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Full text of "Psychopathia sexualis, mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung. Eine klinischforensische Studie"

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PSYCHOPÄTHIA  SEXÜALIS 


MIT  BESONDERER  BERÜCKSICHTIGUNG  DER 


CONTRÄREN  SEXUALEMPFINDUNG. 


EINE 

KLINISCH-FORENSISCHE  STUDIE 

VON 

D*  R.  v.  |RAFFT-EBING, 

0.  Ö.  PKOF.  F.  PSYCHIATRIE  U.  NERVENKRANKHEITEN  A.  D.  K.  K.  UNIVERSITÄT  WIEN. 


Neunte, 
verbesserte  und  theilweise  vermehrte  Auflage. 


STUTTGART. 
VERLAG   VON    FERDINAND   ENKE. 

1894. 


Druck  der  Union  Deutsche  Verlagsgesellschaft  in  Stuttgart. 


K8  5-1» 


Vorwort  zur  ersten  Auflage. 


Die  wenigsten  Menschen  werden  sich  vollkommen  des  ge- 
waltigen Einflusses  bewusst,  welchen  im  individuellen  und  im  gesell- 
schaftlichen Dasein  das  Sexualleben  auf  Fühlen,  Denken  und  Handeln 
gewinnt.  Schiller  in  seinem  Gedicht  „Die  Weltweisen"  erkennt  diese 
Thatsache  an  mit  den  Worten:  „Einstweilen  bis  den  Bau  der  Welt 
Philosophie  zusammenhält,  erhält  sie  das  Getriebe  durch  Hunger 
und  durch  Liebe." 

Auffallenderweise  hat  auch  von  Seiten  der  Philosophen  das 
sexuelle  Leben  eine  nur  höchst  untergeordnete  Würdigung  erfahren. 

Schopenhauer  (Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung,  3.  Aufl., 
Bd.  2,  p.  586  u.  ff.)  findet  es  geradezu  sonderbar,  dass  die  Liebe 
bisher  nur  Stoff  für  den  Dichter  und,  dürftige  Untersuchungen  bei 
Plato,  Rousseau,  Kant  ausgenommen,  nicht  auch  für  den  Philo- 
sophen war. 

Was  Schopenhauer  und  nach  ihm  der  Philosoph  des 
Unbewussten,  E.  v.  Hartmann,  über  sexuelle  Verhältnisse  philo- 
sophiren,  ist  so  fehlerhaft  und  in  seinen  Consequenzen  so  ab- 
geschmackt, dass,  abgesehen  von  den  mehr  als  geistreiche  Causeries, 
denn  als  wissenschaftliche  Abhandlungen  zu  betrachtenden  Dar- 
stellungen eines  Michelet  (L'amour)  und  Mantegazza  (Physio- 
logie der  Liebe),  sowohl  die  empirische  Psychologie  als  die  Meta- 
physik der  sexuellen  Seite  des  menschlichen  Daseins  ein  noch  nahezu 
jungfräulicher  wissenschaftlicher  Boden  sind. 

Vorläufig  dürften  die  Dichter  bessere  Psychologen  sein,  als 
die  Psychologen  und  Philosophen  von  Fach,  aber  sie  sind  Gefühls- 
und nicht  Verstandesmenschen  und  mindestens  einseitig  in  der  Be- 
trachtung des  Gegenstands.     Sehen  sie    doch  über  dem  Licht  und 


IV  Vorwort. 

der  sonnigen  Wärme  des  Stoffes,  von  dem  sie  Nahrung  ziehen, 
nicht  die  tiefen  Schatten!  Mögen  auch  die  Erzeugnisse  der  Dicht- 
kunst aller  Zeiten  und  Völker  dem  Monographen  einer  „Psychologie 
der  Liebe"  unerschöpflichen  Stoff  bieten,  so  kann  die  grosse  Auf- 
gabe doch  nur  gelöst  werden  unter  Mithilfe  der  Naturwissenschaft 
und  speciell  der  Medicin,  welche  den  psychologischen  Stoff  an  seiner 
anatomisch-physiologischen  Quelle  erforscht  und  ihm  allseitig  ge- 
recht wird. 

Vielleicht  gelingt  es  ihr  dabei,  einen  vermittelnden  Standpunkt 
für  die  philosophische  Erkenntniss  zu  gewinnen,  der  gleichweit  sich 
entfernt  von  der  trostlosen  Weltanschauung  der  Philosophen,  wie 
Schopenhauer  und  Hartmann1),  und  der  heiter  naiven  der 
Poeten. 

Die  Absicht  des  Verfassers  geht  nicht  dahin,  Bausteine  zu 
einer  Psychologie  des  Sexuallebens  beizutragen,  obwohl  zweifels- 
ohne wichtige  Erkenntnissquellen  für  die  Psychologie  aus  der  Psycho- 
pathologie sich  ergeben  dürften. 

Der  Zweck  dieser  Abhandlung  ist  die  Kenntnissnahme  der 
psychopathologischen  Erscheinungen  des  Sexuallebens  und  der  Versuch 
ihrer  Zurückführung  auf  gesetzmässige  Bedingungen.  Diese  Auf- 
gabe ist  eine  schwierige  und  trotz  vieljähriger  Erfahrungen  als 
Psychiater  und  Gerichtsarzt  bin  ich  mir  klar  bewusst,  nur  Unvoll- 
kommenes bieten  zu  können. 

Die  Wichtigkeit  des  Gegenstands  für  das  öffentliche  Wohl 
und  speciell  für  das  Forum  gebietet  gleichwohl,  dass  er  wissen- 
schaftlich untersucht  werde.  Nur  wer  als  Gerichtsarzt  in  der  Lage 
war,  über  Mitmenschen,  deren  Leben,  Freiheit  und  Ehre  auf  dem 
Spiel  stand,  sein  Urtheil  abgeben  zu  müssen,  und  sich  der  Unvoll- 
kommenheit  unserer  Kenntnisse  auf  dem  pathologischen  Gebiet  des 
Sexuallebens  in  peinlicher  Weise  klar  wurde,  vermag  die  Bedeu- 
tung eines  Versuchs,  zu  leitenden  Gesichtspunkten  zu  gelangen,  voll 
zu  würdigen. 

Jedenfalls  kommen  auf  dem  Gebiet  der  sexuellen  Delikte  noch 


*)  Hartmann's  philosophische  Anschauung  von  der  Liebe  in  „Phüo- 
sophie  des  Unbewussten",  Berlin  1869,  p.  583,  ist  folgende:  Die  Liebe  verur- 
sacht mehr  Schmerz  als  Lust.  Die  Lust  ist  nur  illusorisch.  Die  Vernunft 
würde  gebieten,  die  Liebe  zu  meiden,  wenn  nicht  der  fatale  Geschlechtstrieb 
wäre  —  ergo  wäre  es  am  besten,  wenn  man  sich  castriren  liesse.  Dieselbe 
Anschauung  minus  der  Consequenz  findet  sich  schon  bei  Schopenhauer: 
„Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung",  3.  Aufl.,  Bd.  2,  p.  586  u.  ff. 


Vorwort.  V 

die  irrigsten  Anschauungen  zum  Ausdrucke  und  werden  die  fehler- 
haftesten Urtheile  geschöpft,  gleichwie  die  Strafgesetzbücher  und 
die  öffentliche  Meinung  von  ihnen  beeinflusst  erscheinen. 

Wer  die  Psychopathologie  des  sexualen  Lebens  zum  Gegen- 
stand einer  wissenschaftlichen  Abhandlung  macht,  sieht  sich  einer 
Nachtseite  menschlichen  Lebens  und  Elends  gegenübergestellt,  in 
deren  Schatten  das  glänzende  Götterbild  des  Dichters  zur  scheuss- 
lichen  Fratze  wird  und  die  Moral  und  Aesthetik  an  dem  „Ebenbild 
Gottes"  irre  werden  möchten. 

Es  ist  das  traurige  Vorrecht  der  Medicin  und  speciell  der 
Psychiatrie,  dass  sie  beständig  die  Kehrseite  des  Lebens,  mensch- 
liche Schwäche  und  Armseligkeit,  schauen  muss. 

Vielleicht  gewinnt  sie  einen  Trost  in  dem  schweren  Beruf 
und  entschädigt  sie  den  Ethiker  und  Aesthetiker,  indem  sie  auf 
krankhafte  Bedingungen  vielfach  zurückzuführen  vermag,  was  den 
ethischen  und  ästhetischen  Sinn  beleidigt.  Damit  übernimmt  sie 
die  Ehrenrettung  der  Menschheit  vor  dem  Forum  der  Moral  und 
der  Einzelnen  vor  ihren  Richtern  und  Mitmenschen.  Pflicht  und 
Recht  der  medicinischen  Wissenschaft  zu  diesen  Studien  erwächst 
ihr  aus  dem  hohen  Ziel  aller  menschlichen  Forschung  nach  Wahrheit. 

Der  Verfasser  macht  den  Ausspruch  Tardieu's  (Des  atten- 
tats  aux  moeurs):  „Aucune  misere  physique  ou  morale,  aucune  plaie, 
quelque  corrompue  qu'elle  soit,  ne  doit  effrayer  celui  qui  s'est  voue 
ä  la  science  de  l'homme  et  le  ministere  sacre  du  medicin,  en  l'obli- 
geant  ä  tout  voir,  lui  permet  aussi  de  tout  dire"   zu  dem  seinigen. 

Die  folgenden  Blätter  wenden  sich  an  die  Adresse  von  Männern 
ernster  Forschung  auf  dem  Gebiet  der  Naturwissenschaft  und  der 
Jurisprudenz.  Damit  jene  nicht  Unberufenen  als  Lektüre  dienen, 
sah  sich  der  Verfasser  veranlasst,  einen  nur  dem  Gelehrten  ver- 
ständlichen Titel  zu  wählen,  sowie,  wo  immer  möglich,  in  terminis 
technicis  sich  zu  bewegen.  Ausserdem  erschien  es  geboten,  ein- 
zelne besonders  anstössige  Stellen  statt  in  deutscher,  in  lateinischer 
Sprache  zu  geben. 

Möge  der  Versuch,  über  ein  bedeutsames  Lebensgebiet  dem 
Arzt  und  Juristen  Aufschlüsse  zu  bieten,  wohlwollende  Aufnahme 
finden  und  eine  wirkliche  Lücke  in  der  Literatur  ausfüllen,  die, 
ausser  einzelnen  Aufsätzen  und  Casuistik,  nur  die  Theilgebiete  be- 
handelnden Schriften  von  Moreau  und  Tarnowsky  aufweist. 


Vorwort  zur  neunten  Auflage. 


i^ie  vorliegende  neunte  Auflage  ist  eine  sorgfältig  revidirte, 
theilweise  verbesserte  und  vermehrte.  Die  ausnahmslos  günstige 
Kritik,  welche  das  Buch  bisher  in  juridischen  Kreisen  gefunden  hat, 
ist  dem  Verfasser  Gewähr  dafür,  dass  es  nicht  ohne  Einfluss  auf 
Rechtsprechung  und  Gesetzgebung  bleiben  und  zur  Beseitigung  von 
vielhundertjährigen  Härten  und  Irrthümern  beitragen  wird. 

Der  unerwartet  grosse  buchhändlerische  Erfolg  ist  wohl  der  beste 
Beweis  dafür,  dass  es  unzählige  Unglückliche  gibt,  die  in  dem  Buche 
Aufklärung  und  Trost  hinsichtlich  räthselhafter  Erscheinungen  ihrer 
Vita  sexualis  suchen  und  finden.  Zahllose  Zuschriften  solcher  Stief- 
kinder der  Natur,  aus  allen  Ländern  an  den  Verf.  gerichtet,  sind  Be- 
lege dafür,  dass  diese  Annahme  begründet  ist.  Die  Lektüre  dieser 
Briefe,  deren  Schreiber  in  der  Mehrzahl  geistig  und  social  hoch- 
stehende und  oft  sehr  feinfühlige  Menschen  sind,  erweckt  das  tiefste 
Mitleid.  Sind  es  doch  seelische  Leiden,  die  da  geoffenbart  werden, 
gegen  die  alles  Andere,  was  das  Schicksal  verhängen  kann,  in  Nichts 
verschwindet ! 

Möge  das  Buch  solchen  Unglücklichen  auch  ferner  Trost  und 
sittliche  Rehabilitation  bieten! 

Um  seine  Lektüre  etwaigen  Unberufenen  zu  erschweren  und 
zu  verleiden,  wurde  noch  mehr  als  in  vorausgehenden  Auflagen  von 
terminis  technicis  und  lateinischer  Sprache  Gebrauch  gemacht.  Neue 
d.  h.  in  der  8.  Auflage  nicht  enthaltene  Beobachtungen  sind  Nr.  44, 
66,  69,  92,  93,  99,  117,  119,  123,  125,  188,  189  der  gegenwärtigen. 

Hoffentlich  ist  auch  dieser  Auflage  die  freundliche  Aufnahme 
beschieden,  deren  sich  die  vorausgehenden  zu  erfreuen  hatten. 
Möge  das  Buch  im  Dienst  der  Wissenschaft,  des  Rechts  und  der 
Humanität  sich  nützlich  erweisen! 

Wien,  März  1894. 

Der  Verfasser. 


Inhalt. 


I.  Fragmente  einer  Psychologie  des  Sexuallebens 

Mächtigkeit  sexueller  Triebe  1.  Sexualer  Trieb  als  Grundlage  ethi- 
scher Gefühle  1.  Liebe  als  Leidenschaft  2.  Culturgeschichtliche 
Entwicklung  des  Sexuallebens  2.  Schamhaftigkeit  2.  Christen- 
thum.  Monogamie  4.  Stellung  des  Weibes  im  Islam  5.  Sinn- 
lichkeit und  Sittlichkeit  6.  Culturelle  Versittlichung  des  Sexual- 
lebens 6.  Episoden  sittlichen  Niedergangs  im  Völkerleben  7. 
Entwicklung  sexueller  Gefühle  beim  Individuum.  Pubertät  8. 
Sinnlichkeit  und  religiöse  Schwärmerei  10.  Beziehungen  zwischen 
religiösem  und  sexuellem  Gebiet  10.  Sinnlichkeit  und  Kunst  11. 
Idealisirender  Zug  der  ersten  Liebe  11.  Wahre  Liebe  12.  Sen- 
timentalität 12.  Platonische  Liebe  13.  Liebe  und  Freundschaft  13. 
Verschiedenheit  der  Liebe  von  Mann  und  Weib  14.  Cölibat  15. 
Ehebruch  15.  Ehe  15.  Putzsucht  16.  Thatsachen  des  physiolo- 
gischen Fetischismus  17.  Religiöser  und  erotischer  Fetischismus 
18.  Haar,  Hand,  Fuss  des  Weibes  als  Fetisch  21.  Auge,  Geruch, 
Stimme,  seelische  Eigenschaften  als  Fetisch  22. 


Seite 
1 


II.  Physiologische  Thatsachen 23 

Geschlechtsreife  23.  Zeitliche  Begrenzung  des  Sexuallebens  23. 
Geschlechtssinn  24.  Lokalisation?  24.  Physiologische  Entwick- 
lung des  Sexuallebens  24.  Erection.  Erectionscentrum  24.  Ge- 
schlechtssphäre und  Geruchssinn  26.  Geisselung  ein  das  Sexual- 
leben erregender  Eingriff  29.  Flagellantensekte  29.  Paullini's 
Flagellum  salutis  30.  Erogene  Zonen  31.  Beherrschung  des 
Sexualtriebs  32.     Cohabitation  33.     Ejaculation  33. 


III.  Allgemeine  Neuro-  und  Psychopathologie  des  Sexuallebens    .... 

Häufigkeit    und    Wichtigkeit    pathologischer   Erscheinungen   34. 
Schema  der  sexualen  Neurosen  35.     Reizzustände  des  Erections- 


34 


VIII  Inhalt. 

centrums  35.  Lähmung  desselben  35.  Hemmungsvorgänge  im  Eree- 
tionscentrum  36,  reizbare  Schwäche  desselben  36.  Neurosen  des 
Ejaculationscentrums  36.  Cerebral  bedingte  Neurosen  37.  Para- 
doxie  d.  h.  Sexualtrieb  ausserhalb  der  Zeit  anatomisch-physiolo- 
gischer Vorgänge  38.  Im  Kindesalter  auftretender  Geschlechts- 
trieb 38.  Im  Greisenalter  wieder  erwachender  Trieb  39.  Sexuelle 
Verirrungen  bei  Greisen,  erklärt  durch  Impotenz  und  Demenz  40. 
Anaesthesia  sexualis  d.  h.  fehlender  Geschlechtstrieb  42,  als 
angeborene  Anomalie  42,  als  erworbene  47.  Hyperästhesie 
d.  h.  krankhaft  gesteigerter  Trieb  48.  Bedingungen  und  Erschei- 
nungen dieser  Anomalie  49.  Parästhesie  der  Sexualempfindung 
oder  Perversion  des  Geschlechtstriebs  56.  Perversion  und  Per- 
versität 56.  Sadismus.  Versuch  einer  Erklärung  des  Sadis- 
mus 57.  Sadistischer  Lustmord  62.  Anthropophagie  64.  Leichen- 
schänder 68.  Misshandeln  von  Weibern,  Blutigstechen,  Flagel- 
liren  derselben  71.  Besudelung  weiblicher  Personen  79.  Symbo- 
lischer Sadismus  d.  h.  sonstige  Ausübung  von  Gewalt  gegen 
weibliche  Personen  81.  Sadismus  an  beliebigem  Objekt  82.  Knaben- 
geissler  83.  Sadistische  Akte  an  Thieren  85.  Sadismus  des  Weibes 
87.  Kleist's  Penthesilea  89.  Masochismus  89.  Wesen  und 
klinische  Erscheinung  des  Masochismus  90.  Aufsuchen  von  Miss- 
handlungen und  Demüthigungen  zum  Zweck  sexueller  Befriedi- 
gung 91.  Passive  Flagellation  in  ihren  Beziehungen  zum  Maso- 
chismus 101.  Häufigkeit  und  Praktiken  des  Masochismus  105. 
Symbolischer  Masochismus  111.  Ideeller  Masochismus  113.  Jean 
Jacques  Rousseau  118.  Der  Masochismus  in  der  wissenschaftlichen 
und  belletristischen  Literatur  120.  Larvirter  Masochismus  122. 
Schuh-  und  Fussfetischisten  122.  Koprolagnie  123.  Masochis- 
mus des  Weibes  136.  Versuch  einer  Erklärung  des  Masochismus 
140.  Geschlechtliche  Hörigkeit  142.  Masochismus  und  Sadismus 
151.  Fetischismus.  Erklärung  des  Fetischismus  156.  Fälle,  in 
welchen  der  Fetisch  ein  Theil  des  weiblichen  Körpers  ist  162. 
Handfetischismus  162.  Körperfehler  als  Fetisch  167.  Zopffeti- 
schismus. Zopfabschneider  168.  Der  Fetisch  ist  ein  Stück  der 
weiblichen  Kleidung  172.  Liebhaber  resp.  Diebe  weiblicher 
Taschentücher  177.  Schuhfetischisten  180.  Der  Fetisch  ist  ein  be- 
stimmter Stoff  185.  Pelz-,  Seide-  und  Sammtfetischisten  185.  Thier- 
fetischismus  191.  Conträre  Sexualempfindung  192.  Erwor- 
bene conträre  Sexualempfindung  bei  beiden  Geschlech- 
tern 195.  Neurotische  Belastung  als  Bedingung  erworbener  con- 
trärer  Sexualempfindung  198.  Stufen  der  erworbenen  Entartung 
199.  Einfache  Verkehr ung  der  Geschlechtsempfindung  199.  Eviratio 
und  Defeminatio  204.  Wahnsinn  der  Skythen  208.  Mujerados 
208.    Uebergangsstufe  zur  Metamorphosis  sexualis  209.    Metamor- 


Seite 


Inhalt.  IX 

Seite 
phosis  sexualis  paranoica  223.  Angeborene  conträre  Sexual- 
empfindung 226.  Verschiedene  klinische  Formen  derselben  231. 
Allgemeine  Merkmale  233.  Erklärungsversuche  der  Anomalie  235. 
Die  angeborene  conträre  Sexualempfindung  beimManne 
241.  Psychische  Hermaphrodisie  243.  Homosexuale  oder  Urninge 
253.  Effeminatio  268.  Androgene  275.  Die  angeborene  con- 
träre Sexualempfindung  beim  Weibe  279.  Anderweitige 
Erscheinungen  sexueller  Perversion  bei  Conträrsexualen  302.  Dia- 
gnose, Prognose  und  Therapie  der  conträren  Sexualempfindung  304. 

IV.  Specielle  Pathologie 321 

Die  Erscheinungen  krankhaften  Sexuallebens  in  den  verschiedenen 
Formen  und  Zuständen  geistiger  Störung  321.  Psychische  Ent- 
wicklungshemmungen 321.  Erworbene  geistige  Schwächezustände 
324.  Consecutive  Geistesschwäche  nach  Psychosen  324,  nach  Apo- 
plexien 325,  nach  Kopfverletzung  325,  auf  Grund  von  Lues  cere- 
bralis  325.  Dementia  paralytica  326.  Epilepsie  327.  Periodische 
Geistesstörung  333.  Psychopathia  sexualis  periodica  334.  Manie 
334.  Zeichen  sexueller  Erregung  bei  Manischen  335.  Satyriasis 
337.  Nymphomanie  337.  Chronische  Satyriasis  und  Nympho- 
manie 337.    Melancholie  338.     Hysterie  338.     Paranoia  339. 

V.  Das  krankhafte  Sexualleben  vor  dem  Criminalforum 342 

Gefahr  sexueller  Delikte  für  die  allgemeine  Wohlfahrt  342.  Zuneh- 
mende Häufigkeit  derselben  342.  Muthmassliche  Ursachen  343. 
Klinische  Forschungen  343.  Mangelhafte  Würdigung  solcher 
seitens  der  Juristen  343.  Anhaltspunkte  für  die  forensische  Be- 
urtheilung  sexueller  Delikte  344.  Bedingungen  der  Aufhebung 
der  Zurechnungsfähigkeit  345.  Indicien  für  die  psychopathologische 
Bedeutung  sexueller  Delikte  346.  Die  einzelnen  sexuellen 
Delikte.  Exhibitioniren  347.  Frotteurs  359.  Statuenschänder 
360.  Nothzucht  und  Lustmord  361.  Körperverletzung,  Sachbe- 
schädigung, Thierquälerei  auf  Grund  von  Sadismus  367.  Maso- 
chismus und  geschlechtliche  Hörigkeit  370.  Körperverletzung, 
Raub,  Diebstahl  auf  Grund  von  Fetischismus  372.  Unzucht  mit 
Individuen  unter  14  Jahren.  Schändung  374.  Unzucht  wider  die 
Natur  377.  Thierschändung  377.  Zooerastie  381.  Unzucht  mit  Per- 
sonen desselben  Geschlechts.  Päderastie  383.  Die  Päderastie  im 
Lichte  der  Forschungen  über  conträre  Sexualempfindung  383.  Not- 
wendigkeit der  Unterscheidung  krankhafter  und  nicht  krankhaft  be- 
dingter Päderastie  383.  Forensische  Beurth eilung  der  veranlagten 
conträren  Sexualempfindung,  sowie  der  erworbenen  krankhaften 
384.   Denkschrift  eines  Urnings  385.    Gründe  für  die  Unterlassung 


X  Inhalt. 

der  strafgerichtlichen  Verfolgung  homosexualer  Liebesakte  389. 
Die  gezüchtete,  nicht  krankhafte  Päderastie  394.  Ursachen  des 
Lasters  394.  Sociales  Leben  der  Päderasten  396.  Ein  Ball  der 
Weiberfeinde  in  Berlin  397.  Art  der  sexuellen  Triebrichtung 
bei  den  verschiedenen  Kategorien  conträrer  Sexualenipfindung 
400.  Paedicatio  mulierum  400.  Amor  lesbicus  409.  Nekrophilie 
412.  Incest  412.   Unsittliche  Handlungen  mit  Pflegebefohlenen  414. 


LIBRARY 


I.  Fragmente  einer  Psychologie  des  Sexuallebens. 


Die  Fortpflanzung  des  Menschengeschlechts  ist  nicht  dem  Zu- 
fall oder  der  Laune  der  Individuen  anheimgegeben,  sondern  durch 
einen  Naturtrieb  gewährleistet,  der  allgewaltig,  übermächtig  nach 
Erfüllung  verlangt.  In  der  Befriedigung  dieses  Naturdrangs  er- 
geben sich  nicht  nur  Sinnengenuss  und  Quellen  körperlichen  Wohl- 
befindens, sondern  auch  höhere  Gefühle  der  Genugthuung,  die  eigene, 
vergängliche  Existenz  durch  Vererbung  geistiger  und  körperlicher 
Eigenschaften  in  neuen  Wesen  über  Zeit  und  Raum  hinaus  fort- 
zusetzen. In  der  grobsinnlichen  Liebe,  in  dem  wollüstigen  Drang, 
den  Naturtrieb  zu  befriedigen,  steht  der  Mensch  auf  gleicher  Stufe 
mit  dem  Thier,  aber  es  ist  ihm  gegeben',  sich  auf  eine  Höhe  zu 
erheben,  auf  welcher  der  Naturtrieb  ihn  nicht  mehr  zum  willen- 
losen Sklaven  macht,  das  mächtige  Fühlen  und  Drängen  höhere, 
edlere  Gefühle  weckt,  die,  unbeschadet  ihrer  sinnlichen  Entstehungs- 
quelle, eine  Welt  des  Schönen,  Erhabenen,  Sittlichen  erschliessen. 

Auf  dieser  Stufe  steht  der  Mensch  über  dem  Trieb  der  Natur 
und  schöpft  aus  der  unversieglichen  Quelle  Stoff  und  Anregung  zu 
edlerem  Genuss,  zu  ernster  Arbeit  und  Erreichung  idealer  Ziele. 
Mit  Recht  bezeichnet  Maudsley  (Deutsche  Klinik  1873,  2,  3)  die 
geschlechtliche  Empfindung  als  die  Grundlage  für  die  Entwicklung 
der  socialen  Gefühle.  „Wäre  der  Mensch  des  Fortpflanzungstriebes 
beraubt  und  alles  Dessen,  was  geistig  daraus  entspringt,  so  würde 
so  ziemlich  alle  Poesie  und  vielleicht  auch  die  ganze  moralische 
Gesinnung  aus  seinem  Leben  herausgerissen  sein." 

Jedenfalls  bildet  das  Geschlechtsleben  den  gewaltigsten  Factor 
im  individuellen  und  im  socialen  Dasein,  den  mächtigsten  Impuls  zur 

v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  1 


2  Culturelle  Versittlichung  des  Sexuallebens. 

Bethätigung  der  Kräfte,  zur  Erwerbung  von  Besitz,  zur  Gründung 
eines  häuslichen  Herdes,  zur  Erweckung  altruistischer  Gefühle, 
zunächst  gegen  eine  Person  des  anderen  Geschlechts,  dann  gegen 
die  Kinder  und  im  weiteren  Sinne  gegenüber  der  gesammten  mensch- 
lichen Gesellschaft. 

So  wurzelt  in  letzter  Linie  alle  Ethik,  vielleicht  auch  ein  guter 
Theil  Aesthetik  und  Religion  in  dem  Vorhandensein  geschlecht- 
licher Empfindungen. 

Wie  das  sexuale  Leben  die  Quelle  der  höchsten  Tugenden 
werden  kann,  bis  zur  Aufopferung  des  eigenen  Ich,  so  liegt  in 
seiner  sinnlichen  Macht  die  Gefahr,  dass  es  zur  gewaltigen  Leiden- 
schaft ausarte  und  die  grössten  Laster  entwickle. 

Als  entfesselte  Leidenschaft  gleicht  die  Liebe  einem  Vulkan, 
der  Alles  versengt,  verzehrt,  einem  Abgrund,  der  Alles  verschlingt 
—  Ehre,  Vermögen,  Gesundheit. 

Von  hohem  psychologischem  Interesse  erscheint  es,  die  Ent- 
wicklungsphasen zu  verfolgen,  durch  welche  im  Laufe  der  Cultur- 
entwicklung  der  Menschheit  das  Geschlechtsleben  bis  zu  heutiger 
Sitte  und  Gesittung  hindurchgegangen  ist1).  Auf  primitiver  Stufe 
erscheint  die  Befriedigung  sexueller  Bedürfnisse  der  Menschen  wie 
die  der  Thiere.  Der  geschlechtliche  Akt  entzieht  sich  nicht  der 
Oeffentlichkeit ,  und  Mann  und  Weib  scheuen  sich  nicht,  nackt  zu 
gehen.  Auf  dieser  Stufe  sehen  wir  (vgl.  Ploss,  Das  Weib,  1884, 
p.  196  u.  ff.)  heute  noch  wilde  Völker,  wie  z.  B.  die  Australier, 
Polynesier,  Malayen  der  Philippinen.  Das  Weib  ist  Gemeingut  der 
Männer,  temporäre  Beute  des  Mächtigsten,  Stärksten.  Dieser  strebt- 
nach  den  schönsten  Individuen  des  anderen  Geschlechts  und  erfüllt 
damit  instinktiv  eine  Art  geschlechtlicher  Zuchtwahl. 

Das  Weib  ist  eine  bewegliche  Sache,  eine  Waare,  ein  Gegen- 
stand des  Kaufs,  Tauschs,  der  Schenkung,  ein  Werkzeug  des 
Sinnengenusses,  der  Arbeit.  Den  Anfang  einer  Versittlichung  des 
Geschlechtslebens  bildet  das  Auftreten  eines  Schamgefühls  bezüg- 
lich der  Kundgebung  und  Bethätigung  des  Naturtriebs  der  Gesell- 
schaft gegenüber  und  die  Schamhaftigkeit  im  Verkehr  der  Ge- 
schlechter. Daraus  entsprang  das  Bestreben,  die  Schamtheile  zu 
verhüllen  („Sie  erkannten,  dass  sie  nackt  waren")  und  sexuelle  Akte 
abseits  zu  vollziehen. 


3)  Vergl.    Lombroso,    Der   Verbrecher,    übersetzt   von   F  r  ä  n  k  e  1, 
p.  38  u.'ff. 


Sociale  Stellung  des  Weibes.  3 

Die  Entwicklung  dieser  Culturstufe  wird  begünstigt  durch 
Kälte  des  Klimas  und  das  dadurch  geweckte  Bedürfniss  nach  all- 
seitiger Bedeckung  des  Körpers.  Daraus  erklärt  es  sich  zum  Theil, 
dass  bei  nordischen  Völkern  die  Schamhaftigkeit  anthropologisch 
früher  nachzuweisen  ist  als  bei  südlichen  1). 

Ein  weiteres  Moment  in  der  culturellen  Entwicklung  des  Sexual- 
lebens ergibt  sich  damit,  dass  das  Weib  aufhört ,  bewegliche  Sache 
zu  sein.  Es  wird  eine  Person,  und,  wenn  auch  lange  noch  social 
tief  unter  den  Mann  gestellt,  entwickelt  sich  doch  die  Anschauung, 
dass  dem  Weibe  ein  Verfügungsrecht  über  sich  und  seine  Liebes- 
gunst zustehe. 

Damit  wird  es  Gegenstand  der  Bewerbung  des  Mannes.  Zu 
dem  roh  sinnlichen  Gefühle  geschlechtlicher  Bedürfnisse  gesellen 
sich  Anfänge  ethischer  Empfindungen.  Der  Trieb  wird  durch- 
geistigt. Die  Weibergemeinschaft  hört  auf.  Die  geschlechtlich 
differenten  Einzelwesen  fühlen  sich  durch  geistige  und  körperliche 
Vorzüge  zu  einander  hingezogen  und  erweisen  nur  einander  Liebes- 
gunst. Auf  dieser  Stufe  hat  das  Weib  ein  Gefühl,  dass  seine  Reize 
nur  dem  Manne  seiner  Neigung  .gehören  und  ein  Interesse  daran, 
sie  Anderen  gegenüber  zu  verhüllen.  Damit  sind  neben  der  Scham- 
haftigkeit die  Grundlagen  der  Keuschheit  und  der  sexuellen  Treue 
—  solange  der  Liebesbund  dauert  —  gegeben. 

Um  so  früher  erreicht  das  Weib  diese  sociale  Stufe  da,  wo 
mit  dem  Sesshaftwerden  der  Menschen  aus  früherem  Nomadenleben 
ihnen  ein  Heim,  ein  Haus  ersteht  und  für  den  Mann  sich  das  Be- 
dürfniss ergibt,  eine  Lebensgefährtin  für  die  Hauswirthschaft ,  eine 
Hausfrau  in  dem  Weibe  zu  besitzen. 

Diese  Stufe  haben  unter  den  Völkern  des  Orients  früh  die 
alten  Aegypter,  die  Israeliten  und  die  Griechen,  unter  den  Völkern 
des  Abendlands  die  Germanen  erreicht.  Ueberall  auf  dieser  Stufe 
findet  sich  die  Werthschätzung  der  Jungfräulichkeit,  Keuschheit, 
Schamhaftigkeit  und  sexuellen  Treue,  im  Gegensatz  zu  anderen 
Völkern,  die  die  Hausgenossin  dem  Gastfreund  zum  sexuellen  Ge- 
nüsse  bieten. 


*)  Vgl.  dagegen  das  interessante  an  anthropologischen  Thatsachen  reiche 
Werk  von  W  estermarck:  „The  history  of  human  marriage",  besonders  p.  208, 
„es  ist  nicht  das  Gefühl  der  Scham,  welches  die  Bedeckung  veranlasst  hat, 
sondern  die  Bedeckung  hat  das  Gefühl  der  Scham  hervorgerufen".  Die  Be- 
deckung der  Schamtheile  entsprang  aber  ursprünglich  dem  Wunsche  der 
Männer  und  Frauen,  sich  gegenseitig  anziehend  zu  machen. 


4  Christenthum  und  Main. 

Dass  diese  Stufe  der  Versittlichung  des  sexuellen  Lebens  eine 
ziemlich  hohe  ist  und  viel  später  als  manche  andere  culturelle  Ent- 
wicklungsformen, z.  B.  ästhetische,  sich  einstellt,  lehren  die  Japa- 
nesen, bei  denen  es  Sitte  ist,  ein  Weib  nur  zu  ehelichen,  nachdem 
es  jahrelang  in  Theehäusern,  die  die  Stelle  der  europäischen  Pro- 
stitutionshäuser vertreten,  gelebt  hat,  und  bei  denen  das  Nackt- 
gehen des  weiblichen  Geschlechts  nichts  Anstössiges  ist.  Jeden- 
falls kann  sich  bei  den  Japanesen  jedes  unverheirathete  Weib  pro- 
stituiren,  ohne  an  seinem  Werth  als  künftige  Frau  Einbusse  zu 
erleiden ,  wohl  ein  Beweis ,  dass  bei  diesem  merkwürdigen  Volke 
das  Weib  in  der  Ehe  nur  Grenuss-,  Procreations-  und  Arbeitswerth, 
aber  keinen  ethischen  Werth  besitzt. 

Die  Versittlichung  des  sexuellen  Verkehrs  erfuhr  einen  mäch- 
tigen Impuls  durch  das  Christenthum,  indem  es  das  Weib  auf 
gleiche  sociale  Stufe  mit  dem  Manne  erhob  und  den  Liebesbund 
zwischen  Mann  und  Weib  zu  einer  religiös-sittlichen  Institution 
gestaltete  r).    Damit  war  der  Thatsache  entsprochen,  dass  die  Liebe 


J)  Diese  allgemeine  und  auch  von  vielen  Culturhistorikern  aufgestellte 
Meinung  bedarf  aber  einer  Einschränkung,  insofern  der  symbolische  und  sakra- 
mentale Charakter  der  Ehe  erst  vom  Concil  zu  Trient  klar  und  deutlich  aus- 
gesprochen wurde,  wenn  auch  es  von  jeher  im  Geist  des  Christenthums  lag, 
dass  das  Weib  aus  seiner  inferioren  Stellung,  die  es  in  der  alten  Welt  und 
im  alten  Testament  einnahm,  befreit  und  erhoben  werden  sollte. 

Dass  dies  so  spät  wirklich  geschah,  erklärt  sich  zum  Theil  wohl  aus 
den  Traditionen  der  Genesis  von  der  secundären  Schöpfung  des  Weibes  aus 
der  Rippe  des  Mannes ,  von  seiner  Rolle  beim  Sündenfall  und  dem  dafür  er- 
folgten Fluche  „dein  Wille  soll  dem  Manne  unterthan  sein".  Indem  der  Sünden- 
fall, für  den  die  hl.  Schrift  des  alten  Testaments  das  Weib  verantwortlich 
gemacht  hatte,  der  Grundstein  des  kirchlichen  Lehrgebäudes  wurde,  musste 
die  sociale  Stellung  der  Frau  so  lange  verkümmert  bleiben,  bis  der  Geist  des 
Christenthums  über  Tradition  und  Scholastik  den  Sieg  gewann. 

Bemerkenswerth  ist,  dass  die  Evangelien,  mit  Ausnahme  des  Verbots  der 
Verstossung  (Matth.  19.  9)  keine  Stelle  zu  Gunsten  der  Frau  enthalten.  Die  Milde 
gegen  die  Ehebrecherin  und  gegenüber  der  büssenden  Magdalena  berührt  die 
Stellung  der  Frau  an  und  für  sich  nicht.  Eindringlich  erklären  geradezu  die 
Paulini'schen  Briefe,  dass  an  der  Stellung  des  Weibes  nichts  geändert  werden 
soll  (IL  Korinther  11.  3  —  12;  Epheser  5.  22  „die  Weiber  seien  unterthan  ihren 
Männern"  und  23  „das  Weib  fürchte  den  Mann"). 

Wie  sehr  die  Kirchenväter  durch  Eva's  Schuld  gegen  das  Weib  prä- 
occupirt  sind,  lehren  Stellen  bei  Tertullian:  „Weib,  du  solltest  stets  in 
Trauer  und  Lumpen  gehen,  deine  Augen  voll  Thränen.  Du  hast  das  Menschen- 
geschlecht zu  Grunde  gerichtet!"    Der  hl.  Hieronymus  ist  gar  schlecht  auf  das 


Christenthum  und  Islam.  5 

des  Menschen  auf  höherer  Civilisationsstufe  nur  eine  monogamische 
sein  kann  und  sich  auf  einen  dauernden  Vertrag  stützen  muss. 
Mag  auch  die  Natur  bloss  Fortpflanzung  fordern,  so  kann  ein  Ge- 
meinwesen (Familie  oder  Staat)  nicht  bestehen  ohne  Garantie,  dass 
das  Erzeugte  physisch,  moralisch  und  intellectuell  gedeihe.  Durch 
die  Gleichstellung  des  Weibes  mit  dem  Manne,  durch  die  Statuirung 
der  monogamischen  Ehe  und  ihre  Festigung  durch  rechtliche,  reli- 
giöse und  sittliche  Bande  erwuchs  den  christlichen  Völkern  eine 
geistige  und  materielle  Superiorität  über  die  polygamischen  Völker, 
speciell  über  den  Islam. 

Wenn  auch  Mohamed  das  Weib  in  seiner  Stellung  als  Sklavin 
und  Werkzeug  des  Sinnengenusses  zu  heben,  social  und  ehelich 
auf  eine  höhere  Stufe  zu  stellen  bestrebt  war,  so  blieb  dasselbe 
in  der  islamitischen  Welt  dennoch  tief  unter  den  Mann  gestellt, 
dem  allein  die  Ehescheidung  möglich  und  überdies  sehr  leicht  ge- 
macht war. 

Unter  allen  Umständen  schloss  der  Islam  das  Weib  von  der 
Bethätigung  am  öffentlichen  Leben  aus  und  hinderte  damit  seine 
intellectuelle  und  sittliche  Fortentwicklung.  Dadurch  blieb  das 
muselmannische  Weib  wesentlich  Mittel  zum  Sinnengenuss  und  zur 
Erhaltung  der  Batfe,  während  die  Tugenden  und  Fähigkeiten  des 
(KOT*** 

Weib  zu  sprechen.  Er  sagt:  „Das  Weib  ist  die  Pforte  des  Teufels,  der  Weg 
des  Unrechts,  der  Stachel  des  Skorpions"   (de  cultu  feminarum  1.  1). 

Das  kanonische  Recht  erklärt:  Nur  der  Mann  ist  nach  dem  Ebenbilde 
Gottes  erschaffen,  nicht  das  Weib ;  deshalb  soll  das  Weib  ihm  dienen  und  seine 
Magd  sein! 

Das  Provincialconcil  von  Macon  im  6.  Jahrhundert  debattirte  ernstlich 
darüber,  ob  das  Weib  überhaupt  eine  Seele  habe. 

Die  Wirkung  dieser  Ansichten  der  Kirche  auf  die  Völker,  welche  das 
Christenthum  annahmen,  war  eine  entsprechende.  Bei  den  Germanen  wurde 
nach  der  Annahme  des  neuen  Glaubens  aus  den  obigen  Gründen  das  Wehr- 
geld der  Frauen  —  der  naive  Ausdruck  ihres  Werthes  —  herabgesetzt 
(J.  Falke,  Die  ritterliche  Gesellschaft.  Berlin  1862  p.  49).  Ueber  die  Schätzung 
beider  Geschlechter  bei  den  Juden  s.  III.  Mosis  27.  3 — 4. 

Auch  die  Polygamie,  im  alten  Testament  (Deuteronom.  21.  15)  aus- 
drücklich anerkannt,  wird  im  neuen  nirgends  ausdrücklich  aufgehoben.  That- 
sächlich  haben  christliche  Fürsten  (z.  B.  merovingische  Könige  wie  Chlotar  L, 
Charibert  I. ,  Pippin  I.  und  viele  vornehme  Franken)  in  Polygamie  gelebt, 
wogegen  die  Kirche  damals  noch  nichts  einzuwenden  hatte  (Weinhold, 
Die  deutschen  Frauen  im  Mittelalter  IL  p.  15);  vgl.  auch  „Unger,  Die 
Ehe"  etc.  und  das  Werk  von  Louis  Bridel  „La  femme  et  le  droit", 
Paris  1884. 


Q  Sinnlichkeit  und  Sittlichkeit. 

christlichen  Weibes  als  Hausfrau,  Erzieherin  der  Kinder,  gleich- 
berechtigte Gefährtin  des  Mannes,  sich  herrlich  entfalten  konnten. 
So  stellt  'sich  der  Islam  mit  seiner  Polygamie  und  seinem  Harem- 
leben in  grellen^Contrast  zur  Monogamie  und  zu  dem  Familienleben 
der  christlichen  Welt. 

Derselbe  Contrast  macht  sich  bei  einem  Vergleich  der  beiden 
Religionen  auch  bezüglich  der  Vorstellungen  vom  Jenseits  geltend, 
das  dem  christlichen  Gläubigen  unter  dem  Bilde  eines  von  aller 
irdischen  Sinnlichkeit  befreiten,  rein  geistige  Wonnen  verheissenden 
Paradieses  sich  darstellt,  während  die  Phantasie  des  Muselmanns 
in  Bildern  eines  wollüstigen  Haremlebens  mit  herrlichen  Houris 
sich  das  Jenseits  ausmalt. 

Trotz  aller  Hülfen,  die  Religion,  Gesetz,  Erziehung  und  Sitte 
dem  Culturmenschen  in  der  Zügelung  seiner  sinnlichen  Triebe  an- 
gedeihen  lassen,  läuft  derselbe  jederzeit  Gefahr,  von  der  lichten 
Höhe  reiner  und  keuscher  Liebe  in  den  Sumpf  gemeiner  Wollust 
herabzusinken. 

Um  sich  auf  jener  Höhe  zu  behaupten ,  bedarf  es  eines  be- 
ständigen Kampfes  zwischen  Naturtrieb  und  guter  Sitte,  zwischen 
Sinnlichkeit  und  Sittlichkeit.  Nur  willensstarken  Charakteren  ist 
es  gegeben,  sich  ganz  von  der  Sinnlichkeit  zu  emancipiren  und 
jener  reinen  Liebe  theilhaftig  zu  werden,  aus  der  die  edelsten 
Freuden  menschlichen  Daseins  erblühen. 

Man  kann  darüber  streiten,  ob  die  Menschheit  im  Verlauf  der 
letzten  Jahrhunderte  sittlicher  geworden  ist.  Zweifelsohne  ist  sie 
schamhafter  geworden,  und  diese  civilisatorische  Erscheinung  des 
Verbergens  sinnlich-thierischer  Bedürfnisse  ist  wenigstens  eine  Con- 
cession,  welche  das  Laster  der  Tugend  macht. 

Aus  der  Lektüre  des  Werkes  von  Scherr  (Deutsche  Cultur- 
geschichte)  wird  Jeder  den  Eindruck  gewinnen,  dass  unsere  sitt- 
lichen Anschauungen  gegenüber  denen  des  Mittelalters  geläuterte 
geworden  sind,  wenn  auch  zugegeben  werden  muss,  dass  vielfach 
an  die  Stelle  früherer  Unfläthigkeit  und  Rohheit  des  Ausdrucks  nur 
feinere  Sitten  ohne  grössere  Sittlichkeit  getreten  sind. 

Vergleicht  man  jedoch  weiter  aus  einander  liegende  Zeit- 
abschnitte und  Culturperioden,  so  kann  kein  Zweifel  obwalten,  dass 
die  öffentliche  Moral,  trotz  episodischer  Rückschläge,  einen  unauf- 
haltsamen Aufschwung  innerhalb  der  Culturentwicklung  nimmt  und 
dass  einen  der  mächtigsten  Hebel  auf  der  Bahn  des  sittlichen  Fort- 
schritts das  Christenthum  darstellt. 


Episoden  sittlicher  Rückschläge.  7 

Wir  sind  heutzutage  doch  weit  erhaben  über  jene  sexuellen 
Zustände,  wie  sie  sich  in  dem  sodomitischen  Götterglauben,  dem 
Volksleben,  der  Gesetzgebung  und  den  religiösen  Uebungen  der 
alten  Griechen  ausprägten,  ganz  zu  schweigen  von  dem  Phallus- 
und  Priapuscult  der  Athener  und  Babylonier,  von  den  Bacchanalien 
des  alten  Roms  und  der  bevorzugten  öffentlichen  Stellung,  welche 
die  Hetären  bei  jenen  Völkern  einnahmen. 

Innerhalb  des  langsamen,  oft  unmerklichen  Aufschwungs, 
welchen  menschliche  Sitte  und  Gesittung  nehmen,  zeigen  sich  Schwan- 
kungen, Fluctuationen,  gleichwie  im  individuellen  Dasein  die  sexuale 
Seite  ihre  Ebbe  und  Fluth  aufweist. 

Episoden  des  sittlichen  Niedergangs  im  Leben  der  Völker  fallen 
jeweils  zusammen  mit  Zeiten  der  Verweichlichung,  der  Ueppigkeit 
und  des  Luxus.  Diese  Erscheinungen  sind  nur  denkbar  mit  ge- 
steigerter Inanspruchnahme  des  Nervensystems,  das  für  das  Plus  an 
Bedürfnissen  aufkommen  muss.  Im  Gefolge  überhandnehmender 
Nervosität  erscheint  eine  Steigerung  der  Sinnlichkeit,  und  indem 
sie  zu  Ausschweifungen  der  Massen  des  Volks  führt,  untergräbt 
sie  die  Grundpfeiler  der  Gesellschaft,  die  Sittlichkeit  und  Reinheit 
des  Familienlebens.  Sind  durch  Ausschweifung,  Ehebruch,  Luxus 
jene  unterwühlt,  dann  ist  der  Zerfall  des  Staatslebens,  der  materielle, 
moralische,  politische  Ruin  eines  solchen  unvermeidlich.  Warnende 
Beispiele  in  dieser  Hinsicht  sind  der  römische  Staat,  Griechenland, 
Frankreich  unter  Louis  XIV.  und  XV. 1).  In  solchen  Zeiten  des 
staatlichen  und  sittlichen  Verfalls  traten  vielfach  geradezu  monströse 
Verirrungen  des  sexuellen  Trieblebens  auf,  die  jedoch  zum  Theil 
auf  psycho-  oder  wenigstens  neuro-pathologische  Zustände  in  der 
Bevölkerung  sich  zurückführen  lassen. 

Dass  die  Grossstädte  Brutstätten  der  Nervosität  und  entarteten 
Sinnlichkeit  sind,  ergibt  sich  aus  der  Geschichte  von  Babylon, 
Ninive,  Rom,  gleichwie  aus  den  Mysterien  des  modernen  gross- 
städtischen Lebens.  Bemerkenswerte  ist  die  Thatsache,  welche  aus 
der  Lektüre  des  Ploss'schen  Werks  hervorgeht,  nämlich,  dass 
Verirrungen  des  Geschlechtstriebs  (ausser  bei  den  Aleuten,  ferner 
in  Gestalt  von  Masturbation  bei  den  Orientalinnen  und  den  Nama- 
Hottentottinnen)  bei  un-  oder  halbcivilisirten  Völkern  nicht  vor- 
kommen 2). 

J)   Vgl.   Friedländer,   Sittengeschichte  Roms.     Wiedemeister,   Der 

Cäsarenwahnsinn.    Suetonius,   Moreau,  Des  aberrations  du  sens  genesique. 

2)  Diese  Angaben  stehen  aber  im  Widerspruch  mit  Fried  reich  (Hdb. 


8  Entwicklung  des  Sexuallebens. 

Die  Erforschung  des  sexuellen  Lebens  des  Individuums  hat 
mit  dessen  Entwicklung  in  der  Pubertät  zu  beginnen  und  dasselbe 
in  seinen  verschiedenen  Phasen  bis  zum  Erlöschen  sexualer  Empfin- 
dungen zu  verfolgen. 

Schön  schildert  Mantegazza  in  seiner  „Physiologie  der  Liebe" 
das  Sehnen  und  Drängen  des  erwachenden  Geschlechtslebens,  von 
dem  Ahnungen,  unklare  Empfindungen  und  Dränge  aber  weit  über 
die  Epoche  der  Pubertätsentwicklung  zurückreichen.  Diese  Epoche 
ist  wohl  die  psychologisch  bedeutsamste.  An  dem  reichen  Zu- 
wachs an  Gefühlen  und  Ideen,  welche  sie  weckt,  lässt  sich  die 
Bedeutung  des  sexuellen  Faktors  für  das  psychische  Leben  über- 
haupt ermessen. 

Jene  anfangs  dunklen,  unverständlichen  Dränge,  entstanden 
aus  den  Empfindungen,  welche  bisher  unentwickelte  Organe  im 
Bewusstsein  wachriefen,  gehen  mit  einer  mächtigen  Erregung  des 
Gefühlslebens  einher.  Die  psychologische  Reaction  des  Sexualtriebs 
in  der  Pubertät  gibt  sich  in  mannigfachen  Erscheinungen  kund, 
denen  nur  gemeinsam  der  affectvolle  Zustand  der  Seele  ist  und 
der  Drang,  den  fremdartigen  Gemüthsinhalt  in  irgend  einer  Form 
auszuprägen,  zu  objectiviren.  Naheliegende  Gebiete  sind  die  Reli- 
gion und  die  Poesie,  die  selbst,  nachdem  die  Zeit  der  sexuellen 
Entwicklung  vorüber  und  jene  ursprünglich  unverstandenen  Stim- 
mungen und  Dränge  abgeklärt  sind,  mächtige  Förderungen  aus  der 
sexualen  Welt  erfahren.  Wer  daran  zweifeln  wollte,  möge  be- 
denken, wie  oft  religiöse  Schwärmerei  im  Pubertätsalter  vorkommt, 
wie   häufig  in   dem   Leben    der  Heiligen x)   sexuelle    Anfechtungen. 


der  gerichtsärztl.  Praxis  1843,  I.  p.  271),  nach  welchem  Päderastie  bei  den 
Wilden  Amerikas  sehr  häufig  vorkommen  soll,  ferner  mit  Lombroso  (op.  cit. 
p.  42). 

*)  Vgl.  Friedreich,  gerichtl.  Psychologie  p.  339,  der  zahlreiche  Bei- 
spiele gesammelt  hat.  So  quälte  die  Nonne  Blanbekin  unaufhörlich  der  Ge- 
danke, was  aus  dem  Theil  geworden  sein  möge,  der  bei  der  Beschneidung 
Christi  verloren  ging. 

Die  von  Papst  Pius  IL  selig  gesprochene  Veronica  Juliani  nahm  aus 
Andacht  zum  göttlichen  Lämmlein  ein  irdisches  Lämmlein  ins  Bett,  küsste  das 
Lamm,  Hess  es  an  ihren  Brüsten  saugen  und  gab  auch  einige  Tropfen  Milch 
von  sich. 

Die  hl.  Catharina  von  Genua  litt  oft  an  einer  solchen  inneren  Hitze, 
dass  sie,  um  sich  abzukühlen,  sich  auf  die  Erde  legte  und  schrie:  „Liebe, 
Liebe,  ich  kann  nicht  mehr!"  Dabei  fühlte  sie  eine  besondere  Zuneigung  zu 
ihrem  Beichtvater.     Eines  Tages   führte   sie   dessen   Hand   an   ihre  Nase  und 


Beziehungen  zwischen  Religion  und  Liehe.  9 

sind  und  in  welch  widerliche  Scenen,  wahre  Orgien,  die  religiösen 
Feste  der  alten  Welt,  nicht  minder  die  Meetings  gewisser  Sekten 
der  Neuzeit  ausarteten,  ganz  zu  geschweigen  der  wollüstigen  Mystik, 
die  in  den  Culten  der  alten  Völker  sich  findet.  Umgekehrt  sehen 
wir,  dass  nicht  befriedigte  Sinnlichkeit  gar  häufig  in  religiöser 
Schwärmerei  ein  Aequivalent  sucht  und  findet 1). 

Aber  auch  auf  unzweifelhaft  psychopathologischem  Gebiet  zeigt 
sich  diese  Beziehung  zwischen  religiösem  und  sexuellem  Fühlen. 
Es  genüge  der  Hinweis  auf  die  mächtig  sich  geltend  machende 
Sinnlichkeit  in  den  Krankengeschichten  vieler  religiös  Wahnsinnigen, 
auf  die  bunte  Vermischung  von  religiösem  und  sexuellem  Delir, 
wie  sie  in  Psychosen  so  vielfach  beobachtet  wird  (z.  B.  bei  mania- 
kalischen  Weibern,  die  sich  für  die  Muttergottes  und  Gottesgebärerin 
halten) ,  aber  ganz  besonders  bei  Psychosen  auf  masturbatorischer 
Grundlage ;  endlich  der  Hinweis  auf  die  wollüstig  grausamen  Selbst- 
kasteiungen, Verletzungen,  Selbstentmannungen,  sogar  Kreuzigungen 
auf  Grund  eines  krankhaften,  geschlechtlich  religiösen  Fühlens. 

Ein  Versuch,  die  psychologischen  Beziehungen  zwischen  Religion  und 
Liebe  zu  erklären,  stösst  auf  Schwierigkeiten.  Analogien  bieten  sich  in 
grosser  Zahl. 

Das  Gefühl  der  sexuellen  Neigung  und  das  religiöse  Gefühl  (als  psycho- 
logische Thatsache  betrachtet)  bestehen  beide  aus  je  2  Elementen. 

Auf  religiösem  Gebiet  ist  das  primäre  das  Gefühl  der  Abhängigkeit, 
eine  Thatsache,  die  Schleiermacher  erkannt  hat,  lange  bevor  die  neuere 
anthropologische  und  ethnographische  Forschung,  auf  Grund  der  Beobachtung 
primitiver  Zustände,  zu  demselben  Resultat  gelangt  ist.  Erst  auf  höherer 
Culturstufe  tritt  das  zweite  und  eigentliche  ethische  Element  —  die  Liebe  zur 
Gottheit  —  in  das  religiöse  Gefühl  ein.  An  die  Stelle  der  bösen  Dämonen  der 
Naturvölker  traten  die  doppelseitigen,  bald  gütigen,  bald  zürnenden  Gestalten 
complicirterer  Mythologien,  bis  endlich  der  allgütige  Gott  als  Spender  des 
ewigen  Heils  verehrt  wird,  gleichviel  ob  dies  von  Jehovah  als  Wohlergehen 
auf  Erden ,   von  Allah   als  physisches  Wohlergehen ,   im  Paradiese   gespendet, 


empfand  dabei  einen  Geruch,  der  ihr  ins  Herz  drang,  „einen  himmlischen 
Geruch,  dessen  Annehmlichkeit  Todte  erwecken  könnte." 

Von  einer  ähnlichen  Brunst  waren  die  hl.  Armelle  und  die  hl.  Elisabeth 
vom  Kinde  Jesu  gequält.  Bekannt  sind  die  Versuchungen  des  hl.  Antonius 
von  Padua.  Bezeichnend  ist  ein  altes  protestantisches  Gebet:  „0  dass  ich  dich 
gefunden  hätt*,  holdseligster  Emanüel,  o  hätt'  ich  dich  in  meinem  Bett,  des 
freute  sich  mein  Leib  und  Seel.  Komm,  kehre  willig  bei  mir  ein;  mein  Herz 
soll  deine  Kammer  sein!" 

J)  Vgl.  Friedreich,  Diagnostik  der  psych.  Krankheiten  p.  247  u.  ff. 
Neumann,  Lehrb.  d.  Psychiatrie  p.  80. 


10  Religion  und  Liebe. 

vom  Christen  als  ewige  Seligkeit  im  Himmel,  vom  Buddhisten  als  Nirwana 
erhofft  wird. 

In  der  geschlechtlichen  Neigung  ist  die  Liebe,  die  Erwartung 
einer  überschwänglichen  Seligkeit,  das  primäre  Element.  Secundär  tritt  das 
Gefühl  der  Abhängigkeit  hinzu.  Dieses  besteht  zwar  im  Keim  für  beide  Theile, 
insofern  der  andere  Theil  sich  versagen  kann;  es  ist  aber  in  der  Regel  nur  im 
Weibe,  in  Folge  seiner  passiven  Rolle  bei  der  Fortpflanzung  und  socialer  Ver- 
hältnisse, stärker  ausgebildet;  ausnahmsweise  ist  dies  auch  bei  Männern  mit 
zum  weiblichen  neigendem  psychischem  Typus  der  Fall. 

Die  Liebe  ist  in  beiden  Gebieten,  dem  religiösen  und  dem  sexuellen, 
eine  mystische  und  transcendente ,  d.  h.  es  tritt  bei  der  Geschlechtsliebe  das 
eigentliche  Ziel  des  Triebes,  die  Propagation  der  Gattung,  nicht  ins  Bewusst- 
sein,  und  die  Stärke  des  Impulses  ist  mächtiger,  als  irgend  eine  ins  Bewusst- 
sein  gelangende  Befriedigung  rechtfertigen  könnte.  Auf  religiösem  Gebiete 
aber  ist  das  erstrebte  Gut  und  das  geliebte  Wesen  seiner  Natur  nach  so  be- 
schaffen, dass  es  nicht  in  die  empirische  Erkenntniss  eingehen  kann.  Beide 
seelische  Vorgänge  lassen  deshalb  der  Phantasie  den  weitesten  Spielraum. 

Beide  haben  aber  auch  einen  „ unendlichen"  Gegenstand,  insofern  die 
Seligkeit,  welche  der  Geschlechtstrieb  vorspiegelt,  gegenüber  allen  anderen 
Lustgefühlen  als  unvergleichbar  und  unmessbar  erscheint,  und  das  Gleiche  von 
den  versprochenen  Seligkeiten  des  Glaubens  gilt,  die  als  zeitlich  und  qualitativ 
unendlich  vorgestellt  werden. 

Aus  der  Uebereinstimmung  beider  Bewusstseinszustände  bezüglich  der 
Grösse  ihres  Gegenstandes  folgt,  dass  sie  beide  oft  zu  unwiderstehlicher  Macht 
anwachsen  und  alle  Gegenmotive  vor  sich  niederwerfen.  Aus  ihrer  Aehnlichkeit 
bezüglich  der  Unfassbarkeit  ihres  eigentlichen  Gegenstandes  folgt,  dass  sie 
beide  leicht  in  eine  vage  Schwärmerei  übergehen,  in  welcher  die  Lebhaftigkeit 
des  Gefühls  die  Deutlichkeit  und  Constanz  der  Vorstellungen  bei  weitem  über- 
wiegt. In  dieser  Schwärmerei  spielt  in  beiden  Fällen  neben  der  Erwartung  eines 
unfassbaren   Glückes   das   Bedürfniss    schrankenloser  Unterwerfung   eine  Rolle. 

Aus  dieser  mehrfachen  Uebereinstimmung  beider  Schwärmereien  erklärt 
sich,  dass  bei  starken  Intensitätsgraden  die  eine  für  die  andere  vicariirend 
eintreten  kann,  oder  eine  neben  der  anderen  auftaucht,  da  jede  starke  Hebung 
eines  Elementes  im  Seelenleben  die  Umgebung  mithebt.  Das  gleichbleibende 
Gefühl  ruft  also  von  den  beiden  Vorstellungskreisen,  mit  welchen  es  verknüpft 
ist,  bald  den  einen,  bald  den  andern  ins  Bewusstsein.  Beide  seelische  Er- 
regungen können  aber  auch  in  den  Trieb  zur  (activ  geübten  oder  passiv  er- 
duldeten) Grausamkeit  umschlagen. 

Innerhalb  des  religiösen  Lebens  kömmt  es  dazu  durch  das  Opfer.  Dieses 
wird  zuerst  mit  der  Vorstellung  dargebracht,  dass  es  von  der  Gottheit  materiell 
genossen  wird,  dann,  dass  es  ihr  zu  Ehren,  als  Zeichen  der  Unterwerfung,  als 
Tribut,  dargebracht  wird,  endlich  dass  die  Sünde  und  Verschuldung  gegen 
die  Gottheit  getilgt  und  die  Seligkeit  erworben  wird. 

Besteht  das  Opfer  aber,  wie  in  allen  Religionen  vorkömmt,  in  einer 
Selbstpeinigung,  so  dient  es  bei  religiös  sehr  erregbaren  Naturen  nicht  nur 
als  Symbol  der  Unterwerfung  und  als  ein  Aequivalent  im  Tausch  gegenwärtiger 
Unlust  gegen  künftige  Lust,  sondern  Alles,  was  als  von  der  unendlich  geliebten 
Gottheit   kommend   gedacht  wird,   was    auf  ihren  Befehl   oder  ihr   zu  Ehren 


Religion  und  Liebe.  \\ 

geschieht,  wird  direct  als  Lust  empfunden.  Die  religiöse  Schwärmerei  führt  dann 
zur  Ekstase,  zu  einem  Zustand,  in  dem  das  Bewusstsein  derart  von  psychischen 
Lustgefühlen  präoccupirt  ist,  dass  die  Vorstellung  der  erduldeten  Misshandlung 
nur  ohne  ihre  Schmerzqualität  appercipirt  werden  kann. 

Auch  activ  kann  die  Exaltation  der  religiösen  Schwärmerei  zur  Freude 
an  der  Opferung  Anderer  führen,  wenn  das  Mitleid  mit  fremdem  Schmerz  von 
religiösen  Lustgefühlen  übercompensirt  wird. 

Dass  es  auf  dem  Gebiete  des  Geschlechtslebens  zu  ähnlichen  Erschei- 
nungen kommen  kann,  zeigt  der  Sadismus  und  ganz  besonders  der  Masochis- 
mus (s.  u.). 

So  lässt  sich  die  oft  constatirte  Verwandtschaft  von  Religion,  Wollust 
und  Grausamkeit1)  etwa  auf  die  folgende  Formel  bringen:  Religiöser  und 
sexueller  Affectzustand  zeigen  auf  der  Höhe  ihrer  Entwicklung  Uebereinstim- 
mung  im  Quantum  und  Quäle  der  Erregung  und  können  deshalb  unter  geeig- 
neten Verhältnissen  vicariiren.  Beide  können  unter  pathologischen  Bedingungen 
in  Grausamkeit  umschlagen. 

Nicht  minder  einflussreich  erweist  sich  der  sexuelle  Faktor  auf 
die  Weckung  ästhetischer  Gefühle.  Was  wären  die  bildende  Kunst 
und  die  Poesie  ohne  sexuelle  Grundlage!  In  der  (sinnlichen)  Liebe 
gewinnt  sie  jene  Wärme  der  Phantasie,  ohne  die  eine  wahre  Kunst- 
schöpfung  nicht  möglich  ist,  und  in  dem  Feuer  sinnlicher  Gefühle 
erhält  sich  ihre  Gluth  und  Wärme.  Damit  begreift  sich,  dass  die 
grossen  Dichter  und  Künstler  sinnliche  Naturen  sind. 

Diese  Welt  der  Ideale  eröffnet  sich  mit  dem  Auftreten  sexu- 
eller Entwicklungsvorgänge.  Wer  in  dieser  Lebensperiode  nicht 
für  Grosses ,  Edles ,  Schönes  sich  begeistern  konnte ,  bleibt  ein 
Philister  sein  Leben  lang.  Schmiedet  doch  selbst  der  nicht  zum 
Dichter  Veranlagte  in  dieser  Epoche  Verse! 

Auf  der  Gränze  physiologischer  Reaction  stehen  Vorgänge  in 
der  Pubertätsentwicklung,  wo  jene  unklaren,  sehnsüchtigen  Stim- 
mungen sich  in  selbst-  und  weltschmerzlichen  Anwandlungen  bis 
zum  Taedium  vitae  ausprägen,  vielfach  mit  Lust,  Anderen  wehe  zu 
thun  (schwache  Analogien  eines  psychologischen  Zusammenhangs 
zwischen  Wollust  und  Grausamkeit),  einhergehen. 

Die  Liebe  der  ersten  Jugend  hat  einen  romantischen  ideali- 
sirenden   Zug.      Sie   verklärt    den    Gegenstand    der  Liebe    bis    zur 


x)  Dieses  Trivium  findet  seinen  Ausdruck  nicht  nur  in  den  oben  geschil- 
derten Erscheinungen  des  wirklichen  Lebens,  sondern  auch  in  der  frömmelnden 
Literatur  und  selbst  in  der  bildenden  Kunst  sinkender  Zeiten.  Berüchtigt  in 
dieser  Beziehung  ist  z.  B.  die  Gruppe  der  hl.  Theresa  von  Bernini,  die  in 
„hysterischer  Ohnmacht  auf  eine  Marmorwolke  sinkt,  während  ein  verbuhlter 
Engel  ihr  den  Pfeil  (der  göttlichen  Liebe)  ins  Herz  schleudert"  (Lübke). 


12  Wahre  und  sentimentale  Liebe. 

Apotheose.  In  ihren  ersten  Anfängen  ist  sie  eine  platonische  und 
wendet  sich  gern  Gestalten  der  Poesie,  Geschichte  zu.  Mit  dem  Er- 
wachen der  Sinnlichkeit  läuft  sie  Gefahr,  ihre  idealisirende  Macht 
auf  Personen  des  anderen  Geschlechts  zu  übertragen,  die  geistig, 
körperlich  und  social  nichts  weniger  als  hervorragend  sind.  Daraus 
können  Mesalliancen,  Entführungen,  Fehltritte  entstehen  mit  der 
ganzen  Tragik  der  leidenschaftlichen  Liebe,  die  in  Conflict  geräth 
mit  den  Satzungen  der  Sitte  und  Herkunft  und  zuweilen  im  Selbst- 
mord oder  Doppelselbstmord  ihren  düsteren  Abschluss  findet. 

Die  allzu  sinnliche  Liebe  kann  nie  eine  dauernde  und  rechte 
Liebe  sein.  Deshalb  ist  die  erste  Liebe  in  der  Regel  eine  höchst 
flüchtige,  weil  sie  nichts  Anderes  ist,  als  das  Auflodern  einer  Leiden- 
schaft, ein  Strohfeuer. 

Nur  diejenige  Liebe,  welche  sich  auf  die  Erkenntniss  der  sitt- 
lichen Vorzüge  der  geliebten  Person  stützt,  die  nicht  bloss  Freuden 
gewärtigt,  sondern  auch  Leiden  um  jener  willen  zu  tragen  gewillt 
ist  und  für  sie  Alles  aufzuopfern  vermag,  diese  ist  die  wahre  Liebe. 
Die  Liebe  des  stark  veranlagten  Menschen  scheut  vor  keiner 
Schwierigkeit  und  Gefahr  zurück,  wenn  es  gilt,  den  Besitz  der  ge- 
liebten Person  zu  erringen  und  zu  behaupten. 

Thaten  des  Heroismus,  der  Todesverachtung,  sind  ihre  Lei- 
stungen. Eine  solche  Liebe  läuft  aber  Gefahr,  nach  Umständen 
zum  Verbrechen  zu  gelangen,  wenn  die  sittliche  Grundlage  keine 
feste  ist.  Ein  hässlicher  Flecken  dieser  Liebe  ist  die  Eifersucht. 
Die  Liebe  des  schwach  veranlagten  Menschen  ist  eine  sentimentale. 
Sie  führt  nach  Umständen  zu  Selbstmord,  wenn  sie  nicht  erwiedert 
wird  oder  Hindernisse  findet,  während  unter  gleichen  Verhältnissen 
der  stark  Veranlagte  zum  Verbrecher  werden  konnte. 

Die  sentimentale  Liebe  läuft  Gefahr,  zur  Karrikatur  zu  werden, 
namentlich  da,  wo  das  sinnliche  Element  kein  starkes  ist  (die  Ritter 
Toggenburg,  Don  Quixote,  viele  Minnesänger  und  Troubadours  des 
Mittelalters). 

Solche  Liebe  hat  einen  faden,  süsslichen  Beigeschmack.  Sie 
kann  damit  geradezu  lächerlich  werden,  während  sonst  die  Aeus- 
serungen  dieses  mächtigsten  Gefühls  in  der  Menschenbrust  Mit- 
gefühl, Achtung,  Grauen,  je  nachdem,  erwecken. 

Vielfach  wird  jene  schwache  Liebe  auf  äquivalente  Gebiete 
gedrängt  —  auf  Poesie,  die  aber  dann  eine  süssliche  ist,  auf 
Aesthetik,  die  sich  als  otitrirte  erweist,  auf  Religion,  in  welcher 
sie  der  Mystik  und  religiösen  Schwärmerei,  bei  stärkerer  sinnlicher 


Platonische  Liebe.     Sexual empfindung  und  Selbstgefühl.  13 

Grundlage  dem  Sektenwesen  bis  zum  religiösen  Wahnsinn,  anheim- 
fällt. Von  all  Dem  hat  die  unreife  Liebe  des  Pubertätsalters  etwas 
an  sich.  Lesbar  aus  jener  Zeit  des  Dichtens  und  Reimens  sind  nur 
die  Verse  des  Dichters  von  Gottes  Gnaden. 

Bei  aller  Ethik,  deren  die  Liebe  bedarf,  um  sich  zu  ihrer 
wahren  und  reinen  Gestalt  zu  erheben,  bleibt  ihre  stärkste  Wurzel 
gleichwohl  die  Sinnlichkeit. 

Platonische  Liebe  ist  ein  Unding,  eine  Selbsttäuschung,  eine 
falsche  Bezeichnung  für  verwandte  Gefühle. 

Insofern  die  Liebe  ein  sinnliches  Verlangen  zur  Voraussetzung 
hat,  ist  sie  normaliter  nur  denkbar  zwischen  geschlechtsverschie- 
denen und  zu  geschlechtlichem  Verkehr  fähigen  Individuen.  Fehlen 
diese  Bedingungen,  oder  gehen  sie  verloren,  so  tritt  an  die  Stelle 
der  Liebe  die  Freundschaft. 

Bemerkenswerth  ist  die  Rolle,  welche  für  die  Entstehung  und 
die  Erhaltung  des  Selbstgefühls  beim  Manne  das  Verhalten  seiner 
sexuellen  Functionen  spielt.  An  der  Einbusse  von  Männlichkeit 
und  Selbstvertrauen,  die  der  nervenschwache  Onanist  und  der  im- 
potent gewordene  Mann  bieten,  lässt  sich  die  Bedeutung  jenes 
Factors  ermessen. 

Sehr  richtig  sagt  Gyurkovechky  (männl.  Impotenz,  Wien  1889),  dass 
alte  und  junge  Männer  sich  psychisch  wesentlich  durch  das  Verhalten  ihrer 
Potenz  unterscheiden,  und  dass  Impotenz  Lebensfreude,  geistige  Frische,  That- 
kraft,  Selbstvertrauen  und  den  Schwung  der  Phantasie  schwer  schädigt.  Dieser 
Ausfall  ist  umso  bedeutender,  in  je  jugendlicherem  Alter  der  Mann  seine 
Potenz  verliert  und  je  sinnlicher  er  veranlagt  war. 

Ein  plötzlicher  Verlust  der  Potenz  kann  hier  zu  schwerer  Melancholie 
und  sogar  zu  Selbstmord  führen,  denn  für  solche  Naturen  ist  Leben  ohne 
Liebe  unerträglich. 

Aber  auch  da,  wo  die  Reaction  keine  so  einschneidende  ist,  erscheint 
der  in  seiner  Potenz  Getroffene  moros,  missgünstig,  egoistisch,  eifersüchtig 
philiströs,  energielos,  von  geringem  Selbst-  und  Ehrgefühl,  feige. 

Analoges  sieht  man  bei  den  Skopzen,  die  nach  ihrer  Entmannung  ihren 
Charakter  in  pejus  ändern. 

Noch  bedeutsamer  äussert  sich  der  Ausfall  der  Potenz  bei  gewissen  Be- 
lasteten im  Sinne  förmlicher  Effeminatio  (s.  u.). 

Psychologisch  weniger  einschneidend,  aber  doch  merklich  ist 
die  Situation  bei  dem  Weibe,  das  seine  geschlechtliche  Rolle  aus- 
gespielt hat,  indem  es  zur  Matrone  geworden  ist.  War  die  nun 
historisch  gewordene  Periode  des  Geschlechtslebens  eine  befriedigende, 
erfreuen  Kinder  das  Herz  der  alternden  Mutter,  so  kommt  ihr  der 


14  Differenzen  der  Liebe  des  Mannes  und  des  Weibes. 

Wechsel  ihrer  biologischen  Persönlichkeit  kaum  zum  Bewusstsein. 
Anders  ist  die  Situation  da,  wo  Sterilität,  oder  durch  die  Umstände 
auferlegte  Abstinenz  von  dem  natürlichen-  Beruf  des  Weibes,  jenes 
Glück  versagten. 

Diese  Thatsachen  sind  geeignet,  die  Differenzen,  welche  in  der 
Psychologie  des  Sexuallebens  zwischen  Mann  und  Weib  bestehen,, 
die  Verschiedenheit  des  sexuellen  Fühlens  und  Verlangens  bei  beiden 
in  ein  helles  Licht  zu  setzen. 

Ohne  Zweifel  hat  der  Mann  ein  lebhafteres  geschlechtliches 
Bedürfniss  als  das  Weib.  Folge  leistend  einem  mächtigen  Natur- 
trieb, begehrt  er  von  einem  gewissen  Alter  an  ein  Weib.  Er  liebt 
sinnlich,  wird  in  seiner  Wahl  bestimmt  durch  körperliche  Vorzüge. 
Dem  mächtigen  Drange  der  Natur  folgend,  ist  er  aggressiv  und 
stürmisch  in  seiner  Liebeswerbung.  Gleichwohl  füllt  das  Gebot 
der  Natur  nicht  sein  ganzes  psychisches  Dasein  aus.  Ist  sein  Ver- 
langen erfüllt,  so  tritt  seine  Liebe  temporär  hinter  anderen  vitalen 
und  socialen  Interessen  zurück. 

Anders  das  Weib.  Ist  es  geistig  normal  entwickelt  und  wohl- 
erzogen, so  ist  sein  sinnliches  Verlangen  ein  geringes.  Wäre  dem 
nicht  so,  so  müsste  die  ganze  Welt  ein  Bordell  und  Ehe  und 
Familie  undenkbar  sein.  Jedenfalls  sind  der  Mann,  welcher  das 
Weib  flieht,  und  das  Weib,  welches  dem  Geschlechtsgenuss  nach- 
geht, abnorme  Erscheinungen. 

Das  Weib  wird  um  seine  Gunst  umworben.  Es  verhält  sich 
passiv.  Es  liegt  dies  in  seiner  sexualen  Organisation  und  nicht 
bloss  in  den  auf  dieser  fussenden  Geboten  der  guten  Sitte  begründet. 

Gleichwohl  macht  sich  in  dem  Bewusstsein  des  Weibes  das 
sexuelle  Gebiet  mehr  geltend  als  in  dem  des  Mannes.  Das  Be- 
dürfniss nach  Liebe  ist  grösser  als  bei  diesem,  continuirlich ,  nicht 
episodisch,  aber  diese  Liebe  ist  eine  mehr  geistige  als  sinnliche. 
Während  der  Mann  zunächst  das  Weib  und  in  zweiter  Linie  die 
Mutter  seiner  Kinder  liebt,  findet  sich  im  Bewusstsein  der  Frau 
im  Vordergrund  der  Vater  ihres  Kindes  und  dann  erst  der  Mann 
als  Gatte.  Das  Weib  wird  in  der  Wahl  des  Lebensgefährten  viel 
mehr  durch  geistige  als  durch  körperliche  Vorzüge  bestimmt.  Nach- 
dem es  Mutter  geworden  ist,  theilt  es  seine  Liebe  zwischen  Kind 
und  Gatten.  Vor  der  Mutterliebe  schwindet  die  Sinnlichkeit.  In 
dem  ferneren  ehelichen  Umgang  findet  die  Frau  weniger  eine  sinn- 
liche Befriedigung,  als  einen  Beweis  der  Liebe  und  Zuneigung  des 
Gatten. 


Sexuelle  Abhängigkeit.     Cölibat.     Ehebruch.  15 

JA? 
Das  Weib  liebt  mit  ganzer  Seele.    Liebe  ist  ihm  Leben,  dem 

Manne  Genuss  des  Lebens.  Unglückliche  Liebe  schlägt  diesem 
eine  Wunde.  Dem  Weibe  kostet  sie  das  Leben  oder  wenigstens 
das  Lebensglück.  Es  wäre  eine  des  Nachdenkens  werthe  psycho- 
logische Streitfrage,  ob  ein  Weib  zweimal  in  seinem  Leben  wahr- 
haft lieben  kann.  Jedenfalls  ist  die  seelische  Richtung  des  Weibes 
eine  monogame,  während  der  Mann  zur  Polygamie  hinneigt. 

In  der  Mächtigkeit  sexueller  Bedürfnisse  liegt  die  Schwäche 
des  Mannes  dem  Weibe  gegenüber.  Er  geräth  in  Abhängigkeit 
von  dem  Weibe,  und  zwar  um  so  mehr,  je  schwächer  und  sinn- 
licher er  wird.  Dies  wird  er  in  dem  Masse,  als  er  neuropathisch 
wird.  So  begreift  sich  die  Thatsache,  dass  in  Zeiten  der  Er- 
schlaffung und  Genusssucht  die  Sinnlichkeit  üppig  gedeiht.  Dann 
entsteht  aber  die  Gefahr  für  die  Gesellschaft,  dass  Maitressen  und 
ihr  Anhang  den  Staat  regieren  und  dieser  zu  Grunde  geht.  (Die 
Maitressen wirthschaft  am  Hofe  Ludwigs  XIV.  und  XV.,  die  Hetären 
des  alten  Griechenlands.) 

Die  Biographie  so  mancher  Staatsmänner  aus  alter  und  neuer 
Zeit  lehrt,  dass  sie  Weiberknechte  waren  in  Folge  ihrer  grossen 
Sinnlichkeit,  die  wieder  ihren  Grund  hatte  in  neuropathischer  Con- 
stitution. 

Es  ist  ein  Zug  feiner  psychologischer  Kenntniss  des  Menschen, 
dass  die  katholische  Kirche  ihre  Priester  zur  Keuschheit  (Cölibat) 
verpflichtet  und  damit  von  der  Sinnlichkeit  zu  emancipiren  trachtet, 
um  sie  ganz  den  Zwecken  ihres  Berufs  zu  erhalten. 

Schade  nur,  dass  der  im  Cölibat  lebende  Priester  der  ver- 
edelnden Wirkung  verlustig  wird,  welche  Liebe  und  dadurch  Ehe 
auf  die  Entwicklung  des  Charakters  gewinnen. 

Da  dem  Manne  durch  die  Natur  die  Rolle  des  aggressiven 
Theils  im  sexuellen  Leben  zufällt,  läuft  er  Gefahr,  die  Gränzen, 
welche  ihm  Sitte  und  Gesetz  gezogen  haben,  zu  überschreiten. 

Unendlich  schwerer  fällt  moralisch  ins  Gewicht  und  viel 
schwerer  sollte  gesetzlich  wiegen  der  Ehebruch  des  Weibes  gegen- 
über dem  vom  Manne  begangenen.  Die  Ehebrecherin  entehrt  nicht 
nur  sich,  sondern  auch  den  Mann  und  die  Familie,  abgesehen  davon, 
dass  es  heisst:  Pater  incertus.  Naturtrieb  und  gesellschaftliche 
Stellung  bringen  den  Mann  leicht  zu  Fall,  während  dem  Weibe 
Vieles  Schutz  gewährt. 

Auch  bei  dem  unverheiratheten  Weibe  ist  sexueller  Umgang 
etwas   ganz   Anderes  als   beim   Manne.     Die   Gesellschaft   verlangt 


1(3  Schamhaftigkeit.     Putzsucht.     Coquetterie. 

vom  ledigen  Manne  Sittsamkeit,  vom  Weibe  zugleich  Keuschheit. 
Auf  der  Culturhöhe  des  heutigen  gesellschaftlichen  Lebens  ist  eine 
socialen  sittlichen  Interessen  dienende  sexuelle  Stellung  des  Weibes 
nur  als  Ehefrau  denkbar. 

Das  Ziel  und  Ideal  des  Weibes,  auch  des  in  Schmutz  und 
Laster  verkommenen,  ist  und  bleibt  die  Ehe.  Das  Weib,  wie 
Mantegazza  richtig  bemerkt,  begehrt  nicht  bloss  Befriedigung 
sinnlicher  Triebe,  sondern  auch  Schutz  und  Unterhalt  für  sich  und 
seine  Kinder.  Der  noch  so  sinnliche  Mann  von  besserem  Gefühl 
verlangt  ein  Weib  zur  Ehe,  das  keusch  war  und  ist. 

Schild  und  Zierde  des  Weibes  in  der  Anstrebung  dieses  seiner 
einzig  würdigen  Ziels  ist  die  Schamhaftigkeit.  Mantegazza  be- 
zeichnet sie  fein  als  „eine  der  Formen  der  physischen  Selbstachtung" 
beim  Weibe. 

Zu  einer  anthropologisch-historischen  Untersuchung  über  die 
Entwicklung  dieses  schönsten  Schmuckes  des  Weibes  ist  hier  nicht 
der  Ort.  Wahrscheinlich  ist  weibliche  Schamhaftigkeit  eine  erblich 
gezüchtete  Frucht  der  Culturentwicklung. 

Wunderlich  steht  mit  ihr  im  Contrast  eine  gelegentliche  Preis- 
gebung von  körperlichen  Reizen,  die  unter  dem  Gesetz  der  Mode 
und  conventionell  sanktionirt,  selbst  die  züchtigste  Jungfrau  im  Ball- 
saal sich  gefallen  lässt.  Die  ausstellerischen  Gründe  dafür  sind  nahe- 
liegend. Glücklicherweise  kommen  sie  dem  keuschen  Mädchen  ebenso- 
wenig zum  Bewusstsein  als  die  Motive  zeitweise  wiederkehrender 
Mode,  gewisse  Körpertheile  plastischer  hervortreten  zu  lassen 
(„culs"),  ganz  zu  geschweigen  von  Corset  u.  dgl. 

Zu  allen  Zeiten  und  bei  allen  Völkern  zeigt  die  Frauenwelt 
das  Bestreben,  sich  zu  schmücken  und  Reize  zu  entfalten.  In  der 
Thierwelt  hat  die  Natur  das  Männchen  durchweg  mit  grösserer 
Schönheit  ausgezeichnet.  Die  Männerwelt  bezeichnet  die  Weiber 
als  das  schöne  Geschlecht.  Diese  Galanterie  entspringt  offenbar  dem 
sinnlichen  Bedürfniss  der  Männer.  Solange  dieses  Sichschmücken 
Selbstzweck  ist,  oder  der  wahre  psychologische  Grund  des  Gefallen- 
wollens  dem  Weibe  unbewusst  bleibt,  ist  dagegen  nichts  einzuwenden. 
In  bewusster  Bethätigung  nennt  man   dieses  Bestreben  Gefallsucht. 

Der  putzsüchtige  Mann  wird  unter  allen  Umständen  lächerlich. 
An  dem  Weibe  ist  man  diese  kleine  Schwäche  gewöhnt  und  findet 
nichts  dabei,  solange  sie  nicht  Theilerscheinung  eines  Ganzen  ist, 
für  das  die  Franzosen  das  Wort  Coquetterie  erfunden  haben. 

Die  Frauen  sind  den  Männern  in  der  natürlichen  Psychologie 


Fetisch  und  Fetischismus.  17 

der  Liebe  weit  überlegen,  theils  hereditär  und  durch  Erziehung, 
da  das  Gebiet  der  Liebe  ihr  eigentliches  Element  ist,  theils  weil  sie 
feinfühliger  sind  (Mantegazza). 

Selbst  auf  der  Höhe  der  Gesittung  kann  dem  Manne  nicht 
verübelt  werden,  dass  er  im  Weibe  zunächst  den  Gegenstand  für 
die  Befriedigung  seines  Naturtriebes  erkennt.  Aber  es  erwächst 
ihm  die  Verpflichtung,  nur  dem  Weibe  seiner  Wahl  anzugehören. 
Im  Rechtsstaat  wird  daraus  ein  bindender  sittlicher  Vertrag,  die 
Ehe,  und  insofern  das  Weib  für  sich  und  die  Nachkommenschaft 
Schutz  und  Unterhalt  benöthigt,  ein  Eherecht. 

Von  grossem  psychologischem  Werth  und  für  gewisse  später 
zu  besprechende  pathologische  Erscheinungen  unerlässlich  ist  es,  auf 
die  psychologischen  Vorgänge  einzugehen,  welche  Mann  und  Weib 
einander  zuführen  und  aneinander  fesseln,  so  dass  unter  allen  an- 
deren Personen  desselben  Geschlechts  nur  der  oder  die  Geliebte 
begehrenswerth  erscheinen. 

Könnte  man  den  Vorgängen  in  der  Natur  Absicht  nachweisen  — 
Zweckmässigkeit  kann  man'  ihnen  nicht  absprechen  —  so  erschiene 
die  Thatsache  der  Fascinirung  durch  eine  einzige  Person  des  anderen 
Geschlechts  mit  Indifferenz  gegen  alle  anderen,  wie  sie  beim  wahr- 
haft und  glücklich  Liebenden  thatsächlich  besteht,  als  eine  be- 
wunderungswürdige Einrichtung  der  Schöpfung,  um  ihre  Zwecke 
fördernde  monogamische  Verbindungen  zu  sichern. 

Für  den  Forscher  erweist  sich  diese  Verliebtheit  oder  diese 
„Harmonie  der  Seelen",  dieser  „Bund  der  Herzen"  aber  keineswegs 
als  ein  „Mysterium  der  Seelen",  sondern  ist  in  den  meisten  Fällen 
zurückführbar  auf  bestimmte  körperliche,  nach  Umständen  auch 
seelische  Eigenschaften,  durch  welche  die  Anziehungskraft  der  da- 
durch geliebten  Person  bedingt  ist. 

Man  spricht  dann  von  sogenanntem  Fetisch  und  Fetischismus.  Unter 
Fetisch  pflegt  man  Gegenstände  oder  Theile  oder  blosse  Eigenschaften  von 
Gegenständen  zu  verstehen,  die  vermöge  associativer  Beziehungen  zu  einer 
lebhafte  Gefühle,  bezw.  wichtiges  Jnteresse  hervorrufenden  Gesammtvorstellung 
oder  Gesammtpersönlichkeit  eine  Art  Zauber  („fetisso"  portugiesisch),  min- 
destens einen  sehr  tiefen,  dem  äusseren  Zeichen  (Symbol,  Fetisch)  an  und  für 
sich  nicht  zukommenden1),  weil  individuell  eigenartig  betonten  Eindruck 
bewirken. 

Die  individuelle  Werthschätzung  des  Fetisch  bis  zur  Schwärmerei  Seitens 


*)  Vergl.  Max  Müller,  der  das  Wort  „Fetisch"  etymologisch  von  facti- 
tius  (künstlich,  unbedeutendes  Ding)  ableitet. 

v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualia.    9.  Aufl.  2 


18  Physiologischer  Fetischismus. 

einer  von  demselben  afficirten  Persönlichkeit  nennt  man  Fetischismus.  Diese 
psychologisch  interessante  Erscheinung,  erklärbar  aus  einem  empirischen  asso- 
ciativen  Gesetz :  der  Beziehung  einer  Theilvorstellung  zur  Gesammtvorstellung, 
wobei  das  Wesentliche  aber  die  individuell  eigenartige  Gefühlsbetonung  der 
Theilvorstellung  im  Sinne  von  Lustgefühlen  ist,  findet  sich  vornehmlich  in 
zwei  verwandten  psychischen  Gebieten  —  dem  der  religiösen  und  der  ero- 
tischen Gefühle  und  Vorstellungen.  Der  religiöse  Fetischismus  hat  andere 
Beziehung  und  Bedeutung  als  der  sexuelle ,  insofern  er  seine  ursprüngliche 
Motivirung  in  dem  Wahn  fand  und  findet,  dass  der  als  Fetisch  imponirende 
Gegenstand  oder  das  Götzenbild  göttliche  Eigenschaften  besitze,  nicht  bloss 
Sinnbild  sei,  oder  insofern  dem  Fetisch  besondere  wunderthätige  (Eeliquien) 
oder  schutzkräftige  (Amulette)  Eigenschaften  abergläubischerweise  zugeschrieben 
werden. 

Anders  der  erotische  Fetischismus ,  welcher  seine  psychologische 
Motivirung  darin  findet,  dass  physische  oder  auch  psychische  Qualitäten  einer 
Person,  ja  selbst  blosse  Gegenstände  ihres  Gebrauchs  u.  dergl.  zum  Fetisch 
werden,  indem  sie  mächtige  associative  Vorstellungen  zur  Gesammtpersönlich- 
keit  jeweils  wecken  und  überdies  mit  einer  lebhaften  sexuellen  Lustempfindung 
jederzeit  betont  werden.  Analogien  mit  dem  religiösen  Fetischismus  ergeben 
sich  immerhin  insofern,  als  auch  bei  diesem  nach  Umständen  recht  unbedeu- 
tende Gegenstände  (Knochen,  Nägel,  Haare  u.  s.  w.)  Fetisch  sind  und  mit  Lust- 
gefühlen bis  zur  Ekstase  sich  verbinden. 

Bezüglich  der  Entwicklung  physiologischer  Liebe  ist  es  wahr- 
scheinlich, dass  ihr  Keim  immer  in  einem  individuellen  Fetischzauber, 
welchen  die  Person  des  einen  Geschlechts  auf  eine  des  anderen  aus- 
übt, zu  suchen  und  zu  finden  ist. 

Am  einfachsten  ist  der  Fall,  dass  mit  einer  sinnlichen  Erregung 
der  Anblick  einer  Person  des  anderen  Geschlechts  zeitlich  zusammen- 
fällt und  dieser  Anblick  die  sinnliche  Erregung  steigert. 

Gefühls-  und  optischer  Eindruck  treten  in  associative  -Ver- 
knüpfung und  diese  festigt  sich  in  dem  Masse,  als  das  wiederkehrende 
Gefühl  das  optische  Erinnerungsbild  weckt  oder  dieses  (Wieder- 
sehen) neuerlich  sexuelle  Erregung  auslöst,  möglicherweise  bis  zu 
Orgasmus  und  Pollution  (Traumbild). 

In  diesem  Falle  wirkt  die  körperliche  Gesammterscheinung 
als  Fetisch. 

Wie  Bin  et  u.  A.  hervorhebt,  können  es  aber  auch  Theile  des 
Ganzen,  blosse  Eigenschaften  und  zwar  körperliche  oder  auch  bloss 
seelische  sein,  welche  die  Person  des  anderen  Geschlechts  als  Fetisch 
beeinflussen,  indem  ihre  Wahrnehmung  mit  einer  (zufälligen)  sexuellen 
Erregung  zusammenfällt  (oder  eine  solche  hervorruft). 

Dass  über  diese  seelische  Association  der  Zufall  entscheidet, 
dass  der  Gegenstand  des  Fetisch  ein  individuell  höchst  verschieden- 


Fetischismus  eroticus.  19 

artiger  sein  kann,  dass  daraus  die  sonderbarsten  Sympathien  (und 
umgekehrt  Antipathien)  entstehen,  ist  allbekannte  Thatsache  der 
Erfahrung. 

Aus  dieser  physiologischen  Thatsache  des  Fetischismus  erklären 
sich  die  individuellen  Sympathien  zwischen  Mann  und  Weib,  die 
Bevorzugung  einer  bestimmten  Persönlichkeit  vor  allen  anderen  des- 
selben Geschlechts.  Da  der  Fetisch  ein  ganz  individuelles  Local- 
zeichen  darstellt,  begreift  sich,  dass  er  nur  ganz  individuell  wirkt. 
Da  er  von  höchst  mächtigen  Lustgefühlen  betont  ist,  führt  er  dazu, 
über  die  etwaigen  Fehler  des  Gegenstands  der  Liebe  hinwegzutäuschen 
(„die  Liebe  macht  blind")  und  eine  Exaltation  hervorzurufen,  welche 
nur  individuell  begründet,  anderen  Personen  unbegreiflich,  nach 
Umständen  selbst  lächerlich  erscheint.  So  erklärt  es  sich,  wie  der 
Nüchterne  seinen  verliebten  Mitmenschen  nicht  begreifen  kann, 
während  dieser  sein  Idol  vergöttert,  mit  ihm  einen  wahren  Cultus 
treibt,  ihm  Eigenschaften  andichtet,  welche  dasselbe,  objectiv  be- 
trachtet, keineswegs  besitzt.  So  erklärt  es  sich,  dass  die  Liebe  bald 
mehr  als  eine  Leidenschaft,  bald  als  ein  förmlicher  psychischer  Aus- 
nahmszustand  sich  darstellt,  in  welchem  das  Unerreichbare  erreich- 
bar, das  Hässliche  schön,  das  Profane  erhaben  erscheint,  jegliches 
sonstige  Interesse,  jegliche  Pflicht  verschwunden  ist. 

Mit  Recht  macht  auch  Tarde  (Archives  de  l'anthropologie 
criminelle,  5.  Jahrg.  Nr.  30)  geltend,  daes  nicht  bloss  individuell, 
sondern  auch  national  der  Fetisch  verschieden  sein  kann,  jedoch  das 
Ideal  der  Gesammtschönheit  bei  den  Culturvölkern  derselben  Zeit 
dasselbe  bleibt. 

Binet  hat  sich  das  grosse  Verdienst  erworben,  diesen  Fetischis- 
mus der  Liebe  genauer  studirt  und  analysirt  zu  haben. 

Aus  ihm  .entstehen  die  besonderen  Sympathien.  So  fühlt  sich 
der  Eine  zu  schlanken,  der  Andere  zu  dicken,  zu  brünetten  oder 
zu  blonden  Schönen  hingezogen.  Für  den  Einen  ist  ein  besonderer 
Ausdruck  des  Auges,  für  den  Anderen  ein  besonderer  Klang  der 
Stimme  oder  der  eigenartige  Geruch,  selbst  ein  artificieller  (Parfüm), 
oder  die  Hand,  der  Fuss,  das  Ohr  u.  s.  w.  der  individuelle  Fetisch- 
zauber, der  Ausgangspunkt  einer  complicirten  Kette  von  seelischen 
Vorgängen,  deren  Gesammtausdruck  Liebe,  d.  h.  die  Sehnsucht  nach 
dem  physischen  und  seelischen  Besitz  des  Gegenstands  der  Liebe 
darstellt. 

Mit  dieser  Thatsache  ist  eine  wichtige  Bedingung  für  die 
Statuirung  eines  noch  physiologischen  Fetischismus  erwähnt. 


20  Fetischismus  eroticus. 

Der  Fetisch  mag  dauernd  seine  Bedeutung  behalten,  ohne 
pathologisch  zu  sein,  aber  nur  dann,  wenn  er  von  der  Theil Vorstellung 
zur  Gesammtvorstellung  vorschreitet,  wenn  die  durch  ihn  erschlossene 
Liebe  als  ihren  Gegenstand  die  gesammte  seelische  und  physische 
Persönlichkeit  umfasst. 

Die  normale  Liebe  kann  nur  Synthese,  Generalisation  sein. 
Geistreich  sagt  Ludwig  Brunn1)  in  einem  Aufsatz  „der  Fetischis- 
mus in  der  Liebe": 

„Die  normale  Liebe  erscheint  uns  also  als  eine  Symphonie, 
die  sich  aus  Tönen  aller  Art  zusammensetzt.  Sie  resultirt  aus  den 
verschiedensten  Anreizen.  Sie  ist  gleichsam  polytheistisch.  Der 
Fetischismus  kennt  nur  die  Klangfarbe  eines  einzigen  Instruments; 
er  entsteht  aus  einem   bestimmten  Anreiz;    er   ist   monotheistisch." 

Wer  nur  einigermassen  darüber  nachdenkt,  wird  zur  Erkenntniss 
kommen,  dass  von  wirklicher  Liebe  (dieses  Wort  wird  nur  zu  oft 
missbraucht)  nur  dann  die  Rede  sein  darf,  wenn  die  ganze  Person 
zugleich  leiblich  und  seelisch  Gegenstand  der  Verehrung  ist. 

Ein  sinnliches  Element  muss  jede  Liebe  haben,  d.  h.  den 
Drang,  den  Gegenstand  der  Liebe  zu  besitzen  und  mit  ihm  vereint 
Gesetzen  der  Natur  zu  dienen. 

Aber  wem  bloss  der  Körper  der  Person  des  anderen  Geschlechts 
Gegenstand  der  Liebe  ist,  wer  bloss  Sinnengenuss  befriedigen  will, 
ohne  die  Seele  zu  besitzen  und  seelisch  gemeinsam  zu  gemessen, 
dessen  Liebe  ist  keine  echte,  so  wenig  als  die  des  Platonikers,  der 
nur  die  Seele  liebt  und  sinnlichen  Genuss  verschmäht  (manche  conträr 
Sexuale).  Für  den  Einen  ist  der  blosse  Körper,  für  den  Anderen 
die  blosse  Seele  ein  Fetisch,  seine  Liebe  blosser  Fetischismus. 

Derartige  Existenzen  stellen  jedenfalls  Uebergangsfälle  zum 
pathologischen  Fetischismus  dar. 

Diese  Annahme  trifft  um  so  mehr  zu,  als  als  weiteres  Kriterium 
wirklicher  Liebe  seelische2)  Befriedigung  durch  den  Geschlechtsakt 
gefordert  werden  muss. 


*)  Deutsches  Montagsblatt,  Berlin  20.  8.  88. 

2)  Der  „spinal  cerebral  posterieur"  Magnan's,  welcher  bei  jedem  Weibe 
Genuss  empfindet  und  dem  auch  jedes  Weib  recht  ist,  vermag  bloss  seine  Wol- 
lust zu  befriedigen.  Gekaufte  oder  geschundene  Liebe  ist  keine  eigentliche 
Liebe.  (Mantegazza.)  Wer  das  Sprüchwort  erfunden  hat:  „sublata  lucerna 
nullum  discrinien  inter  feminas"  muss  ein  arger  Cyniker  gewesen  sein.  Potenz 
des  Mannes,  den  Liebesakt  überhaupt  zu  leisten,  ist  keine  Gewähr,  dass  dieser 
auch  wirklich  den  höchsten  Liebesgenuss  vermittelt. 


Fetischismus  eroticus.  21 

Innerhalb  der  physiologischen  Erscheinungen  des  Fetischismus 
bleibt  die  interessante  Thatsache  zu  besprechen,  dass  unter  der 
grossen  Zahl  von  Dingen,  die  zum  Fetisch  werden  können,  es  ein- 
zelne gibt,  die  eine  solche  Bedeutung  bei  einer  grösseren  Zahl  von 
Personen  gewinnen. 

Als  solche  sind  zu  erwähnen  für  den  Mann  das  Haar,  die 
Hand,  der  Fuss  des  Weibes,  der  Ausdruck  seines  Auges. 
Einzelne  derselben  gewinnen  in  der  Pathologie  des  Fetischismus 
eine  bemerkenswerthe  Bedeutung.  Diese  Thatsachen  spielen  offen- 
bar in  der  Seele  des  Weibes  sogar  eine  unbewusste  bis  bewusste  Rolle. 

Eine  Hauptsorge  des  Weibes  ist  die  Cultur  seines  Haares, 
dem  es  oft  ungebührlich  viel  Zeit  und  Geld  widmet.  Mit  welcher 
Sorge  pflegt  schon  beim  kleinen  Mädchen  die  Mutter  das  Haar! 
Welche  Rolle  spielt  der  Friseur!  Ausgehen  des  Haares  setzt  jugend- 
liche Frauenzimmer  in  Verzweiflung.  Ich  erinnere  mich  einer  eitlen 
Frau,  die  darüber  gemüthskrank  wurde  und  durch  Selbstmord  endigte. 
Frauenzimmer  sprechen  mit  Vorliebe  von  Coiffuren,  beneiden  andere 
um  ihren  schönen  Haarwuchs. 

Schönes  Haar  ist  ein  mächtiger  Fetisch  für  viele  Männer. 
Schon  in  der  Sage  von  der  Loreley,  die  Männer  ins  Verderben  lockt, 
erscheint  das  „goldene  Haar",  das  sie  mit  goldenem  Kamme  kämmt, 
als  Fetisch.  Nicht  mindere  Anziehungskraft  besitzen  vielfach  Hand 
und  Fuss,  wobei  freilich  oft  (aber  keineswegs  immer)  maso- 
chistische  und  sadistische  Gefühle  die  besondere  Art  des  Fetisch 
bestimmen  helfen. 

In  übertragenem  Sinne ,  durch  Ideenassociation ,  kann  der 
Handschuh  oder  der  Schuh  Fetischbedeutung  gewinnen. 


Gibt  es  doch  Urninge,  die  dem  Weib  gegenüber  potent  sind,  Männer, 
die  ihr  Weib  nicht  lieben  und  gleichwohl  die  eheliche  T Pflicht"  zu  leisten 
vermögen.  In  den  meisten  Fällen  wird  in  solcher  Situation  sogar  das  Wollust- 
gefühl ausbleiben;  handelt  es  sich  doch  wesentlich  um  eine  Art  onanistischen 
Aktes,  vielfach  nur  ermöglicht  durch  die  Zuhilfenahme  der  Phantasie,  die  ein 
anderes  geliebtes  Wesen  unterschiebt.  Durch  diese  Täuschung  kann  dann  sogar 
ein  Wollustgefühl  erzielt  werden,  aber  diese  rudimentäre  psychische  Befriedigung 
entstammt  einem  psychischen  Kunstgriff,  ganz  wie  bei  der  solitären  Onanie, 
dem  vielfach  die  Phantasie  zu  Hülfe  kommen  muss,  um  ein  Wollustgefühl  zu 
erzielen.  Ueberhaupt  scheint  derjenige  Grad  von  Orgasmus,  mit  Hülfe  dessen 
es  zu  einem  Wollustgefübl  kommt,  nur  da  erzielbar,  wo  die  Psyche  intervenirt. 

Da  wo  psychische  Impedimente  bestehen  (Gleichgültigkeit,  Widerwille, 
Ekel,  Angst  vor  Ansteckung,  Schwängerung  u.  s.  w.)  scheint  das  Wollustgefühl 
überhaupt  auszubleiben. 


22  Physiologischer  Fetischismus. 

Brunn  (op.  cit.)  weist  mit  Recht  darauf  hin,  dass  bei  den 
mittelalterlichen  Sitten  das  Trinken  aus  dem  Schuh  einer  schönen 
Frau  (noch  heute  in  Polen  zu  finden)  eine  bemerkenswerthe  Rolle 
als  Galanterie,  Huldigung  spielte.  Auch  im  Märchen  vom  Aschen- 
brödel spielt  der  Schuh  eine  hervorragende  Rolle. 

Besonders  wichtig  als  den  Funken  der  Liebe  entzündend,  ist 
der  Ausdruck  des  Auges.  Ein  neuropathisches  Auge  wirkt  auf 
Personen  beider  Geschlechter  vielfach  als  Fetisch.  „Madame,  vos 
beaux  yeux  me  fönt  mourir  d'amour"   (Stelle  bei  Moliere). 

An  Beispielen,  dass  die  Ausdünstung  des  Körpers  Fetisch 
werden  kann,  herrscht  Ueberfluss. 

Auch  diese  Thatsache  wird  in  der  Ars  amandi  des  Weibes 
bewusst  oder  unbewusst  verwerthet.  Schon  die  Ruth  im  alten  Testa- 
ment suchte  Booz  an  sich  zu  fesseln ,  indem  sie  sich  parfumirte. 
Die  Demimonde  der  alten  und  neuen  Zeit  consumirte  und  braucht 
viel  Wohlgerüche.  Jäger  in  seiner  „Entdeckung  der  Seele"  gibt 
manche  Hinweise  auf  Geruchsympathien. 

Bekannt  sind  Fälle,  wo  Jemand  ein  hässliches  Weib  heirathete, 
nur  weil  dessen  Geruch  ihm  unendlich  sympathisch  war. 

Dass  auch  die  Stimme  zum  Fetisch  werden  mag,  macht 
Binet  wahrscheinlich.  Er  theilt  eine  bezügliche  Beobachtung  von 
Dumas  mit,  welche  dieser  in  seiner  Novelle  (la  maison  du  vent) 
verwerthete.  Sie  betraf  eine  Frau,  welche  sich  in  die  Stimme  eines 
Tenors  verliebte  und  darüber  ihrem  Manne  untreu  wurde. 

Auch  Belot's  Roman  „les  baigneuses  de  Trouville8  spreche 
für  diese  Annahme.  Binet  vermuthet,  dass  so  manche  Heirath, 
welche  mit  Sängerinnen  geschlossen  wurde,  auf  Fetischzauber  ihrer 
Stimme  beruhte. 

Er  macht  noch  auf  die  interessante  Thatsache  aufmerksam, 
dass  bei  den  Singvögeln  die  Stimme  die  gleiche  sexuelle  Bedeutung 
hat  wie  bei  den  Vierfüssern  der  Geruch. 

So  locken  die  Vögel  durch  ihren  Gesang,  und  demjenigen  Vogel, 
welcher  am  schönsten  singt,  fliegt  Nachts  das  angelockte  Weibchen  zu. 

Dass  auch  seelische  Eigenschaften  als  Fetisch  in  einem 
weiteren  Sinne  wirken  können,  ergibt  sich  aus  den  pathologischen 
Thatsachen  des  Masochismus  und  des  Sadismus. 

So  erklärt  sich  die  Thatsache  der  Idiosynkrasien  und  erhält 
sich  der  alte  Satz  „de  gustibus  non  est  disputandum"  in  Kraft. 


IL  Physiologische  Thatsachen. 


Innerhalb  der  Zeit  anatomisch-physiologischer  Vorgänge  in  den  Gene- 
rationsdrüsen finden  sich  im  Bewusstsein  des  Individuums  Dränge  vor,  zur  Er- 
haltung der  Gattung  beizutragen  (Geschlechtstrieb). 

Der  Sexualtrieb  in  diesem  Alter  der  Geschlechtsreife  ist  ein  physio- 
logisches Gesetz. 

Die  Zeitdauer  der  anatomisch-physiologischen  Vorgänge  in  den  Sexual- 
organen, gleichwie  die  Stärke  des  sich  geltend  machenden  Sexualtriebes  ist 
bei  Individuen  und  Völkern  verschieden.  Race,  Klima,  hereditäre  und  sociale 
Verhältnisse  sind  darauf  von  entscheidendem  Einfluss.  Bekannt  ist  die  grössere 
Sinnlichkeit  der  Südländer  gegenüber  den  sexuellen  Bedürfnissen  der  Nord- 
länder. Aber  auch  die  sexuelle  Entwicklung  ist  bei  den  Bewohnern  südlicher 
Himmelsstriche  erheblich  frühzeitiger  als  bei  denen  nördlicher.  Während  bei 
dem  Weibe  der  nördlichen  Länder  die  Ovulation,  erkennbar  an  der  Entwicklung 
des  Körpers  und  dem  Auftreten  periodisch  wiederkehrender  Blutflüsse  aus  den 
Genitalien  (Menstruation),  gewöhnlich  erst  um  das  13.  bis  15.  Lebensjahr  er- 
scheint, beim  Manne  die  Pubertätsentwicklung  (erkennbar  am  Tieferwerden 
der  Stimme,  Entwicklung  von  Haaren  im  Gesicht  und  am  Mons  veneris,  an 
zeitweise  auftretenden  Pollutionen  etc.)  erst  vom  15.  Jahre  an  bemerklich  wird, 
tritt  die  geschlechtliche  Entwicklung  bei  den  Bewohnern  südlicher  Länder  um 
mehrere  Jahre  früher  ein,  beim  Weibe  zuweilen  schon  im  8.  Jahre. 

Bemerkenswerth  ist,  dass  Stadtmädchen  sich  um  etwa  1  Jahr  früher 
entwickeln  als  Landmädchen,  und  dass,  je  grösser  die  Stadt  ist,  um  so  früher 
ceteris  paribus  die  Entwicklung  erfolgt. 

Von  nicht  geringem  Einfluss  auf  Libido  und  Potenz  sind  aber  auch 
hereditäre  Einflüsse.  So  gibt  es  Familien,  in  welchen,  neben  grosser  Körper- 
kraft und  Longaevitas,  bedeutende  Libido  und  Potenz  bis  in  hohe  Altersjahre 
sich  erhalten,  während  in  anderen  die  Vita  sexualis  spät  sich  entwickelt  und 
vorzeitig  erlischt. 

Beim  Weibe  ist  die  Zeit  der  Thätigkeit  der  Generationsdrüsen  enger 
begränzt  als  beim  Manne,  bei  dem  die  Spermabereitung  bis  in's  höchste  Alter 


24  Localisation  und  Entwicklung  des  uf  inaltiinlm 

fortdauern  kann.  Beim  Weibe  hört  £»  Ovulation  etwa  8©  Jahre  wach  ein- 
getretener  Mannbarkeit  auf.  Diese  Periode  der  versiegenden  Thatigkeit  der 
Ovarien  heisst  der  Wechsel  (Klimacterium\  Diese  biologi&ebe  Phase  stritt 
nicht  einfach  eine  Ausserfunctionssetzung  und  schüesatiehe  Atrophie  der 
Generationsorgane  dar,  sondern  einen  Umwandlungsawoea»  des  gesammten 
Organismus.  Die  Geschlechtsreife  des  Mannes  in  Mitteleuropa  baginat  n  das 
IS.  Jahr.  Die  Potenz  erreicht  ihren  Höhepunkt  um  das  40.  Von  da  ab  sinkt 
sie  langsam. 

Die  Potentia  generandi  erlischt  meist  um  das  62.  Jahr,  die  P.  eoeoadi 
kann  bis  ins  höhere  Alter  fortbestehen  Der  Sexualtrieb  besteht  eontmuirheh 
in  der  Zeit  des  Geschlechtslebens  mit  wandelbarer  I«iqwnW*t  Er  tritt  unter 
physiologischen  Bedingungen  niemals  intermittirend  (perio 
beim  Thier.  Beim  Manne  schwankt  seine  Intensität  organisch  auf  aad  sieder 
mit  der  Ansammlung  und  Verausgabung  von  Sperma;  beim  Weibe  fidlen  die 
Steigerungen  des  Trieb  Lebens  mit  dem  Procesa  der  Ovulation  zusammen,  and 
zwar  so,  dass  postmenstrual  die  Libido  sexualis  am  gl  fasten  ist. 

Der  Sexualtrieb  als  Fühlen,  Vorstellen  und  Drang  ist  eine  Leistung  der 
Hirnrinde.  Ein  Territorium  in  dieser,  das  ausschliesslich  sexuale  IT— ffc»«lmyi^ 
und  Dränge  vermittelte  (Centrum  eines  Geschlechtssinns),  ist  bis  jetzt  nicht 
nachgewiesen. 

Die  nahen  Beziehungen,  in  welchen  Sexualleben  und  Gerachssinn1)  an 
einander  stehen,  lassen  vermuthen,  dass  sexuelle  und  Olfactoriossphijte  in  der 
Hirnrinde  einander  räumlich  nahe  oder  durch  mächtige  Aa»nüiaitimi«I»li»«ft 
verknüpft  sind.  Die  Entwicklung  des  Sexuallebens  nimr 
Organempfindungen  der  sich  entwickelnden  Sexualdrüsen.  Jene  erregen  die 
Aufmerksamkeit  des  Individuums.  Lektüre,  Wahrnehmungen  im  öffentlichen 
Leben  (heutzutage  leider  viel  zu  früh  und  häufig)  führen  die  Ahnungen  in  deut- 
liche Vorstellungen  über.  Diese  werden  vom  organischen  Gefühlen,  and  «war 
LustH  Wollust-)gefühlen  betont.  Mit  der  Betonung  erotischer  Vorstellungen  durch 
Lustgefühle  entwickelt  sich  ein  Drang  zur  Hervorrufoug  sokher  (Geschlechtstrieb). 

Es  entwickelt  sich  nun  eine  gegenseitige  Abhängigheil  zwischen  Hirn- 
rinde (als  Entstehungsort  der  Empfindungen  und  VorsteDungen)  and  den 
Generationsorganen.  Diese  lösen  durch  anatomisch-phvsJkdogisGhe  Vorginge 
(Hyperämie,  Spermabereitung,  Ovulation)  sexuelle  Vorstellungen,  Bäder  und 
Dränge  aus. 

Die  Hirnrinde  wirkt  durch  appereipirte  oder  reprodueirte  sinnliehe  Vor- 
stellungen auf  die  Generationsorgane  (Hyperämisirung,  SamenbereituBg.  Eree- 
üon.  Ejaculation).  Dies  geschieht  durch  Centra  der  GeflssxnnervatioB  and 
Ejaculation ,  die  im  Lendenmark  and  jedenfalls  einander  räumlich  nahe  sich 
befinden.     Beide  sind  Reflexcentren. 

Das  Centrum  erectionis  (Goltz,  Eckhard)  ist  eine  zwischen  Gehörn 
und  Genitalapparat  eingeschaltete  Zwischeiwiaüuii,    Die  Nervenbahnen,  welche 


*)  Das  Centrum  für  den  Olfactorit 
des  Gehirns)  in  der  Gegend  des  Gyr.  unci 
Riechcentrum'*  1887,  vindicirt  aus  vergleic 
Ammonshorn  die  Zugehörigkeit  zum  Ried 


.-.-.\".  .7.     ■■■■■-     /.'.    >. 

es  nit  fem  Gehirn  in  Verbindung  setzen,  Jbmfe»  wsrtmdbeblk»  4«re»  4k 
BednneuU  eerehri  nmd  die  BfriSüife.  'Diese»  Centrum  vermag  dnreh  centrale 
{ptjehwehe  und  mganisehe)  Beine,  dureh  direete  Berzumg  temer  Bahnen  im 
FedumemBs  eerehri,  Berns,  Cerwieahmarh,  mme  dmreh  periphere  Behang  semv 
mbUr  Herr«»  (Fans,  CKtari*  «»4  Annexa)  in  Erregung  zn  getautem,  Dem 
Eintuss  4«*  Walen*  ist  es  äueet  nieht  tt»terw«rfe», 

Jfe  Eimpi^  dieses  Centrums  wird  4are»  i»  4er  B»4»  4»  «rate»  few 
«kitten  Saeramerven  verlaufende  Servern  (Sern  erigemtes —  Eekfear4)  zu  4«» 
Cerpp,  eawermee*  umgeleitet 

Die  Thattgheit  dieser  die  Ereettm  rermjttemtepjfe,  erigemtes  ist. 
hensmemfe  Be  hemmen  4m  gamgharen  fame^tummppatat  im  fem.  M. 
h&rpern,  unter  festen  MMmgigkeit  die  glattem  MmkeUasern  fer  Cvrpp,  garer- 
mm»  stehen  (Kmiker  nmd  E&hlransehj,  Unter  fem  Emünm  fer  Tkätig- 
Izeit  fer  Kn,  erigemtes  werfen  die  glattem  Mmkelümim  fer  SehweUk&rper 
ersehhnft  und  ferem  Baume  mÜ  Bfarit  erfSBL  Gleiehzeitig  wird  feu*k  die 
erweiterten  Arterien  des  Binfennetzes  fer  SehweVktrper  ein  Drueh  amt  die 
Yeneu  des  Vetos  gemht  nmd  der  Bneknuss  den  Einte»  am  fem  Fem»  gehemmt, 
Vnterntmtzt  wird  diese  Wirkung  dureh  Cmaraetteu  der  Mm  fadbe-  und  itehm- 
earemesus,  die  sieh  apeuenr&tiseh  auf  der  B&kenmnehe  de»  Fem»  ausbreiten. 

Das  Ereetkmseentrmn  steht  unter  dem  EimImm  reu  erregendem,  ahm 
ameh  von  hemmenden  hmerratieuem  Seitens  des  Grmthirns,  Erregend  wirken 
Yontflfwjprn  nmd  QfanftwidMVfhntungipm  sexualen  Inhufts  WaehErmhrmmgem 
hei  Erhängte»  tehermt  das  Eteetieuteeutrmm  ameh  dmreh  Erregung  der  hei- 
tmagmahnem  im  Uuekenmark  im  ThattgheU  trete»  am  i&mnen.  Dam  die»  ameh. 
dnreh  ergauAsehe  Behzrmgange  im  der  Hirnrinde  (psjeheeexmale»  Cemtrwmfj) 
mSgUeh  ist,  lehren  Beehaehtungem  am  Hirn-  «»4  Geisteskrankem,  Direet  kann 
da»  EreeÖeumsentrum  in  Erregung  versetzt  werden  dnreh  das  lsmmharmarh 
tretende  Wmehemnmakmrkramkumgem  fTahes,  mherhammt  Myelitis)  im  frühem 
mndmm 

Eine  remeeterneh  bedingte  Erregung  des  Ceutrmma  ist  dnreh  Betztmg 
der  (peripheren)  sensiblem  Merrem  4er  Genkahem  und  der  Umgebung  feneVteu 
4wcli  Vrtetmm,  dnnb  Bettung  der  oarnrShre  ^Sn»muhee%  de»  Beetum  (jjuimm'' 
rheifem,  Cfacrnris),  fer  Blase  (ftfBnag  dnreh  Crin,  betender»  Mergems,  Beszmng 
dnreh PU»m*rim%  dmreh Vnttnmg  fer  Samemhlasem mit gper»»*  dmrehimTetge 
rom  BSehenhge  nmd  Drmeh  fer  Eingeweide  auf  die  BJmtgtfäue  de»  Beehems 
entstandene  Bwmeramne  fer  Genitalien  mSgheh  »»4  hamtg, 

Aneh  durch  Bettung  fer  nuknwnkaft  im  Brestatagewehe  retmmduehem 
Berte»  v»4  Ganglien  (BrestatitM,  Eatbeteremthhrmmg  n,s,w,)  kaum  da» Etee> 
ti&nseentrum  erregt  werfen. 

Dam  da»  Ereetteuseemtrum  ameh  »e«»ie»4e»  fiinüiiiif»  reu  Settern 
de»  Gehörn»  muterworSem  ist,  lehrt  derTersaeh  reu  0eltz,  weuaeh,  wenn  (hei 
H»»4eB)  4m  Umdtumntl  dmrehtehmittem  u%  die  Ereeütm  Mehter  eantntt 

Dakar  tprieht  ameh  die  Tmattaehe  heim  Miunthtu,  dam 
GeamVamnemegmmgem  (Fmreht  ▼«•  Mimlii»jjr»  de»  Ceitm»,  Ve$>,m,*mhuug 
aetmm  cesnalem  n,  s~  w,)  da»  Eintaste»  4er  Ereethm  nesnae»,  htam.  die  vor- 
hamfeme  tvAittn  hSuneu, 

Die  Damer  fer  Ereetkm  ist  anhängig  reu  fer  Eettdamer  eneajsmfer 

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26  Geruchssinn  und  Vita  sexualis. 

der  Innervationsenergie  des  Centrums,  sowie  von  dem  früheren  oder  späteren 
Eintreten  der  Ejaculation  (s.  u.). 

Die  centrale  und  oberste  Instanz  im  sexuellen  Mechanismus  ist  die 
Hirnrinde.  Es  ist  gerechtfertigt,  als  Stelle  für  die  Auslösung  sexualer  Gefühle, 
Vorstellungen  und  Dränge  eine  bestimmte  Region  derselben  (cerebrales  Centrum) 
zu  vermuthen,  als  Entstehungsort  all  der  psychisch-soruatischen  Vorgänge,  die 
man  als  Geschlechtsleben,  Geschlechtssinn,  Geschlechtstrieb  bezeichnet.  Dieses 
Centrum  ist  ebensowohl  durch  centrale  als  durch  periphere  Reize  erregbar. 

Centrale  Reize  können  organische  Erregungen  durch  Krankheiten  der 
Hirnrinde  darstellen.  Physiologisch  bestehen  sie  in  psychischen  Reizen  (Er- 
innerungsvorstellungen und  Sinneswahrnehmungen). 

Unter  physiologischen  Bedingungen  handelt  es  sich  wesentlich  um 
optische  Wahrnehmungen  und  Erinnerungsbilder  (z.  B.  lascive  Lektüre),  ferner 
um  Tasteindrücke  (Berührung,  Händedruck,  Kuss  u.  s.  w.). 

Jedenfalls  spielen  in  physiologischer  Breite  Gehörs-  und  Geruchswahr- 
nehmungen eine  sehr  untergeordnete  Rolle.  Unter  pathologischen  Verhältnissen 
(s.  u.)  haben  die  letzteren  entschieden  eine  sexuell  erregende  Bedeutung. 

Bei  den  Thieren  ist  ein  Einfluss  der  Geruchswahrnehmungen  auf 
den  Geschlechtssinn  unverkennbar.  Althaus  (Beiträge  zur  Physiol.  u.  Pathol. 
des  Olfactorius,  Arch.  für  Psych.  XII,  H.  1)  erklärt  geradezu  den  Geruchssinn 
für  wichtig  bezüglich  der  Reproduction  der  Gattung.  Er  macht  geltend,  dass 
Thiere  verschiedenen  Geschlechts  durch  Geruchswahrnehmungen  zu  einander 
hingezogen  werden  und  dass  fast  alle  Thiere  zur  Brunstzeit  von  ihren 
Geschlechtsorganen  aus  einen  besonders  scharfen  Geruch  verbreiten.  Dafür 
spricht  ein  Experiment  von  Schiff,  der  neugeborenen  Hunden  die  Nn.  olfac- 
torii  exstirpirte  und  bei  den  herangewachsenen  Thieren  constatirte,  dass  das 
männliche  Thier  das  Weibchen  nicht  herauszufinden  vermochte.  Ein  entgegen- 
gesetzter Versuch  von  Mantegazza  (Hygiene  der  Liebe),  welcher  Kaninchen 
die  Augen  entfernte  und  kein  Hinderniss  für  die  Begattung  aus  diesem  Defect 
beobachtete,  lehrt,  wie  wichtig  der  Geruchssinn  für  die  Vita  sexualis  bei  Thieren 
sein  dürfte. 

Bemerkenswerth  ist  auch,  dass  manche  Thiere  (Moschusthier ,  Zibeth- 
katze,  Biber)  an  ihren  Genitalien  Drüsen  haben,  die  scharfriechende  Stoffe 
secerniren. 

Auch  für  den  Menschen  macht  A 1 1 h a u s  Beziehungen  zwischen 
Geruchs-  und  Geschlechtssinn  geltend.  Er  erwähnt  Cloquet  (Osphre- 
siologie,  Paris  1826),  der  auf  den  wollusterregenden  Duft  der  Blumen  auf- 
merksam machte  und  auf  Richelieu  hinwies ,  der  zur  Anregung  seiner 
Geschlechtsfunctionen  in  einer  Atmosphäre  der  stärksten  Parfüms  lebte. 

Zippe  (Wien.  med.  Wochenschrift  1879,  Nr.  24)  macht  anlässlich  eines 
Falles  von  Stehltrieb  bei  einem  Onanisten  ebenfalls  solche  Beziehungen 
geltend  und  citirt  als  Gewährsmann  Hildebrand,  der  in  seiner  populären 
Physiologie  sagt:  „Es  lässt  sich  gar  nicht  läugnen,  dass  der  Geruchssinn  mit 
den  Geschlechtsverrichtungen  in  einem  schwachen  Zusammenhang  steht.  Blumen- 
düfte erregen  oft  wollüstige  Empfindungen,  und  wenn  wir  uns  der  Stelle  aus 
dem  hohen  Liede  Salomonis  erinnern :  ,Meine  Hände  troffen  von  Myrrhen  und 
Myrrhen  liefen  über  meine  Finger  an  dem  Riegel  des  Schlosses',  so  finden  wir 
diese  Bemerkung  schon  von  dem  weisen  Salomo  gemacht.    Im  Orient  sind  die 


Geruchssinn  und  Vita  sexualis.  27 

Wohlgerüche  wegen  ihrer  Beziehung  zu  den  Geschlechtstheilen  sehr  beliebt 
und  die  Frauengemächer  des  Sultans  duften  von  aller  Blüthen  Gemisch." 

Most,  Prof.  in  Rostock,  erzählt  (vgl.  Zippe):  „Von  einem  wollüstigen 
jungen  Bauern  erfuhr  ich,  dass  er  manche  keusche  Dirne  zur  Wollust  gereizt 
und  seinen  Zweck  leicht  erreicht  habe,  indem  er  beim  Tanze  einige  Zeit  sein 
Taschentuch  unter  den  Achseln  getragen  und  der  von  Schweiss  triefenden 
Tänzerin  damit  das  Gesicht  getrocknet  hatte." 

Dass  die  nähere  Bekanntschaft  mit  der  Transspiration  eines  Menschen 
der  erste  Anlass  zu  einer  leidenschaftlichen  Liebe  sein  kann,  beweist  der  Fall 
Heinrichs  HL,  welcher  sich  zufällig  bei  dem  Vermählungsfest  des  Königs  von 
Navarra  mit  Margaretha  von  Valois  mittelst  des  schweisstriefenden  Hemdes 
der  Maria  von  Cleve  das  Gesicht  getrocknet  hatte.  Obgleich  Letztere  die  Braut 
des  Prinzen  von  Conde  war,  fühlte  Heinrich  dennoch  sofort  eine  so  leiden- 
schaftliche Liebe  zu  ihr,  dass  er  ihr  nicht  widerstehen  konnte  und  Maria  da- 
durch, wie  geschichtlich  bekannt,  höchst  unglücklich  machte.  Analoges  wird 
von  Heinrich  IV.  erzählt,  bei  welchem  die  Leidenschaft  zur  schönen  Gabriele 
von  dem  Moment  an  entstanden  sein  soll,  wo  er  auf  einem  Ball  mit  einem 
Taschentuch  dieser  Dame  .sich  die  Stirne  getrocknet  hatte. 

Aehnliches  deutet  der  „Entdecker  der  Seele",  Prof.  Jäger,  in  seinem 
bekannten  Buch  (2.  Aufl.,  1880,  Cap.  15)  an,  indem  er  p.  173  den  Schweiss  als 
wichtig  für  die  Entstehung  von  Sexualaffecten  und  als  besonders  verführerisch 
ansieht. 

Auch  aus  der  Lektüre  des  Werkes  von  Ploss  (Das  Weib)  ergibt  sich, 
dass  mannigfach  in  der  Völkerpsychologie  das  Bestreben  sich  findet,  durch  die 
eigene  Ausdünstung   eine  Person   des   anderen  Geschlechts   an  sich  zu  ziehen. 

Bemerkenswerth  in  dieser  Hinsicht  ist  eine  von  Jagor  berichtete  Sitte, 
die  zwischen  verliebten  Eingeborenen  auf  den  Philippinen  herrscht.  Müssen 
sich  dort  Liebespaare  trennen,  so  überreicht  man  sich  gegenseitig  Wäsche- 
stücke des  eigenen  Gebrauchs,  mit  Hülfe  derer  man  sich  der  Treue  versichert. 
Diese  Gegenstände  werden  sorgfältig  gehütet,  mit  Küssen  bedeckt  und  — 
berochen. 

Auch  die  Vorliebe  gewisser  Libertins  und  sinnlicher  Frauen  für  Par- 
füms1) spricht  für  Zusammenhang  von  Geruchs-  und  Gescblechtssinn. 

Bemerkenswerth  ist  auch  ein  von  H  e  s  c  h  1  (Wiener  Zeitschr.  f.  pract. 
Heilkunde,  22.  März  1861)  mitgetheilter  Fall  von  Mangel  beider  Riechkolben 
bei  gleichzeitiger  Verkümmerung  der  Genitalien.  Es  handelte  sich  um  einen 
45jährigen,  sonst  wohlgebildeten  Mann,  dessen  Hoden  bohnengross,  ohne 
Samenkanälchen  waren,  und  dessen  Kehlkopf  von  weiblichen  Dimensionen  er- 
schien. Jede  Spur  von  Riechnerven  fehlte;  auch  die  Trigona  olfactoria  und 
die  Furche  an  der  unteren  Fläche  der  Vorderlappen  des  Gehirns  mangelten. 
Die  Löcher  der  Siebplatte  waren  spärlich;  statt  Nerven  traten  durch  dieselbe 
nervenlose  Fortsätze  der  Dura.  Auch  in  der  Schleimhaut  der  Nase  fand  sich 
Mangel  an  Nerven.    Bemerkenswerth  ist  endlich  der  bei  Geisteskrankheit  deut- 


')  Vgl.  Laycock,  Nervous  diseases  of  women,  1840,  der  die  Vorliebe 
für  Moschus  und  derlei  Parfüms  mit  sexueller  Erregung  bei  Damen  in  Be- 
ziehung fand. 


/ 

28  Geruchssinn  und  Vita  sexualis. 

lieh  hervortretende  Consensus  zwischen  Geruchs-  und  Geschlechtsorgan,  insofern 
sowohl  bei  masturbatorischen  Fällen  von  Psychose  bei  beiden  Geschlechtern, 
als  auch  bei  Psychosen  auf  Grund  von  Erkrankung  der  weiblichen  Genitalien 
oder  klimakterischer  Vorgänge  Geruchshallucinationen  überaus  häufig ,  bei 
fehlender  sexueller  Veranlassung  überaus  selten  sind. 

Dass  bei  normalen  Menschen  Geruchsempfindungen,  gleichwie  beim  Thier, 
eine  hervorragende  Rolle  für  die  Erregung  des  sexualen  Centrums  spielen, 
möchte  ich  bezweifeln1).  Bei  der  Wichtigkeit  dieses  Consensus  für  das  Ver- 
ständniss  pathologischer  Fälle  musste  aber  schon  hier  auf  die  Beziehungen 
zwischen  Geruchs-  und  Geschlechtssinn  eingegangen  werden. 

Eine  interessante  Thatsache,  Angesichts  dieser  physiologischen  Beziehun- 
gen, ist  auch  eine  gewisse  histologische  Uebereinstimmung  zwischen  Nase  und 
Genitalorganen,  indem  sie  (einschliesslich  Brustwarze)  erectiles  Gewebe  ent- 
halten. 

Merkwürdige  physiologische  und  klinische  Beobachtungen  hat  auch 
J.  N.  Macken zie  (Journal  of  medical  Science  1884,  April)  mitgetheilt.  Er  fand 
1)  dass  bei  einer  gewissen  Zahl  von  Frauen,  deren  Nasen  ganz  gesund  waren, 
regelmässig  mit  der  Menstruation  eine  „  Anschoppung"  der  Nasenschwellkörper 
eintrat  und  mit  dem  Aufhören  jener  wieder  schwand;  2)  das  Auftreten  einer 
vicariirenden  nasalen  Menstruation,  welche  später  meist  durch  uterinalen  Blut- 
fluss  ersetzt  wird,  manchmal  aber  während  des  ganzen  Geschlechtslebens  men- 
strual  wiederkehrt;  3)  gelegentlich  in  der  Nase  bei  geschlechtlicher  Aufregung 
auftretende  Reizerscheinungen,  wie  Niesen  u.  s.  w. ;  4)  umgekehrt  gelegentliche 
Erregung  des  genitalen  Tractus  bei  Erkrankung  an  der  Nase. 

So  fand  M.  ferner,  dass  bei  zahlreichen  Frauen,  welche  ein  Nasenleiden 
hatten,  dasselbe  während  der  Menstruation  sich  verschlimmerte;  dass  Excesse 
in  Venere  geeignet  sind,  eine  Entzündung  der  Nasenschleimhaut  hervorzurufen, 
oder  eine  schon  bestehende  zu  steigern. 

Er  weist  auch  auf  die  Erfahrung  hin,  dass  Masturbanten  ganz  gewöhn- 
lich nasenkrank  sind,  an  abnormen  Geruchsempfindungen  häufig  leiden,  des- 
gleichen an  Rhinorhagien.  Nach  M.'s  Erfahrungen  gibt  es  Erkrankungen  der 
Nase,  welche  jeder  Behandlung  widerstehen,  so  lange  nicht  gleichzeitig  be- 
stehende (ursächliche?)  Genitalleiden  beseitigt  sind. 

Die  sexuelle  Sphäre  in  der  Hirnrinde  kann  auch  durch  Vorgänge  in  den 
Generationsorganen  im  Sinne  von  sexuellen  Vorstellungen  und  Drängen 
erregt  werden.  Dies  ist  möglich  durch  alle  Momente,  welche  auch  das  Erections- 
centrum  durch  centripetale  Einwirkung  in  Erregung  versetzen  (Reiz  der  ge- 
füllten Samenblasen,   die  geschwellten  Graf  sehen  Follikel,  irgendwie  hervor- 


J)  Folgende  Beobachtung,  welche  Bin  et  mittheilt,  scheint  mit  dieser 
Annahme  im  Widerspruch.  Leider  ist  über  die  Persönlichkeit  des  Gegenstands 
jener  Beobachtung  nichts  mitgetheilt.  Unter  allen  Umständen  bleibt  sie  sehr 
bezeichnend  für  den  Consensus  zwischen  Geruchs-  und  Geschlechtssinn.  Stud. 
med.  D.  sitzt  auf  einer  Bank  in  einer  öffentlichen  Anlage,  eifrig  in  einem 
Buch  (über  Pathologie)  studirend.  Plötzlich  stört  ihn  eine  heftige  Erection. 
Er  schaut  auf  und  bemerkt,  dass  eine  stark  parfümirte  Dame  auf  der  anderen 
Ecke  der  Bank  Platz  genommen  hat.  D.  konnte  sich  die  Erection  nur  durch 
den  unbewusst  ihm  zugekommenen  Geruchseindruck  erklären. 


Flagellation  als  sexueller  Stimulus.  29 


gerufene  sensible  Reizung  im  Bereich  der  Genitalien,  Hyperämie  und  Txiigm-yy  Xs 
cenz  der  Genitalien,  speciell  der  erectilen  Gebilde  der  Schwellkörper  vöt^?enis, 
Clitoris,  durch  sitzende  üppige  Lebensweise,  durch  Plethora  abdominalis-  hohe 
äussere  Temperatur,  warme  Betten,  Kleidung,  Genuss  von  Canthariden,  Pfeffer 
und  anderen  Gewürzen). 

Auch  durch  Reizung  der  Nerven  der  Gesässgegend  (Züchtigung, 
Geisselung)  kann  die  Libido  sexualis  erregt  werden  *). 

Diese  Thatsache  ist  nicht  unwichtig  für  das  Verständniss  gewisser  patho- 
logischer Erscheinungen.  Zuweilen  geschieht  es,  dass  bei  Knaben  durch  eine 
Züchtigung  auf  den  Podex  die  ersten  Regungen  des  Geschlechtstriebes  wach- 
gerufen werden  und  ihnen  damit  die  Anregung  zur  Masturbation  gegeben 
wird,  eine  Erfahrung,  die  sich  Erzieher  merken  sollten. 

Angesichts  der  Gefahren,  welche  diese  Form  der  Züchtigung  Schülern 
bereiten  kann,  wäre  es  wünschenswerth ,  wenn  sie  von  Eltern,  Lehrern  und 
Erziehern  gänzlich  aufgegeben  würde. 

Dass  passive  Flagellation  die  Sinnlichkeit  zu  erwecken  vermag,  lehrt 
die  im  13. — 15.  Jahrhundert  verbreitet  gewesene  Sekte  der  Flagellanten,  die 
theils  aus  Busse,  theils  um  das  Fleisch  zu  tödten  (im  Sinne  des  von  der  Kirche 
geltend  gemachten  Keuschheitsprincips,  d.  h.  der  Emancipation  des  Geistes  von 
der  Sinnlichkeit)  sich  selbst  geisselten. 

Anfangs  wurde  diese  Sekte  von  der  Kirche  begünstigt.  Da  aber  durch 
das  Flagelliren  erst  recht  die  Sinnlichkeit  wachgerufen  wurde  und  diese  That- 
sache in  unliebsamen  Vorkommnissen  sich  kundgab ,  war  die  Kirche  schliess- 
lich genöthigt,  gegen  das  Flagellantenthum  einzuschreiten.  Bezeichnend  für 
die  sexuell  erregende  Bedeutung  der  Geisselung  sind  folgende  Thatsachen  aus 
dem  Leben  der  beiden  Geisseiheldinnen  Maria  Magdalena  von  Pazzi  und  Eli- 
sabeth von  Genton.  Die  erstere,  Tochter  angesehener  Eltern,  war  Karmeliter- 
nonne zu  Florenz  (um  1580)  und  erlangte  durch  ihre  Geisselungen  und  noch 
mehr  durch  deren  Folgen  einen  bedeutenden  Ruf,  weshalb  sie  auch  in  den 
Annalen  Erwähnung  findet.  Es  war  ihre  gi-össte  Freude,  wenn  ihr  die  Priorin 
die  Hände  auf  den  Rücken  binden  und  sie  in  Gegenwart  sämmtlicher  Schwestern 
auf  die  blossen  Lenden  geissein  liess. 

Die  schon  von  Jugend  auf  vorgenommenen  Geisselungen  hatten  aber  ihr 
Nervensystem  ganz  und  gar  zerrüttet  und  vielleicht  keine  Geisseiheidin  hatte 
so  viel  Hallucinationen  („ Entzückungen")  wie  diese.  Während  derselben  hatte 
sie  es  besonders  mit  der  Liebe  zu  thun.  Das  innere  Feuer  drohte  sie  dabei 
zu  verzehren  und  häufig  schrie  sie :  „Es  ist  genug !  Entflamme  nicht  stärker 
diese  Flamme,  die  mich  verzehrt.  Nicht  diese  Todesart  ist  es,  die  ich  mir 
wünsche,  sie  ist  mit  allzu  vielen  Vergnügungen  und  Seligkeiten  verbunden." 
So  ging  es  immer  weiter.  Der  Geist  der  Unreinigkeit  aber  blies  ihr  die  wol- 
lüstigsten und  üppigsten  Phantasien  ein,  so  dass  sie  mehrmals  nahe  daran 
war,  ihre  Keuschheit  zu  verlieren. 

Aehnlich  verhielt  es  sich  mit  Elisabeth  von  Genton.  Dieselbe  gerieth 
durch  das  Geissein  förmlich  in  bacchantische  "Wuth.  Am  meisten  raste  sie, 
wenn  sie,  durch  ungewöhnliche  Geisselung  aufgeregt,   mit  ihrem  „Ideal"  ver- 

*)  Meibomius,  De  flagiorum  usu  in  re  medica,  London  1765;  Boileau, 
The  history  of  the  flagellants,  London  1783. 


30  Flagellation  als  sexueller  Stimulus, 

mahlt  zu  sein  glaubte.  Dieser  Zustand  war  für  sie  so  überschwänglich  be- 
glückend, dass  sie  häufig  ausrief:  ,0  Liebe,  o  unendliche  Liebe,  o  Liebe,  o 
ihr  Creaturen,  rufet  doch  alle  mit  mir:  Liebe,  Liebe!"  Bekannt  ist  auch  die 
von  Taxil  (op.  cit.  p.  175)  bestätigte  Beobachtung,  dass  Wüstlinge,  um  ihrer 
gesunkenen  Potenz  aufzuhelfen,  zuweilen  sich  vor  dem  geschlechtlichen  Akt 
flagelliren  lassen. 

Diese  Thatsachen  finden  eine  interessante  Bestätigung  durch  folgende 
Paullini's  „Flagellum  salutis"  (1.  Aufl.  1698,  Neudruck  Stuttgart  1847)  ent- 
lehnte Erfahrungen : 

„Es  sind  einige  Nationen,  namentlich  die  Persianer  und  Russen,  so 
(bevorab  die  Weiber)  Schläge  für  ein  sonderbares  Liebs-  und  Gnadenzeichen 
annehmen.  Sonderlich  sind  die  Russischen  Weiber  fast  nicht  vergnügter  und 
fröhlicher,  als  wenn  sie  gute  schlage  von  ihren  Männern  empfangen,  wies 
Joann  Barclarus  mit  einer  merckwürdigen  Historie  erläutert.  Es  kam  ein 
Teutscher,  Namens  Jordan,  in  Muscovien,  und  weil  ihm  das  Land,  gefiel,  liess 
er  sich  häusslich  daselbst  nieder,  und  nahm  ein  Russisch  Weib,  so  er  hertzlich 
liebte,  und  in  allem  freundlich  gegen  sie  war.  Sie  aber  sähe  immer  runtz- 
licht  aus,  warff  die  Augen  nieder  und  liess  ach  und  wehe  von  sich  hören. 
Der  Mann  wollte  wissen,  warum?  denn  er  ja  nicht  ersinnen  konte,  was  ihr 
fehlen  mochte.  Ey,  sprach  sie,  was  wolt  ihr  mich  doch  lieb  haben,  massen 
ihr  dessen  noch  kein  Zeichen  habt  spüren  lassen.  Er  umhälsete  sie,  und  bat, 
wo  er  sie  etwa  ohnversehens  und  unwissend  beleidigt  hätte,  solches  ihm  zu 
verzeihen,  er  wolte  es  ja  nimmer  thun.  Mir  fehlt  nichts,  war  die  Antwort, 
als,  nach  unser  Landes  Manier,  die  Geissei,  das  eigentliche  Merkmahl  der 
Liebe.  Jordan  merckte  diese  Mode,  und  gewehnte  sich  dran,  da  fieng  das 
Weib  an  den  Mann  hertzinniglich  zu  lieben.  Eben  solche  Geschieht  erzählt 
auch  Peter  Petreus  von  Erlesund  mit  dem  Zusatz,  wie  die  Männer  gleich  nach 
der  Hochzeit  unter  andern  unentbehrlichem  Hausgeräth  ihnen  auch  Peitschen 
zulegten. " 

Auf  S.  73  dieses  merkwürdigen  Buches  sagt  Verf.  weiter: 

„Der  berühmte  Graff  von  Mirandula,  Joann  Picus,  zeugt  von  einem  seiner 
guten  Bekandten,  dass  er  ein  unersättlicher  Kerles  gewesen,  doch  aber  so 
träge  und  untüchtig  zum  Zyprischen  Streit,  dass  er  nicht  das  Geringste  ver- 
mochte, ehe  und  bevor  er  derb  abgeschmiert  war.  Je  mehr  er  nun  seinen 
Willen  zu  sättigen  verlangte,  je  durchdringendere  Schläge  er  begehrte,  massen 
er  seines  Wunsches  gar  nicht  theilhafft  werden  konnte,  wann  er  nicht  vorher 
bis  auf's  Blut  abgepeitschet  war.  Zu  dem  ende  liess  er  ihm  eine  eigne  Peitsche 
machen,  peitzte  solche  den  Tag  zuvor  in  essig,  hernach  gab  er  sie  seiner  Ge- 
spiehlin ,  mit  inständigster  Bitte  und  gebognen  Knieen ,  ja  nicht  fehl  zu 
schlagen,  sondern  je  düchter,  je  lieber.  Der  eintzle  Mensch  (meint  der  gute 
Graff)  sey  dieser,  so  seine  Leibeslust  unter  solcher  Marter  gefunden  habe.  Und 
weil  er  sonst  eben  der  Schlimste  nicht  war ,  erkandte  und  haste  er  zugleich 
seine  Schwachheit.  Gleiche  Historie  erwehnt  Coelius  Rhodigin,  und  aus  diesem 
der  berühmte  Jurist  Andreas  Tiraquell.  Zu  des  geschickten  Medici  Otten 
Brunfelsen  Zeit  lebte  in  der  Churbayerischen  Residenzstadt  München  auch 
ein  guter  Schlucker,  so  aber  seine  Pflichtschuldigkeit,  ohne  vorhergehende 
scharffe  Schläge,  nimmer  abstatten  konte.    Auch  kandte  Herr  Thomas  Barthelin 


Erogene  Zonen.  31 

einen  Venetianer,  der  durch  blosse  Schläge  zum  Beyschlaf  muste  erhitzt  und 
angetrieben  werden.  Wie  denn  auch  Cupido  selbst  seine  Nachfolger  mit  einem 
hiazynthinen  Stäblein  hinder  ihm  herschleppt.  Zu  Lübeck  war  vor  wenig 
Jahren  ein  Käsekrämer,  in  der  Mühistrassen  wohnend,  so,  wegen  begangenen 
Ehebruchs,  bey  der  Obrigkeit  verklagt,  die  Stadt  räumen  solte.  Die  Metze 
aber,  mit  der  er  zugehalten  hatte,  gieng  zu  den  Gerichtsherrn,  und  thät  eine 
Vorbitte  seinthalben  bey  ihnen,  mit  Erzählung,  wie  Blutsaur  ihm  alle  Gänge 
worden  wären.  Denn  er  ja  nichts  vermocht,  wenn  sie  ihn  nicht  zuvor  erbärm- 
lich abgeprügelt  hätte.  Der  Kerl  wolte  es  anfangs,  aus  Schaam  und  Ver- 
meidung des  Hohns,  nicht  allerdings  gestehn,  doch  auf  ernstlicheres  Befragen 
konte  ers  nicht  ableugnen.  In  dem  vereinigten  Niederland  sol  gleichfalls  ein 
ansehnlicher  Mann  dergleichen  Trägheit  an  sich  gehabt,  und  ohne  Schläge 
zum  Handel  nicht  getaugt  haben.  Wies  aber  die  Obrigkeit  erfuhr,  ward  er 
nicht  nur  seines  Dienstes  entsetzt,  sondern  auch  überdas  gebührend  abgestrafft. 
Ein  glaubwürdiger  Freund  und  Physicus  einer  vornehmen  Reichsstadt,  berichtete 
mich  vom  14.  Juli  vorigen  Jahrs,  wie  ein  liederlich  Weibsstück  ihrer  Gespielin 
vor  weniger  Zeit  im  Hospital  erzählt  habe,  dass  ein  gewisser  Mann  Sie,  be- 
neben einer  andern  von  gleicher  Gattung,  in  den  Wald  beschieden  haben,  und 
nachdem  sie  gefolgt,  hätte  ihnen  der  Kerl  Ruthen  abgeschnitten,  und  den 
blossen  Hintern  zum  besten  gegeben,  und  sie  brav  drauf  hauen  geheissen, 
welches  sie  auch  gethan.  Was  er  hiernechst  ferner  mit  ihnen  begonnen  habe, 
ist  leichtlich  zu  schliessen.  Nicht  aber  wurden  nur  die  Männer  durch  Schläge 
zur  Geilheit  erhitzt  und  aufgemuntert,  sondern  auch  die  Weiber,  damit  sie 
desto  ehe  und  mehr  empfiengen.  Das  Römische  Frauenzimmer  Hess  sich  von 
den  Lupercis  desswegen  peitschen  und  geissein.     Denn  so  singt  Juvenal: 

„ Steriles  moriuntur,  et  illis 

Turgida  non  prodest  condita  pyscido  Lyde: 
Nee  prodest  agili  palmas  praebere  Luperco." 

Auch  von  einer  Reihe  anderer  Haut-  und  Schleimhautbezirke  kann,  so- 
wohl beim  Manne  als  auch  beim  Weibe,  Erection  und  Orgasmus,  ja  selbst  der 
Ejaculationsvorgang  ausgelöst  werden.  Diese  „erogenen"  Zonen  sind  beim 
Weibe,  solange  es  Virgo  ist,  die  Clitoris,  nach  erfolgter  Defloration  auch  die 
Vagina  und  der  Cervix  uteri. 

Besonders  erogen  scheint  beim  Weib  überhaupt  die  Brustwarze  zu 
wirken.  Titillatio  hujus  regionis  spielt  in  der  Ars  erotica  eine  hervorragende 
Rolle.  In  seiner  topograph.  Anatomie  1865  Bd.  I  p.  552  citirt  Hyrtl  Val. 
Hildenbrandt,  der  eine  besondere  Anomalie  des  Sexualtriebs,  die  er 
Suctusstupratio  nannte,  bei  einem  Mädchen  beobachtete.  Dasselbe  Hess  sich 
von  seinem  Galan  an  den  Mammae  saugen  und  brachte  es  durch  Zerren  an 
denselben  allmälig  dabin,  das  Saugen  mit  dem  eigenen  Munde  vorzunehmen, 
was  ihr  die  angenehmsten  Gefühle  verursachte.  H.  weist  auch  darauf  hin, 
dass  bei  Kühen  das  Selbstaussaugen  der  Euter  vorkomme. 

L.  Brunn  (Zeitg.  f.  Literatur  etc.  d.  Hamburg.  Correspondenten  1889 
Nr.  21  in  einem  interessanten  Aufsatz  „über  Sinnlichkeit  und  Nächstenliebe") 
macht  geltend,  wie  eifrig  die  säugende  Mutter  „aus  Liebe  zum  Schwachen, 
Unentwickelten ,  Hülflosen"  sich  dem  Geschäft  des  Stillens  des  Kindes 
widmet. 


32  Akt  der  Cohabitation. 

Es  liegt  nahe,  zu  vermuthen,  dass  neben  den  erwähnten  ethischen  Be- 
ziehungen auch  der  Umstand,  dass  das  Säugen  mit  körperlichen  Lustgefühlen 
verbunden  sein  dürfte,  eine  Rolle  spielt.  Dafür  spricht  die  weitere,  an  und 
für  sich  ganz  richtige ,  aber  einseitig  gedeutete  Bemerkung  Brunns,  dass 
nach  Houzeau's  Erfahrungen  bei  den  meisten  Thieren  nur  während  der 
Zeitperiode  des  Säugens  die  Beziehungen  zwischen  Mutter  und  Jungen  innige 
sind  und  später  völliger  Gleichgültigkeit  weichen. 

Dasselbe  (Abstumpfung  der  Gefühle  für  das  Kind  nach  dem  Abstillen) 
fand  Bastian  u.  A.  auch  bei  wilden  Völkern. 

Unter  pathologischen  Verhältnissen,  wie  u.  A.  aus  einer  These  de  doctorat 
von  Chambard  hervorgeht,  können  (bei  Hysterischen)  auch  Körperstellen  in 
der  Nähe  der  Mammae  sowie  der  Genitalien  die  Bedeutung  erogener  Zonen 
gewinnen. 

Beim  Manne  ist  physiologisch  die  einzige  erogene  Zone  die  Glans  penis 
und  vielleicht  noch  die  Haut  der  äusseren  Genitalien. 

Unter  pathologischen  Verhältnissen  kann  der  Anus  erogenes  Gebiet 
sein  —  damit  würde  sich  anale  Automasturbation,  die  nicht  allzu  selten  vor- 
zukommen scheint,  und  passive  Päderastie  erklären.  (Vgl.  Garnier,  Anomalies 
sexuelles,  Paris,  p.  514;  A.  Moll,  Conträre  Sexualempfindung,  2.  Aufl.  p.  222.) 

Der  psycho-physiologische  Vorgang,  welchen  der  Begriff  Ge- 
schlechtstrieb umfasst,  setzt  sich  zusammen 

1)  aus  central  oder  peripher  geweckten  Vorstellungen, 

2)  aus  damit  sich  associirenden  Lustgefühlen. 

Daraus  entsteht  der  Drang  zu  geschlechtlicher  Befriedigung  (Libido 
sexualis).  Dieser  Drang  wird  immer  stärker  in  dem  Masse,  als  die  Erregung 
des  cerebralen  Gebietes  durch  bezügliche  Vorstellungen  und  durch  Herein- 
greifen der  Phantasie  die  Lustgefühle  potenzirt  und  durch  Erregung  des 
Erectionscentrums  und  damit  Hyperämisirung  der  Genitalorgane  diese  Lust- 
gefühle zu  Wollustgefühlen  (Austreten  von  Liquor  prostaticus  in  die  Urethra 
u.  s.  w.)  steigert. 

Sind  die  Umstände  günstig  zur  Ausübung  des  individuell  befriedigenden 
Geschlechtsakts,  so  wird  dem  immer  mehr  anwachsenden  Drang  Folge  geleistet, 
andernfalls  treten   hemmende  Vorstellungen  dazwischen ,   verdrängen    die   ge- . 
schlechtlicbe   Branst,    hemmen   die  Leistung   des  Erectionscentrums    und    ver- 
hindern den  geschlechtlichen  Akt. 

Für  den  Culturmenschen  ist  erforderlich  und  entscheidend  die  Bereit- 
schaft von  solchen  den  geschlechtlichen  Drang  hemmenden  Vorstellungen.  Von 
der  Stärke  der  treibenden  Vorstellungen  und  der  sie  begleitenden  organischen 
Gefühle  einer-  und  der  der  hemmenden  Vorstellungen  andererseits  hängt  die 
sittliche  Freiheit  des  Individuums  ab  und  die  Entscheidung,  ob  es  nach  Um- 
ständen zur  Ausschweifung  und  selbst  zum  Verbrechen  gelangt.  Auf  die 
Stärke  der  treibenden  Momente  haben  Constitution,  überhaupt  organische  Ein- 
flüsse, auf  die  der  Gegenvorstellungen  Erziehung  und  Selbsterziehung  gewich- 
tigen Einfluss. 

Treibende  und  hemmende  Kräfte  sind  wandelbare  Grössen.  Verhängniss- 
voll wirkt  in  dieser  Hinsicht  der  Alkoholübergenuss ,  insofern  er  die  Libido 
sexualis  weckt  und  steigert,  gleichzeitig  die  sittliche  Widerstandsfähigkeit 
herabsetzt. 


I     .  I 


Akt  der  Cohabitation.  33 


Der  Akt  der  Cohabitation  1). 


Grundvoraussetzung  für  den  Mann  ist  genügende  Erection.  Mit  Recht 
macht  A  n j  e  1  (Archiv  für  Psychiatrie  VIII,  H.  2)  darauf  aufmerksam,  dass  bei 
der  sexuellen  Erregung  nicht  bloss  das  Erectionscentrum  erregt  wird,  sondern 
dass  die  Nervenerregung  sich  auf  das  ganze  vasomotorische  Nervensystem 
fortpflanzt.  Beweis  dafür  ist  der  Turgor  der  Organe  beim  sexuellen  Akt,  die 
Injection  der  Conjunctiva,  die  Prominenz  der  Bulbi,  die  Erweiterung  der 
Pupillen,  das  Herzklopfen  (durch  Lähmung  der  aus  dem  Halssympathicus 
stammenden  vasomotorischen  Herznerven,  dadurch  Erweiterung  der  Herzarterien 
und  in  Folge  der  Wallungshyperämie  stärkere  Erregung  der  Herzganglien). 
Der  Geschlechtsakt  geht  mit  einem  Wollustgefühl  einher,  das  beim  Manne 
durch  in  Folge  der  sensiblen  Reizung  der  Genitalien  reflectorisch  hervorgeru- 
fenes Durchtreten  von  Sperma  durch  die  Ductus  ejaculatorii  in  die  Urethra 
angeregt  sein  dürfte.  Das  Wollustgefühl  tritt  beim  Mann  früher  auf  als  beim 
Weib,  schwillt  zur  Zeit  der  beginnenden  Ejaculation  lawinenartig  an,  erreicht 
seine  Höhe  im  Moment  der  vollen  Ejaculation,  um  post  ejaculationem  rasch 
zu  schwinden. 

Beim  Weib  tritt  das  Wollustgefühl  später  und  langsam  ansteigend  auf 
und  überdauert  meist  den  Akt  der  Ejaculation. 

Der  entscheidende  Vorgang  bei  der  Cohabitation  ist  die  Ejaculation. 
Diese  Function  ist  abhängig  von  einem  Centrum  (genito-spinale),  das  Budge 
in  der  Höhe  des  4.  Lendenwirbels  nachgewiesen  hat.  Dasselbe  ist  ein  Reflex- 
centrum; der  dasselbe  erregende  Reiz  ist  das  durch  Reizung  der  Glans  penis 
aus  den  Samenblasen  reflectorisch  in  die  Pars  membranacea  urethrae  getriebene 
Sperma.  Sobald  diese  unter  wachsendem  Wollustgefühl  vor  sich  gehende 
Samenentleerung  eine  entsprechend  grosse  Quantität  darstellt,  um  als  ge- 
nügender Reiz  auf  das  Ejaculationscentrum  zu  wirken,  tritt  dieses  in  Action. 
Die  motorische  Reflexbahn  befindet  sich  in  dem  4.  und  5.  Lumbalnerven.  Die 
Action  besteht  in  einer  convulsivischen  Erregung  des  M.  bulbocavernosus 
(innervirt  vom  3.  und  4.  Sacralnerv),  wodurch  das  Sperma  herausgeschleu- 
dert wird. 

Auch  beim  Weib  findet  auf  der  Höhe  seiner  geschlechtlichen  und  wol- 
lüstigen Erregung  ein  reflectorisch  bedingter  Bewegungsakt  statt.  Er  wird 
eingeleitet  durch  die  Reizung  der  sensiblen  Genitalnerven  und  besteht  in  einer 
peristaltischen  Bewegung  in  den  Tuben  und  im  Uterus  bis  zur  Portio  vaginalis, 
wodurch  der  Tubar-  und  Uterinschleim  ausgepresst  wird.  Eine  Hemmung  des 
Ejaculationscentrums  ist  möglich  durch  Hirnrindeneinfluss  (Unlust  beim  Coitus, 
überhaupt  Gemüthsbewegungen,  sowie  einigermassen  durch  Willenseinfluss). 

Mit  dem  vollzogenen  Geschlechtsakt  schwinden  normaler  Weise  Erection 
und  Libido  sexualis,  indem  die  psychische  und  geschlechtliche  Erregung  einer 
behaglichen  Erschlaffung  Platz  macht. 


*)  Vgl.  Roubaud,  Traite  de  l'impuissance  et  de  la  sterilite.    Paris  1878. 


v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl. 


III.  Allgemeine  (Neuro-  und  Psycho-)  Pathologie1). 


Ueberaus  häufig  erweisen  sich  bei  dem  Culturmenschen  die 
sexualen  Functionen  abnorm.  Diese  Thatsache  findet  zum  Theil 
ihre  Erklärung  in  dem  vielfachen  Missbrauch  der  Generationsorgaue, 
zum  Theil  in  dem  Umstand,  dass  solche  Functionsanomalien  häufig 
Zeichen  einer  meist  erblichen  krankhaften  Veranlagung  des  Central- 
nerven Systems  („functionelle  Degenerationszeichen")  sind. 

Da  die  Generationsorgane  aber  in  bedeutsamer  functioneller 
Relation  zu  dem  ganzen  Nervensystem  und  zwar  in  seinen  psychi- 
schen wie  somatischen  Beziehungen  stehen,  begreift  sich  die  Häufig- 
keit der  aus  sexuellen  (function eilen  oder  organischen)  Störungen 
hervorgehenden  allgemeinen  Neurosen  und  auch  Psychosen. 


a)  Literatur.  Parent-Duchätelet,  Prostitution  dans  la  ville -de 
Paris  1837.  —  Rosenbaum,  Entstehung  der  Syphilis.  Halle  1839.  —  Derselbe, 
Die  Lustseuche  im  Alterthum.  Halle  1839.  —  Des  cur  et,  La  medecine  des 
passions.  Paris  1860.  —  Casper,  Klin.  Novellen  1860.  —  Bastian,  Der 
Mensch  in  der  Geschichte.  —  Friedländer,  Sittengeschichte  Roms.  —  Wiede- 
m  eist  er,  Cäsarenwahnsinn.  —  Scherr,  Deutsche  Cultur-  und  Sittengeschichte 
Bd.  I,  Cap.  9.  —  Tardieu,  Des  attentats  aux  moeurs,  7.  edit.  1878.  —  Em- 
minghaus,  Psychopathol.  p.  98.  225.  230.  232.  —  Schule,  Handbuch  der 
Geisteskrankheiten  p.  114.  —  Marc,  Die  Geisteskrankheiten,  übers,  v.  Ideler, 
II,  p.  128.  —  v.  Kr  äfft,  Lehrb.  d.  Psychiatrie.  5.  Aufl.  I,  p.  83;  Lehrb.  d.  ger. 
Psychopathol.  3.  Aufl.  p.  279;  Archiv  f.  Psychiatrie  VII,  2.  —  Moreau,  Des 
aberrations  du  sens  genesique.  Paris  1880.  —  Kirn,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych- 
iatrie 39,  Heft  2  u.  3.  —  Lombroso,  Geschlechtstrieb  u.  Verbrechen  in  ihren 
gegenseitigen  Beziehungen  (Goltdammer's  Archiv,  Bd.  30).  —  Tarnowsky, 
Die  krankhaften  Erscheinungen  des  Geschlechtssinnes.  Berlin  1886.  —  Ball, 
La  folie  erotique.  Paris  1888.  —  Serieux,  Recherches  cliniques  sur  les 
anomalies  de  l'instinct  sexuel.  Paris  1888.  —  Hammond,  Sexuelle  Impotenz, 
übers,  v.  Sali  in  ger.     Berlin  1889. 


Schema  der  sexualen  Neurosen.  35 


Schema  der  sexualen  Neurosen. 

I.  Periphere  Neurosen. 
1)  Sensible, 
a)  Anästhesie,     b)  Hyperästhesie,     c)  Neuralgie. 

2)  Secretorische. 
a)  Aspermie,     b)  Polyspermie. 

3)  Motorische. 

i 
a)  Pollutionen  (Krampf),     b)  Spermatorrhöe  (Lähmung). 

II.  Spinale  Neurosen. 

1)  Affectionen  des  Erectionscentrums. 

a)  Reizung  (Priapismus)  entsteht  reflectorisch  durch  periphere  sensible 
Reize  (z.  ß.  Gonorrhöe),  direct  durch  organische  Reizung  der  Leitungsbahnen 
vom  Gehirn  zum  Erectionscentrum  (spinale  Erkrankungen  im  unteren  Cervical- 
und  oberen  Dorsalmark)  oder  des  Centrums  selbst  (gewisse  Gifte)  oder  durch 
psychische  Reize. 

Im  letzteren  Fall  besteht  Satyriasis,  d.  h.  abnorm  lange  Andauer  von 
Erection  mit  Libido  sexualis.  Bei  blosser  reflectorischer  oder  directer  organi- 
scher Reizung  kann  die  Libido  fehlen  und  der  Priapismus  selbst  mit  Unlust- 
gefühlen  verbunden  sein. 

b)  Lähmung  entsteht  durch  Zerstörung  des  Centrums  oder  der  Leitungs- 
bahnen (Nervi  erigentes)  bei  Rückenmarkskrankheiten  (paralytische  Impotenz). 

Eine  mildere  Form  stellt  die  verminderte  Erregbarkeit  des  Centrums  dar, 
in  Folge  von  Ueberreizung  desselben  (durch  sexuelle  Excesse,  besonders  Onanie) 
oder  durch  Intoxication  mit  Alkohol,  Bromsalzen  u.  s.  w.  Sie  kann  mit  cere- 
braler Anästhesie  verbunden  sein,  oft  auch  mit  solcher  der  äusseren  Genitalien. 
Häufiger  findet  sich  hier  cerebrale  Hyperästhesie  (gesteigerte  Libido  sexualis, 
Lüsternheit). 

Eine  eigene  Form  verminderter  Erregbarkeit  stellen  diejenigen  Fälle 
dar,  wo  das  Centrum  nur  auf  gewisse  Reize  anspruchsfähig  ist  und  mit  einer 
Erection  antwortet.  So  gibt  es  Männer,  bei  welchen  der  sexuelle  Contact  mit 
der  züchtigen  Ehefrau  nicht  das  nöthige  Reizmoment  zur  Erection  abgibt,  wohl 
aber  diese  eintritt,  wenn  der  Akt  mit  einer  Dirne  oder  in  Form  einer  wider- 
natürlichen  sexuellen  Handlung  versucht  wird.  Soweit  hier  psychische  Reize 
in  Betracht  kommen,  können  sie  sogar  inadäquate  sein  (s.  u.  Parästhesie  und 
Perversion  des  Sexuallebens). 


36  Affectionen  des  Ejaculationscentrums. 

c)  Hemmung.  Das  Erectionscentrum  kann  durch  vom  Gehirn  kommende 
cerebrale  Einflüsse  functionsunfähig  sein.  Dieser  hemmende  Einfluss  ist  ein 
emotioneller  Vorgang  (Ekel,  Furcht  vor  Ansteckung)  oder  die  Vorstellung1) 
der  ungenügenden  Potenz.  Im  ersten  Fall  befinden  sich  vielfach  Männer,  die 
unüberwindliche  Abneigung  gegen  die  Frau  haben,  oder  Furcht  vor  lnfection, 
oder  mit  perverser  Geschlechtsempfindung  behaftet  sind ;  im  letzteren  Fall  be- 
finden sich  Neuropathiker  (Neurasthenische ,  Hypochonder),  vielfach  auch  in 
ihrer  Potenz  Geschwächte  (Onanisten),  die  Grund  haben  oder  zu  haben  glauben, 
Misstrauen  in  ihre  Potenz  zu  setzen.  Der  bezügliche  psychische  Vorgang  wirkt 
als  Hemmungsvorstellung  und  macht  den  Akt  mit  der  betreffenden  Person  des 
anderen  Geschlechts  temporär  oder  dauernd  unmöglich. 

d)  Reizbare  Schwäche.  Hier  besteht  abnorme  Anspruchsfähigkeit, 
aber  rascher  Nachlass  der  Energie  des  Centrums.  Es  kann  sich  um  functionelle 
Störung  im  Centrum  selbst,  oder  um  Innervationsschwäche  der  Nn.  erigentes 
handeln,  oder  um  Schwäche  des  M.  ischiocavernosus.  Im  Uebergang  zu  den 
folgenden  Anomalien  ist  noch  der  Fälle  zu  gedenken,  wo  durch  abnorm  frühe 
Ejaculation  die  Erection  unausgiebig  ist. 

2)  Affectionen  des  Ejaculationscentrums. 

a)  Abnorm  leichte  Ejaculation  durch  mangelnde  cerebrale  Hemmung 
in  Folge  grosser  psychischer  Erregung  oder  durch  reizbare  Schwäche  des  Cen- 
trums. In  diesem  Fall  genügt  nach  Umständen  die  blosse  Vorstellung  einer 
lasciven  Situation,  um  das  Centrum  in  Action  zu  versetzen  (hohe  Grade  von 
spinaler  Neurasthenie ,  meist  durch  sexuellen  Missbrauch).  Eine  dritte  Mög- 
lichkeit ist  Hyperaesthesia  urethrae,  vermöge  welcher  das  austretende  Sperma 
eine  sofortige  und  stürmische  Reflexaction  des  Ejaculationscentrums  auslöst. 
Hier  kann  die  blosse  Annäherung  an  die  weiblichen  Genitalien  genügen,  um 
die  Ejaculation  (ante  portam)  herbeizuführen. 

Bei  Hyperaesthesia  urethrae  als  Ursache  kann  die  Ejaculation  mit  einem 
Schmerz-  statt  einem  Wollustgefühl  ablaufen.  Meist  besteht  in  Fällen,  wo 
Hyperaesthesia  urethrae  vorhanden  ist,  zugleich  reizbare  Schwäche  des  Cen- 
trums. Beide  Functionsstörungen  sind  wichtig  für  die  Vermittlung  der  Pollutio 
nimia  und  diurna. 

Das  begleitende  Wollustgefühl  kann  pathologisch  fehlen.  Derlei  kommt 
bei  belasteten  Männern  und  Weibern  vor  (Anästhesie,  Aspermie?),  ferner  in 
Folge  von  Krankheit  (Neurasthenie,  Hysterie),  oder  (bei  Meretrices)  in  Folge 
von  Ueberreizung  und  dadurch  bedingter  Abstumpfung.  Von  der  Stärke  des 
Wollustgefühls  hängt  der  Grad  der  den  Geschlechtsakt  begleitenden  psychischen 
und  motorischen  Erregung  ab.  Unter  pathologischen  Bedingungen  kann  diese 
sich  so  hoch  steigern,  dass  die  Coitusbewegungen  ein  dem  Willen  entzogenes 


*)  Ein  interessantes  Beispiel,  wonach  auch  eine  (Zwangs-) Vorstellung  nicht 
sexuellen  Inhalts  im  Spiel  sein  kann,  erzählt  Magnan,  Ann.  med.  psych.  1885: 
Student,  21  Jahre,  erblich  stark  belastet,  früher  Onanist,  hat  beständig  mit 
der  Zahl  13  als  Zwangsvorstellung  zu  kämpfen.  Sobald  er  coitiren  will,  hemmt 
die  betreffende  Zwangsvorstellung  die  Erection  und  macht  den  Akt  unmöglich. 


Cerebral  bedingte  Neurosen.  37 

convulsivisches  Gepräge  gewinnen,  selbst  sich  bis  zu  allgemeinen  Convulsionen 
erstrecken. 

b)  Abnorm  schwer  eintretende  Ejaculation.  Sie  ist  bedingt  durch 
Unerregbarkeit  des  Centrums  (mangelnde  Libido,  Lähmung  des  Centrums, 
organisch  durch  Gehirn-  und  Rückenmarkskrankheiten,  functionell  durch 
sexuellen  Missbrauch,  Marasmus,  Diabetes,  Morphinismus),  hier  dann  meist  mit 
Anästhesie  der  Genitalien  und  Lähmung  des  Erectionscentrums  verbunden. 
Oder  sie  ist  die  Folge  einer  Läsion  des  Reflexbogens  oder  peripherer  An- 
aesthesia  (urethrae)  oder  der  Aspermie.  Die  Ejaculation  tritt  gar  nicht  oder 
verspätet  ein  im  Verlauf  des  sexuellen  Aktes  oder  erst  später  in  Form  einer 
Pollution.  *■ 


III.  Cerebral  bedingte  Neurosen. 

1)  Paradoxie,  d.  h.  sexuale  Erregungen  ausserhalb  der  Zeit 
anatomisch-physiologischer  Vorgänge  im  Bereich  der  Generations- 
organe. 

2)  Anästhesie  (fehlender  Geschlechtstrieb).  Hier  lassen  alle 
organischen  Impulse  von  den  Generationsorganen  aus,  gleichwie  alle 
Vorstellungen,  alle  optischen,  acustischen  und  olfaktorischen  Sinnes- 
eindrücke das  Individuum  sexuell  unerregt.  Physiologisch  ist  die 
Erscheinung  im  Kindes-  und  im  höheren  Greisenalter. 

3)  Hyperästhesie  (vermehrter  Trieb  bis  zur  Satyriasis). 
Hier  besteht  abnorm  starke  Anspruchsfähigkeit  der  Vita  sexualis 
auf  organische,  psychische  und  sensorielle  Reize  (abnorm  starke 
Libido,  Lüsternheit,  Geilheit).  Der  Reiz  kann  central  (Nympho- 
manie, Satyriasis)  oder  peripher,  functionell  oder  organisch  sein. 

4)  Parästhesie  (Perversion  des  Geschlechtstriebs,  d.  h.  Er- 
regbarkeit des  Sexuallebens  durch  inadäquate  Reize). 

Diese  cerebralen  Anomalien  fallen  in  das  Gebiet  der  Psycho- 
pathologie. Die  spinalen  und  peripheren  können  mit  den  ersteren 
combinirt  vorkommen.  In  der  Regel  finden  sie  sich  jedoch  bei 
geistig  Gesunden.  Sie  können  in  verschiedenen  Combinationen  vor- 
kommen und  den  Anlass  zu  sexuellen  Delicten  geben.  Aus  diesem 
Grund  verlangen  sie  Berücksichtigung  in  der  folgenden  Darstellung. 
Das  Hauptinteresse  nehmen  jedoch  die  cerebral  bedingten  Anomalien 
in  Anspruch,  da  sie  überaus  häufig  zu  perversen  und  selbst  crimi- 
nellen Handlungen  führen. 


38  Paradoxia  sexualis.     Sexualtrieb  bei  Kindern. 


A.  Paradoxie.     Sexualtrieb  ausserhalb  der  Zeit  auatomisch- 
physiologiscker  Vorgänge. 

1)  Im  Kindesalter  auftretender  Geschlechtstrieb. 

Jeder  Nerven-  und  jeder  Kinderarzt  kennt  die  Thatsache,  dass 
schon  bei  kleinen  Kindern  Regungen  des  Geschlechtslebens  auftreten 
können.  Bemerkenswert!!  in  dieser  Hinsicht  sind  Ultzmann's 
Mittheilungen  über  Masturbation  im  Kindesalter  1).  Man  muss  hier 
unterscheiden  zwischen  den  zahlreichen  Fällen,  wo  durch  Phimosis, 
Balanitis,  Oxyuris  in  Anus  oder  Vagina  Kinder  Jucken  in  den 
Genitalien  bekommen,  an  diesen  herummanipuliren,  davon  eine  Art 
Wollustreiz  empfinden  und  so  zur  Masturbation  gelangen,  und  zwi- 
schen jenen  Fällen,  wo  ohne  peripheren  Anlass,  auf  Grund  cerebraler 
Vorgänge,  beim  Kind  sexuale  Ahnungen  und  Dränge  auftreten. 
Nur  in  letzteren  Fällen  kann  von  einem  vorzeitigen  Hervortreten 
des  Geschlechtstriebs  die  Rede  sein.  Immer  dürfte  es  sich  hier 
um  eine  Theilerscheinung  eines  neuro-psychopathischen  Belastungs- 
zustandes handeln. 

Eine  Beobachtung  von  Marc  (Die  Geisteskrankheiten  etc.  von  Ideler  I, 
p.  66)  illustrirt  treffend  diese  Zustände.  Gegenstand  derselben  war  ein  acht- 
jähriges Mädchen  aus  ehrenwerther  Familie,  das,  aller  kindlichen  und  mora- 
lischen Gefühle  baar,  seit  dem  4.  Jahr  masturbirte,  praeterea  cum  pueris  decem 
usque  ad  duodecim  annos  natis  stupra  fecit.  Es  schwelgte  in  dem  Gedanken, 
seine  Eltern  umzubringen,  um  sie  bald  zu  beerben  und  dann  mit  Männern 
sich  zu  vergnügen. 

Auch  in  diesen  Fällen  von  vorzeitig  sich  regender  Libido  verfallen  die 
Kinder  der  Masturbation,  und  da  sie  schwer  belastet  sind,  versinken  sie 
häufig  in  Blödsinn  und  fallen  schweren  degenerativen  Neurosen  oder  Psychosen 
anheim. 

Lombroso  (Archiv,  di  Psichiatria  IV,  p.  22)  hat  eine  Anzahl  hierher- 
gehöriger, schwer  erblich  belastete  Kinder  betreffender  Fälle  gesammelt,  so  den 
eines  Mädchens ,  das  mit  3  Jahren  schamlos  und  hemmungslos  masturbirte. 
Ein  anderes  Mädchen  begann  mit  8  Jahren,  setzte  die  Onanie  auch  in  der 
Ehe  und  namentlich  in  der  Schwangerschaft  fort.   Sie  gebar  12mal.    5  Kinder 


l)  AuchLouyer- Villermay  berichtet  Onanie  von  einem  3 — 4  Jahre  alten 
Mädchen,  ebenso  Moreau  (Aberrations  du  sens  genesique,  2.  edit.  p.  209)  von 
einem  2jährigen.  Siehe  ferner  Mau dsley,  Physiologie  und  Pathologie  der 
Seele,  übersetzt  von  Böhm,  p.  218;  Hirschsprung  (Kopenhagen),  Berlin. 
Hin.  Wochenschr.  1886,  Nr.  38.  Lombroso,  Der  Verbrecher,  übersetzt  von 
Fränkel,  p.  119  u.  ff.  (besonders  Fall  10.  19.  21). 


Wiedererwachen  des  Sexualtriebs  im  Greisenalter.  39 

starben  früh,  4  waren  Hydrocephali ,  2  davon  (Knaben)   ergaben  sich  mit   7, 
bezw.  4  Jahren  der  Masturbation. 

Zambaco  (l'Encephale  1882,  Nr.  1.  2)  gibt  die  entsetzliche  Geschichte 
zweier  Schwestern  mit  prämaturem  und  perversem  Sexualtrieb.  Die  ältere  R. 
masturbirte  schon  mit  7  Jahren,  stupra  cum  pueris  faciebat,  stahl,  wo  sie  nur 
konnte,  sororem  quatuor  annorum  ad  masturbationem  illexit,  trieb  mit  10  Jahren 
schon  die  grössten  Scheusslichkeiten,  war  nicht  einmal  durch  Ferr.  candens  ad 
clitoridem  von  ihrem  Drang  abzubringen,  masturbirte  sich  u.  A.  mit  der  Sutane 
des  Geistlichen,  während  dieser  ihr  zusprach  sich  zu  bessern  etc. 


2)  Im  Greisenalter  wieder  erwachender  Geschlechtstrieb 1). 

Es  gibt  seltene  Fälle,  wo  bis  zum  höheren  Greisenalter  der 
Geschlechtstrieb  fortbesteht.  „Senectus  non  quidem  annis  sed  viribus 
magis  aestimatur"  (Zittmann).  Oesterlen  (Maschka,  Handb.  III, 
p.  18)  berichtet  sogar  von  einem  83jährigen  Mann,  der  von  einem 
württembergischen  Schwurgericht  wegen  Unzuchtvergehens  zu  drei 
Jahren  Zuchthaus  verurtheilt  wurde.  Leider  erfährt  man  nichts 
über  Art  des  Delicts  und  psychischen  Zustand  des  Thäters. 

Das  Bestehen  von  Aeusserungen  des  Geschlechtstriebs  im 
höheren  Alter  ist  an  und  für  sich  jedenfalls  nicht  pathologisch. 
Präsumptionen  auf  pathologische  Bedingungen  müssen 
sich  aber  nothwendig  ergeben,  wenn  das  Individuum  de- 
crepid  ist,  sein  Geschlechtsleben  schon  längst  erloschen 
war,  der  Trieb  bei  dem  zudem  vielleicht  früher  sexuell 
nicht  sehr  bedürftigen  Menschen  mit  grosser  Stärke  sich 
geltend  macht  und  rücksichtslos,  schamlos,  selbst  pervers 
Befriedigung  erstrebt. 

In  solchen  Fällen  wird  schon  der  gesunde  Menschenverstand 
pathologische  Bedingungen  vermuthen.  Die  medicinische  Wissen- 
schaft kennt  die  Thatsache,  dass  ein  so  qualificirter  Trieb  auf 
krankhaften  Veränderungen  im  Gehirn,  die  zu  Greisenblödsinn  führen, 
beruht.  Diese  krankhafte  Erscheinung  des  Geschlechtslebens  kann 
ein  Vorbote  der  senilen  Demenz  sein  und  sich  jedenfalls  lange  vor- 
her einstellen,  ehe  es  zu  greifbaren  Erscheinungen  intellectueller 
Schwäche  kommt.  Immer  wird  der  aufmerksame  und  erfahrene 
Beobachter  in  diesem  Prodromalstadium  schon  eine  Umwandlung 
des  Charakters   in  pejus   und   eine  Abschwächung   des  moralischen 


J)  Vgl.  Kirn,   Zeitschr.  f.  Psych.   Bd.  39.   —  Legrand  du  Saulle, 
Annal.  d'hyg.  1868  oct. 


40  Sexualtrieb  im  Greisenalter.    Sexuelle  Delicte. 

Sinnes  zugleich  mit  der  auffallenden  geschlechtlichen  Erscheinung 
nachweisen  können. 

Die  Libido  des  seniler  Demenz  Entgegengehenden  äussert  sich 
zunächst  in  lasciven  Reden  und  Gesten.  Das  nächste  Angriffsobject 
dieser  der  Hirnatrophie  und  psychischen  Degeneration  verfallenden 
cynischen  Greise  sind  Kinder.  Die  leichtere  Gelegenheit,  an  solche 
zu  gerathen,  gewiss  aber  wesentlich  das  Gefühl  mangelhafter  Po- 
tenz dürften  diese  traurige  und  bedenkliche  Thatsache  erklären. 
Mangelhafte  Potenz  und  tief  gesunkener  moralischer  Sinn  machen 
die  weitere  Thatsache  begreiflich,  warum  die  geschlechtlichen  Akte 
dieser  Greise  perverse  sind.  Sie  sind  eben  einfach  Aequivalente  des 
unmöglichen  physiologischen  Aktes. 

Als  solche  verzeichnen  die  Annalen  der  gerichtlichen  Medicin 
Exhibition  der  Genitalien  1),  wollüstiges  Betasten  der  Genitalien  von 
Kindern2),  Verleitung  dieser  zur  Manustupration  des  Verführers, 
Onanisirung  der  Opfer3),  Flagellation  derselben. 

In  diesem  Stadium  kann  die  Intelligenz  noch  intact  genug 
sein,  um  die  Oeffentlichkeit  und  die  Entdeckung  zu  meiden,  wäh- 
rend der  moralische  Sinn  schon  zu  tief  gesunken  ist,  um  die  sitt- 
liche Bedeutung  des  Aktes  zu  ermessen  und  dem  Trieb  zu  wider- 
stehen. Mit  eintretender  Demenz  werden  diese  Akte  immer  scham- 
loser. Nun  schwindet  auch  das  Bedenken  wegen  mangelhafter 
Potenz  und  werden  auch  Erwachsene  heimgesucht,  aber  die  defecte 
Potenz  nöthigt  zu  Aequivalenten  des  Coitus.  Nicht  selten  kommt 
es  hier  auch  zur  Sodomie,  wobei,  wie  Tarnowski  (op.  cit.  77) 
bemerkt,  beim  Geschlechtsakt  mit  Gänsen,  Hühnern  u.  dgl. ,  der 
Anblick  des  sterbenden  Thieres  und  seiner  Todeszuckungen  im 
Momente  des  Coitus  dem  Kranken  volle  Befriedigung  gewährt. 
Ebenso  grauenerregend  und  nach  dem  Obigen  psychologisch  ver- 
ständlich sind  die  perversen  geschlechtlichen  Handlungen  mit  Er- 
wachsenen. 

Einen  Beleg,  wie  hoch  gesteigert  die  Geschlechtslust  während 
des  Ablaufs  einer  Dementia  senilis  sein  kann,  bietet  die  Beobach- 
tung 49  in  des  Verf.  Lehrbuch  der  gerichtl.  Psychopath.,  3.  Aufl., 
p.  161,  quum  senex  libidinosus  germanam  suam  filiam  aemulatione 


*)  Fälle  s.  Lasegue:  Les  Exhibitionistes.    Union  medicale  1871  1.  Mai. 

2)  Legrand  du  Saulle,  La  folie  devant  les  tribunaux  p.  530. 

3)  Kirn,  Mascbka's  Handb.  d.  ger.  Med.  p.  373.  374.  —  Derselbe, 
Allg.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  Bd.  39,  p.  220. 


Sexualtrieb  im  Greisenalter.  41 

motus   necaret   et   adspectu   pectoris   sciosi  puellae  ruoribundae  de- 
lectaretur. 

Im  Verlauf  des  Leidens  kann  es  anlässlich  manischer  Episoden 
oder  auch  ohne  solche  zu  erotischem  Delir  und  Zuständen  wahrer 
Satyriasis  kommen,  wie  der  folgende  Fall  erweist. 

Beobachtung  1.  J.  Rene,  von  jeher  sinnlichen  und  sexuellen  Genüssen 
ergeben,  aber  das  Decorum  wahrend,  hatte  seit  seinem  76.  Jahr  eine  fort- 
schreitende Abnahme  der  Intelligenz  und  zunehmende  Perversion  des  morali- 
schen Sinnes  gezeigt.  Früher  geizig,  äusserst  sittsam,  consumpsit  bona  sua 
cum  meretricibus ,  lupanaria  frequentabat ,  ab  omni  femina  in  via  occurente, 
ut  uxor  fiat  sua  voluit,  aut  ut  coitum  concederet,  und  verletzte  so  sehr  den 
öffentlichen  Anstand,  dass  man  ihn  in  eine  Irrenanstalt  bringen  musste.  Dort 
steigerte  sich  die  geschlechtliche  Erregung  zu  einem  Zustand  wahrer  Satyriasis, 
die  bis  zum  Tode  andauerte.  Semper  masturbavit  vel  aliis  praesentibus,  de- 
lirium ejus  plenum  erat  obscoenis  imaginibus,  viros  qui  circa  eum  erant, 
mulieres  eos  esse  ratus,  sordidis  postulationibus  vexavit  (Legrand  du  Saulle, 
La  folie  p.  533). 

Auch  bei  der  Dem.  senilis  verfallenen  Matronen,  früher  ehrbaren  Frauen, 
können  solche  Zustände  von  höchster  sexueller  Erregung  (Nymphomanie,  Furor 
uterinus)  vorkommen. 

Dass  auf  dem  Boden  der  Dem.  senilis  der  krankhaft  erregte 
und  perverse  Trieb  sich  auch  Personen  des  eigenen  Geschlechts  (s.  u.) 
ausschliesslich  zuwenden  kann,  geht  aus  der  Lektüre  Schopen- 
hauer^1) hervor.  Die  Art  der  Befriedigung  ist  hier  passive 
Päderastie  oder,  wie  ich  aus  folgendem  Fall  erfuhr,  mutuelle  Ma- 
sturbation. 

Beobachtung  2.  Herr  X.,  80  Jahre  alt,  von  hohem  Stand,  aus  be- 
lasteter Familie,  von  jeher  sexuell  sehr  bedürftig  und  Cyniker,  von  abnormem 
und  jähzornigem  Charakter,  zog  nach  eigenem  Geständniss  schon  als  junger 
Mensch  Masturbation  dem  Coitus  vor,  bot  aber  nie  Erscheinungen  von  conträrer 
Sexualität,  hatte  Maitressen,  zeugte  mit  einer  derselben  ein  Kind,  heirathete 
48  Jahre  alt  aus  Neigung,  zeugte  noch  6  Kinder,  gab  seiner  Gemahlin  Zeit 
seiner  Ehe  nie  zu  Klagen  Anlass.  Die  Verhältnisse  seiner  Familie  konnte  ich 
nur  unvollkommen  erfahren.  Sichergestellt  ist,  dass  sein  Bruder  im  Verdacht 
mannmännlicher  Liebe  stand  und  dass  ein  Neffe  in  Folge  excessiver  Masturbation 
irrsinnig  wurde. 

Seit  Jahren  hat  sich  der  von  Hause  eigenartige,  jähzornige  Charakter 
des  Patienten  immer  extremer  gestaltet.  Er  ist  äusserst  misstrauisch  geworden 
und  eine  geringfügige  Contrariirung  seiner  Wünsche  bringt  ihn  in  masslosen 
Affect  bis  zu  Wuthanfällen ,  in  welchen  er  sogar  die  Hand  gegen  seine  Ge- 
mahlin erhebt. 


J)  Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung.    1859  Bd.  II,  p.  461  u.  ff. 


42  Anaesthesia  sexualis. 

Seit  einem  Jahr  bestehen  deutliche  Zeichen  einer  Dem.  senilis  incipiens. 
Patient  ist  vergesslieh  geworden,  er  localisirt  falsch  in  der  Vergangenheit  und 
ist  zeitlich  nicht  recht  orientirt.  Seit  14  Monaten  bemerkt  man  an  dem  alten 
Herrn  eine  wahre  Verliebtheit  gegenüber  einzelnen  männlichen  Dienstboten, 
namentlich  einem  Gärtnerburschen.  Sonst  schroff  und  vornehm  gegenüber 
Untergebenen,  überhäuft  er  diesen  Favori  mit  Gunstbezeigungen  und  Ge- 
schenken und  befiehlt  seiner  Familie  und  seinen  Hausofficianten,  ihm  mit  dem 
grössten  Respect  zu  begegnen.  Mit  wahrer  Brunst  erwartet  der  Alte  die 
Stunden  des  Rendezvous.  Er  schickt  seine  Familie  fort,  um  ungestört  mit  dem 
Favoriten  zu  sein,  hält  sich  Stunden  lang  mit  ihm  eingeschlossen  und  wird, 
wenn  die  Thüren  sich  wieder  öffnen,  ganz  erschöpft  auf  dem  Ruhebett  ge- 
troffen. Neben  diesem  Geliebten  hat  Patient  aber  episodisch  noch  Verkehr 
mit  anderen  Dienern.  Hoc  constat  amatos  eum  ad  se  trahere,  ab  iis  oscula 
concupiscere ,  genitalia  sua  tangi  jubere  itaque  masturbationem  mutuam  fieri. 
Durch  dieses  Treiben  ist  eine  förmliche  Demoralisation  geschaffen.  Die  Familie 
ist  machtlos,  denn  jede  Gegenvorstellung  ruft  Zornanfälle  bis  zur  Bedrohung 
der  Angehörigen  hervor.  Patient  ist  vollkommen  einsichtslos  für  seine  sexuellen 
perversen  Handlungen,  so  dass  die  Entmündigung  und  Versetzung  in  eine 
Irrenanstalt  als  einziger  Ausweg  für  die  trostlose  hochangesehene  Familie 
übrig  bleibt. 

Irgendwelche  erotische  Erregung  gegenüber  dem  anderen  Geschlecht 
ist  nicht  zu  beobachten ,  obwohl  Patient  noch  mit  seiner  Gemahlin  dasselbe 
Schlafgemach  bewohnt.  Bemerkenswert!!  bezüglich  der  perversen  Sexualität 
und  des  tief  gesunkenen  moralischen  Sinnes  dieses  Unglücklichen  ist  die  That- 
sache,  dass  er  die  Dienerinnen  seiner  Schwiegertochter  ausfragt,  ob  diese  keine 
Liebhaber  besitzen. 


B.  Anaesthesia  sexualis  (fehlender  Geschlechtstrieb). 

1)  Als  angeborene  Anomalie. 

Als  unanfechtbare  Beispiele  von  cerebral  bedingtem  Fehlen 
des  Geschlechtstriebs  können  nur  solche  Fälle  gelten,  in  welchen 
trotz  normal  entwickelter  und  functionirender  Generationsorgane 
(Spermabereitung,  Menstruation)  jegliche  Regung  des  Geschlechts- 
lebens überhaupt  und  von  jeher  mangelt.  Diese  functionell  ge- 
schlechtslosen Individuen  sind  sehr  selten  und  wohl  immer  degenerative 
Existenzen,  bei  denen  anderweitige  functionelle  Cerebralstörungen, 
psychische  Degenerationszustände,  ja  selbst  anatomische  Entartungs- 
zeichen nachweisbar  sind. 

Einen  klassischen ,  hierher  gehörenden  Fall  beschreibt  L  e- 
grand  du  Saulle  (Annales  medicopsychol.  1876,  Mai). 


Anaesthesia  sexualis.  43 

Beobachtung  3.  D.,  33  Jahre,  stammt  von  einer  Mutter,  die  an  Ver- 
folgungswahnsinn litt.  Der  Vater  dieser  Frau  litt  ebenfalls  an  Verfolgungs- 
wahn und  endete  durch  Selbstmord.  Deren  Mutter  war  irrsinnig,  die  Mutter 
dieser  Frau  war  im  Puerperium  irrsinnig  geworden.  Drei  Geschwister  des 
Patienten  waren  im  Säuglingsalter  gestorben,  ein  überlebendes  war  charaktero- 
logisch  abnorm.  D.  war  schon  mit  13  Jahren  mit  Ideen  geplagt,  irrsinnig  zu 
werden.  Mit  14  Jahren  machte  er  einen  Suicidversuch.  Später  Vagabundage. 
Als  Soldat  wiederholt  Insubordination,  ganz  verrückte  Streiche.  Er  war  von 
beschränkter  Intelligenz,  bot  keine  Degenerationszeichen ,  normale  Genitalien, 
hatte  mit  17  oder  18  Jahren  Samenergüsse  gehabt,  nie  onanirt,  niemals  Ge- 
schlechtsempfindung gehabt,  nie  den  Umgang  mit  Weibern  gesucht. 

Beobachtung  4.  P.,  36  Jahre  alt,  Taglöhner,  wurde  Anfang  November 
wegen  spastischer  Spinalparalyse  auf  meiner  Klinik  aufgenommen.  Er  behauptet, 
aus  gesunder  Familie  zu  stammen.  Seit  der  Jugend  Stotterer.  Schädel  micro- 
cephal  (cf.  53).  Patient  etwas  imbecill.  Er  war  nie  gesellig ,  hatte  niemals 
eine  sexuelle  Regung.  Der  Anblick  eines  Weibes  hatte  nie  für  ihn  etwas  An- 
ziehendes. Niemals  regte  sich  bei  ihm  ein  masturbatorischer  Drang.  Erectionen 
häufig,  aber  nur  Morgens  beim  Erwachen  mit  voller  Blase  und  ohne  Spur  von 
sexueller  Regung.  Pollutionen  sehr  selten,  etwa  einmal  jährlich  im  Schlafe, 
meist  unter  Träumen,  dass  er  mit  einem  weiblichen  Individuum  etwas  zu  thun 
habe.  Einen  ausgesprochen  erotischen  Inhalt  haben  aber  diese  Träume  nicht, 
wie  überhaupt  nicht  seine  Träume.  Eine  eigentliche  Wollustempfindung  soll 
mit  dem  Akt  der  Pollution  nicht  vorhanden  sein.  Pat.  empfindet  diesen  Mangel 
sexueller  Empfindungen  nicht.  Er  versichert,  sein  34  Jahre  alter  Bruder  sei 
sexuell  geradeso  beschaffen  wie  er,  für  eine  21  Jahre  alte  Schwester  macht  er 
dies  wahrscheinlich.  Ein  jüngerer  Bruder  sei  sexuell  normal  beschaffen.  Die 
Untersuchung  der  Genitalien  des  Pat.  ergibt  ausser  Phimose  nichts  Abnormes. 

Auch  H  a  m  m  o  n  d  (Sexuelle  Impotenz  ,  deutsch  von  Salinger, 
Berlin  1889)  weiss  aus  seiner  reichen  Erfahrung  nur  über  folgende 
3  Fälle  angeborener  Anaesthesia  sexualis  zu  berichten. 

Beobachtung  5.  Herr  W.,  33  Jahre  alt,  kräftig,  gesund,  mit  normalen 
Genitalien,  hat  nie  Libido  empfunden,  vergebens  durch  obscöne  Lektüre  und 
Verkehr  mit  Meretrices  seinen  mangelnden  Sexualtrieb  zu  wecken  versucht.  Er 
empfand  bei  solchen  Versuchen  nur  Ekel  bis  zu  Erbrechen,  nervöse  und  phy- 
sische Erschöpfung,  und  selbst,  als  er  die  Situation  forcirte,  nur  einmal  eine 
flüchtige  Erection.  W.  hat  nie  onanirt,  seit  dem  17.  Jahr  alle  paar  Monate 
eine  Pollution  gehabt.  Wichtige  Interessen  forderten,  dass  er  heirathe.  Er 
hatte  keinen  Horror  feminae ,  sehnte  sich  nach  Heim  und  Weib ,  fühlte  sich 
aber  unfähig,  den  sexuellen  Akt  zu  vollziehen  und  starb  unbeweibt  im  ameri- 
kanischen Bürgerkrieg. 

Beobachtung  6.  X.,  27  Jahre,  mit  normalen  Genitalien,  hat  nie 
Libido  empfunden.  Erection  gelang  leicht  durch  mechanische  oder  thermische 
Reize,  aber  statt  Libido  sexualis  entstand  dann  regelmässig  Drang  zu  Alkohol- 
excessen.     Umgekehrt   riefen  solche   auch  spontane  Erectionen  hervor,   wobei 


44  Anaesthesia  sexuahs. 

er  dann  gelegentlich  masturbirte.    Er  empfand  Abneigung  gegen  Frauen  und 
Ekel  vor  Coitus. 

Versuchte  er  gleichwohl  solchen  während  einer  Erection,  so  schwand 
diese  sofort.     Tod  im  Coma  in  einem  Anfall  von  Hirnhyperämie. 

Beobachtung  7.  Frau  0.,  normal  gebaut,  gesund,  regelmässig  men- 
struirt,  35  Jahre  alt,  seit  15  Jahren  verheirathet,  hat  niemals  Libido  gefühlt, 
niemals  im  sexuellen  Verkehr  mit  dem  Gemahl  einen  erotischen  Reiz  empfun- 
den. Sie  hatte  keine  Aversion  gegen  den  Coitus,  schien  ihn  zuweilen  sogar 
angenehm  zu  empfinden,  hatte  aber  nie  einen  Wunsch  nach  Wiederholung  der 
Cohabitation. 

Im  Anschluss  an  derartige  reine  Fälle  von  Anästhesie  x)  möge 
solcher  gedacht  werden,  in  welchen  die  psychische  Seite  der  Vita 
sexualis  zwar  ebenfalls  ein  leeres  Blatt  in  der  Lebensgeschichte  des 
Individuums  darstellt,  wo  aber  zeitweise  elementare  sexuelle  Empfin- 
dungen sich  wenigstens  durch  Masturbation  (vgl.  den  Uebergangs- 
fall,  Beob.  6)  kundgeben.  Nach  der  geistreichen,  aber  nicht  streng 
richtigen  und  zu  dogmatischen  Eintheilung  Magnan's  wäre  die 
sexuelle  Existenz  hier  auf  das  spinale  Gebiet  beschränkt.  Mög- 
licherweise besteht  in  einzelnen  solcher  Fälle  immerhin  virtuell  eine 
psychische  Seite  der  Vita  sexualis,  aber  sie  ist  höchst  schwach  ver- 
anlagt und  geht  durch  Masturbation,  bevor  sie  Ansätze  zu  einer 
Entwicklung  nehmen  konnte,  unter. 

Damit  würden  sich  Uebergangsfälle  von  der  angeborenen  zur 
erworbenen  (psychischen)  Anaesthesia  sexualis  ergeben.  Diese  Ge- 
fahr droht  nicht  wenigen  belasteten  Masturbanten.  Psychologisch 
interessant  ist,  dass  dann  auch  ein  ethischer  Defect  sich  zeigt,  wenn 
die  sexuelle  Wurzel  früh  verdorrt. 


*)  Ein  Fall  von  Anaesthesia  sexualis  dürfte  auch  der  grosse  englische  Saty- 
riker  Swift  gewesen  sein.  Adolf  Stern,  „Aus  dem  18.  Jahrhundert;  biograph. 
Bilder  und  Skizzen" ,  Leipzig  1874,  sagt  in  seiner  Swiftbiographie  p.  34  fol- 
gendes: „Ihm  scheint  das  sinnliche  Element  der  Liebe  gänzlich  gefehlt  zu 
haben;  der  unbefangene  Cynismus,  der  in  manchen  Stellen  seiner  Briefe  zu 
Tage  tritt,  kann  beinahe  als  ein  Beweis  dafür  gelten.  Und  wer  gewisse  Seiten 
in  den  späteren  Reisen  Gulliver's  recht  versteht  und  besonders  den  Bericht, 
den  Swift  von  Ehe  und  Nachkommenschaft  der  Hauyhnhmms,  der  edlen  Pferde 
des  letzten  Capitels,  gibt,  kann  kaum  zweifeln,  dass  der  grosse  Satyriker  eine 
Art  Ekels  vor  der  Ehe  und  jedenfalls  den  Drang  nicht  empfand,  der  die  Ge- 
schlechter zu  einander  führt."  Thatsächlich  lassen  sich  die  räthselhaftesten 
Seiten  von  Swift's  Charakter  sowie  einzelne  seiner  Werke,  wie  „Tagebuch  an 
Stella"  und  „Gulliver's  Reisen",  nur  voll  und  ganz  verstehen,  wenn  man  Swift 
als  sexuell  anästhetisch  annimmt. 


Anaesthesia  sexualis.  45 

Als  beachtenswerthe  Fälle  mögen  die  beiden  folgenden,  von 
mir  im  Archiv  für  Psychiatrie  VII.  früher  veröffentlichten  hier  Er- 
wähnung finden. 

Beobachtung  8.  F.  J. ,  19  Jahr,  Stud. ,  stammt  von  einer  nervösen 
Mutter,  deren  Schwester  epileptisch  war.  Mit  4  Jahren  acute  14tägige  Hirn- 
affection.  Als  Kind  gemüthlos,  kalt  gegen  die  Eltern,  als  Schüler  sonderbar, 
verschlossen,  sich  absondernd,  grübelnd  und  lesend.  Gute  Begabung.  Vom 
15.  Jahre  an  Onanie.  Seit  der  Pubertät  excentrisches  Wesen ,  beständiges 
Schwanken  zwischen  religiöser  Schwärmerei  und  Materialismus,  Studium  der 
Theologie  und  Naturwissenschaften.  Auf  der  Universität  hielten  ihn  die  Com- 
militonen  für  einen  Narren.  Las  ausschliesslich  Jean  Paul,  verbummelte  seine 
Zeit.  Gänzlicher  Mangel  geschlechtlicher  Empfindungen  gegenüber  dem  anderen 
Geschlecht.  Liess  sich  einmal  zum  Beischlaf  herbei,  empfand  aber  kein  ge- 
schlechtliches Gefühl  dabei,  fand  den  Coitus  eine  Albernheit  und  liess  die 
Wiederholung  bleiben.  Ohne  alle  emotionelle  Grundlage  stieg  ihm  oft  der 
Gedanke  an  Selbstmord  auf;  er  machte  ihn  zum  Gegenstand  einer  philo- 
sophischen Abhandlung,  in  der  er  ihn,  gleich  der  Masturbation,  für  eine  recht 
zweckmässige  Handlung  erkannte.  Nach  wiederholten  Versuchen,  die  er  an 
sich  mit  den  verschiedenen  Giften  anstellte,  probirte  er  es  mit  57  Gran  Opium, 
wurde  aber  gerettet  und  ins  Irrenhaus  gebracht. 

Pat.  ist  aller  sittlichen  und  socialen  Gefühle  baar.  Seine  Schriften  ver- 
rathen  eine  unglaubliche  Frivolität  und  Banalität.  Er  besitzt  ausgebreitete 
Kenntnisse,  aber  seine  Logik  ist  eine  eigenthümlich  verschrobene.  Von  affec- 
tiven Erscheinungen  keine  Spur.  Mit  einer  Blasirtheit  und  Ironie  ohne  Gleichen 
behandelt  er  Alles,  selbst  das  Erhabenste.  Mit  philosophischen  Scheingründen 
und  Trugschlüssen  plaidirt  er  für  die  Berechtigung  des  Selbstmords,  den  zu 
vollbringen  er  jeweils  vorhat,  wie  ein  Anderer  das  gleichgültigste  Geschäft. 
Er  bedauert,  dass  man  ihm  sein  Federmesser  genommen  hat.  Er  hätte  sich 
sonst  wie  Seneca  im  Bade  die  Adern  öffnen  können.  Ein  Freund  hatte  ihm 
kürzlich  statt  eines  Giftes ,  wie  er  wünschte ,  ein  Abführmittel  gegeben.  Es 
sei  für  ihn  statt  eines  Abführmittels  in  die  andere  Welt  eines  in  den  Abort 
gewesen.  Seine  „alte  lebensgefährliche  närrische  Idee*  könne  nur  der  grosse 
Operateur  mit  der  Sense  herausschneiden  etc. 

Pat.  hat  einen  grossen,  rhombisch  verschobenen  Schädel,  die  linke  Stirn- 
hälfte ist  flacher  als  die  rechte.  Hinterhaupt  sehr  steil.  Ohren  weit  hinten, 
stark  abstehend,  die  äussere  Ohröffnung  bildet  eine  schmale  Spalte.  Genitalien 
sehr  schlaff,  Hoden  ungewöhnlich  weich  und  klein. 

Ab  und  zu  klagt  Pat.  über  „  Grübelsucht ".  Er  müsse  zwangsweise  den 
unnützesten  Problemen  nachgehen,  unterliege  einem  stundenlangen  höchst 
peinlichen  und  ermattenden  Denkzwang  und  sei  dann  so  abgehetzt,  dass  er 
zu  keinem  vernünftigen  Gedanken  mehr  fähig  sei. 

Pat.  wurde  nach  Jahresfrist  ungebessert  nach  Hause  entlassen,  vertrieb 
sich  dort  nach  wie  vor  die  Zeit  mit  Lesen,  Bummelei,  trug  sich  mit  dem  Ge- 
danken, ein  neues  Christenthum  zu  schaffen,  weil  Christus  an  Grössenwahnsinn 
gelitten  und  die  Welt  mit  Wundern  getäuscht  habe.  (!)  Nach  einjährigem 
Aufenthalt  zu  Hause  führte   ihn  ein  plötzlich  aufgetretener  psychischer  Auf- 


4(5  Anaesthesia  sexualis. 

regungszustand  wieder  der  Anstalt  zu.  Er  bot  ein  buntes  Gemisch  von  Pri- 
mordialdelirium  der  Verfolgung  (Teufel,  Antichrist,  wähnt  sich  verfolgt,  Ver- 
giftungswahn, verfolgende  Stimmen)  und  der  Grösse  (Christuswahn,  Welt- 
erlösung), dabei  ganz  impulsives  verwirrtes  Handeln.  Nach  5  Monaten  ging 
diese  intercurrente  Geisteskrankheit  zurück  und  Pat.  befand  sich  wieder  auf  dem 
Boden  seiner  originären  intellectuellen  Verschrobenheit  und  moralischen  Defecte. 

Beobachtung  9.  E. ,  30  Jahre,  vacirender  Malergeselle ,  wurde  be- 
treten, als  er  einem  Knaben,  den  er  in  den  Wald  gelockt  hatte,  das  Scrotum 
abschneiden  wollte.  Er  motivirte  dieses  Vorhaben  damit,  dass  er  hineinschneiden 
wollte,  auf  dass  die  Erde  sich  nicht  vermehre;  er  habe  in  seiner  Jugend  oft 
zu  gleichem  Zweck  in  seine  Geschlechtstheile  hineingeschnitten. 

E.'s  Stammbaum  ist  nicht  zu  eruiren.  Von  Kindheit  an  war  E.  geistig 
abnorm,  hinbrütend,  nie  lustig,  sehr  reizbar,  jähzornig,  grübelnd,  schwachsinnig. 
Er  hasste  die  Weiber,  liebte  die  Einsamkeit,  las  viel.  Er  lachte  zuweilen  vor 
sich  hin,  machte  dummes  Zeug.  In  den  letzten  Jahren  hatte  sich  sein  Hass 
gegen  Frauenzimmer  gesteigert,  namentlich  gegen  Schwangere,  durch  die  nur 
Elend  in  die  Welt  komme.  Er  hasste  auch  die  Kinder,  verfluchte  seinen  Er- 
zeuger, hegte  communistische  Ideen,  schimpfte  über  die  Reichen  und  die  Geist- 
lichen, über  den  Herrgott,  der  ihn  so  arm  auf  die  Welt  habe  kommen  lassen. 
Er  erklärte,  es  sei  besser,  die  noch  vorhandenen  Kinder  zu  castriren,  als  neue 
auf  die  Welt  zu  setzen,  die  doch  nur  zur  Armuth  und  zu  Elend  verurtheilt 
wären.  Er  habe  es  immer  so  gehalten,  schon  im  15.  Jahr  sich  selbst  zu 
castriren  versucht,  um  nicht  zum  Unglück  und  zur  Vermehrung  der  Menschen 
beizutragen.  Das  weibliche  Geschlecht  verachte  er,  weil  es  zur  Vermehrung 
der  Menschen  beitrage.  Nur  zweimal  habe  er  in  seinem  Leben  sich  von 
Weibern  manustupriren  lassen,  sonst  nie  mit  ihnen  zu  thun  gehabt.  Geschlecht- 
liche Regungen  habe  er  wohl  dann  und  wann,  aber  nie  zu  naturgemässer 
Befriedigung  derselben.  Wenn  die  Natur  nicht  selbst  helfe,  so  helfe  er 
gelegentlich  durch  Onanie  nach. 

E.  ist  ein  starker,  musculöser  Mann.  Die  Bildung  der  Genitalien  „  lässt^ 
nichts  Abnormes  erkennen.  An  Scrotum  und  Penis  finden  sich  zahlreiche 
Schnittnarben  als  Spuren  früherer  Selbstentmannungsversuche,  an  deren  Aus- 
führung er  durch  den  Schmerz  gehindert  gewesen  sein  will.  Am  rechten  Knie- 
gelenk Zustand  des  Genu  valgum.  Von  Onanie  wurde  nichts  an  ihm  bemerkt. 
Er  ist  von  finsterem,  trotzigem,  reizbarem  Wesen.  Sociale  Gefühle  sind  ihm 
vollständig  fremd.  Ausser  sehr  mangelhaftem  Schlaf  und  häufigem  Kopf- 
schmerz bestehen  keine  Functionsstörungen. 

Von  derartigen  cerebral  bedingten  Fällen  müssen  diejenigen 
getrennt  werden,  wo  ein  Mangel  oder  eine  Verkümmerung  der 
Generationsorgane  den  Functionsausfall  bedingt,  so  bei  gewissen 
Hermaphroditen,  Idioten,  Cretinen. 

Dass  Anaesthesia  sexualis  nicht  durch  blosse  Aspermie  bedingt 
ist,   lehren  Ultzmann's1)  Erfahrungen,  wonach  selbst  bei  Ange- 

*)  Ueber  männliche  Sterilität.  Wiener  med.  Presse  1878,  Nr.  1.  Ueber 
Potentia  generandi  et  coeundi.     Wiener  Klinik  1885,  Heft  1,  S.  5. 


Erworbene  Anaesthesia  sexualis.  47 

borenheit  dieser  Aspermie  die  Vita  sexualis  und  die  Potenz  ganz 
befriedigend  sein  kann,  ein  weiterer  Beleg  dafür,  dass  mangelnde 
Libido  ab  origine  in  cerebralen  Bedingungen  zu  suchen  ist. 

Eine  mildere  Form  der  Anästhesie  stellen  die  „naturae  frigidae" 
des  Zacchias  dar. 

Man  trifft  sie  häufiger  beim  weiblichen  als  beim  männlichen 
Geschlecht.  Geringe  Neigung  zum  sexuellen  Umgang  bis  zur  aus- 
gesprochenen Abneigung,  natürlich  ohne  sexuelles  Aequivalent, 
Mangel  jeglicher  psychischen,  wollüstigen  Erregung  beim  Coitus, 
der  einfach  pflichtgemäss  gewährt  wird,  ist  die  Signatur  dieser 
Anomalie,  über  die  ich  häufig  Klagen  von  Ehemännern  zu  hören 
bekam.  In  solchen  Fällen  handelte  es  sich  immer  um  neuropathische 
Frauen  ab  origine.     Einzelne  waren  zugleich  hysterisch. 

2)  Erworbene  Anästhesie. 

Die  erworbene  Verminderung  bis  zum  Erlöschen  des  Sexual- 
triebs kann  auf  sehr  verschiedenen  Ursachen  beruhen. 

Diese  können  organische  und  functionelle ,  psychische  und 
somatische,  centrale  und  periphere  sein. 

Physiologisch  ist  die  Abnahme  der  Libido  mit  fortschreiten- 
dem Alter  und  das  temporäre  Schwinden  derselben  nach  dem  Ge- 
schlechtsakt. Die  Verschiedenheiten  bezüglich  der  zeitlichen  Dauer 
des  Sexualtriebs  sind  individuell  grosse.  Erziehung  und  Lebens- 
weise haben  auf  die  Intensität  der  Vita  sexualis  grossen  Einfluss. 
Geistig  angestrengte  Thätigkeit  (ernstes  Studium),  körperliche  An- 
strengung, gemüthliche  Verstimmung,  sexuelle  Enthaltsamkeit  sind 
der  Erregung  des  Sexualtriebs  entschieden  abträglich. 

Die  Abstinenz  wirkt  anfangs  steigernd.  Bald  früher,  bald 
später,  je  nach  constitutionellen  Verhältnissen,  lässt  die  Thätigkeit 
der  Generationsorgane  nach  und  damit  die  Libido. 

Jedenfalls  besteht  bei  dem  geschlechtsreifen  Individuum  zwi- 
schen der  Thätigkeit  seiner  Generationsdrüsen  und  dem  Grad  seiner 
Libido  ein  enger  Zusammenhang.  Dass  jene  aber  nicht  entscheidend 
ist,  lehrt  die  Erfahrung  bezüglich  sinnlicher  Frauen,  die  noch  post 
climacterium  den  sexuellen  Umgang  fortsetzen  und  (cerebral  be- 
dingte) sexuelle  Erregungszustände  bieten  können. 

Auch  an  den  Eunuchen  lässt  sich  erkennen,  dass  die  Libido 
die  Spermabereitung  lange  überdauern  kann. 

Andererseits  lehrt  aber  die  Erfahrung,    dass  die  Libido  doch 


48  Hyperaesthesia  sexualis. 

wesentlich  mitbedingt  wird  von  der  Function  der  Generationsdrüsen 
und  dass  die  erwähnten  Thatsachen  Ausnahmeerscheinungen  sind. 
Als  periphere  Ursachen  für  verminderte  bis  fehlende  Libido  sind 
anzuführen:  Castration,  Entartung  der  Geschlechtsdrüsen,  Marasmus, 
sexuelle  Excesse  in  Form  von  Coitus  und  Masturbation,  Alcoho- 
lismus.  In  gleicher  Weise  dürfte  das  Schwinden  der  Libido  bei 
allgemeinen  Ernährungsstörungen  (Diabetes,  Morphinismus  u.  s.  w.) 
zu  deuten  sein. 

Endlich  wäre  der  Hodenatrophie  zu  gedenken ,  die  zuweilen 
in  Folge  von  Herderkrankungen  des  Gehirns  (Kleinhirn)  beobachtet 
wurde. 

Eine  Herabsetzung  der  Vita  sexualis  durch  Degeneration  der 
Leitungsbahnen  und  des  Centr.  genitospinale  findet  sich  bei  Rücken- 
marks- und  Hirnkrankheiten.  Eine  centrale  Schädigung  des  Ge- 
schlechtstriebs kann  organisch  durch  Hirnrindenerkrankung  (Dem. 
paralytica  in  vorgerücktem  Stadium) ,  functionell  durch  Hysterie 
(centrale  Anästhesie?),  durch  Gemüthskrankheit  (Melancholie,  Hypo- 
chondrie) hervorgerufen  sein. 


C.  Hyperästhesie  (krankhaft  gesteigerter  Geschlechtstrieb). 

Nicht  geringe  Schwierigkeit  hat  die  Pathologie ,  selbst  im 
Einzelfall,  wenn  sie  angeben  soll,  ob  der  Drang  nach  sexueller 
Befriedigung  pathologische  Höhe  erreicht  hat.  Emminghaus, 
Psychopathologie,  p.  225,  bezeichnet  als  entschieden  krankhaft  „das 
unmittelbare  Wiedererwachen  der  Begierde  nach  der  Befriedigung, 
mit  Inbeschlagnahme  der  ganzen  Aufmerksamkeit,  nicht  minder  das 
Erwachen  der  Libido  bei  an  und  für  sich  geschlechtlich  indiffe- 
rentem Anblick  von  Personen  oder  Sachen".  Im  Allgemeinen  stehen 
sexueller  Trieb  und  entsprechendes  Bedürfniss  in  Proportion  zur 
körperlichen  Kraft  und  zum  Alter. 

Von  der  Pubertät  an  erhebt  sich  der  Sexualtrieb  rapid  zu 
bedeutender  Höhe,  ist  von  den  20er  bis  zu  den  40er  Jahren  am 
mächtigsten,  um  von  da  an  langsam  abzunehmen.  Das  eheliche 
Leben  scheint  den  Trieb  zu  conserviren  und  zu  zügeln. 

Sexueller  Verkehr  bei  wechselndem  Object  der  Befriedigung 
steigert  den  Trieb. 

Da  das  Weib  weniger  geschlechtsbedürftig  ist  als  der  Mann, 
muss  ein  Vorherrschen  geschlechtlichen  Bedürfnisses  bei  jenem  die 


Krankhaft  gesteigerter  Geschlechtstrieb.  49 

Vermuthung  pathologischer  Bedeutung  erwecken,  um  so  mehr,  wenn 
dieses  Bedürfniss  in  Putzsucht,  Coquetterie  oder  gar  Männersucht 
zu  Tage  tritt  und  so  über  die  von  Zucht  und  Sitte  gezogenen 
Schranken  hinaus  sich  bemerklich  macht. 

Von  grösster  Bedeutung  ist  bei  beiden  Geschlechtern  die  Con- 
stitution. Mit  einer  neuropathischen  Constitution  ist  häufig  ein 
krankhaft  gesteigertes  geschlechtliches  Bedürfniss  verbunden,  und 
derlei  Individuen  tragen  einen  grossen  Theil  ihres  Lebens  schwer 
unter  der  Last  dieser  constitutionellen  Anomalie  ihres  Trieblebens. 
Die  Gewalt  des  Sexualtriebs  kann  bei  ihnen  zeitweise  geradezu  die 
Bedeutung  einer  organischen  Nöthigung  gewinnen  und  die  Willens- 
freiheit ernstlich  gefährden.  Die  Nichtbefriedigung  des  Dranges 
kann  hier  eine  wahre  Brunst  oder  eine  mit  Angstempfindungen 
einhergehende  psychische  Situation  herbeiführen ,  in  welcher  das 
Individuum  dem  Trieb  erliegt  und  seine  Zurechnungsfähigkeit 
zweifelhaft  wird. 

Unterliegt  das  Individuum  nicht  seinem  mächtigen  Drang,  so 
steht  es  in  Gefahr,  durch  die  erzwungene  Abstinenz  sein  Nerven- 
system im  Sinne  'einer  Neurasthenie  zu  ruiniren  oder  eine  bereits 
vorhandene  bedenklich  zu  steigern. 

Auch  bei  normal  organisirten  Individuen  ist  der  Sexualtrieb 
keine  constante  Grösse.  Abgesehen  von  der  der  Befriedigung 
folgenden  temporären  Gleichgültigkeit,  dem  Nachlass  des  Triebes  bei 
dauernder  Abstinenz,  nachdem  ein  gewisses  Reactionsstadium  des 
sexuellen  Verlangens  glücklich  überwunden  ist ,  hat  die  Art  der 
Lebensweise  grossen  Einfluss. 

Der  Grossstädter,  welcher  beständig  an  sexuelle  Dinge  erinnert 
und  zu  sexuellem  Genuss  angeregt  wird,  ist  jedenfalls  geschlechts- 
bedürftiger als  der  Landbewohner.  Excedirende,  weichliche,  sitzende 
Lebensweise,  vorwiegend  animalische  Nahrung,  der  Genuss  von  Spiri- 
tuosen, Gewürzen  u.  dergl.  wirken  stimulirend  auf  das  Sexualleben. 

Beim  Weibe  ist  dieses  postmenstrual  gesteigert.  Bei  neuro- 
pathischen Frauen  kann  die  Erregung  zu  dieser  Zeit  pathologische 
Höhe  erreichen. 

Bemerkenswerth  ist  die  grosse  Libido  der  Phthisiker.  Hof- 
mann a.  a.  0.  berichtet  von  einem  phthisischen  Bauern,  der  noch 
am  Abend  vor  seinem  Tod  sein  Weib  sexuell  befriedigte. 

Die  sexuellen  Akte  sind  Coitus  (eventuell  Nothzucht),  faute 
de  mieux:  Masturbation,  bei  defectem  moralischen  Sinn  Päderastie, 
Bestialität.     Ist  bei  übermässigem   Sexualtrieb    die    Potenz   herab- 

v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  4 


50  Hyperaesthesia  sexualis. 

gesetzt   oder  gar    erloschen ,    so   sind    alle   möglichen  Perversitäten 
geschlechtlichen  Handelns  möglich. 

Die  excessive  Libido  kann  peripher  und  central  hervorgerufen 
sein.  Die  erstere  Entstehungsweise  ist  die  seltenere.  Pruritus  der 
Genitalien,  Ekzem  können  sie  bedingen,  desgleichen  gewisse,  die 
Geschlechtslust  mächtig  stimulirende  Stoffe,   wie  z.  B.  Canthariden. 

Bei  Frauen  kommt  nicht  selten  im  Klimakterium  eine  durch 
Pruritus  vermittelte  sexuelle  Erregung  vor,  aber  auch  sonst  bei 
neuropathischer  Belastung.  Magnan  (Annales  medico-psychol.  1885, 
p.  157)  berichtet  von  einer  Dame,  die  anfallsweise  Morgens  von 
einem  schrecklichen  Erethismus  genitalis  befallen  wurde,  desgleichen 
von  einem  55jährigen  Manne,  der  Nachts  von  unerträglichem  Pria- 
pismus gefoltert  war.     In  beiden  Fällen  bestand  eine  Neurose. 

Centrale  Auslösung  von  geschlechtlicher  Erregung  ist  ein  bei 
Belasteten ,  Hysterischen  und  in  psychischen  Exaltationszuständen 
häufiges  Vorkommen  *).  Hier,  wo  die  Hirnrinde  und  damit  das  psycho- 
sexuale  Centrum  in  einem  Zustand  von  Hyperästhesie  sich  befindet 
(abnorme  Erregbarkeit  der  Phantasie,  erleichterte  Associationen), 
können  nicht  bloss  optische  und  Tastempfindungen ,  sondern  auch 
solche  des  Gehörs  und  Geruchs  genügen,  um  lascive  Vorstellungen 
hervorzurufen. 

Magnan  (op.  cit.)  berichtet  von  einem  Fräulein,  das  mit  der  Pubertät 
wachsenden  sexuellen  Drang  hatte  und  ihn  durch  Masturbation  befriedigte. 
Allmählig  bekam  die  Dame  beim  Anblick  eines  beliebigen  Mannes  heftige 
sexuelle  Erregung,  und  da  sie  für  sich  nicht  gut  stehen  konnte,  schloss  sie 
sich  jeweils  in  ein  Zimmer  ein,  bis  der  Sturm  sich  gelegt  hatte.  Schliesslich 
gab  sie  sich  beliebigen  Männern  hin,  um  vor  ihrem  quälenden  Trieb  Ruhe  zu 


*)  Bei  Individuen,  bei  welchen  hochgradige  sexuelle  Hyperästhesie  mit 
erworbener  reizbarer  Schwäche  des  sexuellen  Apparates  einhergeht,  kann  es 
sogar  dazu  kommen,  dass  auf  den  blossen  Anblick  gefälliger  weiblicher  Ge- 
stalten hin ,  vom  psychosexualen  Centrum  aus ,  ohne  jede  peiüphere  Reizung 
der  Genitalien,  nicht  allein  der  Erections-,  sondern  auch  der  Ejaculations- 
mechanismus  in  Thätigkeit  gesetzt  wird.  Solche  Individuen  haben  nur  nöthig, 
mit  einem  weiblichen  Vis-a-vis  im  Eisenbahn-Coupe ,  Salon  u.  s.  w.  sich  in 
ideelle  sexuelle  Relation  zu  setzen,  um  zum  Orgasmus  und  zur  Ejaculation  zu 
gelangen. 

Hammond,  op.  cit.  p.  40,  beschreibt  eine  Reihe  derartiger  Fälle, 
welche  wegen  consecutiver  Impotenz  in  seine  Behandlung  kamen,  und  erwähnt, 
dass  die  betreffenden  Individuen  für  diesen  Vorgang  den  Ausdruck  „ ideeller 
Coitus"  gebrauchen.  Herr  Dr.  Moll  in  Berlin  theilte  mir  einen  ganz  gleichen 
Fall  mit ;  auch  dort  wurde  für  den  Vorgang  die  gleiche  Bezeichnung  gewählt. 


Krankhaft  gesteigerter  Geschlechtstrieb.  51 

bekommen,  aber  weder  Coitus  noch  Onanie  brachten  Erleichterung,  so  dass 
sie  in  ein  Irrenhaus  ging. 

Ein  Pendant  ist  eine  Mutter  von  fünf  Kindern ,  die ,  sehr  unglücklich 
über  ihren  sexuellen  Drang,  Suicidversuche  machte,  dann  eine  Irrenanstalt 
aufsuchte.  Dort  besserte  sich  ihr  Zustand,  aber  sie  getraute  sich  nicht  mehr, 
das  Asyl  zu  verlassen. 

Mehrere  prägnante,  Männer  und  Frauen  betreffende  Fälle  siehe  in  des 
Verfassers  Arbeit  „Ueber  gewisse  Anomalien  des  Geschlechtstriebs",  Beob.  6,  7 
(Archiv  für  Psychiatrie  VII,  2),  von  denen  3  und  5  hier  Aufnahme  finden  mögen. 

Beobachtung  10.  Am  7.  Juli  1874  Nachmittags  verliess  der  von  Triest 
in  Geschäftsangelegenheiten  nach  Wien  reisende  Ingenieur  Clemens  in  Brück 
den  Bahnzug,  ging  durch  die  Stadt  nach  dem  nahen  Dorf  St.  Ruprecht  und 
machte  dort  an  einem  70  Jahre  alten,  allein  in  einem  Hause  befindlichen  Weib 
einen  Nothzuchtsversuch.  Er  wurde  von  den  Ortsbewohnern  festgenommen  und 
von  der  Ortspolizei  arretirt.  Er  gab  im  Verhör  an,  die  Wasenmeisterei  auf- 
suchen gewollt  zu  haben,  um  dort  seinen  aufgeregten  Geschlechtstrieb  an 
einer  Hündin  zu  befriedigen.  Er  leide  oft  an  solchen  Geschlechtsaufregungen. 
Er  leugnet  nicht  seine  Handlung,  entschuldigt  sie  mit  Krankheit.  Die  Hitze, 
das  Rütteln  des  Waggons ,  Sorge  um  seine  Familie ,  zu  der  er  sich  begeben 
wollte,  hätten  ihn  verwirrt  und  krank  gemacht.  Scham  und  Reue  waren  nicht 
an  ihm  zu  bemerken.  Sein  Benehmen  war  offen,  seine  Miene  heiter,  die  Augen 
geröthet,  glänzend,  der  Kopf  heiss,  die  Zunge  belegt,  Puls  voll,  weich,  über 
100  Schläge,  die  Finger  etwas  zitternd. 

