merkmale koordiniert; sie wird sofort begreiflich, wenn man die
verschiedene psychische Stellung in Betracht zieht, daß nämlich die
extensiven Merkmale Verschmelzungsprodukte sind.
Doch ist die Sache nicht so einfach. Wesentlich kommt hinzu,
um die Überlegenheit der extensiven Merkmale zu begründen, daß
wir mit einer einfach zusammenhängenden Fläche, mit einer ein-
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über abstrahierende Apperzeption. Aiy
fachen Kreislinie als Begrenzung, also mit den einfachsten Einheits-
bildungen arbeiteten. Eine Änderung dieser Verhältnisse steht zu
erwarten, wenn wir zu komplizierteren und loseren Einheiten vor-
schreiten, die sich in einfachere Bestandstücke gliedern. Die Unter-
suchung solcher Komplexe aus »selbständigen« Teilen wird uns dann
erst die E^enart des Merkmabkomplexes der einfachen Vorstellung
recht erkennen lassen.
Höhere Einheiten.
Die Komplexe, Gesamtvorstellungen, höheren Einheiten, G^en-
stände höherer Ordnung pflegt man vulgär so von dem Merkmals-
komplex der einfachen Vorstellung zu unterscheiden, daß ihre kon-
stituierenden Teilgegenstände realiter abtrennbar sind, während den
unselbständigen, »idealen« Teilen der einfachen Vorstellung keine
selbständigen Objekte der Außenwelt entsprechen. Wir wollen diese
Unterscheidui^ zur ersten Verständigung beibehalten, trotz ihres
anißenweltUchen Kriteriums; zumal da der Realteilung nicht sogleich
die aq)perzeptive Zerlegung substituiert werden kann. Denn wollte
man, um ein rein psychologisches Kriterium zu geben, die Komplexe
definieren als Ganze^ welche »ohne weiteres«, »von selbst« in niedere
Einheiten zerfallen: so müßten wir dagegen erinnern, daß auch die
abstrakten Teilinhalte, und zwar mit verschiedener Leichtigkeit, ver-
selbständigt werden können, und daß anderseits die >realen« Teile
aus einem höheren Ganzen niemals ohne ihre nächste Umgebung
psychisch abgetrennt werden können. Besser als durch ihre Zer-
l^[ung können wir die beiden Arten Komplexe vielleicht durch ihre
Zusammensetzbariceit imterscheiden. Zu einem Gesamtgegenstand
können nämlich inmier neue Elemente hinzugefugt werden — in
welcher Tatsache der Begriff des Unendlichen seinen psycholog^chen
Ursprung hat. Dagegen kommen die unselbständigen Teilinhalte
immer nur in den Komplexionen vor, die durch die verschiedenen
Siime^ebiete gegeben sind, und der Komplex der einfachen Vor-
stellung bildet ein gewisses abgeschlossenes, weiterer Zufiigung un-
zugängliches Ganze. Den Unterschied in seinem ganzen Wesen
werden wir aber erst erkennen, wenn wir den Aufbau der höheren
Einheiten näher analysieren.
Wandt, Psychol. Studien II. 29
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^^8 Kimo Büttenzwey,
Die Auffassung dnes Gesam^^enstandes denkt sich mm die vul-
gäre Psychologie in grob realistischer Weise rein summierend. Als
ein Idassisches Zeugnis hierfür sei eine Stelle aus Lessing angeführt:
»Wie gelangen wir zu der deutlichen Vorstellung eines Dinges im
Räume? Erst betrachten wir die Teile desselben einzeln ^ hierauf
die Verbindung dieser Teile, und endlich das Ganze. Unsere Sinne
verrichten diese verschiedenen Operationen mit einer so erstaunlichen
Schnelligkeit, daß sie ims nur eine einzige zu sein bedünken, und
diese Schnelligkeit ist unumgänglich notwendig, wenn wir einen Be-
griflf von dem Ganzen, welcher nichts mehr als das Resultat von den
Begriffen der Teile und ihrer Verbindungen ist, bekommen sollen« *).
Ganz ähnlich äußert sich Kant »Wir können uns doch mittelbar
bewußt sein, eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar
uns ihrer nicht bewußt sind. Dergleichen Vorstellungen heißen dann
dunklere. — Wenn ich weit von mir auf einer Wiese einen Menschen
zu sehen mir bewußt bin, so schließe ich eigentlich nur, daß dies
Ding ein Mensch sei; denn wollte ich darum, weil ich mir nicht be-
wußt bin, diese Teile des Kopfes (und so auch die übrigen Teile
dieses Menschen) wahrzunehmen, die Vorstellung derselben in meiner
Anschauung gar nicht zu haben behaupten, so würde ich auch nicht
sagen können, daß ich einen Menschen sehe; denn aus diesen Teit-
Vorstellungen ist das Ganze (des Kopfes oder des Menschen) zu-
sammengesetzt«"). Man sieht hier deutlich, welche Schwierigkeiten
sich der vulgären Psychologie erheben. Die alltägliche Erfahrung
lehrt, daß das Ganze aufgefaßt werden kann, ohne daß die kon-
stituierenden Elemente deutlich gegeben sind; nun wird aber die Ge-
samtvorstellung für ebenso aus den Elementen aufgebaut erklärt wie
das reale Gesamtobjekt aus seinen Teilen: folglich bleibt nichts übrig,
als die TeÜvorstellungen irgendwie zu hypostasieren. In der Tat hat
ja die Frage, wie, grob gesprochen, das Ganze vor den Teilen auf-
gefaßt werden könne, des Rätselhaften genug.
Gegenüber der skizzierten, roh summierenden Erklärungsweise hat
nun die österreichische Schule mit Nachdruck auf die eigne Bedeu-
tung der höheren Einheiten und ihre relative Unabhängigkeit von den
«) Uokoon, XVII.
*) Anthropologie, § 5.
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über abstrahierende Apperzeption. /^yg
konstituierenden Elementen hingewiesen. Seit Ehrenfels seinen
Artikel über Gestaltqualitäten geschrieben hat, ist ja bekanntlich das
Thema G^enstand vielfacher Diskussion gewesen^) — gerade als ob
es erst jener Anregung Machs bedurft hätte, von der Ehrenfels
ausgeht, und als ob Wundt nicht früher schon auf das Schöpferische
der psychischen Synthese hingewiesen hätte. Das wesentliche Er-
gebnis jener Diskussion scheint mir in der Hervorhebimg der Trans-
ponierbarkeit zu bestehen, d. h. der Tatsache, daß die Eigenschaften
des Ganzen als solchen bei gleichmäßiger Änderung der Bestand-
stücke erhalten bleiben — woraus hervorgeht, daß diese Eigen-
schaften nicht so in der absoluten Bestimmtheit der Merkmale der
Teile, als in ihren gegenseitigen Verhältnissen gründen. Was aber
in jener Diskussion m. E. zu wenig berücksichtigt worden ist — und
es hängt das mit der ganzen etwas formalistischen Untersuchungsweise
zusammen — ist das Gradverhältnis der Merkmale des entdeckten
selbständigen Ganzen zu den Merkmalen der Elemente. Darum g^t
auch die Analyse mehr einer dauernd gegebenen Gesamtvorstellung
als deren Zustandekommen, der Auffassung mehrerer Objekte.
Letztere Frage hat auf Meinongs Grundlage nur Witasek unter-
sucht") und hat für die Veränderungen der Elemente und die dadurch
hervorgerufenen Veränderungen der Komplexe folgende Merklichkeits-
verhältnisse unterschieden^):
Verschiedenheiten
der Komplexionen
merklich
unmerklich
unmerklich
merklich ausgeschlossen.
Diese Übersicht leidet — abgesehen davon, daß sie nicht aus
Versuchen, sondern aus der Erfahrung des alltäglichen Lebens ab-
geleitet ist — daran, daß auf die Aufmerksamkeitsverteilung keine
Rücksicht genommen ist. Die Merklichkeitsangaben für die Verän-
der Bestandstücke
1.
Fall
merklich
2.
FaU
: merklich
3-
Fall:
unmerklich
4.
FaU
unmerklich
tatsächlich
nachweisbar
') Die Literatur oben S. 376 f.
^) Witasek, Beiträge zur Psychologie der Komplexionen. Z. f. Psych. XIV,
p. 401 ff.
3) Ebenda p. 433.
29*
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dcmngen der Komplexe gelten im aUgemeiiieii bei Beachtung des
Komplexes im ganzen, die für die Bestandstüdce bei Einschränkung
auf die Bestandstücke im einzelnen (nicht bd simultaner Auflassung
sämtlicher Bestandstücke als Elemente). Witasek erwähnt selbst,
daß im täglicfaen Leben auch andere Beziehungen zwisdien Beachtung
und Merkltchkeit vorkommen können, ohne näher darauf einzugehen.
Vor allem fehlt jede Untersuchung, wie bei gradweiser Zunahme der
objdrtiven Veränderung diese bemerkt wird, ob am Komplex oder
am Teilgegenstand — eben weil er keine experimentellen Unter-
sucfaungsmethoden anwendet
Wenn wir uns nun in der experimentellen Psydiologie nach Unter-
suchungen über die Auflassung von Komplexen umsehen, so finden
wir zunächst, daß in beinahe allen Apperzeptionsmessungen (außer
den letzten Wirthschen) eine Mehrheit von Elementen dargeboten
wurde und damit Gelegenheit zur Komplexionsbildung g^eben war.
Aber hier war bei all den Versuchen, welche mit einzelnen Budi-
staben, Figuren usw. angestellt wurden, das Bemühen darauf gerichtet,
die Elemente möglichst selbständig zur Auflassung zu bringen. Da-
rum vermied man nach Kräften alle deutlichen Komplexionsbildungen
— man machte Buchstaben und Figuren gleich groß, gab keine
Buchstabengruppen mit einheitlicher Bedeutungsassoziation') usw. — ;
ebenso war die Aufliassung darauf abgestellt, die Elemente in ihrer
Selbständigkeit zu erfassen. Dies Bemühen um gleichwertige Einzel-
elemente ging ohne weiteres aus der Absicht hervor, zahlenmäßige
Umfangsbestimmungen nach apperzeptiven Einheiten zu erhalten. So
führte dies Verlangen nach quantitativen Resultaten dazu, daß vor
allem die Apperzeption als zerlegende Apperzeption untersucht und
gefragt wurde: Wieviel Elemente können in einem simultanen Akt
apperzipiert imd dabei in ihrer Selbständigkeit aufgefaßt werden?
Wobei dann die Erkennung der Selbständigkeit als Maß des Apper-
zeptionsgrades fungierte. AU das ändert natürlich nichts daran, daß
das »Feld der Apperzeption eine einheitliche Vorstellung bildet, indem
wir die einzelnen Teile desselben zu einem Ganzen verbinden«').
Wird also bei diesen Versuchen nur ein Minimum an Vereinheit-
') Wnndt, Menschen- n. Tieweele 3, p. 264.
») Wnndt, Phys. Psych. IH », p. 334, cf. p. 528, 352.
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Ober abstrahierende Apperzeption. aa^
Udxung zugelassen, so kommen dagegen bei den Leseversuchen die
Einheitsbeziehungen vollständig zur Geltung. Hier hat nun bekannt-
lich schon Cattell gefunden, daß ein Wort und auch ein kürzerer
Satz »als ein Ganzes aufgefaßt« werden') — ohne des näheren zu
analysieren, wie dies Ganze zustande kommt Er behauptet nur, daß,
wenn das Ganze aufgefaßt ist, so auch die einzelnen Teile sehr deut-
lich erscheinen — ohne zu untersuchen, welcher von diesen beiden
Inhalten der abhängige ist. Hier beweisen nun die Verlesungs*
versuche, wie ein großer Teil von Elementen assimilativ ergänzt und
nur einzelne Buchstaben oder Teile derselben direkt aufgefaßt werden.
Man mag diese Tatsache durch Begriffe wie »dominierende Ele-
mente«'), » Gesamtform «^) beschreiben: jedenfalls zeigt sie, wie durch
den Zusammentritt mehrerer Buchstabenelemente zu einejn Wort-
ganzen eine Verschiebung in dem Apperzeptionswert der. Buchstaben
eintritt, der nicht in ihnen selbst, sondern nur in ihrer Stellung zum
Ganzen seine Ursache hat. Welche Elemente aber dabei den apper-
zeptiven Vorrang gewinnen, darüber ist außer ein paar elementarsten
Tatsachen (wie die verschiedene Geltung von ober-, unter- und mittel-
zeiligen Elementen) noch nichts Näheres angegeben worden. Denn
durch Berufung auf den »optischen Typus«, auf die »gröberen Züge«
des Wortes, durch Vergleich mit einer »rohen Skizze«^) wird lediglich
idem per idem bezeichnet, aber nicht einmal eine genaue Abgrenzung
der bevorzugten Teile, geschweige denn eine Reduktion der Bevor-
zugung gegeben. Die Leseversuche wären hierzu auch wenig ge-
schickt, weil die Vereinheitlichung durch eine Bedeutungsassoziation
zu komplizierend wirkt. Um hier etwas klarer zu sehen, wollen wir
darum an einfachere Tateachen erinnern.
Damit überhaupt eine Einheitsbildung erfolgen kann, ist erforder-
lich, daß (außer der subjektiven Zusammenfassung in einen Apper-
zeptionsakt) ein gewisses Mindestmaß an objektiver Übereinstimmung
gegeben ist. Diese besteht gewöhnlich, abgesehen von der räum-
lichen und zeitlichen Nachbarschaft, darin, daß die Elemente dem-
*) Phiios. stud. m, p. 127.
*) Wnndt, Pbys. Psych. III 5, p. 608.
^) Erdmann n. Dodge, a. a. O. p. 176.
*) ibid. p. 155, 176, 184 ugw.
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^2 Kuno hßttenzwey,
selben Sinne^ebiet angehören. Nur bei den Komplikationsversuchen
fehlt diese Übereinstimmung — die daraus resultierende Schwierigkeit
ist bekannt Wenn nun mehrere Vorstellungen desselben Sinnes-
gebietes simultan apperzipiert werden, so verlieren sie schon darum
an Klarheit, weil eine Erweiterung des Apperzeptionsumfanges auf
mehrere Einheiten stattfindet Wie aber dieser Verlust sich auf die
einzelnen Elemente verteilt, bestimmt sich (immer vorausgesetzt, daß
die Apperzeptionsfähigkeit allen Elementen subjektiv gleichmässig
erteilt wird und keine besondere Beachtung statthat) nach den ob-
jektiven individuellen Merkmalen der Elemente innerhalb des gemein-
samen Sinnesgebietes. Diese Merkmale bestimmen durch ihre
absolute Gradzahl (Intensität, Qualität etc.) die Eindrucksfahigkeit
der Vorstellungen, wenn sie einzeln zur Apperzeption gelangen;
wenn sie mit mehreren zusammentreten, bestimmt sich die Ver-
änderung der Eindrucksfahigkeit nach den gegenseitigen Ver-
hältnissen der Merkmale. Aber wohlgemerkt: diese Verhältnisse
stellen wir nur her zwischen vergleichbaren Merkmalen , d. h. zwischen
Merkmalen derselben Hinsicht. So bringen wir einen Ton mit anderen
Tönen nach seiner Qualität in melodische und nach seiner Intensität
in rhythmische Beziehungen, und melodischer und rhythmischer Ver-
lauf können von einander unabhängig sein. Zugleich sehen wir
schon jetzt folgendes: Wir hatten am verschiedenen Geltungswert
der Buchstaben eines Wortes erfahren und werden noch deutlicher
einsehen, wie durch die Beziehung eines Elementes zu anderen
Elementen eine Veränderung seines Klarheitsgrades erfolgt. Wenn
nun die maßgebenden Beziehungen zwischen Merkmalen derselben
Dimension stattfinden, so wird sich auch die Klarheitsverschiebung
innerhalb einer Dimension bewegen. Auf diese Weise führen die
Einheitsbeziehungen zur Verselbständigung der abstrakten Merkmale,
und zwar ist diese Verselbständigung unabhängig von subjektiver
Beachtung, rein aus objektiven Verhältnissen bedingt. So sieht ein
Laie an einem Spektrum zunächst nur die Farbqualitäten und denkt
vorerst nicht an ihre Helligkeiten. Umgekehrt, wenn verschiedene
Helligkeitsstufen gleicher Farbqualität gegeben sind. So erhalten
wir von dieser Seite Licht auf das psychogenetische Abstraktions-
problem. Umgekehrt beweist die Möglichkeit solcher Beziehungen
zwischen den abstrakten Merkmalen die Selbständigkeit dieser Merk-
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über abstrahierende Apperzeption. ^^
male. Hätte Hume recht, so wären alle diese Einheitsbildungen nur
begrifllicher Art').
Die Verhältnisse nun, die zwischen den verschiedenen Merkmalen
derselben Hinsicht stattfinden, können in Gleichheit, Widerstreit und
allen zwischenliegenden Graden der Verschiedenheit bestehen. Die
extreme Verschiedenheit ergibt den Fall der echten Konkurrenz: die
Elemente suchen einander zu verdrängen und mindern auf diese
Weise ihre Eindrucksfahigkeit. Finden dagegen Gleichheitsbeziehungen
statt, so verlieren die Bestandteile als einzelne Teile ebenfalls an
Eindrucksfahigkeit; zugleich aber treten die übereinstimmenden Merk-
male zu einer Einheit zusammen, welche ihrerseits apperzeptiv ge-
steigert ist. Sofern dann die Elemente Teile dieser Einheit sind,
gewinnen sie ebenfalls an apperzeptiver Bedeutung. Wenn ich z. B.
mehrere weiße Blumen zu einem Strauß vereinige, so treten die
Farbflecke zusammen zu einer Fläche, die im groben einen ungefähr
einfarbigen Eindruck macht, und diese ausgedehntere weiße Fläche
ist jetzt eindrucksvoller als das Weiß der einzelnen Blume. Insofern
der Strauß auffälliger ist als die einzelne Blume, ist eine Blume als
Teil des Straußes apperzeptiv günstiger gestellt als in der Vereinzelung,
hat sie mehr Aussicht, überhaupt apperzipiert zu werden. Anderseits
kommt eine Blume in ihrer Individualität im Strauß weniger zur
Geltung, als wenn sie einzeln gezeigt wird"*). Offenbar Hegen diesen
Erscheinungen simultane assoziative Verbindungen zugrunde, welche
aber nicht von der Innigkeit sind, daß sie als Verschmelzungen be-
zeichnet werden könnten. Denn für diese ist charakteristich, daß
die selbständigen Eigenschaften der Elemente in dem Verschmelzungs-
produkt untergehen; sie würden gegeben sein, wenn wir ausschließlich
weiße Farbelemente aneinandergereiht hätten. Demgegenüber haben
wir absichtlich ein etwas grobes Beispiel gewählt, wo zahlreich ein-
gehende fremde Elemente (Grenzlinien, Schatten, Tiefenvorstellungen
') Nach Harne beachten wir, wenn wir einen Körper hinsichtlich seiner Weiße
betrachten, seine Ähnlichkeit mit anderen weißen Objekten. Wenn wir also zwei
weiße Blumen nebeneinander halten nnd ihre Farbengleichbeit bemerken, bemerken
wir ihre Gleichheit in ihrem Verhältnis zu weißen Gegenständen, also jedenfalls zn
dritten Objekten. Das Erlebnis wäre also dasselbe, als wenn wir etwa ihre Über-
einstimmung hinsichtlich des Standortes konstatieren.
