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University of Illinois Library
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12
M32.
PSYCHOPÄTHIA SEXÜALIS
MIT BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER
CONTRÄREN SEXUALEMPFINDUNG.
EINE
KLINISCH-FORENSISCHE STUDIE
VON
D* R. v. |RAFFT-EBING,
0. Ö. PKOF. F. PSYCHIATRIE U. NERVENKRANKHEITEN A. D. K. K. UNIVERSITÄT WIEN.
Neunte,
verbesserte und theilweise vermehrte Auflage.
STUTTGART.
VERLAG VON FERDINAND ENKE.
1894.
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.
K8 5-1»
Vorwort zur ersten Auflage.
Die wenigsten Menschen werden sich vollkommen des ge-
waltigen Einflusses bewusst, welchen im individuellen und im gesell-
schaftlichen Dasein das Sexualleben auf Fühlen, Denken und Handeln
gewinnt. Schiller in seinem Gedicht „Die Weltweisen" erkennt diese
Thatsache an mit den Worten: „Einstweilen bis den Bau der Welt
Philosophie zusammenhält, erhält sie das Getriebe durch Hunger
und durch Liebe."
Auffallenderweise hat auch von Seiten der Philosophen das
sexuelle Leben eine nur höchst untergeordnete Würdigung erfahren.
Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung, 3. Aufl.,
Bd. 2, p. 586 u. ff.) findet es geradezu sonderbar, dass die Liebe
bisher nur Stoff für den Dichter und, dürftige Untersuchungen bei
Plato, Rousseau, Kant ausgenommen, nicht auch für den Philo-
sophen war.
Was Schopenhauer und nach ihm der Philosoph des
Unbewussten, E. v. Hartmann, über sexuelle Verhältnisse philo-
sophiren, ist so fehlerhaft und in seinen Consequenzen so ab-
geschmackt, dass, abgesehen von den mehr als geistreiche Causeries,
denn als wissenschaftliche Abhandlungen zu betrachtenden Dar-
stellungen eines Michelet (L'amour) und Mantegazza (Physio-
logie der Liebe), sowohl die empirische Psychologie als die Meta-
physik der sexuellen Seite des menschlichen Daseins ein noch nahezu
jungfräulicher wissenschaftlicher Boden sind.
Vorläufig dürften die Dichter bessere Psychologen sein, als
die Psychologen und Philosophen von Fach, aber sie sind Gefühls-
und nicht Verstandesmenschen und mindestens einseitig in der Be-
trachtung des Gegenstands. Sehen sie doch über dem Licht und
IV Vorwort.
der sonnigen Wärme des Stoffes, von dem sie Nahrung ziehen,
nicht die tiefen Schatten! Mögen auch die Erzeugnisse der Dicht-
kunst aller Zeiten und Völker dem Monographen einer „Psychologie
der Liebe" unerschöpflichen Stoff bieten, so kann die grosse Auf-
gabe doch nur gelöst werden unter Mithilfe der Naturwissenschaft
und speciell der Medicin, welche den psychologischen Stoff an seiner
anatomisch-physiologischen Quelle erforscht und ihm allseitig ge-
recht wird.
Vielleicht gelingt es ihr dabei, einen vermittelnden Standpunkt
für die philosophische Erkenntniss zu gewinnen, der gleichweit sich
entfernt von der trostlosen Weltanschauung der Philosophen, wie
Schopenhauer und Hartmann1), und der heiter naiven der
Poeten.
Die Absicht des Verfassers geht nicht dahin, Bausteine zu
einer Psychologie des Sexuallebens beizutragen, obwohl zweifels-
ohne wichtige Erkenntnissquellen für die Psychologie aus der Psycho-
pathologie sich ergeben dürften.
Der Zweck dieser Abhandlung ist die Kenntnissnahme der
psychopathologischen Erscheinungen des Sexuallebens und der Versuch
ihrer Zurückführung auf gesetzmässige Bedingungen. Diese Auf-
gabe ist eine schwierige und trotz vieljähriger Erfahrungen als
Psychiater und Gerichtsarzt bin ich mir klar bewusst, nur Unvoll-
kommenes bieten zu können.
Die Wichtigkeit des Gegenstands für das öffentliche Wohl
und speciell für das Forum gebietet gleichwohl, dass er wissen-
schaftlich untersucht werde. Nur wer als Gerichtsarzt in der Lage
war, über Mitmenschen, deren Leben, Freiheit und Ehre auf dem
Spiel stand, sein Urtheil abgeben zu müssen, und sich der Unvoll-
kommenheit unserer Kenntnisse auf dem pathologischen Gebiet des
Sexuallebens in peinlicher Weise klar wurde, vermag die Bedeu-
tung eines Versuchs, zu leitenden Gesichtspunkten zu gelangen, voll
zu würdigen.
Jedenfalls kommen auf dem Gebiet der sexuellen Delikte noch
*) Hartmann's philosophische Anschauung von der Liebe in „Phüo-
sophie des Unbewussten", Berlin 1869, p. 583, ist folgende: Die Liebe verur-
sacht mehr Schmerz als Lust. Die Lust ist nur illusorisch. Die Vernunft
würde gebieten, die Liebe zu meiden, wenn nicht der fatale Geschlechtstrieb
wäre — ergo wäre es am besten, wenn man sich castriren liesse. Dieselbe
Anschauung minus der Consequenz findet sich schon bei Schopenhauer:
„Die Welt als Wille und Vorstellung", 3. Aufl., Bd. 2, p. 586 u. ff.
Vorwort. V
die irrigsten Anschauungen zum Ausdrucke und werden die fehler-
haftesten Urtheile geschöpft, gleichwie die Strafgesetzbücher und
die öffentliche Meinung von ihnen beeinflusst erscheinen.
Wer die Psychopathologie des sexualen Lebens zum Gegen-
stand einer wissenschaftlichen Abhandlung macht, sieht sich einer
Nachtseite menschlichen Lebens und Elends gegenübergestellt, in
deren Schatten das glänzende Götterbild des Dichters zur scheuss-
lichen Fratze wird und die Moral und Aesthetik an dem „Ebenbild
Gottes" irre werden möchten.
Es ist das traurige Vorrecht der Medicin und speciell der
Psychiatrie, dass sie beständig die Kehrseite des Lebens, mensch-
liche Schwäche und Armseligkeit, schauen muss.
Vielleicht gewinnt sie einen Trost in dem schweren Beruf
und entschädigt sie den Ethiker und Aesthetiker, indem sie auf
krankhafte Bedingungen vielfach zurückzuführen vermag, was den
ethischen und ästhetischen Sinn beleidigt. Damit übernimmt sie
die Ehrenrettung der Menschheit vor dem Forum der Moral und
der Einzelnen vor ihren Richtern und Mitmenschen. Pflicht und
Recht der medicinischen Wissenschaft zu diesen Studien erwächst
ihr aus dem hohen Ziel aller menschlichen Forschung nach Wahrheit.
Der Verfasser macht den Ausspruch Tardieu's (Des atten-
tats aux moeurs): „Aucune misere physique ou morale, aucune plaie,
quelque corrompue qu'elle soit, ne doit effrayer celui qui s'est voue
ä la science de l'homme et le ministere sacre du medicin, en l'obli-
geant ä tout voir, lui permet aussi de tout dire" zu dem seinigen.
Die folgenden Blätter wenden sich an die Adresse von Männern
ernster Forschung auf dem Gebiet der Naturwissenschaft und der
Jurisprudenz. Damit jene nicht Unberufenen als Lektüre dienen,
sah sich der Verfasser veranlasst, einen nur dem Gelehrten ver-
ständlichen Titel zu wählen, sowie, wo immer möglich, in terminis
technicis sich zu bewegen. Ausserdem erschien es geboten, ein-
zelne besonders anstössige Stellen statt in deutscher, in lateinischer
Sprache zu geben.
Möge der Versuch, über ein bedeutsames Lebensgebiet dem
Arzt und Juristen Aufschlüsse zu bieten, wohlwollende Aufnahme
finden und eine wirkliche Lücke in der Literatur ausfüllen, die,
ausser einzelnen Aufsätzen und Casuistik, nur die Theilgebiete be-
handelnden Schriften von Moreau und Tarnowsky aufweist.
Vorwort zur neunten Auflage.
i^ie vorliegende neunte Auflage ist eine sorgfältig revidirte,
theilweise verbesserte und vermehrte. Die ausnahmslos günstige
Kritik, welche das Buch bisher in juridischen Kreisen gefunden hat,
ist dem Verfasser Gewähr dafür, dass es nicht ohne Einfluss auf
Rechtsprechung und Gesetzgebung bleiben und zur Beseitigung von
vielhundertjährigen Härten und Irrthümern beitragen wird.
Der unerwartet grosse buchhändlerische Erfolg ist wohl der beste
Beweis dafür, dass es unzählige Unglückliche gibt, die in dem Buche
Aufklärung und Trost hinsichtlich räthselhafter Erscheinungen ihrer
Vita sexualis suchen und finden. Zahllose Zuschriften solcher Stief-
kinder der Natur, aus allen Ländern an den Verf. gerichtet, sind Be-
lege dafür, dass diese Annahme begründet ist. Die Lektüre dieser
Briefe, deren Schreiber in der Mehrzahl geistig und social hoch-
stehende und oft sehr feinfühlige Menschen sind, erweckt das tiefste
Mitleid. Sind es doch seelische Leiden, die da geoffenbart werden,
gegen die alles Andere, was das Schicksal verhängen kann, in Nichts
verschwindet !
Möge das Buch solchen Unglücklichen auch ferner Trost und
sittliche Rehabilitation bieten!
Um seine Lektüre etwaigen Unberufenen zu erschweren und
zu verleiden, wurde noch mehr als in vorausgehenden Auflagen von
terminis technicis und lateinischer Sprache Gebrauch gemacht. Neue
d. h. in der 8. Auflage nicht enthaltene Beobachtungen sind Nr. 44,
66, 69, 92, 93, 99, 117, 119, 123, 125, 188, 189 der gegenwärtigen.
Hoffentlich ist auch dieser Auflage die freundliche Aufnahme
beschieden, deren sich die vorausgehenden zu erfreuen hatten.
Möge das Buch im Dienst der Wissenschaft, des Rechts und der
Humanität sich nützlich erweisen!
Wien, März 1894.
Der Verfasser.
Inhalt.
I. Fragmente einer Psychologie des Sexuallebens
Mächtigkeit sexueller Triebe 1. Sexualer Trieb als Grundlage ethi-
scher Gefühle 1. Liebe als Leidenschaft 2. Culturgeschichtliche
Entwicklung des Sexuallebens 2. Schamhaftigkeit 2. Christen-
thum. Monogamie 4. Stellung des Weibes im Islam 5. Sinn-
lichkeit und Sittlichkeit 6. Culturelle Versittlichung des Sexual-
lebens 6. Episoden sittlichen Niedergangs im Völkerleben 7.
Entwicklung sexueller Gefühle beim Individuum. Pubertät 8.
Sinnlichkeit und religiöse Schwärmerei 10. Beziehungen zwischen
religiösem und sexuellem Gebiet 10. Sinnlichkeit und Kunst 11.
Idealisirender Zug der ersten Liebe 11. Wahre Liebe 12. Sen-
timentalität 12. Platonische Liebe 13. Liebe und Freundschaft 13.
Verschiedenheit der Liebe von Mann und Weib 14. Cölibat 15.
Ehebruch 15. Ehe 15. Putzsucht 16. Thatsachen des physiolo-
gischen Fetischismus 17. Religiöser und erotischer Fetischismus
18. Haar, Hand, Fuss des Weibes als Fetisch 21. Auge, Geruch,
Stimme, seelische Eigenschaften als Fetisch 22.
Seite
1
II. Physiologische Thatsachen 23
Geschlechtsreife 23. Zeitliche Begrenzung des Sexuallebens 23.
Geschlechtssinn 24. Lokalisation? 24. Physiologische Entwick-
lung des Sexuallebens 24. Erection. Erectionscentrum 24. Ge-
schlechtssphäre und Geruchssinn 26. Geisselung ein das Sexual-
leben erregender Eingriff 29. Flagellantensekte 29. Paullini's
Flagellum salutis 30. Erogene Zonen 31. Beherrschung des
Sexualtriebs 32. Cohabitation 33. Ejaculation 33.
III. Allgemeine Neuro- und Psychopathologie des Sexuallebens ....
Häufigkeit und Wichtigkeit pathologischer Erscheinungen 34.
Schema der sexualen Neurosen 35. Reizzustände des Erections-
34
VIII Inhalt.
centrums 35. Lähmung desselben 35. Hemmungsvorgänge im Eree-
tionscentrum 36, reizbare Schwäche desselben 36. Neurosen des
Ejaculationscentrums 36. Cerebral bedingte Neurosen 37. Para-
doxie d. h. Sexualtrieb ausserhalb der Zeit anatomisch-physiolo-
gischer Vorgänge 38. Im Kindesalter auftretender Geschlechts-
trieb 38. Im Greisenalter wieder erwachender Trieb 39. Sexuelle
Verirrungen bei Greisen, erklärt durch Impotenz und Demenz 40.
Anaesthesia sexualis d. h. fehlender Geschlechtstrieb 42, als
angeborene Anomalie 42, als erworbene 47. Hyperästhesie
d. h. krankhaft gesteigerter Trieb 48. Bedingungen und Erschei-
nungen dieser Anomalie 49. Parästhesie der Sexualempfindung
oder Perversion des Geschlechtstriebs 56. Perversion und Per-
versität 56. Sadismus. Versuch einer Erklärung des Sadis-
mus 57. Sadistischer Lustmord 62. Anthropophagie 64. Leichen-
schänder 68. Misshandeln von Weibern, Blutigstechen, Flagel-
liren derselben 71. Besudelung weiblicher Personen 79. Symbo-
lischer Sadismus d. h. sonstige Ausübung von Gewalt gegen
weibliche Personen 81. Sadismus an beliebigem Objekt 82. Knaben-
geissler 83. Sadistische Akte an Thieren 85. Sadismus des Weibes
87. Kleist's Penthesilea 89. Masochismus 89. Wesen und
klinische Erscheinung des Masochismus 90. Aufsuchen von Miss-
handlungen und Demüthigungen zum Zweck sexueller Befriedi-
gung 91. Passive Flagellation in ihren Beziehungen zum Maso-
chismus 101. Häufigkeit und Praktiken des Masochismus 105.
Symbolischer Masochismus 111. Ideeller Masochismus 113. Jean
Jacques Rousseau 118. Der Masochismus in der wissenschaftlichen
und belletristischen Literatur 120. Larvirter Masochismus 122.
Schuh- und Fussfetischisten 122. Koprolagnie 123. Masochis-
mus des Weibes 136. Versuch einer Erklärung des Masochismus
140. Geschlechtliche Hörigkeit 142. Masochismus und Sadismus
151. Fetischismus. Erklärung des Fetischismus 156. Fälle, in
welchen der Fetisch ein Theil des weiblichen Körpers ist 162.
Handfetischismus 162. Körperfehler als Fetisch 167. Zopffeti-
schismus. Zopfabschneider 168. Der Fetisch ist ein Stück der
weiblichen Kleidung 172. Liebhaber resp. Diebe weiblicher
Taschentücher 177. Schuhfetischisten 180. Der Fetisch ist ein be-
stimmter Stoff 185. Pelz-, Seide- und Sammtfetischisten 185. Thier-
fetischismus 191. Conträre Sexualempfindung 192. Erwor-
bene conträre Sexualempfindung bei beiden Geschlech-
tern 195. Neurotische Belastung als Bedingung erworbener con-
trärer Sexualempfindung 198. Stufen der erworbenen Entartung
199. Einfache Verkehr ung der Geschlechtsempfindung 199. Eviratio
und Defeminatio 204. Wahnsinn der Skythen 208. Mujerados
208. Uebergangsstufe zur Metamorphosis sexualis 209. Metamor-
Seite
Inhalt. IX
Seite
phosis sexualis paranoica 223. Angeborene conträre Sexual-
empfindung 226. Verschiedene klinische Formen derselben 231.
Allgemeine Merkmale 233. Erklärungsversuche der Anomalie 235.
Die angeborene conträre Sexualempfindung beimManne
241. Psychische Hermaphrodisie 243. Homosexuale oder Urninge
253. Effeminatio 268. Androgene 275. Die angeborene con-
träre Sexualempfindung beim Weibe 279. Anderweitige
Erscheinungen sexueller Perversion bei Conträrsexualen 302. Dia-
gnose, Prognose und Therapie der conträren Sexualempfindung 304.
IV. Specielle Pathologie 321
Die Erscheinungen krankhaften Sexuallebens in den verschiedenen
Formen und Zuständen geistiger Störung 321. Psychische Ent-
wicklungshemmungen 321. Erworbene geistige Schwächezustände
324. Consecutive Geistesschwäche nach Psychosen 324, nach Apo-
plexien 325, nach Kopfverletzung 325, auf Grund von Lues cere-
bralis 325. Dementia paralytica 326. Epilepsie 327. Periodische
Geistesstörung 333. Psychopathia sexualis periodica 334. Manie
334. Zeichen sexueller Erregung bei Manischen 335. Satyriasis
337. Nymphomanie 337. Chronische Satyriasis und Nympho-
manie 337. Melancholie 338. Hysterie 338. Paranoia 339.
V. Das krankhafte Sexualleben vor dem Criminalforum 342
Gefahr sexueller Delikte für die allgemeine Wohlfahrt 342. Zuneh-
mende Häufigkeit derselben 342. Muthmassliche Ursachen 343.
Klinische Forschungen 343. Mangelhafte Würdigung solcher
seitens der Juristen 343. Anhaltspunkte für die forensische Be-
urtheilung sexueller Delikte 344. Bedingungen der Aufhebung
der Zurechnungsfähigkeit 345. Indicien für die psychopathologische
Bedeutung sexueller Delikte 346. Die einzelnen sexuellen
Delikte. Exhibitioniren 347. Frotteurs 359. Statuenschänder
360. Nothzucht und Lustmord 361. Körperverletzung, Sachbe-
schädigung, Thierquälerei auf Grund von Sadismus 367. Maso-
chismus und geschlechtliche Hörigkeit 370. Körperverletzung,
Raub, Diebstahl auf Grund von Fetischismus 372. Unzucht mit
Individuen unter 14 Jahren. Schändung 374. Unzucht wider die
Natur 377. Thierschändung 377. Zooerastie 381. Unzucht mit Per-
sonen desselben Geschlechts. Päderastie 383. Die Päderastie im
Lichte der Forschungen über conträre Sexualempfindung 383. Not-
wendigkeit der Unterscheidung krankhafter und nicht krankhaft be-
dingter Päderastie 383. Forensische Beurth eilung der veranlagten
conträren Sexualempfindung, sowie der erworbenen krankhaften
384. Denkschrift eines Urnings 385. Gründe für die Unterlassung
X Inhalt.
der strafgerichtlichen Verfolgung homosexualer Liebesakte 389.
Die gezüchtete, nicht krankhafte Päderastie 394. Ursachen des
Lasters 394. Sociales Leben der Päderasten 396. Ein Ball der
Weiberfeinde in Berlin 397. Art der sexuellen Triebrichtung
bei den verschiedenen Kategorien conträrer Sexualenipfindung
400. Paedicatio mulierum 400. Amor lesbicus 409. Nekrophilie
412. Incest 412. Unsittliche Handlungen mit Pflegebefohlenen 414.
LIBRARY
I. Fragmente einer Psychologie des Sexuallebens.
Die Fortpflanzung des Menschengeschlechts ist nicht dem Zu-
fall oder der Laune der Individuen anheimgegeben, sondern durch
einen Naturtrieb gewährleistet, der allgewaltig, übermächtig nach
Erfüllung verlangt. In der Befriedigung dieses Naturdrangs er-
geben sich nicht nur Sinnengenuss und Quellen körperlichen Wohl-
befindens, sondern auch höhere Gefühle der Genugthuung, die eigene,
vergängliche Existenz durch Vererbung geistiger und körperlicher
Eigenschaften in neuen Wesen über Zeit und Raum hinaus fort-
zusetzen. In der grobsinnlichen Liebe, in dem wollüstigen Drang,
den Naturtrieb zu befriedigen, steht der Mensch auf gleicher Stufe
mit dem Thier, aber es ist ihm gegeben', sich auf eine Höhe zu
erheben, auf welcher der Naturtrieb ihn nicht mehr zum willen-
losen Sklaven macht, das mächtige Fühlen und Drängen höhere,
edlere Gefühle weckt, die, unbeschadet ihrer sinnlichen Entstehungs-
quelle, eine Welt des Schönen, Erhabenen, Sittlichen erschliessen.
Auf dieser Stufe steht der Mensch über dem Trieb der Natur
und schöpft aus der unversieglichen Quelle Stoff und Anregung zu
edlerem Genuss, zu ernster Arbeit und Erreichung idealer Ziele.
Mit Recht bezeichnet Maudsley (Deutsche Klinik 1873, 2, 3) die
geschlechtliche Empfindung als die Grundlage für die Entwicklung
der socialen Gefühle. „Wäre der Mensch des Fortpflanzungstriebes
beraubt und alles Dessen, was geistig daraus entspringt, so würde
so ziemlich alle Poesie und vielleicht auch die ganze moralische
Gesinnung aus seinem Leben herausgerissen sein."
Jedenfalls bildet das Geschlechtsleben den gewaltigsten Factor
im individuellen und im socialen Dasein, den mächtigsten Impuls zur
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 1
2 Culturelle Versittlichung des Sexuallebens.
Bethätigung der Kräfte, zur Erwerbung von Besitz, zur Gründung
eines häuslichen Herdes, zur Erweckung altruistischer Gefühle,
zunächst gegen eine Person des anderen Geschlechts, dann gegen
die Kinder und im weiteren Sinne gegenüber der gesammten mensch-
lichen Gesellschaft.
So wurzelt in letzter Linie alle Ethik, vielleicht auch ein guter
Theil Aesthetik und Religion in dem Vorhandensein geschlecht-
licher Empfindungen.
Wie das sexuale Leben die Quelle der höchsten Tugenden
werden kann, bis zur Aufopferung des eigenen Ich, so liegt in
seiner sinnlichen Macht die Gefahr, dass es zur gewaltigen Leiden-
schaft ausarte und die grössten Laster entwickle.
Als entfesselte Leidenschaft gleicht die Liebe einem Vulkan,
der Alles versengt, verzehrt, einem Abgrund, der Alles verschlingt
— Ehre, Vermögen, Gesundheit.
Von hohem psychologischem Interesse erscheint es, die Ent-
wicklungsphasen zu verfolgen, durch welche im Laufe der Cultur-
entwicklung der Menschheit das Geschlechtsleben bis zu heutiger
Sitte und Gesittung hindurchgegangen ist1). Auf primitiver Stufe
erscheint die Befriedigung sexueller Bedürfnisse der Menschen wie
die der Thiere. Der geschlechtliche Akt entzieht sich nicht der
Oeffentlichkeit , und Mann und Weib scheuen sich nicht, nackt zu
gehen. Auf dieser Stufe sehen wir (vgl. Ploss, Das Weib, 1884,
p. 196 u. ff.) heute noch wilde Völker, wie z. B. die Australier,
Polynesier, Malayen der Philippinen. Das Weib ist Gemeingut der
Männer, temporäre Beute des Mächtigsten, Stärksten. Dieser strebt-
nach den schönsten Individuen des anderen Geschlechts und erfüllt
damit instinktiv eine Art geschlechtlicher Zuchtwahl.
Das Weib ist eine bewegliche Sache, eine Waare, ein Gegen-
stand des Kaufs, Tauschs, der Schenkung, ein Werkzeug des
Sinnengenusses, der Arbeit. Den Anfang einer Versittlichung des
Geschlechtslebens bildet das Auftreten eines Schamgefühls bezüg-
lich der Kundgebung und Bethätigung des Naturtriebs der Gesell-
schaft gegenüber und die Schamhaftigkeit im Verkehr der Ge-
schlechter. Daraus entsprang das Bestreben, die Schamtheile zu
verhüllen („Sie erkannten, dass sie nackt waren") und sexuelle Akte
abseits zu vollziehen.
3) Vergl. Lombroso, Der Verbrecher, übersetzt von F r ä n k e 1,
p. 38 u.'ff.
Sociale Stellung des Weibes. 3
Die Entwicklung dieser Culturstufe wird begünstigt durch
Kälte des Klimas und das dadurch geweckte Bedürfniss nach all-
seitiger Bedeckung des Körpers. Daraus erklärt es sich zum Theil,
dass bei nordischen Völkern die Schamhaftigkeit anthropologisch
früher nachzuweisen ist als bei südlichen 1).
Ein weiteres Moment in der culturellen Entwicklung des Sexual-
lebens ergibt sich damit, dass das Weib aufhört , bewegliche Sache
zu sein. Es wird eine Person, und, wenn auch lange noch social
tief unter den Mann gestellt, entwickelt sich doch die Anschauung,
dass dem Weibe ein Verfügungsrecht über sich und seine Liebes-
gunst zustehe.
Damit wird es Gegenstand der Bewerbung des Mannes. Zu
dem roh sinnlichen Gefühle geschlechtlicher Bedürfnisse gesellen
sich Anfänge ethischer Empfindungen. Der Trieb wird durch-
geistigt. Die Weibergemeinschaft hört auf. Die geschlechtlich
differenten Einzelwesen fühlen sich durch geistige und körperliche
Vorzüge zu einander hingezogen und erweisen nur einander Liebes-
gunst. Auf dieser Stufe hat das Weib ein Gefühl, dass seine Reize
nur dem Manne seiner Neigung .gehören und ein Interesse daran,
sie Anderen gegenüber zu verhüllen. Damit sind neben der Scham-
haftigkeit die Grundlagen der Keuschheit und der sexuellen Treue
— solange der Liebesbund dauert — gegeben.
Um so früher erreicht das Weib diese sociale Stufe da, wo
mit dem Sesshaftwerden der Menschen aus früherem Nomadenleben
ihnen ein Heim, ein Haus ersteht und für den Mann sich das Be-
dürfniss ergibt, eine Lebensgefährtin für die Hauswirthschaft , eine
Hausfrau in dem Weibe zu besitzen.
Diese Stufe haben unter den Völkern des Orients früh die
alten Aegypter, die Israeliten und die Griechen, unter den Völkern
des Abendlands die Germanen erreicht. Ueberall auf dieser Stufe
findet sich die Werthschätzung der Jungfräulichkeit, Keuschheit,
Schamhaftigkeit und sexuellen Treue, im Gegensatz zu anderen
Völkern, die die Hausgenossin dem Gastfreund zum sexuellen Ge-
nüsse bieten.
*) Vgl. dagegen das interessante an anthropologischen Thatsachen reiche
Werk von W estermarck: „The history of human marriage", besonders p. 208,
„es ist nicht das Gefühl der Scham, welches die Bedeckung veranlasst hat,
sondern die Bedeckung hat das Gefühl der Scham hervorgerufen". Die Be-
deckung der Schamtheile entsprang aber ursprünglich dem Wunsche der
Männer und Frauen, sich gegenseitig anziehend zu machen.
4 Christenthum und Main.
Dass diese Stufe der Versittlichung des sexuellen Lebens eine
ziemlich hohe ist und viel später als manche andere culturelle Ent-
wicklungsformen, z. B. ästhetische, sich einstellt, lehren die Japa-
nesen, bei denen es Sitte ist, ein Weib nur zu ehelichen, nachdem
es jahrelang in Theehäusern, die die Stelle der europäischen Pro-
stitutionshäuser vertreten, gelebt hat, und bei denen das Nackt-
gehen des weiblichen Geschlechts nichts Anstössiges ist. Jeden-
falls kann sich bei den Japanesen jedes unverheirathete Weib pro-
stituiren, ohne an seinem Werth als künftige Frau Einbusse zu
erleiden , wohl ein Beweis , dass bei diesem merkwürdigen Volke
das Weib in der Ehe nur Grenuss-, Procreations- und Arbeitswerth,
aber keinen ethischen Werth besitzt.
Die Versittlichung des sexuellen Verkehrs erfuhr einen mäch-
tigen Impuls durch das Christenthum, indem es das Weib auf
gleiche sociale Stufe mit dem Manne erhob und den Liebesbund
zwischen Mann und Weib zu einer religiös-sittlichen Institution
gestaltete r). Damit war der Thatsache entsprochen, dass die Liebe
J) Diese allgemeine und auch von vielen Culturhistorikern aufgestellte
Meinung bedarf aber einer Einschränkung, insofern der symbolische und sakra-
mentale Charakter der Ehe erst vom Concil zu Trient klar und deutlich aus-
gesprochen wurde, wenn auch es von jeher im Geist des Christenthums lag,
dass das Weib aus seiner inferioren Stellung, die es in der alten Welt und
im alten Testament einnahm, befreit und erhoben werden sollte.
Dass dies so spät wirklich geschah, erklärt sich zum Theil wohl aus
den Traditionen der Genesis von der secundären Schöpfung des Weibes aus
der Rippe des Mannes , von seiner Rolle beim Sündenfall und dem dafür er-
folgten Fluche „dein Wille soll dem Manne unterthan sein". Indem der Sünden-
fall, für den die hl. Schrift des alten Testaments das Weib verantwortlich
gemacht hatte, der Grundstein des kirchlichen Lehrgebäudes wurde, musste
die sociale Stellung der Frau so lange verkümmert bleiben, bis der Geist des
Christenthums über Tradition und Scholastik den Sieg gewann.
Bemerkenswerth ist, dass die Evangelien, mit Ausnahme des Verbots der
Verstossung (Matth. 19. 9) keine Stelle zu Gunsten der Frau enthalten. Die Milde
gegen die Ehebrecherin und gegenüber der büssenden Magdalena berührt die
Stellung der Frau an und für sich nicht. Eindringlich erklären geradezu die
Paulini'schen Briefe, dass an der Stellung des Weibes nichts geändert werden
soll (IL Korinther 11. 3 — 12; Epheser 5. 22 „die Weiber seien unterthan ihren
Männern" und 23 „das Weib fürchte den Mann").
Wie sehr die Kirchenväter durch Eva's Schuld gegen das Weib prä-
occupirt sind, lehren Stellen bei Tertullian: „Weib, du solltest stets in
Trauer und Lumpen gehen, deine Augen voll Thränen. Du hast das Menschen-
geschlecht zu Grunde gerichtet!" Der hl. Hieronymus ist gar schlecht auf das
Christenthum und Islam. 5
des Menschen auf höherer Civilisationsstufe nur eine monogamische
sein kann und sich auf einen dauernden Vertrag stützen muss.
Mag auch die Natur bloss Fortpflanzung fordern, so kann ein Ge-
meinwesen (Familie oder Staat) nicht bestehen ohne Garantie, dass
das Erzeugte physisch, moralisch und intellectuell gedeihe. Durch
die Gleichstellung des Weibes mit dem Manne, durch die Statuirung
der monogamischen Ehe und ihre Festigung durch rechtliche, reli-
giöse und sittliche Bande erwuchs den christlichen Völkern eine
geistige und materielle Superiorität über die polygamischen Völker,
speciell über den Islam.
Wenn auch Mohamed das Weib in seiner Stellung als Sklavin
und Werkzeug des Sinnengenusses zu heben, social und ehelich
auf eine höhere Stufe zu stellen bestrebt war, so blieb dasselbe
in der islamitischen Welt dennoch tief unter den Mann gestellt,
dem allein die Ehescheidung möglich und überdies sehr leicht ge-
macht war.
Unter allen Umständen schloss der Islam das Weib von der
Bethätigung am öffentlichen Leben aus und hinderte damit seine
intellectuelle und sittliche Fortentwicklung. Dadurch blieb das
muselmannische Weib wesentlich Mittel zum Sinnengenuss und zur
Erhaltung der Batfe, während die Tugenden und Fähigkeiten des
(KOT***
Weib zu sprechen. Er sagt: „Das Weib ist die Pforte des Teufels, der Weg
des Unrechts, der Stachel des Skorpions" (de cultu feminarum 1. 1).
Das kanonische Recht erklärt: Nur der Mann ist nach dem Ebenbilde
Gottes erschaffen, nicht das Weib ; deshalb soll das Weib ihm dienen und seine
Magd sein!
Das Provincialconcil von Macon im 6. Jahrhundert debattirte ernstlich
darüber, ob das Weib überhaupt eine Seele habe.
Die Wirkung dieser Ansichten der Kirche auf die Völker, welche das
Christenthum annahmen, war eine entsprechende. Bei den Germanen wurde
nach der Annahme des neuen Glaubens aus den obigen Gründen das Wehr-
geld der Frauen — der naive Ausdruck ihres Werthes — herabgesetzt
(J. Falke, Die ritterliche Gesellschaft. Berlin 1862 p. 49). Ueber die Schätzung
beider Geschlechter bei den Juden s. III. Mosis 27. 3 — 4.
Auch die Polygamie, im alten Testament (Deuteronom. 21. 15) aus-
drücklich anerkannt, wird im neuen nirgends ausdrücklich aufgehoben. That-
sächlich haben christliche Fürsten (z. B. merovingische Könige wie Chlotar L,
Charibert I. , Pippin I. und viele vornehme Franken) in Polygamie gelebt,
wogegen die Kirche damals noch nichts einzuwenden hatte (Weinhold,
Die deutschen Frauen im Mittelalter IL p. 15); vgl. auch „Unger, Die
Ehe" etc. und das Werk von Louis Bridel „La femme et le droit",
Paris 1884.
Q Sinnlichkeit und Sittlichkeit.
christlichen Weibes als Hausfrau, Erzieherin der Kinder, gleich-
berechtigte Gefährtin des Mannes, sich herrlich entfalten konnten.
So stellt 'sich der Islam mit seiner Polygamie und seinem Harem-
leben in grellen^Contrast zur Monogamie und zu dem Familienleben
der christlichen Welt.
Derselbe Contrast macht sich bei einem Vergleich der beiden
Religionen auch bezüglich der Vorstellungen vom Jenseits geltend,
das dem christlichen Gläubigen unter dem Bilde eines von aller
irdischen Sinnlichkeit befreiten, rein geistige Wonnen verheissenden
Paradieses sich darstellt, während die Phantasie des Muselmanns
in Bildern eines wollüstigen Haremlebens mit herrlichen Houris
sich das Jenseits ausmalt.
Trotz aller Hülfen, die Religion, Gesetz, Erziehung und Sitte
dem Culturmenschen in der Zügelung seiner sinnlichen Triebe an-
gedeihen lassen, läuft derselbe jederzeit Gefahr, von der lichten
Höhe reiner und keuscher Liebe in den Sumpf gemeiner Wollust
herabzusinken.
Um sich auf jener Höhe zu behaupten , bedarf es eines be-
ständigen Kampfes zwischen Naturtrieb und guter Sitte, zwischen
Sinnlichkeit und Sittlichkeit. Nur willensstarken Charakteren ist
es gegeben, sich ganz von der Sinnlichkeit zu emancipiren und
jener reinen Liebe theilhaftig zu werden, aus der die edelsten
Freuden menschlichen Daseins erblühen.
Man kann darüber streiten, ob die Menschheit im Verlauf der
letzten Jahrhunderte sittlicher geworden ist. Zweifelsohne ist sie
schamhafter geworden, und diese civilisatorische Erscheinung des
Verbergens sinnlich-thierischer Bedürfnisse ist wenigstens eine Con-
cession, welche das Laster der Tugend macht.
Aus der Lektüre des Werkes von Scherr (Deutsche Cultur-
geschichte) wird Jeder den Eindruck gewinnen, dass unsere sitt-
lichen Anschauungen gegenüber denen des Mittelalters geläuterte
geworden sind, wenn auch zugegeben werden muss, dass vielfach
an die Stelle früherer Unfläthigkeit und Rohheit des Ausdrucks nur
feinere Sitten ohne grössere Sittlichkeit getreten sind.
Vergleicht man jedoch weiter aus einander liegende Zeit-
abschnitte und Culturperioden, so kann kein Zweifel obwalten, dass
die öffentliche Moral, trotz episodischer Rückschläge, einen unauf-
haltsamen Aufschwung innerhalb der Culturentwicklung nimmt und
dass einen der mächtigsten Hebel auf der Bahn des sittlichen Fort-
schritts das Christenthum darstellt.
Episoden sittlicher Rückschläge. 7
Wir sind heutzutage doch weit erhaben über jene sexuellen
Zustände, wie sie sich in dem sodomitischen Götterglauben, dem
Volksleben, der Gesetzgebung und den religiösen Uebungen der
alten Griechen ausprägten, ganz zu schweigen von dem Phallus-
und Priapuscult der Athener und Babylonier, von den Bacchanalien
des alten Roms und der bevorzugten öffentlichen Stellung, welche
die Hetären bei jenen Völkern einnahmen.
Innerhalb des langsamen, oft unmerklichen Aufschwungs,
welchen menschliche Sitte und Gesittung nehmen, zeigen sich Schwan-
kungen, Fluctuationen, gleichwie im individuellen Dasein die sexuale
Seite ihre Ebbe und Fluth aufweist.
Episoden des sittlichen Niedergangs im Leben der Völker fallen
jeweils zusammen mit Zeiten der Verweichlichung, der Ueppigkeit
und des Luxus. Diese Erscheinungen sind nur denkbar mit ge-
steigerter Inanspruchnahme des Nervensystems, das für das Plus an
Bedürfnissen aufkommen muss. Im Gefolge überhandnehmender
Nervosität erscheint eine Steigerung der Sinnlichkeit, und indem
sie zu Ausschweifungen der Massen des Volks führt, untergräbt
sie die Grundpfeiler der Gesellschaft, die Sittlichkeit und Reinheit
des Familienlebens. Sind durch Ausschweifung, Ehebruch, Luxus
jene unterwühlt, dann ist der Zerfall des Staatslebens, der materielle,
moralische, politische Ruin eines solchen unvermeidlich. Warnende
Beispiele in dieser Hinsicht sind der römische Staat, Griechenland,
Frankreich unter Louis XIV. und XV. 1). In solchen Zeiten des
staatlichen und sittlichen Verfalls traten vielfach geradezu monströse
Verirrungen des sexuellen Trieblebens auf, die jedoch zum Theil
auf psycho- oder wenigstens neuro-pathologische Zustände in der
Bevölkerung sich zurückführen lassen.
Dass die Grossstädte Brutstätten der Nervosität und entarteten
Sinnlichkeit sind, ergibt sich aus der Geschichte von Babylon,
Ninive, Rom, gleichwie aus den Mysterien des modernen gross-
städtischen Lebens. Bemerkenswerte ist die Thatsache, welche aus
der Lektüre des Ploss'schen Werks hervorgeht, nämlich, dass
Verirrungen des Geschlechtstriebs (ausser bei den Aleuten, ferner
in Gestalt von Masturbation bei den Orientalinnen und den Nama-
Hottentottinnen) bei un- oder halbcivilisirten Völkern nicht vor-
kommen 2).
J) Vgl. Friedländer, Sittengeschichte Roms. Wiedemeister, Der
Cäsarenwahnsinn. Suetonius, Moreau, Des aberrations du sens genesique.
2) Diese Angaben stehen aber im Widerspruch mit Fried reich (Hdb.
8 Entwicklung des Sexuallebens.
Die Erforschung des sexuellen Lebens des Individuums hat
mit dessen Entwicklung in der Pubertät zu beginnen und dasselbe
in seinen verschiedenen Phasen bis zum Erlöschen sexualer Empfin-
dungen zu verfolgen.
Schön schildert Mantegazza in seiner „Physiologie der Liebe"
das Sehnen und Drängen des erwachenden Geschlechtslebens, von
dem Ahnungen, unklare Empfindungen und Dränge aber weit über
die Epoche der Pubertätsentwicklung zurückreichen. Diese Epoche
ist wohl die psychologisch bedeutsamste. An dem reichen Zu-
wachs an Gefühlen und Ideen, welche sie weckt, lässt sich die
Bedeutung des sexuellen Faktors für das psychische Leben über-
haupt ermessen.
Jene anfangs dunklen, unverständlichen Dränge, entstanden
aus den Empfindungen, welche bisher unentwickelte Organe im
Bewusstsein wachriefen, gehen mit einer mächtigen Erregung des
Gefühlslebens einher. Die psychologische Reaction des Sexualtriebs
in der Pubertät gibt sich in mannigfachen Erscheinungen kund,
denen nur gemeinsam der affectvolle Zustand der Seele ist und
der Drang, den fremdartigen Gemüthsinhalt in irgend einer Form
auszuprägen, zu objectiviren. Naheliegende Gebiete sind die Reli-
gion und die Poesie, die selbst, nachdem die Zeit der sexuellen
Entwicklung vorüber und jene ursprünglich unverstandenen Stim-
mungen und Dränge abgeklärt sind, mächtige Förderungen aus der
sexualen Welt erfahren. Wer daran zweifeln wollte, möge be-
denken, wie oft religiöse Schwärmerei im Pubertätsalter vorkommt,
wie häufig in dem Leben der Heiligen x) sexuelle Anfechtungen.
der gerichtsärztl. Praxis 1843, I. p. 271), nach welchem Päderastie bei den
Wilden Amerikas sehr häufig vorkommen soll, ferner mit Lombroso (op. cit.
p. 42).
*) Vgl. Friedreich, gerichtl. Psychologie p. 339, der zahlreiche Bei-
spiele gesammelt hat. So quälte die Nonne Blanbekin unaufhörlich der Ge-
danke, was aus dem Theil geworden sein möge, der bei der Beschneidung
Christi verloren ging.
Die von Papst Pius IL selig gesprochene Veronica Juliani nahm aus
Andacht zum göttlichen Lämmlein ein irdisches Lämmlein ins Bett, küsste das
Lamm, Hess es an ihren Brüsten saugen und gab auch einige Tropfen Milch
von sich.
Die hl. Catharina von Genua litt oft an einer solchen inneren Hitze,
dass sie, um sich abzukühlen, sich auf die Erde legte und schrie: „Liebe,
Liebe, ich kann nicht mehr!" Dabei fühlte sie eine besondere Zuneigung zu
ihrem Beichtvater. Eines Tages führte sie dessen Hand an ihre Nase und
Beziehungen zwischen Religion und Liehe. 9
sind und in welch widerliche Scenen, wahre Orgien, die religiösen
Feste der alten Welt, nicht minder die Meetings gewisser Sekten
der Neuzeit ausarteten, ganz zu geschweigen der wollüstigen Mystik,
die in den Culten der alten Völker sich findet. Umgekehrt sehen
wir, dass nicht befriedigte Sinnlichkeit gar häufig in religiöser
Schwärmerei ein Aequivalent sucht und findet 1).
Aber auch auf unzweifelhaft psychopathologischem Gebiet zeigt
sich diese Beziehung zwischen religiösem und sexuellem Fühlen.
Es genüge der Hinweis auf die mächtig sich geltend machende
Sinnlichkeit in den Krankengeschichten vieler religiös Wahnsinnigen,
auf die bunte Vermischung von religiösem und sexuellem Delir,
wie sie in Psychosen so vielfach beobachtet wird (z. B. bei mania-
kalischen Weibern, die sich für die Muttergottes und Gottesgebärerin
halten) , aber ganz besonders bei Psychosen auf masturbatorischer
Grundlage ; endlich der Hinweis auf die wollüstig grausamen Selbst-
kasteiungen, Verletzungen, Selbstentmannungen, sogar Kreuzigungen
auf Grund eines krankhaften, geschlechtlich religiösen Fühlens.
Ein Versuch, die psychologischen Beziehungen zwischen Religion und
Liebe zu erklären, stösst auf Schwierigkeiten. Analogien bieten sich in
grosser Zahl.
Das Gefühl der sexuellen Neigung und das religiöse Gefühl (als psycho-
logische Thatsache betrachtet) bestehen beide aus je 2 Elementen.
Auf religiösem Gebiet ist das primäre das Gefühl der Abhängigkeit,
eine Thatsache, die Schleiermacher erkannt hat, lange bevor die neuere
anthropologische und ethnographische Forschung, auf Grund der Beobachtung
primitiver Zustände, zu demselben Resultat gelangt ist. Erst auf höherer
Culturstufe tritt das zweite und eigentliche ethische Element — die Liebe zur
Gottheit — in das religiöse Gefühl ein. An die Stelle der bösen Dämonen der
Naturvölker traten die doppelseitigen, bald gütigen, bald zürnenden Gestalten
complicirterer Mythologien, bis endlich der allgütige Gott als Spender des
ewigen Heils verehrt wird, gleichviel ob dies von Jehovah als Wohlergehen
auf Erden , von Allah als physisches Wohlergehen , im Paradiese gespendet,
empfand dabei einen Geruch, der ihr ins Herz drang, „einen himmlischen
Geruch, dessen Annehmlichkeit Todte erwecken könnte."
Von einer ähnlichen Brunst waren die hl. Armelle und die hl. Elisabeth
vom Kinde Jesu gequält. Bekannt sind die Versuchungen des hl. Antonius
von Padua. Bezeichnend ist ein altes protestantisches Gebet: „0 dass ich dich
gefunden hätt*, holdseligster Emanüel, o hätt' ich dich in meinem Bett, des
freute sich mein Leib und Seel. Komm, kehre willig bei mir ein; mein Herz
soll deine Kammer sein!"
J) Vgl. Friedreich, Diagnostik der psych. Krankheiten p. 247 u. ff.
Neumann, Lehrb. d. Psychiatrie p. 80.
10 Religion und Liebe.
vom Christen als ewige Seligkeit im Himmel, vom Buddhisten als Nirwana
erhofft wird.
In der geschlechtlichen Neigung ist die Liebe, die Erwartung
einer überschwänglichen Seligkeit, das primäre Element. Secundär tritt das
Gefühl der Abhängigkeit hinzu. Dieses besteht zwar im Keim für beide Theile,
insofern der andere Theil sich versagen kann; es ist aber in der Regel nur im
Weibe, in Folge seiner passiven Rolle bei der Fortpflanzung und socialer Ver-
hältnisse, stärker ausgebildet; ausnahmsweise ist dies auch bei Männern mit
zum weiblichen neigendem psychischem Typus der Fall.
Die Liebe ist in beiden Gebieten, dem religiösen und dem sexuellen,
eine mystische und transcendente , d. h. es tritt bei der Geschlechtsliebe das
eigentliche Ziel des Triebes, die Propagation der Gattung, nicht ins Bewusst-
sein, und die Stärke des Impulses ist mächtiger, als irgend eine ins Bewusst-
sein gelangende Befriedigung rechtfertigen könnte. Auf religiösem Gebiete
aber ist das erstrebte Gut und das geliebte Wesen seiner Natur nach so be-
schaffen, dass es nicht in die empirische Erkenntniss eingehen kann. Beide
seelische Vorgänge lassen deshalb der Phantasie den weitesten Spielraum.
Beide haben aber auch einen „ unendlichen" Gegenstand, insofern die
Seligkeit, welche der Geschlechtstrieb vorspiegelt, gegenüber allen anderen
Lustgefühlen als unvergleichbar und unmessbar erscheint, und das Gleiche von
den versprochenen Seligkeiten des Glaubens gilt, die als zeitlich und qualitativ
unendlich vorgestellt werden.
Aus der Uebereinstimmung beider Bewusstseinszustände bezüglich der
Grösse ihres Gegenstandes folgt, dass sie beide oft zu unwiderstehlicher Macht
anwachsen und alle Gegenmotive vor sich niederwerfen. Aus ihrer Aehnlichkeit
bezüglich der Unfassbarkeit ihres eigentlichen Gegenstandes folgt, dass sie
beide leicht in eine vage Schwärmerei übergehen, in welcher die Lebhaftigkeit
des Gefühls die Deutlichkeit und Constanz der Vorstellungen bei weitem über-
wiegt. In dieser Schwärmerei spielt in beiden Fällen neben der Erwartung eines
unfassbaren Glückes das Bedürfniss schrankenloser Unterwerfung eine Rolle.
Aus dieser mehrfachen Uebereinstimmung beider Schwärmereien erklärt
sich, dass bei starken Intensitätsgraden die eine für die andere vicariirend
eintreten kann, oder eine neben der anderen auftaucht, da jede starke Hebung
eines Elementes im Seelenleben die Umgebung mithebt. Das gleichbleibende
Gefühl ruft also von den beiden Vorstellungskreisen, mit welchen es verknüpft
ist, bald den einen, bald den andern ins Bewusstsein. Beide seelische Er-
regungen können aber auch in den Trieb zur (activ geübten oder passiv er-
duldeten) Grausamkeit umschlagen.
Innerhalb des religiösen Lebens kömmt es dazu durch das Opfer. Dieses
wird zuerst mit der Vorstellung dargebracht, dass es von der Gottheit materiell
genossen wird, dann, dass es ihr zu Ehren, als Zeichen der Unterwerfung, als
Tribut, dargebracht wird, endlich dass die Sünde und Verschuldung gegen
die Gottheit getilgt und die Seligkeit erworben wird.
Besteht das Opfer aber, wie in allen Religionen vorkömmt, in einer
Selbstpeinigung, so dient es bei religiös sehr erregbaren Naturen nicht nur
als Symbol der Unterwerfung und als ein Aequivalent im Tausch gegenwärtiger
Unlust gegen künftige Lust, sondern Alles, was als von der unendlich geliebten
Gottheit kommend gedacht wird, was auf ihren Befehl oder ihr zu Ehren
Religion und Liebe. \\
geschieht, wird direct als Lust empfunden. Die religiöse Schwärmerei führt dann
zur Ekstase, zu einem Zustand, in dem das Bewusstsein derart von psychischen
Lustgefühlen präoccupirt ist, dass die Vorstellung der erduldeten Misshandlung
nur ohne ihre Schmerzqualität appercipirt werden kann.
Auch activ kann die Exaltation der religiösen Schwärmerei zur Freude
an der Opferung Anderer führen, wenn das Mitleid mit fremdem Schmerz von
religiösen Lustgefühlen übercompensirt wird.
Dass es auf dem Gebiete des Geschlechtslebens zu ähnlichen Erschei-
nungen kommen kann, zeigt der Sadismus und ganz besonders der Masochis-
mus (s. u.).
So lässt sich die oft constatirte Verwandtschaft von Religion, Wollust
und Grausamkeit1) etwa auf die folgende Formel bringen: Religiöser und
sexueller Affectzustand zeigen auf der Höhe ihrer Entwicklung Uebereinstim-
mung im Quantum und Quäle der Erregung und können deshalb unter geeig-
neten Verhältnissen vicariiren. Beide können unter pathologischen Bedingungen
in Grausamkeit umschlagen.
Nicht minder einflussreich erweist sich der sexuelle Faktor auf
die Weckung ästhetischer Gefühle. Was wären die bildende Kunst
und die Poesie ohne sexuelle Grundlage! In der (sinnlichen) Liebe
gewinnt sie jene Wärme der Phantasie, ohne die eine wahre Kunst-
schöpfung nicht möglich ist, und in dem Feuer sinnlicher Gefühle
erhält sich ihre Gluth und Wärme. Damit begreift sich, dass die
grossen Dichter und Künstler sinnliche Naturen sind.
Diese Welt der Ideale eröffnet sich mit dem Auftreten sexu-
eller Entwicklungsvorgänge. Wer in dieser Lebensperiode nicht
für Grosses , Edles , Schönes sich begeistern konnte , bleibt ein
Philister sein Leben lang. Schmiedet doch selbst der nicht zum
Dichter Veranlagte in dieser Epoche Verse!
Auf der Gränze physiologischer Reaction stehen Vorgänge in
der Pubertätsentwicklung, wo jene unklaren, sehnsüchtigen Stim-
mungen sich in selbst- und weltschmerzlichen Anwandlungen bis
zum Taedium vitae ausprägen, vielfach mit Lust, Anderen wehe zu
thun (schwache Analogien eines psychologischen Zusammenhangs
zwischen Wollust und Grausamkeit), einhergehen.
Die Liebe der ersten Jugend hat einen romantischen ideali-
sirenden Zug. Sie verklärt den Gegenstand der Liebe bis zur
x) Dieses Trivium findet seinen Ausdruck nicht nur in den oben geschil-
derten Erscheinungen des wirklichen Lebens, sondern auch in der frömmelnden
Literatur und selbst in der bildenden Kunst sinkender Zeiten. Berüchtigt in
dieser Beziehung ist z. B. die Gruppe der hl. Theresa von Bernini, die in
„hysterischer Ohnmacht auf eine Marmorwolke sinkt, während ein verbuhlter
Engel ihr den Pfeil (der göttlichen Liebe) ins Herz schleudert" (Lübke).
12 Wahre und sentimentale Liebe.
Apotheose. In ihren ersten Anfängen ist sie eine platonische und
wendet sich gern Gestalten der Poesie, Geschichte zu. Mit dem Er-
wachen der Sinnlichkeit läuft sie Gefahr, ihre idealisirende Macht
auf Personen des anderen Geschlechts zu übertragen, die geistig,
körperlich und social nichts weniger als hervorragend sind. Daraus
können Mesalliancen, Entführungen, Fehltritte entstehen mit der
ganzen Tragik der leidenschaftlichen Liebe, die in Conflict geräth
mit den Satzungen der Sitte und Herkunft und zuweilen im Selbst-
mord oder Doppelselbstmord ihren düsteren Abschluss findet.
Die allzu sinnliche Liebe kann nie eine dauernde und rechte
Liebe sein. Deshalb ist die erste Liebe in der Regel eine höchst
flüchtige, weil sie nichts Anderes ist, als das Auflodern einer Leiden-
schaft, ein Strohfeuer.
Nur diejenige Liebe, welche sich auf die Erkenntniss der sitt-
lichen Vorzüge der geliebten Person stützt, die nicht bloss Freuden
gewärtigt, sondern auch Leiden um jener willen zu tragen gewillt
ist und für sie Alles aufzuopfern vermag, diese ist die wahre Liebe.
Die Liebe des stark veranlagten Menschen scheut vor keiner
Schwierigkeit und Gefahr zurück, wenn es gilt, den Besitz der ge-
liebten Person zu erringen und zu behaupten.
Thaten des Heroismus, der Todesverachtung, sind ihre Lei-
stungen. Eine solche Liebe läuft aber Gefahr, nach Umständen
zum Verbrechen zu gelangen, wenn die sittliche Grundlage keine
feste ist. Ein hässlicher Flecken dieser Liebe ist die Eifersucht.
Die Liebe des schwach veranlagten Menschen ist eine sentimentale.
Sie führt nach Umständen zu Selbstmord, wenn sie nicht erwiedert
wird oder Hindernisse findet, während unter gleichen Verhältnissen
der stark Veranlagte zum Verbrecher werden konnte.
Die sentimentale Liebe läuft Gefahr, zur Karrikatur zu werden,
namentlich da, wo das sinnliche Element kein starkes ist (die Ritter
Toggenburg, Don Quixote, viele Minnesänger und Troubadours des
Mittelalters).
Solche Liebe hat einen faden, süsslichen Beigeschmack. Sie
kann damit geradezu lächerlich werden, während sonst die Aeus-
serungen dieses mächtigsten Gefühls in der Menschenbrust Mit-
gefühl, Achtung, Grauen, je nachdem, erwecken.
Vielfach wird jene schwache Liebe auf äquivalente Gebiete
gedrängt — auf Poesie, die aber dann eine süssliche ist, auf
Aesthetik, die sich als otitrirte erweist, auf Religion, in welcher
sie der Mystik und religiösen Schwärmerei, bei stärkerer sinnlicher
Platonische Liebe. Sexual empfindung und Selbstgefühl. 13
Grundlage dem Sektenwesen bis zum religiösen Wahnsinn, anheim-
fällt. Von all Dem hat die unreife Liebe des Pubertätsalters etwas
an sich. Lesbar aus jener Zeit des Dichtens und Reimens sind nur
die Verse des Dichters von Gottes Gnaden.
Bei aller Ethik, deren die Liebe bedarf, um sich zu ihrer
wahren und reinen Gestalt zu erheben, bleibt ihre stärkste Wurzel
gleichwohl die Sinnlichkeit.
Platonische Liebe ist ein Unding, eine Selbsttäuschung, eine
falsche Bezeichnung für verwandte Gefühle.
Insofern die Liebe ein sinnliches Verlangen zur Voraussetzung
hat, ist sie normaliter nur denkbar zwischen geschlechtsverschie-
denen und zu geschlechtlichem Verkehr fähigen Individuen. Fehlen
diese Bedingungen, oder gehen sie verloren, so tritt an die Stelle
der Liebe die Freundschaft.
Bemerkenswerth ist die Rolle, welche für die Entstehung und
die Erhaltung des Selbstgefühls beim Manne das Verhalten seiner
sexuellen Functionen spielt. An der Einbusse von Männlichkeit
und Selbstvertrauen, die der nervenschwache Onanist und der im-
potent gewordene Mann bieten, lässt sich die Bedeutung jenes
Factors ermessen.
Sehr richtig sagt Gyurkovechky (männl. Impotenz, Wien 1889), dass
alte und junge Männer sich psychisch wesentlich durch das Verhalten ihrer
Potenz unterscheiden, und dass Impotenz Lebensfreude, geistige Frische, That-
kraft, Selbstvertrauen und den Schwung der Phantasie schwer schädigt. Dieser
Ausfall ist umso bedeutender, in je jugendlicherem Alter der Mann seine
Potenz verliert und je sinnlicher er veranlagt war.
Ein plötzlicher Verlust der Potenz kann hier zu schwerer Melancholie
und sogar zu Selbstmord führen, denn für solche Naturen ist Leben ohne
Liebe unerträglich.
Aber auch da, wo die Reaction keine so einschneidende ist, erscheint
der in seiner Potenz Getroffene moros, missgünstig, egoistisch, eifersüchtig
philiströs, energielos, von geringem Selbst- und Ehrgefühl, feige.
Analoges sieht man bei den Skopzen, die nach ihrer Entmannung ihren
Charakter in pejus ändern.
Noch bedeutsamer äussert sich der Ausfall der Potenz bei gewissen Be-
lasteten im Sinne förmlicher Effeminatio (s. u.).
Psychologisch weniger einschneidend, aber doch merklich ist
die Situation bei dem Weibe, das seine geschlechtliche Rolle aus-
gespielt hat, indem es zur Matrone geworden ist. War die nun
historisch gewordene Periode des Geschlechtslebens eine befriedigende,
erfreuen Kinder das Herz der alternden Mutter, so kommt ihr der
14 Differenzen der Liebe des Mannes und des Weibes.
Wechsel ihrer biologischen Persönlichkeit kaum zum Bewusstsein.
Anders ist die Situation da, wo Sterilität, oder durch die Umstände
auferlegte Abstinenz von dem natürlichen- Beruf des Weibes, jenes
Glück versagten.
Diese Thatsachen sind geeignet, die Differenzen, welche in der
Psychologie des Sexuallebens zwischen Mann und Weib bestehen,,
die Verschiedenheit des sexuellen Fühlens und Verlangens bei beiden
in ein helles Licht zu setzen.
Ohne Zweifel hat der Mann ein lebhafteres geschlechtliches
Bedürfniss als das Weib. Folge leistend einem mächtigen Natur-
trieb, begehrt er von einem gewissen Alter an ein Weib. Er liebt
sinnlich, wird in seiner Wahl bestimmt durch körperliche Vorzüge.
Dem mächtigen Drange der Natur folgend, ist er aggressiv und
stürmisch in seiner Liebeswerbung. Gleichwohl füllt das Gebot
der Natur nicht sein ganzes psychisches Dasein aus. Ist sein Ver-
langen erfüllt, so tritt seine Liebe temporär hinter anderen vitalen
und socialen Interessen zurück.
Anders das Weib. Ist es geistig normal entwickelt und wohl-
erzogen, so ist sein sinnliches Verlangen ein geringes. Wäre dem
nicht so, so müsste die ganze Welt ein Bordell und Ehe und
Familie undenkbar sein. Jedenfalls sind der Mann, welcher das
Weib flieht, und das Weib, welches dem Geschlechtsgenuss nach-
geht, abnorme Erscheinungen.
Das Weib wird um seine Gunst umworben. Es verhält sich
passiv. Es liegt dies in seiner sexualen Organisation und nicht
bloss in den auf dieser fussenden Geboten der guten Sitte begründet.
Gleichwohl macht sich in dem Bewusstsein des Weibes das
sexuelle Gebiet mehr geltend als in dem des Mannes. Das Be-
dürfniss nach Liebe ist grösser als bei diesem, continuirlich , nicht
episodisch, aber diese Liebe ist eine mehr geistige als sinnliche.
Während der Mann zunächst das Weib und in zweiter Linie die
Mutter seiner Kinder liebt, findet sich im Bewusstsein der Frau
im Vordergrund der Vater ihres Kindes und dann erst der Mann
als Gatte. Das Weib wird in der Wahl des Lebensgefährten viel
mehr durch geistige als durch körperliche Vorzüge bestimmt. Nach-
dem es Mutter geworden ist, theilt es seine Liebe zwischen Kind
und Gatten. Vor der Mutterliebe schwindet die Sinnlichkeit. In
dem ferneren ehelichen Umgang findet die Frau weniger eine sinn-
liche Befriedigung, als einen Beweis der Liebe und Zuneigung des
Gatten.
Sexuelle Abhängigkeit. Cölibat. Ehebruch. 15
JA?
Das Weib liebt mit ganzer Seele. Liebe ist ihm Leben, dem
Manne Genuss des Lebens. Unglückliche Liebe schlägt diesem
eine Wunde. Dem Weibe kostet sie das Leben oder wenigstens
das Lebensglück. Es wäre eine des Nachdenkens werthe psycho-
logische Streitfrage, ob ein Weib zweimal in seinem Leben wahr-
haft lieben kann. Jedenfalls ist die seelische Richtung des Weibes
eine monogame, während der Mann zur Polygamie hinneigt.
In der Mächtigkeit sexueller Bedürfnisse liegt die Schwäche
des Mannes dem Weibe gegenüber. Er geräth in Abhängigkeit
von dem Weibe, und zwar um so mehr, je schwächer und sinn-
licher er wird. Dies wird er in dem Masse, als er neuropathisch
wird. So begreift sich die Thatsache, dass in Zeiten der Er-
schlaffung und Genusssucht die Sinnlichkeit üppig gedeiht. Dann
entsteht aber die Gefahr für die Gesellschaft, dass Maitressen und
ihr Anhang den Staat regieren und dieser zu Grunde geht. (Die
Maitressen wirthschaft am Hofe Ludwigs XIV. und XV., die Hetären
des alten Griechenlands.)
Die Biographie so mancher Staatsmänner aus alter und neuer
Zeit lehrt, dass sie Weiberknechte waren in Folge ihrer grossen
Sinnlichkeit, die wieder ihren Grund hatte in neuropathischer Con-
stitution.
Es ist ein Zug feiner psychologischer Kenntniss des Menschen,
dass die katholische Kirche ihre Priester zur Keuschheit (Cölibat)
verpflichtet und damit von der Sinnlichkeit zu emancipiren trachtet,
um sie ganz den Zwecken ihres Berufs zu erhalten.
Schade nur, dass der im Cölibat lebende Priester der ver-
edelnden Wirkung verlustig wird, welche Liebe und dadurch Ehe
auf die Entwicklung des Charakters gewinnen.
Da dem Manne durch die Natur die Rolle des aggressiven
Theils im sexuellen Leben zufällt, läuft er Gefahr, die Gränzen,
welche ihm Sitte und Gesetz gezogen haben, zu überschreiten.
Unendlich schwerer fällt moralisch ins Gewicht und viel
schwerer sollte gesetzlich wiegen der Ehebruch des Weibes gegen-
über dem vom Manne begangenen. Die Ehebrecherin entehrt nicht
nur sich, sondern auch den Mann und die Familie, abgesehen davon,
dass es heisst: Pater incertus. Naturtrieb und gesellschaftliche
Stellung bringen den Mann leicht zu Fall, während dem Weibe
Vieles Schutz gewährt.
Auch bei dem unverheiratheten Weibe ist sexueller Umgang
etwas ganz Anderes als beim Manne. Die Gesellschaft verlangt
1(3 Schamhaftigkeit. Putzsucht. Coquetterie.
vom ledigen Manne Sittsamkeit, vom Weibe zugleich Keuschheit.
Auf der Culturhöhe des heutigen gesellschaftlichen Lebens ist eine
socialen sittlichen Interessen dienende sexuelle Stellung des Weibes
nur als Ehefrau denkbar.
Das Ziel und Ideal des Weibes, auch des in Schmutz und
Laster verkommenen, ist und bleibt die Ehe. Das Weib, wie
Mantegazza richtig bemerkt, begehrt nicht bloss Befriedigung
sinnlicher Triebe, sondern auch Schutz und Unterhalt für sich und
seine Kinder. Der noch so sinnliche Mann von besserem Gefühl
verlangt ein Weib zur Ehe, das keusch war und ist.
Schild und Zierde des Weibes in der Anstrebung dieses seiner
einzig würdigen Ziels ist die Schamhaftigkeit. Mantegazza be-
zeichnet sie fein als „eine der Formen der physischen Selbstachtung"
beim Weibe.
Zu einer anthropologisch-historischen Untersuchung über die
Entwicklung dieses schönsten Schmuckes des Weibes ist hier nicht
der Ort. Wahrscheinlich ist weibliche Schamhaftigkeit eine erblich
gezüchtete Frucht der Culturentwicklung.
Wunderlich steht mit ihr im Contrast eine gelegentliche Preis-
gebung von körperlichen Reizen, die unter dem Gesetz der Mode
und conventionell sanktionirt, selbst die züchtigste Jungfrau im Ball-
saal sich gefallen lässt. Die ausstellerischen Gründe dafür sind nahe-
liegend. Glücklicherweise kommen sie dem keuschen Mädchen ebenso-
wenig zum Bewusstsein als die Motive zeitweise wiederkehrender
Mode, gewisse Körpertheile plastischer hervortreten zu lassen
(„culs"), ganz zu geschweigen von Corset u. dgl.
Zu allen Zeiten und bei allen Völkern zeigt die Frauenwelt
das Bestreben, sich zu schmücken und Reize zu entfalten. In der
Thierwelt hat die Natur das Männchen durchweg mit grösserer
Schönheit ausgezeichnet. Die Männerwelt bezeichnet die Weiber
als das schöne Geschlecht. Diese Galanterie entspringt offenbar dem
sinnlichen Bedürfniss der Männer. Solange dieses Sichschmücken
Selbstzweck ist, oder der wahre psychologische Grund des Gefallen-
wollens dem Weibe unbewusst bleibt, ist dagegen nichts einzuwenden.
In bewusster Bethätigung nennt man dieses Bestreben Gefallsucht.
Der putzsüchtige Mann wird unter allen Umständen lächerlich.
An dem Weibe ist man diese kleine Schwäche gewöhnt und findet
nichts dabei, solange sie nicht Theilerscheinung eines Ganzen ist,
für das die Franzosen das Wort Coquetterie erfunden haben.
Die Frauen sind den Männern in der natürlichen Psychologie
Fetisch und Fetischismus. 17
der Liebe weit überlegen, theils hereditär und durch Erziehung,
da das Gebiet der Liebe ihr eigentliches Element ist, theils weil sie
feinfühliger sind (Mantegazza).
Selbst auf der Höhe der Gesittung kann dem Manne nicht
verübelt werden, dass er im Weibe zunächst den Gegenstand für
die Befriedigung seines Naturtriebes erkennt. Aber es erwächst
ihm die Verpflichtung, nur dem Weibe seiner Wahl anzugehören.
Im Rechtsstaat wird daraus ein bindender sittlicher Vertrag, die
Ehe, und insofern das Weib für sich und die Nachkommenschaft
Schutz und Unterhalt benöthigt, ein Eherecht.
Von grossem psychologischem Werth und für gewisse später
zu besprechende pathologische Erscheinungen unerlässlich ist es, auf
die psychologischen Vorgänge einzugehen, welche Mann und Weib
einander zuführen und aneinander fesseln, so dass unter allen an-
deren Personen desselben Geschlechts nur der oder die Geliebte
begehrenswerth erscheinen.
Könnte man den Vorgängen in der Natur Absicht nachweisen —
Zweckmässigkeit kann man' ihnen nicht absprechen — so erschiene
die Thatsache der Fascinirung durch eine einzige Person des anderen
Geschlechts mit Indifferenz gegen alle anderen, wie sie beim wahr-
haft und glücklich Liebenden thatsächlich besteht, als eine be-
wunderungswürdige Einrichtung der Schöpfung, um ihre Zwecke
fördernde monogamische Verbindungen zu sichern.
Für den Forscher erweist sich diese Verliebtheit oder diese
„Harmonie der Seelen", dieser „Bund der Herzen" aber keineswegs
als ein „Mysterium der Seelen", sondern ist in den meisten Fällen
zurückführbar auf bestimmte körperliche, nach Umständen auch
seelische Eigenschaften, durch welche die Anziehungskraft der da-
durch geliebten Person bedingt ist.
Man spricht dann von sogenanntem Fetisch und Fetischismus. Unter
Fetisch pflegt man Gegenstände oder Theile oder blosse Eigenschaften von
Gegenständen zu verstehen, die vermöge associativer Beziehungen zu einer
lebhafte Gefühle, bezw. wichtiges Jnteresse hervorrufenden Gesammtvorstellung
oder Gesammtpersönlichkeit eine Art Zauber („fetisso" portugiesisch), min-
destens einen sehr tiefen, dem äusseren Zeichen (Symbol, Fetisch) an und für
sich nicht zukommenden1), weil individuell eigenartig betonten Eindruck
bewirken.
Die individuelle Werthschätzung des Fetisch bis zur Schwärmerei Seitens
*) Vergl. Max Müller, der das Wort „Fetisch" etymologisch von facti-
tius (künstlich, unbedeutendes Ding) ableitet.
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualia. 9. Aufl. 2
18 Physiologischer Fetischismus.
einer von demselben afficirten Persönlichkeit nennt man Fetischismus. Diese
psychologisch interessante Erscheinung, erklärbar aus einem empirischen asso-
ciativen Gesetz : der Beziehung einer Theilvorstellung zur Gesammtvorstellung,
wobei das Wesentliche aber die individuell eigenartige Gefühlsbetonung der
Theilvorstellung im Sinne von Lustgefühlen ist, findet sich vornehmlich in
zwei verwandten psychischen Gebieten — dem der religiösen und der ero-
tischen Gefühle und Vorstellungen. Der religiöse Fetischismus hat andere
Beziehung und Bedeutung als der sexuelle , insofern er seine ursprüngliche
Motivirung in dem Wahn fand und findet, dass der als Fetisch imponirende
Gegenstand oder das Götzenbild göttliche Eigenschaften besitze, nicht bloss
Sinnbild sei, oder insofern dem Fetisch besondere wunderthätige (Eeliquien)
oder schutzkräftige (Amulette) Eigenschaften abergläubischerweise zugeschrieben
werden.
Anders der erotische Fetischismus , welcher seine psychologische
Motivirung darin findet, dass physische oder auch psychische Qualitäten einer
Person, ja selbst blosse Gegenstände ihres Gebrauchs u. dergl. zum Fetisch
werden, indem sie mächtige associative Vorstellungen zur Gesammtpersönlich-
keit jeweils wecken und überdies mit einer lebhaften sexuellen Lustempfindung
jederzeit betont werden. Analogien mit dem religiösen Fetischismus ergeben
sich immerhin insofern, als auch bei diesem nach Umständen recht unbedeu-
tende Gegenstände (Knochen, Nägel, Haare u. s. w.) Fetisch sind und mit Lust-
gefühlen bis zur Ekstase sich verbinden.
Bezüglich der Entwicklung physiologischer Liebe ist es wahr-
scheinlich, dass ihr Keim immer in einem individuellen Fetischzauber,
welchen die Person des einen Geschlechts auf eine des anderen aus-
übt, zu suchen und zu finden ist.
Am einfachsten ist der Fall, dass mit einer sinnlichen Erregung
der Anblick einer Person des anderen Geschlechts zeitlich zusammen-
fällt und dieser Anblick die sinnliche Erregung steigert.
Gefühls- und optischer Eindruck treten in associative -Ver-
knüpfung und diese festigt sich in dem Masse, als das wiederkehrende
Gefühl das optische Erinnerungsbild weckt oder dieses (Wieder-
sehen) neuerlich sexuelle Erregung auslöst, möglicherweise bis zu
Orgasmus und Pollution (Traumbild).
In diesem Falle wirkt die körperliche Gesammterscheinung
als Fetisch.
Wie Bin et u. A. hervorhebt, können es aber auch Theile des
Ganzen, blosse Eigenschaften und zwar körperliche oder auch bloss
seelische sein, welche die Person des anderen Geschlechts als Fetisch
beeinflussen, indem ihre Wahrnehmung mit einer (zufälligen) sexuellen
Erregung zusammenfällt (oder eine solche hervorruft).
Dass über diese seelische Association der Zufall entscheidet,
dass der Gegenstand des Fetisch ein individuell höchst verschieden-
Fetischismus eroticus. 19
artiger sein kann, dass daraus die sonderbarsten Sympathien (und
umgekehrt Antipathien) entstehen, ist allbekannte Thatsache der
Erfahrung.
Aus dieser physiologischen Thatsache des Fetischismus erklären
sich die individuellen Sympathien zwischen Mann und Weib, die
Bevorzugung einer bestimmten Persönlichkeit vor allen anderen des-
selben Geschlechts. Da der Fetisch ein ganz individuelles Local-
zeichen darstellt, begreift sich, dass er nur ganz individuell wirkt.
Da er von höchst mächtigen Lustgefühlen betont ist, führt er dazu,
über die etwaigen Fehler des Gegenstands der Liebe hinwegzutäuschen
(„die Liebe macht blind") und eine Exaltation hervorzurufen, welche
nur individuell begründet, anderen Personen unbegreiflich, nach
Umständen selbst lächerlich erscheint. So erklärt es sich, wie der
Nüchterne seinen verliebten Mitmenschen nicht begreifen kann,
während dieser sein Idol vergöttert, mit ihm einen wahren Cultus
treibt, ihm Eigenschaften andichtet, welche dasselbe, objectiv be-
trachtet, keineswegs besitzt. So erklärt es sich, dass die Liebe bald
mehr als eine Leidenschaft, bald als ein förmlicher psychischer Aus-
nahmszustand sich darstellt, in welchem das Unerreichbare erreich-
bar, das Hässliche schön, das Profane erhaben erscheint, jegliches
sonstige Interesse, jegliche Pflicht verschwunden ist.
Mit Recht macht auch Tarde (Archives de l'anthropologie
criminelle, 5. Jahrg. Nr. 30) geltend, daes nicht bloss individuell,
sondern auch national der Fetisch verschieden sein kann, jedoch das
Ideal der Gesammtschönheit bei den Culturvölkern derselben Zeit
dasselbe bleibt.
Binet hat sich das grosse Verdienst erworben, diesen Fetischis-
mus der Liebe genauer studirt und analysirt zu haben.
Aus ihm .entstehen die besonderen Sympathien. So fühlt sich
der Eine zu schlanken, der Andere zu dicken, zu brünetten oder
zu blonden Schönen hingezogen. Für den Einen ist ein besonderer
Ausdruck des Auges, für den Anderen ein besonderer Klang der
Stimme oder der eigenartige Geruch, selbst ein artificieller (Parfüm),
oder die Hand, der Fuss, das Ohr u. s. w. der individuelle Fetisch-
zauber, der Ausgangspunkt einer complicirten Kette von seelischen
Vorgängen, deren Gesammtausdruck Liebe, d. h. die Sehnsucht nach
dem physischen und seelischen Besitz des Gegenstands der Liebe
darstellt.
Mit dieser Thatsache ist eine wichtige Bedingung für die
Statuirung eines noch physiologischen Fetischismus erwähnt.
20 Fetischismus eroticus.
Der Fetisch mag dauernd seine Bedeutung behalten, ohne
pathologisch zu sein, aber nur dann, wenn er von der Theil Vorstellung
zur Gesammtvorstellung vorschreitet, wenn die durch ihn erschlossene
Liebe als ihren Gegenstand die gesammte seelische und physische
Persönlichkeit umfasst.
Die normale Liebe kann nur Synthese, Generalisation sein.
Geistreich sagt Ludwig Brunn1) in einem Aufsatz „der Fetischis-
mus in der Liebe":
„Die normale Liebe erscheint uns also als eine Symphonie,
die sich aus Tönen aller Art zusammensetzt. Sie resultirt aus den
verschiedensten Anreizen. Sie ist gleichsam polytheistisch. Der
Fetischismus kennt nur die Klangfarbe eines einzigen Instruments;
er entsteht aus einem bestimmten Anreiz; er ist monotheistisch."
Wer nur einigermassen darüber nachdenkt, wird zur Erkenntniss
kommen, dass von wirklicher Liebe (dieses Wort wird nur zu oft
missbraucht) nur dann die Rede sein darf, wenn die ganze Person
zugleich leiblich und seelisch Gegenstand der Verehrung ist.
Ein sinnliches Element muss jede Liebe haben, d. h. den
Drang, den Gegenstand der Liebe zu besitzen und mit ihm vereint
Gesetzen der Natur zu dienen.
Aber wem bloss der Körper der Person des anderen Geschlechts
Gegenstand der Liebe ist, wer bloss Sinnengenuss befriedigen will,
ohne die Seele zu besitzen und seelisch gemeinsam zu gemessen,
dessen Liebe ist keine echte, so wenig als die des Platonikers, der
nur die Seele liebt und sinnlichen Genuss verschmäht (manche conträr
Sexuale). Für den Einen ist der blosse Körper, für den Anderen
die blosse Seele ein Fetisch, seine Liebe blosser Fetischismus.
Derartige Existenzen stellen jedenfalls Uebergangsfälle zum
pathologischen Fetischismus dar.
Diese Annahme trifft um so mehr zu, als als weiteres Kriterium
wirklicher Liebe seelische2) Befriedigung durch den Geschlechtsakt
gefordert werden muss.
*) Deutsches Montagsblatt, Berlin 20. 8. 88.
2) Der „spinal cerebral posterieur" Magnan's, welcher bei jedem Weibe
Genuss empfindet und dem auch jedes Weib recht ist, vermag bloss seine Wol-
lust zu befriedigen. Gekaufte oder geschundene Liebe ist keine eigentliche
Liebe. (Mantegazza.) Wer das Sprüchwort erfunden hat: „sublata lucerna
nullum discrinien inter feminas" muss ein arger Cyniker gewesen sein. Potenz
des Mannes, den Liebesakt überhaupt zu leisten, ist keine Gewähr, dass dieser
auch wirklich den höchsten Liebesgenuss vermittelt.
Fetischismus eroticus. 21
Innerhalb der physiologischen Erscheinungen des Fetischismus
bleibt die interessante Thatsache zu besprechen, dass unter der
grossen Zahl von Dingen, die zum Fetisch werden können, es ein-
zelne gibt, die eine solche Bedeutung bei einer grösseren Zahl von
Personen gewinnen.
Als solche sind zu erwähnen für den Mann das Haar, die
Hand, der Fuss des Weibes, der Ausdruck seines Auges.
Einzelne derselben gewinnen in der Pathologie des Fetischismus
eine bemerkenswerthe Bedeutung. Diese Thatsachen spielen offen-
bar in der Seele des Weibes sogar eine unbewusste bis bewusste Rolle.
Eine Hauptsorge des Weibes ist die Cultur seines Haares,
dem es oft ungebührlich viel Zeit und Geld widmet. Mit welcher
Sorge pflegt schon beim kleinen Mädchen die Mutter das Haar!
Welche Rolle spielt der Friseur! Ausgehen des Haares setzt jugend-
liche Frauenzimmer in Verzweiflung. Ich erinnere mich einer eitlen
Frau, die darüber gemüthskrank wurde und durch Selbstmord endigte.
Frauenzimmer sprechen mit Vorliebe von Coiffuren, beneiden andere
um ihren schönen Haarwuchs.
Schönes Haar ist ein mächtiger Fetisch für viele Männer.
Schon in der Sage von der Loreley, die Männer ins Verderben lockt,
erscheint das „goldene Haar", das sie mit goldenem Kamme kämmt,
als Fetisch. Nicht mindere Anziehungskraft besitzen vielfach Hand
und Fuss, wobei freilich oft (aber keineswegs immer) maso-
chistische und sadistische Gefühle die besondere Art des Fetisch
bestimmen helfen.
In übertragenem Sinne , durch Ideenassociation , kann der
Handschuh oder der Schuh Fetischbedeutung gewinnen.
Gibt es doch Urninge, die dem Weib gegenüber potent sind, Männer,
die ihr Weib nicht lieben und gleichwohl die eheliche T Pflicht" zu leisten
vermögen. In den meisten Fällen wird in solcher Situation sogar das Wollust-
gefühl ausbleiben; handelt es sich doch wesentlich um eine Art onanistischen
Aktes, vielfach nur ermöglicht durch die Zuhilfenahme der Phantasie, die ein
anderes geliebtes Wesen unterschiebt. Durch diese Täuschung kann dann sogar
ein Wollustgefühl erzielt werden, aber diese rudimentäre psychische Befriedigung
entstammt einem psychischen Kunstgriff, ganz wie bei der solitären Onanie,
dem vielfach die Phantasie zu Hülfe kommen muss, um ein Wollustgefühl zu
erzielen. Ueberhaupt scheint derjenige Grad von Orgasmus, mit Hülfe dessen
es zu einem Wollustgefübl kommt, nur da erzielbar, wo die Psyche intervenirt.
Da wo psychische Impedimente bestehen (Gleichgültigkeit, Widerwille,
Ekel, Angst vor Ansteckung, Schwängerung u. s. w.) scheint das Wollustgefühl
überhaupt auszubleiben.
22 Physiologischer Fetischismus.
Brunn (op. cit.) weist mit Recht darauf hin, dass bei den
mittelalterlichen Sitten das Trinken aus dem Schuh einer schönen
Frau (noch heute in Polen zu finden) eine bemerkenswerthe Rolle
als Galanterie, Huldigung spielte. Auch im Märchen vom Aschen-
brödel spielt der Schuh eine hervorragende Rolle.
Besonders wichtig als den Funken der Liebe entzündend, ist
der Ausdruck des Auges. Ein neuropathisches Auge wirkt auf
Personen beider Geschlechter vielfach als Fetisch. „Madame, vos
beaux yeux me fönt mourir d'amour" (Stelle bei Moliere).
An Beispielen, dass die Ausdünstung des Körpers Fetisch
werden kann, herrscht Ueberfluss.
Auch diese Thatsache wird in der Ars amandi des Weibes
bewusst oder unbewusst verwerthet. Schon die Ruth im alten Testa-
ment suchte Booz an sich zu fesseln , indem sie sich parfumirte.
Die Demimonde der alten und neuen Zeit consumirte und braucht
viel Wohlgerüche. Jäger in seiner „Entdeckung der Seele" gibt
manche Hinweise auf Geruchsympathien.
Bekannt sind Fälle, wo Jemand ein hässliches Weib heirathete,
nur weil dessen Geruch ihm unendlich sympathisch war.
Dass auch die Stimme zum Fetisch werden mag, macht
Binet wahrscheinlich. Er theilt eine bezügliche Beobachtung von
Dumas mit, welche dieser in seiner Novelle (la maison du vent)
verwerthete. Sie betraf eine Frau, welche sich in die Stimme eines
Tenors verliebte und darüber ihrem Manne untreu wurde.
Auch Belot's Roman „les baigneuses de Trouville8 spreche
für diese Annahme. Binet vermuthet, dass so manche Heirath,
welche mit Sängerinnen geschlossen wurde, auf Fetischzauber ihrer
Stimme beruhte.
Er macht noch auf die interessante Thatsache aufmerksam,
dass bei den Singvögeln die Stimme die gleiche sexuelle Bedeutung
hat wie bei den Vierfüssern der Geruch.
So locken die Vögel durch ihren Gesang, und demjenigen Vogel,
welcher am schönsten singt, fliegt Nachts das angelockte Weibchen zu.
Dass auch seelische Eigenschaften als Fetisch in einem
weiteren Sinne wirken können, ergibt sich aus den pathologischen
Thatsachen des Masochismus und des Sadismus.
So erklärt sich die Thatsache der Idiosynkrasien und erhält
sich der alte Satz „de gustibus non est disputandum" in Kraft.
IL Physiologische Thatsachen.
Innerhalb der Zeit anatomisch-physiologischer Vorgänge in den Gene-
rationsdrüsen finden sich im Bewusstsein des Individuums Dränge vor, zur Er-
haltung der Gattung beizutragen (Geschlechtstrieb).
Der Sexualtrieb in diesem Alter der Geschlechtsreife ist ein physio-
logisches Gesetz.
Die Zeitdauer der anatomisch-physiologischen Vorgänge in den Sexual-
organen, gleichwie die Stärke des sich geltend machenden Sexualtriebes ist
bei Individuen und Völkern verschieden. Race, Klima, hereditäre und sociale
Verhältnisse sind darauf von entscheidendem Einfluss. Bekannt ist die grössere
Sinnlichkeit der Südländer gegenüber den sexuellen Bedürfnissen der Nord-
länder. Aber auch die sexuelle Entwicklung ist bei den Bewohnern südlicher
Himmelsstriche erheblich frühzeitiger als bei denen nördlicher. Während bei
dem Weibe der nördlichen Länder die Ovulation, erkennbar an der Entwicklung
des Körpers und dem Auftreten periodisch wiederkehrender Blutflüsse aus den
Genitalien (Menstruation), gewöhnlich erst um das 13. bis 15. Lebensjahr er-
scheint, beim Manne die Pubertätsentwicklung (erkennbar am Tieferwerden
der Stimme, Entwicklung von Haaren im Gesicht und am Mons veneris, an
zeitweise auftretenden Pollutionen etc.) erst vom 15. Jahre an bemerklich wird,
tritt die geschlechtliche Entwicklung bei den Bewohnern südlicher Länder um
mehrere Jahre früher ein, beim Weibe zuweilen schon im 8. Jahre.
Bemerkenswerth ist, dass Stadtmädchen sich um etwa 1 Jahr früher
entwickeln als Landmädchen, und dass, je grösser die Stadt ist, um so früher
ceteris paribus die Entwicklung erfolgt.
Von nicht geringem Einfluss auf Libido und Potenz sind aber auch
hereditäre Einflüsse. So gibt es Familien, in welchen, neben grosser Körper-
kraft und Longaevitas, bedeutende Libido und Potenz bis in hohe Altersjahre
sich erhalten, während in anderen die Vita sexualis spät sich entwickelt und
vorzeitig erlischt.
Beim Weibe ist die Zeit der Thätigkeit der Generationsdrüsen enger
begränzt als beim Manne, bei dem die Spermabereitung bis in's höchste Alter
24 Localisation und Entwicklung des uf inaltiinlm
fortdauern kann. Beim Weibe hört £» Ovulation etwa 8© Jahre wach ein-
getretener Mannbarkeit auf. Diese Periode der versiegenden Thatigkeit der
Ovarien heisst der Wechsel (Klimacterium\ Diese biologi&ebe Phase stritt
nicht einfach eine Ausserfunctionssetzung und schüesatiehe Atrophie der
Generationsorgane dar, sondern einen Umwandlungsawoea» des gesammten
Organismus. Die Geschlechtsreife des Mannes in Mitteleuropa baginat n das
IS. Jahr. Die Potenz erreicht ihren Höhepunkt um das 40. Von da ab sinkt
sie langsam.
Die Potentia generandi erlischt meist um das 62. Jahr, die P. eoeoadi
kann bis ins höhere Alter fortbestehen Der Sexualtrieb besteht eontmuirheh
in der Zeit des Geschlechtslebens mit wandelbarer I«iqwnW*t Er tritt unter
physiologischen Bedingungen niemals intermittirend (perio
beim Thier. Beim Manne schwankt seine Intensität organisch auf aad sieder
mit der Ansammlung und Verausgabung von Sperma; beim Weibe fidlen die
Steigerungen des Trieb Lebens mit dem Procesa der Ovulation zusammen, and
zwar so, dass postmenstrual die Libido sexualis am gl fasten ist.
Der Sexualtrieb als Fühlen, Vorstellen und Drang ist eine Leistung der
Hirnrinde. Ein Territorium in dieser, das ausschliesslich sexuale IT— ffc»«lmyi^
und Dränge vermittelte (Centrum eines Geschlechtssinns), ist bis jetzt nicht
nachgewiesen.
Die nahen Beziehungen, in welchen Sexualleben und Gerachssinn1) an
einander stehen, lassen vermuthen, dass sexuelle und Olfactoriossphijte in der
Hirnrinde einander räumlich nahe oder durch mächtige Aa»nüiaitimi«I»li»«ft
verknüpft sind. Die Entwicklung des Sexuallebens nimr
Organempfindungen der sich entwickelnden Sexualdrüsen. Jene erregen die
Aufmerksamkeit des Individuums. Lektüre, Wahrnehmungen im öffentlichen
Leben (heutzutage leider viel zu früh und häufig) führen die Ahnungen in deut-
liche Vorstellungen über. Diese werden vom organischen Gefühlen, and «war
LustH Wollust-)gefühlen betont. Mit der Betonung erotischer Vorstellungen durch
Lustgefühle entwickelt sich ein Drang zur Hervorrufoug sokher (Geschlechtstrieb).
Es entwickelt sich nun eine gegenseitige Abhängigheil zwischen Hirn-
rinde (als Entstehungsort der Empfindungen und VorsteDungen) and den
Generationsorganen. Diese lösen durch anatomisch-phvsJkdogisGhe Vorginge
(Hyperämie, Spermabereitung, Ovulation) sexuelle Vorstellungen, Bäder und
Dränge aus.
Die Hirnrinde wirkt durch appereipirte oder reprodueirte sinnliehe Vor-
stellungen auf die Generationsorgane (Hyperämisirung, SamenbereituBg. Eree-
üon. Ejaculation). Dies geschieht durch Centra der GeflssxnnervatioB and
Ejaculation , die im Lendenmark and jedenfalls einander räumlich nahe sich
befinden. Beide sind Reflexcentren.
Das Centrum erectionis (Goltz, Eckhard) ist eine zwischen Gehörn
und Genitalapparat eingeschaltete Zwischeiwiaüuii, Die Nervenbahnen, welche
*) Das Centrum für den Olfactorit
des Gehirns) in der Gegend des Gyr. unci
Riechcentrum'* 1887, vindicirt aus vergleic
Ammonshorn die Zugehörigkeit zum Ried
.-.-.\". .7. ■■■■■- /.'. >.
es nit fem Gehirn in Verbindung setzen, Jbmfe» wsrtmdbeblk» 4«re» 4k
BednneuU eerehri nmd die BfriSüife. 'Diese» Centrum vermag dnreh centrale
{ptjehwehe und mganisehe) Beine, dureh direete Berzumg temer Bahnen im
FedumemBs eerehri, Berns, Cerwieahmarh, mme dmreh periphere Behang semv
mbUr Herr«» (Fans, CKtari* «»4 Annexa) in Erregung zn getautem, Dem
Eintuss 4«* Walen* ist es äueet nieht tt»terw«rfe»,
Jfe Eimpi^ dieses Centrums wird 4are» i» 4er B»4» 4» «rate» few
«kitten Saeramerven verlaufende Servern (Sern erigemtes — Eekfear4) zu 4«»
Cerpp, eawermee* umgeleitet
Die Thattgheit dieser die Ereettm rermjttemtepjfe, erigemtes ist.
hensmemfe Be hemmen 4m gamgharen fame^tummppatat im fem. M.
h&rpern, unter festen MMmgigkeit die glattem MmkeUasern fer Cvrpp, garer-
mm» stehen (Kmiker nmd E&hlransehj, Unter fem Emünm fer Tkätig-
Izeit fer Kn, erigemtes werfen die glattem Mmkelümim fer SehweUk&rper
ersehhnft und ferem Baume mÜ Bfarit erfSBL Gleiehzeitig wird feu*k die
erweiterten Arterien des Binfennetzes fer SehweVktrper ein Drueh amt die
Yeneu des Vetos gemht nmd der Bneknuss den Einte» am fem Fem» gehemmt,
Vnterntmtzt wird diese Wirkung dureh Cmaraetteu der Mm fadbe- und itehm-
earemesus, die sieh apeuenr&tiseh auf der B&kenmnehe de» Fem» ausbreiten.
Das Ereetkmseentrmn steht unter dem EimImm reu erregendem, ahm
ameh von hemmenden hmerratieuem Seitens des Grmthirns, Erregend wirken
Yontflfwjprn nmd QfanftwidMVfhntungipm sexualen Inhufts WaehErmhrmmgem
hei Erhängte» tehermt das Eteetieuteeutrmm ameh dmreh Erregung der hei-
tmagmahnem im Uuekenmark im ThattgheU trete» am i&mnen. Dam die» ameh.
dnreh ergauAsehe Behzrmgange im der Hirnrinde (psjeheeexmale» Cemtrwmfj)
mSgUeh ist, lehren Beehaehtungem am Hirn- «»4 Geisteskrankem, Direet kann
da» EreeÖeumsentrum in Erregung versetzt werden dnreh das lsmmharmarh
tretende Wmehemnmakmrkramkumgem fTahes, mherhammt Myelitis) im frühem
mndmm
Eine remeeterneh bedingte Erregung des Ceutrmma ist dnreh Betztmg
der (peripheren) sensiblem Merrem 4er Genkahem und der Umgebung feneVteu
4wcli Vrtetmm, dnnb Bettung der oarnrShre ^Sn»muhee% de» Beetum (jjuimm''
rheifem, Cfacrnris), fer Blase (ftfBnag dnreh Crin, betender» Mergems, Beszmng
dnreh PU»m*rim% dmreh Vnttnmg fer Samemhlasem mit gper»»* dmrehimTetge
rom BSehenhge nmd Drmeh fer Eingeweide auf die BJmtgtfäue de» Beehems
entstandene Bwmeramne fer Genitalien mSgheh »»4 hamtg,
Aneh durch Bettung fer nuknwnkaft im Brestatagewehe retmmduehem
Berte» v»4 Ganglien (BrestatitM, Eatbeteremthhrmmg n,s,w,) kaum da» Etee>
ti&nseentrum erregt werfen.
Dam da» Ereetteuseemtrum ameh »e«»ie»4e» fiinüiiiif» reu Settern
de» Gehörn» muterworSem ist, lehrt derTersaeh reu 0eltz, weuaeh, wenn (hei
H»»4eB) 4m Umdtumntl dmrehtehmittem u% die Ereeütm Mehter eantntt
Dakar tprieht ameh die Tmattaehe heim Miunthtu, dam
GeamVamnemegmmgem (Fmreht ▼«• Mimlii»jjr» de» Ceitm», Ve$>,m,*mhuug
aetmm cesnalem n, s~ w,) da» Eintaste» 4er Ereethm nesnae», htam. die vor-
hamfeme tvAittn hSuneu,
Die Damer fer Ereetkm ist anhängig reu fer Eettdamer eneajsmfer
".:,>.,■:.'.:. -...-.:.-- :.-. -?..-... .- ■'.:. :*•;.-. : -:r:. :.-:. :*- :.-:::. " .*■• : :-:: "•'-. •?\.:..<>
26 Geruchssinn und Vita sexualis.
der Innervationsenergie des Centrums, sowie von dem früheren oder späteren
Eintreten der Ejaculation (s. u.).
Die centrale und oberste Instanz im sexuellen Mechanismus ist die
Hirnrinde. Es ist gerechtfertigt, als Stelle für die Auslösung sexualer Gefühle,
Vorstellungen und Dränge eine bestimmte Region derselben (cerebrales Centrum)
zu vermuthen, als Entstehungsort all der psychisch-soruatischen Vorgänge, die
man als Geschlechtsleben, Geschlechtssinn, Geschlechtstrieb bezeichnet. Dieses
Centrum ist ebensowohl durch centrale als durch periphere Reize erregbar.
Centrale Reize können organische Erregungen durch Krankheiten der
Hirnrinde darstellen. Physiologisch bestehen sie in psychischen Reizen (Er-
innerungsvorstellungen und Sinneswahrnehmungen).
Unter physiologischen Bedingungen handelt es sich wesentlich um
optische Wahrnehmungen und Erinnerungsbilder (z. B. lascive Lektüre), ferner
um Tasteindrücke (Berührung, Händedruck, Kuss u. s. w.).
Jedenfalls spielen in physiologischer Breite Gehörs- und Geruchswahr-
nehmungen eine sehr untergeordnete Rolle. Unter pathologischen Verhältnissen
(s. u.) haben die letzteren entschieden eine sexuell erregende Bedeutung.
Bei den Thieren ist ein Einfluss der Geruchswahrnehmungen auf
den Geschlechtssinn unverkennbar. Althaus (Beiträge zur Physiol. u. Pathol.
des Olfactorius, Arch. für Psych. XII, H. 1) erklärt geradezu den Geruchssinn
für wichtig bezüglich der Reproduction der Gattung. Er macht geltend, dass
Thiere verschiedenen Geschlechts durch Geruchswahrnehmungen zu einander
hingezogen werden und dass fast alle Thiere zur Brunstzeit von ihren
Geschlechtsorganen aus einen besonders scharfen Geruch verbreiten. Dafür
spricht ein Experiment von Schiff, der neugeborenen Hunden die Nn. olfac-
torii exstirpirte und bei den herangewachsenen Thieren constatirte, dass das
männliche Thier das Weibchen nicht herauszufinden vermochte. Ein entgegen-
gesetzter Versuch von Mantegazza (Hygiene der Liebe), welcher Kaninchen
die Augen entfernte und kein Hinderniss für die Begattung aus diesem Defect
beobachtete, lehrt, wie wichtig der Geruchssinn für die Vita sexualis bei Thieren
sein dürfte.
Bemerkenswerth ist auch, dass manche Thiere (Moschusthier , Zibeth-
katze, Biber) an ihren Genitalien Drüsen haben, die scharfriechende Stoffe
secerniren.
Auch für den Menschen macht A 1 1 h a u s Beziehungen zwischen
Geruchs- und Geschlechtssinn geltend. Er erwähnt Cloquet (Osphre-
siologie, Paris 1826), der auf den wollusterregenden Duft der Blumen auf-
merksam machte und auf Richelieu hinwies , der zur Anregung seiner
Geschlechtsfunctionen in einer Atmosphäre der stärksten Parfüms lebte.
Zippe (Wien. med. Wochenschrift 1879, Nr. 24) macht anlässlich eines
Falles von Stehltrieb bei einem Onanisten ebenfalls solche Beziehungen
geltend und citirt als Gewährsmann Hildebrand, der in seiner populären
Physiologie sagt: „Es lässt sich gar nicht läugnen, dass der Geruchssinn mit
den Geschlechtsverrichtungen in einem schwachen Zusammenhang steht. Blumen-
düfte erregen oft wollüstige Empfindungen, und wenn wir uns der Stelle aus
dem hohen Liede Salomonis erinnern : ,Meine Hände troffen von Myrrhen und
Myrrhen liefen über meine Finger an dem Riegel des Schlosses', so finden wir
diese Bemerkung schon von dem weisen Salomo gemacht. Im Orient sind die
Geruchssinn und Vita sexualis. 27
Wohlgerüche wegen ihrer Beziehung zu den Geschlechtstheilen sehr beliebt
und die Frauengemächer des Sultans duften von aller Blüthen Gemisch."
Most, Prof. in Rostock, erzählt (vgl. Zippe): „Von einem wollüstigen
jungen Bauern erfuhr ich, dass er manche keusche Dirne zur Wollust gereizt
und seinen Zweck leicht erreicht habe, indem er beim Tanze einige Zeit sein
Taschentuch unter den Achseln getragen und der von Schweiss triefenden
Tänzerin damit das Gesicht getrocknet hatte."
Dass die nähere Bekanntschaft mit der Transspiration eines Menschen
der erste Anlass zu einer leidenschaftlichen Liebe sein kann, beweist der Fall
Heinrichs HL, welcher sich zufällig bei dem Vermählungsfest des Königs von
Navarra mit Margaretha von Valois mittelst des schweisstriefenden Hemdes
der Maria von Cleve das Gesicht getrocknet hatte. Obgleich Letztere die Braut
des Prinzen von Conde war, fühlte Heinrich dennoch sofort eine so leiden-
schaftliche Liebe zu ihr, dass er ihr nicht widerstehen konnte und Maria da-
durch, wie geschichtlich bekannt, höchst unglücklich machte. Analoges wird
von Heinrich IV. erzählt, bei welchem die Leidenschaft zur schönen Gabriele
von dem Moment an entstanden sein soll, wo er auf einem Ball mit einem
Taschentuch dieser Dame .sich die Stirne getrocknet hatte.
Aehnliches deutet der „Entdecker der Seele", Prof. Jäger, in seinem
bekannten Buch (2. Aufl., 1880, Cap. 15) an, indem er p. 173 den Schweiss als
wichtig für die Entstehung von Sexualaffecten und als besonders verführerisch
ansieht.
Auch aus der Lektüre des Werkes von Ploss (Das Weib) ergibt sich,
dass mannigfach in der Völkerpsychologie das Bestreben sich findet, durch die
eigene Ausdünstung eine Person des anderen Geschlechts an sich zu ziehen.
Bemerkenswerth in dieser Hinsicht ist eine von Jagor berichtete Sitte,
die zwischen verliebten Eingeborenen auf den Philippinen herrscht. Müssen
sich dort Liebespaare trennen, so überreicht man sich gegenseitig Wäsche-
stücke des eigenen Gebrauchs, mit Hülfe derer man sich der Treue versichert.
Diese Gegenstände werden sorgfältig gehütet, mit Küssen bedeckt und —
berochen.
Auch die Vorliebe gewisser Libertins und sinnlicher Frauen für Par-
füms1) spricht für Zusammenhang von Geruchs- und Gescblechtssinn.
Bemerkenswerth ist auch ein von H e s c h 1 (Wiener Zeitschr. f. pract.
Heilkunde, 22. März 1861) mitgetheilter Fall von Mangel beider Riechkolben
bei gleichzeitiger Verkümmerung der Genitalien. Es handelte sich um einen
45jährigen, sonst wohlgebildeten Mann, dessen Hoden bohnengross, ohne
Samenkanälchen waren, und dessen Kehlkopf von weiblichen Dimensionen er-
schien. Jede Spur von Riechnerven fehlte; auch die Trigona olfactoria und
die Furche an der unteren Fläche der Vorderlappen des Gehirns mangelten.
Die Löcher der Siebplatte waren spärlich; statt Nerven traten durch dieselbe
nervenlose Fortsätze der Dura. Auch in der Schleimhaut der Nase fand sich
Mangel an Nerven. Bemerkenswerth ist endlich der bei Geisteskrankheit deut-
') Vgl. Laycock, Nervous diseases of women, 1840, der die Vorliebe
für Moschus und derlei Parfüms mit sexueller Erregung bei Damen in Be-
ziehung fand.
/
28 Geruchssinn und Vita sexualis.
lieh hervortretende Consensus zwischen Geruchs- und Geschlechtsorgan, insofern
sowohl bei masturbatorischen Fällen von Psychose bei beiden Geschlechtern,
als auch bei Psychosen auf Grund von Erkrankung der weiblichen Genitalien
oder klimakterischer Vorgänge Geruchshallucinationen überaus häufig , bei
fehlender sexueller Veranlassung überaus selten sind.
Dass bei normalen Menschen Geruchsempfindungen, gleichwie beim Thier,
eine hervorragende Rolle für die Erregung des sexualen Centrums spielen,
möchte ich bezweifeln1). Bei der Wichtigkeit dieses Consensus für das Ver-
ständniss pathologischer Fälle musste aber schon hier auf die Beziehungen
zwischen Geruchs- und Geschlechtssinn eingegangen werden.
Eine interessante Thatsache, Angesichts dieser physiologischen Beziehun-
gen, ist auch eine gewisse histologische Uebereinstimmung zwischen Nase und
Genitalorganen, indem sie (einschliesslich Brustwarze) erectiles Gewebe ent-
halten.
Merkwürdige physiologische und klinische Beobachtungen hat auch
J. N. Macken zie (Journal of medical Science 1884, April) mitgetheilt. Er fand
1) dass bei einer gewissen Zahl von Frauen, deren Nasen ganz gesund waren,
regelmässig mit der Menstruation eine „ Anschoppung" der Nasenschwellkörper
eintrat und mit dem Aufhören jener wieder schwand; 2) das Auftreten einer
vicariirenden nasalen Menstruation, welche später meist durch uterinalen Blut-
fluss ersetzt wird, manchmal aber während des ganzen Geschlechtslebens men-
strual wiederkehrt; 3) gelegentlich in der Nase bei geschlechtlicher Aufregung
auftretende Reizerscheinungen, wie Niesen u. s. w. ; 4) umgekehrt gelegentliche
Erregung des genitalen Tractus bei Erkrankung an der Nase.
So fand M. ferner, dass bei zahlreichen Frauen, welche ein Nasenleiden
hatten, dasselbe während der Menstruation sich verschlimmerte; dass Excesse
in Venere geeignet sind, eine Entzündung der Nasenschleimhaut hervorzurufen,
oder eine schon bestehende zu steigern.
Er weist auch auf die Erfahrung hin, dass Masturbanten ganz gewöhn-
lich nasenkrank sind, an abnormen Geruchsempfindungen häufig leiden, des-
gleichen an Rhinorhagien. Nach M.'s Erfahrungen gibt es Erkrankungen der
Nase, welche jeder Behandlung widerstehen, so lange nicht gleichzeitig be-
stehende (ursächliche?) Genitalleiden beseitigt sind.
Die sexuelle Sphäre in der Hirnrinde kann auch durch Vorgänge in den
Generationsorganen im Sinne von sexuellen Vorstellungen und Drängen
erregt werden. Dies ist möglich durch alle Momente, welche auch das Erections-
centrum durch centripetale Einwirkung in Erregung versetzen (Reiz der ge-
füllten Samenblasen, die geschwellten Graf sehen Follikel, irgendwie hervor-
J) Folgende Beobachtung, welche Bin et mittheilt, scheint mit dieser
Annahme im Widerspruch. Leider ist über die Persönlichkeit des Gegenstands
jener Beobachtung nichts mitgetheilt. Unter allen Umständen bleibt sie sehr
bezeichnend für den Consensus zwischen Geruchs- und Geschlechtssinn. Stud.
med. D. sitzt auf einer Bank in einer öffentlichen Anlage, eifrig in einem
Buch (über Pathologie) studirend. Plötzlich stört ihn eine heftige Erection.
Er schaut auf und bemerkt, dass eine stark parfümirte Dame auf der anderen
Ecke der Bank Platz genommen hat. D. konnte sich die Erection nur durch
den unbewusst ihm zugekommenen Geruchseindruck erklären.
Flagellation als sexueller Stimulus. 29
gerufene sensible Reizung im Bereich der Genitalien, Hyperämie und Txiigm-yy Xs
cenz der Genitalien, speciell der erectilen Gebilde der Schwellkörper vöt^?enis,
Clitoris, durch sitzende üppige Lebensweise, durch Plethora abdominalis- hohe
äussere Temperatur, warme Betten, Kleidung, Genuss von Canthariden, Pfeffer
und anderen Gewürzen).
Auch durch Reizung der Nerven der Gesässgegend (Züchtigung,
Geisselung) kann die Libido sexualis erregt werden *).
Diese Thatsache ist nicht unwichtig für das Verständniss gewisser patho-
logischer Erscheinungen. Zuweilen geschieht es, dass bei Knaben durch eine
Züchtigung auf den Podex die ersten Regungen des Geschlechtstriebes wach-
gerufen werden und ihnen damit die Anregung zur Masturbation gegeben
wird, eine Erfahrung, die sich Erzieher merken sollten.
Angesichts der Gefahren, welche diese Form der Züchtigung Schülern
bereiten kann, wäre es wünschenswerth , wenn sie von Eltern, Lehrern und
Erziehern gänzlich aufgegeben würde.
Dass passive Flagellation die Sinnlichkeit zu erwecken vermag, lehrt
die im 13. — 15. Jahrhundert verbreitet gewesene Sekte der Flagellanten, die
theils aus Busse, theils um das Fleisch zu tödten (im Sinne des von der Kirche
geltend gemachten Keuschheitsprincips, d. h. der Emancipation des Geistes von
der Sinnlichkeit) sich selbst geisselten.
Anfangs wurde diese Sekte von der Kirche begünstigt. Da aber durch
das Flagelliren erst recht die Sinnlichkeit wachgerufen wurde und diese That-
sache in unliebsamen Vorkommnissen sich kundgab , war die Kirche schliess-
lich genöthigt, gegen das Flagellantenthum einzuschreiten. Bezeichnend für
die sexuell erregende Bedeutung der Geisselung sind folgende Thatsachen aus
dem Leben der beiden Geisseiheldinnen Maria Magdalena von Pazzi und Eli-
sabeth von Genton. Die erstere, Tochter angesehener Eltern, war Karmeliter-
nonne zu Florenz (um 1580) und erlangte durch ihre Geisselungen und noch
mehr durch deren Folgen einen bedeutenden Ruf, weshalb sie auch in den
Annalen Erwähnung findet. Es war ihre gi-össte Freude, wenn ihr die Priorin
die Hände auf den Rücken binden und sie in Gegenwart sämmtlicher Schwestern
auf die blossen Lenden geissein liess.
Die schon von Jugend auf vorgenommenen Geisselungen hatten aber ihr
Nervensystem ganz und gar zerrüttet und vielleicht keine Geisseiheidin hatte
so viel Hallucinationen („ Entzückungen") wie diese. Während derselben hatte
sie es besonders mit der Liebe zu thun. Das innere Feuer drohte sie dabei
zu verzehren und häufig schrie sie : „Es ist genug ! Entflamme nicht stärker
diese Flamme, die mich verzehrt. Nicht diese Todesart ist es, die ich mir
wünsche, sie ist mit allzu vielen Vergnügungen und Seligkeiten verbunden."
So ging es immer weiter. Der Geist der Unreinigkeit aber blies ihr die wol-
lüstigsten und üppigsten Phantasien ein, so dass sie mehrmals nahe daran
war, ihre Keuschheit zu verlieren.
Aehnlich verhielt es sich mit Elisabeth von Genton. Dieselbe gerieth
durch das Geissein förmlich in bacchantische "Wuth. Am meisten raste sie,
wenn sie, durch ungewöhnliche Geisselung aufgeregt, mit ihrem „Ideal" ver-
*) Meibomius, De flagiorum usu in re medica, London 1765; Boileau,
The history of the flagellants, London 1783.
30 Flagellation als sexueller Stimulus,
mahlt zu sein glaubte. Dieser Zustand war für sie so überschwänglich be-
glückend, dass sie häufig ausrief: ,0 Liebe, o unendliche Liebe, o Liebe, o
ihr Creaturen, rufet doch alle mit mir: Liebe, Liebe!" Bekannt ist auch die
von Taxil (op. cit. p. 175) bestätigte Beobachtung, dass Wüstlinge, um ihrer
gesunkenen Potenz aufzuhelfen, zuweilen sich vor dem geschlechtlichen Akt
flagelliren lassen.
Diese Thatsachen finden eine interessante Bestätigung durch folgende
Paullini's „Flagellum salutis" (1. Aufl. 1698, Neudruck Stuttgart 1847) ent-
lehnte Erfahrungen :
„Es sind einige Nationen, namentlich die Persianer und Russen, so
(bevorab die Weiber) Schläge für ein sonderbares Liebs- und Gnadenzeichen
annehmen. Sonderlich sind die Russischen Weiber fast nicht vergnügter und
fröhlicher, als wenn sie gute schlage von ihren Männern empfangen, wies
Joann Barclarus mit einer merckwürdigen Historie erläutert. Es kam ein
Teutscher, Namens Jordan, in Muscovien, und weil ihm das Land, gefiel, liess
er sich häusslich daselbst nieder, und nahm ein Russisch Weib, so er hertzlich
liebte, und in allem freundlich gegen sie war. Sie aber sähe immer runtz-
licht aus, warff die Augen nieder und liess ach und wehe von sich hören.
Der Mann wollte wissen, warum? denn er ja nicht ersinnen konte, was ihr
fehlen mochte. Ey, sprach sie, was wolt ihr mich doch lieb haben, massen
ihr dessen noch kein Zeichen habt spüren lassen. Er umhälsete sie, und bat,
wo er sie etwa ohnversehens und unwissend beleidigt hätte, solches ihm zu
verzeihen, er wolte es ja nimmer thun. Mir fehlt nichts, war die Antwort,
als, nach unser Landes Manier, die Geissei, das eigentliche Merkmahl der
Liebe. Jordan merckte diese Mode, und gewehnte sich dran, da fieng das
Weib an den Mann hertzinniglich zu lieben. Eben solche Geschieht erzählt
auch Peter Petreus von Erlesund mit dem Zusatz, wie die Männer gleich nach
der Hochzeit unter andern unentbehrlichem Hausgeräth ihnen auch Peitschen
zulegten. "
Auf S. 73 dieses merkwürdigen Buches sagt Verf. weiter:
„Der berühmte Graff von Mirandula, Joann Picus, zeugt von einem seiner
guten Bekandten, dass er ein unersättlicher Kerles gewesen, doch aber so
träge und untüchtig zum Zyprischen Streit, dass er nicht das Geringste ver-
mochte, ehe und bevor er derb abgeschmiert war. Je mehr er nun seinen
Willen zu sättigen verlangte, je durchdringendere Schläge er begehrte, massen
er seines Wunsches gar nicht theilhafft werden konnte, wann er nicht vorher
bis auf's Blut abgepeitschet war. Zu dem ende liess er ihm eine eigne Peitsche
machen, peitzte solche den Tag zuvor in essig, hernach gab er sie seiner Ge-
spiehlin , mit inständigster Bitte und gebognen Knieen , ja nicht fehl zu
schlagen, sondern je düchter, je lieber. Der eintzle Mensch (meint der gute
Graff) sey dieser, so seine Leibeslust unter solcher Marter gefunden habe. Und
weil er sonst eben der Schlimste nicht war , erkandte und haste er zugleich
seine Schwachheit. Gleiche Historie erwehnt Coelius Rhodigin, und aus diesem
der berühmte Jurist Andreas Tiraquell. Zu des geschickten Medici Otten
Brunfelsen Zeit lebte in der Churbayerischen Residenzstadt München auch
ein guter Schlucker, so aber seine Pflichtschuldigkeit, ohne vorhergehende
scharffe Schläge, nimmer abstatten konte. Auch kandte Herr Thomas Barthelin
Erogene Zonen. 31
einen Venetianer, der durch blosse Schläge zum Beyschlaf muste erhitzt und
angetrieben werden. Wie denn auch Cupido selbst seine Nachfolger mit einem
hiazynthinen Stäblein hinder ihm herschleppt. Zu Lübeck war vor wenig
Jahren ein Käsekrämer, in der Mühistrassen wohnend, so, wegen begangenen
Ehebruchs, bey der Obrigkeit verklagt, die Stadt räumen solte. Die Metze
aber, mit der er zugehalten hatte, gieng zu den Gerichtsherrn, und thät eine
Vorbitte seinthalben bey ihnen, mit Erzählung, wie Blutsaur ihm alle Gänge
worden wären. Denn er ja nichts vermocht, wenn sie ihn nicht zuvor erbärm-
lich abgeprügelt hätte. Der Kerl wolte es anfangs, aus Schaam und Ver-
meidung des Hohns, nicht allerdings gestehn, doch auf ernstlicheres Befragen
konte ers nicht ableugnen. In dem vereinigten Niederland sol gleichfalls ein
ansehnlicher Mann dergleichen Trägheit an sich gehabt, und ohne Schläge
zum Handel nicht getaugt haben. Wies aber die Obrigkeit erfuhr, ward er
nicht nur seines Dienstes entsetzt, sondern auch überdas gebührend abgestrafft.
Ein glaubwürdiger Freund und Physicus einer vornehmen Reichsstadt, berichtete
mich vom 14. Juli vorigen Jahrs, wie ein liederlich Weibsstück ihrer Gespielin
vor weniger Zeit im Hospital erzählt habe, dass ein gewisser Mann Sie, be-
neben einer andern von gleicher Gattung, in den Wald beschieden haben, und
nachdem sie gefolgt, hätte ihnen der Kerl Ruthen abgeschnitten, und den
blossen Hintern zum besten gegeben, und sie brav drauf hauen geheissen,
welches sie auch gethan. Was er hiernechst ferner mit ihnen begonnen habe,
ist leichtlich zu schliessen. Nicht aber wurden nur die Männer durch Schläge
zur Geilheit erhitzt und aufgemuntert, sondern auch die Weiber, damit sie
desto ehe und mehr empfiengen. Das Römische Frauenzimmer Hess sich von
den Lupercis desswegen peitschen und geissein. Denn so singt Juvenal:
„ Steriles moriuntur, et illis
Turgida non prodest condita pyscido Lyde:
Nee prodest agili palmas praebere Luperco."
Auch von einer Reihe anderer Haut- und Schleimhautbezirke kann, so-
wohl beim Manne als auch beim Weibe, Erection und Orgasmus, ja selbst der
Ejaculationsvorgang ausgelöst werden. Diese „erogenen" Zonen sind beim
Weibe, solange es Virgo ist, die Clitoris, nach erfolgter Defloration auch die
Vagina und der Cervix uteri.
Besonders erogen scheint beim Weib überhaupt die Brustwarze zu
wirken. Titillatio hujus regionis spielt in der Ars erotica eine hervorragende
Rolle. In seiner topograph. Anatomie 1865 Bd. I p. 552 citirt Hyrtl Val.
Hildenbrandt, der eine besondere Anomalie des Sexualtriebs, die er
Suctusstupratio nannte, bei einem Mädchen beobachtete. Dasselbe Hess sich
von seinem Galan an den Mammae saugen und brachte es durch Zerren an
denselben allmälig dabin, das Saugen mit dem eigenen Munde vorzunehmen,
was ihr die angenehmsten Gefühle verursachte. H. weist auch darauf hin,
dass bei Kühen das Selbstaussaugen der Euter vorkomme.
L. Brunn (Zeitg. f. Literatur etc. d. Hamburg. Correspondenten 1889
Nr. 21 in einem interessanten Aufsatz „über Sinnlichkeit und Nächstenliebe")
macht geltend, wie eifrig die säugende Mutter „aus Liebe zum Schwachen,
Unentwickelten , Hülflosen" sich dem Geschäft des Stillens des Kindes
widmet.
32 Akt der Cohabitation.
Es liegt nahe, zu vermuthen, dass neben den erwähnten ethischen Be-
ziehungen auch der Umstand, dass das Säugen mit körperlichen Lustgefühlen
verbunden sein dürfte, eine Rolle spielt. Dafür spricht die weitere, an und
für sich ganz richtige , aber einseitig gedeutete Bemerkung Brunns, dass
nach Houzeau's Erfahrungen bei den meisten Thieren nur während der
Zeitperiode des Säugens die Beziehungen zwischen Mutter und Jungen innige
sind und später völliger Gleichgültigkeit weichen.
Dasselbe (Abstumpfung der Gefühle für das Kind nach dem Abstillen)
fand Bastian u. A. auch bei wilden Völkern.
Unter pathologischen Verhältnissen, wie u. A. aus einer These de doctorat
von Chambard hervorgeht, können (bei Hysterischen) auch Körperstellen in
der Nähe der Mammae sowie der Genitalien die Bedeutung erogener Zonen
gewinnen.
Beim Manne ist physiologisch die einzige erogene Zone die Glans penis
und vielleicht noch die Haut der äusseren Genitalien.
Unter pathologischen Verhältnissen kann der Anus erogenes Gebiet
sein — damit würde sich anale Automasturbation, die nicht allzu selten vor-
zukommen scheint, und passive Päderastie erklären. (Vgl. Garnier, Anomalies
sexuelles, Paris, p. 514; A. Moll, Conträre Sexualempfindung, 2. Aufl. p. 222.)
Der psycho-physiologische Vorgang, welchen der Begriff Ge-
schlechtstrieb umfasst, setzt sich zusammen
1) aus central oder peripher geweckten Vorstellungen,
2) aus damit sich associirenden Lustgefühlen.
Daraus entsteht der Drang zu geschlechtlicher Befriedigung (Libido
sexualis). Dieser Drang wird immer stärker in dem Masse, als die Erregung
des cerebralen Gebietes durch bezügliche Vorstellungen und durch Herein-
greifen der Phantasie die Lustgefühle potenzirt und durch Erregung des
Erectionscentrums und damit Hyperämisirung der Genitalorgane diese Lust-
gefühle zu Wollustgefühlen (Austreten von Liquor prostaticus in die Urethra
u. s. w.) steigert.
Sind die Umstände günstig zur Ausübung des individuell befriedigenden
Geschlechtsakts, so wird dem immer mehr anwachsenden Drang Folge geleistet,
andernfalls treten hemmende Vorstellungen dazwischen , verdrängen die ge- .
schlechtlicbe Branst, hemmen die Leistung des Erectionscentrums und ver-
hindern den geschlechtlichen Akt.
Für den Culturmenschen ist erforderlich und entscheidend die Bereit-
schaft von solchen den geschlechtlichen Drang hemmenden Vorstellungen. Von
der Stärke der treibenden Vorstellungen und der sie begleitenden organischen
Gefühle einer- und der der hemmenden Vorstellungen andererseits hängt die
sittliche Freiheit des Individuums ab und die Entscheidung, ob es nach Um-
ständen zur Ausschweifung und selbst zum Verbrechen gelangt. Auf die
Stärke der treibenden Momente haben Constitution, überhaupt organische Ein-
flüsse, auf die der Gegenvorstellungen Erziehung und Selbsterziehung gewich-
tigen Einfluss.
Treibende und hemmende Kräfte sind wandelbare Grössen. Verhängniss-
voll wirkt in dieser Hinsicht der Alkoholübergenuss , insofern er die Libido
sexualis weckt und steigert, gleichzeitig die sittliche Widerstandsfähigkeit
herabsetzt.
I . I
Akt der Cohabitation. 33
Der Akt der Cohabitation 1).
Grundvoraussetzung für den Mann ist genügende Erection. Mit Recht
macht A n j e 1 (Archiv für Psychiatrie VIII, H. 2) darauf aufmerksam, dass bei
der sexuellen Erregung nicht bloss das Erectionscentrum erregt wird, sondern
dass die Nervenerregung sich auf das ganze vasomotorische Nervensystem
fortpflanzt. Beweis dafür ist der Turgor der Organe beim sexuellen Akt, die
Injection der Conjunctiva, die Prominenz der Bulbi, die Erweiterung der
Pupillen, das Herzklopfen (durch Lähmung der aus dem Halssympathicus
stammenden vasomotorischen Herznerven, dadurch Erweiterung der Herzarterien
und in Folge der Wallungshyperämie stärkere Erregung der Herzganglien).
Der Geschlechtsakt geht mit einem Wollustgefühl einher, das beim Manne
durch in Folge der sensiblen Reizung der Genitalien reflectorisch hervorgeru-
fenes Durchtreten von Sperma durch die Ductus ejaculatorii in die Urethra
angeregt sein dürfte. Das Wollustgefühl tritt beim Mann früher auf als beim
Weib, schwillt zur Zeit der beginnenden Ejaculation lawinenartig an, erreicht
seine Höhe im Moment der vollen Ejaculation, um post ejaculationem rasch
zu schwinden.
Beim Weib tritt das Wollustgefühl später und langsam ansteigend auf
und überdauert meist den Akt der Ejaculation.
Der entscheidende Vorgang bei der Cohabitation ist die Ejaculation.
Diese Function ist abhängig von einem Centrum (genito-spinale), das Budge
in der Höhe des 4. Lendenwirbels nachgewiesen hat. Dasselbe ist ein Reflex-
centrum; der dasselbe erregende Reiz ist das durch Reizung der Glans penis
aus den Samenblasen reflectorisch in die Pars membranacea urethrae getriebene
Sperma. Sobald diese unter wachsendem Wollustgefühl vor sich gehende
Samenentleerung eine entsprechend grosse Quantität darstellt, um als ge-
nügender Reiz auf das Ejaculationscentrum zu wirken, tritt dieses in Action.
Die motorische Reflexbahn befindet sich in dem 4. und 5. Lumbalnerven. Die
Action besteht in einer convulsivischen Erregung des M. bulbocavernosus
(innervirt vom 3. und 4. Sacralnerv), wodurch das Sperma herausgeschleu-
dert wird.
Auch beim Weib findet auf der Höhe seiner geschlechtlichen und wol-
lüstigen Erregung ein reflectorisch bedingter Bewegungsakt statt. Er wird
eingeleitet durch die Reizung der sensiblen Genitalnerven und besteht in einer
peristaltischen Bewegung in den Tuben und im Uterus bis zur Portio vaginalis,
wodurch der Tubar- und Uterinschleim ausgepresst wird. Eine Hemmung des
Ejaculationscentrums ist möglich durch Hirnrindeneinfluss (Unlust beim Coitus,
überhaupt Gemüthsbewegungen, sowie einigermassen durch Willenseinfluss).
Mit dem vollzogenen Geschlechtsakt schwinden normaler Weise Erection
und Libido sexualis, indem die psychische und geschlechtliche Erregung einer
behaglichen Erschlaffung Platz macht.
*) Vgl. Roubaud, Traite de l'impuissance et de la sterilite. Paris 1878.
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl.
III. Allgemeine (Neuro- und Psycho-) Pathologie1).
Ueberaus häufig erweisen sich bei dem Culturmenschen die
sexualen Functionen abnorm. Diese Thatsache findet zum Theil
ihre Erklärung in dem vielfachen Missbrauch der Generationsorgaue,
zum Theil in dem Umstand, dass solche Functionsanomalien häufig
Zeichen einer meist erblichen krankhaften Veranlagung des Central-
nerven Systems („functionelle Degenerationszeichen") sind.
Da die Generationsorgane aber in bedeutsamer functioneller
Relation zu dem ganzen Nervensystem und zwar in seinen psychi-
schen wie somatischen Beziehungen stehen, begreift sich die Häufig-
keit der aus sexuellen (function eilen oder organischen) Störungen
hervorgehenden allgemeinen Neurosen und auch Psychosen.
a) Literatur. Parent-Duchätelet, Prostitution dans la ville -de
Paris 1837. — Rosenbaum, Entstehung der Syphilis. Halle 1839. — Derselbe,
Die Lustseuche im Alterthum. Halle 1839. — Des cur et, La medecine des
passions. Paris 1860. — Casper, Klin. Novellen 1860. — Bastian, Der
Mensch in der Geschichte. — Friedländer, Sittengeschichte Roms. — Wiede-
m eist er, Cäsarenwahnsinn. — Scherr, Deutsche Cultur- und Sittengeschichte
Bd. I, Cap. 9. — Tardieu, Des attentats aux moeurs, 7. edit. 1878. — Em-
minghaus, Psychopathol. p. 98. 225. 230. 232. — Schule, Handbuch der
Geisteskrankheiten p. 114. — Marc, Die Geisteskrankheiten, übers, v. Ideler,
II, p. 128. — v. Kr äfft, Lehrb. d. Psychiatrie. 5. Aufl. I, p. 83; Lehrb. d. ger.
Psychopathol. 3. Aufl. p. 279; Archiv f. Psychiatrie VII, 2. — Moreau, Des
aberrations du sens genesique. Paris 1880. — Kirn, Allg. Zeitschr. f. Psych-
iatrie 39, Heft 2 u. 3. — Lombroso, Geschlechtstrieb u. Verbrechen in ihren
gegenseitigen Beziehungen (Goltdammer's Archiv, Bd. 30). — Tarnowsky,
Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes. Berlin 1886. — Ball,
La folie erotique. Paris 1888. — Serieux, Recherches cliniques sur les
anomalies de l'instinct sexuel. Paris 1888. — Hammond, Sexuelle Impotenz,
übers, v. Sali in ger. Berlin 1889.
Schema der sexualen Neurosen. 35
Schema der sexualen Neurosen.
I. Periphere Neurosen.
1) Sensible,
a) Anästhesie, b) Hyperästhesie, c) Neuralgie.
2) Secretorische.
a) Aspermie, b) Polyspermie.
3) Motorische.
i
a) Pollutionen (Krampf), b) Spermatorrhöe (Lähmung).
II. Spinale Neurosen.
1) Affectionen des Erectionscentrums.
a) Reizung (Priapismus) entsteht reflectorisch durch periphere sensible
Reize (z. ß. Gonorrhöe), direct durch organische Reizung der Leitungsbahnen
vom Gehirn zum Erectionscentrum (spinale Erkrankungen im unteren Cervical-
und oberen Dorsalmark) oder des Centrums selbst (gewisse Gifte) oder durch
psychische Reize.
Im letzteren Fall besteht Satyriasis, d. h. abnorm lange Andauer von
Erection mit Libido sexualis. Bei blosser reflectorischer oder directer organi-
scher Reizung kann die Libido fehlen und der Priapismus selbst mit Unlust-
gefühlen verbunden sein.
b) Lähmung entsteht durch Zerstörung des Centrums oder der Leitungs-
bahnen (Nervi erigentes) bei Rückenmarkskrankheiten (paralytische Impotenz).
Eine mildere Form stellt die verminderte Erregbarkeit des Centrums dar,
in Folge von Ueberreizung desselben (durch sexuelle Excesse, besonders Onanie)
oder durch Intoxication mit Alkohol, Bromsalzen u. s. w. Sie kann mit cere-
braler Anästhesie verbunden sein, oft auch mit solcher der äusseren Genitalien.
Häufiger findet sich hier cerebrale Hyperästhesie (gesteigerte Libido sexualis,
Lüsternheit).
Eine eigene Form verminderter Erregbarkeit stellen diejenigen Fälle
dar, wo das Centrum nur auf gewisse Reize anspruchsfähig ist und mit einer
Erection antwortet. So gibt es Männer, bei welchen der sexuelle Contact mit
der züchtigen Ehefrau nicht das nöthige Reizmoment zur Erection abgibt, wohl
aber diese eintritt, wenn der Akt mit einer Dirne oder in Form einer wider-
natürlichen sexuellen Handlung versucht wird. Soweit hier psychische Reize
in Betracht kommen, können sie sogar inadäquate sein (s. u. Parästhesie und
Perversion des Sexuallebens).
36 Affectionen des Ejaculationscentrums.
c) Hemmung. Das Erectionscentrum kann durch vom Gehirn kommende
cerebrale Einflüsse functionsunfähig sein. Dieser hemmende Einfluss ist ein
emotioneller Vorgang (Ekel, Furcht vor Ansteckung) oder die Vorstellung1)
der ungenügenden Potenz. Im ersten Fall befinden sich vielfach Männer, die
unüberwindliche Abneigung gegen die Frau haben, oder Furcht vor lnfection,
oder mit perverser Geschlechtsempfindung behaftet sind ; im letzteren Fall be-
finden sich Neuropathiker (Neurasthenische , Hypochonder), vielfach auch in
ihrer Potenz Geschwächte (Onanisten), die Grund haben oder zu haben glauben,
Misstrauen in ihre Potenz zu setzen. Der bezügliche psychische Vorgang wirkt
als Hemmungsvorstellung und macht den Akt mit der betreffenden Person des
anderen Geschlechts temporär oder dauernd unmöglich.
d) Reizbare Schwäche. Hier besteht abnorme Anspruchsfähigkeit,
aber rascher Nachlass der Energie des Centrums. Es kann sich um functionelle
Störung im Centrum selbst, oder um Innervationsschwäche der Nn. erigentes
handeln, oder um Schwäche des M. ischiocavernosus. Im Uebergang zu den
folgenden Anomalien ist noch der Fälle zu gedenken, wo durch abnorm frühe
Ejaculation die Erection unausgiebig ist.