Die  Angaben  des  Delinquenten  sind  präcise,  aber  hastig,  der  Blick  un- 
sicher, mit  dem  unverkennbaren  Ausdruck  der  Lüsternheit.  Dem  herbeigerufenen 
Gerichtsarzt  macht  er  einen  pathologischen  Eindruck,  wie  wenn  er  sich  im 
Beginn  eines  Säuferwahnsinns  befände. 

Cl.  ist  45  Jahre  alt,  verheirathet,  Vater  eines  Kindes.  Die  Gesundheits- 
verhältnisse seiner  Eltern  und  sonstigen  Familie  sind  ihm  unbekannt. 

In  der  Kindheit  war  er  schwächlich,  neuropathisch.  Mit  5  Jahren  erlitt 
er  eine  Kopfverletzung  durch  einen  Hieb  mit  einer  Haue.  Davon  datirt  eine 
auf  dem  rechten  Scheitel-  und  Stirnbein  sich  befindende  V2"  breite,  über  1" 
lange  Narbe  Der  Knochen  ist  hier  etwas  eingedrückt.  Die  überliegende  Haut 
mit  dem  Knochen  verwachsen. 

An  dieser  Stelle  erzeugt  Druck  Schmerz,  der  in  den  unteren  Ast  des 
Trigeminus  irradiirt.  Auch  spontan  ist  diese  Stelle  häufig  schmerzhaft.  In 
der  Jugend  öfter  Anfälle  von  „Ohnmacht".  Vor  der  Pubertätszeit  Pneumonie, 
Rheumatismus  und  Darmkatarrh. 

Schon  mit  7  Jahren  empfand  er  eine  auffällige  Hinneigung  zu  Männern, 
resp.  zu  einem  Oberst.  Er  empfand  einen  Stich  durchs  Herz,  wenn  er  diesen 
Mann  sah;  küsste  den  Boden,  den  dieser  betreten  hatte.  Mit  10  Jahren  ver- 
liebte er  sich  in  einen  Reichstagsabgeordneten.  Auch  später  schwärmte  er  für 
Männer,  jedoch  in  durchaus  platonischer  Weise.  Vom  14.  Jahre  an  onanirte 
er.  Mit  17  Jahren  erster  Umgang  mit  Frauen.  Damit  verloren  sich  sofort 
die  früheren  Erscheinungen  conträrer  Sexualempfindung.  Damals  auch  ein 
acuter  eigenthümlicher  psychopathischer  Zustand,  den  Cl.  als  eine  Art  Clair- 
voyance  schildert.    Vom  15.  Jahre   an  Hämorrhoidalleiden  mit  Erscheinungen 


52  Hyperaesthesia  sexualis. 

von  Plethora  abdominalis.  Wenn  er,  wie  dies  alle  3—4  Wochen  stattfand, 
profusen  Hämorrhoidalblutfluss  hatte,  befand  er  sich  besser.  Sonst  war  er  be- 
ständig in  einer  peinlichen  geschlechtlichen  Erregung,  der  er  theils  durch 
Onanie,  theils  durch  Coitus  Abhülfe  schuf.  Jedes  Weib,  dem  er  begegnete, 
reizte  ihn.  Selbst  wenn  er  unter  weiblichen  Verwandten  sich  befand,  trieb  es 
ihn,  ihnen  unzüchtige  Anträge  zu  machen.  Zuweilen  gelang  es  ihm,  seiner 
Triebe  Herr  zu  werden,  zu  Zeiten  wurde  er  zu  unzüchtigen  Handlungen  hin- 
gerissen. Wenn  man  ihn  dann  zur  Thüre  hinauswarf,  war  es  ihm  ganz  recht, 
denn  er  bedurfte,  wie  er  meint,  einer  solchen  Correctur  und  Unterstützung 
gegenüber  seinem  übermächtigen  Trieb,  der  ihm  selbst  lästig  war.  Eine  Perio- 
dicität  war  in  diesen  geschlechtlichen  Regungen  nicht  zu  erkennen. 

Bis  zum  Jahre  1861  excedirte  er  in  Venere  und  zog  sich  mehrere  Tripper 
und  Chancres  zu. 

1861  Heirath.  Er  fühlte  sich  geschlechtlich  befriedigt,  fiel  aber  seiner 
Frau  lästig  durch  seine  grossen  Bedürfnisse. 

1864  machte  er  einen  Anfall  von  Manie  im  Spital  zu  F.  durch,  erkrankte 
nochmals  im  gleichen  Jahr  und  wurde  nach  der  Irrenanstalt  X.  gebracht, 
wo  er  bis  1867  blieb. 

Er  litt  dort  an  recidivirender  Manie  mit  grosser  geschlechtlicher  Er- 
regung. Einen  Darmkatarrh  und  Aerger  bezeichnet  er  als  Ursache  seiner  da- 
maligen Erkrankung. 

In  der  Folge  war  er  wohl,  aber  er  litt  sehr  unter  der  Uebermacht  seiner 
geschlechtlichen  Bedürfnisse.  Wenn  er  nur  kurze  Zeit  von  seiner  Frau  ent- 
fernt war,  zeigte  sich  der  Trieb  so  mächtig,  dass  ihm  Mensch  oder  Thier 
ganz  gleich  zur  Befriedigung  seiner  Geschlechtslust  war.  Namentlich  zur 
Sommerszeit  war  es  gar  arg  mit  diesen  Antrieben,  die  immer  mit  einem  starken 
Blutandrang  zum  Unterleib  einhergingen.  Er  meint  auf  Grund  von  medicin. 
Reminiscenzen  aus  medic.  Lektüre,  bei  ihm  überwiege  eben  das  Gangliensystem 
über  das  cerebrale. 

Im  Oetober  1873  musste  er  sich  seines  Berufs  wegen  von  s seinem  Frau 
trennen.  Bis  Ostern ,  ausser  zeitweiser  Onanie ,  keine  geschlechtlichen  Hand- 
lungen. Von  da  an  brauchte  er  Weiber  und  Hündinnen.  Von  Mitte  Juni  bis 
7.  Juli  hatte  er  keine  Gelegenheit  zu  geschlechtlicher  Befriedigung.  Er  fühlte 
sich  nervö3  aufgeregt,  abgespannt,  wie  wenn  er  irre  würde.  Schlief  die  letzten 
Nächte  schlecht.  Die  Sehnsucht  nach  seiner  Frau,  die  in  Wien  lebte,  trieb 
ihn  von  seinem  Dienst  fort.  Er  nahm  Urlaub.  Die  Hitze  unterwegs,  der 
Lärm  der  Eisenbahn  machten  ihn  ganz  confus,  er  konnte  es  vor  geschlecht- 
licher Aufregung  und  Blutwallung  im  Unterleib  nicht  mehr  aushalten,  Alles 
tanzte  ihm  vor  den  Augen.  Da  verliess  er  in  Brück  das  Coupe;  er  sei  ganz 
verwirrt  gewesen,  habe  nicht  gewusst,  wohin  er  gehe,  es  sei  ihm  momentan 
der  Gedanke  gekommen,  sich  ins  Wasser  zu  stürzen,  es  sei  ihm  wie  ein  Nebel 
vor  den  Augen  gewesen.  Mulierem  tunc  adspexit,  penem  nudavit  feminamque 
amplecti  conatus  est.  Diese  schrie  jedoch  um  Hülfe  und  so  wurde  er  ar. 
retirt. 

Nach  dem  Attentat  wurde  es  ihm  plötzlich  klar,  was  er  gethan.  Er 
bekannte  offen  seine  That,  der  er  sich  in  allen  Details  erinnert,  die  ihm  aber 
als  etwas  Krankhaftes  erscheint.     Er  habe  nichts  dafür  gekonnt. 

Ci.   litt   noch   einige   Tage   an  Kopfweh,  Congestionen ,  war  ab  und  zu 


Krankhaft  gesteigerter  Geschlechtstrieb.  53 

aufgeregt,  unruhig,  schlief  schlecht.  Seine  geistigen  Functionen  sind  ungestört, 
jedoch  ist  er  ein  originär  eigenthümlicher  Mensch,  von  schlaffem,  energielosem 
Wesen.  Der  Gesichtsausdruck  hat  etwas  faunartig  Lüsternes  und  Verschrobenes. 
Er  leidet  an  Hämorrhoiden.  Die  Genitalien  bieten  nichts  Abnormes.  Der 
Schädel  ist  im  Stimtheil  schmal  und  etwas  fliehend.  Körper  gross,  gut  ge- 
nährt. Ausser  einer  Diarrhöe  ist  an  ihm  keine  Störung  der  vegetativen  Func- 
tionen bemerkbar. 

Beobachtung  11.  Frau  E.,  47  Jahre.  Onkel  väterlicherseits  war  irr- 
sinnig, Vater  ein  exaltirter  und  in  Venere  excessiver  Mann.  Bruder  der  Pat. 
an  einer  acuten  Hirnaffection  gestorben.  Pat.,  von  Kindheit  auf  nervös,  ex- 
centrisch,  schwärmerisch,  zeigte,  kaum  den  Kinderschuhen  entronnen,  einen  ex- 
cessiven  Geschlechtstrieb  und  ergab  sich  schon  mit  dem  10.  Jahre  dem  Ge- 
schlechtsgenuss.  Mit  19  Jahren  Heirath.  Leidliche  Ehe;  der  sonst  leistungsfähige 
Gemahl  genügte  ihr  nicht,  sie  hatte  bis  auf  die  letzten  Jahre  beständig  ausser 
dem  Manne  noch  mehrere  Freunde.  Sie  war  sich  der  Verwerflichkeit  dieser 
Lebensweise  wohl  bewusst,  fühlte  aber  die  Ohnmacht  ihres  Willens  gegenüber 
dem  unersättlichen  Trieb,  den  sie  äusserlich  wenigstens  geheim  zu  halten 
suchte.     Sie  meinte  später,  sie  habe  eben  an  „Männermanie"  gelitten. 

Pat.  hat  6mal  geboren.  Vor  6  Jahren  Sturz  aus  dem  Wagen  mit  be- 
deutender Hirnerscbütterung.  In  der  Folge  Melancholie  mit  Persecutions- 
delirium,  welche  Krankheit  sie  der  Irrenanstalt  zuführte.  Pat.  nähert  sich  dem 
Klimakterium,  Menses  in  letzter  Zeit  profus  und  zu  häufig.  Seitdem  ihr  selbst 
angenehmes  Zurücktreten  des  früher  übermächtigen  Triebes.  Decentes  Ver- 
halten.    Geringer  Grad  von  Descensus  uteri  und  Prolapsus  ani. 

Die  Hyperaesthesia  sexualis  kann  continuirlich  mit  Exacer- 
bationen vorhanden  sein  oder  intermittirend,  selbst  periodisch.  Im 
letzteren  Fall  ist  sie  eine  cerebrale  Neurose  für  sich  (siehe  specielle 
Pathologie)  oder  Theilerscheinung  eines  allgemeinen  psychischen 
Erregungszustandes  (Manie,  episodisch  bei  Dementia  paralytica, 
senilis  u.  s.  w.). 

Einen  bemerkenswerthen  Fall  von  intermittirender  Satyriasis 
hat  Lentz  (Bulletin  de  la  societe  de  med.  legale  de  Belgique  Nr.  21) 
veröffentlicKt. 

Beobachtung  12.  Seit  3  Jahren  hatte  der  allgemein  geachtete,  ver- 
heirathete  Landwirth  D.,  35  Jahre  alt,  immer  häufigere  und  heftigere  Zustände 
von  geschlechtlicher  Aufregung  geboten,  die  seit  einem  Jahre  sich  zu  wahren 
Paroxysmen  von  Satyriasis  gesteigert  hatten.  Eine  erbliche  oder  sonstige 
organische  Ursache  war  nicht  aufzufinden. 

D.  tempore,  quum  libidinibus  valde  afficeretur,  decim  vel  quindecim 
cohabitationes  per  24  horas  exegit,  neque  tarnen  cupiditates  suas  satiavit. 

Allmählig  entwickelte  sich  bei  ihm  ein  Zustand  allgemeiner  nervöser 
Ueberreiztheit  (erethisme  general)  mit  grosser  Gemüthsreizbarkeit  bis  zu  patho- 
logischen Zornaffecten  und  Drang  zu  Alcoholausschweifung,  die  Symptome  von 


54  Hyperaesthesia  sexualis. 

Alcoholismus  herbeiführte.  Seine  Anfälle  von  Satyriasis  erreichten  solche 
Heftigkeit,  dass  das  Bewusstsein  sich  verdunkelte  und  der  Kranke  in  blindem 
Drang  zu  geschlechtlichen  Akten  sich  hinreissen  Hess.  Qua  de  causa  factum 
est  ut  uxorem  suam  alienis  viris  immovero  animalibus  ad  coeundum  tradi, 
cum  ipso  filiabus  praesentibus  concubitum  exsequi  jusserit,  propterea  quod 
haec  facta  majorem  ipsi  voluptatem  afferent.  Die  Erinnerung  für  die  Ereig- 
nisse auf  der  Höhe  dieser  Anfälle,  in  welchen  die  extreme  Gereiztheit  selbst 
zu  Wuthzornanfällen  führte,  fehlte  gänzlich.  D.  meinte  selbst,  er  habe 
Momente  gehabt,  in  welchen  er  seiner  Sinne  nicht  mehr  mächtig  war  und, 
ohne  Befriedigung  durch  die  Frau,  an  dem  nächstbesten  weiblichen  Individuum 
sich  hätte  vergreifen  müssen.  Nach  einer  heftigen  Gemüthsbewegung  verloren 
sich  mit  einem  Male  diese  geschlechtlichen  Aufregungszustände. 

Wie  mächtig,  bedenklich  und  peinlich  die  sexuelle  Hyperästhesie 
für  mit  dieser  Anomalie  Behaftete  werden  kann,  lehren  folgende 
zwei  Beobachtungen. 

Beobachtung  13.    Hyperaesth.  sexualis.    Delir.  acutum  ex  abstinentia. 

Am  29.  Mai  1882  wurde  F.,  23  Jahre,  ledig,  Schuhmacher,  auf  der  Klinik 
aufgenommen.  Er  stammt  von  jähzornigem  Vater,  neuropathischer  Mutter, 
deren  Bruder  irrsinnig  war. 

Pat.  war  früher  nie  erheblich  krank,  kein  Trinker,  aber  von  jeher  sexuell 
sehr  bedürftig  gewesen.  Vor  5  Tagen  war  er  acut  psychisch  erkrankt.  Er 
machte  am  hellen  Tage  und  vor  Zeugen  2  Nothzuchtsversuche,  delirirte,  ver- 
haftet, nur  von  obscönen  Dingen,  masturbirte  masslos,  gerieth  vom  3.  Tage  ab 
in  zornige  Tobsucht  und  bot  bei  der  Aufnahme  das  Bild  eines  schweren  Deli- 
rium acutum  mit  heftigen  motorischen  Reizerscheinungen  und  Fieber.  Unter 
Ergotinbehandlung  wurde  Genesung  erzielt. 

Am  5.  Januar  1888  zweite  Aufnahme  in  zorniger  Tobsucht.  Am  4.  war 
er  moros,  reizbar,  weinerlich,  schlaflos  geworden,  dann  hatte  er  nach  frucht- 
losen Attaquen  auf  Frauenzimmer  wachsende  zornige  Erregung  geboten. 

Am  6.  Steigerung  des  Zustands  zu  schwerem  Delir.  acutum  (schwere 
Bewusstseinsstörung ,  Jactation,  Zähneknirschen,  Grimassiren  u.  a.  motorische 
Reizerscheinungen,  Temp.  bis  40,7).  Ganz  triebartiges  Masturbiren.  Genesung 
unter  energischer  Ergotinbehandlung  bis  11.  Januar. 

Pat.  gibt  genesen  interessante  Aufschlüsse  über  die  Ursache  seiner  Er- 
krankung. 

Von  jeher  sexuell  sehr  bedürftig.  Erster  Coitus  mit  16  Jahren.  Abstinenz 
machte  Kopfweh,  grosse  psychische  Reizbarkeit,  Mattigkeit,  Nachlass  der 
Arbeitslust,  Schlaflosigkeit.  Da  er  auf  dem  Lande  selten  Gelegenheit  zur  Be- 
friedigung seiner  Bedürfnisse  hatte,  half  er  sich  mit  Masturbation.  Er  musste 
1— 2mal  täglich  masturbiren. 

Seit  2  Monaten  kein  Coitus.  Zunehmende  sexuelle  Erregung,  konnte 
nur  an  Mittel  zur  Befriedigung  seines  Triebes  denken.  Masturbation  genügte 
nicht  zur  Bannung  der  immer  mehr  sich  geltend  machenden  Beschwerden  ex 
abstinentia.  In  den  letzten  Tagen  heftiger  Drang  nach  Coitus,  zunehmende 
Schlaflosigkeit   und   Reizbarkeit.     Für   die  Höhe   der  Erkrankung  nur  summa- 


Krankhaft  gesteigerter  Geschlechtstrieb.  55 

rische  Erinnerung.  Pat.  genesen  im  December,  höchst  anständiger  Mensch. 
Er  fasst  seinen  unbändigen  Trieb  als  entschieden  pathologisch  auf  und  fürchtet 
sich  vor  der  Zukunft. 

Beobachtung  14.  Am  11.  Juli  1884  wurde  R.,  33  Jahre,  Bediensteter, 
mit  Paranoia  persecutoria  und  Neurasthenia  sexualis  aufgenommen.  Mutter  war 
neuropathisch.  Vater  starb  an  Rückenmarkskrankheit.  Von  Kindesbeinen  auf 
mächtiger,  dabei  schon  im  6.  Jahr  bewusst  gewordener  Sexualtrieb.  Seit  dieser 
Zeit  Masturbation,  vom  15.  Jahr  an  faute  de  mieux  Päderastie,  gelegentlich 
sodomitische  Anwandlungen.  Später  Abusus  des  Coitus,  in  der  Ehe  cum  uxore. 
Ab  und  zu  selbst  perverse  Impulse,  Cunnilingus  auszuführen,  der  Frau  Can- 
thariden  beizubringen,  da  ihre  Libido  der  seinigen  nicht  entsprach.  Nach 
kurzer  Ehe  starb  die  Frau.  Pat.  gerieth  in  schlechte  Verhältnisse,  hatte  keine 
Mittel  zu  coitiren.  Nun  wieder  Masturbation,  Benutzung  von  Lingua  canis 
zur  Erzielung  von  Ejaculation.  Zeitweise  Priapismus  und  der  Satyriasis  nahe 
Zustände.  Er  war  dann  gezwungen,  zu  masturbiren,  damit  ihm  nicht  Stuprum 
passire.  Mit  überhandnehmender  sexueller  Neurasthenie  und  hypochondrischen 
Anwandlungen  wohlthätig  empfundene  Abnahme  der  Libido  nimia. 

Ein  klassisches  Beispiel  von  reiner  Hyperaesthesia  sexualis  bietet 
folgender,  für  das  Verständuiss  so  mancher,  theilweise  selbst  ge- 
schichtlich berühmter  Messalinen  werthvolle  Fall,  den  ich  Trelat's 
Folie  lucide  entlehne. 

Beobachtung  15.  Frau  V.  leidet  seit  frühester  Jugend  an  Männersucht. 
Aus  guter  Familie,  feingebildet,  gutmüthig,  sittsam  bis  zum  Erröthen,  war  sie 
schon  als  junges  Mädchen  der  Schreck  ihrer  Familie.  Quandoquidem  sola  erat 
cum  homine  sexus  alterius,  negligens,  utrum  infans  sit  an  vir,  an  senex,  utrum 
pulcher  an  teter,  statim  corpus  nudavit  et  vehementer  libidines  suas  satiari 
rogavit  vel  vim  et  manus  ei  iniecit.  Man  versuchte  sie  durch  Heirath  zu 
curiren.  Maritum  quam  maxime  amavit  neque  tarnen  sibi  temperare  potuit 
quin  a  quolibet  viro,  si  solum  apprehenderat,  seu  servo,  seu  mercennario,  seu 
discipulo  coitum  exposceret. 

Nichts  konnte  sie  von  dem  Drange  curiren.  Selbst  als  sie  Grossmutter 
war,  blieb  sie  Messaline.  Puerum  quondam  duodecim  annos  natum  in  cubi- 
culum  allectum  stuprare  voluit.  Der  Junge  wehrte  sich,  entwich.  Sie  bekam 
eine  derbe  Züchtigung  durch  dessen  Bruder.  Alles  vergebens.  Man  that  sie 
in  ein  Kloster.  Sie  war  dort  ein  Muster  von  guter  Sitte  und  liess  sich  nicht 
das  Mindeste  zu  Schulden  kommen.  Sofort  nach  der  Zurücknahme  begannen 
wieder  die  Skandale.  Die  Familie  verbannte  sie ,  warf  ihr  eine  kleine  Rente 
aus.  Sie  verdiente  durch  ihrer  Hände  Arbeit  das  Nöthige,  ut  amantes  sibi 
emere  possef.  Wer  diese  sauber  gekleidete  Matrone  von  guten  Manieren  und 
liebenswürdigem  Wesen  sah,  konnte  nicht  ahnen,  wie  rücksichtslos  geschlechts- 
bedürftig sie  mit  65  Jahren  noch  war.  Am  17.  Januar  1854  brachte  sie  ihre 
Familie,  verzweifelt  durch  neue  Skandale,  in  die  Irrenanstalt. 

Sie  lebte  dort  bis  zum  Mai  1858,  wo  sie  einer  Apoplexia  cerebri  im 
73.  Lebensjahr   erlag.     Ihr   Benehmen  in   der  Ueberwachung  der  Anstalt  war 


56  Paraesthesia  sexualis. 

musterhaft.  Sich  selbst  überlassen  und  unter  günstiger  Gelegenheit,  traten  bis 
kurz  vor  dem  Tod  die  sexuellen  Dränge  zu  Tage.  Ausgenommen  diese,  ergab 
die  vierjährige  Beobachtung  durch  Irrenärzte  niemals  ein  Zeichen  von  geistiger 
Abnormität. 


D.  Parästhesie  der  Geschlechtsempfindimg  (Perversion  des 
Geschlechtstriebs). 

Hier  findet  eine  perverse  Betonung  sexueller  Vorstellungskreise 
mit  Gefühlen  statt,  insofern  Vorstellungen,  die  physio-psychologisch 
sonst  mit  Unlustgefühlen  betont  sind,  mit  Lustgefühlen  einher- 
gehen, und  zwar  können  diese  abnorm  stark  damit  sich  associiren, 
bis  zur  Höhe  von  Affecten.  Das  praktische  Resultat  sind  perverse 
Handlungen  (Perversion  des  Geschlechtstriebs).  Dies  ist  um  so 
leichter  der  Fall,  wenn  bis  zur  Höhe  von  Affect  gesteigerte  Lust- 
gefühle die  etwa  noch  möglichen  gegensätzlichen  Vorstellungen  mit 
entsprechenden  Unlustgefühlen  hemmen,  oder  aber  solche  durch 
Fehlen  oder  Verlust  von  moralischen,  ästhetischen,  rechtlichen  Vor- 
stellungen überhaupt  nicht  hervorgerufen  werden  können.  Dieser 
Fall  ist  aber  nur  zu  häufig  da  vorhanden,  wo  die  Quelle  ethischer 
Vorstellungen  und  Gefühle  (eine  normale  Geschlechtsempfindung) 
von  jeher  eine  trübe  oder  verpestete  war. 

Als  pervers  muss  —  bei  gebotener  Gelegenheit  zu  natur- 
gemässer  geschlechtlicher  Befriedigung  —  jede  Aeusserung  des 
Geschlechtstriebs  erklärt  werden,  die  nicht  den  Zwecken  äer  Natur, 
i.  e.  der  Fortpflanzung  entspricht.  Die  aus  Parästhesie  entspringen- 
den perversen  geschlechtlichen  Akte  sind  klinisch,  social  und  foren- 
sisch äusserst  wichtig ;  deshalb  muss  auf  sie  hier  näher  eingegangen 
und  jeder  ästhetische  und  sittliche  Ekel  überwunden  werden. 

Perversion  des  Geschlechtstriebs  ist,  wie  sich  unten  ergeben 
wird,  nicht  zu  verwechseln  mit  Perversität  geschlechtlichen  Han- 
delns, denn  dieses  kann  auch  durch  nicht  psychopathologische  Be- 
dingungen hervorgerufen  sein.  Die  concrete  perverse  Handlung,  so 
monströs  sie  auch  sein  mag,  ist  nicht  entscheidend.  Um  zwischen 
Krankheit  (Perversion)  und  Laster  (Perversität)  unterscheiden  zu 
können,  muss  auf  die  Gesammtpersönlichkeit  des  Handelnden  und 
auf  die  Triebfeder  seines  perversen  Handelns  zurückgegangen  werden. 
Darin  liegt  der  Schlüssel  der  Diagnostik  (s.  u.). 

Parästhesie    kann   mit   Hyperästhesie    combinirt    vorkommen. 


Per version  des  Geschlechtstriebs.  57 

Diese  Combination  erscheint  klinisch  als  eine  häufige.  Bestimmt 
sind  dann  sexuelle  Akte  zu  gewärtigen.  Die  perverse  Richtung 
der  Geschlechtsbefriedigung  kann  auf  sexuelle  Befriedigung  am  an- 
deren Geschlecht  und  auf  solche  am  eigenen  abzielen. 

Damit  ergeben  sich  zwei  für  die  Eintheilung  des  zu  behan- 
delnden Stoffes  benutzbare  grosse  Gruppen  von  Perversion  des 
Sexuallebens. 


I.  Geschlechtliche  Neigung  zu  Personen  des  anderen  Geschlechts 
in  perverser  Bethätigung  des  Triebs. 

1)  Verbindung  von  aktiver  Grausamkeit  und  Gewaltthätigkeit  mit 
Wollust  —  Sadismus  1). 

Dass  Wollust  und  Grausamkeit  häufig  mit  einander  verbun- 
den auftreten,  ist  eine  längst  bekannte  und  nicht  selten  zu  be- 
obachtende Thatsache.  Schriftsteller  aller  Richtungen  haben  auf 
diese  Erscheinung  hingewiesen 2).  Noch  innerhalb  der  Breite  des 
Physiologischen  stehen  die  nicht  seltenen  Fälle,  wo  sexuell  sehr 
erregbare  Individuen  während  des  Coitus  den  Consors  beissen  oder 
kratzen  3). 

Schon  ältere  Autoren  haben  auf  den  Zusammenhang  zwischen  Wollust 
und  Grausamkeit  aufmerksam  gemacht. 

Blumröder  (Ueber  Irresein,  Leipzig  1836,  p.  51)  hominem  vidit,  qui 
compluria  vulnera  in  musculo  pectorali  habuit,  quae  femina  valde  libidinosa 
in  summa  voluptate  mordendo  effecit. 

In  einer  Abhandlung  „ Ueber  Lust  und  Schmerz"  (Friedreich's  Ma- 
gazin für  Seelenkunde  1830,  II,  5)  macht  er  speciell  aufmerksam  auf  den 
psychologischen  Zusammenhang  zwischen  Wollust  und  Mordlust.  Er  verweist 
in  dieser  Hinsicht  auf  die  indische  Mythe  von  Siwa  und  Durga  (Tod  und  Wol- 
lust), auf  die  Menschenopfer  mit  wollüstigen  Mysterien,  auf  die  sexuellen  Triebe 


*)  So  genannt  nach  dem  berüchtigten  Marquis  de  Sade,  dessen  obscöne 
Romane  von  Wollust  und  Grausamkeit  triefen.  In  der  französischen  Literatur 
ist  der  Ausdruck  „Sadismus"  zur  Bezeichnung  dieser  Perversion  eingebürgert. 

2)  U.  A.  Novalis  in  seinen  „Fragmenten",  Gör  res,  „Christliche  Mystik", 
Bd.  HI,  S.  460. 

3)  Vergl.  auch  die  berühmten  Verse  Alfred  de  Musset's  an  die  Anda- 
lusierin : 

Qu' eile  est  süperbe  en  son  desordre,  —  quand  eile  tombe,  les  seine  nus  — 
Qu'on  la  voit,  beante,  se  tordre  —  dans  un  baiser  de  rage  et  mordre  — 
En  hurlant  des  mots  inconnus! 


58  Paraesthesia  sexualis. 

in  der  Pubertät  mit  wollüstig  gefühltem  Drang  zum  Selbstmord,  mit  Peitschen, 
Zwicken,  Blutigstechen  der  Genitalien  im  dunklen  Drang  nach  Befriedigung 
der  Geschlechtslust. 

Auch  Lombroso  (Verzeni  e  Agnoletti,  Roma  1874)  bringt  zahlreiche 
Beispiele  für  das  Auftreten  von  Mordlust  bei  hochgesteigerter  Wollust. 

Umgekehrt  tritt  oft,  wenn  die  Mordlust  aufgestachelt  ist,  in 
ihrem  Gefolge  die  Wollust  auf.  Lombroso  führt  op.  cit.  die  von 
Mantegazza  erwähnte  Thatsache  an,  dass  sich  den  Schrecken  einer 
Plünderung  seitens  der  Soldateska  regelmässig  viehische  Wollust 
hinzugeselle  x). 

Diese  Beispiele  stellen  Uebergänge  zu  ausgesprochen  patho- 
logischen Fällen  dar. 

Belehrend  sind  die  Beispiele  entarteter  Cäsaren  (Nero,  Tiberius),  die  sich 
daran  ergötzten,  Jünglinge  und  Jungfrauen  vor  ihren  Augen  abschlachten  zu 
lassen,  nicht  minder  die  Geschichte  jenes  Scheusals,  des  Marschalls  Gilles  de 
Rays  (Jacob,  Curiosites  de  l'histoire  de  France.  Paris  1858),  der  1440  wegen 
Schändung  und  Tödtung,  die  er  während  8  Jahren  an  über  800  Kindern  be- 
gangen hatte,  hingerichtet  wurde.  Wie  dieses  Ungeheuer  bekannte,  war  es 
durch  die  Lektüre  des  Suetonius  und  die  Schilderungen  der  Orgien  eines  Tiber, 
Caracalla  u.  s.  w.  auf  die  Idee  gekommen,  Kinder  in  seine  Schlösser  zu  locken, 
sie  unter  Martern  zu  schänden  und  dann  zu  tödten.  Der  Unmensch  versicherte, 
bei  der  Verübung  dieser  Thaten  eine  unerklärliche  Seligkeit  genossen  zu  haben. 
Er  hatte  dabei  zwei  Helfershelfer.  Die  Leichen  der  unglücklichen  Kinder  wur- 
den verbrannt  und  nur  eine  Anzahl  von  besonders  hübschen  Kinderköpfen 
wurde  —  zum  Andenken  aufbewahrt. 

Beim  Versuch  einer  Erklärung  der  Verbindung  von  Wollust 
und  Grausamkeit  muss  man  auf  die  quasi  noch  physiologischen 
Fälle  zurückgehen,  in  denen,  im  Momente  der  höchsten  Wollust, 
ein  sehr  erregbares,  aber  sonst  normales  Individuum  Akte  wie  Beissen 
und  Kratzen  begeht,  die  sonst  vom  Zorne  eingegeben  werden. 
Erinnert  muss  ferner  daran  werden,  dass  die  Liebe  und  der  Zorn 
nicht   nur   die   beiden    stärksten  Affecte,    sondern   auch   die  beiden 


*)  In  der  Exaltation  des  Kampfes  drängt  sich  die  Vorstellung  der  Exal- 
tation der  Wollust  ins  Bewusstsein.  Vgl.  bei  Grillparzer  die  Schilderung 
einer  Schlacht  durch  einen  Krieger: 

„Und  als  nun  erschallt  das  Zeichen,  —  beide  Heere  sich  erreichen,  — 
Brust  an  Brust,  —  Götterlust!  —  herüber,  hinüber,  —  jetzt  Feinde,  jetzt 
Brüder  —  streckt  der  Mordstahl  nieder.  —  Empfangen  und  Geben  —  den 
Tod  und  das  Leben  —  im  wechselnden  Tausch  —  wild  taumelnd  im  Rausch!" 

Traum  ein  Leben,  1.  Akt. 


Sadismus.  59 

allein  möglichen  Formen  des  rüstigen  (sthenischen)  Affects  sind. 
Beide  suchen  ihren  Gegenstand  auf,  wollen  sich  seiner  bemächtigen 
und  entladen  sich  naturgemäss  in  einer  körperlichen  Einwirkung 
auf  denselben;  beide  versetzen  die  psychomotorische  Sphäre  in  die 
heftigste  Erregung  und  gelangen  mittelst  dieser  Erregung  zu  ihrer 
normalen  Aeusserung. 

Von  diesem  Standpunkte  aus  wird  es  begreiflich,  dass  die 
Wollust  zu  Handlungen  treibt,  die  sonst  dem  Zorn  adäquat  sind 1). 
Sie  ist  wie  dieser  ein  Exaltationszustand,  eine  mächtige  Erregung 
der  gesammten  psychomotorischen  Sphäre.  Daraus  entsteht  ein 
Drang,  gegen  das  Object,  welches  den  Reiz  hervorruft,  auf  alle 
mögliche  Weise  und  in  der  intensivsten  Art  zu  reagiren.  So  wie 
die  maniakalische  Exaltation  leicht  in  furibunde  Zerstörungssucht 
übergeht,  so  erzeugt  die  Exaltation  des  geschlechtlichen  Affects 
manchmal  einen  Drang,  die  allgemeine  Erregung  in  sinnlosen  und 
scheinbar  feindseligen  Akten  zu  entladen.  Diese  stellen  sich  gewisser- 
massen  als  psychische  Mitbewegungen  dar;  es  handelt  sich  aber 
nicht  etwa  um  eine  blosse  unbewusste  Erregung  der  Muskelinner- 
vation  (was  als  blindes  Umsichschlagen  nebenbei  auch  vorkommt), 
sondern  um  eine  wahre  Hyperbulie,  um  den  Willen,  auf  das  Indi- 
viduum, von  dem  der  Reiz  ausgeht,  eine  möglichst  starke  Wirkung 
auszuüben.  Das  stärkste  Mittel  dazu  ist  aber  die  Zufügung  von 
Schmerz. 

Von  solchen  Fällen  der  Schmerzzufügung  im  höchsten  Affecte 
der  Wollust  ausgehend,  gelangt  man  zu  Fällen,  in  denen  es  zur 
ernstlichen  Misshandlung,  zur  Verwundung  und  selbst  zur  Tödtung 
des  Opfers  kommt2).  In  diesen  Fällen  ist  der  Trieb  zur  Grausam- 
keit, der  den  wollüstigen  Affect  begleiten  kann,  in  einem  psycho- 
pathischen Individuum  ins  Masslose  gewachsen,  während  anderer- 
seits wegen  Defectuosität  der  moralischen  Gefühle  alle  normalen 
Hemmungen  entfallen  oder  sich  zu  schwach  erweisen. 

Derartige  monströse  —  sadistische  Handlungen  haben  aber 
beim  Manne,    bei  welchem   sie  weit  häufiger  vorkommen   als  beim 


J)  Schulz,  Wiener  med.  Wochenschrift  1869,  Nr.  49,  berichtet  einen 
merkwürdigen  Fall  von  einem  28jährigen  Mann,  der  mit  seiner  Frau  den  Coitus 
nur  dann  vollziehen  konnte ,  wenn  er  sich  vorher  künstlich  in  die  Stimmung 
des  Zornes  versetzte. 

2)  Ueber  analoge  Vorkommnisse  bei  brünstigen  Thieren  s.  Lombroso 
(Der  Verbrecher,  übers,  v.  Fränkel  p.  18). 


(50  Paraesthesia  sexualis. 

Weibe,    noch   eine   zweite    starke  Wurzel   in   physiologischen  Ver- 
hältnissen. 

Im  Verkehr  der  Geschlechter  kommt  dem  Manne  die  aetive, 
selbst  aggressive  Rolle  zu,  während  das  Weib  passiv,  defensiv  sich 
verhält1).  Für  den  Mann  gewährt  es  einen  grossen  Reiz,  das 
Weib  sich  zu  erobern,  es  zu  besiegen,  und  in  der  Ars  amandi  bildet 
die  Züchtigkeit  des  in  der  Defensive  bis  zum  Zeitpunkte  der  Hin- 
gebung verharrenden  Weibes  ein  Moment  von  hoher  psychologischer 
Bedeutung  und  Tragweite.  Unter  normalen  Verhältnissen  sieht  sich 
also  der  Mann  einem  Widerstände  gegenüber,  welchen  zu  über- 
winden seine  Aufgabe  ist  und  zu  dessen  Ueberwindung  ihm  die 
Natur  den  aggressiven  Charakter  gegeben  hat.  Dieser  aggressive 
Charakter  kann  aber  unter  pathologischen  Bedingungen  gleichfalls 
ins  Masslose  wachsen  und  zu  einem  Drange  werden,  sich  den  Gegen- 
stand seiner  Begierden  schrankenlos  zu  unterwerfen,  bis  zur  Ver- 
nichtung, Tödtung  desselben 2) 3). 


J)  Auch  bei  den  Thieren  ist  es  regelmässig  das  Männchen,  welches  das 
Weibchen  mit  Liebesanträgen  verfolgt.  Verstellte  oder  ernstliche  Flucht  des 
Weibchens  ist  nicht  selten  zu  beobachten;  dann  kommt  es  zu  einem  ähnlichen 
Verhältniss  wie  zwischen  Raubthier  und  Beutethier. 

2)  Die  Eroberung  des  Weibes  findet  heutzutage  in  der  civilen  Form  der 
Courmacherei,  Verführung,  List  u.  s.  w.  statt.  Aus  der  Culturgeschichte  und 
der  Anthropologie  wissen  wir,  dass  es  Zeiten  gab  und  noch  Völker  gibt,  in 
welchen  die  brutale  Gewalt,  der  Raub,  selbst  die  Wehrlosmachung  des  Weibes 
durch  Keulenschläge  die  Liebesbewerbung  ersetzte.  Es  ist  möglich,  dass  atavisti- 
sche Rückschläge  in  derartige  Neigungen  zu  Ausbrüchen  des  Sadismus  beitragen. 

3)  In  den  Jahrbüchern  für  Psychologie  II  p.  128  referirt  Schäfer  (Jena) 
über  zwei  Krankheitsberichte  A.  Payer's.  In  dem  ersten  Falle  wurden  Zu- 
stände höchster  sexueller  Erregung  durch  den  Anblick  von  Kampfscenen,  selbst 
gemalten,  ausgelöst ;  in  dem  anderen  durch  grausame  Quälereien  kleiner  Thiere 
(s.  unten  p.  72).  Referent  fügt  hinzu:  „Kampflust  und  Mordgier  sind  in  der 
ganzen  Thierreihe  so  überwiegend  ein  Attribut  des  männlichen  Geschlechts, 
dass  ein  engster  Zusammenhang  dieser  Seite  männlicher  Neigungen  mit  der 
rein  sexuellen  wohl  ausser  Frage  steht.  Ich  glaube  übrigens  auf.  Grund  ein- 
wandfreier Beobachtungen  constatiren  zu  dürfen,  dass  auch  bei  psychisch  und 
sexuell  vollkommen  gesunden  männlichen  Personen  die  ersten  dunklen  und 
unverstandenen  Vorboten  sexueller  Regungen  durch  die  Lektüre  aufregender 
Jagd-  und  Kampfscenen  ausgelöst  werden  können,  resp.  in  unbewusstem  Drange 
nach  einer  Art  Befriedigung  zu  kriegerischen  Knabenspielen  (Ringkämpfen) 
Veranlassung  geben,  in  denen  ja  auch  der  Fundamentaltrieb  des  Geschlechts- 
lebens nach  möglichst  extensiver  und  intensiver  Berührung  des  Partners  mit 
dem  mehr  oder  weniger  deutlichen  Hintergedanken  der  Ueberwältigung  zum 
Ausdruck  kommt." 


Sadismus.  61 

Treffen  diese  beiden  constituirenden  Elemente,  der  abnorm 
gesteigerte  Drang  nach  einer  heftigen  Reaction  .  gegen  den  Gegen- 
stand des  Reizes  und  das  krankhaft  gesteigerte  Bedürfniss ,  sich 
das  Weib  zu  unterwerfen ,  zusammen,  so  wird  es  zu  den  heftigsten 
Ausbrüchen  des  Sadismus  kommen. 

Sadismus  ist  also  nichts  Anderes  als  eine  pathologische  Steige- 
rung von  —  andeutungsweise  auch  unter  normalen  Umständen  mög- 
lichen —  Begleiterscheinungen  der  psychischen  Vita  sexualis,  ins- 
besondere der  männlichen,  ins  Masslose  und  Monströse.  Es  ist 
aber  selbstverständlich  durchaus  nicht  nothwendig  und  durchaus 
nicht  die  Regel,  dass  das  sadistische  Individuum  sich  dieser  Elemente 
seines  Triebs  bewusst  sei.  Was  es  empfindet,  ist  in  der  Regel 
nur  der  Drang  nach  grausamen  und  gewaltthätigen  Handlungen 
am  entgegengesetzten  Geschlecht  und  die  Betonung  der  Vorstellung 
solcher  Akte  mit  wollüstigen  Empfindungen.  Daraus  ergibt  sich 
ein  mächtiger  Impuls,  die  vorgestellten  Handlungen  wirklich  zu 
begehen.  Insofern  die  eigentlichen  Motive  dieses  Dranges  dem 
Handelnden  nicht  bewusst  werden,  tragen  die  sadistischen  Akte 
den  Charakter  impulsiver  Handlungen. 

Wenn  die  Association  zwischen  Wollust  und  Grausamkeit 
vorhanden  ist,  so  weckt  nicht  nur  der  wollüstige  Affect  den  Drang 
zur  Grausamkeit,  sondern  auch  umgekehrt:  Vorstellung  und  be- 
sonders der  Anblick  grausamer  Handlungen  wirken  sexuell  er- 
regend und  werden  in  diesem  Sinne  vom  perversen  Individuum 
benützt *). 

Eine  empirische  Unterscheidung  zwischen  originären  und  er- 
worbenen Fällen  von  Sadismus  ist  nicht  durchführbar.  Viele  ab 
origine  belastete  Individuen  bieten  geraume  Zeit  hindurch  Alles 
auf,  um  ihren  perversen  Trieben  zu  widerstehen.  Ist  die  Potenz 
noch  vorhanden,  so  führen  sie  anfangs,  oft  mit  Zuhülfenahme  inner- 
licher Vorstellungen  perverser  Art,  eine  normale  Vita  sexualis. 
Später  erst,  nach  allmähliger  Ueberwindung  der  ethischen  und 
ästhetischen  Gegenmotive  und  nach  immer  wiederholter  Erfahrung, 
dass  der  normale  Akt  nicht  voll  befriedigt,  kommt  es  zum  Durch- 
bruch des  krankhaften  Triebes  nach  aussen.  Durch  diese  späte 
Umsetzung  einer  originären  perversen  Anlage  in  Handlungen  kann 


*)  Es  kommt  auch  vor,  dass  eine  zufällige  Wahrnehmung  von  Blut- 
vergiessen  u.  dgl.  den  präformirten  psychischen  Mechanismus  des  Sadisten  erst 
in  Bewegung  3etzt  und  den  latenten  perversen  Trieb  weckt. 


(32  Paraesthesia  sexualis. 

der  Schein  einer  erworbenen  Perversion  vorgetäuscht  werden.  A  priori 
ist  aber  anzunehmen,  dass  dieser  psychopathische  Zustand  stets  ab 
origine  besteht.     Die  Begründung  dieser  Annahme  s.  unten. 

Die  sadistischen  Akte  sind  dem  Grade  ihrer  Monstrosität  nach 
verschieden,  je  nach  der  Macht  des  perversen  Triebs  über  das  er- 
griffene Individuum  und  der  Stärke  der  noch  vorhandenen  Wider- 
stände, welche  fast  immer  durch  originäre  ethische  Defecte,  erbliche 
Degenerescenz,  moralisches  Irresein,  mehr  oder  minder  herabgesetzt 
sind.  So  entsteht  eine  lange  Reihe  von  Formen,  welche  mit  den 
schwersten  Verbrechen  beginnt  und  bei  läppischen  Handlungen 
endigt,  die  dem  perversen  Bedürfnisse  des  Sadisten  eine  bloss  sym- 
bolische Befriedigung  gewähren  sollen. 

Die  sadistischen  Akte  können  ferner  noch  ihrer  Art  nach 
unterschieden  werden,  je  nachdem  sie  entweder  nach  consumirtem 
Coitus,  durch  welchen  die  Libido  nimia  noch  nicht  gesättigt  ist» 
vorgenommen  werden,  oder  bei  gesunkener  Potenz  präparatorisch 
zur  Aufstachelung  der  gesunkenen  Kraft  verwendet  werden,  oder 
endlich  bei  gänzlich  fehlender  Potenz  als  Aequivalent  an  die  Stelle 
des  unmöglich  gewordenen  Coitus,  zur  Erzielung  der  Ejaculation 
treten.  In  den  beiden  letzteren  Fällen  besteht  jedoch  trotz  der 
Impotenz  noch  heftige  Libido,  oder  hat  wenigstens  beim  betreffenden 
Individuum  zur  Zeit  bestanden,  als  sadistische  Akte  gewohnheits- 
mässig  wurden.  Sexuelle  Hyperästhesie  ist  immer  als  Basis  sadi- 
stischer Neigungen  zu  betrachten.  Die  Impotenz,  welche  bei  den 
hier  in  Betracht  kommenden  psycho-  und  neuropathischen  In- 
dividuen, in  Folge  ihrer  meistens  von  früher  Jugend  an  geübten 
Excesse,  so  häufig  ist,  wird  in  der  Regel  spinale  Schwäche  sein. 
Manchmal  mag  auch  eine  Art  psychischer  Impotenz  eintreten,  durch 
die  Concentration  des  Denkens  auf  den  perversen  Akt,  neben 
welchem  das  Bild  der  normalen  Befriedigung  verblasst. 

Wie  immer  die  That  äusserlich  beschaffen  sein  mag,  für  ihr 
Verständniss  wesentlich  ist  immer  die  seelisch-perverse  Veranlagung 
und  Triebrichtung  des  Thäters. 

a)  Lustmord1)  (Wollust,  potenzirt  als  Grausamkeit,  Mord- 
lust bis  zur  Anthropophagie). 

Am  grässlichsten,  aber  auch  am  bezeichnendsten  für  den  Zu- 
sammenhang zwischen  Wollust  und  Mordlust   ist  der  Fall  des  An- 

')  Vgl.  Metzger's  ger.  Arzneiw.,  herausgegeben  von  Reraer,   p.  539. 


Sadismus.  63 

dreas  Bichel,  den  Feuerbach  in  seiner  „aktenmässigen  Darstellung 
merkwürdiger  Verbrechen"  veröffentlicht  hat. 

B.  puellas  stupratas  necavit  et  dissecuit.  Bezüglich  des  Mordes  eines 
seiner  Opfer  äusserte  er  sich  folgendermassen  im  Verhör: 

„Ich  habe  ihr  die  Brust  geöffnet  und  mit  einem  Messer  die  fleischigen 
Theile  des  Körpers  durchschnitten.  Darauf  habe  ich  mir  diese  Person,  wie 
der  Metzger  das  Vieh,  zugerichtet  und  habe  den  Körper  mit  dem  Beil  von 
einander  gehackt,  so  wie  ich  ihn  für  das  Loch  brauchen  konnte,  das  ich  zum 
Einscharren  auf  dem  Berg  gemacht  hatte.  Ich  kann  sagen,  dass  ich  während 
des  Oeffnens  so  gierig  war,  dass  ich  zitterte  und  mir  ein  Stück  wollte  heraus- 
geschnitten und  gegessen  haben." 

Auch  Lombroso  (Geschlechtstrieb  und  Verbrechen  in  ihren  gegen- 
seitigen Beziehungen,  Goltdammer's  Archiv  Bd.  30)  führt  bezügliche  Fälle 
an,  so  einen  gewissen  Philippe,  der  die  Freudenmädchen  post  actum  zu  er- 
würgen pflegte  und  meinte:  „Die  Weiber  habe  ich  lieb,  aber  es  macht  mir 
Spass,  sie  zu  erwürgen,  nachdem  ich  sie  genossen." 

Ein  gewisser  Grassi  (Lombroso  op.  cit.  p.  12)  wurde  Nachts  von  ge- 
schlechtlicher Begierde  gegen  eine  Verwandte  ergriffen.  Durch  ihren  Wider- 
stand gereizt,  versetzte  er  ihr  mehrere  Messerstiche  in  den  Unterleib,  und  da 
der  Vater  und  der  Onkel  der  Unglücklichen  ihn  zurückhalten  wollten,  erschlug 
er  auch  diese.  Deinde  statim  ad  meretricem  properavit,  ut  in  eius  amplexu 
libidinem  suam  ardentem  satiaret.  Doch  das  genügte  nicht.  Er  mordete 
dann  noch  seinen  Vater  und  tödtete  mehrere  Ochsen  im  Stalle. 

Dass  eine  grössere  Anzahl  von  sog.  Lustmorden  auf  Hyperästhesie 
in  Verbindung  mit  Paraesthesia  sexualis  beruhen,  ist  nach  allem 
Vorausgehenden  nicht  zu  bezweifeln. 

So  kann  es  auf  Grund  perverser  Gefühlsbetonung  zu  weiteren 
Akten  der  Brutalität  gegen  den  Leichnam  kommen,  so  z.  B.  zum 
Zerstücken  desselben,  wollüstigem  Wühlen  in  dessen  Eingeweiden. 
Schon  der  Fall  Bichel  deutet  diese  Möglichkeit  an. 

Ein  Beispiel  aus  neuerer  Zeit  ist  Menesclou  (Annales  d'hygiene 
publique),  von  Lasegue,  Brouardel,  Motet  begutachtet,  für 
geistig  gesund  erklärt  und  hingerichtet. 

Beobachtung  16.  Am  15.  April  1880  verschwand  ein  vierjähriges 
Mädchen  aus  der  Wohnung  seiner  Eltern.  Am  16.  verhaftete  man  Menesclou, 
einen  der  Miether  des  Hauses.  In  seinen  Taschen  fand  man  die  Vorderarme 
des  Kindes,  aus  dem  Ofen  zog  man  den  Kopf  und  Eingeweide  halb  verkohlt 
hervor.  Auch  im  Abort  fanden  sich  Theile  der  Leiche.  Die  Genitalien  wurden 
nicht  aufgefunden.     M. ,   über  ihren  Verbleib   gefragt,    wurde   verlegen.    Die 


Klein's  Annalen  X,  p.  176,   XVIII,   p.  311.     Heinroth,   System  der  psych, 
ger.  Med.  p.  270.     Neuer  Pitaval  1855.  23.  Th.  (Fall  Blaize  Ferrage). 


(34  Paraesthesia  sexualis. 

Umstände,  sowie  ein  bei  ihm  gefundenes  schlüpfriges  Gedicht  Hessen  keinen 
Zweifel,  dass  er  das  Kind  geschändet  und  dann  ermordet  hatte.  M.  äusserte 
keine  Reue,  seine  That  sei  eben  ein  Unglück.  Die  Intelligenz  ist  beschränkt. 
Er  bietet  keine  anatomischen  Degenerationszeichen,  ist  schwerhörig,  skrophulös. 

M.,  20  Jahre  alt,  litt  im  Alter  von  9  Monaten  an  Convulsionen;  später 
litt  er  an  unruhigem  Schlaf,  Enuresis  nocturna,  war  nervös,  entwickelte  sich 
verspätet  und  mangelhaft.  Von  der  Pubertät  an  wurde  er  reizbar,  zeigte 
schlimme  Neigungen,  war  faul,  ungelehrig,  in  allen  Beschäftigungen  unbrauch- 
bar. Selbst  im  Correctionshause  wurde  er  nicht  besser.  Man  that  ihn  zur 
Marine,  auch  dort  that  er  nicht  gut.  Heimgekehrt,  bestahl  er  seine  Eltern, 
trieb  sich  in  schlechter  Gesellschaft  herum.  Den  Weibern  lief  er  nicht  nach, 
der  Onanie  war  er  eifrig  ergeben,  gelegentlich  sodomisirte  er  Hündinnen. 
Seine  Mutter  litt  an  Mania  menstrualis  periodica,  ein  Onkel  war  irrsinnig, 
ein  anderer  trunksüchtig. 

Bei  der  Untersuchung  von  M.'s  Gehirn  erwiesen  sich  beide  Stirnlappen, 
die  erste  und  zweite  Schläfenwindung,  sowie  ein  Theil  der  Occipitalwindungen 
krankhaft  verändert. 

Beobachtung  17.  Commis  Alton  in  England  geht  vor  die  Stadt 
spazieren.  Er  lockt  ein  Kind  in  ein  Gebüsch,  kehrt  nach  einer  Weile  zurück 
und  geht  auf  sein  Bureau ,  wo  er  die  Notiz  „Killed  to-day  a  young  girl,  it 
was  fine  and  hot"  in  sein  Tagebuch  macht. 

Man  vermisst  das  Kind,  sucht  es,  findet  es  in  Stücke  zerfetzt;  manche 
Theile,  darunter  die  Genitalien,  sind  nicht  auffindbar.  A.  zeigte  nicht  die 
geringste  Spur  von  Gemüthsbewegung  und  gab  keine  Aufschlüsse  über  Motive 
und  Umstände  seiner  schrecklichen  That. 

Er  war  ein  psychopathischer  Mensch,  hatte  zeitweise  Depressionszustände 
mit  Taedium  vitae. 

Sein  Vater  hatte  einen  Anfall  von  acuter  Manie  gehabt,  ein  naher  Ver- 
wandter litt  an  Manie  mit  Mordtrieben.     A.  wurde  hingerichtet. 

In  derartigen  Fällen  kann  es  geschehen ,  dass  sogar  Gelüste 
nach  dem  Fleisch  des  ermordeten  Opfers  auftreten  und  dass  in 
Folgegebung  dieser  perversen  Betonung  der  bezüglichen  Vorstellung 
Theile  der  Leiche  verzehrt  werden. 

Beobachtung  18.  Leger,  Winzer,  24  Jahre  alt,  von  Jugend  auf  finster, 
verschlossen,  leutscheu,  geht  fort,  um  eine  Stelle  zu  suchen.  Er  treibt  sich 
8  Tage  in  einem  Walde  herum,  puellam  apprehendit  XII  annorum:  stupratae 
genitalia  mutilat,  cor  eripit,  isst  davon,  trinkt  das  Blut  und  verscharrt  den 
Leichnam.  Verhaftet,  leugnet  er  anfangs,  gesteht  aber  endlich  sein  Verbrechen 
mit  cynischer  Kaltblütigkeit.  Er  hört  sein  Todesurtheil  gleichgültig  an  und 
wird  hingerichtet.  Esquirol  fand  bei  der  Section  krankhafte  Verwachsungen 
zwischen  Hirnhäuten  und  Gehirn  (Georget,  Darstellung  der  Processe  Leger, 
Feldtmann  etc.,  übersetzt  von  Amelung,  Darmstadt  1827). 

Beobachtung  19.  Tirsch,  Siechenhauspfründner  in  Prag,  55  Jahre 
alt,  von  jeher  verschlossen,  eigentümlich,  roh,  höchst  reizbar,  mürrisch,  räch- 


Sadismus.  65 

süchtig,  wegen  Nothzuchtsversuch  an  einem  10jährigen  Mädchen  zu  20  Jahren 
verurtheilt,  hatte  in  letzter  Zeit  durch  Wuthausbrüche  aus  geringem  Anlass 
und  durch  Taedium  vitae  Aufmerksamkeit  erregt. 

1864,  nach  Abweisung  eines  einer  Wittwe  gemachten  Heirathsantrags, 
hatte  er  einen  Hass  gegen  die  Frauenzimmer  gefasst  und  trieb  sich  am  8.  Juli 
herum,  in  der  Absicht,  eine  von  diesem  verhassten  Geschlecht  zu  tödten. 

Vetulam  occurentem  in  silvam  allexit,  coitum  poposcit,  renitentem  pro- 
stravit,  jugulum  feminae  compressit  „furore  captus".  Cadaver  virga  betulae 
desecta  verberare  voluit  nequetamen  id  perfecit,  quia  conscientia  sua  haec 
fieri  vetuit,  cultello  mammas  et  genitalia  desecta  domi  cocta  proximis  diebus 
cum  globis  comedit.  Am  12.  September  bei  der  Verhaftung  fand  man  noch 
Reste  dieses  grauenvollen  Mahles  vor.  Er  motivirte  seine  Handlung  mit  „inner- 
licher Gier",  wünschte  selbst  seine  Hinrichtung,  da  er  ja  immer  ein  Verstossener 
gewesen  sei.  In  der  Haft  enorme  Gemüthsreizbarkeit,  gelegentlich  Wuth- 
ausbruch, der  mehrtägige  Beschränkung  nöthig  machte  und  mit  Nahrungs- 
weigerung einherging.  Es  wurde  aktenmässig  constatirt,  dass  die  meisten 
seiner  früheren  Excesse  mit  Ausbrüchen  von  Aufregung  und  Wuth  zusammen- 
fielen (Maschka,  Prager  Vierteljahrsschrift  1886,  I,  p.  79;  Gauster  bei 
Maschka,  Handb.  der  ger.  Medicin,  IV,  p.  489). 

In  die  Reihe  dieser  psycho-sexualen  Monstra  gehört  wohl  auch 
der  Frauenmörder  von  Whitechapel 1).  Das  regelmässige  Fehlen 
von  Uterus,  Ovarien  und  Labien  bei  den  (10)  Opfern  dieses  modernen 
„Blaubart"  spricht  überdies  für  die  Annahme,  dass  er  in  Anthropo- 
phagie noch  weitergehende  Befriedigung  sucht  und  findet. 

In  anderen  Fällen  von  Lustmord  unterbleibt  aus  physischen 
oder  psychischen  Gründen  (s.  oben)  das  Stuprum,  und  das  sadistische 
Verbrechen  tritt, allein  als  Ersatz  für  den  Coitus  auf. 

Das  Prototyp  solcher  Fälle  ist  der  folgende  Fall  des  Verzeni. 
Das  Leben  seiner  Opfer  hing  von  dem  raschen  oder  tardiven  Ein- 
treten der  Ejaculation  ab.  Da  dieser  denkwürdige  Fall  Alles  bietet, 
was  die  gegenwärtige  Wissenschaft  über  den  Zusammenhang  von 
Wollust  mit  Mordlust  bis  zur  Anthropophagie  kennt,  so  möge  er, 
zumal  da  er  gut  beobachtet  ist,  ausführliche  Erwähnung  finden. 

Beobachtung  20.  Vincenz  Verzeni,  geb.  1849,  seit  dem  11.  Januar 
1872  in  Haft,  ist  angeklagt  1)  der  versuchten  Erdrosselung  seiner  Muhme 
Marianne,  als  dieselbe  vor  vier  Jahren  krank  zu  Bette  lag;  2)  des  gleichen 
Verbrechens  an  der  27jährigen  Ehefrau  Arsuffi ;  3)  der  versuchten  Erdrosselung 
der  Ehefrau  Gala,  indem  er  ihr  die  Kehle  zudrückte,  während  er  auf  ihrem 
Leib  kniete;  4)  ausserdem  verdächtig  folgender  Mordthaten: 


*)  Vgl.  u.  A.  Spitzka,   The  Journal   of  nervous   and  mental  Disease, 
Dec.  1888;  Kiernan,  The  medical  Standard,  Nov.-Dec.  1888. 

v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  5 


QQ  Paraesthesia  sexualis. 

Im  December  begab  sich  die  14jährige  Johanna  Motta  Morgens  zwischen 
7  und  8  Uhr  auf  ein  benachbartes  Dorf.  Da  sie  nicht  zurück  kam,  ging  ihr 
Dienstherr  aus,  um  sie  zu  suchen,  und  fand  ihren  Leichnam  in  der  Nähe  des 
Dorfes  an  einem  Feldweg,  durch  eine  Unzahl  von  Wunden  greulich  verstümmelt. 
Die  Gedärme  und  Genitalien  waren  aus  dem  geöffneten  Leibe  herausgerissen 
und  fanden  sich  in  der  Nähe.  Die  Nacktheit  der  Leiche,  Erosionen  an  deren 
Schenkeln  Hessen  ein  unsittliches  Attentat  vermuthen,  der  mit  Erde  gefüllte 
Mund  deutete  auf  Erstickung.  In  der  Nähe  der  Leiche  unter  einem  Stroh- 
haufen fanden  sich  ein  abgerissenes  Stück  der  rechten  Wade  und  Kleidungs- 
stücke vor.     Der  Thäter  blieb  unermittelt. 

Am  28.  August  1871  früh  Morgens  ging  die  28jährige  Ehefrau  Frigeni 
aufs  Feld.  Da  sie  um  8  Uhr  nicht  zurück  war,  ging  ihr  Mann  fort,  sie  zu 
holen.  Er  fand  sie  als  Leiche  nackt  auf  dem  Feld,  mit  einer  von  Erdrosse- 
lung herrührenden  Strangrinne  am  Hals ,  mit  zahlreichen  Verletzungen ,  auf- 
geschlitztem Bauch  und  heraushängenden  Därmen. 

Am  29.  August,  Mittags,  als  Maria  Previtali,  19  Jahre  alt,  übers  Feld 
ging,  wurde  sie  von  ihrem  Vetter  Verzeni  verfolgt,  in  ein  Getreidefeld  ge- 
schleppt, zu  Boden  geworfen  und  am  Halse  gewürgt.  Als  er  sie  einen  Moment 
losliess,  um  zu  spähen,  ob  Niemand  in  der  Nähe  sei,  erhob  sich  das  Mädchen 
und  erreichte  durch  sein  flehentliches  Bitten,  dass  V.  es  laufen  Hess,  nachdem 
er  ihm  während  einiger  Zeit  noch  die  Hände  zusammengepresst  hatte. 

V.  wurde  vor  Gericht  gestellt.  Er  ist  22  Jahre  alt,  sein  Schädel  über 
mittelgross,  asymmetrisch.  Das  rechte  Stirnbein  ist  schmäler  und  niedriger  als 
das  linke,  der  Stirnhöcker  rechts  wenig  entwickelt,  das  rechte  Ohr  kleiner 
als  das  linke  (um  1  cm  in  der  Höhe  und  3  in  der  Breite) ;  beide  Ohren  er- 
mangeln der  unteren  Hälfte  des  Helix,  die  rechte  Schläfenarterie  ist  etwas  athero- 
matös.  Stiernacken,  enorme  Entwicklung  des  Os  zygomat.  und  des  Unter- 
kiefers, Penis  sehr  entwickelt,  Frenulum  fehlend  ;  leichter  Strabismus  alternans 
divergens  (Insuffizienz  der  Mm.  recti  interni  und  Myopie).  Lombroso  schliesst 
aus  diesen  Degenerationszeichen  auf  eine  angeborene  Bädungshemmung  des 
rechten  Stirnlappens.  Wie  es  scheint,  ist  Verzeni  ein  Hereditarier  —  zwei 
Onkel  sind  Cretins,  ein  dritter  ist  mikrocephal,  bartlos,  ein  Hode  fehlend,  der 
andere  atrophisch.  Der  Vater  bietet  Spuren  von  peUagröser  Entartung  und 
hatte  einen  Anfall  von  Hypochondria  pellagrosa.  Ein  Vetter  litt  an  Hyperaemia 
cerebri,  ein  anderer  ist  Gewohnheitsdieb. 

Verzeni's  FamiHe  ist  bigott,  von  schmutzigem  Geiz.  Er  selbst  zeigt  ge- 
wöhnliche Intelligenz,  weiss  sich  gut  zu  vertheidigen,  sucht  sein  Alibi  zu  be- 
weisen, Andere  zu  verdächtigen.  In  seiner  Vergangenheit  findet  sich  nichts, 
was  auf  Geisteskrankheit  deutet;  sein  Charakter  ist  übrigens  auffällig;  er  ist 
schweigsam,  Hebt  die  Einsamkeit.  Im  Gefängniss  cynisch,  Masturbant;  sucht 
sich  um  jeden  Preis  den  Anblick  von  Weibern  zu  verschaffen. 

V.  gestand  endlich  seine  Thaten  und  deren  Motive  ein.  Ihre  Begehung 
habe  ihm  ein  unbeschreiblich  angenehmes  (wollüstiges)  Gefühl  verschafft,  das 
von  Erection  und  Samenergiessung  begleitet  war.  Schon  wenn  er  seine  Opfer 
am  Halse  kaum  berührt  hatte,  stellten  sich  sexuelle  Empfindungen  ein.  Es 
sei  ihm  ganz  gleich  in  Bezug  auf  diese  Empfindungen  gewesen,  ob  die  Frauen 
alt,  jung,  hässlich  oder  schön  waren.  Gewöhnlich  habe  schon  das  einfache 
Drosseln  derselben  ihn  befriedigt,   und    dann  habe   er  seine  Opfer  am  Leben 


Sadismus.  67 

gelassen  —  in  den  erwähnten  2  Fällen  habe  die  geschlechtliche  Befriedigung 
gezögert,  einzutreten,  und  da  habe  er  zugedrückt,  bis  seine  Opfer  todt  waren. 
Seine  Befriedigung  bei  diesen  Garottirungen  sei  grösser  gewesen,  als  wenn  er 
onanirte.  Die  Hautabschürfungen  an  den  Schenkeln  der  Motta  seien  durch 
seine  Zähne  entstanden,  als  er  mit  grossem  Genuss  das  Blut  aussaugte.  Ein 
Wadenstück  derselben  habe  er  ausgesogen  und  dann  mitgenommen,  um  es 
daheim  zu  rösten,  es  indessen  unterwegs  unter  einem  Strohhaufen  verborgen,  aus 
Furcht,  dass  seine  Mutter  hinter  seine  Streiche  komme.  Auch  die  Kleider  und 
Eingeweide  habe  er  ein  Stück  weit  mitgenommen,  weil  es  ihm  einen  Genuss 
gewährte,  sie  zu  beriechen  und  zu  betasten.  Die  Stärke,  die  er  in  diesen 
Momenten  höchster  Wollust  besessen,  sei  enorm  gewesen.  Ein  Narr  sei  er  nie 
gewesen ;  bei  der  Ausführung  seiner  Thaten  habe  er  gar  nichts  mehr  um  sich 
gesehen  (offenbar  durch  höchste  sexuelle  Erregung  aufgehobene  Apperception 
und  instinctives  Handeln).  Nachher  sei  ihm  immer  sehr  behaglich  gewesen, 
ein  Gefühl  grosser  Befriedigung;  Gewissensbisse  habe  er  nie  gehabt.  Nie  sei 
es  ihm  in  den  Sinn  gekommen,  die  Geschlechtstheile  der  von  ihm  gemarterten 
Frauen  zu  berühren  oder  die  Opfer  zu  stupriren,  es  habe  ihm  genügt,  sie  zu 
erdrosseln  und  ihr  Blut  zu  saugen.  In  der  That  scheinen  die  Angaben  dieses 
modernen  Vampyrs  auf  Wahrheit  zu  beruhen.  Normale  geschlechtliche  An- 
triebe scheinen  ihm  fremd  gewesen  zu  sein  —  zwei  Geliebte,  die  er  hatte, 
begnügte  er  sich  zu  beschauen  —  es  ist  ihm  selbst  auffällig,  dass  er  keine 
Gelüste  ihnen  gegenüber  hatte,  sie  zu  drosseln  oder  ihnen  die  Hände  zu  pressen, 
aber  freilich  habe  er  mit  ihnen  nicht  denselben  Genuss  gehabt  wie  mit  seinen 
Opfern.     Von  moralischem  Sinne,  Reue  u.  dgl.  fand  sich  keine  Spur. 

Verzeni  sagte  selbst,  es  dürfte  gut  sein,  wenn  man  ihn  eingesperrt  lasse, 
denn  in  der  Freiheit  könne  er  seinem  Gelüste  keinen  Widerstand  leisten.  V. 
wurde  zu  lebenslänglichem  Kerker  verurtheilt.  (Lombroso:  Verzeni  e  Agno- 
letti,  Roma  1873.) 

Interessant  sind  die  Geständnisse,  welche  V.  nach  seiner  Verurtheilung 
machte. 

„Incredibilem  voluptatem  habui  feminas  suffocans,  erectiones  tum  sensi 
atque  vera  libidine  affectus  sum.  Vel  vestimenta  mulierum  olfacere  volupta- 
tem mihi  adtulit.  In  suffocando  feminas  maiorem  voluptatem  inveni  quam 
in  masturbando.  Bei  dem  Trinken  des  Blutes  der  Motta  empfand  ich  grosses 
Wohlgefallen.  Es  gewährte  mir  auch  grossen  Genuss ,  den  Ermordeten  die 
Haarnadeln  aus  dem  Haar  zu  ziehen. 

„Die  Kleider  und  Eingeweide  nahm  ich  aus  Lust,  sie  zu  beriechen  und 
zu  betasten.  Meine  Mutter  kam  schliesslich  hinter  meine  Streiche,  weil  sie 
nach  jedem  Mord  oder  Mordversuch  Spermaflecke  in  meinem  Hemd  bemerkte. 
Verrückt  bin  ich  nicht,  aber  in  jenen  Augenblicken  des  Würgens  sah  ich  gar 
nichts  mehr.  Nach  der  Verübung  der  Thaten  war  ich  befriedigt  und  fühlte 
mich  wohl.  Es  fiel  mir  nie  ein,  die  Geschlechtstheile  u.  dgl.  zu  berühren  oder 
zu  beschauen.  Es  genügte  mir,  die  Weiber  am  Halse  zu  quetschen  und  ihr 
Blut  zu  saugen.     Ich  weiss  heute  noch  nicht,  wie  das  Weib  gebaut  ist. 

„Während  des  Würgens  und  nach  demselben  drückte  ich  mich  an 
den  ganzen  Leib,  ohne  auf  einen  Körpertheil  mehr  als  auf  den  anderen  zu 
achten." 

V.  war  ganz  von  selbst  auf  seine  perversen  Akte  gekommen,  nachdem 


68  Paraesthesia  sexualis. 

er,  12  Jahre  alt,  bemerkt  hatte,  dass  ihn  ein  seltsames  Lustgefühl  überkomme, 
wenn  er  Hühner  zu  erwürgen  hatte.  Deshalb  habe  er  auch  öfters  Massen  da- 
von getödtet  und  dann  vorgegeben,  ein  Wiesel  sei  in  den  Hühnerstall  ein- 
gedrungen (Lombroso,  G-oltdammer's  Archiv  Bd.  30,  p.  13). 

Einen  analogen  Fall  führt  Lombroso  (G  o  1 1  d  a  m  m  e  r's  Archiv) 
an,  der  in  Vittoria  (Spanien)  vorkam. 

Beobachtung  21.  Ein  gewisser  Gruyo ,  41  Jahre  alt,  von  früher  un- 
bescholtenem Lebenswandel  und  3mal  verheirathet  gewesen,  erwürgte  im  Lauf 
von  10  Jahren  6  Weiber.  Sie  waren  fast  sämmtlich  öffentliche  Dirnen  und 
schon  ziemlich  alt.  Suffocatis  per  vaginam  intestina  et  renes  extraxit.  Non- 
nullas miseras  ante  mortem  stupravit,  alias  (si  forte  impotens  erat)  non  stupra- 
vit.  Er  verfuhr  bei  seinen  Greuelthaten  mit  solcher  Vorsicht,  dass  er  10  Jahre 
lang  unentdeckt  blieb. 

b)  Leichenschänder. 

An  die  grauenvolle  Gruppe  der  Lustmörder  reihen  sich  natur- 
gemäss  die  Nekrophilen,  insofern  bei  ihnen,  gleichwie  bei  Lust- 
mördern und  analogen  Fällen,  eine  an  und  für  sich  Grauen  er- 
weckende Vorstellung,  vor  der  der  Gesunde,  bezw:  Nichtentartete, 
zurückschaudert,  mit  Lustgefühlen  betont  und  damit  zum  Impuls 
für  nekrophile  Akte  wird. 

Die  in  der  Literatur  vorkommenden  Fälle  von  Leichen- 
schändung machen  den  Eindruck  pathologischer,  nur  sind  sie  bis 
auf  den  berühmten  des  Sergeant  Bertrand  (s.  u.)  nichts  weniger 
als  genau  beobachtet  und  beschrieben. 

In  einzelnen  Fällen  mag  nichts  Anderes  vorliegen,  als  dass 
zügellose  Begierde  in  der  Vorstellung  des  eingetretenen  Todes  kein 
Hinderniss  ihrer  Befriedigung  sieht. 

Ein  derartiger  Fall  ist  vielleicht  der  siebente  unter  den  von 
Moreau  mitgetheilten. 

In  diesem  machte  ein  23  Jahre  alter  Mann  einen  Nothzuchtsversuch  an 
der  53  Jahre  alten  X. ,  tödtete  die  sich  Sträubende ,  benutzte  sie  dann  ge- 
schlechtlich, warf  sie  dann  ins  Wasser,  fischte  sie  aber  heraus,  um  sie  neuer- 
lich zu  stupriren. 

Der  Mörder  wurde  hingerichtet.  Die  Meningen  des  Stirnhirns  fand  man 
verdickt  und  mit  der  Hirnrinde  verwachsen. 

Mehrere  Beispiele  von  Nekrophilie  haben  andere  französische  Schrift- 
steller mitgetheilt.  Zwei  Fälle  betrafen  Mönche,  während  sie  die  Todtenwache 
hielten.  In  einem  dritten  handelte  es  sich  um  einen  Idioten,  der  überdies  an 
periodischer  Manie  litt,  nach  Nothzucht  in  einer  Irrenanstalt  Aufnahme  gefunden 
hatte  und  dort  weibliche  Leichen  in  der  Todtenkammer  schändete. 


Sadismus.  69 

In  anderen  Fällen  liegt  aber  unzweifelhaft  eine  directe  Be- 
vorzugung der  Leiche  vor  dem  lebenden  Weibe  vor.  Wenn  keine 
weiteren  Akte  der  Grausamkeit  —  Zerstückelung  etc.  —  an  der 
Leiche  vorgenommen  werden,  so  ist  es  wahrscheinlich  die  Leblosig- 
keit selbst,  welche  den  Reiz  für  den  perversen  Thäter  bildet.  Es 
mag  sein ,  dass  die  Leiche ,  welche  allein  menschliche  Form  mit 
vollkommener  Willenslosigkeit  verbindet,  deshalb  ein  krankhaftes 
Bedürfniss  befriedigt,  den  Gegenstand  der  Begierde  sich  ohne  Mög- 
lichkeit eines  Widerstandes  schrankenlos  unterworfen  zu  sehen. 

Brierre  de  Boismont  (Gazette  medicale  1859,  21.  Juli)  theilte  die 
Geschichte  eines  Leichenschänders  mit ,  der  sich  nach  Bestechung  der  Leichen- 
wächter zur  Leiche  eines  16jährigen  Mädchens  aus  vornehmem  Hause  ein- 
geschlichen hatte.  Nachts  hörte  man  im  Todtenzimmer  ein  Geräusch,  wie 
wenn  ein  Stück  Möbel  umfalle.  Die  Mutter  des  verstorbenen  Mädchens  drang 
ein,  bemerkte  einen  Menschen,  der  im  Nachthemd  vom  Bett  der  Todten  herab- 
sprang. Man  meinte  zuerst,  man  habe  es  mit  einem  Dieb  zu  thun,  erkannte 
aber  bald  den  wahren  Thatbestand.  Es  stellte  sich  heraus,  dass  der  Schänder, 
ein  Mensch  aus  vornehmem  Hause,  schon  öfter  die  Leichen  junger  Weiber 
geschändet  hatte.     Er  wurde  zu  lebenslänglichem  Kerker  verurtheilt. 

Von  hohem  Interesse  auf  dem  Gebiet  der  Nekrophilie  ist  die  von  T  a  x  i  1 
(La  prostitution  contemporaine  p.  171)  berichtete  Geschichte  eines  Prälaten, 
der  zeitweise  in  einem  Prostitutionshause  in  Paris  erschien  und  eine  Prostituirte, 
als  Leiche  weiss  geschminkt  auf  dem  Paradebett  liegend ,  bestellte. 

Hora  destinata  in  cubiculum  quasi  funestum  et  lugubre  factum  vesti- 
mento  sacerdotali  exornatus  intravit,  ita  se  gessit,  acsi  missam  legeret,  tum  se 
in  puellam  coniecit,  quae  per  totum  tempus  mortuam  se  esse  simulare  debuit1). 

Durchsichtiger  sind  die  Fälle,  in  denen  der  Thäter  die  Leiche 
misshandelt  und  zerstückelt.  Solche  Fälle  schliessen  sich  unmittelbar 
an  die  Lustmörder  an,  indem  Grausamkeit,  wenigstens  ein  Drang, 
sich  am  weiblichen  Körper  zu  vergreifen,  mit  der  Wollust  dieser 
Individuen  verbunden  ist.  Vielleicht  schreckt  ein  Rest  moralischer 
Bedenken  von  der  Vorstellung  grausamer  Akte  am  lebenden  Weibe 
ab,  vielleicht  überspringt  die  Phantasie  den  Lustmord  und  hängt  sich 
gleich  an  sein  Resultat,  die  Leiche.  Möglicher  Weise  spielt  auch 
hier  die  Vorstellung  der  Willenslosigkeit  der  Leiche  eine  Rolle. 

Beobachtung  22.  Sergeant  Bertrand  ist  ein  Mensch  von  zartem 
Körperbau,  von  auffälligem  Charakter,  von  Kindheit  auf  verschlossen  und  die 
Einsamkeit  liebend. 


J)  Simon  (Crimes  et  delits  p.  209)  theilt  eine  Erfahrung  Lacassagne's 
mit,  dem  ein  anständiger  Mann  berichtete,  er  sei  jeweils,  aber  nur  dann  mächtig 
sexuell  erregt,  wenn  er  Zuschauer  bei  einem  —  Leichenbegängniss  sei. 


70  Paraesthesia  sexualis. 

Die  Gesundheitsverhältnisse  seiner  Familie  sind  nicht  genügend  bekannt, 
das  Vorkommen  von  Geisteskrankheiten  in  der  Ascendenz  ist  jedoch  sicher- 
gestellt. Schon  als  Kind  will  er  mit  einem  ihm  unerklärlichen  Zerstörungs- 
drang behaftet  gewesen  sein.  Er  habe  zerbrochen,  was  er  gerade  zur  Hand 
hatte. 

Schon  in  früher  Kindheit  kam  er  ohne  alle  Verführung  zur  Onanie. 
Mit  9  Jahren  begann  er  Hinneigung  zu  Personen  des  anderen  Geschlechts  zu 
verspüren.  Mit  13  Jahren  erwachte  mächtig  in  ihm  der  Drang  zu  geschlecht- 
licher Befriedigung  an  Weibern-,  er  onanirte  nun  sehr  viel.  Wenn  er  dies 
that,  stellte  er  sich  in  seiner  Phantasie  jeweils  ein  Zimmer,  erfüllt  mit  Frauen, 
vor.  Er  stellte  sich  vor,  er  übe  den  Geschlechtsakt  mit  denselben  und  martere 
sie  dann.  Darauf  stellte  er  sich  dieselben  als  Leichen  vor  und  wie  er  sie  als 
Leichen  befleckte.  Gelegentlich  kam  bei  solcher  Situation  auch  die  Vor- 
stellung, es  mit  männlichen  Leichen  zu  thun  zu  haben,  aber  sie  war  mit  Ekel 
betont. 

Mit  der  Zeit  empfand  er  den  Drang,  mit  wirklichen  Leichen  derartige 
Situationen  durchzumachen. 

Aus  Mangel  an  menschlichen  Leichen  verschaffte  er  sich  Thierleichen, 
schlitzte  ihnen  den  Leib  auf,  riss  die  Eingeweide  heraus  und  masturbirte  da- 
bei. Er  will  damit  einen  unsäglichen  Genuss  empfunden  haben.  1846  ge- 
nügten ihm  nicht  mehr  Leichen.  Er  tödtete  nun  Hunde  und  verfuhr  dann 
mit  ihnen  wie  früher.  Ende  1846  bekam  er  zum  ersten  Male  das  Gelüste, 
Menschenleichen  zu  benutzen.  Er  scheute  sich  anfangs  davor.  1847 ,  als  er 
zufällig  auf  dem  Kirchhof  das  Grab  einer  frisch  beerdigten  Leiche  gewahr 
wurde,  kam  dieser  Drang  unter  Kopfweh  und  Herzklopfen  mit  solcher  Macht, 
dass  er,  obwohl  Leute  in  der  Nähe  waren  und  Gefahr  der  Entdeckung  bestand, 
die  Leiche  ausgrub.  Beim  Abgang  eines  geeigneten  Instruments,  um  sie  zu 
zerstückeln,  begnügte  er  sich,  dieselbe  mit  der  Todtengräberschaufel  voll  Wuth 
zu  hauen. 

1847  und  1848  kam,  angeblich  in  Zwischenräumen  von  etwa  14  Tagen 
und  unter  heftigen  Kopfschmerzen,  der  Drang,  an  Leichen  Brutalitäten  zu 
verüben.  Mitten  unter  den  grössten  Gefahren  und  mit  den  grössten  Schwierig- 
keiten genügte  er  etwa  lömal  diesem  Trieb.  Er  grub  die  Leichen  mit  den 
Händen  aus,  spürte  vor  Erregung  gar  nicht  die  Verletzungen,  die  er  sich  da- 
bei zuzog.  Im  Besitz  der  Leiche,  schnitt  er  sie  mit  Säbel  oder  Taschenmesser 
auf,  riss  die  Eingeweide  aus  und  masturbirte  in  dieser  Situation.  Das  Ge- 
schlecht der  Todten  war  ihm  angeblich  ganz  gleichgültig,  jedoch  wurde 
constatirt,  dass  dieser  moderne  Vampyr  mehr  weibliche  als  männliche  Leichen 
ausgrub. 

Während  dieser  Akte  sei  er  in  unbeschreiblicher  geschlechtlicher  Auf- 
regung gewesen.  Nachdem  er  sie  zerschnitten,  hatte  er  die  Leichen  jeweils 
wieder  eingegraben. 

Im  Juli  1848  gerieth  er  zufällig  an  die  Leiche  eines  etwa  16jährigen 
Mädchens. 

Da  erwachte  zum  ersten  Mal  in  ihm  das  Gelüste,  an  dem  Cadaver  den 
Coitus  auszuüben.  „Ich  bedeckte  ihn  allenthalben  mit  Küssen,  drückte  ihn 
wie  rasend  an  mein  Herz.  Alles,  was  man  an  einem  lebenden  Weib  gemessen 
kann ,    war   nichts    im  Vergleich  zu  dem  empfundenen  Genuss.     Nachdem  ich 


Sadismus.  71 

diesen  etwa  eine  V4  Stunde  gekostet,  zerstückte  ich  wie  gewöhnlich  die  Leiche 
und  riss  die  Eingeweide  heraus.     Dann  begrub  ich  den  Cadaver  wieder." 

Erst  von  diesem  Attentat  ab  will  B.  den  Drang  verspürt  haben,  Leichen 
vor  der  Zerstückung  geschlechtlich  zu  benutzen  und  habe  er  in  der  Folge  bei 
etwa  drei  weiblichen  Leichen  dies  gethan.  Das  eigentliche  Motiv  des  Leichen- 
ausgrabens  sei  aber  nach  wie  vor  das  Zerstücken  gewesen  und  der  Genuss  bei 
dieser  Handlung  grösser  als  beim  geschlechtlichen  Benutzen  der  Leiche. 

Diese  letzte  Handlung  habe  immer  nur  eine  Episode  des  Hauptaktes  ge- 
bildet und  niemals  seine  Brunst  gestillt,  weshalb  er  immer  nachher  dieselbe 
oder  eine  andere  Leiche  verstümmelt  habe. 

Die  Gerichtsärzte  nahmen  „Monomanie"  an.  Das  Kriegsgericht  ver- 
urtheilte  B.  zu  1  Jahr  Kerker. 

(Michea,  Union  med.  1849.  —  Lunier,  Annal.  med.  psychol.  1849, 
p.  153.  —  Tardieu,  Attentats  aux  moeurs  1878,  p.  114.  —  Legrand,  La 
folie  devant  les  tribun.  p.  524.) 


c)  Misshandeln  von  Weibern  (Blutigstechen, 
Flagelliren  etc.). 

An  die  Lustmörder  und  Leichenschänder,  und  den  Ersteren 
noch  nahestehend,  reihen  sich  solche  Fälle  an ,  wo  Verletzung  des 
Opfers  der  Lüste  und  der  Anblick  des  fliessenden  Blutes  desselben 
Reiz  und  Genuss  für  entartete  Menschen  ist. 

Ein  solches  Ungeheuer  war  der  berüchtigte  Marquis  de  Sade *),  nach 
welchem  die  Verbindung  von  Wollust  und  Grausamkeit  deshalb  genannt  wird. 
Coitus  venerem  suam  non  stimulavit,  nisi  quam  futuabat  ita  pungere  potuit 
ut  sanguis  flueret.  Summa  ei  voluptas  erat  meretrices  nudatas  vulnerare  et 
vulnera  hoc  modo  facta  obligare. 

Hierher  gehört  auch  wohl  der  Fall  eines  Capitäns,  von  dem  Brierre  de 
Boismont  (a.  a.  0.)  erzählt,   der  seine  Geliebte  zwang,  jeweils   vor  dem  sehr 


J)  Taxil  (op.  cit.  p.  180)  gibt  nähere  Mittheilungen  über  dieses  psycho- 
sexuale  Monstrum ,  das  ein  Fall  von  habitueller  Satyriasis ,  zugleich  mit  Par- 
aesthesia  sexualis  gewesen  sein  dürfte. 

S.  war  so  cynisch,  dass  er  ernstlich  seine  grausame  Lüsternheit  idealisiren 
und  sich  zum  Apostel  einer  darauf  bezüglichen  Lehre  machen  wollte.  Er  trieb 
es  so  arg  (u.  A.  machte  er  eine  geladene  Gesellschaft  von  Herren  und  Damen 
liebestoll,  indem  er  ihr  mit  Canthariden  versetzte  Chocoladebonbons  serviren 
Hess),  dass  man  ihn  in  die  Irrenanstalt  Charenton  sperrte.  In  der  Revolution 
(1790)  wurde  er  frei.  Er  schrieb  nun  obscöne  Romane,  die  von  Wollust  und 
Grausamkeit  triefen.  Als  Bonaparte  Consul  wurde,  machte  ihm  S.  seine  Romane, 
prachtvoll  gebunden,  zum  Geschenk.  Der  Consul  liess  seine  Werke  vernichten 
und  den  Verfasser  neuerdings  in  Charenton  interniren,  wo  er  1814,  64  Jahre 
alt,  starb. 


72  Paraesthesia  sexualis. 

häufigen  Coitus   sich   Hirudines   ad   pudenda    zu  setzen.      Schliesslich   verfiel 
dieses  Weib  in  tiefe  Anämie  und  wurde  dadurch  irrsinnig. 

In  sehr  bezeichnender  Weise  zeigt  diesen  Zusammenhang 
zwischen  Wollust  und  Grausamkeit  mit  Drang,  Blut  zu  vergiessen 
und  Blut  zu  sehen,  folgender  meiner  Clientel  entlehnter  Fall. 

Beobachtung  23.  Herr  X.,  25  Jahre  alt,  stammt  von  luetischem,  an 
Dem.  paralytica  gestorbenem  Vater  und  Constitutionen  hystero-neurasthenischer 
Mutter.  Er  ist  ein  schwächliches,  Constitutionen  neuropathisches  ,  mit  mehr- 
fachen anatomischen  Degenerationszeichen  behaftetes  Individuum.  Schon  als 
Kind  Anwandlungen  von  Hypochondrie  und  Zwangsvorstellungen.  Später  be- 
ständiger Wechsel  zwischen  exaltirten  und  deprimirten  Stimmungen.  Schon 
als  Junge  von  10  Jahren  fühlte  Pat.  einen  sonderbaren  wollüstigen  Drang,  Blut 
aus  seinen  Fingern  fliessen  zu  sehen.  Er  schnitt  oder  stach  sich  deshalb  öfters 
in  die  Finger  und  fühlte  sich  dann  ganz  beseligt.  Schon  früh  gesellten  sich 
dazu  Erectionen,  desgleichen,  wenn  er  fremdes  Blut  sah,  z.  B.  ein  Dienst- 
mädchen sich  in  den  Finger  schnitt.  Das  machte  ihm  besonders  wollüstige 
Empfindungen.  Seine  Vita  sexualis  regte  sich  nun  immer  mächtiger.  Ganz 
ohne  Verführung  begann  er  zu  onaniren,  dabei  kamen  ihm  jeweils  Erinnerungs- 
bilder blutender  Frauenzimmer.  Es  genügte  ihm  nun  nicht  mehr,  sein  eigenes 
Blut  fliessen  zu  sehen.  Er  lechzte  nach  dem  Anblick  des  Blutes  junger 
Frauenspersonen,  besonders  solcher,  die  ihm  sympathisch  waren.  Er  konnte 
sich  oft  kaum  bezwingen,  zwei  Cousinen  und  ein  Stubenmädchen  nicht  zu 
verletzen.  Aber  auch  an  und  für  sich  nicht  sympathische  Frauenzimmer  riefen 
diesen  Drang  hervor,  wenn  sie  ihn  durch  besondere  Toilette,  Schmuck,  nament- 
lich Corallenschmuck,  reizten.  Es  gelang  ihm,  diesen  Gelüsten  zu  widerstehen, 
aber  in  seiner  Phantasie  waren  blutige  Gedanken  beständig  gegenwärtig 
mit  unterhielten  wollüstige  Erregungen.  Ein  inniger  Zusammenhang  bestand 
zwischen  beiden  Gedanken-  und  Gefühlskreisen.  « Oft  kamen  auch  ander- 
weitige grausame  Phantasien,  z.  B.  dachte  er  sich  in  der  Rolle  eines  Tyrannen, 
der  das  Volk  mit  Kartätschen  zusammenschiessen  Hess.  Er  musste  sich  die 
Scene  ausmalen,  wie  es  wäre,  wenn  Feinde  eine  Stadt  überfallen,  die  Jung- 
frauen schänden,  martern,  tödten,  rauben  würden.  In  ruhigeren  Zeiten  schämte 
und  ekelte  sich  der  sonst  gutmüthige  und  ethisch  nicht  defecte  Patient 
vor  solchen  grausam-wollüstigen  Phantasien,  gleichwie  sie  auch  sofort  latent 
wurden,  sobald  er  durch  Masturbation  seiner  sexuellen  Erregung  Befriedigung 
verschafft  hatte. 

Schon  nach  wenigen  Jahren  war  Pat.  neurasthenisch  geworden.  Nun 
genügte  ihm  die  blosse  Phantasievorstellung  von  Blut  und  Blutscenen,  um  zur 
Ejaculation  zu  gelangen.  Um  sich  von  seinem  Laster  und  seinen  cynisch 
grausamen  Phantasien  zu  befreien,  trat  Pat.  in  sexuellen  Verkehr  mit  weib- 
lichen Individuen.  Coitus  war  möglich,  aber  nur  indem  Pat.  sich  vorstellte. 
das  Mädchen  blute  aus  den  Fingern.  Ohne  Zuhülfenahme  dieser  Phantasie- 
vorstellung wollte  sich  keine  Erection  einstellen.  Die  grausamen  Gedanken, 
hineinzuschneiden,  beschränkten  sich  auf  die  Hand  des  Weibes.  In  Zeiten 
höchst  gesteigerter  sexueller  Erregung  genügte  der  Anblick  einer  sym- 
pathischen Frauenhand,    um  die   heftigsten  Erectionen   hervor- 


Sadismus.  73 

zurufen.  Erschreckt  durch  populäre  Lektüre  über  die  schädlichen  Folgen 
der  Onanie  und  abstinirend,  verfiel  Pat.  in  einen  Zustand  schwerer  allgemeiner 
Neurasthenie  mit  hypochondrischer  Dysthymie,  taed.  vitae.  Eine  complicirte 
und  wachsame  ärztliche  Behandlung  stellte  binnen  Jahresfrist  den  Kranken 
wieder  her.  Er  ist  seit  drei  Jahren  psychisch  gesund,  ist  nach  wie  vor  sexuell 
sehr  bedürftig,  aber  nur  selten  von  seinen  früheren  blutdürstigen  Ideen  heim- 
gesucht. Der  Masturbation  hat  X.  ganz  entsagt.  Er  findet  Befriedigung  im 
natürlichen  Geschlechtsgenuss,  ist  vollkommen  potent  und  nicht  mehr  genöthigt, 
seine  Blutideen  zu  Hülfe  zu  nehmen. 

Dass  derlei  wollüstig-grausame  Dränge  bloss  episodisch  und 
unter  bestimmten  Ausnahmezuständen  bei  Belasteten  vorkommen 
können,  lehrt  folgender  von  Tarnowsky  (op.  cit.  p.  61)  berich- 
teter Fall. 

Beobachtung  24.  Z.,  Arzt,  von  neuropathischer  Constitution,  auf 
Alkohol  schlecht  reagirend,  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  normal  coitirend, 
fühlte,  sobald  er  Wein  getrunken,  durch  einfachen  Coitus  seine  gesteigerte 
Libido  nicht  mehr  befriedigt.  In  diesem  Zustand  musste  er  in  die  Nates  der 
Puella  stechen  oder  mit  einer  Lancette  einschneiden,  Blut  sehen  und  das  Ein- 
dringen der  Klinge  in  den  lebenden  Körper  fühlen,  um  Ejaculation  zu  erzielen 
und  das  Gefühl  vollständiger  Sättigung  seiner  Wollust  zu  haben. 

Die  Meisten  aber,  die  mit  dieser  Form  der  Perversion  belastet 
sind,  erscheinen  als  durch  den  normalen  Reiz  des  Weibes  nicht  er- 
regbar. Schon  im  obigen  ersten  Fall  musste  die  Vorstellung  des 
Blutens  zu  Hülfe  genommen  werden,  um  Erectionen  zu  erzielen. 
Der  folgende  Fall  betrifft  einen  Mann,  der  durch  Onanie  in  früher 
Jugend  etc.  seine  Erectionsfähigkeit  eingebüsst  hat,  so  dass  der 
sadistische  Akt  bei  ihm  an  die  Stelle  des  Coitus  tritt. 

Beobachtung  25.  Der  Mädchenstecher  in  Bozen  (mitgetheilt  von 
Demme,  Buch  der  Verbrechen  Bd.  II,  p.  341). 

1829  kam  H. ,  30  Jahre  alt,  Soldat,  in  gerichtliche  Untersuchung.  Er 
hatte  zu  verschiedenen  Zeiten  und  an  verschiedenen  Orten  mit  einem  Brod- 
oder Federmesser  Mädchen  mit  Stichen  in  das  Abdomen,  am  liebsten  in  die 
Schamgegend  verwundet  und  motivirte  diese  Attentate  mit  einem  bis  zur  Wuth 
gesteigerten  Geschlechtstrieb,  der  nur  in  dem  Gedanken  und  der  Handlung 
des  Stechens  von  weiblichen  Personen  Befriedigung  fand. 

Dieser  Drang  habe  ihn  oft  tagelang  verfolgt.  Er  sei  dann  in  einen 
ganz  verwirrten  Seelenzustand  gerathen,  der  sich  erst  wieder  löste,  wenn  diesem 
Drang  durch  die  That  entsprochen  war.  Im  Moment  des  Stechens  habe  er 
die  Befriedigung  des  vollbrachten  Beischlafs  gehabt  und  diese  Befriedigung  sei 
gesteigert  worden  durch  den  Anblick  des  Blutes,    das  am  Messer  herunterlief. 

Schon  im  10.  Jahre  war  bei  ihm  der  Geschlechtstrieb  mächtig  zu  Tage 
getreten.  Er  verfiel  zuerst  der  Masturbation  und  fühlte  sich  davon  an  Körper 
und  Geist  geschwächt. 


74  Paraesthesia  sexualis. 

Bevor  er  zum  „ Mädchenstecher "  wurde,  hatte  er  durch  Missbrauch 
unreifer  Mädchen,  durch  Onanisirung  von  solchen,  ferner  durch  Sodomie 
seine  Geschlechtslust  befriedigt.  Allmählig  war  ihm  der  Gedanke  gekommen, 
welch  ein  Genuss  es  sein  müsse,  ein  junges  hübsches  Mädchen  in  die  Scham- 
gegend zu  stechen  und  an  dem  Anblick  des  vom  Messer  ablaufenden  Blutes 
sich  zu  weiden. 

Unter  seinen  Effecten  fanden  sich  Nachbildungen  von  Gegenständen  des 
Cultus,  von  ihm  selbst  gemalte  obscöne  Bilder  der  Empfängniss  Maria's,  des 
im  Schoosse  der  Jungfrau  „ geronnenen  Gedanken  Gottes".  Er  galt  als  ein 
sonderbarer,  sehr  reizbarer,  leutscheuer,  weibersüchtiger,  mürrischer,  verdrosse- 
ner Mensch.  Scham  und  Reue  über  seine  Handlungen  wurden  an  ihm  nicht 
wahrgenommen.  Offenbar  war  er  eine  durch  frühe  sexuelle  Excesse  impotent 
gewordene  Persönlichkeit1),  die  bei  fortdauernder  starker  Libido  sexualis  und 
durch  Belastung  zu  Perversion  des  Geschlechtslebens  hinneigte. 

Beobachtung  26.  In  den  60er  Jahren  wurde  die  Bevölkerung  von 
Leipzig  durch  einen  Mann  erschreckt,  welcher  junge  Mädchen  auf  der  Strasse 
mit  einem  Dolch  anzufallen  pflegte  und  sie  am  Oberarm  verletzte.  Endlich 
verhaftet,  erkannte  man  in  ihm  einen  Sadisten,  welcher  im  Moment  des  Dolch- 
stichs eine  Ejaculation  hatte  und  bei  dem  also  die  Verwundung  der  Mädchen 
Aequivalent  für  Coitus  war.  (Wharton,  A  treatise  on  mental  unsoundness 
Philadelphia  1873,  §.  623 2).) 

In  den  drei  nächsten  Fällen  bestellt  gleichfalls  Impotenz. 
Dieselbe  ist  aber  vielleicht  psychisch  bedingt,  indem  ab  origine  der 
Hauptton  der  Vita  sexualis  auf  der  sadistischen  Neigung  liegt  und 
deren  normale  Elemente  verkümmert  sind. 

Beobachtung  27  (mitgetheilt  von  Demme,  Buch  der  Verbrechen,  VII, 
p.  281).  Der  Mädchenschneider  von  Augsburg,  Bartle,  Weinhändler,  hatte  schon 
mit  14  Jahren  sexuelle  Regungen,  jedoch  entschiedenen  Widerwillen  gegen  Be- 
friedigung derselben  durch  Coitus  bis  zu  Ekel  gegen  das  weibliche  Geschlecht. 
Schon  damals  kam  ihm  die  Idee,  Mädchen  zu  schneiden  und  sich  dadurch 
geschlechtlich  zu  befriedigen.  Er  verzichtete  aber  darauf  aus  Mangel  an  Ge- 
legenheit und  Muth. 

Masturbation  verschmähte  er ;  ab  und  zu  hatte  er  Pollutionen  mit  eroti- 
schen Träumen  von  geschnittenen  Mädchen. 


*)  Vgl.  Kr  au  ss,  Psychologie  des  Verbrechens,  1884,  p.  188.  Dr.  Hof  er, 
Annalen  der  Staatsarzneikunde,  6.  Jahrgang,  Heft  2;  Schmidt's  Jahrbücher 
Bd.  59,  p.  94. 

2)  Nach  Zeitungsnachrichten  wurden  im  December  1890  eine  Reihe  ähn- 
licher Attentate  in  Mainz  verübt.  Ein  junger  Bursche  von  14  bis  16  Jahren 
drängte  sich  an  Frauen  und  Mädchen  heran  und  stach  sie  mit  einem  spitzen 
Instrument  in  die  Beine.  Er  wurde  verhaftet  und  machte  den  Eindruck  geistig 
gestört  zu  sein.  Näheres  über  den  höchst  wahrscheinlich  sadistischen  Fall  ist 
nicht  bekannt. 


Sadismus.  75 

19  Jahre  alt,  schnitt  er  zum  ersten  Mal  ein  Mädchen.  Haec  faciens 
spernia  eiaculavit,  summa  libidine  affectus.  Seither  wurde  der  Impuls  immer 
machtvoller.  Er  wählte  nur  junge  und  hübsche  Mädchen  und  fragte  sie  meist 
vorher,  ob  sie  noch  ledig  seien.  Jeweils  trat  die  Ejaculation  und  sexuelle 
Befriedigung  ein,  aber  nur  dann,  wenn  er  merkte,  dass  er  die  Mädchen  wirk- 
lich verwundet  hatte.  Nach  dem  Attentat  fühlte  er  sich  immer  matt  und 
übel,  auch  von  Gewissensbissen  gefoltert.  Bis  zum  32.  Jahr  verwundete  er 
durch  Schneiden,  hatte  aber  immer  Sorge,  die  Mädchen  nicht  gefährlich  zu 
verletzen.  Von  da  ab  bis  zum  36.  Jahr  vermochte  er  seinen  Trieb  zu  beherrschen. 
Nun  versuchte  er  sich  zu  befriedigen,  indem  er  Mädchen  bloss  am  Arm  oder 
Hals  drückte,  aber  es  kam  dabei  nur  zur  Erection,  nicht  zur  Ejaculation. 
Nun  versuchte  er  es,  die  Mädchen  mit  dem  in  der  Scheide  gelassenen  Messer 
zu  stechen,  aber  auch  das  genügte  nicht.  Endlich  stach  er  mit  dem  offenen 
Messer  und  hatte  vollen  Erfolg,  da  er  sich  vorstellte,  ein  gestochenes  Mädchen 
blute  stärker  und  habe  mehr  Schmerz  als  ein  geschnittenes.  Im  37.  Jahr 
wurde  er  erwischt  und  verhaftet.  In  seiner  Behausung  fand  man  eine  Menge 
von  Dolchen,  Stockdegen,  Messern.  Er  gab  an,  dass  der  blosse  Anblick  dieser 
Waffen,  noch  mehr  das  Anfassen  derselben  ihm  Wollustgefühle  mit  heftiger 
Erregung  verschafft  habe. 

Im  Ganzen  hatte  er  50  Mädchen  eingestandenerniassen  verletzt. 

Seine  äussere  Erscheinung  war  eher  eine  angenehme.  Er  lebte  in  sehr 
guten  Verhältnissen,  war  aber  ein  eigenthümlicher,  leutscheuer  Patron. 

Beobachtung  28.  J.  H.,  26  J.,  kam  im  Jahre  1883  zur  Consultation 
wegen  seiner  hochgradigen  Neurasthenie  und  Hypochondrie.  Pat.  gibt  zu,  seit 
seinem  14.  Jahre  onanirt  zu  haben,  und  zwar  bis  zum  18.  Jahre  weniger,  seit 
dieser  Zeit  aber  fehlt  ihm  jede  Kraft,  dem  Triebe  zu  widerstehen.  Bis  dahin 
hatte  er,  da  er  ängstlich  gehütet  wurde  und  man  ihn  wegen  seiner  Kränk- 
lichkeit fast  nie  allein  Hess,  sich  nie  einer  Frauensperson  nähern  können.  Er 
hatte  auch  kein  rechtes  Verlangen  nach  dem  ihm  unbekannten  Genuss. 

Durch  Zufall  aber  kam  er  dazu,  als  ein  Stubenmädchen  der  Mutter  beim 
Fenster  waschen  eine  Scheibe  zerbrach  und  sich  heftig  in  die  Hand  schnitt. 
Als  er  dabei  behülflich  war,  die  Blutung  zu  stillen,  konnte  er  sich  nicht  ent- 
halten ,  das  ausströmende  Blut  von  der  Wunde  aufzusaugen ,  wobei  er  in 
äusserst  heftige  erotische  Erregung  kam,  bis  zu  vollständigem  Orgasmus  und 
Ejaculation. 

Von  nun  an  suchte  er  auf  jede  mögliche  Weise  sich  den  Anblick  und 
womöglich  den  Geschmack  von  ausfliessendem  frischem  Blute  von  weiblichen 
Personen  zu  verschaffen.  Am  liebsten  war  ihm  das  von  jungen  Mädchen.  Er 
scheute  kein  Opfer  und  keine  Geldausgabe ,  um  sich  diesen  Genuas  zu  ver- 
schaffen. Anfänglich  stand  ihm  das  junge  Mädchen  zu  Diensten,  das  sich 
nach  seinem  Wunsch  mit  einer  Nadel  oder  sogar  Lancette  in  die  Finger  stechen 
Hess.  Als  aber  die  Mutter  es  erfuhr,  entliess  sie  das  Mädchen.  Nun  musste 
er  sich  an  Meretrices  halten,  um  sich  Ersatz  zu  verschaffen,  was  mit  Schwierig- 
keiten, aber  doch  oft  genug  gelang.  In  der  Zwischenzeit  betrieb  er  Onanie 
und  Manustupration  per  feminam ,  was  ihm  aber  nie  volle  Befriedigung ,  da- 
gegen Abspannung  und  Selbstvorwürfe  einbrachte.  Er  besuchte  wegen  seiner 
nervösen  Leiden  viele  Curorte  und  war  zweimal  in  Anstalten  internirt,  die  er 


76  Paraesthesia  sexualis. 

aus  eigenem  Antriebe  aufsuchte.  Er  gebrauchte  Hydrotherapie,  Electricität 
und  roborirende  Curen  ohne  besonderen  Erfolg.  Es  gelang,  seine  abnorme 
geschlechtliehe  Erregbarkeit  und  den  Drang  zur  Onanie  durch  kalte  Sitzbäder, 
Monobromkampher  und  Gebrauch  von  Bromsalzen  zeitweise  zu  bessern.  Jedoch 
wenn  Pat.  sich  frei  fühlte,  verfiel  er  sofort  wieder  in  seine  alte  Leidenschaft 
und  scheute  weder  Mühe  noch  Geld,  um  seine  Geschlechtslust  auf  die  besagte 
abnorme  Weise  zu  befriedigen. 

Beobachtung  29  (mitgetheilt  von  Dr.  Albert  Moll  in  Berlin).  L.  T., 
21  Jahre,  Kaufmann  in  einer  rheinischen  Stadt,  gehört  einer  Familie  an,  in 
der  sich  mehrere  nervöse  und  psychopathische  Mitglieder  befinden.  Eine 
Schwester  leidet  an  Hysterie  und  Melancholie. 

Patient  war  immer  von  sehr  ruhigem  Wesen,  dabei  schüchtern.  Er  zog 
sich  schon  auf  der  Schule  oft  von  anderen  Schülern  zurück,  besonders  wenn 
diese  Gespräche  über  Mädchen  führten.  In  Damengesellschaft  glaubte  er  mit 
jeder  Aeusserung,  die  er  that,  den  Anstand  zu  verletzen.  Es  war  ihm  z.  B. 
sehr  anstössig,  in  Gegenwart  von  Damen,  verheiratheten  und  unverheiratheten, 
vom  Schlafengehen,  Aufstehen  u.  s.  w.  zu  reden.  In  den  unteren  Klassen  lernte 
Pat.  gut.     Später  wurde  er  träger  und  kam  nicht  gut  vorwärts. 

Pat.  kam  wegen  abnormer  Erscheinungen  in  seinem  sexuellen  Leben  am 
17.  August  1890  zu  Dr.  Moll.  Er  that  dies  auf  den  Rath  eines  ihm  verwandten 
Arztes  X.,  dem  er  sich  früher  anvertraut  hatte. 

Pat.  macht  einen  auffallend  ängstlichen  und  scheuen  Eindruck,  gibt  auf 
Befragen  an,  dass  er  überhaupt  sehr  ängstlich  sei,  besonders  in  Gegenwart 
anderer  Personen  gehe  ihm  jedes  Selbstvertrauen  und  sicheres  Auftreten  ab. 
Diese  Angabe  wird  von  Dr.  X.  bestätigt. 

Was  das  sexuelle  Leben  des  Pat.  betrifft,  so  kann  er  die  Anfänge  des- 
selben bis  zu  seinem  7.  Lebensjahr  zurückdatiren.  Er  spielte  schon  damals 
viel  mit  seinen  Genitalien  und  wurde  dafür  auch  bestraft.  Bei  diesem  Onaniren, 
wobei  angeblich  sein  Glied  in  Erection  gerieth,  stellte  er  sich  stets  vor,  dass 
er  ein  Weib  mit  der  Ruthe  auf  die  entblössten  Nates  schlage,  und  zwar  so 
lange,  bis  sie  Schwielen  bekam.  „Namentlich  reizte  mich,"  so  erzählte  Pat.. 
„wenn  ich  mir  dachte,  dass  es  ein  stolzes  schönes  Frauenzimmer  wäre  und 
ich  diesen  Akt  im  Beisein  Anderer,  besonders  Frauen,  vornähme,  damit  die 
Betreffende  fühlte,  welcheMacht  ich  über  sie  hätte.  Ich  suchte 
in  Folge  dessen  frühzeitig  Lektüre  zu  bekommen,  die  vom  Schlagen  handelte. 
z.  B.  über  die  Misshandlung  römischer  Sklaven.  Erectionen  bekam  ich  jedoch 
nur  dann,  wenn  die  vorgestellten  Misshandlungen  im  Schlagen  auf  Rücken 
oder  Hinterbacken  bestanden.  Anfangs  glaubte  ich  ,  dass  diese  Art  von  Er- 
regung sich  mit  der  Zeit  verlieren  würde,  und  machte  deshalb  Niemand  Mit- 
theilung davon." 

Die  zeitig  begonnene  Onanie  setzte  Pat.  fort,  und  zwar  immer  mit  dem 
gleichen  Gedankeninhalt.  Seit  dem  13.  oder  14.  Lebensjahre  hatte  er  beim 
Onaniren  Samenerguss.  Decimum  septimum  annum  agens  primum  feminam 
adiit  coeundi  causa  neque  coitum  perficere  potuit  libidine  et  erectione  deficienti- 
bus.  Mox  autem  iterum  apud  alteram  coitum  conatus  est  nullo  successu.  Tum 
feminam  per  vim  verberavit.  Tantopere  erat  excitatus  ut  mulierem  dolore 
clamantem  atque  lamentantem  verberare  non  desierit.   An  irgend  welche  straf- 


Sadismus.  77 

rechtliche  Folgen,  die  auch  ausblieben,  dachte  er  nicht.  Bei  dieser  Procedur 
stellten  sich  Erection ,  Orgasmus  und  Ejaculation  ein.  Den  Akt  führte  Pat. 
30  aus,  dass  er  das  Weib  zwischen  seine  Kniee  nahm,  so  dass  sein  Glied  den 
Körper  des  Weibes  berührte,  aber  ohne  immissio  penis  in  vaginam,  die  dem 
Patienten  überhaupt  ganz  überflüssig  erscheint. 

Nachträglich  empfand  aber  Pat.  über  das  Schlagen  solches  Schamgefühl 
und  es  bemächtigte  sich  seiner  eine  so  trübe  Stimmung ,  dass  er  öfters  an 
Selbstmord  dachte.  Pat.  ging  in  den  folgenden  3  Jahren  noch  einige  Male  zu 
Weibern.  Niemals  machte  er  aber  wieder  einem  solchen  die  Zumuthung,  sich 
von  ihm  schlagen  zu  lassen.  Er  versuchte  Erection  dadurch  zu  erzielen,  dass 
er  an  das  Schlagen  dachte;  doch  hatte  dies  keinen  Erfolg  neque  membrum 
a  muliere  tractatum  se  erexit.  Nach  einem  solchen  missglückten  Versuch 
fasste  Pat.  endlich  den  Entschluss,  sich  einem  Arzte  zu  offenbaren. 

Pat.  macht  noch  eine  Reihe  weiterer  Angaben,  betreffend  seine  Vita 
sexualis.  Der  abnorme  Geschlechtstrieb  habe  ihn  auch  durch  seine  Stärke  be- 
lästigt. Er  ging  mit  sexuellen  Gedanken  schlafen,  sie  verfolgten  ihn  des  Nachts 
und  gleich  nach  dem  Erwachen  waren  sie  wieder  da.  Nie  war  er  längere  Zeit 
vor  dem  Andrängen  der  krankhaften,  ihn  erregenden  Vorstellungen  sicher,  denen 
er  sich  dann  allerdings  auch  mit  Vorliebe  hingab  und  von  denen  er  sich  nur 
durch  Onanie  auf  kurze  Zeit  befreien  konnte. 

Auf  meine  Frage  gibt  Pat.  an,  dass  ein  anderes  Mittel  gegen  das 
Weib  angewendet,  als  die  erwähnten  Schläge  auf  Rücken  und  besonders  nates, 
auf  ihn  keinen  Reiz  ausübt.  Weder  Fesselung  desselben,  noch  Treten  und 
Stossen  kann  ihm  einen  solchen  gewähren.  Es  ist  dies  um  so  mehr  zu  be- 
tonen, als  das  den  Pat.  erregende  Schlagen  des  Weibes  ihm  deshalb  als 
sexueller  Reiz  gilt,  weil  es  für  das  Weib  „demüthigend  und  entehrend"  ist, 
und  weil  dasselbe  fühlen  soll,  „dass  es  vollständig  in  seiner  Gewalt  ist".  Auch 
würde  es  dem  Pat.  keinen  Reiz  verursachen,  wenn  er  das  Weib  auf  einen 
anderen  als  die  erwähnten  Körpertheile  schlüge  oder  ihm  auf  eine  andere  Art 
als  durch  Schläge  Schmerz  zufügte. 

Multo  minorem  ei  affert  voluptatem  si  nates  suae  a  muliere  verberantur ; 
tarnen  ea  res  saepe  eiaculationem  seminis  effecit,  sed  haec  fieri  putat  erectione 
deficiente. 

Inter  verbera  autem  penem  in  vaginam  immittendo  nullam  voluptatem 
se  habere  ratus,  qualibet  parte  corporis  feminae  pene  tacta  semen  eiaculat. 
Ebenso  wie  bei  dem  Schlagen  des  Weibes  den  Reiz  für  ihn 
das  Demüthigen  des  Weibes  bildet,  so  fühlt  er  sich  im  um- 
gekehrten Falle  dadurch  sexuell  erregt,  dass  das  Schlagen 
ihn  demüthigt  und  er  sich  ganz  in  die  Gewalt  des  Weibes  hin- 
gegeben fühlt.  Dennoch  konnte  ihn  eine  andere  Art  der  eigenen  Demüthi- 
gung,  als  das  Schlagen  auf  seine  Hinterbacken,  nicht  erregen.  Sich  selbst 
fesseln  zu  lassen  oder  von  dem  Weibe  mit  Füssen  getreten  zu  werden,  ist  dem 
Pat.  zuwider. 

Die  Träume  des  Pat.  bewegten  sich,  so  weit  sie  erotischer  Natur  waren, 
stets  in  derselben  Richtung,  wie  seine  sexuellen  Neigungen  im  wachen  Zustand; 
es  erfolgte  dabei  im  Traume  gleichfalls  oft  ein  wirklicher  Samenerguss.  Ob 
übrigens  die  perversen  sexuellen  Gedanken  zuerst  im  Traum  oder  im  wachen 
Zustand   aufgetaucht   sind,   kann   Pat.    nicht   mehr  genau   angeben,    da    die 


78  Paraesthesia  sexualis. 

Erinnerung  auf  eine  so  frühe  Zeit,  das  7.  Lebensjahr,  zurückgeht.  Doch  glaubt 
er,  dass  diese  Gedanken  sich  zuerst  im  Wachen  gezeigt  haben.  In  seinen 
Träumen  begegnete  es  dem  Pat.  öfters,  dass  er  eine  männliche  Person  schlug, 
wobei  gleichfalls  Samenerguss  eintrat.  Im  wachen  Zustand  bewirkt  es  bei  ihm 
nur  sehr  geringe  Erregung,  wenn  er  sich  vorstellt,  dass  er  eine  männliche 
Person  schlage.  Die  nackte  Gestalt  des  Mannes  allein  hat  indessen  für  ihn 
keinerlei  Reiz,  während  ihn  die  nackte  Gestalt  eines  Weibes  entschieden 
anlockt,  obwohl  seine  Libido  erst  dann  ihre  eigentliche  Befriedigung  finde, 
wenn  die  oben  geschilderten  Vorgänge  stattfinden  und  er,  wie  gesagt,  keinen 
Drang  zum  Coitus  in  vaginam  empfindet. 

Die  Behandlung  des  Pat.  ist  wesentlich  auf  die  Erzielung  eines  normalen 
Beischlafs,  womöglich  mit  normalem  Trieb,  gerichtet,  da  anzunehmen  ist, 
dass,  wenn  es  gelingt,  sein  sexuelles  Leben  normal  zu  gestalten,  auch  das 
scheue  und  ängstliche  Wesen  des  Pat.,  welches  ihn  sehr  belästigt,  leichter  zum 
Schwinden  gebracht  werden  kann.  Die  von  mir  (Dr.  Moll)  seit  B1h  Monaten 
durchgeführte  Behandlung  lief  auf  dreierlei  hinaus. 

Erstens  wurde  dem  Pat.,  der  seine  Heilung  lebhaft  wünscht,  auf  das 
Entschiedenste  verboten ,  sich  den  perversen  Gedanken  beliebig  hinzugeben. 
Selbstverständlich  gab  ich  ihm  nicht  den  thörichten  Rath,  an  das  Schlagen 
überhaupt  nicht  zu  denken.  Ein  solcher  Rath  kann  von  dem  Pat.  nicht  be- 
folgt werden,  da  die  Gedanken  ihm  ohne  sein  Zuthun  kommen  und  schon 
beim  zufälligen  Lesen  des  Wortes  „schlagen"  rege  werden.  Nur  das  verbot 
ich  ihm  entschieden,  dass  er  sich  solchen  Gedanken  jemals  willkürlich  hingebe. 
Ich  empfahl  ihm  vielmehr,  Alles  zu  thun,  um  seine  Vorstellungen  auf  ein 
anderes  Gebiet  hinüberzuleiten. 

Zweitens  gestattete  ich,  ja  empfahl  ich  dem  Pat.,  da  ihn  manche 
nackte  Weiber  interessirten,  wenn  auch  nicht,  wie  er  meinte,  in  sexueller  Be- 
ziehung erregten,  sich  in  seiner  Phantasie  solche  Weiber  vorzustellen. 

Drittens  suchte  ich  durch  allerdings  schwer  zu  erzielende  Hypnose  und 
Suggestion  den  Pat.  möglichst  in  dieser  Richtung  zu  unterstützen.  Jeder  Bei- 
schlafsversuch wurde  dem  Pat.  vorläufig  untersagt,  um  ihn  durch  einen  Miss- 
erfolg nicht  zu  entmuthigen. 

Diese  Behandlung  führte  innerhalb  27«  Monaten  dazu,  dass  nach  An- 
gabe des  Pat.  die  perversen  Vorstellungen  viel  seltener  auftauchten  und  immer 
mehr  in  den  Hintergrund  traten,  ja  es  stellten  sich  nach  seinen  Angaben  bei 
der  Vorstellung  nackter  Weiber  Erectionen  ein,  deren  Häufigkeit  zunahm  und 
die  ihn  öfters  dazu  brachten,  mit  der  Vorstellung  des  Coitus  zu  onaniren,  ohne 
dass  dabei  die  Vorstellung  des  Schiagens  aufgetaucht  wäre.  Im  Schlaf  traten 
erotische  Träume  nur  selten  auf;  diese  hatten  jetzt  bald  normalen  Coitus,  bald 
das  Schlagen  zum  Inhalt. 

Nach  Verlauf  von  21/i  Monaten  seit  Beginn  der  Behandlung  empfahl 
ich  dem  Pat.,  den  Coitus  zu  versuchen.  Er  hat  dies  seitdem  viermal  gethan. 
Ich  empfahl  ihm  stets,  ein  Weib  zu  wählen,  das  ihm  zusagte,  versuchte  auch 
vor  dem  Coitus  seine  sexuelle  Erregung  durch  Tinctura  cantharidum  zu  erhöhen. 

Die  vier  Versuche,  deren  letzter  am  29.  November  1890  stattfand,  ver- 
liefen in  folgender  Weise:  Beim  ersten  waren  längere  Manipulationen  des 
Weibes  am  Penis  nöthig,  um  Erection  zu  erzielen.  Dann  gelang  immissio  in 
vaginam,  Ejaculation   mit  Orgasmus.     Während   des  ganzen  Aktes  trat  keine 


Sadismus.  79 

Vorstellung  auf,  dass  er  das  Weib  schlage  oder  geschlagen  werde,  vielmehr 
erregte  ihn  das  Weib  als  solches  genügend,  um  den  Coitus  auszuführen.  Beim 
zweiten  Versuch  gelang  dies  noch  besser  und  schneller;  Manipulationen  des 
Weibes  ad  genitalia  waren  nur  in  ganz  geringem  Masse  nöthig.  Beim  dritten 
Versuch  gelang  Beischlaf  erst,  nachdem  Pat.  lange  Zeit  an  das  Schlagen  ge- 
dacht und  dadurch  Erection  erzielt  hatte;  zum  Schlagen  selbst  kam  es  indessen 
nicht.  Beim  vierten  Versuch  gelang  der  Coitus  wieder  ohne  jeden  Gedanken 
an  das  Schlagen  und  dabei  ohne  jede  Manipulation  am  Penis. 

Selbstverständlich  kann  der  geschilderte  Fall  bis  jetzt  in  keiner  Weise 
als  geheilt  betrachtet  werden.  Wenn  Pat.  auch  einige  Male  in  annähernd 
oder  ganz  normaler  Weise  den  Coitus  ausführen  konnte,  so  ist  damit  noch 
nicht  gesagt,  dass  er  auch  in  Zukunft  dazu  stets  im  Stande  sein  wird.  Dazu 
kommt,  dass  der  Gedanke  des  Schiagens  ihm  immer  noch  einen  grossen  Reiz 
gewährt,  wenn  er  auch  sehr  viel  seltener  auftritt  als  früher.  Dennoch  ist  die 
Möglichkeit  vorhanden,  dass  der  abnorme  Trieb,  der  gegenwärtig  eine  wesent- 
liche Schwächung  erfahren  hat,  auch  in  Zukunft  vermindert  bleiben,  vielleicht 
sogar  verschwinden  wird. 

Dieser  sorgfältig  beobachtete  Fall  ist  in  mehrfacher  Beziehung 
äusserst  interessant.  Er  deckt  deutlich  erkennbar  eine  der  ver- 
borgenen Wurzeln  des  Sadismus  auf,  den  Drang  zur  schranken- 
losen Unterwerfung  des  Weibes,  welcher  hier  bewusst  geworden 
ist.  Dies  ist  um  so  merkwürdiger,  da  es  sich  hier  um  ein  schüch- 
ternes, im  sonstigen  Leben  möglichst  bescheiden,  ja  ängstlich  auf- 
tretendes Individuum  handelt.  Der  Fall  zeigt  auch  deutlich ,  dass 
starke,  ja  das  Individuum  gegen  alle  Hindernisse  mit  sich  fort- 
reissende  Libido  vorhanden  sein  kann ,  während  gleichzeitig  der 
Coitus  nicht  begehrt  wird,  weil  der  Hauptton  des  Gefühls  auf  den 
grausamen  Theil  des  sadistischen,  wollüstig-grausamen  Vorstellungs- 
kreises ab  origine  gefallen  ist.  —  Dieser  Fall  enthält  gleichzeitig 
schwache  Elemente  von  Masochismus  (s.  unten). 

Die  Fälle  sind  übrigens  durchaus  nicht  selten,  in  denen  Männer 
mit  perversen  Neigungen  mittelst  hoher  Bezahlung  Prostituirte  be- 
wegen, sich  von  ihnen  flagelliren  und  selbst  blutig  verwunden  zu 
lassen.  Die  Werke,  die  sich  mit  der  Prostitution  beschäftigen,  ent- 
halten darüber  Berichte.    So  Coffignon,  la  corruption  ä  Paris  etc. 

d)  Besudelung  weiblicher  Personen. 

Mitunter  äussert  sich  der  perverse  sadistische  Trieb,  Frauen 
zu  beschädigen  und  verächtlich,  demüthigend  zu  behandeln  in  dem 
Drange,  dieselben  mit  ekelhaften  oder  wenigstens  beschmutzenden 
Dingen  zu  besudeln. 


30  Paraesthesia  sexualis. 

Hierher  gehört  der  folgende  von  Arndt  (Vierteljahrschr.  f. 
ger.  Medicin,  N.  F.  XVII,  H.  1)  veröffentlichte  Fall. 

Beobachtung  30.  Stud.  med.  A.  in  Greifswald  accusatus  quod  iterum 
iterunique  puellis  honestis  parentibus  natis  in  publico  genitalia  sua  e  bracis 
dependentia  plane  nudata  quae  antea  summe-  amiculo  (Paletotschösse)  teeta 
erant,  ostenderat.  Nonnunquam  puellas  fugientes  secutus  easque  ad  se  at- 
traetas  urina  oblivit.  Haec  luce  clara  facta  sunt ;  nunquam  aliquid  haec  faciens 
locutus  est. 

A.  ist  23  Jahre  alt,  kräftig  von  Körper,  sauber  im  Anzug,  decent  in 
seinen  Manieren.  Andeutung  von  Cranium  progeneum.  Chronische  Pneumonie 
der  rechten  Lungenspitze.  Emphysem.  Puls  60,  in  der  Erregung  nur  70—80 
Schläge.  Genitalien  normal.  Klagen  über  zeitweise  Verdauungsstörungen, 
Hartleibigkeit,  Schwindel,  excessive  Erregung  des  Geschlechtstriebs,  die  schon 
früh  zur  Onanie  führte,  nie  aber,  auch  in  der  Folge  nicht,  auf  naturgemässe 
Befriedigung  desselben  gerichtet  war.  Klagen  über  zeitweise  melancholische 
Verstimmung,  selbstquälerische  Gedanken  und  perverse  Antriebe,  zu  denen  er 
selbst  kein  Motiv  finden  könne,  z.  B.  zum  Lachen  bei  ernsten  Veranlassungen, 
sein  Geld  ins  Wasser  zu  werfen,  im  strömenden  Regen  umherzulaufen. 

Der  Vater  des  Inculpaten  ist  von  nervösem  Temperament,  die  Mutter 
nervösem  Kopfweh   unterworfen.     Ein  Bruder   litt  an  epileptischen  Krämpfen. 

Inculpat  zeigte  von  Jugend  auf  nervöses  Temperament,  war  zu  Krämpfen 
und  Ohnmächten  geneigt,  gerieth  in  Zustände  von  momentaner  Erstarrung, 
wenn  er  hart  getadelt  wurde.  1869  studirte  er  Medicin  in  Berlin.  1870  machte 
er  als  Lazarethgehülfe  den  Krieg  mit.  Seine  Briefe  aus  dieser  Zeit  verrathen 
eine  auffallende  Schlaffheit  und  Weichheit.  Bei  der  Rückkehr  nach  Hause  im 
Frühjahr  1871  fällt  seine  Gemüthsreizbarkeit  der  Umgebung  auf.  In  der  Folge 
häufig  Klagen  über  körperliche  Beschwerden,  Unannehmlichkeiten  wegen  eines 
Liebesverhältnisses.  Im  November  1871  lebte  er  in  Greifswald  eifrig  seinen 
Studien.  Er  galt  als  ein  höchst  anständiger  Mensch.  In  der  Haft  ist  er  ruhig, 
gelassen,  zeitweise  in  sich  versunken.  Seine  Handlungen  schiebt  er  auf  Rech- 
nung von  peinigenden  und  in  letzter  Zeit  excessiven  geschlechtlichen  Regungen. 
Seiner  unzüchtigen  Handlungen  sei  er  sich  wohl  bewusst  gewesen  und  habe 
sich  ihrer  hinterher  geschämt.  Eine  wirkliche  geschlechtliche  Befriedigung 
habe  er  dabei  nicht  empfunden.  Einer  rechten  Einsicht  in  seine  Lage  wird 
er  sich  nicht  bewusst.  Er  betrachtet  sich  als  eine  Art  Märtyrer,  der  einer 
bösen  Macht  zum  Opfer  gefallen  ist.  Annahme  von  Aufhebung  der  freien 
Willensbestimmung. 

Dieser  Besudelungsdrang  kommt  auch  bei  paradoxem,  im 
Greisenalter  wieder  erwachenden  Geschlechtstrieb  vor,  der  sich  ja 
so  oft  gleichzeitig  auf  perverse  Art  äussert. 

So  berichtet  Tarnowsky  (op.  cit.  p.  76)  folgenden  Fall: 

Beobachtung  31.  Ich  kannte  einen  solchen  Patienten,  der  ein  mit 
einem  decolletirten  Ballkleid  geputztes  Frauenzimmer  sich  in  einem  hell  er- 
leuchteten Zimmer  auf  ein  niedriges  Sopha  hinlegen  Hess.  Ipse  apud  janum 
alius  cubiculi  obscurati  constitit  adspiciendo  aliquantulum  feminam,  excitatus 


Sadismus.  81 

in  eam  insiluit  excrementa  in  sinus  eius  deposuit.    Haec  faciens  eiaculationem 
quandam  se  sentire  confessus  est. 

Ein  Wiener  Gewährsmann  theilt  mir  mit,  dass  Männer  Pro- 
stituirte  mittelst  hoher  Belohnungen  dazu  bringen,  zu  dulden,  ut 
illi  viri  in  ora  earum  spuerent  et  faeces  et  urinas  in  ora  explerent  *). 

Hierher  scheint  auch  der  folgende  Fall  des  Dr.  Pascal  (Igiene 
dell'  amore)  zu  gehören. 

Beobachtung  32.  Ein  Mann  hatte  eine  Geliebte.  Seine  einzigen 
Beziehungen  zu  dieser  bestanden  darin,  dass  sie  sich  mit  Kohle  oder  Russ 
die  Hände  von  ihm  schwärzen  Hess,  dann  musste  sie  sich  vor  einen  Spiegel 
setzen,  so  dass  er  ihre  Hände  in  diesem  sehen  konnte.  Während  einer  oft 
längeren  Conversation  mit  der  Geliebten  schaute  er  unverwandt  nach  dem 
Spiegelbild  ihrer  Hände  und  empfahl  sich  dann  nach  einiger  Zeit  sehr  be- 
friedigt. 

Bemerkenswerth  in  dieser  Art  dürfte  folgender,  mir  von  ärztlicher  Seite 
mitgetheilter  Fall  sein:  Ein  Offizier  war  in  einem  Lupanar  zu  K.  nur  unter 
dem  Namen  „Oel"  bekannt.  Oel  erzielte  Erection  und  Ejaculation  einzig  da- 
durch, dass  er  puell.  publ.  nudam  in  einen  mit  Oel  gefüllten  Bottich  treten 
Hess  und  sie  am  ganzen  Körper  einölte! 

Angesichts  dieser  Vorkommnisse  drängt  sich  die  Vermuthung 
auf,  dass  gewisse  Fälle  von  Schädigung  der  Kleidung  weiblicher 
Personen  (z.  B.  Bespritzen  mit  Schwefelsäure,  Tinte  u.  s.  w.)  in  der 
Befriedigung  eines  perversen  Sexualtriebs  wurzeln,  wenigstens  handelt 
es  sich  hier  auch  um  eine  Art  von  Wehethun  und  sind  die  Be- 
schädigten jeweils  Frauenzimmer,  die  Beschädiger  männliche  Indi- 
viduen. Jedenfalls  verlohnt  es  sich  der  Mühe,  in  derlei  Gerichts- 
fällen künftig  der  Vita  sexualis  der  Attentäter  Aufmerksamkeit  zu 
schenken. 

Auf  die  sexuelle  Natur  derartiger  Attentate  wirft  auch  der 
unten  mitgetheilte  Fall  Bachmann,  Beob.  91,  helles  Licht,  da  in 
diesem  Falle  das  sexuelle  Motiv  des  Delicts  erwiesen  ist. 

e)  Sonstige  Ausübung  von  Gewalt  gegen  weibliche 
Personen.     Symbolischer  Sadismus. 

Mit  den  vorstehenden  Gruppen  sind  die  Formen,  in  welchen 
sich  der  sadistische  Trieb  gegen  das  Weib  äussert,   noch  nicht  er- 


*)  Leo  Taxil,  La  Corruption,  Paris,  Noiret,  macht  p.  223  dieselben 
Angaben.  Es  gibt  auch  Männer,  die  introductio  linguae  meretricis  in  anum 
verlangen. 

v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  ß 


82  Paraesthesia  sexualis. 

schöpft.  Wenn  der  Trieb  nicht  übermächtig,  oder  noch  genügender 
moralischer  Widerstand  vorhanden  ist,  kann  es  geschehen,  dass  die 
perverse  Neigung  durch  einen  scheinbar  ganz  sinnlosen  läppischen 
Akt  befriedigt  wird,  der  aber  für  den  Thäter  symbolische  Be- 
deutung hat. 

Dies  scheint  der  Sinn  der  folgenden  zwei  Fälle  zu  sein. 

Beobachtung  33.  (Dr.  Pascal,  Igiene  delT  amore.)  Ein  Mann 
ging  an  einem  festgesetzten  Tage  ein  Mal  monatlich  zu  seiner  Geliebten  und 
schnitt  ihr  mit  einer  Scheere  die  Haare  ab,  welche  ihr  über  die  Stirne  herab- 
hingen. Es  gewährte  ihm  dies  den  grössten  Genuss.  Sonst  stellte  er  keine 
Ansprüche  an  das  Mädchen. 

Beobachtung  34.  Ein  Mann  in  Wien  besucht  regelmässig  mehrere 
Prostituirte,  nur  um  ihnen  das  Gesicht  einzuseifen  und  ihnen  dann  mit  einem 
Rasirmesser  so  über  das  Gesicht  zu  fahren,  als  ob  er  ihnen  einen  Bart  ab- 
scheeren  wollte.  Nunquam  puellas  laedit,  sed  haec  faciens  valde  excitatur  libi- 
dine  et  sperma  eiaculat1). 

f)  Sadismus  an  beliebigem  Object.  —  Knabengeissler. 

Ausser  den  geschilderten  sadistischen  Handlungen  an  weib- 
lichen Individuen  kommen  solche  an  beliebigen  lebenden  und  em- 
pfindenden Objecten,  Kindern  und  Thieren,  vor.*  Es  kann  dabei 
volles  Bewusstsein  bestehen,  dass  der  grausame  Drang  eigentlich 
gegen  Weiber  gerichtet  ist  und  nur  faute  de  mieux  das  nächste 
erreichbare  Object  (Schüler)  misshandelt  werden;  —  es  kann  aber 
auch  der  Zustand  des  Thäters  so  beschaffen  sein,  dass  der  Drang 
nach  grausamen  Handlungen  allein  von  wollüstigen  Regungen  be- 
gleitet ins  Bewusstsein  tritt,  während  dessen  eigentliches  Object 
(das  die  wollüstige  Betonung  solcher  Handlungen  erst  erklären  kann) 
im  Dunklen  bleibt. 

Die  erstere  Alternative  genügt  zur  Erklärung  in  den  Fällen, 
welche  Dr.  Albert  (Friedrich's  Blätter  f.  ger.  Med.  1859  p.  77) 
erzählt,  Fälle,  in  welchen  wollüstige  Erzieher  ihre  Zöglinge  ohne 
alle  Veranlassung  auf  den  entblössten  Podex  peitschten. 

An  die  zweite  Alternative,  den  in  Bezug  auf  sein  Object  un- 
bewussten  sadistischen  Trieb,  müssen  wir  wohl  denken,  wenn  Knaben 


J)  Leo  Taxil  op.  cit.  p.  224  erzählt,  dass  in  den  Pariser  Lupanaren 
Instrumente  bereit  gehalten  werden,  die  Knüttel  vorstellen,  aber  nur  luftgefüllte 
Hülsen  sind,  dieselben,  mit  denen  sich  im  Circus  die  Clowns  prügeln.  Sadistische 
Männer  verschaffen  sich  damit  die  Illusion,  Weiber  zu  prügeln. 


Sadismus.  83 

beim  Anblick  der  Züchtigung  ihrer  Altersgenossen  sofort  sexuell 
erregt  und  dadurch  in  ihrer  weiteren  Vita  sexualis  bestimmt  werden, 
wie  in  den  folgenden  Fällen. 

Beobachtung  35.  K,  25  Jahre,  Kaufmann,  wendete  sich  im  Herbst 
1889  an  mich  um  Rath  wegen  einer  Anomalie  seiner  Vita  sexualis,  welche  ihn 
Siechthum  und  Versagtbleiben  künftigen  ehelichen  Glückes  fürchten  lasse. 

Pat.  stammt  aus  nervöser  Familie,  war  als  Kind  zart,  schwächlich,  nervös, 
gesund  bis  auf  Morbilli,  entwickelte  sich  später  kräftig. 

Mit  8  Jahren,  in  der  Schule,  war  er  Zeuge,  wie  der  Lehrer  Knaben 
züchtigte,  indem  er  ihnen  den  Kopf  zwischen  die  Schenkel  nahm  und  deren 
Gesäss  mit  Ruthenstreichen  bearbeitete. 

Dieser  Anblick  verursachte  Pat.  eine  wollüstige  Erregung.  „Ohne  eine 
Ahnung  von  der  Gefährlichkeit  und  Abscheulichkeit  der  Onanie"  befriedigte 
er  sich  durch  solche  und  masturbirte  von  nun  an  oft,  indem  er  jeweils  das 
Erinnerungsbild  gezüchtigter  Knaben  sich  vergegenwärtigte. 

So  ging  es  fort  bis  zum  20.  Jahre.  Da  erfuhr  er  von  der  Bedeutung 
der  Onanie,  erschrak  heftig,  suchte  seinen  Drang  zur  Masturbation  zu  unter- 
drücken, verfiel  aber  auf  nach  seiner  Meinung  unschädliche  und  moralisch  zu 
rechtfertigende  psychische  Onanie,  wozu  er  die  erwähnten  Erinnerungsbilder 
flagellirter  Knaben  benutzte. 

Pat.  wurde  nun  neurasthenisch ,  litt  unter  Pollutionen,  versuchte  sich 
durch  Besuch  öffentlicher  Häuser  zu  heilen,  brachte  es  aber  zu  keiner  Erection. 

Er  bestrebte  sich  nun,  zu  normalen  geschlechtlichen  Empfindungen  durch 
geselligen  Verkehr  mit  anständigen  Damen  zu  gelangen,  erkannte  aber,  dass 
er  ganz  unempfindlich  für  die  Reize  des  schönen  Geschlechts  sei. 

Pat.  ist  ein  intelligenter,  normal  gewachsener,  schöngeistig  veranlagter 
Mann.    Neigung  zu  Personen  des  eigenen  Geschlechts  besteht  nicht. 

Mein  ärztlicher  Rath  bestand  in  Vorschriften  zur  Bekämpfung  der 
Neurasthenie,  der  Pollutionen,  Verbot  psychischer  und  manueller  Onanie,  Fern- 
haltung aller  sexuellen  Reize,  Inaussichtstellung  hypnotischer  Behandlung  be- 
hufs successiver  Rückerziehung  der  Vita  sexualis  zur  Norm. 

Beobachtung  36.  Abortiver  Sadismus.  N.,  Stud.  Kommt  im  De- 
cember  1890  zur  Beobachtung.  Er  treibt  seit  früher  Jugend  Onanie.  Nach 
seinen  Angaben  wurde  er  geschlechtlich  erregt,  als  er  seine  Geschwister  durch 
den  Vater  züchtigen  sah,  später  Mitschüler  durch  den  Lehrer.  Als  Zus^1  auer 
solcher  Akte  hatte  er  immer  Wollustgefühle.  Wann  dies  zum  ersten  Male 
auftrat,  weiss  er  nicht  genau  zu  sagen ;  etwa  mit  6  Jahren  sei  dies  schon  der 
Fall  gewesen.  Er  weiss  auch  nicht  mehr  genau ,  wann  er  zur  Onanie  kam  ; 
behauptet  aber  bestimmt,  dass  sein  Sexualtrieb  durch  Züchtigung  Anderer  ge- 
weckt worden  sei  und  dass  er  dadurch  ganz  unbewusst  zur  Onanie  gelangte. 
Pat.  erinnert  sich  bestimmt,  dass  er  vom  4. — 8.  Jahre  öfters  selbst  auf  den 
Podex  gezüchtigt  worden  ist,  davon  aber  nur  Schmerz  und  niemals  Wollust 
empfunden  habe. 

Da  er  nicht  immer  Gelegenheit  hatte,  Andere  züchtigen  zu  sehen,  stellte 
er  sich  nun  in  seiner  Phantasie  vor,  wie  Solche  gezüchtigt  wurden.   Das  erregte 


84  Paraesthesia  sexualis. 

seine  Wollust  und  er  onanirte  dann.  Wo  immer  er  konnte,  suchte  er  es  in 
der  Schule  so  einzurichten,  dass  er  beim  Züchtigen  Anderer  zusehen  konnte. 
Er  fühlte  ab  und  zu  auch  den  Wunsch ,  selbst  Andere  zu  züchtigen.  Mit 
12  Jahren  brachte  er  einen  Kameraden  dazu,  dass  dieser  sich  von  ihm  züch- 
tigen Hess.  Dabei  empfand  er  grosse  Wollust.  —  Als  aber  der  Andere  ihn 
dann  en  revanche  züchtigte,  empfand  er  nur  Schmerz. 

Der  Drang,  Andere  zu  züchtigen,  war  nie  sehr  stark.  Pat.  empfand 
mehr  Befriedigung  darin,  seine  Phantasie  in  Geisselscenen  schwelgen  zu 
lassen.  Sonstige  sadistische  Anwandlungen  hatte  er  nie.  Niemals  Drang,  Blut 
zu  sehen  u.  dgl. 

Bis  zum  15.  Jahre  bestand  sein  sexueller  Genuss  in  Onanie  im  Anschluss 
an  obige  Phantasien. 

Von  da  an  (Tanzstunde,  Umgang  mit  Mädchen)  schwanden  die  früheren 
Phantasien  fast  völlig  und  waren  nur  mehr  schwach  von  Wollustgefühlen  be- 
gleitet, so  dass  Pat.  ganz  davon  abliess.  An  die  Stelle  derselben  traten  Coitus- 
phantasien  in  natürlicher,  nicht  sadistischer  Art. 

Aus  „ Gesundheitsrücksichten"  coitirte  Pat.  zum  ersten  Mal.  Er  war  potent 
und  vom  Akt  befriedigt.  Er  suchte  nun  von  Onanie  sich  zu  enthalten,  aber 
es  gelang  nicht,  obwohl  er  öfter  coitirte  und  dabei  mehr  Genuss  fand  als 
bei  Onanie. 

Er  möchte  von  der  Onanie  als  etwas  Unwürdigem  loskommen.  Schäd- 
liche Wirkungen  hat  er  davon  nicht  bemerkt.  Coitirtlmal  monatlich,  onanirt 
aber  1 — 2mal  in  jeder  Nacht.  Er  ist  jetzt  sexuell  ganz  normal  bis  auf  die 
Onanie.     Von  Neurasthenie  ist  nichts  zu  finden.     Genitalien  normal. 

Beobachtung  37.  P.,  15  Jahre,  aus  vornehmem  Hause,  stammt  von 
hysterischer  Mutter.     Deren  Bruder  und  Vater  starben  im  Irrenhause. 

Zwei  Geschwister  starben  in  Fraisen  im  zarten  Kindesalter. 

P.  ist  talentirt,  brav,  ruhig,  zeitweilig  aber  sehr  ungehorsam,  halsstarrig, 
jähzornig.  Er  leidet  an  Epilepsie,  ist  Onanist.  Eines  Tages  kam  heraus,  dass 
P.  den  14jährigen,  mittellosen  Kameraden  B.  durch  Geld  dazu  vermochte,  sich 
von  ihm  in  Oberarme,  Hinterbacken,  Oberschenkel  kneipen  zu  lassen.  Wenn 
dann  B.  weinte,  wurde  P.  aufgeregt,  schlug  auf  B.  mit  der  rechten  Hand  los, 
während  er  mit  der  linken  in  seiner  linken  Hosentasche  manipulirte. 

P.  gestand,  dass  ihm  die  Misshandlung  des  Freundes,  den  er  sonst  sehr 
gern  habe,  ein  besonderes  Vergnügen  bereitet  habe,  und  dass  ihm  die  Ejacu- 
lation,  da  er  während  der  Misshandlung  masturbirte,  bedeutend  mehr  Genuss 
verschaffe,  als  wenn  er  solitär  masturbirte.  (v.  Gyurkovechky,  Pathologie 
und  Therapie  der  männlichen  Impotenz,  1889,  p.  80.) 

Dass  in  allen  diesen  Fällen  sadistischer  Misshandlungen  an 
Knaben  nicht  etwa  an  eine  Combination  von  Sadismus  mit  con- 
trärer  Sexualempfindung,  wie  sie  bei  conträr  Sexualen  öfters  vor- 
kommt (s.  unten),  zu  denken  ist,  ergibt  sich  —  abgesehen  davon, 
dass  alle  positiven  Anzeichen  dafür  fehlen  —  auch  aus  der  Be- 
trachtung der  nächsten  Gruppe,    wo   neben   dem  Object   der  Miss- 


Sadismus.  85 

handlung  —  Thiere   —   die   Richtung   des    Triebes   auf  das  Weib 
wiederholt  deutlich  hervortritt. 

g)  Sadistische  Akte  an  Thieren. 

In  zahlreichen  Fällen  benützen  sadistisch  perverse  Männer,  die 
vor  einem  Verbrechen  am  Menschen  zurückschrecken,  oder  denen 
es  überhaupt  nur  auf  den  Anblick  der  Leiden  eines  empfindenden 
Wesens  ankommt,  zur  Potenzirung  oder  Erregung  ihrer  Wollust 
den  Anblick  des  Sterbens  von  Thieren  oder  die  Marterung  derselben. 

Bezeichnend  in  dieser  Hinsicht  ist  der  von  Hofmann  in  seinem  Lehr- 
buch der  gerichtlichen  Medicin  berichtete  Fall  eines  Mannes  in  Wien,  der  sich 
nach  der  gerichtlichen  Aussage  mehrerer  Prostituirten  vor  dem  Geschlechtsakt 
durch  Martern  und  Tödten  von  Hühnern,  Tauben  und  anderen  Vögeln  aufzu- 
regen pflegte  und  deshalb  von  ihnen  den  Spitznamen  „  Hendlherr "  erhielt. 

Werthvoll  für  die  Bedeutung  eines  derartigen  Falles  ist  die  Beobachtung 
von  Lombroso  bezüglich  zweier  Männer,  die,  wenn  sie  Hühner  oder  Tauben 
drosselten  oder  schlachteten,  Ejaculationen  bekamen. 

Derselbe  Autor  berichtet  in  seinem  Uomo  delinquente  p.  201  von  einem 
bedeutenden  Dichter,  der  beim  Anblick  des  Zerstückens  eines  geschlachteten 
Kalbes  oder  auch  beim  blossen  Gewahrwerden  von  blutigem  Fleisch  sexuell 
mächtig  erregt  wurde. 

Ein  entsetzlicher  Sport  soll  nach  Mantegazza  (op.  cit.  p.  114)  bei 
entarteten  Chinesen  darin  bestehen,  Anseres  zu  sodomisiren  und  ihnen  tempore 
ejaculationis  den  Hals  abzusäbeln.  (!) 

Mantegazza  (Fisiologia  del  piacere,  5.  ed.  p.  394 — 395)  berichtet  von 
einem  Mann,  der  einmal  zusah,  wie  man  Hähne  abschlachtete,  und  seit  dieser 
Zeit  eine  Gier  hatte,  die  warmen,  noch  dampfenden  Eingeweide  derselben  zu 
durchwühlen,  weil  er  dabei  ein  Wollustgefühl  empfand. 

Die  Vita  sexualis  ist  also  auch  in  diesem  und  in  ähnlichen  Fällen  ab 
origine  so  beschaffen,  dass  der  Anblick  von  Blut,  Tödtung  etc.  wollüstige  Ge- 
fühle erregt.    Ebenso  im  folgenden  Falle : 

B  e  o  b  a  c  h  t  u  n  g  38.  C.  L.,  42  Jahre  alt,  Ingenieur,  verheirathet  Vater 
von  2  Kindern.  Stammt  aus  neuropathischer  Familie,  Vater  jähzornig,  Potator, 
Mutter  hysterisch,  litt  an  eclamptischen  Anfällen. 

Pat.  erinnert  sich,  in  seinen  Knabenjahren  mit  Vorliebe  der  Schlachtung 
von  Hausthieren  zugesehen  zu  haben,  insbesondere  der  von  Schweinen.  Es 
kam  dabei  zu  ausgesprochenem  Wollustgefühl  und  Ejaculation.  Später  suchte 
er  Schlachthäuser  auf,  um  sich  am  Anblick  des  ausfliessenden  Blutes  und  der 
Todeszuckungen  der  Thiere  zu  ergötzen.  Wo  er  Gelegenheit  dazu  finden 
konnte,  tödtete  er  selbst  ein  Thier,  was  ihm  jedesmal  ein  vicariirendes  Gefühl 
des  Geschlechtsgenusses  verschaffte. 

Erst  um  die  Zeit  der  vollen  Entwicklung  kam  er  zur  Erkenntniss  seiner 
Abnormität.     Weibern  war   Pat.  nicht  geradezu  abgeneigt,   aber  nähere  Be- 


86  Paraesthesia  sexualis. 

rührung  mit  ihnen  schien  ihm  ein  Gräuel.  —  Auf  Anrathen  eines  Arztes  hei- 
rathete  er  mit  25  Jahren  eine  ihm  sympathische  Frau,  in  der  Hoffnung,  seinen 
abnormen  Zustand  los  zu  werden.  Obwohl  er  seiner  Frau  sehr  zugethan  war, 
konnte  er  nur  selten  und  nach  langer  Bemühung  und  Anspannung  seiner  Phan- 
tasie mit  ihr  den  Coitus  ausüben.  Trotzdem  zeugte  er  2  Kinder.  Im  Jahre  1866 
machte  er  den  Krieg  in  Böhmen  mit.  Seine  Briefe  von  dort  an  seine  Frau 
waren  in  einem  exaltirt  enthusiastischen  Tone  geschrieben.  Seit  der  Schlacht 
von  Königgrätz  ist  er  verschollen. 

War  die  Fähigkeit  zum  normalen  Beischlafe  in  diesem  Falle 
durch  das  Ueberwiegen  der  perversen  Vorstellungen  sehr  beein- 
trächtigt, so  erscheint  sie  im  folgenden  Falle  gänzlich  unterdrückt. 

Beobachtung  39.  (Dr.  Pascal,  Igiene  dell'  amore.)  Ein  Herr  erschien 
bei  Prostituirten,  Hess  von  ihnen  lebendes  Geflügel  oder  ein  Kaninchen  kaufen 
und  verlangte,  dass  die  Person  das  Thier  martere.  Er  hatte  es  abgesehen  auf 
Köpfen,  Augenausreissen,  Ausreissen  der  Eingeweide.  Fand  er  eine  Puella, 
die  sich  zu  derlei  herbeiliess  und  recht  grausam  vorging,  so  war  er  entzückt, 
zahlte  und  ging,  ohne  von  der  Person  etwas  weiter  zu  verlangen  oder  sie  zu 
berühren,  seiner  Wege. 

Aus  den  beiden  letzten  Abschnitten  f)  und  g)  ergibt  sich,  dass 
das  Leiden  eines  jeden  empfindenden  Wesens  für  sadistisch  ver- 
anlagte Naturen  zur  Quelle  eines  perversen  sexuellen  Genusses 
werden  kann,  dass  es  einen  Sadismus  an  beliebigem  Object  gibt. 

Es  wäre  jedoch  durchaus  falsch  und  übertrieben,  überall  da,  wo 
ausserordentliche,  überraschende  Grausamkeit  sich  findet,  diese  aus 
sadistischer  Perversion  erklären  zu  wollen,  und,  wie  es  hie  und  da 
geschieht,  in  den  zahllosen  Gräueln  der  Geschichte  oder  auch  in 
gewissen  massenpsychologischen  Erscheinungen  der  Gegenwart  den 
Sadismus  als  Motiv  vorauszusetzen. 

Grausamkeit  fliesst  ja  aus  verschiedenen  Quellen  und  ist  dem 
primitiven  Menschen  natürlich.  Mitleid  ist  dem  gegenüber  die  se- 
cundäre  Erscheinung  und  spät  erworbene  Empfindung.  Der  Kampf- 
und Vernichtungstrieb,  der  für  die  prähistorischen  Zustände  eine  so 
werthvolle  Ausrüstung  war,  wirkt  noch  lange  nach  und  erhält  durch 
Culturbegriffe  wie  „der  Verbrecher"  noch  neue  Objecte,  während 
sein  ursprüngliches  Object  „der  Feind"  noch  da  ist.  Dass  nicht 
die  blosse  Tödtung,  sondern  die  Marter  des  Unterlegenen  verlangt 
wird,  erklärt  sich  theils  aus  dem  Machtgefühl,  das  sich  auf  diesem 
Wege  befriedigt,  theils  aus  der  Masslosigkeit  des  Vergeltungstriebes. 
So  lassen  sich  alle  Gräuel  und  alle  historischen  Ungeheuer  erklären, 
ohne  auf  den  Sadismus  zu  recurriren  (der  ja  öfters   im  Spiele  ge- 


Sadismus.  87 

wesen  sein  mag,  aber  als  relativ  seltene  Perversion  nicht  voraus- 
gesetzt werden  darf). 

Daneben  ist  noch  ein  starkes  psychisches  Element  zu  berück- 
sichtigen, welches  namentlich  die  Anziehungskraft  erklärt,  die  heute 
noch  Hinrichtungen  u.  dgl.  ausüben;  das  ist  die  Lust  am  starken 
und  ungewöhnlichen  Eindruck  überhaupt,  am  seltenen  Schauspiel, 
der  gegenüber  das  Mitleid  in  rohen  oder  abgestumpften  Naturen 
schweigt. 

Es  gibt  aber  unzweifelhaft  sehr  viele  Individuen,  auf  die  trotz 
oder  gerade  vermittelst  ihres  lebhaften  Mitleidens  Alles,  was  mit 
Tod  und  Qualen  zusammenhängt,  eine  geheimnissvolle  Anziehungs- 
kraft hat,  die  innerlich  widerstrebend  und  doch  einem  dunklen 
Drange  folgend,  sich  mit  solchen  Dingen  oder  wenigstens  Bildern 
und  Berichten  davon  zu  beschäftigen  trachten.  Auch  dies  ist  noch 
nicht  Sadismus,  so  lange  dabei  kein  sexuelles  Element  ins  Bewusst- 
sein  tritt,  obwohl  möglicher  Weise  dunkle  Fäden  im  Unbewussten 
solche  Erscheinungen  mit  einem  verborgenen  Untergrund  des  Sadis- 
mus verbinden  mögen. 

h)  Sadismus  des  Weibes. 

Dass  Sadismus  — ■  eine,  wie  wir  gesehen  haben,  beim  Manne 
häufige  Perversion  —  beim  Weibe  weit  seltener  vorkommt,  ist 
leicht  erklärlich.  Einmal  stellt  der  Sadismus,  in  welchem  das  Be- 
dürfniss  nach  Unterwerfung  des  anderen  Geschlechts  ein  consti- 
tuirendes  Element  bildet ,  seiner  Natur  nach  eine  pathologische 
Steigerung  des  männlichen  Geschlechtscharakters  dar,  zweitens 
sind  die  mächtigen  Hindernisse,  die  sich  der  Aeusserung  des  mon- 
strösen Triebes  entgegenstellen,  begreiflicher  Weise  für  das  Weib 
noch  grösser  als  für  den  Mann. 

Gleichwohl  kommt  Sadismus  des  Weibes  vor  und  lässt  sich 
recht  wohl  aus  dem  ersten  constitutiven  Element  des  Sadismus,  der 
allgemeinen  Uebererregung  der  motorischen  Sphäre,  allein  erklären. 

Wissenschaftlich  beobachtet  sind  bis  jetzt  nur  zwei  Fälle. 

Beobachtung  40.  Ein  verheiratheter  Mann  stellt  sich  mit  zahlreichen 
Schnittnarben  an  den  Armen  vor.  Er  gibt  über  den  Ursprung  derselben 
Folgendes  an:  Wenn  er  sich  seiner  jungen,  etwas  „nervösen"  Frau  nähern 
wolle,  müsse  er  sich  erst  einen  Schnitt  am  Arme  beibringen.  Sie  sauge  dann 
an  der  Wunde,  worauf  sich  bei  ihr  eine  hochgradige  sexuelle  Erregung 
einstelle. 


88  Paraesthesia  sexualis. 

Dieser  Fall  erinnert  an  die  überall  verbreitete  Vampyrsage,  deren  Ent- 
stehung vielleicht  auf  sadistische  Thatsachen  zurückzuführen  ist 1). 

In  einem  zweiten  Falle  von  Sadismus  des  Weibes,  den  ich 
Herrn  Dr.  Moll  in  Berlin  verdanke,  liegt  neben  der  perversen 
Richtung  des  Triebes,  wie  so  oft,  Anästhesie  gegenüber  den  nor- 
malen Vorgängen  des  Geschlechtslebens  vor,  auch  treten  hier  gleich- 
zeitig Spuren  von  Masochismus  (s.  unten)  auf. 

Beobachtung  41.  Frau  H.  in  H. ,  26  Jahre  alt,  stammt  aus  einer 
Familie,  in  der  sich  Nervenkrankheiten  oder  psychische  Störungen  angeblich 
,  nicht  finden;  hingegen  bietet  Patientin  selbst  Zeichen  von  Hysterie  und  Neur- 
asthenie. Obwohl  8  Jahre  verheirathet  und  Mutter  eines  Kindes,  hatte  Frau  H. 
niemals  das  Verlangen  den  Coitus  auszuführen.  Als  junges  Mädchen  streng 
sittlich  erzogen ,  blieb  sie  bis  zur  Verheirathung  in  fast  naiver  Unkenntniss 
der  sexuellen  Vorgänge.  Sie  ist  seit  dem  15.  Lebensjahr  regelmässig  menstruirt. 
Eine  wesentliche  Abnormität  an  den  Genitalien  scheint  nicht  vorhanden  zu 
sein.  Der  Coitus  ist  der  Patientin  nicht  nur  kein  Vergnügen,  sondern  geradezu 
ein  unangenehmer  Akt ;  der  Abscheu  davor  hat  immer  mehr  zugenommen.  Es 
ist  der  Patientin  durchaus  unklar,  wie  man  einen  solchen  Akt  als  höchsten 
Genuss  der  Liebe  bezeichnen  kann,  die  ihr  etwas  bei  weitem  Höheres  sei,  das 
nicht  mit  solchem  sinnlichen  Triebe  zusammenhänge.  Dabei  sei  erwähnt,  dass 
die  Patientin  ihren  Mann  ernstlich  liebt.  Sie  hat  auch  am  Küssen  desselben 
einen  entschiedenen  Genuss,  den  sie  aber  nicht  genauer  beschreiben  kann. 
Dass  aber  die  Genitalien  irgend  etwas  mit  Liebe  zu  thun  hätten,  kann  ihr 
nicht  einleuchten.  Frau  H.  ist  übrigens  eine  entschieden  verständige  Frau  mit 
weiblichem  Wesen. 

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eani  poeniteret,  si  morsu  magnum  dolorem  faceret  (Dr.  Moll). 

In  der  Geschichte  finden  sich  Beispiele  von  zum  Theil  illustren 
Frauen,  deren  Herrschsucht,  Wollust  und  Grausamkeit  die  Annahme 
einer  sadistischen  Perversion  dieser  Messalinen  nahe  legt.  Hierher 
gehört  Valeria  Messalina    selbst,   Katharina    von   Medici,    die   An- 


])  Die  Sage  ist  besonders  auf  der  Balkanhalbinsel  viel  verbreitet.  Bei 
den  Neugriechen  geht  sie  auf  die  antike  Mythe  von  den  Lamien  und  Mormo- 
lyken  —  blutsaugende  Weiber  —  zurück.  Diesen  Stoff  hat  Goethe  in  seiner 
, Braut  von  Korinth"  bearbeitet.  Die  auf  Vampyrismus  bezüglichen  Verser 
„saugen  deines  Herzens  Blut"  etc.  sind  erst  durch  Vergleich  der  antiken  Quellen 
ganz  verständlich. 


Masochismus.  89 

stifterin  der  Bartholomäusnacht,  deren  Hauptvergnügen  es  war,  ihre 
Hofdamen  vor  ihren  Augen  mit  Ruthen  streichen  zu  lassen,  u.  A. 
Vergl.  jedoch  oben  p.  86  1). 


2)  Verbindung  passiv  erduldeter  Grausamkeit  und  Gewalttätigkeit 
mit  Wollust.  —  Masochismus 2). 

Das  Gegenstück  des  Sadismus  ist  der  Masochismus.  Während 
jener  Schmerzen  zufügen  und  Gewalt  ausüben  will,  geht  dieser 
darauf  aus,  Schmerzen  zu  leiden  und  sich  der  Gewalt  unterworfen 
zu  fühlen. 

Unter  Masochismus  verstehe  ich  eine  eigenthümliche  Perversion 
der  psychischen  Vita'  sexualis,  welche  darin  besteht,  dass  das  von 
derselben  ergriffene  Individuum  in  seinem  geschlechtlichen  Fühlen 
und  Denken  von  der  Vorstellung  beherrscht  wird,  dem  Willen 
einer  Person  des  anderen  Geschlechts  vollkommen  und  unbedingt 
unterworfen  zu  sein,  von  dieser  Person  herrisch  behandelt,  ge- 
demüthigt  und  misshandelt  zu  werden.  Diese  Vorstellung  wird  mit 
Wollust  betont;    der   davon   Ergriffene    schwelgt  in  Phantasien,   in 


*)  Ein  grässliches  Gemälde  eines  erdachten  vollkommenen  weiblichen 
Sadismus  bietet  der  geniale,  aber  zweifellos  geistig  nicht  normale  Heinrich 
von  Kleist  in  seiner  „Penthesilea". 

In  seiner  Penthesilea  (22.  Auftritt)  schildert  tKleist  seine  Heldin,  wie 
sie,  von  wollüstig-mordlustiger  Raserei  ergriffen,  den  in  ihre  Hände  gelockten, 
in  Liebesbrunst  bisher  verfolgten  Achilles  in  Stücke  reisst,  ihre  Meute  auf 
ihn  hetzt. 

„Sie  schlägt,  die  Rüstung  ihm  vom  Leibe  reissend,  den  Zahn  schlägt 
sie  in  seine  weisse  Brust,  sie  und  die  Hunde,  die  wetteifernden,  Oxus  und 
Sphynx  den  Zahn  in  seine  rechte ,  in  seine  linke  sie ;  als  ich  erschien ,  troff 
Blut  von  Mund  und  Händen  ihr  herab,"  und  später,  als  Penthesile?  er- 
nüchtert ist : 

„Küssf  ich  ihn  todt?  —  Nicht  —  küsst'  ich  ihn  nicht?  Zerrissen  wirklich? 
—  So  war  es"  ein  Versehen ;  Küsse,  Bisse,  das  reimt  sich,  und  wer  recht  von 
Herzen  liebt,  kann  schon  das  Eine  für  das  Andre  greifen." 

In  der  neuesten  Literatur  findet  sich  ein  weiblicher  Sadismus  geschildert, 
vor  Allem  in  den  weiter  unten  zu  besprechenden  Romanen  Sacher-Masoch's, 
dann  in  Ernst  von  Wildenbruch's  „Brunhilde" ,  Rachilde's  „La  Marquise  de 
Sade"  etc. 

2)  So  genannt  nach  dem  Schriftsteller  Sacher-Masoch ,  in  Anerkennung 
der  Thatsache,  dass  dessen  Romane  und  Novellen  die  ersten  Darstellungen 
dieser  Perversion  enthalten,  den  Verf.  zu  Forschungen  auf  ihrem  Gebiet  an- 
regten und  analog  der  wissenschaftlichen  Wortbildung  „Daltonismus"  (nach 
Dalton,  dem  Entdecker  der  Farbenblindheit). 


90  Paraesthesia  sexualis. 

welchen  er  sich  Situationen  dieser  Art  ausmalt;  er  trachtet  oft  nach 
einer  Verwirklichung  derselben  und  wird  durch  diese  Perversion 
seines  Geschlechtstriebs  nicht  selten  für  die  normalen  Reize  des 
anderen  Geschlechts  mehr  oder  weniger  unempfänglich ,  zu  einer 
normalen  Vita  sexualis  unfähig  —  psychisch  impotent.  Diese 
psychische  Impotenz  beruht  dann  aber  durchaus  nicht  etwa  auf 
einem  horror  sexus  alterius,  sondern  nur  darauf,  dass  dem  perversen 
Trieb  eine  andere  Befriedigung  als  die  normale,  zwar  auch  durch 
das  Weib,  aber  nicht  durch  den  Coitus,  adäquat  ist. 

Es  kommen  aber  auch  Fälle  vor,  in  welchen  neben  der  per- 
versen Richtung  des  Triebs  auch  die  Empfänglichkeit  für  normale 
Reize  noch  leidlich  erhalten  ist  und  nebenher  ein  geschlechtlicher 
Verkehr  unter  normalen  Bedingungen  stattfindet.  In  anderen  Fällen 
wieder  ist  die  Impotenz  eine  nicht  rein  psychische;  sondern  eine 
physische,  i.  e.  spinale,  da  diese  Perversion,  wie  fast  alle  anderen 
Perversionen  des  Geschlechtstriebs,  nur  auf  dem  Boden  einer  psycho- 
pathischen, meistens  einer  belasteten  Individualität  sich  zu  ent- 
wickeln pflegt ,  und  solche  Individuen  in  der  Regel  sich  masslosen 
Excessen,  besonders  masturbatorischen,  zu  welchen  sie  die  Schwie- 
rigkeit, ihre  Phantasien  zu  verwirklichen,  immer  wieder  hindrängt, 
von  früher  Jugend  an  hinzugeben  pflegen. 

Die  Zahl  der  bis  jetzt  beobachteten  Fälle  von  unzweifelhaftem 
Masochismus  ist  bereits  eine  recht  grosse.  Ob  Masochismus  neben 
einem  normalen  Geschlechtsleben  vorkommt  oder  das  Individuum 
ausschliesslich  beherrscht,  ob  und  inwieweit  der  von  dieser  Perver- 
sion Ergriffene  eine  Verwirklichung  seiner  seltsamen  Phantasien 
anstrebt  oder  nicht,  ob  er  seine  Potenz  dabei  mehr  oder  weniger 
eingebüsst  hat  oder  nicht  —  das  Alles  hängt  nur  vom  Grade  der 
Intensität  der  im  einzelnen  Falle  vorhandenen  Perversion  und  von 
der  Stärke  der  ethischen  und  ästhetischen  Gegenmotive  sowie  von 
der  relativen  Rüstigkeit  der  physischen  und  psychischen  Organisation 
des  Ergriffenen  ab.  Das  für  den  Standpunkt  der  Psychopathie 
Wesentliche  und  das  Gemeinsame  aller  dieser  Fälle  ist:  die  Rich- 
tung des  Geschlechtstriebs  auf  den  Vorstellungskreis 
der  Unterwerfung  unter  und  Misshandlung  durch  das 
andere  Geschlecht. 

Was  oben  vom  Sadismus  bezüglich  des  impulsiven  Charakters 
(Verdunklung  der  Motivation)  der  aus  ihm  fliessenden  Handlungen, 
und  bezüglich  des  durchaus  originären  Charakters  der  Perversion 
gesagt  wurde,  gilt  auch  vom  Masochismus. 


Masochismus.  91 

Auch  beim  Masochismus  findet  sich  eine  Abstufung  der  Akte 
von  den  widerlichsten  und  monströsesten  Handlungen  bis  zur  ein- 
fach läppischen  herab,  je  nach  dem  Grade  der  Intensität  des  per- 
versen Triebes  und  der  restlichen  Kraft  der  moralischen  und 
ästhetischen  Gegenmotive.  Den  äussersten  Consequenzen  des  Maso- 
chismus wirkt  aber  auch  der  Selbsterhaltungstrieb  entgegen,  und 
deshalb  finden  Mord  und  schwere  Verletzung,  die  im  sadistischen 
Affecte  begangen  werden  können,  hier,  soweit  bis  jetzt  bekannt, 
kein  passives  Gegenstück  in  der  Wirklichkeit.  Wohl  aber  können 
die  perversen  Wünsche  masochistischer  Individuen  in  innerlichen 
Phantasien  bis  zu  diesen  äussersten  Consequenzen  fortschreiten 
(s.  unten  Beobachtung  51). 

Auch  die  Akte,  denen  die  Masochisten  sich  hingeben,  werden 
von  Einigen  in  Verbindung  mit  dem  Coitus  ausgeführt,  resp.  prä- 
paratorisch verwendet,  von  Anderen  zum  Ersätze  des  unmöglichen 
Coitus.  Auch  hier  hängt  dies  nur  vom  Zustande  der  meist  physisch 
oder  psychisch,  durch  die  perverse  Richtung  der  sexuellen  Vor- 
stellungen beeinträchtigten  Potenz  ab  und  betrifft  nicht  das  Wesen 
der  Sache. 

a)  Aufsuchen   von  Misshandlungen   und  Demüthigungen 
zum  Zweck  sexueller  Befriedigung. 

Die  folgende  ausführliche  Selbstbiographie  eines  Masochisten 
gibt  eine  erschöpfende  Darstellung  eines  typischen  Falles  dieser 
seltsamen  Perversion. 

Beobachtung  42.  Ich  stamme  aus  einer  neuropathischen  Familie, 
in  welcher  neben  allerlei  Sonderbarkeiten  des  Charakters  und  der  Lebensführung 
auch  mehrfache  Abnormitäten  in  sexueller  Beziehung  vorkommen. 

Meine  Phantasie  war  von  jeher  ungemein  lebhaft  und  sehr  früh  auf 
sexuelle  Dinge  gerichtet.  Dabei  war  ich,  soweit  ich  mich  zurückerinnern  kann, 
lange  vor  dem  Eintritt  der  Pubertät  (i.  e.  der  Ejaculation)  der  Onanie  sehr 
stark  ergeben.  Meine  Gedanken  waren  schon  damals  in  stundenlangem  Brüten 
auf  den  Verkehr  mit  dem  weiblichen  Geschlecht  gerichtet.  Aber  die  Be- 
ziehungen, in  die  ich  mich  dabei  zum  anderen  Geschlecht  setzte,  waren  ganz 
seltsamer  Art.  Ich  stellte  mir  nämlich  vor,  dass  ich  in  der  Gefangenschaft, 
in  der  unumschränkten  Macht  einer  Frau  sei,  und  dass  diese  Frau  ihre  Macht 
dazu  benütze,  mich  auf  jede  mögliche  Weise  zu  quälen  und  zu  misshandeln. 
Dabei  spielten  namentlich  Schläge  und  Hiebe  in  meiner  Phantasie  eine  grosse 
Rolle,  aber  auch  noch  eine  ganze  Reihe  anderer  Handlungen  und  Situationen, 
welche  alle  ein  Verhältniss  der  Knechtschaft  und  Unterwerfung  aus- 
drückten.    Ich  sah  mich  vor  meinem  Ideal  stets  auf  den  Knieen  liegen,  wurde 


f 


94  Paraesthesia  sexualis. 

hatte  ich  kaum  je  ein  anderes  Interesse  als  bestenfalls  ein  ästhetisches. 
Ein  sehr  grosses  Interesse  hatte  ich  von  jeher  für  weibliche  Schuhe,  und  nament- 
lich für  Stief  letten  mit  hohen  Absätzen,  immer  verbunden  mit  der  Vorstellung 
getreten  zu  werden  oder  den  Fuss  huldigend  zu  küssen  etc. 

Ich  überwand  schliesslich  auch  meine  letzte  Scheu  und  Hess  mich  eines 
Tages,  um  meine  Träume  zu  realisiren,  von  einer  Prostituirten  flagelliren, 
treten  etc.  Der  Effect  war  eine  grosse  Enttäuschung.  Was  da  mit  mir 
geschah,  war  für  meine  Empfindung  roh,  widerlich  abstossend  und  lächerlich 
zugleich.  Die  Schläge  verursachten  mir  nur  Schmerz ,  die  sonstige  Situation 
Widerwillen  und  Beschämung.  Trotzdem  erzwang  ich  mechanisch  eine  Ejacu- 
lation,  wobei  ich  mit  Hülfe  meiner  Phantasie  die  wirkliche  Situation  in  die 
von  mir  ersehnte  umdichtete.  Diese  —  die  eigentlich  erwünschte  Situation  — 
unterschied  sich  von  der  herbeigeführten  wesentlich  dadurch,  dass  ich  mir  ein 
Weib  vorstellte,  das  mir  die  Misshandlung  mit  derselben  Lust  geben  sollte, 
als  ich  sie  von  ihr  empfangen  wollte. 

Auf  der  Voraussetzung  einer  solchen  Gesinnung  des  Weibes,  eines  tyran- 
nischen, grausamen  Weibes,  dem  ich  mich  unterwerfen  wollte,  waren  alle 
meine  sexuellen  Phantasien  aufgebaut.  Die  Handlung,  die  das  Verhältniss 
ausdrückte,  war  mir  nebensächlich.  Mir  wurde  jetzt  erst,  nach  dem  ersten 
Versuch  einer  unmöglichen  Verwirklichung,  ganz  klar,  worauf  mein  Sehnen 
eigentlich  gerichtet  war.  Ich  hatte  freilich  in  meinen  wollüstigen  Träumen 
sehr  oft  von  allen  Misshandlungsvorstellungen  abstrahirt,  und  mir  nur  ein 
gebieterisches  Weib  und  etwa  eine  imperative  Geberde,  ein  befehlendes  Wort, 
einen  Kuss  auf  ihren  Fuss  oder  dergleichen  vorgestellt;  aber  jetzt  erst  kam 
mir  völlig  zum  Bewusstsein,  was  mich  eigentlich  anzog,  und  dass  die  Flagella- 
tion  nur  das  stärkste  Ausdrucksmittel  der  ersehnten  Situation  war,  an  und 
für  sich  aber  werthlos,  oder  vielmehr  unlusterregend,  selbst  schmerzlich  und 
widerlich. 

Trotz  dieser  Enttäuschung  gab  ich  die  Versuche,  meine  erotischen  Vor- 
stellungen in  die  Wirklichkeit  zu  übertragen,  nicht  auf,  nachdem  der  erste 
Schritt  gethan  war.  Ich  vertraute  darauf,  dass  meine  Phantasie,  wenn  einmal 
an  die  neue  Wirklichkeit  gewöhnt,  in  ihr  Nahrung  zu  stärkeren  Leistungen 
finden  werde.  Ich  suchte  zu  meinem  Zwecke  möglichst  geeignete  Weiber  und 
instruirte  sie  sorgfältig  zu  einer  complicirten  Comödie.  Dabei  erfuhr  ich  auch 
gelegentlich,  dass  mir  der  Weg  von  gleichgesinnten  Vorgängern  vorbereitet 
war.  Der  Werth  dieser  Comödien  für  die  Wirkung  meiner  Phantasiebilder  auf 
meine  Sinnlichkeit  blieb  problematisch.  Was  mir  diese  Handlungen  und  Ge- 
berden leisteten,  um  mir  Nebenumstände  der  erwünschten  Situation  lebhafter 
vorzustellen,  das  nahmen  sie  mir  oft  an  der  Hauptsache  wieder  weg,  die  meine 
Phantasie  allein  —  ohne  das  Bewusstsein  einer  bestellten  groben  Täuschung  — 
leichter  vor  mich  hinzaubern  konnte.  Die  körperliche  Empfindung  unter  den 
mannigfaltigen  Misshandlungen  war  wechselnd.  Je  besser  die  Selbsttäuschung 
gelang,  desto  mehr  wurde  der  Schmerz  als  Lust  empfunden. 

Oder  vielmehr:  die  Misshandlung  wurde  dann  vom  Bewusstsein  als  sym- 
bolischer Akt  aufgefasst.  Daraus  entstand  die  Illusion  der  ersehnten  Situation, 
die  zunächst  von  lebhafter  psychischer  Lustempfindung  begleitet  war.  So 
wurde  die  Perception  der  Schmerzqualität  der  Misshandlung  mitunter  auf- 
gehoben.    Aehnlich,  aber  einfacher,  weil  ganz  auf  psychischem  Gebiet,  war 


Masochismus.  95 

der  Vorgang  bei  den  moralischen  Misshandlungen,  den  Demüthigungen,  denen 
ich  mich  unterwarf.  Auch  diese  wurden  mit  Lust  betont,  wenn  die  Selbst- 
täuschung eben  gelang.  Sie  gelang  aber  selten  gut,  und  nie  vollkommen.  Es 
blieb  immer  ein  störendes  Element  im  Bewusstsein.  Deshalb  kehrte  ich  da- 
zwischen immer  wieder  zur  einsamen  Onanie  zurück.  Uebrigens  war  auch  im 
andern  Falle  der  Schluss  des  ganzen  Aktes  gewöhnlich  eine  durch  Onanie  pro- 
vocirte  Ejaculation,  manchmal  eine  solche  ohne  mechanische  Nachhülfe. 

So  trieb  ich  es  eine  ganze  Reihe  von  Jahren  bei  abnehmender  Potenz, 
aber  wenig  verminderter  Begierde  und  ungeschwächter  Gewalt  meiner  selt- 
samen geschlechtlichen  Vorstellung  über  mich.  Und  so  ist  der  Zustand  meiner 
Vita  sexualis  auch  noch  in  der  Gegenwart.  Der  Coitus,  den  ich  nie  zu  Stande 
gebracht  habe,  erscheint  meiner  Vorstellung  noch  immer  wie  einer  jener  selt- 
samen und  unsauberen  Akte,  die  ich  aus  den  Darstellungen  geschlechtlicher 
Verirrungen  kenne.  Meine  eigenen  geschlechtlichen  Vorstellungen  erscheinen 
mir  natürlich  und  beleidigen  meinen  sonst  empfindlichen  Geschmack  nicht 
im  Mindesten.  Ihre  Verwirklichung  lässt  mich  freilich,  wie  oben  dargestellt  ist, 
aus  verschiedenen  Gründen  ziemlich  unbefriedigt.  Eine  directe,  eigentliche 
Verwirklichung  meiner  geschlechtlichen  Phantasie  habe  ich  niemals,  auch  nicht 
andeutungsweise  erreicht.  So  oft  ich  zu  weiblichen  Wesen  in  nähere  Beziehung 
getreten  bin,  habe  ich  den  Willen  des  Weibes  dem  meinigen  unterworfen  ge- 
fühlt, nie  umgekehrt.  Einem  Weibe,  das  Herrschgelüste  innerhalb  der  geschlecht- 
lichen Beziehungen  manifestirt,  bin  ich  niemals  begegnet.  Frauen,  die  im  Hause 
regieren  wollen,  und  sogenanntes  Pantoffelheldenthum  sind  etwas  von  meinen 
erotischen  Vorstellungen  ganz  Verschiedenes.  Ausser  der  Perversion  meiner 
Vita  sexualis  bietet  meine  Gesammtpersönlichkeit  noch  viel  Abnormes,  meine 
neuropathische  Anlage  kommt  in  zahlreichen  Symptomen  auf  psychischem  und 
physischem  Gebiete  zum  Ausdruck.  Daneben  glaube  ich  an  mir  originäre  Ab- 
normitäten des  Charakters  im  Sinne  einer  Annäherung  an  den  weiblichen 
Typus  constatiren  zu  können.  Wenigstens  fasse  ich  in  diesem  Sinne  meine 
hochgradige  Willensschwäche  auf  und  einen  auffallenden  Mangel  an  Muth 
gegenüber  Menschen  und  Thieren,  der  mit  meiner  Kaltblütigkeit  gegenüber 
Elementarereignissen  contrastirt.  Meine  äussere  Erscheinung  ist  durchaus 
männlich. 

Der  Verfasser  dieser  Autobiographie  machte  mir  ferner  noch 
folgende  Mittheilungen : 

„Es  war  stets  mein  eifriges  Bestreben,  zu  erfahren,  ob  die  seltsamen 
Vorstellungen,  welche  mich  in  geschlechtlicher  Beziehung  beherrschen,  auch 
bei  anderen  Männern  vorkommen,  und  seit  den  ersten  Mittheilungen  hierüber, 
die  mir  zufällig  zu  Ohren  kamen,  habe  ich  vielfach  darnach  geforscht.  Frei 
lieh  ist,  da  es  sich  hier  eigentlich  um  einen  Vorgang  im  Innern  der  Vor 
Stellungswelt  handelt,  die  Constatirung  nicht  leicht  und  nicht  überall  sicher 
Ich  nehme  Masochismus  da  an,  wo  ich  perverse  Handlungen  im  sexuellen  Ver 
kehr  finde,  die  ich  nicht  anders  als  durch  diese  dominirende  Idee  erklären  kann 
Ich  halte  diese  Anomalie  für  eine  sehr  verbreitete. 

Von  einer  ganzen  Reihe  von  Prostituirten  hier  in  Berlin  und  in  Paris, 
Wien  etc.   habe  ich  Berichte   hierüber  gehört   und  so  erfahren,  wie  zahlreich 


94  Paraesthesia  sexualis. 

hatte  ich  kaum  je  ein  anderes  Interesse  als  bestenfalls  ein  ästhetisches. 
Ein  sehr  grosses  Interesse  hatte  ich  von  jeher  für  weibliche  Schuhe,  und  nament- 
lich für  Stief  letten  mit  hohen  Absätzen,  immer  verbunden  mit  der  Vorstellung 
getreten  zu  werden  oder  den  Fuss  huldigend  zu  küssen  etc. 

Ich  überwand  schliesslich  auch  meine  letzte  Scheu  und  Hess  mich  eines 
Tages,  um  meine  Träume  zu  realisiren,  von  einer  Prostituirten  flagelliren, 
treten  etc.  Der  Effect  war  eine  grosse  Enttäuschung.  Was  da  mit  mir 
geschah,  war  für  meine  Empfindung  roh,  widerlich  abstossend  und  lächerlich 
zugleich.  Die  Schläge  verursachten  mir  nur  Schmerz ,  die  sonstige  Situation 
Widerwillen  und  Beschämung.  Trotzdem  erzwang  ich  mechanisch  eine  Ejacu- 
lation,  wobei  ich  mit  Hülfe  meiner  Phantasie  die  wirkliche  Situation  in  die 
von  mir  ersehnte  umdichtete.  Diese  —  die  eigentlich  erwünschte  Situation  — 
unterschied  sich  von  der  herbeigeführten  wesentlich  dadurch,  dass  ich  mir  ein 
Weib  vorstellte,  das  mir  die  Misshandlung  mit  derselben  Lust  geben  sollte, 
als  ich  sie  von  ihr  empfangen  wollte. 

Auf  der  Voraussetzung  einer  solchen  Gesinnung  des  Weibes,  eines  tyran- 
nischen, grausamen  Weibes,  dem  ich  mich  unterwerfen  wollte,  waren  alle 
meine  sexuellen  Phantasien  aufgebaut.  Die  Handlung,  die  das  Verhältnis» 
ausdrückte,  war  mir  nebensächlich.  Mir  wurde  jetzt  erst,  nach  dem  ersten 
Versuch  einer  unmöglichen  Verwirklichung,  ganz  klar,  worauf  mein  Sehnen 
eigentlich  gerichtet  war.  Ich  hatte  freilich  in  meinen  wollüstigen  Träumen 
sehr  oft  von  allen  Misshandlungsvorstellungen  abstrahirt,  und  mir  nur  ein 
gebieterisches  Weib  und  etwa  eine  imperative  Geberde,  ein  befehlendes  Wort, 
einen  Kuss  auf  ihren  Fuss  oder  dergleichen  vorgestellt;  aber  jetzt  erst  kam 
mir  völlig  zum  Bewusstsein,  was  mich  eigentlich  anzog,  und  dass  die  Flagella- 
tion  nur  das  stärkste  Ausdrucksmittel  der  ersehnten  Situation  war,  an  und 
für  sich  aber  werthlos,  oder  vielmehr  unlusterregend,  selbst  schmerzlich  und 
widerlich. 

Trotz  dieser  Enttäuschung  gab  ich  die  Versuche,  meine  erotischen  Vor- 
stellungen in  die  Wirklichkeit  zu  übertragen,  nicht  auf,  nachdem  der  ersto 
Schritt  gethan  war.  Ich  vertraute  darauf,  dass  meine  Phantasie,  wenn  einmal 
an  die  neue  Wirklichkeit  gewöhnt,  in  ihr  Nahrung  zu  stärkeren  Leistungen 
finden  werde.  Ich  suchte  zu  meinem  Zwecke  möglichst  geeignete  Weiber  und 
instruirte  sie  sorgfältig  zu  einer  complicirten  Comödie.  Dabei  erfuhr  ich  auch 
gelegentlich,  dass  mir  der  Weg  von  gleichgesinnten  Vorgängern  vorbereitet 
war.  Der  Werth  dieser  Comödien  für  die  Wirkung  meiner  Phantasiebilder  auf 
meine  Sinnlichkeit  blieb  problematisch.  Was  mir  diese  Handlungen  und  Ge- 
berden leisteten,  um  mir  Nebenumstände  der  erwünschten  Situation  lebhafter 
vorzustellen,  das  nahmen  sie  mir  oft  an  der  Hauptsache  wieder  weg,  die  meine 
Phantasie  allein  —  ohne  das  Bewusstsein  einer  bestellten  groben  Täuschung  — 
leichter  vor  mich  hinzaubern  konnte.  Die  körperliche  Empfindung  unter  den 
mannigfaltigen  Misshandlungen  war  wechselnd.  Je  besser  die  Selbsttäuschung 
gelang,  desto  mehr  wurde  der  Schmerz  als  Lust  empfunden. 

Oder  vielmehr:  die  Misshandlung  wurde  dann  vom  Bewusstsein  als  sym- 
bolischer Akt  aufgefasst.  Daraus  entstand  die  Illusion  der  ersehnten  Situation, 
die  zunächst  von  lebhafter  psychischer  Lustempfindung  begleitet  war.  So 
wurde  die  Perception  der  Schmerzqualität  der  Misshandlung  mitunter  auf- 
gehoben.    Aehnlich,   aber  einfacher,  weil  ganz  auf  psychischem  Gebiet,  war 


Masochismus.  95 

der  Vorgang  bei  den  moralischen  Misshandlungen,  den  Demüthigungen,  denen 
ich  mich  unterwarf.  Auch  diese  wurden  mit  Lust  betont,  wenn  die  Selbst- 
täuschung eben  gelang.  Sie  gelang  aber  selten  gut,  und  nie  vollkommen.  Es 
blieb  immer  ein  störendes  Element  im  Bewusstsein.  Deshalb  kehrte  ich  da- 
zwischen immer  wieder  zur  einsamen  Onanie  zurück.  Uebrigens  war  auch  im 
andern  Falle  der  Schluss  des  ganzen  Aktes  gewöhnlich  eine  durch  Onanie  pro- 
vocirte  Ejaculation,  manchmal  eine  solche  ohne  mechanische  Nachhülfe. 

So  trieb  ich  es  eine  ganze  Reihe  von  Jahren  bei  abnehmender  Potenz, 
aber  wenig  verminderter  Begierde  und  ungeschwächter  Gewalt  meiner  selt- 
samen geschlechtlichen  Vorstellung  über  mich.  Und  so  ist  der  Zustand  meiner 
Vita  sexualis  auch  noch  in  der  Gegenwart.  Der  Coitus,  den  ich  nie  zu  Stande 
gebracht  habe,  erscheint  meiner  Vorstellung  noch  immer  wie  einer  jener  selt- 
samen und  unsauberen  Akte,  die  ich  aus  den  Darstellungen  geschlechtlicher 
Verirrungen  kenne.  Meine  eigenen  geschlechtlichen  Vorstellungen  erscheinen 
mir  natürlich  und  beleidigen  meinen  sonst  empfindlichen  Geschmack  nicht 
im  Mindesten.  Ihre  Verwirklichung  lässt  mich  freilich,  wie  oben  dargestellt  ist, 
aus  verschiedenen  Gründen  ziemlich  unbefriedigt.  Eine  directe,  eigentliche 
Verwirklichung  meiner  geschlechtlichen  Phantasie  habe  ich  niemals,  auch  nicht 
andeutungsweise  erreicht.  So  oft  ich  zu  weiblichen  Wesen  in  nähere  Beziehung 
getreten  bin,  habe  ich  den  Willen  des  Weibes  dem  meinigen  unterworfen  ge- 
fühlt, nie  umgekehrt.  Einem  Weibe,  das  Herrschgelüste  innerhalb  der  geschlecht- 
lichen Beziehungen  manifestirt,  bin  ich  niemals  begegnet.  Frauen,  die  im  Hause 
regieren  wollen,  und  sogenanntes  Pantoffelheldenthum  sind  etwas  von  meinen 
erotischen  Vorstellungen  ganz  Verschiedenes.  Ausser  der  Perversion  meiner 
Vita  sexualis  bietet  meine  Gesammtpersönlichkeit  noch  viel  Abnormes,  meine 
neuropathische  Anlage  kommt  in  zahlreichen  Symptomen  auf  psychischem  und 
physischem  Gebiete  zum  Ausdruck.  Daneben  glaube  ich  an  mir  originäre  Ab- 
normitäten des  Charakters  im  Sinne  einer  Annäherung  an  den  weiblichen 
Typus  constatiren  zu  können.  Wenigstens  fasse  ich  in  diesem  Sinne  meine 
hochgradige  Willensschwäche  auf  und  einen  auffallenden  Mangel  an  Muth 
gegenüber  Menschen  und  Thieren,  der  mit  meiner  Kaltblütigkeit  gegenüber 
Elementarereignissen  contrastirt.  Meine  äussere  Erscheinung  ist  durchaus 
männlich. 

Der  Verfasser  dieser  Autobiographie  machte  mir  ferner  noch 
folgende  Mittheilungen : 

„Es  war  stets  mein  eifriges  Bestreben,  zu  erfahren,  ob  die  seltsamen 
Vorstellungen,  welche  mich  in  geschlechtlicher  Beziehung  beherrschen,  auch 
bei  anderen  Männern  vorkommen,  und  seit  den  ersten  Mittheilungen  hierüber, 
die  mir  zufällig  zu  Ohren  kamen,  habe  ich  vielfach  darnach  geforscht.  Frei- 
lich ist,  da  es  sich  hier  eigentlich  um  einen  Vorgang  im  Innern  der  Vor- 
stellungswelt handelt,  die  Constatirung  nicht  leicht  und  nicht  überall  sicher. 
Ich  nehme  Masochismus  da  an,  wo  ich  perverse  Handlungen  im  sexuellen  Ver- 
kehr finde,  die  ich  nicht  anders  als  durch  diese  dominirende  Idee  erklären  kann. 
Ich  halte  diese  Anomalie  für  eine  sehr  verbreitete. 

Von  einer  ganzen  Reihe  von  Prostituirten  hier  in  Berlin  und  in  Paris, 
Wien  etc.   habe   ich  Berichte   hierüber  gehört   und  so  erfahren,  wie  zahlreich 


96  Paraesthesia  sexualis. 

ineine  Leidensgenossen  sind.  Immer  gebrauche  ich  die  Vorsicht,  nicht  etwa 
selbst  Geschichten  zu  erzählen  und  zu  fragen,  ob  diese  ihnen  vorgekommen 
sind,  sondern  ich  Hess  diese  Personen  ihre  Erlebnisse  pele-rnele  erzählen. 

Einfache  Flagellation  ist  so  verbreitet,  dass  fast  jede  Prostituirte  darauf 
eingerichtet  ist.  Aber  auch  Fälle  von  unzweifelhaftem  Masochismus  sind  äusserst 
häufig.  Die  von  dieser  Perversion  beherrschten  Männer  unterwerfen  sich  den 
raffinirtesten  Qualen.  Dabei  führen  sie  mit  den  dazu  abgerichteten  Prostituirten 
stets  dieselbe  Scene  auf:  demüthiges  Niederwerfen  des  Mannes,  Fusstritte, 
Befehle,  eingelernte  drohende  und  beschimpfende  Reden,  dann  Flagellation, 
Schläge  auf  die  verschiedensten  Körpertheile  und  alle  möglichen  Misshand- 
lungen, Blutigstechen  mit  Nadeln  u.  dgl.  Die  Scene  endet  manchmal  mit  dem 
Coitus,  öfter  mit  Ejaculation  ohne  solchen.  Zweimal  haben  mir  solche  Pro- 
stituirte schwere  Eisenketten  mit  Handschellen,  welche  ihre  Kunden  anfertigen 
und  sich  anlegen  Hessen,  dann  die  getrockneten  Erbsen,  auf  welche  sie  knieen, 
mit  Nadeln  gespickte  Sitze,  auf  welche  sie  sich  auf  Befehl  des  Weibes  setzen 
müssen,  und  dergleichen  mehr  gezeigt.  Manches  Mal  begehrt  der  perverse 
Mann,  dass  das  Weib  seinen  Penis  schmerzhaft  zusammenschnürt,  mit  Nadeln 
sticht,  mit  einer  Klinge  Einschnitte  in  ihn  macht  oder  ihn  mit  einem  Holz- 
stück schlägt.  Selbst  die  Procedur  des  Henkens  wird  nachgeahmt  und  eben 
rechtzeitig  unterbrochen.  Andere  wieder  lassen  sich  mit  der  Spitze  eines 
Messers  oder  Dolches  leicht  ritzen,  dabei  aber  muss  das  Weib  sie  mit  dem 
Tode  bedrohen. 

Bei  allen  diesen  Dingen  ist  die  Symbolik  des  Unterwerfungsverhältnisses 
Hauptsache.     Das  Weib  wird  gewöhnlich  , Herrin'  genannt,  der  Mann  ,Sklave'. 

Bei  all  diesen  Comödien  mit  Prostituirten,  die  normalen  Menschen  als 
ekelhafter  Wahnsinn  erscheinen  müssen,  handelt  es  sich  dem  Masochisten  um 
ein  kümmerliches  Surrogat.  Ob  es  eine  Verwirklichung  masochistischer  Träume 
in  einem  Liebesverhältniss  gibt,  weiss  ich  nicht. 

Wenn  die  Sache  vorkommt,  so  ist  sie  jedenfalls  äusserst  selten,  weil  die 
Geschmacksrichtung  beim  Weibe  (Sadismus  des  Weibes,  wie  ihn  Sacher-Masoch 
schildert)  sehr  selten  zu  finden  sein  dürfte  und  der  Aeusserung  sexueller  Ab- 
normitäten beim  Weibe  obendrein  noch  grössere  Hindernisse  der  Scham  etc. 
entgegenstehen  als  beim  Manne.  Ich  selbst  habe  niemals  das  leiseste  Anzeichen 
eines  Entgegenkommens  dieser  Art  bemerkt  und  keinen  Versuch  einer  wirk- 
lichen ReaHsirung  meiner  Phantasien  machen  können.  Einmal  hat  mir  ein 
Mann  seine  masochistische  Perversion  anvertraut  und  behauptet,  sein  Ideal  ge- 
funden zu  haben." 

Dem  obigen  Falle  der  Beobachtung  42  ähnlich  sind  die  beiden 
folgenden  Fälle. 

Beobachtung  43.  Herr  Z.,  29  J.,  Techniker,  kommt  wegen  vermeint- 
licher Tabes  in  die  Sprechstunde.  Vater  war  nervös  und  starb  tabisch.  Vaters 
Schwester  war  irrsinnig.  Mehrere  Verwandte  sind  hochgradig  nervös  und 
sonderbare  Leute. 

Pat.  erweist  sich  bei  näherer  Untersuchung  als  sexual,  spinal  und  cere- 
bral asthenisch.  Er  bietet  keine  anamnestischen  noch  gegenwärtigen  Symptome 
im  Sinne   einer  Tabes  dorsalis.     Die  naheliegende  Frage  nach  Missbrauch  der 


Masochismus.  97 

Genitalorgane  wird  im  Sinne  der  seit  der  Jugend  geübten  Masturbation  be- 
antwortet. Im  Lauf  der  Exploration  ergaben  sich  folgende  interessante  psycho- 
sexuale  Anomalien. 

Mit  5  Jahren  erwachte  die  Vita  sexualis  im  Sinne  von  wollüstig  em- 
pfundenem Drang,  sich  selbst  zu  geissein,  zugleich  mit  dem  Gelüste,  der  Fla- 
gellation  durch  Andere  theilhaftig  zu  werden.  An  bestimmte,  geschlechtlich 
differenzirte  Individuen  dachte  er  dabei  nicht.  Faute  de  mieux  trieb  er  Auto- 
flagellation  und  erzielte  im  Laufe  der  Jahre  Ejaculation. 

Schon  lange  vorher  hatte  er  durch  Masturbation  sich  zu  befriedigen 
angefangen,  wobei  ihm  jeweils  Flagellationssituationen  vorschwebten. 

Herangewachsen  suchte  er  zweimal  ein  Lupanar  auf,  um  daselbst  von 
Meretrices  gegeisselt  zu  werden.  Er  suchte  sich  zu  diesem  Zweck  das  schönste 
Mädchen  aus,  aber  er  war  enttäuscht,  brachte  es  nicht  zur  Erection,  ge- 
schweige zur  Ejaculation. 

Er  erkannte,  dass  das  Geissein  Nebensache,  die  Hauptsache  die 
Idee  des  Unterworfenseins  unter  den  Willen  des  Weibes  sei.  Dazu 
gelangte  er  das  erste  Mal  nicht,  wohl  aber  das  zweite  Mal.  Weil  er  im 
„ Gedanken  der  Unterwerfung"  war,  hatte  er  vollen  Erfolg. 

Mit  der  Zeit  erzielte  er  unter  Anstrengung  seiner  Phantasie  im  Sinne 
masochistischer  Vorstellungen  sogar  Coitus,  auch  ohne  Flagellation,  aber  er 
empfand  davon  wenig  Befriedigung,  so  dass  er  es  vorzog,  auf  masochistische 
Weise  sexuell  zu  verkehren.  Im  Sinne  seiner  originären  Flagellationsgelüste 
fand  er  an  masochistischen  Scenen  nur  Gefallen,  wenn  er  ad  podicem  flagellirt 
wurde  oder  sich  wenigstens  eine  solche  Situation  phantastisch  hinzudichtete. 
In  Zeiten  hoher  Erregbarkeit  genügte  es  ihm  sogar,  einem  schönen  Mädchen 
solche  Scenen  erzählen  zu  dürfen.  Er  gerieth  dadurch  in  Orgasmus  und  ge- 
langte meist  zur  Ejaculation. 

Früh  gesellte  sich  dazu  eine  höchst  wirksame  fetischistische  Vor- 
stellung. Er  merkte,  dass  ihn  nur  solche  Weiber  fesselten  und  befriedigten, 
die  hohe  Stiefel  und  kurzen  Rock  („ungarische  Tracht")  trugen.  Wie  er  zu 
dieser  fetischistischen  Vorstellung  gelangt  ist,  weiss  er  nicht  anzugeben.  Auch 
an  Knaben  reize  ihn  das  mit  hohem  Stiefel  bekleidete  Bein,  aber  dieser  Reiz 
sei  rein  ästhetisch,  ohne  jegliche  sinnliche  Betonung,  wie  er  überhaupt  nie 
homosexuale  Empfindungen  an  sich  wahrgenommen  haben  will.  Seinen  Fetischis- 
mus begründet  Pat.  mit  einer  Vorliebe  für  Waden.  Es  reize  ihn  aber  nur  die 
in  einem  eleganten  Stiefel  steckende  Damenwade.  Nackte  Waden,  überhaupt 
feminile  Nuditäten  üben  auf  ihn  nicht  den  geringsten  sexuellen  Reiz  aus.  Eine 
untergeordnete  Fetischnebenvorstellung  ist  für  Pat.  das  menschliche  Ohr.  Es 
ist  ihm  ein  wollüstiges  Gefühl,  schönen  Menschen,  d.  h.  Menschen,  die  schönes 
Ohr  haben,  über  die  Ohren  zu  streichen.  Bei  Männern  gewährt  ihm  dies  einen 
sehr  geringen,  bei  Weibern  einen  hohen  Genuss. 

Auch  habe  er  ein  Faible  für  Katzen.  Er  finde  sie  einfach  schön,  jede 
ihrer  Bewegungen  sei  ihm  sympathisch.  Der  Anblick  einer  Katze  könne  ihn 
sogar  aus  der  tiefsten  Gemüthsdepression  herausreissen.  Die  Katze  erscheine 
ihm  heilig,  er  sehe  in  einer  solchen  geradezu  ein  göttliches  Wesen !  Des  Grundes 
dieser  sonderbaren  Idiosynkrasie  ist  er  sich  nicht  bewusst. 

Neuerlich  habe  er  häufiger  auch  sadistische  Vorstellungen  im  Sinne  der 
Prügelung  eines  Knaben.  Bei  diesen  Flagellationsphantasien  spielen  sowohl 
v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  7 


98  Paraesthesia  sexualis. 

Männer  als  Weiber  eine  Rolle,  vorwiegend  aber  letztere,  und  dabei  ist  sein 
Genuas  ein  weit  grösserer. 

Pat.  findet,  dass  neben  dem,  was  er  als  Masochismus  kenne  und  empfinde, 
noch  etwas  Anderes  bestehe,  das  er  am  liebsten  mit  „ Pagismus "  bezeichnen 
möchte. 

Während  seine  masochistischen  Schwelgereien  und  Akte  durchaus  grob- 
sinnlicher Art  und  Betonung  seien,  bestehe  sein  „  Pagismus "  in  der  Idee,  Page 
eines  schönen  Mädchens  zu  sein.  Er  stelle  sich  dieses  ganz  keusch  vor,  aber 
pikant,  seine  Stellung  ihm  gegenüber  als  die  eines  Sklaven,  aber  in  ganz 
keuschem  Verhältniss,  rein  „platonischer"  Hingebung.  Dies  Schwelgen  in  der 
Idee,  einem  solchen  „schönen  Geschöpf  als  Page  zu  dienen,  sei  mit  einem 
köstlichen,  aber  durchaus  nicht  sexuellen  Gefühl  betont.  Er  empfinde  davon 
eine  exquisite  moralische  Befriedigung»  im  Gegensatz  zum  sinnlich  betonten 
Masochismus,  und  deshalb  müsse  er  seinen  „ Pagismus "  für  etwas  Anders- 
artiges halten. 

Pat.  bietet  in  seinem  Aeusseren  auf  den  ersten  Blick  nichts  Auffälliges, 
aber  sein  Becken  ist  abnorm  weit,  hat  flache  Darmbeinschaufeln,  ist  abnorm 
geneigt  und  entschieden  weiblich.  Neuropathisches  Auge.  Er  weist  auch  dar- 
auf hin,  dass  er  oft  Kitzel  und  Wollustreiz  im  Anus  habe,  auch  von  da  aus 
(erogene  Zone)  sich  Befriedigung  ope  digiti  verschaffen  könne. 

Pat.  zweifelt  an  seiner  Zukunft.  Hülfe  wäre  für  ihn  nur  möglich,  wenn 
er  ein  rechtes  Interesse  am  Weibe  bekommen  könnte,  aber  sein  Wille,  seine 
Phantasie  seien  dazu  zu  schwach. 

Was  der  Patient  dieser  Beobachtung  als  „  Pagismus K  be- 
zeichnet, ist  nichts  vom  Wesen  des  Masochismus  Verschiedenes, 
wie  sich  aus  dem  Vergleich  mit  den  unten  folgenden  Fällen  von 
„symbolischem"  Masochismus  und  anderen  ergibt,  ferner  aus  der 
Erwägung,  dass  der  Coitus  bei  dieser  Perversion  mitunter  als  in- 
adäquater Akt  verschmäht  wird,  und  aus  der  Thatsache,  dass  es 
in  solchen  Fällen  öfters  zu  einer  phantastischen  Exaltirung  des 
perversen  Ideals  kömmt. 

Beobachtung  44:  Ideeller  Masochismus.  Herr  X.,  Techniker, 
26  Jahre,  stammt  von  nervöser,  mit  Migräne  behafteter  Mutter.  In  der  väter- 
lichen Ascendenz  ist  ein  Fall  von  Rückenmarkskrankheit  und  ein  solcher  von 
Psychose  vorgekommen. 

Ein  Bruder  ist  „nervös". 

Herr  X.  hat  unerhebliche  Kinderkrankheiten  überstanden,  studirte  leicht, 
entwickelte  sich  normal.  Er  ist  eine  durchaus  männliche  Erscheinung,  jedoch 
etwas  schwächlich  und  unter  mittelgross.  Der  Descensus  des  rechten  Hodens 
blieb  unvollkommen,  indem  er  im  Leistencanal  fühlbar  ist;  Penis  normal  ge- 
bildet, jedoch  etwas  klein. 

Mit  5  Jahren  entdeckte  X.  wollüstige  Gefühle,  als  er  mit  übereinander- 
geschlagenen  gestreckten  Beinen  Schwingungen  an  einem  kleinen  Barren  machte. 
Er  wiederholte  diese  Procedur  einige  Male,  vergass  dann  auf  diese  Erscheinung, 


Masochismus.  99 

und  als  er  sich  als  reiferer  Knabe  ihrer  erinnerte  und  sie  wiederholte,  trat  der 
erwartete  Erfolg  nicht  mehr  ein. 

Mit  7  Jahren  wohnte  X.  einer  Knabenprügelei  auf  dem  Schulhof  bei, 
wobei  schliesslich  die  Sieger  sich  rittlings  auf  die  mit  dem  Rücken  auf  dem 
Boden  liegenden  Besiegten  setzten. 

Das  machte  auf  X.  Eindruck. 

Er  dachte  sich  die  Position  der  Untenliegenden  als  eine  angenehme, 
versetzte  sich  in  Gedanken  an  ihre  Stelle  und  malte  sich  aus,  wie  er  durch 
scheinbare  Versuche,  sich  aufzurichten,  es  dahin  brachte,  dass  der  Gegner 
rittlings  seinem  Gesichte  immer  näher  komme,  schliesslich  darauf  sitze  und 
ihn  so  nöthige,  die  Exhalation  seiner  Genitalien  zu  empfinden.  Solche 
Situationen  tauchten  in  der  Folge  bei  ihm  öfter  auf,  von  Lustgefühlen  betont, 
jedoch  empfand  er  nie  dabei  eine  eigentliche  Wollust,  hielt  solche  Gedanken 
für  schlecht  und  sündhaft  und  versuchte  sie  zurückzudrängen.  Von  sexuellen 
Dingen  will  er  damals  noch  keine  Ahnung  gehabt  haben.  Bemerkenswerth  ist, 
dass  Patient  bis  zum  20.  Jahre  ab  und  zu  noch  an  Enuresis  nocturna  litt. 

Bis  zur  Pubertät  hatten  die  zeitweise  wiederkehrenden  masochistischen 
Phantasien ,  sich  unter  den  Schenkeln  eines  Anderen  zu  befinden ,  sowohl 
Knaben  als  Mädchen  zum  Gegenstand.  Von  da  ab  prävalirten  weibliche 
Individuen,  und  nach  beendigter  Pubertät  waren  es  ausschliesslich  solche.  All- 
mählig  gewannen  diese  Situationen  auch  anderen  Inhalt.  Sie  gipfelten  nun- 
mehr in  dem  Bewusstsein,  vollkommen  dem  Willen  und  der  Willkür  eines 
erwachsenen  Mädchens  unterworfen  zu  sein,  mit  entsprechenden  demüthigenden 
Handlungen  und  Situationen. 

Als  Beispiele  solcher  führt  X.  an: 

„Ich  liege  am  Boden  mit  dem  Rücken  nach  unten.  Mir  zu  Häupten 
steht  die  Herrin  und  hat  einen  Fuss  auf  meine  Brust  gesetzt,  oder  sie  hat 
meinen  Kopf  zwischen  ihren  Füssen,  so  dass  mein  Gesicht  sich  direct  unterhalb 
ihrer  Pubes  befindet.  Oder  sie  sitzt  rittlings  auf  meiner  Brust  oder  auf  meinem 
Gesicht,  isst  und  benutzt  meinen  Körper  als  Tisch.  Wenn  ich  einen  Befehl 
nicht  zur  Zufriedenheit  vollzogen  habe,  oder  es  meiner  Herrin  sonst  beliebt, 
so  werde  ich  auf  einen  dunklen  Abort  eingesperrt,  während  sie  ausgeht  und 
Vergnügungen  aufsucht.  Sie  zeigt  mich  als  ihren  Sklaven  den  Freundinnen, 
verleiht  mich  als  solchen  ihnen. 

„Ich  werde  von  ihr  zu  den  niedrigsten  Dienstleistungen  benutzt,  muss 
sie  bedienen,  während  sie  aufsteht,  beim  Baden,  bei  der  mictio.  Zu  letzterer 
Verrichtung  bedient  sie  sich  gelegentlich  auch  meines  Gesichtes  und  zwingt 
mich,  von  ihrem  Lotium  zu  trinken." 

Zur  Ausführung  will  X.  diese  Ideen  nie  gebracht  haben,  da  er  zugleich 
die  dumpfe  Empfindung  hatte,  dass  ihre  Verwirklichung  ihm  das  erhoffte  Ver- 
gnügen nicht  bringen  würde. 

Nur  einmal  habe  er  sich  in  die  Kammer  eines  hübschen  Dienstmädchens 
geschlichen,  veranlasst  durch  solche  Vorstellungen,  ut  urinam  puellae  bibat. 
Er  sei  aber  vor  Ekel  davon  abgestanden. 

Vergebens  will  X.  gegen  diese  masochistischen  Vorstellungskreise,  als 
ihm  peinlich  und  ekelhaft,  angekämpft  haben.  Sie  bestehen  nach  wie  vor 
mächtig  fort.  Er  macht  aufmerksam,  dass  die  Demüthigung  dabei  die  Haupt- 
rolle spielt  und  nie  die  Wonne  einer  Sehmerzzufügung  unterläuft. 


100  Paraesthesia  sexualis. 

Die  „Herrin"  denkt  er  sich  mit  Vorliebe  unter  der  Gestalt  zartgebauter 
Jungfrauen  von  etwa  20  Jahren,  mit  zartem,  schönem  Gesicht  und  womöglich 
kurzen  hellen  Kleidern. 

An  der  gewöhnlichen  Art,  sich  jungen  Damen  zu  nähern,  an  Tanz  und 
gemischter  Gesellschaft  will  X.  nie  bis  jetzt  Gefallen  gefunden  haben.  Von 
der  Pubertät  ab  zeigten  sich  mit  den  betreffenden  masochistischen  Phantasien 
ab  und  zu  Pollutionen  unter  schwachem  Wollustgefühl. 

Als  Patient  einmal  Frictionen  der  Glans  unternahm,  gelang  ihm  weder 
Erection  noch  Ejaculation,  und  statt  eines  wollüstigen  Gefühls  stellte  sich 
jeweils  ein  unangenehmes,  geradezu  paralgisches  ein.  Dadurch  blieb  X.  vor 
Masturbation  bewahrt.  Dafür  stellte  sich  vom  20.  Jahre  ab  beim  Turnen  am 
Reck,  beim  Klettern  an  Tauen  und  Stangen  "häufig  eine  mit  starkem  Wollust- 
gefühl verbundene  Ejaculation  ein.  SeTmsucht  nach  sexuellem  Verkehr  mit 
Weibern  (conträr  sexuale  Empfindungen  hat  Patient  nie  gehabt)  trat  bisher 
nie  auf.  Als  ihn,  26  Jahre  alt,  ein  Freund  zum  Coitus  drängte,  zeigten  sich 
„ angstvolle  Unruhe  und  entschiedener  Widerwille"  schon  auf  dem  Wege  nach 
dem  Lupanar,  und  vor  Aufregung,  Zittern  an  allen  Gliedern  und  Schweiss- 
ausbruch  kam  es  zu  keiner  Erection.  Bei  mehrfacher  Wiederholung  des  Ver- 
suches dasselbe  Fiasko,  nur  waren  die  seelischen  und  körperlichen  Erregungs- 
erscheinungen nicht  so  heftig  wie  das  erste  Mal. 

Libido  war  nie  vorhanden.  Masochistische  Phantasien  zum  Gelingen 
des  Aktes  zu  verwerthen,  gelang  Patient  nicht,  weil  seine  geistigen  Fähigkeiten 
in  solcher  Situation  „wie  gelähmt  seien  und  er  die  zu  einer  Erection  nöthigen 
intensiven  Vorstellungen"  nicht  zu  Stande  bringe.  So  gab  er,  theils  aus 
mangelnder  Libido,  theils  aus  mangelhaftem  Vertrauen  ins  Gelingen,  weitere 
Coitusversuche  auf.  Nur  gelegentlich  befriedigte  er  in  der  Folge  seine  schwache 
Libido  anlässlich  Turnübungen.  Gelegentlich  von  spontanen  oder  veranlassten 
masochistischen  Phantasien  (in  wachem  Zustand)  kam  es  wohl  zu  Erection,  nie 
mehr  aber  zu  Ejaculation. 

Pollutionen  erfolgen  etwa  alle  6  Wochen. 

Patient  ist  eine  intellectuell  hochstehende,  feinfühlige,  etwas  neurasthenische 
Persönlichkeit.  Er  klagt,  dass  er  in  Gesellschaft  meist  das  Gefühl  habe,  auf- 
zufallen, beobachtet  zu  werden,  bis  zu  Angstzuständen,  obwohl  er  sich  bewusst 
sei,  dass  er  sich  derlei  nur  einbilde.  Aus  diesem  Grund  liebe  er  die  Einsam- 
keit, zumal  da  er  befürchten  müsse,  dass  man  auf  seine  sexuelle  Abnormität 
komme. 

Seine  Impotenz  sei  ihm  nicht  peinlich,  da  seine  Libido  ja  fast  Null  sei, 
gleichwohl  würde  er  eine  Sanirung  seiner  Vita  sexualis  für  das  grösste  Glück 
halten,  da  davon  im  socialen  Leben  so  viel  abhänge  und  er  sich  dann  gewiss 
sicherer  und  männlicher  in  der  Gesellschaft  bewegen  würde. 

Seine  jetzige  Existenz  sei  ihm  eine  Qual,  ein  solches  Leben  eine  Last. 

Epikrise:  (Hereditäre)  Belastung.  Abnorm  früh  sich  regendes  Sexual- 
leben. Schon  mit  7  Jahren  wollüstig  und  entschieden  masochistisch  empfun- 
dener Anblick  von  rittlings  auf  Anderen  sitzenden  Knaben  (sexuelle  und  per- 
verse Betonung  einer  an  und  für  sich  nicht  den  normalen  Menschen  sexuell 
erregenden  Situation)  zugleich  mit  Geruchsvorstellungen. 

Solche  Situationen  in  der  Folge  Gegenstand  von  Phantasien,  anfangs 
geschlechtlich  nicht  differenziii,  von  der  Pubertät  ab  heterosexual. 


Masochismus.  101 

Sie  führen  zu  ausgesprochenem  ideellem  Masochismus  (Ideen  der  De- 
müthigung,  des  Unterworfenseins),  in  welchem  als  einzige  Beziehung  zu  den 
Genitalien  des  Weibes  die  Vorstellung,  zur  Mictio  benutzt  zu  werden,  selbst 
bibere  urinam  dominae  erscheint. 

Normaler  sexualer  Trieb  zum  Weibe  fehlt,  wesentlich  auf  Grund  von 
Masochismus. 

Beobachtung  45.  X.,  28  Jahre,  Literat,  belastet,  von  Kind  auf  sexuell 
hyperästhetisch,  bekam  mit  6  Jahren  Träume,  es  prügle  ihn  ein  Weib  ad  nates. 
Er  erwachte  dabei  jeweils  in  höchster  wollüstiger  Erregung  und  gelangte  so 
zur  Onanie.  Mit  8  Jahren  bat  er  einmal  die  Köchin,  sie  möge  ihn  durch- 
prügeln. Vom  10.  Jahre  ab  Neurasthenie.  Bis  zum  25.  Jahre  Flagellations- 
träume  oder  auch  bezügliche  Phantasien  des  wachen  Lebens  mit  Onanie.  Vor 
3  Jahren  Zwang,  sich  von  einer  Puella  prügeln  zu  lassen.  Pat.  war  ent- 
täuscht, da  dabei  Erection  und  Ejaculation  ausblieben.  Neuer  Versuch  mit 
27  Jahren  in  der  Absicht,  dadurch  Erection  und  Coitus  zu  erzwingen.  Dies 
gelang  erst  allmählig  durch  folgenden  Kunstgriff.  Die  Puella  musste,  während 
er  Coitus  versuchte,  ihm  erzählen,  wie  sie  andere  Impotente  unbarmherzig 
schlage,  und  ihm  Gleiches  androhen.  Ueberdies  musste  er  sich  vorstellen,  er 
sei  gefesselt,  ganz  in  der  Gewalt  des  Weibes,  hülflos,  werde  von  dem- 
selben aufs  Schmerzlichste  geschlagen.  Gelegentlich  musste  er,  um  potent  zu 
sein,  sich  auch  wirklich  binden  lassen.  So  gelang  ihm  Coitus.  Pollutionen 
waren  nur  dann  von  Wollustgefühl  begleitet,  wenn  er  (selten)  träumte,  er 
werde  misshandelt  oder  er  sei  Zuschauer,  wie  eine  Puella  die  andere  geisselte. 
Beim  Coitus  hatte  er  nie  ein  rechtes  Wollustgefühl.  Am  Weib  interessiren 
ihn  nur  die  Hände.  Kräftige  handfeste  Frauenzimmer  mit  derben  Fäusten 
sind  ihm  die  liebsten.  Gleichwohl  ist  sein  Flagellationsbedürfniss  nur  ein 
ideelles,  denn  bei  seiner  grossen  Hautempfindlichkeit  genügen  im  schlimmsten 
Fall  einige  Hiebe.  Männerhiebe  wären  ihm  zuwider.  Er  möchte  heirathen. 
Aus  der  Unmöglichkeit,  von  einer  honneten  Frau  Flagellation  zu  verlangen, 
und  dem  Zweifel,  ob  er  ohne  solche  potent  sei,  entspringt  seine  Verlegenheit 
und  sein  Bedürfniss  zu  genesen. 

In  drei  von  den  bis  jetzt  angeführten  Fällen  diente  den  von 
der  Perversion  des  Masochismus  Beherrschten  als  Ausdruck  der  von 
ihnen  ersehnten  Situation  der  Unterwerfung  unter  das  Weib  haupt- 
sächlich die  passive  Flagellation.  Das  gleiche  Mittel  wird  von  einer 
grossen  Zahl  von  Masochisten  benutzt. 

Nun  ist  aber  passive  Flagellation  ein  Vorgang,  welcher  be- 
kanntlich geeignet  ist,  durch  mechanische  Reizung  der  Gesässnerven 
reflectorisch  Erectionen  auszulösen  1).  Diese  Wirkung  der  Flagel- 
lation wird  von  geschwächten  Wüstlingen  dazu  benützt,  ihrer  ge- 
sunkenen Potenz  durch  diese  Procedur  nachzuhelfen  und  diese  Per- 
versität —  nicht  Perversion  —  ist  eine  ungemein  häufige. 


')  Vgl.  oben,  Einleitung  p.  28. 


102  Paraesthesia  sexualis. 

Es  ist  deshalb  geboten,  zu  untersuchen,  in  welchem  Verhält- 
nisse die  passive  Flagellation  der  Masochisten  zu  jener  psychisch 
nicht  perverser,  aber  physisch  geschwächter  Wüstlinge  steht. 

Dass  Masochismus  etwas  wesentlich  Anderes  und  Umfassen- 
deres sei  als  blosse  Flagellation,  geht  aus  den  Mittheilungen  der 
von  dieser  Perversion  Ergriffenen  deutlich  hervor. 

Für  den  Masochisten  ist  die  Unterwerfung  unter  das  Weib 
die  Hauptsache,  die  Misshandlung  nur  ein  Ausdrucksmittel  für  dieses 
Verhältniss  und  zwar  eines  der  stärksten.  Die  Handlung  hat  für 
ihn  symbolischen  Werth  und  ist  Mittel  zum  Zweck  seelischer  Be- 
friedigung im  Sinne  seiner  besonderen  Gelüste. 

Der  nicht  masochistische  Geschwächte  hingegen,  der  sich 
flagelliren  lässt,  sucht  nur  eine  mechanisch  vermittelte  Reizung 
seines  spinalen  Centrums. 

Ob  in  einem  einzelnen  Falle  einfacher  (reflectorischer)  Flagel- 
lantismus oder  wirklicher  Masochismus  vorliegt,  wird  durch  die 
Aussagen,  der  Betreffenden,  oft  schon  durch  die  Nebenumstände  der 
Handlung  klar. 

Es  kommt  hier  namentlich  auf  Folgendes  an: 

Erstens  besteht  beim  Masochisten  der  Trieb  zur  passiven  Flagellation 
fast  immer  ab  origine.  Er  taucht  als  Wunsch  auf,  bevor  eine  Erfahrung 
über  reflectorische  Wirkung  der  Procedur  gemacht  wurde,  oft  zuerst  in 
Träumen,  wie  z.  B.  in  der  unten  folgenden  Beobachtung  47. 

Zweitens  ist  beim  Masochisten  in  der  Regel  die  passive  Flagellation 
nur  eine  von  den  vielen  und  verschiedenartigen  Misshandlungen,  welche  im 
Vorstellungskreise  des  Masochisten  als  Phantasien  auftauchen  und  oft  ver- 
wirklicht werden.  Bei  diesen  anderen  Misshandlungen  und  den  häufigen  rein 
symbolische  Demüthigungen  ausdrückenden  Akten,  die  neben  der  Flagellation 
angewendet  werden,  kann  von  einer  reflectorischen  physischen  Reizwirkung 
natürlich  nicht  die  Rede  sein,  es  ist  also  in  solchen  Fällen  stets  auf  die 
originäre  Anomalie,  die  Perversion  zu  schliessen. 

Drittens  ist  der  Umstand  von  Bedeutung,  dass  die  ersehnte  Flagellation 
beim  Masochisten,  wenn  ausgeführt,  gar  nicht  aphrodisisch  zu  wirken  braucht. 
Es  tritt  sogar  oft  mehr  oder  minder  deutlich  eine  Enttäuschung  ein,  und  zwar 
jedesmal,  wenn  die  Absicht  des  Masochisten  nicht  gelingt,  sich  durch  diesen 
bestellten  Vorgang  die  Illusion  der  ersehnten  Situation  (in  der  Gewalt  des 
Weibes  zu  sein)  zu  verschaffen,  so  dass  ihm  das  mit  der  Procedur  beauftragte 
Weib  nur  als  das  executive  Werkzeug  seines  eigenen  Willens  erscheint.  Ver- 
gleiche in  Bezug  auf  diesen  wichtigen  Punkt  die  drei  vorangehenden  Fälle 
und  unten  Beobachtung  49. 

Zwischen  Masochismus  und  einfachem  (reflectorischem)  Flagellantismus 
besteht  ein  analoges  Verhältniss  wie  etwa  zwischen  conträrer  Sexualempfindung 
und  erworbener  Päderastie. 


Masochismus.  k  103 

Es  benimmt  dieser  Anschauung  nichts  an  Werth,  dass  auch  beim 
Masochisten  die  Flagellation  die  bekannte  reflectorische  Wirkung  haben  kann, 
dass  mitunter  bei  Gelegenheit  einer  in  der  Jugend  erhaltenen  Züchtigung  auf 
diesem  Wege  die  Wollust  zum  erstenmale  geweckt  wird  und  gleichzeitig  dabei 
die  masochistisch  veranlagte  Vita  sexualis  aus  ihrer  Latenz  tritt.  Dann  muss 
der  Fall  eben  durch  die  oben  unter  „zweitens"  und  „drittens"  angeführten 
Umstände  charakterisirt  sein,  um  als  masochistischer  zu  gelten. 

Ist  über  die  Entstehungsart  des  Falles  nichts  Näheres  bekannt, 
so  können  Nebenumstände,  wie  die  oben  unter  „zweitens"  ange- 
führten, ihn  doch  deutlich  als  einen  masochistischen  erkennen  lassen. 
Dies  gilt  z.  B.  von  den  beiden  folgenden  Fällen. 

Beobachtung  46.  Ein  Kranker  Tarnowsky's  Hess  durch  eine  Ver- 
trauensperson eine  Wohnung  für  die  Dauer  seiner  Anfälle  miethen  und  das 
Personal  (3  Prostituirte)  genau  instruiren,  was  mit  ihm  zu  geschehen  habe. 
Er  erschien  zeitweise,  wurde  entkleidet,  masturbirt,  -flagellirt,  wie  es  befohlen 
war.  Er  leistete  anscheinend  Widerstand,  bat  um  Gnade,  dann  gab  man  ihm 
befohl enermassen  zu  essen,  Hess  ihn  schlafen,  behielt  ihn  aber  trotz  Protest 
da,  schlug  ihn,  wenn  er  sich  nicht  fügte.  So  ging  es  einige  Tage.  Mit  Lösung 
des  Anfalls  wurde  er  entlassen  und  kehrte  zu  Frau  und  Kindern  zurück,  die 
von  seiner  Krankheit  keine  Ahnung  hatten.  Der  Anfall  wiederholte  sich  1  bis 
2mal  jährlich.     (Tarnowsky  —  op.  cit.) 