') Ähnlich exemplifiziert Lipps an der Melodie: Die Quantität in psychischen
Geaamtvorgängen, a. a. O. p. 393.
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A^^ Knno Mittenswey,
etc.) die Selbständigkeit der konstituierenden Teile garantieren.
Wir wollen diese Art der assimilativen simultanen Verbindungen,
welche wesentlich den Teilinhalten eine relative Selbständigkeit be-
lassen und doch zur Ausbildung eines simultanen Ganzen führen,
an das die Teile von ihrer Eindrucksfähigkeit verlieren, mit Lipps
»Absorption« nennen^). Allerdings wird die Bezeichung „Ab-
sorption" in der psychologischen Literatur auch für andere, viel
innigere Vereinheitlichungen gebraucht, bei denen auf psychischer
Seite überhaupt nur eine einfache Empfindung aufzuweisen ist, so
daß die Vereinheitlichung jedenfalls der physiologischen Reizung
zuzuschieben ist. So mißlich eine solche Zweiheit des Sprach-
gebrauchs ist^ so würde die Einführung einer neuen Bezeichnung
die Vielfältigkeit nur vermehren. Unsere „Absorption" ist wie die
Verschmelzung ein psychisch erkennbarer VereinheitlichungsprozeO
und mit dieser funktionsverwandt. Unterscheidend ist, daß die
Verschmelzung wesentlich zwischen einfachen Empfindungen statthat,
die Absorption dagegen zwischen Vorstellungen, welche selbst Ver-
schmelzungsprodukte sind. Damit ist schon gegeben, daß in der
Absorption die Vorstellungsteile ihre Selbständigkeit (als auf einer
Vereinheitlichung niederer Ordnung beruhend) bewahren*). Dies
kann nur so geschehen, daß die individuell verschiedenen Merkmale
nicht mit an der Absorption teilnehmen. So sehen wir jetzt aus
Gründen ein, was wir oben (S. 442.) nur anmerkten: daß die Ab-
sorption abstrakte Merkmale der Teilvorstellungen besondert. Diese
Auswahl geschieht nach Maßgabe der Gleichheitsbeziehungen der
Teile. Indem aber das Ganze nur die relativen Verhältnisse der
Merkmale der Elemente übernimmt, kommen die absoluten Be-
stimmungen vollends in Gefahr, apperzeptiv verloren zu gehen. So
kann die Qualität einer Farbe durch Zusammentreten mit zahlreichen
gleichfarbigen Elementen sehr zurücktreten gegen den entstehenden
') Ober psychische Absorption, Sitzangsbericht d. Mtinchener Akad. phil.-hist
IG. 1901, p. 549 ff. Hier stellt Lipps die Absorption der Verdräagnng scharf g«fear
über (p. 562). Im Leitfaden scheint er gelegentlich den Begriff als ttbergeoxdBet
ttber »Verdrängtmgc nnd >OberflieBen< zu fassen (p. 103).
^) Man könnte anch, wn diese Erhaltung der Selbständigkeit aussndrücken «ad
doch den Verschmelznngsbegrriff zu retten, von 9unyollkommener Verschmelzmi^
sprechen (cf. Wundt, Phys. Psych. 11^, 418). Nor wird in dieser Bezeichnung
idelleicht das wesentliche Merkmal der Verschmelzung durch das Beiwort derogievt.
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Ober abstrahierende Apperzeption. ^^5
Eindruck der Gleichfarbigkeit, wie sich besonders in der veränderten
Gefiihlswirkung (etwa der Öde) kundgeben kann. Auf der Un-
abhängigkeit des Ganzen von den absoluten Bestimmungen der
Teile beruht die Tatsache der Transponierbarkeit. Sie macht es
möglich, daß wir Einheitsbildungen, sogar verschiedener Sinnes-
gebiete, z. B. Rhythmen, unmittelbar miteinander vergleichen können.
Diese Transponierbarkeit bildet die wesentlichste Eigenschaft der
Komplexe, die aus cselbständigen» Einheiten aufgebaut sind'), und
zugleich das beste Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem Merkmals-
komplex der einfachen Vorstellung.
Bei unserem Farbenbeispiel sind nun die absoluten Bestimmungen
der Teile wenigstens insofern verhältnismässig direkt an der Bildung
des Ganzen beteiligt, als das Ganze in der einfachen Gleichheit der
absoluten Merkmale besteht. Bei den extensiven Anschauungsformen
ist die Gleichheit der absoluten Raum- und Zeitlage ausgeschlossen,
wenn überhaupt verschiedene Elemente gegeben sein sollen; Gleich-
heit ist hier nur möglich zwischen der relativen Verschiedenheit
mindestens dreier Elemente. Solche «Gleichheitsverhältnisse höherer
Ordnung» sind von vornherein auch denkbar zwischen Merkmalen
der Qualität — und hierauf beruht der Begriff des akustischen Inter-
valls — und der Intensität. Letzterer Fall findet Verwendung bei
Intensitätsmessungen nach der Methode der mittleren Abstufung.
Zugleich lehrt die Schwierigkeit dieser Versuche, wie die Auffassung
komplizierterer Relationen zwischen intensiven Bestandstücken er-
schwert ist. Daiiir ist zu bedenken, daß die intensive Ordnungs-
form eindimensional ist. Alle Einheitsbildungen aber aus rein
linearen Relationen erscheinen apperzeptiv benachteiligt gegenüber
den reicheren räumlichen Einheiten. Anderseits ist die eindimen-
sionale Ordnungsform die minimalste Bedingung für die Einheits-
bildung. Die Empfindungsqualitäten der niederen chemischen Sinne
ordnen sich nicht in ein stetiges System; darum sind auch keine
höheren Einheiten möglich. Ja nicht einmal zeitliche Einheiten
können hergestellt werden wegen der langdauernden Erregungsweise.
Da höhere Einheiten ausgeschlossen sind, so fehlen auch die Formal-
gefühle, und dies ist vielleicht der Grund, warum die Vorstellungen
*) So Höfler, Psychologie p. 153.
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^/^6 Kuno Mittenzwey,
der niederen chemischen Sinne zu ästhetischer Verwendung unfähig
sind. Wären diese Sinne kurzzeitiger Erregung fähig, so ist nicht
abzusehen, warum etwa Geruchsrhythmen nicht wohlgefäUig wirken
sollten, da Rhythmen in allen Sinnesgebieten, wo sie überhaupt
vorkommen, ästhetischer Wirkung fähig sind. Gegenüber dieser
Armut sind die räumlichen Einheitsbildungen aus Gesichtsvorstellungen
außerordentlich bevorzugt, weil sie in mehreren Dimensionen ge-
knüpft werden können und außerdem die Elemente des Ganzen
nicht punktuell sind, sondern selbst schon Ausdehnung aufweisen,
da sie selbst schon Verschmelzungsprodukte sind. Je grösser dieser
Reichtum ist, um so zahlreicher sind die relativen Bestimmungs-
stücke, die dem einzelnen Elemente durch den Zusammentritt mit
anderen erwachsen, umsomehr werden die absoluten Bestimmungs-
stücke in diesem dichten Relationengewebe verschwinden.
Und um so verschiedenartiger werden auch die vereinheitlichenden
Relationen. Die bisher nur erwähnte Gleichheit ist ja nur ein Fall
einer solchen Einheitsbeziehung. Immerhin wohl der wirksamste.
Es ist z. B. bekannt, um wieviel leichter Abweichungen von der
Symmetrie als von der Teilung nach dem goldnen Schnitt wahr-
genommen werden, was sich dann auch im Verlauf der Wohl-
gefalligkeitskurve ausdrückt'). Dies beweist, wieviel eindrucksvoller
das Gleichheitsverhältnis ist. Wie die Größengleichheit, so erleichtert
auch die Richtungsgleichheit die Auffassung zweier Strecken. Gleich-
heit ist es auch, welches am Rand eines Haufens verschiedener
Figuren, etwa einer Buchstabengruppe, eine deutliche Grenzlinie
heraustreten läßt. Denn während wir auf der Mitte einer Druck-
seite nur verschiedene Buchstaben sehen, überwiegt am Rande die
gleiche Verschiedenheit gegen die Umgebung und vereinigt die
Elemente zur Randlinie. Dies so stark, daß wir zeichnerisch solche
Gegenstände durch Konturen wiedergeben. Schließlich noch ein
Beispiel : wenn wir 2 Halbkreislinien gleicher Krümmung zu einem
Kreis zusammenlegen, also ihre Zentren zusammenfallen lassen,
so wird die Verschmelzung inniger, als wenn wir sie mit ver-
schiedenen Zentren zu einer 5- Linie zusammenlegen, das Kreisganze
wird eindrucksvoller, die Empfindlichkeit gegen Krümmungsänderungen
') Wundt, Phys. Psych. III 5, p. 149 f.
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Ober abstrahierende Apperzeption. aa-j
größer. Anderseits gehen die Bogen als Halbkreisbogen im Kreis
vollständig unter, während sie im 5 ohne weiteres erkannt werden. —
Man könnte so schließlich alle höheren Relationen in eine Gleich-
heits- und eine Verschiedenheitskomponente zerlegen und überall
die Gleichheit als einheitswirkend zu erweisen suchen. Ein solches
Beginnen wäre verlockend, weil es die Aussicht auf Ausnahms-
losigkeit gewährt, und doch scholastisch gegenüber dem Reichtum
der unmittelbaren Anschauung.
Daß aber überhaupt die Gleichheit einheitsbildend wirkt, ist eine
Tatsache, die nicht weiter reduziert, sondern nur mit der Einheit
und Begrenztheit der Apperzeption überhaupt in Beziehung gebracht
werden kann'}.
Wir haben also gesehen: Wenn mehrere Vorstellungen zumal
apperzipiert werden, so ist jedenfalls der Apperzeptionsgrad gegen-
über der isolierten Auffassung verändert. Widerstreitende Merkmale
verdrängen einander durch Konkurrenz, übereinstimmende werden
absorbiert durch eine Einheit, die sich über ihnen aus den überein-
stimmenden Relationen aufbaut und an Eindrucksfähigkeit gewinnt.
Jetzt löst sich auch jenes Problem, wie wir einen Menschen in
der Ferne erkennen können, ohne daß wir doch die Teile deutlich
haben. Auch schon am nahen Objekt sind die charakteristischen
Linien, der Umriß usw. apperzeptiv bevorzugt wegen ihrer Relationen
bei simultaner Apperzeption. Sie werden relativ verselbständigt und
besonders eingeübt. Dies ermöglicht die Erkennung auch dann,
wenn die apperzeptiv unbedeutenderen Teile fehlen, wie am Fern-
objekt. Daß dies hier der vulgären Psychologie so rätselhaft er-
scheint, liegt darin, daß am Nahobjekt die angeblich benötigte Auf-
fassung der Teile jeden Augenblick nachgeholt werden kann.
Letzteres Beispiel zeigt zugleich, wie durch die Klarheitsverteilung
bei Apperzeption eines Komplexes Elemente apperzeptiv minder-
wertig werden, welche innerhalb deutlich aufgefaßter Teile liegen.
Wollte man also in diesem Klarheitsrelief die Höhengrenze der
Apperzeption abstecken, was bei der stetigen Verschiedenheit der
Bewußtseinsgrade niemals ohne Willkür geschehen kann (etwa indem
man den Ausschluß assimilativer Verkennungen zum Kriterium des
') Ebenda S. 528.
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^^ Kttno Mittenzwey,
Apperdpiertsetns machte) : so würde man kein durchaus zusammen-
hängendes Gebiet erhalten, sondern Gipfel und Höhenzüge, etwa wie
in einer überschwemmten Hügellandschaft nur einige Erhebungen
über den Wasserspiegel emporragen. Man sieht also, wie bei
weiterer Ausdehnung das Apperzeptionsfeld seine räumliche Konti-
nuität verlieren und darum auch nicht mehr durch eine einfache
Umfangsgrenze bestimmt werden kann. Die Apperzeption erscheint
so wie eine poröse elastische Membran, deren Poren sich erst bei
weiterer Ausdehnung öffnen.
Was folgt nun aus alle dem für unsere Versuche? Zunädist
wollen wir die Apperzeption nicht auf soviel Elemente ausdehnen,
daß sich »die Poren öffnen«, andrerseits wollen wir den Ver-
teilungseffekt möglichst deutlich erhalten. Indem wir uns die Er-
fahrung früherer Autoren zu nutze machen, wollen wir 6 einfache
Objekte zugleich zur Darbietung bringen, und zwar einfache Kreise,
dem untersuchten vergleichbar. Um eine Messung überhaupt zu er-
möglichen, wollen wir »zwingende« Einheitsbeziehungen, deutliche
Unterordnungen usw. möglichst vermeiden und die Elemente in
Größe, Lage und Helligkeit möglichst indifferent gegeneinander zu
gestalten suchen. Andrerseits wissen wir, daß diese Einheitsbil-
dungen niemals vollständig vermieden werden können; wir werden
uns darum gegen ihre Wirkungen nicht verschließen. Wir werden
uns gewärtig halten, im Klarheitsrelief Verteilungen zu erhalten,
welche nur aus dem Zusammentritt zur Mehrheit erklärbar sind, wir
werden uns erinnern, daß wir mit jeder Veränderung der absoluten
Merkmale auch ihre Relationen verändern; schließlich werden wir
versuchen, auch die Auffassung des Ganzen in seiner Unabhängig-
keit von den Elementen zu entdecken, und dementsprechend Ver-
änderungen des Ganzen (Transpositionen) vornehmen.
Die zweite Anordnung.
Um ein Objekt von mehreren eng beieinander liegenden, selb-
ständig veränderlichen Kreisen herzustellen, war dieBlendenvorriditung
nicht mehr zu verwenden. Es machte sich notwendig, das Objekt
der 6 hellen Kreise dadurch zu erzeugen, daß 6 kreisrunde Löcher
in eine Kartonscheibe gestanzt und vor einem durchfallend erleuch-
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über abstrahierende Apperzeption. ^^
teten Schirm gezeigt wurden. Hierzu war natürlich nötig, daß soviel
Kartonscheiben hergestellt wurden, als Größen- und Lageverände-
rungen gezeigt werden sollten, während die Helligkeitsveränderungen
von der Gestalt der Scheiben selbstverständlich unabhängig erzeugt
wurden.
Für die Gestaltung der Anordnung folgt hieraus ein doppeltes:
Da das Pappobjekt selbst angeschaut wird und leicht beweglich ist,
so kann es selbst ausgewechselt werden und kann die Spiegelvor-
richtung wegfallen, die uns bisher zur Auswechslung diente. Ferner,
die 6 Kreise im Karton auszustanzen wird sich unpraktisch auf einer
Fläche vornehmen lassen, welche so klein ist, daß sie in bequemer
Sehweite ganz in das Gebiet des deutlichsten Sehens fällt. Man
wird praktisch eine etwas große Flache nehmen und aus größerer
Ferne sehen lassen. Um dabei Akkomodationsstörungen zu ver-
meiden, ist es angezeigt, durch ein Femrohr beobachten zu lassen.
Wird so das objekttragende Falltachistoskop vom Beobachter weg-
gerückt, so wird zugleich die Belästigung durch das erwähnte Fall-
geräusch willkommen gemindert.
Jetzt wird man die Beschreibung des zweiten Grundrisses verstehen.
TT (Fig. 2) sind wieder die Pfeiler des Falltachistoskopes, welches
diesmal mit seiner Front senkrecht zur Blicklinie des Beobachters
steht Zwischen diesen Pfeilern bewegte sich diesmal ein rechteckiger
Rahmen. Dessen Messingleisten trugen (außer den Nasen zur Auf-
lagerung und den Stiften zur Umlegung des Kontakthebels, alles wie
bei dem Spiegel der ersten Anordnung) zwei Paare von Bandfedern.
Diese gestatteten zwei Kartooscheiben von 85 mm' übereinander auf
dem Rahmen zu befestigen; sie gewährten eine schnelle Auswechse-
lung, während Führungsleisten und Haftepunkte auf dem Rahmen
dafür Gewähr boten, daß jede Kartonscheibe an denselben Ort kam.
Die Auswechselungsvorrichtung selbst war unverändert.
Die Beobachtung des Kartonobjektes geschah durch das Fem-
rohr ö, dessen Objektiv 128 cm von der Fläche des Objektes ent-
fernt ist Diese Entfernung war recht, um eine Kreisfläche von 7 cm
Durchmesser nach Maßgabe der Vergrößerung des Fernrohres noch
ganz in den Bereich des deutlichsten Sehens fallen zu lassen. Eine
so große Fläche nur sollte von der 8,5 cm' großen Kartonscheibe
gezeigt werden. Dadurch war man sicher, daß die Bandfedern,
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450
Kmio Ifittenzwey,
rf-^
T r
welche seitlich über den Rand des Kartons griffen, nicht sichä>ar
waren. Wie der über den Kreis von 7 cm Durchmesser hinaus-
ragende Teil der Pappscheibe verdeckt wurde, wird gleich gezeigt
werden. Die instantane Darbietung geschah wieder durch das Ro-
tationstachistoskop JR. C ist wieder der
Schleifkontaktbügel; die Kontaktschraube
D des ersten Grundrisses war diesmal am
FuD des Rotationstachistoskopes befestigt
und ist in der Figur we^elassen worden.
Aufgeschraubt war diesmal die von Wirth
angegebene Spi^elscheibe. Denn der
Grund, sie seiner Zeit zu beseitigen,
nämlich die Vermeidung von Haltepunk-
ten, war jetzt nicht mehr erheblich, da
nur Lageveränderungen innerhalb des
Komplexes g^eben wurden. Immerhin
wäre die Vorstellung der Drehbewegung
des Spiegels auch jetzt störend gewesen.