2) Affectionen des Ejaculationscentrums.
a) Abnorm leichte Ejaculation durch mangelnde cerebrale Hemmung
in Folge grosser psychischer Erregung oder durch reizbare Schwäche des Cen-
trums. In diesem Fall genügt nach Umständen die blosse Vorstellung einer
lasciven Situation, um das Centrum in Action zu versetzen (hohe Grade von
spinaler Neurasthenie , meist durch sexuellen Missbrauch). Eine dritte Mög-
lichkeit ist Hyperaesthesia urethrae, vermöge welcher das austretende Sperma
eine sofortige und stürmische Reflexaction des Ejaculationscentrums auslöst.
Hier kann die blosse Annäherung an die weiblichen Genitalien genügen, um
die Ejaculation (ante portam) herbeizuführen.
Bei Hyperaesthesia urethrae als Ursache kann die Ejaculation mit einem
Schmerz- statt einem Wollustgefühl ablaufen. Meist besteht in Fällen, wo
Hyperaesthesia urethrae vorhanden ist, zugleich reizbare Schwäche des Cen-
trums. Beide Functionsstörungen sind wichtig für die Vermittlung der Pollutio
nimia und diurna.
Das begleitende Wollustgefühl kann pathologisch fehlen. Derlei kommt
bei belasteten Männern und Weibern vor (Anästhesie, Aspermie?), ferner in
Folge von Krankheit (Neurasthenie, Hysterie), oder (bei Meretrices) in Folge
von Ueberreizung und dadurch bedingter Abstumpfung. Von der Stärke des
Wollustgefühls hängt der Grad der den Geschlechtsakt begleitenden psychischen
und motorischen Erregung ab. Unter pathologischen Bedingungen kann diese
sich so hoch steigern, dass die Coitusbewegungen ein dem Willen entzogenes
*) Ein interessantes Beispiel, wonach auch eine (Zwangs-) Vorstellung nicht
sexuellen Inhalts im Spiel sein kann, erzählt Magnan, Ann. med. psych. 1885:
Student, 21 Jahre, erblich stark belastet, früher Onanist, hat beständig mit
der Zahl 13 als Zwangsvorstellung zu kämpfen. Sobald er coitiren will, hemmt
die betreffende Zwangsvorstellung die Erection und macht den Akt unmöglich.
Cerebral bedingte Neurosen. 37
convulsivisches Gepräge gewinnen, selbst sich bis zu allgemeinen Convulsionen
erstrecken.
b) Abnorm schwer eintretende Ejaculation. Sie ist bedingt durch
Unerregbarkeit des Centrums (mangelnde Libido, Lähmung des Centrums,
organisch durch Gehirn- und Rückenmarkskrankheiten, functionell durch
sexuellen Missbrauch, Marasmus, Diabetes, Morphinismus), hier dann meist mit
Anästhesie der Genitalien und Lähmung des Erectionscentrums verbunden.
Oder sie ist die Folge einer Läsion des Reflexbogens oder peripherer An-
aesthesia (urethrae) oder der Aspermie. Die Ejaculation tritt gar nicht oder
verspätet ein im Verlauf des sexuellen Aktes oder erst später in Form einer
Pollution. *■
III. Cerebral bedingte Neurosen.
1) Paradoxie, d. h. sexuale Erregungen ausserhalb der Zeit
anatomisch-physiologischer Vorgänge im Bereich der Generations-
organe.
2) Anästhesie (fehlender Geschlechtstrieb). Hier lassen alle
organischen Impulse von den Generationsorganen aus, gleichwie alle
Vorstellungen, alle optischen, acustischen und olfaktorischen Sinnes-
eindrücke das Individuum sexuell unerregt. Physiologisch ist die
Erscheinung im Kindes- und im höheren Greisenalter.
3) Hyperästhesie (vermehrter Trieb bis zur Satyriasis).
Hier besteht abnorm starke Anspruchsfähigkeit der Vita sexualis
auf organische, psychische und sensorielle Reize (abnorm starke
Libido, Lüsternheit, Geilheit). Der Reiz kann central (Nympho-
manie, Satyriasis) oder peripher, functionell oder organisch sein.
4) Parästhesie (Perversion des Geschlechtstriebs, d. h. Er-
regbarkeit des Sexuallebens durch inadäquate Reize).
Diese cerebralen Anomalien fallen in das Gebiet der Psycho-
pathologie. Die spinalen und peripheren können mit den ersteren
combinirt vorkommen. In der Regel finden sie sich jedoch bei
geistig Gesunden. Sie können in verschiedenen Combinationen vor-
kommen und den Anlass zu sexuellen Delicten geben. Aus diesem
Grund verlangen sie Berücksichtigung in der folgenden Darstellung.
Das Hauptinteresse nehmen jedoch die cerebral bedingten Anomalien
in Anspruch, da sie überaus häufig zu perversen und selbst crimi-
nellen Handlungen führen.
38 Paradoxia sexualis. Sexualtrieb bei Kindern.
A. Paradoxie. Sexualtrieb ausserhalb der Zeit auatomisch-
physiologiscker Vorgänge.
1) Im Kindesalter auftretender Geschlechtstrieb.
Jeder Nerven- und jeder Kinderarzt kennt die Thatsache, dass
schon bei kleinen Kindern Regungen des Geschlechtslebens auftreten
können. Bemerkenswert!! in dieser Hinsicht sind Ultzmann's
Mittheilungen über Masturbation im Kindesalter 1). Man muss hier
unterscheiden zwischen den zahlreichen Fällen, wo durch Phimosis,
Balanitis, Oxyuris in Anus oder Vagina Kinder Jucken in den
Genitalien bekommen, an diesen herummanipuliren, davon eine Art
Wollustreiz empfinden und so zur Masturbation gelangen, und zwi-
schen jenen Fällen, wo ohne peripheren Anlass, auf Grund cerebraler
Vorgänge, beim Kind sexuale Ahnungen und Dränge auftreten.
Nur in letzteren Fällen kann von einem vorzeitigen Hervortreten
des Geschlechtstriebs die Rede sein. Immer dürfte es sich hier
um eine Theilerscheinung eines neuro-psychopathischen Belastungs-
zustandes handeln.
Eine Beobachtung von Marc (Die Geisteskrankheiten etc. von Ideler I,
p. 66) illustrirt treffend diese Zustände. Gegenstand derselben war ein acht-
jähriges Mädchen aus ehrenwerther Familie, das, aller kindlichen und mora-
lischen Gefühle baar, seit dem 4. Jahr masturbirte, praeterea cum pueris decem
usque ad duodecim annos natis stupra fecit. Es schwelgte in dem Gedanken,
seine Eltern umzubringen, um sie bald zu beerben und dann mit Männern
sich zu vergnügen.
Auch in diesen Fällen von vorzeitig sich regender Libido verfallen die
Kinder der Masturbation, und da sie schwer belastet sind, versinken sie
häufig in Blödsinn und fallen schweren degenerativen Neurosen oder Psychosen
anheim.
Lombroso (Archiv, di Psichiatria IV, p. 22) hat eine Anzahl hierher-
gehöriger, schwer erblich belastete Kinder betreffender Fälle gesammelt, so den
eines Mädchens , das mit 3 Jahren schamlos und hemmungslos masturbirte.
Ein anderes Mädchen begann mit 8 Jahren, setzte die Onanie auch in der
Ehe und namentlich in der Schwangerschaft fort. Sie gebar 12mal. 5 Kinder
l) AuchLouyer- Villermay berichtet Onanie von einem 3 — 4 Jahre alten
Mädchen, ebenso Moreau (Aberrations du sens genesique, 2. edit. p. 209) von
einem 2jährigen. Siehe ferner Mau dsley, Physiologie und Pathologie der
Seele, übersetzt von Böhm, p. 218; Hirschsprung (Kopenhagen), Berlin.
Hin. Wochenschr. 1886, Nr. 38. Lombroso, Der Verbrecher, übersetzt von
Fränkel, p. 119 u. ff. (besonders Fall 10. 19. 21).
Wiedererwachen des Sexualtriebs im Greisenalter. 39
starben früh, 4 waren Hydrocephali , 2 davon (Knaben) ergaben sich mit 7,
bezw. 4 Jahren der Masturbation.
Zambaco (l'Encephale 1882, Nr. 1. 2) gibt die entsetzliche Geschichte
zweier Schwestern mit prämaturem und perversem Sexualtrieb. Die ältere R.
masturbirte schon mit 7 Jahren, stupra cum pueris faciebat, stahl, wo sie nur
konnte, sororem quatuor annorum ad masturbationem illexit, trieb mit 10 Jahren
schon die grössten Scheusslichkeiten, war nicht einmal durch Ferr. candens ad
clitoridem von ihrem Drang abzubringen, masturbirte sich u. A. mit der Sutane
des Geistlichen, während dieser ihr zusprach sich zu bessern etc.
2) Im Greisenalter wieder erwachender Geschlechtstrieb 1).
Es gibt seltene Fälle, wo bis zum höheren Greisenalter der
Geschlechtstrieb fortbesteht. „Senectus non quidem annis sed viribus
magis aestimatur" (Zittmann). Oesterlen (Maschka, Handb. III,
p. 18) berichtet sogar von einem 83jährigen Mann, der von einem
württembergischen Schwurgericht wegen Unzuchtvergehens zu drei
Jahren Zuchthaus verurtheilt wurde. Leider erfährt man nichts
über Art des Delicts und psychischen Zustand des Thäters.
Das Bestehen von Aeusserungen des Geschlechtstriebs im
höheren Alter ist an und für sich jedenfalls nicht pathologisch.
Präsumptionen auf pathologische Bedingungen müssen
sich aber nothwendig ergeben, wenn das Individuum de-
crepid ist, sein Geschlechtsleben schon längst erloschen
war, der Trieb bei dem zudem vielleicht früher sexuell
nicht sehr bedürftigen Menschen mit grosser Stärke sich
geltend macht und rücksichtslos, schamlos, selbst pervers
Befriedigung erstrebt.
In solchen Fällen wird schon der gesunde Menschenverstand
pathologische Bedingungen vermuthen. Die medicinische Wissen-
schaft kennt die Thatsache, dass ein so qualificirter Trieb auf
krankhaften Veränderungen im Gehirn, die zu Greisenblödsinn führen,
beruht. Diese krankhafte Erscheinung des Geschlechtslebens kann
ein Vorbote der senilen Demenz sein und sich jedenfalls lange vor-
her einstellen, ehe es zu greifbaren Erscheinungen intellectueller
Schwäche kommt. Immer wird der aufmerksame und erfahrene
Beobachter in diesem Prodromalstadium schon eine Umwandlung
des Charakters in pejus und eine Abschwächung des moralischen
J) Vgl. Kirn, Zeitschr. f. Psych. Bd. 39. — Legrand du Saulle,
Annal. d'hyg. 1868 oct.
40 Sexualtrieb im Greisenalter. Sexuelle Delicte.
Sinnes zugleich mit der auffallenden geschlechtlichen Erscheinung
nachweisen können.
Die Libido des seniler Demenz Entgegengehenden äussert sich
zunächst in lasciven Reden und Gesten. Das nächste Angriffsobject
dieser der Hirnatrophie und psychischen Degeneration verfallenden
cynischen Greise sind Kinder. Die leichtere Gelegenheit, an solche
zu gerathen, gewiss aber wesentlich das Gefühl mangelhafter Po-
tenz dürften diese traurige und bedenkliche Thatsache erklären.
Mangelhafte Potenz und tief gesunkener moralischer Sinn machen
die weitere Thatsache begreiflich, warum die geschlechtlichen Akte
dieser Greise perverse sind. Sie sind eben einfach Aequivalente des
unmöglichen physiologischen Aktes.
Als solche verzeichnen die Annalen der gerichtlichen Medicin
Exhibition der Genitalien 1), wollüstiges Betasten der Genitalien von
Kindern2), Verleitung dieser zur Manustupration des Verführers,
Onanisirung der Opfer3), Flagellation derselben.
In diesem Stadium kann die Intelligenz noch intact genug
sein, um die Oeffentlichkeit und die Entdeckung zu meiden, wäh-
rend der moralische Sinn schon zu tief gesunken ist, um die sitt-
liche Bedeutung des Aktes zu ermessen und dem Trieb zu wider-
stehen. Mit eintretender Demenz werden diese Akte immer scham-
loser. Nun schwindet auch das Bedenken wegen mangelhafter
Potenz und werden auch Erwachsene heimgesucht, aber die defecte
Potenz nöthigt zu Aequivalenten des Coitus. Nicht selten kommt
es hier auch zur Sodomie, wobei, wie Tarnowski (op. cit. 77)
bemerkt, beim Geschlechtsakt mit Gänsen, Hühnern u. dgl. , der
Anblick des sterbenden Thieres und seiner Todeszuckungen im
Momente des Coitus dem Kranken volle Befriedigung gewährt.
Ebenso grauenerregend und nach dem Obigen psychologisch ver-
ständlich sind die perversen geschlechtlichen Handlungen mit Er-
wachsenen.
Einen Beleg, wie hoch gesteigert die Geschlechtslust während
des Ablaufs einer Dementia senilis sein kann, bietet die Beobach-
tung 49 in des Verf. Lehrbuch der gerichtl. Psychopath., 3. Aufl.,
p. 161, quum senex libidinosus germanam suam filiam aemulatione
*) Fälle s. Lasegue: Les Exhibitionistes. Union medicale 1871 1. Mai.
2) Legrand du Saulle, La folie devant les tribunaux p. 530.
3) Kirn, Mascbka's Handb. d. ger. Med. p. 373. 374. — Derselbe,
Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie Bd. 39, p. 220.
Sexualtrieb im Greisenalter. 41
motus necaret et adspectu pectoris sciosi puellae ruoribundae de-
lectaretur.
Im Verlauf des Leidens kann es anlässlich manischer Episoden
oder auch ohne solche zu erotischem Delir und Zuständen wahrer
Satyriasis kommen, wie der folgende Fall erweist.
Beobachtung 1. J. Rene, von jeher sinnlichen und sexuellen Genüssen
ergeben, aber das Decorum wahrend, hatte seit seinem 76. Jahr eine fort-
schreitende Abnahme der Intelligenz und zunehmende Perversion des morali-
schen Sinnes gezeigt. Früher geizig, äusserst sittsam, consumpsit bona sua
cum meretricibus , lupanaria frequentabat , ab omni femina in via occurente,
ut uxor fiat sua voluit, aut ut coitum concederet, und verletzte so sehr den
öffentlichen Anstand, dass man ihn in eine Irrenanstalt bringen musste. Dort
steigerte sich die geschlechtliche Erregung zu einem Zustand wahrer Satyriasis,
die bis zum Tode andauerte. Semper masturbavit vel aliis praesentibus, de-
lirium ejus plenum erat obscoenis imaginibus, viros qui circa eum erant,
mulieres eos esse ratus, sordidis postulationibus vexavit (Legrand du Saulle,
La folie p. 533).
Auch bei der Dem. senilis verfallenen Matronen, früher ehrbaren Frauen,
können solche Zustände von höchster sexueller Erregung (Nymphomanie, Furor
uterinus) vorkommen.
Dass auf dem Boden der Dem. senilis der krankhaft erregte
und perverse Trieb sich auch Personen des eigenen Geschlechts (s. u.)
ausschliesslich zuwenden kann, geht aus der Lektüre Schopen-
hauer^1) hervor. Die Art der Befriedigung ist hier passive
Päderastie oder, wie ich aus folgendem Fall erfuhr, mutuelle Ma-
sturbation.
Beobachtung 2. Herr X., 80 Jahre alt, von hohem Stand, aus be-
lasteter Familie, von jeher sexuell sehr bedürftig und Cyniker, von abnormem
und jähzornigem Charakter, zog nach eigenem Geständniss schon als junger
Mensch Masturbation dem Coitus vor, bot aber nie Erscheinungen von conträrer
Sexualität, hatte Maitressen, zeugte mit einer derselben ein Kind, heirathete
48 Jahre alt aus Neigung, zeugte noch 6 Kinder, gab seiner Gemahlin Zeit
seiner Ehe nie zu Klagen Anlass. Die Verhältnisse seiner Familie konnte ich
nur unvollkommen erfahren. Sichergestellt ist, dass sein Bruder im Verdacht
mannmännlicher Liebe stand und dass ein Neffe in Folge excessiver Masturbation
irrsinnig wurde.
Seit Jahren hat sich der von Hause eigenartige, jähzornige Charakter
des Patienten immer extremer gestaltet. Er ist äusserst misstrauisch geworden
und eine geringfügige Contrariirung seiner Wünsche bringt ihn in masslosen
Affect bis zu Wuthanfällen , in welchen er sogar die Hand gegen seine Ge-
mahlin erhebt.
J) Die Welt als Wille und Vorstellung. 1859 Bd. II, p. 461 u. ff.
42 Anaesthesia sexualis.
Seit einem Jahr bestehen deutliche Zeichen einer Dem. senilis incipiens.
Patient ist vergesslieh geworden, er localisirt falsch in der Vergangenheit und
ist zeitlich nicht recht orientirt. Seit 14 Monaten bemerkt man an dem alten
Herrn eine wahre Verliebtheit gegenüber einzelnen männlichen Dienstboten,
namentlich einem Gärtnerburschen. Sonst schroff und vornehm gegenüber
Untergebenen, überhäuft er diesen Favori mit Gunstbezeigungen und Ge-
schenken und befiehlt seiner Familie und seinen Hausofficianten, ihm mit dem
grössten Respect zu begegnen. Mit wahrer Brunst erwartet der Alte die
Stunden des Rendezvous. Er schickt seine Familie fort, um ungestört mit dem
Favoriten zu sein, hält sich Stunden lang mit ihm eingeschlossen und wird,
wenn die Thüren sich wieder öffnen, ganz erschöpft auf dem Ruhebett ge-
troffen. Neben diesem Geliebten hat Patient aber episodisch noch Verkehr
mit anderen Dienern. Hoc constat amatos eum ad se trahere, ab iis oscula
concupiscere , genitalia sua tangi jubere itaque masturbationem mutuam fieri.
Durch dieses Treiben ist eine förmliche Demoralisation geschaffen. Die Familie
ist machtlos, denn jede Gegenvorstellung ruft Zornanfälle bis zur Bedrohung
der Angehörigen hervor. Patient ist vollkommen einsichtslos für seine sexuellen
perversen Handlungen, so dass die Entmündigung und Versetzung in eine
Irrenanstalt als einziger Ausweg für die trostlose hochangesehene Familie
übrig bleibt.
Irgendwelche erotische Erregung gegenüber dem anderen Geschlecht
ist nicht zu beobachten , obwohl Patient noch mit seiner Gemahlin dasselbe
Schlafgemach bewohnt. Bemerkenswert!! bezüglich der perversen Sexualität
und des tief gesunkenen moralischen Sinnes dieses Unglücklichen ist die That-
sache, dass er die Dienerinnen seiner Schwiegertochter ausfragt, ob diese keine
Liebhaber besitzen.
B. Anaesthesia sexualis (fehlender Geschlechtstrieb).
1) Als angeborene Anomalie.
Als unanfechtbare Beispiele von cerebral bedingtem Fehlen
des Geschlechtstriebs können nur solche Fälle gelten, in welchen
trotz normal entwickelter und functionirender Generationsorgane
(Spermabereitung, Menstruation) jegliche Regung des Geschlechts-
lebens überhaupt und von jeher mangelt. Diese functionell ge-
schlechtslosen Individuen sind sehr selten und wohl immer degenerative
Existenzen, bei denen anderweitige functionelle Cerebralstörungen,
psychische Degenerationszustände, ja selbst anatomische Entartungs-
zeichen nachweisbar sind.
Einen klassischen , hierher gehörenden Fall beschreibt L e-
grand du Saulle (Annales medicopsychol. 1876, Mai).
Anaesthesia sexualis. 43
Beobachtung 3. D., 33 Jahre, stammt von einer Mutter, die an Ver-
folgungswahnsinn litt. Der Vater dieser Frau litt ebenfalls an Verfolgungs-
wahn und endete durch Selbstmord. Deren Mutter war irrsinnig, die Mutter
dieser Frau war im Puerperium irrsinnig geworden. Drei Geschwister des
Patienten waren im Säuglingsalter gestorben, ein überlebendes war charaktero-
logisch abnorm. D. war schon mit 13 Jahren mit Ideen geplagt, irrsinnig zu
werden. Mit 14 Jahren machte er einen Suicidversuch. Später Vagabundage.
Als Soldat wiederholt Insubordination, ganz verrückte Streiche. Er war von
beschränkter Intelligenz, bot keine Degenerationszeichen , normale Genitalien,
hatte mit 17 oder 18 Jahren Samenergüsse gehabt, nie onanirt, niemals Ge-
schlechtsempfindung gehabt, nie den Umgang mit Weibern gesucht.
Beobachtung 4. P., 36 Jahre alt, Taglöhner, wurde Anfang November
wegen spastischer Spinalparalyse auf meiner Klinik aufgenommen. Er behauptet,
aus gesunder Familie zu stammen. Seit der Jugend Stotterer. Schädel micro-
cephal (cf. 53). Patient etwas imbecill. Er war nie gesellig , hatte niemals
eine sexuelle Regung. Der Anblick eines Weibes hatte nie für ihn etwas An-
ziehendes. Niemals regte sich bei ihm ein masturbatorischer Drang. Erectionen
häufig, aber nur Morgens beim Erwachen mit voller Blase und ohne Spur von
sexueller Regung. Pollutionen sehr selten, etwa einmal jährlich im Schlafe,
meist unter Träumen, dass er mit einem weiblichen Individuum etwas zu thun
habe. Einen ausgesprochen erotischen Inhalt haben aber diese Träume nicht,
wie überhaupt nicht seine Träume. Eine eigentliche Wollustempfindung soll
mit dem Akt der Pollution nicht vorhanden sein. Pat. empfindet diesen Mangel
sexueller Empfindungen nicht. Er versichert, sein 34 Jahre alter Bruder sei
sexuell geradeso beschaffen wie er, für eine 21 Jahre alte Schwester macht er
dies wahrscheinlich. Ein jüngerer Bruder sei sexuell normal beschaffen. Die
Untersuchung der Genitalien des Pat. ergibt ausser Phimose nichts Abnormes.
Auch H a m m o n d (Sexuelle Impotenz , deutsch von Salinger,
Berlin 1889) weiss aus seiner reichen Erfahrung nur über folgende
3 Fälle angeborener Anaesthesia sexualis zu berichten.
Beobachtung 5. Herr W., 33 Jahre alt, kräftig, gesund, mit normalen
Genitalien, hat nie Libido empfunden, vergebens durch obscöne Lektüre und
Verkehr mit Meretrices seinen mangelnden Sexualtrieb zu wecken versucht. Er
empfand bei solchen Versuchen nur Ekel bis zu Erbrechen, nervöse und phy-
sische Erschöpfung, und selbst, als er die Situation forcirte, nur einmal eine
flüchtige Erection. W. hat nie onanirt, seit dem 17. Jahr alle paar Monate
eine Pollution gehabt. Wichtige Interessen forderten, dass er heirathe. Er
hatte keinen Horror feminae , sehnte sich nach Heim und Weib , fühlte sich
aber unfähig, den sexuellen Akt zu vollziehen und starb unbeweibt im ameri-
kanischen Bürgerkrieg.
Beobachtung 6. X., 27 Jahre, mit normalen Genitalien, hat nie
Libido empfunden. Erection gelang leicht durch mechanische oder thermische
Reize, aber statt Libido sexualis entstand dann regelmässig Drang zu Alkohol-
excessen. Umgekehrt riefen solche auch spontane Erectionen hervor, wobei
44 Anaesthesia sexuahs.
er dann gelegentlich masturbirte. Er empfand Abneigung gegen Frauen und
Ekel vor Coitus.
Versuchte er gleichwohl solchen während einer Erection, so schwand
diese sofort. Tod im Coma in einem Anfall von Hirnhyperämie.
Beobachtung 7. Frau 0., normal gebaut, gesund, regelmässig men-
struirt, 35 Jahre alt, seit 15 Jahren verheirathet, hat niemals Libido gefühlt,
niemals im sexuellen Verkehr mit dem Gemahl einen erotischen Reiz empfun-
den. Sie hatte keine Aversion gegen den Coitus, schien ihn zuweilen sogar
angenehm zu empfinden, hatte aber nie einen Wunsch nach Wiederholung der
Cohabitation.
Im Anschluss an derartige reine Fälle von Anästhesie x) möge
solcher gedacht werden, in welchen die psychische Seite der Vita
sexualis zwar ebenfalls ein leeres Blatt in der Lebensgeschichte des
Individuums darstellt, wo aber zeitweise elementare sexuelle Empfin-
dungen sich wenigstens durch Masturbation (vgl. den Uebergangs-
fall, Beob. 6) kundgeben. Nach der geistreichen, aber nicht streng
richtigen und zu dogmatischen Eintheilung Magnan's wäre die
sexuelle Existenz hier auf das spinale Gebiet beschränkt. Mög-
licherweise besteht in einzelnen solcher Fälle immerhin virtuell eine
psychische Seite der Vita sexualis, aber sie ist höchst schwach ver-
anlagt und geht durch Masturbation, bevor sie Ansätze zu einer
Entwicklung nehmen konnte, unter.
Damit würden sich Uebergangsfälle von der angeborenen zur
erworbenen (psychischen) Anaesthesia sexualis ergeben. Diese Ge-
fahr droht nicht wenigen belasteten Masturbanten. Psychologisch
interessant ist, dass dann auch ein ethischer Defect sich zeigt, wenn
die sexuelle Wurzel früh verdorrt.
*) Ein Fall von Anaesthesia sexualis dürfte auch der grosse englische Saty-
riker Swift gewesen sein. Adolf Stern, „Aus dem 18. Jahrhundert; biograph.
Bilder und Skizzen" , Leipzig 1874, sagt in seiner Swiftbiographie p. 34 fol-
gendes: „Ihm scheint das sinnliche Element der Liebe gänzlich gefehlt zu
haben; der unbefangene Cynismus, der in manchen Stellen seiner Briefe zu
Tage tritt, kann beinahe als ein Beweis dafür gelten. Und wer gewisse Seiten
in den späteren Reisen Gulliver's recht versteht und besonders den Bericht,
den Swift von Ehe und Nachkommenschaft der Hauyhnhmms, der edlen Pferde
des letzten Capitels, gibt, kann kaum zweifeln, dass der grosse Satyriker eine
Art Ekels vor der Ehe und jedenfalls den Drang nicht empfand, der die Ge-
schlechter zu einander führt." Thatsächlich lassen sich die räthselhaftesten
Seiten von Swift's Charakter sowie einzelne seiner Werke, wie „Tagebuch an
Stella" und „Gulliver's Reisen", nur voll und ganz verstehen, wenn man Swift
als sexuell anästhetisch annimmt.
Anaesthesia sexualis. 45
Als beachtenswerthe Fälle mögen die beiden folgenden, von
mir im Archiv für Psychiatrie VII. früher veröffentlichten hier Er-
wähnung finden.
Beobachtung 8. F. J. , 19 Jahr, Stud. , stammt von einer nervösen
Mutter, deren Schwester epileptisch war. Mit 4 Jahren acute 14tägige Hirn-
affection. Als Kind gemüthlos, kalt gegen die Eltern, als Schüler sonderbar,
verschlossen, sich absondernd, grübelnd und lesend. Gute Begabung. Vom
15. Jahre an Onanie. Seit der Pubertät excentrisches Wesen , beständiges
Schwanken zwischen religiöser Schwärmerei und Materialismus, Studium der
Theologie und Naturwissenschaften. Auf der Universität hielten ihn die Com-
militonen für einen Narren. Las ausschliesslich Jean Paul, verbummelte seine
Zeit. Gänzlicher Mangel geschlechtlicher Empfindungen gegenüber dem anderen
Geschlecht. Liess sich einmal zum Beischlaf herbei, empfand aber kein ge-
schlechtliches Gefühl dabei, fand den Coitus eine Albernheit und liess die
Wiederholung bleiben. Ohne alle emotionelle Grundlage stieg ihm oft der
Gedanke an Selbstmord auf; er machte ihn zum Gegenstand einer philo-
sophischen Abhandlung, in der er ihn, gleich der Masturbation, für eine recht
zweckmässige Handlung erkannte. Nach wiederholten Versuchen, die er an
sich mit den verschiedenen Giften anstellte, probirte er es mit 57 Gran Opium,
wurde aber gerettet und ins Irrenhaus gebracht.
Pat. ist aller sittlichen und socialen Gefühle baar. Seine Schriften ver-
rathen eine unglaubliche Frivolität und Banalität. Er besitzt ausgebreitete
Kenntnisse, aber seine Logik ist eine eigenthümlich verschrobene. Von affec-
tiven Erscheinungen keine Spur. Mit einer Blasirtheit und Ironie ohne Gleichen
behandelt er Alles, selbst das Erhabenste. Mit philosophischen Scheingründen
und Trugschlüssen plaidirt er für die Berechtigung des Selbstmords, den zu
vollbringen er jeweils vorhat, wie ein Anderer das gleichgültigste Geschäft.
Er bedauert, dass man ihm sein Federmesser genommen hat. Er hätte sich
sonst wie Seneca im Bade die Adern öffnen können. Ein Freund hatte ihm
kürzlich statt eines Giftes , wie er wünschte , ein Abführmittel gegeben. Es
sei für ihn statt eines Abführmittels in die andere Welt eines in den Abort
gewesen. Seine „alte lebensgefährliche närrische Idee* könne nur der grosse
Operateur mit der Sense herausschneiden etc.
Pat. hat einen grossen, rhombisch verschobenen Schädel, die linke Stirn-
hälfte ist flacher als die rechte. Hinterhaupt sehr steil. Ohren weit hinten,
stark abstehend, die äussere Ohröffnung bildet eine schmale Spalte. Genitalien
sehr schlaff, Hoden ungewöhnlich weich und klein.
Ab und zu klagt Pat. über „ Grübelsucht ". Er müsse zwangsweise den
unnützesten Problemen nachgehen, unterliege einem stundenlangen höchst
peinlichen und ermattenden Denkzwang und sei dann so abgehetzt, dass er
zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig sei.
Pat. wurde nach Jahresfrist ungebessert nach Hause entlassen, vertrieb
sich dort nach wie vor die Zeit mit Lesen, Bummelei, trug sich mit dem Ge-
danken, ein neues Christenthum zu schaffen, weil Christus an Grössenwahnsinn
gelitten und die Welt mit Wundern getäuscht habe. (!) Nach einjährigem
Aufenthalt zu Hause führte ihn ein plötzlich aufgetretener psychischer Auf-
4(5 Anaesthesia sexualis.
regungszustand wieder der Anstalt zu. Er bot ein buntes Gemisch von Pri-
mordialdelirium der Verfolgung (Teufel, Antichrist, wähnt sich verfolgt, Ver-
giftungswahn, verfolgende Stimmen) und der Grösse (Christuswahn, Welt-
erlösung), dabei ganz impulsives verwirrtes Handeln. Nach 5 Monaten ging
diese intercurrente Geisteskrankheit zurück und Pat. befand sich wieder auf dem
Boden seiner originären intellectuellen Verschrobenheit und moralischen Defecte.
Beobachtung 9. E. , 30 Jahre, vacirender Malergeselle , wurde be-
treten, als er einem Knaben, den er in den Wald gelockt hatte, das Scrotum
abschneiden wollte. Er motivirte dieses Vorhaben damit, dass er hineinschneiden
wollte, auf dass die Erde sich nicht vermehre; er habe in seiner Jugend oft
zu gleichem Zweck in seine Geschlechtstheile hineingeschnitten.
E.'s Stammbaum ist nicht zu eruiren. Von Kindheit an war E. geistig
abnorm, hinbrütend, nie lustig, sehr reizbar, jähzornig, grübelnd, schwachsinnig.
Er hasste die Weiber, liebte die Einsamkeit, las viel. Er lachte zuweilen vor
sich hin, machte dummes Zeug. In den letzten Jahren hatte sich sein Hass
gegen Frauenzimmer gesteigert, namentlich gegen Schwangere, durch die nur
Elend in die Welt komme. Er hasste auch die Kinder, verfluchte seinen Er-
zeuger, hegte communistische Ideen, schimpfte über die Reichen und die Geist-
lichen, über den Herrgott, der ihn so arm auf die Welt habe kommen lassen.
Er erklärte, es sei besser, die noch vorhandenen Kinder zu castriren, als neue
auf die Welt zu setzen, die doch nur zur Armuth und zu Elend verurtheilt
wären. Er habe es immer so gehalten, schon im 15. Jahr sich selbst zu
castriren versucht, um nicht zum Unglück und zur Vermehrung der Menschen
beizutragen. Das weibliche Geschlecht verachte er, weil es zur Vermehrung
der Menschen beitrage. Nur zweimal habe er in seinem Leben sich von
Weibern manustupriren lassen, sonst nie mit ihnen zu thun gehabt. Geschlecht-
liche Regungen habe er wohl dann und wann, aber nie zu naturgemässer
Befriedigung derselben. Wenn die Natur nicht selbst helfe, so helfe er
gelegentlich durch Onanie nach.
E. ist ein starker, musculöser Mann. Die Bildung der Genitalien „ lässt^
nichts Abnormes erkennen. An Scrotum und Penis finden sich zahlreiche
Schnittnarben als Spuren früherer Selbstentmannungsversuche, an deren Aus-
führung er durch den Schmerz gehindert gewesen sein will. Am rechten Knie-
gelenk Zustand des Genu valgum. Von Onanie wurde nichts an ihm bemerkt.
Er ist von finsterem, trotzigem, reizbarem Wesen. Sociale Gefühle sind ihm
vollständig fremd. Ausser sehr mangelhaftem Schlaf und häufigem Kopf-
schmerz bestehen keine Functionsstörungen.
Von derartigen cerebral bedingten Fällen müssen diejenigen
getrennt werden, wo ein Mangel oder eine Verkümmerung der
Generationsorgane den Functionsausfall bedingt, so bei gewissen
Hermaphroditen, Idioten, Cretinen.
Dass Anaesthesia sexualis nicht durch blosse Aspermie bedingt
ist, lehren Ultzmann's1) Erfahrungen, wonach selbst bei Ange-
*) Ueber männliche Sterilität. Wiener med. Presse 1878, Nr. 1. Ueber
Potentia generandi et coeundi. Wiener Klinik 1885, Heft 1, S. 5.
Erworbene Anaesthesia sexualis. 47
borenheit dieser Aspermie die Vita sexualis und die Potenz ganz
befriedigend sein kann, ein weiterer Beleg dafür, dass mangelnde
Libido ab origine in cerebralen Bedingungen zu suchen ist.
Eine mildere Form der Anästhesie stellen die „naturae frigidae"
des Zacchias dar.
Man trifft sie häufiger beim weiblichen als beim männlichen
Geschlecht. Geringe Neigung zum sexuellen Umgang bis zur aus-
gesprochenen Abneigung, natürlich ohne sexuelles Aequivalent,
Mangel jeglicher psychischen, wollüstigen Erregung beim Coitus,
der einfach pflichtgemäss gewährt wird, ist die Signatur dieser
Anomalie, über die ich häufig Klagen von Ehemännern zu hören
bekam. In solchen Fällen handelte es sich immer um neuropathische
Frauen ab origine. Einzelne waren zugleich hysterisch.
2) Erworbene Anästhesie.
Die erworbene Verminderung bis zum Erlöschen des Sexual-
triebs kann auf sehr verschiedenen Ursachen beruhen.
Diese können organische und functionelle , psychische und
somatische, centrale und periphere sein.
Physiologisch ist die Abnahme der Libido mit fortschreiten-
dem Alter und das temporäre Schwinden derselben nach dem Ge-
schlechtsakt. Die Verschiedenheiten bezüglich der zeitlichen Dauer
des Sexualtriebs sind individuell grosse. Erziehung und Lebens-
weise haben auf die Intensität der Vita sexualis grossen Einfluss.
Geistig angestrengte Thätigkeit (ernstes Studium), körperliche An-
strengung, gemüthliche Verstimmung, sexuelle Enthaltsamkeit sind
der Erregung des Sexualtriebs entschieden abträglich.
Die Abstinenz wirkt anfangs steigernd. Bald früher, bald
später, je nach constitutionellen Verhältnissen, lässt die Thätigkeit
der Generationsorgane nach und damit die Libido.
Jedenfalls besteht bei dem geschlechtsreifen Individuum zwi-
schen der Thätigkeit seiner Generationsdrüsen und dem Grad seiner
Libido ein enger Zusammenhang. Dass jene aber nicht entscheidend
ist, lehrt die Erfahrung bezüglich sinnlicher Frauen, die noch post
climacterium den sexuellen Umgang fortsetzen und (cerebral be-
dingte) sexuelle Erregungszustände bieten können.
Auch an den Eunuchen lässt sich erkennen, dass die Libido
die Spermabereitung lange überdauern kann.
Andererseits lehrt aber die Erfahrung, dass die Libido doch
48 Hyperaesthesia sexualis.
wesentlich mitbedingt wird von der Function der Generationsdrüsen
und dass die erwähnten Thatsachen Ausnahmeerscheinungen sind.
Als periphere Ursachen für verminderte bis fehlende Libido sind
anzuführen: Castration, Entartung der Geschlechtsdrüsen, Marasmus,
sexuelle Excesse in Form von Coitus und Masturbation, Alcoho-
lismus. In gleicher Weise dürfte das Schwinden der Libido bei
allgemeinen Ernährungsstörungen (Diabetes, Morphinismus u. s. w.)
zu deuten sein.
Endlich wäre der Hodenatrophie zu gedenken , die zuweilen
in Folge von Herderkrankungen des Gehirns (Kleinhirn) beobachtet
wurde.
Eine Herabsetzung der Vita sexualis durch Degeneration der
Leitungsbahnen und des Centr. genitospinale findet sich bei Rücken-
marks- und Hirnkrankheiten. Eine centrale Schädigung des Ge-
schlechtstriebs kann organisch durch Hirnrindenerkrankung (Dem.
paralytica in vorgerücktem Stadium) , functionell durch Hysterie
(centrale Anästhesie?), durch Gemüthskrankheit (Melancholie, Hypo-
chondrie) hervorgerufen sein.
C. Hyperästhesie (krankhaft gesteigerter Geschlechtstrieb).
Nicht geringe Schwierigkeit hat die Pathologie , selbst im
Einzelfall, wenn sie angeben soll, ob der Drang nach sexueller
Befriedigung pathologische Höhe erreicht hat. Emminghaus,
Psychopathologie, p. 225, bezeichnet als entschieden krankhaft „das
unmittelbare Wiedererwachen der Begierde nach der Befriedigung,
mit Inbeschlagnahme der ganzen Aufmerksamkeit, nicht minder das
Erwachen der Libido bei an und für sich geschlechtlich indiffe-
rentem Anblick von Personen oder Sachen". Im Allgemeinen stehen
sexueller Trieb und entsprechendes Bedürfniss in Proportion zur
körperlichen Kraft und zum Alter.
Von der Pubertät an erhebt sich der Sexualtrieb rapid zu
bedeutender Höhe, ist von den 20er bis zu den 40er Jahren am
mächtigsten, um von da an langsam abzunehmen. Das eheliche
Leben scheint den Trieb zu conserviren und zu zügeln.
Sexueller Verkehr bei wechselndem Object der Befriedigung
steigert den Trieb.
Da das Weib weniger geschlechtsbedürftig ist als der Mann,
muss ein Vorherrschen geschlechtlichen Bedürfnisses bei jenem die
Krankhaft gesteigerter Geschlechtstrieb. 49
Vermuthung pathologischer Bedeutung erwecken, um so mehr, wenn
dieses Bedürfniss in Putzsucht, Coquetterie oder gar Männersucht
zu Tage tritt und so über die von Zucht und Sitte gezogenen
Schranken hinaus sich bemerklich macht.
Von grösster Bedeutung ist bei beiden Geschlechtern die Con-
stitution. Mit einer neuropathischen Constitution ist häufig ein
krankhaft gesteigertes geschlechtliches Bedürfniss verbunden, und
derlei Individuen tragen einen grossen Theil ihres Lebens schwer
unter der Last dieser constitutionellen Anomalie ihres Trieblebens.
Die Gewalt des Sexualtriebs kann bei ihnen zeitweise geradezu die
Bedeutung einer organischen Nöthigung gewinnen und die Willens-
freiheit ernstlich gefährden. Die Nichtbefriedigung des Dranges
kann hier eine wahre Brunst oder eine mit Angstempfindungen
einhergehende psychische Situation herbeiführen , in welcher das
Individuum dem Trieb erliegt und seine Zurechnungsfähigkeit
zweifelhaft wird.
Unterliegt das Individuum nicht seinem mächtigen Drang, so
steht es in Gefahr, durch die erzwungene Abstinenz sein Nerven-
system im Sinne 'einer Neurasthenie zu ruiniren oder eine bereits
vorhandene bedenklich zu steigern.
Auch bei normal organisirten Individuen ist der Sexualtrieb
keine constante Grösse. Abgesehen von der der Befriedigung
folgenden temporären Gleichgültigkeit, dem Nachlass des Triebes bei
dauernder Abstinenz, nachdem ein gewisses Reactionsstadium des
sexuellen Verlangens glücklich überwunden ist , hat die Art der
Lebensweise grossen Einfluss.
Der Grossstädter, welcher beständig an sexuelle Dinge erinnert
und zu sexuellem Genuss angeregt wird, ist jedenfalls geschlechts-
bedürftiger als der Landbewohner. Excedirende, weichliche, sitzende
Lebensweise, vorwiegend animalische Nahrung, der Genuss von Spiri-
tuosen, Gewürzen u. dergl. wirken stimulirend auf das Sexualleben.
Beim Weibe ist dieses postmenstrual gesteigert. Bei neuro-
pathischen Frauen kann die Erregung zu dieser Zeit pathologische
Höhe erreichen.
Bemerkenswerth ist die grosse Libido der Phthisiker. Hof-
mann a. a. 0. berichtet von einem phthisischen Bauern, der noch
am Abend vor seinem Tod sein Weib sexuell befriedigte.
Die sexuellen Akte sind Coitus (eventuell Nothzucht), faute
de mieux: Masturbation, bei defectem moralischen Sinn Päderastie,
Bestialität. Ist bei übermässigem Sexualtrieb die Potenz herab-
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 4
50 Hyperaesthesia sexualis.
gesetzt oder gar erloschen , so sind alle möglichen Perversitäten
geschlechtlichen Handelns möglich.
Die excessive Libido kann peripher und central hervorgerufen
sein. Die erstere Entstehungsweise ist die seltenere. Pruritus der
Genitalien, Ekzem können sie bedingen, desgleichen gewisse, die
Geschlechtslust mächtig stimulirende Stoffe, wie z. B. Canthariden.
Bei Frauen kommt nicht selten im Klimakterium eine durch
Pruritus vermittelte sexuelle Erregung vor, aber auch sonst bei
neuropathischer Belastung. Magnan (Annales medico-psychol. 1885,
p. 157) berichtet von einer Dame, die anfallsweise Morgens von
einem schrecklichen Erethismus genitalis befallen wurde, desgleichen
von einem 55jährigen Manne, der Nachts von unerträglichem Pria-
pismus gefoltert war. In beiden Fällen bestand eine Neurose.
Centrale Auslösung von geschlechtlicher Erregung ist ein bei
Belasteten , Hysterischen und in psychischen Exaltationszuständen
häufiges Vorkommen *). Hier, wo die Hirnrinde und damit das psycho-
sexuale Centrum in einem Zustand von Hyperästhesie sich befindet
(abnorme Erregbarkeit der Phantasie, erleichterte Associationen),
können nicht bloss optische und Tastempfindungen , sondern auch
solche des Gehörs und Geruchs genügen, um lascive Vorstellungen
hervorzurufen.
Magnan (op. cit.) berichtet von einem Fräulein, das mit der Pubertät
wachsenden sexuellen Drang hatte und ihn durch Masturbation befriedigte.
Allmählig bekam die Dame beim Anblick eines beliebigen Mannes heftige
sexuelle Erregung, und da sie für sich nicht gut stehen konnte, schloss sie
sich jeweils in ein Zimmer ein, bis der Sturm sich gelegt hatte. Schliesslich
gab sie sich beliebigen Männern hin, um vor ihrem quälenden Trieb Ruhe zu
*) Bei Individuen, bei welchen hochgradige sexuelle Hyperästhesie mit
erworbener reizbarer Schwäche des sexuellen Apparates einhergeht, kann es
sogar dazu kommen, dass auf den blossen Anblick gefälliger weiblicher Ge-
stalten hin , vom psychosexualen Centrum aus , ohne jede peiüphere Reizung
der Genitalien, nicht allein der Erections-, sondern auch der Ejaculations-
mechanismus in Thätigkeit gesetzt wird. Solche Individuen haben nur nöthig,
mit einem weiblichen Vis-a-vis im Eisenbahn-Coupe , Salon u. s. w. sich in
ideelle sexuelle Relation zu setzen, um zum Orgasmus und zur Ejaculation zu
gelangen.
Hammond, op. cit. p. 40, beschreibt eine Reihe derartiger Fälle,
welche wegen consecutiver Impotenz in seine Behandlung kamen, und erwähnt,
dass die betreffenden Individuen für diesen Vorgang den Ausdruck „ ideeller
Coitus" gebrauchen. Herr Dr. Moll in Berlin theilte mir einen ganz gleichen
Fall mit ; auch dort wurde für den Vorgang die gleiche Bezeichnung gewählt.
Krankhaft gesteigerter Geschlechtstrieb. 51
bekommen, aber weder Coitus noch Onanie brachten Erleichterung, so dass
sie in ein Irrenhaus ging.
Ein Pendant ist eine Mutter von fünf Kindern , die , sehr unglücklich
über ihren sexuellen Drang, Suicidversuche machte, dann eine Irrenanstalt
aufsuchte. Dort besserte sich ihr Zustand, aber sie getraute sich nicht mehr,
das Asyl zu verlassen.
Mehrere prägnante, Männer und Frauen betreffende Fälle siehe in des
Verfassers Arbeit „Ueber gewisse Anomalien des Geschlechtstriebs", Beob. 6, 7
(Archiv für Psychiatrie VII, 2), von denen 3 und 5 hier Aufnahme finden mögen.
Beobachtung 10. Am 7. Juli 1874 Nachmittags verliess der von Triest
in Geschäftsangelegenheiten nach Wien reisende Ingenieur Clemens in Brück
den Bahnzug, ging durch die Stadt nach dem nahen Dorf St. Ruprecht und
machte dort an einem 70 Jahre alten, allein in einem Hause befindlichen Weib
einen Nothzuchtsversuch. Er wurde von den Ortsbewohnern festgenommen und
von der Ortspolizei arretirt. Er gab im Verhör an, die Wasenmeisterei auf-
suchen gewollt zu haben, um dort seinen aufgeregten Geschlechtstrieb an
einer Hündin zu befriedigen. Er leide oft an solchen Geschlechtsaufregungen.
Er leugnet nicht seine Handlung, entschuldigt sie mit Krankheit. Die Hitze,
das Rütteln des Waggons , Sorge um seine Familie , zu der er sich begeben
wollte, hätten ihn verwirrt und krank gemacht. Scham und Reue waren nicht
an ihm zu bemerken. Sein Benehmen war offen, seine Miene heiter, die Augen
geröthet, glänzend, der Kopf heiss, die Zunge belegt, Puls voll, weich, über
100 Schläge, die Finger etwas zitternd.
Die Angaben des Delinquenten sind präcise, aber hastig, der Blick un-
sicher, mit dem unverkennbaren Ausdruck der Lüsternheit. Dem herbeigerufenen
Gerichtsarzt macht er einen pathologischen Eindruck, wie wenn er sich im
Beginn eines Säuferwahnsinns befände.
Cl. ist 45 Jahre alt, verheirathet, Vater eines Kindes. Die Gesundheits-
verhältnisse seiner Eltern und sonstigen Familie sind ihm unbekannt.
In der Kindheit war er schwächlich, neuropathisch. Mit 5 Jahren erlitt
er eine Kopfverletzung durch einen Hieb mit einer Haue. Davon datirt eine
auf dem rechten Scheitel- und Stirnbein sich befindende V2" breite, über 1"
lange Narbe Der Knochen ist hier etwas eingedrückt. Die überliegende Haut
mit dem Knochen verwachsen.
An dieser Stelle erzeugt Druck Schmerz, der in den unteren Ast des
Trigeminus irradiirt. Auch spontan ist diese Stelle häufig schmerzhaft. In
der Jugend öfter Anfälle von „Ohnmacht". Vor der Pubertätszeit Pneumonie,
Rheumatismus und Darmkatarrh.
Schon mit 7 Jahren empfand er eine auffällige Hinneigung zu Männern,
resp. zu einem Oberst. Er empfand einen Stich durchs Herz, wenn er diesen
Mann sah; küsste den Boden, den dieser betreten hatte. Mit 10 Jahren ver-
liebte er sich in einen Reichstagsabgeordneten. Auch später schwärmte er für
Männer, jedoch in durchaus platonischer Weise. Vom 14. Jahre an onanirte
er. Mit 17 Jahren erster Umgang mit Frauen. Damit verloren sich sofort
die früheren Erscheinungen conträrer Sexualempfindung. Damals auch ein
acuter eigenthümlicher psychopathischer Zustand, den Cl. als eine Art Clair-
voyance schildert. Vom 15. Jahre an Hämorrhoidalleiden mit Erscheinungen
52 Hyperaesthesia sexualis.
von Plethora abdominalis. Wenn er, wie dies alle 3—4 Wochen stattfand,
profusen Hämorrhoidalblutfluss hatte, befand er sich besser. Sonst war er be-
ständig in einer peinlichen geschlechtlichen Erregung, der er theils durch
Onanie, theils durch Coitus Abhülfe schuf. Jedes Weib, dem er begegnete,
reizte ihn. Selbst wenn er unter weiblichen Verwandten sich befand, trieb es
ihn, ihnen unzüchtige Anträge zu machen. Zuweilen gelang es ihm, seiner
Triebe Herr zu werden, zu Zeiten wurde er zu unzüchtigen Handlungen hin-
gerissen. Wenn man ihn dann zur Thüre hinauswarf, war es ihm ganz recht,
denn er bedurfte, wie er meint, einer solchen Correctur und Unterstützung
gegenüber seinem übermächtigen Trieb, der ihm selbst lästig war. Eine Perio-
dicität war in diesen geschlechtlichen Regungen nicht zu erkennen.
Bis zum Jahre 1861 excedirte er in Venere und zog sich mehrere Tripper
und Chancres zu.
1861 Heirath. Er fühlte sich geschlechtlich befriedigt, fiel aber seiner
Frau lästig durch seine grossen Bedürfnisse.
1864 machte er einen Anfall von Manie im Spital zu F. durch, erkrankte
nochmals im gleichen Jahr und wurde nach der Irrenanstalt X. gebracht,
wo er bis 1867 blieb.
Er litt dort an recidivirender Manie mit grosser geschlechtlicher Er-
regung. Einen Darmkatarrh und Aerger bezeichnet er als Ursache seiner da-
maligen Erkrankung.
In der Folge war er wohl, aber er litt sehr unter der Uebermacht seiner
geschlechtlichen Bedürfnisse. Wenn er nur kurze Zeit von seiner Frau ent-
fernt war, zeigte sich der Trieb so mächtig, dass ihm Mensch oder Thier
ganz gleich zur Befriedigung seiner Geschlechtslust war. Namentlich zur
Sommerszeit war es gar arg mit diesen Antrieben, die immer mit einem starken
Blutandrang zum Unterleib einhergingen. Er meint auf Grund von medicin.
Reminiscenzen aus medic. Lektüre, bei ihm überwiege eben das Gangliensystem
über das cerebrale.
Im Oetober 1873 musste er sich seines Berufs wegen von s seinem Frau
trennen. Bis Ostern , ausser zeitweiser Onanie , keine geschlechtlichen Hand-
lungen. Von da an brauchte er Weiber und Hündinnen. Von Mitte Juni bis
7. Juli hatte er keine Gelegenheit zu geschlechtlicher Befriedigung. Er fühlte
sich nervö3 aufgeregt, abgespannt, wie wenn er irre würde. Schlief die letzten
Nächte schlecht. Die Sehnsucht nach seiner Frau, die in Wien lebte, trieb
ihn von seinem Dienst fort. Er nahm Urlaub. Die Hitze unterwegs, der
Lärm der Eisenbahn machten ihn ganz confus, er konnte es vor geschlecht-
licher Aufregung und Blutwallung im Unterleib nicht mehr aushalten, Alles
tanzte ihm vor den Augen. Da verliess er in Brück das Coupe; er sei ganz
verwirrt gewesen, habe nicht gewusst, wohin er gehe, es sei ihm momentan
der Gedanke gekommen, sich ins Wasser zu stürzen, es sei ihm wie ein Nebel
vor den Augen gewesen. Mulierem tunc adspexit, penem nudavit feminamque
amplecti conatus est. Diese schrie jedoch um Hülfe und so wurde er ar.
retirt.
Nach dem Attentat wurde es ihm plötzlich klar, was er gethan. Er
bekannte offen seine That, der er sich in allen Details erinnert, die ihm aber
als etwas Krankhaftes erscheint. Er habe nichts dafür gekonnt.
Ci. litt noch einige Tage an Kopfweh, Congestionen , war ab und zu
Krankhaft gesteigerter Geschlechtstrieb. 53
aufgeregt, unruhig, schlief schlecht. Seine geistigen Functionen sind ungestört,
jedoch ist er ein originär eigenthümlicher Mensch, von schlaffem, energielosem
Wesen. Der Gesichtsausdruck hat etwas faunartig Lüsternes und Verschrobenes.
Er leidet an Hämorrhoiden. Die Genitalien bieten nichts Abnormes. Der
Schädel ist im Stimtheil schmal und etwas fliehend. Körper gross, gut ge-
nährt. Ausser einer Diarrhöe ist an ihm keine Störung der vegetativen Func-
tionen bemerkbar.
Beobachtung 11. Frau E., 47 Jahre. Onkel väterlicherseits war irr-
sinnig, Vater ein exaltirter und in Venere excessiver Mann. Bruder der Pat.
an einer acuten Hirnaffection gestorben. Pat., von Kindheit auf nervös, ex-
centrisch, schwärmerisch, zeigte, kaum den Kinderschuhen entronnen, einen ex-
cessiven Geschlechtstrieb und ergab sich schon mit dem 10. Jahre dem Ge-
schlechtsgenuss. Mit 19 Jahren Heirath. Leidliche Ehe; der sonst leistungsfähige
Gemahl genügte ihr nicht, sie hatte bis auf die letzten Jahre beständig ausser
dem Manne noch mehrere Freunde. Sie war sich der Verwerflichkeit dieser
Lebensweise wohl bewusst, fühlte aber die Ohnmacht ihres Willens gegenüber
dem unersättlichen Trieb, den sie äusserlich wenigstens geheim zu halten
suchte. Sie meinte später, sie habe eben an „Männermanie" gelitten.
Pat. hat 6mal geboren. Vor 6 Jahren Sturz aus dem Wagen mit be-
deutender Hirnerscbütterung. In der Folge Melancholie mit Persecutions-
delirium, welche Krankheit sie der Irrenanstalt zuführte. Pat. nähert sich dem
Klimakterium, Menses in letzter Zeit profus und zu häufig. Seitdem ihr selbst
angenehmes Zurücktreten des früher übermächtigen Triebes. Decentes Ver-
halten. Geringer Grad von Descensus uteri und Prolapsus ani.
Die Hyperaesthesia sexualis kann continuirlich mit Exacer-
bationen vorhanden sein oder intermittirend, selbst periodisch. Im
letzteren Fall ist sie eine cerebrale Neurose für sich (siehe specielle
Pathologie) oder Theilerscheinung eines allgemeinen psychischen
Erregungszustandes (Manie, episodisch bei Dementia paralytica,
senilis u. s. w.).
Einen bemerkenswerthen Fall von intermittirender Satyriasis
hat Lentz (Bulletin de la societe de med. legale de Belgique Nr. 21)
veröffentlicKt.
Beobachtung 12. Seit 3 Jahren hatte der allgemein geachtete, ver-
heirathete Landwirth D., 35 Jahre alt, immer häufigere und heftigere Zustände
von geschlechtlicher Aufregung geboten, die seit einem Jahre sich zu wahren
Paroxysmen von Satyriasis gesteigert hatten. Eine erbliche oder sonstige
organische Ursache war nicht aufzufinden.
D. tempore, quum libidinibus valde afficeretur, decim vel quindecim
cohabitationes per 24 horas exegit, neque tarnen cupiditates suas satiavit.
Allmählig entwickelte sich bei ihm ein Zustand allgemeiner nervöser
Ueberreiztheit (erethisme general) mit grosser Gemüthsreizbarkeit bis zu patho-
logischen Zornaffecten und Drang zu Alcoholausschweifung, die Symptome von
54 Hyperaesthesia sexualis.
Alcoholismus herbeiführte. Seine Anfälle von Satyriasis erreichten solche
Heftigkeit, dass das Bewusstsein sich verdunkelte und der Kranke in blindem
Drang zu geschlechtlichen Akten sich hinreissen Hess. Qua de causa factum
est ut uxorem suam alienis viris immovero animalibus ad coeundum tradi,
cum ipso filiabus praesentibus concubitum exsequi jusserit, propterea quod
haec facta majorem ipsi voluptatem afferent. Die Erinnerung für die Ereig-
nisse auf der Höhe dieser Anfälle, in welchen die extreme Gereiztheit selbst
zu Wuthzornanfällen führte, fehlte gänzlich. D. meinte selbst, er habe
Momente gehabt, in welchen er seiner Sinne nicht mehr mächtig war und,
ohne Befriedigung durch die Frau, an dem nächstbesten weiblichen Individuum
sich hätte vergreifen müssen. Nach einer heftigen Gemüthsbewegung verloren
sich mit einem Male diese geschlechtlichen Aufregungszustände.
Wie mächtig, bedenklich und peinlich die sexuelle Hyperästhesie
für mit dieser Anomalie Behaftete werden kann, lehren folgende
zwei Beobachtungen.
Beobachtung 13. Hyperaesth. sexualis. Delir. acutum ex abstinentia.
Am 29. Mai 1882 wurde F., 23 Jahre, ledig, Schuhmacher, auf der Klinik
aufgenommen. Er stammt von jähzornigem Vater, neuropathischer Mutter,
deren Bruder irrsinnig war.
Pat. war früher nie erheblich krank, kein Trinker, aber von jeher sexuell
sehr bedürftig gewesen. Vor 5 Tagen war er acut psychisch erkrankt. Er
machte am hellen Tage und vor Zeugen 2 Nothzuchtsversuche, delirirte, ver-
haftet, nur von obscönen Dingen, masturbirte masslos, gerieth vom 3. Tage ab
in zornige Tobsucht und bot bei der Aufnahme das Bild eines schweren Deli-
rium acutum mit heftigen motorischen Reizerscheinungen und Fieber. Unter
Ergotinbehandlung wurde Genesung erzielt.
Am 5. Januar 1888 zweite Aufnahme in zorniger Tobsucht. Am 4. war
er moros, reizbar, weinerlich, schlaflos geworden, dann hatte er nach frucht-
losen Attaquen auf Frauenzimmer wachsende zornige Erregung geboten.
Am 6. Steigerung des Zustands zu schwerem Delir. acutum (schwere
Bewusstseinsstörung , Jactation, Zähneknirschen, Grimassiren u. a. motorische
Reizerscheinungen, Temp. bis 40,7). Ganz triebartiges Masturbiren. Genesung
unter energischer Ergotinbehandlung bis 11. Januar.
Pat. gibt genesen interessante Aufschlüsse über die Ursache seiner Er-
krankung.
Von jeher sexuell sehr bedürftig. Erster Coitus mit 16 Jahren. Abstinenz
machte Kopfweh, grosse psychische Reizbarkeit, Mattigkeit, Nachlass der
Arbeitslust, Schlaflosigkeit. Da er auf dem Lande selten Gelegenheit zur Be-
friedigung seiner Bedürfnisse hatte, half er sich mit Masturbation. Er musste
1— 2mal täglich masturbiren.
Seit 2 Monaten kein Coitus. Zunehmende sexuelle Erregung, konnte
nur an Mittel zur Befriedigung seines Triebes denken. Masturbation genügte
nicht zur Bannung der immer mehr sich geltend machenden Beschwerden ex
abstinentia. In den letzten Tagen heftiger Drang nach Coitus, zunehmende
Schlaflosigkeit und Reizbarkeit. Für die Höhe der Erkrankung nur summa-
Krankhaft gesteigerter Geschlechtstrieb. 55
rische Erinnerung. Pat. genesen im December, höchst anständiger Mensch.
Er fasst seinen unbändigen Trieb als entschieden pathologisch auf und fürchtet
sich vor der Zukunft.
Beobachtung 14. Am 11. Juli 1884 wurde R., 33 Jahre, Bediensteter,
mit Paranoia persecutoria und Neurasthenia sexualis aufgenommen. Mutter war
neuropathisch. Vater starb an Rückenmarkskrankheit. Von Kindesbeinen auf
mächtiger, dabei schon im 6. Jahr bewusst gewordener Sexualtrieb. Seit dieser
Zeit Masturbation, vom 15. Jahr an faute de mieux Päderastie, gelegentlich
sodomitische Anwandlungen. Später Abusus des Coitus, in der Ehe cum uxore.
Ab und zu selbst perverse Impulse, Cunnilingus auszuführen, der Frau Can-
thariden beizubringen, da ihre Libido der seinigen nicht entsprach. Nach
kurzer Ehe starb die Frau. Pat. gerieth in schlechte Verhältnisse, hatte keine
Mittel zu coitiren. Nun wieder Masturbation, Benutzung von Lingua canis
zur Erzielung von Ejaculation. Zeitweise Priapismus und der Satyriasis nahe
Zustände. Er war dann gezwungen, zu masturbiren, damit ihm nicht Stuprum
passire. Mit überhandnehmender sexueller Neurasthenie und hypochondrischen
Anwandlungen wohlthätig empfundene Abnahme der Libido nimia.
Ein klassisches Beispiel von reiner Hyperaesthesia sexualis bietet
folgender, für das Verständuiss so mancher, theilweise selbst ge-
schichtlich berühmter Messalinen werthvolle Fall, den ich Trelat's
Folie lucide entlehne.
Beobachtung 15. Frau V. leidet seit frühester Jugend an Männersucht.
Aus guter Familie, feingebildet, gutmüthig, sittsam bis zum Erröthen, war sie
schon als junges Mädchen der Schreck ihrer Familie. Quandoquidem sola erat
cum homine sexus alterius, negligens, utrum infans sit an vir, an senex, utrum
pulcher an teter, statim corpus nudavit et vehementer libidines suas satiari
rogavit vel vim et manus ei iniecit. Man versuchte sie durch Heirath zu
curiren. Maritum quam maxime amavit neque tarnen sibi temperare potuit
quin a quolibet viro, si solum apprehenderat, seu servo, seu mercennario, seu
discipulo coitum exposceret.
Nichts konnte sie von dem Drange curiren. Selbst als sie Grossmutter
war, blieb sie Messaline. Puerum quondam duodecim annos natum in cubi-
culum allectum stuprare voluit. Der Junge wehrte sich, entwich. Sie bekam
eine derbe Züchtigung durch dessen Bruder. Alles vergebens. Man that sie
in ein Kloster. Sie war dort ein Muster von guter Sitte und liess sich nicht
das Mindeste zu Schulden kommen. Sofort nach der Zurücknahme begannen
wieder die Skandale. Die Familie verbannte sie , warf ihr eine kleine Rente
aus. Sie verdiente durch ihrer Hände Arbeit das Nöthige, ut amantes sibi
emere possef. Wer diese sauber gekleidete Matrone von guten Manieren und
liebenswürdigem Wesen sah, konnte nicht ahnen, wie rücksichtslos geschlechts-
bedürftig sie mit 65 Jahren noch war. Am 17. Januar 1854 brachte sie ihre
Familie, verzweifelt durch neue Skandale, in die Irrenanstalt.
Sie lebte dort bis zum Mai 1858, wo sie einer Apoplexia cerebri im
73. Lebensjahr erlag. Ihr Benehmen in der Ueberwachung der Anstalt war
56 Paraesthesia sexualis.
musterhaft. Sich selbst überlassen und unter günstiger Gelegenheit, traten bis
kurz vor dem Tod die sexuellen Dränge zu Tage. Ausgenommen diese, ergab
die vierjährige Beobachtung durch Irrenärzte niemals ein Zeichen von geistiger
Abnormität.
D. Parästhesie der Geschlechtsempfindimg (Perversion des
Geschlechtstriebs).
Hier findet eine perverse Betonung sexueller Vorstellungskreise
mit Gefühlen statt, insofern Vorstellungen, die physio-psychologisch
sonst mit Unlustgefühlen betont sind, mit Lustgefühlen einher-
gehen, und zwar können diese abnorm stark damit sich associiren,
bis zur Höhe von Affecten. Das praktische Resultat sind perverse
Handlungen (Perversion des Geschlechtstriebs). Dies ist um so
leichter der Fall, wenn bis zur Höhe von Affect gesteigerte Lust-
gefühle die etwa noch möglichen gegensätzlichen Vorstellungen mit
entsprechenden Unlustgefühlen hemmen, oder aber solche durch
Fehlen oder Verlust von moralischen, ästhetischen, rechtlichen Vor-
stellungen überhaupt nicht hervorgerufen werden können. Dieser
Fall ist aber nur zu häufig da vorhanden, wo die Quelle ethischer
Vorstellungen und Gefühle (eine normale Geschlechtsempfindung)
von jeher eine trübe oder verpestete war.
Als pervers muss — bei gebotener Gelegenheit zu natur-
gemässer geschlechtlicher Befriedigung — jede Aeusserung des
Geschlechtstriebs erklärt werden, die nicht den Zwecken äer Natur,
i. e. der Fortpflanzung entspricht. Die aus Parästhesie entspringen-
den perversen geschlechtlichen Akte sind klinisch, social und foren-
sisch äusserst wichtig ; deshalb muss auf sie hier näher eingegangen
und jeder ästhetische und sittliche Ekel überwunden werden.
Perversion des Geschlechtstriebs ist, wie sich unten ergeben
wird, nicht zu verwechseln mit Perversität geschlechtlichen Han-
delns, denn dieses kann auch durch nicht psychopathologische Be-
dingungen hervorgerufen sein. Die concrete perverse Handlung, so
monströs sie auch sein mag, ist nicht entscheidend. Um zwischen
Krankheit (Perversion) und Laster (Perversität) unterscheiden zu
können, muss auf die Gesammtpersönlichkeit des Handelnden und
auf die Triebfeder seines perversen Handelns zurückgegangen werden.
Darin liegt der Schlüssel der Diagnostik (s. u.).
Parästhesie kann mit Hyperästhesie combinirt vorkommen.
Per version des Geschlechtstriebs. 57
Diese Combination erscheint klinisch als eine häufige. Bestimmt
sind dann sexuelle Akte zu gewärtigen. Die perverse Richtung
der Geschlechtsbefriedigung kann auf sexuelle Befriedigung am an-
deren Geschlecht und auf solche am eigenen abzielen.
Damit ergeben sich zwei für die Eintheilung des zu behan-
delnden Stoffes benutzbare grosse Gruppen von Perversion des
Sexuallebens.
I. Geschlechtliche Neigung zu Personen des anderen Geschlechts
in perverser Bethätigung des Triebs.
1) Verbindung von aktiver Grausamkeit und Gewaltthätigkeit mit
Wollust — Sadismus 1).
Dass Wollust und Grausamkeit häufig mit einander verbun-
den auftreten, ist eine längst bekannte und nicht selten zu be-
obachtende Thatsache. Schriftsteller aller Richtungen haben auf
diese Erscheinung hingewiesen 2). Noch innerhalb der Breite des
Physiologischen stehen die nicht seltenen Fälle, wo sexuell sehr
erregbare Individuen während des Coitus den Consors beissen oder
kratzen 3).
Schon ältere Autoren haben auf den Zusammenhang zwischen Wollust
und Grausamkeit aufmerksam gemacht.
Blumröder (Ueber Irresein, Leipzig 1836, p. 51) hominem vidit, qui
compluria vulnera in musculo pectorali habuit, quae femina valde libidinosa
in summa voluptate mordendo effecit.
In einer Abhandlung „ Ueber Lust und Schmerz" (Friedreich's Ma-
gazin für Seelenkunde 1830, II, 5) macht er speciell aufmerksam auf den
psychologischen Zusammenhang zwischen Wollust und Mordlust. Er verweist
in dieser Hinsicht auf die indische Mythe von Siwa und Durga (Tod und Wol-
lust), auf die Menschenopfer mit wollüstigen Mysterien, auf die sexuellen Triebe
*) So genannt nach dem berüchtigten Marquis de Sade, dessen obscöne
Romane von Wollust und Grausamkeit triefen. In der französischen Literatur
ist der Ausdruck „Sadismus" zur Bezeichnung dieser Perversion eingebürgert.
2) U. A. Novalis in seinen „Fragmenten", Gör res, „Christliche Mystik",
Bd. HI, S. 460.
3) Vergl. auch die berühmten Verse Alfred de Musset's an die Anda-
lusierin :
Qu' eile est süperbe en son desordre, — quand eile tombe, les seine nus —
Qu'on la voit, beante, se tordre — dans un baiser de rage et mordre —
En hurlant des mots inconnus!
58 Paraesthesia sexualis.
in der Pubertät mit wollüstig gefühltem Drang zum Selbstmord, mit Peitschen,
Zwicken, Blutigstechen der Genitalien im dunklen Drang nach Befriedigung
der Geschlechtslust.
Auch Lombroso (Verzeni e Agnoletti, Roma 1874) bringt zahlreiche
Beispiele für das Auftreten von Mordlust bei hochgesteigerter Wollust.
Umgekehrt tritt oft, wenn die Mordlust aufgestachelt ist, in
ihrem Gefolge die Wollust auf. Lombroso führt op. cit. die von
Mantegazza erwähnte Thatsache an, dass sich den Schrecken einer
Plünderung seitens der Soldateska regelmässig viehische Wollust
hinzugeselle x).
Diese Beispiele stellen Uebergänge zu ausgesprochen patho-
logischen Fällen dar.
Belehrend sind die Beispiele entarteter Cäsaren (Nero, Tiberius), die sich
daran ergötzten, Jünglinge und Jungfrauen vor ihren Augen abschlachten zu
lassen, nicht minder die Geschichte jenes Scheusals, des Marschalls Gilles de
Rays (Jacob, Curiosites de l'histoire de France. Paris 1858), der 1440 wegen
Schändung und Tödtung, die er während 8 Jahren an über 800 Kindern be-
gangen hatte, hingerichtet wurde. Wie dieses Ungeheuer bekannte, war es
durch die Lektüre des Suetonius und die Schilderungen der Orgien eines Tiber,
Caracalla u. s. w. auf die Idee gekommen, Kinder in seine Schlösser zu locken,
sie unter Martern zu schänden und dann zu tödten. Der Unmensch versicherte,
bei der Verübung dieser Thaten eine unerklärliche Seligkeit genossen zu haben.
Er hatte dabei zwei Helfershelfer. Die Leichen der unglücklichen Kinder wur-
den verbrannt und nur eine Anzahl von besonders hübschen Kinderköpfen
wurde — zum Andenken aufbewahrt.
Beim Versuch einer Erklärung der Verbindung von Wollust
und Grausamkeit muss man auf die quasi noch physiologischen
Fälle zurückgehen, in denen, im Momente der höchsten Wollust,
ein sehr erregbares, aber sonst normales Individuum Akte wie Beissen
und Kratzen begeht, die sonst vom Zorne eingegeben werden.
Erinnert muss ferner daran werden, dass die Liebe und der Zorn
nicht nur die beiden stärksten Affecte, sondern auch die beiden
*) In der Exaltation des Kampfes drängt sich die Vorstellung der Exal-
tation der Wollust ins Bewusstsein. Vgl. bei Grillparzer die Schilderung
einer Schlacht durch einen Krieger:
„Und als nun erschallt das Zeichen, — beide Heere sich erreichen, —
Brust an Brust, — Götterlust! — herüber, hinüber, — jetzt Feinde, jetzt
Brüder — streckt der Mordstahl nieder. — Empfangen und Geben — den
Tod und das Leben — im wechselnden Tausch — wild taumelnd im Rausch!"
Traum ein Leben, 1. Akt.
Sadismus. 59
allein möglichen Formen des rüstigen (sthenischen) Affects sind.
Beide suchen ihren Gegenstand auf, wollen sich seiner bemächtigen
und entladen sich naturgemäss in einer körperlichen Einwirkung
auf denselben; beide versetzen die psychomotorische Sphäre in die
heftigste Erregung und gelangen mittelst dieser Erregung zu ihrer
normalen Aeusserung.
Von diesem Standpunkte aus wird es begreiflich, dass die
Wollust zu Handlungen treibt, die sonst dem Zorn adäquat sind 1).
Sie ist wie dieser ein Exaltationszustand, eine mächtige Erregung
der gesammten psychomotorischen Sphäre. Daraus entsteht ein
Drang, gegen das Object, welches den Reiz hervorruft, auf alle
mögliche Weise und in der intensivsten Art zu reagiren. So wie
die maniakalische Exaltation leicht in furibunde Zerstörungssucht
übergeht, so erzeugt die Exaltation des geschlechtlichen Affects
manchmal einen Drang, die allgemeine Erregung in sinnlosen und
scheinbar feindseligen Akten zu entladen. Diese stellen sich gewisser-
massen als psychische Mitbewegungen dar; es handelt sich aber
nicht etwa um eine blosse unbewusste Erregung der Muskelinner-
vation (was als blindes Umsichschlagen nebenbei auch vorkommt),
sondern um eine wahre Hyperbulie, um den Willen, auf das Indi-
viduum, von dem der Reiz ausgeht, eine möglichst starke Wirkung
auszuüben. Das stärkste Mittel dazu ist aber die Zufügung von
Schmerz.
Von solchen Fällen der Schmerzzufügung im höchsten Affecte
der Wollust ausgehend, gelangt man zu Fällen, in denen es zur
ernstlichen Misshandlung, zur Verwundung und selbst zur Tödtung
des Opfers kommt2). In diesen Fällen ist der Trieb zur Grausam-
keit, der den wollüstigen Affect begleiten kann, in einem psycho-
pathischen Individuum ins Masslose gewachsen, während anderer-
seits wegen Defectuosität der moralischen Gefühle alle normalen
Hemmungen entfallen oder sich zu schwach erweisen.
Derartige monströse — sadistische Handlungen haben aber
beim Manne, bei welchem sie weit häufiger vorkommen als beim
J) Schulz, Wiener med. Wochenschrift 1869, Nr. 49, berichtet einen
merkwürdigen Fall von einem 28jährigen Mann, der mit seiner Frau den Coitus
nur dann vollziehen konnte , wenn er sich vorher künstlich in die Stimmung
des Zornes versetzte.
2) Ueber analoge Vorkommnisse bei brünstigen Thieren s. Lombroso
(Der Verbrecher, übers, v. Fränkel p. 18).
(50 Paraesthesia sexualis.
Weibe, noch eine zweite starke Wurzel in physiologischen Ver-
hältnissen.
Im Verkehr der Geschlechter kommt dem Manne die aetive,
selbst aggressive Rolle zu, während das Weib passiv, defensiv sich
verhält1). Für den Mann gewährt es einen grossen Reiz, das
Weib sich zu erobern, es zu besiegen, und in der Ars amandi bildet
die Züchtigkeit des in der Defensive bis zum Zeitpunkte der Hin-
gebung verharrenden Weibes ein Moment von hoher psychologischer
Bedeutung und Tragweite. Unter normalen Verhältnissen sieht sich
also der Mann einem Widerstände gegenüber, welchen zu über-
winden seine Aufgabe ist und zu dessen Ueberwindung ihm die
Natur den aggressiven Charakter gegeben hat. Dieser aggressive
Charakter kann aber unter pathologischen Bedingungen gleichfalls
ins Masslose wachsen und zu einem Drange werden, sich den Gegen-
stand seiner Begierden schrankenlos zu unterwerfen, bis zur Ver-
nichtung, Tödtung desselben 2) 3).
J) Auch bei den Thieren ist es regelmässig das Männchen, welches das
Weibchen mit Liebesanträgen verfolgt. Verstellte oder ernstliche Flucht des
Weibchens ist nicht selten zu beobachten; dann kommt es zu einem ähnlichen
Verhältniss wie zwischen Raubthier und Beutethier.
2) Die Eroberung des Weibes findet heutzutage in der civilen Form der
Courmacherei, Verführung, List u. s. w. statt. Aus der Culturgeschichte und
der Anthropologie wissen wir, dass es Zeiten gab und noch Völker gibt, in
welchen die brutale Gewalt, der Raub, selbst die Wehrlosmachung des Weibes
durch Keulenschläge die Liebesbewerbung ersetzte. Es ist möglich, dass atavisti-
sche Rückschläge in derartige Neigungen zu Ausbrüchen des Sadismus beitragen.
3) In den Jahrbüchern für Psychologie II p. 128 referirt Schäfer (Jena)
über zwei Krankheitsberichte A. Payer's. In dem ersten Falle wurden Zu-
stände höchster sexueller Erregung durch den Anblick von Kampfscenen, selbst
gemalten, ausgelöst ; in dem anderen durch grausame Quälereien kleiner Thiere
(s. unten p. 72). Referent fügt hinzu: „Kampflust und Mordgier sind in der
ganzen Thierreihe so überwiegend ein Attribut des männlichen Geschlechts,
dass ein engster Zusammenhang dieser Seite männlicher Neigungen mit der
rein sexuellen wohl ausser Frage steht. Ich glaube übrigens auf. Grund ein-
wandfreier Beobachtungen constatiren zu dürfen, dass auch bei psychisch und
sexuell vollkommen gesunden männlichen Personen die ersten dunklen und
unverstandenen Vorboten sexueller Regungen durch die Lektüre aufregender
Jagd- und Kampfscenen ausgelöst werden können, resp. in unbewusstem Drange
nach einer Art Befriedigung zu kriegerischen Knabenspielen (Ringkämpfen)
Veranlassung geben, in denen ja auch der Fundamentaltrieb des Geschlechts-
lebens nach möglichst extensiver und intensiver Berührung des Partners mit
dem mehr oder weniger deutlichen Hintergedanken der Ueberwältigung zum
Ausdruck kommt."
Sadismus. 61
Treffen diese beiden constituirenden Elemente, der abnorm
gesteigerte Drang nach einer heftigen Reaction . gegen den Gegen-
stand des Reizes und das krankhaft gesteigerte Bedürfniss , sich
das Weib zu unterwerfen , zusammen, so wird es zu den heftigsten
Ausbrüchen des Sadismus kommen.
Sadismus ist also nichts Anderes als eine pathologische Steige-
rung von — andeutungsweise auch unter normalen Umständen mög-
lichen — Begleiterscheinungen der psychischen Vita sexualis, ins-
besondere der männlichen, ins Masslose und Monströse. Es ist
aber selbstverständlich durchaus nicht nothwendig und durchaus
nicht die Regel, dass das sadistische Individuum sich dieser Elemente
seines Triebs bewusst sei. Was es empfindet, ist in der Regel
nur der Drang nach grausamen und gewaltthätigen Handlungen
am entgegengesetzten Geschlecht und die Betonung der Vorstellung
solcher Akte mit wollüstigen Empfindungen. Daraus ergibt sich
ein mächtiger Impuls, die vorgestellten Handlungen wirklich zu
begehen. Insofern die eigentlichen Motive dieses Dranges dem
Handelnden nicht bewusst werden, tragen die sadistischen Akte
den Charakter impulsiver Handlungen.
Wenn die Association zwischen Wollust und Grausamkeit
vorhanden ist, so weckt nicht nur der wollüstige Affect den Drang
zur Grausamkeit, sondern auch umgekehrt: Vorstellung und be-
sonders der Anblick grausamer Handlungen wirken sexuell er-
regend und werden in diesem Sinne vom perversen Individuum
benützt *).
Eine empirische Unterscheidung zwischen originären und er-
worbenen Fällen von Sadismus ist nicht durchführbar. Viele ab
origine belastete Individuen bieten geraume Zeit hindurch Alles
auf, um ihren perversen Trieben zu widerstehen. Ist die Potenz
noch vorhanden, so führen sie anfangs, oft mit Zuhülfenahme inner-
licher Vorstellungen perverser Art, eine normale Vita sexualis.
Später erst, nach allmähliger Ueberwindung der ethischen und
ästhetischen Gegenmotive und nach immer wiederholter Erfahrung,
dass der normale Akt nicht voll befriedigt, kommt es zum Durch-
bruch des krankhaften Triebes nach aussen. Durch diese späte
Umsetzung einer originären perversen Anlage in Handlungen kann
*) Es kommt auch vor, dass eine zufällige Wahrnehmung von Blut-
vergiessen u. dgl. den präformirten psychischen Mechanismus des Sadisten erst
in Bewegung 3etzt und den latenten perversen Trieb weckt.
(32 Paraesthesia sexualis.
der Schein einer erworbenen Perversion vorgetäuscht werden. A priori
ist aber anzunehmen, dass dieser psychopathische Zustand stets ab
origine besteht. Die Begründung dieser Annahme s. unten.
Die sadistischen Akte sind dem Grade ihrer Monstrosität nach
verschieden, je nach der Macht des perversen Triebs über das er-
griffene Individuum und der Stärke der noch vorhandenen Wider-
stände, welche fast immer durch originäre ethische Defecte, erbliche
Degenerescenz, moralisches Irresein, mehr oder minder herabgesetzt
sind. So entsteht eine lange Reihe von Formen, welche mit den
schwersten Verbrechen beginnt und bei läppischen Handlungen
endigt, die dem perversen Bedürfnisse des Sadisten eine bloss sym-
bolische Befriedigung gewähren sollen.
Die sadistischen Akte können ferner noch ihrer Art nach
unterschieden werden, je nachdem sie entweder nach consumirtem
Coitus, durch welchen die Libido nimia noch nicht gesättigt ist»
vorgenommen werden, oder bei gesunkener Potenz präparatorisch
zur Aufstachelung der gesunkenen Kraft verwendet werden, oder
endlich bei gänzlich fehlender Potenz als Aequivalent an die Stelle
des unmöglich gewordenen Coitus, zur Erzielung der Ejaculation
treten. In den beiden letzteren Fällen besteht jedoch trotz der
Impotenz noch heftige Libido, oder hat wenigstens beim betreffenden
Individuum zur Zeit bestanden, als sadistische Akte gewohnheits-
mässig wurden. Sexuelle Hyperästhesie ist immer als Basis sadi-
stischer Neigungen zu betrachten. Die Impotenz, welche bei den
hier in Betracht kommenden psycho- und neuropathischen In-
dividuen, in Folge ihrer meistens von früher Jugend an geübten
Excesse, so häufig ist, wird in der Regel spinale Schwäche sein.
Manchmal mag auch eine Art psychischer Impotenz eintreten, durch
die Concentration des Denkens auf den perversen Akt, neben
welchem das Bild der normalen Befriedigung verblasst.
Wie immer die That äusserlich beschaffen sein mag, für ihr
Verständniss wesentlich ist immer die seelisch-perverse Veranlagung
und Triebrichtung des Thäters.
a) Lustmord1) (Wollust, potenzirt als Grausamkeit, Mord-
lust bis zur Anthropophagie).
Am grässlichsten, aber auch am bezeichnendsten für den Zu-
sammenhang zwischen Wollust und Mordlust ist der Fall des An-
') Vgl. Metzger's ger. Arzneiw., herausgegeben von Reraer, p. 539.
Sadismus. 63
dreas Bichel, den Feuerbach in seiner „aktenmässigen Darstellung
merkwürdiger Verbrechen" veröffentlicht hat.
B. puellas stupratas necavit et dissecuit. Bezüglich des Mordes eines
seiner Opfer äusserte er sich folgendermassen im Verhör:
„Ich habe ihr die Brust geöffnet und mit einem Messer die fleischigen
Theile des Körpers durchschnitten. Darauf habe ich mir diese Person, wie
der Metzger das Vieh, zugerichtet und habe den Körper mit dem Beil von
einander gehackt, so wie ich ihn für das Loch brauchen konnte, das ich zum
Einscharren auf dem Berg gemacht hatte. Ich kann sagen, dass ich während
des Oeffnens so gierig war, dass ich zitterte und mir ein Stück wollte heraus-
geschnitten und gegessen haben."
Auch Lombroso (Geschlechtstrieb und Verbrechen in ihren gegen-
seitigen Beziehungen, Goltdammer's Archiv Bd. 30) führt bezügliche Fälle
an, so einen gewissen Philippe, der die Freudenmädchen post actum zu er-
würgen pflegte und meinte: „Die Weiber habe ich lieb, aber es macht mir
Spass, sie zu erwürgen, nachdem ich sie genossen."
Ein gewisser Grassi (Lombroso op. cit. p. 12) wurde Nachts von ge-
schlechtlicher Begierde gegen eine Verwandte ergriffen. Durch ihren Wider-
stand gereizt, versetzte er ihr mehrere Messerstiche in den Unterleib, und da
der Vater und der Onkel der Unglücklichen ihn zurückhalten wollten, erschlug
er auch diese. Deinde statim ad meretricem properavit, ut in eius amplexu
libidinem suam ardentem satiaret. Doch das genügte nicht. Er mordete
dann noch seinen Vater und tödtete mehrere Ochsen im Stalle.
Dass eine grössere Anzahl von sog. Lustmorden auf Hyperästhesie
in Verbindung mit Paraesthesia sexualis beruhen, ist nach allem
Vorausgehenden nicht zu bezweifeln.
So kann es auf Grund perverser Gefühlsbetonung zu weiteren
Akten der Brutalität gegen den Leichnam kommen, so z. B. zum
Zerstücken desselben, wollüstigem Wühlen in dessen Eingeweiden.
Schon der Fall Bichel deutet diese Möglichkeit an.
Ein Beispiel aus neuerer Zeit ist Menesclou (Annales d'hygiene
publique), von Lasegue, Brouardel, Motet begutachtet, für
geistig gesund erklärt und hingerichtet.
Beobachtung 16. Am 15. April 1880 verschwand ein vierjähriges
Mädchen aus der Wohnung seiner Eltern. Am 16. verhaftete man Menesclou,
einen der Miether des Hauses. In seinen Taschen fand man die Vorderarme
des Kindes, aus dem Ofen zog man den Kopf und Eingeweide halb verkohlt
hervor. Auch im Abort fanden sich Theile der Leiche. Die Genitalien wurden
nicht aufgefunden. M. , über ihren Verbleib gefragt, wurde verlegen. Die
Klein's Annalen X, p. 176, XVIII, p. 311. Heinroth, System der psych,
ger. Med. p. 270. Neuer Pitaval 1855. 23. Th. (Fall Blaize Ferrage).
(34 Paraesthesia sexualis.
Umstände, sowie ein bei ihm gefundenes schlüpfriges Gedicht Hessen keinen
Zweifel, dass er das Kind geschändet und dann ermordet hatte. M. äusserte
keine Reue, seine That sei eben ein Unglück. Die Intelligenz ist beschränkt.
Er bietet keine anatomischen Degenerationszeichen, ist schwerhörig, skrophulös.
M., 20 Jahre alt, litt im Alter von 9 Monaten an Convulsionen; später
litt er an unruhigem Schlaf, Enuresis nocturna, war nervös, entwickelte sich
verspätet und mangelhaft. Von der Pubertät an wurde er reizbar, zeigte
schlimme Neigungen, war faul, ungelehrig, in allen Beschäftigungen unbrauch-
bar. Selbst im Correctionshause wurde er nicht besser. Man that ihn zur
Marine, auch dort that er nicht gut. Heimgekehrt, bestahl er seine Eltern,
trieb sich in schlechter Gesellschaft herum. Den Weibern lief er nicht nach,
der Onanie war er eifrig ergeben, gelegentlich sodomisirte er Hündinnen.
Seine Mutter litt an Mania menstrualis periodica, ein Onkel war irrsinnig,
ein anderer trunksüchtig.
Bei der Untersuchung von M.'s Gehirn erwiesen sich beide Stirnlappen,
die erste und zweite Schläfenwindung, sowie ein Theil der Occipitalwindungen
krankhaft verändert.
Beobachtung 17. Commis Alton in England geht vor die Stadt
spazieren. Er lockt ein Kind in ein Gebüsch, kehrt nach einer Weile zurück
und geht auf sein Bureau , wo er die Notiz „Killed to-day a young girl, it
was fine and hot" in sein Tagebuch macht.
Man vermisst das Kind, sucht es, findet es in Stücke zerfetzt; manche
Theile, darunter die Genitalien, sind nicht auffindbar. A. zeigte nicht die
geringste Spur von Gemüthsbewegung und gab keine Aufschlüsse über Motive
und Umstände seiner schrecklichen That.
Er war ein psychopathischer Mensch, hatte zeitweise Depressionszustände
mit Taedium vitae.
Sein Vater hatte einen Anfall von acuter Manie gehabt, ein naher Ver-
wandter litt an Manie mit Mordtrieben. A. wurde hingerichtet.
In derartigen Fällen kann es geschehen , dass sogar Gelüste
nach dem Fleisch des ermordeten Opfers auftreten und dass in
Folgegebung dieser perversen Betonung der bezüglichen Vorstellung
Theile der Leiche verzehrt werden.
Beobachtung 18. Leger, Winzer, 24 Jahre alt, von Jugend auf finster,
verschlossen, leutscheu, geht fort, um eine Stelle zu suchen. Er treibt sich
8 Tage in einem Walde herum, puellam apprehendit XII annorum: stupratae
genitalia mutilat, cor eripit, isst davon, trinkt das Blut und verscharrt den
Leichnam. Verhaftet, leugnet er anfangs, gesteht aber endlich sein Verbrechen
mit cynischer Kaltblütigkeit. Er hört sein Todesurtheil gleichgültig an und
wird hingerichtet. Esquirol fand bei der Section krankhafte Verwachsungen
zwischen Hirnhäuten und Gehirn (Georget, Darstellung der Processe Leger,
Feldtmann etc., übersetzt von Amelung, Darmstadt 1827).
Beobachtung 19. Tirsch, Siechenhauspfründner in Prag, 55 Jahre
alt, von jeher verschlossen, eigentümlich, roh, höchst reizbar, mürrisch, räch-
Sadismus. 65
süchtig, wegen Nothzuchtsversuch an einem 10jährigen Mädchen zu 20 Jahren
verurtheilt, hatte in letzter Zeit durch Wuthausbrüche aus geringem Anlass
und durch Taedium vitae Aufmerksamkeit erregt.
1864, nach Abweisung eines einer Wittwe gemachten Heirathsantrags,
hatte er einen Hass gegen die Frauenzimmer gefasst und trieb sich am 8. Juli
herum, in der Absicht, eine von diesem verhassten Geschlecht zu tödten.
Vetulam occurentem in silvam allexit, coitum poposcit, renitentem pro-
stravit, jugulum feminae compressit „furore captus". Cadaver virga betulae
desecta verberare voluit nequetamen id perfecit, quia conscientia sua haec
fieri vetuit, cultello mammas et genitalia desecta domi cocta proximis diebus
cum globis comedit. Am 12. September bei der Verhaftung fand man noch
Reste dieses grauenvollen Mahles vor. Er motivirte seine Handlung mit „inner-
licher Gier", wünschte selbst seine Hinrichtung, da er ja immer ein Verstossener
gewesen sei. In der Haft enorme Gemüthsreizbarkeit, gelegentlich Wuth-
ausbruch, der mehrtägige Beschränkung nöthig machte und mit Nahrungs-
weigerung einherging. Es wurde aktenmässig constatirt, dass die meisten
seiner früheren Excesse mit Ausbrüchen von Aufregung und Wuth zusammen-
fielen (Maschka, Prager Vierteljahrsschrift 1886, I, p. 79; Gauster bei
Maschka, Handb. der ger. Medicin, IV, p. 489).
In die Reihe dieser psycho-sexualen Monstra gehört wohl auch
der Frauenmörder von Whitechapel 1). Das regelmässige Fehlen
von Uterus, Ovarien und Labien bei den (10) Opfern dieses modernen
„Blaubart" spricht überdies für die Annahme, dass er in Anthropo-
phagie noch weitergehende Befriedigung sucht und findet.
In anderen Fällen von Lustmord unterbleibt aus physischen
oder psychischen Gründen (s. oben) das Stuprum, und das sadistische
Verbrechen tritt, allein als Ersatz für den Coitus auf.
Das Prototyp solcher Fälle ist der folgende Fall des Verzeni.
Das Leben seiner Opfer hing von dem raschen oder tardiven Ein-
treten der Ejaculation ab. Da dieser denkwürdige Fall Alles bietet,
was die gegenwärtige Wissenschaft über den Zusammenhang von
Wollust mit Mordlust bis zur Anthropophagie kennt, so möge er,
zumal da er gut beobachtet ist, ausführliche Erwähnung finden.
Beobachtung 20. Vincenz Verzeni, geb. 1849, seit dem 11. Januar
1872 in Haft, ist angeklagt 1) der versuchten Erdrosselung seiner Muhme
Marianne, als dieselbe vor vier Jahren krank zu Bette lag; 2) des gleichen
Verbrechens an der 27jährigen Ehefrau Arsuffi ; 3) der versuchten Erdrosselung
der Ehefrau Gala, indem er ihr die Kehle zudrückte, während er auf ihrem
Leib kniete; 4) ausserdem verdächtig folgender Mordthaten:
*) Vgl. u. A. Spitzka, The Journal of nervous and mental Disease,
Dec. 1888; Kiernan, The medical Standard, Nov.-Dec. 1888.
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 5
QQ Paraesthesia sexualis.
Im December begab sich die 14jährige Johanna Motta Morgens zwischen
7 und 8 Uhr auf ein benachbartes Dorf. Da sie nicht zurück kam, ging ihr
Dienstherr aus, um sie zu suchen, und fand ihren Leichnam in der Nähe des
Dorfes an einem Feldweg, durch eine Unzahl von Wunden greulich verstümmelt.
Die Gedärme und Genitalien waren aus dem geöffneten Leibe herausgerissen
und fanden sich in der Nähe. Die Nacktheit der Leiche, Erosionen an deren
Schenkeln Hessen ein unsittliches Attentat vermuthen, der mit Erde gefüllte
Mund deutete auf Erstickung. In der Nähe der Leiche unter einem Stroh-
haufen fanden sich ein abgerissenes Stück der rechten Wade und Kleidungs-
stücke vor. Der Thäter blieb unermittelt.
Am 28. August 1871 früh Morgens ging die 28jährige Ehefrau Frigeni
aufs Feld. Da sie um 8 Uhr nicht zurück war, ging ihr Mann fort, sie zu
holen. Er fand sie als Leiche nackt auf dem Feld, mit einer von Erdrosse-
lung herrührenden Strangrinne am Hals , mit zahlreichen Verletzungen , auf-
geschlitztem Bauch und heraushängenden Därmen.
Am 29. August, Mittags, als Maria Previtali, 19 Jahre alt, übers Feld
ging, wurde sie von ihrem Vetter Verzeni verfolgt, in ein Getreidefeld ge-
schleppt, zu Boden geworfen und am Halse gewürgt. Als er sie einen Moment
losliess, um zu spähen, ob Niemand in der Nähe sei, erhob sich das Mädchen
und erreichte durch sein flehentliches Bitten, dass V. es laufen Hess, nachdem
er ihm während einiger Zeit noch die Hände zusammengepresst hatte.
V. wurde vor Gericht gestellt. Er ist 22 Jahre alt, sein Schädel über
mittelgross, asymmetrisch. Das rechte Stirnbein ist schmäler und niedriger als
das linke, der Stirnhöcker rechts wenig entwickelt, das rechte Ohr kleiner
als das linke (um 1 cm in der Höhe und 3 in der Breite) ; beide Ohren er-
mangeln der unteren Hälfte des Helix, die rechte Schläfenarterie ist etwas athero-
matös. Stiernacken, enorme Entwicklung des Os zygomat. und des Unter-
kiefers, Penis sehr entwickelt, Frenulum fehlend ; leichter Strabismus alternans
divergens (Insuffizienz der Mm. recti interni und Myopie). Lombroso schliesst
aus diesen Degenerationszeichen auf eine angeborene Bädungshemmung des
rechten Stirnlappens. Wie es scheint, ist Verzeni ein Hereditarier — zwei
Onkel sind Cretins, ein dritter ist mikrocephal, bartlos, ein Hode fehlend, der
andere atrophisch. Der Vater bietet Spuren von peUagröser Entartung und
hatte einen Anfall von Hypochondria pellagrosa. Ein Vetter litt an Hyperaemia
cerebri, ein anderer ist Gewohnheitsdieb.
Verzeni's FamiHe ist bigott, von schmutzigem Geiz. Er selbst zeigt ge-
wöhnliche Intelligenz, weiss sich gut zu vertheidigen, sucht sein Alibi zu be-
weisen, Andere zu verdächtigen. In seiner Vergangenheit findet sich nichts,
was auf Geisteskrankheit deutet; sein Charakter ist übrigens auffällig; er ist
schweigsam, Hebt die Einsamkeit. Im Gefängniss cynisch, Masturbant; sucht
sich um jeden Preis den Anblick von Weibern zu verschaffen.
V. gestand endlich seine Thaten und deren Motive ein. Ihre Begehung
habe ihm ein unbeschreiblich angenehmes (wollüstiges) Gefühl verschafft, das
von Erection und Samenergiessung begleitet war. Schon wenn er seine Opfer
am Halse kaum berührt hatte, stellten sich sexuelle Empfindungen ein. Es
sei ihm ganz gleich in Bezug auf diese Empfindungen gewesen, ob die Frauen
alt, jung, hässlich oder schön waren. Gewöhnlich habe schon das einfache
Drosseln derselben ihn befriedigt, und dann habe er seine Opfer am Leben
Sadismus. 67
gelassen — in den erwähnten 2 Fällen habe die geschlechtliche Befriedigung
gezögert, einzutreten, und da habe er zugedrückt, bis seine Opfer todt waren.
Seine Befriedigung bei diesen Garottirungen sei grösser gewesen, als wenn er
onanirte. Die Hautabschürfungen an den Schenkeln der Motta seien durch
seine Zähne entstanden, als er mit grossem Genuss das Blut aussaugte. Ein
Wadenstück derselben habe er ausgesogen und dann mitgenommen, um es
daheim zu rösten, es indessen unterwegs unter einem Strohhaufen verborgen, aus
Furcht, dass seine Mutter hinter seine Streiche komme. Auch die Kleider und
Eingeweide habe er ein Stück weit mitgenommen, weil es ihm einen Genuss
gewährte, sie zu beriechen und zu betasten. Die Stärke, die er in diesen
Momenten höchster Wollust besessen, sei enorm gewesen. Ein Narr sei er nie
gewesen ; bei der Ausführung seiner Thaten habe er gar nichts mehr um sich
gesehen (offenbar durch höchste sexuelle Erregung aufgehobene Apperception
und instinctives Handeln). Nachher sei ihm immer sehr behaglich gewesen,
ein Gefühl grosser Befriedigung; Gewissensbisse habe er nie gehabt. Nie sei
es ihm in den Sinn gekommen, die Geschlechtstheile der von ihm gemarterten
Frauen zu berühren oder die Opfer zu stupriren, es habe ihm genügt, sie zu
erdrosseln und ihr Blut zu saugen. In der That scheinen die Angaben dieses
modernen Vampyrs auf Wahrheit zu beruhen. Normale geschlechtliche An-
triebe scheinen ihm fremd gewesen zu sein — zwei Geliebte, die er hatte,
begnügte er sich zu beschauen — es ist ihm selbst auffällig, dass er keine
Gelüste ihnen gegenüber hatte, sie zu drosseln oder ihnen die Hände zu pressen,
aber freilich habe er mit ihnen nicht denselben Genuss gehabt wie mit seinen
Opfern. Von moralischem Sinne, Reue u. dgl. fand sich keine Spur.
Verzeni sagte selbst, es dürfte gut sein, wenn man ihn eingesperrt lasse,
denn in der Freiheit könne er seinem Gelüste keinen Widerstand leisten. V.
wurde zu lebenslänglichem Kerker verurtheilt. (Lombroso: Verzeni e Agno-
letti, Roma 1873.)
Interessant sind die Geständnisse, welche V. nach seiner Verurtheilung
machte.
„Incredibilem voluptatem habui feminas suffocans, erectiones tum sensi
atque vera libidine affectus sum. Vel vestimenta mulierum olfacere volupta-
tem mihi adtulit. In suffocando feminas maiorem voluptatem inveni quam
in masturbando. Bei dem Trinken des Blutes der Motta empfand ich grosses
Wohlgefallen. Es gewährte mir auch grossen Genuss , den Ermordeten die
Haarnadeln aus dem Haar zu ziehen.
„Die Kleider und Eingeweide nahm ich aus Lust, sie zu beriechen und
zu betasten. Meine Mutter kam schliesslich hinter meine Streiche, weil sie
nach jedem Mord oder Mordversuch Spermaflecke in meinem Hemd bemerkte.
Verrückt bin ich nicht, aber in jenen Augenblicken des Würgens sah ich gar
nichts mehr. Nach der Verübung der Thaten war ich befriedigt und fühlte
mich wohl. Es fiel mir nie ein, die Geschlechtstheile u. dgl. zu berühren oder
zu beschauen. Es genügte mir, die Weiber am Halse zu quetschen und ihr
Blut zu saugen. Ich weiss heute noch nicht, wie das Weib gebaut ist.
„Während des Würgens und nach demselben drückte ich mich an
den ganzen Leib, ohne auf einen Körpertheil mehr als auf den anderen zu
achten."
V. war ganz von selbst auf seine perversen Akte gekommen, nachdem
68 Paraesthesia sexualis.
er, 12 Jahre alt, bemerkt hatte, dass ihn ein seltsames Lustgefühl überkomme,
wenn er Hühner zu erwürgen hatte. Deshalb habe er auch öfters Massen da-
von getödtet und dann vorgegeben, ein Wiesel sei in den Hühnerstall ein-
gedrungen (Lombroso, G-oltdammer's Archiv Bd. 30, p. 13).
Einen analogen Fall führt Lombroso (G o 1 1 d a m m e r's Archiv)
an, der in Vittoria (Spanien) vorkam.
Beobachtung 21. Ein gewisser Gruyo , 41 Jahre alt, von früher un-
bescholtenem Lebenswandel und 3mal verheirathet gewesen, erwürgte im Lauf
von 10 Jahren 6 Weiber. Sie waren fast sämmtlich öffentliche Dirnen und
schon ziemlich alt. Suffocatis per vaginam intestina et renes extraxit. Non-
nullas miseras ante mortem stupravit, alias (si forte impotens erat) non stupra-
vit. Er verfuhr bei seinen Greuelthaten mit solcher Vorsicht, dass er 10 Jahre
lang unentdeckt blieb.
b) Leichenschänder.
An die grauenvolle Gruppe der Lustmörder reihen sich natur-
gemäss die Nekrophilen, insofern bei ihnen, gleichwie bei Lust-
mördern und analogen Fällen, eine an und für sich Grauen er-
weckende Vorstellung, vor der der Gesunde, bezw: Nichtentartete,
zurückschaudert, mit Lustgefühlen betont und damit zum Impuls
für nekrophile Akte wird.
Die in der Literatur vorkommenden Fälle von Leichen-
schändung machen den Eindruck pathologischer, nur sind sie bis
auf den berühmten des Sergeant Bertrand (s. u.) nichts weniger
als genau beobachtet und beschrieben.
In einzelnen Fällen mag nichts Anderes vorliegen, als dass
zügellose Begierde in der Vorstellung des eingetretenen Todes kein
Hinderniss ihrer Befriedigung sieht.
Ein derartiger Fall ist vielleicht der siebente unter den von
Moreau mitgetheilten.
In diesem machte ein 23 Jahre alter Mann einen Nothzuchtsversuch an
der 53 Jahre alten X. , tödtete die sich Sträubende , benutzte sie dann ge-
schlechtlich, warf sie dann ins Wasser, fischte sie aber heraus, um sie neuer-
lich zu stupriren.
Der Mörder wurde hingerichtet. Die Meningen des Stirnhirns fand man
verdickt und mit der Hirnrinde verwachsen.
Mehrere Beispiele von Nekrophilie haben andere französische Schrift-
steller mitgetheilt. Zwei Fälle betrafen Mönche, während sie die Todtenwache
hielten. In einem dritten handelte es sich um einen Idioten, der überdies an
periodischer Manie litt, nach Nothzucht in einer Irrenanstalt Aufnahme gefunden
hatte und dort weibliche Leichen in der Todtenkammer schändete.
Sadismus. 69
In anderen Fällen liegt aber unzweifelhaft eine directe Be-
vorzugung der Leiche vor dem lebenden Weibe vor. Wenn keine
weiteren Akte der Grausamkeit — Zerstückelung etc. — an der
Leiche vorgenommen werden, so ist es wahrscheinlich die Leblosig-
keit selbst, welche den Reiz für den perversen Thäter bildet. Es
mag sein , dass die Leiche , welche allein menschliche Form mit
vollkommener Willenslosigkeit verbindet, deshalb ein krankhaftes
Bedürfniss befriedigt, den Gegenstand der Begierde sich ohne Mög-
lichkeit eines Widerstandes schrankenlos unterworfen zu sehen.
Brierre de Boismont (Gazette medicale 1859, 21. Juli) theilte die
Geschichte eines Leichenschänders mit , der sich nach Bestechung der Leichen-
wächter zur Leiche eines 16jährigen Mädchens aus vornehmem Hause ein-
geschlichen hatte. Nachts hörte man im Todtenzimmer ein Geräusch, wie
wenn ein Stück Möbel umfalle. Die Mutter des verstorbenen Mädchens drang
ein, bemerkte einen Menschen, der im Nachthemd vom Bett der Todten herab-
sprang. Man meinte zuerst, man habe es mit einem Dieb zu thun, erkannte
aber bald den wahren Thatbestand. Es stellte sich heraus, dass der Schänder,
ein Mensch aus vornehmem Hause, schon öfter die Leichen junger Weiber
geschändet hatte. Er wurde zu lebenslänglichem Kerker verurtheilt.
Von hohem Interesse auf dem Gebiet der Nekrophilie ist die von T a x i 1
(La prostitution contemporaine p. 171) berichtete Geschichte eines Prälaten,
der zeitweise in einem Prostitutionshause in Paris erschien und eine Prostituirte,
als Leiche weiss geschminkt auf dem Paradebett liegend , bestellte.
Hora destinata in cubiculum quasi funestum et lugubre factum vesti-
mento sacerdotali exornatus intravit, ita se gessit, acsi missam legeret, tum se
in puellam coniecit, quae per totum tempus mortuam se esse simulare debuit1).
Durchsichtiger sind die Fälle, in denen der Thäter die Leiche
misshandelt und zerstückelt. Solche Fälle schliessen sich unmittelbar
an die Lustmörder an, indem Grausamkeit, wenigstens ein Drang,
sich am weiblichen Körper zu vergreifen, mit der Wollust dieser
Individuen verbunden ist. Vielleicht schreckt ein Rest moralischer
Bedenken von der Vorstellung grausamer Akte am lebenden Weibe
ab, vielleicht überspringt die Phantasie den Lustmord und hängt sich
gleich an sein Resultat, die Leiche. Möglicher Weise spielt auch
hier die Vorstellung der Willenslosigkeit der Leiche eine Rolle.
Beobachtung 22. Sergeant Bertrand ist ein Mensch von zartem
Körperbau, von auffälligem Charakter, von Kindheit auf verschlossen und die
Einsamkeit liebend.
J) Simon (Crimes et delits p. 209) theilt eine Erfahrung Lacassagne's
mit, dem ein anständiger Mann berichtete, er sei jeweils, aber nur dann mächtig
sexuell erregt, wenn er Zuschauer bei einem — Leichenbegängniss sei.
70 Paraesthesia sexualis.
Die Gesundheitsverhältnisse seiner Familie sind nicht genügend bekannt,
das Vorkommen von Geisteskrankheiten in der Ascendenz ist jedoch sicher-
gestellt. Schon als Kind will er mit einem ihm unerklärlichen Zerstörungs-
drang behaftet gewesen sein. Er habe zerbrochen, was er gerade zur Hand
hatte.
Schon in früher Kindheit kam er ohne alle Verführung zur Onanie.
Mit 9 Jahren begann er Hinneigung zu Personen des anderen Geschlechts zu
verspüren. Mit 13 Jahren erwachte mächtig in ihm der Drang zu geschlecht-
licher Befriedigung an Weibern-, er onanirte nun sehr viel. Wenn er dies
that, stellte er sich in seiner Phantasie jeweils ein Zimmer, erfüllt mit Frauen,
vor. Er stellte sich vor, er übe den Geschlechtsakt mit denselben und martere
sie dann. Darauf stellte er sich dieselben als Leichen vor und wie er sie als
Leichen befleckte. Gelegentlich kam bei solcher Situation auch die Vor-
stellung, es mit männlichen Leichen zu thun zu haben, aber sie war mit Ekel
betont.
Mit der Zeit empfand er den Drang, mit wirklichen Leichen derartige
Situationen durchzumachen.
Aus Mangel an menschlichen Leichen verschaffte er sich Thierleichen,
schlitzte ihnen den Leib auf, riss die Eingeweide heraus und masturbirte da-
bei. Er will damit einen unsäglichen Genuss empfunden haben. 1846 ge-
nügten ihm nicht mehr Leichen. Er tödtete nun Hunde und verfuhr dann
mit ihnen wie früher. Ende 1846 bekam er zum ersten Male das Gelüste,
Menschenleichen zu benutzen. Er scheute sich anfangs davor. 1847 , als er
zufällig auf dem Kirchhof das Grab einer frisch beerdigten Leiche gewahr
wurde, kam dieser Drang unter Kopfweh und Herzklopfen mit solcher Macht,
dass er, obwohl Leute in der Nähe waren und Gefahr der Entdeckung bestand,
die Leiche ausgrub. Beim Abgang eines geeigneten Instruments, um sie zu
zerstückeln, begnügte er sich, dieselbe mit der Todtengräberschaufel voll Wuth
zu hauen.
1847 und 1848 kam, angeblich in Zwischenräumen von etwa 14 Tagen
und unter heftigen Kopfschmerzen, der Drang, an Leichen Brutalitäten zu
verüben. Mitten unter den grössten Gefahren und mit den grössten Schwierig-
keiten genügte er etwa lömal diesem Trieb. Er grub die Leichen mit den
Händen aus, spürte vor Erregung gar nicht die Verletzungen, die er sich da-
bei zuzog. Im Besitz der Leiche, schnitt er sie mit Säbel oder Taschenmesser
auf, riss die Eingeweide aus und masturbirte in dieser Situation. Das Ge-
schlecht der Todten war ihm angeblich ganz gleichgültig, jedoch wurde
constatirt, dass dieser moderne Vampyr mehr weibliche als männliche Leichen
ausgrub.
Während dieser Akte sei er in unbeschreiblicher geschlechtlicher Auf-
regung gewesen. Nachdem er sie zerschnitten, hatte er die Leichen jeweils
wieder eingegraben.
Im Juli 1848 gerieth er zufällig an die Leiche eines etwa 16jährigen
Mädchens.
Da erwachte zum ersten Mal in ihm das Gelüste, an dem Cadaver den
Coitus auszuüben. „Ich bedeckte ihn allenthalben mit Küssen, drückte ihn
wie rasend an mein Herz. Alles, was man an einem lebenden Weib gemessen
kann , war nichts im Vergleich zu dem empfundenen Genuss. Nachdem ich
Sadismus. 71
diesen etwa eine V4 Stunde gekostet, zerstückte ich wie gewöhnlich die Leiche
und riss die Eingeweide heraus. Dann begrub ich den Cadaver wieder."
Erst von diesem Attentat ab will B. den Drang verspürt haben, Leichen
vor der Zerstückung geschlechtlich zu benutzen und habe er in der Folge bei
etwa drei weiblichen Leichen dies gethan. Das eigentliche Motiv des Leichen-
ausgrabens sei aber nach wie vor das Zerstücken gewesen und der Genuss bei
dieser Handlung grösser als beim geschlechtlichen Benutzen der Leiche.
Diese letzte Handlung habe immer nur eine Episode des Hauptaktes ge-
bildet und niemals seine Brunst gestillt, weshalb er immer nachher dieselbe
oder eine andere Leiche verstümmelt habe.
Die Gerichtsärzte nahmen „Monomanie" an. Das Kriegsgericht ver-
urtheilte B. zu 1 Jahr Kerker.
(Michea, Union med. 1849. — Lunier, Annal. med. psychol. 1849,
p. 153. — Tardieu, Attentats aux moeurs 1878, p. 114. — Legrand, La
folie devant les tribun. p. 524.)
c) Misshandeln von Weibern (Blutigstechen,
Flagelliren etc.).
An die Lustmörder und Leichenschänder, und den Ersteren
noch nahestehend, reihen sich solche Fälle an , wo Verletzung des
Opfers der Lüste und der Anblick des fliessenden Blutes desselben
Reiz und Genuss für entartete Menschen ist.
Ein solches Ungeheuer war der berüchtigte Marquis de Sade *), nach
welchem die Verbindung von Wollust und Grausamkeit deshalb genannt wird.
Coitus venerem suam non stimulavit, nisi quam futuabat ita pungere potuit
ut sanguis flueret. Summa ei voluptas erat meretrices nudatas vulnerare et
vulnera hoc modo facta obligare.
Hierher gehört auch wohl der Fall eines Capitäns, von dem Brierre de
Boismont (a. a. 0.) erzählt, der seine Geliebte zwang, jeweils vor dem sehr
J) Taxil (op. cit. p. 180) gibt nähere Mittheilungen über dieses psycho-
sexuale Monstrum , das ein Fall von habitueller Satyriasis , zugleich mit Par-
aesthesia sexualis gewesen sein dürfte.
S. war so cynisch, dass er ernstlich seine grausame Lüsternheit idealisiren
und sich zum Apostel einer darauf bezüglichen Lehre machen wollte. Er trieb
es so arg (u. A. machte er eine geladene Gesellschaft von Herren und Damen
liebestoll, indem er ihr mit Canthariden versetzte Chocoladebonbons serviren
Hess), dass man ihn in die Irrenanstalt Charenton sperrte. In der Revolution
(1790) wurde er frei. Er schrieb nun obscöne Romane, die von Wollust und
Grausamkeit triefen. Als Bonaparte Consul wurde, machte ihm S. seine Romane,
prachtvoll gebunden, zum Geschenk. Der Consul liess seine Werke vernichten
und den Verfasser neuerdings in Charenton interniren, wo er 1814, 64 Jahre
alt, starb.
72 Paraesthesia sexualis.
häufigen Coitus sich Hirudines ad pudenda zu setzen. Schliesslich verfiel
dieses Weib in tiefe Anämie und wurde dadurch irrsinnig.
In sehr bezeichnender Weise zeigt diesen Zusammenhang
zwischen Wollust und Grausamkeit mit Drang, Blut zu vergiessen
und Blut zu sehen, folgender meiner Clientel entlehnter Fall.
Beobachtung 23. Herr X., 25 Jahre alt, stammt von luetischem, an
Dem. paralytica gestorbenem Vater und Constitutionen hystero-neurasthenischer
Mutter. Er ist ein schwächliches, Constitutionen neuropathisches , mit mehr-
fachen anatomischen Degenerationszeichen behaftetes Individuum. Schon als
Kind Anwandlungen von Hypochondrie und Zwangsvorstellungen. Später be-
ständiger Wechsel zwischen exaltirten und deprimirten Stimmungen. Schon
als Junge von 10 Jahren fühlte Pat. einen sonderbaren wollüstigen Drang, Blut
aus seinen Fingern fliessen zu sehen. Er schnitt oder stach sich deshalb öfters
in die Finger und fühlte sich dann ganz beseligt. Schon früh gesellten sich
dazu Erectionen, desgleichen, wenn er fremdes Blut sah, z. B. ein Dienst-
mädchen sich in den Finger schnitt. Das machte ihm besonders wollüstige
Empfindungen. Seine Vita sexualis regte sich nun immer mächtiger. Ganz
ohne Verführung begann er zu onaniren, dabei kamen ihm jeweils Erinnerungs-
bilder blutender Frauenzimmer. Es genügte ihm nun nicht mehr, sein eigenes
Blut fliessen zu sehen. Er lechzte nach dem Anblick des Blutes junger
Frauenspersonen, besonders solcher, die ihm sympathisch waren. Er konnte
sich oft kaum bezwingen, zwei Cousinen und ein Stubenmädchen nicht zu
verletzen. Aber auch an und für sich nicht sympathische Frauenzimmer riefen
diesen Drang hervor, wenn sie ihn durch besondere Toilette, Schmuck, nament-
lich Corallenschmuck, reizten. Es gelang ihm, diesen Gelüsten zu widerstehen,
aber in seiner Phantasie waren blutige Gedanken beständig gegenwärtig
mit unterhielten wollüstige Erregungen. Ein inniger Zusammenhang bestand
zwischen beiden Gedanken- und Gefühlskreisen. « Oft kamen auch ander-
weitige grausame Phantasien, z. B. dachte er sich in der Rolle eines Tyrannen,
der das Volk mit Kartätschen zusammenschiessen Hess. Er musste sich die
Scene ausmalen, wie es wäre, wenn Feinde eine Stadt überfallen, die Jung-
frauen schänden, martern, tödten, rauben würden. In ruhigeren Zeiten schämte
und ekelte sich der sonst gutmüthige und ethisch nicht defecte Patient
vor solchen grausam-wollüstigen Phantasien, gleichwie sie auch sofort latent
wurden, sobald er durch Masturbation seiner sexuellen Erregung Befriedigung
verschafft hatte.
Schon nach wenigen Jahren war Pat. neurasthenisch geworden. Nun
genügte ihm die blosse Phantasievorstellung von Blut und Blutscenen, um zur
Ejaculation zu gelangen. Um sich von seinem Laster und seinen cynisch
grausamen Phantasien zu befreien, trat Pat. in sexuellen Verkehr mit weib-
lichen Individuen. Coitus war möglich, aber nur indem Pat. sich vorstellte.
das Mädchen blute aus den Fingern. Ohne Zuhülfenahme dieser Phantasie-
vorstellung wollte sich keine Erection einstellen. Die grausamen Gedanken,
hineinzuschneiden, beschränkten sich auf die Hand des Weibes. In Zeiten
höchst gesteigerter sexueller Erregung genügte der Anblick einer sym-
pathischen Frauenhand, um die heftigsten Erectionen hervor-
Sadismus. 73
zurufen. Erschreckt durch populäre Lektüre über die schädlichen Folgen
der Onanie und abstinirend, verfiel Pat. in einen Zustand schwerer allgemeiner
Neurasthenie mit hypochondrischer Dysthymie, taed. vitae. Eine complicirte
und wachsame ärztliche Behandlung stellte binnen Jahresfrist den Kranken
wieder her. Er ist seit drei Jahren psychisch gesund, ist nach wie vor sexuell
sehr bedürftig, aber nur selten von seinen früheren blutdürstigen Ideen heim-
gesucht. Der Masturbation hat X. ganz entsagt. Er findet Befriedigung im
natürlichen Geschlechtsgenuss, ist vollkommen potent und nicht mehr genöthigt,
seine Blutideen zu Hülfe zu nehmen.
Dass derlei wollüstig-grausame Dränge bloss episodisch und
unter bestimmten Ausnahmezuständen bei Belasteten vorkommen
können, lehrt folgender von Tarnowsky (op. cit. p. 61) berich-
teter Fall.
Beobachtung 24. Z., Arzt, von neuropathischer Constitution, auf
Alkohol schlecht reagirend, unter gewöhnlichen Verhältnissen normal coitirend,
fühlte, sobald er Wein getrunken, durch einfachen Coitus seine gesteigerte
Libido nicht mehr befriedigt. In diesem Zustand musste er in die Nates der
Puella stechen oder mit einer Lancette einschneiden, Blut sehen und das Ein-
dringen der Klinge in den lebenden Körper fühlen, um Ejaculation zu erzielen
und das Gefühl vollständiger Sättigung seiner Wollust zu haben.
Die Meisten aber, die mit dieser Form der Perversion belastet
sind, erscheinen als durch den normalen Reiz des Weibes nicht er-
regbar. Schon im obigen ersten Fall musste die Vorstellung des
Blutens zu Hülfe genommen werden, um Erectionen zu erzielen.
Der folgende Fall betrifft einen Mann, der durch Onanie in früher
Jugend etc. seine Erectionsfähigkeit eingebüsst hat, so dass der
sadistische Akt bei ihm an die Stelle des Coitus tritt.
Beobachtung 25. Der Mädchenstecher in Bozen (mitgetheilt von
Demme, Buch der Verbrechen Bd. II, p. 341).
1829 kam H. , 30 Jahre alt, Soldat, in gerichtliche Untersuchung. Er
hatte zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten mit einem Brod-
oder Federmesser Mädchen mit Stichen in das Abdomen, am liebsten in die
Schamgegend verwundet und motivirte diese Attentate mit einem bis zur Wuth
gesteigerten Geschlechtstrieb, der nur in dem Gedanken und der Handlung
des Stechens von weiblichen Personen Befriedigung fand.
Dieser Drang habe ihn oft tagelang verfolgt. Er sei dann in einen
ganz verwirrten Seelenzustand gerathen, der sich erst wieder löste, wenn diesem
Drang durch die That entsprochen war. Im Moment des Stechens habe er
die Befriedigung des vollbrachten Beischlafs gehabt und diese Befriedigung sei
gesteigert worden durch den Anblick des Blutes, das am Messer herunterlief.
Schon im 10. Jahre war bei ihm der Geschlechtstrieb mächtig zu Tage
getreten. Er verfiel zuerst der Masturbation und fühlte sich davon an Körper
und Geist geschwächt.
74 Paraesthesia sexualis.
Bevor er zum „ Mädchenstecher " wurde, hatte er durch Missbrauch
unreifer Mädchen, durch Onanisirung von solchen, ferner durch Sodomie
seine Geschlechtslust befriedigt. Allmählig war ihm der Gedanke gekommen,
welch ein Genuss es sein müsse, ein junges hübsches Mädchen in die Scham-
gegend zu stechen und an dem Anblick des vom Messer ablaufenden Blutes
sich zu weiden.
Unter seinen Effecten fanden sich Nachbildungen von Gegenständen des
Cultus, von ihm selbst gemalte obscöne Bilder der Empfängniss Maria's, des
im Schoosse der Jungfrau „ geronnenen Gedanken Gottes". Er galt als ein
sonderbarer, sehr reizbarer, leutscheuer, weibersüchtiger, mürrischer, verdrosse-
ner Mensch. Scham und Reue über seine Handlungen wurden an ihm nicht
wahrgenommen. Offenbar war er eine durch frühe sexuelle Excesse impotent
gewordene Persönlichkeit1), die bei fortdauernder starker Libido sexualis und
durch Belastung zu Perversion des Geschlechtslebens hinneigte.
Beobachtung 26. In den 60er Jahren wurde die Bevölkerung von
Leipzig durch einen Mann erschreckt, welcher junge Mädchen auf der Strasse
mit einem Dolch anzufallen pflegte und sie am Oberarm verletzte. Endlich
verhaftet, erkannte man in ihm einen Sadisten, welcher im Moment des Dolch-
stichs eine Ejaculation hatte und bei dem also die Verwundung der Mädchen
Aequivalent für Coitus war. (Wharton, A treatise on mental unsoundness
Philadelphia 1873, §. 623 2).)
In den drei nächsten Fällen bestellt gleichfalls Impotenz.
Dieselbe ist aber vielleicht psychisch bedingt, indem ab origine der
Hauptton der Vita sexualis auf der sadistischen Neigung liegt und
deren normale Elemente verkümmert sind.
Beobachtung 27 (mitgetheilt von Demme, Buch der Verbrechen, VII,
p. 281). Der Mädchenschneider von Augsburg, Bartle, Weinhändler, hatte schon
mit 14 Jahren sexuelle Regungen, jedoch entschiedenen Widerwillen gegen Be-
friedigung derselben durch Coitus bis zu Ekel gegen das weibliche Geschlecht.
Schon damals kam ihm die Idee, Mädchen zu schneiden und sich dadurch
geschlechtlich zu befriedigen. Er verzichtete aber darauf aus Mangel an Ge-
legenheit und Muth.
Masturbation verschmähte er ; ab und zu hatte er Pollutionen mit eroti-
schen Träumen von geschnittenen Mädchen.
*) Vgl. Kr au ss, Psychologie des Verbrechens, 1884, p. 188. Dr. Hof er,
Annalen der Staatsarzneikunde, 6. Jahrgang, Heft 2; Schmidt's Jahrbücher
Bd. 59, p. 94.
2) Nach Zeitungsnachrichten wurden im December 1890 eine Reihe ähn-
licher Attentate in Mainz verübt. Ein junger Bursche von 14 bis 16 Jahren
drängte sich an Frauen und Mädchen heran und stach sie mit einem spitzen
Instrument in die Beine. Er wurde verhaftet und machte den Eindruck geistig
gestört zu sein. Näheres über den höchst wahrscheinlich sadistischen Fall ist
nicht bekannt.
Sadismus. 75
19 Jahre alt, schnitt er zum ersten Mal ein Mädchen. Haec faciens
spernia eiaculavit, summa libidine affectus. Seither wurde der Impuls immer
machtvoller. Er wählte nur junge und hübsche Mädchen und fragte sie meist
vorher, ob sie noch ledig seien. Jeweils trat die Ejaculation und sexuelle
Befriedigung ein, aber nur dann, wenn er merkte, dass er die Mädchen wirk-
lich verwundet hatte. Nach dem Attentat fühlte er sich immer matt und
übel, auch von Gewissensbissen gefoltert. Bis zum 32. Jahr verwundete er
durch Schneiden, hatte aber immer Sorge, die Mädchen nicht gefährlich zu
verletzen. Von da ab bis zum 36. Jahr vermochte er seinen Trieb zu beherrschen.
Nun versuchte er sich zu befriedigen, indem er Mädchen bloss am Arm oder
Hals drückte, aber es kam dabei nur zur Erection, nicht zur Ejaculation.
Nun versuchte er es, die Mädchen mit dem in der Scheide gelassenen Messer
zu stechen, aber auch das genügte nicht. Endlich stach er mit dem offenen
Messer und hatte vollen Erfolg, da er sich vorstellte, ein gestochenes Mädchen
blute stärker und habe mehr Schmerz als ein geschnittenes. Im 37. Jahr
wurde er erwischt und verhaftet. In seiner Behausung fand man eine Menge
von Dolchen, Stockdegen, Messern. Er gab an, dass der blosse Anblick dieser
Waffen, noch mehr das Anfassen derselben ihm Wollustgefühle mit heftiger
Erregung verschafft habe.
Im Ganzen hatte er 50 Mädchen eingestandenerniassen verletzt.
Seine äussere Erscheinung war eher eine angenehme. Er lebte in sehr
guten Verhältnissen, war aber ein eigenthümlicher, leutscheuer Patron.
Beobachtung 28. J. H., 26 J., kam im Jahre 1883 zur Consultation
wegen seiner hochgradigen Neurasthenie und Hypochondrie. Pat. gibt zu, seit
seinem 14. Jahre onanirt zu haben, und zwar bis zum 18. Jahre weniger, seit
dieser Zeit aber fehlt ihm jede Kraft, dem Triebe zu widerstehen. Bis dahin
hatte er, da er ängstlich gehütet wurde und man ihn wegen seiner Kränk-
lichkeit fast nie allein Hess, sich nie einer Frauensperson nähern können. Er
hatte auch kein rechtes Verlangen nach dem ihm unbekannten Genuss.
Durch Zufall aber kam er dazu, als ein Stubenmädchen der Mutter beim
Fenster waschen eine Scheibe zerbrach und sich heftig in die Hand schnitt.
Als er dabei behülflich war, die Blutung zu stillen, konnte er sich nicht ent-
halten , das ausströmende Blut von der Wunde aufzusaugen , wobei er in
äusserst heftige erotische Erregung kam, bis zu vollständigem Orgasmus und
Ejaculation.
Von nun an suchte er auf jede mögliche Weise sich den Anblick und
womöglich den Geschmack von ausfliessendem frischem Blute von weiblichen
Personen zu verschaffen. Am liebsten war ihm das von jungen Mädchen. Er
scheute kein Opfer und keine Geldausgabe , um sich diesen Genuas zu ver-
schaffen. Anfänglich stand ihm das junge Mädchen zu Diensten, das sich
nach seinem Wunsch mit einer Nadel oder sogar Lancette in die Finger stechen
Hess. Als aber die Mutter es erfuhr, entliess sie das Mädchen. Nun musste
er sich an Meretrices halten, um sich Ersatz zu verschaffen, was mit Schwierig-
keiten, aber doch oft genug gelang. In der Zwischenzeit betrieb er Onanie
und Manustupration per feminam , was ihm aber nie volle Befriedigung , da-
gegen Abspannung und Selbstvorwürfe einbrachte. Er besuchte wegen seiner
nervösen Leiden viele Curorte und war zweimal in Anstalten internirt, die er
76 Paraesthesia sexualis.
aus eigenem Antriebe aufsuchte. Er gebrauchte Hydrotherapie, Electricität
und roborirende Curen ohne besonderen Erfolg. Es gelang, seine abnorme
geschlechtliehe Erregbarkeit und den Drang zur Onanie durch kalte Sitzbäder,
Monobromkampher und Gebrauch von Bromsalzen zeitweise zu bessern. Jedoch
wenn Pat. sich frei fühlte, verfiel er sofort wieder in seine alte Leidenschaft
und scheute weder Mühe noch Geld, um seine Geschlechtslust auf die besagte
abnorme Weise zu befriedigen.
Beobachtung 29 (mitgetheilt von Dr. Albert Moll in Berlin). L. T.,
21 Jahre, Kaufmann in einer rheinischen Stadt, gehört einer Familie an, in
der sich mehrere nervöse und psychopathische Mitglieder befinden. Eine
Schwester leidet an Hysterie und Melancholie.
Patient war immer von sehr ruhigem Wesen, dabei schüchtern. Er zog
sich schon auf der Schule oft von anderen Schülern zurück, besonders wenn
diese Gespräche über Mädchen führten. In Damengesellschaft glaubte er mit
jeder Aeusserung, die er that, den Anstand zu verletzen. Es war ihm z. B.
sehr anstössig, in Gegenwart von Damen, verheiratheten und unverheiratheten,
vom Schlafengehen, Aufstehen u. s. w. zu reden. In den unteren Klassen lernte
Pat. gut. Später wurde er träger und kam nicht gut vorwärts.
Pat. kam wegen abnormer Erscheinungen in seinem sexuellen Leben am
17. August 1890 zu Dr. Moll. Er that dies auf den Rath eines ihm verwandten
Arztes X., dem er sich früher anvertraut hatte.
Pat. macht einen auffallend ängstlichen und scheuen Eindruck, gibt auf
Befragen an, dass er überhaupt sehr ängstlich sei, besonders in Gegenwart
anderer Personen gehe ihm jedes Selbstvertrauen und sicheres Auftreten ab.
Diese Angabe wird von Dr. X. bestätigt.
Was das sexuelle Leben des Pat. betrifft, so kann er die Anfänge des-
selben bis zu seinem 7. Lebensjahr zurückdatiren. Er spielte schon damals
viel mit seinen Genitalien und wurde dafür auch bestraft. Bei diesem Onaniren,
wobei angeblich sein Glied in Erection gerieth, stellte er sich stets vor, dass
er ein Weib mit der Ruthe auf die entblössten Nates schlage, und zwar so
lange, bis sie Schwielen bekam. „Namentlich reizte mich," so erzählte Pat..