Beobachtung  47.  X.,  34  Jahre,  schwer  belastet,  leidet  an  conträrer 
Sexualempfindung.  Aus  verschiedenen  Gründen  war  er  nicht  in  der  Lage,  sich 
am  Manne  zu  befriedigen,  trotz  grossem  sexuellem  Bedürfniss.  Gelegentlich 
träumte  ihm,  ein  Weib  geissele  ihn.     Er  hatte  dabei  eine  Pollution. 

Durch  diesen  Traum  kam  er  dazu,  als  Surrogat  für  mannmännliche 
Liebe  sich  von  Meretrices  misshandeln  zu  lassen.  Conducit  sibi  non  nunquam 
meretricem ,  ipse  vestimenta  sua  onmia  deponit,  dum  puellae  ultimum  tegu- 
mentum  deponere  non  licet,  puellam  pedibus  ipsum  percutere,  flagellare,  ver- 
berare  iubet.  Qua  re  summa  libidine  affectus  pedem  feminae  lambit  quod 
solum  eum  libidinosum  facere  potest :  tum  eiaculationem  assequitur.  Mit  dieser 
tritt  grösster  Ekel  an  der  moralisch  entwürdigenden  Situation  ein,  der  er  sich 
dann,  so  rasch  als  möglich  ist,  entzieht. 

Es  kommen  aber  auch  Fälle  vor,  in  welchen  passive  Flagel- 
lation allein  den  ganzen  Inhalt  masochistischer  Phantasien  aus- 
macht, ohne  dass  andere  Vorstellungen  der  Demüthigung  etc.  auf- 
treten, und  ohne  dass  die  eigentliche  Natur  dieses  Ausdrucksmittels 
der  Unterwerfung  deutlich  ins  Bewusstsein  tritt.  Solche  Fälle  sind 
von  denen  des  einfachen,  reflectorischen  Flagellantismus  schwer  zu 
unterscheiden.  Die  Ermittlung  der  primären  Entstehung  des  Ge- 
lüstes, vor  jeder  Erfahrung  reflectorischer  Wirkung  (s.  oben  unter 


104  Paraesthesia  sexualis. 

„erstens"),  sichert  hier  allein  die  Differentialdiagnose,  neben  dem 
Umstände,  dass  es  sich  bei  echten  Masochisten  gewöhnlich  um  be- 
reits in  jungen  Jahren  perverse  Individuen  handelt  und  dass  die 
Verwirklichung  des  Gelüstes  meistens  später  unterbleibt  oder  ent- 
täuscht (s.  oben  unter  „drittens"),  da  ja  sich  das  Ganze  hauptsäch- 
lich auf  dem  Gebiete  der  Phantasie  abspielt. 

Hier  möge  wieder  ein  Fall  von  typischem  Masochismus  folgen, 
in  welchem  der  gesammte  Vorstellungskreis,  wie  er  dieser  Per- 
version eigenthümlich  ist,  vollkommen  ausgebildet  erscheint.  Dieser 
Fall,  über  welchen  wieder  eine '* eingehende  Selbstschilderung  des 
gesammten  psychischen  Zustands  vorliegt,  unterscheidet  sich  von 
jenem  der  obigen  Beobachtung  42  nur  dadurch,  dass  auf  eine  Ver- 
wirklichung der  perversen  Phantasien  hier  ganz  verzichtet  wurde 
und  dass  neben  der  bestehenden  Perversion  der  Vita  sexualis  nor- 
male Reize  so  weit  wirksam  sind,  dass  nebenher  geschlechtlicher 
Verkehr  unter  normalen  Bedingungen  möglich  ist. 

Beobachtung  48.  Ich  bin  35  Jahre  alt,  geistig  und  körperlich  normal. 
In  dem  weitesten  Kreise  meiner  Verwandten  —  in  gerader  wie  in  der  Seiten- 
linie —  ist  mir  kein  Fall  von  psychischer  Störung  bekannt.  Mein  Vater,  welcher 
bei  meiner  Geburt  etwa  30  Jahre  alt  war,  hatte,  soviel  ich  weiss,  eine  Vorliebe 
für  üppige  und  grosse  Frauengestalten. 

Schon  in  meiner  früheren  Kindheit  schwelgte  ich  gern  in  Vorstellungen, 
welche  die  absolute  Herrschaft  eines  Menschen  über  den  anderen  zum  Inhalt 
hatten.  Der  Gedanke  an  die  Sklaverei  hatte  für  mich  etwas  höchst  Aufregendes, 
und  zwar  gleich  stark  vom  Standpunkte  des  Herrn  wie  von  dem  des  Dieners 
aus.  Dass  ein  Mensch  den  andern  besitzen,  verkaufen,  prügeln  könne,  regte 
mich  ungemein  auf,  und  bei  der  Lektüre  von  „ Onkel  Tom's  Hütte"  (welches 
Werk  ich  etwa  zur  Zeit  der  eintretenden  Pubertät  las),  hatte  ich  Erectionen. 
Besonders  aufregend  war  für  mich  der  Gedanke,  dass  ein  Mensch  vor  einen 
Wagen  gespannt  würde,  in  welchem  ein  anderer,  mit  einer  Peitsche  versehener 
Mensch  sass  und  den  Ersteren  lenkte  und  durch  Schläge  antrieb. 

Bis  zum  20.  Lebensjahre  waren  diese  Vorstellungen  rein  objectiv  und 
geschlechtslos,  d.  h.  der  in  meiner  Vorstellung  entstandene  Unterworfene  war 
ein  Dritter  (also  nicht  ich),  auch  war  der  Herrscher  nicht  nothwendig  ein  Weib. 

Diese  Vorstellungen  waren  daher  auch  ohne  Einfluss  auf  meinen  ge- 
schlechtlichen Trieb,  beziehungsweise  auf  die  Ausübung  desselben.  Wenngleich 
durch  jene  Vorstellungen  Erectionen  eintraten,  so  habe  ich  doch  niemals  in 
meinem  Leben  onanirt,  auch  coitirte  ich  von  meinem  19.  Jahre  an  ohne  Beihülfe 
der  erwähnten  Vorstellungen  und  ohne  jede  Beziehung  auf  dieselben.  Immerhin 
hatte  ich  eine  grosse  Vorliebe  für  ältere,  üppige  und  grosse  Frauenspersonen, 
wenngleich  ich  auch  jüngere  nicht  verschmähte. 

Von  meinem  21.  Lebensjahr  ab  fingen  die  Vorstellungen  an,  sich  zu  ob- 
jectiviren  und  als  Essentiale  trat  hinzu,  dass  die  „Herrin"  eine  über  40  Jahre 
alte,   grosse,   starke   Person    sein   musste.     Von  jetzt   an  war  ich  —  in 


Masochismus.  105 

meinen  Vorstellungen  —  stets  der  Unterworfene;  die  „Herrin" 
war  ein  rohes  Weib,  die  mich  in  jeder  Beziehung,  auch  geschlechtlich,  aus- 
nützte, die  mich  vor  ihren  Wagen  spannte  und  sich  von  mir  spazieren  fahren 
liess,  der  ich  folgen  musste  wie  ein  Hund,  der  nackt  zu  ihren  Füssen  liegen 
musste  und  von  ihr  geprügelt,  bezüglich  gepeitscht  wurde.  Das  war  das  fest- 
stehende Gerippe  meiner  Vorstellungen,  um  welches  sich  alle  anderen  gruppirten. 

Ich  fand  in  diesen  Vorstellungen  stets  ein  unendliches  Behagen,  welches 
mir  Erection,  niemals  aber  Ejaculation  verursachte.  In  Folge  der  entstandenen 
geschlechtlichen  Aufregung  suchte  ich  mir  sodann  irgend  ein  Weib,  mit  Vorliebe 
ein  äusserlich  meinem  Ideale  entsprechendes,  aus  und  coitirte  mit  demselben, 
ohne  irgend  welches  reale  Beiwerk,  zuweilen  auch  ohne  beim  Coitus  von  den 
Vorstellungen  befangen  zu  sein.  Daneben  hatte  ich  jedoch  auch  Neigung  zu 
anders  gearteten  Weibern  und  coitirte  auch,  ohne  durch  Vorstellung  hierzu 
gezwungen  zu  sein. 

Obgleich  ich  nach  alledem  ein  in  geschlechtlicher  Beziehung  nicht  allzu 
anormales  Leben  führte,  traten  doch  jene  Vorstellungen  periodisch  mit  Sicher- 
heit ein,  blieben  sich  im  Wesentlichen  auch  stets  gleich.  Mit  zunehmendem 
Geschlechtstriebe  wurden  die  Zwischenräume  immer  geringer.  Gegenwärtig 
melden  sich  die  Vorstellungen  etwa  alle  14  Tage  bis  3  Wochen.  Würde  ich 
vorher  coitiren,  so  würde  vielleicht  dem  Eintritt  derselben  vorgebeugt  werden. 
Ich  habe  niemals  den  Versuch  gemacht,  meine  sehr  bestimmt  und  charakte- 
ristisch auftretenden  Vorstellungen  zu  realisiren,  d.  h.  sie  mit  der  Aussenwelt 
in  Verbindung  zu  bringen,  sondern  mich  stets  mit  Schwelgereien  in  Gedanken 
begnügt,  weil  ich  von  der  Ueberzeugung  fest  durchdrungen  war,  dass  sich  eine 
Realisirung  meiner  „ Ideale"  niemals  auch  nur  annähernd  würde  herbeiführen 
lassen.  Der  Gedanke  an  eine  Comödie  mit  bezahlten  Dirnen  erschien  mir  stets 
lächerlich  und  zwecklos,  denn  eine  von  mir  bezahlte  Person  könnte  in  meiner 
Vorstellung  niemals  die  Stelle  einer  „grausamen  Herrin"  einnehmen.  Ob  es 
sadistisch  angehauchte  Weiber  wie  Sacher-Masoch's  Heldinnen  gibt,  bezweifle 
ich.  Wenn  es  deren  aber  auch  gäbe  und  ich  das  Glück  (!)  gehabt  hätte,  eine 
solche  zu  finden,  so  würde  mir  ein  Verkehr  mit  derselben  mitten  in  der  realen 
Welt  immer  nur  als  eine  Comödie  erschienen  sein.  Ja,  sagte  ich  mir,  wenn 
es  mir  sogar  passirt  wäre,  in  die  Sklaverei  einer  Messalina  zu  gelangen,  so 
glaube  ich,  dass  ich  bei  den  sonstigen  Entbehrungen  jenes  von  mir  erstrebten 
Lebens  sehr  bald  überdrüssig  geworden  wäre,  und  in  den  Lucidis  intervallis 
meine  Freiheit  unter  allen  Umständen  zu  erreichen  getrachtet  hätte. 

Dennoch  habe  ich  ein  Mittel  gefunden,  in  gewissem  Sinne  eine  Reali- 
sirung herbeizuführen.  Nachdem  durch  vorangegangene  Schwelgereien  mein 
Geschlechtstrieb  stark  angeregt  ist,  gehe  ich  zu  einer  Prostituirten  und  stelle 
mir  dort  irgend  eine  Geschichte  des  vorerwähnten  Inhaltes,  in  welcher  ich  die 
Hauptperson  bilde,  innerlich  lebhaft  vor.  Nach  etwa  halbstündiger,  unter  stetiger 
Erection  erfolgenden  inneren  Ausmalung  solcher  Situationen  coitire  ich  sodann 
mit  gesteigertem  Wollustgefühl  und  unter  starker  Ejaculation.  Nach  der  letzteren 
ist  der  Spuk  verschwunden.  Beschämt  entferne  ich  mich  so  bald  als  möglich, 
und  vermeide,  auf  das  Vorangegangene  zurückzukommen.  Sodann  habe  ich 
etwa  14  Tage  keinerlei  Vorstellungen  mehr ;  bei  besonders  befriedigendem  Coitus 
kommt  es  sogar  vor,  dass  ich  bis  zum  nächsten  Anfalle  gar  kein  Verständniss 
für  masochistische  Situationen  habe.     Der  nächste  Anfall  kommt  aber  sicher, 


106  Paraesthesia  sexualis. 

ob  früher  oder  später.  Ich  muss  jedoch  bemerken,  dass  ich  auch  coitire, 
ohne  durch  solche  Vorstellungen  präparirt  zu  sein,  insbesondere  auch  mit 
weiblichen  Wesen,  die  mich  und  meine  bürgerliche  Stellung  genau  kennen, 
und  in  deren  Gegenwart  ich  jene  Vorstellungen  durchaus  perhorrescire.  In 
letzteren  Fällen  bin  ich  jedoch  nicht  immer  potent,  während 
die  Potenz  unter  dem  Banne  masochistischer  Vorstellungen  eine  unbedingte  ist. 
Dass  ich  in  meinem  übrigen  Denken  und  Fühlen  sehr  ästhetisch  veranlagt  bin 
und  die  Misshandlung  eines  Menschen  an  sich  u.  s.  w.  im  höchsten  Grade 
verachte,  erscheint  mir  nicht  überflüssig  zu  bemerken.  Schliesslich  will  ich 
nicht  unerwähnt  lassen,  dass  auch  die  Form  der  Anrede  von  Bedeutung  ist. 
Es  ist  ein  Essen tiale  in  meinen  Vorstellungen,  dass  die  „ Herrin"  mich  mit  »Du" 
anredet,  während  ich  dieselbe  mit  „Sie"  anreden  muss.  Dieser  Umstand  des 
Geduztwerdens  von  einer  dazu  geeigneten  Person,  als  Ausdruck  der  absoluten 
Herrschaft,  hat  mir  von  früher  Jugend  an  schon  Wollustgefühle  erregt  und 
thut  dies  auch  heute  noch. 

Ich  habe  das  Glück  gehabt,  eine  Frau  zu  finden,  welche  mir  in  allen 
Punkten,  vor  Allem  auch  in  geschlechtlicher  Beziehung,  durchaus  zusagte, 
obwohl  dieselbe,  wie  ich  nicht  erst  hinzuzufügen  brauche,  in  keiner  Weise 
masochistischen  Idealen  ähnelt. 

Dieselbe  ist  sanftmüthig,  jedoch  üppig,  ohne  welche  Eigenschaft  ich  mir 
überhaupt  einen  geschlechtlichen  Reiz  nicht  vorstellen  kann. 

Die  ersten  Monate  der  Ehe  verliefen  geschlechtlich  ganz  normal,  die 
masochistischen  Anfälle  blieben  gänzlich  aus,  ich  hatte  beinahe  das  Verständniss 
für  den  Masochismus  verloren.  Da  kam  das  erste  Kindbett  und  hiermit  die 
nothwendig  gewordene  Abstinenz.  Pünktlich  stellten  sich  sodann  mit  ein- 
tretender Libido  die  masochistischen  Anwandlungen  wieder  ein,  welche  mit 
unabweisbarer  Nothwendigkeit  einen  ausserehelichen  Coitus  mit  masochistischen 
Vorstellungen  herbeiführten  —  trotz  meiner  aufrichtigen  grossen  Liebe  zu 
meiner  Frau. 

Bemerkenswerth  ist  hierbei,  dass  der  später  wieder  beginnende  Coitus 
maritalis  sich  nicht  als  ausreichend  erwies,  um  die  masochistischen  Vorstel- 
lungen zu  bannen,  wie  das  bei  einem  masochistischen  Coitus  regelmässig  der 
Fall  ist. 

Was  das  Wesen  des  Masochismus  anbelangt,  so  bin  ich  der  Ansicht, 
dass  bei  demselben  die  Vorstellungen,  also  die  geistige  Seite,  Haupt-  und  Selbst- 
zweck sind. 

Wäre  die  Verwirklichung  masochistischer  Ideen  (also  die  passive 
Flagellation  u.  dergl.)  das  ersehnte  Ziel,  so  steht  hiermit  die  Thatsache  im 
Widerspruche,  dass  ein  grosser  Theil  der  Masochisten  zur  Verwirklichung 
entweder  gar  nicht  schreitet,  oder,  wenn  er  dies  dennoch  versucht,  eine 
grosse  Ernüchterung  empfindet,  jedenfalls  die  ersehnte  Befriedigung 
nicht  erzielt. 

Schliesslich  möchte  ich  nicht  unterlassen,  aus  meiner  Erfahrung  zu  be- 
stätigen, dass  die  Zahl  der  Masochisten,  besonders  in  grossen  Städten,  in  der 
That  eine  ziemlich  grosse  zu  sein  scheint.  Die  einzige  Quelle  für  derartige 
Forschungen  sind  —  da  Mittheilungen  inter  viros  nicht  stattzufinden  pflegen  — 
die  Aussagen  der  Prostituirten,  und  da  diese  in  den  wesentlichen  Punkten  überein- 
stimmen, wird  man  immerhin  gewisse  Thatsachen  für  erwiesen  annehmen  können. 


Masochismus.  107 

Dahin  gehört  zunächst  die  Thatsache,  dass  jede  erfahrene  Prostituirte 
irgend  ein  zur  Flagellation  geeignetes  Instrument  (gewöhnlich  eine  Ruthe)  im 
Besitze  zu  haben  pflegt,  wobei  allerdings  in  Betracht  zu  ziehen  ist,  dass  es 
Männer  gibt,  die  sich  lediglich  zur  Erhöhung  ihrer  Geschlechtslust  geissein 
lassen,  also  —  im  Gegensatze  zu  den  Masochisten  —  die  Flagellation  als  Mittel 
betrachten. 

Dagegen  stimmen  die  Prostituirten  fast  sämmtlich  darin  überein,  dass 
es  eine  Anzahl  von  Männern  gibt,  welche  gern  „ Sklaven"  spielen,  d.  h.  sich 
gerne  so  nennen  hören,  sich  schimpfen  und  treten,  auch  schlagen  lassen. 
Wie  gesagt,  die  Zahl  der  Masochisten  ist  grösser,  als  man  es  sich  bisher  hat 
träumen  lassen. 

Die  Lektüre  Ihres  Capitels  über  diesen  Gegenstand  machte,  wie  Sie  sich 
denken  können,  einen  ungeheuren  Eindruck  auf  mich.  Ich  möchte  an  eine 
Heilung,  sozusagen  an  eine  Heilung  durch  Logik,  glauben,  nach  dem  Motto: 
„tout  comprendre  c'est  tout  guerir." 

Freilich  ist  das  Wort  Heilung  mit  Einschränkung  zu  verstehen,  und  zwar 
muss  man  auseinanderhalten :  allgemeine  Gefühle  und  concrete  Vorstellungen. 
Die  ersteren  sind  niemals  zu  beseitigen.  Sie  kommen  wie  der  Blitz  und  sind 
da,  man  weiss  nicht  von  wannen  und  wieso. 

Aber  die  Ausübung  des  Masochismus  durch  Schwelgen  in  concreten,  zu- 
sammenhängenden Vorstellungen  lässt   sich  vermeiden  oder  doch  eindämmen. 

Jetzt  liegt  die  Sache  anders.  Ich  sage  mir:  Was,  du  begeisterst  dich 
an  Dingen,  die  nicht  nur  das  ästhetische  Gefühl  Anderer,  sondern  auch  dein 
eigenes  reprobirt?  Du  findest  etwas  schön  und  begehrenswerth,  was  anderer- 
seits, nach  deinem  eigenen  Urtheil,  hässlich,  gemein,  lächerlich  und  unmöglich 
zugleich  ist?  Du  sehnst  eine  Situation  herbei,  in  die  du  in  Wirklichkeit  nie- 
mals gelangen  möchtest?  Diese  Gegenvorstellung  wirkt  sofort  hemmend  und 
ernüchternd,  und  bricht  den  Phantasien  die  Spitze  ab.  Thatsächlich  habe  ich 
auch  seit  der  Lektüre  Ihres  Buches  (etwa  Anfang  dieses  Jahres)  nicht  ein  ein- 
ziges Mal  mehr  geschwelgt,  obwohl  die  masochistischen  Anwandlungen  selbst 
sich  in  den  regelmässigen  Intervallen  einstellten. 

Im  Uebrigen  muss  ich  gestehen,  dass  der  Masochismus  trotz  seines  stark 
pathologischen  Charakters  nicht  nur  nicht  im  Stande  ist,  mir  den  Genuss  des 
Lebensglückes  zu  vereiteln,  sondern  überhaupt  auch  nicht  im  Geringsten  in 
mein  äusseres  Leben  eingreift.  In  nicht  masochistischem  Zustande  bin  ich, 
was  Fühlen  und  Handeln  anlangt,  ein  äusserst  normaler  Mensch.  Während 
der  masochistischen  Anwandlungen  ist  zwar  im  Gefühlsleben  eine  grosse  Revo- 
lution ausgebrochen ,  meine  äussere  Lebensweise  erleidet  jedoch  keine  Aende- 
rung.  Ich  habe  einen  Beruf,  welcher  es  mit  sich  bringt,  dass  ich  mich  viel 
in  der  Oeffentlichkeit  bewege.  Ich  übe  denselben  auch  im  masochistischen 
Zustande  ebenso  aus  wie  sonst. 

Der  Verfasser  der  vorstehenden  Aufzeichnungen  übersandte 
mir  ferner  noch  die  folgenden  Bemerkungen: 

I.  Masochismus  ist  meiner  Erfahrung  gemäss  unter  allen  Umständen 
angeboren,  und  keineswegs  vom  Individuum  gezüchtet.  Ich  weiss  es  positiv, 
dass  ich  niemals  auf  das  Gesäss   geschlagen  worden   bin,   und  dass 


108  Paraesthesia  sexualis. 

meine  masochistischen  Vorstellungen  von  frühester  Jugend  an  sich  zeigten, 
und  dass  ich,  solange  ich  überhaupt  zu  denken  vermag,  derartige  Gedanken 
hegte.  Wäre  die  Entstehung  derselben  die  Folge  eines  bestimmten  Ereig- 
nisses, insbesondere  eines  Schlages  gewesen,  so  würde  ich  ganz  bestimmt  die 
Erinnerung  hieran  nicht  verloren  haben.  Charakteristisch  ist,  dass  die  Vor- 
stellungen bereits  vorhanden  waren,  ehe  noch  Libido  überhaupt 
vorhanden  war.  Damals  waren  dio  Vorstellungen  auch  gänzlich  geschlechts- 
los. Ich  besinne  mich,  dass  es  mich  als  Knabe  stark  anregte  (um  nicht  zu 
sagen  aufregte),  als  ein  älterer  Knabe  mich  duzte,  während  ich  zu  ihm  „Sie" 
sagte.  Ich  drängte  mich  zu  einer  Unterhaltung  mit  demselben,  wobei  ich 
dafür  sorgte,  dass  diese  gegenseitige  Anrede  möglichst  häufig  erfolgte.  Später, 
als  ich  geschlechtsreifer  wurde,  hatten  derartige  Sachen  nur  dann  Reiz,  wenn 
sie  Beziehung  zu  einer  Frau,  und  zwar  zu  einer  (relativ)  älteren  hatten. 

IL  Ich  bin  körperlich  und  seelisch  durchaus  männlich  veranlagt.  Ueber- 
starker  Bartwuchs  und  starke  Behaarung  am  ganzen  Körper.  In  meinen  nicht 
masochistischen  Beziehungen  zum  weiblichen  Geschlecht  ist  für  mich  die  donii- 
nirende  Stellung  des  Mannes  eine  unerlässliche  Bedingung,  und  jeden  Versuch, 
dieselbe  zu  beeinträchtigen ,  würde  ich  mit  Energie  zurückweisen.  Ich  bin 
energisch,  wenn  auch  nicht  allzu  muthig,  doch  wird  der  fehlende  Muth  dann 
ergänzt,  wenn  es  sich  um  Verletzung  des  Stolzes  handelt.  Gegen  Naturereig- 
nisse (Gewitter,  Meeressturm  u.  s.  w.)  bin  ich  völlig  unempfindlich1). 

Auch  meine  masochistischen  Neigungen  haben  nichts,  was  weiblich  oder 
weibisch  zu  nennen  wäre  (?).  Allerdings  ist  hierbei  die  Neigung  vorherrschend, 
vom  Weibe  gesucht  und  begehrt  zu  werden,  doch  ist  das  allgemeine  Verhält- 
niss  zur  „ Herrin",  wie  es  herbeigesehnt  wird,  nicht  das,  in  welchem  das  Weib 
zum  Manne  steht,  sondern  das  Verhältniss  des  Sklaven  zum  Herrn,  das  des 
Hausthieres  zu  seinem  Besitzer.  Zieht  man  ganz  rücksichtslos  die  Consequenzen 
aus  dem  Masochismus,  so  kann  man  nicht  anders  sagen,  als  dass  das  Ideal 
desselben  die  Stellung  eines  Hundes  oder  Pferdes  ist.  Beide  sind  Eigenthum 
eines  Anderen ,  werden  von  demselben  nach  Gutdünken  gemisshandelt,  ohne 
dass  dieser  irgend  Jemand  Rechenschaft  zu  geben  hätte. 

Gerade  diese  unumschränkte  Herrschaft  über  Leben  und  Tod,  wie  sie 
nur  beim  Sklaven  und  Hausthiere  zu  finden  ist,  ist  das  Um  und  Auf  aller 
masochistischen  Vorstellungen. 

III.  Die  Grundlage  aller  masochistischen  Vorstellungen  ist  die  Libido, 
und  je  nachdem  bei  dieser  Ebbe  und  Fluth  eintritt,  ist  dasselbe  auch  bei  jenen 
der  Fall.  Andererseits  erhöhen  die  Vorstellungen,  sobald  sie  vorhanden  sind, 
die  Libido  ganz  erheblich.  Ich  bin  von  Natur  durchaus  nicht  übermässig  ge- 
schlechtsbedürftig. Erscheinen  jedoch  die  masochistischen  Vorstellungen ,  so 
drängt  es  mich  zum  Coitus  um  jeden  Preis  (meist  zieht  es  mich  dann  zu  mög- 
lichst niedrigen  Weibern),  und  wird  diesem  Drängen  nicht  bald  Statt  gegeben, 
so  steigert  sich  in  kurzer  Zeit  die  Libido  bis  fast  zur  Satyriasis.  Man  könnte 
hier  fast  von  einem  Circulus  vitiosus  sprechen. 


*)  Diese  Differenz  des  Muthes  gegenüber  Naturereignissen  einerseits, 
Willensconflikten  andererseits  ist  jedenfalls  auffallend  (vgl.  Beob.  42  p.  95), 
wenn  auch  hier  die  einzige  erwähnte  Andeutung  von  Effeminatio. 


Masochismus.  109 

Die  Libido  tritt  ein,  entweder  durch  Zeitablauf  oder  besondere  Auf- 
regung (auch  nicht  masochistischer  Art,  z.  B.  Küssen).  Trotz  dieses  Ursprunges 
verwandelt  sich  diese  Libido  kraft  der  durch  sie  selbst  erzeugten  masochisti- 
schen  Vorstellungen  sehr  bald  in  eine  masochistische,  also  unreine  Libido. 

Dass  übrigens  die  Begierde  durch  äussere  zufällige  Eindrücke,  insbesondere 
durch  den  Aufenthalt  in  den  Strassen  einer  Grossstadt,  erheblich  gesteigert 
wird,  unterliegt  keinem  Zweifel.  Der  Anblick  schöner  und  imponirender 
Frauengestalten,  in  natura  wie  in  effigie,  wirkt  aufregend.  Für  den  unter 
dem  Zeichen  des  Masochismus  Stehenden  ist  —  wenigstens  für  die  Dauer  des 
Anfalles  —  das  ganze  äussere  Erscheinungsleben  masochistisch  angehaucht. 
Die  Ohrfeige,  die  die  Meisterin  dem  Lehrling  applicirt,  der  Peitschenhieb  des 
Fiakers  —  alles  das  hinterlässt  dem  Masochisten  tiefe  Eindrücke,  während  es 
ihn  im  nicht  masochistischen  Zustande  gleichgültig  lässt  oder  gar  anekelt. 

IV.  Schon  bei  der  Lektüre  von  Sacher-Masoch  fiel  es  mir  auf,  dass  bei 
dem  Masochisten  ab  und  zu  sadistische  Gefühle  gelegentlich  mit  unterlaufen. 
Auch  an  mir  habe  ich  hin  und  wieder  sporadische  Empfindungen  von  Sadismus 
entdeckt.  Ich  muss  aber  bemerken,  dass  die  sadistischen  Gefühle  nicht  derart 
markant  sind  wie  die  masochistischen,  und  dass  dieselben,  abgesehen  davon, 
dass  sie  nur  selten  und  gewissermassen  accessorisch  auftreten,  niemals  aus  dem 
Rahmen  des  abstracten  Gefühlslebens  heraustreten  und  vor  Allem  nicht  die 
Gestalt  concreter  und  zusammenhängender  Vorstellungen  annehmen.  Die  Wir- 
kung auf  die  Libido  ist  jedoch  bei  beiden  die  gleiche. 

War  dieser  Fall  merkwürdig  durch  die  vollständige  Entwick- 
lung des  psychischen  Thatbestandes,  der  den  Masochismus  ausmacht, 
so  ist  es  der  folgende  durch  die  besondere  Extravaganz  der  aus 
der  Perversion  hervorgehenden  Handlungen.  Auch  dieser  Fall  ist 
besonders  geeignet,  das  Moment  der  Unterwerfung  unter  und  der 
Demüthigung  durch  das  Weib  zugleich  mit  der  eigenthümlichen 
geschlechtlichen  Betonung  der  daraus  sich  ergebenden  Situationen 
klar  zu  machen. 

Beobachtung  49.  Herr  Z. ,  Beamter,  50  Jahre,  gross,  muskulös, 
gesund,  stammt  angeblich  von  gesunden  Eltern,  jedoch  war  der  Vater  bei  der 
Zeugung  30  Jahre  älter  als  die  Mutter.  Eine  Schwester,  2  Jahre  älter  als  Z., 
leidet  an  Verfolgungswahn.  Z.  bietet  in  seinem  Aeusseren  nichts  Auffälliges. 
Skelett  durchaus  männlich,  starker  Bart,  jedoch  Rumpf  gänzlich  unbehaart. 
Er  bezeichnet  sich  als  prononcirten  Gemüthsmensch ,  der  Niemand  etwas  ab- 
schlagen kann,  gleichwohl  jähzornig,  aufbrausend,  dabei  augenblicklich  bereuend. 

Z.  hat  angeblich  nie  onanirt.  Von  Jugend  auf  nächtliche  Pollutionen, 
bei  denen  nie  der  sexuelle  Akt,  immer  aber  das  Frauenzimmer  eine  Rolle 
spielte.  Es  träumte  ihm  z.  B.,  eine  ihm  sympathische  Frauensperson  lehne 
sich  kräftig  an  ihn  an,  oder  er  lag  schlummernd  im  Grase  und  sie  stieg  scherz- 
weise auf  seinen  Rücken.  Vor  Coitus  mit  einem  Weibe  hatte  Z.  von  jeher 
Abscheu.  Dieser  Akt  kam  ihm  thierisch  vor.  Trotzdem  drängte  es  ihn  zum 
Weibe.  Nur  in  Gesellschaft  von  hübschen  Frauen  und  Mädchen  fühlte  er  sich 
wohl  und  an  seinem  Platze.  Er  war  sehr  galant,  ohne  je  zudringlich  zu  sein. 


HO  Paraesthesia  sexualis. 

Eine  üppige  Frau  mit  schönen  Formen ,  namentlich  hübschem  Fuss, 
konnte  ihn,  wenn  sie  sass,  in  höchste  Erregung  versetzen.  Es  drängte  ihn, 
sich  ihr  als  Stuhl  anzubieten,  um  „so  viel  Herrlichkeit  tragen  zu  dürfen".  Ein 
Tritt,  eine  Ohrfeige  von  ihr  wäre  ihm  Seligkeit  gewesen.  Vor  dem  Gedanken, 
mit  ihr  zu  coitiren,  hatte  er  Horror.  Er  fühlte  das  Bedürfhiss,  dem  Weibe  zu 
dienen.  Es  kam  ihm  vor,  dass  Damen  gerne  reiten.  Er  schwelgte  in  dem  Ge- 
danken, wie  herrlich  es  sein  müsste,  sich  unter  der  Last  eines  schönen  Weibes 
abzuquälen,  um  ihm  Vergnügen  zu  bereiten.  Er  malte  sich  die  Situation  nach 
jeder  Richtung  aus,  dachte  sich  den  schönen  Fuss  mit  Sporen,  die  herrlichen 
Waden,  die  weichen  vollen  Schenkel.  Jede  schön  gewachsene  Dame,  jeder 
hübsche  Damenfuss  regte  seine  Phantasie  immer  mächtig  an,  aber  niemals  ver- 
rieth  er  seine  absonderlichen,  ihm  selbst  abnorm  erscheinenden  Empfindungen 
und  wusste  sich  zu  beherrschen.  Er  fühlte  aber  auch  kein  Bedürfhiss,  dagegen 
anzukämpfen  —  im  Gegentheil,  es  hätte  ihm  leid  gethan,  seine  ihm  so  lieb 
gewordenen  Gefühle  preisgeben  zu  müssen. 

32  Jahre  alt,  machte  Z.  zufällig  die  Bekanntschaft  einer  ihm  sympathi- 
schen, vom  Manne  geschiedenen  und  in  Nothlage  befindlichen  27  Jahre  alten 
Frau.  Er  nahm  sich  um  sie  an,  arbeitete  für  sie,  ohne  irgendwelche  eigen- 
nützige Absicht,  monatelang.  Eines  Abends  verlangte  sie  ungestüm  von  ihm 
geschlechtliche  Befriedigung,  that  ihm  beinahe  Gewalt  an.  Der  Coitus  hatte 
Folgen.  Z.  nahm  die  Frau  zu  sich,  lebte  mit  ihr,  coitirte  massig,  empfand 
den  Coitus  mehr  als  eine  Last  denn  als  einen  Genuss,  wurde  erectionsschwach, 
konnte  die  Frau  nicht  mehr  recht  befriedigen,  bis  sie  endlich  erklärte,  sie 
wolle  keinen  Verkehr  mehr  mit  ihm,  da  er  sie  nur  reize,  aber  nicht  befriedige. 
Obwohl  er  die  Frau  unendlich  liebte,  konnte  er  doch  seinen  eigenartigen 
Phantasien  nicht  entsagen.  Er  lebte  nun  mit  der  Frau  nur  mehr  in  freund- 
schaftlichem Verkehr  und  beklagte  es  tief,  dass  er  ihr  in  seiner  Weise  nicht 
dienen  konnte. 

Furcht,  wie  sie  bezügliche  Propositionen  aufnehmen  möchte,  und  Scham- 
gefühl hielten  ihn  davon  ab,  sich  ihr  zu  entdecken.  Er  fand  Ersatz  dafür  in 
seinen  Träumen.  So  träumte  ihm  z.  B.,  er  sei  ein  edles  feuriges  Pferd  und 
werde  von  einer  schönen  Dame  geritten.  Er  fühlte  ihr  Gewicht,  den  Zügel, 
dem  er  gehorchen  musste,  den  Schenkeldruck  in  der  Flanke,  er  hörte  ihre 
wohlklingende  fröhliche  Stimme.  Die  Anstrengung  trieb  ihm  den  Schweiss  aus, 
das  Empfinden  des  Sporns  that  das  Uebrige  und  bewirkte  jeweils  das  Eintreten 
einer  Pollution  unter  grossem  Wollustgefühl. 

Unter  dem  Einfluss  solcher  Träume  überwand  Z.  vor  7  Jahren  seine 
Scheu,  um  derlei  auch  in  der  Wirklichkeit  erleben  zu  können. 

Es  gelang  ihm,  „passende"  Gelegenheiten  aufzutreiben.  Er  berichtet 
darüber  Folgendes :  „Ich  wusste  es  immer  so  anzustellen,  dass  bei  irgend  einer 
Gelegenheit  sie  sich  von  selbst  auf  meinen  Rücken  setzte.  Nun  trachtete  ich 
ihr  diese  Situation  so  angenehm  als  möglich  zu  machen  und  erreichte  es  leicht, 
dass  sie  bei  nächster  Gelegenheit  aus  eigenem  Antrieb  sagte:  „Komm,  lass 
mich  ein  bischen  reiten!"  Gross  gewachsen  und  beide  Hände  auf  einen  Stuhl 
gestützt,  brachte  ich  meinen  Rücken  in  horizontale  Lage,  auf  den  sie  sich 
dann  rittlings,  nach  Männerart  reitend,  setzte.  Ich  machte  dann  so  viel  als 
möglich  alle  Bewegungen  eines  Pferdes  und  liebte  es,  wenn  auch  sie  mich  nur 
als  Pferd  behandelte,  ganz  ohne  Rücksicht.   Sie  konnte  mich  schlagen,  stechen, 


Masochismus.  111 

schelten,  liebkosen,  ganz  nach  Laune.  Personen  von  60 — 80  Kilo  konnte  ich 
so  1/% — 3/i  Stunden  ununterbrochen  auf  dem  Rücken  haben.  Nach  dieser  Zeit 
bat  ich  gewöhnlich  um  eine  Ruhepause.  Während  dieser  Zeit  war  der  Verkehr 
zwischen  mir  und  der  Herrin  ein  ganz  harmloser  und  von  dem  Vorher- 
gegangenen nicht  die  Rede.  Nach  einer  Viertelstunde  war  ich  jeweils  wieder 
vollkommen  erholt  und  stellte  mich  der  Herrin  bereitwillig  wieder  zur  Ver- 
fügung. Ich  machte  dies,  wenn  es  Zeit  und  Umstände  erlaubten,  3 — 4mal 
hintereinander.  Es  kam  vor,  dass  ich  Vor-  und  Nachmittags  mich  hingab. 
Ich  fühlte  nachträglich  keine  Ermüdung  oder  sonst  ein  unbehagliches  Gefühl. 
nur  hatte  ich  an  solchen  Tagen  sehr  wenig  Esslust.  Wenn  es  anging,  war  es 
mir  am  liebsten,  wenn  ich  den  Oberkörper  entblössen  konnte,  um  die  Reitgerte 
empfindlicher  zu  fühlen.  Die  Herrin  musste  decent  sein.  Am  liebsten  war 
sie  mir  mit  schönen  Schuhen,  Strümpfen,  kurzer,  bis  zu  den  Knieen  reichender 
geschlossener  Hose,  Oberkörper  vollkommen  bekleidet,  mit  Hut  und  Hand- 
schuhen." 

Herr  Z.  berichtet  weiter,  dass  er  seit  7  Jahren  Coitus  nicht  mehr  voll- 
zogen hat,  sich  jedoch  für  potent  hält.  Das  Damenreiten  entschädige  ihn 
vollkommen  für  jenen  „thierischen  Akt",  auch  dann,  wenn  es  nicht  gerade  zur 
Ejaculation  kam. 

Seit  8  Monaten  hat  sich  Z.  gelobt,  von  seinem  masochistischen  Sport 
abzulassen,  und  dieses  Gelübde  auch  gehalten.  Gleichwohl  meint  er,  wenn 
ein  auch  nur  halbwegs  hübsches  Weib  ihn  ohne  Umschweife  anreden  würde 
„komm,  ich  will  dich  reiten,"  er  nicht  die  Kraft  hätte,  dieser  Versuchung  zu 
widerstehen.  Z.  bittet  um  Aufklärung,  ob  seine  Abnormität  heilbar  sei,  ob 
er  verabscheuungswürdig  sei  als  lasterhafter  Mensch,  oder  ein  Kranker,  der 
Mitleid  verdiene1). 

Schon  in  der  bisherigen  Casuistik  hat  neben  anderen  Dingen 
das  Treten  mit  Füssen  eine  Rolle  als  Ausdrucksmittel  masochisti- 
scher  Situationen  der  Demüthigung  und  Schmerzzufügung  gespielt. 
Die  ausschliessliche  und  weitestgehende  Verwerthung  dieses  Mittels 
zu  perverser  Erregung  und  Befriedigung,  welches,  weil  es  einen 
Uebergang  zu  einer  anderen  Perversion  vermittelt,  Anlass  zur  Auf- 
stellung einer  besonderen  Gruppe  —  s.  unten  unter  b)  pag.  120  — 
gab,  zeigt  der  folgende  klassische  Fall  von  Masochismus,  welchen 
Hammond  op.  cit.  p.  28,  nach  einer  Beobachtung  von  Dr.  Cox2) 
in  Colorado,  berichtet. 

Beobachtung  50.  X.,  Muster  eines  Ehemanns,  streng  sittlich,  Vater 
mehrerer  Kinder,  hat  Zeiten  resp.  Anfälle,  in  welchen  er  ins  Bordell  geht,  sich 
2 — 3  der  grössten  Mädchen  auswählt  und  mit  ihnen  sich  einschliesst.  Corporis 
superiorem  partem  nudavit  humi   iacens   manus  supra  ventrem  ponens  oculos 


')  Einen  ähnlichen  Fall  s.  dieses  Buch  8.  Aufl.   Beob.  51. 
2)  Transactions   of  the  Colorado  State  medical  society   quoted   in  the 
, Alienist  and  Neurologist "  1883  April,  p.  345. 


Paraesthesia  sexualis. 

audit  et  puellas  trans  pectus  suum  nudatum  et  Collum  et  os  vadere  iubet 
et  poscit,  ut  transgredientes  summa  vi  calcibus  carnem  premerent.  Gelegentlich 
verlangt  er  eine  noch  schwerer^  Dirne  oder  einige  andere  Kunstgriffe,  die  jene 
Proeedur  noch  grausamer  gestalten.  Nach  2 — 3  Stunden  hat  er  genug,  honorirt 
die  Mädchen  mit  Wein  und  Geld,  reibt  sich  seine  blauen  Flecke,  kleidet  sich 
an,  zahlt  seine  Rechnung  und  geht  in  sein  Geschäft,  um  nach  einer  Woche 
etwa  dieses  sonderbare  Vergnügen  sich  neuerdings  zu  verschaffen. 

Gelegentlich  kommt  es  vor,  dass  er  eines  dieser  Mädchen  sich  auf  seine 
Brust  stellen  lässt,  während  die  anderen  sie  im  Kreise  herumdrehen  müssen, 
bis  seine  Haut  unter  dem  Drehen  der  Schuhabsätze  blutrünstig  geworden  ist. 

Häufig  muss  eines  der  Mädchen  so  auf  ihn  sich  stellen,  dass  ein  Schuh 
quer  über  den  Augen  steht  und  der  Absatz  auf  den  einen  Augapfel  drückt, 
während  der  andere  Schuh  quer  über  seinem  Halse  ruht.  In  dieser  Stellung 
hält  er  den  Druck  der  circa  150  Pfund  schweren  Person  etwa  4 — 5  Minuten 
lang  aus.  Verf.  spricht  vonDutzenden  analoger  Fälle,  die  ihm 
bekannt  geworden  seien.  Hamm on d  vermuthet  mit  Grund,  dass  dieser 
Mann  im  Verkehr  mit  dem  Weibe  impotent  geworden,  in  dieser  eigenartigen 
Proeedur  ein  Aequivalent  für  Coitus  sucht  und  findet,  und  während  er  blutig 
getreten  wird,  angenehme,  von  Ejaculation  begleitete  Sexualgefühle  hat. 

Die  bisher  angeführten  Fälle  von  Masochismus  und  die  zahl- 
reichen analogen,  welche  die  Berichterstatter  erwähnen,  bilden  das 
Gegenstück  zur  oben  geschilderten  Gruppe  c)  des  Sadismus.  Wie 
dort  perverse  Männer  an  der  Misshandlung  von  Weibern  sich  er- 
regen und  befriedigen,  so  suchen  sie  hier  den  gleichen  Effect  durch 
das  passive  Empfangen  solcher  Misshandlungen1). 

Aber  auch  die  Gruppe  a)  der  Sadisten,  die  der  Lustmörder,  ist 
merkwürdiger  Weise  nicht  ganz  ohne  Gegenstück  im  Masochismus. 

In  seiner  äussersten  Consequeuz  muss  ja  der  Masochismus  zu 
der  Begierde  führen,  von  einer  Person  des  anderen  Geschlechts  ge- 
tödtet  zu  werden,  so  wie  der  Sadismus  im  aktiven  Lustmord  gipfelt. 
Solcher  Consequenz  stellt  sich  aber  der  Trieb  der  Lebenserhaltung 
entgegen,  so  dass  es  hier  nicht  zum  Aeussersten  in  wirklicher  Aus- 
führung kommt. 

Wo  aber  das  ganze  Gebäude  der  masochistischen  Vorstellungen 
nur  in  petto  errichtet  wird,  da  kann  es  in  den  Phantasien  solcher 
Individuen  selbst  zu  dieser  äussersten  Consequenz  kommen,  wie  der 
folgende  Fall  zeigt. 

Beobachtung  51.  Ein  Mann  in  mittleren  Jahren,  verheirathet  und 
Familienvater,  der  stets  eine  normale  Vita  sexualis  geführt  hat,  aber  aus  sehr 


*)  Instructive   Beispiele   s.   Seydel,    Vierteljahrschr.   f.   ger.    Med.  1893. 
Heft  2  p.  275  u.  276. 


Masochismus.  113 

„nervöser"  Familie  zu  stammen  angibt,  macht  folgende  Mittheilung:  In  seiner 
frühen  Jugend  sei  er  beim  Anblick  einer  Frauensperson,  welche  ein  Thier  mit 
einem  Messer  schlachtete,  sexuell  mächtig  erregt  worden.  Von  da  ab  habe  er 
viele  Jahre  lang  in  der  wollüstig  betonten  Vorstellung  geschwelgt,  von  Weibern 
mit  Messern  gestochen  und  geschnitten,  ja  selbst  getödtet  zu  werden.  Später, 
nach  Beginn  des  normalen  Geschlechtsverkehrs,  haben  diese  Vorstellungen  den 
perversen  Reiz  für  ihn  gänzlich  verloren. 

Mit  diesem  Falle  sind  die  oben  p.  96  angeführten  Mittheilungen 
zu  vergleichen,  wonach  Männer  einen  sexuellen  Genuss  darin  finden, 
von  Weibern  mit  Messern  leicht  gestochen,  dabei  aber  mit  dem 
Tode  bedroht  zu  werden. 

Derartige  Phantasien  geben  vielleicht  den  Schlüssel  zum  Ver- 
ständniss  des  folgenden  seltsamen  Falles,  welchen  ich  einer  Mit- 
theilung des  Herrn  Dr.  Körb  er  in  Rankau  i./Schl.  verdanke. 

Beobachtung  52.  Eine  Dame  erzählte  mir  Folgendes :  Als  junges 
unwissendes  Mädchen  wurde  sie  mit  einem  etwa  30jährigen  Manne  verheirathet. 
In  der  ersten  Nacht  ihres  Ehelebens  zwang  er  ihr  ein  Waschnäpfchen  mit  Seife 
in  die  Hände  und  wünschte  dringend,  ohne  jedwede  Liebesbezeugung,  von  ihr 
um  Kinn  und  Hals  (wie  zum  Barbieren)  eingeschäumt  zu  werden.  Die  völlig 
unerfahrene  junge  Frau  that  es  und  war  nicht  wenig  erstaunt,  in  den  ersten 
Wochen  ihres  Ehelebens  dessen  Geheimnisse  in  absolut  keiner  anderen  Form 
kennen  zu  lernen;  der  Mann  erklärte  ihr  beständig,  dass  es  ihm  höchster  Ge- 
nuss sei,  von  ihr  im  Gesicht  eingeschäumt  zu  werden.  Nachdem  sie  später 
Freundinnen  zu  Rathe  gezogen,  brachte  sie  ihren  Mann  zur  Ausübung  des 
Coitus  und  hat,  wie  sie  bestimmt  versichert,  von  ihm  im  Laufe  der  Jahre  drei 
Kinder  bekommen.  Der  Mann  ist  ein  fleissiger  und  solider,  aber  kurz  ange- 
bundener, mürrischer  Mensch,  seines  Zeichens  Kaufmann. 

Es  ist  immerhin  denkbar,  dass  der  hier  erwähnte  Mann  den 
Akt  des  Rasirens  (resp.  Einseifens  als  Vorbereitung  dazu)  als  eine 
rudimentäre,  symbolische  Verwirklichung  von  Verletzungs-  oder 
Tödtungsvorstellungen  und  Messer-Phantasien,  wie  sie  der  obige 
ältere  Herr  in  seiner  Jugend  hatte,  auffasste  und  auf  diese  Weise 
dadurch  sexuell  erregt  und  befriedigt  wurde.  Das  vollkommene 
sadistische  Gegenstück  zu  diesem  so  aufgefassten  Falle  liefert  dann 
die  oben  p.  82x  mitgetheilte  Beob.  34,  welche  einen  Fall  von  sym- 
bolischem Sadismus  betrifft. 

Ueberhaupt  gibt  es  eine  ganze  Gruppe  von  Masochisten,  welche 
sich  mit  symbolischen  Andeutungen  der  ihrer  Perversion  ent- 
sprechenden Situationen  begnügt,  eine  Gruppe,  welche  der  Gruppe  e) 
der  „symbolischen"  Sadisten  entspricht,  so  wie  die  früher  ange- 
führten Fälle  von  Masochismus  den  Gruppen  c)  und  a)  des  Sadis- 

v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  8 


114  Paraesthesia  sexualis. 

mus  entsprachen.  So  wie  sich  die  perversen  Gelüste  des  Masochisten 
einerseits  (freilich  nur  in  der  Phantasie)  bis  zum  „passiven  Lust- 
mord" steigern,  so  können  sie  andererseits  sich  mit  blossen  sym- 
bolischen Andeutungen  der  erwünschten  Situation  begnügen,  die 
sonst  durch  Misshandlungen  ausgedrückt  wird  (was  freilich  objectiv 
genommen  noch  immer  weiter  geht  als  jenes  Phantasma  des  Er- 
mordetwerdens, nach  der  entscheidenden  subjectiven  Sachlage  aber 
weniger  weit). 

Es  mögen  hier  neben  dem  obigen  Fall  der  Beob.  52  noch 
einige  derartige  Fälle  angeführt  werden,  in  denen  die  von  Maso- 
chisten gewünschten  und  bestellten  Vorgänge  rein  symbolischen 
Charakter  haben  und  gewissermassen  zur  Markirung  der  ersehnten 
Situation  dienen. 

Beobachtung  53.  (Pascal,  Igiene  dell1  amore.)  Alle  drei  Monate 
erschien  bei  einer  Prostituirten  ein  etwa  45  Jahre  alter  Mann  und  bezahlte 
ihr  10  Frcs.  für  folgenden  Vorgang.  Die  Puella  musste  ihn  entkleiden,  ihm 
Hände  und  Füsse  zusammenbinden,  ihm  die  Augen  verbinden  und  überdies 
die  Fenster  verdunkeln.  Dann  Hess  sie  den  Gast  auf  einen  Sopha  niedersitzen 
und  musste  ihn  in  seinem  hülflosen  Zustand  allein  lassen.  Nach  einer  halben 
Stunde  musste  die  Person  wiederkommen  und  die  Bande  lösen.  Darauf  zahlte 
der  Mann  und  ging  ganz  befriedigt  von  dannen,  um  nach  etwa  drei  Monaten 
seinen  Besuch  zu  erneuern. 

Dieser  Mann  scheint  sich  die  Situation,  hülflos  in  der  Gewalt 
eines  Weibes  zu  sein,  mittelst  seiner  Phantasie  im  Dunkeln  weiter 
ausgemalt  zu  haben.  Noch  sonderbarer  ist  der  folgende  Fall,  in 
dem  wieder  eine  complicirte  Comödie  im  Sinne  masochistischer  Ge- 
lüste aufgeführt  wird. 

Beobachtung  54.  (Dr.  Pascal,  ibid.)  Ein  Herr  in  Paris  begab  sich 
an  bestimmten  Abenden  in  eine  Wohnung,  deren  Besitzerin  zur  Befriedigung 
seiner  seltsamen  Neigung  willfährig  war.  Er  erschien  in  Gala  im  Salon  der 
Dame,  welche  in  Balltoüette  sein  und  ihn  mit  strenger  Miene  empfangen 
musste.  Er  redete  sie  als  Marquise  an,  sie  musste  ihn  mit  den  Worten  „  lieber 
Graf  begrüssen.  Darauf  sprach  er  von  dem  Glück,  sie  allein  zu  treffen,  von 
seiner  Liebe  zu  ihr  und  einer  Schäferstunde.  Nun  musste  die  Dame  die  Be- 
leidigte spielen.  Der  Pseudograf  ereiferte  sich  immer  mehr  und  verlangte, 
der  Pseudomarquise  einen  Kuss  auf  die  Schulter  drücken  zu  dürfen.  —  Grosse 
Entrüstungsscene,  die  Klingel  wird  gezogen,  ein  eigens  dazu  gemietheter  Diener 
erscheint  und  wirft  den  Grafen  hinaus,  welcher  sehr  befriedigt  abzieht  und 
die  Personen  der  Comödie  reichlich  belohnt. 

Von  diesem  „symbolischen  Masochismus ■  ist  der  ideelle  zu 
unterscheiden,  bei  welchem  die  psychische  Perversion  ganz  auf  dem 


Masochismus.  115 

Gebiete  der  Vorstellung  und  Phantasie  bleibt  und  keine  Verwirk- 
lichung derselben  versucht  wird.  Ein  solcher  Fall  von  „ideellem 
Masochismus"  ist  vor  allem  der  der  oben  p.  104  aufgenommenen 
Beob.  48,  dann  der  der  Beob.  51.  Solche  ideelle  Fälle  sind  ferner 
die  beiden  folgenden.  Der  erste  betrifft  ein  geistig  und  körperlich 
belastetes,  mit  Degenerationszeichen  behaftetes  Individuum,  bei  dem 
frühzeitig  psychische  und  physische  Impotenz  eingetreten  ist. 

Beobachtung  55.  Herr  Z. ,  22  Jahre,  ledig,  wurde  mir  von  seinem 
Vormund  zugeführt  behufs  ärztlichen  Rathes,  da  er  höchst  nervös  und  offenbar 
sexuell  nicht  normal  sei.  Mutter  und  Muttersmutter  waren  geisteskrank  ge- 
wesen.    Der  Vater  zeugte  ihn  zu  einer  Zeit,  wo  er  sehr  nervenleidend  war. 

Pat.  soll  ein  sehr  lebhaftes  und  talentirtes  Kind  gewesen  sein.  Schon 
mit  7  Jahren  bemerkte  man  bei  ihm  Masturbation.  Er  wurde  vom  9.  Jahre 
ab  zerstreut ,  vergesslich ,  kam  mit  seinen  Studien  nicht  recht  vorwärts ,  be- 
durfte beständiger  Nachhülfe  und  Protection ,  absolvirte  mühsam  das  Real- 
gymnasium und  fiel  während  seines  Freiwilligenjahrs  durch  Indolenz,  Vergess- 
lichkeit  und  verschiedene  dumme  Streiche  auf. 

Anlass  zur  Consultation  bot  ein  Vorfall  auf  der  Strasse,  indem  Z.  sich 
an  eine  junge  Dame  angedrängt  hatte  und  in  höchst  zudringlicher  Weise  und 
in  grosser  Aufregung  dieselbe  zu  einer  Conversation  mit  ihm  hatte  bestimmen 
wollen. 

Pat.  motivirte  diesen  Auftritt  damit,  dass  er  durch  ein  Gespräch  mit 
einem  anständigen  Mädchen  sich  habe  aufregen  wollen,  um  dann  zum  Coitus 
mit  einer  Prostituirten  potent  zu  sein! 

Z.'s  Vater  bezeichnet  ihn  als  einen  von  Hause  aus  gutartigen,  moralischen, 
aber  schlaffen,  faden,  mit  sich  zerfallenen,  über  seine  schlechten  Erfolge  in  der 
bisherigen  Lebensführung  oft  desperaten,  gleichwohl  indolenten  Menschen,  der 
sich  für  nichts  ausser  für  Musik  interessire,  zu  welcher  er  grosse  Begabung 
besitze. 

Das  Aeussere  des  Pat.  —  sein  plagiocephaler  Schädel,  seine  grossen  ab- 
stehenden Ohren,  die  mangelhafte  Innervation  des  r.  Mundfacialis,  der  neuro- 
pathische  Ausdruck  der  Augen  deuten  auf  eine  degenerative  neuropathologische 
Persönlichkeit. 

Z.  ist  gross  von  Statur,  von  kräftigem  Körperbau,  eine  durchaus  männ- 
liche Erscheinung.  Becken  männlich,  Hoden  gut  entwickelt,  Penis  auffallend 
gross,  Mons  veneris  reichlich  behaart,  der  rechte  Hode  hängt  tiefer  herab  als 
der  linke,  der  Cremasterreflex  ist  beiderseits  schwach.  Intellectuell  ist  Pat. 
unter  dem  Durchschnittsmittel.  Er  fühlt  selbst  seine  Insuffizienz,  klagt  über 
Indolenz  und  bittet,  man  möge  ihn  willensstark  machen.  Linkisches,  verlegenes 
Benehmen,  scheuer  Blick,  schlaffe  Haltung  deuten  auf  Masturbation.  Pat. 
gesteht  zu,  dass  er  vom  7.  Jahr  ab  bis  vor  1 7*  Jahren  ihr  ergeben  war,  jahre- 
lang 8 — 12mal  täglich  onanirte.  Bis  vor  einigen  Jahren,  wo  er  neurasthenisch 
wurde  (Kopfdruck,  geistige  Unfähigkeit,  Spinalirritation  u.  s.  w.),  will  er  dabei 
immer  grosses  Wollustgefühl  empfunden  haben.  Seither  habe  sich  dieses  ver- 
loren und  der  Reiz  zur  Masturbation  sei  von  ihm  gewichen.  Er  sei  immer 
schüchterner,  schlaffer,  energieloser  geworden,  feig,  furchtsam,  habe  an  nichts 


\\Q  Paraesthesia  sexualis. 

Interesse,  besorge  seine  Geschäfte  nur  aus  Pflicht,  fühle  sich  sehr  abgespannt. 
An  Coitus  habe  er  nie  gedacht,  er  begreife  auch  von  seinem  Standpunkt  aus 
als  Onanist  nicht,  wie  Andere  am  Coitus  Vergnügen  finden  können. 

Forschungen  nach  conträrer  Sexualempfindung  ergaben  ein  negatives 
Resultat. 

Er  will  sich  nie  zu  Personen  des  eigenen  Geschlechts  hingezogen  gefühlt 
haben.  Eher  glaubt  er  noch  hie  und  da  eine  übrigens  schwache  Inclination 
zu  Frauenzimmern  gehabt  zu  haben.  Zur  Onanie  will  er  ganz  von  selbst  ge- 
kommen sein.  Im  13.  Jahr  bemerkte  er  zum  erstenmal  anlässlich  masturba- 
torischer  Manipulationen  Ejaculation  von  Sperma. 

Erst  nach  langem  Zureden  Hess  sich  Z.  herbei,  seine  Vita  sexualis  ganz 
zu  entschleiern.  Wie  seine  folgenden  Mittheilungen  erweisen,  dürfte  er  als  ein 
Fall  von  ideellem  Masochismus  mit  rudimentärem  Sadismus  zu  klassificiren 
sein.  Pat.  erinnert  sich  bestimmt,  dass  schon  mit  6  Jahren  und  ohne  allen 
Anlass  bei  ihm  „  Gewaltvorstellungen "  auftauchten.  Er  musste  sich  vorstellen» 
das  Stubenmädchen  zwänge  ihm  die  Beine  auseinander,  zeige,  einem  Andern 
seine,  des  Pat.  Genitalien,  versuche  ihn  in  heisses  oder  kaltes  Wasser  zu  werfen, 
um  ihm  Schmerz  zu  bereiten.  Diese  „ Gewaltvorstellungen"  wurden  mit  wol- 
lüstigem Gefühl  betont  und  der  Anlass  zu  masturbatorischen  Manipulationen. 
Pat.  rief  sie  später  auch  willkürlich  hervor,  um  sich  zur  Masturbation  anzu- 
regen. Auch  in  seinen  Träumen  spielten  sie  nunmehr  eine  Rolle.  Zu  Pollutionen 
führten  sie  aber  nie,  offenbar  weil  Pat.  unter  Tags  masslos  masturbirte. 

Mit  der  Zeit  gesellten  sich  zu  diesen  masochistischen  Gewaltvorstellungen 
solche  im  Sinne  des  Sadismus.  Anfangs  waren  es  Bilder  von  Knaben,  die  ein- 
ander gewaltsam  masturbirten ,  die  Genitalien  abschnitten.  Oft  versetzte  er 
sich  dabei  in  die  Rolle  eines  solchen  Knaben,  bald  in  passiver,  bald  in 
activer. 

Später  beschäftigten  ihn  Bilder  von  Mädchen  und  Frauen,  die  vor  ein- 
ander exhibitionirten ;  es  schwebten  ihm  Situationen  vor,  wie  z.  B. ,  dass  das 
Stuben-  einem  anderen  Mädchen  die  femora  auseinander  zerre,  dasselbe  an  den 
pubes  reisse,  ferner  solche,  in  welchen  Knaben  grausam  gegen  Mädchen  vor- 
gingen, sie  stachen,  in  die  Genitalien  zwickten. 

Auch  derlei  Bilder  wirkten  jeweils  sexuell  erregend,  jedoch  empfand  er 
nie  Dränge,  im  Sinne  solcher  activ  vorzugehen  oder  passiv  solche  an  sich  ver- 
werthen  zu  lassen.  Es  genügte  ihm,  sie  zur  Automasturbation  zu  benutzen. 
Seit  VJ2  Jahren  sind  mit  abnehmender  sexueller  Phantasie  und  Libido  diese 
Bilder  und  Dränge  selten  geworden,  aber  ihr  Inhalt  ist  derselbe  geblieben. 
Masochistische  Gewaltvorstellungen  überwiegen  die  sadistischen.  Wenn  er 
neuerlich  einer  Dame  ansichtig  wird,  kommt  ihm  die  Vorstellung,  sie  habe 
dieselben  sexuellen  Gedanken  wie  er.  Daraus  erklärt  er  zum  Theil  seine  Ver- 
legenheit im  socialen  Verkehr.  Da  Pat.  gehört  hatte,  er  werde  seine  ihm  nach- 
gerade lästigen  sexuellen  Vorstellungen  los  werden,  wenn  er  sich  an  eine  natür- 
liche Geschlechtsbefriedigung  gewöhne,  machte  er  im  Lauf  der  letzten  1 1J2  Jahre 
zweimal  den  Versuch,  zu  coitiren,  obwohl  er  dagegen  nur  Widerwillen  empfand 
und  sich  keinen  Erfolg  versprach.  Der  Versuch  endete  auch  beidemale  mit 
einem  vollständigen  Fiasco.  Das  zweite  Mal  empfand  er  beim  bezüglichen  Ver- 
such solche  Aversion,  dass  er  das  Mädchen  von  sich  stiess  und  die  Flucht 
ergriff. 


Masochismus.  117 

Der  zweite  Fall  ist  die  folgende  mir  von  einem  Collegen  zur 
Verfügung  gestellte  Beobachtung.  Wenn  auch  aphoristisch,  er- 
scheint auch  sie  geeignet,  das  entscheidende  Moment  des  Masochis- 
mus, das  Bewusstsein  des  Unterworfenseins  zu  illustriren. 

Beobachtung  56.  Z.,  27  Jahre,  Künstler,  kräftig  gebaut,  von  ange- 
nehmem Aeussern,  angeblich  nicht  belastet,  in  der  Jugend  gesund,  ist  seit 
seinem  23.  Jahre  nervös  und  zu  hypochondrischer  Verstimmung  geneigt.  In 
sexueller  Beziehung  geneigt  zu  Renommage,  ist  er  gleichwohl  nicht  sehr 
leistungsfähig.  Trotz  Entgegenkommens  Seitens  des  weiblichen  Geschlechts 
beschränken  sich  des  Pat.  Beziehungen  zu  demselben  auf  unschuldige  Zärtlich- 
keiten. Hierbei  ist  sein  Hang  bemerkenswerth ,  Frauen  zu  begehren,  die  sich 
ihm  gegenüber  spröde  benehmen.  Seit  seinem  25.  Jahre  macht  er  die  Beob- 
achtung, dass  er  durch  Frauenzimmer,  mögen  sie  auch  noch  so  häs~lich  sein, 
jeweils  sexuell  erregt  wird ,  sobald  er  in  ihrem  Wesen  einen  herrischen  Zug 
entdeckt.  Ein  zorniges  Wort  aus  dem  Munde  einer  solchen  Frauensperson 
genügt,  um  die  heftigsten  Erectionen  bei  ihm  hervorzurufen.  So  sass  er  z.  B. 
eines  Tages  in  einem  Cafe  und  hörte,  wie  die  (hässliche)  Cassierin  den  Kellner 
mit  energischer  Stimme  auszankte.  Er  kam  durch  diesen  Auftritt  in  die  höchste 
sexuelle  Erregung,  die  in  kurzer  Zeit  zur  Ejaculation  führte.  Z.  verlangt  von 
Frauen,  mit  denen  er  sexuell  verkehren  soll,  dass  sie  ihn  zurückstossen,  ihn 
auf  allerhand  Weise  quälen  etc.  Er  meint,  es  könne  ihn  nur  ein  Weib  reizen, 
das  den  Heldinnen  in  den  Romanen  von  Sacher-Masoch  gleiche. 

Solche  Fälle,  in  welchen  sich  die  ganze  Perversion  der  Vita 
sexualis  nur  auf  dem  Gebiete  der  Phantasie,  des  inneren  Vor- 
stellungs-  und  Trieblebens  abspielt  und  nur  ganz  zufällig  einmal 
zur  Cognition  Anderer  kommt,  scheinen  nicht  selten  zu  sein.  Ihre 
praktische  Bedeutung ,  wie  die  des  Masochismus  überhaupt 
(welchem  ja  das  hohe  forensische  Interesse  des  Sadismus  nicht  zu- 
kömmt), liegt  lediglich  in  der  psychischen  Impotenz,  welcher  solche 
Individuen  durch  ihre  Perversion  in  der  Regel  verfallen  und  in  dem 
mächtigen  Drange  zur  solitären  Befriedigung  unter  adäquaten  Phan- 
tasievorstellungen, mit  allen  seinen  Folgen. 

Dass  Masochismus  eine  ungemein  häufig  auftretende  Perversion 
sei,  geht  wohl  zur  Genüge  aus  der  relativ  grossen  Zahl  der  bisher 
wissenschaftlich  beobachteten  Fälle  hervor,  so  wie  aus  den  ver- 
schiedenen oben  mitgetheilten  unter  einander  übereinstimmenden 
Berichten. 

Auch  die  Werke,  die  sich  mit  der  Darstellung  der  Prostitution 
in  grossen  Städten  beschäftigen,  enthalten  über  diesen  Gegenstand 
zahlreiche  Berichte  l). 


*)  Leo  Taxi  1   op.   cit.  p.  228   schildert  masochistische  Scenen  in  den 


118  Paraesthesia  sexualis. 

Interessant  und  erwähnenswerth  ist  es  gewiss,  dass  auch  einer 
der  berühmtesten  Männer  aller  Zeiten  von  dieser  Perversion  er- 
griffen war  und  derselben  in  seiner  Selbstbiographie  (wenn  auch  in 
etwas  miss verständlicher  Weise)  gedacht  hat.  Aus  den  „Confessions" 
von  Jean  Jacques  Rousseau  geht  hervor,  dass  auch  er  mit 
Masochismus  behaftet  war. 

Rousseau,  bezüglich  dessen  Lebens-  und  Krankheitsgeschichte  auf 
Möbius  (J.  J.  Rousseau's  Krankheitsgeschichte,  Leipzig  1989)  und  Chatelain 
(La  folie  de  J.  J.  Rousseau,  Neuchätel  1890)  verwiesen  sein  mag,  erzählt  in 
seinen  Confessions  (I.  Theil,  1.  Buch),  wie  sehr  ihm  Frl.  Lambercier,  30  Jahre 
alt,  imponirte,  als  er,  8  Jahre  alt,  bei  ihrem  Bruder  in  Pension  und  Lehre 
war.  Ihre  Besorgniss,  wenn  er  eine  Frage  nicht  gleich  zu  beantworten  wusste, 
die  Drohung  der  Dame,  ihm  Ruthenstreiche  zu  geben,  wenn  er  nicht  brav 
lerne,  machten  auf  ihn  den  tiefsten  Eindruck.  Nachdem  er  eines  Tages  Schläge 
von  der  Hand  des  Frl.  L.  bekommen  hatte,  empfand  er  neben  Schmerz  und 
Scham  ein  wollüstig  sinnliches  Gefühl,  das  ihn  mächtig  erregte,  neue  Züchti- 
gungen davon  zu  tragen.  Nur  aus  Furcht,  die  Dame  damit  zu  betrüben, 
unterliess  es  Rousseau,  weitere  Gelegenheiten,  sich  diesen  wollüstigen  Schmerz 
zu  verschaffen,  zu  provociren.  Eines  Tages  zog  er  sich  aber  unbeabsichtigt 
eine  neue  Züchtigung  von  der  Hand  der  L.  zu.  Sie  war  die  letzte,  denn 
Frl.  L.  musste  von  dem  eigenartigen  Effect  dieser  Züchtigung  etwas  bemerkt 
haben,  und  Hess  von  nun  an  den  8jährigen  Knaben  auch  nicht  mehr  in  ihrem 
Zimmer  schlafen.  Seither  fühlte  R.  das  Bedürfniss,  sich  von  Damen,  die  ihm 
gefielen,  ä  la  Lambercier  züchtigen  zu  lassen,  obwohl  er  versichert,  bis  zum 
Jünglingsalter  von  Beziehungen  der  beiden  Geschlechter  zu  einander  nichts 
gewusst  zu  haben.  Bekanntlich  wurde  R.  erst  mit  30  Jahren  durch  Madame 
de  Warrens  in  die  eigentlichen  Mysterien  der  Liebe  eingeweiht  und  seiner 
Unschuld  verlustig.  Bis  dahin  hatte  er  nur  Gefühle  und  Dränge  zu  Weibern 
im  Sinne  passiver  Flagellation  und  sonstiger  masochistischer  Vorstellungen 
gehabt. 

Rousseau  schildert  in  extenso,  wie  sehr  er  bei  seinem  grossen  sexuellen 
Bedürfniss  unter  seiner  eigenartigen,  zweifellos  durch  die  züchtigenden  Ruthen- 
streiche geweckten  Sinnlichkeit  litt,  schmachtend  in  der  Begierde  und  ausser 
Stand,  ihr  Verlangen  zu  offenbaren.  Es  wäre  aber  irrig,  zu  glauben,  dass  es 
Rousseau  bloss  um  seine  Flagellation  zu  thun  gewesen  wäre.  Diese  erweckte 
nur  einen  dem  Masochismus  zuzuzählenden  Vorstellungskreis.  Darin  liegt 
jedenfalls  der  psychologische  Kern  der  interessanten  Selbstbeobachtung.  Das 
Wesentliche  bei  R.  war  das  Unterwerfungsgefühl  unter  das  Weib.  Dies  geht 
klar  aus  seinen  »Confessions"  hervor,  in  welchen  er  ausdrücklich  hervorhebt: 

„Etre  aux  genoux  d'une  maitresse  imperieuse,  obeiräses 


Pariser  Bordellen.    Der  von  dieser  Perversion  ergriffene  Mann  wird  auch  dort 
„i'esclave"  genannt. 

Coffignon  (La   corruption   ä  Paris)   hat  in  seinem  Buch  ein  Capitel 
„Les  passioneis ",  das  Beiträge  zu  diesem  Thema  bietet. 


Masochismus.  119 

ordres,  avoir  des  pardonsä  lui  demander,  etaient  pour  moi  de 
tres  douces  jouissances." 

Diese  Stelle  beweist  doch,  dass  das  Bewusstsein  der  Unterwerfung, 
Demüthigung  vor  dem  Weibe  die  Hauptsache  war. 

Freilich  war  Rousseau  selbst  in  einem  Irrthum  befangen,  indem  er  an- 
nahm ,  dass  dieser  Drang ,  sich  vor  dem  Weibe  zu  demüthigen ,  allein  durch 
Ideenassociation  aus  der  Vorstellung  der  Flagellation  entstanden  sei: 

„N'osant  jamais  declarer  mon  goüt,  je  l'amusais  du  moins  par  des 
rapports  qui  m'en  conservaient  ridce." 

Erst  im  Zusammenhang  mit  den  jetzt  constatirten  so  zahl- 
reichen Fällen  von  Masochismus,  unter  denen  so  viele  sind,  welche 
mit  Flagellation  durchaus  nichts  zu  thun  haben,  so  dass  der  primäre 
und  rein  psychische  Charakter  des  Erniedrigungstriebes  klar  wird, 
kann  die  volle  Einsicht  in  Rousseau's  Fall  gewonnen  und  der  Irr- 
thum aufgedeckt  werden,  in  den  er  bei  der  Selbstzergliederung  seines 
Zustandes  nothwendig  gerathen  musste. 

Mit  Recht  macht  auch  Bin  et  (Revue  anthropologique  XXIV, 
p.  256),  welcher  den  Fall  Rousseau  eingehend  analysirt,  auf  diese 
masochistische  Bedeutung  desselben  aufmerksam,  indem  er  sagt: 
„Ce  qu'aime  Rousseau  dans  les  femmes,  ce  n'est  pas  seulement 
le  sourcil  fronce,  la  main  levee,  le  regard  severe,  l'attitude  impe- 
rieuse,  c'est  aussi  Petat  emotionnel,  dont  ces  faits  sont  la  traduction 
jexterieure ;  il  aime  la  femme  fiere ,  dödaigneuse ,  l'ecrasant  ä  ses 
pieds  du  poids  de  sa  royale  colere." 

Die  Erklärung  dieses  psychologischen  räthselhaften  Factums 
sucht  und  findet  Bin  et  in  seiner  Annahme,  dass  es  sich  hier  um 
Fetischismus  handle,  nur  mit  dem  Unterschied,  dass  das  Object  des 
Fetischismus,  also  Gegenstand  der  individuellen  Anziehung  (Fetisch), 
nicht  eine  körperliche  Sache,  wie  z.  B.  eine  Hand,  ein  Fuss,  son- 
dern eine  geistige  Eigenschaft  sein  kann.  Er  nennt  diese  Schwär- 
merei „amour  spiritualiste"  im  Gegensatz  zu  „amour  plastique", 
wie  sie  der  gewöhnliche  Fetischismus  aufweist. 

Diese  Bemerkungen  sind  geistreich,  aber  sie  geben  nur  ein 
Wort  zur  Bezeichnung  einer  Thatsache,  keine  Erklärung  für  die- 
selbe. Ob  überhaupt  eine  Erklärung  möglich  sei,  wird  uns  später 
beschäftigen. 

Auch  bei  dem  berühmten  oder  berüchtigten  französischen 
Schriftsteller  C.  P.  Baudelaire,  welcher  in  Geisteskrankheit  endigte, 
finden  sich  Elemente  von  Masochismus  (und  Sadismus). 

Baudelaire  entstammt  einer  Familie  von  Irren  und  Ueberspannten. 
Er  war  von  Jugend  auf  psychisch   abnorm.     Entschieden  krankhaft  war  seine 


120  Paraesthesia  sexualis. 

Vita  sexualis.  Er  hatte  Liebesverhältnisse  mit  hässliehen,  widerwärtigen  Per- 
sonen, Negerinnen,  Zwerginnen,  Riesinnen.  Gegen  eine  sehr  schöne  Frau 
äusserte  er  den  Wunsch,  sie  an  den  Händen  aufgehängt  zu  sehen  und  ihr  die 
Füsse  küssen  zu  dürfen.  Diese  Schwärmerei  für  den  nackten  Fuss  erscheint 
auch  in  einem  seiner  fieberglühenden  Gedichte  als  Aequivalent  für  den  Ge- 
schlechtsgenuss.  Er  erklärte  die  Weiber  für  Thiere,  die  man  einsperren, 
schlagen  und  gut  füttern  muss.  Diese  masochistische  und  sadistische  Neigungen 
verrathende  Persönlichkeit  ging  in  paralytischem  Blödsinn  zu  Grunde.  (Lo  ru- 
bre-so,  Der  geniale  Mensch,  übers,  v.  Fränkel,  p.  83.) 

In  der  wissenschaftlichen  Literatur  haben  die  Thatsachen, 
welche  den  Masochismus  ausmachen,  bis  auf  die  jüngste  Zeit  keine 
Beachtung  gefunden.  Zu  erwähnen  wäre  nur,  dass  Tarnowsky 
(„Die  krankhaften  Erscheinungen  des  Geschlechtssinns" ,  Berlin 
1886)  die  Erfahrung  mittheilt,  dass  glücklich  verheirathete ,  geist- 
reiche Männer  ihm  vorgekommen  sind,  die  von  Zeit  zu  Zeit  einen 
unwiderstehlichen  Drang  fühlten,  sich  selbst  der  gröbsten  cynischen 
Behandlung  zu  unterwerfen  —  Schirapfworte,  Schläge  von  Kynäden. 
aktiven  Päderasten  oder  Prostituirten  zu  empfangen.  Bemerkens- 
werth  ist  auch  Tarnowsky's  Erfahrung,  dass  bei  gewissen,  der 
passiven  Flagellation  Ergebenen  Schläge  allein  und  zuweilen  selbst 
blutige,  nicht  den  gewünschten  Erfolg  (Potenz  oder  wenigstens 
Ejaculation  beim  Flagelliren)  haben.  „Man  muss  den  Betreffenden 
dann  mit  Gewalt  entkleiden  oder  ihm  die  Hände  binden,  ihn  an 
eine  Bank  befestigen  u.  s.  w.,  wobei  er  sich  anstellt,  als  ob  er  sich 
widersetzt,  schimpft  und  scheinbar  einigen  Widerstand  leistet.  Nur 
unter  solchen  Bedingungen  bewirken  die  Ruthenschläge  eine  Er- 
regung, die  zum  Samenerguss  führt." 

0.  Zimmermann's  Schrift  „Die  Wonne  des  Leids",  Leipzig 
1885,  enthält  manchen  Beitrag  aus  der  Cultur-  und  Literaturgeschichte 
zum  vorliegenden  Thema  1). 

In  jüngster  Zeit  fand   der  Gegenstand  mehrfache  Beachtung. 


*)  Es  muss  jedoch  das  Gebiet  des  Masochismus  von  dem  in  jener  Schrift 
behandelten  Hauptthema,  dass  die  Liebe  ein  Moment  des  Leids  enthält,  scharf 
abgegränzt  werden.  Von  jeher  ist  ungetheilte  Liebessehnsucht  als  „freudvoll 
und  leidvoll"  geschildert  worden,  und  Dichter  haben  von  „wonniger  Qual" 
oder  „schmerzlicher  Wollust"  gesprochen.  Dies  darf  nicht,  wie  Z.  thut,  mit 
Erscheinungen  des  Masochismus  confundirt  werden,  so  wenig  es  hierhergehört, 
wenn  die  sich  nicht  hingebende  Geliebte  „grausam"  genannt  wird.  Immerhin 
ist  es  merkwürdig,  dass  Hamerling  (Amor  und  Psyche,  4.  Gesang)  zum 
Ausdruck  dieses  Gefühls  völlig  masochistische  Bilder,  Geisselung  etc.  ver- 
wendet. 


Masochismus.  121 

A.  Moll  führt  in  seinem  Werke  „Die  conträre  Sexualempfin- 
dung " ,  Berlin  1891,  p.  133  ff.  und  p.  151  ff.,  eine  Anzahl  von 
Fällen  des  vollkommenen  Masochismus  bei  conträr  Sexualen  an, 
darunter  an  letzterer  Stelle  einen  Fall,  in  dem  ein  solcher  maso- 
chistischer  Conträrsexualer  einem  eigens  dazu  bestellten  Manne  eine 
ausführliche  Instruction  in  20  Paragraphen  übersendet,  nach  welcher 
der  Bestellte  den  Besteller  als  Sklaven  zu  behandeln  und  zu  miss- 
handeln habe. 

Im  Juni  1891  theilte  mir  Herr  Dimitri  von  Stefanowsky, 
d.  Zt.  Staatsanwaltssubstitut  zu  Jaroslaw  in  Russland,  mit,  dass  er 
schon  vor  etwa  drei  Jahren  der  von  mir  als  „  Masochismus "  be- 
schriebenen Erscheinung  von  Perversion  der  Vita  sexualis,  welche 
er  mit  dem  Namen  „ Passivismus "  bezeichnet,  sein  Interesse  zu- 
gewendet ,  vor  1  x/2  Jahren  dem  Professor  v.  Kowalewsky  in 
Charkow  eine  bezügliche  Arbeit  für  das  russische  Archiv  für  Psy- 
chiatrie eingereicht  und  im  November  1888  in  der  Moskauer  juri- 
dischen Societät  einen  Vortrag  über  dieses  Thema  vom  juridisch- 
psychologischen Standpunkte  aus  gehalten  habe  (abgedruckt  im 
„Juridischen  Boten",  dem  Organ  der  genannten  Societät,  und  zwar 
1890,  Nr.  6  bis  8  *). 

v.  Schrenck-Notzing  widmet  in  seinem  jüngst  erschienenen 
Werke:  „Die  Suggestions-Therapie  bei  krankhaften  Erscheinungen 
des  Geschlechtssinnes "  etc.,  Stuttgart  1892,  auch  dem  Masochismus 
wie  dem  Sadismus  einige  Abschnitte  und  führt  mehrere  eigene  Be- 
obachtungen an2). 


*)  Vgl.  die  neueste  Arbeit  dieses  Autors  über  „ Passivismus "  in  Archives 
d' Anthropologie  criminelle  1892  VII.  p.  294. 

2)  In  der  neueren  Roman-  und  Novell enHteratur  ist  die  psycho-sexuale 
Perversion,  welche  den  Gegenstand  dieses  Capitels  bildet,  von  Sacher-Masoch 
behandelt  worden,  dessen  bereits  mehrfach  erwähnte  Schriften  geradezu  typische 
Bilder  des  perversen  Seelenlebens  derartiger  Männer  entwerfen. 

Auf  Sacher-Masoch's  Schriften  berufen  sich  viele  von  dieser  Perver- 
sion Ergriffenen,  wie  aus  den  obigen  Beobachtungen  ersichtlich,  ausdrücklich 
als  auf  typische  Darstellungen  ihres  eigenen  psychischen  Zustandes. 

Zola  hat  in  seiner  „Nana"  eine  masochistische  Scene ,  ähnliches  in 
»Eugene  Rougon".  Die  neueste  „decadente"  Literatur  in  Frankreich  und 
Deutschland  beschäftigt  sich  mehrfach  auch  mit  dem  Thema  des  Sadismus 
und  Masochismus.  Der  neuere  russische  Roman  soll  nach  v.  Stefano wski's 
Angabe  den  Gegenstand  häufig  behandeln;  aber  schon  nach  des  alten  Reise- 
schriftstellers Johann  Georg  Forster  (1754 — 94)  Mittheilungen  sollen  diese 
Dinge  selbst  im  russischen  Volkslied  eine  Rolle  spielen.    Stefanowski  findet 


122  Paraesthesia  sexualis. 


b)  Fuss-  und  Schuhfetischisten.  —  Larvirter  Masochismus. 

An  die  Gruppe  der  Masochisten  schliesst  sich  die  der  in  un- 
gemein zahlreichen  Exemplaren  auftretenden  Fuss-  und  Schuh- 
fetischisten an.  Diese  Gruppe  bildet  den  Uebergang  zu  den  Er- 
scheinungen einer  anderen  selbständigen  Perversion,  eben  des 
Fetischismus;  steht  aber  dem  Masochismus  näher  als  jenem,  wes- 
halb sie  hier  eingereiht  ist. 

Unter  Fetischisten  (s.  unten  sub  3.)  verstehe  ich  Individuen, 
deren  sexuelles  Interesse  sich  ausschliesslich  auf  einen  bestimmten 
Körpertheil  des  Weibes,  oder  auch  auf  bestimmte  Stücke  der  weib- 
lichen Kleidung  concentrirt. 

Eine  der  häufigsten  Formen  dieses  Fetischismus  ist  es,  dass 
der  Fuss  oder  der  Schuh  des  Weibes  der  Fetisch  ist,  welcher  aus- 
schliesslicher Gegenstand  sexueller  Empfindungen  und  Triebe  wird. 

Es  ist  nun  höchst  wahrscheinlich  und  ergibt  sich  aus  der 
richtigen  Aneinanderreihung  der  beobachteten  Fälle,  dass  die  meisten, 
vielleicht  alle  Fälle  von  Schuhfetischismus  auf  der  Basis  mehr 
oder  minder  bewusster  masochistischer  Selbstdemüthigungstriebe 
beruhen. 

Schon  im  Falle  Hammond's  (Beob.  50)  besteht  die  Befriedi- 
gung eines  Masochisten  im  Sichtretenlassen.  Auch  Beob.  42  u.  47 
lässt  sich  treten,  Beob.  49,  Equus  eroticus,  schwärmt  für  den  Fuss 
des  Weibes,  und  so  fort.  In  den  meisten  Fällen  von  Masochismus 
spielt  das  Treten  mit  Füssen  als  ein  naheliegendes  Ausdrucksmittel 
des  Unterwerfungsverhältnisses  eine  Rolle x). 

Unter  den  constatirten  zahlreichen  Fällen  von  Schuhfetischis- 
mus wird  der  folgende ,  von  Dr.  A.  Moll  in  Berlin  mitgetheilte, 
der  viel  Uebereinstimmung  mit  dem  Falle  Hammond's  zeigt,  aber 
ausführlicher  dargestellt  und  sorgfältig  beobachtet  ist,  besonders 
geeignet  erscheinen,  den  Zusammenhang  zwischen  Masochismus  und 
Schuhfetischismus  darzuthun. 


den  Typus  des  Passivisten  auch  in  einer  englischen  Tragödie  von  Otway 
, Venice  preserved"  und  verweist  hinsichtlich  seines  Vorkommens  auf  dem 
Boden  der  conträren  Sexualempfindung  auf  Dr.  Luiz  „Les  fellatores.  Moeurs 
de  la  decadence".     Paris  1888  (Union  des  bibliophües). 

*)  Auch  die  Begierde,  sich  mit  Füssen  treten  zu  lassen,  findet  sich  bei 
religiösen  Schwärmern  wieder;  vgl.  Turgenjew,  „Sonderbare  Geschichten". 


Masochismus.  123 

Beobachtung  57.  0.  L.,  31  Jahre,  Buchhalter  in  einer  württem- 
bergischen Stadt,  stammt  aus  belasteter  Familie. 

Patient  ist  ein  grosser,  starker,  blühend  aussehender  Mann.  Er  ist  im 
Allgemeinen  von  ruhigem  Temperament,  kann  aber  unter  Umständen  sehr 
heftig  werden;  er  gibt  selbst  an,  dass  er  streitsüchtig  und  rechthaberisch  sei. 
L.  ist  von  gutmüthigem  Charakter  und  freigebig;  bei  geringem  Anlass  ist  er 
zum  Weinen  geneigt.  Auf  der  Schule  galt  er  als  ein  begabter  Schüler  mit 
leichter  Auffassungsgabe.  Patient  leidet  an  zeitweisen  Congestionen  nach  dem 
Kopf,  ist  sonst  aber  ganz  gesund;  abgesehen  davon,  dass  er  sich  in  Folge 
seiner  zu  beschreibenden  sexuellen  Perversion  sehr  gedrückt  und  oft  schwer- 
müthig  fühlt. 

Ueber  erbliche  Belastung  ist  wenig  zu  ermitteln. 

Ueber  die  Entwicklung  seines  sexuellen  Lebens  ergibt  sich  aus  den  von 
dem  Patienten  gemachten  Angaben  Folgendes: 

Schon  in  frühester  Jugend,  und  zwar  8  oder  9  Jahre  alt,  hatte  L.  den 
Wunsch,  als  Hund  seinem  Lehrer  die  Stiefel  zu  lecken.  L.  hält  es  für  mög- 
lich, dass  dieser  Gedanke  in  ihm  dadurch  rege  wurde,  dass  er  einmal  den 
Vorgang  gesehen,  wie  ein  Hund  dies  in  Wirklichkeit  that;  doch  kann  L.  dies 
nicht  mit  Bestimmtheit  angeben. 

Jedenfalls  scheint  dem  Patienten  soviel  sicher,  dass  die  ersten  bezüg- 
lichen Ideen  ihm  im  Wachen,  nicht  im  Traumzustande  gekommen  sind. 

Von  seinem  10. — 14.  Lebensjahre  versuchte  L.  stets  seinen  Mitschülern 
und  auch  kleinen  Mädchen  die  Stiefel  zu  berühren.  Er  wählte  sich  aber  hierzu 
nur  solche  Mitschüler,  die  reiche  und  vornehme  Eltern  hatten.  Einer 
von  jenen,  Sohn  eines  reichen  Gutsbesitzers,  hatte  Reitstiefel;  diese  nahm  L. 
in  der  Abwesenheit  des  Knaben  in  die  Hände,  schlug  sich  damit  und  drückte 
sie  sich  fest  ins  Gesicht.  Ebenso  machte  es  L.  mit  den  eleganten  Stiefeln 
eines  Dragoneroffiziers. 

Nach  Eintritt  der  Pubertät  übertrug  sich  das  Verlangen  ausschliesslich 
auf  das  Schuhwerk  des  weiblichen  Geschlechts.  So  war  des  Patienten  Trachten 
beim  Schlittschuhlaufen  stets  darauf  gerichtet,  Damen  und  Mädchen  die  Schlitt- 
schuhe an-  und  abzuschnallen,  er  wählte  aber  stets  nur  solche  weibliche  Per- 
sonen, die  reich  und  vornehm  waren  und  recht  elegante  Stiefel  hatten.  Auf 
der  Strasse  und  überall  sah  L.  stets  nach  eleganten  Stiefeln;  die  Vorliebe  für 
diese  ging  so  weit,  dass  er  Sand  oder  Schmutz,  der  die  eingedrückten  Spuren 
jener  trug,  in  sein  Portemonnaie,  ja  sogar  öfter  in  den  Mund  steckte.  Schon 
als  14jähriger  Knabe  ging  L.  ins  Lupanar  und  besuchte  öfter  ein  Cafe  chantant, 
lediglich  um  sich  am  Anblick  eleganter  Stiefel  (weniger  Schuhe)  aufzuregen. 
In  die  Schulbücher,  an  die  Wände  von  Closets  malte  L.  Stiefel.  Im  Theater 
sah  er  nur  nach  den  Schuhen  von  Damen.  Stundenlang  lief  L.  auf  der  Strasse 
und  auf  Dampfschiffen  Damen  nach,  die  elegante  Stiefel  trugen;  mit  Entzücken 
dachte  er  hierbei  daran,  wie  er  wohl  dazu  gelangen  könnte,  die  Stiefel  zu 
berühren.  Diese  eigenthümliche  Vorliebe  für  Stiefel  ist  bis  heute  bestehen 
geblieben.  Der  Gedanke,  sich  von  Damen  mit  ihren  Stiefeln  treten 
zu  lassen  oder  dieselben  küssen  zu  dürfen,  bereitet  L.  die  grösste 
Wollust.  Vor  Schuhläden  blieb  und  bleibt  er  stehen,  nur  um  die  Stiefel  zu 
betrachten.    Namentlich  reizt  ihn  die  Eleganz  des  Stiefels. 

Am   liebsten  hat  Patient  hoch   geknöpfte   oder  geschnürte  Stiefel  mit 


124  Paraesthesia  sexualis. 

hohen  Absätzen;  aber  auch  weniger  elegante  Stiefel,  eventuell  mit  niedrigen 
Absätzen,  regen  den  Patienten  auf,  wenn  deren  Trägerin  eine  recht  reiche, 
vornehme  und  namentlich  stolze  Dame  ist. 

Mit  20  Jahren  versuchte  L.  den  Coitus,  war  aber  nicht  dazu  im  Stande, 
„trotz  der  grössten  Anstrengung",  wie  Patient  meint.  Gedanken  an  Schuhe 
hatte  Patient  während  des  Beischlafversuches  nicht;  hingegen  hatte  er  es  ver- 
sucht, sich  vorher  an  Schuhen  sexuell  aufzuregen;  er  behauptet,  dass  die  zu 
grosse  Aufregung  das  Misslingen  des  Coitus  verschuldete.  Er  hat  bis  jetzt, 
wo  er  31  Jahre  alt  ist,  den  Coitus  4 — 5  Mal,  jedesmal  vergebens,  versucht;  bei 
dem  einen  Versuche  hatte  der  durch  seine  Krankheit  schon  tief  bedauerns- 
werthe  Patient  noch  das  Unglück,  sich  eine  Lues  zuzuziehen.  Auf  die  Frage, 
wie  sich  denn  Patient  den  höchsten  Wollustakt  denke,  erklärte  er:  „Meine 
grösste  Wollust  ist  es,  mich  nackt  auf  den  Fussboden  zu 
legen  und  mich  dann  von  Mädchen  mit  eleganten  Stiefeln 
treten  zu  lassen;  natürlich  ist  dies  nur  im  Lupanar  möglich."  Es  sind 
übrigens  nach  Angabe  des  Patienten  in  manchen  Lupanars  diese  sexuellen 
Perversionen  von  Männern  wohl  bekannt,  ein  Beweis,  dass  diese  keine  so 
grosse  Seltenheit  sind;  die  puellae  nennen  derartige  Männer  häufig  „Stiefel- 
freier". Uebrigens  hat  Patient  nur  sehr  selten  den  Wollustakt,  so  wie  er  für 
ihn  am  schönsten  und  angenehmsten  ist,  wirklich  zur  Ausführung  gebracht. 
Gedanken ,  die  ihn  zum  Beischlaf  trieben ,  hat  Patient  gar  nicht ,  wenigstens 
nicht  in  dem  Sinne,  dass  dabei  etwa  immissio  penis  in  vaginam  stattfinde; 
darin  kann  Patient  keinerlei  Genuss  finden.  Ja  er  hat  allmählig  eine  Furcht 
vor  dem  Coitus  erworben,  die  sich  aus  den  mehrfach  misslungenen  Ver- 
suchen genügend  erklären  lässt,  da  der  Patient  selbst  angibt,  dass  das 
Nichtvollendenkönnen  des  Coitus  ihn  ausserordentlich  genire.  Eigentliche 
Onanie  hat  Patient  nie  getrieben.  Abgesehen  von  wenigen  Fällen,  wo  Patient 
durch  Onanie  an  Stiefeln  oder  auf  ähnliche  Weise  seinen  Geschlechtstrieb 
befriedigte,  kennt  er  eine  solche  Befriedigung  nicht,  da  es  bei  der  Aufregung 
durch  Stiefel  fast  stets  bei  Erectionen  bleibt  und  höchstens  zeitweise  lang- 
same kleine  Ergüsse  einer  Flüssigkeit  stattfinden,  die  Patient  für  Sperma  hält. 

Ein  blosser  Schuh,  den  L.  sieht,  und  der  von  keiner  Person  getragen 
wird,  regt  ihn  entschieden  auch  auf;  aber  bei  weitem  nicht  so  sehr,  wie  der 
von  einem  Weibe  getragene  Schuh.  Ganz  neue,  noch  nicht  getragene  Schuhe 
regen  den  Patienten  viel  weniger  auf  als  getragene,  die  aber  noch  nicht  ab- 
getreten sein  dürfen  und  noch  möglichst  neu  aussehen  müssen;  diese  reizen 
den  Patienten  am  meisten. 

Es  reizt  den  Patienten,  wie  erwähnt,  auch  der  Damenstiefel,  wenn  er 
nicht  getragen  wird.  L.  denkt  sich  dann  die  betreffende  Dame  dazu;  er 
drückt  den  Stiefel  an  seine  Lippen  und  an  seinen  Penis.  L.  würde  „vor  Ent- 
zücken vergehen",  wenn  eine  anständige  stolze  Dame  ihn  mit  ihren  Schuhen 
treten  würde. 

Abgesehen  von  den  oben  genannten  Eigenschaften  der  Weiber  (Stolz, 
Reichthum,  Vornehmheit),  die  mit  der  Eleganz  der  Stiefel  einen  besonderen 
Reiz  gewähren,  sind  dem  Patienten  auch  die  körperlichen  Vorzüge  des  weib- 
lichen Geschlechts  keineswegs  gleichgültig. 

Er  schwärmt  für  schöne  Damen,  auch  ohne  an  Stiefel  zu  denken,  aber 
es  ist  dies  keine  auf  geschlechtliche  Befriedigung  gerichtete  Liebe.     Selbst  in 


Masochismus.  125 

Verbindung  mit  den  Stiefeln  spielen  die  körperlichen  Reize  eine  Rolle;  eine 
hässliche  und  alte  Frau  könnte  den  Patienten  selbst  mit  den  elegantesten 
Stiefeln  nicht  reizen;  auch  die  sonstige  Kleidung  und  andere  Verhältnisse 
spielen  eine  wesentliche  Rolle,  wie  sich  schon  aus  dem  Umstände  ergibt,  dass 
elegante  Stiefel  von  stolzen  vornehmen  Damen  ganz  besonders  erregend  auf 
den  Patienten  wirken.  Ein  ungebildetes  Dienstmädchen  in  seinem  Arbeits- 
anzuge würde  den  Patienten  selbst  mit  den  elegantesten  Stiefeln  nicht  erregen. 

Schuhe  und  Stiefel  von  Männern  üben  jetzt  auf  den  Patienten  keinerlei 
Reiz  mehr  aus;  auch  sonst  fühlte  sich  Patient  niemals  sexuell  auch  nur  im 
geringsten  zu  Männern  hingezogen. 

Hingegen  treten  sonst  Erectionen  bei  dem  Patienten  sehr  leicht  auf. 
Wenn  ein  Kind  auf  seinen  Schoss  sitzt,  wenn  er  einen  Hund  oder  ein  Pferd 
längere  Zeit  berührt,  wenn  er  auf  der  Eisenbahn  fährt  oder  reitet,  so  treten 
Erectionen  auf,  und  zwar,  wie  Patient  vermuthet,  in  den  letzten  Fällen  durch 
die  Erschütterung. 

Jeden  Morgen  hat  er  Erectionen,  und  er  ist  im  Stande,  innerhalb  der 
kurzen  Zeit  dadurch  Erection  zu  erzielen,  dass  er  an  die  ihm  angenehme  Be- 
handlung mit  den  Stiefeln  denkt.  Früher  traten  des  Nachts  öfter  Pollutionen 
auf,  etwa  alle  3 — 4  Wochen,  während  sie  jetzt  seltener,  etwa  alle  3  Monate 
einmal  eintreten. 

Bei  seinen  erotischen  Träumen  wird  Patient  fast  stets  von  denselben 
Gedanken  sexuell  erregt,  die  dies  im  Wachen  thun.  Seit  einiger  Zeit  glaubt 
Patient,  Samenerguss  bei  den  Erectionen  zu  fühlen;  doch  schliesst  er  dies  nur 
daraus,  dass  er  an  der  Spitze  des  Penis  etwas  Nasses  fühle. 

Lektüre,  die  in  die  sexuelle  Sphäre  des  Patienten  fällt,  regt  ihn  ausser- 
ordentlich auf,  so  z.  B.  wird  er  von  der  Lektüre  der  „Venus  im  Pelz"  von 
Sacher-Masoch  so  erregt,  „ut  Sperma  stillaref. 

Uebrigens  bildet  für  L.  diese  Art  des  Spermaergusses  bei  dieser  Lektüre 
eine  entschiedene  Befriedigung  seines  Geschlechtstriebes. 

Die  von  mir  an  den  Patienten  gerichtete  Frage,  ob  denn  Schläge,  die 
er  von  einem  Weibe  empfinge,  ihn  auch  aufregen  würden,  glaubt  er  bejahend 
beantworten  zu  müssen.  Zwar  hat  Patient  nie  direct  einen  derartigen  Versuch 
gemacht,  aber  scherzhaft  ausgeführte  Schläge  waren  ihm  jedenfalls  stets  eine 
grosse  Annehmlichkeit. 

Besonders  aber  würde  es  dem  Patienten  einen  grossen  Reiz  gewähren, 
wenn  er  von  dem  Weibe,  selbst  ohne  Stiefel,  mit  den  blossen  Füssen  gestossen 
würde.  Aber  er  glaubt  nicht,  dass  die  Schläge  als  solche  die  Aufregung  be- 
wirken würden,  sondern  der  Gedanke,  von  dem  Weibe  misshanelt  zu  werden, 
was  ebenso  wie  durch  Schläge  auch  durch  grobe  Scheltworte  geschehen  könnte; 
übrigens  würden  Schläge  und  Scheltworte  nur  dann  erregend  wirken,  wenn 
sie  von  einer  stolzen  und  vornehmen  Dame  herkommen. 

Ueberhaupt  ist  es  im  Allgemeinen  das  Gefühl  der  Demuth  und 
hündischen  Ergebung,  das  dem  Patienten  Wollust  bereitet. 

„Würde  mir,"  so  erzählt  Patient,  „eine  Dame  befehlen,  auf  sie  zu 
warten,  wenn  auch  in  strenger  Kälte,  so  würde  ich  trotzdem  Wollust  em- 
pfinden." 

Patient  antwortet  auf  die  Frage,  ob  denn  auch  beim  Stiefel  ihn  das 
Gefühl  der  Demüthigung  überkäme :  „Ich  glaube,  dass  diese  allgemeine  Leiden- 


126  Paraesthesia  sexualis. 

schaft  der  eigenen  Demüthigung  sich  speciell  auf  den  Stiefel  der  Damen  con- 
centrirt  hat,  da  es  ja  symbolisch  ist,  dass  Jemand  ,nicht  werth  ist,  einem 
anderen  die  Schuhriemen  zu  lösen',   und  überhaupt  ein  Untergebener  kniet." 

Die  Strümpfe  des  Weibes  üben  auf  den  Patienten  auch  eine  erregende 
Wirkung  aus,  aber  nur  in  geringem  Grade  und  vielleicht  nur  durch  Erwecken 
der  Vorstellung  der  Stiefel.  Die  Leidenschaft  für  Damenschuhe  hatte  bei  dem 
Patienten  immer  mehr  zugenommen,  nur  in  den  letzten  Jahren  glaubt  er  eine 
Abnahme  zu  bemerken;  er  geht  nur  sehr  selten  zu  einem  öffentlichen  Mädchen, 
ist  aber  auch  dann  im  Stande,  sich  mehr  zurückzuhalten.  Dennoch  beherrscht 
ihn  diese  Leidenschaft  noch  vollständig,  jeder  andere  Genuss  wird  dem  Patienten 
dadurch  vereitelt;  ein  hübscher  Damenstiefel  würde  des  Patienten  Blick  von 
der  schönsten  Landschaft  abziehen  können.  Er  geht  jetzt  oft  des  Nachts  in 
Hotels  durch  die  Corridore  und  sucht  elegante  Damenstiefel  aus,  die  er  dann 
küsst  und  gegen  sein  Gesicht,  Hals,  hauptsächlich  aber  gegen  seinen  Penis 
drückt. 

Der  durchaus  bemittelte  Patient  ist  vor  einiger  Zeit  eigens  nach  Italien 
gereist,  nur  mit  dem  Wunsche,  unerkannt  bei  einer  reichen  vornehmen  Dame 
Bedienter  zu  werden;  der  Plan  misslang  jedoch. 

Eine  Behandlung  des  Patienten,  der  nur  zur  Consultation  erschien,  hat 
bisher  nicht  stattgefunden. 

Die  oben  mitgetheilte  Krankengeschichte  reicht  bis  in  die  allerletzte 
Zeit,  in  der  Patient  mir  über  sein  Befinden  briefliche  Mittheilungen  ge- 
macht hat. 

Eines  ausführlichen  Commentars  bedarf  die  obige  Krankengeschichte 
nicht.  Sie  scheint  mir  eines  der  besten  Krankheitsbilder,  das  geeignet  ist, 
die  von  v.  Krafft-Ebing  angenommene  Verwandtschaft  zwischen  Stiefel- 
Fetischismus  und  Masochismus  zu  illustriren 1). 

Der  Hauptreiz  für  den  Patienten  ist,  wie  er  —  ohne  dass  derartige 
Antworten  in  ihn  hineinexaminirt  wurden  —  immer  wieder  betont,  die  eigene 
Unterwürfigkeit  dem  Weibe  gegenüber,  das  möglichst  hoch  über  ihm  stehen 
soll  durch  Stolz  und  vornehme  Stellung. 

Solche  Fälle,  in  denen  innerhalb  eines  ausgebildeten  maso- 
chistischen  Vorstellungskreises  der  Fuss  und  der  Schuh  oder  der 
Stiefel  des  Weibes,  als  Werkzeug  der  Demüthigung  aufgefasst, 
Gegenstand   eines   besonderen   sexuellen   Interesses   geworden   sind, 


J)  Dr.  Moll  wendet  jedoch  op.  cit.  p.  136  gegen  die  Auffassung  des 
Fuss-  und  Schuh-Fetischismus  überhaupt  als  eine  Erscheinung  des  (mitunter 
latenten)  Masochismus  ein,  dass  es  räthselhaft  bleibe,  warum  der  Fetischist  so 
oft  Stiefel  mit  hohen  Absätzen,  dann  Stiefel  oder  Schuhe  grade  von  einer 
besonderen  Beschaffenheit  zum  Knöpfen,  oder  Lackschuhe,  vorzieht.  Gegen 
diesen  Einwand  ist  zu  bemerken,  dass  erstens  die  hohen  Absätze  den  Schuh 
eben  als  weiblichen  charakterisiren,  und  dass  zweitens  der  Fetischist  an  seinen 
Fetisch,  unbeschadet  des  sexuellen  Charakters  seiner  Neigung,  auch  allerlei 
Ansprüche  ästhetischer  Natur  zu  stellen  pflegt.     Vgl.  unten  Beob.  88. 


Masochismus.  127 

finden  sich  zahlreich.  Sie  bilden  in  vielfachen  leicht  zu  verfolgenden 
Abstufungen  den  nachweisbaren  Uebergang  zu  anderen  Fällen,  in 
welchen  die  masochistischen  Neigungen  immer  mehr  in  den  Hinter- 
grund treten  und  nach  und  nach  unter  die  Schwelle  des  Bewusst- 
seins  tauchen,  während  das  Interesse  für.  den  Frauenschuh,  schein- 
bar als  ein  ganz  unerklärliches,  allein  im  Bewusstsein  stehen  bleibt. 
Letztere  sind  die  zahlreichen  Fälle  von  Schuhfetischismus. 

Diese  sehr  häufigen  Fälle  der  Schuhverehrer,  die,  wie  alle 
Fetischisten ,  auch  forensisches  Interesse  bieten  (Schuhdiebstähle), 
bilden  ein  Grenzgebiet  zwischen  Masochismus  und  Fetischismus. 
Man  kann  sie  wohl  zum  grössten  Theil  oder  alle  als  larvirten  Maso- 
chismus (mit  unbewusst  gebliebener  Motivation)  auffassen,  wobei  der 
Fuss  oder  Schuh  des  Weibes  als  Fetisch  des  Masochisten 
zu  selbständiger  Bedeutung  gelangt  ist. 

Hier  mögen  zunächst  noch  zwei  Fälle  angeführt  werden,  in 
denen  zwar  schon  der  Frauenschuh  in  den  Mittelpunkt  des  Inter- 
esses rückt,  aber  auch  deutliche  masochistische  Gelüste  eine  grosse 
Rolle  spielen.     (Vergl.  auch  oben  Beob.  42,  p.  91.) 

Beobachtung  58.  Herr  X.,  25  Jahre  alt,  von  gesunden  Eltern,  früher 
nie  erheblich  krank,  stellte  mir  folgende  Selbstbiographie  zur  Verfügung:  Ich 
begann  mit  10  Jahren  zu  onaniren,  ohne  indessen  dabei  jemals  einen  wol- 
lüstigen Gedanken  zu  haben.  Indessen  übte  doch  schon  damals  —  das  weiss 
ich  genau  —  der  Anblick  und  die  Berührung  eleganter  Mädchenstiefel  einen 
eigenen  Zauber  auf  mich  aus ;  mein  höchster  Wunsch  war,  auch  solche  Stiefel 
tragen  zu  dürfen,  ein  "Wunsch,  der  bei  gelegentlichen  Maskeraden  wohl  auch 
in  Erfüllung  ging.  Dann  war  es  noch  ein  ganz  anderer  Gedanke,  der  mich 
peinigte:  es  war  nämlich  mein  Ideal,  mich  in  gedemüthigter  Situa- 
tion zu  sehen,  ich  wäre  gern  Sklave  gewesen,  wollte  gezüchtigt  sein, 
kurz,  ganz  der  Behandlung  theilhaftig  werden,  die  man  in  den  vielen  Sklaven- 
geschichten beschrieben  findet.  Ob  durch  die  Lektüre  dieser  Bücher  dieser 
Wunsch  in  mir  entstanden  ist,  oder  spontan,  weiss  ich  nicht  anzugeben. 

Mit  13  Jahren  trat  die  Pubertät  ein;  mit  den  eintretenden  Ejaculationen 
stieg  das  Wollustgefühl  und  ich  onanirte  häufiger,  oft  2  oder  3mal  am  Tage. 
Während  der  Zeit  vom  12. — 16.  Jahre  hatte  ich  während  des  onanistischen 
Aktes  immer  die  Vorstellung,  ich  würde  gezwungen,  Mädchenstiefel  zu  tragen. 
Der  Anblick  eines  eleganten  Stiefels  am  Fusse  eines  nur  einigennassen  hüb- 
schen Mädchens  berauschte  mich ,  namentlich  zog  ich  gern  mit  Begier  den 
Ledergeruch  in  meine  Nase.  Um  Leder  auch  während  des  Onanirens  zu 
riechen,  kaufte  ich  mir  Ledermanchetten ,  die  ich  beroch,  während  ich  ona- 
nirte. Meine  Schwärmerei  für  lederne  Damenstiefel  ist  noch  heute  dieselbe, 
nur  vermengt  sie  sich  seit  dem  17.  Lebensjahre  mit  dem  Wunsche,  Diener 
sein  zu  können,  vornehmen  Damen  die  Stiefel  wichsen  zu  dürfen, 
sie  ihnen  an-  und  ausziehen  zu  müssen  u.  dergl. 


X28  Paraesthesia  sexualis. 

Meine  nächtlichen  Träume  bestehen  stets  in  Schuhscenen :  entweder  ich 
stehe  vor  dem  Schaufenster  eines  Schuhladens,  eventuell  betrachte  ich  die  ele- 
ganten Damenschuhe,  namentlich  die  Knöpfschuhe,  aut  ad  pedes  feminae  jaceo 
et  olfacio  et  lambo  calceolos  eius.  Seit  etwa  einem  Jahr  habe  ich  die  Onanie 
aufgegeben  und  gehe  ad  puellas;  der  Coitus  kommt  zu  Stande  durch  festes 
Denken  an  Damenknöpfstiefel,  eventuell  nehme  ich  den  Schuh  der  puella  mit 
ins  Bett.  Beschwerden  habe  ich  durch  meine  frühere  Onanie  nie  gehabt.  Ich 
lerne  leicht,  habe  ein  gutes  Gedächtniss,  habe,  so  lange  ich  lebe,  noch  keine 
Kopfschmerzen  gehabt.  —  So  weit  über  mich. 

Nur  noch  ein  paar  Worte  über  meinen  Bruder :  Ich  bin  fest  davon  über- 
zeugt, dass  auch  er  Schuhfetischist  ist;  unter  vielen  anderen  Thatsachen,  die 
mir  das  beweisen,  sei  nur  die  eine  hervorgehoben,  dass  es  ein  grosses  Ver- 
gnügen für  ihn  ist,  sich  von  einer  (bildschönen)  Cousine  treten  zu  lassen.  Im 
Uebrigen  mache  ich  mich  anheischig,  von  jedem  Manne,  der  vor  einem  Schuh- 
laden stehen  bleibt  und  sich  die  ausgelegten  Schuhe  ansieht,  auszusagen,  ob 
er  „Fussfreier"  ist  oder  nicht.  Diese  Anomalie  ist  ungemein  häufig;  wenn 
ich  in  Bekanntenkreisen  die  Unterhaltung  darauf  leite,  was  am  Weibe  reize, 
hört  man  ungemein  häufig  aussprechen,  dass  es  viel  mehr  das  bekleidete, 
als  das  nackte  Weib  sei ;  wohl  aber  hütet  sich  ein  jeder,  seinen  speciellen  Fetisch 
zu  nennen.  —  Auch  einen  Onkel  von  mir  halte  ich  für  einen  Schuhfetischisten. 

Beobachtung  59,  mitgetheilt  von  Mantegazza  in  seinen  „Anthropo- 
logischen Studien"  1886,  p.  110.  X.,  Amerikaner,  aus  guter  Familie,  phy- 
sisch und  moralisch  gut  constituirt,  war  von  der  Zeit  der  erwachenden  Pubertät 
an  sexuell  nur  erregbar  durch  den  Schuh  des  Weibes.  Dessen  Körper,  oder  auch 
speciell  der  nackte  oder  mit  dem  Strumpf  bekleidete  Fuss  machten  ihm  keinen 
Eindruck,  aber  der  mit  dem  Schuh  bekleidete  Fuss  oder  auch  der  Schuh  allein 
machten  ihm  Erection,  selbst  Ejaculation.  Es  genügte  ihm  der  blosse  Anblick, 
falls  ihm  elegante  Stiefel  zur  Disposition  standen,  d.  h.  solche  aus  schwarzem 
Leder,  auf  der  Seite  zum  Knöpfen  und  mit  möglichst  hohen  Absätzen.  Sein 
genitaler  Trieb  wird  mächtig  erregt,  indem  er  solche  Stiefel  berührt,  küsst, 
anzieht.  Sein  Genuss  wird  erhöht,  indem  er  die  Sohlen  durchdringende 
Nägel  einschlägt,  so  dass  die  Spitzen  der  Nägel  beim  Gehen  in  sein  Fleisch 
eindringen.  Er  empfindet  davon  furchtbare  Schmerzen,  aber  zugleich  wahre 
Wollust.  Sein  höchster  Genuss  ist  es,  vor  schönen,  elegant  bekleideten 
Damenfüssen  niederzuknieen,  sich  von  ihnen  treten  zu  lassen. 
Ist  die  Trägerin  der  Schuhe  eine  hässliche  Frau,  so  wirken  sie  nicht  und  er- 
kaltet seine  Phantasie.  Hat  Pat.  bloss  Schuhe  zur  Disposition,  so  schafft  seine 
Phantasie  eine  schöne  Frau  hinzu  und  die  Ejaculation  erfolgt.  Seine  nächt- 
lichen Träume  drehen  sich  um  die  Stiefeletten  schöner  Frauen.  Anblick  von 
Damenschuhen  in  Schaufenstern  kommt  demselben  unmoralisch  vor,  während 
das  Sprechen  über  die  Natur  des  Weibes  ihm  harmlos  und  geschmacklos  er- 
scheint. Verschiedene  Male  versuchte  X.  Coitus,  aber  erfolglos.  Es  kam  nie 
zu  einer  Ejaculation. 

Auch  in  dem  folgenden  Falle  ist  das  masochistische  Element 
noch  deutlich  genug  —  daneben  aber  auch  gleichzeitig  das  sadi- 
stische (vgl.  oben  p.  85  Thierquäler). 


Masochismus.  129 

Beobachtung  60.  Junger  kräftiger  Mann,  26  Jahre  alt.  Arn  schönen 
Geschlecht  reizen  ihn  sinnlich  absolut  nichts  als  elegante  Stiefel  am  Fuss 
einer  feschen  Dame,  besonders  wenn  sie  von  schwarzem  Leder  und  mit  hohen 
Absätzen  versehen  sind.  Es  genügt  ihm  der  Stiefel  ohne  Besitzerin.  Es  ge- 
währt ihm  höchste  Wollust,  ihn  zu  sehen,  zu  betasten,  zu  küssen.  Der  nackte 
oder  bloss  bestrumpfte  Damenfuss  lässt  ihn  ganz  kalt.  Seit  der  Kindheit  habe 
er  ein  Faible  für  elegante  Damenstiefel. 

X.  ist  potent;  beim  sexuellen  Akt  muss  die  Person  elegant  gekleidet 
sein  und  vor  Allem  schöne  Stiefel  anhaben.  Auf  der  Höhe  wollüstiger  Erregung 
gesellen  sich  grausame  Gedanken  zur  Bewunderung  der  Stiefel.  Er  muss  mit 
Wonne  der  Todesqualen  des  Thieres  gedenken,  von  dem  das  Leder  zu  den 
Stiefeln  stammt.  Zeitweise  zwingt  es  ihn,  Hühner  und  andere  lebende  Thiere 
zur  Phryne  mitzunehmen,  damit  diese  zu  seiner  grössten  Wollust  mit  ihren 
eleganten  Stiefeln  auf  den  Thieren  herumtrete.  Er  nennt  dies  „zu  den  Füssen 
der  Venus  opfern".  Andere  Male  muss  das  Weib  auf  ihm  mit  den  ge- 
stiefelten Füssen  herumtreten,  je  ärger,  um  so  lieber. 

Bis  vor  einem  Jahre  begnügte  er  sich,  da  er  am  Weibe  nicht  den  ge- 
ringsten Reiz  fand,  mit  Liebkosen  von  Damenstiefeln  seines  Geschmacks,  wo- 
bei es  zur  Ejaculation  und  vollen  Befriedigung  kam.  (Lombroso,  Archiv,  di 
psichiatria  IX,  fascic.  III.) 

Der  folgende  Fall  erinnert  theils  an  den  dritten  dieser  Reihe 
durch  das  Interesse  für  die  Nägel  der  Schuhe  (als  mögliche  Schmerz- 
erreger) ,  theils  an  den  vierten  durch  die  leise  mit  anklingenden 
sadistischen  Elemente. 

Beobachtung  61.  X.,  34  Jahre  alt,  verheirathet,  von  neuropathischen 
Eltern,  als  Kind  schwer  an  Convulsionen  leidend,  geistig  auffallend  früh 
(konnte  schon  mit  3  Jahren  lesen!),  aber  einseitig  entwickelt,  nervös  von 
Kindesbeinen  an,  bekam  mit  7  Jahren  den  Drang,  sich  mit-  den  Schuhen, 
bezw.  den  Schuhnägeln  von  Weibern  zu  beschäftigen.  Ihr  Anblick,  noch 
mehr  das  Betasten  der  Schuhnägel  und  ihr  Zählen  machte  ihm  unbeschreib- 
lichen Genuss. 

Nachts  musste  er  sich  vergegenwärtigen,  wie  seine  Cousinen  sich  Schuhe 
anmessen  lassen,  wie  er  einer  derselben  Hufeisen  anschmiedete  oder  die  Füsse 
abschnitt. 

Mit  der  Zeit  überwältigten  ihn  die  Schuhscenen  auch  bei  Tage  und  ohne 
sein  Zuthun  führten  sie  zu  Erection  und  Ejaculation.  Oefters  nahm  er  Schuhe 
von  weiblichen  Hausgenossen,  und  wenn  er  sie  nur  mit  dem  Penis  berührte, 
hatte  er  Ejaculation.  Eine  Zeitlang  vermochte  er  als  Student  diese  Ideen  und 
Gelüste  zu  beherrschen.  Dann  kam  eine  Zeit,  wo  er  dem  Geräusch  weiblicher 
Fus8tritte  auf  dem  Strassenpflaster  lauschen  musste,  was  ihm,  gleichwie  der 
Anblick  des  Nägeleinschlagens  in  Damenschuhe,  oder  der  Anblick  solcher  in 
Verkaufsauslagen,  jeweils  ein  wollüstiges  Erbeben  machte.  Er  heirathete  und 
war  in  den  ersten  Monaten  der  Ehe  frei  von  diesen  Impulsen.  Allmählig 
wurde  er  hysteropathisch  und  neurasthenisch. 

In  diesem  Stadium  bekam  er  hysterische  Anfälle ,  sobald  der  Schuster 
v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  9 


130  Paraesthesia  sexualis. 

ihm  von  Nägeln  an  Damenschuhen  oder  von  Frauenschuhbeschlagen  sprach. 
Noch  grösser  war  die  Reaktion,  wenn  er  einer  hübschen  Dame  mit  stark  be- 
schlagenen Schuhen  ansichtig  wurde.  Um  Ejaculation  zu  bekommen,  brauchte 
er  nur  Damensohlen  aus  Carton  auszuschneiden  und  mit  Nägeln  zu  belegen, 
oder  aber  er  kaufte  Damenschuhe,  Hess  sie  im  Laden  beschlagen,  machte  sie 
daheim  auf  dem  Boden  scharren  und  berührte  endlich  damit  die  Spitze  seines 
Penis.  Aber  auch  spontan  kamen  wollüstige  Schuhsituationen,  in  welchen  er 
sich  durch  Masturbation  befriedigte. 

X.  ist  sonst  intelligent,  tüchtig  im  Beruf,  aber  gegen  seine  perversen 
Gelüste  kämpft  er  vergebens  an.  Er  bietet  Phimose:  Penis  kurz,  an  der  Wurzel 
bauchig,  nicht  vollkommen  erectionsfähig.  Eines  Tages  Hess  sich  Patient  über 
den  Anblick  einer  genagelten  Damensohle  vor  dem  Laden  eines  Schusters  zur 
Masturbation  hinreissen  und  wurde  dadurch  criminell  (Blanche,  Archiv,  de 
Neurologie,  1882,  Nr.  22). 

Hier  ist  auch  auf  den  weiter  unten  darzustellenden  Fall 
(Beob.  108)  eines  conträr  Sexualen  hinzuweisen,  dessen  sexuelles 
Interesse  hauptsächlich  von  den  Stiefeln  männlicher  Diener  in  An- 
spruch genommen  wird.    Er  möchte  sich  von  ihnen  treten  lassen  etc. 

Ein  masochistisches  Element  liegt  noch  in  dem  folgen- 
den Falle: 

Beobachtung  62.  (Dr.  Pascal,  Igiene  dell'  amore.)  X.,  Kaufmann, 
bekam  von  Zeit  zu  Zeit,  besonders  bei  schlechter  Witterung,  folgendes  Gelüste: 
Er  redete  eine  beliebige  Prostituirte  an  und  ersuchte  sie,  mit  ihm  zu  einem 
Schuster  zu  gehen,  wo  er  ihr  das  schönste  Paar  Lackstiefeletten  kaufte,  unter 
der  Bedingung,  dass  sie  dieselben  sofort  anziehe.  Nachdem  dies  geschehen, 
musste  die  Betreffende  auf  der  Strasse  möglichst  in  den  Koth  und  in  Pfützen 
treten,  um  die  Stiefel  recht  zu  beschmutzen.  War  dies  geschehen,  so  führte 
X.  die  Person  in  ein  Hotel  und,  kaum  mit  ihr  in  einem  Zimmer,  stürzte  er 
auf  ihre  Füsse  los  und  empfand  ein  ausserordentliches  Vergnügen,  dabei  an 
diesen  seine  Lippen  zu  wetzen.  Nachdem  die  Stiefel  auf  diese  Weise  gereinigt 
waren,  gab  er  ein  Geldgeschenk  und  ging  seiner  Wege. 

Aus  diesen  Fällen  ergibt  sich  deutlich,  dass  der  Schuh  ein 
Fetisch  des  Masochisten  ist  und  zwar  offenbar  wegen  der  Be- 
ziehung des  bekleideten  weiblichen  Fusses  zur  Vorstellung  des  Ge- 
tretenwerdens und  anderen  Akten  der  Demüthigung. 

Wenn  also  in  anderen  Fällen  von  Schuhfetischismus  der 
Frauenschuh  allein  als  Erreger  sexueller  Begierden  erscheint ,  so 
lässt  sich  wohl  annehmen,  dass  in  solchen  Fällen  masochistische 
Motive  latent  geblieben  sind.  Die  Idee  des  Getretenwerdens  etc. 
bleibt  in  der  Tiefe  des  Unbewussten ,  und  die  Vorstellung  des 
Schuhes  allein,  des  Mittels  zu  solchen  Dingen,  taucht  im  Bewusst- 
sein  auf.     Fälle,  welche  sonst  ganz  unerklärlich  blieben,  finden  so 


Masochismus.  131 

eine  genügende  Aufklärung.  Es  handelt  sich  hier  um  larvirten 
Masochismus ,  und  dieser  dürfte  stets  als  unbewusstes  Motiv  anzu- 
nehmen sein,  wenn  nicht  ausnahmsweise  die  Entstehung  des  Feti- 
schismus .  aus  einer  Association  von  Vorstellungen  bei  Gelegenheit 
eines  bestimmten  Erlebnisses  nachweisbar  ist,  wie  im  Falle  der 
Beob.  85  u.  86. 

Derartige  Fälle  von  Trieb  zu  Frauenschuhen  ohne  bewusstes 
Motiv  und  ohne  nachweisbare  Entstehung  sind  aber  geradezu  zahl- 
los *).     Als  Beispiele  mögen  hier  drei  Fälle  angeführt  werden. 

Beobachtung  63.  Cleriker,  50  Jahre  alt.  Derselbe  erscheint  zeit- 
weise in  Prostitutionshäusern  unter  dem  Vorwand,  ein  Zimmer  im  Hause  zu 
miethen,  lässt  sich  in  ein  Gespräch  mit  einer  Puella  ein,  wirft  lüsterne  Blicke 
nach  ihren  Schuhen,  zieht  ihr  einen  aus,  osculatur  et  mordet  caligam  libidine 
captus;  ad  genitalia  denique  caligam  premit,  eiaculat  semen  semineque  eiacu- 
lato  axillas  pectusque  terit,  kommt  aus  seiner  wollüstigen  Ekstase  zu  sich, 
bittet  die  Besitzerin  des  Schuhs  um  die  Gnade,  ihn  einige  Tage  behalten  zu 
dürfen,  und  bringt  dann  ihn  höflich  dankend  nach  der  bedungenen  Zeit  zurück. 
(Cantarano,  „La  Psichiatria",  V,  p.  205.) 

Beobachtung  64.  Stud.  Z.,  23  Jahre  alt,  stammt  aus  belasteter  Familie. 
Schwester  war  gemüthskrank,  Bruder  litt  an  Hysteria  virilis.  Pat.  seit  Kindes- 
beinen sonderbar,  hat  häufig  hypochondrische  Verstimmungen.  Taed.  vitae, 
fühlt  sich  zurückgesetzt.  Bei  einer  Consultation  wegen  „Gemüthsleiden"  finde 
ich  einen  höchst  verschrobenen,  belasteten  Menschen  mit  neurasthenischen 
und  hypochondrischen  Symptomen.  Der  Verdacht  auf  Masturbation  bestätigt 
sich.  Pat.  gibt  interessante  Enthüllungen  bezüglich  seiner  Vita  sexualis.  Im 
Alter  von  10  Jahren  fühlte  er  sich  mächtig  vom  Fuss  eines  Kameraden  an- 
gezogen. Mit  12  Jahren  habe  er  für  Damenfüsse  zu  schwärmen  begonnen.  Es 
war  ihm  ein  wonniges  Gefühl,  in  ihrem  Anblick  zu  schwelgen.  Mit  14  Jahren 
begann  er  zu  masturbiren,  indem  er  sich  dabei  einen  hübschen  Damenfuss 
dachte.  Von  nun  an  begeisterte  er  sich  für  die  Füsse  seiner  3  Jahre  älteren 
Schwester.  Auch  die  Füsse  anderer  Damen,  sofern  sie  ihm  sympathisch  waren, 
wirkten  sexuell  erregend.  Am  Weibe  interessirte  ihn  nur  der  Fuss.  Der  Ge- 
danke an  sexuellen  Verkehr  mit  einem  Weibe  erweckte  ihm  Ekel.  Noch-nie- 
mak  hatte  er  Coitus  versucht.  Vom  12.  Jahre  ab  empfand  er  nie  mehr  ein 
Interesse  für  den  Fuss  männlicher  Individuen.  Die  Art  der  Bekleidung  des 
weiblichen  Fusses  ist  ihm  gleichgültig,  entscheidend  ist,  dass  die  Persönlichkeit 
ihm  sympathisch  erscheint.  Der  Gedanke,  die  Füsse  Prostituirter  zu  gemessen, 
sei  ihm  ekelhaft.  Seit  Jahren  ist  er  verliebt  in  die  Füsse  seiner  Schwester. 
Wenn  er  nur  der  Schuhe  dieser  gewahr  werde,  errege  dieser  Anblick  mächtig 


*)  Mit  dem  Fussfetischismus  hängt  es  offenbar  zusammen,  dass  einzelne 
derartige  Individuen  den  Coitus,  der  sie  nicht  befriedigt  oder  den  zu  leisten 
sie  nicht  im  Stande  sind,   durch  Tritus  membri  inter  pedes  mulieris    ersetzen. 


132  Paraesthesia  sexualis. 

die  Sinnlichkeit.  Ein  Kuss,  eine  Umarmung  der  Schwester  habe  nicht  diese 
Wirkung.  Sein  Höchstes  sei,  den  Fuss  eines  sympathischen  Weibes  zu  um- 
fassen, zu  küssen.  Dann  komme  es  sofort  unter  lebhaftem  Wollustgefühl  zur 
Ejaculation.  Oft  trieb  es  ihn,  mit  einem  Schuh  der  Schwester  seine  Genitalien 
zu  berühren,  jedoch  vermochte  er  bisher  diesen  Drang  zu  beherrschen,  zumal 
da  er  seit  2  Jahren  (in  Folge  vorgeschrittener  reizbarer  genitaler  Schwäche) 
schon  beim  blossen  Anblick  des  Fusses  ejaculirte.  Von  den  Angehörigen 
erfährt  man,  dass  Pat.  eine  „lächerliche  Bewunderung"  für  die  Füsse  seiner 
Schwester  habe,  so  dass  diese  ihm  aus  dem  Wege  gehe  und  sich  bemühe, 
ihre  Füsse  vor  dem  Pat.  zu  verbergen.  Pat.  empfindet  seinen  perversen 
sexuellen  Drang  als  krankhaft  und  ist  peinlich  davon  berührt,  dass  seine 
schmutzigen  Phantasien  gerade  den  Fuss  der  Schwester  zum  Gegenstand  haben. 
Er  weiche  der  Gelegenheit  aus,  wie  er  nur  könne,  suche  sich  durch  Mastur- 
bation zu  helfen,  wobei  ihm,  gleichwie  bei  Traumpollutionen,  Damenfüsse  in 
der  Phantasie  vorschweben.  Werde  aber  der  Drang  zu  mächtig,  so  könne  er 
nicht  widerstehen,  des  Anblicks  des  Fusses  der  Schwester  theilhaftig  zu  werden. 
Gleich  nach  der  Ejaculation  empfinde  er  lebhaften  Aerger,  wieder  schwach 
gewesen  zu  sein.  Seine  Neigung  zum  Fuss  der  Schwester  habe  ihn  unzählige 
schlaflose  Nächte  gekostet.  Er  wundere  sich  oft,  dass  er  seine  Schwester 
noch  gerne  haben  könne.  Obwohl  es  ihm  recht  sei,  dass  diese  ihre  Füsse  vor 
ihm  verberge,  sei  er  oft  sehr  irritirt  darüber,  dass  er  dadurch  um  seine 
Pollution  komme.  Pat.  betont,  dass  er  sonst  sittlich  sei,  was  auch  seine  An- 
gehörigen bestätigen. 

Beobachtung  65.  S.  in  New-York  ist  des  Strassenraubes  angeklagt. 
In  der  Ascendenz  zahlreiche  Fälle  von  Irresein,  auch  Vaters  Bruder  und  Vaters 
Schwester  sind  geistig  abnorm.  Mit  7  Jahren  zweimal  heftige  Hirnerschütterung. 
Mit  13  Jahren  Sturz  von  einem  Balkon.  Im  14.  Jahre  bekam  S.  heftige  An- 
fälle von  Kopfweh.  Zugleich  mit  diesen  Anfällen  oder  unmittelbar  darauf 
sonderbarer  Antrieb,  die  Schuhe  weiblicher  Familienglieder,  meist  nur  einen, 
zu  entwenden  und  in  irgend  einem  Winkel  zu  verbergen.  Zur  Rede  gestellt, 
läugnet  er  jeweils  oder  behauptet,  sich  der  Sache  nicht  zu  erinnern.  Das 
Gelüste  nach  Schuhen  war  unbesiegbar,  kehrte  alle  3 — 4  Monate  wieder.  Ein- 
mal machte  er  einen  Versuch,  einen  Schuh  vom  Fusse  eines  Dienstmädchens 
zu  entwenden,  ein  andermal  hatte  er  seiner  Schwester  einen  Schuh  aus  dem 
Schlafzimmer  entwendet.  Im  Frühjahr  wurden  zwei  Damen  auf  offener  Strasse 
die  Schuhe  von  den  Füssen  gerissen.  Im  August  verliess  S.  in  der  Frühe  sein 
Haus,  um  an  sein  Geschäft  als  Buchdrucker  zu  gehen.  Einen  Augenblick 
darauf  entriss  er  einem  Mädchen  auf  der  Strasse  einen  Schuh,  entfloh,  lief  in 
seine  Officin,  wurde  dort  wegen  Strassenraubs  verhaftet.  Er  behauptet,  von 
seiner  That  nicht  viel  zu  wissen,  es  sei  wie  ein  Blitz  beim  Anblick  des  Schuhs 
in  ihn  gefahren,  dass  er  dessen  bedürfe,  wozu,  wisse  er  nicht.  Er  habe  in 
einem  Zustand  von  Unbesinnlichkeit  gehandelt.  Der  Schuh  befand  sich,  wie 
richtig  angegeben,  in  seinem  Rocke.  In  der  Haft  war  er  geistig  so  erregt, 
dass  man  Ausbruch  von  Irrsinn  befürchtete.  Entlassen,  stahl  er  seiner  Frau. 
während  sie  schlief,  wieder  Schuhe.  Sein  moralischer  Charakter,  seine  Lebens- 
weise wai-en  untadelhaft.  Er  war  ein  intelligenter  Arbeiter,  nur  schnell 
folgende   unregelmässige  Beschäftigung   machte   ihn   confus   und   unfähig  zur 


Masochismus.  133 

Arbeit.     Freisprechung  (Nichols,  Americ.  J.  J.  1859),   Beck,  Medical  juris- 
prud.  1860  vol.  I,  p.  732. 

Dr.  Pascal  hat  op.  cit.  noch  einige  ganz  ähnliche  Beobach- 
tungen, und  viele  andere  sind  mir  durch  Collegen  und  Patienten 
zugekommen. 

Anhang:   Die   Koprolagnie. 

i 

Im  Anschluss  an  die  geschilderten  Erscheinungsformen  des 
Masochismus  muss  noch  einer  scheusslichen  Perversion  gedacht  werden, 
die  insofern  eine  Beziehung  zur  vorausgehenden  bietet,  als  der 
Charakter  der  Handlungen  die  grösste  Selbstdemüthigung  x)  aufweist 
und  darin  offenbar  auch  eine  sexuelle  Befriedigung  gefunden  wird. 
Aber  die  Fälle  sind  dadurch  complicirt,  dass  durch  eine  perverse 
Betonung  von  normaliter  mit  höchstem  Ekel  betonten  Geruchs- 
und Geschmacksvorstellungen  hier  die  lebhaftesten  Lustgefühle  her- 
vorgerufen werden,  wobei  die  Vita  sexualis  mächtig  miterregt  wird 
und  der  Perverse  zu  Orgasmus  und  selbst  Ejaculation  gelangt.  Man 
könnte  diese  Erscheinung  Koprolagnie  nennen  und  sie  als  eine  Com- 
plication  des  Masochismus  auffassen,  dem  ja  an  und  für  sich  das 
Gefühl  des  Unterworfenseins  unter  den  Willen  einer  Person  des  anderen 
Geschlechts  genügt,  und  bei  welchem,  ohne  die  erwähnte  Complication, 
das  ästhetische  Gefühl  im  Allgemeinen  gewahrt  und  die  angestrebte 
wollüstig  betonte  Situation  ganz  symbolisch  oder  ideell  bleiben 
kann.  Dass  diese  Koprolagnie  aber  Beziehungen  zum  Masochismus 
hat,  ergibt  sich  klar  aus  der  bisherigen  Casuistik,  und  für  manche 
Fälle  hat  es  den  Anschein,  als  ob  dieser  in  seiner  eigentlichen  Be- 
deutung dem  pervertirten  Individuum  unbewusst  bleibt  und  nur  der 
Trieb  zu  ekelhafte*}  Dingen  ins  Bewusstsein  tritt.  Es  muss  des- 
halb offene  Frage  bleiben,  ob  es  eine  selbständige  Perversion  im 
Sinne  der  Koprolagnie  gibt. 

Interessant  ist  die  Analogie  mit  dem  Sadismus,  bei  welchem 
ebenfalls  durch  perverse  Betonung  von  eklen  Geschmacks-  und  Ge- 


*)  Die  Analogie  mit  den  Excessen  religiöser  Schwärmerei  ist  selbst  hier 
noch  vorhanden.  Die  religiöse  Schwärmerin  Antoinette  Bouvignon  de  la  Porte 
mischte  ihre  Speisen  mit  Koth,  um  sich  zu  kasteien.  (Zimmermann,  op. 
cit.  p.  124.)  Die  beatificirte  Marie  Alacoque  leckte,  um  sich  zu  „mortificiren", 
mit  der  Zunge  die  Dejectionen  von  Kranken  auf  und  saugte  an  deren  mit 
Geschwüren  bedeckten  Zehen. 


134  Paraesthesia  sexualis. 

ruchsvorstellungen  mit  Lustgefühlen  Erscheinungen  im  Sinne  des 
Vampyrismus  und  der  Anthropophagie  (vgl.  p.  63  Fall  Bichel, 
Menesclou,  s.  Beob.  18.  19.  20.  22)  möglich  sind.  Ein  zutreffendes 
Beispiel  von  Masochismus  in  Combination  mit  Koprolagnie  und 
contr.  Sexualempfindung  ist  Beob.  114  der  8.  Auflage.  Der  Gegen- 
stand derselben  schwelgt  nicht  bloss  im  Gedanken,  Sklave  des 
geliebten  Mannes  zu  sein,  und  verweist  in  dieser  Hinsicht  auf 
Sacher-Masoch's  „Venus  im  Pelz",  sed  etiam  sibi  fingit  amatum 
poscere  ut  crepidas  sudore  diffluentes  olfaciat  ejusque  stercore  ves- 
catur.  Deinde  narrat,  quia  non  habeat,  quae  confingat  et  exoptet, 
eorum  loco  suas  crepidas  sudore  infectas  olfacere  suoque  stercore 
vesci,  inter  quae  facta  pene  errecto  se  voluptate  perturbari  semen- 
que  ejaculari. 

Ein  typischer  Fall  ist  die  folgende  Beobachtung. 

Beobachtung  66.  Herr  Z.,  24  Jahre,  Beamter  aus  Russland,  stammt 
von  neuropathischer  Mutter  und  psychopathischem  Vater.  Z.  ist  ein  intelli- 
genter, feinfühliger,  normal  gebauter  Mensch  von  gefälligem  Aeusseren  und 
feinen  Manieren;  schwere  Krankheiten  hat  er  nicht  überstanden.  Er  behauptet, 
von  Kindesbeinen  auf  nervös  zu  sein,  gleich  seiner  Mutter,  hat  neuropathisches 
Auge  und  empfindet  in  der  letzten  Zeit  cerebral-asthenische  Beschwerden.  Er 
klagt  bitter  über  eine  Perversion  seiner  Vita  sexualis,  die  ihn  oft  ganz  ver- 
zweifelt mache,  ihm  jegliche  Selbstachtung  raube  und  geeignet  sei,  ihn  Doch 
zum  Selbstmord  zu  bringen. 

Der  Alp,  welcher  auf  ihm  laste,  sei  ein  unnatürliches  Gelüste  nach 
Mictio  mulieris  in  os  suum,  das  ihn  ziemlich  regelmässig  alle  4  Wochen  heim- 
suche. Gefragt  nach  der  Entstehung  dieser  Perversion,  theilt  er  folgende 
interessante,  weil  genetisch  wichtige  Thatsachen  mit.  Als  er  6  Jahre  alt  war, 
traf  es  sich  zufällig,  dass  er  in  einer  gemischten  Knaben-Mädchenschule  einem 
neben  ihm  sitzenden  kleinen  Mädchen  cum  manu  sub  podicem  fuhr.  Er 
empfand  daran  ein  grosses  Wohlbehagen,  wiederholte  gelegentlich  diese  Hand- 
lung mit  dem  gleichen  Erfolg.  Die  Erinnerung  an  solche  angenehme  Situationen 
spielte  von  nun  an  eine  gewisse  Rolle  in  seiner  Phantasie. 

Puerum  decem  annos  agens  serva  educatrix  libidine  mota  ad  corpus 
suum  appressit  et  digitum  ei  in  vaginam  introduxit.  Quum  postea  fortuitu 
digito  nasum  tetigit,  odore  ejus  valde  delectatus  fuit. 

Im  Anschluss  an  das  mit  ihm  von  dem  Weibe  begangene  Unzuchtsdelict 
entwickelte  sich  bei  ihm  nun  die  mit  einer  Art  Wollust  betonte  Vorstellung, 
gefesselt  inter  femora  mulieris  cumbere,  coactus  ut  dormiat  sub  ejus  podice 
et  ut  bibat  ejus  urinam. 

Vom  13.  Jahr  an  treten  diese  Phantasien  ganz  zurück.  Mit  15  Jahren 
erster  Coitus,  mit  16  Jahren  zweiter,  ganz  normal  und  ohne  solche  Vorstel- 
lungen. 

Deficiente  pecunia  et  magna  libidine  perturbatus  masturbatione  eam 
satiabat. 


Masochismus.  135 

Mit  17  Jahren  kamen  die  perversen  Vorstellungskreise  wieder.  Sie  wurden 
immer  mächtiger  und  von  nun  an  vergebens  bekämpft. 

Mit  dem  19.  Jahr  erlag  er  ihrem  Antrieb.  Quum  mulier  quaedam  in 
os  ei  minxit,  maxima  voluptate  affectus  est.  Er  coitirte  dann  mit  dem  feilen 
Weibe.  Seither  kam  über  ihn  regelmässig  alle  4  Wochen  der  Drang,  diese 
Situation  zu  wiederholen. 

Hatte  er  seinem  perversen  Drang  genügt,  so  schämte  er  sich  vor  sich 
selber  und  empfand  grossen  Ekel.  Zu  Ejaculation  kam  es  in  der  Folge  dabei 
nur  ausnahmsweise,  jedoch  hatte  er  mächtige  Erection  und  Orgasmus  und 
befriedigte  sich  dann,  wenn  es  nicht  zur  Ejaculation  gekommen  war,  durch 
den  Coitus. 

In  der  Zwischenzeit  seiner  übermässig  und  impulsiv  sich  geltend  machen- 
den Antriebe  fühlte  er  sich  vollkommen  frei  von  derartigen  perversen  Gedanken, 
aber  auch  von  ideellem  Masochismus.  Ebenso  wenig  ergaben  sich  fetischistische 
Beziehungen.  Die  Libido  ist  intervallär  eine  geringe  und  wird  in  normaler 
Weise,  ohne  Hinzutreten  der  perversen  Vorstellungskreise,  befriedigt.  Es  geschah 
ihm  wiederholt,  dass  er,  wenn  der  Drang  zur  Wiederholung  des  perversen 
Aktes  ihn  heimsuchte,  vom  Lande  viele  Stunden  weit  nach  der  Hauptstadt 
reisen  musste,  um  jenem  zu  fröhnen. 

Wiederholt  versuchte  der  feinfühlige,  sein  krankhaftes  Gelüste  selbst 
verabscheuende  Kranke  seinem  Drange  zu  widerstehen,  aber  vergeblich,  da 
qualvolle  Unruhe,  Angst,  Zittern,  Schlaflosigkeit  dann  unerträglich  wurden 
und  er  um  jeden  Preis  seiner  psychischen  Spannung  durch  die  erlösende  Be- 
friedigung seines  Dranges  ledig  werden  musste.  Dies  erreichte  er  jeweils 
sofort  mit  der  Folgegebung,  aber  dann  kamen  wieder  die  Selbstvorwürfe  und 
die  Selbstverachtung  bis  zu  bedenklichem  Taed.  vitae.  Durch  diese  seelischen 
Kämpfe  ist  der  Unglückliche  neuerlich  recht  neurasthenisch  geworden  und 
klagt  über  Gedächtnissschwäche,  Zerstreutheit,  geistige  Unfähigkeit,  Kopfdruck. 
Seine  letzte  Hoffnung  ist,  dass  es  ärztlicher  Kunst  gelinge,  ihn  von  seinem 
schrecklichen  Gelüste  zu  befreien  und  ihn  vor  ihm  selber  sittlich  zu  rehabilitiren. 

Epikrise:  Mit  6  Jahren  wollüstige  Betonung  eines  bei  dem  Alter  des 
Individuums  an  und  für  sich  indifferenten  Aktes. 

Mit  10  Jahren  wollüstig  betonte,  jedenfalls  perverse  Geruchswahrnehmung. 

Entwicklung  von  bisher  latenten  masochistischen  Vorstellungen,  mit 
specieller  Directive  durch  mit  6  und  10  Jahren  erhaltene  perverse  Eindrücke. 
Intermission  durch  normalen  Coitus. 

Durch  Abstinenz  und  Masturbation,  vielleicht  auch  Pubertätseinflüsse 
wiedererwachte  sexuelle  Perversion. 

DieBe  in  der  Folge  als  impulsive,  periodisch  wiederkehrende,  wollüstig 
betonte  (bei  genügend  erregbarem  Ejaculationscentrum),  dem  Coitus  äquivalente 
Koprolagnie. 

Intervallär  normale  Vita  sexualis. 

Hierher   gehören   weitere   Fälle   Cantarano's   1.  c.  (mictio,  in   einem 

anderen  Falle  gar   defaecatio  puellae  ad  linguam  viri  ante  actum),  Geniessen 

von  nach  Fäces   riechendem   Confect,   um   potent   zu   sein;   femer  folgender, 
gleichfalls  von  einem  Arzte  mir  mitgetheilter  Fall: 


136  Paraesthesia  sexualis. 

Beobachtung  67.  Ein  im  höchsten  Grade  decrepider  russischer  Fürst 
Hess  sich  von  seiner  Maitresse,  die  sich  über  ihn,  ihm  den  Rücken  wendend, 
setzen  musste,  auf  die  Brust  defäciren,  und  regte  nur  auf  diese  Weise  die 
Reste  seiner  Libido  an. 

Ein  Anderer  soutenirt  eine  Maitresse  in  aussergewöhnlich  glänzender 
Weise  mit  der  ihr  auferlegten  Verpflichtung,  ausschliesslich  Marzipan  zu  essen. 
Ut  libidinosus  fiat  et  eiaculare  possit  excrementa  femiuae  ore  excipit.  —  Ein 
brasilianischer  Arzt  berichtete  mir  über  mehrere  zu  seiner  Kenntniss  gekommene 
Fälle  von  Defaecatio  feminae  in  os  viri. 

Derartige  Fälle  kommen  überall  vor  und  durchaus  nicht  selten.  Alle 
möglichen  Secrete,  Speichel,  Nasenschleim,  selbst  Ohrenschmalz  werden  in 
diesem  Sinne  benützt,  mit  Begierde  verschlungen,  oscula  ad  nates  und  selbst 
ad  anum  gegeben.  (Dr.  Moll  op.  cit.  p.  135  berichtet  Gleiches  von  Conträr- 
sexualen.)  Das  perverse  Gelüste,  den  Cunnilingus  activ  auszuüben,  welches 
weit  verbreitet  ist,  dürfte  auch  häufig  in  solchen  Antrieben  seine  Wurzel  haben. 

Hierher  gehört  offenbar  auch  der  scheussliche  Fall  von  Cantarano. 
„La  Psichiatria"  Jahrg.  V,  p.  207,  in  welchem  dem  Coitus  Morsus  et  succio  an 
den  möglichst  lange  nicht  gewaschenen  Zehen  der  Puella  vorausgehen,  ferner 
der  von  mir  in  der  8.  Aufl.  dieses  Buches  berichtete  analoge  (Beobachtung  68). 

Stefanowski  (Archives  de  l'Anthropologie  criminelle  1892,  Bd.  VII) 
kennt  einen  alten  russischen  Kaufmann,  qui  valde  delectatus  fuit  bibendo  ea 
quae  puellae  lupanarii  jusso  suo  in  vas  spuerunt. 

Beobachtung  68.  W.,  45  Jahre,  belastet,  war  schon  mit  8  Jahren 
der  Masturbation  ergeben.  A  decimo  sexto  anno  libidines  suas  bibendo  recentem 
feminarum  urinam  satiavit.  Tanta .  erat  voluptas  urinam  bibentis  ut  nee  aliquid 
olfaceret  nee  saperet,  haec  faciens.  Nach  dem  Trinken  empfand  er  jedesmal 
Ekel,  Uebelbefinden  und  fasste  die  besten  Vorsätze,  derlei  künftig  bleiben  zu 
lassen.  —  Ein  einziges  Mal  hatte  er  gleichen  Genuss  beim  Trinken  des  Urins 
von  einem  9jährigen  Knaben,  mit  dem  er  einmal  Fellatio  getrieben  hatte. 
Pat.  leidet  an  epileptischer  Geistesstörung.  (Pelanda,  Archivio  di Psichiatria  X, 
fasc.  3-4.) 

Hierher  gehören  noch  ältere  Fälle,  welche  schon  Tardieu  (Etüde 
medico-legale  sur  les  attentats  aux  moeurs  p.  206)  an  senilen  Persönlichkeiten 
beobachtet  hat.  Er  schildert  als  „Renifleurs",  „qui  in  secretos  locos  nimirum 
theatrorum  posticos  convenientes  quo  complures  feminae  ad  micturiendum 
festinant,  per  nares  urinali  odore  excitati,  illico  se  invicem  polluunt." 

Einzig  in  dieser  Hinsicht  sind  die  „Stercoraires",  von  denen  Taxil  (La 
Prostitution  contemporaine)  berichtet. 


c)  Masochismus  des  Weibes. 

Beim  Weibe  ist  die  willige  Unterordnung  unter  das  andere 
Geschlecht  eine  physiologische  Erscheinung.  In  Folge  seiner  pas- 
siven Rolle  bei  der  Fortpflanzung  und  der  von  jeher  bestehenden 
socialen  Zustände  sind  für  das  Weib  mit  der  Vorstellung  geschlecht- 


Masochismus.  137 

licher  Beziehungen  überhaupt  die  Vorstellungen  der  Unterwerfung 
regelmässig  verbunden.  Sie  bilden  sozusagen  die  Obertöne,  welche 
die  Klangfarbe  weiblicher  Gefühle  bestimmen. 

Der  Kenner  der  Culturgeschichte  weiss,  in  welchem  Verhält- 
nisse der  absoluten  Unterwerfung  das  Weib  von  jeher  bis  zu  relativ 
hohen  Culturzuständen  gehalten  wurde x) ,  und  ein  aufmerksamer 
Beobachter  des  Lebens  kann  heute  noch  leicht  erkennen,  wie  die 
Gewöhnung  unzähliger  Generationen,  im  Verein  mit  der  passiven 
Rolle,  welche  die  Natur  dem  Weibe  zugewiesen  hat,  diesem  Ge- 
schlechte eine  instinktive  Neigung  zur  freiwilligen  Unterordnung 
unter  den  Mann  angebildet  hat;  er  wird  bemerken,  dass  von  den 
Frauen  ein  stärkeres  Betonen  der  üblichen  Galanterie  höchst  ab- 
geschmackt gefunden,  ein  Abweichen  davon  nach  der  Seite  eines 
herrischen  Benehmens  zwar  mit  lautem  Tadel,  aber  oft  mit  heim- 
lichem Behagen  aufgenommen  wird  2).  Unter  dem  Firniss  unserer 
Salonsitten  ist  überall  der  Instinkt  der  Frauendienstbarkeit  er- 
kennbar. 

So  liegt  es  nahe,  den  Masochismus  überhaupt  als  eine  patho- 
logische Wucherung  specifisch  weiblicher  psychischer  Elemente  an- 
zusehen, als  krankhafte  Steigerung  einzelner  Züge  des  weiblichen 
psychischen  Geschlechtscharakters,  und  seine  primäre  Entstehung 
bei  diesem  Geschlechte  zu  suchen  (s.  unten  Anm.  zu  p.  148). 

Als  feststehend  kann  aber  wohl  angenommen  werden,  dass 
eine  Neigung  zur  Unterordnung  unter  den  Mann  (die  ja  als  er- 
worbene zweckmässige  Einrichtung,  als  Anpassungserscheinung  an 
sociale  Thatsachen  gelten  kann)  beim  Weibe  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  als  normale  Erscheinung  sich  vorfindet. 

Dass  es  unter  solchen  Umständen  nicht  öfter  zur  „Poesie" 
symbolischer   Unterwerfungsakte   kommt,    hat   seinen  Grund   theil- 


*)  Die  Rechtsbücher  des  frühesten  Mittelalters  gaben  dem  Manne  das 
Tödtungs-,  die  des  späten  noch  das  Züchtigungsrecht  über  sein  Weib.  Von 
letzterem  wurde  auch  in  höheren  Ständen  ausgiebig  Gebrauch  gemacht  (vergl. 
Schultze,  Das  höfische  Leben  zur  Zeit  des  Minnesangs,  Bd.  I,  p.  163  f.). 
Daneben  steht  unvermittelt  der  paradoxe  Frauendienst  des  Mittelalters  (s.  unten 
p.  147). 

2)  Vergl.  den  Ausspruch  der  Lady  Milford  in  Schiller's  »Kabale  und 
Liebe" : 

„Wir  Frauenzimmer  können  nur  zwischen  Herrschen  und  Dienen  wählen 
aber  die  höchste  Wonne  der  Gewalt  ist  doch  nur  ein  elender  Behelf,  wenn 
uns  die  grössere  Wonne  versagt  wird,  Sklavinnen  eines  Mannes  zu  sein,  den 
wir  lieben!"     (II.  Akt,  1.  Scene.) 


138  Paraesthesia  sexualis. 

weise  darin,  dass  der  Mann  nicht  die  Eitelkeit  des  Schwachen  be- 
sitzt, der  die  Sachlage  zur  Ostentation  seiner  Macht  benützen  würde 
(wie  die  Damen  des  Mittelalters  gegenüber  den  minnedienenden 
Rittern),  sondern  lieber  reelle  Vortheile  herausschlägt.  Der  Barbar 
lässt  die  Frau  für  sich  ackern,  der  Culturphilister  speculirt  auf  ihre 
Mitgift.     Beides  trägt  sie  willig. 

Fälle  pathologischer  Steigerung  dieses  Instincts  der  Unter- 
ordnung im  Sinne  eines  Masochismus  des  Weibes  dürften  oft  genug 
vorkommen,  werden  aber  in  ihren  Entäusserungen  durch  die  Sitte 
reprimirt.  Uebrigens  thun  viele  junge  Frauen  nichts  lieber,  als  vor 
ihren  Männern  oder  Geliebten  auf  den  Knieen  zu  liegen.  Bei  allen 
slavischen  Völkern  sollen  sich  die  Weiber  der  niederen  Stände  un- 
glücklich fühlen,  wenn  sie  von  ihren  Männern  nicht  geprügelt 
werden. 

Ein  ungarischer  Gewährsmann  theilt  mir  mit,  dass  die  Bäue- 
rinnen des  Somogyer  Comitates  sich  nicht  eher  von  ihrem  Manne 
geliebt  glauben,  bevor  sie  nicht  die  erste  Ohrfeige  als  Liebeszeichen 
erhalten  haben. 

Beobachtungen  von  Masochismus  des  Weibes  beizubringen, 
dürfte  dem  ärztlichen  Beobachter  schwer  fallen  1).  Innere  und  äussere 
Widerstände,  Schamgefühl  und  Sittsamkeit  stellen  naturgemäss  beim 
Weibe  dem  Durchbruch  perverser  sexueller  Triebe  nach  aussen  fast 
unüberwindliche  Hindernisse  entgegen. 

So  kommt  es,  dass  bis  jetzt  nur  folgende  2  Fälle  von  Maso- 
chismus des  Weibes  wissenschaftlich  constatirt  sind. 

Beobachtung  69.  Fräulein  X.,  21  Jahre  alt,  stammt  von  einer 
Mutter,  die  Morphinistin  war  und  vor  einigen  Jahren  an  einem  Nervenleiden 
starb.  Der  Bruder  dieser  Frau  ist  gleichfalls  Morphinist.  Ein  Bruder  des 
Mädchens  ist  Neurastheniker ,  ein  anderer  Masochist  (wünscht  von  vornehmen 
stolzen  Damen  mit  einem  Rohrstocke  Schläge  zu  bekommen).  Frl.  X.  war  nie 
schwer  krank,  leidet  nur  an  gelegentlichen  Kopfschmerzen.  Sie  hält  sich  für 
körperlich  gesund,  zeitweise  jedoch  für  toll,  dann  nämlich,  wenn  ihr  die  im 
Folgenden  zu  schildernden  Phantasien  auftauchen. 

Seit  ihrer  frühesten  Jugend  stellt  sie  sich  vor,  sie  werde  gestraft,  ge- 
züchtigt. Sie  schwelgt  förmlich  in  solchen  Ideen.  Es  ist  dann  ihr  sehnlich- 
ster Wunsch,  mit  einem  Rohr  stocke  derb  gezüchtigt  zu  werden. 


*)  Seydel,  Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.  1893,  H.  2,  führt  als  Beispiel 
von  Masochismus  Dieffenbach's  Kranke  an,  die  sich  wiederholt  den  Arm 
absichtlich  luxirte,  um  bei  der  damals  noch  ohne  Narkose  ausgeführten  Re- 
duction  wollüstige  Empfindungen  zu  haben. 


Masochismus.  139 

Dieses  Verlangen  ist,  wie  sie  meint,  dadurch  entstanden,  dass  ein  Freund 
ihres  Vaters  sie,  als  sie  5  Jahre  alt  war,  einmal  scherzweise  über  seine  Kniee 
legte  und  schlug.  Seither  sehnte  sie  Gelegenheiten  herbei,  gezüchtigt  zu  werden, 
zu  ihrem  Bedauern  erfüllte  sich  aber  dieser  Wunsch  nie.  In  ihren  Phantasien 
stellt  sie  sich  hülflos  vor,  gebunden.  Die  Worte  „ Rohrstock ",  „züchtigen" 
versetzen  sie  in  mächtige  Erregung.  Erst  seit  etwa  einem  Jahre  bringt  sie 
ihre  Ideen  mit  dem  männlichen  Geschlecht  in  Verbindung.  Früher  stellte  sie 
sich  eine  strenge  Lehrerin  oder  auch  blos  eine  Hand  vor,  die  sie  strafte. 

Jetzt  wünscht  sie  die  Sklavin  eines  geliebten  Mannes  zu  sein ;  sie  will,  wenn 
von  ihm  gezüchtigt,  seinen  Fuss  küssen. 

Dass  diese  Empfindungen  sexueller  Natur  sind,  weiss  die  Dame  nicht. 

Einige  Stellen  aus  Briefen  derselben  sind  im  Sinne  einer  masochistischen 
Auffassung  des  Falles  charakteristisch : 

„Früher  dachte  ich  ernstlich  daran,  wenn  diese  Vorstellungen  mich  nicht 
verlassen  sollten,  in  ein  Irrenhaus  zu  gehen.  Zu  diesem  Gedanken  kam  ich, 
als  ich  die  Geschichte  von  dem  Direktor  einer  Nervenheilanstalt  bei  Kassel  las, 
der  eine  Dame,  nachdem  er  sie  an  den  Haaren  aus  dem  Bett  gezogen,  mit 
Stock  und  Reitpeitsche  gezüchtigt  hatte.  Ich  hoffte  in  solchen  Anstalten  ebenso 
behandelt  zu  werden,  habe  also  doch  unbewusst  mir  meine  Phantasien  mit 
Männern  vorgestellt.  Am  liebsten  malte  ich  mir  aber  aus ,  dass  mich  rohe 
ungebildete  Wärterinnen  unbarmherzig  züchtigten." 

„Ich  liege  in  Gedanken  vor  ihm  und  er  setzt  mir  einen  Fuss  auf  den 
Nacken,  während  ich  den  andren  küsse.  Ich  schwelge  in  dieser  Idee,  bei 
der  er  mich  nicht  schlägt,  aber  das  wechselt  so  oft  und  ich  male  mir  ganz 
andere  Scenen  aus,  bei  denen  er  mich  schlägt.  Augenblicklich  fasse  ich  die 
Schläge  auch  als  Beweis  der  Liebe  auf  —  er  ist  erst  sehr  gut  und  zärtlich  zu 
mir  und  dann  schlägt  er  mich  —  im  Uebermass  der  Liebe.  Ich  bilde  mir 
ein,  es  wäre  ihm  die  grösste  Lust,  mich  zu  schlagen  —  aus  lauter  Liebe.  Sehr 
oft  habe  ich  schon  geträumt,  ich  sei  sein  Sklave  —  merkwürdig!  nie  seine 
Sklavin.  So  z.  B.  habe  ich  mir  ausgemalt,  er  sei  Robinson  und  ich  der 
Wilde,  der  ihm  dient.  Ich  sehe  mir  oft  das  Bild  an,  auf  welchem 
Robinson  dem  Wilden  den  Fuss  auf  den  Nacken  setzt.  Jetzt  finde  ich  eine 
Erklärung  der  oben  erwähnten  Vorstellung:  Ich  stelle  mir  das  Weib  im  All- 
gemeinen als  niedrig  vor,  niedriger  stehend  als  der  Mann ;  nun  bin  ich  aber  sonst 
sehr  stolz  und  lasse  mich  um  keinen  Preis  beherrschen,  daher  kommt  es,  dass 
ich  auch  als  Mann  denke  (der  von  Natur  stolz  und  hochstehend  ist),  dadurch 
wird  die  Erniedrigung  vor  dem  geliebten  Mann  um  so  grösser.  Ich 
stelle  mir  auch  vor,  dass  ich  seine  Sklavin  sei;  das  genügt  mir  aber  nicht, 
das  kann  am  Ende  jedes  Weib  —  seinem  Manne  als  Sklavin  dienen!" 

Beobachtung  70.  Fräulein  v.  X.,  35  Jahre  alt,  aus  schwer  belasteter 
Familie,  befindet  sich  seit  einigen  Jahren  im  Initialstadium  einer  Paranoia 
persecutoria.  Dieselbe  ist  hervorgegangen  aus  einer  Neurasthenia  cerebrospinalis, 
deren  Ausgangspunkt  in  sexueller  Ueberreizung  zu  finden  ist.  Pat.  war  seit 
ihrem  24.  Jahre  der  Onanie  ergeben.  Durch  nicht  erfüllte  Heirathserwartung 
und  heftige  sinnliche  Erregung  ist  sie  zur  Masturbation  und  psychischen 
Onanie  gelangt.  Neigung  zu  Personen  des  eigenen  Geschlechtes 
kam   niemals   vor.     Pat.   gibt   an:     „Mit   6 — 8   Jahren    trat  bei   mir   das 


140  Paraesthesia  sexualis. 

Gelüste  auf,  gegeisselt  zu  werden.  Da  ich  niemals  Schläge  bekommen  hatte, 
auch  nie  dabei  war,  wie  Jemand  gegeisselt  wurde,  kann  ich  mir  nicht  erklären, 
wie  ich  zu  diesem  sonderbaren  Verlangen  kam.  Ich  kann  mir  nur  denken, 
dass  es  mir  angeboren  ist.  Ich  hatte  ein  wahres  Wonnegefühl  bei  diesen 
Geisseivorstellungen  und  malte  mir  in  meiner  Phantasie  aus,  wie  schön  es 
wäre,  wenn  eine  Freundin  mich  geisselte.  Nie  kam  mir  die  Phantasie,  mich  von 
einem  Manne  geissein  zu  lassen.  Ich  schwelgte  in  der  Idee  und  versuchte  es 
nie,  zur  wirklichen  Ausführung  meiner  Phantasien  zu  gelangen.  Vom  10.  Jahre 
ab  verloren  sich  diese.  —  Erst  als  ich  mit  34  Jahren  Rousseau's  „Confessions" 
las,  wurde  mir  klar,  was  meine  Geisseigelüste  zu  bedeuten  hätten  und  dass  es 
sich  bei  mir  um  dieselben  krankhaften  Vorstellungen  handelte,  wie  bei  Rous- 
seau. Nie  habe  ich  seit  meinem  10.  Jahre  mehr  derartige  Anwandlungen 
gehabt." 

Epikrise.  Dieser  Fall  ist  durch  seinen  originären  Charakter  und  durch 
die  Berufung  auf  Rousseau  als  Fall  von  Masochismus  sicher  anzusprechen.  Dass 
es  eine  Freundin  ist,  welche  in  der  Phantasie  als  geisselnd  vorgestellt  wird,  ist 
einfach  daraus  zu  erklären,  dass  die  masochistischen  Gelüste  hier  bei  einem 
Kinde  ins  Bewusstsein  treten,  bevor  die  psychische  Vita  sexualis  ausgebildet  ist 
und  der  Trieb  zum  Manne  auftritt.  Conträre  Sexualempfindung  ist  hier  aus- 
drücklich ausgeschlossen. 


Versuch  einer  Erklärung  des  Masochismus. 

Die  Thatsachen  des  Masochismus  gehören  jedenfalls  zu  den 
interessantesten  im  Gebiet  der  Psychopathologie.  Ein  Versuch  ihrer 
Erklärung  hat  zunächst  zu  ermitteln,  was  an  dem  Phänomen  das 
Wesentliche  und  was  dabei  das  Unwesentliche  ist. 

Das  Entscheidende  beim  Masochismus  ist  jedenfalls  die  Be- 
gierde nach  schrankenloser  Unterwerfung  unter  den  Willen  der 
Person  des  anderen  Geschlechts  (beim  Sadismus  umgekehrt  die 
schrankenlose  Beherrschung  dieser  Person),  und  zwar  unter  Weckung 
und  Begleitung  von  mit  Lust  betonten  sexuellen  Gefühlen  bis  zur 
Entstehung  von  Orgasmus.  Nebensächlich  ist  nach  allem  Voraus- 
gehenden die  specielle  Art  und  Weise,  wie  dieses  Abhängigkeits- 
oder Beherrschungsverhältniss  bethätigt  wird  (s.  oben),  ob  durch 
blosse  symbolische  Akte,  oder  ob  zugleich  der  Drang  besteht,  von 
einer  Person  des  anderen  Geschlechts  Schmerzen  zu  erdulden. 

Während  der  Sadismus  als  eine  pathologische  Steigerung  des 
männlichen   Geschlechtscharakters  in    seinem   psychischen   Beiwerk 


Masochisinus.  141 

angesehen  werden  kann,  stellt  der  Masochismus  eher  eine  krank- 
hafte Ausartung  specifisch  weiblicher  psychischer  Eigentümlich-" 
keiten  dar. 

Es  gibt  aber  unzweifelhaft  auch  einen  häufigen  Masochismus 
des  Mannes,  und  dieser  ist  es,  welcher  meistens  in  die  äussere  Er- 
scheinung tritt  und  die  Casuistik  fast  ausschliesslich  füllt.  Die 
Gründe  hierfür  sind  oben  p.   137  erwähnt. 

Für  den  Masochismus  lassen  sich  in  der  Welt  der  normalen 
Vorgänge  zwei  Wurzeln  nachweisen. 

Erstens  ist  im  Zustande  der  wollüstigen  Erregung  jede  Ein- 
wirkung, welche  von  der  Person,  von  der  der  sexuelle  Reiz  aus- 
geht, auf  den  Erregten  ausgeübt  wird,  willkommen,  unabhängig 
von  der  Art  dieser  Einwirkung.  Es  liegt  noch  ganz  im  Bereiche 
des  Physiologischen,  dass  sanfte  Püffe  und  leichte  Schläge  als  Lieb- 
kosungen aufgefasst  werden  x), 

„like  the  lovers  pinch  which  hurts  and  is  desired" 

(Shakespeare,  Antonius  und  Kleopatra  V,  2.) 

Es  liegt  von  hier  aus  nicht  allzu  ferne,  dass  der  Wunsch,  eine 
recht  starke  Einwirkung  von  Seite  des  Consors  zu  erfahren,  in 
Fällen  pathologischer  Steigerung  der  Liebesinbrunst  zu  einem  Ge- 
lüste nach  Schlägen  u.  dgl.  führt,  da  der  Schmerz  das  immer  be- 
reite Mittel  einer  starken  körperlichen  Einwirkung  ist.  So  wie  im 
Sadismus  der  sexuelle  Affect  zu  einer  Exaltation  führt,  in  welcher 
die  überschäumende  psychomotorische  Erregung  in  Nebenbahnen 
überströmt,  so  entsteht  hier  im  Masochismus  eine  Ekstase,  in  der 
die  steigende  Fluth  einer  einzigen  Empfindung  jeden  von  der  ge- 
liebten Person  kommenden  Einfluss  begierig  verschlingt  und  mit 
Wollust  überschwemmt. 

Die  zweite  und  wohl  die  mächtigere  Wurzel  des  Masochismus 
ist  in  einer  weit  verbreiteten  Erscheinung  zu  suchen,  welche  zwar 
schon  in  das  Gebiet  des  ungewöhnlichen,  abnormen,  aber  durchaus 
noch  nicht  in  das  des  perversen  Seelenlebens  fällt. 

Ich  meine  hier  die  allverbreitete  Thatsache,  dass  in  unzähli- 
gen,   in   den   verschiedensten   Variationen   auftretenden   Fällen   ein 


J)  Hierzu  findet  sich  ein  Analogon  in  der  niederen  Thierwelt.  Die 
Lungenschnecken  (Pulmonata  Cuv.)  besitzen  in  ihrem  sogenannten  „Liebespfeil" 
—  ein  spitzes  Kalkstäbchen,  das  in  einer  besonderen  Tasche  des  Leibes  liegt, 
aber  bei  der  Begattung  hervorgestülpt  wird  —  ein  sexuelles  Reizorgan ,  das 
eigentlich  seiner  Beschaffenheit  nach  ein  Schmerzerreger  ist. 


142  Paraesthesia  sexualis. 

Individuum  in  eine  ganz  ungewöhnliche,  höchst  auffällige  Abhängig- 
keit von  einem  anderen  Individuum  des  entgegengesetzten  Geschlechts 
geräth  bis  zum  Verlust  jedes  selbständigen  Willens,  eine  Abhängig- 
keit, welche  den  beherrschten  Theil  zu  Handlungen  und  Duldungen 
zwingt,  die  schwere  Opfer  am  eigenen  Interesse  bedeuten  und  oft 
genug  gegen  Sitte  und  Gesetz  Verstössen. 

Diese  Abhängigkeit  ist  aber  von  den  Erscheinungen  des  nor- 
malen Lebens  nur  durch  die  Intensität  des  Geschlechtstriebes,  der 
hier  im  Spiele  ist,  und  das  geringe  Mass  der  Willenskraft,  die  ihm 
das  Gleichgewicht  halten  soll,  verschieden,  also  nur  intensiv  ver- 
schieden, nicht  qualitativ,  wie  es  die  Erscheinungen  des  Masochis- 
mus sind. 

Ich  habe  diese  Thatsache  der  abnormen,  aber  noch  nicht  per- 
versen Abhängigkeit  eines  Menschen  von  einem  anderen  des  ent- 
gegengesetzten Geschlechts,  welche  Thatsache,  namentlich  vom  foren- 
sischen Standpunkte  aus  betrachtet,  hohes  Interesse  bietet,  mit  dem 
Namen  „geschlechtliche  Hörigkeit"  bezeichnet l),  weil  die  dar- 
aus hervorgehenden  Verhältnisse  durchaus  den  Charakter  der  Un- 
freiheit tragen.  Der  Wille  des  herrschenden  Theils  gebietet  über 
den  des  unterworfenen  Theils  wie  der  des  Herrn  über  den  des 
Hörigen  2). 

Diese  „geschlechtliche  Hörigkeit"  ist,  wie  gesagt,  eine  aller- 
dings auch  psychisch  abnorme  Erscheinung.  Sie  beginnt  eben  da, 
wo  die  äussere  Norm,  das  von  Gesetz  und  Sitte  vorgezeichnete 
Mass  der  Abhängigkeit  eines  Theils  vom  anderen  oder  beider  von 
einander,  in  Folge  individueller  Besonderheit  in  der  Intensität  an 
sich   normaler  Motive    verlassen  wird.     Die   geschlechtliche  Hörig- 


*)  Vgl.  des  Verfassers  Abhandlung  „über  geschlechtliche  Hörigkeit  und 
Masochismus"  in  den  psychiatrischen  Jahrbüchern  Bd.  X,  p.  169  ff.,  wo  dieser 
Gegenstand  ausführlich  und  namentlich  vom  forensischen  Gesichtspunkte  aus 
behandelt  wurde. 

2)  Die  Ausdrücke  Sklave  und  Sklaverei,  obwohl  sie  oft  auch  in  solchen 
Situationen  bildlich  gebraucht  werden,  wurden  hier  vermieden,  weil  dies  Lieb- 
lingsausdrücke des  Masochismus  sind,  von  welchem  die  „Hörigkeit"  durchaus 
unterschieden  werden  muss. 

Der  Ausdruck  „Hörigkeit"  darf  auch  nicht  verwechselt  werden  mit 
J.  St.  Mill's  „Hörigkeit  der  Frau".  Was  Mill  mit  diesem  Ausdrucke  be- 
zeichnet, sind  Gesetze  und  Sitten,  sociale  und  historische  Erscheinungen.  Hier 
aber  sprechen  wir  von  jedesmal  individuell  besonders  motivirten  Thatsachen, 
die  mit  jeweils  geltenden  Sitten  und  Gesetzen  geradezu  im  Widerspruch 
stehen.    Auch  ist  hier  von  beiden  Geschlechtern  die  Rede. 


Masochismus.  143 

keit  ist  aber  keine  perverse  Erscheinung;  die  hier  wirkenden  Trieb- 
federn sind  dieselben,  die  auch  die  gänzlich  innerhalb  der  Norm 
verlaufende  psychische  Vita  sexualis  —  wenn  auch  mit  minderer 
Heftigkeit  —  in  Bewegung  setzen. 

Furcht,  den  Genossen  zu  verlieren,  der  Wunsch,  ihn  immer 
zufrieden,  liebenswürdig  und  zum  geschlechtlichen  Verkehr  geneigt 
zu  erhalten,  sind  hier  die  Motive  des  unterworfenen  Theiles.  Ein 
ungewöhnlicher  Grad  von  Verliebtheit,  der  —  namentlich  beim 
Weibe  —  durchaus  nicht  immer  einen  ungewöhnlichen  Grad  von 
Sinnlichkeit  bedeutet,  und  Charakterschwäche  andererseits  sind  die 
einfachen  Elemente  des  ungewöhnlichen  Vorganges  *). 

Das  Motiv  des  anderen  Theiles  ist  Egoismus,  der  freien  Spiel- 
raum findet. 

Die  Erscheinungen  der  Geschlechtshörigkeit  sind  in  ihren 
Formen  mannigfaltig  und  die  Zahl  der  Fälle  ist  eine  ungemein 
grosse 2).  In  geschlechtliche  Hörigkeit  gerathene  Männer  finden 
wir  im  Leben  bei  jedem  Schritt.  Hierher  gehören  bei  den  Ehe- 
männern die  sogenannten  Pantoffelhelden,  namentlich  die  alternden 
Männer,  die  junge  Frauen  heirathen  und  das  Missverhältniss  der  Jahre 
und  körperlichen  Eigenschaften  durch  unbedingte  Nachgiebigkeit 
gegen  alle  Launen  der  Gattin  auszugleichen  trachten;  hierher  sind 
zu  zählen  auch  ausserhalb  der  Ehe  die  überreifen  Männer,  die  ihre 
letzten  Chancen  in  der  Liebe  durch  ungemessene  Opfer  zu  ver- 
bessern trachten;  hierher  aber  auch  Männer  jeden  Alters,  die,  von 
heisser  Leidenschaft  für  ein  Weib  ergriffen,  bei  ihm  auf  Kälte  und 
Berechnung  stossen  und  auf  harte  Bedingungen  capituliren  müssen; 
verliebte  Naturen,  die  von  notorischen  Dirnen  sich  zur  Eheschlies- 


*)  Das  Wichtigste  dabei  ist  vielleicht,  dass  sich  durch  die  Gewöhnung 
an  den  Gehorsam  eine  Art  Mechanismus  der  ihres  Motives  unbewussten,  mit 
automatischer  Sicherheit  functionirenden  Folgsamkeit  ausbilden  kann,  der  mit 
Gegenmotiven  gar  nicht  zu  kämpfen  hat,  weil  er  unter  der  Schwelle  des  Be- 
wusstseins  liegt  und  von  dem  herrschenden  Theil  wie  ein  todtes  Instrument 
gehandhabt  werden  kann. 

2)  In  allen  Literaturen  spielt  naturgemäss  die  Geschlechtshörigkeit  eine 
Rolle.  Ungewöhnliche,  aber  nicht  perverse  Erscheinungen  des  Seelenlebens 
sind  ja  für  den  Dichter  ein  dankbares  und  erlaubtes  Gebiet.  Die  berühmteste 
Schilderung  männlicher  Hörigkeit  ist  wohl  des  Abbe  Prevost  „Manon  Lescault". 
Eine  vorzügliche  Schilderung  weiblicher  Hörigkeit  bietet  George  Sand's  „  Leone 
Leoni*.  Hierher  gehört  vor  Allem  Kleist's  „Käthchen  von  Heilbronn",  von 
ihm  selbst  als  Gegenstück  zur  (sadistischen)  „Penthesilea"  bezeichnet,  hierher 
Halm's  „Griseldis"  und  viele  ähnliche  Dichtungen. 


144  Paraesthesia  sexualis. 

sung  bewegen  lassen;  Männer,  die,  um  Abenteurerinnen  nachzu- 
laufen, Alles  im  Stich  lassen  und  ihre  Zukunft  aufs  Spiel  setzen, 
Gatten  und  Väter,  die  Weib  und  Kind  verlassen  und  das  Einkom- 
men der  Familie  einer  Hetäre  zu  Füssen  legen. 

So  zahlreich  aber  auch  die  Beispiele  männlicher  Hörigkeit 
sind,  so  muss  doch  jeder  halbwegs  unbefangene  Beobachter  des 
Lebens  zugeben,  dass  sie  an  Zahl  und  Gewicht  der  Fälle  gegen 
die  weiblicher  Hörigkeit  weit  zurückbleiben.  Dies  ist  leicht  er- 
klärlich. Für  den  Mann  ist  die  Liebe  fast  stets  nur  Episode,  er 
hat  daneben  viele  und  wichtige  Interessen;  für  das  Weib  hingegen 
ist  sie  der  Hauptinhalt  des  Lebens,  bis  zur  Geburt  von  Kindern 
fast  immer  das  erste ,  nach  dieser  noch  oft  das  erste ,  immer  min- 
destens das  zweite  Interesse.  Was  aber  noch  viel  wichtiger  ist: 
der  Mann,  den  der  Trieb  beherrscht,  löscht  ihn  leicht  in  den  Um- 
armungen, zu  denen  er  unzählige  Gelegenheiten  findet.  Das  Weib 
aber  ist  in  den  höheren  Ständen,  wenn  überhaupt  mit  einem  Mann 
versehen,  an  diesen  Einen  gefesselt,  und  selbst  in  den  unteren 
Classen  der  Gesellschaft  sind  noch  immer  bedeutende  Hindernisse 
der  Polyandrie  vorhanden. 

Deshalb  bedeutet  für  ein  Weib  der  Mann,  den  sie 
hat,  das  ganze  Geschlecht.  Seine  Wichtigkeit  für  sie  wächst 
dadurch  ins  Ungeheure.  Dazu  kommt  endlich  noch,  dass  das  nor- 
male Verhältniss,  wie  es  Gesetz  und  Sitte  zwischen  Mann  und  Weib 
geschaffen  haben,  weit  davon  entfernt  ist,  ein  paritätisches  zu  sein 
und  an  und  für  sich  schon  überwiegende  Abhängigkeit  der  Frau 
genug  enthält.  Um  so  tiefer  hinab  in  die  Hörigkeit  werden  sie  die 
Concessionen  drücken,  welche  sie  dem  Geliebten  macht,  um  seine 
ihr  fast  unersetzliche  Liebe  zu  erhalten,  und  um  so  höher  steigen  die 
unersetzlichen  Ausprüche  der  Männer,  die  entschlossen  sind,  ihren 
Vortheil  auszubeuten  und  eine  Industrie  aus  der  Ausbeutung  der 
grenzenlosen  weiblichen  Opferfähigkeit  machen. 

Dahin  gehört  der  Mitgiftjäger,  der  sich  mit  hohen  Summen 
dafür  bezahlen  lässt,  die  leicht  geschaffenen  Illusionen  einer  Jung- 
frau über  ihn  zu  zerstören,  der  planmässig  vorgehende  Verführer 
und  Compromittirer  der  Frauen,  der  auf  Lösegelder  und  Schweig- 
gelder speculirt,  der  goldverschnürte  Krieger  und  der  Musiker  mit 
der  Löwenmähne,  die  rasch  ein  gestammeltes  „Dich  oder  den  Tod!" 
hervorzulocken  wissen,  das  eine  Anweisung  auf  bezahlte  Schulden 
und  gute  Versorgung  ist,  dahin  gehört  aber  auch  der  Soldat  in 
der  Küche,    dessen  Liebe   die  Köchin   mit  Liebe   plus   Sättigungs- 


Masochismus.  145 

mittein  aufwiegt,  der  Geselle,  der  die  Ersparnisse  der  Meisterin, 
die  er  geheirathet  hat,  vertrinkt,  und  der  Zuhälter,  der  die  Pro- 
stituirte,  von  der  er  lebt,  mit  Schlägen  zwingt,  täglich  eine  be- 
stimmte Summe  für  ihn  zu  verdienen.  Das  sind  nur  einige  der 
unzähligen  Formen  der  Hörigkeit,  in  welche  das  Weib  durch  sein 
hohes  Liebesbedürfniss  und  die  Schwierigkeiten  seiner  Lage  so  leicht 
gezwungen  wird. 

Das  Gebiet  der  „geschlechtlichen  Hörigkeit"  musste  hier  eine 
kurze  Darstellung  finden,  da  in  ihm  offenbar  der  Mutterboden  zu 
sehen  ist,    aus    dem  die  Hauptwurzel    des  Masochismus  entspriesst. 

Die  Verwandtschaft  beider  Erscheinungen  des  psychischen  Ge- 
schlechtslebens springt  sofort  in  die  Augen.  Sowohl  Hörigkeit  als 
Masochismus  bestehen  ja  wesentlich  in  einer  unbedingten  Unter- 
werfung des  von  der  Abnormität  Ergriffenen  unter  eine  Person  des 
anderen  Geschlechts    und    in  seiner  Beherrschung  durch  dieselbe  1). 

Die  beiden  Erscheinungen  sind  aber  auch  wieder  klar  gegen 
einander  abzugrenzen,  und  zwar  sind  sie  nicht  graduell,  sondern 
qualitativ  verschieden. 

Geschlechtliche  Hörigkeit  ist  keine  Perversion,  sie  ist  nichts 
Krankhaftes ;  die  Elemente ,  aus  denen  sie  entsteht ,  Liebe  und 
Willensschwäche,  sind  nicht  pervers,  nur  ihr  gegenseitiges  Stärke- 
verhältniss  erzeugt  das  abnorme  Resultat,  das  den  eigenen  Inter- 
essen, oft  Sitten  und  Gesetzen,  so  sehr  widerspricht.  Das  Motiv, 
aus  welchem  der  unterworfene  Theil  hier  handelt  und  die  Tyrannei 
erduldet,  ist  der  normale  Trieb  zum  Weibe  (resp.  Manne),  dessen 
Befriedigung  der  Preis  seiner  Hörigkeit  ist.  Die  Akte  des  unter- 
worfenen Theiles,  in  denen  die  geschlechtliche  Hörigkeit  zum  Aus- 
druck kommt,  geschehen  auf  Befehl  des  herrschenden  Theiles,  um 
seiner  Habsucht  etc.  zu  dienen.  Sie  haben  für  den  unterworfenen 
Theil  gar  keinen  selbstständigen  Zweck;  sie  sind  für  ihn  nur  Mittel, 
den  eigentlichen  Endzweck,  den  Besitz  des  herrschenden  Theiles,  zu 
erlangen  oder  zu  bewahren.  Endlich  ist  Hörigkeit  eine  Folge  der 
Liebe  zu  einem  bestimmten  Individuum;  sie  tritt  erst  ein,  wenn 
diese  Liebe  erwacht  ist. 


')  Es  können  Fälle  vorkommen,  in  welchen  die  geschlechtliche  Hörig- 
keit sich  in  denselben  Akten  ausspricht,  die  dem  Masochismus  geläufig  sind. 
Wenn  rohe  Männer  ihre  Weiber  prügeln  und  diese  aus  Liebe  dulden,  ohne 
jedoch  nach  Schlägen  Sehnsucht  zu  haben,  so  liegt  eine  Trugform  der  Hörig- 
keit vor,  die  Masochismus  vortäuschen  kann. 

v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  10 


146  Paraesthesia  sexualis. 

Ganz  anders  verhält  sich  dies  Alles  beim  Masochismus,  welcher 
entschieden  krankhaft,  eine  Perversion  ist.  Das  Motiv  für  die  Hand- 
lungen und  Duldungen  des  unterworfenen  Theiles  ist  hier  der  Reiz, 
den  die  Tyrannei  als  solche  für  ihn  hat.  Er  mag  daneben  den 
herrschenden  Theil  auch  zum  Coitus  begehren;  jedenfalls  ist  sein 
Trieb  auch  auf  die  Akte,  die  zum  Ausdruck  der  Tyrannei  dienen, 
als  auf  directe  Objecte  der  Befriedigung  gerichtet.  Diese  Akte,  in 
denen  der  Masochismus  zum  Ausdruck  kommt,  sind  für  den  unter- 
worfenen Theil  nicht  Mittel  zum  Zweck,  wie  bei  der  Hörigkeit, 
sondern  selbst  Endzweck.  Endlich  tritt  beim  Masochismus  die 
Sehnsucht  nach  Unterwerfung  a  priori  auf  vor  jeder  Neigung  zu 
einem  bestimmten  Gegenstand  der  Liebe. 

Der  Zusammenhang  zwischen  Hörigkeit  und  Masochismus,  der 
bei  der  Uebereinstimmung  beider  Erscheinungen  im  äusseren  Effect 
der  Abhängigkeit  bei  allem  Unterschied  der  Motivirung  wohl  an- 
zunehmen ist,  der  Uebergang  der  Abnormität  in  die 
Perversion,  dürfte  sich  zunächst  auf  folgendem  Wege  voll- 
ziehen. 

Wer  sich  durch  lange  Zeit  im  Zustande  der  geschlechtlichen 
Hörigkeit  befindet,  wird  disponirt  sein,  leichtere  Grade  des  Maso- 
chismus zu  acquiriren.  Die  Liebe,  welche  gern  Tyrannei  um  des 
Geliebten  willen  erträgt,  wird  dann  direct  Liebe  zur  Tyrannei. 
Wenn  die  Vorstellung  des  Tyrannisirtwerdens  lange  mit 
der  lustbetonten  Vorstellung  des  geliebten  Wesens  eng 
associirt  war,  so  geht  endlich  die  Lustbetonung  auf  die 
Tyrannei  selbst  über,  und  es  ist  Perversion  eingetreten. 
Das  ist  der  Weg,  auf  dem  Masochismus  gezüchtet  werden  kann1). 


x)  Es  ist  sehr  interessant  und  beruht  auf  der  im  äusseren  Effecte  wesent- 
lich übereinstimmenden  Natur  von  Hörigkeit  und  Masochismus,  dass  zur  Illu- 
strirung  der  ersteren  ganz  allgemein  im  Scherz  und  bildlich  Ausdrücke  ge- 
braucht ■werden,  wie  „Sklaverei,  Kettentragen,  gefesselt  sein,  die  Geissei  über 
Jemand  schwingen,  an  den  Triumphwagen  spannen,  zu  Füssen  liegen,  Pan- 
toffelheld sein"  etc.,  lauter  Dinge,  die  für  den  Masochisten  in  buchstäblicher 
Ausführung  den  Gegenstand  seiner  perversen  Begierde  bilden. 

Solche  Bilder  werden  bekanntlich  im  täglichen  Leben  oft  gebraucht 
und  sind  geradezu  trivial  geworden.  Sie  stammen  aus  der  dichterischen  Sprache. 
Die  Dichtung  hat  zu  allen  Zeiten,  innerhalb  des  Gesammtbildes  heftiger  Liebes- 
leidenschaft das  Moment  der  Abhängigkeit  vom  Gegenstande ,  der  sich  ver- 
sagen kann  oder  muss,  erkannt,  und  die  Thatsachen  der  „Hörigkeit"  boten 
sich  ihr  stets  zur  Beobachtung  dar.  Indem  der  Dichter  Ausdrücke,  wie  die 
oben  angeführten,  wählt,  um  die  Abhängigkeit  des  Verliebten  mittelst  sinnen- 


Masochismus.  147 

Ein  leichter  Grad  von  Masochismus  kann  also  wohl  aus  der 
Hörigkeit  entstehen,  erworben  werden.  Der  echte,  vollkommene, 
tiefwurzelnde  Masochismus  mit  seiner  glühenden  Sehnsucht  nach 
Unterwerfung  von  frühester  Jugend  an ,  wie  die  von  dieser  Per- 
version Ergriffenen  ihn  schildern,  ist  aber  angeboren. 

Die  Erklärung  für  die  Entstehung  der  —  immerhin  seltenen  — 
Perversion  des  ausgebildeten  Masochismus  dürfte  sich  am  richtigsten 
in  der  Annahme  finden  lassen,  dass  dieselbe  aus  der  viel  häufiger 
auftretenden  Abnormität  der  „geschlechtlichen  Hörigkeit"  hervor- 
geht, indem  hie  und  da  diese  Abnormität  durch  Vererbung 
auf  ein  psychopathisches  Individuum  in  der  Weise  über- 
geht, dass  sie  dabei  zur  Perversion  wird.  Dass  eine  leichte 
Verschiebung  der  hier  in  Betracht  kommenden  psychischen  Elemente 
diesen  Uebergang  bewerkstelligen  kann,  wurde  oben  erörtert.  Was 
aber  für  mögliche  Fälle  des  erworbenen  Masochismus  die  associirende 
Gewohnheit  thun  kann ,  das  thut  für  die  sicher  constatirten  Fälle 
des  originären  Masochismus  das  variirende  Spiel  der  Vererbung. 
Es  tritt  dabei  kein  neues  Element  zur  Hörigkeit  hinzu,  sondern  es 
entfällt  eines,  das  Raisonnement,  das  Liebe  und  Abhängigkeit  ver- 
bindet und  damit  eben  Hörigkeit  von  Masochismus,  Abnormität  von 


fälliger  Bilder  anschaulich  zu  machen,  geht  er  genau  denselben  Weg  wie 
der  Masochist,  der,  um  sich  selbst  seine  Abhängigkeit  (die  ihm  aber  Selbst- 
zweck ist)  sinnenfällig  vorzustellen,  solche  Situationen  verwirklicht. 

Schon  die  Dichtung  des  Alterthums  gebraucht  für  die  Geliebte  den 
Ausdruck  „domina"  und  verwendet  gerne  das  Bild  des  in  Fesselnschlagens 
(z.  B.  Horaz  Od.  IV.  11).  Von  da  bis  in  unsere  Zeiten  (vgl.  Grillparzer 
Ottokar  IV.  Akt:  „Herrschen  ist  gar  süss,  so  süss  fast  als  gehorchen")  ist  die 
galante  Dichtung  aller  Jahrhunderte  von  dergleichen  Phrasen  und  Bildern  er- 
füllt.    Interessant  ist  auch  die  Geschichte  des  Wortes  „ Maitresse ". 

Die  Dichtung  wirkt  aber  auf  das  Leben  zurück.  Auf  diesem  Wege  mag 
der  höfische  Frauendienst  des  Mittelalters  entstanden  sein,  der  mit  seiner 
Verehrung  der  Frauen  als  „Herrinnen"  in  der  Gesellschaft  und  im  einzelnen 
Liebesverhältniss ,  seiner  Uebertragung  des  Lehns-  und  Vasallenverhältnisses 
auf  die  Beziehung  zwischen  dem  Ritter  und  seiner  Dame,  seiner  Unterwerfung 
unter  alle  weibliche  Launen,  seinen  Liebesproben  und  Gelübden,  seiner  Ver- 
pflichtung zum  Gehorsam  gegen  alle  Gebote  der  Damen,  als  eine  systematische 
Ausgestaltung  verliebter  „Hörigkeit"  erscheint.  Einzelne  extreme  Erscheinungen, 
wie  z.  B.  die  Leiden  des  Ulrich  von  Lichtenstein  oder  des  Pierre  Vidal  im 
Dienste  ihrer  Damen,  oder  das  Treiben  der  Bruderschaft  der  „Galois"  in 
Frankreich,  welche  ein  Martyrium  der  Liebe  suchten  und  sich  allerlei  Qualen 
unterzogen,  tragen  aber  schon  deutlich  masochistischen  Charakter  und  zeigen 
auch  hier  den  naturgemässen  Uebergang  einer  Erscheinung  in  die  andere. 


148  Paraesthesia  sexualis. 

Perversion  unterscheidet.  Es  ist  ganz  natürlich,  dass  sich  nur  das 
Triebartige  vererbt. 

Dieser  Uebergang  der  Abnormität  in  Perversion  bei  der  erb- 
lichen Uebertragung  wird  insbesondere  dann  leicht  eintreten  können, 
wenn  die  psychopathische  Veranlagung  des  Nachkommen  den  an- 
deren Faktor  des  Masochismus  liefert,  das,  was  oben  seine  erste 
Wurzel  genannt  wurde,  die  Neigung  geschlechtlich  hyper'ästhetischer 
Naturen ,  alle  Einwirkungen ,  die  vom  geliebten  Gegenstande  aus- 
gehen, der  geschlechtlichen  Einwirkung  zu  assimiliren. 

Aus  diesen  beiden  Elementen  —  aus  der  „geschlechtlichen 
Hörigkeit"  einerseits,  aus  jener  oben  erörterten  Disposition  zur  ge- 
schlechtlichen Ekstase,  welche  selbst  Misshandlungen  mit  Lust- 
betonung appercipirt,  andererseits  —  aus  diesen  beiden  Elementen, 
deren  Wurzeln  sich  bis  in  das  Gebiet  physiologischer  Thatsachen 
zurückverfolgen  lassen,  entsteht  auf  einem  geeigneten  psycho- 
pathischen Boden  der  Masochismus,  indem  die  sexuelle  Hyperästhesie 
allerlei  zuerst  physiologisches,  dann  nur  abnormes  Beiwerk  der  Vita 
sexualis  zur  krankhaften  Höhe  der  Per  Version  steigert 1). 

Jedenfalls  stellt  auch  der  Masochismus  als  angeborene  sexuelle 
Perversion  ein  functionelles  Degenerationszeichen  im  Rahmen  der 
(fast   ausschliesslich)    erblichen  Belastung  dar  und  auch   für  meine 


J)  Erwägt  man,  dass,  wie  oben  dargethan,  , geschlechtliche  Hörigkeit" 
eine  Erscheinung  ist,  die  beim  weiblichen  Geschlechte  viel  häufiger  und  in 
stärkeren  Graden  zu  beobachten  ist  als  beim  männlichen,  so  drängt  sich  der 
Gedanke  auf,  dass  der  Masochismus  (wenn  auch  nicht  immer,  so  doch  in  der 
Regel)  ein  Erbstück  der  „Hörigkeit"  weiblicher  Vorfahren  sei.  Er  tritt  so 
in  eine  —  wenn  auch  sehr  entfernte  —  Beziehung  zur  conträren  Sexual- 
empfindung, als  Uebergang  einer  eigentlich  dem  Weibe  zukommenden  Per- 
version auf  den  Mann.  Diese  Auffassung  des  Masochismus  als  eine  rudimentäre 
conträre  Sexualempfindung,  als  eine  theilweise  Effeminatio,  welche  hier  nur  die 
secundären  Geschlechtscharaktere  der  psychischen  Vita  sexualis  ergriffen  hat 
(eine  Auffassung,  die  noch  in  der  6.  Auflage  dieser  Schrift  unbedingteren  Aus- 
druck gefunden  hat) ,  findet  eine  Stütze  in  den  Aussagen  der  Patienten  der 
obigen  Beobachtung  42  und  48,  welche  weitere  Züge  von  Effeminatio  an  sich 
tragen,  auch  beide  ein  relativ  älteres  Weib ,  von  dem  sie  aufgesucht  und  er- 
obert würden,  als  ihr  Ideal  bezeichnen. 

Es  muss  jedoch  hervorgehoben  werden,  dass  „Hörigkeit"  auch  innerhalb 
der  männlichen  Vita  sexualis  eine  nicht  geringe  Rolle  spielt  und  Masochismus 
mithin  auch  ohne  einen  solchen  Uebergang  weiblicher  Elemente  auf  den  Mann 
erklärt  werden  kann.  Auch  ist  hier  zu  bedenken,  dass  sowohl  Masochismus 
als  Sadismus,  sein  Gegenstück,  bei  conträrer  Sexualempfindung  in  regelloser 
Combination  vorkommen. 


Masochismus.  149 

Fälle  von  Masochismus  und  Sadismus  bestätigt  sich  diese  klinische 
Erfahrung. 

Dass  die  eigenartige,  psychisch  anomale  Richtung  der  Vita 
sexualis,  als  welche  der  Masochismus  erscheint,  eine  originäre 
Abnormität  darstellt  und  nicht  so  zu  sagen  gezüchtet  bei  einem 
Disponirten  aus  passiver  Flagellation  sich  entwickelt,  auf  dem  Wege 
der  Ideenassociation ,  wie  Rousseau  und  Binet  annehmen,  ist  wohl 
leicht  zu  erweisen. 

Es  ergibt  sich  das  aus  den  zahlreichen,  ja  die  Majorität 
bildenden  Fällen,  in  welchen  die  Flagellation  beim  Masochisten 
niemals  aufgetaucht  ist,  in  welchem  der  perverse  Trieb  sich  aus- 
schliesslich auf  rein  symbolische,  die  Unterwerfung  ausdrückende 
Handlungen  ohne  eigentliche  Schmerzzufügung  richtet. 

Dies  lehrt  die  ganze  hier  mitgetheilte  Casuistik  von  Beobach- 
tung 50  an. 

Es  ergibt  sich  aber  das  gleiche  Resultat,  nämlich  dass  die 
passive  Flagellation  nicht  der  Kern  sein  kann,  an  den  sich  alles 
Uebrige  angesetzt  hat,  auch  aus  der  näheren  Betrachtung  solcher 
Fälle,  in  denen  diese  eine  Rolle  spielt,  wie  oben  Beobachtung  42 
und  48. 

Besonders  lehrreich  in  dieser  Beziehung  ist  die  obige  Beobach- 
tung 49,  denn  hier  kann  nicht  an  eine  sexuell  stimulirende  Wir- 
kung einer  in  der  Jugend  erlittenen  Strafe  gedacht  werden.  Ueber- 
haupt  ist  in  diesem  Falle  die  Anknüpfung  an  eine  frühe  Erfahrung 
nicht  möglich,  da  die  hier  den  Gegenstand  des  sexuellen  Haupt- 
interesses bildende  Situation  mit  einem  Kinde  gar  nicht  ausführ- 
bar ist. 

Endlich  ergibt  sich  überzeugend  die  Entstehung  des  Maso- 
chismus aus  rein  psychischen  Elementen  aus  der  Confrontirung  des- 
selben mit  dem  Sadismus  (s.  unten). 

Dass  passive  Flagellation  so  häufig  beim  Masochismus  vor- 
kommt, erklärt  sich  einfach  daraus,  dass  sie  das  stärkste  Ausdrucks- 
mittel für  das  Verhältniss  der  Unterwerfung  ist. 

Ich  wiederhole  es  als  entscheidend  für  die  Differenzirung  von 
einfacher  passiver  Flagellation  und  Flagellation  auf  Grund  maso- 
chistischen  Verlangens,  dass  im  ersteren  Fall  die  Handlung  Mittel 
zum  Zweck  des  dadurch  möglich  werdenden  Coitus  oder  wenigstens 
einer  Ejaculation,  im  letzteren  Fall  Mittel  zum  Zweck  der  seelischen 
Befriedigung  im  Sinne  masochistischer  Gelüste  ist. 

Wie  wir  oben  gesehen   haben,   unterwerfen   sich  Masochisten 


150  Paraesthesia  sexualis. 

aber  auch  allen  möglichen  anderen  Misshandlungen  und  Qualen,  bei 
denen  von  reflectorischer  Erregung  von  Wollust  nicht  die  Rede  sein 
kann.  Da  solche  Fälle  zahlreich  sind,  so  muss  untersucht  werden, 
in  welchem  Verhältniss  bei  derartigen  Akten  (und  bei  der  gleich- 
werthigen  Flagellation  der  Masochisten)  Schmerz  und  Lust  zu  ein- 
ander stehen.  Auf  Grund  der  Aussage  eines  Masochisten  ergibt  sich 
folgendes : 

Das  Verhältniss  ist  nicht  derart,  dass  einfach,  was  sonst 
physischen  Schmerz  verursacht,  hier  als  physische  Lust  empfunden 
wird,  sondern,  der  in  der  masochistischen  Ekstase  Befindliche  fühlt 
keinen  Schmerz,  sei  es,  weil  er  vermöge  seines  Affectzustandes 
(gleich  dem  Soldaten  im  Kampfgewühl)  die  physische  Einwirkung 
auf  seine  Hautnerven  überhaupt  nicht  appercipirt,  oder  weil  (wie 
bei  dem  religiösen  Märtyrer  und  Ekstatiker)  der  Ueberfüllung  des 
Bewusstseins  mit  Lustgefühlen  gegenüber  die  Vorstellung  der  Miss- 
handlung nur  wie  ein  blosses  Zeichen,  ohne  ihre  Schmerzqualität, 
in  ihm  stehen  bleibt. 

Es  findet  im  zweiten  Falle  gewissermassen  eine  Uebercompen- 
sation  des  physischen  Schmerzes  durch  die  psychische  Lust  statt 
und  nur  die  Differenz  bleibt  als  restliche  psychische  Lust  im  Be- 
wusstsein.  Diese  erfährt  überdies  einen  Zuwachs,  indem,  sei  es 
durch  reflectorisch  spinalen  Einfluss,  sei  es  durch  eigenartige  Be- 
tonung der  sensiblen  Eindrücke  im  Sensorium,  eine  Art  Hallucination 
körperlicher  Wollust  entsteht,  mit  ganz  vager  Localisation  der  hinaus 
projicirten  Empfindung. 

Analoges  scheint  in  den  Selbstpeinigungen  religiöser  Schwärmer 
(Fakire ,  heulende  Derwische ,  religiöse  Flagellanten)  vorhanden  zu 
sein,  nur  mit  anderem  Inhalt  der  das  Lustgefühl  erzeugenden  Vor- 
stellungen. Auch  hier  wird  die  Vorstellung  der  Marter  ohne  ihre 
Schmerzqualität  appercipirt,  indem  das  Bewusstsein  von  der  mit 
Lust  betonten  Vorstellung  erfüllt  ist,  durch  die  Marter  Gott  zu 
dienen,  Sünden  zu  tilgen,  den  Himmel  zu  verdienen  u.  s.  w. 


Masochismus  und  Sadismus.  151 


Masochismus  und  Sadismus. 

Das  vollkommene  Gegenstück  des  Masochismus  ist  der  Sadis- 
mus. Während  jener  Schmerzen  leiden  und  sich  der  Gewalt  unter- 
worfen fühlen  will,  geht  dieser  darauf  aus,  Schmerz  zuzufügen  und 
Gewalt  auszuüben. 

Der  Parallelismus  ist  ein  vollständiger.  Alle  Akte  und  Situa- 
tionen, die  vom  Sadisten  in  der  activen  Rolle  ausgeführt  werden, 
bilden  für  den  Masochisten  in  der  passiven  Rolle  den  Gegenstand 
der  Sehnsucht.  Bei  beiden  Perversionen  schreiten  diese  Akte  von 
rein  symbolischen  Vorgängen  zu  schweren  Misshandlungen  fort. 
Selbst  der  Lustmord,  in  welchem  der  Sadismus  gipfelt,  findet,  wie 
sich  aus  der  obigen  Beobachtung  51  ergibt  —  allerdings  nur  als 
Phantasma  —  sein  passives  Gegenstück.  Beide  Perversionen  können 
unter  günstigen  Umständen  neben  einer  normalen  Vita  sexualis  ein- 
hergehen; bei  beiden  kommen  die  Akte,  in  welchen  sie  sich  ent- 
laden, entweder  als  präparatorische,  vor  dem  Coitus,  oder  vicariirend 
an  dessen  Stelle  vor 1). 

Die  Analogie  betrifft  aber  nicht  bloss  die  äussere  Erschei- 
nung ;  sie  erstreckt  sich  auch  auf  das  innere  Wesen  beider  Perver- 
sionen. Beide  sind  als  originäre  Psychopathien  seelisch  abnormer, 
insbesondere  mit  psychischer  Hyperaesthesia  sexualis,  aber  nebenher 
in  der  Regel  auch  noch  mit  anderen  Abnormitäten  behafteter  In- 
dividuen zu  betrachten;  für  jede  dieser  beiden  Perversionen  lassen 
sich  je  zwei  constitutive  Elemente  nachweisen,  welche  in  psychischen 
Thatsachen  innerhalb  der  physiologischen  Breite  ihre  Wurzel 
haben. 

Für  den  Masochismus  liegen  diese  Elemente,  wie  oben  dar- 
gethan,  darin,  dass  1.  im  sexuellen  Affect  jede  vom  Consors  aus- 
gehende Einwirkung,  an  sich,  unabhängig  von  der  Art  dieser  Ein- 


*)  Beide  haben  natürlich  mit  ethischen  und  ästhetischen  Gegenmotiven 
in  Foro  interno  zu  kämpfen.  Nach  der  Ueberwindung  dieser  geräth  aber  der 
Sadismus  bei  seinem  Hinaustritt  in  die  Aussenwelt  sofort  mit  dem  Strafgesetz 
in  Conflict.  Mit  dem  Masochismus  ist  dies  nicht  der  Fall,  was  eine  grössere 
Häufigkeit  masochistischer  Akte  zur  Folge  hat.  Dagegen  treten  der  Verwirk- 
lichung der  letzteren  der  Selbsterhaltungstrieb  und  die  Scheu  vor  Schmerzen 
entgegen.  Die  practischc  Bedeutung  des  Masocbismus  liegt  nur  in  seinen  Be- 
ziehungen zur  psychischen  Impotenz ,  während  die  des  Sadismus  ausserdem 
und  hauptsächlich  auf  forensischem  Gebiete  liegt. 


152  Paraesthesia  sexualis. 

Wirkung,  mit  Lust  betont  wird,  was  bei  bestehender  Hyperaesthesia 
sexualis  so  weit  gehen  kann,  jede  Schmerzempfindung  zu  übercom- 
pensiren;  2.  dass  die,  aus  an  sich  nicht  perversen  seelischen  Ele- 
menten hervorgehende,  „geschlechtliche  Hörigkeit"  unter  patho- 
logischen Bedingungen  zu  einem  perversen  lustbetonten  Unter- 
werfungsbedürfniss  unter  das  andere  Geschlecht  werden  kann,  was 
—  wenn  auch  die  Vererbung  von  weiblicher  Seite  her  durchaus 
nicht  nothwendig  angenommen  werden  muss  —  sich  als  eine  patho- 
logische Entartung  eigentlich  dem  Weibe  zukommender  Charaktere, 
des  dem  Weibe  physiologischen  Unterordnungsinstinkts  darstellt. 

Dementsprechend  finden  sich  für  die  Erklärung  des  Sadismus 
ebenfalls  zwei  constitutive  Elemente,  deren  Ursprung  sich  bis  ins 
Gebiet  des  Physiologischen  zurückverfolgen  lässt:  1.  dass  im  sexuellen 
Affect,  gewissermassen  als  psychische  Mitbewegung,  ein  Drang  ent- 
stehen kann ,  auf  den  Gegenstand  der  Begierde  auf  jede  mögliche, 
möglichst  starke  Weise  einzuwirken,  was  bei  sexuell  hyperästhetischen 
Individuen  zu  einem  Drang  der  Schmerzzufügung  werden  kann; 
2.  dass  die  aktive  Rolle  des  Mannes,  seine  Aufgabe,  das  Weib  zu 
erobern,  unter  pathologischen  Bedingungen  zu  einem  Verlangen 
nach  schrankenloser  Unterwerfung  werden  kann. 

So  stellen  sich  Masochismus  und  Sadismus  als  vollkommene 
Gegensätze  dar.  Dem  entspricht  auch,  dass  den  von  diesen  Per- 
versionen ergriffenen  Individuen  als  ihr  Ideal  die  entgegengesetzte 
Perversion  beim  anderen  Geschlechte  erscheint,  wie  z.  B.  aus  Be- 
obachtung 42  und  48  und  auch  aus  Rousseau's  Confessions  her- 
vorgeht. 

Die  Gegenüberstellung  des  Masochismus  und  Sadismus  kann 
aber  auch  dazu  dienen,  die  Möglichkeit  der  Annahme  vollständig 
zu  beseitigen,  als  ob  der  Erstere  ursprünglich  aus  der  reflectorischen 
Wirkung  der  passiven  Flagellation  entsprungen  sei  und  alles  Weitere 
das  Product  hieran  anknüpfender  Ideenassociationen  wäre,  wie  Binet 
bei  der  Erklärung  von  Rousseau's  Fall  meint  und  wie  Rousseau 
selbst  glaubte  (vgl.  oben  p.  118).  Bei  der  activen  Misshandlung 
nämlich,  welche  für  den  Sadisten  den  Gegenstand  des  sexuellen 
Gelüstes  bildet,  findet  ja  gar  keine  Reizung  der  eigenen  sen- 
siblen Nerven  durch  den  Misshandlungsakt  statt,  so  dass  hier  an 
dem  rein  psychischen  Charakter  des  Ursprungs  dieser  Perversion 
nicht  gezweifelt  werden  kann.  Sadismus  und  Masochismus  sind 
einander  aber  so  verwandt,  entsprechen  einander  in  allen  Stücken 
so   sehr,    dass   der   Analogieschluss    vom   Einen    auf   den  Anderen 


Masochismus  und  Sadismus.       L  153 

auch  in  diesem  Falle  gestattet  sein  muss  und  schon  allein  genügen 
würde,  den  rein  psychischen  Charakter  des  Masochismus  zu  erweisen. 

Nach  der  oben  ausgeführten  Gegenüberstellung  aller  Elemente 
und  Erscheinungen  des  Masochismus  und  Sadismus,  und  als  Resume 
aller  beobachteten  Fälle,  erscheinen  Lust  am  Schmerzzufügen  und 
Lust  am  zugefügten  Schmerz  nur  wie  zwei  verschiedene  Seiten  des- 
selben seelischen  Vorgangs,  dessen  Primäres  und  Wesentliches  das 
Bewusstsein  activer,  bezw.  passiver  Unterwerfung  ist,  wobei  der 
Verbindung  von  Grausamkeit  und  Wollust  nur  eine  secundäre  psycho- 
logische Bedeutung  innewohnt.  Grausame  Handlungen  dienen  zum 
Ausdruck  dieser  Unterwerfung,  einmal,  weil  sie  das  stärkste  Mittel 
zum  Ausdrucke  dieses  Verhältnisses  sind,  dann,  weil  sie  überhaupt 
die  stärkste  Einwirkung  darstellen,  die  ein  Mensch  neben  und  ausser 
dem  Coitus  auf  einen  anderen  ausüben  kann. 

Sadismus  und  Masochismus  sind  Resultate  von  Associationen, 
in  dem  Sinne,  in  dem  alle  complicirteren  Erscheinungen  des  Seelen- 
lebens Associationen  sind.  Das  psychische  Leben  besteht  ja,  nach 
Production  der  einfachsten  Elemente  des  Bewusstseins ,  nur  aus 
Associationen  und  Dissociationen  dieser  Elemente. 

Es  ist  aber  das  Hauptergebniss  der  hier  ausgeführten  Ana- 
lysen, dass  Sadismus  und  Masochismus  nicht  etwa  Resultate  zu- 
fälliger Associationen  sind,  durch  den  Eintritt  eines  occasionellen 
Moments,  einer  zeitlichen  Coincidenz  erworben ,  sondern  Resultate 
von  Associationen,  die  durch  eine  auch  unter  normalen  Umständen 
vorhandene  Nachbarschaft  präformirt  sind,  unter  bestimmten  Be- 
dingungen aber  —  sexuelle  Hyperästhesie  —  leicht  wirklich  ge- 
knüpft werden.  Ein  abnorm  gesteigerter  Geschlechtstrieb  wächst 
nicht  bloss  in  die  Höhe,  sondern  auch  in  die  Breite.  Auf  Nachbar- 
gebiete übergreifend  vermischt  er  seinen  Inhalt  mit  dem  ihrigen 
und  vollzieht  so  die  pathologische  Association,  welche  das  Wesen 
dieser  beiden  Perversionen  ist *). 


*)  v.  Schrenck-Notzing,  welcher  bei  der  Erklärung  aller  Perversionen 
das  occasionelle  Moment  in  den  Vordergrund  stellt  und  der  Annahme  durch 
äussere  Umstände  erworbener  Perversionen,  vor  der  originärer  Veranlagung 
den  Vorzug  gibt,  weist  den  Erscheinungen  des  Sadismus  und  Masochismus 
(nach  seiner  Terminologie  „active  und  passive  Algolagnie")  diesbezüglich  eine 
Mittelstellung  an.  Diese  Erscheinungen  seien  allerdings  in  einem  Theil  der 
Fälle  nur  durch  congenitale  Anlage  zu  erklären ;  in  einem  anderen  Theil  der 
Fälle  aber  müsse  Erwerbung  durch  eine  zufällige  Coincidenz  offenbar  die 
Hauptrolle  spielen  (op.  cit.  p.  179). 


154  Paraesthesia  sexualis. 

Natürlich  muss  dies  nicht  immer  so  sein  und  es  gibt  Fälle 
von  Hyperästhesie  ohne  Perversion.  Fälle  von  reiner  Hyperaesthesia 
sexualis  —  wenigstens  solche  von  auffallender  Intensität  —  scheinen 
aber  seltener  als  die  Fälle  von  Perversion. 

Interessant,  aber  der  Erklärung  einige  Schwierigkeiten  bietend, 
sind  die  Fälle,  in  denen  Sadismus  und  Masochismus  in  einem  Indi- 
viduum gleichzeitig  auftreten.  Solche  Fälle  sind  z.  B.  Beob.  49 
der  7.  Auflage,  ferner  Beob.  48  und  55  der  gegenwärtigen,  be- 
sonders aber  Beob.  29,  aus  welch'  letzterer  hervorgeht,  dass  es 
gerade  die  Vorstellung  der  Unterwerfung  ist,  welche  sowohl  activ 
als  passiv  den  Kern  des  perversen  Gelüstes  bildet.  Dergleichen  ist 
in  mehr  oder  minder  deutlichen  Spuren  auch  sonst  noch  mehrfach 
zu  beobachten.  Allerdings  ist  die  eine  der  beiden  Perversionen 
immer  bei  weitem  vorwiegend. 

Wegen  dieses  entschiedenen  Ueberwiegens  der  einen  Perver- 
sion und  ihres  späteren  Auftretens  in  solchen  Fällen,  ist  wohl  an- 
zunehmen, dass  nur  die  eine,  vorwiegende  Perversion  originär, 
die  andere   im  Laufe    der  Zeit    erworben   ist.     Die  Vorstellungen 


Der  Beweis  für  letztere  Behauptung  wird  casuistisch  geführt.  Es  wer- 
den zwei  Beobachtungen  der  Psychopathia  sexualis  (Beob.  29  und  37  der 
7.  Aufl.)  wiedergegeben,  und  daran  gezeigt,  dass  hier  auch  das  zufällige 
Zusammentreffen  des  Anblicks  eines  blutenden  Mädchens  oder  eines  geprü- 
gelten Mitschülers  mit  einer  starken  Regung  des  Geschlechtstriebs  zur  Er- 
klärung der  von  nun  an  bestehenden  pathologischen  Association  genügen 
könne. 

Dem  gegenüber  ist  aber  doch  als  entscheidend  in  Betracht  zu  ziehen, 
dass  frühe  und  starke  Regungen  des  Geschlechtstriebs  bei  jedem  hyperästhe- 
tischen Individuum  mit  vielen,  bei  der  Gesammtheit  derselben  mit  unzähligen 
heterogenen  Dingen  zeitlich  zusammengefallen  sind,  während  sich  die  patho- 
logischen Associationen  immer  nur  an  wenige  bestimmte  (sadistische 
und  masochistische)  Dinge  knüpfen.  Unzählige  Schüler  haben  während  der 
Grammatik-  und  Mathematikstunden,  im  Klassenzimmer  und  an  geheimen 
Orten,  sich  sexuellen  Erregungen  und  Befriedigungen  hingegeben,  ohne  dass 
daraus  perverse  Associationen  entstanden  wären. 

Hieraus  folgt  wohl  mit  Evidenz,  dass  der  Anblick  von  Prügelscenen  und 
dergleichen  eine  vorhandene  pathologische  Association  zwar  aus  ihrer  Latenz 
wecken,  nicht  aber  eine  solche  entstehen  lassen  kann,  ganz  abgesehen  davon, 
dass  es  unter  den  unzähligen  sich  darbietenden  Dingen  nicht  indifferente,  son- 
dern geradezu  normaliter  Unlust  erregende  sind,  zu  denen  der  erwachte  Ge- 
schlechtstrieb in  Beziehung  tritt. 

Das  hier  Ausgeführte  gilt  auch  gegenüber  der  Meinung  Binet's,  der 
gleichfalls  die  hierher  gehörigen  Erscheinungen  sämmtlich  aus  zufälligen  Asso- 
ciationen erklären  will.     Vergl.  unten  p.  159. 


Masochismus  und  Sadismus.  155 

der  Unterwerfung  und  Misshandlung,  im  activen  oder  im  passiven 
Sinne  mit  intensiver  Wollust  betont,  haben  sich  bei  einem  solchen 
Individuum  tief  eingelebt.  Gelegentlich  versucht  sich  die  Phantasie 
auch  einmal  in  demselben  Vorstellungskreis,  aber  mit  invertirter 
Rolle.  Es  kann  selbst  zu  Verwirklichungen  dieser  Inversion  kommen. 
Derartige  Versuche  in  Phantasien  und  Handlungen  werden  aber 
meistens,  als  der  ursprünglichen  Richtung  inadäquat,  bald  wieder 
aufgegeben. 

Masochismus  und  Sadismus  treten  auch  mit  conträrer  Sexual- 
empfindung und  zwar  mit  allen  Formen  und  Stufen  dieser  Per- 
version combinirt  auf.  Der  conträr  Sexuale  kann  sowohl  Sadist 
als  Masochist  sein.  Vergleiche  oben  Beob.  47  der  gegenwärtigen 
und  49  (der  7.  Auflage)  und  zahlreiche  Fälle  der  unten  folgenden 
Casuistik  der  conträren  Sexualempfindung. 

Wo  immer  sich  auf  dem  Boden  einer  neuropathischen  Indivi- 
dualität eine  sexuelle  Perversion  entwickelt  hat,  kann  die  hierbei 
stets  anzunehmende  sexuelle  Hyperästhesie  auch  die  Erscheinungen 
des  Masochismus  und  Sadismus  her  vortreiben,  bald  einzeln,  bald  beide 
vereinigt,  die  eine  aus  der  anderen  hervorgehend.  Masochismus  und 
Sadismus  erscheinen  so  als  Grundformen  psychosexualer 
Perversion,  die  auf  dem  ganzen  Gebiete  der  Verirr ungen  des 
Geschlechtstriebes  an  den  verschiedensten  Stellen  zu  Tage  treten 
können  1). 


')  Jeder  Versuch  einer  Erklärung  der  Thatsachen,  sei  es  des  Sadismus, 
sei  es  des  Masochismus,  wird  wegen  des  hier  dargethanen  engen  Zusammen- 
hangs beider  Erscheinungen  auch  geeignet  sein  müssen,  jeweils  die  andere 
Perversion  zu  erklären.  Dieser  Forderung  würde  ein  Versuch  des  Amerikaners 
J.  G.  Kiernan  eine  Erklärung  des  Sadismus  zu  liefern  (vid.:  „Psychological 
aspects  of  the  sexual  appetite"  im  „Alienist  and  Neurologist ",  St.  Louis,  April 
1891)  genügen,   und  er  möge   aus    diesem  Grunde  hier  kurz  erwähnt  werden. 

Kiernan,  der  für  seine  Ansicht  in  der  anglo-amerikanischen  Literatur 
mehrere  Vormänner  hat,  geht  von  der  Ansicht  mehrerer  Naturforscher  (Dal- 
linger,  Drystale,  Rolph,  Cienkowsky)  aus,  welche  die  sogenannte  Conjugation, 
einen  Geschlechtsakt  gewisser  niederer  Thiere,  als  Kannibalismus,  als  Ver- 
schlingen des  Partners  auffassten.  Er  schliesst  unmittelbar  hieran  die  be- 
kannten Thatsachen  an,  dass  Krebse  sich  bei  Gelegenheit  der  geschlechtlichen 
Vereinigung  Glieder  vom  Leibe  reissen,  Spinnen  den  Männchen  dabei  den 
Kopf  abbeissen  und  andere  sadistische  Akte  brünstiger  Thiere  gegen  den  Con- 
sors.  Von  hier  geht  er  zum  Lustmord  und  anderen  wollüstig-grausamen  Akten 
bei  Menschen  über  und  nimmt  an,  Hunger  und  Geschlechtstrieb  seien  in  ihrer 
Wurzel  identisch,   der  geschlechtliche  Kannibalismus  der  niederen  Thierwelt 


156  Paraesthesia  sexualis. 


3)  Verbindung   der  Vorstellung   von   einzelnen  Körpertheilen   oder 
Kleidungsstücken  des  "Weibes  mit  Wollust.  —  Fetischismus. 

Schon  in  den  Betrachtungen  über  die  Psychologie  des  nor- 
malen Sexuallebens,  welche  dieses  Werk  einleiten  (s.  oben  p.  18), 
wurde  dargethan,  dass  noch  innerlich  der  Breite  des  Physiologischen, 
die  ausgesprochene  Vorliebe,  das  besondere  concentrirte  Interesse 
für  einen  bestimmten  Körpertheil  am  Leibe  der  Personen  des  ent- 
gegengesetzten Geschlechts,  insbesondere  für  eine  bestimmte  Form 
dieses  Körpertheils,  eine  grosse  psychosexuale  Bedeutung  gewinnen 
kann.  Ja  es  kann  geradezu  diese  besondere  Anziehungskraft  be- 
stimmter Formen  und  Eigenschaften  auf  viele ,  ja  die  meisten 
Menschen  als  das  eigentliche  Princip  der  Individualisirung  in  der 
Liebe  angesehen  werden. 

Diese  Vorliebe  für  einzelne  bestimmte  physische  Charaktere 
an  Personen  des  entgegengesetzten  Geschlechts  —  neben  welcher 
sich  auch  ebenso  eine  ausgesprochene  Bevorzugung  bestimmter 
psychischer  Charaktere  constatiren  lässt  —  habe  ich  in  Anlehnung 
an  Binet  (du  Fetichisme  dans  l'amour,  Revue  philosophique  1887) 
und  Lombroso  (Einleitung  der  italienischen  Ausgabe  der  2.  Aufl. 
dieses  Buches)  „Fetischismus"  genannt,  weil  thatsächlich  das 
Schwärmen  für  und  das  Anbeten  von  einzelnen  Körpertheilen  (oder 
selbst  Kleidungsstücken)  auf  Grund  sexueller  Dränge  vielfach  an 
die  Verehrung  von  Reliquien,  geweihten  Gegenständen  u.  s.  w.  in 
religiösen  Culten  erinnert.  Dieser  physiologische  Fetischismus  wurde 
bereits  oben  p.  18  ff.  ausführlich  erörtert. 


wirke  in  der  höheren  und  beim  Menschen  nach,  und  Sadismus  sei  ein  atavisti- 
scher Rückschlag. 

Diese  Erklärung  des  Sadismus  würde  freilich  auch  den  Masochismus 
erklären ;  denn  wenn  die  Wurzel  des  geschlechtlichen  Verkehrs  in  kannibalisti- 
schen  Vorgängen  zu  suchen  ist,  so  führt  hier  sowohl  der  Sieg  des  einen  Theils 
als  auch  die  Niederlage  des  andern  zum  Ziele  der  Natur,  und  auch  ein  Trieb, 
das  Opfer  und  der  Unterliegende  zu  sein,  wäre  erklärt. 

Es  niuss  aber  hier  eingewendet  werden,  dass  die  Basis  des  Raisonne- 
ments  ungenügend  ist.  Der  höchst  complicirte  Vorgang  der  Conjugation 
niederer  Organismen,  in  welchen  die  Wissenschaft  erst  in  den  letzten  Jahren 
näher  eingedrungen  ist,  kann  eben  durchaus  nicht  einfach  als  eine  Verschlin- 
gung eines  Individuums  durch  ein  anderes  angesehen  werden  (vgl.  Weismann, 
die  Bedeutung  der  sexuellen  Fortpflanzung  für  die  Selectionstheorie.  Jena, 
1886,  pag.  51). 


Fetischismus.  157 

Es  gibt  jedoch  auf  psychosexualem  Gebiet  neben  diesem 
physiologischen  noch  einen  unzweifelhaft  pathologischen  eroti- 
schen Fetischismus,  über  welchen  bereits  eine  reichhaltige  Ca- 
suistik  vorliegt,  und  dessen  Erscheinungen  ein  hohes  klinisch- 
psychiatrisches, unter  Umständen  auch  forensisches  Interesse  bieten. 
Dieser  pathologische  Fetischismus  bezieht  sich  nicht  allein  auf  be- 
stimmte Körpertheile,  sondern  selbst  auf  leblose  Gegenstände,  welche 
jedoch  fast  immer  Theile  der  weiblichen  Kleidung  sind  und  damit 
in  naher  Beziehung  zum  Körper  des  Weibes  stehen. 