Um sie zu beseitigen, wurde vor den rotie-
renden ein ruhender Spiegel 5 aufgestellt,
auf welchem eine kreisförmige Stelle vom
Belag entblößt war, durch die der Durch-
blick auf das Objekt erfolgte. Dieser
Spiegel ließ also vom rotierenden Spiegel
nur ein kreisrundes Stück durch die freie
Stelle sehen; er verdeckte die Peripherie
und verhinderte damit die (namentlich
durch die Halteschrauben begünstigte) Drehvorstellung. Er ver-
hinderte aber noch mehr. Es ist nämlich trotz der sorgsamen Mon-
tage des Spiegels am Wirthschen Tachistoskop praktisch sehr schwer,
die Spiegelscheibe so zu befestigen, daß bei ihrer Drehung die ge-
spiegelte Fläche vollständig und in ihrer ganzen Ausdehnung zu
ruhen scheint. Nur zu leicht zeigt sich an irgend einem Punkte der
ganzen Ausdehnung eine leise Bewegung, die die Drehung verrät.
Da hier nur ein kleiner Teil der rotierenden Scheibe gezeigt wurde,
so wurde ein etwaiges Schwanken ganz unauffällig. — Ferner wurde
der durchsichtige Kreis dieses festen Spiegels so groß gemacht, daß
Fig. a. (V40 n»t- Gr.)
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über abstrahierende Apperzeption. ^ci
er gerade einen Kreis von 7 cm Durchmesser vom Objekt zu sehen
gestattete, also, da er sich in halber Entfernung befand, auf 3,5 cm.
Auf diese Weise verdeckte der Spiegel alle überschüssigen Teile des
Objektes. Endlich trug diese Spiegelscheibe in der Mitte des freien
Kreises einen Fixationspunkt. Wozu dieser erforderlich war, werden
wir später besprechen. Der Rand des freien Kreises des Spiegek
erschien vor der Spiegelscheibe des Tachistoskopes, so eng als mög-
lich daran gerückt, wie eine feine Kreislinie. In beiden Spiegeln war
die gleichmäßig weiße Fläche F sichtbar. Schließlich war es noch
nötig, daß das Spiegelbild des Okulars des Femrohres eliminiert
wurde. Denn obwohl die beiden Spiegel schräg zur Blicklinie ge-
stellt wurden, so tauchte selbstverständlich das Spiegelbild seitlich
immer wieder auf. Hier half der Rahmen /*, welcher ein wiederum
kreisförmiges Papierdiaphragma, dieses von weit größerem Durch-
messer genommen (etwa 20 cm), trug. Dieses, von ähnlichem farb-
losen Grau wie die Wand F genommen, schloß das Blickfeld im in-
direkten Sehen ab.
Die Schaltungen, welche bei Stromschluß mit Hülfe des Tasters
Z den Objektwechsel erfolgen ließen, waren dieselben wie bei der
ersten Anordnung.
Zur Beleuchtung war, da das Objekt komplizierter war und zur
merklichen Veränderung der Helligkeit eines Kreises schon ein ziem-
licher Bedarf an Helligkeitszuwachs zu erwarten stand, eine stärkere
Lichtquelle erforderlich und wurde darum eine Bogenlampe A ver-
wendet. Da die Helligkeit einer Bogenlampe aber starken Schwan-
kungen ausgesetzt ist, so schien es die einzige Rettung, sämtliche
Beleuchtung, auch die des Objektes von vorn, aus einer einzigen
Quelle zu beziehen. Um die verschiedenen Helligkeitsstufen zu er-
halten, wurde die Lampe in eine Kiste K eingebaut, welche nach
hinten in Augenhöhe offen war (durch die dünnen Linien angedeutet),
nach vorn aber ein Fenster hatte, das durch die dicke Mattglasplatte
r verschlossen war. Die Beleuchtung des Objektes von hinten, die
die stärkere sein mußte, damit die hellen Kreise heraustraten, erfolgte
mit Hülfe des Spiegels 2, Um für das Objekt einen tauglichen
Hintergrund herzustellen, war unmittelbar hinter dem Schlitten
zwischen den Pfeilern des Tachistoskopes ein Rähmchen aus dünnen
Holzleisten aufgestellt, das zwischen den Pfeilern durch Reibung
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4^2 Knno Mlttesswey,
haftete und das von vorn nicht sichtbar war, da es hinter dem be-
weglichen Rahmen verschwand. Dieses Rähmchen trug in der Hcäie,
in welcher das Objekt stand, wenn es beobachtet wurde, eine Glas-
scheibe, reichlich so groß wie die Pappscheiben, welche mit weißem
Papier bezogen war. Vor diesem durchscheinend erleuchteten Papier
wurden die durchlöcherten Pappscheiben gezeigt, so daß die Löcher
wie farblos helle Kreise erschienen. Die Glasplatte auf dem Rähm-
chen erfüllte zugleich noch einen anderen Zweck. Wir hatten uns
vorgenommen, deutliche Einheitsbeziehungen zwischen den Kreisen
zu vermeiden. Also mußte uns auch daran gelten sein, etwas ver-
schiedene Ausgangshelligkeiten herzustellen. Um dies zu erreichen^
MTurde auf das Papier, das den Hintergrund abgab, an den Stellen,
vor welche die einzelnen Kreise zu stehen kamen, dünnes Papier in
verschiedenen Schichten aufgeklebt. So wurden 3 verschiedene
Helligkeitsstufen hergestellt, die auf die 6 Kreise unregelmäßig ver-
teilt wurden. Die Verteilung wird noch angegeben werden. Natürlich
mußte, damit bei Lageveränderungen die Helligkeit jeden Kreises
konstant blieb, darauf Bedacht genommen werden, daß das Papier
in so breiten Sektoren aufgesetzt wurde, wie sie bei den Lageände-
rungen zur Verwendung kamen.
Zur Beleuchtung von vorn diente das gedämpft durch F fallende
Licht. Um hierbei die im Spiegel zu sehende Wand Fj welche ver-
hältnismäßig direkt belichtet war, nicht im Vorteil zu belassen g^en
die Vorderseite des Objektes, wurde der Schirm 0 aus dünnem
weißen Papier dazwischen gestellt Dieser entzog der Wand F an
Helligkeit und belichtete das Objekt reflektierend. Durch Drehung
von 0 konnte man einen Winkel finden, wo die Schirmwand F im
Spiegel genau so hell erschien wie die Vorderseite des Objektes, so
daß die Kreise wie aus derselben ruhigen Fläche leuchtend auf-
tauchten. Die Helligkeitsverhältnisse lagen wieder so günstig, daß
bei einer Expositionenfolge von i Sekunde von Nachbildern gar
nichts zu bemerken war.
Was die Helligkeitsveränderungen betrifft, so war die Verdunke-
lung eines Kreises nicht wohl zu bewerkstelligen. Zur Aufhellung
galt es einen weiteren Lichtkegel aus der Helligkeit von ^ in variabler
Stärke auszusondern. Hierzu dient der Spiegel a. Dieser war mit
Hülfe eines Kugelgelenkes an einem Bügel und dieser in einer
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über abstrahierende Apperzeption. ac^
Schraubzwinge befestigt, welche längs der Meßstange lU beweglich
war. Um aus dem Lichtkegel, den a lieferte, den Teil auszusondern,
welcher für den einzelnen aufzuhellenden Kreis erfordert wurde, diente
das Diaphragma Jj welches ebenfalls in einem Kugelgelenk bew^-
lich war. Durch das Zusammenwirken der beiden Gelenke war es
leicht möglich, die Helligkeit auf jeden beliebigen Kreis fallen zu
lassen.
Aber diese Zusatzhelligkeit durfte erst beim Vergleichsobjekt er-
scheinen. Um sie während der Darbietung des Normalkomplexes
zu verdecken, war an dem Bügel, der den Spiegel a trug, unter
diesem noch ein kleiner Magnet fi angebracht, über ihm eine Pendel-
achse T. Letztere trug ein leichtes Holzpendel mit Eisenlinse und
einer Papier£ahne. War das Pendel elongiert und seine Linse von
dem durchströmten fi angezogen, so verdeckte die Fahne den Spiegel.
Wurde der Strom unterbrochen, so fiel das Pendel, von einem
Widerhalt geräuschlos aufgefangen, und gab den Spiegel frei. Es
war also nötig, einen Dauerstrom zu verwenden, welcher im Augen-
blick des Objektwechsels geöffnet wurde. Der Strom, der das Objekt
auswechseln ließ, konnte, da er nur kurzzeitig geschlossen wurde,
hierzu nicht verwendet werden; vielmehr wurde ein besonderer
zweiter Stromkreis hergestellt, der von einer Elementenbatterie ge-
speist wurde. Um seine Öffnung rechtzeitig zu bewirken, wurde er
mit dem ersten Stromkreis insofern in Berührung gebracht, als er
durch die oben beschriebene Kontaktwechselvorrichtung so geleitet
wurde, daß er durch den Kontakthebel zur untersten Kontaktplatte
ging. Er war also nur geschlossen, solange der Hebel auf dieser
Platte stand, d. h. solange das erste Objekt sichtbar war. Wurde
das Objekt gewechselt, so verließ der Hebel die unterste Platte, der
Strom wurde unterbrochen und die Zusatzhelligkeit für das Ver-
gleichsobjekt freigegeben.
Das Objekt, das mit Hilfe dieser Anordnung gezeigt wurde, wurde
aus Kartonscheiben hergestellt, die stark genug waren, um kein Licht
durchschimmern zu lassen. Diese Scheiben wurden vom Lithographen
mit einem Vordruck für die auszustanzenden Kreise versehen (Fig. 3,
ohne die Ziffern). Der Mittelpunkt diente zur genauen Einstellung
des Objektes, der große Kreis bestimmte das sichtbare Variations-
bereich, die vier Seitenlinien dienten als Vordruck für die sehr genau
Wundt, Psychol. Studien IL ^q
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454
Kano Mittenzwey,
vorzunehmende Beschneidung. Die Ausstanzung der Kreise erfolgte
mittels stählerner Locheisen. Hierzu konnten die im Handel befind-
lichen Eisen nicht verwendet werden, weil sie nicht präzis genug
gearbeitet und zumeist vom konisch zugespitzt sind. Es wurden
vielmehr vom Mechaniker besondere Lochstanzen angefertigt, deren
Außenmantel genau zylindrisch war. Um die GröDenvariation zu
ermöglichen, wurden die Stanzen in abgestuften DurchmessergröOen
hergestellt. Diese Abstufungen konnten w^en der unvermeidlichen
Fehlerquellen, die in der Bearbeitung des Materials, der wenn auch
geringen Auf bauchung der
Kartonränder usw. gegeben
waren, nicht allzu fein ge-
nommen werden. Es wur-
den darum Stanzen in der
Abstufung von 7« zu 7a ^ni
des Durchmessers herge-
stellt. Die Vorversuche lehr-
ten, daß sidi die Wirkun-
gen der verschiedenen Auf-
merksamkeitsverteilung bei
diesen Variationen noch
deutlich zeigten.
Die Normalkreise, die
mit diesen Stanzen herge-
stellt wurden, zeigt in ihrer
Verteilung die Figur; ihre Durchmesser variieren zwischen ii und
i6 mm. Um uns fernerhin zu verständigen, mögen sie mit / — VI in
der beigesetzten Weise bezeichnet werden. Die Ausgangshelligkeit
war derart verschieden gemacht, daß /und /Fam hellsten, //und VI
mittelmäßig und /// und V am wenigsten hell waren.
Von den Veränderungen sind die Aufhellungen in ihrer Technik
schon beschrieben worden. Da der Spiegel, der die Aufhellung be-
wirkt, stetig verschiebbar ist, so konnten alle Veränderungsstufen
hergestellt werden. Während die Helligkeitsänderung von der Ge-
stalt des Kartons unabhängig ist, bedurfte jede räumliche Änderung
einer besonderen Kartonscheibe. Es wurden dazu ungefähr 250 ver-
schiedene Ausstanzungen hergestellt. Die Größenänderungen ge-
f^(:\^
4
f^4^'
Fig. 3. (Vs iiat. Gr.)
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über abstrahierende Apperzeption. 455
schaben mit Erhaltung des Zentrums; es wurde schon erwähnt, daß
3ie von 7« ^" 7a ^^ hergestellt wurden. Für die Lageverände-
ningen wären offenbar Verschiebungen in den senkrechten Ordinaten
für die Struktur des Komplexes uncharakteristisch gewesen. Dieser
Komplex zeigt vielmehr einen etwa runden Umriß und eine zentrierte
Anordnung. Es entspricht diesem Aufbau, die Verschiebungen in
Polarkordinaten vorzunehmen. Es wurden demgemäß 2 Klassen von
Verschiebungen hergestellt: in radialer Richtung, d. h, in Richtung
der Verbindungslinie des Zentrums des zu verändernden Kreises mit
dem Zentrum des Komplexes, und in peripherer Richtung, d* h. in
Richtung der Kreislinie, die um das Komplexzentrum mit dieser
Verbindungslinie als Radius gezogen werden kann. Die Verände-
rungen wurden auf diesem Radius bezw. auf dieser Kreislinie von
7a 2" 7a ^^ abgemessen. Bezeichnen werden wir im folgenden
die radialen Verschiebungen als »nach innen« und »nach außen«,
die peripheren nach dem Kreis, zu welchem die Verschiebung ge-
richtet ist, z. B. IV zu ///. — Es hätten sich auf diese Weise 6X4
Lageänderungen ergeben. Wir werden aber diese Veränderungen
ebensowenig alle untersuchen, wie die 6X2 Größenänderungen.
Denn die Änderungen sind sich qualitativ so ähnlich, daß man an
der einzelnen nichts Besonderes lernt, und doch verschieden genug,
daß man die quantitativen Werte nicht vergleichen kann. Wir wer-
den aber Veränderungen reichlich genug geben, daß die Verteilung
über den ganzen Komplex gewahrt wird.
Während wir die Werte der räumlichen Veränderungen in ihrer
absoluten Größe notieren, können wir die Aufhellungen wieder nur
in Teilen der Ausgangshelligkeit angeben. Für die Eichung super-
ponierten bei dieser Anordnung Ausgangs- und Zusatzhelligkeit, weil
von verschiedener Quelle ausgehend. Ist also a die konstante Be-
leuchtung von vom, 6 die konstante Beleuchtung der Kreise von
hinten ohne Aufhellung, x^ x^ . . die Zusatzhelligkeiten bei verschie-
dener Stellung des Spiegels, so wurde — — T, — r-r-, 1 — r-r—» •••
** r- ö 7 a-\-i^ a+b+x^ ' a-^b+x^
in zahlreichen Messungen bestimmt. Hieraus wurde dann — —7,
' , . . berechnet und der Nenner auf 100 gebracht. Die ;r-Werte
30*
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^j6 Kano IfitteBzwej,
wurden dem Quadrate der Lichtquellendistanz umgekehrt propor-
tional gesetzt, was wieder eine recht gute Übereinstinmiung der
berechneten Werte mit den gemessenen ergab, und nun die Hellig-
keitswerte für die anderen Spiegelstellungen rechnerisch bestimmt
Die Vorvetsuche zeigten eine so große Differenz der individuell
benötigten Aufhellungen, daß für eine Vp. (W) die Dimensionen der
Anordnung nicht ausreichten, um genügend feine Aufhellungen her-
zustellen (da der Spiegel 2 nicht verschoben werden sollte). Es
wurde hier Abhülfe geschafft, indem der Liditk^el für die Auf-
hellungen durch ein graues Glas hindurchgeschickt wurde, das, auf
das Diaphragma J aufgesetzt, nur 5 Zwölfteile der Helligkeit
durchließ.
Während endlich alle bisher besprochenen Veränderungen an
einem Kreis geschehen, soll noch eine Transposition des ganzen
Komplexes erwähnt werden, die wir verwenden werden, nämlich die
Drehung. Diese wurde objektiv so hergestellt, daß die Kartonscheibe
nicht auf den vorgedruckten Linien beschnitten wurde, sondern auf
einer natürlich ebenfalls rechtwinkligen und gleichen Kontur, die
gegen jene um das Zentrum des Komplexes gedreht war. Die
Messung der Drehung geschah auf einem Kreise, der mit dem Mittel
der Distanzen der 6 Kreise vom Zentrum als Radius geschlagen war,
in mm der Peripherie.
Die zweite Versuchsreihe.
I.
Mit diesem Objekt wurden ungefähr 6000 Versuche vorgenommen.
Ehe ich aber ihre Ergebnisse berichte, mögen einige allgemeine
Erscheinungen bemerkt werden, die die Versuche unmittelbar
darboten.
Die Kontinuität der sukzessiven Apperzeptionen. — Wenn
dem Beobachter mit dem Auftrag der unbeschränkten Auffassung
die aufeinanderfolgenden Darbietungen des Komplexes gegeben
werden, so ist der erste Eindruck der, daß das Bild von einer Dar-
bietung zur anderen außerordentlich schwankt. Diese Schwankungen
sind Veränderungen namentlich der Lage, weniger der Helligkeit des
Gesamtkomplexes, also Transpositionen, während die Lagebeziehungea
Digitized by VjOOQiC
Ober abstrahierende Apperzeption. acj
der Elemente in den verschiedenen Darbietungen wohl verschieden
deutlich, aber nicht so positiv verändert erscheinen, wie die Lage
des Komplexes. Blickbewegungen mögen vor allem dafür verant-
wortlich zu machen sein. Dieser Eindruck der Labilität wird bald
dadurch überwunden, daß der Beobachter weiß, daß die verschiedenen
Eindrücke Wahrnehmungen eines identischen Objekts sind. Dadurch
ergibt sich von selbst die Herstellung einer kontinuierlichen Auf-
einanderbeziehung der einzelnen Apperzeptionsakte, und die Schwan-
kungen werden als subjektiv eliminiert. Ungefähr so, wie der Eisen-
bahnzug auf dem Nebengeleis, den ich vom Wagenfenster aus
anfahren sehe, wieder steht, sobald ich bemerke, daß sich der eigne
Wagen in Bewegung gesetzt hat. Natürlich geschieht diese Her-
stellung der Kontinuität ohne alle intellektualistische »Deutungs-
sache« ganz von selbst. Immerhin ist sie so sehr von der sub-
jektiven Gegenstandsintention abhängig, daß sie jederzeit sofort
wieder aufgehoben werden kann, wenn man sich einredet, daß jede
einzelne Darbietung von einem anderen Objekt herrühre. Diese Be-
deutung der Gegenstandsintention zeigt auch folgender Vorfall: Als
gelegentlich eine neue Vp. den Versuchen beitrat, erhielt ich
zunächst gar keine konstanten, fast widersprechende Urteile. Da ich
nicht finden konnte, wo der Fehler lag, begann ich, die Instruktion
nochmals vollständig zu wiederholen. Da stellte sich denn heraus,
daß der Herr mißverständlich (er war Ausländer) angenommen hatte,
daß der ürkomplex von Versuch zu Versuch wechselte. Er hatte
sich also bei jedem Versuch bemüht, einen neuen Komplex aus-
wendig zu lernen. Als dies Mißverständnis beseitigt war, wurden
die Resultate sofort übereinstimmend. Man sieht, wie wirkungsvoll die
Konstanz nicht nur von Darbietung zu Darbietung, sondern auch
von Versuch zu Versuch für die Beherrschung des Normalkomplexes
und wie richtig die von Wirth eingeführte Konstanz dieses Kom-
plexes ist.