„wenn ich mir dachte, dass es ein stolzes schönes Frauenzimmer wäre und
ich diesen Akt im Beisein Anderer, besonders Frauen, vornähme, damit die
Betreffende fühlte, welcheMacht ich über sie hätte. Ich suchte
in Folge dessen frühzeitig Lektüre zu bekommen, die vom Schlagen handelte.
z. B. über die Misshandlung römischer Sklaven. Erectionen bekam ich jedoch
nur dann, wenn die vorgestellten Misshandlungen im Schlagen auf Rücken
oder Hinterbacken bestanden. Anfangs glaubte ich , dass diese Art von Er-
regung sich mit der Zeit verlieren würde, und machte deshalb Niemand Mit-
theilung davon."
Die zeitig begonnene Onanie setzte Pat. fort, und zwar immer mit dem
gleichen Gedankeninhalt. Seit dem 13. oder 14. Lebensjahre hatte er beim
Onaniren Samenerguss. Decimum septimum annum agens primum feminam
adiit coeundi causa neque coitum perficere potuit libidine et erectione deficienti-
bus. Mox autem iterum apud alteram coitum conatus est nullo successu. Tum
feminam per vim verberavit. Tantopere erat excitatus ut mulierem dolore
clamantem atque lamentantem verberare non desierit. An irgend welche straf-
Sadismus. 77
rechtliche Folgen, die auch ausblieben, dachte er nicht. Bei dieser Procedur
stellten sich Erection , Orgasmus und Ejaculation ein. Den Akt führte Pat.
30 aus, dass er das Weib zwischen seine Kniee nahm, so dass sein Glied den
Körper des Weibes berührte, aber ohne immissio penis in vaginam, die dem
Patienten überhaupt ganz überflüssig erscheint.
Nachträglich empfand aber Pat. über das Schlagen solches Schamgefühl
und es bemächtigte sich seiner eine so trübe Stimmung , dass er öfters an
Selbstmord dachte. Pat. ging in den folgenden 3 Jahren noch einige Male zu
Weibern. Niemals machte er aber wieder einem solchen die Zumuthung, sich
von ihm schlagen zu lassen. Er versuchte Erection dadurch zu erzielen, dass
er an das Schlagen dachte; doch hatte dies keinen Erfolg neque membrum
a muliere tractatum se erexit. Nach einem solchen missglückten Versuch
fasste Pat. endlich den Entschluss, sich einem Arzte zu offenbaren.
Pat. macht noch eine Reihe weiterer Angaben, betreffend seine Vita
sexualis. Der abnorme Geschlechtstrieb habe ihn auch durch seine Stärke be-
lästigt. Er ging mit sexuellen Gedanken schlafen, sie verfolgten ihn des Nachts
und gleich nach dem Erwachen waren sie wieder da. Nie war er längere Zeit
vor dem Andrängen der krankhaften, ihn erregenden Vorstellungen sicher, denen
er sich dann allerdings auch mit Vorliebe hingab und von denen er sich nur
durch Onanie auf kurze Zeit befreien konnte.
Auf meine Frage gibt Pat. an, dass ein anderes Mittel gegen das
Weib angewendet, als die erwähnten Schläge auf Rücken und besonders nates,
auf ihn keinen Reiz ausübt. Weder Fesselung desselben, noch Treten und
Stossen kann ihm einen solchen gewähren. Es ist dies um so mehr zu be-
tonen, als das den Pat. erregende Schlagen des Weibes ihm deshalb als
sexueller Reiz gilt, weil es für das Weib „demüthigend und entehrend" ist,
und weil dasselbe fühlen soll, „dass es vollständig in seiner Gewalt ist". Auch
würde es dem Pat. keinen Reiz verursachen, wenn er das Weib auf einen
anderen als die erwähnten Körpertheile schlüge oder ihm auf eine andere Art
als durch Schläge Schmerz zufügte.
Multo minorem ei affert voluptatem si nates suae a muliere verberantur ;
tarnen ea res saepe eiaculationem seminis effecit, sed haec fieri putat erectione
deficiente.
Inter verbera autem penem in vaginam immittendo nullam voluptatem
se habere ratus, qualibet parte corporis feminae pene tacta semen eiaculat.
Ebenso wie bei dem Schlagen des Weibes den Reiz für ihn
das Demüthigen des Weibes bildet, so fühlt er sich im um-
gekehrten Falle dadurch sexuell erregt, dass das Schlagen
ihn demüthigt und er sich ganz in die Gewalt des Weibes hin-
gegeben fühlt. Dennoch konnte ihn eine andere Art der eigenen Demüthi-
gung, als das Schlagen auf seine Hinterbacken, nicht erregen. Sich selbst
fesseln zu lassen oder von dem Weibe mit Füssen getreten zu werden, ist dem
Pat. zuwider.
Die Träume des Pat. bewegten sich, so weit sie erotischer Natur waren,
stets in derselben Richtung, wie seine sexuellen Neigungen im wachen Zustand;
es erfolgte dabei im Traume gleichfalls oft ein wirklicher Samenerguss. Ob
übrigens die perversen sexuellen Gedanken zuerst im Traum oder im wachen
Zustand aufgetaucht sind, kann Pat. nicht mehr genau angeben, da die
78 Paraesthesia sexualis.
Erinnerung auf eine so frühe Zeit, das 7. Lebensjahr, zurückgeht. Doch glaubt
er, dass diese Gedanken sich zuerst im Wachen gezeigt haben. In seinen
Träumen begegnete es dem Pat. öfters, dass er eine männliche Person schlug,
wobei gleichfalls Samenerguss eintrat. Im wachen Zustand bewirkt es bei ihm
nur sehr geringe Erregung, wenn er sich vorstellt, dass er eine männliche
Person schlage. Die nackte Gestalt des Mannes allein hat indessen für ihn
keinerlei Reiz, während ihn die nackte Gestalt eines Weibes entschieden
anlockt, obwohl seine Libido erst dann ihre eigentliche Befriedigung finde,
wenn die oben geschilderten Vorgänge stattfinden und er, wie gesagt, keinen
Drang zum Coitus in vaginam empfindet.
Die Behandlung des Pat. ist wesentlich auf die Erzielung eines normalen
Beischlafs, womöglich mit normalem Trieb, gerichtet, da anzunehmen ist,
dass, wenn es gelingt, sein sexuelles Leben normal zu gestalten, auch das
scheue und ängstliche Wesen des Pat., welches ihn sehr belästigt, leichter zum
Schwinden gebracht werden kann. Die von mir (Dr. Moll) seit B1h Monaten
durchgeführte Behandlung lief auf dreierlei hinaus.
Erstens wurde dem Pat., der seine Heilung lebhaft wünscht, auf das
Entschiedenste verboten , sich den perversen Gedanken beliebig hinzugeben.
Selbstverständlich gab ich ihm nicht den thörichten Rath, an das Schlagen
überhaupt nicht zu denken. Ein solcher Rath kann von dem Pat. nicht be-
folgt werden, da die Gedanken ihm ohne sein Zuthun kommen und schon
beim zufälligen Lesen des Wortes „schlagen" rege werden. Nur das verbot
ich ihm entschieden, dass er sich solchen Gedanken jemals willkürlich hingebe.
Ich empfahl ihm vielmehr, Alles zu thun, um seine Vorstellungen auf ein
anderes Gebiet hinüberzuleiten.
Zweitens gestattete ich, ja empfahl ich dem Pat., da ihn manche
nackte Weiber interessirten, wenn auch nicht, wie er meinte, in sexueller Be-
ziehung erregten, sich in seiner Phantasie solche Weiber vorzustellen.
Drittens suchte ich durch allerdings schwer zu erzielende Hypnose und
Suggestion den Pat. möglichst in dieser Richtung zu unterstützen. Jeder Bei-
schlafsversuch wurde dem Pat. vorläufig untersagt, um ihn durch einen Miss-
erfolg nicht zu entmuthigen.
Diese Behandlung führte innerhalb 27« Monaten dazu, dass nach An-
gabe des Pat. die perversen Vorstellungen viel seltener auftauchten und immer
mehr in den Hintergrund traten, ja es stellten sich nach seinen Angaben bei
der Vorstellung nackter Weiber Erectionen ein, deren Häufigkeit zunahm und
die ihn öfters dazu brachten, mit der Vorstellung des Coitus zu onaniren, ohne
dass dabei die Vorstellung des Schiagens aufgetaucht wäre. Im Schlaf traten
erotische Träume nur selten auf; diese hatten jetzt bald normalen Coitus, bald
das Schlagen zum Inhalt.
Nach Verlauf von 21/i Monaten seit Beginn der Behandlung empfahl
ich dem Pat., den Coitus zu versuchen. Er hat dies seitdem viermal gethan.
Ich empfahl ihm stets, ein Weib zu wählen, das ihm zusagte, versuchte auch
vor dem Coitus seine sexuelle Erregung durch Tinctura cantharidum zu erhöhen.
Die vier Versuche, deren letzter am 29. November 1890 stattfand, ver-
liefen in folgender Weise: Beim ersten waren längere Manipulationen des
Weibes am Penis nöthig, um Erection zu erzielen. Dann gelang immissio in
vaginam, Ejaculation mit Orgasmus. Während des ganzen Aktes trat keine
Sadismus. 79
Vorstellung auf, dass er das Weib schlage oder geschlagen werde, vielmehr
erregte ihn das Weib als solches genügend, um den Coitus auszuführen. Beim
zweiten Versuch gelang dies noch besser und schneller; Manipulationen des
Weibes ad genitalia waren nur in ganz geringem Masse nöthig. Beim dritten
Versuch gelang Beischlaf erst, nachdem Pat. lange Zeit an das Schlagen ge-
dacht und dadurch Erection erzielt hatte; zum Schlagen selbst kam es indessen
nicht. Beim vierten Versuch gelang der Coitus wieder ohne jeden Gedanken
an das Schlagen und dabei ohne jede Manipulation am Penis.
Selbstverständlich kann der geschilderte Fall bis jetzt in keiner Weise
als geheilt betrachtet werden. Wenn Pat. auch einige Male in annähernd
oder ganz normaler Weise den Coitus ausführen konnte, so ist damit noch
nicht gesagt, dass er auch in Zukunft dazu stets im Stande sein wird. Dazu
kommt, dass der Gedanke des Schiagens ihm immer noch einen grossen Reiz
gewährt, wenn er auch sehr viel seltener auftritt als früher. Dennoch ist die
Möglichkeit vorhanden, dass der abnorme Trieb, der gegenwärtig eine wesent-
liche Schwächung erfahren hat, auch in Zukunft vermindert bleiben, vielleicht
sogar verschwinden wird.
Dieser sorgfältig beobachtete Fall ist in mehrfacher Beziehung
äusserst interessant. Er deckt deutlich erkennbar eine der ver-
borgenen Wurzeln des Sadismus auf, den Drang zur schranken-
losen Unterwerfung des Weibes, welcher hier bewusst geworden
ist. Dies ist um so merkwürdiger, da es sich hier um ein schüch-
ternes, im sonstigen Leben möglichst bescheiden, ja ängstlich auf-
tretendes Individuum handelt. Der Fall zeigt auch deutlich , dass
starke, ja das Individuum gegen alle Hindernisse mit sich fort-
reissende Libido vorhanden sein kann , während gleichzeitig der
Coitus nicht begehrt wird, weil der Hauptton des Gefühls auf den
grausamen Theil des sadistischen, wollüstig-grausamen Vorstellungs-
kreises ab origine gefallen ist. — Dieser Fall enthält gleichzeitig
schwache Elemente von Masochismus (s. unten).
Die Fälle sind übrigens durchaus nicht selten, in denen Männer
mit perversen Neigungen mittelst hoher Bezahlung Prostituirte be-
wegen, sich von ihnen flagelliren und selbst blutig verwunden zu
lassen. Die Werke, die sich mit der Prostitution beschäftigen, ent-
halten darüber Berichte. So Coffignon, la corruption ä Paris etc.
d) Besudelung weiblicher Personen.
Mitunter äussert sich der perverse sadistische Trieb, Frauen
zu beschädigen und verächtlich, demüthigend zu behandeln in dem
Drange, dieselben mit ekelhaften oder wenigstens beschmutzenden
Dingen zu besudeln.
30 Paraesthesia sexualis.
Hierher gehört der folgende von Arndt (Vierteljahrschr. f.
ger. Medicin, N. F. XVII, H. 1) veröffentlichte Fall.
Beobachtung 30. Stud. med. A. in Greifswald accusatus quod iterum
iterunique puellis honestis parentibus natis in publico genitalia sua e bracis
dependentia plane nudata quae antea summe- amiculo (Paletotschösse) teeta
erant, ostenderat. Nonnunquam puellas fugientes secutus easque ad se at-
traetas urina oblivit. Haec luce clara facta sunt ; nunquam aliquid haec faciens
locutus est.
A. ist 23 Jahre alt, kräftig von Körper, sauber im Anzug, decent in
seinen Manieren. Andeutung von Cranium progeneum. Chronische Pneumonie
der rechten Lungenspitze. Emphysem. Puls 60, in der Erregung nur 70—80
Schläge. Genitalien normal. Klagen über zeitweise Verdauungsstörungen,
Hartleibigkeit, Schwindel, excessive Erregung des Geschlechtstriebs, die schon
früh zur Onanie führte, nie aber, auch in der Folge nicht, auf naturgemässe
Befriedigung desselben gerichtet war. Klagen über zeitweise melancholische
Verstimmung, selbstquälerische Gedanken und perverse Antriebe, zu denen er
selbst kein Motiv finden könne, z. B. zum Lachen bei ernsten Veranlassungen,
sein Geld ins Wasser zu werfen, im strömenden Regen umherzulaufen.
Der Vater des Inculpaten ist von nervösem Temperament, die Mutter
nervösem Kopfweh unterworfen. Ein Bruder litt an epileptischen Krämpfen.
Inculpat zeigte von Jugend auf nervöses Temperament, war zu Krämpfen
und Ohnmächten geneigt, gerieth in Zustände von momentaner Erstarrung,
wenn er hart getadelt wurde. 1869 studirte er Medicin in Berlin. 1870 machte
er als Lazarethgehülfe den Krieg mit. Seine Briefe aus dieser Zeit verrathen
eine auffallende Schlaffheit und Weichheit. Bei der Rückkehr nach Hause im
Frühjahr 1871 fällt seine Gemüthsreizbarkeit der Umgebung auf. In der Folge
häufig Klagen über körperliche Beschwerden, Unannehmlichkeiten wegen eines
Liebesverhältnisses. Im November 1871 lebte er in Greifswald eifrig seinen
Studien. Er galt als ein höchst anständiger Mensch. In der Haft ist er ruhig,
gelassen, zeitweise in sich versunken. Seine Handlungen schiebt er auf Rech-
nung von peinigenden und in letzter Zeit excessiven geschlechtlichen Regungen.
Seiner unzüchtigen Handlungen sei er sich wohl bewusst gewesen und habe
sich ihrer hinterher geschämt. Eine wirkliche geschlechtliche Befriedigung
habe er dabei nicht empfunden. Einer rechten Einsicht in seine Lage wird
er sich nicht bewusst. Er betrachtet sich als eine Art Märtyrer, der einer
bösen Macht zum Opfer gefallen ist. Annahme von Aufhebung der freien
Willensbestimmung.
Dieser Besudelungsdrang kommt auch bei paradoxem, im
Greisenalter wieder erwachenden Geschlechtstrieb vor, der sich ja
so oft gleichzeitig auf perverse Art äussert.
So berichtet Tarnowsky (op. cit. p. 76) folgenden Fall:
Beobachtung 31. Ich kannte einen solchen Patienten, der ein mit
einem decolletirten Ballkleid geputztes Frauenzimmer sich in einem hell er-
leuchteten Zimmer auf ein niedriges Sopha hinlegen Hess. Ipse apud janum
alius cubiculi obscurati constitit adspiciendo aliquantulum feminam, excitatus
Sadismus. 81
in eam insiluit excrementa in sinus eius deposuit. Haec faciens eiaculationem
quandam se sentire confessus est.
Ein Wiener Gewährsmann theilt mir mit, dass Männer Pro-
stituirte mittelst hoher Belohnungen dazu bringen, zu dulden, ut
illi viri in ora earum spuerent et faeces et urinas in ora explerent *).
Hierher scheint auch der folgende Fall des Dr. Pascal (Igiene
dell' amore) zu gehören.
Beobachtung 32. Ein Mann hatte eine Geliebte. Seine einzigen
Beziehungen zu dieser bestanden darin, dass sie sich mit Kohle oder Russ
die Hände von ihm schwärzen Hess, dann musste sie sich vor einen Spiegel
setzen, so dass er ihre Hände in diesem sehen konnte. Während einer oft
längeren Conversation mit der Geliebten schaute er unverwandt nach dem
Spiegelbild ihrer Hände und empfahl sich dann nach einiger Zeit sehr be-
friedigt.
Bemerkenswerth in dieser Art dürfte folgender, mir von ärztlicher Seite
mitgetheilter Fall sein: Ein Offizier war in einem Lupanar zu K. nur unter
dem Namen „Oel" bekannt. Oel erzielte Erection und Ejaculation einzig da-
durch, dass er puell. publ. nudam in einen mit Oel gefüllten Bottich treten
Hess und sie am ganzen Körper einölte!
Angesichts dieser Vorkommnisse drängt sich die Vermuthung
auf, dass gewisse Fälle von Schädigung der Kleidung weiblicher
Personen (z. B. Bespritzen mit Schwefelsäure, Tinte u. s. w.) in der
Befriedigung eines perversen Sexualtriebs wurzeln, wenigstens handelt
es sich hier auch um eine Art von Wehethun und sind die Be-
schädigten jeweils Frauenzimmer, die Beschädiger männliche Indi-
viduen. Jedenfalls verlohnt es sich der Mühe, in derlei Gerichts-
fällen künftig der Vita sexualis der Attentäter Aufmerksamkeit zu
schenken.
Auf die sexuelle Natur derartiger Attentate wirft auch der
unten mitgetheilte Fall Bachmann, Beob. 91, helles Licht, da in
diesem Falle das sexuelle Motiv des Delicts erwiesen ist.
e) Sonstige Ausübung von Gewalt gegen weibliche
Personen. Symbolischer Sadismus.
Mit den vorstehenden Gruppen sind die Formen, in welchen
sich der sadistische Trieb gegen das Weib äussert, noch nicht er-
*) Leo Taxil, La Corruption, Paris, Noiret, macht p. 223 dieselben
Angaben. Es gibt auch Männer, die introductio linguae meretricis in anum
verlangen.
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. ß
82 Paraesthesia sexualis.
schöpft. Wenn der Trieb nicht übermächtig, oder noch genügender
moralischer Widerstand vorhanden ist, kann es geschehen, dass die
perverse Neigung durch einen scheinbar ganz sinnlosen läppischen
Akt befriedigt wird, der aber für den Thäter symbolische Be-
deutung hat.
Dies scheint der Sinn der folgenden zwei Fälle zu sein.
Beobachtung 33. (Dr. Pascal, Igiene delT amore.) Ein Mann
ging an einem festgesetzten Tage ein Mal monatlich zu seiner Geliebten und
schnitt ihr mit einer Scheere die Haare ab, welche ihr über die Stirne herab-
hingen. Es gewährte ihm dies den grössten Genuss. Sonst stellte er keine
Ansprüche an das Mädchen.
Beobachtung 34. Ein Mann in Wien besucht regelmässig mehrere
Prostituirte, nur um ihnen das Gesicht einzuseifen und ihnen dann mit einem
Rasirmesser so über das Gesicht zu fahren, als ob er ihnen einen Bart ab-
scheeren wollte. Nunquam puellas laedit, sed haec faciens valde excitatur libi-
dine et sperma eiaculat1).
f) Sadismus an beliebigem Object. — Knabengeissler.
Ausser den geschilderten sadistischen Handlungen an weib-
lichen Individuen kommen solche an beliebigen lebenden und em-
pfindenden Objecten, Kindern und Thieren, vor.* Es kann dabei
volles Bewusstsein bestehen, dass der grausame Drang eigentlich
gegen Weiber gerichtet ist und nur faute de mieux das nächste
erreichbare Object (Schüler) misshandelt werden; — es kann aber
auch der Zustand des Thäters so beschaffen sein, dass der Drang
nach grausamen Handlungen allein von wollüstigen Regungen be-
gleitet ins Bewusstsein tritt, während dessen eigentliches Object
(das die wollüstige Betonung solcher Handlungen erst erklären kann)
im Dunklen bleibt.
Die erstere Alternative genügt zur Erklärung in den Fällen,
welche Dr. Albert (Friedrich's Blätter f. ger. Med. 1859 p. 77)
erzählt, Fälle, in welchen wollüstige Erzieher ihre Zöglinge ohne
alle Veranlassung auf den entblössten Podex peitschten.
An die zweite Alternative, den in Bezug auf sein Object un-
bewussten sadistischen Trieb, müssen wir wohl denken, wenn Knaben
J) Leo Taxil op. cit. p. 224 erzählt, dass in den Pariser Lupanaren
Instrumente bereit gehalten werden, die Knüttel vorstellen, aber nur luftgefüllte
Hülsen sind, dieselben, mit denen sich im Circus die Clowns prügeln. Sadistische
Männer verschaffen sich damit die Illusion, Weiber zu prügeln.
Sadismus. 83
beim Anblick der Züchtigung ihrer Altersgenossen sofort sexuell
erregt und dadurch in ihrer weiteren Vita sexualis bestimmt werden,
wie in den folgenden Fällen.
Beobachtung 35. K, 25 Jahre, Kaufmann, wendete sich im Herbst
1889 an mich um Rath wegen einer Anomalie seiner Vita sexualis, welche ihn
Siechthum und Versagtbleiben künftigen ehelichen Glückes fürchten lasse.
Pat. stammt aus nervöser Familie, war als Kind zart, schwächlich, nervös,
gesund bis auf Morbilli, entwickelte sich später kräftig.
Mit 8 Jahren, in der Schule, war er Zeuge, wie der Lehrer Knaben
züchtigte, indem er ihnen den Kopf zwischen die Schenkel nahm und deren
Gesäss mit Ruthenstreichen bearbeitete.
Dieser Anblick verursachte Pat. eine wollüstige Erregung. „Ohne eine
Ahnung von der Gefährlichkeit und Abscheulichkeit der Onanie" befriedigte
er sich durch solche und masturbirte von nun an oft, indem er jeweils das
Erinnerungsbild gezüchtigter Knaben sich vergegenwärtigte.
So ging es fort bis zum 20. Jahre. Da erfuhr er von der Bedeutung
der Onanie, erschrak heftig, suchte seinen Drang zur Masturbation zu unter-
drücken, verfiel aber auf nach seiner Meinung unschädliche und moralisch zu
rechtfertigende psychische Onanie, wozu er die erwähnten Erinnerungsbilder
flagellirter Knaben benutzte.
Pat. wurde nun neurasthenisch , litt unter Pollutionen, versuchte sich
durch Besuch öffentlicher Häuser zu heilen, brachte es aber zu keiner Erection.
Er bestrebte sich nun, zu normalen geschlechtlichen Empfindungen durch
geselligen Verkehr mit anständigen Damen zu gelangen, erkannte aber, dass
er ganz unempfindlich für die Reize des schönen Geschlechts sei.
Pat. ist ein intelligenter, normal gewachsener, schöngeistig veranlagter
Mann. Neigung zu Personen des eigenen Geschlechts besteht nicht.
Mein ärztlicher Rath bestand in Vorschriften zur Bekämpfung der
Neurasthenie, der Pollutionen, Verbot psychischer und manueller Onanie, Fern-
haltung aller sexuellen Reize, Inaussichtstellung hypnotischer Behandlung be-
hufs successiver Rückerziehung der Vita sexualis zur Norm.
Beobachtung 36. Abortiver Sadismus. N., Stud. Kommt im De-
cember 1890 zur Beobachtung. Er treibt seit früher Jugend Onanie. Nach
seinen Angaben wurde er geschlechtlich erregt, als er seine Geschwister durch
den Vater züchtigen sah, später Mitschüler durch den Lehrer. Als Zus^1 auer
solcher Akte hatte er immer Wollustgefühle. Wann dies zum ersten Male
auftrat, weiss er nicht genau zu sagen ; etwa mit 6 Jahren sei dies schon der
Fall gewesen. Er weiss auch nicht mehr genau , wann er zur Onanie kam ;
behauptet aber bestimmt, dass sein Sexualtrieb durch Züchtigung Anderer ge-
weckt worden sei und dass er dadurch ganz unbewusst zur Onanie gelangte.
Pat. erinnert sich bestimmt, dass er vom 4. — 8. Jahre öfters selbst auf den
Podex gezüchtigt worden ist, davon aber nur Schmerz und niemals Wollust
empfunden habe.
Da er nicht immer Gelegenheit hatte, Andere züchtigen zu sehen, stellte
er sich nun in seiner Phantasie vor, wie Solche gezüchtigt wurden. Das erregte
84 Paraesthesia sexualis.
seine Wollust und er onanirte dann. Wo immer er konnte, suchte er es in
der Schule so einzurichten, dass er beim Züchtigen Anderer zusehen konnte.
Er fühlte ab und zu auch den Wunsch , selbst Andere zu züchtigen. Mit
12 Jahren brachte er einen Kameraden dazu, dass dieser sich von ihm züch-
tigen Hess. Dabei empfand er grosse Wollust. — Als aber der Andere ihn
dann en revanche züchtigte, empfand er nur Schmerz.
Der Drang, Andere zu züchtigen, war nie sehr stark. Pat. empfand
mehr Befriedigung darin, seine Phantasie in Geisselscenen schwelgen zu
lassen. Sonstige sadistische Anwandlungen hatte er nie. Niemals Drang, Blut
zu sehen u. dgl.
Bis zum 15. Jahre bestand sein sexueller Genuss in Onanie im Anschluss
an obige Phantasien.
Von da an (Tanzstunde, Umgang mit Mädchen) schwanden die früheren
Phantasien fast völlig und waren nur mehr schwach von Wollustgefühlen be-
gleitet, so dass Pat. ganz davon abliess. An die Stelle derselben traten Coitus-
phantasien in natürlicher, nicht sadistischer Art.
Aus „ Gesundheitsrücksichten" coitirte Pat. zum ersten Mal. Er war potent
und vom Akt befriedigt. Er suchte nun von Onanie sich zu enthalten, aber
es gelang nicht, obwohl er öfter coitirte und dabei mehr Genuss fand als
bei Onanie.
Er möchte von der Onanie als etwas Unwürdigem loskommen. Schäd-
liche Wirkungen hat er davon nicht bemerkt. Coitirtlmal monatlich, onanirt
aber 1 — 2mal in jeder Nacht. Er ist jetzt sexuell ganz normal bis auf die
Onanie. Von Neurasthenie ist nichts zu finden. Genitalien normal.
Beobachtung 37. P., 15 Jahre, aus vornehmem Hause, stammt von
hysterischer Mutter. Deren Bruder und Vater starben im Irrenhause.
Zwei Geschwister starben in Fraisen im zarten Kindesalter.
P. ist talentirt, brav, ruhig, zeitweilig aber sehr ungehorsam, halsstarrig,
jähzornig. Er leidet an Epilepsie, ist Onanist. Eines Tages kam heraus, dass
P. den 14jährigen, mittellosen Kameraden B. durch Geld dazu vermochte, sich
von ihm in Oberarme, Hinterbacken, Oberschenkel kneipen zu lassen. Wenn
dann B. weinte, wurde P. aufgeregt, schlug auf B. mit der rechten Hand los,
während er mit der linken in seiner linken Hosentasche manipulirte.
P. gestand, dass ihm die Misshandlung des Freundes, den er sonst sehr
gern habe, ein besonderes Vergnügen bereitet habe, und dass ihm die Ejacu-
lation, da er während der Misshandlung masturbirte, bedeutend mehr Genuss
verschaffe, als wenn er solitär masturbirte. (v. Gyurkovechky, Pathologie
und Therapie der männlichen Impotenz, 1889, p. 80.)
Dass in allen diesen Fällen sadistischer Misshandlungen an
Knaben nicht etwa an eine Combination von Sadismus mit con-
trärer Sexualempfindung, wie sie bei conträr Sexualen öfters vor-
kommt (s. unten), zu denken ist, ergibt sich — abgesehen davon,
dass alle positiven Anzeichen dafür fehlen — auch aus der Be-
trachtung der nächsten Gruppe, wo neben dem Object der Miss-
Sadismus. 85
handlung — Thiere — die Richtung des Triebes auf das Weib
wiederholt deutlich hervortritt.
g) Sadistische Akte an Thieren.
In zahlreichen Fällen benützen sadistisch perverse Männer, die
vor einem Verbrechen am Menschen zurückschrecken, oder denen
es überhaupt nur auf den Anblick der Leiden eines empfindenden
Wesens ankommt, zur Potenzirung oder Erregung ihrer Wollust
den Anblick des Sterbens von Thieren oder die Marterung derselben.
Bezeichnend in dieser Hinsicht ist der von Hofmann in seinem Lehr-
buch der gerichtlichen Medicin berichtete Fall eines Mannes in Wien, der sich
nach der gerichtlichen Aussage mehrerer Prostituirten vor dem Geschlechtsakt
durch Martern und Tödten von Hühnern, Tauben und anderen Vögeln aufzu-
regen pflegte und deshalb von ihnen den Spitznamen „ Hendlherr " erhielt.
Werthvoll für die Bedeutung eines derartigen Falles ist die Beobachtung
von Lombroso bezüglich zweier Männer, die, wenn sie Hühner oder Tauben
drosselten oder schlachteten, Ejaculationen bekamen.
Derselbe Autor berichtet in seinem Uomo delinquente p. 201 von einem
bedeutenden Dichter, der beim Anblick des Zerstückens eines geschlachteten
Kalbes oder auch beim blossen Gewahrwerden von blutigem Fleisch sexuell
mächtig erregt wurde.
Ein entsetzlicher Sport soll nach Mantegazza (op. cit. p. 114) bei
entarteten Chinesen darin bestehen, Anseres zu sodomisiren und ihnen tempore
ejaculationis den Hals abzusäbeln. (!)
Mantegazza (Fisiologia del piacere, 5. ed. p. 394 — 395) berichtet von
einem Mann, der einmal zusah, wie man Hähne abschlachtete, und seit dieser
Zeit eine Gier hatte, die warmen, noch dampfenden Eingeweide derselben zu
durchwühlen, weil er dabei ein Wollustgefühl empfand.
Die Vita sexualis ist also auch in diesem und in ähnlichen Fällen ab
origine so beschaffen, dass der Anblick von Blut, Tödtung etc. wollüstige Ge-
fühle erregt. Ebenso im folgenden Falle :
B e o b a c h t u n g 38. C. L., 42 Jahre alt, Ingenieur, verheirathet Vater
von 2 Kindern. Stammt aus neuropathischer Familie, Vater jähzornig, Potator,
Mutter hysterisch, litt an eclamptischen Anfällen.
Pat. erinnert sich, in seinen Knabenjahren mit Vorliebe der Schlachtung
von Hausthieren zugesehen zu haben, insbesondere der von Schweinen. Es
kam dabei zu ausgesprochenem Wollustgefühl und Ejaculation. Später suchte
er Schlachthäuser auf, um sich am Anblick des ausfliessenden Blutes und der
Todeszuckungen der Thiere zu ergötzen. Wo er Gelegenheit dazu finden
konnte, tödtete er selbst ein Thier, was ihm jedesmal ein vicariirendes Gefühl
des Geschlechtsgenusses verschaffte.
Erst um die Zeit der vollen Entwicklung kam er zur Erkenntniss seiner
Abnormität. Weibern war Pat. nicht geradezu abgeneigt, aber nähere Be-
86 Paraesthesia sexualis.
rührung mit ihnen schien ihm ein Gräuel. — Auf Anrathen eines Arztes hei-
rathete er mit 25 Jahren eine ihm sympathische Frau, in der Hoffnung, seinen
abnormen Zustand los zu werden. Obwohl er seiner Frau sehr zugethan war,
konnte er nur selten und nach langer Bemühung und Anspannung seiner Phan-
tasie mit ihr den Coitus ausüben. Trotzdem zeugte er 2 Kinder. Im Jahre 1866
machte er den Krieg in Böhmen mit. Seine Briefe von dort an seine Frau
waren in einem exaltirt enthusiastischen Tone geschrieben. Seit der Schlacht
von Königgrätz ist er verschollen.
War die Fähigkeit zum normalen Beischlafe in diesem Falle
durch das Ueberwiegen der perversen Vorstellungen sehr beein-
trächtigt, so erscheint sie im folgenden Falle gänzlich unterdrückt.
Beobachtung 39. (Dr. Pascal, Igiene dell' amore.) Ein Herr erschien
bei Prostituirten, Hess von ihnen lebendes Geflügel oder ein Kaninchen kaufen
und verlangte, dass die Person das Thier martere. Er hatte es abgesehen auf
Köpfen, Augenausreissen, Ausreissen der Eingeweide. Fand er eine Puella,
die sich zu derlei herbeiliess und recht grausam vorging, so war er entzückt,
zahlte und ging, ohne von der Person etwas weiter zu verlangen oder sie zu
berühren, seiner Wege.
Aus den beiden letzten Abschnitten f) und g) ergibt sich, dass
das Leiden eines jeden empfindenden Wesens für sadistisch ver-
anlagte Naturen zur Quelle eines perversen sexuellen Genusses
werden kann, dass es einen Sadismus an beliebigem Object gibt.
Es wäre jedoch durchaus falsch und übertrieben, überall da, wo
ausserordentliche, überraschende Grausamkeit sich findet, diese aus
sadistischer Perversion erklären zu wollen, und, wie es hie und da
geschieht, in den zahllosen Gräueln der Geschichte oder auch in
gewissen massenpsychologischen Erscheinungen der Gegenwart den
Sadismus als Motiv vorauszusetzen.
Grausamkeit fliesst ja aus verschiedenen Quellen und ist dem
primitiven Menschen natürlich. Mitleid ist dem gegenüber die se-
cundäre Erscheinung und spät erworbene Empfindung. Der Kampf-
und Vernichtungstrieb, der für die prähistorischen Zustände eine so
werthvolle Ausrüstung war, wirkt noch lange nach und erhält durch
Culturbegriffe wie „der Verbrecher" noch neue Objecte, während
sein ursprüngliches Object „der Feind" noch da ist. Dass nicht
die blosse Tödtung, sondern die Marter des Unterlegenen verlangt
wird, erklärt sich theils aus dem Machtgefühl, das sich auf diesem
Wege befriedigt, theils aus der Masslosigkeit des Vergeltungstriebes.
So lassen sich alle Gräuel und alle historischen Ungeheuer erklären,
ohne auf den Sadismus zu recurriren (der ja öfters im Spiele ge-
Sadismus. 87
wesen sein mag, aber als relativ seltene Perversion nicht voraus-
gesetzt werden darf).
Daneben ist noch ein starkes psychisches Element zu berück-
sichtigen, welches namentlich die Anziehungskraft erklärt, die heute
noch Hinrichtungen u. dgl. ausüben; das ist die Lust am starken
und ungewöhnlichen Eindruck überhaupt, am seltenen Schauspiel,
der gegenüber das Mitleid in rohen oder abgestumpften Naturen
schweigt.
Es gibt aber unzweifelhaft sehr viele Individuen, auf die trotz
oder gerade vermittelst ihres lebhaften Mitleidens Alles, was mit
Tod und Qualen zusammenhängt, eine geheimnissvolle Anziehungs-
kraft hat, die innerlich widerstrebend und doch einem dunklen
Drange folgend, sich mit solchen Dingen oder wenigstens Bildern
und Berichten davon zu beschäftigen trachten. Auch dies ist noch
nicht Sadismus, so lange dabei kein sexuelles Element ins Bewusst-
sein tritt, obwohl möglicher Weise dunkle Fäden im Unbewussten
solche Erscheinungen mit einem verborgenen Untergrund des Sadis-
mus verbinden mögen.
h) Sadismus des Weibes.
Dass Sadismus — ■ eine, wie wir gesehen haben, beim Manne
häufige Perversion — beim Weibe weit seltener vorkommt, ist
leicht erklärlich. Einmal stellt der Sadismus, in welchem das Be-
dürfniss nach Unterwerfung des anderen Geschlechts ein consti-
tuirendes Element bildet , seiner Natur nach eine pathologische
Steigerung des männlichen Geschlechtscharakters dar, zweitens
sind die mächtigen Hindernisse, die sich der Aeusserung des mon-
strösen Triebes entgegenstellen, begreiflicher Weise für das Weib
noch grösser als für den Mann.
Gleichwohl kommt Sadismus des Weibes vor und lässt sich
recht wohl aus dem ersten constitutiven Element des Sadismus, der
allgemeinen Uebererregung der motorischen Sphäre, allein erklären.
Wissenschaftlich beobachtet sind bis jetzt nur zwei Fälle.
Beobachtung 40. Ein verheiratheter Mann stellt sich mit zahlreichen
Schnittnarben an den Armen vor. Er gibt über den Ursprung derselben
Folgendes an: Wenn er sich seiner jungen, etwas „nervösen" Frau nähern
wolle, müsse er sich erst einen Schnitt am Arme beibringen. Sie sauge dann
an der Wunde, worauf sich bei ihr eine hochgradige sexuelle Erregung
einstelle.
88 Paraesthesia sexualis.
Dieser Fall erinnert an die überall verbreitete Vampyrsage, deren Ent-
stehung vielleicht auf sadistische Thatsachen zurückzuführen ist 1).
In einem zweiten Falle von Sadismus des Weibes, den ich
Herrn Dr. Moll in Berlin verdanke, liegt neben der perversen
Richtung des Triebes, wie so oft, Anästhesie gegenüber den nor-
malen Vorgängen des Geschlechtslebens vor, auch treten hier gleich-
zeitig Spuren von Masochismus (s. unten) auf.
Beobachtung 41. Frau H. in H. , 26 Jahre alt, stammt aus einer
Familie, in der sich Nervenkrankheiten oder psychische Störungen angeblich
, nicht finden; hingegen bietet Patientin selbst Zeichen von Hysterie und Neur-
asthenie. Obwohl 8 Jahre verheirathet und Mutter eines Kindes, hatte Frau H.
niemals das Verlangen den Coitus auszuführen. Als junges Mädchen streng
sittlich erzogen , blieb sie bis zur Verheirathung in fast naiver Unkenntniss
der sexuellen Vorgänge. Sie ist seit dem 15. Lebensjahr regelmässig menstruirt.
Eine wesentliche Abnormität an den Genitalien scheint nicht vorhanden zu
sein. Der Coitus ist der Patientin nicht nur kein Vergnügen, sondern geradezu
ein unangenehmer Akt ; der Abscheu davor hat immer mehr zugenommen. Es
ist der Patientin durchaus unklar, wie man einen solchen Akt als höchsten
Genuss der Liebe bezeichnen kann, die ihr etwas bei weitem Höheres sei, das
nicht mit solchem sinnlichen Triebe zusammenhänge. Dabei sei erwähnt, dass
die Patientin ihren Mann ernstlich liebt. Sie hat auch am Küssen desselben
einen entschiedenen Genuss, den sie aber nicht genauer beschreiben kann.
Dass aber die Genitalien irgend etwas mit Liebe zu thun hätten, kann ihr
nicht einleuchten. Frau H. ist übrigens eine entschieden verständige Frau mit
weiblichem Wesen.
Si oscula dat conjugi , magnum voluptatem percipit in mordendo eum.
Gratissimum ei esset conjugem mordere eo modo ut sanguis fluat. Contenta
esset, si loco coitus morderetur a conjuge ipsaeque eum mordere liceret. Tarnen
eani poeniteret, si morsu magnum dolorem faceret (Dr. Moll).
In der Geschichte finden sich Beispiele von zum Theil illustren
Frauen, deren Herrschsucht, Wollust und Grausamkeit die Annahme
einer sadistischen Perversion dieser Messalinen nahe legt. Hierher
gehört Valeria Messalina selbst, Katharina von Medici, die An-
]) Die Sage ist besonders auf der Balkanhalbinsel viel verbreitet. Bei
den Neugriechen geht sie auf die antike Mythe von den Lamien und Mormo-
lyken — blutsaugende Weiber — zurück. Diesen Stoff hat Goethe in seiner
, Braut von Korinth" bearbeitet. Die auf Vampyrismus bezüglichen Verser
„saugen deines Herzens Blut" etc. sind erst durch Vergleich der antiken Quellen
ganz verständlich.
Masochismus. 89
stifterin der Bartholomäusnacht, deren Hauptvergnügen es war, ihre
Hofdamen vor ihren Augen mit Ruthen streichen zu lassen, u. A.
Vergl. jedoch oben p. 86 1).
2) Verbindung passiv erduldeter Grausamkeit und Gewalttätigkeit
mit Wollust. — Masochismus 2).
Das Gegenstück des Sadismus ist der Masochismus. Während
jener Schmerzen zufügen und Gewalt ausüben will, geht dieser
darauf aus, Schmerzen zu leiden und sich der Gewalt unterworfen
zu fühlen.
Unter Masochismus verstehe ich eine eigenthümliche Perversion
der psychischen Vita' sexualis, welche darin besteht, dass das von
derselben ergriffene Individuum in seinem geschlechtlichen Fühlen
und Denken von der Vorstellung beherrscht wird, dem Willen
einer Person des anderen Geschlechts vollkommen und unbedingt
unterworfen zu sein, von dieser Person herrisch behandelt, ge-
demüthigt und misshandelt zu werden. Diese Vorstellung wird mit
Wollust betont; der davon Ergriffene schwelgt in Phantasien, in
*) Ein grässliches Gemälde eines erdachten vollkommenen weiblichen
Sadismus bietet der geniale, aber zweifellos geistig nicht normale Heinrich
von Kleist in seiner „Penthesilea".
In seiner Penthesilea (22. Auftritt) schildert tKleist seine Heldin, wie
sie, von wollüstig-mordlustiger Raserei ergriffen, den in ihre Hände gelockten,
in Liebesbrunst bisher verfolgten Achilles in Stücke reisst, ihre Meute auf
ihn hetzt.
„Sie schlägt, die Rüstung ihm vom Leibe reissend, den Zahn schlägt
sie in seine weisse Brust, sie und die Hunde, die wetteifernden, Oxus und
Sphynx den Zahn in seine rechte , in seine linke sie ; als ich erschien , troff
Blut von Mund und Händen ihr herab," und später, als Penthesile? er-
nüchtert ist :
„Küssf ich ihn todt? — Nicht — küsst' ich ihn nicht? Zerrissen wirklich?
— So war es" ein Versehen ; Küsse, Bisse, das reimt sich, und wer recht von
Herzen liebt, kann schon das Eine für das Andre greifen."
In der neuesten Literatur findet sich ein weiblicher Sadismus geschildert,
vor Allem in den weiter unten zu besprechenden Romanen Sacher-Masoch's,
dann in Ernst von Wildenbruch's „Brunhilde" , Rachilde's „La Marquise de
Sade" etc.
2) So genannt nach dem Schriftsteller Sacher-Masoch , in Anerkennung
der Thatsache, dass dessen Romane und Novellen die ersten Darstellungen
dieser Perversion enthalten, den Verf. zu Forschungen auf ihrem Gebiet an-
regten und analog der wissenschaftlichen Wortbildung „Daltonismus" (nach
Dalton, dem Entdecker der Farbenblindheit).
90 Paraesthesia sexualis.
welchen er sich Situationen dieser Art ausmalt; er trachtet oft nach
einer Verwirklichung derselben und wird durch diese Perversion
seines Geschlechtstriebs nicht selten für die normalen Reize des
anderen Geschlechts mehr oder weniger unempfänglich , zu einer
normalen Vita sexualis unfähig — psychisch impotent. Diese
psychische Impotenz beruht dann aber durchaus nicht etwa auf
einem horror sexus alterius, sondern nur darauf, dass dem perversen
Trieb eine andere Befriedigung als die normale, zwar auch durch
das Weib, aber nicht durch den Coitus, adäquat ist.
Es kommen aber auch Fälle vor, in welchen neben der per-
versen Richtung des Triebs auch die Empfänglichkeit für normale
Reize noch leidlich erhalten ist und nebenher ein geschlechtlicher
Verkehr unter normalen Bedingungen stattfindet. In anderen Fällen
wieder ist die Impotenz eine nicht rein psychische; sondern eine
physische, i. e. spinale, da diese Perversion, wie fast alle anderen
Perversionen des Geschlechtstriebs, nur auf dem Boden einer psycho-
pathischen, meistens einer belasteten Individualität sich zu ent-
wickeln pflegt , und solche Individuen in der Regel sich masslosen
Excessen, besonders masturbatorischen, zu welchen sie die Schwie-
rigkeit, ihre Phantasien zu verwirklichen, immer wieder hindrängt,
von früher Jugend an hinzugeben pflegen.
Die Zahl der bis jetzt beobachteten Fälle von unzweifelhaftem
Masochismus ist bereits eine recht grosse. Ob Masochismus neben
einem normalen Geschlechtsleben vorkommt oder das Individuum
ausschliesslich beherrscht, ob und inwieweit der von dieser Perver-
sion Ergriffene eine Verwirklichung seiner seltsamen Phantasien
anstrebt oder nicht, ob er seine Potenz dabei mehr oder weniger
eingebüsst hat oder nicht — das Alles hängt nur vom Grade der
Intensität der im einzelnen Falle vorhandenen Perversion und von
der Stärke der ethischen und ästhetischen Gegenmotive sowie von
der relativen Rüstigkeit der physischen und psychischen Organisation
des Ergriffenen ab. Das für den Standpunkt der Psychopathie
Wesentliche und das Gemeinsame aller dieser Fälle ist: die Rich-
tung des Geschlechtstriebs auf den Vorstellungskreis
der Unterwerfung unter und Misshandlung durch das
andere Geschlecht.
Was oben vom Sadismus bezüglich des impulsiven Charakters
(Verdunklung der Motivation) der aus ihm fliessenden Handlungen,
und bezüglich des durchaus originären Charakters der Perversion
gesagt wurde, gilt auch vom Masochismus.
Masochismus. 91
Auch beim Masochismus findet sich eine Abstufung der Akte
von den widerlichsten und monströsesten Handlungen bis zur ein-
fach läppischen herab, je nach dem Grade der Intensität des per-
versen Triebes und der restlichen Kraft der moralischen und
ästhetischen Gegenmotive. Den äussersten Consequenzen des Maso-
chismus wirkt aber auch der Selbsterhaltungstrieb entgegen, und
deshalb finden Mord und schwere Verletzung, die im sadistischen
Affecte begangen werden können, hier, soweit bis jetzt bekannt,
kein passives Gegenstück in der Wirklichkeit. Wohl aber können
die perversen Wünsche masochistischer Individuen in innerlichen
Phantasien bis zu diesen äussersten Consequenzen fortschreiten
(s. unten Beobachtung 51).
Auch die Akte, denen die Masochisten sich hingeben, werden
von Einigen in Verbindung mit dem Coitus ausgeführt, resp. prä-
paratorisch verwendet, von Anderen zum Ersätze des unmöglichen
Coitus. Auch hier hängt dies nur vom Zustande der meist physisch
oder psychisch, durch die perverse Richtung der sexuellen Vor-
stellungen beeinträchtigten Potenz ab und betrifft nicht das Wesen
der Sache.
a) Aufsuchen von Misshandlungen und Demüthigungen
zum Zweck sexueller Befriedigung.
Die folgende ausführliche Selbstbiographie eines Masochisten
gibt eine erschöpfende Darstellung eines typischen Falles dieser
seltsamen Perversion.
Beobachtung 42. Ich stamme aus einer neuropathischen Familie,
in welcher neben allerlei Sonderbarkeiten des Charakters und der Lebensführung
auch mehrfache Abnormitäten in sexueller Beziehung vorkommen.
Meine Phantasie war von jeher ungemein lebhaft und sehr früh auf
sexuelle Dinge gerichtet. Dabei war ich, soweit ich mich zurückerinnern kann,
lange vor dem Eintritt der Pubertät (i. e. der Ejaculation) der Onanie sehr
stark ergeben. Meine Gedanken waren schon damals in stundenlangem Brüten
auf den Verkehr mit dem weiblichen Geschlecht gerichtet. Aber die Be-
ziehungen, in die ich mich dabei zum anderen Geschlecht setzte, waren ganz
seltsamer Art. Ich stellte mir nämlich vor, dass ich in der Gefangenschaft,
in der unumschränkten Macht einer Frau sei, und dass diese Frau ihre Macht
dazu benütze, mich auf jede mögliche Weise zu quälen und zu misshandeln.
Dabei spielten namentlich Schläge und Hiebe in meiner Phantasie eine grosse
Rolle, aber auch noch eine ganze Reihe anderer Handlungen und Situationen,
welche alle ein Verhältniss der Knechtschaft und Unterwerfung aus-
drückten. Ich sah mich vor meinem Ideal stets auf den Knieen liegen, wurde
f
94 Paraesthesia sexualis.
hatte ich kaum je ein anderes Interesse als bestenfalls ein ästhetisches.
Ein sehr grosses Interesse hatte ich von jeher für weibliche Schuhe, und nament-
lich für Stief letten mit hohen Absätzen, immer verbunden mit der Vorstellung
getreten zu werden oder den Fuss huldigend zu küssen etc.
Ich überwand schliesslich auch meine letzte Scheu und Hess mich eines
Tages, um meine Träume zu realisiren, von einer Prostituirten flagelliren,
treten etc. Der Effect war eine grosse Enttäuschung. Was da mit mir
geschah, war für meine Empfindung roh, widerlich abstossend und lächerlich
zugleich. Die Schläge verursachten mir nur Schmerz , die sonstige Situation
Widerwillen und Beschämung. Trotzdem erzwang ich mechanisch eine Ejacu-
lation, wobei ich mit Hülfe meiner Phantasie die wirkliche Situation in die
von mir ersehnte umdichtete. Diese — die eigentlich erwünschte Situation —
unterschied sich von der herbeigeführten wesentlich dadurch, dass ich mir ein
Weib vorstellte, das mir die Misshandlung mit derselben Lust geben sollte,
als ich sie von ihr empfangen wollte.
Auf der Voraussetzung einer solchen Gesinnung des Weibes, eines tyran-
nischen, grausamen Weibes, dem ich mich unterwerfen wollte, waren alle
meine sexuellen Phantasien aufgebaut. Die Handlung, die das Verhältniss
ausdrückte, war mir nebensächlich. Mir wurde jetzt erst, nach dem ersten
Versuch einer unmöglichen Verwirklichung, ganz klar, worauf mein Sehnen
eigentlich gerichtet war. Ich hatte freilich in meinen wollüstigen Träumen
sehr oft von allen Misshandlungsvorstellungen abstrahirt, und mir nur ein
gebieterisches Weib und etwa eine imperative Geberde, ein befehlendes Wort,
einen Kuss auf ihren Fuss oder dergleichen vorgestellt; aber jetzt erst kam
mir völlig zum Bewusstsein, was mich eigentlich anzog, und dass die Flagella-
tion nur das stärkste Ausdrucksmittel der ersehnten Situation war, an und
für sich aber werthlos, oder vielmehr unlusterregend, selbst schmerzlich und
widerlich.
Trotz dieser Enttäuschung gab ich die Versuche, meine erotischen Vor-
stellungen in die Wirklichkeit zu übertragen, nicht auf, nachdem der erste
Schritt gethan war. Ich vertraute darauf, dass meine Phantasie, wenn einmal
an die neue Wirklichkeit gewöhnt, in ihr Nahrung zu stärkeren Leistungen
finden werde. Ich suchte zu meinem Zwecke möglichst geeignete Weiber und
instruirte sie sorgfältig zu einer complicirten Comödie. Dabei erfuhr ich auch
gelegentlich, dass mir der Weg von gleichgesinnten Vorgängern vorbereitet
war. Der Werth dieser Comödien für die Wirkung meiner Phantasiebilder auf
meine Sinnlichkeit blieb problematisch. Was mir diese Handlungen und Ge-
berden leisteten, um mir Nebenumstände der erwünschten Situation lebhafter
vorzustellen, das nahmen sie mir oft an der Hauptsache wieder weg, die meine
Phantasie allein — ohne das Bewusstsein einer bestellten groben Täuschung —
leichter vor mich hinzaubern konnte. Die körperliche Empfindung unter den
mannigfaltigen Misshandlungen war wechselnd. Je besser die Selbsttäuschung
gelang, desto mehr wurde der Schmerz als Lust empfunden.
Oder vielmehr: die Misshandlung wurde dann vom Bewusstsein als sym-
bolischer Akt aufgefasst. Daraus entstand die Illusion der ersehnten Situation,
die zunächst von lebhafter psychischer Lustempfindung begleitet war. So
wurde die Perception der Schmerzqualität der Misshandlung mitunter auf-
gehoben. Aehnlich, aber einfacher, weil ganz auf psychischem Gebiet, war
Masochismus. 95
der Vorgang bei den moralischen Misshandlungen, den Demüthigungen, denen
ich mich unterwarf. Auch diese wurden mit Lust betont, wenn die Selbst-
täuschung eben gelang. Sie gelang aber selten gut, und nie vollkommen. Es
blieb immer ein störendes Element im Bewusstsein. Deshalb kehrte ich da-
zwischen immer wieder zur einsamen Onanie zurück. Uebrigens war auch im
andern Falle der Schluss des ganzen Aktes gewöhnlich eine durch Onanie pro-
vocirte Ejaculation, manchmal eine solche ohne mechanische Nachhülfe.
So trieb ich es eine ganze Reihe von Jahren bei abnehmender Potenz,
aber wenig verminderter Begierde und ungeschwächter Gewalt meiner selt-
samen geschlechtlichen Vorstellung über mich. Und so ist der Zustand meiner
Vita sexualis auch noch in der Gegenwart. Der Coitus, den ich nie zu Stande
gebracht habe, erscheint meiner Vorstellung noch immer wie einer jener selt-
samen und unsauberen Akte, die ich aus den Darstellungen geschlechtlicher
Verirrungen kenne. Meine eigenen geschlechtlichen Vorstellungen erscheinen
mir natürlich und beleidigen meinen sonst empfindlichen Geschmack nicht
im Mindesten. Ihre Verwirklichung lässt mich freilich, wie oben dargestellt ist,
aus verschiedenen Gründen ziemlich unbefriedigt. Eine directe, eigentliche
Verwirklichung meiner geschlechtlichen Phantasie habe ich niemals, auch nicht
andeutungsweise erreicht. So oft ich zu weiblichen Wesen in nähere Beziehung
getreten bin, habe ich den Willen des Weibes dem meinigen unterworfen ge-
fühlt, nie umgekehrt. Einem Weibe, das Herrschgelüste innerhalb der geschlecht-
lichen Beziehungen manifestirt, bin ich niemals begegnet. Frauen, die im Hause
regieren wollen, und sogenanntes Pantoffelheldenthum sind etwas von meinen
erotischen Vorstellungen ganz Verschiedenes. Ausser der Perversion meiner
Vita sexualis bietet meine Gesammtpersönlichkeit noch viel Abnormes, meine
neuropathische Anlage kommt in zahlreichen Symptomen auf psychischem und
physischem Gebiete zum Ausdruck. Daneben glaube ich an mir originäre Ab-
normitäten des Charakters im Sinne einer Annäherung an den weiblichen
Typus constatiren zu können. Wenigstens fasse ich in diesem Sinne meine
hochgradige Willensschwäche auf und einen auffallenden Mangel an Muth
gegenüber Menschen und Thieren, der mit meiner Kaltblütigkeit gegenüber
Elementarereignissen contrastirt. Meine äussere Erscheinung ist durchaus
männlich.
Der Verfasser dieser Autobiographie machte mir ferner noch
folgende Mittheilungen :
„Es war stets mein eifriges Bestreben, zu erfahren, ob die seltsamen
Vorstellungen, welche mich in geschlechtlicher Beziehung beherrschen, auch
bei anderen Männern vorkommen, und seit den ersten Mittheilungen hierüber,
die mir zufällig zu Ohren kamen, habe ich vielfach darnach geforscht. Frei
lieh ist, da es sich hier eigentlich um einen Vorgang im Innern der Vor
Stellungswelt handelt, die Constatirung nicht leicht und nicht überall sicher
Ich nehme Masochismus da an, wo ich perverse Handlungen im sexuellen Ver
kehr finde, die ich nicht anders als durch diese dominirende Idee erklären kann
Ich halte diese Anomalie für eine sehr verbreitete.
Von einer ganzen Reihe von Prostituirten hier in Berlin und in Paris,
Wien etc. habe ich Berichte hierüber gehört und so erfahren, wie zahlreich
94 Paraesthesia sexualis.
hatte ich kaum je ein anderes Interesse als bestenfalls ein ästhetisches.
Ein sehr grosses Interesse hatte ich von jeher für weibliche Schuhe, und nament-
lich für Stief letten mit hohen Absätzen, immer verbunden mit der Vorstellung
getreten zu werden oder den Fuss huldigend zu küssen etc.
Ich überwand schliesslich auch meine letzte Scheu und Hess mich eines
Tages, um meine Träume zu realisiren, von einer Prostituirten flagelliren,
treten etc. Der Effect war eine grosse Enttäuschung. Was da mit mir
geschah, war für meine Empfindung roh, widerlich abstossend und lächerlich
zugleich. Die Schläge verursachten mir nur Schmerz , die sonstige Situation
Widerwillen und Beschämung. Trotzdem erzwang ich mechanisch eine Ejacu-
lation, wobei ich mit Hülfe meiner Phantasie die wirkliche Situation in die
von mir ersehnte umdichtete. Diese — die eigentlich erwünschte Situation —
unterschied sich von der herbeigeführten wesentlich dadurch, dass ich mir ein
Weib vorstellte, das mir die Misshandlung mit derselben Lust geben sollte,
als ich sie von ihr empfangen wollte.
Auf der Voraussetzung einer solchen Gesinnung des Weibes, eines tyran-
nischen, grausamen Weibes, dem ich mich unterwerfen wollte, waren alle
meine sexuellen Phantasien aufgebaut. Die Handlung, die das Verhältnis»
ausdrückte, war mir nebensächlich. Mir wurde jetzt erst, nach dem ersten
Versuch einer unmöglichen Verwirklichung, ganz klar, worauf mein Sehnen
eigentlich gerichtet war. Ich hatte freilich in meinen wollüstigen Träumen
sehr oft von allen Misshandlungsvorstellungen abstrahirt, und mir nur ein
gebieterisches Weib und etwa eine imperative Geberde, ein befehlendes Wort,
einen Kuss auf ihren Fuss oder dergleichen vorgestellt; aber jetzt erst kam
mir völlig zum Bewusstsein, was mich eigentlich anzog, und dass die Flagella-
tion nur das stärkste Ausdrucksmittel der ersehnten Situation war, an und
für sich aber werthlos, oder vielmehr unlusterregend, selbst schmerzlich und
widerlich.
Trotz dieser Enttäuschung gab ich die Versuche, meine erotischen Vor-
stellungen in die Wirklichkeit zu übertragen, nicht auf, nachdem der ersto
Schritt gethan war. Ich vertraute darauf, dass meine Phantasie, wenn einmal
an die neue Wirklichkeit gewöhnt, in ihr Nahrung zu stärkeren Leistungen
finden werde. Ich suchte zu meinem Zwecke möglichst geeignete Weiber und
instruirte sie sorgfältig zu einer complicirten Comödie. Dabei erfuhr ich auch
gelegentlich, dass mir der Weg von gleichgesinnten Vorgängern vorbereitet
war. Der Werth dieser Comödien für die Wirkung meiner Phantasiebilder auf
meine Sinnlichkeit blieb problematisch. Was mir diese Handlungen und Ge-
berden leisteten, um mir Nebenumstände der erwünschten Situation lebhafter
vorzustellen, das nahmen sie mir oft an der Hauptsache wieder weg, die meine
Phantasie allein — ohne das Bewusstsein einer bestellten groben Täuschung —
leichter vor mich hinzaubern konnte. Die körperliche Empfindung unter den
mannigfaltigen Misshandlungen war wechselnd. Je besser die Selbsttäuschung
gelang, desto mehr wurde der Schmerz als Lust empfunden.
Oder vielmehr: die Misshandlung wurde dann vom Bewusstsein als sym-
bolischer Akt aufgefasst. Daraus entstand die Illusion der ersehnten Situation,
die zunächst von lebhafter psychischer Lustempfindung begleitet war. So
wurde die Perception der Schmerzqualität der Misshandlung mitunter auf-
gehoben. Aehnlich, aber einfacher, weil ganz auf psychischem Gebiet, war
Masochismus. 95
der Vorgang bei den moralischen Misshandlungen, den Demüthigungen, denen
ich mich unterwarf. Auch diese wurden mit Lust betont, wenn die Selbst-
täuschung eben gelang. Sie gelang aber selten gut, und nie vollkommen. Es
blieb immer ein störendes Element im Bewusstsein. Deshalb kehrte ich da-
zwischen immer wieder zur einsamen Onanie zurück. Uebrigens war auch im
andern Falle der Schluss des ganzen Aktes gewöhnlich eine durch Onanie pro-
vocirte Ejaculation, manchmal eine solche ohne mechanische Nachhülfe.
So trieb ich es eine ganze Reihe von Jahren bei abnehmender Potenz,
aber wenig verminderter Begierde und ungeschwächter Gewalt meiner selt-
samen geschlechtlichen Vorstellung über mich. Und so ist der Zustand meiner
Vita sexualis auch noch in der Gegenwart. Der Coitus, den ich nie zu Stande
gebracht habe, erscheint meiner Vorstellung noch immer wie einer jener selt-
samen und unsauberen Akte, die ich aus den Darstellungen geschlechtlicher
Verirrungen kenne. Meine eigenen geschlechtlichen Vorstellungen erscheinen
mir natürlich und beleidigen meinen sonst empfindlichen Geschmack nicht
im Mindesten. Ihre Verwirklichung lässt mich freilich, wie oben dargestellt ist,
aus verschiedenen Gründen ziemlich unbefriedigt. Eine directe, eigentliche
Verwirklichung meiner geschlechtlichen Phantasie habe ich niemals, auch nicht
andeutungsweise erreicht. So oft ich zu weiblichen Wesen in nähere Beziehung
getreten bin, habe ich den Willen des Weibes dem meinigen unterworfen ge-
fühlt, nie umgekehrt. Einem Weibe, das Herrschgelüste innerhalb der geschlecht-
lichen Beziehungen manifestirt, bin ich niemals begegnet. Frauen, die im Hause
regieren wollen, und sogenanntes Pantoffelheldenthum sind etwas von meinen
erotischen Vorstellungen ganz Verschiedenes. Ausser der Perversion meiner
Vita sexualis bietet meine Gesammtpersönlichkeit noch viel Abnormes, meine
neuropathische Anlage kommt in zahlreichen Symptomen auf psychischem und
physischem Gebiete zum Ausdruck. Daneben glaube ich an mir originäre Ab-
normitäten des Charakters im Sinne einer Annäherung an den weiblichen
Typus constatiren zu können. Wenigstens fasse ich in diesem Sinne meine
hochgradige Willensschwäche auf und einen auffallenden Mangel an Muth
gegenüber Menschen und Thieren, der mit meiner Kaltblütigkeit gegenüber
Elementarereignissen contrastirt. Meine äussere Erscheinung ist durchaus
männlich.
Der Verfasser dieser Autobiographie machte mir ferner noch
folgende Mittheilungen :
„Es war stets mein eifriges Bestreben, zu erfahren, ob die seltsamen
Vorstellungen, welche mich in geschlechtlicher Beziehung beherrschen, auch
bei anderen Männern vorkommen, und seit den ersten Mittheilungen hierüber,
die mir zufällig zu Ohren kamen, habe ich vielfach darnach geforscht. Frei-
lich ist, da es sich hier eigentlich um einen Vorgang im Innern der Vor-
stellungswelt handelt, die Constatirung nicht leicht und nicht überall sicher.
Ich nehme Masochismus da an, wo ich perverse Handlungen im sexuellen Ver-
kehr finde, die ich nicht anders als durch diese dominirende Idee erklären kann.
Ich halte diese Anomalie für eine sehr verbreitete.
Von einer ganzen Reihe von Prostituirten hier in Berlin und in Paris,
Wien etc. habe ich Berichte hierüber gehört und so erfahren, wie zahlreich
96 Paraesthesia sexualis.
ineine Leidensgenossen sind. Immer gebrauche ich die Vorsicht, nicht etwa
selbst Geschichten zu erzählen und zu fragen, ob diese ihnen vorgekommen
sind, sondern ich Hess diese Personen ihre Erlebnisse pele-rnele erzählen.
Einfache Flagellation ist so verbreitet, dass fast jede Prostituirte darauf
eingerichtet ist. Aber auch Fälle von unzweifelhaftem Masochismus sind äusserst
häufig. Die von dieser Perversion beherrschten Männer unterwerfen sich den
raffinirtesten Qualen. Dabei führen sie mit den dazu abgerichteten Prostituirten
stets dieselbe Scene auf: demüthiges Niederwerfen des Mannes, Fusstritte,
Befehle, eingelernte drohende und beschimpfende Reden, dann Flagellation,
Schläge auf die verschiedensten Körpertheile und alle möglichen Misshand-
lungen, Blutigstechen mit Nadeln u. dgl. Die Scene endet manchmal mit dem
Coitus, öfter mit Ejaculation ohne solchen. Zweimal haben mir solche Pro-
stituirte schwere Eisenketten mit Handschellen, welche ihre Kunden anfertigen
und sich anlegen Hessen, dann die getrockneten Erbsen, auf welche sie knieen,
mit Nadeln gespickte Sitze, auf welche sie sich auf Befehl des Weibes setzen
müssen, und dergleichen mehr gezeigt. Manches Mal begehrt der perverse
Mann, dass das Weib seinen Penis schmerzhaft zusammenschnürt, mit Nadeln
sticht, mit einer Klinge Einschnitte in ihn macht oder ihn mit einem Holz-
stück schlägt. Selbst die Procedur des Henkens wird nachgeahmt und eben
rechtzeitig unterbrochen. Andere wieder lassen sich mit der Spitze eines
Messers oder Dolches leicht ritzen, dabei aber muss das Weib sie mit dem
Tode bedrohen.
Bei allen diesen Dingen ist die Symbolik des Unterwerfungsverhältnisses
Hauptsache. Das Weib wird gewöhnlich , Herrin' genannt, der Mann ,Sklave'.
Bei all diesen Comödien mit Prostituirten, die normalen Menschen als
ekelhafter Wahnsinn erscheinen müssen, handelt es sich dem Masochisten um
ein kümmerliches Surrogat. Ob es eine Verwirklichung masochistischer Träume
in einem Liebesverhältniss gibt, weiss ich nicht.
Wenn die Sache vorkommt, so ist sie jedenfalls äusserst selten, weil die
Geschmacksrichtung beim Weibe (Sadismus des Weibes, wie ihn Sacher-Masoch
schildert) sehr selten zu finden sein dürfte und der Aeusserung sexueller Ab-
normitäten beim Weibe obendrein noch grössere Hindernisse der Scham etc.
entgegenstehen als beim Manne. Ich selbst habe niemals das leiseste Anzeichen
eines Entgegenkommens dieser Art bemerkt und keinen Versuch einer wirk-
lichen ReaHsirung meiner Phantasien machen können. Einmal hat mir ein
Mann seine masochistische Perversion anvertraut und behauptet, sein Ideal ge-
funden zu haben."
Dem obigen Falle der Beobachtung 42 ähnlich sind die beiden
folgenden Fälle.
Beobachtung 43. Herr Z., 29 J., Techniker, kommt wegen vermeint-
licher Tabes in die Sprechstunde. Vater war nervös und starb tabisch. Vaters
Schwester war irrsinnig. Mehrere Verwandte sind hochgradig nervös und
sonderbare Leute.
Pat. erweist sich bei näherer Untersuchung als sexual, spinal und cere-
bral asthenisch. Er bietet keine anamnestischen noch gegenwärtigen Symptome
im Sinne einer Tabes dorsalis. Die naheliegende Frage nach Missbrauch der
Masochismus. 97
Genitalorgane wird im Sinne der seit der Jugend geübten Masturbation be-
antwortet. Im Lauf der Exploration ergaben sich folgende interessante psycho-
sexuale Anomalien.
Mit 5 Jahren erwachte die Vita sexualis im Sinne von wollüstig em-
pfundenem Drang, sich selbst zu geissein, zugleich mit dem Gelüste, der Fla-
gellation durch Andere theilhaftig zu werden. An bestimmte, geschlechtlich
differenzirte Individuen dachte er dabei nicht. Faute de mieux trieb er Auto-
flagellation und erzielte im Laufe der Jahre Ejaculation.
Schon lange vorher hatte er durch Masturbation sich zu befriedigen
angefangen, wobei ihm jeweils Flagellationssituationen vorschwebten.
Herangewachsen suchte er zweimal ein Lupanar auf, um daselbst von
Meretrices gegeisselt zu werden. Er suchte sich zu diesem Zweck das schönste
Mädchen aus, aber er war enttäuscht, brachte es nicht zur Erection, ge-
schweige zur Ejaculation.
Er erkannte, dass das Geissein Nebensache, die Hauptsache die
Idee des Unterworfenseins unter den Willen des Weibes sei. Dazu
gelangte er das erste Mal nicht, wohl aber das zweite Mal. Weil er im
„ Gedanken der Unterwerfung" war, hatte er vollen Erfolg.
Mit der Zeit erzielte er unter Anstrengung seiner Phantasie im Sinne
masochistischer Vorstellungen sogar Coitus, auch ohne Flagellation, aber er
empfand davon wenig Befriedigung, so dass er es vorzog, auf masochistische
Weise sexuell zu verkehren. Im Sinne seiner originären Flagellationsgelüste
fand er an masochistischen Scenen nur Gefallen, wenn er ad podicem flagellirt
wurde oder sich wenigstens eine solche Situation phantastisch hinzudichtete.
In Zeiten hoher Erregbarkeit genügte es ihm sogar, einem schönen Mädchen
solche Scenen erzählen zu dürfen. Er gerieth dadurch in Orgasmus und ge-
langte meist zur Ejaculation.
Früh gesellte sich dazu eine höchst wirksame fetischistische Vor-
stellung. Er merkte, dass ihn nur solche Weiber fesselten und befriedigten,
die hohe Stiefel und kurzen Rock („ungarische Tracht") trugen. Wie er zu
dieser fetischistischen Vorstellung gelangt ist, weiss er nicht anzugeben. Auch
an Knaben reize ihn das mit hohem Stiefel bekleidete Bein, aber dieser Reiz
sei rein ästhetisch, ohne jegliche sinnliche Betonung, wie er überhaupt nie
homosexuale Empfindungen an sich wahrgenommen haben will. Seinen Fetischis-
mus begründet Pat. mit einer Vorliebe für Waden. Es reize ihn aber nur die
in einem eleganten Stiefel steckende Damenwade. Nackte Waden, überhaupt
feminile Nuditäten üben auf ihn nicht den geringsten sexuellen Reiz aus. Eine
untergeordnete Fetischnebenvorstellung ist für Pat. das menschliche Ohr. Es
ist ihm ein wollüstiges Gefühl, schönen Menschen, d. h. Menschen, die schönes
Ohr haben, über die Ohren zu streichen. Bei Männern gewährt ihm dies einen
sehr geringen, bei Weibern einen hohen Genuss.
Auch habe er ein Faible für Katzen. Er finde sie einfach schön, jede
ihrer Bewegungen sei ihm sympathisch. Der Anblick einer Katze könne ihn
sogar aus der tiefsten Gemüthsdepression herausreissen. Die Katze erscheine
ihm heilig, er sehe in einer solchen geradezu ein göttliches Wesen ! Des Grundes
dieser sonderbaren Idiosynkrasie ist er sich nicht bewusst.
Neuerlich habe er häufiger auch sadistische Vorstellungen im Sinne der
Prügelung eines Knaben. Bei diesen Flagellationsphantasien spielen sowohl
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 7
98 Paraesthesia sexualis.
Männer als Weiber eine Rolle, vorwiegend aber letztere, und dabei ist sein
Genuas ein weit grösserer.
Pat. findet, dass neben dem, was er als Masochismus kenne und empfinde,
noch etwas Anderes bestehe, das er am liebsten mit „ Pagismus " bezeichnen
möchte.
Während seine masochistischen Schwelgereien und Akte durchaus grob-
sinnlicher Art und Betonung seien, bestehe sein „ Pagismus " in der Idee, Page
eines schönen Mädchens zu sein. Er stelle sich dieses ganz keusch vor, aber
pikant, seine Stellung ihm gegenüber als die eines Sklaven, aber in ganz
keuschem Verhältniss, rein „platonischer" Hingebung. Dies Schwelgen in der
Idee, einem solchen „schönen Geschöpf als Page zu dienen, sei mit einem
köstlichen, aber durchaus nicht sexuellen Gefühl betont. Er empfinde davon
eine exquisite moralische Befriedigung» im Gegensatz zum sinnlich betonten
Masochismus, und deshalb müsse er seinen „ Pagismus " für etwas Anders-
artiges halten.
Pat. bietet in seinem Aeusseren auf den ersten Blick nichts Auffälliges,
aber sein Becken ist abnorm weit, hat flache Darmbeinschaufeln, ist abnorm
geneigt und entschieden weiblich. Neuropathisches Auge. Er weist auch dar-
auf hin, dass er oft Kitzel und Wollustreiz im Anus habe, auch von da aus
(erogene Zone) sich Befriedigung ope digiti verschaffen könne.
Pat. zweifelt an seiner Zukunft. Hülfe wäre für ihn nur möglich, wenn
er ein rechtes Interesse am Weibe bekommen könnte, aber sein Wille, seine
Phantasie seien dazu zu schwach.
Was der Patient dieser Beobachtung als „ Pagismus K be-
zeichnet, ist nichts vom Wesen des Masochismus Verschiedenes,
wie sich aus dem Vergleich mit den unten folgenden Fällen von
„symbolischem" Masochismus und anderen ergibt, ferner aus der
Erwägung, dass der Coitus bei dieser Perversion mitunter als in-
adäquater Akt verschmäht wird, und aus der Thatsache, dass es
in solchen Fällen öfters zu einer phantastischen Exaltirung des
perversen Ideals kömmt.
Beobachtung 44: Ideeller Masochismus. Herr X., Techniker,
26 Jahre, stammt von nervöser, mit Migräne behafteter Mutter. In der väter-
lichen Ascendenz ist ein Fall von Rückenmarkskrankheit und ein solcher von
Psychose vorgekommen.
Ein Bruder ist „nervös".
Herr X. hat unerhebliche Kinderkrankheiten überstanden, studirte leicht,
entwickelte sich normal. Er ist eine durchaus männliche Erscheinung, jedoch
etwas schwächlich und unter mittelgross. Der Descensus des rechten Hodens
blieb unvollkommen, indem er im Leistencanal fühlbar ist; Penis normal ge-
bildet, jedoch etwas klein.
Mit 5 Jahren entdeckte X. wollüstige Gefühle, als er mit übereinander-
geschlagenen gestreckten Beinen Schwingungen an einem kleinen Barren machte.
Er wiederholte diese Procedur einige Male, vergass dann auf diese Erscheinung,
Masochismus. 99
und als er sich als reiferer Knabe ihrer erinnerte und sie wiederholte, trat der
erwartete Erfolg nicht mehr ein.
Mit 7 Jahren wohnte X. einer Knabenprügelei auf dem Schulhof bei,
wobei schliesslich die Sieger sich rittlings auf die mit dem Rücken auf dem
Boden liegenden Besiegten setzten.
Das machte auf X. Eindruck.
Er dachte sich die Position der Untenliegenden als eine angenehme,
versetzte sich in Gedanken an ihre Stelle und malte sich aus, wie er durch
scheinbare Versuche, sich aufzurichten, es dahin brachte, dass der Gegner
rittlings seinem Gesichte immer näher komme, schliesslich darauf sitze und
ihn so nöthige, die Exhalation seiner Genitalien zu empfinden. Solche
Situationen tauchten in der Folge bei ihm öfter auf, von Lustgefühlen betont,
jedoch empfand er nie dabei eine eigentliche Wollust, hielt solche Gedanken
für schlecht und sündhaft und versuchte sie zurückzudrängen. Von sexuellen
Dingen will er damals noch keine Ahnung gehabt haben. Bemerkenswerth ist,
dass Patient bis zum 20. Jahre ab und zu noch an Enuresis nocturna litt.
Bis zur Pubertät hatten die zeitweise wiederkehrenden masochistischen
Phantasien , sich unter den Schenkeln eines Anderen zu befinden , sowohl
Knaben als Mädchen zum Gegenstand. Von da ab prävalirten weibliche
Individuen, und nach beendigter Pubertät waren es ausschliesslich solche. All-
mählig gewannen diese Situationen auch anderen Inhalt. Sie gipfelten nun-
mehr in dem Bewusstsein, vollkommen dem Willen und der Willkür eines
erwachsenen Mädchens unterworfen zu sein, mit entsprechenden demüthigenden
Handlungen und Situationen.
Als Beispiele solcher führt X. an:
„Ich liege am Boden mit dem Rücken nach unten. Mir zu Häupten
steht die Herrin und hat einen Fuss auf meine Brust gesetzt, oder sie hat
meinen Kopf zwischen ihren Füssen, so dass mein Gesicht sich direct unterhalb
ihrer Pubes befindet. Oder sie sitzt rittlings auf meiner Brust oder auf meinem
Gesicht, isst und benutzt meinen Körper als Tisch. Wenn ich einen Befehl
nicht zur Zufriedenheit vollzogen habe, oder es meiner Herrin sonst beliebt,
so werde ich auf einen dunklen Abort eingesperrt, während sie ausgeht und
Vergnügungen aufsucht. Sie zeigt mich als ihren Sklaven den Freundinnen,
verleiht mich als solchen ihnen.
„Ich werde von ihr zu den niedrigsten Dienstleistungen benutzt, muss
sie bedienen, während sie aufsteht, beim Baden, bei der mictio. Zu letzterer
Verrichtung bedient sie sich gelegentlich auch meines Gesichtes und zwingt
mich, von ihrem Lotium zu trinken."
Zur Ausführung will X. diese Ideen nie gebracht haben, da er zugleich
die dumpfe Empfindung hatte, dass ihre Verwirklichung ihm das erhoffte Ver-
gnügen nicht bringen würde.
Nur einmal habe er sich in die Kammer eines hübschen Dienstmädchens
geschlichen, veranlasst durch solche Vorstellungen, ut urinam puellae bibat.
Er sei aber vor Ekel davon abgestanden.
Vergebens will X. gegen diese masochistischen Vorstellungskreise, als
ihm peinlich und ekelhaft, angekämpft haben. Sie bestehen nach wie vor
mächtig fort. Er macht aufmerksam, dass die Demüthigung dabei die Haupt-
rolle spielt und nie die Wonne einer Sehmerzzufügung unterläuft.
100 Paraesthesia sexualis.
Die „Herrin" denkt er sich mit Vorliebe unter der Gestalt zartgebauter
Jungfrauen von etwa 20 Jahren, mit zartem, schönem Gesicht und womöglich
kurzen hellen Kleidern.
An der gewöhnlichen Art, sich jungen Damen zu nähern, an Tanz und
gemischter Gesellschaft will X. nie bis jetzt Gefallen gefunden haben. Von
der Pubertät ab zeigten sich mit den betreffenden masochistischen Phantasien
ab und zu Pollutionen unter schwachem Wollustgefühl.
Als Patient einmal Frictionen der Glans unternahm, gelang ihm weder
Erection noch Ejaculation, und statt eines wollüstigen Gefühls stellte sich
jeweils ein unangenehmes, geradezu paralgisches ein. Dadurch blieb X. vor
Masturbation bewahrt. Dafür stellte sich vom 20. Jahre ab beim Turnen am
Reck, beim Klettern an Tauen und Stangen "häufig eine mit starkem Wollust-
gefühl verbundene Ejaculation ein. SeTmsucht nach sexuellem Verkehr mit
Weibern (conträr sexuale Empfindungen hat Patient nie gehabt) trat bisher
nie auf. Als ihn, 26 Jahre alt, ein Freund zum Coitus drängte, zeigten sich
„ angstvolle Unruhe und entschiedener Widerwille" schon auf dem Wege nach
dem Lupanar, und vor Aufregung, Zittern an allen Gliedern und Schweiss-
ausbruch kam es zu keiner Erection. Bei mehrfacher Wiederholung des Ver-
suches dasselbe Fiasko, nur waren die seelischen und körperlichen Erregungs-
erscheinungen nicht so heftig wie das erste Mal.
Libido war nie vorhanden. Masochistische Phantasien zum Gelingen
des Aktes zu verwerthen, gelang Patient nicht, weil seine geistigen Fähigkeiten
in solcher Situation „wie gelähmt seien und er die zu einer Erection nöthigen
intensiven Vorstellungen" nicht zu Stande bringe. So gab er, theils aus
mangelnder Libido, theils aus mangelhaftem Vertrauen ins Gelingen, weitere
Coitusversuche auf. Nur gelegentlich befriedigte er in der Folge seine schwache
Libido anlässlich Turnübungen. Gelegentlich von spontanen oder veranlassten
masochistischen Phantasien (in wachem Zustand) kam es wohl zu Erection, nie
mehr aber zu Ejaculation.
Pollutionen erfolgen etwa alle 6 Wochen.
Patient ist eine intellectuell hochstehende, feinfühlige, etwas neurasthenische
Persönlichkeit. Er klagt, dass er in Gesellschaft meist das Gefühl habe, auf-
zufallen, beobachtet zu werden, bis zu Angstzuständen, obwohl er sich bewusst
sei, dass er sich derlei nur einbilde. Aus diesem Grund liebe er die Einsam-
keit, zumal da er befürchten müsse, dass man auf seine sexuelle Abnormität
komme.
Seine Impotenz sei ihm nicht peinlich, da seine Libido ja fast Null sei,
gleichwohl würde er eine Sanirung seiner Vita sexualis für das grösste Glück
halten, da davon im socialen Leben so viel abhänge und er sich dann gewiss
sicherer und männlicher in der Gesellschaft bewegen würde.
Seine jetzige Existenz sei ihm eine Qual, ein solches Leben eine Last.
Epikrise: (Hereditäre) Belastung. Abnorm früh sich regendes Sexual-
leben. Schon mit 7 Jahren wollüstig und entschieden masochistisch empfun-
dener Anblick von rittlings auf Anderen sitzenden Knaben (sexuelle und per-
verse Betonung einer an und für sich nicht den normalen Menschen sexuell
erregenden Situation) zugleich mit Geruchsvorstellungen.
Solche Situationen in der Folge Gegenstand von Phantasien, anfangs
geschlechtlich nicht differenziii, von der Pubertät ab heterosexual.
Masochismus. 101
Sie führen zu ausgesprochenem ideellem Masochismus (Ideen der De-
müthigung, des Unterworfenseins), in welchem als einzige Beziehung zu den
Genitalien des Weibes die Vorstellung, zur Mictio benutzt zu werden, selbst
bibere urinam dominae erscheint.
Normaler sexualer Trieb zum Weibe fehlt, wesentlich auf Grund von
Masochismus.
Beobachtung 45. X., 28 Jahre, Literat, belastet, von Kind auf sexuell
hyperästhetisch, bekam mit 6 Jahren Träume, es prügle ihn ein Weib ad nates.
Er erwachte dabei jeweils in höchster wollüstiger Erregung und gelangte so
zur Onanie. Mit 8 Jahren bat er einmal die Köchin, sie möge ihn durch-
prügeln. Vom 10. Jahre ab Neurasthenie. Bis zum 25. Jahre Flagellations-
träume oder auch bezügliche Phantasien des wachen Lebens mit Onanie. Vor
3 Jahren Zwang, sich von einer Puella prügeln zu lassen. Pat. war ent-
täuscht, da dabei Erection und Ejaculation ausblieben. Neuer Versuch mit
27 Jahren in der Absicht, dadurch Erection und Coitus zu erzwingen. Dies
gelang erst allmählig durch folgenden Kunstgriff. Die Puella musste, während
er Coitus versuchte, ihm erzählen, wie sie andere Impotente unbarmherzig
schlage, und ihm Gleiches androhen. Ueberdies musste er sich vorstellen, er
sei gefesselt, ganz in der Gewalt des Weibes, hülflos, werde von dem-
selben aufs Schmerzlichste geschlagen. Gelegentlich musste er, um potent zu
sein, sich auch wirklich binden lassen. So gelang ihm Coitus. Pollutionen
waren nur dann von Wollustgefühl begleitet, wenn er (selten) träumte, er
werde misshandelt oder er sei Zuschauer, wie eine Puella die andere geisselte.
Beim Coitus hatte er nie ein rechtes Wollustgefühl. Am Weib interessiren
ihn nur die Hände. Kräftige handfeste Frauenzimmer mit derben Fäusten
sind ihm die liebsten. Gleichwohl ist sein Flagellationsbedürfniss nur ein
ideelles, denn bei seiner grossen Hautempfindlichkeit genügen im schlimmsten
Fall einige Hiebe. Männerhiebe wären ihm zuwider. Er möchte heirathen.
Aus der Unmöglichkeit, von einer honneten Frau Flagellation zu verlangen,
und dem Zweifel, ob er ohne solche potent sei, entspringt seine Verlegenheit
und sein Bedürfniss zu genesen.
In drei von den bis jetzt angeführten Fällen diente den von
der Perversion des Masochismus Beherrschten als Ausdruck der von
ihnen ersehnten Situation der Unterwerfung unter das Weib haupt-
sächlich die passive Flagellation. Das gleiche Mittel wird von einer
grossen Zahl von Masochisten benutzt.
Nun ist aber passive Flagellation ein Vorgang, welcher be-
kanntlich geeignet ist, durch mechanische Reizung der Gesässnerven
reflectorisch Erectionen auszulösen 1). Diese Wirkung der Flagel-
lation wird von geschwächten Wüstlingen dazu benützt, ihrer ge-
sunkenen Potenz durch diese Procedur nachzuhelfen und diese Per-
versität — nicht Perversion — ist eine ungemein häufige.
') Vgl. oben, Einleitung p. 28.
102 Paraesthesia sexualis.
Es ist deshalb geboten, zu untersuchen, in welchem Verhält-
nisse die passive Flagellation der Masochisten zu jener psychisch
nicht perverser, aber physisch geschwächter Wüstlinge steht.
Dass Masochismus etwas wesentlich Anderes und Umfassen-
deres sei als blosse Flagellation, geht aus den Mittheilungen der
von dieser Perversion Ergriffenen deutlich hervor.
Für den Masochisten ist die Unterwerfung unter das Weib
die Hauptsache, die Misshandlung nur ein Ausdrucksmittel für dieses
Verhältniss und zwar eines der stärksten. Die Handlung hat für
ihn symbolischen Werth und ist Mittel zum Zweck seelischer Be-
friedigung im Sinne seiner besonderen Gelüste.
Der nicht masochistische Geschwächte hingegen, der sich
flagelliren lässt, sucht nur eine mechanisch vermittelte Reizung
seines spinalen Centrums.
Ob in einem einzelnen Falle einfacher (reflectorischer) Flagel-
lantismus oder wirklicher Masochismus vorliegt, wird durch die
Aussagen, der Betreffenden, oft schon durch die Nebenumstände der
Handlung klar.
Es kommt hier namentlich auf Folgendes an:
Erstens besteht beim Masochisten der Trieb zur passiven Flagellation
fast immer ab origine. Er taucht als Wunsch auf, bevor eine Erfahrung
über reflectorische Wirkung der Procedur gemacht wurde, oft zuerst in
Träumen, wie z. B. in der unten folgenden Beobachtung 47.
Zweitens ist beim Masochisten in der Regel die passive Flagellation
nur eine von den vielen und verschiedenartigen Misshandlungen, welche im
Vorstellungskreise des Masochisten als Phantasien auftauchen und oft ver-
wirklicht werden. Bei diesen anderen Misshandlungen und den häufigen rein
symbolische Demüthigungen ausdrückenden Akten, die neben der Flagellation
angewendet werden, kann von einer reflectorischen physischen Reizwirkung
natürlich nicht die Rede sein, es ist also in solchen Fällen stets auf die
originäre Anomalie, die Perversion zu schliessen.
Drittens ist der Umstand von Bedeutung, dass die ersehnte Flagellation
beim Masochisten, wenn ausgeführt, gar nicht aphrodisisch zu wirken braucht.
Es tritt sogar oft mehr oder minder deutlich eine Enttäuschung ein, und zwar
jedesmal, wenn die Absicht des Masochisten nicht gelingt, sich durch diesen
bestellten Vorgang die Illusion der ersehnten Situation (in der Gewalt des
Weibes zu sein) zu verschaffen, so dass ihm das mit der Procedur beauftragte
Weib nur als das executive Werkzeug seines eigenen Willens erscheint. Ver-
gleiche in Bezug auf diesen wichtigen Punkt die drei vorangehenden Fälle
und unten Beobachtung 49.
Zwischen Masochismus und einfachem (reflectorischem) Flagellantismus
besteht ein analoges Verhältniss wie etwa zwischen conträrer Sexualempfindung
und erworbener Päderastie.
Masochismus. k 103
Es benimmt dieser Anschauung nichts an Werth, dass auch beim
Masochisten die Flagellation die bekannte reflectorische Wirkung haben kann,
dass mitunter bei Gelegenheit einer in der Jugend erhaltenen Züchtigung auf
diesem Wege die Wollust zum erstenmale geweckt wird und gleichzeitig dabei
die masochistisch veranlagte Vita sexualis aus ihrer Latenz tritt. Dann muss
der Fall eben durch die oben unter „zweitens" und „drittens" angeführten
Umstände charakterisirt sein, um als masochistischer zu gelten.
Ist über die Entstehungsart des Falles nichts Näheres bekannt,
so können Nebenumstände, wie die oben unter „zweitens" ange-
führten, ihn doch deutlich als einen masochistischen erkennen lassen.
Dies gilt z. B. von den beiden folgenden Fällen.
Beobachtung 46. Ein Kranker Tarnowsky's Hess durch eine Ver-
trauensperson eine Wohnung für die Dauer seiner Anfälle miethen und das
Personal (3 Prostituirte) genau instruiren, was mit ihm zu geschehen habe.
Er erschien zeitweise, wurde entkleidet, masturbirt, -flagellirt, wie es befohlen
war. Er leistete anscheinend Widerstand, bat um Gnade, dann gab man ihm
befohl enermassen zu essen, Hess ihn schlafen, behielt ihn aber trotz Protest
da, schlug ihn, wenn er sich nicht fügte. So ging es einige Tage. Mit Lösung
des Anfalls wurde er entlassen und kehrte zu Frau und Kindern zurück, die
von seiner Krankheit keine Ahnung hatten. Der Anfall wiederholte sich 1 bis
2mal jährlich. (Tarnowsky — op. cit.)
Beobachtung 47. X., 34 Jahre, schwer belastet, leidet an conträrer
Sexualempfindung. Aus verschiedenen Gründen war er nicht in der Lage, sich
am Manne zu befriedigen, trotz grossem sexuellem Bedürfniss. Gelegentlich
träumte ihm, ein Weib geissele ihn. Er hatte dabei eine Pollution.
Durch diesen Traum kam er dazu, als Surrogat für mannmännliche
Liebe sich von Meretrices misshandeln zu lassen. Conducit sibi non nunquam
meretricem , ipse vestimenta sua onmia deponit, dum puellae ultimum tegu-
mentum deponere non licet, puellam pedibus ipsum percutere, flagellare, ver-
berare iubet. Qua re summa libidine affectus pedem feminae lambit quod
solum eum libidinosum facere potest : tum eiaculationem assequitur. Mit dieser
tritt grösster Ekel an der moralisch entwürdigenden Situation ein, der er sich
dann, so rasch als möglich ist, entzieht.
Es kommen aber auch Fälle vor, in welchen passive Flagel-
lation allein den ganzen Inhalt masochistischer Phantasien aus-
macht, ohne dass andere Vorstellungen der Demüthigung etc. auf-
treten, und ohne dass die eigentliche Natur dieses Ausdrucksmittels
der Unterwerfung deutlich ins Bewusstsein tritt. Solche Fälle sind
von denen des einfachen, reflectorischen Flagellantismus schwer zu
unterscheiden. Die Ermittlung der primären Entstehung des Ge-
lüstes, vor jeder Erfahrung reflectorischer Wirkung (s. oben unter
104 Paraesthesia sexualis.
„erstens"), sichert hier allein die Differentialdiagnose, neben dem
Umstände, dass es sich bei echten Masochisten gewöhnlich um be-
reits in jungen Jahren perverse Individuen handelt und dass die
Verwirklichung des Gelüstes meistens später unterbleibt oder ent-
täuscht (s. oben unter „drittens"), da ja sich das Ganze hauptsäch-
lich auf dem Gebiete der Phantasie abspielt.
Hier möge wieder ein Fall von typischem Masochismus folgen,
in welchem der gesammte Vorstellungskreis, wie er dieser Per-
version eigenthümlich ist, vollkommen ausgebildet erscheint. Dieser
Fall, über welchen wieder eine '* eingehende Selbstschilderung des
gesammten psychischen Zustands vorliegt, unterscheidet sich von
jenem der obigen Beobachtung 42 nur dadurch, dass auf eine Ver-
wirklichung der perversen Phantasien hier ganz verzichtet wurde
und dass neben der bestehenden Perversion der Vita sexualis nor-
male Reize so weit wirksam sind, dass nebenher geschlechtlicher
Verkehr unter normalen Bedingungen möglich ist.
Beobachtung 48. Ich bin 35 Jahre alt, geistig und körperlich normal.
In dem weitesten Kreise meiner Verwandten — in gerader wie in der Seiten-
linie — ist mir kein Fall von psychischer Störung bekannt. Mein Vater, welcher
bei meiner Geburt etwa 30 Jahre alt war, hatte, soviel ich weiss, eine Vorliebe
für üppige und grosse Frauengestalten.
Schon in meiner früheren Kindheit schwelgte ich gern in Vorstellungen,
welche die absolute Herrschaft eines Menschen über den anderen zum Inhalt
hatten. Der Gedanke an die Sklaverei hatte für mich etwas höchst Aufregendes,
und zwar gleich stark vom Standpunkte des Herrn wie von dem des Dieners
aus. Dass ein Mensch den andern besitzen, verkaufen, prügeln könne, regte
mich ungemein auf, und bei der Lektüre von „ Onkel Tom's Hütte" (welches
Werk ich etwa zur Zeit der eintretenden Pubertät las), hatte ich Erectionen.
Besonders aufregend war für mich der Gedanke, dass ein Mensch vor einen
Wagen gespannt würde, in welchem ein anderer, mit einer Peitsche versehener
Mensch sass und den Ersteren lenkte und durch Schläge antrieb.
Bis zum 20. Lebensjahre waren diese Vorstellungen rein objectiv und
geschlechtslos, d. h. der in meiner Vorstellung entstandene Unterworfene war
ein Dritter (also nicht ich), auch war der Herrscher nicht nothwendig ein Weib.
Diese Vorstellungen waren daher auch ohne Einfluss auf meinen ge-
schlechtlichen Trieb, beziehungsweise auf die Ausübung desselben. Wenngleich
durch jene Vorstellungen Erectionen eintraten, so habe ich doch niemals in
meinem Leben onanirt, auch coitirte ich von meinem 19. Jahre an ohne Beihülfe
der erwähnten Vorstellungen und ohne jede Beziehung auf dieselben. Immerhin
hatte ich eine grosse Vorliebe für ältere, üppige und grosse Frauenspersonen,
wenngleich ich auch jüngere nicht verschmähte.
Von meinem 21. Lebensjahr ab fingen die Vorstellungen an, sich zu ob-
jectiviren und als Essentiale trat hinzu, dass die „Herrin" eine über 40 Jahre
alte, grosse, starke Person sein musste. Von jetzt an war ich — in
Masochismus. 105
meinen Vorstellungen — stets der Unterworfene; die „Herrin"
war ein rohes Weib, die mich in jeder Beziehung, auch geschlechtlich, aus-
nützte, die mich vor ihren Wagen spannte und sich von mir spazieren fahren
liess, der ich folgen musste wie ein Hund, der nackt zu ihren Füssen liegen
musste und von ihr geprügelt, bezüglich gepeitscht wurde. Das war das fest-
stehende Gerippe meiner Vorstellungen, um welches sich alle anderen gruppirten.
Ich fand in diesen Vorstellungen stets ein unendliches Behagen, welches
mir Erection, niemals aber Ejaculation verursachte. In Folge der entstandenen
geschlechtlichen Aufregung suchte ich mir sodann irgend ein Weib, mit Vorliebe
ein äusserlich meinem Ideale entsprechendes, aus und coitirte mit demselben,
ohne irgend welches reale Beiwerk, zuweilen auch ohne beim Coitus von den
Vorstellungen befangen zu sein. Daneben hatte ich jedoch auch Neigung zu
anders gearteten Weibern und coitirte auch, ohne durch Vorstellung hierzu
gezwungen zu sein.
Obgleich ich nach alledem ein in geschlechtlicher Beziehung nicht allzu
anormales Leben führte, traten doch jene Vorstellungen periodisch mit Sicher-
heit ein, blieben sich im Wesentlichen auch stets gleich. Mit zunehmendem
Geschlechtstriebe wurden die Zwischenräume immer geringer. Gegenwärtig
melden sich die Vorstellungen etwa alle 14 Tage bis 3 Wochen. Würde ich
vorher coitiren, so würde vielleicht dem Eintritt derselben vorgebeugt werden.
Ich habe niemals den Versuch gemacht, meine sehr bestimmt und charakte-
ristisch auftretenden Vorstellungen zu realisiren, d. h. sie mit der Aussenwelt
in Verbindung zu bringen, sondern mich stets mit Schwelgereien in Gedanken
begnügt, weil ich von der Ueberzeugung fest durchdrungen war, dass sich eine
Realisirung meiner „ Ideale" niemals auch nur annähernd würde herbeiführen
lassen. Der Gedanke an eine Comödie mit bezahlten Dirnen erschien mir stets
lächerlich und zwecklos, denn eine von mir bezahlte Person könnte in meiner
Vorstellung niemals die Stelle einer „grausamen Herrin" einnehmen. Ob es
sadistisch angehauchte Weiber wie Sacher-Masoch's Heldinnen gibt, bezweifle
ich. Wenn es deren aber auch gäbe und ich das Glück (!) gehabt hätte, eine
solche zu finden, so würde mir ein Verkehr mit derselben mitten in der realen
Welt immer nur als eine Comödie erschienen sein. Ja, sagte ich mir, wenn
es mir sogar passirt wäre, in die Sklaverei einer Messalina zu gelangen, so
glaube ich, dass ich bei den sonstigen Entbehrungen jenes von mir erstrebten
Lebens sehr bald überdrüssig geworden wäre, und in den Lucidis intervallis
meine Freiheit unter allen Umständen zu erreichen getrachtet hätte.
Dennoch habe ich ein Mittel gefunden, in gewissem Sinne eine Reali-
sirung herbeizuführen. Nachdem durch vorangegangene Schwelgereien mein
Geschlechtstrieb stark angeregt ist, gehe ich zu einer Prostituirten und stelle
mir dort irgend eine Geschichte des vorerwähnten Inhaltes, in welcher ich die
Hauptperson bilde, innerlich lebhaft vor. Nach etwa halbstündiger, unter stetiger
Erection erfolgenden inneren Ausmalung solcher Situationen coitire ich sodann
mit gesteigertem Wollustgefühl und unter starker Ejaculation. Nach der letzteren
ist der Spuk verschwunden. Beschämt entferne ich mich so bald als möglich,
und vermeide, auf das Vorangegangene zurückzukommen. Sodann habe ich
etwa 14 Tage keinerlei Vorstellungen mehr ; bei besonders befriedigendem Coitus
kommt es sogar vor, dass ich bis zum nächsten Anfalle gar kein Verständniss
für masochistische Situationen habe. Der nächste Anfall kommt aber sicher,
106 Paraesthesia sexualis.
ob früher oder später. Ich muss jedoch bemerken, dass ich auch coitire,
ohne durch solche Vorstellungen präparirt zu sein, insbesondere auch mit
weiblichen Wesen, die mich und meine bürgerliche Stellung genau kennen,
und in deren Gegenwart ich jene Vorstellungen durchaus perhorrescire. In
letzteren Fällen bin ich jedoch nicht immer potent, während
die Potenz unter dem Banne masochistischer Vorstellungen eine unbedingte ist.
Dass ich in meinem übrigen Denken und Fühlen sehr ästhetisch veranlagt bin
und die Misshandlung eines Menschen an sich u. s. w. im höchsten Grade
verachte, erscheint mir nicht überflüssig zu bemerken. Schliesslich will ich
nicht unerwähnt lassen, dass auch die Form der Anrede von Bedeutung ist.
Es ist ein Essen tiale in meinen Vorstellungen, dass die „ Herrin" mich mit »Du"
anredet, während ich dieselbe mit „Sie" anreden muss. Dieser Umstand des
Geduztwerdens von einer dazu geeigneten Person, als Ausdruck der absoluten
Herrschaft, hat mir von früher Jugend an schon Wollustgefühle erregt und
thut dies auch heute noch.
Ich habe das Glück gehabt, eine Frau zu finden, welche mir in allen
Punkten, vor Allem auch in geschlechtlicher Beziehung, durchaus zusagte,
obwohl dieselbe, wie ich nicht erst hinzuzufügen brauche, in keiner Weise
masochistischen Idealen ähnelt.
Dieselbe ist sanftmüthig, jedoch üppig, ohne welche Eigenschaft ich mir
überhaupt einen geschlechtlichen Reiz nicht vorstellen kann.
Die ersten Monate der Ehe verliefen geschlechtlich ganz normal, die
masochistischen Anfälle blieben gänzlich aus, ich hatte beinahe das Verständniss
für den Masochismus verloren. Da kam das erste Kindbett und hiermit die
nothwendig gewordene Abstinenz. Pünktlich stellten sich sodann mit ein-
tretender Libido die masochistischen Anwandlungen wieder ein, welche mit
unabweisbarer Nothwendigkeit einen ausserehelichen Coitus mit masochistischen
Vorstellungen herbeiführten — trotz meiner aufrichtigen grossen Liebe zu
meiner Frau.
Bemerkenswerth ist hierbei, dass der später wieder beginnende Coitus
maritalis sich nicht als ausreichend erwies, um die masochistischen Vorstel-
lungen zu bannen, wie das bei einem masochistischen Coitus regelmässig der
Fall ist.
Was das Wesen des Masochismus anbelangt, so bin ich der Ansicht,
dass bei demselben die Vorstellungen, also die geistige Seite, Haupt- und Selbst-
zweck sind.
Wäre die Verwirklichung masochistischer Ideen (also die passive
Flagellation u. dergl.) das ersehnte Ziel, so steht hiermit die Thatsache im
Widerspruche, dass ein grosser Theil der Masochisten zur Verwirklichung
entweder gar nicht schreitet, oder, wenn er dies dennoch versucht, eine
grosse Ernüchterung empfindet, jedenfalls die ersehnte Befriedigung
nicht erzielt.
Schliesslich möchte ich nicht unterlassen, aus meiner Erfahrung zu be-
stätigen, dass die Zahl der Masochisten, besonders in grossen Städten, in der
That eine ziemlich grosse zu sein scheint. Die einzige Quelle für derartige
Forschungen sind — da Mittheilungen inter viros nicht stattzufinden pflegen —
die Aussagen der Prostituirten, und da diese in den wesentlichen Punkten überein-
stimmen, wird man immerhin gewisse Thatsachen für erwiesen annehmen können.
Masochismus. 107
Dahin gehört zunächst die Thatsache, dass jede erfahrene Prostituirte
irgend ein zur Flagellation geeignetes Instrument (gewöhnlich eine Ruthe) im
Besitze zu haben pflegt, wobei allerdings in Betracht zu ziehen ist, dass es
Männer gibt, die sich lediglich zur Erhöhung ihrer Geschlechtslust geissein
lassen, also — im Gegensatze zu den Masochisten — die Flagellation als Mittel
betrachten.
Dagegen stimmen die Prostituirten fast sämmtlich darin überein, dass
es eine Anzahl von Männern gibt, welche gern „ Sklaven" spielen, d. h. sich
gerne so nennen hören, sich schimpfen und treten, auch schlagen lassen.
Wie gesagt, die Zahl der Masochisten ist grösser, als man es sich bisher hat
träumen lassen.
Die Lektüre Ihres Capitels über diesen Gegenstand machte, wie Sie sich
denken können, einen ungeheuren Eindruck auf mich. Ich möchte an eine
Heilung, sozusagen an eine Heilung durch Logik, glauben, nach dem Motto:
„tout comprendre c'est tout guerir."
Freilich ist das Wort Heilung mit Einschränkung zu verstehen, und zwar
muss man auseinanderhalten : allgemeine Gefühle und concrete Vorstellungen.
Die ersteren sind niemals zu beseitigen. Sie kommen wie der Blitz und sind
da, man weiss nicht von wannen und wieso.
Aber die Ausübung des Masochismus durch Schwelgen in concreten, zu-
sammenhängenden Vorstellungen lässt sich vermeiden oder doch eindämmen.
Jetzt liegt die Sache anders. Ich sage mir: Was, du begeisterst dich
an Dingen, die nicht nur das ästhetische Gefühl Anderer, sondern auch dein
eigenes reprobirt? Du findest etwas schön und begehrenswerth, was anderer-
seits, nach deinem eigenen Urtheil, hässlich, gemein, lächerlich und unmöglich
zugleich ist? Du sehnst eine Situation herbei, in die du in Wirklichkeit nie-
mals gelangen möchtest? Diese Gegenvorstellung wirkt sofort hemmend und
ernüchternd, und bricht den Phantasien die Spitze ab. Thatsächlich habe ich
auch seit der Lektüre Ihres Buches (etwa Anfang dieses Jahres) nicht ein ein-
ziges Mal mehr geschwelgt, obwohl die masochistischen Anwandlungen selbst
sich in den regelmässigen Intervallen einstellten.
Im Uebrigen muss ich gestehen, dass der Masochismus trotz seines stark
pathologischen Charakters nicht nur nicht im Stande ist, mir den Genuss des
Lebensglückes zu vereiteln, sondern überhaupt auch nicht im Geringsten in
mein äusseres Leben eingreift. In nicht masochistischem Zustande bin ich,
was Fühlen und Handeln anlangt, ein äusserst normaler Mensch. Während
der masochistischen Anwandlungen ist zwar im Gefühlsleben eine grosse Revo-
lution ausgebrochen , meine äussere Lebensweise erleidet jedoch keine Aende-
rung. Ich habe einen Beruf, welcher es mit sich bringt, dass ich mich viel
in der Oeffentlichkeit bewege. Ich übe denselben auch im masochistischen
Zustande ebenso aus wie sonst.
Der Verfasser der vorstehenden Aufzeichnungen übersandte
mir ferner noch die folgenden Bemerkungen:
I. Masochismus ist meiner Erfahrung gemäss unter allen Umständen
angeboren, und keineswegs vom Individuum gezüchtet. Ich weiss es positiv,
dass ich niemals auf das Gesäss geschlagen worden bin, und dass
108 Paraesthesia sexualis.
meine masochistischen Vorstellungen von frühester Jugend an sich zeigten,
und dass ich, solange ich überhaupt zu denken vermag, derartige Gedanken
hegte. Wäre die Entstehung derselben die Folge eines bestimmten Ereig-
nisses, insbesondere eines Schlages gewesen, so würde ich ganz bestimmt die
Erinnerung hieran nicht verloren haben. Charakteristisch ist, dass die Vor-
stellungen bereits vorhanden waren, ehe noch Libido überhaupt
vorhanden war. Damals waren dio Vorstellungen auch gänzlich geschlechts-
los. Ich besinne mich, dass es mich als Knabe stark anregte (um nicht zu
sagen aufregte), als ein älterer Knabe mich duzte, während ich zu ihm „Sie"
sagte. Ich drängte mich zu einer Unterhaltung mit demselben, wobei ich
dafür sorgte, dass diese gegenseitige Anrede möglichst häufig erfolgte. Später,
als ich geschlechtsreifer wurde, hatten derartige Sachen nur dann Reiz, wenn
sie Beziehung zu einer Frau, und zwar zu einer (relativ) älteren hatten.
IL Ich bin körperlich und seelisch durchaus männlich veranlagt. Ueber-
starker Bartwuchs und starke Behaarung am ganzen Körper. In meinen nicht
masochistischen Beziehungen zum weiblichen Geschlecht ist für mich die donii-
nirende Stellung des Mannes eine unerlässliche Bedingung, und jeden Versuch,
dieselbe zu beeinträchtigen , würde ich mit Energie zurückweisen. Ich bin
energisch, wenn auch nicht allzu muthig, doch wird der fehlende Muth dann
ergänzt, wenn es sich um Verletzung des Stolzes handelt. Gegen Naturereig-
nisse (Gewitter, Meeressturm u. s. w.) bin ich völlig unempfindlich1).
Auch meine masochistischen Neigungen haben nichts, was weiblich oder
weibisch zu nennen wäre (?). Allerdings ist hierbei die Neigung vorherrschend,
vom Weibe gesucht und begehrt zu werden, doch ist das allgemeine Verhält-
niss zur „ Herrin", wie es herbeigesehnt wird, nicht das, in welchem das Weib
zum Manne steht, sondern das Verhältniss des Sklaven zum Herrn, das des
Hausthieres zu seinem Besitzer. Zieht man ganz rücksichtslos die Consequenzen
aus dem Masochismus, so kann man nicht anders sagen, als dass das Ideal
desselben die Stellung eines Hundes oder Pferdes ist. Beide sind Eigenthum
eines Anderen , werden von demselben nach Gutdünken gemisshandelt, ohne
dass dieser irgend Jemand Rechenschaft zu geben hätte.
Gerade diese unumschränkte Herrschaft über Leben und Tod, wie sie
nur beim Sklaven und Hausthiere zu finden ist, ist das Um und Auf aller
masochistischen Vorstellungen.
III. Die Grundlage aller masochistischen Vorstellungen ist die Libido,
und je nachdem bei dieser Ebbe und Fluth eintritt, ist dasselbe auch bei jenen
der Fall. Andererseits erhöhen die Vorstellungen, sobald sie vorhanden sind,
die Libido ganz erheblich. Ich bin von Natur durchaus nicht übermässig ge-
schlechtsbedürftig. Erscheinen jedoch die masochistischen Vorstellungen , so
drängt es mich zum Coitus um jeden Preis (meist zieht es mich dann zu mög-
lichst niedrigen Weibern), und wird diesem Drängen nicht bald Statt gegeben,
so steigert sich in kurzer Zeit die Libido bis fast zur Satyriasis. Man könnte
hier fast von einem Circulus vitiosus sprechen.
*) Diese Differenz des Muthes gegenüber Naturereignissen einerseits,
Willensconflikten andererseits ist jedenfalls auffallend (vgl. Beob. 42 p. 95),
wenn auch hier die einzige erwähnte Andeutung von Effeminatio.
Masochismus. 109
Die Libido tritt ein, entweder durch Zeitablauf oder besondere Auf-
regung (auch nicht masochistischer Art, z. B. Küssen). Trotz dieses Ursprunges
verwandelt sich diese Libido kraft der durch sie selbst erzeugten masochisti-
schen Vorstellungen sehr bald in eine masochistische, also unreine Libido.
Dass übrigens die Begierde durch äussere zufällige Eindrücke, insbesondere
durch den Aufenthalt in den Strassen einer Grossstadt, erheblich gesteigert
wird, unterliegt keinem Zweifel. Der Anblick schöner und imponirender
Frauengestalten, in natura wie in effigie, wirkt aufregend. Für den unter
dem Zeichen des Masochismus Stehenden ist — wenigstens für die Dauer des
Anfalles — das ganze äussere Erscheinungsleben masochistisch angehaucht.
Die Ohrfeige, die die Meisterin dem Lehrling applicirt, der Peitschenhieb des
Fiakers — alles das hinterlässt dem Masochisten tiefe Eindrücke, während es
ihn im nicht masochistischen Zustande gleichgültig lässt oder gar anekelt.
IV. Schon bei der Lektüre von Sacher-Masoch fiel es mir auf, dass bei
dem Masochisten ab und zu sadistische Gefühle gelegentlich mit unterlaufen.
Auch an mir habe ich hin und wieder sporadische Empfindungen von Sadismus
entdeckt. Ich muss aber bemerken, dass die sadistischen Gefühle nicht derart
markant sind wie die masochistischen, und dass dieselben, abgesehen davon,
dass sie nur selten und gewissermassen accessorisch auftreten, niemals aus dem
Rahmen des abstracten Gefühlslebens heraustreten und vor Allem nicht die
Gestalt concreter und zusammenhängender Vorstellungen annehmen. Die Wir-
kung auf die Libido ist jedoch bei beiden die gleiche.
War dieser Fall merkwürdig durch die vollständige Entwick-
lung des psychischen Thatbestandes, der den Masochismus ausmacht,
so ist es der folgende durch die besondere Extravaganz der aus
der Perversion hervorgehenden Handlungen. Auch dieser Fall ist
besonders geeignet, das Moment der Unterwerfung unter und der
Demüthigung durch das Weib zugleich mit der eigenthümlichen
geschlechtlichen Betonung der daraus sich ergebenden Situationen
klar zu machen.
Beobachtung 49. Herr Z. , Beamter, 50 Jahre, gross, muskulös,
gesund, stammt angeblich von gesunden Eltern, jedoch war der Vater bei der
Zeugung 30 Jahre älter als die Mutter. Eine Schwester, 2 Jahre älter als Z.,
leidet an Verfolgungswahn. Z. bietet in seinem Aeusseren nichts Auffälliges.
Skelett durchaus männlich, starker Bart, jedoch Rumpf gänzlich unbehaart.
Er bezeichnet sich als prononcirten Gemüthsmensch , der Niemand etwas ab-
schlagen kann, gleichwohl jähzornig, aufbrausend, dabei augenblicklich bereuend.
Z. hat angeblich nie onanirt. Von Jugend auf nächtliche Pollutionen,
bei denen nie der sexuelle Akt, immer aber das Frauenzimmer eine Rolle
spielte. Es träumte ihm z. B., eine ihm sympathische Frauensperson lehne
sich kräftig an ihn an, oder er lag schlummernd im Grase und sie stieg scherz-
weise auf seinen Rücken. Vor Coitus mit einem Weibe hatte Z. von jeher
Abscheu. Dieser Akt kam ihm thierisch vor. Trotzdem drängte es ihn zum
Weibe. Nur in Gesellschaft von hübschen Frauen und Mädchen fühlte er sich
wohl und an seinem Platze. Er war sehr galant, ohne je zudringlich zu sein.
HO Paraesthesia sexualis.
Eine üppige Frau mit schönen Formen , namentlich hübschem Fuss,
konnte ihn, wenn sie sass, in höchste Erregung versetzen. Es drängte ihn,
sich ihr als Stuhl anzubieten, um „so viel Herrlichkeit tragen zu dürfen". Ein
Tritt, eine Ohrfeige von ihr wäre ihm Seligkeit gewesen. Vor dem Gedanken,
mit ihr zu coitiren, hatte er Horror. Er fühlte das Bedürfhiss, dem Weibe zu
dienen. Es kam ihm vor, dass Damen gerne reiten. Er schwelgte in dem Ge-
danken, wie herrlich es sein müsste, sich unter der Last eines schönen Weibes
abzuquälen, um ihm Vergnügen zu bereiten. Er malte sich die Situation nach
jeder Richtung aus, dachte sich den schönen Fuss mit Sporen, die herrlichen
Waden, die weichen vollen Schenkel. Jede schön gewachsene Dame, jeder
hübsche Damenfuss regte seine Phantasie immer mächtig an, aber niemals ver-
rieth er seine absonderlichen, ihm selbst abnorm erscheinenden Empfindungen
und wusste sich zu beherrschen. Er fühlte aber auch kein Bedürfhiss, dagegen
anzukämpfen — im Gegentheil, es hätte ihm leid gethan, seine ihm so lieb
gewordenen Gefühle preisgeben zu müssen.
32 Jahre alt, machte Z. zufällig die Bekanntschaft einer ihm sympathi-
schen, vom Manne geschiedenen und in Nothlage befindlichen 27 Jahre alten
Frau. Er nahm sich um sie an, arbeitete für sie, ohne irgendwelche eigen-
nützige Absicht, monatelang. Eines Abends verlangte sie ungestüm von ihm
geschlechtliche Befriedigung, that ihm beinahe Gewalt an. Der Coitus hatte
Folgen. Z. nahm die Frau zu sich, lebte mit ihr, coitirte massig, empfand
den Coitus mehr als eine Last denn als einen Genuss, wurde erectionsschwach,
konnte die Frau nicht mehr recht befriedigen, bis sie endlich erklärte, sie
wolle keinen Verkehr mehr mit ihm, da er sie nur reize, aber nicht befriedige.
Obwohl er die Frau unendlich liebte, konnte er doch seinen eigenartigen
Phantasien nicht entsagen. Er lebte nun mit der Frau nur mehr in freund-
schaftlichem Verkehr und beklagte es tief, dass er ihr in seiner Weise nicht
dienen konnte.
Furcht, wie sie bezügliche Propositionen aufnehmen möchte, und Scham-
gefühl hielten ihn davon ab, sich ihr zu entdecken. Er fand Ersatz dafür in
seinen Träumen. So träumte ihm z. B., er sei ein edles feuriges Pferd und
werde von einer schönen Dame geritten. Er fühlte ihr Gewicht, den Zügel,
dem er gehorchen musste, den Schenkeldruck in der Flanke, er hörte ihre
wohlklingende fröhliche Stimme. Die Anstrengung trieb ihm den Schweiss aus,
das Empfinden des Sporns that das Uebrige und bewirkte jeweils das Eintreten
einer Pollution unter grossem Wollustgefühl.
Unter dem Einfluss solcher Träume überwand Z. vor 7 Jahren seine
Scheu, um derlei auch in der Wirklichkeit erleben zu können.
Es gelang ihm, „passende" Gelegenheiten aufzutreiben. Er berichtet
darüber Folgendes : „Ich wusste es immer so anzustellen, dass bei irgend einer
Gelegenheit sie sich von selbst auf meinen Rücken setzte. Nun trachtete ich
ihr diese Situation so angenehm als möglich zu machen und erreichte es leicht,
dass sie bei nächster Gelegenheit aus eigenem Antrieb sagte: „Komm, lass
mich ein bischen reiten!" Gross gewachsen und beide Hände auf einen Stuhl
gestützt, brachte ich meinen Rücken in horizontale Lage, auf den sie sich
dann rittlings, nach Männerart reitend, setzte. Ich machte dann so viel als
möglich alle Bewegungen eines Pferdes und liebte es, wenn auch sie mich nur
als Pferd behandelte, ganz ohne Rücksicht. Sie konnte mich schlagen, stechen,
Masochismus. 111
schelten, liebkosen, ganz nach Laune. Personen von 60 — 80 Kilo konnte ich
so 1/% — 3/i Stunden ununterbrochen auf dem Rücken haben. Nach dieser Zeit
bat ich gewöhnlich um eine Ruhepause. Während dieser Zeit war der Verkehr
zwischen mir und der Herrin ein ganz harmloser und von dem Vorher-
gegangenen nicht die Rede. Nach einer Viertelstunde war ich jeweils wieder
vollkommen erholt und stellte mich der Herrin bereitwillig wieder zur Ver-
fügung. Ich machte dies, wenn es Zeit und Umstände erlaubten, 3 — 4mal
hintereinander. Es kam vor, dass ich Vor- und Nachmittags mich hingab.
Ich fühlte nachträglich keine Ermüdung oder sonst ein unbehagliches Gefühl.
nur hatte ich an solchen Tagen sehr wenig Esslust. Wenn es anging, war es
mir am liebsten, wenn ich den Oberkörper entblössen konnte, um die Reitgerte
empfindlicher zu fühlen. Die Herrin musste decent sein. Am liebsten war
sie mir mit schönen Schuhen, Strümpfen, kurzer, bis zu den Knieen reichender
geschlossener Hose, Oberkörper vollkommen bekleidet, mit Hut und Hand-
schuhen."
Herr Z. berichtet weiter, dass er seit 7 Jahren Coitus nicht mehr voll-
zogen hat, sich jedoch für potent hält. Das Damenreiten entschädige ihn
vollkommen für jenen „thierischen Akt", auch dann, wenn es nicht gerade zur
Ejaculation kam.
Seit 8 Monaten hat sich Z. gelobt, von seinem masochistischen Sport
abzulassen, und dieses Gelübde auch gehalten. Gleichwohl meint er, wenn
ein auch nur halbwegs hübsches Weib ihn ohne Umschweife anreden würde
„komm, ich will dich reiten," er nicht die Kraft hätte, dieser Versuchung zu
widerstehen. Z. bittet um Aufklärung, ob seine Abnormität heilbar sei, ob
er verabscheuungswürdig sei als lasterhafter Mensch, oder ein Kranker, der
Mitleid verdiene1).
Schon in der bisherigen Casuistik hat neben anderen Dingen
das Treten mit Füssen eine Rolle als Ausdrucksmittel masochisti-
scher Situationen der Demüthigung und Schmerzzufügung gespielt.
Die ausschliessliche und weitestgehende Verwerthung dieses Mittels
zu perverser Erregung und Befriedigung, welches, weil es einen
Uebergang zu einer anderen Perversion vermittelt, Anlass zur Auf-
stellung einer besonderen Gruppe — s. unten unter b) pag. 120 —
gab, zeigt der folgende klassische Fall von Masochismus, welchen
Hammond op. cit. p. 28, nach einer Beobachtung von Dr. Cox2)
in Colorado, berichtet.
Beobachtung 50. X., Muster eines Ehemanns, streng sittlich, Vater
mehrerer Kinder, hat Zeiten resp. Anfälle, in welchen er ins Bordell geht, sich
2 — 3 der grössten Mädchen auswählt und mit ihnen sich einschliesst. Corporis
superiorem partem nudavit humi iacens manus supra ventrem ponens oculos
') Einen ähnlichen Fall s. dieses Buch 8. Aufl. Beob. 51.
2) Transactions of the Colorado State medical society quoted in the
, Alienist and Neurologist " 1883 April, p. 345.
Paraesthesia sexualis.
audit et puellas trans pectus suum nudatum et Collum et os vadere iubet
et poscit, ut transgredientes summa vi calcibus carnem premerent. Gelegentlich
verlangt er eine noch schwerer^ Dirne oder einige andere Kunstgriffe, die jene
Proeedur noch grausamer gestalten. Nach 2 — 3 Stunden hat er genug, honorirt
die Mädchen mit Wein und Geld, reibt sich seine blauen Flecke, kleidet sich
an, zahlt seine Rechnung und geht in sein Geschäft, um nach einer Woche
etwa dieses sonderbare Vergnügen sich neuerdings zu verschaffen.
Gelegentlich kommt es vor, dass er eines dieser Mädchen sich auf seine
Brust stellen lässt, während die anderen sie im Kreise herumdrehen müssen,
bis seine Haut unter dem Drehen der Schuhabsätze blutrünstig geworden ist.
Häufig muss eines der Mädchen so auf ihn sich stellen, dass ein Schuh
quer über den Augen steht und der Absatz auf den einen Augapfel drückt,
während der andere Schuh quer über seinem Halse ruht. In dieser Stellung
hält er den Druck der circa 150 Pfund schweren Person etwa 4 — 5 Minuten
lang aus. Verf. spricht vonDutzenden analoger Fälle, die ihm
bekannt geworden seien. Hamm on d vermuthet mit Grund, dass dieser
Mann im Verkehr mit dem Weibe impotent geworden, in dieser eigenartigen
Proeedur ein Aequivalent für Coitus sucht und findet, und während er blutig
getreten wird, angenehme, von Ejaculation begleitete Sexualgefühle hat.
Die bisher angeführten Fälle von Masochismus und die zahl-
reichen analogen, welche die Berichterstatter erwähnen, bilden das
Gegenstück zur oben geschilderten Gruppe c) des Sadismus. Wie
dort perverse Männer an der Misshandlung von Weibern sich er-
regen und befriedigen, so suchen sie hier den gleichen Effect durch
das passive Empfangen solcher Misshandlungen1).
Aber auch die Gruppe a) der Sadisten, die der Lustmörder, ist
merkwürdiger Weise nicht ganz ohne Gegenstück im Masochismus.
In seiner äussersten Consequeuz muss ja der Masochismus zu
der Begierde führen, von einer Person des anderen Geschlechts ge-
tödtet zu werden, so wie der Sadismus im aktiven Lustmord gipfelt.
Solcher Consequenz stellt sich aber der Trieb der Lebenserhaltung
entgegen, so dass es hier nicht zum Aeussersten in wirklicher Aus-
führung kommt.
Wo aber das ganze Gebäude der masochistischen Vorstellungen
nur in petto errichtet wird, da kann es in den Phantasien solcher
Individuen selbst zu dieser äussersten Consequenz kommen, wie der
folgende Fall zeigt.
Beobachtung 51. Ein Mann in mittleren Jahren, verheirathet und
Familienvater, der stets eine normale Vita sexualis geführt hat, aber aus sehr
*) Instructive Beispiele s. Seydel, Vierteljahrschr. f. ger. Med. 1893.
Heft 2 p. 275 u. 276.
Masochismus. 113
„nervöser" Familie zu stammen angibt, macht folgende Mittheilung: In seiner
frühen Jugend sei er beim Anblick einer Frauensperson, welche ein Thier mit
einem Messer schlachtete, sexuell mächtig erregt worden. Von da ab habe er
viele Jahre lang in der wollüstig betonten Vorstellung geschwelgt, von Weibern
mit Messern gestochen und geschnitten, ja selbst getödtet zu werden. Später,
nach Beginn des normalen Geschlechtsverkehrs, haben diese Vorstellungen den
perversen Reiz für ihn gänzlich verloren.
Mit diesem Falle sind die oben p. 96 angeführten Mittheilungen
zu vergleichen, wonach Männer einen sexuellen Genuss darin finden,
von Weibern mit Messern leicht gestochen, dabei aber mit dem
Tode bedroht zu werden.
Derartige Phantasien geben vielleicht den Schlüssel zum Ver-
ständniss des folgenden seltsamen Falles, welchen ich einer Mit-
theilung des Herrn Dr. Körb er in Rankau i./Schl. verdanke.
Beobachtung 52. Eine Dame erzählte mir Folgendes : Als junges
unwissendes Mädchen wurde sie mit einem etwa 30jährigen Manne verheirathet.
In der ersten Nacht ihres Ehelebens zwang er ihr ein Waschnäpfchen mit Seife
in die Hände und wünschte dringend, ohne jedwede Liebesbezeugung, von ihr
um Kinn und Hals (wie zum Barbieren) eingeschäumt zu werden. Die völlig
unerfahrene junge Frau that es und war nicht wenig erstaunt, in den ersten
Wochen ihres Ehelebens dessen Geheimnisse in absolut keiner anderen Form
kennen zu lernen; der Mann erklärte ihr beständig, dass es ihm höchster Ge-
nuss sei, von ihr im Gesicht eingeschäumt zu werden. Nachdem sie später
Freundinnen zu Rathe gezogen, brachte sie ihren Mann zur Ausübung des
Coitus und hat, wie sie bestimmt versichert, von ihm im Laufe der Jahre drei
Kinder bekommen. Der Mann ist ein fleissiger und solider, aber kurz ange-
bundener, mürrischer Mensch, seines Zeichens Kaufmann.
Es ist immerhin denkbar, dass der hier erwähnte Mann den
Akt des Rasirens (resp. Einseifens als Vorbereitung dazu) als eine
rudimentäre, symbolische Verwirklichung von Verletzungs- oder
Tödtungsvorstellungen und Messer-Phantasien, wie sie der obige
ältere Herr in seiner Jugend hatte, auffasste und auf diese Weise
dadurch sexuell erregt und befriedigt wurde. Das vollkommene
sadistische Gegenstück zu diesem so aufgefassten Falle liefert dann
die oben p. 82x mitgetheilte Beob. 34, welche einen Fall von sym-
bolischem Sadismus betrifft.
Ueberhaupt gibt es eine ganze Gruppe von Masochisten, welche
sich mit symbolischen Andeutungen der ihrer Perversion ent-
sprechenden Situationen begnügt, eine Gruppe, welche der Gruppe e)
der „symbolischen" Sadisten entspricht, so wie die früher ange-
führten Fälle von Masochismus den Gruppen c) und a) des Sadis-
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 8
114 Paraesthesia sexualis.
mus entsprachen. So wie sich die perversen Gelüste des Masochisten
einerseits (freilich nur in der Phantasie) bis zum „passiven Lust-
mord" steigern, so können sie andererseits sich mit blossen sym-
bolischen Andeutungen der erwünschten Situation begnügen, die
sonst durch Misshandlungen ausgedrückt wird (was freilich objectiv
genommen noch immer weiter geht als jenes Phantasma des Er-
mordetwerdens, nach der entscheidenden subjectiven Sachlage aber
weniger weit).
Es mögen hier neben dem obigen Fall der Beob. 52 noch
einige derartige Fälle angeführt werden, in denen die von Maso-
chisten gewünschten und bestellten Vorgänge rein symbolischen
Charakter haben und gewissermassen zur Markirung der ersehnten
Situation dienen.
Beobachtung 53. (Pascal, Igiene dell1 amore.) Alle drei Monate
erschien bei einer Prostituirten ein etwa 45 Jahre alter Mann und bezahlte
ihr 10 Frcs. für folgenden Vorgang. Die Puella musste ihn entkleiden, ihm
Hände und Füsse zusammenbinden, ihm die Augen verbinden und überdies
die Fenster verdunkeln. Dann Hess sie den Gast auf einen Sopha niedersitzen
und musste ihn in seinem hülflosen Zustand allein lassen. Nach einer halben
Stunde musste die Person wiederkommen und die Bande lösen. Darauf zahlte
der Mann und ging ganz befriedigt von dannen, um nach etwa drei Monaten
seinen Besuch zu erneuern.
Dieser Mann scheint sich die Situation, hülflos in der Gewalt
eines Weibes zu sein, mittelst seiner Phantasie im Dunkeln weiter
ausgemalt zu haben. Noch sonderbarer ist der folgende Fall, in
dem wieder eine complicirte Comödie im Sinne masochistischer Ge-
lüste aufgeführt wird.
Beobachtung 54. (Dr. Pascal, ibid.) Ein Herr in Paris begab sich
an bestimmten Abenden in eine Wohnung, deren Besitzerin zur Befriedigung
seiner seltsamen Neigung willfährig war. Er erschien in Gala im Salon der
Dame, welche in Balltoüette sein und ihn mit strenger Miene empfangen
musste. Er redete sie als Marquise an, sie musste ihn mit den Worten „ lieber
Graf begrüssen. Darauf sprach er von dem Glück, sie allein zu treffen, von
seiner Liebe zu ihr und einer Schäferstunde. Nun musste die Dame die Be-
leidigte spielen. Der Pseudograf ereiferte sich immer mehr und verlangte,
der Pseudomarquise einen Kuss auf die Schulter drücken zu dürfen. — Grosse
Entrüstungsscene, die Klingel wird gezogen, ein eigens dazu gemietheter Diener
erscheint und wirft den Grafen hinaus, welcher sehr befriedigt abzieht und
die Personen der Comödie reichlich belohnt.