Dieser  pathologische  Fetischismus  schliesst  sich  in  allmähligen 
Uebergängen  an  den  physiologischen  an,  so  dass  es  (wenigstens  für 
den  Körpertheil-Fetischismus)  beinahe  unmöglich  ist,  eine  scharfe 
Grenze  zu  ziehen,  wo  die  Perversion  beginnt.  Dazu  kommt  noch, 
dass  das  gesammte  Gebiet  des  Körpertheil-Fetischismus  eigentlich 
nicht  ausserhalb  des  Kreises  der  Dinge  fällt,  die  normaliter  als 
Reize  für  den  Geschlechtstrieb  wirken,  sondern  innerhalb  desselben. 
Das  Abnorme  liegt  hier  nur  darin,  dass  ein  Theileindruck 
vom  Gesammtbilde  der  Person  des  anderen  Geschlechts 
alles  sexuelle  Interesse  auf  sich  concentrirt,  so  dass  da- 
neben alle  anderen  Eindrücke  verblassen  und  mehr  oder 
minder  gleichgültig  werden.  Deshalb  ist  der  Körpertheil- 
Fetischist  nicht  als  ein  Monstrum  per  excessum  zu  betrachten,  wie 
z.  B.  der  Sadist  oder  Masochist,  sondern  eher  als  ein  Monstrum 
per  defectum.  Nicht  was  auf  ihn  als  Reiz  wirkt,  ist  abnorm, 
sondern  eher  das,  was  nicht  als  Reiz  wirkt,  die  Einschränkung  des 
Gebietes  sexuellen  Interesses,  die  für  ihn  eingetreten  ist.  Freilich 
pflegt  dieses  eingeengte  sexuelle  Interesse  auf  dem  engeren  Gebiet 
mit  um  so  grösserer,  mit  ganz  abnormer  Intensität  aufzutreten. 

Es  würde  sich  wohl  empfehlen,  als  Grenze  des  pathologischen 
Fetischismus  den  Umstand  anzunehmen,  ob  das  Vorhandensein  des 
Fetisch  conditio  sine  qua  non  für  die  Möglichkeit  den  Coitus  zu 
vollziehen  ist,  oder  nicht.  Aber  die  nähere  Betrachtung  der  That- 
sachen  ergibt,  dass  diese  Grenze  eben  nur  scheinbar  eine  scharfe 
ist.  Es  gibt  so  zahlreiche  Fälle,  in  denen  der  Coitus  trotz  Ab- 
wesenheit des  Fetisch  zwar  noch  möglich  ist,  aber  eben  ein  unvoll- 
kommener, erzwungener  (oft  mit  Hülfe  von  Phantasiebildern,  die 
sich  auf  den  Fetisch  beziehen),  besonders  ein  unbefriedigender  und 
erschöpfender  ist,  dass  auch  hier  sich  Alles  bei  näherer  Betrachtung 
der  entscheidenden  subjectiven,  psychischen  Sachlage  in  Ueber- 
gänge  auflöst,  die  einerseits  zur  blossen,  noch  physiologischen  Vor- 


158  Paraesthesia  sexualis. 

liebe,  andererseits  zur  psychischen  Impotenz  in  Abwesenheit  des 
Fetisch  führen. 

So  ist  es  vielleicht  besser,  das  Kriterium  für  das  Pathologische 
auf  dem  Gebiete  des  Körpertheil-Fetischismus  auf  ganz  subjectivem, 
psychischem  Boden  zu  suchen.  Die  Concentration  des  sexuellen 
Interesses  auf  einen  bestimmten  Körpertheil,  welcher  —  das  ist 
hier  hervorzuheben  —  nie  eine  directe  Beziehung  zum  Sexus  hat 
(wie  Mammae ,  äussere  Genitalien)  —  führt  die  Körpertheil- 
Fetischisten  oft  dahin,  dass  sie  als  eigentliches  Ziel  ihrer  ge- 
schlechtlichen Befriedigung  nicht  den  Coitus  betrachten,  sondern 
irgend  eine  Manipulation  an  dem  betreffenden,  als  Fetisch  wirk- 
samen Körpertheil.  Dieser  verirrte  Trieb  kann  nun  wohl  beim 
Körpertheil-Fetischisten  als  das  Kriterium  des  Krankhaften  ange- 
sehen werden,  gleichgültig,  ob  dabei  noch  wirklicher  Coitus  mög- 
lich ist  oder  nicht. 

Der  Gegenstands-  oder  Kleidungs-Fetischismus  aber 
kann  wohl  in  allen  Fällen  als  eine  pathologische  Erscheinung  an- 
gesehen werden,  da  sein  Object  ausserhalb  des  Kreises  normaler 
Reize  für  den  Geschlechtstrieb  fällt. 

Auch  hier  besteht  zwar  in  den  Erscheinungen  eine  gewisse 
äussere  Uebereinstimmung  mit  Vorgängen  der  psychisch  normalen 
Vita  sexualis ;  der  innere  Zusammenhang  und  Sinn  des  pathologischen 
Fetischismus  ist  aber  ein  ganz  anderer.  Auch  auf  dem  Gebiete 
der  schwärmerischen  Liebe  eines  psychisch  nicht  abnormen  Menschen 
können  das  Taschentuch,  der  Schuh,  Handschuh,  Brief,  die  Blume, 
„die  sie  ihm  gab",  die  Haarlocke  u.  s.  w.  Gegenstand  abgöttischer 
Verehrung  sein,  aber  nur,  weil  sie  ein  Erinnerungszeichen  an  die 
abwesende  oder  gestorbene  geliebte  Person  darstellen,  deren  Ge- 
sammtpersönlichkeit  damit  reproducirt  wird.  Der  pathologische 
Fetischist  hat  keine  derartigen  Beziehungen.  Für  ihn  ist  der  Fetisch 
der  ganze  Vorstellungsinhalt.  Wo  er  desselben  gewahr  wird,  tritt 
die  sexuelle  Erregung  ein  und  macht  der  Fetisch  seine  Wirkung 
geltend  a). 

Pathologischer  Fetischismus  scheint  nach  aller  bisherigen  Er- 
fahrung nur  auf  dem  Boden  der  (meist  hereditären)  psychopathischen 


x)  Ganz  anders  ist  der  Fall  in  Zola's  Therese  Raquin,  wo  der  betreffende 
Mann  die  Stiefel  der  Geliebten  mehrmals  küsst,  gegenüber  jenen  Schuh-  und 
Stiefelfetischisten ,  die  beim  Anblick  eines  jeden  Stiefels  an  beliebiger  Dame 
oder  auch  ohne  solche  in  wollüstige  Ekstase  gerathen  bis  zur  Ejaculation. 


Fetischismus.  X59 

Veranlagung  oder  bestehender  psychischer  Erkrankung  vorzu- 
kommen. 

So  kommt  es,  dass  er  nicht  selten  mit  den  anderen  (originären) 
Perversionen  des  Geschlechtssinns,  welche  demselben  Boden  ent- 
stammen, combinirt  erscheint.  Bei  conträr  Sexualen,  bei  Sadisten 
und  Masochisten  kommt  Fetischismus  in  den  verschiedensten  Ge- 
staltungen nicht  selten  vor.  Ja,  gewisse  Formen  des  Körpertheil- 
Fetischismus  (Hand-  und  Fuss-Fetischismus)  haben  sogar  mit  den 
zwei  zuletzt  genannten  Perversionen  wahrscheinlich  mehr  oder  minder 
dunkle  Zusammenhänge  (s.  unten). 

Beruht  nun  aber  auch  Fetischismus  auf  einer  angeborenen, 
allgemeinen  psychopathischen  Disposition,  so  ist  doch  diese  Per- 
version selbst,  nicht  wie  die  bisher  behandelten  in  ihrem  Wesen 
originärer  Natur;  sie  ist  nicht  fertig  angeboren,  wie  wir  wohl  vom 
Sadismus  und  Masochismus  annehmen  können. 

Während  in  den  bisher  dargestellten  Gebieten  der  sexuellen 
Perversionen  dem  Forscher  durchaus  Fälle  originären  Charakters 
entgegentraten,  begegnet  man  hier  durchaus  erworbenen  Fällen. 
Abgesehen  davon,  dass  beim  Fetischismus  die  veranlassende  Ge- 
legenheit der  Erwerbung  oft  nachweisbar  ist,  fehlen  hier  die 
physiologischen  Thatsachen,  die  auf  dem  Gebiete  des  Sadismus  und 
Masochismus  durch  eine  allgemeine  sexuelle  Hyperästhesie  auf  die 
Höhe  einer  Perversion  gehoben  werden  und  dort  die  Annahme 
originären  Ursprungs  rechtfertigen.  Es  bedarf  hier  für  jeden  ein- 
zelnen Fall  noch  eines  Geschehnisses,  das  den  Stoif  der  Perversion 
liefert. 

Es  gehört  allerdings  —  wie  oben  gesagt  —  zum  physio- 
logischen Geschlechtsleben,  für  dies  und  jenes  an  der  Frau  und  um 
sie  zu  schwärmen;  aber  gerade  die  Concentration  des  gesammten 
sexuellen  Interesses  auf  einen  solchen  Theileindruck  ist  hier  das 
Wesentliche  und  diese  Concentration  muss  für  jedes  damit  behaftete 
Individuum  einen  individuellen  Erklärungsgrund  haben. 

Man  kann  sich  daher  der  Ansicht  Binet's  anschliessen,  dass 
im  Leben  eines  jeden  Fetischisten  ein  Ereigniss  anzu- 
nehmen ist,  welches  die  Betonung  gerade  dieses  einzigen 
Eindrucks  mit  Wollustgefühlen  determinirt  hat.  Dieses 
Ereigniss  wird  in  die  früheste  Jugend  zurückzuversetzen  sein  und 
in  der  Regel  mit  dem  ersten  Erwachen  der  Vita  sexualis  zusammen- 
fallen. Dieses  erste  Erwachen  ist  mit  irgend  einem  sexuellen  Theil- 
eindruck zusammengefallen  (denn   es    sind   immer  Dinge,    die    zum 


X60  Paraesthesia  sexualis. 

Weibe  in  irgend  einer  Beziehung  stehen)  und  stempelt  diesen  für 
die  Dauer  des  ganzen  Lebens  zum  Hauptgegenstand  des  sexuellen 
Interesses.  Die  Gelegenheit,  bei  welcher  die  Association  entstanden 
ist,  wird  in  der  Regel  vergessen.  Nur  das  Resultat  der  Association 
bleibt  bewusst.  Originär  ist  hier  nur  der  allgemein  zur  Psycho- 
pathie disponirte  Charakter,  die  sexuelle  Hyperästhesie  solcher  In- 
dividuen l). 

Wie  die  bisher  behandelten  Perversionen,  so  kann  auch  der 
erotische  (pathologische)  Fetischismus  sich  äusserlich  in  den  selt- 
samsten unnatürlichen  und  selbst  verbrecherischen  Akten  mani- 
festiren :  Befriedigung  am  Leibe  des  Weibes  loco  indebito,  Diebstahl 
und  Raub  von  Gegenständen,  die  als  Fetisch  wirken,  Polluirung 
solcher  etc.  Es  hängt  auch  hier  von  der  Intensität  des  perversen 
Triebes  und  der  relativen  Stärke  der  ethischen  Gegenmotive  ab,  ob 
und  wie  weit  es  zu  dergleichen  Akten  kommt. 

Diese  perversen  Akte  der  Fetischisten  können,  ebenso  wie  die 
anderer  geschlechtlich  perverser  Individuen,  entweder  die  gesammte 
äussere  Vita  sexualis  allein  ausmachen,  oder  neben  dem  normalen 
geschlechtlichen  Akt  einhergehen,  je  nachdem  die  physische  und 
psychische  Potenz,  die  Erregbarkeit  für  normale  Reize  noch  mehr 
oder  minder  erhalten  ist.  Im  letzteren  Falle  dient  nicht  selten  der 
Anblick  oder  die  Berührung  des  Fetisch  als  nothwendiger  präpara- 
torischer Akt. 


*)  Wenn  dagegen  Binet  op.  cit.  behauptet,  jede  sexuelle  Perversion, 
ohne  Ausnahme ,  beruhe  auf  einem  solchen  „Accident  agissant  sur  un  sujet 
predispose  (wobei  unter  dieser  Prädisposition  nur  Hyperästhesie  im  Allgemeinen 
verstanden  wird),  so  ist  eine  solche  Annahme  für  die  anderen  sexuellen  Per- 
versionen, ausserhalb  des  Fetischismus,  wie  schon  oben  p.  157  dargelegt  wor- 
den ist,  weder  erforderlich  noch  genügend.  Es  ist  nicht  abzusehen,  wie  auf 
ein  selbst  sehr  erregbares  Individuum  der  Anblick  der  Züchtigung  eines  An- 
deren gerade  sexuell  erregend  wirken  soll,  wenn  nicht  die  physiologische  Nach- 
barschaft von  Wollust  und  Grausamkeit  im  übernormal  erregbaren  Individuum 
zum  originären  Sadismus  geworden  ist.  Aber  auch  die  Associationen,  auf 
denen  der  erotische  Fetischismus  beruht,  sind  nicht  ganz  zufällige.  Wie  die 
sadistischen  und  masochistischen  Associationen  durch  die  Nachbarschaft  der 
diesbezüglichen  Elemente  in  der  Psyche  des  Subjects  präforrnirt  sind,  so  ist 
die  Möglichkeit  fetischistischer  Association  durch  die  Beschaffenheit  der  Ob- 
jecte  vorbereitet  und  dadurch  leichter  erklärlich.  Es  sind  ja  fast  immer 
Theileindrücke  der  weiblichen  Gesammterscheinung  (inclusive  Kleidung) ,  um 
die  es  sich  hier  handelt.  Ganz  zufällig  entstandene  fetischistische  Associa- 
tionen sind  nur  in  wenigen  im  Weiteren  speciell  angeführten  Fällen  con- 
statirt. 


Fetischismus.  161 

Die  grosse  praktische  Wichtigkeit,  welche  den  Thatsachen  des 
pathologischen  Fetischismus  zukommt,  liegt  nach  dem  Gesagten  in 
zwei  Momenten. 

Erstens  ist  der  pathologische  Fetischismus  nicht  selten  eine 
Ursache  psychischer  Impotenz1).  Da  der  Gegenstand,  auf  welchem 
das  sexuelle  Interesse  des  Fetischisten  sich  concentrirt,  an  und  für 
sich  in  keiner  unmittelbaren  Beziehung  zum  normalen  Geschlechts- 
akt steht,  so  geschieht  es  oft,  dass  der  Fetischist  durch  seine  Per- 
version die  Erregbarkeit  für  normale  Reize  einbüsst,  oder  wenigstens 
den  Coitus  nur  mittelst  Concentration  der  Phantasie  auf  seinen 
Fetisch  leisten  kann.  Auch  liegt  in  dieser  Perversion  und  in  der 
Schwierigkeit  ihrer  adäquaten  Befriedigung,  gerade  so  wie  bei  den 
anderen  Perversionen  des  Geschlechtssinns,  namentlich  für  jugend- 
liche Individuen,  und  gerade  für  solche,  welche  in  Folge  ethischer 
und  ästhetischer  Gegenmotive  vor  der  Verwirklichung  ihrer  per- 
versen Gelüste  zurückschrecken ,  die  beständige  Verlockung  zur 
psychischen  und  physischen  Onanie,  welche  wieder  deletär  auf  Con- 
stitution und  Potenz  zurückwirkt. 

Zweitens  ist  der  Fetischismus  von  grosser  forensischer  Be- 
deutung. So  wie  der  Sadismus  zu  Mord  und  Körperverletzung 
ausarten  kann,  so  kann  der  Fetischismus  zum  Diebstahl  und  selbst 
zum  Raub  der  betreffenden  Gegenstände  führen. 

Der  erotische  Fetischismus  hat  zum  Gegenstande  entweder 
einen  bestimmten  Körpertheil  des  entgegengesetzten  Geschlechts, 
oder  ein  bestimmtes  Kleidungsstück  desselben  oder  einen  Stoff 
der  Bekleidung.  (Es  sind  bis  jetzt  nur  Fälle  von  pathologi- 
schem Fetischismus  des  Mannes  bekannt,  deshalb  ist  hier  nur 
von  weiblichen  Körpertheilen  und  weiblichen  Kleidungsstücken  die 
Rede.) 

Danach  zerfallen  die  Fetischisten  in  drei  Gruppen. 


*)  Es  kann  als  eine  Art  (psychischen)  Fetischismus  im  weiteren  Sinne 
betrachtet  werden,  dass,  was  häufig  geschieht,  junge  Ehemänner,  die  viel  mit 
Prostituirten  verkehrt  haben,  sich  der  Keuschheit  ihrer  jungen  Ehefrauen 
gegenüber  impotent  sehen.  Einer  meiner  Clienten  war  niemals  potent  seiner 
jungen,  schönen,  züchtigen  Frau  gegenüber,  weil  er  an  die  lascive  Weise  der 
Prostituirten  gewöhnt  war.  Versuchte  er  ab  und  zu  einen  Coitus  bei  Puellis, 
so  war  er  vollkommen  potent.  Einen  ganz  ähnlichen  interessanten  Fall  be- 
richtet H  a  m  m  o  n  d  op.  cit.  p.  48  u.  49.  Freilich  spielen  in  derartigen  Fällen 
meistens  schlechtes  Gewissen  und  hypochondrische  Angst  vor  Impotenz  eine 
grosse  Rolle. 

v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  tj 


162  Paraesthesia  sexualis. 


a)  Der  Fetisch  ist  ein  Theil  des  weiblichen  Körpers. 

Wie  es  innerhalb  des  physiologischen  Fetischismus  besonders 
das  Auge,  die  Hand,  der  Fuss  und  das  Haar  des  Weibes  sind, 
welche  besonders  häufig  zum  Fetisch  werden,  so  sind  es  auch  hier, 
auf  pathologischem  Gebiete,  meistens  dieselben  Körpertheile,  welche 
alleiniger  Gegenstand  des  sexuellen  Interesses  geworden  sind.  Die 
ausschliessliche  Concentration  des  Interesses  auf  diese  Theile,  neben 
denen  alles  Andere  am  Weibe  verblassen  und  der  sonstige  sexuelle 
Werth  des  Weibes  auf  Null  sinken  kann,  so  dass  statt  des  Coitus 
seltsame  Manipulationen  am  Fetisch  -  Gegenstande  zum  Ziele  der 
Begierde  werden  —  das  ist  es,  was  eben  diese  Fälle  zu  patholo- 
gischen macht. 

Beobachtung  71.  (Binet,  op.  cit.)  X.,  34  Jahre  alt,  Gymnasial- 
lehrer, hat  in  der  Kindheit  an  Convulsionen  gelitten.  Mit  10  Jahren  begann 
er  zu  onaniren,  unter  wollüstigen  Empfindungen,  die  sich  an  sehr  sonderbare 
Vorstellungen  knüpften.  Er  schwärmte  eigentlich  für  die  Augen  des  Weibes; 
da  er  aber  durchaus  sich  auf  irgend  eine  Art  den  Coitus  vorstellen  wollte  und 
in  sexualibus  gänzlich  unwissend  war,  so  kam  er  auf  die  Idee,  um  sich  so 
wenig  wie  möglich  von  den  Augen  zu  entfernen,  den  Sitz  der  weiblichen  Ge- 
schlechtsorgane in  die  Nasenlöcher  zu  verlegen.  Um  diese  Vorstellung  dreht 
sich  von  jetzt  ab  seine  sehr  lebhafte  sexuelle  Begierde.  Er  entwirft  Zeich- 
nungen, welche  correcte  griechische  Profile  von  Frauenköpfen  darstellen,  aber 
mit  so  weiten  Nasenlöchern,  dass  die  Immissio  penis  möglich  wird. 

Eines  Tages  sieht  er  im  Omnibus  ein  Mädchen ,  in  welchem  er  sein 
Ideal  zu  erkennen  glaubt.  Er  verfolgt  es  in  dessen  Wohnung,  hält  augen- 
blicklich um  dessen  Hand  an.  Hin  ausgewiesen,  dringt  er  immer  wieder  ein, 
bis  er  verhaftet  wird. 

X.  hat  niemals  geschlechtlichen  Umgang  gehabt. 

Sehr  zahlreich  sind  die  Handfetischisten.  Noch  nicht  eigent- 
lich pathologisch  ist  der  folgende  Fall.  Er  möge  als  ein  Ueber- 
gangsfall  hier  Platz  finden. 

Beobachtung  72.  B. ,  aus  neuropathischer  Familie,  sehr  sinnlich, 
geistig  intakt,  geräth  beim  Anblick  einer  jungen  schönen  Damenhand  jeweils 
in  Entzücken  und  verspürt  sexuelle  Erregung  bis  zur  Erection.  Küssen  und 
Drücken  der  Hand  ist  ihm  Seligkeit.  Solange  sie  mit  dem  Handschuh  bedeckt 
ist,  fühlt  er  sich  unglücklich.  Unter  dem  Vorwand,  wahrzusagen,  sucht  er  in 
den  Besitz  solcher  Hände  zu  gelangen.  Der  Fuss  ist  ihm  gleichgültig.  Sind 
-die  schönen  Hände  mit  Ringen  geziert,  so  erhöht  dies  seine  Lust.  Nur  die 
lebende,  nicht  die  nachgebildete  Hand  macht  ihm  diese  wollüstige  Erregung. 
Nur  wenn  er   durch   häufigen  Coitus  sexuell   erschöpft  ist,   verliert  die  Hand 


Fetischismus.  163 

ihren  sexuellen  Reiz.     Anfangs  störte  ihn  das  Erinnerungsbild  von  weiblichen 
Händen  selbst  in  der  Arbeit.     (Binet,  op.  cit.) 

Bin  et  berichtet,  dass  solche  Fälle  von  Schwärmerei  für  die 
Hand  des  Weibes  zahlreich  sind. 

Erinnern  wir  uns  an  dieser  Stelle,  dass  nach  Beob.  23  ein 
Mann  sich  aus  sadistischen  Regungen,  nach  Beob.  45  aus  maso- 
chistischen  für  die  Hand  des  Weibes  begeistern  kann.  Solche  Fälle 
sind  also  mehrdeutig. 

Damit  soll  aber  durchaus  nicht  gesagt  sein,  dass  sämmtliche 
oder  nur  die  meisten  Fälle  von  Handfetischismus  eine  sadistische 
oder  masochistische  Erklärung  zulassen  oder  ihrer  bedürfen. 

Der  folgende,  ausführlich  beobachtete,  interessante  Fall  lehrt, 
dass,  trotzdem  anfänglich  ein  sadistisches  oder  masochistisches  Ele- 
ment mit  im  Spiele  zu  sein  scheint  —  zur  Zeit  der  Reife  des  In- 
dividuums und  der  Ausbildung  der  Perversion,  diese  von  dergleichen 
Elementen  nichts  enthält.  Diese  könnten  allerdings  im  Laufe  der 
Zeit  wieder  weggefallen  sein;  aber  die  Annahme  der  Entstehung 
des  Fetischismus  aus  einer  zufälligen  Association  genügt  hier  voll- 
kommen. 

Beobachtung  73.  Fall  von  Handfetischismus,  mitgetheilt  von 
Albert  Moll.     P.  L.,  28  Jahr,  Kaufmann  in  Westfalen. 

Abgesehen  davon,  dass  der  Vater  des  Patienten  ein  auffallend  miss- 
gestimmter und  etwas  heftiger  Mann  ist,  lässt  sich  in  der  Familie  nichts  erb- 
lich Belastendes  nachweisen. 

Patient  war  in  der  Schule  nicht  sehr  fleissig;  er  war  niemals  im  Stande, 
seine  Aufmerksamkeit  längere  Zeit  auf  einen  Gegenstand  zu  concentriren;  hin- 
gegen hatte  er  von  Kindheit  an  grosse  Neigung  zur  Musik.  Sein  Tempera- 
ment war  von  jeher  etwas  nervös. 

Er  kam  im  August  1890  zu  mir  und  klagte  über  Kopf-  und  Unterleibs- 
schmerzen, die  einen  durchaus  neurasthenischen  Eindruck  machten.  Patient 
gibt  femer  an,  dass  er  sehr  energielos  sei. 

Ueber  sein  sexuelles  Leben  macht  Patient  erst  auf  genaue  dahin 
zielende  Fragen  folgende  Angaben.  Die  ersten  Anfänge  geschlechtlicher 
Erregungen  stellten  sich  bei  ihm,  soweit  ihm  in  Erinnerung  ist,  bereits  im 
7.  Lebensjahre  ein.  Si  pueri  eiusdem  fere  aetatis  mingentis  membrum  ad- 
spexit,  valde  libidinibus  excitatus  est.  L.  behauptet  mit  Sicherheit,*  dass  diese 
Aufregung  mit  deutlichen  Erectionen  verbunden  war.  Verführt  durch  einen 
anderen  Knaben ,  wurde  L.  im  Alter  von  7  oder  8  Jahren  zur  Onanie  veran- 
lasst. „Als  sehr  leicht  erregbare  Natur,"  sagt  L.,  „gab  ich  mich  sehr  häufig 
der  Onanie  bis  zum  18.  Lebensjahre  hin,  ohne  dass  mir  über  die  schädlichen 
Folgen  oder  überhaupt  über  die  Bedeutung  des  Vorganges  eine  klare  Vor- 
stellung gekommen  wäre."    Besonders  liebte  er  es,  cum  nonnullis  commilitoni- 


1(34  Paraesthesia  sexualis. 

bus  mutuam  masturbationem  tractare,  keineswegs  aber  war  es  ihm  gleichgültig, 
wer  der  andere  Knabe  war,  vielmehr  konnten  ihm  nur  wenige  Altersgenossen 
nach  dieser  Richtung  hin  genügen.  Auf  die  Frage,  was  ihn  besonders  ver- 
anlasste, diesen  oder  jenen  Knaben  vorzuziehen,  antwortete  L.,  dass  ihn  bei 
seinen  Schulkameraden  besonders  eine  weisse,  schön  geformte  Hand  ver- 
lockte, mit  ihnen  gegenseitige  Masturbation  zu  treiben.  L.  erinnert  sich  ferner 
daran,  dass  er  häufig  beim  Beginn  der  Turnstunde  sich  ganz  allein  auf  einem 
entfernt  stehenden  Barren  mit  Turnen  beschäftigte;  er  that  dies  in  der  Ab- 
sicht, ut  quam  maxime  excitaretur  idque  tantopere  assecutus  est,  ut  membro 
manu  non  tacto,  sine  ejaculatione  —  puerili  aetate  erat,  —  voluptatem  clare 
senserit.  Interessant  ist  noch  ein  Vorgang,  dessen  sich  der  Patient  aus  seiner 
früheren  Lebenszeit  erinnert.  Der  eine  Lieblingskamerad  N. ,  mit  dem  L. 
mutuelle  Masturbation  trieb,  machte  ihm  eines  Tages  folgenden  Vorschlag: 
ut  L.  membrum  N..i  apprehendere  conaretur,  er,  N. ,  wolle  sich  möglichst 
sträuben  und  den  L.  daran  zu  verhindern  suchen.  L.  ging  auf  den  Vorschlag 
ein.  Es  war  somit  die  Onanie  direct  mit  einem  Kampfe  der  beiden  Bethei- 
ligten verbunden,  wobei  N.  stets  besiegt  wurde1). 

Der  Kampf  endete  nämlich  regelmässig  damit,  ut  N.  tandem  coactus  sit 
membrum  masturbari.  L.  versichert  mir,  dass  diese  Art  der  Masturbation  ihm 
sowohl  wie  dem  N.  ein  ganz  besonders  grosses  Vergnügen  bereitet  hätte.  In 
dieser  Weise  setzte  nun  L.  bis  zum  18.  Lebensjahre  sehr  oft  die  Onanie  fort. 
Von  einem  Freunde  belehrt,  bemühte  er  sich  nun,  mit  allem  Aufwand  von 
Energie  gegen  seine  üble  Angewohnheit  anzukämpfen.  Es  gelang  ihm  dies 
auch  nach  und  nach  immer  mehr,  bis  er  endlich  nach  Ausführung  des  ersten 
Coitus  gänzlich  von  der  Onanie  abstand.  Dies  geschah  aber  erst  im  Alter 
von  21  '/a  Jahren.  Unbegreiflich  erscheint  es  jetzt  dem  Patienten,  und  es 
erfüllt  ihn  angeblich  mit  Ekel ,  dass  er  jemals  daxan  Gefallen  finden  konnte, 
mit  Knaben  Onanie  zu  treiben.  Keine  Macht  könnte  ihn  heute  dazu  bringen, 
eines  anderen  Mannes  Glied  zu  berühren,  dessen  Anblick  ihm  schon  unan- 
genehm ist.  Es  hat  sich  jede  Neigung  zu  Männern  verloren  und  Patient  fühlt 
sich  durchaus  zum  Weibe  hingezogen. 

Es  sei  aber  erwähnt,  dass,  trotzdem  L.  entschiedene  Neigung  zum  Weibe 
hat,  doch  eine  abnorme  Erscheinung  bei  ihm  besteht. 

Was  ihn  nämlich  bei  dem  weiblichen  Geschlechte  wesentlich  aufregt, 
ist  der  Anblick  einer  schönen  Hand;  bei  weitem  mehr  reizt  es  den  L., 
wenn  er  eine  weibliche  schöne  Hand  berührt,  quam  si  eandam  feminam  plane 
nudatam  adspiceret. 

Wie  weit  die  Vorliebe  des  L.  für  die  schöne  Hand  eines  weiblichen 
Wesens  geht,  erhellt  aus  folgendem  Vorgang. 

L.  kannte  eine  schöne  junge  Dame,  der  alle  Reize  zur  Verfügung  stan- 
den; aber  ihre  Hand  war  ziemlich  gross  und  hatte  keine  schöne  Form,  war 
vielleicht  auch  manchmal  nicht  so  rein,  wie  L.  beanspruchte.  Es  war  dem  L. 
infolgedessen  nicht  nur  unmöglich,  ein  tieferes  Interesse  für  die  Dame  zu 
fassen,   sondern  er  war  nicht  einmal  im  Stande,   die  Dame  zu  berühren.     L. 


*)  Also  eine  Art  von  rudimentärem  Sadismus  bei  L.  und  Masochismus 
bei  N.! 


Fetischismus.  165 

meint,  dass  es  im  Allgemeinen  nichts  Ekelhafteres  für  ihn  gebe,  als  unsaubere 
Fingernägel;  diese  allein  machten  es  ihm  unmöglich,  eine  sonst  noch  so  schöne 
Dame  zu  berühren.  Uebrigens  hat  L.  häufig  den  Coitus  in  früheren  Jahren 
dadurch  ersetzt,  ut  puellam  usque  ad  eiaculationem  effectam  membrum  suum 
manu  tractare  iusserit. 

Auf  die  Frage ,  was  ihn  an  der  Hand  des  Weibes  besonders  anziehe, 
insbesondere,  ob  er  in  ihr  das  Symbol  der  Macht  sehe,  und  ob  es  ihm  Genuss 
bereite,  von  dem  Weibe  eine  directe  Demüthigung  zu  erfahren,  antwortete 
Patient,  dass  nur  die  schöne  Form  der  Hand  ihn  reize,  dass  von  einem 
Weibe  gedemüthigt  zu  sein,  ihm  keinerlei  Befriedigung  gewähre  und  dass 
ihm  noch  niemals  ein  Gedanke  daran  gekommen  sei,  in  der  Hand  das  Symbol 
oder  das  Werkzeug  der  Macht  des  Weibes  zu  finden.  Die  Vorliebe  für  die 
Hand  des  Weibes  ist  auch  heute  noch  so  gross,  ut  majore  voluptate  afficiatur 
si  manus  feminae  membrum  tractat  quam  coitu  in  vaginam.  Dennoch  möchte 
Patient  diesen  lieber  ausführen,  weil  er  ihm  als  die  natürliche,  das  erstere 
aber  als  eine  krankhafte  Neigung  erscheint.  Die  Berührung  seines  Körpers 
durch  eine  schöne  weibliche  Hand  verursacht  dem  Patienten  sofort  Erection; 
er  meint,  dass  Küssen  und  andere  Berührungen  bei  weitem  nicht  so  starken 
Einfluss  ausüben. 

Patient  hat  nur  in  den  letzten  Jahren  öfter  den  Coitus  ausgeführt,  aber 
es  fiel  ihm  jedesmal  der  Entschluss  dazu  ausserordentlich  schwer. 

Auch  fand  er  in  dem  Coitus  nicht  die  volle  Befriedigung,  die  er  suchte. 
Wenn  sich  aber  L.  in  der  Nähe  eines  weiblichen  Wesens  befindet,  das  er  gern 
besitzen  möchte,  so  erhöht  sich  in  blossem  Ansehen  der  Betreffenden  zuweilen 
die  sexuelle  Aufregung  des  L.  in  dem  Grade,  dass  Ejaculation  erfolgt.  L. 
versichert  ausdrücklich,  dass  er  hierbei  absichtlich  sein  Glied  nicht  berühre  oder 
drücke;  die  unter  solchen  Umständen  erfolgende  Spermaentleerung  gewährt  dem 
L.  einen  bei  weitem  grösseren  Genuss,  als  der  wirklich  vollzogene  Beischlaf l). 

Die  Träume  des  Patienten  L.,  auf  den  ich  zurückkomme,  betreffen  nie- 
mals den  Beischlaf.  Wenn  er  des  Nachts  Pollutionen  hat,  so  kommen  sie  fast 
stets  in  Verbindung  mit  ganz  anderen  Gedanken  vor,  als  dies  bei  normalen 
Männern  der  Fall  ist.  Die  betreffenden  Träume  des  Patienten  sind  Recapitu- 
lationen  aus  seiner  Schulzeit.  In  dieser  hatte  nämlich  Patient,  abgesehen  von 
der  oben  erwähnten  mutu eilen  Onanie,  auch  dann  Samenerguss,  wenn  ihn  eine 
grosse  Aengstlichkeit  überfiel. 

Wenn  z.  B.  der  Lehrer  ein  Extemporale  dictirte  und  L.  beim  Ueber- 
setzen  nicht  zu  folgen  vermochte,  so  trat  öfter  Ejaculation  ein2).    Die  jetzigen. 


*)  Also  hochgradige  sexuelle  Hyperästhesie.    Vgl.  oben  Anm.  zu  p.  50. 

2)  Auch  dies  ist  sexuelle  Hyperästhesie.  Jede  beliebige  starke  Erregung 
versetzt  die  sexuelle  Sphäre  in  Aufruhr  (Binet's  „dynamogenie  generale). 
Dr.  Moll  theilt  diesbezüglich  noch  folgenden  Fall  mit: 

„Ein  ähnlicher  Vorgang  wird  mir  von  einem  27jährigen  Herrn  E.  mit- 
getheilt.  Derselbe,  ein  Kaufmann,  hatte  oft  in  der  Schule  und  auch  ausser- 
halb derselben  dann  Samenerguss  mit  Wollustgefühl,  wenn  ein  starkes  Angst- 
gefühl sich  seiner  bemächtigte.  Ausserdem  aber  übte  fast  jeder  sowohl  körper- 
liche wie  seelische  Schmerz  einen  ähnlichen  Einfluss  aus.  Der  Patient  E.  hat 
angeblich  normalen  Geschlechtstrieb,  leidet  aber  an  nervöser  Impotenz." 


\QQ  Paraesthesia  sexualis. 

in  der  Nacht  zeitweise  auftretenden  Pollutionen  sind  stets  nur  von  Träumen 
begleitet,  die  den  gleichen  oder  verwandten  Inhalt  haben,  wie  die  eben  er- 
wähnten Vorgänge  auf  der  Schule. 

Patient  hält  sich  in  Folge  seines  unnatürlichen  Fühlens  und  Empfin- 
dens für  unfähig,  ein  Weib  dauernd  zu  lieben. 

Eine  Behandlung  der  sexuellen  Perversion  des  Patienten  konnte  bisher 
nicht  stattfinden. 

Dieser  Fall  von  Handfetischismus  beruht  sicher  nicht  auf 
Masochismus  oder  Sadismus,  sondern  erklärt  sich  einfach  aus  früh 
getriebener  mutueller  Onanie.  Ebensowenig  liegt  hier  conträre 
Sexualempfindung  vor.  Bevor  der  Sexualtrieb  sich  seines  Objectes 
klar  bewusst  wurde,  ward  hier  die  Hand  des  Mitschülers  benutzt. 
Sobald  der  Trieb  zum  anderen  Geschlechte  deutlich  wird,  erscheint 
das  Interesse  für  die  Hand  auf  die  des  Weibes  übertragen. 

Es  mögen  so  bei  Handfetischisten ,  die  nach  B  i  n  e  t  ja  so 
zahlreich  sind,  noch  andere  Associationen  zum  gleichen  Resultat 
führen. 

An  die  Handfetischisten  würden  sich  naturgemäss  die  Fuss- 
fetischisten  anreihen.  Während  aber  an  die  Stelle  des  Handfeti- 
schismus nur  selten  der  zur  folgenden  Gruppe  des  Gegenstands- 
fetischismus gehörige  Handschuhfetischismus  tritt,  finden  wir  statt 
der  Schwärmerei  für  den  nackten  Fuss  des  Weibes  (wovon  sich 
nur  hie  und  da  Andeutungen  kaum  pathologischer  Art  finden),  den 
weitverbreiteten,  in  unzähligen  Fällen  vorkommenden  Schuh-  und 
Stiefelfetischismus.  Der  Grund  hierfür  ist  leicht  einzusehen.  Die 
Hand  des  Weibes  wird  vom  Knaben  meist  entblösst  gesehen,  der 
Fuss  bekleidet *).  So  knüpfen  sich  die  frühen  Associationen,  welche 
bei  Fetischisten  die  Richtung  der  Vita  sexualis  determiniren,  natur- 
gemäss an  die  nackte  Hand,  aber  an  den  bekleideten  Fuss. 

Der  Schuhfetischismus  fände  seinen  Platz  gleichfalls  in  der 
folgenden  Gruppe  der  Kleidungsfetischisten ;  er  ist  aber  seines  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  nachweisbar  masochistischen  Charakters 
wegen  grösstentheils  bereits  oben  (p.  122  u.  ff.)  dargestellt  worden. 

Neben  Auge,  Hand  und  Fuss  spielen  auch  oft  Mund  und  Ohr 
die  Rolle   des  Fetisch.     Solche  Fälle    erwähnt   u.  A.  Moll  op.  cit. 


*)  Dies  gilt  wenigstens  für  das  Leben  in  der  Stadt.  Zwei  Fälle,  in  welchen 
der  nackte  Fuss  des  Weibes  Fetisch  war,  habe  ich  in  Jahrbücher  f.  Psychiatrie 
XII.  1  mitgetheilt.  Im  ersten  Fall  übertrug  sich  der  Fetisch,  nachdem  der 
Betreffende  conträr  sexual  geworden  war,  auch  auf  das  eigene  Geschlecht. 


Fetischismus.  1(57 

(Vgl.  auch  Belot's  Roman:  La  bouche  de  Madame  X.,  der  nach  B.'s 
Angabe  auf  einer  directen  Beobachtung  beruht.) 

Aus  meiner  eigenen  Beobachtung  stammt  der  folgende  merk- 
würdige Fall. 

Beobachtung  74.  Ein  sehr  belasteter  Herr  consultirte  mich  wegen 
ihn  fast  zur  Verzweiflung  treibender  Impotenz. 

Sein  Fetisch  waren,  so  lange  er  Junggeselle  war,  Weiber  von  üppigen 
Formen.  Er  heirathete  eine  Dame  von  entsprechender  Complexion,  war  mit 
ihr  ganz  potent  und  glücklich.  Nach  einigen  Monaten  erkrankte  die  Dame 
schwer  und  magerte  stark  ab.  Als  er  eines  Tages  wieder  seiner  ehelichen 
Pflicht  nachkommen  wollte,  war  er  gänzlich  impotent  und  blieb  es.  Versuchte 
er  dagegen  Coitus  mit  üppigen  Weibern,  so  war  er  völlig  potent. 

Selbst  Körperfehler  können  zum  Fetisch  werden. 

Beobachtung  75.  X. ,  28  Jahre ,  stammt  aus  schwer  belasteter 
Familie.  Er  ist  neurasthenisch ,  klagt  über  mangelndes  Selbstvertrauen  und 
häufige  Verstimmung  mit  Anwandlungen  zu  Suicidium,  deren  sich  zu  erwehren 
er  oft  Mühe  habe.  Bei  geringster  Widerwärtigkeit  sei  er  ganz  fassungslos 
und  verzweifelt.  Pat.  ist  Ingenieur  in  einer  Fabrik  in  Russisch-Polen,  von 
kräftigem  Körperbau,  ohne  Degenerationszeichen.  Er  klagt  über  eine  seltsame 
„Manie",  die  ihn  oft  daran  zweifeln  lasse,  ob  er  denn  ein  geistig  gesunder 
Mensch  sei.  Seit  dem  17.  Jahr  werde  er  ausschliesslich  sexuell  erregt  durch 
den  Anblick  von  weiblichen  Gebrechen,  ganz  speciell  von  Weibern,  die  hinken 
und  krumme  Füsse  haben.  Der  ursprünglichen  associativen  Verknüpfung 
seiner  Libido  mit  derartigen  weiblichen  Schönheitsfehlern  ist  sich  Pat.  in 
keiner  Weise  bewusst. 

Seit  der  Pubertät  sei  er  im  Bann  dieses  ihm  selbst  peinlichen  Fetischis- 
mus. Das  normale  Weib  habe  für  ihn  nicht  den  geringsten  Reiz,  nur  das 
krumme,  hinkende,  mit  Gebrechen  an  den  Füssen  behaftete.  Habe  ein  Weib 
ein  solches  Gebrechen,  so  übe  es  auf  ihn  einen  mächtigen  sinnlichen  Reiz, 
gleichgültig  ob  dieses  Weib  schön  oder  hässlich  sei. 

In  Pollutionsträumen  schweben  ihm  ausschliesslich  solche  hinkende 
Frauengestalten  vor.  Ab  und  zu  könne  er  dem  Antrieb  nicht  widerstehen, 
ein  solches  hinkendes  Weib  nachzuahmen.  In  dieser  Situation  bekomme  er 
heftigen  Orgasmus  und  eine  von  lebhaftem  Wollustgefühl  begleitete  Ejacula- 
tion.  Pat.  versichert  sehr  libidinös  zu  sein  und  unter  der  Nichtbefriedigung 
seiner  Triebe  sehr  zu  leiden.  Gleichwohl  habe  er  erst  mit  22  Jahren  und 
seither  nur  etwa  5mal  coitirt.  Er  habe  dabei,  trotz  Potenz,  nicht  die  geringste 
Befriedigung  empfunden.  Wenn  er  das  Glück  hätte,  einmal  mit  einem  hinkenden 
Frauenzimmer  zu  coitiren,  würde  dies  gewiss  anders  sein.  Jedenfalls  könnte 
er  sich  nur  entschliessen,  eine  Hinkende  zu  heirathen. 

Seit  dem  20.  Jahr  bietet  Patient  auch  Kleidungsfetischismus.  Es  genügt 
ihm  oft,  weibliche  Strümpfe,  Schuhe,  Hosen  anzuziehen.  Er  kaufe  sich  ab  und 
zu  derlei  Kleidungsstücke,  ziehe  sie  heimlich  an,  werde  davon  wollüstig  erregt 
und   bekomme  Ejaculation.     Von  Weibern   bereits   getragene   Kleidungsstücke 


1(38  Paraesthesia  sexualis. 

haben  für  ihn  nicht  den  geringsten  Reiz.  Am  liebsten  würde  er  anlässlich 
sinnlicher  Erregungen  Weiberkleider  anziehen,  aber  er  hat  dies  aus  Furcht 
vor  Entdeckung  noch  nicht  zu  thun  gewagt. 

Seine  Vita  sexualis  beschränkt  sich  auf  die  erwähnten  Praktiken.  Pat. 
versichert  bestimmt  und  glaubhaft,  dass  er  nie  der  Masturbation  ergeben  war. 
In  neuerer  Zeit  ist  er,  unter  Zunahme  seiner  neurasthenischen  Beschwerden, 
sehr  von  Pollutionen  geplagt. 

Ein  Beispiel  ist  ferner :  Descartes,  welcher  (Traite  des  Passions 
CXXXVI)  selbt  Betrachtungen  über  das  Entstehen  seltsamer  Neigungen  aus 
Ideenassociationen  anstellte.  Er  fand  stets  Geschmack  an  schielenden  Frauen, 
weil  der  Gegenstand  seiner  ersten  Liebe  diesen  Fehler  hatte.    (Binet  op.  cit.) 

Lydston  (A  Lecture  on  sexual  perversion,  Chicago  1890)  berichtet  den 
Fall  eines  Mannes,  der  ein  Liebesverhältniss  mit  einem  Weibe  unterhielt,  dem 
ein  Unterschenkel  amputirt  worden  war.  Nach  der  Trennung  von  dieser  Person 
suchte  er  begierig  nach  anderen  Weibern  mit  dem  gleichen  Defect.  —  Ein 
negativer  Fetisch! 

Wenn  der  Theil  des  weiblichen  Körpers,  welcher  den  Fetisch 
bildet,  abtrennbar  ist ,  also  Haare ,  so  kann  es  zu  den  extravagan- 
testen Handlungen  kommen.  Eine  nicht  uninteressante  und  zudem 
forensisch  wichtige  Categorie  bilden  deshalb  die  Haarfetischisten. 
Während  solche  Bewunderer  des  Frauenhaars  in  physiologischer 
Breite  nicht  selten  sein  dürften  und  möglicherweise  verschiedene 
Sinne  (Auge,  Geruch,  Gehör  wegen  des  knisternden  Geräusches, 
jedenfalls  auch  Tastsinn,  ganz  analog  wie  bei  Sammt-  und  Seide- 
fetischisten  s.  unten)  hier  Erregungen  empfangen,  die  wollüstige 
Betonung  finden,  ist  auch  schon  eine  Reihe  ganz  gleichförmiger 
pathologischer  Fälle  zur  Beobachtung  gekommen,  in  denen  der  zum 
übermächtigen  Impuls  gewordene  Haarfetischismus  dergleichen  In- 
dividuen zu  Delicten  hinreisst.  Das  ist  die  Gruppe  der  Zopf- 
abschneider *). 

Beobachtung  76.  Ein  Zopfabschneider.  P.,  40  Jahre,  Kunstschlosser, 
ledig,  stammt  von  einem  Vater,  der  temporär  irrsinnig  war,  und  von  einer 
sehr  nervösen  Mutter.  Er  entwickelte  sich  gut,  war  intelligent,  aber  früh 
mit  Tics  und  Zwangsvorstellungen  behaftet  gewesen.    Er  hatte  nie  masturbirt, 


*)  Moll,  op.  cit.  p.  131  berichtet:  „Ein  Mann  X.  wird,  sobald  er  ein 
weibliches  Wesen  mit  einem  Zopf  erblickt,  sofort  hochgradig  sexuell  erregt; 
offenes  noch  so  schönes  Haar  vermag  diese  Wirkung  nicht  zu  erzielen." 

Es  ist  übrigens  natürlich  nicht  gerechtfertigt,  alle  Zopfabschneider  für 
Fetischisten  zu  halten,  da  in  seltenen  Fällen  derlei  auch  aus  Gewinnsucht  ge- 
schieht, resp.  der  geraubte  Zopf  Waare,  nicht  Fetisch  ist. 


Fetischismus.  ]  69 

liebte  platonisch,  trug  sich  öfters  mit  Heirathsplänen ,  coitirte  nur  selten  mit 
Freudenmädchen,  fühlte  sich  aber  vom  Verkehr  mit  solchen  nie  befriedigt, 
eher  angewidert.  Vor  etwa  3  Jahren  trafen  ihn  schwere  Schicksalsschläge 
(finanzieller  Ruin)  und  machte  er  überdies  eine  fieberhafte  Krankheit  mit 
Delir  durch.  Diese  Umstände  schädigten  schwer  das  Centralnervensystem  des 
erblich  Belasteten.  Am  Abend  des  28.  August  1889  wurde  P.  auf  dem  Tro- 
cadero  in  Paris  in  flagranti  verhaftet,  als  er  im  Gedränge  einem  jungen 
Mädchen  den  Zopf  abgeschnitten  hatte.  Man  verhaftete  ihn  mit  dem  Zopf 
in  der  Hand,  eine  Scheere  in  der  Tasche.  Er  entschuldigte  sich  mit  momen- 
taner Sinnesverwirrung,  unseliger  unbezwinglicher  Leidenschaft,  gab  zu,  dass 
er  schon  lOmal  Zöpfe  abgeschnitten  habe,  die  er  daheim  in  wonnigem  Ent- 
zücken verwahre. 

Bei  der  Haussuchung  fand  man  65  Zöpfe  und  Haarflechten,  sortirt  in 
Paketen  vor.  Schon  am  15.  December  1886  war  P.  unter  ähnlichen  Umständen 
einmal  verhaftet  gewesen,  aber  wegen  Mangel  an  Beweisen  freigelassen  worden. 

P.  gibt  an,  dass  er  seit  3  Jahren,  wenn  Abends  allein  im  Zimmer,  sich 
unwohl,  ängstlich,  erregt  und  schwindlig  fühlte  und  dann  vom  Drang  heim- 
gesucht wurde,  Frauenhaar  zu  betasten.  Als  er  gelegentlich  den  Zopf  eines 
jungen  Mädchens  wirklich  in  der  Hand  halten  konnte,  libidine  valde  excitatus 
est  neque  amplius  puella  tacta,  erectio  et  eiaculatio  evenit.  Heimgekehrt, 
schämte  er  sich  des  Vorfalls,  aber  der  Wunsch,  Zöpfe  zu  besitzen,  ungemein 
wollüstig  betont,  wurde  immer  mächtiger  in  ihm.  Er  wunderte  sich  sehr 
darüber,  da  er  doch  früher  beim  intimsten  Verkehr  mit  Weibern  nie  etwas 
derart  empfunden  hatte.  Eines  Abends  konnte  er  dem  Drang  nicht  wider- 
stehen, einem  Mädchen  den  Zopf  abzuschneiden.  Daheim,  mit  dem  Zopf  in 
der  Hand,  wiederholte  sich  der  wollüstige  Vorgang.  Es  zwang  ihn,  mit  dem 
Zopf  über  seinen  Körper  zu  fahren,  seine  Genitalien  darein  zu  wickeln.  End- 
lich ganz  erschöpft,  schämte  er  sich,  getraute  sich  während  einiger  Tage  gar 
nicht  auszugehen.  Nach  Monaten  der  Ruhe  trieb  es  ihn  wieder,  Frauenhaar, 
gleichgültig  wem  gehörig,  unter  die  Hände  zu  bekommen.  Gelangte  er  zum 
Ziel,  so  fühlte  er  sich  wie  besessen  von  einer  übernatürlichen  Gewalt,  ausser 
Stand,  seine  Beute  loszulassen.  Konnte  er  den  Gegenstand  seiner  Begierde 
nicht  erreichen,  so  wurde  er  tief  verstimmt,  eilte  heim,  wühlte  dann  in  seiner 
Collection  von  Zöpfen,  kämmte,  betastete  sie,  gerieth  dabei  in  mächtigen  Or- 
gasmus und  befriedigte  sich  durch  Masturbation.  Zöpfe  in  den  Auslegekästen 
der  Friseure  Hessen  ihn  ganz  kalt.  Es  mussten  vom  Kopf  einer  Frauensperson 
herabhängende  Zöpfe  sein. 

Auf  der  Höhe  seiner  Zopfattentate  will  er  jeweils  in  solcher  Erregung 
gewesen  sein,  dass  er  nur  unvollkommen  Apperception  und  demgemäss  Er- 
innerung hatte  von  dem,  was  um  ihn  her  vorging.  Sobald  er  mit  der  Scheere 
den  Zopf  berührte,  kam  es  zur  Erection  und  im  Moment  des  Abschneidens 
zur  Ejaculation. 

Seit  seinen  Schicksalsschlägen  vor  etwa  3  Jahren  will  er  gedächtniss- 
schwach, geistig  rasch  erschöpft,  von  Schlaflosigkeit  und  nächtlichem  Auf- 
schrecken heimgesucht  sein.     P.  bereut  tief  seine  Streiche. 

Man  fand  bei  ihm  nicht  bloss  Zöpfe  vor,  sondern  auch  eine  Menge  von 
Haarnadeln,  Bänder  und  andere  weibliche  Toilettegegenstände,  die  er  sich 
hatte  schenken  lassen.     Er  hatte  von  jeher  eine  wahre  Manie  gehabt,   derlei 


170  Paraesthesia  sexualis. 

zu  sammeln,  nicht  minder  Zeitungen,  Holzstiickchen  und  anderen  ganz  werth- 
losen  Kram,  von  dem  er  nie  hatte  lassen  wollen.  Auch  hatte  er  eine  sonder- 
bare, ihm  ganz  unerklärliche  Scheu,  eine  gewisse  Strasse  zu  passiren;  machte 
er  einmal  den  Versuch  dazu,  so  wurde  ihm  ganz  unwohl. 

Das  Gutachten  erwies  den  Hereditarier,  den  zwangsmässigen,  impulsiven, 
entschieden  unfreien  Charakter  der  inkriminirten  Akte,  welche  die  Bedeutung 
einer  Zwangshandlung,  hervorgerufen  durch  eine  mit  abnormen  sexuellen  Ge- 
fühlen übermächtig  betonte  Zwangsvorstellung,  haben.  Freispruch.  Irrenhaus. 
(Voisin,  Socquet,Motet,  Annales  d'hygiene,  1890,  April.) 

Im  Anschluss  an  diesen  Fall  verdient  auch  der  folgende,  ähn- 
liche alle  Beachtung,  da  er  gut  beobachtet,  geradezu  klassisch  zu 
nennen*  ist  und  den  Fetisch ,  sowie  die  ursprüngliche  associative 
Weckung  der  bezüglichen  Vorstellung  in  ein  helles  Licht  stellt. 

Beobachtung  77.  Ein  Zopfabschneider.  E.,  25  Jahre.  Mutter- 
schwester epileptisch,  Bruder  litt  an  Convulsionen.  E.  will  als  Kind  gesund 
gewesen  sein  und  ziemlich  gut  gelernt  haben.  Mit  15  Jahren  empfand  er  zum 
erstenmal  beim  Anblick  einer  sich  kämmenden  Dorfschönen  ein  wollüstiges 
Gefühl  mit  Erection.  Bis  dahin  hatten  Personen  des  anderen  Geschlechts 
keinen  Eindruck  auf  ihn  gemacht.  2  Monate  später,  in  Paris,  erregte  ihn 
jedesmal  mächtig  der  Anblick  der  über  den  Nacken  herabflatternden  Haare 
junger  Mädchen.  Eines  Tages  konnte  er  sich  nicht  enthalten,  bei  solcher  Ge- 
legenheit den  Zopf  eines  jungen  Mädchens  zwischen  den  Fingern  zu  drehen. 
Er  wurde  deshalb  verhaftet  und  zu  3  Monaten  verurtheilt. 

Darauf  diente  er  5  Jahre  als  Soldat.  Zöpfe  waren  ihm  während  dieser 
Zeit  nicht  gefährlich,  aber  auch  wenig  zugänglich,  jedoch  träumte  ihm  zu- 
weilen von  Frauenköpfen  mit  Zopf  oder  aufgelöstem  Haar.  Gelegentlich  Coitus 
mit  Frauenzimmern,  jedoch  ohne  dass  deren  Haar  als  Fetisch  wirkte. 

Wieder  in  Paris,  träumt  er  in  obiger  Weise  neuerlich  und  wird  von 
Frauenhaar  wieder  sehr  erregt. 

Niemals  träumt  er  von  der  ganzen  Gestalt  eines  Weibes,  nur  von 
Köpfen  mit  Zöpfen. 

Seine  sexuelle  Erregung  durch  solchen  Fetisch  war  in  letzter  Zeit  so 
mächtig  geworden,  dass  er  sich  mit  Masturbation  half. 

Die  Idee,  Frauenhaar  zu  betasten  oder  noch  besser,  Zöpfe  zu  be- 
sitzen, um  während  deren  Betastung  masturbiren  zu  können,  wurde  immer 
mächtiger. 

Wenn  er  Frauenhaar  unter  den  Fingern  hatte ,  kam  es  neuerlich  zur 
Ejaculation.  Eines  Tages  war  es  ihm  gelungen,  bereits  3  Zöpfe  von  kleinen 
Mädchen  auf  der  Strasse  etwa  25  cm  lang  abzuschneiden  und  in  seinen  Besitz 
zu  bringen,  als  er  beim  Versuch  an  einem  vierten  verhaftet  wurde.  Tiefe 
Reue  und  Scham.  Keine  Verurth eilung.  Seit  geraumer  Zeit  in  der  Irren- 
anstalt, ist  er  so  weit  gekommen,  dass  ihn  die  Zöpfe  der  Weiber  nicht  mehr 
aufregen.  Freigelassen,  gedenkt  er  in  seine  Heimath  zu  gehen,  wo  die  Weiber 
ihr  Haar  aufgebunden  zu  tragen  pflegen.  (Magnan,  Archives  de  l'anthropo- 
logie  criminelle,  5.  Bd.,  Nr.  28.) 


Fetischismus.  171 

Ein  dritter  Fall  ist  der  folgende,  der  ebenfalls  geeignet  ist, 
das  Psychopathische  solcher  Erscheinungen  zu  illustriren,  und  an 
welchem  namentlich  der  merkwürdig  vermittelte  Ausgang  in  Hei- 
lung beachtenswerth  ist. 

Beobachtung  78.  Zopffetischismus.  Herr  X.,  Mitte  der 
Dreissiger,  aus  höherer  Gesellschaftsklasse,  ledig,  aus  angeblich  nicht  belasteter 
Familie,  jedoch  von  Kindsbeinen  auf  nervös,  unstet,  eigenartig,  will  seit  etwa 
dem  8.  Jahr  sich  mächtig  durch  Frauenhaar  angezogen  gefühlt  haben.  Ganz 
besonders  war  dies  Seitens  junger  Mädchen  der  Fall.  Als  er  9  Jahre  alt  war, 
tflieb  ein  13  Jahre  altes  Mädchen  mit  ihm  Unzucht.  Er  hatte  kein  Verständ- 
niss  dafür  und  blieb  dabei  ganz  unerregt.  Auch  die  12jährige  Schwester 
dieses  Mädchens  machte  sich  mit  ihm  zu  schaffen,  küsste  ihn  ab,  presste  ihn 
an  sich.  Er  Hess  sich  das  ruhig  gefallen,  weil  das  Haar  dieses  Mädchens  ihm 
so  gut  gefiel.  Etwa  10  Jahre  alt,  begann  er  wollüstige  Empfindungen  beim 
Anblick  von  ihm  zusagendem  Frauenhaar  zu  verspüren.  Allmählich  kamen 
jene  auch  spontan,  und  sofort  gesellten  sich  Erinnerungsbilder  von  Mädchen- 
haar hinzu.  Im  11.  Jahr  wurde  er  von  Mitschülern  zur  Masturbation  verführt. 
Die  associative  Knüpfung  sexueller  Gefühle  und  einer  fetischistischen  Vorstel- 
lung war  damals  schon  festgeschlossen  und  trat  jeweils  hervor,  wenn  Pat.  mit 
seinen  Kameraden  Unzucht  trieb.  Mit  den  Jahren  wurde  der  Fetisch  immer 
mächtiger.  Selbst  falsche  Zöpfe  begannen  ihn  zu  erregen,  jedoch  waren  ihm 
lebende  immer  lieber.  Wenn  er  solche  berühren  oder  gar  küssen  konnte,  war 
er  ganz  selig.  Er  verfasste  Aufsätze  und  machte  Gedichte  über  die  Schönheit 
des  Frauenhaars,  zeichnete  Zöpfe  und  masturbirte  dazu.  Vom  14.  Jahr  wurde 
er  von  seinem  Fetisch  so  mächtig  erregt,  dass  er  heftige  Erectionen  bekam. 
Entgegen  seinem  früheren  Geschmack  als  Knabe  reizten  ihn  nur  mehr  Zöpfe, 
ganz  besonders  üppige,  schwarze,  dicht  geflochtene.  Er  empfand  lebhaften 
Drang,  solche  Zöpfe  zu  küssen,  resp.  an  ihnen  zu  saugen.  Das  Betasten  solchen 
Haares  machte  ihm  wenig  Befriedigung,  viel  mehr  der  Anblick,  namentlich 
aber  das  Küssen  und  Saugen. 

War  ihm  dies  unmöglich,  so  war  er  unglücklich  bis  zu  Taedium  vitae. 
Er  versuchte  sich  dann  schadlos  zu  halten,  indem  er  sich  phantastisch  „Haar- 
abenteuer"  ausmalte  und  dazu  masturbirte. 

Nicht  selten,  auf  der  Strasse  und  im  Gedränge,  konnte  er  sich  nicht 
zurückhalten,  Damen  einen  Kuss  auf  den  Kopf  zu  drücken.  Er  eilte  dann 
heim,  um  zu  masturbiren.  Zuweilen  konnte  er  jenem  Impuls  Widerstand 
leisten,  aber  er*  musste  unter  lebhaften  Angstgefühlen  schleunigst  die  Flucht 
ergreifen,  um  aus  dem  Bannkreis  seines  Fetisch  zu  gelangen.  Nur  einmal  im 
Gedränge  trieb  es  ihn ,  einem  Mädchen  den  Zopf  abzuschneiden.  Er  hatte 
dabei  heftige  Angst,  reussirte  nicht  mit  seinem  Taschenmesser  und  entging 
mit  Mühe  durch  die  Flucht  der  Gefahr,  erwischt  zu  werden. 

Erwachsen,  versuchte  er  durch  Coitus  mit  Puellis  sich  zu  befriedigen. 
Er  gelangte  zu  mächtiger  Erection  durch  Küssen  der  Zöpfe,  brachte  es  aber 
zu  keiner  Ejaculation.  Deshalb  war  er  vom  Coitus  unbefriedigt.  Gleichwohl 
war  seine  liebste  Vorstellung  Coitus  mit  Haarküssen.  Dieses  allein  genügte 
ihm  nicht,  da  er  dadurch  auch  nicht  zur  Ejaculation  gelangte.    Faute  de  mieux 


172  /  Paraesthesia  sexualis. 

stahl  er  einmal  einer  Dame  ihr  ausgekämmtes  Haar,  steckte  es  in  den  Mund 
und  masturbirte  dazu,  indem  er  sich  die  Eigenthümerin  vorstellte.  Im  Dunkeln 
hatte  er  kein  Interesse  am  Weib,  weil  er  dessen  Zöpfe  nicht  sah.  Auch  auf- 
gelöstes Kopfhaar  hatte  für  ihn  keinen  Reiz,  ebensowenig  Schamhaare.  Seine 
erotischen  Träume  drehten  sich  nur  um  Zöpfe.  In  der  letzten  Zeit  war  Pat. 
sexuell  so  erregt  geworden,  dass  er  in  eine  Art  Satyriasis  gerieth.  Er  wurde 
unfähig  zum  Beruf,  fühlte  sich  so  unglücklich,  dass  er  sich  in  Alkohol  zu 
betäuben  suchte.  Er  consumirte  sehr  grosse  Mengen,  bekam  ein  Alkoholdelir, 
einen  Anfall  von  Alkoholepilepsie,  wurde  spitalsbedürftig.  Nach  Beseitigung 
der  Intoxication  schwand  ziemlich  rasch  die  sexuelle  Erregung  unter  geeigneter 
Behandlung,  und  als  Pat.  entlassen  wurde,  war  er  von  seiner  nur  noch  in 
Träumen  ab  und  zu  sich  geltend  machenden  Fetischvorstellung  befreit.  • 
Der  körperliche  Befund  ergab  normale  Genitalien,  wie  überhaupt  keine 
Degenerationszeichen. 

Derartige  Fälle  von  Zopffetischismus,  der  zu  Attentaten  auf 
Frauenzöpfe  führt,  scheinen  von  Zeit  zu  Zeit  allerorten  vorzukommen. 
Im  November  1890  wurden  nach  amerikanischen  Zeitungsberichten 
ganze  Städte  in  den  Ver.  Staaten  durch  einen  solchen  Zopfabschneider 
beunruhigt. 


b)  Der  Fetisch  ist  ein  Stück  der  weiblichen  Kleidung. 

Wie  gross  die  Bedeutung  ist,  die  weiblicher  Schmuck,  Putz 
und  Kleidung  auch  für  die  normale  Vita  sexualis  des  Mannes  haben, 
ist  allgemein  bekannt.  Cultur  und  Mode  haben  hier  dem  Weibe 
gewissermassen  künstliche  Geschlechtscharaktere  angeschaffen,  deren 
Wegfall,  wenn  das  Weib  unbekleidet  in  Betracht  kommt,  trotz  der 
normalen  sinnlichen  Wirkung  dieses  Anblicks,  als  Verlust,  als  be- 
fremdend wirken  kann1).  Es  darf  hierbei  auch  nicht  übersehen 
werden,  dass  die  Kleidung  des  Weibes  häufig  die  Tendenz  zeigt, 
bestimmte  Geschlechtseigenthümlichkeiten ,  secundäre  Geschlechts- 
charaktere (Busen,  Taille,  Hüften)  hervorzuheben  und  zu  outriren. 

Bei  den  meisten  Individuen  erwacht  der  Geschlechtstrieb  lange 
vor  der  Möglichkeit  und  Gelegenheit  intimen  Verkehrs,  und  die 
frühen  Begierden  der  Jugend  beschäftigen  sich  mit  dem  gewohnten 
Bilde  der  bekleideten  weiblichen  Gestalt.  So  kommt  es,  dass  nicht 
selten  im  Beginn  der  Vita  sexualis  die  Vorstellung  des  geschlecht- 
lich Reizenden  und  weiblicher  Kleidung  sich  associiren.    Diese  Asso- 


J)  Vergl.  Goethe's  Bemerkungen  zu  seinem  Abenteuer  in  Genf  (Briefe 
aus  der  Schweiz,  1.  Abtheil.,  Schluss). 


Fetischismus.  173 

ciation  kann  namentlich  dann  eine  unlösbare  werden  —  das  be- 
kleidete Weib  dem  nackten  dauernd  vorgezogen  werden  — ,  wenn 
die  betreffenden  Individuen,  unter  der  Herrschaft  anderer  Perver- 
sionefc  stehend,  überhaupt  nicht  zu  einer  normalen  Vita  sexualis 
und  zur  Befriedigung  durch  natürliche  Reize  gelangen. 

Bei  psychopathischen,  sexuell  hyperästhetischen  Individuen 
kommt  es  in  Folge  dessen  wirklich  vor,  dass  das  bekleidete  Weib 
bleibend  dem  nackten  Körper  vorgezogen  wird.  Erinnern  wir  uns, 
dass  in  Beob.  47  das  Weib  die  letzte  Hülle  nicht  fallen  lassen  darf, 
dass  Beob.  49,  equus  eroticus,  das  bekleidete  Weib  vorzieht.  Auch 
weiter  unten  findet  sich  eine  gleiche  Aeusserung  eines  conträr 
Sexualen. 

Dr.  Moll  (op.  cit.  2.  Aufl.)  erwähnt  einen  Patienten,  der  den 
Coitus  mit  puella  nuda  nicht  ausführen  konnte;  das  Weib  musste 
wenigstens  mit  einem  Hemd  bekleidet  sein;  p.  166  führt  derselbe 
Autor  einen  conträr  Sexualen  an,  der  demselben  Kleidungs- 
fetischismus unterworfen  ist. 

Der  Grund  dieser  Erscheinung  ist  offenbar  in  der  Gedanken- 
onanie solcher  Individuen  zu  suchen.  Sie  haben  beim  Anblick  un- 
zähliger bekleideter  Gestalten  Begierden  empfunden,  bevor  sie  sich 
der  Nacktheit  gegenüber  sahen  1). 

Eine  zweite,  ausgesprochenere  Form  des  Kleidungsfetischismus 
besteht  darin,  dass  nicht  überhaupt  das  bekleidete  Weib  vorgezogen 
wird,  sondern  dass  eine  bestimmte  Art  der  Kleidung  zum  Fetisch 
wird.  Es  ist  begreiflich,  dass  ein  starker  und  namentlich  ein  früher 
sexueller  Eindruck ,  der  mit  der  Vorstellung  einer  bestimmten 
Kleidung  des  betreffenden  Weibes  verbunden  war,  bei  hyperästhe- 
tischen Individuen  ein  höchst  intensives  Interesse  an  diese  Kleidung 
knüpfen  kann. 

Hammond  (op.  cit.  p.  46)  berichtet  folgenden  aus  Roubaud 
„Tratte  de  l'impuissance",  Paris  1876,  citirten  Fall: 

Beobachtung  79.  X. ,  Sohn  eines  Generals ,  wurde  auf  dem  Lande 
aufgezogen.  Im  Alter  von  14  Jahren  wurde  er  von  einer  jungen  Dame  in  die 
Freuden  der  Liebe  eingeweiht.     Diese  Dame  war  eine  Blondine,  die  ihr  Haar 


*)  Etwas  dem  Objecte  nach  Aehnliches,  der  psychischen  Vermittlung 
nach  aber  ganz  Anderes,  ist  die  Thatsache,  dass  der  halbverhüllte  Körper  oft 
reizender  wirkt,  als  der  ganz  nackte.  Dies  beruht  auf  Contrastwirkungen  und 
Erwartungsaffecten,  welche  eine  allgemeine  Erscheinung  sind  und  nichts  Patho- 
logisches enthalten. 


174  Paraesthesia  sexualis. 

in  gewundenen  Locken  trug  und,  um  nicht  entdeckt  zu  werden,  mit  ihrem 
jungen  Liebhaber  nur  in  ihrer  gewöhnlichen  Kleidung  mit  Gamaschen,  Corset 
und  in  ihrem  Seidenkleide  geschlechtlich  verkehrte. 

Als  er  nach  Beendigung  seiner  Studien  zur  Garnison  gesandt  wurde 
und  hier  nun  seine  Freiheit  gemessen  wollte,  fand  er,  dass  sein  Sexualtrieb 
nur  unter  ganz  bestimmten  Bedingungen  angeregt  wurde.  So  konnte  eine 
Brünette  ihn  nicht  im  mindesten  reizen,  und  ein  Weib  im  Nachtcostüm  war 
im  Stande,  jede  Liebesbegeisterung  in  ihm  ganz  zu  ersticken.  Eine  Frau,  die 
seine  Begierden  wecken  sollte,  musste  eine  Blondine  sein,  mit  Gamaschen 
gehen,  ein  Corset  und  ein  seidenes  Kleid  tragen,  kurz,  ganz  so  gekleidet  sein, 
wie  die  Dame,  die  zuerst  in  ihm  den  Geschlechtstrieb  erregt  hatte.  Er  war 
immer  den  Bemühungen,  ihn  zu  verheirathen,  ausgewichen,  da  er  wusste,  dass 
er  seine  Gattenpflichten  gegen  ein  Weib  im  Schlafcostüme  nicht  werde  aus- 
üben können. 

Hammond  berichtet  noch  p.  42  einen  Fall,  wo  der  Coitus  maritalis 
nur  durch  bestimmtes  Costüm  erzielt  werden  konnte,  und  Dr.  Moll  op.  cit. 
erwähnt  mehrere  derartige  Fälle  bei  Hetero-  und  Homosexualen.  Als  ver- 
anlassende Ursache  ist  eine  frühe  Association  oft  nachzuweisen  und  stets  an- 
zunehmen. Nur  so  wird  es  erklärlich,  dass  auf  solche  Individuen  ein  be- 
stimmtes Costüm  unwiderstehlich  wirkt,  gleichgültig,  welche  Person  immer 
den  Fetisch  trägt.  So  wird  es  begreiflich,  dass,  wie  Coffignon  (op.  cit.)  er- 
zählt, Männer  in  Bordellen  darauf  bestehen,  dass  die  Weiber,  mit  denen  sie 
zu  thun  haben,  ein  bestimmtes  Costüm  als  Ballettänzerin,  Nonne  etc.  anlegen, 
und  dass  diese  Häuser  zu  solchen  Zwecken  mit  einer  ganzen  Maskengarderobe 
versehen  sind. 

Bin  et  (op.  cit.)  erzählt  den  Fall  eines  Richters,  der  ausschliesslich  in 
die  Italienerinnen,  die  als  Malermodelle  nach  Paris  kommen,  und  in  ihr  be- 
stimmtes Costüm  verliebt  war.  Die  veranlassende  Ursache  war  hier  nachweis- 
•  bar  ein  Eindruck  beim  Erwachen  des  Geschlechtstriebs. 

Eine  dritte  Form  des  Kleidungsfetischismus ,  die  einen  weit 
höheren  Grad  des  Pathologischen  darstellt,  ist  die  folgende,  bei 
weitem  am  häufigsten  zur  Beobachtung  ^kommende.  Sie  besteht 
darin,  dass  es  gar  nicht  mehr  das  Weib  selbst  ist,  welches,  wenn 
auch  bekleidet  oder  auf  eine  bestimmte  Art  gekleidet,  in  erster 
Linie  sexuell  reizend  wirkt,  sondern  dass  das  sexuelle  Interesse  so 
sehr  sich  auf  ein  bestimmtes  Stück  der  weiblichen  Kleidung  con- 
centrirt,  dass  die  lustbetonte  Vorstellung  dieses  Kleidungsstückes 
sich  gänzlich  von  der  Gesaramtvorstellung  des  Weibes  loslöst  und 
so  selbstständigen  Werth  gewinnt.  Dies  ist  das  eigentliche  Gebiet 
des  Kleidungsfetischismus,  wo  eine  unbelebte  Sache,  ein  isolirtes 
Stück  der  Kleidung  für  sich  allein  zur  Erregung  und  Befriedigung 
des  Geschlechtstriebes  benützt  und  verwendet  wird.  Diese  dritte 
Form   des  Kleidungsfetischismus  ist  auch  die  forensisch  wichtigste. 

In   einer   grossen  Zahl  von  Fällen   handelt   es   sich   hier   um 


Fetischismus.  175 

Stücke  weiblicher  Leibwäsche,  die  ja  durch  ihren  intimen  Charakter 
besonders  geeignet  sind,  solche  Associationen  an  sie  zu  knüpfen. 

Beobachtung  80.  K.,  45  Jahre  alt,  Schuhmacher,  angeblich  erblich 
nicht  belastet,  von  eigenthümlichem  Wesen,  geistig  wenig  begabt,  von  männ- 
lichem Habitus,  ohne  Degenerationszeichen,  sonst  tadellos  in  seinem  Benehmen, 
wurde  ertappt,  als  er  am  5.  Juli  1876  Abends  aus  einem  Versteck  gestohlene 
Frauenwäsche  abholte.  Es  fanden  sich  bei  ihm  etwa  300  Toilettegegenstände 
von  Frauen  vor,  darunter,  neben  Frauenhemden  und  Beinkleidern,  auch  Nacht- 
hauben, Strumpfbänder,  sogar  eine  weibliche  Puppe.  Als  er  verhaftet  wurde, 
hatte  er  gerade  ein  Frauenhemd  auf  dem  Leibe.  Schon  seit  13  Jahren  hatte 
er  seinem  Drang,  Frauenwäsche  zu  stehlen,  gefröhnt,  war,  das  erste  Mal  des- 
halb bestraft,  vorsichtig  geworden  und  hatte  in  der  Folge  mit  Raffinement 
und  Glück  gestohlen.  Wenn  dieser  Drang  über  ihn  kam,  sei  ihm  ängstlich, 
der  Kopf  ganz  schwer  geworden.  Er  habe  dann  nicht  widerstehen  können, 
koste  es,  was  es  wolle.  Es  sei  ihm  ganz  gleich  gewesen,  wem  er  die  Sachen 
wegnehme. 

Die  gestohlenen  Sachen  habe  er  Nachts  im  Bett  angezogen,  dabei  sich 
schöne  Weiber  vorgestellt  und  wollüstige  Gefühle  und  Samenabgang  verspürt. 

Dies  war  offenbar  das  Motiv  seiner  Diebstähle,  jedenfalls  hatte  er  nie 
eines  der  gestohlenen  Gegenstände  sich  entäussert,  vielmehr  dieselben  da  und 
dort  versteckt. 

Er  gab  an,  dass  er  in  früheren  Zeiten  mit  Weibern  normal  geschlecht- 
lich verkehrt  habe.  Onanie,  Päderastie  und  andere  sexuelle  Akte  stellte  er  in 
Abrede.  Mit  25  Jahren  will  er  verlobt  gewesen  sein,  jedoch  sei  diese  Ver- 
lobung ohne  seine  Schuld  zurückgegangen.  Das  Krankhafte  seines  Zustandes 
und  das  Unrechte  seiner  Handlungen  vermochte  er  nicht  einzusehen  (Passow, 
Vierteljahrsschrift  f.  ger.  Medic,  N.  F.  XXVIII,  p.  61.  Krauss,  Psychologie 
des  Verbrechens  1884,  p.  190). 

Einen  Fall  von  leidenschaftlichem  Interesse  für  einzelne  Stücke 
der  weiblichen  Kleidung  berichtet  Hammond  op.  cit.  p.  43.  Auch 
hier  besteht  des  Patienten  Genuss  darin,  selbst  ein  Corset  am  Leibe 
zu  tragen ,  ebenso  andere  weibliche  Kleidungsstücke  (ohne  Spuren 
von  conträrer  Sexualempfindung).  Der  Schmerz  bei  forcirtem 
Schnüren,  an  sich  selbst  und  an  Frauen  hervorgerufen,  ist  ihm  eine 
Freude:  sadistisch-masochistisches  Element. 

Ein  hierher  gehöriger  Fall  dürfte  auch  der  von  Diez  (Der 
Selbstmord  1838,  p.  24)  mitgetheilte  sein,  wo  ein  junger  Mensch 
dem  Drang  nicht  widerstehen  konnte,  Frauenwäsche  zu  zerreissen. 
Er  hatte  während  dieses  Zerreissens  regelmässig  Ejaculation. 

Eine  Verbindung  von  Fetischismus  mit  Zerstörungsdrang  gegen 
den  Fetisch  (gewissermassen  Sadismus  am  unbelebten  Object)  scheint 
mehrfach  vorzukommen.     Vgl.  unten  Beob.  91. 


176  Paraesthesia  sexualis. 

Ein  Kleidungsstück,  welches  zwar  nicht  eigentlich  intimen 
Charakter  hat,  -aber  durch  Stoff  und  Farbe  an  Leibwäsche  erinnern 
kann,  auch  wohl  durch  die  Stelle,  an  welcher  es  getragen  wird, 
sexuelle  Beziehungen  erhält,  ist  die  Schürze.  (Vgl.  auch  die  meto- 
nymische Verwendung  des  Wortes  „Schürze"  neben  „Unterrock" 
im  Sprachgebrauch:  „Jeder  Schürze  nachlaufen"  etc.)  Dies  bietet 
eine  Handhabe  zum  Verständniss  des  folgenden  Falles: 

Beobachtung  81.  C. ,  37  Jahre  alt,  aus  schwer  belasteter  Familie, 
von  plagiocephalem  Schädel,  geistig  schwach  begabt,  bemerkte  mit  15  Jahren 
eine  zum  Trocknen  aufgehängte  Schürze.  Er  band  sie  sich  um  und  onanirte 
hinter  einer  Hecke.  Seither  konnte  er  keine  Schürze  sehen,  ohne  den  Akt 
damit  zu  wiederholen.  Sah  er  Jemand,  gleichgültig  ob  Frau  oder  Mann,  mit 
einer  Schürze  angethan,  daherkommen,  so  musste  er  nachlaufen.  Um  ihn  von 
seinen  endlosen  Schürzendiebstählen  zu  befreien,  that  man  ihn  im  16.  Jahre 
zur  Marine.  Dort  gab  es  keine  Schürzen  und  vorläufig  Ruhe.  Mit  19  Jahren 
heimgekehrt,  musste  er  wieder  Schürzen  stehlen,  kam  dadurch  in  fatale  Ver- 
wicklungen, wurde  mehrmals  eingesperrt,  versuchte  durch  mehrjährigen  Auf- 
enthalt in  einem  Trappistenkloster  von  seinem  Gelüste  frei  zu  werden.  Aus- 
getreten, ging  es  ihm  wie  früher. 

Anlässlich  eines  neuen  Diebstahls  wurde  er  gerichtsärztlich  untersucht 
und  der  Irrenanstalt  übergeben.  Nie  stahl  er  etwas  Anderes  als  Schürzen. 
Es  war  ihm  ein  Genuss,  in  dem  Erinnerungsbild  der  ersten  gestohlenen  Schürze 
zu  schwelgen.  Seine  Träume  drehten  sich  um  Schüi-zen.  In  der  Folge  benutzte 
er  ihre  Erinnerungsbilder,  um  gelegentlich  Coitus  zu  Stande  zu  bringen,  oder 
auch  zu  masturbiren.    (Charcot-Magnan,  Arch.  de  Neurolog.  1882,  Nr.  12.) 

In  einem  dieser  Reihe  von  Beobachtungen  analogen  von  Lombroso 
(Amori  anomali  precoci  nei  pazzi.  Arch.  di  psich.  1883,  p.  17)  mitgetheilten 
Falle  bekam  ein  erblich  schwer  belasteter  Knabe  schon  im  4.  Jahre  Erection 
und  heftige  sexuelle  Erregung  beim  Anblick  weisser  Gegenstände,  namentlich 
Wäsche.  Berührung,  Zerknittern  von  solcher  machte  ihm  Wollust.  Mit  dem 
10.  Jahre  begann  er  Angesichts  weisser  gestärkter  Wäsche  zu  masturbiren.  Er 
scheint  mit  moralischem  Irresein  behaftet  gewesen  zu  sein  und  wurde  wegen 
Mordes  hingerichtet. 

Mit  eigenthümlichen  Umständen  combinirt  ist  der  folgende 
Fall  von  Unterrockfetischismus: 

Beobachtung  82.  Herr  Z.,  35  Jahre  alt,  Beamter,  stammt  als  einziges 
Kind  von  einer  nervösen  Mutter  und  gesundem  Vater  ab.  Er  war  von  Kindes- 
beinen an  „nervös",  erschien  bei  der  Consultation  auffällig  durch  neuropathi- 
sches  Auge,  zarten,  schmächtigen  Körper,  feine  Züge,  sehr  dünne  Stimme, 
spärlichen  Bartwuchs.  Bis  auf  Erscheinungen  leichter  Neurasthenie  ist  an 
Pat.  nichts  Krankhaftes  nachzuweisen.  Genitalien  normal,  desgleichen  die 
sexuellen  Functionen.  Pat.  will  nur  4 — 5mal ,  und  zwar  als  kleiner  Junge, 
masturbirt  haben. 


Fetischismus.  177 

Schon  mit  13  Jahren  wurde  Pat.  durch  den  Anblick  von  nassen 
Weiberkleidern  mächtig  sexuell  erregt,  während  solche  Kleider  in  trockenem 
Zustande  ihn  gar  nicht  erregten.  Sein  grösster  Genuss  war  es,  wenn  es  regnete, 
nach  durchnässten  Frauenzimmern  auszuschauen.  Traf  er  auf  ein  solches  und 
hatte  das  betreffende  Weib  zudem  ein  sympathisches  Gesicht,  so  hatte  er  in- 
tensive Wollustgefühle,  mächtige  Erection  und  fühlte  sich  zum  Coitus  ge- 
trieben. 

Gelüste,  sich  nasse  Weiberröcke  zu  verschaffen  oder  ein  Frauenzimmer 
mit  Wasser  zu  bespritzen,  will  er  nie  gehabt  haben.  Ueber  die  ursprüngliche 
Entstehung  seiner  Pica  vermochte  Pat.  keinen  Aufschluss  zu  geben. 

Es  ist  möglich,  dass  der  Geschlechtstrieb  in  diesem  Falle  beim  Anblick 
eines  Weibes  zum  ersten  Mal  aufgetaucht  ist,  welches  bei  Regenwetter  die 
nassen  Röcke  aufhob  und  Reize  sehen  liess.  Der  seines  Objektes  noch  nicht 
bewusste  dunkle  Trieb  wurde  dann  auf  die  nassen  Röcke  projicirt,  wie  in 
anderen  Fällen. 

Häufig  und  deshalb  forensisch  wichtig  sind  die  Liebhaber 
weiblicher  Taschentücher.  —  Zur  Häufigkeit  des  Taschen- 
tuchfetischismus mag  beitragen,  dass  das  Taschentuch  dasjenige 
Wäschestück  des  Weibes  ist,  welches  am  häufigsten  auch  im  nicht 
intimen  Verkehr  in  den  Anblick  und,  sammt  der  ihm  anhaftenden 
Körpertemperatur  und  specifischem  Gerüche,  durch  Zufall  in  die 
Hände  einer  anderen  Person  gerathen  kann.  Hierauf  mag  die 
Häufigkeit  früher  Association  von  wollüstigen  Empfindungen  mit 
der  Vorstellung  eines  Taschentuches,  die  auch  hier  wohl  immer 
anzunehmen  ist,  beruhen. 

Beobachtung  83.  Ein  bisher  unbescholtener,  32  Jahre  alter  lediger 
Bäckergehilfe  wurde  ertappt,  als  er  einer  Dame  ein  Taschentuch  stahl.  Er 
gestand  mit  aufrichtiger  Reue,  dass  er  bereits  80 — 90  derartige  Sacktücher 
entwendet  hatte.  Er  hatte  es  nur  auf  solche  abgesehen  und  zwar  ausschliess- 
lich bei  jüngeren  und  ihm  zusagenden  Frauenzimmern. 

Inculpat  bietet  in  seiner  äusseren  Erscheinung  nichts  Auffälliges.  Er 
kleidet  sich  sehr  gewählt,  zeigt  ein  eigenthümliches ,  theils  ängstlich  depres- 
sives, theils  unmännlich  devotes  Wesen  und  Benehmen,  das  sich  oft  bis  zu 
einem  larmoyanten  Ton  und  Thränen  steigert.  Auch  eine  unverkennbare  Un- 
behilflichkeit ,  Schwäche  in  der  Auffassung,  Trägheit  in  der  Orientirung  und 
Reflexion  gibt  er  zu  erkennen.  Eine  seiner  Schwestern  ist  epileptisch.  Er  lebt 
in  guten  Verhältnissen,  war  nie  schwer  krank,  entwickelte  sich  gut.  In  der 
Mittheilung  seiner  Lebensgeschichte  zeigt  er  Gedächtnissschwäche,  Unklarheit, 
auch  das  Rechnen  fällt  ihm  schwer,  obwohl  er  früher  gut  gelernt  hatte  und 
auffasste.  Sein  ängstliches,  unsicheres  Wesen  machte  den  Verdacht  der  Onanie 
rege.  Inculpat  gestand,  dass  er  seit  dem  19.  Jahr  diesem  Laster  in  excessiver 
Weise  ergeben  war. 

Seit  einigen  Jahren  hatte  er  in  Folge  seines  Lasters  an  Abgeschlagenheit, 
Mattigkeit ,  Zittern  der  Beine ,   Rückenschmerzen ,   Unlust  zur  Arbeit  gelitten, 
v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  12 


178  Paraesthesia  sexualis. 

Oeffcers  kam  auch  eine  traurig-ängstliche  Verstimmung  über  ihn,  in  welcher 
er  die  Leute  mied.  Von  den  Folgen  geschlechtlichen  Verkehrs  mit  Frauen- 
zimmern hatte  er  übertriebene,  abenteuerliche  Vorstellungen  und  konnte  sich 
nicht  zu  solchem  entschliessen.  In  letzter  Zeit  hatte  er  jedoch  an  Verehe- 
lichung gedacht. 

Mit  tiefer  Reue  und  in  schwachsinniger  Weise  gestand  nun  X.,  dass  er 
vor  V2  Janr  im  Menschengedränge  beim  Anblick  eines  jungen  hübschen  Mäd- 
chens sich  heftig  geschlechtlich  erregt  fühlte,  sich  an  dasselbe  drängen  musste 
und  den  Drang  empfand,  durch  Wegnahme  des  Taschentuchs  sich  für  eine 
ausgiebigere  Befriedigung  seiner  geschlechtlichen  Regung  zu  entschädigen. 

In  der  Folge  wurde  er,  sobald  er  ein  ihm  zusagendes  Frauenzimmer 
gewahr  wurde,  unter  heftiger  geschlechtlicher  Erregung,  Herzklopfen,  Erection 
und  Impetus  coeundi  vom  Drang  erfasst,  sich  an  die  betreffende  Person  zu 
drängen  und  ihr  —  faute  de  mieux  —  das  Taschentuch  zu  entwenden.  Ob- 
wohl ihn  keinen  Moment  das  Bewusstsein  seiner  strafbaren  Handlung  verliess, 
konnte  er  seinem  Drange  nicht  Widerstand  leisten.  Dabei  fühlte  er  Angst, 
die  theils  durch  den  zwangsmässigen  geschlechtlichen  Trieb ,  theils  durch  die 
Furcht  vor  Entdeckung  bedingt  war. 

Das  Gutachten  macht  mit  Recht  den  angeborenen  Schwachsinn,  den 
zerrüttenden  Einfluss  der  Onanie  geltend  und  führt  das  abnorme  Gelüste  auf 
einen  perversen  Geschlechtstrieb  zurück,  wobei  ein  interessanter  und  physio- 
logisch auch  gekannter  Connex  zwischen  Geruchs-  und  Geschlechtssinn  bestehe. 
Die  Unwiderstehlichkeit  des  krankhaften  Triebs  wurde  anerkannt.  X.  wurde 
nicht  bestraft  (Zippe,  Wiener  med.  Wochenschrift  1879,  Nr.  23). 

Der  Güte  des  Herrn  Landesgerichtsarztes  Prof.  Dr.  Fritsch 
in  Wien  verdanke  ich  weitere  Mittheilungen  über  diesen  Taschen- 
tuchfetischisten,  welcher  im  August  1890  neuerdings  verhaftet  wurde, 
als  er  gerade  einer  Dame  das  Taschentuch  aus  dem  Rocke  ziehen 
wollte. 

Bei  einer  Hausdurchsuchung  fand  man  446  Stück  Damentaschentücher 
vor.  Ueberdies  will  er  2  Bündel  solcher  Corpp.  delicti  verbrannt  haben.  Ferner 
ergab  sich  im  Laufe  der  Untersuchung,  dass  X.  schon  1883  wegen  Diebstahls 
von  27  Sacktüchern  mit  14  Tagen  Arrest  und  wegen  des  gleichen  Delicts  1886 
mit  3  Wochen  Arrest  bestraft  war. 

Ueber  seine  verwandtschaftlichen  Beziehungen  erfährt  man  nur,  dass 
sein  Vater  viel  an  Congestionen  litt  und  dass  eine  Tochter  seines  Bruders 
schwachsinnig  und  Constitutionen  neuropathisch  ist. 

X.  hatte  1879  geheirathet  und  ein  selbständiges  Geschäft  angefangen. 
1881  gerieth  er  in  Concurs.  Bald  darauf  begehrte  seine  Frau,  die  sich  mit 
ihm  nicht  vertragen  konnte  und  der  er  angeblich  seine  eheliche  Pflicht  nicht 
leistete  (von  X.  bestritten),  die  Ehescheidung.  Er  lebte  in  der  Folge  als  Bäcker- 
gehilfe im  Geschäfte  seines  Bruders. 

Seinen  unglücklichen  Drang  nach  Taschentüchern  von  Damen  beklagt 
er  tief,  aber  wenn  er  in  die  bezügliche  Situation  komme,  vermöge  er  sich 
leider  nicht  zu  beherrschen.     Er  verspüre  dabei  ein  Wonnegefühl  und  es  sei 


Fetischismus.  179 

ihm,  wie  wenn  jemand  ihn  dazu  dränge.  Zuweilen  vermöge  er  sich  zurück- 
zuhalten, aber  wenn  die  Dame  ihm  sympathisch  sei,  erliege  er  im  ersten  An- 
trieb. Er  sei  dabei  ganz  nass  von  Schweiss,  theils  aus  Angst  vor  Entdeckung, 
theils  in  Folge  des  Triebes  zur  Ausführung  der  That.  Schon  seit  den  Pubertäts- 
jahren will  er  sinnliche  Erregungen  beim  Anblick  von  Weibern  gehörigen 
Taschentüchern  empfunden  haben.  Der  näheren  Umstände,  unter  welchen 
diese  fetischistische  Association  sich  knüpfte,  vermag  er  sich  nicht  zu  erinnern. 
Die  sinnliche  Erregung  beim  Anblick  von  Damen  mit  aus  der  Tasche  hervor- 
stehendem Taschentuch  habe  sich  immer  mehr  gesteigert.  Wiederholt  sei  es 
dabei  zu  Erectionen  gekommen,  nie  aber  zu  Ejaculation. 

Vom  21.  Jahr  ab  will  er  einige  Male  Anwandlungen  zu  normaler  Ge- 
schlechtsbefriedigung gehabt  und  ohne  bestehende  Taschentuchvorstellungen 
anstandslos  coitirt  haben.  Mit  überhandnehmendem  Fetischismus  sei  die  An- 
eignung von  Taschentüchern  für  ihn  eine  viel  grössere  Befriedigung  geworden 
als  der  Coitus.  Die  Aneignung  eines  Taschentuchs  einer  sympathischen  Dame 
sei  ihm  soviel  werth  gewesen,  als  ob  er  mit  der  betreffenden  Dame  sexuell 
verkehrt  hätte.    Er  fühlte  dabei  wahren  Orgasmus. 

Konnte  er  nicht  in  den  Besitz  eines  begehrten  Taschentuches  gelangen, 
so  fühlte  er  quälende  Aufregung,  Zittern,  Schweiss  am  ganzen  Körper. 

Taschentücher  von  ihm  besonders  sympathischen  Frauen  bewahrte  er 
separat  auf,  weidete  sich  an  ihrem  Anblick  und  fühlte  dabei  grosses  Wohl- 
behagen. Auch  der  Geruch  derselben  machte  ihm  eine  wonnige  Empfindung, 
jedoch  behauptet  er,  es  sei  wesentlich  der  eigenthümliche  Wäschegeruch,  nicht 
der  etwaigen  Parfüms  gewesen,  der  ihn  sinnlich  erregte.  Masturbirt  will  er 
nur  höchst  selten  haben. 

Ausser  zeitweiligem  Kopfschmerz  und  Schwindel  klagt  X.  über  keine 
körperlichen  Beschwerden.  Er  bedauert  tief  sein  Unglück,  seinen  krankhaften 
Trieb,  den  bösen  Dämon,  der  ihn  zu  solchen  strafbaren  Handlungen  antreibe. 
Er  habe  nur  einen  Wunsch,  dass  ihm  Jemand  helfen  könnte.  Objectiv  finden 
sich  leicht  neurasthenische  Erscheinungen,  Anomalien  der  Blutvertheilung,  un- 
gleiche Pupillen. 

Nachweis,  dass  X.  unter  krankhaftem,  unwiderstehlichem  Zwang  seine 
Delicte  begangen  hat.     Freisprechung. 

Solche  Fälle  von  Taschentuchfetischismus,  der  ein  abnormes 
Individuum  bis  zu  Diebstählen  fortreisst,  sind  sehr  zahlreich.  Sie 
kommen  auch  bei  conträr  Sexualen  vor,  wie  der  folgende  Fall  be- 
weist, den  ich  Herrn  Dr.  MolFs  hier  mehrfach  citirtem  Werke 
p.  162  entnehme  *). 


!)  Pag.  161  op.  cit.  sagt  Dr.  Moll  über  diesen  Trieb  bei  Heterosexualen: 
„Die  Leidenschaft  für  Taschentücher  kann  soweit  gehen,  dass  ein  Mann  voll- 
ständig im  Banne  des  Taschentuchs  steht.  Eine  weibliche  Person  sagte  mir: 
,Ich  kenne  einen  Herrn;  wenn  ich  ihn  in  der  Ferne  sehe,  so  brauche  ich  nur 
mein  Taschentuch  hervorzuziehen,  so  dass  es  aus  der  Tasche  etwas  heraus- 
guckt, und  ich  bin  sicher,  jener  Herr  folgt  mir  wie  ein  Hund   seinem  Herrn 


180  Paraesthesia  sexualis. 

Beobachtung  84.  Fall  von  Taschentuchfetischismus  bei  con- 
trärer  Sexualempfindung. 

K. ,  38  Jahre  alt,  Handwerker,  ein  kräftig  gebauter  Mann,  klagt  über 
zahlreiche  Beschwerden,  Schwäche  in  den  Beinen,  Rückenschmerzen,  Kopf- 
schmerz, Mangel  an  Arbeitslust  u.  s.  w.  Die  Klagen  machen  den  ausgesproche- 
nen Eindruck  von  Neurasthenie  mit  Neigung  zur  Hypochondrie.  Erst  mehrere 
Monate,  nachdem  Patient  in  meiner  Behandlung  gewesen,  gibt  er  an,  dass  er 
auch  sexuell  abnorm  sei. 

K.  hat  niemals  irgendwelchen  Trieb  zum  Weibe  gehabt;  schöne  Männer 
hingegen  übten  von  jeher  einen  ganz  besonderen  Reiz  auf  ihn  aus.  Patient 
hat  von  Jugend  auf  bis  zur  Zeit,  wo  er  zu  mir  kam,  viel  onanirt.  Mutuelle 
Onanie  oder  Päderastie  hat  K.  niemals  getrieben.  Er  glaubt  auch  nicht,  dass 
er  hierin  eine  Befriedigung  gefunden  hätte,  da  trotz  seiner  Vorliebe  für  Männer 
ein  weisses  Wäschestück  von  ihnen  den  Hauptreiz  auf  K.  ausübte,  wobei 
aber  die  Schönheit  des  Besitzers  eine  Rolle  spielte;  besonders  sind  es  Taschen- 
tücher von  schönen  Männern,  durch  die  K.  sexuell  erregt  wird.  Seine  höchste 
Wollust  besteht  darin,  dass  er  in  die  Taschentücher  von  Männern  masturbirt. 
Er  nahm  aus  diesem  Grunde  öfter  seinen  Freunden  Taschentücher;  um  sich 
vor  Entdeckung  der  Entwendung  zu  schützen,  liess  Patient  stets  eines  seiner 
eigenen  Taschentücher  bei  seinen  Freunden  zurück  als  Ersatz  des  jeweilig  ge- 
stohlenen. K.  wollte  auf  diese  Weise  dem  Verdacht  des  Diebstahls  entgehen 
und  den  Schein  einer  Verwechslung  erregen.  Auch  andere  Wäsche  von  Männern 
erregte  den  K.  sexuell,  aber  nicht  in  dem  Grade  wie  Taschentücher. 

Den  Coitus  mit  Weibern  hat  K.  öfter  ausgeführt,  wobei  er  Erection 
mit  Ejaculation  hatte,  aber  ohne  Wollustgefühl.  Auch  bestand  keinerlei  Reiz 
für  den  Patienten,  den  Beischlaf  auszuüben.  Die  Erection  und  Ejaculation 
traten  auch  nur  dann  auf,  wenn  Patient  während  des  Aktes  an  das  Taschen- 
tuch eines  Mannes  dachte ;  noch  leichter  war  dieser  dem  Patienten  dann  mög- 
lich, wenn  er  das  Taschentuch  eines  Freundes  mitnahm  und  es  während  des 
Beischlafs  in  der  Hand  hielt. 

Entsprechend  seiner  sexuellen  Perversion  verlaufen  auch  die  nächtlichen 
Pollutionen  unter  wollüstigen  Vorstellungen,  in  denen  Männerwäsche  eine 
Hauptrolle  spielt. 

Noch  weit  häufiger  als  die  Wäschefetischisten  sind  die  feti- 
schistischen Schwärmer  für  den  Schuh  des  Weibes.  Diese  Fälle 
sind  geradezu  zahllos  und  es  ist  eine  grosse  Zahl  derselben  auch 
schon  zur  wissenschaftlichen  Beobachtung  gelangt,  während  über 
den  ähnlichen  Handschuhfetischismus  mir  nur  einige  Mittheilungen 
aus  dritter  Hand  vorliegen  (über  den  Grund  der  relativen  Seltenheit 
des  Handschuhfetischismus  s.  oben  S.  166). 


Ich  kann  hingehen,  wohin  ich  will,  jener  Herr  wird  mir  immer  nachfolgen; 
der  Herr  kann  in  einer  Droschke  fahren,  er  kann  bei  der  Erledigung  eines 
sehr  wichtigen  Geschäftes  sein;  wenn  er  mein  Taschentuch  erblickt,  lässt-er 
jenes  im  Stich,  um  mir,  resp.  dem  Taschentuch  zu  folgen.'" 


Fetischismus.  181 

Beim  Schuh fetischismus  fehlt  aber  durchaus  die  nahe 
Beziehung  des  Gegenstandes  zum  Leibe  des  Weibes,  welche  den 
Wäschefetischismus  begreiflich  macht.  Aus  diesem  Grunde,  und 
weil  eine  ganze  Anzahl  gut  beobachteter  Fälle  vorliegt,  in  welchem 
die  fetischistische  Schwärmerei  für  den  Schuh  oder  Stiefel  des 
Weibes,  bewusster  und  unbezweifelbarer  Weise,  aus  einem  maso- 
chistischen  Vorstellungskreise  hervorwächst,  ist  wohl  die  Präsump- 
tion  gerechtfertigt,  dass  eine,  wenn  auch  verborgene  Wurzel  maso- 
chistischer  Natur  für  diesen  Schuhfetischismus  stets  anzunehmen  ist, 
wenn  eine  andere  Art  seiner  Entstehung  im  speciellen  Falle  nicht 
nachweisbar  ist. 

Aus  diesem  Grunde  wurde  die  grössere  Zahl  der  vorliegenden 
Beobachtungen  über  Schuh-  resp.  Fussfetischismus  oben  in  dem 
Abschnitt  „Masochismus"  aufgenommen.  Dort  wurde  auch  wohl 
der  regelmässig  masochistische  Charakter  dieser  Form  des  erotischen 
Fetischismus  zur  Genüge  durch  Aufzeigung  der  Uebergänge  dar- 
gethan. 

Diese  Präsumption  masochistischen  Charakters  wird  nur  dort 
für  den  Schuhfetischismus  entkräftet  und  aufgehoben,  wo  eine  nach- 
weisbare anderweitige  zufällige  Veranlassung  für  eine  Association 
zwischen  sexuellen  Regungen  und  der  Vorstellung  des  Frauenschuhes 
vorliegt,  dessen  Zustandekommen  a  priori  ja  ziemlich  unwahrschein- 
lich wäre. 

Ein  solcher  nachweisbarer  Zusammenhang  liegt  aber  bei  den 
beiden  folgenden  Beobachtungen  vor: 

Beobachtung  85.  Schuhfetischismus.  Herr  v.  P.,  aus  altadeligem 
Geschlecht,  Pole,  32  Jahr,  verheirathet,  consultirte  mich  1890  wegen  „Unnatür- 
lichkeit"  seiner  Vita  sexualis.  Er  versichert,  aus  ganz  gesunder  Familie  zu 
stamme«,  sei  übrigens  schon  von  Kindesbeinen  auf  nervös,  als  lljähriger  Junge 
an  Chorea  minor  leidend  gewesen.  Seit  10  Jahren  leide  er  viel  an  Schlaf- 
losigkeit und  verschiedenen  neurasthenischen  Beschwerden.  ^ 

Vom  15.  Jahr  ab  will  er  erst  den  Unterschied  der  Geschlechter  erkannt 
und  sexuelle  Regungen  gefühlt  haben.  17  Jahre  alt,  habe  ihn  eine  französische 
Gouvernante  verführt,  jedoch  Coitus  nicht  gestattet,  sodass  nur  gegenseitige 
mächtige  Erregung  der  Sinnlichkeit  (mutuelle  Masturbation)  möglich  war. 
Mitten  in  dieser  Situation  fiel  sein  Blick  auf  die  hocheleganten  Stiefeletten 
dieser  Person.  Sie  machten  mächtigen  Eindruck.  Sein  Verkehr  mit  dieser 
liederlichen  Person  dauerte  4  Monate.  Während  dieser  Attouchements  wurden 
ihre  Stiefeletten  zum  Fetisch  für  den  Unglücklichen.  Er  begann  sich  für 
Damenschuhe  überhaupt  zu  interessiren  und  lungerte  förmlich  herum,  um 
hübsch  chaussirter  Damen  ansichtig  zu  werden.  Der  Schuhfetisch  gewann  in 
seinem  Bewusstsein  enorme  Macht.     Sicuti  calceolus  mulieris  gallicae  penem 


182  Paraesthesia  sexualis. 

tetigit,  statiui  summa  cum  voluptate  sperma  eiaculavit.  Nach  der  Entfernung 
der  Verführerin  ging  er  zu  Puellis,  durch  die  er  die  gleiche  Manipulation 
vornehmen  Hess.  Gewöhnlich  genügte  diese  zur  Befriedigung.  Nur  selten  und 
subsidiär  griff  er  zum  Coitus.  Immer  mehr  schwand  ihm  die  Neigung  dazu. 
Seine  Vita  sexualis  bestand  in  Traumpollutionen,  bei  welchen  ausschliesslich 
Frauenschuhe  eine  Rolle  spielten,  und  in  Befriedigung  durch  Frauenschuhe, 
apposita  ad  mentulam,  aber  es  musste  dies  von  der  Puella  geschehen.  Sinnlich 
erregte  ihn  im  Verkehr  mit  dem  andern  Geschlecht  nur  der  Schuh  und  zwar 
der  elegante,  von  französischer  Facon,  mit  Absatz,  glänzend  schwarz,  wie  das 
Original. 

Accessorische  Bedingungen  sind  im  Laufe  der  Zeit  geworden:  Schuh 
einer  Prostituirten ,  dieselbe  recht  elegant,  chic,  mit  gesteiften  Unterröcken 
und  womöglich  schwarzen  Strümpfen. 

Sonst  interessirt  ihn  am  Weibe  gar  nichts.  Der  nackte  Fuss  ist 
ihm  ganz  gleichgiltig.  Auch  seelisch  hat  das  Weib  nicht  den  mindesten 
Reiz  für  ihn.  Masochistische  Gelüste  im  Sinne  des  Getreten- 
werdens hat  er  nie  gehabt.  Im  Lauf  der  Jahre  hat  sein  Fetischismus 
solche  Macht  gewonnen,  dass  wenn  er  auf  der  Strasse  einer  Dame  mit  gewissem 
Aeussern  und  gewissen  Schuhen  ansichtig  wird,  er  so  heftig  erregt  wird,  dass 
er  masturbiren  muss.  Ein  geringer  Druck  auf  den  Penis  genügt  dem  hoch- 
gradig neurasthenisch  Gewordenen  zur  Ejaculation.  Auch  Schuhe  in  den  Ver- 
kaufsauslagen, sogar  neuerlich  blosse  Schuhwaarenannoncen  genügten,  um  ihn 
heftig  zu  erregen.  Von  sehr  reger  Libido,  half  er  sich  mit  Masturbation, 
wenn  ihm  Schuhsituationen  nicht  zu  Gebot  standen.  Pat.  erkannte  früh  das 
Peinliche  und  Gefährliche  seiner  Situation  und  wenn  er  sich  auch  bis  auf 
neurasthenische  Beschwerden  physisch  wohl  fühlte,  so  war  er  doch  moralisch 
sehr  gedrückt.  Er  suchte  Hülfe  bei  den  verschiedensten  Aerzten.  Kaltwasser- 
heilanstalten und  Hypnoseversuche  waren  erfolglos.  Die  renommirtesten  Aerzte 
riethen  ihm  zur  Heirath  und  versicherten  ihm,  sobald  er  einmal  ein  Mädchen 
ernstlich  liebe,  werde  er  von  seinem  Fetischbann  befreit  sein.  Pat.  hatte  kein 
Vertrauen  in  seine  Zukunft,  befolgte  aber  den  Rath  der  Aerzte.  Er  wurde 
grausam  in  seinen  durch  die  Autorität  der  Aerzte  erweckten  Hoffnungen  be- 
trogen, obwohl  er  eine  durch  geistige  und  körperliche  Eigenschaften  aus- 
gezeichnete Dame  zum  Altar  führte.  Die  Brautnacht  war  schrecklich,  er  fühlte 
sich  wie  ein  Verbrecher  und  Hess  seine  Frau  unberührt.  Am  folgenden  Tag 
sah  er  eine  Prostituirte  mit  dem  gewissen  Chic.  Er  war  schwach  genug  mit 
ihr  in  seiner  Weise  zu  verkehren.  Nun  kaufte  er  ein  Paar  elegante  Damen- 
stiefeletten, versteckte  sie  im  Ehebett  und  indem  er  sie  während  der  ehelichen 
Umarmung  betastete,  konnte  er  nach  einigen  Tagen  seiner  ehelichen  Pflicht 
genügen.  Er  ejaculirte  tardiv,  da  er  sich  zum  Coitus^, zwingen  musste,  und 
schon  nach  wenig  Wochen  versagte  dieser  Kunstgriff,  indem  seine  Phantasie 
erlahmte.  P.  fühlte  sich  namenlos  elend  und  hätte  am  liebsten  seinem  Leben 
ein  Ende  gemacht.  Seine  Frau,  sinnlich  bedürftig  und  durch  den  bisherigen 
Verkehr  sehr  erregt,  konnte  er  nicht  mehr  befriedigen  und  sah  sie  physisch 
und  moralisch  schwer  leiden.  Sein  Geheimniss  konnte  und  wollte  er  ihr  nicht 
entdecken.  Er  empfand  Ekel  vor  dem  ehelichen  Umgang,  fürchtete  sich  vor 
seiner  Frau ,  vor  den  Abenden ,  dem  Alleinsein  mit  ihr.  Er  brachte  es  zu 
keiner  Erection  mehr. 


Fetischismus.  1 83 

Er  versuchte  es  wieder  mit  Prostituirten ,  befriedigte  sich ,  indem  er 
ihre  Schuhe  betastete,  dann  musste  die  Puella  calceolo  mentulam  tangere; 
er  ejaculirte  oder,  wenn  dies  nicht  geschah,  versuchte  er  Coitus  mit  dem 
feilen  Weibe,  jedoch  ohne  Erfolg,  da  dann  sofort  Ejaculation  eintrat.  Pat. 
kommt  ganz  verzweifelt  zur  Consultation.  Er  beklagt  es  tief,  entgegen  seiner 
inneren  Ueberzeugung ,  dem  unseligen  Rath  der  Aerzte  gefolgt  zu  sein,  eine 
brave  Frau  unglücklich  gemacht,  physisch  und  moralisch  geschädigt  zu  haben. 
Ob  er  es  vor  Gott  verantworten  könne,  eine  solche  Ehe  fortzusetzen?  Selbst 
wenn  er  sich  seiner  Frau  entdecke ,  sie  Alles  für  ihn  thun  würde ,  sei  ihm 
nicht  geholfen,  denn  es  müsste  eben  der  bewusste  Demimond eparfum  dabei  sein. 

Die  Erscheinung  dieses  Unglücklichen  bietet  ausser  seinem  Seelenschmerz 
nichts  Auffälliges.  Genitalien  ganz  normal.  Prostata  etwas  vergrössert.  Er 
klagt,  dass  er  so  unter  der  Herrschaft  seiner  Stiefelvorstellungen  sei,  dass  er 
schon  erröthe,  wenn  nur  von  Stiefeln  die  Rede  sei.  Seine  ganze  Phantasie 
drehe  sich  um  solche.  Wenn  er  auf  seinem  Landgut  sei,  müsse  er  oft  plötz- 
lich nach  der  10  Meilen  entfernten  Stadt  reisen,  um  seinen  Fetischismus  an 
Schauläden  oder  auch  an  Puellis  zu  befriedigen. 

Zu  einer  Behandlung  konnte  sich  der  Bedauernswerthe  nicht  ent- 
schliessen,  da  sein  Vertrauen  zum  ärztlichen  Stand  tief  erschüttert  war.  Ein 
Versuch,  ob  Hypnose  und  damit  eine  Beseitigung  der  fetischistischen  Associa- 
tion möglich  sei,  scheiterte  an  der  seelischen  Aufregung  des  Unglücklichen, 
den  ausschliesslich  der  Gedanke  beherrschte,  seine  Frau  unglücklich  gemacht 
zu  haben. 

Beobachtung  86.  X.,  24  Jahre,  aus  belasteter  Familie  (Mutterbruder 
und  Grossvater  irrsinnig,  Schwester  epileptisch,  andere  Schwester  an  Migräne 
leidend,  Eltern  von  erregbarem  Temperament),  hatte  in  der  Dentitionszeit 
einige  Krampfanfälle  gehabt,  wurde,  7  Jahre  alt,  von  einem  Dienstmädchen 
zur  Onanie  verleitet.  Zum  ersten  Mal  empfand  X.  ein  Vergnügen  an  diesen 
Manipulationen,  cum  illa  puella  fortuito  pede  calceolo  tecto 
penem  tetigit.  Damit  war  bei  dem  belasteten  Jungen  eine  bezügliche 
Association  gegeben,  vermöge  welcher  fortan  der  blosse  Anblick  eines  Frauen- 
schuhs, ja  schliesslich  die  blosse  Phantasievorstellung  genügte,  um  sexuelle 
Erregung  und  Erection  hervorzurufen.  Er  onanirte  nun,  Frauenschuhe  an- 
sehend oder  solche  sich  vorstellend.  In  der  Schule  erregten  ihn  mächtig  die 
Schuhe  der  Lehrerin,  überhaupt  solche,  die  theilweise  durch  lange  Frauen- 
kleider verhüllt  waren.  Eines  Tages  konnte  er  sich  nicht  enthalten,  die  Leh- 
rerin bei  den  Schuhen  zu  fassen,  was  ihm  eine  grosse  geschlechtliche  Erregung 
verursachte.  Trotz  Schlägen  konnte  er  nicht  umhin,  wiederholt  diese  Hand- 
lung auszuführen.  Endlich  erkannte  man,  dass  hier  ein  krankhaftes  Motiv 
im  Spiel  sein  müssi^und  that  ihn  zu  einem  Lehrer.  Er  schwelgte  nun  in  der 
Erinnerungsvorstellung  an  die  Schuhscene  mit  der  Lehrerin,  hatte  dabei  Erec- 
tion, Orgasmus  und  vom  14.  Jahr  ab  Ejaculation.  Daneben  masturbirte  er, 
während  er  an  einen  Frauenschuh  dachte.  Eines  Tages  kam  ihm  der  Ge- 
danke, seinen  Genuss  zu  erhöhen,  indem  er  einen  solchen  Schuh  zu  mastur- 
batorischen  Zwecken  benützte.  Er  nahm  nun  häufig  heimlich  Schuhe  und  be- 
nutzte sie  zu  solchem  Zweck. 

Sonst  konnte  ihn  am  Weibe   nichts   sexuell   erregen;   der  Gedanke  an 


184  Paraesthesia  sexualis. 

Coitus  erfüllte  ihn  mit  Abscheu.  Auch  Männer  interessirten  ihn  in  keiner 
"Weise. 

Mit  18  Jahren  eröffnete  er  einen  Kramladen  und  handelte  u.  A.  auch 
mit  Frauenschuhen.  Es  erregte  ihn  geschlechtlich,  indem  er  Käuferinnen  Schuhe 
anpassen  oder  mit-  den  von  ihnen  benutzten  Schuhen  manipuliren  konnte. 
Eines  Tages  erlitt  er  dabei  einen  epileptischen  Anfall  und  bald  darauf  einen 
zweiten,  als  er  in  gewohnter  Weise  onanirte.  Jetzt  erst  erkannte  er  die  Ge- 
sundheitsschädlichkeit seiner  sexuellen  Praktiken.  Er  bekämpfte  seine  Onanie, 
verkaufte  keine  Schuhe  mehr  und  bemühte  sich,  die  krankhafte  Association 
zwischen  Frauenschuhen  und  Geschlechtsfunction  los  zu  werden.  Nun  traten 
aber  massenhaft  Pollutionen  unter  erotischen  Träumen,  Frauenschuhe  betreffend, 
auf,  und  die  epileptischen  Anfälle  dauerten  fort.  Obwohl  ohne  geringste 
sexuelle  Empfindung  für  das  weibliche  Geschlecht,  entschloss  er  sich  zur  Hei- 
rath,  die  ihm  als  einziges  Heilmittel  erschien. 

Er  heirathete  eine  junge  hübsche  Dame.  Trotz  lebhafter  Erection,  wenn 
er  an  die  Schuhe  seiner  Frau  dachte,  war  er  aber  bei  Cohabitations versuchen 
gänzlich  impotent,  indem  das  Unlustgefühl  gegen  Coitus,  überhaupt  gegen 
intimen  Verkehr,  den  Einfluss  der  sexuell  erregenden  Schuhvorstellung  weit 
überwog.  Wegen  seiner  Impotenz  wandte  sich  Pat.  an  Dr.  Hammond,  der 
seine  Epilepsie  mit  Brom  behandelte  und  ihm  rieth,  einen  über  dem  Ehebett 
aufgehängten  Schuh  beim  Coitus  fest  zu  fixiren  und  sich  seine  Frau  als  Schuh 
zu  denken.  Pat.  wurde  frei  von  epileptischen  Anfällen  und  potent,  so  dass 
er  etwa  alle  8  Tage  coitiren  konnte.  Auch  nahm  seine  sinnliche  Erregung 
durch  Frauenschuhe  immer  mehr  ab.  (Hammond,  sexuelle  Impotenz,  deutsch 
von  Salinger,  1889,  S.  23.) 

Diese  beiden  Fälle  von  Schuhfetischismus ,  welche  nachweis- 
lich auf  subjectiv  zufälligen  Associationen  beruhen,  wie  die  Fälle 
des  Fetischismus  überhaupt,  haben,  in  Beziehung  auf  ihre  objective 
Veranlassung,  nichts  besonders  Auffälliges,  da  es  sich  im  ersten 
Fall  um  einen  Theileindruck  der  Gresammterscheinung  des  Weibes, 
im  zweiten  Fall  um  einen  Theileindruck  einer  erregenden  Mani- 
pulation handelt. 

Es  sind  aber  auch  Fälle  beobachtet  worden  —  bis  jetzt  sind 
es  allerdings  nur  zwei  —  in  welchen  die  entscheidende  Association 
absolut  durch  keinen  Zusammenhang  der  Beschaffenheit  des  Objects 
mit  normaliter  erregenden  Dingen  herbeigeführt  wurde. 

Beobachtung  87.  L. ,  37  Jahre  alt,  Commis,  aus  sehr  belasteter 
Familie,  bekam  mit  5  Jahren  die  erste  Erection,  als  er  seinen  Schlafkameraden, 
einen  älteren  Verwandten,  eine  Nachtmütze  aufsetzen  sah.  Die  gleiche  Wirkung 
trat  ein,  als  er  später  einmal  die  alte  Hausmagd  eine  Nachthaube  aufsetzen 
sah.  Später  genügte  zur  Erection  die  blosse  Vorstellung  eines  alten  häss- 
lichen,  mit  einer  Nachthaube  bedeckten  Frauenkopfes.  Der  blosse  Anblick 
einer  Haube  oder  der  einer  nackten  Frauengestalt  oder  eines  nackten  Mannes 
Hessen  ihn  kalt,  aber  die  Berührung  einer  Nachtmütze  rief  Erection,  zuweilen 


Fetischismus.  185 

selbst  Ejaculatioö  hervor.  L.  war  nicht  Masturbant,  auch  bis  zum  32.  Jahr, 
wo  er  ein  schönes  und  geliebtes  Mädchen  heirathete,  sexuell  nie  thätig  ge- 
wesen. 

In  der  Hochzeitsnacht  blieb  er  unerregbar,  bis  er  in  seiner  Noth  das 
Erinnerungsbild  des  alten  hässlichen  Weiberkopfes  mit  der  Nachtmütze  zu 
Hülfe  nahm.     Sofort  gelang  der  Coitus. 

In  der  Folge  musste  er  jeweils  zu  diesem  Mittel  greifen.  Seit  der  Kind- 
heit hatte  er  zeitweise  Anfälle  von  tiefer  Gemüthsverstimmung  mit  Anwand- 
lungen von  Selbstmord,  ab  und  zu  auch  nächtliche  schreckhafte  Hallucinationen. 
Beim  Hinausschauen  zum  Fenster  bekam  er  Schwindel  und  Angstzustände.  Er 
war  ein  linkischer,  sonderbarer,  verlegener,  geistig  schlecht  veranlagter  Mensch. 
(Charcot  und  Magnan,  Arch.  de  Neurol.  1882,  Nr.  12.) 

In  diesem  ganz  merkwürdigen  Falle  scheint  die  zeitliche  Co- 
incidenz  der  ersten  geschlechtlichen  Regung  mit  einem  ganz  hetero- 
genen Eindruck  allein  das  Gelüst  determinirt  zu  haben. 

Einen  mindestens  ebenso  seltsamen  Fall  von  zufällig  asso- 
ciativem  Fetischismus  erwähnt  Hammond  op.  cit.  p.  50.  Bei 
einem  im  Uebrigen  ganz  gesunden  und  psychisch  normalen,  ver- 
heiratheten  Manne  von  30  Jahren  soll  die  Potenz  in  Folge  der 
Uebersiedlung  in  ein  anderes  Haus  plötzlich  verschwunden,  und 
nach  Wiederherstellung  der  gewohnten  Schlafzimmereinrichtung 
zurückgekehrt  sein. 

c)  Der  Fetisch  ist  ein  bestimmter  Stoff. 

Es  gibt  eine  dritte  Hauptgruppe  von  Fetischisten ,  deren 
Fetisch  weder  ein  Theil  des  weiblichen  Körpers  noch  ein  Theil  der 
weiblichen  Kleidung  als  solcher  ist ,  sondern  ein  bestimmter 
Stoff,  der  nicht  einmal  als  Stoff  weiblicher  Bekleidung  immer  zur 
Geltung  kommt,  sondern  auch  als  blosser  Stoff  an  sich  sexuelle 
Empfindungen  wecken  oder  steigern  kann.  Solche  Stoffe  sind: 
Pelzwerk,  Sammt  und  Seide. 

Diese  Fälle  unterscheiden  sich  von  den  vorhergehenden  Er- 
scheinungen des  erotischen  Kleidungsfetischismus  dadurch,  dass 
diese  Stoffe  nicht,  wie  Frauenwäsche,  in  naher  Beziehung  zum 
weiblichen  Körper  stehen  und  nicht  wie  Schuhe  und  Handschuhe 
Beziehungen  zu  bestimmten  Theilen  desselben  und  deren  ander- 
weitiger symbolischer  Bedeutung  haben.  Auch  kann  dieser  Feti- 
schismus nicht,  wie  die  einzeln  stehenden  Fälle  der  Nachtmütze 
und  der  Schlafzimmereinrichtung ,  aus  einer  ganz  zufälligen  Asso- 
ciation  abgeleitet   werden,   da   diese  Fälle   eine   ganze  Gruppe  mit 


186  Paraesthesia  sexualis. 

gleichartigem  Object  bilden.  Man  muss  wohl  annehmen,  dass  ge- 
wisse Tastempfindungen  (eine  Art  Kitzel,  der  in  einer  entfernten 
Verwandtschaft  zu  wollüstigen  Empfindungen  steht?)  bei  hyper- 
ästhetischen Individuen  hier  veranlassend  für  die  Entstehung  des 
Fetischismus  sind. 

Hier  möge  zunächst  die  folgende  Selbstbeobachtung  eines  mit 
diesem  seltsamen  Fetischismus  behafteten  Mannes  Platz  finden: 

Beobachtung  88.  N.  N.,  37  Jahre  alt,  aus  neuropathischer  Familie 
stammend,  selbst  von  neuropathischer  Constitution,  gibt  an: 

Von  frühester  Jugend  ist  mir  eine  tiefgewurzelte  Schwärmerei  für  Pelz- 
werk und  Sammt  eigen  in  dem  Sinne,  dass  diese  Stoffe  bei  mir  geschlechtliche 
Erregung  bewirken,  ihr  Anblick  und  ihre  Berührung  mir  ein  wollüstiges  Ver- 
gnügen bereiten.  An  irgend  ein  Ereigniss,  welches  diese  seltsame  Neigung 
veranlasst  hätte  (etwa  gleichzeitiges  Eintreten  der  ersten  sexuellen  Regung  mit 
dem  Eindrucke  dieser  Stoffe,  resp.  erste  Erregung  durch  ein  so  gekleidetes 
Weib),  überhaupt  an  den  ersten  Anfang  dieser  Schwärmerei  vermag  ich  mich 
nicht  zu  erinnern.  Ich  will  damit  die  Möglichkeit  eines  solchen  Ereignisses, 
einer  zufälligen  Verbindung  im  ersten  Eindruck  und  darauf  beruhender  Asso- 
ciation, nicht  absolut  ausschliessen ,  halte  es  aber  für  sehr  unwahrscheinlich, 
dass  dergleichen  stattgefunden  hat,  weil  ich  glaube,  dass  ein  solches  Vorkomm- 
niss  sich  mir  tief  eingeprägt  hätte. 

Ich  weiss  nur,  dass  ich  schon  als  kleines  Kind  lebhaft  darnach  trachtete, 
Pelzwerk  zu  sehen  und  zu  streicheln,  und  dabei  eine  dunkle  wollüstige  Em- 
pfindung hatte.  Mit  dem  ersten  Auftreten  bestimmter  sexueller  Vorstellungen, 
d.  h.  der  Richtung  geschlechtlicher  Gedanken  auf  das  Weib,  war  auch  schon 
die  besondere  Vorliebe  für  das  Weib,  das  gerade  mit  diesen  Stoffen  gekleidet 
ist,  vorhanden. 

So  ist  es  seither  bis  in  mein  reifes  Mannesalter  geblieben.  Ein  Weib, 
welches  einen  Pelz  oder  Sammt,  oder  gar  beides  trägt,  erregt  mich  viel  rascher 
und  viel  mächtiger,  als  eines  ohne  dieses  Beiwerk.  Die  genannten  Stoffe  sind 
zwar  nicht  conditio  sine  qua  non  der  Erregung,  die  Begierde  tritt  auch  ohne 
sie  auf  die  gewöhnlichen  Reize  ein;  aber  der  Anblick  und  namentlich  die 
Berührung  dieser  Fetischstoffe  bildet  für  mich  ein  mächtiges  Unterstützungs- 
mittel anderer  normaler  Reize  und  eine  Erhöhung  des  erotischen  Genusses. 
Oft  bringt  mich  der  blosse  Anblick  eines  nur  leidlich  hübschen  Frauenzimmers, 
welches  aber  in  diese  Stoffe  gekleidet  ist,  in  lebhafte  Erregung  und  reisst 
mich  völlig  hin.  Schon  der  Anblick  meiner  Fetischstoffe  gewährt  mir  Genuss, 
viel  grösseren  die  Berührung.  (Der  penetrante  Geruch  des  Pelzwerks  ist  mir 
dabei  gleichgiltig ,  eher  unangenehm,  nur  wegen  der  Association  mit  ange- 
nehmen Gesichts-  und  Tastempfindungen  leidlich.)  Ich  sehne  mich  mächtig 
danach,  diese  Stoffe  am  Körper  eines  Weibes  zu  betasten,  zu  streicheln,  zu 
küssen,  mein  Gesicht  darein  zu  vergraben.  Der  höchste  Genuss  ist  mir,  inter 
actum  meinen  Fetisch  auf  der  Schulter  eines  Weibes  zu  sehen  und  zu  fühlen. 

Sowohl  Pelzwerk  allein  als  Sammt  allein  übt  die  geschilderte  Wirkung 
auf  mich  aus,  Ersteres  viel  stärker  als  Letzterer.  Am  stärksten  wirkt  die 
Combination  beider  Stoffe.     Auch  weibliche  Kleidungsstücke   aus  Sammt  und 


Fetischismus.  187 

Pelzwerk,  allein  ohne  die  Trägerin  gesehen  und  befühlt,  wirken  sexuell  erregend 
auf  mich  ein,  ja  ebenso  —  wenn  auch  in  geringerem  Grade  —  Pelzwerk  zu 
Decken  verarbeitet,  die  nicht  zur  weiblichen  Kleidung  gehören,  auch  Sammt 
und  Plüsch  an  Möbeln  und  Draperien.  Die  blossen  Abbildungen  von  Pelz- 
und  Sammttoiletten  sind  für  mich  Gegenstand  erotischen  Interesses,  ja  das 
blosse  Wort  „Pelz"  hat  für  mich  magische  Eigenschaft  und  ruft  sofort  erotische 
Vorstellungen  hervor. 

Der  Pelz  ist  für  mich  so  sehr  ein  Gegenstand  sexuellen  Interesses,  dass 
ein  Mann,  der  einen  wirksamen  (s.  unten)  Pelz  trägt,  mir  einen  höchst  unan- 
genehmen, ärgerlichen  und  skandalösen  Eindruck  macht,  etwa  wie  ihn  auf  jeden 
normalen  Menschen  ein  Mann  in  Costüm  und  Haltung  einer  Ballettänzerin 
machen  würde.  Aehnlich  zuwider,  weil  einander  widerstreitende  Empfindungen 
erweckend ,  ist  mir  der  Anblick  einer  alten  oder  hässlichen  Frau  in  einem 
schönen  Pelz. 

Dieses  erotische  Wohlgefallen  an  Pelzwerk  und  Sammt  ist  etwas  von 
bloss  ästhetischem  Gefallen  ganz  und  gar  Verschiedenes.  Ich  habe  einen  sehr 
lebhaften  Sinn  für  schöne  weibliche  Kleidung,  dabei  auch  noch  eine  besondere 
Vorliebe  für  Spitzen ,  diese  ist  aber  rein  ästhetischer  Natur.  Eine  Frau  in 
Spitzentoilette  (oder  sonst  in  geschmückter,  eleganter  Kleidung)  ist  schöner, 
aber  nur  eine  in  meine  Fetischstoffe  gekleidete  ist  reizender  als  eine  andere 
unter  sonst  gleichen  Umständen. 

Pelzwerk  übt  aber  auf  mich  die  geschilderte  Wirkung  nur  dann  aus, 
wenn  es  recht  dichte,  feine,  glatte,  ziemlich  lange,  in  die  Höhe  stehende,  so- 
genannte Grannenhaare  hat.  Von  diesen  hängt,  wie  ich  deutlich  bemerkt 
habe,  die  Wirkung  ab.  Ganz  gleichgültig  sind  für  mich  nicht  nur  die  allge- 
mein für  ordinär  geltenden,  grobhaarigen,  zottigen  Pelzsorten,  sondern  ebenso 
unter  den  für  schön  und  edel  geltenden  diejenigen,  bei  welchen  das  Grannen- 
haar ganz  entfernt  wird  (Seehund,  Biber),  oder  von  Natur  kurz  ist  (Hermelin), 
oder  überlang  und  liegend  (Affe,  Bär).  Die  specifische  Wirkung  haben  nur  die 
stehenden  Grannenhaare  bei  Zobel,  Marder,  Skunks  u.  dergl.  Nun  besteht 
aber  auch  Sammt  aus  dichten,  feinen,  in  die  Höhe  stehenden  Haaren  (Fasern), 
worauf  die  gleiche  Wirkung  beruhen  dürfte.  Die  Wirkung  scheint  eben  von 
einem  ganz  bestimmten  Eindruck  dichter  feiner  Haarspitzen  auf  die  Endorgane 
der  sensiblen  Nerven  abzuhängen. 

Wieso  aber  dieser  eigenthümliche  Eindruck  auf  die  Tastnerven  zum 
Geschlechtsleben  in  Beziehung  tritt,  ist  mir  ganz  räthselhaft.  Thatsache  ist, 
dass  dies  bei  vielen  Menschen  der  Fall  ist.  Ich  bemerke  noch  ausdrücklich, 
dass  mir  schönes  Haar  des  Weibes  wohl  gefällt,  aber  keine  grössere  Rolle  für 
mich  spielt  als  jeder  andere  Reiz ,  und  dass  mir  bei  dem  Berühren  von  Pelz- 
werk kein  Gedanke  an  Frauenhaar  kommt.  (Die  Tastempfindung  hat  auch 
an  sich  nicht  die  mindeste  Aehnlichkeit.)  Ueberhaupt  tritt  gar  keine  weitere 
Vorstellung  dabei  auf.  Pelz  an  und  für  sich  weckt  eben  bei  mir  die  Sinn- 
lichkeit; wieso,  ist  mir  ganz  unerklärlich. 

Die  bloss  ästhetische  Wirkung ,  die  Schönheit  edlen  Pelzwerks ,  für  die 
wohl  Jeder  mehr  oder  minder  empfänglich  ist,  die  seit  Raphael's  Fornarina 
und  Ruben's  Helene  Fourment  von  unzähligen  Malern  als  Folie  und  Rahmen 
weiblicher  Reize  verwendet  worden  ist,  und  die  in  der  Mode,  in  der  Kunst 
und  Wissenschaft  weiblicher  Bekleidung   eine   so   grosse  Rolle  spielt  —  diese 


188  Paraesthesia  sexualis. 

ästhetische  Wirkung  erklärt  hier  gar  nichts,  wie  eben  schon  bemerkt.  Die 
gleiche  ästhetische  Wirkung,  wie  auf  normale  Menschen  schönes  Pelzwerk, 
üben  auf  mich,  wie  auf  Jeden,  Blumen,  Bänder,  Edelsteine  und  jeder  andere 
Schmuck  aus.  Solche  Dinge  heben,  geschickt  verwendet,  die  weibliche  Schön- 
heit, und  können  so  unter  Umständen  etwa  indirect  einen  sinnlichen  Effect 
hervorrufen.  Niemals  haben  sie  auf  mich  einen  directen  mächtigen  sinnlichen 
Effect,  wie  die  genannten  Fetischstoffe. 

Ohwohl  nun  bei  mir,  und  wohl  bei  allen  „Fetischisten" ,  die  sinnliche 
und  die  ästhetische  Wirkung  durchaus  scharf  zu  trennen  sind,  so  hindert  das 
nicht,  dass  ich  auch  an  meinen  Fetisch  eine  ganze  Reihe  von  ästhetischen 
Anforderungen  in  Bezug  auf  Form,  Schnitt,  Farbe  etc.  stelle.  Ich  könnte  mich 
hier  über  diese  Anforderungen  meines  Geschmacks  noch  sehr  weitläufig  ver- 
breiten, unterlasse  dies  aber  als  nicht  mehr  zum  eigentlichen  Thema  gehörig. 
Ich  wollte  nur  darauf  aufmerksam  machen,  wie  der  Fetischismus  eroticus  sich 
noch  mit  rein  ästhetischen  Geschmacksregungen  complicirt. 

Ebenso  wenig  wie  durch  den  ästhetischen  Eindruck  lässt  sich  die  spe- 
eifische  erotische  Wirkung  meiner  Fetischstoffe  etwa  durch  die  Association  mit 
der  Vorstellung  des  Körpers  einer  Trägerin  erklären.  Denn  erstens  wirken 
diese  Stoffe  auf  mich,  wie  gesagt,  auch  ganz  vom  Körper  isolirt,  als  blosse 
Stoffe,  und  zweitens  wirken  viel  intimere  Kleidungsstücke  (Mieder,  Hemd),  die 
ohne  Zweifel  Associationen  hervorrufen ,  weit  schwächer.  Die  Fetischstoffe 
haben  also  selbständigen  sinnlichen  Werth  für  mich.  Wieso,  das  ist  mir  selbst 
räthselhaft. 

Dieselbe  erotische  Fetischwirkung  wie  Pelzwerk  und  Sammt  haben  für 
mich  Federn  auf  Frauenhüten,  an  Fächern  etc.  (ähnliche  Berührungsempfindung 
des  leicht  Spielenden,  eigenthümlich  Kitzelnden).  Endlich  kommt  die  Fetisch- 
wh'kung  in  sehr  abgeschwächtem  Grade  auch  noch  anderen  glatten  Stoffen, 
Atlas,  Seide  zu,  während  rauhe  Stoffe,  rauhes  Tuch,  Flanell  geradezu  abstos- 
send  wirken. 

Zum  Schlüsse  will  ich  noch  erwähnen,  dass  ich  irgendwo  eine  Abhand- 
lung von  Carl  Vogt  über  mikrokephale  Menschen  gelesen  habe,  wonach  eines 
dieser  Wesen  sich  beim  Anblick  eines  Pelzes  auf  diesen  stürzte  und  ihn  unter 
lebhaften  Zeichen  der  Freude  streichelte.  Es  liegt  mir  fern,  deshalb  im  weit 
verbreiteten  Pelzfetischismus  ernstlich  einen  atavistischen  Rückschlag  in  den 
Geschmack  der  bepelzten  Urahnen  des  Menschengeschlechts  sehen  zu  wollen. 
Jener  Cretin  übte  nur  mit  der  ihm  zukommenden  Ungenirtheit  einen  ihm  an- 
genehmen TastaM  aus,  der  nicht  nothwendig  sexuell-sinnlicher  Natur  sein 
musste;  wie  auch  viele  ganz  normale  Menschen  gern  eine  Katze  oder  der- 
gleichen, selbst  Sammt  und  Pelzwerk  streicheln,  ohne  aber  dadurch  gerade 
sexuell  erregt  zu  werden. 

In  der  Literatur  finden  sich  einige  hierher  gehörige  Fälle: 

Beobachtung  89.  Knabe  von  12  Jahren  fühlte  mächtige  geschlecht- 
liche Erregung,  als  er  zufällig  sich  mit  einem  Fuchspelz  zudeckte.  Von  nun 
an  Masturbation  unter  Benützung  von  Pelzwerk  oder  Mitnehmen  eines  zot- 
tigen Hündchens  ins  Bett,  wobei  Ejaculation  erfolgte,  zuweilen  gefolgt  von 
einem  hysterischen  Anfall.     Seine  nächtlichen  Pollutionen   waren  dadurch  be- 


Fetischismus.  189 

dingt,  dass  er  träumte,  er  liege  nackt  auf  weichem  Pelze  und  sei  von  diesem 
ganz  eingehüllt.  Durch  die  Keize  von  Männern  oder  Frauen  war  er  ganz 
unerregbar. 

Er  wurde  neurasthenisch ,  litt  an  Beachtungswahn,  meinte,  Jedermann 
bemerke  seine  sexuelle  Anomalie,  hatte  deshalb  Taed.  vitae  und  wurde  schliess- 
lich irrsinnig. 

Er  war  sehr  belastet,  hatte  unregelmässig  gebildete  Genitalien  und 
sonstige  anatomische  Degenerationszeichen.     (Tarnowsky,  op.  cit.  p.  22.) 

Beobachtung  90.  C.  ist  ein  besonderer  Liebhaber  des  Sammts.  C 
wird  durch  schöne  Weiber  in  normaler  Weise  angezogen,  ganz  besonders  aber 
erregt  es  ihn,  wenn  er  die  Person,  mit  der  er  sexuell  verkehrt,  in  Sammt- 
kleidung  antrifft.  Hier  ist  nun  besonders  auffallend,  dass  nicht  sowohl  das 
Sehen  als  das  Berühren  des  Sammts  die  Erregung  verursacht.  C.  sagte  mir, 
dass  das  Herüberstreichen  über  die  Sammtjacke  einer  weiblichen  Person  ihn  so 
sehr  sexuell  errege,  wie  es  auf  andere  Weise  kaum  erfolgen  könne.  (Dr.  Moll, 
op.  cit.  p.  127.) 

Von  ärztlicher  Seite  wurde  mir  der  folgende  Fall  mitgetheilt: 

In  einem  Lupanar  war  ein  Mann  unter  dem  Namen  „Sammt*  bekannt. 
Dieser  bekleidete  eine  sympathische  Puella  mit  einem  schwarzen  Sammtkleide 
und  erregte  und  befriedigte  seine  sexuellen  Triebe  lediglich  durch  Bestreichen 
seines  Gesichts  mit  einem  Zipfel  des  Sammtkleides,  während  er  sonst  mit  der 
Person  nicht  in  Berührung  kam. 

Ein  anderer  Gewährsmann  versichert  mir,  dass  namentlich  bei  Maso- 
chisten  die  Schwärmerei  für  Pelz,  Sammt  und  Federn  häufig  vorkommt. 
(Vergl.  oben  Beob.  42.  43.) *) 

Ein  ganz  eigentümlicher  Fall  von  Stofffetischismus  ist 
der  folgende.  Er  ist  verbunden  mit  dem  Trieb,  den  Fetisch  zu 
beschädigen,  der  in  diesem  Falle  entweder  ein  Element  von  Sadis- 
mus gegen  das  Weib  als  Trägerin  des  Stoffes  darstellt  oder  den 
auch  sonst  bei  Fetischisten  mehrfach  vorkommenden  unpersönlichen 
Gegenstands-Sadismus  (vgl.  oben  p.  175).  Dieser  Beschädigungs- 
trieb hat  den  vorliegenden  zu  einem  merkwürdigen  Criminalfall 
gemacht. 

Beobachtung  91.  Im  Juli  1891  stand  der  25jährige  Schlossergeselle 
Alfred  Bachmann  in  Berlin  vor  der  zweiten  Ferienstrafkammer  des  Landgerichts  I. 


*)  Auch  in  den  Romanen  von  Sacher-Masoch  spielt  der  Pelz  eine 
hervorragende  Rolle,  wie  er  ja  auch  einzelnen  derselben  zum  Titel  diente. 
Gesucht  und  unbefriedigend  erscheint  die  dort  gegebene  Erklärung,  der  Pelz 
(Hermelin)  sei  das  Symbol  der  Herrschaft  und  deshalb  der  Fetisch  der  dort 
geschilderten  Männer. 


190  Paraesthesia  sexualis. 

Im  April  d.  J.  gingen  der  Polizei  mehrfach  Anzeigen  zu,  wonach  eine  bös- 
willige Hand  die  Kleider  von  Damen  mit  einem  haarscharfen  Instrument  zer- 
schnitten hatte.  Am  Abende  des  25.  April  gelang  es,  den  Unhold  in  der 
Person  des  Angeklagten  zu  ertappen.  Ein  Criminalbeamter  bemerkte,  wie 
der  Angeklagte  sich  in  auffälliger  Weise  an  eine  Dame  herandrängte,  die  in 
Begleitung  eines  Herrn  durch  die  Passage  ging.  Der  Beamte  ersuchte  die 
Dame,  ihr  Kleid  zu  besichtigen ,  während  er  den  Verdächtigen  festhielt.  Es 
stellte  sich  heraus,  dass  das  Kleid  einen  ziemlich  langen  Schnitt  erhalten 
hatte.  Der  Angeklagte  wurde  zur  Wache  geführt,  woselbst  man  ihn  unter- 
suchte. Ausser  einem  scharfen  Messer ,  welches  er  geständlich  zum  Aufschlitzen 
der  Kleider  gebrauchte ,  fand  man  noch  zwei  seidene  Schleifen  bei  ihm ,  wie 
die  Damen  sie  an  ihren  Kleidern  anzubringen  pflegen;  der  Angeklagte  gab 
auch  zu,  dass  er  diese  im  Gedränge  von  den  Kleidern  abgetrennt  habe.  Schliess- 
lich förderte  die  Leibesuntersuchung  noch  ein  seidenes  Damen-Halstuch  zu 
Tage.  Dies  wollte  der  Angeklagte  gefunden  haben.  Da  seine  Behauptung  in 
diesem  Falle  nicht  widerlegt  werden  konnte ,  so  wurde  er  hiefür  nur  der 
Fundunterschlagung  angeklagt,  während  seine  sonstige  Handlungsweise  sich 
in  zwei  Fällen,  in  denen  Strafantrag  seitens  der  Beschädigten  gestellt  worden 
ist,  als  Sachbeschädigung  und  in  zwei  Fällen  als  Diebstahl  kennzeichnete. 
Der  Angeklagte,  ein  schon  mehrfach  vorbestrafter  Mensch,  mit  blassem,  aus- 
druckslosem Gesicht,  gab  vor  dem  Richter  eine  sonderbare  Erklärung  über 
sein  räthselhaftes  Thun  ab.  Die  Köchin  eines  Majors  habe  ihn  einmal  die 
Treppe  hinuntergeworfen,  als  er  bei  ihr  bettelte,  und  seit  dieser  Zeit  habe  er 
einen  grimmigen  Hass  auf  das  ganze  weibliche  Geschlecht  geworfen.  Man 
zweifelte  an  seiner  Zurechnungsfähigkeit  und  Hess  ihn  deshalb  durch  einen 
Kreisphysikus  untersuchen.  Der  Sachverständige  begutachtete  im  Termine, 
dass  keinerlei  Grund  vorliege,  den  allerdings  wenig  intelligenten  Angeklagten 
für  geisteskrank  zu  halten.  Der  Letztere  vertheidigte  sich  in  eigenthümlicher 
Weise.  Ein  unbezähmbarer  Trieb  zwinge  ihn,  sich  den  Damen  zu  nähern,  die 
seidene  Kleider  trugen.  Das  Berühren  eines  seidenen  Stoffes  sei 
für  ihn  ein  Wonnegefühl,  und  dies  gehe  sogar  so  weit,  dass  er  im 
Untersuchungsgefängnisse  erregt  worden  sei,  wenn  ihm  beim  Wollezupfen  zu- 
fällig ein  seidener  Faden  unter  die  Finger  kam.  Der  Staatsanwalt  Müller  II. 
hielt  den  Angeklagten  einfach  für  einen  gemeingefährlichen,  bösartigen  Men- 
schen, der  für  längere  Zeit  unschädlich  gemacht  werden  müsste.  Er  beantragte 
gegen  ihn  ein  Jahr  Gefängniss.  Der  Gerichtshof  verurtheilte  den  Angeklagten 
zu  6  Monaten  Gefängniss  und  einjährigem  Ehrverlust. 

Ein  klassischer  Fall  von  Stoff-(Seide-)Fetischismus  ist  folgen- 
der von  Dr.  P.  Grarnier  mitgetheilter. 

Beobachtung  92.  Am  22.  September  1891  wurde  V.  auf  einer  Strasse 
von  Paris  verhaftet,  indem  er  sich  an  Damen  in  seidenen  Kleidern  in  einer 
Weise  zu  schaffen  machte,  dass  man  ihn  für  einen  Taschendieb  halten  musste. 
Er  war  anfangs  ganz  vernichtet  und  kam  erst  allmählig  und  unter  Umschweifen 
zum  Geständniss  seiner  „ Manie".  Er  ist  Commis  in  einer  Buchhandlung, 
29  Jahre  alt,    stammt   von   einem  Vater,    der  Trinker   ist   und   einer   religiös 


Fetischismus.  191 

überspannten,  charakterologisch  abnormen  Mutter.  Diese  wollte  aus  ihm  einen 
Geistlichen  machen.  Seit  seiner  frühesten  Jugend  hat  er  einen  nach  seiner 
Meinung  angeborenen  instinctiven  Drang,  Seide  zu  befühlen.  Als  er  mit 
12  Jahren  als  Chorknabe  eine  Seidenschärpe  tragen  durfte,  konnte  er  sie  nicht 
genug  betasten.  Das  Gefühl,  das  er  dabei  empfand,  vermöge  er  nicht  zu  be- 
schreiben. Etwas  später  lernte  er  ein  lOjähriges  Mädchen  kennen,  dem  er 
kindlich  zugethan  war.  Wenn  aber  dieses  Kind  am  Sonntag  im  seidenen  Fest- 
gewand daher  kam,  hatte  er  ein  ganz  anderes  Gefühl.  Er  musste  es  brünstig 
umarmen  und  dabei  dessen  Kleid  berühren.  Später  war  es  seine  Wonne,  im 
Laden  einer  Putzmacherin  die  herrlichen  Seidenroben  zu  beschauen  und  zu 
befühlen.  Bekam  er  Abfälle  von  Seidenstoff  geschenkt,  so  beeilte  er  sich,  sie 
auf  den  blossen  Leib  zu  legen ,  worauf  dann  sofort  Erection ,  Orgasmus  und 
oft  sogar  Ejaculation  eintrat.  Beunruhigt  durch  diese  Gelüste,  an  seinem 
Beruf  als  künftiger  Geistlicher  zweifelnd,  erzwang  er  seinen  Austritt  aus  dem 
Seminar.  Er  war  damals  schwer  neurasthenisch  in  Folge  von  Masturbation. 
Sein  Seidenfetischismus  beherrschte  ihn  nach  wie  vor.  Nur  wenn  ein  Weib 
ein  seidenes  Kleid  trug,  gewann  es  Reiz  für  ihn. 

Schon  in  den  Träumen  seiner  Kindheit  haben  angeblich  Damen  mit 
Seidenkleidern  eine  dominirende  Rolle  gespielt  und  später  waren  diese  Träume 
von  Pollutionen  begleitet.  Bei  seiner  Schüchternheit  gelangte  er  erst  spät  zur 
Cohabitation.  Dieselbe  war  nur  möglich  mit  einem  Weib  in  seidener  Robe. 
Er  zog  es  vor,  im  Volksgedränge  Damen  im  Seidenkleid  zu  berühren,  wobei 
er  unter  mächtigem  Orgasmus  und  grossem  Wollustgefühl  zur  Ejaculation  ge- 
langte. Sein  grösstes  Glück  war  es,  Abends  einen  seidenen  Unterrock  beim 
Zubettgehen  anzulegen.    Das  befriedigte  ihn  mehr  als  das  schönste  Weib. 

Das  gerichtsärztliche  Gutachten  wies  nach,  dass  V.  ein  schwer  belasteter 
Mensch  ist,  der  unter  krankhaftem  Zwang  einem  krankhaften  Gelüste  Folge 
gab.     Freisprechung. 

(Dr.  Garnier,  Annales  d'hygiene  publique.  3e  serie.  XXIX.  5.) 

d)  Thierfetischismus. 

Im  Anschluss  an  den  Stofffetischismus  möge  noch  gewisser 
Fälle  gedacht  werden,  in  welchen  Thiere  auf  Menschen  aphrodisisch 
wirken.     Man  könnte  hier  von  Zoophilia  erotica  sprechen. 

Diese  Perversion  scheint  ihre  Wurzel  in  einem  Fetischismus 
zu  haben,  dessen  Object  das  Thierfell  ist. 

Als  Vermittlerin  für  diesen  Fetischismus  dürfte  eine  besondere 
Idiosynkrasie  der  Tastnerven  anzunehmen  sein,  vermöge  welcher 
sie  durch  Betastung  von  Pelz,  also  Thierfell  (analog  dem  Haar-, 
Zopf-,  Sammt-  und  Seidefetischismus),  eigenartige  und  wollüstig 
betonte  Erregungen  vermitteln.  So  erklärt  sich  vielleicht  bei 
manchen  sexuell  Perversen  die  Vorliebe  für  Hunde  und  Katzen 
(s.  p.  187.  188  besonders  Beob.  89).  Der  folgende  von  mir  be- 
obachtete Fall  spricht  zu  Gunsten  obiger  Annahme. 


192  Paraesthesia  sexualis. 

Beobachtung  93.  Zoophilia  erotica,  Fetischismus.  Herr  N.  N., 
21  Jahre,  stammt  aus  ueuropathisch  belasteter  Familie  und  ist  selbst  consti- 
tutioneller  Neuropathiker.  Schon  als  Kind  hatte  er  den  Zwang,  die  oder  jene 
gleichgiltige  Handlung  auszuführen,  aus  Angst,  dass  ihn  sonst  ein  Unheil  treffe. 
Er  lernte  leicht,  war  nie  schwer  krank,  hatte  schon  als  Knabe  eine  Vorliebe 
für  Hausthiere,  besonders  Hunde  und  Katzen,  da,  wenn  er  sie  liebkoste,  er 
ein  wollüstig  aufregendes  Gefühl  empfand.  Jahrelang  gab  er  sich  in  ganz 
unschuldiger  Weise  diesem  ihn  angenehm  erregenden  Spiel  mit  solchen  Thieren 
hin.  Als  er  in  die  Pubertätsjahre  kam,  erkannte  er,  dass  das  eine  unsittliche 
Sache  sei  und  zwang  sich  davon  abzulassen.  Es  gelang  ihm,  aber  nun  kamen 
solche  Situationen  im  Traume,  bald  auch  von  Pollutionen  begleitet.  Dies 
brachte  den  sexuell  erregbaren  Knaben  auf  Onanie.  Er  will  anfangs  manuell 
sich  befriedigt  haben,  wobei  regelmässig  Gedanken  an  Liebkosen  und  Streicheln 
von  Thieren  sich  einstellten.  Nach  einiger  Zeit  gelangte  er  zu  psychischer 
Onanie,  indem  er  sich  solche  Situationen  vorstellte  und  damit  Orgasmus  und 
Ejaculation  erzielte.     Darüber  wurde  er  neurasthenisch. 

Niemals  will  ihm  ein  sodomitischer  Gedanke  gekommen  sein,  das  Sexus 
bestiarum  sei  ihm  in  der  Phantasie  und  in  der  Wirklichkeit  ganz  gleich  ge- 
wesen, er  habe  eigentlich  nie  daran  gedacht. 

Homosexual  habe  er  auch  nie  empfunden,  wohl  aber  heterosexual,  jedoch 
habe  er  aus  mangelhafter  Libido  (ex  masturbatione  et  neurasthenia !)  und  aus 
Furcht  vor  Ansteckung  bis  dato  nie  coitirt.  Von  Weibern  fühle  er  sich  nur 
zu  solchen  von  schlanker  Figur  und  noblem  Gang  hingezogen. 

Pat.  bietet  die  gewöhnlichen  Erscheinungen  cerebrospinaler  Neurasthenie. 
Er  ist  von  zartem  Bau  und  anämisch.  Er  legt  grossen  Werth  auf  Verge- 
wisserung, ob  er  potent  sei  und  auf  eventuelle  Herstellung  seiner  Potenz, 
wodurch  sein  darnied erliegendes  Selbstgefühl  sehr  gehoben  wurde. 

Rathschläge  im  Sinne  des  Meidens  von  psychischer  Onanie,  der  Besei- 
tigung der  Neurasthenie,  der  Kräftigung  der  sexualen  Centren,  der  Befrie- 
digung der  Vita  sexualis  auf  normalem  Wege  sobald  als  dies  aussichtsvoll 
und  möglich. 

Epikrise.  Keine  Bestialität,  sondern  Fetischismus.  Mit  dem  Liebkosen 
von  Hausthieren  mag,  bei  abnorm  früh  erwachter  Vita  sexualis,  eine  erst- 
malige sexuelle  Erregung,  vermuthlich  angeregt  durch  Tastempfindungen,  zu- 
sammengetroffen sein,  zwischen  beiden  Facten  eine  Association  sich  geknüpft 
haben,  die  durch  Wiederholung  gefestigt,  wurde.    (Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  Bd.  50.) 


II.  Tief  herabgesetzte  bis  gänzlich  mangelnde  Geschlechtsempfin- 
dung gegenüber   dem  andern   Geschlecht  bei  stellvertretendem 
Geschlechtsgefühl  und  Geschlechtstrieb  zum  eigenen  (homosexuale 
s.  conträre  Empfindung). 

Zu  den  festesten  Bestandteilen  des  Ichbewusstseins  nach  Er- 
reichung der  geschlechtlichen  Vollentwicklung  gehört  das  Bewusst- 
sein,  eine  bestimmte  geschlechtliche  Persönlichkeit  zu  repräsentiren 


Erworbene  conträre  Sexualempfindung.  193 

und  das  Bedürfniss  derselben,  während  der  Zeit  physiologischer  Vor- 
gänge (Samen-Eibereitung)  in  dem  Generationsapparat,  im  Sinne 
dieser  besonderen  geschlechtlichen  Persönlichkeit  sexuelle  Akte  zu 
vollbringen,  die,  bewusst  oder  unbewusst,  auf  eine  Erhaltung  der 
Gattung  abzielen. 

Bis  auf  dunkle  Ahnungen  und  Dränge  bleiben  Geschlechts- 
gefühl und  sexuelle  Triebe  latent  bis  zur  Zeit  der  Entwicklung 
der  Generationsorgane.  Das  Kind  ist  generis  neutrius,  und  wenn 
auch  in  diesem  Zeitraum  der  noch  nicht  zum  klaren  Bewusstsein 
gelangten,  bloss  virtuell  vorhandenen,  noch  nicht  durch  mächtige 
organische  Gefühle  getragenen  latenten  Sexualität,  abnorm  früh, 
spontan  oder  durch  äusseren  Einfluss  Erregungen  der  Genitalorgane 
eintreten  und  in  Masturbation  Befriedigung  finden  mögen,  so  fehlt 
doch  bei  all  Dem  noch  gänzlich  die  seelische  Beziehung  zu  Per- 
sonen des  anderen  Geschlechts,  und  haben  bezügliche  sexuelle  Akte 
mehr  oder  weniger  die  Bedeutung  spinalreflectorischer. 

Die  Thatsache  der  Unschuld  oder  der  sexuellen  Neutralität 
ist  um  so  bemerkenswerther,  als  doch  früh  schon,  in  der  Erziehung, 
Beschäftigung,  Kleidung  u.  s.  w.,  das  Kind  eine  Differenzirung  von 
Kindern  des  anderen  Geschlechtes  erfährt.  Diese  Eindrücke  bleiben 
aber  vorläufig  seelisch  unbeachtet,  weil  sie  offenbar  sexuell  unbetont 
bleiben,  da  das  Centralorgan  (Hirnrinde)  für  sexuelle  Gefühle  und 
Vorstellungen  noch  nicht  aufnahmsfähig,  weil  unentwickelt  ist. 

Mit  der  beginnenden  anatomischen  und  functionellen  Ent- 
wicklung der  Zeugungsorgane  und  der  damit  Hand  in  Hand  gehen- 
den Differenzirung  der  dem  betreffenden  Geschlecht  zukommenden 
Körperformen,  entwickeln  sich  beim  Knaben,  beziehungsweise  Mäd- 
chen, die  Grundlagen  eines  ihrem  Geschlecht  entsprechenden  seeli- 
schen Empfindens,  wozu  nun  allerdings  Erziehung,  überhaupt  äussere 
Einflüsse,  bei  dem  aufmerksam  gewordenen  Individuum  mächtig 
beitragen. 

Ist  die  sexuelle  Entwicklung  eine  normale,  ungestörte,  so 
gestaltet  sich  ein  bestimmter,  dem  Geschlecht  entsprechender  Cha- 
rakter. Es  entstehen  bestimmte  Neigungen,  Reactionen  im  Ver- 
kehr mit  Personen  des  anderen  Geschlechts,  und  es  ist  psychologisch 
bemerkenswert!! ,  wie  verhältnissmässig  rasch  sich  der  bestimmte, 
dem  betreffenden  Geschlecht  zukommende  seelische  Typus  heraus- 
entwickelt. 

Während  z.  B.  Schamhaftigkeit  in  der  Kinderzeit  wesentlich 
nur    eine    unverstandene    und    unverständliche   Forderung   der    Er- 

v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  13 


194  Paraesthesia  sexualis. 

ziehung  und  Nachahmung  war  und  bei  der  Unschuld  und  Naivetät 
des  Kindes  nur  unvollkommen  zum  Ausdruck  gelangte,  erscheint 
jene  dem  Jüngling  und  der  Jungfrau  nunmehr  als  ein  zwingendes 
Gebot  der  Selbstachtung,  die,  wenn  ihr  nur  irgendwie  nahegetreten 
wird,  eine  mächtige  vasomotorische  Reaction  (Schamröthe)  und  psy- 
chische Affecte  hervorruft. 

Ist  die  ursprüngliche  Veranlagung  eine  günstige,  normale,  und 
bleiben  die  psychosexuale  Entwicklung  schädigende  Factoren  ausser 
Spiel,  so  entwickelt  sich  eine  so  festgefügte,  und  dem  Geschlecht, 
welches  das  Individuum  repräsentirt ,  so  vollkommen  entsprechende 
und  harmonische  psychosexuale  Persönlichkeit,  dass  nicht  einmal 
der  spätere  Verlust  der  Zeugungsorgane  (etwa  durch  Castration), 
oder  später  der  Klimax  oder  das  Senium,  sie  wesentlich  verändern 
können. 

Damit  soll  allerdings  nicht  behauptet  werden,  dass  der  castrirte 
Mann  oder  das  castrirte  Weib,  der  Jüngling  und  der  Greis,  die 
Jungfrau  und  die  Matrone,  der  impotente  und  der  potente  Mann 
seelisch  nicht  wesentlich  von  einander  differirten. 

Eine  interessante  und  für  das  Folgende  belangreiche  Frage 
geht  dahin,  ob  die  peripheren  Einflüsse  der  Keimdrüsen  (Hoden 
und  Ovarien)  oder  centrale  cerebrale  Bedingungen  für  die  psycho- 
sexuale Entwicklung  entscheidend  sind.  Für  die  wichtige  Bedeutung 
der  Keimdrüsen  in  dieser  Hinsicht  spricht  die  Thatsache,  dass  an- 
geborener Mangel  oder  Entfernung  derselben  vor  der  Pubertät 
Körperentwicklung  und  auch  psychosexuale  Entwicklung  mächtig 
beeinflussen,  so  dass  die  letztere  verkümmert  und  eine  mehr  dem 
Typus  des  entgegengesetzten  Geschlechtes  sich  nähernde  Richtung 
nimmt  (Eunuchen,  gew.  Viragines  u.  s.  w.). 

Dass  die  körperlichen  Vorgänge  in  den  Genitalorganen  aber 
nur  mitwirkende,  nicht  die  ausschliesslichen  Factoren  in  dem 
Werdeprocess  einer  psychosexualen  Persönlichkeit  sind,  geht  daraus 
hervor,  dass  trotz  anatomischer  und  physiologischer  Normalität 
derselben,  gleichwohl  eine  dem  Geschlecht,  welches  der  Betreffende 
repräsentirt,  gegensätzliche  Sexualempfindung  sich  entwickeln  kann. 

Hier  kann  die  Ursache  nur  in  einer  Anomalie  centraler  Be- 
dingungen, in  einer  abnormen  psychosexualen  Veranlagung  gegeben 
sein.  Diese  Veranlagung  ist  hinsichtlich  ihrer  anatomischen  und 
functionellen  Begründung  vorläufig  eine  ganz  dunkle.  Da  in  fast 
allen  bezüglichen  Fällen  der  Träger  der  perversen  Sexualempfindung 
eine   neuropathische  Belastung   nach   mehrfacher  Hinsicht   aufweist 


Erworbene  conträre  Sexualempfindung.  195 

und  diese  mit  erblich  degenerativen  Bedingungen  sich  in  Beziehung 
setzen  lässt,  darf  jene  Anomalie  der  psychosexualen  Empfindungs- 
weise als  functionelles  Degenerationszeichen  klinisch  angesprochen 
werden.  Diese  perverse  Sexualität  tritt  mit  sich  entwickelndem 
Geschlechtsleben  spontan,  ohne  äussere  Anlässe  zu  Tage,  als  indi- 
viduelle Erscheinungsform  einer  abnormen  Artung  der  Vita  sexualis 
und  imponirt  dann  als  eine  angeborene  Erscheinung  oder  sie 
entwickelt  sich  erst  im  Verlauf  einer  Anfangs  normale  Bahnen  ein- 
geschlagen habenden  Sexualität  auf  Grund  ganz  bestimmter  schäd- 
licher Einflüsse  und  erscheint  damit  als  eine  gewordene  erworbene. 
Worauf  diese  räthselhafte  Erscheinung  der  erworbenen  homosexualen 
Empfindung  beruhen  mag,  entzieht  sich  zur  Zeit  noch  ganz  der 
Erklärung  und  gehört  der  Hypothese  an.  Es  ist  wahrscheinlich, 
auf  Grund  genauer  Untersuchung  der  sogen,  erworbenen  Fälle,  dass 
die  auch  hier  vorhandene  Veranlagung  in  einer  latenten  Homo- 
oder  mindestens  Bisexualität  besteht,  die  zu  ihrem  Manifestwerden 
der  Einwirkung  von  veranlassenden  gelegentlichen  Ursachen  be- 
durfte, um  aus  ihrem  Schlummer  geweckt  zu  werden  (s.  u.). 

Innerhalb  der  sogen,  conträren  Sexualempfindung  zeigen  sich 
Gradstufen  der  Erscheinung,  ziemlich  parallel  gehend  dem  Grad 
der  Belastung  des  Individuums,  insofern  in  milderen  Fällen  blos 
psychischer  Hermaphroditismus,  in  schwereren  allerdings  nur  homo- 
sexuelle Empfindungsweise  und  Triebrichtung,  aber  auf  die  Vita 
sexualis  beschränkt,  in  noch  schwereren  überdies  die  ganze  seeli- 
sche Persönlichkeit  und  selbst  die  körperliche  Empfindungsweise 
im  Sinne  der  sexuellen  Perversion  umgewandelt,  in  ganz  schweren 
sogar   der   körperliche  Habitus    entsprechend  umgestaltet  erscheint. 

Auf  diesen  klinischen  Thatsachen  fusst  demgemäss  auch  die 
folgende  Eintheilung  der  verschiedenen  Erscheinungsweisen  dieser 
psychosexualen  Anomalie. 


A.  Die  homosexuale  Empfindung  als  erworbene  Erscheinung  bei 
beiden  Geschlechtern. 

Das  Entscheidende  ist  hier  der  Nachweis  der  perversen  Em- 
pfindung gegenüber  dem  eigenen  Geschlecht,  nicht  die  Constati- 
rung  geschlechtlicher  Akte  an  demselben.  Diese  zwei  Phänomene 
dürfen  nicht  mit  einander  verwechselt,  Perversität  darf  nicht  für 
Perversion  gehalten  werden. 


196  Paraesthesia  sexualis. 

Sehr  oft  kommen  perverse  sexuelle  Akte  zur  Beobachtung, 
ohne  dass  ihnen  Perversion  zu  Grunde  läge.  Dies  gilt  ganz  be- 
sonders für  sexuelle  Handlungen  unter  Personen  desselben  Ge- 
schlechts, namentlich  hinsichtlich  Päderastie.  Hier  ist  nicht  noth- 
wendig  Paraesthesia  sexualis  im  Spiel,  sondern  Hyperästhesie  bei 
physisch  oder  psychisch  unmöglicher  naturgemässer  Geschlechts- 
befriedigung. 

So  finden  wir  homosexuellen  Verkehr  bei  impotent  gewor- 
denen Masturbanten  oder  Wollüstlingen  oder,  faute  de  mieux,  bei 
sinnlichen  Weibern  und  Männern  in  Gefängnissen,  Schiffen,  Casernen, 
Bagno's,  Pensionaten  u.  s.  w. 

Zum  normalen  Geschlechtsverkehr  wird  sofort  zurückgekehrt, 
wenn  die  Hindernisse  für  denselben  entfallen.  Ganz'  besonders  häufig 
ist  die  Ursache  solcher  temporärer  Verirrung:  die  Masturbation 
und  ihre  Folgen  bei  jugendlichen  Individuen. 

Nichts  ist  geeignet,  die  Quelle  edler,  idealer  Gefühlsregungen, 
die  aus  einer  normal  sich  entwickelnden  geschlechtlichen  Empfin- 
dung ganz  von  selbst  sich  erheben,  so  zu  trüben,  ja  nach  Um- 
ständen ganz  versiegen  zu  machen,  als  in  frühem  Alter  getriebene 
Onanie.  Sie  streift  von  der  sich  entfalten  sollenden  Knospe  Duft 
und  Schönheit  und  hinterlässt  nur  den  grobsinnlichen  thierischen 
Trieb  nach  geschlechtlicher  Befriedigung.  Gelangt  ein  dergestalt 
verdorbenes  Individuum  in  das  zeugungsfähige  Alter,  so  fehlt  ihm 
der  ästhetische,  ideale,  reine  und  unbefangene  Zug,  der  zum  an- 
deren Geschlechte  hindrängt.  Damit  ist  die  Gluth  der  sinnlichen 
Empfindung  erlöscht  und  die  Neigung  zum  anderen  Geschlechte 
eine  bedeutend  abgeschwächte.  Dieser  Defect  beeinflusst  die  Moral, 
die  Ethik,  den  Charakter,  die  Phantasie,  die  Stimmung,  das  Ge- 
fühls- und  Triebleben  des  jugendlichen  Masturbanten,  sowohl  des 
männlichen  als  des  weiblichen,  in  ungünstiger  Weise  und  lässt  nach 
Umständen  das  Verlangen  nach  dem  anderen  Geschlecht  auf  den 
Nullpunkt  sinken,  so  dass  Masturbation  jeglicher  naturgemässen 
Befriedigung  vorgezogen  wird. 

Zuweilen  leidet  auch  die  Entwicklung  höherer  sexualer  Ge- 
fühle gegenüber  dem  anderen  Geschlechte  dadurch  Noth,  dass 
hypochondrische  Angst  vor  Ansteckung  beim  Geschlechtsgenuss 
oder  eine  wirklich  erfolgte  Infection,  oder  auch  eine  verfehlte  Er- 
ziehung, welche  tendenziös  auf  solche  Gefahren  hinwies  und  sie 
übertrieb,  oder  (besonders  beim  Mädchen)  berechtigte  Angst  vor 
den  Folgen  des  Coitus  (Schwängerung),    oder    auch  Ekel   vor  dem 


Erworbene  conträre  Sexualempfindung.  197 

Mann  auf  Grund  physischer  und  moralischer  Gebrechen  desselben 
die  Befriedigung  des  mit  krankhafter  Stärke  sich  geltend  machenden 
Triebs  in  perverse  Bahnen  lenkten.  Aber  die  zu  frühe  und  per- 
verse Geschlechtsbefriedigung  schädigt  nicht  bloss  den  Geist,  sondern 
auch  den  Körper,  insofern  sie  Neurosen  des  Sexualapparates  herbei- 
führt (reizbare  Schwäche  des  Erections-  und  des  Ejaculationscentrums, 
mangelhaftes  Wollustgefühl  beim  Beischlaf  u.  s.  w.),  während  sie 
die  Phantasie  in  fortwährender  Erregung  erhält  und  die  Libido 
anregt. 

Wohl  bei  jedem  Masturbanten  kommt  ein  Zeitpunkt,  wo  er, 
erschreckt  durch  Belehrung  über  die  Folgen  des  Lasters  oder  diese 
an  sich  gewahrend  (Neurasthenie),  oder  durch  Beispiel,  Verführung 
zum  anderen  Geschlecht  gedrängt,  dem  Laster  entfliehen  und  seine 
Vita  sexualis  saniren  möchte. 

Die  moralischen  und  physischen  Bedingungen  sind  hier  die 
denkbar  ungünstigsten.  Die  reine  Gluth  der  Empfindung  ist  dahin, 
das  Feuer  sexueller  Brunst  fehlt,  nicht  minder  das  Selbstvertrauen, 
denn  jeder  Masturbant  ist  mehr  weniger  feige,  muthlos.  Rafft  sich 
der  jugendliche  Sünder  zu  einem  Versuch  zu  coitiren  auf,  so  wird 
er  entweder  enttäuscht,  weil  mit  mangelhaftem  Wollustgefühl  der 
Genuss  fehlt,  oder  es  fehlt  ihm  die  physische  Kraft  zur  Vollbringung 
des  Akts.  Dieses  Fiasko  hat  die  Bedeutung  einer  Katastrophe 
und  führt  zu  absoluter  psychischer  Impotenz.  Böses  Gewissen,  die 
Erinnerung  an  erlebte  Blamagen  hindern  den  Erfolg  bei  weiteren 
Versuchen.  Die  fortbestehende  Libido  sexualis  verlangt  aber  nach 
Befriedigung  und  die  moralische  und  physische  Perversion  drängt 
immer  mehr  vom  Weibe  ab. 

Aus  verschiedenen  Gründen  (neurasthenische  Beschwerden, 
hypochondrische  Furcht  vor  den  Folgen  u.  s.  w.)  wird  das  In- 
dividuum aber  auch  von  Masturbation  abgedrängt.  Vorübergehend 
kann  es  hier  zu  Bestialität  kommen.  Nahe  liegt  dann  der  Verkehr 
mit  dem  eigenen  Geschlecht  —  durch  gelegentliche  Verführung, 
durch  Freundschaftsgefühle,  die  sich  auf  dem  Boden  pathologischer 
Sexualität  leicht  mit  sexuellen  verbinden. 

Passive  und  mutuelle  Onanie  sind  dann  der  bisherigen  Ge- 
pflogenheit adäquate  Akte.  Findet  sich  ein  Verführer,  leider  so 
häufig,  so  entsteht  der  gezüchtete  Päderast,  d.  h.  ein  Mensch,  der 
quasi  Akte  der  Onanie  mit  Personen  des  eigenen  Geschlechts  voll- 
zieht, sich  dabei  in  activer,  seinem  wirklichen  Geschlecht  ent- 
sprechender Rolle  fühlt  und  gefällt,    und    seelisch  nicht  bloss  Per- 


198  Paraesthesia  sexualis. 

sonen  des  anderen,  sondern  auch  denen  des  eigenen  Geschlechts 
gegenüber  sich  auf  dem  Indifferenzpunkt  befindet. 

Bis  zu  dieser  Stufe  erstreckt  sich  die  sexuelle  Verkommenheit 
des  normal  veranlagten,  unbelasteten,  geistig  gesunden  In- 
dividuums. Es  ist  kein  Fall  nachzuweisen,  in  welchem  bei  un- 
belasteten Individuen  die  Perversität  zur  Per  Version,  zur  Um- 
kehr der  Geschlechtsempfindung  geworden  wäre1). 

Anders  liegt  die  Sache  beim  belas  teten,  wahrscheinlich  bisexual 
veranlagt  gebliebenen,  d.  h.  nicht  zu  ausschliesslich  heterosexualer 
Empfindung  ausgebildeten  Individuum.  Die  bisher  latent  gebliebene 
perverse  Sexualität  entwickelt  sich  unter  dem  Einfluss  der  durch 
Masturbation,    Abstinenz  oder  sonstwie   entstandenen  Neurasthenie. 


x)  Garnier  („Anomalies  sexuelles",  Paris,  p.  508—509)  berichtet  2  Fälle 
(Beob.  222  u.  223),  welche  dieser  Annahme  scheinbar  entgegenstehen,  besonders 
der  erstere,  wo  Kränkung  über  die  Untreue  der  Geliebten  den  Betreffenden 
dazu  gelangen  Hess,  den  Verführungen  von  Männern  zu  unterliegen.  Aus  der 
Beobachtung  ergibt  sich  aber  klar,  dass  dieses  Individuum  niemals  Gefallen 
an  homosexualen  Akten  hatte.  In  Beobachtung  223  handelt  es  sich  um 
einen  Effeminirten  ab  origine,  mindestens  einen  psychischen  Hennaphroditen. 

Die  Meinung  Derjenigen,  welche  für  die  Entstehung  homosexualer  Em- 
pfindungen und  Triebe  ausschliesslich  fehlerhafte  Erziehung  und  andere  psycho- 
logische Momente  verantwortlich  machen,  ist  eine  ganz  irrige. 

Man  kann  einen  Unbelasteten  noch  so  weibisch  erziehen ,  und  ein 
Weib  noch  so  männlich,  sie  werden  dadurch  nicht  homosexual  werden.  Die 
Naturanlage  ist  entscheidend,  nicht  die  Erziehung  und  anderes 
Zufällige,  wie  z.  B.  Verführung.  Von  conträrer  Sexualempfindung  kann 
nur  die  Rede  sein,  wenn  die  Person  des  eigenen  Geschlechts  einen  psycho- 
sexualen  Reiz  auf  die  andere  ausübt,  also  Libido,  Orgasmus  vermittelt,  nament- 
lich aber  seelisch  anziehend  wirkt.  Ganz  anders  die  Fälle,  wo  faute  de  mieux 
bei  grosser  Sinnlichkeit  und  mangelhaftem  ästhetischem  Sinn  eine  Person  des 
eigenen  Geschlechts  zu  einem  onanistischen  Akt  (nicht  zu  einem  Coitus  in  see- 
lischem Sinne)  an  ihrem  Körper  benutzt  wird. 

Sehr  klar  und  überzeugend  weist  Moll  in  seiner  verdienstvollen  Mono- 
graphie auf  das  Schwergewicht  der  originären  Veranlagung  gegenüber  der 
Bedeutung  von  Gelegenheitsursachen  hin  (vergl.  op.  cit.  p.  212 — 231).  Er  weiss 
„von  vielen  Fällen,  wo  der  frühere  sexuelle  Verkehr  mit  Männern  eine  Per- 
version nicht  herbeiführen  konnte".  Moll  sagt  ferner  bezeichnend :  „Ich  kenne 
eine  derartige  Epidemie  (von  mutueller  Onanie)  aus  einer  Berliner  Schule, 
woselbst  ein  jetziger  Schauspieler  die  mutuelle  Onanie  in  schamloser  Weise 
eingeführt  hat.  Obwohl  ich  jetzt  die  Namen  von  sehr  vielen  Berliner  Urningen 
weiss,  so  konnte  ich  doch  unter  den  damaligen  Schülern  des  betr.  Gymnasiums 
von  keinem  auch  nur  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  ermitteln,  dass  er  Urning 
geworden  sei,  hingegen  weiss  ich  von  vielen  dieser  Schüler  ziemlich  genau, 
dass  sie  jetzt  geschlechtlich  normal  empfinden  und  verkehren." 


Erworbene  conträre  Sexualempfindung.  199 

Es  kommt  allmählig  im  Contact  mit  Personen  des  eigenen 
Geschlechts  zu  sexueller  Erregbarkeit  durch  solche.  Bezügliche 
Vorstellungen  werden  mit  Lustgefühlen  betont  und  erwecken  ent- 
sprechende Dränge.  Diese  entschieden  degenerative  Reactionsweise 
ist  der  Anfang  eines  körperlich  seelischen  Umwandlungsprocesses, 
der  in  dem  Folgenden  seine  Darstellung  finden  mag  und  zu  dem 
Interessantesten  gehört,  was  sich  psychopathologisch  beobachten 
lässt.  Diese  Metamorphose  lässt  verschiedene  Stadien  oder  Stufen 
erkennen. 

I.  Stufe:  Einfache  Verkehrung  der  Geschlechtsempfindung. 

Diese  Stufe  ist  erreicht  mit  dem  Zeitpunkt,  wo  die  Person 
des  eigenen  Geschlechts  aphrodisisch  wirkt  und  der  Betreffende  ge- 
schlechtlich für  sie  empfindet.  Charakter  und  Empfindungsweise 
bleiben  aber  vorerst  dem  Geschlecht,  welches  der  jene  Verkehrung 
der  Geschlechtsempfindung  Bietende  besitzt,  noch  entsprechend.  Er 
fühlt  sich  in  activer  Rolle,  empfindet  seinen  Drang  zum  eigenen 
Geschlecht  als  eine  Verirrung  und  sucht  eventuell  Hülfe. 

Mit  episodisch  gebesserter  Neurose  kann  sogar  Anfangs 
normale  sexuelle  Empfindung  wieder  auftreten  und  sich  behaupten. 
Die  folgende  Beobachtung  erscheint  recht  geeignet,  diese  Etappe 
auf  dem  Weg  der  psychosexualen  Entartung  zu  exemplificiren. 

Beobachtung  94.  Erworbene  conträre  Sexualempfindung. 
Ich  bin  Beamter  und  stamme  aus  einer,  soviel  mir  bekannt,  unbelasteten 
Familie;  mein  Vater  starb  an  einer  acuten  Krankheit,  die  Mutter  lebt,  ist 
ziemlich  „nervös".  Eine  Schwester  ist  seit  einigen  Jahren 
sehr  intensiv  religiös  geworden. 

Ich  selbst  bin  gross ,  mache  einen  durchaus  männlichen  Eindruck  in 
Sprache,  Gang  und  Haltung.  Von  Krankheiten  habe  ich  nur  Masern  durch- 
gemacht, habe  aber  von  meinem  13.  Jahre  ab  an  sogenannten  nervösen  Kopf- 
schmerzen gelitten. 

Mein  sexuelles  Leben  begann  im  13.  Lebensjahre,  wo  ich  einen  etwas 
älteren  Jungen  kennen  lernte,  quocum  alter  alterius  genitalia  tangendo  delec- 
tabar.  In  meinem  14.  Lebensjahre  hatte  ich  die  erste  Ejaculation.  Von  zwei 
älteren  Mitschülern  zur  Onanie  verführt,  fröhnte  ich  derselben  theils  mit 
Anderen,  theils  allein,  im  letzteren  Fall  jedoch  stets  mit  dem  Gedanken  an 
Personen  weiblichen  Geschlechts.  Meine  Libido  sexualis  war  sehr  gross,  wie 
sie  es  auch  heute  noch  ist.  Später  versuchte  ich  mit  einem  hübschen,  kräf- 
tigen Dienstmädchen  mit  sehr  starken  Mammae  anzubinden;  id  solum  assecu- 
tus  sum,  ut  me  praesente  superiorem  corporis  sui  partem  enudaret  mibique 
concederet  os  mammasque  osculari,  dum  ipsa  penem  meum  valde  erectum  in 
manum  suam  recepit  eumque  trivit. 


200  Paraesthesia  sexualis. 

Quamquam  violentissime  coitum  rogavi  hoc  solum  concessit,  ut  genitalia 
eius  tangerem. 

Auf  die  Universität  gekommen,  suchte  ich  ein  Lupanar  auf,  reussirte 
auch  ohne  Anstrengung. 

Da  aber  trat  ein  Ereigniss  ein,  welches  in  mir  einen  Umschwung  her- 
vorbrachte. Ich  begleitete  eines  Abends  einen  Freund  nach  Hause  und  griff 
ihm,  etwas  angeheitert  wie  ich  war,  ad  genitalia.  Er  wehrte  sich  nur  wenig; 
ich  ging  dann  mit  auf  sein  Zimmer,  wir  onanisirten  uns  und  trieben  fortan 
diese  mutuelle  Masturbation  ziemlich  häufig;  es  kam  sogar  zur  immissio  penis 
in  os  mit  folgender  Ejaculation.  Sonderbar  ist  es  nur,  dass  ich  in  diesen 
Betreffenden  nicht  im  geringsten  verliebt  war,  dagegen  leidenschaftlich  in  einen 
anderen  meiner  Freunde,  in  dessen  Nähe  ich  aber  niemals  die  geringste  sexuelle 
Erregung  spürte,  den  ich  überhaupt  nie  mit  sexuellen  Vorgängen  in  meinen 
Gedanken  zusammenbrachte.  Meine  Besuche  im  Lupanar,  wo  ich  ein  gern 
gesehener  Gast  war,  wurden  seltener,  ich  fand  bei  meinem  Freunde  Ersatz 
und  sehnte  mich  nicht  nach  geschlechtlichem  Verkehr  mit  Weibern. 

Päderastie  trieben  wir  niemals,  das  Wort  wurde  zwischen  uns  überhaupt 
nicht  genannt.  Seit  Beginn  dieses  Verhältnisses  mit  meinem  Freunde  onanirte 
ich  wieder  mehr;  naturgemäss  traten  die  Gedanken  an  weibliche  Personen 
mehr  und  mehr  in  den  Hintergrund,  ich  dachte  an  junge,  hübsche,  kräftige 
Männer  mit  möglichst  grossen  Gliedern.  Burschen  von  16 — 25  Jahren  ohne 
Bart  waren  mir  die  liebsten,  aber  sie  mussten  hübsch  und  sauber  sein.  Be- 
sonders erregten  mich  jugendliche  Arbeiter  mit  Hosen  aus  sogenanntem  Man- 
chesterstoff oder  aus  englischem  Leder,  vornehmlich  Maurer. 

Gleichgestellte  Personen  reizen  mich  so  gut  wie  gar  nicht,  dagegen 
empfinde  ich  beim  Anblick  eines  solchen  strammen  Jungen  aus  dem  Volke 
eine  deutliche  sexuelle  Erregung.  Das  Berühren  solcher  Beinkleider,  das  Oeffnen 
derselben,  das  Ergreifen  des  Penis,  sowie  das  Küssen  des  Burschen  erscheint 
mir  von  höchstem  Reiz.  Meine  Empfänglichkeit  für  weibliche  Reize  ist  etwas 
abgestumpft,  doch  bin  ich  im  geschlechtlichen  Verkehr  mit  einem  Weibe, 
besonders  wenn  es  stark  entwickelte  Mammae  hat,  stets  potent,  ohne  dass  ich 
Phantasiebilder  zu  Hilfe  nehme.  Ich  habe  nie  den  Versuch  gemacht,  einen 
jungen  Arbeiter  oder  dergl.  für  meine  unschönen  Gelüste  zu  missbrauchen  und 
werde  es  auch  nicht  thun,  aber  die  Lust  dazu  verspüre  ich  sehr  oft.  Zuweilen 
halte  ich   das  Bild   eines  solchen  Burschen   fest  und   onanire  dann  zu  Hause. 

Sinn  für  weibliche  Beschäftigung  fehlt  mir  völlig.  In  Damengesellschaft 
verkehre  ich  massig  gern,  Tanzen  ist  mir  zuwider.  Ich  interessire  mich  leb- 
haft für  schöne  Künste.  Dass  ich  stellenweise  conträr  sexual  empfinde,  ist, 
glaube  ich,  zum  Theil  eine  Folge  grosser  Bequemlichkeit,  welche  mich  ver- 
hindert, irgend  ein  Verhältniss  mit  einem  Mädchen  anzuknüpfen ,  da  mir  das 
zu  viel  Umstände  macht;  immer  das  Lupanar  aufzusuchen,  ist  mir  aus  ästhe- 
tischen Gründen  zuwider;  so  verfalle  ich  denn  auf  das  leidige  Onaniren,  von 
dem  zu  lassen  mir  sehr  schwer  fällt. 

Ich  habe  mir  selbst  hundertmal  vorgehalten,  dass  ich,  um  vollständig 
normal  sexuell  empfinden  zu  können,  vor  allem  die  schier  unbezwingliche 
Leidenschaft  für  die  unselige  Onanie,  diese  meinem  ästhetischen  Gefühl  so 
widerwärtige  Verirrung,  unterdrücken  müsse;  ich  habe  mir  so  und  so  oft  vor- 
genommen, mit  aller  Kraft  des  Willens  gegen  diese  Leidenschaft  anzukämpfen ; 


Erworbene  conträre  Sexualempfindung.  201 

es  ist  mir  bis  heute  nicht  gelungen.  Anstatt,  wenn  sich  der  sexuelle  Trieb 
besonders  heftig  in  mir  regte,  Befriedigung  auf  natürlichem  Wege  zu  suchen, 
zog  ich  es  vor,  zu  onaniren,  weil  ich  fühlte,  dass  ich  davon  mehr  Genuss 
haben  würde. 

Und  dabei  hat  mich  die  Erfahrung  gelehrt,  dass  ich  bei  Mädchen  stets 
potent  bin  und  zwar  ohne  Mühe  und  ohne  Zuhilfenahme  von  Bildern  männ- 
licher Genitalien,  mit  Ausnahme  eines  einzigen  Falles,  in  dem  ich  es  aber 
deshalb  nicht  zu  einer  Ejaculation  brachte,  weil  das  betreffende  weibliche 
Wesen  —  es  war  in  einem  Lupanar  —  jeglicher  Reize  entbehrte.  Ich  kann 
mich  des  Gedankens  und  schweren  Selbstvorwurfs  nicht  entschlagen,  dass  die 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  bei  mir  doch  nun  einmal  vorhandene  c.  S.  eine 
Folge  des  excessiven  Onanirens  ist,  und  das  wirkt  vornehmlich  so  deprimirend 
auf  mich,  weil  ich  mir  sagen  muss,  dass  ich  kaum  in  mir  die  Kraft  fühle, 
diesem  Laster  aus  eigenem  Willen  ganz  zu  entsagen. 

In  Folge  des  in  meinem  Schreiben  erwähnten  geschlechtlichen  Verhält- 
nisses zu  einem  Studiengenossen  und  langjährigen  Schulfreunde,  welches  aber 
erst  während  unserer  Universitätszeit  entstand,  nachdem  wir  7  Jahre  lediglich 
freundschaftlich  verkehrt  hatten,  ist  in  mir  der  Trieb  zu  unnatürlicher  Befrie- 
digung der  Libido  bedeutend  stärker  geworden. 

Ich  bitte ,  mir  noch  die  Erzählung  einer  Episode  zu  gestatten ,  die  mir 
Monate  lang  viel  zu  schaffen  gemacht. 

Ich  lernte  im  Sommer  1882  einen  6  Jahre  jüngeren  Kommilitonen 
kennen,  welcher  zugleich  mit  mehreren  anderen  an  mich  und  meine  Bekannten 
empfohlen  war.  Sehr  bald  fühlte  ich  ein  tieferes  Interesse  für  den  bildschönen, 
ungemein  proportionirt ,  schlank  und  gesund  aussehenden  Menschen,  welches 
sich  nach  mehrwöchentlichem  Verkehr  zu  intensivstem  Freundschaftsgefühl, 
weiterhin  zur  leidenschaftlichen  Liebe  und  quälenden  Eifersuchtsempfindung 
entwickelte.  Ich  merkte  sehr  bald,  dass  bei  mir  sinnliche  Regungen  stark 
mitsprachen,  und  so  fest  ich  mir  auch  vornahm,  mit  diesem,  von  allem 
Anderen  abgesehen,  von  mir  wegen  seines  vortrefflichen  Charakters  so  hoch 
geachteten  Menschen  gegenüber  im  Zaum  zu  halten,  unterlag  ich  doch  in 
einer  Nacht,  als  wir  nach  vorausgegangenem  reichlichem  Biergenuss  in 
meiner  Wohnung  bei  einer  Flasche  Wein  sassen  und  auf  gute,  wahre  und 
dauernde  Freundschaft  tranken,  der  unwiderstehlichen  Begierde,  ihn  an  mich 
zu  pressen  u.  s.  w. 

Als  ich  ihn  am  nächsten  Tage  wiedersah,  schämte  ich  mich  so,  dass  ich 
ihm  nicht  in  die  Augen  blicken  konnte.  Ich  empfand  die  bitterste  Reue  über 
mein  Vergehen  und  machte  mir  die  heftigsten  Vorwürfe,  dass  ich  diese  Freund- 
schaft, die  rein  und  edel  sein  und  bleiben  sollte,  so  beschmutzt  hatte.  Um 
jenem  zu  beweisen,  dass  ich  mich  nur  momentan  hatte  hinreissen  lassen, 
drängte  ich  ihn,  am  Schlüsse  des  Semesters  mit  mir  eine  Reise  zu  machen; 
nach  einigem  Widerstreben,  dessen  Gründe  mir  nur  zu  klar  waren,  willigte  er 
ein;  wir  schliefen  mehrere  Nächte  im  selben  Zimmer,  ohne  dass  ich  den  ge- 
ringsten Versuch  gemacht  hätte,  jene  Handlung  zu  wiederholen.  Ich  wollte 
mit  ihm  über  den  Vorgang  jener  Nacht  sprechen,  ich  brachte  es  nicht  fertig; 
als  wir  im  folgenden  Semester  getrennt  waren,  konnte  ich  es  auch  nicht  über 
mich  gewinnen,  ihm  in  der  betreffenden  Sache  zu  schreiben,  und  als  ich  ihn 
dann  im  März  in  X.  besuchte,    ging    es  mir  wieder  so.     Und  doch  fühlte  ich 


202  Paraeathesia  sexualis. 

das  dringendste  Bedürfniss,  diesen  dunkeln  Punkt  durch  eine  offene  Aussprache 
zu  klären.  Im  October  dieses  Jahres  war  ich  wieder  in  X.  und  diesmal  fand 
ich  den  Muth  zur  rückhaltlosen  Aussprache.  Ich  bat  ihn  um  Verzeihung,  die 
er  mir  gern  gewährte;  ja,  ich  fragte  ihn  sogar,  weshalb  er  mir  damals  nicht 
entschiedenen  Widerstand  geleistet,  worauf  er  antwortete,  zum  Theil  hätte  er 
mir  aus  Gefälligkeit  meinen  Willen  gelassen,  zum  Theil,  weil  er  ziemlich  an- 
gezecht gewesen  und  somit  in  einer  gewissen  Apathie  befangen  gewesen  sei. 
Ich  setzte  ihm  meinen  Zustand  eingehend  auseinander,  gab  ihm  auch  die 
Psychopathia  sexualis  zu  lesen  und  sprach  ihm  die  feste  Hoffnung  aus,  dass 
es  mir  aus  eigener  Kraft  gelingen  würde ,  meiner  unnatürlichen  Triebe  völlig 
und  dauernd  Herr  zu  werden.  Seit  dieser  Aussprache  ist  das  Verhältniss 
zwischen  jenem  Freunde  und  mir  das  denkbar  erfreulichste  und  beglückendste, 
die  freundschaftlichen  Gefühle  sind  auf  beiden  Seiten  innige,  wahre  und 
hoffentlich  dauernde. 

Wenn  ich  nicht  eine  Besserung  meines  abnormen  Zustandes  erkennen 
sollte,  würde  ich  mich  wohl  entschli essen,  mich  vollständig  Ihrer  Behandlung 
zu  unterstellen,  um  so  mehr,  als  ich  mich  nach  genauem  Studium  Ihres  Werkes 
nicht  zu  der  Kategorie  der  sogenannten  Urninge  zählen  kann,  vielmehr  die 
feste  Ueberzeugung  oder  jedenfalls  Hoffnung  habe,  dass  festester  Wille,  unter- 
stützt und  geleitet  durch  sachkundige  Behandlung,  mich  zum  normal  empfin- 
denden Menschen  machen  können. 

Beobachtung  95.  Ilma  S. J) ,  29  Jahre,  ledig,  Kaufmannstochter, 
stammt  aus  schwer  belasteter  Familie.  Vater  war  Potator  und  endete  durch 
Selbstmord,  gleichwie  Bruder  und  Schwester  der  Pat.  Schwester  leidet  an 
Hysteria  convulsiva.  Mutters  Vater  erschoss  sich  in  irrsinnigem  Zustand. 
Mutter  war  kränklich  und  stark  apoplectisch  gelähmt.  Pat.  war  nie  schwer 
krank,  begabt,  schwärmerisch,  phantasievoll,  träumerisch.  Menses  mit  18  Jahren 
ohne  Beschwerden,  in  der  Folge  höchst  unregelmässig.  Mit  14  Jahren  Chlorose 
und  Schreckkatalepsie.  Später  Hysteria  gravis  und  Anfall  von  hysterischem 
Wahnsinn.  Mit  18  Jahren  Verhältniss  mit  einem  jungen  Mann,  das  kein  pla- 
tonisches blieb.  Die  Liebe  dieses  Mannes  wurde  brünstig  erwidert.  Aus  An- 
deutungen der  Pat.  geht  hervor,  dass  sie  sehr  sinnlich  war  und  sich  nach 
Entfernung  von  dem  Geliebten  der  Masturbation  ergab.  Pat.  führte  in  der 
Folge  einen  romanhaften-  Lebenswandel.  Um  ihr  Fortkommen  zu  finden,  zog 
sie  Männerkleider  an,  wurde  Hauslehrer,  gab  die  Stelle  auf,  weil  die  Frau 
.vom  Hause,  ihr  Geschlecht  nicht  kennend,  sich  in  sie  verliebte  und  ihr  nach- 
stellte. Sie  wurde  nun  Bahnbeamter.  In  Gesellschaft  der  Collegen  musste 
sie,  um  ihr  wahres  Geschlecht  zu  verbergen,  mit  ihnen  Bordelle  besuchen,  die 
anstössigsten  Gespräche  anhören.  Dies  wurde  ihr  so  widerlich,  dass  sie  ihre 
Stelle  aufgab ,  eines  Tages  wieder  Weiberkleider  anzog  und  in  weiblicher 
Stellung  ihren  Erwerb  suchte.  Wegen  Diebstählen  kam  sie  in  Haft,  wegen 
schwerer  hystero-epileptischer  Insulte  ins  Spital.  Dort  entdeckte  man  Neigung 
und  Trieb  zum  eigenen  Geschlecht.  Pat.  fiel  allenthalben  lästig  durch  brün- 
stige Liebe  zu  Pflegerinnen  und  Mitkranken. 


J)  Vgl.  d.  Verf.  „Experimentelle  Studie  auf  dem  Gebiet  des  Hypnotis- 
3.  Aufl.  1893.* 


Erworbene  conträre  Sexualempfindung.  203 

Man  hielt  ihre  sexuelle  Perversion  für  eine  angeborene.  Pat.  gab  in 
dieser  Hinsicht  interessante  berichtigende  Aufschlüsse: 

„Man  beurtheilt  mich  unrichtig,  wenn  man  glaubt,  dass  ich  mich  dem 
weiblichen  Geschlecht  gegenüber  als  Mann  fühle.  Ich  verhalte  mich  vielmehr 
in  meinem  ganzen  Denken  und  Fühlen  als  Weib.  Habe  ich  doch  meinen 
Cousin  so  geliebt,  wie  nur  ein  Weib  einen  Mann  lieben  kann. 

„Die  Aenderung  meiner  Gefühle  entstand  dadurch,  dass  ich  in  Pest,  als 
Mann  verkleidet,  Gelegenheit  hatte,  meinen  Cousin  zu  beobachten.  Ich  sah, 
dass  ich  mich  in  ihm  arg  getäuscht  hatte.  Das  bereitete  mir  furchtbare  Seelen- 
qualen. Ich  wusste,  dass  ich  nie  mehr  im  Stande  sein  werde,  einen  Mann  zu 
lieben,  dass  ich  zu  jenen  gehöre,  die  nur  einmal  lieben.  Dazu  kam,  dass  ich 
in  der  Gesellschaft  meiner  Collegen  von  der  Bahn  die  anstössigsten  Gespräche 
anhören,  die  verrufensten  Häuser  besuchen  musste.  Durch  die  so  gewonnenen 
Einblicke  in  das  Treiben  der  Männerwelt  bekam  ich  einen  unüberwindlichen 
Widerwillen  gegen  die  Männer.  Da  ich  aber  von  Natur  sehr  leidenschaftlich 
bin  und  das  Bedürfniss  habe,  mich  einer  geliebten  Person  anzuschliessen  und 
mich  derselben  ganz  hinzugeben,  fühlte  ich  mich  immer  mehr  zu  mir  sym- 
pathischen Frauen  und  Mädchen,  besonders  durch  Intelligenz  hervorragenden, 
mächtig  hingezogen." 

Die  offenbar  erworbene  conträre  Sexualempfindung  dieser  Pat.  äusserte 
sich  oft  in  stürmischer,  entschieden  sinnlicher  Weise  und  gewann  weiteren 
Boden  durch  Masturbation,  da  die  permanente  Aufsicht  in  Spitälern  sexuelle 
Befriedigung  am  eigenen  Geschlecht  nicht  möglich  machte.  Charakter  und 
Beschäftigungsweise  blieben  weiblich.  Zu  Erscheinungen  von  Viraginität  kam 
es  nicht.  Nach  dem  Verfasser  kürzlich  gewordenen  Mittheilungen  ist  diese 
Kranke  durch  zweijährige  Behandlung  in  der  Irrenanstalt  von  ihrer  Neurose 
und  sexualen  Perversion  befreit  und  genesen  entlassen  worden. 

Beobachtung  96.  Herr  X.,  35  Jahre,  ledig,  Beamter,  stammt  von 
gemüthskranker  Mutter.    Bruder  Hypochonder. 

Pat.  war  gesund,  kräftig,  von  lebhaftem,  sinnlichem  Temperament,  hatte 
abnorm  früh  und  mächtig  sich  regenden  Sexualtrieb ,  masturbirte  schon  als 
kleiner  Knabe,  coitirte  zum  ersten  Mal  schon  mit  14  Jahren,  angeblich  mit 
Genuss  und  voller  Potenz.  15  Jahre  alt,  versuchte  ihn  ein  Mann  zu  verführen, 
manustuprirte  ihn.  X.  empfand  Abscheu,  befreite  sich  aus  dieser  „ekelhaften" 
Situation.  Er  excedirte  herangewachsen  in  unbändiger  Libido  mit  Coitus, 
wurde  1880  neurasthenisch,  litt  an  Erectionssch wache  und  Ejaculatio  praecox, 
wurde  damit  immer  weniger  potent  und  empfand  auch  keinen  Genuss  mehr 
beim  sexuellen  Akt.  Zu  jener  Zeit  der  sexuellen  Decadence  hatte  er  noch  eine 
Zeitlang  eine  ihm  früher  fremde  und  ihm  noch  jetzt  ganz  unbegreifliche 
Neigung  zum  sexuellen  Verkehr  cum  puellis  non  pubibus  XII  ad  XIII  annorum. 
Seine  Libido  steigerte  sich  mit  abnehmender  Potenz. 

Allmählich  bekam  er  Neigung  zu  Knaben  von  13 — 14  Jahren.  Es  trieb 
ihn,  an  solche  sich  anzudrängen. 

Quodsi  ei  occasio  data  est,  ut  tangere  posset  pueros,  qui  ei  placuere, 
penis  vehementer  se  erexit  tum  maxime  quum  crura  puerorum  tangere  potuisset. 
Abhinc  feminas  non  cupivit.  Nonnunquam  feminas  ad  coitum  coegit  sed  erectio 
debilis,  eiaculatio  praematura  erat  sine  ulla  voluptate. 


204  Paraesthesia  sexualis. 

Es  interessirten  ihn  nur  noch  junge  Bursche.  Er  träumte  von  ihnen, 
bekam  dabei  Pollutionen.  Von  1882  ab  hatte  er  ab  und  zu  Gelegenheit,  con- 
cumbere  cum  juvenibus.  Er  war  dann  sexuell  mächtig  erregt,  half  sich  mit 
Masturbation. 

Nur  ausnahmsweise  wagte  er  es,  socios  concumbentes  tangere  et  mastur- 
bationem  mutuam  adsequi.  Päderastie  verabscheute  er.  Meist  war  er  ge- 
nöthigt,  seinem  sexuellen  Bedürfniss  durch  solitäre  Masturbation  zu  genügen. 
Er  stellte  sich  dabei  das  Erinnerungsbild  sympathischer  Knaben  vor.  Nach 
sexuellem  Verkehr  mit  solchen  fühlte  er  sich  jeweils  gekräftigt,  erfrischt,  aber 
moralisch  gedrückt  in  dem  Bewusstsein,  eine  perverse,  unsittliche,  strafbare 
Handlung  begangen  zu  haben.  Er  empfand  es  höchst  peinlich,  dass  sein  ab- 
scheulicher Trieb  mächtiger  sei  als  sein  Wille. 

X.  vermuthet,  dass  seine  Liebe  zum  eigenen  Geschlecht  durch  masslose 
Excesse  im  natürlichen  Geschlechtsgenuss  entstanden  sei,  beklagt  tief  seine 
Lage,  fragt  anlässlich  einer  Consultation  im  December  1888,  ob  es  kein  Mittel 
gebe ,  um  ihn  zu  normaler  Sexualität  zurückzubringen ,  da  er  ja  eigentlich 
keinen  Horror  feminae  habe  und  gerne  heirathen  würde. 

Ausser  Erscheinungen  sexueller  und  spinaler  Neurasthenie  massigen 
Grades  bietet  der  intelligente,  von  Degenerationszeichen  freie  Pat.  keine  Krank- 
heitssymptome. 


IL  Stufe:  Eviratio  und  Defeminatio. 

Tritt  bei  derart  entwickelter  conträrer  Sexualempfindung  keine 
Rückbildung  ein,  so  kann  es  zu  tiefer  greifenden  und  dauernden 
Umänderungen  der  psychischen  Persönlichkeit  kommen.  Der 
hier  sich  vollziehende  Process  lässt  sich  kurz  als  Eviratio  (De- 
feminatio —  beim  Weibe)  bezeichnen.  Der  Kranke  erfährt  eine 
tiefgehende  Wandlung  seines  Charakters,  speciell  seiner  Gefühle 
und  Neigungen  im  Sinne  einer  weiblich  fühlenden  Persönlichkeit. 
Von  nun  an  fühlt  er  sich  auch  als  Weib  bei  sexuellen  Akten,  hat 
nur  mehr  Sinn  für  passive  Geschlechtsbethätigung  und  geräth  nach 
Umständen  auf  die  Stufe  der  Courtisane.  In  diesem  Zustand  tieferer 
und  dauernder  psychosexualer  Veränderung  gleicht  der  Betreffende 
vollkommen  dem  (angeborenen)  Urning  höheren  Grades.  Die  Mög- 
lichkeit einer  Wiederherstellung  der  alten  geistigen  und  sexualen 
Persönlichkeit  erscheint  hier  ausgeschlossen. 

Die  folgende  Beobachtung  ist  ein  klassisches  Beispiel  der- 
artiger dauernder  erworbener  conträrer  Sexualempfindung. 

Beobachtung  97.  Seh.,  30  Jahre  alt,  Arzt,  theilte  mir  eines  Tages 
seine  Lebens-  und  Krankheitsgeschichte  mit,  Aufklärung  und  Rath  erbittend 
für  gewisse  Anomalien  seiner  Vita  sexualis. 


Erworbene  conträre  Sexualempfiudung.  205 

Die  folgende  Darstellung  folgt  vielfach  verbotenus  der  umfangreichen 
Autobiographie,  sie  nur  gelegentlich  kürzend. 

Von  gesunden  Eltern  erzeugt,  war  ich  als  Kind  schwächlich,  gedieh 
aber  unter  guter  Pflege  und  kam  in  der  Schule  gut  fort. 

Im  11.  Jahre  wurde  ich  von  einem  Spielkameraden  zur  Masturbation 
verleitet  und  ergab  mich  ihr  mit  Leidenschaft.  Bis  zum  15.  Jahr  fiel  mir  das 
Lernen  leicht.  Mit  sich  häufenden  Pollutionen  wurde  ich  weniger  leistungs- 
fähig, kam  in  der  Schule  nicht  mehr  so  gut  fort,  war  unsicher,  beklommen 
und  verlegen,  wenn  ich  vom  Lehrer  aufgerufen  wurde.  Erschrocken  über  das 
Sinken  meiner  Fähigkeiten  und  erkennend,  dass  daran  die  grossen  Sperma- 
verluste Schuld  waren,  unterliess  ich  nun  das  Onaniren,  aber  gleichwohl 
häuften  sich  die  Pollutionen,  so  dass  ich  oft  2 — 3mal  in  einer  Nacht  ejaculirte. 

Ich  consultirte  nun  verzweifelt  Aerzte  um  Aerzte.  Keiner  konnte  mir 
helfen. 

Da  ich  durch  die  Spermaverluste  immer  schwächer  und  matter  wurde, 
auch  der  Trieb  nach  Geschlechtsbefriedigung  immer  mächtiger  sich  regte, 
ging  ich  ins  Lupanar.  Aber  dort  konnte  ich  mich  nicht  befriedigen,  denn 
wenn  mich  auch  der  Anblick  des  nackten  Weibes  ergötzte,  so  trat  doch  nicht 
Orgasmus  noch  Erection  ein,  und  selbst  durch  Manustupration  seitens  der 
Puella  war  die  Erection  nicht  zu  erzielen. 

Kaum  hatte  ich  das  Lupanar  verlassen,  so  quälte  mich  wieder  der  Trieb 
und  hatte  ich  heftige  Erectionen.  Da  schämte  ich  mich  vor  den  Mädchen 
und  besuchte  nicht  mehr  solche  Orte.  So  vergingen  ein  paar  Jahre.  Mein 
Sexualleben  bestand  aus  Pollutionen.  Meine  Neigung  zum  anderen  Geschlecht 
erkaltete  immer  mehr.  Mit  19  Jahren  kam  ich  auf  die  Universität.  Das 
Schauspielhaus  zog  mich  mehr  an.  Ich  wollte  Künstler  werden.  Die  Eltern 
gaben  es  nicht  zu.  In  der  Hauptstadt  musste  ich  mit  Collegen  hie  und  da 
wieder  zu  Mädchen  gehen.  Ich  fürchtete  derartige  Situationen,  da  ich  wusste, 
dass  mir  der  Coitus  nicht  gelingen  werde,  meine  Impotenz  den  Freunden  ver- 
rathen  werden  könnte,  nnd  so  mied  ich  thunlieh  die  Gefahr,  in  Spott  und 
Schande  zu  gerathen. 

Eines  Abends  sass  neben  mir  im  Opernhause  ein  älterer  Herr.  Er 
machte  mir  die  Cour.  Ich  lachte  herzlich  über  den  närrischen  alten  Mann 
und  ging  auf  seine  Spässe  ein.  Exinopinato  genitalia  mea  prehendit,  quo  facto 
statim  penis  meus  se  erexit.  Erschrocken  stellte  ich  ihn  zur  Rede ,  was  er 
wolle.  Er  erklärte  mir,  er  sei  in  mich  verliebt.  Da  ich  in  der  Klinik  von 
Zwittern  gehört  hatte,  glaubte  ich  einen  solchen  vor  mir  zu  haben,  curiosus 
factus  genitalia  eius  videre  volui.  Der  Alte  willigte  erfreut  ein,  ging  mit  mir 
in  den  Abort.    Sicuti  penem  maximum  eius  erectum  adspexi,  perterritus  effugi. 

Jener  passte  mich  ab ,  machte  mir  sonderbare  Anträge ,  die  ich  nicht 
verstand  und  abwies.  Er  Hess  mir  keine  Ruhe.  Ich  erfuhr  die  Geheimnisse 
des  mannmännlichen  Liebens,  fühlte,  wie  meine  Sinnlichkeit  dadurch  erregt 
wurde,  widerstand  aber  so  schmachvoller  Leidenschaft  (wie  ich  damals  dachte) 
und  blieb  die  drei  nächsten  Jahre  davon  frei.  Wiederholt  versuchte  ich  wäh- 
rend dieser  Zeit  wieder  fruchtlos  den  Coitus  mit  Mädchen.  Ebenso  erfolglos 
waren  meine  Bemühungen,  durch  ärztliche  Kunst  mich  von  meiner  Impotenz 
zu  befreien. 

Als  wieder  iinmal  die  Libido  sexualis  mich  plagte,   erinnerte  ich  mich 


206  Paraesthesia  sexualis. 

der  Aeusserung  des  alten  Herrn,  dass  auf  der  E.-Promenade  mannliebende 
Männer  zusammenkommen. 

Nach  hartem  Kampf  und  mit  klopfendem  Herzen  ging  ich  hin,  machte 
die  Bekanntschaft  eines  blonden  Herrn  und  liess  mich  verführen.  Der  erste 
Schritt  war  gethan.  Diese  Art  der  geschlechtlichen  Liebe  war  mir  adäquat. 
Am  liebsten  war  ich  immer  in  den  Armen  eines  kräftigen  Mannes. 

Die  Befriedigung  bestand  in  mutueller  Manustupration.  Gelegentlich 
Osculum  ad  penem  alterius.  Ich  war  nun  23  Jahre  alt.  Das  Zusammensitzen 
mit  den  Commilitonen  auf  den  Krankenbetten  in  der  Klinik  während  der  Vor- 
träge regte  mich  mächtig  auf,  so  dass  ich  kaum  dem  Vortrage  folgen  konnte. 
Im  gleichen  Jahre  knüpfte  ich  mit  einem  34jährigen  Kaufmann  ein  förmliches 
Liebesbündniss.  Wir  lebten  wie  Mann  und  Frau.  X.  wollte  den  Mann  spielen, 
wurde  immer  verliebter.  Ich  war  ihm  zu  Willen ,  jedoch  musste  er  mich  ab 
und  zu  auch  Mann  sein  lassen.  Mit  der  Zeit  bekam  ich  ihn  satt,  wurde  ihm 
untreu,  er  wurde  eifersüchtig.  Es  kam  zu  furchtbaren  Scenen,  zu  temporärer 
Versöhnung,  schliesslich  zu  definitivem  Bruch.  (Der  Kaufmann  wurde  später 
irrsinnig  und  endete  durch  Selbstmord.) 

Ich  machte  viele  Bekanntschaften,  liebte  die  ordinärsten  Leute.  Solche, 
die  vollbärtig ,  gross  und  im  mittleren  Alter  waren ,  die  aktive  Rolle  gut  zu 
spielen  begabt  waren,  bevorzugte  ich. 

Ich  bekam  eine  Proctitis.  Der  Professor  meinte  von  dem  vielen  Sitzen 
wegen  der  Vorbereitungen  aufs  Examen.  Ich  bekam  eine  Fistel,  musste  operirt 
werden,  aber  das  kurirte  mich  nicht  von  meinem  Drang,  mich  passiv  benutzen 
zu  lassen.  Ich  wurde  Arzt,  kam  in  eine  Provinzialstadt,  musste  da  leben  wie 
eine  Nonne. 

Ich  bekam  Neigung,  mich  in  Damengesellschaft  zu  bewegen,  und  wurde 
dort  gerne  gesehen ,  weil  man  fand ,  dass  ich  nicht  so  einseitig  sei  wie  die 
meisten  Männer  und  mich  für  Toilette  und  dergleichen  Damengespräch  inter- 
essirte.    Jedoch  fühlte  ich  mich  sehr  unglücklich  und  einsam. 

Glücklicherweise  lernte  ich  in  dieser  Stadt  einen  gleich  mir  empfinden- 
den Mann,  eine  , Schwester"  kennen.  Auf  einige  Zeit  war  ich  durch  ihn  ver- 
sorgt. Als  er  fort  musste,  kam  eine  Verzweiflungsperiode  mit  Trübsinn  bis 
zu  Selbstmordgedanken. 

Da  ich  es  in  dem  Städtchen  nicht  aushalten  konnte,  wurde  ich  Militär- 
arzt in  der  Grossstadt.  Da  lebte  ich  wieder  auf,  machte  oft  2—3  Bekannt- 
schaften an  einem  Tage.  Ich  hatte  nie  die  Knaben  oder  junge  Leute  geliebt, 
nur  wahre  Männergestalten.  So  entging  ich  den  Krallen  der  Preller.  Der 
Gedanke ,  einmal  der  Polizei  in  die  Hände  zu  fallen ,  war  mir  schrecklich ; 
gleichwohl  konnte  er  mich  nicht  an  der  Befriedigung  meiner  Triebe  ver- 
hindern. 

Nach  einigen  Monaten  verliebte  ich  mich  in  einen  40jährigen  Beamten. 
Ein  Jahr  lang  blieb  ich  ihm  treu.  Wir  lebten  wie  ein  Liebespaar.  Ich  war 
die  Frau  und  wurde  vom  Geliebten  förmlich  verhätschelt.  Eines  Tages  wurde 
ich  in  eine  kleine  Stadt  versetzt.  Wir  waren  trostlos.  Per  totam  noctem 
postremam  nos  vicissim  osculati  et  amplexati  sumus. 

In  T.  war  ich  namenlos  unglücklich,  trotz  einiger  „ Schwestern",  die  ich 
fand.  Ich  konnte  den  Geliebten  nicht  vergessen.  Um  dem  grobsinnlichen 
Trieb,  der  nach  Befriedigung  drängte,   zu  genügen,  wählte  ich  mir  Soldaten. 


Erworbene  conträre  Sexualempfindung.  207 

um  Geld  machten  die  Leute  Alles,  aber  sie  blieben  kalt  und  ich  hatte 
keinen  Genuss  mit  ihnen.  Es  gelang  mir,  nach  der  Hauptstadt  zurück- 
versetzt zu  werden.  Neues  Liebesverhältniss,  aber  viel  Eifersucht,  da  der  Ge- 
liebte gerne  in  Schwestern gesellschaft  ging,  eitel  und  kokett  war.  Es  kam 
zum  Bruch. 

Ich  war  grenzenlos  unglücklich  und  froh,  durch  Versetzung  aus  der 
Hauptstadt  fortzukommen.  Ich  sitze  nun  in  C.  einsam,  trostlos.  Zwei  Infan- 
teristen wurden  abgerichtet,  aber  mit  dem  früheren  unbefriedigenden  Erfolg. 
Wann  werde  ich  neuerdings  wahre  Liebe  finden?!  Ich  bin  über  mittelgross, 
gut  entwickelt,  sehe  etwas  verlebt  aus,  weshalb  ich  da,  wo  ich  Eroberungen 
machen  will,  mit  Toilettekünsten  nachhelfe.  Haltung,  Gesten,  Stimme  sind 
männlich.  Körperlich  fühle  ich  mich  jugendlich  wie  ein  Bursche  von  20  Jahren. 
Ich  liebe  das  Theater,  überhaupt  die  Kunst.  Meine  Aufmerksamkeit  auf  der 
Bühne  gilt  den  Schauspielerinnen,  an  welchen  ich  jede  Bewegung  und  jeden 
Faltenwurf  bemerke  und  kritisire. 

In  Herrengesellschaft  bin  ich  schüchtern,  befangen,  in  der  von  meines- 
gleichen bin  ich  ausgelassen,  witzig,  kann  schmeicheln  wie  eine  Katze,  wenn 
mir  der  Mann  sympathisch  ist.  Bin  ich  ohne  Liebe,  so  gerathe  ich  in  tiefe 
Melancholie,  die  aber  den  Tröstungen  des  ersten  hübschen  Mannes  sofort 
weicht.  Im  Uebrigen  bin  ich  leichtsinnig,  nichts  weniger  als  ehrgeizig.  Meine 
Charge  imponirt  mir  nicht.  Männliche  Beschäftigung  ist  mir  unsympathisch. 
Am  liebsten  lese  ich  Romane,  gehe  ins  Theater  u.  s.  w.  Ich  bin  weich,  empfind- 
sam, leicht  gerührt,  leicht  verletzlich,  nervös.  Ein  plötzliches  Geräusch  macht 
mich  am  ganzen  Körper  erbeben  und  ich  muss  mich  dann  zusammennehmen, 
dass  ich  nicht  aufschreie. 

Epikrise:  Der  vorstehende  Fall  ist  jedenfalls  ein  solcher  von  erwor- 
bener conträrer  Sexualempfindung,  denn  geschlechtliche  Empfindung  und  Trieb 
waren  ursprünglich  dem  weiblichen  Geschlecht  zugewendet.  Durch  Masturba- 
tion wird  Seh.  neurasthenisch. 

Als  Theilerscheinung  neurasthenischer  Neurose  entsteht  verminderte 
Ansprachsfähigkeit  des  Erectionscentrums  und  damit  relative  Impotenz.  Da- 
durch erkaltet  die  sexuelle  Empfindung  zum  anderen  Geschlechte  bei  fort- 
bestehender Libido  sexualis.  Die  erworbene  conträre  Sexualempfindung  muss 
eine  krankhafte  sein,  denn  schon  die  erstmalige  Berührung  durch  eine 
Person  des  eigenen  Geschlechts  bildet  einen  adäquaten  Reiz  für  das  Erec- 
tionscentrum.  Die  Perversion  sexuellen  Fühlens  wird  eine  ausgeprägte.  An- 
fangs fühlt  sich  Seh.  noch  in  der  Rolle  des  Mannes  beim  geschlechtlichen 
Akte,  immer  mehr  im  Verlauf  verwandelt  sich  aber  Fühlen  und  Drang 
zur  Befriedigung  in  der  Weise,  wie  sie  beim  (geborenen)  Urning  die 
Regel  ist. 

Diese  Eviratio  lässt  die  passive  Rolle  und  weiterhin  (passive)  Päde- 
rastie begehrenswerth  erscheinen.  Jene  erstreckt  sich  weiterhin  auf  den 
Charakter.  Dieser  wird  weiblich ,  insofern  Seh.  nun  mit  Vorliebe  in  Ge- 
sellschaft wirklicher  Feminae  sich  bewegt,  immer  mehr  Sinn  für  weib- 
liche Beschäftigung  bekommt  und  sogar  zur  Schminke  und  Toilettekünsten 
Zuflucht  nimmt,  um  sinkende  Reize  aufzufrischen  und  „Eroberungen"  zu 
machen. 


208  Paraesthesia  sexualis. 

Die  vorausgehenden  Thatsachen  der  erworbenen  conträren 
Sexualempfindung  und  der  Eviratio  finden  eine  interessante  Be- 
stätigung in  folgenden  ethnologischen  Erfahrungen. 

Schon  bei  H  e  r  o  d  o  t  findet  sich  die  Beschreibung  einer  sonderbaren 
Krankheit,  von  welcher  häufig  die  Skythen  befallen  wurden.  Die  Krankheit 
bestand  darin,  dass  Männer  weibisch  von  Charakter  wurden,  weibliche  Klei- 
dung anlegten,  weibliche  Arbeit  verrichteten  und  auch  in  ihrem  Aeusseren 
weibliches  Gepräge  bekamen. 

Für  diesen  Skythenwahnsinn  *)  gab  H  e  r  o  d  o  t  als  Erklärung  die  Mythe, 
es  habe  die  Göttin  Venus ,  erzürnt  über  die  Plünderung  ihres  Tempels  zu 
Ascalon  durch  die  Skythen,  die  Tempelschänder  und  ihre  männliche  Nach- 
kommenschaft zu  Weibern  gemacht. 

Hippokrates  glaubt  nicht  an  übernatürliche  Krankheiten,  erkennt, 
dass  Impotenz  hier  eine  vermittelnde  Rolle  spiele,  erklärt  dieselbe  aber  un- 
richtig aus  der  Gewohnheit  der  Skythen,  sich  anlässlich  der  durch  ihr  vieles 
Herumreiten  entstandenen  Krankheiten  in  der  Ohrengegend  zur  Ader  zu  lassen. 
Er  glaubte,  diese  Venen  seien  höchst  wichtig  für  die  Erhaltung  der  Geschlechts- 
kraft und  ihre  Durchschneidung  führe  Impotenz  herbei.  Indem  die  Skythen 
ihre  Impotenz  nun  für  göttliche  Strafe  und  unheilbar  hielten,  zogen  sie  Weiber- 
kleider an  und  lebten  fortan  wie  Weiber  unter  Weibern. 

Bemerkenswerth  ist,  dass  nach  Klaproth  (Reise  in  den  Kaukasus, 
Berlin  1812,  V,  p.  285)  und  Chotomski  (a.  a.  0.)  noch  in  unserem  Jahr- 
hundert Impotenz  eine  häufige  Folge  des  Reitens  auf  ungesattelten  Pferden 
bei  den  Tartaren  ist.  Dasselbe  wird  beobachtet  bei  den  Apaches  und  Navajos 
des  westlichen  Continents,  die  fast  niemals  zu  Fuss  gehen,  excessiv  reiten  und 
durch  kleine  Genitalien,  geringe  Libido  und  Potenz  auffällig  sind.  Dass  exces- 
sives  Reiten  schädlich  für  die  Generationsorgane  sein  kann,  wussten  schon 
Sprengel,  Lallemand,  Nysten. 

Höchst  interessante  analoge  Erfahrungen  berichtet  Hammond  von  den 
Puebloindianern  in  Neu-Mexico. 

Diese  Nachkommen  der  Azteken  züchten  sich  sog.  Mujerados,  deren 
jeder  Pueblostamm  einen  zu  den  religiösen  Ceremonien  (recte  Orgien  im  Früh- 
jahr), bei  welchen  Päderastie  eine  hervorragende  Rolle  spielt,  bedarf. 

Man  wählt,  um  einen  Mujerado  zu  züchten,  einen  möglichst  kräftigen 
Mann,  masturbirt  ihn  excessiv  und  lässt  ihn  beständig  herumreiten.  Es  ent- 
steht allmählig  eine  so  reizbare  Schwäche  der  Genitalorgane,  dass  beim  Reiten 
massenhaft  Samenerguss  entsteht.  Dieser  Reizungszustand  geht  in  paralytische 
Impotenz    über.     Nun   atrophiren   Hoden    und    Penis,    die    Barthaare    fallen 


*)  Vgl.  Sprengel,  Apologie  des  Hippokrates,  Leipzig  1792,  p.  611; 
Friedreich,  Literärgeschichte  der  psych.  Krankheiten  1830,  p.  31;  Lalle- 
mand, Des  pertes  seminales,  Paris  1836,  I.  p.  581;  Nysten,  Dictionn.  de 
medecine  11.  edit.,  Paris  1858,  Art.  eviration  und  Maladie  des  Scythes;  Ma- 
randon,  De  la  maladie  des  Scythes,  Annal.  medico-psychol.  1877,  Mars, 
p.  161;  Hammond,  American  Journal  of  Neurology  and  Psychiatry  1882, 
August. 


Erworbene  conträre  Sexualempfindung.  209 

aus,  die  Stimme  verliert  an  Tiefe  und  Umfang,  Körperkraft  und  Energie 
nehmen  ab. 

Neigungen  und  Charakter  werden  weiblich.  Der  M.  verliert  seine  Stel- 
lung in  der  Gesellschaft  als  Mann,  er  nimmt  weibliche  Manieren  und  Sitten 
an,  gesellt  sich  den  Weibem  zu.  Gleichwohl  wird  er  aus  religiösen  Gründen 
in  Ehren  gehalten.  Es  ist  wahrscheinlich,  dass  er  auch  ausser  der  Zeit  der 
Feste  vornehmen  Pueblos  zur  Päderastie  dient. 

H  a  m  m  o  n  d  konnte  2  Mujerados  untersuchen.  Der  eine  war  es  vor 
7  Jahren  geworden  und  gerade  35  Jahre  alt.  Bis  vor  7  Jahren  war  er  ganz 
männlich  und  potent  gewesen.  Allmählig  hatte  er  Schwund  der  Hoden  und 
des  Penis  bemerkt.  Gleichzeitig  verlor  er  Libido  und  Erectionsvermögen.  Er 
unterschied  sich  in  Kleidung  und  Haltung  nicht  von  den  Weibern,  unter 
welchen  ihn  Hammond  traf. 

Die  Schamhaare  fehlten,  der  Penis  war  geschrumpft,  das  Scrotum  schlaff, 
hängend,  die  Hoden  waren  auf  ein  Minimum  geschrumpft  und  auf  Druck 
kaum  mehr  empfindlich. 

Der  M.  hatte  grosse  Mammae  wie  eine  Gravida  und  versicherte,  er  habe 
schon  mehrere  Kinder,  deren  Mütter  gestorben  waren,  gesäugt. 

Ein  zweiter  M. ,  36  Jahre,  seit  10  Jahren  gezüchtet,  bot  dieselbe  Er- 
scheinung, jedoch  nur  geringe  Mammaentwicklung.  Gleich  dem  vorigen  war 
seine  Stimme  hoch,  dünn,  der  Körper  fettreich. 

III.  Uebergangsstufe  zur  Metamorphosis  sexualis  paranoica. 

Eine  weitere  Entwicklungsstufe  stellen  Fälle  dar,  wo  auch 
das  körperliche  Empfinden  im  Sinne  einer  Transmutatio  sexus 
sich  umgestaltet. 

Die  folgende  Beobachtung  ist  in  dieser  Hinsicht  ein  Unicum. 