Läßt nun der Beobachter auf das konstante Normalobjekt das
veränderte folgen, so bleibt die hergestellte Kontinuität in doppeltem
Sinne bewahrt: einmal wird die Veränderung ebenfalls mit Gegen-
standsintention als objektive Veränderung apperzipiert, und zweitens
wffd sie speziell auf das Normalobjekt derartig bezogen, daß sie
unmittelbar als Veränderung dieses Objektes aufgefaßt und nicht
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^^g Kaoo BÜttenzwey,
etwa nachträglich wie eine Kopie neben ein Original gestellt wird.
Aber anderseits ist doch die Erwartungslage insofern völlig verändert,
als sie^ während früher auf die konstanten Eigenschaften des G^en-
standesy jetzt auf Veränderungen , wenn auch auf Gegenstands-
veränderungen; abgestellt ist Darum scheint jetzt Gefahr, daß die
ab subjektiv ausgeschalteten Schwankungen verfälschend zurück-
kehren. In der Tat machen sich im Moment der Veränderung die
Schwankungen stärker geltend als während der konstanten Dar-
bietungen. Oft werden sie auch jetzt unmittelbar als subjektiv an-
gegeben: »Ich hatte den Eindruck einer starken Veränderung, aber
sie war nur subjektiv.« Freilich aber ist dieses subjektive Gefühl
nicht zuverlässig. Wichtiger fiir die richtige Elimination ist, daß
die Schwankungen vornehmlich absolute Veränderungen der Gesamt-
lage, Gesamthelligkeit bewirkten. Ihnen gegenüber wurden relative
Veränderungen der Teile untereinander stets und zweifellos als ob-
jektiv aufgefaßt. Schwieriger gestaltete sich die Unterscheidung,
wenn objektiv absolute Veränderungen gezeigt wurden. Von hier
aus erscheint die oben konstatierte Verschiedenheit der Apperzeption
relativer und absoluter Veränderungen im neuen Lichte. Die ge-
ringere Konstanz der Resultate bei absoluten Veränderungen kann
teilweise die Ursache haben, daß subjektive Veränderungen als ob-
jektive ausgesagt wurden. Hier eine möglichst saubere Scheidung
zu erhalten, kann nur eine lange Übung helfen. Wir erinnern uns,
wie diese zur Festhaltung des Auges führte, zu dem Bemühen also,
einen festen Beziehungspunkt zu gewinnen.
Hiermit gewinnen wir zu der oben erörterten Gegenstandsintention
eine zweite Bedingung der Gegenstandsapperzeption.. Damit eine
Folge von gleichen Vorstellungen auf einen einheiüichen Gegenstand
bezogen werde, ist erforderlich, daß die relativen Verhältnisse in
den verschiedenen Vorstellungen konstant bleiben; damit eine Folge
von veränderten Vorstellungen als Vorstellungen einer objektiven
Veränderung erscheine, ist erforderlich, daß die Veränderungen als
relativ zu einem konstanten Beziehungspunkt gegeben werden. Fehlt
letztere Relation und treten also die Veränderungen als absolute
auf, so führt das Verlangen nach Unterscheidung, ob subjektive oder
objektive Veränderung, zur Aufsuchung eines konstanten Beziehungs-
punktes, eventuell im beobachtenden Subjekt.
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über abstrahierende Apperzeption. j.eg
Dies könnte dazu rühren, die Gegenstandseinheit in der Kon-
stanz der relativen Beziehungen erblicken zu wollen. Ähnlich dem,
wie vulgär die konstante Form fortschreitender Wellenberge zum
Dingbegriff » Welle c führt — so daß ein Laie stets überrascht ist,
zu hören, daß in der Wellenbewegung nur eine Bewegungfsform
vorrückt und die Wasserteile ihren Platz behalten. Doch wollen
wir uns nicht durch erkenntnistheoretische Absichten verleiten
lassen, diese Betrachtung weiter zu spinnen, als wie uns die Ver-
suchstatsachen veranlassen.
Der veränderte Gesamteindruck. — Kehren wir also zu den
Versuchen zurück. Wir haben gesehen, wie die Aufeinander-
beziehung der beiden Objekte dazu fuhrt, das variierte Vergleichs-
objekt als «verändert» auffassen zu lassen. Werden nun die ob-
jektiven Veränderungen langsam aufsteigend dargeboten, so erhält
man (nach anfanglichen Gleichheitsfallen) zunächst allgemeine Ver-
schiedenheitsurteile ohne nähere Bezeichnung der Veränderung: »Das
Objekt ist verändert, aber ich kann nicht angeben wie.« Es fragt
sich, wie solch eui undeterminiertes Urteil durch eine ganz spezielle
objektive Veränderung hervorgerufen werden kann. Wie man sieht,
ist das ein Problem ähnlich dem, das uns oben bei der Auffassung kom-
plexer Gegenstände mit undeutlichen Teilen beschäftigte. Nur daß
es sich dort um eine anschauliche Einheit aus simultan gegebenen
Teilen, hier um eine apperzeptive Verbindung von sukzessiven Kom-
plexen handelt Dementsprechend werden wir zwei Faktoren für
die Unbestimmheit des Veränderungsbewußtseins zu unterscheiden
haben: die Sinneswahrnehmung des Vergleichsobjektes — diese
kann aus beispielsweise peripheren Ursachen undeutlich sein und
eine unbestimmte Auffassung gestatten wie beim entfernten
Menschen — und die Beziehung des Vergleichsobjektes auf den
Normalkomplex. Daß letztere nicht durch einen hinzutretenden
Akt, sondern assimilativ geschieht, wurde schon wiederholt bemerkt.
Darum gestatten auch die Versuche nicht, die beiden Faktoren etwa
zu trennen. Sie zeigen aber auf das Deutlichste den Einfluß der
Assimilationen. Es kommen nämlich Fälle vor, wo die fehlende
Bestimmung der Veränderungsangabe durch eine unmittelbar darauf
folgende größere Veränderung nachträglich erwirkt werden kann,
z. B. in der Versuchsfolge:
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^6o Knno BtCttenzwey,
Kreis VI Durchmesser 1 7, mm verkleinert.
Urteil: Unbestimmte Veränderung.
Derselbe Kreis 2 mm verkleinert.
Urteil: VI kleiner, war auch vorhin kleiner. (Wr.)
In solchen Fällen bewirkt also die durch eine deutliche Ver-
änderung hervorgerufene Assimilation die nachträgliche asstmilative
Verarbeitung des reproduktiven Veränderungseindrucks.
Es ist etwa der umgekehrte Fall, wenn die nähere Bezeichnung
der Veränderung darum unterbleibt, weil sie schnell wieder vergessen
wurde. Gute Beobachter erklären (in seltenen Fällen) ganz be-
stimmt: Ich habe die Veränderung «eben gehabt», aber ich habe
sie schon wieder vergessen. Hier zeigt sich auch, was schon öfter
hervorgehoben, daß die Vergleichsmethode bezüglich des veränderten
Elementes ähnliche Grenzen hat wie die Reproduktionsmethode.
Und auch insofern stimmt die Vergleichsmethode mit der Repro-
duktionsmethode überein, als die Forderung der genauen Bezeich-
nung des veränderten Elementes einen Gradmaßstab enthält. Die
allgemeinen Verschiedenheitsurteile mußten nämlich für die Schwellen-
bestimmung als unterschwellig angesetzt werden, da das Kriterium
einer deutlichen Merklichkeit nur in genauer Determinierung der
Veränderung gefunden werden konnte, obwohl das allgemeine Ver-
schiedenheitsbewußtsein schon eine psychische Wirkung der Ver-
änderung erkennen läßt.
Partiell bestimmte Verschiedenheitsurteile. — Nun ist
die bei unserem Komplex zu fordernde Determination eine doppelte,
da neben Angabe der Veränderungshinsicht auch eine Bezeichnung
des veränderten Kreises und damit des Veränderungsortes verlangt
wird. Beide Determinationen traten aber bei langsamem Aufsteigen
nicht gleich schnell und gleich präzis auf, vielmehr wurde der Verände-
rungsort richtiger beurteilt. Dies kam darin zum Ausdruck, daß
selten ein Urteil hinsichtlich des Ortes, häufiger aber hinsichtlich
der Qualität falsch oder unbestimmt oder überbestimmt war. — War
der Ort nicht aufgefasst, so war das Urteil hinsichtlich des Ortes
eher unbestimmt gelassen als falsch. Dabei war das Urteil «eine
Lageveränderung» häufig; seltener wurde eine unlokalisierte Auf-
hellung angegeben («es blitzt»); das Urteil «ein Kreis größer» kam
so gut wie gar nicht vor. Diese Rangordnung zeigt ungefähr, in
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über abstrmbierende ApperzepüoD. 461
welchem Verhältnis die betreffenden Veränderungen zur geometrischen
Lokalisation und individuellen Bestimmtheit stehen. Wenn aber
wirklich Verwechselungen oder Überbestimmungen des Ortes vor-
kamen, so zeigte sich in der gleichzeitigen Angabe der Veränderungs-
qualität zumeist ein Einfluß der objektiven qualitativen Veränderung.
Diese hatte dann durch simultanen Kontrast oder Angleichung
einen Nachbarkreis in Mitleidenschaft gezogen und auf diesen die
LokaUsation hingelenkt. So ist ein Verfehlen der Ortsangabe in der
Regel auf Kosten der Qualitätsänderung zu setzen. — War dagegen
die Qualität nicht aufgefaßt, so konnte wohl auch jede Bestimmung
fehlen (z, B. «Veränderung bei IV») \ häufiger aber wurde die
Qualität durch falsche Angabe oder durch Überbestimmung verfehlt
Namentlich zu solchen Überbestimmungen war die Neigung so groß,
daß sie gel^entlich auch bei Werten auftraten, die nach der Regel-
mäßigkeit ihrer richtigen Erkenntnis als deutlich überschwellig zu
bezeichnen waren — während hier eine Überbestimmung des Ortes
vollständig ausgeschlossen war. Um dies zu erklären, müssen wir
uns wieder daran erinnern, daß die Veränderungen verschiedener
Hinsichten letztlich gleicherweise Intensitätsänderungen verschiedener
Punkte sind, müssen wir uns der assimilativen Verwandtschaften
erinnern, die wir unter den verschiedenen Veränderungen auf-
gefunden haben.
Aus den mitgeteilten Verhältnissen der partiell bestimmten Ur-
teile Schlüsse für die Veränderungsauffassung zu ziehen, ist nicht
unbedenklich, da man an ihrer Veigleichbarkeit zweifeln könnte.
Darum wiu'den auch keine näheren Auszählungen vorgenommen.
Aber die mi^eteilten gröbsten Verhältnisse scheinen doch den
Schluß zu gestatten, daß die Lokalisation einer Veränderung leichter
gelingt als die Auffassung der Veränderungshinsicht. Diese Leichtig-
keit der Lokalisation ist in exakter Weise schon durch Reaktions-
versuche festgestellt worden*).
Übungserscheinungen. — Im weiteren Verlauf wird danii
der Wert erreicht, bei dem die Veränderung in allen Bestimmungs-
stücken deutlich erkannt wird. Wird dieser Wert für eine Ver-
änderung im unwissentlichen Verfahren zum allerersten Male ge-
*) Wnndt, Phys. Psych. III 5, p. 474.
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462 Knno Mittenzwej,
Wonnen^ so pflegen sich dagegen die unwissentlichen ^ye^tey die
aus den nächsten Versuchsreihen (sei es in derselben oder einer
späteren Stunde) gewonnen werden, rapid zu senken. Der Grund
ist leicht einzusehen. Nachdem einmal die richtigen Assimilationen
in der ersten Erkennung gefunden wurden, liegen sie nun in größerer
Nähe und kommen den folgenden Versuchen zugute, die jener
gegenüber mehr den Charakter von Wiedererkennungen tragen.
Zugleich beweist die Erscheinung, daß es sich hier wirklich um Er-
kennungen und Assimilationswirkungen handelt. Da also die erste
Erkennung einen starken plötzlichen ÜbungsefTekt herbeiführt, welcher
im Anfang der Versuchsreihe liegt und vornehmlich in Bekannt-
J;ieitsgefühlen sich kundgibt, so dürfen wir wohl von einer Erscheinung
der apperzeptiven Übung sprechen. Sie dürfte gerade für Ver-
suche nach der Vergleichsmethode mit kompliziertem Objekt
charakteristisch sein, wie anderseits zu ihrem Studium kaum etwas
Besseres ausgedacht werden könnte als diese Versuche. Denn durch
die Kompliziertheit des Objektes kann sie maximal gesteigert und
durch die Konstanz des Urkomplexes von anderen Übungseinflüssen
reinlich geschieden werden. Für uns war solche Untersuchung nicht
die Aufgabe. Wir notieren gelegentlich die ersten «Erkennungs-
schwellen» in eckigen Klammern; die etwa rechts daneben stehende
Zahl bedeutet die Schwelle aus derselben Versuchsstunde. Man
darf aber nicht erwarten, etwa bei jeder Variation in den Tabellen
ein deutliches Bild des Übungsverlaufs verfolgen zu können. Wir
haben ja auseinandergesetzt, wie sehr wir auf den Wechsel der Ver-
änderungen bedacht sein müssen. Aber die Darbietung einer Ver-
änderung übt die Erkennung der verwandten.
Diese Mitübung müssen wir noch einen Augenblick besprechen,
denn sie hat ihre Grenzen. Wohl mag die Übung in der tachisto-
skopischen Beobachtung usw. allen Veränderungen gleicherweise
zugute kommen, der Übungseffekt der Erkennung aber b^^ünstigt
hur die Veränderungen gleicher Dimension. So übt die Auffassung
der Lageveränderung eines Kreises die Lageauffassung aller Kreise,
die der Aufhellung eines Kreises die Helligkeitsauffassung aller
Kreise usw. Dagegen wird durch die Darbietung von Veränderungen
einer Dimension die Auffassung der anderen nicht nur nicht geübt,
sondern sogar benachteiligt, wegen der schon erwähnten Neigung
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über abstrahierende Apperzeption. ^.63
der Auffassung, sich auf wiederholt gegebene Veränderungshinsichten
einzuengen. Für alles das ein Beispiel. Einer Vp. (H.) waren ab-
sichtlich während der ersten Versuchsstunden nur Grössenver-
änderungen gezeigt worden. Die Erkennung von Lageverschiebungen
bereitete dann außerordentliche Schwierigkeiten. Sie wurden eine
ganze Versuchsstunde bis zu 8 mm nicht erkannt. In der nächsten
Stunde wurde zunächst der VL Kreis bis 4 mm nach innen ver-
schoben, ohne erkannt zu werden. Dann wurde der ///. Kreis ver-
rückt, und jetzt trat bei 6 mm die Erkennung der Lageverschiebung
ein. Als bald darauf wieder die Verschiebung von VI (um 4 mm)
gezeigt wurde, geschah die Erkennung mühelos. Die ganze Er-
scheinung ist um so auffälliger, als sie zeigt, wie zwei extensive Ver-
änderungshinsichten (Lage und Grösse) einander fremd gegenüber-
stehen. Diese Besonderung der abstrakten Hinsichten durch die
Übung im Gegensatz zur Mitübung innerhalb einer Qualität dürfte
schlagender als alles andere ihre psychische Selbständigkeit beweisen.
Daß außer dem allgemeinen Übungsverlauf auch in jeder einzehien
Versuchsstunde Übungseinflüsse bemerkbar sind, ist bekannt. Ich
erwähne sie nur deshalb, weil sie um so deutlicher sind, je schwieriger
der Komplex und je zahlreicher die Veränderungsmöglichkeiten
sind, weil dann die erste Auffassung einer Veränderungsart in einer
Stunde gegenüber den späteren in gewissem Sinne eine neue Erken-
nung ist.
Schließlich wurde schon bei Besprechung der Versuchspraxis
der feineren Wirkungen gedacht, mit der jeder Versuch den unmittel-
bar folgenden zu beeinflussen imstande ist. Die große zeitliche
Nähe der Versuche mag daran schuld sein, daß unter Umständen
auch dem unklarsten Erlebnis eine solche Nachwirkung möglich ist.
Diese Wirkungen lassen sich sämtlich zurückführen auf sukzessiven
Kontrast und sukzessive Angleichung. Für die Kontrastwirkung
Beispiele anzuführen, wäre wenig anschaulich. Denn wenn durch
Konstrast mit einem vorhergehenden Versuch eine Veränderung er-
kannt wird, welche sonst als unterschwellig zu bezeichnen ist, so
wird diese Unterschvvelligkeit erst deutlich durch Vergleich mit
zahlreichen anderen Versuchen. Dagegen gibt in den Fällen der
Angleichung der angleichende Versuch selbst einen anschaulichen
Maßstab für die relative Kleinheit der Veränderung, z. B.:
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^^ Kimo Mittenswey,
VI 2 mm vergröOert. U: Veränderung bei /, //, ///.
Dieselbe Darbietung. U: VI größer. (K.)
Deutlicher ist die Wirkung, wenn die Erkennung im ersten Fall
schon unbestimmt angedeutet ist und durch den zweiten Versuch
vervollständigt wird, z. B. :
VI 2 mm vergrößert. U; Veränderung bei VL
Dieselbe Darbietung. U: VI größer. (P.)
oder wenn verfälschende Assimilationen beseitigt werden, z. B.:
VI 2 mm kleiner. U: alle Kreise kleiner. (Ein sehr
seltenes Urteil.)