Von diesem „symbolischen Masochismus ■ ist der ideelle zu
unterscheiden, bei welchem die psychische Perversion ganz auf dem
Masochismus. 115
Gebiete der Vorstellung und Phantasie bleibt und keine Verwirk-
lichung derselben versucht wird. Ein solcher Fall von „ideellem
Masochismus" ist vor allem der der oben p. 104 aufgenommenen
Beob. 48, dann der der Beob. 51. Solche ideelle Fälle sind ferner
die beiden folgenden. Der erste betrifft ein geistig und körperlich
belastetes, mit Degenerationszeichen behaftetes Individuum, bei dem
frühzeitig psychische und physische Impotenz eingetreten ist.
Beobachtung 55. Herr Z. , 22 Jahre, ledig, wurde mir von seinem
Vormund zugeführt behufs ärztlichen Rathes, da er höchst nervös und offenbar
sexuell nicht normal sei. Mutter und Muttersmutter waren geisteskrank ge-
wesen. Der Vater zeugte ihn zu einer Zeit, wo er sehr nervenleidend war.
Pat. soll ein sehr lebhaftes und talentirtes Kind gewesen sein. Schon
mit 7 Jahren bemerkte man bei ihm Masturbation. Er wurde vom 9. Jahre
ab zerstreut , vergesslich , kam mit seinen Studien nicht recht vorwärts , be-
durfte beständiger Nachhülfe und Protection , absolvirte mühsam das Real-
gymnasium und fiel während seines Freiwilligenjahrs durch Indolenz, Vergess-
lichkeit und verschiedene dumme Streiche auf.
Anlass zur Consultation bot ein Vorfall auf der Strasse, indem Z. sich
an eine junge Dame angedrängt hatte und in höchst zudringlicher Weise und
in grosser Aufregung dieselbe zu einer Conversation mit ihm hatte bestimmen
wollen.
Pat. motivirte diesen Auftritt damit, dass er durch ein Gespräch mit
einem anständigen Mädchen sich habe aufregen wollen, um dann zum Coitus
mit einer Prostituirten potent zu sein!
Z.'s Vater bezeichnet ihn als einen von Hause aus gutartigen, moralischen,
aber schlaffen, faden, mit sich zerfallenen, über seine schlechten Erfolge in der
bisherigen Lebensführung oft desperaten, gleichwohl indolenten Menschen, der
sich für nichts ausser für Musik interessire, zu welcher er grosse Begabung
besitze.
Das Aeussere des Pat. — sein plagiocephaler Schädel, seine grossen ab-
stehenden Ohren, die mangelhafte Innervation des r. Mundfacialis, der neuro-
pathische Ausdruck der Augen deuten auf eine degenerative neuropathologische
Persönlichkeit.
Z. ist gross von Statur, von kräftigem Körperbau, eine durchaus männ-
liche Erscheinung. Becken männlich, Hoden gut entwickelt, Penis auffallend
gross, Mons veneris reichlich behaart, der rechte Hode hängt tiefer herab als
der linke, der Cremasterreflex ist beiderseits schwach. Intellectuell ist Pat.
unter dem Durchschnittsmittel. Er fühlt selbst seine Insuffizienz, klagt über
Indolenz und bittet, man möge ihn willensstark machen. Linkisches, verlegenes
Benehmen, scheuer Blick, schlaffe Haltung deuten auf Masturbation. Pat.
gesteht zu, dass er vom 7. Jahr ab bis vor 1 7* Jahren ihr ergeben war, jahre-
lang 8 — 12mal täglich onanirte. Bis vor einigen Jahren, wo er neurasthenisch
wurde (Kopfdruck, geistige Unfähigkeit, Spinalirritation u. s. w.), will er dabei
immer grosses Wollustgefühl empfunden haben. Seither habe sich dieses ver-
loren und der Reiz zur Masturbation sei von ihm gewichen. Er sei immer
schüchterner, schlaffer, energieloser geworden, feig, furchtsam, habe an nichts
\\Q Paraesthesia sexualis.
Interesse, besorge seine Geschäfte nur aus Pflicht, fühle sich sehr abgespannt.
An Coitus habe er nie gedacht, er begreife auch von seinem Standpunkt aus
als Onanist nicht, wie Andere am Coitus Vergnügen finden können.
Forschungen nach conträrer Sexualempfindung ergaben ein negatives
Resultat.
Er will sich nie zu Personen des eigenen Geschlechts hingezogen gefühlt
haben. Eher glaubt er noch hie und da eine übrigens schwache Inclination
zu Frauenzimmern gehabt zu haben. Zur Onanie will er ganz von selbst ge-
kommen sein. Im 13. Jahr bemerkte er zum erstenmal anlässlich masturba-
torischer Manipulationen Ejaculation von Sperma.
Erst nach langem Zureden Hess sich Z. herbei, seine Vita sexualis ganz
zu entschleiern. Wie seine folgenden Mittheilungen erweisen, dürfte er als ein
Fall von ideellem Masochismus mit rudimentärem Sadismus zu klassificiren
sein. Pat. erinnert sich bestimmt, dass schon mit 6 Jahren und ohne allen
Anlass bei ihm „ Gewaltvorstellungen " auftauchten. Er musste sich vorstellen»
das Stubenmädchen zwänge ihm die Beine auseinander, zeige, einem Andern
seine, des Pat. Genitalien, versuche ihn in heisses oder kaltes Wasser zu werfen,
um ihm Schmerz zu bereiten. Diese „ Gewaltvorstellungen" wurden mit wol-
lüstigem Gefühl betont und der Anlass zu masturbatorischen Manipulationen.
Pat. rief sie später auch willkürlich hervor, um sich zur Masturbation anzu-
regen. Auch in seinen Träumen spielten sie nunmehr eine Rolle. Zu Pollutionen
führten sie aber nie, offenbar weil Pat. unter Tags masslos masturbirte.
Mit der Zeit gesellten sich zu diesen masochistischen Gewaltvorstellungen
solche im Sinne des Sadismus. Anfangs waren es Bilder von Knaben, die ein-
ander gewaltsam masturbirten , die Genitalien abschnitten. Oft versetzte er
sich dabei in die Rolle eines solchen Knaben, bald in passiver, bald in
activer.
Später beschäftigten ihn Bilder von Mädchen und Frauen, die vor ein-
ander exhibitionirten ; es schwebten ihm Situationen vor, wie z. B. , dass das
Stuben- einem anderen Mädchen die femora auseinander zerre, dasselbe an den
pubes reisse, ferner solche, in welchen Knaben grausam gegen Mädchen vor-
gingen, sie stachen, in die Genitalien zwickten.
Auch derlei Bilder wirkten jeweils sexuell erregend, jedoch empfand er
nie Dränge, im Sinne solcher activ vorzugehen oder passiv solche an sich ver-
werthen zu lassen. Es genügte ihm, sie zur Automasturbation zu benutzen.
Seit VJ2 Jahren sind mit abnehmender sexueller Phantasie und Libido diese
Bilder und Dränge selten geworden, aber ihr Inhalt ist derselbe geblieben.
Masochistische Gewaltvorstellungen überwiegen die sadistischen. Wenn er
neuerlich einer Dame ansichtig wird, kommt ihm die Vorstellung, sie habe
dieselben sexuellen Gedanken wie er. Daraus erklärt er zum Theil seine Ver-
legenheit im socialen Verkehr. Da Pat. gehört hatte, er werde seine ihm nach-
gerade lästigen sexuellen Vorstellungen los werden, wenn er sich an eine natür-
liche Geschlechtsbefriedigung gewöhne, machte er im Lauf der letzten 1 1J2 Jahre
zweimal den Versuch, zu coitiren, obwohl er dagegen nur Widerwillen empfand
und sich keinen Erfolg versprach. Der Versuch endete auch beidemale mit
einem vollständigen Fiasco. Das zweite Mal empfand er beim bezüglichen Ver-
such solche Aversion, dass er das Mädchen von sich stiess und die Flucht
ergriff.
Masochismus. 117
Der zweite Fall ist die folgende mir von einem Collegen zur
Verfügung gestellte Beobachtung. Wenn auch aphoristisch, er-
scheint auch sie geeignet, das entscheidende Moment des Masochis-
mus, das Bewusstsein des Unterworfenseins zu illustriren.
Beobachtung 56. Z., 27 Jahre, Künstler, kräftig gebaut, von ange-
nehmem Aeussern, angeblich nicht belastet, in der Jugend gesund, ist seit
seinem 23. Jahre nervös und zu hypochondrischer Verstimmung geneigt. In
sexueller Beziehung geneigt zu Renommage, ist er gleichwohl nicht sehr
leistungsfähig. Trotz Entgegenkommens Seitens des weiblichen Geschlechts
beschränken sich des Pat. Beziehungen zu demselben auf unschuldige Zärtlich-
keiten. Hierbei ist sein Hang bemerkenswerth , Frauen zu begehren, die sich
ihm gegenüber spröde benehmen. Seit seinem 25. Jahre macht er die Beob-
achtung, dass er durch Frauenzimmer, mögen sie auch noch so häs~lich sein,
jeweils sexuell erregt wird , sobald er in ihrem Wesen einen herrischen Zug
entdeckt. Ein zorniges Wort aus dem Munde einer solchen Frauensperson
genügt, um die heftigsten Erectionen bei ihm hervorzurufen. So sass er z. B.
eines Tages in einem Cafe und hörte, wie die (hässliche) Cassierin den Kellner
mit energischer Stimme auszankte. Er kam durch diesen Auftritt in die höchste
sexuelle Erregung, die in kurzer Zeit zur Ejaculation führte. Z. verlangt von
Frauen, mit denen er sexuell verkehren soll, dass sie ihn zurückstossen, ihn
auf allerhand Weise quälen etc. Er meint, es könne ihn nur ein Weib reizen,
das den Heldinnen in den Romanen von Sacher-Masoch gleiche.
Solche Fälle, in welchen sich die ganze Perversion der Vita
sexualis nur auf dem Gebiete der Phantasie, des inneren Vor-
stellungs- und Trieblebens abspielt und nur ganz zufällig einmal
zur Cognition Anderer kommt, scheinen nicht selten zu sein. Ihre
praktische Bedeutung , wie die des Masochismus überhaupt
(welchem ja das hohe forensische Interesse des Sadismus nicht zu-
kömmt), liegt lediglich in der psychischen Impotenz, welcher solche
Individuen durch ihre Perversion in der Regel verfallen und in dem
mächtigen Drange zur solitären Befriedigung unter adäquaten Phan-
tasievorstellungen, mit allen seinen Folgen.
Dass Masochismus eine ungemein häufig auftretende Perversion
sei, geht wohl zur Genüge aus der relativ grossen Zahl der bisher
wissenschaftlich beobachteten Fälle hervor, so wie aus den ver-
schiedenen oben mitgetheilten unter einander übereinstimmenden
Berichten.
Auch die Werke, die sich mit der Darstellung der Prostitution
in grossen Städten beschäftigen, enthalten über diesen Gegenstand
zahlreiche Berichte l).
*) Leo Taxi 1 op. cit. p. 228 schildert masochistische Scenen in den
118 Paraesthesia sexualis.
Interessant und erwähnenswerth ist es gewiss, dass auch einer
der berühmtesten Männer aller Zeiten von dieser Perversion er-
griffen war und derselben in seiner Selbstbiographie (wenn auch in
etwas miss verständlicher Weise) gedacht hat. Aus den „Confessions"
von Jean Jacques Rousseau geht hervor, dass auch er mit
Masochismus behaftet war.
Rousseau, bezüglich dessen Lebens- und Krankheitsgeschichte auf
Möbius (J. J. Rousseau's Krankheitsgeschichte, Leipzig 1989) und Chatelain
(La folie de J. J. Rousseau, Neuchätel 1890) verwiesen sein mag, erzählt in
seinen Confessions (I. Theil, 1. Buch), wie sehr ihm Frl. Lambercier, 30 Jahre
alt, imponirte, als er, 8 Jahre alt, bei ihrem Bruder in Pension und Lehre
war. Ihre Besorgniss, wenn er eine Frage nicht gleich zu beantworten wusste,
die Drohung der Dame, ihm Ruthenstreiche zu geben, wenn er nicht brav
lerne, machten auf ihn den tiefsten Eindruck. Nachdem er eines Tages Schläge
von der Hand des Frl. L. bekommen hatte, empfand er neben Schmerz und
Scham ein wollüstig sinnliches Gefühl, das ihn mächtig erregte, neue Züchti-
gungen davon zu tragen. Nur aus Furcht, die Dame damit zu betrüben,
unterliess es Rousseau, weitere Gelegenheiten, sich diesen wollüstigen Schmerz
zu verschaffen, zu provociren. Eines Tages zog er sich aber unbeabsichtigt
eine neue Züchtigung von der Hand der L. zu. Sie war die letzte, denn
Frl. L. musste von dem eigenartigen Effect dieser Züchtigung etwas bemerkt
haben, und Hess von nun an den 8jährigen Knaben auch nicht mehr in ihrem
Zimmer schlafen. Seither fühlte R. das Bedürfniss, sich von Damen, die ihm
gefielen, ä la Lambercier züchtigen zu lassen, obwohl er versichert, bis zum
Jünglingsalter von Beziehungen der beiden Geschlechter zu einander nichts
gewusst zu haben. Bekanntlich wurde R. erst mit 30 Jahren durch Madame
de Warrens in die eigentlichen Mysterien der Liebe eingeweiht und seiner
Unschuld verlustig. Bis dahin hatte er nur Gefühle und Dränge zu Weibern
im Sinne passiver Flagellation und sonstiger masochistischer Vorstellungen
gehabt.
Rousseau schildert in extenso, wie sehr er bei seinem grossen sexuellen
Bedürfniss unter seiner eigenartigen, zweifellos durch die züchtigenden Ruthen-
streiche geweckten Sinnlichkeit litt, schmachtend in der Begierde und ausser
Stand, ihr Verlangen zu offenbaren. Es wäre aber irrig, zu glauben, dass es
Rousseau bloss um seine Flagellation zu thun gewesen wäre. Diese erweckte
nur einen dem Masochismus zuzuzählenden Vorstellungskreis. Darin liegt
jedenfalls der psychologische Kern der interessanten Selbstbeobachtung. Das
Wesentliche bei R. war das Unterwerfungsgefühl unter das Weib. Dies geht
klar aus seinen »Confessions" hervor, in welchen er ausdrücklich hervorhebt:
„Etre aux genoux d'une maitresse imperieuse, obeiräses
Pariser Bordellen. Der von dieser Perversion ergriffene Mann wird auch dort
„i'esclave" genannt.
Coffignon (La corruption ä Paris) hat in seinem Buch ein Capitel
„Les passioneis ", das Beiträge zu diesem Thema bietet.
Masochismus. 119
ordres, avoir des pardonsä lui demander, etaient pour moi de
tres douces jouissances."
Diese Stelle beweist doch, dass das Bewusstsein der Unterwerfung,
Demüthigung vor dem Weibe die Hauptsache war.
Freilich war Rousseau selbst in einem Irrthum befangen, indem er an-
nahm , dass dieser Drang , sich vor dem Weibe zu demüthigen , allein durch
Ideenassociation aus der Vorstellung der Flagellation entstanden sei:
„N'osant jamais declarer mon goüt, je l'amusais du moins par des
rapports qui m'en conservaient ridce."
Erst im Zusammenhang mit den jetzt constatirten so zahl-
reichen Fällen von Masochismus, unter denen so viele sind, welche
mit Flagellation durchaus nichts zu thun haben, so dass der primäre
und rein psychische Charakter des Erniedrigungstriebes klar wird,
kann die volle Einsicht in Rousseau's Fall gewonnen und der Irr-
thum aufgedeckt werden, in den er bei der Selbstzergliederung seines
Zustandes nothwendig gerathen musste.
Mit Recht macht auch Bin et (Revue anthropologique XXIV,
p. 256), welcher den Fall Rousseau eingehend analysirt, auf diese
masochistische Bedeutung desselben aufmerksam, indem er sagt:
„Ce qu'aime Rousseau dans les femmes, ce n'est pas seulement
le sourcil fronce, la main levee, le regard severe, l'attitude impe-
rieuse, c'est aussi Petat emotionnel, dont ces faits sont la traduction
jexterieure ; il aime la femme fiere , dödaigneuse , l'ecrasant ä ses
pieds du poids de sa royale colere."
Die Erklärung dieses psychologischen räthselhaften Factums
sucht und findet Bin et in seiner Annahme, dass es sich hier um
Fetischismus handle, nur mit dem Unterschied, dass das Object des
Fetischismus, also Gegenstand der individuellen Anziehung (Fetisch),
nicht eine körperliche Sache, wie z. B. eine Hand, ein Fuss, son-
dern eine geistige Eigenschaft sein kann. Er nennt diese Schwär-
merei „amour spiritualiste" im Gegensatz zu „amour plastique",
wie sie der gewöhnliche Fetischismus aufweist.
Diese Bemerkungen sind geistreich, aber sie geben nur ein
Wort zur Bezeichnung einer Thatsache, keine Erklärung für die-
selbe. Ob überhaupt eine Erklärung möglich sei, wird uns später
beschäftigen.
Auch bei dem berühmten oder berüchtigten französischen
Schriftsteller C. P. Baudelaire, welcher in Geisteskrankheit endigte,
finden sich Elemente von Masochismus (und Sadismus).
Baudelaire entstammt einer Familie von Irren und Ueberspannten.
Er war von Jugend auf psychisch abnorm. Entschieden krankhaft war seine
120 Paraesthesia sexualis.
Vita sexualis. Er hatte Liebesverhältnisse mit hässliehen, widerwärtigen Per-
sonen, Negerinnen, Zwerginnen, Riesinnen. Gegen eine sehr schöne Frau
äusserte er den Wunsch, sie an den Händen aufgehängt zu sehen und ihr die
Füsse küssen zu dürfen. Diese Schwärmerei für den nackten Fuss erscheint
auch in einem seiner fieberglühenden Gedichte als Aequivalent für den Ge-
schlechtsgenuss. Er erklärte die Weiber für Thiere, die man einsperren,
schlagen und gut füttern muss. Diese masochistische und sadistische Neigungen
verrathende Persönlichkeit ging in paralytischem Blödsinn zu Grunde. (Lo ru-
bre-so, Der geniale Mensch, übers, v. Fränkel, p. 83.)
In der wissenschaftlichen Literatur haben die Thatsachen,
welche den Masochismus ausmachen, bis auf die jüngste Zeit keine
Beachtung gefunden. Zu erwähnen wäre nur, dass Tarnowsky
(„Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinns" , Berlin
1886) die Erfahrung mittheilt, dass glücklich verheirathete , geist-
reiche Männer ihm vorgekommen sind, die von Zeit zu Zeit einen
unwiderstehlichen Drang fühlten, sich selbst der gröbsten cynischen
Behandlung zu unterwerfen — Schirapfworte, Schläge von Kynäden.
aktiven Päderasten oder Prostituirten zu empfangen. Bemerkens-
werth ist auch Tarnowsky's Erfahrung, dass bei gewissen, der
passiven Flagellation Ergebenen Schläge allein und zuweilen selbst
blutige, nicht den gewünschten Erfolg (Potenz oder wenigstens
Ejaculation beim Flagelliren) haben. „Man muss den Betreffenden
dann mit Gewalt entkleiden oder ihm die Hände binden, ihn an
eine Bank befestigen u. s. w., wobei er sich anstellt, als ob er sich
widersetzt, schimpft und scheinbar einigen Widerstand leistet. Nur
unter solchen Bedingungen bewirken die Ruthenschläge eine Er-
regung, die zum Samenerguss führt."
0. Zimmermann's Schrift „Die Wonne des Leids", Leipzig
1885, enthält manchen Beitrag aus der Cultur- und Literaturgeschichte
zum vorliegenden Thema 1).
In jüngster Zeit fand der Gegenstand mehrfache Beachtung.
*) Es muss jedoch das Gebiet des Masochismus von dem in jener Schrift
behandelten Hauptthema, dass die Liebe ein Moment des Leids enthält, scharf
abgegränzt werden. Von jeher ist ungetheilte Liebessehnsucht als „freudvoll
und leidvoll" geschildert worden, und Dichter haben von „wonniger Qual"
oder „schmerzlicher Wollust" gesprochen. Dies darf nicht, wie Z. thut, mit
Erscheinungen des Masochismus confundirt werden, so wenig es hierhergehört,
wenn die sich nicht hingebende Geliebte „grausam" genannt wird. Immerhin
ist es merkwürdig, dass Hamerling (Amor und Psyche, 4. Gesang) zum
Ausdruck dieses Gefühls völlig masochistische Bilder, Geisselung etc. ver-
wendet.
Masochismus. 121
A. Moll führt in seinem Werke „Die conträre Sexualempfin-
dung " , Berlin 1891, p. 133 ff. und p. 151 ff., eine Anzahl von
Fällen des vollkommenen Masochismus bei conträr Sexualen an,
darunter an letzterer Stelle einen Fall, in dem ein solcher maso-
chistischer Conträrsexualer einem eigens dazu bestellten Manne eine
ausführliche Instruction in 20 Paragraphen übersendet, nach welcher
der Bestellte den Besteller als Sklaven zu behandeln und zu miss-
handeln habe.
Im Juni 1891 theilte mir Herr Dimitri von Stefanowsky,
d. Zt. Staatsanwaltssubstitut zu Jaroslaw in Russland, mit, dass er
schon vor etwa drei Jahren der von mir als „ Masochismus " be-
schriebenen Erscheinung von Perversion der Vita sexualis, welche
er mit dem Namen „ Passivismus " bezeichnet, sein Interesse zu-
gewendet , vor 1 x/2 Jahren dem Professor v. Kowalewsky in
Charkow eine bezügliche Arbeit für das russische Archiv für Psy-
chiatrie eingereicht und im November 1888 in der Moskauer juri-
dischen Societät einen Vortrag über dieses Thema vom juridisch-
psychologischen Standpunkte aus gehalten habe (abgedruckt im
„Juridischen Boten", dem Organ der genannten Societät, und zwar
1890, Nr. 6 bis 8 *).
v. Schrenck-Notzing widmet in seinem jüngst erschienenen
Werke: „Die Suggestions-Therapie bei krankhaften Erscheinungen
des Geschlechtssinnes " etc., Stuttgart 1892, auch dem Masochismus
wie dem Sadismus einige Abschnitte und führt mehrere eigene Be-
obachtungen an2).
*) Vgl. die neueste Arbeit dieses Autors über „ Passivismus " in Archives
d' Anthropologie criminelle 1892 VII. p. 294.
2) In der neueren Roman- und Novell enHteratur ist die psycho-sexuale
Perversion, welche den Gegenstand dieses Capitels bildet, von Sacher-Masoch
behandelt worden, dessen bereits mehrfach erwähnte Schriften geradezu typische
Bilder des perversen Seelenlebens derartiger Männer entwerfen.
Auf Sacher-Masoch's Schriften berufen sich viele von dieser Perver-
sion Ergriffenen, wie aus den obigen Beobachtungen ersichtlich, ausdrücklich
als auf typische Darstellungen ihres eigenen psychischen Zustandes.
Zola hat in seiner „Nana" eine masochistische Scene , ähnliches in
»Eugene Rougon". Die neueste „decadente" Literatur in Frankreich und
Deutschland beschäftigt sich mehrfach auch mit dem Thema des Sadismus
und Masochismus. Der neuere russische Roman soll nach v. Stefano wski's
Angabe den Gegenstand häufig behandeln; aber schon nach des alten Reise-
schriftstellers Johann Georg Forster (1754 — 94) Mittheilungen sollen diese
Dinge selbst im russischen Volkslied eine Rolle spielen. Stefanowski findet
122 Paraesthesia sexualis.
b) Fuss- und Schuhfetischisten. — Larvirter Masochismus.
An die Gruppe der Masochisten schliesst sich die der in un-
gemein zahlreichen Exemplaren auftretenden Fuss- und Schuh-
fetischisten an. Diese Gruppe bildet den Uebergang zu den Er-
scheinungen einer anderen selbständigen Perversion, eben des
Fetischismus; steht aber dem Masochismus näher als jenem, wes-
halb sie hier eingereiht ist.
Unter Fetischisten (s. unten sub 3.) verstehe ich Individuen,
deren sexuelles Interesse sich ausschliesslich auf einen bestimmten
Körpertheil des Weibes, oder auch auf bestimmte Stücke der weib-
lichen Kleidung concentrirt.
Eine der häufigsten Formen dieses Fetischismus ist es, dass
der Fuss oder der Schuh des Weibes der Fetisch ist, welcher aus-
schliesslicher Gegenstand sexueller Empfindungen und Triebe wird.
Es ist nun höchst wahrscheinlich und ergibt sich aus der
richtigen Aneinanderreihung der beobachteten Fälle, dass die meisten,
vielleicht alle Fälle von Schuhfetischismus auf der Basis mehr
oder minder bewusster masochistischer Selbstdemüthigungstriebe
beruhen.
Schon im Falle Hammond's (Beob. 50) besteht die Befriedi-
gung eines Masochisten im Sichtretenlassen. Auch Beob. 42 u. 47
lässt sich treten, Beob. 49, Equus eroticus, schwärmt für den Fuss
des Weibes, und so fort. In den meisten Fällen von Masochismus
spielt das Treten mit Füssen als ein naheliegendes Ausdrucksmittel
des Unterwerfungsverhältnisses eine Rolle x).
Unter den constatirten zahlreichen Fällen von Schuhfetischis-
mus wird der folgende , von Dr. A. Moll in Berlin mitgetheilte,
der viel Uebereinstimmung mit dem Falle Hammond's zeigt, aber
ausführlicher dargestellt und sorgfältig beobachtet ist, besonders
geeignet erscheinen, den Zusammenhang zwischen Masochismus und
Schuhfetischismus darzuthun.
den Typus des Passivisten auch in einer englischen Tragödie von Otway
, Venice preserved" und verweist hinsichtlich seines Vorkommens auf dem
Boden der conträren Sexualempfindung auf Dr. Luiz „Les fellatores. Moeurs
de la decadence". Paris 1888 (Union des bibliophües).
*) Auch die Begierde, sich mit Füssen treten zu lassen, findet sich bei
religiösen Schwärmern wieder; vgl. Turgenjew, „Sonderbare Geschichten".
Masochismus. 123
Beobachtung 57. 0. L., 31 Jahre, Buchhalter in einer württem-
bergischen Stadt, stammt aus belasteter Familie.
Patient ist ein grosser, starker, blühend aussehender Mann. Er ist im
Allgemeinen von ruhigem Temperament, kann aber unter Umständen sehr
heftig werden; er gibt selbst an, dass er streitsüchtig und rechthaberisch sei.
L. ist von gutmüthigem Charakter und freigebig; bei geringem Anlass ist er
zum Weinen geneigt. Auf der Schule galt er als ein begabter Schüler mit
leichter Auffassungsgabe. Patient leidet an zeitweisen Congestionen nach dem
Kopf, ist sonst aber ganz gesund; abgesehen davon, dass er sich in Folge
seiner zu beschreibenden sexuellen Perversion sehr gedrückt und oft schwer-
müthig fühlt.
Ueber erbliche Belastung ist wenig zu ermitteln.
Ueber die Entwicklung seines sexuellen Lebens ergibt sich aus den von
dem Patienten gemachten Angaben Folgendes:
Schon in frühester Jugend, und zwar 8 oder 9 Jahre alt, hatte L. den
Wunsch, als Hund seinem Lehrer die Stiefel zu lecken. L. hält es für mög-
lich, dass dieser Gedanke in ihm dadurch rege wurde, dass er einmal den
Vorgang gesehen, wie ein Hund dies in Wirklichkeit that; doch kann L. dies
nicht mit Bestimmtheit angeben.
Jedenfalls scheint dem Patienten soviel sicher, dass die ersten bezüg-
lichen Ideen ihm im Wachen, nicht im Traumzustande gekommen sind.
Von seinem 10. — 14. Lebensjahre versuchte L. stets seinen Mitschülern
und auch kleinen Mädchen die Stiefel zu berühren. Er wählte sich aber hierzu
nur solche Mitschüler, die reiche und vornehme Eltern hatten. Einer
von jenen, Sohn eines reichen Gutsbesitzers, hatte Reitstiefel; diese nahm L.
in der Abwesenheit des Knaben in die Hände, schlug sich damit und drückte
sie sich fest ins Gesicht. Ebenso machte es L. mit den eleganten Stiefeln
eines Dragoneroffiziers.
Nach Eintritt der Pubertät übertrug sich das Verlangen ausschliesslich
auf das Schuhwerk des weiblichen Geschlechts. So war des Patienten Trachten
beim Schlittschuhlaufen stets darauf gerichtet, Damen und Mädchen die Schlitt-
schuhe an- und abzuschnallen, er wählte aber stets nur solche weibliche Per-
sonen, die reich und vornehm waren und recht elegante Stiefel hatten. Auf
der Strasse und überall sah L. stets nach eleganten Stiefeln; die Vorliebe für
diese ging so weit, dass er Sand oder Schmutz, der die eingedrückten Spuren
jener trug, in sein Portemonnaie, ja sogar öfter in den Mund steckte. Schon
als 14jähriger Knabe ging L. ins Lupanar und besuchte öfter ein Cafe chantant,
lediglich um sich am Anblick eleganter Stiefel (weniger Schuhe) aufzuregen.
In die Schulbücher, an die Wände von Closets malte L. Stiefel. Im Theater
sah er nur nach den Schuhen von Damen. Stundenlang lief L. auf der Strasse
und auf Dampfschiffen Damen nach, die elegante Stiefel trugen; mit Entzücken
dachte er hierbei daran, wie er wohl dazu gelangen könnte, die Stiefel zu
berühren. Diese eigenthümliche Vorliebe für Stiefel ist bis heute bestehen
geblieben. Der Gedanke, sich von Damen mit ihren Stiefeln treten
zu lassen oder dieselben küssen zu dürfen, bereitet L. die grösste
Wollust. Vor Schuhläden blieb und bleibt er stehen, nur um die Stiefel zu
betrachten. Namentlich reizt ihn die Eleganz des Stiefels.
Am liebsten hat Patient hoch geknöpfte oder geschnürte Stiefel mit
124 Paraesthesia sexualis.
hohen Absätzen; aber auch weniger elegante Stiefel, eventuell mit niedrigen
Absätzen, regen den Patienten auf, wenn deren Trägerin eine recht reiche,
vornehme und namentlich stolze Dame ist.
Mit 20 Jahren versuchte L. den Coitus, war aber nicht dazu im Stande,
„trotz der grössten Anstrengung", wie Patient meint. Gedanken an Schuhe
hatte Patient während des Beischlafversuches nicht; hingegen hatte er es ver-
sucht, sich vorher an Schuhen sexuell aufzuregen; er behauptet, dass die zu
grosse Aufregung das Misslingen des Coitus verschuldete. Er hat bis jetzt,
wo er 31 Jahre alt ist, den Coitus 4 — 5 Mal, jedesmal vergebens, versucht; bei
dem einen Versuche hatte der durch seine Krankheit schon tief bedauerns-
werthe Patient noch das Unglück, sich eine Lues zuzuziehen. Auf die Frage,
wie sich denn Patient den höchsten Wollustakt denke, erklärte er: „Meine
grösste Wollust ist es, mich nackt auf den Fussboden zu
legen und mich dann von Mädchen mit eleganten Stiefeln
treten zu lassen; natürlich ist dies nur im Lupanar möglich." Es sind
übrigens nach Angabe des Patienten in manchen Lupanars diese sexuellen
Perversionen von Männern wohl bekannt, ein Beweis, dass diese keine so
grosse Seltenheit sind; die puellae nennen derartige Männer häufig „Stiefel-
freier". Uebrigens hat Patient nur sehr selten den Wollustakt, so wie er für
ihn am schönsten und angenehmsten ist, wirklich zur Ausführung gebracht.
Gedanken , die ihn zum Beischlaf trieben , hat Patient gar nicht , wenigstens
nicht in dem Sinne, dass dabei etwa immissio penis in vaginam stattfinde;
darin kann Patient keinerlei Genuss finden. Ja er hat allmählig eine Furcht
vor dem Coitus erworben, die sich aus den mehrfach misslungenen Ver-
suchen genügend erklären lässt, da der Patient selbst angibt, dass das
Nichtvollendenkönnen des Coitus ihn ausserordentlich genire. Eigentliche
Onanie hat Patient nie getrieben. Abgesehen von wenigen Fällen, wo Patient
durch Onanie an Stiefeln oder auf ähnliche Weise seinen Geschlechtstrieb
befriedigte, kennt er eine solche Befriedigung nicht, da es bei der Aufregung
durch Stiefel fast stets bei Erectionen bleibt und höchstens zeitweise lang-
same kleine Ergüsse einer Flüssigkeit stattfinden, die Patient für Sperma hält.
Ein blosser Schuh, den L. sieht, und der von keiner Person getragen
wird, regt ihn entschieden auch auf; aber bei weitem nicht so sehr, wie der
von einem Weibe getragene Schuh. Ganz neue, noch nicht getragene Schuhe
regen den Patienten viel weniger auf als getragene, die aber noch nicht ab-
getreten sein dürfen und noch möglichst neu aussehen müssen; diese reizen
den Patienten am meisten.
Es reizt den Patienten, wie erwähnt, auch der Damenstiefel, wenn er
nicht getragen wird. L. denkt sich dann die betreffende Dame dazu; er
drückt den Stiefel an seine Lippen und an seinen Penis. L. würde „vor Ent-
zücken vergehen", wenn eine anständige stolze Dame ihn mit ihren Schuhen
treten würde.
Abgesehen von den oben genannten Eigenschaften der Weiber (Stolz,
Reichthum, Vornehmheit), die mit der Eleganz der Stiefel einen besonderen
Reiz gewähren, sind dem Patienten auch die körperlichen Vorzüge des weib-
lichen Geschlechts keineswegs gleichgültig.
Er schwärmt für schöne Damen, auch ohne an Stiefel zu denken, aber
es ist dies keine auf geschlechtliche Befriedigung gerichtete Liebe. Selbst in
Masochismus. 125
Verbindung mit den Stiefeln spielen die körperlichen Reize eine Rolle; eine
hässliche und alte Frau könnte den Patienten selbst mit den elegantesten
Stiefeln nicht reizen; auch die sonstige Kleidung und andere Verhältnisse
spielen eine wesentliche Rolle, wie sich schon aus dem Umstände ergibt, dass
elegante Stiefel von stolzen vornehmen Damen ganz besonders erregend auf
den Patienten wirken. Ein ungebildetes Dienstmädchen in seinem Arbeits-
anzuge würde den Patienten selbst mit den elegantesten Stiefeln nicht erregen.
Schuhe und Stiefel von Männern üben jetzt auf den Patienten keinerlei
Reiz mehr aus; auch sonst fühlte sich Patient niemals sexuell auch nur im
geringsten zu Männern hingezogen.
Hingegen treten sonst Erectionen bei dem Patienten sehr leicht auf.
Wenn ein Kind auf seinen Schoss sitzt, wenn er einen Hund oder ein Pferd
längere Zeit berührt, wenn er auf der Eisenbahn fährt oder reitet, so treten
Erectionen auf, und zwar, wie Patient vermuthet, in den letzten Fällen durch
die Erschütterung.
Jeden Morgen hat er Erectionen, und er ist im Stande, innerhalb der
kurzen Zeit dadurch Erection zu erzielen, dass er an die ihm angenehme Be-
handlung mit den Stiefeln denkt. Früher traten des Nachts öfter Pollutionen
auf, etwa alle 3 — 4 Wochen, während sie jetzt seltener, etwa alle 3 Monate
einmal eintreten.
Bei seinen erotischen Träumen wird Patient fast stets von denselben
Gedanken sexuell erregt, die dies im Wachen thun. Seit einiger Zeit glaubt
Patient, Samenerguss bei den Erectionen zu fühlen; doch schliesst er dies nur
daraus, dass er an der Spitze des Penis etwas Nasses fühle.
Lektüre, die in die sexuelle Sphäre des Patienten fällt, regt ihn ausser-
ordentlich auf, so z. B. wird er von der Lektüre der „Venus im Pelz" von
Sacher-Masoch so erregt, „ut Sperma stillaref.
Uebrigens bildet für L. diese Art des Spermaergusses bei dieser Lektüre
eine entschiedene Befriedigung seines Geschlechtstriebes.
Die von mir an den Patienten gerichtete Frage, ob denn Schläge, die
er von einem Weibe empfinge, ihn auch aufregen würden, glaubt er bejahend
beantworten zu müssen. Zwar hat Patient nie direct einen derartigen Versuch
gemacht, aber scherzhaft ausgeführte Schläge waren ihm jedenfalls stets eine
grosse Annehmlichkeit.
Besonders aber würde es dem Patienten einen grossen Reiz gewähren,
wenn er von dem Weibe, selbst ohne Stiefel, mit den blossen Füssen gestossen
würde. Aber er glaubt nicht, dass die Schläge als solche die Aufregung be-
wirken würden, sondern der Gedanke, von dem Weibe misshanelt zu werden,
was ebenso wie durch Schläge auch durch grobe Scheltworte geschehen könnte;
übrigens würden Schläge und Scheltworte nur dann erregend wirken, wenn
sie von einer stolzen und vornehmen Dame herkommen.
Ueberhaupt ist es im Allgemeinen das Gefühl der Demuth und
hündischen Ergebung, das dem Patienten Wollust bereitet.
„Würde mir," so erzählt Patient, „eine Dame befehlen, auf sie zu
warten, wenn auch in strenger Kälte, so würde ich trotzdem Wollust em-
pfinden."
Patient antwortet auf die Frage, ob denn auch beim Stiefel ihn das
Gefühl der Demüthigung überkäme : „Ich glaube, dass diese allgemeine Leiden-
126 Paraesthesia sexualis.
schaft der eigenen Demüthigung sich speciell auf den Stiefel der Damen con-
centrirt hat, da es ja symbolisch ist, dass Jemand ,nicht werth ist, einem
anderen die Schuhriemen zu lösen', und überhaupt ein Untergebener kniet."
Die Strümpfe des Weibes üben auf den Patienten auch eine erregende
Wirkung aus, aber nur in geringem Grade und vielleicht nur durch Erwecken
der Vorstellung der Stiefel. Die Leidenschaft für Damenschuhe hatte bei dem
Patienten immer mehr zugenommen, nur in den letzten Jahren glaubt er eine
Abnahme zu bemerken; er geht nur sehr selten zu einem öffentlichen Mädchen,
ist aber auch dann im Stande, sich mehr zurückzuhalten. Dennoch beherrscht
ihn diese Leidenschaft noch vollständig, jeder andere Genuss wird dem Patienten
dadurch vereitelt; ein hübscher Damenstiefel würde des Patienten Blick von
der schönsten Landschaft abziehen können. Er geht jetzt oft des Nachts in
Hotels durch die Corridore und sucht elegante Damenstiefel aus, die er dann
küsst und gegen sein Gesicht, Hals, hauptsächlich aber gegen seinen Penis
drückt.
Der durchaus bemittelte Patient ist vor einiger Zeit eigens nach Italien
gereist, nur mit dem Wunsche, unerkannt bei einer reichen vornehmen Dame
Bedienter zu werden; der Plan misslang jedoch.
Eine Behandlung des Patienten, der nur zur Consultation erschien, hat
bisher nicht stattgefunden.
Die oben mitgetheilte Krankengeschichte reicht bis in die allerletzte
Zeit, in der Patient mir über sein Befinden briefliche Mittheilungen ge-
macht hat.
Eines ausführlichen Commentars bedarf die obige Krankengeschichte
nicht. Sie scheint mir eines der besten Krankheitsbilder, das geeignet ist,
die von v. Krafft-Ebing angenommene Verwandtschaft zwischen Stiefel-
Fetischismus und Masochismus zu illustriren 1).
Der Hauptreiz für den Patienten ist, wie er — ohne dass derartige
Antworten in ihn hineinexaminirt wurden — immer wieder betont, die eigene
Unterwürfigkeit dem Weibe gegenüber, das möglichst hoch über ihm stehen
soll durch Stolz und vornehme Stellung.
Solche Fälle, in denen innerhalb eines ausgebildeten maso-
chistischen Vorstellungskreises der Fuss und der Schuh oder der
Stiefel des Weibes, als Werkzeug der Demüthigung aufgefasst,
Gegenstand eines besonderen sexuellen Interesses geworden sind,
J) Dr. Moll wendet jedoch op. cit. p. 136 gegen die Auffassung des
Fuss- und Schuh-Fetischismus überhaupt als eine Erscheinung des (mitunter
latenten) Masochismus ein, dass es räthselhaft bleibe, warum der Fetischist so
oft Stiefel mit hohen Absätzen, dann Stiefel oder Schuhe grade von einer
besonderen Beschaffenheit zum Knöpfen, oder Lackschuhe, vorzieht. Gegen
diesen Einwand ist zu bemerken, dass erstens die hohen Absätze den Schuh
eben als weiblichen charakterisiren, und dass zweitens der Fetischist an seinen
Fetisch, unbeschadet des sexuellen Charakters seiner Neigung, auch allerlei
Ansprüche ästhetischer Natur zu stellen pflegt. Vgl. unten Beob. 88.
Masochismus. 127
finden sich zahlreich. Sie bilden in vielfachen leicht zu verfolgenden
Abstufungen den nachweisbaren Uebergang zu anderen Fällen, in
welchen die masochistischen Neigungen immer mehr in den Hinter-
grund treten und nach und nach unter die Schwelle des Bewusst-
seins tauchen, während das Interesse für. den Frauenschuh, schein-
bar als ein ganz unerklärliches, allein im Bewusstsein stehen bleibt.
Letztere sind die zahlreichen Fälle von Schuhfetischismus.
Diese sehr häufigen Fälle der Schuhverehrer, die, wie alle
Fetischisten , auch forensisches Interesse bieten (Schuhdiebstähle),
bilden ein Grenzgebiet zwischen Masochismus und Fetischismus.
Man kann sie wohl zum grössten Theil oder alle als larvirten Maso-
chismus (mit unbewusst gebliebener Motivation) auffassen, wobei der
Fuss oder Schuh des Weibes als Fetisch des Masochisten
zu selbständiger Bedeutung gelangt ist.
Hier mögen zunächst noch zwei Fälle angeführt werden, in
denen zwar schon der Frauenschuh in den Mittelpunkt des Inter-
esses rückt, aber auch deutliche masochistische Gelüste eine grosse
Rolle spielen. (Vergl. auch oben Beob. 42, p. 91.)
Beobachtung 58. Herr X., 25 Jahre alt, von gesunden Eltern, früher
nie erheblich krank, stellte mir folgende Selbstbiographie zur Verfügung: Ich
begann mit 10 Jahren zu onaniren, ohne indessen dabei jemals einen wol-
lüstigen Gedanken zu haben. Indessen übte doch schon damals — das weiss
ich genau — der Anblick und die Berührung eleganter Mädchenstiefel einen
eigenen Zauber auf mich aus ; mein höchster Wunsch war, auch solche Stiefel
tragen zu dürfen, ein "Wunsch, der bei gelegentlichen Maskeraden wohl auch
in Erfüllung ging. Dann war es noch ein ganz anderer Gedanke, der mich
peinigte: es war nämlich mein Ideal, mich in gedemüthigter Situa-
tion zu sehen, ich wäre gern Sklave gewesen, wollte gezüchtigt sein,
kurz, ganz der Behandlung theilhaftig werden, die man in den vielen Sklaven-
geschichten beschrieben findet. Ob durch die Lektüre dieser Bücher dieser
Wunsch in mir entstanden ist, oder spontan, weiss ich nicht anzugeben.
Mit 13 Jahren trat die Pubertät ein; mit den eintretenden Ejaculationen
stieg das Wollustgefühl und ich onanirte häufiger, oft 2 oder 3mal am Tage.
Während der Zeit vom 12. — 16. Jahre hatte ich während des onanistischen
Aktes immer die Vorstellung, ich würde gezwungen, Mädchenstiefel zu tragen.
Der Anblick eines eleganten Stiefels am Fusse eines nur einigennassen hüb-
schen Mädchens berauschte mich , namentlich zog ich gern mit Begier den
Ledergeruch in meine Nase. Um Leder auch während des Onanirens zu
riechen, kaufte ich mir Ledermanchetten , die ich beroch, während ich ona-
nirte. Meine Schwärmerei für lederne Damenstiefel ist noch heute dieselbe,
nur vermengt sie sich seit dem 17. Lebensjahre mit dem Wunsche, Diener
sein zu können, vornehmen Damen die Stiefel wichsen zu dürfen,
sie ihnen an- und ausziehen zu müssen u. dergl.
X28 Paraesthesia sexualis.
Meine nächtlichen Träume bestehen stets in Schuhscenen : entweder ich
stehe vor dem Schaufenster eines Schuhladens, eventuell betrachte ich die ele-
ganten Damenschuhe, namentlich die Knöpfschuhe, aut ad pedes feminae jaceo
et olfacio et lambo calceolos eius. Seit etwa einem Jahr habe ich die Onanie
aufgegeben und gehe ad puellas; der Coitus kommt zu Stande durch festes
Denken an Damenknöpfstiefel, eventuell nehme ich den Schuh der puella mit
ins Bett. Beschwerden habe ich durch meine frühere Onanie nie gehabt. Ich
lerne leicht, habe ein gutes Gedächtniss, habe, so lange ich lebe, noch keine
Kopfschmerzen gehabt. — So weit über mich.
Nur noch ein paar Worte über meinen Bruder : Ich bin fest davon über-
zeugt, dass auch er Schuhfetischist ist; unter vielen anderen Thatsachen, die
mir das beweisen, sei nur die eine hervorgehoben, dass es ein grosses Ver-
gnügen für ihn ist, sich von einer (bildschönen) Cousine treten zu lassen. Im
Uebrigen mache ich mich anheischig, von jedem Manne, der vor einem Schuh-
laden stehen bleibt und sich die ausgelegten Schuhe ansieht, auszusagen, ob
er „Fussfreier" ist oder nicht. Diese Anomalie ist ungemein häufig; wenn
ich in Bekanntenkreisen die Unterhaltung darauf leite, was am Weibe reize,
hört man ungemein häufig aussprechen, dass es viel mehr das bekleidete,
als das nackte Weib sei ; wohl aber hütet sich ein jeder, seinen speciellen Fetisch
zu nennen. — Auch einen Onkel von mir halte ich für einen Schuhfetischisten.
Beobachtung 59, mitgetheilt von Mantegazza in seinen „Anthropo-
logischen Studien" 1886, p. 110. X., Amerikaner, aus guter Familie, phy-
sisch und moralisch gut constituirt, war von der Zeit der erwachenden Pubertät
an sexuell nur erregbar durch den Schuh des Weibes. Dessen Körper, oder auch
speciell der nackte oder mit dem Strumpf bekleidete Fuss machten ihm keinen
Eindruck, aber der mit dem Schuh bekleidete Fuss oder auch der Schuh allein
machten ihm Erection, selbst Ejaculation. Es genügte ihm der blosse Anblick,
falls ihm elegante Stiefel zur Disposition standen, d. h. solche aus schwarzem
Leder, auf der Seite zum Knöpfen und mit möglichst hohen Absätzen. Sein
genitaler Trieb wird mächtig erregt, indem er solche Stiefel berührt, küsst,
anzieht. Sein Genuss wird erhöht, indem er die Sohlen durchdringende
Nägel einschlägt, so dass die Spitzen der Nägel beim Gehen in sein Fleisch
eindringen. Er empfindet davon furchtbare Schmerzen, aber zugleich wahre
Wollust. Sein höchster Genuss ist es, vor schönen, elegant bekleideten
Damenfüssen niederzuknieen, sich von ihnen treten zu lassen.
Ist die Trägerin der Schuhe eine hässliche Frau, so wirken sie nicht und er-
kaltet seine Phantasie. Hat Pat. bloss Schuhe zur Disposition, so schafft seine
Phantasie eine schöne Frau hinzu und die Ejaculation erfolgt. Seine nächt-
lichen Träume drehen sich um die Stiefeletten schöner Frauen. Anblick von
Damenschuhen in Schaufenstern kommt demselben unmoralisch vor, während
das Sprechen über die Natur des Weibes ihm harmlos und geschmacklos er-
scheint. Verschiedene Male versuchte X. Coitus, aber erfolglos. Es kam nie
zu einer Ejaculation.
Auch in dem folgenden Falle ist das masochistische Element
noch deutlich genug — daneben aber auch gleichzeitig das sadi-
stische (vgl. oben p. 85 Thierquäler).
Masochismus. 129
Beobachtung 60. Junger kräftiger Mann, 26 Jahre alt. Arn schönen
Geschlecht reizen ihn sinnlich absolut nichts als elegante Stiefel am Fuss
einer feschen Dame, besonders wenn sie von schwarzem Leder und mit hohen
Absätzen versehen sind. Es genügt ihm der Stiefel ohne Besitzerin. Es ge-
währt ihm höchste Wollust, ihn zu sehen, zu betasten, zu küssen. Der nackte
oder bloss bestrumpfte Damenfuss lässt ihn ganz kalt. Seit der Kindheit habe
er ein Faible für elegante Damenstiefel.
X. ist potent; beim sexuellen Akt muss die Person elegant gekleidet
sein und vor Allem schöne Stiefel anhaben. Auf der Höhe wollüstiger Erregung
gesellen sich grausame Gedanken zur Bewunderung der Stiefel. Er muss mit
Wonne der Todesqualen des Thieres gedenken, von dem das Leder zu den
Stiefeln stammt. Zeitweise zwingt es ihn, Hühner und andere lebende Thiere
zur Phryne mitzunehmen, damit diese zu seiner grössten Wollust mit ihren
eleganten Stiefeln auf den Thieren herumtrete. Er nennt dies „zu den Füssen
der Venus opfern". Andere Male muss das Weib auf ihm mit den ge-
stiefelten Füssen herumtreten, je ärger, um so lieber.
Bis vor einem Jahre begnügte er sich, da er am Weibe nicht den ge-
ringsten Reiz fand, mit Liebkosen von Damenstiefeln seines Geschmacks, wo-
bei es zur Ejaculation und vollen Befriedigung kam. (Lombroso, Archiv, di
psichiatria IX, fascic. III.)
Der folgende Fall erinnert theils an den dritten dieser Reihe
durch das Interesse für die Nägel der Schuhe (als mögliche Schmerz-
erreger) , theils an den vierten durch die leise mit anklingenden
sadistischen Elemente.
Beobachtung 61. X., 34 Jahre alt, verheirathet, von neuropathischen
Eltern, als Kind schwer an Convulsionen leidend, geistig auffallend früh
(konnte schon mit 3 Jahren lesen!), aber einseitig entwickelt, nervös von
Kindesbeinen an, bekam mit 7 Jahren den Drang, sich mit- den Schuhen,
bezw. den Schuhnägeln von Weibern zu beschäftigen. Ihr Anblick, noch
mehr das Betasten der Schuhnägel und ihr Zählen machte ihm unbeschreib-
lichen Genuss.
Nachts musste er sich vergegenwärtigen, wie seine Cousinen sich Schuhe
anmessen lassen, wie er einer derselben Hufeisen anschmiedete oder die Füsse
abschnitt.
Mit der Zeit überwältigten ihn die Schuhscenen auch bei Tage und ohne
sein Zuthun führten sie zu Erection und Ejaculation. Oefters nahm er Schuhe
von weiblichen Hausgenossen, und wenn er sie nur mit dem Penis berührte,
hatte er Ejaculation. Eine Zeitlang vermochte er als Student diese Ideen und
Gelüste zu beherrschen. Dann kam eine Zeit, wo er dem Geräusch weiblicher
Fus8tritte auf dem Strassenpflaster lauschen musste, was ihm, gleichwie der
Anblick des Nägeleinschlagens in Damenschuhe, oder der Anblick solcher in
Verkaufsauslagen, jeweils ein wollüstiges Erbeben machte. Er heirathete und
war in den ersten Monaten der Ehe frei von diesen Impulsen. Allmählig
wurde er hysteropathisch und neurasthenisch.
In diesem Stadium bekam er hysterische Anfälle , sobald der Schuster
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 9
130 Paraesthesia sexualis.
ihm von Nägeln an Damenschuhen oder von Frauenschuhbeschlagen sprach.
Noch grösser war die Reaktion, wenn er einer hübschen Dame mit stark be-
schlagenen Schuhen ansichtig wurde. Um Ejaculation zu bekommen, brauchte
er nur Damensohlen aus Carton auszuschneiden und mit Nägeln zu belegen,
oder aber er kaufte Damenschuhe, Hess sie im Laden beschlagen, machte sie
daheim auf dem Boden scharren und berührte endlich damit die Spitze seines
Penis. Aber auch spontan kamen wollüstige Schuhsituationen, in welchen er
sich durch Masturbation befriedigte.
X. ist sonst intelligent, tüchtig im Beruf, aber gegen seine perversen
Gelüste kämpft er vergebens an. Er bietet Phimose: Penis kurz, an der Wurzel
bauchig, nicht vollkommen erectionsfähig. Eines Tages Hess sich Patient über
den Anblick einer genagelten Damensohle vor dem Laden eines Schusters zur
Masturbation hinreissen und wurde dadurch criminell (Blanche, Archiv, de
Neurologie, 1882, Nr. 22).
Hier ist auch auf den weiter unten darzustellenden Fall
(Beob. 108) eines conträr Sexualen hinzuweisen, dessen sexuelles
Interesse hauptsächlich von den Stiefeln männlicher Diener in An-
spruch genommen wird. Er möchte sich von ihnen treten lassen etc.
Ein masochistisches Element liegt noch in dem folgen-
den Falle:
Beobachtung 62. (Dr. Pascal, Igiene dell' amore.) X., Kaufmann,
bekam von Zeit zu Zeit, besonders bei schlechter Witterung, folgendes Gelüste:
Er redete eine beliebige Prostituirte an und ersuchte sie, mit ihm zu einem
Schuster zu gehen, wo er ihr das schönste Paar Lackstiefeletten kaufte, unter
der Bedingung, dass sie dieselben sofort anziehe. Nachdem dies geschehen,
musste die Betreffende auf der Strasse möglichst in den Koth und in Pfützen
treten, um die Stiefel recht zu beschmutzen. War dies geschehen, so führte
X. die Person in ein Hotel und, kaum mit ihr in einem Zimmer, stürzte er
auf ihre Füsse los und empfand ein ausserordentliches Vergnügen, dabei an
diesen seine Lippen zu wetzen. Nachdem die Stiefel auf diese Weise gereinigt
waren, gab er ein Geldgeschenk und ging seiner Wege.
Aus diesen Fällen ergibt sich deutlich, dass der Schuh ein
Fetisch des Masochisten ist und zwar offenbar wegen der Be-
ziehung des bekleideten weiblichen Fusses zur Vorstellung des Ge-
tretenwerdens und anderen Akten der Demüthigung.
Wenn also in anderen Fällen von Schuhfetischismus der
Frauenschuh allein als Erreger sexueller Begierden erscheint , so
lässt sich wohl annehmen, dass in solchen Fällen masochistische
Motive latent geblieben sind. Die Idee des Getretenwerdens etc.
bleibt in der Tiefe des Unbewussten , und die Vorstellung des
Schuhes allein, des Mittels zu solchen Dingen, taucht im Bewusst-
sein auf. Fälle, welche sonst ganz unerklärlich blieben, finden so
Masochismus. 131
eine genügende Aufklärung. Es handelt sich hier um larvirten
Masochismus , und dieser dürfte stets als unbewusstes Motiv anzu-
nehmen sein, wenn nicht ausnahmsweise die Entstehung des Feti-
schismus . aus einer Association von Vorstellungen bei Gelegenheit
eines bestimmten Erlebnisses nachweisbar ist, wie im Falle der
Beob. 85 u. 86.
Derartige Fälle von Trieb zu Frauenschuhen ohne bewusstes
Motiv und ohne nachweisbare Entstehung sind aber geradezu zahl-
los *). Als Beispiele mögen hier drei Fälle angeführt werden.
Beobachtung 63. Cleriker, 50 Jahre alt. Derselbe erscheint zeit-
weise in Prostitutionshäusern unter dem Vorwand, ein Zimmer im Hause zu
miethen, lässt sich in ein Gespräch mit einer Puella ein, wirft lüsterne Blicke
nach ihren Schuhen, zieht ihr einen aus, osculatur et mordet caligam libidine
captus; ad genitalia denique caligam premit, eiaculat semen semineque eiacu-
lato axillas pectusque terit, kommt aus seiner wollüstigen Ekstase zu sich,
bittet die Besitzerin des Schuhs um die Gnade, ihn einige Tage behalten zu
dürfen, und bringt dann ihn höflich dankend nach der bedungenen Zeit zurück.
(Cantarano, „La Psichiatria", V, p. 205.)
Beobachtung 64. Stud. Z., 23 Jahre alt, stammt aus belasteter Familie.
Schwester war gemüthskrank, Bruder litt an Hysteria virilis. Pat. seit Kindes-
beinen sonderbar, hat häufig hypochondrische Verstimmungen. Taed. vitae,
fühlt sich zurückgesetzt. Bei einer Consultation wegen „Gemüthsleiden" finde
ich einen höchst verschrobenen, belasteten Menschen mit neurasthenischen
und hypochondrischen Symptomen. Der Verdacht auf Masturbation bestätigt
sich. Pat. gibt interessante Enthüllungen bezüglich seiner Vita sexualis. Im
Alter von 10 Jahren fühlte er sich mächtig vom Fuss eines Kameraden an-
gezogen. Mit 12 Jahren habe er für Damenfüsse zu schwärmen begonnen. Es
war ihm ein wonniges Gefühl, in ihrem Anblick zu schwelgen. Mit 14 Jahren
begann er zu masturbiren, indem er sich dabei einen hübschen Damenfuss
dachte. Von nun an begeisterte er sich für die Füsse seiner 3 Jahre älteren
Schwester. Auch die Füsse anderer Damen, sofern sie ihm sympathisch waren,
wirkten sexuell erregend. Am Weibe interessirte ihn nur der Fuss. Der Ge-
danke an sexuellen Verkehr mit einem Weibe erweckte ihm Ekel. Noch-nie-
mak hatte er Coitus versucht. Vom 12. Jahre ab empfand er nie mehr ein
Interesse für den Fuss männlicher Individuen. Die Art der Bekleidung des
weiblichen Fusses ist ihm gleichgültig, entscheidend ist, dass die Persönlichkeit
ihm sympathisch erscheint. Der Gedanke, die Füsse Prostituirter zu gemessen,
sei ihm ekelhaft. Seit Jahren ist er verliebt in die Füsse seiner Schwester.
Wenn er nur der Schuhe dieser gewahr werde, errege dieser Anblick mächtig
*) Mit dem Fussfetischismus hängt es offenbar zusammen, dass einzelne
derartige Individuen den Coitus, der sie nicht befriedigt oder den zu leisten
sie nicht im Stande sind, durch Tritus membri inter pedes mulieris ersetzen.
132 Paraesthesia sexualis.
die Sinnlichkeit. Ein Kuss, eine Umarmung der Schwester habe nicht diese
Wirkung. Sein Höchstes sei, den Fuss eines sympathischen Weibes zu um-
fassen, zu küssen. Dann komme es sofort unter lebhaftem Wollustgefühl zur
Ejaculation. Oft trieb es ihn, mit einem Schuh der Schwester seine Genitalien
zu berühren, jedoch vermochte er bisher diesen Drang zu beherrschen, zumal
da er seit 2 Jahren (in Folge vorgeschrittener reizbarer genitaler Schwäche)
schon beim blossen Anblick des Fusses ejaculirte. Von den Angehörigen
erfährt man, dass Pat. eine „lächerliche Bewunderung" für die Füsse seiner
Schwester habe, so dass diese ihm aus dem Wege gehe und sich bemühe,
ihre Füsse vor dem Pat. zu verbergen. Pat. empfindet seinen perversen
sexuellen Drang als krankhaft und ist peinlich davon berührt, dass seine
schmutzigen Phantasien gerade den Fuss der Schwester zum Gegenstand haben.
Er weiche der Gelegenheit aus, wie er nur könne, suche sich durch Mastur-
bation zu helfen, wobei ihm, gleichwie bei Traumpollutionen, Damenfüsse in
der Phantasie vorschweben. Werde aber der Drang zu mächtig, so könne er
nicht widerstehen, des Anblicks des Fusses der Schwester theilhaftig zu werden.
Gleich nach der Ejaculation empfinde er lebhaften Aerger, wieder schwach
gewesen zu sein. Seine Neigung zum Fuss der Schwester habe ihn unzählige
schlaflose Nächte gekostet. Er wundere sich oft, dass er seine Schwester
noch gerne haben könne. Obwohl es ihm recht sei, dass diese ihre Füsse vor
ihm verberge, sei er oft sehr irritirt darüber, dass er dadurch um seine
Pollution komme. Pat. betont, dass er sonst sittlich sei, was auch seine An-
gehörigen bestätigen.
Beobachtung 65. S. in New-York ist des Strassenraubes angeklagt.
In der Ascendenz zahlreiche Fälle von Irresein, auch Vaters Bruder und Vaters
Schwester sind geistig abnorm. Mit 7 Jahren zweimal heftige Hirnerschütterung.
Mit 13 Jahren Sturz von einem Balkon. Im 14. Jahre bekam S. heftige An-
fälle von Kopfweh. Zugleich mit diesen Anfällen oder unmittelbar darauf
sonderbarer Antrieb, die Schuhe weiblicher Familienglieder, meist nur einen,
zu entwenden und in irgend einem Winkel zu verbergen. Zur Rede gestellt,
läugnet er jeweils oder behauptet, sich der Sache nicht zu erinnern. Das
Gelüste nach Schuhen war unbesiegbar, kehrte alle 3 — 4 Monate wieder. Ein-
mal machte er einen Versuch, einen Schuh vom Fusse eines Dienstmädchens
zu entwenden, ein andermal hatte er seiner Schwester einen Schuh aus dem
Schlafzimmer entwendet. Im Frühjahr wurden zwei Damen auf offener Strasse
die Schuhe von den Füssen gerissen. Im August verliess S. in der Frühe sein
Haus, um an sein Geschäft als Buchdrucker zu gehen. Einen Augenblick
darauf entriss er einem Mädchen auf der Strasse einen Schuh, entfloh, lief in
seine Officin, wurde dort wegen Strassenraubs verhaftet. Er behauptet, von
seiner That nicht viel zu wissen, es sei wie ein Blitz beim Anblick des Schuhs
in ihn gefahren, dass er dessen bedürfe, wozu, wisse er nicht. Er habe in
einem Zustand von Unbesinnlichkeit gehandelt. Der Schuh befand sich, wie
richtig angegeben, in seinem Rocke. In der Haft war er geistig so erregt,
dass man Ausbruch von Irrsinn befürchtete. Entlassen, stahl er seiner Frau.
während sie schlief, wieder Schuhe. Sein moralischer Charakter, seine Lebens-
weise wai-en untadelhaft. Er war ein intelligenter Arbeiter, nur schnell
folgende unregelmässige Beschäftigung machte ihn confus und unfähig zur
Masochismus. 133
Arbeit. Freisprechung (Nichols, Americ. J. J. 1859), Beck, Medical juris-
prud. 1860 vol. I, p. 732.
Dr. Pascal hat op. cit. noch einige ganz ähnliche Beobach-
tungen, und viele andere sind mir durch Collegen und Patienten
zugekommen.
Anhang: Die Koprolagnie.
i
Im Anschluss an die geschilderten Erscheinungsformen des
Masochismus muss noch einer scheusslichen Perversion gedacht werden,
die insofern eine Beziehung zur vorausgehenden bietet, als der
Charakter der Handlungen die grösste Selbstdemüthigung x) aufweist
und darin offenbar auch eine sexuelle Befriedigung gefunden wird.
Aber die Fälle sind dadurch complicirt, dass durch eine perverse
Betonung von normaliter mit höchstem Ekel betonten Geruchs-
und Geschmacksvorstellungen hier die lebhaftesten Lustgefühle her-
vorgerufen werden, wobei die Vita sexualis mächtig miterregt wird
und der Perverse zu Orgasmus und selbst Ejaculation gelangt. Man
könnte diese Erscheinung Koprolagnie nennen und sie als eine Com-
plication des Masochismus auffassen, dem ja an und für sich das
Gefühl des Unterworfenseins unter den Willen einer Person des anderen
Geschlechts genügt, und bei welchem, ohne die erwähnte Complication,
das ästhetische Gefühl im Allgemeinen gewahrt und die angestrebte
wollüstig betonte Situation ganz symbolisch oder ideell bleiben
kann. Dass diese Koprolagnie aber Beziehungen zum Masochismus
hat, ergibt sich klar aus der bisherigen Casuistik, und für manche
Fälle hat es den Anschein, als ob dieser in seiner eigentlichen Be-
deutung dem pervertirten Individuum unbewusst bleibt und nur der
Trieb zu ekelhafte*} Dingen ins Bewusstsein tritt. Es muss des-
halb offene Frage bleiben, ob es eine selbständige Perversion im
Sinne der Koprolagnie gibt.
Interessant ist die Analogie mit dem Sadismus, bei welchem
ebenfalls durch perverse Betonung von eklen Geschmacks- und Ge-
*) Die Analogie mit den Excessen religiöser Schwärmerei ist selbst hier
noch vorhanden. Die religiöse Schwärmerin Antoinette Bouvignon de la Porte
mischte ihre Speisen mit Koth, um sich zu kasteien. (Zimmermann, op.
cit. p. 124.) Die beatificirte Marie Alacoque leckte, um sich zu „mortificiren",
mit der Zunge die Dejectionen von Kranken auf und saugte an deren mit
Geschwüren bedeckten Zehen.
134 Paraesthesia sexualis.
ruchsvorstellungen mit Lustgefühlen Erscheinungen im Sinne des
Vampyrismus und der Anthropophagie (vgl. p. 63 Fall Bichel,
Menesclou, s. Beob. 18. 19. 20. 22) möglich sind. Ein zutreffendes
Beispiel von Masochismus in Combination mit Koprolagnie und
contr. Sexualempfindung ist Beob. 114 der 8. Auflage. Der Gegen-
stand derselben schwelgt nicht bloss im Gedanken, Sklave des
geliebten Mannes zu sein, und verweist in dieser Hinsicht auf
Sacher-Masoch's „Venus im Pelz", sed etiam sibi fingit amatum
poscere ut crepidas sudore diffluentes olfaciat ejusque stercore ves-
catur. Deinde narrat, quia non habeat, quae confingat et exoptet,
eorum loco suas crepidas sudore infectas olfacere suoque stercore
vesci, inter quae facta pene errecto se voluptate perturbari semen-
que ejaculari.
Ein typischer Fall ist die folgende Beobachtung.
Beobachtung 66. Herr Z., 24 Jahre, Beamter aus Russland, stammt
von neuropathischer Mutter und psychopathischem Vater. Z. ist ein intelli-
genter, feinfühliger, normal gebauter Mensch von gefälligem Aeusseren und
feinen Manieren; schwere Krankheiten hat er nicht überstanden. Er behauptet,
von Kindesbeinen auf nervös zu sein, gleich seiner Mutter, hat neuropathisches
Auge und empfindet in der letzten Zeit cerebral-asthenische Beschwerden. Er
klagt bitter über eine Perversion seiner Vita sexualis, die ihn oft ganz ver-
zweifelt mache, ihm jegliche Selbstachtung raube und geeignet sei, ihn Doch
zum Selbstmord zu bringen.
Der Alp, welcher auf ihm laste, sei ein unnatürliches Gelüste nach
Mictio mulieris in os suum, das ihn ziemlich regelmässig alle 4 Wochen heim-
suche. Gefragt nach der Entstehung dieser Perversion, theilt er folgende
interessante, weil genetisch wichtige Thatsachen mit. Als er 6 Jahre alt war,
traf es sich zufällig, dass er in einer gemischten Knaben-Mädchenschule einem
neben ihm sitzenden kleinen Mädchen cum manu sub podicem fuhr. Er
empfand daran ein grosses Wohlbehagen, wiederholte gelegentlich diese Hand-
lung mit dem gleichen Erfolg. Die Erinnerung an solche angenehme Situationen
spielte von nun an eine gewisse Rolle in seiner Phantasie.
Puerum decem annos agens serva educatrix libidine mota ad corpus
suum appressit et digitum ei in vaginam introduxit. Quum postea fortuitu
digito nasum tetigit, odore ejus valde delectatus fuit.
Im Anschluss an das mit ihm von dem Weibe begangene Unzuchtsdelict
entwickelte sich bei ihm nun die mit einer Art Wollust betonte Vorstellung,
gefesselt inter femora mulieris cumbere, coactus ut dormiat sub ejus podice
et ut bibat ejus urinam.
Vom 13. Jahr an treten diese Phantasien ganz zurück. Mit 15 Jahren
erster Coitus, mit 16 Jahren zweiter, ganz normal und ohne solche Vorstel-
lungen.
Deficiente pecunia et magna libidine perturbatus masturbatione eam
satiabat.
Masochismus. 135
Mit 17 Jahren kamen die perversen Vorstellungskreise wieder. Sie wurden
immer mächtiger und von nun an vergebens bekämpft.
Mit dem 19. Jahr erlag er ihrem Antrieb. Quum mulier quaedam in
os ei minxit, maxima voluptate affectus est. Er coitirte dann mit dem feilen
Weibe. Seither kam über ihn regelmässig alle 4 Wochen der Drang, diese
Situation zu wiederholen.
Hatte er seinem perversen Drang genügt, so schämte er sich vor sich
selber und empfand grossen Ekel. Zu Ejaculation kam es in der Folge dabei
nur ausnahmsweise, jedoch hatte er mächtige Erection und Orgasmus und
befriedigte sich dann, wenn es nicht zur Ejaculation gekommen war, durch
den Coitus.
In der Zwischenzeit seiner übermässig und impulsiv sich geltend machen-
den Antriebe fühlte er sich vollkommen frei von derartigen perversen Gedanken,
aber auch von ideellem Masochismus. Ebenso wenig ergaben sich fetischistische
Beziehungen. Die Libido ist intervallär eine geringe und wird in normaler
Weise, ohne Hinzutreten der perversen Vorstellungskreise, befriedigt. Es geschah
ihm wiederholt, dass er, wenn der Drang zur Wiederholung des perversen
Aktes ihn heimsuchte, vom Lande viele Stunden weit nach der Hauptstadt
reisen musste, um jenem zu fröhnen.
Wiederholt versuchte der feinfühlige, sein krankhaftes Gelüste selbst
verabscheuende Kranke seinem Drange zu widerstehen, aber vergeblich, da
qualvolle Unruhe, Angst, Zittern, Schlaflosigkeit dann unerträglich wurden
und er um jeden Preis seiner psychischen Spannung durch die erlösende Be-
friedigung seines Dranges ledig werden musste. Dies erreichte er jeweils
sofort mit der Folgegebung, aber dann kamen wieder die Selbstvorwürfe und
die Selbstverachtung bis zu bedenklichem Taed. vitae. Durch diese seelischen
Kämpfe ist der Unglückliche neuerlich recht neurasthenisch geworden und
klagt über Gedächtnissschwäche, Zerstreutheit, geistige Unfähigkeit, Kopfdruck.
Seine letzte Hoffnung ist, dass es ärztlicher Kunst gelinge, ihn von seinem
schrecklichen Gelüste zu befreien und ihn vor ihm selber sittlich zu rehabilitiren.
Epikrise: Mit 6 Jahren wollüstige Betonung eines bei dem Alter des
Individuums an und für sich indifferenten Aktes.
Mit 10 Jahren wollüstig betonte, jedenfalls perverse Geruchswahrnehmung.
Entwicklung von bisher latenten masochistischen Vorstellungen, mit
specieller Directive durch mit 6 und 10 Jahren erhaltene perverse Eindrücke.
Intermission durch normalen Coitus.
Durch Abstinenz und Masturbation, vielleicht auch Pubertätseinflüsse
wiedererwachte sexuelle Perversion.
DieBe in der Folge als impulsive, periodisch wiederkehrende, wollüstig
betonte (bei genügend erregbarem Ejaculationscentrum), dem Coitus äquivalente
Koprolagnie.
Intervallär normale Vita sexualis.
Hierher gehören weitere Fälle Cantarano's 1. c. (mictio, in einem
anderen Falle gar defaecatio puellae ad linguam viri ante actum), Geniessen
von nach Fäces riechendem Confect, um potent zu sein; femer folgender,
gleichfalls von einem Arzte mir mitgetheilter Fall:
136 Paraesthesia sexualis.
Beobachtung 67. Ein im höchsten Grade decrepider russischer Fürst
Hess sich von seiner Maitresse, die sich über ihn, ihm den Rücken wendend,
setzen musste, auf die Brust defäciren, und regte nur auf diese Weise die
Reste seiner Libido an.
Ein Anderer soutenirt eine Maitresse in aussergewöhnlich glänzender
Weise mit der ihr auferlegten Verpflichtung, ausschliesslich Marzipan zu essen.
Ut libidinosus fiat et eiaculare possit excrementa femiuae ore excipit. — Ein
brasilianischer Arzt berichtete mir über mehrere zu seiner Kenntniss gekommene
Fälle von Defaecatio feminae in os viri.
Derartige Fälle kommen überall vor und durchaus nicht selten. Alle
möglichen Secrete, Speichel, Nasenschleim, selbst Ohrenschmalz werden in
diesem Sinne benützt, mit Begierde verschlungen, oscula ad nates und selbst
ad anum gegeben. (Dr. Moll op. cit. p. 135 berichtet Gleiches von Conträr-
sexualen.) Das perverse Gelüste, den Cunnilingus activ auszuüben, welches
weit verbreitet ist, dürfte auch häufig in solchen Antrieben seine Wurzel haben.
Hierher gehört offenbar auch der scheussliche Fall von Cantarano.
„La Psichiatria" Jahrg. V, p. 207, in welchem dem Coitus Morsus et succio an
den möglichst lange nicht gewaschenen Zehen der Puella vorausgehen, ferner
der von mir in der 8. Aufl. dieses Buches berichtete analoge (Beobachtung 68).
Stefanowski (Archives de l'Anthropologie criminelle 1892, Bd. VII)
kennt einen alten russischen Kaufmann, qui valde delectatus fuit bibendo ea
quae puellae lupanarii jusso suo in vas spuerunt.
Beobachtung 68. W., 45 Jahre, belastet, war schon mit 8 Jahren
der Masturbation ergeben. A decimo sexto anno libidines suas bibendo recentem
feminarum urinam satiavit. Tanta . erat voluptas urinam bibentis ut nee aliquid
olfaceret nee saperet, haec faciens. Nach dem Trinken empfand er jedesmal
Ekel, Uebelbefinden und fasste die besten Vorsätze, derlei künftig bleiben zu
lassen. — Ein einziges Mal hatte er gleichen Genuss beim Trinken des Urins
von einem 9jährigen Knaben, mit dem er einmal Fellatio getrieben hatte.
Pat. leidet an epileptischer Geistesstörung. (Pelanda, Archivio di Psichiatria X,
fasc. 3-4.)
Hierher gehören noch ältere Fälle, welche schon Tardieu (Etüde
medico-legale sur les attentats aux moeurs p. 206) an senilen Persönlichkeiten
beobachtet hat. Er schildert als „Renifleurs", „qui in secretos locos nimirum
theatrorum posticos convenientes quo complures feminae ad micturiendum
festinant, per nares urinali odore excitati, illico se invicem polluunt."
Einzig in dieser Hinsicht sind die „Stercoraires", von denen Taxil (La
Prostitution contemporaine) berichtet.
c) Masochismus des Weibes.
Beim Weibe ist die willige Unterordnung unter das andere
Geschlecht eine physiologische Erscheinung. In Folge seiner pas-
siven Rolle bei der Fortpflanzung und der von jeher bestehenden
socialen Zustände sind für das Weib mit der Vorstellung geschlecht-
Masochismus. 137
licher Beziehungen überhaupt die Vorstellungen der Unterwerfung
regelmässig verbunden. Sie bilden sozusagen die Obertöne, welche
die Klangfarbe weiblicher Gefühle bestimmen.
Der Kenner der Culturgeschichte weiss, in welchem Verhält-
nisse der absoluten Unterwerfung das Weib von jeher bis zu relativ
hohen Culturzuständen gehalten wurde x) , und ein aufmerksamer
Beobachter des Lebens kann heute noch leicht erkennen, wie die
Gewöhnung unzähliger Generationen, im Verein mit der passiven
Rolle, welche die Natur dem Weibe zugewiesen hat, diesem Ge-
schlechte eine instinktive Neigung zur freiwilligen Unterordnung
unter den Mann angebildet hat; er wird bemerken, dass von den
Frauen ein stärkeres Betonen der üblichen Galanterie höchst ab-
geschmackt gefunden, ein Abweichen davon nach der Seite eines
herrischen Benehmens zwar mit lautem Tadel, aber oft mit heim-
lichem Behagen aufgenommen wird 2). Unter dem Firniss unserer
Salonsitten ist überall der Instinkt der Frauendienstbarkeit er-
kennbar.
So liegt es nahe, den Masochismus überhaupt als eine patho-
logische Wucherung specifisch weiblicher psychischer Elemente an-
zusehen, als krankhafte Steigerung einzelner Züge des weiblichen
psychischen Geschlechtscharakters, und seine primäre Entstehung
bei diesem Geschlechte zu suchen (s. unten Anm. zu p. 148).
Als feststehend kann aber wohl angenommen werden, dass
eine Neigung zur Unterordnung unter den Mann (die ja als er-
worbene zweckmässige Einrichtung, als Anpassungserscheinung an
sociale Thatsachen gelten kann) beim Weibe bis zu einem gewissen
Grade als normale Erscheinung sich vorfindet.
Dass es unter solchen Umständen nicht öfter zur „Poesie"
symbolischer Unterwerfungsakte kommt, hat seinen Grund theil-
*) Die Rechtsbücher des frühesten Mittelalters gaben dem Manne das
Tödtungs-, die des späten noch das Züchtigungsrecht über sein Weib. Von
letzterem wurde auch in höheren Ständen ausgiebig Gebrauch gemacht (vergl.
Schultze, Das höfische Leben zur Zeit des Minnesangs, Bd. I, p. 163 f.).
Daneben steht unvermittelt der paradoxe Frauendienst des Mittelalters (s. unten
p. 147).
2) Vergl. den Ausspruch der Lady Milford in Schiller's »Kabale und
Liebe" :
„Wir Frauenzimmer können nur zwischen Herrschen und Dienen wählen
aber die höchste Wonne der Gewalt ist doch nur ein elender Behelf, wenn
uns die grössere Wonne versagt wird, Sklavinnen eines Mannes zu sein, den
wir lieben!" (II. Akt, 1. Scene.)
138 Paraesthesia sexualis.
weise darin, dass der Mann nicht die Eitelkeit des Schwachen be-
sitzt, der die Sachlage zur Ostentation seiner Macht benützen würde
(wie die Damen des Mittelalters gegenüber den minnedienenden
Rittern), sondern lieber reelle Vortheile herausschlägt. Der Barbar
lässt die Frau für sich ackern, der Culturphilister speculirt auf ihre
Mitgift. Beides trägt sie willig.
Fälle pathologischer Steigerung dieses Instincts der Unter-
ordnung im Sinne eines Masochismus des Weibes dürften oft genug
vorkommen, werden aber in ihren Entäusserungen durch die Sitte
reprimirt. Uebrigens thun viele junge Frauen nichts lieber, als vor
ihren Männern oder Geliebten auf den Knieen zu liegen. Bei allen
slavischen Völkern sollen sich die Weiber der niederen Stände un-
glücklich fühlen, wenn sie von ihren Männern nicht geprügelt
werden.
Ein ungarischer Gewährsmann theilt mir mit, dass die Bäue-
rinnen des Somogyer Comitates sich nicht eher von ihrem Manne
geliebt glauben, bevor sie nicht die erste Ohrfeige als Liebeszeichen
erhalten haben.
Beobachtungen von Masochismus des Weibes beizubringen,
dürfte dem ärztlichen Beobachter schwer fallen 1). Innere und äussere
Widerstände, Schamgefühl und Sittsamkeit stellen naturgemäss beim
Weibe dem Durchbruch perverser sexueller Triebe nach aussen fast
unüberwindliche Hindernisse entgegen.
So kommt es, dass bis jetzt nur folgende 2 Fälle von Maso-
chismus des Weibes wissenschaftlich constatirt sind.
Beobachtung 69. Fräulein X., 21 Jahre alt, stammt von einer
Mutter, die Morphinistin war und vor einigen Jahren an einem Nervenleiden
starb. Der Bruder dieser Frau ist gleichfalls Morphinist. Ein Bruder des
Mädchens ist Neurastheniker , ein anderer Masochist (wünscht von vornehmen
stolzen Damen mit einem Rohrstocke Schläge zu bekommen). Frl. X. war nie
schwer krank, leidet nur an gelegentlichen Kopfschmerzen. Sie hält sich für
körperlich gesund, zeitweise jedoch für toll, dann nämlich, wenn ihr die im
Folgenden zu schildernden Phantasien auftauchen.
Seit ihrer frühesten Jugend stellt sie sich vor, sie werde gestraft, ge-
züchtigt. Sie schwelgt förmlich in solchen Ideen. Es ist dann ihr sehnlich-
ster Wunsch, mit einem Rohr stocke derb gezüchtigt zu werden.
*) Seydel, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1893, H. 2, führt als Beispiel
von Masochismus Dieffenbach's Kranke an, die sich wiederholt den Arm
absichtlich luxirte, um bei der damals noch ohne Narkose ausgeführten Re-
duction wollüstige Empfindungen zu haben.
Masochismus. 139
Dieses Verlangen ist, wie sie meint, dadurch entstanden, dass ein Freund
ihres Vaters sie, als sie 5 Jahre alt war, einmal scherzweise über seine Kniee
legte und schlug. Seither sehnte sie Gelegenheiten herbei, gezüchtigt zu werden,
zu ihrem Bedauern erfüllte sich aber dieser Wunsch nie. In ihren Phantasien
stellt sie sich hülflos vor, gebunden. Die Worte „ Rohrstock ", „züchtigen"
versetzen sie in mächtige Erregung. Erst seit etwa einem Jahre bringt sie
ihre Ideen mit dem männlichen Geschlecht in Verbindung. Früher stellte sie
sich eine strenge Lehrerin oder auch blos eine Hand vor, die sie strafte.
Jetzt wünscht sie die Sklavin eines geliebten Mannes zu sein ; sie will, wenn
von ihm gezüchtigt, seinen Fuss küssen.
Dass diese Empfindungen sexueller Natur sind, weiss die Dame nicht.
Einige Stellen aus Briefen derselben sind im Sinne einer masochistischen
Auffassung des Falles charakteristisch :
„Früher dachte ich ernstlich daran, wenn diese Vorstellungen mich nicht
verlassen sollten, in ein Irrenhaus zu gehen. Zu diesem Gedanken kam ich,
als ich die Geschichte von dem Direktor einer Nervenheilanstalt bei Kassel las,
der eine Dame, nachdem er sie an den Haaren aus dem Bett gezogen, mit
Stock und Reitpeitsche gezüchtigt hatte. Ich hoffte in solchen Anstalten ebenso
behandelt zu werden, habe also doch unbewusst mir meine Phantasien mit
Männern vorgestellt. Am liebsten malte ich mir aber aus , dass mich rohe
ungebildete Wärterinnen unbarmherzig züchtigten."
„Ich liege in Gedanken vor ihm und er setzt mir einen Fuss auf den
Nacken, während ich den andren küsse. Ich schwelge in dieser Idee, bei
der er mich nicht schlägt, aber das wechselt so oft und ich male mir ganz
andere Scenen aus, bei denen er mich schlägt. Augenblicklich fasse ich die
Schläge auch als Beweis der Liebe auf — er ist erst sehr gut und zärtlich zu
mir und dann schlägt er mich — im Uebermass der Liebe. Ich bilde mir
ein, es wäre ihm die grösste Lust, mich zu schlagen — aus lauter Liebe. Sehr
oft habe ich schon geträumt, ich sei sein Sklave — merkwürdig! nie seine
Sklavin. So z. B. habe ich mir ausgemalt, er sei Robinson und ich der
Wilde, der ihm dient. Ich sehe mir oft das Bild an, auf welchem
Robinson dem Wilden den Fuss auf den Nacken setzt. Jetzt finde ich eine
Erklärung der oben erwähnten Vorstellung: Ich stelle mir das Weib im All-
gemeinen als niedrig vor, niedriger stehend als der Mann ; nun bin ich aber sonst
sehr stolz und lasse mich um keinen Preis beherrschen, daher kommt es, dass
ich auch als Mann denke (der von Natur stolz und hochstehend ist), dadurch
wird die Erniedrigung vor dem geliebten Mann um so grösser. Ich
stelle mir auch vor, dass ich seine Sklavin sei; das genügt mir aber nicht,
das kann am Ende jedes Weib — seinem Manne als Sklavin dienen!"
Beobachtung 70. Fräulein v. X., 35 Jahre alt, aus schwer belasteter
Familie, befindet sich seit einigen Jahren im Initialstadium einer Paranoia
persecutoria. Dieselbe ist hervorgegangen aus einer Neurasthenia cerebrospinalis,
deren Ausgangspunkt in sexueller Ueberreizung zu finden ist. Pat. war seit
ihrem 24. Jahre der Onanie ergeben. Durch nicht erfüllte Heirathserwartung
und heftige sinnliche Erregung ist sie zur Masturbation und psychischen
Onanie gelangt. Neigung zu Personen des eigenen Geschlechtes
kam niemals vor. Pat. gibt an: „Mit 6 — 8 Jahren trat bei mir das
140 Paraesthesia sexualis.
Gelüste auf, gegeisselt zu werden. Da ich niemals Schläge bekommen hatte,
auch nie dabei war, wie Jemand gegeisselt wurde, kann ich mir nicht erklären,
wie ich zu diesem sonderbaren Verlangen kam. Ich kann mir nur denken,
dass es mir angeboren ist. Ich hatte ein wahres Wonnegefühl bei diesen
Geisseivorstellungen und malte mir in meiner Phantasie aus, wie schön es
wäre, wenn eine Freundin mich geisselte. Nie kam mir die Phantasie, mich von
einem Manne geissein zu lassen. Ich schwelgte in der Idee und versuchte es
nie, zur wirklichen Ausführung meiner Phantasien zu gelangen. Vom 10. Jahre
ab verloren sich diese. — Erst als ich mit 34 Jahren Rousseau's „Confessions"
las, wurde mir klar, was meine Geisseigelüste zu bedeuten hätten und dass es
sich bei mir um dieselben krankhaften Vorstellungen handelte, wie bei Rous-
seau. Nie habe ich seit meinem 10. Jahre mehr derartige Anwandlungen
gehabt."
Epikrise. Dieser Fall ist durch seinen originären Charakter und durch
die Berufung auf Rousseau als Fall von Masochismus sicher anzusprechen. Dass
es eine Freundin ist, welche in der Phantasie als geisselnd vorgestellt wird, ist
einfach daraus zu erklären, dass die masochistischen Gelüste hier bei einem
Kinde ins Bewusstsein treten, bevor die psychische Vita sexualis ausgebildet ist
und der Trieb zum Manne auftritt. Conträre Sexualempfindung ist hier aus-
drücklich ausgeschlossen.
Versuch einer Erklärung des Masochismus.
Die Thatsachen des Masochismus gehören jedenfalls zu den
interessantesten im Gebiet der Psychopathologie. Ein Versuch ihrer
Erklärung hat zunächst zu ermitteln, was an dem Phänomen das
Wesentliche und was dabei das Unwesentliche ist.
Das Entscheidende beim Masochismus ist jedenfalls die Be-
gierde nach schrankenloser Unterwerfung unter den Willen der
Person des anderen Geschlechts (beim Sadismus umgekehrt die
schrankenlose Beherrschung dieser Person), und zwar unter Weckung
und Begleitung von mit Lust betonten sexuellen Gefühlen bis zur
Entstehung von Orgasmus. Nebensächlich ist nach allem Voraus-
gehenden die specielle Art und Weise, wie dieses Abhängigkeits-
oder Beherrschungsverhältniss bethätigt wird (s. oben), ob durch
blosse symbolische Akte, oder ob zugleich der Drang besteht, von
einer Person des anderen Geschlechts Schmerzen zu erdulden.
Während der Sadismus als eine pathologische Steigerung des
männlichen Geschlechtscharakters in seinem psychischen Beiwerk
Masochisinus. 141
angesehen werden kann, stellt der Masochismus eher eine krank-
hafte Ausartung specifisch weiblicher psychischer Eigentümlich-"
keiten dar.
Es gibt aber unzweifelhaft auch einen häufigen Masochismus
des Mannes, und dieser ist es, welcher meistens in die äussere Er-
scheinung tritt und die Casuistik fast ausschliesslich füllt. Die
Gründe hierfür sind oben p. 137 erwähnt.
Für den Masochismus lassen sich in der Welt der normalen
Vorgänge zwei Wurzeln nachweisen.
Erstens ist im Zustande der wollüstigen Erregung jede Ein-
wirkung, welche von der Person, von der der sexuelle Reiz aus-
geht, auf den Erregten ausgeübt wird, willkommen, unabhängig
von der Art dieser Einwirkung. Es liegt noch ganz im Bereiche
des Physiologischen, dass sanfte Püffe und leichte Schläge als Lieb-
kosungen aufgefasst werden x),
„like the lovers pinch which hurts and is desired"
(Shakespeare, Antonius und Kleopatra V, 2.)
Es liegt von hier aus nicht allzu ferne, dass der Wunsch, eine
recht starke Einwirkung von Seite des Consors zu erfahren, in
Fällen pathologischer Steigerung der Liebesinbrunst zu einem Ge-
lüste nach Schlägen u. dgl. führt, da der Schmerz das immer be-
reite Mittel einer starken körperlichen Einwirkung ist. So wie im
Sadismus der sexuelle Affect zu einer Exaltation führt, in welcher
die überschäumende psychomotorische Erregung in Nebenbahnen
überströmt, so entsteht hier im Masochismus eine Ekstase, in der
die steigende Fluth einer einzigen Empfindung jeden von der ge-
liebten Person kommenden Einfluss begierig verschlingt und mit
Wollust überschwemmt.
Die zweite und wohl die mächtigere Wurzel des Masochismus
ist in einer weit verbreiteten Erscheinung zu suchen, welche zwar
schon in das Gebiet des ungewöhnlichen, abnormen, aber durchaus
noch nicht in das des perversen Seelenlebens fällt.
Ich meine hier die allverbreitete Thatsache, dass in unzähli-
gen, in den verschiedensten Variationen auftretenden Fällen ein
J) Hierzu findet sich ein Analogon in der niederen Thierwelt. Die
Lungenschnecken (Pulmonata Cuv.) besitzen in ihrem sogenannten „Liebespfeil"
— ein spitzes Kalkstäbchen, das in einer besonderen Tasche des Leibes liegt,
aber bei der Begattung hervorgestülpt wird — ein sexuelles Reizorgan , das
eigentlich seiner Beschaffenheit nach ein Schmerzerreger ist.
142 Paraesthesia sexualis.
Individuum in eine ganz ungewöhnliche, höchst auffällige Abhängig-
keit von einem anderen Individuum des entgegengesetzten Geschlechts
geräth bis zum Verlust jedes selbständigen Willens, eine Abhängig-
keit, welche den beherrschten Theil zu Handlungen und Duldungen
zwingt, die schwere Opfer am eigenen Interesse bedeuten und oft
genug gegen Sitte und Gesetz Verstössen.
Diese Abhängigkeit ist aber von den Erscheinungen des nor-
malen Lebens nur durch die Intensität des Geschlechtstriebes, der
hier im Spiele ist, und das geringe Mass der Willenskraft, die ihm
das Gleichgewicht halten soll, verschieden, also nur intensiv ver-
schieden, nicht qualitativ, wie es die Erscheinungen des Masochis-
mus sind.
Ich habe diese Thatsache der abnormen, aber noch nicht per-
versen Abhängigkeit eines Menschen von einem anderen des ent-
gegengesetzten Geschlechts, welche Thatsache, namentlich vom foren-
sischen Standpunkte aus betrachtet, hohes Interesse bietet, mit dem
Namen „geschlechtliche Hörigkeit" bezeichnet l), weil die dar-
aus hervorgehenden Verhältnisse durchaus den Charakter der Un-
freiheit tragen. Der Wille des herrschenden Theils gebietet über
den des unterworfenen Theils wie der des Herrn über den des
Hörigen 2).
Diese „geschlechtliche Hörigkeit" ist, wie gesagt, eine aller-
dings auch psychisch abnorme Erscheinung. Sie beginnt eben da,
wo die äussere Norm, das von Gesetz und Sitte vorgezeichnete
Mass der Abhängigkeit eines Theils vom anderen oder beider von
einander, in Folge individueller Besonderheit in der Intensität an
sich normaler Motive verlassen wird. Die geschlechtliche Hörig-
*) Vgl. des Verfassers Abhandlung „über geschlechtliche Hörigkeit und
Masochismus" in den psychiatrischen Jahrbüchern Bd. X, p. 169 ff., wo dieser
Gegenstand ausführlich und namentlich vom forensischen Gesichtspunkte aus
behandelt wurde.
2) Die Ausdrücke Sklave und Sklaverei, obwohl sie oft auch in solchen
Situationen bildlich gebraucht werden, wurden hier vermieden, weil dies Lieb-
lingsausdrücke des Masochismus sind, von welchem die „Hörigkeit" durchaus
unterschieden werden muss.
Der Ausdruck „Hörigkeit" darf auch nicht verwechselt werden mit
J. St. Mill's „Hörigkeit der Frau". Was Mill mit diesem Ausdrucke be-
zeichnet, sind Gesetze und Sitten, sociale und historische Erscheinungen. Hier
aber sprechen wir von jedesmal individuell besonders motivirten Thatsachen,
die mit jeweils geltenden Sitten und Gesetzen geradezu im Widerspruch
stehen. Auch ist hier von beiden Geschlechtern die Rede.
Masochismus. 143
keit ist aber keine perverse Erscheinung; die hier wirkenden Trieb-
federn sind dieselben, die auch die gänzlich innerhalb der Norm
verlaufende psychische Vita sexualis — wenn auch mit minderer
Heftigkeit — in Bewegung setzen.
Furcht, den Genossen zu verlieren, der Wunsch, ihn immer
zufrieden, liebenswürdig und zum geschlechtlichen Verkehr geneigt
zu erhalten, sind hier die Motive des unterworfenen Theiles. Ein
ungewöhnlicher Grad von Verliebtheit, der — namentlich beim
Weibe — durchaus nicht immer einen ungewöhnlichen Grad von
Sinnlichkeit bedeutet, und Charakterschwäche andererseits sind die
einfachen Elemente des ungewöhnlichen Vorganges *).
Das Motiv des anderen Theiles ist Egoismus, der freien Spiel-
raum findet.
Die Erscheinungen der Geschlechtshörigkeit sind in ihren
Formen mannigfaltig und die Zahl der Fälle ist eine ungemein
grosse 2). In geschlechtliche Hörigkeit gerathene Männer finden
wir im Leben bei jedem Schritt. Hierher gehören bei den Ehe-
männern die sogenannten Pantoffelhelden, namentlich die alternden
Männer, die junge Frauen heirathen und das Missverhältniss der Jahre
und körperlichen Eigenschaften durch unbedingte Nachgiebigkeit
gegen alle Launen der Gattin auszugleichen trachten; hierher sind
zu zählen auch ausserhalb der Ehe die überreifen Männer, die ihre
letzten Chancen in der Liebe durch ungemessene Opfer zu ver-
bessern trachten; hierher aber auch Männer jeden Alters, die, von
heisser Leidenschaft für ein Weib ergriffen, bei ihm auf Kälte und
Berechnung stossen und auf harte Bedingungen capituliren müssen;
verliebte Naturen, die von notorischen Dirnen sich zur Eheschlies-
*) Das Wichtigste dabei ist vielleicht, dass sich durch die Gewöhnung
an den Gehorsam eine Art Mechanismus der ihres Motives unbewussten, mit
automatischer Sicherheit functionirenden Folgsamkeit ausbilden kann, der mit
Gegenmotiven gar nicht zu kämpfen hat, weil er unter der Schwelle des Be-
wusstseins liegt und von dem herrschenden Theil wie ein todtes Instrument
gehandhabt werden kann.
2) In allen Literaturen spielt naturgemäss die Geschlechtshörigkeit eine
Rolle. Ungewöhnliche, aber nicht perverse Erscheinungen des Seelenlebens
sind ja für den Dichter ein dankbares und erlaubtes Gebiet. Die berühmteste
Schilderung männlicher Hörigkeit ist wohl des Abbe Prevost „Manon Lescault".
Eine vorzügliche Schilderung weiblicher Hörigkeit bietet George Sand's „ Leone
Leoni*. Hierher gehört vor Allem Kleist's „Käthchen von Heilbronn", von
ihm selbst als Gegenstück zur (sadistischen) „Penthesilea" bezeichnet, hierher
Halm's „Griseldis" und viele ähnliche Dichtungen.
144 Paraesthesia sexualis.
sung bewegen lassen; Männer, die, um Abenteurerinnen nachzu-
laufen, Alles im Stich lassen und ihre Zukunft aufs Spiel setzen,
Gatten und Väter, die Weib und Kind verlassen und das Einkom-
men der Familie einer Hetäre zu Füssen legen.
So zahlreich aber auch die Beispiele männlicher Hörigkeit
sind, so muss doch jeder halbwegs unbefangene Beobachter des
Lebens zugeben, dass sie an Zahl und Gewicht der Fälle gegen
die weiblicher Hörigkeit weit zurückbleiben. Dies ist leicht er-
klärlich. Für den Mann ist die Liebe fast stets nur Episode, er
hat daneben viele und wichtige Interessen; für das Weib hingegen
ist sie der Hauptinhalt des Lebens, bis zur Geburt von Kindern
fast immer das erste , nach dieser noch oft das erste , immer min-
destens das zweite Interesse. Was aber noch viel wichtiger ist:
der Mann, den der Trieb beherrscht, löscht ihn leicht in den Um-
armungen, zu denen er unzählige Gelegenheiten findet. Das Weib
aber ist in den höheren Ständen, wenn überhaupt mit einem Mann
versehen, an diesen Einen gefesselt, und selbst in den unteren
Classen der Gesellschaft sind noch immer bedeutende Hindernisse
der Polyandrie vorhanden.
Deshalb bedeutet für ein Weib der Mann, den sie
hat, das ganze Geschlecht. Seine Wichtigkeit für sie wächst
dadurch ins Ungeheure. Dazu kommt endlich noch, dass das nor-
male Verhältniss, wie es Gesetz und Sitte zwischen Mann und Weib
geschaffen haben, weit davon entfernt ist, ein paritätisches zu sein
und an und für sich schon überwiegende Abhängigkeit der Frau
genug enthält. Um so tiefer hinab in die Hörigkeit werden sie die
Concessionen drücken, welche sie dem Geliebten macht, um seine
ihr fast unersetzliche Liebe zu erhalten, und um so höher steigen die
unersetzlichen Ausprüche der Männer, die entschlossen sind, ihren
Vortheil auszubeuten und eine Industrie aus der Ausbeutung der
grenzenlosen weiblichen Opferfähigkeit machen.
Dahin gehört der Mitgiftjäger, der sich mit hohen Summen
dafür bezahlen lässt, die leicht geschaffenen Illusionen einer Jung-
frau über ihn zu zerstören, der planmässig vorgehende Verführer
und Compromittirer der Frauen, der auf Lösegelder und Schweig-
gelder speculirt, der goldverschnürte Krieger und der Musiker mit
der Löwenmähne, die rasch ein gestammeltes „Dich oder den Tod!"
hervorzulocken wissen, das eine Anweisung auf bezahlte Schulden
und gute Versorgung ist, dahin gehört aber auch der Soldat in
der Küche, dessen Liebe die Köchin mit Liebe plus Sättigungs-
Masochismus. 145
mittein aufwiegt, der Geselle, der die Ersparnisse der Meisterin,
die er geheirathet hat, vertrinkt, und der Zuhälter, der die Pro-
stituirte, von der er lebt, mit Schlägen zwingt, täglich eine be-
stimmte Summe für ihn zu verdienen. Das sind nur einige der
unzähligen Formen der Hörigkeit, in welche das Weib durch sein
hohes Liebesbedürfniss und die Schwierigkeiten seiner Lage so leicht
gezwungen wird.
Das Gebiet der „geschlechtlichen Hörigkeit" musste hier eine
kurze Darstellung finden, da in ihm offenbar der Mutterboden zu
sehen ist, aus dem die Hauptwurzel des Masochismus entspriesst.
Die Verwandtschaft beider Erscheinungen des psychischen Ge-
schlechtslebens springt sofort in die Augen. Sowohl Hörigkeit als
Masochismus bestehen ja wesentlich in einer unbedingten Unter-
werfung des von der Abnormität Ergriffenen unter eine Person des
anderen Geschlechts und in seiner Beherrschung durch dieselbe 1).
Die beiden Erscheinungen sind aber auch wieder klar gegen
einander abzugrenzen, und zwar sind sie nicht graduell, sondern
qualitativ verschieden.
Geschlechtliche Hörigkeit ist keine Perversion, sie ist nichts
Krankhaftes ; die Elemente , aus denen sie entsteht , Liebe und
Willensschwäche, sind nicht pervers, nur ihr gegenseitiges Stärke-
verhältniss erzeugt das abnorme Resultat, das den eigenen Inter-
essen, oft Sitten und Gesetzen, so sehr widerspricht. Das Motiv,
aus welchem der unterworfene Theil hier handelt und die Tyrannei
erduldet, ist der normale Trieb zum Weibe (resp. Manne), dessen
Befriedigung der Preis seiner Hörigkeit ist. Die Akte des unter-
worfenen Theiles, in denen die geschlechtliche Hörigkeit zum Aus-
druck kommt, geschehen auf Befehl des herrschenden Theiles, um
seiner Habsucht etc. zu dienen. Sie haben für den unterworfenen
Theil gar keinen selbstständigen Zweck; sie sind für ihn nur Mittel,
den eigentlichen Endzweck, den Besitz des herrschenden Theiles, zu
erlangen oder zu bewahren. Endlich ist Hörigkeit eine Folge der
Liebe zu einem bestimmten Individuum; sie tritt erst ein, wenn
diese Liebe erwacht ist.
') Es können Fälle vorkommen, in welchen die geschlechtliche Hörig-
keit sich in denselben Akten ausspricht, die dem Masochismus geläufig sind.
Wenn rohe Männer ihre Weiber prügeln und diese aus Liebe dulden, ohne
jedoch nach Schlägen Sehnsucht zu haben, so liegt eine Trugform der Hörig-
keit vor, die Masochismus vortäuschen kann.
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 10
146 Paraesthesia sexualis.
Ganz anders verhält sich dies Alles beim Masochismus, welcher
entschieden krankhaft, eine Perversion ist. Das Motiv für die Hand-
lungen und Duldungen des unterworfenen Theiles ist hier der Reiz,
den die Tyrannei als solche für ihn hat. Er mag daneben den
herrschenden Theil auch zum Coitus begehren; jedenfalls ist sein
Trieb auch auf die Akte, die zum Ausdruck der Tyrannei dienen,
als auf directe Objecte der Befriedigung gerichtet. Diese Akte, in
denen der Masochismus zum Ausdruck kommt, sind für den unter-
worfenen Theil nicht Mittel zum Zweck, wie bei der Hörigkeit,
sondern selbst Endzweck. Endlich tritt beim Masochismus die
Sehnsucht nach Unterwerfung a priori auf vor jeder Neigung zu
einem bestimmten Gegenstand der Liebe.
Der Zusammenhang zwischen Hörigkeit und Masochismus, der
bei der Uebereinstimmung beider Erscheinungen im äusseren Effect
der Abhängigkeit bei allem Unterschied der Motivirung wohl an-
zunehmen ist, der Uebergang der Abnormität in die
Perversion, dürfte sich zunächst auf folgendem Wege voll-
ziehen.
Wer sich durch lange Zeit im Zustande der geschlechtlichen
Hörigkeit befindet, wird disponirt sein, leichtere Grade des Maso-
chismus zu acquiriren. Die Liebe, welche gern Tyrannei um des
Geliebten willen erträgt, wird dann direct Liebe zur Tyrannei.
Wenn die Vorstellung des Tyrannisirtwerdens lange mit
der lustbetonten Vorstellung des geliebten Wesens eng
associirt war, so geht endlich die Lustbetonung auf die
Tyrannei selbst über, und es ist Perversion eingetreten.
Das ist der Weg, auf dem Masochismus gezüchtet werden kann1).
x) Es ist sehr interessant und beruht auf der im äusseren Effecte wesent-
lich übereinstimmenden Natur von Hörigkeit und Masochismus, dass zur Illu-
strirung der ersteren ganz allgemein im Scherz und bildlich Ausdrücke ge-
braucht ■werden, wie „Sklaverei, Kettentragen, gefesselt sein, die Geissei über
Jemand schwingen, an den Triumphwagen spannen, zu Füssen liegen, Pan-
toffelheld sein" etc., lauter Dinge, die für den Masochisten in buchstäblicher
Ausführung den Gegenstand seiner perversen Begierde bilden.
Solche Bilder werden bekanntlich im täglichen Leben oft gebraucht
und sind geradezu trivial geworden. Sie stammen aus der dichterischen Sprache.
Die Dichtung hat zu allen Zeiten, innerhalb des Gesammtbildes heftiger Liebes-
leidenschaft das Moment der Abhängigkeit vom Gegenstande , der sich ver-
sagen kann oder muss, erkannt, und die Thatsachen der „Hörigkeit" boten
sich ihr stets zur Beobachtung dar. Indem der Dichter Ausdrücke, wie die
oben angeführten, wählt, um die Abhängigkeit des Verliebten mittelst sinnen-
Masochismus. 147
Ein leichter Grad von Masochismus kann also wohl aus der
Hörigkeit entstehen, erworben werden. Der echte, vollkommene,
tiefwurzelnde Masochismus mit seiner glühenden Sehnsucht nach
Unterwerfung von frühester Jugend an , wie die von dieser Per-
version Ergriffenen ihn schildern, ist aber angeboren.
Die Erklärung für die Entstehung der — immerhin seltenen —
Perversion des ausgebildeten Masochismus dürfte sich am richtigsten
in der Annahme finden lassen, dass dieselbe aus der viel häufiger
auftretenden Abnormität der „geschlechtlichen Hörigkeit" hervor-
geht, indem hie und da diese Abnormität durch Vererbung
auf ein psychopathisches Individuum in der Weise über-
geht, dass sie dabei zur Perversion wird. Dass eine leichte
Verschiebung der hier in Betracht kommenden psychischen Elemente
diesen Uebergang bewerkstelligen kann, wurde oben erörtert. Was
aber für mögliche Fälle des erworbenen Masochismus die associirende
Gewohnheit thun kann , das thut für die sicher constatirten Fälle
des originären Masochismus das variirende Spiel der Vererbung.
Es tritt dabei kein neues Element zur Hörigkeit hinzu, sondern es
entfällt eines, das Raisonnement, das Liebe und Abhängigkeit ver-
bindet und damit eben Hörigkeit von Masochismus, Abnormität von
fälliger Bilder anschaulich zu machen, geht er genau denselben Weg wie
der Masochist, der, um sich selbst seine Abhängigkeit (die ihm aber Selbst-
zweck ist) sinnenfällig vorzustellen, solche Situationen verwirklicht.
Schon die Dichtung des Alterthums gebraucht für die Geliebte den
Ausdruck „domina" und verwendet gerne das Bild des in Fesselnschlagens
(z. B. Horaz Od. IV. 11). Von da bis in unsere Zeiten (vgl. Grillparzer
Ottokar IV. Akt: „Herrschen ist gar süss, so süss fast als gehorchen") ist die
galante Dichtung aller Jahrhunderte von dergleichen Phrasen und Bildern er-
füllt. Interessant ist auch die Geschichte des Wortes „ Maitresse ".
Die Dichtung wirkt aber auf das Leben zurück. Auf diesem Wege mag
der höfische Frauendienst des Mittelalters entstanden sein, der mit seiner
Verehrung der Frauen als „Herrinnen" in der Gesellschaft und im einzelnen
Liebesverhältniss , seiner Uebertragung des Lehns- und Vasallenverhältnisses
auf die Beziehung zwischen dem Ritter und seiner Dame, seiner Unterwerfung
unter alle weibliche Launen, seinen Liebesproben und Gelübden, seiner Ver-
pflichtung zum Gehorsam gegen alle Gebote der Damen, als eine systematische
Ausgestaltung verliebter „Hörigkeit" erscheint. Einzelne extreme Erscheinungen,
wie z. B. die Leiden des Ulrich von Lichtenstein oder des Pierre Vidal im
Dienste ihrer Damen, oder das Treiben der Bruderschaft der „Galois" in
Frankreich, welche ein Martyrium der Liebe suchten und sich allerlei Qualen
unterzogen, tragen aber schon deutlich masochistischen Charakter und zeigen
auch hier den naturgemässen Uebergang einer Erscheinung in die andere.
148 Paraesthesia sexualis.
Perversion unterscheidet. Es ist ganz natürlich, dass sich nur das
Triebartige vererbt.
Dieser Uebergang der Abnormität in Perversion bei der erb-
lichen Uebertragung wird insbesondere dann leicht eintreten können,
wenn die psychopathische Veranlagung des Nachkommen den an-
deren Faktor des Masochismus liefert, das, was oben seine erste
Wurzel genannt wurde, die Neigung geschlechtlich hyper'ästhetischer
Naturen , alle Einwirkungen , die vom geliebten Gegenstande aus-
gehen, der geschlechtlichen Einwirkung zu assimiliren.
Aus diesen beiden Elementen — aus der „geschlechtlichen
Hörigkeit" einerseits, aus jener oben erörterten Disposition zur ge-
schlechtlichen Ekstase, welche selbst Misshandlungen mit Lust-
betonung appercipirt, andererseits — aus diesen beiden Elementen,
deren Wurzeln sich bis in das Gebiet physiologischer Thatsachen
zurückverfolgen lassen, entsteht auf einem geeigneten psycho-
pathischen Boden der Masochismus, indem die sexuelle Hyperästhesie
allerlei zuerst physiologisches, dann nur abnormes Beiwerk der Vita
sexualis zur krankhaften Höhe der Per Version steigert 1).
Jedenfalls stellt auch der Masochismus als angeborene sexuelle
Perversion ein functionelles Degenerationszeichen im Rahmen der
(fast ausschliesslich) erblichen Belastung dar und auch für meine
J) Erwägt man, dass, wie oben dargethan, , geschlechtliche Hörigkeit"
eine Erscheinung ist, die beim weiblichen Geschlechte viel häufiger und in
stärkeren Graden zu beobachten ist als beim männlichen, so drängt sich der
Gedanke auf, dass der Masochismus (wenn auch nicht immer, so doch in der
Regel) ein Erbstück der „Hörigkeit" weiblicher Vorfahren sei. Er tritt so
in eine — wenn auch sehr entfernte — Beziehung zur conträren Sexual-
empfindung, als Uebergang einer eigentlich dem Weibe zukommenden Per-
version auf den Mann. Diese Auffassung des Masochismus als eine rudimentäre
conträre Sexualempfindung, als eine theilweise Effeminatio, welche hier nur die
secundären Geschlechtscharaktere der psychischen Vita sexualis ergriffen hat
(eine Auffassung, die noch in der 6. Auflage dieser Schrift unbedingteren Aus-
druck gefunden hat) , findet eine Stütze in den Aussagen der Patienten der
obigen Beobachtung 42 und 48, welche weitere Züge von Effeminatio an sich
tragen, auch beide ein relativ älteres Weib , von dem sie aufgesucht und er-
obert würden, als ihr Ideal bezeichnen.
Es muss jedoch hervorgehoben werden, dass „Hörigkeit" auch innerhalb
der männlichen Vita sexualis eine nicht geringe Rolle spielt und Masochismus
mithin auch ohne einen solchen Uebergang weiblicher Elemente auf den Mann
erklärt werden kann. Auch ist hier zu bedenken, dass sowohl Masochismus
als Sadismus, sein Gegenstück, bei conträrer Sexualempfindung in regelloser
Combination vorkommen.
Masochismus. 149
Fälle von Masochismus und Sadismus bestätigt sich diese klinische
Erfahrung.
Dass die eigenartige, psychisch anomale Richtung der Vita
sexualis, als welche der Masochismus erscheint, eine originäre
Abnormität darstellt und nicht so zu sagen gezüchtet bei einem
Disponirten aus passiver Flagellation sich entwickelt, auf dem Wege
der Ideenassociation , wie Rousseau und Binet annehmen, ist wohl
leicht zu erweisen.
Es ergibt sich das aus den zahlreichen, ja die Majorität
bildenden Fällen, in welchen die Flagellation beim Masochisten
niemals aufgetaucht ist, in welchem der perverse Trieb sich aus-
schliesslich auf rein symbolische, die Unterwerfung ausdrückende
Handlungen ohne eigentliche Schmerzzufügung richtet.
Dies lehrt die ganze hier mitgetheilte Casuistik von Beobach-
tung 50 an.
Es ergibt sich aber das gleiche Resultat, nämlich dass die
passive Flagellation nicht der Kern sein kann, an den sich alles
Uebrige angesetzt hat, auch aus der näheren Betrachtung solcher
Fälle, in denen diese eine Rolle spielt, wie oben Beobachtung 42
und 48.
Besonders lehrreich in dieser Beziehung ist die obige Beobach-
tung 49, denn hier kann nicht an eine sexuell stimulirende Wir-
kung einer in der Jugend erlittenen Strafe gedacht werden. Ueber-
haupt ist in diesem Falle die Anknüpfung an eine frühe Erfahrung
nicht möglich, da die hier den Gegenstand des sexuellen Haupt-
interesses bildende Situation mit einem Kinde gar nicht ausführ-
bar ist.
Endlich ergibt sich überzeugend die Entstehung des Maso-
chismus aus rein psychischen Elementen aus der Confrontirung des-
selben mit dem Sadismus (s. unten).
Dass passive Flagellation so häufig beim Masochismus vor-
kommt, erklärt sich einfach daraus, dass sie das stärkste Ausdrucks-
mittel für das Verhältniss der Unterwerfung ist.
Ich wiederhole es als entscheidend für die Differenzirung von
einfacher passiver Flagellation und Flagellation auf Grund maso-
chistischen Verlangens, dass im ersteren Fall die Handlung Mittel
zum Zweck des dadurch möglich werdenden Coitus oder wenigstens
einer Ejaculation, im letzteren Fall Mittel zum Zweck der seelischen
Befriedigung im Sinne masochistischer Gelüste ist.
Wie wir oben gesehen haben, unterwerfen sich Masochisten
150 Paraesthesia sexualis.
aber auch allen möglichen anderen Misshandlungen und Qualen, bei
denen von reflectorischer Erregung von Wollust nicht die Rede sein
kann. Da solche Fälle zahlreich sind, so muss untersucht werden,
in welchem Verhältniss bei derartigen Akten (und bei der gleich-
werthigen Flagellation der Masochisten) Schmerz und Lust zu ein-
ander stehen. Auf Grund der Aussage eines Masochisten ergibt sich
folgendes :
Das Verhältniss ist nicht derart, dass einfach, was sonst
physischen Schmerz verursacht, hier als physische Lust empfunden
wird, sondern, der in der masochistischen Ekstase Befindliche fühlt
keinen Schmerz, sei es, weil er vermöge seines Affectzustandes
(gleich dem Soldaten im Kampfgewühl) die physische Einwirkung
auf seine Hautnerven überhaupt nicht appercipirt, oder weil (wie
bei dem religiösen Märtyrer und Ekstatiker) der Ueberfüllung des
Bewusstseins mit Lustgefühlen gegenüber die Vorstellung der Miss-
handlung nur wie ein blosses Zeichen, ohne ihre Schmerzqualität,
in ihm stehen bleibt.
Es findet im zweiten Falle gewissermassen eine Uebercompen-
sation des physischen Schmerzes durch die psychische Lust statt
und nur die Differenz bleibt als restliche psychische Lust im Be-
wusstsein. Diese erfährt überdies einen Zuwachs, indem, sei es
durch reflectorisch spinalen Einfluss, sei es durch eigenartige Be-
tonung der sensiblen Eindrücke im Sensorium, eine Art Hallucination
körperlicher Wollust entsteht, mit ganz vager Localisation der hinaus
projicirten Empfindung.
Analoges scheint in den Selbstpeinigungen religiöser Schwärmer
(Fakire , heulende Derwische , religiöse Flagellanten) vorhanden zu
sein, nur mit anderem Inhalt der das Lustgefühl erzeugenden Vor-
stellungen. Auch hier wird die Vorstellung der Marter ohne ihre
Schmerzqualität appercipirt, indem das Bewusstsein von der mit
Lust betonten Vorstellung erfüllt ist, durch die Marter Gott zu
dienen, Sünden zu tilgen, den Himmel zu verdienen u. s. w.
Masochismus und Sadismus. 151
Masochismus und Sadismus.
Das vollkommene Gegenstück des Masochismus ist der Sadis-
mus. Während jener Schmerzen leiden und sich der Gewalt unter-
worfen fühlen will, geht dieser darauf aus, Schmerz zuzufügen und
Gewalt auszuüben.
Der Parallelismus ist ein vollständiger. Alle Akte und Situa-
tionen, die vom Sadisten in der activen Rolle ausgeführt werden,
bilden für den Masochisten in der passiven Rolle den Gegenstand
der Sehnsucht. Bei beiden Perversionen schreiten diese Akte von
rein symbolischen Vorgängen zu schweren Misshandlungen fort.
Selbst der Lustmord, in welchem der Sadismus gipfelt, findet, wie
sich aus der obigen Beobachtung 51 ergibt — allerdings nur als
Phantasma — sein passives Gegenstück. Beide Perversionen können
unter günstigen Umständen neben einer normalen Vita sexualis ein-
hergehen; bei beiden kommen die Akte, in welchen sie sich ent-
laden, entweder als präparatorische, vor dem Coitus, oder vicariirend
an dessen Stelle vor 1).
Die Analogie betrifft aber nicht bloss die äussere Erschei-
nung ; sie erstreckt sich auch auf das innere Wesen beider Perver-
sionen. Beide sind als originäre Psychopathien seelisch abnormer,
insbesondere mit psychischer Hyperaesthesia sexualis, aber nebenher
in der Regel auch noch mit anderen Abnormitäten behafteter In-
dividuen zu betrachten; für jede dieser beiden Perversionen lassen
sich je zwei constitutive Elemente nachweisen, welche in psychischen
Thatsachen innerhalb der physiologischen Breite ihre Wurzel
haben.
Für den Masochismus liegen diese Elemente, wie oben dar-
gethan, darin, dass 1. im sexuellen Affect jede vom Consors aus-
gehende Einwirkung, an sich, unabhängig von der Art dieser Ein-
*) Beide haben natürlich mit ethischen und ästhetischen Gegenmotiven
in Foro interno zu kämpfen. Nach der Ueberwindung dieser geräth aber der
Sadismus bei seinem Hinaustritt in die Aussenwelt sofort mit dem Strafgesetz
in Conflict. Mit dem Masochismus ist dies nicht der Fall, was eine grössere
Häufigkeit masochistischer Akte zur Folge hat. Dagegen treten der Verwirk-
lichung der letzteren der Selbsterhaltungstrieb und die Scheu vor Schmerzen
entgegen. Die practischc Bedeutung des Masocbismus liegt nur in seinen Be-
ziehungen zur psychischen Impotenz , während die des Sadismus ausserdem
und hauptsächlich auf forensischem Gebiete liegt.
152 Paraesthesia sexualis.
Wirkung, mit Lust betont wird, was bei bestehender Hyperaesthesia
sexualis so weit gehen kann, jede Schmerzempfindung zu übercom-
pensiren; 2. dass die, aus an sich nicht perversen seelischen Ele-
menten hervorgehende, „geschlechtliche Hörigkeit" unter patho-
logischen Bedingungen zu einem perversen lustbetonten Unter-
werfungsbedürfniss unter das andere Geschlecht werden kann, was
— wenn auch die Vererbung von weiblicher Seite her durchaus
nicht nothwendig angenommen werden muss — sich als eine patho-
logische Entartung eigentlich dem Weibe zukommender Charaktere,
des dem Weibe physiologischen Unterordnungsinstinkts darstellt.
Dementsprechend finden sich für die Erklärung des Sadismus
ebenfalls zwei constitutive Elemente, deren Ursprung sich bis ins
Gebiet des Physiologischen zurückverfolgen lässt: 1. dass im sexuellen
Affect, gewissermassen als psychische Mitbewegung, ein Drang ent-
stehen kann , auf den Gegenstand der Begierde auf jede mögliche,
möglichst starke Weise einzuwirken, was bei sexuell hyperästhetischen
Individuen zu einem Drang der Schmerzzufügung werden kann;
2. dass die aktive Rolle des Mannes, seine Aufgabe, das Weib zu
erobern, unter pathologischen Bedingungen zu einem Verlangen
nach schrankenloser Unterwerfung werden kann.
So stellen sich Masochismus und Sadismus als vollkommene
Gegensätze dar. Dem entspricht auch, dass den von diesen Per-
versionen ergriffenen Individuen als ihr Ideal die entgegengesetzte
Perversion beim anderen Geschlechte erscheint, wie z. B. aus Be-
obachtung 42 und 48 und auch aus Rousseau's Confessions her-
vorgeht.
Die Gegenüberstellung des Masochismus und Sadismus kann
aber auch dazu dienen, die Möglichkeit der Annahme vollständig
zu beseitigen, als ob der Erstere ursprünglich aus der reflectorischen
Wirkung der passiven Flagellation entsprungen sei und alles Weitere
das Product hieran anknüpfender Ideenassociationen wäre, wie Binet
bei der Erklärung von Rousseau's Fall meint und wie Rousseau
selbst glaubte (vgl. oben p. 118). Bei der activen Misshandlung
nämlich, welche für den Sadisten den Gegenstand des sexuellen
Gelüstes bildet, findet ja gar keine Reizung der eigenen sen-
siblen Nerven durch den Misshandlungsakt statt, so dass hier an
dem rein psychischen Charakter des Ursprungs dieser Perversion
nicht gezweifelt werden kann. Sadismus und Masochismus sind
einander aber so verwandt, entsprechen einander in allen Stücken
so sehr, dass der Analogieschluss vom Einen auf den Anderen
Masochismus und Sadismus. L 153
auch in diesem Falle gestattet sein muss und schon allein genügen
würde, den rein psychischen Charakter des Masochismus zu erweisen.
Nach der oben ausgeführten Gegenüberstellung aller Elemente
und Erscheinungen des Masochismus und Sadismus, und als Resume
aller beobachteten Fälle, erscheinen Lust am Schmerzzufügen und
Lust am zugefügten Schmerz nur wie zwei verschiedene Seiten des-
selben seelischen Vorgangs, dessen Primäres und Wesentliches das
Bewusstsein activer, bezw. passiver Unterwerfung ist, wobei der
Verbindung von Grausamkeit und Wollust nur eine secundäre psycho-
logische Bedeutung innewohnt. Grausame Handlungen dienen zum
Ausdruck dieser Unterwerfung, einmal, weil sie das stärkste Mittel
zum Ausdrucke dieses Verhältnisses sind, dann, weil sie überhaupt
die stärkste Einwirkung darstellen, die ein Mensch neben und ausser
dem Coitus auf einen anderen ausüben kann.
Sadismus und Masochismus sind Resultate von Associationen,
in dem Sinne, in dem alle complicirteren Erscheinungen des Seelen-
lebens Associationen sind. Das psychische Leben besteht ja, nach
Production der einfachsten Elemente des Bewusstseins , nur aus
Associationen und Dissociationen dieser Elemente.
Es ist aber das Hauptergebniss der hier ausgeführten Ana-
lysen, dass Sadismus und Masochismus nicht etwa Resultate zu-
fälliger Associationen sind, durch den Eintritt eines occasionellen
Moments, einer zeitlichen Coincidenz erworben , sondern Resultate
von Associationen, die durch eine auch unter normalen Umständen
vorhandene Nachbarschaft präformirt sind, unter bestimmten Be-
dingungen aber — sexuelle Hyperästhesie — leicht wirklich ge-
knüpft werden. Ein abnorm gesteigerter Geschlechtstrieb wächst
nicht bloss in die Höhe, sondern auch in die Breite. Auf Nachbar-
gebiete übergreifend vermischt er seinen Inhalt mit dem ihrigen
und vollzieht so die pathologische Association, welche das Wesen
dieser beiden Perversionen ist *).
*) v. Schrenck-Notzing, welcher bei der Erklärung aller Perversionen
das occasionelle Moment in den Vordergrund stellt und der Annahme durch
äussere Umstände erworbener Perversionen, vor der originärer Veranlagung
den Vorzug gibt, weist den Erscheinungen des Sadismus und Masochismus
(nach seiner Terminologie „active und passive Algolagnie") diesbezüglich eine
Mittelstellung an. Diese Erscheinungen seien allerdings in einem Theil der
Fälle nur durch congenitale Anlage zu erklären ; in einem anderen Theil der
Fälle aber müsse Erwerbung durch eine zufällige Coincidenz offenbar die
Hauptrolle spielen (op. cit. p. 179).
154 Paraesthesia sexualis.
Natürlich muss dies nicht immer so sein und es gibt Fälle
von Hyperästhesie ohne Perversion. Fälle von reiner Hyperaesthesia
sexualis — wenigstens solche von auffallender Intensität — scheinen
aber seltener als die Fälle von Perversion.
Interessant, aber der Erklärung einige Schwierigkeiten bietend,
sind die Fälle, in denen Sadismus und Masochismus in einem Indi-
viduum gleichzeitig auftreten. Solche Fälle sind z. B. Beob. 49
der 7. Auflage, ferner Beob. 48 und 55 der gegenwärtigen, be-
sonders aber Beob. 29, aus welch' letzterer hervorgeht, dass es
gerade die Vorstellung der Unterwerfung ist, welche sowohl activ
als passiv den Kern des perversen Gelüstes bildet. Dergleichen ist
in mehr oder minder deutlichen Spuren auch sonst noch mehrfach
zu beobachten. Allerdings ist die eine der beiden Perversionen
immer bei weitem vorwiegend.
Wegen dieses entschiedenen Ueberwiegens der einen Perver-
sion und ihres späteren Auftretens in solchen Fällen, ist wohl an-
zunehmen, dass nur die eine, vorwiegende Perversion originär,
die andere im Laufe der Zeit erworben ist. Die Vorstellungen
Der Beweis für letztere Behauptung wird casuistisch geführt. Es wer-
den zwei Beobachtungen der Psychopathia sexualis (Beob. 29 und 37 der
7. Aufl.) wiedergegeben, und daran gezeigt, dass hier auch das zufällige
Zusammentreffen des Anblicks eines blutenden Mädchens oder eines geprü-
gelten Mitschülers mit einer starken Regung des Geschlechtstriebs zur Er-
klärung der von nun an bestehenden pathologischen Association genügen
könne.
Dem gegenüber ist aber doch als entscheidend in Betracht zu ziehen,
dass frühe und starke Regungen des Geschlechtstriebs bei jedem hyperästhe-
tischen Individuum mit vielen, bei der Gesammtheit derselben mit unzähligen
heterogenen Dingen zeitlich zusammengefallen sind, während sich die patho-
logischen Associationen immer nur an wenige bestimmte (sadistische
und masochistische) Dinge knüpfen. Unzählige Schüler haben während der
Grammatik- und Mathematikstunden, im Klassenzimmer und an geheimen
Orten, sich sexuellen Erregungen und Befriedigungen hingegeben, ohne dass
daraus perverse Associationen entstanden wären.
Hieraus folgt wohl mit Evidenz, dass der Anblick von Prügelscenen und
dergleichen eine vorhandene pathologische Association zwar aus ihrer Latenz
wecken, nicht aber eine solche entstehen lassen kann, ganz abgesehen davon,
dass es unter den unzähligen sich darbietenden Dingen nicht indifferente, son-
dern geradezu normaliter Unlust erregende sind, zu denen der erwachte Ge-
schlechtstrieb in Beziehung tritt.
Das hier Ausgeführte gilt auch gegenüber der Meinung Binet's, der
gleichfalls die hierher gehörigen Erscheinungen sämmtlich aus zufälligen Asso-
ciationen erklären will. Vergl. unten p. 159.
Masochismus und Sadismus. 155
der Unterwerfung und Misshandlung, im activen oder im passiven
Sinne mit intensiver Wollust betont, haben sich bei einem solchen
Individuum tief eingelebt. Gelegentlich versucht sich die Phantasie
auch einmal in demselben Vorstellungskreis, aber mit invertirter
Rolle. Es kann selbst zu Verwirklichungen dieser Inversion kommen.
Derartige Versuche in Phantasien und Handlungen werden aber
meistens, als der ursprünglichen Richtung inadäquat, bald wieder
aufgegeben.
Masochismus und Sadismus treten auch mit conträrer Sexual-
empfindung und zwar mit allen Formen und Stufen dieser Per-
version combinirt auf. Der conträr Sexuale kann sowohl Sadist
als Masochist sein. Vergleiche oben Beob. 47 der gegenwärtigen
und 49 (der 7. Auflage) und zahlreiche Fälle der unten folgenden
Casuistik der conträren Sexualempfindung.
Wo immer sich auf dem Boden einer neuropathischen Indivi-
dualität eine sexuelle Perversion entwickelt hat, kann die hierbei
stets anzunehmende sexuelle Hyperästhesie auch die Erscheinungen
des Masochismus und Sadismus her vortreiben, bald einzeln, bald beide
vereinigt, die eine aus der anderen hervorgehend. Masochismus und
Sadismus erscheinen so als Grundformen psychosexualer
Perversion, die auf dem ganzen Gebiete der Verirr ungen des
Geschlechtstriebes an den verschiedensten Stellen zu Tage treten
können 1).
') Jeder Versuch einer Erklärung der Thatsachen, sei es des Sadismus,
sei es des Masochismus, wird wegen des hier dargethanen engen Zusammen-
hangs beider Erscheinungen auch geeignet sein müssen, jeweils die andere
Perversion zu erklären. Dieser Forderung würde ein Versuch des Amerikaners
J. G. Kiernan eine Erklärung des Sadismus zu liefern (vid.: „Psychological
aspects of the sexual appetite" im „Alienist and Neurologist ", St. Louis, April
1891) genügen, und er möge aus diesem Grunde hier kurz erwähnt werden.
Kiernan, der für seine Ansicht in der anglo-amerikanischen Literatur
mehrere Vormänner hat, geht von der Ansicht mehrerer Naturforscher (Dal-
linger, Drystale, Rolph, Cienkowsky) aus, welche die sogenannte Conjugation,
einen Geschlechtsakt gewisser niederer Thiere, als Kannibalismus, als Ver-
schlingen des Partners auffassten. Er schliesst unmittelbar hieran die be-
kannten Thatsachen an, dass Krebse sich bei Gelegenheit der geschlechtlichen
Vereinigung Glieder vom Leibe reissen, Spinnen den Männchen dabei den
Kopf abbeissen und andere sadistische Akte brünstiger Thiere gegen den Con-
sors. Von hier geht er zum Lustmord und anderen wollüstig-grausamen Akten
bei Menschen über und nimmt an, Hunger und Geschlechtstrieb seien in ihrer
Wurzel identisch, der geschlechtliche Kannibalismus der niederen Thierwelt
156 Paraesthesia sexualis.
3) Verbindung der Vorstellung von einzelnen Körpertheilen oder
Kleidungsstücken des "Weibes mit Wollust. — Fetischismus.