Beobachtung  98.  Autobiographie.  1844  in  Ungarn  geboren,  war 
ich  lange  Jahre  das  einzige  Kind  meiner  Eltern,  da  die  meisten  anderen  Ge- 
schwister an  Lebensschwäche  starben;  erst  spät  kam  noch  ein  Bruder  nach, 
welcher  das  Leben  behielt. 

Ich  stamme  aus  einer  Familie,  in  welcher  Nerven-  und  psychische  Leiden 
vielfach  vorgekommen  sind.  Als  kleines  Kind  soll  ich  sehr  hübsch  gewesen 
sein,  mit  blonden  Locken  und  durchsichtiger  Haut;  sehr  folgsam,  stille,  be- 
scheiden, so  dass  man  mich  in  jede  Damengesellschaft  mitnahm,  ohne  dass 
ich  genirt  hätte. 

Bei  sehr  reger  Phantasie,  meiner  Feindin  das  ganze  Leben  hindurch, 
entwickelten  sich  meine  Talente  schnell.  Mit  4  Jahren  konnte  ich  lesen  und 
schreiben,  mein  Gedächtniss  reicht  bis  ins  3.  Jahr  zurück;  ich  spielte  mit 
Allem,  was  mir  unter  die  Hände  fiel,  mit  Bleisoldaten  oder  Steinen  oder  Bän- 
dern aus  einem  Kinderladen:  nur  einen  Apparat  zum  Holzmachen,  den  man 
mir  schenkte,  mochte  ich  nicht.  Am  liebsten  war  ich  zu  Hause  bei  meiner 
Mutter,  die  mein  Alles  war.  Freunde  hatte  ich  2 — 3,  mit  denen  ich  gut- 
müthig  verkehrte,  aber  gerade  so  gerne  mit  ihren  Schwestern,  welche  mich 
auch  stets  wie  ein  Mädchen  behandelten,  was  mich  Anfangs  nicht  genirte. 
v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  14 


210  Paraesthesia  sexuaKs. 

Ich  muss  auf  dem  Wege  gewesen  sein,  ganz  wie  ein  Mädchen  zu  wer- 
den, ich  weiss  wenigstens  noch  gut,  wie  es  stets  hiess:  „das  schickt  sich  für 
einen  Buben  nicht."  Darauf  bemühte  ich  mich,  den  Buben  zu  spielen,  machte 
Alles  meinen  Kameraden  nach  und  suchte  sie  an  Wildheit  zu  übertreffen, 
was  auch  gelang:  es  war  mir  kein  Baum  und  kein  Gebäude  zu  hoch,  um  es 
nicht  zu  besteigen.  An  den  Soldaten  hatte  ich  grosse  Freude ,  den  Mädchen 
wich  ich  mehr  aus,  da  ich  mit  ihren  Sachen  doch  nicht  spielen  sollte,  und  es 
mich  auch  stets  wurmte,  dass  sie  mich  so  ganz  wie  ihresgleichen  behandelten. 

In  Gesellschaft  Erwachsener  war  ich  aber  stets  gleich  bescheiden  und 
gleich  gerne  gesehen.  Phantastische  Träume  von  wilden  Thieren,  die  mich 
einmal  aus  dem  Bette  trieben ,  ohne  dass  ich  erwacht  wäre ,  peinigten  mich 
häufig.  Ich  wurde  stets  zwar  einfach,  aber  höchst  zierlich  gekleidet  und  be- 
kam dadurch  eine  Neigung  zu  schönen  Kleidern ;  eigenthümlich  scheint  es  mir, 
dass  ich  schon  von  der  Schulzeit  an  Hinneigung  zu  Frauenhandschuhen  hatte, 
die  ich  heimlich  anzog ,  so  oft  ich  konnte ;  so  ereiferte  ich  mich ,  als  meine 
Mutter  einmal  ein  Paar  solcher  verschenkt  hatte,  ganz  energisch  dagegen  und 
theilte  meiner  Mutter  auf  Befragen  mit:  ich  hätte  sie  lieber  selber  gerne  ge- 
habt; ich  wurde  tüchtig  ausgelacht  und  hütete  mich  von  da  an  sehr,  meine 
Vorliebe  für  weibliche  Sachen  zu  zeigen.  Und  doch  war  meine  Freude  daran 
so  gross.  Besonders  hatte  ich  an  Maskenkleidern  meine  Freude,  d.  h.  nur  an 
weiblichen;  sah  ich  solche,  so  beneidete  ich  die  Besitzerin;  am  liebsten  sah 
ich  2  als  weisse  Damen  allerdings  wunderschön  verkleidete  junge  Herren  mit 
sehr  schönen  Mädchenmasken  vor  den  Gesichtern,  und  doch  hätte  ich  mich  um 
keinen  Preis  vor  Anderen  als  Mädchen  gezeigt,  so  sehr  fürchtete  ich  mich  vor 
dem  Spotte.  In  der  Schule  zeigte  ich  den  grössten  Fleiss,  war  stets  vorne  an; 
meine  Eltern  lehrten  mich  von  Kindheit  an,  dass  zuerst  die  Pflicht  komme, 
und  gaben  mir  auch  stets  hievon  das  Beispiel;  auch  war  mir  der  Besuch  der 
Schule  ein  Vergnügen,  denn  die  Lehrer  waren  mild  und  die  älteren  Schüler 
plagten  die  jüngeren  nicht.  Nun  verliessen  wir  meine  erste  Heimath,  da  der 
Vater  gezwungen  war,  seinem  Beruf  zu  Liebe  sich  auf  ein  Jahr  von  der 
Familie  zu  trennen;  wir  zogen  nach  Deutschland.  Hier  herrschte  ein  strenger 
bis  roher  Ton ,  theils  unter  den  Lehrern ,  theils  unter  den  Schülern ,  und  ich 
wurde  wieder  wegen  meiner  Mädchenhaftigkeit  verspottet. 

Meine  Mitschüler  gingen  so  weit,  dass  sie  einem  Mädchen,  welches  genau 
meine  Züge  hatte,  meinen  Namen  gaben  und  mir  den  ihrigen,  so  dass  ich  das 
Mädchen ,  mit  dem  ich  mich ,  als  sie  verheirathet  war ,  später  befreundete, 
hasste.  Meine  Mutter  fuhr  fort,  mich  zierlich  zu  kleiden,  und  dies  war  mir 
zuwider,  da  es  mir  stets  Spott  eintrug,  so  dass  ich  froh  war,  als  ich  endlich 
ganz  richtige  Hosen  und  ganz  richtige  Männerröcke  bekam.  Doch  kam  mit 
diesen  eine  neue  Plage;  sie  genirten  mich  an  den  Genitalien,  besonders  wenn 
das  Tuch  etwas  rauh  war,  und  die  Berührung  des  Schneiders  beim  Anmessen 
war  mir  durch  ihren  Kitzel,  der  mich  zusammenschaudern  machte,  ganz  un- 
erträglich, besonders  an  den  Genitalien;  nun  sollte  ich  turnen,  und  da  konnte 
ich  einfach  Alles  nicht  machen  oder  nur  schlecht,  was  Mädchen  nicht  auch 
leicht  machen  können;  beim  Baden  plagte  mich  das  Schamgefühl  des  Ent- 
blössens,  ich  that  es  aber  sehr  gerne ;  ich  hatte  bis  zum  12.  Jahre  eine  grosse 
Schwäche  im  Kreuze.  Schwimmen  lernte  ich  spät,  nachher  aber  gut,  so  dass 
ich  grosse  Touren  machte.    Mit  13  Jahren  hatte  ich  Pubes,  war  etwa  6  Fuss 


Erworbene  conträre  Sexualempfindung.  211 

gross,  aber  im  Gesicht  ein  Weibsbild,  dies  bis  zu  18  Jahren,  wo  der  Bart  stark 
kam  und  ich  vor  der  Weiberähnlichkeit  Ruhe  hatte.  Eine  mit  12  Jahren 
erworbene,  erst  mit  20  Jahren  geheilte  Inguinalhernie  genirte  mich  sehr, 
besonders  beim  Turnen;  es  kam  hiezu  vom  12.  Jahre  an  bei  langem  Sitzen 
und  besonders  bei  Nachtarbeit,  die  häufig  lang  war,  ein  Jucken,  Brennen, 
Zittern  von  dem  Penis  an  bis  über  das  Kreuz  hinaus,  welches  Sitzen  und  Stehen 
erschwerte  und  sich  durch  Erkältung  steigerte;  ich  ahnte  aber  im  Entfern- 
testen nicht,  dass  dies  mit  den  Genitalien  Zusammenhang  haben  könnte.  Da 
keiner  meiner  Freunde  daran  litt,  so  kam  es  mir  ganz  fremd  vor  und  brauchte 
ich  die  äusserste  Geduld,  es  zu  ertragen,  um  so  mehr,  als  überhaupt  der 
Unterleib  mich  oft  genirte. 

In  sexualibus  war  ich  noch  ganz  unwissend,   hatte   aber  jetzt,   so  mit 
12  bis  13  Jahren,  das  sichere  Gefühl,  lieber  ein  Frauenzimmer  sein  zu  wollen. 
Ihre  Gestalt  gefiel  mir  besser,  ihr  ruhiges  Auftreten,  ihr  Anstand,  aber  beson- 
ders ihre  Kleider  behagten  mir  sehr,  ich  hütete  mich  aber  wohl,  es  merken  zu 
lassen ,   doch  weiss  ich  gewiss ,   dass  ich  das  Castrationsmesser  nicht  gescheut 
hätte,   um  meinen  Zweck  zu  erreichen.     Hätte  ich   sagen   sollen,  warum   ich 
lieber  in  Frauenkleidern  stäke,  so  hätte  ich  bloss  sagen  können :  es  zieht  mich 
eben  mit  Gewalt  hinein;   vielleicht  kam   ich   mir  auch   wegen   meiner  selten 
weichen  Haut   eher   wie  ein  Mädchen  vor;   diese   war  nämlich,   besonders  im 
Gesicht  und   an   den  Händen,   sehr  empfindlich.     Bei  den  Mädchen   war  ich 
gerne  gesehen;  obgleich  ich  lieber  stets  unter  ihnen  gewesen  wäre  ,  so  verhöhnte 
ich  sie,  wo  ich  konnte,  denn  ich  musste  übertreiben,  um  nicht  selbst  weibisch 
zu  erscheinen,   und   beneidete  sie   im  Herzen  doch  beständig;   besonders  war 
mein  Neid  gross ,   wenn  eine  Freundin  lange  Kleider  bekam ,  in  Handschuhen 
und  Schleier  ging.    Als  ich  mit  15  Jahren  eine  Reise  machte,  schlug  mir  eine 
junge  Dame,  bei  der  ich  wohnte,  vor,   mich  als  Dame  zu  maskiren  und  mit 
ihr  auszugehen;  ich  ging  aber,  da  sie  nicht  allein  war,  nicht  darauf  ein,  so 
gerne  ich  es  gethan  hätte.     So  wenig  Umstände  machte  man  mit  mir;   gerne 
sah  ich  auf  jener  Reise ,    dass  die  Knaben  in  einer  Stadt  Blousen  mit  kurzen 
Aermeln  und  nackten  Armen  trugen.    Eine  ganz  geputzte  Dame  erschien  mir 
wie  eine  Göttin,   berührte   mich   ihre  Glacehand,   so   war  ich   glücklich  und 
neidisch,  und  wäre  eben  zu  gerne  an  ihrer  Stelle  in  den  schönen  Sachen  und 
der  zierlichen  Gestalt  gesteckt.     Nichtsdestoweniger   studirte   ich  sehr  fleissig, 
machte  Realschule  und  Gymnasium  in  9  Jahren  durch,  legte  eine  gute  Maturitäts- 
prüfung ab.    Ich  erinnere  mich,  mit  15  Jahren  das  erste  Mal  zu  einem  Freunde 
den  Wunsch  geäussert  zu  haben,  ein  Mädchen  zu  sein:  auf  seine  Frage  nach 
dem  Grunde  konnte  ich  keine  Antwort  geben.    Im  17.  Jahre  war  ich  in  lockere 
Gesellschaft  gekommen,  ich  trank  viel  Bier,  rauchte  und  suchte  mit  Kellnerinnen 
zu  scherzen;  diese  verkehrten  gerne  mit  mir,  aber  man  behandelte  mich  stets, 
als  ob  ich  auch  Röcke  trüge.     Die  Tanzstunde  konnte  ich  nicht  besuchen,  es 
trieb  mich  hinaus;  hätte  ich  als  Maske  hingehen  können,  dann  wäre  es  anders 
gewesen.     Meine  Freunde  liebte  ich  zärtlich,   nur  einen  hasste  ich,  der  mich 
zur  Onanie  verleitet  hatte.    Pfui  über  jenen  Tag,  der  mir  für  mein  Lebenlang 
geschadet  hat ;  ich  trieb  sie  ziemlich  stark,  kam  mir  aber  dabei  wie  ein  doppelter 
Mensch  vor;  ich  kann  das  Gefühl  nicht  beschreiben;  ich  glaube,  es  war  männ- 
lich, aber   mit  weiblichem  gemischt.    An  ein  Mädchen   konnte   ich   nicht  an- 
kommen,  ich  fürchtete   dieselben,   und  doch  waren    sie  mir  nicht  fremd;   sie 


212  Paraesthesia  sexualis. 

imponirten  mir  aber  doch  mehr  als  meinesgleichen,  ich  beneidete  sie,  ich 
hätte  auf  alle  Freuden  verzichtet,  wenn  ich  hätte  nach  der  Klasse  zu  Hause 
als  Mädchen  sein  dürfen  und  wenn  ich  vollends  so  hätte  ausgehen  dürfen; 
eine  Crinoline,  ein  knapper  Handschuh  war  eben  mein  Ideal. 

Ich  empfand  bei  jedem  Damenanzuge,  den  ich  sah,  wie  ich  mich  darin 
fühlen  würde,  nämlich  als  Dame;  eine  Sehnsucht  nach  Männern  hatte  ich  nicht. 

Ich  erinnere  mich  zwar,  mit  ziemlicher  Zärtlichkeit  an  einem  bild- 
schönen Freunde  mit  Mädchengesicht  und  dunklen  Locken  gehangen  zu  haben, 
glaube  aber  nur  den  Wunsch  gehabt  zu  haben,  dass  wir  beide  Mädchen  sein 
möchten. 

Auf  der  Hochschule  gelangte  ich  endlich  einmal  zum  Coitus;  hoc  modo 
sensi,  me  libentius  sub  puella  concubuisse  et  penem  meum  cum  cunno  mutatum 
maluisse.  Das  Mädchen  musste  auch  zu  seinem  Erstaunen  mich  wie  ein  Mäd- 
chen behandeln,  auf  was  sie  gerne  einging  und  mich  aber  auch  behandelte, 
als  wäre  ich  nun  sie  (sie  war  noch  ziemlich  dumm  und  verspottete  mich  des- 
halb nicht). 

Als  Student  war  ich  zur  Zeit  wild,  fühlte  aber  stets,  dass  ich  diese 
Wildheit  nur  mehr  als  Maske  vornahm;  ich  trank,  schlug  mich,  konnte  aber 
wieder  nicht  Tanzunterricht  nehmen,  weil  ich  mich  zu  verrathen  fürchtete. 
Meine  Freundschaften  waren  innig,  aber  ohne  Nebengedanken;  am  meisten 
freute  es  mich ,  wenn  ein  Freund  sich  als  Dame  maskirte  oder  wenn  ich 
die  Toiletten  der  Damen  auf  einem  Balle  mustern  konnte;  ich  hatte  alles 
Verständniss  dafür  und  fing  auch  allmählig  an  zu  fühlen  wie  ein  Frauen- 
zimmer. 

Wegen  unglücklicher  Verhältnisse  machte  ich  zwei  Selbstmordversuche ; 
ohne  Grund  schlief  ich  einmal  14  Tage  nicht,  hatte  viel  Hallucinationen 
(Gesicht  und  Gehör  zugleich),  verkehrte  mit  Verstorbenen  und  Lebenden  zu- 
gleich, was  mir  bis  heute  geblieben  ist. 

Auch  eine  Freundin  hatte  ich,  die  meine  Liebhaberei  kannte,  meine 
Handschuhe  anzog,  aber  mich  eben  auch  nur  als  Mädchen  gelten  Hess.  So 
verstand  ich  die  Weiber  besser,  als  ein  anderer  Mann,  und  wie  sie  das  heraus 
hatten,  so  wurde  ich  eben  wieder  more  feminarum  behandelt,  als  hätte  man 
eine  Freundin  getroffen.  Ich  konnte  es  im  Ganzen  auch  nicht  ausstehen,  wenn 
gezotet  wurde,  und  that  es  eigentlich  auch  nur  Bramarbasirens  halber,  wenn 
es  geschah.  Den  anfänglichen  Ekel  gegen  Gestank  und  Blut  legte  ich  bald 
ab  bis  zum  Gegentheile,  einzelne  Gegenstände  jedoch  konnte  ich  nie  sehen 
ohne  Ekel.  Nur  das  Eine  fehlte  mir  stets,  dass  ich  über  mich  stets  im  Un- 
klaren war;  ich  wusste,  dass  ich  weibliche  Neigungen  habe,  glaubte  aber  doch 
ein  Mann  zu  sein,  doch  zweifle  ich,  ob  ich  ausser  den  Coitusversuchen ,  die 
mir  nie  Vergnügen  machten  (was  ich  der  Onanie  zuschrieb),  je  einmal  ein 
Weib  bewunderte,  ohne  den  Wunsch,  dasselbe  zu  sein,  oder  mich  zu  fragen, 
ob  ich  es  sein  möchte  oder  in  seinem  Putze  auftreten  möchte.  In  der  Geburts- 
hilfe, welche  zu  lernen  mir  sehr  schwer  wurde  (ich  schämte  mich  für  die  auf- 
liegenden Mädchen  und  hatte  Mitleid  mit  ihnen),  habe  ich  bis  zum  heutigen 
Tag  ein  Gefühl  des  Schreckens  zu  überwinden;  ja  es  kam  mir  schon  vor,  dass 
ich  die  Traktionen  mitzufühlen  vermeinte.  An  mehreren  Stellen  mit  Erfolg  als 
Arzt  verwendet,  machte  ich  einen  Feldzug  mit  als  freiwilliger  Arzt.  Das  Reiten, 
welches  mir  schon  als  Student  peinlich  war,   weil    die  Genitalien  dabei  mehr 


Erworbene  conträre  Sexualempfindung.  213 

■weibliche  Gefühle  vermittelten,  fiel  mir  schwer  (nach  Frauenart  wäre  es  leichter 


Immer  noch  glaubte  ich,  ein  Mann  mit  undeutlichen  Gefühlen  zu  sein, 
und  immer,  wenn  ich  mit  Damen  zusammenkam,  wurde  ich  bald  eben  wieder 
als  uniformirte  Dame  behandelt  (wäre,  als  ich  das  erste  Mal  die  Uniform  trug, 
viel  lieber  in  ein  Damenkostüm  mit  Schleier  geschlüpft;  es  war  mir  ein  stören-, 
des  Gefühl,  wenn  man  auf  den  stattlichen  Uniformirten  schaute).  In  der 
Privatpraxis  hatte  ich  in  allen  3  Hauptbranchen  Glück,  dann  machte  ich  noch- 
mals einen  Feldzug  mit;  in  diesem  kam  mir  meine  Natur  zu  gute,  da  ich 
glaube,  dass  seit  dem  ersten  Esel  auf  der  Welt  kein  Grauthier  so  viel  Geduld 
an  den  Tag  zu  legen  hatte,  als  ich.  Dekorationen  blieben  nicht  aus,  doch 
Hessen  sie  mich  kalt. 

So  schlug  ich  mich  durch  das  Leben,  so  gut  es  ging,  nie  zufrieden  mit 
mir,  voller  Weltschmerz,  zwischen  Sentimentalität  oder  Wildheit,  die  zwar 
meist  affektirt  war,  schwankend. 

Ganz  eigenthümlich  ging  es  mir  als  Heirathskandidat.  Am  liebsten  hätte 
ich  gar  nicht  geheirathet,  aber  Familienverhältnisse  und  Praxis  zwangen 
mich  dazu.  Ich  heirathete  eine  energische,  liebenswürdige  Dame  aus  einer 
Familie,  wo  Weiberherrschaft  blühte.  Ich  war  in  sie  verliebt,  so  gut  es  unser 
einer  sein  kann,  d.  h.  was  er  liebt,  liebt  er  mit  ganzem  Herzen  und  geht  in 
ihm  auf,  wenn  er  auch  nicht  so  stürmisch  erscheint,  wie  ein  ganzer  und 
ächter  Mann;  er  liebt  seine  Braut  mit  aller  weiblichen  Tiefe,  fast  wie  einen 
Bräutigam,  nur  gestand  ich  mir  diese  Seite  nicht  ein,  weil  ich  immer  noch 
glaubte,  nur  ein  verstimmter  Mann  zu  sein,  der  durch  die  Ehe  wohl  ganz  zu 
sich  selber  kommen  und  sich  finden  werde.  Aber  schon  in  der  Hochzeitsnacht 
fühlte  ich,  dass  ich  nur  als  männlich  gestaltetes  Weib  fungirte;  sub  femina 
locum  meum  esse  mihi  visum  est.  Wir  lebten  im  ganzen  zufrieden  und  glück- 
lich, blieben  ein  paar  Jahre  kinderlos.  Nach  einer  schweren  Schwangerschaft, 
während  welcher  ich  in  Feindesland  zu  Tode  lag,  kam  auf  eine  schwere  Geburt 
der  erste  Knabe,  dem  eine  melancholische  Natur  bis  heute  noch  anhängt,  der 
heute  noch  schwermüthig  ist;  dann  ein  zweiter,  welcher  ganz  ruhig  ist,  ein 
dritter  voller  Streiche,  ein  vierter,  ein  fünfter;  allein  sämmtliche  haben  schon 
Anlage  zur  Neurasthenie.  Da  ich  mich  nie  an  meinem  Platze  fühlte,  so  ging 
ich  viel  in  lustige  Gesellschaft,  arbeitete  aber  immer,  was  des  Menschen  Kraft 
vermochte,  studirte,  operirte,  experimentirte  mit  vielen  Arzneimitteln  und  Kur- 
methoden, auch  stets  an  mir  selber.  In  der  Ehe  überliess  ich  meiner  Frau  das 
Regiment  im  Hause,  da  sie  das  Haushalten  sehr  gut  versteht.  Meine  Pflichten 
als  Ehemann  verrichtete  ich  so  gut,  als  es  ging,  aber  ohne  Befriedigung  für 
mich;  vom  ersten  Coitus  bis  heute  ist  mir  die  männliche  Stellung  dabei  zu- 
wider und  zu  schwer  gewesen.  Ich  hätte  viel  lieber  die  andere  Rolle  gehabt. 
Musste  ich  meine  Frau  entbinden,  so  brach  es  mir  beinahe  das  Herz,  da  ich 
ihre  Schmerzen  zu  würdigen  wusste.  So  lebten  wir  lange  zusammen,  bis 
schwere  Gichterkrankung  mich  in  verschiedene  Bäder  trieb  und  mich  neur- 
asthenisch  machte.  Zugleich  wurde  ich  so  anämisch ,  dass  ich  alle  paar  Monate 
eine  Zeitlang  Eisen  nehmen  musste,  andernfalls  war  ich  wie  chlorotisch  oder 
hysterisch,  oder  beides  zusammen.  Stenocardie  plagte  mich  oft,  dann  kamen 
halbseitige  Krämpfe  in  Kinn,  Nase,  Hals,  Kehlkopf,  Hemikranie,  Zwerchfell- 
und  Brustmuskell|rampf ;   etwa  3  Jahre  lang  dauerndes  Gefühl,   als  wenn  die 


214  Paraesthesia  sexualis. 

Prostata  vergrössert  wäre,  ein  Expulsionsgefühl,  wie  wenn  ich  etwas  gebären 
sollte,  Schmerzen  in  der  Hüfte,  perennirendes  Kreuzweh  u.  dergl. ;  doch  wehrte 
ich  mich  mit  der  Wuth  der  Verzweiflung  gegen  diese  mir  weibisch  oder 
weiblich  imponirenden  Beschwerden,  bis  vor  3  Jahren  ein  ganz  heftiger  Anfall 
von  Arthritis  mich  vollständig  brach. 

Noch  ehe  dieser  furchtbare  Gichtanfall  eintrat,  habe  ich  in  der  Ver- 
zweiflung, um  die  Gicht  zu  tilgen,  heisse  Bäder,  der  Körperwärme  so  nahe 
als  möglich,  genommen.  Da  geschah  es  einmal,  dass  ich  mich  plötzlich  ver- 
ändert und  dem  Tode  nahe  fühlte;  ich  sprang  mit  der  letzten  Kraft  aus  der 
Therme  heraus ,  hatte  mich  aber  ganz  als  Weib  mit  Libido  gefühlt.  Ferner 
zur  Zeit,  als  das  Ext.  cannabis  ind.  aufkam  und  sogar  gepriesen  wurde,  nahm 
ich  aus  Angst  vor  meinem  drohenden  Gichtanfalle  (und  von  Gleichgültigkeit 
gegen  das  Leben  gepeinigt)  etwa  die  3— 4fach  gebräuchliche  Dosis  von  Ext. 
cannabis  ind.  und  machte  eine  Haschischvergiftung  auf  Leben  und  Sterben 
durch.  Lachkrampf,  Gefühl  von  unerhörter  Körperkraft  und  Schnelligkeit, 
eigenartiges  Gefühl  in  Gehirn  und  Augen,  Milliarden  von  Funken  vom  Gehirne 
aus  die  Haut  durchzuckend  stellten  sich  ein,  doch  konnte  ich  mich  noch  zum 
Sprechen  zwingen;  allein  auf  einmal  sah  ich  mich  von  den  Zehen  bis  zur 
Brust  als  Weib,  fühlte  wie  früher  in  der  Therme,  dass  die  Genitalien  ein- 
gestülpt wurden,  das  Becken  sich  erweiterte,  die  Brüste  herausschössen,  eine 
unsägliche  Wollust  sich  meiner  bemächtigte.  Da  schloss  ich  die  Augen,  so 
dass  ich  wenigstens  das  Gesicht  nicht  verändert  sah.  Mein  Arzt  hatte  dabei 
das  Aussehen,  als  hätte  er  eine  Riesenkartoffel  statt  des  Kopfes,  meine  Frau 
hatte  den  Vollmond  auf  dem  Rumpfe.  Und  dennoch  war  ich  stark  genug, 
als  beide  das  Zimmer  auf  kurze  Zeit  verliessen,  in  mein  Notizbuch  meinen 
kurzen  letzten  Willen  einzutragen. 

Aber  wer  beschreibt  meinen  Schrecken,  als  ich  am  anderen  Morgen,  mich 
vollständig  zum  Weibe  verwandelt  fühlend,  erwachte  und  beim  Gehen  und 
Stehen  eine  Vulva  und  Mammae  fühlte. 

Als  ich  endlich  aus  dem  Bette  mich  erhob,  fühlte  ich,  dass  mit  mir  eine 
ganze  Umwälzung  vorgegangen  sei.  Schon  während  der  Krankheit  sagte  ein 
Besuch:  für  einen  Mann  ist  er  so  geduldig,  und  machte  mir  einen  blühenden 
Blumenstock  zum  Geschenk,  was  mich  befremdete,  aber  doch  freute.  Von  nun 
an  war  ich  geduldig,  wollte  nichts  mehr  im  Sturme  thun,  wurde  aber  zäh  wie 
eine  Katze,  dabei  aber  mild,  versöhnlich,  nicht  mehr  nachträglich,  kurz  wie  ein 
Weib  dem  Gemüthe  nach.  Während  der  letzten  Krankheit  hatte  ich  viele  Ge- 
sichts- und  Gehörshallucinationen ,  sprach  mit  den  Todten  etc.,  sah  und  hörte 
Spiritus  familiäres,  fühlte  mich  als  eine  doppelte  Person,  doch  merkte  ich  auf 
dem  Krankenlager  selber  noch  nicht,  dass  der  Mann  in  mir  erloschen  war. 
Meine  Gemüthsveränderung  war  ein  Glück,  da  mich  ein  Schlag  traf,  der  mich 
bei  meiner  früheren  Stimmung  auf  den  Tod  getroffen  hätte,  den  ich  aber  jetzt 
mit  Ergebung  hinnahm,  so  dass  ich  mich  selbst  nicht  mehr  erkannte.  Da  ich 
die  Erscheinungen  der  Neurasthenie  noch  oft  mit  Gicht  verwechselte,  so  ge- 
brauchte ich  noch  viele  Bäder,  bis  ein  Hautjucken  mit  der  Empfindung  der 
Krätze  durch  eine  Therme  so  zunahm  statt  abzunehmen,  dass  ich  alle  äusser- 
liche  Therapie  aufgab  (ich  wurde  immer  anämischer  durch  die  Bäder)  und 
mich  abhärtete,  so  gut  es  ging.  Aber  das  weibliche  Zwangsgefühl  blieb  und 
wurde  so  stark,   dass  ich  nur  die  Maske   des  Mannes  trage,   sonst  aber  mich 


Erworbene  conträre  Sexualempfindung.  215 

in  jeder  Beziehung  als  vollkommenes  Weib  nach  allen  Theilen  fühle  und  von 
der  alten  Zeit  zur  Zeit  die  Erinnerung  verloren  habe. 

Was  die  Gicht  noch  etwa  übrig  gelassen  hatte,  ruinirte  die  Influenza 
vollends. 

Status  praesens:  Ich  bin  gross,  Haarboden  gelichtet,  Bart  wird  grau, 
meine  Haltung  fängt  an  gebückt  zu  werden ;  habe  seit  der  Influenza  etwa  ein 
Viertel  der  rohen  Kraft  verloren.  Gesicht  sieht  in  Folge  eines  Klappenfehlers 
etwas  geröthet  aus;  Vollbart;  chronische  Conjunctivitis;  mehr  muskulös  als 
fett;  linker  Fuss  scheint  varicose  Venen  zu  bekommen,  schläft  öfters  ein,  ist 
noch  nicht  sichtbar  verdickt,  aber  scheint  es  zu  werden. 

Die  Mammillargegend  hebt  sich  trotz  Kleinheit  deutlich  ab.  Der  Bauch 
hat  die  Form  eines  weiblichen  Bauches,  Füsse  nach  Frauenart  gestellt,  Waden  etc. 
wie  diese;  mit  den  Armen  ist  es  gerade  so  und  mit  den  Händen.  Kann 
Frauenstrümpfe  und  Handschuhe  73/* — l1^  tragen;  ebenso  trage  ich  ohne  Be- 
schwerde ein  Corset.  Gewicht  wechselt  zwischen  168 — 184  Pfund.  Urin  ohne 
Eiweiss,  ohne  Zucker,  enthält  über  die  Norm  Harnsäure;  enthält  er  aber  nicht 
viel  Harnsäure ,  so  ist  er  hell ,  fast  wasserhell  nach  jeder  Aufregung  irgend 
einer  Art.  Stuhl  meist  regelmässig,  ist  er  es  aber  nicht,  so  kommen  alle  weib- 
lichen Beschwerden  der  Obstipation.  Schlaf  schlecht,  oft  viele  Wochen  lang 
nur  2  —  3  Stunden  dauernd.  Appetit  ziemlich  gut,  doch  im  Ganzen  erträgt  der 
Magen  nicht  mehr,  als  der  einer  starken  Frau  und  reagirt  gegen  scharfe  Speisen 
sofort  durch  Hautausschlag  und  Brennen  in  der  Harnröhre.  Haut  ist  weiss, 
im  Ganzen  fühlt  sie  sich  sehr  glatt  an;  unerträgliches  Jucken  in  derselben  seit 
2  Jahren,  hat  in  den  letzten  Wochen  abgenommen,  zeigt  sich  nur  noch  mehr 
in  der  Kniekehle  und  am  Scrotum. 

Neigung  zu  Schweiss;  Ausdünstung  früher  so  gut  wie  nicht  vorhanden, 
macht  jetzt  alle  hässlichen  Nuancen  der  weiblichen  Ausdünstung,  besonders  am 
Unterleibe  durch,  so  dass  ich  mich  noch  reinlicher  halten  muss  als  eine  Frau. 
(Parfümire  das  Taschentuch,  benütze  parfümirte  Seifen  und  Eau  de  Cologne.) 

Allgemeingefühl:  Ich  fühle  mich  als  Frauenzimmer  in  Mannes- 
gestalt; wenn  ich  auch  manchmal  noch,  die  Form  des  Mannes  fühle,  so  fühlt 
das  betreffende  Glied  dennoch  weiblich,  so  z.  B.  der  Penis  als  Clitoris;  die 
Urethra  als  Urethra  und  Scheideneingang,  sie  fühlt  stets  etwas  nass,  auch  wenn 
sie  noch  so  trocken  ist;  das  Scrotum  als  Labia  majora;  kurz,  ich  fühle  eben 
stets  eine  Vulva,  und  was  das  zu  bedeuten  hat,  weiss  nur,  wer  selber  so  fühlt 
oder  gefühlt  hat.  Aber  die  ganze  Haut  am  ganzen  Körper  fühlt  weiblich, 
nimmt  alle  Eindrücke,  seien  es  solche  des  Tastens,  der  Wärme  oder  feindselige, 
als  Weib  auf  und  habe  ich  die  Empfindungen  eines  solchen;  mit  blossen  Händen 
kann  ich  nicht  gehen,  da  Hitze  und  Kälte  mich  gleich  sehr  peinigen;  wenn 
die  Zeit,  wo  es  uns  Herren  gestattet  ist,  den  Sonnenschirm  zu  tragen,  vorüber 
ist,  so  habe  ich  sehr  grosse  Pein  in  meiner  Gesichtshaut  zu  leiden,  bis  wieder 
der  Sonnenschirm  gebraucht  werden  darf.  Erwache  ich  Morgens,  so  dämmert 
es  in  mir  einige  Augenblicke,  es  ist,  als  ob  ich  mich  selber  suche,  dann  er- 
wacht das  Zwangsgefühl,  Weib  zu  sein;  ich  fühle  das  Gefühl  der  Vulva  (resp. 
dass  eine  solche  da  ist),  und  begrüsse  den  Tag  mit  einem  stillen  oder  lauten 
Seufzer,  denn  ich  habe  schon  wieder  Angst  vor  dem  jetzt  kommenden  Theater- 
spielen den  ganzen  Tag.  Es  ist  keine  Kleinigkeit,*  sich  als  Weib  fühlen  und 
als  Mann  handeln  müssen.     Alles  musste  ich  wie  neu  lernen;   die  Messer,  die 


216  Paraesthesia  sexualis. 

Apparate,  Alles  fühlte  sich  seit  3  Jahren  ganz  anders  an,  und  bei  dem  geän- 
derten Muskelgefühl  musste  ich  Alles  neu  erlernen.  Es  ist  auch  gelungen,  nur 
die  Führung  der  Säge  und  des  Knochenmeissels  macht  mir  noch  zu  schaffen; 
es  ist  beinahe,  als  ob  die  rohe  Kraft  nicht  ganz  ausreichte.  Dagegen  habe 
ich  mehr  Gefühl  bei  der  Arbeit  mit  dem  scharfen  Löffel  in  den  Weichth eilen; 
widerwärtig  ist  es,  dass  ich  bei  Untersuchung  von  Damen  oft  ihre  Gefühle 
mitfühle,  was  dieselben  zwar  nicht  befremdet.  Am  allerwiderwärtigsten  fühle 
ich  eine  Kindsbewegung  mit ;  eine  Zeitlang,  mehrere  Monate,  quälte  mich  das 
Gedankenlesen  bei  beiden  Geschlechtern,  gegen  welches  ich  jetzt  noch  anzu- 
kämpfen habe;  bei  Weibem  ertrage  ich  es  noch  eher,  bei  Männern  ist  es  mir 
zuwider.  Vor  3  Jahren  habe  ich  noch  nicht  bewusst  die  Welt  mit  Weiber- 
augen angesehen;  es  kam  diese  Aenderung  im  Rapport  des  Opticus  zum  Ge- 
hirn unter  heftigem  Kopfweh  fast  plötzlich.  Ich  war  bei  einer  geschlechtlich 
verkehrt  fühlenden  Dame,  da  sah  ich  sie  plötzlich  so  verändert,  als  ich  mich 
jetzt  fühle,  nämlich  sie  als  Mann  und  fühlte  mich  Weib  ihr  gegenüber,  dass 
ich  mit  schlecht  verhohlenem  Aerger  sie  verliess;  dieselbe  war  damals  sich 
noch  nicht  klar  geworden  über  ihren  Zustand. 

Seitdem  machen  alle  Sinne  ihre  Wahrnehmung  in  weiblicher  Form  und 
ebenso  ihren  Rapport.  Dem  Cerebralsystem  schloss  sich  fast  unmittelbar  das 
vegetative  an,  so  dass  alle  Beschwerden  sich  in  weiblicher  Weise  äusserten; 
die  Empfindlichkeit  aller  Nerven,  besonders  die  des  Acusticus,  Olfactorius  oder 
Trigeminus,  steigerten  sich  zu  Nervosität;  klappt  nur  ein  Fenster,  so  fahre  ich 
zusammen,  d.  h.  innerlich,  der  Mann  darf  ja  nicht:  ist  eine  Speise  nicht  absolut 
frisch,  so  habe  ich  Cadavergeruch  in  der  Nase.  Dem  Trigeminus  hätte  ich  nie 
zugetraut,  dass  so  launenhaft  die  Schmerzen  von  einem  Ast  auf  den  andern 
überspringen,  von  einem  Zahne  ins  Auge. 

Doch  ertrage  ich  seit  meiner  Aenderung  Zahnweh  und  Migräne  leichter, 
habe  auch  weniger  Angstgefühl  bei  Stenocardie.  Eine  eigentümliche  Beob- 
achtung scheint  es  mir,  dass  ich  mich  als  ein  ängstliches  schwächeres  Wesen 
fühle,  bei  drohenden  Gefahren  aber  viel  mehr  Kaltblütigkeit  und  Ruhe  besitze, 
ebenso  bei  sehr  schweren  Operationen.  Der  Magen  rächt  den  leisesten  (gegen 
die  Diät  einer  Frau)  begangenen  Fehler  unnachsichtlich  in  Weiberart,  sei  es 
durch  Ructus  oder  sonstige  Beschwerden,  besonders  einen  Alkoholmissbrauch; 
der  Kater  des  sich  Weib  fühlenden  Mannes  ist  viel  infamer,  als  der  colossalste 
akademische  Katzenjammer ;  es  kommt  mir  beinahe  vor,  als  ob  man  als  Weib 
fühlend  ganz  unter  der  Herrschaft  des  vegetativen  Systems  stehe. 

So  klein  meine  Brustwarzen  sind,  so  wollen  sie  Platz  und  fühle  ich  sie 
als  Mammae,  wie  zwar  auch  schon  in  Pubertätsjahren  die  Warzen  schwollen  und 
schmerzten;  desshalb  genirt  mich  jedes  weisse  Hemd,  die  Weste,  der  Rock. 
Vom  Becken  habe  ich  das  Gefühl,  als  ob  es  ein  weibliches  sei,  dito  von  After 
und  Nates;  störend  war  mir  im  Beginn  das  Weiblichkeitsgefühl  des  Bauches, 
welcher  in  keine  Hosen  will  und  stets  das  Gefühl  der  Weiblichkeit  hervorbringt 
oder  besitzt.  Auch  habe  ich  das  Zwangsgefühl  einer  Taille.  Es  ist  mir,  wie 
wenn  ich,  einer  eigenen  Haut  beraubt,  in  eine  Weiberhaut  gesteckt  wäre,  die 
sich  an  Alles  genau  anpasst,  aber  Alles  fühlt,  wie  wenn  sie  ein  Weib  umgäbe, 
und  dessen  Gefühle  durch  den  ganzen  eingeschlossenen  Manneskörper  strömen 
Hesse  und  die  männlichen  exmittirt  hätte.  Die  Hoden  sind,  wenn  auch  nicht 
atrophisch   oder  degenerirt,    doch   keine   Hoden   mehr  und   machen   mir   oft 


Erworbene  conträre  Sexualempfindung.  217 

Schmerzen  mit  dem  Eindrucke,  als  ob  sie  in  den  Bauch  hineingehörten  und 
festsitzen  sollten;  die  Beweglichkeit  derselben  peinigt  mich  oft. 

Alle  4  Wochen,  zur  Vollmondszeit,  habe  ich  5  Tage  lang  alle  Molimina 
wie  eine  Frau,  körperlich  und  geistig,  nur  dass  ich  nicht  blute,  während  ich 
das  Gefühl  von  Abgang  von  Flüssigkeit,  ein  Gefühl  von  Geschwollensein  der 
Genitalien  und  des  Unterleibes  (innen)  habe;  eine  sehr  angenehme  Zeit,  be- 
sonders wenn  nachher  und  später  ein  paar  Tage  in  der  Zwischenzeit  das 
physiologische  Gefühl  der  Begattungsbedürftigkeit  kommt  mit  seiner  ganzen, 
das  Weib  durchdringenden  Kraft;  der  ganze  Körper  ist  dann  von  diesem  Ge- 
fühle voll,  wie  ein  eingetauchtes  Zuckerstück  voll  Wasser  gesogen  ist  oder  so 
voll  als  wie  nasser  Schwamm;  da  heisst  es:  zuerst  liebebedürftiges  Weib,  dann 
erst  Mensch,  und  zwar  ist  das  Bedürfniss,  wie  mir  scheint,  mehr  ein  Sehnen 
nach  Empfängniss  als  nach  Coitus.  Der  immense  Naturtrieb  oder  die  weib- 
liche Geilheit  lässt  aber  das  Schamgefühl  zurücktreten,  so  dass  indirect  der 
Coitus  gewünscht  wird.  Männlich  habe  ich  den  Coitus  höchstens  dreimal  im 
Leben  gefühlt,  wenn  es  überhaupt  so  war,  gleichgültig  in  allen  sonstigen 
Fällen;  in  den  letzten  3  Jahren  aber  fühle  ich  ihn  deutlich  passiv  als  Frauen- 
zimmer, sogar  manchmal  mit  weiblichem  Ejaculationsgefühl ;  stets  fühle  ich 
mich  begattet  und  ermüdet  wie  ein  Weib,  oft  auch  unwohl  darauf,  wie  es 
einem  Manne  niemals  zu  Muthe  ist.  Einige  Male  verursachte  er  mir  einen 
so  grossen  Genuss,  dass  ich  denselben  mit  nichts  vergleichen  kann;  es  ist  ein- 
fach das  wonnigste,  gewaltigste  Gefühl  auf  Erden,  um  welches  Alles  geopfert 
werden  kann;  in  diesem  Augenblicke  ist  das  Weib  bloss  Vulva,  welche  die 
ganze  Person  verschlungen  hat. 

Das  Gefühl,  Weib  zu  sein,  habe  ich  seit  3  Jahren  keinen  Augenblick 
verloren,  es  ist  mir  dieses  jetzt  durch  die  Gewöhnung  nicht  mehr  so  peinlich, 
obgleich  ich  mich  seitdem  minderwerthig  fühle,  denn  sich  Weib  zu  fühlen 
ohne  Genussverlangen ,  ist  auch  für  einen  Mann  zum  Aushalten ;  aber  wenn 
Bedürfnisse  kommen!  Dann  hört  die  Gemüthlichkeit  auf;  das  Brennen,  die 
Wärme,  das  Turgorgefühl  der  Genitalien  (bei  nicht  erigirtem  Penis,  die  Geni- 
talien fallen  wie  aus  der  Rolle).  Ein  bei  starkem  Drange  auftretendes  Gefühl 
von  Ansaugen  in  der  Vagina  und  Vulva  ist  geradezu  schrecklich,  eine  Höllen- 
pein der  Wollust,  aber  kaum  auszuhalten.  Bin  ich  dann  in  der  Lage,  einen 
Coitus  auszuführen,  so  ist  es  besser,  aber  er  bewirkt  wegen  mangelnder  Em- 
pfängniss keine  vollständige  Befriedigung,  das  Gefühl  der  Sterilität  stellt  sich 
ein  mit  seinem  ganzen  beschämenden  Drucke,  nebst  dem  Gefühle  der  passiven 
Begattung,  des  verletzten  Schamgefühles;  man  kommt  sich  fast  wie  eine  Lust- 
dirne vor.  Der  Verstand  hilft  nichts  dagegen,  das  Zwangsgefühl  der  Weib- 
lichkeit beherrscht  und  bezwingt  Alles.  Wie  schwer  man  in  solchen  Zeiten 
beruflich  arbeitet,  ist  leicht  zu  ermessen;  doch  dazu  kann  man  sich  zwingen. 
Freilich  ist  es  beinahe  nicht  möglich,  zu  sitzen,  zu  gehen,  zu  liegen,  wenig- 
stens kann  man  von  diesen  drei  Zuständen  keinen  lange  aushalten ,  dazu  die 
stete  Berührung  der  Hosen  etc.,  es  ist  unausstehlich. 

Die  Ehe  macht  dann,  ausser  dem  Moment  des  Coitus,  wo  der  Mann  sich 
begattet  fühlen  muss,  noch  den  Eindruck  des  Zusammenlebens  zweier  Weiber, 
von  denen  eines  sich  nur  als  Mann  maskirt  betrachtet.  Bleiben  diese  perio- 
dischen Molimina  einmal  aus,  so  kommen  die  Gefühle  der  Gravidität  oder 
der  sexuellen  Uebersättigung ,   die  der  Mann  sonst  nicht  kennt,  die  aber  den 


218  Paraesthesia  sexualis. 

ganzen  Menschen  geradeso  in  Beschlag  nehmen  wie  das  Weiblichkeitsgefühl, 
nur  dass  sie  specifisch  widerwärtig  sind,  so  dass  man  gerne  die  regelmässigen 
Molimina  wieder  sich  gefallen  lässt.  Wenn  erotische  Träume  oder  Vorstel- 
lungen kommen,  so  sieht  man  sich  in  der  Form,  welche  man  als  Weib  hätte, 
und  sieht  erigirte  Glieder,  die  sich  präsentiren;  es  wäre,  da  auch  der  After 
weiblich  fühlt,  gar  nicht  schwer,  zum  Kinäden  zu  werden,  nur  das  positive 
religiöse  Verbot  hindert  daran,  alle  anderen  Rücksichten  würden  hinfällig 
werden. 

Da  solche  Zustände  wohl  Jedem  widerwärtig  sein  werden,  so  ist  eine 
Sehnsucht  vorhanden,  geschlechtslos  zu  sein  oder  sich  machen  zu  dürfen.  Wenn 
ich  ledig  wäre,  so  hätte  ich  laugst  Hoden  und  Scrotum  sammt  Penis  den  Ab- 
schied gegeben. 

Was  hilft  das  höchste  weibliche  Genussgefühl,  wenn  man  doch  nicht 
concipirt?  Was  nützen  die  Regungen  weiblicher  Liebe,  wenn  man  zur  Befrie- 
digung wieder  eine  Frau  hat?  wenn  auch  die  Begattung  sie  uns  als  Mann 
empfinden  lässt.  Wie  entsetzlich  beschämend  ist  die  weibliche  Ausdünstung! 
Wie  erniedrigt  den  Mann  das  Gefühl  der  Freude  an  Kleidern  und  Schmuck! 
Er  möchte  selbst  in  der  umgewandelten  Form,  selbst  wenn  er  des  männlichen 
Geschlechtsgefühles  sich  nicht  mehr  erinnern  kann,  eben  doch  nicht  sich  als 
Weib  fühlen  müssen;  er  weiss  noch  ganz  gut,  dass  er  früher  nicht  stets  ge- 
schlechtlich fühlte,  dass  er  auch  ein  blosser  Mensch  war,  unbeeinflusst  vom 
Geschlecht!  Jetzt  auf  einmal  soll  er  stets  seine  bisherige  Individualität  nur  als 
Maske  empfinden,  stets  sich  als  Weib  fühlen,  eine  Abwechslung  nur  haben,  wenn 
er  alle  4  Wochen  seine  periodischen  Beschwerden  und  zwischen  hinein  seine 
weibliche  nicht  zu  befriedigende  Geilheitszeit  hat?  Wenn  er  erwachen  darf, 
ohne  sofort  sich  als  Weib  fühlen  zu  müssen?  Zuletzt  sehnt  er  sich  nach  einem 
Augenblick,  wo  er  seine  Maske  lüften  könnte,  der  Augenblick  kommt  nicht! 
Erleichterung  des  Elendes  kann  er  nur  finden,  wenn  er  ein  Stück  Weiblichkeit, 
Schmuck,  ein  Unterkleid  etc.  anziehen  kann,  denn  als  Weib  darf  er  ja  doch 
nicht  gehen;  alle  seine  Berufspflichten  mit  dem  Gefühle  einer  als  Herr  kostü- 
mirten  Schauspielerin  erfüllen  zu  müssen  und  kein  Ende  abzusehen,  ist  keine 
Kleinigkeit.  Die  Religion  allein  schützt  vor  grobem  Lapsus,  hindert  aber  das 
Peinliche  nicht,  wenn  die  Versuchung  an  das  weiblich  fühlende  Individuum  so 
herantritt,  wie  an  ein  wirkliches  Weib  und  so  gefühlt  und  durchgemacht  werden 
muss!  Wenn  ein  angesehener  Mann,  der  im  Publikum  ein  seltenes  Vertrauen 
geniesst  und  eine  Autorität  besitzt,  sich  mit  seiner  wenn  auch  imaginären  Vulva 
herumschlagen  muss;  wenn  man  von  schwerem  Tagewerk  herkommt  und  ist 
genöthigt,  die  Toilette  der  nächstbesten  Dame  zu  mustern,  mit  Weiberaugen 
zu  kritisiren,  aus  ihrem  Gesichte  ihre  Gedanken  abzulesen,  wenn  ein  Mode- 
journal (das  hatte  ich  schon  als  Kind)  das  gleiche  Interesse  einflösst,  wie  ein 
wissenschaftliches  Werk?  Wenn  man  seinen  Zustand  vor  seiner  Gattin,  deren 
Gedanken  man,  sobald  man  sich  Weib  fühlt,  abliest  vom  Gesichte,  verbergen 
muss,  während  ihr  doch  klar  wird,  dass  man  sich  an  Leib  und  Seele  geändert 
hat?  Die  Qualen,  welche  die  zu  überwindende  weibliche  Weichlichkeit  ver- 
ursacht! Es  gelingt  zwar  manchmal,  wenn  man  in  Urlaub  allein  ist,  einige 
Zeit  mehr  als  Frau  zu  leben,  z.  B.  weibliche  Kleider  etc.,  besonders  bei  der 
Nacht  zu  tragen,  die  Handschuhe  fast  stets  anzubehalten,  einen  Schleier  oder 
eine  Maske  im  Zimmer  vorzunehmen,    dass   man   dann   vor   der  übermässigen 


Erworbene  conträre  Sexualeinpfindung.  219 

Libido  Ruhe  hat,  aber  die  einmal  eingedrungene  Weiblichkeit  verlangt  ge- 
bieterisch, dass  sie  anerkannt  werde;  sie  begnügt  sich  oft  mit  einer  beschei- 
denen Concession,  des  Umnehmens  eines  Armreifes  hinter  der  Manchette  z.  B., 
aber  eine  Concession  in  irgend  welcher  Art  verlangt  sie  gebieterisch.  Das 
einzige  Glück  ist  nur  das,  dass  man  sich  ohne  Scham  weiblich  costümirt  sehen 
kann,  ja  dass  man,  wenn  das  Gesicht  verschleiert  oder  maskirt  ist,  sich  lieber 
so  sieht  und  sich  natürlich  vorkommt;  man  hat  dann,  wie  jede  andere  Mode- 
gans, den  Geschmack  der  laufenden  Mode,  so  sehr  wird  und  ist  man  um- 
gewandelt! Bis  man  sich  an  den  Gedanken  gewöhnt  hat,  selbständig  nur  als 
Weib  zu  fühlen  und  die  frühere  Denkweise  gewissermassen  nur  aus  der  Erinne- 
rung zum  Vergleiche  herzuholen,  und  dann  als  Mann  sich  zu  äussern,  gehört 
lange  Zeit  und  unsägliche  Ueberwindung. 

Trotzdem  wird  es  noch  vorkommen,  dass  man  sich  auf  einer  weiblichen 
Gefühlsäusserung  ertappt,  sei  es  in  sexualibus,  dass  man  sagt:  man  fühlt  so  und 
so,  was  aber  ein  Nichtweib  nicht  wissen  kann,  oder  dass  man  zufällig  verräth, 
dass  Einem  die  weibliche  Kleidung  gang  und  gäbe  ist.  Vor  Frauen  allein 
macht  dies  nichts  aus,  da  sich  eine  Frau  in  erster  Linie  geschmeichelt  fühlt, 
wenn  man  von  ihren  Sachen  etwas  versteht,  nur  darf  es  nicht  vor  der  eigenen 
Frau  passiren!  Wie  erschrak  ich  einmal,  als  meine  Frau  einer  Freundin  sagte, 
dass  ich  für  Damenartikel  einen  sehr  feinen  Geschmack  besitze!  Wie  war 
eine  hochmüthige  Modedame  überrascht,  als  ich  ihr,  die  im  Begriffe  war,  ihr 
Töchterchen  ganz  falsch  zu  erziehen,  alle  weiblichen  Gefühle  schriftlich  und 
mündlich  darlegte  (ich  log  ihr  zwar  vor,  ich  hätte  mein  Wissen  aus  Briefen 
geschöpft);  aber  ebenso  gross  ist  ihr  Zutrauen  jetzt,  und  das  Kind,  auf  dem 
Wege  verrückt  zu  werden,  ist  vernünftig  geblieben  und  ist  fröhlich.  Es  hatte 
nämlich  alle  Regungen  der  Weiblichkeit  als  Sünden  gebeichtet,  jetzt  weiss  es, 
was  es  als  Mädchen  ertragen  und  durch  Willen  und  Religion  beherrschen 
muss,  und  fühlt  sich  als  Mensch.  Die  beiden  Damen  würden  herzlich  lachen, 
wenn  sie  wüssten,  dass  ich  nur  aus  eigener  trauriger  Erfahrung  geschöpft 
habe.  Beifügen  muss  ich  noch,  dass  ich  seither  ein  viel  feineres  Temperatur- 
gefühl habe,  dazu  aber  noch  ein  mir  vorher  unbekanntes  Gefühl  für  die  Ela- 
sticität  der  Haut,  für  Spannung  der  Gedärme  bei  Patienten,  dass  aber  bei 
Operationen  und  Sektionen  feindliche  Flüssigkeiten  meine  (unverletzte)  Haut 
leichter  durchdringen.  Jede  Sektion  macht  mir  Schmerzen,  jede  Untersuchung 
einer  Dirne  oder  einer  Frau  mit  Fluor,  Krebsgeruch  u.  dergl.  berührt  mich 
geradezu  feindlich.  Ueberhaupt  stehe  ich  jetzt  stark  unter  dem  Einflüsse  von 
Antipathie  und  Sympathie,  vom  Farbensinne  an  bis  zur  Beurtheilung  einer 
ganzen  Person.  Frauen  sehen  einander  die  sexuelle  derzeitige  Stimmung  ge- 
wöhnlich an,  desshalb  trägt  eine  Dame  den  Schleier,  wenn  sie  ihn  auch  nicht 
stets  vornimmt,  und  parfümirt  sich  gewöhnlich,  wenn  es  auch  nur  Taschen- 
tuch oder  Handschuhe  sind ,  denn  ihre  Geruchsempfindung  ihrem  Geschlechte 
gegenüber  ist  enorm;  überhaupt  wirken  Gerüche  auf  einen  weiblichen  Orga- 
nismus ganz  unglaublich  ein ;  so  z.  B.  beruhigt  mich  Veilchen  und  Rose,  andere 
Gerüche  ekeln  mich,  mit  Hang  könnte  ich  es  vor  geschlechtlicher  Erregtheit 
nicht  aushalten.  Berührung  einer  Frau  erscheint  mir  homogen,  Coitus  mit 
meiner  Frau  erscheint  mir  dadurch  möglich,  dass  sie  etwas  männlicher  ist,  eine 
feste  Haut  besitzt  und  doch  ist  es  mehr  ein  Amor  lesbicus. 

Zudem  fühle  ich  mich  stets  passiv.    Wenn  ich  oft  Nachts  vor  Aufregung 


220  Paraesthesia  sexualis. 

nicht  schlafen  kann,  geht  es  endlich,  si  femora  mea  distensa  habeo,  sicut 
mulier  cum  viro  concumbens,  oder  auf  eine  Seite  mich  lege,  nur  darf  dann 
kein  Arm  oder  kein  Bettstück  die  Mamma  berühren ,  sonst  ist  es  mit  dem 
Schlafe  wieder  aus;  auch  der  Bauch  will  nicht  gedrückt  sein.  In  Frauenhemd 
und  Bettjacke  schlafe  ich  am  besten,  und  dann  noch  mit  Handschuhen,  denn 
es  friert  mich  leicht  an  den  Händen;  in  weiblichen  Unterhosen  und  Unter- 
röcken behagt  es  mir  auch,  weil  sie  die  Genitalien  nicht  berühren.  Am  liebsten 
waren  mir  Frauenkleider  zur  Crinolinenzeit.  Frauenkleider  geniren  den  weib- 
lich fühlenden  Menschen  nicht,  da  er  sie,  wie  jedes  Weib,  als  zu  seiner  Person 
gehörend,  fühlt,  nicht  als  fremde  Gegenstände. 

Mein  liebster  Verkehr  ist  eine  an  Neurasthenie  leidende  Dame  (s.  Beob.  99), 
welche  seit  dem  letzten  Wochenbette  männlich  fühlt,  sich  aber,  seit  ich  ihr 
diese  Gefühle  gedeutet  habe,  so  gut  als  möglich  darein  schickt,  coitu  abstinet, 
was  ich  als  Mann  eben  nicht  thun  darf;  diese  hilft  mir  durch  ihr  Beispiel  meinen 
Zustand  tragen.  Sie  hat  die  Frauengefühle  noch  klarer  in  Erinnerung  und 
hat  mir  schon  manchen  guten  Rath  gegeben.  Wäre  sie  ein  Mann  und  ich  ein 
junges  Mädchen,  diese  würde  ich  zu  erwerben  suchen,  von  dieser  würde  ich 
mir  des  Weibes  Schicksal  gefallen  lassen.  Aber  ihre  jetzige  Photographie  ist 
ganz  anders  als  die  früheren ;  sie  ist  ein  höchst  elegant  costümirter  Herr  trotz 
Busen  etc.  und  Frisur;  sie  spricht  aber  auch  kurz  und  bündig,  und  hat  an 
Allem,  was  mir  Spass  macht,  keine  Freude  mehr;  sie  hat  eine  Art  von  Welt- 
schmerz, trägt  aber  ihr  Schicksal  mit  Ergebung  und  Würde,  findet  ihren  Trost 
nur  in  Religion  und  Pflichterfüllung,  geht  zur  Zeit  der  Menses  fast  zu  Grunde ; 
sie  liebt  Frauengesellschaft  und  Frauengespräche  nicht  mehr,  ebenso  keine 
Süssigkeiten. 

Ein  Jugendfreund  fühlt  seit  erster  Zeit  des  Lebens  nur  als  Mädchen, 
hat  aber  Zuneigung  zum  männlichen  Geschlechte:  seine  Schwester  hatte  es 
umgekehrt,  und  als  der  Uterus  doch  sein  Recht  verlangte  und  sie  sich  als 
liebendes  Weib  sah,  trotz  ihrer  Männlichkeit,  machte  sie  es  kurz  und  entleibte 
sich  durch  Ertränken. 

Was  ich  als  Hauptveränderungen  an  mir  seit  der  vollständigen  Effe- 
minatio  beobachtet,  ist: 

1.  das  stete  Gefühl,  Weib  zu  sein  vom  Scheitel  bis  zur  Zehe, 

2.  das  stete  Gefühl,  weibliche  Genitalien  zu  besitzen, 

3.  die  Periodicität  der  vierwöchentlichen  Molimina, 

4.  regelmässig  eintretende  weibliche  Begierlichkeit ,   aber  ohne  Lust  zu 
einem  bestimmten  Mann, 

5.  beim  Coitus  weibliches  passives  Gefühl, 

6.  nachher  das  Gefühl  der  futuirten  Partei, 

7.  bei  Bildern  von  Coitus  das  weibliche  Gefühl, 

8.  beim  Anblick  von  Frauenzimmern  das  Gefühl  der  Zusammengehörig- 
keit und  das  weibliche  Interesse  daran, 

9.  beim  Anblick  von  Herren  das  weibliche  Interesse  daran, 

10.  beim  Anblick  von  Kindern  dasselbe, 

11.  das  veränderte  Gemüth,  die  viel  grössere  Geduld, 

12.  die  endlich  gelungene  Ergebung  in  mein  Schicksal,  was  ich  zwar  nur 
der  positiven  Religion  verdanke,  sonst  hätte  ich  mich  längst  entleibt. 


Erworbene  conträre  Sexualempfindung.  221 

Denn  Mann  zu  sein  und  fühlen  "zu  müssen:  chaque  femme  est  futuee 
ou  eile  desire  d'gtre,  ist  kaum  erträglich. 

Vorstehende  für  die  Wissenschaft  höchst  werthvolle  Auto- 
biographie war  von  folgendem  nicht  minder  interessanten  Briefe 
begleitet : 

E.  W.  habe  ich  zunächst  um  Verzeihung  zu  bitten  wegen  der  Belästigung 
durch  meine  Zuschrift;  —  ich  hatte  allen  Halt  verloren  und  betrachtete  mich 
nur  mehr  als  ein  Scheusal,  vor  dem  mir  selber  ekelte;  da  gewann  ich  durch 
Ihre  Schriften  wieder  Muth  und  beschloss,  der  Sache  auf  den  Grund  zu  gehen 
und  einen  Rückblick  auf  mein  Leben  zu  werfen ,  falle  das  Resultat  aus ,  wie 
es  immer  wolle.  Nun  kam  es  mir  aber  als  Pflicht  der  Dankbarkeit  vor,  E.  W. 
das  Resultat  meiner  Erinnerung  und  Beobachtung  mitzutheilen ,  da  ich  einen 
ganz  analogen  Fall  nicht  bei  Ihnen  verzeichnet  fand ;  endlich  dachte  ich  auch, 
es  interessire  Sie  vielleicht,  aus  einer  ärztlichen  Feder  zu  erfahren,  wie  solch 
ein  missrathenes  menschliches  oder  männliches  Individuum  unter  dem  Druck 
des  Zwangsgefühles,  Weib  zu  sein,  denkt  und  fühlt. 

Es  stimmt  nicht  Alles,  aber  zu  mehr  Reflexion  habe  ich  die  Kraft  nicht 
mehr,  und  mag  mich  nicht  mehr  hineinvertiefen;  Manches  ist  wiederholt, 
aber  doch  bitte  ich  zu  bedenken,  dass  jede  Maske  aus  der  Rolle  fallen  kann, 
besonders  wenn  die  Verkleidung  nicht  freiwillig  getragen  wird,  sondern  auf- 
oktroyirt  wird. 

Ich  hoffe  nach  der  Lektüre  Ihrer  Schriften,  dass  ich,  wenn  ich  meine 
Standespflichten  als  Arzt,  Bürger,  Vater  und  Ehemann  erfülle,  mich  doch  zu 
den  Menschen  rechnen  darf,  welche  nicht  bloss  Verachtung  verdienen. 

Endlich  wollte  ich  E.  W.  das  Resultat  meiner  Erinnerung  und  meines 
Nachdenkens  vorlegen,  um  zu  beweisen,  dass  man  auch  mit  weiblichem  Fühlen 
und  Denken  Arzt  sein  kann;  ich  halte  es  für  ein  grosses  Unrecht,  dem  Weibe 
die  Medicin  zu  verschliessen ;  ein  Weib  kommt  manchem  Uebel  durch  das 
Gefühl  auf  die  Spur,  wo  der  Mann  trotz  aller  Diagnostik  im  Finstern  tappt, 
jedenfalls  bei  Frauen-  und  Kinderkrankheiten.  Wenn  ich  es  machen  könnte, 
so  müsste  jeder  Arzt  ein  Vierteljahr  lang  die  Weiblichkeit  durchmachen,  er 
hätte  dann  mehr  Verständniss  und  mehr  Achtung  für  die  Seite  der  Mensch- 
heit, von  welcher  er  abstammt,  und  wüsste  dann  die  Seelengrösse  der  Frauen 
zu  schätzen,  andererseits  auch  die  Härte  ihres  Schicksals. 

Epikrise.  Patient  schwer  belastet,  ist  originär  psychosexual  abnorm, 
indem  er  charakterologisch  und  beim  sexuellen  Akt  weiblich  empfindet.  Dieses 
abnorme  Fühlen  bleibt  eine  rein  seelische  Anomalie  bis  vor  3  Jahren,  wo,  auf 
Grund  schwerer  Neurasthenie,  dieselbe  eine  übermächtige  Stütze  durch  zwangs- 
mässig  sich  dem  Bewusstsein  aufdrängende  körperliche  Gefühle  im  Sinne  der 
Transmutatio  sexus  bekommt.  Patient  fühlt  sich  zu  seinem  Schrecken  nun 
auch  körperlich  als  Weib,  empfindet  unter  dem  Zwang  seiner  weiblichen 
„  Zwangsgefühle "  eine  gänzliche  Umwandlung  seines  bisherigen  männlichen 
Fühlens,  Vorstellens  und  Strebens,  ja  sogar  seiner  ganzen  Vita  sexualis  im 
Sinne  der  Eviratio.    Gleichwohl  ist  sein  Ich  im  Stande,  die  Herrschaft  gegen- 


222  Paraesthesia  sexualis. 

über  diesen  seelisch-körperlichen  krankhaften  Vorgängen  zu  behaupten  und 
den  Verfall  in  Paranoia  hintanzuhalten  —  ein  denkwürdiges  Beispiel  von 
Zwangsempfindungen  und  Zwangsvorstellungen  auf  der  Basis  neurotischer  Be- 
lastung und  von  hohem  Werth  für  die  Gewinnung  eines  Verständnisses  der 
Wege,  auf  welchen  sich  die  psychosexuale  Transformation  vollziehen  mag. 
1893,  nach  3  Jahren,  sandte  mir  der  unglückliche  College  einen  neuen  Status 
praesens  seiner  Denk-  und  Gefühlsweise.  Derselbe  entspricht  wesentlich  dem 
früheren.  Pat.  fühlt  sich  körperlich  und  seelisch  vollkommen  als  Weib,  aber 
seine  Intelligenz  ist  intakt  geblieben  und  schützt  ihn  vor  dem  Verfall  in 
Paranoia  (s.  u.). 


Ein  Seitenstück  zu  diesem  klinisch  und  psychologisch  merk- 
würdigen Fall  bei  einem  Manne  stellt  die  folgende,  eine  Dame  be- 
treffende Beobachtung  dar. 

Beobachtung  99.  Frau  X.,  Tochter  eines  hohen  Beamten,  stammt 
von  einer  Mutter,  die  an  einem  Nervenleiden  gestorben  ist.  Der  Vater  war 
unbelastet,  starb  hochbetagt  an  Pneumonie.  Ein  Theil  der  Geschwister  ist 
psychopathisch  minderwerthig,  ein  Bruder  charakterologisch  abnorm  und  schwer 
neurasthenisch. 

Als  Mädchen  hatte  Frau  X.  entschieden  Inclinationen  für  Knabensport. 
Solange  sie  noch  kurze  Kleider  trug,  schweifte  sie  in  Feld  und  Wald  umher 
und  erkletterte  schwindelfrei  die  gefährlichsten  Felsparthien.  Für  Kleider  und 
Putz  hatte  sie  keinen  Sinn.  Nur  einmal,  als  sie  ein  Kleid  von  mehr  männ- 
lichem Zuschnitt  bekam,  empfand  sie  grosse  Freude  und  war  sehr  vergnügt, 
als  sie  als  Schülerin  bei  einer  theatralischen  Aufführung  in  Knabenkleidern 
einen  Jungen  darstellen  durfte. 

Im  Uebrigen  verrieth  aber  nichts  eine  homosexuelle  Veranlagung.  Sie 
weiss  sich  bis  zur  Eheschliessung  (21  Jahre)  keines  Falles  zu  erinnern,  dass  sie  je 
zu  einer  Person  des  eigenen  Geschlechtes  sich  hingezogen  gefühlt  hätte.  Ebenso 
gleichgültig  waren  ihr  männliche  Individuen.  Herangewachsen,  hatte  sie  viele 
Anbeter,  was  ihr  schmeichelte,  jedoch  wül  sie  nie  an  den  Unterschied  des 
Geschlechts  gedacht  und  diesen  nur  hinsichtlich  der  Kleidung  beachtet  haben. 

Auf  dem  einzigen  Balle,  den  sie  mitmachte,  interessirten  sie  nur  die 
geistreiche  Unterhaltung  und  die  gute  Gesellschaft,  nicht  der  Tanz  und  die 
Tänzer. 

Die  Menses  waren  ohne  Beschwerde  mit  18  Jahren  eingetreten.  Frau  X. 
empfand  die  Menstruation  jeweils  als  etwas  ihr  nicht  Zugehöriges  und  Lästiges. 
Die  Verlobung  mit  dem  braven,  reichen,  aber  für  Frauennatur  nicht  das  ge- 
ringste Verständniss  besitzenden  Manne  war  für  sie  eine  ganz  gleichgültige 
Sache.  Sie  empfand  weder  Sym-  noch  Antipathie  gegenüber  der  Ehe.  Der 
eheliche  Umgang  war  ihr  anfangs  schmerzlich,  später  einfach  lästig.  Sie  ge- 
langte dabei  nie  zu  einem  Wollustgefühl,  gebar  aber  im  Lauf  der  Jahre 
6  Kinder.  Als  der  Mann  wegen  des  wachsenden  Kindersegens  Coitus  inter- 
ruptus  pflog,  fühlte  [sie  sich  in  ihrem  religiösen  und  moralischen  Gefühl 
verletzt. 


Erworbene  conträre  Sexualempfindung.  223 

Frau  X.  wurde  immer  mehr  neurasthenisch ,  missgestimmt,  fühlte  sich 
unglücklich. 

Sie  litt  an  Descensus  uteri,  Erosionen  an  der  Port,  vaginalis,  wurde 
anämisch;  gynäkologische  Behandlung  und  verschiedene  Badekuren  brachten 
keine  erhebliche  Besserung. 

36  Jahre  alt,  erlitt  sie  eines  Tags  einen  apoplektischen  Insult  und  lag 
in  der  Folge  fast  2  Jahre  lang  krank  unter  schweren  neurasthenischen  Be- 
schwerden (Agrypnie,  Kopfdruck,  Herzklopfen,  psychische  Depression,  Gefühl 
gebrochener  körperlicher  und  geistiger  Kraft  bis  zu  Gefühlen  drohenden  Irre- 
seins u.  s.  w.). 

Im  Verlauf  dieser  Krankheit  stellte  sich  eine  sonderbare  Aenderung 
ihres  seelischen  und  körperlichen  Fühlens  ein. 

Der  Weibertratsch  der  sie  besuchenden  Damen  über  Liebe,  Toiletten, 
Schmuck,  Mode,  Haus-  und  Dienstbotenangelegenheiten  wurde  ihr  ekelhaft. 
Es  berührte  sie  peinlich,  selbst  Weib  zu  sein.  Sie  konnte  sich  nicht  mehr 
entschliessen,  in  den  Spiegel  zu  schauen.  Frisiren  und  Toilette  wurden  ihr 
ein  Gräuel.  Zum  Befremden  ihrer  Umgebung  änderten  sich  ihre  bisher 
weichen  und  entschieden  weiblichen  Züge  im  Sinne  eines  männlichen  Aus- 
drucks, so  dass  sie  Jedem  den  Eindruck  eines  in  Damenkleidern  steckenden 
Mannes  machte.  Sie  klagte  dem  vertrauten  Arzt,  die  Periode  sei  ihr  fremd 
geworden,  gehe  sie  nichts  an ;  sie  war  bei  ihrer  Wiederkehr  jeweils  verstimmt, 
empfand  den  Geruch  des  Menstrualbluts  als  ekelhaft,  konnte  sich  aber  nicht 
entschliessen,  zu  Parfüms,  die  ihr  ebenfalls  zuwider  geworden  waren,  zu  greifen. 

Aber  auch  sonst  fühlte  sie  eine  sonderbare  Wandlung  ihres  ganzen 
Wesens.  Sie  empfand  Anwandlungen  von  Kraftgefühl  und  sich  getrieben, 
turnerische  Leistungen  auszuführen,  fühlte  sich  episodisch  jung  wie  mit  20  Jahren. 
Sie  erstaunte,  wann  ihr  neurasthenisches  Gehirn  das  Denken  überhaupt  zuliess, 
über  den  Flug  und  die  Neuartigkeit  ihrer  Gedanken,  über  ihre  schnelle  und 
präcise  Art  der  Schluss-  und  Urtheilsbildung ,  die  schnelle  und  kurze  Art  des 
Ausdrucks,  die  neue  und  für  eine  Dame  nicht  immer  passende  Wahl  der 
Worte.  Sogar  Neigung  zum  Fluchen  stellte  sich  bei  der  früher  so  frommen 
und  strenge  auf  sich  haltenden  Frau  ein. 

Sie  machte  sich  bittere  Vorwürfe,  jammerte,  sie  sei  nicht  mehr  weib- 
lich, stosse  in  der  Gesellschaft  in  ihrem  Denken,  Fühlen  und  Handeln  an. 

Nun  fühlte  sie  auch  eine  Veränderung  ihres  Körpers.  Zu  ihrem  Er- 
staunen und  Entsetzen  fühlte  sie  die  Brüste  schwinden,  ihr  Becken  kam  ihr 
enger  vor,  die  Knochen  wurden  massiger,  die  Haut  fühlte  sich  rauher  und 
fester  an. 

Sie  konnte  sich  nicht  mehr  entschliessen,  die  weibliche  Bettjacke  sowie 
ein  Häubchen  zu  tragen ,  auch  Armreife ,  Ohrringe ,  Fächer  wurden  bei  Seite 
gelegt.  Der  Kammerjungfer  sowie  der  Nähterin  fiel  auf,  dass  von  Frau  X. 
ein  ganz  anderer  Geruch  ausging;    die  Stimme  wurde  tiefer,  rauh,  männlich. 

Als  Pat.  endlich  das  Bett  verliess,  hatte  sie  den  Gang  der  Frauen  fast 
ganz  verloren,  musste  sich  zu  entsprechenden  Gesten  und  Bewegungen  im 
Damencostüm  förmlich  zwingen,  konnte  es  nicht  mehr  ertragen,  einen  Schleier 
vor  das  Gesicht  zu  nehmen.  Ihre  frühere  Lebenszeit  als  Weib  kam  ihr  als 
etwas  Fremdes,  ihr  nicht  Zugehöriges  vor,  sie  fand  sich  nicht  mehr  oder  nur 
mühsam  in  die  Rolle  des  Weibes  hinein.    Ihre  Züge  wurden  nun  immer  mann- 


224  Paraesthesia  sexualis. 

licher.  Ganz  fremdartige  Gefühle  im  Unterleib  stellten  sich.  ein.  Sie  klagte 
dem  Arzt,  dass  sie  ihre  Genitalien  nicht  mehr  innerlich  fühle.  Sie  empfinde 
ihren  Leib  geschlossen,  die  Gegend  der  Schamtheile  vergrössert,  sie  habe  oft 
deutlich  das  Gefühl,  Penis  und  Sero  tum  zu  besitzen.  Auch  zeigte  sie  deutlich 
männliche  Libido.  Sie  war  über  all  diese  Wahrnehmungen  tief  verstimmt, 
entsetzt  und  ihre  Verstimmung  nahm  so  zu,  dass  man  Wahnsinn  befürchtete. 
Es  gelang  den  Bemühungen  und  Aufklärungen  des  Hausarztes,  Pat.  allmählig 
zu  beruhigen  und  sie  über  diese  Klippe  hinüberzubringen.  Pat.  gewann  in  der 
neuen,  fremdartigen,  krankhaften,  körperlich-seelischen  Form  allmählig  ihr 
Gleichgewicht  wieder.  Sie  bemühte  sich,  ihren  Pflichten  als  Hausfrau  und 
Mutter  nachzukommen.  Interessant  war  die  wahrhaft  männliche  Festigkeit 
des  Willens,  welche  sie  dabei  entfaltete,  aber  ihr  früher  weiches  Gemüth  war 
verschwunden.  Sie  gerirte  sich  nunmehr  als  Mann  im  Hause,  was  Veran- 
lassung zu  ehelichen  Dissidien  bot.  Ueberhaupt  erschien  Frau  X.  ihrem  Mann 
als  ein  unlösbares  Räthsel. 

Dem  Arzte  klagte  sie  über  ab  und  zu  sie  heimsuchende  „thierisch  männ- 
liche" Begierden  und  war  zu  solchen  Zeiten  auch  tief  verstimmt.  Der  ehe- 
liche Verkehr  mit  dem  Manne  erschien  ihr  grauenhaft  und  unmöglich. 

Episodisch  empfand  Pat.  noch  weibliche  Regungen,  aber  immer  seltener 
und  matter.  Sie  fühlte  dann  wieder  weibliche  Genitalien,  ihre  Brüste  als  die 
eigenen,  aber  die  Episoden  waren  ihr  peinlich  und  sie  hatte  das  Gefühl,  dass 
sie  eine  solche  „zweite  Umstimmung"  nicht  mehr  aushalten  könnte,  ohne  wahn- 
sinnig zu  werden. 

Sie  hat  sich  in  die  ihr  durch  einen  Krankheitsprocess  aufgedrungene 
Mutatio  sexus  hineingefunden  und  trägt  ihr  Schicksal  in  Ergebung,  wobei  ihre 
grosse  Religiosität  ihr  mächtige  Hülfe  gewährt. 

Im  höchsten  Grad  peinlich  ist  ihr  aber,  dass  sie  beständig,  einer  Schau- 
spielerin gleich,  eine  fremde  Rolle,  die  des  Weibes,  vor  der  Aussenwelt  spielen 
muss.     (Status  praesens  Sept.  1892.) 


IV.  Stufe:  Metamorphosis  sexualis  paranoiea. 

Eine  letzte  mögliche  Stufe  in  dem  Krankheitsprocess  stellt 
der  Wahn  der  Geschlechtsverwandlung  dar.  Er  wird  erreicht  auf 
der  Grundlage  einer  zur  Neurasthenia  universalis  gewordenen 
sexuellen  Neurasthenie  im  Sinne  einer  seelischen  Erkrankung,  der 
Paranoia. 

Die  folgenden  Beobachtungen  weisen  die  interessante  Ent- 
wicklung des  neurotisch-psychologischen  Vorgangs  bis  zu  seiner 
Höhe  nach. 

Beobachtung  100.  K.,  36  Jahre,  ledig,  Knecht,  aufgenommen  in  der 
Klinik  am  26.  Februar  1889,  ist  ein  typischer  Fall  von  aus  Neurasthenia 
sexualis  entstandener  Paranoia  persecutoria  mit  Geruchshallucinationen ,  Sen- 
sationen u.  s.  w. 


Wahn  der  Geschlechtsverwandlung.  225 

Er  stammt  aus  belasteter  Familie.  Mehrere  Geschwister  waren  psycho- 
pathisch. Patient  hat  hydrocephalen  Schädel,  in  der  Gegend  der  rechten  Fon- 
tanelle eingesattelt,  neuropathisches  Auge.  Von  jeher  sexuell  sehr  bedürftig, 
ergab  er  sich  mit  19  Jahren  der  Masturbation,  coitirte  mit  23  Jahren,  zeugte 
3  uneheliche  Kinder,  unterliess  weiteren  sexuellen  Verkehr  aus  Angst  vor 
weiterer  Zeugung  und  Unerschwinglichkeit  der  Alimentationsgelder,  empfand 
die  Abstinenz  höchst  peinlich,  entsagte  auch  der  Masturbation,  bekam  massen- 
haft Pollutionen,  wurde  vor  V/2  Jahren  sexuell  neurasthenisch,  hatte  auch 
Pollut.  diurnae,  wurde  davon  ganz  matt  und  elend,  im  weiteren  Verlauf  all- 
gemein neurasthenisch  und  erkrankte  an  Paranoia. 

Seit  1  Jahr  bekam  er  parästhetische  Sensationen,  als  ob  an  Stelle  der 
Genitalien  ein  grosser  Knäuel  liege,  dann  fühlte  er,  wie  Scrotum  und  Penis 
fehlten  und  seine  Genitalien  sich  weiblich  umwandelten. 

Er  fühlte  das  Wachsen  von  Brüsten,  einen  Haarzopf,  das  Anliegen 
weiblicher  Kleidung  am  Körper.  Er  kam  sich  als  Weib  vor.  Die  Leute  auf 
der  Strasse  machten  entsprechende  Aeusserungen :  „Seht  doch  das  Mensch  an, 
die  alte  Duttel."  Im  Halbtraum  hatte  er  das  Gefühl,  als  ob  an  ihm  als  einem 
Weib  ein  Mann  den  Coitus  vollziehe.  Es  kam  ihm  dabei  die  Natur  unter 
lebhaftem  Wollustgefühl.  Während  des  Aufenthalts  in  der  Klinik  trat  eine 
Intermission  der  Paranoia  ein  und  zugleich  eine  bedeutende  Besserung  der 
Neurasthenie.  Damit  schwanden  vorläufig  die  Gefühle  und  Ideen  im  Sinne 
einer  sich  entwickelnden  Metamorphosis  sexualis. 

Ein  weiter  vorgeschrittener  Fall  von  Eviratio  auf  dem  Wege 
zur  Transformatio  sexus  paranoica  ist  der  folgende: 

Beobachtung  101.  Franz  St.,  33  Jahre  alt,  Volksschullehrer,  ledig, 
wahrscheinlich  aus  belasteter  Familie ,  von  jeher  neuropathisch ,  emotiv, 
schreckhaft,  alkoholintolerant,  begann  mit  18  Jahren  zu  masturbiren,  bekam 
mit  30  Jahren  Erscheinungen  von  Neurasthenia  sexualis  (Pollutionen  mit  fol- 
gender Mattigkeit,  die  mit  der  Zeit  auch  bei  Tage  auftraten,  Schmerzen  im 
Gebiet  des  Plex.  sacralis  u.  s.  w.).  Dazu  gesellte  sich  allmählig  Spinalirrita- 
tion ,  Kopfdruck ,  Cerebrasthenie.  Seit  Anfang  1885  hatte  Patient  sich  des 
Coitus  enthalten,  bei  welchem  er  kein  Wollustgefühl  mehr  verspürte.  Er 
masturbirte  häufig. 

1888  begann  Beachtungswahn.  Er  bemerkte,  dass  man  ihm  auswich, 
bemerkte,  dass  er  eine  schädliche  Ausdünstung  habe,  stinke  (Geruchshallucina- 
tionen)  und  erklärte  sich  damit  das  geänderte  Benehmen  der  Leute,  nicht 
minder  ihr  Niesen,  Husten  u.  s.  w. 

Er  empfand  Gerüche  nach  Leichen,  faulem  Harn.  Als  Ursache  seines 
üblen  Geruchs  erkannte  er  Pollutionen  nach  innen.  Er  erkannte  sie  an  einem 
Gefühl,  wie  wenn  von  der  Symphyse  gegen  die  Brust  Flüssigkeit  ströme. 

Patient  verliess  bald  wieder  die  Klinik. 

1889  kam  er  neuerlich  zur  Aufnahme  im  vorgeschrittenen  Stadium  einer 
Paranoia  masturbatoria  persecut.  (physikalischer  Verfolgungswahn). 

Anfangs  Mai  1889  wird  Patient  dadurch  auffällig,  dass  er  grob  reagirt, 
wenn  man  ihn  als  „Herr"  anredet. 

v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  15 


226  Paraesthesia  sexualis. 

Er  protestirt  dagegen,  weil  er  ein  Weib  sei.  Stimmen  sagen  ihm  dies. 
Er  bemerkt,  dass  ihm  Brüste  wachsen.  Vor  einer  Woche  betasteten  ihn  die 
Anderen  wollüstig.  Er  hörte  sagen,  er  sei  eine  Hure.  In  letzter  Zeit  Be- 
gattungsträume. Es  träumte  ihm,  es  werde  an  ihm  als  einem  Weib  der  Coitus 
vollzogen.  Er  spürt  die  Immissio  penis  und  hat  beim  traumhaften  Akt  Ejacula- 
tionsgefühl. 

Schädel  steil,  langer  schmaler  Gesichtsschädel,  prominente  Tubera  parie- 
talia.     Genitalien  normal  entwickelt. 

Der  folgende  Fall,  in  der  Anstalt  Illenau  beobachtet,  ist  ein 
passendes  Beispiel  dauernder  wahnhafter  Verkehrung  des  geschlecht- 
lichen Bewusstseins. 

Beobachtung  102.  Metamor phosis  sexualis  paranoica. 
N.,  23  Jahre,  ledig,  Pianist,  wurde  Ende  October  1865  in  der  Heilanstalt 
Illenau  aufgenommen.  Aus  erblich  angeblich  nicht  belasteter,  aber  tuber- 
kulöser Familie  (Vater  und  Bruder  erlagen  der  Phthisis  pulm.).  Patient  war 
als  Kind  schwächlich,  gering  begabt,  jedoch  einseitig  für  Musik  talentirt.  Er 
war  von  jeher  ein  abnormer  Charakter,  still,  verschlossen,  ungesellig,  von 
barschem  Wesen. 

Vom  15.  Jahr  an  Masturbation.  Nach  einigen  Jahren  schon  stellten 
sich  neurasthenische  Beschwerden  (Herzklopfen,  Mattigkeit,  zeitweise  Kopf, 
druck  u.  s.  w.)  ein,  zugleich  auch  hypochondrische  Anwandlungen.  Patient 
arbeitete  in  dem  letzten  Jahr  sehr  angestrengt.  Seit  einem  halben  Jahre 
hatte  sich  seine  Neurasthenie  gesteigert.  Er  klagte  nun  über  Herzklopfen, 
Kopfdruck,  Schlaflosigkeit,  wurde  sehr  reizbar,  erschien  sexuell  sehr  erregt, 
behauptete ,  er  müsse  ehemöglich  heirathen ,  aus  Gesundheitsrücksichten.  Er 
verliebte  sich  in  eine  Künstlerin,  erkrankte  aber  fast  gleichzeitig  (Sept.  1865) 
an  Paranoia  persecutoria  (feindliche  Wahrnehmungen,  Schmähreden  auf  der 
Strasse,  Gift  im  Essen,  man  spannt  ihm  ein  Seil  auf  einer  Brücke,  damit  er 
nicht  über  diese  zur  Geliebten  gehe).  Wegen  zunehmender  Aufregung  und 
Conflikte  mit  der  feindlich  aufgefassten  Umgebung  in  die  Irrenanstalt  auf- 
genommen, bot  er  anfänglich  noch  das  Bild  einer  typischen  Paranoia  per- 
secutoria, neben  den  Erscheinungen  einer  sexuellen,  später  allgemeinen  Neur- 
asthenie, jedoch  baute  sich  der  Verfolgungswahn  nicht  auf  dieser  neurotischen 
Grundlage  auf.  Nur  gelegentlich  hörte  Patient  die  Umgebung  sagen:  „ Jetzt 
wird  ihm  der  Same,  jetzt  wird  ihm  die  Blase  abgeschnitten." 

Im  Lauf  der  Jahre  1866 — 68  trat  der  Verfolgungswahn  immer  mehr  in 
den  Hintergrund  und  wurde  grossentheils  ersetzt  durch  erotische  Ideen.  Die 
somatisch-psychische  Grundlage  war  eine  andauernde  und  mächtige  Erregung 
der  Sexualsphäre.  Patient  verliebte  sich  in  jede  Dame,  deren  er  ansichtig  wurde, 
hörte  auffordernde  Stimmen,  sich  ihr  zu  nähern,  verlangte  gebieterisch  die 
Ehebewilligung  und  behauptete,  wenn  man  ihm  keine  Frau  verschaffe,  be- 
komme er  die  Auszehrung.  Unter  fortgesetzter  Masturbation  treten  schon 
1869  Signale  im  Sinne  künftiger  Eviratio  auf.  „Wird,  wenn  er  eine  Frau 
bekommt,  sie  nur  platonisch  lieben."  Patient  wird  immer  verschrobener,  lebt 
in  einem  erotischen  Ideenkreis,  sieht  allenthalben  in  der  Anstalt  Prostitution 


Wahn  der  Geschlechtsverwandlung.  227 

treiben,  hört  ab  und  zu  Stimmen,  die  ihm  selbst  unzüchtiges  Benehmen  gegen 
Damen  imputiren.  Er  vermeidet  desshalb  Damengesellschaft  und  lässt  sich 
nur  dann  herbei,  in  solcher  zu  musiciren,  wenn  ihm  zwei  Zeugen  beigegeben 
werden. 

Im  Lauf  des  Jahres  1872  nimmt  der  neurasthenische  Zustand  einen  be- 
deutenden Aufschwung.  Nun  tritt  auch  die  Paranoia  persecutoria  wieder  mehr 
in  den  Vordergrund  und  gewinnt  klinische  Färbung  durch  den  neurotischen 
Grundzustand.  Es  treten  Geruchshallucinationen  auf,  er  wird  magnetisch  be- 
einflusst.  „Magnetismusambosarbeitsweilen1'  wirken  auf  ihn  ein  (falsche  Inter- 
pretation spinalasthenischer  Beschwerden).  Unter  fortdauernder  mächtiger 
sexueller  Erregung  und  masturbatorischen  Excessen  macht  der  Process  der 
Eviratio  immer  weitere  Fortschritte.  Nur  noch  episodisch  ist  er  Mann  und 
schmachtet  nach  einem  Weibe,  beklagt  sich  bitter,  dass  die  schamlose  Prosti- 
tution der  Männer  hier  im  Hause  es  unmöglich  mache,  dass  ein  Frauenzimmer 
zu  ihm  gelange.  Er  sei  sterbenskrank  durch  magnetisch  vergiftete  Luft  und 
unbefriedigte  Liebe,  ohne  Liebe  könne  er  nicht  leben;  er  sei  vergiftet  durch 
Geilgift,  das  auf  den  Geschlechtstrieb  wirke.  Die  Dame,  welche  er  liebe,  sei 
hier  in  der  niedrigsten  Unzucht.  Die  Prostituirten  hier  im  Hause  haben  Glück- 
seligkeitsketten, d.  h.  Ketten,  in  welchen  man,  ohne  sich  zu  rühren,  in  Wollust 
liege.  Er  sei  erbötig,  sich  jetzt  auch  mit  einer  Prostituirten  zu  begnügen.  Er 
besitze  eine  wunderbare  Augengedankenausstrahlung ,  die  20  Millionen  werth 
sei.  Seine  Compositionen  sind  500000  Francs  werth.  Neben  diesen  Andeutungen 
von  Grössenwahn  solche  von  persecutorischem  —  die  Nahrung  ist  durch  vene- 
rische Excremente  vergiftet,  er  schmeckt  und  riecht  das  Gift,  hört  infame 
Beschuldigungen  und  verlangt  eine  Ohrenschlussmaschine. 

Immer  häufiger  werden  aber  vom  August  1872  ab  Signale  im  Sinne  der 
Eviratio.  Er  benimmt  sich  ziemlich  affektirt,  erklärt,  dass  er  nicht  mehr 
unter  trinkenden  und  rauchenden  Männern  leben  könne.  Er  denke  und 
empfinde  ganz  weiblich.  Man  solle  ihn  von  nun  ab  als  Weib  behandeln  und 
in  einer  Frauenabtheilung  unterbringen.  Er  verlangt  Confitüren ,  feine  Mehl- 
speisen. Gelegentlich  Tenesmus  und  Cystospasmus  verlangt  er  in  einer  Ent- 
bindungsanstalt untergebracht  und  wie  eine  Schwerkranke ,  Schwangere  be- 
handelt zu  werden.  Der  krankhafte  Magnetismus  männlicher  Pfleger  wirke 
ungünstig  auf  ihn. 

Vorübergehend  fühlt  er  sich  noch  als  Mann,  plaidirt  aber  in  für  sein 
krankhaft  geändertes  sexuales  Empfinden  bezeichnender  Weise  nur  für  Be- 
friedigung durch  Masturbation,  für  Ehe  ohne  Coitus.  Die  Ehe  sei  ein 
Wollustinstitut.  Das  Mädchen,  welches  er  zur  Frau  nehmen  möchte,  müsste 
Onanistin  sein. 

Vom  December  1872  ab  ändert  sich  sein  Persönlichkeitsbewusstsein  end- 
gültig in  ein  weibliches. 

Er  sei  von  jeher  ein  Weib,  aber  vom  1. — 5.  Lebensjahre  habe  ihn  ein 
französischer  Quäkerkünstler  mit  männlichen  Genitalien  versehen  und  ihm 
durch  Einreiben  und  Zurichten  des  Thorax  das  spätere  Hervorkommen  der 
Brüste  verhindert. 

Er  verlangt  nun  energisch  Unterbringung  in  der  Frauenabtheilung, 
Schutz  vor  ihn  prostituiren  wollenden  Männern  und  Damenkleidung.  Eventuell 
wäre  er  auch  erbötig,  in  einem  Spielwaarengeschäft  sich  mit  Stepp-  und  Aus- 


228  Paraesthesia  sexualis. 

schneidarbeit,  oder  in  einem  Putzgeschäft  mit  weiblicher  Arbeit  zu  beschäf- 
tigen. Vom  Zeitpunkt  der  Transformatio  sexus  an  beginnt  für  Patient  eine 
neue  Zeitrechnung.  Seine  eigene  frühere  Persönlichkeit  fasst  er  in  der  Erinne- 
rung als  seinen  Vetter  auf. 

Er  spricht  von  sich  vorläufig  in  der  dritten  Person,  erklärt  sich  für  die 
Gräfin  V.,  die  liebste  Freundin  der  Kaiserin  Eugenie,  verlangt  Parfüms,  Cor- 
setten  u.  s.  w.  Hält  die  anderen  Männer  der  Abtheilung  für  Frauenzimmer, 
versucht,  sich  einen  Zopf  zu  flechten,  verlangt  ein  orientalisches  Enthaarungs- 
mittel, damit  man  nicht  mehr  an  seiner  Damennatur  zweifle.  Er  gefällt  sich 
in  Lobreden  auf  die  Onanie,  denn  „sie  war  seit  ihrem  15.  Jahr  Onanistin  und 
hat  nie  eine  andere  geschlechtliche  Befriedigung  gesucht".  Gelegentlich  werden 
noch  neurasthenische  Beschwerden,  Geruchshallucinationen  und  persecutorische 
Delirien  beobachtet.  Alle  Erlebnisse  bis  zum  December  1872  gehören  der 
Persönlichkeit  des  Vetters  an. 

Patient  ist  von  dem  Wahn,  Gräfin  V.  zu  sein,  nicht  mehr  abzubringen. 
Sie  beruft  sich  darauf,  dass  sie  von  der  Hebamme  untersucht  und  als  Dame 
befunden  worden  sei.  Die  Gräfin  wird  nicht  heirathen,  weil  sie  die  Männer- 
welt verachtet.  Da  Patient  keine  Damenkleider  und  Stöckelschuhe  bekommt, 
bringt  er  den  grössten  Theil  des  Tages  im  Bett  zu,  gerirt  sich  als  vornehme, 
leidende  Dame ,  thut  zimpferlich ,  verschämt  und  verlangt  Bonbons  u.  dergl. 
Das  Haar  wird  so  gut  wie  möglich  in  Zöpfe  geflochten ,  der  Bart  ausgezupft. 
Aus  Semmeln  werden  Brüste  geschaffen. 

1874  tritt  Caries  im  linken  Kniegelenk  auf,  zu  der  sich  bald  Phthisis 
pulmonum  gesellt.  Tod  am  2.  December  1874.  Schädel  normal.  Stirnhim 
atrophisch ,  Gehirn  anämisch.  Mikroskopisch  (Dr.  Schule):  In  der  oberen 
Schichte  des  Frontalhirns  Ganglienzellen  leicht  geschrumpft,  in  der  Adventitia 
der  Gefässe  zahlreiche  Fettkörnchen;  Glia  unverändert,  vereinzelte  Pigment- 
partikeln und  Colloidkörner.  Die  unteren  Schichten  der  Gehirnrinde  normal. 
Genitalien  sehr  gross,  Hoden  klein,  schlaff,  auf  dem  Durchschnitt  makroskopisch 
nicht  verändert. 

Der  im  Vorstehenden  in  seinen  Bedingungen  und  Entwicklungs- 
phasen aufgezeigte  Wahn  der  Geschlechtsverwandlung  ist  eine  auf- 
fallend seltene  Erscheinung  in  der  Pathologie  des  menschlichen  Geistes. 
Ausser  den  vorausgehenden  Fällen  eigener  Beobachtung  habe  ich 
einen  solchen  Fall  als  episodische  Erscheinung  bei  einer  conträr- 
sexualen  Dame  (Beob.  118  der  7.  Auflage  m.  Psychopathia  sexualis) 
und  als  dauernde  bei  einem  mit  originärer  Paranoia  behafteten 
Mädchen  beobachtet,  ferner  bei  einer  ebenfalls  originär  paranoi- 
schen Dame. 

In  der  Literatur  sind  mir  ausser  einem  aphoristisch  in  seinem 
Lehrbuch  berichteten  Fall  von  Arndt  (S.  172),  einem  von  Serieux 
(Recherches  cliniques  p.  33)  ziemlich  oberflächlich  mitgetheilten  und 
den  beiden  bekannten  von  Esquirol  keine  Beobachtungen  von 
Wahn  der  Geschlechts  Verwandlung  erinnerlich.    Der  Fall  von  Arndt 


Wahn  der  Geschlechtsverwandlung.  229 

möge  hier  kurz  mitgetheilt  werden,  obwohl  er  ebensowenig  wie  die 
Esquirol'schen  über  die  Genese  des  Wahns  Aufschlüsse  bietet. 

Beobachtung  103.  Eine  Frau  in  mittleren  Jahren  in  der  Greifswalder 
Irrenanstalt  hielt  sich  für  einen  Mann  und  trug  sich  demgemäss.  Sie  schnitt 
sich  das  Haar  kurz  und  scheitelte  es  auf  einer  Seite  in  militärischer  Weise. 
Ein  scharf  geschnittenes  Profil,  eine  etwas  grosse  Nase  und  eine  gewisse  Derb- 
heit aller  Züge  gab  dem  Antlitz  etwas  Charakteristisches  und,  im  Vereine  mit 
dem  kurzgeschnittenen  und  um  die  Ohren  glatt  anliegenden  Haare,  dem  ganzen 
Kopfe  etwas  entschieden  Männliches. 

Sie  war  gross  und  hager,  ihre  Stimme  tief  und  rauh,  der  Adamsapfel 
kantig  vorspringend,  ihre  Haltung  straff,  ihr  Gang  sowie  jede  ihrer  Bewegungen 
wuchtig,  aber  nicht  gerade  plump.  Sie  sah  aus  wie  ein  Mann  in  Frauen- 
kleidern. Befragt,  wie  sie  dazu  komme,  sich  für  einen  Mann  zu  halten,  rief 
sie  fast  immer  sehr  erregt:  „Nun,  sehen  Sie  mich  doch  einmal  an!  Sehe  ich 
nicht  aus  wie  ein  Mann?  Auch  fühle  ich,  dass  ich  ein  Mann  bin.  Ich  habe 
immer  schon  so  etwas  gefühlt,  aber  ich  bin  mir  darüber  erst  allmählig  klar 
geworden.  Der  Mann,  welcher  mein  Mann  sein  soll,  ist  gar  kein  rechter  Mann. 
Meine  Kinder  habe  ich  mir  selber  gezeugt.  Ich  habe  so  etwas  immer  gefühlt, 
jedoch  die  Klarheit  darüber  ist  mir  erst  später  gekommen.  Und  habe  ich  nicht 
immer  auch  in  der  Wirthschaft  wie  ein  Mann  gewirkt?  Der  Mann,  welcher 
mein  Mann  sein  soll,  hat  nur  ausgeholfen.  Er  hat  ausgeführt,  was  ich  an- 
geordnet habe.  Ich  bin  von  Jugend  auf  immer  mehr  für  das  Männliche  ge- 
wesen, als  für  das  Weibliche.  Für  das,  was  auf  Hof  und  Feld  geschieht,  habe 
ich  immer  mehr  Liebe  gehabt,  als  für  das,  was  im  Hause  und  in  der  Küche 
zu  thun  ist.  Aber  ich  habe  nur  nicht  erkannt,  woran  das  lag.  Jetzt  weiss 
ich,  dass  ich  ein  Mann  bin,  und  da  will  ich  mich  auch  als  solcher  tragen,  und 
es  ist  eine  Schande,  mich  immer  in  Weiberkleidern  zu  halten." 

Beobachtung  104.  X.,  26  Jahre,  von  hoher  Statur  und  schönem 
Aeusseren,  liebte  es,  seit  der  frühesten  Jugend  Weiberkleider  anzuziehen. 
Herangewachsen,  wusste  er  es  als  Theilnehmer  von  Haustheatem  immer  so  ein- 
zurichten, dass  er  weibliche  Rollen  bekam.  Nach  einer  Gemüthsbewegung  bil- 
dete er  sich  ein,  wirklich  Weib  zu  sein,  und  versuchte  die  Umgebung  davon 
zu  überzeugen. 

Er  liebte  es,  sich  zu  entkleiden,  dann  als  Weib  sich  zu  frisiren  und  zu 
drapiren.  In  diesem  Aufzug  wollte  er  auf  die  Strasse.  Sonst  war  er  ganz 
vernünftig.  Den  ganzen  Tag  pflegte  er  sich  zu  frisiren,  sich  im  Spiegel  zu 
beschauen  und  mit  seinem  Schlafrock  so  gut  als  möglich  sich  als  Weib  zu 
costümiren.  Beim  Gehen  ging  er  nach  Weiberart.  Als  eines  Tags  Esquirol 
dergleichen  that,  als  wollte  er  ihm  das  Kleid  aufheben,  gerieth  er  in  Wuth 
und  warf  ihm  Unverschämtheit  vor  (Esquirol). 

Beobachtung  105.  Frau  X.,  Wittwe,  war  durch  den  Tod  ihres  Mannes 
und  Verlust  ihres  Vermögens  grossen  Gemüthsbewegungen  ausgesetzt  gewesen. 
Sie  wurde  geistig  gestört  und  kam  nach  einem  Selbstmordversuch  in  die 
Salpetriere. 


230  Paraesthesia  sexualis. 

Frau  X.,  schlank,  mager,  andauernd  in  manischer  Aufregung,  hielt  sich 
für  einen  Mann,  gerieth  in  Zorn,  wenn  man  sie  „ Madame"  anredete.  Als  man 
ihr  einmal  Männerkleidung  zur  Verfügung  stellte,  war  sie  ausser  sich  vor  Ent- 
zücken. Sie  erlag  1802  einer  consumptiven  Krankheit  und  äusserte  ihren  "Wahn, 
ein  Mann  zu  sein,  bis  kurz  vor  ihrem  Tode  (Esquirol). 

Auf  S.  208  habe  ich  der  interessanten  Beziehungen  Erwäh- 
nung gethan,  welche  sich  zwischen  diesen  Thatsachen  der  wahn- 
haften Geschlechtsverwandlung  und  dem  sogen.  Skythenwahnsinn 
finden. 

Marandon  (Annales  medico-psychologiques  1877  p.  161)  hat, 
gleichwie  Andere,  irrthümlich  angenommen,  dass  es  sich  bei  diesen 
Skythen  des  Alterthums  um  wirklichen  Wahn  und  nicht  um  blosse 
Eviratio  gehandelt  habe.  Nach  dem  Gesetz  des  empirischen  Aktualis- 
mus  muss  der  heutzutage  so  seltene  Wahn  auch  im  Alterthum  höchst 
selten  gewesen  sein.  Da  er  nur  auf  Grundlage  einer  Paranoia  denk- 
bar ist,  kann  überhaupt  von  einem  endemischen  Vorkommen  nie- 
mals die  Rede  gewesen  sein,  sondern  nur  von  einer  abergläubischen 
Deutung  einer  Eviratio  (im  Sinne  des  Zornes  der  Göttin),  wie  dies 
auch  aus  Andeutungen  bei  Hippokrates  hervorgeht. 

Anthropologisch  bemerkenswerth  bleibt  die  aus  dem  sogen. 
Skythenwahnsinn  und  aus  neuerlichen  Erfahrungen  bei  den  Pueblo- 
indianern  hervorgehende  Thatsache,  dass  mit  dem  Schwund  der 
Hoden  auch  solcher  der  Genitalien  überhaupt  und  Annäherungen 
an  den  Typus  des  Weibes  körperlich  und  seelisch  beobachtet  wurden. 
Es  ist  dies  um  so  auffälliger,  als  solche  Rückwirkung  beim  Manne, 
der  in  erwachsenem  Alter  seine  Zeugungsorgane  verliert,  ebenso 
ungewöhnlich  ist,  als  beim  erwachsenen  Weibe  m.  m.  nach  dem 
künstlichen  Klimax  oder  nach  dem  natürlichen. 


B.  Die  homosexuale  Empfindung  als  angeborene  krankhafte 
Erscheinung 1). 

Das  Wesentliche  bei  dieser  sonderbaren  Erscheinungsweise 
des  Geschlechtslebens  ist  die  sexuelle  Frigidität  bis  zum  Horror 
gegenüber   dem   anderen  Geschlecht,    während  Neigung  und  Trieb 


*)  Literatur  (ausser  der  im  Folgenden  erwähnten) :  T  a  r  d  i  e  u ,  Des 
Attentats  aux  moeurs,  7.  edit.  1878,  p.  210.  —  Hofmann,  Lehrb.  d.  ger. 
Med.,  6.  Aufl.,  p.  170,  887.  —  Gley,  Revue  philosophique  1884,  Nr.  1.  — 
Magnan,  Annal.  med.-psychol.  1885,  p.  458.  —  Shaw  und  Ferris,  Journal 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung.  231 

zum  eigenen  Geschlecht  besteht.  Gleichwohl  sind  die  Genitalien 
normal  entwickelt,  die  Geschlechtsdrüsen  functioniren  ganz  ent- 
sprechend und  der  geschlechtliche  Typus  ist  ein  vollkommen  diffe- 
renzirter. 

Das  Empfinden,  Denken,  Streben,  überhaupt  der  Charakter 
entspricht,  bei  voller  Ausbildung  der  Anomalie,  der  eigenartigen 
Geschlechtsempfindung,  nicht  aber  dem  Geschlecht,  welches  das 
Individuum  anatomisch  und  physiologisch  repräsentirt.  Auch  in 
Tracht  und  Beschäftigung  gibt  sich  diese  abnorme  Empfindungs- 
weise dann  zu  erkennen  bis  zum  Drang,  der  sexuellen  Rolle,  in 
welcher  sich  das  Individuum  fühlt,  entsprechend  sich  zu  kleiden. 

Klinisch    und   anthropologisch   bietet   diese    abnorme  Erschei- 
nung verschiedene  Entwicklungsstufen,    bezw.  Erscheinungsformen. 

1)  Bei  vorwaltender  homosexualer  Geschlechtsempfindung  be- 
stehen Spuren  heterosexualer  (psychosexuale  Hermaphrodisie). 

2)  Es  besteht  bloss  Neigung  zum  eigenen  Geschlecht  (Homo- 
sexualität). 

3)  Auch  das  ganze  psychische  Sein  ist  der  abnormen  Ge- 
schlechtsempfindung entsprechend  geartet  (Effeminatio  und  Vira- 
ginität). 

4)  Die  Körperform  nähert  sich  derjenigen,  welcher  die  ab- 
norme Geschlechtsempfindung  entspricht.  Nie  aber  finden  sich  wirk- 
liche Uebergänge  zum  Hermaphroditen,  im  Gegentheil  vollkommen 


of  nervous  and  mental  disease  1883,  April,  Nr.  2.  —  Bernhardi,  Der  Uranis- 
mus. Berlin  (Volksbuchhandlung)  1882.  —  Chevalier,  De  l'inversion  de 
l'instinct  sexuel.  Paris  1885.  —  Ritti,  Graz,  hebdom.  de  medecine  et  de 
Chirurg.  1878,  4.  Jänner.  —  Tamassia,  Rivista  sperim.  1878,  p.  97 — 117.  — 
Lombroso,  Archiv,  di  Psichiatr.  1881.  —  Charcot  et  Magna n,  Archiv, 
de  Neurologie  1882.  Nr.  7,  12.  —  Tarnowsky,  Die  krankhaften  Erschei- 
nungen d.  Geschlechtssinnes.  Berlin  1886.  —  Moll,  Die  conträre  Sexualempfin- 
dung. 2.  Aufl.  Berlin  1893  (zahlreiche  Literaturangaben).  —  Chevalier,  Ar- 
chiven de  l'anthropologie  criminelle,  Bd.  5,  Nr.  27.  Bd.  6,  Nr.  31.  —  Reuss, 
Aberrations  du  sens  genesique,  Annales  d'hygiene  publique  1886.  —  Saury, 
Etüde  clinique  sur  la  folie  hereditaire  1886.  —  Magnan,  Seance  de  l'aca- 
demie  de  medecine  du  13  Janvier  1885;  derselbe,  Annales  medico-psychol. 
1886.  (Anomalies  du  sens  genital.  Discussion  sur  la  folie  hereditaire).  — 
Serieux,  Recherches  cliniques  sur  les  anomalies  de  l'instinct  sexuel.  Paris 
1886.  —  Brouardel,  Gaz.  des  höpitaux  1886  und  1887.  —  Tilier,  L'instinct 
sexuel  chez  l'homme  et  chez  les  animaux  1889.  —  Carlier,  Les  deux  prosti- 
tutions  1887.  —  Lacassagne,  Art.  Ped^rastie  im  Dictionn.  encyclopedique. 
—  Vibert,  Art.  Päderastie  im  Dict.  medec.  et  de  Chirurgie.  —  Chevalier, 
L'inversion  sexuelle.   Lyon-Paris  1893. 


232  Paraesthesia  sexualis. 

differenzirte  Zeugungsorgane,  so  dass  also,  gleichwie  bei  allen  krank- 
haften Perversionen  des  Sexuallebens ,  die  Ursache  im  Gehirn  ge- 
sucht werden  muss  (Androgynie  und  Gynandrie). 

Die  ersten  genaueren x)  Mittheilungen  über  diese  räthselhaften  Natur- 
erscheinungen rühren  von  C  a  s  p  e  r  her  (Ueber  Nothzucht  und  Päderastie, 
Casper's  Vierteljahrsschr.  1852,  I),  der  dieselbe  zwar  mit  der  Päderastie  zu- 
sammenwirft, aber  schon  die  treffende  Bemerkung  macht,  dass  diese  Anomalie 
in  den  meisten  Fällen  angeboren  und  gleichsam  als  eine  geistige  Zwitter- 
bildung anzusehen  sei.  Es  bestehe  hier  ein  wahrer  Ekel  vor  geschlechtlicher 
Berührung  von  Weibern,  während  sich  die  Phantasie  an  schönen  jungen 
Männern,  Statuen,  Abbildungen  solcher  ergötze.  Schon  Casper  ist  es  nicht 
entgangen,  dass  in  solchen  Fällen  Immissio  penis  in  anum  (Päderastie)  nicht 
die  Regel  ist,  sondern  dass  auch  durch  anderweitige  geschlechtliche  Akte 
(mutuelle  Onanie)  sexuelle  Befriedigung  erstrebt  und  erzielt  wird. 

In  seinen  „klinischen  Novellen*  (1863,  p.  33)  gibt  Casper  das  inter- 
essante Selbstbekenntniss  eines  diese  Perversion  des  Geschlechtstriebes  auf- 
weisenden Menschen,  und  steht  nicht  an  zu  erklären,  dass,  abgesehen  von 
verderbter  Phantasie,  Entsittlichung  durch  Uebersättigung  im  normalen  Ge- 
schlechtsgenuss ,  es  zahlreiche  Fälle  gebe,  wo  die  „Päderastie"  aus  einem 
wunderbaren,  dunklen,  unerklärlichen,  angeborenen  Drang  entspringt.  Mitte  der 
60er  Jahre  trat  ein  gewisser  Assessor  Ulrichs,  selbst  mit  diesem  perversen 
Trieb  behaftet,  auf  und  behauptete  unter  dem  Schriftstellernamen  „Numa 
Numantius"  in  zahlreichen  Schriften2),  das  geschlechtliche  Seelenleben  sei  nicht 


J)  Durch  Herrn  Dr.  A.  Moll  in  Berlin  wurde  ich  aufmerksam  gemacht, 
dass  sich  Andeutungen  von  conträrer  Sexualempfindung,  Männer  betreffend, 
schon  in  Moritz's  Magazin  f.  Erfahrungsseelenkunde  Bd.  VIII,  Berlin  1791 
finden.  Thatsächlich  werden  dort  2  Biographien  von  Männern  mitgetheilt, 
welche  eine  geradezu  schwärmerische  Liebe  zu  Personen  des  eigenen  Geschlechts 
boten.  In  dem  2.  besonders  bemerkenswerthen  Fall  erklärt  der  Pat.  sich  selbst 
die  Ursache  seiner  „Verirrung"  damit,  dass  er  als  Kind  nur  von  erwachsenen 
Personen,  als  Knabe  von  10 — 12  Jahren  von  seinen  Mitschülern  geliebkost 
wurde.  „Dies  und  der  entbehrte  Umgang  mit  Personen  vom  anderen  Ge- 
schlechte machte,  dass  sich  bei  mir  die  natürliche  Zuneigung  zum  weiblichen 
Geschlechte  von  ihm  ganz  ablenkte  auf  das  männliche.  Ich  bin  noch  jetzt 
gegen  Frauenzimmer  ziemlich  gleichgültig." 

Ob  der  Fall  ein  solcher  von  angeborener  (psychosexualer  Hermaphro- 
disie?)  oder  erworbener  conträrer  Sexualempfindung  war,  lässt  sich  nicht  ent- 
scheiden. 

2)  „Vindex,  Inclusa,  Vindicta,  Formatrix,  Ära  spei,  Gladius  furens  (Leipzig, 
H.  Matthes  1864  u.  1865)  Ulrichs,  kritische  Pfeile",  1879,  in  Commission  bei 
H.  Crönlein,  Stuttgart,  Augustenstrasse  5.  Der  um  die  Bekämpfung  der  gegen 
seine  Schicksalsgenossen  bestehenden  Vorurtheile  unermüdlich  ringende  Verf. 
gibt  seit  1889  in  Aquila  degli  Abruzzi  (Italien)  eine  diesem  Zweck  dienende 
lateinisch  geschriebene  Zeitschrift  „il  periodico  latino"  heraus. 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung.  233 

an  das  körperliche  Geschlecht  gebunden,  es  gebe  männliche  Individuen,  die 
sich  als  Weib  dem  Manne  gegenüber  fühlen  („anima  muliebris  in  corpore 
virili  inclusa").  Er  nannte  diese  Leute  „ Urninge"  und  verlangte  nichts  Gerin- 
geres als  die  staatliche  und  sociale  Anerkennung  dieser  urnischen  Geschlechts- 
liebe als  einer  angeborenen  und  damit  berechtigten,  sowie  die  Gestattung  der 
Ehe  unter  Urningen.  Ulrichs  blieb  nur  den  Beweis  dafür  schuldig,  dass 
diese  allerdings  angeborene  paradoxe  Geschlechtsempfindung  eine  physiolo- 
gische und  nicht  vielmehr  eine  pathologische  Erscheinung  sei. 

Ein  erstes  anthropologisch-klinisches  Streiflicht  auf  diese  Thatsachen 
warf  Griesinger  (Archiv  f.  Psychiatrie  I,  p.  651),  indem  er  in  einem  selbst 
beobachteten  Falle  auf  die  starke  erbliche  Belastung  des  betreffenden  Indi- 
viduums hinwies. 

We8tphal  (Archiv  f.  Psychiatrie  II,  p.  73)  verdanken  wir  die  erste 
Abhandlung  über  die  in  Rede  stehende  Erscheinung,  die  er  als  „angeborene 
Verkehrung  der  Geschlechtsempfindung  mit  dem  Bewusstsein  der  Krankhaftig- 
keit dieser  Erscheinung"  definirte  und  mit  dem  seither  allgemein  recipirten 
Namen  der  „conträren  Sexualempfindung"  bezeichnete.  Er  eröffnete  zugleich 
eine  Casuistik,  die  seither  auf  158  Fälle,  ungerechnet  die  in  dieser  Mono- 
graphie berichteten,  angewachsen  ist. 

Westphal  lässt  es  unentschieden,  ob  die  „ conträre  Sexualempfindung" 
Symptom  eines  neuro-  oder  eines  psychopathischen  Zustandes  sei,  oder  als 
isolirte  Erscheinung  vorkommen  könne.  Er  hält  fest  an  dem  Angeborensein 
des  Zustandes. 

Auf  Grund  der  bis  1877  veröffentlichten  Fälle  habe  ich  diese 
eigenartige  Geschlechtsempfindung  als  ein  funktionelles  Degenera- 
tionszeichen und  als  Theilerscheinung  eines  neuro(psycho)pathischen, 
meist  hereditär  bedingten  Zustands  bezeichnet,  eine  Annahme, 
welche  durch  die  fernere  Casuistik  durchaus  Bestätigung  gefunden 
hat.  Als  Zeichen  dieser  neuro(psycho)pathischen  Belastung  lassen 
sich  anführen: 

1)  Das  Geschlechtsleben  derartig  organisirter  Individuen  macht 
sich  in  der  Regel  abnorm  früh  und  in  der  Folge  abnorm  stark 
geltend.  Nicht  selten  bietet  es  noch  anderweitige  perverse  Er- 
scheinungen, ausser  der  an  und  für  sich  durch  die  eigenartige  Ge- 
schlechtsempfindung bedingten  abnormen  sexuellen  Richtung. 

2)  Die  geistige  Liebe  dieser  Menschen  ist  vielfach  eine 
schwärmerisch  exaltirte,  wie  auch  ihr  Geschlechtstrieb  sich  mit  be- 
sonderer, selbst  zwingender  Stärke  in  ihrem  Bewusstsein  geltend 
macht. 

3)  Neben  dem  functionellen  Degenerationszeichen  der  conträren 
Sexualempfindung  finden  sich  oft  anderweitige  functionelle,  vielfach 
auch  anatomische  Entartungszeichen. 

4)  Es  bestehen  Neurosen  (Hysterie,  Neurasthenie,  epileptoide 


234  Paraesthesia  sexualis. 

Zustände  u.  s.  w.).  Fast  immer  ist  temporär  oder  dauernd  Neur- 
asthenie nachweisbar.  Diese  ist  in  der  Regel  eine  constitutionelle, 
in  angeborenen  Bedingungen  wurzelnde.  Geweckt  und  unterhalten 
wird  sie  durch  Masturbation  oder  durch  erzwungene  Abstinenz. 

Bei  männlichen  Individuen  kommt  es  auf  Grund  dieser  Schäd- 
lichkeiten oder  schon  angeborener  Disposition  zur  Neurasthenia 
sexualis,  die  sich  wesentlich  in  reizbarer  Schwäche  des  Ejacula- 
tionscentrums  kundgibt.  Damit  erklärt  sich,  dass  bei  den  meisten 
Individuen  schon  die  blosse  Umarmung,  das  Küssen  oder  selbst  nur 
der  Anblick  der  geliebten  Person  den  Akt  der  Ejaculation  hervorruft. 
Häufig  ist  dieser  von  einem  abnorm  starken  Wollustgefühl  begleitet 
bis  zu  Gefühlen  „magnetischer"   Durchströmung  des  Körpers. 

5)  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  finden  sich  psychische  Anomalien 
(glänzende  Begabung  für  schöne  Künste,  besonders  Musik,  Dicht- 
kunst u.  s.  w.,  bei  intellectuell  schlechter  Begabung  oder  originärer 
Verschrobenheit)  bis  zu  ausgesprochenen  psychischen  Degeneration  s- 
zuständen  (Schwachsinn,  moralisches  Irresein). 

Bei  zahlreichen  Urningen  kommt  es  temporär  oder  dauernd 
zu  Irresein  mit  dem  Charakter  des  degenerativen  (pathologische 
Affectzustände,  periodisches  Irresein,  Paranoia  u.  s.  w.). 

6)  Fast  in  allen  Fällen,  die  einer  Erhebung  der  körperlich 
geistigen  Zustände  der  Ascendenz  und  Blutsverwandtschaft  zugänglich 
waren,  fanden  sich  Neurosen,  Psychosen,  Degenerationszeichen  u.  s.  w. 
in  den  betreffenden  Familien  vor x). 

Wie  tief  die  angeborene  conträre  Sexualempfindung  wurzelt, 
geht  auch  aus  der  Thatsache  hervor,  dass  der  wollüstige  Traum 
des  männlichen  Urnings  männliche ,  der  des  weibliebenden  Weibes 
weibliche  Individuen,  bezw.  Situationen  mit  solchen  zum  Inhalt  hat. 

Die  Beobachtung  von  Westphal,  dass  das  Bewusstsein  des 
angeborenen  Defectes  von  geschlechtlichen  Empfindungen  gegen- 
über dem  anderen  Geschlecht  und  des  Dranges  zum  eigenen  Ge- 
schlecht peinlich  empfunden  werde,   trifft  nur  für  eine  Anzahl  von 


*)  Dass  conträre  Sexualempfindung  als  Theilerscheinung  neurotischer 
Degeneration  auch  bei  den  Nachkommen  neurotisch  unbelasteter  Eltern  vor- 
kommen kann,  lehrt  eine  Beobachtung  von  Tarnowski  (op.  cit.  p.  34),  in 
welcher  Lues  der  Erzeuger  im  Spiel  war,  sowie  ein  bezüglicher  Fall  von 
Scholz  (Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.),  in  welchem  die  perverse  Geschlechts- 
richtung mit  einer  traumatisch  bedingten  physischen  Entwicklungshemmung 
in  ursächlichem  Zusammenhang  stand. 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung.  235 

Fällen  zu.  Vielen  fehlt  sogar  das  Bewusstsein  der  Krankhaftigkeit 
des  Zustands.  Die  meisten  Urninge  fühlen  sich  glücklich  in  ihrer 
perversen  Geschlechtsempfindung  und  Triebrichtung  und  unglücklich 
nur  insoferne,  als  gesellschaftliche  und  strafrechtliche  Schranken 
ihnen  in  der  Befriedigung  des  Triebs  zum  eigenen  Geschlecht  im 
Wege  stehen. 

Das  Studium  der  conträren  Sexualempfindung  weist  bestimmt 
auf  Anomalien  der  cerebralen  Organisation  der  damit  Behafte- 
ten hin.  Schon  der  Umstand,  dass  ausnahmslos  hier  die  Geschlechts- 
drüsen anatomisch  und  funktionell  ganz  normal  befunden  werden, 
spricht  für  diese  Annahme. 

Diese  räthselhafte  Naturerscheinung  hat  vielfach  zu  Erklä- 
rungsversuchen geführt. 

Bei  den  Laien  ist  sie  Laster,  bei  den  Juristen  Verbrechen.  Von  den 
Kranken  selbst  wird  sie  zwar  als  eine  Anomalie  anerkannt,  aber  auf  Grund 
einer  Laune  der  Natur  und  ebenso  berechtigt  wie  die  normale  (heterosexuale) 
Liebe.  Von  Plato  bis  auf  Ulrichs  wird  in  conträr  sexualen  Kreisen  an 
diesem  Standpunkt  festgehalten.  Er  stützt  sich  auf  Plato's  Gastmahl,  Cap.  8 
und  9,  wo  es  heisst:  „Es  gibt  keine  Aphrodite  ohne  Eros.  Es  sind  aber  der 
Göttinnen  zwei.  Die  ältere  Aphrodite  ist  ohne  Mutter  entstanden,  des  Uranos 
Tochter  und  desshalb  nennen  wir  sie  Urania.  Die  jüngere  Aphrodite  ist  des 
Zeus  und  der  Diana  Tochter,  sie  wird  Pandemos  genannt.  Der  Eros  der 
ersteren  muss  also  Uranos,  der  der  anderen  Pandemos  heissen.  Mit  der  Liebe 
des  Eros  Pandemos  lieben  die  gewöhnlichen  Menschen;  der  Eros  Uranos  hat 
aber  kein  weibliches  Theil  erwählt,  sondern  nur  männliches,  das  ist  die  Liebe 
zu  Knaben.  Wer  von  dieser  Liebe  begeistert  ist,  wendet  sich  dem  männlichen 
Geschlecht  zu."  Aus  manchen  anderen  Stellen  in  den  Classikern  gewinnt  man 
sogar  den  Eindruck,  dass  die  uranische  Liebe  höher  gestellt  war,  als  ihre 
Schwester.  Neuere  Erklärungsversuche  der  homosexuellen  Empfindung  sind 
sowohl  von  Philosophen  als  auch  Psychologen  und  Naturforschern  ausgegangen. 

Eine  der  sonderbarsten  Erklärungen  rührt  von  Schopenhauer  her 
(„Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung"),  der  allen  Ernstes  meinte,  die  Natur 
habe  verhüten  wollen,  dass  alte  (d.  h.  über  50  Jahre  alte)  Herren  Kinder 
zeugen,  da  diese  erfahrungsgemäss  nichts  taugten.  Um  dies  zu  erreichen, 
habe  die  weise  Natur  den  Geschlechtstrieb  bei  älteren  Männern  auf  das  eigene 
Geschlecht  hingelenkt!  Der  grosse  Philosoph  und  Denker  aus  der  Studirstube 
wusste  offenbar  nichts  davon,  dass  conträre  Sexualempfindung  in  der  Regel 
ab  origine  besteht  und  dass  im  Senium  allerdings  vorkommende  Päderastie  an 
und  für  sich  nur  geschlechtliche  Perversität,  noch  nicht  aber  Perversion 
erweist. 

Vom  psychologischen  Standpunkt  aus  versuchte  Binet  die  sonder- 
bare Erscheinung  zu  erklären,  indem  er,  in  Anlehnung  an  Condillac,  gleich 
wie  bei  anderen  bizarren  psychischen  Phänomenen,  sie  auf  das  Gesetz  der 
Ideenassociation,  d.  h.  der  Association  von  Vorstellungen  mit  Gefühlen  in  statu 


236  Paraesthesia  sexualis. 

nascendi  zu  begründen  vermeinte.  Der  geistreiche  Psycholog  nimmt  an,  der 
bis  dahin  geschlechtlich  undifferenzirte  Trieb  werde  dadurch  determinirt,  dass 
ein  erstmaliger  lebhafter  sexueller  Erregungsvorgang  mit  dem  Anblick  oder 
auch  Contakt  einer  Person  des  eigenen  Geschlechts  zusammentreffe.  Dadurch 
werde  eine  mächtige  Association  geschaffen,  die  sich  durch  Wiederholung 
festige,  während  der  ursprüngliche  associative  Vorgang  vergessen,  bezw.  latent 
werden  könne.  Diese  Ansicht ,  welche  gegenwärtig  vielfach  von  Schrenck- 
Notzing  u.  A.  zur  Erklärung  der  angeblich  meist  erworbenen  conträren 
Sexualempfindung  herangezogen  wird ,  hält  einer  eingehenden  Kritik  gegen- 
über nicht  Stich.  Psychologische  Kräfte  sind  zur  Erklärung  einer  solchen 
schwer,  degenerativen  Erscheinung  (s.  u.)  nicht  ausreichend. 

Chevalier  (Inversion  sexuelle,  Paris  1893)  wendet  auch  mit  Recht 
gegen  Bin  et  ein,  dass  durch  einen  solchen  psychologischen  Erklärungs- 
versuch weder  die  Präcocität  solcher  homosexualer  Triebe,  d.  h.  lange  vor 
jeglicher  associativer  Knüpfung  von  Sexualgefühlen  mit  Vorstellungen,  noch  die 
Aversion  gegen  das  andere  Geschlecht,  noch  das  oft  so  frühe  Auftreten  von 
secundären  psychischen  Geschlechtscharakteren  seine  Erklärung  finde.  Bemer- 
kenswerth  ist  aber  immerhin  Binet's  feine  Bemerkung,  dass  derlei  Haften 
von  associativen  Knüpfungen  nur  bei  prädisponirten  (belasteten)  Individuen 
möglich  sei. 

Auch  die  von  Seiten  der  Aerzte  und  Naturforscher  ursprünglich  ver- 
suchten Erklärungen  entsprechen  und  befriedigen  nicht.  Gley  (Revue  philo- 
sophique  1884,  Januar)  behauptete,  die  conträr  Sexualen  hätten  ein  weibliches 
Gehirn  (!)  bei  männlichen  Geschlechtsdrüsen  und  das  zugleich  krankhafte  Ge- 
hirnleben bestimme  das  Geschlechtsleben,  während  normaler  Weise  die  Ge- 
schlechtsdrüsen die  sexuellen  Funktionen  des  Gehirns  bestimmten.  Auch 
M  a  g  n  a  n  (Annales  med.  psychol.  1885 ,  p.  458)  spricht  vom  Gehirn  eines 
Weibes  im  Körper  eines  Mannes  und  umgekehrt;  Ulrichs  („Memnon"  1868) 
kommt  der  Sache  etwas  näher,  indem  er  „Anima  muliebris  virili  corpori  in- 
nata"  behauptet  und  sich  damit  seine  angeborene  Effeminatio  zu  erklären 
versucht.  Nach  Mantegazza  (op.  cit.  1886  p.  106)  bestehen  bei  solchen 
conträr  Sexualen  anatomische  Anomalien ,  insofern  durch  einen  Fehler  der 
Natur  die  für  die  Genitalien  bestimmten  Nerven  sich  im  Mastdarm  verbreiten, 
so  dass  nur  in  diesem  der  wollüstige  Reiz  ausgelöst  werde,  der  sonst  durch 
Reizung  der  Genitalien  erfolgt.  Solche  Errores  loci  und  Saltus  macht  aber 
niemals  die  Natur,  so  wenig  als  sie  ein  weibliches  Gehirn  dem  männlichen 
Körper  oktroirt.  Der  sonst  scharfsinnige  Autor  dieser  Hypothese  übersieht 
ganz,  dass  der  Anus  bezw.  Päderastie  von  conträr  Sexualen  in  der  Regel 
perhorrescirt  wird.  Mantegazza  beruft  sich,  um  seine  Hypothese  zustutzen, 
auf  die  Mittheilungen  eines  bekannten,  hervorragenden  Schriftstellers,  der 
ihm  versicherte,  er  sei  mit  sich  immer  noch  nicht  im  Reinen,  ob  er  einen 
grösseren  Genuss  bei  dem  Coitus  oder  der  Defäcation  empfinde.  Die  Richtig- 
keit dieser  Erfahrung  zugegeben,  so  würde  sie  doch  nur  beweisen,  dass  der 
Betreffende  sexual  abnorm  und  sein  Wollustgefühl  beim  Coitus  auf  ein  Mini- 
mum reducirt  war.  Ueberdies  Hesse  sich  daran  denken,  dass  abnormer  Weise 
seine  Rektalschleimhaut  erogen  wäre. 

Bernhardi  (Der  Uranismus,  Berlin  1882)  fand  (zufällig)  bei  5  Effemi- 
nirten  („Pathici")  keine  Spermatozoon,  bei  4  nicht  einmal  Spermakrystalle  und 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung.  237 

glaubte  die  „Lösung  des  mehrtausendjährigen  Räthsels"  dadurch  gegeben, 
dass  er  annahm,  der  „Pathicus"  (Effeminirte)  sei  eine  „Missgeburt  weiblichen 
Geschlechts,  die  mit  dem  Manne  nichts  gemein  habe,  als  die  in  manchen 
Fällen  nicht  einmal  völlig  entwickelten  männlichen  Genitalien".  Auf  einen 
Sektionsbefund,  der  eventuell  Hermaphroditismus  nachgewiesen  hätte,  vermochte 
sich  dieser  Autor  nicht  zu  stützen. 

Gleichwohl  erklärte  er  auch  die  „activ  vorgehende  Tri  bade  (Viragines 
und  Gynandrier)  für  „eine  Missgebu'rt  männlichen  Geschlechts,  der  gegenüber 
die  passive  Tribade  ein  so  vollkommenes  Weib  ist,  wie  der  aktive  Pädicator 
ein  vollkommener  Mann". 

Einen  Versuch,  Thatsachen  der  Heredität  zur  Erklärung  der  Anomalie 
zu  verwerthen,  machte  Verf.,  indem  er  auf  Grund  der  Erfahrung,  dass  sexuelle 
Perversionserscheinungen  nicht  selten  schon  bei  den  Eltern  vorkommen,  die  Ver- 
muthung  aussprach,  dass  die  verschiedenen  Stufen  angeborener  conträrer 
Sexualempfindung  verschiedene  Grade  erblich  angezeugter,  von  der  Ascendenz 
erworbener  oder  sonstwie  entwickelter  sexueller  Anomalie  seien,  wobei  auch 
das  Gesetz  der  progressiven  Vererbung  in  Betracht  komme. 

Die  bisherigen  naturphilosophischen ,  psychologischen  und  andere  wesent- 
lich speculativen  Erklärungsversuche  können  nicht  befriedigen. 

Neuere  Forschungen,  von  embryologischem  (onto-  und  phylogenetischem) 
sowie  anthropologischem  Standpunkt  aus  unternommen,  erscheinen  dagegen 
aussichtsvoll. 

Sie  gehen  aus  von  Frank  Lydston  (Philadelphia  med.  and  surgical 
recorder  1888,  Sept.)  und  Kiernan  (Medical  Standard  1888  November)  und 
von  der  Thatsache,  dass  die  niedersten  Thiere  noch  heutzutage  bisexuale 
Organisation  bieten ,  sowie  von  der  Annahme ,  dass  die  Monosexualität  sich 
überhaupt  erst  aus  der  Bisexualität  entwickelt  habe.  Kiernan  nimmt  nun  an, 
indem  er  die  conträre  Sexualempfindung  dem  Begriffe  des  Hermaphroditismus 
unterzuordnen  versucht,  dass  bei  belasteten  Individuen  Rückschläge  in  frühe 
hermaphroditische  Formen  des  Thierreichs  wenigstens  funktionell  eintreten 
können.  Er  sagt  wörtlich:  „the  original  bisexuality  of  the  ancestors  of  the 
race,  shown  in  the  rudimentary  female  organs  of  the  male,  could  not  fail 
to  occasion  functional,  if  not  organic  reversions,  when  mental  or  physical 
manifestations  were  interfered  with  by  disease  or  congenital  defect.  It  seems 
certain,  that  a  feminily  functionating  brain  can  occupy  a  male  body  and  vice 
versa." 

Auch  Chevalier  (op.  cit.  p.  408)  geht  von  der  ursprünglichen  Bisexua- 
lität im  Thierreich  und  von  der  im  menschlichen  Fötus  ursprünglich  vorhan- 
denen bisexualen  Veranlagung  aus. 

Die  Differenzirung  der  Geschlechter  mit  markanten  körperlichen  und 
psychischen  Geschlechtscharakteren  ist  ihm  ein  Resultat  unendlicher  Evolutions- 
vorgänge. Die  seelisch-körperliche  geschlechtliche  Differenzirung  geht  der  Höhe 
evolutiver  Vorgänge  parallel.  Auch  das  Einzelwesen  hat  diese  Evolutions- 
stufen durchzumachen  —  es  ist  ursprünglich  bisexual,  aber  im  Kampf  der 
männlichen  und  weiblichen  Streitkräfte  wird  die  eine  besiegt  und  es  ent- 
wickelt sich,  dem  Typus  der  heutigen  Evolution  entsprechend,  ein  mono- 
sexuales Individuum.  Aber  Spuren  der  unterdrückten  Sexualität  erhalten  sich. 
Unter  gewissen  Umständen  können  diese  „caracteres  sexuels  latents"  Darwin's 


238  Paraesthesia  sexualis. 

Bedeutung  gewinnen,  d.  h.  Erscheinungen  conträrer  Sexualität  hervorrufen. 
Chevalier  fasst  diese  aber  mit  Recht  nicht  als  Rückschlag  (Atavismus)  im 
Sinne  Lombroso's  u.  A.,  sondern  mit  Lacassagne  als  Störung  in  der  Evo- 
lution zur  heutigen  Höhe  auf. 

Versucht  man  auf  dieser  Anschauung  weiter  zu  bauen,  so  ergeben  sich 
entwicklungsgeschichtlich  und  anthropologisch  folgende  Bausteine  resp.  That- 
sachen : 

1.  Der  Sexualapparat  besteht  aus  a)  den  Geschlechtsdrüsen  und  den  Be- 
fruchtungsorganen; b)  spinalen  Centren,  welche  theils  hemmend,  theils  er- 
regend auf  a)  einwirken;  c)  cerebralen  Gebieten,  in  welchen  sich  die  psychi- 
schen Vorgänge  des  Geschlechtslebens  abspielen. 

Da  die  ursprüngliche  Veranlagung  von  a)  eine  bisexuale  ist,  muss  dies 
auch  für  b)  und  c)  vorausgesetzt  werden. 

2.  Die  Tendenz  der  Natur  auf  heutiger  Entwicklungsstufe  ist  die  Her- 
vorbringung von  monosexualen  Individuen  und  ein  empirisches  Gesetz  lautet 
dahin,  dass  normaliter  das  der  Geschlechtsdrüse  entsprechende  cerebrale  Cen- 
trum sich  entwickelt.     (Gesetz  der  sexuell  homologen  Entwicklung.) 

3.  Diese  Vernichtung  conträrer  Sexualität  ist  aber  heutzutage  noch  keine 
vollständige.  Wie  der  Processus  vermiformis  am  Darmrohr  auf  frühere  Orga- 
nisationsstufen hinweist,  so  finden  sich  auch  am  Sexualapparat,  ganz  abgesehen 
von  hermaphroditischen  Verbildungen  (als  Ausdruck  theilweiser  Entwicklungs- 
excesse  oder  Bildungshemmungen  der  Geschlechtsgänge  und  äusseren  Geni- 
talien), bei  Mann  und  Weib  Residuen,  welche  auf  die  ursprüngliche  onto-  und 
phylogenetische  Bisexualität  hinweisen. 

Es  sind  dies  beim  Manne  der  Utriculus  masculinus  (Reste  der  Müller'schen 
Gänge),  ferner  die  Brustwarzen,  beim  Weibe  das  Paroophoron  (Ueberbleibsel  des 
Urnierentheils  der  WohTschen  Körper)  und  das  Epoophoron  (Reste  der  Wolff'- 
schen  Gänge  und  Analogon  der  Epididymis  des  Mannes).  Ueberdies  haben 
beim  menschlichen  Weibe  Beige  1,  Klebs,  Fürst  u.  A.  Andeutungen  der  bei 
weiblichen  Wiederkäuern  regelmässig  in  der  Seitenwand  des  Uterus  vorhan- 
denen Reste  der  WolfFschen  Körper  in  Gestalt  der  sog.  Gartner'schen  Canäle 
vorgefunden.  Diese  Thatsachen  stützen  die  Annahme  einer  auch  cerebral 
bisexualen  Veranlagung  des  Geschlechtsapparats. 

4.  Aber  auch  eine  Fülle  von  klinischen  und  anthropologischen  That- 
sachen sind  dieser  Annahme  günstig. 

Ich  erinnere  nur  an  das  nicht  seltene  Vorkommen  von  Individuen  mit 
gemischten  oder  im  Sinne  des  conträren  Geschlechts  dominirenden  körper- 
lichen und  psychischen  Geschlechtscharakteren  (Weibmänner  und  Mannweiber), 
an  das  Auftreten  weiblicher  seelischer  und  körperlicher  Charaktere  nach  Ent- 
fernung der  Hoden  (Eunuchen)  und  männlicher  bei  Weibern  nach  Beseitigung 
der  Ovarien  im  jugendlichen  Alter,  an  Erscheinungen  der  Viraginität  bei 
Klimax  praecox,  ja  selbst  Entwicklung  eines  zweiten  Geschlechts  (siehe  den 
merkwürdigen  Fall  in  meinem  Aufsatz  „Zur  Erklärung  der  conträren  Sexual- 
empfindung'' in  „Jahrb.  f.  Psychiatrie  und  Neurologie",  Bd.  XIII,  H.  1). 

5.  Diese  Erscheinungen  conträrer  Sexualität  finden  sich  aber  offenbar  nur 
bei  organisch  belasteten  Individuen.  Bei  normal  Organisirten  bleibt  das 
Gesetz  der  monosexualen  und  der  den  Geschlechtsdrüsen  homologen  Entwick- 
lung gewahrt.    Dass  das  cerebrale  Centrum  unter  anderen,  von  den  peripheren 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung.  239 

Geschlechtsorganen  einschliesslich  der  Geschlechtsdrüse  unabhängigen  Bedin- 
gungen sich  entwickelt,  zeigen  die  Fälle  des  Hermaphroditismus,  in  welchen, 
soweit  es  sich  um  Pseudohermaphroditismus  handelt,  das  obige  Gesetz  im 
Sinne  monosexualer,  der  Geschlechtsdrüse  homologer  Entwicklung  gewahrt 
bleibt,  während  beim  Hermaphroditismus  verus  sowohl  physisch  als  psychisch 
allerdings  eine  gegenseitige  Beeinflussung  beider  Centren  und  damit  eine  Neu- 
tralisirung  des  Liebeslebens  bis  zur  Asexualität  und  eine  Tendenz  zur  Geltend- 
machung und  Vermischung  beider  Geschlechtscharaktere  seelisch  und  körper- 
lich obwaltet. 

Dass  Hermaphrodisie  und  conträre  Sexualempfindung  aber  an  und 
für  sich  mit  einander  nichts  zu  thun  haben ,  ergibt  sich  daraus ,  dass  der 
Hermaphrodit  (praktisch  kommt  ja  nur  der  Pseudohermaphroditismus  in  Be- 
tracht) dem  obigen  Evolutionsgesetze  folgt  und  nicht  conträre  Sexualität 
bietet,  während  umgekehrt  bei  conträrer  Sexualempfindung  bisher  nie  Her- 
maphrodisie anatomisch  beobachtet  wurde.  Es  erklärt  sich  dies  ohne  Weiteres 
aus  der  Verschiedenheit  der  Entstehungsbedingungen,  die  für  die  erstere  in 
centralen  (cerebralen),  für  die  letztere  in  ausschliesslich  den  peripheren 
Antheil  des  Geschlechtsapparats  treffenden  Schädigungen  gesucht  werden 
müssen. 

Die  angeführten  Thatsachen  erscheinen  ausreichend  zu  einem  ent- 
wicklungsgeschichtlichen und  anthropologischen  Versuch  der  Erklärung  der 
conträren  Sexualempfindung. 

Dieselbe  ist  Verletzung  des  empirischen  Gesetzes  der  den  Geschlechts- 
drüsen homologen  Entwicklung  des  cerebralen  Centrums  (Homosexualität), 
eventuell  auch  desjenigen  der  monosexualen  Artung  des  Individuums  (psy- 
chische „Hermaphrodisie").  Im  ersten  Falle  ist  es  von  der  bisexualen  Ver- 
anlagung das  dem  durch  die  Geschlechtsdrüse  repräsentirten  Geschlecht  gegen- 
sätzliche Centrum,  welches  in  paradoxer  Weise  den  Sieg  über  das  zur  Herr- 
schaft prädestinirte  davonträgt,  jedoch  bleibt  wenigstens  das  Gesetz  mono- 
sexualer Entwicklung  gewahrt1). 

Im  zweiten  Falle  bleibt  der  Sieg  keinem  der  beiden  Centren,  jedoch  eine 
Andeutung  monosexualer  Entwicklungstendenz  bleibt  immerhin  insofern,  als 
eines  dominirt  und  zwar  regelmässig  das  conträre.  Es  ist  dies  um  so  sonder- 
barer, als  demselben  keine  entsprechenden  Geschlechtsdrüsen,  überhaupt  kein 
peripherer  Sexualapparat  zur  Stütze  dienen,  ein  weiterer  Beweis  dafür,  dass 
das  cerebrale  Centrum  autonom,  in  seiner  Entwicklung  von  den  Geschlechts- 
drüsen unabhängig  ist. 

Angenommen  muss  im  ersteren  Falle  werden,  dass  das  zum  Streit  und 
zur  Geltendmachung   seiner  Rechte  berufene  Centrum   zu   schwach  veranlagt 


J)  Unter  einem  monosexualen  psychischen  Geschlechtsapparat  in  einem 
monosexualen  Körper,  der  dem  entgegengesetzten  Geschlechte  angehört,  hat 
man  sich  natürlich  nicht  etwa  „eine  weibliche  Seele  im  männlichen  Gehirn" 
oder  vice  versa  vorzustellen,  was  allem  monistischen  und  allem  wissenschaft- 
lichen Denken  überhaupt  widerspricht;  ebensowenig  ein  weibliches  Gehirn  im 
männlichen  Körper,  was  allen  anatomischen  Thatsachen  widerspricht,  sondern 
nur  weibliches  psycho-sexuales  Centrum  im  männlichen  Gehirn,  oder  vice  versa. 


240  Paraesthesia  sexualis. 

ist,  was  sich  auch  vielfach  in  schwacher  Libido  und  schwächlich  ausgeprägten 
physischen  und  psychischen  Geschlechtscharakteren  zu  erkennen  gibt. 

Im  zweiten  Fall  sind  beide  Centren  zu  schwach,  um  den  Sieg  und  die 
Alleinherrschaft  zu  erringen. 

Diese  Verletzung  von  Naturgesetzen  ist  anthropologisch  und  klinisch  als 
eine  degenerative  Erscheinung  anzusprechen.  Thatsächlich  liess  sich  in  allen 
Fällen  von  conträrer  Sexualempfindung  bisher  eine  Belastung  und  zwar  in 
der  Regel  eine  hereditäre  nachweisen. 

Worauf  dieser  Faktor  der  Belastung  und  seine  Wirksamkeit  beruht, 
ist  eine  Frage,  welche  die  heutige  Wissenschaft  nicht  wohl  beantworten 
kann *). 

An  Analogien  beim  belasteten  Individuum  fehlt  es  nicht,  denn  als  Aus- 
druck von  offenbar  schon  im  Zeugungskeim  gelegenen,  die  physische  und 
psychische  Evolution  störenden  Einflüssen  wird  hier  eine  Fülle  von  ander- 
weitigen Erscheinungen  mangelhafter  oder  perverser  Artung  (anatomische  sowie 
funktionelle  somatische  und  psychische  Entartungszeichen)  angetroffen. 

Die  conträre  Sexualempfindung  ist  aber  nur  die  stärkste  Ausprägung 
einer  ganzen  Reihe  von  Erscheinungen  partieller  Entwicklung  seelischer  und 
körperlicher  conträrer  Geschlechtscharaktere  (s.  o.)  und  man  kann  geradezu 
sagen:  je  undeutlicher  sich  die  psychischen  und  physischen  Geschlechtscharak- 
tere bei  einem  Individuum  darstellen,  um  so  tiefer  steht  dasselbe  unter  der 
durch  ungezählte  Jahrtausende  hindurch  erfolgten  Züchtung  zur  heutigen  Stufe 
vollkommener  homologer  Monosexualität. 

Das  cerebrale  Centrum  vermittelt  die  psychischen  und  indirekt  wohl 
auch  die  physischen  Geschlechtscharaktere.  Auch  an  den  verschiedenen  Grad- 
stufen angeborener  conträrer  Sexualität  lässt  sich  nachweisen,  dass  sie  ver- 
schiedenen Intensitätsgraden  der  Belastung  entsprechen. 

Dasselbe  gilt  für  die  erst  im  Laufe  des  Lebens  zu  Tage  getretene 
(„gezüchtete").  Niemals  wird  der  unbelastete  Mensch  durch  Onanie,  Verfüh- 
rung durch  Personen  desselben  Geschlechts,  conträr  sexual.  Hören  diese  äusseren 
Einflüsse  auf,  so  kehrt  er  zur  normalen  Geschlechtsbefriedigung  zurück.  Anders 
der  Belastete ,  dessen  psychosexuales  Centrum  schwach  veranlagt ,  d.  h.  mit 
ungenügenden  Streitkräften  ausgestattet  ist  und  den  Kampf  noch  nicht  sieg- 
reich  ausgekämpft  hat.     Alle   möglichen   psychischen   und   physischen  Schäd- 


*)  In  einer  geistreichen  Broschüre  „lieber  Gamophagie",  Stuttgart  1892, 
gibt  der  Verfasser  Josef  Müller  eine  Anregung  zur  Weiterforschung  auf 
diesem  Gebiete,  indem  er  die  Meinung  vertritt,  es  existire  eine  besondere, 
durch  Notwendigkeit  erworbene  und  normaliter  unverändert  sich  vererbende 
Einrichtung,  bestehend  in  einer  Bindung  der  Organe  und  Organqualitäten 
aneinander.  Diese  Bindung  würde  es  begreiflich  machen,  dass  im  Kampfe 
der  Entwicklung  der  Mono-  und  der  Bisexualität  diejenigen  Organe  und  Organ- 
qualitäten ein  gemeinsames  Schicksal  des  Sieges  oder  Unterganges  haben, 
die  im  Hinblick  auf  die  Funktionsfähigkeit  des  Ganzen  zu  einander  gehören. 
Dieses  Versagen  des  die  Organe  während  des  Ringens  um  den  Sieg  verknüpfen- 
den Bandes  bei  Wesen,  die  organischer  Belastung  unterworfen  sind,  könnte 
nur  als  eine  Ausfallerscheinung,  Ausfall  einer  allerdings  hypothetischen  Ein- 
richtung gedeutet  werden. 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung  beim  Manne.  241 

lichkeiten,  ganz  besonders  aber  Neurasthenie  sind  dann  im  Stande,  seine 
schwache  labile ,  den  Geschlechtsdrüsen  bisher  allerdings  homologe  Sexualität 
zu  schädigen:  ihn  zunächst  psychisch  bisexuell,  dann  conträr  monosexual  zu 
machen  und  eventuell  (durch  Entstehung  physischer  und  psychischer  Geschlechts- 
charaktere im  Sinne  des  ausschliesslich  zur  Herrschaft  gelangten  conträren  Cen- 
trums und  Zurücktreten  ursprünglicher)  bis  zur  Eviratio  (Defeminatio)  ge- 
langen zu  lassen.  Wie  Neurasthenie  den  Anstoss  zur  Entwicklung  conträrer 
Sexualität  abgeben  kann,  wurde  von  p.  192  ab  zu  zeigen  versucht.  Lehr- 
reiche Beobachtungen  in  dieser  Hinsicht  sind  Nr.  98  und  99. 


Die  angeborene  conträre  Sexualempfindung  beim  Manne1). 

Die  geschlechtlichen  Handlungen,  mittelst  welcher  die  männ- 
lichen Urninge  Befriedigung  suchen  und  finden,  sind  mannigfach. 
Es  gibt   feinfühlige   und  willensstarke  Individuen,    die  ihre  Triebe 


x)  Fälle:  1)  C asper,  Klin.  Novellen  p.  36.  (Lehrb.  d.  gerichtl.  Med.,  7.  Aufl. 
p.  176);  2)  Westphal,  Archiv  f.  Psychiatr.  II,  p.  73;  3)  Schminke,  ebenda 
III,  p.  225;  4)  Scholz,  Vierteljahrsschr.  f.  gerichtl.  Mediz.  XIX;  5)  Gock, 
Archiv  f.  Psychiatrie  V,  p.  564;  6)  Servaes,  ebenda  VI,  p.  484;  7)  West- 
phal, ebenda  VI,  p.  620;  8),  9),  .10)  Stark,  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  Bd.  31; 
11)  Lim  an  (Casper's  Lehrbuch  d.  gerichtl.  Medizin,  6.  Aufl.,  p.  509); 
p.  291;  12)  Legrand  du  Saulle,  Ann.  med.  psychol.  1876,  Mai;  13)  Sterz, 
Jahrbücher  f.  Psychiatrie  III,  Heft  3;  14)  Krueg,  Zeitschr.  Brain  1884,  Oct.; 
15)  Charcot  et  Magnan,  Archives  de  neurolog.  1882,  Nr.  9;  16),  17), 
18)  Kirn,  Zeitschr.  f.  Psychiatr.  Bd.  39,  p.  216;  19)  Rabow,  Erlenmeyer's 
Centralbl.  1883,  Nr.  8;  20)  Blum  er,  Americ.  journ.  of  insanity  1882,  Juli; 
21)  Savage,  Journal  of  mental  science  1884,  October;  22)  Scholz,  Viertel- 
jahrsschr. f.  ger.  Med.  N.  F.  Bd.  43,  Heft  7;  23)  Magnan,  Ann.  med.  psychol. 
1885,  p.  461;  24)  Chevalier,  De  l'inversion  de  l'instinct  sexuel,  Paris  1885, 
p.  129;  25)  Morselli,  La  Riforma  medica.  4.  Jahrg.,  März;  26)  Leonpacher, 
Friedreich's  Blätter  1888,  H.  4;  27)  Holländer,  Allg.  Wiener  med.  Ztg.  1882; 
28)  Kriese,  Erlenmeyer's  Centralblatt  1888,  Nr.  19;  29),  30),  31),  32)  v.  Kr  äfft, 
Psychopathia  sexualis,  3.  Aufl.,  Beob.  32.  36.  42.  43;  33)  Golenko,  Russ.  Archiv 
f.  Psychiatrie  Bd.  IX,  H.  3  (von  Rothe  mitgetheilt  in  Zeitschr.  f.  Psychiatrie); 
34)  v.  K rafft,  Internationales  Centralblatt  f.  d.  Physiol.  und  Pathologie  der 
Harn-  und  Sexualorgane  Bd.  I,  H.  1;  35)  Cantarano,  La  Psichiatria  1887, 
V.  Jahrg.  p.  195;  36)  Serieux,  Recherches  cliniques  sur  les  anomalies  de 
l'instinct  sexuel.  Paris  1888,  obs.  13;  37 — 42)  Kiernan,  The  medic.  Standard 
1888,  7  Fälle;  43—46)  Rabow,  Zeitschr.  f.  klin.  Medicin,  Bd.  XVII,  Suppl. ; 
47—51)  v.  Krafft,  „Neue  Forschungen",  Beob.  1.  3.  4.  5.  8;  52—61)  v.  Krafft, 
Psychopath,  sexualis,  5.  Aufl.,  Beob.  53.  61.  64.  66.  73.  75.  78.  84.  85.  87; 
62— 65)Derselbe,  „Neue Forschungen, 2.  Aufl."  —Beob.  3.4.5.  6;  66—67)  Harn- 
mond,  Sexuelle  Impotenz,  deutsch  v.  Salinger,  p.  30.  36;  68 — 71)  Garnier, 
Anomalies  sexuelles  1889.  Beob.  227.  228.  229.  230;  72)  v.  Krafft,  Friedreich's 
v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  16 


242  Paraesthesia  sexualis. 

zu  beherrschen  im  Stande  sind,  freilich  mit  der  Gefahr,  durch  diese 
erzwungene  Abstinenz  nervensiech  (neurasthenisch)  und  gemüths- 
krank  zu  werden. 

Bei  Anderen  wird  aus  denselben  verschiedenen  Gründen,  welche 
auch  den  Nichturning  den  Coitus  vermeiden  lassen  können,  zur 
Onanie  faute  de  mieux  geschritten. 

Bei  Urningen  mit  originär  reizbarem  oder  durch  Onanie  zer- 
rüttetem Nervensystem  (reizbare  Schwäche  des  Ejaculationscentrums) 
genügen  einfache  Umarmungen,  Liebkosungen  mit  oder  ohne  Be- 
tastung der  Genitalien  zur  Ejaculation  und  damit  zur  Befriedigung. 
Bei  weniger  reizbaren  Individuen  besteht  der  Geschlechtsakt  in 
Manustupration  durch  die  geliebte  Person  oder  in  mutueller  Onanie 
oder  in  Nachahmung  des  Coitus  inter  femora.  Bei  sittlich  per- 
versen und  quoad  erectionem  potenten  Urningen  wird  der  sexuelle 
Drang  zuweilen  auch  in  Päderastie  befriedigt,  einer  Handlung,  die 
aber  sittlich  nicht  defecten  Individuen  vielfach  geradeso  widerstrebt, 
wie  weibliebenden  Männern.  Bemerkenswerth  ist  die  Versicherung 
der  Urninge,  dass  der  ihnen  adäquate  Geschlechtsakt  mit  Personen 
des  eigenen  Geschlechts  grosse  Befriedigung  und  Gefühle  des  Ge- 
kräftigtseins verschaffe,  während  Selbstbefriedigung  durch  solitäre 
Onanie  oder  gar  erzwungener  Coitus  mit  einem  Weibe  sie  sehr 
angreife,  elend  mache  und  ihre  neurasthenischen  Beschwerden  sehr 
vermehre. 

Ueber  die  Häufigkeit x)  des  Vorkommens  der  Anomalie  ist  es 


Blätter  1891,  H.  6;  73—87)  v.  Krafft,  Psychopathia  sexualis,  6.  Aufl.,  Beob.  78. 
81.  82.  84.  85.  86.  87.  89.  93.  94.  96.  97.  98.  101.  102;  88)  Fränkel,  medic. 
Zeitg.  d.  Vereins  f.  Heilkde.  in  Preussen  Bd.  22,  p.  102  („homo  mollis");  89 
bis  91)  Bernheim,  Hypnotisme,  Paris  1891,  obs.  38  u.  ff.;  92)  Wetterstrand. 
Der  Hypnotismus,  1891:  93)  Müller,  Hydrotherapie  1890,  p.  309;  94  bis 
96)  v.  Schrenck-Notzing,  Suggestionstherapie  1892,  Fall  63.  67.  68;  97)  La- 
dame,  Revue  de  l'hypnotisme  1889,  1-  Sept.;  98)  v.  Krafft,  internat.  Central- 
blatt  f.  d.  Krankheiten  der  Harn-  und  Geschlechtsorgane,  Bd.  I,  Heft  1 ;  99  bis 
100)  Wachholz,  Friedreich's  Blätter  f.  gerichtl.  Med.  1892,  Heft  6;  101  bis 
110)  Moll,  „Contr.  Sexualempfindung",  2.  Aufl.,  Fall  1—10;  111—123)  v.  Krafft, 
Psychopath,  sexualis,  8.  Aufl.,  Beob.  109.  110.  114.  119.  121.  122.  125.  136. 
137.  138.  140.  141.  143;  124—143)  Derselbe,  Jahrbücher  f.  Psychiatrie.  XII. 
1894;  144)  Legrain,  Arch.  de  Neurologie  1886,  Januar;  145)  Dessoir,  Zeitschr. 
f.  Psychiatrie  Bd.  50,  Heft  5,  p.  959. 

*)  Dass  conträre  Sexualempfindung  nicht  selten  sein  dürfte,  beweist  u.  A. 
der  Umstand,  dass  sie  in  Romanen  häufig  Gegenstand  ist. 

Auch  die  neuropathische  Grundlage  dieser  sexuellen  Perversion  entgeht 
nicht  den  Romanschriftstellern.     In  der  deutschen  Literatur  findet  sich  dieses 


Psychische  Hermaphrodisie.  243 

schwer,  Klarheit  zu  bekommen,  da  die  mit  derselben  Behafteten 
nur  äusserst  selten  aus  ihrer  Reserve  treten  und  in  criminellen 
Fällen  der  Urning  aus  Perversion  des  Geschlechtstriebs  gewöhnlich 
mit  dem  Päderasten  aus  blosser  Unsittlichkeit  zusammengeworfen 
wird.  Nach  den  Erfahrungen  Casper's,  Tardieu's,  sowie  auch 
nach  den  meinigen  dürfte  diese  Anomalie  viel  häufiger  sein,  als  es 
die  dürftige  Casuistik  vermuthen  lässt. 

Ulrich's  („Kritische  Pfeile"  1880,  p.  2)  behauptet,  dass  durch- 
schnittlich ein  erwachsener  mit  conträrer  Sexualempfindung  Be- 
hafteter auf  200  heterosexuale  erwachsene  Männer ,  respektive  auf 
800  Seelen  der  Bevölkerung  komme,  und  dass  der  Prozentsatz  unter 
den  Magyaren  und  Südslaven  noch  grösser  sei,  Behauptungen,  die 
dahingestellt  bleiben  mögen.  Ein  Individuum  aus  meiner  Casuistik 
kennt  in  seinem  Heimathorte  (13000  Einwohner)  14  Urninge  per- 
sönlich. Er  versicherte,  in  einer  Stadt  von  60  000  Einwohnern 
deren  wenigstens  80  zu  kennen.  Es  ist  zu  vermuthen,  dass  dieser 
sonst  glaubwürdige  Mann  zwischen  angeborener  und  erworbener 
Männerliebe  keinen  Unterschied  macht. 


1)   Psychische   Hermaphrodisie1). 

Diese  Stufe  der  conträren  Sexualempfindung  ist  dadurch  cha- 
rakterisirt,  dass  neben  ausgesprochener  sexueller  Empfindung  und 
Neigung  zum  eigenen  Geschlecht  solche  zum  anderen  vorgefunden 
wird;  aber  diese  ist  eine  viel  schwächere- und  nur  episodisch  vor- 
handen, während  die  homosexuale  Empfindung  als  die  primäre  und 
zeitlich  wie  intensiv  vorwiegende  in  der  Vita  sexualis  zu  Tage  tritt. 

Die  heterosexuale  Empfindung  kann  nur  in  Rudimenten  vor- 
handen sein,  eventuell  sich  bloss  im  unbewussten  (Traum-)Leben 
geltend  machen  oder  aber  (episodisch  wenigstens)  mächtig  zu  Tage 
treten. 

Die  sexuellen  Empfindungen  gegenüber  dem  anderen  Geschlecht 
können  durch  Willenskraft,  Selbstzucht,  moralische,  eventuell  hyp- 


Thema  in  „Fridolin's  heimliche  Ehe"  von  Wilbrandt,  in  „Brick  and  Brack 
oder  Licht  im  Schatten"  von  Emerich  Graf  Stadion. 

Der  älteste  urnische  Roman  dürfte  übrigens  der  von  Petronius  in 
Rom  zur  Kaiserzeit  unter  dem  Titel  „Satyricon"  veröffentlichte  sein. 

')  Vgl.  des  Verf.  Arbeit  „Ueber  psychosexuales  Zwitterthum  im  inter- 
nationalen Centralblatt  f.  d.  Physiologie  und  Pathologie  der  Harn-  und  Sexual- 
organe Bd.  I,  Heft  2. 


244  Paraesthesia  sexualis. 

notische  Behandlung,  Besserung  der  Constitution,  Beseitigung  von 
Neurosen  (Neurasthenie),  vor  Allem  aber  durch  Abstinenz  von 
Masturbation  gekräftigt  werden. 

Immer  aber  besteht  die  Gefahr,  homosexualen,  weil  mächtiger 
veranlagten  Empfindungen  ganz  anheimzufallen  und  zu  dauernder, 
ausschliesslicher  conträrer  Sexualempfindung  zu  gelangen. 

Dies  ist  besonders  zu  fürchten  durch  den  Einfluss  der  Mastur- 
bation (gleichwie  bei  der  erworbenen  conträren  Sexualempfindung) 
und  durch  sie  hervorgerufene  Neurasthenie  und  Verschlimmerungen 
dieser,  ferner  durch  üble  Erfahrungen  beim  sexuellen  Verkehr  mit 
Personen  des  anderen  Geschlechts  (mangelndes  Wollustgefühl  beim 
Coitus,  Missglücken  desselben  durch  Ereetionssch wache  und  Ejacu- 
latio  praecox,  Infection). 

Andererseits  vermag  ästhetisches  und  ethisches  Gefallen  an 
Personen  des  anderen  Geschlechts  der  Entwicklung  der  hetero- 
sexualen Gefühle  Vorschub  zu  leisten. 

So  geschieht  es,  dass  die  betreffende  Persönlichkeit,  je  nach 
dem  Vorwalten  förderlicher  oder  ungünstiger  Einflüsse,  bald  hetero-, 
bald  homosexual  empfindet. 

Es  ist  mir  wahrscheinlich,  dass  derartige  hermaphroditische 
Existenzen  auf  belasteter  Grundlage  nicht  selten  sind x).  Da  sie 
social  wenig  oder  nicht  auffällig  sind  und  da  derlei  Geheimnisse 
des  ehelichen  Lebens  nur  ausnahmsweise  zur  Cognition  des  Arztes 
kommen,  erklärt  es  sich  wohl  ohne  Weiteres,  dass  diese  interessante 
und  praktisch  wichtige  Uebergangsgruppe  zu  den  ausschliesslich 
conträr  Sexualen  bisher  der  wissenschaftlichen  Forschung  entgangen  ist. 

Manche  Fälle  von  Frigiditas  mögen  auf  dieser  Anomalie  be- 
ruhen. An  und  für  sich  ist  der  sexuelle  Verkehr  mit  dem  anderen 
Geschlecht  möglich.  Jedenfalls  besteht  auf  dieser  Stufe  kein  Horror 
sexus  alterius.  Der  ärztlichen  und  speciell  der  moralischen  Therapie 
bietet  sich  hier  ein  dankbares  Feld  (s.  u.). 

Schwierig  kann  die  differentielle  Diagnose  von  der  erworbenen 
conträren  Sexualempfindung  sein,  denn  solange  bei  dieser  die  Reste 
früherer  normaler  geschlechtlicher  Empfindung  nicht  ganz  verloren 
gegangen   sind,    wird   der  Status  praesens  Gleiches  ergeben  (s.  u.). 


*)  Diese  Annahme  findet  eine  Stütze  durch  eine  mir  von  Hrn.  Dr.  Moll 
in  Berlin  gütig  vermittelte  Angabe  eines  unverheiratheten  Urnings.  Derselbe 
wusste  über  eine  Reihe  von  Fällen  aus  seiner  Bekanntschaft  zu  berichten,  in 
welchen  verheirathete  Männer  gleichzeitig  ein  Verhältniss  mit  einem  Manne 
unterhielten. 


Psychische  Hermaphrodisie.  245 

Auf  Stufe  1  besteht  die  Befriedigung  homosexualer  Dränge 
in  passiver  und  mutueller  Onanie,  Coitus  inter  femora. 

Beobachtung  106.  Herr  Z. ,  36  Jahre,  Privatmann,  consultirte  mich 
wegen  einer  Anomalie  seines  sexuellen  Fühlens,  die  ihm  die  beabsichtigte  Ein- 
gehung einer  Ehe  bedenklich  erscheinen  lasse.  Pat.  stammt  von  neuropathi- 
schem  Vater,  der  an  nächtlichem  Aufschrecken  leide.  Dessen  Vater  war  eben- 
falls neuropathisch,  Vaters  Bruder  Idiot.  Die  Mutter  des  Pat.  und  ihre  Familie 
waren  gesund  und  geistig  normal. 

Von  3  Schwestern  und  1  Bruder  des  Pat.  leidet  der  letztere  an  moral 
insanity.     2  Schwestern  sind  gesund  und  leben  in  glücklicher  Ehe. 

Pat.  war  schwächlich  als  Kind,  nervös,  litt  an  nächtlichem  Aufschrecken 
gleich  seinem  Vater,  war  aber  von  schweren  Krankheiten  nie  heimgesucht  bis 
auf  Coxitis,  seit  welcher  Pat.  etwas  hinkt.  Sehr  früh  erwachten  sexuale 
Dränge.  Mit  8  Jahren,  ohne  alle  Verführung,  begann  er  zu  masturbiren.  Vom 
14.  Jahre  ab  ejaculirte  er  Sperma.  Geistig  war  er  gut  veranlagt,  interessirte 
sich  auch  für  Kunst  und  Literatur.  Er  war  von  jeher  muskelschwach  und 
hatte  nie  Neigung  zu  Knabenspielen  und  auch  später  nicht  zu  männlicher 
Beschäftigung.  Er  hatte  ein  gewisses  Interesse  für  weibliche  Toiletten,  Putz 
und  weibliche  Beschäftigung.  Schon  von  der  Pubertät  an  bemerkte  Pat.  eine 
ihm  unerklärliche  Neigung  für  männliche  Personen.  Besonders  sympathisch 
waren  ihm  junge  Burschen  aus  den  untersten  Volksklassen.  Ganz  besonders 
zogen  ihn  Cavalleristen  an.  Impetu  libidinoso  saepe  affectus  est  ad  tales 
homines  aversos  se  premere.  Quodsi  in  turba  populi,  si  occasio  fuerit  bene 
successit,  voluptate  erat  perfusus;  ab  vigesimo  secundo  anno  interdum  talis 
occasionibus  semen  eiaculavit.  Ab  hoc  tempore  idem  factum  est  si  quis,  qui 
ipsi  placuit,  manum  ad  femora  posuerat.  Ab  hinc  metuit  ne  viris  manum  ad- 
ferret.  Maxime  periculosos  sibi  homines  plebeios  fuscis  et  adstrictis  bracis 
indutos  esse  putat.  Summum  gaudium  ei  esset  si  viros  tales  amplecti  et  ad 
se  trahere  sibi  concessum  esset;  sed  patriae  mores  hoc  fieri  vetant.  Paede- 
rastia  ei  displacet:  magnam  voluptatem  genitalium  virorum  adspectus  ei  affert. 
Virorum  occurrentium  genitalia  adspici  semper  coactus  est.  Im  Theater, 
Circus  u.  s.  w.  interessiren  ihn  nur  männliche  Darsteller.  Eine  Neigung  zu 
Damen  will  Pat.  nie  bemerkt  haben.  Er  geht  ihnen  nicht  aus  dem  Wege, 
tanzt  sogar  gelegentlich  mit  ihnen,  aber  er  verspürt  dabei  nie  die  geringste 
sinnliche  Regung. 

Schon  mit  28  Jahren  wurde  Pat.  neurasthenisch ,  wohl  in  Folge  seiner 
masturbatorischen  Excesse. 

Nun  kamen  gehäufte  Schlafpollutionen,  die  ihn  sehr  schwächten.  Nur 
sehr  selten  träumte  er  anlässlich  dieser  Pollutionen  von  Männern,  nie  von 
Weibern.  Nur  einmal  löste  sie  ein  lascives  Traumbild  (dass  er  päderastire) 
aus.  Sonst  träumte  er  dabei  von  Sterbescenen ,  Angefallenwerden  von  Hun- 
den u.  dgl.  Pat.  litt  nach  wie  vor  unter  grösster  Libido  sexualis.  Oft  kamen 
ihm  wollüstige  Gedanken,  im  Schlachthaus  sich  am  Verenden  der  Thiere  zu 
weiden,  oder  auch  sich  von  Burschen  prügeln  zu  lassen,  jedoch  widerstand  er 
solchen  Gelüsten,  ebenso  dem  Drang,  in  militärische  Uniform  sich  zu  kleiden. 

Um  die  Masturbation  los  zu  werden  und  seine  Libido  nimia  zu  befrie- 
digen, entschloss  er  sich,  das  Lupanar  aufzusuchen.     Den  ersten  Versuch,  mit 


246  Paraesthesia  sexualis. 

dem  Weibe  sexuell  sich  zu  befriedigen,  machte  er,  nach  reichlichem  Wein- 
genuss,  mit  21  Jahren.  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers,  überhaupt  jede 
weibliche  Nudität  war  ihm  ziemlich  gleichgültig.  Er  war  aber  im  Stande, 
den  Coitus  mit  Genuss  auszuführen  und  besuchte  von  nun  an  das  Bordell 
regelmässig  aus  „ Gesundheitsrücksichten". 

Von  nun  an  gewährte  es  ihm  auch  grossen  Genuss,  sich  von  Männern 
ihre  sexuellen  Beziehungen  mit  Personen  des  anderen  Geschlechts  erzählen 
zu  lassen. 

Auch  im  Lupanar  kommen  ihm  häufig  Flagellationsideen,  jedoch  bedarf 
er  nicht  der  Festhaltung  solcher  Bilder,  um  potent  zu  sein.  Er  betrachtet  den 
sexuellen  Verkehr  im  Lupanar  nur  als  Auskunftsmittel  gegen  den  Drang  zur 
Masturbation  und  zu  Männern,  als  eine  Art  Sicherheitsventil,  damit  er  sich 
nicht  einmal  einem  sympathischen  Manne  gegenüber  conipromittire. 

Pat.  möchte  nun  heirathen,  aber  er  fürchtet,  dass  er  keine  Liebe  und 
dann  auch  keine  Potenz  einer  anständigen  Dame  gegenüber  haben  werde. 
Daher  seine  Bedenken  und  sein  Bedürfniss  nach  ärztlichem  Rath. 

Pat.  ist  eine  sehr  intelligente  Persönlichkeit,  eine  durchaus  männliche 
Erscheinung.  Auch  in  Kleidung  und  Haltung  Bietet  er  nichts  Auffälliges. 
Gang ,  Stimme  sind  durchaus  männlich ,  gleichwie  Skelet ,  besonders  Becken. 
Die  Genitalien  sind  ganz  normal  entwickelt.  Sie  sind,  gleichwie  das  Gesicht, 
reichlich  behaart.  Niemand  von  den  Angehörigen  und  Bekannten  des  Pat. 
ahnt  etwas  von  seinen  sexuellen  Anomalien.  Bei  seinen  conträr  sexualen 
Phantasien  will  er  sich  nie  in  der  Rolle  des  Weibes  dem  Manne  gegenüber 
gefühlt  haben.  Seit  einigen  Jahren  ist  Pat.  von  neurasthenischen  Beschwerden 
fast  ganz  frei  geworden. 

Die  Frage,  ob  er  sich  für  angeboren  conträr  sexual  halte,  vermag  er 
nicht  zu  beantworten.  Es  scheint,  dass  eine  ab  origine  sehr  schwach  ver- 
anlagte Inclination  zum  Weib ,  bei  grosser  zum  Mann ,  durch  sehr  früh  ein- 
getretene Masturbation  zu  Gunsten  conträrer  Sexualempfindung  noch  mehr 
abgeschwächt  wurde,  ohne  aber  ganz  auf  Null  zu  sinken.  Mit  dem  Aufhören 
der  Masturbation  besserte  sich  dann  einigermassen  wieder  die  Empfindung  für 
das  Weibliche,  jedoch  nur  in  einer  grobsinnlichen  Weise. 

Da  Pat.  erklärte,  aus  Familien-  und  geschäftlichen  Rücksichten  heirathen 
zu  müssen,  konnte  diese  heikle  Frage  ärztlich  nicht  umgangen  werden. 

Da  Pat.  sich  glücklicherweise  darauf  beschränkte,  die  Frage  auf  seine 
Potenz  als  Ehemann  zu  richten,  musste  ihm  geantwortet  werden,  dass  er  an 
und  für  sich  ja  potent  sei  und  es  voraussichtlich  auch  im  ehelichen  Verkehr 
mit  einer  Frau  seiner  Wahl,  wenn  sie  wenigstens  geistig  ihm  sympathisch  sei, 
sein  werde. 

Ueberdies  könne  er  ja,  indem  er  mit  seiner  Phantasie  geeignet  nach- 
helfe, jederzeit  auch  seine  Potenz  verbessern. 

Die  Hauptsache  sei  Kräftigung  der  nur  verkümmerten,  nicht  aber  gänz- 
lich fehlenden  sexuellen  Neigungen  zum  anderen  Geschlecht.  Dies  könne  ge- 
schehen durch  Fernhaltung  und  Zurückdrängung  aller  homosexualen  Gefühle 
und  Impulse,  eventuell  mit  Zuhilfenahme  inhibitorischer  künstlicher  Einflüsse 
durch  hypnotische  Suggestion  (Absuggerirung  homosexualer  Gefühle),  des  Wei- 
teren durch  Anregung  und  Anstrengung  normal  sexuale  Gefühle  und  Dränge 
zu  gewinnen,  durch  vollkommene  Abstinenz  von  neuerlicher  Masturbation  und 


Psychische  Hermaphrodisie.  247 

durch  Tilgung  der  Reste   neurasthenischer  Verfassung  des  Nervensystems  ver- 
mittelst Hydrotherapie  und  eventuell  allgemeiner  Faradisation. 

Nachfolgende,  auch  noch  in  anderer  Hinsicht  bemerkenswerthe 
Autobiographie  verdanke  ich  einem  30  Jahre  alten  Collegen. 

Beobachtung  107.  Psychische  Hermaphrodisie.  Abortive 
conträre  Sexualempfindung. 

„Nach  meiner  Ascendenz  bin  ich  ziemlich  schwer  belastet.  Der  Gross- 
vater väterlicherseits  war  flotter  Lebemann  und  Speculant,  mein  Vater  ein 
charaktervoller  Mann ,  der  aber  seit  mehr  als  30  Jahren  an  Folie  circulaire 
leidet,  ohne  hiedurch  in  seinem  Berufe  ernstlich  gehindert  zu  sein.  Meine 
Mutter  leidet  wie  ihr  Vater  an  stenocardischen  Anfällen.  Muttersvater  und 
Muttersbruder  sollen  geschlechtlich  hyperästhetisch  gewesen  sein.  Meine  ein- 
zige um  9  Jahre  ältere  Schwester  war  zweimal  eclamptischen  Anfällen  unter- 
worfen, war  in  den  Pubertätsjahren  religiös  exaltirt,  wahrscheinlich  auch 
sexuell  hyperästhetisch.  Sie  hatte  durch  Jahre  mit  schwerer  hysterischer  Neu- 
rose zu  kämpfen  (ist  aber  jetzt  völlig  gesund). 

Als  spätgeborener  einziger  Sohn  war  ich  der  Augapfel  meiner  Mutter 
und  nur  ihrer  unermüdlichen  Sorge  danke  ich  es,  dass  ich  als  Jüngling  voll- 
kommen genas,  nachdem  ich  als  Kind  und  als  Knabe  alle  möglichen  Kinder- 
krankheiten durchgemacht  hatte  (Hydrocephalus,  Morbilli,  Croup,  Variola,  mit 
18  Jahren  durch  1  Jahr  chronischen  Darmcatarrh).  Meine  Mutter,  streng  religiös, 
erzog  mich ,  ohne  mich  zu  verzärteln ,  in  diesem  Sinne  und  prägte  mir  als 
oberstes  Sittenprincip  ein  unbeugsames  Pflichtgefühl  ein,  welches  durch  einen 
Lehrer,  den  ich  jetzt  noch  Freund  nenne,  bis  zur  Schroffheit  ausgebildet  wurde. 
Da  ich  infolge  meiner  Kränklichkeit  den  grösseren  Theil  meiner  Kindheit  im 
Bette  verbrachte,  war  ich  auf  ruhige  Beschäftigung,  besonders  Leetüre  an- 
gewiesen und  wurde  so  ein  zwar  nicht  blasirter,  aber  frühreifer  Knabe.  Schon 
mit  8  —  9  Jahren  interessirten  mich  in  den  Büchern  am  meisten  die  Stellen, 
wo  von  Verletzungen  oder  Operationen  die  Rede  war,  die  schöne  Mädchen 
oder  Frauen  erleiden  mussten.  So  versetzte  mich  eine  Erzählung,  wo  geschil- 
dert wird,  wie  sich  ein  Mädchen  einen  Dorn  in  den  Fuss  tritt  und  ihr  der- 
selbe von  einem  Knaben  entfernt  wird,  in  hochgradige  Aufregung,  ja  ich  hatte 
jedesmal  eine  Erection,  so  oft  ich  nur  das  bezügliche,  durchaus  nicht  laseive 
Bild  ansah.  So  oft  es  nur  möglich  war,  sah  ich  zu,  wenn  Hühner  abgestochen 
wurden ,  ja  wenn  ich  den  Anblick  versäumt  hatte ,  besah  ich  wenigstens  mit 
wollüstigem  Grausen  die  Blutspuren  und  streichelte  die  noch  warmen  Thier- 
körper.  Ich  muss  betonen,  dass  ich  seit  jeher  ein  grosser  Thierfreund  bin  und 
dass  mich  das  Schlachten  grösserer  Thiere,  ja  selbst  die  Vivisectionen  von 
Fröschen,  mit  Ekel  und  Mitleid  erfüllten. 

Noch  heute  hat  für  mich  das  Abstechen  von  Hühnern  grossen  geschlecht- 
lichen Reiz,  und  zwar  speciell  das  Halten  derselben,  wobei  ich  Herzklopfen 
und  Präcordialdruck  verspüre.  Interessant  ist,  dass  mein  Papa  eine  Leidenschaft 
dafür  hat,  Mädchen  und  jungen  Frauen  die  Hände  zusammenzubinden. 

Wie  ich  glaube ,  ist  auch  eine  andere  meiner  sexuellen  Abnormitäten 
auf  diese  grausame  Ader  in  mir  zurückzuführen.  Wie  ich  später  näher  schil- 
dern werde,  bildete  ein  Lieblingsspiel  von  mir  ein  improvisirtes  Puppentheater, 


248  Paraesthesia  sexualis. 

wobei  ich  den  Stoff  den  Mitwirkenden  angab.  Fast  immer  gab  es  da  ein 
junges  Mädchen ,  welches  auf  strengen  Befehl  des  Papas ,  den  ich  darstellte, 
sich  einer  schmerzlichen  Operation  am  Fusse  unterwerfen  musste.  Jemehr  nun 
die  Mädchen-Puppe  jammerte,  desto  höher  stieg  meine  Befriedigung.  Weshalb 
ich  gerade  den  Fuss  als  constantes  Operationsfeld  ausersah,  geht  aus  folgendem 
hervor:  Als  kleiner  Junge  kam  ich  zufällig  dazu,  als  meine  ältere  Schwester 
die  Strümpfe  wechselte.  Als  sie  rasch  die  Füsse  versteckte,  wurde  ich  auf- 
merksam, und  gar  bald  bildete  der  Anblick  ihrer  blossen  Füsse  bis  zu  den 
Knöcheln  herauf  das  Ideal  meiner  Sehnsucht.  Selbstverständlich  diente  dieses 
nur  dazu,  meine  Schwester  erst  recht  vorsichtig  zu  machen,  und  so  entwickelte 
sich  ein  ewiger  Kampf,  der  meinerseits  mit  allen  Waffen  der  List  und  Schmeichelei 
bis  zu  Zornexplosionen  bis  zu  meinem  17.  Jahre  geführt  wurde.  Sonst  war 
mir  meine  Schwester  höchst  gleichgültig,  ihr  Fuss  ist  mir  sogar  zuwider. 
Faute  de  mieux  nahm  ich  auch  mit  den  Füssen  von  Dienstmädchen  vorlieb; 
männliche  Füsse  Hessen  mich  kalt.  Mein  sehnsüchtigster  Wunsch  wäre  ge- 
wesen, an  einem  schönen  weiblichen  Fusse  die  Nägel  oder  sit  venia  verbo  die 
Hühneraugen  schneiden  zu  dürfen.  Meine  wollüstigen  Träume  drehten  sich 
um  diese  Dinge,  ja  ich  wandte  mich  dem  Studium  der  Medicin  eigentlich  in 
der  Erwartung  zu,  Gelegenheit  zur  Stillung  meiner  Begierden  zu  finden  oder 
sie  zu  heilen.  Gottlob,  dass  Letzteres  gelang.  Nachdem  ich  die  erste  Zer- 
gliederung einer  weiblichen  unteren  Extremität  vorgenommen,  wich  der  un- 
selige Bann  von  mir;  ich  sage  unselig,  da  ich  mich  stets  dieser  Triebe  vor 
mir  selbst  aufs  tiefste  schämte.  Weitere  Details  glaube  ich  mir  ersparen  zu 
dürfen,  da  diese  sonderbare  Schwärmerei,  welche  mich  sogar  zu  Gedichten 
begeisterte,  auch  andererseits  schon  mehrfach  geschildert  wurde. 

Nun  zur  letzten  Seite  meiner  sexuellen  Irrthümer. 

Ich  war  etwa  13  Jahre  alt  und  begann  gerade  zu  mutiren ,  als  ein 
Schulkamerad,  der  vorübergehend  bei  uns  zu  Gast  war,  mich  Abends  einmal 
dadurch  neckte,  dass  er  mit  seinem  nackten  Fusse  unter  der  Decke  hervor 
nach  mir  stiess.  Ich  erhaschte  seinen  Fuss  und  gerieth  sofort  in  hochgradige 
Erregung,  welche  von  einer  Pollution  gefolgt  war,  die  erste,  die  ich  hatte. 
Der  Knabe  war  auffällig  mädchenhaft  gebaut  und  auch  geistig  derart  angelegt. 
Auch  ein  anderer  Kamerad  mit  sehr  kleinen  und  zarten  Händen  und  Füssen, 
den  ich  einmal  im  Bade  sah,  regte  mich  ungemein  auf.  Ich  dachte  es  wohl 
mitunter  als  ein  hohes  Glück,  mit  einem  von  den  Beiden  im  Bett  zusammen- 
liegen zu  können,  ein  engerer  sexueller  Verkehr  jedoch,  der  über  eine  Um- 
armung hinausgegangen  wäre,  kam  mir  gar  nicht  in  den  Sinn.  Uebrigens 
wies  ich  auch  solche  Gedanken  stets  mit  Abscheu  von  mir.  Einige  Jahre 
später,  von  meinem  16. — 18.  Jahre,  lernte  ich  noch  zwei  Knaben  kennen, 
welche  mein  sexuelles  Gefühl  erweckten.  Wenn  ich  mich  mit  ihnen  herum- 
balgte, hatte  ich  sofort  Erectionen.  Beide  waren  sehr  energische,  frische,  aber 
zartgebaute  Bürschchen  von  kindlichem  Habitus.  Mit  dem  Eintritte  der  Pubertät 
verlor  jeder  von  Beiden  mein  ganzes  Interesse,  obzwar  ich  Beiden  eine  warme 
freundschaftliche  Theilnahme  bewahrte.  Zu  unzüchtigen  Handlungen  mit  ihnen 
hätte  ich  mich  nie  hinreissen  lassen.  — 

Als  ich  die  Universität  bezogen,  vergass  ich  völlig  auf  diese  Verirrungen 
meiner  libido  sexualis,  hielt  mich  aber  bis  zum  meinem  24.  Jahre  aus  Princip 
von  jedem  sexuellen  Verkehr  zurück,  trotz  des  Hohnes  meiner  Collegen.    Als 


Psychische  Herrnaphrodisie.  249 

sich  dann  die  Pollutionen  allzusehr  häuften,  und  ich  fürchten  musste,  eventuell 
ex  abstinentia  eine  Cerebralasthenie  zu  acquiriren,  warf  ich  mich  dem  nor- 
malen Geschlechtsleben  in  die  Arme,  und  zwar,  obschon  ich  es  ziemlich  nach- 
drücklich geniesse,  zu  meinem  grössten  Wohle. 

Dass  ich  gegenüber  puellis  publicis  nahezu  impotent  bin,  dass  der  nackte 
Körper  eines  Weibes  mich  eher  ekelt  als  erregt,  hängt  wohl  mit  den  Special- 
fächern zusammen,  in  welchen  ich  jahrelang  thätig  war.  Der  Akt  befriedigt 
mich  stets  am  meisten,  wenn  ich  dabei  die  Vorstellung  der  Vis  festhalten 
kann;  da  aber  andererseits  die  Vorstellung  mir  unerträglich  ist,  dass  das 
Mädchen  neben  mir  noch  von  einem  Andern  befriedigt  werde ,  habe  ich  es 
seit  Jahren  als  unumgänglich  nöthig  für  mein  seelisches  Gleichgewicht  be- 
funden, une  femme  soutenue  mir  trotz  drückender  pecuniärer  Opfer  zu  ver- 
gönnen, und  zwar  nur  eine  virgo.  Sonst  macht  mich  die  albernste  Eifersucht 
vollkommen  arbeitsunfähig.  Ich  muss  noch  erwähnen,  dass  ich  mit  13  Jahren 
das  erste  Mal  platonisch  verliebt  war  und  seitdem  öfter  in  holder  Minne  ge- 
schmachtet habe.  Was  meinen  Fall  vor  allen  andern  auszeichnen  dürfte,  ist> 
dass  ich  nicht  ein  einziges  Mal  in  meinem  Leben  onanirt  habe. 

Vor  einigen  Wochen  erschreckte  mich  ein  Schlaf,  in  welchem  ich  von 
pueris  nudis  geträumt  hatte  und  aus  dem  ich  mit  Erection  erwachte. 

Zum  Schlüsse  wage  ich  mich  an  die  immerhin  missliche  Aufgabe,  meinen 
Status  praes.  zu  skizziren.  Mittelgross,  gracil  gebaut,  Schädel  dolichocephal 
mit  Delle  an  der  Hinterhauptschuppe,  59  cm  Circumferenz,  Stirnhöcker  stark 
vorspringend,  etwas  neuropathischer  Blick,  Pupillen  mittelweit,  Gebiss  sehr 
defekt.  Muskulatur  kräftig,  straff.  Starker  Haarwuchs,  blond.  Links  Variocele ; 
ein  zu  kurzes  Frenulum,  welches  mich  beim  Coitus  hinderte,  zerschnitt  ich 
selbst  vor  3  Jahren.  Seitdem  Ejaculation  retardirt,  Wollustgefühl  bedeutend 
vermindert. 

Cholerisches  Temperament,  Auffassung  rasch,  gute  Combinationsgabe, 
energisch,  für  einen  Hereditarier  sehr  ausdauernd,  lerne  leicht  Sprachen,  habe 
gutes  Gehör,  sonst  kein  Talent  für  die  schönen  Künste.  Pflichteifrig,  aber 
stete  von  Taedium  vitae  erfüllt;  am  Tentamen  suic.  nur  durch  meine  Religion 
und  die  Rücksicht  auf  meine  angebetete  Mutter  verhindert.  Sonst  typischer 
Selbstmordkandidat.  Ehrgeizig,  eifersüchtig,  paralysophobisch ,  Linkshänder. 
Von  socialistischen  Ideen  angekränkelt.  Abenteuersüchtig,  muthig  —  habe 
mich  entschlossen,  nie  zu  heirathen." 

Beobachtung  108.  Psychische  Herrnaphrodisie.  Heterosexuale  Empfin- 
dung durch  Masturbation  früh  verkümmert ,  episodisch  aber  mächtig.  Homo- 
sexuale Empfindung  ab  origine  pervers  (sinnliche  Erregung  durch  Männerstiefel). 

Herr  X.,  28  Jahre,  kommt  im  September  1887  in  verzweifelter  Stim- 
mung zu  mir,  um  mich  wegen  einer  Perversion  seiner  Vita  sexualis  zu  consul- 
tiren ,  die  ihm  das  Leben  fast  unerträglich  erscheinen  lasse  und  ihn  wieder- 
holt schon  dem  Selbstmord  nahegebracht  habe. 

Pat.  stammt  aus  einer  Familie,  in  der  Neurosen  und  Psychosen  häufig 
vorkommen.  In  der  väterlichen  Familie  hatten  seit  3  Generationen  Geschwister- 
kindehen stattgefunden.  Der  Vater  soll  ein  gesunder  Mann  sein  und  in  guter  Ehe 
gelebt  haben.  Auffallend  ist  jedoch  dem  Sohn  die  Vorliebe  des  Vaters  für  schöne 
Bediente.   Die  mütterliche  Familie  wird  als  eine  Familie  von  Sonderlingen  ge- 


250  Paraesthesia  sexualis. 

schildert.  Der  Grossvater  und  Urgrossvater  der  Mutter  starben  melancholisch, 
ihre  Schwester  war  verrückt.  Eine  Tochter  des  Bruders  des  Grossvaters  war 
hysterisch  und  nymphomanisch.  Von  den  12  Geschwistern  der  Mutter  hei- 
ratheten  nur  drei.  Von  diesen  war  ein  Bruder  conträr  sexual  und  durch 
excessive  Masturbation  immer  nervenkrank.  Die  Mutter  des  Pat.  soll  bigott, 
geistig  beschränkt,  nervös,  reizbar,  zu  Melancholie  neigend  gewesen  sein.  Die- 
selbe starb  als  Pat.  14  Jahre  alt  war. 

Pat.  hat  zwei  Geschwister  —  einen  neuropathischen,  häufig  melancho- 
lisch verstimmten  Bruder,  der,  obwohl  erwachsen,  noch  niemals  Spuren  von 
sexuellen  Regungen  gezeigt  hat,  ferner  eine  Schwester,  eine  anerkannte  Schön- 
heit, förmlich  angebetet  von  der  Männerwelt. 

Diese  Dame  ist  verheirathet,  aber  kinderlos ,  angeblich  durch  Impotenz 
ihres  Mannes.  Sie  war  von  jeher  kalt  gegenüber  den  ihr  von  Männern  dar- 
gebrachten Huldigungen,  ist  aber  entzückt  von  weiblicher  Schönheit  und 
geradezu  verliebt  in  einzelne  ihrer  Freundinnen. 

Pat.  theilt  bezüglich  seiner  eigenen  Persönlichkeit  mit,  dass  er  schon 
mit  4  Jahren  von  jungen  schönen  Reitknechten  mit  schön  geputzten  Stiefeln 
geträumt  habe.  Auch  herangewachsen  will  er  niemals  von  einem  Weibe  ge- 
träumt haben.  Seine  nächtlichen  Pollutionen  waren  jeweils  durch  „  Stiefel- 
träume "  hervorgerufen. 

Schon  vom  4.  Jahre  an  empfand  er  eine  sonderbare  Neigung  zu  Männern 
oder  richtiger  zu  Lakaien,  die  schön  geputzte  Stiefel  trugen.  Anfangs  waren 
sie  ihm  bloss  sympathisch,  mit  sich  entwickelndem  Geschlechtsleben  machte 
ihm  deren  Anblick  mächtige  Erectionen  und  wollüstige  Erregung.  Nur  an 
Dienern  reizte  ihn  der  glänzend  geputzte  Stiefel.  Derselbe  Gegenstand  an 
gesellschaftlich  gleichstehenden  Personen  liess  ihn  kalt. 

Ein  sexueller  Drang  im  Sinne  mannmännlicher  Liebe  verband  sich  nicht 
mit  diesen  Situationen.  Schon  der  blosse  Gedanke  an  eine  solche  Möglichkeit 
war  ihm  ekelhaft.  Wohl  aber  kamen  jeweils  wollüstig  betonte  Vorstellungen, 
Diener  seiner  Diener  sein ,  ihnen  als  solcher  die  Stiefel  ausziehen  zu  dürfen, 
am  liebsten  sich  dabei  aber  von  ihnen  treten  zu  lassen  oder  auch  ihnen  die 
Stiefel  wichsen  zu  dürfen.  Gegen  derartige  Gedanken  empörte  sich  der  Stolz 
des  Aristokraten.  Ueberhaupt  waren  ihm  diese  Stiefelideen  ekelhaft  und 
peinlich. 

Das  sexuelle  Fühlen  entwickelte  sich  früh  und  mächtig.  Vorläufig  fand 
es  seinen  Ausdruck  im  Schwelgen  in  wollüstigen  Stiefelgedanken  und  von  der 
Pubertät  an  in  von  Pollutionen  begleiteten  analogen  Träumen. 

Im  Uebrigen  ging  die  geistige  und  körperliche  Entwicklung  ungestört 
vor  sich.  Pat.  war  begabt,  lernte  leicht,  absolvirte  seine  Studien,  wurde  Offi- 
zier, vermöge  seiner  distinguirten,  durchaus  männlichen  Erscheinung  und  seiner 
hohen  Stellung  eine  beliebte  Persönlichkeit  in  der  Gesellschaft. 

Er  selbst  bezeichnet  sich  als  einen  gutmüthigen,  ruhigen,  willenskräftigen, 
aber  oberflächlichen  Menschen.  Er  versichert,  passionirter  Jäger  und  Reiter  zu 
sein  und  niemals  Sinn  für  weibliche  Beschäftigung  gehabt  zu  haben.  In  Damen- 
gesellschaft sei  er  immer  befangen  gewesen;  im  Ballsaal  habe  er  sich  gelang- 
weilt. Niemals  habe  er  ein  Interesse  für  eine  Dame  aus  höheren  Ständen  ge- 
habt. Von  Weibern  hätten  ihn  überhaupt  nur  die  drallen  Bauernmädchen, 
wie  sie  den  Malern  in  Rom  Modell  sitzen,  interessirt.    Eine  eigentliche  sinn- 


Psychische  Hermaphrodisie.  251 

liehe  Regung  habe  er  jedoch  auch  derlei  Vertreterinnen  des  weiblichen  Ge- 
schlechts gegenüber  nie  empfunden.  Im  Theater  und  im  Circus  habe  er  nur 
Interesse  für  die  männlichen  Darsteller  empfunden.  Auch  diesen  gegenüber 
habe  er  keine  sinnlichen  Empfindungen  gehabt.  Am  Mann  reizen  ihn  über- 
haupt nur  die  Stiefel ,  und  zwar  nur ,  wenn  der  Träger  der  dienenden  Klasse 
angehöre  und  ein  schöner  Mensch  sei.  Gleichgestellte  Männer  mit'  noch  so 
schönen  Stiefeln  seien  ihm  ganz  gleichgültig. 

Pat.  ist  sich  bezüglich  seiner  geschlechtlichen  Neigungen  noch  jetzt 
unklar,  ob  er  mehr  Sympathie  für  das  andere  oder  für  das  eigene  Geschlecht 
empfinde. 

Seiner  Meinung  nach  habe  er  ursprünglich  eher  Sinn  für  das  Weib  ge- 
habt, aber  diese  Sympathie  war  jedenfalls  eine  überaus  schwache.  Bestimmt 
versichert  er,  dass  ihm  Adspectus  viri  nudi  unsympathisch  und  der  von  männ- 
lichen Genitalien  geradezu  widerlich  war.  Dem  Weib  gegenüber  war  dies 
gerade  nicht  der  Fall ,  aber  er  blieb  unerregt  selbst  dem  schönsten  Corpus 
femininum  gegenüber.  Als  junger  Offizier  war  er  genöthigt,  ab  und  zu  seine 
Kameraden  in  Bordelle  zu  begleiten.  Er  Hess  sich  nicht  ungern  dazu  be- 
reden, da  er  damit  seine  lästigen  Stiefelphantasien  los  zu  werden  hoffte.  Er 
war  impotent,  bis  er  seine  Stiefelphantasien  zu  Hilfe  nahm.  Nun  verlief  der 
Akt  der  Cohabitation  ganz  normal,  jedoch  ohne  Wollustgefühl.  Einen  Trieb 
zum  Verkehr  mit  dem  Weib  verspürte  Pat.  nicht,  es  bedurfte  jeweils  einer 
äusseren  Veranlassung,  resp.  Verführung.  Sich  selbst  überlassen,  bestand  seine 
Vita  sexualis  in  Stiefelschwelge reien  und  bezüglichen  Träumen  mit  Pollu- 
tionen. Da  sich  damit  immer  mehr  der  Drang  verband,  seinen  Dienern  die 
Stiefel  zu  küssen,  sie  ihnen  auszuziehen  u.  s.  w. ,  beschloss  Pat.  Alles  auf- 
zubieten, um  diesen  eklen,  ihn  in  seinem  Selbstgefühl  tief  verletzenden  Drang 
los  zu  werden.  Er  befand  sich  damals,  20  Jahre  alt,  gerade  in  Paris;  da 
erinnerte  er  sich  eines  wunderschönen  Bauernmädchens  in  der  fernen  Heimath. 
Er  hoffte  mit  Hilfe  derselben  sich  von  seiner  perversen  Sexualrichtung  be- 
freien zu  können,  reiste  sofort  heim  und  bewarb  sich  um  die  Gunst  dieses 
Mädchens.  Er  versicherte,  dass  er  damals  tüchtig  verliebt  in  jene  Person  wurde, 
dass  schon  ihr  Anblick,  die  Berührung  ihres  Kleides  ihn  wollüstig  erschauern 
machte,  und  als  sie  ihm  einmal  einen  Kuss  gewährte,  er  eine  mächtige  Erec- 
tion  bekam.  Erst  nach  1 1/2  Jahren  gelangte  Patient  mit  dieser  Person  an  das 
Ziel  seiner  Wünsche. 

Er  war  sehr  potent,  ejaculirte  aber  tardiv  (10—20')  und  hatte  nie  ein 
Wollustgefühl  beim  Akt. 

Nach  etwa  1 '/«jährigem  sexuellem  Umgang  mit  diesem  Mädchen  er- 
kaltete seine  Liebe  zu  ihm,  da  er  es  nicht  so  „fein  und  rein  fand",  als  er  es 
wünschte.  Von  nun  an  musste  er  wieder  seine  inzwischen  latent  gewordenen 
Stiefelphantasien  zu  Hilfe  nehmen,  um  im  Verkehr  mit  diesem  Mädchen  potent 
zu  bleiben.  In  dem  Masse,  als  seine  Potenz  nachliess,  kamen  jene  ganz  spontan. 
In  der  Folge  coitirte  Pat.  auch  mit  anderen  Weibern.  Hie  und  da,  nämlich 
wenn  ihm  das  Weib  sympathisch  war,  ging  es  ohne  sich  eindrängende  Stiefel- 
phantasien ab.  • 

Einmal  passirte  es  Pat.  sogar,  dass  er  sich  ein  Stuprum  zu  Schulden 
kommen  Hess.  Merkwürdigerweise  hatte  er  dieses  einzige  Mal  beim  (erzwun- 
genen) Akt  ein  Wollustgefühl.     Gleich  nach  der  That  empfand  er  Ekel.    Als 


252  Paraesthesia  sexualis. 

er  eine  Stunde  post  Stuprum  mit  demselben  Weib  und  mit  dessen  Zustimmung 
coitirte,  hatte  er  kein  Wollustgefühl  mehr. 

Mit  abnehmender,  d.  h.  nur  durch  Stiefelphantasien  aufrecht  erhaltener 
Potenz  sank  die  Libido  zum  anderen  Geschlecht.  Es  ist  bezeichnend  für  des 
Pat.  geringe  Libido  und  schwache  Veranlagung  gegenüber  dem  Weibe ,  dass, 
während  er  noch  in  sexuellen  Relationen  zu  jenem  Bauernmädchen  stand,  er 
zur  Masturbation  gelangte.  Er  lernte  sie  durch  Rousseau's  „Confessions", 
welches  Buch  ihm  zufällig  in  die  Hand  fiel,  kennen.  Mit  bezüglichen  Drängen 
verbanden  sich  sofort  die  Stiefelphantasien.  Er  bekam  dann  heftige  Erectionen, 
masturbirte,  hatte  bei  der  Ejaculation  ein  lebhaftes  Wollustgefühl,  das  ihm 
beim  Coitus  versagt  blieb,  und  fühlte  sich  von  Masturbation  anfangs  geistig 
frischer,  angeregter. 

Mit  der  Zeit  stellten  sich  aber  die  Erscheinungen  sexueller,  dann  allge- 
meiner Neurasthenie  mit  Spinalirritation  ein.  Er  entsagte  nun  vorläufig  der 
Masturbation  und  suchte  die  frühere  Geliebte  auf.  Sie  war  ihm  aber  nunmehr 
ganz  gleichgültig,  und  da  er  schliesslich  selbst  mit  Zuhilfenahme  von  Stiefel- 
scenen  nicht  mehr  reüssirte,  zog  er  sich  vom  Weibe  zurück  und  verfiel  wieder 
auf  Masturbation,  durch  die  ersieh  von  dem  Drang,  Dienern  Stiefel  zu  küssen, 
zu  wichsen  u.  s.  w. ,  geschützt  fühlte.  Gleichwohl  blieb  ihm  seine  sexuelle 
Position  peinlich.  Er  versuchte  gelegentlich  wieder  Coitus  und  reüssirte  auch, 
sobald  er  sich  gewichste  Stiefel  dachte.  Nach  längerer  Enthaltung  von  Mastur- 
bation gelang  ihm  auch  zuweilen  Coitus  ohne  jede  künstliche  Hilfe. 

Pat.  bezeichnet  sich  als  sexuell  sehr  bedürftig.  Wenn  er  lange  nicht 
ejaculirt  habe,  so  werde  er  congestiv,  psychisch  mächtig  erregt,  von  den  wider- 
lichen Stiefelbildern  geplagt,  so  dass  er  dann  gezwungen  sei,  zu  coitiren  oder 
noch  lieber  zu  masturbiren. 

Seit  Jahresfrist  hat  sich  seine  moralische  Situation  in  peinlicher  Weise 
dadurch  complicirt,  dass  er  als  der  Letzte  eines  reichen  und  vornehmen  Ge- 
schlechts und  über  dringenden  Wunsch  seines  Vaters  endlich  heirathen  soll. 
Die  ihm  bestimmte  Braut  ist  von  seltener  Schönheit,  geistig  ihm  äusserst  sym- 
pathisch. Aber  als  Weib  ist  sie  ihm  gleichgültig  wie  jedes  Weib.  Sie  be- 
friedige ihn  ästhetisch  wie  ein  beliebiges  „ Kunstwerk".  Sie  stehe  ihm  wie 
ein  Ideal  vor  Augen.  Platonisch  sie  zu  verehren,  wäre  ihm  ein  erstrebens- 
werthes  Glück,  sie  aber  als  Weib  zu  besitzen  ein  peinlicher  Gedanke.  Er  wisse 
bestimmt  voraus,  dass  er  ihr  gegenüber  nur  unter  Zuhilfenahme  von  Stiefel- 
phantasien potent  sein  könne.  Zu  solchen  Mitteln  zu  greifen  widerstrebe  aber 
seiner  Hochachtung  für  die  Dame,  seinem  sittlichen  und  ästhetischen  Gefühl 
für  dieselbe.  Beschmutze  er  sie  mit  seinen  Stiefelgedanken,  so  werde  sie  in 
seinen  Augen  auch  ihren  ästhetischen  Werth  verlieren,  und  dann  werde  er 
ganz  impotent  und  sie  ihm  zuwider  werden.  Pat.  hält  seine  Lage  für  eine 
verzweifelte  und  gesteht,  dass  er  in  letzter  Zeit  dem  Selbstmord  wiederholt 
nahe  war. 

Er  ist  ein  hochintelligenter  Mann  von  durchaus  männlichem  Habitus, 
starker  Bartentwicklung,  tiefer  Stimme,  normalen  Genitalien.  Das  Auge  hat 
einen  neuropathischen  Ausdruck.  Keine  Degenerationszeichen.  Erscheinungen 
von  spinaler  Neurasthenie.  Es  gelang,  den  Patienten  zu  beruhigen  und  ihm 
Vertrauen  in  die  Zukunft  einzuflössen. 

Die   ärztlichen  Rathschläge   bestanden   in  Mitteln  zur  Bekämpfung  der 


Homosexuale  oder  Urninge.  253 

Neurasthenie,  Verbot  weiterer  Masturbation  und  weiterer  Hingabe  an  Stiefel- 
phantasien, Aussicht,  dass  mit  Beseitigung  der  Neurasthenie  Cohabitation  ohne 
Stiefelideen  möglich  und  Pat.  mit  der  Zeit  moralisch  und  physisch  zur  Ehe 
fähig  werde. 

Ende  Oktober  1888  schrieb  mir  Pat.,  dass  er  der  Masturbation  und 
den  Stiefelphantasien  kräftig  seither  widerstanden  habe.  Inzwischen  habe  er 
nur  einmal  einen  Stiefeltraum  und  fast  gar  keine  Pollutionen  mehr  gehabt. 
Er  sei  frei  von  homosexualen  Anwandlungen ,  aber ,  trotz  oft  bedeutender 
sexueller  Erregung,  ohne  jegliche  Libido  dem  Weib  gegenüber.  In  dieser 
fatalen  Situation  sei  er  nun  durch  die  Verhältnisse  gezwungen,  in  3  Monaten 
zu  heirathen. 


2)  Homosexuale  oder  Urninge. 

Gegenüber  der  vorausgehenden  Gruppe  der  psychosexualen 
Hermaphroditen  besteht  hier  ab  origine  ausschliesslich  sexuale  Em- 
pfindung und  Neigung  zu  Personen  desselben  Geschlechts,  aber  im 
Gegensatz  zu  der  folgenden  Gruppe  beschränkt  sich  die  Anomalie 
nur  auf  die  Vita  sexualis  und  wirkt  nicht  tiefer  und  belastend  ein 
auf  Charakter  und  gesammte  geistige  Persönlichkeit. 

Die  Vita  sexualis  ist  bei  diesen  Homosexualen  (Urninge) 
mutatis  mutandis  ganz  die  gleiche  wie  bei  der  normalen  hetero- 
sexualen Liebe,  aber  da  sie  der  natürlichen  Empfindung  gegen- 
sätzlich ist,  wird  sie  zur  Karrikatur,  um  so  mehr,  als  diese  Individuen 
in  der  Regel  mit  Hyperaesthesia  sexualis  zugleich  behaftet  sind, 
und  damit  ihre  Liebe  zum  eigenen  Geschlecht  eine  schwärmerische, 
brünstige  ist. 

Der  Urning  liebt,  vergöttert  den  männlichen  Geliebten  ge- 
rade so  wie  der  weibliebende  Mann  die  Geliebte.  Er  ist  der 
grössten  Opfer  für  ihn  fähig,  empfindet  die  Qualen  unglücklicher, 
oft  nicht  erwiderter  Liebe,  der  Untreue  des  Geliebten,  der  Eifer- 
sucht u.  s.  w. 

Die  Aufmerksamkeit  des  mannliebenden  Mannes  fesseln  nur 
der  Tänzer,  der  Schauspieler,  der  Athlet,  die  männliche  Statue  u.  s.  w. 
Der  Anblick  weiblicher  Reize  ist  ihm  gleichgültig,  wenn  nicht  zu- 
wider; ein  nacktes  Weib  ist  ihm  ekelhaft,  während  die  Besichtigung 
männlicher  Genitalien,  Hüften  u.  s.  w.  ihn  vor  Wonne  erbeben  macht. 

Die  körperliche  Berührung  eines  sympathischen  Mannes  ruft 
einen  Wonneschauer  hervor,  und  da  derlei  Individuen  angeboren  oder 
durch  Onanie  oder  auch  durch  erzwungene  Abstinenz  von  geschlecht- 
lichem   Verkehr    vielfach    sexuell    neurasthenisch    sind,    kommt    es 


254  Paraesthesia  sexualis. 

dabei  leicht  zur  Ejaculation,  die  im  noch  so  intimen  Verkehr  mit 
dem  Weib  gar  nicht  oder  nur  durch  mechanischen  Reiz  erzwingbar 
ist.  Der  sexuelle  Akt  mit  dem  Manne,  gleichviel  welcher,  gewährt 
Genuss  und  hinterlässt  Wohlbefinden.  Vermag  sich  der  Urning 
zum  Coitus  zu  zwingen,  wobei  aber  Ekel  in  der  Regel  als  Hem- 
mungsvorstellung wirkt  und  den  Akt  unmöglich  macht,  so  ist  ihm 
dabei  etwa  zu  Muthe  wie  einem  Menschen,  der  ekelhafte  Speise 
oder  Trank  zu  kosten  genöthigt  ist.  Gleichwohl  lehrt  die  Erfah- 
rung, dass  nicht  selten  contr'är  Sexuale  auf  dieser  2.  Stufe  sich 
verheirathen,  sei  es  aus  ethischen  oder  socialen  Rücksichten. 

Relativ  potent  sind  derartige  Unglückliche,  insofern  sie  bei 
der  ehelichen  Umarmung  ihre  Phantasie  anstrengen  und  sich  statt 
der  Ehefrau  eine  geliebte  männliche  Person  vorstellen. 

Der  Coitus  ist  für  sie  aber  ein  schweres  Opfer,  kein  Genuss, 
und  macht  sie  auf  Tage  hinaus  nervenschwach  und  leidend.  Ver- 
mögen derartige  Urninge  nicht  durch  willenskräftige  Anstrengung 
ihrer  Phantasie,  etwa  unter  Benutzung  von  excitirenden  Spirituosen 
Getränken,  von  Erectionen,  hervorgerufen  durch  gefüllte  Blase  u.  s.  w., 
die  hemmenden  Gefühle  und  Vorstellungen  zu  compensiren,  so  sind 
sie  gänzlich  impotent,  während  die  blosse  Berührung  des  Mannes 
die  mächtigste  Erection  und  selbst  Ejaculation  bewirken  kann. 

Mit  einem  Weibe  zu  tanzen,  ist  dem  Urning  unangenehm, 
Tanz  mit  einem  Manne,  besonders  einem  solchen  von  sympathischen 
Formen,  erscheint  ihm  als  die  höchste  Lust. 

Der  männliche  Urning,  sofern  er  eine  höhere  Bildung  besitzt, 
hat  keine  Abneigung  gegen  den  geschlechtslosen  Umgang  mit  Weibern, 
sofern  sie  durch  Geist  und  Kunstsinn  die  Conversation  mit  ihnen  an- 
genehm erscheinen  lassen.  Nur  das  Weib  in  seiner  geschlecht- 
lichen Rolle  perhorrescirt  er. 

Auf  dieser  Stufe  der  sexuellen  Entartung  bleibt  Charakter 
und  Beschäftigung  dem  Geschlecht  entsprechend,  welches  das  be- 
treffende Individuum  repräsentirt.  Die  sexuelle  Perversion  bleibt 
eine  isolirte,  aber  tief  in  die  sociale  Existenz  einschneidende  Ano- 
malie im  geistigen  Dasein  der  Persönlichkeit.  Dem  entsprechend 
fühlt  sich  dieselbe  bei  gleichviel  welchem  sexuellen  Akt  in  der 
Rolle,  welche  bei  heterosexualer  Gefühlsweise  ihr  zukäme. 

Uebergänge  zur  3.  Gruppe  kommen  jedoch  insofern  vor,  als 
auch  zuweilen  die  der  homosexualen  Empfindungsweise  entsprechende 
geschlechtliche  Rolle  gedacht,  gewünscht  oder  wenigstens  geträumt 
wird,  ferner  dass  Beschäftigungsneigungen  und  Geschmacksrichtungen 


Homosexuale  oder  Urninge.  255 

fragmentar  sich  zeigen,  die  dem  Geschlecht,  welches  repräsentirt 
wird,  nicht  entsprechen.  In  manchen  Fällen  gewinnt  man  den 
Eindruck,  dass  derartige  Erscheinungen  Artefacte,  durch  Erziehungs- 
einflüsse hervorgerufen,  sind,  in  anderen,  dass  sie  erworbene  tiefere 
Degenerationen  innerhalb  der  betreffenden  Stufe  durch  perverse 
Geschlechtsbethätigung  (Masturbation),  analog  den  progressiven  Ent- 
artungserscheinungen, wie  sie  bei  der  erworbenen  conträren  Sexual- 
empfindung beobachtet  werden,  darstellen. 

Was  nun  die  Art  der  sexuellen  Befriedigung  betrifft,  so  ist 
hervorzuheben,  dass  bei  vielen  männlichen  Urningen,  da  sie  an 
reizbarer  sexueller  Schwäche  leiden,  schon  die  blosse  Umarmung 
genügt,  um  Ejaculation  zu  bewirken.  Bei  sexuell  Hyperästhetischen 
und  mit  Parästhesie  ästhetischer  Gefühle  Behafteten  gewährt  es  oft 
erhöhten  Genuss,  mit  schmutzigen  ordinären  Subjekten  aus  der  Hefe 
des  Volkes  zu  verkehren. 

Auf  gleicher  Grundlage  kommen  päderastische  (natürlich  aktive) 
Gelüste  und  andere  Verirrungen  vor,  jedoch  kommt  es  nur  selten 
und  offenbar  nur  bei  moralisch  defekten  und  durch  Libido  nimia 
besonders  lüsternen  Persönlichkeiten  zu  päderastischen  Akten. 

Die  sinnliche  Neigung  erwachsener  Urninge  scheint,  im  Gegen- 
satz zu  alten  und  verkommenen  Wüstlingen,  welche  Knaben 
bevorzugen  (und  mit  Vorliebe  Päderastie  treiben),  un- 
reifen männlichen  Individuen  sich  nicht  zuzuwenden.  Nur 
aus  Mangel  an  Besserem  und  bei  heftiger  Brunst  dürfte  der  Urning 
Knaben  gefährlich  werden. 


Beobachtung  109.  Die  nachfolgende  Beobachtung  ist  ein  Auszug  aus 
einer  äusserst  umfangreichen  Autobiographie,  die  mir  ein  mit  conträrer  Sexual- 
empfindung behafteter  Arzt  zur  Verfügung  gestellt  hat. 

„Ich  bin  nun  40  Jahre  alt,  aus  kerngesunder  Familie1),  war  stets  ge- 
sund, galt  als  ein  Muster  körperlicher  und  geistiger  Frische  und  Energie,  bin 
von  kräftigem  Körperbau,  habe  aber  nur  massigen  Bart,  bin,  ausser  unter  den 
Achseln  und  am  Mons  veneris,  am  Rumpf  haarlos.  Der  Penis  war  schon  bald 
nach  der  Geburt  ungewöhnlich  gross  und  ist  in  statu  erectionis  24  cm  lang, 
bei  11  cm  Umfang.  Ich  bin  tüchtiger  Reiter,  Turner,  Schwimmer,  habe  zwei 
grosse  Feldzüge  als  Militärarzt  mitgemacht.  Geschmack  an  weiblicher  Kleidung 
und  Beschäftigung  empfand  ich  nie.    Bis  zur  Pubertät  war  ich  dem  weiblichen 


*)  Später  wurde  bekannt,  dass  ein  naher  Verwandter  im  Irrsinn  ge- 
storben sei,  ferner,  dass  8  Geschwister  im  Alter  von  1 — 15  Jahren  an  Hydro- 
cephalus  acutus  oder  chronicus  zu  Grunde  gingen. 


256  Paraesthesia  sexualis. 

Geschlecht  gegenüber  schüchtern  und  bin  es  auch  jetzt  noch  neuen  Bekannt- 
schaften gegenüber. 

Gegen  Tanz  empfand  ich  von  jeher  Widerwillen. 

Im  8.  Lebensjahr  erwachte  meine  Neigung  zum  eigenen  Geschlecht.  Zu- 
nächst empfand  ich  Genuss  am  Betrachten  der  Genitalien  meiner  Brüder. 
Fratrem  meum  juniorem  impuli  ut  alter  alter ius  genitalibus  luderet,  quibus 
factis  penis  meus  se  erexit.  Später,  beim  Baden  mit  der  Schuljugend,  inter- 
essirten  mich  die  Knaben  lebhaft,  die  Mädchen  gar  nicht.  Ich  hatte  so  wenig 
Sinn  für  sie,  dass  ich  noch  mit  15  Jahren  glaubte,  sie  hätten  auch  einen 
Penis.  In  einem  Kreise  von  gleichgesinnten  Knaben  vergnügten  wir  uns 
damit,  vicissim  genitalibus  nostris  ludere.  Mit  IIV2  Jahren  bekam  ich  einen 
strengen  Hofmeister  und  konnte  mich  nun  nur  noch  selten  zu  meinen  lieben 
Freunden  stehlen.  Ich  lernte  sehr  leicht,  vertrug  mich  aber  nicht  mit  dem 
Lehrer,  und  als  er  es  mir  eines  Tages  zu  arg  machte,  gerieth  ich  in  Wuth, 
stiess  nach  ihm  mit  dem  Messer  und  hätte  ihn  mit  Wollust  erstochen,  wenn 
er  mir  nicht  in  den  Arm  gefallen  wäre.  Mit  121/*  Jahren  brannte  ich  bei 
ähnlichem  Anlass  dem  Lehrer  durch  und  trieb  mich  6  Wochen  im  Nachbar- 
land herum. 

Ich  kam  nun  ins  Gymnasium ,  war  damals  geschlechtlich  schon  ent- 
wickelt und  vergnügte  mich  beim  Baden  mit  den  Kameraden  in  der  oben  an- 
gedeuteten Weise,  später  auch  durch  Imitatio  coitus  inter  femora.  Ich  war 
damals  13  Jahre  alt.  An  Mädchen  fand  ich  gar  kein  Gefallen.  Heftige  Erec- 
tionen  veranlassten  mich,  an  den  Genitalien  zu  spielen,  auch  gerieth  ich  dar- 
auf, penem  in  os  recipere ,  was  mir  durch  Bücken  gelang.  Dabei  kam  es  zu 
Ejaculationen.  Dadurch  kam  ich  zur  Masturbation.  Ich  erschi-ak  darüber 
heftig,  dünkte  mich  wie  ein  Verbrecher,  entdeckte  mich  einem  16jährigen  Mit- 
schüler. Er  klärte  mich  auf,  beruhigte  mich,  schloss  einen  Liebesbund  mit  mir. 
Wir  waren  glückselig,  befriedigten  uns  durch  mutuelle  Onanie.  Nebenher 
masturbirte  ich.    Nach  2  Jahren  wurde  dieser  Bund  getrennt,  aber  noch  heute 

—  wenn  wir  uns  gelegentlich  treffen  —  mein  Freund  ist  ein  höherer  Beamter 

—  lodert  das  alte  Feuer  wieder  auf. 

Jene  Zeit  mit  Freund  H.  war  eine  selige,  deren  Wiederkehr  ich  gerne 
mit  meinem  Herzblut  erkaufen  möchte.  Das  Leben  war  mir  damals  eine  Lust, 
ich  lernte  spielend,  war  begeistert  für  alles  Schöne. 

Während  dieser  Zeit  verführte  mich  ein  meinem  Vater  befreundeter 
Arzt,  indem  er  mich  gelegentlich  eines  Besuches  liebkoste,  onanisirte,  mir  die 
sexuellen  Vorgänge  erklärte ,  mich  ermahnte ,  mich  nie  zu  manustupriren ,  da 
dies  gesundheitsschädlich  sei.  Er  trieb  dann  mutuelle  Onanie  mit  mir,  er- 
klärte, dies  sei  die  einzige  Möglichkeit  für  ihn,  geschlechtlich  zu  functioniren. 
Vor  Weibern  habe  er  Ekel,  deshalb  habe  er  auch  mit  seiner  verstorbenen  Frau 
in  Unfrieden  gelebt.  Er  lud  mich  dringend  ein,  ihn  so  oft  als  möglich  zu 
besuchen.  Der  Arzt  war  ein  stattlicher  Mann,  Vater  von  2  Söhnen  im  Alter 
von  14  und  15  Jahren,  mit  denen  ich  im  folgenden  Jahr  ein  analoges  Liebes- 
verhältniss  anknüpfte,  wie  mit  Freund  H. 

Ich  schämte  mich  der  Untreue  gegen  diesen,  setzte  aber  gleichwohl  das 
Verhältniss  mit  dem  Arzt  fort.  Er  trieb  mit  mir  mutuelle  Onanie,  zeigte  mir 
unsere  Spermatozoen  unter  dem  Mikroskope,  zeigte  mir  pornographische  Werke 
und  Bilder,    die  mir   aber   nicht   gefielen,  da   ich   nur  für   männliche  Körper 


Horuosexuale  oder  Urninge.  257 

Interesse  hatte.  Anlässlich  späterer  Besuche  bat  er  mich,  ihm  eine  Gunst  zu 
erweisen,  die  er  noch  nie  genossen  und  nach  der  er  lüstern  sei.  Da  ich  ihn 
liebte,  gestand  ich  alles  zu.  Instrumentis  anum  dilatavit,  me  paedicavit,  dum 
simul  penem  meum  trivit  ita  ut  eodem  tempore  dolore  et  voluptate  affectus 
Am.  Nach  dieser  Entdeckung  ging  ich  sofort  zu  Freund  H.,  in  der  Meinung, 
dass  dieser  geliebte  Mensch  mir  noch  grösseren  Genuss  verschaffen  werde. 
Alter  alterum  paedicavit,  wir  waren  aber  beide  enttäuscht  und  Hessen  Wieder- 
holung bleiben,  denn  passiv  empfand  ich  nur  Schmerz  und  aktiv  kein  Ver- 
gnügen, während  uns  doch  mutuelle  Onanie  den  grössten  Genuss  verschaffte. 
Nur  dem  Arzt  war  ich  in  der  Folge  aus  Dankbarkeit  noch  öfters  zu  Willen. 
Bis  zum  15.  Jahre  trieb  ich  passive  oder  mutuelle  Onanie  mit  meinen  Freunden. 
Ich  war  nun  schon  erwachsen,  bekam  allerlei  Winke  von  Frauen  und  Mädchen, 
floh  sie  aber,  wie  Joseph  Potiphars  Weib.  Mit  15  Jahren  kam  ich  in  die  Haupt- 
stadt. Nur  selten  hatte  ich  Gelegenheit  zur  Befriedigung  meiner  sexuellen 
Neigung.  Dafür  schwelgte  ich  im  Anblick  von  Bildern  und  Statuen  männlicher 
Körper  und  konnte  mich  nicht  enthalten,  geliebte  Statuen  abzuküssen.  Ein 
Hauptärgerniss  waren  mir  die  Feigenblätter  auf  deren  Genitalien. 

Mit  17  Jahren  bezog  ich  die  Universität.  Zwei  Jahre  lebte  ich  nun  wieder 
mit  Freund  H.  zusammen. 

Mit  1772  Jahren  hetzte  man  mich  im  angetrunkenen  Zustande  zum 
Coitus  mit  einem  Weibe.  Ich  zwang  mich  dazu,  floh  aber  sofort  nach  der 
That,  von  Ekel  erfasst,  aus  dem  Hause.  Gleichwie  nach  der  ersten  aktiven 
Manustupration  hatte  ich  dabei  ein  Gefühl,  als  ob  ich  ein  Verbrechen  be- 
gangen hätte.  Bei  einem  neuerlichen,  im  nüchternen  Zustand  gemachten  Ver- 
such, et  puella  nuda  pulcherimma  operante,  erectio  non  evenit,  während  doch 
jeweils  der  blosse  Anblick  eines  Knaben  oder  die  Berührung  eines  Schenkels 
durch  eine  Männerhand  meinen  Penis  stahlsteif  machte.  Freund  H.  war  es  vor 
Kurzem  ebenso  ergangen.  Wir  zerbrachen  uns  vergeblich  die  Köpfe  über  die 
Ursache.  Ich  Hess  nun  die  Weiber  Weiber  sein,  fand  Genuss  bei  Freunden  in 
passiver  und  mutueller  Onanie,  u.  A.  mit  den  beiden  Söhnen  des  Arztes,  der 
sie  nach  meinem  Abgang  zur  Pädicatio  missbraucht  hatte! 