Dieselbe Darbietung. U: VI kleiner. (Wr.)
Die Beispiele zeigen, wie die erste Darbietung irgend eine Ver-
änderung in der Bewußtseinskonstellation hervorgerufen hat. Mag
sie nun assimilativ gar nicht oder falsch oder ungenügend verarbeitet
worden sein, so ist sie doch imstande, in ihrer Nachwirkung die
Auflassung der zweiten Darbietung zu beeinflussen^ so daß jetzt
der gleiche Reiz verstärkte Wirkung hervorbringt. Und zwar erfolgt
die Beeinflussung nicht im Sinne der ersten falschen oder ungenügenden
Erkennung, sondern im Sinne der objektiven Veränderung — woraus
man wieder, wenn es noch nötig wäre, die Berechtigung der Unter-
scheidung von Auffassung und Erkennung erweisen könnte.
II.
Wir wollen jetzt die Auffassung der einzelnen Veränderungen
besprechen, und zwar zunächst bei Unwissentlichkeit hinsichtlich der
objektiven Veränderung. Mit dieser Einstellung wurde begonnen,
weil man nur so Aussicht hatte, aus dem unbestimmten Gesamt-
eindruck die Erkennung der einzelnen Veränderungen in der be-
schriebenen Weise herauskristallisierin zu sehen.
Die Größenveränderungen wurden leicht und mühelos er-
kannt; die unterschwelligen Werte unterlagen keinen disparaten Ver-
kennungen, wie auch der Übungsefiekt hier am geringsten war. Einen
Wert für die absolute Schwelle anzumerken, wäre überflüs^g. Nur
soviel, daß die Werte sowohl nach ihrer absoluten Größe wie nach
ihrem Verhältnis zum Durchmesser des veränderten Kreises die ab-
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Ober abstrahierende Apperzeption. ^6$
soluten Veränderungsschwellen, die wir am einzelnen Kreis erhielten,
ganz bedeutend übertrafen. Was wir aber mit unseren absoluten
SchwellenzUTem jetzt schon vornehmen können, ist eine Vergleichung
der Schwellen für die Vergrößerung und Verkleinerung desselben
Kreises; wir hatten ja die Vergleichbarkeit der absoluten Schwellen
für Veränderungen desselben Elementes in gleicher Hinsicht zu-
gelassen. Zwischen den Vergrößerungs- und Verkleinerungsschwellen
konnte nun kein solcher Unterschied wie oben beim einfadien
Kreis aufgefunden werden. Die Erklärung dafür finden wir, wenn
wir die Auffassung der Größenveränderungen qualitativ betrachten.
Diese geschieht nämlich derart, daß unter den sechs Kreisen simul-
tane Relationen hergestellt werden, deren Veränderungen die Größen-
veränderungen auffassen helfen. Diese Relationen wurden von den
Vp. teilweise selbst bemerkt; sie erklärten, wie sie sich in der
Größenauffassung in dem Maße sicherer fühlten, als sie die Kreise
untereinander in Beziehung gesetzt hätten, etwa zu Gruppen von
je zwei. Wenn man die Vp. aufforderte, sich von diesen Relationen
frei zu machen, erklärten sie dies für unmöglich. Objektiv zeigte
sich dieses in Beziehung Setzen gelegentlich im Inhalt der Ur-
teile: » VI kleiner, gleich /« — »// und /// ähnlicher, sodaß //
größer« — »F/ und Kähnlich groß« — vor allem aber zeigte es
sich in Kontrastwirkungen. Man nehme die Beispiele:
///. Kreis 4 mm verkleinert. U: ///kleiner, /Fund //größer.
VI. Kreis 2 mm größer. U: V kleiner, VI größer. (K.)
Gerade bei den Größenveränderungen waren Kontrastwirkungen
außerordentlich häufig. So konnte es vorkommen, daß die Ver-
kleinerung von /// durch ganze Versuchsstunden hindurch als gleich-
zeitige Vergrößerung von // beurteilt wurde. Ja gelegentlich wurde
gar nur die Kontrastwirkung aufgefaßt, wie in folgenden Beispielen:
//. Kreis i'/» mm vergrößert. U: /// verkleinert. (W.)
IV. Kreis 2 mm vergrößert. U: V verkleinert. (B.)
Dies beweist, wie im Komplex die Auffassung der Größe eines
Kreises durch außerhalb li^ende Beziehungspunkte apperzeptiv
gestützt wird. Durch diese Beziehungen hört sie aber nicht auf,
als individuelles Merkmal dem einzelnen Kreise zuerteilt zu
werden. Denn eine Größenveränderung wird nur in ganz seltenen
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J.56 Kuno Mittenzwey,
Fällen auf die einbezogenen Nachbarkreise angleichend ausgedehnt,
wirkt dagegen sehr häufig kontrastierend. Diese Unterstützung der
Größenauffassung mag nun der Verkleinerung so sehr zugute kommen,
daß sie gegen die Verg^rößerung nicht mehr benachteiligt erscheint
Die Lage wird noch weit mehr als die Größe relativ und ihre
Änderung als Änderung der Lagebeziehungen aufgefaßt. Dies zeigte
sich schon in den unbestimmten Urteilen, Angaben wie Ȁnderung
zwischen VI und ///«, »/ und // einander genähert«, »F/ nach
innen oder V nach außen verschoben«, >I VI V nähern sich der
geraden Linie« waren durchaus die Regel. Wie man sieht, besteht
die Unbestimmtheit darin, daß man nicht weiß, auf welchen Kreis
man die Veränderung beziehen soll. Man hat lediglich die Ver-
änderung einer Lagerelation aufgefaßt, welche die einbezogenen
Kreise gleicherweise in Mitleidenschaft gezogen hat. Falsche Urteile
entstehen dann in der Regel dadurch, daß die nähere Beziehung
auf den unveränderten Kreis geschieht, z. B. :
Kreis F3 mm zu Kreis F/ verschoben. U: F/an F genähert. (Sp.)
Kreis VI 2^1^ mm nach außen geschoben. U: F nach innen ver-
schoben. (Wr.)
Kreis / i mm nach außen geschoben. U: VI nach innen ge-
schoben. (B.)
Diese Lagebeziehungen verleihen dem Zwischenraum zwischen
den Kreisen erhöhte apperzeptive Bedeutung, sodaß ein Urteil zu-
stande kommen kann wie:
Kreis VI 1 mm nach außen geschoben. U: Der innere Zwischen-
raum größer. (S.)
Daß die absoluten Schwellen für die Lageveränderungen denen
für die Größenänderungen ziemlich gleich waren, sei nur angemerkt,
ohne daraus irgend welche Schlüsse zu ziehen. Dagegen können
wir wieder die Schwellen für die richtungsverschiedenen Verände-
rungen desselben Elementes vergleichen. Diese sind nämlich nicht
gleich. Betrachten wir z. B. die Kreise FT und F. Bei VI ist der Wert
für die Innenverschiebung (Mittelwert 2^1^ mm) deutlich kleiner als
für die nach außen (3 mm), bei F gerade umgekehrt (3 Y, mm für
die Innenverschiebung gegen 2 7a für die Außen Verschiebung). Die
Kreise sind nach Größe, Helligkeit und Lage im Sehfeld einander
so ähnlich, daß man hier kaum eine Ursache dieser Verschiedenheit
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über abstrahierende Apperzeption. 467
finden könnte. Die Kreise erscheinen aber sofort verschieden, wenn
man ihre Stellung im Komplex ansieht. VI steht dem Zentrum
ziemlich nahe und bildet mit / und V eine nur schwach gekrümmte
Kurve. Eine geringe Einwärtsverschiebung wird (teilweise bewußt)
als Annäherung an die gerade Linie empfunden, während eine
Steigerung der Krümmung durch eine Auswärtsverschiebung viel
schwerer ermessen werden kann. Umgekehrt bildet der V. Kreis
mit /Fund VI eine ziemlich gekrümmte, schwer zu bestimmende
Kurve. Eine Verringerung dieser Krümmung wird nicht sofort be-
merkt; dagegen erscheint eine Vergfrößerung des so wie so schon
als zu groß empfundenen Abstandes leicht als eine Abtrennung, ein
Verlust des Kreises. Diese Erklärung geht davon aus, daß jeder
Kreis mit den benachbarten Kreisen zu einem Kurvenstück zusammen-
gefaßt wird. Tatsächlich wurden bewußt die sechs Kreise zu einer
Gesamtkurve, einem bei / etwas zugespitzten Kreise zusammenge-
faßt Freilich nicht unbedingt; es konnten die Kreise gelegentlich
auch in zwei Gruppen, etwa F, F/, / und //, ///, IV auseinander-
treten. Dies beweist nur, daß die Absicht, deutliche und zwingende
Einheitsbildungen zu vermeiden, einigermaßen gelungen ist. Die
Zusammenfassung der Elemente zur Kreislinie bewirkt nun offenbar
eine Veränderung der Klarheitsverteilung derart, daß eine Störung
des Kreisumrisses empfindlicher bemerkt wird, als die Bejahung der
idealen Kreislinie. Es ist die unmittelbare Folge davon, wenn die
Verschiebungen in Richtung der Peripherie apperzeptiv benachteiligt
sind gegen die in radialer Richtung. Diese Benachteiligung be-
schränkte sich allerdings vornehmlich auf die ersten Erkennungen,
die oft ganz außerordentliche, stundenlange Schwierigkeiten berei-
teten. Durch Übung sank dann die Schwelle etwa auf die Höhe
der anderen Verschiebungen.
Die Helligkeitsauffassung endlich zeigte wieder starke indivi-
duelle Differenzen und einen großen Übungseinfluß; die Vp. mußten
meist erst durch besondere Vorversuche auf Helligkeitsveränderungen
eingeübt werden. Uns interessiert hier mehr die qualitative Seite
der Auffassung. Da ist wichtig, daß sie so gut wie ganz ohne simul-
tane Relationen erfolgte. Dafür ist, außer dem Mangel von Erschei-
nungen analog den besprochenen, auch folgendes Beweis : Es wurden
Versuche gemacht, bei denen sämtliche Kreise gleichmäßig aufgehellt
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468 Kiino l^ttenzwey,
wurden. Diese Veränderung wurde bei geringen Graden als Auf-
hellung eines oder einiger weniger Kreise beurteilt, — was uns später
noch von anderem Gesichtspunkte aus interessieren wird. Hier
ist wichtig, daß diese Beurteilung bei Veränderungen auftrat, die
nicht größer waren als die richtig aufgefaßten Veränderungen am
isoliert veränderten Kreise. Wäre die Aufhellung des einzelnen
Kreises als relatives Hervortreten gegen andere aufgefaßt worden,
so hätte sie jetzt, wo die Beziehung bietenden Kreise mit aufgehellt
wurden, nicht erkannt werden können.
Noch mag erwähnt sein, daß die assimilative Verwandtschaft
zwischen größer und heller wieder deutlich zu beobachten war.
Transpositionen. — Die letztbesprochene Veränderung führt
uns unmittelbar auf Variationen, bei denen die absoluten Merkmale
gleicherweise verändert wurden, so daß ihre Relationen und ein etwa
sich hieraus ergebendes Ganze erhalten blieben (Transpositionen}.
Daß hierbei die Veränderung der Gesamthelligkeit wenig Ausbeute
versprach, ist schon erwähnt worden; wir werden noch darauf zu-
rückkommen. Am aussichtsreichsten war offenbar eine Veränderui^
in der Hinsicht, die den größten Relationenreichtum aufwies, also
eine Lagetransposition. Nun hätte aber eine einfache Gesamtver-
schiebung offenbar alle die Einflüsse der Blickschwankungen und die
Inkonstanz aufgewiesen, die wir am einfachen Objekt kennen gelernt
haben. Dahin angestellte Versuche ergaben auch eine große Streuung
der Resultate, bis der schon erwähnte und noch zu rechtfertigende
Fixationspunkt mit ins Bild hineingenommen wurde und so die Ver-
schiebung wieder relativ gemessen werden konnte. Dies wurde alles
vermieden, wenn als Transposition eine Drehung um den Mittelpunkt
gegeben wurde. Sie fand keine Anhaltspunkte, auch nicht in dem
Spi^el- und größeren Papierausschnitt (S und F der Fig. 2), welche
mit gutem Grunde kreisrund gemacht worden waren. Diese Ver-
änderung machte, obwohl die Verschiebungen einzelner Kreise längst
eingeübt waren, als sie gezeigt wurde, zunächst den Eindruck vöUiger
Fremdheit Man hatte das Bewußtsein einer bedeutenden Verände-
rung, ohne sie bestimmen zu können. Öfters wurde sie als Ver-
schiebung von V bezeichnet — wohl weil der Kreis V als der ent-
fernteste durch die Drehung am weitesten verrückt wird — aber
stets mit dem Gefühl, daß der Verändenmg nicht genügt sei und
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Ober abstrahierende Apperzeption. 460
daß man für die Integrität der übrigen Kreise gewiß nicht einstehen
könne. Diese Unbestimmtheit konnte durch mehrere Versuchsstun-
den erhalten werden, trotz großer Veränderungen (bis 5 mm mittlere
periphere Verschiebung). Als endlich die Erkennung gefunden war,
sank die Schwelle rapid und befestigte sich auf einen Wert, wie er
ungefähr für die Verschiebung eines Kreises erhalten worden war
(2 mm). Obwohl also die Veränderung den bereits geübten qualitäts-
gleich war, zeigte ihre Auffassung ihren eignen Übungsverlauf. Da-
mit ist die Auffassung einer Mehrheit als eines Ganzen erwiesen als
eine qualitativ eigne Art der Apperzeption, die der Auffassung einer
Mehrheit in ihren einzelnen Elementen, als einer Vielheit, selbständig
gegenübersteht und anscheinend gleiche Präzision besitzt (wenn man
überhaupt die Vergleichbarkeit zugestehen will). Jedenfalls sank die
Schwelle nicht etwa auf '/öi ^^^^ ^^^^ ^^^ Veränderung aus der 6 fachen
»Netzhautreizung« aufgebaut hätte, sie stieg auch nicht auf das 6fache,
weil jetzt 6 Veränderungen konkurriert hätten. Eine Konkurrenz fand
überhaupt nicht statt, vielmehr wurden die Merkmale absorbiert zu
einem Ganzen, das einem Element etwa apperzeptiv gleichwertig
war'). Für diese Absorption lernen wir die neue Bedingung, daß
ihr das Subjekt durch »Einheitsapperzeption« entgegenzukommen
hat, während sie durch »Einzelapperzeption« bis zu gewissem Grade
vernichtet werden kann.
in.
(Zum folgenden Tab. V— VII.)
Unsere Methode führt uns jetzt auf die Schwellen bei wissent-
licher Beachtung der anzustellenden Veränderung. Diese Beachtung
durfte natürlich nicht dazu verführen, durch Verlegung der Gesichts-
linie nach dem zu verändernden Element die Stellung des Auges
und dadurch die peripheren Bedingungen zu verändern. Um die
alte Augenstellung beizubehalten, diente der oben S. 451 erwähnte
Fixationspunkt Dieser war auf der Scheibe S mit Tinte angebracht.
War der Durchblick verdeckt, so war er von vom beleuchtet und
erschien deutlich schwarz auf dem gespiegelten hellen Hintergrunde;
') Man kann hier denken an Lipps' »Gesetz der quantitativen Identitätc, Qnan-
titätsanfsatz a. a. O. p. 390.
W u n d t , Psychol. Studien II. 3 1
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Ano Kuno Mittenzwey,
ging der Spalt vorüber, so wurde er gleichzeitig von hinten beleuchtet
und verschwand unter den hellen Kreisen, deren Auffassung er gar
nicht störte. Die Vp. erhielt nun den Auftrag, die Blicklinie auf
diesen Punkt festzuhalten und lediglich den inneren Blickpunkt auf
das zu verändernde Element zu verlegen. — Die wissentlichen
Schwellen senkten sich allenthalben gegen die unwissentlichen; die
Verhältnisse zeigten eine ziemlich große Variationsbreite, wie es bei
der Labilität der Aufmerksamkeitsverteilung über einen so großen
Komplex nicht anders zu erwarten war. Die Streuung war aber
nicht so groß, daß sie die Unterschiede der Beachtung der verschie-
denen Dimensionen verwischt hätte.
Zunächst waren bei den Größen- und den Lageverände-
N\^iss.
rungen die Mittelwerte der Verhältnisse =r= — r-^ so gut wie völlig
gleich; sie betrugen 0,37 für die Größenänderungen und 0,36
für die Lageänderungen. Der am einfachen Objekt konstatierte so
große Unterschied ist verschwunden, weil die Lageaufifassung ebenso
wie die Größenauffassung zu einer Auffassung der räumlichen Ver-
hältnisse geworden ist. Darum ist auch die ang^ebene Verhältnis-
ziffer für die Lageänderung mit der am einfachen Objekt erhal-
tenen schlechthin unvergleichbar. Die Verhältniszahl für die Größen-
auffassung zeigt am Komplex eine deutliche Erniedrigung gegen
die am einfachen Objekt. Dies beweist, wie die Größenauffassung
eines Objektes durch den Zusammentritt mit anderen apperzeptiv
leidet, und dies beweist wiederum, daß die Größenmerkmale in Kon-
kurrenz treten und also individuelle sind. Zugleich bestätigt die
Gleichheit der Verhältnisse für die Vergrößerungen und die Ver-
kleinerungen die oben aus den absoluten Schwellen gezogenen
Schlüsse. Dagegen stellt sich die Verschiedenheit der Schwellen
in den Verhältniswerten nicht ein bei den oben S. 466 besprochenen
verschiedenen Lageverschiebungen von V und Vly vielmehr sind die
Verhältnisse ungefähr gleich. Das ist nur dadurch möglich, daß
die wissentlichen Werte dieselbe Verschiedenheit aufweisen wie die
unwissentlichen. In der Tat betragen die Mittelwerte für
die Auswärtsverschiebung Einwärtsverschiebung
von V 0,7 1,1
von VI 0,8 0,7
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Ober abstrahierende Apperzeption. 4^1
Dies besagt also, daß die Faktoren , welche die Verschiedenheit
bei der unwissentlichen Auflassung bedingen, bei der wissentlichen
bestehen bleiben. Wenn wir diese in den Beziehungen zu den an-
deren Elementen des Komplexes fanden, so müssen sie also bei der
Einengung teilweise fortdauern. Und in der Tat lehrt die Selbst-
beobachtung, daß durch Einengung auf i Element dieses kein iso-
liertes, seine Lageauffassung keine absolute wird. Vielmehr nehmen
wir die Beziehungen zu den nächsten Elementen in den eingeengten
Beachtungskreis mit hinein, und deren verschiedene Nähe bewirkt
dann die verschiedene Schärfe der Auffassung.