Schon in den Betrachtungen über die Psychologie des nor-
malen Sexuallebens, welche dieses Werk einleiten (s. oben p. 18),
wurde dargethan, dass noch innerlich der Breite des Physiologischen,
die ausgesprochene Vorliebe, das besondere concentrirte Interesse
für einen bestimmten Körpertheil am Leibe der Personen des ent-
gegengesetzten Geschlechts, insbesondere für eine bestimmte Form
dieses Körpertheils, eine grosse psychosexuale Bedeutung gewinnen
kann. Ja es kann geradezu diese besondere Anziehungskraft be-
stimmter Formen und Eigenschaften auf viele , ja die meisten
Menschen als das eigentliche Princip der Individualisirung in der
Liebe angesehen werden.
Diese Vorliebe für einzelne bestimmte physische Charaktere
an Personen des entgegengesetzten Geschlechts — neben welcher
sich auch ebenso eine ausgesprochene Bevorzugung bestimmter
psychischer Charaktere constatiren lässt — habe ich in Anlehnung
an Binet (du Fetichisme dans l'amour, Revue philosophique 1887)
und Lombroso (Einleitung der italienischen Ausgabe der 2. Aufl.
dieses Buches) „Fetischismus" genannt, weil thatsächlich das
Schwärmen für und das Anbeten von einzelnen Körpertheilen (oder
selbst Kleidungsstücken) auf Grund sexueller Dränge vielfach an
die Verehrung von Reliquien, geweihten Gegenständen u. s. w. in
religiösen Culten erinnert. Dieser physiologische Fetischismus wurde
bereits oben p. 18 ff. ausführlich erörtert.
wirke in der höheren und beim Menschen nach, und Sadismus sei ein atavisti-
scher Rückschlag.
Diese Erklärung des Sadismus würde freilich auch den Masochismus
erklären ; denn wenn die Wurzel des geschlechtlichen Verkehrs in kannibalisti-
schen Vorgängen zu suchen ist, so führt hier sowohl der Sieg des einen Theils
als auch die Niederlage des andern zum Ziele der Natur, und auch ein Trieb,
das Opfer und der Unterliegende zu sein, wäre erklärt.
Es niuss aber hier eingewendet werden, dass die Basis des Raisonne-
ments ungenügend ist. Der höchst complicirte Vorgang der Conjugation
niederer Organismen, in welchen die Wissenschaft erst in den letzten Jahren
näher eingedrungen ist, kann eben durchaus nicht einfach als eine Verschlin-
gung eines Individuums durch ein anderes angesehen werden (vgl. Weismann,
die Bedeutung der sexuellen Fortpflanzung für die Selectionstheorie. Jena,
1886, pag. 51).
Fetischismus. 157
Es gibt jedoch auf psychosexualem Gebiet neben diesem
physiologischen noch einen unzweifelhaft pathologischen eroti-
schen Fetischismus, über welchen bereits eine reichhaltige Ca-
suistik vorliegt, und dessen Erscheinungen ein hohes klinisch-
psychiatrisches, unter Umständen auch forensisches Interesse bieten.
Dieser pathologische Fetischismus bezieht sich nicht allein auf be-
stimmte Körpertheile, sondern selbst auf leblose Gegenstände, welche
jedoch fast immer Theile der weiblichen Kleidung sind und damit
in naher Beziehung zum Körper des Weibes stehen.
Dieser pathologische Fetischismus schliesst sich in allmähligen
Uebergängen an den physiologischen an, so dass es (wenigstens für
den Körpertheil-Fetischismus) beinahe unmöglich ist, eine scharfe
Grenze zu ziehen, wo die Perversion beginnt. Dazu kommt noch,
dass das gesammte Gebiet des Körpertheil-Fetischismus eigentlich
nicht ausserhalb des Kreises der Dinge fällt, die normaliter als
Reize für den Geschlechtstrieb wirken, sondern innerhalb desselben.
Das Abnorme liegt hier nur darin, dass ein Theileindruck
vom Gesammtbilde der Person des anderen Geschlechts
alles sexuelle Interesse auf sich concentrirt, so dass da-
neben alle anderen Eindrücke verblassen und mehr oder
minder gleichgültig werden. Deshalb ist der Körpertheil-
Fetischist nicht als ein Monstrum per excessum zu betrachten, wie
z. B. der Sadist oder Masochist, sondern eher als ein Monstrum
per defectum. Nicht was auf ihn als Reiz wirkt, ist abnorm,
sondern eher das, was nicht als Reiz wirkt, die Einschränkung des
Gebietes sexuellen Interesses, die für ihn eingetreten ist. Freilich
pflegt dieses eingeengte sexuelle Interesse auf dem engeren Gebiet
mit um so grösserer, mit ganz abnormer Intensität aufzutreten.
Es würde sich wohl empfehlen, als Grenze des pathologischen
Fetischismus den Umstand anzunehmen, ob das Vorhandensein des
Fetisch conditio sine qua non für die Möglichkeit den Coitus zu
vollziehen ist, oder nicht. Aber die nähere Betrachtung der That-
sachen ergibt, dass diese Grenze eben nur scheinbar eine scharfe
ist. Es gibt so zahlreiche Fälle, in denen der Coitus trotz Ab-
wesenheit des Fetisch zwar noch möglich ist, aber eben ein unvoll-
kommener, erzwungener (oft mit Hülfe von Phantasiebildern, die
sich auf den Fetisch beziehen), besonders ein unbefriedigender und
erschöpfender ist, dass auch hier sich Alles bei näherer Betrachtung
der entscheidenden subjectiven, psychischen Sachlage in Ueber-
gänge auflöst, die einerseits zur blossen, noch physiologischen Vor-
158 Paraesthesia sexualis.
liebe, andererseits zur psychischen Impotenz in Abwesenheit des
Fetisch führen.
So ist es vielleicht besser, das Kriterium für das Pathologische
auf dem Gebiete des Körpertheil-Fetischismus auf ganz subjectivem,
psychischem Boden zu suchen. Die Concentration des sexuellen
Interesses auf einen bestimmten Körpertheil, welcher — das ist
hier hervorzuheben — nie eine directe Beziehung zum Sexus hat
(wie Mammae , äussere Genitalien) — führt die Körpertheil-
Fetischisten oft dahin, dass sie als eigentliches Ziel ihrer ge-
schlechtlichen Befriedigung nicht den Coitus betrachten, sondern
irgend eine Manipulation an dem betreffenden, als Fetisch wirk-
samen Körpertheil. Dieser verirrte Trieb kann nun wohl beim
Körpertheil-Fetischisten als das Kriterium des Krankhaften ange-
sehen werden, gleichgültig, ob dabei noch wirklicher Coitus mög-
lich ist oder nicht.
Der Gegenstands- oder Kleidungs-Fetischismus aber
kann wohl in allen Fällen als eine pathologische Erscheinung an-
gesehen werden, da sein Object ausserhalb des Kreises normaler
Reize für den Geschlechtstrieb fällt.
Auch hier besteht zwar in den Erscheinungen eine gewisse
äussere Uebereinstimmung mit Vorgängen der psychisch normalen
Vita sexualis ; der innere Zusammenhang und Sinn des pathologischen
Fetischismus ist aber ein ganz anderer. Auch auf dem Gebiete
der schwärmerischen Liebe eines psychisch nicht abnormen Menschen
können das Taschentuch, der Schuh, Handschuh, Brief, die Blume,
„die sie ihm gab", die Haarlocke u. s. w. Gegenstand abgöttischer
Verehrung sein, aber nur, weil sie ein Erinnerungszeichen an die
abwesende oder gestorbene geliebte Person darstellen, deren Ge-
sammtpersönlichkeit damit reproducirt wird. Der pathologische
Fetischist hat keine derartigen Beziehungen. Für ihn ist der Fetisch
der ganze Vorstellungsinhalt. Wo er desselben gewahr wird, tritt
die sexuelle Erregung ein und macht der Fetisch seine Wirkung
geltend a).
Pathologischer Fetischismus scheint nach aller bisherigen Er-
fahrung nur auf dem Boden der (meist hereditären) psychopathischen
x) Ganz anders ist der Fall in Zola's Therese Raquin, wo der betreffende
Mann die Stiefel der Geliebten mehrmals küsst, gegenüber jenen Schuh- und
Stiefelfetischisten , die beim Anblick eines jeden Stiefels an beliebiger Dame
oder auch ohne solche in wollüstige Ekstase gerathen bis zur Ejaculation.
Fetischismus. X59
Veranlagung oder bestehender psychischer Erkrankung vorzu-
kommen.
So kommt es, dass er nicht selten mit den anderen (originären)
Perversionen des Geschlechtssinns, welche demselben Boden ent-
stammen, combinirt erscheint. Bei conträr Sexualen, bei Sadisten
und Masochisten kommt Fetischismus in den verschiedensten Ge-
staltungen nicht selten vor. Ja, gewisse Formen des Körpertheil-
Fetischismus (Hand- und Fuss-Fetischismus) haben sogar mit den
zwei zuletzt genannten Perversionen wahrscheinlich mehr oder minder
dunkle Zusammenhänge (s. unten).
Beruht nun aber auch Fetischismus auf einer angeborenen,
allgemeinen psychopathischen Disposition, so ist doch diese Per-
version selbst, nicht wie die bisher behandelten in ihrem Wesen
originärer Natur; sie ist nicht fertig angeboren, wie wir wohl vom
Sadismus und Masochismus annehmen können.
Während in den bisher dargestellten Gebieten der sexuellen
Perversionen dem Forscher durchaus Fälle originären Charakters
entgegentraten, begegnet man hier durchaus erworbenen Fällen.
Abgesehen davon, dass beim Fetischismus die veranlassende Ge-
legenheit der Erwerbung oft nachweisbar ist, fehlen hier die
physiologischen Thatsachen, die auf dem Gebiete des Sadismus und
Masochismus durch eine allgemeine sexuelle Hyperästhesie auf die
Höhe einer Perversion gehoben werden und dort die Annahme
originären Ursprungs rechtfertigen. Es bedarf hier für jeden ein-
zelnen Fall noch eines Geschehnisses, das den Stoif der Perversion
liefert.
Es gehört allerdings — wie oben gesagt — zum physio-
logischen Geschlechtsleben, für dies und jenes an der Frau und um
sie zu schwärmen; aber gerade die Concentration des gesammten
sexuellen Interesses auf einen solchen Theileindruck ist hier das
Wesentliche und diese Concentration muss für jedes damit behaftete
Individuum einen individuellen Erklärungsgrund haben.
Man kann sich daher der Ansicht Binet's anschliessen, dass
im Leben eines jeden Fetischisten ein Ereigniss anzu-
nehmen ist, welches die Betonung gerade dieses einzigen
Eindrucks mit Wollustgefühlen determinirt hat. Dieses
Ereigniss wird in die früheste Jugend zurückzuversetzen sein und
in der Regel mit dem ersten Erwachen der Vita sexualis zusammen-
fallen. Dieses erste Erwachen ist mit irgend einem sexuellen Theil-
eindruck zusammengefallen (denn es sind immer Dinge, die zum
X60 Paraesthesia sexualis.
Weibe in irgend einer Beziehung stehen) und stempelt diesen für
die Dauer des ganzen Lebens zum Hauptgegenstand des sexuellen
Interesses. Die Gelegenheit, bei welcher die Association entstanden
ist, wird in der Regel vergessen. Nur das Resultat der Association
bleibt bewusst. Originär ist hier nur der allgemein zur Psycho-
pathie disponirte Charakter, die sexuelle Hyperästhesie solcher In-
dividuen l).
Wie die bisher behandelten Perversionen, so kann auch der
erotische (pathologische) Fetischismus sich äusserlich in den selt-
samsten unnatürlichen und selbst verbrecherischen Akten mani-
festiren : Befriedigung am Leibe des Weibes loco indebito, Diebstahl
und Raub von Gegenständen, die als Fetisch wirken, Polluirung
solcher etc. Es hängt auch hier von der Intensität des perversen
Triebes und der relativen Stärke der ethischen Gegenmotive ab, ob
und wie weit es zu dergleichen Akten kommt.
Diese perversen Akte der Fetischisten können, ebenso wie die
anderer geschlechtlich perverser Individuen, entweder die gesammte
äussere Vita sexualis allein ausmachen, oder neben dem normalen
geschlechtlichen Akt einhergehen, je nachdem die physische und
psychische Potenz, die Erregbarkeit für normale Reize noch mehr
oder minder erhalten ist. Im letzteren Falle dient nicht selten der
Anblick oder die Berührung des Fetisch als nothwendiger präpara-
torischer Akt.
*) Wenn dagegen Binet op. cit. behauptet, jede sexuelle Perversion,
ohne Ausnahme , beruhe auf einem solchen „Accident agissant sur un sujet
predispose (wobei unter dieser Prädisposition nur Hyperästhesie im Allgemeinen
verstanden wird), so ist eine solche Annahme für die anderen sexuellen Per-
versionen, ausserhalb des Fetischismus, wie schon oben p. 157 dargelegt wor-
den ist, weder erforderlich noch genügend. Es ist nicht abzusehen, wie auf
ein selbst sehr erregbares Individuum der Anblick der Züchtigung eines An-
deren gerade sexuell erregend wirken soll, wenn nicht die physiologische Nach-
barschaft von Wollust und Grausamkeit im übernormal erregbaren Individuum
zum originären Sadismus geworden ist. Aber auch die Associationen, auf
denen der erotische Fetischismus beruht, sind nicht ganz zufällige. Wie die
sadistischen und masochistischen Associationen durch die Nachbarschaft der
diesbezüglichen Elemente in der Psyche des Subjects präforrnirt sind, so ist
die Möglichkeit fetischistischer Association durch die Beschaffenheit der Ob-
jecte vorbereitet und dadurch leichter erklärlich. Es sind ja fast immer
Theileindrücke der weiblichen Gesammterscheinung (inclusive Kleidung) , um
die es sich hier handelt. Ganz zufällig entstandene fetischistische Associa-
tionen sind nur in wenigen im Weiteren speciell angeführten Fällen con-
statirt.
Fetischismus. 161
Die grosse praktische Wichtigkeit, welche den Thatsachen des
pathologischen Fetischismus zukommt, liegt nach dem Gesagten in
zwei Momenten.
Erstens ist der pathologische Fetischismus nicht selten eine
Ursache psychischer Impotenz1). Da der Gegenstand, auf welchem
das sexuelle Interesse des Fetischisten sich concentrirt, an und für
sich in keiner unmittelbaren Beziehung zum normalen Geschlechts-
akt steht, so geschieht es oft, dass der Fetischist durch seine Per-
version die Erregbarkeit für normale Reize einbüsst, oder wenigstens
den Coitus nur mittelst Concentration der Phantasie auf seinen
Fetisch leisten kann. Auch liegt in dieser Perversion und in der
Schwierigkeit ihrer adäquaten Befriedigung, gerade so wie bei den
anderen Perversionen des Geschlechtssinns, namentlich für jugend-
liche Individuen, und gerade für solche, welche in Folge ethischer
und ästhetischer Gegenmotive vor der Verwirklichung ihrer per-
versen Gelüste zurückschrecken , die beständige Verlockung zur
psychischen und physischen Onanie, welche wieder deletär auf Con-
stitution und Potenz zurückwirkt.
Zweitens ist der Fetischismus von grosser forensischer Be-
deutung. So wie der Sadismus zu Mord und Körperverletzung
ausarten kann, so kann der Fetischismus zum Diebstahl und selbst
zum Raub der betreffenden Gegenstände führen.
Der erotische Fetischismus hat zum Gegenstande entweder
einen bestimmten Körpertheil des entgegengesetzten Geschlechts,
oder ein bestimmtes Kleidungsstück desselben oder einen Stoff
der Bekleidung. (Es sind bis jetzt nur Fälle von pathologi-
schem Fetischismus des Mannes bekannt, deshalb ist hier nur
von weiblichen Körpertheilen und weiblichen Kleidungsstücken die
Rede.)
Danach zerfallen die Fetischisten in drei Gruppen.
*) Es kann als eine Art (psychischen) Fetischismus im weiteren Sinne
betrachtet werden, dass, was häufig geschieht, junge Ehemänner, die viel mit
Prostituirten verkehrt haben, sich der Keuschheit ihrer jungen Ehefrauen
gegenüber impotent sehen. Einer meiner Clienten war niemals potent seiner
jungen, schönen, züchtigen Frau gegenüber, weil er an die lascive Weise der
Prostituirten gewöhnt war. Versuchte er ab und zu einen Coitus bei Puellis,
so war er vollkommen potent. Einen ganz ähnlichen interessanten Fall be-
richtet H a m m o n d op. cit. p. 48 u. 49. Freilich spielen in derartigen Fällen
meistens schlechtes Gewissen und hypochondrische Angst vor Impotenz eine
grosse Rolle.
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. tj
162 Paraesthesia sexualis.
a) Der Fetisch ist ein Theil des weiblichen Körpers.
Wie es innerhalb des physiologischen Fetischismus besonders
das Auge, die Hand, der Fuss und das Haar des Weibes sind,
welche besonders häufig zum Fetisch werden, so sind es auch hier,
auf pathologischem Gebiete, meistens dieselben Körpertheile, welche
alleiniger Gegenstand des sexuellen Interesses geworden sind. Die
ausschliessliche Concentration des Interesses auf diese Theile, neben
denen alles Andere am Weibe verblassen und der sonstige sexuelle
Werth des Weibes auf Null sinken kann, so dass statt des Coitus
seltsame Manipulationen am Fetisch - Gegenstande zum Ziele der
Begierde werden — das ist es, was eben diese Fälle zu patholo-
gischen macht.
Beobachtung 71. (Binet, op. cit.) X., 34 Jahre alt, Gymnasial-
lehrer, hat in der Kindheit an Convulsionen gelitten. Mit 10 Jahren begann
er zu onaniren, unter wollüstigen Empfindungen, die sich an sehr sonderbare
Vorstellungen knüpften. Er schwärmte eigentlich für die Augen des Weibes;
da er aber durchaus sich auf irgend eine Art den Coitus vorstellen wollte und
in sexualibus gänzlich unwissend war, so kam er auf die Idee, um sich so
wenig wie möglich von den Augen zu entfernen, den Sitz der weiblichen Ge-
schlechtsorgane in die Nasenlöcher zu verlegen. Um diese Vorstellung dreht
sich von jetzt ab seine sehr lebhafte sexuelle Begierde. Er entwirft Zeich-
nungen, welche correcte griechische Profile von Frauenköpfen darstellen, aber
mit so weiten Nasenlöchern, dass die Immissio penis möglich wird.
Eines Tages sieht er im Omnibus ein Mädchen , in welchem er sein
Ideal zu erkennen glaubt. Er verfolgt es in dessen Wohnung, hält augen-
blicklich um dessen Hand an. Hin ausgewiesen, dringt er immer wieder ein,
bis er verhaftet wird.
X. hat niemals geschlechtlichen Umgang gehabt.
Sehr zahlreich sind die Handfetischisten. Noch nicht eigent-
lich pathologisch ist der folgende Fall. Er möge als ein Ueber-
gangsfall hier Platz finden.
Beobachtung 72. B. , aus neuropathischer Familie, sehr sinnlich,
geistig intakt, geräth beim Anblick einer jungen schönen Damenhand jeweils
in Entzücken und verspürt sexuelle Erregung bis zur Erection. Küssen und
Drücken der Hand ist ihm Seligkeit. Solange sie mit dem Handschuh bedeckt
ist, fühlt er sich unglücklich. Unter dem Vorwand, wahrzusagen, sucht er in
den Besitz solcher Hände zu gelangen. Der Fuss ist ihm gleichgültig. Sind
-die schönen Hände mit Ringen geziert, so erhöht dies seine Lust. Nur die
lebende, nicht die nachgebildete Hand macht ihm diese wollüstige Erregung.
Nur wenn er durch häufigen Coitus sexuell erschöpft ist, verliert die Hand
Fetischismus. 163
ihren sexuellen Reiz. Anfangs störte ihn das Erinnerungsbild von weiblichen
Händen selbst in der Arbeit. (Binet, op. cit.)
Bin et berichtet, dass solche Fälle von Schwärmerei für die
Hand des Weibes zahlreich sind.
Erinnern wir uns an dieser Stelle, dass nach Beob. 23 ein
Mann sich aus sadistischen Regungen, nach Beob. 45 aus maso-
chistischen für die Hand des Weibes begeistern kann. Solche Fälle
sind also mehrdeutig.
Damit soll aber durchaus nicht gesagt sein, dass sämmtliche
oder nur die meisten Fälle von Handfetischismus eine sadistische
oder masochistische Erklärung zulassen oder ihrer bedürfen.
Der folgende, ausführlich beobachtete, interessante Fall lehrt,
dass, trotzdem anfänglich ein sadistisches oder masochistisches Ele-
ment mit im Spiele zu sein scheint — zur Zeit der Reife des In-
dividuums und der Ausbildung der Perversion, diese von dergleichen
Elementen nichts enthält. Diese könnten allerdings im Laufe der
Zeit wieder weggefallen sein; aber die Annahme der Entstehung
des Fetischismus aus einer zufälligen Association genügt hier voll-
kommen.
Beobachtung 73. Fall von Handfetischismus, mitgetheilt von
Albert Moll. P. L., 28 Jahr, Kaufmann in Westfalen.
Abgesehen davon, dass der Vater des Patienten ein auffallend miss-
gestimmter und etwas heftiger Mann ist, lässt sich in der Familie nichts erb-
lich Belastendes nachweisen.
Patient war in der Schule nicht sehr fleissig; er war niemals im Stande,
seine Aufmerksamkeit längere Zeit auf einen Gegenstand zu concentriren; hin-
gegen hatte er von Kindheit an grosse Neigung zur Musik. Sein Tempera-
ment war von jeher etwas nervös.
Er kam im August 1890 zu mir und klagte über Kopf- und Unterleibs-
schmerzen, die einen durchaus neurasthenischen Eindruck machten. Patient
gibt femer an, dass er sehr energielos sei.
Ueber sein sexuelles Leben macht Patient erst auf genaue dahin
zielende Fragen folgende Angaben. Die ersten Anfänge geschlechtlicher
Erregungen stellten sich bei ihm, soweit ihm in Erinnerung ist, bereits im
7. Lebensjahre ein. Si pueri eiusdem fere aetatis mingentis membrum ad-
spexit, valde libidinibus excitatus est. L. behauptet mit Sicherheit,* dass diese
Aufregung mit deutlichen Erectionen verbunden war. Verführt durch einen
anderen Knaben , wurde L. im Alter von 7 oder 8 Jahren zur Onanie veran-
lasst. „Als sehr leicht erregbare Natur," sagt L., „gab ich mich sehr häufig
der Onanie bis zum 18. Lebensjahre hin, ohne dass mir über die schädlichen
Folgen oder überhaupt über die Bedeutung des Vorganges eine klare Vor-
stellung gekommen wäre." Besonders liebte er es, cum nonnullis commilitoni-
1(34 Paraesthesia sexualis.
bus mutuam masturbationem tractare, keineswegs aber war es ihm gleichgültig,
wer der andere Knabe war, vielmehr konnten ihm nur wenige Altersgenossen
nach dieser Richtung hin genügen. Auf die Frage, was ihn besonders ver-
anlasste, diesen oder jenen Knaben vorzuziehen, antwortete L., dass ihn bei
seinen Schulkameraden besonders eine weisse, schön geformte Hand ver-
lockte, mit ihnen gegenseitige Masturbation zu treiben. L. erinnert sich ferner
daran, dass er häufig beim Beginn der Turnstunde sich ganz allein auf einem
entfernt stehenden Barren mit Turnen beschäftigte; er that dies in der Ab-
sicht, ut quam maxime excitaretur idque tantopere assecutus est, ut membro
manu non tacto, sine ejaculatione — puerili aetate erat, — voluptatem clare
senserit. Interessant ist noch ein Vorgang, dessen sich der Patient aus seiner
früheren Lebenszeit erinnert. Der eine Lieblingskamerad N. , mit dem L.
mutuelle Masturbation trieb, machte ihm eines Tages folgenden Vorschlag:
ut L. membrum N..i apprehendere conaretur, er, N. , wolle sich möglichst
sträuben und den L. daran zu verhindern suchen. L. ging auf den Vorschlag
ein. Es war somit die Onanie direct mit einem Kampfe der beiden Bethei-
ligten verbunden, wobei N. stets besiegt wurde1).
Der Kampf endete nämlich regelmässig damit, ut N. tandem coactus sit
membrum masturbari. L. versichert mir, dass diese Art der Masturbation ihm
sowohl wie dem N. ein ganz besonders grosses Vergnügen bereitet hätte. In
dieser Weise setzte nun L. bis zum 18. Lebensjahre sehr oft die Onanie fort.
Von einem Freunde belehrt, bemühte er sich nun, mit allem Aufwand von
Energie gegen seine üble Angewohnheit anzukämpfen. Es gelang ihm dies
auch nach und nach immer mehr, bis er endlich nach Ausführung des ersten
Coitus gänzlich von der Onanie abstand. Dies geschah aber erst im Alter
von 21 '/a Jahren. Unbegreiflich erscheint es jetzt dem Patienten, und es
erfüllt ihn angeblich mit Ekel , dass er jemals daxan Gefallen finden konnte,
mit Knaben Onanie zu treiben. Keine Macht könnte ihn heute dazu bringen,
eines anderen Mannes Glied zu berühren, dessen Anblick ihm schon unan-
genehm ist. Es hat sich jede Neigung zu Männern verloren und Patient fühlt
sich durchaus zum Weibe hingezogen.
Es sei aber erwähnt, dass, trotzdem L. entschiedene Neigung zum Weibe
hat, doch eine abnorme Erscheinung bei ihm besteht.
Was ihn nämlich bei dem weiblichen Geschlechte wesentlich aufregt,
ist der Anblick einer schönen Hand; bei weitem mehr reizt es den L.,
wenn er eine weibliche schöne Hand berührt, quam si eandam feminam plane
nudatam adspiceret.
Wie weit die Vorliebe des L. für die schöne Hand eines weiblichen
Wesens geht, erhellt aus folgendem Vorgang.
L. kannte eine schöne junge Dame, der alle Reize zur Verfügung stan-
den; aber ihre Hand war ziemlich gross und hatte keine schöne Form, war
vielleicht auch manchmal nicht so rein, wie L. beanspruchte. Es war dem L.
infolgedessen nicht nur unmöglich, ein tieferes Interesse für die Dame zu
fassen, sondern er war nicht einmal im Stande, die Dame zu berühren. L.
*) Also eine Art von rudimentärem Sadismus bei L. und Masochismus
bei N.!
Fetischismus. 165
meint, dass es im Allgemeinen nichts Ekelhafteres für ihn gebe, als unsaubere
Fingernägel; diese allein machten es ihm unmöglich, eine sonst noch so schöne
Dame zu berühren. Uebrigens hat L. häufig den Coitus in früheren Jahren
dadurch ersetzt, ut puellam usque ad eiaculationem effectam membrum suum
manu tractare iusserit.
Auf die Frage , was ihn an der Hand des Weibes besonders anziehe,
insbesondere, ob er in ihr das Symbol der Macht sehe, und ob es ihm Genuss
bereite, von dem Weibe eine directe Demüthigung zu erfahren, antwortete
Patient, dass nur die schöne Form der Hand ihn reize, dass von einem
Weibe gedemüthigt zu sein, ihm keinerlei Befriedigung gewähre und dass
ihm noch niemals ein Gedanke daran gekommen sei, in der Hand das Symbol
oder das Werkzeug der Macht des Weibes zu finden. Die Vorliebe für die
Hand des Weibes ist auch heute noch so gross, ut majore voluptate afficiatur
si manus feminae membrum tractat quam coitu in vaginam. Dennoch möchte
Patient diesen lieber ausführen, weil er ihm als die natürliche, das erstere
aber als eine krankhafte Neigung erscheint. Die Berührung seines Körpers
durch eine schöne weibliche Hand verursacht dem Patienten sofort Erection;
er meint, dass Küssen und andere Berührungen bei weitem nicht so starken
Einfluss ausüben.
Patient hat nur in den letzten Jahren öfter den Coitus ausgeführt, aber
es fiel ihm jedesmal der Entschluss dazu ausserordentlich schwer.
Auch fand er in dem Coitus nicht die volle Befriedigung, die er suchte.
Wenn sich aber L. in der Nähe eines weiblichen Wesens befindet, das er gern
besitzen möchte, so erhöht sich in blossem Ansehen der Betreffenden zuweilen
die sexuelle Aufregung des L. in dem Grade, dass Ejaculation erfolgt. L.
versichert ausdrücklich, dass er hierbei absichtlich sein Glied nicht berühre oder
drücke; die unter solchen Umständen erfolgende Spermaentleerung gewährt dem
L. einen bei weitem grösseren Genuss, als der wirklich vollzogene Beischlaf l).
Die Träume des Patienten L., auf den ich zurückkomme, betreffen nie-
mals den Beischlaf. Wenn er des Nachts Pollutionen hat, so kommen sie fast
stets in Verbindung mit ganz anderen Gedanken vor, als dies bei normalen
Männern der Fall ist. Die betreffenden Träume des Patienten sind Recapitu-
lationen aus seiner Schulzeit. In dieser hatte nämlich Patient, abgesehen von
der oben erwähnten mutu eilen Onanie, auch dann Samenerguss, wenn ihn eine
grosse Aengstlichkeit überfiel.
Wenn z. B. der Lehrer ein Extemporale dictirte und L. beim Ueber-
setzen nicht zu folgen vermochte, so trat öfter Ejaculation ein2). Die jetzigen.
*) Also hochgradige sexuelle Hyperästhesie. Vgl. oben Anm. zu p. 50.
2) Auch dies ist sexuelle Hyperästhesie. Jede beliebige starke Erregung
versetzt die sexuelle Sphäre in Aufruhr (Binet's „dynamogenie generale).
Dr. Moll theilt diesbezüglich noch folgenden Fall mit:
„Ein ähnlicher Vorgang wird mir von einem 27jährigen Herrn E. mit-
getheilt. Derselbe, ein Kaufmann, hatte oft in der Schule und auch ausser-
halb derselben dann Samenerguss mit Wollustgefühl, wenn ein starkes Angst-
gefühl sich seiner bemächtigte. Ausserdem aber übte fast jeder sowohl körper-
liche wie seelische Schmerz einen ähnlichen Einfluss aus. Der Patient E. hat
angeblich normalen Geschlechtstrieb, leidet aber an nervöser Impotenz."
\QQ Paraesthesia sexualis.
in der Nacht zeitweise auftretenden Pollutionen sind stets nur von Träumen
begleitet, die den gleichen oder verwandten Inhalt haben, wie die eben er-
wähnten Vorgänge auf der Schule.
Patient hält sich in Folge seines unnatürlichen Fühlens und Empfin-
dens für unfähig, ein Weib dauernd zu lieben.
Eine Behandlung der sexuellen Perversion des Patienten konnte bisher
nicht stattfinden.
Dieser Fall von Handfetischismus beruht sicher nicht auf
Masochismus oder Sadismus, sondern erklärt sich einfach aus früh
getriebener mutueller Onanie. Ebensowenig liegt hier conträre
Sexualempfindung vor. Bevor der Sexualtrieb sich seines Objectes
klar bewusst wurde, ward hier die Hand des Mitschülers benutzt.
Sobald der Trieb zum anderen Geschlechte deutlich wird, erscheint
das Interesse für die Hand auf die des Weibes übertragen.
Es mögen so bei Handfetischisten , die nach B i n e t ja so
zahlreich sind, noch andere Associationen zum gleichen Resultat
führen.
An die Handfetischisten würden sich naturgemäss die Fuss-
fetischisten anreihen. Während aber an die Stelle des Handfeti-
schismus nur selten der zur folgenden Gruppe des Gegenstands-
fetischismus gehörige Handschuhfetischismus tritt, finden wir statt
der Schwärmerei für den nackten Fuss des Weibes (wovon sich
nur hie und da Andeutungen kaum pathologischer Art finden), den
weitverbreiteten, in unzähligen Fällen vorkommenden Schuh- und
Stiefelfetischismus. Der Grund hierfür ist leicht einzusehen. Die
Hand des Weibes wird vom Knaben meist entblösst gesehen, der
Fuss bekleidet *). So knüpfen sich die frühen Associationen, welche
bei Fetischisten die Richtung der Vita sexualis determiniren, natur-
gemäss an die nackte Hand, aber an den bekleideten Fuss.
Der Schuhfetischismus fände seinen Platz gleichfalls in der
folgenden Gruppe der Kleidungsfetischisten ; er ist aber seines in
der Mehrzahl der Fälle nachweisbar masochistischen Charakters
wegen grösstentheils bereits oben (p. 122 u. ff.) dargestellt worden.
Neben Auge, Hand und Fuss spielen auch oft Mund und Ohr
die Rolle des Fetisch. Solche Fälle erwähnt u. A. Moll op. cit.
*) Dies gilt wenigstens für das Leben in der Stadt. Zwei Fälle, in welchen
der nackte Fuss des Weibes Fetisch war, habe ich in Jahrbücher f. Psychiatrie
XII. 1 mitgetheilt. Im ersten Fall übertrug sich der Fetisch, nachdem der
Betreffende conträr sexual geworden war, auch auf das eigene Geschlecht.
Fetischismus. 1(57
(Vgl. auch Belot's Roman: La bouche de Madame X., der nach B.'s
Angabe auf einer directen Beobachtung beruht.)
Aus meiner eigenen Beobachtung stammt der folgende merk-
würdige Fall.
Beobachtung 74. Ein sehr belasteter Herr consultirte mich wegen
ihn fast zur Verzweiflung treibender Impotenz.
Sein Fetisch waren, so lange er Junggeselle war, Weiber von üppigen
Formen. Er heirathete eine Dame von entsprechender Complexion, war mit
ihr ganz potent und glücklich. Nach einigen Monaten erkrankte die Dame
schwer und magerte stark ab. Als er eines Tages wieder seiner ehelichen
Pflicht nachkommen wollte, war er gänzlich impotent und blieb es. Versuchte
er dagegen Coitus mit üppigen Weibern, so war er völlig potent.
Selbst Körperfehler können zum Fetisch werden.
Beobachtung 75. X. , 28 Jahre , stammt aus schwer belasteter
Familie. Er ist neurasthenisch , klagt über mangelndes Selbstvertrauen und
häufige Verstimmung mit Anwandlungen zu Suicidium, deren sich zu erwehren
er oft Mühe habe. Bei geringster Widerwärtigkeit sei er ganz fassungslos
und verzweifelt. Pat. ist Ingenieur in einer Fabrik in Russisch-Polen, von
kräftigem Körperbau, ohne Degenerationszeichen. Er klagt über eine seltsame
„Manie", die ihn oft daran zweifeln lasse, ob er denn ein geistig gesunder
Mensch sei. Seit dem 17. Jahr werde er ausschliesslich sexuell erregt durch
den Anblick von weiblichen Gebrechen, ganz speciell von Weibern, die hinken
und krumme Füsse haben. Der ursprünglichen associativen Verknüpfung
seiner Libido mit derartigen weiblichen Schönheitsfehlern ist sich Pat. in
keiner Weise bewusst.
Seit der Pubertät sei er im Bann dieses ihm selbst peinlichen Fetischis-
mus. Das normale Weib habe für ihn nicht den geringsten Reiz, nur das
krumme, hinkende, mit Gebrechen an den Füssen behaftete. Habe ein Weib
ein solches Gebrechen, so übe es auf ihn einen mächtigen sinnlichen Reiz,
gleichgültig ob dieses Weib schön oder hässlich sei.
In Pollutionsträumen schweben ihm ausschliesslich solche hinkende
Frauengestalten vor. Ab und zu könne er dem Antrieb nicht widerstehen,
ein solches hinkendes Weib nachzuahmen. In dieser Situation bekomme er
heftigen Orgasmus und eine von lebhaftem Wollustgefühl begleitete Ejacula-
tion. Pat. versichert sehr libidinös zu sein und unter der Nichtbefriedigung
seiner Triebe sehr zu leiden. Gleichwohl habe er erst mit 22 Jahren und
seither nur etwa 5mal coitirt. Er habe dabei, trotz Potenz, nicht die geringste
Befriedigung empfunden. Wenn er das Glück hätte, einmal mit einem hinkenden
Frauenzimmer zu coitiren, würde dies gewiss anders sein. Jedenfalls könnte
er sich nur entschliessen, eine Hinkende zu heirathen.
Seit dem 20. Jahr bietet Patient auch Kleidungsfetischismus. Es genügt
ihm oft, weibliche Strümpfe, Schuhe, Hosen anzuziehen. Er kaufe sich ab und
zu derlei Kleidungsstücke, ziehe sie heimlich an, werde davon wollüstig erregt
und bekomme Ejaculation. Von Weibern bereits getragene Kleidungsstücke
1(38 Paraesthesia sexualis.
haben für ihn nicht den geringsten Reiz. Am liebsten würde er anlässlich
sinnlicher Erregungen Weiberkleider anziehen, aber er hat dies aus Furcht
vor Entdeckung noch nicht zu thun gewagt.
Seine Vita sexualis beschränkt sich auf die erwähnten Praktiken. Pat.
versichert bestimmt und glaubhaft, dass er nie der Masturbation ergeben war.
In neuerer Zeit ist er, unter Zunahme seiner neurasthenischen Beschwerden,
sehr von Pollutionen geplagt.
Ein Beispiel ist ferner : Descartes, welcher (Traite des Passions
CXXXVI) selbt Betrachtungen über das Entstehen seltsamer Neigungen aus
Ideenassociationen anstellte. Er fand stets Geschmack an schielenden Frauen,
weil der Gegenstand seiner ersten Liebe diesen Fehler hatte. (Binet op. cit.)
Lydston (A Lecture on sexual perversion, Chicago 1890) berichtet den
Fall eines Mannes, der ein Liebesverhältniss mit einem Weibe unterhielt, dem
ein Unterschenkel amputirt worden war. Nach der Trennung von dieser Person
suchte er begierig nach anderen Weibern mit dem gleichen Defect. — Ein
negativer Fetisch!
Wenn der Theil des weiblichen Körpers, welcher den Fetisch
bildet, abtrennbar ist , also Haare , so kann es zu den extravagan-
testen Handlungen kommen. Eine nicht uninteressante und zudem
forensisch wichtige Categorie bilden deshalb die Haarfetischisten.
Während solche Bewunderer des Frauenhaars in physiologischer
Breite nicht selten sein dürften und möglicherweise verschiedene
Sinne (Auge, Geruch, Gehör wegen des knisternden Geräusches,
jedenfalls auch Tastsinn, ganz analog wie bei Sammt- und Seide-
fetischisten s. unten) hier Erregungen empfangen, die wollüstige
Betonung finden, ist auch schon eine Reihe ganz gleichförmiger
pathologischer Fälle zur Beobachtung gekommen, in denen der zum
übermächtigen Impuls gewordene Haarfetischismus dergleichen In-
dividuen zu Delicten hinreisst. Das ist die Gruppe der Zopf-
abschneider *).
Beobachtung 76. Ein Zopfabschneider. P., 40 Jahre, Kunstschlosser,
ledig, stammt von einem Vater, der temporär irrsinnig war, und von einer
sehr nervösen Mutter. Er entwickelte sich gut, war intelligent, aber früh
mit Tics und Zwangsvorstellungen behaftet gewesen. Er hatte nie masturbirt,
*) Moll, op. cit. p. 131 berichtet: „Ein Mann X. wird, sobald er ein
weibliches Wesen mit einem Zopf erblickt, sofort hochgradig sexuell erregt;
offenes noch so schönes Haar vermag diese Wirkung nicht zu erzielen."
Es ist übrigens natürlich nicht gerechtfertigt, alle Zopfabschneider für
Fetischisten zu halten, da in seltenen Fällen derlei auch aus Gewinnsucht ge-
schieht, resp. der geraubte Zopf Waare, nicht Fetisch ist.
Fetischismus. ] 69
liebte platonisch, trug sich öfters mit Heirathsplänen , coitirte nur selten mit
Freudenmädchen, fühlte sich aber vom Verkehr mit solchen nie befriedigt,
eher angewidert. Vor etwa 3 Jahren trafen ihn schwere Schicksalsschläge
(finanzieller Ruin) und machte er überdies eine fieberhafte Krankheit mit
Delir durch. Diese Umstände schädigten schwer das Centralnervensystem des
erblich Belasteten. Am Abend des 28. August 1889 wurde P. auf dem Tro-
cadero in Paris in flagranti verhaftet, als er im Gedränge einem jungen
Mädchen den Zopf abgeschnitten hatte. Man verhaftete ihn mit dem Zopf
in der Hand, eine Scheere in der Tasche. Er entschuldigte sich mit momen-
taner Sinnesverwirrung, unseliger unbezwinglicher Leidenschaft, gab zu, dass
er schon lOmal Zöpfe abgeschnitten habe, die er daheim in wonnigem Ent-
zücken verwahre.
Bei der Haussuchung fand man 65 Zöpfe und Haarflechten, sortirt in
Paketen vor. Schon am 15. December 1886 war P. unter ähnlichen Umständen
einmal verhaftet gewesen, aber wegen Mangel an Beweisen freigelassen worden.
P. gibt an, dass er seit 3 Jahren, wenn Abends allein im Zimmer, sich
unwohl, ängstlich, erregt und schwindlig fühlte und dann vom Drang heim-
gesucht wurde, Frauenhaar zu betasten. Als er gelegentlich den Zopf eines
jungen Mädchens wirklich in der Hand halten konnte, libidine valde excitatus
est neque amplius puella tacta, erectio et eiaculatio evenit. Heimgekehrt,
schämte er sich des Vorfalls, aber der Wunsch, Zöpfe zu besitzen, ungemein
wollüstig betont, wurde immer mächtiger in ihm. Er wunderte sich sehr
darüber, da er doch früher beim intimsten Verkehr mit Weibern nie etwas
derart empfunden hatte. Eines Abends konnte er dem Drang nicht wider-
stehen, einem Mädchen den Zopf abzuschneiden. Daheim, mit dem Zopf in
der Hand, wiederholte sich der wollüstige Vorgang. Es zwang ihn, mit dem
Zopf über seinen Körper zu fahren, seine Genitalien darein zu wickeln. End-
lich ganz erschöpft, schämte er sich, getraute sich während einiger Tage gar
nicht auszugehen. Nach Monaten der Ruhe trieb es ihn wieder, Frauenhaar,
gleichgültig wem gehörig, unter die Hände zu bekommen. Gelangte er zum
Ziel, so fühlte er sich wie besessen von einer übernatürlichen Gewalt, ausser
Stand, seine Beute loszulassen. Konnte er den Gegenstand seiner Begierde
nicht erreichen, so wurde er tief verstimmt, eilte heim, wühlte dann in seiner
Collection von Zöpfen, kämmte, betastete sie, gerieth dabei in mächtigen Or-
gasmus und befriedigte sich durch Masturbation. Zöpfe in den Auslegekästen
der Friseure Hessen ihn ganz kalt. Es mussten vom Kopf einer Frauensperson
herabhängende Zöpfe sein.
Auf der Höhe seiner Zopfattentate will er jeweils in solcher Erregung
gewesen sein, dass er nur unvollkommen Apperception und demgemäss Er-
innerung hatte von dem, was um ihn her vorging. Sobald er mit der Scheere
den Zopf berührte, kam es zur Erection und im Moment des Abschneidens
zur Ejaculation.
Seit seinen Schicksalsschlägen vor etwa 3 Jahren will er gedächtniss-
schwach, geistig rasch erschöpft, von Schlaflosigkeit und nächtlichem Auf-
schrecken heimgesucht sein. P. bereut tief seine Streiche.
Man fand bei ihm nicht bloss Zöpfe vor, sondern auch eine Menge von
Haarnadeln, Bänder und andere weibliche Toilettegegenstände, die er sich
hatte schenken lassen. Er hatte von jeher eine wahre Manie gehabt, derlei
170 Paraesthesia sexualis.
zu sammeln, nicht minder Zeitungen, Holzstiickchen und anderen ganz werth-
losen Kram, von dem er nie hatte lassen wollen. Auch hatte er eine sonder-
bare, ihm ganz unerklärliche Scheu, eine gewisse Strasse zu passiren; machte
er einmal den Versuch dazu, so wurde ihm ganz unwohl.
Das Gutachten erwies den Hereditarier, den zwangsmässigen, impulsiven,
entschieden unfreien Charakter der inkriminirten Akte, welche die Bedeutung
einer Zwangshandlung, hervorgerufen durch eine mit abnormen sexuellen Ge-
fühlen übermächtig betonte Zwangsvorstellung, haben. Freispruch. Irrenhaus.
(Voisin, Socquet,Motet, Annales d'hygiene, 1890, April.)
Im Anschluss an diesen Fall verdient auch der folgende, ähn-
liche alle Beachtung, da er gut beobachtet, geradezu klassisch zu
nennen* ist und den Fetisch , sowie die ursprüngliche associative
Weckung der bezüglichen Vorstellung in ein helles Licht stellt.
Beobachtung 77. Ein Zopfabschneider. E., 25 Jahre. Mutter-
schwester epileptisch, Bruder litt an Convulsionen. E. will als Kind gesund
gewesen sein und ziemlich gut gelernt haben. Mit 15 Jahren empfand er zum
erstenmal beim Anblick einer sich kämmenden Dorfschönen ein wollüstiges
Gefühl mit Erection. Bis dahin hatten Personen des anderen Geschlechts
keinen Eindruck auf ihn gemacht. 2 Monate später, in Paris, erregte ihn
jedesmal mächtig der Anblick der über den Nacken herabflatternden Haare
junger Mädchen. Eines Tages konnte er sich nicht enthalten, bei solcher Ge-
legenheit den Zopf eines jungen Mädchens zwischen den Fingern zu drehen.
Er wurde deshalb verhaftet und zu 3 Monaten verurtheilt.
Darauf diente er 5 Jahre als Soldat. Zöpfe waren ihm während dieser
Zeit nicht gefährlich, aber auch wenig zugänglich, jedoch träumte ihm zu-
weilen von Frauenköpfen mit Zopf oder aufgelöstem Haar. Gelegentlich Coitus
mit Frauenzimmern, jedoch ohne dass deren Haar als Fetisch wirkte.
Wieder in Paris, träumt er in obiger Weise neuerlich und wird von
Frauenhaar wieder sehr erregt.
Niemals träumt er von der ganzen Gestalt eines Weibes, nur von
Köpfen mit Zöpfen.
Seine sexuelle Erregung durch solchen Fetisch war in letzter Zeit so
mächtig geworden, dass er sich mit Masturbation half.
Die Idee, Frauenhaar zu betasten oder noch besser, Zöpfe zu be-
sitzen, um während deren Betastung masturbiren zu können, wurde immer
mächtiger.
Wenn er Frauenhaar unter den Fingern hatte , kam es neuerlich zur
Ejaculation. Eines Tages war es ihm gelungen, bereits 3 Zöpfe von kleinen
Mädchen auf der Strasse etwa 25 cm lang abzuschneiden und in seinen Besitz
zu bringen, als er beim Versuch an einem vierten verhaftet wurde. Tiefe
Reue und Scham. Keine Verurth eilung. Seit geraumer Zeit in der Irren-
anstalt, ist er so weit gekommen, dass ihn die Zöpfe der Weiber nicht mehr
aufregen. Freigelassen, gedenkt er in seine Heimath zu gehen, wo die Weiber
ihr Haar aufgebunden zu tragen pflegen. (Magnan, Archives de l'anthropo-
logie criminelle, 5. Bd., Nr. 28.)
Fetischismus. 171
Ein dritter Fall ist der folgende, der ebenfalls geeignet ist,
das Psychopathische solcher Erscheinungen zu illustriren, und an
welchem namentlich der merkwürdig vermittelte Ausgang in Hei-
lung beachtenswerth ist.
Beobachtung 78. Zopffetischismus. Herr X., Mitte der
Dreissiger, aus höherer Gesellschaftsklasse, ledig, aus angeblich nicht belasteter
Familie, jedoch von Kindsbeinen auf nervös, unstet, eigenartig, will seit etwa
dem 8. Jahr sich mächtig durch Frauenhaar angezogen gefühlt haben. Ganz
besonders war dies Seitens junger Mädchen der Fall. Als er 9 Jahre alt war,
tflieb ein 13 Jahre altes Mädchen mit ihm Unzucht. Er hatte kein Verständ-
niss dafür und blieb dabei ganz unerregt. Auch die 12jährige Schwester
dieses Mädchens machte sich mit ihm zu schaffen, küsste ihn ab, presste ihn
an sich. Er Hess sich das ruhig gefallen, weil das Haar dieses Mädchens ihm
so gut gefiel. Etwa 10 Jahre alt, begann er wollüstige Empfindungen beim
Anblick von ihm zusagendem Frauenhaar zu verspüren. Allmählich kamen
jene auch spontan, und sofort gesellten sich Erinnerungsbilder von Mädchen-
haar hinzu. Im 11. Jahr wurde er von Mitschülern zur Masturbation verführt.
Die associative Knüpfung sexueller Gefühle und einer fetischistischen Vorstel-
lung war damals schon festgeschlossen und trat jeweils hervor, wenn Pat. mit
seinen Kameraden Unzucht trieb. Mit den Jahren wurde der Fetisch immer
mächtiger. Selbst falsche Zöpfe begannen ihn zu erregen, jedoch waren ihm
lebende immer lieber. Wenn er solche berühren oder gar küssen konnte, war
er ganz selig. Er verfasste Aufsätze und machte Gedichte über die Schönheit
des Frauenhaars, zeichnete Zöpfe und masturbirte dazu. Vom 14. Jahr wurde
er von seinem Fetisch so mächtig erregt, dass er heftige Erectionen bekam.
Entgegen seinem früheren Geschmack als Knabe reizten ihn nur mehr Zöpfe,
ganz besonders üppige, schwarze, dicht geflochtene. Er empfand lebhaften
Drang, solche Zöpfe zu küssen, resp. an ihnen zu saugen. Das Betasten solchen
Haares machte ihm wenig Befriedigung, viel mehr der Anblick, namentlich
aber das Küssen und Saugen.
War ihm dies unmöglich, so war er unglücklich bis zu Taedium vitae.
Er versuchte sich dann schadlos zu halten, indem er sich phantastisch „Haar-
abenteuer" ausmalte und dazu masturbirte.
Nicht selten, auf der Strasse und im Gedränge, konnte er sich nicht
zurückhalten, Damen einen Kuss auf den Kopf zu drücken. Er eilte dann
heim, um zu masturbiren. Zuweilen konnte er jenem Impuls Widerstand
leisten, aber er* musste unter lebhaften Angstgefühlen schleunigst die Flucht
ergreifen, um aus dem Bannkreis seines Fetisch zu gelangen. Nur einmal im
Gedränge trieb es ihn , einem Mädchen den Zopf abzuschneiden. Er hatte
dabei heftige Angst, reussirte nicht mit seinem Taschenmesser und entging
mit Mühe durch die Flucht der Gefahr, erwischt zu werden.
Erwachsen, versuchte er durch Coitus mit Puellis sich zu befriedigen.
Er gelangte zu mächtiger Erection durch Küssen der Zöpfe, brachte es aber
zu keiner Ejaculation. Deshalb war er vom Coitus unbefriedigt. Gleichwohl
war seine liebste Vorstellung Coitus mit Haarküssen. Dieses allein genügte
ihm nicht, da er dadurch auch nicht zur Ejaculation gelangte. Faute de mieux
172 / Paraesthesia sexualis.
stahl er einmal einer Dame ihr ausgekämmtes Haar, steckte es in den Mund
und masturbirte dazu, indem er sich die Eigenthümerin vorstellte. Im Dunkeln
hatte er kein Interesse am Weib, weil er dessen Zöpfe nicht sah. Auch auf-
gelöstes Kopfhaar hatte für ihn keinen Reiz, ebensowenig Schamhaare. Seine
erotischen Träume drehten sich nur um Zöpfe. In der letzten Zeit war Pat.
sexuell so erregt geworden, dass er in eine Art Satyriasis gerieth. Er wurde
unfähig zum Beruf, fühlte sich so unglücklich, dass er sich in Alkohol zu
betäuben suchte. Er consumirte sehr grosse Mengen, bekam ein Alkoholdelir,
einen Anfall von Alkoholepilepsie, wurde spitalsbedürftig. Nach Beseitigung
der Intoxication schwand ziemlich rasch die sexuelle Erregung unter geeigneter
Behandlung, und als Pat. entlassen wurde, war er von seiner nur noch in
Träumen ab und zu sich geltend machenden Fetischvorstellung befreit. •
Der körperliche Befund ergab normale Genitalien, wie überhaupt keine
Degenerationszeichen.
Derartige Fälle von Zopffetischismus, der zu Attentaten auf
Frauenzöpfe führt, scheinen von Zeit zu Zeit allerorten vorzukommen.
Im November 1890 wurden nach amerikanischen Zeitungsberichten
ganze Städte in den Ver. Staaten durch einen solchen Zopfabschneider
beunruhigt.
b) Der Fetisch ist ein Stück der weiblichen Kleidung.
Wie gross die Bedeutung ist, die weiblicher Schmuck, Putz
und Kleidung auch für die normale Vita sexualis des Mannes haben,
ist allgemein bekannt. Cultur und Mode haben hier dem Weibe
gewissermassen künstliche Geschlechtscharaktere angeschaffen, deren
Wegfall, wenn das Weib unbekleidet in Betracht kommt, trotz der
normalen sinnlichen Wirkung dieses Anblicks, als Verlust, als be-
fremdend wirken kann1). Es darf hierbei auch nicht übersehen
werden, dass die Kleidung des Weibes häufig die Tendenz zeigt,
bestimmte Geschlechtseigenthümlichkeiten , secundäre Geschlechts-
charaktere (Busen, Taille, Hüften) hervorzuheben und zu outriren.
Bei den meisten Individuen erwacht der Geschlechtstrieb lange
vor der Möglichkeit und Gelegenheit intimen Verkehrs, und die
frühen Begierden der Jugend beschäftigen sich mit dem gewohnten
Bilde der bekleideten weiblichen Gestalt. So kommt es, dass nicht
selten im Beginn der Vita sexualis die Vorstellung des geschlecht-
lich Reizenden und weiblicher Kleidung sich associiren. Diese Asso-
J) Vergl. Goethe's Bemerkungen zu seinem Abenteuer in Genf (Briefe
aus der Schweiz, 1. Abtheil., Schluss).
Fetischismus. 173
ciation kann namentlich dann eine unlösbare werden — das be-
kleidete Weib dem nackten dauernd vorgezogen werden — , wenn
die betreffenden Individuen, unter der Herrschaft anderer Perver-
sionefc stehend, überhaupt nicht zu einer normalen Vita sexualis
und zur Befriedigung durch natürliche Reize gelangen.
Bei psychopathischen, sexuell hyperästhetischen Individuen
kommt es in Folge dessen wirklich vor, dass das bekleidete Weib
bleibend dem nackten Körper vorgezogen wird. Erinnern wir uns,
dass in Beob. 47 das Weib die letzte Hülle nicht fallen lassen darf,
dass Beob. 49, equus eroticus, das bekleidete Weib vorzieht. Auch
weiter unten findet sich eine gleiche Aeusserung eines conträr
Sexualen.
Dr. Moll (op. cit. 2. Aufl.) erwähnt einen Patienten, der den
Coitus mit puella nuda nicht ausführen konnte; das Weib musste
wenigstens mit einem Hemd bekleidet sein; p. 166 führt derselbe
Autor einen conträr Sexualen an, der demselben Kleidungs-
fetischismus unterworfen ist.
Der Grund dieser Erscheinung ist offenbar in der Gedanken-
onanie solcher Individuen zu suchen. Sie haben beim Anblick un-
zähliger bekleideter Gestalten Begierden empfunden, bevor sie sich
der Nacktheit gegenüber sahen 1).
Eine zweite, ausgesprochenere Form des Kleidungsfetischismus
besteht darin, dass nicht überhaupt das bekleidete Weib vorgezogen
wird, sondern dass eine bestimmte Art der Kleidung zum Fetisch
wird. Es ist begreiflich, dass ein starker und namentlich ein früher
sexueller Eindruck , der mit der Vorstellung einer bestimmten
Kleidung des betreffenden Weibes verbunden war, bei hyperästhe-
tischen Individuen ein höchst intensives Interesse an diese Kleidung
knüpfen kann.
Hammond (op. cit. p. 46) berichtet folgenden aus Roubaud
„Tratte de l'impuissance", Paris 1876, citirten Fall:
Beobachtung 79. X. , Sohn eines Generals , wurde auf dem Lande
aufgezogen. Im Alter von 14 Jahren wurde er von einer jungen Dame in die
Freuden der Liebe eingeweiht. Diese Dame war eine Blondine, die ihr Haar
*) Etwas dem Objecte nach Aehnliches, der psychischen Vermittlung
nach aber ganz Anderes, ist die Thatsache, dass der halbverhüllte Körper oft
reizender wirkt, als der ganz nackte. Dies beruht auf Contrastwirkungen und
Erwartungsaffecten, welche eine allgemeine Erscheinung sind und nichts Patho-
logisches enthalten.
174 Paraesthesia sexualis.
in gewundenen Locken trug und, um nicht entdeckt zu werden, mit ihrem
jungen Liebhaber nur in ihrer gewöhnlichen Kleidung mit Gamaschen, Corset
und in ihrem Seidenkleide geschlechtlich verkehrte.
Als er nach Beendigung seiner Studien zur Garnison gesandt wurde
und hier nun seine Freiheit gemessen wollte, fand er, dass sein Sexualtrieb
nur unter ganz bestimmten Bedingungen angeregt wurde. So konnte eine
Brünette ihn nicht im mindesten reizen, und ein Weib im Nachtcostüm war
im Stande, jede Liebesbegeisterung in ihm ganz zu ersticken. Eine Frau, die
seine Begierden wecken sollte, musste eine Blondine sein, mit Gamaschen
gehen, ein Corset und ein seidenes Kleid tragen, kurz, ganz so gekleidet sein,
wie die Dame, die zuerst in ihm den Geschlechtstrieb erregt hatte. Er war
immer den Bemühungen, ihn zu verheirathen, ausgewichen, da er wusste, dass
er seine Gattenpflichten gegen ein Weib im Schlafcostüme nicht werde aus-
üben können.
Hammond berichtet noch p. 42 einen Fall, wo der Coitus maritalis
nur durch bestimmtes Costüm erzielt werden konnte, und Dr. Moll op. cit.
erwähnt mehrere derartige Fälle bei Hetero- und Homosexualen. Als ver-
anlassende Ursache ist eine frühe Association oft nachzuweisen und stets an-
zunehmen. Nur so wird es erklärlich, dass auf solche Individuen ein be-
stimmtes Costüm unwiderstehlich wirkt, gleichgültig, welche Person immer
den Fetisch trägt. So wird es begreiflich, dass, wie Coffignon (op. cit.) er-
zählt, Männer in Bordellen darauf bestehen, dass die Weiber, mit denen sie
zu thun haben, ein bestimmtes Costüm als Ballettänzerin, Nonne etc. anlegen,
und dass diese Häuser zu solchen Zwecken mit einer ganzen Maskengarderobe
versehen sind.
Bin et (op. cit.) erzählt den Fall eines Richters, der ausschliesslich in
die Italienerinnen, die als Malermodelle nach Paris kommen, und in ihr be-
stimmtes Costüm verliebt war. Die veranlassende Ursache war hier nachweis-
• bar ein Eindruck beim Erwachen des Geschlechtstriebs.
Eine dritte Form des Kleidungsfetischismus , die einen weit
höheren Grad des Pathologischen darstellt, ist die folgende, bei
weitem am häufigsten zur Beobachtung ^kommende. Sie besteht
darin, dass es gar nicht mehr das Weib selbst ist, welches, wenn
auch bekleidet oder auf eine bestimmte Art gekleidet, in erster
Linie sexuell reizend wirkt, sondern dass das sexuelle Interesse so
sehr sich auf ein bestimmtes Stück der weiblichen Kleidung con-
centrirt, dass die lustbetonte Vorstellung dieses Kleidungsstückes
sich gänzlich von der Gesaramtvorstellung des Weibes loslöst und
so selbstständigen Werth gewinnt. Dies ist das eigentliche Gebiet
des Kleidungsfetischismus, wo eine unbelebte Sache, ein isolirtes
Stück der Kleidung für sich allein zur Erregung und Befriedigung
des Geschlechtstriebes benützt und verwendet wird. Diese dritte
Form des Kleidungsfetischismus ist auch die forensisch wichtigste.
In einer grossen Zahl von Fällen handelt es sich hier um
Fetischismus. 175
Stücke weiblicher Leibwäsche, die ja durch ihren intimen Charakter
besonders geeignet sind, solche Associationen an sie zu knüpfen.
Beobachtung 80. K., 45 Jahre alt, Schuhmacher, angeblich erblich
nicht belastet, von eigenthümlichem Wesen, geistig wenig begabt, von männ-
lichem Habitus, ohne Degenerationszeichen, sonst tadellos in seinem Benehmen,
wurde ertappt, als er am 5. Juli 1876 Abends aus einem Versteck gestohlene
Frauenwäsche abholte. Es fanden sich bei ihm etwa 300 Toilettegegenstände
von Frauen vor, darunter, neben Frauenhemden und Beinkleidern, auch Nacht-
hauben, Strumpfbänder, sogar eine weibliche Puppe. Als er verhaftet wurde,
hatte er gerade ein Frauenhemd auf dem Leibe. Schon seit 13 Jahren hatte
er seinem Drang, Frauenwäsche zu stehlen, gefröhnt, war, das erste Mal des-
halb bestraft, vorsichtig geworden und hatte in der Folge mit Raffinement
und Glück gestohlen. Wenn dieser Drang über ihn kam, sei ihm ängstlich,
der Kopf ganz schwer geworden. Er habe dann nicht widerstehen können,
koste es, was es wolle. Es sei ihm ganz gleich gewesen, wem er die Sachen
wegnehme.
Die gestohlenen Sachen habe er Nachts im Bett angezogen, dabei sich
schöne Weiber vorgestellt und wollüstige Gefühle und Samenabgang verspürt.
Dies war offenbar das Motiv seiner Diebstähle, jedenfalls hatte er nie
eines der gestohlenen Gegenstände sich entäussert, vielmehr dieselben da und
dort versteckt.
Er gab an, dass er in früheren Zeiten mit Weibern normal geschlecht-
lich verkehrt habe. Onanie, Päderastie und andere sexuelle Akte stellte er in
Abrede. Mit 25 Jahren will er verlobt gewesen sein, jedoch sei diese Ver-
lobung ohne seine Schuld zurückgegangen. Das Krankhafte seines Zustandes
und das Unrechte seiner Handlungen vermochte er nicht einzusehen (Passow,
Vierteljahrsschrift f. ger. Medic, N. F. XXVIII, p. 61. Krauss, Psychologie
des Verbrechens 1884, p. 190).
Einen Fall von leidenschaftlichem Interesse für einzelne Stücke
der weiblichen Kleidung berichtet Hammond op. cit. p. 43. Auch
hier besteht des Patienten Genuss darin, selbst ein Corset am Leibe
zu tragen , ebenso andere weibliche Kleidungsstücke (ohne Spuren
von conträrer Sexualempfindung). Der Schmerz bei forcirtem
Schnüren, an sich selbst und an Frauen hervorgerufen, ist ihm eine
Freude: sadistisch-masochistisches Element.
Ein hierher gehöriger Fall dürfte auch der von Diez (Der
Selbstmord 1838, p. 24) mitgetheilte sein, wo ein junger Mensch
dem Drang nicht widerstehen konnte, Frauenwäsche zu zerreissen.
Er hatte während dieses Zerreissens regelmässig Ejaculation.
Eine Verbindung von Fetischismus mit Zerstörungsdrang gegen
den Fetisch (gewissermassen Sadismus am unbelebten Object) scheint
mehrfach vorzukommen. Vgl. unten Beob. 91.
176 Paraesthesia sexualis.
Ein Kleidungsstück, welches zwar nicht eigentlich intimen
Charakter hat, -aber durch Stoff und Farbe an Leibwäsche erinnern
kann, auch wohl durch die Stelle, an welcher es getragen wird,
sexuelle Beziehungen erhält, ist die Schürze. (Vgl. auch die meto-
nymische Verwendung des Wortes „Schürze" neben „Unterrock"
im Sprachgebrauch: „Jeder Schürze nachlaufen" etc.) Dies bietet
eine Handhabe zum Verständniss des folgenden Falles:
Beobachtung 81. C. , 37 Jahre alt, aus schwer belasteter Familie,
von plagiocephalem Schädel, geistig schwach begabt, bemerkte mit 15 Jahren
eine zum Trocknen aufgehängte Schürze. Er band sie sich um und onanirte
hinter einer Hecke. Seither konnte er keine Schürze sehen, ohne den Akt
damit zu wiederholen. Sah er Jemand, gleichgültig ob Frau oder Mann, mit
einer Schürze angethan, daherkommen, so musste er nachlaufen. Um ihn von
seinen endlosen Schürzendiebstählen zu befreien, that man ihn im 16. Jahre
zur Marine. Dort gab es keine Schürzen und vorläufig Ruhe. Mit 19 Jahren
heimgekehrt, musste er wieder Schürzen stehlen, kam dadurch in fatale Ver-
wicklungen, wurde mehrmals eingesperrt, versuchte durch mehrjährigen Auf-
enthalt in einem Trappistenkloster von seinem Gelüste frei zu werden. Aus-
getreten, ging es ihm wie früher.
Anlässlich eines neuen Diebstahls wurde er gerichtsärztlich untersucht
und der Irrenanstalt übergeben. Nie stahl er etwas Anderes als Schürzen.
Es war ihm ein Genuss, in dem Erinnerungsbild der ersten gestohlenen Schürze
zu schwelgen. Seine Träume drehten sich um Schüi-zen. In der Folge benutzte
er ihre Erinnerungsbilder, um gelegentlich Coitus zu Stande zu bringen, oder
auch zu masturbiren. (Charcot-Magnan, Arch. de Neurolog. 1882, Nr. 12.)
In einem dieser Reihe von Beobachtungen analogen von Lombroso
(Amori anomali precoci nei pazzi. Arch. di psich. 1883, p. 17) mitgetheilten
Falle bekam ein erblich schwer belasteter Knabe schon im 4. Jahre Erection
und heftige sexuelle Erregung beim Anblick weisser Gegenstände, namentlich
Wäsche. Berührung, Zerknittern von solcher machte ihm Wollust. Mit dem
10. Jahre begann er Angesichts weisser gestärkter Wäsche zu masturbiren. Er
scheint mit moralischem Irresein behaftet gewesen zu sein und wurde wegen
Mordes hingerichtet.
Mit eigenthümlichen Umständen combinirt ist der folgende
Fall von Unterrockfetischismus:
Beobachtung 82. Herr Z., 35 Jahre alt, Beamter, stammt als einziges
Kind von einer nervösen Mutter und gesundem Vater ab. Er war von Kindes-
beinen an „nervös", erschien bei der Consultation auffällig durch neuropathi-
sches Auge, zarten, schmächtigen Körper, feine Züge, sehr dünne Stimme,
spärlichen Bartwuchs. Bis auf Erscheinungen leichter Neurasthenie ist an
Pat. nichts Krankhaftes nachzuweisen. Genitalien normal, desgleichen die
sexuellen Functionen. Pat. will nur 4 — 5mal , und zwar als kleiner Junge,
masturbirt haben.
Fetischismus. 177
Schon mit 13 Jahren wurde Pat. durch den Anblick von nassen
Weiberkleidern mächtig sexuell erregt, während solche Kleider in trockenem
Zustande ihn gar nicht erregten. Sein grösster Genuss war es, wenn es regnete,
nach durchnässten Frauenzimmern auszuschauen. Traf er auf ein solches und
hatte das betreffende Weib zudem ein sympathisches Gesicht, so hatte er in-
tensive Wollustgefühle, mächtige Erection und fühlte sich zum Coitus ge-
trieben.
Gelüste, sich nasse Weiberröcke zu verschaffen oder ein Frauenzimmer
mit Wasser zu bespritzen, will er nie gehabt haben. Ueber die ursprüngliche
Entstehung seiner Pica vermochte Pat. keinen Aufschluss zu geben.
Es ist möglich, dass der Geschlechtstrieb in diesem Falle beim Anblick
eines Weibes zum ersten Mal aufgetaucht ist, welches bei Regenwetter die
nassen Röcke aufhob und Reize sehen liess. Der seines Objektes noch nicht
bewusste dunkle Trieb wurde dann auf die nassen Röcke projicirt, wie in
anderen Fällen.
Häufig und deshalb forensisch wichtig sind die Liebhaber
weiblicher Taschentücher. — Zur Häufigkeit des Taschen-
tuchfetischismus mag beitragen, dass das Taschentuch dasjenige
Wäschestück des Weibes ist, welches am häufigsten auch im nicht
intimen Verkehr in den Anblick und, sammt der ihm anhaftenden
Körpertemperatur und specifischem Gerüche, durch Zufall in die
Hände einer anderen Person gerathen kann. Hierauf mag die
Häufigkeit früher Association von wollüstigen Empfindungen mit
der Vorstellung eines Taschentuches, die auch hier wohl immer
anzunehmen ist, beruhen.
Beobachtung 83. Ein bisher unbescholtener, 32 Jahre alter lediger
Bäckergehilfe wurde ertappt, als er einer Dame ein Taschentuch stahl. Er
gestand mit aufrichtiger Reue, dass er bereits 80 — 90 derartige Sacktücher
entwendet hatte. Er hatte es nur auf solche abgesehen und zwar ausschliess-
lich bei jüngeren und ihm zusagenden Frauenzimmern.
Inculpat bietet in seiner äusseren Erscheinung nichts Auffälliges. Er
kleidet sich sehr gewählt, zeigt ein eigenthümliches , theils ängstlich depres-
sives, theils unmännlich devotes Wesen und Benehmen, das sich oft bis zu
einem larmoyanten Ton und Thränen steigert. Auch eine unverkennbare Un-
behilflichkeit , Schwäche in der Auffassung, Trägheit in der Orientirung und
Reflexion gibt er zu erkennen. Eine seiner Schwestern ist epileptisch. Er lebt
in guten Verhältnissen, war nie schwer krank, entwickelte sich gut. In der
Mittheilung seiner Lebensgeschichte zeigt er Gedächtnissschwäche, Unklarheit,
auch das Rechnen fällt ihm schwer, obwohl er früher gut gelernt hatte und
auffasste. Sein ängstliches, unsicheres Wesen machte den Verdacht der Onanie
rege. Inculpat gestand, dass er seit dem 19. Jahr diesem Laster in excessiver
Weise ergeben war.
Seit einigen Jahren hatte er in Folge seines Lasters an Abgeschlagenheit,
Mattigkeit , Zittern der Beine , Rückenschmerzen , Unlust zur Arbeit gelitten,
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 12
178 Paraesthesia sexualis.
Oeffcers kam auch eine traurig-ängstliche Verstimmung über ihn, in welcher
er die Leute mied. Von den Folgen geschlechtlichen Verkehrs mit Frauen-
zimmern hatte er übertriebene, abenteuerliche Vorstellungen und konnte sich
nicht zu solchem entschliessen. In letzter Zeit hatte er jedoch an Verehe-
lichung gedacht.
Mit tiefer Reue und in schwachsinniger Weise gestand nun X., dass er
vor V2 Janr im Menschengedränge beim Anblick eines jungen hübschen Mäd-
chens sich heftig geschlechtlich erregt fühlte, sich an dasselbe drängen musste
und den Drang empfand, durch Wegnahme des Taschentuchs sich für eine
ausgiebigere Befriedigung seiner geschlechtlichen Regung zu entschädigen.
In der Folge wurde er, sobald er ein ihm zusagendes Frauenzimmer
gewahr wurde, unter heftiger geschlechtlicher Erregung, Herzklopfen, Erection
und Impetus coeundi vom Drang erfasst, sich an die betreffende Person zu
drängen und ihr — faute de mieux — das Taschentuch zu entwenden. Ob-
wohl ihn keinen Moment das Bewusstsein seiner strafbaren Handlung verliess,
konnte er seinem Drange nicht Widerstand leisten. Dabei fühlte er Angst,
die theils durch den zwangsmässigen geschlechtlichen Trieb , theils durch die
Furcht vor Entdeckung bedingt war.
Das Gutachten macht mit Recht den angeborenen Schwachsinn, den
zerrüttenden Einfluss der Onanie geltend und führt das abnorme Gelüste auf
einen perversen Geschlechtstrieb zurück, wobei ein interessanter und physio-
logisch auch gekannter Connex zwischen Geruchs- und Geschlechtssinn bestehe.
Die Unwiderstehlichkeit des krankhaften Triebs wurde anerkannt. X. wurde
nicht bestraft (Zippe, Wiener med. Wochenschrift 1879, Nr. 23).
Der Güte des Herrn Landesgerichtsarztes Prof. Dr. Fritsch
in Wien verdanke ich weitere Mittheilungen über diesen Taschen-
tuchfetischisten, welcher im August 1890 neuerdings verhaftet wurde,
als er gerade einer Dame das Taschentuch aus dem Rocke ziehen
wollte.
Bei einer Hausdurchsuchung fand man 446 Stück Damentaschentücher
vor. Ueberdies will er 2 Bündel solcher Corpp. delicti verbrannt haben. Ferner
ergab sich im Laufe der Untersuchung, dass X. schon 1883 wegen Diebstahls
von 27 Sacktüchern mit 14 Tagen Arrest und wegen des gleichen Delicts 1886
mit 3 Wochen Arrest bestraft war.
Ueber seine verwandtschaftlichen Beziehungen erfährt man nur, dass
sein Vater viel an Congestionen litt und dass eine Tochter seines Bruders
schwachsinnig und Constitutionen neuropathisch ist.
X. hatte 1879 geheirathet und ein selbständiges Geschäft angefangen.
1881 gerieth er in Concurs. Bald darauf begehrte seine Frau, die sich mit
ihm nicht vertragen konnte und der er angeblich seine eheliche Pflicht nicht
leistete (von X. bestritten), die Ehescheidung. Er lebte in der Folge als Bäcker-
gehilfe im Geschäfte seines Bruders.
Seinen unglücklichen Drang nach Taschentüchern von Damen beklagt
er tief, aber wenn er in die bezügliche Situation komme, vermöge er sich
leider nicht zu beherrschen. Er verspüre dabei ein Wonnegefühl und es sei
Fetischismus. 179
ihm, wie wenn jemand ihn dazu dränge. Zuweilen vermöge er sich zurück-
zuhalten, aber wenn die Dame ihm sympathisch sei, erliege er im ersten An-
trieb. Er sei dabei ganz nass von Schweiss, theils aus Angst vor Entdeckung,
theils in Folge des Triebes zur Ausführung der That. Schon seit den Pubertäts-
jahren will er sinnliche Erregungen beim Anblick von Weibern gehörigen
Taschentüchern empfunden haben. Der näheren Umstände, unter welchen
diese fetischistische Association sich knüpfte, vermag er sich nicht zu erinnern.
Die sinnliche Erregung beim Anblick von Damen mit aus der Tasche hervor-
stehendem Taschentuch habe sich immer mehr gesteigert. Wiederholt sei es
dabei zu Erectionen gekommen, nie aber zu Ejaculation.
Vom 21. Jahr ab will er einige Male Anwandlungen zu normaler Ge-
schlechtsbefriedigung gehabt und ohne bestehende Taschentuchvorstellungen
anstandslos coitirt haben. Mit überhandnehmendem Fetischismus sei die An-
eignung von Taschentüchern für ihn eine viel grössere Befriedigung geworden
als der Coitus. Die Aneignung eines Taschentuchs einer sympathischen Dame
sei ihm soviel werth gewesen, als ob er mit der betreffenden Dame sexuell
verkehrt hätte. Er fühlte dabei wahren Orgasmus.
Konnte er nicht in den Besitz eines begehrten Taschentuches gelangen,
so fühlte er quälende Aufregung, Zittern, Schweiss am ganzen Körper.
Taschentücher von ihm besonders sympathischen Frauen bewahrte er
separat auf, weidete sich an ihrem Anblick und fühlte dabei grosses Wohl-
behagen. Auch der Geruch derselben machte ihm eine wonnige Empfindung,
jedoch behauptet er, es sei wesentlich der eigenthümliche Wäschegeruch, nicht
der etwaigen Parfüms gewesen, der ihn sinnlich erregte. Masturbirt will er
nur höchst selten haben.
Ausser zeitweiligem Kopfschmerz und Schwindel klagt X. über keine
körperlichen Beschwerden. Er bedauert tief sein Unglück, seinen krankhaften
Trieb, den bösen Dämon, der ihn zu solchen strafbaren Handlungen antreibe.
Er habe nur einen Wunsch, dass ihm Jemand helfen könnte. Objectiv finden
sich leicht neurasthenische Erscheinungen, Anomalien der Blutvertheilung, un-
gleiche Pupillen.
Nachweis, dass X. unter krankhaftem, unwiderstehlichem Zwang seine
Delicte begangen hat. Freisprechung.
Solche Fälle von Taschentuchfetischismus, der ein abnormes
Individuum bis zu Diebstählen fortreisst, sind sehr zahlreich. Sie
kommen auch bei conträr Sexualen vor, wie der folgende Fall be-
weist, den ich Herrn Dr. MolFs hier mehrfach citirtem Werke
p. 162 entnehme *).
!) Pag. 161 op. cit. sagt Dr. Moll über diesen Trieb bei Heterosexualen:
„Die Leidenschaft für Taschentücher kann soweit gehen, dass ein Mann voll-
ständig im Banne des Taschentuchs steht. Eine weibliche Person sagte mir:
,Ich kenne einen Herrn; wenn ich ihn in der Ferne sehe, so brauche ich nur
mein Taschentuch hervorzuziehen, so dass es aus der Tasche etwas heraus-
guckt, und ich bin sicher, jener Herr folgt mir wie ein Hund seinem Herrn
180 Paraesthesia sexualis.
Beobachtung 84. Fall von Taschentuchfetischismus bei con-
trärer Sexualempfindung.
K. , 38 Jahre alt, Handwerker, ein kräftig gebauter Mann, klagt über
zahlreiche Beschwerden, Schwäche in den Beinen, Rückenschmerzen, Kopf-
schmerz, Mangel an Arbeitslust u. s. w. Die Klagen machen den ausgesproche-
nen Eindruck von Neurasthenie mit Neigung zur Hypochondrie. Erst mehrere
Monate, nachdem Patient in meiner Behandlung gewesen, gibt er an, dass er
auch sexuell abnorm sei.
K. hat niemals irgendwelchen Trieb zum Weibe gehabt; schöne Männer
hingegen übten von jeher einen ganz besonderen Reiz auf ihn aus. Patient
hat von Jugend auf bis zur Zeit, wo er zu mir kam, viel onanirt. Mutuelle
Onanie oder Päderastie hat K. niemals getrieben. Er glaubt auch nicht, dass
er hierin eine Befriedigung gefunden hätte, da trotz seiner Vorliebe für Männer
ein weisses Wäschestück von ihnen den Hauptreiz auf K. ausübte, wobei
aber die Schönheit des Besitzers eine Rolle spielte; besonders sind es Taschen-
tücher von schönen Männern, durch die K. sexuell erregt wird. Seine höchste
Wollust besteht darin, dass er in die Taschentücher von Männern masturbirt.
Er nahm aus diesem Grunde öfter seinen Freunden Taschentücher; um sich
vor Entdeckung der Entwendung zu schützen, liess Patient stets eines seiner
eigenen Taschentücher bei seinen Freunden zurück als Ersatz des jeweilig ge-
stohlenen. K. wollte auf diese Weise dem Verdacht des Diebstahls entgehen
und den Schein einer Verwechslung erregen. Auch andere Wäsche von Männern
erregte den K. sexuell, aber nicht in dem Grade wie Taschentücher.
Den Coitus mit Weibern hat K. öfter ausgeführt, wobei er Erection
mit Ejaculation hatte, aber ohne Wollustgefühl. Auch bestand keinerlei Reiz
für den Patienten, den Beischlaf auszuüben. Die Erection und Ejaculation
traten auch nur dann auf, wenn Patient während des Aktes an das Taschen-
tuch eines Mannes dachte ; noch leichter war dieser dem Patienten dann mög-
lich, wenn er das Taschentuch eines Freundes mitnahm und es während des
Beischlafs in der Hand hielt.
Entsprechend seiner sexuellen Perversion verlaufen auch die nächtlichen
Pollutionen unter wollüstigen Vorstellungen, in denen Männerwäsche eine
Hauptrolle spielt.
Noch weit häufiger als die Wäschefetischisten sind die feti-
schistischen Schwärmer für den Schuh des Weibes. Diese Fälle
sind geradezu zahllos und es ist eine grosse Zahl derselben auch
schon zur wissenschaftlichen Beobachtung gelangt, während über
den ähnlichen Handschuhfetischismus mir nur einige Mittheilungen
aus dritter Hand vorliegen (über den Grund der relativen Seltenheit
des Handschuhfetischismus s. oben S. 166).
Ich kann hingehen, wohin ich will, jener Herr wird mir immer nachfolgen;
der Herr kann in einer Droschke fahren, er kann bei der Erledigung eines
sehr wichtigen Geschäftes sein; wenn er mein Taschentuch erblickt, lässt-er
jenes im Stich, um mir, resp. dem Taschentuch zu folgen.'"
Fetischismus. 181
Beim Schuh fetischismus fehlt aber durchaus die nahe
Beziehung des Gegenstandes zum Leibe des Weibes, welche den
Wäschefetischismus begreiflich macht. Aus diesem Grunde, und
weil eine ganze Anzahl gut beobachteter Fälle vorliegt, in welchem
die fetischistische Schwärmerei für den Schuh oder Stiefel des
Weibes, bewusster und unbezweifelbarer Weise, aus einem maso-
chistischen Vorstellungskreise hervorwächst, ist wohl die Präsump-
tion gerechtfertigt, dass eine, wenn auch verborgene Wurzel maso-
chistischer Natur für diesen Schuhfetischismus stets anzunehmen ist,
wenn eine andere Art seiner Entstehung im speciellen Falle nicht
nachweisbar ist.
Aus diesem Grunde wurde die grössere Zahl der vorliegenden
Beobachtungen über Schuh- resp. Fussfetischismus oben in dem
Abschnitt „Masochismus" aufgenommen. Dort wurde auch wohl
der regelmässig masochistische Charakter dieser Form des erotischen
Fetischismus zur Genüge durch Aufzeigung der Uebergänge dar-
gethan.
Diese Präsumption masochistischen Charakters wird nur dort
für den Schuhfetischismus entkräftet und aufgehoben, wo eine nach-
weisbare anderweitige zufällige Veranlassung für eine Association
zwischen sexuellen Regungen und der Vorstellung des Frauenschuhes
vorliegt, dessen Zustandekommen a priori ja ziemlich unwahrschein-
lich wäre.
Ein solcher nachweisbarer Zusammenhang liegt aber bei den
beiden folgenden Beobachtungen vor:
Beobachtung 85. Schuhfetischismus. Herr v. P., aus altadeligem
Geschlecht, Pole, 32 Jahr, verheirathet, consultirte mich 1890 wegen „Unnatür-
lichkeit" seiner Vita sexualis. Er versichert, aus ganz gesunder Familie zu
stamme«, sei übrigens schon von Kindesbeinen auf nervös, als lljähriger Junge
an Chorea minor leidend gewesen. Seit 10 Jahren leide er viel an Schlaf-
losigkeit und verschiedenen neurasthenischen Beschwerden. ^
Vom 15. Jahr ab will er erst den Unterschied der Geschlechter erkannt
und sexuelle Regungen gefühlt haben. 17 Jahre alt, habe ihn eine französische
Gouvernante verführt, jedoch Coitus nicht gestattet, sodass nur gegenseitige
mächtige Erregung der Sinnlichkeit (mutuelle Masturbation) möglich war.
Mitten in dieser Situation fiel sein Blick auf die hocheleganten Stiefeletten
dieser Person. Sie machten mächtigen Eindruck. Sein Verkehr mit dieser
liederlichen Person dauerte 4 Monate. Während dieser Attouchements wurden
ihre Stiefeletten zum Fetisch für den Unglücklichen. Er begann sich für
Damenschuhe überhaupt zu interessiren und lungerte förmlich herum, um
hübsch chaussirter Damen ansichtig zu werden. Der Schuhfetisch gewann in
seinem Bewusstsein enorme Macht. Sicuti calceolus mulieris gallicae penem
182 Paraesthesia sexualis.
tetigit, statiui summa cum voluptate sperma eiaculavit. Nach der Entfernung
der Verführerin ging er zu Puellis, durch die er die gleiche Manipulation
vornehmen Hess. Gewöhnlich genügte diese zur Befriedigung. Nur selten und
subsidiär griff er zum Coitus. Immer mehr schwand ihm die Neigung dazu.
Seine Vita sexualis bestand in Traumpollutionen, bei welchen ausschliesslich
Frauenschuhe eine Rolle spielten, und in Befriedigung durch Frauenschuhe,
apposita ad mentulam, aber es musste dies von der Puella geschehen. Sinnlich
erregte ihn im Verkehr mit dem andern Geschlecht nur der Schuh und zwar
der elegante, von französischer Facon, mit Absatz, glänzend schwarz, wie das
Original.
Accessorische Bedingungen sind im Laufe der Zeit geworden: Schuh
einer Prostituirten , dieselbe recht elegant, chic, mit gesteiften Unterröcken
und womöglich schwarzen Strümpfen.
Sonst interessirt ihn am Weibe gar nichts. Der nackte Fuss ist
ihm ganz gleichgiltig. Auch seelisch hat das Weib nicht den mindesten
Reiz für ihn. Masochistische Gelüste im Sinne des Getreten-
werdens hat er nie gehabt. Im Lauf der Jahre hat sein Fetischismus
solche Macht gewonnen, dass wenn er auf der Strasse einer Dame mit gewissem
Aeussern und gewissen Schuhen ansichtig wird, er so heftig erregt wird, dass
er masturbiren muss. Ein geringer Druck auf den Penis genügt dem hoch-
gradig neurasthenisch Gewordenen zur Ejaculation. Auch Schuhe in den Ver-
kaufsauslagen, sogar neuerlich blosse Schuhwaarenannoncen genügten, um ihn
heftig zu erregen. Von sehr reger Libido, half er sich mit Masturbation,
wenn ihm Schuhsituationen nicht zu Gebot standen. Pat. erkannte früh das
Peinliche und Gefährliche seiner Situation und wenn er sich auch bis auf
neurasthenische Beschwerden physisch wohl fühlte, so war er doch moralisch
sehr gedrückt. Er suchte Hülfe bei den verschiedensten Aerzten. Kaltwasser-
heilanstalten und Hypnoseversuche waren erfolglos. Die renommirtesten Aerzte
riethen ihm zur Heirath und versicherten ihm, sobald er einmal ein Mädchen
ernstlich liebe, werde er von seinem Fetischbann befreit sein. Pat. hatte kein
Vertrauen in seine Zukunft, befolgte aber den Rath der Aerzte. Er wurde
grausam in seinen durch die Autorität der Aerzte erweckten Hoffnungen be-
trogen, obwohl er eine durch geistige und körperliche Eigenschaften aus-
gezeichnete Dame zum Altar führte. Die Brautnacht war schrecklich, er fühlte
sich wie ein Verbrecher und Hess seine Frau unberührt. Am folgenden Tag
sah er eine Prostituirte mit dem gewissen Chic. Er war schwach genug mit
ihr in seiner Weise zu verkehren. Nun kaufte er ein Paar elegante Damen-
stiefeletten, versteckte sie im Ehebett und indem er sie während der ehelichen
Umarmung betastete, konnte er nach einigen Tagen seiner ehelichen Pflicht
genügen. Er ejaculirte tardiv, da er sich zum Coitus^, zwingen musste, und
schon nach wenig Wochen versagte dieser Kunstgriff, indem seine Phantasie
erlahmte. P. fühlte sich namenlos elend und hätte am liebsten seinem Leben
ein Ende gemacht. Seine Frau, sinnlich bedürftig und durch den bisherigen
Verkehr sehr erregt, konnte er nicht mehr befriedigen und sah sie physisch
und moralisch schwer leiden. Sein Geheimniss konnte und wollte er ihr nicht
entdecken. Er empfand Ekel vor dem ehelichen Umgang, fürchtete sich vor
seiner Frau , vor den Abenden , dem Alleinsein mit ihr. Er brachte es zu
keiner Erection mehr.
Fetischismus. 1 83
Er versuchte es wieder mit Prostituirten , befriedigte sich , indem er
ihre Schuhe betastete, dann musste die Puella calceolo mentulam tangere;
er ejaculirte oder, wenn dies nicht geschah, versuchte er Coitus mit dem
feilen Weibe, jedoch ohne Erfolg, da dann sofort Ejaculation eintrat. Pat.
kommt ganz verzweifelt zur Consultation. Er beklagt es tief, entgegen seiner
inneren Ueberzeugung , dem unseligen Rath der Aerzte gefolgt zu sein, eine
brave Frau unglücklich gemacht, physisch und moralisch geschädigt zu haben.
Ob er es vor Gott verantworten könne, eine solche Ehe fortzusetzen? Selbst
wenn er sich seiner Frau entdecke , sie Alles für ihn thun würde , sei ihm
nicht geholfen, denn es müsste eben der bewusste Demimond eparfum dabei sein.
Die Erscheinung dieses Unglücklichen bietet ausser seinem Seelenschmerz
nichts Auffälliges. Genitalien ganz normal. Prostata etwas vergrössert. Er
klagt, dass er so unter der Herrschaft seiner Stiefelvorstellungen sei, dass er
schon erröthe, wenn nur von Stiefeln die Rede sei. Seine ganze Phantasie
drehe sich um solche. Wenn er auf seinem Landgut sei, müsse er oft plötz-
lich nach der 10 Meilen entfernten Stadt reisen, um seinen Fetischismus an
Schauläden oder auch an Puellis zu befriedigen.
Zu einer Behandlung konnte sich der Bedauernswerthe nicht ent-
schliessen, da sein Vertrauen zum ärztlichen Stand tief erschüttert war. Ein
Versuch, ob Hypnose und damit eine Beseitigung der fetischistischen Associa-
tion möglich sei, scheiterte an der seelischen Aufregung des Unglücklichen,
den ausschliesslich der Gedanke beherrschte, seine Frau unglücklich gemacht
zu haben.
Beobachtung 86. X., 24 Jahre, aus belasteter Familie (Mutterbruder
und Grossvater irrsinnig, Schwester epileptisch, andere Schwester an Migräne
leidend, Eltern von erregbarem Temperament), hatte in der Dentitionszeit
einige Krampfanfälle gehabt, wurde, 7 Jahre alt, von einem Dienstmädchen
zur Onanie verleitet. Zum ersten Mal empfand X. ein Vergnügen an diesen
Manipulationen, cum illa puella fortuito pede calceolo tecto
penem tetigit. Damit war bei dem belasteten Jungen eine bezügliche
Association gegeben, vermöge welcher fortan der blosse Anblick eines Frauen-
schuhs, ja schliesslich die blosse Phantasievorstellung genügte, um sexuelle
Erregung und Erection hervorzurufen. Er onanirte nun, Frauenschuhe an-
sehend oder solche sich vorstellend. In der Schule erregten ihn mächtig die
Schuhe der Lehrerin, überhaupt solche, die theilweise durch lange Frauen-
kleider verhüllt waren. Eines Tages konnte er sich nicht enthalten, die Leh-
rerin bei den Schuhen zu fassen, was ihm eine grosse geschlechtliche Erregung
verursachte. Trotz Schlägen konnte er nicht umhin, wiederholt diese Hand-
lung auszuführen. Endlich erkannte man, dass hier ein krankhaftes Motiv
im Spiel sein müssi^und that ihn zu einem Lehrer. Er schwelgte nun in der
Erinnerungsvorstellung an die Schuhscene mit der Lehrerin, hatte dabei Erec-
tion, Orgasmus und vom 14. Jahr ab Ejaculation. Daneben masturbirte er,
während er an einen Frauenschuh dachte. Eines Tages kam ihm der Ge-
danke, seinen Genuss zu erhöhen, indem er einen solchen Schuh zu mastur-
batorischen Zwecken benützte. Er nahm nun häufig heimlich Schuhe und be-
nutzte sie zu solchem Zweck.
Sonst konnte ihn am Weibe nichts sexuell erregen; der Gedanke an
184 Paraesthesia sexualis.
Coitus erfüllte ihn mit Abscheu. Auch Männer interessirten ihn in keiner
"Weise.
Mit 18 Jahren eröffnete er einen Kramladen und handelte u. A. auch
mit Frauenschuhen. Es erregte ihn geschlechtlich, indem er Käuferinnen Schuhe
anpassen oder mit- den von ihnen benutzten Schuhen manipuliren konnte.
Eines Tages erlitt er dabei einen epileptischen Anfall und bald darauf einen
zweiten, als er in gewohnter Weise onanirte. Jetzt erst erkannte er die Ge-
sundheitsschädlichkeit seiner sexuellen Praktiken. Er bekämpfte seine Onanie,
verkaufte keine Schuhe mehr und bemühte sich, die krankhafte Association
zwischen Frauenschuhen und Geschlechtsfunction los zu werden. Nun traten
aber massenhaft Pollutionen unter erotischen Träumen, Frauenschuhe betreffend,
auf, und die epileptischen Anfälle dauerten fort. Obwohl ohne geringste
sexuelle Empfindung für das weibliche Geschlecht, entschloss er sich zur Hei-
rath, die ihm als einziges Heilmittel erschien.
Er heirathete eine junge hübsche Dame. Trotz lebhafter Erection, wenn
er an die Schuhe seiner Frau dachte, war er aber bei Cohabitations versuchen
gänzlich impotent, indem das Unlustgefühl gegen Coitus, überhaupt gegen
intimen Verkehr, den Einfluss der sexuell erregenden Schuhvorstellung weit
überwog. Wegen seiner Impotenz wandte sich Pat. an Dr. Hammond, der
seine Epilepsie mit Brom behandelte und ihm rieth, einen über dem Ehebett
aufgehängten Schuh beim Coitus fest zu fixiren und sich seine Frau als Schuh
zu denken. Pat. wurde frei von epileptischen Anfällen und potent, so dass
er etwa alle 8 Tage coitiren konnte. Auch nahm seine sinnliche Erregung
durch Frauenschuhe immer mehr ab. (Hammond, sexuelle Impotenz, deutsch
von Salinger, 1889, S. 23.)
Diese beiden Fälle von Schuhfetischismus , welche nachweis-
lich auf subjectiv zufälligen Associationen beruhen, wie die Fälle
des Fetischismus überhaupt, haben, in Beziehung auf ihre objective
Veranlassung, nichts besonders Auffälliges, da es sich im ersten
Fall um einen Theileindruck der Gresammterscheinung des Weibes,
im zweiten Fall um einen Theileindruck einer erregenden Mani-
pulation handelt.
Es sind aber auch Fälle beobachtet worden — bis jetzt sind
es allerdings nur zwei — in welchen die entscheidende Association
absolut durch keinen Zusammenhang der Beschaffenheit des Objects
mit normaliter erregenden Dingen herbeigeführt wurde.
Beobachtung 87. L. , 37 Jahre alt, Commis, aus sehr belasteter
Familie, bekam mit 5 Jahren die erste Erection, als er seinen Schlafkameraden,
einen älteren Verwandten, eine Nachtmütze aufsetzen sah. Die gleiche Wirkung
trat ein, als er später einmal die alte Hausmagd eine Nachthaube aufsetzen
sah. Später genügte zur Erection die blosse Vorstellung eines alten häss-
lichen, mit einer Nachthaube bedeckten Frauenkopfes. Der blosse Anblick
einer Haube oder der einer nackten Frauengestalt oder eines nackten Mannes
Hessen ihn kalt, aber die Berührung einer Nachtmütze rief Erection, zuweilen
Fetischismus. 185
selbst Ejaculatioö hervor. L. war nicht Masturbant, auch bis zum 32. Jahr,
wo er ein schönes und geliebtes Mädchen heirathete, sexuell nie thätig ge-
wesen.
In der Hochzeitsnacht blieb er unerregbar, bis er in seiner Noth das
Erinnerungsbild des alten hässlichen Weiberkopfes mit der Nachtmütze zu
Hülfe nahm. Sofort gelang der Coitus.
In der Folge musste er jeweils zu diesem Mittel greifen. Seit der Kind-
heit hatte er zeitweise Anfälle von tiefer Gemüthsverstimmung mit Anwand-
lungen von Selbstmord, ab und zu auch nächtliche schreckhafte Hallucinationen.
Beim Hinausschauen zum Fenster bekam er Schwindel und Angstzustände. Er
war ein linkischer, sonderbarer, verlegener, geistig schlecht veranlagter Mensch.
(Charcot und Magnan, Arch. de Neurol. 1882, Nr. 12.)
In diesem ganz merkwürdigen Falle scheint die zeitliche Co-
incidenz der ersten geschlechtlichen Regung mit einem ganz hetero-
genen Eindruck allein das Gelüst determinirt zu haben.
Einen mindestens ebenso seltsamen Fall von zufällig asso-
ciativem Fetischismus erwähnt Hammond op. cit. p. 50. Bei
einem im Uebrigen ganz gesunden und psychisch normalen, ver-
heiratheten Manne von 30 Jahren soll die Potenz in Folge der
Uebersiedlung in ein anderes Haus plötzlich verschwunden, und
nach Wiederherstellung der gewohnten Schlafzimmereinrichtung
zurückgekehrt sein.
c) Der Fetisch ist ein bestimmter Stoff.
Es gibt eine dritte Hauptgruppe von Fetischisten , deren
Fetisch weder ein Theil des weiblichen Körpers noch ein Theil der
weiblichen Kleidung als solcher ist , sondern ein bestimmter
Stoff, der nicht einmal als Stoff weiblicher Bekleidung immer zur
Geltung kommt, sondern auch als blosser Stoff an sich sexuelle
Empfindungen wecken oder steigern kann. Solche Stoffe sind:
Pelzwerk, Sammt und Seide.
Diese Fälle unterscheiden sich von den vorhergehenden Er-
scheinungen des erotischen Kleidungsfetischismus dadurch, dass
diese Stoffe nicht, wie Frauenwäsche, in naher Beziehung zum
weiblichen Körper stehen und nicht wie Schuhe und Handschuhe
Beziehungen zu bestimmten Theilen desselben und deren ander-
weitiger symbolischer Bedeutung haben. Auch kann dieser Feti-
schismus nicht, wie die einzeln stehenden Fälle der Nachtmütze
und der Schlafzimmereinrichtung , aus einer ganz zufälligen Asso-
ciation abgeleitet werden, da diese Fälle eine ganze Gruppe mit
186 Paraesthesia sexualis.
gleichartigem Object bilden. Man muss wohl annehmen, dass ge-
wisse Tastempfindungen (eine Art Kitzel, der in einer entfernten
Verwandtschaft zu wollüstigen Empfindungen steht?) bei hyper-
ästhetischen Individuen hier veranlassend für die Entstehung des
Fetischismus sind.
Hier möge zunächst die folgende Selbstbeobachtung eines mit
diesem seltsamen Fetischismus behafteten Mannes Platz finden:
Beobachtung 88. N. N., 37 Jahre alt, aus neuropathischer Familie
stammend, selbst von neuropathischer Constitution, gibt an:
Von frühester Jugend ist mir eine tiefgewurzelte Schwärmerei für Pelz-
werk und Sammt eigen in dem Sinne, dass diese Stoffe bei mir geschlechtliche
Erregung bewirken, ihr Anblick und ihre Berührung mir ein wollüstiges Ver-
gnügen bereiten. An irgend ein Ereigniss, welches diese seltsame Neigung
veranlasst hätte (etwa gleichzeitiges Eintreten der ersten sexuellen Regung mit
dem Eindrucke dieser Stoffe, resp. erste Erregung durch ein so gekleidetes
Weib), überhaupt an den ersten Anfang dieser Schwärmerei vermag ich mich
nicht zu erinnern. Ich will damit die Möglichkeit eines solchen Ereignisses,
einer zufälligen Verbindung im ersten Eindruck und darauf beruhender Asso-
ciation, nicht absolut ausschliessen , halte es aber für sehr unwahrscheinlich,
dass dergleichen stattgefunden hat, weil ich glaube, dass ein solches Vorkomm-
niss sich mir tief eingeprägt hätte.
Ich weiss nur, dass ich schon als kleines Kind lebhaft darnach trachtete,
Pelzwerk zu sehen und zu streicheln, und dabei eine dunkle wollüstige Em-
pfindung hatte. Mit dem ersten Auftreten bestimmter sexueller Vorstellungen,
d. h. der Richtung geschlechtlicher Gedanken auf das Weib, war auch schon
die besondere Vorliebe für das Weib, das gerade mit diesen Stoffen gekleidet
ist, vorhanden.
So ist es seither bis in mein reifes Mannesalter geblieben. Ein Weib,
welches einen Pelz oder Sammt, oder gar beides trägt, erregt mich viel rascher
und viel mächtiger, als eines ohne dieses Beiwerk. Die genannten Stoffe sind
zwar nicht conditio sine qua non der Erregung, die Begierde tritt auch ohne
sie auf die gewöhnlichen Reize ein; aber der Anblick und namentlich die
Berührung dieser Fetischstoffe bildet für mich ein mächtiges Unterstützungs-
mittel anderer normaler Reize und eine Erhöhung des erotischen Genusses.
Oft bringt mich der blosse Anblick eines nur leidlich hübschen Frauenzimmers,
welches aber in diese Stoffe gekleidet ist, in lebhafte Erregung und reisst
mich völlig hin. Schon der Anblick meiner Fetischstoffe gewährt mir Genuss,
viel grösseren die Berührung. (Der penetrante Geruch des Pelzwerks ist mir
dabei gleichgiltig , eher unangenehm, nur wegen der Association mit ange-
nehmen Gesichts- und Tastempfindungen leidlich.) Ich sehne mich mächtig
danach, diese Stoffe am Körper eines Weibes zu betasten, zu streicheln, zu
küssen, mein Gesicht darein zu vergraben. Der höchste Genuss ist mir, inter
actum meinen Fetisch auf der Schulter eines Weibes zu sehen und zu fühlen.
Sowohl Pelzwerk allein als Sammt allein übt die geschilderte Wirkung
auf mich aus, Ersteres viel stärker als Letzterer. Am stärksten wirkt die
Combination beider Stoffe. Auch weibliche Kleidungsstücke aus Sammt und
Fetischismus. 187
Pelzwerk, allein ohne die Trägerin gesehen und befühlt, wirken sexuell erregend
auf mich ein, ja ebenso — wenn auch in geringerem Grade — Pelzwerk zu
Decken verarbeitet, die nicht zur weiblichen Kleidung gehören, auch Sammt
und Plüsch an Möbeln und Draperien. Die blossen Abbildungen von Pelz-
und Sammttoiletten sind für mich Gegenstand erotischen Interesses, ja das
blosse Wort „Pelz" hat für mich magische Eigenschaft und ruft sofort erotische
Vorstellungen hervor.
Der Pelz ist für mich so sehr ein Gegenstand sexuellen Interesses, dass
ein Mann, der einen wirksamen (s. unten) Pelz trägt, mir einen höchst unan-
genehmen, ärgerlichen und skandalösen Eindruck macht, etwa wie ihn auf jeden
normalen Menschen ein Mann in Costüm und Haltung einer Ballettänzerin
machen würde. Aehnlich zuwider, weil einander widerstreitende Empfindungen
erweckend , ist mir der Anblick einer alten oder hässlichen Frau in einem
schönen Pelz.
Dieses erotische Wohlgefallen an Pelzwerk und Sammt ist etwas von
bloss ästhetischem Gefallen ganz und gar Verschiedenes. Ich habe einen sehr
lebhaften Sinn für schöne weibliche Kleidung, dabei auch noch eine besondere
Vorliebe für Spitzen , diese ist aber rein ästhetischer Natur. Eine Frau in
Spitzentoilette (oder sonst in geschmückter, eleganter Kleidung) ist schöner,
aber nur eine in meine Fetischstoffe gekleidete ist reizender als eine andere
unter sonst gleichen Umständen.
Pelzwerk übt aber auf mich die geschilderte Wirkung nur dann aus,
wenn es recht dichte, feine, glatte, ziemlich lange, in die Höhe stehende, so-
genannte Grannenhaare hat. Von diesen hängt, wie ich deutlich bemerkt
habe, die Wirkung ab. Ganz gleichgültig sind für mich nicht nur die allge-
mein für ordinär geltenden, grobhaarigen, zottigen Pelzsorten, sondern ebenso
unter den für schön und edel geltenden diejenigen, bei welchen das Grannen-
haar ganz entfernt wird (Seehund, Biber), oder von Natur kurz ist (Hermelin),
oder überlang und liegend (Affe, Bär). Die specifische Wirkung haben nur die
stehenden Grannenhaare bei Zobel, Marder, Skunks u. dergl. Nun besteht
aber auch Sammt aus dichten, feinen, in die Höhe stehenden Haaren (Fasern),
worauf die gleiche Wirkung beruhen dürfte. Die Wirkung scheint eben von
einem ganz bestimmten Eindruck dichter feiner Haarspitzen auf die Endorgane
der sensiblen Nerven abzuhängen.
Wieso aber dieser eigenthümliche Eindruck auf die Tastnerven zum
Geschlechtsleben in Beziehung tritt, ist mir ganz räthselhaft. Thatsache ist,
dass dies bei vielen Menschen der Fall ist. Ich bemerke noch ausdrücklich,
dass mir schönes Haar des Weibes wohl gefällt, aber keine grössere Rolle für
mich spielt als jeder andere Reiz , und dass mir bei dem Berühren von Pelz-
werk kein Gedanke an Frauenhaar kommt. (Die Tastempfindung hat auch
an sich nicht die mindeste Aehnlichkeit.) Ueberhaupt tritt gar keine weitere
Vorstellung dabei auf. Pelz an und für sich weckt eben bei mir die Sinn-
lichkeit; wieso, ist mir ganz unerklärlich.
Die bloss ästhetische Wirkung , die Schönheit edlen Pelzwerks , für die
wohl Jeder mehr oder minder empfänglich ist, die seit Raphael's Fornarina
und Ruben's Helene Fourment von unzähligen Malern als Folie und Rahmen
weiblicher Reize verwendet worden ist, und die in der Mode, in der Kunst
und Wissenschaft weiblicher Bekleidung eine so grosse Rolle spielt — diese
188 Paraesthesia sexualis.
ästhetische Wirkung erklärt hier gar nichts, wie eben schon bemerkt. Die
gleiche ästhetische Wirkung, wie auf normale Menschen schönes Pelzwerk,
üben auf mich, wie auf Jeden, Blumen, Bänder, Edelsteine und jeder andere
Schmuck aus. Solche Dinge heben, geschickt verwendet, die weibliche Schön-
heit, und können so unter Umständen etwa indirect einen sinnlichen Effect
hervorrufen. Niemals haben sie auf mich einen directen mächtigen sinnlichen
Effect, wie die genannten Fetischstoffe.
Ohwohl nun bei mir, und wohl bei allen „Fetischisten" , die sinnliche
und die ästhetische Wirkung durchaus scharf zu trennen sind, so hindert das
nicht, dass ich auch an meinen Fetisch eine ganze Reihe von ästhetischen
Anforderungen in Bezug auf Form, Schnitt, Farbe etc. stelle. Ich könnte mich
hier über diese Anforderungen meines Geschmacks noch sehr weitläufig ver-
breiten, unterlasse dies aber als nicht mehr zum eigentlichen Thema gehörig.
Ich wollte nur darauf aufmerksam machen, wie der Fetischismus eroticus sich
noch mit rein ästhetischen Geschmacksregungen complicirt.
Ebenso wenig wie durch den ästhetischen Eindruck lässt sich die spe-
eifische erotische Wirkung meiner Fetischstoffe etwa durch die Association mit
der Vorstellung des Körpers einer Trägerin erklären. Denn erstens wirken
diese Stoffe auf mich, wie gesagt, auch ganz vom Körper isolirt, als blosse
Stoffe, und zweitens wirken viel intimere Kleidungsstücke (Mieder, Hemd), die
ohne Zweifel Associationen hervorrufen , weit schwächer. Die Fetischstoffe
haben also selbständigen sinnlichen Werth für mich. Wieso, das ist mir selbst
räthselhaft.
Dieselbe erotische Fetischwirkung wie Pelzwerk und Sammt haben für
mich Federn auf Frauenhüten, an Fächern etc. (ähnliche Berührungsempfindung
des leicht Spielenden, eigenthümlich Kitzelnden). Endlich kommt die Fetisch-
wh'kung in sehr abgeschwächtem Grade auch noch anderen glatten Stoffen,
Atlas, Seide zu, während rauhe Stoffe, rauhes Tuch, Flanell geradezu abstos-
send wirken.
Zum Schlüsse will ich noch erwähnen, dass ich irgendwo eine Abhand-
lung von Carl Vogt über mikrokephale Menschen gelesen habe, wonach eines
dieser Wesen sich beim Anblick eines Pelzes auf diesen stürzte und ihn unter
lebhaften Zeichen der Freude streichelte. Es liegt mir fern, deshalb im weit
verbreiteten Pelzfetischismus ernstlich einen atavistischen Rückschlag in den
Geschmack der bepelzten Urahnen des Menschengeschlechts sehen zu wollen.
Jener Cretin übte nur mit der ihm zukommenden Ungenirtheit einen ihm an-
genehmen TastaM aus, der nicht nothwendig sexuell-sinnlicher Natur sein
musste; wie auch viele ganz normale Menschen gern eine Katze oder der-
gleichen, selbst Sammt und Pelzwerk streicheln, ohne aber dadurch gerade
sexuell erregt zu werden.
In der Literatur finden sich einige hierher gehörige Fälle:
Beobachtung 89. Knabe von 12 Jahren fühlte mächtige geschlecht-
liche Erregung, als er zufällig sich mit einem Fuchspelz zudeckte. Von nun
an Masturbation unter Benützung von Pelzwerk oder Mitnehmen eines zot-
tigen Hündchens ins Bett, wobei Ejaculation erfolgte, zuweilen gefolgt von
einem hysterischen Anfall. Seine nächtlichen Pollutionen waren dadurch be-
Fetischismus. 189
dingt, dass er träumte, er liege nackt auf weichem Pelze und sei von diesem
ganz eingehüllt. Durch die Keize von Männern oder Frauen war er ganz
unerregbar.
Er wurde neurasthenisch , litt an Beachtungswahn, meinte, Jedermann
bemerke seine sexuelle Anomalie, hatte deshalb Taed. vitae und wurde schliess-
lich irrsinnig.
Er war sehr belastet, hatte unregelmässig gebildete Genitalien und
sonstige anatomische Degenerationszeichen. (Tarnowsky, op. cit. p. 22.)
Beobachtung 90. C. ist ein besonderer Liebhaber des Sammts. C
wird durch schöne Weiber in normaler Weise angezogen, ganz besonders aber
erregt es ihn, wenn er die Person, mit der er sexuell verkehrt, in Sammt-
kleidung antrifft. Hier ist nun besonders auffallend, dass nicht sowohl das
Sehen als das Berühren des Sammts die Erregung verursacht. C. sagte mir,
dass das Herüberstreichen über die Sammtjacke einer weiblichen Person ihn so
sehr sexuell errege, wie es auf andere Weise kaum erfolgen könne. (Dr. Moll,
op. cit. p. 127.)
Von ärztlicher Seite wurde mir der folgende Fall mitgetheilt:
In einem Lupanar war ein Mann unter dem Namen „Sammt* bekannt.
Dieser bekleidete eine sympathische Puella mit einem schwarzen Sammtkleide
und erregte und befriedigte seine sexuellen Triebe lediglich durch Bestreichen
seines Gesichts mit einem Zipfel des Sammtkleides, während er sonst mit der
Person nicht in Berührung kam.
Ein anderer Gewährsmann versichert mir, dass namentlich bei Maso-
chisten die Schwärmerei für Pelz, Sammt und Federn häufig vorkommt.
(Vergl. oben Beob. 42. 43.) *)
Ein ganz eigentümlicher Fall von Stofffetischismus ist
der folgende. Er ist verbunden mit dem Trieb, den Fetisch zu
beschädigen, der in diesem Falle entweder ein Element von Sadis-
mus gegen das Weib als Trägerin des Stoffes darstellt oder den
auch sonst bei Fetischisten mehrfach vorkommenden unpersönlichen
Gegenstands-Sadismus (vgl. oben p. 175). Dieser Beschädigungs-
trieb hat den vorliegenden zu einem merkwürdigen Criminalfall
gemacht.
Beobachtung 91. Im Juli 1891 stand der 25jährige Schlossergeselle
Alfred Bachmann in Berlin vor der zweiten Ferienstrafkammer des Landgerichts I.
*) Auch in den Romanen von Sacher-Masoch spielt der Pelz eine
hervorragende Rolle, wie er ja auch einzelnen derselben zum Titel diente.
Gesucht und unbefriedigend erscheint die dort gegebene Erklärung, der Pelz
(Hermelin) sei das Symbol der Herrschaft und deshalb der Fetisch der dort
geschilderten Männer.
190 Paraesthesia sexualis.
Im April d. J. gingen der Polizei mehrfach Anzeigen zu, wonach eine bös-
willige Hand die Kleider von Damen mit einem haarscharfen Instrument zer-
schnitten hatte. Am Abende des 25. April gelang es, den Unhold in der
Person des Angeklagten zu ertappen. Ein Criminalbeamter bemerkte, wie
der Angeklagte sich in auffälliger Weise an eine Dame herandrängte, die in
Begleitung eines Herrn durch die Passage ging. Der Beamte ersuchte die
Dame, ihr Kleid zu besichtigen , während er den Verdächtigen festhielt. Es
stellte sich heraus, dass das Kleid einen ziemlich langen Schnitt erhalten
hatte. Der Angeklagte wurde zur Wache geführt, woselbst man ihn unter-
suchte. Ausser einem scharfen Messer , welches er geständlich zum Aufschlitzen
der Kleider gebrauchte , fand man noch zwei seidene Schleifen bei ihm , wie
die Damen sie an ihren Kleidern anzubringen pflegen; der Angeklagte gab
auch zu, dass er diese im Gedränge von den Kleidern abgetrennt habe. Schliess-
lich förderte die Leibesuntersuchung noch ein seidenes Damen-Halstuch zu
Tage. Dies wollte der Angeklagte gefunden haben. Da seine Behauptung in
diesem Falle nicht widerlegt werden konnte , so wurde er hiefür nur der
Fundunterschlagung angeklagt, während seine sonstige Handlungsweise sich
in zwei Fällen, in denen Strafantrag seitens der Beschädigten gestellt worden
ist, als Sachbeschädigung und in zwei Fällen als Diebstahl kennzeichnete.
Der Angeklagte, ein schon mehrfach vorbestrafter Mensch, mit blassem, aus-
druckslosem Gesicht, gab vor dem Richter eine sonderbare Erklärung über
sein räthselhaftes Thun ab. Die Köchin eines Majors habe ihn einmal die
Treppe hinuntergeworfen, als er bei ihr bettelte, und seit dieser Zeit habe er
einen grimmigen Hass auf das ganze weibliche Geschlecht geworfen. Man
zweifelte an seiner Zurechnungsfähigkeit und Hess ihn deshalb durch einen
Kreisphysikus untersuchen. Der Sachverständige begutachtete im Termine,
dass keinerlei Grund vorliege, den allerdings wenig intelligenten Angeklagten
für geisteskrank zu halten. Der Letztere vertheidigte sich in eigenthümlicher
Weise. Ein unbezähmbarer Trieb zwinge ihn, sich den Damen zu nähern, die
seidene Kleider trugen. Das Berühren eines seidenen Stoffes sei
für ihn ein Wonnegefühl, und dies gehe sogar so weit, dass er im
Untersuchungsgefängnisse erregt worden sei, wenn ihm beim Wollezupfen zu-
fällig ein seidener Faden unter die Finger kam. Der Staatsanwalt Müller II.
hielt den Angeklagten einfach für einen gemeingefährlichen, bösartigen Men-
schen, der für längere Zeit unschädlich gemacht werden müsste. Er beantragte
gegen ihn ein Jahr Gefängniss. Der Gerichtshof verurtheilte den Angeklagten
zu 6 Monaten Gefängniss und einjährigem Ehrverlust.
Ein klassischer Fall von Stoff-(Seide-)Fetischismus ist folgen-
der von Dr. P. Grarnier mitgetheilter.
Beobachtung 92. Am 22. September 1891 wurde V. auf einer Strasse
von Paris verhaftet, indem er sich an Damen in seidenen Kleidern in einer
Weise zu schaffen machte, dass man ihn für einen Taschendieb halten musste.
Er war anfangs ganz vernichtet und kam erst allmählig und unter Umschweifen
zum Geständniss seiner „ Manie". Er ist Commis in einer Buchhandlung,
29 Jahre alt, stammt von einem Vater, der Trinker ist und einer religiös
Fetischismus. 191
überspannten, charakterologisch abnormen Mutter. Diese wollte aus ihm einen
Geistlichen machen. Seit seiner frühesten Jugend hat er einen nach seiner
Meinung angeborenen instinctiven Drang, Seide zu befühlen. Als er mit
12 Jahren als Chorknabe eine Seidenschärpe tragen durfte, konnte er sie nicht
genug betasten. Das Gefühl, das er dabei empfand, vermöge er nicht zu be-
schreiben. Etwas später lernte er ein lOjähriges Mädchen kennen, dem er
kindlich zugethan war. Wenn aber dieses Kind am Sonntag im seidenen Fest-
gewand daher kam, hatte er ein ganz anderes Gefühl. Er musste es brünstig
umarmen und dabei dessen Kleid berühren. Später war es seine Wonne, im
Laden einer Putzmacherin die herrlichen Seidenroben zu beschauen und zu
befühlen. Bekam er Abfälle von Seidenstoff geschenkt, so beeilte er sich, sie
auf den blossen Leib zu legen , worauf dann sofort Erection , Orgasmus und
oft sogar Ejaculation eintrat. Beunruhigt durch diese Gelüste, an seinem
Beruf als künftiger Geistlicher zweifelnd, erzwang er seinen Austritt aus dem
Seminar. Er war damals schwer neurasthenisch in Folge von Masturbation.
Sein Seidenfetischismus beherrschte ihn nach wie vor. Nur wenn ein Weib
ein seidenes Kleid trug, gewann es Reiz für ihn.
Schon in den Träumen seiner Kindheit haben angeblich Damen mit
Seidenkleidern eine dominirende Rolle gespielt und später waren diese Träume
von Pollutionen begleitet. Bei seiner Schüchternheit gelangte er erst spät zur
Cohabitation. Dieselbe war nur möglich mit einem Weib in seidener Robe.
Er zog es vor, im Volksgedränge Damen im Seidenkleid zu berühren, wobei
er unter mächtigem Orgasmus und grossem Wollustgefühl zur Ejaculation ge-
langte. Sein grösstes Glück war es, Abends einen seidenen Unterrock beim
Zubettgehen anzulegen. Das befriedigte ihn mehr als das schönste Weib.
Das gerichtsärztliche Gutachten wies nach, dass V. ein schwer belasteter
Mensch ist, der unter krankhaftem Zwang einem krankhaften Gelüste Folge
gab. Freisprechung.
(Dr. Garnier, Annales d'hygiene publique. 3e serie. XXIX. 5.)
d) Thierfetischismus.
Im Anschluss an den Stofffetischismus möge noch gewisser
Fälle gedacht werden, in welchen Thiere auf Menschen aphrodisisch
wirken. Man könnte hier von Zoophilia erotica sprechen.
Diese Perversion scheint ihre Wurzel in einem Fetischismus
zu haben, dessen Object das Thierfell ist.
Als Vermittlerin für diesen Fetischismus dürfte eine besondere
Idiosynkrasie der Tastnerven anzunehmen sein, vermöge welcher
sie durch Betastung von Pelz, also Thierfell (analog dem Haar-,
Zopf-, Sammt- und Seidefetischismus), eigenartige und wollüstig
betonte Erregungen vermitteln. So erklärt sich vielleicht bei
manchen sexuell Perversen die Vorliebe für Hunde und Katzen
(s. p. 187. 188 besonders Beob. 89). Der folgende von mir be-
obachtete Fall spricht zu Gunsten obiger Annahme.
192 Paraesthesia sexualis.
Beobachtung 93. Zoophilia erotica, Fetischismus. Herr N. N.,
21 Jahre, stammt aus ueuropathisch belasteter Familie und ist selbst consti-
tutioneller Neuropathiker. Schon als Kind hatte er den Zwang, die oder jene
gleichgiltige Handlung auszuführen, aus Angst, dass ihn sonst ein Unheil treffe.
Er lernte leicht, war nie schwer krank, hatte schon als Knabe eine Vorliebe
für Hausthiere, besonders Hunde und Katzen, da, wenn er sie liebkoste, er
ein wollüstig aufregendes Gefühl empfand. Jahrelang gab er sich in ganz
unschuldiger Weise diesem ihn angenehm erregenden Spiel mit solchen Thieren
hin. Als er in die Pubertätsjahre kam, erkannte er, dass das eine unsittliche
Sache sei und zwang sich davon abzulassen. Es gelang ihm, aber nun kamen
solche Situationen im Traume, bald auch von Pollutionen begleitet. Dies
brachte den sexuell erregbaren Knaben auf Onanie. Er will anfangs manuell
sich befriedigt haben, wobei regelmässig Gedanken an Liebkosen und Streicheln
von Thieren sich einstellten. Nach einiger Zeit gelangte er zu psychischer
Onanie, indem er sich solche Situationen vorstellte und damit Orgasmus und
Ejaculation erzielte. Darüber wurde er neurasthenisch.
Niemals will ihm ein sodomitischer Gedanke gekommen sein, das Sexus
bestiarum sei ihm in der Phantasie und in der Wirklichkeit ganz gleich ge-
wesen, er habe eigentlich nie daran gedacht.
Homosexual habe er auch nie empfunden, wohl aber heterosexual, jedoch
habe er aus mangelhafter Libido (ex masturbatione et neurasthenia !) und aus
Furcht vor Ansteckung bis dato nie coitirt. Von Weibern fühle er sich nur
zu solchen von schlanker Figur und noblem Gang hingezogen.
Pat. bietet die gewöhnlichen Erscheinungen cerebrospinaler Neurasthenie.
Er ist von zartem Bau und anämisch. Er legt grossen Werth auf Verge-
wisserung, ob er potent sei und auf eventuelle Herstellung seiner Potenz,
wodurch sein darnied erliegendes Selbstgefühl sehr gehoben wurde.
Rathschläge im Sinne des Meidens von psychischer Onanie, der Besei-
tigung der Neurasthenie, der Kräftigung der sexualen Centren, der Befrie-
digung der Vita sexualis auf normalem Wege sobald als dies aussichtsvoll
und möglich.
Epikrise. Keine Bestialität, sondern Fetischismus. Mit dem Liebkosen
von Hausthieren mag, bei abnorm früh erwachter Vita sexualis, eine erst-
malige sexuelle Erregung, vermuthlich angeregt durch Tastempfindungen, zu-
sammengetroffen sein, zwischen beiden Facten eine Association sich geknüpft
haben, die durch Wiederholung gefestigt, wurde. (Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. 50.)
II. Tief herabgesetzte bis gänzlich mangelnde Geschlechtsempfin-
dung gegenüber dem andern Geschlecht bei stellvertretendem
Geschlechtsgefühl und Geschlechtstrieb zum eigenen (homosexuale
s. conträre Empfindung).
Zu den festesten Bestandteilen des Ichbewusstseins nach Er-
reichung der geschlechtlichen Vollentwicklung gehört das Bewusst-
sein, eine bestimmte geschlechtliche Persönlichkeit zu repräsentiren
Erworbene conträre Sexualempfindung. 193
und das Bedürfniss derselben, während der Zeit physiologischer Vor-
gänge (Samen-Eibereitung) in dem Generationsapparat, im Sinne
dieser besonderen geschlechtlichen Persönlichkeit sexuelle Akte zu
vollbringen, die, bewusst oder unbewusst, auf eine Erhaltung der
Gattung abzielen.
Bis auf dunkle Ahnungen und Dränge bleiben Geschlechts-
gefühl und sexuelle Triebe latent bis zur Zeit der Entwicklung
der Generationsorgane. Das Kind ist generis neutrius, und wenn
auch in diesem Zeitraum der noch nicht zum klaren Bewusstsein
gelangten, bloss virtuell vorhandenen, noch nicht durch mächtige
organische Gefühle getragenen latenten Sexualität, abnorm früh,
spontan oder durch äusseren Einfluss Erregungen der Genitalorgane
eintreten und in Masturbation Befriedigung finden mögen, so fehlt
doch bei all Dem noch gänzlich die seelische Beziehung zu Per-
sonen des anderen Geschlechts, und haben bezügliche sexuelle Akte
mehr oder weniger die Bedeutung spinalreflectorischer.
Die Thatsache der Unschuld oder der sexuellen Neutralität
ist um so bemerkenswerther, als doch früh schon, in der Erziehung,
Beschäftigung, Kleidung u. s. w., das Kind eine Differenzirung von
Kindern des anderen Geschlechtes erfährt. Diese Eindrücke bleiben
aber vorläufig seelisch unbeachtet, weil sie offenbar sexuell unbetont
bleiben, da das Centralorgan (Hirnrinde) für sexuelle Gefühle und
Vorstellungen noch nicht aufnahmsfähig, weil unentwickelt ist.
Mit der beginnenden anatomischen und functionellen Ent-
wicklung der Zeugungsorgane und der damit Hand in Hand gehen-
den Differenzirung der dem betreffenden Geschlecht zukommenden
Körperformen, entwickeln sich beim Knaben, beziehungsweise Mäd-
chen, die Grundlagen eines ihrem Geschlecht entsprechenden seeli-
schen Empfindens, wozu nun allerdings Erziehung, überhaupt äussere
Einflüsse, bei dem aufmerksam gewordenen Individuum mächtig
beitragen.
Ist die sexuelle Entwicklung eine normale, ungestörte, so
gestaltet sich ein bestimmter, dem Geschlecht entsprechender Cha-
rakter. Es entstehen bestimmte Neigungen, Reactionen im Ver-
kehr mit Personen des anderen Geschlechts, und es ist psychologisch
bemerkenswert!! , wie verhältnissmässig rasch sich der bestimmte,
dem betreffenden Geschlecht zukommende seelische Typus heraus-
entwickelt.
Während z. B. Schamhaftigkeit in der Kinderzeit wesentlich
nur eine unverstandene und unverständliche Forderung der Er-
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 13
194 Paraesthesia sexualis.
ziehung und Nachahmung war und bei der Unschuld und Naivetät
des Kindes nur unvollkommen zum Ausdruck gelangte, erscheint
jene dem Jüngling und der Jungfrau nunmehr als ein zwingendes
Gebot der Selbstachtung, die, wenn ihr nur irgendwie nahegetreten
wird, eine mächtige vasomotorische Reaction (Schamröthe) und psy-
chische Affecte hervorruft.
Ist die ursprüngliche Veranlagung eine günstige, normale, und
bleiben die psychosexuale Entwicklung schädigende Factoren ausser
Spiel, so entwickelt sich eine so festgefügte, und dem Geschlecht,
welches das Individuum repräsentirt , so vollkommen entsprechende
und harmonische psychosexuale Persönlichkeit, dass nicht einmal
der spätere Verlust der Zeugungsorgane (etwa durch Castration),
oder später der Klimax oder das Senium, sie wesentlich verändern
können.
Damit soll allerdings nicht behauptet werden, dass der castrirte
Mann oder das castrirte Weib, der Jüngling und der Greis, die
Jungfrau und die Matrone, der impotente und der potente Mann
seelisch nicht wesentlich von einander differirten.
Eine interessante und für das Folgende belangreiche Frage
geht dahin, ob die peripheren Einflüsse der Keimdrüsen (Hoden
und Ovarien) oder centrale cerebrale Bedingungen für die psycho-
sexuale Entwicklung entscheidend sind. Für die wichtige Bedeutung
der Keimdrüsen in dieser Hinsicht spricht die Thatsache, dass an-
geborener Mangel oder Entfernung derselben vor der Pubertät
Körperentwicklung und auch psychosexuale Entwicklung mächtig
beeinflussen, so dass die letztere verkümmert und eine mehr dem
Typus des entgegengesetzten Geschlechtes sich nähernde Richtung
nimmt (Eunuchen, gew. Viragines u. s. w.).
Dass die körperlichen Vorgänge in den Genitalorganen aber
nur mitwirkende, nicht die ausschliesslichen Factoren in dem
Werdeprocess einer psychosexualen Persönlichkeit sind, geht daraus
hervor, dass trotz anatomischer und physiologischer Normalität
derselben, gleichwohl eine dem Geschlecht, welches der Betreffende
repräsentirt, gegensätzliche Sexualempfindung sich entwickeln kann.
Hier kann die Ursache nur in einer Anomalie centraler Be-
dingungen, in einer abnormen psychosexualen Veranlagung gegeben
sein. Diese Veranlagung ist hinsichtlich ihrer anatomischen und
functionellen Begründung vorläufig eine ganz dunkle. Da in fast
allen bezüglichen Fällen der Träger der perversen Sexualempfindung
eine neuropathische Belastung nach mehrfacher Hinsicht aufweist
Erworbene conträre Sexualempfindung. 195
und diese mit erblich degenerativen Bedingungen sich in Beziehung
setzen lässt, darf jene Anomalie der psychosexualen Empfindungs-
weise als functionelles Degenerationszeichen klinisch angesprochen
werden. Diese perverse Sexualität tritt mit sich entwickelndem
Geschlechtsleben spontan, ohne äussere Anlässe zu Tage, als indi-
viduelle Erscheinungsform einer abnormen Artung der Vita sexualis
und imponirt dann als eine angeborene Erscheinung oder sie
entwickelt sich erst im Verlauf einer Anfangs normale Bahnen ein-
geschlagen habenden Sexualität auf Grund ganz bestimmter schäd-
licher Einflüsse und erscheint damit als eine gewordene erworbene.
Worauf diese räthselhafte Erscheinung der erworbenen homosexualen
Empfindung beruhen mag, entzieht sich zur Zeit noch ganz der
Erklärung und gehört der Hypothese an. Es ist wahrscheinlich,
auf Grund genauer Untersuchung der sogen, erworbenen Fälle, dass
die auch hier vorhandene Veranlagung in einer latenten Homo-
oder mindestens Bisexualität besteht, die zu ihrem Manifestwerden
der Einwirkung von veranlassenden gelegentlichen Ursachen be-
durfte, um aus ihrem Schlummer geweckt zu werden (s. u.).
Innerhalb der sogen, conträren Sexualempfindung zeigen sich
Gradstufen der Erscheinung, ziemlich parallel gehend dem Grad
der Belastung des Individuums, insofern in milderen Fällen blos
psychischer Hermaphroditismus, in schwereren allerdings nur homo-
sexuelle Empfindungsweise und Triebrichtung, aber auf die Vita
sexualis beschränkt, in noch schwereren überdies die ganze seeli-
sche Persönlichkeit und selbst die körperliche Empfindungsweise
im Sinne der sexuellen Perversion umgewandelt, in ganz schweren
sogar der körperliche Habitus entsprechend umgestaltet erscheint.
Auf diesen klinischen Thatsachen fusst demgemäss auch die
folgende Eintheilung der verschiedenen Erscheinungsweisen dieser
psychosexualen Anomalie.
A. Die homosexuale Empfindung als erworbene Erscheinung bei
beiden Geschlechtern.