19  Jahre  alt  machte  ich  die  Bekanntschaft  von  zwei  ächten  Urningen. 

A.,  56  Jahre  alt,  weibisch  aussehend,  bartlos,  geistig  auf  keiner  beson- 
deren Höhe,  von  starkem,  abnorm  früh  regem  Sexualtrieb,  hat  seit  dem  6.  Jahre 
Urningliebe  getrieben.  Er  kam  einmal  im  Monat  nach  der  Hauptstadt.  Ich 
musste  bei  ihm  schlafen.  Er  war  unersättlich  in  mutueller  Onanie,  nöthigte 
mich  auch  zu  aktiver  und  passiver  Pädicatio,  was  ich  ungern  mit  in  den 
Kauf  nahm. 

B.,  Kaufmann  von  36  Jahren,  eine  durchaus  männliche  Erscheinung,  war 
enorm  bedürftig,  gleich  wie  ich  selbst.  Er  wusste  seinen  Manipulationen  an 
mir  solchen  Reiz  zu  verleihen,  dass  ich  ihm  als  Kynede  dienen  musste.  Er 
war  der  Einzige,  bei  dem  ich  passiv  etwas  Genuss  empfand.  Er  gestand  mir, 
dass,  wenn  er  mich  nur  in  der  Nähe  wusste,  er  die  peinlichsten  Erectionen 
bekam ,  und  wenn  ich  ihm  nicht  dienen  konnte ,  er  sich  durch  Masturbation 
befriedigen  musste. 

Neben  diesen  Liebschaften  war  ich  klinischer  Assistent  im  Spital  und 
galt  als  eifrig  und  tüchtig  im  Beruf.  Natürlich  forschte  ich  in  der  ganzen 
Literatur  nach  einer  Erklärung  meiner  sexuellen  Sonderbarkeit.  Ich  fand  sie 
v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexnalis.    9.  Aufl.  17 


258  Paraesthesia  sexualis. 

allenthalben  als  strafwürdiges  Vergehen  gebrandmarkt,  während  ich  darin 
doch  nur  die  einfache,  mir  natürliche  Befriedigung  meines  sexuellen  Begehrens 
erkennen  konnte.  Ich  war  mir  bewusst,  dass  mir  dieses  angeboren  sei,  aber 
im  Widerspruch  mit  der  ganzen  Welt  mich  fühlend,  oft  dem  Wahnsinn  und 
dem  Selbstmord  nahe,  versuchte  ich  immer  wieder  meinen  mächtigen  Sexual- 
trieb an  Weibern  zu  befriedigen.  Das  Resultat  war  jedesmal  das  gleiche  — 
entweder  Mangel  jeglicher  Erection,  oder,  wenn  es  mir  gelang,  den  Akt  zu 
erzwingen,  Ekel  und  Grausen  vor  der  Wiederholung.  Als  Militärarzt  litt  ich 
entsetzlich  beim  Anblick  und  der  Berührung  von  Tausenden  nackter  Männer- 
gestalten. Glücklicherweise  schloss  ich  einen  Liebesbund  mit  einem  gleich 
•mir  empfindenden  Lieutenant  und  verlebte  wieder  einmal  eine  Götterzeit. 
Aus  Liebe  für  ihn  entschloss  ich  mich  sogar  zu  Pädicatio,  nach  der  seine 
Seele  verlangte.  Wir  liebten  uns,  bis  er  bei  Sedan  sein  Leben  verlor.  Von 
da  an  Hess  ich  mich  nie  mehr  weder  zu  aktiver  noch  passiver  Pädicatio 
herbei,  trotzdem  ich  viele  Liebschaften  hatte  und  eine  sehr  begehrte  Persön- 
lichkeit war. 

Mit  23  Jahren  ging  ich  aufs  Land  als  Arzt ,  war  gesucht  und  beliebt, 
befriedigte  mich  durch  Knaben  über  14  Jahre,  stürzte  mich  ins  politische 
Leben,  verfeindete  mich  mit  dem  Clerus,  ward  von  einem  meiner  Geliebten 
verrathen,  vom  Clerus  denuncirt  und  gezwungen  zu  fliehen.  Die  gerichtliche 
Untersuchung  fiel  günstig  aus.  Ich  konnte  zurückkehren,  war  aber  tief  er- 
schüttert, benutzte  den  ausgebrochenen  Krieg  (1870),  um  mit  der  Waffe  zu 
dienen,  in  der  Hoffnung,  den  Tod  zu  finden.  Ich  kehrte  jedoch,  vielfach 
ausgezeichnet,  zum  Manne  gereift,  innerlich  ruhig  zurück  und  fand  nur  mehr 
Genuss  in  ernster  angestrengter  Berufsarbeit.  Ich  hoffte  meinen  ungeheuren 
Sexualtrieb  dem  Erlöschen  nahe,  erschöpft  durch  die  riesigen  Strapazen  des 
Feldzugs. 

Kaum  war  ich  erholt,  so  begann  der  alte  unbändige  Trieb  wieder  sich 
zu  regen  und  führte  zu  neuer  zügelloser  Befriedigung.  Selbstverständlich  hielt 
ich  oft  Einkehr  bei  mir  selbst,  hielt  mir  das  nicht  in  meinen  Augen,  wohl 
aber  in  denen  der  Welt  Verwerfliche  meiner  Neigung  vor. 

Ein  Jahr  abstinirte  ich  mit  äusserster  Aufbietung  meiner  Willenskraft, 
dann  reiste  ich  nach  der  Hauptstadt,  um  mich  zum  Weibe  zu  zwingen.  Ich, 
der  ich  beim  Anblick  des  schmutzigsten  Stalljungen  von  Erectionen  gepeinigt 
war,  brachte  es  bei  dem  schönsten  Weibe  kaum  zu  einer  Erection.  Ich  reiste 
vernichtet  heim  und  hielt  mir  einen  Burschen  zur  persönlichen  Bedienung  und 
Befriedigung. 

Die  Einsamkeit  des  Lebens  als  Landarzt,  die  Sehnsucht  nach  Kindern 
trieb  mich  zu  einer  Heirath.  Zudem  wollte  ich  dem  Gerede  der  Leute  ein 
Ende  machen  und  hoffte  ich  doch  endlich  über  meinen  fatalen  Trieb  zu 
triumphiren. 

Ich  wusste  ein  Mädchen,  von  dessen  Herzensgüte  und  dessen  Liebe  zu 
mir  ich  überzeugt  war.  Es  ist  mir  gelungen,  bei  meiner  Achtung  und  Ver- 
ehrung für  meine  Frau  den  ehelichen  Pflichten  gerecht  zu  werden,  4  Knaben 
zu  erzeugen.  Erleichternd  wirkte  das  knabenhafte  Aussehen  meiner  Frau. 
Ich  nannte  sie  meinen  Raphael,  strengte  meine  Phantasie  an,  um  Knabenbilder 
mir  vorzutäuschen  und  so  Erection  zu  erzielen.  Erlahmte  meine  Phantasie 
aber  nur  einen  Moment,   so   war   es   mit  der  Erection  vorbei.     Zusammenzu- 


Homosexuale  oder  Urninge.  259 

schlafen  vermochte  ich  nicht  mit  meiner  Frau.  In  den  letzten  Jahren  wurde 
mir  der  Coitus  immer  schwieriger  erzie^bar  und  seit  2  Jahren  haben  wir  darauf 
verzichtet.  Meine  Frau  kennt  meinen  Seelenzustand.  Ihre  Herzensgüte  und 
Liebe  zu  mir  vermag  sich  darüber  hinwegzusetzen. 

Meine  sexuelle  Neigung  zum  eigenen  Geschlecht  ist  unverändert  und 
leider  nur  zu  oft  zwang  jene  mich,  meiner  Frau  untreu  zu  werden.  Noch 
heute  oringt  mich  der  Anblick  eines  etwa  16jährigen  Jungen  in  heftige  sexuelle 
Erregung  mit  peinlichen  Erectionen,  so  dass  ich  mir  gelegentlich  mit  Manu- 
stupration  des  Jungen,  mit  Onanie  an  mir  selbst  helfe. 

Welche  Qualen  ich  ausstehe,  ist  unbeschreiblich.  Faute  de  mieux  uxor 
mea  penem  terit,  sed  quod  mulieris  manus  magno  opere  post  dimidiam  horam 
adsequitur,  pueri  manus  post  nonnulla  raomenta  adsequitur.  So  lebe  ich  elend 
dahin,  ein  Sklave  des  Gesetzes  und  meiner  Pflicht  gegen  meine  Frau!  Zu 
Pädicatio  (aktiv  oder  passiv)  hatte  ich  nie  Lust.  Wenn  ich  sie  ausführte  oder 
duldete,  geschah  es  nur  aus  Dankbarkeit,  Gefälligkeit." 

Der  Arzt,  dem  ich  vorstehende  Selbstbeobachtung  verdanke,  versichert, 
dass  er  mit  mindestens  600  Urningen  bisher  sexuell  verkehrt  habe.  Es  seien 
darunter  gar  Viele,  die  in  hohen  und  geachteten  Stellungen  noch  heute  leben. 
Nur  etwa  10  Procent  derselben  seien  später  weibliebend  geworden.  Eine  andere 
Quote  scheue  das  Weib  nicht,  neige  aber  mehr  dem  eigenen  Geschlecht  zu,  der 
Rest  sei  ausschliesslich  und  dauernd  mannliebend. 

Abnorme  Bildung  der  Genitalien  will  jener  Arzt  nie  an  seinen  600  ge- 
funden haben,  wohl  aber  häufig  Annäherung  an  weibliche  Körperformen,  sowie 
schwache  Behaarung,  zarteren  Teint,  höhere  Stimme.  Nicht  selten  kam  Mamma- 
entwicklung  vor.  X.  affirmat  ab  13. — 15.  anno  lac  in  mammis  suis  habuisse 
quod  amicus  H.  esuxit.  Nur  etwa  10  Procent  seiner  Leute  zeigten  Sinn  für 
weibliche  Beschäftigung  u.  dgl.  Alle  seine  Bekannten  waren  mit  abnorm 
frühem  und  starkem  Sexualtrieb  behaftet.  Die  überwiegende  Mehrzahl  fühle 
sich  dem  Anderen  gegenüber  als  Mann  und  befriedige  sich  durch  mutuelle 
Onanie,  Manustupration  am  Geliebten  oder  durch  denselben.  Die  Mehrzahl 
neige  zu  aktiver  Päderastie.  Sehr  häufig  sei  aber  der  Strafrechtsparagraph 
oder  auch  ästhetisches  Bedenken  gegen  den  Anus  Grund  zur  Nichtausführung 
des  Aktes.  Weiblich  sich  fühlen  dem  Anderen  gegenüber  sei  selten,  und  sehr 
selten  Neigung  zu  passiver  Päderastie. 

Anfangs  1887  wurde  dieser  Arzt  gefänglich  eingezogen,  weil  er  mit  zwei 
Knaben  unter  14  Jahren  Unzucht  getrieben  hatte.  Das  Delikt  bestand  darin, 
dass  er  zuerst  die  Knaben  mentulam  propriam  inter  femora  viri  bis  zu  ejaculatio 
reiben  Hess  und  dann  dieselbe  Procedur  cum  mentula  propria  inter  femora 
pueri  vornahm.  Bei  der  Verhandlung  wurde  zugegeben,  dass  hier  ein  krank- 
hafter Naturtrieb  vorliege,  jedoch  zugleich  nachgewiesen,  dass  Inculpat  geistig 
nicht  gestört,  der  Selbstbestimmung  nicht  verlustig  war,  jedenfalls  nicht  in 
unwiderstehlichem  Antrieb  gehandelt  habe.  Gleichwohl  wurde  er  nur  zu  einem 
Jahr  Kerker  mit  Anwendung  der  weitestgehenden  Milderungsgründe  verurtheilt. 

Beobachtung  110.  HerrX.,  aus  höherem  Stande,  consultirte  mich  wegen 
seit  Jahren  bestehender  Neurasthenie  und  Schlaflosigkeit.  Die  Ermittelung  der 
Ursachen  des  Leidens  führte  zum  Geständniss  des  Patienten,  dass  er  einen 
abnormen  Sexualtrieb  zum  eigenen  Geschlecht  habe,  überhaupt  sehr  geschlechts- 


260  Paraesthesia  sexualis. 

bedürftig  sei  und  dass  sein  Nervenleiden  wohl  daraus  sich  herleite.  Aus  der 
Krankengeschichte  des  intelligenten  Patienten  dürfte  Folgendes  wissenschaft- 
lich von  Interesse  sein. 

, Meine  abnorme  Geschlechtsempfindung  reicht  auf  meine  Kindheit  zurück. 
Mit  3  Jahren  kam  mir  ein  Modejournal  unter  die  Hände.  Die  perfekt  schönen 
Männergestalten  wurden  von  mir  bis  zum  Zerreissen  des  Papiers  geküsst,  die 
weiblichen  Figuren  beachtete  ich  nicht.    Knabenspiele  waren  mir  widerlich. 

Mit  Mädchen  spielte  ich  lieber,  da  es  da  immer  Puppen  gab.  Mit  Vor- 
liebe schneiderte  ich  Puppenkleider;  ich  habe  heute  noch  Interesse  für  Puppen 
trotz  meiner  33  Jahre.  Schon  als  Knabe  konnte  ich  stundenlang  auf  der  Lauer 
an  Anstandsorten  sein,  ut  virorum  genitalia  adspicerem.  Gelang  mir  dies,  so 
wurde  mir  ganz  seltsam  und  schwindlig.  Schwächliche,  unsympathische  Männer 
oder  gar  Knaben  waren  mir  gleichgültig.  Mit  13  Jahren  ergab  ich  mich  der 
Onanie.  Vom  13.  bis  15.  Jahr  schlief  ich  mit  einem  schönen  jungen  Mann  in 
einem  Bett.  Das  war  mein  Glück!  Per  multas  horas  vespere  pene  erecto 
illum  domum  venientem  expectavi.  Quodsi  ille  fortuito  genitalia  mea  in  lecto 
tetigit,  summa  voluptate  affectus  sum.  Mit  14  Jahren  hatte  ich  einen  gleich 
mir  empfindenden  Schulkameraden.  In  schola  per  nonnullas  horas  alter  geni- 
talia alterius  tenebat  manibus.  Ach,  es  waren  selige  Stunden!  So  oft  ich 
konnte,  verweilte  ich  in  Badeanstalten.  Das  war  immer  ein  Fest  für  mich. 
Der  Anblick  männlicher  Genitalien  verursachte  mir  heftige  Erectionen.  Mit 
16  Jahren  kam  ich  in  die  Grossstadt.  Das  Sehen  so  vieler  schöner  Männer 
entzückte  mich.  Mit  17 1J2  Jahren  versuchte  ich  den  Beischlaf  mit  einer  Dirne, 
war  aber  vor  Ekel  und  Angst  unfähig  dazu.  Auch  weitere  Versuche  schlugen 
fehl  bis  zum  19.  Jahre.  Da  reüssirte  ich  einmal,  aber  der  Beischlaf  gewährte 
mir  keinen  Genuss,  eher  Ekel.  Ich  überwand  mich  und  war  stolz  auf  meinen 
Erfolg,  dennoch  ein  Mann  zu  sein,  woran  ich  allmählich  zu  zweifeln  an- 
gefangen hatte. 

Spätere  Versuche  gelangen  nicht  mehr.  Der  Ekel  war  zu  gross.  Wenn 
sich  das  betreffende  Weib  entkleidete,  war  ich  genöthigt,  vor  Ekel  gleich  das 
Licht  zu  löschen.  Ich  hielt  mich  nun  für  impotent,  consultirte  Aerzte,  besuchte 
Bäder  und  Wasserheilanstalten,  um  meine  vermeintliche  Impotenz  zu  heilen, 
denn  noch  immer  wusste  ich  nicht,  was  ich  davon  zu  halten  hatte.  Ich  war 
gerne  in  Damengesellschaft,  vielleicht  aus  Eitelkeit,  da  ich  den  meisten  Damen 
sympathisch  und  liebenswürdig  erschien.  Ich  schätzte  aber  nur  geistige,  ästhe- 
tische Vorzüge  an  Damen.  Gerne  tanzte  ich  mit  solchen,  aber  wenn  sich  dann 
eine  im  Tanz  an  mich  anschmiegte,  empfand  ich  einen  argen  Widerwillen, 
selbst  Ekel,  und  hätte  sie  prügeln  mögen.  Kam  es  einmal  vor,  dass  ein  Herr 
mit  mir  im  Scherz  tanzte,  so  war  ich  stets  Dame.  Da  presste  und  schmiegte 
ich  mich  an  ihn  und  war  ganz  glücklich  und  selig.  Mit  18  Jahren  sagte  ein- 
mal ein  Herr,  der  zu  uns  ins  Comptoir  kam:  „Das  ist  ein  herziger  Junge,  für 
den  könnte  man  im  Orient  jedesmal  ein  Pf.  St.  verlangen."  Das  machte  mir 
Kopfzerbrechen.  Ein  anderer  Herr  scherzte  gerne  mit  mir,  raubte  mir  beim 
Fortgehen  öfters  Küsse,  die  ich  ihm.  ach  so  gerne,  selbst  gegeben  hätte.  Dieser 
Kussräuber  wurde  später  eine  Geliebte  von  mir.  Durch  diese  Umstände  wurde 
ich  doch  aufmerksam  und  wartete  auf  eine  Gelegenheit. 

Als  ich  25  Jahre  alt  war,  traf  es  sich,  dass  mich  ein  ehemaliger 
Kapuziner   fest  fixirte.     Gleich   einem  Mephisto    wurde   er  für  mich.     Endlich 


Homosexuale  oder  Urninge.  261 

sprach  er  mich  an.  Noch  heute  glaube  ich  das  Klopfen  meines  Herzens  von 
damals  zu  fühlen,  ich  war  einer  Ohnmacht  nahe.  Er  gab  mir  Rendez-vous 
in  einem  Gasthause  für  den  Abend.  Ich  ging  hin,  kehrte  aber  an  der  Schwelle 
um,  ich  ahnte  schreckliche  Geheimnisse.  Am  zweiten  Abend  traf  mich  der 
Kapuziner  wieder.  Er  überredete  mich,  führte  mich  in  sein  Zimmer,  ich  konnte 
ja  nicht  gehen  vor  Erregung.  Mein  Verführer  setzte  mich  aufs  Canapee,  fixirte 
mich  lächelnd  mit  seinen  schwarzen  wunderbaren  Augen,  ich  verlor  das  Be- 
wusstsein.  —  —  Von  dieser  Wottust ,  dieser  idealistisch-göttlichen  Seligkeit, 
die  mein  Wesen  erfüllte,  müsste  ich  zu  viel  schreiben;  ich  denke,  nur  ein 
bis  über  die  Ohren  verliebter ,  noch  gänzlich  unschuldiger  Bursche ,  der  zum 
ersten  Mal  seine  Liebessehnsucht  stillen  konnte,  kann  so  glücklich  sein,  wie 
ich  an  jenem  Abend  war.  Mein  Verführer  forderte  zum  Spasse  (den  ich  An- 
fangs ernst  nahm)  mein  Leben.  Ich  bat  ihn,  mich  noch  eine  Zeit  lang  glücklich 
sein  zu  lassen,  dann  hätte  ich  mein  Leben  vereint  mit  ihm  geendet.  Es  wäre 
das  so  ganz  nach  meinen  überspannten  damaligen  Ideen  gewesen.  Ich  hatte 
5  Jahre  dann  ein  Verhältniss  mit  dem  mir  jetzt  noch  so  lieben  Mann.  Ach 
wie  glücklich  und  doch  oft  unglücklich  war  ich  in  jener  Zeit!  Sah  ich  ihn 
nur  mit  einem  hübschen  jungen  Manne  sprechen ,  so  erwachte  in  mir  eine 
tobende  Eifersucht.  Mit  27  Jahren  verlobte  ich  mich  mit  einer  jungen  Dame. 
Ihr  Geist  und  feiner  ästhetischer  Sinn,  sowie  finanzielle  Rücksichten  für  mein 
Geschäft  veranlassten  mich,  an  die  Ehe  mit  ihr  zu  denken,  zudem  bin  ich  ein 
grosser  Kinderfreund,  und  so  oft  ich  dem  gewöhnlichsten  Taglöhner  mit  seinem 
Weib  und  einem  hübschen  Kind  begegnete,  beneidete  ich  den  Mann  um  seia 
Familienglück.  Ich  bethörte  mich  also  selbst,  brachte  mich  auch  die  Zeit  des 
Brautstandes  leidlich  durch ,  fühlte  jedoch  bei  den  Küssen  meiner  Braut  eher 
Angst  und  Bangigkeit  als  Vergnügen.  Ein-  oder  zweimal  kam  es  jedoch  vor, 
dass  ich  durch  herzhaftes  Küssen  nach  reichlichem  Nachtmahl  Erection  bekam. 
Wie  glücklich  war  ich  da,  ich  sah  mich  schon  als  Papa!  Zweimal  war  ich 
nahe  daran,  die  Parthie  rückgängig  zu  machen.  Am  Hochzeitstage,  als  schon 
die  Gäste  versammelt  waren,  sperrte  ich  mich  in  mein  Zimmer,  weinte  wie 
ein  Kind  und  wollte  absolut  nicht  getraut  werden.  Auf  Zureden  aller  An- 
gehörigen, denen  ich  die  ersten  besten  Entschuldigungen  angab,  Hess  ich  mich 
in  Strassentoilette  vor  den  Traualtar  schleppen. 

Uxor  mea  nuptiarum  tempore  menses  habuit.  0  wie  dankte  ich  allen 
Heiligen  für  diese  Bescheerung!  Ich  bin  heute  noch  überzeugt,  dass  nur  da- 
durch ein  späterer  Beischlaf  ermöglicht  wurde.  Wieso  es  mir  möglich  wurde, 
später  meiner  Frau  beizuwohnen  und  einen  herzigen  Jungen  zu  bekommen, 
weiss  ich  nicht.  Er  ist  mein  Trost  in  meinem  so  verfehlten  Leben.  Ich  kann 
für  das  Glück,  ein  Kind  zu  haben,  nur  Gott  danken.  Ich  schwindelte  mich 
sozusagen  durch  im  Ehebett.  Meine  Frau ,  die  ich  wegen  ihrer  trefflichen 
Eigenschaften  hochachte,  hat  keine  Ahnung  von  meinem  Zustand,  nur  beklagt 
sie  sich  oft  über  meine  Kälte.  Bei  ihrer  Herzensgut«  und  Naivetät  war  es 
mir  möglich ,  ihr  vorzumachen ,  dass  die  Leistung  der  ehelichen  Pflicht  nur 
monatlich  einmal  eintrete.  Da  sie  nicht  sinnlich  ist  und  ich  zudem  in  meiner 
Nervosität  eine  Entschuldigung  finde,  gelingt  es  mir,  mich  durchzuschwindeln. 
Der  Beischlaf  ist  mir  das  grösste  Opfer.  Durch  reichlichen  Weingenuss  und 
Benützung  von  dann  Morgens  bei  gefüllter  Blase  eintretenden  Erectionen  ge- 
lingt es  mir,   etwa  einmal  im  Monat  ihn  auszuführen,   aber  ich   habe   dabei 


262  Paraesthesia  sexualis. 

kein  Wollustgefühl,  bin  davon  ganz  matt  und  empfinde  tagelang  eine  Steige- 
rung meiner  nervösen  Beschwerden.  Nur  das  Bewusstsein  der  erfüllten  ehe- 
lichen Pflicht,  gegenüber  der  sonst  geliebten  Frau,  ist  mir  dann  moralischer 
Erfolg  und  Befriedigung.  Mit  einem  Mann  ist  es  anders.  Ich  kann  ihm 
mehrmals  in  der  Nacht  beiwohnen,  wobei  ich  mich  in  der  geschlechtlichen 
Rolle  des  Mannes  fühle.  Ich  empfinde  dabei  die  höchste  Wollust,  das  reinste 
Glück  und  fühle  mich  davon  erfrischt  und  beglückt.  In  neuerer  Zeit  hat  mein 
Trieb  zu  Männern  etwas  nachgelassen.  Ich- habe  sogar  Muth,  einen  schönen 
jungen  Mann,  der  mir  die  Cour  macht,  zu  meiden.  Wird  es  von  Dauer  sein? 
Ich  fürchte  nein.  Ich  kann  absolut  nicht  ohne  Männerliebe  sein,  und  wenn 
ich  sie  entbehren  muss,  bin  ich  niedergeschlagen,  fühle  mich  matt,  elend,  habe 
Schmerz  und  Druck  im  Kopf.  Ich  habe  meine  bedauernswerthe  Verschroben- 
heit immer  als  etwas  Angeborenes,  Krankhaftes  empfunden,  würde  mich  jedoch 
glücklich  fühlen,  wenn  ich  nur  nicht  verheirathet  wäre.  Meine  brave  gute 
Frau  dauert  mich.  Oft  packt  mich  die  Furcht,  es  mit  ihr  nicht  mehr  auszu- 
halten. Dann  kommen  mir  Gedanken,  mich  scheiden  zu  lassen,  mich  umzu- 
bringen, nach  Amerika  zu  entfliehen." 

Dem  Kranken,  welchem  ich  diese  Mittheilungen  verdanke,  wird  Niemand 
seinen  Zustand  ansehen.  Er  ist  von  durchaus  männlichem  Habitus,  mit  starkem 
Vollbart,  kräftiger  tiefer  Stimme,  völlig  normalen  Genitalien.  Der  Schädel 
ist  normal  gebildet,  Degenerationszeichen  fehlen  durchaus,  nur  ein  exquisit 
nervöses  Auge  erinnert  an  den  Neuropathiker.  Die  vegetativen  Organe 
funktioniren  normal.  Patient  bietet  die  gewöhnlichen  Symptome  eines  Neur- 
asthenischen,  wesentlich  zurückführbar  auf  sexuelle  Excesse  bei  einem  abnorm 
geschlechtsbedürftigen  Manne  im  Verkehr  mit  Personen  seines  eigenen  Ge- 
schlechts und  auf  den  schädlichen  Einfluss  erzwungenen,  wenn  auch  seltenen, 
Beischlafs  mit  der  Ehefrau,  bei  Horror  feminae. 

Patient  erklärt,  von  gesunden  Eltern  abzustammen  und  in  der  Familie 
in  aufsteigender  Linie  weder  nerven-  noch  geisteskranke  Angehörige  zu  kennen. 
Sein  älterer  Bruder  war  3  Jahre  verheirathet.  Die  Ehe  wurde  getrennt,  weil" 
dieser  Mann  geschlechtlich  mit  seiner  Frau  nie  verkehrte.  Er  heirathete  zum 
zweiten  Mal.  Auch  die  zweite  Frau  klagt  über  Vernachlässigung  seitens  des 
Mannes,  hat  aber  4  Kinder,  deren  legitime  Abkunft  nicht  bezweifelt  wird. 
Eine  Schwester  ist  hysteropathisch. 

Patient  behauptet,  als  junger  Mann  an  secundenlangen  Schwindelanfällen 
gelitten  zu  haben,  während  welcher  es  ihm  war,  als  wolle  sich  sein  ganzes 
Wesen  auflösen.  Von  jeher  will  er  sehr  erregbar,  emotiv  gewesen  sein  und 
für  schöne  Künste,  namentlich  Poesie  und  Musik,  geschwärmt  haben.  Seinen 
Charakter  bezeichnet  er  selbst  als  räthselhaft,  abnorm,  nervös,  unruhig,  extra- 
vagant, unschlüssig.  Er  sei  oft  exaltirt  ohne  eigentlichen  Grund,  dann  wieder 
ebenso  deprimirt  bis  zu  Selbstmordgedanken.  Er  könne  in  raschem  und  plötz- 
lichem Wechsel  „religiös  und  frivol,  Aesthetiker  und  Cyniker,  feige  und  heraus- 
fordernd, leichtgläubig,  gutmüthig  und  misstrauisch,  geneigt,  Anderen  wehe 
zu  thun  und  wehmuthsvoll  über  Anderer  Unglück  bis  zu  Thränen  sein,  dabei 
freigebig  bis  zum  Uebermass  und  wieder  geizig  ä  la  Harpagon".  Jedenfalls 
ist  Patient  eine  belastete  Persönlichkeit.  Intellectuell  scheint  er  sehr  begabt, 
wie  er  auch  versicherte,  leicht  gelernt  zu  haben  und  in  den  Schulen  immer 
unter  den  Ersten  gewesen  zu  sein. 


Homosexuale  oder  Urninge.  263 

Die  Ehe  dieses  Mannes  war  keine  glückliche.  Wenn  auch  Patient  nur 
höchst  selten  den  ihm  inadäquaten  und  ihn  schädigenden  Geschlechtsakt  mit 
der  Frau  vollzog  und  hei  männlichen  Geliebten  Ersatz  suchte  und  fand,  so 
blieb  er  neurasthenisch.  Sein  Leiden  bot  zeitweise  bedeutende  Exacerbationen, 
bis  zu  verzweiflungsvoller  Stimmung  über  seine  eheliche  sexuelle  und  physische 
Lage  mit  heftigem  Taed.  vitae. 

Seine  Frau  wurde  hysteropathisch,  anämisch,  und  Patient  selbst  meint, 
dass  sie  es  ex  abstinentia  geworden  sei.  So  sehr  er  sich  zusammennehme  und 
zu  bezwingen  suche,  vermöge  er  in  den  letzten  Jahren  den  Coitus  nicht  mehr 
zu  leisten,  entbehre  vollkommen  der  Erection,  während  er  im  Umgang  mit 
männlichen  Geliebten  sehr  potent  sei. 

Der  nunmehr  9jährige  Knabe  dieser  unglücklichen  Eheleute  gedeiht. 

Patient  theilt  noch  mit,  dass  er  nur  mit  dem  Kunstgriff,  dass  er  sich 
einen  geliebten  Mann  dachte,  früher  beim  Coitus  mit  seiner  Frau  potent 
war.  (Aus  des  Verfassers  Lehrbuch  der  Psychiatrie,  2.  Auflage  mit  Ergän- 
zungen.) 

Beobachtung  111.  An  einem  Sommerabend  in  der  Dämmerung  wurde 
X.  Y.,  Dr.  med.,  in  einer  Stadt  Norddeutschlands,  von  einem  Flurwächter  betreten 
wie  er  auf  einem  Feldwege  mit  einem  Landstreicher  Unzucht  trieb,  indem  er 
denselben  masturbirte  und  darauf  mentulam  ejus  in  os  suum  immisit.  X.  ent- 
zog sich  gerichtlicher  Verfolgung  durch  die  Flucht.  Die  Staatsanwaltschaft 
stand  von  der  Klage  ab,  da  kein  öffentliches  Aergerniss  entstanden  war  und 
Immissio  membri  in  anum  nicht  stattgefunden  hatte.  Im  Besitze  des  X.  wurde 
eine  weit  verzweigte  urnische  Correspondenz  gefunden,  durch  welche  ein  seit 
Jahren  bestandener  reger  und  durch  alle  Schichten  der  Bevölkerung  sich  er- 
streckender urnischer  Verkehr  erwiesen  wurde. 

X.  stammt  aus  belasteter  Familie.  Vatersvater  endete  irrsinnig  durch 
Selbstmord.  Der  Vater  war  ein  schwächlicher,  eigenartiger  Mann.  Ein  Bruder 
des  Pat.  onanirte  schon  mit  2  Jahren.  Ein  Vetter  war  conträr  sexual,  beging 
dieselben  Unsittlichkeiten  wie  X.  schon  als  Jüngling,  wurde  geistig  schwach 
und  starb  an  einer  Rückenmarkskrankheit.  Ein  Grossonkel  väterlich  war 
Hermaphrodit.  Die  Schwester  der  Mutter  war  irrsinnig.  Mutter  gilt  als  gesund. 
Der  Bruder  des  X.  ist  nervös,  jähzornig. 

X.  selbst  war  ebenfalls  als  Kind  sehr  nervös.  Das  Miauen  einer  Katze 
versetzte  ihn  in  höchste  Furcht  und  wenn  man  nur  eine  Katzenstimme  nach- 
ahmte, weinte  er  bitterlich  und  klammerte  sich  ängstlich  an  die  Um- 
gebung an. 

Anlässlich  geringfügiger  Krankheiten  fieberte  er  heftig.  Er  war  ein 
stilles,  träumerisches  Kind,  von  reger  Phantasie,  aber  geringer  geistiger  Be- 
gabung. Knabenspiele  kultivirte  er  nicht.  Mit  Vorliebe  trieb  er  weibliche 
Beschäftigung.  Ein  besonderes  Vergnügen  machte  es  ihm,  die  Hausmagd  oder 
auch  den. Bruder  zu  frisiren. 

Mit  13  Jahren  kam  X.  in  ein  Institut.  Dort  trieb  er  mutuelle  Onanie, 
verführte  Kameraden,  machte  sich  durch  cynisches  Benehmen  unmöglich,  so 
dass  er  nach  Hause  genommen  werden  musste.  Schon  damals  fielen  den  Eltern 
Liebesbriefe  conträr  sexualen  und  höchst  lasciven  Inhalts  in  die  Hände.  Vom 
17.  Jahre  an  studirte   er  unter  der  strengen  Zucht  eines  Gymnasialprofessors. 


264  Paraesthesia  sexualis. 

Er  machte  leidliche  Fortschritte  im  Lernen.  Begabt  war  er  nur  für  Musik.  Nach 
absolvirten  Studien  kam  Pat.  19  Jahre  alt  auf  die  Universität.  Dort  fiel  er 
auf  durch  sein  cynisches  Wesen,  sein  Herumziehen  mit  jungen  Leuten,  von 
denen  man  bezüglich  mannmännlicher  Liebe  allerlei  munkelte.  Er  fing  an 
sich  zu  putzen,  liebte  auffallende  Cravatten,  trug  Hemden  mit  tiefem  Hals- 
ausschnitt, zwängte  seine  Füsse  in  enge  Stiefel  und  frisirte  sich  auffallend. 
Dieser  Hang  verlor  sich,  als  er  die  Hochschule  absolvirt  hatte  und  heim- 
gekehrt war. 

Im  24.  Jahre  war  er  eine  Zeit  lang  schwer  neurasthenisch.  Von  da  bis 
zum  29.  Jahr  schien  er  ernst,  zeigte  sich  im  Berufe  tüchtig,  mied  aber  die 
Gesellschaft  des  schönen  Geschlechts  und  trieb  sich  beständig  mit  Herren 
zweifelhaften  Rufes  herum. 

Zu  einer  persönlichen  Exploration  liess  sich  Pat.  nicht  herbei.  Er  ent- 
schuldigte dies  schriftlich  damit,  dass  er  eine  solche  für  aussichtslos  halte,  da 
der  Trieb  zum  eigenen  Geschlecht  seit  früher  Kindheit  bei  ihm  bestehe  und 
angeboren  sei.  Er  habe  von  jeher  Horror  feminae  gehabt,  niemals  es  über  sich 
gebracht,  die  Reize  eines  Weibes  zu  kosten.  Dem  Manne  gegenüber  fühle  er 
sich  in  männlicher  Rolle.  Er  erkennt  seinen  Trieb  zum  eigenen  Geschlecht 
als  abnorm  an,  entschuldigt  seine  sexuellen  Ausschreitungen  mit  seiner  krank- 
haften Naturanlage. 

X.  lebt  seit  seiner  Flucht  aus  Deutschland  im  Süden  Italiens,  und  wie 
ich  aus  einem  Briefe  desselben  entnehme,  huldigt  er  nach  wie  vor  der  urnischen 
Liebe.  X.  ist  ein  ernster,  stattlicher  Mann  von  durchaus  männlichen  Zügen, 
stark  bebartet,  mit  normal  entwickelten  Genitalien.  Dr.  X.  stellte  mir  vor 
Kurzem  seine  Autobiographie  zur  Verfügung,  aus  welcher  Folgendes  mitgetheilt 
zu  werden  verdient.  „Als  ich  mit  7  Jahren  in  eine  Privatschule  eintrat,  fühlte 
ich  mich  im  höchsten  Grade  unbehaglich  und  fand  bei  meinen  Mitschülern 
sehr  wenig  Entgegenkommen.  Nur  zu  einem  derselben,  der  ein  sehr  hübsches 
Kind  war,  fühlte  ich  mich  hingezogen  und  liebte  ich  ihn  fast  stürmisch.  In 
den  kindlichen  Spielen  wusste  ich  es  immer  so  einzurichten,  dass  ich  in 
Mädchenkleidern  erscheinen  konnte,  und  das  grösste  Vergnügen  war  für  mich, 
unseren  Dienstmädchen  recht  complicirte  Coiffüren  zu  machen.  Oft  bedauerte 
ich,  kein  Mädchen  zu  sein. 

Mein  Geschlechtstrieb  erwachte,  als  ich  13  Jahre  alt  war,  und  richtete 
sich  vom  Moment  seines  Entstehens  an  auf  jugendliche,  kräftige  Männer.  An- 
fangs war  ich  mir  eigentlich  gar  nicht  darüber  klar,  dass  dies  eine  Abnormität 
sei;  das  Bewusstsein  derselben  kam  aber,  als  ich  sah  und  hörte,  wie  meine 
Altersgenossen  in  geschlechtlicher  Beziehung  beschaffen  waren.  Ich  fing  mit 
13  Jahren  an  zu  onaniren.  Mit  17  Jahren  verliess  ich  das  Elternhaus  und 
besuchte  das  Gymnasium  einer  grösseren  Hauptstadt,  wo  ich  als  Pensionär  zu 
einem  verheiratheten  Gymnasiallehrer  gebracht  wurde,  mit  dessen  Sohn  ich  in 
der  Folge  geschlechtlichen  Umgang  hatte.  Es  war  dies  das  erste  Mal,  dass 
ich  geschlechtliche  Befriedigung  empfand.  Ich  lernte  in  der  Folge  dort  einen 
jungen  Künstler  kennen,  der  sehr  bald  merkte,  dass  ich  abnorm  geartet  war, 
und  der  mir  gestand,  dass  bei  ihm  dasselbe  der  Fall  sei.  Ich  erfuhr  durch 
denselben,  dass  diese  Abnormität  sehr  häufig  vorkomme,  und  diese  Mittheilung 
machte  meine,  mich  oft  tief  betrübende  Meinung,  ich  sei  allein  abnorm,  hin- 
fällig.    Dieser  junge  Mann   hatte   einen    ausgedehnten  Kreis  gleichartiger  Be- 


Homosexuale  oder  Urninge.  265 

kannter,  in  welchen  er  mich  einführte.  Dort  wurde  ich  der  Gegenstand  all- 
seitiger Aufmerksamkeit,  da  ich  körperlich,  wie  allseitig  behauptet  wurde,  sehr 
vielversprechend  war.  Ich  wurde  bald  von  einem  älteren  Herrn  abgöttisch 
geliebt,  fand  indessen  denselben  nicht  nach  meinem  Geschmack  und  erhörte 
ihn  nur  auf  kurze  Zeit,  um  dann  einem  jüngeren,  sehr  schönen  Offizier, 
der  mir  zu  Füssen  lag,  Gehör  zu  schenken.  Dieser  war  eigentlich  meine 
erste  Liebe. 

Nachdem  ich  mit  19  Jahren  das  Maturitätsexamen  absolvirt  hatte,  lernte 
ich,  vom  Zwang  der  Schule  befreit,  eine  grosse  Anzahl  von  mir  gleich-  oder 
ähnlichgearteten  Leuten  kennen,  darunter  Karl  Ulrichs  (Numa  Numantius). 

Als  ich  später  zum  Studium  der  Medicin  überging  und  mit  vielen 
normalgearteten  jungen  Leuten  verkehrte,  war  ich  öfters  in  der  Lage,  der 
Aufforderung,  zu  öffentlichen  Dirnen  zu  gehen,  Folge  leisten  zu  müssen.  Nach- 
dem ich  bei  verschiedenen  zum  Theil  sehr  schönen  Frauenzimmern  mich  gründ- 
lich blamirt  hatte,  verbreitete  sich  unter  meinen  Bekannten  die  Ansicht,  ich 
sei  impotent,  und  ich  gab  diesem  Gerede  durch  Erzählung  von  angeblichen 
ehemaligen  übertriebenen  Leistungen  bei  Frauenzimmern  Nahrung.  Ich  hatte 
damals  eine  Menge  auswärtiger  Beziehungen,  die  in  ihren  Kreisen  dermassen 
meine  Körperbeschaffenheit  priesen,  dass  ich  weithin  für  eine  hervorragende 
Schönheit  galt.  Dies  hatte  zur  Folge,  dass  alle  Augenblicke  Jemand  zu- 
gereist kam  und  mir  eine  solche  Menge  von  Liebesbriefen  zugingen ,  dass 
ich  dadurch  öfters  in  Verlegenheit  gerieth.  Den  Höhepunkt  erreichte  diese 
Situation,  als  ich  später,  als  einjähriger  Arzt,  im  Lazareth  wohnte.  Dort 
ging  es  aus  und  ein  wie  bei  einer  gefeierten  Persönlichkeit,  und  die  Eifer- 
suchtsscenen ,  die  sich  um  meinetwillen  dort  abspielten,  hätten  fast  zur  Ent- 
deckung der  ganzen  Geschichte  geführt.  Kurz  nachher  erkrankte  ich  an  einer 
Schultergelenksentzündung,  von  der  ich  erst  nach  drei  Monaten  genas.  Im 
Verlauf  derselben  hatte  ich  mehrmals  täglich  subcutane  Morphiuminjectionen 
erhalten,  die  mir  plötzlich  entzogen  wurden  und  welche  ich  im  Geheimen  nach 
meiner  Genesung  fortsetzte.  Zum  Zwecke  specieller  Studien  hielt  ich  mich 
vor  meinem  Eintritt  in  die  selbständige  Praxis  einige  Monate  in  Wien  auf, 
wo  ich  durch  einige  Empfehlungen  in  verschiedenen  Kreisen  von  mir  Gleich- 
gearteten Zutritt  hatte.  Ich  machte  dort  die  Beobachtung,  dass  die  in  Frage 
stehende  Abnormität  in  ihren  sehr  verschiedenen  Arten  in  den  unteren  Volks- 
schichten ebenso  verbreitet  ist,  wie  in  den  höheren,  sowie  dass  Diejenigen, 
welche  gewerbsmässig,  gegen  Bezahlung  zugänglich  sind,  auch  in  den  höheren 
Klassen  nicht  selten  getroffen  werden. 

Als  ich  als  Arzt  auf  dem  Lande  mich  ansässig  machte,  hoffte  ich,  ver- 
mittelst des  Cocains  das  Morphium  los  werden  zu  können,  und  verfiel  so  dem 
Cocainismus,  der  sich  bei  mir  erst  nach  drei  Recidiven  dauernd  beseitigen  Hess 
(vor  l3/*  Jahren).  In  meiner  Stellung  war  es  mir  unmöglich,  geschlechtliche 
Befriedigung  zu  finden,  und  ich  nahm  deshalb  mit  Vergnügen  wahr,  dass  der 
Cocaingebrauch  das  Erlöschen  der  Begierden  zur  Folge  hatte.  Als  ich  das 
erste  Mal  unter  der  energischen  Pflege  meiner  Tante  vom  Cocainismus  befreit 
war,  verreiste  ich  auf  einige  Wochen,  um  mich  zu  erholen.  Die  perversen 
Begierden  waren  wieder  in  ihrer  ganzen  Stärke  erwacht,  und  als  ich  eines 
Abends  mit  einem  Manne  im  Freien  vor  der  Stadt  mich  amüsirt  hatte,  wurde 
mir  Tags  darauf  vom  Staatsanwalt  eröffnet,  dass  ich  beobachtet  und  zur  Anzeige 


266       .  Paraesthesia  sexualis. 

gebracht  worden  sei,  dass  aber  die  mir  zur  Last  gelegte  Handlung  nicht  strafbar 
sei,  gemäss  eines  Beschlusses  des  obersten  Gerichtshofes  im  Deutschen  Reiche. 
Ich  solle  indess  mich  in  Acht  nehmen,  da  bereits  die  Mittheilung  von  dem 
Vorfall  in  weiteste  Kreise  gedrungen  sei.  Ich  sah  mich  genöthigt,  Deutschland 
nach  diesem  Ereigniss  zu  verlassen  und  eine  neue  Heimath  dort  zu  suchen, 
wo  weder  das  Gesetz  noch  die  öffentliche  Meinung  Dem  entgegen  stehen,  was, 
wie  wohl  alle  abnormen  Triebe,  von  der  Willenskraft  nicht  unterdrückt  werden 
kann.  Da  ich  keinen  Augenblick  darüber  im  Unklaren  war,  dass  meine  Nei- 
gungen zu  den  socialen  Anschauungen  im  Gegensatz  stehen,  so  versuchte  ich 
wiederholt,  derselben  Herr  zu  werden,  indessen  steigerte  ich  dieselben  nur 
hierdurch,  und  die  gleiche  Beobachtung  wurde  mir  von  Bekannten  mitgetheilt. 
Da  ich  mich  ausschliesslich  zu  kräftigen,  jugendlichen  und  vollständig  männ- 
lichen Individuen  hingezogen  fühlte,  solche  aber  nur  in  den  seltensten  Fällen 
meinen  Wünschen  geneigt  sich  zeigten,  so  war  ich  oft  darauf  angewiesen,  mir 
dieselben  zu  erkaufen.  Da  indess  meine  Wünsche  sich  auf  Personen  der  nie- 
deren Klasse  beschränken,  so  fand  ich  stets  solche,  die  für  Geld  zu  haben 
waren.  Ich  hoffe,  dass  die  nun  folgenden  Eröffnungen  Ihren  Unwillen  nicht 
wachrufen,  ich  wollte  dieselben  ursprünglich  unterlassen,  allein  der  Vollständig- 
keit dieser  Mittheilungen  halber  muss  ich  sie  beifügen,  da  sie  dazu  dienen 
dürften,  die  Casuistik  zu  bereichern.  Ich  habe  das  Bedürfniss,  den  sexuellen 
Akt  folgendermassen  zu  vollziehen: 

Pene  iuvenis  in  os  recepto,  ita  ut  commovendo  ore  meo  effecerim,  ut 
is  quem  cupio,  semen  eiaculaverit,  sperma  in  perinaeum  exspuo,  femora  com- 
primi  jubeo  et  penem  meum  adversus  et  intra  femora  compressa  immitto.  Dum 
haec  fiunt,  necesse  est,  ut  iuvenis  me,  quantum  potest,  amplectatur.  Quae 
prius  me  fecisse  narravi,  eandem  mihi  afferunt  voluptatem,  acsi  ipse  ejaculo. 
Ejaculationem  pene  in  anum  immittendo  vel  manu  terendo  assequi,  mihi 
nequaquam  amoenum  est. 

Sed  inveni,  qui  penem  meum  receperint  atque  ea  facientes  quae  suj>ra 
exposui,  effecerint,  ut  libidines  meae  plane  sint  saturatae. 

Bezüglich  meiner  Person  muss  ich  noch  Folgendes  erwähnen:  Ich  bin 
186  cm  hoch,  von  vollständig  männlichem  Habitus,  und,  abgesehen  von  einer 
abnormen  Reizbarkeit  der  Haut,  gesund.  Ich  habe  sehr  dichtes  blondes  Kopf- 
haar, ebensolchen  Bartwuchs.  Meine  Geschlechtstheile  sind  von  mittlerer  Stärke 
und  normal  gebaut.  Ich  bin  im  Stande,  ohne  Ermüdung  zu  spüren,  4— 6mal 
innerhalb  24  Stunden  den  geschilderten  geschlechtlichen  Akt  zu  vollziehen. 
Meine  Lebensweise  ist  sehr  regelmässig.  Alkohol  und  Tabak  geniesse  ich 
sehr  massig.  Ich  spiele  ziemlich  gut  Klavier  und  einige  kleine  Kompositionen 
von  mir  haben  viel  Beifall  gefunden.  Vor  Kurzem  habe  ich  einen  Roman  be- 
endigt, der,  als  Erstlingswerk,  günstig  in  meinen  Kreisen  beurtheilt  wird.  Der- 
selbe hat  mehrere  Probleme  aus  dem  Leben  der  Conträrsexualen  zum  Gegenstand. 

Bei  der  grossen  Anzahl  der  mir  persönlich  bekannten  Leidensgenossen 
war  ich  natürlich  oft  in  der  Lage,  Betrachtungen  über  die  verschiedenen  Arten 
von  Abnormitäten  anzustellen,  vielleicht  ist  Ihnen  mit  den  nachfolgenden  Mit- 
theilungen gedient. 

Das  Abnormste,  was  ich  kennen  lernte,  war  die  Gepflogenheit  eines  Herrn 
aus  der  Umgebung  von  Berlin.  Is  iuvenes  sordidos  pedes  habentes  aliis  prae- 
fert,  pedes  eorum  quasi  furibundus  lambit.    Diesem  ganz  ähnlich  verhält  sich 


Homosexuale  oder  Urninge.  267 

ein  Herr  in  Leipzig,  qui  linguain  in  anum  coeno  iniquatum,  quod  ei  gratis- 
simum  est,  immittere  narratur.  In  Paris  existirt  ein  Herr,  welcher  einen 
meiner  Freunde  nöthigte  ut  in  os  ei  mingat.  Verschiedene  sollen,  wie  mit- 
bestimmt versichert  wird,  durch  den  Anblick  von  Reiterstiefeln,  von  militäri- 
schen Uniformstücken  in  solche  Ekstase  gerathen,  dass  bei  ihnen  spontane 
Samenergüsse  erfolgen. 

Bis  zu  welchem  Grade  Manche  sich  als  Weib  fühlen,  was  bei  mir  nicht 
der  Fall  ist,  davon  geben  besonders  in  Wien  zwei  Persönlichkeiten  ein  Beispiel. 
Dieselben  führen  weibliche  Namen;  die  eine  ist  ein  Friseur,  der  sich  die  „fran- 
zösische Laura"  nennt,  die  andere  ist  ein  ehemaliger  Metzger,  der  die 
„ Selcher-Fanny "  heisst.  Beide  versäumen  im  Fasching  keine  Gelegenheit,  um 
als  weibliche,  stets  sehr  outrirte  Masken  sich  zu  zeigen.  In  Hamburg  existirt 
eine  Persönlichkeit,  von  welcher  manche  Leute  glauben,  dass  sie  ein  Weib  sei, 
weil  sie  in  ihrer  Wohnung  stets  weiblich  gekleidet  geht,  nur  hie  und  da  das 
Haus,  und  zwar  in  ebensolcher  Kleidung,  verlässt.  Dieser  Herr  wollte  sich 
sogar  bei  einer  Taufe  als  Pathin  ausgeben  und  erregte  hierdurch  einen  riesigen 
Skandal. 

Weibliche  Untugenden,  Klatschsucht,  Unzuverlässigkeit ,  Charakter- 
schwäche sind  bei  derartigen  Individuen  Regel. 

Es  sind  mir  mehrere  Fälle  von  perverser  Geschlechtsrichtung  bekannt, 
bei  welchen  Epilepsie  und  Psychosen  vorhanden  sind;  auffallend  oft  bestehen 
Hernien.  In  der  Praxis  wendeten  sich,  da  ich  von  Freunden  empfohlen  wurde, 
mehrere  Personen  mit  Erkrankungen  des  Anus  an  mich.  Ich  sah  zwei  syphi- 
litische und  einen  localen  Schanker,  mehrere  Fissuren  und  behandle  gegen- 
wärtig einen  Herrn  mit  spitzen  Condylomen  am  Anus,  welche  eine  fast  faust- 
grosse,  blumenkohlförmige  Geschwulst  bilden.  Einen  Fall  von  primärer  Affection 
des  weichen  Gaumens  sah  ich  in  Wien  bei  einem  jungen  Mann,  der  als  Frauen- 
zimmer verkleidet  Maskenbälle  besuchte  und  dort  junge  Männer  abseits  lockte. 
Er  gab  dann  vor,  die  Periode  zu  haben,  und  brachte  es  so  zu  Wege,  dass  die 
Anderen  ihn  per  os  benutzten.  Er  soll  auf  diese  Weise  einmal  14  Leute  ge- 
ködert haben  an  ein  und  demselben  Abend.  Da  ich  in  keiner  der  mir  zu 
Gesicht  gekommenen,  auf  conträren  Sexualismus  bezüglichen  Veröffentlichungen 
über  den  Verkehr  der  Päderasten  unter  einander  etwas  fand ,  so  möchte  ich 
Ihnen  zum  Schluss  hierüber  noch  Einiges  mittheilen. 

Sobald  Conträrsexualisten  mit  einander  bekannt  werden,  findet  ein  aus- 
führlicher Austausch  ihrer  bisherigen  Erlebnisse,  Liebschaften  und  Eroberungen 
statt,  soweit  eine  solche  Unterhaltung  durch  die  gesellschaftlichen  Unterschiede 
beider  nicht  ausgeschlossen  ist.  Nur  in  ganz  wenigen  Fällen  unterblieb  diese 
Unterhaltung  mit  neuen  Bekannten.  Unter  einander  bezeichnen  sich  die  Con- 
trärsexualisten als  „Tanten",  in  Wien  als  „Schwestern",  und  zwei  sehr  männlich 
aussehende  Wiener  öffentliche  Dirnen,  die  ich  zufällig  kennen  lernte  und  die 
zu  einander  in  conträrsexualer  Beziehung  standen,  erzählten  mir,  dass  für  die 
entsprechende  Erscheinung  bei  Weibern  der  Name  „Onkel"  gebräuchlich  ist. 
Ich  bin,  seit  ich  mir  meines  abnormen  Triebes  bewusst  bin,  mit  weit  über 
tausend  Gleichgearteten  in  Berührung  getreten.  Fast  jede  grössere  Stadt  besitzt 
irgend  einen  Versammlungsort,  sowie  einen  sogenannten  Strich.  In  kleineren 
Städten  finden  sich  verhältnissmässig  wenige  „Tanten",  doch  fand  ich  in  einem 
Städtchen  von  2300  Einwohnern  acht,  in  einem  von  7000  Einwohnern  18,  von 


2(j8  Paraesthesia  sexualis. 

denen  ich  es  ganz  sicher  wusste,  ganz  abgesehen  von  denen,  die  ich  im  Ver- 
dacht hatte.  In  meiner  Vaterstadt  von  etwa  30  000  Einwohnern  sind  mir  etwa 
120  »Tanten"  persönlich  bekannt.  Die  meisten,  ich  speziell  in  höchstem  Grade, 
besitzen  die  Fähigkeit,  sofort  einen  Anderen  zu  beurtheilen,  ob  er  gleichartig 
ist  oder  nicht,  wie  es  in  der  „ Tantensprache "  heisst,  „vernünftig  oder  unver- 
nünftig". Meine  Bekannten  erstaunten  oft  darüber,  wie  gross  die  Sicherheit 
meines  Blickes  hierfür  ist.  Scheinbar  ganz  männlich  organisirte  Individuen 
erkannte  ich  auf  den  ersten  Blick  als  „ Tanten".  Andererseits  besitze  ich  die 
Fähigkeit,  dermassen  männlich  mich  zu  benehmen,  dass  in  Kreisen,  in  welchen 
ich  durch  Bekannte  empfohlen  war,  schon  Zweifel  an  meiner  „Echtheit"  laut 
wurden.  Wenn  ich  in  der  Laune  dazu  bin,  kann  ich  mich  vollständig  wie  ein 
Frauenzimmer  benehmen. 

Da  die  meisten  „Tanten",  auch  ich,  ihre  Abnormität  keineswegs  als 
Unglück  empfinden,  sondern  bedauern  würden,  wenn  dieser  Zustand  sich  ändern 
würde,  da  ferner  der  angeborene  Zustand  nach  meiner  und  aller  Anderen 
Ueberzeugung  nicht  beeinflussbar  ist,  so  geht  unser  ganzes  Hoffen  darauf  hin, 
dass  es  zu  einer  Abänderung  der  bezüglichen  Strafgesetzparagraphen  kommen 
möge,  in  dem  Sinne,  dass  nur  Nothzucht  oder  Erregung  öffentlichen  Aerger- 
nisses,  wenn  diese  gleichzeitig  zu  constatiren  sind,  als  straffällig  erachtet 
werden  sollen. 


3)  Effeminatio. 

Zu  dieser  Stufe  finden  sich  mehrfache  Ueberg'änge  aus  -  der 
vorigen,  charakterisirt  durch  das  Mass,  in  welchem  die  psychische 
Persönlichkeit,  speciell  ihre  gesammte  Gefühlsweise  und  ihre  Nei- 
gungen, von  der  abnormen  geschlechtlichen  Empfindungsweise  be- 
einflusst  sind.  Ausgebildete  männliche  Fälle  der  3.  Gruppe  fühlen 
sich  weiblich  dem  Manne  gegenüber.  Diese  Abnormität  in  der 
Gefühlsweise  und  in  der  charakterologischen  Entwicklung  zeigt  sich 
vielfach  schon  in  den  Kinderjahren.  Der  Knabe  liebt  es,  in  Ge- 
sellschaft kleiner  Mädchen  zu  verweilen,  mit  Puppen  zu  spielen,  der 
Mama  in  der  Besorgung  der  Hausgeschäfte  zu  helfen ;  er  schwärmt 
für  Kochen,  Nähen,  Sticken,  entwickelt  Geschmack  in  der  Auswahl 
von  weiblichen  Toiletten,  so  dass  er  sogar  darin  der  Rathgeber 
seiner  Schwestern  werden  kann.  Herangewachsen  verschmäht  er 
Rauchen,  Trinken,  männlichen  Sport,  findet  dagegen  Gefallen  an 
Putz,  Schmuck,  Kunst,  Belletristik  u.  s.  w.,  bis  zur  Schöngeisterei. 
Insofern  das  Weib  derartige  Richtungen  vertritt,  zieht  er  es  vor, 
in  Damengesellschaft  zu  verkehren. 

Kann  er  bei  einer  Maskerade  in  weiblicher  Rolle  erscheinen, 
so  ist  dies  seine  höchste  Lust.  Dem  Geliebten  sucht  er  zu  gefallen, 
indem   er   so   zu  sagen  instinktiv  das  zu  bieten  anstrebt,   was  dem 


Effeminatio.  269 

weibliebenden  Manne  am  anderen  Geschlecht  gefällt  —  Züchtigkeit, 
Anmuth,  Sinn  für  Aesthetik,  Poesie  u.  s.  w.  Vielfach  zeigen  sich 
auch  Bestrebungen,  in  Gang,  Haltung,  Zuschnitt  der  Kleider  sich 
der  weiblichen  Erscheinung  zu  nähern. 

Was  die  sexuellen  Gefühle  und  Triebe  dieser  auch  im  ganzen 
psychischen  Wesen  mitbetroffenen  Urninge  betrifft,  so  fühlen  sie 
sich  ausnahmslos  in  weiblicher  Rolle  dem  Mann  gegenüber.  Sie 
fühlen  sich  demgemäss  abgestossen  von  gleichgearteten  Personen 
des  eigenen  Geschlechts,  da  diese  ja  ihre  Concurrenten  sind,  da- 
gegen hingezogen  zu  einfach  Homosexualen  oder  sexuell  Normalen 
ihres  eigenen  Geschlechts.  Dieselbe  Eifersucht,  welche  im  normalen 
sexuellen  Leben  vorkommt,  findet  sich  auch  hier,  wenn  ihrer  Liebe 
Concurrenz  droht,  ja,  da  sie  sexuell  meist  hyperästhetisch  sind,  ist 
diese  Eifersucht  oft  eine  grenzenlose. 

Bei  vollkommen  entwickelter  conträrer  Sexualität  erscheint 
heterosexuale  Liebe  als  eine  ganz  unverständliche  Sache,  ein  sexueller 
Verkehr  mit  einer  Person  des  anderen  Geschlechts  undenkbar,  un- 
möglich. Ein  bezüglicher  Versuch  scheitert  an  der  eine  Erection 
unmöglich  machenden  Hemmungsvorstellung  des  Ekels,  selbst 
Grausens.  Nur  2  Uebergangsfälle  zur  3.  Kategorie  aus  meiner 
Casuistik  vermochten  unter  Zuhülfenahme  ihrer  Phantasie,  indem 
sie  sich  das  betreffende  Weib  als  Mann  dachten,  zeitweise  zu  coha- 
bitiren,  aber  der  für  sie  inadäquate  Akt  war  ihnen  ein  grosses 
Opfer  und  ohne  jeglichen  Genuss. 

Im  homosexualen  Verkehr  fühlt  sich  der  Effeminirte  beim 
Akt  immer  als  Weib.  Die  Praktiken  desselben  sind  bei  reizbarer 
Schwäche  des  Ejaculationscentrums  einfach  Succubus  oder  Coitus 
passiv  inter  femora,  andernfalls  passive  Masturbation  oder  ejaculatio 
viri  dilecti  in  ore.  Manche  sehnen  sich  nach  passiver  Päderastie. 
Gelegentlich  kommt  Wunsch  nach  aktiver  vor.  In  einem  bezüg- 
lichen Versuche  stand  der  Betreffende  davon  ab,  weil  ihn  Ekel  bei 
dem  ihn  an  Coitus  erinnernden  Akt  erfasste. 

Nie  bestand  Inclination  zu  unreifen  Personen 
(Knabenliebe!).  In  nicht  seltenen  Fällen  blieb  es  bei  platonischen 
Neigungen. 

Beobachtung  112.  Autobiographie.  Nachstehend  erhalten  Sie  die 
Schilderung  des  Charakters,  sowie  des  seelischen  und  geschlechtlichen  Em- 
pfindens eines  Urnings,  d.  h.  eines  Individuums,  welches  trotz  seines  männlichen 
Körperbaues  durchaus  weiblich  fühlt,  dessen  Sinne  die  Weiber  nicht  im  Min- 
desten erregen  und  dessen  sexuelles  Sehnen  sich  stets  auf  Männer  richtet. 


270  Paraesthesia  sexualis. 

Von  der  Ueberzeugung  durchdrungen,  dass  das  Räthsel  unseres  Daseins 
nur  durch  vorurtheilslos  denkende  Männer  der  Wissenschaft  gelöst  oder  min- 
destens beleuchtet  werden  kann,  schildere  ich  meinen  Lebenslauf  einzig  und 
allein  in  der  Absicht,  hierdurch  vielleicht  etwas  zur  Erhellung  dieses  grau- 
samen Irrthums  der  Natur  beizutragen  und  so  möglicher  Weise  meinen  Schick- 
salsgenossen späterer  Generation  von  Nutzen  sein  zu  können;  denn  Urninge 
wird  es  geben,  so  lange  Menschen  geboren  werden,  gleichwie  es  eine  unfehl- 
bare Thatsache  ist,  dass  solche  in  jedem  Zeitalter  existirten.  Doch  mit  dem 
Vorschreiten  der  wissenschaftlichen  Bildung  unserer  Epoche  wird  man  in  mir 
und  meinesgleichen  nicht  Hassenswerthe,  sondern  Bedauernswürdige  erblicken, 
die  nie  die  Verachtung,  sondern  weit  eher  das  höchste  Mitleid  ihrer  glück- 
lichen Nebenmenschen  verdienen.  Ich  werde  mich  in  meinen  Mittheilungen 
der  möglichsten  Kürze,  sowie  der  strengsten  Objectivität  befleissigen  und 
bemerke  bezüglich  meines  drastischen,  oft  sogar  cynischen  Styls,  dass  ich 
vor  allem  wahr  sein  will,  daher  starken  Ausdrücken  nicht  aus  dem  Wege 
gehe,  weil  diese  den  von  mir  erörterten  Gegenstand  am  treffendsten  cha- 
rakterisiren. 

Ich  bin  34 V«  Jahre  alt,  Kaufmann  mit  massigem  Einkommen,  etwas 
über  Mittelgrösse,  mager,  habe  keine  starken  Muskeln,  ein  vollbärtiges,  ganz 
gewöhnliches  Dutzendgesicht  und  unterscheide  mich  auf  den  ersten  Anblick 
in  nichts  von  wirklichen  Männern.  Dagegen  ist  der  Gang  weibisch,  nament- 
lich bei  raschem  Gehen  tänzelnd,  die  Bewegungen  eckig  und  ungefällig,  jeg- 
licher männlichen  Anmuth  entbehrend.  Das  Sprachorgan  ist  weder  weibisch 
noch  schrill,  eher  von  barytonaler  Klangfarbe. 

Dies  mein  äusserer  Habitus. 

Ich  rauche  und  trinke  nicht,  kann  weder  pfeifen,  reiten,  turnen,  fechten 
noch  schiessen,  interessire  mich  gar  nicht  für  Pferde  oder  Hunde  und  habe 
nie  ein  Gewehr  oder  einen  Säbel  in  der  Hand  gehabt.  Im  inneren  Empfinden 
und  geschlechtlichen  Verlangen  bin  ich  vollständig  Weib.  Ohne  jede  tiefere 
Bildung  —  ich  absolvirte  bloss  fünf  Gymnasialklassen  —  bin  ich  gleichwohl 
intelligent,  lese  gern  gut  geschriebene,  gediegene  Bücher,  verfüge  über  gesundes 
Urtheil,  lasse  mich  aber  stets  von  der  momentanen  Stimmung  fortreissen  und 
bin  von  Jedem,  der  meine  Schwächen  kennt  und  sie  auszunützen  versteht,  leicht 
zu  behandeln  oder  zu  capacitiren.  Stets  Entschlüsse  fassend,  finde  ich  nie  die 
Energie,  diese  auszuführen,  bin  nach  Weiberart  launenhaft  und  nervös,  oftmals 
ohne  jeden  Grund  gereizt ,  zuweilen  boshaft  und  Personen  gegenüber,  die  mir 
nicht  zu  Gesichte  stehen,  oder  denen  ich  etwas  nachtrage,  arrogant,  ungerecht, 
oft  sogar  in  unverschämter  Weise  verletzend. 

In  meinem  ganzen  Thun  und  Lassen  bin  ich  oberflächlich,  oft  leicht- 
fertig, kenne  kein  tieferes  sittliches  Gefühl,  hege  wenig  Zärtlichkeit  für  Eltern 
und  Geschwister,  bin  nicht  egoistisch,  bei  Gelegenheit  aufopferungsfähig,  kann 
Thränen  nie  widerstehen  und  bin  durch  liebenswürdiges  Entgegenkommen  oder 
inniges  herzliches  Bitten  —  nach  Weiberart  —  für  Alles  zu  gewinnen. 

Schon  in  meinen  früheren  Lebensjahren  zog  ich  mich  von  den  Kriegs- 
spielen, Turnübungen  oder  Raufereien  meiner  männlichen  Altersgenossen  zurück, 
trieb  mich  stets  mit  kleinen  Mädchen  herum,  mit  denen  ich  viel  besser  als 
mit  Knaben  sympathisirte,  war  schüchtern,  verlegen  und  oft  erröthend.  Be- 
reits mit    12 — 13    Jahren   verursachte    mir   die    straffsitzende   Uniform   eines 


Effeminatio.  271 

hübschen  Soldaten  die  sonderbarsten  Beklemmungen;  und  während  in  den 
nächsten  Jahren  meine  Schulgenossen  stets  von  Mädchen  plauderten,  wohl 
auch  schon  kleine  Liebeleien  begannen,  war  ich  im  Stande,  einem  kraftvoll 
gebauten  Manne  mit  gut  entwickelten,  üppigen  Posteriora  Stunden  lang  nach- 
zugehen und  mich  an  diesem  Anblick  zu  berauschen. 

Ohne  über  diese  —  von  den  Empfindungen  meiner  Kameraden  so  sehr 
verschiedenen  —  Eindrücke  viel  nachzudenken,  begann  ich  zu  onaniren,  dabei 
stets  an  heldenhaft  gebaute,  fesche  Gestalten  denkend,  bis  ich  in  meinem 
17.  Jahre  von  einem  Schicksalsgenossen  über  meinen  wahren  Zustand  aufge- 
klärt wurde.  Seit  damals  habe  ich  wohl  8 — lOmal  mit  Mädchen  zu  thun 
gehabt,  musste  jedoch,  um  die  Erection  hervorzurufen,  stets  an  ein  mir  be- 
kanntes schönes  männliches  Individuum  denken,  und  hin  der  festen  Ueber- 
zeugung,  dass  ich  heute,  selbst  mit  Zuhilfenahme  meiner  Phantasie,  nicht  im 
Stande  wäre,  ein  Mädchen  zu  gebrauchen.  Kurz  nach  meiner  Entdeckung  ver- 
kehrte ich  am  liebsten  mit  bejahrten,  kräftigen  Urningen,  da  ich  zu  jener  Zeit 
weder  Verstand  noch  Gelegenheit  hatte,  mit  wirklichen  Männern  umzugehen. 
Seither  hat  sich  jedoch  mein  Geschmack  vollständig  geändert,  und  nur  Männer, 
wirkliche  Männer,  im  Alter  von  25 — 35  Jahren,  mit  elastischen,  kräftigen 
Formen  sind  es,  die  meine  Sinne  aufs  Höchste  erregen  und  deren  Reize  mich 
ganz  so  entzücken,  als  wäre  ich  ein  wirkliches  Weib.  Die  Verhältnisse  liegen 
hier  derart,  dass  ich  mir  im  Laufe  der  Jahre  etwa  ein  Dutzend  Männer- 
bekanntschaften acquiriren  konnte,  die  gegen  ein  Honorar  von  1 — 2  Gulden 
per  Besuch  meinen  Zwecken  dienen.  —  Bin  ich  mit  so  einem  schmucken  Jungen 
im  versperrten  Zimmer  allein,  gewährt  es  mir  vor  Allem  das  grösste  Vergnügen, 
membrum  ejus  vel  maxime  si  magnum  atque  crassum  est,  manibus  capere  et 
apprehendere  et  premere,  turgentes  nates  femoraque  tangere  atque  totum 
corpus  manibus  contrectare  et,  si  conceditur,  os  faciem  atque  totum  corpus, 
immovero  nates,  ardentibus  osculis  obtegere.  Quodsi  membrum  magnum  pu- 
rumque  est,  dominusque  ejus  mihi  placet,  ardente  libidine  mentulam  ejus  in 
os  meum  receptam  complures  horas  sugere  possum,  neque  autem  delec- 
tor,  si  semen  in  os  meum  ejaculatur,  cum  maxima  eorum  qui  „Urninge" 
nominantur  pars  hac  re  non  modo  delectatur,  sed  etiam  semen  nonnunquam 
devorat. 

Die  intensivste  Wollust  jedoch  empfinde  ich,  wenn  ich  auf  einen  derart 
dressirten  wirklichen  Mann  treffe,  qui  membrum  meum  in  os  recipit  et  erec- 
tionem  in  ore  suo  concedit. 

So  unwahrscheinlich  es  klingt,  so  finde  ich  dennoch  immer  einige  fesche 
Kerle,  die  sich  für  ein  Douceur  hierzu  brauchen  lassen.  Diese  lernen  die  Ge- 
schichte gewöhnlich  beim  Militär  kennen,  da  die  Urninge  wissen,  dass  man 
dort  für  Geld  am  willfährigsten  ist,  und  wenn  der  Bursche  einmal  dressirt  ist, 
wird  er  manchmal  durch  Umstände  veranlasst,  die  Sache  trotz  seiner  Leiden- 
schaft fürs  weibliche  Geschlecht  auch  weiter  mitzumachen. 

Urninge  lassen  mich  mit  einzelnen  Ausnahmen  kalt,  weil  mich  alles 
Weibische  in  höchstem  Grade  abstösst.  Dennoch  gibt  es  unter  ihnen  einige, 
die  mich  ganz  so  entzücken  können  wie  ein  wirklicher  Mann  und  mit  denen 
ich  aus  dem  Grunde  noch  lieber  verkehre,  weil  sie  zuweilen  meine  glühenden 
Liebkosungen  ebenso  leidenschaftlich  erwidern.  Im  tete-ä-tete  mit  einem  der- 
artigen Individuum  legte  ich  meinen  erregten  Sinnen  keine  Fesseln  an,  gestatte 


272  Paraesthesia  sexualis. 

meinen  thierischen  Instinkten  freies  Austoben:  osculor,  prenio,  amplector  eum 
linguam  meam  in  os  ejus  immitto;  ore  cupiditate  tremente  ejus  labrum  superius 
sugo,  faciem  meam  ad  ejus  nates  adpono  et  odore  voluptari  e  natibus  emanente 
voluptate  obstupescor.  Wirkliche  Männer  in  stramm  sitzender  Uniform  machen 
den  grössten  Eindruck  auf  mich,  und  habe  ich  Gelegenheit,  einen  solchen 
Prachtkerl  zu  umarmen  und  zu  küssen,  zieht  dies  bei  mir  die  sofortige  Eja- 
culation  nach  sich,  was  ich  namentlich  meinem  häufigen  Onaniren  zuschreibe. 
Denn  dies  that  ich  hauptsächlich  in  früheren  Jahren  sehr  oft,  fast  jedesmal, 
wenn  ich  einen  mir  gefallenden  festen  Kerl  sah,  dessen  Bild  mir  dann  während 
des  Onanirens  vor  Augen  schwebte.  Dabei  ist  mein  Geschmack  keineswegs 
difficil,  etwa  wie  derjenige  eines  Dienstmädchens,  das  sich  in  einem  strammen 
Dragonerwachtmeister  ihr  Ideal  erträumt.  Schönes  Gesicht  ist  wohl  eine  an- 
genehme Beigabe,  zum  Entflammen  meiner  sinnlichen  Gefühle  jedoch  keines- 
wegs unerlässlich,  die  Hauptsache  aber  bleibt:  vir  inferiore  corporis  parte 
robusta  et  bene  formosa ,  turgidis  femoribus  durisque  natibus ,  während  der 
Oberkörper  schlank  sein  kann.  Ein  starker  Bauch  disgustirt  mich,  sinn- 
licher Mund  mit  frischen  Zähnen  regt  mich  aufs  Prickelndste  an,  und  hat  ein 
solches  Individuum  ausserdem  ein  membrum  pulchrum  magnum  et  aequaliter 
formatum,  so  sind  alle  meine  —  auch  weitestgehenden  —  Ansprüche  vollauf 
befriedigt. 

Bei  mir  gefallenden,  mich  leidenschaftlich  erregenden  Männern  erfolgte 
die  Ejaculation  in  früheren  Jahren  5 — 8mal  während  einer  Nacht,  auch  jetzt 
noch  4 — 6mal,  da  ich  ungewöhnlich  geil  und  sinnlich  veranlagt  bin,  und  mich 
beispielsweise  schon  das  Säbelklirren  eines  flotten  Husaren  erregen  kann.  Da- 
bei besitze  ich  eine  sehr  lebhafte  Phantasie,  denke  fast  in  allen  unbeschäftigten 
Stunden  an  schöne  Männer  mit  starken  Gliedern  und  würde  mit  Entzücken 
zuschauen  wenn  ein  von  Kraft  strotzender  fester  Kerl  magna  mentula  prae- 
ditus  me  praesente  puellam  futuat;  mihi  persuasum  est,  fore  ut  hoc  aspectu 
sensus  mei  vehementissima  perturbatione  afficiantur  et  dum  futuit  corpus 
adolescentis  pulchri  tangam  et,  si  liceat,  ascendam  in  eum  dum  cum  puella 
concumbit  atque  idem  cum  eo  faciam  et  membrum  meum  in  eius  anum  im- 
mittam.  An  der  Ausführung  dieser  cynischen  Pläne  —  von  denen  meine  Ge- 
danken sehr  oft  erfüllt  sind  —  hindern  mich  derzeit  nur  meine  beschränkten 
finanziellen  Mittel,  sonst  hätte  ich  diese  längst  verwirklicht. 

Militär  übt  den  grössten  Zauber  auf  mich  aus,  doch  habe  ich  ausser- 
dem ein  besonderes  Faible  für  Fleischhauer,  Fiaker,  Fuhrwerkleute,  Circus- 
reiter  und  Schiffscapitäns,  doch  müssen  diese  alle  elastisch  und  kraftvoll  ge- 
baut sein.  Urninge  sind  mir  für  intimen  Freundschaftsverkehr  verhasst,  wie 
ich  gegen  den  grössten  Theil  derselben  eine  mir  unerklärliche,  ganz  ungerecht- 
fertigte Aversion  hege.  Auch  habe  ich  mit  einer  einzigen  Ausnahme  nie  zu 
einem  Urning  in  ganz  innigem  Freundschaftsverhältniss  gestanden.  Dagegen 
knüpfen  mich  die  herzlichsten  langjährigen  Beziehungen  an  einige  gleichartige 
Männer,  in  deren  Gesellschaft  ich  mich  sehr  wohl  fühle,  mit  denen  ich  aber 
geschlechtlich  nie  verkehrte  und  die  von  meinem  Zustand  keine  Ahnung  haben. 

Gespräche  über  Politik,  Volkswirthschaft,  wie  überhaupt  jede  Erörterung 
eines  ernsten  Themas  sind  mir  verhasst,  dagegen  schwatze  ich  mit  ziemlichem 
Verständniss  und  besonderer  Vorliebe  übers  Theater.  In  Opern  sehe  ich  mich 
selbst  auf  der  Bühne,  fühle  mich  vom  Beifall   des  mich  fetirenden  Publikums 


Homosexuale  oder  Urninge.  273 

umbraust  und  würde  mit  Vorliebe  passive  Heldinnen  darstellen  oder  dramatische 
Frauenrollen  singen. 

Der  interessanteste  Gesprächsstoff  für  mich  und  meine  Schicksalsgenossen 
sind  aber  stets  unsere  —  Männer;  dieses  Thema  ist  für  uns  unerschöpflich; 
die  geheimsten  Reize  derselben  werden  aufs  Minutiöseste  geschildert,  mentulae 
aestimantur,  quanta  sint  magnitudine,  quanta  crassitudine;  de  forma  earum 
atque  rigiditate  conferimus,  alter  ab  altero  cognoscit  cuius  semen  celerius, 
cuius  tardius  ejaculetur.  Ich  erwähne  noch,  dass  von  meinen  vier  Brüdern 
der  eine  sich  zu  urningischen  Zwecken  brauchen  Hess,  ohne  selbst  ein  Urning 
zu  sein,  und  sind  alle  vier  leidenschaftliche  Frauenfreunde,  die  fortwährend 
geschlechtliche  Excesse  verüben.  Die  Genitalien  der  Männer  unserer  Familie 
sind  ausnahmslos  stark  entwickelt. 

Zum  Schlüsse  wiederhole  ich  die  Worte,  mit  denen  ich  diese  Zeilen 
begann.  Ich  konnte  meine  Ausdrücke  nicht  wählen,  weil  es  mir  darum  zu 
thun  war,  in  Vorliegendem  das  Material  zur  Studie  einer  urningischen  Existenz 
zu  liefern,  wobei  es  in  erster  Linie  auf  absolute  Wahrheit  ankommt.  Diesem 
Umstände  bitte  ich  die  zahlreichen  Cynismen  zu  gute  zu  halten. 

Im  October  1890  stellte  sich  mir  der  Schreiber  vorstehender  Zeilen  vor. 
Sein  Aeusseres  entsprach  im  Wesentlichen  seiner  Schilderung.  Genitalien  gross, 
reich  behaart.  Eltern  seien  nervengesund  gewesen,  ein  Bruder  habe  sich 
erschossen  wegen  Nervenleidens,  drei  andere  seien  hochgradig  nervös.  Pat. 
besucht  mich  in  verzweifelter  Stimmung.  Er  ertrage  ein  solches  Leben  nicht 
mehr,  denn  er  sei  angewiesen  auf  den  Verkehr  mit  käuflichen  Männern,  ver- 
möge bei  seiner  extremen  sinnlichen  Veranlagung  nicht  Abstinenz  zu  üben  und 
könne  auch  nicht  begreifen,  wie  er  weibliebend  und  zu  edleren  Freuden  des 
Lebens  fähig  gemacht  werden  könnte.  Habe  er  doch  schon  mit  13  Jahren 
mannmännlich  empfunden. 

Er  fühle  sich  durchaus  als  Weib  und  sehne  sich  nach  Eroberungen  bei 
Männern,  die  nicht  Urninge  sind.  Wenn  er  mit  einem  Urning  zusammen  sei, 
so  sei  es  geradeso,  wie  wenn  zwei  Frauenzimmer  zusammen  wären.  Er  möchte 
lieber  geschlechtslos  sein,  als  so  weiter  zu  existiren.  Ob  denn  nicht  Castration 
für  ihn  erlösend  wäre? 

Ein  Versuch  der  Hypnose  erzielt  bei  dem  höchst  erregten  Pat.  nur  ganz 
leichtes  Engourdissement. 

Beobachtung  113.  B.,  Kellner,  42  Jahre,  ledig,  wurde  mir  von  seinem 
Hausarzt,  in  den  er  verliebt  war,  als  an  conträrer  Sexual emp findung  leidend 
zugeschickt.  B.  gab  bereitwillig,  in  decenter  Weise,  Auskunft  über  Vita  ante- 
acta  und  speciell  sexualis,  froh,  endlich  einmal  eine  autoritative  Auskunft 
über  seine  sexuellen  Zustände  zu  bekommen,  die  ihm  von  jeher  krankhaft 
erschienen  seien. 

B.  weiss  von  seinen  Grosseltern  nichts  zu  berichten.  Der  Vater  sei  ein 
jähzorniger,  aufgeregter  Mann  gewesen,  Potator,  von  jeher  sexuell  sehr 
bedürftig.  Nachdem  er  24  Kinder  mit  derselben  Frau  erzeugt,  habe  er  sich 
von  ihr  scheiden  lassen,  und  noch  3mal  seine  Wirthschafterin  geschwängert. 
Die  Mutter  sei  gesund  gewesen. 

Von  den  24  Geschwistern  seien  nur  noch  6  am  Leben,  mehrere  nervenkrank, 
aber  nicht  sexuell  abnorm,  bis  auf  eine  Schwester,  die  von  jeher  mannssüchtig  sei. 
v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  18 


274  Paraesthesia  sexualis. 

B.  will  von  Kindesbeinen  an  kränklich  gewesen  sein.  Schon  mit  8  Jahren 
sei  sein  Geschlechtsleben  erwacht.  Er  habe  masturbirt  und  sei  auf  die  Idee 
verfallen,  penem  aliorum  puerorum  in  os  arrigere,  was  ihm  grossen  Genuss 
gewährt  habe.  Mit  12  Jahren  fing  er  an,  sich  in  Männer  zu  verlieben,  am 
meisten  in  solche  in  den  30er  Jahren  mit  Schnurrbart.  Schon  damals  sei  sein 
sexuelles  Bedürfniss  sehr  entwickelt  gewesen  und  habe  er  Erectionen  und 
Pollutionen  gehabt.  Von  da  an  habe  er  wohl  täglich  masturbirt  und  sich 
dabei  einen  geliebten  Mann  gedacht.  Sein  Höchstes  sei  aber  gewesen  penem 
viri  in  os  arrigere.  Dabei  habe  er  unter  grösster  Wollust  Ejaculation  be- 
kommen. Nur  etwa  12mal  sei  ihm  dieser  Genuss  bisher  zu  Theil  geworden. 
Ekel  vor  dem  Penis  Anderer  habe  er  bei  ihm  sympathischen  Männern  nie 
empfunden,  im  Gegentheil.  Offerten  zur  Päderastie,  die  ihm  sowohl  aktiv 
als  passiv  höchst  ekelhaft  sei,  habe  er  nie  acceptirt.  Beim  perversen  Ge- 
schlechtsakt habe  er  sich  immer  in  der  Rolle  des  Weibes  gedacht.  Seine  Ver- 
liebtheit in  ihm  sympathische  Männer  sei  grenzenlos  gewesen.  Alles  hätte  er 
für  seine  Geliebten  thun  mögen.  Er  habe  vor  Aufregung  und  Wollust  ge- 
zittert, wenn  er  ihrer  nur  ansichtig  wurde. 

Mit  19  Jahren  Hess  er  sich  von  Kameraden  öfters  verführen,  ins  Lupanar 
mitzugehen.  Er  habe  nie  Spass  am  Coitus  gehabt  und  nur  im  Moment  der 
Ejaculation  eine  Befriedigung  verspürt.  Um  Erection  beim  Weib  zu  bekommen, 
habe  er  sich  immer  einen  geliebten  Mann  beim  Akt  vorstellen  müssen.  Am 
Liebsten  wäre  es  ihm  gewesen,  wenn  das  Weib  immissio  penis  in  os  gestattet 
hätte,  was  ihm  aber  immer  versagt  blieb,  Faute  de  mieux  habe  er  Coitus 
geübt,  sei  sogar  2mal  Vater  geworden.  Das  letzte  Kind,  ein  Mädchen  von 
8  Jahren,  fange  bereits  an,  Masturbation  und  mutuelle  Onanie  zu  treiben, 
was  ihn  als  Vater  sehr  betrübe.     Ob  es  denn  dagegen  keine  Abhilfe  gebe? 

Pat.  versichert,  dass  er  sich  Männern  gegenüber  immer  in  einer  weib- 
lichen Rolle  (auch  bei  sexuellem  Verkehr)  gefühlt  habe.  Er  habe  sich  immer 
gedacht,  seine  sexuelle  Perversion  sei  dadurch  entstanden,  dass  sein  Vater, 
als  er  ihn  zeugte,  ein  Mädchen  zeugen  wollte.  Seine  Geschwister  haben  ihn 
auch  immer  wegen  seiner  weiblichen  Manieren  verspottet.  Zimmerauskehren, 
Abwaschen  sei  ihm  immer  eine  angenehme  Beschäftigung  gewesen.  Man  habe 
auch  seine  Leistungen  in  dieser  Richtung  vielfach  bewundert  und  gefunden, 
dass  er  geschickter  sei  als  manches  Mädchen.  Wenn  er  je  konnte,  verkleidete 
er  sich  als  Mädchen.  Im  Fasching  erschien  er  auf  Bällen  in  weiblicher  Maske. 
Das  Kokettiren  bei  solcher  Gelegenheit  sei  ihm  trefflich  gelungen,  weil  er 
eine  weibliche  Natur  habe. 

Zum  Trinken,  Rauchen,  männlicher  Beschäftigung  und  Vergnügung  habe 
er  nie  recht  Lust  gehabt,  dagegen  Nähen  mit  Leidenschaft  betrieben  und  als 
Junge  wegen  beständigem  Spielen  mit  Puppen  oft  Schelte  bekommen.  Sein 
Interesse  im  Circus  oder  Theater  nahmen  nur  Männer  in  Anspruch.  Er  konnte 
oft  dem  Drang  nicht  widerstehen,  in  Pissoirs  herumzulungern,  um  männlicher 
Genitalien  ansichtig  zu  werden. 

An  weiblichen  Reizen  habe  er  nie  Gefallen  gefunden.  Coitus  sei  ihm 
nur  gelungen,  wenn  er  sich  einen  geliebten  Mann  dachte.  Nächtliche  Pollu- 
tionen wurden  immer  durch  lascive,  Männer  betreffende  Traumsituationen 
ausgelöst. 

Trotz  vielfacher  sexueller  Excesse  hat  B.  nie   an  Neurasthenia  sexualis 


Androgyne.  275 

gelitten  und  sind  überhaupt  keine  Symptome  von  Neurasthenie  an  ihm  nach- 
weisbar. 

Explorat  ist  zart,  hat  spärlichen  Backen-  und  Schnurrbart,  der  ihm  erst 
im  28.  Jahr  gewachsen  sei.  Sein  Aeusseres,  ausgenommen  leicht  wiegender 
Gang,  bietet  nichts,  was  auf  eine  weibliche  Natur  hindeuten  würde.  Er  ver- 
sichert, dass  man  seinen  weibischen  Gang  schon  oft  bespöttelt  habe.  Sein 
Benehmen  ist  ein  höchst  decentes.  Die  Genitalien  sind  gross,  gut  entwickelt, 
ganz  normal,  dicht  behaart,  das  Becken  ist  männlich.  Der  Schädel  ist  rhachi- 
tisch,  leicht  hydrocephal,  mit  ausgebauchten  Parietalbeinen.  Der  Gesichts- 
schädel ist  auffallend  klein.  Explorat  behauptet,  dass  er  leicht  reizbar,  zu 
Zorn  geneigt  sei. 

Beobachtung  114.  Taylor  hatte  eine  gewisse  Elise  Edwards,  24  Jahre 
alt,  zu  exploriren.  Es  stellte  sich  heraus,  dass  sie  männlichen  Geschlechts 
war.  E.  hatte  seit  dem  14.  Jahr  Weiberkleider  getragen,  war  auch  als  Schau- 
spielerin aufgetreten,  trug  das  Haar  lang  und  nach  Weibersitte  in  der  Mitte 
getheilt.  Die  Gesichtsbildung  hatte  etwas  Weibliches,  im  Uebrigen  war  der 
Körper  ganz  männlich.  Der  Bart  war  sorgfältig  ausgezupft.  Die  männlichen, 
kräftig  und  gut  entwickelten  Genitalien  waren  am  Bauch  durch  eine  kunst- 
volle Bandage  nach  aufwärts  fixirt. 

Der  Befund  am  Anus  deutete  auf  passive  Päderastie.  (Taylor,  Med. 
jurisprudence  1873.  IL  p.  286,  473.) 

Beobachtung  115.  Eine  eigenthümliche  Erscheinung  im  Sinne  der 
conträren  Sexualempfindung  bot  ein  Beamter  in  mittleren  Jahren,  seit  mehreren 
Jahren  glücklicher  Familienvater  und  mit  einer  braven  Frau  verheirathet. 

Durch  die  Indiscretion  einer  Prostituirten  kam  eines  Tages  folgende 
Skandalgeschichte  an  die  OefFentlichkeit.  X.  erschien  etwa  alle  8  Tage  im 
Lupanar,  costümirte  sich  dort  als  Weib,  wobei  eine  Weiberperücke  nicht 
fehlen  durfte.  Nach  beendigter  Toilette  legte  er  sich  auf  ein  Bett  und  Hess 
sich  von  der  Prostituirten  masturbiren.  Er  zog  es  aber  bei  Weitem  vor,  wenn 
er  eine  männliche  Person  (Hausknecht  des  Lupanar)  gewinnen  konnte.  Der 
Vater  dieses  Mannes  war  hereditär  belastet,  mehrmals  irrsinnig  gewesen,  mit 
Hyper-  und  Paraesthesia  sexualis  belastet. 


4)  Androgyne. 

In  fliessenden  Uebergängen  zur  vorigen  Gruppe  ergeben  sich 
conträr  Sexuale,  bei  denen  nicht  nur  der  Charakter  und  das  ganze 
Fühlen  der  abnormen  Geschlechtsempfindung  congruent  sind,  son- 
dern sogar  in  SkeletbiMung,  Gesichtstypus,  Stimme  u.  s.  w.,  über- 
haupt in  anthropologischer,  nicht  bloss  in  psychischer  und  psycho- 
sexualer  Hinsicht  das  Individuum  sich  dem  Geschlecht  nähert, 
welchem  dasselbe  sich  der  Person  des  eigenen  Geschlechts  gegen- 
über zugehörig  fühlt.     Offenbar  stellt  diese  selbst  anthropologische 


276  Hyperaesthesia  sexualis. 

Ausprägung  der  cerebralen  Anomalie  eine  besonders  hohe  Stufe  der 
Entartung  dar;  dass  aber  diese  Abweichung  auf  ganz  anderen  Be- 
dingungen basirt  als  die  teratologischen  Erscheinungen  der  Her- 
maphrodisie  in  anatomischem  Sinne,  ergibt  sich  klar  daraus,  dass 
niemals  bis  jetzt  im  Gebiet  der  conträren  Sexualempfindung  Ueber- 
gänge  zur  hermaphroditischen  Verbildung  der  Genitalien  gefunden 
wurden.-  Die  Genitalien  dieser  Leute  erwiesen  sich  immer  ge- 
schlechtlich vollkommen  differenzirt ,  wenn  auch  nicht  selten  mit 
anatomischen  Degenerationszeichen  (Epi-Hypospadie  u.  s.  w.)  be- 
haftet, im  Sinne  von  Entwicklungshemmungen  geschlechtlich  übrigens 
wohl  differenzirter  Organe. 

Bezüglich  dieser  interessanten  Gruppe  von  Weibern  in  Männer- 
kleidung mit  männlichem  Genitale  mangelt  es  noch  an  ausreichen- 
der Casuistik.  Jeder  erfahrene  Beobachter  seiner  Mitmenschen  er- 
innert sich  wohl  an  männliche  Existenzen,  deren  weibisches  Wesen 
und  weiblicher  Typus  (breite  Hüften,  runde  Formen  durch  reich- 
liche Fettentwicklung,  fehlende  oder  höchst  spärliche  Bartentwick- 
lung, mehr  weibliche  Gesichtszüge,  feiner  Teint,  Fistelstimme  u.  s.  w.) 
höchst  auffallend  war. 

Es  scheint  auch,  dass  bei  Individuen  der  4.  Gruppe,  sowie 
bei  einzelnen  der  3.  im  Uebergang  zur  4.  geschlechtliches  Scham- 
gefühl nur  der  Person  des  eigenen,  nicht  aber  der  des  entgegen- 
gesetzten Geschlechts  gegenüber  vorhanden  ist. 

Beobachtung  116.  Androgynie.  Herr  v.  H.,  30  Jahre  alt,  ledigen 
Standes,  stammt  von  einer  neuropathischen  Mutter.  Nerven-  und  Geisteskrank- 
heiten sollen  in  der  Familie  des  Kranken  nicht  vorgekommen  und  der  einzige 
Bruder  desselben  geistig  und  körperlich  vollkommen  normal  sein.  Pat.  soll 
sich  körperlich  spät  entwickelt  haben  und  deshalb  mehrfach  in  Seebädern  und 
klimatischen  Curorten  gewesen  sein.  Er  war  von  Kindesbeinen  an  von  neuro- 
pathischer  Constitution  und  nach  dem  Zeugniss  seiner  Verwandten  nicht  wie 
andere  Knaben.  Früh  fiel  seine  Abneigung  gegen  männliche  Beschäftigung 
und  seine  Vorliebe  für  weibliche  Spielereien  auf.  So  verabscheute  er  alle 
Knabenspiele  und  gymnastischen  Hebungen,  während  das  Spiel  mit  Puppen 
und  weibliche  Arbeiten  für  ihn  besonderen  Reiz  hatten.  Pat.  entwickelte  sich 
in  der  Folge  körperlich  gut,  blieb  frei  von  schweren  Erkrankungen,  aber  geistig 
blieb  sein  Wesen  abnorm,  einer  ernsteren  Lebensauffassung  unzugänglich  und 
von  entschieden  weiblicher  Gefühls-  und  Gedankenrichtung. 

Im  17.  Lebensjahr  zeigten  sich  Pollutionen,  die  gehäuft,  schliesslich 
auch  bei  Tage  auftraten,  den  Kranken  schwächten  und  mannigfache  nervöse 
Störungen  hervorbrachten.  Es  entwickelten  sich  Erscheinungen  von  Neur- 
asthenia  spinalis,  die  bis  auf  die  letzten  Jahre  fortdauerten,  mit  dem  Seltener- 
werden der  Pollutionen  aber  sich  verminderten.     Onanie  wird   in  Abrede   ge- 


Androgyne.  277 

stellt,  ist  aber  sehr  wahrscheinlich.  Eine  schlaffe,  weichliche,  träumerische 
Gedankenrichtung  machte  sich  seit  der  Pubertätszeit  immer  mehr  bemerklich. 
Vergebens  waren  die  Bemühungen,  den  Kranken  zu  einem  eigentlichen  Lebens- 
beruf zu  bringen.  Seine  intellectuellen  Funktionen,  wenn  auch  formal  ganz 
ungestört,  erhoben  sich  nicht  zur  Höhe  wirksamer  Leitmotive  eines  selbst- 
ständigen  Charakters  und  höherer  Lebensanschauungen.  Er  blieb  unselbst- 
ständig,  ein  grosses  Kind,  und  nichts  bezeichnete  deutlicher  seine  originär 
abnorme  Artung,  als  eine  thatsächliche  Unfähigkeit,  mit  Geld  umzugehen  und 
sein  eigenes  Geständniss,  dass  er  für  eine  geordnete,  vernünftige  Geldgebahrung 
kein  Verständniss  habe,  und  sobald  er  Geld  besitze,  dasselbe  für  Antiquitäten, 
Toilettegegenstände  u.  dgl.  Allotria  verausgebe. 

Ebenso  wenig  fähig  wie  zu  einer  vernünftigen  Geldwirthschaft  erschien 
Pat.  zur  Erringung  einer  socialen  Existenz,  ja  nur  zur  Einsicht  in  deren  Be- 
deutung und  Werth. 

Er  lernte  nichts  Ordentliches,  verbrachte  seine  Zeit  mit  Toilette  und 
künstlerischen  Tändeleien,  namentlich  mit  Malen,  wozu  er  eine  gewisse  Be- 
fähigung zeigte,  aber  auch  hierin  leistete  er  nichts,  da  es  ihm  an  Ausdauer 
fehlte.  Zu  einer  ernsten  Gedankenarbeit  war  er  nicht  zu  bringen,  er  hatte 
nur  Sinn  für  Aeusserlichkeiten,  war  immer  zerstreut,  von  ernsten  Diugen  gleich 
gelangweilt.  Verkehrte  Streiche,  sinnlose  Reisen,  Geldverschwenden,  Schulden- 
machen kehren  in  seinem  ferneren  Leben  immer  wieder,  und  selbst  für  diese 
positiven  Fehler  seiner  Lebensführung  fehlte  ihm  das  Verständniss.  Er  war 
eigenwillig,  untraitabel  und  that  nirgends  gut,  sobald  man  nur  den  Versuch 
machte,  ihn  auf  eigene  Füsse  zu  stellen  und  ihn  selbst  seine  Interessen  wahr- 
nehmen zu  lassen. 

Mit  diesen  Erscheinungen  einer  originär  abnormen  und  defectiven  psychi- 
schen Artung  gingen  bemerkenswerthe  Zeichen  einer  perversen  geschlechtlichen 
Empfindung  einher,  die  auch  in  dem  somatischen  Habitus  des  Pat.  angedeutet 
sich  vorfinden.  Pat.  fühlt  sich  geschlechtlich  als  Weib  dem  Manne  gegenüber 
und  empfindet  Zuneigung  zu  Personen  des  eigenen  Geschlechts,  bei  Gleich- 
gültigkeit, wenn  nicht  geradezu  Abneigung  gegen  Personen  des  weiblichen. 
Er  will  zwar  im  22.  Jahr  mit  Weibern  geschlechtlich  verkehrt  und  in  nor- 
maler Weise  den  Beischlaf  ausgeübt  haben,  aber  theils  wegen  Steigerung  der 
neurasthenischen  Beschwerden  jeweils  nach  dem  Coitus,  theils  aus  Angst  vor 
Ansteckung,  wesentlich  aber  aus  mangelnder  Befriedigung  will  er  sich  bald 
vom  weiblichen  Geschlechte  abgewandt  haben.  Ueber  seine  abnorme  sexuelle 
Lage  ist  er  sich  nicht  ganz  klar;  einer  Hinneigung  zum  männlichen  Ge- 
schlechte ist  er  sich  bewusst,  gesteht  aber  verschämt  nur  zu,  dass  er  gewissen 
männlichen  Personen  gegenüber  ein  beseligendes  Gefühl  der  Freundschaft 
empfinde,  ohne  dass  sich  ein  sinnliches  Gefühl  beigeselle.  Das  weibliche  Ge- 
schlecht perhorrescirt  er  gerade  nicht,  er  könnte  sich  sogar  entschliessen ,  ein 
Weib,  das  ihn  durch  gesinnungsverwandte  künstlerische  Neigungen  anzöge,  zu 
heirathen  —  wenn  ihm  nur  die  ehelichen  Pflichten,  die  ihm  unangenehm 
wären  und  deren  Leistung  ihn  matt  und  schwach  machen,  erlassen  blieben. 
Dass  Pat.  schon  mit  Männern  geschlechtlich  verkehrt  habe,  stellt  er  in  Ab- 
rede, aber  sein  Erröthen  und  seine  Verlegenheit  dabei,  noch  mehr  ein  Vor- 
fall in  N.,  wo  Pat.  vor  einiger  Zeit  im  Gasthaus  geschlechtlichen  Umgang  mit 
jungen  Leuten  versucht  und  einen  Skandal  provocirt  hat,  strafen  ihn  Lügen. 


278  Paraesthesia  sexualis. 

Auch  die  äussere  Erscheinung,  Habitus,  Körperbau,  Gesten,  Manieren, 
Toilette  sind  auffällig  und  erinnern  entschieden  an  weibliche  Formen  und 
Verhältnisse.  Pat.  ist  zwar  übermittlerer  Grösse,  ab  erThorax  undBecken 
sind  von  entschieden  weiblicher  Bildung.  Der  Körper  ist  fett- 
reich, die  Haut  wohlgepflegt,  zart,  weich.  Dieser  Eindruck  eines 
Weibes  in  männlicher  Kleidung  wird  gesteigert  durch  den  spärlichenHaar- 
wuchs  im  Gesicht,  der  zudem  bis  auf  ein  Schnurrbärtchen  rasirt  ist,  den 
tänzelnden  Gang,  das  schüchterne,  gezierte  Wesen,  die  weiblichen  Züge,  den 
schwimmenden  neuropathischen  Ausdruck  der  Augen,  die  Spuren  von  Puder 
und  Schminke,  den  stutzermässigen  Zuschnitt  der  Kleidung  mit  busenartig 
hervortretendem  Oberkleid,  die  gefranste,  damenartige  Halsschleife  und  das 
von  der  Stirn  abgescheitelte,  glatt  zu  den  Schläfen  abgebürstete  Haar. 

Die  körperliche  Untersuchung  lässt  den  zweifellos  weiblichen  Bau  des 
Körpers  erkennen.  Die  äusseren  Genitalien  sind  zwar  gut  entwickelt,  jedoch 
ist  der  linke  Hoden  im  Leistencanal  zurückgeblieben,  die  Behaarung  des 
Mons  Veneris  ist  schwach  und  dieser  ungewöhnlich  fettreich  und 
prominent.     Die  Stimme  ist  hoch,  ohne  männlichen  Timbre. 

Auch  die  Beschäftigung  und  Denkweise  des  v.  H.  ist  eine  entschieden 
weibliche.  Er  hat  sein  Boudoir,  seinen  wohlassortirten  Toilettetisch,  an  dem  er 
stundenlang  mit  allen  möglichen  Verschönerungskünsten  die  Zeit  vertändelt ;  er 
perhorrescirt  Jagd,  Waffenübungen  u.  dgl.  männliche  Beschäftigung,  bezeichnet 
sich  selbst  als  einen  Schöngeist,  spricht  mit  Vorliebe  von  seinen  Malereien 
und  dichterischen  Versuchen,  interessirt  sich  für  weibliche  Arbeiten,  die  er, 
wie  z.  B.  Sticken,  auch  ausübt,  und  bezeichnet  es  als  sein  höchstes  Glück,  sein 
Leben  in  einem  künstlerisch  gebildeten  und  ästhetisch  feinfühligen  Kreis  von 
Herren  und  Damen  mit  Conversation ,  Musik,  Aesthetik  u.  dgl.  zubringen  zu 
können.  Seine  Conversation  dreht  sich  vorwiegend  um  weibliche  Angelegen- 
heiten —  um  Moden,  weibliche  Handarbeiten,  Kochkunst,  Haushaltungs- 
angelegenheiten. 

Pat.  ist  wohlgenährt,  jedoch  etwas  anämisch.  Er  ist  von  neuropathischer 
Constitution  und  bietet  Symptome  von  Neurasthenie,  die  durch  eine  verfehlte 
Lebensweise,  zu  langen  Aufenthalt  im  Bett,  im  Zimmer,  Verweichlichung  unter- 
halten werden. 

Er  klagt  über  zeitweisen  Kopfschmerz  und  Kopfdruck,  über  habituelle  Ob- 
stipation, schreckt  leicht  zusammen,  klagt  über  zeitweise  Mattigkeit,  Müdigkeit, 
ziehende  Schmerzen  in  den  Extremitäten  in  der  Richtung  der  Lumboabdominal- 
nerven,  f,ühlt  sich  nach  Pollutionen  und  regelmässig  nach  dem  Essen  müde, 
abgespannt,  ist  empfindlich  bei  Druck  auf  die  Proc.  spinosi  der  Brustwirbel, 
wie  auch  bei  Durchtastung  der  zugänglichen  Nervenstämme.  Er  fühlt  eigen- 
tümliche Sym-  und  Antipathien  gegenüber  gewissen  Personen,  geräth  bei  der 
Begegnung  antipathischer  Leute  in  Zustände  eigenthümlicher  Angst  und  Ver- 
wirrung. Seine  Pollutionen,  obwohl  jetzt  nur  noch  selten  vorkommend,  sind 
pathologisch,  insoferne  sie  sich  auch  bei  Tage  und  ohne  alle  wollüstige  Er- 
regung einstellen. 

Gutachten. 

1)  Herr  v.  H.  ist  nach  allem  Beobachteten  und  Berichteten  eine  geistig 
abnorme,   defektive  Persönlichkeit,   und  zwar   ab  origine.     Eine  Theilerschei- 


Androgyne.  279 

nung  dieser  abnormen  geistig-körperlichen  Artung  stellt  seine  conträre  Sexual- 
empfindung  dar. 

2)  Dieser  Zustand,  als  ein  originärer,  ist  keiner  Heilung  zugänglich.     . 
Es    besteht    eine    defective    Organisation    in    den    höchsten    geistigen 

Centren,  die  ihn  zu  selbstständiger  Lebensführung  und  der  Erreichung  einer 
Lebensberufsstellung  unfähig  macht.  Seine  perverse  Geschlechtsempfindung 
hindert  ihn,  normal  geschlechtlich  zu  funktioniren ,  mit  allen  socialen  Con- 
sequenzen  einer  solchen  Anomalie  und  mit  der  Gefahr  einer  Befriedigung  per- 
verser, aus  seiner  abnormen  Organisation  sich  ergebender  Gelüste,  mit  daraus 
wieder  zu  befürchtenden  socialen  und  gerichtlichen  Conflikten.  Diese  Besorg- 
niss  kann  aber  nicht  gross  sein,  da  der  (perverse)  Geschlechtstrieb  des  Kranken 
gering  ist. 

3)  Herr  v.  H.  ist  nicht  unzurechnungsfähig  in  legalem  Sinne  des  Wortes 
und  weder  geeignet  zur  Aufnahme  in  eine  Irrenanstalt,  noch  einer  solchen 
bedürftig. 

Er  vermag  —  obwohl  ein  grosses  Kind  und  unfähig  zu  einer  Selbst- 
führung —  gleichwohl  unter  Aufsicht  und  Leitung  geistig  normaler  Menschen 
in  der  Gesellschaft  zu  existiren.  Er  vermag  auch  bis  zu  einem  gewissen  Grad 
die  Gesetze  und  Normen  der  bürgerlichen  Gesellschaft  zu  respektiren  und  zur 
Richtschnur  seines  Handelns  zu  machen,  aber  es  muss  bezüglich  möglicher 
geschlechtlicher  Verirrungen  und  Conflikte  mit  dem  Strafgesetz  hervorgehoben 
werden,  dass  seine  Geschlechtsempfindung  eine  in  organischen  krankhaften 
Bedingungen  wurzelnde  abnorme  ist,  und  dieser  Umstand  muss  ihm  eventuell 
zu  Gute  kommen. 

Bei  seiner  notorischen  Unselbstständigkeit  kann  derselbe  aus  der  väter- 
lichen oder  vormundschaftlichen  Gewalt  nicht  entlassen  werden,  weil  er  sich 
sonst  finanziell  ruiniren  würde. 

4)  Herr  v.  H.  ist  auch  körperlich  leidend.  Er  bietet  Zeichen  leichter 
Anämie  und  von  Neurasthenia  spinalis. 

Eine  vernünftige  Regelung  seiner  Lebensweise,  eine  tonisirende  ärzt- 
liche, womöglich  hydrotherapeutische  Behandlung  erscheint  nothwendig.  Der 
Verdacht  einer  ursächlichen  Begründung  jenes  Leidens  in  früher  getriebener 
Masturbation  muss  aufrecht  erhalten  werden  und  die  Möglichkeit  des  Vor- 
handenseins einer  ätiologisch  und  therapeutisch  wichtigen  Spermatorrhöe  liegt 
nahe.    (Eigene  Beobachtung.     Zeitschr.  f.  Psychiatrie.) 


Die  angeborene  conträre  Sexualempfindung  beim  Weibe  1). 

Ueber  das  Vorkommen  homosexualer  Empfindungen  beim 
Weibe    stehen    der    gegenwärtigen    Wissenschaft    viel    spärlichere 

x)  Casuistik:  1)  Westphal,  Arch.  f.  Psych.  II,  p.  73;  2)  Gock,  Op.  cit. 
Nr.  1;  3)  Wise,  The  Alienist  and  Neurologist  1883,  Januar;  4)  Cantarano, 
Zeitschr.  La  Psichiatria  1883,  p.  201;  5)  Serieux,  Op.  cit.  obs.  14;  6)  Kiernan, 
Op.  cit.;  7)  Müller,  Friedreichs  Blätter  f.  ger.  Med.  1891,  Heft  4;  8—13)  Moll, 
Contr.  Sexualempfindung,  2.  Aufl.,  Beob.  18.  19.  20.  21.  22.  23;  14)  Meyhöfer, 
Zeitschr.  f.  Medicinalbeamte,  V.  16. 


280  Paraesthesia  sexualis. 

Beobachtungen  zu  Gebot  als  hinsichtlich  dieser  Anomalie  beim 
Manne.  Daraus  den  Schluss  ziehen  zu  wollen,  dass  conträre  Sexual- 
empfindung beim  Weibe  seltener  sei,  wäre  ungerechtfertigt,  denn 
wenn  sie  wirklich  eine  funktionelle  Degenerationserscheinung  ist, 
werden  sich  belastende  degenerative  Einflüsse  beim  Weib  ebenso 
geltend  machen  wie  beim  Manne. 

Die  Ursachen  der  scheinbaren  Seltenheit  der  conträren  Sexual- 
empfindung beim  Weibe  sind  wohl  darin  zu  finden,  dass  1.  Con- 
fidencen  über  sexuelle  Abnormitäten  beim  Weib  schwerer  zu  er- 
langen sind;  2.  dass  die  Anomalie,  falls  sie  zu  „ beischlafähnlichen ' 
Handlungen  inter  feminas  führt,  in  Deutschland  nicht  criminell 
verfolgt  wird  und  schon  dadurch  vielfach  latent  bleibt;  3.  dass  das 
Weib  die  conträre  Sexualempfindung  nicht  so  genirt  wie  den  Mann, 
weil  sie  jenes  nicht  beischlafsunfähig  macht;  4.  weil  das  Weib  an 
und  für  sich  und  jedenfalls  auch  das  conträr-sexuale  nicht  so  sinn- 
lich und  aggressiv  in  der  Erreichung  des  Geschlechtsbedürfnisses  ist, 
wie  der  Mann,  so  dass  der  conträr-sexuale  Verkehr  unter  Weibern 
nicht  so  auffällig  ist  und  vom  Laien  als  blosse  Freundschaft  ge- 
deutet wird.  Gibt  es  doch  sogar  Fälle  (psychische  Hermaphrodisie, 
selbst  Homosexualität),  wo  der  Ehemann  nicht  die  Ursache  der 
Frigiditas  uxoris  erkennt! 

Aus  Stellen  in  der  heiligen  Schrift *),  aus  der  Geschichte 
Griechenlands  („Sapphische  Liebe"),  aus  der  Sittengeschichte  des 
alten  Roms  und  des  Mittelalters  2)  ist  leicht  der  historische  Nach- 
weis zu  liefern,  dass  Congressus  intersexualis  feminarum  zu  allen 
Zeiten  bestanden  hat,  gleichwie  er  noch  heute  in  Harems,  Weiber- 
strafanstalten,  Bordellen,  Pensionaten  (s.  u.  Amor  lesbicus)  vor- 
kommt. 

Dass  ein  grosser  Theil  dieser  Vorkommnisse  übrigens  auf  Per- 
versität, nicht  Perversion  beruht,  muss  immerhin  zugegeben  werden 3). 


*)  Paulus,  Römerbrief. 

2)  Ploss,  Op.  cit. 

3)  Bemerkenswerth  ist,  dass  auch  in  der  Belletristik  die  lesbische  Liebe 
vielfach  behandelt  ist,  so  in  Diderot,  „La  Religieuse" ;  Balzac,  „La  fille  aux 
yeux  d'or";  Th.  Gautier,  „Mademoiselle  de  Maupin";  Feydeau,  „La  Comtesse 
de  ChaHs";  Flaubert,  „Salammbö";  Belot,  „Mademoiselle  Giraud,  ma 
femme"  etc. 

Die  Heldinnen  dieser  (lesbischen)  Romane  erscheinen  der  geliebten 
Person  des  eigenen  Geschlechts  gegenüber  in  Charakter  und  Rolle  des  Mannes, 
und  ihre  Liebe  ist  eine  sehr  brünstige. 

Der  älteste  Fall  von  conträrer  Sexualempfindung,  der  bis  dato  in  Deutsch- 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung  beim  Weibe.  281 

In  klinischer  Hinsicht  kann  ich  mich  kurz  fassen,  da  die  Ano- 
malie beim  Weib  ganz  dieselben  Erscheinungen  mutatis  mutandis 
bietet,  wie  beim  Manne,  und  überdies  dieselben  Gradstufen  aufweist. 
Die  psychisch  hermaphroditischen  und  auch  viele  homo- 
sexuale Weiber  verrathen  ihre  Anomalie  weder  durch  äusserliche 
Zeichen  noch  durch  seelische  (männliche)  Geschlechtscharaktere. 
Bemerkenswerth  ist,  dass  Dr.  Flatau  (Moll  op.  cit.  p.  334)  übrigens 
bei  Untersuchung  des  Larynx  von  23  homosexualen  Weibern  bei 
einigen  den  Kehlkopf  von  entschieden  männlicher  Form  vorfand. 

Im  Uebergang  zur  folgenden  Gradstufe  der  Viraginität 
(analog  der  Effeminatio  beim  Manne)  findet  sich  Vorliebe,  in  Männer- 
kleidern zu  gehen.  Im  Traum  oder  auch  im  ideellen  oder  wirk- 
lichen homosexualen  Geschlechtsakt  fühlt  sich  die  betreffende  Person 
in  indifferenter  geschlechtlicher  Rolle. 

Bei  ausgebildeter  Viraginität  fühlt  sich  das  Weib  dem  an- 
deren gegenüber  ausschliesslich  in  der  Rolle  des  Mannes. 

Auf  dieser  Stufe  besteht  auch  nur  dem  eigenen  Geschlecht, 
nicht  aber  dem  männlichen  gegenüber  Schamhaftigkeit. 

Die  Anomalie  auf  dieser  Stufe  pflegt  sich  schon  früh  durch 
männliche  Geschlechtscharaktere  kundzugeben. 

Der  Lieblingsaufenthalt  des  weiblichen  Urnings  ist  der  Tummel- 
platz der  Knaben.  In  deren  Spielen  sucht  er  mit  ihnen  zu  rivali- 
siren.  Von  Puppen  will  das  Urningmädchen  nichts  wissen,  seine 
Passion  ist  das  Steckenpferd,  das  Soldaten-  und  Räuberspiel.  Zu 
weiblichen  Arbeiten  zeigt  es  nicht  blos  Unlust,  sondern  vielfach 
geradezu  Ungeschick.  Die  Toilette  wird  vernachlässigt,  in  einem 
derben,  burschikosen  Wesen  Gefallen  gefunden.  Statt  zu  Künsten, 
zeigt  sich  ßinn  und  Neigung  für  Wissenschaften.  Gelegentlich 
wird  ein  Anlauf  genommen,  im  Rauchen  und  Trinken  sich  zu  ver- 
suchen, und  beides  kann  zur  Leidenschaft  werden. 

Parfüm  und  Näschereien  werden  verabscheut.  Schmerzliche 
Reflexionen  ruft  das  Bewusstsein  hervor,  als  Weib  geboren  zu  sein 
und  der  Universität  mit  ihrem  flotten  Leben  und  dem  Militärstand 
entsagen  zu  müssen. 


land  nachzuweisen  ist,  ist  ein  solcher  von  Viraginität  aus  dem  Anfang  des 
18.  Jahrhunderts.  Er  betrifft  ein  Weib ,  das  mit  einem  anderen  verheirathet 
war  und  mittelst  ledernen  Priaps  der  Consors  beiwohnte.  Der  auch  in  cultur- 
historischer  und  in  juridischer  Hinsicht  sehr  interessante,  aus  den  Akten  ge- 
schöpfte Fall  ist  von  Dr.  Müller  (Alexandersbad)  in  Friedreichs  Blättern 
f.  ger.  Medicin  1891,  Heft  4,  mitgetheilt. 


282  Paraesthesia  sexualis. 

In  amazonenhaften  Neigungen  zu  männlichem  Sport  gibt  sich 
die  männliche  Seele  im  weiblichen  Busen  kund,  nicht  minder  in 
Bethätigung  von  Muth  und  männlicher  Gesinnung.  Gross  ist  der 
Drang,  auch  Haar  und  Zuschnitt  der  Kleidung  männlich  zu  tragen, 
unter  günstigen  Umständen  sogar  in  der  Kleidung  des  Mannes 
aufzutreten  und  als  solcher  zu  imponiren.  Nicht  selten  sind  die 
Fälle,  wo  Weiber  in  Männerkleidern  aufgegriffen  wurden.  Bei- 
spiele jahrelangen  erfolgreichen  Herumtreibens  als  Mann  (Jäger, 
Soldat  u.  s.  w.)  sind  der  Fall  von  Müller  in  Friedreich's  Blät- 
tern, der  von  Wise  (op.  cit.)  u.  A. 

Die  Ideale  dieser  Viragines  sind  durch  Geist  und  Thatkraft 
hervorragende  weibliche  Persönlichkeiten  der  Geschichte  und  der 
Gegenwart. 

Die  schwerste  Stufe  degenerativer  Homosexualität  stellt  die 
Gynandrie  dar.  Es  handelt  sich  hier  um  Weiber,  die  vom 
Weib  nur  die  Genitalorgane  haben,  im  Fühlen,  Denken,  Handeln 
und  in  der  äusseren  Erscheinung  aber  durchaus  männlich  er- 
scheinen. 

Solchen  Mannweibern,  die  durch  Knochenbau,  Becken,  Gang, 
Haltung,  derbe,  entschieden  männliche  Züge,  rauhe,  tiefe  Stimme 
u.  s.  w.  an  dem  ewig  Weiblichen  irre  werden  lassen,  begegnet 
man  nicht  so  selten  im  öffentlichen  Leben. 

Ueber  Lebensweise  und  Art  der  sexuellen  Befriedigung  dieser 
conträr-sexualen  Weiber  hat  Moll  (op.  cit.  p.  331)  manches  Inter- 
essante berichtet. 

Mutatis  mutandis  ist  die  Situation  dieselbe  wie  beim  mann- 
liebenden Manne.  Diese  Existenzen  suchen,  finden,  erkennen,  lieben 
sich  gegenseitig,  leben  nicht  selten  als  „Vater"  und  „Mutter"  in 
„schwuler"  Ehe  zusammen.  Auf  conträre  Sexualität  muss  sich 
immer  der  Verdacht  richten,  wenn  (so  häufig)  in  der  Zeitung  von 
einer  Dame  eine  „Freundin"  gesucht  wird. 

Zahlreiche  weibliche  psychische  Hermaphroditen  und  selbst 
Homosexuale  schliessen,  theils  aus  Unkenntniss  ihrer  Anomalie, 
theils  um  versorgt  zu  werden,  Ehebündnisse  mit  Männern.  Manche 
dieser  Ehen  fristen  ihr  Dasein  fort,  indem  der  Mann  seelisch  sym- 
pathisch ist  und  die  Leistung  der  ehelichen  Pflicht  der  unglück- 
lichen Frau  möglich  wird. 

Immer  sucht  sie  sich  dieser  aber,  sobald  sie  ein  oder  zwei 
Kinder  geboren  hat,  unter  irgend  einem  Vorwand  zu  entziehen. 
Noch  häufiger  leidet  die  Ehe  wegen  „unüberwindlicher  Abneigung" 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung  beim  Weibe.  283 

Schiffbruch.  Fortsetzung  des  homosexuellen  Verkehrs  in  der  Ehe 
kommt  vor,  gleich  wie  beim  conträr- sexualen  Manne. 

Auf  der  Stufe  der  Viraginität  ist  Ehe  unmöglich,  da  schon 
der  Gedanke  an  Coitus  cum  viro  Ekel  und  Grausen  erweckt. 

Die  intersexuelle  Befriedigung  bei  Weibern  beschränkt  sich 
vielfach  auf  blosses  Küssen  und  Umarmen,  wobei  sinnlich  nicht 
stark  Veranlagte  es  sich  genügen  lassen,  sexuell  Neurasthenische 
eventuell  Befriedigung  durch  Ejaculationsgefühl  finden. 

Automasturbation,  faute  de  mieux,  scheint  in  allen  Gradstufen 
der  Anomalie,  gleich  wie  beim  Manne,  vorzukommen. 

Bei  starker  Sinnlichkeit  kommt  es  zu  Cunnilingus  oder  zu 
mutueller  Masturbation. 

Auf  3.  und  4.  Stufe  scheint  das  Bedürfniss,  in  activer  Rolle 
der  geliebten  Person  des  eigenen  Geschlechts  gegenüber  aufzutreten, 
zur  Benutzung  von  Priapen  hinzudrängen. 

Beobachtung  117.  Psychische  Hermaphrodisie.  Frau  X.,  26  Jahre, 
leidet  an  Neurasthenie.  Sie  ist  erblich  belastet,  leidet  episodisch  an  Zwangs- 
vorstellungen. Sie  ist  seit  7  Jahren  verheirathet,  hat  2  gesunde  Kinder,  einen 
Knaben  und  ein  Mädchen  von  6  resp.  4  Jahren.  Es  gelingt,  das  Vertrauen 
der  Pat.  zu  erlangen.  Sie  gesteht,  dass  sie  von  jeher  mehr  zu  Personen  des 
eigenen  Geschlechtes  neige ,  ihren  Mann  zwar  achte  und  gern  habe ,  jedoch 
vom  ehelichen  Verkehr  mit  ihm  angewidert  sei.  Sie  habe  es  dahin  gebracht, 
dass  er  seit  der  Geburt  des  jüngsten  Kindes  ihr  ehelich  nicht  mehr  beiwohne. 
Schon  im  Pensionat  habe  sie  sich  in  einer  Weise  für  andere  junge  Damen 
interessirt,  die  sie  nur  als  Liebe  bezeichnen  könne.  Episodisch  habe  sie  sich 
aber  auch  zu  einzelnen  Herren  hingezogen  gefühlt  und  in  der  letzten  Zeit  sei 
ihrer  Tugend  ein  Courmacher  geradezu  gefährlich  geworden.  Sie  lebe  oft  in 
Angst,  dass  sie  sich  mit  ihm  vergessen  könnte  und  vermeide  deshalb,  mit  ihm 
allein  zu  sein.  Das  seien  aber  nur  flüchtige  Episoden  gegenüber  ihrer  leiden- 
schaftlichen Neigung  zu  Personen  des  eigenen  Geschlechts.  Küsse,  Umarmung 
solcher,  intimer  Verkehr  mit  ihnen,  sei  ihre  wahre  Sehnsucht.  Die  Nichtbefrie- 
digung  dieser  Dränge  martere  sie  und  habe  grossen  Antheil  an  ihrer  Nervosi- 
tät. In  einer  bestimmten  sexuellen  Rolle  fühlt  sich  Pat.  nicht  gegenüber  Per- 
sonen des  eigenen  Geschlechts,  auch  wüsste  sie  mit  solchen  nichts  anzufangen, 
als  sie  zu  küssen,  zu  umarmen,  mit  ihnen  zu  kosen.  Pat.  hält  sich  selbst  für 
eine  sinnliche  Natur.    Es  ist  wahrscheinlich,  dass  sie  masturbirt. 

Ihre  sexuelle  Perversion  erscheint  ihr  „unnatürlich,  krankhaft". 

Nichts  im  Benehmen  und  Aeussern  dieser  Dame  deutet  auf  eine  solche 
Anomalie. 

Beobachtung  118.  Psychische  Hermaphrodisie  bei  einer  Dame. 
Frau  M. ,  44  Jahre,  bezeichnet  sich  als  ein  Beispiel  dafür,  dass  in  einem 
Menschen,  sei  es  Mann  oder  Weib,  sowohl  conträre  als  normale  Richtungen 
des  Sexuallebens  vereinigt  sein  können. 


J 


284  Paraesthesia  sexualis. 

Der  Vater  dieser  Frau  war  sehr  musikalisch,  überhaupt  künstlerisch 
hoch  talentirt,  leichtlebig,  ein  grosser  Verehrer  des  andern  Geschlechts,  von 
seltener  Schönheit.  Er  starb  nach  mehreren  apoplectischen  Anfallen  dement 
im  Irrenhaus.  Vaters  Bruder  war  neuropsychopathisch,  als  Kind  mondsüchtig, 
zeitlebens  mit  Hyperaesthesia  sexualis  behaftet.  So  wollte  er,  obwohl  ver- 
heirathet  und  Vater  von  verheiratheten  Söhnen,  Frau  M.,  seine  Nichte,  in  die 
er  wahnsinnig  verliebt  war,  als  sie  18  Jahre  alt  war,  entführen.  Vaters  Vater 
war  höchst  excentrisch,  ein  bedeutender  Künstler,  der  ursprünglich  Theologie 
studirte,  aber  aus  glühendem  Drang  für  die  dramatische  Muse  Mime  und 
Sänger  wurde.  Er  war  excessiv  in  Baccho  et  Venere,  verschwenderisch,  pracht- 
liebend,  starb  mit  49  Jahren  an  Apoplexia  cerebri.  Mutters  Vater  und  Mutter 
starben  an  Lungentuberculose. 

Frau  M.  hatte  11  Geschwister,  von  denen  nur  noch  6  leben.  Zwei 
Brüder,  körperlich  der  Mutter  nachgeartet,  starben  mit  16  und  20  Jahren  an 
Tuberculose.  Ein  Bruder  leidet  an  Kehlkopfphthise.  Sämmtliche  vier  lebende 
Schwestern,  wie  auch  Frau  M.,  sind  körperlich  dem  Vater  nachgeartet  und  die 
älteste  ist  unverheirathet ,  sehr  nervös  und  menschenscheu.  Zwei  jüngere 
Schwestern  sind  verheirathet,  gesund  und  haben  gesunde  Kinder.  Eine  weitere 
ist  Virgo  und  nervenleidend. 

Frau  M.  hat  4  Kinder,  von  denen  mehrere  zart,  neuropathisch  sind. 

Ueber  ihre  Kindheit  weiss  Pat.  nichts  von  Belang  zu  berichten.  Sie 
lernte  leicht,  war  dichterisch  und  ästhetisch  begabt,  galt  als  ein  bischen  über- 
spannt, das  Romanlesen  und  Sentimentale  liebend,  von  neuropathischer  Con- 
stitution, äusserst  empfindlich  gegen  Temperaturschwankungen,  bekam  jeweils 
beim  geringsten  Luftzug  lästige  Cutis  anserina.  Bemerkenswerth  ist  noch, 
dass  Pat.  eines  Tags,  10  Jahre  alt,  da  sie  meinte,  die  Mutter  liebe  sie  nicht, 
Zündhölzer  im  Kaffee  einweichte  und  diesen  trank,  um  recht  krank  zu  werden 
und  damit  die  Liebe  der  Mutter  auf  sich  zu  lenken. 

Die  Entwicklung  ging  schon  mit  11  Jahren  ohne  Beschwerden  vor  sich. 
Menses  in  der  Folge  regelmässig.  Schon  vor  der  Zeit  der  Pubertätsentwicklung 
regte  sich  das  Sexualleben,  dessen  Regungen  nach  der  eigenen  Ansicht  der 
Pat.  in  der  ganzen  folgenden  Lebenszeit  übermächtige  gewesen  sind.  Die  ersten 
Gefühle  und  Dränge  waren  entschieden  homosexual.  Pat.  bekam  eine  leiden- 
schaftliche, aber  durchaus  platonische  Neigung  zu  einer  jungen  Dame,  dichtete 
auf  sie  Ghaselen  und  Sonette  und  war  glückselig,  wenn  sie  die  „entzückenden 
Reize  der  Angebeteten"  einmal  im  Bade  bewundern  oder  beim  Ankleiden 
Nacken,  Schultern  und  Brust  mit  den  Augen  verschlingen  konnte.  Der  heftige 
Drang  zum  Berühren  dieser  körperlichen  Reize  wurde  stets  überwunden.  Als 
juages  Mädchen  sei  sie  förmlich  verliebt  in  Raphael's  und  Guido  Reni's  Ma- 
donnen gewesen.  Auch  musste  sie  schönen  Mädchen  und  Frauen  in  jeder 
Witterung  stundenlang  nachgehen,  ihren  Anstand  bewundernd,  die  Gelegen- 
heit erspähend,  ihnen  gefällig  zu  sein,  ihnen  Sträusschen  anzubieten  u.  s.  w. 
Pat.  versicherte,  dass  sie  bis  zum  Alter  von  19  Jahren  absolut  keine  Ahnung 
vom  Unterschied  der  Geschlechter  hatte,  da  sie  durch  eine  altjüngferliche, 
höchst  prüde  Tante  eine  faktisch  klösterliche  Erziehung  gehabt  hatte.  Infolge 
dieser  grenzenlosen  Unwissenheit  wurde  Pat.  das  Opfer  eines  Mannes,  der  sie 
leidenschaftlich  liebte,  sie  durch  List  zum  Coitus  brachte.  Sie  wurde  die 
Gattin   dieses  Mannes,    gebar   ein   Kind,   lebte   mit  ihm   ein    „excentrisches" 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung  beim  Weibe.  285 

sexuelles  Leben  und  fühlte  sich  vom  ehelichen  Umgang  vollständig  befriedigt. 
Nach  wenigen  Jahren  wurde  sie  Wittwe.  Seitdem  waren  wieder  Frauen  der 
Gegenstand  der  Neigung,  in  erster  Linie,  wie  Pat.  meint,  aus  Furcht  vor  den 
Folgen  des  sexuellen  Umgangs  mit  einem  Manne. 

Mit  27  Jahren  zweite  Ehe  mit  einem  kränklichen  Manne,  ohne  Neigung. 
Pat.  gebar  3mal,  erfüllte  ihre  Mutterpflichten,  kam  körperlich  herunter,  em- 
pfand in  den  letzten  Jahren  dieser  Ehe  immer  grössere  Unlust  zum  Beischlaf, 
zum  Theil  im  Bewusstsein  der  Krankheit  des  Gatten,  obwohl  ein  heftiger 
Drang  nach  sexueller  Befriedigung  stets  vorhanden  war. 

Drei  Jahre  nach  dem  Tode  des  zweiten  Mannes  machte  Pat.  die  Ent- 
deckung, dass  ihre  9jährige  Tochter  aus  erster  Ehe  der  Masturbation  ergeben 
war  und  dahinsiechte.  Pat.  las  im  Conversationslexicon  über  dieses  Laster 
nach,  konnte  dem  Drang  nicht  widerstehen,  es  auch  zu  versuchen,  und  wurde 
Onanistin.  Ueber  diese  Periode  ihres  Lebens  kann  sie  sich  nicht  entschliessen, 
ausführlich  zu  berichten.  Sie  versichert,  dass  sie  sexuell  schrecklich  erregt 
wurde,  eines  Tags  ihre  beiden  Mädchen  aus  dem  Hause  geben  musste,  um  sie 
vor  „Schrecklichem"  zu  bewahren,  während  sie  ihre  beiden  Knaben  daheim 
behalten  konnte! 

Pat.  wurde  neurasthenisch  ex  masturbatione  (Spinalirritation,  Kopfdruck, 
Mattigkeit,  geistige  Hemmung  u.  s.  w.),  zeitweise  sogar  dysthymisch  mit  quälen- 
dem Taed.  vitae. 

Ihr  sexuelles  Fühlen  war  bald  dem  Weib,  bald  dem  Manne  zugewandt. 
Sie  wusste  sich  zu  beherrschen,  litt  sehr  unter  ihrer  Abstinenz,  zumal  da  sie, 
ihrer  neurasthenischen  Beschwerden  wegen,  nur  in  grösster  Noth  mit  Mastur- 
bation sich  zu  helfen  versuchte.  Gegenwärtig  leidet  die  44jährige,  noch  regel- 
mässig menstruirende  Frau  heftig  unter  der  Leidenschaft  für  einen  jungen  Mann, 
dessen  Nähe  sie  aus  beruflichen  Rücksichten  nicht  vermeiden  kann. 

Pat.  ist  eine  in  ihrer  äusserlichen  Erscheinung  nicht  auffallende  Per- 
sönlichkeit, gracil  gebaut,  von  schwacher  Muskulatur.  Becken  durchaus 
weiblich,  jedoch  Arme  und  Beine  auffallend  gross  und  entschieden  von  männ- 
lichem Bau.  Da  ihr  kein  weiblicher  Schuh  passt,  sie  aber  doch  nicht  auf- 
fallen will,  zwängt  sie  ihre  Füsse  in  Frauenschuhe, '  sodass  diese  künstlich  ver- 
unstaltet sind.  Genitalien  von  ganz  normaler  Entwicklung.  Ausser  einem 
Descensus  uteri  mit  Hypertrophie  der  Vaginalportion  keine  Veränderungen. 
Bei  eingehenderer  Exploration  erklärt  sich  Pat.  für  wesentlich  doch  homo- 
sexual, Empfindung  und  Trieb  zum  anderen  Geschlecht  nur  für  etwas  Epi- 
sodisches, Grobsinnliches.  So  leide  sie  zwar  gegenwärtig  schrecklich  unter 
sexuellen  Drängen  zu  jenem  Manne  ihrer  Umgebung,  aber  ein  edlerer  und' 
höherer  Genuss  sei  es  ihr,  auf  eine  sanftgerundete,  weiche  Mädchen wange 
einen  Kuss  zu  hauchen.  Dieser  Genuss  biete  sich  ihr  oft,  denn  sie  sei  unter 
den  „lieben  Geschöpfen"  als  „gefällige  Tante"  sehr  beliebt,  da  sie  die  ver- 
schiedensten „Ritterdienste"  jenen  unverdrossen  leiste  und  sich  dabei  immer 
mehr  als  Mann  fühle. 

Beobachtung  119.  Homosexualität.  Fräulein  L. ,  55  Jahre  alt. 
Ueber  Familie  des  Vaters  fehlen  Nachrichten.  Die  Eltern  der  Mutter  werden 
als  zornmüthig,  launenhaft,  nervös  geschildert.  Ein  Bruder  der  Mutter  epi- 
leptisch, ein  anderer  exentrisch  und  geistig  nicht  normal. 


286  Paraesthesia  sexualis. 

Die  Mutter  war  sexuell  hyperästhetisch  und  lange  Zeit  Messaline.  Sie 
galt  als  psychopathisch  und  starb  69  Jahre  alt  an  einer  Hirnkrankheit. 

Fräulein  L.  entwickelte  sich  normal,  hatte  nur  geringfügige  Kinder- 
krankheiten zu  überstehen,  war  geistig  sehr  begabt,  jedoch  von  neuropathischer 
Constitution,  emotiv,  von  allerlei  Tics  geplagt. 

Mit  13  Jahre  erwachte,  noch  2  Jahre  vor  der  ersten  Menstruation,  die 
erste  Liebesleidenschaft  für  eine  Altersgenossin  „ein  träumerisches  Gefühl,  noch 
ganz  rein  von  Sinnlichkeit". 

Die  zweite  Liebe  galt  einem  älteren  Mädchen,  das  Braut  war,  mit  bereits 
quälendem  sinnlichem  Sehnen,  Eifersucht  und  dem  noch  „unklaren  Gefühl  ge- 
heimnissvoller Ungehörigkeit" ;  zurückgewiesen  von  dieser  Dame,  verliebte  sich 
Pat.  in  eine  um  20  Jahre  ältere,  glücklich  verheirathete  Frau  und  Mutter.  Sie 
vermochte  sich  in  ihren  sinnlichen  Regungen  zu  beherrschen,  so  dass  diese  Frau 
nie  den  wahren  Grund  einer  solch  schwärmerischen  „Freundschaft"  ahnte  und 
dieselbe  auch  ihrerseits  durch  12  Jahre  gerne  gewährte.  Pat.  bezeichnet  diese 
lange  Zeit  als  ein  wahres  Martyrium. 

In  den  letzten  Jahren,  vom  25.  Jahre  ab,  hatte  sie  begonnen,  durch 
Masturbation  sich  zu  befriedigen.  Pat.  dachte  damals  ernstlich  daran,  ob  nicht 
eine  Heirath  sie  retten  könnte,  aber  ihr  Gewissen  sprach  dagegen,  denn  sie 
hätte  vielleicht  ihr  Unglück  Kindern  vererben  oder  einen  vertrauensvollen  Mann 
„unglücklich  machen  können". 

27  Jahre  alt  nahte  sich  ihr  ein  Mädchen  mit  unverhüllten  Anträgen, 
schilderte  den  Unsinn  der  Entsagung,  gab  volle  Aufklärung  über  den  sie  be- 
herrschenden homosexualen  Trieb  und  war  sehr  stürmisch.  Pat.  duldete  die 
Liebkosungen  dieses  Mädchens,  Hess  sich  aber  zu  keinem  sexuellen  Verkehr 
herbei,  da  sie  fühlte,  dass  ihr  Sinnengenuss  ohne  Liebesleidenschaft  widerlich  sei. 

Geistig  und  körperlich  unbefriedigt,  im  Bewusstsein  eines  verfehlten 
Lebens  gingen  Pat.  die  Jahre  dahin.  Sie  schwärmte  ab  und  zu  für  Damen 
ihres  Bekanntenkreises,  wusste  sich  aber  zu  beherrschen.  Auch  von  Mastur- 
bation vermochte  sie  sich  wieder  zu  befreien. 

38  Jahre  alt,  lernte  Fräulein  L.  ein  um  19  Jahre  jüngeres  Mädchen 
kennen,  von  seltener  Schönheit,  aber  aus  demoralisirter  Familie,  von  Cousinen 
früh  zur  mutuellen  Masturbation  verführt.  Es  ist  nicht  zu  entscheiden,  ob 
dieses  Mädchen  A.  ein  Fall  von  psychischem  Hermaphroditismus  war  oder 
einer  von  erworbenener  conträrer  Sexualempfindung.  Die  erstere  Annahme  ist 
die  wahrscheinlichere. 

Aus  einer  Autobiographie  der  L.  ergibt  sich  folgendes: 

„Die  A.,  meine  Schülerin,  fing  an,  mir  ihre  abgöttische  Liebe  zuzuwenden. 
Sie  war  mir  in  hohem  Grade  sympathisch.  Da  ich  wusste,  dass  sie  ein  aus- 
sichtsloses Liebesverhältniss  mit  einem  wüsten  Gesellen  und  fortdauernd  ver- 
trauten Umgang  mit  ihren  demoralisirten  Cousinen  hatte,  wollte  ich  sie  nicht 
von  mir  stossen.  Mitleid,  die  Ueberzeugung ,  dass  sie  sonst  dem  sittlichen 
Untergang  zutreibe,  veranlassten  mich,  ihre  Annäherung  zu  dulden. 

Ich  hielt  ihre  Neigung  zu  mir  nicht  für  gefährlich,  da  ich  es  nicht  für 
möglich  hielt,  dass  (mit  Hinblick  auf  ihr  Liebesverhältniss)  in  einer  Seele 
zwei  Leidenschaften  (für  einen  Mann  und  ein  "Weib  zugleich)  bestehen  könnten, 
zudem  glaubte  ich  meiner  Widerstandskraft  sicher  zu  sein.  Ich  behielt  also 
A.  um  mich,   erneute  meine  sittlichen  Vorsätze  und  hielt  es  für  eine  Pflicht, 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung  beim  Weibe.  287 

A.'s  Liebe  zu  mir  zu  ihrer  Veredlung  zu  benutzen.  Welch  thöxichter  Wahn 
dies  gewesen,  sollte  ich  nur  zu  bald  erfahren.  Einmal,  als  ich  im  Schlummer 
lag,  wusste  A.  ihre  Lust  an  mir  zu  stillen.  Ich  war  noch  rechtzeitig  erwacht, 
und  wäre  ich  sittlich  stärker  gewesen,  so  hätte  ich  sie  noch  zurückweisen 
können.    Aber  ich  war  furchtbar  aufgeregt,  wie  berauscht  —  sie  siegte. 

Was  ich  nachher  empfand,  ist  unbeschreiblich.  Jammer  über  die  ge- 
brochenen Vorsätze,  die  ich  bisher  mit  so  grossen  Anstrengungen  aufrecht  er- 
halten hatte,  Angst  vor  Entdeckung  und  vor  Verachtung,  Jubel,  endlich  des 
qualvollen  Wachens  und  Ringens  ledig  zu  sein,  unsägliche  Sinnenfreude,  Zorn 
über  die  unselige  Gefährtin  und  zugleich  das  Gefühl  der  tiefsten  Zärtlichkeit. 
A.  belächelte  ruhig  meine  Gemütiiserregung  und  bemühte  sich,  liebkosend 
mich  zu  beruhigen. 

Ich  fand  mich  in  die  neue  Situation.  Lange  Jahre  dauerte  unsere  Ge- 
meinschaft. Wir  lebten  in  gegenseitiger  Masturbation  weiter,  nie  excessiv 
oder  cynisch. 

Nach  und  nach  hörte  der  sinnliche  Verkehr  zwischen  uns  wieder  auf. 
A.'s  Zärtlichkeit  ermattete,  die  meine  aber  blieb,  obwohl  ich  kein  sinnliches 
Verlangen  mehr  empfand.  A.  trug  sich  mit  Heirathsplänen,  theils  um  versorgt 
zu  werden,  wesentlich  aber,  weil  ihre  Sinnlichkeit  wieder  in  normale  Bahnen 
einlenkte.  Es  gelang  ihr,  einen  Gatten  zu  finden.  Möge  sie  ihn  glücklich 
machen,  was  ich  aber  bezweifeln  muss.  So  habe  ich  Aussicht,  mein  Alter 
ebenso  freud-  und  friedlos  hinzuschleppen,  wie  es  mit  meiner  Jugend  der 
Fall  war. 

Mit  Wehmuth  gedenke  ich  der  Jahre,  die  ich  gemeinsam  mit  der  Ge- 
liebten verlebte.  Dass  ich  mit  A.  geschlechtlich  verkehrte,  vermag  mein  Ge- 
wissen nicht  zu  belasten,  denn  ich  erlag  ihrer  Verführung  und  bemühte  mich 
redlich,  sie  vor  dem  sittlichen  Ruin  zu  retten  und  zu  einem  gebildeten  und 
wohlgesitteten  Wesen  zu  erziehen,  was  mir  auch  gelungen  ist.  Ueberdies  be- 
ruhigt mich  der  Gedanke,  dass  sittliche  Gesetze  nur  für  normale  Menschen 
ersonnen,  nicht  aber  für  anormale  bindend  sein  können.  Ganz  glücklich 
kann  allerdings  ein  fein  empfindender  Mensch,  der  sich  von  der  Natur  aus- 
gestossen  und  von  der  Cultur  der  Verachtung  preisgegeben  weiss,  nie  werden, 
aber  in  mir  war  eine  wehmüthige  Ruhe  und  in  Momenten,  wo  ich  A.  glücklich 
glaubte,  war  ich  es  vorübergehend  auch. 

Das  ist  die  Geschichte  einer  Unglücklichen,  die  durch  eine  verhängniss- 
volle Laune  der  Natur  um  alle  Lebensfreude  betrogen  und  dem  Kummer  über- 
antwortet ist." 

Ich  lernte  die  Schreiberin  dieser  Lebens-  und  Leidensgeschichte  als  eine 
feingebildete  Persönlichkeit  kennen,  von  groben  Zügen,  starkknochigem  aber 
durchaus  weiblichem  Körperbau.  Sie  hat  seit  einigen  Jahren  das  Klimakterium 
ohne  besondere  Beschwerden  hinter  sich,  fühlt  sich  seither  frei  von  sinnlichen 
Regungen.  In  einer  bestimmten  Rolle  habe  sie  sich  dem  geliebten  Weibe 
gegenüber  sexuell  nie  gefühlt;  für  Männer  niemals  irgend  eine  sinnliche  Regung 
empfunden. 

Ueber  die  familiären  und  Gesundheitsverhältnisse  ihrer  früheren  Ge- 
liebten A.  befragt,  machte  Fräulein  L.  Mittheilungen,  aus  welchen  schwere  Be- 
lastung, insofern  der  Vater  in  einer  Irrenanstalt  gestorben  ist,  die  Mutter  im 
Klimakterium  aliniert  war,  Neurosen  mehrfach  in   der  Familie  vorgekommen 


288  Paraesthesia  sexualis. 

sind  und  die  A.  lange  Zeit  an  schwerer  Enteropathie  mit  zeitweisem  hallucina- 
torischem  Delir  gelitten  hatte,  zweifellos  erscheint. 

Beobachtung  120.  Homosexualität.  S.  J.,  38  Jahre,  Gouvernante, 
suchte  ärztlichen  Rath  bei  mir  wegen  eines  Nervenleidens.  Der  Vater  war 
vorübergehend  geisteskrank  und  starb  an  einer  Gehirnkrankheit.  Patientin 
ist  das  einzige  Kind,  litt  schon  in  frühen  Jahren  an  Angstgefühlen  und  quä- 
lenden Vorstellungen,  z.  B.  dass  sie  im  Sarge,  nachdem  dieser  geschlossen,  er- 
wachen werde,  dass  sie  bei  der  Beichte  etwas  vergessen,  unwürdig  communi- 
ciren  könnte.  Sie  litt  viel  an  Kopfschmerzen,  war  immer  sehr  erregt,  schreckhaft, 
hatte  aber  gleichwohl  einen  Drang,  aufregende  Dinge,  z.  B.  Leichen,  zu  sehen. 

Schon  in  den  frühesten  Kinderjahren  war  Patientin  sexuell  erregt  und 
kam  ohne  alle  Verführung  zur  Masturbation.  Die  Menses  traten  mit  14  Jahren 
ein,  in  der  Folge  jeweils  von  colikartigen  Schmerzen,  heftiger  sexueller  Er- 
regung, Migräne  und  geistiger  Verstimmung  begleitet.  Ihren  Drang  zur  Mastur- 
bation lernte  Patientin  vom  18.  Jahre  ab  unterdrücken. 

Patientin  hat  niemals  Neigung  zu  einer  Person  des  anderen  Geschlechts 
gefühlt.  Wenn  sie  an  Ehe  dachte,  so  geschah  dies  nur,  weil  sie  sich  eine  Ver- 
sorgung durch  Heirath  wünschte.  Hingegen  fühlte  sie  sich  mächtig  zu  Mädchen 
hingezogen.  Sie  hielt  solche  Neigung  Anfangs  für  Freundschaft,  erkannte  aber 
aus  der  Innigkeit,  mit  welcher  sie  an  solchen  Freundinnen  hing,  und  aus  der 
tiefen  Sehnsucht,  die  sie  fortwährend  nach  denselben  empfand,  dass  diese 
Gefühle  doch  mehr  als  Freundschaft  waren. 

Patientin  findet  es  unbegreiflich,  dass  ein  Mädchen  einen  Mann  lieben 
könne,  dagegen  verstehe  sie  es  wohl,  dass  dies  einem  Manne  einem  Mädchen 
gegenüber  möglich  sei.  Für  schöne  Frauen  und  Mädchen  habe  sie  sich  stets 
lebhaft  interessirt,  sei  durch  deren  Anblick  mächtig  erregt  worden.  Ihre  Sehn- 
sucht sei  es  immer  gewesen,  solche  liebe  Geschöpfe  zu  küssen  und  zu  umarmen. 
Geträumt  habe  sie  nie  vom  Manne,  sondern  nur  von  Mädchen.  Im  Genuss 
des  Anblicks  solcher  zu  schwelgen,  sei  ihr  Wonne  gewesen.  Die  Trennung 
von  solchen  „Freundinnen"  habe  sie  jeweils  desperat  gemacht. 

Patientin,  deren  äussere  Erscheinung  eine  durchaus  weibliche  und  höchst 
decente  ist,  will  sich  nie  in  einer  besonderen  Rolle  Freundinnen  gegenüber  ge- 
fühlt haben,  auch  nicht  in  beseligenden  Träumen.  Weibliches  Becken,  grosse 
Mammae,  keine  Andeutung  von  Bartwuchs. 

Beobachtung  121.  Homosexualität.  Frau  R.,  35  Jahre,  den 
höheren  Ständen  angehörig,  wurde  mir  1886  behufs  Consultation  von  ihrem 
Manne  zugeführt. 

Vater  war  Arzt  und  sehr  neuropathisch.  Vatersvater  war  gesund,  nor- 
mal und  erreichte  ein  Alter  von  96  Jahren.  Ueber  die  Mutter  des  Vaters  fehlen 
Notizen.  Die  Geschwister  des  Vaters  sollen  sämmtlich  nervös  sein.  Die  Mutter 
der  Patientin  war  nervenkrank,  litt  an  Asthma.  Deren  Eltern  waren  ganz  ge- 
sund.    Die  Schwester  der  Mutter  litt  an  Melancholie. 

Patientin  litt  schon  seit  dem  10.  Jahre  an  habituellem  Kopfschmerz, 
machte  ausser  Masern  keine  Krankheiten  durch,  war  begabt,  genoss  die  beste 
Erziehung,  hatte  besonderes  Talent  für  Musik  und  Sprachen,  war  genöthigt, 
sich  als  Gouvernante  auszubilden,  war  übermässig  in  den  Entwicklungsjahren 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung  beim  Weibe.  289 

geistig  angestrengt,  machte  im  17.  Jahre  eine  mehrmonatliche  Melancholia 
sine  delirio  durch.  Patientin  versichert,  dass  sie  von  jeher  nur  Sympathie  für 
Personen  des  eigenen  Geschlechts  hatte  und  an  Männern  höchstens  ästhetisches 
Interesse  fand.  Sinn  für  weibliche  Arbeiten  habe  sie  nie  gehabt.  Als  kleines 
Mädchen  habe  sie  sich  am  liebsten  mit  Knaben  herumgetummelt. 

Patientin  will  gesund  geblieben  sein  bis  zum  27.  Jahre.  Da  wurde  sie 
ohne  äussere  Ursache  gemüthskrank  —  hielt  sich  für  eine  schlechte  Person 
voll  Sünden,  hatte  an  nichts  mehr  Freude,  war  schlaflos.  Während  dieser 
Krankheitszeit  war  sie  überdies  von  Zwangsvorstellungen  geplagt,  sich  den 
Tod,  ihr  eigenes  Sterben  und  das  ihrer  Angehörigen  vorstellen  zu  müssen. 
Genesung  nach  etwa  5  Monaten.  Sie  wurde  nun  Gouvernante,  war  sehr  an- 
gestrengt, bis  auf  zeitweise  neurasthenische  Beschwerden,  Spinalirritation 
gesund. 

Mit  28  Jahren  machte  sie  die  Bekanntschaft  Niiner  5  Jahre  jüngeren 
Dame.  Sie  verliebte  sich  in  dieselbe,  fand  Gegenliebe.  Die  Liebe  war  eine 
sehr  sinnliche,  wurde  in  mutueller  Onanie  befriedigt.  „Ich  habe  sie  abgöttisch 
geliebt  —  sie  ist  ein  so  edles  Wesen,"  meint  Patientin,  als  sie  auf  dieses 
Liebesbündniss  zu  sprechen  kommt,  das  4  Jahre  währte  und  mit  der  (unglück- 
lichen) Heirath  dieser  Freundin  sein  Ende  fand. 

1885,  nach  vielen  Gemüthsbewegungen,  erkrankte  Patientin  unter  dem 
Bild  einer  Hysteroneurasthenie  (Dyspepsia  gastrica,  Spinalirritation,  starr- 
krampfartige Anfälle,  solche  von  Hemiopie  mit  Migräne,  Anfälle  von  tran- 
sitorischer  Aphasie,  Pruritus  pudendi  et  ani).  Im  Februar  1886  traten  diese 
Symptome  zurück. 

Im  März  lernte  Patientin  ihren  jetzigen  Mann  kennen  und  heirathete 
ihn  ohne  langes  Besinnen,  da  er  reich,  ihr  sehr  zugethan  und  sein  Charakter 
ihr  sympathisch  war. 

Am  6.  April  las  sie  eines  Tages  die  Phrase:  „Der  Tod  verschont  Nie- 
mand". Wie  ein  Blitz  aus  heiterem  Himmel  kehrten  die  früheren  Todeszwangs- 
vorstellungen wieder.  Sie  musste  sich  die  schrecklichsten  Todesarten  für  sich 
und  ihre  Umgebung  ausdenken,  besonders  Sterbescenen  sich  vorstellen,  verlor 
Ruhe  und  Schlaf,  hatte  an  nichts  mehr  Freude.  Der  Zustand  besserte  sich. 
Sie  heirathete  Ende  Mai  1886,  war  aber  damals  noch  von  peinlichen  Gedanken 
geplagt,  dass  sie  dem  Mann  und  ihrer  Freundschaft  Unheil  bringe. 

Am  6.  Juni  1886  erster  Coitus.  Sie  war  davon  moralisch  tief  deprimirt. 
So  hatte  sie  sich  die  Ehe  nicht  gedacht!  Anfangs  war  sie  von  heftigem 
Taedium  vitae  geplagt.  Der  Mann,  welcher  seine  Frau  aufrichtig  liebte,  that 
sein  Möglichstes,  um  sie  zu  beruhigen.  Consultirte  Aerzte  meinten,  wenn 
Patientin  gravid  werde,  sei  alles  gut!  Der  Mann  konnte  sich  das  räthselhafte 
Benehmen  seiner  Frau  nicht  erklären.  Sie  war  freundlich  gegen  ihn,  duldete 
seine  Liebkosungen,  verhielt  sich  beim  Coitus,  dem  sie  thunlich  auswich,  ganz 
passiv,  war  nach  dem  Akt  tagelang  matt,  erschöpft,  von  Spinalirritation  ge- 
plagt, nervös. 

Eine  Reise  des  Ehepaares  führte  ein  Wiedersehen  der  Freundin  herbei, 
die  in  unglücklicher  Ehe  seit  3  Jahren  lebt.  Die  beiden  Damen  zitterten  vor 
Wonne  und  Erregung,  als  sie  sich  in  die  Arme  sanken,  waren  von  nun  an 
unzertrennlich.  Der  Mann  fand,  dass  dieses  Freundschaftsverhältniss  doch  ein 
eigenthümliches  sei  und  beschleunigte  die  Abreise.  Gelegentlich  überzeugte 
v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  \g 


290  Paraesthesia  sexualis. 

er  sich  durch  die  Correspondenz  seiner  Frau  mit  dieser  „Freundin",  dass  der 
Briefwechsel  genau  dem  zweier  Liebenden  entsprach. 

Frau  R.  wurde  schwanger.  In  der  Gravidität  schwanden  die  Reste 
psychischer  Depression  und  die  Zwangsvorstellungen.  Mitte  September  Abortus 
etwa  in  der  9.  Woche  der  Gravidität.  Im  Anschlüsse  daran  neuerliche  Er- 
scheinungen von  Hysteroneurasthenie.  Ueberdies  Anteflexio  et  Lateropositio 
dextra  uteri.    Anaemia.    Atonia  ventriculi.    • 

Patientin  machte  bei  der  Consultation  den  Eindruck  einer  höchst  be- 
lasteten neuropathischen  Persönlichkeit.  Unverkennbar  war  der  neuropathische 
Ausdruck  des  Auges.  Habitus  durchaus  weiblich.  Ausser  sehr  schmalem 
steilem  Gaumen  keine  Skeletabnormität.  Patientin  entschloss  sich  schwer  zu 
Mittheilungen  über  ihre  sexuelle  Abnormität.  Sie  klagte,  dass  sie  geheirathet 
habe,  ohne  zu  wissen ,  was  die  Ehe  zwischen  Mann  und  "Weib  sei.  Sie  liebe 
ja  ihren  Gemahl  herzlich  ob  seiner  geistigen  Vorzüge,  aber  der  eheliche  Um- 
gang sei  ihr  eine  Pein,  sie  leiste  ihn  widerwillig,  ohne  jemals  eine  Befriedi- 
gung davon  zu  empfinden.  Post  actum  sei  sie  tagelang  ganz  matt  und  er- 
schöpft. Seit  dem  Abortus  und  dem  Verbot  des  Arztes,  ehelichen  Umgang  zu 
pflegen,  gehe  es  ihr  besser,  aber  die  Zukunft  sei  ihr  schrecklich.  Sie  achte 
ihren  Mann,  liebe  ihn  geistig,  möchte  alles  für  ihn  thun,  wenn  er  sie  nur 
sexuell  künftig  schone.  Sie  hoffe,  dass  mit  der  Zeit  sie  auch  sinnlich  für  ihn 
fühlen  könne.  Wenn  er  Violine  spiele,  komme  es  ihr  oft  vor,  als  ob  eine 
Empfindung  in  ihr  auftauche,  die  mehr  als  Freundschaft  sei,  aber  das  sei  nur 
eine  flüchtige  Empfindung,  in  welcher  sie  keine  Gewähr  für  die  Zukunft  er- 
blicke. Ihr  höchstes  Glück  sei  die  Correspondenz  mit  der  früheren  Geliebten. 
Sie  fühle,  dass  dies  unrecht  sei,  aber  sie  könne  davon  nicht  lassen,  sonst  fühle 
sie  sich  namenlos  elend. 

Beobachtung  122.  Homosexualität.  Frau  C,  32  Jahre  alt, 
Beamtengattin ,  eine  grosse ,  nicht  unschöne ,  durchaus  weibliche  Erscheinung, 
stammt  von  neuropathischer,  sehr  aufgeregter  Mutter.  Ein  Bruder  war  psycho- 
pathisch und  ging  durch  Potus  zu  Grunde.  Patientin  war  von  jeher  sonderbar, 
starrköpfig,  verschlossen,  jähzornig,  excentrisch.  Auch  ihre  Geschwister  sind 
aufgeregte  Leute.  In  der  Familie  ist  mehrfach  Phthisis  pulm.  vorgekommen. 
Schon  als  13jähriges  Mädchen  machte  Patientin,  neben  Zeichen  grosser  sexueller 
Erregbarkeit,  sich  durch  schwärmerische  Liebe  zu  einer  Altersgenossin  auf- 
fällig. Die  Erziehung  war  streng,  jedoch  las  Patientin  heimlich  viel  Romane 
und  machte  massenhaft  Gedichte.  Mit  18  Jahren  heirathete  sie,  um  aus  un- 
behaglichen Verhältnissen  des  elterlichen  Hauses  loszukommen. 

Von  jeher  will  sie  ganz  gleichgültig  gegen  Männer  gewesen  sein.  That- 
sächlich  mied  sie  Bälle.  Weibliche  Statuen  erregten  ihr  Wohlgefallen.  Das 
Höchste  sei  ihr  immer  der  Gedanke  gewesen,  mit  einem  geliebten  Weibe  ehelich 
verbunden  zu  werden.  Ihrer  sexuellen  Eigenart  will  sie  sich  bis  zur  Eingehung 
der  Ehe  nicht  bewusst  gewesen  sein.  Unerklärlich  sei  ihr  die  Sache  allerdings 
immer  gewesen.  Patientin  unterzog  sich  der  ehelichen  Pflicht,  gebar  3  Kinder, 
von  denen  zwei  an  Convulsionen  litten,  lebte  friedlich  mit  dem  Mann,  den  sie 
aber  nur  seiner  moralischen  Eigenschaften  wegen  achtete.  Dem  Coitus  ging 
sie  gern  aus  dem  Wege.     „Ich  hätte  lieber  mit  einem  Weibe  verkehrt." 

Patientin  war  bis  1878  neurasthenisch  geworden.   Anlässlich  eines  Bade- 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung  beim  Weibe.  291 

aufenthalts  lernte  sie  einen  weiblichen  Urning  kennen,  dessen  Krankengeschichte 
ich  im  Irrenfreund  1884,  Nr.  1  als  Beobachtung  6  veröffentlicht  habe. 

Patientin  kehrte  wie  umgewechselt  zur  Familie  heim.  Der  Mann  be- 
richtet: „Sie  war  nicht  mehr  mein  "Weib,  hatte  keine  Liebe  mehr  zu  mir  und 
den  Kindern  und  wollte  von  ehelichen  Annäherungen  nichts  mehr  wissen." 
Sie  entbrannte  in  brünstiger  Liebe  zur  „Freundin",  hatte  für  nichts  Anderes 
mehr  Sinn.  Nachdem  der  Mann  der  Dame  das  Haus  verboten,  gab  es  Brief- 
wechsel mit  Stellen  wie:  „Mein  Täubchen,  ich  lebe  ja  nur  für  Dich,  meine 
Seele!"  Rendez-vous,  schreckliche  Aufregung,  wenn  ein  erwarteter  Brief  aus- 
blieb. Das  Verhältniss  war  kein  platonisches.  Aus  einzelnen  Andeutungen 
lässt  sich  vermuthen,  dass  mutuelle  Onanie  das  Mittel  der  sinnlichen  Befriedi- 
gung war.  Dieses  Liebesverhältniss  dauerte  bis  1882  und  machte  Patientin 
in  hohem  Grade  neurasthenisch. 

Da  Patientin  ihr  Hauswesen,  gründlich  vernachlässigte,  nahm  der  Mann 
eine  60jährige  Dame  als  Haushälterin  an,  ausserdem  eine  Gouvernante  für  die 
Kinder.  Patientin  verliebte  sich  in  die  Beiden,  die  wenigstens  Liebkosungen 
sich  gefallen  Hessen  und  von  der  Liebe  der  Herrin  materiell  profitirten. 

Ende  1883  musste  Patientin  sich  entwickelnder  Tuberculosis  pulm.  wegen 
nach  dem  Süden  reisen.  Dort  lernte  sie  eine  40jährige  Russin  kennen,  ver- 
liebte sich  sterblich  in  dieselbe,  fand  aber  keine  Gegenliebe  nach  ihrem  Sinne. 
Eines  Tages  brach  Irrsinn  bei  der  Kranken  aus  —  sie  hielt  die  Russin  für 
eine  Nihilistin,  glaubte  sich  von  ihr  magnetisirt,  bot  förmliches  Verfolgungsdelir, 
entfloh ,  wurde  in  einer  Stadt  Italiens  aufgegriffen ,  ins  Spital  gebracht ,  be- 
ruhigte sich  bald  wieder,  verfolgte  neuerdings  die  Dame  mit  ihrer  Liebe,  fühlte 
sich  namenlos  unglücklich,  plante  Selbstmord. 

Heimgekehrt  war  sie  tief  verstimmt,  ihre  Russin  nicht  zu  besitzen,  kalt 
und  abstossend  gegen  die  Angehörigen;  Ende  Mai  1884  setzte  ein  deliranter 
erotischer  Aufregungszustand  ein.  Sie  tanzte,  jubelte,  erklärte  sich  für  männ- 
lichen Geschlechts,  verlangte  nach  ihrem  früheren  Geliebten,  behauptete,  aus 
kaiserlichem  Hause  zu  sein,  entwich  in  Männerkleidung  aus  dem  Hause,  wurde 
in  manisch-erotischer  Erregung  der  Irrenanstalt  zugeführt.  Der  Exaltations- 
zustand schwand  nach  einigen  Tagen.  Patientin  wurde  ruhig ,  deprimirt» 
machte  einen  verzweifelten  Selbstmordversuch,  war  in  der  Folge  tief  schmerz- 
lich, mit  Taedium  vitae  behaftet;  die  conträre  Sexualempfindung  trat  immer 
mehr  zurück,  die  Tuberculose  machte  Fortschritte.  Patientin  starb  phthisisch 
Anfang  1885. 

Die  Section  des  Gehirns  bot  hinsichtlich  des  Baustils  und  der  Windungs- 
anordnung nichts  Auffälliges.  Gehirngewicht  1150.  Schädel  leicht  asymmetrisch. 
Keine  anatomischen  Degenerationszeichen.  Innere  und  äussere  Genitalien  ohne 
Anomalie. 

Beobachtung  123.  (Viraginität.)  Fräulein  N.,  25  Jahre,  stammt 
von  angeblich  gesunden  Eltern.  Sämmtliche  (5)  Geschwister  sind  aber  nervös, 
drei  derselben  (Schwestern)  verheirathet.  Sie  ist  sehr  talentirt,  besonders  für 
schöne  Künste.  Schon  als  kleines  Kind  spielte  sie  am  liebsten  Soldaten-  und 
andere  Knabenspiele,  war  keck  und  ausgelassen  und  that  es  darin  selbst 
Knaben  zuvor.  Sie  hatte  nie  Sinn  für  Puppen  und  weibliche  Handarbeit. 
Mit   dem  15.  Jahr  trat   die  Pubertät  ein.     Bald  darnach  verliebte  sie  sich  in 


292  Paraesthesia  sexualis. 

junge  Damen,  aber  nur  platonisch,  da  sie  ein  sittliches  Mädchen  ist.  Seit 
einigen  Jahren  ist  ihre  Libido  sehr  heftig  geworden,  so  dass  sie  sich  kaum 
beherrschen  kann.  Sie  hat  lascive  Träume,  in  welchen  nur  weibliche  Indi- 
viduen eine  Rolle  spielen,  denen  gegenüber  sie  sich  in  männlicher  Position 
fühlt.  Seit  einigen  Jahren  ist  sie  in  eine  ältere,  etwa  40jährige  Dame  sterb- 
lich verliebt.     Sie  quält  dieselbe  mit  Eifersucht. 

Frl.  N.  sind  Männer  ganz  gleichgültig.  Sie  könnte  ruhig  mit  ihnen 
Zimmer  und  Lager  theilen,  während  sie  Personen  des  eigenen  Geschlechts 
gegenüber  Schamhaftigkeit  an  den  Tag  legt. 

Sie  ist  sich  des  Pathologischen  ihres  Zustandes  bewusst. 

Frl.  N.  hat  männliche  Gesichtszüge,  tiefe  Stimme,  männliche  Gehweise, 
ist  ohne  Behaarung  im  Gesicht,  hat  schwach  entwickelte  Mammae,  trägt  kurz 
geschnittenes  Haar  und  macht  den  Eindruck  eines  Mannes  in  Frauenkleidern. 

Beobachtung  124.  (Viraginität.)  C.  R.,  Dienstmädchen,  26  Jahre, 
leidet  seit  den  Entwicklungsjahren  an  Paranoia  originaria  und  Hysterismus, 
hatte,  wesentlich  auf  Grund  ihrer  Wahnideen,  eine  romanhafte  Vergangenheit 
und  gerieth  1884  in  der  Schweiz,  wohin  sie  aus  Verfolgungswahn  geflohen 
war,  in  gerichtliche  Untersuchung.  Bei  dieser  Gelegenheit  stellte  sich  heraus, 
dass  die  R.  mit  conträrer  Sexualempfindung  behaftet  ist. 

Ueber  die  Eltern  und  die  Verwandtschaft  stehen  keine  Auskünfte  zu 
Gebot.  Die  R.  will,  ausser  an  Lungenentzündung  mit  16  Jahren,  früher  nie 
erheblich  krank  gewesen  sein. 

Erste  Menstruation  mit  15  Jahren  ohne  alle  Beschwerden,  in  der  Folge 
oft  unregelmässig  und  abnorm  stark.  Pat.  versicherte,  sie  habe  niemals 
Neigung  zu  Personen  des  anderen  Geschlechts  gefühlt,  nie  die  Annäherung 
eines  Mannes  geduldet.  Sie  habe  nie  begreifen  können,  wie  ihre  Freundinnen 
die  Schönheit  und  Liebenswürdigkeit  männlicher  Personen  besprechen  konnten. 
Sie  könne  nicht  begreifen,  wie  sich  ein  Weib  von  einem  Manne  küssen  lassen 
könne.  Dagegen  sei  es  ihr  Entzücken  und  Begeisterung  gewesen,  einen  Kuss 
auf  die  Lippen  einer  geliebten  Freundin  zu  drücken.  Sie  habe  eine  ihr  un- 
begreifliche Liebe  zu  Mädchen.  Sie  habe  einige  Freundinnen  schwärmerisch 
geliebt  und  geküsst;  sie  hätte  für  diese  ihr  Leben  hingeben  mögen.  Ihr 
Höchstes  wäre  gewesen,  mit  einer  solchen  Freundin  dauernd  zusammenzuleben, 
sie  einzig  und  ganz  zu  besitzen. 

Sie  fühle  sich  dabei  als  Mann  dem  geliebten  Mädchen  gegenüber.  Schon 
als  kleines  Mädchen  habe  sie  nur  Sinn  für  Knabenspiele  gehabt,  am  liebsten 
Schiessen  und  Militärmusik  gehört,  sei  von  solcher  immer  ganz  begeistert  ge- 
worden und  wäre  gerne  als  Soldat  mitgezogen.  Jagd  und  Krieg  seien  ihr  Ideal 
gewesen.  Im  Theater  habe  sie  nur  Sinn  für  die  weiblichen  Darsteller  gehabt. 
Sie  wisse  wohl,  dass  diese  ganze  Richtung  unweiblich  sei,  aber  sie  könne  nicht 
anders.  In  männlicher  Kleidung  zu  gehen,  sei  ihr  ein  grosser  Genuss  ge- 
wesen, ebenso  habe  sie  mit  Vorliebe  von  jeher  männliche  Arbeit  verrichtet  und 
dazu  besonderes  Geschick  gezeigt,  während  sie  das  Gegentheil  bezüglich  weib- 
licher Arbeit,  besonders  Handarbeit  behaupten  müsse.  Auch  liebt  Pat.  Rauchen 
und  geistige  Getränke.  Auf  Grund  von  persecutorischen  Wahnideen,  um  ver- 
meintlichen Verfolgern  zu  entgehen,  hat  Pat.  wiederholt  in  Männerkleidern 
und  männlichen  Rollen   sich   bewegt.     Sie   that  diess   mit   solchem   (wohl  an- 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung  beim  Weibe.  293 

geborenem)  Geschick,  dass  sie  allgemein  die  Leute  über  ihr  wahres  Geschlecht 
zu  täuschen  vermochte. 

Aktenmässig  ist  festgestellt,  dass  Pat.  schon  1884  längere  Zeit  bald  in 
Civilkleidern,  bald  in  Lieutenantsuniform  sich  bewegte  und  in  einem  Männer- 
anzug, wie  ihn  etwa  Herrschaftsdiener  tragen,  im  August  1884  aus  Verfolgungs- 
wahn aus  Oesterreich  nach  der  Schweiz  flüchtete.  Sie  fand  dort  einen  Dienst 
in  einer  Kaufmannsfamilie  und  verliebte  sich  in  die  Tochter  des  Hauses,  die 
„schöne  Anna",  welche  ihrerseits,  das  wahre  Geschlecht  der  R.  nicht  erkennend, 
sich  in  den  schmucken  jungen  Mann  verliebte. 

Pat.  macht  über  diese  Episode  folgende  charakteristische  Bemerkungen: 
„Ich  war  ganz  verliebt  in  die  Anna.  Ich  weiss  nicht,  wie  dies  gekommen 
ist,  und  kann  mir  keine  Rechenschaft  über  diese  Neigung  geben.  Tn  dieser 
fatalen  Liebe  liegt  der  Grund,  dass  ich  so  lange  die  Rolle  des  Mannes  fort- 
gespielt habe.  Ich  habe  noch  nie  eine  Liebe  zu  einem  Manne  gefühlt  und 
glaube,  dass  sich  meine  Liebe  dem  weiblichen  und  nicht  dem  männlichen 
Geschlecht  zuwendet.  Ueber  diesen,  meinen  Zustand  bin  ich  mir  durchaus 
unklar."  # 

Aus  der  Schweiz  schrieb  die  R.  Briefe  an  ihre  heimathliche  Freundin 
Amalie,  die  den  Gerichtsakten  beigelegt  wurden.  Es  sind  Briefe  von  schwär- 
merischer, weit  über  das  Mass  der  Freundschaft  hinausgehender  Liebe.  Sie 
apostrophirt  die  Freundin:  „Meine  Wunderblume,  Sonne  meines  Herzens, 
Sehnsucht  meiner  Seele".  Sie  sei  ihr  höchstes  Glück  auf  Erden,  ihr  gehöre 
das  Herz.  Auch  in  Briefen  an  die  Eltern  der  Freundin  heisst  es :  sie  möchten 
doch  auf  ihre  „Wunderblume"  schauen,  denn  würde  diese  sterben,  so  ver- 
möchte auch  sie  das  Leben  nicht  mehr  zu  ertragen. 

Die  R.  befand  sich  zur  Untersuchung  ihres  Geisteszustandes  einige  Zeit 
in  der  Irrenanstalt.  Als  die  Anna  einmal  zum  Besuch  bei  der  R.  zugelassen 
wurde,  wollte  das  feurige  Umarmen  und  Küssen  kein  Ende  nehmen.  Die 
erstere  gab  unverhohlen  zu,  dass  sie  sich  schon  daheim  mit  der  gleichen  Zärt- 
lichkeit umarmt  und  geküsst  hätten. 

Die  R.  ist  eine  grosse,  schlanke,  stattliche  Erscheinung,  von  durchaus 
weiblichem  Bau,  aber  mehr  männlichen  Zügen.  Schädel  regelmässig,  keine 
anatomischen  Degenerationszeichen,  Genitalien  ganz  normal  und  ganz  jung- 
fräulich. Die  R.  machte  den  Eindruck  einer  sittlich  unverdorbenen  und  de- 
centen  Persönlichkeit.  Alle  Umstände  deuteten  darauf,  dass  sie  nur  platonisch 
geliebt  habe,  Blick  und  Erscheinung  deuten  auf  eine  neuropathische  Persön- 
lichkeit. Schwerer  Hysterismus,  zeitweise  starrkrampfartige  Anfälle  mit  visio- 
nären und  deliranten  Zuständen.  Pat.  ist  sehr  leicht  durch  hypnotische  Be- 
einflussung in  Somnambulismus  zu  bringen  und  in  diesem  Zustande  aller 
möglichen  Suggestionen  fähig.  (Eigene  Beobachtung.  Friedreich's  Blätter 
1881.    Heft  1.) 

Beobachtung  125.  (Viraginität.)  Fräulein  0.,  23  Jahre,  stammt 
von  Constitutionen  und  schwer  hysteropathischer  Mutter.  Der  Vater  der 
Mutter  war  irrsinnig.  Von  väterlicher  Seite  stammt  Pat.  aus  unbelasteter 
Familie. 

Der  Vater  starb  früh  an  Pneumonie.  Pat.  wird  mir  von  ihrem  Curator 
zugeführt,  weil  sie  kürzlich  von  Hause  in  Männerkleidern  durchging,  um  die 


294  Paraesthesia  sexualis. 

Welt  zu  durchstreifen  und  .Künstler"  zu  werden.  Pat.  ist  nämlich  sehr  für 
Musik  talentirt. 

Schon  seit  Jahren  ist  Frl.  0.  auffällig  durch  ihr  keckes,  mehr  männ- 
liches Wesen  und  ihr  Bestrehen,  Haar  und  Kleidung  thunlichst  nach  männ- 
lichem Zuschnitt  zu  tragen.  Seit  dem  13.  Jahr  zeigte  sie  schwärmerische 
Liebe  zu  Freundinnen,  denen  sie  oft  durch  brünstige  Umarmungen  geradezu 
lästig  fiel. 

Pat.  macht  bei  der  Consultation  kein  Hehl  aus  ihrer  Leidenschaft  für 
Personen  des  eigenen  Geschlechts.  Seit  ihrem  13.  Jahr  sei  sie  sich  bewusst, 
dass  sie  nur  solche  lieben  könne.  Sie  fühle  sich  als  Mann  dem  Weibe  gegen- 
über, meint,  sie  sehe  auch  ganz  männlich  aus,  und  ginge  am  liebsten  in 
Männerkleidem. 

Vor  nicht  langer  Zeit  habe  sie  einen  bei  der  Pobzei  angestellten  Ver- 
wandten allen  Ernstes  um  seine  Vermittlung  gebeten,  dass  ihr  gestattet  werde, 
in  Männerkleidern  zu  gehen. 

Ihre  erotischen  Träume  drehen  sich  nur  um  intimen  Verkehr  mit  Freun- 
dinnen. Irgend  ein  Interesse  für  Männer  habe  sie  nie  empfunden,  auch  nie 
daran  gedacht,  dass  sie  je  heirathen  könnte. 

Pat.  fühlt  sich  in  ihrer  abnormen  sexuellen  Rolle  ganz  glücklich  und 
kann  sie  nicht  als  krankhaft  anerkennen.  Dass  ihr  sexuelles  Fühlen  im  Wider- 
spruch mit  dem  anderer  Weiber  steht,  vermag  sie  nicht  einzusehen.  Sie  ist 
geistig  entschieden  beschränkt  und  originär  psychisch  abnorm. 

Der  Schädelumfang  beträgt  nur  51  cm.  Pat.  hat  Wolfsrachen.  Das 
Skelet  ist  durchaus  weiblich,  bis  auf  auffallend  grosse  und  mehr  männliche 
Füsse.  Die  Bewegungen  und  die  ganze  Pose,  gleichwie  auch  der  Gang  sind 
mehr  männlich.  Die  Stimme  ist  weiblich.  Pat.  ist  seit  dem  13.  Jahr  regel- 
mässig menstruirt. 

Beobachtung  126.  (Gynandrie.)  Fräulein  X.,  38  Jahre,  erschien 
im  Spätherbst  1881  in  meiner  Sprechstunde  wegen  heftiger  Spinalirritation 
und  hartnäckiger  Schlaflosigkeit,  in  deren  Bekämpfung  sie  Morphinistin  und 
Chloralistin  geworden  sei. 

Die  Mutter  und  Schwester  waren  nervenkrank,  die  übrige  Familie  an- 
geblich gesund.  Das  Leiden  datirte  angeblich  seit  einem  Fall  auf  den  Rücken 
1872,  wobei  Pat.  heftig  erschrocken  war,  jedoch  litt  sie  schon  als  Mädchen 
an  Muskelkrämpfen  und  hysterischen  Symptomen.  Im  Anschluss  an  den  Sturz 
entwickelte  sich  eine  neurasthenisch-hysterische  Neurose  mit  vorwaltender 
Spinalirritation  und  Schlaflosigkeit.  Episodisch  kamen  hysterische  Paraplegie 
bis  zu  8  Monaten  Dauer  und  Zustände  von  hyster.  hallucinator.  Delir  mit 
Krampfanfällen  vor.  Dazu  gesellten  sich  im  Verlauf  Symptome  des  Morphi- 
nismus. Ein  mehrmonatlicher  Aufenthalt  in  der  Klinik  beseitigte  diesen  und 
besserte  erheblich  die  neurasthenische  Neurose,  wobei  allgemeine  Faradisation 
eine  auffällig  günstige  Wirkung  zeigte. 

Schon  bei  der  ersten  Begegnung  hatte  Pat.  durch  Kleidung,  Züge  und 
Benehmen  einen  auffälligen  Eindruck  gemacht.  Sie  trug  einen  Herrenhut,  die 
Haare  kurz  geschoren,  Zwicker,  Herrencravatte,  ein  rockartiges,  weit  über  das 
Damenkleid  herabreichendes  Oberkleid  mit  männlichem  Zuschnitt,  Stiefel  mit 
Absätzen;    sie  hatte  grobe,  mehr  männliche  Züge,  rauhe,  etwas  tiefe  Stimme 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung  beim  Weibe.  295 

und  machte  eher  den  Eindruck  eines  Mannes  im  Weiberrock  als  den  einer  Dame, 
wenn  man  vom  Busen  und  entschieden  weiblichen  Bau  des  Beckens  absah. 

Pat.  bot  in  der  langen  Beobachtungszeit  nie  Zeichen  von  Erotismus. 
Ueber  ihre  Kleidung  interpellirt  meinte  sie  nur,  die  von  ihr  gewählte  Tracht 
kleide  sie  besser.  Allmählich  brachte  man  aus  ihr  heraus,  dass  sie  schon  als 
kleines  Mädchen  Vorliebe  für  Pferde  und  männliche  Beschäftigung  hatte,  jedoch 
niemals  Interesse  für  weibliche  Arbeiten.  Später  habe  sie  besonders  gerne 
gelesen  und  einen  Beruf  als  Lehrerin  angestrebt.  Das  Tanzen  habe  sie  nie 
gefreut,  es  sei  ihr  immer  als  ein  Unsinn  erschienen.  Auch  das  Ballet  habe 
sie  nie  interessirt.  Ihr  höchster  Genuss  sei  der  Circus  gewesen.  Bis  zu  ihrer 
Krankheit  1872  habe  sie  weder  Neigung  zu  Personen  des  anderen,  noch  zu 
solchen  des  eigenen  Geschlechtes  empfunden.  Von  da  an  habe  sie  eine  ihr 
selbst  auffällige  Freundschaft  gegen  weibliche  Personen,  vorwiegend  jüngere 
Damen,  gefühlt  und  das  Bedürfniss  gehabt  und  befriedigt,  Hüte  und  Paletot 
nach  männlichem  Zuschnitt  zu  tragen.  Schon  seit  1869  hatte  sie  überdies 
ihre  Haare  kurz  geschoren  und  trug  sie,  wie  Männer  sie  zu  scheiteln  pflegen. 
Sinnlich  erregt  will  sie  nie  im  Umgang  mit  ihnen  gewesen  sein,  aber  ihre 
Freundschaft  und  Opferwilligkeit  gegen  ihr  sympathische  Damen  sei  grenzen- 
los gewesen,  während  sie  von  da  an  Widerwillen  gegen  Herren  und  Herren- 
gesellschaft empfand. 

Die  Verwandten  berichten,  dass  Pat.  vor  1872  einen  Heirathsantrag 
hatte,  denselben  aber  zurückwies  und  von  einer  1874  unternommenen  Bade- 
reise sexuell  geändert  zurückkam  und  gelegentliche  Andeutungen  machte,  sie 
halte  sich  nicht  für  ein  weibliches  Wesen. 

Seither  wolle  sie  nur  mit  Damen  umgehen,  habe  immer  so  eine  Art 
Liebesverhältniss  mit  Der  oder  Jener,  lasse  gelegentlich  Bemerkungen  fallen, 
dass  sie  sich  als  Mann  fühle.  Diese  Anhänglichkeit  an  Damen  sei  eine  ent- 
schieden über  die  Freundschaft  hinausgehende,  mit  Thränen,  Eifersucht  u.  s.  w. 
Als  sie  1874  in  einem  Badeort  weilte,  habe  sich  eine  junge  Dame  in  Pat.,  sie  für 
einen  verkleideten  Mann  haltend,  verliebt.  Als  jene  Dame  später  heirathete, 
sei  Pat.  eine  Zeitlang  ganz  schwermüthig  gewesen  und  habe  von  Untreue  ge- 
sprochen. Auch  den  Verwandten  fiel  die  Hinneigung  zu  männlicher  Kleidung 
und  männlichem  Benehmen,  die  Abneigung  gegen  weibliche  Arbeiten  seit  der 
Erkrankung  auf,  während  Pat.  früher,  mindestens  in  sexueller  Hinsicht,  nichts 
Auffälliges  geboten  habe.  Weitere  Nachforschungen  ergaben,  dass  Pat.  mit 
der  in  Beobachtung  122  geschilderten  Dame  in  einem  jedenfalls  nicht  rein 
platonischen  Liebesverhältniss  steht  und  ihr  zärtliche  Briefe  schreibt,  etwa  so 
wie  ein  Liebhaber  der  Geliebten.  Ich  sah  1887  Pat.  wieder  in  einer  Heil- 
anstalt, wohin  sie  wegen  hysteroepilep tischer  Anfälle,  Spinalirritation  und 
Morphinismus  gebracht  worden  war.  Die  conträre  Sexualempfindung  bestand 
unverändert  fort  und  war  Pat.  nur  durch  sorgsame  Ueberwachung  von  unzüch- 
tigen Angriffen  auf  weibliche  Mitpatienten  abzuhalten. 

Der  Zustand  blieb  ziemlich  unverändert  bis  1889.  Da  verfiel  Pat.  dem 
Siechthum  und  starb  August  1889  in  „Erschöpfung". 

Die  Sektion  ergab  in  den  vegetativen  Organen :  Degeneratio  amyloidea 
renum,  Fibroma  uteri,  Cystis  ovarii  sinistri.  Das  Stirnbein  erschien  stark  ver- 
dickt, an  der  Innenfläche  uneben,  mit  zahlreichen  Exostosen  besetzt,  die  Dura 
mit  dem  Schädeldach  verwachsen. 


296  Paraesthesia  sexualis. 

Längsdurchmesser  des  Schädels  175,  Breitendurchmesser  148  mm.  Ge- 
sammtgewicht  des  ödematösen,  aber  nicht  atrophischen  Gehirns  1175  g. 
Meningen  zart,  leicht  ablösbar.  Hirnrinde  blass.  Hirnwindungen  breit,  wenig 
zahlreich,  regelmässig  angeordnet.  Im  Kleinhirn  und  den  grossen  Ganglien 
nichts  Abnormes. 

Beobachtung  127.  (Gynandrie1).  Anamnese.  Am  4.  November  1889 
erstattete  der  Schwiegervater  eines  Grafen  Sandor  V.  die  Anzeige,  dass  dieser 
ihm  unter  dem  Vorwande,  einer  Caution  als  Secretär  einer  Aktiengesellschaft 
zu  benöthigen,  800  fl.  herausgelockt  habe.  Ueberdies  habe  sich  herausgestellt, 
dass  Sandor  Verträge  gefälscht,  die  im  Frühjahr  1889  erfolgte  Trauung  fingirt 
habe  und  vor  Allem,  dass  dieser  angebliche  Graf  Sandor  gar  kein  Mann  sei, 
sondern  ein  in  Männerkleidern  einhergehendes  Weib  und  Sarolta  (Charlotte) 
Gräfin  V.  heisse. 

S.  wurde  verhaftet  und  wegen  Verbrechens  des  Betrugs  und  Fälschung 
öffentlicher  Urkunden  in  Voruntersuchung  gezogen.  Im  ersten  Verhör  bekennt 
S.,  geb.  6.  Dezember  1866,  dass  er  weiblichen  Geschlechtes,  katholisch,  ledig 
und  als  Schriftstellerin  unter  dem  Namen  Graf  Sandor  V.  beschäftigt  sei. 

Aus  der  Autobiographie  dieses  Mannweibes  ergeben  sich  folgende  be- 
merkenswerthe,  von  anderer  Seite  bestätigte  Thatsachen. 

S.  stammt  aus  einer  altadeligen,  hochangesehenen  Familie  Ungarns,'  in 
welcher  Excentricität  Familieneigenthümlichkeit  war.  Eine  Schwester  der  Gross- 
mutter mütterlicherseits  war  hysterisch,  somnambul  und  lag  wegen  eingebil- 
deter Lähmung  17  Jahre  zu  Bette.  Eine  2.  Grosstante  brachte  wegen  ein- 
gebildeter Todeskrankheit  7  Jahre  im  Bette  zu,  gab  aber  gleichwohl  Bälle. 
Eine  3.  hatte  den  Spleen,  dass  eine  Console  in  ihrem  Salon  verwünscht  sei. 
Legte  Jemand  etwas  auf  diese  Console,  so  gerieth  sie  in  höchste  Aufregung, 
schrie  „verwünscht,  verwünscht"  und  eilte  mit  dem  Gegenstand  in  ein  Zimmer, 
das  sie  die  „schwarze  Kammer"  nannte  und  dessen  Schlüssel  sie  niemals  aus 
den  Händen  gab.  Nach  dem  Tod  dieser  Dame  fand  man  in  der  schwarzen 
Kammer  eine  Anzahl  von  Shawls,  Schmucksachen,  Banknoten  u.  s.  w.  Eine 
4.  Grosstante  Hess  2  Jahre  ihr  Zimmer  nicht  kehren,  wusch  und  kämmte  sich 
nicht.  Nach  2  Jahren  erst  kam  sie  wieder  zum  Vorschein.  Alle  diese  Frauen 
waren  nebenher  geistreich,  gebildet,  liebenswürdig. 

S.'s  Mutter  war  nervös  und  konnte  den  Mondschein  nicht  ertragen. 

Von  der  väterlichen  Familie  behauptet  man,  dass  sie  einen  Sporn  zuviel 
habe.  Eine  Linie  der  Familie  beschäftigt  sich  fast  ausschliesslich  mit  Spiritis- 
mus. Zwei  Blutsverwandte  väterlicherseits  haben  sich  erschossen.  Die  Mehr- 
zahl der  männlichen  Angehörigen  ist  ausserordentlich  talentirt.  Die  weib- 
lichen sind  durchweg  beschränkte,  hausbackene  Persönlichkeiten.  Der  Vater 
S.'s  hatte  eine  hohe  Stellung,  aus  der  er  jedoch  wegen  seiner  Excentricität 
und  Verschwendung  (er  verschwendete  über  1  Va  Millionen)  ausscheiden  musste. 

Eine  Marotte  des  Vaters  war  es  u.  A.,  dass  er  S.  ganz  als  Knaben  erzog, 
sie  reiten,  kutschiren,  jagen  liess,  ihre  Energie  als  Mann  bewunderte,  sie  Sandor 
nannte. 


*)  Vgl.  die  ausführlichen  gerichtsärztlichen  Gutachten  über  diesen  Fall 
von  Dr.  Birnbacher  in  Friedreich's  Blättern  f.  ger.  Med.  1891,  H.  1. 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung  beim  Weibe.  297 

Dagegen  liess  dieser  närrische  Vater  seinen  2.  Sohn  in  Weiberkleidern 
gehen  und  als  Mädchen  erziehen.  Die  Farce  hörte  mit  dem  15.  Jahre,  wo 
dieser  Sohn  eine  höhere  Bildungsanstalt  bezog,  auf. 

Sarolta-Sandor  blieb  unter  dem  Einfluss  des  Vaters  bis  zum  12.  Jahre, 
kam  dann  zur  excentrischen  mütterlichen  Grossmutter  nach  Dresden  und  wurde 
von  dieser,  als  der  männliche  Sport  zu  sehr  überhand  nahm,  in  ein  Institut 
gebracht  und  in  Weiberkleider  gesteckt. 

13  Jahre  alt,  ging  sie  dort  mit  einer  Engländerin,  der  sie  sich  als  Bub 
erklärte,  ein  Liebesverhältniss  ein  und  entführte  sie. 

Sarolta  kam  zur  Mama,  die  aber  nichts  ausrichtete  und  es  zulassen 
musste,  dass  ihre  Tochter  wieder  Sandor  wurde,  Knabenkleider  trug  und  jedes 
Jahr  mindestens  ein  Liebesverhältniss  mit  Personen  des  eigenen  Geschlechtes 
inscenirte.  Daneben  erhielt  S.  eine  sorgfältige  Erziehung,  machte  grössere 
Reisen  mit  dem  Vater,  natürlich  immer  als  junger  Herr,  emancipirte  sich 
frühe,  besuchte  Cafes,  selbst  zweideutige  Lokale  und  rühmte  sich  sogar  eines 
Tages  im  Lupanar  in  utroque  genu  puellas  sedisse.  S.  war  oft  berauscht, 
passionirt  für  männlichen  Sport,  ein  sehr  gewandter  Fechter.  S.  fühlte  sich 
sehr  zu  Schauspielerinnen  oder  sonstigen  alleinstehenden,  womöglich  nicht 
ganz  jungen  Damen  hingezogen.  Sie  versichert,  nie  eine  Neigung  zu  einem 
jungen  Mann  gefühlt  und  von  Jahr  zu  Jahr  eine  zunehmende  Abneigung 
gegen  Männer  empfunden  zu  haben.  „Ich  ging  am  liebsten  mit  unschönen, 
unscheinbaren  Männern  in  Damengesellschaft,  damit  ja  keiner  mich  in  Schatten 
stelle.  Bemerkte  ich,  dass  einer  Sympathien  bei  den  Damen  erweckte,  so 
wurde  ich  eifersüchtig.  Ich  zog  bei  Damen  geistreiche  den  körperlich  schönen 
vor.  Dicke  und  gar  männersüchtige  konnte  ich  nicht  ausstehen.  Ich  liebte 
es,  wenn  sich  die  Leidenschaft  einer  Frau  unter  poetischem  Schleier  offenbarte. 
Alles  Schamlose  an  einer  Frau  war  mir  ekelhaft.  Ich  hatte  eine  unaussprech- 
liche Idiosynkrasie  gegen  weibliche  Kleider,  überhaupt  gegen  alles  Weibliche, 
aber  nur  an  und  bei  mir,  denn  im  Gegentheil,  ich  schwärmte  ja  für  das  schöne 
Geschlecht." 

Seit  etwa  10  Jahren  lebte  S.  fast  beständig  ferne  von  ihren  Angehörigen 
und  als  Mann.  Sie  hatte  eine  Menge  Liaisons  mit  Damen,  machte  mit  solchen 
Reisen,  verschwendete  viel  Geld,  machte  Schulden. 

Daneben  ergab  sie  sich  literarischer  Thätigkeit  und  war  geschätzter 
Mitarbeiter  zweier  angesehener  Zeitschriften  der  Hauptstadt. 

Ihre  Leidenschaft  für  Damen  war  eine  sehr  wechselnde,  Beständigkeit 
in  der  Liebe  war  nicht  vorhanden. 

Nur  einmal  dauerte  eine  solche  Liaison  3  Jahre.  Es  war  vor  Jahren, 
dass  S.  auf  Schloss  G.  die  Bekanntschaft  der  um  10  Jahre  älteren  Emma  E. 
machte.  Sie  verliebte  sich  in  diese  Dame,  machte  mit  ihr  einen  Ehecontract 
und  lebte  3  Jahre  mit  ihr  wie  Mann  und  Frau  in  der  Hauptstadt. 

Eine  neue  Liebe,  die  S.  verhängnissvoll  werden  sollte,  veranlasste  sie, 
das  „Eheband"  mit  E.  zu  lösen.  Diese  wollte  nicht  von  ihr  lassen.  Nur  mit 
schweren  Opfern  erkaufte  S.  ihre  Freiheit  von  E.,  die  angeblich  jetzt  noch 
sich  als  geschiedene  Frau  gerirt  und  sich  als  Gräfin  V.  betrachtet!  Dass  S. 
auch  bei  anderen  Damen  Leidenschaft  hervorzurufen  vermochte,  geht  daraus 
hervor,  dass,  als  sie  (vor  der  „Eheschliessung"  mit  E.)  eines  Fräuleins  D. 
überdrüssig  geworden  war,   nachdem   sie  mit   dieser  einige  tausend  Gulden 


298  Paraesthesia  sexualis. 

verjubelt  hatte,  von  der  D.  mit  Erschiessen  bedroht  wurde,  Wenn  sie  ihr  nicht 
treu  bleibe. 

Es  war  im  Sommer  1887  während  eines  Aufenthaltes  in  einem  Badeort, 
dass  S.  die  Bekanntschaft  einer  angesehenen  Beamtenfamilie  E.  machte.  So- 
fort verliebte  sich  S.  in  die  Tochter  Marie  und  fand  Gegenliebe.  Deren  Mutter 
und  Cousine  suchten  dieses  Liebesverhältniss  zu  hintertreiben,  aber  vergebens. 
Ben  Winter  über  correspondirten  die  beiden  Liebenden  eifrig  mit  einander. 
Im  April  1888  kam  Graf  S.  zum  Besuch  und  im  Mai  1889  erreichte  er  das 
Ziel  seiner  Wünsche,  indem  Marie,  die  inzwischen  eine  Stelle  als  Lehrerin 
aufgegeben  hatte,  in  Gegenwart  eines  Freundes  ihres  geliebten  S.  in  einem 
Gartenhause  von  einem  Pseudopriester  in  Ungarn  getraut  wurde.  Den  Trau- 
schein fingirte  S.  mit  seinem  Freunde.  Das  Paar  lebte  in  Glück  und  Freude 
und  ohne  die  Anzeige  des  schlimmen  Schwiegervaters  hätte  diese  Scheinehe, 
voraussichtlich  noch  lange  gedauert.  Bemerkenswerth  ist,  dass  S.  während 
des  ziemlich  langen  Brautstands  die  Familie  seiner  Braut  über  sein  wahres 
Geschlecht  vollkommen  zu  täuschen  wusste. 

S.  war  passionirter  Raucher,  hatte  durchaus  männliche  Allüren  und 
Passionen.  Seine  Briefe  und  selbst  gerichtliche  Zustellungen  gelangten  unter 
der  Adresse  „Graf  S."  an  ihn,  auch  sprach  er  öfter  davon,  dass  er  zu  einer 
Waffenübung  einrücken  müsse.  Aus  Andeutungen  des  „Schwiegervaters"  geht 
hervor,  dass  S.  (was  dieser  auch  später  zugestand)  mittelst  in  den  Hosensack 
eingestopften  Sacktuches  oder  auch  Handschuhes  ein  Scrotum  zu  markiren 
wusste.  Auch  bemerkte  der  Schwiegervater  einmal  etwas  wie  ein  erigirtes 
membrum  am  künftigen  Schwiegersohn  (wahrscheinlich  ein  Priap),  der  auch 
gelegentlich  die  Bemerkung  fallen  Hess,  er  müsse  beim  Reiten  ein  Suspensorium 
tragen.  Thatsächlich  trug  S.  eine  Bandage  um  den  Leib,  möglicherweise  zur 
Befestigung  eines  Priaps. 

Obwohl  S.  sich  auch  pro  forma  öfters  rasiren  Hess,  war  man  im  Hotel 
gleichwohl  überzeugt,  dass  er  ein  Weib  sei,  weil  das  Stubenmädchen  in  der 
Wäsche  Spuren  von  Menstrualblut  fand  (was  S.  aber  als  hämorrhoidales  er- 
klärte) und  gelegentlich  eines  Bades,  das  S.  nahm,  durch  das  Schlüsselloch  sich 
von  dessen  weiblichem  Geschlecht  überzeugt  haben  wollte. 

Die  Familie  der  Marie  macht  es  glaublich,  dass  diese  lange  Zeit  über 
das  wahre  Geschlecht  ihres  Pseudogatten  in  Täuschung  befangen  war. 

Für  die  unglaubliche  Naivität  und  Unschuld  dieses  unglücklichen 
Mädchens  spricht  folgende  Stelle  in  einem  Briefe  Mariens  an  S.  vom 
26.  August  1889: 

„Ich  mag  keine  fremden  Kinder  mehr,  aber  so  ein  Bezerl  von  meinem 
Saudi,  so  ein  Patscherl  —  ach,  welch  Glück,  mein  Sandi!" 

Bezüglich  der  geistigen  Individualität  S.'s  geben  eine  grosse  Anzahl  vor- 
handener Manuscripte  erwünschten  Aufschluss.  Die  Schriftzüge  haben  den  Cha- 
rakter der  Festigkeit  und  Sicherheit.  Es  sind  echt  männHche  Züge.  Der  Inhalt 
wiederholt  sich  überall  in  denselben  Eigenthümlichkeiten :  —  wilde  zügellose 
Leidenschaft,  Hass  und  Widerstand  gegen  Alles,  was  dem  nach  Liebe  und 
Gegenliebe  dürstenden  Herzen  sich  gegenüberstellt,  poetisch  angehauchte  Liebe, 
in  der  auch  nicht  mit  einem  Zug  Unedles  berührt  wird,  Begeisterung  für  alles 
Schöne  und  Edle,  Sinn  für  Wissenschaft  und  schöne  Künste. 

Ihre  Schriften  verrathen  ungewöhnliche  Belesenheit  in  Klassikern  aUer 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung  beim  Weibe.  299 

Sprachen,  Citate  aus  Poeten  und  Prosaikern  aller  Länder.  Von  berufener 
Seite  wird  auch  versichert,  dass  S.'s  dichterische  und  belletristische  Erzeugnisse 
nicht  unbedeutend  sind. 

Psychologisch  bemerkenswerth  sind  die  das  Verhältniss  zu  Marie  be- 
rührenden Briefe  und  Schriften. 

S.  spricht  von  der  Seligkeit,  die  ihr  an  M.'s  Seite  blühte,  äussert 
masslose  Sehnsucht,  das  angebetete  Weib,  wenn  auch  nur  für  einen  Moment 
zu  sehen.  Nach  solcher  Schmach  wünscht  sie  nur  mehr  die  Zelle  mit  dem 
Grab  zu  vertauschen.  Der  bitterste  Schmerz  sei  das  Bewusstsein,  dass  jetzt 
auch  Marie  sie  hasse.  Heisse  Thränen,  so  viel,  dass  sie  sich  darin  ertränken 
könnte,  habe  sie  um  ihr  verlorenes  Glück  geweint.  Ganze  Bogen  behandeln 
die  Apotheose  dieser  Liebe,  Reminiscenzen  aus  der  Zeit  der  ersten  Liebe  und 
Bekanntschaft. 

S.  klagt  über  ihr  Herz,  das  sich  von  keinem  Verstände  dominiren  Hess, 
sie  äussert  Gefühlsausbrüche,  die  man  nur  fühlen,  nicht  aber  simuliren  kann. 
Dann  wieder  Ausbrüche  tollster  Leidenschaft  mit  der  Erklärung,  ohne  Marie 
nicht  leben  zu  können.  „Deine  theure,  liebe  Stimme,  diese  Stimme,  auf  deren 
Klang  ich  vielleicht  noch  vom  Grabe  aufstehen  werde,  deren  Klang  mir  immer 
die  Verheissung  des  Paradieses  gewesen  ist.  Deine  blosse  Gegenwart  war 
genug,  um  meine  physischen  und  moralischen  Leiden  zu  lindern.  Es  war  das 
ein  magnetischer  Strom,  es  war  das  eine  eigenthümliche  Macht,  welche  dein 
Wesen  auf  meines  ausübte  und  welches  ich  mir  auch  nie  ganz  definiren  kann. 
So  blieb  ich  bei  der  ewig  wahren  Definition:  ich  lieb'  sie,  weil  ich  sie  liebe.  — 
In  trostloser  Nacht  hatte  ich  nur  einen  Stern,  den  Stern  der  Liebe  von  Marie. 
Der  Stern  ist  nunmehr  erloschen  —  es  ist  nur  mehr  der  Widerschein  davon 
da,  die  süsse,  wehmüthige  Erinnerung,  die  auch  die  wirklich  schauerliche  Nacht 

des  Sterbens  mit  sanftem  Scheine  erleuchtet,  ein  Schimmer  der  Hoffnung, 

diese  Schrift  endet  mit  der  Apostrophe:  meine  Herren,  weise  Rechtsgelehrte, 
Psycho-  und  Pathologen,  richten  Sie  mich !  Jeden  Schritt,  den  ich  that,  leitete 
die  Liebe,  jede  meiner  Thaten  war  durch  sie  bedingt  —  Gott  hat  sie  mir  ins 
Herz  gegeben.  Wenn  er  mich  so  schuf  und  nicht  anders,  bin  ich  denn  daran 
schuld  oder  sind  es  die  ewig  unergründlichen  Wege  des  Schicksals?  Ich  baute 
auf  Gott,  dass  eines  Tages  die  Erlösung  kommen  werde,  denn  mein  Fehler 
war  nur  die  Liebe  selbst,  welche  die  Grundlage,  der  Grundsatz  seiner  Lehren, 
seines  Reiches  selbst  ist.  — 

Mein  Gott,  du  Barmherziger,  Allmächtiger,  du  siehst  meine  Qual,  du 
weisst,  wie  ich  leide.  Neige  dich  zu  mir  und  reiche  mir  deine  helfende  Hand, 
wo  mich  schon  die  ganze  Welt  verlassen.  Nur  Gott  ist  gerecht.  Wie  schön  be- 
schreibt dies  V.  Hugo  in  seinen  Legendes  du  siecle.  Wie  traurig  malerisch  klingt 
mir  die  Mendelssohn'sche  Weise:  „Allnächtlich  im  Traume  seh'  ich  dich  ..." 

Obwohl  S.  weiss,  dass  keine  ihrer  Schriften  ihren  „angebeteten  Löwen- 
kopf  erreicht,  ermüdet  sie  nicht,  in  bogenlangen  Vergötterungen  von  Mariens 
Person  Ausbrüche  von  Liebesschmerz  und  Liebeswonne  zu  schreiben,  „sich  nur 
noch  eine  helle  glänzende  Thräne  zu  erbitten,  geweint  an  einem  stillen  hellen 
Sommerabend,  wenn  der  See  im  Abendschein  erglüht  wie  geschmolzenes  Gold 
und  die  Glocken  von  St.  Anna  und  Maria-Wörth,  in  harmonischer  Melancholie 
verschmelzend,  Ruhe  und  Frieden  verkünden  —  für  jene  arme  Seele,  für  dieses 
arme  Herz,  das  bis  zum  letzten  Hauch  für  dich  geschlagen." 


300  Paraesthesia  sexualis. 

PersönlicheExploration.  Die  erste  Begegnung,  welche  die  Gerichts- 
ärzte mit  S.  hatten,  war  einigermassen  eine  Verlegenheit  für  beide  Theile,  für 
die  ersteren,  weil  S.'s  vielleicht  etwas  greller  forcirte  männliche  Tournüre  im- 
ponirte,  für  sie,  weil  sie  der  Meinung  war,  mit  dem  Stigma  der  moral  insanity 
bemakelt  zu  werden.  Ein  nicht  unschönes,  intelligentes  Gesicht,  das  trotz 
einer  gewissen  Zartheit  der  Züge  und  Kleinheit  aller  Parthien  ein  ganz  ent- 
schieden männliches  Gepräge  hatte,  wenn  nicht  der  schwer  entbehrte  Schnurr- 
bart fehlen  würde !  Fiel  es  doch  selbst  den  Gerichtsärzten  schwer,  trotz  Damen- 
kleidung immer  gegenwärtig  zu  haben,  dass  es  sich  um  eine  Dame  handelt, 
während  der  Verkehr  mit  dem  Manne  Sandor  viel  ungezwungener,  natürlicher, 
scheinbar  correcter  von  Statten  geht.  Dies  empfindet  auch  die  Angeschuldigte. 
Sie  wird  sofort  offener,  mittheilsamer,  freier,  sobald  man  sie  wie  einen  Mann 
behandelt. 

Trotz  ihrer  schon  von  den  ersten  Lebensjahren  an  vorhandenen  Zuneigung 
zum  weiblichen  Geschlecht  will  sie  doch  erst  im  13.  Jahr,  gelegentlich  der 
Entführung  der  rothhaarigen  Engländerin  aus  dem  Dresdener  Institute,  die 
ersten  Spuren  sexuellen  Triebes  verspürt  haben,  der  sich  schon  damals  in 
Küssen,  Umarmungen,  Berührungen  mit  wollüstigen  Empfindungen  manifestirte. 
Schon  damals  erschienen  ihr  in  ihren  Traumbildern  ausschliesslich  weibliche 
Gestalten  und  habe  sie  sich,  wie  auch  seither  immer,  in  wollüstigen  Träumen 
in  der  Situation  eines  Mannes  gefühlt  und  gelegentlich  auch  Ejaculation  dabei 
verspürt. 

Solitäre  oder  mutuelle  Onanie  kenne  sie  nicht.  So  etwas  erscheine  ihr 
höchst  ekelhaft  und  der  „ Manneswürde "  (!)  nicht  entsprechend.  Sie  habe  sich 
auch  niemals  von  Anderen  ad  genitalia  berühren  lassen,  schon  deshalb  nicht, 
weil  es  ihr  um  die  Wahrung  ihres  grossen  Geheimnisses  zu  thun  war.  Die 
Menses  stellten  sich  erst  mit  17  Jahren  ein,  verliefen  immer  schwach  und  ohne 
Beschwerden.  Besprechung  menstrualer  Vorgänge  perhorrescirt  S.  sichtlich,  das 
sei  etwas  ihrem  männlichen  Bewusstsein  und  Fühlen  sehr  Zuwideres.  Sie  er- 
kennt die  Krankhaftigkeit  ihrer  sexuellen  Neigungen  an,  wünscht  sich  aber 
nichts  Anderes,  da  sie  sich  in  dieser  perversen  Empfindung  vollkommen  wohl 
und  glücklich  fühle.  Die  Idee  eines  sexuellen  Verkehrs  mit  Männern  mache 
ihr  Ekel  und  ihre  Ausführung  halte  sie  für  unmöglich. 

Ihre  Schamhaftigkeit  erstrecke  sich  so  weit,  dass  sie  eher  unter  Männern 
schlafen  könnte  als  unter  Frauen.  So  müsse  sie,  wenn  sie  ein  Bedürfniss 
befriedigen  wolle  oder  die  Wäsche  wechsle,  ihre  Zellengenossin  bitten,  so  lange 
sich  vom  Fenster  abzuwenden,  damit  sie  ihr  nicht  zusehen  könne. 

Als  S.  gelegentlich  mit  dieser  Zellengenossin,  einer  Person  aus  der  Hefe 
des  Volkes,  in  Berührung  kam,  empfand  sie  wollüstige  Erregung  und  musste 
darüber  erröthen.  S.  erzählt  sogar  ungefragt,  dass  sie  von  förmlicher  Angst 
befallen  wurde,  als  sie  in  der  Gefängnisszelle  sich  in  die  ungewohnten  Frauen- 
kleider wieder  einzwängen  lassen  musste.  Ihr  einziger  Trost  war,  dass  man 
ihr  wenigstens  ihr  Herrenhemd  liess.  Bemerkenswerth,  und  für  die  Bedeutung 
von  Geruchsempfindungen  in  ihrer  Vita  sexualis  sprechend,  ist  auch  ihre  Mit- 
theilung, dass  sie  gelegentlich  einer  Entfernung  ihrer  Marie  jene  Parthien  des 
Sopha  aufgesucht  und  berochen  habe,  an  denen  Mariens  Kopf  zu  liegen  pflegte, 
um  aus  diesen  Stellen  mit  Wonne  den  Geruch  der  Haare  zu  inhaliren.  Von 
Frauen  interessiren  S.  nicht  gerade  schöne  oder  üppige,  auch  nicht  sehr  junge. 


Angeborene  conträre  Sexualempfindung  beim  Weibe.  301 

Sie  stellt  überhaupt  die  körperlichen  Reize  des  Weibes  in  zweite  Linie.  Sie 
fühlt  sich  zu  denen  von  etwa  24 — 30  Jahren  hingezogen  wie  mit  „magneti- 
schem" Zug.  Ihre  sexuelle  Befriedigung  fand  sie  ausschliesslich  in  corpore 
feminae  (nie  am  eigenen  Körper)  in  Form  von  Manustupration  des  geliebten 
Weibes  oder  Cunnilingus.  Gelegentlich  bediente  sie  sich  auch  eines  mit  Werg 
ausgestopften  Strumpfes  als  Priap.  Diese  Eröffnungen  macht  S.  nur  ungern, 
mit  sichtlichem  Schamgefühl ;  gleichwie  in  ihren  Schriften  auch  niemals  Scham- 
losigkeit oder  Cynismus  sich  finden. 

Sie  ist  religiös,  hat  lebhaftes  Interesse  für  alles  Edle  und  Schöne,  aus- 
genommen für  Männer,  ist  sehr  empfänglich  für  sittliche  Werthschätzung 
seitens  Anderer. 

Sie  bedauert  tief,  dass  sie  in  ihrer  Leidenschaft  Marie  unglücklich 
gemacht,  findet  ihre  sexualen  Empfindungen  pervers  und  solche  Liebe  eines 
Weibes  zum  anderen  bei  Gesunden  moralisch  verwerflich.  Sie  ist  hoch 
talentirt  für  literarische  Leistungen,  besitzt  seltenes  Gedächtniss.  Ihre  einzige 
Schwäche  ist  der  colossale  Leichtsinn  und  die  Unmöglichkeit,  mit  Geld  und 
Geldeswerth  vernünftig  umzugehen.  Sie  ist  sich  jedoch  dieser  Schwäche  be- 
wusst  und  bittet,  darüber  nicht  weiter  zu  sprechen. 

S.  ist  153  cm  hoch,  von  zartem  Knochenbau,  mager,  jedoch  an  Brust 
und  Oberschenkeln  auffallend  muskulös.  Der  Gang  ist  in  Weiberkleidern 
ungeschickt. 

Ihre  Bewegungen  sind  kräftig,  nicht  unschön,  wenn  auch  mehr  männ- 
lich steif,  ungraziös.  Ihre  Begrüssung  erfolgt  mit  kräftigem  Händedruck.  Das 
ganze  Auftreten  ist  decidirt,  stramm,  etwas  selbstbewusst.  Blick  intelligent, 
Miene  etwas  verdüstert.  Füsse  und  Hände  auffallend  klein ,  auf  infantiler 
Stufe  stehen  geblieben.  Streckseiten  der  Extremitäten  auffallend  stark  be- 
haart, während  von  Barthaaren,  trotz  aller  Rasirexperimente,  nicht  einmal  ein 
Flaum  zu  bemerken  ist.  Der  Rumpf  entspricht  durchaus  nicht  weiblicher 
Bauart.  Es  fehlt  die  Taille.  Das  Becken  ist  so  schlank  und  so  wenig  promi- 
nirend,  dass  eine  von  der  Achselhöhle  zum  entsprechenden  Knie  gezogene  Linie 
der  Richtung  der  Geraden  entspricht  und  durch  eine  Taille  nicht  ein-,  durch 
das  Becken  nicht  auswärts  gedrängt  wird.  Der  Schädel  ist  leicht  oxycephal 
und  bleibt  in  allen  Massen  um  wenigstens  1  cm  unter  dem  Durchschnittsmass 
des  weiblichen  zurück. 

Die  Schädelcircumferenz  beträgt  52,  die  Ohrhinterhauptlinie  24,  die 
Ohrscheitellinie  23,  Ohrstirnlinie  28,5,  Längsumfang  30,  Ohrkinnlinie  26,5, 
Längsdurchmesser  17,  grösster  Breitedurchmesser  13,  Distanz  der  Gehörgänge  12, 
der  Jochfortsätze  11,2  cm.  Der  Oberkiefer  springt  stark  vor,  sein  Alveolar- 
fortsatz  überragt  den  Unterkiefer  um  0,5  cm.  Zahnstellung  nicht  ganz  normal. 
Der  rechte  obere  Augenzahn  hat  sich  nie  entwickelt.  Mund  auffallend  klein. 
Ohren  abstehend,  Läppchen  nicht  differenzirt ,  in  die  Wangenhaut  sich  ver- 
lierend. Harter  Gaumen  schmal,  steil.  Stimme  rauh,  tief.  Brustdrüsen  ge- 
nügend entwickelt,  weich,  ohne  Sekret.  Der  Mons  Veneris  mit  dichten  dunklen 
Haaren  bedeckt.  Genitalien  vollkommen  weiblich,  ohne  Spur  von  hermaphro- 
ditischen Erscheinungen,  aber  auf  der  infantilen  Stufe  des  10jährigen 
Mädchens  stehen  geblieben.  Die  Labia  majora  berühren  sich  fast  voll- 
ständig, die  minora  haben  hahnenkammartige  Form  und  prominiren  über  die 
grossen.     Die  Clitoris  ist  klein  und  höchst  empfindlich.    Frenulum  zart,  Peri- 


302  Paraesthesia  sexualis. 

neum  sehr  schmal,  Introitus  vaginae  enge,  Schleimhaut  normal.  Hymen  fehlt 
(wahrscheinlich  angeboren),  ebenso  die  Carunculae  myrtiformes.  Vagina  derart 
enge,  dass  die  Einführung  eines  Membrum  virile  unmöglich  wäre,  überdies 
höchst  empfindlich.  Ein  Coitus  hat  bisher  jedenfalls  nicht  stattgefunden. 
Uterus  wird  durchs  Rectum  etwa  wallnussgross  gefühlt,  derselbe  ist  unbeweg- 
lich und  retroflektirt. 

Das  Becken  erscheint  als  ein  allseitig  verengtes  (Zwergbecken)  mit  ent- 
schieden männlichem  Typus.  Die  Distanz  der  vorderen  Darmbeinstachel  be- 
trägt 22,5  (statt  26,3),  die  der  Darmbeinkämme  26,5  (statt  29,3),  die  der  Roll- 
hügel 27,7  (31),  die  äussere  Conjugata  17,2  (19—20),  daher  vermuthlich  die 
innere  7,7  (10,8)  haben  wird.  Wegen  mangelhafter  Breite  des  Beckens  ist 
auch  die  Stellung  der  Oberschenkel  keine  convergente  wie  beim  Weib,  sondern 
eine  gerade. 

Das  Gutachten   erwies ,    dass   bei  S.    eine   angeborene  krankhafte  Ver- 

ahrung  der  Geschlechtsempfindung,  welche  sogar  anthropologisch  in  Anomalien 

der  Körperentwicklung  sich   ausspricht,   verbunden   sei,   auf  Grund   schwerer 

hereditärer  Belastung,  ferner   dass   die   incriminirten  Handlungen  der  S.  ihre 

Begründung  in  ihrer  krankhaften  und  unwiderstehlichen  Sexualität  finden. 

Insofern  habe  S.'s  bezeichnende  Aeusserung:  „Gott  hat  mir  die  Liebe 
ins  Herz  gegeben.  Wenn  er  mich  so  schuf  und  nicht  anders ,  bin  dann  ich 
schuld  daran,  oder  sind  es  die  ewig  unergründlichen  Wege  des  Schicksals?" 
alle  Berechtigung. 

Der  Gerichtshof  fällte  ein  freisprechendes  Erkenntniss.  Die  „Gräfin  in 
Männerkleidung",  wie  sie  die  Zeitungen  nannten,  kehrte  nach  der  heimath- 
lichen  Hauptstadt  zurück  und  gerirt  sich  wieder  als  Graf  Sandor.  Ihr  einziger 
Kummer  ist  ihr  zerstörtes  Liebesglück  mit  ihrer  heiss  geliebten  Marie. 

Glücklicher  war  eine  Ehefrau  in  Brandon  (Wisconsin),  von  der  Dr.  K  i  e  r  n  a  n 
(The  med.  Standard  1888,  Nov.-Dec.)  berichtet.  Dieselbe  entführte  1883  ein 
junges  Mädchen,  Hess  sich  mit  ihm  trauen  und  lebte  ungestört  als  Mann  mit 
demselben. 

Ein  interessantes  „historisches"  Beispiel  von  Androgynie  dürfte  ein  von 
Spitzka  (Chicago  med.  Review  vom  20.  Aug.  1881)  mitgetheilter  Fall  sein. 
Er  betrifft  Lord  Cornbury,  Gouverneur  von  New-York,  der  unter  der  Regierung 
der  Königin  Anna  lebte,  offenbar  mit  moral  insanity  behaftet  ein  schreck- 
licher Wüstling  war  und  sich  nicht  enthalten  konnte,  trotz  seiner  hohen 
Stellung,  in  Weiberkleidern,  kokettirend  und  mit  allen  Allüren  der  Courtisane 
in  den  Strassen  herumzugehen ! 

Auf  einem  von  ihm  erhaltenen  Bild  fallen  schmaler  Stirnschädel,  asym- 
metrischer Gesichtsschädel,  weibliche  Züge,  sinnlicher  Mund  auf.  Sichergestellt 
ist,  dass  er  sich  nie  für  ein  wirkliches  Weib  gehalten  hatte. 


Auch  bei  den  mit  conträrer  Sexualempfindung  behafteten  In- 
dividuen kann  die  an  und  für  sich  perverse  Geschlechtsempfindung 
und  Geschlechtsrichtung  mit  anderweitigen  Perversionserscheinungen 
complicirt  sein. 


Complicationen  der  conträren  Sexualempfindung.  303 

Es  dürfte  sich  hier  um  ganz  analoge  Vorkommnisse  bezüg- 
lich der  Bethätigung  des  Triebs  handeln,  wie  bei  dem  geschlechtlich 
zu  Personen  des  anderen  Geschlechts  hinneigenden,  aber  in  der 
Bethätigung  des  Triebs  perversen  Individuum. 

Bei  dem  Umstand,  dass  eine  fast  regelmässige  Begleiterscheinung  der 
conträren  Sexualempfindung  ein  krankhaft  gesteigertes  Geschlechtsleben  ist» 
werden  wollüstig- grausame  sadistische  Akte  in  Befriedigung  der  Libido  leicht 
möglich.  Ein  bezeichnendes  Beispiel  in  dieser  Hinsicht  ist  der  Fall  Zastrow 
(Casper-Liman,  7.  Aufl.,  Bd.  I,  p.  160,  II,  p.  487),  der  eines  seiner  Opfer, 
einen  Knaben ,  biss ,  ihm  das  Präputium  zerriss ,  den  Anus  schlitzte  und  das 
Kind  strangulirte. 

Z.  stammte  von  psychopathischem  Grossvater,  melancholischer  Mutter; 
deren  Bruder  fröhnte  abnormem  Geschlechtsgenuss  und  beging  Selbstmord. 

Z.  war  ein  geborener  Urning,  war  in  Habitus  und  Beschäftigung  männlich 
geartet,  mit  Phimosis  behaftet,  ein  psychisch  schwacher,  ganz  verschrobener, 
social  unbrauchbarer  Mensch.  Er  hatte  Horror  feminae,  fühlte  sich  in  seinen 
Träumen  als  Weib  dem  Manne  gegenüber,  hatte  peinliches  Bewusstsein  der 
fehlenden  normalen  Geschlechtsempfindung  und  des  perversen  Triebs,  ver- 
suchte durch  mutuelle  Onanie  Befriedigung  und  hatte  häufig  päderastische 
Gelüste. 

Aehnliche  derartige  sadistische  Antriebe  bei  conträr  Sexualen  finden 
sich  auch  in  einzelnen  der  vorausgehenden  Krankengeschichten  (vgl.  Beob.  107, 
108  dieser  Auflage  und  die  6.  Auflage,  Beob.  96,  ferner  Moll,  Contr.  Sexual- 
empfindung, 2.  Aufl.,  p.  189;  v.  Krafft,  Jahrb.  f.  Psychiatrie  XII,  p.  389 
und  357.). 

Als  Beispiele  perverser  Sexualbefriedigung  auf  dem  Boden  der  conträren 
Sexualempfindung  möge  noch  der  Grieche  erwähnt  werden,  der,  wie  Athenäus 
berichtet,  in  eine  Cupidostatue  verliebt  war  und  sie  im  Tempel  zu  Delphi 
schändete;  ferner,  neben  monströsen  Fällen  bei  Tardieu  (Attentats  p.  272)» 
der  von  Lombroso  (L'uomo  delinquente  p.  200)  berichtete  scheussliche  Fall 
eines  gewissen  Artusio,  der  einem  Knaben  eine  Bauchwunde  versetzte  und  ihn 
durch  diese  sexuell  missbrauchte. 

Belege  dafür,  dass  auch  Fetischismus  bei  couträrer  Sexualempfindung 
vorkommt,  sind  Beob.  84  (Taschentuch),  108  (Stiefel),  110  (8.  Aufl.,  Mund), 
ferner  ein  von  mir  mitgetheilter  Fall  von  Schuhfetischismus  in  „ Jahrbücher 
für  Psychiatrie"  XII',  1;  Moll,  2.  Aufl.,  p.  179.  Nicht  selten  ist  auch  Masochis- 
mus als  Complication  von  conträrer  Sexualempfindung  vgl.  Moll,  2.  Aufl., 
p.  172  (Fall  12)  und  p.  190.  Derselbe,  Internation.  Centralbl.  f.  d.  Physiol. 
und  Pathol.  der  Harn-  und  Sexualorgane  IV,  Heft  5  (Homosexualität  eines  Weibes 
mit  passivem  Flagellantismus  und  Koprophagie) ;  v.  Krafft,  Beob.  43  der 
6.  Aufl.  dieses  Buches,  ferner  Beobachtung  108  dieser  und  114  der  8.  Aufl.,. 
ferner  „ Jahrbücher  für  Psychiatrie"  XII,  p.  339  (Homosexualität,  abortiver 
Masochismus),  p.  351  (psych.  Hermäphrodisie,  Masochismus). 


304  Conträre  Sexualempfindung. 


Zur  Diagnose,  Prognose  und  Therapie  der  conträren 
Sexualempfindung. 

Während  die  conträre  Sexualempfindung  für  die  bisherige 
Wissenschaft  nur  ein  anthropologisches,  klinisches  und  forensisches 
Interesse  bieten  konnte,  kann  auf  Grund  neuester  Forschungen 
nunmehr  auch  an  die  Therapie  dieser  unheilvollen,  ihren  Träger 
social,  moralisch  und  physisch  so  schwer  heimsuchenden  Anomalie 
gedacht  werden. 

•  Eine  Vorbedingung  für  ein  therapeutisches  Eingreifen  ist  die 
genaue  Differenzirung  der  erworbenen  von  den  angeborenen  Fällen 
und  unter  diesen  letzteren  wieder  die  Einreihung  des  concreten 
Falles  in  die  wissenschaftlich  empirisch  gefundenen  Categorien. 

Die  diagnostische  Auseinanderhaltung  der  erworbenen  Fälle 
von  den  angeborenen  ist  ohne  Schwierigkeiten  in  den  Anfangsstadien. 

Ist  schon  Inversio  sexualis  erfolgt,  so  wird  die  retrospective 
Entwicklung  des  Falles  über  denselben  Klarheit  verbreiten. 

Die  prognostisch  wichtige  Entscheidung,  ob  angeborene  oder 
erworbene  conträre  Sexualempfindung  bestehe,  lässt  sich  in  solchen 
Fällen  nur  durch  eine  minutiöse  Anamnese  gewinnen. 

Die  Ermittlung ,  ob  conträre  Sexualempfindung  schon  lange 
vor  der  Hingabe  an  Masturbation  bestand,  wird  im  Sinne  der  An- 
geborenheit der  Anomalie  von  grösster  Wichtigkeit  sein.  Eine 
Schwierigkeit  erwächst  dabei  durch  die  Möglichkeit  unrichtiger 
zeitlicher  Localisation  in  der  Vergangenheit  (Erinnerungstäuschung.) 

Für  die  Annahme  erworbener  conträrer  Sexualempfindung 
ist  wichtig  der  Nachweis  heterosexualer  Empfindung  vor  dem  Zeit- 
punkt des  Beginnes  der  Auto-  oder  mutuellen  Masturbation. 