Gegen die Verhältniszahlen für die Größen- und Lageänderungen
ist die für die Helligkeitsänderungen erhöht, sie beträgt 0,58.
Das heißt, daß der Einengungseffekt für die Helligkeitsveränderungen
geringer und daß die Helligkeitsauflassung eines Elements bei Be-
achtung des ganzen Komplexes von der bei spezieller Einschränkung
weniger verschieden ist. Dies Resultat werden wir sofort verstehen,
wenn wir uns der Art der Helligkeitsauffassung erinnern. Wir hatten
gefimden, daß sie auch im Komplex wesentlich eine absolute') ist
Die 6 Helligkeiten bilden keinen »Helligkeitsakkord«, hinter dessen
Intervallverhältnissen die absoluten Helligkeitsgrade apperzeptiv zu-
rückträten; sie bilden höchstens einen mittleren Helligkeitseindruck,
wie die verschiedenen Töne eines Akkords den Eindruck einer mittleren
Tonlage. (Wenn wir zwei Transpositionen eines Intervalles auf
ihre Tonhöhe vergleichen, so vergleichen wir nicht jeden Ton der
ersten mit jedem Ton der zweiten, sondern wir sagep, das erste
Intervall sei höher als das zweite. Erst bei genauerer Schätzung der
Diflerenz wird die Tonhöhe der dominierenden Elemente maßgebend.)
Wenn also die Helligkeitsmerkmale kaum zu einem Ganzen zu-
sammenfließen, das die individuelle Bestimmtheit absorbierte, so
bleiben umgekehrt der individuellen Beachtung keine Relationen auf-
zulösen; darum wird sich die Präzision bei wissentlicher Beachtung
verhältnismäßig wenig gegen die bei Beachtung des Ganzen er-
heben.
Wie wir die Verhältnisse für die verschiedenen Qualitäten mit-
') Natürlich nicht absolut in dem Sinne, daß die Beziehungen zum ICntergnmd
nnd zur Gesamthelligkeit fehlten. Wesentlich ist die mangelnde Einheitsbildnng mit
den Helligkeitsgraden der anderen Kreise.
3i*
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^'jZ Knno Mittenzwey,
einander veiglichen haben, so könnten wir auch die Schwellen-
verhältnisse der einzelnen Elemente für jede gemeinsame Verände-
rung aneinanderhalten. Hier aber finden wir keine Verschiedenheit,
die die Variationsbreite für dieselbe Veränderung desselben Elementes
wesentlich überschritte (und dies war die verschwiegene Bedingung
dafür, daß wir oben einen Mittelwert aus den Schwellen der 6 Kreise
für jede Veränderungsdimension ziehen durften). Dies beweist, daß
es gelungen ist, die Kreise ziemlich apperzeptiv gleichwertig neben*
einander zu stellen. Damit ist nicht behauptet, daß die Kreise in
jedem einzelnen Apperzeptionsakt gleicherweise apperzeptiv betont
seien. Denn die Mittelwerte würden etwaige Schwankungen des
apperzeptiven Gleichgewichts nicht ausdrücken, da diese durch die
große Zahl der zugrunde liegenden Einzelergebnisse eliminiert wer-
den. Daß aber solche Schwankungen vorkommen, das könnte schon
die Variation der einzelnen Verhältnisziffem wahrscheinlich machen.
Aber mitunter waren ungleichmäßige Apperzeptionsverteilungen
direkt nachweisbar, und zwar so stark, daß sie als fehlerhaft be-
zeichnet werden mußten. Wir haben ja schon bei Besprechung der
Versuchspraxis erwähnt, daß gelegentlich durch allzuhäufige Dar-
bietung ein- und derselben Veränderung im unwissentlichen Verfahren
der Beobachter, ihm selbst unbewußt, zur bevorzugenden Beachtung
der betreffenden Veränderungsqualität verleitet werden kann. Fast
noch leichter ist der Beobachter geneigt, am Komplex einen einzelnen
Kreis zu akzentuieren, wenn er ihn häufiger verändert gesehen hat.
Dies scheint eine Neigung zu beweisen, in dem Komplex einen
apperzeptiven Schwerpunkt herzustellen. Denn andernfalls, wenn
die Einengung auf einen Kreis nur mit Anstrengung geleistet werden
könnte, müßte der Beobachter froh sein, die ihm durch die Stauung
aufgezwungene Einengung bei der nächsten Darbietung wieder los
werden zu dürfen.
Um jedoch diese Neigung zu apperzeptiver Bevorzugung näher
zu untersuchen, wurden eigene Versuche angestellt. Es galt dazu
eine Veränderung aufzufinden, welche alle Kreise gleichmäßig betraf
und doch an jedem Kreis individuell aufgefaßt wurde. Als solche
ergab sich die schon erwähnte Aufhellung aller Kreise. Diese wiu-de
als allgemeine Aufhellung erst erkannt bei sehr hohen Werten, die
die Erhellungsschwelle des ungünstigsten Kreises übertrafen oder ihr
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über abstrahierende Apperzeption. 4^3
mindestens gleich kamen. In den weitaus meisten Fällen wurde
nur ein oder seltener ein paar Kreise als aufgehellt angegeben. Und
zwar nicht etwa mit dem Gefühl, die Veränderung dadurch nicht zu
erschöpfen, wie wir es oben fanden, als die Drehung als Verschie-
bung des V. Kreises beurteilt wurde; vielmehr trat der angegebene
Kreis vor den anderen deutlich hervor, so daß die Vp. sehr erstaunt
waren, wenn man ihnen verriet, daß die anderen Kreise ebenso auf-
gehellt worden seien. Im folgenden stelle ich die Urteile aus 123
Versuchen zusammen, welche über zahlreiche Versuchsstunden mit
den verschiedensten Beobachtern verstreut wurden. Allen war die
für einen Kreis übermerkliche Gesamtaufhellung im unwissentlichen
Verfahren gemeinsam. Dabei wurden gefällt die Urteile:
/ heller
12 mal
// >
7 »
/// .
I »
IV >
II >
V .
6 »
VI »
25 »
Also I Kreis heller
62 mal
ferner VI und // heller
II mal
VI * J
6 .
F/ . F »
4 »
VI * IV *
3 »
I * IV *
3 »
I * II >
3 »
II . /// »
I »
II * IV '
I *
VI » /// .
1 »
IV » V >
1 »
Also 2 Kreise heller
34mal.
Ferner: 3 Kreise heller
I4mal
4 »
7 »
5 »
1 »
Unbestimmte Aufhellung 5 »
Hier beweist zunächst die Tatsache, daO jeder Kreis als aufge-
lt genannt wurde, daß die Aufhellung i
ui allen Kreisen merklich
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^y^ Knno ÄGttenzwey,
war, — wenn sie auch bei den verschiedenen Kreisen nach Maß-
gabe der Größe, Ausgangshelligkeit usw. verschieden auffällig war,
wie aus der verschiedenen Häufigkeit der Nennung hervorgeht. Wenn
also jedenfalls die Aufhellung an jedem Kreis wahrnehmbar war, so
wurde sie doch selten an allen Kreisen zumal aufgefaßt, sondern am
häufigsten an einem einzigen, und an je mehr Kreisen je seltener.
Man sieht daraus, wie mehrere selbständige Inhalte wenigstens in
ihren konkurrierenden Merkmalen kaum apperzeptiv gleicherweise
bewältigt werden können; wie vielmehr die Neigung besteht, apper-
zeptive Schwerpunkte auszubilden. Wenn also der Apperzeptions-
umfang auf 5 oder 6 Einheiten angegeben wird, so ist eine solche
Bestimmung recht unvollkommen; denn wenn mehrere selbständige
Inhalte als apperzeptiv gleichwertig auftreten, so heißt das weniger,
daß sie im simultanen Apperzeptionsakt gleichwertig vertreten sind,
als daß sie gleicherweise befähigt sind, vor den anderen zumal apper-
zipierten den augenblicklichen Vorrang zu erringen. Natürlich wird
im einzelnen Apperzeptionsakt die Rangverschiedenheit um so größer
sein, je größer die TLahl der zumal apperzipierten Elemente ist. Von
diesem Gesichtspunkt aus erscheint in unseren Versuchen die Zahl 6
vielleicht etwas hoch gegfriffen, da sie eine recht große Streuung
bewirkte.
Aus der erörterten Neigung der Apperzeption, in dem Relief der
Bewußtseinsgrade eines in toto aufgefaßten Komplexes jeweils einen
höchsten Gipfel herzustellen, erklärt sich auch die umfassende Rolle,
die das »herrschende Element« in allen psychischen Verbindungen
spielt. Das oftmals nur geringe Plus an Intensität usw. könnte nicht
die Regelmäßigkeit erklären, mit der ein herrschendes Element aus-
gesondert wird; die Ursache hierfür ist vielmehr in der besonderen
Eigenschaft des Bewußtseins zu suchen, jeweils einen höchsten Grad-
gipfel herzustellen.
IV.
Die Einschränkung, der wir uns bedienten, um die wissent-
lichen Schwellen zu erhalten, ist nun aber eine doppelte, eine quali-
tative und eine räumliche. Offenbar sind hier vereinigt die beiden
psychischen Besonderungsweisen selbständiger und abstrakter Teil-
inhalte, oder wie die alte Philosophie sagte, die distinctio naturae
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über abstrahierende Apperzeption. 475
und die distinctio rationis. Für unsere Aufgabe, die abstrahierende
Apperzeption nicht nur in ihren generellen, sondern auch in ihren
speziellen Eigenschaften zu beschreiben, muß es wichtig sein,
diese beiden Einengungskomponenten zu isolieren. Dazu wurden
Schwellenbestimmungen vorgenommen, während derer die Vp. ein-
mal auf eine bestimmte Hinsicht aller Kreise, das andere Mal auf
einen bestimmten Kreis in allen Hinsichten zu achten beauftragt
war. Das Interesse an dieser Einstellung und die partielle Unwissent-
lichkeit wurde dadurch aufrecht erhalten, daß das erste Mal mehrere
Kreise in der angewiesenen Qualität, das zweite Mal der zu be-
achtende Kreis in mehreren Qualitäten verändert wurden. Diese par-
tiellen Einschränkungen erschienen subjektiv durchaus als durch-
fuhrbar. Die oben besprochenen qualitativen Verschiedenheiten der
Auffassung der abstrakten Dimensionen traten jetzt noch deutlicher
hervor; so wurde die Lagebeachtung erlebt als eine apperzeptive
Hebung der Zwischenräume. Die Einengung auf einen Kreis wurde
als Erleichterung gefühlt.
Die objektiven Resultate zeigten mit absoluter Regelmäßigkeit,
wie die Schwellen bei dieser teilweisen Einengung zwischen die im
unwissentlichen und die im vollständig wissentlichen Verfahren ge-
wonnenen Werte zu liegen kamen. Und zwar waren die bei geometri-
scher Einengung gewonnenen Werte stets kleiner als die bei
qualitativer Einengung. Eher bestand Gefahr, daß die Werte
qualitativer Beschränkung mit den ganz unwissentlichen und die
räumlicher Beschränkung mit den vollständig wissentlichen, als daß
die beiden partiell wissentlichen Schwellen miteinander zusammen-
fielen. Die einzelnen Werte entnehme man aus den Tabellen VIII-X.
Natürlich war es bei unserer Versuchspraxis sehr schwierig, in einer
Versuchsstunde überhaupt vier Schwellen abzuleiten und gar vier
Schwellen derselben Veränderung bei verschiedener Einstellung, wo
die häufige Wiederkehr derselben Variation ganz besonders zu fehler-
hafter Einengung verführen mußte. Darum mußte öfters bei der
dritten Schwelle abgebrochen werden, wenn dem Beobachter die
Veränderung, durch häufige Nennung vielleicht noch mehr als durch
häufige Auffassung, besonders aufgefallen war. Übrigens waren
diese Versuche nach einstimmigem Zeugnis aller Vp. so schwierig,
daß häufig schon nach einer halben Stunde die Reihe wegen Er-
Digitized by VjOOQiC
^y6 Knno Bfittenzwey,
müdung abgebrochen werden mußte. Wenn die fehlende Schwelle
in einer bald folgenden Stunde nachgeholt werden konnte, die etwa
demselben Übungsstande entsprach, so ist der Wert in Klammem
gesetzt. Übrigens wurde hier darauf verzichtet, die Verhältnisse der
Werte beizusetzen, weil die Größenfolge der absoluten Werte min-
destens ebenso anschaulich ist wie die VerhältniszifTem. Zudem
würde bei diesen feineren Verhältnissen der verfälschende Einfluß
der etwas groben Veränderungsstufen sehr fühlbar geworden sein.
Und schließlich wären, da immer vier zusammengehörige Werte
gegeben, mehrere Reduktionen gleichberechtigt gewesen, was schlieft
lieh zur Spielerei geworden wäre.
Auf jeden Fall lehren unsere Resultate für das gegenseitige Ver-
hältnis der räumlichen und der abstrahierenden Besonderung zunächst,
daß sie beide untereinander vergleichbar sind, da sie beide mit Er-
folg derselben methodischen Behandlungsweise unterworfen werden
können, und daß die räumliche Einengung die subjektiv leichtere
und objektiv wirksamere ist.
Die Kehrseite dieser Verhältnisse durfte man zu beobachten er-
warten in den Bewußtseinsgraden der Merkmale, welche bei diesen
partiellen Einschränkungen gerade vernachlässigt waren. Gewährte
die Einengung auf die abstrakte Qualität den geringeren Zuwachs an
Bewußtheit, so mußte sie den unbeachteten Merkmalen ein geringeres
Teil entziehen, als die räumliche Einengung. In der Tat zeigten
die objektiven Resultate (vergl. Tab. XI-XDI.), daß bei Beachtung
einer Qualität die Veränderungen in einer der unbeachteten Qualitäten
apperzeptiv nur relativ wenig benachteiligt waren. Die Schwellen,
die bei der Einengung gewonnen wurden, stiegen zumeist gegen
die unwissentlichen, gelegentlich blieben sie in derselben Höhe; das
Wiss
Verhältnis -=^^ — r-^ bildete abo hier einen unechten Bruch mit dem
Unwiss.
Grenzfall i. Der Betrag dieses Bruches stieg in seinen extremen
Werten bis auf 2; sein Mittelwert bewegte sich um 1,2 und 1,3.
Jedenfalls war der Wert für die unbeachteten Veränderungen stets
kleiner als der reziproke Wert der Verhältnisse für die beachteten
Veränderungen.
Digitized by VjOOQiC
Ober abstrahierende Apperzeption. Ann
Ungleich energischer stiegen die Schwellen für die unbeachteten
Veränderungen, wenn die Aufmerksamkeit durch räumliche Einengung
entzogen war. So ergab sich z. B. bei Beachtung des Kreises /
für die Aufhellung des unmittelbar benachbarten Kreises // eine
Schwelle von ^^xoo gegenüber der unwissentlichen Tagesschwelle von
^7xoo (Sp.); f^ die entfernteren Kreise aber waren bei Beachtung eines
einzigen zur Merklichkeit so große Veränderungen erforderlich und
war die Streuung so groß, daß eine Schwellenbestimmung, wenigstens
im Rahmen der vorhandenen Anordnung, nicht angängig war.
Man könnte nun geltend machen, daß die Einengung auf einen der
sechs Kreise mit der auf eine Veränderungsqualität quantitativ nicht
vergleichbar sei. Denn der Veränderungfshinsichten seien nur drei
an der Zahl, und wenn man die Lage- und Größenänderungen als
enger verwandt betrachten will, käme man nur auf zwei wesentlich
verschiedene Einstellungen: kein Wunder, daß dagegen die Ein-
engung auf einen der sechs Kreise als auf einen viel kleineren Teil
des unwissentlichen Bestandes wirkungsvoller sei. Um hier ver-
gleichbare Verhältnisse herzustellen, wurden Versuche vorgenommen,
bei denen die Einengung sich nur auf die Hälfte der Kreise er-
streckte und dem Beobachter aufgegeben war, die Kreise /, F7und V
zu beachten. In den Resultaten dieser Versuche (Beobachter W.
und K.) prägte sich deutlich die Verschiedenheit aus, die den Kreisen
der beiden Hälften in der subjektiven Einstellung zugewiesen war.