Das Entscheidende ist hier der Nachweis der perversen Em-
pfindung gegenüber dem eigenen Geschlecht, nicht die Constati-
rung geschlechtlicher Akte an demselben. Diese zwei Phänomene
dürfen nicht mit einander verwechselt, Perversität darf nicht für
Perversion gehalten werden.
196 Paraesthesia sexualis.
Sehr oft kommen perverse sexuelle Akte zur Beobachtung,
ohne dass ihnen Perversion zu Grunde läge. Dies gilt ganz be-
sonders für sexuelle Handlungen unter Personen desselben Ge-
schlechts, namentlich hinsichtlich Päderastie. Hier ist nicht noth-
wendig Paraesthesia sexualis im Spiel, sondern Hyperästhesie bei
physisch oder psychisch unmöglicher naturgemässer Geschlechts-
befriedigung.
So finden wir homosexuellen Verkehr bei impotent gewor-
denen Masturbanten oder Wollüstlingen oder, faute de mieux, bei
sinnlichen Weibern und Männern in Gefängnissen, Schiffen, Casernen,
Bagno's, Pensionaten u. s. w.
Zum normalen Geschlechtsverkehr wird sofort zurückgekehrt,
wenn die Hindernisse für denselben entfallen. Ganz' besonders häufig
ist die Ursache solcher temporärer Verirrung: die Masturbation
und ihre Folgen bei jugendlichen Individuen.
Nichts ist geeignet, die Quelle edler, idealer Gefühlsregungen,
die aus einer normal sich entwickelnden geschlechtlichen Empfin-
dung ganz von selbst sich erheben, so zu trüben, ja nach Um-
ständen ganz versiegen zu machen, als in frühem Alter getriebene
Onanie. Sie streift von der sich entfalten sollenden Knospe Duft
und Schönheit und hinterlässt nur den grobsinnlichen thierischen
Trieb nach geschlechtlicher Befriedigung. Gelangt ein dergestalt
verdorbenes Individuum in das zeugungsfähige Alter, so fehlt ihm
der ästhetische, ideale, reine und unbefangene Zug, der zum an-
deren Geschlechte hindrängt. Damit ist die Gluth der sinnlichen
Empfindung erlöscht und die Neigung zum anderen Geschlechte
eine bedeutend abgeschwächte. Dieser Defect beeinflusst die Moral,
die Ethik, den Charakter, die Phantasie, die Stimmung, das Ge-
fühls- und Triebleben des jugendlichen Masturbanten, sowohl des
männlichen als des weiblichen, in ungünstiger Weise und lässt nach
Umständen das Verlangen nach dem anderen Geschlecht auf den
Nullpunkt sinken, so dass Masturbation jeglicher naturgemässen
Befriedigung vorgezogen wird.
Zuweilen leidet auch die Entwicklung höherer sexualer Ge-
fühle gegenüber dem anderen Geschlechte dadurch Noth, dass
hypochondrische Angst vor Ansteckung beim Geschlechtsgenuss
oder eine wirklich erfolgte Infection, oder auch eine verfehlte Er-
ziehung, welche tendenziös auf solche Gefahren hinwies und sie
übertrieb, oder (besonders beim Mädchen) berechtigte Angst vor
den Folgen des Coitus (Schwängerung), oder auch Ekel vor dem
Erworbene conträre Sexualempfindung. 197
Mann auf Grund physischer und moralischer Gebrechen desselben
die Befriedigung des mit krankhafter Stärke sich geltend machenden
Triebs in perverse Bahnen lenkten. Aber die zu frühe und per-
verse Geschlechtsbefriedigung schädigt nicht bloss den Geist, sondern
auch den Körper, insofern sie Neurosen des Sexualapparates herbei-
führt (reizbare Schwäche des Erections- und des Ejaculationscentrums,
mangelhaftes Wollustgefühl beim Beischlaf u. s. w.), während sie
die Phantasie in fortwährender Erregung erhält und die Libido
anregt.
Wohl bei jedem Masturbanten kommt ein Zeitpunkt, wo er,
erschreckt durch Belehrung über die Folgen des Lasters oder diese
an sich gewahrend (Neurasthenie), oder durch Beispiel, Verführung
zum anderen Geschlecht gedrängt, dem Laster entfliehen und seine
Vita sexualis saniren möchte.
Die moralischen und physischen Bedingungen sind hier die
denkbar ungünstigsten. Die reine Gluth der Empfindung ist dahin,
das Feuer sexueller Brunst fehlt, nicht minder das Selbstvertrauen,
denn jeder Masturbant ist mehr weniger feige, muthlos. Rafft sich
der jugendliche Sünder zu einem Versuch zu coitiren auf, so wird
er entweder enttäuscht, weil mit mangelhaftem Wollustgefühl der
Genuss fehlt, oder es fehlt ihm die physische Kraft zur Vollbringung
des Akts. Dieses Fiasko hat die Bedeutung einer Katastrophe
und führt zu absoluter psychischer Impotenz. Böses Gewissen, die
Erinnerung an erlebte Blamagen hindern den Erfolg bei weiteren
Versuchen. Die fortbestehende Libido sexualis verlangt aber nach
Befriedigung und die moralische und physische Perversion drängt
immer mehr vom Weibe ab.
Aus verschiedenen Gründen (neurasthenische Beschwerden,
hypochondrische Furcht vor den Folgen u. s. w.) wird das In-
dividuum aber auch von Masturbation abgedrängt. Vorübergehend
kann es hier zu Bestialität kommen. Nahe liegt dann der Verkehr
mit dem eigenen Geschlecht — durch gelegentliche Verführung,
durch Freundschaftsgefühle, die sich auf dem Boden pathologischer
Sexualität leicht mit sexuellen verbinden.
Passive und mutuelle Onanie sind dann der bisherigen Ge-
pflogenheit adäquate Akte. Findet sich ein Verführer, leider so
häufig, so entsteht der gezüchtete Päderast, d. h. ein Mensch, der
quasi Akte der Onanie mit Personen des eigenen Geschlechts voll-
zieht, sich dabei in activer, seinem wirklichen Geschlecht ent-
sprechender Rolle fühlt und gefällt, und seelisch nicht bloss Per-
198 Paraesthesia sexualis.
sonen des anderen, sondern auch denen des eigenen Geschlechts
gegenüber sich auf dem Indifferenzpunkt befindet.
Bis zu dieser Stufe erstreckt sich die sexuelle Verkommenheit
des normal veranlagten, unbelasteten, geistig gesunden In-
dividuums. Es ist kein Fall nachzuweisen, in welchem bei un-
belasteten Individuen die Perversität zur Per Version, zur Um-
kehr der Geschlechtsempfindung geworden wäre1).
Anders liegt die Sache beim belas teten, wahrscheinlich bisexual
veranlagt gebliebenen, d. h. nicht zu ausschliesslich heterosexualer
Empfindung ausgebildeten Individuum. Die bisher latent gebliebene
perverse Sexualität entwickelt sich unter dem Einfluss der durch
Masturbation, Abstinenz oder sonstwie entstandenen Neurasthenie.
x) Garnier („Anomalies sexuelles", Paris, p. 508—509) berichtet 2 Fälle
(Beob. 222 u. 223), welche dieser Annahme scheinbar entgegenstehen, besonders
der erstere, wo Kränkung über die Untreue der Geliebten den Betreffenden
dazu gelangen Hess, den Verführungen von Männern zu unterliegen. Aus der
Beobachtung ergibt sich aber klar, dass dieses Individuum niemals Gefallen
an homosexualen Akten hatte. In Beobachtung 223 handelt es sich um
einen Effeminirten ab origine, mindestens einen psychischen Hennaphroditen.
Die Meinung Derjenigen, welche für die Entstehung homosexualer Em-
pfindungen und Triebe ausschliesslich fehlerhafte Erziehung und andere psycho-
logische Momente verantwortlich machen, ist eine ganz irrige.
Man kann einen Unbelasteten noch so weibisch erziehen , und ein
Weib noch so männlich, sie werden dadurch nicht homosexual werden. Die
Naturanlage ist entscheidend, nicht die Erziehung und anderes
Zufällige, wie z. B. Verführung. Von conträrer Sexualempfindung kann
nur die Rede sein, wenn die Person des eigenen Geschlechts einen psycho-
sexualen Reiz auf die andere ausübt, also Libido, Orgasmus vermittelt, nament-
lich aber seelisch anziehend wirkt. Ganz anders die Fälle, wo faute de mieux
bei grosser Sinnlichkeit und mangelhaftem ästhetischem Sinn eine Person des
eigenen Geschlechts zu einem onanistischen Akt (nicht zu einem Coitus in see-
lischem Sinne) an ihrem Körper benutzt wird.
Sehr klar und überzeugend weist Moll in seiner verdienstvollen Mono-
graphie auf das Schwergewicht der originären Veranlagung gegenüber der
Bedeutung von Gelegenheitsursachen hin (vergl. op. cit. p. 212 — 231). Er weiss
„von vielen Fällen, wo der frühere sexuelle Verkehr mit Männern eine Per-
version nicht herbeiführen konnte". Moll sagt ferner bezeichnend : „Ich kenne
eine derartige Epidemie (von mutueller Onanie) aus einer Berliner Schule,
woselbst ein jetziger Schauspieler die mutuelle Onanie in schamloser Weise
eingeführt hat. Obwohl ich jetzt die Namen von sehr vielen Berliner Urningen
weiss, so konnte ich doch unter den damaligen Schülern des betr. Gymnasiums
von keinem auch nur mit einiger Wahrscheinlichkeit ermitteln, dass er Urning
geworden sei, hingegen weiss ich von vielen dieser Schüler ziemlich genau,
dass sie jetzt geschlechtlich normal empfinden und verkehren."
Erworbene conträre Sexualempfindung. 199
Es kommt allmählig im Contact mit Personen des eigenen
Geschlechts zu sexueller Erregbarkeit durch solche. Bezügliche
Vorstellungen werden mit Lustgefühlen betont und erwecken ent-
sprechende Dränge. Diese entschieden degenerative Reactionsweise
ist der Anfang eines körperlich seelischen Umwandlungsprocesses,
der in dem Folgenden seine Darstellung finden mag und zu dem
Interessantesten gehört, was sich psychopathologisch beobachten
lässt. Diese Metamorphose lässt verschiedene Stadien oder Stufen
erkennen.
I. Stufe: Einfache Verkehrung der Geschlechtsempfindung.
Diese Stufe ist erreicht mit dem Zeitpunkt, wo die Person
des eigenen Geschlechts aphrodisisch wirkt und der Betreffende ge-
schlechtlich für sie empfindet. Charakter und Empfindungsweise
bleiben aber vorerst dem Geschlecht, welches der jene Verkehrung
der Geschlechtsempfindung Bietende besitzt, noch entsprechend. Er
fühlt sich in activer Rolle, empfindet seinen Drang zum eigenen
Geschlecht als eine Verirrung und sucht eventuell Hülfe.
Mit episodisch gebesserter Neurose kann sogar Anfangs
normale sexuelle Empfindung wieder auftreten und sich behaupten.
Die folgende Beobachtung erscheint recht geeignet, diese Etappe
auf dem Weg der psychosexualen Entartung zu exemplificiren.
Beobachtung 94. Erworbene conträre Sexualempfindung.
Ich bin Beamter und stamme aus einer, soviel mir bekannt, unbelasteten
Familie; mein Vater starb an einer acuten Krankheit, die Mutter lebt, ist
ziemlich „nervös". Eine Schwester ist seit einigen Jahren
sehr intensiv religiös geworden.
Ich selbst bin gross , mache einen durchaus männlichen Eindruck in
Sprache, Gang und Haltung. Von Krankheiten habe ich nur Masern durch-
gemacht, habe aber von meinem 13. Jahre ab an sogenannten nervösen Kopf-
schmerzen gelitten.
Mein sexuelles Leben begann im 13. Lebensjahre, wo ich einen etwas
älteren Jungen kennen lernte, quocum alter alterius genitalia tangendo delec-
tabar. In meinem 14. Lebensjahre hatte ich die erste Ejaculation. Von zwei
älteren Mitschülern zur Onanie verführt, fröhnte ich derselben theils mit
Anderen, theils allein, im letzteren Fall jedoch stets mit dem Gedanken an
Personen weiblichen Geschlechts. Meine Libido sexualis war sehr gross, wie
sie es auch heute noch ist. Später versuchte ich mit einem hübschen, kräf-
tigen Dienstmädchen mit sehr starken Mammae anzubinden; id solum assecu-
tus sum, ut me praesente superiorem corporis sui partem enudaret mibique
concederet os mammasque osculari, dum ipsa penem meum valde erectum in
manum suam recepit eumque trivit.
200 Paraesthesia sexualis.
Quamquam violentissime coitum rogavi hoc solum concessit, ut genitalia
eius tangerem.
Auf die Universität gekommen, suchte ich ein Lupanar auf, reussirte
auch ohne Anstrengung.
Da aber trat ein Ereigniss ein, welches in mir einen Umschwung her-
vorbrachte. Ich begleitete eines Abends einen Freund nach Hause und griff
ihm, etwas angeheitert wie ich war, ad genitalia. Er wehrte sich nur wenig;
ich ging dann mit auf sein Zimmer, wir onanisirten uns und trieben fortan
diese mutuelle Masturbation ziemlich häufig; es kam sogar zur immissio penis
in os mit folgender Ejaculation. Sonderbar ist es nur, dass ich in diesen
Betreffenden nicht im geringsten verliebt war, dagegen leidenschaftlich in einen
anderen meiner Freunde, in dessen Nähe ich aber niemals die geringste sexuelle
Erregung spürte, den ich überhaupt nie mit sexuellen Vorgängen in meinen
Gedanken zusammenbrachte. Meine Besuche im Lupanar, wo ich ein gern
gesehener Gast war, wurden seltener, ich fand bei meinem Freunde Ersatz
und sehnte mich nicht nach geschlechtlichem Verkehr mit Weibern.
Päderastie trieben wir niemals, das Wort wurde zwischen uns überhaupt
nicht genannt. Seit Beginn dieses Verhältnisses mit meinem Freunde onanirte
ich wieder mehr; naturgemäss traten die Gedanken an weibliche Personen
mehr und mehr in den Hintergrund, ich dachte an junge, hübsche, kräftige
Männer mit möglichst grossen Gliedern. Burschen von 16 — 25 Jahren ohne
Bart waren mir die liebsten, aber sie mussten hübsch und sauber sein. Be-
sonders erregten mich jugendliche Arbeiter mit Hosen aus sogenanntem Man-
chesterstoff oder aus englischem Leder, vornehmlich Maurer.
Gleichgestellte Personen reizen mich so gut wie gar nicht, dagegen
empfinde ich beim Anblick eines solchen strammen Jungen aus dem Volke
eine deutliche sexuelle Erregung. Das Berühren solcher Beinkleider, das Oeffnen
derselben, das Ergreifen des Penis, sowie das Küssen des Burschen erscheint
mir von höchstem Reiz. Meine Empfänglichkeit für weibliche Reize ist etwas
abgestumpft, doch bin ich im geschlechtlichen Verkehr mit einem Weibe,
besonders wenn es stark entwickelte Mammae hat, stets potent, ohne dass ich
Phantasiebilder zu Hilfe nehme. Ich habe nie den Versuch gemacht, einen
jungen Arbeiter oder dergl. für meine unschönen Gelüste zu missbrauchen und
werde es auch nicht thun, aber die Lust dazu verspüre ich sehr oft. Zuweilen
halte ich das Bild eines solchen Burschen fest und onanire dann zu Hause.
Sinn für weibliche Beschäftigung fehlt mir völlig. In Damengesellschaft
verkehre ich massig gern, Tanzen ist mir zuwider. Ich interessire mich leb-
haft für schöne Künste. Dass ich stellenweise conträr sexual empfinde, ist,
glaube ich, zum Theil eine Folge grosser Bequemlichkeit, welche mich ver-
hindert, irgend ein Verhältniss mit einem Mädchen anzuknüpfen , da mir das
zu viel Umstände macht; immer das Lupanar aufzusuchen, ist mir aus ästhe-
tischen Gründen zuwider; so verfalle ich denn auf das leidige Onaniren, von
dem zu lassen mir sehr schwer fällt.
Ich habe mir selbst hundertmal vorgehalten, dass ich, um vollständig
normal sexuell empfinden zu können, vor allem die schier unbezwingliche
Leidenschaft für die unselige Onanie, diese meinem ästhetischen Gefühl so
widerwärtige Verirrung, unterdrücken müsse; ich habe mir so und so oft vor-
genommen, mit aller Kraft des Willens gegen diese Leidenschaft anzukämpfen ;
Erworbene conträre Sexualempfindung. 201
es ist mir bis heute nicht gelungen. Anstatt, wenn sich der sexuelle Trieb
besonders heftig in mir regte, Befriedigung auf natürlichem Wege zu suchen,
zog ich es vor, zu onaniren, weil ich fühlte, dass ich davon mehr Genuss
haben würde.
Und dabei hat mich die Erfahrung gelehrt, dass ich bei Mädchen stets
potent bin und zwar ohne Mühe und ohne Zuhilfenahme von Bildern männ-
licher Genitalien, mit Ausnahme eines einzigen Falles, in dem ich es aber
deshalb nicht zu einer Ejaculation brachte, weil das betreffende weibliche
Wesen — es war in einem Lupanar — jeglicher Reize entbehrte. Ich kann
mich des Gedankens und schweren Selbstvorwurfs nicht entschlagen, dass die
bis zu einem gewissen Grade bei mir doch nun einmal vorhandene c. S. eine
Folge des excessiven Onanirens ist, und das wirkt vornehmlich so deprimirend
auf mich, weil ich mir sagen muss, dass ich kaum in mir die Kraft fühle,
diesem Laster aus eigenem Willen ganz zu entsagen.
In Folge des in meinem Schreiben erwähnten geschlechtlichen Verhält-
nisses zu einem Studiengenossen und langjährigen Schulfreunde, welches aber
erst während unserer Universitätszeit entstand, nachdem wir 7 Jahre lediglich
freundschaftlich verkehrt hatten, ist in mir der Trieb zu unnatürlicher Befrie-
digung der Libido bedeutend stärker geworden.
Ich bitte , mir noch die Erzählung einer Episode zu gestatten , die mir
Monate lang viel zu schaffen gemacht.
Ich lernte im Sommer 1882 einen 6 Jahre jüngeren Kommilitonen
kennen, welcher zugleich mit mehreren anderen an mich und meine Bekannten
empfohlen war. Sehr bald fühlte ich ein tieferes Interesse für den bildschönen,
ungemein proportionirt , schlank und gesund aussehenden Menschen, welches
sich nach mehrwöchentlichem Verkehr zu intensivstem Freundschaftsgefühl,
weiterhin zur leidenschaftlichen Liebe und quälenden Eifersuchtsempfindung
entwickelte. Ich merkte sehr bald, dass bei mir sinnliche Regungen stark
mitsprachen, und so fest ich mir auch vornahm, mit diesem, von allem
Anderen abgesehen, von mir wegen seines vortrefflichen Charakters so hoch
geachteten Menschen gegenüber im Zaum zu halten, unterlag ich doch in
einer Nacht, als wir nach vorausgegangenem reichlichem Biergenuss in
meiner Wohnung bei einer Flasche Wein sassen und auf gute, wahre und
dauernde Freundschaft tranken, der unwiderstehlichen Begierde, ihn an mich
zu pressen u. s. w.
Als ich ihn am nächsten Tage wiedersah, schämte ich mich so, dass ich
ihm nicht in die Augen blicken konnte. Ich empfand die bitterste Reue über
mein Vergehen und machte mir die heftigsten Vorwürfe, dass ich diese Freund-
schaft, die rein und edel sein und bleiben sollte, so beschmutzt hatte. Um
jenem zu beweisen, dass ich mich nur momentan hatte hinreissen lassen,
drängte ich ihn, am Schlüsse des Semesters mit mir eine Reise zu machen;
nach einigem Widerstreben, dessen Gründe mir nur zu klar waren, willigte er
ein; wir schliefen mehrere Nächte im selben Zimmer, ohne dass ich den ge-
ringsten Versuch gemacht hätte, jene Handlung zu wiederholen. Ich wollte
mit ihm über den Vorgang jener Nacht sprechen, ich brachte es nicht fertig;
als wir im folgenden Semester getrennt waren, konnte ich es auch nicht über
mich gewinnen, ihm in der betreffenden Sache zu schreiben, und als ich ihn
dann im März in X. besuchte, ging es mir wieder so. Und doch fühlte ich
202 Paraeathesia sexualis.
das dringendste Bedürfniss, diesen dunkeln Punkt durch eine offene Aussprache
zu klären. Im October dieses Jahres war ich wieder in X. und diesmal fand
ich den Muth zur rückhaltlosen Aussprache. Ich bat ihn um Verzeihung, die
er mir gern gewährte; ja, ich fragte ihn sogar, weshalb er mir damals nicht
entschiedenen Widerstand geleistet, worauf er antwortete, zum Theil hätte er
mir aus Gefälligkeit meinen Willen gelassen, zum Theil, weil er ziemlich an-
gezecht gewesen und somit in einer gewissen Apathie befangen gewesen sei.
Ich setzte ihm meinen Zustand eingehend auseinander, gab ihm auch die
Psychopathia sexualis zu lesen und sprach ihm die feste Hoffnung aus, dass
es mir aus eigener Kraft gelingen würde , meiner unnatürlichen Triebe völlig
und dauernd Herr zu werden. Seit dieser Aussprache ist das Verhältniss
zwischen jenem Freunde und mir das denkbar erfreulichste und beglückendste,
die freundschaftlichen Gefühle sind auf beiden Seiten innige, wahre und
hoffentlich dauernde.
Wenn ich nicht eine Besserung meines abnormen Zustandes erkennen
sollte, würde ich mich wohl entschli essen, mich vollständig Ihrer Behandlung
zu unterstellen, um so mehr, als ich mich nach genauem Studium Ihres Werkes
nicht zu der Kategorie der sogenannten Urninge zählen kann, vielmehr die
feste Ueberzeugung oder jedenfalls Hoffnung habe, dass festester Wille, unter-
stützt und geleitet durch sachkundige Behandlung, mich zum normal empfin-
denden Menschen machen können.
Beobachtung 95. Ilma S. J) , 29 Jahre, ledig, Kaufmannstochter,
stammt aus schwer belasteter Familie. Vater war Potator und endete durch
Selbstmord, gleichwie Bruder und Schwester der Pat. Schwester leidet an
Hysteria convulsiva. Mutters Vater erschoss sich in irrsinnigem Zustand.
Mutter war kränklich und stark apoplectisch gelähmt. Pat. war nie schwer
krank, begabt, schwärmerisch, phantasievoll, träumerisch. Menses mit 18 Jahren
ohne Beschwerden, in der Folge höchst unregelmässig. Mit 14 Jahren Chlorose
und Schreckkatalepsie. Später Hysteria gravis und Anfall von hysterischem
Wahnsinn. Mit 18 Jahren Verhältniss mit einem jungen Mann, das kein pla-
tonisches blieb. Die Liebe dieses Mannes wurde brünstig erwidert. Aus An-
deutungen der Pat. geht hervor, dass sie sehr sinnlich war und sich nach
Entfernung von dem Geliebten der Masturbation ergab. Pat. führte in der
Folge einen romanhaften- Lebenswandel. Um ihr Fortkommen zu finden, zog
sie Männerkleider an, wurde Hauslehrer, gab die Stelle auf, weil die Frau
.vom Hause, ihr Geschlecht nicht kennend, sich in sie verliebte und ihr nach-
stellte. Sie wurde nun Bahnbeamter. In Gesellschaft der Collegen musste
sie, um ihr wahres Geschlecht zu verbergen, mit ihnen Bordelle besuchen, die
anstössigsten Gespräche anhören. Dies wurde ihr so widerlich, dass sie ihre
Stelle aufgab , eines Tages wieder Weiberkleider anzog und in weiblicher
Stellung ihren Erwerb suchte. Wegen Diebstählen kam sie in Haft, wegen
schwerer hystero-epileptischer Insulte ins Spital. Dort entdeckte man Neigung
und Trieb zum eigenen Geschlecht. Pat. fiel allenthalben lästig durch brün-
stige Liebe zu Pflegerinnen und Mitkranken.
J) Vgl. d. Verf. „Experimentelle Studie auf dem Gebiet des Hypnotis-
3. Aufl. 1893.*
Erworbene conträre Sexualempfindung. 203
Man hielt ihre sexuelle Perversion für eine angeborene. Pat. gab in
dieser Hinsicht interessante berichtigende Aufschlüsse:
„Man beurtheilt mich unrichtig, wenn man glaubt, dass ich mich dem
weiblichen Geschlecht gegenüber als Mann fühle. Ich verhalte mich vielmehr
in meinem ganzen Denken und Fühlen als Weib. Habe ich doch meinen
Cousin so geliebt, wie nur ein Weib einen Mann lieben kann.
„Die Aenderung meiner Gefühle entstand dadurch, dass ich in Pest, als
Mann verkleidet, Gelegenheit hatte, meinen Cousin zu beobachten. Ich sah,
dass ich mich in ihm arg getäuscht hatte. Das bereitete mir furchtbare Seelen-
qualen. Ich wusste, dass ich nie mehr im Stande sein werde, einen Mann zu
lieben, dass ich zu jenen gehöre, die nur einmal lieben. Dazu kam, dass ich
in der Gesellschaft meiner Collegen von der Bahn die anstössigsten Gespräche
anhören, die verrufensten Häuser besuchen musste. Durch die so gewonnenen
Einblicke in das Treiben der Männerwelt bekam ich einen unüberwindlichen
Widerwillen gegen die Männer. Da ich aber von Natur sehr leidenschaftlich
bin und das Bedürfniss habe, mich einer geliebten Person anzuschliessen und
mich derselben ganz hinzugeben, fühlte ich mich immer mehr zu mir sym-
pathischen Frauen und Mädchen, besonders durch Intelligenz hervorragenden,
mächtig hingezogen."
Die offenbar erworbene conträre Sexualempfindung dieser Pat. äusserte
sich oft in stürmischer, entschieden sinnlicher Weise und gewann weiteren
Boden durch Masturbation, da die permanente Aufsicht in Spitälern sexuelle
Befriedigung am eigenen Geschlecht nicht möglich machte. Charakter und
Beschäftigungsweise blieben weiblich. Zu Erscheinungen von Viraginität kam
es nicht. Nach dem Verfasser kürzlich gewordenen Mittheilungen ist diese
Kranke durch zweijährige Behandlung in der Irrenanstalt von ihrer Neurose
und sexualen Perversion befreit und genesen entlassen worden.
Beobachtung 96. Herr X., 35 Jahre, ledig, Beamter, stammt von
gemüthskranker Mutter. Bruder Hypochonder.
Pat. war gesund, kräftig, von lebhaftem, sinnlichem Temperament, hatte
abnorm früh und mächtig sich regenden Sexualtrieb , masturbirte schon als
kleiner Knabe, coitirte zum ersten Mal schon mit 14 Jahren, angeblich mit
Genuss und voller Potenz. 15 Jahre alt, versuchte ihn ein Mann zu verführen,
manustuprirte ihn. X. empfand Abscheu, befreite sich aus dieser „ekelhaften"
Situation. Er excedirte herangewachsen in unbändiger Libido mit Coitus,
wurde 1880 neurasthenisch, litt an Erectionssch wache und Ejaculatio praecox,
wurde damit immer weniger potent und empfand auch keinen Genuss mehr
beim sexuellen Akt. Zu jener Zeit der sexuellen Decadence hatte er noch eine
Zeitlang eine ihm früher fremde und ihm noch jetzt ganz unbegreifliche
Neigung zum sexuellen Verkehr cum puellis non pubibus XII ad XIII annorum.
Seine Libido steigerte sich mit abnehmender Potenz.
Allmählich bekam er Neigung zu Knaben von 13 — 14 Jahren. Es trieb
ihn, an solche sich anzudrängen.
Quodsi ei occasio data est, ut tangere posset pueros, qui ei placuere,
penis vehementer se erexit tum maxime quum crura puerorum tangere potuisset.
Abhinc feminas non cupivit. Nonnunquam feminas ad coitum coegit sed erectio
debilis, eiaculatio praematura erat sine ulla voluptate.
204 Paraesthesia sexualis.
Es interessirten ihn nur noch junge Bursche. Er träumte von ihnen,
bekam dabei Pollutionen. Von 1882 ab hatte er ab und zu Gelegenheit, con-
cumbere cum juvenibus. Er war dann sexuell mächtig erregt, half sich mit
Masturbation.
Nur ausnahmsweise wagte er es, socios concumbentes tangere et mastur-
bationem mutuam adsequi. Päderastie verabscheute er. Meist war er ge-
nöthigt, seinem sexuellen Bedürfniss durch solitäre Masturbation zu genügen.
Er stellte sich dabei das Erinnerungsbild sympathischer Knaben vor. Nach
sexuellem Verkehr mit solchen fühlte er sich jeweils gekräftigt, erfrischt, aber
moralisch gedrückt in dem Bewusstsein, eine perverse, unsittliche, strafbare
Handlung begangen zu haben. Er empfand es höchst peinlich, dass sein ab-
scheulicher Trieb mächtiger sei als sein Wille.
X. vermuthet, dass seine Liebe zum eigenen Geschlecht durch masslose
Excesse im natürlichen Geschlechtsgenuss entstanden sei, beklagt tief seine
Lage, fragt anlässlich einer Consultation im December 1888, ob es kein Mittel
gebe , um ihn zu normaler Sexualität zurückzubringen , da er ja eigentlich
keinen Horror feminae habe und gerne heirathen würde.
Ausser Erscheinungen sexueller und spinaler Neurasthenie massigen
Grades bietet der intelligente, von Degenerationszeichen freie Pat. keine Krank-
heitssymptome.
IL Stufe: Eviratio und Defeminatio.
Tritt bei derart entwickelter conträrer Sexualempfindung keine
Rückbildung ein, so kann es zu tiefer greifenden und dauernden
Umänderungen der psychischen Persönlichkeit kommen. Der
hier sich vollziehende Process lässt sich kurz als Eviratio (De-
feminatio — beim Weibe) bezeichnen. Der Kranke erfährt eine
tiefgehende Wandlung seines Charakters, speciell seiner Gefühle
und Neigungen im Sinne einer weiblich fühlenden Persönlichkeit.
Von nun an fühlt er sich auch als Weib bei sexuellen Akten, hat
nur mehr Sinn für passive Geschlechtsbethätigung und geräth nach
Umständen auf die Stufe der Courtisane. In diesem Zustand tieferer
und dauernder psychosexualer Veränderung gleicht der Betreffende
vollkommen dem (angeborenen) Urning höheren Grades. Die Mög-
lichkeit einer Wiederherstellung der alten geistigen und sexualen
Persönlichkeit erscheint hier ausgeschlossen.
Die folgende Beobachtung ist ein klassisches Beispiel der-
artiger dauernder erworbener conträrer Sexualempfindung.
Beobachtung 97. Seh., 30 Jahre alt, Arzt, theilte mir eines Tages
seine Lebens- und Krankheitsgeschichte mit, Aufklärung und Rath erbittend
für gewisse Anomalien seiner Vita sexualis.
Erworbene conträre Sexualempfiudung. 205
Die folgende Darstellung folgt vielfach verbotenus der umfangreichen
Autobiographie, sie nur gelegentlich kürzend.
Von gesunden Eltern erzeugt, war ich als Kind schwächlich, gedieh
aber unter guter Pflege und kam in der Schule gut fort.
Im 11. Jahre wurde ich von einem Spielkameraden zur Masturbation
verleitet und ergab mich ihr mit Leidenschaft. Bis zum 15. Jahr fiel mir das
Lernen leicht. Mit sich häufenden Pollutionen wurde ich weniger leistungs-
fähig, kam in der Schule nicht mehr so gut fort, war unsicher, beklommen
und verlegen, wenn ich vom Lehrer aufgerufen wurde. Erschrocken über das
Sinken meiner Fähigkeiten und erkennend, dass daran die grossen Sperma-
verluste Schuld waren, unterliess ich nun das Onaniren, aber gleichwohl
häuften sich die Pollutionen, so dass ich oft 2 — 3mal in einer Nacht ejaculirte.
Ich consultirte nun verzweifelt Aerzte um Aerzte. Keiner konnte mir
helfen.
Da ich durch die Spermaverluste immer schwächer und matter wurde,
auch der Trieb nach Geschlechtsbefriedigung immer mächtiger sich regte,
ging ich ins Lupanar. Aber dort konnte ich mich nicht befriedigen, denn
wenn mich auch der Anblick des nackten Weibes ergötzte, so trat doch nicht
Orgasmus noch Erection ein, und selbst durch Manustupration seitens der
Puella war die Erection nicht zu erzielen.
Kaum hatte ich das Lupanar verlassen, so quälte mich wieder der Trieb
und hatte ich heftige Erectionen. Da schämte ich mich vor den Mädchen
und besuchte nicht mehr solche Orte. So vergingen ein paar Jahre. Mein
Sexualleben bestand aus Pollutionen. Meine Neigung zum anderen Geschlecht
erkaltete immer mehr. Mit 19 Jahren kam ich auf die Universität. Das
Schauspielhaus zog mich mehr an. Ich wollte Künstler werden. Die Eltern
gaben es nicht zu. In der Hauptstadt musste ich mit Collegen hie und da
wieder zu Mädchen gehen. Ich fürchtete derartige Situationen, da ich wusste,
dass mir der Coitus nicht gelingen werde, meine Impotenz den Freunden ver-
rathen werden könnte, nnd so mied ich thunlieh die Gefahr, in Spott und
Schande zu gerathen.
Eines Abends sass neben mir im Opernhause ein älterer Herr. Er
machte mir die Cour. Ich lachte herzlich über den närrischen alten Mann
und ging auf seine Spässe ein. Exinopinato genitalia mea prehendit, quo facto
statim penis meus se erexit. Erschrocken stellte ich ihn zur Rede , was er
wolle. Er erklärte mir, er sei in mich verliebt. Da ich in der Klinik von
Zwittern gehört hatte, glaubte ich einen solchen vor mir zu haben, curiosus
factus genitalia eius videre volui. Der Alte willigte erfreut ein, ging mit mir
in den Abort. Sicuti penem maximum eius erectum adspexi, perterritus effugi.
Jener passte mich ab , machte mir sonderbare Anträge , die ich nicht
verstand und abwies. Er Hess mir keine Ruhe. Ich erfuhr die Geheimnisse
des mannmännlichen Liebens, fühlte, wie meine Sinnlichkeit dadurch erregt
wurde, widerstand aber so schmachvoller Leidenschaft (wie ich damals dachte)
und blieb die drei nächsten Jahre davon frei. Wiederholt versuchte ich wäh-
rend dieser Zeit wieder fruchtlos den Coitus mit Mädchen. Ebenso erfolglos
waren meine Bemühungen, durch ärztliche Kunst mich von meiner Impotenz
zu befreien.
Als wieder iinmal die Libido sexualis mich plagte, erinnerte ich mich
206 Paraesthesia sexualis.
der Aeusserung des alten Herrn, dass auf der E.-Promenade mannliebende
Männer zusammenkommen.
Nach hartem Kampf und mit klopfendem Herzen ging ich hin, machte
die Bekanntschaft eines blonden Herrn und liess mich verführen. Der erste
Schritt war gethan. Diese Art der geschlechtlichen Liebe war mir adäquat.
Am liebsten war ich immer in den Armen eines kräftigen Mannes.
Die Befriedigung bestand in mutueller Manustupration. Gelegentlich
Osculum ad penem alterius. Ich war nun 23 Jahre alt. Das Zusammensitzen
mit den Commilitonen auf den Krankenbetten in der Klinik während der Vor-
träge regte mich mächtig auf, so dass ich kaum dem Vortrage folgen konnte.
Im gleichen Jahre knüpfte ich mit einem 34jährigen Kaufmann ein förmliches
Liebesbündniss. Wir lebten wie Mann und Frau. X. wollte den Mann spielen,
wurde immer verliebter. Ich war ihm zu Willen , jedoch musste er mich ab
und zu auch Mann sein lassen. Mit der Zeit bekam ich ihn satt, wurde ihm
untreu, er wurde eifersüchtig. Es kam zu furchtbaren Scenen, zu temporärer
Versöhnung, schliesslich zu definitivem Bruch. (Der Kaufmann wurde später
irrsinnig und endete durch Selbstmord.)
Ich machte viele Bekanntschaften, liebte die ordinärsten Leute. Solche,
die vollbärtig , gross und im mittleren Alter waren , die aktive Rolle gut zu
spielen begabt waren, bevorzugte ich.
Ich bekam eine Proctitis. Der Professor meinte von dem vielen Sitzen
wegen der Vorbereitungen aufs Examen. Ich bekam eine Fistel, musste operirt
werden, aber das kurirte mich nicht von meinem Drang, mich passiv benutzen
zu lassen. Ich wurde Arzt, kam in eine Provinzialstadt, musste da leben wie
eine Nonne.
Ich bekam Neigung, mich in Damengesellschaft zu bewegen, und wurde
dort gerne gesehen , weil man fand , dass ich nicht so einseitig sei wie die
meisten Männer und mich für Toilette und dergleichen Damengespräch inter-
essirte. Jedoch fühlte ich mich sehr unglücklich und einsam.
Glücklicherweise lernte ich in dieser Stadt einen gleich mir empfinden-
den Mann, eine , Schwester" kennen. Auf einige Zeit war ich durch ihn ver-
sorgt. Als er fort musste, kam eine Verzweiflungsperiode mit Trübsinn bis
zu Selbstmordgedanken.
Da ich es in dem Städtchen nicht aushalten konnte, wurde ich Militär-
arzt in der Grossstadt. Da lebte ich wieder auf, machte oft 2—3 Bekannt-
schaften an einem Tage. Ich hatte nie die Knaben oder junge Leute geliebt,
nur wahre Männergestalten. So entging ich den Krallen der Preller. Der
Gedanke , einmal der Polizei in die Hände zu fallen , war mir schrecklich ;
gleichwohl konnte er mich nicht an der Befriedigung meiner Triebe ver-
hindern.
Nach einigen Monaten verliebte ich mich in einen 40jährigen Beamten.
Ein Jahr lang blieb ich ihm treu. Wir lebten wie ein Liebespaar. Ich war
die Frau und wurde vom Geliebten förmlich verhätschelt. Eines Tages wurde
ich in eine kleine Stadt versetzt. Wir waren trostlos. Per totam noctem
postremam nos vicissim osculati et amplexati sumus.
In T. war ich namenlos unglücklich, trotz einiger „ Schwestern", die ich
fand. Ich konnte den Geliebten nicht vergessen. Um dem grobsinnlichen
Trieb, der nach Befriedigung drängte, zu genügen, wählte ich mir Soldaten.
Erworbene conträre Sexualempfindung. 207
um Geld machten die Leute Alles, aber sie blieben kalt und ich hatte
keinen Genuss mit ihnen. Es gelang mir, nach der Hauptstadt zurück-
versetzt zu werden. Neues Liebesverhältniss, aber viel Eifersucht, da der Ge-
liebte gerne in Schwestern gesellschaft ging, eitel und kokett war. Es kam
zum Bruch.
Ich war grenzenlos unglücklich und froh, durch Versetzung aus der
Hauptstadt fortzukommen. Ich sitze nun in C. einsam, trostlos. Zwei Infan-
teristen wurden abgerichtet, aber mit dem früheren unbefriedigenden Erfolg.
Wann werde ich neuerdings wahre Liebe finden?! Ich bin über mittelgross,
gut entwickelt, sehe etwas verlebt aus, weshalb ich da, wo ich Eroberungen
machen will, mit Toilettekünsten nachhelfe. Haltung, Gesten, Stimme sind
männlich. Körperlich fühle ich mich jugendlich wie ein Bursche von 20 Jahren.
Ich liebe das Theater, überhaupt die Kunst. Meine Aufmerksamkeit auf der
Bühne gilt den Schauspielerinnen, an welchen ich jede Bewegung und jeden
Faltenwurf bemerke und kritisire.
In Herrengesellschaft bin ich schüchtern, befangen, in der von meines-
gleichen bin ich ausgelassen, witzig, kann schmeicheln wie eine Katze, wenn
mir der Mann sympathisch ist. Bin ich ohne Liebe, so gerathe ich in tiefe
Melancholie, die aber den Tröstungen des ersten hübschen Mannes sofort
weicht. Im Uebrigen bin ich leichtsinnig, nichts weniger als ehrgeizig. Meine
Charge imponirt mir nicht. Männliche Beschäftigung ist mir unsympathisch.
Am liebsten lese ich Romane, gehe ins Theater u. s. w. Ich bin weich, empfind-
sam, leicht gerührt, leicht verletzlich, nervös. Ein plötzliches Geräusch macht
mich am ganzen Körper erbeben und ich muss mich dann zusammennehmen,
dass ich nicht aufschreie.
Epikrise: Der vorstehende Fall ist jedenfalls ein solcher von erwor-
bener conträrer Sexualempfindung, denn geschlechtliche Empfindung und Trieb
waren ursprünglich dem weiblichen Geschlecht zugewendet. Durch Masturba-
tion wird Seh. neurasthenisch.
Als Theilerscheinung neurasthenischer Neurose entsteht verminderte
Ansprachsfähigkeit des Erectionscentrums und damit relative Impotenz. Da-
durch erkaltet die sexuelle Empfindung zum anderen Geschlechte bei fort-
bestehender Libido sexualis. Die erworbene conträre Sexualempfindung muss
eine krankhafte sein, denn schon die erstmalige Berührung durch eine
Person des eigenen Geschlechts bildet einen adäquaten Reiz für das Erec-
tionscentrum. Die Perversion sexuellen Fühlens wird eine ausgeprägte. An-
fangs fühlt sich Seh. noch in der Rolle des Mannes beim geschlechtlichen
Akte, immer mehr im Verlauf verwandelt sich aber Fühlen und Drang
zur Befriedigung in der Weise, wie sie beim (geborenen) Urning die
Regel ist.
Diese Eviratio lässt die passive Rolle und weiterhin (passive) Päde-
rastie begehrenswerth erscheinen. Jene erstreckt sich weiterhin auf den
Charakter. Dieser wird weiblich , insofern Seh. nun mit Vorliebe in Ge-
sellschaft wirklicher Feminae sich bewegt, immer mehr Sinn für weib-
liche Beschäftigung bekommt und sogar zur Schminke und Toilettekünsten
Zuflucht nimmt, um sinkende Reize aufzufrischen und „Eroberungen" zu
machen.
208 Paraesthesia sexualis.
Die vorausgehenden Thatsachen der erworbenen conträren
Sexualempfindung und der Eviratio finden eine interessante Be-
stätigung in folgenden ethnologischen Erfahrungen.
Schon bei H e r o d o t findet sich die Beschreibung einer sonderbaren
Krankheit, von welcher häufig die Skythen befallen wurden. Die Krankheit
bestand darin, dass Männer weibisch von Charakter wurden, weibliche Klei-
dung anlegten, weibliche Arbeit verrichteten und auch in ihrem Aeusseren
weibliches Gepräge bekamen.
Für diesen Skythenwahnsinn *) gab H e r o d o t als Erklärung die Mythe,
es habe die Göttin Venus , erzürnt über die Plünderung ihres Tempels zu
Ascalon durch die Skythen, die Tempelschänder und ihre männliche Nach-
kommenschaft zu Weibern gemacht.
Hippokrates glaubt nicht an übernatürliche Krankheiten, erkennt,
dass Impotenz hier eine vermittelnde Rolle spiele, erklärt dieselbe aber un-
richtig aus der Gewohnheit der Skythen, sich anlässlich der durch ihr vieles
Herumreiten entstandenen Krankheiten in der Ohrengegend zur Ader zu lassen.
Er glaubte, diese Venen seien höchst wichtig für die Erhaltung der Geschlechts-
kraft und ihre Durchschneidung führe Impotenz herbei. Indem die Skythen
ihre Impotenz nun für göttliche Strafe und unheilbar hielten, zogen sie Weiber-
kleider an und lebten fortan wie Weiber unter Weibern.
Bemerkenswerth ist, dass nach Klaproth (Reise in den Kaukasus,
Berlin 1812, V, p. 285) und Chotomski (a. a. 0.) noch in unserem Jahr-
hundert Impotenz eine häufige Folge des Reitens auf ungesattelten Pferden
bei den Tartaren ist. Dasselbe wird beobachtet bei den Apaches und Navajos
des westlichen Continents, die fast niemals zu Fuss gehen, excessiv reiten und
durch kleine Genitalien, geringe Libido und Potenz auffällig sind. Dass exces-
sives Reiten schädlich für die Generationsorgane sein kann, wussten schon
Sprengel, Lallemand, Nysten.
Höchst interessante analoge Erfahrungen berichtet Hammond von den
Puebloindianern in Neu-Mexico.
Diese Nachkommen der Azteken züchten sich sog. Mujerados, deren
jeder Pueblostamm einen zu den religiösen Ceremonien (recte Orgien im Früh-
jahr), bei welchen Päderastie eine hervorragende Rolle spielt, bedarf.
Man wählt, um einen Mujerado zu züchten, einen möglichst kräftigen
Mann, masturbirt ihn excessiv und lässt ihn beständig herumreiten. Es ent-
steht allmählig eine so reizbare Schwäche der Genitalorgane, dass beim Reiten
massenhaft Samenerguss entsteht. Dieser Reizungszustand geht in paralytische
Impotenz über. Nun atrophiren Hoden und Penis, die Barthaare fallen
*) Vgl. Sprengel, Apologie des Hippokrates, Leipzig 1792, p. 611;
Friedreich, Literärgeschichte der psych. Krankheiten 1830, p. 31; Lalle-
mand, Des pertes seminales, Paris 1836, I. p. 581; Nysten, Dictionn. de
medecine 11. edit., Paris 1858, Art. eviration und Maladie des Scythes; Ma-
randon, De la maladie des Scythes, Annal. medico-psychol. 1877, Mars,
p. 161; Hammond, American Journal of Neurology and Psychiatry 1882,
August.
Erworbene conträre Sexualempfindung. 209
aus, die Stimme verliert an Tiefe und Umfang, Körperkraft und Energie
nehmen ab.
Neigungen und Charakter werden weiblich. Der M. verliert seine Stel-
lung in der Gesellschaft als Mann, er nimmt weibliche Manieren und Sitten
an, gesellt sich den Weibem zu. Gleichwohl wird er aus religiösen Gründen
in Ehren gehalten. Es ist wahrscheinlich, dass er auch ausser der Zeit der
Feste vornehmen Pueblos zur Päderastie dient.
H a m m o n d konnte 2 Mujerados untersuchen. Der eine war es vor
7 Jahren geworden und gerade 35 Jahre alt. Bis vor 7 Jahren war er ganz
männlich und potent gewesen. Allmählig hatte er Schwund der Hoden und
des Penis bemerkt. Gleichzeitig verlor er Libido und Erectionsvermögen. Er
unterschied sich in Kleidung und Haltung nicht von den Weibern, unter
welchen ihn Hammond traf.
Die Schamhaare fehlten, der Penis war geschrumpft, das Scrotum schlaff,
hängend, die Hoden waren auf ein Minimum geschrumpft und auf Druck
kaum mehr empfindlich.
Der M. hatte grosse Mammae wie eine Gravida und versicherte, er habe
schon mehrere Kinder, deren Mütter gestorben waren, gesäugt.
Ein zweiter M. , 36 Jahre, seit 10 Jahren gezüchtet, bot dieselbe Er-
scheinung, jedoch nur geringe Mammaentwicklung. Gleich dem vorigen war
seine Stimme hoch, dünn, der Körper fettreich.
III. Uebergangsstufe zur Metamorphosis sexualis paranoica.
Eine weitere Entwicklungsstufe stellen Fälle dar, wo auch
das körperliche Empfinden im Sinne einer Transmutatio sexus
sich umgestaltet.
Die folgende Beobachtung ist in dieser Hinsicht ein Unicum.
Beobachtung 98. Autobiographie. 1844 in Ungarn geboren, war
ich lange Jahre das einzige Kind meiner Eltern, da die meisten anderen Ge-
schwister an Lebensschwäche starben; erst spät kam noch ein Bruder nach,
welcher das Leben behielt.
Ich stamme aus einer Familie, in welcher Nerven- und psychische Leiden
vielfach vorgekommen sind. Als kleines Kind soll ich sehr hübsch gewesen
sein, mit blonden Locken und durchsichtiger Haut; sehr folgsam, stille, be-
scheiden, so dass man mich in jede Damengesellschaft mitnahm, ohne dass
ich genirt hätte.
Bei sehr reger Phantasie, meiner Feindin das ganze Leben hindurch,
entwickelten sich meine Talente schnell. Mit 4 Jahren konnte ich lesen und
schreiben, mein Gedächtniss reicht bis ins 3. Jahr zurück; ich spielte mit
Allem, was mir unter die Hände fiel, mit Bleisoldaten oder Steinen oder Bän-
dern aus einem Kinderladen: nur einen Apparat zum Holzmachen, den man
mir schenkte, mochte ich nicht. Am liebsten war ich zu Hause bei meiner
Mutter, die mein Alles war. Freunde hatte ich 2 — 3, mit denen ich gut-
müthig verkehrte, aber gerade so gerne mit ihren Schwestern, welche mich
auch stets wie ein Mädchen behandelten, was mich Anfangs nicht genirte.
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 14
210 Paraesthesia sexuaKs.
Ich muss auf dem Wege gewesen sein, ganz wie ein Mädchen zu wer-
den, ich weiss wenigstens noch gut, wie es stets hiess: „das schickt sich für
einen Buben nicht." Darauf bemühte ich mich, den Buben zu spielen, machte
Alles meinen Kameraden nach und suchte sie an Wildheit zu übertreffen,
was auch gelang: es war mir kein Baum und kein Gebäude zu hoch, um es
nicht zu besteigen. An den Soldaten hatte ich grosse Freude , den Mädchen
wich ich mehr aus, da ich mit ihren Sachen doch nicht spielen sollte, und es
mich auch stets wurmte, dass sie mich so ganz wie ihresgleichen behandelten.
In Gesellschaft Erwachsener war ich aber stets gleich bescheiden und
gleich gerne gesehen. Phantastische Träume von wilden Thieren, die mich
einmal aus dem Bette trieben , ohne dass ich erwacht wäre , peinigten mich
häufig. Ich wurde stets zwar einfach, aber höchst zierlich gekleidet und be-
kam dadurch eine Neigung zu schönen Kleidern ; eigenthümlich scheint es mir,
dass ich schon von der Schulzeit an Hinneigung zu Frauenhandschuhen hatte,
die ich heimlich anzog , so oft ich konnte ; so ereiferte ich mich , als meine
Mutter einmal ein Paar solcher verschenkt hatte, ganz energisch dagegen und
theilte meiner Mutter auf Befragen mit: ich hätte sie lieber selber gerne ge-
habt; ich wurde tüchtig ausgelacht und hütete mich von da an sehr, meine
Vorliebe für weibliche Sachen zu zeigen. Und doch war meine Freude daran
so gross. Besonders hatte ich an Maskenkleidern meine Freude, d. h. nur an
weiblichen; sah ich solche, so beneidete ich die Besitzerin; am liebsten sah
ich 2 als weisse Damen allerdings wunderschön verkleidete junge Herren mit
sehr schönen Mädchenmasken vor den Gesichtern, und doch hätte ich mich um
keinen Preis vor Anderen als Mädchen gezeigt, so sehr fürchtete ich mich vor
dem Spotte. In der Schule zeigte ich den grössten Fleiss, war stets vorne an;
meine Eltern lehrten mich von Kindheit an, dass zuerst die Pflicht komme,
und gaben mir auch stets hievon das Beispiel; auch war mir der Besuch der
Schule ein Vergnügen, denn die Lehrer waren mild und die älteren Schüler
plagten die jüngeren nicht. Nun verliessen wir meine erste Heimath, da der
Vater gezwungen war, seinem Beruf zu Liebe sich auf ein Jahr von der
Familie zu trennen; wir zogen nach Deutschland. Hier herrschte ein strenger
bis roher Ton , theils unter den Lehrern , theils unter den Schülern , und ich
wurde wieder wegen meiner Mädchenhaftigkeit verspottet.
Meine Mitschüler gingen so weit, dass sie einem Mädchen, welches genau
meine Züge hatte, meinen Namen gaben und mir den ihrigen, so dass ich das
Mädchen , mit dem ich mich , als sie verheirathet war , später befreundete,
hasste. Meine Mutter fuhr fort, mich zierlich zu kleiden, und dies war mir
zuwider, da es mir stets Spott eintrug, so dass ich froh war, als ich endlich
ganz richtige Hosen und ganz richtige Männerröcke bekam. Doch kam mit
diesen eine neue Plage; sie genirten mich an den Genitalien, besonders wenn
das Tuch etwas rauh war, und die Berührung des Schneiders beim Anmessen
war mir durch ihren Kitzel, der mich zusammenschaudern machte, ganz un-
erträglich, besonders an den Genitalien; nun sollte ich turnen, und da konnte
ich einfach Alles nicht machen oder nur schlecht, was Mädchen nicht auch
leicht machen können; beim Baden plagte mich das Schamgefühl des Ent-
blössens, ich that es aber sehr gerne ; ich hatte bis zum 12. Jahre eine grosse
Schwäche im Kreuze. Schwimmen lernte ich spät, nachher aber gut, so dass
ich grosse Touren machte. Mit 13 Jahren hatte ich Pubes, war etwa 6 Fuss
Erworbene conträre Sexualempfindung. 211
gross, aber im Gesicht ein Weibsbild, dies bis zu 18 Jahren, wo der Bart stark
kam und ich vor der Weiberähnlichkeit Ruhe hatte. Eine mit 12 Jahren
erworbene, erst mit 20 Jahren geheilte Inguinalhernie genirte mich sehr,
besonders beim Turnen; es kam hiezu vom 12. Jahre an bei langem Sitzen
und besonders bei Nachtarbeit, die häufig lang war, ein Jucken, Brennen,
Zittern von dem Penis an bis über das Kreuz hinaus, welches Sitzen und Stehen
erschwerte und sich durch Erkältung steigerte; ich ahnte aber im Entfern-
testen nicht, dass dies mit den Genitalien Zusammenhang haben könnte. Da
keiner meiner Freunde daran litt, so kam es mir ganz fremd vor und brauchte
ich die äusserste Geduld, es zu ertragen, um so mehr, als überhaupt der
Unterleib mich oft genirte.
In sexualibus war ich noch ganz unwissend, hatte aber jetzt, so mit
12 bis 13 Jahren, das sichere Gefühl, lieber ein Frauenzimmer sein zu wollen.
Ihre Gestalt gefiel mir besser, ihr ruhiges Auftreten, ihr Anstand, aber beson-
ders ihre Kleider behagten mir sehr, ich hütete mich aber wohl, es merken zu
lassen , doch weiss ich gewiss , dass ich das Castrationsmesser nicht gescheut
hätte, um meinen Zweck zu erreichen. Hätte ich sagen sollen, warum ich
lieber in Frauenkleidern stäke, so hätte ich bloss sagen können : es zieht mich
eben mit Gewalt hinein; vielleicht kam ich mir auch wegen meiner selten
weichen Haut eher wie ein Mädchen vor; diese war nämlich, besonders im
Gesicht und an den Händen, sehr empfindlich. Bei den Mädchen war ich
gerne gesehen; obgleich ich lieber stets unter ihnen gewesen wäre , so verhöhnte
ich sie, wo ich konnte, denn ich musste übertreiben, um nicht selbst weibisch
zu erscheinen, und beneidete sie im Herzen doch beständig; besonders war
mein Neid gross , wenn eine Freundin lange Kleider bekam , in Handschuhen
und Schleier ging. Als ich mit 15 Jahren eine Reise machte, schlug mir eine
junge Dame, bei der ich wohnte, vor, mich als Dame zu maskiren und mit
ihr auszugehen; ich ging aber, da sie nicht allein war, nicht darauf ein, so
gerne ich es gethan hätte. So wenig Umstände machte man mit mir; gerne
sah ich auf jener Reise , dass die Knaben in einer Stadt Blousen mit kurzen
Aermeln und nackten Armen trugen. Eine ganz geputzte Dame erschien mir
wie eine Göttin, berührte mich ihre Glacehand, so war ich glücklich und
neidisch, und wäre eben zu gerne an ihrer Stelle in den schönen Sachen und
der zierlichen Gestalt gesteckt. Nichtsdestoweniger studirte ich sehr fleissig,
machte Realschule und Gymnasium in 9 Jahren durch, legte eine gute Maturitäts-
prüfung ab. Ich erinnere mich, mit 15 Jahren das erste Mal zu einem Freunde
den Wunsch geäussert zu haben, ein Mädchen zu sein: auf seine Frage nach
dem Grunde konnte ich keine Antwort geben. Im 17. Jahre war ich in lockere
Gesellschaft gekommen, ich trank viel Bier, rauchte und suchte mit Kellnerinnen
zu scherzen; diese verkehrten gerne mit mir, aber man behandelte mich stets,
als ob ich auch Röcke trüge. Die Tanzstunde konnte ich nicht besuchen, es
trieb mich hinaus; hätte ich als Maske hingehen können, dann wäre es anders
gewesen. Meine Freunde liebte ich zärtlich, nur einen hasste ich, der mich
zur Onanie verleitet hatte. Pfui über jenen Tag, der mir für mein Lebenlang
geschadet hat ; ich trieb sie ziemlich stark, kam mir aber dabei wie ein doppelter
Mensch vor; ich kann das Gefühl nicht beschreiben; ich glaube, es war männ-
lich, aber mit weiblichem gemischt. An ein Mädchen konnte ich nicht an-
kommen, ich fürchtete dieselben, und doch waren sie mir nicht fremd; sie
212 Paraesthesia sexualis.
imponirten mir aber doch mehr als meinesgleichen, ich beneidete sie, ich
hätte auf alle Freuden verzichtet, wenn ich hätte nach der Klasse zu Hause
als Mädchen sein dürfen und wenn ich vollends so hätte ausgehen dürfen;
eine Crinoline, ein knapper Handschuh war eben mein Ideal.
Ich empfand bei jedem Damenanzuge, den ich sah, wie ich mich darin
fühlen würde, nämlich als Dame; eine Sehnsucht nach Männern hatte ich nicht.
Ich erinnere mich zwar, mit ziemlicher Zärtlichkeit an einem bild-
schönen Freunde mit Mädchengesicht und dunklen Locken gehangen zu haben,
glaube aber nur den Wunsch gehabt zu haben, dass wir beide Mädchen sein
möchten.
Auf der Hochschule gelangte ich endlich einmal zum Coitus; hoc modo
sensi, me libentius sub puella concubuisse et penem meum cum cunno mutatum
maluisse. Das Mädchen musste auch zu seinem Erstaunen mich wie ein Mäd-
chen behandeln, auf was sie gerne einging und mich aber auch behandelte,
als wäre ich nun sie (sie war noch ziemlich dumm und verspottete mich des-
halb nicht).
Als Student war ich zur Zeit wild, fühlte aber stets, dass ich diese
Wildheit nur mehr als Maske vornahm; ich trank, schlug mich, konnte aber
wieder nicht Tanzunterricht nehmen, weil ich mich zu verrathen fürchtete.
Meine Freundschaften waren innig, aber ohne Nebengedanken; am meisten
freute es mich , wenn ein Freund sich als Dame maskirte oder wenn ich
die Toiletten der Damen auf einem Balle mustern konnte; ich hatte alles
Verständniss dafür und fing auch allmählig an zu fühlen wie ein Frauen-
zimmer.
Wegen unglücklicher Verhältnisse machte ich zwei Selbstmordversuche ;
ohne Grund schlief ich einmal 14 Tage nicht, hatte viel Hallucinationen
(Gesicht und Gehör zugleich), verkehrte mit Verstorbenen und Lebenden zu-
gleich, was mir bis heute geblieben ist.
Auch eine Freundin hatte ich, die meine Liebhaberei kannte, meine
Handschuhe anzog, aber mich eben auch nur als Mädchen gelten Hess. So
verstand ich die Weiber besser, als ein anderer Mann, und wie sie das heraus
hatten, so wurde ich eben wieder more feminarum behandelt, als hätte man
eine Freundin getroffen. Ich konnte es im Ganzen auch nicht ausstehen, wenn
gezotet wurde, und that es eigentlich auch nur Bramarbasirens halber, wenn
es geschah. Den anfänglichen Ekel gegen Gestank und Blut legte ich bald
ab bis zum Gegentheile, einzelne Gegenstände jedoch konnte ich nie sehen
ohne Ekel. Nur das Eine fehlte mir stets, dass ich über mich stets im Un-
klaren war; ich wusste, dass ich weibliche Neigungen habe, glaubte aber doch
ein Mann zu sein, doch zweifle ich, ob ich ausser den Coitusversuchen , die
mir nie Vergnügen machten (was ich der Onanie zuschrieb), je einmal ein
Weib bewunderte, ohne den Wunsch, dasselbe zu sein, oder mich zu fragen,
ob ich es sein möchte oder in seinem Putze auftreten möchte. In der Geburts-
hilfe, welche zu lernen mir sehr schwer wurde (ich schämte mich für die auf-
liegenden Mädchen und hatte Mitleid mit ihnen), habe ich bis zum heutigen
Tag ein Gefühl des Schreckens zu überwinden; ja es kam mir schon vor, dass
ich die Traktionen mitzufühlen vermeinte. An mehreren Stellen mit Erfolg als
Arzt verwendet, machte ich einen Feldzug mit als freiwilliger Arzt. Das Reiten,
welches mir schon als Student peinlich war, weil die Genitalien dabei mehr
Erworbene conträre Sexualempfindung. 213
■weibliche Gefühle vermittelten, fiel mir schwer (nach Frauenart wäre es leichter
Immer noch glaubte ich, ein Mann mit undeutlichen Gefühlen zu sein,
und immer, wenn ich mit Damen zusammenkam, wurde ich bald eben wieder
als uniformirte Dame behandelt (wäre, als ich das erste Mal die Uniform trug,
viel lieber in ein Damenkostüm mit Schleier geschlüpft; es war mir ein stören-,
des Gefühl, wenn man auf den stattlichen Uniformirten schaute). In der
Privatpraxis hatte ich in allen 3 Hauptbranchen Glück, dann machte ich noch-
mals einen Feldzug mit; in diesem kam mir meine Natur zu gute, da ich
glaube, dass seit dem ersten Esel auf der Welt kein Grauthier so viel Geduld
an den Tag zu legen hatte, als ich. Dekorationen blieben nicht aus, doch
Hessen sie mich kalt.
So schlug ich mich durch das Leben, so gut es ging, nie zufrieden mit
mir, voller Weltschmerz, zwischen Sentimentalität oder Wildheit, die zwar
meist affektirt war, schwankend.
Ganz eigenthümlich ging es mir als Heirathskandidat. Am liebsten hätte
ich gar nicht geheirathet, aber Familienverhältnisse und Praxis zwangen
mich dazu. Ich heirathete eine energische, liebenswürdige Dame aus einer
Familie, wo Weiberherrschaft blühte. Ich war in sie verliebt, so gut es unser
einer sein kann, d. h. was er liebt, liebt er mit ganzem Herzen und geht in
ihm auf, wenn er auch nicht so stürmisch erscheint, wie ein ganzer und
ächter Mann; er liebt seine Braut mit aller weiblichen Tiefe, fast wie einen
Bräutigam, nur gestand ich mir diese Seite nicht ein, weil ich immer noch
glaubte, nur ein verstimmter Mann zu sein, der durch die Ehe wohl ganz zu
sich selber kommen und sich finden werde. Aber schon in der Hochzeitsnacht
fühlte ich, dass ich nur als männlich gestaltetes Weib fungirte; sub femina
locum meum esse mihi visum est. Wir lebten im ganzen zufrieden und glück-
lich, blieben ein paar Jahre kinderlos. Nach einer schweren Schwangerschaft,
während welcher ich in Feindesland zu Tode lag, kam auf eine schwere Geburt
der erste Knabe, dem eine melancholische Natur bis heute noch anhängt, der
heute noch schwermüthig ist; dann ein zweiter, welcher ganz ruhig ist, ein
dritter voller Streiche, ein vierter, ein fünfter; allein sämmtliche haben schon
Anlage zur Neurasthenie. Da ich mich nie an meinem Platze fühlte, so ging
ich viel in lustige Gesellschaft, arbeitete aber immer, was des Menschen Kraft
vermochte, studirte, operirte, experimentirte mit vielen Arzneimitteln und Kur-
methoden, auch stets an mir selber. In der Ehe überliess ich meiner Frau das
Regiment im Hause, da sie das Haushalten sehr gut versteht. Meine Pflichten
als Ehemann verrichtete ich so gut, als es ging, aber ohne Befriedigung für
mich; vom ersten Coitus bis heute ist mir die männliche Stellung dabei zu-
wider und zu schwer gewesen. Ich hätte viel lieber die andere Rolle gehabt.
Musste ich meine Frau entbinden, so brach es mir beinahe das Herz, da ich
ihre Schmerzen zu würdigen wusste. So lebten wir lange zusammen, bis
schwere Gichterkrankung mich in verschiedene Bäder trieb und mich neur-
asthenisch machte. Zugleich wurde ich so anämisch , dass ich alle paar Monate
eine Zeitlang Eisen nehmen musste, andernfalls war ich wie chlorotisch oder
hysterisch, oder beides zusammen. Stenocardie plagte mich oft, dann kamen
halbseitige Krämpfe in Kinn, Nase, Hals, Kehlkopf, Hemikranie, Zwerchfell-
und Brustmuskell|rampf ; etwa 3 Jahre lang dauerndes Gefühl, als wenn die
214 Paraesthesia sexualis.
Prostata vergrössert wäre, ein Expulsionsgefühl, wie wenn ich etwas gebären
sollte, Schmerzen in der Hüfte, perennirendes Kreuzweh u. dergl. ; doch wehrte
ich mich mit der Wuth der Verzweiflung gegen diese mir weibisch oder
weiblich imponirenden Beschwerden, bis vor 3 Jahren ein ganz heftiger Anfall
von Arthritis mich vollständig brach.
Noch ehe dieser furchtbare Gichtanfall eintrat, habe ich in der Ver-
zweiflung, um die Gicht zu tilgen, heisse Bäder, der Körperwärme so nahe
als möglich, genommen. Da geschah es einmal, dass ich mich plötzlich ver-
ändert und dem Tode nahe fühlte; ich sprang mit der letzten Kraft aus der
Therme heraus , hatte mich aber ganz als Weib mit Libido gefühlt. Ferner
zur Zeit, als das Ext. cannabis ind. aufkam und sogar gepriesen wurde, nahm
ich aus Angst vor meinem drohenden Gichtanfalle (und von Gleichgültigkeit
gegen das Leben gepeinigt) etwa die 3— 4fach gebräuchliche Dosis von Ext.
cannabis ind. und machte eine Haschischvergiftung auf Leben und Sterben
durch. Lachkrampf, Gefühl von unerhörter Körperkraft und Schnelligkeit,
eigenartiges Gefühl in Gehirn und Augen, Milliarden von Funken vom Gehirne
aus die Haut durchzuckend stellten sich ein, doch konnte ich mich noch zum
Sprechen zwingen; allein auf einmal sah ich mich von den Zehen bis zur
Brust als Weib, fühlte wie früher in der Therme, dass die Genitalien ein-
gestülpt wurden, das Becken sich erweiterte, die Brüste herausschössen, eine
unsägliche Wollust sich meiner bemächtigte. Da schloss ich die Augen, so
dass ich wenigstens das Gesicht nicht verändert sah. Mein Arzt hatte dabei
das Aussehen, als hätte er eine Riesenkartoffel statt des Kopfes, meine Frau
hatte den Vollmond auf dem Rumpfe. Und dennoch war ich stark genug,
als beide das Zimmer auf kurze Zeit verliessen, in mein Notizbuch meinen
kurzen letzten Willen einzutragen.
Aber wer beschreibt meinen Schrecken, als ich am anderen Morgen, mich
vollständig zum Weibe verwandelt fühlend, erwachte und beim Gehen und
Stehen eine Vulva und Mammae fühlte.
Als ich endlich aus dem Bette mich erhob, fühlte ich, dass mit mir eine
ganze Umwälzung vorgegangen sei. Schon während der Krankheit sagte ein
Besuch: für einen Mann ist er so geduldig, und machte mir einen blühenden
Blumenstock zum Geschenk, was mich befremdete, aber doch freute. Von nun
an war ich geduldig, wollte nichts mehr im Sturme thun, wurde aber zäh wie
eine Katze, dabei aber mild, versöhnlich, nicht mehr nachträglich, kurz wie ein
Weib dem Gemüthe nach. Während der letzten Krankheit hatte ich viele Ge-
sichts- und Gehörshallucinationen , sprach mit den Todten etc., sah und hörte
Spiritus familiäres, fühlte mich als eine doppelte Person, doch merkte ich auf
dem Krankenlager selber noch nicht, dass der Mann in mir erloschen war.
Meine Gemüthsveränderung war ein Glück, da mich ein Schlag traf, der mich
bei meiner früheren Stimmung auf den Tod getroffen hätte, den ich aber jetzt
mit Ergebung hinnahm, so dass ich mich selbst nicht mehr erkannte. Da ich
die Erscheinungen der Neurasthenie noch oft mit Gicht verwechselte, so ge-
brauchte ich noch viele Bäder, bis ein Hautjucken mit der Empfindung der
Krätze durch eine Therme so zunahm statt abzunehmen, dass ich alle äusser-
liche Therapie aufgab (ich wurde immer anämischer durch die Bäder) und
mich abhärtete, so gut es ging. Aber das weibliche Zwangsgefühl blieb und
wurde so stark, dass ich nur die Maske des Mannes trage, sonst aber mich
Erworbene conträre Sexualempfindung. 215
in jeder Beziehung als vollkommenes Weib nach allen Theilen fühle und von
der alten Zeit zur Zeit die Erinnerung verloren habe.
Was die Gicht noch etwa übrig gelassen hatte, ruinirte die Influenza
vollends.
Status praesens: Ich bin gross, Haarboden gelichtet, Bart wird grau,
meine Haltung fängt an gebückt zu werden ; habe seit der Influenza etwa ein
Viertel der rohen Kraft verloren. Gesicht sieht in Folge eines Klappenfehlers
etwas geröthet aus; Vollbart; chronische Conjunctivitis; mehr muskulös als
fett; linker Fuss scheint varicose Venen zu bekommen, schläft öfters ein, ist
noch nicht sichtbar verdickt, aber scheint es zu werden.
Die Mammillargegend hebt sich trotz Kleinheit deutlich ab. Der Bauch
hat die Form eines weiblichen Bauches, Füsse nach Frauenart gestellt, Waden etc.
wie diese; mit den Armen ist es gerade so und mit den Händen. Kann
Frauenstrümpfe und Handschuhe 73/* — l1^ tragen; ebenso trage ich ohne Be-
schwerde ein Corset. Gewicht wechselt zwischen 168 — 184 Pfund. Urin ohne
Eiweiss, ohne Zucker, enthält über die Norm Harnsäure; enthält er aber nicht
viel Harnsäure , so ist er hell , fast wasserhell nach jeder Aufregung irgend
einer Art. Stuhl meist regelmässig, ist er es aber nicht, so kommen alle weib-
lichen Beschwerden der Obstipation. Schlaf schlecht, oft viele Wochen lang
nur 2 — 3 Stunden dauernd. Appetit ziemlich gut, doch im Ganzen erträgt der
Magen nicht mehr, als der einer starken Frau und reagirt gegen scharfe Speisen
sofort durch Hautausschlag und Brennen in der Harnröhre. Haut ist weiss,
im Ganzen fühlt sie sich sehr glatt an; unerträgliches Jucken in derselben seit
2 Jahren, hat in den letzten Wochen abgenommen, zeigt sich nur noch mehr
in der Kniekehle und am Scrotum.
Neigung zu Schweiss; Ausdünstung früher so gut wie nicht vorhanden,
macht jetzt alle hässlichen Nuancen der weiblichen Ausdünstung, besonders am
Unterleibe durch, so dass ich mich noch reinlicher halten muss als eine Frau.
(Parfümire das Taschentuch, benütze parfümirte Seifen und Eau de Cologne.)
Allgemeingefühl: Ich fühle mich als Frauenzimmer in Mannes-
gestalt; wenn ich auch manchmal noch, die Form des Mannes fühle, so fühlt
das betreffende Glied dennoch weiblich, so z. B. der Penis als Clitoris; die
Urethra als Urethra und Scheideneingang, sie fühlt stets etwas nass, auch wenn
sie noch so trocken ist; das Scrotum als Labia majora; kurz, ich fühle eben
stets eine Vulva, und was das zu bedeuten hat, weiss nur, wer selber so fühlt
oder gefühlt hat. Aber die ganze Haut am ganzen Körper fühlt weiblich,
nimmt alle Eindrücke, seien es solche des Tastens, der Wärme oder feindselige,
als Weib auf und habe ich die Empfindungen eines solchen; mit blossen Händen
kann ich nicht gehen, da Hitze und Kälte mich gleich sehr peinigen; wenn
die Zeit, wo es uns Herren gestattet ist, den Sonnenschirm zu tragen, vorüber
ist, so habe ich sehr grosse Pein in meiner Gesichtshaut zu leiden, bis wieder
der Sonnenschirm gebraucht werden darf. Erwache ich Morgens, so dämmert
es in mir einige Augenblicke, es ist, als ob ich mich selber suche, dann er-
wacht das Zwangsgefühl, Weib zu sein; ich fühle das Gefühl der Vulva (resp.
dass eine solche da ist), und begrüsse den Tag mit einem stillen oder lauten
Seufzer, denn ich habe schon wieder Angst vor dem jetzt kommenden Theater-
spielen den ganzen Tag. Es ist keine Kleinigkeit,* sich als Weib fühlen und
als Mann handeln müssen. Alles musste ich wie neu lernen; die Messer, die
216 Paraesthesia sexualis.
Apparate, Alles fühlte sich seit 3 Jahren ganz anders an, und bei dem geän-
derten Muskelgefühl musste ich Alles neu erlernen. Es ist auch gelungen, nur
die Führung der Säge und des Knochenmeissels macht mir noch zu schaffen;
es ist beinahe, als ob die rohe Kraft nicht ganz ausreichte. Dagegen habe
ich mehr Gefühl bei der Arbeit mit dem scharfen Löffel in den Weichth eilen;
widerwärtig ist es, dass ich bei Untersuchung von Damen oft ihre Gefühle
mitfühle, was dieselben zwar nicht befremdet. Am allerwiderwärtigsten fühle
ich eine Kindsbewegung mit ; eine Zeitlang, mehrere Monate, quälte mich das
Gedankenlesen bei beiden Geschlechtern, gegen welches ich jetzt noch anzu-
kämpfen habe; bei Weibem ertrage ich es noch eher, bei Männern ist es mir
zuwider. Vor 3 Jahren habe ich noch nicht bewusst die Welt mit Weiber-
augen angesehen; es kam diese Aenderung im Rapport des Opticus zum Ge-
hirn unter heftigem Kopfweh fast plötzlich. Ich war bei einer geschlechtlich
verkehrt fühlenden Dame, da sah ich sie plötzlich so verändert, als ich mich
jetzt fühle, nämlich sie als Mann und fühlte mich Weib ihr gegenüber, dass
ich mit schlecht verhohlenem Aerger sie verliess; dieselbe war damals sich
noch nicht klar geworden über ihren Zustand.
Seitdem machen alle Sinne ihre Wahrnehmung in weiblicher Form und
ebenso ihren Rapport. Dem Cerebralsystem schloss sich fast unmittelbar das
vegetative an, so dass alle Beschwerden sich in weiblicher Weise äusserten;
die Empfindlichkeit aller Nerven, besonders die des Acusticus, Olfactorius oder
Trigeminus, steigerten sich zu Nervosität; klappt nur ein Fenster, so fahre ich
zusammen, d. h. innerlich, der Mann darf ja nicht: ist eine Speise nicht absolut
frisch, so habe ich Cadavergeruch in der Nase. Dem Trigeminus hätte ich nie
zugetraut, dass so launenhaft die Schmerzen von einem Ast auf den andern
überspringen, von einem Zahne ins Auge.
Doch ertrage ich seit meiner Aenderung Zahnweh und Migräne leichter,
habe auch weniger Angstgefühl bei Stenocardie. Eine eigentümliche Beob-
achtung scheint es mir, dass ich mich als ein ängstliches schwächeres Wesen
fühle, bei drohenden Gefahren aber viel mehr Kaltblütigkeit und Ruhe besitze,
ebenso bei sehr schweren Operationen. Der Magen rächt den leisesten (gegen
die Diät einer Frau) begangenen Fehler unnachsichtlich in Weiberart, sei es
durch Ructus oder sonstige Beschwerden, besonders einen Alkoholmissbrauch;
der Kater des sich Weib fühlenden Mannes ist viel infamer, als der colossalste
akademische Katzenjammer ; es kommt mir beinahe vor, als ob man als Weib
fühlend ganz unter der Herrschaft des vegetativen Systems stehe.
So klein meine Brustwarzen sind, so wollen sie Platz und fühle ich sie
als Mammae, wie zwar auch schon in Pubertätsjahren die Warzen schwollen und
schmerzten; desshalb genirt mich jedes weisse Hemd, die Weste, der Rock.
Vom Becken habe ich das Gefühl, als ob es ein weibliches sei, dito von After
und Nates; störend war mir im Beginn das Weiblichkeitsgefühl des Bauches,
welcher in keine Hosen will und stets das Gefühl der Weiblichkeit hervorbringt
oder besitzt. Auch habe ich das Zwangsgefühl einer Taille. Es ist mir, wie
wenn ich, einer eigenen Haut beraubt, in eine Weiberhaut gesteckt wäre, die
sich an Alles genau anpasst, aber Alles fühlt, wie wenn sie ein Weib umgäbe,
und dessen Gefühle durch den ganzen eingeschlossenen Manneskörper strömen
Hesse und die männlichen exmittirt hätte. Die Hoden sind, wenn auch nicht
atrophisch oder degenerirt, doch keine Hoden mehr und machen mir oft
Erworbene conträre Sexualempfindung. 217
Schmerzen mit dem Eindrucke, als ob sie in den Bauch hineingehörten und
festsitzen sollten; die Beweglichkeit derselben peinigt mich oft.
Alle 4 Wochen, zur Vollmondszeit, habe ich 5 Tage lang alle Molimina
wie eine Frau, körperlich und geistig, nur dass ich nicht blute, während ich
das Gefühl von Abgang von Flüssigkeit, ein Gefühl von Geschwollensein der
Genitalien und des Unterleibes (innen) habe; eine sehr angenehme Zeit, be-
sonders wenn nachher und später ein paar Tage in der Zwischenzeit das
physiologische Gefühl der Begattungsbedürftigkeit kommt mit seiner ganzen,
das Weib durchdringenden Kraft; der ganze Körper ist dann von diesem Ge-
fühle voll, wie ein eingetauchtes Zuckerstück voll Wasser gesogen ist oder so
voll als wie nasser Schwamm; da heisst es: zuerst liebebedürftiges Weib, dann
erst Mensch, und zwar ist das Bedürfniss, wie mir scheint, mehr ein Sehnen
nach Empfängniss als nach Coitus. Der immense Naturtrieb oder die weib-
liche Geilheit lässt aber das Schamgefühl zurücktreten, so dass indirect der
Coitus gewünscht wird. Männlich habe ich den Coitus höchstens dreimal im
Leben gefühlt, wenn es überhaupt so war, gleichgültig in allen sonstigen
Fällen; in den letzten 3 Jahren aber fühle ich ihn deutlich passiv als Frauen-
zimmer, sogar manchmal mit weiblichem Ejaculationsgefühl ; stets fühle ich
mich begattet und ermüdet wie ein Weib, oft auch unwohl darauf, wie es
einem Manne niemals zu Muthe ist. Einige Male verursachte er mir einen
so grossen Genuss, dass ich denselben mit nichts vergleichen kann; es ist ein-
fach das wonnigste, gewaltigste Gefühl auf Erden, um welches Alles geopfert
werden kann; in diesem Augenblicke ist das Weib bloss Vulva, welche die
ganze Person verschlungen hat.
Das Gefühl, Weib zu sein, habe ich seit 3 Jahren keinen Augenblick
verloren, es ist mir dieses jetzt durch die Gewöhnung nicht mehr so peinlich,
obgleich ich mich seitdem minderwerthig fühle, denn sich Weib zu fühlen
ohne Genussverlangen , ist auch für einen Mann zum Aushalten ; aber wenn
Bedürfnisse kommen! Dann hört die Gemüthlichkeit auf; das Brennen, die
Wärme, das Turgorgefühl der Genitalien (bei nicht erigirtem Penis, die Geni-
talien fallen wie aus der Rolle). Ein bei starkem Drange auftretendes Gefühl
von Ansaugen in der Vagina und Vulva ist geradezu schrecklich, eine Höllen-
pein der Wollust, aber kaum auszuhalten. Bin ich dann in der Lage, einen
Coitus auszuführen, so ist es besser, aber er bewirkt wegen mangelnder Em-
pfängniss keine vollständige Befriedigung, das Gefühl der Sterilität stellt sich
ein mit seinem ganzen beschämenden Drucke, nebst dem Gefühle der passiven
Begattung, des verletzten Schamgefühles; man kommt sich fast wie eine Lust-
dirne vor. Der Verstand hilft nichts dagegen, das Zwangsgefühl der Weib-
lichkeit beherrscht und bezwingt Alles. Wie schwer man in solchen Zeiten
beruflich arbeitet, ist leicht zu ermessen; doch dazu kann man sich zwingen.
Freilich ist es beinahe nicht möglich, zu sitzen, zu gehen, zu liegen, wenig-
stens kann man von diesen drei Zuständen keinen lange aushalten , dazu die
stete Berührung der Hosen etc., es ist unausstehlich.
Die Ehe macht dann, ausser dem Moment des Coitus, wo der Mann sich
begattet fühlen muss, noch den Eindruck des Zusammenlebens zweier Weiber,
von denen eines sich nur als Mann maskirt betrachtet. Bleiben diese perio-
dischen Molimina einmal aus, so kommen die Gefühle der Gravidität oder
der sexuellen Uebersättigung , die der Mann sonst nicht kennt, die aber den
218 Paraesthesia sexualis.
ganzen Menschen geradeso in Beschlag nehmen wie das Weiblichkeitsgefühl,
nur dass sie specifisch widerwärtig sind, so dass man gerne die regelmässigen
Molimina wieder sich gefallen lässt. Wenn erotische Träume oder Vorstel-
lungen kommen, so sieht man sich in der Form, welche man als Weib hätte,
und sieht erigirte Glieder, die sich präsentiren; es wäre, da auch der After
weiblich fühlt, gar nicht schwer, zum Kinäden zu werden, nur das positive
religiöse Verbot hindert daran, alle anderen Rücksichten würden hinfällig
werden.
Da solche Zustände wohl Jedem widerwärtig sein werden, so ist eine
Sehnsucht vorhanden, geschlechtslos zu sein oder sich machen zu dürfen. Wenn
ich ledig wäre, so hätte ich laugst Hoden und Scrotum sammt Penis den Ab-
schied gegeben.
Was hilft das höchste weibliche Genussgefühl, wenn man doch nicht
concipirt? Was nützen die Regungen weiblicher Liebe, wenn man zur Befrie-
digung wieder eine Frau hat? wenn auch die Begattung sie uns als Mann
empfinden lässt. Wie entsetzlich beschämend ist die weibliche Ausdünstung!
Wie erniedrigt den Mann das Gefühl der Freude an Kleidern und Schmuck!
Er möchte selbst in der umgewandelten Form, selbst wenn er des männlichen
Geschlechtsgefühles sich nicht mehr erinnern kann, eben doch nicht sich als
Weib fühlen müssen; er weiss noch ganz gut, dass er früher nicht stets ge-
schlechtlich fühlte, dass er auch ein blosser Mensch war, unbeeinflusst vom
Geschlecht! Jetzt auf einmal soll er stets seine bisherige Individualität nur als
Maske empfinden, stets sich als Weib fühlen, eine Abwechslung nur haben, wenn
er alle 4 Wochen seine periodischen Beschwerden und zwischen hinein seine
weibliche nicht zu befriedigende Geilheitszeit hat? Wenn er erwachen darf,
ohne sofort sich als Weib fühlen zu müssen? Zuletzt sehnt er sich nach einem
Augenblick, wo er seine Maske lüften könnte, der Augenblick kommt nicht!
Erleichterung des Elendes kann er nur finden, wenn er ein Stück Weiblichkeit,
Schmuck, ein Unterkleid etc. anziehen kann, denn als Weib darf er ja doch
nicht gehen; alle seine Berufspflichten mit dem Gefühle einer als Herr kostü-
mirten Schauspielerin erfüllen zu müssen und kein Ende abzusehen, ist keine
Kleinigkeit. Die Religion allein schützt vor grobem Lapsus, hindert aber das
Peinliche nicht, wenn die Versuchung an das weiblich fühlende Individuum so
herantritt, wie an ein wirkliches Weib und so gefühlt und durchgemacht werden
muss! Wenn ein angesehener Mann, der im Publikum ein seltenes Vertrauen
geniesst und eine Autorität besitzt, sich mit seiner wenn auch imaginären Vulva
herumschlagen muss; wenn man von schwerem Tagewerk herkommt und ist
genöthigt, die Toilette der nächstbesten Dame zu mustern, mit Weiberaugen
zu kritisiren, aus ihrem Gesichte ihre Gedanken abzulesen, wenn ein Mode-
journal (das hatte ich schon als Kind) das gleiche Interesse einflösst, wie ein
wissenschaftliches Werk? Wenn man seinen Zustand vor seiner Gattin, deren
Gedanken man, sobald man sich Weib fühlt, abliest vom Gesichte, verbergen
muss, während ihr doch klar wird, dass man sich an Leib und Seele geändert
hat? Die Qualen, welche die zu überwindende weibliche Weichlichkeit ver-
ursacht! Es gelingt zwar manchmal, wenn man in Urlaub allein ist, einige
Zeit mehr als Frau zu leben, z. B. weibliche Kleider etc., besonders bei der
Nacht zu tragen, die Handschuhe fast stets anzubehalten, einen Schleier oder
eine Maske im Zimmer vorzunehmen, dass man dann vor der übermässigen
Erworbene conträre Sexualeinpfindung. 219
Libido Ruhe hat, aber die einmal eingedrungene Weiblichkeit verlangt ge-
bieterisch, dass sie anerkannt werde; sie begnügt sich oft mit einer beschei-
denen Concession, des Umnehmens eines Armreifes hinter der Manchette z. B.,
aber eine Concession in irgend welcher Art verlangt sie gebieterisch. Das
einzige Glück ist nur das, dass man sich ohne Scham weiblich costümirt sehen
kann, ja dass man, wenn das Gesicht verschleiert oder maskirt ist, sich lieber
so sieht und sich natürlich vorkommt; man hat dann, wie jede andere Mode-
gans, den Geschmack der laufenden Mode, so sehr wird und ist man um-
gewandelt! Bis man sich an den Gedanken gewöhnt hat, selbständig nur als
Weib zu fühlen und die frühere Denkweise gewissermassen nur aus der Erinne-
rung zum Vergleiche herzuholen, und dann als Mann sich zu äussern, gehört
lange Zeit und unsägliche Ueberwindung.
Trotzdem wird es noch vorkommen, dass man sich auf einer weiblichen
Gefühlsäusserung ertappt, sei es in sexualibus, dass man sagt: man fühlt so und
so, was aber ein Nichtweib nicht wissen kann, oder dass man zufällig verräth,
dass Einem die weibliche Kleidung gang und gäbe ist. Vor Frauen allein
macht dies nichts aus, da sich eine Frau in erster Linie geschmeichelt fühlt,
wenn man von ihren Sachen etwas versteht, nur darf es nicht vor der eigenen
Frau passiren! Wie erschrak ich einmal, als meine Frau einer Freundin sagte,
dass ich für Damenartikel einen sehr feinen Geschmack besitze! Wie war
eine hochmüthige Modedame überrascht, als ich ihr, die im Begriffe war, ihr
Töchterchen ganz falsch zu erziehen, alle weiblichen Gefühle schriftlich und
mündlich darlegte (ich log ihr zwar vor, ich hätte mein Wissen aus Briefen
geschöpft); aber ebenso gross ist ihr Zutrauen jetzt, und das Kind, auf dem
Wege verrückt zu werden, ist vernünftig geblieben und ist fröhlich. Es hatte
nämlich alle Regungen der Weiblichkeit als Sünden gebeichtet, jetzt weiss es,
was es als Mädchen ertragen und durch Willen und Religion beherrschen
muss, und fühlt sich als Mensch. Die beiden Damen würden herzlich lachen,
wenn sie wüssten, dass ich nur aus eigener trauriger Erfahrung geschöpft
habe. Beifügen muss ich noch, dass ich seither ein viel feineres Temperatur-
gefühl habe, dazu aber noch ein mir vorher unbekanntes Gefühl für die Ela-
sticität der Haut, für Spannung der Gedärme bei Patienten, dass aber bei
Operationen und Sektionen feindliche Flüssigkeiten meine (unverletzte) Haut
leichter durchdringen. Jede Sektion macht mir Schmerzen, jede Untersuchung
einer Dirne oder einer Frau mit Fluor, Krebsgeruch u. dergl. berührt mich
geradezu feindlich. Ueberhaupt stehe ich jetzt stark unter dem Einflüsse von
Antipathie und Sympathie, vom Farbensinne an bis zur Beurtheilung einer
ganzen Person. Frauen sehen einander die sexuelle derzeitige Stimmung ge-
wöhnlich an, desshalb trägt eine Dame den Schleier, wenn sie ihn auch nicht
stets vornimmt, und parfümirt sich gewöhnlich, wenn es auch nur Taschen-
tuch oder Handschuhe sind , denn ihre Geruchsempfindung ihrem Geschlechte
gegenüber ist enorm; überhaupt wirken Gerüche auf einen weiblichen Orga-
nismus ganz unglaublich ein ; so z. B. beruhigt mich Veilchen und Rose, andere
Gerüche ekeln mich, mit Hang könnte ich es vor geschlechtlicher Erregtheit
nicht aushalten. Berührung einer Frau erscheint mir homogen, Coitus mit
meiner Frau erscheint mir dadurch möglich, dass sie etwas männlicher ist, eine
feste Haut besitzt und doch ist es mehr ein Amor lesbicus.
Zudem fühle ich mich stets passiv. Wenn ich oft Nachts vor Aufregung
220 Paraesthesia sexualis.
nicht schlafen kann, geht es endlich, si femora mea distensa habeo, sicut
mulier cum viro concumbens, oder auf eine Seite mich lege, nur darf dann
kein Arm oder kein Bettstück die Mamma berühren , sonst ist es mit dem
Schlafe wieder aus; auch der Bauch will nicht gedrückt sein. In Frauenhemd
und Bettjacke schlafe ich am besten, und dann noch mit Handschuhen, denn
es friert mich leicht an den Händen; in weiblichen Unterhosen und Unter-
röcken behagt es mir auch, weil sie die Genitalien nicht berühren. Am liebsten
waren mir Frauenkleider zur Crinolinenzeit. Frauenkleider geniren den weib-
lich fühlenden Menschen nicht, da er sie, wie jedes Weib, als zu seiner Person
gehörend, fühlt, nicht als fremde Gegenstände.
Mein liebster Verkehr ist eine an Neurasthenie leidende Dame (s. Beob. 99),
welche seit dem letzten Wochenbette männlich fühlt, sich aber, seit ich ihr
diese Gefühle gedeutet habe, so gut als möglich darein schickt, coitu abstinet,
was ich als Mann eben nicht thun darf; diese hilft mir durch ihr Beispiel meinen
Zustand tragen. Sie hat die Frauengefühle noch klarer in Erinnerung und
hat mir schon manchen guten Rath gegeben. Wäre sie ein Mann und ich ein
junges Mädchen, diese würde ich zu erwerben suchen, von dieser würde ich
mir des Weibes Schicksal gefallen lassen. Aber ihre jetzige Photographie ist
ganz anders als die früheren ; sie ist ein höchst elegant costümirter Herr trotz
Busen etc. und Frisur; sie spricht aber auch kurz und bündig, und hat an
Allem, was mir Spass macht, keine Freude mehr; sie hat eine Art von Welt-
schmerz, trägt aber ihr Schicksal mit Ergebung und Würde, findet ihren Trost
nur in Religion und Pflichterfüllung, geht zur Zeit der Menses fast zu Grunde ;
sie liebt Frauengesellschaft und Frauengespräche nicht mehr, ebenso keine
Süssigkeiten.
Ein Jugendfreund fühlt seit erster Zeit des Lebens nur als Mädchen,
hat aber Zuneigung zum männlichen Geschlechte: seine Schwester hatte es
umgekehrt, und als der Uterus doch sein Recht verlangte und sie sich als
liebendes Weib sah, trotz ihrer Männlichkeit, machte sie es kurz und entleibte
sich durch Ertränken.
Was ich als Hauptveränderungen an mir seit der vollständigen Effe-
minatio beobachtet, ist:
1. das stete Gefühl, Weib zu sein vom Scheitel bis zur Zehe,
2. das stete Gefühl, weibliche Genitalien zu besitzen,
3. die Periodicität der vierwöchentlichen Molimina,
4. regelmässig eintretende weibliche Begierlichkeit , aber ohne Lust zu
einem bestimmten Mann,
5. beim Coitus weibliches passives Gefühl,
6. nachher das Gefühl der futuirten Partei,
7. bei Bildern von Coitus das weibliche Gefühl,
8. beim Anblick von Frauenzimmern das Gefühl der Zusammengehörig-
keit und das weibliche Interesse daran,
9. beim Anblick von Herren das weibliche Interesse daran,
10. beim Anblick von Kindern dasselbe,
11. das veränderte Gemüth, die viel grössere Geduld,
12. die endlich gelungene Ergebung in mein Schicksal, was ich zwar nur
der positiven Religion verdanke, sonst hätte ich mich längst entleibt.
Erworbene conträre Sexualempfindung. 221
Denn Mann zu sein und fühlen "zu müssen: chaque femme est futuee
ou eile desire d'gtre, ist kaum erträglich.
Vorstehende für die Wissenschaft höchst werthvolle Auto-
biographie war von folgendem nicht minder interessanten Briefe
begleitet :
E. W. habe ich zunächst um Verzeihung zu bitten wegen der Belästigung
durch meine Zuschrift; — ich hatte allen Halt verloren und betrachtete mich
nur mehr als ein Scheusal, vor dem mir selber ekelte; da gewann ich durch
Ihre Schriften wieder Muth und beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen
und einen Rückblick auf mein Leben zu werfen , falle das Resultat aus , wie
es immer wolle. Nun kam es mir aber als Pflicht der Dankbarkeit vor, E. W.
das Resultat meiner Erinnerung und Beobachtung mitzutheilen , da ich einen
ganz analogen Fall nicht bei Ihnen verzeichnet fand ; endlich dachte ich auch,
es interessire Sie vielleicht, aus einer ärztlichen Feder zu erfahren, wie solch
ein missrathenes menschliches oder männliches Individuum unter dem Druck
des Zwangsgefühles, Weib zu sein, denkt und fühlt.
Es stimmt nicht Alles, aber zu mehr Reflexion habe ich die Kraft nicht
mehr, und mag mich nicht mehr hineinvertiefen; Manches ist wiederholt,
aber doch bitte ich zu bedenken, dass jede Maske aus der Rolle fallen kann,
besonders wenn die Verkleidung nicht freiwillig getragen wird, sondern auf-
oktroyirt wird.
Ich hoffe nach der Lektüre Ihrer Schriften, dass ich, wenn ich meine
Standespflichten als Arzt, Bürger, Vater und Ehemann erfülle, mich doch zu
den Menschen rechnen darf, welche nicht bloss Verachtung verdienen.
Endlich wollte ich E. W. das Resultat meiner Erinnerung und meines
Nachdenkens vorlegen, um zu beweisen, dass man auch mit weiblichem Fühlen
und Denken Arzt sein kann; ich halte es für ein grosses Unrecht, dem Weibe
die Medicin zu verschliessen ; ein Weib kommt manchem Uebel durch das
Gefühl auf die Spur, wo der Mann trotz aller Diagnostik im Finstern tappt,
jedenfalls bei Frauen- und Kinderkrankheiten. Wenn ich es machen könnte,
so müsste jeder Arzt ein Vierteljahr lang die Weiblichkeit durchmachen, er
hätte dann mehr Verständniss und mehr Achtung für die Seite der Mensch-
heit, von welcher er abstammt, und wüsste dann die Seelengrösse der Frauen
zu schätzen, andererseits auch die Härte ihres Schicksals.
Epikrise. Patient schwer belastet, ist originär psychosexual abnorm,
indem er charakterologisch und beim sexuellen Akt weiblich empfindet. Dieses
abnorme Fühlen bleibt eine rein seelische Anomalie bis vor 3 Jahren, wo, auf
Grund schwerer Neurasthenie, dieselbe eine übermächtige Stütze durch zwangs-
mässig sich dem Bewusstsein aufdrängende körperliche Gefühle im Sinne der
Transmutatio sexus bekommt. Patient fühlt sich zu seinem Schrecken nun
auch körperlich als Weib, empfindet unter dem Zwang seiner weiblichen
„ Zwangsgefühle " eine gänzliche Umwandlung seines bisherigen männlichen
Fühlens, Vorstellens und Strebens, ja sogar seiner ganzen Vita sexualis im
Sinne der Eviratio. Gleichwohl ist sein Ich im Stande, die Herrschaft gegen-
222 Paraesthesia sexualis.
über diesen seelisch-körperlichen krankhaften Vorgängen zu behaupten und
den Verfall in Paranoia hintanzuhalten — ein denkwürdiges Beispiel von
Zwangsempfindungen und Zwangsvorstellungen auf der Basis neurotischer Be-
lastung und von hohem Werth für die Gewinnung eines Verständnisses der
Wege, auf welchen sich die psychosexuale Transformation vollziehen mag.
1893, nach 3 Jahren, sandte mir der unglückliche College einen neuen Status
praesens seiner Denk- und Gefühlsweise. Derselbe entspricht wesentlich dem
früheren. Pat. fühlt sich körperlich und seelisch vollkommen als Weib, aber
seine Intelligenz ist intakt geblieben und schützt ihn vor dem Verfall in
Paranoia (s. u.).
Ein Seitenstück zu diesem klinisch und psychologisch merk-
würdigen Fall bei einem Manne stellt die folgende, eine Dame be-
treffende Beobachtung dar.
Beobachtung 99. Frau X., Tochter eines hohen Beamten, stammt
von einer Mutter, die an einem Nervenleiden gestorben ist. Der Vater war
unbelastet, starb hochbetagt an Pneumonie. Ein Theil der Geschwister ist
psychopathisch minderwerthig, ein Bruder charakterologisch abnorm und schwer
neurasthenisch.
Als Mädchen hatte Frau X. entschieden Inclinationen für Knabensport.
Solange sie noch kurze Kleider trug, schweifte sie in Feld und Wald umher
und erkletterte schwindelfrei die gefährlichsten Felsparthien. Für Kleider und
Putz hatte sie keinen Sinn. Nur einmal, als sie ein Kleid von mehr männ-
lichem Zuschnitt bekam, empfand sie grosse Freude und war sehr vergnügt,
als sie als Schülerin bei einer theatralischen Aufführung in Knabenkleidern
einen Jungen darstellen durfte.
Im Uebrigen verrieth aber nichts eine homosexuelle Veranlagung. Sie
weiss sich bis zur Eheschliessung (21 Jahre) keines Falles zu erinnern, dass sie je
zu einer Person des eigenen Geschlechtes sich hingezogen gefühlt hätte. Ebenso
gleichgültig waren ihr männliche Individuen. Herangewachsen, hatte sie viele
Anbeter, was ihr schmeichelte, jedoch wül sie nie an den Unterschied des
Geschlechts gedacht und diesen nur hinsichtlich der Kleidung beachtet haben.
Auf dem einzigen Balle, den sie mitmachte, interessirten sie nur die
geistreiche Unterhaltung und die gute Gesellschaft, nicht der Tanz und die
Tänzer.
Die Menses waren ohne Beschwerde mit 18 Jahren eingetreten. Frau X.
empfand die Menstruation jeweils als etwas ihr nicht Zugehöriges und Lästiges.
Die Verlobung mit dem braven, reichen, aber für Frauennatur nicht das ge-
ringste Verständniss besitzenden Manne war für sie eine ganz gleichgültige
Sache. Sie empfand weder Sym- noch Antipathie gegenüber der Ehe. Der
eheliche Umgang war ihr anfangs schmerzlich, später einfach lästig. Sie ge-
langte dabei nie zu einem Wollustgefühl, gebar aber im Lauf der Jahre
6 Kinder. Als der Mann wegen des wachsenden Kindersegens Coitus inter-
ruptus pflog, fühlte [sie sich in ihrem religiösen und moralischen Gefühl
verletzt.
Erworbene conträre Sexualempfindung. 223
Frau X. wurde immer mehr neurasthenisch , missgestimmt, fühlte sich
unglücklich.
Sie litt an Descensus uteri, Erosionen an der Port, vaginalis, wurde
anämisch; gynäkologische Behandlung und verschiedene Badekuren brachten
keine erhebliche Besserung.
36 Jahre alt, erlitt sie eines Tags einen apoplektischen Insult und lag
in der Folge fast 2 Jahre lang krank unter schweren neurasthenischen Be-
schwerden (Agrypnie, Kopfdruck, Herzklopfen, psychische Depression, Gefühl
gebrochener körperlicher und geistiger Kraft bis zu Gefühlen drohenden Irre-
seins u. s. w.).
Im Verlauf dieser Krankheit stellte sich eine sonderbare Aenderung
ihres seelischen und körperlichen Fühlens ein.
Der Weibertratsch der sie besuchenden Damen über Liebe, Toiletten,
Schmuck, Mode, Haus- und Dienstbotenangelegenheiten wurde ihr ekelhaft.
Es berührte sie peinlich, selbst Weib zu sein. Sie konnte sich nicht mehr
entschliessen, in den Spiegel zu schauen. Frisiren und Toilette wurden ihr
ein Gräuel. Zum Befremden ihrer Umgebung änderten sich ihre bisher
weichen und entschieden weiblichen Züge im Sinne eines männlichen Aus-
drucks, so dass sie Jedem den Eindruck eines in Damenkleidern steckenden
Mannes machte. Sie klagte dem vertrauten Arzt, die Periode sei ihr fremd
geworden, gehe sie nichts an ; sie war bei ihrer Wiederkehr jeweils verstimmt,
empfand den Geruch des Menstrualbluts als ekelhaft, konnte sich aber nicht
entschliessen, zu Parfüms, die ihr ebenfalls zuwider geworden waren, zu greifen.
Aber auch sonst fühlte sie eine sonderbare Wandlung ihres ganzen
Wesens. Sie empfand Anwandlungen von Kraftgefühl und sich getrieben,
turnerische Leistungen auszuführen, fühlte sich episodisch jung wie mit 20 Jahren.
Sie erstaunte, wann ihr neurasthenisches Gehirn das Denken überhaupt zuliess,
über den Flug und die Neuartigkeit ihrer Gedanken, über ihre schnelle und
präcise Art der Schluss- und Urtheilsbildung , die schnelle und kurze Art des
Ausdrucks, die neue und für eine Dame nicht immer passende Wahl der
Worte. Sogar Neigung zum Fluchen stellte sich bei der früher so frommen
und strenge auf sich haltenden Frau ein.
Sie machte sich bittere Vorwürfe, jammerte, sie sei nicht mehr weib-
lich, stosse in der Gesellschaft in ihrem Denken, Fühlen und Handeln an.
Nun fühlte sie auch eine Veränderung ihres Körpers. Zu ihrem Er-
staunen und Entsetzen fühlte sie die Brüste schwinden, ihr Becken kam ihr
enger vor, die Knochen wurden massiger, die Haut fühlte sich rauher und
fester an.
Sie konnte sich nicht mehr entschliessen, die weibliche Bettjacke sowie
ein Häubchen zu tragen , auch Armreife , Ohrringe , Fächer wurden bei Seite
gelegt. Der Kammerjungfer sowie der Nähterin fiel auf, dass von Frau X.
ein ganz anderer Geruch ausging; die Stimme wurde tiefer, rauh, männlich.
Als Pat. endlich das Bett verliess, hatte sie den Gang der Frauen fast
ganz verloren, musste sich zu entsprechenden Gesten und Bewegungen im
Damencostüm förmlich zwingen, konnte es nicht mehr ertragen, einen Schleier
vor das Gesicht zu nehmen. Ihre frühere Lebenszeit als Weib kam ihr als
etwas Fremdes, ihr nicht Zugehöriges vor, sie fand sich nicht mehr oder nur
mühsam in die Rolle des Weibes hinein. Ihre Züge wurden nun immer mann-
224 Paraesthesia sexualis.
licher. Ganz fremdartige Gefühle im Unterleib stellten sich. ein. Sie klagte
dem Arzt, dass sie ihre Genitalien nicht mehr innerlich fühle. Sie empfinde
ihren Leib geschlossen, die Gegend der Schamtheile vergrössert, sie habe oft
deutlich das Gefühl, Penis und Sero tum zu besitzen. Auch zeigte sie deutlich
männliche Libido. Sie war über all diese Wahrnehmungen tief verstimmt,
entsetzt und ihre Verstimmung nahm so zu, dass man Wahnsinn befürchtete.
Es gelang den Bemühungen und Aufklärungen des Hausarztes, Pat. allmählig
zu beruhigen und sie über diese Klippe hinüberzubringen. Pat. gewann in der
neuen, fremdartigen, krankhaften, körperlich-seelischen Form allmählig ihr
Gleichgewicht wieder. Sie bemühte sich, ihren Pflichten als Hausfrau und
Mutter nachzukommen. Interessant war die wahrhaft männliche Festigkeit
des Willens, welche sie dabei entfaltete, aber ihr früher weiches Gemüth war
verschwunden. Sie gerirte sich nunmehr als Mann im Hause, was Veran-
lassung zu ehelichen Dissidien bot. Ueberhaupt erschien Frau X. ihrem Mann
als ein unlösbares Räthsel.
Dem Arzte klagte sie über ab und zu sie heimsuchende „thierisch männ-
liche" Begierden und war zu solchen Zeiten auch tief verstimmt. Der ehe-
liche Verkehr mit dem Manne erschien ihr grauenhaft und unmöglich.
Episodisch empfand Pat. noch weibliche Regungen, aber immer seltener
und matter. Sie fühlte dann wieder weibliche Genitalien, ihre Brüste als die
eigenen, aber die Episoden waren ihr peinlich und sie hatte das Gefühl, dass
sie eine solche „zweite Umstimmung" nicht mehr aushalten könnte, ohne wahn-
sinnig zu werden.
Sie hat sich in die ihr durch einen Krankheitsprocess aufgedrungene
Mutatio sexus hineingefunden und trägt ihr Schicksal in Ergebung, wobei ihre
grosse Religiosität ihr mächtige Hülfe gewährt.
Im höchsten Grad peinlich ist ihr aber, dass sie beständig, einer Schau-
spielerin gleich, eine fremde Rolle, die des Weibes, vor der Aussenwelt spielen
muss. (Status praesens Sept. 1892.)
IV. Stufe: Metamorphosis sexualis paranoiea.
Eine letzte mögliche Stufe in dem Krankheitsprocess stellt
der Wahn der Geschlechtsverwandlung dar. Er wird erreicht auf
der Grundlage einer zur Neurasthenia universalis gewordenen
sexuellen Neurasthenie im Sinne einer seelischen Erkrankung, der
Paranoia.
Die folgenden Beobachtungen weisen die interessante Ent-
wicklung des neurotisch-psychologischen Vorgangs bis zu seiner
Höhe nach.
Beobachtung 100. K., 36 Jahre, ledig, Knecht, aufgenommen in der
Klinik am 26. Februar 1889, ist ein typischer Fall von aus Neurasthenia
sexualis entstandener Paranoia persecutoria mit Geruchshallucinationen , Sen-
sationen u. s. w.
Wahn der Geschlechtsverwandlung. 225
Er stammt aus belasteter Familie. Mehrere Geschwister waren psycho-
pathisch. Patient hat hydrocephalen Schädel, in der Gegend der rechten Fon-
tanelle eingesattelt, neuropathisches Auge. Von jeher sexuell sehr bedürftig,
ergab er sich mit 19 Jahren der Masturbation, coitirte mit 23 Jahren, zeugte
3 uneheliche Kinder, unterliess weiteren sexuellen Verkehr aus Angst vor
weiterer Zeugung und Unerschwinglichkeit der Alimentationsgelder, empfand
die Abstinenz höchst peinlich, entsagte auch der Masturbation, bekam massen-
haft Pollutionen, wurde vor V/2 Jahren sexuell neurasthenisch, hatte auch
Pollut. diurnae, wurde davon ganz matt und elend, im weiteren Verlauf all-
gemein neurasthenisch und erkrankte an Paranoia.
Seit 1 Jahr bekam er parästhetische Sensationen, als ob an Stelle der
Genitalien ein grosser Knäuel liege, dann fühlte er, wie Scrotum und Penis
fehlten und seine Genitalien sich weiblich umwandelten.
Er fühlte das Wachsen von Brüsten, einen Haarzopf, das Anliegen
weiblicher Kleidung am Körper. Er kam sich als Weib vor. Die Leute auf
der Strasse machten entsprechende Aeusserungen : „Seht doch das Mensch an,
die alte Duttel." Im Halbtraum hatte er das Gefühl, als ob an ihm als einem
Weib ein Mann den Coitus vollziehe. Es kam ihm dabei die Natur unter
lebhaftem Wollustgefühl. Während des Aufenthalts in der Klinik trat eine
Intermission der Paranoia ein und zugleich eine bedeutende Besserung der
Neurasthenie. Damit schwanden vorläufig die Gefühle und Ideen im Sinne
einer sich entwickelnden Metamorphosis sexualis.
Ein weiter vorgeschrittener Fall von Eviratio auf dem Wege
zur Transformatio sexus paranoica ist der folgende:
Beobachtung 101. Franz St., 33 Jahre alt, Volksschullehrer, ledig,
wahrscheinlich aus belasteter Familie , von jeher neuropathisch , emotiv,
schreckhaft, alkoholintolerant, begann mit 18 Jahren zu masturbiren, bekam
mit 30 Jahren Erscheinungen von Neurasthenia sexualis (Pollutionen mit fol-
gender Mattigkeit, die mit der Zeit auch bei Tage auftraten, Schmerzen im
Gebiet des Plex. sacralis u. s. w.). Dazu gesellte sich allmählig Spinalirrita-
tion , Kopfdruck , Cerebrasthenie. Seit Anfang 1885 hatte Patient sich des
Coitus enthalten, bei welchem er kein Wollustgefühl mehr verspürte. Er
masturbirte häufig.
1888 begann Beachtungswahn. Er bemerkte, dass man ihm auswich,
bemerkte, dass er eine schädliche Ausdünstung habe, stinke (Geruchshallucina-
tionen) und erklärte sich damit das geänderte Benehmen der Leute, nicht
minder ihr Niesen, Husten u. s. w.
Er empfand Gerüche nach Leichen, faulem Harn. Als Ursache seines
üblen Geruchs erkannte er Pollutionen nach innen. Er erkannte sie an einem
Gefühl, wie wenn von der Symphyse gegen die Brust Flüssigkeit ströme.
Patient verliess bald wieder die Klinik.
1889 kam er neuerlich zur Aufnahme im vorgeschrittenen Stadium einer
Paranoia masturbatoria persecut. (physikalischer Verfolgungswahn).
Anfangs Mai 1889 wird Patient dadurch auffällig, dass er grob reagirt,
wenn man ihn als „Herr" anredet.
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 15
226 Paraesthesia sexualis.
Er protestirt dagegen, weil er ein Weib sei. Stimmen sagen ihm dies.
Er bemerkt, dass ihm Brüste wachsen. Vor einer Woche betasteten ihn die
Anderen wollüstig. Er hörte sagen, er sei eine Hure. In letzter Zeit Be-
gattungsträume. Es träumte ihm, es werde an ihm als einem Weib der Coitus
vollzogen. Er spürt die Immissio penis und hat beim traumhaften Akt Ejacula-
tionsgefühl.
Schädel steil, langer schmaler Gesichtsschädel, prominente Tubera parie-
talia. Genitalien normal entwickelt.
Der folgende Fall, in der Anstalt Illenau beobachtet, ist ein
passendes Beispiel dauernder wahnhafter Verkehrung des geschlecht-
lichen Bewusstseins.
Beobachtung 102. Metamor phosis sexualis paranoica.
N., 23 Jahre, ledig, Pianist, wurde Ende October 1865 in der Heilanstalt
Illenau aufgenommen. Aus erblich angeblich nicht belasteter, aber tuber-
kulöser Familie (Vater und Bruder erlagen der Phthisis pulm.). Patient war
als Kind schwächlich, gering begabt, jedoch einseitig für Musik talentirt. Er
war von jeher ein abnormer Charakter, still, verschlossen, ungesellig, von
barschem Wesen.
Vom 15. Jahr an Masturbation. Nach einigen Jahren schon stellten
sich neurasthenische Beschwerden (Herzklopfen, Mattigkeit, zeitweise Kopf,
druck u. s. w.) ein, zugleich auch hypochondrische Anwandlungen. Patient
arbeitete in dem letzten Jahr sehr angestrengt. Seit einem halben Jahre
hatte sich seine Neurasthenie gesteigert. Er klagte nun über Herzklopfen,
Kopfdruck, Schlaflosigkeit, wurde sehr reizbar, erschien sexuell sehr erregt,
behauptete , er müsse ehemöglich heirathen , aus Gesundheitsrücksichten. Er
verliebte sich in eine Künstlerin, erkrankte aber fast gleichzeitig (Sept. 1865)
an Paranoia persecutoria (feindliche Wahrnehmungen, Schmähreden auf der
Strasse, Gift im Essen, man spannt ihm ein Seil auf einer Brücke, damit er
nicht über diese zur Geliebten gehe). Wegen zunehmender Aufregung und
Conflikte mit der feindlich aufgefassten Umgebung in die Irrenanstalt auf-
genommen, bot er anfänglich noch das Bild einer typischen Paranoia per-
secutoria, neben den Erscheinungen einer sexuellen, später allgemeinen Neur-
asthenie, jedoch baute sich der Verfolgungswahn nicht auf dieser neurotischen
Grundlage auf. Nur gelegentlich hörte Patient die Umgebung sagen: „ Jetzt
wird ihm der Same, jetzt wird ihm die Blase abgeschnitten."
Im Lauf der Jahre 1866 — 68 trat der Verfolgungswahn immer mehr in
den Hintergrund und wurde grossentheils ersetzt durch erotische Ideen. Die
somatisch-psychische Grundlage war eine andauernde und mächtige Erregung
der Sexualsphäre. Patient verliebte sich in jede Dame, deren er ansichtig wurde,
hörte auffordernde Stimmen, sich ihr zu nähern, verlangte gebieterisch die
Ehebewilligung und behauptete, wenn man ihm keine Frau verschaffe, be-
komme er die Auszehrung. Unter fortgesetzter Masturbation treten schon
1869 Signale im Sinne künftiger Eviratio auf. „Wird, wenn er eine Frau
bekommt, sie nur platonisch lieben." Patient wird immer verschrobener, lebt
in einem erotischen Ideenkreis, sieht allenthalben in der Anstalt Prostitution
Wahn der Geschlechtsverwandlung. 227
treiben, hört ab und zu Stimmen, die ihm selbst unzüchtiges Benehmen gegen
Damen imputiren. Er vermeidet desshalb Damengesellschaft und lässt sich
nur dann herbei, in solcher zu musiciren, wenn ihm zwei Zeugen beigegeben
werden.
Im Lauf des Jahres 1872 nimmt der neurasthenische Zustand einen be-
deutenden Aufschwung. Nun tritt auch die Paranoia persecutoria wieder mehr
in den Vordergrund und gewinnt klinische Färbung durch den neurotischen
Grundzustand. Es treten Geruchshallucinationen auf, er wird magnetisch be-
einflusst. „Magnetismusambosarbeitsweilen1' wirken auf ihn ein (falsche Inter-
pretation spinalasthenischer Beschwerden). Unter fortdauernder mächtiger
sexueller Erregung und masturbatorischen Excessen macht der Process der
Eviratio immer weitere Fortschritte. Nur noch episodisch ist er Mann und
schmachtet nach einem Weibe, beklagt sich bitter, dass die schamlose Prosti-
tution der Männer hier im Hause es unmöglich mache, dass ein Frauenzimmer
zu ihm gelange. Er sei sterbenskrank durch magnetisch vergiftete Luft und
unbefriedigte Liebe, ohne Liebe könne er nicht leben; er sei vergiftet durch
Geilgift, das auf den Geschlechtstrieb wirke. Die Dame, welche er liebe, sei
hier in der niedrigsten Unzucht. Die Prostituirten hier im Hause haben Glück-
seligkeitsketten, d. h. Ketten, in welchen man, ohne sich zu rühren, in Wollust
liege. Er sei erbötig, sich jetzt auch mit einer Prostituirten zu begnügen. Er
besitze eine wunderbare Augengedankenausstrahlung , die 20 Millionen werth
sei. Seine Compositionen sind 500000 Francs werth. Neben diesen Andeutungen
von Grössenwahn solche von persecutorischem — die Nahrung ist durch vene-
rische Excremente vergiftet, er schmeckt und riecht das Gift, hört infame
Beschuldigungen und verlangt eine Ohrenschlussmaschine.
Immer häufiger werden aber vom August 1872 ab Signale im Sinne der
Eviratio. Er benimmt sich ziemlich affektirt, erklärt, dass er nicht mehr
unter trinkenden und rauchenden Männern leben könne. Er denke und
empfinde ganz weiblich. Man solle ihn von nun ab als Weib behandeln und
in einer Frauenabtheilung unterbringen. Er verlangt Confitüren , feine Mehl-
speisen. Gelegentlich Tenesmus und Cystospasmus verlangt er in einer Ent-
bindungsanstalt untergebracht und wie eine Schwerkranke , Schwangere be-
handelt zu werden. Der krankhafte Magnetismus männlicher Pfleger wirke
ungünstig auf ihn.
Vorübergehend fühlt er sich noch als Mann, plaidirt aber in für sein
krankhaft geändertes sexuales Empfinden bezeichnender Weise nur für Be-
friedigung durch Masturbation, für Ehe ohne Coitus. Die Ehe sei ein
Wollustinstitut. Das Mädchen, welches er zur Frau nehmen möchte, müsste
Onanistin sein.
Vom December 1872 ab ändert sich sein Persönlichkeitsbewusstsein end-
gültig in ein weibliches.
Er sei von jeher ein Weib, aber vom 1. — 5. Lebensjahre habe ihn ein
französischer Quäkerkünstler mit männlichen Genitalien versehen und ihm
durch Einreiben und Zurichten des Thorax das spätere Hervorkommen der
Brüste verhindert.
Er verlangt nun energisch Unterbringung in der Frauenabtheilung,
Schutz vor ihn prostituiren wollenden Männern und Damenkleidung. Eventuell
wäre er auch erbötig, in einem Spielwaarengeschäft sich mit Stepp- und Aus-
228 Paraesthesia sexualis.
schneidarbeit, oder in einem Putzgeschäft mit weiblicher Arbeit zu beschäf-
tigen. Vom Zeitpunkt der Transformatio sexus an beginnt für Patient eine
neue Zeitrechnung. Seine eigene frühere Persönlichkeit fasst er in der Erinne-
rung als seinen Vetter auf.
Er spricht von sich vorläufig in der dritten Person, erklärt sich für die
Gräfin V., die liebste Freundin der Kaiserin Eugenie, verlangt Parfüms, Cor-
setten u. s. w. Hält die anderen Männer der Abtheilung für Frauenzimmer,
versucht, sich einen Zopf zu flechten, verlangt ein orientalisches Enthaarungs-
mittel, damit man nicht mehr an seiner Damennatur zweifle. Er gefällt sich
in Lobreden auf die Onanie, denn „sie war seit ihrem 15. Jahr Onanistin und
hat nie eine andere geschlechtliche Befriedigung gesucht". Gelegentlich werden
noch neurasthenische Beschwerden, Geruchshallucinationen und persecutorische
Delirien beobachtet. Alle Erlebnisse bis zum December 1872 gehören der
Persönlichkeit des Vetters an.
Patient ist von dem Wahn, Gräfin V. zu sein, nicht mehr abzubringen.
Sie beruft sich darauf, dass sie von der Hebamme untersucht und als Dame
befunden worden sei. Die Gräfin wird nicht heirathen, weil sie die Männer-
welt verachtet. Da Patient keine Damenkleider und Stöckelschuhe bekommt,
bringt er den grössten Theil des Tages im Bett zu, gerirt sich als vornehme,
leidende Dame , thut zimpferlich , verschämt und verlangt Bonbons u. dergl.
Das Haar wird so gut wie möglich in Zöpfe geflochten , der Bart ausgezupft.
Aus Semmeln werden Brüste geschaffen.
1874 tritt Caries im linken Kniegelenk auf, zu der sich bald Phthisis
pulmonum gesellt. Tod am 2. December 1874. Schädel normal. Stirnhim
atrophisch , Gehirn anämisch. Mikroskopisch (Dr. Schule): In der oberen
Schichte des Frontalhirns Ganglienzellen leicht geschrumpft, in der Adventitia
der Gefässe zahlreiche Fettkörnchen; Glia unverändert, vereinzelte Pigment-
partikeln und Colloidkörner. Die unteren Schichten der Gehirnrinde normal.
Genitalien sehr gross, Hoden klein, schlaff, auf dem Durchschnitt makroskopisch
nicht verändert.
Der im Vorstehenden in seinen Bedingungen und Entwicklungs-
phasen aufgezeigte Wahn der Geschlechtsverwandlung ist eine auf-
fallend seltene Erscheinung in der Pathologie des menschlichen Geistes.
Ausser den vorausgehenden Fällen eigener Beobachtung habe ich
einen solchen Fall als episodische Erscheinung bei einer conträr-
sexualen Dame (Beob. 118 der 7. Auflage m. Psychopathia sexualis)
und als dauernde bei einem mit originärer Paranoia behafteten
Mädchen beobachtet, ferner bei einer ebenfalls originär paranoi-
schen Dame.
In der Literatur sind mir ausser einem aphoristisch in seinem
Lehrbuch berichteten Fall von Arndt (S. 172), einem von Serieux
(Recherches cliniques p. 33) ziemlich oberflächlich mitgetheilten und
den beiden bekannten von Esquirol keine Beobachtungen von
Wahn der Geschlechts Verwandlung erinnerlich. Der Fall von Arndt
Wahn der Geschlechtsverwandlung. 229
möge hier kurz mitgetheilt werden, obwohl er ebensowenig wie die
Esquirol'schen über die Genese des Wahns Aufschlüsse bietet.
Beobachtung 103. Eine Frau in mittleren Jahren in der Greifswalder
Irrenanstalt hielt sich für einen Mann und trug sich demgemäss. Sie schnitt
sich das Haar kurz und scheitelte es auf einer Seite in militärischer Weise.
Ein scharf geschnittenes Profil, eine etwas grosse Nase und eine gewisse Derb-
heit aller Züge gab dem Antlitz etwas Charakteristisches und, im Vereine mit
dem kurzgeschnittenen und um die Ohren glatt anliegenden Haare, dem ganzen
Kopfe etwas entschieden Männliches.
Sie war gross und hager, ihre Stimme tief und rauh, der Adamsapfel
kantig vorspringend, ihre Haltung straff, ihr Gang sowie jede ihrer Bewegungen
wuchtig, aber nicht gerade plump. Sie sah aus wie ein Mann in Frauen-
kleidern. Befragt, wie sie dazu komme, sich für einen Mann zu halten, rief
sie fast immer sehr erregt: „Nun, sehen Sie mich doch einmal an! Sehe ich
nicht aus wie ein Mann? Auch fühle ich, dass ich ein Mann bin. Ich habe
immer schon so etwas gefühlt, aber ich bin mir darüber erst allmählig klar
geworden. Der Mann, welcher mein Mann sein soll, ist gar kein rechter Mann.
Meine Kinder habe ich mir selber gezeugt. Ich habe so etwas immer gefühlt,
jedoch die Klarheit darüber ist mir erst später gekommen. Und habe ich nicht
immer auch in der Wirthschaft wie ein Mann gewirkt? Der Mann, welcher
mein Mann sein soll, hat nur ausgeholfen. Er hat ausgeführt, was ich an-
geordnet habe. Ich bin von Jugend auf immer mehr für das Männliche ge-
wesen, als für das Weibliche. Für das, was auf Hof und Feld geschieht, habe
ich immer mehr Liebe gehabt, als für das, was im Hause und in der Küche
zu thun ist. Aber ich habe nur nicht erkannt, woran das lag. Jetzt weiss
ich, dass ich ein Mann bin, und da will ich mich auch als solcher tragen, und
es ist eine Schande, mich immer in Weiberkleidern zu halten."
Beobachtung 104. X., 26 Jahre, von hoher Statur und schönem
Aeusseren, liebte es, seit der frühesten Jugend Weiberkleider anzuziehen.
Herangewachsen, wusste er es als Theilnehmer von Haustheatem immer so ein-
zurichten, dass er weibliche Rollen bekam. Nach einer Gemüthsbewegung bil-
dete er sich ein, wirklich Weib zu sein, und versuchte die Umgebung davon
zu überzeugen.
Er liebte es, sich zu entkleiden, dann als Weib sich zu frisiren und zu
drapiren. In diesem Aufzug wollte er auf die Strasse. Sonst war er ganz
vernünftig. Den ganzen Tag pflegte er sich zu frisiren, sich im Spiegel zu
beschauen und mit seinem Schlafrock so gut als möglich sich als Weib zu
costümiren. Beim Gehen ging er nach Weiberart. Als eines Tags Esquirol
dergleichen that, als wollte er ihm das Kleid aufheben, gerieth er in Wuth
und warf ihm Unverschämtheit vor (Esquirol).
Beobachtung 105. Frau X., Wittwe, war durch den Tod ihres Mannes
und Verlust ihres Vermögens grossen Gemüthsbewegungen ausgesetzt gewesen.
Sie wurde geistig gestört und kam nach einem Selbstmordversuch in die
Salpetriere.
230 Paraesthesia sexualis.
Frau X., schlank, mager, andauernd in manischer Aufregung, hielt sich
für einen Mann, gerieth in Zorn, wenn man sie „ Madame" anredete. Als man
ihr einmal Männerkleidung zur Verfügung stellte, war sie ausser sich vor Ent-
zücken. Sie erlag 1802 einer consumptiven Krankheit und äusserte ihren "Wahn,
ein Mann zu sein, bis kurz vor ihrem Tode (Esquirol).
Auf S. 208 habe ich der interessanten Beziehungen Erwäh-
nung gethan, welche sich zwischen diesen Thatsachen der wahn-
haften Geschlechtsverwandlung und dem sogen. Skythenwahnsinn
finden.
Marandon (Annales medico-psychologiques 1877 p. 161) hat,
gleichwie Andere, irrthümlich angenommen, dass es sich bei diesen
Skythen des Alterthums um wirklichen Wahn und nicht um blosse
Eviratio gehandelt habe. Nach dem Gesetz des empirischen Aktualis-
mus muss der heutzutage so seltene Wahn auch im Alterthum höchst
selten gewesen sein. Da er nur auf Grundlage einer Paranoia denk-
bar ist, kann überhaupt von einem endemischen Vorkommen nie-
mals die Rede gewesen sein, sondern nur von einer abergläubischen
Deutung einer Eviratio (im Sinne des Zornes der Göttin), wie dies
auch aus Andeutungen bei Hippokrates hervorgeht.
Anthropologisch bemerkenswerth bleibt die aus dem sogen.
Skythenwahnsinn und aus neuerlichen Erfahrungen bei den Pueblo-
indianern hervorgehende Thatsache, dass mit dem Schwund der
Hoden auch solcher der Genitalien überhaupt und Annäherungen
an den Typus des Weibes körperlich und seelisch beobachtet wurden.
Es ist dies um so auffälliger, als solche Rückwirkung beim Manne,
der in erwachsenem Alter seine Zeugungsorgane verliert, ebenso
ungewöhnlich ist, als beim erwachsenen Weibe m. m. nach dem
künstlichen Klimax oder nach dem natürlichen.
B. Die homosexuale Empfindung als angeborene krankhafte
Erscheinung 1).
Das Wesentliche bei dieser sonderbaren Erscheinungsweise
des Geschlechtslebens ist die sexuelle Frigidität bis zum Horror
gegenüber dem anderen Geschlecht, während Neigung und Trieb
*) Literatur (ausser der im Folgenden erwähnten) : T a r d i e u , Des
Attentats aux moeurs, 7. edit. 1878, p. 210. — Hofmann, Lehrb. d. ger.
Med., 6. Aufl., p. 170, 887. — Gley, Revue philosophique 1884, Nr. 1. —
Magnan, Annal. med.-psychol. 1885, p. 458. — Shaw und Ferris, Journal
Angeborene conträre Sexualempfindung. 231
zum eigenen Geschlecht besteht. Gleichwohl sind die Genitalien
normal entwickelt, die Geschlechtsdrüsen functioniren ganz ent-
sprechend und der geschlechtliche Typus ist ein vollkommen diffe-
renzirter.
Das Empfinden, Denken, Streben, überhaupt der Charakter
entspricht, bei voller Ausbildung der Anomalie, der eigenartigen
Geschlechtsempfindung, nicht aber dem Geschlecht, welches das
Individuum anatomisch und physiologisch repräsentirt. Auch in
Tracht und Beschäftigung gibt sich diese abnorme Empfindungs-
weise dann zu erkennen bis zum Drang, der sexuellen Rolle, in
welcher sich das Individuum fühlt, entsprechend sich zu kleiden.
Klinisch und anthropologisch bietet diese abnorme Erschei-
nung verschiedene Entwicklungsstufen, bezw. Erscheinungsformen.
1) Bei vorwaltender homosexualer Geschlechtsempfindung be-
stehen Spuren heterosexualer (psychosexuale Hermaphrodisie).
2) Es besteht bloss Neigung zum eigenen Geschlecht (Homo-
sexualität).
3) Auch das ganze psychische Sein ist der abnormen Ge-
schlechtsempfindung entsprechend geartet (Effeminatio und Vira-
ginität).
4) Die Körperform nähert sich derjenigen, welcher die ab-
norme Geschlechtsempfindung entspricht. Nie aber finden sich wirk-
liche Uebergänge zum Hermaphroditen, im Gegentheil vollkommen
of nervous and mental disease 1883, April, Nr. 2. — Bernhardi, Der Uranis-
mus. Berlin (Volksbuchhandlung) 1882. — Chevalier, De l'inversion de
l'instinct sexuel. Paris 1885. — Ritti, Graz, hebdom. de medecine et de
Chirurg. 1878, 4. Jänner. — Tamassia, Rivista sperim. 1878, p. 97 — 117. —
Lombroso, Archiv, di Psichiatr. 1881. — Charcot et Magna n, Archiv,
de Neurologie 1882. Nr. 7, 12. — Tarnowsky, Die krankhaften Erschei-
nungen d. Geschlechtssinnes. Berlin 1886. — Moll, Die conträre Sexualempfin-
dung. 2. Aufl. Berlin 1893 (zahlreiche Literaturangaben). — Chevalier, Ar-
chiven de l'anthropologie criminelle, Bd. 5, Nr. 27. Bd. 6, Nr. 31. — Reuss,
Aberrations du sens genesique, Annales d'hygiene publique 1886. — Saury,
Etüde clinique sur la folie hereditaire 1886. — Magnan, Seance de l'aca-
demie de medecine du 13 Janvier 1885; derselbe, Annales medico-psychol.