Im  Allgemeinen  sind  die  erworbenen  Fälle  charakterisirt  da- 
durch, dass 

1)  Die  homosexuale  Empfindung  secundär  in  der  Lebens- 
geschichte auftritt  und  jeweils  auf  Momente,  welche  die  normale 
Geschlechtsbefriedigung  störten  (masturbatorische  Neurasthenie,  psy- 
chische Momente),  sich  zurückführen  lässt. 

Es  ist  jedoch  anzunehmen,  dass  hier  ab  origine,  selbst  trotz 
mächtiger  grobsinnlicher  Libido,  die  Empfindung  und  Neigung 
zum  anderen  Geschlecht,  besonders  in  seelischer  Hinsicht  und 
speciell  in  ästhetischer,  schwach  veranlagt  ist  (vgl.  pag.  240). 


Diagnose,  Prognose,  Therapie.  305 

2)  Die  homosexuale  Empfindung  wird  vom  Bewusstsein  — 
so  lange  nicht  Inversio  sexualis  erfolgt  ist  —  als  lasterhaft  und 
krankhaft  aufgefasst  und  ihr  nur  faute  de  mieux  nachgegeben. 

3)  Die  heterosexuale  Empfindung  bleibt  lange  die  vorherr- 
schende und  die  Unmöglichkeit  ihrer  Befriedigung  wird  peinlich 
empfunden.  Jene  geht  unter  in  dem  Masse,  als  die  homosexuale 
zur  Geltung  gelangt. 

Bei  den  angeborenen  Fällen  dagegen  ist 

a)  Die  homosexuale  Empfindung  die  primär  auftretende  und 
in  der  Vita  sexualis  dominirende.  Sie  erscheint  als  die  natur- 
gemässe  Art  der  Befriedigung  und  gibt  sich  als  dominirend  auch 
im  Traumleben  des  Individuums  kund. 

b)  Die  heterosexuale  Empfindung  fehlt  von  jeher  oder,  wenn 
auch  in  der  Lebensgeschichte  des  Individuums  zu  Tage  tretend 
(psychosexuale  Hermaphrodisie),  so  ist  sie  doch  eine  episodische 
Erscheinung,  findet  keine  Wurzeln  in  der  Psyche  des  Individuums 
und   ist  wesentlich   nur  Mittel   zur   Befriedigung   sexueller  Dränge. 

Die  Differenzirung  der  übrigen  Gruppen  der  angeboren  con- 
trär  Sexualen  von  einander  und  von  den  erworbenen  Fällen  über- 
haupt wird  nach  dem  Vorausgehenden  keinen  Schwierigkeiten  be- 
gegnen. 

Die  Prognose  der  erworbenen  Fälle  von  conträrer  Sexual- 
empfindung ist  eine  jedenfalls  viel  günstigere  als  die  der  ange- 
borenen. Bei  den  ersteren  dürfte  die  eingetretene  Effeminatio  — 
die  seelische  Umwandlung  des  Individuums  im  Sinne  seiner  per- 
versen Sexualgefühle  —  die  Grenze  sein,  von  welcher  an  für  die 
Therapie  nicht  mehr  zu  hoffen  ist.  Bei  den  angeborenen  Fällen 
bilden  die  verschiedenen  in  diesem  Buche  aufgestellten  Categorien 
ebenso  viele  Gradstufen  psychosexualer  Belastung,  und  wird  bestimmt 
nur  innerhalb  der  Categorie  der  Hermaphroditen,  möglicherweise 
(s.  u.  den  Fall  von  Schrenk-Notzing)  auch  bei  schwereren  Ent- 
artungszuständen  Hülfe  möglich  sein. 

Um  so  wichtiger  wäre  die  Prophylaxe  dieser  Zustände  — 
für  die  angeborenen  die  Nichterzeugung  solcher  Unglücklichen,  für 
die  erworbenen  die  Bewahrung  vor  den  Schädlichkeiten,  welche 
zu  dieser  fatalen  Verkehrung  der  Geschlechtsempfindung  erfahrungs- 
gemäss  führen  können. 

Unzählige  Belastete  verfallen  diesem  traurigen  Schicksal,  weil  Eltern 
und  Erzieher  keine  Ahnung  von  den  Gefahren  haben,  welche  die  Masturbation 
den  Kindern  auf  solcher  Grundlage  bereiten  kann. 

v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  20 


306  Conträre  Sexualempfindung. 

In  vielen  Schulen,  Pensionaten  wird  Masturbation  und  Unzucht  geradezu 
gezüchtet.  Auf  das  physische  und  moralische  Verhalten  der  Schüler  wird 
heutzutage  viel  zu  wenig  geachtet. 

Wenn  nur  der  Lehrstoff  persolvirt  wird,  das  ist  die  Hauptsache.  Dass 
darüber  mancher  Schüler  an  Leib  und  Seele  verdirbt,  kommt  nicht  in  Betracht. 

Mit  einer  lächerlichen  Prüderie  wird  den  heranwachsenden  jungen 
Leuten  die  Vita  sexualis  verschleiert  gehalten,  den  Regungen  ihres  Sexual- 
triebes aber  nicht  die  mindeste  Beachtung  geschenkt.  Wie  wenig  Hausärzte 
werden  in  den  Entwicklungsjahren  der  Kinder  ihrer  oft  recht  belasteten 
Clienten  zu  Rathe  gezogen! 

Man  meint  Alles  der  Natur  überlassen  zu  müssen.  Inzwischen  regt 
sich  diese  übermächtig  und  führt  den  Hülf-  und  Schutzlosen  auf  gefährliche 
Abwege. 

Ein  näheres  Eingehen  auf  diese  prophylactische  Seite  der 
Frage  ist  hier  nicht  zulässig1). 

Für  Eltern  und  Erzieher  geben  die  in  diesem  Buche  nieder- 
gelegten Erfahrungen,  sowie  zahlreiche  wissenschaftliche  Arbeiten 
über  Masturbation  Anhaltspunkte  und  Winke. 

Die  Aufgaben  der  Behandlung  bestehender  conträrer  Sexual- 
empfindung gegenüber  sind  folgende: 

1)  Bekämpfung  von  Onanie  und  anderen  die  Vita  sexualis 
schädigenden  Momenten. 

2)  Beseitigung  der  aus  antihygienischen  Verhältnissen  der 
Vita  sexualis  entstandenen  Neurose  (Neurasthenia  sexualis  und  uni- 
versalis). 

3)  Psychische  Behandlung  im  Sinne  einer  Bekämpfung  homo- 
sexualer und   der  Förderung   heterosexualer  Gefühle  und   Impulse. 

Der  Schwerpunkt  der  Aufgabe  wird  in  der  Erfüllung  der 
3.  Indication  liegen,  namentlich  auch  bezüglich  der  Onanie. 

Nur  in  sehr  seltenen  Fällen  vermag  bei  noch  nicht  vorge- 
schrittener erworbener  conträrer  Sexualempfindung  die  Erfüllung 
von  1  und  2  zu  genügen,  wie  nachfolgender  vom  Verf.  in  der  Zeit- 
schrift „  Irrenfreund  "  1885  Nr.  1  ausführlich  berichteter  Fall  erweist. 


*)  Bemerkenswerth  im  Sinne  einer  Prophylaxe  sind  folgende  Worte,  welche 
mir  der  Patient  der  Beob.  88  der  6.  Auflage  schrieb:  „Wenn  es  einmal  dazu 
käme,  nicht  wie  bei  den  Spartanern,  wo  die  kraftlose  Jugend  vernichtet  wurde 
und  im  Sinne  einer  guten  Zuchtwahl  nach  Darwin's  Ideen,  sondern  dass,  die 
Erkennung  unserer  conträren  Sexualempfindung  schon  in  der  Jugend  voraus- 
gesetzt, in  dieser  Lebenszeit  durch  Suggestion  diese  schlimmste  aller  Krank- 
heiten geheut  werden  könnte!  Wahrscheinlich  würde  die  Heilung  in  der 
Jugend  eher  zu  bewerkstelligen  sein  als  später." 


Therapie.  307 

Beobachtung  128.  Z. ,  51  Jahre,  von  psychopathischer  Mutter,  kam 
früh  in  die  Kadettenschule ,  wurde  dort  zur  Onanie  verleitet,  entwickelte  sich 
gut,  empfand  geschlechtlich  normal,  wurde  in  Folge  von  Masturbation  im 
17.  Jahre  leicht  neurasthenisch ,  verkehrte  sexuell  mit  Genuss  mit  Weibern, 
heirathete  mit  25  Jahren,  bekam  nach  einem  Jahr  vermehrte  neurasthenische 
Beschwerden  und  verlor  nun  die  Neigung  zum  Weib  gänzlich.  An  deren 
Stelle  trat  conträre  Sexualempfindung.  In  einen  Hochverrathsprocess  ver- 
wickelt, kam  er  auf  2  Jahre  ins  Gefängniss,  dann  5  Jahre  nach  Sibirien.  In 
diesen  7  Jahren  nahm  unter  dem  Einfluss  fortgesetzter  Masturbation  die  Neur- 
asthenie und  die  conträre  Sexualempfindung  immer  mehr  zu.  Mit  35  Jahren 
der  Freiheit  zurückgegeben,  trieb  sich  Pat.  seither  wegen  hochgradiger  neur- 
asthenischer  Beschwerden  in  allen  möglichen  Kurorten  herum.  In  dieser 
langen  Zeit  änderte  sich  sein  abnormes  geschlechtliches  Fühlen  in  keiner  Weise. 
Er  lebte  meist  getrennt  von  seiner  Frau,  die  er  zwar  wegen  geistiger  Vorzüge 
hochachtete,  jedoch  als  Weib  wie  jedes  andere  mied.  Seine  conträre  Sexual- 
empfindung war  eine  rein  platonische.  Es  genügte  ihm  „Freundschaft",  ein 
herzliches  Umarmen,  Küssen.  Gelegentlich  vorkommende  Pollutionen  waren 
durch  lascive  Träume  ausgelöst,  die  Personen  des  eigenen  Geschlechts  zum 
Inhalt  hatten.  Auch  bei  Tage  Hess  das  schönste  Weib  ihn  kalt,  während  der 
blosse  Anblick  schöner  Männer  Erection  und  Ejaculation  hervorbrachte.  Im 
Circus  und  im  Ballet  interessirten  ihn  nur  Athleten  und  Tänzer.  In  Zeiten 
grösserer  P]rregbarkeit  bewirkte  selbst  der  Anblick  männlicher  Statuen  Erection. 
Gelegentlich  verfiel  er  wieder  in  sein  altes  Laster  der  Masturbation.  Vor 
Päderastie  hatte  der  ästhetisch  gebildete,  feinfühlige  Mann  Abscheu. 

Er  empfand  seine  perverse  Sexualempfindung  immer  als  etwas  Krank- 
haftes, ohne  jedoch  darüber  —  bei  seiner  offenbar  sehr  abgeschwächten  Libido 
und  Potenz  —  sich  unglücklich  zu  fühlen. 

Der  Status  praesens  ergab  den  gewöhnlichen  Befund  der  Neurasthenie. 
Wuchs,  Benehmen  und  Kleidung  boten  nichts  Auffälliges.  Elektrische  Massage 
hatte  ungewöhnlichen  Erfolg.  Schon  nach  wenig  Sitzungen  war  Pat.  geistig 
und  körperlich  viel  frischer.  Nach  20  Sitzungen  erwachte  die  Libido  wieder, 
aber  nicht  im  bisherigen  Sinn,  sondern  in  normaler  Weise,  wie  Pat.  bis  zum 
25.  Jahre  geschlechtlich  empfunden  hatte.  Lascive  Traumbilder  hatten  nur 
mehr  Verkehr  mit  dem  Weibe  zum  Inhalt,  und  eines  Tages  theilte  Pat. 
freudig  mit,  dass  er  coitirt  und  dieselbe  natürliche  Wollustempfindung  wie 
vor  26  Jahren  dabei  gehabt  habe.  Er  lebte  nun  wieder  mit  seiner  Frau  zu- 
sammen, hoffte  dauernd  von  Neurasthenie  und  conträrer  Sexualempfindung 
befreit  zu  sein ,  welche  Hoffnung  auch  während  der  6  Monate ,  die  ich  noch 
Pat.  beobachten  konnte,  erfüllt  blieb. 


In  der  Regel  wird  die  körperliche  Behandlung,  wenn  auch 
unterstützt  durch  moralische  Therapie  im  Sinne  energischer  Rath- 
schläge  behufs  Meiden  von  Masturbation,  Unterdrückung  homo- 
sexualer Gefühle  und  Dränge  und  Weckung  heterosexualer,  selbst 
bei  erworbenen  Fällen  von  conträrer  Sexualempfindung,  nicht  aus- 
reichen. 


308  Conträre  Sexualempfindung. 

Hier  kann  nur  eine  Methode  der  psychischen  Behandlung  — 
die  Suggestion  —  Hülfe  bringen. 

Die  folgende  Beobachtung  ist  ein  interessantes  und  für  leich- 
tere Formen  der  Anomalie  ermuthigendes  Beispiel  erfolgreicher 
Autosuggestion . 

Beobachtung  129.  Autobiographie  eines  psychischen 
Hermaphroditen.  Erfolgreiche  Selbstbekämpfung  homo- 
sexualer Neigungen. 

Mein  Vater  ist  einmal  vom  Schlage  gerührt  worden,  ist  aber  geheilt 
bis  auf  geringe  Verzerrung  des  Gesichtes.  Meine  Mutter  ist  sehr  anämisch 
und  melancholisch  gewesen.  Beide  litten  stark  an  Hämorrhoiden,  und  mein 
Vater  schrieb  diesen  seine  Kreuzschmerzen  zu,  an  denen  er  auch  nach  seiner 
Verheirathung  hin  und  wieder  litt. 

Ich  bin,  wenn  ich  mich  so  ausdrücken  darf,  ein  passiver  Charakter. 
Als  Kind  schwelgte  ich  in  allerhand  (auch  religiösen)  Phantastereien.  Ich 
litt  an  Bettnässen  und  soll  im  Schlafe  an  meinen  Genitalien  gespielt  haben, 
weshalb  ich  von  meinem  Vater  mit  den  Händen  ans  Bett  gefesselt  wurde ! 
(Ich  war  damals  noch  vollständig  Kind  und  habe  nicht  onanirt.)  Ich  war 
stets  sehr  schüchtern  und  unbeholfen  im  Verkehr.  Mit  ca.  14  oder  15  Jahren 
wurde  ich  zur  Onanie  verleitet.  Das  mit  dem  auflebenden  Geschlechtsgefühl 
verbundene  Drängen  und  Sehnen  dem  Weibe  gegenüber  war  eigentlich  nur 
platonischer  Natur;  auch  fehlte  mir  der  Verkehr  mit  Damen.  Mit  18  Jahren 
ungefähr  versuchte  ich  mein  geschlechtliches  Bedürfniss  auf  natürliche  Weise 
zu  befriedigen,  mehr  aus  Neugierde  als  aus  innerem  Drang.  Ohne  je  eine 
Neigung  zu  einem  Weibe  empfunden  zu  haben,  befriedigte  ich  seit  dieser  Zeit, 
so  oft  ich  konnte,  mein  Bedürfniss  durch  geschlechtlichen  Umgang. 

Bald  nach  Eintritt  der  Pubertät  war  ich  sehr  anämisch  geworden  und 
sah  viel  älter  aus,  als  ich  war.  Jetzt  aber  traten  noch  melancholische  Ge- 
danken und  sonderbare  Ideen  hinzu.  Es  war  mir  eine  Wollust,  mich  so  er- 
niedrigt wie  nur  möglich  vorzustellen.  Es  ist  vielleicht  von  Interesse,  wenn 
ich  hinzufüge,  dass  ich  damals  mit  religiösen  Zweifeln  kämpfte  und  erst  später 
den  Muth  fand,  mich  über  die  Religionen  zu  stellen.  Ich  verliebte  mich  in 
junge  Männer.  Anfangs  trat  ich  diesen  Vorstellungen  entgegen,  später  waren 
sie  so  mächtig,  dass  ich  ein  ächter  Urning  wurde.  Die  Weiber  erschienen  mir 
wie  Menschen  IL  Classe.  Ich  war  in  einer  trostlosen  Verfassung.  Lebens- 
überdruss  und  menschenfeindliche  Regungen  nisteten  sich  in  meiner  kranken 
Seele  ein.  Eines  Tages  las  ich:  Was  will  das  werden?  —  Und  ehe  ich  es 
selbst  mir  verrieth,  war  ich  ein  Socialdemokrat,  aber  ein  idealer.  Das  Leben 
hatte  wieder  Werth  für  mich ;  denn  ich  hatte  ein  Ideal :  der  friedliche  Kampf 
für  die  sociale  Hebung  der  Proletarier.  Dieses  brachte  eine  mächtige  Um- 
wälzung in  mir  hervor.  Wie  in  meinen  besten  Tagen  (im  Alter  von  16, 
17  Jahren)  begeisterte  ich  mich  für  Kunst,  namentlich  Dramatik.  Ich  schreibe 
augenblicklich  ein  Schauspiel  und  einen  Schwank  und  wälze  grosse  Ideen  in 
mir  herum.  Ich  las  eine  Bemerkung  Schlegel's  über  Sophokles,  der  seinen 
körperlichen  Uebungen  seine  Energie  und  Schaffenskraft  und  der  Musik  das 
künstlerische  Masshalten  verdankte.    Dann  eine  andere  Stelle :  „Der  Dramatiker 


Therapie.  309 

muss  vor  allen  Dingen  geistig  intakt  sein."  Das  fiel  mir  sehr  schwer  auf  die 
Seele;  denn  meine  conträren  Sexualempfindungen  konnten  doch  unmöglich 
einem  ganz  gesunden  Geist  entstammen. 

Ich  kam  auf  den  Gedanken,  mich  hypnotisch  behandeln  zu  lassen ;  aber 
die  Scham  hinderte  mich  daran.  Nun  redete  ich  mir  selbst  ein,  dass  ich  doch 
eigentlich  ein  furchtbarer  Schwächling  sei,  mir  selbst  so  wenig  zuzutrauen,  und 
nahm  mir  ernstlich  vor,  meine  Urninggelüste  zu  unterdrücken.  Gleichzeitig 
bekämpfte  ich  durch  zweckentsprechende  Lebensweise  meine  Nervosität.  Ich 
ruderte,  paukte,  war  viel  in  frischer  Luft  und  hatte  die  Freude,  als  ich  ein- 
mal erwachte,  mir  wie  ein  ganz  anderer  Mensch  vorzukommen.  Wenn  ich  an 
die  Zeit  vom  20.  bis  26.  Lebensjahr  dachte,  so  war  es  mir,  als  ob  diese  Zeit 
hindurch  ein  mir  völlig  fremder  und  grauenerregender  Mensch  in  meiner  Haut 
gewohnt  hätte. 

Ich  war  erstaunt,  dass  der  hübscheste  Bereiter,  der  strammste  Bierführer 
mir  fast  gar  kein  Interesse  abnöthigte ;  selbst  die  muskulösen  Steinsetzer  Hessen 
mich  kalt.  Mich  ekelte,  wenn  ich  daran  dachte,  dass  derlei  Menschen  mir 
jemals  schön  vorgekommen  waren.  Mein  Selbstgefühl  steigt;  ich  bin  zwar 
sehr  gutmüthig,  aber  ein  durchaus  aktiver  Charakter.  Mein  Aussehen  hat  sich 
seit  meinem  20.  Jahr  stetig  gebessert.  Ich  sehe  jetzt  meinem  Alter  vollständig 
entsprechend  aus.  Rückfälle  in  meine  Urninggelüste  treten  zwar  ein,  doch 
unterdrücke  ich  sie  energisch.  Meine  Libido  befriedige  ich  nur  durch  Bei- 
schlaf und  hoffe,  dass  bei  weiterer  zweckentsprechender  Lebensweise  auch  die 
Lust  eine  grössere  wird. 

In  der  Regel  wird  nur  die  Fremdsuggestion,  und  zwar 
nur  die  durch  Hypnose  bewerkstelligte,  Aussicht  auf  Erfolg  bieten. 

Die  Aufgabe  posthypnotischer  Suggestion  ist  es  in  solchen 
Fällen,  den  Drang  zur  Masturbation,  sowie  homosexuale  Gefühle  und 
Dränge  ab-  und  heterosexuale  nebst  dem  Bewusstsein  der  Potenz 
anzusuggeriren. 

Eine  Vorbedingung  ist  natürlich  die  Möglichkeit,  eine  genügend 
vertiefte  Hypnose  herbeizuführen.  Dies  gelingt  gerade  bei  Neur- 
asthenikern  nur  zu  häufig  nicht,  da  sie  vielfach  aufgeregt,  befangen 
und  nicht  im  Stande  sind,  ihre  Gedanken  zu  concentriren. 

Angesichts  der  enormen  Wohlthat,  welche  solchen  Unglück- 
lichen erwiesen  werden  kann,  und  im  Hinblick  auf  Ladame's  Fall 
(s.  u.)  sollte  man  in  derartigen  Fällen  künftig  Alles  aufbieten,  um 
das  einzige  Rettungsmittel,  die  Hypnose,  zu  erzwingen.  Befriedigend 
war  der  Erfolg  in  folgenden  zwei  Fällen. 

Beobachtung  130.  Durch  Masturbation  erworbene  conträre 
Sexualempfindung.  Herr  X.,  Geschäftsmann,  29  Jahre.  Eltern  des  Vaters 
gesund.    In  des  Vaters  Familie  nichts  von  Nervosität. 

Vater  war  ein  reizbarer,  griesgrämiger  Mann.  Ein  Bruder  des  Vaters 
sei  ein  Lebemann  gewesen  und  ledig  gestorben. 


310  Conträre  Sexualempfindung. 

Die  Mutter  starb  im  3.  Wochenbett,  als  Pat.  6  Jahre  alt  war ;  sie  hatte 
eine  tiefe,  rauhe,  mehr  männliche  Stimme  und  barsches  Auftreten. 

Von  den  Geschwistern  des  Pat.  ist  ein  Bruder  reizbar,  „melancholisch", 
neutral  gegen  Weiber. 

Pat.  litt  als  Kind  an  Scharlach  mit  Delirien.  Er  sei  bis  zu  seinem 
14.  Lebensjahr  heiter  und  gesellig  gewesen,  von  da  ab  still,  einsam,  „melan- 
cholisch". Die  erste  Spur  des  geschlechtlichen  Empfindens  stellte  sich  mit 
10 — 11  Jahren  ein;  er  lernte  damals  die  Onanie  von  anderen  Knaben  kennen 
und  trieb  mit  diesen  mutuelle  Masturbation. 

Mit  13 — 14  Jahren  zum  erstenmale  Samenergiessung.  Pat.  nahm  bis 
vor  1/t  Jahr  keine  üblen  Folgen  der  Onanie  wahr. 

In  der  Schule  habe  er  leicht  gelernt,  mitunter  habe  er  Kopfweh  gehabt. 
Vom  20.  Lebensjahre  ab  Pollutionen,  trotz  täglicher  Onanie.  Bei  den  Pollu- 
tionen Träume,  „Begattungssituationen",  es  schwebte  ihm  vor,  wie  Mann  und 
Weib  den  Akt  vollziehen.  Im  17.  Lebensjahre  wurde  er  von  einem  mann- 
männlich liebenden  Individuum  zu  mutueller  Onanie  verführt.  Bei  dieser  Ver- 
führung habe  er  Befriedigung  empfunden,  insoferne  er  von  jeher  sehr  ge- 
schlechtsbedürftig war.  Es  dauerte  lange,  ehe  Pat.  neuerliche  Gelegenheit  zu 
mannmännlichem  Verkehr  aufsuchte.  Es  war  ihm  bloss  darum  zu  thun,  den 
Samen  los  zu  werden. 

Er  empfand  keine  Freundschaft,  keine  Liebe  zu  Personen,  mit  denen 
er  verkehrte.  Er  empfand  nur  Befriedigung,  wenn  er  der  passive  Theil  war, 
wenn  er  manustuprirt  wurde.  Er  hatte  keine  Achtung  vor  dem  Betreffenden, 
wenn  er  den  Akt  einmal  vollzogen  hatte.  Gewann  er  später  hingegen  Ach- 
tung, so  unterliess  er  den  Akt.  Später  war  es  ihm  gleich,  ob  er  onanirte 
oder  onanisirt  wurde.  Wenn  er  selbst  onanirte,  dachte  er  an  die  Hand 
von  gefälligen  Männern,  die  ihn  onanisirten.  Harte,  rauhe  Hände  waren 
ihm  lieber. 

Pat.  glaubt,  dass  er  ohne  Verführung  auf  eine  naturgemässe  Bahn  der 
Befriedigung  des  Geschlechtstriebs  gelenkt  worden  wäre.  Liebe  zum  eigenen 
Geschlecht  habe  er  niemals  empfunden,  doch  habe  er  sich  in  dem  Gedanken 
gefallen,  mit  Männern  der  Liebe  zu  pflegen.  Er  habe  anfangs  sinnliche 
Regungen  gegenüber  dem  anderen  Geschlecht  gehabt.  Getanzt  habe  er  gern; 
er  habe  auch  an  Weibern  Gefallen  gefunden  und  habe  mehr  auf  Figur  ge- 
sehen, als  auf  das  Gesicht.  Er  habe  auch  Erectionen  bekommen,  wenn  er 
ein  sympathisches  Weib  sah.  Er  habe  nie  versucht,  den  Beischlaf  auszuführen, 
weil  er  sich  vor  Ansteckung  fürchtete;  er  wisse  gar  nicht,  ob  er  einem  Weib 
gegenüber  potent  wäre.  Er  glaube,  dass  dies  nicht  mehr  der  Fall  sei,  denn 
seine  Gefühle  gegenüber  den  Weibern  seien  erkaltet,  besonders  seit  dem 
letzten  Jahr. 

Während  er  früher  in  seinen  sinnlichen  Träumen  Vorstellungen  von 
Männern  und  Weibern  hatte,  träumte  er  später  nur  von  Annäherungen  an 
den  Mann;  von  sinnlichen  Beziehungen  zu  einem  Weibe  in  den  letzten  Jahren 
geträumt  zu  haben,  kann  er  sich  nicht  erinnern.  —  Im  Theater  interessire 
ihn  immer  die  weibliche  Figur,  ebenso  im  Circus  und  Ballet.  In  Museen 
haben  ihn  männliche  und  weibliche  Statuen  gleich  angezogen. 

Pat.  sei  starker  Raucher,  Biertrinker,  liebe  Herrengesellschaft,  sei  Turner, 
Schlittschuhläufer.    Das  Geckenhafte  sei  ihm  immer  zuwider  gewesen,  er  habe 


Therapie.  311 

niemals  das  Bedürfniss  gehabt,  Männern  zu  gefallen,  schon  eher  den  Wunsch, 
Damen  zu  gefallen. 

Er  empfinde  jetzt  seine  Position  peinlich,  weil  die  Onanie  überhand 
genommen  habe.  Die  früher  unschädlich  getriebene  Onanie  entfalte  jetzt 
schädliche  Wirkungen. 

Seit  Juli  1889  leide  er  an  Hodenneuralgie ;  der  Schmerz  trete  besonders 
Nachts  auf;  Nachts  trete  auch  Zittern  auf  (gesteigerte  Reflexerregbarkeit) ;  der 
Schlaf  sei  unerquicklich,  Pat.  wache  auf  mit  Schmerzen  im  Hoden.  Er  sei 
geneigt,  jetzt  häufiger  zu  onaniren  als  früher.  Er  habe  Angst  vor  der  Onanie. 
Er  hoffe,  dass  sein  Geschlechtsleben  noch  in  normale  Bahnen  gelenkt  werden 
könne.  Er  denke  jetzt  an  die  Zukunft,  er  habe  schon  ein  Verhältniss,  das 
Mädchen  sei  ihm  sympathisch,  auch  der  Gedanke,  sie  als  Frau  zu  besitzen 
sei  ihm  angenehm. 

Seit  5  Tagen  habe  er  sich  der  Onanie  enthalten,  er  glaube  aber  kaum, 
dass  er  im  Stande  wäre,  durch  eigene  Kraft  der  Onanie  zu  entsagen.  In 
letzter  Zeit  sei  er  sehr  niedergeschlagen  gewesen,  habe  keine  Arbeitslust,  sei 
lebensüberdrüssig. 

Pat.  ist  gross,  kräftig,  wohlgenährt,  dichtbebartet.  Schädel  und  Skelet 
normal. 

P.  S.  R.  sehr  prompt;  tiefe  Reflexe  in  o.  E.  sehr  gesteigert,  Pupillen 
über  mittelweit,  beiderseitig  gleich,  sehr  prompt  reagirend.  Carotiden  von 
gleichem  Caliber.  Hyperaesthesia  urethrae.  Samenstrang  und  Testikel  nicht 
empfindlich;  ganz  normale  Genitalien. 

Pat.  wird  beruhigt,  auf  glückliche  Zukunft  vertröstet  unter  der  Be- 
dingung, dass  er  der  Onanie  entsage  und  sein  geschlechtliches  Fühlen  von 
Personen  des  eigenen  Geschlechts  ab-  und  auf  weibliche  lenke. 

Verordnung  von  Halbbädern  (24 — 20°  R.)  extr.  Secal.  cornut.  aquos.  0,5, 
Antipyrin  1,0  pro  die;  Abends  4,0  Bromkalium. 

13.  December.  Pat.  kommt  heute  verstört  in  die  Sprechstunde,  klagend, 
dass  er  aus  eigener  Kraft  dem  Reiz  zur  Masturbation  nicht  widerstehen  könne, 
und  bittet  um  Hülfe. 

Ein  Hypnoseversuch  bringt  Pat.  in  tiefes  Engourdissement. 
Er  erhält  Suggestionen: 

1)  ich  kann,  darf  und  will  nicht  mehr  onaniren; 

2)  ich  verabscheue  die  Liebe  zum  eigenen  Geschlecht  und  werde  keinen 
Mann  mehr  schön  finden; 

3)  ich  will  und  werde  gesund  werden,   ein  braves  Weib  lieben,   glück- 
lich sein  und  glücklich  machen. 

14.  December.  Pat.  hat  heute  beim  Spaziergang  einen  schönen  Mann 
gesehen  und  sich  mächtig  zu  ihm  hingezogen  gefühlt. 

Von  nun  an  jeden  2.  Tag  hypnotische  Sitzungen  mit  obigen  Suggestionen. 
Am  18.  December  (4.  Sitzung)  gelingt  Somnambulismus.  Der  Drang  zur  Onanie 
und  das  Interesse  am  Manne  schwinden. 

In  der  8.  Sitzung  wird  „volle  Potenz"  zu  den  obigen  Suggestionen  hin- 
zugefügt. Pat.  fühlt  sich  moralisch  gehoben  und  körperlich  gekräftigt.  Die 
Hodenneuralgie  ist  geschwunden.  Er  findet,  er  sei  jetzt  auf  dem  Nullpunkt 
geschlechtlicher  Empfindung. 

Masturbation  und  conträre  Sexualempfindung  glaubt  er  los  zu  sein. 


312  Conträre  Sexualempfindung. 

Nach  der  11.  Sitzung  erklärt  er  weitere  ärztliche  Hülfe  für  unnöthig. 
Er  wolle  jetzt  heim  und  sein  Mädchen  heirathen.  Er  fühle  sich  ganz  gesund 
und  potent.     Pat.  wird  Anfang  Januar  1890  aus  der  Behandlung  entlassen. 

Im  März  1890  schrieb  mir  Pat.:  „Ich  hatte  seither  noch  einige  Male 
Gelegenheit,  meine  ganze  moralische  Kraft  zusammennehmen  zu  müssen,  um 
meine  Angewohnheit  zu  bekämpfen,  und  ist  es  mir  Gott  sei  Dank  gelungen, 
mich  von  diesem  Uebel  zu  befreien.  Schon  einige  Male  war  ich  in  der  Lage, 
den  Coitus  auszuführen,  wobei  ich  einen  leidlichen  Genuss  empfand.  Ich  sehe 
meiner  glücklichen  Zukunft  mit  Ruhe  entgegen." 

Beobachtung  131.  Erworbene  conträre  Sexualempfindung. 
Erhebliche  Besserung  durch  hypnotische  Behandlung.  Herr  P., 
geb.  1863,  Fabrikbeamter,  stammt  aus  einer  angesehenen  Patrizierfamilie 
Mitteldeutschlands,  in  welcher  Nervosität  und  Irrsinn  häufig  vorkamen. 

Der  Urgrossvater  väterlicherseits  und  dessen  Schwester  starben  irrsinnig, 
die  Grossmutter  an  Apoplexie,  des  Vaters  Bruder  im  Irrsinn,  dessen  Tochter 
an  Gehirntuberculose.  Muttersmutter  war  jahrelang  schwermüthig,, Vater  der 
Mutter  geisteskrank;  der  Bruder  der  Mutter  nahm  sich  in  einem  Anfall  von 
Geistesstörung  das  Leben.  Der  Vater  des  Pat.  ist  sehr  nervös.  Ein  älterer 
Bruder  ist  schwer  neurasthenisch  mit  Anomalien  der  Vita  sexualis,  ein  anderer 
ist  Gegenstand  der  Beob.  118  der  7.  Aufl.  der  Psychop.  sexualis,  ein  dritter 
bietet  excentrisches  Benehmen  und  soll  fixe  Ideen  haben,  eine  Schwester  ist 
krampfkrank,  eine  andere  starb  als  kleines  Kind  an  Convulsionen. 

Pat.  ist  belastet,  denn  schon  früh  war  er  höchst  sonderbar,  reizbar,  jäh- 
zornig und  machte  seiner  Umgebung  den  Eindruck  eines  abnormen  Menschen. 

Sehr  früh  zeigte  sich  bei  ihm  die  Vita  sexualis  mächtig  und  wurde 
ohne  alle  Verführung  durch  Onanie  befriedigt.  Vom  16.  Jahr  ab  besuchte 
der  früh  entwickelte  Knabe  die  Bordelle  der  Hauptstadt,  seine  freien  Aus- 
gänge an  Sonn-  und  Feiertagen  dazu  benutzend.  Er  coitirte  mit  Genuss,  be- 
friedigte sich  während  der  Wochentage  mit  Onanie.  Vom  20.  Jahre  ab  und 
selbständig  geworden,  excedirte  Pat.  mit  Prostituirten ,  erkrankte  an  Neur- 
asthenia  sexualis  und  wurde  relativ  impotent  und  unbefriedigt  vom  Coitus 
durch  Erectionsschwäche  und  Ejaculatio  praecox.  Seine  Libido  sexualis  wurde 
mächtiger  denn  je  und  in  Onanie  befriedigt.  Pat.  lernte  Anfang  1888  einen 
jungen  Mann  kennen.  „Durch  sein  gefälliges  Gesicht,  sein  einschmeichelndes 
Benehmen,  durch  seine  schönen  äusseren  Körperformen  erwarb  er  meine  ganz 
besondere  Zuneigung.  Ich  wünschte  ihn  anzusprechen  und  freute  mich  immer 
auf  den  AugenbUck,  wo  ich  ihn  sah.  Ich  wurde  ganz  verliebt  in  ihn.  Damit 
erlosch  meine  Liebe  zum  Weibe.  Jener  Mann  vermochte  mich  dermassen 
zu  erregen,  dass  ich  auf  Sekunden  das  Gedächtniss  schwinden  fühlte  und 
stotterte. 

Bald  darauf  lernte  ich  einen  Herrn  kennen,  der  mir  ebenfalls  höchst 
sympathisch  war  und  entscheidend  mein  künftiges  Leben  beeinflusste.  Er  war 
mannliebend.  Ich  gestand  ihm,  dass  ich  vor  dem  weiblichen  Geschlecht  nur 
mehr  Ekel  empfinde  und  mich  zum  Manne  hingezogen  fühle. 

Als  ich  einst  meinen  Kameraden  fragte,  wie  er  es  denn  anstelle,  dass 
sich  ihm  Soldaten  ergeben,  antwortete  er  mir,  die  Hauptsache  sei  Schneid; 
es  könne  jeder  herumgebracht  werden.    Ende  1888  machte  ich  mich,  eingedenk 


Therapie.  313 

jener  Worte,  an  einen  Offiziersburschen  und  wurde  durch  ihn  mächtig  angeregt, 
obschon  nie  die  Ejaculation  sich  einstellte.  Da  ich  sah,  dass  der  Soldat  nicht 
ohne  Weiteres  sich  ergeben  wollte,  gab  ich  ihn  auf.  Alium  quondam  militem 
in  cubiculum  allectum  rogavi  ut  veste  exuta  mecum  in  lectum  concumberet. 
Rogatus  fecit  quae  volui  et  alter  alterius  penem  trivit. 

Obwohl  ich  nach  diesem  glücklichen  Erfolg  viele  Leute  so  missbrauchte, 
war  ich  doch  nur  in  Einen  sozusagen  verliebt.  Es  war  ein  sehr  hübscher 
Bursche  von  17  Jahren.  Seine  Stimme  klang  mir  so  einschmeichelnd,  sein 
Benehmen  war  so  anständig  zärtlich,  dass  ich  ihn  jetzt  noch  nicht  vergessen 
kann.  In  meinen  Träumen  beschäftigte  ich  mich  nur  mit  schönen  jungen 
Männern  und  konnte  vor  Sinnlichkeit  oft  lange  Nächte  nicht  schlafen." 

Anfang  1889  erweckte  das  Benehmen  des  Pat.  Verdacht  auf  mannmänn- 
liche Liebe.  Eine  ihm  drohende  Anzeige  erschreckte  und  verstimmte  ihn  tief, 
so  dass  er  Selbstmord  plante.  Auf  Rath  des  Hausarztes  der  Familie  kam  er 
nach  der  Hauptstadt.  Da  Pat.  unfähig  war,  seinen  gewohnten  Gelüsten  aus 
eigener  Macht  zu  entsagen,  wurde  eine  hypnotische  Behandlung  eingeleitet. 
Sie  erzielte  nur  leichtes  Engourdissement  und  war  gegenüber  den  Ver- 
führungen früherer  Geliebten,  in  deren  Nähe  Pat.  sich  befand,  von  geringem 
Erfolge  begleitet. 

Es  fehlte  Pat.  damals  noch  an  dem  sittlichen  Ernst.  Die  Situation 
besserte  sich  angesichts  der  Vorstellungen  der  bestürzten  Angehörigen  und 
dem  Gespenst  einer  wirklich  drohenden  gerichtlichen  Untersuchung. 

Pat.  entschloss  sich  zu  einem  Kurversuch  bei  Verf. 

Ich  fand  einen  zarten,  blassen,  schwer  neurasthenischen,  gemüthlich 
gedrückten,  an  seiner  Zukunft  verzweifelnden  Menschen  ohne  äussere  Degene- 
rationszeichen. Pat.  sah  seine  schiefe  Position  ein  und  schien  Alles  dransetzen 
zu  wollen,  um  wieder  ein  ordentlicher,  anständiger  Mensch  zu  werden. 

Er  beklagte  tief  seine  sexuelle  Perversion,  die  er  als  eine  zwar  krank- 
hafte, aber  erworbene  beurtheilte.  Er  machte  kein  Hehl  daraus,  dass  er  sich 
jungen  Männern  gegenüber  nicht  beherrschen  könne,  ebensowenig  könne  er 
dafür  gut  stehen,  dass  er  sich  von  Onanie,  zu  der  er  faute  de  mieux  ge- 
zwungen sei,  zu  enthalten  vermöge.  Nur  ein  mächtiger,  ihm  aufgedrungener 
Wille  vermöchte  ihn  dagegen  zu  schützen. 

Seine  mannmännliche  Liebe  habe  bisher  ausschliesslich  in  mutueller 
Onanie  bestanden;  Erection  trete  erst  bei  Berührung  geliebter  Männer  ein,  die 
Ejaculation  erfolge  früh,  aber  blosse  Umarmung  genüge  nicht.  In  einer  be- 
sonderen sexuellen  Rolle  habe  er  sich  dem  Manne  gegenüber  nicht  gefühlt. 
Genitalien  und  vegetative  Organe  normal. 

Neben  Anordnung  einer  Behandlung  contra  neurastheniam  wurde  am 
8.  April  mit  einer  hypnotisch-suggestiven  begonnen. 

Die  Hypnose  gelang  leicht  durch  blosses  Anblicken  und  Verbalsuggestion. 
Nach  einer  halben  Minute  verfiel  Pat.  in  tiefes  Engourdissement  mit  katalepti- 
formem  Verhalten  der  Muskulatur.  Die  Erweckung  geschah,  indem  man  Er- 
wachen beim  Zählen  auf  3  suggerirte.  Posthypnotische  Suggestionen  waren 
jeweils  erzielbar.    Die  intrahypnotischen  Suggestionen  erstreckten  sich  auf 

1)  das  Verbot  der  Onanie, 

2)  die  Aufforderung,  mannmännliche  Liebe  verächtlich,  abscheulich  zu 
finden  und  sie  für  unmöglich  zu  erklären, 


314  Conträre  Sexualempfindung. 

3)  den  Befehl,  ausschliesslich  Damen  schön  zu  finden,  sich  ihnen  zu  nähern, 
von  ihnen  zu  träumen,  bei  ihrem  Anblick  Libido  und  Erection  zu 
bekommen. 

Die  Sitzungen  fanden  täglich  statt.  Am  14.  April  meldete  Pat.  mit 
Genugthuung  und  einer  Art  sittlicher  Befriedigung,  dass  er  mit  Genuss  coitirt 
und  tardiv  ejaculirt  habe. 

Am  16.  fühlte  er  sich  frei  von  masturbatorischen  Anwandlungen,  zum 
Weibe  •  hingezogen ,  ganz  gleichgültig  gegenüber  Männern.  Er  träume  von 
weiblichen  Reizen  und  weiblichem  Umgang. 

Am  1.  Mai  erscheint  und  fühlt  sich  Pat.  sexuell  ganz  normal.  Er  ist 
physisch  eine  ganz  andere  Persönlichkeit  geworden,  voll  Muth  und  Selbst- 
vertrauen. 

Er  coitirt  normal  mit  voller  Befriedigung  und  glaubt  sich  vor  Rück- 
fall sicher. 

In  einem  späteren  Briefe  schreibt  Herr  P. : 

„Wie  es  nicht  anders  denkbar  ist,  befinde  ich  mich  fortdauernd  befreit 
von  jenen  Verirrungen.  Das  Einzige,  was  noch  an  die  dunkle  Zeit  erinnert, 
sind  die  allerdings  seltenen  Träume  aus  der  trostlosen  Vergangenheit,  die  zu 
bannen  nicht  in  meiner  Macht  steht  und  die  mich  zuweilen  sogar  angenehm 
in  Gedanken  beschäftigen.  Durch  eigenen  Willen,  so  hoffe  ich,  wirde  a  mir 
aber  in  Bälde  doch  gelingen,  ihrer  ganz  und  gar  los  zu  werden.  Sollte  ich 
je  wieder  schwach  werden,  so  werden  mich  Ihre  eindringlichen  Vorstellungen 
—  ich  bin  dessen  gewiss  —  energisch  widerstehen  lassen,  und  ich  werde  nicht 
unterliegen." 

Am  20.  Oktober  1890  schrieb  mir  P. : 

„Von  Onanie  bin  ich  völlig  geheilt,  und  die  mannmännliche  Liebe 
findet  keinen  Gefallen  bei  mir.  Die  volle  Potenz  scheint  jedoch  noch  nicht 
wiedergekehrt,  trotzdem  ich  solid  lebe.  Gleichwohl  fühle  ich  mich  zu- 
frieden." 

Weitere  Fälle  von  durch  hypnotische  Suggestivbehandlung  beseitigter, 
erworbener  conträrer  Sexualempfindung  siehe  Wetterstrand,  Der  Hypnotismus 
und  seine  Anwendung  in  der  praktischen  Medicin,  1891  p.  52  u.  ff.;  Bern- 
heim, „Hypnotisme",  Paris  1891  etc  p.  38;  meine  Psychopathia  sexualis,  8.  Aufl., 
Beob.  136. 

Die  vorausgehenden  Thatsachen  des  Erfolges  hypnotischer 
Suggestion  gegenüber  Fällen  von  erworbener  conträrer  Sexual- 
empfindung  lassen  an  die  Möglichkeit  denken,  auch  Unglücklichen, 
welche  mit  angeborener  Perversion  der  Sexualempfindung  behaftet 
sind,  einiger massen  Hülfe  zu  bringen. 

Allerdings  ist  die  Situation  hier  eine  ganz  andere,  insofern 
eine  angeborene  Anomalie  zu  bekämpfen,  eine  krankhafte  psycho- 
sexuale  Existenz  zu  vernichten  und  eine  neue  gesunde  zu 
schaffen  wäre. 

Am  günstigsten  liegen  noch  die  Verhältnisse  beim  psych  o- 
sexualen  Hermaphroditen,   wo  wenigstens  Rudimente  hetero- 


Therapie.  315 

sexualer  Empfindung  suggestiv  gekräftigt  und  zur  Geltung  gebracht 
werden  können. 

Beobachtung  132.  Herr  v.  X.,  25  Jahre,  Gutsbesitzer,  stammt  von 
neuropathischem,  jähzornigem  Vater.  Derselbe  soll  sexuell  normal  sein.  Die 
Mutter  war  nervenleidend,  gleichwie  2  ihrer  Schwestern.  Muttersmutter  war 
nervös,  Muttersvater  ein  Lebemann,  in  Venere  höchst  ausschweifend.  Pat.  ist 
der  Mutter  nachgeartet,  einziges  Kind.  Er  war  von  Geburt  an  schwächlich, 
litt  viel  an  Migräne,  war  nervös,  machte  verschiedene  Kinderkrankheiten  durch, 
ergab  sich  vom  15.  Jahre  an  der  Onanie  ohne  Verführung. 

Bis  zum  17.  Jahre  will  er  weder  für  das  weibliche  noch  für  das  männ- 
liche Geschlecht  irgend  eine  Neigung  gefühlt  haben;  nun  erwachte  Neigung 
zum  Manne.  Er  verliebte  sich  in  einen  Kameraden.  Dieser  erwiderte  seine 
Liebe.  Die  Beiden  umarmten,  küssten,  masturbirten  einander.  Gelegentlich 
übte  Pat.  Coitus  inter  femora  viri  aus.     Päderastie  perhorrescirte  er. 

Lascive  Träume  drehten  sich  nur  um  Männer.  Im  Theater  und  Circus 
interessirten  nur  solche.  Die  Neigung  richtete  sich  auf  etwa  20jährige.  Schöner 
üppiger  "Wuchs  war  Pat.  sympathisch. 

Unter  dieser  Voraussetzung  war  ihm  der  Stand  des  betreffenden  Mannes 
ganz  gleichgültig.  Er  fühlte  sich  in  seinen  sexuellen  Rencontres  immer  in 
männlicher  Rolle. 

Vom  18.  Jahre  an  war  Pat.  der  Gegenstand  der  Sorge  seiner  hochacht- 
baren Familie,  da  er  eine  Liebschaft  mit  einem  Kellner  anfing,  sich  dadurch 
auffällig,  lächerlich  machte  und  ausbeuten  Hess.  Man  nahm  ihn  heim.  Er 
trieb  sich  mit  Bedienten,  Stallknechten  herum.  Es  gab  Scandal.  Man  schickte 
ihn  auf  Reisen.  In  London  hatte  er  eine  Chantage-Affaire.  Es  gelang  ihm, 
in  sein  Heimathland  zu  entfliehen. 

Auch  durch  diese  bittere  Erfahrung  blieb  er  ungewitzigt  und  zeigte 
neuerlich  fatale  Inclinationen  zu  männlichen  Personen.  Man  sandte  Pat.  zu 
mir  behufs  —  Heilung  von  seiner  fatalen  Neigung.  (December  1888.)  Pat. 
ist  ein  grosser,  stattlicher,  robuster,  gut  genährter  junger  Mann  von  durchaus 
männlichem  Bau,  grossen,  gut  entwickelten  Genitalien.  Gang,  Stimme  und 
Haltung  sind  männlich.  Ausgesprochene  männliche  Passionen  hat  er  nicht. 
Er  raucht  wenig  und  nur  Cigaretten,  trinkt  sehr  wenig,  liebt  Süssigkeiten , 
Musik,  schöne  Künste,  Eleganz,  Blumen,  verkehrt  mit  Vorliebe  in  Damenkreisen, 
trägt  Schnurrbart,  sonst  aber  das  Gesicht  glatt  rasirt.  Seine  Kleidung  hat 
nichts  Stutzerhaftes.  Er  ist  ein  weichlicher,  blasser  Mensch,  ein  vornehmer 
Bummler  und  Tagedieb,  schwer  vor  Mittags  aus  dem  Bette  zu  bringen.  Seine 
Neigung  zum  eigenen  Geschlecht  will  er  nie  als  etwas  Krankhaftes  empfunden 
haben.  Er  hält  sie  für  angeboren ,  möchte ,  durch  üble  Erfahrungen  belehrt, 
von  seiner  Perversion  loskommen,  vertraut  aber  wenig  seiner  eigenen  Kraft. 
Er  habe  es  schon  versucht,  gerathe  dann  aber  wieder  gleich  in  Masturbation, 
die  er  als  schädlich  empfinde,  da  sie  (übrigens  leichte)  neurasthenische  Be- 
schwerden mache.  Moralische  Defekte  bestehen  nicht.  Die  Intelligenz  steht 
ein  wenig  unter  dem  Durchschnittsmittel.  Sorgfältige  Erziehung  und  aristo- 
kratische Manieren  stehen  zu  Gebot.  Das  exquisit  neuropathische  Auge  ver- 
räth  die  nervöse  Constitution.  Pat.  ist  kein  vollkommener  und  hoffnungsloser 
Urning.     Er  besitzt  heterosexuale   Empfindungen,   aber  seine 


316  Conträre  Sexualempfindung. 

sinnlichen  Regungen  gegenüber  dem  schönen  Geschlecht 
treten  nur  selten  und  schwach  zu  Tage.  19  Jahre  alt  wurde  er 
von  Freunden  zum  erstenmal  in  ein  Lupanar  gelockt.  Er  empfand  keinen 
Horror  feminae,  hatte  ausreichende  Erectionen,  coitirte  mit  einigem  Genuss, 
jedoch  ohne  das  intensive  Wollustgefühl,  das  er  bei  männlicher  Umarmung 
empfand. 

Seither  versicherte  Pat.  noch  sechsmal  coitirt  zu  haben,  zweimal  sua 
sponte.  Er  versichert  jederzeit  dazu  in  der  Lage  zu  sein,  jedoch  nur  faute  de 
mieux,  etwa  wie  ihm  Masturbation,  wenn  ihn  der  sexuelle  Drang  plagt,  als 
Surrogat  für  mannmännlichen  Verkehr  diene.  Er  habe  sogar  schon  an  die 
Möglichkeit  gedacht,  eine  sympathische  Dame  zu  finden  und  zu  heirathen.  Den 
ehelichen  Umgang  und  die  definitive  Abstinenz  vom  Manne  würde  er  freilich 
als  harte  Pflichten  betrachten. 

Da  hier  doch  Rudimente  heterosexualen  Fühlens  vorhanden  waren  und 
der  Fall  nicht  als  hoffnungslos  betrachtet  werden  konnte,  erschien  mir  ein 
therapeutischer  Versuch  geboten.  Die  Indicationen  waren  klar  genug,  aber 
auf  den  Willen  des  schlaffen  und  seiner  fatalen  Lage  sich  keineswegs  klar  be- 
wussten  Patienten  kein  Verlass.  Es  lag  nahe,  in  der  Hypnose  eine  Stütze  für 
den  moralischen  ärztlichen  Einfluss  zu  suchen.  Die  Erfüllung  dieser  Hoffnung 
erschien  zweifelhaft  durch  die  Mittheilung  des  Pat.,  der  bekannte  Hansen 
habe  wiederholt  vergebens  Hypnose  bei  ihm  versucht. 

Gleichwohl  musste  dieser  Versuch  aus  Rücksicht  für  die  wichtigsten 
socialen  Interessen  des  Pat.  wiederholt  werden.  Zu  meinem  grossen  Erstaunen 
führte  die  Bernheim'sche  Methode  sofort  zu  tiefem  Engourdissement  mit 
Möglichkeit  posthypnotischer  Suggestion. 

Bei  der  2.  Sitzung  gelingt  Somnambulismus  durch  blosses  Anblicken. 
Pat.  ist  nach  jeder  Richtung  hin  suggestibel,  man  kann  durch  Streichen  der 
Haut  Contracturen  hervorrufen.  Die  Erweckung  geschieht  durch  Zählen  auf  3. 
Pat.  hat  Amnesie  ausserhalb  der  Hypnose  für  alles  in  dieser  Geschehene.  Diese 
wird  nun  jeden  2. — 3.  Tag  behufs  Ertheilung  hypnotischer  Suggestionen  vor- 
genommen.    Daneben  Traitement  moral  und  Hydrotherapie. 

Die  in  Hypnose  ertheilten  Suggestionen  sind  folgende : 

1)  Ich  verabscheue  die  Onanie,  denn  sie  macht  siech  und  elend; 

2)  ich  habe  keine  Neigung  mehr  zum  Manne,  denn  die  Liebe  zum 
Manne  ist  gegen  die  Religion,  gegen  die  Natur  und  gegen  das 
Gesetz; 

3)  ich  empfinde  Neigung  zum  Weib ,  denn  das  Weib  ist  lieb  und 
begehrenswerth  und  für  den  Mann  geschaffen. 

Pat.  sagt  in  den  Sitzungen  jeweils  diese  Suggestionen  verbotenus  auf. 
Schon  nach  der  4.  Sitzung  fällt  es  auf,  dass  Pat.  in  Kreisen,  in  welchen  er 
eingeführt  ist,  Damen  die  Cour  macht.  Kurz  darauf,  als  eine  berühmte  Sän- 
gerin gastirt,  ist  er  Feuer  und  Flamme  für  sie.  Einige  Tage  später  erkundigt 
sich  Pat.  sogar  nach  der  Adresse  eines  Lupanar. 

Gleichwohl  sucht  Pat.  noch  mit  Vorliebe  die  Gesellschaft  der  jungen 
Herren  auf,  jedoch  ergibt  die  genaueste  Ueberwachung  durchaus  nichts  Ver- 
dächtiges. 

17.  Februar.  Pat.  bittet  um  Erlaubniss  zu  coitiren  und  ist  von  seinem 
Debüt  bei  einer  Dame  der  Halbwelt  sehr  befriedigt. 


Therapie.  317 

16.  März.  Bisher  etwa  zweimal  per  Woche  Hypnose.  Pat.  kommt  durch 
einfaches  Anblicken  jeweils  in  tiefen  Somnambulismus,  sagt  auf  Verlangen  seine 
Suggestion  auf,  ist  beliebiger  posthypnotischer  Suggestion  zugänglich ,  weiss 
im  wachen  Zustande  nicht  das  Mindeste  von  den  Beeinflussungen  im  hypno- 
tischen Zustand.  In  diesem  versichert  er  jeweils  von  Onanie  und  sexuellen 
Gefühlen  gegenüber  Männern  ganz  frei  zu  sein.  Da  er  stereotyp  in  Hypnose 
dieselben  Antworten  gibt,  z.  B.  an  dem  so  und  so  vielten  zum  letztenmal 
onaniit  zu  haben,  und  zu  tief  unter  dem  Willen  des  Arztes  steht,  um  lügen 
zu  können,  verdienen  seine  Angaben  allen  Glauben,  zumal  da  er  blühend  aus- 
sieht, frei  von  allen  neurasthenischen  Beschwerden  ist,  im  Verkehr  mit  Herren 
nicht  im  geringsten  mehr  bedenklich  ist,  und  ein  offenes,  freies,  mannhaftes 
Wesen  entwickelt. 

Da  er  zudem  aus  eigenem  Antrieb  ab  und  zu  und  mit  Genuss  coitirt, 
gelegentliche  Pollutionen  nur  mehr  durch  lascive  Traumbilder,  welche  weib- 
liche Personen  betreffen,  ausgelöst  werden,  kann  an  der  günstigen  Umwand- 
lung der  Vita  sexualis  nicht  mehr  gezweifelt  werden  und  lässt  sich  annehmen, 
dass  die  hypnotischen  Suggestionen  nunmehr  zu  festen  autosuggestiven  Direc- 
tiven  des  ganzen  Fühlens,  Vorstellens  und  Strebens  geworden  sind.  Eine  Natura 
frigida  dürfte  Pat.  wohl  immer  bleiben ,  aber  er  spricht  öfter  vom  Heirathen 
und  seinem  Vorsatz,  sobald  er  eine  ihm  sympathische  Dame  kennen  lernt,  um 
sie  zu  werben.  Pat.  wird  aus  der  Behandlung  entlassen.  (Eigene  Beobachtung. 
Internat.  Centralblatt  für  die  Physiol.  u.  Pathol.  der  Harn-  und  Sexualorgane, 
Band  I.) 

Im  Juli  1889  erhielt  ich  einen  Brief  des  Vaters,  welcher  volles  Wohl- 
befinden und  Wohlverhalten  seines  Sohnes  meldet. 

Am  24.  Mai  1890  traf  ich  zufällig  meinen  früheren  Pat.  auf  einer 
Reise.  Sein  blühendes  frisches  Aussehen  liess  Günstiges  vermuthen.  Er  theilte 
mit,  dass  er  zwar  noch  einzelne  Männer  sympathisch  finde,  aber  nie  mehr 
Anwandlungen  im  Sinne  mannmännlicher  Liebe  verspüre.  Er  coitire  gelegent- 
lich mit  vollem  Genuss  mit  Frauenzimmern  und  denke  jetzt  ernstlich  an 
Heirath. 

Ich  hypnotisirte  Pat.  probeweise  in  der  früheren  Weise  und  fragte  nach 
den  Befehlen,  die  ich  ihm  seiner  Zeit  ertheilt  habe.  In  tiefem  Somnambulis- 
mus, mit  ganz  demselben  Tonfall  wie  früher,  sagte  Pat.  seine  im  December 
1888  erhaltenen  Suggestionen  her  —  jedenfalls  ein  zutreffendes  Beispiel  der 
möglichen  Dauer  und  Macht  posthypnotischer  Suggestion. 

Beobachtung  133.  Psychische  Hermaphr odisie.  Erfolgreiche 
Behandlung  durch  hypnotische  Suggestion.  Herr  Z.,  29  Jahre,  be- 
hauptet von  gesunden  Grosseltern,  gesundem  Vater,  aber  nervöser  Mutter  zu 
stammen.  Er  ist  einziges  Kind,  wurde  von  der  Mutter  verzärtelt.  8  Jahre 
alt  wurde,  er  sexuell  mächtig  durch  einen  Bedienten  erregt,  der  ihm  porno- 
graphische Bilder  und  seinen  Penis  zeigte. 

Mit  12  Jahren  verliebte  sich  Z.  in  seinen  Hauslehrer.  Beim  Einschlafen 
erschien  ihm  das  Bild  dieses  Mannes  in  nackter  Gestalt.  Er  dachte  sich  diesem 
gegenüber  in  weiblicher  Situation  und  schwelgte  in  dem  Gedanken,  diesen  ein- 
mal zu  heirathen. 

Mit  13  Jahren   auf  einem  Hausball   ei'regte  jedoch  eine  junge  Gouver- 


318  Conträre  Sexualempfindung. 

nante  seine  Phantasie  und  mit  15  Jahren  verliebte  er  sich  in  eine  junge  Dame. 
Er  blieb  sinnlich  sehr  erregbar,  jedoch  in  der  Folge  ausschliesslich  durch  sym- 
pathische Männer.     Masturbation  kam  nicht  vor. 

20  Jahre  alt  wurde  Pat.  neurasthenisch  (ex  abstinentia?).  Er  versuchte 
nun  Coitus,  reüssirte  nicht.  Dafür  bekam  er  mächtige  Libido,  als  er  Gelegen- 
heit hatte,  in  einem  Dampfbad  viri  nudi  ansichtig  zu  werden.  Dieser  bemerkte 
seine  Erregung,  machte  sich  an  ihn,  masturbirte  ihn,  was  Pat.  grossen  Genuss 
gewährte.  Er  fühlte  sich  mächtig  zu  diesem  Manne  hingezogen,  Hess  sich  von 
ihm  weiter  masturbiren.  Dazwischen  Coitusversuche  mit  Frauenzimmern,  die 
aber  jeweils  mit  Fiasco  endigten.  Pat.  war  sehr  betrübt  darüber,  consultirte 
Aerzte,  die  seine  Impotenz  mit  Nervosität  erklärten  und  meinten,  das  werde 
sich  bald  geben. 

Bis  zum  25.  Jahre  bestand  seine  sexuelle  Befriedigung  in  etwa  einmal 
monatlich  erfolgender  Masturbation  durch  den  geliebten  Mann.  Zu  dieser  Zeit 
fühlte  er  sich  zum  letztenmal  zu  einem  Weibe  hingezogen.  Es  war  eine  Bauern- 
jungfer. Diese  zeigte  sich  seinen  Wünschen  unzugänglich.  Da  zugleich  der 
Geliebte  nicht  mehr  erreichbar  wurde,  verfiel  Pat.  auf  Automasturbation.  Seine 
Neurasthenie  steigerte  sich  in  Folge  dessen  sehr.  Er  konnte  deshalb  seine 
Studien  nicht  beendigen,  wurde  leutscheu,  dysthymisch,  abulisch,  machte  nun 
erfolglos  verschiedene  Kuren  in  hydropathischen  Etablissements.  Wegen  fort- 
dauernder schwerer  (cerebrospinaler)  Neurasthenie  kam  Pat.  Ende  Februar  1890 
zu  mir,  um  sich  Raths  zu  erholen. 

Grosser,  schlanker  Mann  von  aristokratischen,  entschieden  männlichen 
Manieren,  neuropathische  Erscheinung,  grosse,  in  der  Wangenhaut  leistenartig 
sich  verlierende  Ohrläppchen.  Ganz  normale  Genitalien.  Gewöhnliches  Bild 
einer  cerebrospinalen  Neurasthenie  massigen  Grades.  Grosse  Verstimmung, 
Klagen,  dass  das  Leben  so  unbefriedigend  erscheine  bis  zum  Taedium  vitae, 
peinlich  berührt  von  seiner  sexuellen  Abnormität,  zumal  da  er  von  seiner 
Familie  gedrängt  werde,  zu  heirathen. 

Am  Weib  interessire  ihn  nur  die  Psyche,  nicht  der  Körper.  Sexuell 
habe  er  nur  Neigung  zu  Männern  und  zwar  solchen  von  Distinction.  Seine 
Träume  haben  sich  noch  nie  um  Personen  des  eigenen,  sondern  nur  um  solche 
des  anderen  Geschlechts  gedreht.  In  diesen  wollüstigen  Träumen  habe  er  sich 
in  der  Rolle  des  Weibes  gesehen. 

Die  raffinirteste  Puella  habe  ihn  nie  zu  Erection  oder  gar  zu  Libido  zu 
bringen  vermocht. 

Sein  sexueller  Verkehr  mit  Männern  habe  in  ■  passiver  oder  mutueller 
Masturbation  bestanden.  Automasturbation  habe  er  nur  selten  und  faute  de 
mieux  sich  ergeben.  Seit  5  Monaten  habe  er  sich  derselben  enthalten,  seit 
August  1889  auch  keinen  mannmännlichen  Umgang  mehr  gehabt. 

Versuch  einer  Hypnose  nach  Bernheim's  Methode  schlägt  fehl;  längeres 
Streichen  der  Stirn  bringt  tiefes  Engourdissement  mit  Katalepsie  hervor. 

Diese  Methode  wird  benützt,  um  bei  dem  bedauernswerthen  Kranken 
eine  Suggestionsbehandlung  durchzuführen.  Der  hypnotische  Zustand  ist  immer 
der  gleiche,  zu  Somnambulismus  ist  er  nicht  zu  bringen. 

In  der  3.  Sitzung  erhält  Pat.  die  Suggestionen:  Onanie  und  Männerliebe 
abscheulich,  Weiber  schön  zu  finden,  von  solchen  zu  träumen. 

Nach  der  6.  Sitzung  (10.  März)  vollzieht  sich  ein  sichtlicher  Umschwung 


Therapie.  319 

m  der  psychischen  Existenz.  Pat.  wird  ruhiger,  fühlt  sich  freier,  träumt  ab 
und  zu  von  Weibern,  nicht  mehr  von  Männern,  findet,  dass  sie  ihm  ganz  gleich- 
gültig werden,  berichtet  mit  Genugthuung,  dass  er  gar  keine  Anwandlungen 
zu  Masturbation  mehr  habe.  Er  nähert  sich  dem  schönen  Geschlecht,  bemerkt 
aber,  dass  dasselbe  nicht  die  mindeste  Anziehungskraft  für  ihn  habe. 

Am  19.  März  rufen  Geschäfte  den  Pat.  nach  seiner  Heimath,  so  dass  die 
Behandlung  abgebrochen  werden  muss. 

Am  17.  Mai  1890  kehrt  Pat.  in  die  Behandlung  zurück.  Er  versichert, 
inzwischen  nicht  mehr  masturbirt,  seinem  Trieb  zu  Männern  widerstanden  zu 
haben.  Auch  habe  er  nicht  mehr  von  solchen  geträumt,  2mal  sogar  von  Frauen, 
aber  ganz  platonisch.  Seine  cerebrale  Asthenie  (ex  abstinentia?)  ist  gesteigert. 
Er  leidet  offenbar  unter  dem  Mangel  einer  seelischen  und  sinnlichen  Be- 
friedigung seiner  Vita  sexualis,  da  homosexuale  Liebe  und  Masturbation  ihm 
unmöglich  geworden  sind ,  aber  auch  der  Umgang  mit  dem  Weibe  ihm  ver- 
sagt ist.     Pat.  ist  davon  peinlich  berührt  bis  zu  Taed.  vitae. 

Er  wird  nun  einer  antineurasthenischen  Behandlung  (Hydro-Electro- 
therapie)  unterworfen  und  die  hypnotische  Behandlung  wieder  aufgenommen. 
Erst  nach  10  Wochen  mühsamer  Behandlung  schwinden  die  neurasthenischen 
Beschwerden.  Damit  geht  parallel  eine  Aenderung  der  psychischen  Persön- 
lichkeit. 

Pat.  bemerkt  mit  Genugthuung,  dass  er  kräftiger  wird,  dass  sein  Sexual- 
leben keine  dominirende  Rolle  mehr  spielt.  Er  fühlt  sich  zwar  eher  zum 
Manne  hingezogen ,  als  zum  Weib ,  widersteht  aber  leicht  homosexualen  Ge- 
lüsten. Aus  seinem  bisherigen  Boudoir  wird  ein  Arbeitszimmer,  statt  Putz  und 
frivoler  Lektüre  treibt  er  sich  nun  in  Bergen  und  Wäldern  herum.  Der  Ge- 
fahren eines  Fiasco  wegen  wird  die  Initiative  auf  heterosexualem  Gebiet  dem 
Pat.  überlassen. 

Erst  in  der  14.  Kurwoche  stellt  er  sich  selbst  auf  die  Probe.  Sie  fällt 
glänzend  aus.  Pat.  wird  ein  fröhlicher  Mensch,  gesund  an  Leib  und  Seele, 
äussert  die  besten  Hoffnungen  bezüglich  seiner  Zukunft  und  selbst  Heiraths- 
gedanken. 

Er  empfindet  wachsenden  Genuss  in  normalem  sexuellem  Verkehr,  hat 
gelegentlich  lascive,  Weiber  betreffende  Träume,  träumt  nie  mehr  von  Männern. 

Ende  September  beendet  Pat.  seine  Kur.  Er  fühlt  sich  ganz  normal 
im  heterosexualen  Verkehr,  von  seiner  Neurasthenie  befreit  und  trägt  sich  mit 
Heirathsabsichten.  Gleichwohl  bekennt  er  offen,  dass  er  noch  immer  Erection 
bekomme,  wenn  er  eines  nackten  hübschen  Mannes  ansichtig  werde,  jedoch 
widerstehe  er  mit  Leichtigkeit  auftauchenden  Gelüsten  und  habe  in  seinem 
Traumleben  ausschliesslich  „relations  avec  la  femme". 

Im  April  91  sah  ich  Pat.  in  bestem  Wohlsein  wieder.  Er  hält  seine 
Vita  sexualis  für  vollkommen  sanirt,  insofern  er  regelmässig  mit  vollem  Genuss 
und  voller  Potenz  coitirt,  nur  von  Weibern  träumt,  nie  mehr  Anwandlungen 
zu  Masturbation  hatte.  Gleichwohl  macht  er  das  interessante  Geständniss, 
dass  er  häufig  post  coitum  noch  flüchtig  und  leicht  beherrschbar  „goüt  pour 
l'homme"  habe.  Er  hält  sich  für  dauernd  hergestellt  und  trägt  sich  mit 
Heirathsgedanken. 

Weitere  Fälle  siehe  meine  Psychopathia  sexualis.  8.  Aufl.,  Beob.  137. 
138.  140.  141. 


320  Conträre  Sexualempfindung. 

Dass  auch  bei  den  schwersten  Fällen  angeborener  conträrer 
Sexualempfindung  Suggestionsbehandlung  Erfolg  haben  kann,  lehren 
Fälle  des  Verf.  und  von  Ladame,  in  welchen  wenigstens  die  Ab- 
suggerirung  homosexueller  Empfindungen  und  damit  die  (gegenüber 
der  Gefahr  von  Schande  und  richterlicher  Verfolgung)  wohlthätige 
sexuelle  Neutralisirung  gelang. 

Aber  auch  Ersetzung  der  homosexualen  Empfindung  durch 
heterosexuale,  selbst  mit  Potenz,  gelang  Wetterstrand  (berichtet 
von  Schrenck,  op.  cit.  als  Fall  49),  Bernheim  (bei  Schrenck 
Fall  51),  Müller  (Schrenck  op.  cit.  Fall  53),  Schrenck  (op.  cit. 
Fall  66,  67),  dem  Letzteren  sogar  in  Fällen  von  Effeminatio  (Schrenck 
op.  cit.  Fall  62.  63). 

Nur  da,  wo  die  Hypnose  zum  Somnambulismus  vertieft  werden 
kann,  lassen  sich  übrigens  solche  entscheidende  und  dauernde  Er- 
folge erhoffen.     Vor  Illusionen  dürfte  gleichwohl   zu    warnen   sein. 


IV.   Specielle  Pathologie. 


Die  Erscheinungen  krankhaften  Sexuallebens  in  den  verschiedenen 
Formen  und  Zuständen  geistiger  Störung. 

Psychische  Entwicklungshemmungen. 

Das  Geschlechtsleben  ist  bei  den  Idioten  im  Allgemeinen  wenig 
entwickelt.  Es  fehlt  sogar  gänzlich  bei  den  Idioten  hohen  Grades. 
Die  Genitalien  sind  dann  häufig  klein  und  verkümmert,  die  Men- 
struation tritt  spät  oder  gar  nie  ein.  Es  besteht  Impotenz  resp. 
Sterilität.  Auch  bei  höherstehenden  Idioten  steht  das  Geschlechts- 
leben nicht  im  Vordergrund.  In  seltenen  Fällen  tritt  es  mit  einer 
gewissen  Periodicität  und  dann  mit  grosser  Intensität  zu  Tage.  Es 
kann  sogar  brunstartig  erscheinen  und  stürmisch  befriedigt  werden. 
Perversionen  des  Geschlechtstriebs  scheinen  auf  tiefer  Stufe  der 
geistigen  Entwicklung  nicht  vorzukommen. 

Wird  dem  Drang  nach  sexueller  Befriedigung  Widerstand 
geleistet,  so  entstehen  hier  mächtige  Affekte  mit  gefährlichen  Ge- 
walthandlungen gegen  die  betreffenden  Personen.  Dass  der  Idiot 
in  der  Befriedigung  seines  Triebs  nicht  wählerisch  ist  und  sich 
selbst  an  den  nächsten  Anverwandten  vergreift,  ist  begreiflich. 

So  berichtet  Marc-Ideler  (a.  a.  0.)  von  einem  Idioten,  der  seine 
eigene  Schwester  stupriren  wollte  und  sie  fast  erwürgt  hätte,  als  man  ihn 
daran  hinderte. 

Einen  analogen  Fall  th eilte  Friedreich  (Friedreich's  Blätter  1858, 
p   50)  mit. 

v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  21 


322  ^as  krankhafte  Sexualleben 

Fälle  von  Unzuchtsvergehen  mit  kleinen  Mädchen  habe  ich  wiederholt 
begutachtet. 

Auch  Giraud  (Annal.  med.  psych.  1885,  Nr.  1)  theilt  einen  bezüglichen 
Fall  mit.  Die  Einsicht  in  die  Bedeutung  der  That  fehlt  immer,  ein  instinctives 
Bewusstsein,  dass  dergleichen  obscöne  Handlungen  öffentlich  nicht  zulässig 
sind,  ist  vielfach  vorhanden  und  veranlasst  dann  zur  Vornahme  der  geschlecht- 
lichen Handlung  an  einsamem  Orte. 

Bei  den  Imbecillen  ist  das  Geschlechtsleben  in  der  Regel  ent- 
wickelt wie  bei  Vollsinnigen.  Die  sittlichen  Hemmungsvorstellungen 
sind  dürftig  und  damit  tritt  es  mehr  weniger  unverhüllt  zu  Tage. 
Jedenfalls  sind  schon  aus  diesem  Grund  Imbecille  störend  in  der 
Gesellschaft.  Krankhafte  Steigerung  und  Perversion  des  Triebes 
sind  selten. 

Die  häufigste  Befriedigung  des  Sexualtriebs  ist  Onanie.  An 
erwachsene  Personen  des  anderen  Geschlechts  wagt  sich  der  Schwach- 
sinnige selten. 

Häufig  macht  er  sich  mit  Thieren  zu  schaffen.  Die  weitaus 
grössere  Zahl  von  Thierschändern  betrifft  Imbecille.  Ziemlich  häufig 
sind  auch  Kinder  Opfer  ihrer  Angriffe. 

Emminghaus  (Machka's  Handb.  IV.  p.  234)  weist  auf  die  Häufigkeit 
der  ungenirten  Manifestation  sexueller  Triebe  hin,  die  sich  in  öffentlicher 
Masturbation,  Exhibition  der  Genitalien,  Angriffen  auf  Kinder,  auch  solche 
des  eigenen  Geschlechts,  und  in  Sodomie  äussern. 

Giraud  (Annal.  med.  psychol.  1855,  Nr.  1)  hat  eine  ganze 
Serie  von  unsittlichen  Attentaten  an  Kindern  mitgetheilt1). 

1)  H,  17  Jahre  alt,  imbecill,  hat  ein  kleines  Mädchen  in  einer  Scheune 
mit  Nüssen  beschenkt.  Genitalia  puellae  nudavit,  sua  genitalia  ei  ostendit  et 
in  abdomine  infantis  coitum  conatus  est.  Der  sittlich-rechtlichen  Bedeutung 
der  That  ist  er  sich  nicht  bewusst. 

2)  L.,  21  Jahre  alt,  imbecill,  degenerativ,  ist  mit  Viehhüten  beschäftigt. 
Da  kommt  seine  11jährige  Schwester  mit  einer  8jährigen  Gespielin  und  er- 
zählt, wie  gerade  ein  Unbekannter  unzüchtige  Attentate  an  ihnen  versucht  hat. 
L.  führt  die  Kinder  sofort  in  ein  unbewohntes  Häuschen,  versucht  Coitus  an 
dem  8jährigen  Kind,  lässt  aber  ab  von  ihm,  da  die  Immissio  nicht  gelingt 
und   das  Kind   schreit.     Auf  dem  Heimweg  verspricht  er   dem   Kind,   es   zu 


*)  Zahlreiche  andere  Fälle  s.  Henke's  Zeitschr.  XXIII,  Ergänzungsheft, 
p.  147.  —  Comb  es,  Annal.  med.  psych.  1866.  —  Liman,  Zweifelh.  Geistes- 
zustände p.  389.  —  Casper-Liman,  Lehrb.,  7.  Aufl.,  Fall  295.  —  Bartels, 
Friedreich's  Blätter  f.  ger.  Med.  1890,  Heft  1. 


bei  erworbenen  geistigen  Schwächezuständen.  323 

heirathen,  wenn  es  nichts  verrathe.    Vor  dem  Richter  meinte  er,  durch  Heirath 
könne  er  sein  Unrecht  gut  machen. 

3)  G.,  21  Jahre  alt,  mikrocephal,  imbecill,  seit  dem  6.  Jahre  Masturbant, 
später  bald  aktiver,  bald  passiver  Päderast,  hat  wiederholt  Knaben  zu  päde- 
rastiren  versucht  und  kleine  Mädchen  attaquirt.  Er  war  absolut  einsichtslos 
für  seine  Handlungen.  Seine  sexuellen  Gelüste  kamen  zeitweise  und  brunst- 
artig wie  beim  Thier1). 

4)  B.,  21  Jahre  alt,  imbecill,  verlangt,  allein  mit  der  19jährigen  Schwester 
im  Wald,  von  dieser  Gestattung  des  Coitus.  Sie  weigert  sich.  Er  droht  sie 
zu  erwürgen,  sticht  sie  mit  dem  Messer.  Das  geängstigte  Mädchen  reisst  ihn 
am  Penis,  worauf  er  von  ihr  ablässt  und  ruhig  an  seine  Arbeit  zurückkehrt. 
B.  hat  mikrocephalen  difFormen  Schädel,  ist  einsichtslos  für  seine  That. 

Emrainghaus  (op.  cit.  p.  234)  theilt  den  Fall  eines  Exhibitio- 
nisten mit. 

B  eobachtung  134.  Ein  40  Jahre  alter  Mann,  verheirathet,  hatte  16  Jahre 
hindurch  in  Parkanlagen  und  anderen  öffentlichen  Orten  in  der  Dämmerung 
vor  kleinen  Mädchen,  weiblichen  Dienstboten  u.  s.  w.  exhibitionirt  und  dabei 
durch  Pfeifen  auf  sich  aufmerksam  gemacht.  Von  Auflauernden  oft  geprügelt, 
hatte  er  künftig  die  betreffenden  Orte  gemieden,  jedoch  im  Uebrigen  sein 
Treiben  anderwärts  fortgesetzt.  Hydrocephalus.  Schwachsinn  leichten  Grades. 
Geringe  Bestrafung. 

Beobachtung  135.  X.,  aus  erblich  belasteter  Familie,  imbecill,  defekt 
und  verschroben  im  Denken,  Fühlen  und  Streben,  hat  es  durch  Protection  und 
Nachhilfe  bis  zum  Referendar  gebracht.  Accusatus  est  quod  iterum  iterumque 
ancillis  genitalia  sua  ostendit  et  superiorem  corporis  partem  de  fenestra  de- 
monstravit.  Sonst  keine  Erscheinungen  von  Geschlechtstrieb.  Angeblich  keine 
Masturbation.     (Sander,  Archiv  f.  Psych.  I.  p.  655.) 

Beobachtung  136.  Päderastirung  eines  Kindes.  Am  8.  April 
1884  Morgens  10  Uhr  gesellte  sich  zur  X.,  welche  einen  16  Monate  alten 
Knaben  auf  dem  Schoss  hielt,  auf  öffentlicher  Strasse  ein  gewisser  Vallario 
und  nahm  der  X.  das  Kind  ab,  vorgebend,  es  etwas  spazieren  tragen  zu  wollen. 
Er  ging  x\i  Kilometer  fort,  kam  zurück,  erklärte,  der  Knabe  sei  ihm  vom  Arm 
gefallen  und  habe  sich  dabei  am  After  verletzt.  Dieser  war  geschlitzt  und 
es  ergoss  sich  aus  ihm  Blut.  Am  Thatort  fanden  sich  Spuren  von  Sperma  vor. 
V.  gestand  sein  scheussliches  Verbrechen,  benahm  sich  aber  in  der  Haupt. 
Verhandlung  so  sonderbar,  dass  eine  Prüfung  seines  Geisteszustandes  verfügt 
wurde.  Den  Gefängnisswärtern  hatte  er  den  Eindruck  eines  Imbecillen  ge- 
macht. V.,  45  Jahre,  Maurer,  moralisch  und  intellectuell  defectiv,  ist  doli- 
chomikrocephal,  hat  schmalen ,  verkümmerten  Gesichtsschädel ,  asymmetrische 
Gesichtshälfte  und  Ohren,  niedere,  fliehende  Stirn.   Genitalien  normal.   V.  zeigt 


*)  Weitere  Fälle  von  Päderastie  s.  Casper,   Klin.  Novellen,  Fall  5.  — 
Combes,  Annal.  med.  psychol.  1866,  Juli. 


324  Das  krankhafte  Sexualleben 

allgemein  herabgesetzte  Hautsensibilität,  ist  imbecill,  verfügt  nicht  über  Be- 
griffe. Er  lebt  in  den  Tag  hinein,  lebt  für  sich,  thut  nichts  aus  eigener  Ini- 
tiative. Er  ist  wunschlos,  gemüthlos,  hat  nie  coitirt.  Ueber  seine  Vita  sexualis 
ist  sonst  nichts  heraus  zu  bekommen.  Nachweis  der  intellectuellen  und  mora- 
lischen Idiotie  aus  Mikrocephalie ;  Zurückführung  des  Verbrechens  auf  einen 
perversen,  unbeherrschbaren  Sexualtrieb.  Versetzung  in  ein  Irrenbaus.  (Virgilio, 
II  Manicomio  V.  Jahrgang  Nr.  3.) 

Dass  imbecille  Frauenspersonen  durch  schamlose  Prostitution 
und  andere  Unsittlichkeiten  anstössig  werden  können,  lehrt  ein  von 
L.  Meyer  (Arch.  f.  Psych.  Bd.  I,  p.  103)  besprochener  Fall1). 


Erworbene  geistige  Schwächezustände. 

Der  mannigfachen  Anomalien  der  Vita  sexualis  bei  Dementia 
senilis  wurde  schon  in  der  allgemeinen  Pathologie  gedacht.  Bei 
den  anderweitigen  erworbenen  geistigen  Schwächezuständen,  wie 
sie  durch  Apoplexie,  Trauma  capitis  entstehen  oder  als  Secundär- 
stadien  nach  nicht  zum  Ausgleich  gelangten  Psychosen  oder  auf 
Grund  chronisch  entzündlicher  Vorgänge  in  der  Hirnrinde  (Lues, 
Dem.  paralytica)  vorkommen,  scheinen  Perversionen  des  Geschlechts- 
triebs selten  zu  sein  und  die  geschlechtlich  anstössigen  Handlungen 
auf  blosser  krankhafter  Steigerung  oder  ungehemmter  Geltend- 
machung eines  an  und  für  sich  nicht  abnormen  Geschlechtslebens 
zu  beruhen. 


1)  Consecntive  Geistesschwäche  nach  Psychosen. 

Casper  (Klin.  Novellen,  Fall  31)  theilte  einen  hieher  ge- 
hörigen Fall  von  Unzucht  mit  einem  Kinde  mit,  deren  sich  ein 
Dr.  med.,  33  Jahre  alt,  secundär  geistesschwach  nach  hypochon- 
drischer Melancholie,  schuldig  gemacht  hatte.  Er  entschuldigte  sich 
in  höchst  läppischer  Weise,  hatte  keine  Einsicht  für  die  sittlich- 
rechtliche Bedeutung  der  Handlung,  die  offenbar  die  Folge  eines 
durch  geistige  Schwäche  nicht  beherrschbaren  sexualen  Triebs  war. 

Einen  analogen  Fall  stellt  der  21.  in  Liman's    „Zweifelhafte 


*)  S.  f.  Sander,  Viertel] ahrsschr.  f.  ger.  M.  XVIII,  p.  31.  —  Casper, 
Klin.  Novellen,  Fall  27. 


bei  erworbenen  geistigen  Schwächezuständen.  325 

Geisteszustände"    dar   (Dementia    aus  Melancholie;    Verletzung   der 
Schamhaftigkeit  durch  Exhibition). 


2)  Schwachsinn  nach  Apoplexie. 

Beobachtung  137.  B.,  52  Jahre  alt,  hatte  eine  Gehirnaffection  durch- 
gemacht und  in  Folge  derselben  nicht  mehr  seinem  Beruf  als  Kaufmann  vor- 
zustehen vermocht. 

Eines  Tages ,  in  Abwesenheit  seiner  Frau ,  lockte  er  zwei  kleine  Mäd- 
chen in  sein  Haus,  gab  ihnen  Spirituosen  zu  trinken,  machte  dann  wollüstige 
Manipulationen  mit  den  Kindern,  befahl  ihnen,  nichts  zu  verrathen  und  ging 
dann  seinen  Geschäften  nach.  Die  Expertise  constatirte  Schwachsinn  nach 
wiederholter  Apoplexie.  B.,  der  bisher  musterhaft  sich  betragen  hatte,  will 
in  seinem  ihm  selbst  unerklärlichen  Drang  und  seiner  Sinne  nicht  mehr 
mächtig,  die  incriminirte  Handlung  begangen,  und  als  er  zu  sich  kam  und 
des  Geschehenen  bewusst  wurde,  sich  geschämt  und  die  Mädchen  gleich 
weggeschickt  haben.  B.  war  seit  seinen  apoplectischen  Insulten  geistig  ge- 
schwächt, unfähig  zum  Beruf,  halbgelähmt,  in  Sprache  und  Auffassung  ver- 
langsamt. Er  weinte  oft  ganz  kindisch,  hatte  bald  nach  der  Verhaftung 
einen  ungeschickten  Selbstmordversuch  gemacht.  Seine  sittliche  und  intel- 
lectuelle  Energie  in  der  Bekämpfung  sinnlicher  Regungen  war  jedenfalls  er- 
heblich geschwächt.  Keine  Verurtheilung.  (Giraud,  Annal.  med.  psychol. 
1881,  März.) 


3)  Schwachsinn  nach  Kopfverletzung. 

Beobachtung  138.  K.  wurde  14  Jahre  alt  von  einem  Pferde  an  dem 
Kopf  verletzt.  Der  Schädel  war  an  mehreren  Stellen  gebrochen,  mehrere 
Knochenstücke  mussten  entfernt  werden. 

Von  da  an  erschien  K.  geistig  beschränkt,  leidenschaftlich  aufbrausend. 
Allmählig  entwickelte  sich  eine  unmässige,  wahrhaft  thierische,  ihn  zu  den 
unzüchtigsten  Handlungen  anleitende  Sinnlichkeit.  Eines  Tages  notzüchtigte 
er  ein  12jähriges  Mädchen  und  erwürgte  es,  da  er  die  Entdeckung  der  That 
besorgte.  Verhaftet  gestand  er.  Der  Gerichtsarzt  erklärte  ihn  für  zurech- 
nungsfähig.    Hinrichtung. 

Die  Section  ergab  Verwachsung  fast  aller  Schädelnähte ,  auffallende 
Asymmetrie  der  Schädelhälften,  Spuren  geheilter  Schädelsprünge.  Die  afficirte 
Gehirnhälfte  war  von  strahligen  Narbenmassen  durchsetzt  und  um  ein  Drittel 
kleiner  als  die  andere.     (Friedreich's  Blätter  1855,  Heft  6.) 


4)  Erworbene  Geistesschwäche,  wahrscheinlich  durch  Lnes. 

Beobachtung  139.     Offizier  X.     Saepius   cum   parvis  puellis   stupra 
fecit,  eas  masturbare  ipsum  iussit,    genitalia  sua  ostendit  earumrpie  genitalia 

tetigit. 


326  Das  krankhafte  Sexualleben 

X.,  früher  gesund  und  von  tadelloser  Aufführung,  war  1867  an  Syphilis 
erkrankt.  1879  trat  Lähmung  des  1.  Abducens  ein.  Man  bemerkte  in  der 
Folge  Gedächtnissschwäche,  Aenderung  des  ganzen  Wesens  und  Charakters, 
Kopfweh,  zeitweise  Incohärenz  der  Rede,  Verminderung  der  Gedankenschärfe 
und  Logik,  zeitweise  Ungleichheit  der  Pupillen,  Parese  des  rechten  Mund- 
facialis. 

X.,  37  Jahre  alt,  bietet  bei  der  Exploration  keine  Spuren  von  Lues.  Die 
Lähmung  des  Abducens  besteht  fort.  Das  linke  Auge  ist  amblyopisch.  Er 
ist  geistig  geschwächt,  behauptet  bei  der  Wucht  der  gegen  ihn  vorliegenden 
Beweise,  es  handle  sich  nur  um  ein  harmloses  Missverständniss.  Spuren  von 
Aphasie.  Gedächtnissschwäche,  namentlich  für  Jüngsterlebtes,  Oberflächlichkeit 
der  gemüthlichen  Reaktion,  rasche  geistige  Erschöpfbarkeit  bis  zum  Versagen 
des  Gedächtnisses  und  der  Rede.  Nachweis,  dass  der  ethische  Defekt  und  der 
perverse  geschlechtliche  Antrieb  Symptome  eines  wahrscheinlich  durch  Lues 
bedingten  krankhaften  Hirnzustandes  sind. 

Einstellung  des  Strafverfahrens.  (Eigene  Beobachtung.  Jahrbücher  für 
Psychiatrie.) 

5)  Dementia  paralytica. 

Das  Sexualleben  ist  hier  in  der  Regel  krankhaft  mitafficirt, 
in  den  Anfangsstadien  der  Krankheit,  sowie  in  episodischen  Auf- 
regungszuständen  gesteigert,  zuweilen  auch  pervers;  in  den  End- 
stadien des  Leidens  pflegen  Libido  und  Potenz  bis  auf  den  Null- 
punkt zu  sinken. 

Gerade  wie  im  Prodromalstadium  der  senilen  Formen  begegnet 
man  hier  früh,  neben  mehr  weniger  deutlichen  Ausfallserscheinungen 
in  der  sittlichen  und  intellectuellen  Sphäre,  Aeusserungen  eines  zu 
Tage  tretenden,  jedenfalls  gesteigerten  Geschlechtstriebs  (unzüchtige 
Reden,  Lascivität  im  Verkehr  mit  dem  anderen  Geschlecht,  Heiraths- 
pläne,  Besuch  von  Bordellen  u.  s.  w.)  mit  für  die  Umneblung  des 
Bewusstseins  charakteristischer  Ungenirtheit. 

Verführung,  Entführung,  öffentliche  Skandale  sind  hier  an  der 
Tagesordnung.  Anfangs  wird  den  Umständen  noch  einigermassen 
Rechnung  getragen,  wenn  auch  der  Cynismus  der  Handlungsweise 
auffällig  genug  ist.  Mit  fortschreitender  geistiger  Schwäche  werden 
derartige  Kranke  durch  Exhibition,  Masturbation  auf  offener  Strasse, 
Unzucht  mit  Kindern  anstössig. 

Kommt  es  zu  psychischen  Erregungszuständen,  so  werden  auch 
wohl  Nothzuchtsversuche  begangen  oder  wenigstens  grobe  Ver- 
letzungen des  Anstands,  indem  der  Kranke  Weiber  auf  der  Strasse 
attaquirt,  öffentlich  in  höchst  defekter  Toilette  erscheint  oder  in 
solcher  in  fremde  Häuser  eindringt,  in  der  Absicht,   mit  der  Frau 


bei  Epileptikern.  327 

eines  Bekannten  zu  cohabitiren,  die  Tochter  des  Hauses  vom  Fleck 
weg  zu  heirathen. 

Zahlreiche  Fälle  dieser  Kategorie  finden  sich  bei  Tardieu  (Attentats 
aux  moeurs);  Mendel  (Progr.  Paralyse  der  Irren  1880:  p.  123);  Westphal 
(Archiv  f.  Psych.  VII,  p.  622) ;  dass  auch  Bigamie  hier  vorkommen  kann,  lehrt 
ein  Fall  von  Petrucci  (Annal.  med.  psychol.  1875). 

Bezeichnend  ist  die  brutale  Rücksichtslosigkeit,  mit  welcher  die 
Kranken  in  vorgerückten  Stadien  in  der  Befriedigung  ihrer  sexuellen  Triebe 
vorgehen. 

In  einem  von  Legrand  (La  folie  p.  519)  berichteten  Falle  wurde  ein 
Familienvater  auf  offener  Strasse  masturbirend  betroffen.  Er  verzehrte  nach 
dem  Akt  sein  Sperma! 

Ein  von  mir  beobachteter  Kranker,  ein  Offizier  aus  vornehmer  Familie, 
machte  am  hellen  Tage  unzüchtige  Angriffe  auf  kleine  Mädchen  in  einem 
Badeorte. 

Ein  ähnlicher  Fall  wird  von  Dr.  Regis  (De  la  dynamie  ou  exaltation 
fonctionnelle  au  debut  de  la  paral.  gen.  1878)  berichtet. 

Dass  auch  Päderastie  und  Bestialität  im  Prodromalstadium  und  Ver- 
lauf dieser  Krankheit  vorkommen,  lehren  Beobachtungen  von  Tarnowsky 
(op.  cit.  p.  82). 


Epilepsie. 

An  die  erworbenen  psychischen  Schwächezustände  reiht  sich 
die  Epilepsie  an,  weil  sie  häufig  zu  solchen  führt  und  dann  alle 
die  Möglichkeiten  bezüglich  einer  rücksichtslosen  Befriedigung  des 
Geschlechtstriebs  sich  ergeben,  die  im  Vorausgehenden  besprochen 
wurden.  Zudem  ist  der  Geschlechtstrieb  bei  vielen  Epileptischen 
ein  sehr  reger.  Meist  wird  er  durch  Masturbation  befriedigt,  ab 
und  zu  durch  Unzucht  mit  Kindern,  Päderastie.  Perversion  des 
Triebs  mit  entsprechenden  perversen  geschlechtlichen  Handlungen 
dürfte  selten  vorkommen. 

Viel  wichtiger  sind  die  in  der  Literatur  sich  mehrenden  Fälle, 
in  welchen  Epileptiker  intervallär  keine  Zeichen  eines  regen  Ge- 
schlechtslebens bieten,  wohl  aber  im  Zusammenhang  mit  epilep- 
tischen Insulten  und  zur  Zeit  äquivalenter  oder  postepileptischer 
psychischer  Ausnahmezustände.  Diese  Fälle  sind  klinisch  bisher 
kaum  und  forensisch  gar  nicht  gewürdigt,  verdienen  aber  ein  ein- 
gehendes Studium,  da  gewisse  Fälle  von  Unzucht  und  Nothzucht 
dadurch  einem  richtigen  Verständniss  entgegengeführt  und  Justiz- 
morde vermieden  werden. 


328  Das  krankhafte  Sexualleben 

Aus  den  folgenden  Thatsachen  dürfte  sich  jedenfalls  klar  er- 
geben, dass  die  mit  dem  epileptischen  Insult  einhergehenden  Hirn- 
veränderungen eine  krankhafte  Erregung  des  Geschlechtslebens1) 
bedingen  können.  In  psychischen  Ausnahmezuständen  ist  der  Epi- 
leptiker überdies  vermöge  seiner  Bewusstseinsstörung  widerstands- 
los gegen  seine  Triebe. 

Ich  sehe  seit  Jahren  einen  jungen  Epileptiker,  schwer  belastet,  der 
jeweils  im  Anschluss  an  gehäufte  Insulte  sich  auf  seine  Mutter  stürzt  und  sie 
stupriren  will.  Patient  kommt  nach  einiger  Zeit  wieder  zu  sich  mit  Amnesie 
für  das  Vorgefallene.  Intervallär  ist  er  ein  streng  sittlicher,  geschlechtlich 
nicht  bedürftiger  Mann. 

Vor  einigen  Jahren  lernte  ich  einen  Bauernknecht  kennen ,  der  im  Zu- 
sammenhang mit  epileptischen  Anfällen  rücksichtslos  onanirte,  intervallär  von 
tadellosem  Verhalten  war. 

Simon  (Crimes  et  delits,  p.  220)  erwähnt  eines  23jährigen  epüeptischen 
Mädchens  von  bester  Erziehung  und  strengster  Sittlichkeit,  das  im  Vertigo- 
anfall  einige  schlüpfrige  Worte  vor  sich  hinspricht,  dann  die  Köcke  aufhebt, 
lascive  Bewegungen  macht  und  sein  (geschlossenes)  Unterbeinkleid  zu  zerreissen 
bemüht  ist. 

Kiernan  (Alienist  und  Neurologist,  Januar  1884)  berichtet  von  einem 
Epileptiker,  der  als  Aura  von  Anfällen  jeweils  die  Vision  eines  schönen  Weibes 
in  lasciven  Stellungen  hatte  und  darüber  Ejaculation  bekam.  Nach  Jahren, 
und  unter  Brombehandlung,  stellte  sich  statt  dieser  Vision  die  eines  Teufels 
ein,  der  mit  einem  Dreizack  auf  ihn  losging.  Im  Momente,  wo  dieser  ihn 
erreichte,  wurde  er  regelmässig  bewusstlos. 

Derselbe  Autor  erwähnt  einen  höchst  ehrbaren  Mann,  der  2 — 3mal  jähr- 
lich epileptische  Anfälle,  gefolgt  von  Wuth  und  Dysthymie  und  päderastischen 
Antrieben  in  der  Dauer  von  8 — 14  Tagen,  hatte ;  ausserdem  eine  Dame,  die  im 
Klimakterium  epileptische  Anfälle  und  im  Zusammenhang  damit  sexuelle  Im- 
pulse zu  einem  Knaben  bekam. 

Beobachtung  140.  W.,  unbelastet,  früher  gesund,  vor  und  nachher 
geistig  normal,  still,  gutmüthig,  sittlich,  dem  Trunk  nicht  ergeben,  hatte  am 
13.  April  1877  keine  Esslust.  Am  14.  Morgens  sprang  er  in  Gegenwart  von 
Frau  und  Kindern  auf,  stürzte  sich  auf  eine  anwesende  Freundin  seiner  Frau, 
beschwor  zuerst  sie,  dann  seine  Frau,  ihn  zum  Coitus  zuzulassen.  Abgewiesen, 
bekam  er  einen  epilepsieartigen  Insult;   im  Anschluss   daran   tobte,    zerstörte 


a)  Arndt,  Lehrb.  d.  Psych,  p.  410,  hebt  speciell  das  brünstige  Element 
beim  Epileptischen  hervor.  „Ich  habe  E.  gekannt,  welche  in  sinnlichster  Lust 
gegen  ihre  leibliche  Mutter  entbrannten,  und  solche,  welche  im  Verdacht  selbst 
seitens  ihrer  Väter  standen,  mit  ihrer  Mutter  geschlechtlichen  Umgang  zu 
pflegen."  Wenn  A.  aber  behauptet,  dass  wo  immer  ein  absonderliches  sexuelles 
Leben  besteht,  vielleicht  immer  an  ein  epileptisches  Moment  zu  denken  sei, 
so  ist  er  im  Irrthum. 


bei  Epileptikern.  329 

er,  begoss  die  zu  seiner  Ergreifung  Nabenden  mit  kochendem  Wasser  und 
warf  ein  Kind  in  den  Ofen.  Darauf  wurde  er  bald  ruhig,  blieb  noch  einige 
Tage  verworren  und  kam  dann  mit  völliger  Amnesie  für  alles  Vorgefallene 
zu  sich.     (Kowalewsky,  Jahrbücher  f.  Psych.  1879.) 

Ein  weiterer,  von  Casper  begutachteter  Fall  (Klin.  Novellen,  p.  267), 
in  welchem  ein  sonst  anständiger  Mann  kurz  hinter  einander  auf  offener 
Strasse  4  Weiber  attaquirte  (das  eine  Mal  sogar  vor  2  Zeugen)  und  eines  der- 
selben notzüchtigte,  während  doch  seine  „ junge,  nette,  gesunde  Frau"  ganz 
in  der  Nähe  wohnte,  dürfte  ebenfalls  mit  (larvirter)  Epilepsie  in  Verbindung 
zu  bringen  sein,  zumal  da  der  Betreffende  Amnesie  für  seine  skandalösen  Hand- 
lungen bot. 

Zweifellos  klar  ist  die  epileptische  Bedeutung  der  sexuellen 
Akte  in  den  folgenden  Beobachtungen. 

Beobachtung  141.  L.,  Beamter,  40  Jahre  alt,  liebevoller  Gatte,  guter 
Vater,  hat  während  4  Jahren  25  schwere  Vergehen  gegen  die  öffentliche 
Schamhaftigkeit  begangen,  wegen  deren  er  längere  Freiheitsstrafen  zu  ver- 
büssen  hatte. 

In  den  ersten  7  Anklagefällen  war  er  beschuldigt,  vor  Mädchen  von 
11 — 13  Jahren  im  Vorbeireiten  seine  Genitalien  entblösst  and  sie  mit  obscönen 
Worten  darauf  aufmerksam  gemacht  zu  haben.  Sogar  im  Gefängniss  hatte 
er  sich  genitalibus  denudatis  am  Fenster,  das  auf  eine  belebte  Promenade 
ging,  gezeigt. 

L.'s  Vater  war  geisteskrank,  L.'s  Bruder  wurde  einmal,  bloss  mit  dem 
Hemde  bekleidet,  auf  der  Strasse  betroffen.  L.  hatte  während  der  Militär- 
dienstzeit 2mal  tiefe  Ohnmächten  gehabt.  Seit  1859  litt  er  an  sich  häufenden 
eigenthümlichen  Schwindelanfällen  —  er  wurde  dann  ganz  matt,  zitterte  am 
ganzen  Körper,  wurde  leichenblass ,  es  wurde  ihm  dunkel  vor  den  Augen,  er 
sah  helle  Sternchen  flimmern  und  musste  "sich  stützen,  um  nicht  umzufallen. 
Nach  heftigeren  Anfällen  grosse  Mattigkeit,  profuse  Schweisse. 

Seit  1861  grosse  Reizbarkeit,  die  dem  sonst  so  belobten  Beamten  ernste 
Rügen  im  Dienst  eintrug.  Seine  Frau  fand  ihn  verändert  —  er  hatte  Tage, 
an  welchen  er  wie  wahnsinnig  im  Hause  herumlief,  den  Kopf  zwischen  den 
Händen  hielt,  ihn  an  die  Wand  stiess  und  über  Kopfschmerz  klagte.  Im  Sommer 
1869  stürzte  Pat.  4mal  zu  Boden,  starr,  mit  offenen  Augen  daliegend. 

Auch  die  Dämmerzustände  wurden  constatirt. 

L.  behauptete  von  den  ihm  zur  Last  gelegten  Vergehen  nicht  das  Ge- 
ringste zu  wissen.  Die  Beobachtung  ergab  weitere  und  heftigere  Anfälle  von 
Vertigo  epilept.  L.  wurde  nicht  verurtheilt.  1875  entwickelte  sich  Dementia 
paralytica  mit  baldigem  tödtlichem  Ausgang.  Westphal,  Arch.  f.  Psych. 
VII,  p.  113.) 

Beobachtung  142.  Ein  26  Jahre  alter  reicher  Mann  lebte  seit  1  Jahr 
mit  einem  Mädchen,  das  er  sehr  liebte.  Er  cohabitirte  selten,  war  nie  pervers. 
2mal  während  dieses  Jahres  hatte  er  nach  Excess  in  Alkohol  epileptische 
Insulte  gehabt.     Am  Abend  nach  einem  Diner,  wobei  er  viel  Wein  getrunken, 


330  Das  krankhafte  Sexualleben 

ging  er  in  die  Wohnung  der  Maitresse,  festen  Schrittes  in  deren  Schlafzimmer, 
obgleich  das  Kammermädchen  meldete,  die  Herrin  sei  nicht  zu  Hause;  von 
da  ging  er  in  ein  Zimmer,  wo  ein  14 jähriger  Knabe  schlief,  und  begann  diesen 
zu  nothzüchtigen.  Auf  das  Geschrei  des  Knaben,  dem  er  das  Präputium  und 
die  Hand  verletzt  hatte,  eilte  das  Dienstmädchen  herbei.  Da  liess  er  ab  vom 
Knaben  und  that  dem  Mädchen  Gewalt  an.  Darauf  legte  er  sich  zu  Bett  und 
schlief  12  Stunden.  Erwacht,  wusste  er  nur  summarisch  von  Betrunkenheit 
und  einem  Coitus.  In  der  Folge  wiederholt  epileptische  Insulte.  Tarnowsky 
op.  cit.  p.  52.) 

Beobachtung  143.  X.,  von  höherem  Stand,  führt  einige  Zeit  ein 
dissolutes  Leben  und  bekommt  epileptische  Anfälle.  Er  verlobt  sich  dann. 
Am  Hochzeitstag,  kurz  vor  der  Trauung,  erscheint  er  am  Arm  seines  Bruders 
in  dem  mit  Hochzeitsgästen  erfüllten  Saal.  Vor  seiner  Braut  angelangt,  denudat 
coram  publico  genitalia  et  masturbare  incipit.  Er  wird  sogleich  nach  einer 
psychiatrischen  Klinik  gebracht,  onanirt  unterwegs  fortwährend  und  ist  noch 
einige  Tage  von  diesem  Drang  in  abnehmendem  Masse  heimgesucht.  Nach 
Beendigung  dieses  Paroxysmus  hatte  Pat.  nur  eine  ganz  verschwommene  Er- 
innerung für  die  Ereignisse  und  vermochte  keine  Erklärung  seiner  Handlungs- 
weise zu  geben.     (Ebenda  p.  53.) 

Beobachtung  144.  Z.,  27  Jahre,  schwer  erblich  belastet,  epileptisch, 
nothzüchtigt  ein  11  jähriges  Mädchen,  tödtet  es  dann.  Er  läugnet  die  That, 
Amnesie,  bezw.  psychische  Ausnahmezustände  zur  Zeit  des  Crimen  nicht  er- 
wiesen.    (Pugliese,  Arch.  di  Psich.  VIII,  p.  622.) 

Beobachtung  145.  V.,  60  Jahre,  Arzt,  beging  Unzucht  mit  Kindern. 
Verurtheilung  zu  2  Jahre  Kerker.  Dr.  Marandon  constatirt  später  epileptoide 
Angstanfälle,  Demenz,  erotische  und  hypochondrische  Delirien,  zeitweise  Angst- 
anfälle.    (Lacassagne,  Lyon.  med.  1887,  Nr.  51.) 

Beobachtung  146.  Am  4.  August  1878  Nachmittags  pflückte  die  fast 
15  Jahre  alte  H.  mit  mehreren  kleinen  Mädchen  und  Knaben  auf  offener 
Strasse  Stachelbeeren.  Plötzlich  warf  die  H.  die  9 Va jährige  L.  zu  Boden, 
fixirte  und  entblösste  sie  und  forderte  den  772jährigen  A.  und  den  5jährigen 
0.  auf,  eine  Conjunctio  membrorum  mit  dem  Mädchen  auszuführen,  was  diese 
auch  thaten. 

Die  H.  hatte  guten  Leumund.  Seit  5  Jahren  litt  sie  an  nervöser  Reiz- 
barkeit, Kopfweh,  Schwindel,  epileptischen  Anfällen,  blieb  in  der  Entwicklung 
geistig  und  körperlich  zurück.  Sie  ist  noch  nicht  menstruirt,  bietet  aber  Moli- 
mina menstr.  Ihre  Mutter  ist  epilepsieverdächtig.  Seit  V4  Janr  hatte  die  H. 
öfter  nach  Anfällen  verkehrte  Sachen  gemacht  und  dafür  Amnesie  geboten. 

Die  H.  erscheint  deflorirt.  Geistige  Defecte  bietet  sie  nicht.  Von  ihrer 
incriminirten  That  erklärt  sie  nicht  das  Geringste  zu  wissen. 

Nach  dem  Zeugniss  der  Mutter  hatte  sie  am  Morgen  des  4.  August 
einen  epileptischen  Anfall  gehabt  und  hatte  die  Mutter  sie  deshalb  angewiesen, 
das  Haus  nicht  zu  verlassen.  (Pürkhauer,  Friedreich's  Blätter  f.  ger. 
Med.  1879,  H.  5.) 


bei  Epileptikern.  331 

Beobachtung  147.  Unzüchtige  Handlungen  in  Zuständen 
krankhafter  Bewusstlosigkeit  bei  einem  Epileptiker. 

T.,  Steuereinnehmer,  52  Jahre  alt,  verheirathet,  ist  angeklagt,  seit  etwa 
17  Jahren  mit  Knaben  Unzucht  getrieben  zu  haben,  indem  er  theils  dieselben 
masturbirte,  theils  sich  von  ihnen  masturbiren  Hess.  Der  Angeklagte,  ein  ge- 
schätzter Beamter,  ist  sehr  bestürzt  über  diese  schreckliche  Beschuldigung  und 
behauptet,  von  den  ihm  zur  Last  gelegten  Handlungen  nicht  das  Geringste  zu 
wissen.  Seine  Geistesintegrität  erschien  fraglich.  Sein  Hausarzt,  der  T.  seit 
20  Jahren  kannte,  hebt  seinen  verschlossenen  düsteren  Charakter  und  häufigen 
Stimmungswechsel  hervor.  Seine  Frau  berichtet,  dass  T.  sie  einmal  ins  Wasser 
stürzen  wollte,  ebenso  dass  er  zeitweise  Anfälle  hatte,  in  denen  er  seine  Kleider 
vom  Leibe  riss,  sich  zum  Fenster  hinausstürzen  wollte.  T.  weiss  auch  von 
diesen  Vorfällen  nichts.  Auch  andere  Zeugen  berichten  von  auffallendem 
Wechsel  der  Stimmung,  Bizarrerien  des  Charakters.  Ein  Arzt  will  auch  zeit- 
weise Schwindel-  und  Krampfanfälle  bei  T.  constatirt  haben. 

T.'s  Grossmutter  war  irrsinnig,  sein  Vater  war  dem  chronischen  Alko- 
holismus anheimgefallen  und  hatte  in  den  letzten  Jahren  an  epileptiformen 
Anfällen  gelitten;  dessen  Bruder  war  irrsinnig  und  hatte  einen  Verwandten 
in  einem  deliranten  Zustand  getödtet.  Ein  weiterer  Onkel  des  T.  hatte  sich 
entleibt.  Von  den  3  Kindern  des  T.  war  eines  geistesschwach,  ein  anderes 
schielend,  ein  drittes  hatte  an  Convulsionen  gelitten.  Der  Angeklagte  gab  an, 
er  habe  zeitweise  Anfälle  gehabt,  in  welchen  sich  sein  Bewusstsein  trübte,  so 
dass  er  nicht  mehr  wusste,  was  er  that.  Diese  Anfälle  wurden  von  einem 
auraartigen  Schmerz  im  Nacken  eingeleitet.  Es  trieb  ihn  dann  an  die  frische 
Luft.  Er  habe  nicht  gewusst,  wohin  er  ging.  Seine  Frau  habe  ihn  geschlecht- 
lich vollkommen  befriedigt.  Seit  18  Jahren  habe  er  ein  chronisches  Ekzem  am 
Scrotum  (thatsächlich) ,  das  ihm  oft  eine  ausserordentliche  geschlechtliche  Er- 
regung verursache.  Die  Gutachten  der  6  Sachverständigen  waren  einander 
entgegengesetzt  (Geistesgesundheit  —  Anfälle  larvirter  Epilepsie),  die  Stimmen 
der  Jury  waren  getheilt,  so  dass  Freisprechung  erfolgte.  Dr.  Legrand  du 
Saulle,  der  als  Experte  berufen  war,  constatirte,  dass  T.  bis  zum  22.  Jahr 
etwa  10  — 18mal  jährlich  ins  Bett  urinirt  hatte.  Nach  dieser  Zeit  hatte  die 
Enuresis  nocturna  aufgehört,  aber  seitdem  waren  zeitweise  Stunden  bis  einen 
Tag  andauernde  tiefe  Dämmerzustände  mit  Amnesie  aufgetreten.  Bald  darauf 
wurde  T.  wegen  öffentlicher  Unsittlichkeit  nochmals  angeklagt  und  zu  15  Mo- 
naten verurtheilt.  Im  Kerker  kränkelte  er  und  wurde  zusehends  geistig 
schwächer.  Er  wurde  deshalb  begnadigt,  aber  die  Geistesschwäche  nahm  über- 
hand. Wiederholt  wurden  epileptiforme  Anfälle  (tonische  Krämpfe  mit  Be- 
wusstseinverlust  und  Zittern)  an  T.  bemerkt.  (Auzouy,  Annal.  med.  psychol. 
1874,  November;  Legrand  du  Saulle,  Etüde  med.  legale  etc.,  p.  99.) 

Der  folgende,  vom  Verfasser  selbst  beobachtete  und  in  Fried- 
reich's  Blättern  mitgetheilte  Fall  von  Unzuchtsdelikten  mit  Kindern 
möge  diese  für  das  Forum  höchst  wichtige  Casuistik1)  beschliessen. 


*)  Vgl.  ausserdem  Lim  an,  Zweifelhafte  Geisteszustände,  Fall  6;  die 
Arbeit  von  Lasegue,  Ueber  Exhibitionisten  (Union  med.  1877);  Ball  und 
Chambard,  Art.  Somnambulisme  (Dict.  des  scienc.  med.  1881). 


332  Das  krankhafte  Sexualleben 

Er  ist  um  so  werthvoller,  als  der  Befund  eines  epileptischen  Be- 
wusstlosigkeitszustands  zur  Zeit  der  That  sichergestellt  ist,  und  wie 
die  —  aus  naheliegenden  Gründen  —  lateinisch  gegebene  Species 
facti  lehrt,  ein  combinirtes  raffinirtes  Handeln  in  solchem  Zustand 
gleichwohl  möglich  ist. 

Beobachtung  148.  P.,  49  Jahre  alt,  verheirathet ,  Siechenhaus- 
pfründner,  ist  angeschuldigt ,  am  25.  Mai  1883  an  der  10jährigen  D.  und  der 
9jährigen  G.  in  seiner  Arbeitshütte  folgende  scheussliche  Unzuchtsdelikte  be- 
gangen zu  haben: 

Die  D.  gibt  an: 

Ich  war  mit  der  G.  und  meinem  3jährigen  Schwesterchen  J.  auf  der 
Wiese.  P.  rief  uns  in  seine  Arbeitshütte  und  verriegelte  die  Thüre.  Tum  nos 
exosculabatur,  linguam  in  os  meum  demittere  tentabat  faciemque  mihi  lam- 
bebat;  sustulit  me  in  gremium,  bracas  aperuit,  vestes  meas  sublevavit,  digitis 
me  in  genitalibus  titillabat  et  membro  vulvam  meam  fricabat  ita  ut  humida 
fierem.  Als  ich  schrie,  schenkte  er  mir  12  Kreuzer  und  drohte  mich  zu  er- 
schiessen,  wenn  ich  etwas  ausplaudere.  Schliesslich  lud  er  mich  ein,  am  fol- 
genden Tage  wiederzukommen. 

Die  G.  deponirt: 

P.  nates  et  genitalia  D  . . .  ae  exosculatus,  iisdem  me  conatibus  aggressus 
est.  Deinde  filiolum  quoque  tres  annos  natum  in  manus  acceptum  osculatus 
est  nudatumque  parti  suae  virili  appressit.  Postea  quae  nobis  essent  nomina 
interrogavit  ac  censuit,  genitalia  D  .  .  .  ae  meis  multo  esse  maiora.  Quin  etiam 
nos  impulit,  ut  membrum  suum  intueremur,  manibus  comprehenderemus  et 
videremus,  quantopere  id  esset  erectum. 

P.  gibt  im  Verhör  vom  29.  Mai  an ,  er  erinnere  sich  nur  dunkel ,  vor 
Kurzem  kleine  Mädchen  geliebkost,  beschenkt,  geküsst  zu  haben.  Wenn  er 
etwas  Anderes  gethan,  müsse  er  unzurechnungsfähig  gewesen  sein.  Er  leide 
übrigens  seit  einem  Sturz  vor  Jahren  an  Kopfschwäche.  Am  22.  Juni  weiss 
er  überhaupt  nichts  mehr  von  den  Vorgängen  am  25.  Mai,  auch  nichts  vom 
Verhör  am  29.  Mai.    Diese  Amnesie  bewährt  sich  im  Kreuzverhör. 

P.  stammt  aus  gehirnkranker  Familie,  ein  Bruder  ist  epileptisch.  P.  war 
früher  Trinker.  Eine  Kopfverletzung  erlitt  er  thatsächlich  vor  Jahren.  Seither 
hatte  er  binnen  Wochen  bis  Monaten  wiederkehrende  Anfälle  geistiger  Störung 
mit  einleitender  Morosität,  Gereiztheit,  Neigung  zu  Alkoholexcessen ,  Angst, 
Verfolgungsdelir  bis  zu  gefährlichen  Drohungen  und  Gewaltthätigkeit.  Dabei 
acustische  Hyperästhesie,  Schwindel,  Kopfweh,  Congestion  zum  Gehirn.  Alles 
dies  bei  schwerer  Bewustseinsstörung  und  Amnesie  für  die  ganze  bis  zu  Wochen 
sich  erstreckende  Anfallszeit. 

Intervallär  litt  er  an  Kopfweh,  ausgehend  von  der  Stelle  der  erlittenen 
Kopfverletzung  (kleine  auf  Druck  schmerzhafte  Hautnarbe  an  der  rechten 
Schläfe).  Mit  Exacerbation  des  Kopfschmerzes  war  er  gereizt,  moros  bis  zu 
Lebensüberdruss,  rauschartig  benommen  im  Sensorium.  In  einem  solchen  Zu- 
stand hat  P.  1879  einen  ganz  impulsiven  Selbstmordversuch  gemacht,  dessen 
er  sich  hinterher  nicht  erinnerte.  Bald  darauf  ins  Krankenhaus  aufgenommen, 
machte   er   den  Eindruck   des  Epileptikers,    stand    längere   Zeit   in  Bromkali- 


bei  Epileptikern.  333 

behandlung.  Ende  1879  ins  Siechenhaus  aufgenommen,  hatte  man  nie  an  ihm 
einen  eigentlichen  epileptischen  Insult  wahrgenommen. 

Intervallär  war  er  ein  braver,  fleissiger,  gutmüthiger  Mensch,  hatte  nie 
Spuren  von  sexueller  Erregung  geboten,  auch  bisher  nicht  in  seinen  Ausnahme- 
zuständen, überdies  mit  seinem  Weib  bis  auf  die  letzte  Zeit  ehelich  verkehrt. 
Um  die  Zeit  der  incriminirten  That  hatte  P.  wieder  Spuren  eines  nahenden 
Anfalls  geboten,  auch  den  Arzt  um  neuerliche  Darreichung  des  Bromkali 
gebeten. 

P.  versichert,  dass  er  seit  jenem  Sturz  intolerant  für  calorische  Schäd- 
lichkeiten und  Alkohol  sei  und  davon  gleich  sein  Kopfweh  bekomme  und 
verwirrt  werde.  Seine  weiteren  Angaben  von  Gedächtnissschwäche,  geistiger 
Schwäche,  Reizbarkeit,  schlechtem  Schlaf  bestätigt  die  ärztliche  Beobachtung. 

Uebt  man  an  der  Stelle  des  Trauma  einen  kräftigen  Druck  aus,  so  wird 
P.  congestiv,  gereizt,  verstört,  zittert  am  ganzen  Körper,  erscheint  aufgeregt, 
im  Bewusstsein  gestört  und  verbleibt  so  durch  Stunden. 

Zu  Zeiten,  wo  er  frei  von  Sensationen  ist,  die  jeweils  von  der  Narbe 
ausgehen,  erscheint  er  artig,  mimisch,  frei,  willig,  offen,  jedoch  andauernd 
geistig  geschwächt  und  dämmerhaft.  P.  wurde  nicht  verurtheilt.  (Ausf.  Gut- 
achten s.  Friedreich's  Blätter.) 


Periodisches  Irresein. 

Gleichwie  in  den  Fällen  nicht  periodischer  Manie,  zeigt  sich 
vielfach  bei  den  Anfällen  periodischer  eine  krankhafte  Steigerung 
oder  wenigstens  ein  deutliches  Hervortreten  der  sexuellen  Sphäre 
(s.  u.  Manie). 

Dass  die  Sexualempfindung  dann  auch  pervers  sein  kann,  lehrt 
folgender  von  Servaes  (Arch.  f.  Psych.)  berichteter  Fall. 

Beobachtung  149.  Catharine  W.,  16  Jahre  alt,  noch  nicht  men- 
struirt,  früher  gesund.     Vater  jähzorniger  Natur. 

7  Wochen  vor  der  Aufnahme  (3.  December  1872)  melancholische  Ver- 
stimmung und  Reizbarkeit.  Am  27.  November  zweitägiger  Tobsuchtsanfall. 
Dann  wieder  melancholisch.     Am  6.  December  normaler  Zustand. 

Am  24-  December  (28  Tage  nach  dem  ersten  Tobanfall)  still,  scheu,  ge- 
drückt. Am  27.  December  Exaltationszustand  (Heiterkeit,  Lachen  u.  s.  w.)  mit 
brünstiger  Liebe  zu  einer  Wärterin.  Am  31.  December  plötzlich  melancholische 
Starre,  die  sich  nach  2  Stunden  löst.  Am  20.  Januar  1873  neuer  Anfall, 
ganz  wie  der  frühere.  Ein  gleicher  am  18.  Februar,  zugleich  mit  den  Spuren 
von  Menses.  Patientin  hatte  absolute  Amnesie  für  das  in  den  Paroxysmen 
Geschehene  und  hörte  schamroth,  mit  unverhohlenem  Erstaunen,  was  man  ihr 
berichtete. 

In  der  Folge  noch  abortive  Anfälle,  die  mit  Regelung  der  Menses  im 
Juni  vollem  psychischem  Wohlbefinden  wichen. 


334  Psychopathia  sexualis  periodica. 

In  einem  anderen  Fall,  von  Gock  berichtet  (Ar  h.  f.  Psych. 
V),  in  welchem  es  sich  wahrscheinlich  um  cyclisches  Irresein  bei 
einem  schwer  belasteten  Manne  handelte,  trat  im  Exaltationszustand 
Geschlechtstrieb  zu  Männern  auf.  Hier  hielt  sich  aber  der  Be- 
treffende für  ein  Frauenzimmer,  und  fragt  es  sich,  ob  nicht  eher 
der  Wahn  veränderten  Geschlechts  als  eine  conträre  Sexualempfin- 
dung das  geschlechtliche  Vorgehen  bestimmte. 

Von  grösstem  Interesse  sind  im  Anschluss  an  diese  Fälle  von 
krankhafter  Aeusserungsweise  des  Geschlechtslebens,  als  Theil- 
erscheinung  einer  Manie,  diejenigen,  wo  ein  krankhaftes  und  viel- 
fach auch  perverses  Geschlechtsleben  anfallsartig  zu  Tage  tritt, 
analog  einer  Dipsomanie  den  Kern  der  ganzen  psychischen  Störung 
ausmacht,  während  intervallär  der  Geschlechtstrieb  weder  abnorm 
stark  noch  pervers  ist. 

Ein  ziemlich  reiner  Fall  von  solcher  periodischer  Psycho- 
pathia sexualis,  geknüpft  an  den  Vorgang  der  Menstruation,  ist 
der  folgende   von  Anjel  (Arch.  f.  Psych.  XV.  H.  2)   mitgetheilte. 

Beobachtung  150.  Ruhige  Dame,  nahe  dem  Klimakterium.  Starke 
erbliche  Belastung.  In  jungen  Jahren  Anfälle  von  petit  mal.  Stets  excentrisch,. 
heftig,  streng  sittlich,  kinderlose  Ehe. 

Vor  mehreren  Jahren,  nach  heftigen  Gemüthsbewegungen,  hysteroepilep- 
tischer  Anfall,  darauf  mehrwöchentliches  postepileptisches  Irresein.  Dann 
mehrmonatliche  Schlaflosigkeit.  In  der  Folge  jeweils  menstruale  Insomnie  und 
Drang,  pueros  decimum  annutn  nondum  agentes  allicere,  osculari  et  genitalia 
eorum  tangere.  Drang  zu  Coitus,  überhaupt  zu  Verkehr  mit  einem  Erwach- 
senen besteht  in  dieser  Zeit  nicht. 

Patientin  spricht  manchmal  offen  über  diesen  Drang,  bittet  sie  zu  über- 
wachen, da  sie  nicht  für  sich  gutstehen  könne.  Intervallär  meidet  sie  ängst- 
lich jedes  bezügliche  Gespräch,  ist  streng  decent,  in  keiner  Weise  geschlechts- 
bedürftig. 

Bezüglich  derartiger,  noch  wenig  gekannter  Fälle  von  perio- 
discher Psychopathia  sexualis  hat  Tarnowsky  (op.  cit.  p.  38} 
werthvolle  Beiträge  geliefert,  jedoch  sind  seine  Fälle  nicht  sämmt- 
lich  periodischen  Charakters. 

Tarnowsky  berichtet  Fälle,  wo  verheiratbete ,  gebüdete  Männer,. 
Famüienväter ,  von  Zeit  zu  Zeit  gezwungen  waren,  den  abscheulichsten  Ge- 
schlechtsakten sich  zu  ergeben,  während  sie  intervallär  geschlechtlich  normal 
waren,  ihre  paroxystischen  Akte  perhorrescirten  und  vor  der  zu  gewärtigenden 
Wiederkehr  neuerlicher  Anfälle  zurückschauderten. 

Kam  es  dann  neuerlich  zum  Paroxysmus ,  so  schwand  die  normale  Ge- 
schlechtsempfindung,    es   kam    ein   psychischer  Aufregungszustand  mit  Schlaf- 


Psychopathia  sexualis  periodica.  335 

losigkeit,  mit  Vorstellungen  und  Drängen,  im  Sinne  der  perversen  geschlecht- 
lichen Handlungen  vorzugehen,  mit  ängstlicher  Beklemmung  und  immer  mäch- 
tiger anwachsendem  Impuls  zur  sonst  perhorrescirten ,  nun  aber  erlösenden, 
weil  den  Zustand  lösenden  geschlechtlichen  Handlung. 

Die  Analogie  mit  dem  Dipsomanen  ist  eine  vollkommene. 

Weitere  Fälle  (periodische  Päderastie  betreffend)  siehe  Tar- 
nowsky,  op.  cit.  p.  41.  Der  dort  p.  46  berichtete  Fall  dürfte  in 
das  Gebiet  der  Epilepsie  gehören. 

Der  folgende  Fall,  von  Anjel  (Arch.  f.  Psych.  XV,  H.  2) 
berichtet,  ist  einer  der  bezeichnendsten  für  das  anfallsweise  Auf- 
treten von  krankhafter  Sexualerregung. 

Beobachtung  151.  Herr  aus  höheren  Ständen,  45  Jahre  alt,  allgemein 
beliebt,  unbelastet,  sehr  geachtet,  streng  sittlich,  seit  15  Jahren  verheirathet, 
mit  früher  normalem  Geschlechtsverkehr,  Vater  mehrerer  gesunder  Kinder,  in 
bester  Ehe  lebend,  hatte  vor  8  Jahren  heftigen  Schreck  erlitten.  Im  Anschluss 
daran  mehrere  Wochen  lang  Angstgefühle  und  Herzkrämpfe.  Dann  kamen, 
eigenthümliche  Anfälle  in  Zwischenräumen  von  Monaten  bis  zu  einem  Jahr, 
die  Patient  seinen  „ moralischen  Schnupfen"  nennt.  Er  wird  schlaflos.  Nach 
3  Tagen  Verlust  des  Appetits,  wachsende  Gemüthsreizbarkeit,  verstörtes  Aus- 
sehen, starrer  Blick,  Vorsichhinstarren,  grosse  Blässe,  wechselnd  mit  Erröthen, 
Zittern  der  Finger,  geröthete  glänzende  Augen  mit  eigenthümlich  lüsternem 
Ausdruck,  hastige,  überstürzte  Redeweise.  Drang  zu  kleinen  Mädchen  von 
5 — 10  Jahren,  selbst  zu  den  eigenen.  Bitte  an  die  Frau,  die  Mädchen  vor  ihm 
in  Sicherheit  zu  bringen.  Patient  schliesst  sich  tagelang  in  diesem  Zustand 
im  Zimmer  ein.  Früher  drängte  es  ihn,  weibliche  Schulkinder  auf  der  Strasse 
abzupassen,  und  er  empfand  eine  eigenthümliche  Befriedigung,  iis  praesentibus 
genitalia  nudare,  se  mingentem  fingens. 

Aus  Furcht  vor  Skandal  schliesst  er  sich  im  Zimmer  ab,  still  brütend, 
bewegungsunfähig,  abwechselnd  von  quälenden  Angstgefühlen  gepeinigt.  Das 
Bewusstsein  scheint  ganz  ungetrübt.  Dauer  der  Anfälle  8— 14  Tage.  Ursachen, 
der  Wiederkehr  ganz  unklar.  Plötzliche  Besserung;  grosses  Schlaf bedürfniss, 
nach  dessen  Befriedigung  wieder  ganz  wohl.  Intervallär  nichts  Abnormes. 
Anjel  nimmt  eine  epileptische  Grundlage  an  und  hält  die  Anfälle  für  das 
psychische  Aequivalent  eines  epileptischen  Insults. 


Manie. 

An  der  allgemeinen  Erregung,  welche  hier  im  psychischen 
Organ  besteht,  betheiligt  sich  vielfach  auch  die  sexuelle  Sphäre, 
Bei  manischen  Personen  weiblichen  Geschlechts  ist  dies  sogar  Regel. 
Im  einzelnen  Fall  kann  es  fraglich  sein,  ob  der  an  und  für  sich 
nicht    gesteigerte    Trieb    bloss    rücksichtslos    entäussert    wird    oder 


336  Satyriasis  und  Nymphomanie. 

wirklich  in  krankhafter  Steigerung  vorhanden  ist.  Meist  wird  die 
letztere  Annahme  die  richtige  sein,  sicher  da,  wo  sexuelle  Delirien 
und  äquivalente  religiöse  fort  und  fort  geäussert  werden.  Je  nach 
der  Höhe  der  Krankheit  äussert  sich  der  gesteigerte  Trieb  in  ver- 
schiedenartiger Form. 

Bei  blosser  manischer  Exaltation  und  da,  wo  es  sich  um 
Männer  handelt,  beobachtet  man  Courmacherei,  Frivolität,  Lascivität 
in  der  Rede,  Aufsuchen  von  Bordellen  —  bei  Weibern  Neigung,  in 
Herrengesellschaft  zu  kokettiren,  sich  zu  putzen,  pomadisiren,  von 
Heiraths-  und  Skandalgeschichten  zu  sprechen,  andere  Weiber 
sexuell  zu  verdächtigen,  oder  —  in  äquivalenter  religiöser  Inbrunst, 
zeigt  sich  Drang,  sich  an  Wallfahrten,  Missionen  zu  betheiligen, 
ins  Kloster  zu  gehen  oder  wenigstens  Pfarrersköchin  zu  werden, 
wobei  viel  von  der  eigenen  Unschuld,  Jungfräulichkeit  die  Rede  ist. 

Auf  der  Höhe  der  Manie  (Tobsucht)  begegnet  man  Auffor- 
derungen zum  Coitus,  Exhibition,  Zoten,  massloser  Gereiztheit  gegen 
die  weibliche  Umgebung,  Neigung  zu  Schmierereien  mit  Speichel, 
Urin,  selbst  Koth,  religiös- sexuellen  Delirien,  vom  hl.  Geist  über- 
schattet zu  sein,  das  Jesuskindlein  geboren  zu  haben  u.  s.  w.,  rück- 
sichtloser Onanie,  beckenwetzenden  Coitusbewegungen. 

Bei  tobsüchtigen  Männern  hat  man  sich  schamloser  Mastur- 
bation, Nothzucht  an  weiblichen  Individuen  zu  versehen. 


Satyriasis  und  Nymphomanie. 

Psychische  Erregungszustände,  in  welchen  ein  krankhaft  ge- 
steigerter Sexualtrieb  im  Vordergrund  des  Krankheitsbildes  steht, 
hat  man  als  Satyriasis  (beim  Mann)  und  als  Nymphomanie  s.  Utero- 
manie  (beim  Weib)  bezeichnet. 

Moreau  (a.  a.  0.)  hält  diese  Zustände  für  eigenartige,  ge- 
wiss aber  mit  Unrecht.  Der  sexuelle  Symptomencomplex  ist  immer 
nur  Theilerscheinung  innerhalb  einer  allgemeinen  Psychose  (Manie, 
hallucinatorischer  Wahnsinn?). 

Das  Wesentliche  innerhalb  des  sexuellen  Erregungszustands 
ist  ein  Zustand  psychischer  Hyperästhesie  mit  Betheiligung  der 
sexuellen  Sphäre.  Die  Phantasie  führt  nur  sexuelle  Bilder  vor  bis 
zu  Hallucinationen  und  Illusionen  und  wahrem  hallucinatorischem 
Delirium. 

Die  gleichgültigsten  Vorstellungen  wecken  sinnliche  Beziehungen, 


Satyriasis  und  Nymphomanie.  337 

und  die  wollüstige  Lustbetonung  der  Vorstellungen  und  Apper- 
ceptionen  ist  eine  hochgesteigerte.  Der  krankhafte  Bewusstseins- 
inhalt  nimmt  das  ganze  Fühlen  und  Streben  in  Beschlag,  geht 
mit  einer  allgemeinen  körperlichen  Aufregung,  ähnlich  der  beim  Coitus 
stattfindenden  (s.  p.  33),  einher.  Vielfach  sind  die  Genitalorgane  in 
anhaltendem  Turgor  (Priapismus  beim  Manne). 

Der  von  Geschlechts wuth  heimgesuchte  Mann  sucht  den  Trieb 
um  jeden  Preis  zu  befriedigen  und  wird  dadurch  Personen  des  an- 
deren Geschlechts  höchst  gefährlich.  Faute  de  mieux  onanirt  oder 
sodomirt  er.  Das  nymphomanische  Weib  sucht  Männer  durch  Ex- 
hibition  oder  brünstige  Geberden  an  sich  zu  locken,  geräth  An- 
gesichts solcher  in  hochgradig  sexuelle  Erregung,  die  in  Mastur- 
bation oder  beckenwetzenden  Bewegungen  befriedigt  wird. 

Satyriasis  ist  selten.  Nymphomanie  wird  häufiger  beobachtet, 
nicht  so  selten  im  Klimakterium.  Sogar  im  Senium  kann  sie  vor- 
kommen. Abstinenz1)  bei  beständiger  Anregung  der  sexuellen 
Sphäre  durch  psychische  und  periphere  Reize  (Pruritus  pudendi, 
Oxyuris  u.  s.  w.)  kann  diese  Zustände  hervorbringen,  wahrschein- 
lich aber  nur  bei  Belasteten. 

Die  Behauptung,  dass  sie  auch  in  Folge  von  Vergiftung  durch 
Canthariden  vorkomme,  scheint  auf  Verwechslung  mit  Priapismus 
zu  beruhen.  Das  anfängliche  Wollustgefühl,  das  mit  Priapismus 
ab  intoxicatione  cantharid.  verbunden  ist,  geht  wenigstens  bald  in 
das  Gegentheil  über.  Satyriasis  und  Nymphomanie  sind  acute  psycho- 
sexuale  Erkrankungszustände. 

Es  gibt  übrigens  auch  solche,  die  man  nicht  ohne  Grund  als 
chronische  Fälle  von  Satyriasis,  resp.  Nymphomanie,  bezeichnen  könnte. 

Dahin  gehören  Männer,  die,  meist  nach  Abusus  Veneris,  be- 
sonders durch  Masturbation,  an  Neurasthenia  sexualis  leiden,  gleich- 
wohl eine  hochgesteigerte  Libido  sexualis  besitzen.  Ihre  Phantasie 
ist,  gleichwie  in  acuten  Fällen,  sehr  erregt,  ihr  Bewusstsein  mit 
schmutzigen  Bildern  erfüllt,  so  dass  selbst  das  Erhabenste  mit 
cynischen  Bildern  und  Vorstellungen  besudelt  wird. 

Das  Denken  und  Verlangen  solcher  Menschen  ist  nur  auf 
die  Sexualsphäre  gerichtet,  und  da  ihr  Fleisch  schwach  ist,  kommen 
sie,  unterstützt  durch  ihre  Phantasie,  zu  den  grössten  Perversitäten 
geschlechtlichen  Handelns. 


*)  Vgl.  die  interessanten  Fälle  bei  Marc- Ideler  II,  p.  137.  —  Ideler, 
Grundriss  der  Seelenheilkunde  II,  p.  488—492. 

v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  22 


338  Das  krankhafte  Sexualleben  bei  Melancholie,  Hysterie. 

Analoge  Zustände  bei  Frauen  kann  man  als  chronische  Nympho- 
manie bezeichnen.  Sie  führen  natürlich  zu  Prostitution.  Legrand 
du  Saulle  (La  folie  p.  510)  theilt  interessante  Fälle  mit,  die  offen- 
bar nicht  anders  sich  deuten  lassen. 


Melancholie. 

Bewusstsein  und  Stimmung  des  Melancholischen  sind  einer 
Weckung  sexueller  Triebe  nicht  günstig.  Gleichwohl  kommt  es 
zuweilen  vor,  dass  solche  Kranke  masturbiren. 

In  Fällen  meiner  Erfahrung  handelt  es  sich  immer  um  be- 
lastete und  schon  vor  der  Krankheit  der  Masturbation  ergebene 
Kranke.  Eine  Befriedigung  einer  wollüstigen  Erregung  schien  den 
Akt  nicht  zu  motiviren,  als  vielmehr  Gewohnheit,  Langeweile,  Angst 
und  der  Drang,  eine  temporäre  Aenderung  der  peinlichen  psychischen 
Situation  herbeizuführen. 


Hysterie. 

Aeusserst  häufig  ist  bei  dieser  Neurose  auch  das  sexuelle 
Leben  abnorm,  bei  belasteten  Fällen  wohl  immer. 

Alle  möglichen  Anomalien  der  sexuellen  Funktion  kommen 
hier  vor,  in  buntem  Wechsel  und  sonderbarer  Verquickung,  auf 
hereditär  degenerativer  Grundlage  und  bei  moralischer  Imbecillität, 
in  den  perversesten  Erscheinungsformen.  Die  krankhafte  Aende- 
rung und  Verkehrung  der  Geschlechtsempfindung  bleibt  niemals 
ohne  Folgen  für  das  Gemüthsleben  dieser  Kranken. 

Ein  denkwürdiger  bezüglicher,  von  Giraud  mitgetheilter  Fall 
ist  der  folgende: 

Beobachtung  152.  Marianne  L.  in  Bordeaux  hat  Nachts,  während 
ihre  Herrschaft  unter  dem  Einfluss  von  ihr  beigebrachten  Narcoticis  fest  schlief, 
deren  Kinder  ihrem  Geliebten  zu  geschlechtlichem  Genuss  preisgegeben  und 
zu  Zeugen  der  unmoralischsten  Scenen  gemacht.  Es  ergab  sich,  dass  die  L. 
hysterisch  (Hemianästhesie  und  Krampfanfälle)  und  vor  ihrer  Erkrankung  eine 
anständige,  vertrauenswürdige  Person  gewesen  war.  Seit  der  Krankheit  hatte 
sie  sich  schamlos  prostituirt  und  ihren  moralischen  Sinn  eingebüsst. 

Häufig  ist  bei  Hysterischen  das  Sexualleben  krankhaft  erregt. 
Diese  Erregung  kann  intermittirend  (menstrual  ?)  sich  geltend  machen. 
Schamlose  Prostitution,   selbst  seitens  Ehefrauen,    kann   die  Folge 


Das  krankhafte  Sexualleben  bei  Paranoia.  339 

sein.  In  milderer  Form  äussert  sich  der  sexuelle  Drang  in  Onanie, 
Nacktgehen  im  Zimmer,  Sichsalben  mit  Urin  und  anderen  un- 
sauberen Stoffen,  Anlegen  von  Männerkleidern  u.  s.  w. 

Schule  (Klin.  Psychiatrie  1886,  p.  237)  findet  besonders 
häufig  krankhaft  gesteigerten  Geschlechtstrieb,  „welcher  disponirte 
Mädchen  und  selbst  in  glücklicher  Ehe  lebende  Frauen  zu  Messa- 
linen  werden  lässt".  Der  genannte  Autor  kennt  Fälle,  wo  bereits 
auf  der  Hochzeitsreise  Fluchtversuche  mit  Männern  aus  zufälliger 
Begegnung  gemacht  wurden,  wo  geachtete  Frauen  Liaisons  ohne 
Wahl  anknüpften  und  in  unersättlicher  Gier  jede  Würde  opferten. 

Bei  hysterischer  Geistesstörung  kann  sich  das  krankhaft  er- 
regte Sexualleben  in  Eifersuchtswahn,  grundlosen  Anklagen  männ- 
licher Personen  wegen  unzüchtiger  Handlungen1),  Coitushallucina- 
tionen2)  u.  s.  w.  äussern. 

Zeitweise  kann  auch  Frigidität  vorkommen  mit  mangelndem 
Wollustgefühl,  meist  auf  Grund  genitaler  Anästhesie. 


Paranoia. 

Abnorme  Erscheinungen  seitens  des  Sexuallebens  sind  in  den 
verschiedenen  Formen  der  primären  Verrücktheit  nichts  Seltenes. 
Entwickeln  sich  doch  manche  derselben  auf  der  Grundlage  sexuellen 
Abusus  (masturbatorische  Paranoia)  oder  sexueller  Erregungsvor- 
gänge, und  handelt  es  sich  um  psychisch  degenerative  Individuen, 
bei  denen  erfahrungsgemäss,  neben  anderweitigen  funktionellen  De- 
generationszeichen, auch  das  sexuelle  Leben  vielfach  tief  belastet  ist. 

Besonders  deutlich  tritt  das  krankhaft  gesteigerte,  nach  Um- 
ständen auch  perverse  sexuelle  Leben  zu  Tage  in  der  Paranoia 
erotica  und  der  religiosa.  Bei  der  ersteren  äussert  sich  aber  der 
sexuelle  Erregungszustand  nicht  sowohl  in  direkt  auf  die  Befriedi- 
gung des  Geschlechtsgenusses  abzielenden  Vorgängen  und  Hand- 
lungen, als  vielmehr  (jedoch  nicht  ausnahmslos)  in  platonischer 
Liebe,  in  Schwärmerei  für  eine  durch  ästhetische  Befriedigung  im- 
ponirende  Person  des  anderen  Geschlechts,  nach  Umständen  sogar 
für  ein  Phantasiegebilde,  ein  Bild  oder  eine  Statue. 


*)  S.  u.  a.  Fall  Merlac  in  d.  Verf.  Lehrb.  d.  ger.  Psychopathol.,  2.  Aufl. 
p.  322.  —  Morel,  Traite  des  malad,  mentales  p.  687.  —  Legrand,  La  folie 
p.  337.  —  Process  La  Ronciere  in  Annal.  d'byg.,  1.  Serie,  IV.,  3.  Serie,  XXII. 

2)  Darauf  beruhen  die  Incuben  in  den  Hexenprocessen  des  Mittelalters. 


340  Das  krankhafte  Sexualleben  bei  Paranoia. 

Die  schwächlich  oder  rein  geistig  sich  kundgebende  Liebe  zum 
anderen  Geschlecht  hat  übrigens  nicht  selten  ihren  Grund  in  durch 
lang  getriebene  Masturbation  entstandener  Schwächung  der  Zeu- 
gungsorgane, und  unter  der  keuschen  Begeisterung  für  ein  geliebtes 
Wesen  kann  sich  grosse  Lüsternheit  und  sexueller  Missbrauch  ver- 
bergen. Episodisch,  namentlich  bei  Weibern,  kann  sogar  heftige 
sexuelle  Erregung  im  Sinne  der  Nymphomanie  auftreten. 

Auch  die  Paranoia  religiosa  fusst  grösstentheils  auf  der  sexuellen 
Sphäre,  die  in  Form  abnorm  frühen  und  krankhaft  starken  Sexual- 
triebs sich  kund  gibt.  Die  Libido  findet  Befriedigung  in  Mastur- 
bation oder  religiöser  Schwärmerei,  deren  Gegenstand  einzelne  Geist- 
liche, Heilige  u.  s.  w.  sein  können. 

Diese  psycho-pathologischen  Beziehungen  zwischen  sexuellem 
und  religiösem  Gebiet  wurden  p.  9  ausführlich  besprochen. 

Verhältnissmässig  häufig  sind  —  abgesehen  von  Masturbation  — 
bei  religiöser  Paranoia  sexuelle  Delikte. 

Einen  bemerkenswerthen  Fall  von  religiösem  Wahnsinn,  der 
zu  Ehebruch  führte,  enthält  Marc's  Werk  (Uebers.  von  Ideler  II, 
p.  160).  Einen  Fall  von  Unzucht  mit  kleinen  Mädchen  seitens 
eines  an  Paranoia  religiosa  leidenden  43jährigen  Mannes,  der  tem- 
porär erotisch  erregt  war,  hat  Giraud  (Annal.  med.  psychol.)  be- 
richtet. Hierher  gehört  auch  ein  Fall  von  Incest  (Li man,  Viertel- 
jahrsschr.  f.  ger.  Med.). 

Beobachtung  153.  M.  hat  seine  Tochter  geschwängert.  Seine  Ehefrau, 
Mutter  von  18  Kindern  und  selbst  schwanger  von  ihrem  Manne,  erstattete  die 
gerichtliche  Anzeige.  M.  litt  seit  2  Jahren  an  religiöser  Paranoia.  „Es  wurde 
mir  die  Offenbarung,  dass  ich  mich  zu  meiner  Tochter,  zu  der  ewigen  Sonne, 
legen  solle.  Dann  entstände  ein  Mensch  von  Fleisch  und  Blut  durch  meinen 
Glauben,  der  18  Jahrhunderte  alt  sei.  Dieser  Mensch  als  eine  Brücke  in  das 
ewige  Leben  zwischen  altem  und  neuem  Testament."  Diesem,  nach  seiner 
Meinung  göttlichen  Befehl  hatte  der  Wahnsinnige  Folge  geleistet. 

Auch  bei  Paranoia  persecutoria  kommen  zuweilen  pathologisch 
motivirte  sexuelle  Handlungen  vor. 

Beobachtung  154.  Eine  30  Jahre  alte  Frauensperson  hatte  einen  in 
der  Nähe  spielenden  5jährigen  Knaben  durch  Versprechung  von  Geld  und 
Braten  an  sich  gelockt,  pene  lusit,  supra  puerum  flexa  coitum  conavit.  Die 
Betreffende  war  Lehrerin,  von  einem  Manne  verführt  und  Verstössen  worden, 
hatte  sich,  früher  streng  sittlich,  einige  Zeit  der  Prostitution  ergeben.  Der 
Schlüssel  zur  Erklärung  ihres  sittenlosen  Lebenswandels  ergab  sich  insofern, 
als  sie  weitverzweigten  Verfolgungswahn  bot,  wähnte,  unter  dem  geheimniss- 


Das  krankhafte  Sexualleben  bei  Paranoia.  341 

vollen  Einfluss  ihres  Verführers  zu  stehen,  der  sie  zu  sexuellen  Handlungen 
nöthige.  So  glaubte  sie  auch,  der  Knabe  sei  ihr  durch  ihren  Verführer  in  den 
Weg  geschickt  worden.  An  rohe  Sinnlichkeit  als  Motiv  des  Verbrechens 
Hess  sich  um  so  weniger  denken,  als  es  der  Person  leicht  gewesen  wäre,  auf 
naturgemässe  Weise  ihren  Sexualtrieb  zu  befriedigen.  (Küssner,  Berl.  klin. 
Wochenschrift.) 

Aehnliche  Fälle  hat  Cullerre  (Perversions  sexuelles  chez  les 
persecutes  in  Annal.  rnddico-psychol.,  Mars  1880)  mitgetheilt,  z.  B. 
die  Beobachtung  eines  Kranken,  der,  an  Paranoia  sexualis  perse- 
cutoria  leidend,  seine  Schwester  zu  nothzüchtigen  versuchte,  dem 
vermeintlichen  Zwang  Folge  gebend,  den  auf  ihn  die  Bonapartisten 
ausübten. 

In  einem  anderen  Falle  wird  ein  an  elektro-magnetischem 
Verfolgungswahnsinn  leidender  Capitän  von  seinen  Verfolgern  zu 
Päderastie  gereizt,  die  er  lebhaft  perhorrescirt.  In  einem  ähnlichen 
Fall  reizt  der  Verfolger  zu  Onanie  und  Päderastie. 


V.   Das  krankhafte  Sexualleben  vor  dem 
Criminalforum x). 


Die  Gesetzbücher  aller  Culturnationen  verfolgen  Denjenigen, 
welcher  unzüchtige  Handlungen  begeht.  Insofern  die  Erhaltung 
von  Zucht  und  Sitte  eine  der  wichtigsten  Existenzbedingungen  für 
das  staatliche  Gemeinwesen  ist,  kann  der  Staat  kaum  genug  thun 
als  Hüter  der  Sittlichkeit  in  dem  Kampf  gegen  die  Sinnlichkeit. 
Dieser  Kampf  ist  ein  ungleicher,  insofern  nur  eine  gewisse  Zahl 
von  sexuellen  Ausschweifungen  gerichtlich  verfolgt  werden  kann, 
den  Ausschweifungen  eines  so  mächtigen  Naturtriebs  gegenüber  die 
Strafdrohung  nur  sehr  wenig  auszurichten  vermag  und  es  in  der 
Natur  der  sexuellen  Delikte  liegt,  dass  nur  ein  Theil  derselben  zur 
Kenntniss  der  Behörde  gelangt.  Dem  Walten  dieser  kommt  die 
öffentliche  Meinung  zu  Hülfe,  indem  sie  derlei  Delikte  als  entehrend 
ansieht. 

Aus  der  Criminalstatistik  ergibt  sich  die  traurige  Thatsache, 
dass  die  sexuellen  Delikte  in  unserem  modernen  Culturleben  eine 
fortschreitende  Zunahme  aufweisen2),  darunter  ganz  speziell  die 
Unzuchtsvergehen  an  Individuen  unter  14  Jahren. 

Der  Moralist  sieht  in  diesen  traurigen  Thatsachen  weiter  nichts 
als  einen  Verfall  der  allgemeinen  Sittlichkeit  und  kommt  nach  Um- 
ständen zu  der  Anschauung,  dass  die  im  Vergleich  zu  vergangenen 


*)  S.  Weisbrod,  Die  Sittlichkeitsverbrechen  vor  dem  Gesetz ,  Berlin 
1891.  —  Dr.  PaBquale  Penta,  I  pervertimenti  sessuali  neu'  uomo.  Napoli 
1893.  —  Seydel,  Die  Beurtheilung  der  perversen  Sexualvergehen  in  foro. 
Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.  1893.    Heft  2. 

*)  Vgl.  Casper,  Klin.  Novellen.  —  Lombroso,  Goltdammer's  Archiv 
Bd.  30.  —  Oettingen,  Moralstatistik  p.  494. 


Yerkennung  pathologischer  Sexualfunktion  in  foro.  343 

Jahrhunderten  übergrosse  Milde  des  Gesetzgebers  in  der  Bestrafung 
sexueller  Delikte  daran  theilweise  schuld  sei. 

Dem  ärztlichen  Forscher  drängt  sich  der  Gedanke  auf,  dass 
diese  Erscheinung  im  modernen  socialen  Culturleben  mit  der  über- 
handnehmenden Nervosität  der  letzten  Generationen  in  Zusammen- 
hang stehe,  insofern  sie  neuropathisch  belastete  Individuen  züchtet, 
die  sexuelle  Sphäre  erregt,  zu  sexuellem  Missbrauch  antreibt  und 
bei  fortbestehender  Lüsternheit,  aber  herabgeminderter  Potenz,  zu 
perversen  sexuellen  Akten  führt. 

Wie  berechtigt  derartige  Anschauungen  speziell  zur  Erklärung 
der  in  auffallender  Weise  sich  mehrenden  Unzuchtsdelikte  an  Kin- 
dern sind,  wird  sich  aus  dem  Folgenden  klar  ergeben. 

Dass  bezüglich  der  Begehung  von  sexuellen  Delikten  neuro- 
und  selbst  psychopathische  Bedingungen  vielfach  ausschlaggebend 
sind,  ist  aus  dem  bisher  Erörterten  leicht  ersichtlich.  Damit  wird 
nichts  Geringeres  als  die  Zurechnungsfähigkeit  vieler  eines  Un- 
zuchtsdeliktes beschuldigter  Menschen  in  Frage  gestellt. 

Der  Psychiatrie  kann  die  Anerkennung  nicht  versagt  werden, 
dass  sie  die  psychisch  krankhafte  Bedeutung  zahlreicher  monströser, 
paradoxer  sexueller  Akte  erkannt  und  nachgewiesen  hat. 

Von  diesen  Thatsachen  psycho-pathologischer  Forschung  hat 
die  Jurisprudenz  als  Gesetzgebung  und  Rechtssprechung  bisher  sehr 
wenig  Notiz  genommen.  Sie  setzt  sich  damit  in  Widerspruch  mit 
der  Medizin  und  steht  beständig  in  Gefahr,  Urtheile  und  Strafen 
über  Solche  zu  verhängen,  die  wissenschaftlich  als  für  ihre  Hand- 
lungen unzurechnungsfähig  dastehen. 

Durch  diese  oberflächliche  Behandlung  von  tief  in  das  Inter- 
esse und  Wohl  der  Gesellschaft  eingreifenden  Delikten  geschieht 
es  gar  leicht  der  Justiz,  dass  sie  einen  Verbrecher,  der  gemein- 
gefährlicher als  ein  Mörder  oder  als  ein  wildes  Thier  ist,  nach  festem 
Strafmass  abstraft  und  ihm  nach  ausgestandener  Strafe  die  Gesell- 
schaft wieder  ausliefert,  während  die  wissenschaftliche  Forschung 
nachweisen  kann,  dass  ein  originär  psychisch  und  sexuell  entarteter 
und  damit  unzurechnungsfähiger  Mensch  der  Thäter  war,  der  zeit- 
lebens unschädlich  gemacht  werden  müsste,  aber  nicht  bestraft 
werden  sollte. 

Eine  Justiz,  die  nur  die  That  und  nicht  den  Thäter  würdigt, 
wird  immer  Gefahr  laufen,  wichtige  Interessen  der  Gesellschaft 
(allgemeine  Sittlichkeit  und  Sicherheit)  wie  auch  solche  des  Indivi- 
duums (Ehre)  zu  verletzen. 


344  Sexuale  Delikte.    Kriterien  pathologischer  Sexualempfindung. 

Auf  keinem  Gebiete  des  Strafrechts  ist  ein  Zusammenarbeiten 
von  Richter  und  medizinischen  Experten  so  sehr  geboten,  wie  bei 
den  sexuellen  Delikten,  und  nur  die  anthropologisch-klinische  For- 
schung vermag  hier  Licht  und  Klarheit  zu  verbreiten. 

Die  Art  des  Deliktes  kann  niemals  an  und  für  sich  eine 
Entscheidung  darüber  herbeiführen,  ob  es  sich  um  einen  psycho- 
pathischen oder  einen  in  physiologischer  Breite  des  Seelenlebens 
zu  Stande  gekommenen  Akt  handelt.  Der  perverse  Akt  ver- 
bürgt nicht  die  Perversion  der  Empfindung.  Jedenfalls  sind 
die  monströsesten  und  perversesten  sexuellen  Handlungen  bei  geistig 
Gesunden  schon  vorgekommen.  Aber  die  Perversion  der 
Empfindung  muss  als  eine  krankhafte  erwiesen  werden. 
Dieser  Nachweis  wird  geliefert  durch  Entwicklung  ihrer  Entstehungs- 
bedingungen und  durch  ihre  Constatirung  als  Theilerscheinung  eines 
neuro-  oder  psychopathischen  Gesammtzustandes. 

Wichtig  ist  die  Species  facti,  aber  auch  sie  gestattet  nur 
Vermuthungen,  insofern  dieselbe  sexuelle  Handlung,  je  nachdem 
sie  z.  B.  ein  Epileptiker,  Paralytiker  oder  geistig  Gesunder  begeht, 
ein  anderes  Gepräge  und  Besonderheiten  der  Handlungsweise 
aufweist. 

Periodische  Wiederkehr  des  Aktes  unter  identischen  Modali- 
täten, impulsive  Art  der  Ausführung  erwecken  gewichtige  Prä- 
sumptionen  für  eine  pathologische  Bedeutung.  Die  Entscheidung 
liegt  jedoch  in  der  Zurückführung  der  That  auf  ihre  psychologischen 
Motive  (Abnormitäten  des  Vorstellens  und  Fühlens)  und  in  der  Be- 
gründung dieser  elementaren  Anomalien  als  Theilerscheinungen  eines 
neuropsychopathischen  Gesammtzustandes  —  entweder  einer  psychi- 
schen Entwicklungshemmung  oder  eines  psychischen  Degenerations- 
zustandes oder  einer  Psychose. 

Die  in  dem  allgemein-  und  speciell-pathologischen  Theil  dieses 
Buches  niedergelegten  Erfahrungen  dürften  für  den  Experten  von 
Werth  für  die  Auffindung  der  Impulse  zur  Handlung  sein. 

Diese  für  die  Entscheidung,  ob  bloss  Immoralität  oder  ob 
Psychopathie  vorliege,  un erlässlichen  Thatsachen  können  nur  durch 
eine  gerichtsärztliche  Untersuchung,  die  nach  Regeln  der  Wissen- 
schaft die  ganze  Persönlichkeit  anamnestisch  und  gegenwärtig,  anthro- 
pologisch und  klinisch  berücksichtigt,  gewonnen  werden. 

Der  Nachweis  einer  originären  angeborenen  Anomalie  des 
Sexuallebens  ist  wichtig  und  fordert  auf,  in  der  Richtung  eines 
psychischen     Degenerationszustandes    Untersuchungen     anzustellen. 


Fragliche  Zurechnungsfähigkeit.  345 

Eine  erworbene  Abweichung  muss,  um  als  krankhaft  anerkannt 
werden  zu  können,  auf  eine  Neuro-  oder  Psychopathie  zurückgeführt 
werden. 

Praktisch  muss  hier  zunächst  an  Dementia  paralytica  und  an 
Epilepsie  gedacht  werden.  Die  Entscheidung  bezüglich  der  Zurech- 
nungsfähigkeit findet  ihren  Schwerpunkt  in  dem  Nachweis  eines 
psychopathischen  Zustandes  bei  dem  eines  sexuellen  Deliktes  Be- 
schuldigten. 

Dieser  Nachweis  ist  unerlässlich,  um  der  Gefahr  zu  begegnen, 
dass  nicht  blosse  Immoralität  mit  dem  Deckmantel  der  Krankheit 
entschuldigt  werde. 

Psychopathische  Zustände  können  zu  Sittlichkeitsverbrechen 
führen  und  zugleich  die  Bedingungen  der  Zurechnungsfähigkeit  auf- 
heben, insofern 

1)  dem  normalen,  eventuell  gesteigerten  Sexualtrieb  keine  sitt- 
lichen und  rechtlichen  Gegenvorstellungen  gegenübergestellt  werden 
können,  und  zwar:  a)  indem  solche  nie  erworben  wurden  (ange- 
borene geistige  Schwächezustände)  oder  b)  in  Verlust  geriethen 
(erworbene  geistige  Schwächezustände); 

2)  der  Sexualtrieb  gesteigert  ist  (psychische  Exaltatiönszustände) 
und  zugleich  das  Bewusstsein  getrübt,  der  psychische  Mechanismus 
zu  gestört  ist,  um  die  virtuell  allerdings  vorhandenen  Gegenvorstel- 
lungen wirksam  werden  zu  lassen; 

3)  der  Sexualtrieb  pervers  ist  (psychische  Degenerationszustände). 
Er  kann  zugleich  gesteigert  und  unwiderstehlich  sein. 

Ausserhalb  eines  psychischen  Defekt-,  Entartungs-  oder  Er- 
krankungszustandes stehende  Fälle  von  sexuellem  Delikt  können 
niemals  der  Entschuldigung  der  Unzurechnungsfähigkeit  theilhaftig 
werden. 

In  zahlreichen  Fällen  wird  statt  eines  psychisch-krankhaften 
Zustandes  eine  Neurose  (lokale  oder  allgemeine)  gefunden  werden. 
Insofern  die  Uebergänge  zwischen  Neurose  und  Psychose  fliessende 
sind,  elementare  psychische  Störungen  bei  jener  häufig,  bei  tiefer 
Perversion  des  Sexuallebens  wohl  immer  zu  finden  sind,  die  neu- 
rotische Aflektion,  wie  z.  B.  Impotenz,  reizbare  Schwäche  u.  s.  w., 
auf  die  Begehung  der  strafbaren  That  Einfluss  gewann,  wird  eine 
gerechte  Justiz,  unbeschadet  der  nur  aus  psychischem  Defekt  oder 
aus  Krankheit  statuirbaren  Mangels  der  Zurechnungsfähigkeit,  auf 
mildernde  Umstände  der  Strafthat  erkenneD. 

Der  praktische   Jurist    wird    aus  verschiedenen  Gründen   An- 


346  Indicien  für  pathologische  Begründung  sexueller  Delikte. 

stand  nehmen,  bei  allen  sexuellen  Delikten  Gerichtsärzte  zu  berufen 
behufs  Anstellung  einer  psychiatrischen  Expertise. 

Ob  und  wann  er  dazu  bemüssigt  ist,  muss  freilich  seinem  Ge- 
wissen und  Ermessen  anheim  gegeben  werden.  Indicien  dafür,  dass 
der  Fall  pathologisch  sein  dürfte,  ergeben  sich  jedenfalls  unter 
folgenden  Umständen: 

Der  Thäter  ist  ein  Greis.  Das  sexuelle  Delikt  wurde  mit  auf- 
fallendem Cynismus  öffentlich  begangen.  Die  Art  der  Geschlechts- 
befriedigung ist  eine  läppische  (Exhibitioniren)  oder  grausame  (Ver- 
stümmelung, Lustmord)  oder  perverse  (Nekrophilie  u.  s.  w.). 

Erfahrungsgemäss  lässt  sich  sagen,  dass  unter  den  vorkom- 
menden sexuellen  Akten  Nothzucht,  Schändung,  Päderastie,  Amor 
lesbicus,  Bestialität  eine  psycho-pathologische  Begründung  haben 
können. 

Beim  Lustmord,  sofern  er  über  den  Zweck  der  Ermordung 
hinausgeht,  desgleichen  bei  der  Leichenschändung  sind  psycho- 
pathische Zustände  wahrscheinlich. 

Das  Exhibitioniren,  sowie  die  mutuelle  Masturbation  lassen 
pathologische  Bedingungen  sehr  wahrscheinlich  erscheinen.  Die 
Onanisirung  eines  Anderen,  sowie  die  passive  Onanie  kann  bei  De- 
mentia senilis,  conträrer  Sexualempfindung,  aber  auch  bei  blossen 
Wüstlingen  vorkommen. 

Der  Cunnilingus,  gleichwie  das  Fellare  (penem  in  os  mulieris 
arrigere)  bot  bisher  nur  ausnahmsweise  psycho-pathologische  Be- 
ziehungen. 

Diese  sexuellen  Scheusslichkeiten  scheinen  fast  ausschliesslich 
bei  im  natürlichen  Geschlechtsgenusse  übersättigten,  zugleich  in  der 
Potenz  geschwächten  Wüstlingen  vorzukommen.  Die  Paedicatio 
mulierum  erscheint  nicht  psychopathisch,  sondern  Praktik  moralisch 
tiefstehender  Ehemänner  aus  Scheu  vor  Nachkommenschaft,  sowie 
übersättigter  Cyniker  im  ausserehelichen  Geschlechtsgenuss. 

Die  praktische  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  nöthigt  dazu, 
die  vom  Gesetzgeber  als  sexuelle  Delikte  mit  Strafe  bedrohten  ge- 
schlechtlichen Handlungen  vom  gerichtsärztlichen  Standpunkt  speciell 
ins  Auge  zu  fassen.  Dabei  ergibt  sich  der  Vortheil,  dass  die  psycho- 
pathologischen,  nach  Umständen  ganz  analogen  Handlungen  in  das 
richtige  Licht  durch  noch  in  die  physio-psychologische  Breite  fallende 
gestellt  werden. 


Verletzung  der  Sittlichkeit.  347 


1)  Verletzung  der  Sittlichkeit  in  Form  des  Exhibitionirens  x). 

(Oesterreich  §  516.    Entwurf  §  195.    Deutsch.  Stgsb.  §  183.) 

Schamhaftigkeit  ist  in  dem  Kulturleben  der  heutigen  Menschen 
eine  durch  Erziehung  vieler  Jahrhunderte  so  gefestigte  Charakter- 
erscheinung und  Direktive,  dass  sich  vorweg  Vermuthungen  einer 
psycho-pathologischen Beziehung  ergeben  müssen,  wenn  der  öffent- 
liche Anstand  in  gröblicher  Weise  verletzt  wird. 

Die  Vermuthung  wird  berechtigt  sein,  dass  ein  Individuum, 
welches  derart  das  Sittlichkeitsgefühl  seiner  Mitmenschen  und  zu- 
gleich seine  eigene  Würde  verletzt,  der  Gefühle  der  Sittlichkeit 
nicht  theilhaftig  werden  konnte  (Idioten)  oder  verlustig  ging  (er- 
worbene geistige  Schwächezustände)  oder  in  einem  Zustand  von 
Trübung  seines  Bewusstseins  (transitorisches  Irresein,  geistige 
Dämmerzustände)  gehandelt  hat. 

Eine  ganz  eigenartige,  hierher  gehörige  Handlung  stellt  das 
sog.  Exhibitioniren  dar. 

Die  bisherige  Casuistik  weist  ausschliesslich  Männer  auf,  die 
vor  Personen  des  anderen  Geschlechts  ostentativ  ihre  Genitalien 
entblössten,  dieselben  eventuell  auch  verfolgten,  ohne  jedoch  irgend- 
wie aggressiv  zu  werden. 

Die  läppische  Art  und  Weise  dieser  Geschlechtsbethätigung 
oder  eigentlich  sexuellen  Demonstration  weist  auf  intellectuellen 
und  ethischen  Schwachsinn  oder  wenigstens  auf  temporäre  Hem- 
mung intellectueller  und  ethischer  Funktionen  bei  gleichzeitig  er- 
regter Libido  auf  Grund  einer  erheblichen  Bewusstseinstrübung 
(krankhafte  Bewusstlosigkeit ,  Sinnesverwirrung)  hin  und  stellt  zu- 
gleich die  Potenz  dieser  Individuen  in  Frage.  Darnach  ergeben  sich 
verschiedene  Kategorien  von  Exhibitionisten. 

Eine  erste  umfasst  erworbene  geistige  Schwächezu- 
stände, bei  welchen  durch  die  zu  Grunde  liegende  Hirn-  (Rücken- 
marks)krankheit  das  Bewusstsein  getrübt,  die  ethischen  und  intellec- 
tuellen Funktionen  geschädigt  sind,  eine  von  jeher  mächtig  be- 
stehende oder  durch  den  Krankheitsprocess  angefachte  Libido  damit 
kein   Gegengewicht   zu   finden   vermag,   überdies  Impotenz   besteht 


^Boissier   et   Lachaux,    Perversions    sexuelles    ä   forme    obsedante. 
Archives  de  neurologie  1893,  Octobre. 


348  Verletzung  der  Sittlichkeit. 

und  den  geschlechtlichen  Drang  nicht  mehr  in  kraftvollen  Akten 
(eventuell  Nothzucht),  sondern  nur  in  läppischen  zu  bethätigen  ge- 
stattet. 

In  diese  Kategorie  fällt  die  Mehrzahl  der  mitgetheilten  Fälle  1)- 
Es  sind  der  Dementia  senilis,  dem  paralytischen  Blödsinn  verfallene 
oder  auch  durch  Alkoholismus,  Epilepsie  u.  s.  w.  geistig  defekte 
Individuen. 

Beobachtung  155.  Z.,  höherer  Beamter,  60  Jahre  alt,  Wittwer, 
Familienvater,  hat  dadurch  Anstoss  erregt,  dass  er  einem  8jährigen,  ihm 
gegenüber  wohnenden  Mädchen  während  eines  Zeitraums  von  14  Tagen  wieder- 
holt genitalia  sua  de  fenestra  ostendit.  Nach  mehreren  Monaten  hat  dieser 
Mann  unter  gleichen  Umständen  seine  unanständige  Handlung  wiederholt.  Er 
erkannte  im  Verhör  das  Abscheuliche  seiner  Handlungsweise  an,  wusste  keine 
Entschuldigung  dafür.  Ein  Jahr  später  Tod  in  Hirnerkrankung.  (Lasegue, 
op.  cit.) 

Beobachtung  156.  Z.,  78  Jahre,  Seemann,  hat  wiederholt  an  Kinder- 
spielplätzen und  in  der  Nähe  von  Mädchenschulen  exhibitionirt.  Es  war  dies 
die  einzige  Art  seiner  Geschlechtsbethätigung.  Z. ,  verheirathet ,  Vater  von 
10  Kindern,  hat  vor  12  Jahren  eine  schwere  Kopfverletzung  erlitten,  von 
welcher  eine  tiefe  Knochennarbe  datirt.  Druck  auf  diese  Narbe  macht  Schmerz; 
dabei  röthet  sich  das  Gesicht,  die  Miene  wird  starr.  Pat.  erscheint  somnolent, 
es  kommt  zu  Zuckungen  in  der  rechten  Oberextremität  (offenbar  epileptoide 
Zustände  im  Zusammenhang  mit  einer  Hirnrindenerkrankung).  Im  Uebrigen 
Befund  einer  (senilen)  Demenz  und  vorgeschrittenes  Senium.  Ob  das  Exhibi- 
tioniren  mit  epileptoiden  Anfällen  coincidirte,  ist  nicht  mitgetheilt.  Nachweis 
einer  Dementia  senilis.     Freisprechung.     (Dr.  Schuchardt,  op.  cit.) 

Eine  Anzahl  hierher  gehöriger  Fälle  hat  Pelanda  (op.  cit.) 
mitgetheilt. 

1)  Paralytiker,  60  Jahre  alt.  Mit  58  Jahren  hatte  er  begonnen,  vor  Frauen 
und  Kindern  zu  exhibitioniren.  Er  war  in  der  Irrenanstalt  (Verona)  noch 
längere  Zeit  lasciv  und  versuchte  auch  Fellatio. 

2)  Alter  Potator,  66  Jahre,  schwer  belastet,  an  Folie  circulaire  leidend. 
Seine  Exhibition  wurde  zum  erstenmal  in  der  Kirche  während  des  Gottes- 
dienstes bemerkt.     Sein  Bruder  war  ebenfalls  Exhibitionist. 

3)  Mann,  49  Jahre,  belastet,  Potator,  von  jeher  sexuell  sehr  erregbar, 
wegen  Alkohol,  chron.  in  der  Irrenanstalt,  exhibirt  jeweils,  wenn  er  eines 
weiblichen  Wesens  ansichtig  wird. 


l)  Lasegue,  Union  medicale  1877,  Mai;  Laugier,  Annal.  d'hygiene 
publ.  1878,  Nr.  106;  Pelanda,  Ueber  Pornopathiker ,  Archivio  di  Psichiatria 
VIII;  Schuchardt,  Zeitschr.  f.  Medicinalbeamte  1«90,  Heft  6. 


Verletzung  der  Sittlichkeit.  349 

4)  Mann,  64  Jahre,  verheirathet,  Vater  von  14  Kindern.  Schwere 
Belastung.  Rhachitisch  mikrocephaler  Schädel.  Seit  Jahren  Exhibitionist  trotz 
wiederholter  Bestrafungen. 

Beobachtung  157.  X.,  Kaufmann,  geb.  1833,  ledig,  hat  wiederholt 
vor  Kindern  exhibitionirt  oder  auch  urinirt,  einmal  auch  in  derartiger  Situation 
ein  kleines  Mädchen  abgeküsst.  Vor  20  Jahren  hatte  X.  eine  schwere  geistige 
Krankheit  von  2jähriger  Dauer  durchgemacht,  in  welcher  ein  apoplectischer 
Anfall  vorgekommen  sein  soll. 

Später,  nach  Verlust  seines  Vermögens,  ergab  er  sich  dem  Trunk  und 
erschien  in  den  letzten  Jahren  öfters  wie  geistesabwesend. 

Der  Stat.  praes.  ergab  Alkoholismus,  Senium  praecox,  geistige  Schwäche. 
Penis  klein,  Phimosis,  Hoden  atrophisch.  Nachweis  geistiger  Krankheit.  Frei- 
sprechung.    (Dr.  Schuchardt,  op.  cit.) 

Derartige  Fälle  von  Exhibitioniren  erinnern  an  die  Gepflogen- 
heit junger,  mehr  weniger  noch  bübischer,  sexuell  erregter  Leute, 
aber  auch  gar  mancher  erwachsener  Cyniker  von  tiefstehender  Moral, 
die  sich  damit  vergnügen,  die  Wände  öffentlicher  Aborte  u.  s.  w. 
mit  Bildern  männlicher  und  weiblicher  Genitalien  zu  besudeln  — 
eine  Art  von  ideellem  Exhibitioniren ,  von  dem  aber  zum  reellen 
noch  ein  weiter  Schritt  ist. 

Eine  weitere  Kategorie  von  Exhibitionisten  wird  durch  Epi- 
leptiker1) gebildet. 

Diese  Kategorie  unterscheidet  sich  von  der  vorausgehenden 
wesentlich  dadurch,  dass  ein  bewusstes  Motiv  für  das  Exhibitioniren 
fehlt,  dieses  vielmehr  als  eine  impulsive  Handlung  erscheint,  die, 
ganz  ohne  Rücksicht  auf  die  äusseren  Umstände,  im  Sinne  einer 
krankhaften  organischen  Nöthigung   sich  den  Vollzug  erzwingt. 

Ein  geistiger  Dämmerzustand  ist  tempore  delicti  immer  vor- 
handen, und  daraus  erklärt  es  sich  wohl,  dass  der  Unglückliche 
ohne  Bewusstsein  der  Bedeutung  seiner  Handlung,  jedenfalls  ohne 
Cynismus,  in  blindem  Drange  seine  Handlung  begeht,  die  er, 
wieder  zu  sich  gekommen,  bedauert,  verabscheut,  sofern  nicht  schon 
dauernde  geistige  Schwäche  besteht. 

Das  Primum  movens  in  diesem  geistigen  Dämmerzustand  ist, 
gleichwie  bei  anderen  impulsiven  Akten,  ein  Gefühl  ängstlicher 
Beklemmung.  Associirt  sich  damit  ein  sexuelles  Gefühl,  so  erhält 
das  Vorstellen  eine  bestimmte  Direktive  im  Sinne  einer  entsprechen- 
den (sexuellen)  Handlung. 


*)  Instructiver  Fall  von  Morselli,  Bolletino  della  R.  Accademia  medica 
di  Genova,  Vol.  IX  (1894),  fasc.  1. 


350  Verletzung  der  Sittlichkeit. 

Dass  bei  Epileptikern  gerade  sexuelle  Vorstellungen  besonders 
leicht  tempore  insultus  auftauchen,  erklärt  sich  aus  p.  327  bis  333 
dieses  Buches. 

Ist  aber  eine  solche  Association  einmal  geknüpft,  eine  be- 
stimmte Handlung  in  einem  Anfall  zu  Stande  gekommen,  so  wieder- 
holt sie  sich  um  so  leichter  in  jedem  folgenden,  weil  sich  ein 
ausgefahrenes  Geleise  in  der  Bahn  der  Motivation  sozusagen  ge- 
bildet hat. 

Der  angstvolle  Zustand  im  dämmerhaften  Bewusstsein  lässt 
den  associirten  sexuellen  Impuls  als  einen  Befehl,  als  eine  innere 
Nöthigung  erscheinen,  die  rein  impulsiv  und  in  absolut  unfreiem 
Zustand  vollzogen  werden. 

Beobachtung  158.  K.,  Subalternbeamter,  29  Jahre,  aus  neuropathischer 
Familie,  in  glücklicher  Ehe  lebend,  Vater  eines  Kindes,  hat  wiederholt,  be- 
sonders in  der  Dämmerung,  vor  Dienstmädchen  exhibitionirt.  K.  ist  gross, 
schlank ,  blass ,  nervös ,  hastig  in  seinem  Wesen.  Nur  summarische  Er- 
innerung für  die  Delikte.  Seit  der  Kindheit  häufige  starke  Congestiv- 
zustände  mit  heftiger  Röthe  des  Gesichts,  beschleunigtem,  gespanntem  Puls, 
starrem,  wie  abwesendem  Blick.  Ab  und  zu  dabei  Unbesinnlichkeit,  Schwindel. 
In  diesem  (epileptischen)  Ausnahmezustande  gab  K.  erst  auf  wiederholtes  An- 
rufen Antwort  und  kam  dann  wie  aus  einem  Traum  zu  sich.  K.  will 
stets  vor  seinen  incrim.  Akten  sich  einige  Stunden  erregt  und  unruhig  gefühlt, 
Angst  mit  Beklemmung  und  Fluxion  zum  Kopf  verspürt  haben.  Dabei  sei  er 
öfter  ganz  taumelig  gewesen  und  habe  ein  unbestimmtes  Gefühl  geschlecht- 
licher Erregung  gehabt.  Auf  der  Höhe  solcher  Zustände  sei  er  planlos  von 
Hause  fort  und  habe  irgendwo  seine  Genitalien  präsentirt.  Zu  Hause  habe  er 
dann  von  diesen  Vorkommnissen  nur  eine  traumhafte  Erinnerung  gehabt  und 
sich  sehr  matt  und  abgeschlagen  gefühlt.  Bemerkenswerth  ist  auch,  dass  er 
seine  Genitalien  während  der  Exhibition  mit  Streichhölzchen  beleuchtet  hatte. 
Gutachten,  dass  auf  epileptischer  Grundlage  und  zwangsmässig  die  incrim. 
Handlungen  vorkamen.  Gleichwohl  Verurtheilung  unter  Annahme  mildernder 
Umstände.     (Dr.  Schuchardt,  op.  cit.) 

Beobachtung  159.  L. ,  39  Jahre  alt,  ledig,  Schneider,  von  wahr- 
scheinlich dem  Trunk  ergebenem  Vater,  hatte  zwei  epileptische  Brüder  und 
einen,  der  geisteskrank  war.  Er  selbst  bietet  leichtere  epileptische  Insulte,  hat 
von  Zeit  zu  Zeit  Dämmerzustände,  in  welchen  er  planlos  herumirrt  und  hinter- 
her nicht  weiss,  wo  er  gewesen  ist.  Er  galt  als  ein  anständiger  Mensch,  steht 
jetzt  unter  Anklage,  4 — 6mal  in  fremdem  Hause  seine  Genitalien  exhibirt  und 
daran  gespielt  zu  haben.  Seine  Erinnerung  für  diese  Handlungen  war  eine 
höchst  summarische. 

L.  war  wegen  wiederholten  Desertirens  vom  Militär  (wahrscheinlich  eben- 
falls in  epileptischen  Dämmerzuständen)  schwer  bestraft  worden,  im  Zuchthaus 
geistig  erkrankt,  wegen  „epileptischen  Irreseins"  nach  der  Charite  gekommen 
und  dort  „geheilt"  entlassen  worden.    Bezüglich  der  incriminirten  Handlungen 


Verletzung  der  Sittlichkeit.  351 

Hessen  sich  Cymsmus  und  Uebermuth  ausschliessen.  Dass  sie  im  geistigen 
Dämmerzustand  vorkamen,  ist  u.  a.  daraus  wahrscheinlich,  dass  den  ihn  ver- 
haftenden Polizeiorganen  der  „blödsinnige",  recte  in  geistigem  Dämmerzustand 
befindliche  Mensch  psychisch  auffällig  war.  (Lim an,  Viertel] ahrsschr.  f.  ger. 
Med.  N.  F.  XXXVIII,  H.  2.) 

Beobachtung  160.  L.,  37  Jahre,  hat  vom  15.  Oktober  bis  2.  Novem- 
ber 1889  eine  grosse  Zahl  von  Exhibitionen  vor  Mädchen  sich  zu  Schulden 
kommen  lassen  und  zwar  am  hellen  Tage,  auf  offener  Strasse  und  sogar  in 
Schulen,  in  welche  er  eindrang.  Gelegentlich  kam  es  vor,  dass  er  von  den 
Mädchen  Masturbation  oder  Coitus  begehrte  und  da  dies  verweigert  wurde, 
vor  den  Betreffenden  masturbirte.  In  G.  schlug  er  in  einer  Schankwirthschaft 
mit  dem  entblössten  Penis  an  die  Fensterscheiben,  so  dass  es  die  in  der  Küche 
befindlichen  Kinder  und  Mägde  sehen  mussten. 

Nach  der  Verhaftung  stellte  sich  heraus,  dass  L.  schon  unzählige  Male 
seit  1876  wegen  Exhibitionirens  Aergemiss  erregt  hatte,  jedoch  jeweils  wegen 
ärztlich  erwiesener  geistiger  Krankheit  ohne  Bestrafung  durchgekommen  war. 
Dagegen  war  er  schon  beim  Militär  wegen  Desertirens,  Diebstahls,  später  auch 
einmal  als  Civilist  wegen  Cigarrendiebstahls  gestraft  worden.  Wiederholt  war 
L.  wegen  Irrsinns  (Wahnsinnsanfälle?)  in  Irrenanstalten  gewesen.  Im  Uebrigen 
war  er  durch  wandelbares,  streitsüchtiges  Wesen,  zeitweise  Erregung,  Unstetig- 
keit  vielfach  auffällig  geworden. 

L.'s  Bruder  starb  an  Paralyse.  Er  selbst  bietet  keine  Degenerations- 
zeichen, keine  epileptischen  Antecedentien.  Er  ist  zur  Zeit  der  Beobachtung 
weder  geistig  krank,  noch  geistig  geschwächt. 

L.  benimmt  sich  höchst  decent,  äussert  tiefen  Abscheu  gegenüber  seinen 
sexuellen  Delikten. 

Er  erklärt  sie  folgendermassen :  Sonst  kein  Säufer,  bekomme  er  zeiten- 
weise einen  Drang  zu  trinken.  Bald  nachdem  er  damit  begonnen,  stelle  sich 
Blutandrang  zum  Kopf,  Schwindel,  Unruhe,  Angst,  Beklemmung  ein.  Er 
gerathe  dann  in  einen  traumartigen  Zustand.  Ein  unwiderstehlicher  Reiz 
zwinge  ihn  nun,  sich  zu  entblössen,  wovon  er  Erleichterung  und  Freiheit  des 
Athmens  empfinde. 

Wenn  er  einmal  sich  entblösst  habe,  wisse  er  nicht  mehr,  was  er  thue. 

Als  Vorboten  solcher  Anfälle  habe  er  oft  kurze  Zeit  vorher  Flimmern 
vor  den  Augen  und  Schwindel. 

Für  die  Zeit  seiner  Dämmerzustände  habe  er  nur  eine  ganz  unklare 
traumhafte  Erinnerung. 

Erst  mit  der  Zeit  hatten  sich  sexuelle  Vorstellungen  und  Dränge  diesen 
angstvollen  Dämmerzuständen  associirt.  Schon  Jahre  vorher  war  er  in  solchen 
ganz  ohne  Motiv  und  mit  höchster  Gefahr  desertirt,  einmal  zu  einem  Fenster 
des  zweiten  Stocks  hinabgesprungen,  ein  andermal  aus  einer  guten  Stellung 
planlos  in  ein  Nachbarland  gelaufen,  wo  er  wegen  Exhibition  sofort  verhaftet 
wurde 

Wenn  L.  ausserhalb  seiner  krankhaften  Perioden  gelegentlich  sich  ein- 
mal berauschte,  kam  es  nie  zum  Exhibitioniren.  Im  luciden  Zustand  ist  sein 
sexuelles  Fühlen  und  Verkehren  ganz  normal.  (Dr.  Hotzen.  Friedreich's 
Blätter  1890,  H.  6.)    Weitere  Fälle  s.  o.  Beob.  141,  143. 


352  Verletzung  der  Sittlichkeit. 

Eine  klinisch  den  epileptischen  Exhibitionisten  nahestehende 
Gruppe  wird  durch  gewisse  Neurastheniker  repräsentirt,  bei 
denen  ebenfalls  anfallsweise  (epileptoide?)  Dämmerzustände x)  in 
Verbindung  mit  ängstlicher  Beklemmung  vorkommen,  in  welcher 
mit  dieser  associirte  sexuelle  Dränge  ganz  impulsiv  zu  exhibitio- 
nistischen Akten  führen  können. 

Beobachtung  161.  Gymnasiallehrer  Dr.  S.  hat  dadurch  öffentliches 
Aergerni8s  erregt,  dass  er  wiederholt  im  Berliner  Thiergarten  vor  Damen  und 
Kindern  mit  genitalibus  denudatis  herumlaufend  gesehen  wurde.  S.  gibt  dies 
zu,  stellt  aber  Absicht  und  Bewusstgein,  ein  öffentliches  Aergerniss  zu  geben, 
in  Abrede  und  entschuldigt  sich  damit,  dass  das  schnelle  Laufen  mit  ent- 
blössten  Genitalien  ihm  gegen  nervöse  Aufregungen  Erleichterung  gewährte. 
Muttersvater  war  gemüthskrank  und  endigte  durch  Selbstmord,  die  Mutter  war 
Constitutionen  neuropathisch ,  Nachtwandlerin  und  vorübergehend  gemüths- 
krank gewesen.  Inculpat  ist  neuropathisch,  war  Nachtwandler,  hatte  von  jeher 
Abneigung  gegen  geschlechtlichen  Verkehr  mit  Frauenspersonen,  trieb  in  jungen 
Jahren  Onanie,  ist  ein  scheuer,  schlaffer,  leicht  in  Verlegenheit  und  Verwir- 
rung gerathender  Mensch,  neurasthenisch.  Er  war  sexuell  immer  sehr  erregt. 
Er  träumte  oft,  dass  er  mentula  denudata  umherlaufe  oder  im  Hemde  an  einem 
Reck  hänge,  den  Kopf  nach  unten,  so  dass  das  Hemd  zurückfalle  und  das 
erigirte  Glied  entblösst  sei.  Diese  Träume  führen  dann  zur  Pollution  und  er 
habe  eine  halbe  bis  ganze  Woche  Ruhe. 

Auch  im  wachen  Zustand  befalle  ihn  im  Sinn  seiner  Träume  oft  der 
Drang,  mit  entblösstem  Glied  umherzulaufen.  Indem  er  zur  Entblössung 
schreite,  werde  ihm  glühend  heiss,  er  laufe  dann  planlos  herum,  das  Glied 
werde  feucht,  jedoch  komme  es  nicht  zur  Pollution.  Endlich  erfolge  relaxatio 
membri,  er  stecke  es  ein,  komme  dann  zu  sich,  froh,  wenn  den  Vorgang  Nie- 
mand gesehen  habe.  Er  befinde  sich  in  solchen  Erregungen  wie  im  Traum, 
wie  in  Trunkenheit.  Nie  habe  er  dabei  die  Absicht  gehabt,  Weiber  zu 
provociren.  S.  ist  nicht  epileptisch.  S.'s  Angaben  haben  das  Gepräge  der 
Wahrheit.  Er  hat  thatsächlich  nie  Weiber  in  diesen  Zuständen  verfolgt,  oder 
auch  nur  angesprochen.  Frivolität,  Rohheit  lässt  sich  ausschliessen.  Jedenfalls 
geht  das  Handeln  des  S.  aus  krankhaftem  Empfinden  und  Vorstellen  hervor 
und  befand  sich  S.  zur  Zeit  seiner  Handlungen  in  einem  Zustand  krankhafter 
Störung  der  Geistesthätigkeit.  (Li man,  Vierteljahrsschrift  für  gerichtl.  Med. 
N.  F.  XXX.  VIII.  Heft  2.) 

Beobachtung  162.  X.,  38  Jahre,  verheirathet,  Vater  eines  Kindes, 
von  jeher  düster ,  schweigsam ,  häufig  an  Kopfweh  leidend,  schwer  neur- 
asthenisch, jedoch  physisch  nicht  krank,  viel  mit  nächtlichen  Pollutionen 
geplagt,  ist  wiederholt  Ladenmädchen,  denen  er  in  einem  Anstandsorte  auf- 
gelauert hatte ,  mit  exhibitionirten  Genitalien ,  am  Penis  herummanipulirend, 
auf  der  Strasse  nachgegangen.    In  einem  Falle  hatte  er  das  betreffende  Mädchen 


*)  Vgl.  v.  Kr  äfft,  Ueber  transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenischen. 
Zeitschrift  „  Irrenfreund "  1883,  Nr.  8,  und  Wiener  Klin.  Wochenschr.  1891,  Nr.  50. 


Verletzung  der  Sittlichkeit.  353 

sogar  bis  in  den  Laden  hinein  verfolgt.    (Trochon,  Arch.  de  l'anthropologie 
criminelle  III,  p.  256.) 


In  der  folgenden  Beobachtung  erscheint  das  Exhibitioniren 
nebensächlich  gegenüber  einem  impulsiven  Drang,  durch  Mastur- 
bation eine  plötzlich  entstandene  heftige  Libido  zu  befriedigen. 

Beobachtung  163.  R.,  Kutscher,  49  Jahre,  in  Wien  seit  1866  ver- 
heirathet,  kinderlos,  stammt  von  neuropathischem ,  sexuell  excessivem  Vater, 
welcher  an  einer  Gehirnkrankheit  starb.  Er  bietet  keine  Degenerations- 
zeichen. 

29  Jahre  alt  erlitt  er  eine  schwere  Commotio  durch  Sturz  von  einer  Höhe. 
Seine  Vita  sexualis  war  bis  dahin  normal  gewesen.  Seither  befiel  ihn  alle 
3 — 4  Monate  eine  ihm  höchst  peinliche  sexuelle  Erregung  mit  gebieterischem 
Drang  zu  Masturbation.  Voraus  gehe  ein  Gefühl  grosser  Ermattung  und  Un- 
behaglichkeit ,  mit  dem  Bedürfniss  nach  alkoholischen  Getränken.  In  der 
Zwischenzeit  sei  er  sexuell  kalt  und  habe  nur  höchst  selten  das  Bedürfniss 
gehabt,  mit  seiner  Frau,  die  überdies  seit  5  Jahren  krank  und  beischlafs- 
unfähig ist,  zu  coitiren. 

Als  junger  Mensch  versichert  er  nie  masturbirt  zu  haben,  ebenso  wenig 
habe  er  an  diese  Art,  sich  geschlechtlich  zu  befriedigen,  jemals  in  der  Zwischen- 
zeit seiner  Anfälle  gedacht. 

Der  Impuls  zur  Masturbation  wird  in  der  gefährlichen  Zeit  jeweils  durch 
gewisse  weibliche  Reize  —  kurzer  Rock,  hübscher  Fuss  und  Waden,  elegante 
Erscheinung  —  ausgelöst.  Das  Alter  ist  ganz  gleichgültig.  Selbst  kleine 
Mädchen  können  erregend  wirken.  Der  Antrieb  sei  plötzlich,  unwiderstehlich. 
R.  schildert  Situationen  und  Vorgehen  im  Sinne  eines  impulsiven  Aktes.  Er  habe 
oftmals  zu  widerstehen  versucht,  aber  dann  werde  ihm  heiss,  schrecklich  bang, 
es  walle  ihm  heiss  auf  zum  Kopf,  er  sei  wie  im  Nebel,  verliere  zwar  nie  ganz 
das  Bewusstsein,  sei  aber  wie  von  Sinnen.  Dabei  habe  er  heftige  stechende 
Schmerzen  in  Hoden  und  Samenstrang.  Er  bedauere,  bekennen  zu  müssen, 
dass  der  Impuls  stärker  sei  als  der  Wille.  Es  zwinge  ihn  in  solchen  Situationen, 
sich  zu  masturbiren,  gleichviel  wo  er  sich  befinde.  Mit  der  erfolgten  Ejacu- 
lation  werde  ihm  wieder  leicht  und  er  finde  seine  Selbstbeherrschung  wieder. 
Die  Sache  sei  ihm  schrecklich  fatal.  Sein  Vertheidiger  theilt  mit,  dass  R. 
schon  6mal  wegen  desselben  Delikts  —  Exhibition  und  Masturbation  auf 
offener  Strasse  —  bestraft  wurde.  Eine  verlangte  Untersuchung  des  Geistes- 
zustands sei  jedesmal  abschläglich  beschieden  worden ,  weil  der  Gerichtshof 
fand,  dass  aus  den  Akten  Zweifel  bezüglich  der  Zurechnungsfähigkeit  sich 
nicht  ergäben. 

Am  4.  November  1889  befand  sich  R.  gerade  wieder  in  der  gefährlichen 
Zeit  auf  der  Strasse,  als  ein  Trupp  Schulmädchen  daher  kam.  Da  erwachte 
sein  unbändiger  Drang.  Um  auf  einen  Abort  zu  gehen,  reichte  die  Zeit  nicht, 
er  war  zu  aufgeregt.  Sofort  Exhibition,  Masturbation  unter  einem  Hausflur 
grosser  Skandal,  sofortige  Arretirung.  R.  ist  nicht  schwachsinnig,  auch  nicht 
ethisch  defekt.  Er  beklagt  sein  Geschick,  schämt  sich  tief  seiner  Handlung, 
v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl  23 


354  Verletzung  der  Sittlichkeit. 

fürchtet  sich  vor  neuen  Attaquen,  empfindet  aber  seine  Zustände  als  krankhafte, 
als  ein  Verhängniss,  dem  gegenüber  er  sich  machtlos  fühlt. 

Er  hält  sich  für  noch  potent.  Penis  abnorm  gross.  Cremasterreflex 
vorhanden,  gesteigerter  Patellarreflex.  Seit  einigen  Jahren  Schwäche  des 
Sphincter  vesicae.    Verschiedene  neurasthenische  Beschwerden. 

Das  Gutachten  erwies,  dass  R.  unter  dem  Einfluss  krankhafter  Be- 
dingungen und  impulsiv  handelte.  Keine  Verurtheilung.  Pat.  kam  in  die 
Irrenheilanstalt,  aus  welcher  er  nach  einigen  Monaten  entlassen  wurde. 

In  der  vorausgehenden  Beobachtung  liegt  der  Schwerpunkt 
klinisch  nicht  in  der  vorhandenen  Neurose,  sondern  vielmehr  in 
dem  impulsiven  Charakter  der  Handlung  (Exhibition  bezw.  Mastur- 
bation). 

Offenbar  ist  mit  der  Aufstellung  der  Categorien  der  imbecillen, 
der  geistig  geschwächten,  sowie  der  in  neurotischem  (epileptischem 
oder  neurasthenischem)  Dämmerzustand  befindlichen  Exhibitionisten 
die  klinisch-forensische  Seite  dieser  Erscheinung  noch  nicht  er- 
schöpft und  lässt  sich  den  gefundenen  eine  weitere  anreihen,  deren 
Repräsentanten  auf  Grund  schwerer  Belastung  (hereditär 
degenerative  Neurose?)  periodisch  und  höchst  impulsiv  zum 
Exhibiren  gedrängt  werden. 

Mit  Recht  legt  Magnan1),  dem  ich  die  beiden  folgenden 
instruktiven  Fälle  entlehne,  bezüglich  dieser  Zustände  von  Psycho- 
pathia  sexualis  periodica  (vgl.  p.  334),  bei  welcher  der  zufällig  ge- 
weckte Drang  zum  Exhibiren  nur  Theilerscheinung  eines  grösseren 
klinischen  Ganzen  ist,  gleichwie  der  Drang  nach  Alkoholicis  bei  der 
Dipsomania  periodica,  grossen  Werth  auf  das  impulsive  periodische 
Gepräge  dieser  krankhaften  Antriebe,  nicht  minder  darauf,  dass  sie 
von  oft  qualvoller  Angst  begleitet  sind,  die  nach  ihrer  Realisirung 
einem  Gefühl  grosser  Erleichterung  Platz  macht. 

Diese  Thatsachen,  nicht  minder  das  ganze  klinische  Bild  der 
psychischen  Entartung,  meist  zurückführbar  auf  hereditäre  oder  in 
den  ersten  Lebensjahren  die  Hirnentwicklung  schädigende  Be- 
dingungen (Rhachitis  u.  s.  w.)  sind  gerichtsärztlich  von  entschei- 
dender Bedeutung. 

Beobachtung  164.  G. ,  29  Jahre,  Garcon  eines  Cafe,  hat  1888  unter 
der  Kirchenthür  vor  mehreren  in  einem  Gewölbe  gegenüber  arbeitenden  Mäd- 
chen exhibirt.  Er  gesteht  das  Factum,  sowie  dass  er  schon  mehrmals  am 
gleichen  Ort  zu  gleicher  Tageszeit  sich  desselben  Vergehens  schuldig  gemacht 


')  Recherches  sur  les  centres  nerveux.  2e  Serie.     Paris  1893. 


Verletzung  der  Sittlichkeit.  355 

habe  und  deshalb  schon  im  Vorjahr  mit  1  Monat  Gefängniss  bestraft  wor- 
den sei. 

G.  hat  sehr  nervöse  Eltern.  Sein  Vater  ist  psychisch  nicht  äquilibrirt, 
höchst  jähzornig.  Seine  Mutter  ist  zeitweise  psychisch  krank  und  mit  schwerer 
Nervenkrankheit  behaftet. 

G.  hatte  von  jeher  nervöses  Zucken  im  Gesicht,  beständigen  Wechsel 
von  unmotivirter  Verstimmung  mit  Taed.  vitae  und  Zeiten  heiterer  Erregung. 
Mit  10  und  15  Jahren  hatte  er  ob  geringfügiger  Anlässe  sich  tödten  wollen. 
Bei  Gemüthsbewegungen  hat  er  gleich  Zuckungen  in  den  Extremitäten.  Er 
bietet  constant  allgemeine  Analgesie.  Im  Gefängniss  war  er  anfangs  ausser 
sich  vor  Scham  über  die  Schande,  die  er  seiner  Familie  zugefügt,  erklärte  sich 
für  den  schlechtesten,  der  schwersten  Strafe  bedürftigen  Menschen. 

Bis  zum  19.  Jahre  hatte  G.  mit  Auto-  oder  mutueller  Masturbation  sich 
befriedigt,  gelegentlich  auch  einmal  Mädchen  onanisirt.  Von  da  ab  in  einem 
Cafe  bedienstet,  regten  ihn  weibliche  Besucher  desselben  so  mächtig  auf,  dass 
es  öfters  zu  Ejaculation  kam.  Er  litt  fast  beständig  an  Priapismus,  und  wie 
seine  Frau  versichert,  störte  ihm  derselbe  trotz  Coitus  oft  die  Nachtruhe.  Seit 
7  Jahren  hatte  er  wiederholt  an  seinem  Fenster  exhibirt,  sich  auch  nudatus 
feminis  vicinis  gegenüber  exponirt. 

1883  schloss  er  eine  Ehe  aus  Neigung.  Der  eheliche  Umgang  genügte 
nicht  seinem  excessiven  Bedürfniss.  Die  sexuelle  Erregung  war  zeitweise  so 
heftig,  dass  er  Kopfweh  bekam,  ganz  verwirrt,  wie  betrunken,  auffällig  und 
unbrauchbar  im  Beruf  erschien. 

In  einem  solchen  Zustand  am  12.  Mai  1887  hatte  er  kurz  hinter  einander 
in  zwei  Strassen  von  Paris  vor  Damen  exhibirt.  Seither  kämpfte  er  einen 
verzweiflungsvollen  Kampf  gegen  seine  ihn  fast  permanent  verfolgenden  krank- 
haften Antriebe,  auf  deren  Höhe  er  düster,  verstört  war  und  Nächte  hindurch 
weinte.  Gleichwohl  wurde  er  immer  wieder  rückfällig.  Gutachten:  Nachweis 
hereditärer  Degeneration  mit  Zwangsvorstellungen  und  unwiderstehlichen  An- 
trieben („Perversion  delirante  du  sens  genital").  Freisprechung.  (Magnan, 
Arch.  de  Fanthropologie  criminelle,  V.  Bd.  Nr.  28.) 

Beobachtung  165.  B. ,  27  Jahre,  von  neuropathischer  Mutter  und 
alkoholischem  Vater,  hat  einen  Bruder,  der  Säufer  und  eine  Schwester,  die 
hysterisch  ist.  Vier  Blutsverwandte  von  väterlicher  Seite  sind  Säufer,  eine 
Cousine  ist  hysterisch. 

Vom  11.  Jahre  an  Onanie,  solitär  oder  mutuell.  Vom  13.  Jahre  ab 
Dränge  zu  exhibiren.  Er  versuchte  es  am  Pissoir  einer  Strasse,  empfand  wol- 
lüstiges Behagen,  aber  gleich  darauf  Gewissensbisse.  Versuchte  er  im  weiteren 
Verlauf  seinen  Trieb  zu  bekämpfen,  so  fühlte  er  heftige  Angst  und  Beklem- 
mung auf  der  Brust.  Als  Soldat  trieb  es  ihn  häufig,  mentulam  Kameraden 
unter  verschiedenen  Vorwänden  zu  zeigen. 

Vom  17.  Jahre  an  verkehrte  er  sexuell  mit  Weibern.  Es  gewährte  ihm 
grossen  Genuss,  sich  vor  ihnen  nackt  zu  zeigen.  Sein  Exhibitioniren  auf  den 
Strassen  setzte  er  fort.  Da  er  aber  nur  selten  vor  Pissoirs  auf  Zuschauerinnen 
rechnen  konnte,  verlegte  er  den  Schauplatz  seiner  Delikte  in  Kirchen.  Um  an 
dieser  Stelle  zu  exhibiren,  musste  er  sich  immer  vorher  Muth  antrinken. 

Unter  dem  Einfluss  geistiger  Getränke  war  der  sonst  noch  leidlich  be- 


356  Verletzung  der  Sittlichkeit. 

herrschbare  Drang  unwiderstehlich.  Er  wurde  nicht  verurtheilt,  verlor  seinen 
Posten,  trank  mehr  seitdem.  Nicht  lange  danach  neuerliche  Arretirung,  da 
er  in  einer  Kirche  exhibirt  und  sogar  masturbirt  hatte.   (Magnan,  ebenda.)1) 

Beobachtung  166.  X.,  Barbiergehilfe,  35  Jahre,  wiederholt  wegen 
Vergehens  gegen  die  Sittlichkeit  bestraft,  ist  neuerdings  verhaftet,  da  er,  seit 
3  Wochen  in  der  Nähe  einer  Mädchenschule  herumlungernd,  die  Aufmerksam- 
keit von  Mädchen  auf  sich  zu  lenken  suchte,  und  wenn  ihm  dies  gelungen 
war,  exhibitionirt  hatte.  Gelegentlich  hatte  er  ihnen  auch  Geld  versprochen 
mit  den  Worten:  „Habeo  mentulam  pulcherrimam ,  venite  ad  me  ut  eam 
lambatis." 

X.  gesteht  im  Verhör  Alles  zu,  weiss  aber  nicht,  wie  er  dazu  gekommen 
sei.  Er  sei  sonst  der  vernünftigste  Mensch,  habe  aber  den  Hang  in  sich,  dies 
Vergehen  zu  verüben  und  könne  ihn  nicht  bezwingen. 

Schon  1879  als  Militär  war  er  einmal  vom  Dienste  fort,  hatte  sich  in 
der  Stadt  herumgetrieben  und  vor  Bändern  exhibitionirt.  1  Jahr  Gefängniss. 
1881  dasselbe  Vergehen.  Er  lief  den  schreienden  Kindern  nach  und  sah  sie 
„starr"  an.  Gefängniss  1  Jahr  3  Monate.  2  Tage  nach  der  Entlassung  aus 
dem  Gefängniss  sagte  er  zu  zwei  kleinen  Mädchen :  „si  mentulam  meam  videre 
vultis  mecum  in  hanc  tabernam  veniatis."  Er  leugnete  diese  Worte,  behauptete 
Trunkenheit.     3  Monate  Gefängniss. 

1883  neuerliche  Exhibition.  Er  sprach  dabei  nichts,  behauptete  im  Ver- 
hör, seit  seiner  schweren  Krankheit  vor  8  Jahren  an  derartigen  krankhaften 
Erregungen  zu  leiden.     1  Monat  Gefängniss. 

1884  Exhibition  vor  Mädchen  auf  einem  Kirchhof,  1885  neuerlich.  Er 
erklärte:  »Ich  sehe  mein  Unrecht  ein,  es  ist  aber  wie  eine  Krankheit.  Wenn 
es  über  mich  kommt,  kann  ich  mich  solcher  Handlungen  nicht  erwehren.  Es 
dauert  manchmal  eine  geraume  Zeit,  dass  mir  diese  Neigungen  fernbleiben." 
6  Monate  Gefängniss. 

Am  12.  August  1885  entlassen,  wurde  er  schon  am  15.  August  rück- 
fällig. Dieselbe  Verantwortung.  Diesmal  ärztliche  Untersuchung.  Sie  konnte 
keine  geistige  Störung  finden.     3  Jahre  Zuchthaus. 

Aus  diesem  entlassen,  eine  Reihe  neuer  Exhibitionen. 

Die  diesmalige  Exploration  ergab  Folgendes: 

Vater  litt  an  Alkohol,  chron.  und  soll  dieselben  unzüchtigen  Handlungen 
begangen  haben.  Mutter  und  eine  Schwester  nervenkrank,  die  ganze  Familie 
von  heftigem  Temperament. 

X.  litt  vom  7. — 18.  Jahre  an  epileptischen  Krämpfen.  Mit 
16  Jahren  erste  Cohabitation.  Später  Gonorrhöe  und  angeblich  Syphilis.  In 
der  Folge  normaler  Geschlechtsverkehr  bis  zum  21.  Jahre.  Damals  hatte  er 
oft  in  der  Nähe  eines  Spielplatzes  vorbeizugehen  und  befriedigte  gelegentlich 
das  Bedürfniss  zu  uriniren,  wobei  es  vorkam,  dass  die  Kinder  neugierig  zu- 
schauten. 

Gelegentlich  bemerkte  er,  dass  dies  Zuschauen  ihn  sexuell  erregte,  ihm 


*)  Analoge  Beobachtung:   Boissier  u.  Lachaux,  Archiv,   de  neuro- 
logie  1893.  Oct. 


Verletzung  der  Sittlichkeit.  357 

Erection  und  sogar  Ejaculation  machte.  Er  fand  an  dieser  Art  der  Geschlechts- 
befriedigung nunmehr  Gefallen,  wurde  gleichgültiger  gegen  Coitus,  befriedigte 
sich  nur  mehr  auf  jene  Weise,  fühlte  davon  sein  ganzes  Denken  beherrscht, 
träumte  von  solcher  Exhibition  unter  Pollutionen.  Er  habe  immer  mehr  ver- 
gebens gegen  seinen  Exhibitionsdrang  angekämpft.  Dieser  sei  stets  mit  solcher 
Gewalt  über  ihn  gekommen ,  dass  er  um  sich  her  nichts  Anderes  berücksich- 
tigte, nichts  sah  und  hörte,  vollständig  wie  „ohne  Verstand",  wie  „ein  Bulle, 
der  mit  dem  Kopf  durch  die  Wand  will". 

X.  bietet  abnorm  breiten  Schädel,  kleinen  Penis;  linker  Hoden  verküm- 
mert. Patellarreflex  fehlt.  Erscheinungen  von  Neurasthenie,  besonders  cere- 
braler. Häufig  Pollutionen.  Die  Träume  drehen  sich  meist  um  normalen 
Beischlaf,  nur  selten  um  Exhibition  vor  kleinen  Mädchen. 

Bezüglich  seiner  abnormen  Geschlechtsakte  versichert  er,  der  Trieb, 
Mädchen  aufzusuchen  und  anzulocken,  sei  das  Primäre,  und  erst  dann,  wenn 
es  ihm  gelungen  sei,  earum  intentionem  in  sua  genitalia  nudata  transferre, 
erectionem  et  eiaculationem  fieri.  Beim  Akt  schwinde  ihm  das  Bewusstsein 
nicht.  Nach  demselben  sei  er  ärgerlich  über  die  That  und  sage  sich,  wenn 
nicht  dabei  ertappt,  „ wieder  einmal  dem  Staatsanwalt  entgangen". 

Im  Gefängniss  habe  er  den  Trieb  nicht;  hier  belästigen  ihn  nur  die 
Träume  und  Pollutionen.  In  der  Freiheit  habe  er  täglich  die  Gelegenheit 
gesucht,  sich  durch  E.  zu  befriedigen.  Er  gäbe  10  Jahre  seines  Lebens,  um 
die  Sache  loszuwerden;  fl dieses  ewige  Angstleben,  dieses  Schweben  zwischen 
Freiheit  und  Nichtfreiheit  sei  unerträglich". 

Das  Gutachten  nahm  eine  angeborene  (?)  Perversität  der  Geschlechts- 
empfindung an,  bei  unverkennbarer  erblicher  Belastung,  neuropathischer  Con- 
stitution, Schädelasymmetrie,  mangelhafter  Entwicklung  der  Genitalien. 

Bemerkenswerth  sei  auch,  dass  das  Exhibitioniren  auftrat,  als 
das  epileptische  Leiden  aufhörte,  so  dass  man  an  eine  vicariirende 
Erscheinung  denken  möchte. 

Die  sexuelle  Perversität  entwickelte  sich  bei  vorhandener  Disposition 
durch  zufällige  Ideenassociation  sexuellen  Inhalts  (neugieriges  Zuschauen 
der  Kinder,  als  er  urinirte)  mit  einer  an  und  für  sich  bedeutungslosen 
Handlung. 

Der  Kranke  wurde  nicht  verurtheilt  und  einer  Irrenanstalt  übergeben. 
(Dr.  Frey  er,  Zeitschr.  f.  Medicinalbeamte  3.  Jahrg.  Nr.  8.) 

Beobachtung  167.  Abends  9  Uhr  im  Frühling  1891  kam  eine  Dame 
ganz  bestürzt  zu  dem  Polizisten  im  Stadtpark  zu  X.  mit  der  Anzeige,  aus 
dem  Gebüsch  sei  ein  vorne  ganz  entblösster  Mann  auf  sie  zugetreten,  so  dass 
sie  entsetzt  geflohen  sei.  Der  Polizist  begab  sich  sofort  nach  dem  bezeich- 
neten Ort  und  fand  einen  Mann  vor,  der  ventrem  et  genitalia  nuda  exponirte. 
Er  versuchte  zu  entfliehen,  wurde  aber  eingeholt  und  verhaftet.  Derselbe  gab 
an,  er  sei  durch  Alkoholgenuss  sexuell  erregt  und  im  Begriff  gewesen,  eine 
Prostituirte  aufzusuchen.  Auf  dem  Wege  durch  den  Park  habe  er  sich  aber 
erinnert,  dass  ihm  Exhibition  einen  viel  grösseren  Genuss  bereite  als  Coitus, 
den  er  nur  selten  und  faute  de  mieux  pflege.  Nachdem  er  sein  Hemd  aus- 
gezogen und  den  Obertheil  seiner  Beinkleider  abgerissen,  habe  er  sich  nun  in 
ein  Gebüsch  postirt  et  quum  duae  feminae  advenissent  nudatis  genitalibus  iis 


358  Verletzung  der  Sittlichkeit. 

occurrisse.  Bei  solcher  Exhibition  werde  ihm  angenehm  warm  und  das  Blut 
steige  ihm  zu  Kopf. 

Der  Verhaftete  ist  ein  Fabrikarbeiter,  dem  sein  Werkmeister  das  Zeug- 
niss  eines  pflichttreuen,  sparsamen,  nüchternen,  intelligenten  Menschen  ertheilt. 

Schon  1886  war  B.  bestraft  worden,  weil  er  zweimal  an  öffentlichem 
Ort,  das  eine  Mal  am  hellen  Tage,  das  andere  Mal  Abends  unter  einer  Laterne 
sitzend,  exhibirt  hatte. 

B.,  37  Jahre,  ledig,  macht  durch  stutzerhafte  Kleidung,  manierirte 
Sprache  und  Bewegungen  einen  eigenthümlichen  Eindruck.  Sein  Auge  hat 
einen  neuropathischen,  schwärmerischen  Ausdruck;  um  seinen  Mund  spielt  ein 
selbstgefälliges  Lächeln.  Er  stammt  angeblich  von  gesunden  Eltern.  Eine 
Schwester  des  Vaters  und  eine  solche  der  Mutter  waren  irrsinnig.  Andere 
Geschwister  dieser  galten  als  religiös  excentrisch. 

B.  hat  nie  schwere  Krankheiten  durchgemacht.  Von  Kindsbeinen  auf 
war  er  excentrisch,  phantastisch,  liebte  Ritter-  und  andere  Romane,  ging  ganz 
in  solchen  auf,  weitergehend  sich  in  seiner  Phantasie  mit  dem  Romanhelden 
identificirend.  Er  hielt  sich  immer  für  etwas  Besseres  als  die  Anderen,  legte 
grossen  Werth  auf  elegante  Kleidung  und  Pretiosen,  und  wenn  er  Sonntags 
einherstolzirte,  dünkte  er  sich  in  seiner  Phantasie  als  ein  hoher  Beamter. 

Epileptische  Erscheinungen  hat  B.  nie  geboten.  In  jungen  Jahren 
massige  Masturbation,  später  massiger  Coitus.  Niemals  früher  perverse  sexuelle 
Empfindungen  oder  Dränge.  Eingezogene  Lebensweise,  in  den  Freistunden 
Lektüre  (populäre,  ferner  Rittergeschichten,  Dumas  u.  A.).  B.  war  kein  Trinker. 
Nur  ausnahmsweise  bereitete  er  sich  eine  Art  Bowle,  von  deren  Genuss  er 
jeweils  sich  sexuell  erregt  fühlte. 

Seit  einigen  Jahren,  bei  bedeutend  verminderter  Libido,  hatte  er  an- 
lässlich  solcher  Alkoholgenüsse  den  „verflucht  dummen  Gedanken"  und  die 
Begierde  bekommen,  genitalia  adspectui  feminarum  publice  exhibere. 

Gerathe  er  in  diese  Situation,  so  werde  ihm  warm,  das  Herz  schlage 
heftig ,  das  Blut  schiesse  ihm  in  den  Kopf  und  er  könne  sich  dann  seines 
Triebes  nicht  mehr  erwehren.  Er  höre  und  sehe  dann  nichts  Anderes  mehr 
und  sei  ganz  versunken  in  seine  Lust.  Nachträglich  habe  er  sich  dann  oft 
seinen  verrückten  Schädel  mit  den  Fäusten  geschlagen  und  sich  fest  vor- 
genommen, derlei  nicht  mehr  zu  thun,  aber  die  verrückten  Ideen  seien  immer 
wieder  gekommen. 

Bei  seinen  Exhibitionen  gerathe  sein  Penis  nur  in  Halberection  und  nie 
erfolge  eine  Ejaculation,  die  auch  beim  Coitus  nur  tai-div  eintrete.  Es  genüge 
ihm  beim  Exhibiren  genitalia  sua  adspicere,  und  er  habe  dabei  die  wollüstig 
betonte  Vorstellung,  dass  dieser  adspectus  Frauen  höchst  angenehm  sein  müsse, 
da  ja  auch  er  genitalia  feminarum  so  gerne  anschaue.  Zum  Coitus  sei  er  nur 
fähig,  wenn  ihm  die  Puella  sich  sehr  entgegenkommend  zeige.  Andernfalls 
zahle  er  lieber  und  gehe  unverrichteter  Dinge  davon.  In  erotischen  Träumen 
exhibire  er  vor  jungen  üppigen  Frauenzimmern. 

Das  gerichtsärztliche  Gutachten  erwies  die  hereditär -psychopathische 
Persönlichkeit  des  Inculpaten,  den  perversen  impulsiven  Antrieb  zu  den  in- 
criminirten  Delikten  und  brachte  den  bemerkenswerthen  weiteren  Beweis,  dass 
auch  die  Impulse  zum  Alkoholgenuss  bei  dem  sonst  nüchternen  und  sparsamen 
B.  auf  krankhaften  periodisch  wiederkehrenden   Nöthigungen  beruhen.    Dass 


Verletzung  der  Sittlichkeit.  359 

B.  in  seinen  Anfällen  in  einem  psychischen  Ausnahmezustand,  in  einer  Art 
Sinnesverwirrung,  ganz  versunken  in  seine  sexuell  perversen  Phantasien  sich  be- 
fand, geht  aus  der  Species  facti  klar  hervor.  So  erklärt  sich  auch,  dass  er 
das  Nahen  des  Polizisten  erst  gewahr  wurde,  als  es  zur  Flucht  zu  spät  war. 
Interessant  ist  in  diesem  hereditär  degenerativ-impulsiven  Exhibitionismus  die 
Erweckung  des  perversen  sexuellen  Dranges  aus  seiner  Latenz  durch  den  Ein- 
fluss  des  Alkohols. 

Eine  forensisch  bemerkenswerthe  Varietät  der  Exhibitionisten, 
jedenfalls  auf  gleicher  klinischer  neurotisch-degenerativer  Grundlage 
stehend  und  im  eigenartigen  Vorgehen  durch  heftige  Libido  (Hyper- 
aesthesia  sexualis)  bei  geschädigter  Potenz  bedingt,  stellen  die  sog. 
Frotteurs  dar. 

Die  folgenden  drei  Magnan  (op.  cit.)  entlehnten  Beobach- 
tungen sind  typisch. 

Beobachtung  168.  D.,  44  Jahre,  belastet,  Alkoholiker  und  an  Satur- 
nismus leidend,  hatte  bis  vor  einem  Jahre  viel  onanirt,  oft  auch  pornographische 
Bilder  gezeichnet  und  sie  seinen  Bekannten  gezeigt.  Wiederholt  hatte  er  sich, 
allein  zu  Hause,  als  Weib  angezogen. 

Seit  2  Jahren,  wo  er  impotent  wurde,  fühlte  er  das  Bedürfniss,  im  Menschen- 
gedränge in  der  Dämmerung  mentulam  denudare  eamque  ad  nates  mulieris 
crassissimae  terere. 

Einmal  in  flagranti  ertappt,  war  er  zu  4  Monaten  Gefängniss  verurtheilt 
worden. 

Seine  Frau  hat  eine  Milchwirthschaft.  Iterum  iterumque  sibi  temperare 
non  potuit  quin  genitalia  in  ollam  lacte  completam  mergeret.  Er  hatte  dabei 
ein  wollüstiges  Gefühl  „wie  von  Berührung  durch  Sammt". 

Er  war  cynisch  genug,  diese  Milch  für  sich  und  die  Kunden  zu  benutzen. 

Im  Gefängniss  entwickelte  sich  bei  ihm  alkoholischer  Verfolgungs- 
wahnsinn. 

Beobachtung  169.  M.,  31  Jahre,  seit  6  Jahren  verheirathet,  Vater 
von  4  Kindern,  schwer  belastet,  episodisch  an  Melancholie  leidend,  wurde  vor 
3  Jahren  von  seiner  Frau  betreten,  wie  er  ein  Seidenkleid  anhatte  und  sich 
masturbirte.  Eines  Tages  wurde  er  in  einem  Laden  betreten,  wo  er  Frottage 
an  einer  Dame  trieb.  Er  war  tief  zerknirscht,  verlangte  empfindliche  Strafe 
für  seinen  übrigens  unwidei-stehlichen  Trieb. 

Beobachtung  170.  G.,  33  Jahre,  schwer  hereditär  belastet,  wird 
an  einer  Omnibusstation  betreten,  als  er  Frottage  mit  seinem  Glied  an  einer 
Dame  trieb.  Tiefe  Zerknirschung,  aber  Versicherung,  dass  er  beim  Anblick 
der  markanten  Posteriora  einer  Dame  unwiderstehlich  hingerissen  sei,  Frottage 
zu  treiben,  dabei  ganz  verwirrt  sei  und  nicht  mehr  wisse,  was  er  thue. 

Versetzung  in  die  Irrenanstalt. 


360  Verletzung  der  Sittlichkeit. 

Beobachtung  171.  Ein  Frotteur.  Z.,  1850  geboren,  von  tadel- 
losem Vorleben,  aus  guter  Familie,  Privatbeamter,  finanziell  gut  situirt,  un- 
belastet, nach  kurzer  Ehe  seit  1873  Wittwer,  war  seit  geraumer  Zeit  in  Kirchen 
dadurch  auffällig  geworden,  dass  er  sich  an  Frauenzimmer,  gleichgültig  ob 
jung  oder  alt,  von  hinten  angedrängt  und  an  deren  Tournüren  herummani- 
pulirt  hatte.  Man  lauerte  ihm  auf  und  eines  Tages  gelang  seine  Verhaftung 
in  flagranti.  Z.  war  auf's  Höchste  bestürzt,  verzweifelte  über  seine  Lage  und 
bat,  indem  er  ein  unumwundenes  Geständniss  ablegte,  um  Schonung,  da  ihm 
sonst  nur  der  Selbstmord  übrig  bleibe. 

Seit  2  Jahren  sei  er  von  dem  unglückseligen  Hang  befallen,  sich  im 
Menschengewühl,  in  Kirchen,  an  Theaterkassen  u.  s.  w.  von  rückwärts  an 
Frauenspersonen  anzudrängen  und  mit  deren  aufgebauschten  Kleidern  zu  mani- 
puliren,  wobei  Orgasmus  und  Ejaculation  eintrete. 

Z.  versichert,  niemals  der  Masturbation  ergeben  gewesen  zu  sein,  auch 
nach  keiner  Richtung  sexuell  pervers  empfunden  zu  haben.  Seit  dem  frühen 
Tod  seiner  Frau  habe  er  seine  mächtigen  sexuellen  Bedürfnisse  durch  tempo- 
räre Liebschaften  befriedigt,  von  Bordellen  und  Lustdirnen  sich  von  jeher 
angewidert  gefühlt.  Der  Anreiz  zu  Frottage  sei  ihm  vor  2  Jahren,  als  er  zu- 
fällig in  der  Kirche  verweilte,  plötzlich  gekommen.  Obwohl  er  sich  bewusst 
war,  dass  es  unanständig  sei,  habe  er  sich  nicht  enthalten  können,  sofort  ihm 
nachzugeben.  Seither  sei  er  so  erregbar  durch  die  Posteriora  weiblicher  In- 
dividuen geworden,  dass  es  ihn  förmlich  getrieben  habe,  Gelegenheiten  zu 
Frottage  aufzusuchen.  Am  Weib  errege  ihn  nur  die  Tournüre,  alles  Uebrige 
an  Körper  oder  Kleidung  desselben  sei  ihm  ganz  gleichgültig,  ebenso  ob  das 
Weib  jung  oder  alt,  schön  oder  hässlich.  Zu  naturgemässer  Befriedigung  habe 
er  seither  keine  Inclination  mehr.  Neuerlich  erscheinen  auch  in  seinen  ero- 
tischen Träumen  Frottagesituationen. 

Während  solcher  sei  er  sich  seiner  Lage  und  seiner  Handlung  voll- 
kommen bewusst  und  bemüht,  dieselbe  so  unauffällig  als  möglich  zu  begehen. 
Nach  dem  Akt  habe  er  sich  immer  seiner  Handlungsweise  geschämt. 

Die  Expertise  gab  keine  Zeichen  von  geistiger  Krankheit  oder  geistiger 
Schwäche,  wohl  aber  solche  von  Neurasthenia  sexualis  —  ex  abstinentia  libidi- 
nosi  (?),  worauf  auch  der  Umstand  hinwies,  dass  schon  blosse  Berührung  des 
Fetisch  mit  den  nicht  exhibirten  Genitalien  zur  Ejaculation  genügte.  Offenbar 
gelangte  der  sexuell  geschwächte,  seiner  Potenz  misstrauende,  libidinöse  Z.  zu 
Frottage,  indem  der  Anblick  der  Posteriora  feminae  zufällig  mit  einer  sexuellen 
Erregung  zusammentraf  und  diese  associative  Verbindung  einer  Wahrnehmung 
mit  einem  Gefühl  die  erstere  die  Bedeutung  eines  Fetisch  gewinnen  liess. 

Im  Sinne  der  den  öffentlichen  Anstand  verletzenden  und  damit 
strafbaren  Handlungen  lassen  sich  hier  die  Fälle  von  Statuen- 
schändung anreihen,  deren  Moreau  (op.  cit.)  eine  ganze  Reihe 
aus  alter  und  neuer  Zeit  gesammelt  hat.  Leider  sind  sie  zu  anek- 
dotenhaft berichtet,  um  sicher  beurtheilt  zu  .werden.  Den  Eindruck 
des  Pathologischen  rufen  sie  immerhin  hervor,  so  z.  B.  die  Ge- 
schichte jenes  jungen  Mannes  (von  Lucianus  und  dem  hl.  Clemens 


Nothzucht  und  Lustmord.  36 X 

von  Alexandrien  erzählt),  der  eine  Venus  von  Praxiteles  zur  Be- 
friedigung seiner  Lüste  gebrauchte,  ferner  der  Fall  des  Clisyphus, 
der  im  Tempel  zu  Samos  die  Statue  einer  Göttin  schändete,  nach- 
dem er  an  einer  gewissen  Stelle  ein  Stück  Fleisch  angebracht  hatte. 
Aus  neuerer  Zeit  theilte  das  Journal  L'evenement  vom  4.  März  1877 
die  Geschichte  eines  Gärtners  mit,  der  sich  in  die  Statue  der  Venus 
von  Milo  verliebt  hatte  und  über  Coitusversuchen  an  dieser  Bild- 
säule betreten  wurde.  Diese  Fälle  stehen  jedenfalls  mit  abnorm 
starker  Libido,  bei  mangelhafter  Potenz  oder  Fehlen  von  Muth 
oder  Gelegenheit  zu  normaler  Geschlechtsbefriedigung,  in  ätiolo- 
gischem Zusammenhang. 

Dasselbe  muss  angenommen  werden  für  die  sog.  „Voyeurs"1), 
d.  h.  Menschen,  welche  so  cynisch  sind,  dass  sie  sich  den  Anblick 
eines  Coitus  zu  verschaffen  suchen,  um  ihrer  eigenen  Potenz  auf- 
zuhelfen oder  beim  Anblick  eines  erregten  Weibes  Orgasmus  und 
Ejaculation  zu  bekommen!  Bezüglich  dieser  aus  verschiedenen 
Gründen  hier  nicht  weiter  zu  erörternden  sittlichen  Verirrung  möge 
es  genügen,  auf  Coffignon's  Buch  „La  corruption  ä  Paris"  zu 
verweisen.  Die  Enthüllungen  auf  dem  Gebiet  sexueller  Perversität 
und  wohl  auch  Perversion,  welche  dieses  Werk  bringt,  sind  grauen- 
erregend. 