Während nämlich die Schwellen für die beachteten Kreise nahe an
die vollständig wissentlichen Werte herankamen, stiegen die Werte
für die unbeachteten Kreise wieder außerordentlich. So ergab sich
für die Kreise //, ///, IV eine Aufhellungsschwelle von bezw. *%ooi
***/xoo> **/iooj gßgcJi eine Tagesschwelle im wissentlichen Verfahren
von %Q^ (W.) Von Vergfrößerungen wurden solche bis zu 4 und
5 mm des Durchmessers nicht bemerkt Noch stärkere Vergröße-
rungen im unbeachteten Gebiet wurden als Aufhellungen (»heller
Fleck«) bezeichnet; die Vergrößerung wirkte also lediglich durch die
Helligkeitsmasse, und das veränderte Objekt war im Normalkomplex
zu schwach vertreten und die Veränderung zu groß, als daß die
assimilative Verarbeitung als »Vergrößerung« hätte hergestellt werden
können. Verkleinerungen konnten so stark erfolgen, daß ein Kreis,
mitunter sogar zwei Kreise objektiv vollständig ausgelöscht werden
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478 Kuno Mittenzwey,
konnten, ohne daß es der Beobachter bemerkte. Daraus darf gewiß
nicht geschlossen werden, daß die Kreise, welche doch alle noch im
Gebiet des deutlichsten Sehens lagen, psychisch nicht vorhanden
gewesen wären. Doch war ihr Bewußtseinsgrad so herabgesetzt, daß
ihre Existenz leicht assimilativ substituiert werden konnte. Diese assi-
milative Substitution wurde mit zahlreichen Beobachtern versucht;
sie gelang regelmäßig, wenn nur die Unwissentlichkeit vollständig
war. War diese dagegen nur in der Weise verletzt, daß die Vp. über-
haupt wußte, daß gelegentlich Auslöschungen eines Kreises vor-
kommen konnten — etwa dadurch, daß man es mitgeteilt hatte,
oder daß man einmal alle drei Kreise ausgelöscht hatte, was stets be-
merkt wurde — so wollte der Versuch in derselben Stunde nicht
wieder gelingen. Dies beweist zunächst, was schon immer betont
wurde, daß der Erfolg eines solchen Versuches von sämtlichen
vorangegangenen abhängig ist, ferner daß eine «geflissentliche»
Nichtbeachtung oder ein Interesse an unbeachteten Inhalten eben für
ihre Unbeachtetheit bereits eine geringe Steigerung ihrer apperzep-
tiven Geltung bewirkt, und endlich, daß eine assimilative Substitution
eines Teiles eines sinnlich gegebenen Inhaltes einen gewissen mini-
malen Bewußtseinsgrad des zu ersetzenden Teiles voraussetzt —
Die Lageverschiebungen endlich waren verschieden günstig gestellt
je nach dem räumlichen Verhältnis, das sie zu den beachteten Kreisen
einnahmen. So wurde für die Verschiebung des unmittelbar benach-
barten Kreises // nach / zu, also zu dem beachteten Komplex,
bereits eine Verschiebung um 2 7a mm als ebenmerklich bestimmt
Für die Lageänderungen von /// ergab sich für die Einwärts-
verschiebung im Mittel ein Schwellenwert von 6 mm, wobei der Kreis
dem beachteten Gebiet schon beträchtlich genähert wurde; nach
außen konnte er vollständig aus dem Expositionsgebiet entfernt
werden, ohne daß der Verlust bemerkt worden wäre. Interessanter
noch gestalteten sich die Lageverschiebungen in Richtung des Um-
risses. Hier konnte der IV, Kreis dem ///. bis über 7 mm genähert
werden, ohne daß es bemerkt worden wäre; bei 8 mm Verschiebung
gab der Beobachter an, es sei ein «neues Objekt» unter den alten
aufgetaucht Dies zeigt aufs schönste, wie die unbeachteten Kreise
in nur so geringem Grade vorhanden waren, daß für assimilative
Verfälschungen Platz gegeben war; das Verschwinden der Helligkeit
Digitized by VjOOQiC
über abstrahierende Apperzeption. ^yg
an der durch die Verschiebung verdunkelten Stelle wurde hier wie
vorhin so wenig bemerkt, daß der Kreis ohne weiteres assimilativ
substituiert wurde; die Aufhellung vorher dunkler Stellen aber war
so auffällig, daß sie einen relativ großen Apperzeptionsgrad er-
reichte. Die Auffassung, die die aufgehellte Stelle durch ihre ob-
jektive Veränderung erwirkte, war aber nicht so präzise, daß nun
das ganze unbeachtete Gebiet verdeutlicht und durch Beziehung der
jetzt erhellten auf die vorhin aufgehellte Stelle die Erkennung als Ver-
schiebung hergestellt worden wäre; vielmehr blieb die assimilative
Ersetzung neben dem «Apperzeptionsimpuls», der von der benach-
barten Stelle ausging, bestehen. Der aufgehellte Fleck gelangte
neben dem assimilativ ausgebessertem Best£Ctide des Normalkom-
plexes zur Apperzeption, und dadurch wurde wieder die Eindrucks-
fahigkeit der Veränderung erhöht, da sie jetzt eine Bereicherung
des Komplexes in der Zahl der Objekte darzustellen schien.
Allgemein lehren diese Versuche über das gegenseitige Verhältnis
von räumlich und von abstrahierend heraushebender Apperzeption fol-
gendes: Die Apperzeption hat in sehr starkem Maße die Fähigkeit der
räumlichen Einengung. Die räumlich abgeschiedenen Gebiete wer-
den (abgesehen vom unmittelbaren Grenzbereich und von Punkten,
welche Beziehungen zur Erfassung der zu apperzipierenden Inhalte
bieten) außerordentlich vernachlässigt. Aus dieser Energie der Ein-
engung folgt sofort, daß die beachteten Gebiete gemäß der Rezipro-
zität von Intensität und Umfang der Apperzeption eine starke Grad-
steigerung erfahren. — Doch soll hier nochmals ausdrücklich ange-
merkt werden, daß diese subjektiv so relativ leichte und objektiv
wirksame räumliche Einengungsfähigkeit der Apperzeption nur für
das visuelle Gebiet behauptet werden soll.
Die abstrahierende Einengung dagegen stellt in außerordentlich
viel kleinerem Grade eine Abwendung von den unbeachteten Quali-
täten dar, und diese Abwendung ist stets geringer als die Zuwendung
zu den beachteten Teilinhalten. Das heißt also, daß die Gradsteige-
rung durch die abstrahierende Heraushebung nur ungenügend durch
eine Gradsenkung der vernachlässigten Inhalte kompensiert wird; die
»Gesamtsumme« ist jetzt größer als bei der rein unwissentlichen
Zuwendung, und darauf dürfte es beruhen, daß die abstrahierende
Beachtung wenigstens von Qualitäten, deren objektive Eindrucks-
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^8o Knno Biitteiuwey,
fahigkeit gering ist, oftmals g^enüber der unpointierten Auffassung
eine gewisse geistige Anstrengung verlangt. Zugleich zeigen die
Tatsachen, wie unrichtig es von Kant war, wenn er das Verb »abstra-
hieren« negativ verwendet und also den Abstraktionseffekt wesentlich
in der Vernachlässigung finden wollte, und wie psychologisch richtig
es demgegenüber von Wundt gefühlt war, wenn er die Abstraktion
vornehmlich als (positive) aktive Apperzeption bestimmte.
Schluß.
Zum Schluß wollen wir noch einmal die allgemeinsten Ergebnisse
in einem weiteren Zusammenhange zeigen.
1. Das Rohmaterial für unsere Analyse erhielten wir durch Ver-
gleichshandlungen, d. h. mit Hülfe der abstrahierenden Stauimg.
Es ist zu bemerken, daß wir in ihr eine abstrahierende Einengung
der Apperzeption kennen lernten, welche ohne aktiven Willensimpuls,
lediglich durch den objektiv bedingten Vorstellungfsablauf, hervor-
gerufen wurde.
2. Die Bedingungen dieser Stauung variierten wir dahin, daß wir
sie von verschiedenen Aufmerksamkeitseinstellungen, nämlich von
unbeschränkter und abstrahierender aus unternahmen. Die abstra-
hierende Einengung wurde unmittelbar verwirklicht und als eigen-
artige Apperzeptionsweise erlebt. (Ebenso Külpe loc. dt.)
3. Die verschiedenen Einstellvmgen bewirkten einen verschiedenen
Stauungseffekt. Es zeigte sich so, daß die abstrahierende Beachtung
den Grad des beachteten Inhaltes steigert Dieselbe Leistung der
aktiven Abstraktion fand Külpe mit der Reproduktionsmethode in
der Weise, »daß die meisten, richtigsten und bestimmtesten Aus-
sagen da stattfinden, wo die Aussagen mit den Aufgaben zusammen-
fallen« ').
4. Der Gradzuwachs infolge dieser abstrahierenden Beachtung
war für die verschiedenen Merkmale verschieden. Daraus schlössen
wir, da sich Beachtungszuwachs und Eindrucksfähigkeit umgekehrt
zu einander verhalten, daß an der unbeschränkten Auffassung die
Teilinhalte mit verschiedenem Grade beteiligt sind. So lernten wir
die Vorstellung als einen zusammengesetzten Strukturbau kennen.
') a. a. O. S. 61.
Digitized by VjOOQiC
Ober abstrahierende Apperzeption. 481
Und zwar stellt schon die sogenannte einfache Vorstellung einen
solchen Aufbau aus den abstrakten Teilinhalten dar*). Beim Zu-
sammentritt solcher einfacher Vorstellungen zu höheren Einheiten
kompliziert sich der Bau, indem sich die Klarheitsgrade nach Maß-
gabe der gegenseitigen Verhältnisse verschieben.
5. Die selbständige und verschiedene Gradbestimmtheit jedes
einzelnen abstrakten Merkmals einer einfachen Vorstellung bei unbe-
schränkter Vorstellung setzt die Lehre von der »einfachen Idee« und
die zu ihrer Rettung dienende nominalistische Abstraktionstheorie
Humes und der Humeaner ins Unrecht. Zugleich benimmt diese
relative Gradselbständigkeit der Abstraktion ihre Besonderheit gegen-
über der Apperzeption selbständiger Inhalte. Die Gradverstärkung,
die wir als Folge der abstrahierenden Beachtung fanden, erweist die
Abstraktion allgemein als Apperzeption. Damit soll ihr ihre spezi-
fische Bestimmtheit als abstrahierende Apperzeption nicht genommen
werden. Diese besteht vor allem in der relativ geringen Vernach-
lässigung der unbeachtet gelassenen Teilinhalte.
6. Als Bedingungen für die Verschiedenheit der Eindrucksfähig-
keit ergeben sich zunächst die Übung, wie umgekehrt die selbständige
Übungsfähigkeit der Merkmale ihre psychische Selbständigkeit von
neuem beweist; ferner der Grad, in welchem die Merkmale höhere
Verbindungen eingegangen haben. Die einfachen Merkmale der
bloßen Empfindungsqualitäten sind dazu wenig fähig, darum ist ihre
Eindrucksfähigkeit, von extremen Intensitäten und Qualitäten abge-
sehen, wahrscheinlich relativ konstant und gering. Umgekehrt be-
ruht ihre Unfähigkeit zu komplizierteren Einheitsbildungen auf der
mangeUiden Eindrucksfähigkeit feinerer Gradabstufung. Dagegen
sind die extensiven Vorstellungsmerkmale bereits Produkte einer
Einheitsbildung, der Verschmelzung. Ihre Auffassung kann bei ein-
fachsten Gebilden außerordentlich fein sein; sie verliert sich in dem
Maße, als die Vorstellungen kompliziertere Einheiten eingehen.
7. Die beiden Bedingungen der Übung und Einheitsbildung er-
klären vereint das psychogenetische Abstraktionsproblem. Das prak-
tische Leben zeigt fast durchweg Vorstellungskomplexe. Die hierin
') Es sei wiederholt bemerkt, d»ß hier nur von der Selbständigkeit der ab-
strakten Teilinhalte in der phänomenalen Gradbestimmtheit, nicht in der psychischen
Realität die Rede ist (oben S. 435).
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^82 Kuno Mittenzwey,
gegebenen Einheitsbildungen bringen die unwissentliche Verselbständi-
gung der konstituierenden Merkmale hervor, und in so verschiedenem
Maße die Merkmale zu solcher Einheitsbildung befähigt sind, wird ihre
Auffassung eingeübt Für diese Einheitsbildungen ist die Ähnlichkeit
stets eine Komponente, und in diesem Sinne kann man für das
psychogenetische Problem der Lehre der Humeaner einen berech-
tigten Kern zuerkennen. Doch sind Einheiten mit vorwiegender
Ähnlichkeit psychisch nicht allzu eindrucksvoll für die Verselbstän-
digung der ähnlichen Merkmale. Eine viel energischere Einheits-
bildung haben wir z. B. in unserer Stauung kennen gelernt
8. Andere Bestimmungsstücke der Gradverschiedenheit der Merk-
male lagen außerhalb unserer Untersuchung. Man denke z. B. an
die nur reproduktiv vorhandenen Teile einer Vorstellung, die doch
wahrscheinlich nur in geringerem Grade vertreten sind.
9. Die erkannte Gradstruktur der Vorstellung verstattet Ausblicke
auf die Natur einer Vorstellung, die einen Allgemeinbegriff repräsen-
tiert. Es erscheint nach der erkannten Labilität der Gradverteilung
möglich, daß der Gradanteil der Merkmale einer Vorstellung durch
ihre Bedeutungsfunktion verändert wird zu gunsten der »wesent-
lichen« Merkmale. Eine solche Vorstellung ist dann hinsichtlich der
Merkmale, die bei den Exemplaren einer Begriffssphäre differieren,
nicht individuell im Sinne deutlicher Bestimmtheit und nicht allge-
mein im Sinne mehrfacher Bestimmtheit, sondern apperzeptiv unter-
wertig oder unbestimmt Wogegen man nicht mit metaphysischen
Argumenten wider die unbestimmte Vorstellung polemisiere.
10. Daß wir aber überhaupt unsere Untersuchung der abstrahie-
renden Apperzeption in dieser Weise durchführen konnten, beweist,
daß die Abstraktion am einfachen Objekt unabhängig ist vom Pro-
blem der Verallgemeinerung. Das Universalienproblem ist auf das
Abstraktionsproblem aufzubauen und nicht umgekehrt
Unsere Untersuchung trägt in vielen Punkten einen gewissen vor-
läufigen Charakter insofern, als wir viele Probleme nur anbrechen,
andere nur erwähnen konnten. Und vielleicht hat uns in der Tat
das experimentelle Neuland, auf dem wir uns zumeist bewegten,
verführt, zuviele Fragen in den Kreis der Betrachtung zu ziehen, an-
statt die Einzelresultate durch ihre Häufung zu sichern. Mag man
daraus manche Bedenken herleiten, so wird man doch das metho-
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über abstrahierende Apperzeption. 483
dische Ergebnis stehen lassen müssen, daß überhaupt so zentrale
Probleme wie die abstrahierende Gradverteilung der experimentellen
Analyse zugänglich sind.
Endlich habe ich noch die Pflicht, nach zahlreichen Seiten für
Hilfe und Förderung meinen Dank auszusprechen: Herrn Geheimrat
Wundt, der die Arbeit mit den Mitteln des Leipziger Instituts unter-
stützt hat, Herrn Professor Wirth, der mir nicht nur für Theorie und
Technik in aufopfernder und uneigennütziger Weise half, sondern
auch meine treueste Versuchsperson war, sowie den Herren Dr. Dr.
Professor Bazala, Fischer, Leutnant Hempelmann, Kästner,
Klemm, Linke, Menderer, Poggi, Segal, Specht, Ugarde,
Werner für ihre oftmals großen Opfer an Zeit und Apperzeption.
Tabellen folgen umstehend.
Inhalt.
Seite
Einleitung 358
Die Entwicklung der Problemstellung 379
I. Vorstellung und Merkmale. — II. Zum Apperzeptionsbegriff. — III. Die
bisherigen Apperzeptionsmessungen. — IV. Die eigne Aufgabe.
Die Vergleichsmethode 399
I. Das Wesen. — n. Die Darbietungen. — III. Die Urteile. — IV. Die
Schwellen.
Die erste Anordnung 409
Zur Versuchspraxis 415
Die Versuche mit dem einfachen Objekt 419
I. Im wissentlichen Verfahren. — II. Im unwissentlichen Verfahren. —
ni. Unbeachtete Veränderungen. — IV. Assimilationen. — V. Mehrfache
Variation. — VI. Schluß und Obergang.
Höhere Einheiten 437
Die zweite Anordnung 448
Die zweite Versuchsreihe 456
I. Allgemeine Erscheinungen. — II. Die einzelnen Veränderungen im
unwissentlichen Verfahren. — III. Im wissentlichen Verfahren. —
IV. Partielle Einengungen. — V. Unbeachtete Veränderungen.
Schluß 480
Tabellen 484
Digitized by VjOOQiC
484
Kano Mittenzwey,
Versuche mit einfachem Objekt.
Tabelle I. Größenänderungen.
Werte in mm.
Vergrößernngen
Kl. L.
0,25 0,3 0,25 0,3 0,3
0,3 0,3 0,3
Verkleinerungen
Kl.
wissentl. 0,65 0,6 0,7 0,6 0,75 0,65 0,45 0,75 0,7
unwissentl. 0,7 0,9 1,0 1,0
Verb. 0,86 0,77 0,6 0,71
Beobacht. W.
wissend. 0,3 0,3
unwissentl. 0,3 0,3 0,3
Beobacht. W.
0,3 0,3 0
3 0,3 0,3
0,3 0,3
L.
; 0,7 0,6
0,6
0,9
0,8 »^
; 0,77
0,75 0,75
Tabelle III. Helligkeitsänderungen.
Werte in Hundertteilen der Ausgangshelligkeit.
Aufhellungen
Beobacht.
W.
Kl.
L.
wissentl.
8
8
3
4
3,5 H 7 10
10
9
10
II
17 17
unwissentl.
8
8
8
8 mittl. 18
Vcrh,
16
14
16
mittl.
Verh.
17
Verh.
0,38
0,5
0,44 0,44
Verdunkelungen
0,62
0,64
0,62
0,63
I
Beobacht.
W.
Kl.
L.
wissentl.
9
9
3
3
4 15 8 II
10
II
8
15
16 20
unwissentl.
8
8
8
ft mittl.
Verh.
15
15
12
mittU
Verh.
20
Verh.
0,38
0,38
0,5 o^a
0,66
0,73
0,66
0,68
I
Tabelle IV. Mitbeachtung.
w.
Beachtet:
Helligk.
Größe
Lage
unwiss. Werte
zum Vergleich
Vergrößer.
0,3
0,3
0,3
0,3
0,3
Verkleiner.
0,9
0,6
0,6
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Kleine MitteilungeiL
Die Projektionsmethode und die geometrisch -optischen
Täuschungen.
Von
W. Wandt
Mit 3 Figuren im Text.
In der 5. Auflage meiner »Gnmdzüge der physiologischen Psycho-
logie« (n, S. 545 f. und in, S. 530) habe ich darauf hingewiesen, daß
die Projektion geometrischer Umrißzeichnungen im Dtmkeln mit Hilfe
des Skioptikons eine überaus instruktive Methode ftir das Studium der
Bedingungen sogenannter geometrisch- optischer Täuschungen an die Hand
gibt. Wenn man nämlich diese Projektion so ins Werk setzt, daß die
verschiedenen Teile einer Figur sukzessiv zu einem Ganzen zusammen-
gefligt werden, so lassen sich leicht die Bedingungen so variieren, daß
sich die Teile der Figur, welche die Täuschtmg bewirken, und diejenigen,
die infolge dieser Einwirkung verändert werden, oder, wie wir es kurz
ausdrücken können, daß sich die induzierenden imd die induzierten
Elemente von einander scheiden. Bei den nicht umkehrbaren Täuschungen
erstreckt sich allerdings der Nutzen dieser Methode nicht wesentlich
weiter, als daß man durch sie die auch auf anderem Wege leicht nach-
weisbare Täuschungsursache in besonders sinnenfalliger und überraschender
Weise demonstrieren kann. Wenn man z. B. bei der bekannten Zolin ersehen
Figur zuerst bloß die langen Parallellinien projiziert und dann plötzlich
die kurzen sie schneidenden schrägen Querlinien, welche die Richtungs-
täuschung jener hervorbringen, hinzutreten läßt, oder wenn man bei der
bekannten Müller-Lyerschen Täuschung zuerst nur die einander an
Länge gleichen geraden Linien imd dann zu ihnen ihre verschieden ge-
richteten Ansatzstücke projiziert, so bietet in beiden Fällen die plötzliche
Entstehung der Täuschung, sowie ihr Wiederverschwinden beim momen-
tanen Auslöschen der induzierenden Teile und endlich die Umkehrung
der Täuschung, wenn man im letzteren Versuch die Ansatzstücke ihre
Richtung wechseln läßt, ein so anziehendes Schauspiel, daß niemand,
der sich einmal dieser Demonstrationsmethode bedient hat, sie zur Ver-
anschaulichung der Täuschungsbedingungen wohl mehr entbehren möchte.