1886. (Anomalies du sens genital. Discussion sur la folie hereditaire). —
Serieux, Recherches cliniques sur les anomalies de l'instinct sexuel. Paris
1886. — Brouardel, Gaz. des höpitaux 1886 und 1887. — Tilier, L'instinct
sexuel chez l'homme et chez les animaux 1889. — Carlier, Les deux prosti-
tutions 1887. — Lacassagne, Art. Ped^rastie im Dictionn. encyclopedique.
— Vibert, Art. Päderastie im Dict. medec. et de Chirurgie. — Chevalier,
L'inversion sexuelle. Lyon-Paris 1893.
232 Paraesthesia sexualis.
differenzirte Zeugungsorgane, so dass also, gleichwie bei allen krank-
haften Perversionen des Sexuallebens , die Ursache im Gehirn ge-
sucht werden muss (Androgynie und Gynandrie).
Die ersten genaueren x) Mittheilungen über diese räthselhaften Natur-
erscheinungen rühren von C a s p e r her (Ueber Nothzucht und Päderastie,
Casper's Vierteljahrsschr. 1852, I), der dieselbe zwar mit der Päderastie zu-
sammenwirft, aber schon die treffende Bemerkung macht, dass diese Anomalie
in den meisten Fällen angeboren und gleichsam als eine geistige Zwitter-
bildung anzusehen sei. Es bestehe hier ein wahrer Ekel vor geschlechtlicher
Berührung von Weibern, während sich die Phantasie an schönen jungen
Männern, Statuen, Abbildungen solcher ergötze. Schon Casper ist es nicht
entgangen, dass in solchen Fällen Immissio penis in anum (Päderastie) nicht
die Regel ist, sondern dass auch durch anderweitige geschlechtliche Akte
(mutuelle Onanie) sexuelle Befriedigung erstrebt und erzielt wird.
In seinen „klinischen Novellen* (1863, p. 33) gibt Casper das inter-
essante Selbstbekenntniss eines diese Perversion des Geschlechtstriebes auf-
weisenden Menschen, und steht nicht an zu erklären, dass, abgesehen von
verderbter Phantasie, Entsittlichung durch Uebersättigung im normalen Ge-
schlechtsgenuss , es zahlreiche Fälle gebe, wo die „Päderastie" aus einem
wunderbaren, dunklen, unerklärlichen, angeborenen Drang entspringt. Mitte der
60er Jahre trat ein gewisser Assessor Ulrichs, selbst mit diesem perversen
Trieb behaftet, auf und behauptete unter dem Schriftstellernamen „Numa
Numantius" in zahlreichen Schriften2), das geschlechtliche Seelenleben sei nicht
J) Durch Herrn Dr. A. Moll in Berlin wurde ich aufmerksam gemacht,
dass sich Andeutungen von conträrer Sexualempfindung, Männer betreffend,
schon in Moritz's Magazin f. Erfahrungsseelenkunde Bd. VIII, Berlin 1791
finden. Thatsächlich werden dort 2 Biographien von Männern mitgetheilt,
welche eine geradezu schwärmerische Liebe zu Personen des eigenen Geschlechts
boten. In dem 2. besonders bemerkenswerthen Fall erklärt der Pat. sich selbst
die Ursache seiner „Verirrung" damit, dass er als Kind nur von erwachsenen
Personen, als Knabe von 10 — 12 Jahren von seinen Mitschülern geliebkost
wurde. „Dies und der entbehrte Umgang mit Personen vom anderen Ge-
schlechte machte, dass sich bei mir die natürliche Zuneigung zum weiblichen
Geschlechte von ihm ganz ablenkte auf das männliche. Ich bin noch jetzt
gegen Frauenzimmer ziemlich gleichgültig."
Ob der Fall ein solcher von angeborener (psychosexualer Hermaphro-
disie?) oder erworbener conträrer Sexualempfindung war, lässt sich nicht ent-
scheiden.
2) „Vindex, Inclusa, Vindicta, Formatrix, Ära spei, Gladius furens (Leipzig,
H. Matthes 1864 u. 1865) Ulrichs, kritische Pfeile", 1879, in Commission bei
H. Crönlein, Stuttgart, Augustenstrasse 5. Der um die Bekämpfung der gegen
seine Schicksalsgenossen bestehenden Vorurtheile unermüdlich ringende Verf.
gibt seit 1889 in Aquila degli Abruzzi (Italien) eine diesem Zweck dienende
lateinisch geschriebene Zeitschrift „il periodico latino" heraus.
Angeborene conträre Sexualempfindung. 233
an das körperliche Geschlecht gebunden, es gebe männliche Individuen, die
sich als Weib dem Manne gegenüber fühlen („anima muliebris in corpore
virili inclusa"). Er nannte diese Leute „ Urninge" und verlangte nichts Gerin-
geres als die staatliche und sociale Anerkennung dieser urnischen Geschlechts-
liebe als einer angeborenen und damit berechtigten, sowie die Gestattung der
Ehe unter Urningen. Ulrichs blieb nur den Beweis dafür schuldig, dass
diese allerdings angeborene paradoxe Geschlechtsempfindung eine physiolo-
gische und nicht vielmehr eine pathologische Erscheinung sei.
Ein erstes anthropologisch-klinisches Streiflicht auf diese Thatsachen
warf Griesinger (Archiv f. Psychiatrie I, p. 651), indem er in einem selbst
beobachteten Falle auf die starke erbliche Belastung des betreffenden Indi-
viduums hinwies.
We8tphal (Archiv f. Psychiatrie II, p. 73) verdanken wir die erste
Abhandlung über die in Rede stehende Erscheinung, die er als „angeborene
Verkehrung der Geschlechtsempfindung mit dem Bewusstsein der Krankhaftig-
keit dieser Erscheinung" definirte und mit dem seither allgemein recipirten
Namen der „conträren Sexualempfindung" bezeichnete. Er eröffnete zugleich
eine Casuistik, die seither auf 158 Fälle, ungerechnet die in dieser Mono-
graphie berichteten, angewachsen ist.
Westphal lässt es unentschieden, ob die „ conträre Sexualempfindung"
Symptom eines neuro- oder eines psychopathischen Zustandes sei, oder als
isolirte Erscheinung vorkommen könne. Er hält fest an dem Angeborensein
des Zustandes.
Auf Grund der bis 1877 veröffentlichten Fälle habe ich diese
eigenartige Geschlechtsempfindung als ein funktionelles Degenera-
tionszeichen und als Theilerscheinung eines neuro(psycho)pathischen,
meist hereditär bedingten Zustands bezeichnet, eine Annahme,
welche durch die fernere Casuistik durchaus Bestätigung gefunden
hat. Als Zeichen dieser neuro(psycho)pathischen Belastung lassen
sich anführen:
1) Das Geschlechtsleben derartig organisirter Individuen macht
sich in der Regel abnorm früh und in der Folge abnorm stark
geltend. Nicht selten bietet es noch anderweitige perverse Er-
scheinungen, ausser der an und für sich durch die eigenartige Ge-
schlechtsempfindung bedingten abnormen sexuellen Richtung.
2) Die geistige Liebe dieser Menschen ist vielfach eine
schwärmerisch exaltirte, wie auch ihr Geschlechtstrieb sich mit be-
sonderer, selbst zwingender Stärke in ihrem Bewusstsein geltend
macht.
3) Neben dem functionellen Degenerationszeichen der conträren
Sexualempfindung finden sich oft anderweitige functionelle, vielfach
auch anatomische Entartungszeichen.
4) Es bestehen Neurosen (Hysterie, Neurasthenie, epileptoide
234 Paraesthesia sexualis.
Zustände u. s. w.). Fast immer ist temporär oder dauernd Neur-
asthenie nachweisbar. Diese ist in der Regel eine constitutionelle,
in angeborenen Bedingungen wurzelnde. Geweckt und unterhalten
wird sie durch Masturbation oder durch erzwungene Abstinenz.
Bei männlichen Individuen kommt es auf Grund dieser Schäd-
lichkeiten oder schon angeborener Disposition zur Neurasthenia
sexualis, die sich wesentlich in reizbarer Schwäche des Ejacula-
tionscentrums kundgibt. Damit erklärt sich, dass bei den meisten
Individuen schon die blosse Umarmung, das Küssen oder selbst nur
der Anblick der geliebten Person den Akt der Ejaculation hervorruft.
Häufig ist dieser von einem abnorm starken Wollustgefühl begleitet
bis zu Gefühlen „magnetischer" Durchströmung des Körpers.
5) In der Mehrzahl der Fälle finden sich psychische Anomalien
(glänzende Begabung für schöne Künste, besonders Musik, Dicht-
kunst u. s. w., bei intellectuell schlechter Begabung oder originärer
Verschrobenheit) bis zu ausgesprochenen psychischen Degeneration s-
zuständen (Schwachsinn, moralisches Irresein).
Bei zahlreichen Urningen kommt es temporär oder dauernd
zu Irresein mit dem Charakter des degenerativen (pathologische
Affectzustände, periodisches Irresein, Paranoia u. s. w.).
6) Fast in allen Fällen, die einer Erhebung der körperlich
geistigen Zustände der Ascendenz und Blutsverwandtschaft zugänglich
waren, fanden sich Neurosen, Psychosen, Degenerationszeichen u. s. w.
in den betreffenden Familien vor x).
Wie tief die angeborene conträre Sexualempfindung wurzelt,
geht auch aus der Thatsache hervor, dass der wollüstige Traum
des männlichen Urnings männliche , der des weibliebenden Weibes
weibliche Individuen, bezw. Situationen mit solchen zum Inhalt hat.
Die Beobachtung von Westphal, dass das Bewusstsein des
angeborenen Defectes von geschlechtlichen Empfindungen gegen-
über dem anderen Geschlecht und des Dranges zum eigenen Ge-
schlecht peinlich empfunden werde, trifft nur für eine Anzahl von
*) Dass conträre Sexualempfindung als Theilerscheinung neurotischer
Degeneration auch bei den Nachkommen neurotisch unbelasteter Eltern vor-
kommen kann, lehrt eine Beobachtung von Tarnowski (op. cit. p. 34), in
welcher Lues der Erzeuger im Spiel war, sowie ein bezüglicher Fall von
Scholz (Vierteljahrsschr. f. ger. Med.), in welchem die perverse Geschlechts-
richtung mit einer traumatisch bedingten physischen Entwicklungshemmung
in ursächlichem Zusammenhang stand.
Angeborene conträre Sexualempfindung. 235
Fällen zu. Vielen fehlt sogar das Bewusstsein der Krankhaftigkeit
des Zustands. Die meisten Urninge fühlen sich glücklich in ihrer
perversen Geschlechtsempfindung und Triebrichtung und unglücklich
nur insoferne, als gesellschaftliche und strafrechtliche Schranken
ihnen in der Befriedigung des Triebs zum eigenen Geschlecht im
Wege stehen.
Das Studium der conträren Sexualempfindung weist bestimmt
auf Anomalien der cerebralen Organisation der damit Behafte-
ten hin. Schon der Umstand, dass ausnahmslos hier die Geschlechts-
drüsen anatomisch und funktionell ganz normal befunden werden,
spricht für diese Annahme.
Diese räthselhafte Naturerscheinung hat vielfach zu Erklä-
rungsversuchen geführt.
Bei den Laien ist sie Laster, bei den Juristen Verbrechen. Von den
Kranken selbst wird sie zwar als eine Anomalie anerkannt, aber auf Grund
einer Laune der Natur und ebenso berechtigt wie die normale (heterosexuale)
Liebe. Von Plato bis auf Ulrichs wird in conträr sexualen Kreisen an
diesem Standpunkt festgehalten. Er stützt sich auf Plato's Gastmahl, Cap. 8
und 9, wo es heisst: „Es gibt keine Aphrodite ohne Eros. Es sind aber der
Göttinnen zwei. Die ältere Aphrodite ist ohne Mutter entstanden, des Uranos
Tochter und desshalb nennen wir sie Urania. Die jüngere Aphrodite ist des
Zeus und der Diana Tochter, sie wird Pandemos genannt. Der Eros der
ersteren muss also Uranos, der der anderen Pandemos heissen. Mit der Liebe
des Eros Pandemos lieben die gewöhnlichen Menschen; der Eros Uranos hat
aber kein weibliches Theil erwählt, sondern nur männliches, das ist die Liebe
zu Knaben. Wer von dieser Liebe begeistert ist, wendet sich dem männlichen
Geschlecht zu." Aus manchen anderen Stellen in den Classikern gewinnt man
sogar den Eindruck, dass die uranische Liebe höher gestellt war, als ihre
Schwester. Neuere Erklärungsversuche der homosexuellen Empfindung sind
sowohl von Philosophen als auch Psychologen und Naturforschern ausgegangen.
Eine der sonderbarsten Erklärungen rührt von Schopenhauer her
(„Die Welt als Wille und Vorstellung"), der allen Ernstes meinte, die Natur
habe verhüten wollen, dass alte (d. h. über 50 Jahre alte) Herren Kinder
zeugen, da diese erfahrungsgemäss nichts taugten. Um dies zu erreichen,
habe die weise Natur den Geschlechtstrieb bei älteren Männern auf das eigene
Geschlecht hingelenkt! Der grosse Philosoph und Denker aus der Studirstube
wusste offenbar nichts davon, dass conträre Sexualempfindung in der Regel
ab origine besteht und dass im Senium allerdings vorkommende Päderastie an
und für sich nur geschlechtliche Perversität, noch nicht aber Perversion
erweist.
Vom psychologischen Standpunkt aus versuchte Binet die sonder-
bare Erscheinung zu erklären, indem er, in Anlehnung an Condillac, gleich
wie bei anderen bizarren psychischen Phänomenen, sie auf das Gesetz der
Ideenassociation, d. h. der Association von Vorstellungen mit Gefühlen in statu
236 Paraesthesia sexualis.
nascendi zu begründen vermeinte. Der geistreiche Psycholog nimmt an, der
bis dahin geschlechtlich undifferenzirte Trieb werde dadurch determinirt, dass
ein erstmaliger lebhafter sexueller Erregungsvorgang mit dem Anblick oder
auch Contakt einer Person des eigenen Geschlechts zusammentreffe. Dadurch
werde eine mächtige Association geschaffen, die sich durch Wiederholung
festige, während der ursprüngliche associative Vorgang vergessen, bezw. latent
werden könne. Diese Ansicht , welche gegenwärtig vielfach von Schrenck-
Notzing u. A. zur Erklärung der angeblich meist erworbenen conträren
Sexualempfindung herangezogen wird , hält einer eingehenden Kritik gegen-
über nicht Stich. Psychologische Kräfte sind zur Erklärung einer solchen
schwer, degenerativen Erscheinung (s. u.) nicht ausreichend.
Chevalier (Inversion sexuelle, Paris 1893) wendet auch mit Recht
gegen Bin et ein, dass durch einen solchen psychologischen Erklärungs-
versuch weder die Präcocität solcher homosexualer Triebe, d. h. lange vor
jeglicher associativer Knüpfung von Sexualgefühlen mit Vorstellungen, noch die
Aversion gegen das andere Geschlecht, noch das oft so frühe Auftreten von
secundären psychischen Geschlechtscharakteren seine Erklärung finde. Bemer-
kenswerth ist aber immerhin Binet's feine Bemerkung, dass derlei Haften
von associativen Knüpfungen nur bei prädisponirten (belasteten) Individuen
möglich sei.
Auch die von Seiten der Aerzte und Naturforscher ursprünglich ver-
suchten Erklärungen entsprechen und befriedigen nicht. Gley (Revue philo-
sophique 1884, Januar) behauptete, die conträr Sexualen hätten ein weibliches
Gehirn (!) bei männlichen Geschlechtsdrüsen und das zugleich krankhafte Ge-
hirnleben bestimme das Geschlechtsleben, während normaler Weise die Ge-
schlechtsdrüsen die sexuellen Funktionen des Gehirns bestimmten. Auch
M a g n a n (Annales med. psychol. 1885 , p. 458) spricht vom Gehirn eines
Weibes im Körper eines Mannes und umgekehrt; Ulrichs („Memnon" 1868)
kommt der Sache etwas näher, indem er „Anima muliebris virili corpori in-
nata" behauptet und sich damit seine angeborene Effeminatio zu erklären
versucht. Nach Mantegazza (op. cit. 1886 p. 106) bestehen bei solchen
conträr Sexualen anatomische Anomalien , insofern durch einen Fehler der
Natur die für die Genitalien bestimmten Nerven sich im Mastdarm verbreiten,
so dass nur in diesem der wollüstige Reiz ausgelöst werde, der sonst durch
Reizung der Genitalien erfolgt. Solche Errores loci und Saltus macht aber
niemals die Natur, so wenig als sie ein weibliches Gehirn dem männlichen
Körper oktroirt. Der sonst scharfsinnige Autor dieser Hypothese übersieht
ganz, dass der Anus bezw. Päderastie von conträr Sexualen in der Regel
perhorrescirt wird. Mantegazza beruft sich, um seine Hypothese zustutzen,
auf die Mittheilungen eines bekannten, hervorragenden Schriftstellers, der
ihm versicherte, er sei mit sich immer noch nicht im Reinen, ob er einen
grösseren Genuss bei dem Coitus oder der Defäcation empfinde. Die Richtig-
keit dieser Erfahrung zugegeben, so würde sie doch nur beweisen, dass der
Betreffende sexual abnorm und sein Wollustgefühl beim Coitus auf ein Mini-
mum reducirt war. Ueberdies Hesse sich daran denken, dass abnormer Weise
seine Rektalschleimhaut erogen wäre.
Bernhardi (Der Uranismus, Berlin 1882) fand (zufällig) bei 5 Effemi-
nirten („Pathici") keine Spermatozoon, bei 4 nicht einmal Spermakrystalle und
Angeborene conträre Sexualempfindung. 237
glaubte die „Lösung des mehrtausendjährigen Räthsels" dadurch gegeben,
dass er annahm, der „Pathicus" (Effeminirte) sei eine „Missgeburt weiblichen
Geschlechts, die mit dem Manne nichts gemein habe, als die in manchen
Fällen nicht einmal völlig entwickelten männlichen Genitalien". Auf einen
Sektionsbefund, der eventuell Hermaphroditismus nachgewiesen hätte, vermochte
sich dieser Autor nicht zu stützen.
Gleichwohl erklärte er auch die „activ vorgehende Tri bade (Viragines
und Gynandrier) für „eine Missgebu'rt männlichen Geschlechts, der gegenüber
die passive Tribade ein so vollkommenes Weib ist, wie der aktive Pädicator
ein vollkommener Mann".
Einen Versuch, Thatsachen der Heredität zur Erklärung der Anomalie
zu verwerthen, machte Verf., indem er auf Grund der Erfahrung, dass sexuelle
Perversionserscheinungen nicht selten schon bei den Eltern vorkommen, die Ver-
muthung aussprach, dass die verschiedenen Stufen angeborener conträrer
Sexualempfindung verschiedene Grade erblich angezeugter, von der Ascendenz
erworbener oder sonstwie entwickelter sexueller Anomalie seien, wobei auch
das Gesetz der progressiven Vererbung in Betracht komme.
Die bisherigen naturphilosophischen , psychologischen und andere wesent-
lich speculativen Erklärungsversuche können nicht befriedigen.
Neuere Forschungen, von embryologischem (onto- und phylogenetischem)
sowie anthropologischem Standpunkt aus unternommen, erscheinen dagegen
aussichtsvoll.
Sie gehen aus von Frank Lydston (Philadelphia med. and surgical
recorder 1888, Sept.) und Kiernan (Medical Standard 1888 November) und
von der Thatsache, dass die niedersten Thiere noch heutzutage bisexuale
Organisation bieten , sowie von der Annahme , dass die Monosexualität sich
überhaupt erst aus der Bisexualität entwickelt habe. Kiernan nimmt nun an,
indem er die conträre Sexualempfindung dem Begriffe des Hermaphroditismus
unterzuordnen versucht, dass bei belasteten Individuen Rückschläge in frühe
hermaphroditische Formen des Thierreichs wenigstens funktionell eintreten
können. Er sagt wörtlich: „the original bisexuality of the ancestors of the
race, shown in the rudimentary female organs of the male, could not fail
to occasion functional, if not organic reversions, when mental or physical
manifestations were interfered with by disease or congenital defect. It seems
certain, that a feminily functionating brain can occupy a male body and vice
versa."
Auch Chevalier (op. cit. p. 408) geht von der ursprünglichen Bisexua-
lität im Thierreich und von der im menschlichen Fötus ursprünglich vorhan-
denen bisexualen Veranlagung aus.
Die Differenzirung der Geschlechter mit markanten körperlichen und
psychischen Geschlechtscharakteren ist ihm ein Resultat unendlicher Evolutions-
vorgänge. Die seelisch-körperliche geschlechtliche Differenzirung geht der Höhe
evolutiver Vorgänge parallel. Auch das Einzelwesen hat diese Evolutions-
stufen durchzumachen — es ist ursprünglich bisexual, aber im Kampf der
männlichen und weiblichen Streitkräfte wird die eine besiegt und es ent-
wickelt sich, dem Typus der heutigen Evolution entsprechend, ein mono-
sexuales Individuum. Aber Spuren der unterdrückten Sexualität erhalten sich.
Unter gewissen Umständen können diese „caracteres sexuels latents" Darwin's
238 Paraesthesia sexualis.
Bedeutung gewinnen, d. h. Erscheinungen conträrer Sexualität hervorrufen.
Chevalier fasst diese aber mit Recht nicht als Rückschlag (Atavismus) im
Sinne Lombroso's u. A., sondern mit Lacassagne als Störung in der Evo-
lution zur heutigen Höhe auf.
Versucht man auf dieser Anschauung weiter zu bauen, so ergeben sich
entwicklungsgeschichtlich und anthropologisch folgende Bausteine resp. That-
sachen :
1. Der Sexualapparat besteht aus a) den Geschlechtsdrüsen und den Be-
fruchtungsorganen; b) spinalen Centren, welche theils hemmend, theils er-
regend auf a) einwirken; c) cerebralen Gebieten, in welchen sich die psychi-
schen Vorgänge des Geschlechtslebens abspielen.
Da die ursprüngliche Veranlagung von a) eine bisexuale ist, muss dies
auch für b) und c) vorausgesetzt werden.
2. Die Tendenz der Natur auf heutiger Entwicklungsstufe ist die Her-
vorbringung von monosexualen Individuen und ein empirisches Gesetz lautet
dahin, dass normaliter das der Geschlechtsdrüse entsprechende cerebrale Cen-
trum sich entwickelt. (Gesetz der sexuell homologen Entwicklung.)
3. Diese Vernichtung conträrer Sexualität ist aber heutzutage noch keine
vollständige. Wie der Processus vermiformis am Darmrohr auf frühere Orga-
nisationsstufen hinweist, so finden sich auch am Sexualapparat, ganz abgesehen
von hermaphroditischen Verbildungen (als Ausdruck theilweiser Entwicklungs-
excesse oder Bildungshemmungen der Geschlechtsgänge und äusseren Geni-
talien), bei Mann und Weib Residuen, welche auf die ursprüngliche onto- und
phylogenetische Bisexualität hinweisen.
Es sind dies beim Manne der Utriculus masculinus (Reste der Müller'schen
Gänge), ferner die Brustwarzen, beim Weibe das Paroophoron (Ueberbleibsel des
Urnierentheils der WohTschen Körper) und das Epoophoron (Reste der Wolff'-
schen Gänge und Analogon der Epididymis des Mannes). Ueberdies haben
beim menschlichen Weibe Beige 1, Klebs, Fürst u. A. Andeutungen der bei
weiblichen Wiederkäuern regelmässig in der Seitenwand des Uterus vorhan-
denen Reste der WolfFschen Körper in Gestalt der sog. Gartner'schen Canäle
vorgefunden. Diese Thatsachen stützen die Annahme einer auch cerebral
bisexualen Veranlagung des Geschlechtsapparats.
4. Aber auch eine Fülle von klinischen und anthropologischen That-
sachen sind dieser Annahme günstig.
Ich erinnere nur an das nicht seltene Vorkommen von Individuen mit
gemischten oder im Sinne des conträren Geschlechts dominirenden körper-
lichen und psychischen Geschlechtscharakteren (Weibmänner und Mannweiber),
an das Auftreten weiblicher seelischer und körperlicher Charaktere nach Ent-
fernung der Hoden (Eunuchen) und männlicher bei Weibern nach Beseitigung
der Ovarien im jugendlichen Alter, an Erscheinungen der Viraginität bei
Klimax praecox, ja selbst Entwicklung eines zweiten Geschlechts (siehe den
merkwürdigen Fall in meinem Aufsatz „Zur Erklärung der conträren Sexual-
empfindung'' in „Jahrb. f. Psychiatrie und Neurologie", Bd. XIII, H. 1).
5. Diese Erscheinungen conträrer Sexualität finden sich aber offenbar nur
bei organisch belasteten Individuen. Bei normal Organisirten bleibt das
Gesetz der monosexualen und der den Geschlechtsdrüsen homologen Entwick-
lung gewahrt. Dass das cerebrale Centrum unter anderen, von den peripheren
Angeborene conträre Sexualempfindung. 239
Geschlechtsorganen einschliesslich der Geschlechtsdrüse unabhängigen Bedin-
gungen sich entwickelt, zeigen die Fälle des Hermaphroditismus, in welchen,
soweit es sich um Pseudohermaphroditismus handelt, das obige Gesetz im
Sinne monosexualer, der Geschlechtsdrüse homologer Entwicklung gewahrt
bleibt, während beim Hermaphroditismus verus sowohl physisch als psychisch
allerdings eine gegenseitige Beeinflussung beider Centren und damit eine Neu-
tralisirung des Liebeslebens bis zur Asexualität und eine Tendenz zur Geltend-
machung und Vermischung beider Geschlechtscharaktere seelisch und körper-
lich obwaltet.
Dass Hermaphrodisie und conträre Sexualempfindung aber an und
für sich mit einander nichts zu thun haben , ergibt sich daraus , dass der
Hermaphrodit (praktisch kommt ja nur der Pseudohermaphroditismus in Be-
tracht) dem obigen Evolutionsgesetze folgt und nicht conträre Sexualität
bietet, während umgekehrt bei conträrer Sexualempfindung bisher nie Her-
maphrodisie anatomisch beobachtet wurde. Es erklärt sich dies ohne Weiteres
aus der Verschiedenheit der Entstehungsbedingungen, die für die erstere in
centralen (cerebralen), für die letztere in ausschliesslich den peripheren
Antheil des Geschlechtsapparats treffenden Schädigungen gesucht werden
müssen.
Die angeführten Thatsachen erscheinen ausreichend zu einem ent-
wicklungsgeschichtlichen und anthropologischen Versuch der Erklärung der
conträren Sexualempfindung.
Dieselbe ist Verletzung des empirischen Gesetzes der den Geschlechts-
drüsen homologen Entwicklung des cerebralen Centrums (Homosexualität),
eventuell auch desjenigen der monosexualen Artung des Individuums (psy-
chische „Hermaphrodisie"). Im ersten Falle ist es von der bisexualen Ver-
anlagung das dem durch die Geschlechtsdrüse repräsentirten Geschlecht gegen-
sätzliche Centrum, welches in paradoxer Weise den Sieg über das zur Herr-
schaft prädestinirte davonträgt, jedoch bleibt wenigstens das Gesetz mono-
sexualer Entwicklung gewahrt1).
Im zweiten Falle bleibt der Sieg keinem der beiden Centren, jedoch eine
Andeutung monosexualer Entwicklungstendenz bleibt immerhin insofern, als
eines dominirt und zwar regelmässig das conträre. Es ist dies um so sonder-
barer, als demselben keine entsprechenden Geschlechtsdrüsen, überhaupt kein
peripherer Sexualapparat zur Stütze dienen, ein weiterer Beweis dafür, dass
das cerebrale Centrum autonom, in seiner Entwicklung von den Geschlechts-
drüsen unabhängig ist.
Angenommen muss im ersteren Falle werden, dass das zum Streit und
zur Geltendmachung seiner Rechte berufene Centrum zu schwach veranlagt
J) Unter einem monosexualen psychischen Geschlechtsapparat in einem
monosexualen Körper, der dem entgegengesetzten Geschlechte angehört, hat
man sich natürlich nicht etwa „eine weibliche Seele im männlichen Gehirn"
oder vice versa vorzustellen, was allem monistischen und allem wissenschaft-
lichen Denken überhaupt widerspricht; ebensowenig ein weibliches Gehirn im
männlichen Körper, was allen anatomischen Thatsachen widerspricht, sondern
nur weibliches psycho-sexuales Centrum im männlichen Gehirn, oder vice versa.
240 Paraesthesia sexualis.
ist, was sich auch vielfach in schwacher Libido und schwächlich ausgeprägten
physischen und psychischen Geschlechtscharakteren zu erkennen gibt.
Im zweiten Fall sind beide Centren zu schwach, um den Sieg und die
Alleinherrschaft zu erringen.
Diese Verletzung von Naturgesetzen ist anthropologisch und klinisch als
eine degenerative Erscheinung anzusprechen. Thatsächlich liess sich in allen
Fällen von conträrer Sexualempfindung bisher eine Belastung und zwar in
der Regel eine hereditäre nachweisen.
Worauf dieser Faktor der Belastung und seine Wirksamkeit beruht,
ist eine Frage, welche die heutige Wissenschaft nicht wohl beantworten
kann *).
An Analogien beim belasteten Individuum fehlt es nicht, denn als Aus-
druck von offenbar schon im Zeugungskeim gelegenen, die physische und
psychische Evolution störenden Einflüssen wird hier eine Fülle von ander-
weitigen Erscheinungen mangelhafter oder perverser Artung (anatomische sowie
funktionelle somatische und psychische Entartungszeichen) angetroffen.
Die conträre Sexualempfindung ist aber nur die stärkste Ausprägung
einer ganzen Reihe von Erscheinungen partieller Entwicklung seelischer und
körperlicher conträrer Geschlechtscharaktere (s. o.) und man kann geradezu
sagen: je undeutlicher sich die psychischen und physischen Geschlechtscharak-
tere bei einem Individuum darstellen, um so tiefer steht dasselbe unter der
durch ungezählte Jahrtausende hindurch erfolgten Züchtung zur heutigen Stufe
vollkommener homologer Monosexualität.
Das cerebrale Centrum vermittelt die psychischen und indirekt wohl
auch die physischen Geschlechtscharaktere. Auch an den verschiedenen Grad-
stufen angeborener conträrer Sexualität lässt sich nachweisen, dass sie ver-
schiedenen Intensitätsgraden der Belastung entsprechen.
Dasselbe gilt für die erst im Laufe des Lebens zu Tage getretene
(„gezüchtete"). Niemals wird der unbelastete Mensch durch Onanie, Verfüh-
rung durch Personen desselben Geschlechts, conträr sexual. Hören diese äusseren
Einflüsse auf, so kehrt er zur normalen Geschlechtsbefriedigung zurück. Anders
der Belastete , dessen psychosexuales Centrum schwach veranlagt , d. h. mit
ungenügenden Streitkräften ausgestattet ist und den Kampf noch nicht sieg-
reich ausgekämpft hat. Alle möglichen psychischen und physischen Schäd-
*) In einer geistreichen Broschüre „lieber Gamophagie", Stuttgart 1892,
gibt der Verfasser Josef Müller eine Anregung zur Weiterforschung auf
diesem Gebiete, indem er die Meinung vertritt, es existire eine besondere,
durch Notwendigkeit erworbene und normaliter unverändert sich vererbende
Einrichtung, bestehend in einer Bindung der Organe und Organqualitäten
aneinander. Diese Bindung würde es begreiflich machen, dass im Kampfe
der Entwicklung der Mono- und der Bisexualität diejenigen Organe und Organ-
qualitäten ein gemeinsames Schicksal des Sieges oder Unterganges haben,
die im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Ganzen zu einander gehören.
Dieses Versagen des die Organe während des Ringens um den Sieg verknüpfen-
den Bandes bei Wesen, die organischer Belastung unterworfen sind, könnte
nur als eine Ausfallerscheinung, Ausfall einer allerdings hypothetischen Ein-
richtung gedeutet werden.
Angeborene conträre Sexualempfindung beim Manne. 241
lichkeiten, ganz besonders aber Neurasthenie sind dann im Stande, seine
schwache labile , den Geschlechtsdrüsen bisher allerdings homologe Sexualität
zu schädigen: ihn zunächst psychisch bisexuell, dann conträr monosexual zu
machen und eventuell (durch Entstehung physischer und psychischer Geschlechts-
charaktere im Sinne des ausschliesslich zur Herrschaft gelangten conträren Cen-
trums und Zurücktreten ursprünglicher) bis zur Eviratio (Defeminatio) ge-
langen zu lassen. Wie Neurasthenie den Anstoss zur Entwicklung conträrer
Sexualität abgeben kann, wurde von p. 192 ab zu zeigen versucht. Lehr-
reiche Beobachtungen in dieser Hinsicht sind Nr. 98 und 99.
Die angeborene conträre Sexualempfindung beim Manne1).
Die geschlechtlichen Handlungen, mittelst welcher die männ-
lichen Urninge Befriedigung suchen und finden, sind mannigfach.
Es gibt feinfühlige und willensstarke Individuen, die ihre Triebe
x) Fälle: 1) C asper, Klin. Novellen p. 36. (Lehrb. d. gerichtl. Med., 7. Aufl.
p. 176); 2) Westphal, Archiv f. Psychiatr. II, p. 73; 3) Schminke, ebenda
III, p. 225; 4) Scholz, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Mediz. XIX; 5) Gock,
Archiv f. Psychiatrie V, p. 564; 6) Servaes, ebenda VI, p. 484; 7) West-
phal, ebenda VI, p. 620; 8), 9), .10) Stark, Zeitschr. f. Psychiatrie Bd. 31;
11) Lim an (Casper's Lehrbuch d. gerichtl. Medizin, 6. Aufl., p. 509);
p. 291; 12) Legrand du Saulle, Ann. med. psychol. 1876, Mai; 13) Sterz,
Jahrbücher f. Psychiatrie III, Heft 3; 14) Krueg, Zeitschr. Brain 1884, Oct.;
15) Charcot et Magnan, Archives de neurolog. 1882, Nr. 9; 16), 17),
18) Kirn, Zeitschr. f. Psychiatr. Bd. 39, p. 216; 19) Rabow, Erlenmeyer's
Centralbl. 1883, Nr. 8; 20) Blum er, Americ. journ. of insanity 1882, Juli;
21) Savage, Journal of mental science 1884, October; 22) Scholz, Viertel-
jahrsschr. f. ger. Med. N. F. Bd. 43, Heft 7; 23) Magnan, Ann. med. psychol.
1885, p. 461; 24) Chevalier, De l'inversion de l'instinct sexuel, Paris 1885,
p. 129; 25) Morselli, La Riforma medica. 4. Jahrg., März; 26) Leonpacher,
Friedreich's Blätter 1888, H. 4; 27) Holländer, Allg. Wiener med. Ztg. 1882;
28) Kriese, Erlenmeyer's Centralblatt 1888, Nr. 19; 29), 30), 31), 32) v. Kr äfft,
Psychopathia sexualis, 3. Aufl., Beob. 32. 36. 42. 43; 33) Golenko, Russ. Archiv
f. Psychiatrie Bd. IX, H. 3 (von Rothe mitgetheilt in Zeitschr. f. Psychiatrie);
34) v. K rafft, Internationales Centralblatt f. d. Physiol. und Pathologie der
Harn- und Sexualorgane Bd. I, H. 1; 35) Cantarano, La Psichiatria 1887,
V. Jahrg. p. 195; 36) Serieux, Recherches cliniques sur les anomalies de
l'instinct sexuel. Paris 1888, obs. 13; 37 — 42) Kiernan, The medic. Standard
1888, 7 Fälle; 43—46) Rabow, Zeitschr. f. klin. Medicin, Bd. XVII, Suppl. ;
47—51) v. Krafft, „Neue Forschungen", Beob. 1. 3. 4. 5. 8; 52—61) v. Krafft,
Psychopath, sexualis, 5. Aufl., Beob. 53. 61. 64. 66. 73. 75. 78. 84. 85. 87;
62— 65)Derselbe, „Neue Forschungen, 2. Aufl." —Beob. 3.4.5. 6; 66—67) Harn-
mond, Sexuelle Impotenz, deutsch v. Salinger, p. 30. 36; 68 — 71) Garnier,
Anomalies sexuelles 1889. Beob. 227. 228. 229. 230; 72) v. Krafft, Friedreich's
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 16
242 Paraesthesia sexualis.
zu beherrschen im Stande sind, freilich mit der Gefahr, durch diese
erzwungene Abstinenz nervensiech (neurasthenisch) und gemüths-
krank zu werden.
Bei Anderen wird aus denselben verschiedenen Gründen, welche
auch den Nichturning den Coitus vermeiden lassen können, zur
Onanie faute de mieux geschritten.
Bei Urningen mit originär reizbarem oder durch Onanie zer-
rüttetem Nervensystem (reizbare Schwäche des Ejaculationscentrums)
genügen einfache Umarmungen, Liebkosungen mit oder ohne Be-
tastung der Genitalien zur Ejaculation und damit zur Befriedigung.
Bei weniger reizbaren Individuen besteht der Geschlechtsakt in
Manustupration durch die geliebte Person oder in mutueller Onanie
oder in Nachahmung des Coitus inter femora. Bei sittlich per-
versen und quoad erectionem potenten Urningen wird der sexuelle
Drang zuweilen auch in Päderastie befriedigt, einer Handlung, die
aber sittlich nicht defecten Individuen vielfach geradeso widerstrebt,
wie weibliebenden Männern. Bemerkenswerth ist die Versicherung
der Urninge, dass der ihnen adäquate Geschlechtsakt mit Personen
des eigenen Geschlechts grosse Befriedigung und Gefühle des Ge-
kräftigtseins verschaffe, während Selbstbefriedigung durch solitäre
Onanie oder gar erzwungener Coitus mit einem Weibe sie sehr
angreife, elend mache und ihre neurasthenischen Beschwerden sehr
vermehre.
Ueber die Häufigkeit x) des Vorkommens der Anomalie ist es
Blätter 1891, H. 6; 73—87) v. Krafft, Psychopathia sexualis, 6. Aufl., Beob. 78.
81. 82. 84. 85. 86. 87. 89. 93. 94. 96. 97. 98. 101. 102; 88) Fränkel, medic.
Zeitg. d. Vereins f. Heilkde. in Preussen Bd. 22, p. 102 („homo mollis"); 89
bis 91) Bernheim, Hypnotisme, Paris 1891, obs. 38 u. ff.; 92) Wetterstrand.
Der Hypnotismus, 1891: 93) Müller, Hydrotherapie 1890, p. 309; 94 bis
96) v. Schrenck-Notzing, Suggestionstherapie 1892, Fall 63. 67. 68; 97) La-
dame, Revue de l'hypnotisme 1889, 1- Sept.; 98) v. Krafft, internat. Central-
blatt f. d. Krankheiten der Harn- und Geschlechtsorgane, Bd. I, Heft 1 ; 99 bis
100) Wachholz, Friedreich's Blätter f. gerichtl. Med. 1892, Heft 6; 101 bis
110) Moll, „Contr. Sexualempfindung", 2. Aufl., Fall 1—10; 111—123) v. Krafft,
Psychopath, sexualis, 8. Aufl., Beob. 109. 110. 114. 119. 121. 122. 125. 136.
137. 138. 140. 141. 143; 124—143) Derselbe, Jahrbücher f. Psychiatrie. XII.
1894; 144) Legrain, Arch. de Neurologie 1886, Januar; 145) Dessoir, Zeitschr.
f. Psychiatrie Bd. 50, Heft 5, p. 959.
*) Dass conträre Sexualempfindung nicht selten sein dürfte, beweist u. A.
der Umstand, dass sie in Romanen häufig Gegenstand ist.
Auch die neuropathische Grundlage dieser sexuellen Perversion entgeht
nicht den Romanschriftstellern. In der deutschen Literatur findet sich dieses
Psychische Hermaphrodisie. 243
schwer, Klarheit zu bekommen, da die mit derselben Behafteten
nur äusserst selten aus ihrer Reserve treten und in criminellen
Fällen der Urning aus Perversion des Geschlechtstriebs gewöhnlich
mit dem Päderasten aus blosser Unsittlichkeit zusammengeworfen
wird. Nach den Erfahrungen Casper's, Tardieu's, sowie auch
nach den meinigen dürfte diese Anomalie viel häufiger sein, als es
die dürftige Casuistik vermuthen lässt.
Ulrich's („Kritische Pfeile" 1880, p. 2) behauptet, dass durch-
schnittlich ein erwachsener mit conträrer Sexualempfindung Be-
hafteter auf 200 heterosexuale erwachsene Männer , respektive auf
800 Seelen der Bevölkerung komme, und dass der Prozentsatz unter
den Magyaren und Südslaven noch grösser sei, Behauptungen, die
dahingestellt bleiben mögen. Ein Individuum aus meiner Casuistik
kennt in seinem Heimathorte (13000 Einwohner) 14 Urninge per-
sönlich. Er versicherte, in einer Stadt von 60 000 Einwohnern
deren wenigstens 80 zu kennen. Es ist zu vermuthen, dass dieser
sonst glaubwürdige Mann zwischen angeborener und erworbener
Männerliebe keinen Unterschied macht.
1) Psychische Hermaphrodisie1).
Diese Stufe der conträren Sexualempfindung ist dadurch cha-
rakterisirt, dass neben ausgesprochener sexueller Empfindung und
Neigung zum eigenen Geschlecht solche zum anderen vorgefunden
wird; aber diese ist eine viel schwächere- und nur episodisch vor-
handen, während die homosexuale Empfindung als die primäre und
zeitlich wie intensiv vorwiegende in der Vita sexualis zu Tage tritt.
Die heterosexuale Empfindung kann nur in Rudimenten vor-
handen sein, eventuell sich bloss im unbewussten (Traum-)Leben
geltend machen oder aber (episodisch wenigstens) mächtig zu Tage
treten.
Die sexuellen Empfindungen gegenüber dem anderen Geschlecht
können durch Willenskraft, Selbstzucht, moralische, eventuell hyp-
Thema in „Fridolin's heimliche Ehe" von Wilbrandt, in „Brick and Brack
oder Licht im Schatten" von Emerich Graf Stadion.
Der älteste urnische Roman dürfte übrigens der von Petronius in
Rom zur Kaiserzeit unter dem Titel „Satyricon" veröffentlichte sein.
') Vgl. des Verf. Arbeit „Ueber psychosexuales Zwitterthum im inter-
nationalen Centralblatt f. d. Physiologie und Pathologie der Harn- und Sexual-
organe Bd. I, Heft 2.
244 Paraesthesia sexualis.
notische Behandlung, Besserung der Constitution, Beseitigung von
Neurosen (Neurasthenie), vor Allem aber durch Abstinenz von
Masturbation gekräftigt werden.
Immer aber besteht die Gefahr, homosexualen, weil mächtiger
veranlagten Empfindungen ganz anheimzufallen und zu dauernder,
ausschliesslicher conträrer Sexualempfindung zu gelangen.
Dies ist besonders zu fürchten durch den Einfluss der Mastur-
bation (gleichwie bei der erworbenen conträren Sexualempfindung)
und durch sie hervorgerufene Neurasthenie und Verschlimmerungen
dieser, ferner durch üble Erfahrungen beim sexuellen Verkehr mit
Personen des anderen Geschlechts (mangelndes Wollustgefühl beim
Coitus, Missglücken desselben durch Ereetionssch wache und Ejacu-
latio praecox, Infection).
Andererseits vermag ästhetisches und ethisches Gefallen an
Personen des anderen Geschlechts der Entwicklung der hetero-
sexualen Gefühle Vorschub zu leisten.
So geschieht es, dass die betreffende Persönlichkeit, je nach
dem Vorwalten förderlicher oder ungünstiger Einflüsse, bald hetero-,
bald homosexual empfindet.
Es ist mir wahrscheinlich, dass derartige hermaphroditische
Existenzen auf belasteter Grundlage nicht selten sind x). Da sie
social wenig oder nicht auffällig sind und da derlei Geheimnisse
des ehelichen Lebens nur ausnahmsweise zur Cognition des Arztes
kommen, erklärt es sich wohl ohne Weiteres, dass diese interessante
und praktisch wichtige Uebergangsgruppe zu den ausschliesslich
conträr Sexualen bisher der wissenschaftlichen Forschung entgangen ist.
Manche Fälle von Frigiditas mögen auf dieser Anomalie be-
ruhen. An und für sich ist der sexuelle Verkehr mit dem anderen
Geschlecht möglich. Jedenfalls besteht auf dieser Stufe kein Horror
sexus alterius. Der ärztlichen und speciell der moralischen Therapie
bietet sich hier ein dankbares Feld (s. u.).
Schwierig kann die differentielle Diagnose von der erworbenen
conträren Sexualempfindung sein, denn solange bei dieser die Reste
früherer normaler geschlechtlicher Empfindung nicht ganz verloren
gegangen sind, wird der Status praesens Gleiches ergeben (s. u.).
*) Diese Annahme findet eine Stütze durch eine mir von Hrn. Dr. Moll
in Berlin gütig vermittelte Angabe eines unverheiratheten Urnings. Derselbe
wusste über eine Reihe von Fällen aus seiner Bekanntschaft zu berichten, in
welchen verheirathete Männer gleichzeitig ein Verhältniss mit einem Manne
unterhielten.
Psychische Hermaphrodisie. 245
Auf Stufe 1 besteht die Befriedigung homosexualer Dränge
in passiver und mutueller Onanie, Coitus inter femora.
Beobachtung 106. Herr Z. , 36 Jahre, Privatmann, consultirte mich
wegen einer Anomalie seines sexuellen Fühlens, die ihm die beabsichtigte Ein-
gehung einer Ehe bedenklich erscheinen lasse. Pat. stammt von neuropathi-
schem Vater, der an nächtlichem Aufschrecken leide. Dessen Vater war eben-
falls neuropathisch, Vaters Bruder Idiot. Die Mutter des Pat. und ihre Familie
waren gesund und geistig normal.
Von 3 Schwestern und 1 Bruder des Pat. leidet der letztere an moral
insanity. 2 Schwestern sind gesund und leben in glücklicher Ehe.
Pat. war schwächlich als Kind, nervös, litt an nächtlichem Aufschrecken
gleich seinem Vater, war aber von schweren Krankheiten nie heimgesucht bis
auf Coxitis, seit welcher Pat. etwas hinkt. Sehr früh erwachten sexuale
Dränge. Mit 8 Jahren, ohne alle Verführung, begann er zu masturbiren. Vom
14. Jahre ab ejaculirte er Sperma. Geistig war er gut veranlagt, interessirte
sich auch für Kunst und Literatur. Er war von jeher muskelschwach und
hatte nie Neigung zu Knabenspielen und auch später nicht zu männlicher
Beschäftigung. Er hatte ein gewisses Interesse für weibliche Toiletten, Putz
und weibliche Beschäftigung. Schon von der Pubertät an bemerkte Pat. eine
ihm unerklärliche Neigung für männliche Personen. Besonders sympathisch
waren ihm junge Burschen aus den untersten Volksklassen. Ganz besonders
zogen ihn Cavalleristen an. Impetu libidinoso saepe affectus est ad tales
homines aversos se premere. Quodsi in turba populi, si occasio fuerit bene
successit, voluptate erat perfusus; ab vigesimo secundo anno interdum talis
occasionibus semen eiaculavit. Ab hoc tempore idem factum est si quis, qui
ipsi placuit, manum ad femora posuerat. Ab hinc metuit ne viris manum ad-
ferret. Maxime periculosos sibi homines plebeios fuscis et adstrictis bracis
indutos esse putat. Summum gaudium ei esset si viros tales amplecti et ad
se trahere sibi concessum esset; sed patriae mores hoc fieri vetant. Paede-
rastia ei displacet: magnam voluptatem genitalium virorum adspectus ei affert.
Virorum occurrentium genitalia adspici semper coactus est. Im Theater,
Circus u. s. w. interessiren ihn nur männliche Darsteller. Eine Neigung zu
Damen will Pat. nie bemerkt haben. Er geht ihnen nicht aus dem Wege,
tanzt sogar gelegentlich mit ihnen, aber er verspürt dabei nie die geringste
sinnliche Regung.
Schon mit 28 Jahren wurde Pat. neurasthenisch , wohl in Folge seiner
masturbatorischen Excesse.
Nun kamen gehäufte Schlafpollutionen, die ihn sehr schwächten. Nur
sehr selten träumte er anlässlich dieser Pollutionen von Männern, nie von
Weibern. Nur einmal löste sie ein lascives Traumbild (dass er päderastire)
aus. Sonst träumte er dabei von Sterbescenen , Angefallenwerden von Hun-
den u. dgl. Pat. litt nach wie vor unter grösster Libido sexualis. Oft kamen
ihm wollüstige Gedanken, im Schlachthaus sich am Verenden der Thiere zu
weiden, oder auch sich von Burschen prügeln zu lassen, jedoch widerstand er
solchen Gelüsten, ebenso dem Drang, in militärische Uniform sich zu kleiden.
Um die Masturbation los zu werden und seine Libido nimia zu befrie-
digen, entschloss er sich, das Lupanar aufzusuchen. Den ersten Versuch, mit
246 Paraesthesia sexualis.
dem Weibe sexuell sich zu befriedigen, machte er, nach reichlichem Wein-
genuss, mit 21 Jahren. Die Schönheit des weiblichen Körpers, überhaupt jede
weibliche Nudität war ihm ziemlich gleichgültig. Er war aber im Stande,
den Coitus mit Genuss auszuführen und besuchte von nun an das Bordell
regelmässig aus „ Gesundheitsrücksichten".
Von nun an gewährte es ihm auch grossen Genuss, sich von Männern
ihre sexuellen Beziehungen mit Personen des anderen Geschlechts erzählen
zu lassen.
Auch im Lupanar kommen ihm häufig Flagellationsideen, jedoch bedarf
er nicht der Festhaltung solcher Bilder, um potent zu sein. Er betrachtet den
sexuellen Verkehr im Lupanar nur als Auskunftsmittel gegen den Drang zur
Masturbation und zu Männern, als eine Art Sicherheitsventil, damit er sich
nicht einmal einem sympathischen Manne gegenüber conipromittire.
Pat. möchte nun heirathen, aber er fürchtet, dass er keine Liebe und
dann auch keine Potenz einer anständigen Dame gegenüber haben werde.
Daher seine Bedenken und sein Bedürfniss nach ärztlichem Rath.
Pat. ist eine sehr intelligente Persönlichkeit, eine durchaus männliche
Erscheinung. Auch in Kleidung und Haltung Bietet er nichts Auffälliges.
Gang , Stimme sind durchaus männlich , gleichwie Skelet , besonders Becken.
Die Genitalien sind ganz normal entwickelt. Sie sind, gleichwie das Gesicht,
reichlich behaart. Niemand von den Angehörigen und Bekannten des Pat.
ahnt etwas von seinen sexuellen Anomalien. Bei seinen conträr sexualen
Phantasien will er sich nie in der Rolle des Weibes dem Manne gegenüber
gefühlt haben. Seit einigen Jahren ist Pat. von neurasthenischen Beschwerden
fast ganz frei geworden.
Die Frage, ob er sich für angeboren conträr sexual halte, vermag er
nicht zu beantworten. Es scheint, dass eine ab origine sehr schwach ver-
anlagte Inclination zum Weib , bei grosser zum Mann , durch sehr früh ein-
getretene Masturbation zu Gunsten conträrer Sexualempfindung noch mehr
abgeschwächt wurde, ohne aber ganz auf Null zu sinken. Mit dem Aufhören
der Masturbation besserte sich dann einigermassen wieder die Empfindung für
das Weibliche, jedoch nur in einer grobsinnlichen Weise.
Da Pat. erklärte, aus Familien- und geschäftlichen Rücksichten heirathen
zu müssen, konnte diese heikle Frage ärztlich nicht umgangen werden.
Da Pat. sich glücklicherweise darauf beschränkte, die Frage auf seine
Potenz als Ehemann zu richten, musste ihm geantwortet werden, dass er an
und für sich ja potent sei und es voraussichtlich auch im ehelichen Verkehr
mit einer Frau seiner Wahl, wenn sie wenigstens geistig ihm sympathisch sei,
sein werde.
Ueberdies könne er ja, indem er mit seiner Phantasie geeignet nach-
helfe, jederzeit auch seine Potenz verbessern.
Die Hauptsache sei Kräftigung der nur verkümmerten, nicht aber gänz-
lich fehlenden sexuellen Neigungen zum anderen Geschlecht. Dies könne ge-
schehen durch Fernhaltung und Zurückdrängung aller homosexualen Gefühle
und Impulse, eventuell mit Zuhilfenahme inhibitorischer künstlicher Einflüsse
durch hypnotische Suggestion (Absuggerirung homosexualer Gefühle), des Wei-
teren durch Anregung und Anstrengung normal sexuale Gefühle und Dränge
zu gewinnen, durch vollkommene Abstinenz von neuerlicher Masturbation und
Psychische Hermaphrodisie. 247
durch Tilgung der Reste neurasthenischer Verfassung des Nervensystems ver-
mittelst Hydrotherapie und eventuell allgemeiner Faradisation.
Nachfolgende, auch noch in anderer Hinsicht bemerkenswerthe
Autobiographie verdanke ich einem 30 Jahre alten Collegen.
Beobachtung 107. Psychische Hermaphrodisie. Abortive
conträre Sexualempfindung.
„Nach meiner Ascendenz bin ich ziemlich schwer belastet. Der Gross-
vater väterlicherseits war flotter Lebemann und Speculant, mein Vater ein
charaktervoller Mann , der aber seit mehr als 30 Jahren an Folie circulaire
leidet, ohne hiedurch in seinem Berufe ernstlich gehindert zu sein. Meine
Mutter leidet wie ihr Vater an stenocardischen Anfällen. Muttersvater und
Muttersbruder sollen geschlechtlich hyperästhetisch gewesen sein. Meine ein-
zige um 9 Jahre ältere Schwester war zweimal eclamptischen Anfällen unter-
worfen, war in den Pubertätsjahren religiös exaltirt, wahrscheinlich auch
sexuell hyperästhetisch. Sie hatte durch Jahre mit schwerer hysterischer Neu-
rose zu kämpfen (ist aber jetzt völlig gesund).
Als spätgeborener einziger Sohn war ich der Augapfel meiner Mutter
und nur ihrer unermüdlichen Sorge danke ich es, dass ich als Jüngling voll-
kommen genas, nachdem ich als Kind und als Knabe alle möglichen Kinder-
krankheiten durchgemacht hatte (Hydrocephalus, Morbilli, Croup, Variola, mit
18 Jahren durch 1 Jahr chronischen Darmcatarrh). Meine Mutter, streng religiös,
erzog mich , ohne mich zu verzärteln , in diesem Sinne und prägte mir als
oberstes Sittenprincip ein unbeugsames Pflichtgefühl ein, welches durch einen
Lehrer, den ich jetzt noch Freund nenne, bis zur Schroffheit ausgebildet wurde.
Da ich infolge meiner Kränklichkeit den grösseren Theil meiner Kindheit im
Bette verbrachte, war ich auf ruhige Beschäftigung, besonders Leetüre an-
gewiesen und wurde so ein zwar nicht blasirter, aber frühreifer Knabe. Schon
mit 8 — 9 Jahren interessirten mich in den Büchern am meisten die Stellen,
wo von Verletzungen oder Operationen die Rede war, die schöne Mädchen
oder Frauen erleiden mussten. So versetzte mich eine Erzählung, wo geschil-
dert wird, wie sich ein Mädchen einen Dorn in den Fuss tritt und ihr der-
selbe von einem Knaben entfernt wird, in hochgradige Aufregung, ja ich hatte
jedesmal eine Erection, so oft ich nur das bezügliche, durchaus nicht laseive
Bild ansah. So oft es nur möglich war, sah ich zu, wenn Hühner abgestochen
wurden , ja wenn ich den Anblick versäumt hatte , besah ich wenigstens mit
wollüstigem Grausen die Blutspuren und streichelte die noch warmen Thier-
körper. Ich muss betonen, dass ich seit jeher ein grosser Thierfreund bin und
dass mich das Schlachten grösserer Thiere, ja selbst die Vivisectionen von
Fröschen, mit Ekel und Mitleid erfüllten.
Noch heute hat für mich das Abstechen von Hühnern grossen geschlecht-
lichen Reiz, und zwar speciell das Halten derselben, wobei ich Herzklopfen
und Präcordialdruck verspüre. Interessant ist, dass mein Papa eine Leidenschaft
dafür hat, Mädchen und jungen Frauen die Hände zusammenzubinden.
Wie ich glaube , ist auch eine andere meiner sexuellen Abnormitäten
auf diese grausame Ader in mir zurückzuführen. Wie ich später näher schil-
dern werde, bildete ein Lieblingsspiel von mir ein improvisirtes Puppentheater,
248 Paraesthesia sexualis.
wobei ich den Stoff den Mitwirkenden angab. Fast immer gab es da ein
junges Mädchen , welches auf strengen Befehl des Papas , den ich darstellte,
sich einer schmerzlichen Operation am Fusse unterwerfen musste. Jemehr nun
die Mädchen-Puppe jammerte, desto höher stieg meine Befriedigung. Weshalb
ich gerade den Fuss als constantes Operationsfeld ausersah, geht aus folgendem
hervor: Als kleiner Junge kam ich zufällig dazu, als meine ältere Schwester
die Strümpfe wechselte. Als sie rasch die Füsse versteckte, wurde ich auf-
merksam, und gar bald bildete der Anblick ihrer blossen Füsse bis zu den
Knöcheln herauf das Ideal meiner Sehnsucht. Selbstverständlich diente dieses
nur dazu, meine Schwester erst recht vorsichtig zu machen, und so entwickelte
sich ein ewiger Kampf, der meinerseits mit allen Waffen der List und Schmeichelei
bis zu Zornexplosionen bis zu meinem 17. Jahre geführt wurde. Sonst war
mir meine Schwester höchst gleichgültig, ihr Fuss ist mir sogar zuwider.
Faute de mieux nahm ich auch mit den Füssen von Dienstmädchen vorlieb;
männliche Füsse Hessen mich kalt. Mein sehnsüchtigster Wunsch wäre ge-
wesen, an einem schönen weiblichen Fusse die Nägel oder sit venia verbo die
Hühneraugen schneiden zu dürfen. Meine wollüstigen Träume drehten sich
um diese Dinge, ja ich wandte mich dem Studium der Medicin eigentlich in
der Erwartung zu, Gelegenheit zur Stillung meiner Begierden zu finden oder
sie zu heilen. Gottlob, dass Letzteres gelang. Nachdem ich die erste Zer-
gliederung einer weiblichen unteren Extremität vorgenommen, wich der un-
selige Bann von mir; ich sage unselig, da ich mich stets dieser Triebe vor
mir selbst aufs tiefste schämte. Weitere Details glaube ich mir ersparen zu
dürfen, da diese sonderbare Schwärmerei, welche mich sogar zu Gedichten
begeisterte, auch andererseits schon mehrfach geschildert wurde.
Nun zur letzten Seite meiner sexuellen Irrthümer.
Ich war etwa 13 Jahre alt und begann gerade zu mutiren , als ein
Schulkamerad, der vorübergehend bei uns zu Gast war, mich Abends einmal
dadurch neckte, dass er mit seinem nackten Fusse unter der Decke hervor
nach mir stiess. Ich erhaschte seinen Fuss und gerieth sofort in hochgradige
Erregung, welche von einer Pollution gefolgt war, die erste, die ich hatte.
Der Knabe war auffällig mädchenhaft gebaut und auch geistig derart angelegt.
Auch ein anderer Kamerad mit sehr kleinen und zarten Händen und Füssen,
den ich einmal im Bade sah, regte mich ungemein auf. Ich dachte es wohl
mitunter als ein hohes Glück, mit einem von den Beiden im Bett zusammen-
liegen zu können, ein engerer sexueller Verkehr jedoch, der über eine Um-
armung hinausgegangen wäre, kam mir gar nicht in den Sinn. Uebrigens
wies ich auch solche Gedanken stets mit Abscheu von mir. Einige Jahre
später, von meinem 16. — 18. Jahre, lernte ich noch zwei Knaben kennen,
welche mein sexuelles Gefühl erweckten. Wenn ich mich mit ihnen herum-
balgte, hatte ich sofort Erectionen. Beide waren sehr energische, frische, aber
zartgebaute Bürschchen von kindlichem Habitus. Mit dem Eintritte der Pubertät
verlor jeder von Beiden mein ganzes Interesse, obzwar ich Beiden eine warme
freundschaftliche Theilnahme bewahrte. Zu unzüchtigen Handlungen mit ihnen
hätte ich mich nie hinreissen lassen. —
Als ich die Universität bezogen, vergass ich völlig auf diese Verirrungen
meiner libido sexualis, hielt mich aber bis zum meinem 24. Jahre aus Princip
von jedem sexuellen Verkehr zurück, trotz des Hohnes meiner Collegen. Als
Psychische Herrnaphrodisie. 249
sich dann die Pollutionen allzusehr häuften, und ich fürchten musste, eventuell
ex abstinentia eine Cerebralasthenie zu acquiriren, warf ich mich dem nor-
malen Geschlechtsleben in die Arme, und zwar, obschon ich es ziemlich nach-
drücklich geniesse, zu meinem grössten Wohle.
Dass ich gegenüber puellis publicis nahezu impotent bin, dass der nackte
Körper eines Weibes mich eher ekelt als erregt, hängt wohl mit den Special-
fächern zusammen, in welchen ich jahrelang thätig war. Der Akt befriedigt
mich stets am meisten, wenn ich dabei die Vorstellung der Vis festhalten
kann; da aber andererseits die Vorstellung mir unerträglich ist, dass das
Mädchen neben mir noch von einem Andern befriedigt werde , habe ich es
seit Jahren als unumgänglich nöthig für mein seelisches Gleichgewicht be-
funden, une femme soutenue mir trotz drückender pecuniärer Opfer zu ver-
gönnen, und zwar nur eine virgo. Sonst macht mich die albernste Eifersucht
vollkommen arbeitsunfähig. Ich muss noch erwähnen, dass ich mit 13 Jahren
das erste Mal platonisch verliebt war und seitdem öfter in holder Minne ge-
schmachtet habe. Was meinen Fall vor allen andern auszeichnen dürfte, ist>
dass ich nicht ein einziges Mal in meinem Leben onanirt habe.
Vor einigen Wochen erschreckte mich ein Schlaf, in welchem ich von
pueris nudis geträumt hatte und aus dem ich mit Erection erwachte.
Zum Schlüsse wage ich mich an die immerhin missliche Aufgabe, meinen
Status praes. zu skizziren. Mittelgross, gracil gebaut, Schädel dolichocephal
mit Delle an der Hinterhauptschuppe, 59 cm Circumferenz, Stirnhöcker stark
vorspringend, etwas neuropathischer Blick, Pupillen mittelweit, Gebiss sehr
defekt. Muskulatur kräftig, straff. Starker Haarwuchs, blond. Links Variocele ;
ein zu kurzes Frenulum, welches mich beim Coitus hinderte, zerschnitt ich
selbst vor 3 Jahren. Seitdem Ejaculation retardirt, Wollustgefühl bedeutend
vermindert.
Cholerisches Temperament, Auffassung rasch, gute Combinationsgabe,
energisch, für einen Hereditarier sehr ausdauernd, lerne leicht Sprachen, habe
gutes Gehör, sonst kein Talent für die schönen Künste. Pflichteifrig, aber
stete von Taedium vitae erfüllt; am Tentamen suic. nur durch meine Religion
und die Rücksicht auf meine angebetete Mutter verhindert. Sonst typischer
Selbstmordkandidat. Ehrgeizig, eifersüchtig, paralysophobisch , Linkshänder.
Von socialistischen Ideen angekränkelt. Abenteuersüchtig, muthig — habe
mich entschlossen, nie zu heirathen."
Beobachtung 108. Psychische Herrnaphrodisie. Heterosexuale Empfin-
dung durch Masturbation früh verkümmert , episodisch aber mächtig. Homo-
sexuale Empfindung ab origine pervers (sinnliche Erregung durch Männerstiefel).
Herr X., 28 Jahre, kommt im September 1887 in verzweifelter Stim-
mung zu mir, um mich wegen einer Perversion seiner Vita sexualis zu consul-
tiren , die ihm das Leben fast unerträglich erscheinen lasse und ihn wieder-
holt schon dem Selbstmord nahegebracht habe.
Pat. stammt aus einer Familie, in der Neurosen und Psychosen häufig
vorkommen. In der väterlichen Familie hatten seit 3 Generationen Geschwister-
kindehen stattgefunden. Der Vater soll ein gesunder Mann sein und in guter Ehe
gelebt haben. Auffallend ist jedoch dem Sohn die Vorliebe des Vaters für schöne
Bediente. Die mütterliche Familie wird als eine Familie von Sonderlingen ge-
250 Paraesthesia sexualis.
schildert. Der Grossvater und Urgrossvater der Mutter starben melancholisch,
ihre Schwester war verrückt. Eine Tochter des Bruders des Grossvaters war
hysterisch und nymphomanisch. Von den 12 Geschwistern der Mutter hei-
ratheten nur drei. Von diesen war ein Bruder conträr sexual und durch
excessive Masturbation immer nervenkrank. Die Mutter des Pat. soll bigott,
geistig beschränkt, nervös, reizbar, zu Melancholie neigend gewesen sein. Die-
selbe starb als Pat. 14 Jahre alt war.
Pat. hat zwei Geschwister — einen neuropathischen, häufig melancho-
lisch verstimmten Bruder, der, obwohl erwachsen, noch niemals Spuren von
sexuellen Regungen gezeigt hat, ferner eine Schwester, eine anerkannte Schön-
heit, förmlich angebetet von der Männerwelt.
Diese Dame ist verheirathet, aber kinderlos , angeblich durch Impotenz
ihres Mannes. Sie war von jeher kalt gegenüber den ihr von Männern dar-
gebrachten Huldigungen, ist aber entzückt von weiblicher Schönheit und
geradezu verliebt in einzelne ihrer Freundinnen.
Pat. theilt bezüglich seiner eigenen Persönlichkeit mit, dass er schon
mit 4 Jahren von jungen schönen Reitknechten mit schön geputzten Stiefeln
geträumt habe. Auch herangewachsen will er niemals von einem Weibe ge-
träumt haben. Seine nächtlichen Pollutionen waren jeweils durch „ Stiefel-
träume " hervorgerufen.
Schon vom 4. Jahre an empfand er eine sonderbare Neigung zu Männern
oder richtiger zu Lakaien, die schön geputzte Stiefel trugen. Anfangs waren
sie ihm bloss sympathisch, mit sich entwickelndem Geschlechtsleben machte
ihm deren Anblick mächtige Erectionen und wollüstige Erregung. Nur an
Dienern reizte ihn der glänzend geputzte Stiefel. Derselbe Gegenstand an
gesellschaftlich gleichstehenden Personen liess ihn kalt.
Ein sexueller Drang im Sinne mannmännlicher Liebe verband sich nicht
mit diesen Situationen. Schon der blosse Gedanke an eine solche Möglichkeit
war ihm ekelhaft. Wohl aber kamen jeweils wollüstig betonte Vorstellungen,
Diener seiner Diener sein , ihnen als solcher die Stiefel ausziehen zu dürfen,
am liebsten sich dabei aber von ihnen treten zu lassen oder auch ihnen die
Stiefel wichsen zu dürfen. Gegen derartige Gedanken empörte sich der Stolz
des Aristokraten. Ueberhaupt waren ihm diese Stiefelideen ekelhaft und
peinlich.
Das sexuelle Fühlen entwickelte sich früh und mächtig. Vorläufig fand
es seinen Ausdruck im Schwelgen in wollüstigen Stiefelgedanken und von der
Pubertät an in von Pollutionen begleiteten analogen Träumen.
Im Uebrigen ging die geistige und körperliche Entwicklung ungestört
vor sich. Pat. war begabt, lernte leicht, absolvirte seine Studien, wurde Offi-
zier, vermöge seiner distinguirten, durchaus männlichen Erscheinung und seiner
hohen Stellung eine beliebte Persönlichkeit in der Gesellschaft.
Er selbst bezeichnet sich als einen gutmüthigen, ruhigen, willenskräftigen,
aber oberflächlichen Menschen. Er versichert, passionirter Jäger und Reiter zu
sein und niemals Sinn für weibliche Beschäftigung gehabt zu haben. In Damen-
gesellschaft sei er immer befangen gewesen; im Ballsaal habe er sich gelang-
weilt. Niemals habe er ein Interesse für eine Dame aus höheren Ständen ge-
habt. Von Weibern hätten ihn überhaupt nur die drallen Bauernmädchen,
wie sie den Malern in Rom Modell sitzen, interessirt. Eine eigentliche sinn-
Psychische Hermaphrodisie. 251
liehe Regung habe er jedoch auch derlei Vertreterinnen des weiblichen Ge-
schlechts gegenüber nie empfunden. Im Theater und im Circus habe er nur
Interesse für die männlichen Darsteller empfunden. Auch diesen gegenüber
habe er keine sinnlichen Empfindungen gehabt. Am Mann reizen ihn über-
haupt nur die Stiefel , und zwar nur , wenn der Träger der dienenden Klasse
angehöre und ein schöner Mensch sei. Gleichgestellte Männer mit' noch so
schönen Stiefeln seien ihm ganz gleichgültig.
Pat. ist sich bezüglich seiner geschlechtlichen Neigungen noch jetzt
unklar, ob er mehr Sympathie für das andere oder für das eigene Geschlecht
empfinde.
Seiner Meinung nach habe er ursprünglich eher Sinn für das Weib ge-
habt, aber diese Sympathie war jedenfalls eine überaus schwache. Bestimmt
versichert er, dass ihm Adspectus viri nudi unsympathisch und der von männ-
lichen Genitalien geradezu widerlich war. Dem Weib gegenüber war dies
gerade nicht der Fall , aber er blieb unerregt selbst dem schönsten Corpus
femininum gegenüber. Als junger Offizier war er genöthigt, ab und zu seine
Kameraden in Bordelle zu begleiten. Er Hess sich nicht ungern dazu be-
reden, da er damit seine lästigen Stiefelphantasien los zu werden hoffte. Er
war impotent, bis er seine Stiefelphantasien zu Hilfe nahm. Nun verlief der
Akt der Cohabitation ganz normal, jedoch ohne Wollustgefühl. Einen Trieb
zum Verkehr mit dem Weib verspürte Pat. nicht, es bedurfte jeweils einer
äusseren Veranlassung, resp. Verführung. Sich selbst überlassen, bestand seine
Vita sexualis in Stiefelschwelge reien und bezüglichen Träumen mit Pollu-
tionen. Da sich damit immer mehr der Drang verband, seinen Dienern die
Stiefel zu küssen, sie ihnen auszuziehen u. s. w. , beschloss Pat. Alles auf-
zubieten, um diesen eklen, ihn in seinem Selbstgefühl tief verletzenden Drang
los zu werden. Er befand sich damals, 20 Jahre alt, gerade in Paris; da
erinnerte er sich eines wunderschönen Bauernmädchens in der fernen Heimath.
Er hoffte mit Hilfe derselben sich von seiner perversen Sexualrichtung be-
freien zu können, reiste sofort heim und bewarb sich um die Gunst dieses
Mädchens. Er versicherte, dass er damals tüchtig verliebt in jene Person wurde,
dass schon ihr Anblick, die Berührung ihres Kleides ihn wollüstig erschauern
machte, und als sie ihm einmal einen Kuss gewährte, er eine mächtige Erec-
tion bekam. Erst nach 1 1/2 Jahren gelangte Patient mit dieser Person an das
Ziel seiner Wünsche.
Er war sehr potent, ejaculirte aber tardiv (10—20') und hatte nie ein
Wollustgefühl beim Akt.
Nach etwa 1 '/«jährigem sexuellem Umgang mit diesem Mädchen er-
kaltete seine Liebe zu ihm, da er es nicht so „fein und rein fand", als er es
wünschte. Von nun an musste er wieder seine inzwischen latent gewordenen
Stiefelphantasien zu Hilfe nehmen, um im Verkehr mit diesem Mädchen potent
zu bleiben. In dem Masse, als seine Potenz nachliess, kamen jene ganz spontan.
In der Folge coitirte Pat. auch mit anderen Weibern. Hie und da, nämlich
wenn ihm das Weib sympathisch war, ging es ohne sich eindrängende Stiefel-
phantasien ab. •
Einmal passirte es Pat. sogar, dass er sich ein Stuprum zu Schulden
kommen Hess. Merkwürdigerweise hatte er dieses einzige Mal beim (erzwun-
genen) Akt ein Wollustgefühl. Gleich nach der That empfand er Ekel. Als
252 Paraesthesia sexualis.
er eine Stunde post Stuprum mit demselben Weib und mit dessen Zustimmung
coitirte, hatte er kein Wollustgefühl mehr.
Mit abnehmender, d. h. nur durch Stiefelphantasien aufrecht erhaltener
Potenz sank die Libido zum anderen Geschlecht. Es ist bezeichnend für des
Pat. geringe Libido und schwache Veranlagung gegenüber dem Weibe , dass,
während er noch in sexuellen Relationen zu jenem Bauernmädchen stand, er
zur Masturbation gelangte. Er lernte sie durch Rousseau's „Confessions",
welches Buch ihm zufällig in die Hand fiel, kennen. Mit bezüglichen Drängen
verbanden sich sofort die Stiefelphantasien. Er bekam dann heftige Erectionen,
masturbirte, hatte bei der Ejaculation ein lebhaftes Wollustgefühl, das ihm
beim Coitus versagt blieb, und fühlte sich von Masturbation anfangs geistig
frischer, angeregter.
Mit der Zeit stellten sich aber die Erscheinungen sexueller, dann allge-
meiner Neurasthenie mit Spinalirritation ein. Er entsagte nun vorläufig der
Masturbation und suchte die frühere Geliebte auf. Sie war ihm aber nunmehr
ganz gleichgültig, und da er schliesslich selbst mit Zuhilfenahme von Stiefel-
scenen nicht mehr reüssirte, zog er sich vom Weibe zurück und verfiel wieder
auf Masturbation, durch die ersieh von dem Drang, Dienern Stiefel zu küssen,
zu wichsen u. s. w. , geschützt fühlte. Gleichwohl blieb ihm seine sexuelle
Position peinlich. Er versuchte gelegentlich wieder Coitus und reüssirte auch,
sobald er sich gewichste Stiefel dachte. Nach längerer Enthaltung von Mastur-
bation gelang ihm auch zuweilen Coitus ohne jede künstliche Hilfe.
Pat. bezeichnet sich als sexuell sehr bedürftig. Wenn er lange nicht
ejaculirt habe, so werde er congestiv, psychisch mächtig erregt, von den wider-
lichen Stiefelbildern geplagt, so dass er dann gezwungen sei, zu coitiren oder
noch lieber zu masturbiren.
Seit Jahresfrist hat sich seine moralische Situation in peinlicher Weise
dadurch complicirt, dass er als der Letzte eines reichen und vornehmen Ge-
schlechts und über dringenden Wunsch seines Vaters endlich heirathen soll.
Die ihm bestimmte Braut ist von seltener Schönheit, geistig ihm äusserst sym-
pathisch. Aber als Weib ist sie ihm gleichgültig wie jedes Weib. Sie be-
friedige ihn ästhetisch wie ein beliebiges „ Kunstwerk". Sie stehe ihm wie
ein Ideal vor Augen. Platonisch sie zu verehren, wäre ihm ein erstrebens-
werthes Glück, sie aber als Weib zu besitzen ein peinlicher Gedanke. Er wisse
bestimmt voraus, dass er ihr gegenüber nur unter Zuhilfenahme von Stiefel-
phantasien potent sein könne. Zu solchen Mitteln zu greifen widerstrebe aber
seiner Hochachtung für die Dame, seinem sittlichen und ästhetischen Gefühl
für dieselbe. Beschmutze er sie mit seinen Stiefelgedanken, so werde sie in
seinen Augen auch ihren ästhetischen Werth verlieren, und dann werde er
ganz impotent und sie ihm zuwider werden. Pat. hält seine Lage für eine
verzweifelte und gesteht, dass er in letzter Zeit dem Selbstmord wiederholt
nahe war.
Er ist ein hochintelligenter Mann von durchaus männlichem Habitus,
starker Bartentwicklung, tiefer Stimme, normalen Genitalien. Das Auge hat
einen neuropathischen Ausdruck. Keine Degenerationszeichen. Erscheinungen
von spinaler Neurasthenie. Es gelang, den Patienten zu beruhigen und ihm
Vertrauen in die Zukunft einzuflössen.
Die ärztlichen Rathschläge bestanden in Mitteln zur Bekämpfung der
Homosexuale oder Urninge. 253
Neurasthenie, Verbot weiterer Masturbation und weiterer Hingabe an Stiefel-
phantasien, Aussicht, dass mit Beseitigung der Neurasthenie Cohabitation ohne
Stiefelideen möglich und Pat. mit der Zeit moralisch und physisch zur Ehe
fähig werde.
Ende Oktober 1888 schrieb mir Pat., dass er der Masturbation und
den Stiefelphantasien kräftig seither widerstanden habe. Inzwischen habe er
nur einmal einen Stiefeltraum und fast gar keine Pollutionen mehr gehabt.
Er sei frei von homosexualen Anwandlungen , aber , trotz oft bedeutender
sexueller Erregung, ohne jegliche Libido dem Weib gegenüber. In dieser
fatalen Situation sei er nun durch die Verhältnisse gezwungen, in 3 Monaten
zu heirathen.
2) Homosexuale oder Urninge.
Gegenüber der vorausgehenden Gruppe der psychosexualen
Hermaphroditen besteht hier ab origine ausschliesslich sexuale Em-
pfindung und Neigung zu Personen desselben Geschlechts, aber im
Gegensatz zu der folgenden Gruppe beschränkt sich die Anomalie
nur auf die Vita sexualis und wirkt nicht tiefer und belastend ein
auf Charakter und gesammte geistige Persönlichkeit.
Die Vita sexualis ist bei diesen Homosexualen (Urninge)
mutatis mutandis ganz die gleiche wie bei der normalen hetero-
sexualen Liebe, aber da sie der natürlichen Empfindung gegen-
sätzlich ist, wird sie zur Karrikatur, um so mehr, als diese Individuen
in der Regel mit Hyperaesthesia sexualis zugleich behaftet sind,
und damit ihre Liebe zum eigenen Geschlecht eine schwärmerische,
brünstige ist.
Der Urning liebt, vergöttert den männlichen Geliebten ge-
rade so wie der weibliebende Mann die Geliebte. Er ist der
grössten Opfer für ihn fähig, empfindet die Qualen unglücklicher,
oft nicht erwiderter Liebe, der Untreue des Geliebten, der Eifer-
sucht u. s. w.
Die Aufmerksamkeit des mannliebenden Mannes fesseln nur
der Tänzer, der Schauspieler, der Athlet, die männliche Statue u. s. w.
Der Anblick weiblicher Reize ist ihm gleichgültig, wenn nicht zu-
wider; ein nacktes Weib ist ihm ekelhaft, während die Besichtigung
männlicher Genitalien, Hüften u. s. w. ihn vor Wonne erbeben macht.
Die körperliche Berührung eines sympathischen Mannes ruft
einen Wonneschauer hervor, und da derlei Individuen angeboren oder
durch Onanie oder auch durch erzwungene Abstinenz von geschlecht-
lichem Verkehr vielfach sexuell neurasthenisch sind, kommt es
254 Paraesthesia sexualis.
dabei leicht zur Ejaculation, die im noch so intimen Verkehr mit
dem Weib gar nicht oder nur durch mechanischen Reiz erzwingbar
ist. Der sexuelle Akt mit dem Manne, gleichviel welcher, gewährt
Genuss und hinterlässt Wohlbefinden. Vermag sich der Urning
zum Coitus zu zwingen, wobei aber Ekel in der Regel als Hem-
mungsvorstellung wirkt und den Akt unmöglich macht, so ist ihm
dabei etwa zu Muthe wie einem Menschen, der ekelhafte Speise
oder Trank zu kosten genöthigt ist. Gleichwohl lehrt die Erfah-
rung, dass nicht selten contr'är Sexuale auf dieser 2. Stufe sich
verheirathen, sei es aus ethischen oder socialen Rücksichten.
Relativ potent sind derartige Unglückliche, insofern sie bei
der ehelichen Umarmung ihre Phantasie anstrengen und sich statt
der Ehefrau eine geliebte männliche Person vorstellen.
Der Coitus ist für sie aber ein schweres Opfer, kein Genuss,
und macht sie auf Tage hinaus nervenschwach und leidend. Ver-
mögen derartige Urninge nicht durch willenskräftige Anstrengung
ihrer Phantasie, etwa unter Benutzung von excitirenden Spirituosen
Getränken, von Erectionen, hervorgerufen durch gefüllte Blase u. s. w.,
die hemmenden Gefühle und Vorstellungen zu compensiren, so sind
sie gänzlich impotent, während die blosse Berührung des Mannes
die mächtigste Erection und selbst Ejaculation bewirken kann.
Mit einem Weibe zu tanzen, ist dem Urning unangenehm,
Tanz mit einem Manne, besonders einem solchen von sympathischen
Formen, erscheint ihm als die höchste Lust.
Der männliche Urning, sofern er eine höhere Bildung besitzt,
hat keine Abneigung gegen den geschlechtslosen Umgang mit Weibern,
sofern sie durch Geist und Kunstsinn die Conversation mit ihnen an-
genehm erscheinen lassen. Nur das Weib in seiner geschlecht-
lichen Rolle perhorrescirt er.
Auf dieser Stufe der sexuellen Entartung bleibt Charakter
und Beschäftigung dem Geschlecht entsprechend, welches das be-
treffende Individuum repräsentirt. Die sexuelle Perversion bleibt
eine isolirte, aber tief in die sociale Existenz einschneidende Ano-
malie im geistigen Dasein der Persönlichkeit. Dem entsprechend
fühlt sich dieselbe bei gleichviel welchem sexuellen Akt in der
Rolle, welche bei heterosexualer Gefühlsweise ihr zukäme.
Uebergänge zur 3. Gruppe kommen jedoch insofern vor, als
auch zuweilen die der homosexualen Empfindungsweise entsprechende
geschlechtliche Rolle gedacht, gewünscht oder wenigstens geträumt
wird, ferner dass Beschäftigungsneigungen und Geschmacksrichtungen
Homosexuale oder Urninge. 255
fragmentar sich zeigen, die dem Geschlecht, welches repräsentirt
wird, nicht entsprechen. In manchen Fällen gewinnt man den
Eindruck, dass derartige Erscheinungen Artefacte, durch Erziehungs-
einflüsse hervorgerufen, sind, in anderen, dass sie erworbene tiefere
Degenerationen innerhalb der betreffenden Stufe durch perverse
Geschlechtsbethätigung (Masturbation), analog den progressiven Ent-
artungserscheinungen, wie sie bei der erworbenen conträren Sexual-
empfindung beobachtet werden, darstellen.
Was nun die Art der sexuellen Befriedigung betrifft, so ist
hervorzuheben, dass bei vielen männlichen Urningen, da sie an
reizbarer sexueller Schwäche leiden, schon die blosse Umarmung
genügt, um Ejaculation zu bewirken. Bei sexuell Hyperästhetischen
und mit Parästhesie ästhetischer Gefühle Behafteten gewährt es oft
erhöhten Genuss, mit schmutzigen ordinären Subjekten aus der Hefe
des Volkes zu verkehren.
Auf gleicher Grundlage kommen päderastische (natürlich aktive)
Gelüste und andere Verirrungen vor, jedoch kommt es nur selten
und offenbar nur bei moralisch defekten und durch Libido nimia
besonders lüsternen Persönlichkeiten zu päderastischen Akten.
Die sinnliche Neigung erwachsener Urninge scheint, im Gegen-
satz zu alten und verkommenen Wüstlingen, welche Knaben
bevorzugen (und mit Vorliebe Päderastie treiben), un-
reifen männlichen Individuen sich nicht zuzuwenden. Nur
aus Mangel an Besserem und bei heftiger Brunst dürfte der Urning
Knaben gefährlich werden.
Beobachtung 109. Die nachfolgende Beobachtung ist ein Auszug aus
einer äusserst umfangreichen Autobiographie, die mir ein mit conträrer Sexual-
empfindung behafteter Arzt zur Verfügung gestellt hat.
„Ich bin nun 40 Jahre alt, aus kerngesunder Familie1), war stets ge-
sund, galt als ein Muster körperlicher und geistiger Frische und Energie, bin
von kräftigem Körperbau, habe aber nur massigen Bart, bin, ausser unter den
Achseln und am Mons veneris, am Rumpf haarlos. Der Penis war schon bald
nach der Geburt ungewöhnlich gross und ist in statu erectionis 24 cm lang,
bei 11 cm Umfang. Ich bin tüchtiger Reiter, Turner, Schwimmer, habe zwei
grosse Feldzüge als Militärarzt mitgemacht. Geschmack an weiblicher Kleidung
und Beschäftigung empfand ich nie. Bis zur Pubertät war ich dem weiblichen
*) Später wurde bekannt, dass ein naher Verwandter im Irrsinn ge-
storben sei, ferner, dass 8 Geschwister im Alter von 1 — 15 Jahren an Hydro-
cephalus acutus oder chronicus zu Grunde gingen.
256 Paraesthesia sexualis.
Geschlecht gegenüber schüchtern und bin es auch jetzt noch neuen Bekannt-
schaften gegenüber.
Gegen Tanz empfand ich von jeher Widerwillen.
Im 8. Lebensjahr erwachte meine Neigung zum eigenen Geschlecht. Zu-
nächst empfand ich Genuss am Betrachten der Genitalien meiner Brüder.
Fratrem meum juniorem impuli ut alter alter ius genitalibus luderet, quibus
factis penis meus se erexit. Später, beim Baden mit der Schuljugend, inter-
essirten mich die Knaben lebhaft, die Mädchen gar nicht. Ich hatte so wenig
Sinn für sie, dass ich noch mit 15 Jahren glaubte, sie hätten auch einen
Penis. In einem Kreise von gleichgesinnten Knaben vergnügten wir uns
damit, vicissim genitalibus nostris ludere. Mit IIV2 Jahren bekam ich einen
strengen Hofmeister und konnte mich nun nur noch selten zu meinen lieben
Freunden stehlen. Ich lernte sehr leicht, vertrug mich aber nicht mit dem
Lehrer, und als er es mir eines Tages zu arg machte, gerieth ich in Wuth,
stiess nach ihm mit dem Messer und hätte ihn mit Wollust erstochen, wenn
er mir nicht in den Arm gefallen wäre. Mit 121/* Jahren brannte ich bei
ähnlichem Anlass dem Lehrer durch und trieb mich 6 Wochen im Nachbar-
land herum.
Ich kam nun ins Gymnasium , war damals geschlechtlich schon ent-
wickelt und vergnügte mich beim Baden mit den Kameraden in der oben an-
gedeuteten Weise, später auch durch Imitatio coitus inter femora. Ich war
damals 13 Jahre alt. An Mädchen fand ich gar kein Gefallen. Heftige Erec-
tionen veranlassten mich, an den Genitalien zu spielen, auch gerieth ich dar-
auf, penem in os recipere , was mir durch Bücken gelang. Dabei kam es zu
Ejaculationen. Dadurch kam ich zur Masturbation. Ich erschi-ak darüber
heftig, dünkte mich wie ein Verbrecher, entdeckte mich einem 16jährigen Mit-
schüler. Er klärte mich auf, beruhigte mich, schloss einen Liebesbund mit mir.
Wir waren glückselig, befriedigten uns durch mutuelle Onanie. Nebenher
masturbirte ich. Nach 2 Jahren wurde dieser Bund getrennt, aber noch heute
— wenn wir uns gelegentlich treffen — mein Freund ist ein höherer Beamter
— lodert das alte Feuer wieder auf.
Jene Zeit mit Freund H. war eine selige, deren Wiederkehr ich gerne
mit meinem Herzblut erkaufen möchte. Das Leben war mir damals eine Lust,
ich lernte spielend, war begeistert für alles Schöne.
Während dieser Zeit verführte mich ein meinem Vater befreundeter
Arzt, indem er mich gelegentlich eines Besuches liebkoste, onanisirte, mir die
sexuellen Vorgänge erklärte , mich ermahnte , mich nie zu manustupriren , da
dies gesundheitsschädlich sei. Er trieb dann mutuelle Onanie mit mir, er-
klärte, dies sei die einzige Möglichkeit für ihn, geschlechtlich zu functioniren.
Vor Weibern habe er Ekel, deshalb habe er auch mit seiner verstorbenen Frau
in Unfrieden gelebt. Er lud mich dringend ein, ihn so oft als möglich zu
besuchen. Der Arzt war ein stattlicher Mann, Vater von 2 Söhnen im Alter
von 14 und 15 Jahren, mit denen ich im folgenden Jahr ein analoges Liebes-
verhältniss anknüpfte, wie mit Freund H.
Ich schämte mich der Untreue gegen diesen, setzte aber gleichwohl das
Verhältniss mit dem Arzt fort. Er trieb mit mir mutuelle Onanie, zeigte mir
unsere Spermatozoen unter dem Mikroskope, zeigte mir pornographische Werke
und Bilder, die mir aber nicht gefielen, da ich nur für männliche Körper
Horuosexuale oder Urninge. 257
Interesse hatte. Anlässlich späterer Besuche bat er mich, ihm eine Gunst zu
erweisen, die er noch nie genossen und nach der er lüstern sei. Da ich ihn
liebte, gestand ich alles zu. Instrumentis anum dilatavit, me paedicavit, dum
simul penem meum trivit ita ut eodem tempore dolore et voluptate affectus
Am. Nach dieser Entdeckung ging ich sofort zu Freund H., in der Meinung,
dass dieser geliebte Mensch mir noch grösseren Genuss verschaffen werde.
Alter alterum paedicavit, wir waren aber beide enttäuscht und Hessen Wieder-
holung bleiben, denn passiv empfand ich nur Schmerz und aktiv kein Ver-
gnügen, während uns doch mutuelle Onanie den grössten Genuss verschaffte.
Nur dem Arzt war ich in der Folge aus Dankbarkeit noch öfters zu Willen.
Bis zum 15. Jahre trieb ich passive oder mutuelle Onanie mit meinen Freunden.
Ich war nun schon erwachsen, bekam allerlei Winke von Frauen und Mädchen,
floh sie aber, wie Joseph Potiphars Weib. Mit 15 Jahren kam ich in die Haupt-
stadt. Nur selten hatte ich Gelegenheit zur Befriedigung meiner sexuellen
Neigung. Dafür schwelgte ich im Anblick von Bildern und Statuen männlicher
Körper und konnte mich nicht enthalten, geliebte Statuen abzuküssen. Ein
Hauptärgerniss waren mir die Feigenblätter auf deren Genitalien.
Mit 17 Jahren bezog ich die Universität. Zwei Jahre lebte ich nun wieder
mit Freund H. zusammen.
Mit 1772 Jahren hetzte man mich im angetrunkenen Zustande zum
Coitus mit einem Weibe. Ich zwang mich dazu, floh aber sofort nach der
That, von Ekel erfasst, aus dem Hause. Gleichwie nach der ersten aktiven
Manustupration hatte ich dabei ein Gefühl, als ob ich ein Verbrechen be-
gangen hätte. Bei einem neuerlichen, im nüchternen Zustand gemachten Ver-
such, et puella nuda pulcherimma operante, erectio non evenit, während doch
jeweils der blosse Anblick eines Knaben oder die Berührung eines Schenkels
durch eine Männerhand meinen Penis stahlsteif machte. Freund H. war es vor
Kurzem ebenso ergangen. Wir zerbrachen uns vergeblich die Köpfe über die
Ursache. Ich Hess nun die Weiber Weiber sein, fand Genuss bei Freunden in
passiver und mutueller Onanie, u. A. mit den beiden Söhnen des Arztes, der
sie nach meinem Abgang zur Pädicatio missbraucht hatte!
19 Jahre alt machte ich die Bekanntschaft von zwei ächten Urningen.
A., 56 Jahre alt, weibisch aussehend, bartlos, geistig auf keiner beson-
deren Höhe, von starkem, abnorm früh regem Sexualtrieb, hat seit dem 6. Jahre
Urningliebe getrieben. Er kam einmal im Monat nach der Hauptstadt. Ich
musste bei ihm schlafen. Er war unersättlich in mutueller Onanie, nöthigte
mich auch zu aktiver und passiver Pädicatio, was ich ungern mit in den
Kauf nahm.
B., Kaufmann von 36 Jahren, eine durchaus männliche Erscheinung, war
enorm bedürftig, gleich wie ich selbst. Er wusste seinen Manipulationen an
mir solchen Reiz zu verleihen, dass ich ihm als Kynede dienen musste. Er
war der Einzige, bei dem ich passiv etwas Genuss empfand. Er gestand mir,
dass, wenn er mich nur in der Nähe wusste, er die peinlichsten Erectionen
bekam , und wenn ich ihm nicht dienen konnte , er sich durch Masturbation
befriedigen musste.
Neben diesen Liebschaften war ich klinischer Assistent im Spital und
galt als eifrig und tüchtig im Beruf. Natürlich forschte ich in der ganzen
Literatur nach einer Erklärung meiner sexuellen Sonderbarkeit. Ich fand sie
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexnalis. 9. Aufl. 17
258 Paraesthesia sexualis.
allenthalben als strafwürdiges Vergehen gebrandmarkt, während ich darin
doch nur die einfache, mir natürliche Befriedigung meines sexuellen Begehrens
erkennen konnte. Ich war mir bewusst, dass mir dieses angeboren sei, aber
im Widerspruch mit der ganzen Welt mich fühlend, oft dem Wahnsinn und
dem Selbstmord nahe, versuchte ich immer wieder meinen mächtigen Sexual-
trieb an Weibern zu befriedigen. Das Resultat war jedesmal das gleiche —
entweder Mangel jeglicher Erection, oder, wenn es mir gelang, den Akt zu
erzwingen, Ekel und Grausen vor der Wiederholung. Als Militärarzt litt ich
entsetzlich beim Anblick und der Berührung von Tausenden nackter Männer-
gestalten. Glücklicherweise schloss ich einen Liebesbund mit einem gleich
•mir empfindenden Lieutenant und verlebte wieder einmal eine Götterzeit.
Aus Liebe für ihn entschloss ich mich sogar zu Pädicatio, nach der seine
Seele verlangte. Wir liebten uns, bis er bei Sedan sein Leben verlor. Von
da an Hess ich mich nie mehr weder zu aktiver noch passiver Pädicatio
herbei, trotzdem ich viele Liebschaften hatte und eine sehr begehrte Persön-
lichkeit war.
Mit 23 Jahren ging ich aufs Land als Arzt , war gesucht und beliebt,
befriedigte mich durch Knaben über 14 Jahre, stürzte mich ins politische
Leben, verfeindete mich mit dem Clerus, ward von einem meiner Geliebten
verrathen, vom Clerus denuncirt und gezwungen zu fliehen. Die gerichtliche
Untersuchung fiel günstig aus. Ich konnte zurückkehren, war aber tief er-
schüttert, benutzte den ausgebrochenen Krieg (1870), um mit der Waffe zu
dienen, in der Hoffnung, den Tod zu finden. Ich kehrte jedoch, vielfach
ausgezeichnet, zum Manne gereift, innerlich ruhig zurück und fand nur mehr
Genuss in ernster angestrengter Berufsarbeit. Ich hoffte meinen ungeheuren
Sexualtrieb dem Erlöschen nahe, erschöpft durch die riesigen Strapazen des
Feldzugs.
Kaum war ich erholt, so begann der alte unbändige Trieb wieder sich
zu regen und führte zu neuer zügelloser Befriedigung. Selbstverständlich hielt
ich oft Einkehr bei mir selbst, hielt mir das nicht in meinen Augen, wohl
aber in denen der Welt Verwerfliche meiner Neigung vor.
Ein Jahr abstinirte ich mit äusserster Aufbietung meiner Willenskraft,
dann reiste ich nach der Hauptstadt, um mich zum Weibe zu zwingen. Ich,
der ich beim Anblick des schmutzigsten Stalljungen von Erectionen gepeinigt
war, brachte es bei dem schönsten Weibe kaum zu einer Erection. Ich reiste
vernichtet heim und hielt mir einen Burschen zur persönlichen Bedienung und
Befriedigung.
Die Einsamkeit des Lebens als Landarzt, die Sehnsucht nach Kindern
trieb mich zu einer Heirath. Zudem wollte ich dem Gerede der Leute ein
Ende machen und hoffte ich doch endlich über meinen fatalen Trieb zu
triumphiren.
Ich wusste ein Mädchen, von dessen Herzensgüte und dessen Liebe zu
mir ich überzeugt war. Es ist mir gelungen, bei meiner Achtung und Ver-
ehrung für meine Frau den ehelichen Pflichten gerecht zu werden, 4 Knaben
zu erzeugen. Erleichternd wirkte das knabenhafte Aussehen meiner Frau.
Ich nannte sie meinen Raphael, strengte meine Phantasie an, um Knabenbilder
mir vorzutäuschen und so Erection zu erzielen. Erlahmte meine Phantasie
aber nur einen Moment, so war es mit der Erection vorbei. Zusammenzu-
Homosexuale oder Urninge. 259
schlafen vermochte ich nicht mit meiner Frau. In den letzten Jahren wurde
mir der Coitus immer schwieriger erzie^bar und seit 2 Jahren haben wir darauf
verzichtet. Meine Frau kennt meinen Seelenzustand. Ihre Herzensgüte und
Liebe zu mir vermag sich darüber hinwegzusetzen.
Meine sexuelle Neigung zum eigenen Geschlecht ist unverändert und
leider nur zu oft zwang jene mich, meiner Frau untreu zu werden. Noch
heute oringt mich der Anblick eines etwa 16jährigen Jungen in heftige sexuelle
Erregung mit peinlichen Erectionen, so dass ich mir gelegentlich mit Manu-
stupration des Jungen, mit Onanie an mir selbst helfe.
Welche Qualen ich ausstehe, ist unbeschreiblich. Faute de mieux uxor
mea penem terit, sed quod mulieris manus magno opere post dimidiam horam
adsequitur, pueri manus post nonnulla raomenta adsequitur. So lebe ich elend
dahin, ein Sklave des Gesetzes und meiner Pflicht gegen meine Frau! Zu
Pädicatio (aktiv oder passiv) hatte ich nie Lust. Wenn ich sie ausführte oder
duldete, geschah es nur aus Dankbarkeit, Gefälligkeit."
Der Arzt, dem ich vorstehende Selbstbeobachtung verdanke, versichert,
dass er mit mindestens 600 Urningen bisher sexuell verkehrt habe. Es seien
darunter gar Viele, die in hohen und geachteten Stellungen noch heute leben.
Nur etwa 10 Procent derselben seien später weibliebend geworden. Eine andere
Quote scheue das Weib nicht, neige aber mehr dem eigenen Geschlecht zu, der
Rest sei ausschliesslich und dauernd mannliebend.
Abnorme Bildung der Genitalien will jener Arzt nie an seinen 600 ge-
funden haben, wohl aber häufig Annäherung an weibliche Körperformen, sowie
schwache Behaarung, zarteren Teint, höhere Stimme. Nicht selten kam Mamma-
entwicklung vor. X. affirmat ab 13. — 15. anno lac in mammis suis habuisse
quod amicus H. esuxit. Nur etwa 10 Procent seiner Leute zeigten Sinn für
weibliche Beschäftigung u. dgl. Alle seine Bekannten waren mit abnorm
frühem und starkem Sexualtrieb behaftet. Die überwiegende Mehrzahl fühle
sich dem Anderen gegenüber als Mann und befriedige sich durch mutuelle
Onanie, Manustupration am Geliebten oder durch denselben. Die Mehrzahl
neige zu aktiver Päderastie. Sehr häufig sei aber der Strafrechtsparagraph
oder auch ästhetisches Bedenken gegen den Anus Grund zur Nichtausführung
des Aktes. Weiblich sich fühlen dem Anderen gegenüber sei selten, und sehr
selten Neigung zu passiver Päderastie.
Anfangs 1887 wurde dieser Arzt gefänglich eingezogen, weil er mit zwei
Knaben unter 14 Jahren Unzucht getrieben hatte. Das Delikt bestand darin,
dass er zuerst die Knaben mentulam propriam inter femora viri bis zu ejaculatio
reiben Hess und dann dieselbe Procedur cum mentula propria inter femora
pueri vornahm. Bei der Verhandlung wurde zugegeben, dass hier ein krank-
hafter Naturtrieb vorliege, jedoch zugleich nachgewiesen, dass Inculpat geistig
nicht gestört, der Selbstbestimmung nicht verlustig war, jedenfalls nicht in
unwiderstehlichem Antrieb gehandelt habe. Gleichwohl wurde er nur zu einem
Jahr Kerker mit Anwendung der weitestgehenden Milderungsgründe verurtheilt.
Beobachtung 110. HerrX., aus höherem Stande, consultirte mich wegen
seit Jahren bestehender Neurasthenie und Schlaflosigkeit. Die Ermittelung der
Ursachen des Leidens führte zum Geständniss des Patienten, dass er einen
abnormen Sexualtrieb zum eigenen Geschlecht habe, überhaupt sehr geschlechts-
260 Paraesthesia sexualis.
bedürftig sei und dass sein Nervenleiden wohl daraus sich herleite. Aus der
Krankengeschichte des intelligenten Patienten dürfte Folgendes wissenschaft-
lich von Interesse sein.
, Meine abnorme Geschlechtsempfindung reicht auf meine Kindheit zurück.
Mit 3 Jahren kam mir ein Modejournal unter die Hände. Die perfekt schönen
Männergestalten wurden von mir bis zum Zerreissen des Papiers geküsst, die
weiblichen Figuren beachtete ich nicht. Knabenspiele waren mir widerlich.
Mit Mädchen spielte ich lieber, da es da immer Puppen gab. Mit Vor-
liebe schneiderte ich Puppenkleider; ich habe heute noch Interesse für Puppen
trotz meiner 33 Jahre. Schon als Knabe konnte ich stundenlang auf der Lauer
an Anstandsorten sein, ut virorum genitalia adspicerem. Gelang mir dies, so
wurde mir ganz seltsam und schwindlig. Schwächliche, unsympathische Männer
oder gar Knaben waren mir gleichgültig. Mit 13 Jahren ergab ich mich der
Onanie. Vom 13. bis 15. Jahr schlief ich mit einem schönen jungen Mann in
einem Bett. Das war mein Glück! Per multas horas vespere pene erecto
illum domum venientem expectavi. Quodsi ille fortuito genitalia mea in lecto
tetigit, summa voluptate affectus sum. Mit 14 Jahren hatte ich einen gleich
mir empfindenden Schulkameraden. In schola per nonnullas horas alter geni-
talia alterius tenebat manibus. Ach, es waren selige Stunden! So oft ich
konnte, verweilte ich in Badeanstalten. Das war immer ein Fest für mich.
Der Anblick männlicher Genitalien verursachte mir heftige Erectionen. Mit
16 Jahren kam ich in die Grossstadt. Das Sehen so vieler schöner Männer
entzückte mich. Mit 17 1J2 Jahren versuchte ich den Beischlaf mit einer Dirne,
war aber vor Ekel und Angst unfähig dazu. Auch weitere Versuche schlugen
fehl bis zum 19. Jahre. Da reüssirte ich einmal, aber der Beischlaf gewährte
mir keinen Genuss, eher Ekel. Ich überwand mich und war stolz auf meinen
Erfolg, dennoch ein Mann zu sein, woran ich allmählich zu zweifeln an-
gefangen hatte.
Spätere Versuche gelangen nicht mehr. Der Ekel war zu gross. Wenn
sich das betreffende Weib entkleidete, war ich genöthigt, vor Ekel gleich das
Licht zu löschen. Ich hielt mich nun für impotent, consultirte Aerzte, besuchte
Bäder und Wasserheilanstalten, um meine vermeintliche Impotenz zu heilen,
denn noch immer wusste ich nicht, was ich davon zu halten hatte. Ich war
gerne in Damengesellschaft, vielleicht aus Eitelkeit, da ich den meisten Damen
sympathisch und liebenswürdig erschien. Ich schätzte aber nur geistige, ästhe-
tische Vorzüge an Damen. Gerne tanzte ich mit solchen, aber wenn sich dann
eine im Tanz an mich anschmiegte, empfand ich einen argen Widerwillen,
selbst Ekel, und hätte sie prügeln mögen. Kam es einmal vor, dass ein Herr
mit mir im Scherz tanzte, so war ich stets Dame. Da presste und schmiegte
ich mich an ihn und war ganz glücklich und selig. Mit 18 Jahren sagte ein-
mal ein Herr, der zu uns ins Comptoir kam: „Das ist ein herziger Junge, für
den könnte man im Orient jedesmal ein Pf. St. verlangen." Das machte mir
Kopfzerbrechen. Ein anderer Herr scherzte gerne mit mir, raubte mir beim
Fortgehen öfters Küsse, die ich ihm. ach so gerne, selbst gegeben hätte. Dieser
Kussräuber wurde später eine Geliebte von mir. Durch diese Umstände wurde
ich doch aufmerksam und wartete auf eine Gelegenheit.
Als ich 25 Jahre alt war, traf es sich, dass mich ein ehemaliger
Kapuziner fest fixirte. Gleich einem Mephisto wurde er für mich. Endlich
Homosexuale oder Urninge. 261
sprach er mich an. Noch heute glaube ich das Klopfen meines Herzens von
damals zu fühlen, ich war einer Ohnmacht nahe. Er gab mir Rendez-vous
in einem Gasthause für den Abend. Ich ging hin, kehrte aber an der Schwelle
um, ich ahnte schreckliche Geheimnisse. Am zweiten Abend traf mich der
Kapuziner wieder. Er überredete mich, führte mich in sein Zimmer, ich konnte
ja nicht gehen vor Erregung. Mein Verführer setzte mich aufs Canapee, fixirte
mich lächelnd mit seinen schwarzen wunderbaren Augen, ich verlor das Be-
wusstsein. — — Von dieser Wottust , dieser idealistisch-göttlichen Seligkeit,
die mein Wesen erfüllte, müsste ich zu viel schreiben; ich denke, nur ein
bis über die Ohren verliebter , noch gänzlich unschuldiger Bursche , der zum
ersten Mal seine Liebessehnsucht stillen konnte, kann so glücklich sein, wie
ich an jenem Abend war. Mein Verführer forderte zum Spasse (den ich An-
fangs ernst nahm) mein Leben. Ich bat ihn, mich noch eine Zeit lang glücklich
sein zu lassen, dann hätte ich mein Leben vereint mit ihm geendet. Es wäre
das so ganz nach meinen überspannten damaligen Ideen gewesen. Ich hatte
5 Jahre dann ein Verhältniss mit dem mir jetzt noch so lieben Mann. Ach
wie glücklich und doch oft unglücklich war ich in jener Zeit! Sah ich ihn
nur mit einem hübschen jungen Manne sprechen , so erwachte in mir eine
tobende Eifersucht. Mit 27 Jahren verlobte ich mich mit einer jungen Dame.
Ihr Geist und feiner ästhetischer Sinn, sowie finanzielle Rücksichten für mein
Geschäft veranlassten mich, an die Ehe mit ihr zu denken, zudem bin ich ein
grosser Kinderfreund, und so oft ich dem gewöhnlichsten Taglöhner mit seinem
Weib und einem hübschen Kind begegnete, beneidete ich den Mann um seia
Familienglück. Ich bethörte mich also selbst, brachte mich auch die Zeit des
Brautstandes leidlich durch , fühlte jedoch bei den Küssen meiner Braut eher
Angst und Bangigkeit als Vergnügen. Ein- oder zweimal kam es jedoch vor,
dass ich durch herzhaftes Küssen nach reichlichem Nachtmahl Erection bekam.
Wie glücklich war ich da, ich sah mich schon als Papa! Zweimal war ich
nahe daran, die Parthie rückgängig zu machen. Am Hochzeitstage, als schon
die Gäste versammelt waren, sperrte ich mich in mein Zimmer, weinte wie
ein Kind und wollte absolut nicht getraut werden. Auf Zureden aller An-
gehörigen, denen ich die ersten besten Entschuldigungen angab, Hess ich mich
in Strassentoilette vor den Traualtar schleppen.
Uxor mea nuptiarum tempore menses habuit. 0 wie dankte ich allen
Heiligen für diese Bescheerung! Ich bin heute noch überzeugt, dass nur da-
durch ein späterer Beischlaf ermöglicht wurde. Wieso es mir möglich wurde,
später meiner Frau beizuwohnen und einen herzigen Jungen zu bekommen,
weiss ich nicht. Er ist mein Trost in meinem so verfehlten Leben. Ich kann
für das Glück, ein Kind zu haben, nur Gott danken. Ich schwindelte mich
sozusagen durch im Ehebett. Meine Frau , die ich wegen ihrer trefflichen
Eigenschaften hochachte, hat keine Ahnung von meinem Zustand, nur beklagt
sie sich oft über meine Kälte. Bei ihrer Herzensgut« und Naivetät war es
mir möglich , ihr vorzumachen , dass die Leistung der ehelichen Pflicht nur
monatlich einmal eintrete. Da sie nicht sinnlich ist und ich zudem in meiner
Nervosität eine Entschuldigung finde, gelingt es mir, mich durchzuschwindeln.
Der Beischlaf ist mir das grösste Opfer. Durch reichlichen Weingenuss und
Benützung von dann Morgens bei gefüllter Blase eintretenden Erectionen ge-
lingt es mir, etwa einmal im Monat ihn auszuführen, aber ich habe dabei
262 Paraesthesia sexualis.
kein Wollustgefühl, bin davon ganz matt und empfinde tagelang eine Steige-
rung meiner nervösen Beschwerden. Nur das Bewusstsein der erfüllten ehe-
lichen Pflicht, gegenüber der sonst geliebten Frau, ist mir dann moralischer
Erfolg und Befriedigung. Mit einem Mann ist es anders. Ich kann ihm
mehrmals in der Nacht beiwohnen, wobei ich mich in der geschlechtlichen
Rolle des Mannes fühle. Ich empfinde dabei die höchste Wollust, das reinste
Glück und fühle mich davon erfrischt und beglückt. In neuerer Zeit hat mein
Trieb zu Männern etwas nachgelassen. Ich- habe sogar Muth, einen schönen
jungen Mann, der mir die Cour macht, zu meiden. Wird es von Dauer sein?
Ich fürchte nein. Ich kann absolut nicht ohne Männerliebe sein, und wenn
ich sie entbehren muss, bin ich niedergeschlagen, fühle mich matt, elend, habe
Schmerz und Druck im Kopf. Ich habe meine bedauernswerthe Verschroben-
heit immer als etwas Angeborenes, Krankhaftes empfunden, würde mich jedoch
glücklich fühlen, wenn ich nur nicht verheirathet wäre. Meine brave gute
Frau dauert mich. Oft packt mich die Furcht, es mit ihr nicht mehr auszu-
halten. Dann kommen mir Gedanken, mich scheiden zu lassen, mich umzu-
bringen, nach Amerika zu entfliehen."
Dem Kranken, welchem ich diese Mittheilungen verdanke, wird Niemand
seinen Zustand ansehen. Er ist von durchaus männlichem Habitus, mit starkem
Vollbart, kräftiger tiefer Stimme, völlig normalen Genitalien. Der Schädel
ist normal gebildet, Degenerationszeichen fehlen durchaus, nur ein exquisit
nervöses Auge erinnert an den Neuropathiker. Die vegetativen Organe
funktioniren normal. Patient bietet die gewöhnlichen Symptome eines Neur-
asthenischen, wesentlich zurückführbar auf sexuelle Excesse bei einem abnorm
geschlechtsbedürftigen Manne im Verkehr mit Personen seines eigenen Ge-
schlechts und auf den schädlichen Einfluss erzwungenen, wenn auch seltenen,
Beischlafs mit der Ehefrau, bei Horror feminae.
Patient erklärt, von gesunden Eltern abzustammen und in der Familie
in aufsteigender Linie weder nerven- noch geisteskranke Angehörige zu kennen.
Sein älterer Bruder war 3 Jahre verheirathet. Die Ehe wurde getrennt, weil"
dieser Mann geschlechtlich mit seiner Frau nie verkehrte. Er heirathete zum
zweiten Mal. Auch die zweite Frau klagt über Vernachlässigung seitens des
Mannes, hat aber 4 Kinder, deren legitime Abkunft nicht bezweifelt wird.
Eine Schwester ist hysteropathisch.
Patient behauptet, als junger Mann an secundenlangen Schwindelanfällen
gelitten zu haben, während welcher es ihm war, als wolle sich sein ganzes
Wesen auflösen. Von jeher will er sehr erregbar, emotiv gewesen sein und
für schöne Künste, namentlich Poesie und Musik, geschwärmt haben. Seinen
Charakter bezeichnet er selbst als räthselhaft, abnorm, nervös, unruhig, extra-
vagant, unschlüssig. Er sei oft exaltirt ohne eigentlichen Grund, dann wieder
ebenso deprimirt bis zu Selbstmordgedanken. Er könne in raschem und plötz-
lichem Wechsel „religiös und frivol, Aesthetiker und Cyniker, feige und heraus-
fordernd, leichtgläubig, gutmüthig und misstrauisch, geneigt, Anderen wehe
zu thun und wehmuthsvoll über Anderer Unglück bis zu Thränen sein, dabei
freigebig bis zum Uebermass und wieder geizig ä la Harpagon". Jedenfalls
ist Patient eine belastete Persönlichkeit. Intellectuell scheint er sehr begabt,
wie er auch versicherte, leicht gelernt zu haben und in den Schulen immer
unter den Ersten gewesen zu sein.
Homosexuale oder Urninge. 263
Die Ehe dieses Mannes war keine glückliche. Wenn auch Patient nur
höchst selten den ihm inadäquaten und ihn schädigenden Geschlechtsakt mit
der Frau vollzog und hei männlichen Geliebten Ersatz suchte und fand, so
blieb er neurasthenisch. Sein Leiden bot zeitweise bedeutende Exacerbationen,
bis zu verzweiflungsvoller Stimmung über seine eheliche sexuelle und physische
Lage mit heftigem Taed. vitae.
Seine Frau wurde hysteropathisch, anämisch, und Patient selbst meint,
dass sie es ex abstinentia geworden sei. So sehr er sich zusammennehme und
zu bezwingen suche, vermöge er in den letzten Jahren den Coitus nicht mehr
zu leisten, entbehre vollkommen der Erection, während er im Umgang mit
männlichen Geliebten sehr potent sei.
Der nunmehr 9jährige Knabe dieser unglücklichen Eheleute gedeiht.
Patient theilt noch mit, dass er nur mit dem Kunstgriff, dass er sich
einen geliebten Mann dachte, früher beim Coitus mit seiner Frau potent
war. (Aus des Verfassers Lehrbuch der Psychiatrie, 2. Auflage mit Ergän-
zungen.)
Beobachtung 111. An einem Sommerabend in der Dämmerung wurde
X. Y., Dr. med., in einer Stadt Norddeutschlands, von einem Flurwächter betreten
wie er auf einem Feldwege mit einem Landstreicher Unzucht trieb, indem er
denselben masturbirte und darauf mentulam ejus in os suum immisit. X. ent-
zog sich gerichtlicher Verfolgung durch die Flucht. Die Staatsanwaltschaft
stand von der Klage ab, da kein öffentliches Aergerniss entstanden war und
Immissio membri in anum nicht stattgefunden hatte. Im Besitze des X. wurde
eine weit verzweigte urnische Correspondenz gefunden, durch welche ein seit
Jahren bestandener reger und durch alle Schichten der Bevölkerung sich er-
streckender urnischer Verkehr erwiesen wurde.
X. stammt aus belasteter Familie. Vatersvater endete irrsinnig durch
Selbstmord. Der Vater war ein schwächlicher, eigenartiger Mann. Ein Bruder
des Pat. onanirte schon mit 2 Jahren. Ein Vetter war conträr sexual, beging
dieselben Unsittlichkeiten wie X. schon als Jüngling, wurde geistig schwach
und starb an einer Rückenmarkskrankheit. Ein Grossonkel väterlich war
Hermaphrodit. Die Schwester der Mutter war irrsinnig. Mutter gilt als gesund.
Der Bruder des X. ist nervös, jähzornig.
X. selbst war ebenfalls als Kind sehr nervös. Das Miauen einer Katze
versetzte ihn in höchste Furcht und wenn man nur eine Katzenstimme nach-
ahmte, weinte er bitterlich und klammerte sich ängstlich an die Um-
gebung an.
Anlässlich geringfügiger Krankheiten fieberte er heftig. Er war ein
stilles, träumerisches Kind, von reger Phantasie, aber geringer geistiger Be-
gabung. Knabenspiele kultivirte er nicht. Mit Vorliebe trieb er weibliche
Beschäftigung. Ein besonderes Vergnügen machte es ihm, die Hausmagd oder
auch den. Bruder zu frisiren.
Mit 13 Jahren kam X. in ein Institut. Dort trieb er mutuelle Onanie,
verführte Kameraden, machte sich durch cynisches Benehmen unmöglich, so
dass er nach Hause genommen werden musste. Schon damals fielen den Eltern
Liebesbriefe conträr sexualen und höchst lasciven Inhalts in die Hände. Vom
17. Jahre an studirte er unter der strengen Zucht eines Gymnasialprofessors.
264 Paraesthesia sexualis.
Er machte leidliche Fortschritte im Lernen. Begabt war er nur für Musik. Nach
absolvirten Studien kam Pat. 19 Jahre alt auf die Universität. Dort fiel er
auf durch sein cynisches Wesen, sein Herumziehen mit jungen Leuten, von
denen man bezüglich mannmännlicher Liebe allerlei munkelte. Er fing an
sich zu putzen, liebte auffallende Cravatten, trug Hemden mit tiefem Hals-
ausschnitt, zwängte seine Füsse in enge Stiefel und frisirte sich auffallend.
Dieser Hang verlor sich, als er die Hochschule absolvirt hatte und heim-
gekehrt war.
Im 24. Jahre war er eine Zeit lang schwer neurasthenisch. Von da bis
zum 29. Jahr schien er ernst, zeigte sich im Berufe tüchtig, mied aber die
Gesellschaft des schönen Geschlechts und trieb sich beständig mit Herren
zweifelhaften Rufes herum.
Zu einer persönlichen Exploration liess sich Pat. nicht herbei. Er ent-
schuldigte dies schriftlich damit, dass er eine solche für aussichtslos halte, da
der Trieb zum eigenen Geschlecht seit früher Kindheit bei ihm bestehe und
angeboren sei. Er habe von jeher Horror feminae gehabt, niemals es über sich
gebracht, die Reize eines Weibes zu kosten. Dem Manne gegenüber fühle er
sich in männlicher Rolle. Er erkennt seinen Trieb zum eigenen Geschlecht
als abnorm an, entschuldigt seine sexuellen Ausschreitungen mit seiner krank-
haften Naturanlage.
X. lebt seit seiner Flucht aus Deutschland im Süden Italiens, und wie
ich aus einem Briefe desselben entnehme, huldigt er nach wie vor der urnischen
Liebe. X. ist ein ernster, stattlicher Mann von durchaus männlichen Zügen,
stark bebartet, mit normal entwickelten Genitalien. Dr. X. stellte mir vor
Kurzem seine Autobiographie zur Verfügung, aus welcher Folgendes mitgetheilt
zu werden verdient. „Als ich mit 7 Jahren in eine Privatschule eintrat, fühlte
ich mich im höchsten Grade unbehaglich und fand bei meinen Mitschülern
sehr wenig Entgegenkommen. Nur zu einem derselben, der ein sehr hübsches
Kind war, fühlte ich mich hingezogen und liebte ich ihn fast stürmisch. In
den kindlichen Spielen wusste ich es immer so einzurichten, dass ich in
Mädchenkleidern erscheinen konnte, und das grösste Vergnügen war für mich,
unseren Dienstmädchen recht complicirte Coiffüren zu machen. Oft bedauerte
ich, kein Mädchen zu sein.
Mein Geschlechtstrieb erwachte, als ich 13 Jahre alt war, und richtete
sich vom Moment seines Entstehens an auf jugendliche, kräftige Männer. An-
fangs war ich mir eigentlich gar nicht darüber klar, dass dies eine Abnormität
sei; das Bewusstsein derselben kam aber, als ich sah und hörte, wie meine
Altersgenossen in geschlechtlicher Beziehung beschaffen waren. Ich fing mit
13 Jahren an zu onaniren. Mit 17 Jahren verliess ich das Elternhaus und
besuchte das Gymnasium einer grösseren Hauptstadt, wo ich als Pensionär zu
einem verheiratheten Gymnasiallehrer gebracht wurde, mit dessen Sohn ich in
der Folge geschlechtlichen Umgang hatte. Es war dies das erste Mal, dass
ich geschlechtliche Befriedigung empfand. Ich lernte in der Folge dort einen
jungen Künstler kennen, der sehr bald merkte, dass ich abnorm geartet war,
und der mir gestand, dass bei ihm dasselbe der Fall sei. Ich erfuhr durch
denselben, dass diese Abnormität sehr häufig vorkomme, und diese Mittheilung
machte meine, mich oft tief betrübende Meinung, ich sei allein abnorm, hin-
fällig. Dieser junge Mann hatte einen ausgedehnten Kreis gleichartiger Be-
Homosexuale oder Urninge. 265
kannter, in welchen er mich einführte. Dort wurde ich der Gegenstand all-
seitiger Aufmerksamkeit, da ich körperlich, wie allseitig behauptet wurde, sehr
vielversprechend war. Ich wurde bald von einem älteren Herrn abgöttisch
geliebt, fand indessen denselben nicht nach meinem Geschmack und erhörte
ihn nur auf kurze Zeit, um dann einem jüngeren, sehr schönen Offizier,
der mir zu Füssen lag, Gehör zu schenken. Dieser war eigentlich meine
erste Liebe.
Nachdem ich mit 19 Jahren das Maturitätsexamen absolvirt hatte, lernte
ich, vom Zwang der Schule befreit, eine grosse Anzahl von mir gleich- oder
ähnlichgearteten Leuten kennen, darunter Karl Ulrichs (Numa Numantius).
Als ich später zum Studium der Medicin überging und mit vielen
normalgearteten jungen Leuten verkehrte, war ich öfters in der Lage, der
Aufforderung, zu öffentlichen Dirnen zu gehen, Folge leisten zu müssen. Nach-
dem ich bei verschiedenen zum Theil sehr schönen Frauenzimmern mich gründ-
lich blamirt hatte, verbreitete sich unter meinen Bekannten die Ansicht, ich
sei impotent, und ich gab diesem Gerede durch Erzählung von angeblichen
ehemaligen übertriebenen Leistungen bei Frauenzimmern Nahrung. Ich hatte
damals eine Menge auswärtiger Beziehungen, die in ihren Kreisen dermassen
meine Körperbeschaffenheit priesen, dass ich weithin für eine hervorragende
Schönheit galt. Dies hatte zur Folge, dass alle Augenblicke Jemand zu-
gereist kam und mir eine solche Menge von Liebesbriefen zugingen , dass
ich dadurch öfters in Verlegenheit gerieth. Den Höhepunkt erreichte diese
Situation, als ich später, als einjähriger Arzt, im Lazareth wohnte. Dort
ging es aus und ein wie bei einer gefeierten Persönlichkeit, und die Eifer-
suchtsscenen , die sich um meinetwillen dort abspielten, hätten fast zur Ent-
deckung der ganzen Geschichte geführt. Kurz nachher erkrankte ich an einer
Schultergelenksentzündung, von der ich erst nach drei Monaten genas. Im
Verlauf derselben hatte ich mehrmals täglich subcutane Morphiuminjectionen
erhalten, die mir plötzlich entzogen wurden und welche ich im Geheimen nach
meiner Genesung fortsetzte. Zum Zwecke specieller Studien hielt ich mich
vor meinem Eintritt in die selbständige Praxis einige Monate in Wien auf,
wo ich durch einige Empfehlungen in verschiedenen Kreisen von mir Gleich-
gearteten Zutritt hatte. Ich machte dort die Beobachtung, dass die in Frage
stehende Abnormität in ihren sehr verschiedenen Arten in den unteren Volks-
schichten ebenso verbreitet ist, wie in den höheren, sowie dass Diejenigen,
welche gewerbsmässig, gegen Bezahlung zugänglich sind, auch in den höheren
Klassen nicht selten getroffen werden.
Als ich als Arzt auf dem Lande mich ansässig machte, hoffte ich, ver-
mittelst des Cocains das Morphium los werden zu können, und verfiel so dem
Cocainismus, der sich bei mir erst nach drei Recidiven dauernd beseitigen Hess
(vor l3/* Jahren). In meiner Stellung war es mir unmöglich, geschlechtliche
Befriedigung zu finden, und ich nahm deshalb mit Vergnügen wahr, dass der
Cocaingebrauch das Erlöschen der Begierden zur Folge hatte. Als ich das
erste Mal unter der energischen Pflege meiner Tante vom Cocainismus befreit
war, verreiste ich auf einige Wochen, um mich zu erholen. Die perversen
Begierden waren wieder in ihrer ganzen Stärke erwacht, und als ich eines
Abends mit einem Manne im Freien vor der Stadt mich amüsirt hatte, wurde
mir Tags darauf vom Staatsanwalt eröffnet, dass ich beobachtet und zur Anzeige
266 . Paraesthesia sexualis.
gebracht worden sei, dass aber die mir zur Last gelegte Handlung nicht strafbar
sei, gemäss eines Beschlusses des obersten Gerichtshofes im Deutschen Reiche.
Ich solle indess mich in Acht nehmen, da bereits die Mittheilung von dem
Vorfall in weiteste Kreise gedrungen sei. Ich sah mich genöthigt, Deutschland
nach diesem Ereigniss zu verlassen und eine neue Heimath dort zu suchen,
wo weder das Gesetz noch die öffentliche Meinung Dem entgegen stehen, was,
wie wohl alle abnormen Triebe, von der Willenskraft nicht unterdrückt werden
kann. Da ich keinen Augenblick darüber im Unklaren war, dass meine Nei-
gungen zu den socialen Anschauungen im Gegensatz stehen, so versuchte ich
wiederholt, derselben Herr zu werden, indessen steigerte ich dieselben nur
hierdurch, und die gleiche Beobachtung wurde mir von Bekannten mitgetheilt.
Da ich mich ausschliesslich zu kräftigen, jugendlichen und vollständig männ-
lichen Individuen hingezogen fühlte, solche aber nur in den seltensten Fällen
meinen Wünschen geneigt sich zeigten, so war ich oft darauf angewiesen, mir
dieselben zu erkaufen. Da indess meine Wünsche sich auf Personen der nie-
deren Klasse beschränken, so fand ich stets solche, die für Geld zu haben
waren. Ich hoffe, dass die nun folgenden Eröffnungen Ihren Unwillen nicht
wachrufen, ich wollte dieselben ursprünglich unterlassen, allein der Vollständig-
keit dieser Mittheilungen halber muss ich sie beifügen, da sie dazu dienen
dürften, die Casuistik zu bereichern. Ich habe das Bedürfniss, den sexuellen
Akt folgendermassen zu vollziehen:
Pene iuvenis in os recepto, ita ut commovendo ore meo effecerim, ut
is quem cupio, semen eiaculaverit, sperma in perinaeum exspuo, femora com-
primi jubeo et penem meum adversus et intra femora compressa immitto. Dum
haec fiunt, necesse est, ut iuvenis me, quantum potest, amplectatur. Quae
prius me fecisse narravi, eandem mihi afferunt voluptatem, acsi ipse ejaculo.
Ejaculationem pene in anum immittendo vel manu terendo assequi, mihi
nequaquam amoenum est.
Sed inveni, qui penem meum receperint atque ea facientes quae suj>ra
exposui, effecerint, ut libidines meae plane sint saturatae.
Bezüglich meiner Person muss ich noch Folgendes erwähnen: Ich bin
186 cm hoch, von vollständig männlichem Habitus, und, abgesehen von einer
abnormen Reizbarkeit der Haut, gesund. Ich habe sehr dichtes blondes Kopf-
haar, ebensolchen Bartwuchs. Meine Geschlechtstheile sind von mittlerer Stärke
und normal gebaut. Ich bin im Stande, ohne Ermüdung zu spüren, 4— 6mal
innerhalb 24 Stunden den geschilderten geschlechtlichen Akt zu vollziehen.
Meine Lebensweise ist sehr regelmässig. Alkohol und Tabak geniesse ich
sehr massig. Ich spiele ziemlich gut Klavier und einige kleine Kompositionen
von mir haben viel Beifall gefunden. Vor Kurzem habe ich einen Roman be-
endigt, der, als Erstlingswerk, günstig in meinen Kreisen beurtheilt wird. Der-
selbe hat mehrere Probleme aus dem Leben der Conträrsexualen zum Gegenstand.
Bei der grossen Anzahl der mir persönlich bekannten Leidensgenossen
war ich natürlich oft in der Lage, Betrachtungen über die verschiedenen Arten
von Abnormitäten anzustellen, vielleicht ist Ihnen mit den nachfolgenden Mit-
theilungen gedient.
Das Abnormste, was ich kennen lernte, war die Gepflogenheit eines Herrn
aus der Umgebung von Berlin. Is iuvenes sordidos pedes habentes aliis prae-
fert, pedes eorum quasi furibundus lambit. Diesem ganz ähnlich verhält sich
Homosexuale oder Urninge. 267
ein Herr in Leipzig, qui linguain in anum coeno iniquatum, quod ei gratis-
simum est, immittere narratur. In Paris existirt ein Herr, welcher einen
meiner Freunde nöthigte ut in os ei mingat. Verschiedene sollen, wie mit-
bestimmt versichert wird, durch den Anblick von Reiterstiefeln, von militäri-
schen Uniformstücken in solche Ekstase gerathen, dass bei ihnen spontane
Samenergüsse erfolgen.
Bis zu welchem Grade Manche sich als Weib fühlen, was bei mir nicht
der Fall ist, davon geben besonders in Wien zwei Persönlichkeiten ein Beispiel.
Dieselben führen weibliche Namen; die eine ist ein Friseur, der sich die „fran-
zösische Laura" nennt, die andere ist ein ehemaliger Metzger, der die
„ Selcher-Fanny " heisst. Beide versäumen im Fasching keine Gelegenheit, um
als weibliche, stets sehr outrirte Masken sich zu zeigen. In Hamburg existirt
eine Persönlichkeit, von welcher manche Leute glauben, dass sie ein Weib sei,
weil sie in ihrer Wohnung stets weiblich gekleidet geht, nur hie und da das
Haus, und zwar in ebensolcher Kleidung, verlässt. Dieser Herr wollte sich
sogar bei einer Taufe als Pathin ausgeben und erregte hierdurch einen riesigen
Skandal.
Weibliche Untugenden, Klatschsucht, Unzuverlässigkeit , Charakter-
schwäche sind bei derartigen Individuen Regel.