2)  Nothzucht  und  Lustmord. 

(Oesterr.  Stgsb.  §  125,  127;  Oesterr.  Entw.  §  192;  Deutsch.  Stgsb.  §  177.) 

Unter  Nothzucht  versteht  der  Gesetzgeber  den  an  einer 
Erwachsenen  durch  gefährliche  Bedrohung  oder  wirkliche  Gewalt- 
tätigkeit erzwungenen,  an  einer  solchen  im  Zustande  der  Wehr- 
oder Bewusstlosigkeit  ausgeführten  oder  an  einem  Mädchen  unter 
14  Jahren  unternommenen  ausserehelichen  Beischlaf.  Immissio  penis 
oder  wenigstens  conjunctio  membrorum  (Schütze)  ist  zum  That- 
bestand   erforderlich.     Auffallend   häufig   ist   heutzutage   Nothzucht 


*)  Dr.  Moll  nennt  diese  Perversion  (?)  Mixoskopie  (von  fu£i?  =  geschlecht- 
liche Vereinigung  und  axcTrretv  =  zuschauen).  Seine  Vermuthung,  sie  sei  dem 
Masochismus  verwandt,  indem  vielleicht  ein  Reiz  für  den  Voyeur  darin  liegt, 
dass  er  leidet,  indem  er  ein  Weib  in  dem  Besitz  eines  Anderen  sieht,  erscheint 
mir  nicht  zutreffend.  Weiteres  Detail  siehe  bei  Moll,  „Die  conträre  Sexual- 
empfindung'', p.  137. 


362  Nothzucht  und  Lustmord. 

an  Kindern.  Hof  mann  (Ger.  Med.  I,  p.  155)  und  Tardieu  (Atten- 
tats) berichten  entsetzliche  Fälle. 

Der  Letztere  constatirt  die  Thatsache,  dass  von  1851  bis  incl. 
1875  in  Frankreich  22  017  Nothzuchtfälle  abgeurtheilt  wurden,  da- 
von allein  17  657  an  Kindern  begangen. 

Das  Verbrechen  der  Nothzucht  setzt  einen  temporär  durch 
Alkoholexcess  oder  sonstwie  mächtig  erregten  Geschlechtsdrang  vor- 
aus. Dass  ein  sittlich  intakter  Mensch  das  doch  höchst  brutale 
Verbrechen  begehe,  ist  unwahrscheinlich.  Lombroso  (Goltdam- 
mer's  Archiv)  hält  die  Mehrzahl  der  Nothzüchter  für  degenerative 
Menschen,  besonders  dann,  wenn  die  Nothzucht  an  Kindern  oder 
alten  Weibern  begangen  wurde.  Bei  vielen  derartigen  Menschen 
will  er  Degenerationszeichen  gefunden  haben. 

Thatsächlich  ist  Nothzucht  vielfach  impulsiver  Akt  belasteter 
imbeciller  Menschen  *),  wobei  nach  Umständen  selbst  die  Bande  der 
Blutsverwandtschaft  nicht  respektirt  werden. 

Denkbar  und  vorgekommen  sind  Fälle  bei  Tobsucht,  Satyriasis, 
Epilepsie. 

Dem  Akt  der  Nothzucht  kann  die  Tödtung  des  Opfers  folgen2). 
Es  kann  sich  um  unbeabsichtigte  Tödtung,  um  Mord  als  Mittel,  den 
einzigen  Zeugen  der  Unthat  ewig  stumm  zu  machen,  handeln,  oder 
um  Mord  aus  Wollust  (s.  o.).  Nur  für  solche  Fälle  sollte  der  Aus- 
druck „Lustmord"  3)  gebraucht  werden. 

Die  Triebfedern  des  Mordes  aus  Wollust  wurden  früher  er- 
örtert. Die  dabei  angeführten  Beispiele  sind  charakteristisch  für 
die  Handlungsweise.  Die  Präsumption  eines  Mordes  aus  Wollust 
wird  sich  immer  da  ergeben,  wo  sich  Verletzungen  der  Genitalien 
von  solchem  Charakter  und  Umfang  vorfinden,  dass  sie  aus  einem 
brutal  unternommenen  Coitus  allein  nicht  erklärbar  sind,  noch  mehr, 
wenn  Körperhöhlen  geöffnet,  Körpertheile  (Därme,  Genitalien)  heraus- 
gerissen sind4),  fehlen. 

Der  Lustmörder  aus  psychopathischen  Bedingungen  dürfte 
niemals  Complicen  haben. 

Beobachtung  172.  Schwachsinn,  Epilepsie.  Versuchte  Noth- 
zucht.    Tod   des  Opfers.     Am  27.  Mai  1888  Abends   spielte   der  8jährige 


')  Annal.  medico-psychol.  1849,  p.  515;  1863,  p.  57;  1864,  p.  215;  1866, 
253. 

2)  Vgl.  die  Fälle  bei  Tardieu,  Attentats,  p.  182—192. 

3)  Vgl.  Holtzendorff,  Psychologie  des  Mords. 

4)  Tardieu,  Attentats,  Beob.  51,  p.  188. 


Nothzucht  und  Lustmord.  363 

Knabe  Blasius   mit  anderen  Kindern  in  der  Nähe  des  Dorfes  S.     Ein  unbe- 
kannter Mann  kam  des  Weges  daher  und  lockte  den  Knaben  in  den  Wald. 

Am  folgenden  Tag  fand  man  in  einer  Schlucht  die  Leiche  des  Knaben 
mit  aufgeschlitztem  Bauch,  einer  Schnittwunde  in  der  Herzgegend  und  zwei 
Stichwunden  am  Halse. 

Da  schon  am  21.  Mai  ein  Mann,  auf  welchen  die  Beschreibung  des 
Mörders  des  Knaben  passte,  ein  6jähriges  Mädchen  in  analoger  Weise  zu  be- 
handeln versucht  hatte,  was  nur  durch  zufällige  Umstände  vereitelt  wurde, 
vermuthete  man  einen  Lustmord. 

Es  wurde  constatirt,  dass  die  Leiche  in  hockender  Stellung,  nur  mit 
Hemd  und  Brustfleck  bekleidet  aufgefunden  wurde,  ferner  dass  am  Hodensack 
eine  lange  Schnittwunde  sich  vorfand. 

Der  Verdacht  des  Mordes  lenkte  sich  auf  einen  Bauernknecht  E.,  jedoch 
gelang  es  bei  der  Confrontation  mit  den  Kindern  nicht,  seine  Identität  mit 
dem  Unbekannten,  der  den  Knaben  in  den  Wald  gelockt  hatte,  zu  erweisen. 
Ueberdies  brachte  er  mit  Hülfe  seiner  Schwester  einen  Alibibeweis  zu  Stande. 

Der  unermüdlichen  Gendarmerie  gelang  es,  neue  Verdachtmomente  zu 
sammeln  und  endlich  gestand  E. 

Das  Mädchen  habe  er  in  den  Wald  gelockt,  niedergeworfen,  dessen 
Geschlechtstheile  entblösst,  dasselbe  brauchen  wollen.  Da  es  aber  einen  Kopf- 
ausschlag hatte  und  heftig  schrie,  sei  ihm  die  Lust  vergangen  und  er  entflohen. 

Nachdem  er  den  Knaben  in  den  Wald  gelockt,  unter  dem  Vorwand, 
ihm  Vogelnester  auszuheben,  sei  ihm  die  Lust  gekommen,  ihn  zu  brauchen. 
Da  derselbe  sich  weigerte,  die  Hose  abzuziehen,  habe  er  ihm  dieselbe  herab- 
genommen, da  er  zu  schreien  anfing,  ihm  zwei  Stiche  in  den  Hals  versetzt. 
Darauf  habe  er  ober  dessen  Schamberg,  in  Nachahmung  eines  weiblichen  Ge- 
schlechtstheils,  einen  Schnitt  gemacht,  um  durch  diese  Spalte  seine  Lust  zu 
befriedigen.  Da  der  Körper  aber  gleich  kalt  geworden  sei,  habe  er  die  Lust 
verloren  und  bei  der  Leiche  gleich  Messer  und  Hände  gereinigt  und  die  Flucht 
ergriffen. 

Es  sei  ihm  nämlich,  wie  er  den  Knaben  todt  sah,  Angst  aufgestiegen 
und  sein  Glied  sei  schlapp  geworden. 

Während  seines  Verhörs  spielte  E.  ganz  apathisch  an  einem  Rosen- 
kranz. Er  habe  im  Schwachsinn  gehandelt.  Er  könne  nicht  begreifen,  wie 
er  so  was  habe  thun  können.  Es  müsse  im  Geblüte  stecken,  denn  er  werde 
öfters  blöde,  fast  zum  Umfallen.  Frühere  Dienstgeber  berichten,  dass  er 
Zeiten  hatte,  wo  er  gedankenlos,  störrisch  war,  Tagelang  nichts  arbeitete,  die 
Gesellschaft  mied. 

Sein  Vater  gibt  an,  dass  E.  schwer  lernte,  ungeschickt  zur  Arbeit  und 
oft  so  stutzig  war,  dass  man  sich  gar  nicht  getraute,  ihn  zu  strafen.  Er  ass 
dann  nichts,  lief  gelegentlich  auf  und  davon,  blieb  Tage  lang  aus. 

Auch  schien  er  in  solchen  Zeiten  ganz  in  Gedanken  verloren,  verzerrte 
ganz  eigenthümlich  das  Gesicht  und  sprach  ganz  ungereimte  Dinge. 

Noch  als  Jüngling  habe  er  gelegentlich  ins  Bett  gepisst  und  sei  auch 
als  Schüler  öfter  mit  nassen  oder  kothigen  Kleidern  aus  der  Schule  heim- 
gekommen. Im  Schlaf  war  er  sehr  uhruhig,  so  dass  man  nicht  neben  ihm 
schlafen  konnte.  Er  habe  niemals  Kameraden  gehabt.  Grausam,  schlecht 
oder  unsittlich  sei  er  nie  gewesen. 


364  Nothzucht  und  Lustmord. 

Die  Mutter  deponirt  analog,  femer  dass  E.  im  5.  Jahr  zum  erstenmal  Con- 
vulsionen  und  einmal  7  Tage  lang  die  Sprache  verloren  hatte.  Etwa  im  7.  Jahre 
habe  er  einmal  40  Tage  lang  Convulsionen  gehabt  und  sei  auch  wassersüchtig 
gewesen.  Auch  später  habe  es  ihn  noch  oft  im  Schlafe  gerissen,  er  habe 
dabei  oft  im  Schlafe  gesprochen  und  am  Morgen  nach  solchen  Nächten  sei 
jeweils  das  Bett  ganz  nass  gewesen. 

Zeitweilig  sei  gar  nichts  mit  ihm  zu  richten  gewesen.  Da  die  Mutter 
nicht  wusste,  ob  das  Bosheit  oder  Krankheit  sei,  habe  sie  sich  nicht  getraut, 
ihn  zu  bestrafen. 

Seit  den  Fraisenanfällen  im  7.  Jahre  sei  er  geistig  so  zurückgegangen, 
dass  er  nicht  einmal  die  gewöhnlichen  Gebete  lernen  konnte,  auch  sei  er  sehr 
jähzornig  geworden. 

Nachbarn,  Gemeindevorsteher,  Lehrer  bestätigen,  dass  E.  ein  eigen- 
artiger, geistig  schwacher,  jähzorniger,  zeitweise  ganz  eigentümlicher,  offen- 
bar in  einem  psychischen  Ausnahmezustande  befindlicher  Mensch  war. 

Aus  den  Explorationen  der  Gerichtsärzte  ergibt  sich  Folgendes: 

E.  ist  gross,  schlank,  schlecht  genährt,  hat  einen  Schädelumfang  von 
schwach  53  cm.  Der  Schädel  ist  rhombisch  verschoben,  in  der  Hinterhaupt- 
gegend steil  abfallend. 

Die  Miene  ist  intelligenzlos,  der  Blick  ist  starr,  ausdruckslos,  die  Körper- 
haltung nachlässig,  nach  vorne  gebeugt;  die  Bewegungen  sind  langsam,  schwer- 
fällig. Genitalien  normal  entwickelt.  Die  ganze  Erscheinung  des  E.  deutet 
auf  Torpidität  und  geistige  Schwäche. 

Degenerationszeichen,  Abnormität  vegetativer  Organe,  Störungen  von 
Seiten  der  Mobilität  und  Sensibilität  sind  nicht  nachweisbar.  E.  stammt  aus 
ganz  gesunder  Familie.  Er  weiss  nichts  von  Fraisen,  nächtlichem  Bettnässen, 
erzählt  aber,  dass  er  in  den  letzten  Jahren  Anfälle  von  Schwindel  und  „Blödig- 
keit" im  Kopf  gehabt  habe. 

Seinen  Mord  leugnet  er  Anfangs  rundweg.  Später  gesteht  er  Alles 
ganz  zerknirscht  und  motivirt  sein  Verbrechen  klar  vor  dem  Untersuchungs- 
richter.   Nie  sei  ihm  früher  ein  solcher  Gedanke  gekommen. 

E.  ist  seit  Jahren  der  Onanie  ergeben.  Er  trieb  sie  bis  zu  zweimal 
täglich.  Aus  Mangel  an  Muth  will  er  sich  nie  daran  gewagt  haben,  vom 
Weibe  den  Coitus  zu  begehren,  obwohl  ihm  in  erotischen  Träumen  ausschliess- 
lich bezügliche  Situationen  vorschwebten.  Weder  im  Traum  noch  im  wachen 
Zustand  habe  er  je  perverse  Trieb richtungen  gehabt,  speciell  keine  conträr 
sexualen  und  keine  sadistischen.  Auch  der  Anblick  des  Tödtens  von  Thieren 
habe  ihn  nie  interessirt.  Als  er  das  Mädchen  in  den  Wald  lockte,  habe  er 
an  demselben  allerdings  seine  Lust  befriedigen  wollen;  wie  es  aber  kommen 
konnte,  dass  er  an  dem  Knaben  sich  vergriff,  wisse  er  nicht  zu  erklären.  Er 
müsse  damals  von  Sinnen  gewesen  sein.  Die  Nacht  nach  dem  Morde  habe  er 
aus  Angst  nicht  geschlafen,  seine  That  auch  schon  zweimal  gebeichtet,  um 
sein  Gewissen  zu  erleichtern.  Er  fürchte  sich  nur  vor  dem  Gehängtwerden. 
Nur  das  möge  man  ihm  nicht  anthun,  er  habe  ja  in  Schwachsinnigkeit  seine 
That  begangen. 

Warum  er  dem  Knaben  den  Leib  ganz  aufgeschnitten,  wisse  er  nicht  zu 
sagen.  Es  sei  ihm  nicht  beigefallen,  in  den  Eingeweiden  zu  wühlen,  sie  zu 
beriechen  u.  s.  w.    Er  behauptet  am  Tage  nach  dem  Attentat  auf  das  Mädchen 


Nothzucbt  und  Lustmord.  365 

und  in  der  Nacht  nach  dem  Morde  des  Knaben  seinen  Fraisenanfall  gehabt 
zu  haben.  Zur  Zeit  seiner  Strafthaten  sei  er  zwar  ganz  bei  sich  gewesen, 
habe  aber  das,  was  er  thue,  gar  nicht  bedacht. 

Er  leide  viel  an  Kopfweh,  vertrage  keine  Hitze,  keinen  Durst,  kein 
geistiges  Getränke,  habe  "Stunden,  wo  er  ganz  verwirrt  im  Kopfe  sei.  Die 
Prüfung  der  Intelligenz  ergibt  einen  hohen  Grad  von  Schwachsinn. 

Das  Gutachten  (Dr.  Kautzner  in  Graz)  erweist  die  Imbecillität  und 
die  epileptische  Neurose  des  Angeklagten  und  macht  es  wahrscheinlich,  dass 
die  Verbrechen  desselben,  für  welche  zudem  nur  eine  summarische  Erinnerung 
besteht,  in  einem  durch  die  Neurose  bedingten  (präepileptischen)  psychischen 
Ausnahmszustand  begangen  wurden.  Unter  allen  Umständen  sei  E.  höchst  ge- 
meingefährlich und  wahrscheinlich  lebenslänglich  der  Internirung  in  einer 
Irrenanstalt  bedürftig. 

Beobachtung  173  *)•  Nothzucht  an  einem  kleinen  Mädchen 
durch  einen  Idioten.     Tod  des  Opfers. 

Am  3.  September  1889  Abends  ging  die  10jährige  Arbeiterstochter  Anna 
nach  der  3/<  Std.  entfernten  Dorfkirche  und  kehrte  nicht  zurück.  Am  andern 
Tage  fand  man  deren  Leiche  etwa  50  Schritte  von  der  Landstrasse  in  einem 
Gehölze,  das  Gesicht  der  Erde  zugekehrt,  den  Mund  mit  Moos  verstopft,  am 
Anus  die  Spuren  einer  Vergewaltigung. 

Der  Verdacht  der  Thäterschaft  lenkte  sich  auf  den  19  Jahre  alten  Tage- 
löhner K. ,  da  dieser  schon  am  1.  September  das  Kind  beim  Heimgang  von 
der  Kirche  in  den  Wald  zu  locken  versucht  hatte. 

K.,  verhaftet,  leugnete  Anfangs,  legte  aber  dann  ein  umfassendes  Ge- 
ständniss  ab.  Er  hatte  das  Kind  durch  Ersticken  getödtet  und  als  es  nicht 
mehr  „ zappelte"  actum  sodomiticum  in  ano  infantis  perpetravit. 

Niemand  hatte  während  der  Voruntersuchung  die  Frage  nach  dem 
Geisteszustand  dieses  monströsen  Verbrechers  aufgeworfen;  der  Antrag  des 
kurz  vor  der  Hauptverhandlung  bestellten  Vertheidigers  auf  Prüfung  des 
Geisteszustands  wurde  verworfen,  „da  sich  aus  den  Akten  kein  Anhalt  für  An- 
nahme einer  Geistesstörung  ergebe". 

Zufällig  gelang  dem  braven  Vertheidiger  die  Constatirung,  dass  des  An- 
geklagten Urgrossvater  und  Vatersschwester  irrsinnig,  sein  Vater  von  Jugend 
auf  Schnapstrinker  \ma  auf  einer  Körperhälfte  krüppelhaft  gewesen  war,  und 
diese  Thatsachen  in  der  Hauptverhandlung  verificiren  zu  lassen. 

Auch  das  machte  keinen  Eindruck.  Endlich  bewog  die  Verteidigung 
den  Gerichtsarzt  zum  Antrag,  es  möge  K.  auf  6  Wochen  zur  Beobachtung  in 
die  Irrenanstalt  gesendet  werden. 

Das  Gutachten  der  Aerzte  der  Anstalt  erwies  K.  als  Idioten,  dem  seine 
That  nicht  zugerechnet  werden  könne. 

Er  erschien  interesselos,  stumpfsinnig,  apathisch,  hatte  grösstentheils  die 
Kenntnisse  aus  der  Schulzeit  vergessen,  zeigte  nie  weder  in  Stimme  noch  Mimik 
irgend  eine  Regung  des  Mitleids,  der  Reue,  der  Scham,  Hoffnung,  Furcht  vor 
der  Zukunft.     Gesicht  starr  wie  eine  Maske. 


*)  Vgl.  das  ausführliche  gerichtsärztliche  Gutachten  über  diesen  Fall  in 
Friedreich's  Blättern  1891,  Heft  6. 


366  Nothzucht  und  Lustmord. 

Ganz  abnormer  kugelähnlicher  Schädel.  Nachweis,  dass  das  Gehirn 
schon  während  der  Fötalperiode  oder  in  den  ersten  Entwicklungsjahren  er- 
krankt war. 

K.  wurde  auf  dieses  Gutachten  hin  zu  dauernder  Versorgung  der  Irren- 
anstalt zugewiesen. 

Dem  unermüdlichen  Pflichtbewusstsein  eines  wackeren  Vertheidigers  ver- 
dankt« in  diesem  Fall  die  Justiz  die  Verhütung  eines  Justizmordes,  die  mensch- 
liche Gesellschaft  eine  Ehrenrettung. 


Beobachtung  174.     Lustmord.     Moralische  Imbecillität. 

Mann  in  mittleren  Jahren,  in  Algier  geboren,  angeblich  aus  arabischem 
Stamme.  Er  hat  einige  Jahre  in  der  Colonialtruppe  gedient,  war  dann  als 
Matrose  zwischen  Algier  und  Brasilien  gereist  und  hatte  sich  später,  von  der 
Hoffnung  auf  leichteren  Verdienst  gelockt,  nach  Nordamerika  gewendet.  War 
in  seinem  Kreise  als  arbeitsscheu,  feig,  gewaltthätig  bekannt.  Des  öfteren 
war  er  wegen  Vagabondage  bestraft  worden;  man  sagte  ihm  nach,  dass  er 
ein  Dieb  niedrigster  Sorte  sei,  sich  mit  Frauenzimmern  der  gemeinsten  Art 
herumtreibe  und  mit  ihnen  gemeinsame  Sache  mache.  Auch  von  seinen  per- 
versen sexuellen  Beziehungen  und  Bethätigungen  wusste  man.  Er  hatte  wieder- 
holt Weiber,  mit  denen  er  sexuell  verkehrt  hatte,  gebissen  und  geschlagen. 
Der  Personenbeschreibung  nach  glaubte  man  in  ihm  eines  Unbekannten  hab- 
haft geworden  zu  sein,  der  Nachts  in  den  Gassen  Weiber  durch  Umarmen 
und  Küssen  beängstigte  und  dem  man  den  Namen  „Jack  the  kisser"  bei- 
gelegt hatte. 

Er  war  grosser  Statur  (über  6  Fuss  hoch),  ganz  leicht  gebeugt.  Stirn 
niedrig,  auffallend  vorspringende  Backenknochen,  massive  Kiefer,  kleine,  eng 
zusammengerückte,  geröthete  Augen,  stechender  Blick,  grosse  Füsse,  Hände 
wie  Vogelklauen,  schlenkernder  Gang.  Seine  Arme  und  Hände  trug  er  mit 
zahlreichen  Tätowirungen,  darunter  das  bunte  Bild  eines  Weibes  „Fatima" 
umschrieben,  was  bemerkenswerth  erscheint,  da  Tätowirung  von  Frauenbild- 
nissen bei  den  Arabern  der  algerischen  Truppen  als  entehrend  gilt,  und  Prosti- 
tuirte  dort  ein  Kreuz  tätowirt  zu  tragen  pflegen.  Seine  Erscheinung  machte 
den  Eindruck  tiefstehender  Intelligenz. 

N.  wurde  des  Mordes  an  einer  älteren  Frauensperson  überwiesen,  mit 
der  er  zusammen  genächtigt  hatte.  Die  Leiche  zeigte  verschiedene,  durch  ihre 
Länge  auffallende  Wunden,  die  Bauchhöhle  war  eröffnet,  Darmstücke  waren 
herausgeschnitten,  ebenso  ein  Ovarium,  andere  Theile  in  der  Umgebung  der 
Leiche  verstreut.  Mehrere  der  Wunden  bildeten  ein  Kreuz,  eine  hatte  die 
Form  eines  Halbmondes.  Der  Mörder  hatte  sein  Opfer  erwürgt,  N.  leugnete 
den  Mord  und  jede  Neigung  zu  derartigen  Akten.  (Dr.  Mac-Donald,  Clark 
university,  Mass.) 


Körperverletzung,  Sachbeschädigung,  Thierquälerei.  367 


3)  Körperverletzung,  Sachbeschädigung,  Thierquälerei  auf  Grund  von 

Sadismus. 

(Oesterr.  §  152,  411;   Deutschi.  §  223  [körperl.  Beschädigung];   Oesterr.  §  85, 

468;  Deutschi.  §303  [Sachbeschädigung];  Oesterr.  Polizeiverordnung;  Deutsch. 

Stgsb.  §  360  [Thierquälerei]. 

Abgesehen  von  dem  im  vorausgehenden  Abschnitt  besprochenen 
Lustmord  finden  sich  als  mildere  Ausdrucksweisen  sadistischer  An- 
triebe, solche  zum  Blutigstechen,  Flagelliren,  Besudeln  von  weib- 
lichen Individuen,  Flagelliren  von  Knaben,  Misshandeln  von  Thieren 
u.  s.  w.  vor. 

Die  schwer  degenerative  Bedeutung  derartiger  Fälle  ergibt  sich 
klar  aus  der  im  allgemeinen  pathologischen  Theil  besprochenen 
Casuistik.  Solche  geistig  Entartete  können,  falls  sie  ihre  perversen 
Gelüste  nicht  zu  beherrschen  vermögen,  nur  Gegenstand  der  Ver- 
sorgung in  einer  Irrenanstalt  sein. 

Beobachtung  175.  X.,  24  Jahre.  Eltern  gesund,  2  Brüder  an  Tuber- 
culose  gestorben,  eine  Schwester  leidet  an  periodischen  Krämpfen.  X.  empfand 
schon  mit  8  Jahren  ein  eigenthümliches  Wollustgefühl  unter  Erection  beim 
Andrücken  des  Abdomen  an  die  Schulbank. 

Er  verschaffte  sich  nun  oft  diesen  Genuss.  Später  mutuelle  Masturba- 
tion mit  einem  Mitschüler.  Erste  Ejaculation  mit  13  Jahren.  Beim  ersten 
Coitusversuch  mit  18  Jahren  impotent.  Fortsetzung  von  Automasturbation, 
schwere  Neurasthenie  nach  Lektüre  eines  populären,  die  Folgen  der  Onanie 
bedenklich  schildernden  Buches.  Besserung  durch  Wasserkur.  Bei  neuerlichem 
Coitusversuch  abermals  impotent.  Rückkehr  zu  Masturbation.  Diese  versagt 
mit  der  Zeit.  Nun  greift  X.  lebende  Vögel  bei  den  Schnäbeln,  schwingt  sie  in 
der  Luft.  Der  Anblick  des  gequälten  Thieres  führt  die  ersehnte  Erection  her- 
bei. Sobald  das  Thier  mit  seinen  Schwingen  die  Glans  penis  berührt,  erfolgt 
die  Ejaculation  unter  grossem  Wollustgefühl.  (Dr.  Wachholz,  Friedreich's 
Blätter  f.  ger.  Med.  1892,  6.  Heft,  p.  436.) 

Beobachtung  176.  Sadismus  an  Knaben  und  Mädchen,  ver- 
übt von  einem  moralischen  Idioten. 

K.,  14  Jahre  5  Monate  alt,  tödtet  einen  kleinen  Knaben  in  grausamer 
Weise.  Die  Untersuchung  fördert  neben  2  Fällen  von  Tödtung  eine  Reihe  von 
(7)  Fällen  zu  Tage,  in  denen  K.  kleine  Knaben  grausam  gepeinigt  hatte. 
Alle  diese  Kinder  standen  im  Alter  von  7 — 10  Jahren.  K.  lockte  sie  abseits, 
kleidete  sie  vollständig  nackt  aus,  fesselte  ihnen  Hände  und  Füsse,  band  sie 
an  irgend  einem  Gegenstande  fest,  knebelte  ihnen  den  Mund  mit  einem  Taschen- 
tuch und  schlug  sie  dann  mit  einem  Stock  oder  Riemen  oder  Tauende,  lang- 
sam, mit  minutenlangen  Pausen  —  dabei  „ lächelnd",  ohne  ein  Wort  zu  sprechen. 


3(58  Körperverletzung,  Sachbeschädigung,  Thierquälerei. 

Einen  der  Knaben  zwingt  er  unter  Todesandrohung  zweimal  das  Vaterunser 
herzusagen  und  Stillschweigen  zu  schwören,  dann  lästerliche  Worte  nachzu- 
sprechen. In  einem  späteren  Fall  versetzt  er  dem  Knaben  Nadelstiche  in  die 
Wange,  spielt  mit  seinen  Genitalien,  bringt  ihm  auch  dort  und  in  der  Scham- 
gegend Stiche  bei,  befiehlt  ihm,  sich  auf  den  Bauch  zu  legen,  tritt  und  springt 
auf  ihm  herum,  sticht  und  beisst  ihn  endlich  in  die  Nates,  Einen  anderen 
Knaben  beisst  er  in  die  Nase,  bringt  ihm  mit  einem  Messer  Stiche  bei.  Das 
achte  seiner  Opfer  ist  ein  kleines  Mädchen,  das  er  in  den  Laden  seiner  Mutter 
lockt.  Dort  überfällt  er  es  von  rückwärts,  hält  ihm  mit  der  einen  Hand  den 
Mund  zu,  mit  der  anderen  schneidet  er  ihm  die  Kehle  ab. 

Die  Leiche  wird  in  einem  Winkel,  mit  Kohlenasche  und  Mist  bedeckt, 
gefunden,  das  Haupt  vom  Rumpf  getrennt,  das  Fleisch  von  den  Knochen  ge- 
löst, der  Körper  durch  zahlreiche  Schnittwunden  verletzt.  Der  grösste,  klaf- 
fendste  Schnitt  fand  sich  an  der  Innenseite  des  linken  Schenkels,  durch  das 
Genitale  bis  in  die  Bauchhöhle  dringend.  Ein  anderer  Schnitt  erstreckte  sich 
von  der  Fossa  iliaca  schief  über  das  Abdomen.  Kleider  und  Wäsche  waren 
zerschnitten  und  zerrissen. 

Die  Leiche  des  neunten  Opfers  hatte  die  Kehle  durchschnitten,  Blut 
war  aus  den  Augen  geflossen,  das  Herz  war  von  zahlreichen  Stichen  durch- 
bohrt. Eine  Menge  von  Stichen  drang  in  die  Bauchhöhle.  Das  Scrotum  war 
eröffnet,  die  Testikel  hingen  heraus,  die  Glans  penis  abgeschnitten. 

K.  hatte  den  Knaben  ähnlich  wie  das  Mädchen  an  sich  gelockt,  ihm 
zuerst  die  Kehle  durchschnitten,  dann  die  Stiche  beigebracht. 

K.,  über  dessen  hereditäre  Verhältnisse  nichts  bekannt  ist,  war  das  ganze 
erste  Lebensjahr  hindurch  schwer  krank,  zum  Skelett  abgemagert.  Von  da  ab 
erholte  er  sich  allmählig  und  soll  bis  auf  häufige  Klagen  über  Schmerzen  in 
Kopf  und  Augen  und  Schwindel  nicht  krank  gewesen  sein,  bis  er  im  11.  Jahre 
eine  „schwere  Krankheit"  mit  Delirien  durchmachte.  Der  Kopfschmerz  pflegte 
ihn  jeweils  plötzlich  zu  überfallen,  so  dass  er  vom  Spiel  weglief  und  erst 
nach  einer  Weile  dazu  zurückkehren  konnte.  Befragt,  gab  er  in  solchen 
Fällen  nur  langsam  zur  Antwort  „mein  Kopf,  mein  Kopf. 

Es  war  ein  unlenksames  Kind,  ungehorsam,  unerziehbar.  Zeigte  jähen 
extremen  Wechsel  in  Stimmungen,  Begehrungen  und  Behauptungen.  Einmal 
wird  er,  als  etwa  3jähriges  Kind  entdeckt,  wie  er  ein  Hühnchen  mit  Messer- 
stichen martert.  Er  fabulirt  mit  dem  vollen  Schein  der  Wahrhaftigkeit.  In 
der  Schule  ist  er  störend,  grimassirt;  fortwährend  flüstert  er  vor  sich  hin,  ist 
widerspenstig  und  respektlos.  Strafe  sieht  er  als  Ungerechtigkeit  an,  wird 
renitent.  In  der  Correctionsschule  hält  er  sich  abseits,  mit  sich  selbst  be- 
schäftigt, ist  misstrauisch,  bei  den  Kameraden  unbeliebt,  hat  keinen  Genossen. 
Die  intellectu eilen  Fähigkeiten  sind  gut,  es  wird  ihm  heller  Verstand,  Scharf- 
sinn, gutes  Gedächtniss  zugestanden.  Ethisch  dagegen  zeigt  er  sich  sehr 
defekt.  Er  zeigt  nicht  das  leiseste  Gefühl  von  Schmerz  oder  Reue  wegen 
seiner  Thaten,  nicht  das  geringste  Bewusstsein  von  Verantwortlichkeit.  Nur 
für  seine  Mutter  hat  er  etwas  wie  zartere  Regungen.  Seinen  Verbrechen  legt 
er  keine  besondere  Bedeutung  bei.  Er  erörtert  kalt  erwägend  seine  Chancen, 
meint,  zum  Tode  könne  man  ihn  nicht  verurtheilen ,  da  er  erst  14  Jahre  alt 
sei;  14jährige  Jungen  zu  hängen  sei  bisher,  wie  er  wisse,  nicht  üblich  gewesen 
und  mit  ihm  werde  man  nicht  den  Anfang  machen,   lieber  das  Motiv  zu  seinen 


Körperverletzung,  Sachbeschädigung,  Thierquälerei.  360 

Handlungen  ist  von  K.  selbst  nichts  zu  erfahren.  Einmal  gibt  er  an,  er  sei 
•durch  Lecture  von  den  Torturen  der  Gefangenen  bei  den  Indianern  mit  dieser 
Grausamkeit  bekannt  und  zur  Nachahmung  gereizt  worden.  Er  habe  sogar 
einmal  deswegen  zu  den  Indianern  entlaufen  wollen.  Wenn  er  sich  ein  Opfer 
ersah,  so  hatte  er  immer  die  Phantasie  erfüllt  von  Vorstellungen  grausamer 
Aktionen. 

Am  Morgen  solcher  Tage  sei  er  immer  mit  Schwindel  und  eingenom- 
menem Kopf  erwacht  und  das  habe  den  ganzen  Tag  angehalten. 

Von  körperlichen  Abnormitäten  werden  nur  der  ungewöhnlich  grosse 
Penis  und  die  ebensolchen  Testes  erwähnt.  Der  Mons  venei-is  zeigt  volle  Be- 
haarung, das  ganze  Genitale  die  Entwicklungsverhältnisse  eines  Mannes.  Auf 
Epilepsie  deutende  Symptome  sind  nicht  nachzuweisen.  (Dr.  Mac-Donald, 
Clark  university,  Mass.). 

Beobachtung  177.  Sadismus.  Körperverletzung.  B.,  17  J., 
Blechschmied,  kaufte  am  4.  Januar  1893  ein  langes  Messer,  ging  zu  einer  Pro- 
stituirten,  mit  der  er  wiederholt  sexuell  verkehrt  hatte,  gab  ihr  Geld  und  Hess 
sie  ausgekleidet  auf  den  Bettrand  sitzen.  Nun  versetzte  er  ihr,  während  sein 
Membrum  in  Erection  sich  befand,  3  leichte  Messerstiche  auf  Brust  und  Bauch. 
Als  auf  das  Schreien  der  Puella  Leute  herbeieilten,  entfloh  B. ,  stellte  sich 
aber  alsbald  der  Polizei.  Er  behauptete  zuerst  im  Streit,  dann  ohne  Motiv 
das  Mädchen  gestochen  zu  haben.  In  der  Blutsverwandtschaft  des  Vaters  kam 
wiederholt  Geisteskrankheit  vor.  B.  ist  nicht  belastet,  kein  Trinker,  hat  keine 
schweren  Krankheiten  durchgemacht,  nie  masturbirt,  seit  2  Jahren  coitirt. 
Genitalien  normal.  Er  erscheint  in  der  Beobachtung  geistig  normal,  schämt 
sich  seiner  That,  für  welche  die  Expertise  mit  Recht  ein  sexuelles  Motiv  an- 
nahm. Trotz  Constatirung  von  geistiger  Gesundheit  Freisprechung.  (Coutagne. 
Annal.  med.  psych.  1893,  Juli,  August.) 

Beobachtung  178.  Morde  aus  Sadismus.  Verheiratheter  Mann, 
zur  Zeit  des  letzten  (d.  h.  entdeckten)  Verbrechens  30  Jahre  alt.  Er  hatte 
ein  Mädchen  in  den  Glockenthurm  der  Kirche,  an  der  er  Küster  war,  gelockt 
und  dort  getödtet.  Unter  dem  Zwang  des  Indicienbeweises  schritt  er  zu  einem 
Geständniss,  noch  einen  zweiten  ähnlichen  Mord  bekennend.  Beide  Leichen 
zeigten  zahlreiche  Hiebquetschwunden  der  Weichtheile  des  Kopfes,  Schädel- 
knochenbrüche, Blutaustritte  unter  der  Dura  mater  und  im  Gehirn.  Beide 
Leichen  zeigten  keinerlei  Verletzung  am  übrigen  Körper,  insbesondere  waren 
die  Genitalorgane  unversehrt. 

In  der  Leibwäsche  des  Verbrechers,  der  bald  nach  der  That  verhaftet 
wurde,  fanden  sich  Spermaflecken.  L.  wird  als  von  einnehmendem  Aeusseren 
geschildert,  dunkel,  bartlos.  Ueber  hereditäre  Verhältnisse,  Antecedentien, 
seine  Vita  sexualis  anteacta  etc.  fehlen  die  Angaben. 

Als  Motiv  gestand  er  „Wollust  der  grausamsten  und  abscheulichsten 
Art".     (Dr.  Mac-Donald,  Clark  university,  Mass.) 


v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  24 


370  Masochismus  und  geschlechtliche  Hörigkeit. 


4)  Masochismus  und  geschlechtlich  Hörigkeit. 

Auch  dem  Masochismus  *)  kann  unter  Umständen  eine  foren- 
sische Bedeutung  zukommen,  denn  den  Grundsatz  „volenti  non  fit 
injuria"  kennt  das  moderne  Strafrecht  nicht  mehr,  und  das  geltende 
österreichische  Strafgesetz  sagt  in  §  4  ausdrücklich:  Verbrechen 
werden  auch  an  solchen  Personen  begangen,  die  ihren  Schaden 
selbst  verlangen. 

Von  ungleich  grösserem  criminalpsychologischem  Interesse  sind 
dagegen  die  Thatsachen  der  geschlechtlichen  Hörigkeit  (vgl. 
p.  142).  Ist  die  Sinnlichkeit  übermächtig,  eventuell  durch  einen 
Fetischzauber  gefangen  und  die  moralische  Widerstandskraft  eine 
geringe,  so  kann  ein  hab-  oder  rachsüchtiges  Weib,  in  dessen  Ge- 
walt der  Mann  durch  Liebesleidenschaft  gerathen  ist,  ihn  zum 
schwersten  Verbrechen  hinreissen.  Der  folgende  Fall  ist  ein  denk- 
würdiges Beispiel  dafür. 

Beobachtung  179.  Mord  der  Familie  aus  geschlechtlicher 
Hörigkeit. 

N.,  Seifenfabrikant  in  Catania,  34  Jahre,  früher  gut  beleumundet,  hat 
in  der  Nacht  vom  21.  December  1886  seine  neben  ihm  schlafende  Frau  er- 
dolcht und  seine  7jährige  und  seine  6wöchentliche  Tochter  erdrosselt.  N. 
leugnete  zuerst,  suchte  den  Verdacht  auf  einen  Anderen  zu  lenken,  legte  dann 
ein  unumwundenes  Geständniss  ab  und  bat,  ihn  hinzurichten. 


J)  Wie  Herbst  (Handb.  des  österr.  Strafrechts.  Wien  1878,  p.  72)  be- 
merkt, gibt  es  trotzdem  Verbrechen,  welche  durch  den  Mangel  der  Einwilligung 
des  Verletzten  bedingt  und  daher  nicht  vorhanden  sind,  sobald  der  als  ver- 
letzt Erscheinende  dazu  seine  Einwilligung  gegeben  hat,  z.  B.  Diebstahl, 
Nothzucht. 

Herbst  zählt  aber  hieher  auch  die  Einschränkung  der  persönlichen 
Freiheit  (?). 

In  der  jüngsten  Zeit  ist  eine  principielle  Aenderung  der  Anschauungen 
in  diesem  Punkte  eingetreten.  Das  Strafgesetzbuch  für  das  Deutsche  Reich 
betrachtet  bei  der  Tödtung  eines  Menschen  dessen  Einwilligung  als  so  schwer- 
wiegenden Umstand,  dass  eine  ganz  andersartige,  viel  mildere  Strafe  eintritt 
(§  216).  Ebenso  der  Entwurf  des  österr.  Strafgesetzes  (§  222).  Man  hat  dabei 
die  sogen.  Doppelselbstmorde  der  Liebespaare  im  Auge  gehabt.  Bei  Körper- 
verletzung und  Freiheitsentziehung  wird  aber  wohl  die  Einwilligung  des  Ver- 
letzten eine  analoge  Berücksichtigung  durch  den  Richter  finden  müssen.  Für 
die  Beurtheilung  der  Wahrscheinlichkeit  einer  behaupteten  Einwilligung  ist 
jedenfalls  die  Kenntniss  des  Masochismus  von  Wichtigkeit. 


Masochismus  und  geschlechtliche  Hörigkeit.  371 

N.,  aus  ganz  gesunder  Familie,  früher  gesund,  geachteter  und  tüchtiger 
Geschäftsmann ,  in  guter  Ehe  lebend ,  befand  sich  seit  Jahren  unter  dem  fas- 
cinirenden  Einfluss  einer  Maitresse,  die  ihn  an  sich  zu  locken  gewusst  hatte 
und  ihn  ganz  beherrschte. 

Der  Welt  und  der  Frau  hatte  er  diese  Beziehungen  geheim  zu  halten 
vermocht. 

Jenes  Monstrum  von  Weib  wusste  durch  Erweckung  von  Eifersucht  und 
Erklärung,  N.  könne  nur  durch  die  Ehe  ferner  in  ihrem  Besitz  bleiben,  den 
schwachen  und  liebestollen  N.  soweit  zu  treiben,  dass  er  zum  Mörder  an  Weib 
und  Kindern  wurde.  Nach  der  That  hatte  er  seinen  kleinen  Neffen  gezwungen 
ihn  zu  fesseln,  wie  wenn  er  selbst  das  Opfer  von  Mördern  gewesen  wäre  und 
hatte  ihm  Schweigen  geboten,  bei  Gefahr  seines  Lebens.  Als  Leute  kamen, 
spielte  er  die  Rolle  eines  unglücklichen  Überfallenen  Familienvaters! 

Nach  seinem  Geständnisse  äusserte  er  tiefe  Reue.  In  den  2  Jahren  der 
Untersuchung  und  der  wiederholten  Hauptverhandlungen  bot  N.  nie  Erschei- 
nungen geistiger  Störung. 

Seine  Liebestollheit  zur  Metze  konnte  er  sich  nur  mit  einer  Art  Fasci- 
nation  erklären.  Ueber  seine  Frau  hatte  er  sich  nie  zu  beklagen  gehabt.  Von 
abnorm  starkem  oder  perversem  Sexualtrieb  fanden  sich  keine  Spuren  an 
diesem  denkwürdigen  Ausnahmsverbrecher  aus  Leidenschaft  vor.  Seine  Reue 
und  Zerknirschung  bewiesen,  dass  er  auch  moralisch  nicht  defekt  war.  Nach- 
weis geistiger  Gesundheit.  Ausschluss  unwiderstehlichen  Zwanges.  (Mandalari, 
il  Morgagni  1890  Februar.) 

Die  Zurechnungsfähigkeit  in  diesem  entsetzlichen  Fall  und 
in  vielen  analogen  ist  selbstverständlich  nicht  zu  bestreiten,  und  bei 
der  heutigen  Lage  der  Dinge,  wonach  Laien  die  feinere  Analyse 
der  Motive  einer  That  ferne  liegt  und  Juristen  von  aller  Psycho- 
logie zu  Gunsten  des  logischen  Formalismus  systematisch  ferne 
gehalten  werden,  ist  nicht  anzunehmen,  dass  bei  Richtern  und  Ge- 
schworenen die  geschlechtliche  Hörigkeit  Beachtung  finde  —  um  so 
weniger,  weil  bei  ihr  das  Motiv  zu  strafbaren  Handlungen  nicht 
krankhaft  ist  und  die  Intensität  eines  Motivs  an  und  für  sich  nicht 
in  Betracht  kommen  kann. 

Gleichwohl  sollte  in  solchen  Fällen  in  Erwägung  gezogen 
werden,  ob  hier  noch  Empfänglichkeit  für  moralische  Gegenmotive 
vorhanden  oder  diese  ausgeschaltet  waren,  was  eine  Störung  des 
psychischen  Gleichgewichts  bedeutet. 

Zweifelsohne  wird  in  solchen  Fällen  eine  Art  erworbener 
moralischer  Schwäche  hervorgerufen,  welche  die  Zurechnungsfähig- 
keit beeinflusst.  Immer  sollte  geschlechtliche  Hörigkeit  bei  ange- 
stifteten Delikten  als  Milderungsgrund  der  Strafe  Berücksichtigung 
finden. 


372  Körperverletzung,  Raub,  Diebstahl. 


5)  Körperverletzung,  Raub,  Diebstahl  auf  Grund  von  Fetischismus. 

(Oesterr.  §  190;  Deutschi.  §  249  [Raub];  Oesterr.  §  171  u.  460;  Deutschi.  §  242 

[Diebstahl]). 

Aus  dem  bezüglichen  Kapitel  der  allgemeinen  Pathologie  geht 
hervor,  dass  pathologischer  Fetischismus  die  Ursache  von  Delikten 
werden  kann.  Als  solche  kennt  man  bis  jetzt  Zopfabschneiden 
(Beob.  76,  77,  78),  Rauben  oder  Stehlen  von  Frauen  wasche,  Taschen- 
tüchern, Schürzen  (Beob.  80,  81,  83,  84),  Frauenschuhen  (Beob.  65, 
85,  86),  Seidenstoffen  (Beob.  91).  Daran,  dass  derartige  Attentäter 
psychisch  schwer  belastet  sind,  kann  nicht  gezweifelt  werden.  Zur 
Annahme  geistiger  Unfreiheit  und  damit  der  Unzurechnungsfähig- 
keit muss  aber  der  Nachweis  erbracht  werden,  dass  unwidersteh- 
licher Zwang,  sei  es  im  Sinne  eines  impulsiven  Aktes,  sei  es  durch 
Schwachsinn,  der  eine  Beherrschung  des  strafbaren  perversen  An- 
triebes unmöglich  machte,  vorhanden  war. 

Derartige  Delikte  und  die  eigenthümliche  Art  ihrer  Ausfüh- 
rung, die  doch  von  einem  gewöhnlichen  Raub  oder  Diebstahl  be- 
deutend abweicht,  nöthigen  immerhin  zu  einer  gerichtsärztlichen 
Exploration.'  Dass  aber  das  Delikt  an  und  für  sich  keineswegs 
psychopathologischen  Umständen  zu  entspringen  braucht,  lehren 
jene  seltenen  Fälle  von  Zopfabschneiden  !)  aus  blosser  —  Gewinn- 
sucht. 

Beobachtung  180.  Taschentuchfetischismus.  Fortgesetzte 
Diebstähle  von  Weibern  gehörigen  Taschentüchern. 

D.,  42  Jahre,  Dienstknecht,  ledig,  wurde  am  1.  März  1892  von  der  Be- 
hörde zur  Beobachtung  seines  Geisteszustandes  der  Kreisirrenanstalt  Deggen- 
dorf (Niederbayern)  übergeben. 

Er  ist  ein  1,62  m  grosser,  kräftiger,  gut  genährter  Mann.  Der  Schädel 
ist  submicrocephal,  der  Gesichtsausdruck  fatuös.  Der  Ausdruck  der  Augen  ist 
exquisit  neuropathisch.  Die  Genitalorgane  sind  ganz  normal.  Ausser  einem 
massigen  Grad  von  Neurasthenie  und  gesteigerten  Patellarreflexen  ist  von 
Seiten  des  Nervensystems  an  D.  nichts  körperlich  Abnormes  aufzufinden. 

1878  war  D.  zum  erstenmal  vom  Schwurgericht  Straubing  wegen  Raubes 
und  Diebstahls  von  Taschentüchern  zu  V/z  Jahren  Gefängniss  verurtheilt 
worden. 


J)  Nach  österr.  Recht  dürfte  dieses  Delikt  als  leichte  körperliche  Be- 
schädigung unter  §  411  fallen,  nach  deutschem  Strafrecht  liegt  hier  Körper- 
verletzung vor  (vgl.  Liszt,  Lehrb.  p.  325). 


Körperverletzung,  Raub,  Diebstahl.  373 

1880  stahl  er  im  Hofe  einer  Wirthschaft  einer  Händlersfrau  ein  Taschen- 
tuch und  erhielt  dafür  14  Tage  Gefängniss. 

1882  versuchte  er  auf  offener  Landstrasse  einem  Bauernmädchen  das 
Taschentuch  aus  der  Hand  zu  reissen.  Wegen  versuchten  Raubes  angeklagt, 
wurde  er  über  amtsärztliches  Gutachten,  das  hochgradige  Geistesschwäche  und 
eine  krankhafte  Störung  der  Geistesthätigkeit  tempore  delicti  constatirte,  frei- 
gesprochen. 

1884  wurde  er  wegen  des  unter  identischen  Umständen  begangenen  wirk- 
lichen Raubs  eines  weiblichen  Taschentuchs  vom  Schwurgericht  zu  4  Jahren 
Gefängniss  verurtheilt. 

1888  zog  er  auf  offenem  Marktplatz  einem  Frauenzimmer  das  Taschen- 
tuch aus  der  Tasche.     Verurtheilung  zu  4  Monaten. 

1889  wegen  des  gleichen  Reats  9  Monate  Gefängniss. 

1891  dito,  10  Monate.  Sonst  weist  seine  Strafliste  nur  einige  kleine 
Geld-  und  Haftstrafen  wegen  unbefugten  Tragens  von  Messern  und  Land- 
streicherei auf. 

Alle  Diebstähle  von  Taschentüchern  waren  ausnahmslos  an  jugendlichen 
Frauenzimmern  verübt  worden  und  zwar  meist  am  hellen  Tage,  in  Gegenwart 
anderer  Personen  und  so  plump  und  rücksichtslos,  dass  D.  jeweils  sofort  arretirt 
wurde.  Nirgends  in  den  Akten  finden  sich  Anhaltspunkte  dafür,  dass  D.  sonst 
irgend  etwas  und  sei  es  auch  noch  so  Unbedeutendes,  gestohlen  habe. 

Am  9.  December  1891  war  D.  wieder  einmal  aus  dem  Gefängniss  ent- 
lassen worden.  Am  14.  wurde  er  ertappt,  wie  er  in  einem  Jahrmarktsgedränge 
einem  Bauernmädchen  das  Taschentuch  aus  der  Tasche  zog. 

Sofort  arretirt,  fand  man  bei  ihm  noch  2  weisse,  Weibern  gehörige 
Taschentücher  vor. 

Auch  bei  den  früheren  Diebstählen  waren  ganze  Collectionen  von  weib- 
lichen Taschentüchern  bei  D.  vorgefunden  worden  (1880  32  Stück,  1882  14, 
von  denen  er  9  auf  blossem  Leibe  trug;  ein  andermal  25  Stück.  Bei  der  Ver- 
haftung 1891  fand  man  bei   der  Leibesvisitation  7  weisse  Taschentücher  vor). 

In  den  Verhören  hatte  D.  stets  als  Motiv  der  Diebstähle  angegeben,  er 
sei  hochgradig  betrunken  gewesen  und  habe  sich  nur  einen  Spass  erlauben 
wollen. 

Die  bei  ihm  vorgefundenen  Taschentücher  wollte  er  gekauft,  eingetauscht 
oder  von  Dirnen  erhalten  haben,  mit  denen  er  verkehrt  hatte. 

D.  erscheint  in  der  Beobachtung  in  höherem  Grad  geistig  beschränkt, 
dabei  durch  Vagabundage,  Trunk,  Masturbation  herabgekommen,  aber  gut- 
müthig,  lenksam  und  keineswegs  arbeitsscheu. 

Er  weiss  nichts  von  seinen  Eltern,  ist  ohne  jede  Aufsicht  herangewachsen, 
erbettelte  sich  als  Kind  seinen  Unterhalt,  wurde  mit  13  Jahren  Stallbube,  mit 
14  Jahren  zu  Päderastie  missbraucht.  Er  versichert,  dass  er  früh  und  mächtig 
seinen  Sexualtrieb  empfunden,  früh  coitirt  und  daneben  Masturbation  ge- 
trieben habe.  15  Jahre  alt,  habe  ihm  ein  Kutscher  mitgetheilt,  dass  man  mit 
Taschentüchern  von  jungen  Frauenzimmern  sich  grossen  Genuss  verschaffen 
könne,  wenn  man  jene  ad  genitalia  applicire.  Er  versuchte  dies,  fand  diese 
Angabe  bestätigt  und  versuchte  sich  von  nun  an  auf  alle  mögliche  Weise  der- 
artige Tücher  zu  verschaffen.  Sein  Trieb  wurde  so  übermächtig,  dass  er,  so- 
bald er  eines  ihm  zusagenden  Frauenzimmers  ansichtig  wurde,  das  ein  Taschen- 


374  Körperverletzung,  Raub,  Diebstahl. 

tucb  in  der  Hand  oder  siebtbar  in  der  Tasche  trug,  unter  heftiger  sexueller 
Erregung  vom  Drange  erfasst  wurde,  sich  an  die  betreffende  Person  heran- 
zudrängen und  ihr  das  Taschentuch  zu  entwenden. 

Im  nüchternen  Zustand  war  es  ihm  meist  möglich,  aus  Furcht  vor 
Strafe  diesem  Drange  zu  widerstehen.  Hatte  er  aber  getrunken,  so  war  die 
Widerstandsfähigkeit  geschwunden.  Bereits  in  der  Militärzeit  hat  er  sich  von 
jungen  und  ihm  zusagenden  Frauenzimmern  gebrauchte  Taschentücher  geben 
lassen  und  dieselben,  wenn  er  sie  einige  Zeit  getragen,  wieder  vertauesht. 
Wenn  er  bei  Mädchen  nächtigte,  hatte  er  gewöhnlich  sein  eigenes  Taschen- 
tuch mit  dem  des  Mädchens  vertauscht.  Wiederholt  hatte  er  auch  Taschen- 
tücher gekauft,  um  sie  bei  Frauenzimmern  auszutauschen. 

Solange  die  Taschentücher  neu  und  ungebraucht  waren,  übten  sie 
keinerlei  Wirkung  auf  ihn  aus.  Erst  wenn  sie  von  Mädchen  getragen  waren, 
erregten  sie  ihn  sexuell. 

Um  ungebrauchte  Taschentücher  mit  Frauenzimmern  in  Berührung  zu 
bringen,  hat  er,  wie  auch  aus  den  Akten  hervorgeht,  wiederholt  ihm  begeg- 
nenden Frauenzimmern  Taschentücher  in  den  Weg  gelegt  und  sie  zu  nöthigen 
versucht,  darauf  zu  treten.  Einmal  fiel  er  ein  Mädchen  an,  drückte  ihm  ein 
Taschentuch  an  den  Hals  und  lief  wieder  davon. 

War  er  in  den  Besitz  eines  von  einem  Frauenzimmer  berührten  Taschen- 
tuchs gelangt,  so  stellte  sich  bei  ihm  Erection  und  Orgasmus  ein.  Er  legte 
dann  das  betreffende  Tuch  ad  corpus  nudum,  am  liebsten  ad  genitalia  und 
erzielte  damit  eine  befriedigende  Ejaculation. 

Coitus  hat  er  von  den  Frauenzimmern  nie  begehrt,  zum  Theil  weil  er 
abgewiesen  zu  werden  fürchtete,  wesentlich  aber,  „weil  ihm  das  Taschentuch 
lieber  war,  als  das  Mädchen". 

D.  machte  diese  Geständnisse  nur  sehr  zurückhaltend  und  stückweise. 
Wiederholt  gerieth  er  ins  Weinen  und  wollte  nicht  mehr  weiter  reden,  weil 
er  sich  so  schäme.  Er  sei  ja  auch  kein  Dieb,  habe  nie  auch  nur  um  einen 
Pfennig  Werth  gestohlen,  selbst  wenn  er  in  bitterer  Noth  war.  Nie  habe  er 
sich  entschliessen  können,  die  Taschentücher  zu  veräussern. 

In  treuherzigem  Ton  versichert  er,  „ich  bin  kein  schlechter  Kerl.  Nur 
wenn  ich  diese  Dummheiten  mache,  bin  ich  ganz  auseinander". 

Das  treffliche  Anstaltsgutachten  betonte  den  auf  abnormer  Veranlagung 
beruhenden  krankhaften  unwiderstehlichen  Zwang,  unter  dem  die  Reate  be- 
gangen wurden,  neben  dem  Schwachsinn  massigen  Grades.  Freispruch  wegen 
Diebstahls. 


6)  Unzucht  mit  Individuen  unter  14  Jahren.    Schändung  (Oesterr.). 

(Oesterr.  Stgsb.   §  128,  132;   Oesterr.  Entw.  §  189,  1913;   Deutsch.  Stgsb. 

§  174,  1763.) 

Unter  Unzucht  (Schändung)  an  geschlechtlich  unreifen  Indivi- 
duen fasst  der  Gesetzgeber  alle  möglichen  unzüchtigen  Handlungen 
an  Personen  unter  14  Jahren  zusammen,    die  nicht  unter  den  Be- 


Schändung.  375 

griff  Nothzucht  gehören.  Der  Ausdruck  „Unzucht"  im  gesetzlichen 
Sinne  des  Wortes  vereinigt  die  trostlosesten  Verirrungen  und  grössten 
Scheusslichkeiten,  deren  nur  der  von  Wollust  triefende,  sittlich  und 
meist  auch  sexuell  schwache  Mensch  fähig  werden  kann. 

Ein  gemeinsamer  Zug  dieser  an  mehr  oder  weniger  noch  der 
Kindheit  angehörigen  Individuen  begangenen  Unzuchtsdelikte  ist 
der  des  Unmännlichen,  Bübischen,  oft  geradezu  Läppischen.  That- 
sächlich  werden  derartige  Delikte,  abgesehen  von  pathologischen 
Existenzen,  wie  sie  Imbecille,  Paralytiker  und  dem  Altersblödsinn 
Verfallene  repräsentiren,  fast  ausschliesslich  von  jugendlichen  Men- 
schen, die  ihrer  Potenz  und  ihrem  Muth  noch  nicht  trauen,  oder 
von  Wüstlingen,  die  ihre  Potenz  mehr  weniger  eingebüsst  haben, 
begangen.  Es  ist  psychologisch  undenkbar,  dass  der  völlig  potente 
und  geistig  intakte  Erwachsene  Gefallen  an  der  Unzucht  mit  Kin- 
dern fände. 

Die  Phantasie  des  Wüstlings  in  der  aktiyen  und  passiven  In- 
scenirung  unzüchtiger  Handlungen  ist  eine  äusserst  grosse,  und  es 
fragt  sich,  ob  mit  der  folgenden  summarischen  Aufzählung  der 
forensisch  bis  jetzt  bekannten  alle  Möglichkeiten  erschöpft  sind. 

Am  häufigsten  besteht  die  Unzucht  in  wollüstiger  Betastung 
(nach  Umständen  auch  Flagellation  x),  aktiver  Manustupration,  Ver- 
leitung von  Kindern  zur  Unzucht  durch  Benützung  derselben  zu 
Onanisirung,  wollüstiger  Betastung.  Seltenere  Delikte  sind  Cunni- 
lingus,  Irrumare  an  Knaben  oder  Mädchen,  Paedicatio  puellarum, 
Coitus  inter  femora,  Exhibition. 

In  einem  Fall,  den  Maschka  (Handb.  III,  p.  174)  berichtet,  Hess  ein 
junger  Mann  Mädchen  von  8 — 12  Jahren  nackt  in  seinem  Zimmer  tanzen, 
springen,  vor  seinen  Augen  uriniren,  bis  er  Ejaculation  bekam. 

Nicht  selten  ist  der  Missbrauch  von  Knaben  durch  wollüstige  Weiber, 
die  mit  diesen  eine  Conjunctio  membrorum  vornehmen,  um  durch  Friction 
sich  zu  befriedigen,  oder  sich  durch  Onanisirung  zu  befriedigen  suchen2). 

Eines  der  scheusslichsten  Beispiele  hat  Tardieu  erlebt.  In  demselben 
masturbirten  Dienstmägde  im  Verein  mit  ihren  Liebhabern  ihnen  anvertraute 
Kinder,  trieben  Cunnilingus  mit  einem  7jährigen  Mädchen,  introducirten  ihm 
Rüben  und  Kartoffeln  in  vaginam  und  einem  2jährigen  Knaben  in  anum! 

Beobachtung  181.  Z.,  62  Jahre,  schwer  belastet,  Masturbant,  hat 
angeblich  nie  coitirt,  häufig  Fellatio  getrieben.    Er  befindet  sich  in  der  Irren- 


*)  Fälle  s.  Friedreich's  Blätter  f.  ger.  Anthropologie  1859,  III,  p.  77. 
2)  Fälle  Maschka,  Hdb.  III,  p.  175.  —  Casper's  Viertel] ahrsschr.  1852, 
Bd.  I.  —  Tardieu,  Attentats  aux  moeurs. 


376  Schändung. 

anstalt  wegen  Paranoia.  Sein  grösster  Genuss  war  es  gewesenJIO — 14jährige 
Mädchen  an  sich  zu  locken,  Cunnilingus  und  andere  Scheusslichkeiten  mit 
ihnen  zu  treiben.    Er  ejaculirte  dabei  unter  Orgasmus. 

Masturbation  verschaffte  ihm  nicht  dieselbe  Befriedigung  und  brachte 
nur  mühsam  Ejaculation  zu  Stande.  Faute  de  mieux  war  er  auch  Fellator 
virorum,  gelegentlich  Exhibitionist.  Phimosis.  Asymmetrischer  Schädel.  (Pe- 
landa,  Arch.  di  Psichiatria  X,  fascic.  3 — 4.) 

Beobachtung  182.  X.,  Priester,  40  Jahre,  stand  unter  der  Anklage, 
Mädchen  von  10 — 13  Jahren  zu  sich  gelockt,  sie  entkleidet,  wollüstig  betastet 
und  im  Anschluss  daran  sich  masturbirt  zu  haben. 

Er  ist  belastet,  von  Kindheit  auf  Onanist,  moralisch  imbecill,  von  jeher 
sexuell  sehr  erregbar.  Schädel  etwas  klein.  Penis  ungewöhnlich  gross;  An- 
deutung von  Hypospadie.     (Ebenda.) 

Beobachtung  183.  K. ,  23  Jahre,  Werkelmann,  ist  angeklagt  und 
überwiesen,  wiederholt  kleine  Knaben  und  hie  und  da  auch  Mädchen  an 
sich  gelockt  und  an  abgelegenen  Orten  mit  ihnen  Unzucht  (mutuelle  Mastur- 
bation, Fellatio  puerorum,  Betastung  der  Genitalien  von  Mädchen)  getrieben 
zu  haben. 

K.  ist  imbecill,  auch  körperlich  verkümmert,  kaum  1,5  m  hoch,  von 
rhachitisch  hydrocephalem  Schädel,  mit  gerieften,  defekten,  unregelmässigen, 
schlechten  Zähnen.  Wulstige  Lippen,  blöde  Miene,  stotternde  Sprache,  täp- 
pische Haltung  vervollständigen  das  Bild  geistig-körperlicher  Entartung.  K.  be- 
nimmt sich  wie  ein  Kind,  das  auf  einem  dummen  Streich  ertappt  wurde. 

Bartwuchs  kaum  erkenntlich.     Genitalien  gut  und  normal  entwickelt. 

Er  hat  ein  oberflächliches  Bewusstsein,  etwas  Ungehöriges  begangen  zu 
haben,  aber  der  sittlichen,  socialen  und  rechtlichen  Bedeutung  seiner  Delikte 
ist  er  sich  nicht  bewusst. 

K.  stammt  von  einem  trunksüchtigen  Vater  und  einer  Mutter,  die  durch 
die  üble  Behandlung  ihres  Mannes  irrsinnig  wurde  und  im  Irrenhause  starb. 
Der  Knabe  erblindete  fast  völlig  in  den  ersten  Lebensjahren  durch  Hornhaut- 
geschwüre, wuchs  vom  6.  Jahre  bei  einer  Armenbetheilten  auf  und  verdiente 
sich>  herangewachsen,  kümmerlich  seinen  Unterhalt  als  Drehorgelspieler. 

Sein  Bruder  ist  ein  Taugenichts,  er  selbst  galt  als  ein  mürrischer, 
zänkischer,  boshafter,  launenhafter,  reizbarer  Mensch. 

Das  Gutachten  betonte  die  intellectuelle,  moralische  und  körperliche 
Verkümmerung  des  Inculpaten. 


Leider  muss  zugestanden  werden,  dass  gerade  die  scheuss- 
lichsten  dieser  Unzuchtsdelikte  geistig  Gesunde  betreffen,  die  aus 
Uebersättigung  im  Geschlechtsgenuss ,  aus  Geilheit  und  Rohheit, 
nicht  selten  in  angetrunkenem  Zustande,  so  weit  ihre  Menschen- 
würde vergessen. 

Ein   grosser   Theil    dieser    Fälle   steht   aber    entschieden   auf 


Thierschändung.  377 

krankhaftem  Boden.     Dies  gilt  namentlich    für  diejenigen ,    wo  ein 
Greis  *)  der  Verführer  der  Jugend  ist. 

Ich  stimme  Kirn  bei,  wenn  er  in  solchen  Fällen  unter  allen 
Umständen  ein  Exploratio  mentalis  für  nöthig  hält,  da  hier  häufig 
genug  ein  wiedererwachender,  perverser,  krankhaft  starker,  zudem 
unbeherrschbarer  Geschlechtstrieb,  als  Theilerscheinung  einer  De- 
mentia senilis,  sich  ermitteln  lässt. 


7)  Unzucht  wider  die  Natur  (Sodomie)2). 

(Oesterr.  Stgsb.  §  129;  Entw.  §  190;  Deutsch.  Stgsb.  §  175.) 

a)  Thierschändung  (Bestialität)3). 

Auch  die  Thierschändung,  so  monströs  und  widerlich  sie  jedem 
anständigen  Menschen  erscheinen  muss,  entspringt  keineswegs  immer 
psycho-pathologischen  Bedingungen.  Tiefstehende  Moralität,  grosser 
geschlechtlicher  Drang  bei  erschwerter  naturgemässer  Befriedigung, 
dürften  Hauptmotive  dieser  sowohl  bei  Männern  als  bei  Frauen  vor- 
kommenden widernatürlichen  Geschlechtsbefriedigung  sein. 

Durch  Polak  wissen  wir,  dass  sie  in  Persien  nicht  selten  aus  dem  Wahn 
hervorgeht,  durch  den  sodomitischen  Akt  die  Gonorrhöe  los  zu  werden,  gleich- 
wie  in  Europa  noch  vielfach  der  Glaube  besteht,  der  Beischlaf  mit  einem 
kleinen  Mädchen  vermöge  von  der  Venerie  zu  heilen. 

Erfahrungsgemäss   ist  Bestialität  in  Kuh-  und  Pferdeställen   kein  allzu 


>)  Vgl.  Kirn,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  39,  p.  217. 

2)  Ich  folge  dem  herrschenden  Sprachgebrauch,  indem  ich  Bestialität 
und  Päderastie  unter  dem  gemeinsamen  Ausdruck  Sodomie  bespreche.  In  der 
Genesis  (Cap.  19),  woher  dieses  Wort  stammt,  bezeichnet  es  auschliesslich  das 
Laster  der  Päderastie.  Später  hat  man  Sodomie  vielfach  als  gleichbedeutend 
mit  Bestialität  gebraucht.  Die  Moraltheologen,  wie  der  hl.  Alphons  von  Liguori, 
Gury  u.  A.  haben  immer  richtig,  d.  h.  im  Sinne  der  Genesis  unterschieden 
zwischen:  Sodomia,  i.  e.  concubitus  cum  persona  ejusdem  sexus  und  Bestia- 
litas,  i.  e.  concubitus  cum  bestia  (vgl.  Olfers,  Pastoralmedicin  p.  78). 

Die  Juristen  haben  Verwirrung  in  die  Terminologie  gebracht,  indem  sie 
eine  „Sodomia  ratione  sexus"  und  eine  „S.  ratione  generis"  statuiren.  Die 
Wissenschaft  sollte  aber  sich  hier  als  ancilla  Theologiae  bekennen  und  zum 
richtigen  Sprachgebrauch  zurückkehren. 

$)  Interessante  histor.  Notizen  s.  Krauss,  Psychol.  des  Verbrechens,  p.  180; 
Maschka,  Hdb.  III,  p.  188;  Hofmann,  Lehrb.  d.  ger.  Med.,  p.  180;  Kosen- 
baum,  Die  Lustseuche.    5.  Aufl.  1892. 


378  Thierschändung. 

seltenes  Vorkommniss.  Gelegentlich  kann  sich  der  Betreffende  auch  an  Ziegen, 
Hündinnen,  ja,  wie  ein  Fall  bei  Tardieu  und  einer  bei  Schauenstein 
(Lehrb.  p.  125)  lehren,  sogar  an  Hennen  vergreifen. 

Bekannt  ist  die  Verfügung  Friedrichs  d.  Gr.  im  Falle  eines  Cavalle- 
risten,  der  eine  Stute  geschändet  hatte:  „Der  Kerl  ist  ein  Schwein  und  soll 
unter  die  Infanterie  gesteckt  werden." 

Der  Verkehr  weiblicher  Individuen  mit  Thieren  beschränkt  sich  auf  den 
mit  Hunden.  Ein  monströses  Beispiel  von  sittlicher  Depravation  in  grossen 
Städten  ist  der  von  Maschka  (Handb.  III)  berichtete  Fall  einer  Weibsperson 
in  Paris,  die  in  geschlossenen  Kreisen  gegen  ein  Eintrittsgeld  vor  Wüstlingen 
sich  damit  producirte,  dass  sie  sich  von  einem  abgerichteten  Bulldogg  be- 
gatten liess! 

Beobachtung  184.  In  einer  Provinzstadt  ertappte  man  einen  30  Jahre 
-alten  Mann  aus  höherem  Stande  im  sodomitischen  Verkehr  mit  einer  Henne. 
Man  hatte  lange  nach  dem  Uebelthäter  gefahndet,  weil  die  Hennen  im  Hause, 
eine  nach  der  anderen,  zu  Grunde  gingen.  Auf  die  Frage  des  Gerichtspräsi- 
denten, wie  der  Betreffende  zu  dieser  scheusslichen  Handlung  gekommen  sei, 
vertheidigte  sich  der  Angeklagte  mit  Hinweis  auf  seine  kleinen  Genitalien, 
die  ihm  den  Verkehr  mit  Weibern  unmöglich  machten.  Die  ärztliche  Unter- 
suchung ergab  thatsächlich  äusserst  kleine  Genitalien.  Das  Individuum  war 
geistig  ganz  normal. 

Ueber  etwaige  Belastung,  Zeit  des  Erwachens  des  Sexualtriebs  u.  s.  w. 
fehlen  Angaben.     (Gyurkovechky,  Männl.  Impotenz  1889,  S.  82.) 

Beobachtung  185.  Am  23.  September  1889  Mittags  fing  der  16  Jahre 
alte  Schuhmacherlehrling  W.  im  Garten  des  Nachbars  eine  Gans  und  beging 
an  dem  Thier  Akte  der  Bestialität,  bis  der  Nachbar  hinzukam.  Auf  dessen 
Vorhalt  sagte  W. :  „Nun,  fehlt  der  Gans  etwas?"  und  entfernte  sich.  Im 
Verhör  gestand  er  den  Sachverhalt,  entschuldigte  sich  aber  mit  temporärer 
Geistesabwesenheit.  Seit  einer  schweren  Krankheit  mit  12  Jahren  habe  er 
mehrmals  im  Monat  mit  Hitze  im  Kopf  verbundene  Anfälle,  in  welchen  er 
geschlechtlich  sehr  aufgeregt  sei,  sich  nicht  zu  helfen  wisse,  auch  nicht  wisse, 
was  er  thue.  In  einem  solchen  Anfall  habe  er  die  That  begangen.  Er  ver- 
antwortete sich  in  gleicher  Weise  in  der  Hauptverhandlung,  behauptete,  von 
der  Species  facti  nur  aus  den  Angaben  des  Nachbars  etwas  zu  wissen.  Der 
Vater  theilt  mit,  dass  W.,  aus  gesunder  Familie  stammend,  seit  Scarlatina 
mit  5  Jahren  immer  kränklich  gewesen  sei,  mit  12  Jahren  eine  hitzige  Kopf- 
krankheit gehabt  habe.  W.  war  gut  beleumundet,  lernte  gut  in  der  Schule, 
half  später  seinem  Vater  beim  Handwerk.  Der  Masturbation  war  er  nicht 
ergeben. 

Die  ärztliche  Exploration  ergab  keine  intellektuellen  noch  ethischen 
Defecte.  Die  körperliche  Untersuchung  ermittelte  normale  Genitalien,  Penis 
relativ  stark  entwickelt,  erhebliche  Steigerung  des  Kniesehnenreflexes.  Im 
Uebrigen  negativer  Befund. 

Die  Amnesie  tempor.  delicti  erwies  sich  als  nicht  stichhaltig.  Von 
früheren  Anfällen  geistiger  Störung  war  nichts  zu  eruiren,  von  solchen  in  der 
6wöchentlichen  Beobachtungszeit  nichts  wahrzunehmen.     Eine  Perversion  der 


Thierschändung.  379 

Vita  sexualis  bestand  nicht.  Das  ärztliche  Gutachten  gab  die  Möglichkeit  zu, 
dass  von  einer  Hirnerkrankung  herrührende  organische  Momente  (Fluxion  zum 
Kopf)  von  Einfluss  bei  Verübung  der  incriminirten  Handlung  gewesen  sein  können. 
(Aus  einem  Gutachten  des  Herrn  Dr.  Fritsch  in  Wien.) 

Innerhalb  der  Bestialität  findet  sich  aber  eine  Gruppe  von 
Fällen,  in  welchen  entschieden  eine  pathologische  Grundlage  be- 
steht, insofern  schwere  Belastung,  constitutionelle  Neurosen,  Im- 
potenz beim  normalen  Akt,  impulsive  Art  der  Ausführung  des 
widernatürlichen  Aktes  darauf  hinweisen.  Er  wäre  zweckmässig, 
diese  pathologischen  Fälle  eigens  zu  benennen,  etwa  indem  für  die 
nicht  pathologischen  der  Ausdruck  Bestialität  beibehalten,  für  die 
krankhaften  der  der  Zooerastie  gewählt  würde. 

Beobachtung  186.  Impulsive  Sodomie.  A.,  16  Jahre,  Gärtner- 
junge, unehelich,  "Vater  unbekannt,  Mutter  schwer  belastet,  hysteroepileptisch. 
A.  hat  difformen,  asymmetrischen  Gehirn-  und  Gesichtsschädel,  desgleichen 
Skelet,  ist  klein,  war  seit  der  Kindheit  Masturbant,  immer  moros,  apathisch, 
die  Einsamkeit  liebend,  höchst  reizbar,  in  seinen  Affecten  von  geradezu  patho- 
logischer Reaction.  Er  ist  imbecill,  wohl  durch  Masturbation  körperlich  sehr 
herabgekommen  und  neurasthenisch.  Ueberdies  bietet  er  hysteropathische 
Symptome  (Einschränkung  des  Sehfelds,  Dyscbromatopsie,  Herabsetzung  von 
Geruch,  Geschmack,  Gehör  rechts,  Anaesthesia  testiculi  dextr.,  Clavus  u.  s.  w.). 

A.  ist  überwiesen,  Hunde  und  Lapins  theils  masturbirt,  theils  sodomisirt 
zu  haben.  12  Jahre  alt,  sah  er,  wie  Knaben  einen  Hund  masturbirten.  Er 
machte  es  nach  und  konnte  sich  nicht  enthalten,  in  der  Folge  Hunde,  Katzen, 
Lapins  in  dieser  scheusslichen  Weise  zu  misshandeln.  Viel  häufiger  sodomisirte 
er  aber  weibliche  Kaninchen,  die  einzigen  Thiere,  welche  für  ihn  einen  Reiz 
hatten.  Mit  Einbruch  der  Nacht  pflegte  er  sich  nach  dem  Kaninchenstall 
seines  Herrn  zu  begeben,  um  seinem  entsetzlichen  Drang  zu  fröhnen.  Man 
fand  wiederholt  Lapins  mit  zerrissenem  Rectum.  Die  bestialen  Akte  spielten 
sich  immer  in  derselben  Weise  ab.  Es  handelte  sich  um  förmliche  Anfälle, 
die  etwa  alle  8  Wochen  und  jeweils  Abends  in  identischer  Weise  sich  einstellten. 
A.  bekam  gfosses  Unbehagen,  ein  Gefühl,  wie  wenn  man  ihm  den  Kopf  zer- 
hämmere. Es  war  ihm,  wie  wenn  er  den  Verstand  verliere.  Er  kämpfte  gegen 
den  auftretenden  Zwangsgedanken,  Lapins  zu  sodomisiren,  empfand  wachsende 
Angst  dabei,  Steigerung  des  Kopfschmerzes  bis  zur  Unerträglichkeit.  Auf  der 
Höhe  des  Zustands  Glockenläuten,  Ausbruch  von  kaltem  Schweiss,  Zittern  der 
Kniee,  endlich  Aufhören  der  Widerstandsfähigkeit  und  impulsive  Ausführung  der 
perversen  Handlung.  Sobald  dieselbe  geschehen  ist,  wird  er  frei  von  Angst. 
Die  nervöse  Krise  ist  geschwunden,  er  ist  wieder  Herr  seiner  selbst,  empfindet 
tiefe  Beschämung  über  das  Vorgefallene  und  fürchtet  die  Wiederkehr  solcher 
Situationen.  A.  versichert,  dass  er  in  solchen  Krisen,  vor  die  Wahl  gestellt, 
ein  Weib  oder  ein  Lapinweibchen  zu  gebrauchen,  nur  sich  zu  letzterem  ent- 
schliessen  könnte.  Auch  intervallär  erregen  einzig  unter  den  Hausthieren 
Lapins    sein   Wohlgefallen.     In   seinen   Ausnahmszuständen    genügt  ihm   zur 


380  Thierscbändung. 

sexuellen  Befriedigung  meist  das  blosse  Andrücken,  Küssen  u.  s.  w.  des  Lapin, 
zuweilen  geräth  er  aber  dabei  in  solchen  furor  sexualis,  dass  er  stürmisch  das 
Thier  sodomisiren  muss. 

Die  erwähnten  bestialen  Akte  sind  die  einzigen,  welche  ihn  sexuell  be- 
friedigen und  die  einzige  ihm  mögliche  Art  sexueller  Thätigkeit.  A.  versichert, 
dass  er  dabei  nie  ein  Wollustgefühl  hatte,  sondern  Befriedigung  nur  insofern, 
als  er  dadurch  aus  seiner  qualvollen,  durch  impulsiven  Zwang  geschaffenen 
Situation  befreit  wurde. 

Es  gelang  leicht  der  ärztlichen  Epikrise  nachzuweisen,  dass  dieses  mensch- 
liche Scheusal  ein  psychisch  Degenerirter,  unfreier  Kranker,  kein  Verbrecher 
ist.     (Boeteau,  La  France  medicale  38.  Jahrgang  Nr.  38.) 

Beobachtung  187.  X.,  Bauer,  40  Jahre,  griechisch-katholisch.  Vater 
und  Mutter  waren  starke  Trinker.  Vom  5.  Jahre  ab  bekam  Patient  epileptische 
Anfälle,  d.  h.  er  fällt  bewusstlos  um,  liegt  2 — 3  Minuten  regungslos,  dann 
rafft  er  sich  auf  und  läuft  planlos  mit  weit  aufgerissenen  Augen  davon.  Mit 
17  Jahren  Erwachen  des  Geschlechtstriebs.  Patient  hatte  weder  sexuelle  Nei- 
gung zu  Weibern,  noch  zu  Männern,  wohl  aber  zu  Thieren  (Vögel,  Pferde  u.  s.  w.). 
Er  coitirte  mit  Hühnern,  Enten,  später  mit  Pferden,  Kühen.    Nie  Onanie. 

Patient  ist  Heiligenbildmaler,  sehr  geistesbeschränkt.  Seit  Jahren  reli- 
giöse Paranoia  mit  Ekstasezuständen.  Er  hat  eine  „unerklärliche"  Liebe  für 
die  Gottesmutter,  für  die  er  sein  Leben  hingeben  möchte.  In  die  Klinik  auf- 
genommen, erweist  sich  Patient  frei  von  Gebrechen  und  von  anatomischen 
Degenerationszeichen. 

Er  hat  von  jeher  Aversion  gegen  Frauen  gehabt.  Bei  einmaligem 
Versuch,  mit  einem  Weib  zu  coitiren,  war  er  impotent,  Thieren  gegenüber 
immer  sehr  potent.  Er  ist  Frauen  gegenüber  sehr  schamhaft.  Coitus  mit 
solchen  erscheint  ihm  fast  wie  Sünde  (Kowalewsky,  Jahrb.  für  Psychiatrie 
Vn,  Heft  3). 

Beobachtung  188.  T. ,  35  Jahre ,  von  trunksüchtigem  Vater  und 
psychopathischer  Mutter,  war  nie  schwer  krank  gewesen  und  hatte  in  seinem 
Benehmen  nie  etwas  Auffälliges  geboten.  Schon  mit  9  Jahren  trieb  er  Unzucht 
mit  einem  Huhn ,  später  mit  anderen  Hausthieren.  Als  er  mit  Weibern  zu 
cohabitiren  begann,  schwanden  seine  bestialen  Gelüste.  Er  heirathete  mit 
20  Jahren,  war  sexuell  befriedigt. 

Mit  27  Jahren  begann  er  zu  trinken.  Da  erwachten  seine  früheren 
perversen  Neigungen  wieder.  Als  er  eines  Tages  seine  Ziege  zum  Beschälen 
in  ein  nahes  Dorf  führte,  erwachte  in  ihm  der  Drang,  sie  zu  sodomisiren, 
wurde  immer  mächtiger,  jedoch  noch  mühsam  bekämpft.  Herzklopfen,  quä- 
lender Schmerz  auf  der  Brust,  heftiger  Orgasmus  machten  ihn  seinem  Drang 
erliegen.  T.  versichert,  dass  er  bei  solchen  bestialen  Akten  viel  grössere 
Wollust  empfunden  habe,  als  beim  Coitus  cum  femina. 

Seine  bestialen  Handlungen  blieben  unbemerkt.  Er  kam  schliesslich 
wegen  Alkoholwahnsinn  in  die  Irrenanstalt  und  bei  Aufnahme  der  Anamnese 
machte  er  die  obigen  Enthüllungen.  (Boissier  et  Lachaux,  Annal.  medico- 
psychol.  Juli-August  1893,  p.  381.) 


Zooerastie.  381 

Grosse  Schwierigkeiten  bieten  sich  für  die  Erklärung  des  Zu- 
standekommens der  Zooerastie.  Der  Versuch,  sie  auf  Fetischismus 
zurückzuführen,  gleichwie  dies  bei  der  Zoophilia  erotica  (vgl.  p.  191) 
möglich  ist,  gelingt  nicht  bei  den  bisher  beobachteten  Fällen  von 
Zooerastie. 

Es  fragt  sich,  ob  Zoophilia  überhaupt  zu  geschlechtlichen 
Acten  an  Thieren  (also  eventuell  Bestialität)  führen  könnte.  Ist  sie 
wirklich  eine  fetischistische  Erscheinung,  so  wird  diese  Möglichkeit 
auf  Grund  der  Erfahrungen  hinsichtlich  des  Fetischismus  überhaupt, 
kaum  annehmbar. 

Auch  im  berichteten  Falle  von  Zoophilia  erotica  fetischistica 
(p.  192)  kam  es  bemerkenswerther  Weise  nicht  zu  solchen  An- 
wandlungen, und  der  Träger  der  Beobachtung  dachte  gar  nicht 
an  den  Sexus  der  betreifenden  Thiere.  Es  bleibt  angesichts  der 
Zooerastie  vorläufig  nichts  übrig,  als  sie  für  eine  originäre,  etwa 
der  conträren  Sexualempfindung  gleichzustellende  Perversion  der  Vita 
sexualis  zu  halten. 

Der  folgende,  allerdings  rudimentäre  und  abortive  Fall  von 
Zooerastie  spricht  jedenfalls  zu  Gunsten  einer  solchen  Annahme 
und  für  die  völlige  Unbewusstheit  der  Motivation  des  bezüglichen 
Dranges. 

Beobachtung  189.  Y.,  20  Jahre,  intelligent,  wohlerzogen,  erblich  an- 
geblich nicht  belastet,  körperlich  gesund  bis  auf  Erscheinungen  von  Neurasthenfe 
und  Hyperaesthesia  uretbrae,  hat  angeblich  nie  masturbirt.  Von  Kindheit  auf 
grosse  Freude  an  Thieren,  besonders  Hunden  und  Pferden.  Seit  der  Pubertät 
Potenzirung  dieses  Sports,  bei  dem  aber  nie  sexuelle  Vorstellungen  untergelaufen 
zu  sein  scheinen. 

Eines  Tages,  beim  erstmaligen  Besteigen  eines  Pferdes,  Wollust- 
empfindung. Nach  14  Tagen  bei  neuerlichem  Anlass  dasselbe,  zugleich  mit 
Erection. 

Kurz  darauf  erster  Ritt.  Diesmal  Ejaculation.  Nach  1  Monat  derselbe 
Vorfall.  Patient  empfindet  darüber  Aerger  und  Abscheu,  abstinirt  vom  Reiten. 
Nunmehr  fast  tägliche  Pollutionen. 

Der  Anblick  von  Reitern  und  von  Hunden  macht  ihm  Erectionen.  Fast 
allnächtlich  Pollution,  mit  der  Traumvorstellung,  er  sitze  zu  Pferde  oder  dres 
sire  Hunde.  Patient  sucht  ärztliche  Hülfe.  Eine  Sondenkur  beseitigt  die 
Hyperaesthesia  urethrae  und  mindert  die  Pollutionen.  Dem  Rath  des  Arztes, 
zu  coitiren,  folgt  Patient  widerstrebend,  theils  aus  fehlender  Zuneigung  zum 
andern  Geschlecht,  theils  aus  Misstrauen  in  seine  Potenz. 

Er  macht  erfolglose  Coitusversuche ,  erzielt  nicht  einmal  Erection,  die 
aber  sofort  auftritt,  als  er  einem  Reiter  begegnet.  Er  wird  deprimirt,  hält 
sich  für  ein  abnormes  Wesen  und  Heilung  für  unmöglich. 

Entsprechende    ärztliche    Behandlung.      Neuer     Coitusversuch    gelingt 


382  Zooerastie. 

unter  Zuhülfenahme  der  die  Erection  fördernden  Phantasiebilder  von  Hunden, 
Reitern. 

Patient  reüssirt  immer  leichter,  fühlt  seine  Zuneigung  zu  Thieren 
schwinden,  hat  keine  Erectionen  beim  Anblick  von  Reitern,  Hunden  mehr,  die 
Pollutionen  auslösenden  Traumvorstellungen  haben  immer  seltener  Thiere 
zum  Inhalt,  er  träumt  von  Mädchen.  Der  anfangs  noch  durch  rasch  erlahmende 
Erection  und  Ejaculatio  praecox  pathologische  Coitus  wird  unter  Zuhülfe- 
nahme einer  Sondenkur  normal.  Patient  ist  sexuell  befriedigt  und  von 
seinem  abnormen  sexuellen  Trieb  befreit.  (Dr.  Hanc,  Wien.  med.  Blätter. 
1887.  Nr.  5.) 

Der  vorausgehende  Fall  rechtfertigt  die  Annahme  einer  origi- 
nären Perversion,  denn  anstatt  der  Vorstellung  des  normalen  Objektes 
(Weib)  ist  es  die  häufig  gesehener  Thiere  (Pferde,  Hunde),  welche 
sexuelle  Gefühle  und  Dränge  erweckt.  Daneben  mag  noch  ein 
dunkles  sadistisches  Motiv  im  Spiele  gewesen  sein,  da,  wenigstens 
in  der  Vita  sexualis  des  Träumenden,  es  sich  um  das  Reiten  auf 
Pferden  und  das  Dressiren  von  Hunden  handelte. 

Auffällig  erscheint  die  grosse  Seltenheit  der  Fälle  wirklicher 
Zooerastie.  Sie  erklärt  sich  wohl  aus  der  Leichtigkeit,  mit  der  sie 
verborgen  bleiben. 

Die  forensisch  bedeutungsvolle  Unterscheidung  von  Bestialität 
und  von  Zooerastie  kann  in  concreto  nicht  schwierig  sein. 

Wer  bei  Gelegenheit  zur  Befriedigung  normaler  sexueller  Dränge 
ausschliesslich  bei  Thieren  geschlechtliche  Befriedigung  sucht  und 
findet,  muss  vorweg  die  Vermuthung  pathologischer  Bedeutung 
seiner  perversen  Triebrichtung  für  sich  haben,  jedenfalls  ungleich 
mehr  als  der  conträr  Sexuale,  weil  bei  sexuellen  Handlungen  an 
Thieren  die  psychische  Ansteckung  fehlt,  die  Möglichkeit,  dass 
die  Perversion  des  einen  Theils  zur  Perversität  des  andern  ge- 
führt habe. 

Immerhin  lässt  sich  annehmen,  dass  die  Zahl  der  Fälle  von 
Zooerastie  gegenüber  denen  von  conträrer  Sexualempfindung  eine 
ungleich  geringere  ist.  Es  ergiebt  sich  dies  a  priori  aus  dem 
Charakter  beider  Perversionen,  der  weit  grösseren  Entfernung  des 
Zooerasten  gegenüber  dem  conträr  Sexualen  vom  normalen  Objekt. 
Damit  würde  die  erstere  Perversion  viel  schwerer,  weil  degenerativer 
als  die  des  Letzteren  sich  qualificiren. 


Päderastie.  383. 


b)  Unzucht  mit  Personen  desselben  Geschlechts  (Päderastie,  Sodomia 

sensu  strictiori). 

Deutschland  kennt  nur  widernatürliche  Unzucht  zwischen  männ- 
lichen Personen.  Oesterreich  kennt  solche  zwischen  Personen  des- 
selben Geschlechts,  wonach  also  auch  Unzucht  zwischen  Weib  und 
Weib  strafrechtlicher  Verfolgung  unterstehen  würde. 

Unter  den  unzüchtigen  Handlungen  zwischen  männlichen  Indi- 
viduen nimmt  die  Päderastie  (Immissio  penis  in  anum)  das  Haupt- 
interesse in  Anspruch.  An  diese  Perversität  sexuellen  Handelns 
hat  der  Gesetzgeber  wohl  ausschliesslich  gedacht  und  nach  den  Aus- 
führungen hervorragender  Interpreten  der  Strafgesetzgebung  (Oppen- 
hoff,  Stgsb.,  Berlin  1872,  p.  324  und  Rudolf  und  Stenglein, 
D.  Strafgesb.  f.  d.  Deutsche  Reich  1881,  p.  423)  gehörte  Immissio 
penis  in  corpus  vivum  zum  Thatbestand  des  im  §  175  vorgesehenen 
Verbrechens. 

Nach  dieser  Auffassung  entfiel  die  strafgerichtliche  Ahndung 
von  anderweitigen  unzüchtigen  Handlungen  zwischen  männlichen 
Personen,  soweit  sie  nicht  durch  Verletzung  der  öffent- 
lichen Schamhaftigkeit,  Anwendung  von  Gewalt  oder  Vor- 
nahme an  Knaben  unter  14  Jahren  complicirt  erschien. 
Von  dieser  Auffassung  ist  man  in  der  letzten  Zeit  wieder  abgegangen 
und  erachtet  das  Verbrechen  der  widernatürlichen  Unzucht  unter 
Männern  als  vorhanden,  wenn  auch  nur  beischlafähnliche  Hand- 
lungen stattfanden  x). 

Die  Forschungen  über  conträre  Sexualempfindung  haben  die 
mannmännliche  Liebe  in  ein  ganz  anderes  Licht  gestellt  als  das, 
in  welchem  die  aus  ihr  hervorgehenden  Unzuchtsdelikte,  speciell 
die  Päderastie,  zur  Zeit  der  Abfassung  der  Gesetzbücher  standen.  Die 
Thatsache  einer  psychopathologischen  Begründung  vieler  Fälle  von. 
conträrer  Sexualempfindung   lässt  keinen  Zweifel   darüber   zu,    dass 


*)  Wie  spitzfindig,  anstössig  und  bedenklich  für  den  Richter  die  Be- 
urtheilung.  dieser  „beischlaf ähnlichen"  Handlungen  für  die  Constatirung  des 
objektiven  Thatbestandes  des  Verbrechens  sein  mag,  deuten  gut  an  eine  Arbeit 
über  eine  Strafbarkeit  des  mannmännlichen  Verkehrs  in  der  Zeitschr.  f.  d.  ge- 
sammte  Strafrechtswissenschaft  Bd.  VII,  Heft  1,  sowie  eine  solche  in  Fried- 
reich's  Blättern  f.  gerichtl.  Medicin.  Jahrgang  1891,  Heft  6.  —  Siehe  ferner 
Moll's  Buch  „Conträre  Sexualempfindung"  p.  223  u.  ff.,  und  Bernhardi, 
„Der  Uranismus",  Berlin  1882. 


J 


384  Zurechnungsfähigkeit  der  Conträrsexualen. 

auch  die  Päderastie  die  Handlung  eines  Unzurechnungsfähigen  sein 
kann  und  zwingt  dazu,  ferner  in  foro  nicht  bloss  die  That,  sondern 
auch  den  geistigen  Zustand  des  Thäters  zu  berücksichtigen. 

Die  Eingangs  dieses  Abschnitts  aufgestellten  Gesichtspunkte 
müssen  auch  hier  massgebend  sein.  Nicht  die  That,  sondern  einzig 
und  allein  die  anthropologisch-klinische  Würdigung  des  Thäters 
kann  die  Entscheidung  herbeiführen,  ob  strafwürdige  Perversität 
oder  krankhafte  und  nach  Umständen  die  Strafbarkeit  ausschliessende 
Perversion  des  geistigen  und  Trieblebens  vorliege. 

Die  nächste  Frage  in  foro  muss  dahin  gehen,  ob  die  sexuelle 
Neigung  zu  Personen  desselben  Geschlechts  eine  angeborene  oder 
eine  erworbene  Erscheinung  sei,  im  letzteren  Falle,  ob  sie  eine 
krankhafte  Perversion  oder  bloss  eine  moralische  Verirrung  (Per- 
versität) darstellt. 

Die  angeborene  conträre  Sexualempfindung  kommt  nur  bei 
krankhaft  veranlagten  (belasteten)  Individuen  vor,  als  Theilerschei- 
nung  einer  durch  anatomische  oder  funktionelle  oder  durch  beiderlei 
Abnormitäten  gekennzeichnete  Belastung.  Um  so  klarer  wird  der 
Fall  und  um  so  sicherer  die  Diagnose,  wenn  das  Individuum  in 
Charakter  und  ganzem  Fühlen  seiner  geschlechtlichen  Eigenart  ent- 
sprechend erscheint,  der  Neigung  zu  Personen  des  anderen  Geschlechts 
vollkommen  entbehrt  oder  gar  Horror  vor  sexuellem  Verkehr  mit 
solchen  empfindet,  wenn  der  Betreffende  in  dem  Drang  zur  Be- 
friedigung der  conträren  Sexualempfindung  Merkmale  anderweitiger 
Anomalie  des  Sexuallebens,  sowie  tiefere  Degeneration  in  Form  von 
Periodicität  des  Drangs  und  impulsivem  Handeln  bietet  und  eine 
neuro-  und  psychopathische  Persönlichkeit  ist. 

Die  weitere  Frage  betrifft  den  Geisteszustand  des  Urnings. 
Ist  dieser  ein  solcher,  dass  die  Bedingungen  der  Zurechnungsfähig- 
keit überhaupt  fehlen,  so  ist  der  Päderast  kein  Verbrecher,  sondern 
•ein  unzurechnungsfähiger  Geisteskranker. 

Dieser  Fall  ist  aber  bei  geborenen  Urningen  offenbar  der 
seltenere.  In  der  Regel  bieten  sie  höchstens  elementare  psychL^no 
Störungen,  welche  die  Zurechnungsfähigkeit  an  und  für  sich  nicht 
aufheben. 

Damit  ist  aber  die  forensische  Frage  der  Verantwortlichkeit 
des  Urnings  nicht  abgethan.  Der  Sexualtrieb  ist  eines  der  mächtig- 
sten organischen  Bedürfnisse.  Keine  Gesetzgebung  findet  die  ausser- 
eheliche  Befriedigung  des  Sexualtriebs  an  und  für  sich  strafbar: 
dass  der  Urning  pervers  fühlt,  ist  nicht  seine  Schuld,    sondern  die 


Zurechnungsfähigkeit  der  Conträrsexualen.  385 

einer  abnormen  Naturanlage.  Sein  sexuelles  Verlangen  mag  ästhetisch 
höchst  widerlich  sein,  von  seinem  krankhaften  Standpunkt  aus  ist 
es  ein  natürliches.  Dazu  kommt,  dass  bei  der  Mehrzahl  dieser 
Unglücklichen  der  perverse  Sexualtrieb  mit  abnormer  Stärke  sich 
geltend  macht  und  dass  ihr  Bewusstsein  vielfach  den  perversen 
Trieb  nicht  als  etwas  Widernatürliches  erkennt.  Damit  ermangeln 
sie  sittlicher,  ästhetischer  Gegengewichte  zur  Bekämpfung  des 
Drangs. 

Unzählige  normal  constituirte  Menschen  sind  im  Stande,  auf 
Befriedigung  ihrer  Libido  zu  verzichten,  ohne  durch  diese  erzwungene 
Abstinenz  an  ihrer  Gesundheit  Schaden  zu  nehmen.  Viele  Neuro- 
pathiker  —  und  dies  sind  Urninge  durchweg  —  werden  dagegen 
schwer  nervenkrank,  wenn  sie  dem  Naturtrieb  nicht  genügen  oder 
ihn  in  für  sie  perverser  Weise  befriedigen. 

Die  meisten  Urninge  sind  in  peinlicher  Lage.  Auf  der  einen 
Seite  ein  abnorm  starker,  in  seiner  Befriedigung  wohlthätig  und 
als  Naturgesetz  empfundener  Trieb  zum  eigenen  Geschlecht  —  auf 
der  anderen  Seite  die  öffentliche  Meinung,  welche  ihr  Thun  brand- 
markt, und  das  Gesetz,  welches  sie  mit  schimpflicher  Strafe  bedroht. 
Auf  der  einen  Seite  qualvolle  Seelenzustände  bis  zu  Gemüthskrank- 
heit  und  Selbstmord,  mindestens  Nervensiechthum,  —  auf  der  anderen 
Seite  Schande,  Verlust  der  Stellung  u.  s.  w.  Dass  hier  Noth-  und 
Zwangslagen  geschaffen  werden  können  durch  eine  unselige  krank- 
hafte Disposition  und  Naturanlage,  kann  nicht  bezweifelt  werden. 
Diesen  Thatsachen  müssen  jedenfalls  Gesellschaft  und  Forum  gerecht 
werden;  die  erstere,  indem  sie  solche  Unglückliche  bedauert,  nicht 
verachtet,  das  letztere,  indem  es  sie  straflos  lässt,  insofern  sie  sich 
innerhalb  der  Schranken  bewegen,  die  überhaupt  der  Bethätigung 
des  Sexualtriebes  gezogen  sind. 

Als  Bestätigung  dieser  Anschauungen  und  Forderungen,  welche  bezüglich 
dieser  Stiefkinder  der  Natur  sich  ergeben  müssen,  sei  es  gestattet,  ein  Pro- 
"^moria  eines  Urnings  an  den  Verfasser  hier  zum  Abdruck  zu  bringen.  Der 
Schreiber  der  folgenden  Zeilen  ist  ein  hochgestellter  Mann  in  London. 

„Sie  haben  keinen  Begriff,  welch  fortdauernde  schwere  Kämpfe  wir 
Alle  —  und  die  Denkenden  und  Feinfühlenden  unter  uns  am  meisten  —  heute 
noch  zu  bestehen  haben  und  wie  sehr  wir  unter  der  jetzt  noch  herrschenden 
falschen  Anschauung  über  uns  und  unsere  sogenannte  .Unsittlichkeit1  zu 
leiden  haben. 

Ihre  Anschauung,  dass  die  in  Rede  stehende  Erscheinung,  als  letzte  Ur- 
sache in  den  meisten  Fällen,  einer  angeborenen  »krankhaften'  Disposition  zuzu- 
schreiben ist,  wird  es  vielleicht  am  ehesten  möglich  machen,  die  bestehenden 
v.  Krafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  25 


386  Zurechnungsfähigkeit  der  Conträrsexualen. 

Vorurtheile  zu  überwinden  und,   statt  Abscheu   und  Verachtung,  Mitleid  für 
uns  arme  ,kranke'  Menschen  zu  erwecken. 

So  sehr  ich  also  glaube,  dass  die  von  Ihnen  vertretene  Ansicht  eine  für 
uns  möglichst  vortheilhafte  ist,  so  vermag  ich  doch  im  Interesse  der 
Wissenschaft  das*  Wort  ,krankhaft'  nicht  so  ohne  Weiteres  zu  acceptiren 
und  möchte  mir  gestatten,  Ihnen  noch  einige  darauf  bezügliche  Auseinander- 
setzungen zu  geben. 

Anomal  ist  die  Erscheinung  unter  allen  Umständen,  dem  Wort  krank- 
haft liegt  aber  noch  eine  andere  Bedeutung  bei,  die  ich  in  diesem  Falle  nicht 
zutreffend  finden  kann,  wenigstens  bei  sehr  vielen  Fällen  nicht,  die  ich  zu 
beobachten  Gelegenheit  hatte.  Ich  will  a  priori  zugeben,  dass  man  bei  den 
Urningen  in  einer  weit  höheren  Proportion  Fälle  von  geistigen  Störungen,  von 
nervöser  Ueberreizung  etc.  constatiren  kann,  als  bei  anderen  normalen  Men- 
schen. Hängt  diese  gesteigerte  Nervosität  aber  nothwendig  mit  dem  Wesen 
des  Urningthums  zusammen  oder  ist  sie  nicht  in  weitaus  den  meisten  Fällen 
dem  Umstand  zuzuschreiben,  dass  der  Urning  in  Folge  der  jetzt  herrschenden 
Gesetzgebung  und  gesellschaftlichen  Vorurtheile  nicht  wie  die  anderen  Menschen 
in  einfacher  und  leichter  Weise  zur  Befriedigung  der  ihm  angeborenen  ge- 
schlechtlichen Neigung  gelangen  kann? 

Der  urningische  Jüngling,  schon  wenn  er  die  ersten  geschlechtlichen 
Regungen  empfindet  und  sie  naiv  seinen  Kameraden  äussert,  findet  bald  heraus, 
dass  er  bei  Anderen  kein  Verständniss  findet;  er  verschliesst  sich  nun  in  sich. 
Macht  er  dem  Lehrer  oder  seinen  Eltern  Mittheilung  von  dem ,  was  ihn  be- 
wegt, so  wird  ihm  die  Regung,  die  ihm  so  natürlich  ist  wie  dem  Fische  das 
Schwimmen,  als  verderbt  und  sündhaft  geschildert,  es  wird  ihm  gepredigt, 
dass  dies  um  jeden  Preis  bekämpft  und  unterdrückt  werden  müsse.  Es  be- 
ginnt nun  ein  innerer  Kampf,  eine  gewaltsame  Unterdrückung  der  geschlecht- 
lichen Regung,  und  je  mehr  die  natürliche  Befriedigung  derselben  unterdrückt 
wird,  desto  lebhafter  fängt  die  Phantasie  an  zu  arbeiten  und  zaubert  gerade 
immer  wieder  die  Bilder  herauf,  die  man  gerne  bannen  möchte.  Je  energischer 
der  Charakter  ist,  der  diesen  inneren  Kampf  kämpft,  desto  mehr  muss  das 
ganze  Nervensystem  darunter  leiden.  Eine  solche  gewaltsame  Unterdrückung 
eines  uns  so  tief  eingepflanzten  Triebes  entwickelt  meiner  unmassgeblichen 
Ansicht  nach  erst  die  krankhaften  Erscheinungen,  die  wir  bei  vielen  Urningen 
beobachten  können,  sie  hängt  aber  nicht  nothwendig  mit  den  betreffenden 
umingischen  Dispositionen  selbst  zusammen. 

Die  Einen  nun  setzen  diesen  steten  inneren  Kampf  mehr  oder  weniger 
lang  fort  und  reiben  sich  dabei  auf,  die  Anderen  kommen  schliesslich  zur  Er- 
kenntniss,  dass  der  ihnen  angeborene  so  mächtige  Trieb  unmöglich  sündhaft 
sein  könne,  sie  versuchen  also  nicht  länger  das  Unmögliche  —  die  Unter- 
drückung desselben.  Nun  beginnt  kaber  erst  recht  die  Serie  der  Leiden  und 
steten  Aufregungen !  Der  Dioning,  wenn  er  für  seine  geschlechtlichen  Regungen 
Befriedigung  sucht,  weiss  sie  immer  leicht  zu  finden;  nicht  so  der  Urning! 
Er  sieht  die  Männer,  die  ihn  reizen,  er  darf  aber  nichts  sagen,  ja  nicht  ein- 
mal merken  lassen,  was  ihn  bewegt.  Er  denkt,  dass  er  allein  auf  der  ganzen 
Welt  so  abnorme  Empfindungen  habe.  Naturgemäss  sucht  er  den  Umgang 
mit  jungen  Männern,  wagt  es  aber  nicht,  sich  ihnen  anzuvertrauen.  So  verfällt 
er  darauf,  als  Ersatz  sich  selbst  die  Befriedigung  zu  verschaffen ,  die  er  sonst 


Zurechnungsfähigkeit  der  Conträrsexualen.  387 

nicht  erreichen  kann.  Das  Onaniren  wird  in  ausgedehntem  Masse  geübt,  und 
alle  Folgen  dieses  Lasters  machen  sich  geltend.  Wenn  dann  nach  einer  ge- 
wissen Zeit  eine  Zerrüttung  des  Nervensystems  eintritt,  ist  die  krankhafte  Er- 
scheinung wiederum  nicht  durch  das  Urningthum  an  sich  bedingt,  sondern 
eben  nur  dadurch  entstanden ,  dass  der  Urning  in  Folge  der  heute  allgemein 
herrschenden  Anschauung  die  ihm  natürliche  normale  Befriedigung  seines 
Geschlechtstriebes  nicht  finden  konnte  und  so  der  Onanie  verfiel. 

Oder  nehmen  wir  nun  an,  der  Urning  habe  das  seltene  Glück  gehabt, 
bald  eine  gleichempfindende  Seele  zu  finden,  oder  er  sei  von  einem  erfahrenen 
Freunde  bald  über  die  Vorgänge  in  der  urningischen  Welt  aufgeklärt  worden, 
so  bleiben  ihm  vielleicht  manche  innere  Kämpfe  erspart,  aber  eine  lange  Reihe 
von  aufregenden  Sorgen  und  Aengsten  folgt  auch  ihm  auf  allen  seinen 
Schritten.  Nun  weiss  er,  dass  er  nicht  mehr  der  Einzige  auf  der  Welt  mit 
solch  abnormen  Empfindungen  ist;  er  öffnet  die  Augen  und  wundert  sich,  wie 
zahlreiche  Genossen  er  in  allen  socialen  Kreisen  und  in  allen  Berufsklassen 
findet;  er  erfährt  auch,  dass  es  im  Urningthum  so  gut  wie  bei  den  Dioningen 
eine  Prostitution  gibt  und  dass  käufliche  Männer  zu  haben  sind,  so  gut  wie 
Dirnen.  An  Gelegenheit  zur  Befriedigung  der  geschlechtlichen  Triebe  fehlt  es 
also  nicht  mehr.  Aber  doch  wie  verschieden  von  den  Dioningen  entwickeln 
sich  hier  die  Dinge! 

Nehmen  wir  den  glücklichsten  Fall  an!  Der  gleichempfindende  Freund, 
nach  dem  man  sich  das  ganze  Leben  gesehnt,  ist  gefunden.  Ihm  darf  man 
sich  aber  nicht  offen  hingeben ,  wie  der  Jüngling  dem  Mädchen ,  das  er  liebt. 
In  steter  Angst  müssen  Beide  ihr  Verhältniss  stets  verheimlichen,  ja  selbst  die 
zu  grosse  Intimität,  die  leicht  Verdacht  erregen  könnte  —  zumal  wenn  Beide 
nicht  von  gleichem  Alter  sind  oder  nicht  derselben  Gesellschaftsklasse  an- 
gehören — ,  muss  der  Aussenwelt  verborgen  bleiben.  So  beginnt  mit  dem  Ver- 
hältniss selbst  eine  Kette  von  Aufregungen,  und  die  Furcht,  das  Geheimniss 
könnte  doch  verrathen  oder  errathen  werden,  lässt  den  Armen  zu  keinem 
frohen  Genuss  mehr  kommen.  Ein  jedem  Anderen  gleichgültiges  Vorkommniss 
macht  ihn  zittern ,  weil  dadurch  ein  Verdacht  erweckt  werden  könnte  und 
sein  Geheimniss  an  den  Tag  kommen  könnte,  wodurch  seine  ganze  gesell- 
schaftliche Stellung  untergraben  würde  und  er  Amt  und  Beruf  verlieren  müsste. 
Und  diese  stete  Aufregung,  diese  fortwährende  Angst  und  Sorge  sollte  spur- 
los vorübergehen  und  nicht  eine  Rückwirkung  üben  auf  das  ganze  Nerven- 
system? 

Ein  Anderer,  weniger  glücklich,  fand  nicht  den  gleichgesinnten  Freund, 
sondern  fiel  einem  hübschen  Manne  in  die  Hände,  der  ihm  erst  bereitwillig 
entgegenkam,  bis  ihm  die  innersten  Geheimnisse  verrathen  waren.  Nun  werden 
die  raffinirtesten  Erpressungen  ausgeübt.  Der  unglücklich  Verfolgte ,  vor  die 
Alternative  gestellt,  zu  zahlen  oder  social  unmöglich  zu  werden,  eine  geachtete 
Stellung  zu  verlieren,  über  sich  und  seine  Familie  Schande  hereinbrechen  zu 
sehen,  zahlt,  und  je  mehr  er  zahlt,  desto  gieriger  wird  der  Vampyr,  der  an 
ihm  saugt,  bis  schliesslich  nur  die  Wahl  bleibt  zwischen  gänzlichem  finanziellen 
Ruin  oder-  Entehrung.  Wer  will  sich  wundern ,  wenn  die  Nerven  eines  Jeden 
diesem  fürchterlichen  Kampfe  nicht  gewachsen  sind? 

Dem  Einen  versagen  sie  ganz,  die  geistige  Störung  tritt  ein  und  der 
Arme  findet  endlich  in  der  Irrenanstalt  die  Ruhe,  die  er  im  Leben  nicht  finden 


388  De  lege  lata  und  de  lege  ferenda. 

konnte.  Ein  Anderer  macht  in  der  Verzweiflung  diesem  unerträglichen  Zu- 
stand durch  Selbstmord  ein  Ende.  Wie  viele  der  oft  unerklärlichen  Selbst- 
morde junger  Männer  hierher  zu  zählen  sind,  lässt  sich  gar  nicht  ergründen! 

Ich  glaube  mich  nicht  zu  irren,  wenn  ich  behaupte,  dass  mindestens  die 
Hälfte  der  Selbstmorde  bei  jungen  Männern  auf  solche  Umstände  zurückzu- 
führen sind.  Selbst  in  den  Fällen,  wo  nicht  der  erbarmungslose  Erpresser  einen 
Urning  verfolgt,  sondern  nur  ein  Verhältniss  zwischen  zwei  Männern  besteht, 
das  an  sich  befriedigend  verläuft,  führt  die  Entdeckung  oder  auch  nur  die 
Furcht  vor  der  Entdeckung  gar  oft  zum  Selbstmord.  Wie  viele  Offiziere,  die 
zu  einem  ihrer  Untergebenen,  wie  viele  Soldaten,  die  zu  einem  Kameraden 
ein  Verhältniss  hatten,  haben  im  Augenblick,  da  sie  sich  entdeckt  glaubten, 
durch  eine  Kugel  der  ihnen  drohenden  Schande  zu  entgehen  versucht!  Und 
ähnlich  in  allen  anderen  Berufsarten! 

Wenn  also  thatsächlich  gewiss  zugegeben  werden  muss,  dass  bei  den 
Urningen  mehr  geistige  Abnormitäten  und  wohl  auch  mehr  wirklich  geistige 
Störungen  beobachtet  werden  können  als  bei  anderen  Menschen,  so  ist  damit 
aber  der  Beweis  durchaus  nicht  erbracht,  dass  diese  geistige  Störung  noth- 
w endig  mit  dem  Urningthum  zusammenhänge  und  dass  eines  das  andere 
bedinge.  Nach  meiner  festen  Ueberzeugung  ist  weitaus  der  grösste  Theil  der 
bei  Urningen  beobachteten  geistigen  Störungen  oder  krankhaften  Dispositionen 
nicht  auf  Rechnung  ihrer  sexuellen  Abnormität  zu  setzen,  sondern  sie  sind 
hervorgerufen  durch  die  jetzt  bestehende  falsche  Anschauung  über  das  Urning- 
thum und,  damit  zusammenhängend,  durch  die  bestehende  Gesetzgebung  und 
die  herrschende  Meinung  über  diesen  Gegenstand.  Wer  nur  annähernd  einen 
Begriff  hat  von  der  Fülle  von  geistigen  und  moralischen  Leiden,  von  den 
Aengsten  und  Sorgen,  die  ein  Urning  erdulden  muss,  von  den  ewigen  Heuche- 
leien und  Verheimlichungen,  die  er  üben  muss,  um  den  ihm  innewohnenden 
Trieb  zu  verbergen,  von  den  unendlichen  Schwierigkeiten,  die  sich  der  ihm 
naturgemässen  Befriedigung  seiner  sexuellen  Triebe  entgegenstellen  — ,  der  kann 
sich  nur  darüber  wundern,  dass  nicht  noch  mehr  ernste  geistige  Störungen 
und  nervöse  Erkrankungen  bei  den  Urningen  vorkommen.  Der  grösste  Theil 
dieser  krankhaften  Zustände  käme  aber  gewiss  gar  nicht  zur  Entwicklung, 
wenn  der  Urning  wie  der  Dioning  in  einfacher  und  leichter  Weise  seine  ge- 
schlechtliche Befriedigung  finden  könnte,  wenn  er  nicht  diesen  ewigen  foltern- 
den Aengsten  ausgesetzt  wäre!" 

De  lege  lata  sollte  der  Urning  insofern  Berücksichtigung 
finden,  dass  der  betreffende  Paragraph  nur  im  Sinne  von  wirk- 
licher Päderastie  ausgelegt  wird  und  dass  der  psychisch-soma- 
tischen  Abnormität  durch  genaue  Expertise  und  durch  individuali- 
sirende  Erwägung  der  Schuldfrage  Rechnung  getragen  wird. 

De  lege  ferenda  wünschen  die  Urninge  nichts  sehnlicher  als 
die  Aufhebung  des  Paragraphen.  Dazu  wird  sich  der  Gesetzgeber 
nicht  so  leicht  verstehen  wollen,  wenn  er  bedenkt,  dass  Päderastie 
häufiger  ein  abscheuliches  Laster  als  die  Folge  eines  körperlich- 
geistigen Gebrechens  ist,  dass  zudem  viele  Urninge,  wenn  auch  zu 


De  lege  lata  und  de  lege  ferenda.  389 

sexuellen  Handlungen  am  eigenen  Geschlecht  genöthigt,  doch  keines- 
wegs gezwungen  sind,  der  wirklichen  Päderastie  zu  fröhnen,  eine 
sexuelle  Handlung,  die  zu  allen  Zeiten  als  eine  cynische,  ekle  und, 
als  passive,  wohl  auch  als  schädliche  dastehen  wird.  Ob  aber 
nicht  aus  Utilitätsgründen  (Schwierigkeit  der  Feststellung  der 
Schuldfrage,  Vorschubleistung  der  scheusslichsten  Erpressungen, 
Chantage  u.  s.  w.)  es  opportun  wäre,  die  strafgerichtliche 
Verfolgung  mannmännlicher  Liebe  aus  den  Codices  zu 
streichen,  das  möge  der  Gesetzgeber  der  Zukunft  reif- 
lich erwägen1). 

Meine  Gründe  für  Abschaffung  des  betr.  Gesetzesparagraphen 
sind  etwa  folgende : 

1.  Die  in  der  Gesetzgebung  vorgesehenen  Delikte  entspringen 
in  der  Regel  einer  krankhaften  seelischen  Veranlagung. 

2.  Nur  eine  sorgfältige  ärztliche  Untersuchung  vermag  die 
Fälle  blosser  Perversität  von  denen  krankhafter  Perversion  zu 
differenziren.  Mit  der  Erhebung  der  Anklage  ist  das  Individuum 
aber  bereits  social  vernichtet. 

3.  Die  Mehrzahl  dieser  Urninge  ist  neben  der  Perversion  des 
Triebes  mit  abnormer  Stärke  desselben  heimgesucht.  In  der  Be- 
thätigung  ihres  Geschlechtstriebes  stehen  diese  geradezu  unter  einem 
physischen  Zwang. 

4.  Vielen  derselben  erscheint  ihre  Geschlechtsbefriedigung  nicht 
als  eine  unnatürliche,  im  Gegentheil  als  eine  natürliche  und  die 
vom  Gesetz  zugelassene  als  eine  widernatürliche.  Sie  entbehren 
damit  aller  sittlichen  Corrective,  die  sie  von  ihrem  sexuellen  Delikt 
abhalten  könnten. 

5.  Beim  Mangel  einer  Definition,  was  unter  widernatürlicher 
Unzucht  zu  verstehen  sei,  ist  dem  subjektiven  Ermessen  des  Richters 
ein  zu  grosser  Spielraum  eingeräumt.  Die  immer  spitzfindiger 
werdende  Auslegung  des  §  175  in  Deutschland  beweist  die  Un- 
sicherheit der  Rechtsauffassung.  Entscheidend  für  diese  und  die 
Rechtsprechung  ist  gleichwohl  der  objektive  Thatbestand.  (Nach 
dem  subjektiven  wird  in  der  Regel  gar  nicht  gefragt.)  Wie  soll 
jener  festgestellt  werden?  Das  Delikt  wird  ja  doch  in  der  Regel 
ohne  Zeugen  begangen. 


*)  Vgl.  die  kürzlich  erschienene  Broschüre  des  Verf. :  „Der  conträr  Sexuale 
vor  dem  Strafrichter. "     Leipzig  u.  Wien  (Deutike). 


390  De  lege  lata  und  de  lege  ferenda. 

6.  Theoretische  strafrechtliche  Gründe  für  die  Beibehaltung 
des  betreffenden  Paragraphen  lassen  sich  nicht  gut  aufstellen.  Ab- 
schreckend wirkt  er  nur  selten,  bessernd  niemals,  denn  krankhafte 
Naturerscheinungen  werden  nicht  durch  Strafen  amovirt;  als  Sühne 
für  eine  strafbare  Handlung,  die  nur  unter  gewissen  und  vielfach 
fälschlichen  Voraussetzungen  eine  solche  ist,  kann  er  zur  grössten 
Ungerechtigkeit  führen.  Man  vergesse  nicht,  dass  in  verschiedenen 
Kulturländern  dieser  Strafrechtsparagraph  nicht  besteht,  dass  er  in 
Deutschland  nur  noch  eine  Konzession  an  das  öffentliche  Sittlichkeits- 
gefühl  darstellt,  das  aber  diesen  Delikten  gegenüber  von  falscher 
Voraussetzung  ausgeht  und  Perversion  und  Perversität  verwechselt. 

7.  Während  meines  Erachtens  die  öffentliche  Sittlichkeit  und 
die  Jugend  genugsam  in  Deutschland  durch  andere  Paragraphen 
des  Strafgesetzbuches  geschützt  sind,  schadet  der  §  175  entschieden 
mehr  als  er  nützt,  indem  er  einer  der  scheusslichsten  Niederträchtig- 
keiten —  dem  sogenannten  Chantage  —  Vorschub  leistet. 

Allerdings  wird  auch  der  denuncirende  Chanteur  bestraft, 
aber  er  hat  die  grosse  Chance,  dass  sein  Opfer  es  nicht  zum  Aeusser- 
sten  —  nämlich  zur  Strafanzeige  —  kommen  lässt.  Im  schlimmsten 
Fall  sitzt  solch  ein  Wicht  ein  bischen  Gefängniss  ab,  ohne  in  seiner 
Schandexistenz  gefährdet  zu  sein,  während  sein  Opfer  ehrlos,  ruinirt 
ist  und  nicht  selten  durch  Selbstmord  endet. 

8.  Sollte  der  deutsche  Gesetzgeber  durch  Aufgebung  des  §  175 
den  Schutz  der  Jugend  gefährdet  erachten,  so  würde  Ausdehnung 
des  §  176,  1,  auf  Personen  überhaupt  (der  jetzige  Paragraph 
ahndet  nur  an  Frauenspersonen  mit  Gewalt  oder  Drohung  er- 
zwungene unzüchtige  Handlungen)  gewiss  genügen.  Einen  solchen 
Paragraphen  hat  der  Code  penal  francais.  Eventuell  Hesse  sich 
daran  denken,  überdies  in  §  176,  3,  das  Alter  (14  Jahre),  von 
welchem  an  unzüchtige  Handlungen,  an  jugendlichen  Personen  be- 
gangen, straflos  bleiben,  höher  zu  setzen.  Dies  würde  auch  weib- 
lichen Individuen  zu  gut  kommen,  die  doch  im  15.  Jahre  nur 
ausnahmsweise  die  erforderliche  Reife  des  Geistes  und  nöthige  Selbst- 
bestimmungsfähigkeit besitzen,  um  sich  selbst  zu  schützen.  Dadurch 
wäre  aber  auch  jugendlichen  Individuen  männlichen  Geschlechts 
(etwa  bis  zum  beendigten  16.  Jahre)  ein  wirksamerer  Schutz  ge- 
boten, als  durch  den  §  175,  der  bekanntlich  nur  Päderastie  (und 
nach  neuerer  Auslegung  andere  beischlafähnliche  Handlungen)  im 
Auge  hat,  Onanisirung  und  andere  Unzucht  aber  straflos  lässt. 
Gerade  mit  solchen  Unzuchtshandlungen  werden  aber  Perverse  der 


De  lege  lata  und  de  lege  ferenda.  391 

Jugend  gefährlich,  nur  ganz  ausnahmsweise  durch  Päderastie.  Von 
einem  gewissen  Alter,  etwa  dem  erreichten  16.  Jahre  an,  wo  ein 
genügendes  Mass  sittlicher  und  intellectueller  Reife  zu  Gebote  steht, 
hat  der  Gesetzgeber  weder  ein  Recht,  noch  eine  Pflicht,  unsittliche 
Handlungen  inter  mares,  die  portis  clausis  und  im  gegenseitigen 
Einverständniss  erfolgen,  mit  Strafe  zu  bedrohen.  Derlei  hat  Jeder 
mit  sich  selbst  abzumachen,  denn  ein  öffentliches  oder  privates 
Interesse  wird  dabei  nicht  verletzt. 

Was  de  lege  lata  bezüglich  der  angeborenen  c.  S.  gesagt 
wurde,  dürfte  wesentlich  auch  für  die  erworbene  gültig  sein.  Die 
begleitende  Neurose  oder  Psychose  wird  diagnostisch  und  forensisch 
bezüglich  der  Schuldfrage  schwer  ins  Gewicht  fallen. 

Von  hohem  psychopathologischem  und  nach  Umständen  auch 
criminellem  Interesse  ist  die  Thatsache,  dass,  wenn  derlei  conträr 
sexuale  Individuen  Zurückweisung  ihrer  Liebe  oder  gar  Untreue 
von  ihren  bisherigen  Geliebten  erfahren,  sie  all  jener  psychischen 
Reaktionen  in  Gestalt  von  Eifersucht,  Rachsucht  fähig  sind,  die 
wir  bei  Liebesverhältnissen  zwischen  Mann  und  Weib  so  häufig 
beobachten  können  und  die  nicht  selten  zu  schweren  Gewaltthaten 
von  Seiten  des  in  seinen  tiefsten  Empfindungen  Gekränkten  am  Gegen- 
stand seiner  bisherigen  Liebe  oder  dem  Räuber  seines  Glückes  führen. 

Nichts  beweist  wohl  besser  das  tief  Constitutionelle,  das  ganze 
Fühlen,  Denken  und  Streben  Beherrschende  solcher  conträrsexualen 
Empfindungen,  ihre  vollkommene  Substituirung  für  heterosexuale 
normale  Empfindungs-  und  Entwicklungsweise.  Ein  Beispiel  dafür, 
welcher  Handlungen  solche  verschmähte  oder  verrathene  Liebe  fähig 
ist,  ist  der  folgende  denkwürdige,  der  neuesten  amerikanischen 
Gerichtspraxis  entlehnte  Fall,  für  dessen  Zusammenstellung  aus 
Zeitungen  und  Gerichtsverhandlungen  ich  Herrn  Dr.  Boeck  in 
Wien  zu  besonderem  Danke  verpflichtet  bin. 

Beobachtung  190.  Ein  conträrsexuales  Mädchen  mordet 
die  Geliebte  aus  verschmähter  Liebe. 

Im  Januar  1892  tödtete  zu  Memphis  in  Nordamerika  ein  junges  Mädchen, 
Alice  M.,  einer  der  angesehensten  Familien  der  Stadt  entsprossen,  ihre  gleich- 
falls den  besten  Kreisen  angehörende  Freundin  Freda  W.  auf  offener  Strasse, 
indem  sie  ihr  mit  einem  Rasirmesser  mehrere  tiefe  Schnitte  in  den  Hals  bei- 
brachte. 

Die  Untersuchung  ergab  Folgendes : 

AI.  ist  von  der  Ascendenz  der  Mutter  her  schwer  belastet  —  ein  Onkel 
und  mehrere  Vettern  ersten  Grades  waren  geisteskrank  —  die  Mutter  selbst, 
psychopathisch  veranlagt,   machte  nach  der  Geburt  jedes  ihrer  Kinder  „puer- 


392  T)e  lege  lata  und  de  lege  ferenda. 

peral.  Irresein"  durch,  am  schwersten  nach  der  Geburt  des  7.  —  der  An- 
geklagten AI.  — ,  später  verfiel  sie  in  einen  geistigen  Schwächezustand  mit 
Verfolgungsideen. 

Ein  Bruder  der  Angeklagten  litt  eine  Zeitlang  an  „Irresein",  angeblich 
nach  einem  Sonnenstich. 

Alice  M.  ist  19  Jahre  alt,  von  mittlerer  Grösse,  nicht  hübsch.  Das 
Gesicht  ist  kinderhaft  und  „fast  zu  klein  für  ihre  Gestalt",  asymmetrisch,  die 
rechte  Gesichtshälfte  stärker  entwickelt,  als  die  linke,  die  Nase  „von  auffallen- 
der Unregelmässigkeit",  der  Blick  stechend.    AI.  M.  ist  Linkshänderin. 

Vom  Eintritte  der  Pubertät  ab  stellten  sich  häufig  schwere  und  an- 
haltende Kopfschmerzen  ein  — ,  einmal  in  jedem  Monat  litt  sie  an  Nasenbluten, 
häufig,  und  auch  noch  in  der  letzteren  Zeit,  an  Anfällen  von  allgemeinem  Zittern 
und  Schütteltremor.    Einmal  war  damit  auch  Bewusstseinsverlust  verbunden. 

AI.  war  ein  nervöses,  reizbares  Kind,  im  Wachsthum  hinter  ihrem  Alter 
zurück.  Sie  hatte  niemals  Freude  an  Kinder-  und  zumal  an  Mädchenspielen. 
Im  Alter  von  4 — 5  Jahren  machte  es  ihr  viel  Vergnügen,  Katzen  zu  schinden 
oder  an  einem  Bein  aufzuhängen. 

Ihren  jüngeren  Bruder  und  seine  Spiele  zog  sie  den  Schwestern  vor  — 
sie  wetteiferte  mit  ihm  im  Spiel  mit  Peitschen  von  Kreiseln,  base-ball  and 
foot-ball,  dann  im  Scheibenschiessen  und  allerhand  tollen  Streichen.  Klettern 
war  eine  Lieblingsübung  von  ihr,  in  der  sie  grosse  Gewandtheit  besass.  Mit 
besonderer  Vorliebe  trieb  sie  sich  bei  den  Maulthieren  im  Stalle  herum.  In 
ihrem  6.  oder  7.  Jahre,  da  ihr  Vater  ein  Pferd  kaufte,  liebte  sie  es,  dieses  zu 
füttern  und  zu  warten  und  ungesattelt  in  Knabenweise  auf  den  Anger  zu 
reiten.  Auch  später  befasste  sie  sich  damit,  das  Pferd  zu  putzen,  ihm  die  Hufe 
zu  waschen,  sie  führte  es  an  der  Halfter  über  die  Strasse,  sie  schirrte  es  an, 
spannte  es  ein,  sie  verstand  sich  auf  Bespannung  sowie  darauf,  Fehler  an  der- 
selben zu  verbessern. 

In  der  Schule  kommt  sie  nur  langsam  und  mangelhaft  fort,  ist  unfähig 
zu  anhaltender  Beschäftigung  mit  einer  Sache,  fasst  und  behält  schwer.  — 
Unterricht  in  Musik  und  Zeichnen  schlägt  gänzlich  fehl,  zu  weiblichen  Hand- 
arbeiten ist  sie  nicht  zu  bringen.  —  An  Leetüre  hat  sie  auch  später  keinen 
Geschmack,  sie  liest  weder  Bücher  noch  Zeitungen.  Sie  ist  eigensinnig  und 
launenhaft,  wird  von  ihren  Lehrern  und  von  Bekannten  für  nicht  normal  ge- 
halten. Sie  gibt  sich  als  Kind  nicht  mit  Knaben  ab,  hat  keine  Gespielen  unter 
diesen,  hat  später  kein  Interesse  an  jungen  Männern,  keine  Courmacher.  Sie 
benimmt  sich  gegen  junge  Männer  stets  gleichgültig,  manchmal  schroff  und 
gilt  bei  diesen  als  „verrückt". 

Zu  Freda  W.  dagegen,  einem  Mädchen  gleichen  Alters,  Tochter  einer 
befreundeten  Familie,  fühlte  sie  eine  aussergewöhnliche  Zuneigung  „so  lange 
sie  denken  kann".  Fr.  war  mädchenhaft  zart  und  gefühlvoll  —  die  Neigung 
bestand  auf  beiden  Seiten,  viel  heftiger  jedoch  auf  Seiten  Al.'s;  sie  steigerte 
sich  mit  den  Jahren  mehr  und  mehr,  bis  zur  Leidenschaft.  Ein  Jahr  vor  der 
Katastrophe  übersiedelte  die  Familie  W.  nach  einer  anderen  Stadt  —  AI.  blieb 
in  tiefer  Trauer  zurück  —  eine  zärtliche  Liebescorrespondenz  entwickelte  sich. 

Zweimal  kommt  AI.  zu  Besuch  zu  Fr.'s  Familie  —  die  beiden  Mädchen 
verkehren  dabei  mit  einander,  wie  die  Zeugen  versichern,  „widerlich  zärtlich". 
Man  sieht  sie  stundenlang  in  einer  Hängematte  liegen,  sich  an  einander  pressend 


De  lege  lata  und  de  lege  ferenda.  393 

und  küssend  —  „es  war  ein  Gedrücke  und  ein  Geküsse  zwischen  beiden 
Mädchen,  dass  es  Einem  zum  Ekel  wurde".  —  AI.  schämt  sich,  dergleichen 
in  der  Oeffentlichkeit  zu  thun,  Fr.  tadelt  sie  dafür. 

Während  eines  Gegenbesuchs  Fr.'s  macht  AI.  den  Versuch,  diese  zu 
tödten  —  sie  will  ihr  im  Schlaf  Laudanum  in  den  Mund  giessen  —  der  Ver- 
such scheiterte,  da  Fr.  erwachte. 

AI.  nimmt  dann  vor  Fr.  das  Gift  selbst  und  liegt  lange  schwer  krank 
darnieder.  Das  Motiv  des  Mord-  und  des  Selbstmord- Versuches  war  aber  dieses: 
Fr.  hatte  Interesse  für  2  junge  Männer  gezeigt,  AI.  erklärte,  Fr.'s  Liebe  nicht 
entbehren  zu  können,  dann  wieder  „sie  habe  sich  tödten  wollen,  um  sich  von 
ihren  Qualen  zu  erlösen  und  Fr.  frei  zu  machen".  Nach  der  Genesung  Al.'s 
nimmt  die  Correspondenz ,  von  Liebesgluth  mehr  denn  je  erfüllt,  ihren 
Fortgang. 

Bald  darauf  beginnt  AI.  der  Geliebten  den  Vorschlag  zur  Ehe  zu  ent- 
wickeln. Sie  sendet  ihr  einen  Verlobungsring  —  sie  droht  mit  Mord  im  Falle 
des  Wortbruchs.  Sie  sollten  einen  falschen  Namen  annehmen,  zusammen  nach 
St.  Louis  entfliehen.  —  AI.  wollte  Männerkleider  anziehen  und  auf  Arbeit  für 
sie  Beide  ausgehen;  —  sie  wollte  sich  auch,  wenn  Fr.  darauf  bestände,  einen 
Schnurrbart  wachsen  lassen,  den  sie  sich  durch  Rasiren  zu  erzeugen  hoffte. 

Unmittelbar  vor  der  Ausführung  der  Flucht  Fr.'s  wird  die  Sache  ent- 
deckt ;  die  Flucht  wird  vereitelt,  man  schickt  den  „Verlobungsring"  und  andere 
Liebeszeichen  an  Al.'s  Mutter  und  verbietet  jeden  weiteren  Umgang  der  beiden 
Mädchen. 

AI.  ist  völlig  gebrochen.  Sie  wird  schlaflos,  nimmt  nur  widerwillig 
spärliche  Nahrung,  ist  antheillos,  tief  zerstreut  (sie  setzt  auf  Haushaltungs- 
rechnungen statt  ihres  Namens  den  der  Geliebten).  Den  Ring  und  die  übrigen 
Liebeszeichen,  darunter  einen  Fingerhut  Fr.'s,  den  sie  mit  Blut  von  dieser  ge- 
füllt hatte,  verbirgt  sie  in  einem  Winkel  der  Küche,  bringt  dort  oft  Stunden 
mit  deren  Betrachtung  zu,  bald  in  Lachen,  bald  in  Weinen  ausbrechend. 

Sie  magert  ab,  das  Gesicht  nimmt  eine  ängstliche  Miene  an,  die  Augen 
bekommen  einen  „eigenthümlich  unheimlichen  Glanz".  Als  ihr  zu  dieser  Zeit 
der  bevorstehende  Besuch  Fr.'s  in  M.  zur  Kenntniss  kommt,  fasst  sie  den  Vor- 
satz, Fr.  zu  tödten,  wenn  sie  sie  nicht  besitzen  kann.  Sie  bringt  ein 
Rasinnesser  ihres  Vaters  an  sich  und  bewahrt  es  sorgfältig  auf. 

Mit  dem  Verehrer  Fr.'s  knüpft  sie,  Interesse  für  ihn  heuchelnd,  eine 
Correspondenz  an,  um  sich  in  seine  Beziehungen  zu  Fr.  Einblick  zu  verschaffen 
und  sich  über  deren  weitere  Entwicklung  in  Kenntniss  zu  erhalten. 

Während  des  Aufenthaltes  Fr.'s  in  M.  scheitern  alle  ihre  Versuche  einer 
Annäherung  oder  eines  schriftlichen  Verkehrs.  Sie  passt  Fr.  auf  der  Strasse 
ab,  will  einmal  bereits  den  Ueberfall  ausführen,  wird  aber  durch  einen  Zufall 
abgehalten.  Erst  am  Tage  der  Abreise  Fr.'s  gelingt  es  ihr,  an  Fr.  auf  dem 
Wege  zum  Dampfboot  heranzukommen. 

Tief  verletzt,  dass  Fr.  auf  dem  ganzen  Wege,  den  sie  in  ihrem  Wägelchen 
neben  ihr  her  fährt,  nur  einen  Augenvvink,  aber  kein  Wort  für  sie  hat,  springt 
sie  endlich  heraus,  auf  Fr.  zu  und  bringt  ihr  mit  dem  Rasirmesser  einen 
Schnitt  bei.  Von  Fr.'s  Schwester  geschlagen  und  beschimpft,  geräth  sie  in 
besinnungslose  Wuth  und  schneidet  blindlings  Fr.'s  Hals  mit  mächtigen  tiefen 
Schnitten  durch,   deren   einer  fast  von  einem  Ohr  bis  zum  anderen  reicht.  — 


394  Gezüchtete,  nicht  krankhafte  Päderastie. 

Während  Alle  sich  um  Fr.  bemühen,  jagt  AI.  in  ihrem  Wagen  im  Galopp  davon 
und  kreuz  und  quer  durch  die  ganze  Stadt  nach  Hause.  —  Der  Mutter  erzählt 
sie  sofort,  was  sie  gethan.  Für  das  Entsetzliche  ihrer  Handlung  hat  sie  keinen 
Sinn;  Tadel,  Hinweis  auf  die  Folgen  für  sie  lässt  sie  kalt  und  unbewegt; 
nur  als  sie  von  dem  Tode  und  dem  Begräbniss  Fr.'s  hört  und  sich  des  Ver- 
lustes der  Geliebten  bewusst  wird,  bricht  sie  in  Thränen  und  leidenschaftlichen 
Jammer  aus,  küsst  alle  Bildnisse,  die  sie  von  Fr.  besitzt,  spricht  als  ob  Fr. 
noch  leben  würde. 

Auch  während  der  Gerichtsverhandlung  ist  sie  auffällig  durch  ihre  Gleich- 
gültigkeit für  ihre  tief  bekümmerten,  gebeugten  Angehörigen,  ihre  Stumpfheit 
gegenüber  allen  ethischen  Beziehungen  der  That. 

Nur  Momente,  die  ihre  leidenschaftliche  Liebe  zu  Fr.  oder  ihre  Eifer- 
sucht beleben,  bringen  sie  in  Bewegung  und  in  masslosen  Affect.  Fr.  „hat 
ihr  die  Treue  gebrochen",  sie  „hat  sie  getödtet,  weil  sie  sie 
geliebt  hat".  —  Ihre  intellectuelle  Entwicklung  wird  von  allen  Experten 
als  die  eines  14-  oder  13jährigen  Mädchens  geschildert.  Dass  ihrer  „Verbin- 
dung" mit  Fr.  Kinder  nicht  hätten  entspriessen  können,  wird  von  ihr  ver- 
standen —  dass  ihre  „Ehe"  ein  Unding  gewesen  wäre,  will  sie  jedoch  nicht 
zugeben.  Supposition  sexuellen  (etwa  masturbatorischen)  Verkehrs  mit  Fr. 
lehnt  sie  ab.  Hierüber,  wie  über  ihre  Vita  sexualis  peracta  wird  überhaupt 
nichts  bekannt;  auch  eine  gynäkologische  Exploration  ist  nicht  vorgenommen 
worden. 

Der  Process  endete  mit  dem  Verdict  auf  Geisteskrankheit.  (The  Mem- 
phis medical  monthly  1892.) 


Die  gezüchtete,  nicht  krankhafte  Päderastie  J). 

Sie  stellt  eines  der  entsetzlichsten  Blätter  in  der  Geschichte 
menschlicher  Ausschweifungen  dar. 

Die  Motive,  die  einen  sexuell  ursprünglich  normal  fühlenden, 
geistig  gesunden  Mann  zur  Päderastie  gelangen  lassen,  können  ver- 
schiedenartig sein.  Temporär  kommt  sie  vor  als  Mittel  der  sexuellen 
Befriedigung  faute  de  mieux  —  gleichwie  in  seltenen  Fällen  Bestia- 
lität —  bei  erzwungener  Abstinenz  vom  normalen  Geschlechts- 
genuss 2).     Derlei  kommt  vor  auf  Schiffen   mit  langer  Fahrzeit ,   in 


*)  Interessante  histor.  Notizen  s.  K  r  a  u  s  s ,  Psychol.  des  Verbrechens 
p.  174;  Tardieu,  Attentats;  Maschka,  Hdb.  III,  p.  174.  Das  in  Rede 
stehende  Laster  scheint  aus  Asien  über  Kreta  nach  Griechenland  gekommen 
und  in  der  Zeit  des  klassischen  Hellas  allgemein  verbreitet  gewesen  zu  sein. 
Von  da  kam  es  nach  Rom,  wo  es  üppig  gedieh.  In  Persien,  China  (wo  es 
sogar  tolerirt  ist)  ist  es  sehr  verbreitet,  aber  auch  in  Europa  (vgl.  Tardieu, 
Tarnowsky  U.A.). 

*)   Dass   sexueller  Verkehr   mit   dem   eigenen  Geschlecht   auch   bei   zur 


Gezüchtete,  nicht  krankhafte  Päderastie.  395 

Gefängnissen,  Bagno's  u.  s.  w.  Höchst  wahrscheinlich  befinden  sich 
unter  der  betr.  Gesellschaft  einzelne  Menschen  mit  tiefer  Moral  und 
mächtiger  Sinnlichkeit,  oder  auch  wirkliche  Urninge,  die  zu  Ver- 
führern der  Anderen  werden.  Wollust,  Imitationsdrang,  Habsucht 
tragen  das  Ihrige  bei. 

Bezeichnend  für  die  Stärke  des  sexuellen  Triebes  bleibt  es 
immerhin,  dass  solche  Triebfedern  genügen,  um  die  Scheu  vor  dem 
widernatürlichen  Akt  überwinden  zu  lassen. 

Eine  andere  Kategorie  von  Päderasten  stellen  alte  Wollüst- 
linge dar,  die  in  normalem  Geschlechtsgenuss  übersättigt  sind,  darin 
ein  Mittel  finden,  ihre  Wollust  aufzukitzeln ,  indem  der  Akt  einen 
neuartigen  Reiz  darstellt.  Damit  helfen  sie  temporär  ihrer  psychi- 
schen und  somatischen,  tief  gesunkenen  Potenz  auf.  Die  neuartige 
geschlechtliche  Situation  macht  sie  sozusagen  relativ  potent  und 
ermöglicht  Genüsse,  die  ihnen  der  sexuelle  Umgang  mit  dem  Weib 
nicht  mehr  zu  bieten  vermag.  Mit  der  Zeit  erlahmt  auch  die 
Potenz  für  den  päderastischen  Akt.  Dann  kann  der  Betreffende  zu 
passiver  Päderastie  kommen,  als  einem  Reizmittel  für  die  tem- 
poräre Ermöglichung  der  activen,  gleichwie  gelegentlich  zu  Flagel- 
lation,  Zuschauen  bei  obscönen  Scenen  (Maschka's  Fall  von  Thier- 
schändung!)  gegriffen  wird. 

Den  Schluss  der  sexuellen  Thätigkeit  derartig  sittlich  ver- 
kommener Existenzen  bilden  Unzucht  aller  Art  mit  Kindern, 
Cunnilingus,  Fellare  und  andere  Scheusslichkeiten. 

Diese  Sorte  von  Päderasten  ist  die  gemeingefährlichste,  da  sie 
zunächst  und  zumeist  Knaben  nachstellt  und  sie  an  Leib  und 
Seele  verdirbt. 

Schrecklich  sind  in  dieser  Hinsicht  die  Erfahrungen ,  welche  Tar- 
nowsky  (op.  cit.  p.  53  u.  ff.)  in  der  Petersburger  Gesellschaft  gesammelt  hat. 
Der  Schauplatz  dieser  Brutstätten  gezüchteter  Päderastie  sind  Institute.  Alte 
Wollüstlinge  und  Urninge  spielen  die  Rolle  der  Verführer.  Dem  Verführten 
fällt  es  anfangs  schwer,  den  eklen  Akt  zu  vollbringen.  Er  nimmt  zunächst 
die  Phantasie  zu  Hilfe ,  indem  er  sich  das  Bild  eines  Weibes  vorstellt.  All- 
mählig  gewöhnt  er  sich  an  die  Scheusslichkeit.  Schliesslich  wird  er,  gleich- 
wie der  durch  Masturbation  sexuell  Verdorbene,  relativ  impotent  dem  Weib 
gegenüber  und  lüstern  genug,  um  an  dem  perversen  Akt  Gefallen  zu  finden. 
Unter  Umständen  wird  der  Betreffende  zum  verkäuflichen  Kyneden. 

Solche  Existenzen  sind,  wie  Tardieu's,  Hofmann's,  Liman's  und  Taylor' s 


Abstinenz  genöthigten  Thieren  vorkommt,   geht  aus  Zusammenstellungen  von 
Lombroso  (Der  Verbrecher,  übers,  v.  Fränkel,  p.  20  u.  ff.)  hervor. 


396  Gezüchtete,  nicht  krankhafte  Päderastie. 

Erfahrungen  lehren,  nicht  selten  in  Grossstädten.  Aus  zahlreichen  Mitthei- 
lungen, die  mir  von  Urningen  zugingen,  geht  auch  hervor,  dass  gewerbsmässige 
Prostitution  und  förmliche  Prostitutionshäuser  für  mannmännliche  Liebe  da- 
selbst bestthen.  Bemerkenswerth  sind  die  Coquetteriekünste ,  welche  solche 
■männliche  Meretrices  in  Form  von  Putz,  Parfüms,  Kleidung  mit  weiblichem 
Zuschnitt  u.  s.  w.  anwenden,  um  Päderasten  und  Urninge  anzulocken.  Diese 
absichtliche  Nachäffung  weiblicher  Eigenthümlichkeiten  findet  sich  übrigens 
spontan  und  unbewusst  bei  angeborenen  und  manchen  erworbenen  Fällen  von 
(krankhafter)  conträrer  Sexualempfindung. 

Interessante,  für  den  Psychologen  und  namentlich  den  Polizei- 
beamten werthvolle  Aufschlüsse  über  das  sociale  Leben  und  Treiben 
der  Päderasten  bilden  die  folgenden  Zeilen. 

Coffignon,  La  corruption  ä  Paris,  p.  327,  theilt  die  activen  Päderasten 
ein  in  amateurs,  entreteneurs  und  souteneurs. 

Die  amateurs  („rivettes")  sind  debauchirte,  jedenfalls  aber  vielfach  an- 
geboren conträrsexuale  Leute  von  Stand  und  Vermögen,  die  in  der  Befriedi- 
gung ihrer  homosexualen  Gelüste  sich  hüten  müssen,  entdeckt  zu  werden.  Sie 
gehen  zu  diesem  Zweck  in  Lupanare,  Maisons  de  passe  oder  Privatwohnungen 
weiblicher  Prostituirter ,  die  mit  den  männlichen  auf  gutem  Fuss  zu  stehen 
pflegen.     So  entgehen  sie  dem  Chantage. 

Einzelne  dieser  amateurs  sind  kühn  genug,  an  öffentlichem  Ort  ihren 
abscheulichen  Gelüsten  zu  fröhnen.  Sie  riskiren  dabei  Verhaftung,  weniger 
leicht  (in  der  grossen  Stadt)  Chantage.  Die  Gefahr  soll  ihren  heimlichen 
Genuss  erhöhen. 

Die  entreteneurs  sind  alte  Sünder,  die  es  nicht  lassen  können,  selbst 
auf  die  Gefahr  hin,  in  die  Hände  eines  Chanteurs  zu  fallen,  sich  eine  (männ- 
liche) Maitresse  zu  halten. 

Die  souteneurs  sind  bestrafte  Päderasten,  welche  sich  ihren  Jesus" 
halten,  ihn  auch  ausschicken,  um  Kunden  anzulocken  („faire  chanter  les 
rivettes")  und  womöglich  dann  im  richtigen  Moment  erscheinen,  um  das  Opfer 
zu  rupfen. 

Sie  leben  nicht  selten  in  Banden  zusammen,  die  einzelnen  Mitglieder 
je  nach  ihren  activen  und  passiven  Gelüsten,  als  Mann  oder  Weib.  Bei  solchen 
Banden  gibt  es  förmliche  Hochzeiten,  Trauungen,  Bankett  und  Geleiten  der 
Neuvermählten  in  ihre  Gemächer. 

Diese  souteneurs  ziehen  sich  ihre  Jesus  heran. 

Die  passiven  Päderasten  sind  „petits  Jesus",  „Jesus"  oder  „Tanten". 

Die  petits  Jesus  sind  verlorene  verdorbene  Kinder,  welche  der  Zufall  in 
die  Hände  eines  activen  Päderasten  führt,  der  sie  verführt  und  ihnen  dann 
ihre  scheussliche  Erwerbsbahn  eröffnet,  sei  es  als  entretenus,  sei  es  als  männ- 
liche Strassenhetären  mit  oder  ohne  souteneur. 

In  der  Lehre  Solcher,  welche  diese  Kinder  in  der  Kunst  weibischer 
Kleidung  und  Haltung  unterrichten,  werden  die  geriebensten  und  gesuchtesten 
petits  Jesus  herangebildet. 

Allmählig  suchen  sich  diese  dann  vom  Lehrer  und  Exploiteur  zu  eman- 


Gezüchtete,  nicht  krankhafte  Päderastie.  397 

cipiren,  um  femme  entretenue  zu  werden,  nicht  selten  sogar  durch  anonyme 
Denunciation  des  souteneur  bei  der  Polizei. 

Des  souteneur  und  des  petit  Jesus  Sorge  ist,  dass  dieser  letztere  durch 
allerhand  Toilettenkünste  möglichst  lange  jünglinghaft  erscheine. 

Die  äusserste  mögliche  Grenze  dürfte  das  25.  Lebensjahr  sein.  Dann 
wird  jener  ein  Jesus  und  femme  entretenue,  wobei  er  meist  von  mehreren  zu- 
gleich ausgehalten  wird.  Die  Jesus  zerfallen  in  die  Kategorien  der  „filles 
galantes",  d.  h.  solcher,  die  wieder  in  den  Besitz  eines  souteneur  gerathen 
sind,  ferner  der  „pierreuses"  (gewöhnliche  coureurs  des  rues  gleich  ihren  weib- 
lichen Kollegen)  und  der  „domestiques". 

Diese  verdingen  sich  zu  activen  Päderasten,  um  ihren  Lüsten  zu  fröhnen 
oder  auch  um  ihnen  petits  Jesus  zuzubringen. 

Eine  Untergruppe  dieser  domestiques  bilden  solche,  die  als  femme  de 
chambre  petits  Jesus  ihre  Dienste  widmen.  Ein  Hauptziel  dieser  domestiques 
ist  es,  in  ihrer  Stellung  sich  compromittirendes  Material  zu  verschaffen,  mit 
Hilfe  dessen  sie  später  einmal  Chantage  treiben  und  sich  durch  solche  Er- 
pressung auf  ihre  alten  Tage  eine  gesicherte  Existenz  schaffen  können. 

Die  scheusslichste  Kategorie  unter  den  passiven  Päderasten  sind  wohl 
die  „Tantes",  d.  h.  der  souteneur  irgend  einer  Prostituirten,  der,  eine  sexuell 
normale  Existenz,  aber  ein  moralisches  Ungeheuer,  Päderastie  (passiv)  nur  aus 
Gewinnsucht  oder  zu  Chantagezwecken  treibt. 

Die  reichen  amateurs  haben  ihre  Reunions,  Gesellschaftslokale,  wo  die 
passiven  in  weiblicher  Kleidung  erscheinen,  scheussliche  Orgien  gefeiert  werden. 
Die  Kellner,  Musikanten  u.  s.  w.  bei  solchen  Festen  sind  lauter  Päderasten. 
Die  filles  galantes  wagen  es  nicht,  ausser  im  Carneval,  sich  in  Weibertoilette 
auf  der  Strasse  zu  zeigen,  aber  sie  wissen  ihrem  Exterieur  durch  etwas  weib- 
lichen Zuschnitt  der  Kleidung  u.  s.  w.  ein  ihr  Schandgewerbe  andeutendes 
Etwas  zu  verleihen. 

Sie  locken  an  durch  Gesten,  Handgreiflichkeiten  u.  s.  w.  und  führen 
ihre  Eroberungen  in  Hotels,  Bäder  oder  Bordelle. 

Was  Verfasser  über  Chantage  sagt,  ist  allgemein  bekannt.  Es  gibt  Fälle, 
wo  sich  Päderasten  ihr  ganzes  Vermögen  erpressen  Hessen. 

Die  folgende  Notiz  aus  einer  Berliner  (National-?)  Zeitung 
vom  Februar  1884,  welche  mir  durch  einen  Zufall  unter  die  Hand 
kam,  scheint  geeignet,  das  Leben  und  Treiben  der  Päderasten  und 
der  Urninge  zu  kennzeichnen. 

„Der  Ball  der  Weiberfeinde.  Fast  alle  socialen  Elemente  Berlins 
haben  ihre  geselligen  Vereinigungen :  die  Dicken,  die  Kahlköpfigen,  die  Jung- 
gesellen, die  Wittwer  —  warum  nicht  auch  die  Weiberfeinde?  Diese  psycho- 
logisch merkwürdige  und  gesellschaftlich  nicht  allzu  erbauliche  Menschen- 
species  hatte  dieser  Tage  einen  Ball.  „Grosser  Wiener  Maskenball"  —  so 
lautete  die  Ansage:  bei  der  Billetvertheilung  bezw.  dem  Billetverkauf  wird 
mit  grosser  Rigorosität  verfahren ,  die  Herrschaften  wollen  unter  sich  sein. 
Ihr  Rendez-vous  ist  ein  bekanntes  grösseres  Tanzlokal.  Wir  betreten  den  Saal 
gegen  Mitternacht.     Nach  den  Klängen  eines  gutbesetzten  Orchesters  wird  flott 


398  Gezüchtete,  nicht  krankhafte  Päderastie. 

getanzt.  Der  starke  Tabaksqualm,  der  die  Gaslustres  verschleiert,  lässt  die 
Details  des  wogenden  Treibens  nicht  sofort  hervortreten.  Erst  in  der  Tanz- 
pause können  wir  nähere  Umschau  halten.  Die  Masken  sind  bei  Weitem  in 
der  Mehrzahl;  schwarzer  Frack  und  Ballrobe  erscheinen  nur  vereinzelt. 

Doch,  was  ist  das?  Die  Dame,  die  eben  in  rosa  Tarlatan  an  uns  vor- 
überrauscht, hat  eine  glimmende  Cigarre  im  Mundwinkel  und  pafft  wie  ein 
Dragoner.  Und  ein  blondes,  nur  leicht  „ weggeschminktes"  Bärtchen  trägt  sie 
auch.  Und  jetzt  spricht  sie  mit  einem  starkdekolletirten  „ Engel"  in  Tricots, 
der  mit  auf  dem  Rücken  verschränkten  nackten  Armen  dasteht  und  gleich- 
falls raucht.  Das  sind  zwei  Männerstimmen  und  die  Unterhaltung  ist  gleich- 
falls stark  männlich;    sie   dreht   sich  um  den  „verfl Tobak,    der  keine 

Luft  hat".     Also  zwei  Männer  in  Damenkleidem. 

Ein  landesüblicher  Clown  steht  dort  an  einer  Säule  im  zärtlichen  Ge- 
spräch mit  einer  Balleteuse  und  hat  seinen  Arm  um  ihre  tadellose  Taille  ge- 
schlungen. Sie  hat  einen  blonden  Tituskopf,  scharfgeschnittenes  Profil  und 
anscheinend  üppige  Formen.  Die  blitzenden  Ohrgehänge,  das  Collier  mit  dem 
Medaillon  um  den  Hals,  die  vollen  runden  Schultern  und  Arme  lassen  einen 
Zweifel  an  ihrer  „ Echtheit"  nicht  aufkommen,  bis  sie  mit  einer  plötzlichen 
Wendung  von  dem  sie  umfangenden  Arme  sich  losmacht  und  gähnend  sich 
abwendet  mit  dem  im  tiefsten  Bass  geleisteten  Stossseufzer :  „Emil,  du  bist 
heute  zu  langweilig!"  Der  Uneingeweihte  traut  seinen  Augen  kaum;  auch 
die  Balleteuse  ist  männlichen  Geschlechts! 

Misstrauisch  mustern  wir  weiter.  Wir  vermuthen  fast,  hier  werde  ver- 
kehrte Welt  gespielt;  denn  hier  geht  oder  vielmehr  trippelt  ein  Mann  — 
nein,  entschieden  kein  Mann,  obgleich  er  ein  sorgfältig  gepflegtes  Schnurr- 
bärtchen  trägt.  Der  wohlfrisirte  Lockenkopf,  das  gepuderte  und  geschminkte 
Gesicht  mit  den  stark  „nachgetuschten"  Augenbrauen,  die  goldenen  Ohr- 
gehänge, das  von  der  linken  Schulter  nach  der  Brust  zu  verlaufende  Vor- 
steckbouquet  von  lebenden  Blumen,  das  den  eleganten  schwarzen  Leibrock 
ziert,  die  goldenen  Armbänder  an  den  Handgelenken  und  der  zierliche  Fächer 
in  der  weissbeganteten  Hand  —  das  sind  doch  keine  Attribute  des  Mannes. 
Und  wie  coquett  er  den  Fächer  handhabt,  wie  er  tänzelt  und  sich  dreht,  wie 
er  trippelt  und  lispelt!  Und  doch!  Und  doch  hat  die  grundgütige  Natur  diese 
Puppe  als  Mann  geschaffen.  Er  ist  Verkäufer  in  einem  hiesigen  grossen  Con- 
fectionsgeschäft,  und  die  Balleteuse  von  vorhin  ist  sein  „Kollege". 

Am  Ecktischchen  dort  scheint  grosser  Cercle  abgehalten  zu  werden. 
Mehrere  ältere  Herren  drängen  sich  um  eine  Gruppe  stark  decolletirter  Damen, 
die  beim  Glase  Wein  sitzen  und  —  der  lauten  Heiterkeit  nach  —  nicht  allzu 
zarte  Scherze  machen.  Wer  sind  diese  drei  Damen?  „Damen" !  lächelt  mein 
kundiger  Begleiter.  Nun  wohl:  die  rechts  mit  den  braunen  Haaren  und  dem 
halblangen  Phantasiecostüme  ist  die  „Butterrieke",  ihres  Zeichens  ein  Friseur; 
die  zweite,  blonde,  im  Chansonnettencostüme  und  mit  dem  Perlencollier  ist 
hier  unter  dem  Namen  „Miss  Ella  aufs  Seil"  bekannt  und  ihres  Zeichens  ein 
Damenschneider,  —  und  die  Dritte  —  nun^  das  ist  die  weit  und  breit  be- 
rühmte „Lotte". 

....  Das  kann  aber  doch  unmöglich  ein  Mann  sein?  Diese  Taille, 
diese  Büste,  diese  klassischen  Arme,  das  ganze  Air  und  Wesen  ist  doch  aus- 
gesprochen weiblich! 


Gezüchtete,  nicht  krankhafte  Päderastie.  399 

Ich  werde  dahin  belehrt,  dass  „Lotte"  früher  Buchhalter  gewesen  ist. 
Heute  ist  sie  oder  vielmehr  er  allerdings  ausschliesslich  „ Lotte" ,  und  findet 
ein  Vergnügen  daran,  die  Männerwelt  möglichst  lang  über  sein  Geschlecht 
zu  täuschen.  Lotte  singt  eben  einen  nicht  ganz  courfähigen  Chanson  und 
entwickelt  dabei  eine  durch  langjährige  Schulung  erworbene  Altstimme,  um 
die  sie  manche  Sängerin  beneiden  dürfte.  „Lotte"  hat  auch  schon  als  Damen- 
komiker „gearbeitet".  Heute  hat  sich  der  ehemalige  Buchhalter  so  in  die 
Damenrolle  hineingefunden,  dass  er  auch  auf  der  Strasse  fast  ausschliesslich 
in  Damenkleidern  erscheint  und  sich,  wie  seine  Wirthsleute  erzählen,  sogar 
eines  gestickten  Damen-Nachtnegliges  bedient. 

Bei  genauer  Musterung  der  Anwesenden  entdeckte  ich  zu  meiner  Ver- 
wunderung auch  allerhand  Bekannte :  meinen  Schuhmacher,  den  ich  für  alles 
Andere  eher  als  für  einen  „Weiberfeind"  gehalten;  er  ist  heute  „Troubadour" 
mit  Degen  und  Federhut,  und  seine  „Leonore"  im  Brautcostüm  pflegt  mir  im 
Cigarrenladen  die  „Bock"  und  „Uppmann"  vorzulegen.  Die  „Leonore",  welche 
in  der  Pause  die  Handschuhe  abgelegt  hat,  erkenne  ich  ganz  genau  an  den 
grossen,  erfrorenen  Händen.  Richtig!  da  ist  ja  auch  mein  Shlipslieferant.  Er 
läuft  in  einem  bedenklichen  Costüm  als  Bacchus  umher  und  ist  der  Seladon 
einer  widerwärtig  ausstaffirten  Diana,  die  sonst  in  einem  Weissbierlokal  als 
Kellner  fungirt.  Was  an  wirklichen  „Damen"  auf  dem  Balle  verkehrt,  ent- 
zieht sich  der  öffentlichen  Schilderung.  Jedenfalls  verkehren  sie  nur  ganz 
unter  sich  und  vermeiden  jede  Annäherung  an  die  weiberfeindlichen  Männer, 
während  diese  wieder  konsequent  unter  sich  bleiben  und  sich  amüsiren,  die 
holde  Weiblichkeit  aber  gänzlich  ignoriren. 

Diese  Thatsachen  verdienen  die  volle  Aufmerksamkeit  der 
Polizeibehörden,  welche  in  die  Lage  versetzt  sein  sollten,  gesetzlich 
ebenso  eine  Handhabe  gegen  die  männliche  Prostitution 
zu  besitzen,  wie  sie  eine  solche  gegen  die  weibliche 
haben. 

Jedenfalls  ist  die  männliche  Prostitution  viel  gefährlicher  für 
die  Gesellschaft  als  die  weibliche  und  der  grösste  Schandfleck  in 
der  Geschichte  der  Menschheit. 

Aus  Mittheilungen  eines  höheren  Polizeibeamten  in  Berlin 
ersehe  ich,  dass  die  Berliner  Polizei  die  männliche  Demimonde  der 
deutschen  Hauptstadt  genau  kennt  und  Alles  aufbietet,  um  das 
Erpresserthum  unter  den  Päderasten,  das  vielfach  selbst  vor  dem 
Mord  nicht  zurückschreckt,  mit  allen  Mitteln  zu  bekämpfen. 

Die  obigen  Thatsachen  rechtfertigen  den  Wunsch,  dass  der 
Gesetzgeber  der  Zukunft  wenigstens  aus  Utilitätsgründen 
auf  die  Verfolgung  der  Päderastie  verzichte. 

Bemerkenswerth  in  dieser  Hinsicht  ist,  dass  der  Code  francais 
sie  straflos  lässt,  so  lange  sie  nicht  zugleich  ein  outrage  public  ä 
la   pudeur   bildet.      Wohl    aus   rechtspolitischen    Gründen  übergeht 


jni)  Fälschlich  imputirte  Päderastie. 

auch  der  neue  italienische  Strafkodex  das  Delikt  der  widernatür- 
lichen Unzucht  mit  Schweigen,  gleichwie  die  Gesetzgebung  Hollands 
und,  soweit  ich  Kenntniss  habe,  die  Belgiens  und  Spaniens. 

Inwieweit  gezüchtete  Päderasten  noch  physisch  und  moralisch 
als  gesund  zu  betrachten  sind,  mag  dahingestellt  bleiben.  An 
genitalen  Neurosen  leiden  wohl  die  meisten.  Jedenfalls  finden 
sich  hier  fliessende  Uebergänge  zur  erworbenen  krank- 
haften conträren  Sexualempfindung  (s.  p.  189).  Die  Zurech- 
nungsfähigkeit dieser  jedenfalls  noch  tief  unter  dem  sich  prostituiren- 
den  Weib  stehenden  Existenzen  kann  im  Allgemeinen  nicht  bestritten 
werden. 

Die  verschiedenen  Kategorien  der  mannmännlich  liebenden  In- 
dividuen lassen  sich  bezüglich  der  Art  ihrer  Geschlechtsbefriedigung 
im  Grossen  und  Ganzen  dahin  charakterisiren,  dass  der  geborene 
Urning  nur  ausnahmsweise  Päderast  wird  und  dazu  eventuell 
kommt,  nachdem  er  die  anderweitigen  zwischen  männlichen  Individuen 
möglichen  Un Zuchtshandlungen  durchgemacht  und  erschöpft  hat. 

Passive  Päderastie  ist  ideell  und  praktisch  die  ihm  adäquate 
Art  des  sexuellen  Aktes.  Aktive  Päderastie  übt  er  allerdings  aus 
Gefälligkeit.  Das  Wichtigste  ist  die  angeborene  und  unwandelbare 
Perversion  der  Geschlechtsempfindung.  Anders  der  gezüchtete 
Päderast.  Er  hat  normal  geschlechtlich  gehandelt  oder  wenigstens 
empfunden,  und  episodisch  oder  nebenher  verkehrt  er  mit  dem 
anderen  Geschlecht. 

Seine  geschlechtliche  Perversität  ist  weder  originär  noch  un- 
wandelbar. Er  beginnt  mit  Päderastie  und  hört  eventuell  auf  mit 
anderen,  mit  Schwäche  des  Erections-  und  Ejaculationscentrums  ver- 
träglichen sexuellen  Praktiken.  Sein  sexuelles  Sehnen  auf  der  Höhe 
der  Leistungsfähigkeit  ist  nicht  passive,  sondern  aktive  Päderastie. 
Zu  passiver  versteht  er  sich  gleichwohl  aus  Gefälligkeit  oder  aus 
Gewinnsucht  in  der  Rolle  der  männlichen  Hetäre  oder  als  Mittel, 
um  im  Zustande  erlöschender  Potenz  gelegentlich  doch  die  aktive 
Päderastie  zu  Stande  zu  bringen. 

Eine  hässliche  Erscheinung,  der  noch  hier  im  Anhang  gedacht 
werden  möge,  ist  die  Paedicatio  mulierum1),  nach  Umständen 
selbst  uxorum!     Wüstlinge  vollziehen  sie  zuweilen  aus  besonderem 


*)  Vgl.  Tardieu,  Attentats  p.  198.  Martine  au,  Deutsche  med.  Ztg. 
1882,  p.  9.  Virchow's  Jahrb.  1881.  I,  p.  533.  Coutagne,  Lyon  medical 
Nr.  35.  36. 


Fälschlich  imputirte  Päderastie.  401 

Kitzel  an  feilen  Dirnen  oder  selbst  an  ihren  Ehefrauen.  Tardieu 
gibt  Beispiele,  wo  Männer  neben  Coitus  ihre  Ehefrauen  zeitweise 
pädicirten !  Zuweilen  kann  Furcht  vor  neuerlicher  Schwängerung 
den  Mann  zu  dieser  Handlung  bestimmen  und  das  Weib  veranlassen, 
den  Akt  zu  toleriren! 

Beobachtung  191.  Imputirte,  aber  nicht  erwiesene  Päde- 
rastie.    Ergebnisse  aus  den  Akten. 

Am  30.  Mai  1888  wurde  Dr.  ehem.  S.  in  H.  durch  einen  anonymen 
Brief  bei  seinem  Schwiegervater  beschuldigt,  er  stehe  mit  dem  19  Jahre  alten 
Fleischhauersohne  G.  in  einem  unsittlichen  Verhältniss.  Dr.  S.  erhielt  den  Brief, 
eilte,  empört  über  dessen  Inhalt,  zu  seinem  Vorgesetzten,  welcher  versprach, 
discret  in  dieser  Angelegenheit  vorgehen  und  sich  bei  der  Polizei  erkundigen 
zu  wollen,  ob  und  was  eventuell  über  diese  Angelegenheit  im  Publikum  ge- 
sprochen werde. 

Am  Morgen  des  31.  Mai  verhaftete  die  Polizei  den  in  der  Wohnung 
des  Dr.  S.  an  Gonorrhöe  und  Orchitis  krankliegenden  G.  Dr.  S.  bemühte  sich 
beim  Staatsanwalt  um  Entlassung  des  G.  und  bot  Caution  an,  was  aber  ab- 
gelehnt wurde.  In  seiner  Eingabe  an  das  Landgericht  gibt  Dr.  S.  an,  dass  er 
vor  3  Jahren  den  jungen  G.  auf  der  Strasse  kennen  lernte,  ihn  dann  aus  den 
Augen  verlor,  im  Herbst  1887  im  Laden  seines  Vaters  wieder  traf.  G.  besorgte 
vom  November  1887  ab  dem  Dr.  S.  den  Fleischbedarf  für  dessen  Küche,  kam 
Abends,  um  die  Bestellung  entgegenzunehmen,  und  am  folgenden  Morgen, 
um  die  Waare  zu  bringen.  Dr.  S.  wurde  so  mit  G.  näher  bekannt  und  all- 
mählig  befreundet.  Als  S.  erkrankte  und  bis  Mitte  Mai  1888  meist  auf  dem 
Krankenlager  war,  erwies  ihm  G.  so  viel  Aufmerksamkeiten,  dass  ihm  S.  und 
dessen  Frau  ob  seines  harmlosen,  kindlichen,  heiteren  Wesens  herzlich  gewogen 
wurden.  Dr.  S.  zeigte  und  erklärte  ihm  seine  Sammlungen  von  Alterthümern, 
und  die  Beiden  verbrachten  die  Abende  gesellig  zusammen,  wobei  auch  meist 
Frau  Dr.  S.  sich  betheiligte.  Ausserdem  will  S.  mit  G.  Versuche  über  Wurst- 
und  Geleefabrikation  u.  s.  w.  angestellt  haben.  Ende  Februar  1888  erkrankte 
G.  an  Gonorrhöe.  Da  Dr.  S.  ihn  als  Freund  schätzte,  Liebe  zur  Kranken- 
pflege hatte  und  mehrere  Semester  Medicin  studirt  hatte,  nahm  er  sich  des 
G.  an,  gab  ihm  ein  Medikament  u.  s.  w.  Da  G.  noch  im  Mai  krank  war 
und  aus  verschiedenen  Gründen  ein  Verlassen  des  elterlichen  Hauses  wünschens- 
werth  war,  nahm  ihn  das  Ehepaar  S.  zur  weiteren  Pflege  in  die  eigene 
Wohnung. 

S.  weist  alle  daraus  erflossenen  Verdächtigungen  entrüstet  zurück,  stützt 
sich  auf  sein  ehrenhaftes  Vorleben,  seine  gute  Erziehung,  auf  den  Umstand, 
dass  G.  damals  mit  einer  ekelhaften,  ansteckenden  Krankheit  behaftet  war 
und  S.  selbst  an  einer  schmerzhaften  Krankheit  (Nierensteine  mit  zeitweiser 
Kolik)  litt. 

Gegenüber  dieser  harmlosen  Darstellung  des  S.  müssen  aber  folgende 
gerichtlich  constatirte  und  bei-  der  ersten  Urtheilsschöpfung  verwerthete  That- 
sachen  berücksichtigt  werden. 

Das  Verhältniss  des  S.  zu  G.  hatte  sowohl  bei  Privatpersonen  als  auch 
in  Wirthshäusern  seiner  Anstössigkeit  halber  Anlass  zu  Bemerkungen  gegeben. 
v.  Krat'ft-Ebing,  Psychopathia  sexualis.    9.  Aufl.  26 


402  Fälschlich  imputirte  Päderastie. 

G.  brachte  meist  die  Abende  im  Familienkreise  des  S.  zu,  wurde  zuletzt-  ganz 
heimisch  daselbst.  Die  Beiden  machten  gemeinschaftliche  Spaziergänge.  Auf 
einem  solchen  äusserte  sich  einmal  S.  zu  G. ,  er  sei  ein  hübscher  Junge,  er 
habe  ihn  lieb.  Damals  war  auch  von  geschlechtlichen  Ausschweifungen,  u.  a. 
von  Päderastie  die  Rede.  S.  will  dieses  Thema  nur  berührt  haben,  um  den  G. 
davor  zu  warnen.  Bezüglich  des  häuslichen  Verkehrs  ist  erwiesen,  dass  S., 
auf  dem  Sopha  sitzend,  den  G.  bisweilen  um  den  Hal&  nahm  und  küsste. 
Dies  geschah  sowohl  in  Gegenwart  der  Frau  des  S.  als  auch  des  Dienst- 
mädchens. Als  G.  an  Gonorrhöe  krank  war,  unterrichtete  ihn  S.  in  der  An- 
wendung der  Einspritzungen  und  nahm  dabei  dessen  membrum  in  die  Hand.  G. 
gibt  an,  dass  S.  auf  seine  Frage,  warum  er  ihn  so  lieb  habe,  erwiderte:  „Ich 
weiss  es  selbst  nicht."  Wenn  G.  einige  Tage  ausblieb,  beklagte  sich  S.  mit 
Tbränen  in  den  Augen,  wenn  er  wiederkam,  darüber.  Auch  theilte  ihm  S. 
mit,  seine  Ehe  sei  keine  glückliche,  und  bat  G.  unter  Thränen,  er  möge  ihn 
nicht  verlassen,  er  müsse  ihm  Ersatz  für  seine  Frau  bieten. 

Aus  all  dem  folgerte  die  Anklage  mit  Berechtigung,  dass  das  Verhält- 
niss  zwischen  den  beiden  Angeklagten  eine  geschlechtliche  Richtung  hatte. 
Dass  Alles  öffentlich  und  von  Jedermann  erkennbar  geschah,  spricht  nach  der 
Anklage  nicht  für  die  Harmlosigkeit  des  Verhältnisses,  sondern  vielmehr  für 
die  Höhe  der  Leidenschaft  des  S.  Zugegeben  wird  das  makellose  Vorleben 
des  Angeklagten,  sein  ehrenhaftes  Verhalten  und  sein  weiches  Gemüth.  Wahr- 
scheinlich gemacht  wird  das  nicht  glückliche  eheliche  Verhältniss  des  S.  und 
dass  er  eine  sinnlich  angelegte  Natur  war. 

G.  wurde  im  Laufe  der  Untersuchung  wiederholt  gerichtsärztlich  ex- 
plorirt.  Er  ist  von  kaum  mittlerer  Grösse,  blasser  Gesichtsfarbe,  kräftigem 
Körperbau.     Penis  und  Hoden  sind  sehr  kräftig  entwickelt. 

Uebereinstimmend  wurde  gefunden,  dass  der  After  durch  Faltenlosigkeit 
in  seiner  Umgebung,  Erschlaffung  des  Schliessmuskels  krankhaft  verändert  sei 
und  dass  diese  Veränderungen  einen  Wahrscheinlichkeitsschluss  auf  passive 
Päderastie  gestatten. 

Auf  diese  Thatsachen  gründete  sich  die  Urtheilsschöpfung.  Sie  erkannte 
an,  dass  das  zwischen  den  Angeklagten  bestandene  Verhältniss  nicht  mit  Noth- 
wendigkeit  auf  widernatürliche  Unzucht  hinweise,  ebensowenig  der  an  G.  fest- 
gestellte körperliche  Befund  für  sich  allein  diesen  Beweis  liefere. 

Aus  der  Verbindung  dieser  beiden  Momente  gewann  jedoch  der  Gerichts- 
hof die  Ueberzeugung  von  der  Schuld  der  beiden  Angeklagten  und  erachtete 
für  erwiesen:  „dass  der  abnorme  Zustand  am  After  des  G.  durch  das  längere 
Zeit  hindurch  fortgesetzte  Einführen  des  Gliedes  des  Angeklagten  S.  in  den- 
selben hervorgerufen  wurde,  und  dass  sich  G.  willig  dazu  hergab,  die  Vor- 
nahme dieser  unzüchtigen  Handlungen  an  sich  duldete." 

Damit  erschien  der  Thatbestand  des  §  175  R.-St.-G.-B.  festgestellt.  Bei 
Bemessung  der  Strafe  wurde  der  Bildungsgrad  des  S.,  sowie  dass  er  offenbar 
der  Verführer  des  G.  war,  bei  letzterem  diese  Rücksicht,  sowie  sein  jugend- 
liches Alter,  bei  Beiden  endlich  ihre  bisherige  Unbescholtenheit  in  Betracht 
gezogen  und  demgemäss  Dr.  S.  zu  Gefängnissstrafe  von  8  Monaten,  G.  zu  einer 
solchen  von  4  Monaten  verurtheilt. 

Die  Verurtheilten  legten  Revision  beim  Reichsgericht  in  Leipzig  ein  und 
bereiteten  sich  vor,   bei  eventueller  Verwerfung  ihres  Gesuches  hm  Revision 


Fälschlich  imputirte  Päderastie.  403 

Materialien  zu  gewinnen,  um  die  Wiederaufnahme  des  Verfahrens  herbeiführen 
zu  können. 

Sie  unterwarfen  sich  einer  Untersuchung  und  Beobachtung  durch  her- 
vorragende Fachmänner.  Diese  erklärten,  dass  nach  den  Befunden  am  After 
des  G.  keinerlei  Anhaltspunkte  für  stattgehabte  passive  Päderastie  vorhan- 
den seien. 

Da  es  den  Betheiligten  von  Werth  schien,  auch  die  psychologische  Seite 
des  Falles,  auf  die  im  Process  nicht  eingegangen  worden  war,  klar  zu  stellen, 
wurde  der  Verfasser  mit  der  Untersuchung  und  Beobachtung  des  Dr.  S.  und 
des  G.  betraut. 

Ergebnisse  der  persönlichen  Exploration  vom  11.  bis 
13.  December  1888  in  Graz. 

Dr.  S. ,  37  Jahre  alt ,  seit  2  Jahren  verheirathet ,  kinderlos ,  gewesener 
Vorstand  des  städtischen  Laboratoriums  in  H.,  stammt  von  einem  Vater,  der 
infolge  grosser  Thätigkeit  nervös  gewesen  sein  soll,  mit  57  Jahren  einen  Schlag- 
anfall erlitt  und  mit  67  Jahren  an  einer  erneuten  Apoplexie  zu  Grunde  ging. 
Die  Mutter  lebt,  wird  als  eine  rüstige,  aber  seit  Jahren  nervenleidende  Per- 
sönlichkeit geschildert.  Deren  Mutter  starb  ziemlich  bei  Jahren,  angeblich 
an  einer  Geschwulst  des  Kleingehirns.  Ein  Bruder  des  Vaters  der  Mutter  soll 
Trinker  gewesen  sein.     Des  Vaters  Vater  starb  früh  an  Gehirnerweichung. 

Dr.  S.  hat  2  Brüder,  die  sich  völliger  Gesundheit  erfreuen. 

Er  selbst  erklärt,  von  nervösem  Temperament,  kräftiger  Constitution 
gewesen  zu  sein.  Nach  einem  acuten  Gelenkrheumatismus,  den  er  im  14.  Jahre 
durchmachte,  will  er  einige  Monate  an  grosser  Nervosität  gelitten  haben.  In 
der  Folge  litt  er  oft  an  rheumatischen  Beschwerden,  sowie  Herzklopfen  und 
Kurzathmigkeit.  Diese  Beschwerden  verloren  sich  allmählig  unter  dem  Ge- 
brauch von  Seebädern.  Vor  7  Jahren  zog  er  sich  eine  Gonorrhöe  zu.  Diese 
Tripperkrankheit  wurde  chronisch  und  verursachte  längere  Zeit  Blasen- 
beschwerden. 

1887  erlitt  Dr.  S.  den  ersten  Anfall  von  Nierensteinkolik.  Solche  Anfälle 
wiederholten  sich  im  Winter  1887 — 1888  mehrmals,  bis  am  16.  Mai  1888  ein 
ziemlich  grosser  Nierenstein  abging.  Seither  war  sein  Befinden  ein  ziemlich 
befriedigendes.  So  lange  er  steinleidend  war,  will  er  beim  Coitus,  im  Moment 
der  Samenergiessung,  einen  heftigen  Schmerz  in  der  Harnröhre  verspürt  haben, 
desgleichen  wenn  er  urinirte. 

Bezüglich  seines  Curriculum  vitae  gibt  S.  an,  er  habe  bis  zum  14.  Jahre 
das  Gymnasium  besucht,  von  da  an,  infolge  seiner  schweren  Erkrankung,  pri- 
vatim weiter  studirt.  Darauf  sei  er  4  Jahre  in  einem  Droguengeschäft  ge- 
wesen, habe  dann  6  Semester  medicinischen  Studien  auf  der  Universität  ob- 
gelegen, im  1870er  Krieg  als  freiwilliger  Krankenpfleger  Dienste  geleistet.  Da 
er  kein  Abiturientenzeugniss  besass,  habe  er  das  Studium  der  Medicin  auf- 
gegeben, den  Dr.  philos.  erworben,  dann  in  K.  an  der  Mineraliensammlung, 
später  in  H.  als  Assistent  des  mineralogischen  Instituts  gedient,  dann  Special- 
studien im  Gebiete  der  Chemie  der  Nahrungsmittel  gemacht  und  vor  5  Jahren 
die  Stelle  eines  Vorstandes  des  städtischen  Laboratoriums  übernommen. 

Explorat  macht  alle  diese  Angaben  in  prompter  präciser  Weise,  besinnt 
sich  nicht  auf  seine  Antworten,    so   dass   man  immer  mehr  den  Eindruck  ge- 


404  Fälschlich  imputirte  Päderastie. 

winnt,  dass  man  es  mit  einem  wahrheitsliebenden  und  die  Wahrheit  sprechen- 
den Menschen  zu  thun  habe,  um  so  mehr  als  in  den  Explorationen  der  folgen- 
den Tage  die  Angaben  durchaus  identisch  lauten.  Hinsichtlich  seiner  Vita 
sexualis  gibt  Dr.  S.  in  bescheidener,  decenter  und  offener  Weise  an,  dass  er 
vom  11.  Jahre  an  sich  über  den  Unterschied  der  Geschlechter  klar  zu  werden 
begann,  bis  zum  14.  Jahre  einige  Zeit  der  Onanie  ergeben  war,  mit  18  Jahren 
zum  ersten  Mal  und  in  der  Folge  massig  coitirte.  Sein  sinnliches  Verlangen 
sei  nie  sehr  gross  gewesen,  der  sexuelle  Akt  bis  auf  die  letzte  Zeit  nach  jeder 
Richtung  normal,  mit  befriedigendem  Wollustgefühl  und  Potenz.  Seit  seiner 
vor  2  Jahren  geschlossenen  Ehe  habe  er  ausschliesslich  mit  seiner  Ehefrau,  die 
er  aus  Neigung  geheirathet  und  noch  jetzt  herzlich  liebe,  coitirt,  mindestens 
mehrmals  in  der  Woche. 

Frau  Dr.  S. ,  deren  Einvernehmung  dem  Gutachter  möglich  war,  be- 
stätigte vollinhaltlich  diese  Angaben. 

Alle  Kreuz-  und  Querfragen  im  Sinne  einer  perversen  Geschlechts- 
empfindung dem  Manne  gegenüber  beantwortete  Dr.  S.  in  den  wiederholten 
Explorationen  negativ,  vollkommen  übereinstimmend  und  ohne  je  auf  die  Ant- 
wort sich  zu  besinnen.  Selbst  als  man  ihn  in  eine  Falle  zu  locken  versucht, 
indem  man  ihm  vorstellt,  dass  der  Nachweis  einer  perversen  Geschlechts- 
empfindung für  die  Zwecke  der  Begutachtung  höchst  förderlich  wäre,  bleibt 
er  bei  seinen  Angaben.  Man  gewinnt  den  werthvollen  Eindruck,  dass  S.  von 
den  Thatsachen  der  Wissenschaft  über  mannmännliche  Liebe  nicht  das  Min- 
deste weiss.  So  erfährt  man,  dass  seine  Pollutionsträume  nie  Männer  zum  In- 
halte hatten,  dass  ihn  nur  weibliche  Nuditäten  interessirten,  dass  er  sehr  gerne 
auf  Bällen  mit  Damen  tanzte  u.  s.  w.  Spuren  irgendwelcher  sexueller  Inclina- 
tion  zum  eigenen  Geschlecht  sind  an  S.  in  keiner  Weise  zu  entdecken.  Be- 
züglich des  Verhältnisses  zu  G.  äussert  sich  Dr.  S.  genau  so,  wie  er  in  der 
Untersuchung  vor  dem  Richter  angegeben  hat.  Er  weiss  seine  Neigung  zu  G. 
nur  dadurch  zu  erklären,  dass  er  ein  nervöser  Mensch,  ein  Gemüths-  und  Rüh- 
rungsmensch sei,  sehr  empfänglich  für  freundliches  Entgegenkommen.  Er  habe 
sich  in  seiner  Krankheit  vereinsamt  und  verstimmt  gefühlt;  seine  Frau  sei 
häufig  fort  im  Elternhause  gewesen  und  so  sei  es  vorgekommen,  dass  er  mit 
dem  gutmüthigen,  artigen  G.  befreundet  worden  sei.  Er  habe  noch  jetzt  ein 
Faible  für  ihn,  fühle  sich  in  seiner  Gesellschaft  auffallend  ruhig  und  zufrieden. 

Er  habe  schon  2mal  früher  solche  innige  Freundschaften  gehabt,  so  als 
er  noch  Student  war,  einem  Corpsbruder  gegenüber,  einem  Dr.  A.,  den  er  auch 
umarmt  und  geküsst  habe;  später  einem  Baron  M.  gegenüber.  Wenn  er 
diesen  einige  Tage  nicht  sehen  konnte,  sei  er  ganz  trostlos  gewesen  bis  zum 
Weinen. 

Eine  solche  Gemüthsweichheit  und  Anhänglichkeit  habe  er  auch  Thieren 
gegenüber.  So  habe  er  einen  Pudel,  der  vor  einiger  Zeit  starb,  betrauert,  wie 
ein  Familienglied,  das  Thier  oft  geküsst.  (Bei  Erwähnung  dieser  Erinnerungen 
treten  Explorat  Thränen  in  die  Augen.)  Diese  Angaben  werden  vom  Bruder 
des  Exploraten  bestätigt,  mit  dem  Bemerken,  dass  bezüglich  der  auffallenden 
Freundschaft  seines  Bruders  mit  A.  und  M.  auch  der  leiseste  Verdacht  sexueller 
Färbung  oder  gar  Beziehung  ausgeschlossen  erscheine.  Auch  das  vorsichtigste 
und  eingehendste  Examiniren  des  Dr.  S.  ergibt  für  derartige  Vermuthungen 
nicht  den  geringsten  Anhaltspunkt. 


Fälschlich  imputirte  Päderastie.  405 

Er  behauptet  auch  dem  G.  gegenüber  nie  die  geringste  sinnliche  Regung, 
geschweige  Erection  oder  gar  sinnliches  Verlangen  gehabt  zu  haben.  Die  an 
Eifersucht  grenzende  Zuneigung  zu  G.  motivirt  S.  einfach  mit  seinem  senti- 
mentalen Temperament  und  mit  seiner  überschwänglichen  Freundschaft.  G. 
stehe  ihm  noch  jetzt  so  nahe,  wie  wenn  er  sein  Sohn  wäre. 

Bezeichnend  ist,  dass  S.  erklärt,  wenn  G.  ihm  von  seinen  galanten  Aben- 
teuern mit  Frauenzimmern  erzählte,  habe  es  ihn  nur  gekränkt,  dass  G.  Gefahr 
lief,  durch  seine  Ausschweifungen  sich  zu  schaden,  seine  Gesundheit  zu  rui- 
niren.  Ein  Gefühl  der  eigenen  Kränkung  habe  er  dabei  nie  empfunden.  Wenn 
er  heute  ein  braves  Mädchen  für  G.  wüsste,  so  möchte  er  ihm  dasselbe  herz- 
lich gönnen  und  behufs  Eheschliessung  Vorschub  leisten. 

S.  will  erst  im  Laufe  der  gerichtlichen  Untersuchung  eingesehen  haben, 
dass  er  unklug  handelte  im  socialen  Verkehr  mit  G. ,  indem  er  sich  dadurch 
in  das  Gerede  der  Leute  brachte.  Mit  der  Harmlosigkeit  dieses  Freundschafts- 
verhältnisses erklärt  er  dessen  Oeffentlichkeit. 

Bemerkenswerth  ist,  dass  Frau  Dr.  S.  im  Verkehr  zwischen  ihrem  Mann 
und  G.  nie  etwas  Verdächtiges  bemerkte,  während  doch  die  einfachste  Frau 
schon  ganz  instinktiv  derlei  bemerken  würde.  Frau  S.  hat  auch  an  der  Auf- 
nahme des  G.  ins  S.'sche  Haus  keinen  Anstand  genommen.  Sie  macht  in  dieser 
Hinsicht  geltend,  dass  das  Fremdenzimmer,  in  welchem  G.  krank  lag,  im  ersten 
Stock  sich  befindet  und  die  Familienwohnung  im  dritten  Stock;  dass  ferner  S. 
nie  allein  mit  G.,  während  er  im  Hause  war,  verkehrte.  Sie  erklärt,  von  der 
Unschuld  ihres  Mannes  überzeugt  zu  sein  und  ihn  nach  wiß-^vor  zu  lieben. 

Dr.  S.  gibt  rückhaltlos  zu,  dass  er  G.  früher  oft  geküsst  und  mit  ihm 
auch  über  geschlechtliche  Verhältnisse  gesprochen  habe.  G.  sei  nämlich  sehr 
auf  Weiber  aus  und  da  habe  er  ihn  aus  Freundschaft  gewarnt  vor  geschlecht- 
lichen Ausschweifungen,  namentlich  dann,  wenn  G.,  wie  dies  oft  geschah,  in- 
folge sexueller  Debauchen  schlecht  aussah. 

Die  Aeusserung,  G.  sei  ein  hübscher  Mensch,  habe  er  allerdings  einmal 
gemacht,  aber  in  ganz  harmloser  Beziehung. 

Das  Küssen  des  G.  sei  aus  überschwänglicher  Freundschaft  erfolgt,  wenn 
G.  ihm  gerade  eine  besondere  Aufmerksamkeit  oder  Freude  erwiesen  habe. 
Niemals  habe  er  dabei  irgend  eine  sexuelle  Empfindung  verspürt.  Auch  wenn 
er  hie  und  da  einmal  von  G.  träumte,  sei  dies  in  ganz  harmloser  Weise  ge- 
schehen. 

Von  grossem  Werth  erschien  es  dem  Verf.,  auch  über  die  Persönlichkeit 
G.'s  ein  Urtheil  gewinnen  zu  können.  Von  der  gebotenen  Gelegenheit  wurde 
am  12.  December  d.  J.  ausgiebiger  Gebrauch  gemacht. 

G.  ist  ein  etwas  zart  gebauter,  dem  Alter  —  20  Jahre  —  entsprechend 
entwickelter,  neuropathisch  und  sinnlich  erscheinender  junger  Mann.  Die  Geni- 
talien sind  normal  und  kräftig  entwickelt.  Den  Befund  am  After  glaubt  der 
Verf.  übergehen  zu  dürfen,  da  er  sich  nicht  berufen  fühlt,  über  jenen  ein 
Urtheil  abzugeben.  Bei  längerem  Verkehr  mit  G.  bekommt  man  den  Eindruck 
eines  harmlosen,  gutmüthigen ,  nicht  hinterlistigen  Menschen ,  der  leichtsinnig 
aber  keineswegs  sittlich  verdorben  ist.  Nichts  in  Kleidung  und  Benehmen 
deutet  auf  perverse  Geschlechtsempfindung.  Im  Sinne  einer  männlichen  Cour- 
tisane  kann  nicht  der  leiseste  Verdacht  sich  regen. 

G. ,   in  medias  res  geführt,    spricht  sich  dahin   aus,    dass  S.  und  er  im 


406  Fälschlich  imputirte  Päderastie. 

Gefühl  ihrer  Unschuld  die  Sache  so  gesagt  hätten,  wie  sie  wirklich  war,  und 
daraus  habe  man  den  ganzen  Process  aufgebauscht. 

Anfangs  sei  ihm  die  Freundschaft  des  S.  und  namentlich  das  Küssen 
selbst  auffällig  vorgekommen.  Später  habe  er  sich  überzeugt,  dass  es  blosse 
Freundschaft  war,  und  sich  darüber  nicht  mehr  gewundert. 

G.  habe  den  S.  als  väterlichen  Freund  erkannt  und,  da  er  ihm  so  un- 
eigennützig entgegenkam,  ihn  gerne  gehabt. 

Der  Ausdruck  „hübscher  Junge*  sei  gefallen,  als  G.  eine  Liebschaft  hatte 
und  wegen  einer  glücklichen  Zukunft  S.  seine  Befürchtungen  aussprach.  Da 
habe  ihn  S.  getröstet  und  gesagt,  er  habe  ja  ein  angenehmes  Aeussere  und 
werde  schon  eine  Parthie  machen. 

Einmal  habe  S.  ihm,  G. ,  geklagt,  dass  seine  Frau  Neigung  zum 
Trinken  habe,  und  sei  bei  dieser  Mittheilung  in  Thränen  ausgebrochen.  Da 
sei  G.  gerührt  über  das  Unglück  seines  Freundes  gewesen.  Bei  dieser  Ge- 
legenheit habe  ihn  S.  geküsst  und  um  seine  Freundschaft  und  häufigen  Besuch 
gebeten. 

S.  habe  nie  spontan  das  Gespräch  auf  sexuelle  Dinge  gebracht.  Als  ihn 
G.  einmal  fragte,  was  Päderastie  sei,  von  der  G.  in  England  viel  gehört  haben 
will,  habe  ihm  S.  dies  erklärt. 

G.  gibt  zu,  dass  er  ein  sinnlich  veranlagter  Mensch  sei.  Mit  12  Jahren 
sei  er  durch  Reden  der  Lehrlinge  in  das  Geschlechtsleben  eingeweiht  worden. 
Er  habe  nie  onanirt,  mit  18  Jahren  zum  erstenmal  coitirt,  seither  fleissig  das 
Bordell  besucht.  Nie  habe  er  eine  Neigung  zum  eigenen  Geschlecht  verspürt, 
nie,  wenn  ikn  S.  küsste,  eine  sexuelle  Regung  empfunden.  Er  habe  immer 
mit  Genuss  und  ganz  normal  coitirt.  Seine  Traumpollutionen  seien  immer 
von  lasciven  Bildern,  Weiber  betreffend,  begleitet  gewesen.  Die  Insinuation, 
passiver  Päderastie  ergeben  gewesen  zu  sein,  weist  er  mit  Berufung  auf 
seine  Descendenz  aus  gesunder  und  anständiger  Familie  entrüstet  zurück. 
Bis  zum  Auftauchen  der  bezüglichen  Gerüchte  sei  er  harmlos  und  ahnungs- 
los gewesen.  Die  an  seinem  Anus  gefundenen  Anomalien  versucht  er  zu  er- 
klären, wie  es  in  den  Akten  zu  ersehen  ist.  Automasturbation  in  ano  stellt 
er  in  Abrede. 

Bemerkt  zu  werden  verdient,  dass  Herr  J.  S.  über  angebliche  mann- 
männliche Liebe  seines  Bruders  nicht  minder  erstaunt  gewesen  sein  will,  als 
andere  seinem  Bruder  nahestehende  Leute.  Allerdings  habe  er  auch  nicht 
begreifen  können,  was  den  Bruder  an  G.  fesselte,  und  dass  alle  Vorstellungen, 
die  Dr.  S.  von  seinem  Bruder  bezüglich  des  Verhaltens  G.  gegenüber  gemacht 
wurden,  vergebens  waren. 

Der  Untersuchende  hat  sich  die  Mühe  genommen,  Dr.  S.  und  G.  als  sie 
in  Gesellschaft  von  S.'s  Bruder  und  Frau 'Dr.  S.  in  Graz  soupirten,  in  unauf- 
fälliger Weise  zu  beobachten.  Diese  Beobachtung  ergab  nicht  das  Mindeste 
im  Sinne  einer  verbotenen  Freundschaft. 

Der  Gesammteindruck,  den  mir  Dr.  S.  machte,  war  der  eines  nervösen, 
sanguinischen,  etwas  überspannten  Individuums,  dabei  gutmüthig,  offenherzig 
und  vorwaltend  Gemüthsmensch. 

Dr.  S.  ist  körperlich  kräftig,  etwas  korpulent  mit  leicht  brachycephalem, 
symmetrischem  Schädel.  Die  Genitalien  sind  stark  entwickelt,  der  Penis  etwas 
bauchig,  Vorhaut  etwas  hypertrophisch. 


Fälschlich  imputirte  Päderastie.  407 

Gutachten. 

Päderastie  ist  eine  im  heutigen  Dasein  der  Menschen  leider  nicht  seltene, 
immerhin  aber  bei  den  Bevölkerungen  Europas  ungewöhnliche,  perverse,  selbst 
monströs  zu  nennende  Art  der  geschlechtlichen  Befriedigung.  Sie  setzt  eine 
angeborene  oder  erworbene  Perversion  des  geschlechtlichen  Empfindens,  zu- 
gleich einen  originären  oder  durch  krankhafte  Einflüsse  erworbenen  Defekt 
sittlicher  Gefühle  voraus. 

Die  gerichtlich  medicinische  Wissenschaft  kennt  genau  die  physischen 
und  psychischen  Bedingungen,  auf  Grund  welcher  diese  Verirrung  des  Ge- 
schlechtslebens vorkommt,  und  im  concreten  und  namentlich  zweifelhaften  Fall 
erscheint  es  geboten,  nachzuforschen,  ob  auch  diese  empirischen,  subjectiven 
Bedingungen  für  Päderastie  vorhanden  sind. 

Dabei  ist  wieder  wesentlich  zu  unterscheiden  zwischen  aktiver  und 
passiver  Päderastie. 

Aktive  Päderastie  kommt  vor: 
I.  Als  nicht  krankhafte  Erscheinung: 

1)  Als  Mittel  der  sexuellen  Befriedigung  bei  grossem  geschlechtlichen 
Bedürfniss  und  erzwungener  Enthaltung  von  natürlichem  Ge- 
schlechtsgenuss. 

2)  Bei  alten  Wüstlingen,  die  in  normalem  Geschlechtsgenuss  über- 
sättigt und  mehr  oder  weniger  impotent  geworden,  überdies  sitt- 
lich depravirt,  zur  Päderastie  greifen,  um  durch  diesen  neuartigen 
Reiz  ihre  Wollust  aufzukitzeln,  ihrer  psychischen  und  somatischen 
tief  gesunkenen  Potenz  wieder  aufzuhelfen. 

3)  Traditionell  bei  gewissen  Völkern  auf  tiefer  Culturstufe  bei  un- 
entwickelter Gesittung  und  Moral. 
IL  Als  krankhafte  Erscheinung: 

1)  Auf  Grund  angeborener  conträrer  Sexualempfindung,  bei  Abscheu 
vor  dem  geschlechtlichen  Verkehr  mit  dem  Weib,  bis  zur  abso- 
luten Unfähigkeit  dazu.  Wie  schon  Casper  wusste,  ist  aber  hier 
Päderastie  sehr  selten.  Der  sogenannte  Urning  befriedigt  sich 
ara  Manne  durch  passive  oder  mutuelle  Onanie  oder  beischlafs- 
ähnliche Handlungen  (z.  B.  Coitus  inter  femora)  und  gelangt  zur 
Päderastie  nur  höchst  ausnahmsweise  aus  geschlechtlicher  Brunst 
oder  aus  Gefälligkeit  bei  tiefstehendem  oder  tiefgesunkenem  mora- 
lischen Sinn. 

2)  Auf  Grund  erworbener  krankhafter  Sexualempfindung: 

a)  Durch  langjährige  Onanie,  die  endlich  impotent  dem  Weibe 
gegenüber  machte,  bei  fortbestehender  reger  Geschlechtslust. 

b)  Durch  schwere  psychische  Krankheit  (Altersblödsinn,  Hirn- 
erweichung der  Irren  etc.),  bei  welcher  eine  Verkehrung  der 
Geschlechtsempfindung  sich  einstellen  kann. 

Passive  Päderastie  kommt  vor: 
I.  Als  nicht  krankhafte  Erscheinung: 

1)  Bei  Individuen  aus  der  Hefe  des  Volkes,  die  das  Unglück  hatten, 
von  Wollüstlingen   im   Knabenalter  verführt   zu  werden,   deren 


408  Fälschlich  imputirte  Päderastie. 

Schmerz   und  Ekel  durch  Geld  aufgewogen  wurde,   die   sittlich 
verkamen  und  herangewachsen  so  tief  gesunken  waren,   dass  sie 
sich  in  der  Rolle  männlicher  Hetären  gefielen. 
2)   Unter  analogen  Verhältnissen  wie   bei  I.    1)  als   Belohnung  für 
aktiv  gestattete  Päderastie. 

IL  Als  krankhafte  Erscheinung: 

1)  Bei  mit  conträrer  Sexualempfindung  Behafteten,  als  Gegenleistung 
an  Männer  für  erwiesene  Liebesdienste,  unter  Ueberwindung  von 
Schmerz  und  Ekel. 

2)  Bei  sich  dem  Manne  gegenüber  als  Weib  fühlenden  Urningen 
aus  Drang  und  Wollust.  Bei  solchen  Weibmännern  besteht  Horror 
feminae  und  absolute  Unfähigkeit  zu  sexuellem  Verkehr  mit  dem 
Weibe.     Charakter  und  Neigungen  sind  weibisch. 

Dergestalt  sind  die  von  der  gerichtlichen  Medicin  und  Psychiatrie  ge- 
sammelten Frfahrungen.  Vor  dem  Forum  der  medicinischen  Wissenschaft  be- 
darf es  des  Nachweises,  dass  ein  Mann  in  eine  der  obigen  Kategorien  gehöre, 
um  glaubhaft  zu  machen,  dass  er  Päderast  sei. 

Vergebens  forscht  man  in  dem  Vorleben  und  in  der  Erscheinung  des  Dr.  S. 
nach  Merkmalen,  die  ihn  in  eine  der  für  aktive  Päderastie  wissenschaftlich 
feststehenden  Kategorien  einreihen  Hessen.  Er  ist  weder  die  zu  sexueller 
Abstinenz  genöthigte,  noch  die  durch  Debauchen  gegenüber  dem  Weibe  im- 
potent gewordene,  noch  die  mannliebend  geborene,  noch  durch  Masturbation 
dem  Weibe  entfremdete  und  durch  fortbestehenden  Geschlechtsreiz  zum  Manne 
gedrängte,  noch  die  durch  schwere  geistige  Erkrankung  sexuell  pervers  ge- 
wordene Persönlichkeit. 

Es  mangeln  ihm  sogar  die  allgemeinen  Bedingungen  für  Päderastie  — 
sittliche  Imbecillität  oder  sittliche  Depravation  einer-  und  übergrosse  Ge- 
schlechtslust andererseits. 

Ebenso  unmöglich  ist  die  Unterbringung  des  Complicen  G.  in  einer  der 
empirischen  Kategorien  passiver  Päderastie,  denn  er  besitzt  weder  die  Eigen- 
schaften der  männlichen  Hetäre,  noch  die  klinischen  Kennzeichen  des  effemi- 
nirten,  noch  die  anthropologischen  und  klinischen  Stigmata  des  Weibmannes. 
Von  allem  ist  er  das  Gegentheil. 

Wollte  man  medicinisch-wissenschaftlich  ein  päderastisches  Verhältniss 
zwischen  den  Beiden  plausibel  machen,  so  hätte  Dr.  S.  die  Antecedentien  und 
Merkmale  des  activen  Päderasten  sub  I.  2)  und  G.  die  der  passiven  sub  IL  1) 
oder  2)  zu  bieten! 

Vom  gerichtlich  psychologischen  Standpunkt  aus  ist  die  dem  Verdikt 
zu  Grunde  liegende  Annahme  unhaltbar. 

Mit  demselben  Recht  könnte  man  Jedermann  für  einen  Päderasten 
halten.  Es  bleibt  übrig  zu  erwägen,  ob  psychologisch  die  von  Dr.  S.  und  G. 
abgegebenen  Erklärungen  für  ihre  immerhin  auffällige  Freundschaft  stich- 
haltig sind. 

Psychologisch  steht  es  nicht  ohne  Analogie  da,  dass  ein  so  gemüths- 
weicher  und  excentrischer  Mann  wie  S.  —  auch  ohne  alle  sexuelle  Regungen  — 
in  ein  transcendentales  Freundschaftsverhältniss  eintritt. 

Es  genügt,   an  die  innige  Freundschaft  in  Mädchenpensionaten,  an  die 


X 


Amor  lesbicus.  409 

aufopfernde  Freundesliebe  sentimentaler  junger  Leute  überhaupt,  an  die  Zärt- 
lichkeit, welche  der  empfindsame  Mensch  zuweilen  selbst  einem  Hausthiere 
gegenüber  erweist  —  wo  doch  Niemand  an  Sodomie  denken  wird  —  zu  erinnern. 
Bei  der  psychologischen  Eigenart  des  S.  ist  eine  überschwängliche  Freundschaft 
dem  jungen  G.  gegenüber  immerhin  begreiflich.  Aus  der  Offenheit  dieser 
Freundschaft  lässt  sich  viel  eher  auf  deren  Harmlosigkeit  als  auf  sinnliche 
Leidenschaft  schli essen. 

Es  gelang  den  Verurtheilten ,  die  Wiederaufnahme  des  Verfahrens  zu 
erreichen.  Am  7.  März  1890  fand  die  neuerliche  Hauptverhandlung  statt.  Sie 
lieferte  für  die  Angeklagten  bezüglich  der  Zeugenaussagen  wesentlich  ent- 
lastende Thatsachen. 

Die  frühere  sittliche  Lebensführung  des  S.  wurde  allgemein  anerkannt. 
Die  barmherzige  Schwester,  welche  den  erkrankten  G.  im  S.'«chen  Hause 
pflegte,  fand  im  Verkehr  zwischen  S.  und  G.  nie  etwas  Bedenkliches.  Die 
früheren  Freunde  des  S.  bezeugten  seine  Moralität,  seine  innige  Freundschaft 
und  seine  Gepflogenheit,  sie  beim  Kommen  und  Gehen  zu  küssen.  Die  früher 
am  Anus  des  G.  vorgefundenen  Veränderungen  fanden  sich  nicht  mehr  vor. 
Einer  der  vom  Gerichtshof  geladenen  Sachverständigen  gab  die  Möglichkeit 
zu,  dass  sie  durch  blosse  Digitalmanipulation  entstanden  waren.  Ihr  diagnosti- 
scher Werth  wurde  von  den  vom  Vertheidiger  geladenen  Sachverständigen 
überhaupt  bestritten. 

Der  Gerichtshof  erkannte  hierauf,  dass  der  Beweis  des  imputirten  Ver- 
brechens nicht  gelungen  sei  und  fällte  ein  freisprechendes  Erkenntniss. 


Amor  lesbicus  J). 

Die  forensische  Bedeutung  ist  eine  sehr  geringe  da,  wo  es 
sich  um  sexuellen  Verkehr  unter  Erwachsenen  handelt.  Praktisch 
könnte  sie  nur  in  Oesterreich  in  Betracht  kommen.  Als  Pendant 
zum  Urningthum  hat  diese  Erscheinung  anthropologisch-klinischen 
Werth.  Das  Verhältniss  ist  mutatis  mutandis  das  gleiche  wie  bei 
Männern.  An  Häufigkeit  scheint  der  Amor  lesbicus  dem  mannmänn- 
lichen Verkehr  nicht  nachzustehen.  Die  grosse  Mehrzahl  der  weib- 
lichen Urninge  folgt  nicht  einem  angeborenen  Drang,  sondern  ent- 
wickelt sich  unter  analogen  Bedingungen  wie  der  gezüchtete  Urning. 

Besonders  gedeiht  diese  „verbotene  Freundschaft"  in  den  weib- 
lichen Strafanstalten. 


x)  Vgl.  Mayer,  Friedreich's  Blätter  1875,  p.  41.  —  Krausold, 
Melancholie  und  Schuld  1884,  p.  20.  —  Andronico,  Archiv,  di  psich. 
scienze  penali  et  anthropol.  crim.  Vol.  III,  p.  145.  Chevalier,  L'inversion 
sexuelle.  Paris  1893,  p.  217  (sehr  eingehende  Darstellung  der  „saphischen 
Liebe"  im  modernen  Paris). 


4 IQ  Amor  lesbicus. 

Krausold  (op.  cit.)  berichtet:  „Die  weiblichen  Gefangenen  schliessen 
oft  solche  Freundschaften,  bei  denen  es  allerdings,  wenn  möglich,  auf  ein 
mutuelles  Manustupriren  hinausläuft. 

Allein  nicht  nur  vorübergehende  manuelle  Befriedigung  ist  der  Zweck 
solcher  Freundschaften.  Sie  werden  auch  für  längere  Zeit,  sozusagen  systema- 
tisch geschlossen,  wobei  sich  eine  horrende  Eifersucht  und  die  Gluth  der  Liebe 
entwickelt,  wie  sie  unter  Personen  verschiedenen  Geschlechts  kaum  heftiger 
vorkommen  kann.  Wenn  die  Freundin  einer  Gefangenen "  von  einer  Anderen 
nur  angelächelt  wird,  kommt  es  oft  zu  den  heftigsten  Eifersuchtsscenen,  zu 
Prügeleien. 

Hat  nun  die  gewaltthätige  Gefangene  der  Hausordnung  gemäss  Fesseln 
angelegt  bekommen,  so  sagt  sie:  „sie  habe  von  ihrer  Freundin  ein  Kind 
erhalten". 

Interessante  Mittheilungen  über  gezüchteten  Amor  lesbicus 
verdanken  wir  auch  Parent-Duchatelet  (De  la  prostitution  1857, 
Bd.  I,  p.  159). 

Der  Ekel  vor  den  abscheulichsten  und  perversesten  Akten  (Coitus  in  axilla, 
ore,  inter  mammas  etc.),  welche  Männer  an  Lustdirnen  begehen,  soll  nach  diesem 
erfahrenen  Autor  nicht  selten  diese  unglücklichen  Geschöpfe  zu  lesbischer  Liebe 
bringen.  Aus  seinen  Andeutungen  geht  hervor,  dass  es  wesentlich  Prostituirte 
von  grosser  Sinnlichkeit  sind,  die,  unbefriedigt  von  dem  Umgang  mit  impotenten 
oder  perversen  Männern  und  angewidert  von  deren  Praktiken,  zu  jener  Ver- 
irrung  gelangen. 

Ueberdies  sind  Prostituirte,  die  sich  als  Tribaden  bemerklich  machen, 
durchweg  Personen,  die  mehrjährige  Gefängnissinsassen  waren  und  in  diesen 
Brutstätten  lesbischer  Liebe  ex  abstinentia  sich  diese  Verirrung  aneigneten. 

Interessant  ist,  dass  die  Prpstituirten  Tribaden  verachten,  gleichwie  der 
Mann  den  Päderasten  verachtet,  während  die  weiblichen  Sträflinge  dieses  Laster 
nicht  als  anstössig  betrachten. 

Parent  führt  den  Fall  einer  Prostituirten  an,  die  betrunken  einer 
Anderen  lesbisch  Gewalt  anthun  wollte.  Darüber  geriethen  die  andern  Bordell- 
mädchen in  solche  Entrüstung,  dass  sie  die  Sittenlose  der  Polizei  denuncirten. 
Aehnliche  Erfahrungen  berichtet  Taxil  (op.  cit.  p.  166.  170). 

Auch  Mantegazza  (Anthropologisch-culturhistorische  Studien,  p.  97) 
findet,  dass  der  sexuelle  Verkehr  zwischen  Weibern  vorzugsweise  die  Be- 
deutung eines  Lasters  hat,  das  auf  Grund  unbefriedigter  Hyperaesthesia  sexualis 
sich  entwickelt. 

Bei  zahlreichen  derartigen  Fällen  —  ganz  abgesehen  von  angeborener 
conträrer  Sexualempfindung  —  gewinnt  man  jedoch  den  Eindruck ,  dass  ganz 
analog  wie  bei  Männern  (s.  o.)  das  gezüchtete  Laster  allmählich  zu  erworbener 
conträrer  Sexual empfindung,  mit  Abscheu  vor  dem  sexuellen  Umgang  mit  dem 
anderen  Geschlecht  führte. 

Um  solche  Fälle  mag  es  sich  jedenfalls  bei  Parent  handeln,  bei  welchen 
die  Correspondenz  mit  der  Geliebten  ebenso  schwärmerisch  und  überschwäng- 
lich  war,   wie  unter  Liebenden  verschiedenen  Geschlechts,  Untreue  und  Tren- 


Amor  lesbicus.  411 

nung  die  Verlassene  ausser  sich  brachte,  die  Eifersucht  grenzenlos  war  und 
zu  blutiger  Rache  führte.  Entschieden  krankhaft ,  möglicherweise  Beispiele 
von  angeborener  conträrer  Sexualempfindung  sind  folgende  Fälle  von  Amor 
lesbicus  bei  Mantegazza  p.  98: 

1)  Am  5.  Juli  1777  wurde  in  London  eine  Frau  vor  Gericht  gestellt,  die 
sich,  als  Mann  verkleidet,  schon  3mal  mit  verschiedenen  Frauen  ver- 
heirathet  hatte.  Sie  wurde  vor  aller  Welt  als  Weib  erkannt  und  zu 
6  Monaten  Kerker  verurtheilt. 

2)  1773  machte  eine  andere  als  Mann  verkleidete  Frau  einem  Mädchen 
den  Hof  und  hielt  um  seine  Hand  an,  aber  das  kühne  Wagniss  ge- 
lang nicht. 

3)  Zwei  Frauen  lebten  30  Jahre  zusammen  wie  Mann  und  Frau.  Erst 
auf  ihrem  Todtenbette  enthüllte  die  „Gattin"  den  Umstehenden  das 
Geheimniss. 

Neuere  bemerkenswerthe  Mittheilungen  gibt  Coffignon  (op. 
cit.  p.  301). 

Er  berichtet,  dass  diese  Verirrung  neuerlich  sehr  in  der  „Mode"  ist  — 
zum  Theil  durch  bezügliche  Romane,  zum  Theil  durch  Erregung  der  Geni- 
talien in  Folge  excessiver  Arbeit  an  der  Nähmaschine,  Zusammenschlafen  weib- 
licher Dienstboten  in  demselben  Bett,  Verführung  in  Pensionaten  durch  ver- 
dorbene Zöglinge  oder  Verleitung  von  Töchtern  des  Privathauses  durch  perverse 
Dienstmädchen. 

Verfasser  behauptet,  dass  dieses  Laster  („Saphismus")  vorzugsweise  bei 
den  Damen  der  Aristokratie  und  bei  Prostituirten  angetroffen  werde. 

Er  unterscheidet  aber  nicht  physiologische  und  pathologische  Fälle,  unter 
den  letzteren  nicht  erworbene  und  angeborene.  Einige,  entschieden  patholo- 
gische Fälle  betreffende  Details  entsprechen  ganz  den  Erfahrungen,  welche 
bezüglich  conträrsexualer  Männer  bekannt  sind. 

Die  Saphisten  haben  ihre  Orte  des  Stelldicheins  in  Paris,  erkennen  ein- 
ander an  Blick,  Geberden  u.  s.  w.  Saphistenpaare  lieben  es,  sich  ganz  gleich 
zu  kleiden,  zu  schmücken  u.  s.  w.     Man  nennt  sie  dann  „petites  soeurs". 

Mit  folgenden  markanten  Zügen  charakterisirt  Chevalier 
(L'inversion  sexuelle,  Paris  1893),  p.  268,  die  Perversität  und  unter- 
scheidet er  sie  von  der  Perversion: 

„.  .  .  que  l'on  soit  pederaste  ou  lesbienne  par  surexcitation  des  sens 
epuises,  par  avilissement  mercantile,  par  besoin  d'une  ,trompe  la  faim',  par 
faiblesse  d'esprit  ou  dilettantisme :  il  ressort  de  cette  analyse  que  Tanomalie 
ne  nait  pas  avec  l'individu,  que  l'enfance  l'ignore,  qu'elle  ne  se  montre  guere 
d'un  seul  coup,  mais  peu  ä  peu ,  graduellement,  ä  un  certain  äge,  apres  des 
pratiques  sexuelles  normales,  qu'elle  n'est  ni  permanente,  ni  absolue,  qu'elle  se 
concilie  avec  la  pleine  conscience  et  l'integrite  de  l'intelligence ,  qu'elle  peut 
s'amender  et  disparaitre,  qu'elle  ne  s'accompagne  primitivement  d'aucune  tare 


412  Nekrophilie.     Incest. 

physique  ou  psychique  saillante,  qu'elle  n'a  pas  d'autre  criterium  objectif  que 
le  fait  lui-meme,  quelle  n'est  ni  fatale  ni  irrestible  dans  ses  impulsions,  qu'elle 
constitue  enfin  un  etat  particulier  d'origine  plus  sociale  qu'individuelle. 

Defaut  d'instinctivite ,  de  spontaneite,  d'incoercibilite ,  d'imutabilite, 
absence  ou  posterioritc  des  defectuosites  organiques  et  mentales  correlatives, 
acquisition  tardive  et  artificielle,  premeditation  des  actes,  conscience;  genese 
d'ordre  mesologique,  necessite  d'une  initiation  prealable,  et  surtout  nulle 
trace  d'heredite,  ce  sont  bien  lä  les  caracteres  de  la  passion  pure,  du  vice 
sans  alliage.  Somme  toute  rien:  de  pathologique ;  on  doit  donc  prevenir,  on 
peut  donc  reprimer." 


8)  Nekrophilie1). 

(Oesterr.  Stgsb.  §  306.) 

Die  in  Rede  stehende  scheussliche  Art  der  sexualen  Befriedi- 
gung ist  so  monströs,  dass  die  Vermuthung  eines  psychopathischen 
Zustandes  unter  allen  Umständen  gerechtfertigt  und  die  Forderung 
Maschka's,  in  solchen  Fällen  immer  den  Geisteszustand  des  Thäters 
untersuchen  zu  lassen,  wohl  begründet  ist.  Jedenfalls  gehört  eine 
krankhafte  und  entschieden  perverse  Sinnlichkeit  dazu,  um  die  natür- 
liche Scheu,  welche  der  Mensch  vor  Leichen  hat,  zu  überwinden 
und  gar  an  der  sexuellen  Vereinigung  mit  einem  Cadaver  Gefallen 
zu  finden. 

Leider  ist  bei  den  meisten  in  der  Literatur  verzeichneten 
Fällen  der  Geisteszustand  nicht  untersucht  worden,  so  dass  die 
Frage,  wie  Nekrophilie  mit  geistiger  Gesundheit  verträglich  sei, 
eine  offene  bleiben  muss.  Wer  Kenntnisse  von  den  gräulichen 
Verirrungen  des  Sexualtriebs  hat,  wird  jene  Frage  nicht  ohne  Weiteres 
zu  verneinen  sich  getrauen. 


9)   Incest. 

(Oesterr.  Stgsb.  §  132;  Entw.  §  189;  Deutsch.  Stgsb.  §  174.) 

Die  Bewahrung  sittlicher  Reinheit  des  Familienlebens  ist  eine 
Frucht  der  Culturentwicklung ,  und  lebhafte  Unlustgefühle  erheben 
sich  beim  ethisch  intakten  Culturmenschen  da,  wo  ein  lüsterner 
Gedanke  bezüglich  eines  Gliedes  der  Familie  auftauchen  mag.    Nur 


*)  Vgl.  Maschka,  Hdb.  III,  p.  191  (gute  histor.  Notizen).  —  Legrand, 
La  folie  p.  521. 


Incest.  413 

mächtige  Sinnlichkeit  und  defekte  rechtlich- sittliche  Anschauungen 
dürften  im  Stande  sein,  zum  Incest  zu  führen. 

Beide  Bedingungen  können  in  belasteten  Familien  zusammen- 
treffen. Trunksucht  und  ein  Zustand  des  Rausches  bei  männlichen, 
Schwachsinn,  der  das  Schamgefühl  unentwickelt  lässt  und  nach 
Umständen  mit  Erotismus  bei  weiblichen  Individuen  zusammentrifft, 
erleichtern  das  Vorkommen  blutschänderischer  Handlungen.  Aeussere, 
Vorschub  leistende  Bedingungen  sind  die  mangelhafte  Trennung  der 
Geschlechter  in  Proletarierkreisen. 

Als  entschieden  pathologische  Erscheinungen  haben  wir  Incest 
bei  angeborenen  und  erworbenen  geistigen  Schwächezuständen,  ferner 
in  seltenen  Fällen  von  Epilepsie  und  Paranoia  vorgefunden. 

In  einer  grossen  Zahl  von  Fällen,  wohl  der  Mehrzahl,  lässt 
sich  jedoch  eine  pathologische  Begründung  des  nicht  bloss  die 
Bande  des  Bluts,  sondern  auch  die  Gefühle  eines  Culturvolks  tief 
verletzenden  Aktes  nicht  erweisen.  In  gar  manchem  Falle,  der  in 
der  Literatur  berichtet  ist,  ist  übrigens  eine  psychopathische  Be- 
gründung zur  Ehre  der  Menschheit  möglich. 

Im  Falle  Feldtmann  (Marc-Ideler  I,  p.  18),  wo  ein  Vater  be- 
ständig unsittliche  Attentate  auf  seine  erwachsene  Tochter  machte  und  sie 
schliesslich  tödtete,  bestand  bei  dem  unnatürlichen  Vater  Schwachsinn  und 
wahrscheinlich  überdies  periodische  Geistesstörung.  In  einem  anderen  Falle 
von  Incest  zwischen  Vater  und  Tochter  (1.  c.  p.  247)  war  wenigstens  diese 
schwachsinnig.  Lombroso  (Archiv,  di  Psichiatria  VIII,  p.  519)  berichtet  den 
Fall  eines  42  Jahre  alten  Bauern,  welcher  mit  seinen  22,  19  und  11  Jahre 
alten  Töchtern  Incest  trieb,  die  11jährige  sogar  zur  Prostitution  zwang  und 
im  Bordell  aufsuchte.  Die  gerichtsärztliche  Untersuchung  ergab  Belastung, 
intellectuellen  und  moralischen  Schwachsinn,  Potatorium. 

Psychisch  unexplorirt  sind  Fälle  wie  der  von  Schürmayer  (Deutsche 
Zeitschr.  für  Staatsarzneikunde  XXII,  H.  1)  berichtete,  in  welchem  eine  Frau 
ihren  572jährigen  Sohn  auf  sich  legte  und  mit  ihm  Nothzucht  trieb,  ferner 
der  von  Lafarque  (Journ.  med.  de  Bordeaux  1874),  wo  ein  17jähriges 
Mädchen  den  13jährigen  Bruder  auf  sich  legte,  membrorum  conjunctionem 
bewerkstelligte  und  den  Bruder  masturbirte. 

Belastete  Individuen  betreffen  die  folgenden  Fälle.  Magnan  (Ann. 
med.-psych.  1885)  erwähnt  ein  29jähriges  Fräulein,  das,  gleichgültig  gegen 
andere  Kinder  oder  gar  Männer,  schrecklich  unter  dem  Anblick  seiner  Neffen 
litt  und  kaum  dem  Antrieb,  mit  ihnen  zu  cohabitiren,  zu  widerstehen  ver- 
mochte. Diese  sexuelle  Pica  bestand  jeweils  nur  so  lange,  als  die  Neffen  ganz 
jung  waren. 

Legr and  (Ann.  med.-psych.  1876,  Mai)  erwähnt  ein  junges  Mädchen 
von  15  Jahren,  das  seinen  Bruder  zu  allen  möglichen  sexuellen  Excessen  an 
ihrem  Körper  verführte,    und  nachdem  der  Bruder  nach  2jährigem  blutschän- 


414  Unsittliche  Handlungen  mit  Pflegebefohlenen. 

deri8chem  Umgang  gestorben  war,  einen  Mordversuch  an  einem  Verwandten 
machte.  An  gleicher  Stelle  findet  sich  der  Fall  einer  36jährigen  Ehefrau,  die 
ihre  offene  Brust  zum  Fenster  hinausbing  und  mit  ihrem  18jährigen  Bruder 
Unzucht  trieb;  ferner  der  einer  Mutter  von  39  Jahren,  die  mit  ihrem  Sohn, 
in  den  sie  sterblich  verliebt  war,  Incest  trieb  und,  schwanger  von  ihm, 
Abortus  provocirte. 

Dass  verworfene  Mütter  in  Grossstädten  zuweilen  ihre  kleinen 
Töchter,  um  sie  für  die  sexuelle  Benutzung  durch  Wüstlinge  zu 
präpariren,  in  scheusslicher  Weise  bearbeiten,  wissen  wir  durch 
C  a  s  p  e  r.  Diese  verbrecherische  Handlung  gehört  in  ein  anderes 
Gebiet. 


10)  Unsittliche  Handlungen  mit  Pflegebefohlenen,  Verführung 

(Oesterreich). 

(Oesterr.  Stgsb.  §  131;  Entw.  §  188;  Deutsch.  Stgsb.  §  173.) 

Dem  Incest  nahestehend,  jedoch  das  sittliche  Gefühl  nicht  so 
tief  verletzend,  erscheinen  die  Fälle,  wo  Jemand  eine  seiner  Auf- 
sicht oder  seiner  Erziehung  anvertraute  und  mehr  oder  weniger  in 
Abhängigkeit  von  ihm  stehende  Person  zur  Begehung  oder  Duldung 
einer  unzüchtigen  Handlung  verleitet.  Eine  psychopathische  Be- 
deutung scheinen  derartige,  strafrechtlich  besonders  qualificirte  un- 
züchtige Handlungen  nur  ausnahmsweise  zu  haben. 


UNIVERSITY  OF  ILLINOIS-URBANA 

132.75K85P  C001 

PSYCHOPATHIA  SEXUALIS  MIT  BESONDERER  BER 


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