Aber es gibt eine Klasse hierher gehöriger Erscheinungen, bei denen
sich der Wert der Projektionsmethode nicht auf diese auch sonst mög-
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494
Kleine Mitteilungen.
liehe momentane Scheidmig der induzierenden ond der induzierten Ele-
mente beschränkt, sondern wo sich diese Demonstrationsmethode in eine
Untersuchungsmediode umwandelt, deren Ergebnisse von so zwingender
Natur sind, daß sie selbst demjenigen, der etwa aus Mangel an Übung
in der Fixation und in der Beherrschung seiner Augenbew^ungen auf
anderen Wegen erfolglos sich abmüht, die Wahmehmimg der tatsächlichen
Bedingungen der Erscheinungen aufnötigen. Dies .sind die umkehrbaren
perspektivischen Täuschungen. Entwirft man z. B. von dem Netz
eines Würfels, wie es die Fig. i zeigt, mittels des Skioptikons im Dunkel-
raum bloß einen einzigen Punkt a, so daß dieser den zunächst allein vor-
handenen Fixationspunkt abgibt, den man am besten monokular, unter
Verschluß des andern Auges, fixieren läßt, und fügt man dann von a aus-
gehend durch die Bewegung eines geeignet konstruierten Schiebers die übrige
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' Figur hinzu, so wird unweigerlich der Würfel in dem Sinne plastisch gesehen,
daß die Ecke a als körperliche Ecke imd das Quadrat a b c d des per-
spektivisch gesehenen Würfels dem Beschauer zugekehrt erscheint. Er-
leuchtet man dagegen zuerst nur den Punkt e und läßt man dann von e
ausgehend in rascher Bewegimg die ganze Zeichnung sichtbar werden,
so sieht man ebenso unweigerlich t als körperliche Ecke, und das Qua-
drat ^/^^ des perspektivisch gesehenen Würfels erscheint nun dem Be-
schauer zugekehrt, die Fläche ab c d von ihm abgekehrt. Diese Umkehrung
der Perspektive ist so zwingend, daß man sie jedem in Fixation und Be-
herrschung der Augenbewegungen ganz ungeübten Zuschauer demonstrieren
kann. Sie eignet sich, wie nur wenige Versuche auf diesem Gebiet, zu
einem Vorlesungsversuch, bei dem sich hunderte von Beobachtern gleich-
zeitig von dem Phänomen imd seiner eindeutigen Abhängigkeit von der
primären Fixation überzeugen können. Studiert man aber die Erscheinungen
sorgfältiger, indem man die Art, wie unmittelbar nach der Darbietung
des Punktes a oder e die von diesen Punkten ausgehenden Fixierlinien
enthüllt werden, variiert, so überzeugt man sich, daß neben der primären
Fixation auch die daran sich anschließende Fixationsbewegung einen Ein-
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Kleine Mitteilungen. 405
fluO ausübt, indem das plastische Bild jedesmal dami ein vollkommeneres
ist, wenn man die weitere Enthüllung der Figur nicht momentan vor-
nimmt, sondern so, daß das fixierende Auge nicht etwa plötzlich auf
irgend einen ferneren Punkt tiberspringen kann, sondern daß es eine
Strecke weit stetig eine an den Fixierpunkt sich anschließende Richt-
linie verfolgen muß.
Bei den Beobachtern, die sich seitdem mit den Erscheinungen der per-
spektivischen Umkehrung beschäftigt haben, sind, wie es scheint, diese
Bemerkungen über die Projektionsmethode unbeachtet geblieben. Wenn
in einigen dieser neueren Arbeiten bemerkt wird, es sei dem Verfasser
nicht gelungen, meine Ergebnisse zu bestätigen, oder es sei ihm sogar
gelungen, das Gegenteil zu finden, indem er bei geeigneter Einstellung
der Aufmerksamkeit imstande sei, in einer der Fixation und Blick-
bewegung entgegengesetzten Richtung die perspektivische Vorstellung zu
, vollziehen, so muß ich um so mehr annehmen, daß sich diese Beobachter
der oben angegebenen Projektionsmethode nicht bedient haben, als dieser
Ptmkt von ihnen völlig mit Stillschweigen übergangen worden ist*). Nun
kann man freilich nötigenfalls auch ohne die Methode der sukzessiven
Projektion die Wirkimg von Fixation und Bewegung nachweisen. Ich selbst
habe mich in meiner ersten Arbeit über diesen Gegenstand in der Tat
derselben noch nicht bedient"). Allerdings habe ich dabei in bezug auf
die Ausschließung unwillkürlicher Augenbewegungen, die strenge Ein-
haltung monokularer Fixation usw. Vorsichtsmaßregeln angewandt und
beschrieben, von denen ich zweifeln muß, ob sie in allen Untersuchungen
befolgt worden sind. Dieser Zweifel ist vielleicht um so mehr gestattet,
als nach meinen Erfahrungen die Loslösung des Blickpunktes der Auf-
merksamkeit von dem Fixierpunkt des Auges zu den schwierigsten Auf-
gaben gehört, die dem physiologischen Optiker gestellt werden können.
In manchen Arbeiten wird aber dieser Trennung des Blickpunktes der
optischen Aufmerksamkeit und des Fixierpunktes als einer sozusagen
selbstverständlichen Sache gedacht, die man nur zu wollen brauche, um
sie auch zu können. Ich bekenne, daß mir die Aufgabe keineswegs so leicht
fällt, obgleich ich eine ziemlich lange Übung in derartigen Versuchen zu
haben glaube. Am allerwenigsten würde ich aber einer vermeintlichen
Trennung beider Punkte trauen, wenn diese einander so nahe liegen,
wie in dem von von Aster (S. 175) angegebenen Versuch. Dieser Be-
obachter bediente sich nämlich der bekannten Schoe der' sehen Treppen-
figur (Fig. 3). Bei ihr ist es ihm, wie er bemerkt, »ohne Schwierigkeit
möglich, eine Linie wie aß von a nach ß zu durchlaufen tmd doch/? vom
und a hinten zu sehen.« Überdies könne aber >sehr wohl ein Durch-
laufen mit der Aufmerksamkeit auch an die Stelle solcher Augenbewegungen
treten«. Ich bekenne offen, daß es mir zwar ganz gut gelingt, eventuell
einen Punkt zu fixieren und die Aufmerksamkeit auf einen davon ent-
') Vgl. z. B. E. von Aster, Zeitschrift fttr Psychologie, Bd. 43, S. 175.
*) Die geoinetrisch-optischen Täuschungen. Abhandl. der mathematisch-physischen
Klasse der kgl. sächs. Ges. der Wiss. XXIV, 1898, S. 58 ff. Dazu Phüos. Stud. XIV,
S. 32 ff.
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zu fixieren, während gleichzeitig die Aofinerksamkeit einen vorgeschriebenen
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fixiere und die Vorstellung der überhängenden Mauerstücke festhalte, plötz-
lieh das Relief sich umkehrt und die Treppe erscheint Aber ich glaube dann
auch regelmäßig zu beobachten, daß das Auge aus seiner Fixationsstellung
übergesprungen ist und nun
die Linie a ß von a nach ß
verfolgt Das geschieht tmi so
leichter, je näher sidi die
Punkte li^en, die den Blick
attrahierend auf sich ziehen.
Darum halte ich überhaupt die
Treppenfigur für eine der un-
günstigsten, die in diesem Fall
gewählt weiden können. Viel
günstiger ist der Würfel, wenn
man die verschiedenen mit dem
Blick und mit der Auimerk-
samkeit zu fixierenden Punkte,
wie in Fig. i und 2, an entgegengesetzten Enden einer Diagonale eines der
seine Endflächen bildenden Quadrate nimmt. Auch kann man sich in
diesem Fall die Trennung von Fixationspunkt und Aufmerksamkeitspunkt
noch wesentlich dadurch erleichtem, daß man eine Ecke oder noch besser,
wie es in Fig. i und 2 geschehen ist, eine Kante durch eine stärkere
Kontur auszeichnet Besonders ist es dann sehr leicht, eine schwach
gezeichnete Ecke zum Fixierpunkt und die gegenüberli^ende stark ge-
zeichnete zum Aufmerksamkeitspunkt zu nehmen. Fixiere ich nun an
einem solchen Würfel etwa den Punkt a in Fig. 2 oder e in Fig. i, so
mag ich die Aufmerksamkeit noch so energisch im ersten Fall auf ^, im
zweiten auf a richten, die Inversion erfolgt nicht, außer wenn ich auch
den Blick der Richtung der Apperzeption folgen lasse. In diesem Fall
ist aber diese Bewegung so ausgiebig, daß sie nicht wohl übersehen
werden kann.
Auf diese Weise können Figuren wie die hier gezeichneten bis zu
einem gewissen Grade zugleich als Ersatz für die bei den Projektions-
versuchen durch die primäre Erleuchtung bewirkte Bevorzugung bestimmter
Elemente der Figuren dienen. Was dort sukzessiv geschieht, das wird
hier simultan dargeboten. In Fig. i pflegt bei unbefangener Betrachtung
der Blick zuerst auf die Kante a h^ in Fig. 2 auf ^/ zu fallen. Infolgedessen
sieht man dort die Fläche a b c dy hier die Fläche efgh dem Beschauer
zugekehrt. Natürlich fallen nun dabei, ebenso wie bei den sukzessiven
Projektionsversuchen, Fixierpunkt und Aufmerksamkeitspunkt gemäß der
normalen Verbindtmg von Fixation und Apperzeption zusammen. Gerade
die pseudoskopischen Würfelversuche mit einer solchen Markierung be-
stimmter Teile bieten aber zugleich die günstigsten Chancen, mn diese
feste Assoziation zwischen Blickpunkt und Aufmerksamkeitspunkt für kurze
Zeit zu lösen. Jedermann, der sich mit Beobachtungen über die Richtung
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Kleine üfitteilnngen. ^ny
der Aufmerksamkeit auf indirekt gegebene Objekte beschäftigt hat, weiß,
daß diese Versuche eine lang dauernde Übung im indirekten Sehen tmd
in der Beherrschung der Augenbewegungen voraussetzen. Immer wieder
will der Fixierpunkt in der Richtung des Aufmerksamkeitspimktes oder
umgekehrt dieser nach jenem abweichen, und wenn beide Punkte einander
sehr nahe liegen, scheitert der Versuch einer irgend dauernden Trennung
völlig. Wesentlich unterstützt wird umgekehrt seine Ausführung, wenn
die beiden Objekte, zwischen denen man Fixation und Aufmerksamkeit
verteilen wiU, abweichende qualitative Merkmale besitzen. Beide Er-
fordernisse sind nun an den beiden Figuren i und 2 erfMt. Das aus-
nahmlose Resultat der Versuche, in welcher Richtung man auch die Ver-
teilung vornehmen mag, ist aber, daß die Verlegung des Aufinerksamkeits-
punktes niemals eine Inversion nach sich zieht, wenn nicht der Fixierpunkt
gleichzeitig wandert, daß dagegen die Verlegung des Fixierpunktes
unweigerlich Inversion bewirkt, auch wenn der Aufmerksamkeitspunkt fest-
gehalten wird. Die entstehende Perspektive ist also ausschließ-
lich von Fixation und Richtung der Augenbewegung abhängig,
während die Richtung der Aufmerksamkeit völlig ohne Ein-
fluß bleibt, so lange sie nicht gleichzeitig eine Änderung
der Fixation herbeiführt. Entgegengesetzte Angaben sind teils auf
ungünstige, die Trennung des Fixier- von dem Aufmerksamkeitspunkt
erschwerende Bedingungen, teils wohl auch darauf zurückzuführen, daß
tatsächlich stattfindende Augenbewegungen übersehen wurden. Wie schon
die Projektionsversuche vermuten lassen und dann die Simultanversuche
unter den angegebenen Variationen der Bedingungen überzeugend be-
stätigen, übt aber die Aufmerksamkeit auch nicht etwa in dem Sinne
einen Einfluß aus, daß sie ein neben der Blickbewegung wirksames
Moment ist, das eventuell die Wirkung der Fixation zu kompensieren
vermöchte, vielmehr kann sie inmier nur dadurch, daß die Aufmerksam-
keitsbewegung Blickbewegungen nach sich zieht, also mittelbar, die Form
der perspektivischen Vorstellung bestimmen.
Ihrem allgemeinen Charakter nach ist die Ableitung der perspektivischen
Vorstellungen bei den umkehrbaren Täuschungen aus Aufmerksamkeits-
vorgängen offenbar der einst allgemein herrschenden Annahme, alle
diese Erscheinungen seien von völlig unberechenbaren und unter un-
bekannten psychischen Motiven auftauchenden Phantasiebildem abhängig,
nahe verwandt. Sie ist, gleich dieser, eine rein psychologische Hypothese und .
verrät nur darin eine gewisse Konzession an mitwirkende physiologische
Momente, als dabei in der Regel wohl zugestanden wird, die Richtung
der Aufmerksamkeit bestimme zugleich die Fixationsrichtung des Blickes: sie
vertauscht aber die Reihenfolge der Bedingungen, indem sie den in Wirk-
lichkeit primären Einfluß der Blickrichtung und Blickbewegung für den
sekundären und dagegen den tatsächlich immer nur sekundären Einfluß
der Aufmerksamkeit für den primären ansieht Beide, die Aufmerksamkeits-
wie die Einbildungstheorie setzen sich übrigens zugleich in Widerspruch
mit den allgemeinen Ergebnissen, zu denen aUer Orten die Analyse der
Wahrnehmungsvorgänge führt. Diese sind tiberall in dem Sinne psycho-
physi sehe Vorgänge, als bestimmte physiologische Reize die psychischen
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4iq8 Kleine Mitteflangen.
Prozesse auslösen, aus denen irgend eine durch einen äußeren Eindruck
erregte Vorstellung resultiert. So wenig man bei dem bekannten Ari-
stotelischen Versuch, bei dem die mit gekreuzten Fingern betastete
Kugel als Doppelkugel erscheint, etwa die Kreuzung der Finger durch
eine veränderte Verteilung der Aufmerksamkeit ersetzen kann, gerade so
wenig richtet diese bei den pseudoskopischen Versuchen etwas aus, wenn
ihr nicht die zur Herstellung einer bestimmten körperlichen Form erforder-
liche Blickrichtung zur Seite steht. Hinter der alten Einbildungstheorie
steht übrigens die Aufmerksamkeitstheorie insofern zurück, als, wie die
unter den nötigen Kautelen ausgeführten Versuche mit getrennter Blick-
und Aufmerksamkeitsrichtung lehren, die Form der Perspektive stets im Wider-
spruch mit der Aufmerksamkeitsrichtung erfolgt, sobald nur die Blickrichtung
dazu zwingt, während die Einbildungstheorie immerhin darin partiell
Recht behält, daß ohne reproduktive Vorgänge und ohne den Einfluß
der diese ermöglichenden früheren Eindrücke selbstverständlich keinerlei
perspektivische Vorstellung zustande kommen könnte. Die Fixationsn
richtung wirkt also hier lediglich als auslösender Reiz, der eine Assimi-
lation des Eindrucks durch hinzutretende reproduktive Elemente hervor-
ruft, dabei aber selbst zugleieh dieser Assimilation die Richtung anweist,
indem jeweils diejenigen Kombinationen von Elementen reproduziert
werden, die in vorangegangenen Wahmehmimgen durchgängig der als
Reiz wirkenden primären Blickrichtung und Blickbewegung entsprachen.
Für das hierbei sich wiederum bewährende Prinzip der leichtesten assoziativen
Verbindung der häufigsten Vorstellungskomplexe liefert auch die Ver-
gleichung der Figuren i imd 2 einen deutlichen Beleg. Man kaim sowohl
in Fig. I wie in Fig. 2 durch Fiication einer der stark gezeichneten Kontur
gegenüberliegenden Ecke eine Inversion der Figuren herbeiführen, indem
bei starrer Fixation von e in Fig. i, trotz der Richtung der Aufmerk-
samkeit auf dr, die Ecke e dem Beschauer sich zukehrt tmd a in die Tiefe
rückt; und ebenso sieht man in Fig. 2 bei Fixation von a trotz der Richtung
der Aufmerksamkeit auf ^, daß a sich vordrängt und e in die Feme tritt.
Aber die letztere Inversion ist viel leichter als die erste: bei Fig. i be-
darf man einer längeren Fixation, um die den bevorzugten Konturen
entgegengesetzte Inversion zustande zu bringen als bei Fig. 2. Aus dem
Prinzip der erleichterten Beweglichkeit der assimilativen Dispositionen
durch die Häufigkeit ihrer Verbindtmg mit dem auslösenden Blickreize
erklärt sich dies ohne weiteres. Ein vor uns aufgestellter Würfel hat
zumeist die perspektivische Form der Fig. i. Er erscheint so, wenn er
auf einer ebenen Fläche aufgestellt ist, während wir ihn mit abwärts ge-
kehrter Blicklinie, wie in der Regel die näheren Gegenstände, betrachten.
Die Lage, bei der e gehoben und nahe, a gesenkt und femer gesehen wird,
ist dagegen eine ungewöhnlichere; wir müssen zu dem Ende den Würfel
etwa von seiner Unterlage abheben und mit seinen vorderen Kanten
nach oben drehen. Aus demselben Gmnde ist auch bei ungezwungener,
mit dem Blick hin und her schweifender Betrachtung die durch die stark
gezeichnete Kante bestimmte Form in Fig. i die stabilere, die Fig. 2 ist
schwankender: die starken Konturen schützen hier weniger g^en gelegentliche,
durch einen momentanen Wechsel der Fixation eintretende Umkehrungen.
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Druck Ton Br«ltkopf & Härtel in Leiptl^
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