Es sind mir mehrere Fälle von perverser Geschlechtsrichtung bekannt,
bei welchen Epilepsie und Psychosen vorhanden sind; auffallend oft bestehen
Hernien. In der Praxis wendeten sich, da ich von Freunden empfohlen wurde,
mehrere Personen mit Erkrankungen des Anus an mich. Ich sah zwei syphi-
litische und einen localen Schanker, mehrere Fissuren und behandle gegen-
wärtig einen Herrn mit spitzen Condylomen am Anus, welche eine fast faust-
grosse, blumenkohlförmige Geschwulst bilden. Einen Fall von primärer Affection
des weichen Gaumens sah ich in Wien bei einem jungen Mann, der als Frauen-
zimmer verkleidet Maskenbälle besuchte und dort junge Männer abseits lockte.
Er gab dann vor, die Periode zu haben, und brachte es so zu Wege, dass die
Anderen ihn per os benutzten. Er soll auf diese Weise einmal 14 Leute ge-
ködert haben an ein und demselben Abend. Da ich in keiner der mir zu
Gesicht gekommenen, auf conträren Sexualismus bezüglichen Veröffentlichungen
über den Verkehr der Päderasten unter einander etwas fand , so möchte ich
Ihnen zum Schluss hierüber noch Einiges mittheilen.
Sobald Conträrsexualisten mit einander bekannt werden, findet ein aus-
führlicher Austausch ihrer bisherigen Erlebnisse, Liebschaften und Eroberungen
statt, soweit eine solche Unterhaltung durch die gesellschaftlichen Unterschiede
beider nicht ausgeschlossen ist. Nur in ganz wenigen Fällen unterblieb diese
Unterhaltung mit neuen Bekannten. Unter einander bezeichnen sich die Con-
trärsexualisten als „Tanten", in Wien als „Schwestern", und zwei sehr männlich
aussehende Wiener öffentliche Dirnen, die ich zufällig kennen lernte und die
zu einander in conträrsexualer Beziehung standen, erzählten mir, dass für die
entsprechende Erscheinung bei Weibern der Name „Onkel" gebräuchlich ist.
Ich bin, seit ich mir meines abnormen Triebes bewusst bin, mit weit über
tausend Gleichgearteten in Berührung getreten. Fast jede grössere Stadt besitzt
irgend einen Versammlungsort, sowie einen sogenannten Strich. In kleineren
Städten finden sich verhältnissmässig wenige „Tanten", doch fand ich in einem
Städtchen von 2300 Einwohnern acht, in einem von 7000 Einwohnern 18, von
2(j8 Paraesthesia sexualis.
denen ich es ganz sicher wusste, ganz abgesehen von denen, die ich im Ver-
dacht hatte. In meiner Vaterstadt von etwa 30 000 Einwohnern sind mir etwa
120 »Tanten" persönlich bekannt. Die meisten, ich speziell in höchstem Grade,
besitzen die Fähigkeit, sofort einen Anderen zu beurtheilen, ob er gleichartig
ist oder nicht, wie es in der „ Tantensprache " heisst, „vernünftig oder unver-
nünftig". Meine Bekannten erstaunten oft darüber, wie gross die Sicherheit
meines Blickes hierfür ist. Scheinbar ganz männlich organisirte Individuen
erkannte ich auf den ersten Blick als „ Tanten". Andererseits besitze ich die
Fähigkeit, dermassen männlich mich zu benehmen, dass in Kreisen, in welchen
ich durch Bekannte empfohlen war, schon Zweifel an meiner „Echtheit" laut
wurden. Wenn ich in der Laune dazu bin, kann ich mich vollständig wie ein
Frauenzimmer benehmen.
Da die meisten „Tanten", auch ich, ihre Abnormität keineswegs als
Unglück empfinden, sondern bedauern würden, wenn dieser Zustand sich ändern
würde, da ferner der angeborene Zustand nach meiner und aller Anderen
Ueberzeugung nicht beeinflussbar ist, so geht unser ganzes Hoffen darauf hin,
dass es zu einer Abänderung der bezüglichen Strafgesetzparagraphen kommen
möge, in dem Sinne, dass nur Nothzucht oder Erregung öffentlichen Aerger-
nisses, wenn diese gleichzeitig zu constatiren sind, als straffällig erachtet
werden sollen.
3) Effeminatio.
Zu dieser Stufe finden sich mehrfache Ueberg'änge aus - der
vorigen, charakterisirt durch das Mass, in welchem die psychische
Persönlichkeit, speciell ihre gesammte Gefühlsweise und ihre Nei-
gungen, von der abnormen geschlechtlichen Empfindungsweise be-
einflusst sind. Ausgebildete männliche Fälle der 3. Gruppe fühlen
sich weiblich dem Manne gegenüber. Diese Abnormität in der
Gefühlsweise und in der charakterologischen Entwicklung zeigt sich
vielfach schon in den Kinderjahren. Der Knabe liebt es, in Ge-
sellschaft kleiner Mädchen zu verweilen, mit Puppen zu spielen, der
Mama in der Besorgung der Hausgeschäfte zu helfen ; er schwärmt
für Kochen, Nähen, Sticken, entwickelt Geschmack in der Auswahl
von weiblichen Toiletten, so dass er sogar darin der Rathgeber
seiner Schwestern werden kann. Herangewachsen verschmäht er
Rauchen, Trinken, männlichen Sport, findet dagegen Gefallen an
Putz, Schmuck, Kunst, Belletristik u. s. w., bis zur Schöngeisterei.
Insofern das Weib derartige Richtungen vertritt, zieht er es vor,
in Damengesellschaft zu verkehren.
Kann er bei einer Maskerade in weiblicher Rolle erscheinen,
so ist dies seine höchste Lust. Dem Geliebten sucht er zu gefallen,
indem er so zu sagen instinktiv das zu bieten anstrebt, was dem
Effeminatio. 269
weibliebenden Manne am anderen Geschlecht gefällt — Züchtigkeit,
Anmuth, Sinn für Aesthetik, Poesie u. s. w. Vielfach zeigen sich
auch Bestrebungen, in Gang, Haltung, Zuschnitt der Kleider sich
der weiblichen Erscheinung zu nähern.
Was die sexuellen Gefühle und Triebe dieser auch im ganzen
psychischen Wesen mitbetroffenen Urninge betrifft, so fühlen sie
sich ausnahmslos in weiblicher Rolle dem Mann gegenüber. Sie
fühlen sich demgemäss abgestossen von gleichgearteten Personen
des eigenen Geschlechts, da diese ja ihre Concurrenten sind, da-
gegen hingezogen zu einfach Homosexualen oder sexuell Normalen
ihres eigenen Geschlechts. Dieselbe Eifersucht, welche im normalen
sexuellen Leben vorkommt, findet sich auch hier, wenn ihrer Liebe
Concurrenz droht, ja, da sie sexuell meist hyperästhetisch sind, ist
diese Eifersucht oft eine grenzenlose.
Bei vollkommen entwickelter conträrer Sexualität erscheint
heterosexuale Liebe als eine ganz unverständliche Sache, ein sexueller
Verkehr mit einer Person des anderen Geschlechts undenkbar, un-
möglich. Ein bezüglicher Versuch scheitert an der eine Erection
unmöglich machenden Hemmungsvorstellung des Ekels, selbst
Grausens. Nur 2 Uebergangsfälle zur 3. Kategorie aus meiner
Casuistik vermochten unter Zuhülfenahme ihrer Phantasie, indem
sie sich das betreffende Weib als Mann dachten, zeitweise zu coha-
bitiren, aber der für sie inadäquate Akt war ihnen ein grosses
Opfer und ohne jeglichen Genuss.
Im homosexualen Verkehr fühlt sich der Effeminirte beim
Akt immer als Weib. Die Praktiken desselben sind bei reizbarer
Schwäche des Ejaculationscentrums einfach Succubus oder Coitus
passiv inter femora, andernfalls passive Masturbation oder ejaculatio
viri dilecti in ore. Manche sehnen sich nach passiver Päderastie.
Gelegentlich kommt Wunsch nach aktiver vor. In einem bezüg-
lichen Versuche stand der Betreffende davon ab, weil ihn Ekel bei
dem ihn an Coitus erinnernden Akt erfasste.
Nie bestand Inclination zu unreifen Personen
(Knabenliebe!). In nicht seltenen Fällen blieb es bei platonischen
Neigungen.
Beobachtung 112. Autobiographie. Nachstehend erhalten Sie die
Schilderung des Charakters, sowie des seelischen und geschlechtlichen Em-
pfindens eines Urnings, d. h. eines Individuums, welches trotz seines männlichen
Körperbaues durchaus weiblich fühlt, dessen Sinne die Weiber nicht im Min-
desten erregen und dessen sexuelles Sehnen sich stets auf Männer richtet.
270 Paraesthesia sexualis.
Von der Ueberzeugung durchdrungen, dass das Räthsel unseres Daseins
nur durch vorurtheilslos denkende Männer der Wissenschaft gelöst oder min-
destens beleuchtet werden kann, schildere ich meinen Lebenslauf einzig und
allein in der Absicht, hierdurch vielleicht etwas zur Erhellung dieses grau-
samen Irrthums der Natur beizutragen und so möglicher Weise meinen Schick-
salsgenossen späterer Generation von Nutzen sein zu können; denn Urninge
wird es geben, so lange Menschen geboren werden, gleichwie es eine unfehl-
bare Thatsache ist, dass solche in jedem Zeitalter existirten. Doch mit dem
Vorschreiten der wissenschaftlichen Bildung unserer Epoche wird man in mir
und meinesgleichen nicht Hassenswerthe, sondern Bedauernswürdige erblicken,
die nie die Verachtung, sondern weit eher das höchste Mitleid ihrer glück-
lichen Nebenmenschen verdienen. Ich werde mich in meinen Mittheilungen
der möglichsten Kürze, sowie der strengsten Objectivität befleissigen und
bemerke bezüglich meines drastischen, oft sogar cynischen Styls, dass ich
vor allem wahr sein will, daher starken Ausdrücken nicht aus dem Wege
gehe, weil diese den von mir erörterten Gegenstand am treffendsten cha-
rakterisiren.
Ich bin 34 V« Jahre alt, Kaufmann mit massigem Einkommen, etwas
über Mittelgrösse, mager, habe keine starken Muskeln, ein vollbärtiges, ganz
gewöhnliches Dutzendgesicht und unterscheide mich auf den ersten Anblick
in nichts von wirklichen Männern. Dagegen ist der Gang weibisch, nament-
lich bei raschem Gehen tänzelnd, die Bewegungen eckig und ungefällig, jeg-
licher männlichen Anmuth entbehrend. Das Sprachorgan ist weder weibisch
noch schrill, eher von barytonaler Klangfarbe.
Dies mein äusserer Habitus.
Ich rauche und trinke nicht, kann weder pfeifen, reiten, turnen, fechten
noch schiessen, interessire mich gar nicht für Pferde oder Hunde und habe
nie ein Gewehr oder einen Säbel in der Hand gehabt. Im inneren Empfinden
und geschlechtlichen Verlangen bin ich vollständig Weib. Ohne jede tiefere
Bildung — ich absolvirte bloss fünf Gymnasialklassen — bin ich gleichwohl
intelligent, lese gern gut geschriebene, gediegene Bücher, verfüge über gesundes
Urtheil, lasse mich aber stets von der momentanen Stimmung fortreissen und
bin von Jedem, der meine Schwächen kennt und sie auszunützen versteht, leicht
zu behandeln oder zu capacitiren. Stets Entschlüsse fassend, finde ich nie die
Energie, diese auszuführen, bin nach Weiberart launenhaft und nervös, oftmals
ohne jeden Grund gereizt , zuweilen boshaft und Personen gegenüber, die mir
nicht zu Gesichte stehen, oder denen ich etwas nachtrage, arrogant, ungerecht,
oft sogar in unverschämter Weise verletzend.
In meinem ganzen Thun und Lassen bin ich oberflächlich, oft leicht-
fertig, kenne kein tieferes sittliches Gefühl, hege wenig Zärtlichkeit für Eltern
und Geschwister, bin nicht egoistisch, bei Gelegenheit aufopferungsfähig, kann
Thränen nie widerstehen und bin durch liebenswürdiges Entgegenkommen oder
inniges herzliches Bitten — nach Weiberart — für Alles zu gewinnen.
Schon in meinen früheren Lebensjahren zog ich mich von den Kriegs-
spielen, Turnübungen oder Raufereien meiner männlichen Altersgenossen zurück,
trieb mich stets mit kleinen Mädchen herum, mit denen ich viel besser als
mit Knaben sympathisirte, war schüchtern, verlegen und oft erröthend. Be-
reits mit 12 — 13 Jahren verursachte mir die straffsitzende Uniform eines
Effeminatio. 271
hübschen Soldaten die sonderbarsten Beklemmungen; und während in den
nächsten Jahren meine Schulgenossen stets von Mädchen plauderten, wohl
auch schon kleine Liebeleien begannen, war ich im Stande, einem kraftvoll
gebauten Manne mit gut entwickelten, üppigen Posteriora Stunden lang nach-
zugehen und mich an diesem Anblick zu berauschen.
Ohne über diese — von den Empfindungen meiner Kameraden so sehr
verschiedenen — Eindrücke viel nachzudenken, begann ich zu onaniren, dabei
stets an heldenhaft gebaute, fesche Gestalten denkend, bis ich in meinem
17. Jahre von einem Schicksalsgenossen über meinen wahren Zustand aufge-
klärt wurde. Seit damals habe ich wohl 8 — lOmal mit Mädchen zu thun
gehabt, musste jedoch, um die Erection hervorzurufen, stets an ein mir be-
kanntes schönes männliches Individuum denken, und hin der festen Ueber-
zeugung, dass ich heute, selbst mit Zuhilfenahme meiner Phantasie, nicht im
Stande wäre, ein Mädchen zu gebrauchen. Kurz nach meiner Entdeckung ver-
kehrte ich am liebsten mit bejahrten, kräftigen Urningen, da ich zu jener Zeit
weder Verstand noch Gelegenheit hatte, mit wirklichen Männern umzugehen.
Seither hat sich jedoch mein Geschmack vollständig geändert, und nur Männer,
wirkliche Männer, im Alter von 25 — 35 Jahren, mit elastischen, kräftigen
Formen sind es, die meine Sinne aufs Höchste erregen und deren Reize mich
ganz so entzücken, als wäre ich ein wirkliches Weib. Die Verhältnisse liegen
hier derart, dass ich mir im Laufe der Jahre etwa ein Dutzend Männer-
bekanntschaften acquiriren konnte, die gegen ein Honorar von 1 — 2 Gulden
per Besuch meinen Zwecken dienen. — Bin ich mit so einem schmucken Jungen
im versperrten Zimmer allein, gewährt es mir vor Allem das grösste Vergnügen,
membrum ejus vel maxime si magnum atque crassum est, manibus capere et
apprehendere et premere, turgentes nates femoraque tangere atque totum
corpus manibus contrectare et, si conceditur, os faciem atque totum corpus,
immovero nates, ardentibus osculis obtegere. Quodsi membrum magnum pu-
rumque est, dominusque ejus mihi placet, ardente libidine mentulam ejus in
os meum receptam complures horas sugere possum, neque autem delec-
tor, si semen in os meum ejaculatur, cum maxima eorum qui „Urninge"
nominantur pars hac re non modo delectatur, sed etiam semen nonnunquam
devorat.
Die intensivste Wollust jedoch empfinde ich, wenn ich auf einen derart
dressirten wirklichen Mann treffe, qui membrum meum in os recipit et erec-
tionem in ore suo concedit.
So unwahrscheinlich es klingt, so finde ich dennoch immer einige fesche
Kerle, die sich für ein Douceur hierzu brauchen lassen. Diese lernen die Ge-
schichte gewöhnlich beim Militär kennen, da die Urninge wissen, dass man
dort für Geld am willfährigsten ist, und wenn der Bursche einmal dressirt ist,
wird er manchmal durch Umstände veranlasst, die Sache trotz seiner Leiden-
schaft fürs weibliche Geschlecht auch weiter mitzumachen.
Urninge lassen mich mit einzelnen Ausnahmen kalt, weil mich alles
Weibische in höchstem Grade abstösst. Dennoch gibt es unter ihnen einige,
die mich ganz so entzücken können wie ein wirklicher Mann und mit denen
ich aus dem Grunde noch lieber verkehre, weil sie zuweilen meine glühenden
Liebkosungen ebenso leidenschaftlich erwidern. Im tete-ä-tete mit einem der-
artigen Individuum legte ich meinen erregten Sinnen keine Fesseln an, gestatte
272 Paraesthesia sexualis.
meinen thierischen Instinkten freies Austoben: osculor, prenio, amplector eum
linguam meam in os ejus immitto; ore cupiditate tremente ejus labrum superius
sugo, faciem meam ad ejus nates adpono et odore voluptari e natibus emanente
voluptate obstupescor. Wirkliche Männer in stramm sitzender Uniform machen
den grössten Eindruck auf mich, und habe ich Gelegenheit, einen solchen
Prachtkerl zu umarmen und zu küssen, zieht dies bei mir die sofortige Eja-
culation nach sich, was ich namentlich meinem häufigen Onaniren zuschreibe.
Denn dies that ich hauptsächlich in früheren Jahren sehr oft, fast jedesmal,
wenn ich einen mir gefallenden festen Kerl sah, dessen Bild mir dann während
des Onanirens vor Augen schwebte. Dabei ist mein Geschmack keineswegs
difficil, etwa wie derjenige eines Dienstmädchens, das sich in einem strammen
Dragonerwachtmeister ihr Ideal erträumt. Schönes Gesicht ist wohl eine an-
genehme Beigabe, zum Entflammen meiner sinnlichen Gefühle jedoch keines-
wegs unerlässlich, die Hauptsache aber bleibt: vir inferiore corporis parte
robusta et bene formosa , turgidis femoribus durisque natibus , während der
Oberkörper schlank sein kann. Ein starker Bauch disgustirt mich, sinn-
licher Mund mit frischen Zähnen regt mich aufs Prickelndste an, und hat ein
solches Individuum ausserdem ein membrum pulchrum magnum et aequaliter
formatum, so sind alle meine — auch weitestgehenden — Ansprüche vollauf
befriedigt.
Bei mir gefallenden, mich leidenschaftlich erregenden Männern erfolgte
die Ejaculation in früheren Jahren 5 — 8mal während einer Nacht, auch jetzt
noch 4 — 6mal, da ich ungewöhnlich geil und sinnlich veranlagt bin, und mich
beispielsweise schon das Säbelklirren eines flotten Husaren erregen kann. Da-
bei besitze ich eine sehr lebhafte Phantasie, denke fast in allen unbeschäftigten
Stunden an schöne Männer mit starken Gliedern und würde mit Entzücken
zuschauen wenn ein von Kraft strotzender fester Kerl magna mentula prae-
ditus me praesente puellam futuat; mihi persuasum est, fore ut hoc aspectu
sensus mei vehementissima perturbatione afficiantur et dum futuit corpus
adolescentis pulchri tangam et, si liceat, ascendam in eum dum cum puella
concumbit atque idem cum eo faciam et membrum meum in eius anum im-
mittam. An der Ausführung dieser cynischen Pläne — von denen meine Ge-
danken sehr oft erfüllt sind — hindern mich derzeit nur meine beschränkten
finanziellen Mittel, sonst hätte ich diese längst verwirklicht.
Militär übt den grössten Zauber auf mich aus, doch habe ich ausser-
dem ein besonderes Faible für Fleischhauer, Fiaker, Fuhrwerkleute, Circus-
reiter und Schiffscapitäns, doch müssen diese alle elastisch und kraftvoll ge-
baut sein. Urninge sind mir für intimen Freundschaftsverkehr verhasst, wie
ich gegen den grössten Theil derselben eine mir unerklärliche, ganz ungerecht-
fertigte Aversion hege. Auch habe ich mit einer einzigen Ausnahme nie zu
einem Urning in ganz innigem Freundschaftsverhältniss gestanden. Dagegen
knüpfen mich die herzlichsten langjährigen Beziehungen an einige gleichartige
Männer, in deren Gesellschaft ich mich sehr wohl fühle, mit denen ich aber
geschlechtlich nie verkehrte und die von meinem Zustand keine Ahnung haben.
Gespräche über Politik, Volkswirthschaft, wie überhaupt jede Erörterung
eines ernsten Themas sind mir verhasst, dagegen schwatze ich mit ziemlichem
Verständniss und besonderer Vorliebe übers Theater. In Opern sehe ich mich
selbst auf der Bühne, fühle mich vom Beifall des mich fetirenden Publikums
Homosexuale oder Urninge. 273
umbraust und würde mit Vorliebe passive Heldinnen darstellen oder dramatische
Frauenrollen singen.
Der interessanteste Gesprächsstoff für mich und meine Schicksalsgenossen
sind aber stets unsere — Männer; dieses Thema ist für uns unerschöpflich;
die geheimsten Reize derselben werden aufs Minutiöseste geschildert, mentulae
aestimantur, quanta sint magnitudine, quanta crassitudine; de forma earum
atque rigiditate conferimus, alter ab altero cognoscit cuius semen celerius,
cuius tardius ejaculetur. Ich erwähne noch, dass von meinen vier Brüdern
der eine sich zu urningischen Zwecken brauchen Hess, ohne selbst ein Urning
zu sein, und sind alle vier leidenschaftliche Frauenfreunde, die fortwährend
geschlechtliche Excesse verüben. Die Genitalien der Männer unserer Familie
sind ausnahmslos stark entwickelt.
Zum Schlüsse wiederhole ich die Worte, mit denen ich diese Zeilen
begann. Ich konnte meine Ausdrücke nicht wählen, weil es mir darum zu
thun war, in Vorliegendem das Material zur Studie einer urningischen Existenz
zu liefern, wobei es in erster Linie auf absolute Wahrheit ankommt. Diesem
Umstände bitte ich die zahlreichen Cynismen zu gute zu halten.
Im October 1890 stellte sich mir der Schreiber vorstehender Zeilen vor.
Sein Aeusseres entsprach im Wesentlichen seiner Schilderung. Genitalien gross,
reich behaart. Eltern seien nervengesund gewesen, ein Bruder habe sich
erschossen wegen Nervenleidens, drei andere seien hochgradig nervös. Pat.
besucht mich in verzweifelter Stimmung. Er ertrage ein solches Leben nicht
mehr, denn er sei angewiesen auf den Verkehr mit käuflichen Männern, ver-
möge bei seiner extremen sinnlichen Veranlagung nicht Abstinenz zu üben und
könne auch nicht begreifen, wie er weibliebend und zu edleren Freuden des
Lebens fähig gemacht werden könnte. Habe er doch schon mit 13 Jahren
mannmännlich empfunden.
Er fühle sich durchaus als Weib und sehne sich nach Eroberungen bei
Männern, die nicht Urninge sind. Wenn er mit einem Urning zusammen sei,
so sei es geradeso, wie wenn zwei Frauenzimmer zusammen wären. Er möchte
lieber geschlechtslos sein, als so weiter zu existiren. Ob denn nicht Castration
für ihn erlösend wäre?
Ein Versuch der Hypnose erzielt bei dem höchst erregten Pat. nur ganz
leichtes Engourdissement.
Beobachtung 113. B., Kellner, 42 Jahre, ledig, wurde mir von seinem
Hausarzt, in den er verliebt war, als an conträrer Sexual emp findung leidend
zugeschickt. B. gab bereitwillig, in decenter Weise, Auskunft über Vita ante-
acta und speciell sexualis, froh, endlich einmal eine autoritative Auskunft
über seine sexuellen Zustände zu bekommen, die ihm von jeher krankhaft
erschienen seien.
B. weiss von seinen Grosseltern nichts zu berichten. Der Vater sei ein
jähzorniger, aufgeregter Mann gewesen, Potator, von jeher sexuell sehr
bedürftig. Nachdem er 24 Kinder mit derselben Frau erzeugt, habe er sich
von ihr scheiden lassen, und noch 3mal seine Wirthschafterin geschwängert.
Die Mutter sei gesund gewesen.
Von den 24 Geschwistern seien nur noch 6 am Leben, mehrere nervenkrank,
aber nicht sexuell abnorm, bis auf eine Schwester, die von jeher mannssüchtig sei.
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 18
274 Paraesthesia sexualis.
B. will von Kindesbeinen an kränklich gewesen sein. Schon mit 8 Jahren
sei sein Geschlechtsleben erwacht. Er habe masturbirt und sei auf die Idee
verfallen, penem aliorum puerorum in os arrigere, was ihm grossen Genuss
gewährt habe. Mit 12 Jahren fing er an, sich in Männer zu verlieben, am
meisten in solche in den 30er Jahren mit Schnurrbart. Schon damals sei sein
sexuelles Bedürfniss sehr entwickelt gewesen und habe er Erectionen und
Pollutionen gehabt. Von da an habe er wohl täglich masturbirt und sich
dabei einen geliebten Mann gedacht. Sein Höchstes sei aber gewesen penem
viri in os arrigere. Dabei habe er unter grösster Wollust Ejaculation be-
kommen. Nur etwa 12mal sei ihm dieser Genuss bisher zu Theil geworden.
Ekel vor dem Penis Anderer habe er bei ihm sympathischen Männern nie
empfunden, im Gegentheil. Offerten zur Päderastie, die ihm sowohl aktiv
als passiv höchst ekelhaft sei, habe er nie acceptirt. Beim perversen Ge-
schlechtsakt habe er sich immer in der Rolle des Weibes gedacht. Seine Ver-
liebtheit in ihm sympathische Männer sei grenzenlos gewesen. Alles hätte er
für seine Geliebten thun mögen. Er habe vor Aufregung und Wollust ge-
zittert, wenn er ihrer nur ansichtig wurde.
Mit 19 Jahren Hess er sich von Kameraden öfters verführen, ins Lupanar
mitzugehen. Er habe nie Spass am Coitus gehabt und nur im Moment der
Ejaculation eine Befriedigung verspürt. Um Erection beim Weib zu bekommen,
habe er sich immer einen geliebten Mann beim Akt vorstellen müssen. Am
Liebsten wäre es ihm gewesen, wenn das Weib immissio penis in os gestattet
hätte, was ihm aber immer versagt blieb, Faute de mieux habe er Coitus
geübt, sei sogar 2mal Vater geworden. Das letzte Kind, ein Mädchen von
8 Jahren, fange bereits an, Masturbation und mutuelle Onanie zu treiben,
was ihn als Vater sehr betrübe. Ob es denn dagegen keine Abhilfe gebe?
Pat. versichert, dass er sich Männern gegenüber immer in einer weib-
lichen Rolle (auch bei sexuellem Verkehr) gefühlt habe. Er habe sich immer
gedacht, seine sexuelle Perversion sei dadurch entstanden, dass sein Vater,
als er ihn zeugte, ein Mädchen zeugen wollte. Seine Geschwister haben ihn
auch immer wegen seiner weiblichen Manieren verspottet. Zimmerauskehren,
Abwaschen sei ihm immer eine angenehme Beschäftigung gewesen. Man habe
auch seine Leistungen in dieser Richtung vielfach bewundert und gefunden,
dass er geschickter sei als manches Mädchen. Wenn er je konnte, verkleidete
er sich als Mädchen. Im Fasching erschien er auf Bällen in weiblicher Maske.
Das Kokettiren bei solcher Gelegenheit sei ihm trefflich gelungen, weil er
eine weibliche Natur habe.
Zum Trinken, Rauchen, männlicher Beschäftigung und Vergnügung habe
er nie recht Lust gehabt, dagegen Nähen mit Leidenschaft betrieben und als
Junge wegen beständigem Spielen mit Puppen oft Schelte bekommen. Sein
Interesse im Circus oder Theater nahmen nur Männer in Anspruch. Er konnte
oft dem Drang nicht widerstehen, in Pissoirs herumzulungern, um männlicher
Genitalien ansichtig zu werden.
An weiblichen Reizen habe er nie Gefallen gefunden. Coitus sei ihm
nur gelungen, wenn er sich einen geliebten Mann dachte. Nächtliche Pollu-
tionen wurden immer durch lascive, Männer betreffende Traumsituationen
ausgelöst.
Trotz vielfacher sexueller Excesse hat B. nie an Neurasthenia sexualis
Androgyne. 275
gelitten und sind überhaupt keine Symptome von Neurasthenie an ihm nach-
weisbar.
Explorat ist zart, hat spärlichen Backen- und Schnurrbart, der ihm erst
im 28. Jahr gewachsen sei. Sein Aeusseres, ausgenommen leicht wiegender
Gang, bietet nichts, was auf eine weibliche Natur hindeuten würde. Er ver-
sichert, dass man seinen weibischen Gang schon oft bespöttelt habe. Sein
Benehmen ist ein höchst decentes. Die Genitalien sind gross, gut entwickelt,
ganz normal, dicht behaart, das Becken ist männlich. Der Schädel ist rhachi-
tisch, leicht hydrocephal, mit ausgebauchten Parietalbeinen. Der Gesichts-
schädel ist auffallend klein. Explorat behauptet, dass er leicht reizbar, zu
Zorn geneigt sei.
Beobachtung 114. Taylor hatte eine gewisse Elise Edwards, 24 Jahre
alt, zu exploriren. Es stellte sich heraus, dass sie männlichen Geschlechts
war. E. hatte seit dem 14. Jahr Weiberkleider getragen, war auch als Schau-
spielerin aufgetreten, trug das Haar lang und nach Weibersitte in der Mitte
getheilt. Die Gesichtsbildung hatte etwas Weibliches, im Uebrigen war der
Körper ganz männlich. Der Bart war sorgfältig ausgezupft. Die männlichen,
kräftig und gut entwickelten Genitalien waren am Bauch durch eine kunst-
volle Bandage nach aufwärts fixirt.
Der Befund am Anus deutete auf passive Päderastie. (Taylor, Med.
jurisprudence 1873. IL p. 286, 473.)
Beobachtung 115. Eine eigenthümliche Erscheinung im Sinne der
conträren Sexualempfindung bot ein Beamter in mittleren Jahren, seit mehreren
Jahren glücklicher Familienvater und mit einer braven Frau verheirathet.
Durch die Indiscretion einer Prostituirten kam eines Tages folgende
Skandalgeschichte an die OefFentlichkeit. X. erschien etwa alle 8 Tage im
Lupanar, costümirte sich dort als Weib, wobei eine Weiberperücke nicht
fehlen durfte. Nach beendigter Toilette legte er sich auf ein Bett und Hess
sich von der Prostituirten masturbiren. Er zog es aber bei Weitem vor, wenn
er eine männliche Person (Hausknecht des Lupanar) gewinnen konnte. Der
Vater dieses Mannes war hereditär belastet, mehrmals irrsinnig gewesen, mit
Hyper- und Paraesthesia sexualis belastet.
4) Androgyne.
In fliessenden Uebergängen zur vorigen Gruppe ergeben sich
conträr Sexuale, bei denen nicht nur der Charakter und das ganze
Fühlen der abnormen Geschlechtsempfindung congruent sind, son-
dern sogar in SkeletbiMung, Gesichtstypus, Stimme u. s. w., über-
haupt in anthropologischer, nicht bloss in psychischer und psycho-
sexualer Hinsicht das Individuum sich dem Geschlecht nähert,
welchem dasselbe sich der Person des eigenen Geschlechts gegen-
über zugehörig fühlt. Offenbar stellt diese selbst anthropologische
276 Hyperaesthesia sexualis.
Ausprägung der cerebralen Anomalie eine besonders hohe Stufe der
Entartung dar; dass aber diese Abweichung auf ganz anderen Be-
dingungen basirt als die teratologischen Erscheinungen der Her-
maphrodisie in anatomischem Sinne, ergibt sich klar daraus, dass
niemals bis jetzt im Gebiet der conträren Sexualempfindung Ueber-
gänge zur hermaphroditischen Verbildung der Genitalien gefunden
wurden.- Die Genitalien dieser Leute erwiesen sich immer ge-
schlechtlich vollkommen differenzirt , wenn auch nicht selten mit
anatomischen Degenerationszeichen (Epi-Hypospadie u. s. w.) be-
haftet, im Sinne von Entwicklungshemmungen geschlechtlich übrigens
wohl differenzirter Organe.
Bezüglich dieser interessanten Gruppe von Weibern in Männer-
kleidung mit männlichem Genitale mangelt es noch an ausreichen-
der Casuistik. Jeder erfahrene Beobachter seiner Mitmenschen er-
innert sich wohl an männliche Existenzen, deren weibisches Wesen
und weiblicher Typus (breite Hüften, runde Formen durch reich-
liche Fettentwicklung, fehlende oder höchst spärliche Bartentwick-
lung, mehr weibliche Gesichtszüge, feiner Teint, Fistelstimme u. s. w.)
höchst auffallend war.
Es scheint auch, dass bei Individuen der 4. Gruppe, sowie
bei einzelnen der 3. im Uebergang zur 4. geschlechtliches Scham-
gefühl nur der Person des eigenen, nicht aber der des entgegen-
gesetzten Geschlechts gegenüber vorhanden ist.
Beobachtung 116. Androgynie. Herr v. H., 30 Jahre alt, ledigen
Standes, stammt von einer neuropathischen Mutter. Nerven- und Geisteskrank-
heiten sollen in der Familie des Kranken nicht vorgekommen und der einzige
Bruder desselben geistig und körperlich vollkommen normal sein. Pat. soll
sich körperlich spät entwickelt haben und deshalb mehrfach in Seebädern und
klimatischen Curorten gewesen sein. Er war von Kindesbeinen an von neuro-
pathischer Constitution und nach dem Zeugniss seiner Verwandten nicht wie
andere Knaben. Früh fiel seine Abneigung gegen männliche Beschäftigung
und seine Vorliebe für weibliche Spielereien auf. So verabscheute er alle
Knabenspiele und gymnastischen Hebungen, während das Spiel mit Puppen
und weibliche Arbeiten für ihn besonderen Reiz hatten. Pat. entwickelte sich
in der Folge körperlich gut, blieb frei von schweren Erkrankungen, aber geistig
blieb sein Wesen abnorm, einer ernsteren Lebensauffassung unzugänglich und
von entschieden weiblicher Gefühls- und Gedankenrichtung.
Im 17. Lebensjahr zeigten sich Pollutionen, die gehäuft, schliesslich
auch bei Tage auftraten, den Kranken schwächten und mannigfache nervöse
Störungen hervorbrachten. Es entwickelten sich Erscheinungen von Neur-
asthenia spinalis, die bis auf die letzten Jahre fortdauerten, mit dem Seltener-
werden der Pollutionen aber sich verminderten. Onanie wird in Abrede ge-
Androgyne. 277
stellt, ist aber sehr wahrscheinlich. Eine schlaffe, weichliche, träumerische
Gedankenrichtung machte sich seit der Pubertätszeit immer mehr bemerklich.
Vergebens waren die Bemühungen, den Kranken zu einem eigentlichen Lebens-
beruf zu bringen. Seine intellectuellen Funktionen, wenn auch formal ganz
ungestört, erhoben sich nicht zur Höhe wirksamer Leitmotive eines selbst-
ständigen Charakters und höherer Lebensanschauungen. Er blieb unselbst-
ständig, ein grosses Kind, und nichts bezeichnete deutlicher seine originär
abnorme Artung, als eine thatsächliche Unfähigkeit, mit Geld umzugehen und
sein eigenes Geständniss, dass er für eine geordnete, vernünftige Geldgebahrung
kein Verständniss habe, und sobald er Geld besitze, dasselbe für Antiquitäten,
Toilettegegenstände u. dgl. Allotria verausgebe.
Ebenso wenig fähig wie zu einer vernünftigen Geldwirthschaft erschien
Pat. zur Erringung einer socialen Existenz, ja nur zur Einsicht in deren Be-
deutung und Werth.
Er lernte nichts Ordentliches, verbrachte seine Zeit mit Toilette und
künstlerischen Tändeleien, namentlich mit Malen, wozu er eine gewisse Be-
fähigung zeigte, aber auch hierin leistete er nichts, da es ihm an Ausdauer
fehlte. Zu einer ernsten Gedankenarbeit war er nicht zu bringen, er hatte
nur Sinn für Aeusserlichkeiten, war immer zerstreut, von ernsten Diugen gleich
gelangweilt. Verkehrte Streiche, sinnlose Reisen, Geldverschwenden, Schulden-
machen kehren in seinem ferneren Leben immer wieder, und selbst für diese
positiven Fehler seiner Lebensführung fehlte ihm das Verständniss. Er war
eigenwillig, untraitabel und that nirgends gut, sobald man nur den Versuch
machte, ihn auf eigene Füsse zu stellen und ihn selbst seine Interessen wahr-
nehmen zu lassen.
Mit diesen Erscheinungen einer originär abnormen und defectiven psychi-
schen Artung gingen bemerkenswerthe Zeichen einer perversen geschlechtlichen
Empfindung einher, die auch in dem somatischen Habitus des Pat. angedeutet
sich vorfinden. Pat. fühlt sich geschlechtlich als Weib dem Manne gegenüber
und empfindet Zuneigung zu Personen des eigenen Geschlechts, bei Gleich-
gültigkeit, wenn nicht geradezu Abneigung gegen Personen des weiblichen.
Er will zwar im 22. Jahr mit Weibern geschlechtlich verkehrt und in nor-
maler Weise den Beischlaf ausgeübt haben, aber theils wegen Steigerung der
neurasthenischen Beschwerden jeweils nach dem Coitus, theils aus Angst vor
Ansteckung, wesentlich aber aus mangelnder Befriedigung will er sich bald
vom weiblichen Geschlechte abgewandt haben. Ueber seine abnorme sexuelle
Lage ist er sich nicht ganz klar; einer Hinneigung zum männlichen Ge-
schlechte ist er sich bewusst, gesteht aber verschämt nur zu, dass er gewissen
männlichen Personen gegenüber ein beseligendes Gefühl der Freundschaft
empfinde, ohne dass sich ein sinnliches Gefühl beigeselle. Das weibliche Ge-
schlecht perhorrescirt er gerade nicht, er könnte sich sogar entschliessen , ein
Weib, das ihn durch gesinnungsverwandte künstlerische Neigungen anzöge, zu
heirathen — wenn ihm nur die ehelichen Pflichten, die ihm unangenehm
wären und deren Leistung ihn matt und schwach machen, erlassen blieben.
Dass Pat. schon mit Männern geschlechtlich verkehrt habe, stellt er in Ab-
rede, aber sein Erröthen und seine Verlegenheit dabei, noch mehr ein Vor-
fall in N., wo Pat. vor einiger Zeit im Gasthaus geschlechtlichen Umgang mit
jungen Leuten versucht und einen Skandal provocirt hat, strafen ihn Lügen.
278 Paraesthesia sexualis.
Auch die äussere Erscheinung, Habitus, Körperbau, Gesten, Manieren,
Toilette sind auffällig und erinnern entschieden an weibliche Formen und
Verhältnisse. Pat. ist zwar übermittlerer Grösse, ab erThorax undBecken
sind von entschieden weiblicher Bildung. Der Körper ist fett-
reich, die Haut wohlgepflegt, zart, weich. Dieser Eindruck eines
Weibes in männlicher Kleidung wird gesteigert durch den spärlichenHaar-
wuchs im Gesicht, der zudem bis auf ein Schnurrbärtchen rasirt ist, den
tänzelnden Gang, das schüchterne, gezierte Wesen, die weiblichen Züge, den
schwimmenden neuropathischen Ausdruck der Augen, die Spuren von Puder
und Schminke, den stutzermässigen Zuschnitt der Kleidung mit busenartig
hervortretendem Oberkleid, die gefranste, damenartige Halsschleife und das
von der Stirn abgescheitelte, glatt zu den Schläfen abgebürstete Haar.
Die körperliche Untersuchung lässt den zweifellos weiblichen Bau des
Körpers erkennen. Die äusseren Genitalien sind zwar gut entwickelt, jedoch
ist der linke Hoden im Leistencanal zurückgeblieben, die Behaarung des
Mons Veneris ist schwach und dieser ungewöhnlich fettreich und
prominent. Die Stimme ist hoch, ohne männlichen Timbre.
Auch die Beschäftigung und Denkweise des v. H. ist eine entschieden
weibliche. Er hat sein Boudoir, seinen wohlassortirten Toilettetisch, an dem er
stundenlang mit allen möglichen Verschönerungskünsten die Zeit vertändelt ; er
perhorrescirt Jagd, Waffenübungen u. dgl. männliche Beschäftigung, bezeichnet
sich selbst als einen Schöngeist, spricht mit Vorliebe von seinen Malereien
und dichterischen Versuchen, interessirt sich für weibliche Arbeiten, die er,
wie z. B. Sticken, auch ausübt, und bezeichnet es als sein höchstes Glück, sein
Leben in einem künstlerisch gebildeten und ästhetisch feinfühligen Kreis von
Herren und Damen mit Conversation , Musik, Aesthetik u. dgl. zubringen zu
können. Seine Conversation dreht sich vorwiegend um weibliche Angelegen-
heiten — um Moden, weibliche Handarbeiten, Kochkunst, Haushaltungs-
angelegenheiten.
Pat. ist wohlgenährt, jedoch etwas anämisch. Er ist von neuropathischer
Constitution und bietet Symptome von Neurasthenie, die durch eine verfehlte
Lebensweise, zu langen Aufenthalt im Bett, im Zimmer, Verweichlichung unter-
halten werden.
Er klagt über zeitweisen Kopfschmerz und Kopfdruck, über habituelle Ob-
stipation, schreckt leicht zusammen, klagt über zeitweise Mattigkeit, Müdigkeit,
ziehende Schmerzen in den Extremitäten in der Richtung der Lumboabdominal-
nerven, f,ühlt sich nach Pollutionen und regelmässig nach dem Essen müde,
abgespannt, ist empfindlich bei Druck auf die Proc. spinosi der Brustwirbel,
wie auch bei Durchtastung der zugänglichen Nervenstämme. Er fühlt eigen-
tümliche Sym- und Antipathien gegenüber gewissen Personen, geräth bei der
Begegnung antipathischer Leute in Zustände eigenthümlicher Angst und Ver-
wirrung. Seine Pollutionen, obwohl jetzt nur noch selten vorkommend, sind
pathologisch, insoferne sie sich auch bei Tage und ohne alle wollüstige Er-
regung einstellen.
Gutachten.
1) Herr v. H. ist nach allem Beobachteten und Berichteten eine geistig
abnorme, defektive Persönlichkeit, und zwar ab origine. Eine Theilerschei-
Androgyne. 279
nung dieser abnormen geistig-körperlichen Artung stellt seine conträre Sexual-
empfindung dar.
2) Dieser Zustand, als ein originärer, ist keiner Heilung zugänglich. .
Es besteht eine defective Organisation in den höchsten geistigen
Centren, die ihn zu selbstständiger Lebensführung und der Erreichung einer
Lebensberufsstellung unfähig macht. Seine perverse Geschlechtsempfindung
hindert ihn, normal geschlechtlich zu funktioniren , mit allen socialen Con-
sequenzen einer solchen Anomalie und mit der Gefahr einer Befriedigung per-
verser, aus seiner abnormen Organisation sich ergebender Gelüste, mit daraus
wieder zu befürchtenden socialen und gerichtlichen Conflikten. Diese Besorg-
niss kann aber nicht gross sein, da der (perverse) Geschlechtstrieb des Kranken
gering ist.
3) Herr v. H. ist nicht unzurechnungsfähig in legalem Sinne des Wortes
und weder geeignet zur Aufnahme in eine Irrenanstalt, noch einer solchen
bedürftig.
Er vermag — obwohl ein grosses Kind und unfähig zu einer Selbst-
führung — gleichwohl unter Aufsicht und Leitung geistig normaler Menschen
in der Gesellschaft zu existiren. Er vermag auch bis zu einem gewissen Grad
die Gesetze und Normen der bürgerlichen Gesellschaft zu respektiren und zur
Richtschnur seines Handelns zu machen, aber es muss bezüglich möglicher
geschlechtlicher Verirrungen und Conflikte mit dem Strafgesetz hervorgehoben
werden, dass seine Geschlechtsempfindung eine in organischen krankhaften
Bedingungen wurzelnde abnorme ist, und dieser Umstand muss ihm eventuell
zu Gute kommen.
Bei seiner notorischen Unselbstständigkeit kann derselbe aus der väter-
lichen oder vormundschaftlichen Gewalt nicht entlassen werden, weil er sich
sonst finanziell ruiniren würde.
4) Herr v. H. ist auch körperlich leidend. Er bietet Zeichen leichter
Anämie und von Neurasthenia spinalis.
Eine vernünftige Regelung seiner Lebensweise, eine tonisirende ärzt-
liche, womöglich hydrotherapeutische Behandlung erscheint nothwendig. Der
Verdacht einer ursächlichen Begründung jenes Leidens in früher getriebener
Masturbation muss aufrecht erhalten werden und die Möglichkeit des Vor-
handenseins einer ätiologisch und therapeutisch wichtigen Spermatorrhöe liegt
nahe. (Eigene Beobachtung. Zeitschr. f. Psychiatrie.)
Die angeborene conträre Sexualempfindung beim Weibe 1).
Ueber das Vorkommen homosexualer Empfindungen beim
Weibe stehen der gegenwärtigen Wissenschaft viel spärlichere
x) Casuistik: 1) Westphal, Arch. f. Psych. II, p. 73; 2) Gock, Op. cit.
Nr. 1; 3) Wise, The Alienist and Neurologist 1883, Januar; 4) Cantarano,
Zeitschr. La Psichiatria 1883, p. 201; 5) Serieux, Op. cit. obs. 14; 6) Kiernan,
Op. cit.; 7) Müller, Friedreichs Blätter f. ger. Med. 1891, Heft 4; 8—13) Moll,
Contr. Sexualempfindung, 2. Aufl., Beob. 18. 19. 20. 21. 22. 23; 14) Meyhöfer,
Zeitschr. f. Medicinalbeamte, V. 16.
280 Paraesthesia sexualis.
Beobachtungen zu Gebot als hinsichtlich dieser Anomalie beim
Manne. Daraus den Schluss ziehen zu wollen, dass conträre Sexual-
empfindung beim Weibe seltener sei, wäre ungerechtfertigt, denn
wenn sie wirklich eine funktionelle Degenerationserscheinung ist,
werden sich belastende degenerative Einflüsse beim Weib ebenso
geltend machen wie beim Manne.
Die Ursachen der scheinbaren Seltenheit der conträren Sexual-
empfindung beim Weibe sind wohl darin zu finden, dass 1. Con-
fidencen über sexuelle Abnormitäten beim Weib schwerer zu er-
langen sind; 2. dass die Anomalie, falls sie zu „ beischlafähnlichen '
Handlungen inter feminas führt, in Deutschland nicht criminell
verfolgt wird und schon dadurch vielfach latent bleibt; 3. dass das
Weib die conträre Sexualempfindung nicht so genirt wie den Mann,
weil sie jenes nicht beischlafsunfähig macht; 4. weil das Weib an
und für sich und jedenfalls auch das conträr-sexuale nicht so sinn-
lich und aggressiv in der Erreichung des Geschlechtsbedürfnisses ist,
wie der Mann, so dass der conträr-sexuale Verkehr unter Weibern
nicht so auffällig ist und vom Laien als blosse Freundschaft ge-
deutet wird. Gibt es doch sogar Fälle (psychische Hermaphrodisie,
selbst Homosexualität), wo der Ehemann nicht die Ursache der
Frigiditas uxoris erkennt!
Aus Stellen in der heiligen Schrift *), aus der Geschichte
Griechenlands („Sapphische Liebe"), aus der Sittengeschichte des
alten Roms und des Mittelalters 2) ist leicht der historische Nach-
weis zu liefern, dass Congressus intersexualis feminarum zu allen
Zeiten bestanden hat, gleichwie er noch heute in Harems, Weiber-
strafanstalten, Bordellen, Pensionaten (s. u. Amor lesbicus) vor-
kommt.
Dass ein grosser Theil dieser Vorkommnisse übrigens auf Per-
versität, nicht Perversion beruht, muss immerhin zugegeben werden 3).
*) Paulus, Römerbrief.
2) Ploss, Op. cit.
3) Bemerkenswerth ist, dass auch in der Belletristik die lesbische Liebe
vielfach behandelt ist, so in Diderot, „La Religieuse" ; Balzac, „La fille aux
yeux d'or"; Th. Gautier, „Mademoiselle de Maupin"; Feydeau, „La Comtesse
de ChaHs"; Flaubert, „Salammbö"; Belot, „Mademoiselle Giraud, ma
femme" etc.
Die Heldinnen dieser (lesbischen) Romane erscheinen der geliebten
Person des eigenen Geschlechts gegenüber in Charakter und Rolle des Mannes,
und ihre Liebe ist eine sehr brünstige.
Der älteste Fall von conträrer Sexualempfindung, der bis dato in Deutsch-
Angeborene conträre Sexualempfindung beim Weibe. 281
In klinischer Hinsicht kann ich mich kurz fassen, da die Ano-
malie beim Weib ganz dieselben Erscheinungen mutatis mutandis
bietet, wie beim Manne, und überdies dieselben Gradstufen aufweist.
Die psychisch hermaphroditischen und auch viele homo-
sexuale Weiber verrathen ihre Anomalie weder durch äusserliche
Zeichen noch durch seelische (männliche) Geschlechtscharaktere.
Bemerkenswerth ist, dass Dr. Flatau (Moll op. cit. p. 334) übrigens
bei Untersuchung des Larynx von 23 homosexualen Weibern bei
einigen den Kehlkopf von entschieden männlicher Form vorfand.
Im Uebergang zur folgenden Gradstufe der Viraginität
(analog der Effeminatio beim Manne) findet sich Vorliebe, in Männer-
kleidern zu gehen. Im Traum oder auch im ideellen oder wirk-
lichen homosexualen Geschlechtsakt fühlt sich die betreffende Person
in indifferenter geschlechtlicher Rolle.
Bei ausgebildeter Viraginität fühlt sich das Weib dem an-
deren gegenüber ausschliesslich in der Rolle des Mannes.
Auf dieser Stufe besteht auch nur dem eigenen Geschlecht,
nicht aber dem männlichen gegenüber Schamhaftigkeit.
Die Anomalie auf dieser Stufe pflegt sich schon früh durch
männliche Geschlechtscharaktere kundzugeben.
Der Lieblingsaufenthalt des weiblichen Urnings ist der Tummel-
platz der Knaben. In deren Spielen sucht er mit ihnen zu rivali-
siren. Von Puppen will das Urningmädchen nichts wissen, seine
Passion ist das Steckenpferd, das Soldaten- und Räuberspiel. Zu
weiblichen Arbeiten zeigt es nicht blos Unlust, sondern vielfach
geradezu Ungeschick. Die Toilette wird vernachlässigt, in einem
derben, burschikosen Wesen Gefallen gefunden. Statt zu Künsten,
zeigt sich ßinn und Neigung für Wissenschaften. Gelegentlich
wird ein Anlauf genommen, im Rauchen und Trinken sich zu ver-
suchen, und beides kann zur Leidenschaft werden.
Parfüm und Näschereien werden verabscheut. Schmerzliche
Reflexionen ruft das Bewusstsein hervor, als Weib geboren zu sein
und der Universität mit ihrem flotten Leben und dem Militärstand
entsagen zu müssen.
land nachzuweisen ist, ist ein solcher von Viraginität aus dem Anfang des
18. Jahrhunderts. Er betrifft ein Weib , das mit einem anderen verheirathet
war und mittelst ledernen Priaps der Consors beiwohnte. Der auch in cultur-
historischer und in juridischer Hinsicht sehr interessante, aus den Akten ge-
schöpfte Fall ist von Dr. Müller (Alexandersbad) in Friedreichs Blättern
f. ger. Medicin 1891, Heft 4, mitgetheilt.
282 Paraesthesia sexualis.
In amazonenhaften Neigungen zu männlichem Sport gibt sich
die männliche Seele im weiblichen Busen kund, nicht minder in
Bethätigung von Muth und männlicher Gesinnung. Gross ist der
Drang, auch Haar und Zuschnitt der Kleidung männlich zu tragen,
unter günstigen Umständen sogar in der Kleidung des Mannes
aufzutreten und als solcher zu imponiren. Nicht selten sind die
Fälle, wo Weiber in Männerkleidern aufgegriffen wurden. Bei-
spiele jahrelangen erfolgreichen Herumtreibens als Mann (Jäger,
Soldat u. s. w.) sind der Fall von Müller in Friedreich's Blät-
tern, der von Wise (op. cit.) u. A.
Die Ideale dieser Viragines sind durch Geist und Thatkraft
hervorragende weibliche Persönlichkeiten der Geschichte und der
Gegenwart.
Die schwerste Stufe degenerativer Homosexualität stellt die
Gynandrie dar. Es handelt sich hier um Weiber, die vom
Weib nur die Genitalorgane haben, im Fühlen, Denken, Handeln
und in der äusseren Erscheinung aber durchaus männlich er-
scheinen.
Solchen Mannweibern, die durch Knochenbau, Becken, Gang,
Haltung, derbe, entschieden männliche Züge, rauhe, tiefe Stimme
u. s. w. an dem ewig Weiblichen irre werden lassen, begegnet
man nicht so selten im öffentlichen Leben.
Ueber Lebensweise und Art der sexuellen Befriedigung dieser
conträr-sexualen Weiber hat Moll (op. cit. p. 331) manches Inter-
essante berichtet.
Mutatis mutandis ist die Situation dieselbe wie beim mann-
liebenden Manne. Diese Existenzen suchen, finden, erkennen, lieben
sich gegenseitig, leben nicht selten als „Vater" und „Mutter" in
„schwuler" Ehe zusammen. Auf conträre Sexualität muss sich
immer der Verdacht richten, wenn (so häufig) in der Zeitung von
einer Dame eine „Freundin" gesucht wird.
Zahlreiche weibliche psychische Hermaphroditen und selbst
Homosexuale schliessen, theils aus Unkenntniss ihrer Anomalie,
theils um versorgt zu werden, Ehebündnisse mit Männern. Manche
dieser Ehen fristen ihr Dasein fort, indem der Mann seelisch sym-
pathisch ist und die Leistung der ehelichen Pflicht der unglück-
lichen Frau möglich wird.
Immer sucht sie sich dieser aber, sobald sie ein oder zwei
Kinder geboren hat, unter irgend einem Vorwand zu entziehen.
Noch häufiger leidet die Ehe wegen „unüberwindlicher Abneigung"
Angeborene conträre Sexualempfindung beim Weibe. 283
Schiffbruch. Fortsetzung des homosexuellen Verkehrs in der Ehe
kommt vor, gleich wie beim conträr- sexualen Manne.
Auf der Stufe der Viraginität ist Ehe unmöglich, da schon
der Gedanke an Coitus cum viro Ekel und Grausen erweckt.
Die intersexuelle Befriedigung bei Weibern beschränkt sich
vielfach auf blosses Küssen und Umarmen, wobei sinnlich nicht
stark Veranlagte es sich genügen lassen, sexuell Neurasthenische
eventuell Befriedigung durch Ejaculationsgefühl finden.
Automasturbation, faute de mieux, scheint in allen Gradstufen
der Anomalie, gleich wie beim Manne, vorzukommen.
Bei starker Sinnlichkeit kommt es zu Cunnilingus oder zu
mutueller Masturbation.
Auf 3. und 4. Stufe scheint das Bedürfniss, in activer Rolle
der geliebten Person des eigenen Geschlechts gegenüber aufzutreten,
zur Benutzung von Priapen hinzudrängen.
Beobachtung 117. Psychische Hermaphrodisie. Frau X., 26 Jahre,
leidet an Neurasthenie. Sie ist erblich belastet, leidet episodisch an Zwangs-
vorstellungen. Sie ist seit 7 Jahren verheirathet, hat 2 gesunde Kinder, einen
Knaben und ein Mädchen von 6 resp. 4 Jahren. Es gelingt, das Vertrauen
der Pat. zu erlangen. Sie gesteht, dass sie von jeher mehr zu Personen des
eigenen Geschlechtes neige , ihren Mann zwar achte und gern habe , jedoch
vom ehelichen Verkehr mit ihm angewidert sei. Sie habe es dahin gebracht,
dass er seit der Geburt des jüngsten Kindes ihr ehelich nicht mehr beiwohne.
Schon im Pensionat habe sie sich in einer Weise für andere junge Damen
interessirt, die sie nur als Liebe bezeichnen könne. Episodisch habe sie sich
aber auch zu einzelnen Herren hingezogen gefühlt und in der letzten Zeit sei
ihrer Tugend ein Courmacher geradezu gefährlich geworden. Sie lebe oft in
Angst, dass sie sich mit ihm vergessen könnte und vermeide deshalb, mit ihm
allein zu sein. Das seien aber nur flüchtige Episoden gegenüber ihrer leiden-
schaftlichen Neigung zu Personen des eigenen Geschlechts. Küsse, Umarmung
solcher, intimer Verkehr mit ihnen, sei ihre wahre Sehnsucht. Die Nichtbefrie-
digung dieser Dränge martere sie und habe grossen Antheil an ihrer Nervosi-
tät. In einer bestimmten sexuellen Rolle fühlt sich Pat. nicht gegenüber Per-
sonen des eigenen Geschlechts, auch wüsste sie mit solchen nichts anzufangen,
als sie zu küssen, zu umarmen, mit ihnen zu kosen. Pat. hält sich selbst für
eine sinnliche Natur. Es ist wahrscheinlich, dass sie masturbirt.
Ihre sexuelle Perversion erscheint ihr „unnatürlich, krankhaft".
Nichts im Benehmen und Aeussern dieser Dame deutet auf eine solche
Anomalie.
Beobachtung 118. Psychische Hermaphrodisie bei einer Dame.
Frau M. , 44 Jahre, bezeichnet sich als ein Beispiel dafür, dass in einem
Menschen, sei es Mann oder Weib, sowohl conträre als normale Richtungen
des Sexuallebens vereinigt sein können.
J
284 Paraesthesia sexualis.
Der Vater dieser Frau war sehr musikalisch, überhaupt künstlerisch
hoch talentirt, leichtlebig, ein grosser Verehrer des andern Geschlechts, von
seltener Schönheit. Er starb nach mehreren apoplectischen Anfallen dement
im Irrenhaus. Vaters Bruder war neuropsychopathisch, als Kind mondsüchtig,
zeitlebens mit Hyperaesthesia sexualis behaftet. So wollte er, obwohl ver-
heirathet und Vater von verheiratheten Söhnen, Frau M., seine Nichte, in die
er wahnsinnig verliebt war, als sie 18 Jahre alt war, entführen. Vaters Vater
war höchst excentrisch, ein bedeutender Künstler, der ursprünglich Theologie
studirte, aber aus glühendem Drang für die dramatische Muse Mime und
Sänger wurde. Er war excessiv in Baccho et Venere, verschwenderisch, pracht-
liebend, starb mit 49 Jahren an Apoplexia cerebri. Mutters Vater und Mutter
starben an Lungentuberculose.
Frau M. hatte 11 Geschwister, von denen nur noch 6 leben. Zwei
Brüder, körperlich der Mutter nachgeartet, starben mit 16 und 20 Jahren an
Tuberculose. Ein Bruder leidet an Kehlkopfphthise. Sämmtliche vier lebende
Schwestern, wie auch Frau M., sind körperlich dem Vater nachgeartet und die
älteste ist unverheirathet , sehr nervös und menschenscheu. Zwei jüngere
Schwestern sind verheirathet, gesund und haben gesunde Kinder. Eine weitere
ist Virgo und nervenleidend.
Frau M. hat 4 Kinder, von denen mehrere zart, neuropathisch sind.
Ueber ihre Kindheit weiss Pat. nichts von Belang zu berichten. Sie
lernte leicht, war dichterisch und ästhetisch begabt, galt als ein bischen über-
spannt, das Romanlesen und Sentimentale liebend, von neuropathischer Con-
stitution, äusserst empfindlich gegen Temperaturschwankungen, bekam jeweils
beim geringsten Luftzug lästige Cutis anserina. Bemerkenswerth ist noch,
dass Pat. eines Tags, 10 Jahre alt, da sie meinte, die Mutter liebe sie nicht,
Zündhölzer im Kaffee einweichte und diesen trank, um recht krank zu werden
und damit die Liebe der Mutter auf sich zu lenken.
Die Entwicklung ging schon mit 11 Jahren ohne Beschwerden vor sich.
Menses in der Folge regelmässig. Schon vor der Zeit der Pubertätsentwicklung
regte sich das Sexualleben, dessen Regungen nach der eigenen Ansicht der
Pat. in der ganzen folgenden Lebenszeit übermächtige gewesen sind. Die ersten
Gefühle und Dränge waren entschieden homosexual. Pat. bekam eine leiden-
schaftliche, aber durchaus platonische Neigung zu einer jungen Dame, dichtete
auf sie Ghaselen und Sonette und war glückselig, wenn sie die „entzückenden
Reize der Angebeteten" einmal im Bade bewundern oder beim Ankleiden
Nacken, Schultern und Brust mit den Augen verschlingen konnte. Der heftige
Drang zum Berühren dieser körperlichen Reize wurde stets überwunden. Als
juages Mädchen sei sie förmlich verliebt in Raphael's und Guido Reni's Ma-
donnen gewesen. Auch musste sie schönen Mädchen und Frauen in jeder
Witterung stundenlang nachgehen, ihren Anstand bewundernd, die Gelegen-
heit erspähend, ihnen gefällig zu sein, ihnen Sträusschen anzubieten u. s. w.
Pat. versicherte, dass sie bis zum Alter von 19 Jahren absolut keine Ahnung
vom Unterschied der Geschlechter hatte, da sie durch eine altjüngferliche,
höchst prüde Tante eine faktisch klösterliche Erziehung gehabt hatte. Infolge
dieser grenzenlosen Unwissenheit wurde Pat. das Opfer eines Mannes, der sie
leidenschaftlich liebte, sie durch List zum Coitus brachte. Sie wurde die
Gattin dieses Mannes, gebar ein Kind, lebte mit ihm ein „excentrisches"
Angeborene conträre Sexualempfindung beim Weibe. 285
sexuelles Leben und fühlte sich vom ehelichen Umgang vollständig befriedigt.
Nach wenigen Jahren wurde sie Wittwe. Seitdem waren wieder Frauen der
Gegenstand der Neigung, in erster Linie, wie Pat. meint, aus Furcht vor den
Folgen des sexuellen Umgangs mit einem Manne.
Mit 27 Jahren zweite Ehe mit einem kränklichen Manne, ohne Neigung.
Pat. gebar 3mal, erfüllte ihre Mutterpflichten, kam körperlich herunter, em-
pfand in den letzten Jahren dieser Ehe immer grössere Unlust zum Beischlaf,
zum Theil im Bewusstsein der Krankheit des Gatten, obwohl ein heftiger
Drang nach sexueller Befriedigung stets vorhanden war.
Drei Jahre nach dem Tode des zweiten Mannes machte Pat. die Ent-
deckung, dass ihre 9jährige Tochter aus erster Ehe der Masturbation ergeben
war und dahinsiechte. Pat. las im Conversationslexicon über dieses Laster
nach, konnte dem Drang nicht widerstehen, es auch zu versuchen, und wurde
Onanistin. Ueber diese Periode ihres Lebens kann sie sich nicht entschliessen,
ausführlich zu berichten. Sie versichert, dass sie sexuell schrecklich erregt
wurde, eines Tags ihre beiden Mädchen aus dem Hause geben musste, um sie
vor „Schrecklichem" zu bewahren, während sie ihre beiden Knaben daheim
behalten konnte!
Pat. wurde neurasthenisch ex masturbatione (Spinalirritation, Kopfdruck,
Mattigkeit, geistige Hemmung u. s. w.), zeitweise sogar dysthymisch mit quälen-
dem Taed. vitae.
Ihr sexuelles Fühlen war bald dem Weib, bald dem Manne zugewandt.
Sie wusste sich zu beherrschen, litt sehr unter ihrer Abstinenz, zumal da sie,
ihrer neurasthenischen Beschwerden wegen, nur in grösster Noth mit Mastur-
bation sich zu helfen versuchte. Gegenwärtig leidet die 44jährige, noch regel-
mässig menstruirende Frau heftig unter der Leidenschaft für einen jungen Mann,
dessen Nähe sie aus beruflichen Rücksichten nicht vermeiden kann.
Pat. ist eine in ihrer äusserlichen Erscheinung nicht auffallende Per-
sönlichkeit, gracil gebaut, von schwacher Muskulatur. Becken durchaus
weiblich, jedoch Arme und Beine auffallend gross und entschieden von männ-
lichem Bau. Da ihr kein weiblicher Schuh passt, sie aber doch nicht auf-
fallen will, zwängt sie ihre Füsse in Frauenschuhe, ' sodass diese künstlich ver-
unstaltet sind. Genitalien von ganz normaler Entwicklung. Ausser einem
Descensus uteri mit Hypertrophie der Vaginalportion keine Veränderungen.
Bei eingehenderer Exploration erklärt sich Pat. für wesentlich doch homo-
sexual, Empfindung und Trieb zum anderen Geschlecht nur für etwas Epi-
sodisches, Grobsinnliches. So leide sie zwar gegenwärtig schrecklich unter
sexuellen Drängen zu jenem Manne ihrer Umgebung, aber ein edlerer und'
höherer Genuss sei es ihr, auf eine sanftgerundete, weiche Mädchen wange
einen Kuss zu hauchen. Dieser Genuss biete sich ihr oft, denn sie sei unter
den „lieben Geschöpfen" als „gefällige Tante" sehr beliebt, da sie die ver-
schiedensten „Ritterdienste" jenen unverdrossen leiste und sich dabei immer
mehr als Mann fühle.
Beobachtung 119. Homosexualität. Fräulein L. , 55 Jahre alt.
Ueber Familie des Vaters fehlen Nachrichten. Die Eltern der Mutter werden
als zornmüthig, launenhaft, nervös geschildert. Ein Bruder der Mutter epi-
leptisch, ein anderer exentrisch und geistig nicht normal.
286 Paraesthesia sexualis.
Die Mutter war sexuell hyperästhetisch und lange Zeit Messaline. Sie
galt als psychopathisch und starb 69 Jahre alt an einer Hirnkrankheit.
Fräulein L. entwickelte sich normal, hatte nur geringfügige Kinder-
krankheiten zu überstehen, war geistig sehr begabt, jedoch von neuropathischer
Constitution, emotiv, von allerlei Tics geplagt.
Mit 13 Jahre erwachte, noch 2 Jahre vor der ersten Menstruation, die
erste Liebesleidenschaft für eine Altersgenossin „ein träumerisches Gefühl, noch
ganz rein von Sinnlichkeit".
Die zweite Liebe galt einem älteren Mädchen, das Braut war, mit bereits
quälendem sinnlichem Sehnen, Eifersucht und dem noch „unklaren Gefühl ge-
heimnissvoller Ungehörigkeit" ; zurückgewiesen von dieser Dame, verliebte sich
Pat. in eine um 20 Jahre ältere, glücklich verheirathete Frau und Mutter. Sie
vermochte sich in ihren sinnlichen Regungen zu beherrschen, so dass diese Frau
nie den wahren Grund einer solch schwärmerischen „Freundschaft" ahnte und
dieselbe auch ihrerseits durch 12 Jahre gerne gewährte. Pat. bezeichnet diese
lange Zeit als ein wahres Martyrium.
In den letzten Jahren, vom 25. Jahre ab, hatte sie begonnen, durch
Masturbation sich zu befriedigen. Pat. dachte damals ernstlich daran, ob nicht
eine Heirath sie retten könnte, aber ihr Gewissen sprach dagegen, denn sie
hätte vielleicht ihr Unglück Kindern vererben oder einen vertrauensvollen Mann
„unglücklich machen können".
27 Jahre alt nahte sich ihr ein Mädchen mit unverhüllten Anträgen,
schilderte den Unsinn der Entsagung, gab volle Aufklärung über den sie be-
herrschenden homosexualen Trieb und war sehr stürmisch. Pat. duldete die
Liebkosungen dieses Mädchens, Hess sich aber zu keinem sexuellen Verkehr
herbei, da sie fühlte, dass ihr Sinnengenuss ohne Liebesleidenschaft widerlich sei.
Geistig und körperlich unbefriedigt, im Bewusstsein eines verfehlten
Lebens gingen Pat. die Jahre dahin. Sie schwärmte ab und zu für Damen
ihres Bekanntenkreises, wusste sich aber zu beherrschen. Auch von Mastur-
bation vermochte sie sich wieder zu befreien.
38 Jahre alt, lernte Fräulein L. ein um 19 Jahre jüngeres Mädchen
kennen, von seltener Schönheit, aber aus demoralisirter Familie, von Cousinen
früh zur mutuellen Masturbation verführt. Es ist nicht zu entscheiden, ob
dieses Mädchen A. ein Fall von psychischem Hermaphroditismus war oder
einer von erworbenener conträrer Sexualempfindung. Die erstere Annahme ist
die wahrscheinlichere.
Aus einer Autobiographie der L. ergibt sich folgendes:
„Die A., meine Schülerin, fing an, mir ihre abgöttische Liebe zuzuwenden.
Sie war mir in hohem Grade sympathisch. Da ich wusste, dass sie ein aus-
sichtsloses Liebesverhältniss mit einem wüsten Gesellen und fortdauernd ver-
trauten Umgang mit ihren demoralisirten Cousinen hatte, wollte ich sie nicht
von mir stossen. Mitleid, die Ueberzeugung , dass sie sonst dem sittlichen
Untergang zutreibe, veranlassten mich, ihre Annäherung zu dulden.
Ich hielt ihre Neigung zu mir nicht für gefährlich, da ich es nicht für
möglich hielt, dass (mit Hinblick auf ihr Liebesverhältniss) in einer Seele
zwei Leidenschaften (für einen Mann und ein "Weib zugleich) bestehen könnten,
zudem glaubte ich meiner Widerstandskraft sicher zu sein. Ich behielt also
A. um mich, erneute meine sittlichen Vorsätze und hielt es für eine Pflicht,
Angeborene conträre Sexualempfindung beim Weibe. 287
A.'s Liebe zu mir zu ihrer Veredlung zu benutzen. Welch thöxichter Wahn
dies gewesen, sollte ich nur zu bald erfahren. Einmal, als ich im Schlummer
lag, wusste A. ihre Lust an mir zu stillen. Ich war noch rechtzeitig erwacht,
und wäre ich sittlich stärker gewesen, so hätte ich sie noch zurückweisen
können. Aber ich war furchtbar aufgeregt, wie berauscht — sie siegte.
Was ich nachher empfand, ist unbeschreiblich. Jammer über die ge-
brochenen Vorsätze, die ich bisher mit so grossen Anstrengungen aufrecht er-
halten hatte, Angst vor Entdeckung und vor Verachtung, Jubel, endlich des
qualvollen Wachens und Ringens ledig zu sein, unsägliche Sinnenfreude, Zorn
über die unselige Gefährtin und zugleich das Gefühl der tiefsten Zärtlichkeit.
A. belächelte ruhig meine Gemütiiserregung und bemühte sich, liebkosend
mich zu beruhigen.
Ich fand mich in die neue Situation. Lange Jahre dauerte unsere Ge-
meinschaft. Wir lebten in gegenseitiger Masturbation weiter, nie excessiv
oder cynisch.
Nach und nach hörte der sinnliche Verkehr zwischen uns wieder auf.
A.'s Zärtlichkeit ermattete, die meine aber blieb, obwohl ich kein sinnliches
Verlangen mehr empfand. A. trug sich mit Heirathsplänen, theils um versorgt
zu werden, wesentlich aber, weil ihre Sinnlichkeit wieder in normale Bahnen
einlenkte. Es gelang ihr, einen Gatten zu finden. Möge sie ihn glücklich
machen, was ich aber bezweifeln muss. So habe ich Aussicht, mein Alter
ebenso freud- und friedlos hinzuschleppen, wie es mit meiner Jugend der
Fall war.
Mit Wehmuth gedenke ich der Jahre, die ich gemeinsam mit der Ge-
liebten verlebte. Dass ich mit A. geschlechtlich verkehrte, vermag mein Ge-
wissen nicht zu belasten, denn ich erlag ihrer Verführung und bemühte mich
redlich, sie vor dem sittlichen Ruin zu retten und zu einem gebildeten und
wohlgesitteten Wesen zu erziehen, was mir auch gelungen ist. Ueberdies be-
ruhigt mich der Gedanke, dass sittliche Gesetze nur für normale Menschen
ersonnen, nicht aber für anormale bindend sein können. Ganz glücklich
kann allerdings ein fein empfindender Mensch, der sich von der Natur aus-
gestossen und von der Cultur der Verachtung preisgegeben weiss, nie werden,
aber in mir war eine wehmüthige Ruhe und in Momenten, wo ich A. glücklich
glaubte, war ich es vorübergehend auch.
Das ist die Geschichte einer Unglücklichen, die durch eine verhängniss-
volle Laune der Natur um alle Lebensfreude betrogen und dem Kummer über-
antwortet ist."
Ich lernte die Schreiberin dieser Lebens- und Leidensgeschichte als eine
feingebildete Persönlichkeit kennen, von groben Zügen, starkknochigem aber
durchaus weiblichem Körperbau. Sie hat seit einigen Jahren das Klimakterium
ohne besondere Beschwerden hinter sich, fühlt sich seither frei von sinnlichen
Regungen. In einer bestimmten Rolle habe sie sich dem geliebten Weibe
gegenüber sexuell nie gefühlt; für Männer niemals irgend eine sinnliche Regung
empfunden.
Ueber die familiären und Gesundheitsverhältnisse ihrer früheren Ge-
liebten A. befragt, machte Fräulein L. Mittheilungen, aus welchen schwere Be-
lastung, insofern der Vater in einer Irrenanstalt gestorben ist, die Mutter im
Klimakterium aliniert war, Neurosen mehrfach in der Familie vorgekommen
288 Paraesthesia sexualis.
sind und die A. lange Zeit an schwerer Enteropathie mit zeitweisem hallucina-
torischem Delir gelitten hatte, zweifellos erscheint.
Beobachtung 120. Homosexualität. S. J., 38 Jahre, Gouvernante,
suchte ärztlichen Rath bei mir wegen eines Nervenleidens. Der Vater war
vorübergehend geisteskrank und starb an einer Gehirnkrankheit. Patientin
ist das einzige Kind, litt schon in frühen Jahren an Angstgefühlen und quä-
lenden Vorstellungen, z. B. dass sie im Sarge, nachdem dieser geschlossen, er-
wachen werde, dass sie bei der Beichte etwas vergessen, unwürdig communi-
ciren könnte. Sie litt viel an Kopfschmerzen, war immer sehr erregt, schreckhaft,
hatte aber gleichwohl einen Drang, aufregende Dinge, z. B. Leichen, zu sehen.
Schon in den frühesten Kinderjahren war Patientin sexuell erregt und
kam ohne alle Verführung zur Masturbation. Die Menses traten mit 14 Jahren
ein, in der Folge jeweils von colikartigen Schmerzen, heftiger sexueller Er-
regung, Migräne und geistiger Verstimmung begleitet. Ihren Drang zur Mastur-
bation lernte Patientin vom 18. Jahre ab unterdrücken.
Patientin hat niemals Neigung zu einer Person des anderen Geschlechts
gefühlt. Wenn sie an Ehe dachte, so geschah dies nur, weil sie sich eine Ver-
sorgung durch Heirath wünschte. Hingegen fühlte sie sich mächtig zu Mädchen
hingezogen. Sie hielt solche Neigung Anfangs für Freundschaft, erkannte aber
aus der Innigkeit, mit welcher sie an solchen Freundinnen hing, und aus der
tiefen Sehnsucht, die sie fortwährend nach denselben empfand, dass diese
Gefühle doch mehr als Freundschaft waren.
Patientin findet es unbegreiflich, dass ein Mädchen einen Mann lieben
könne, dagegen verstehe sie es wohl, dass dies einem Manne einem Mädchen
gegenüber möglich sei. Für schöne Frauen und Mädchen habe sie sich stets
lebhaft interessirt, sei durch deren Anblick mächtig erregt worden. Ihre Sehn-
sucht sei es immer gewesen, solche liebe Geschöpfe zu küssen und zu umarmen.
Geträumt habe sie nie vom Manne, sondern nur von Mädchen. Im Genuss
des Anblicks solcher zu schwelgen, sei ihr Wonne gewesen. Die Trennung
von solchen „Freundinnen" habe sie jeweils desperat gemacht.
Patientin, deren äussere Erscheinung eine durchaus weibliche und höchst
decente ist, will sich nie in einer besonderen Rolle Freundinnen gegenüber ge-
fühlt haben, auch nicht in beseligenden Träumen. Weibliches Becken, grosse
Mammae, keine Andeutung von Bartwuchs.
Beobachtung 121. Homosexualität. Frau R., 35 Jahre, den
höheren Ständen angehörig, wurde mir 1886 behufs Consultation von ihrem
Manne zugeführt.
Vater war Arzt und sehr neuropathisch. Vatersvater war gesund, nor-
mal und erreichte ein Alter von 96 Jahren. Ueber die Mutter des Vaters fehlen
Notizen. Die Geschwister des Vaters sollen sämmtlich nervös sein. Die Mutter
der Patientin war nervenkrank, litt an Asthma. Deren Eltern waren ganz ge-
sund. Die Schwester der Mutter litt an Melancholie.
Patientin litt schon seit dem 10. Jahre an habituellem Kopfschmerz,
machte ausser Masern keine Krankheiten durch, war begabt, genoss die beste
Erziehung, hatte besonderes Talent für Musik und Sprachen, war genöthigt,
sich als Gouvernante auszubilden, war übermässig in den Entwicklungsjahren
Angeborene conträre Sexualempfindung beim Weibe. 289
geistig angestrengt, machte im 17. Jahre eine mehrmonatliche Melancholia
sine delirio durch. Patientin versichert, dass sie von jeher nur Sympathie für
Personen des eigenen Geschlechts hatte und an Männern höchstens ästhetisches
Interesse fand. Sinn für weibliche Arbeiten habe sie nie gehabt. Als kleines
Mädchen habe sie sich am liebsten mit Knaben herumgetummelt.
Patientin will gesund geblieben sein bis zum 27. Jahre. Da wurde sie
ohne äussere Ursache gemüthskrank — hielt sich für eine schlechte Person
voll Sünden, hatte an nichts mehr Freude, war schlaflos. Während dieser
Krankheitszeit war sie überdies von Zwangsvorstellungen geplagt, sich den
Tod, ihr eigenes Sterben und das ihrer Angehörigen vorstellen zu müssen.
Genesung nach etwa 5 Monaten. Sie wurde nun Gouvernante, war sehr an-
gestrengt, bis auf zeitweise neurasthenische Beschwerden, Spinalirritation
gesund.
Mit 28 Jahren machte sie die Bekanntschaft Niiner 5 Jahre jüngeren
Dame. Sie verliebte sich in dieselbe, fand Gegenliebe. Die Liebe war eine
sehr sinnliche, wurde in mutueller Onanie befriedigt. „Ich habe sie abgöttisch
geliebt — sie ist ein so edles Wesen," meint Patientin, als sie auf dieses
Liebesbündniss zu sprechen kommt, das 4 Jahre währte und mit der (unglück-
lichen) Heirath dieser Freundin sein Ende fand.
1885, nach vielen Gemüthsbewegungen, erkrankte Patientin unter dem
Bild einer Hysteroneurasthenie (Dyspepsia gastrica, Spinalirritation, starr-
krampfartige Anfälle, solche von Hemiopie mit Migräne, Anfälle von tran-
sitorischer Aphasie, Pruritus pudendi et ani). Im Februar 1886 traten diese
Symptome zurück.
Im März lernte Patientin ihren jetzigen Mann kennen und heirathete
ihn ohne langes Besinnen, da er reich, ihr sehr zugethan und sein Charakter
ihr sympathisch war.
Am 6. April las sie eines Tages die Phrase: „Der Tod verschont Nie-
mand". Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kehrten die früheren Todeszwangs-
vorstellungen wieder. Sie musste sich die schrecklichsten Todesarten für sich
und ihre Umgebung ausdenken, besonders Sterbescenen sich vorstellen, verlor
Ruhe und Schlaf, hatte an nichts mehr Freude. Der Zustand besserte sich.
Sie heirathete Ende Mai 1886, war aber damals noch von peinlichen Gedanken
geplagt, dass sie dem Mann und ihrer Freundschaft Unheil bringe.
Am 6. Juni 1886 erster Coitus. Sie war davon moralisch tief deprimirt.
So hatte sie sich die Ehe nicht gedacht! Anfangs war sie von heftigem
Taedium vitae geplagt. Der Mann, welcher seine Frau aufrichtig liebte, that
sein Möglichstes, um sie zu beruhigen. Consultirte Aerzte meinten, wenn
Patientin gravid werde, sei alles gut! Der Mann konnte sich das räthselhafte
Benehmen seiner Frau nicht erklären. Sie war freundlich gegen ihn, duldete
seine Liebkosungen, verhielt sich beim Coitus, dem sie thunlich auswich, ganz
passiv, war nach dem Akt tagelang matt, erschöpft, von Spinalirritation ge-
plagt, nervös.
Eine Reise des Ehepaares führte ein Wiedersehen der Freundin herbei,
die in unglücklicher Ehe seit 3 Jahren lebt. Die beiden Damen zitterten vor
Wonne und Erregung, als sie sich in die Arme sanken, waren von nun an
unzertrennlich. Der Mann fand, dass dieses Freundschaftsverhältniss doch ein
eigenthümliches sei und beschleunigte die Abreise. Gelegentlich überzeugte
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. \g
290 Paraesthesia sexualis.
er sich durch die Correspondenz seiner Frau mit dieser „Freundin", dass der
Briefwechsel genau dem zweier Liebenden entsprach.
Frau R. wurde schwanger. In der Gravidität schwanden die Reste
psychischer Depression und die Zwangsvorstellungen. Mitte September Abortus
etwa in der 9. Woche der Gravidität. Im Anschlüsse daran neuerliche Er-
scheinungen von Hysteroneurasthenie. Ueberdies Anteflexio et Lateropositio
dextra uteri. Anaemia. Atonia ventriculi. •
Patientin machte bei der Consultation den Eindruck einer höchst be-
lasteten neuropathischen Persönlichkeit. Unverkennbar war der neuropathische
Ausdruck des Auges. Habitus durchaus weiblich. Ausser sehr schmalem
steilem Gaumen keine Skeletabnormität. Patientin entschloss sich schwer zu
Mittheilungen über ihre sexuelle Abnormität. Sie klagte, dass sie geheirathet
habe, ohne zu wissen , was die Ehe zwischen Mann und "Weib sei. Sie liebe
ja ihren Gemahl herzlich ob seiner geistigen Vorzüge, aber der eheliche Um-
gang sei ihr eine Pein, sie leiste ihn widerwillig, ohne jemals eine Befriedi-
gung davon zu empfinden. Post actum sei sie tagelang ganz matt und er-
schöpft. Seit dem Abortus und dem Verbot des Arztes, ehelichen Umgang zu
pflegen, gehe es ihr besser, aber die Zukunft sei ihr schrecklich. Sie achte
ihren Mann, liebe ihn geistig, möchte alles für ihn thun, wenn er sie nur
sexuell künftig schone. Sie hoffe, dass mit der Zeit sie auch sinnlich für ihn
fühlen könne. Wenn er Violine spiele, komme es ihr oft vor, als ob eine
Empfindung in ihr auftauche, die mehr als Freundschaft sei, aber das sei nur
eine flüchtige Empfindung, in welcher sie keine Gewähr für die Zukunft er-
blicke. Ihr höchstes Glück sei die Correspondenz mit der früheren Geliebten.
Sie fühle, dass dies unrecht sei, aber sie könne davon nicht lassen, sonst fühle
sie sich namenlos elend.
Beobachtung 122. Homosexualität. Frau C, 32 Jahre alt,
Beamtengattin , eine grosse , nicht unschöne , durchaus weibliche Erscheinung,
stammt von neuropathischer, sehr aufgeregter Mutter. Ein Bruder war psycho-
pathisch und ging durch Potus zu Grunde. Patientin war von jeher sonderbar,
starrköpfig, verschlossen, jähzornig, excentrisch. Auch ihre Geschwister sind
aufgeregte Leute. In der Familie ist mehrfach Phthisis pulm. vorgekommen.
Schon als 13jähriges Mädchen machte Patientin, neben Zeichen grosser sexueller
Erregbarkeit, sich durch schwärmerische Liebe zu einer Altersgenossin auf-
fällig. Die Erziehung war streng, jedoch las Patientin heimlich viel Romane
und machte massenhaft Gedichte. Mit 18 Jahren heirathete sie, um aus un-
behaglichen Verhältnissen des elterlichen Hauses loszukommen.
Von jeher will sie ganz gleichgültig gegen Männer gewesen sein. That-
sächlich mied sie Bälle. Weibliche Statuen erregten ihr Wohlgefallen. Das
Höchste sei ihr immer der Gedanke gewesen, mit einem geliebten Weibe ehelich
verbunden zu werden. Ihrer sexuellen Eigenart will sie sich bis zur Eingehung
der Ehe nicht bewusst gewesen sein. Unerklärlich sei ihr die Sache allerdings
immer gewesen. Patientin unterzog sich der ehelichen Pflicht, gebar 3 Kinder,
von denen zwei an Convulsionen litten, lebte friedlich mit dem Mann, den sie
aber nur seiner moralischen Eigenschaften wegen achtete. Dem Coitus ging
sie gern aus dem Wege. „Ich hätte lieber mit einem Weibe verkehrt."
Patientin war bis 1878 neurasthenisch geworden. Anlässlich eines Bade-
Angeborene conträre Sexualempfindung beim Weibe. 291
aufenthalts lernte sie einen weiblichen Urning kennen, dessen Krankengeschichte
ich im Irrenfreund 1884, Nr. 1 als Beobachtung 6 veröffentlicht habe.
Patientin kehrte wie umgewechselt zur Familie heim. Der Mann be-
richtet: „Sie war nicht mehr mein "Weib, hatte keine Liebe mehr zu mir und
den Kindern und wollte von ehelichen Annäherungen nichts mehr wissen."
Sie entbrannte in brünstiger Liebe zur „Freundin", hatte für nichts Anderes
mehr Sinn. Nachdem der Mann der Dame das Haus verboten, gab es Brief-
wechsel mit Stellen wie: „Mein Täubchen, ich lebe ja nur für Dich, meine
Seele!" Rendez-vous, schreckliche Aufregung, wenn ein erwarteter Brief aus-
blieb. Das Verhältniss war kein platonisches. Aus einzelnen Andeutungen
lässt sich vermuthen, dass mutuelle Onanie das Mittel der sinnlichen Befriedi-
gung war. Dieses Liebesverhältniss dauerte bis 1882 und machte Patientin
in hohem Grade neurasthenisch.
Da Patientin ihr Hauswesen, gründlich vernachlässigte, nahm der Mann
eine 60jährige Dame als Haushälterin an, ausserdem eine Gouvernante für die
Kinder. Patientin verliebte sich in die Beiden, die wenigstens Liebkosungen
sich gefallen Hessen und von der Liebe der Herrin materiell profitirten.
Ende 1883 musste Patientin sich entwickelnder Tuberculosis pulm. wegen
nach dem Süden reisen. Dort lernte sie eine 40jährige Russin kennen, ver-
liebte sich sterblich in dieselbe, fand aber keine Gegenliebe nach ihrem Sinne.
Eines Tages brach Irrsinn bei der Kranken aus — sie hielt die Russin für
eine Nihilistin, glaubte sich von ihr magnetisirt, bot förmliches Verfolgungsdelir,
entfloh , wurde in einer Stadt Italiens aufgegriffen , ins Spital gebracht , be-
ruhigte sich bald wieder, verfolgte neuerdings die Dame mit ihrer Liebe, fühlte
sich namenlos unglücklich, plante Selbstmord.
Heimgekehrt war sie tief verstimmt, ihre Russin nicht zu besitzen, kalt
und abstossend gegen die Angehörigen; Ende Mai 1884 setzte ein deliranter
erotischer Aufregungszustand ein. Sie tanzte, jubelte, erklärte sich für männ-
lichen Geschlechts, verlangte nach ihrem früheren Geliebten, behauptete, aus
kaiserlichem Hause zu sein, entwich in Männerkleidung aus dem Hause, wurde
in manisch-erotischer Erregung der Irrenanstalt zugeführt. Der Exaltations-
zustand schwand nach einigen Tagen. Patientin wurde ruhig , deprimirt»
machte einen verzweifelten Selbstmordversuch, war in der Folge tief schmerz-
lich, mit Taedium vitae behaftet; die conträre Sexualempfindung trat immer
mehr zurück, die Tuberculose machte Fortschritte. Patientin starb phthisisch
Anfang 1885.
Die Section des Gehirns bot hinsichtlich des Baustils und der Windungs-
anordnung nichts Auffälliges. Gehirngewicht 1150. Schädel leicht asymmetrisch.
Keine anatomischen Degenerationszeichen. Innere und äussere Genitalien ohne
Anomalie.
Beobachtung 123. (Viraginität.) Fräulein N., 25 Jahre, stammt
von angeblich gesunden Eltern. Sämmtliche (5) Geschwister sind aber nervös,
drei derselben (Schwestern) verheirathet. Sie ist sehr talentirt, besonders für
schöne Künste. Schon als kleines Kind spielte sie am liebsten Soldaten- und
andere Knabenspiele, war keck und ausgelassen und that es darin selbst
Knaben zuvor. Sie hatte nie Sinn für Puppen und weibliche Handarbeit.
Mit dem 15. Jahr trat die Pubertät ein. Bald darnach verliebte sie sich in
292 Paraesthesia sexualis.
junge Damen, aber nur platonisch, da sie ein sittliches Mädchen ist. Seit
einigen Jahren ist ihre Libido sehr heftig geworden, so dass sie sich kaum
beherrschen kann. Sie hat lascive Träume, in welchen nur weibliche Indi-
viduen eine Rolle spielen, denen gegenüber sie sich in männlicher Position
fühlt. Seit einigen Jahren ist sie in eine ältere, etwa 40jährige Dame sterb-
lich verliebt. Sie quält dieselbe mit Eifersucht.
Frl. N. sind Männer ganz gleichgültig. Sie könnte ruhig mit ihnen
Zimmer und Lager theilen, während sie Personen des eigenen Geschlechts
gegenüber Schamhaftigkeit an den Tag legt.
Sie ist sich des Pathologischen ihres Zustandes bewusst.
Frl. N. hat männliche Gesichtszüge, tiefe Stimme, männliche Gehweise,
ist ohne Behaarung im Gesicht, hat schwach entwickelte Mammae, trägt kurz
geschnittenes Haar und macht den Eindruck eines Mannes in Frauenkleidern.
Beobachtung 124. (Viraginität.) C. R., Dienstmädchen, 26 Jahre,
leidet seit den Entwicklungsjahren an Paranoia originaria und Hysterismus,
hatte, wesentlich auf Grund ihrer Wahnideen, eine romanhafte Vergangenheit
und gerieth 1884 in der Schweiz, wohin sie aus Verfolgungswahn geflohen
war, in gerichtliche Untersuchung. Bei dieser Gelegenheit stellte sich heraus,
dass die R. mit conträrer Sexualempfindung behaftet ist.
Ueber die Eltern und die Verwandtschaft stehen keine Auskünfte zu
Gebot. Die R. will, ausser an Lungenentzündung mit 16 Jahren, früher nie
erheblich krank gewesen sein.
Erste Menstruation mit 15 Jahren ohne alle Beschwerden, in der Folge
oft unregelmässig und abnorm stark. Pat. versicherte, sie habe niemals
Neigung zu Personen des anderen Geschlechts gefühlt, nie die Annäherung
eines Mannes geduldet. Sie habe nie begreifen können, wie ihre Freundinnen
die Schönheit und Liebenswürdigkeit männlicher Personen besprechen konnten.
Sie könne nicht begreifen, wie sich ein Weib von einem Manne küssen lassen
könne. Dagegen sei es ihr Entzücken und Begeisterung gewesen, einen Kuss
auf die Lippen einer geliebten Freundin zu drücken. Sie habe eine ihr un-
begreifliche Liebe zu Mädchen. Sie habe einige Freundinnen schwärmerisch
geliebt und geküsst; sie hätte für diese ihr Leben hingeben mögen. Ihr
Höchstes wäre gewesen, mit einer solchen Freundin dauernd zusammenzuleben,
sie einzig und ganz zu besitzen.
Sie fühle sich dabei als Mann dem geliebten Mädchen gegenüber. Schon
als kleines Mädchen habe sie nur Sinn für Knabenspiele gehabt, am liebsten
Schiessen und Militärmusik gehört, sei von solcher immer ganz begeistert ge-
worden und wäre gerne als Soldat mitgezogen. Jagd und Krieg seien ihr Ideal
gewesen. Im Theater habe sie nur Sinn für die weiblichen Darsteller gehabt.
Sie wisse wohl, dass diese ganze Richtung unweiblich sei, aber sie könne nicht
anders. In männlicher Kleidung zu gehen, sei ihr ein grosser Genuss ge-
wesen, ebenso habe sie mit Vorliebe von jeher männliche Arbeit verrichtet und
dazu besonderes Geschick gezeigt, während sie das Gegentheil bezüglich weib-
licher Arbeit, besonders Handarbeit behaupten müsse. Auch liebt Pat. Rauchen
und geistige Getränke. Auf Grund von persecutorischen Wahnideen, um ver-
meintlichen Verfolgern zu entgehen, hat Pat. wiederholt in Männerkleidern
und männlichen Rollen sich bewegt. Sie that diess mit solchem (wohl an-
Angeborene conträre Sexualempfindung beim Weibe. 293
geborenem) Geschick, dass sie allgemein die Leute über ihr wahres Geschlecht
zu täuschen vermochte.
Aktenmässig ist festgestellt, dass Pat. schon 1884 längere Zeit bald in
Civilkleidern, bald in Lieutenantsuniform sich bewegte und in einem Männer-
anzug, wie ihn etwa Herrschaftsdiener tragen, im August 1884 aus Verfolgungs-
wahn aus Oesterreich nach der Schweiz flüchtete. Sie fand dort einen Dienst
in einer Kaufmannsfamilie und verliebte sich in die Tochter des Hauses, die
„schöne Anna", welche ihrerseits, das wahre Geschlecht der R. nicht erkennend,
sich in den schmucken jungen Mann verliebte.
Pat. macht über diese Episode folgende charakteristische Bemerkungen:
„Ich war ganz verliebt in die Anna. Ich weiss nicht, wie dies gekommen
ist, und kann mir keine Rechenschaft über diese Neigung geben. Tn dieser
fatalen Liebe liegt der Grund, dass ich so lange die Rolle des Mannes fort-
gespielt habe. Ich habe noch nie eine Liebe zu einem Manne gefühlt und
glaube, dass sich meine Liebe dem weiblichen und nicht dem männlichen
Geschlecht zuwendet. Ueber diesen, meinen Zustand bin ich mir durchaus
unklar." #
Aus der Schweiz schrieb die R. Briefe an ihre heimathliche Freundin
Amalie, die den Gerichtsakten beigelegt wurden. Es sind Briefe von schwär-
merischer, weit über das Mass der Freundschaft hinausgehender Liebe. Sie
apostrophirt die Freundin: „Meine Wunderblume, Sonne meines Herzens,
Sehnsucht meiner Seele". Sie sei ihr höchstes Glück auf Erden, ihr gehöre
das Herz. Auch in Briefen an die Eltern der Freundin heisst es : sie möchten
doch auf ihre „Wunderblume" schauen, denn würde diese sterben, so ver-
möchte auch sie das Leben nicht mehr zu ertragen.
Die R. befand sich zur Untersuchung ihres Geisteszustandes einige Zeit
in der Irrenanstalt. Als die Anna einmal zum Besuch bei der R. zugelassen
wurde, wollte das feurige Umarmen und Küssen kein Ende nehmen. Die
erstere gab unverhohlen zu, dass sie sich schon daheim mit der gleichen Zärt-
lichkeit umarmt und geküsst hätten.
Die R. ist eine grosse, schlanke, stattliche Erscheinung, von durchaus
weiblichem Bau, aber mehr männlichen Zügen. Schädel regelmässig, keine
anatomischen Degenerationszeichen, Genitalien ganz normal und ganz jung-
fräulich. Die R. machte den Eindruck einer sittlich unverdorbenen und de-
centen Persönlichkeit. Alle Umstände deuteten darauf, dass sie nur platonisch
geliebt habe, Blick und Erscheinung deuten auf eine neuropathische Persön-
lichkeit. Schwerer Hysterismus, zeitweise starrkrampfartige Anfälle mit visio-
nären und deliranten Zuständen. Pat. ist sehr leicht durch hypnotische Be-
einflussung in Somnambulismus zu bringen und in diesem Zustande aller
möglichen Suggestionen fähig. (Eigene Beobachtung. Friedreich's Blätter
1881. Heft 1.)
Beobachtung 125. (Viraginität.) Fräulein 0., 23 Jahre, stammt
von Constitutionen und schwer hysteropathischer Mutter. Der Vater der
Mutter war irrsinnig. Von väterlicher Seite stammt Pat. aus unbelasteter
Familie.
Der Vater starb früh an Pneumonie. Pat. wird mir von ihrem Curator
zugeführt, weil sie kürzlich von Hause in Männerkleidern durchging, um die
294 Paraesthesia sexualis.
Welt zu durchstreifen und .Künstler" zu werden. Pat. ist nämlich sehr für
Musik talentirt.
Schon seit Jahren ist Frl. 0. auffällig durch ihr keckes, mehr männ-
liches Wesen und ihr Bestrehen, Haar und Kleidung thunlichst nach männ-
lichem Zuschnitt zu tragen. Seit dem 13. Jahr zeigte sie schwärmerische
Liebe zu Freundinnen, denen sie oft durch brünstige Umarmungen geradezu
lästig fiel.
Pat. macht bei der Consultation kein Hehl aus ihrer Leidenschaft für
Personen des eigenen Geschlechts. Seit ihrem 13. Jahr sei sie sich bewusst,
dass sie nur solche lieben könne. Sie fühle sich als Mann dem Weibe gegen-
über, meint, sie sehe auch ganz männlich aus, und ginge am liebsten in
Männerkleidem.
Vor nicht langer Zeit habe sie einen bei der Pobzei angestellten Ver-
wandten allen Ernstes um seine Vermittlung gebeten, dass ihr gestattet werde,
in Männerkleidern zu gehen.
Ihre erotischen Träume drehen sich nur um intimen Verkehr mit Freun-
dinnen. Irgend ein Interesse für Männer habe sie nie empfunden, auch nie
daran gedacht, dass sie je heirathen könnte.
Pat. fühlt sich in ihrer abnormen sexuellen Rolle ganz glücklich und
kann sie nicht als krankhaft anerkennen. Dass ihr sexuelles Fühlen im Wider-
spruch mit dem anderer Weiber steht, vermag sie nicht einzusehen. Sie ist
geistig entschieden beschränkt und originär psychisch abnorm.
Der Schädelumfang beträgt nur 51 cm. Pat. hat Wolfsrachen. Das
Skelet ist durchaus weiblich, bis auf auffallend grosse und mehr männliche
Füsse. Die Bewegungen und die ganze Pose, gleichwie auch der Gang sind
mehr männlich. Die Stimme ist weiblich. Pat. ist seit dem 13. Jahr regel-
mässig menstruirt.
Beobachtung 126. (Gynandrie.) Fräulein X., 38 Jahre, erschien
im Spätherbst 1881 in meiner Sprechstunde wegen heftiger Spinalirritation
und hartnäckiger Schlaflosigkeit, in deren Bekämpfung sie Morphinistin und
Chloralistin geworden sei.
Die Mutter und Schwester waren nervenkrank, die übrige Familie an-
geblich gesund. Das Leiden datirte angeblich seit einem Fall auf den Rücken
1872, wobei Pat. heftig erschrocken war, jedoch litt sie schon als Mädchen
an Muskelkrämpfen und hysterischen Symptomen. Im Anschluss an den Sturz
entwickelte sich eine neurasthenisch-hysterische Neurose mit vorwaltender
Spinalirritation und Schlaflosigkeit. Episodisch kamen hysterische Paraplegie
bis zu 8 Monaten Dauer und Zustände von hyster. hallucinator. Delir mit
Krampfanfällen vor. Dazu gesellten sich im Verlauf Symptome des Morphi-
nismus. Ein mehrmonatlicher Aufenthalt in der Klinik beseitigte diesen und
besserte erheblich die neurasthenische Neurose, wobei allgemeine Faradisation
eine auffällig günstige Wirkung zeigte.
Schon bei der ersten Begegnung hatte Pat. durch Kleidung, Züge und
Benehmen einen auffälligen Eindruck gemacht. Sie trug einen Herrenhut, die
Haare kurz geschoren, Zwicker, Herrencravatte, ein rockartiges, weit über das
Damenkleid herabreichendes Oberkleid mit männlichem Zuschnitt, Stiefel mit
Absätzen; sie hatte grobe, mehr männliche Züge, rauhe, etwas tiefe Stimme
Angeborene conträre Sexualempfindung beim Weibe. 295
und machte eher den Eindruck eines Mannes im Weiberrock als den einer Dame,
wenn man vom Busen und entschieden weiblichen Bau des Beckens absah.
Pat. bot in der langen Beobachtungszeit nie Zeichen von Erotismus.
Ueber ihre Kleidung interpellirt meinte sie nur, die von ihr gewählte Tracht
kleide sie besser. Allmählich brachte man aus ihr heraus, dass sie schon als
kleines Mädchen Vorliebe für Pferde und männliche Beschäftigung hatte, jedoch
niemals Interesse für weibliche Arbeiten. Später habe sie besonders gerne
gelesen und einen Beruf als Lehrerin angestrebt. Das Tanzen habe sie nie
gefreut, es sei ihr immer als ein Unsinn erschienen. Auch das Ballet habe
sie nie interessirt. Ihr höchster Genuss sei der Circus gewesen. Bis zu ihrer
Krankheit 1872 habe sie weder Neigung zu Personen des anderen, noch zu
solchen des eigenen Geschlechtes empfunden. Von da an habe sie eine ihr
selbst auffällige Freundschaft gegen weibliche Personen, vorwiegend jüngere
Damen, gefühlt und das Bedürfniss gehabt und befriedigt, Hüte und Paletot
nach männlichem Zuschnitt zu tragen. Schon seit 1869 hatte sie überdies
ihre Haare kurz geschoren und trug sie, wie Männer sie zu scheiteln pflegen.
Sinnlich erregt will sie nie im Umgang mit ihnen gewesen sein, aber ihre
Freundschaft und Opferwilligkeit gegen ihr sympathische Damen sei grenzen-
los gewesen, während sie von da an Widerwillen gegen Herren und Herren-
gesellschaft empfand.
Die Verwandten berichten, dass Pat. vor 1872 einen Heirathsantrag
hatte, denselben aber zurückwies und von einer 1874 unternommenen Bade-
reise sexuell geändert zurückkam und gelegentliche Andeutungen machte, sie
halte sich nicht für ein weibliches Wesen.
Seither wolle sie nur mit Damen umgehen, habe immer so eine Art
Liebesverhältniss mit Der oder Jener, lasse gelegentlich Bemerkungen fallen,
dass sie sich als Mann fühle. Diese Anhänglichkeit an Damen sei eine ent-
schieden über die Freundschaft hinausgehende, mit Thränen, Eifersucht u. s. w.
Als sie 1874 in einem Badeort weilte, habe sich eine junge Dame in Pat., sie für
einen verkleideten Mann haltend, verliebt. Als jene Dame später heirathete,
sei Pat. eine Zeitlang ganz schwermüthig gewesen und habe von Untreue ge-
sprochen. Auch den Verwandten fiel die Hinneigung zu männlicher Kleidung
und männlichem Benehmen, die Abneigung gegen weibliche Arbeiten seit der
Erkrankung auf, während Pat. früher, mindestens in sexueller Hinsicht, nichts
Auffälliges geboten habe. Weitere Nachforschungen ergaben, dass Pat. mit
der in Beobachtung 122 geschilderten Dame in einem jedenfalls nicht rein
platonischen Liebesverhältniss steht und ihr zärtliche Briefe schreibt, etwa so
wie ein Liebhaber der Geliebten. Ich sah 1887 Pat. wieder in einer Heil-
anstalt, wohin sie wegen hysteroepilep tischer Anfälle, Spinalirritation und
Morphinismus gebracht worden war. Die conträre Sexualempfindung bestand
unverändert fort und war Pat. nur durch sorgsame Ueberwachung von unzüch-
tigen Angriffen auf weibliche Mitpatienten abzuhalten.
Der Zustand blieb ziemlich unverändert bis 1889. Da verfiel Pat. dem
Siechthum und starb August 1889 in „Erschöpfung".
Die Sektion ergab in den vegetativen Organen : Degeneratio amyloidea
renum, Fibroma uteri, Cystis ovarii sinistri. Das Stirnbein erschien stark ver-
dickt, an der Innenfläche uneben, mit zahlreichen Exostosen besetzt, die Dura
mit dem Schädeldach verwachsen.
296 Paraesthesia sexualis.
Längsdurchmesser des Schädels 175, Breitendurchmesser 148 mm. Ge-
sammtgewicht des ödematösen, aber nicht atrophischen Gehirns 1175 g.
Meningen zart, leicht ablösbar. Hirnrinde blass. Hirnwindungen breit, wenig
zahlreich, regelmässig angeordnet. Im Kleinhirn und den grossen Ganglien
nichts Abnormes.
Beobachtung 127. (Gynandrie1). Anamnese. Am 4. November 1889
erstattete der Schwiegervater eines Grafen Sandor V. die Anzeige, dass dieser
ihm unter dem Vorwande, einer Caution als Secretär einer Aktiengesellschaft
zu benöthigen, 800 fl. herausgelockt habe. Ueberdies habe sich herausgestellt,
dass Sandor Verträge gefälscht, die im Frühjahr 1889 erfolgte Trauung fingirt
habe und vor Allem, dass dieser angebliche Graf Sandor gar kein Mann sei,
sondern ein in Männerkleidern einhergehendes Weib und Sarolta (Charlotte)
Gräfin V. heisse.
S. wurde verhaftet und wegen Verbrechens des Betrugs und Fälschung
öffentlicher Urkunden in Voruntersuchung gezogen. Im ersten Verhör bekennt
S., geb. 6. Dezember 1866, dass er weiblichen Geschlechtes, katholisch, ledig
und als Schriftstellerin unter dem Namen Graf Sandor V. beschäftigt sei.
Aus der Autobiographie dieses Mannweibes ergeben sich folgende be-
merkenswerthe, von anderer Seite bestätigte Thatsachen.
S. stammt aus einer altadeligen, hochangesehenen Familie Ungarns,' in
welcher Excentricität Familieneigenthümlichkeit war. Eine Schwester der Gross-
mutter mütterlicherseits war hysterisch, somnambul und lag wegen eingebil-
deter Lähmung 17 Jahre zu Bette. Eine 2. Grosstante brachte wegen ein-
gebildeter Todeskrankheit 7 Jahre im Bette zu, gab aber gleichwohl Bälle.
Eine 3. hatte den Spleen, dass eine Console in ihrem Salon verwünscht sei.
Legte Jemand etwas auf diese Console, so gerieth sie in höchste Aufregung,
schrie „verwünscht, verwünscht" und eilte mit dem Gegenstand in ein Zimmer,
das sie die „schwarze Kammer" nannte und dessen Schlüssel sie niemals aus
den Händen gab. Nach dem Tod dieser Dame fand man in der schwarzen
Kammer eine Anzahl von Shawls, Schmucksachen, Banknoten u. s. w. Eine
4. Grosstante Hess 2 Jahre ihr Zimmer nicht kehren, wusch und kämmte sich
nicht. Nach 2 Jahren erst kam sie wieder zum Vorschein. Alle diese Frauen
waren nebenher geistreich, gebildet, liebenswürdig.
S.'s Mutter war nervös und konnte den Mondschein nicht ertragen.
Von der väterlichen Familie behauptet man, dass sie einen Sporn zuviel
habe. Eine Linie der Familie beschäftigt sich fast ausschliesslich mit Spiritis-
mus. Zwei Blutsverwandte väterlicherseits haben sich erschossen. Die Mehr-
zahl der männlichen Angehörigen ist ausserordentlich talentirt. Die weib-
lichen sind durchweg beschränkte, hausbackene Persönlichkeiten. Der Vater
S.'s hatte eine hohe Stellung, aus der er jedoch wegen seiner Excentricität
und Verschwendung (er verschwendete über 1 Va Millionen) ausscheiden musste.
Eine Marotte des Vaters war es u. A., dass er S. ganz als Knaben erzog,
sie reiten, kutschiren, jagen liess, ihre Energie als Mann bewunderte, sie Sandor
nannte.
*) Vgl. die ausführlichen gerichtsärztlichen Gutachten über diesen Fall
von Dr. Birnbacher in Friedreich's Blättern f. ger. Med. 1891, H. 1.
Angeborene conträre Sexualempfindung beim Weibe. 297
Dagegen liess dieser närrische Vater seinen 2. Sohn in Weiberkleidern
gehen und als Mädchen erziehen. Die Farce hörte mit dem 15. Jahre, wo
dieser Sohn eine höhere Bildungsanstalt bezog, auf.
Sarolta-Sandor blieb unter dem Einfluss des Vaters bis zum 12. Jahre,
kam dann zur excentrischen mütterlichen Grossmutter nach Dresden und wurde
von dieser, als der männliche Sport zu sehr überhand nahm, in ein Institut
gebracht und in Weiberkleider gesteckt.
13 Jahre alt, ging sie dort mit einer Engländerin, der sie sich als Bub
erklärte, ein Liebesverhältniss ein und entführte sie.
Sarolta kam zur Mama, die aber nichts ausrichtete und es zulassen
musste, dass ihre Tochter wieder Sandor wurde, Knabenkleider trug und jedes
Jahr mindestens ein Liebesverhältniss mit Personen des eigenen Geschlechtes
inscenirte. Daneben erhielt S. eine sorgfältige Erziehung, machte grössere
Reisen mit dem Vater, natürlich immer als junger Herr, emancipirte sich
frühe, besuchte Cafes, selbst zweideutige Lokale und rühmte sich sogar eines
Tages im Lupanar in utroque genu puellas sedisse. S. war oft berauscht,
passionirt für männlichen Sport, ein sehr gewandter Fechter. S. fühlte sich
sehr zu Schauspielerinnen oder sonstigen alleinstehenden, womöglich nicht
ganz jungen Damen hingezogen. Sie versichert, nie eine Neigung zu einem
jungen Mann gefühlt und von Jahr zu Jahr eine zunehmende Abneigung
gegen Männer empfunden zu haben. „Ich ging am liebsten mit unschönen,
unscheinbaren Männern in Damengesellschaft, damit ja keiner mich in Schatten
stelle. Bemerkte ich, dass einer Sympathien bei den Damen erweckte, so
wurde ich eifersüchtig. Ich zog bei Damen geistreiche den körperlich schönen
vor. Dicke und gar männersüchtige konnte ich nicht ausstehen. Ich liebte
es, wenn sich die Leidenschaft einer Frau unter poetischem Schleier offenbarte.
Alles Schamlose an einer Frau war mir ekelhaft. Ich hatte eine unaussprech-
liche Idiosynkrasie gegen weibliche Kleider, überhaupt gegen alles Weibliche,
aber nur an und bei mir, denn im Gegentheil, ich schwärmte ja für das schöne
Geschlecht."
Seit etwa 10 Jahren lebte S. fast beständig ferne von ihren Angehörigen
und als Mann. Sie hatte eine Menge Liaisons mit Damen, machte mit solchen
Reisen, verschwendete viel Geld, machte Schulden.
Daneben ergab sie sich literarischer Thätigkeit und war geschätzter
Mitarbeiter zweier angesehener Zeitschriften der Hauptstadt.
Ihre Leidenschaft für Damen war eine sehr wechselnde, Beständigkeit
in der Liebe war nicht vorhanden.
Nur einmal dauerte eine solche Liaison 3 Jahre. Es war vor Jahren,
dass S. auf Schloss G. die Bekanntschaft der um 10 Jahre älteren Emma E.
machte. Sie verliebte sich in diese Dame, machte mit ihr einen Ehecontract
und lebte 3 Jahre mit ihr wie Mann und Frau in der Hauptstadt.
Eine neue Liebe, die S. verhängnissvoll werden sollte, veranlasste sie,
das „Eheband" mit E. zu lösen. Diese wollte nicht von ihr lassen. Nur mit
schweren Opfern erkaufte S. ihre Freiheit von E., die angeblich jetzt noch
sich als geschiedene Frau gerirt und sich als Gräfin V. betrachtet! Dass S.
auch bei anderen Damen Leidenschaft hervorzurufen vermochte, geht daraus
hervor, dass, als sie (vor der „Eheschliessung" mit E.) eines Fräuleins D.
überdrüssig geworden war, nachdem sie mit dieser einige tausend Gulden
298 Paraesthesia sexualis.
verjubelt hatte, von der D. mit Erschiessen bedroht wurde, Wenn sie ihr nicht
treu bleibe.
Es war im Sommer 1887 während eines Aufenthaltes in einem Badeort,
dass S. die Bekanntschaft einer angesehenen Beamtenfamilie E. machte. So-
fort verliebte sich S. in die Tochter Marie und fand Gegenliebe. Deren Mutter
und Cousine suchten dieses Liebesverhältniss zu hintertreiben, aber vergebens.
Ben Winter über correspondirten die beiden Liebenden eifrig mit einander.
Im April 1888 kam Graf S. zum Besuch und im Mai 1889 erreichte er das
Ziel seiner Wünsche, indem Marie, die inzwischen eine Stelle als Lehrerin
aufgegeben hatte, in Gegenwart eines Freundes ihres geliebten S. in einem
Gartenhause von einem Pseudopriester in Ungarn getraut wurde. Den Trau-
schein fingirte S. mit seinem Freunde. Das Paar lebte in Glück und Freude
und ohne die Anzeige des schlimmen Schwiegervaters hätte diese Scheinehe,
voraussichtlich noch lange gedauert. Bemerkenswerth ist, dass S. während
des ziemlich langen Brautstands die Familie seiner Braut über sein wahres
Geschlecht vollkommen zu täuschen wusste.
S. war passionirter Raucher, hatte durchaus männliche Allüren und
Passionen. Seine Briefe und selbst gerichtliche Zustellungen gelangten unter
der Adresse „Graf S." an ihn, auch sprach er öfter davon, dass er zu einer
Waffenübung einrücken müsse. Aus Andeutungen des „Schwiegervaters" geht
hervor, dass S. (was dieser auch später zugestand) mittelst in den Hosensack
eingestopften Sacktuches oder auch Handschuhes ein Scrotum zu markiren
wusste. Auch bemerkte der Schwiegervater einmal etwas wie ein erigirtes
membrum am künftigen Schwiegersohn (wahrscheinlich ein Priap), der auch
gelegentlich die Bemerkung fallen Hess, er müsse beim Reiten ein Suspensorium
tragen. Thatsächlich trug S. eine Bandage um den Leib, möglicherweise zur
Befestigung eines Priaps.
Obwohl S. sich auch pro forma öfters rasiren Hess, war man im Hotel
gleichwohl überzeugt, dass er ein Weib sei, weil das Stubenmädchen in der
Wäsche Spuren von Menstrualblut fand (was S. aber als hämorrhoidales er-
klärte) und gelegentlich eines Bades, das S. nahm, durch das Schlüsselloch sich
von dessen weiblichem Geschlecht überzeugt haben wollte.
Die Familie der Marie macht es glaublich, dass diese lange Zeit über
das wahre Geschlecht ihres Pseudogatten in Täuschung befangen war.
Für die unglaubliche Naivität und Unschuld dieses unglücklichen
Mädchens spricht folgende Stelle in einem Briefe Mariens an S. vom
26. August 1889:
„Ich mag keine fremden Kinder mehr, aber so ein Bezerl von meinem
Saudi, so ein Patscherl — ach, welch Glück, mein Sandi!"
Bezüglich der geistigen Individualität S.'s geben eine grosse Anzahl vor-
handener Manuscripte erwünschten Aufschluss. Die Schriftzüge haben den Cha-
rakter der Festigkeit und Sicherheit. Es sind echt männHche Züge. Der Inhalt
wiederholt sich überall in denselben Eigenthümlichkeiten : — wilde zügellose
Leidenschaft, Hass und Widerstand gegen Alles, was dem nach Liebe und
Gegenliebe dürstenden Herzen sich gegenüberstellt, poetisch angehauchte Liebe,
in der auch nicht mit einem Zug Unedles berührt wird, Begeisterung für alles
Schöne und Edle, Sinn für Wissenschaft und schöne Künste.
Ihre Schriften verrathen ungewöhnliche Belesenheit in Klassikern aUer
Angeborene conträre Sexualempfindung beim Weibe. 299
Sprachen, Citate aus Poeten und Prosaikern aller Länder. Von berufener
Seite wird auch versichert, dass S.'s dichterische und belletristische Erzeugnisse
nicht unbedeutend sind.
Psychologisch bemerkenswerth sind die das Verhältniss zu Marie be-
rührenden Briefe und Schriften.
S. spricht von der Seligkeit, die ihr an M.'s Seite blühte, äussert
masslose Sehnsucht, das angebetete Weib, wenn auch nur für einen Moment
zu sehen. Nach solcher Schmach wünscht sie nur mehr die Zelle mit dem
Grab zu vertauschen. Der bitterste Schmerz sei das Bewusstsein, dass jetzt
auch Marie sie hasse. Heisse Thränen, so viel, dass sie sich darin ertränken
könnte, habe sie um ihr verlorenes Glück geweint. Ganze Bogen behandeln
die Apotheose dieser Liebe, Reminiscenzen aus der Zeit der ersten Liebe und
Bekanntschaft.
S. klagt über ihr Herz, das sich von keinem Verstände dominiren Hess,
sie äussert Gefühlsausbrüche, die man nur fühlen, nicht aber simuliren kann.
Dann wieder Ausbrüche tollster Leidenschaft mit der Erklärung, ohne Marie
nicht leben zu können. „Deine theure, liebe Stimme, diese Stimme, auf deren
Klang ich vielleicht noch vom Grabe aufstehen werde, deren Klang mir immer
die Verheissung des Paradieses gewesen ist. Deine blosse Gegenwart war
genug, um meine physischen und moralischen Leiden zu lindern. Es war das
ein magnetischer Strom, es war das eine eigenthümliche Macht, welche dein
Wesen auf meines ausübte und welches ich mir auch nie ganz definiren kann.
So blieb ich bei der ewig wahren Definition: ich lieb' sie, weil ich sie liebe. —
In trostloser Nacht hatte ich nur einen Stern, den Stern der Liebe von Marie.
Der Stern ist nunmehr erloschen — es ist nur mehr der Widerschein davon
da, die süsse, wehmüthige Erinnerung, die auch die wirklich schauerliche Nacht
des Sterbens mit sanftem Scheine erleuchtet, ein Schimmer der Hoffnung,
diese Schrift endet mit der Apostrophe: meine Herren, weise Rechtsgelehrte,
Psycho- und Pathologen, richten Sie mich ! Jeden Schritt, den ich that, leitete
die Liebe, jede meiner Thaten war durch sie bedingt — Gott hat sie mir ins
Herz gegeben. Wenn er mich so schuf und nicht anders, bin ich denn daran
schuld oder sind es die ewig unergründlichen Wege des Schicksals? Ich baute
auf Gott, dass eines Tages die Erlösung kommen werde, denn mein Fehler
war nur die Liebe selbst, welche die Grundlage, der Grundsatz seiner Lehren,
seines Reiches selbst ist. —
Mein Gott, du Barmherziger, Allmächtiger, du siehst meine Qual, du
weisst, wie ich leide. Neige dich zu mir und reiche mir deine helfende Hand,
wo mich schon die ganze Welt verlassen. Nur Gott ist gerecht. Wie schön be-
schreibt dies V. Hugo in seinen Legendes du siecle. Wie traurig malerisch klingt
mir die Mendelssohn'sche Weise: „Allnächtlich im Traume seh' ich dich ..."
Obwohl S. weiss, dass keine ihrer Schriften ihren „angebeteten Löwen-
kopf erreicht, ermüdet sie nicht, in bogenlangen Vergötterungen von Mariens
Person Ausbrüche von Liebesschmerz und Liebeswonne zu schreiben, „sich nur
noch eine helle glänzende Thräne zu erbitten, geweint an einem stillen hellen
Sommerabend, wenn der See im Abendschein erglüht wie geschmolzenes Gold
und die Glocken von St. Anna und Maria-Wörth, in harmonischer Melancholie
verschmelzend, Ruhe und Frieden verkünden — für jene arme Seele, für dieses
arme Herz, das bis zum letzten Hauch für dich geschlagen."
300 Paraesthesia sexualis.
PersönlicheExploration. Die erste Begegnung, welche die Gerichts-
ärzte mit S. hatten, war einigermassen eine Verlegenheit für beide Theile, für
die ersteren, weil S.'s vielleicht etwas greller forcirte männliche Tournüre im-
ponirte, für sie, weil sie der Meinung war, mit dem Stigma der moral insanity
bemakelt zu werden. Ein nicht unschönes, intelligentes Gesicht, das trotz
einer gewissen Zartheit der Züge und Kleinheit aller Parthien ein ganz ent-
schieden männliches Gepräge hatte, wenn nicht der schwer entbehrte Schnurr-
bart fehlen würde ! Fiel es doch selbst den Gerichtsärzten schwer, trotz Damen-
kleidung immer gegenwärtig zu haben, dass es sich um eine Dame handelt,
während der Verkehr mit dem Manne Sandor viel ungezwungener, natürlicher,
scheinbar correcter von Statten geht. Dies empfindet auch die Angeschuldigte.
Sie wird sofort offener, mittheilsamer, freier, sobald man sie wie einen Mann
behandelt.
Trotz ihrer schon von den ersten Lebensjahren an vorhandenen Zuneigung
zum weiblichen Geschlecht will sie doch erst im 13. Jahr, gelegentlich der
Entführung der rothhaarigen Engländerin aus dem Dresdener Institute, die
ersten Spuren sexuellen Triebes verspürt haben, der sich schon damals in
Küssen, Umarmungen, Berührungen mit wollüstigen Empfindungen manifestirte.
Schon damals erschienen ihr in ihren Traumbildern ausschliesslich weibliche
Gestalten und habe sie sich, wie auch seither immer, in wollüstigen Träumen
in der Situation eines Mannes gefühlt und gelegentlich auch Ejaculation dabei
verspürt.
Solitäre oder mutuelle Onanie kenne sie nicht. So etwas erscheine ihr
höchst ekelhaft und der „ Manneswürde " (!) nicht entsprechend. Sie habe sich
auch niemals von Anderen ad genitalia berühren lassen, schon deshalb nicht,
weil es ihr um die Wahrung ihres grossen Geheimnisses zu thun war. Die
Menses stellten sich erst mit 17 Jahren ein, verliefen immer schwach und ohne
Beschwerden. Besprechung menstrualer Vorgänge perhorrescirt S. sichtlich, das
sei etwas ihrem männlichen Bewusstsein und Fühlen sehr Zuwideres. Sie er-
kennt die Krankhaftigkeit ihrer sexuellen Neigungen an, wünscht sich aber
nichts Anderes, da sie sich in dieser perversen Empfindung vollkommen wohl
und glücklich fühle. Die Idee eines sexuellen Verkehrs mit Männern mache
ihr Ekel und ihre Ausführung halte sie für unmöglich.
Ihre Schamhaftigkeit erstrecke sich so weit, dass sie eher unter Männern
schlafen könnte als unter Frauen. So müsse sie, wenn sie ein Bedürfniss
befriedigen wolle oder die Wäsche wechsle, ihre Zellengenossin bitten, so lange
sich vom Fenster abzuwenden, damit sie ihr nicht zusehen könne.
Als S. gelegentlich mit dieser Zellengenossin, einer Person aus der Hefe
des Volkes, in Berührung kam, empfand sie wollüstige Erregung und musste
darüber erröthen. S. erzählt sogar ungefragt, dass sie von förmlicher Angst
befallen wurde, als sie in der Gefängnisszelle sich in die ungewohnten Frauen-
kleider wieder einzwängen lassen musste. Ihr einziger Trost war, dass man
ihr wenigstens ihr Herrenhemd liess. Bemerkenswerth, und für die Bedeutung
von Geruchsempfindungen in ihrer Vita sexualis sprechend, ist auch ihre Mit-
theilung, dass sie gelegentlich einer Entfernung ihrer Marie jene Parthien des
Sopha aufgesucht und berochen habe, an denen Mariens Kopf zu liegen pflegte,
um aus diesen Stellen mit Wonne den Geruch der Haare zu inhaliren. Von
Frauen interessiren S. nicht gerade schöne oder üppige, auch nicht sehr junge.
Angeborene conträre Sexualempfindung beim Weibe. 301
Sie stellt überhaupt die körperlichen Reize des Weibes in zweite Linie. Sie
fühlt sich zu denen von etwa 24 — 30 Jahren hingezogen wie mit „magneti-
schem" Zug. Ihre sexuelle Befriedigung fand sie ausschliesslich in corpore
feminae (nie am eigenen Körper) in Form von Manustupration des geliebten
Weibes oder Cunnilingus. Gelegentlich bediente sie sich auch eines mit Werg
ausgestopften Strumpfes als Priap. Diese Eröffnungen macht S. nur ungern,
mit sichtlichem Schamgefühl ; gleichwie in ihren Schriften auch niemals Scham-
losigkeit oder Cynismus sich finden.
Sie ist religiös, hat lebhaftes Interesse für alles Edle und Schöne, aus-
genommen für Männer, ist sehr empfänglich für sittliche Werthschätzung
seitens Anderer.
Sie bedauert tief, dass sie in ihrer Leidenschaft Marie unglücklich
gemacht, findet ihre sexualen Empfindungen pervers und solche Liebe eines
Weibes zum anderen bei Gesunden moralisch verwerflich. Sie ist hoch
talentirt für literarische Leistungen, besitzt seltenes Gedächtniss. Ihre einzige
Schwäche ist der colossale Leichtsinn und die Unmöglichkeit, mit Geld und
Geldeswerth vernünftig umzugehen. Sie ist sich jedoch dieser Schwäche be-
wusst und bittet, darüber nicht weiter zu sprechen.
S. ist 153 cm hoch, von zartem Knochenbau, mager, jedoch an Brust
und Oberschenkeln auffallend muskulös. Der Gang ist in Weiberkleidern
ungeschickt.
Ihre Bewegungen sind kräftig, nicht unschön, wenn auch mehr männ-
lich steif, ungraziös. Ihre Begrüssung erfolgt mit kräftigem Händedruck. Das
ganze Auftreten ist decidirt, stramm, etwas selbstbewusst. Blick intelligent,
Miene etwas verdüstert. Füsse und Hände auffallend klein , auf infantiler
Stufe stehen geblieben. Streckseiten der Extremitäten auffallend stark be-
haart, während von Barthaaren, trotz aller Rasirexperimente, nicht einmal ein
Flaum zu bemerken ist. Der Rumpf entspricht durchaus nicht weiblicher
Bauart. Es fehlt die Taille. Das Becken ist so schlank und so wenig promi-
nirend, dass eine von der Achselhöhle zum entsprechenden Knie gezogene Linie
der Richtung der Geraden entspricht und durch eine Taille nicht ein-, durch
das Becken nicht auswärts gedrängt wird. Der Schädel ist leicht oxycephal
und bleibt in allen Massen um wenigstens 1 cm unter dem Durchschnittsmass
des weiblichen zurück.
Die Schädelcircumferenz beträgt 52, die Ohrhinterhauptlinie 24, die
Ohrscheitellinie 23, Ohrstirnlinie 28,5, Längsumfang 30, Ohrkinnlinie 26,5,
Längsdurchmesser 17, grösster Breitedurchmesser 13, Distanz der Gehörgänge 12,
der Jochfortsätze 11,2 cm. Der Oberkiefer springt stark vor, sein Alveolar-
fortsatz überragt den Unterkiefer um 0,5 cm. Zahnstellung nicht ganz normal.
Der rechte obere Augenzahn hat sich nie entwickelt. Mund auffallend klein.
Ohren abstehend, Läppchen nicht differenzirt , in die Wangenhaut sich ver-
lierend. Harter Gaumen schmal, steil. Stimme rauh, tief. Brustdrüsen ge-
nügend entwickelt, weich, ohne Sekret. Der Mons Veneris mit dichten dunklen
Haaren bedeckt. Genitalien vollkommen weiblich, ohne Spur von hermaphro-
ditischen Erscheinungen, aber auf der infantilen Stufe des 10jährigen
Mädchens stehen geblieben. Die Labia majora berühren sich fast voll-
ständig, die minora haben hahnenkammartige Form und prominiren über die
grossen. Die Clitoris ist klein und höchst empfindlich. Frenulum zart, Peri-
302 Paraesthesia sexualis.
neum sehr schmal, Introitus vaginae enge, Schleimhaut normal. Hymen fehlt
(wahrscheinlich angeboren), ebenso die Carunculae myrtiformes. Vagina derart
enge, dass die Einführung eines Membrum virile unmöglich wäre, überdies
höchst empfindlich. Ein Coitus hat bisher jedenfalls nicht stattgefunden.
Uterus wird durchs Rectum etwa wallnussgross gefühlt, derselbe ist unbeweg-
lich und retroflektirt.
Das Becken erscheint als ein allseitig verengtes (Zwergbecken) mit ent-
schieden männlichem Typus. Die Distanz der vorderen Darmbeinstachel be-
trägt 22,5 (statt 26,3), die der Darmbeinkämme 26,5 (statt 29,3), die der Roll-
hügel 27,7 (31), die äussere Conjugata 17,2 (19—20), daher vermuthlich die
innere 7,7 (10,8) haben wird. Wegen mangelhafter Breite des Beckens ist
auch die Stellung der Oberschenkel keine convergente wie beim Weib, sondern
eine gerade.
Das Gutachten erwies , dass bei S. eine angeborene krankhafte Ver-
ahrung der Geschlechtsempfindung, welche sogar anthropologisch in Anomalien
der Körperentwicklung sich ausspricht, verbunden sei, auf Grund schwerer
hereditärer Belastung, ferner dass die incriminirten Handlungen der S. ihre
Begründung in ihrer krankhaften und unwiderstehlichen Sexualität finden.
Insofern habe S.'s bezeichnende Aeusserung: „Gott hat mir die Liebe
ins Herz gegeben. Wenn er mich so schuf und nicht anders , bin dann ich
schuld daran, oder sind es die ewig unergründlichen Wege des Schicksals?"
alle Berechtigung.
Der Gerichtshof fällte ein freisprechendes Erkenntniss. Die „Gräfin in
Männerkleidung", wie sie die Zeitungen nannten, kehrte nach der heimath-
lichen Hauptstadt zurück und gerirt sich wieder als Graf Sandor. Ihr einziger
Kummer ist ihr zerstörtes Liebesglück mit ihrer heiss geliebten Marie.
Glücklicher war eine Ehefrau in Brandon (Wisconsin), von der Dr. K i e r n a n
(The med. Standard 1888, Nov.-Dec.) berichtet. Dieselbe entführte 1883 ein
junges Mädchen, Hess sich mit ihm trauen und lebte ungestört als Mann mit
demselben.
Ein interessantes „historisches" Beispiel von Androgynie dürfte ein von
Spitzka (Chicago med. Review vom 20. Aug. 1881) mitgetheilter Fall sein.
Er betrifft Lord Cornbury, Gouverneur von New-York, der unter der Regierung
der Königin Anna lebte, offenbar mit moral insanity behaftet ein schreck-
licher Wüstling war und sich nicht enthalten konnte, trotz seiner hohen
Stellung, in Weiberkleidern, kokettirend und mit allen Allüren der Courtisane
in den Strassen herumzugehen !
Auf einem von ihm erhaltenen Bild fallen schmaler Stirnschädel, asym-
metrischer Gesichtsschädel, weibliche Züge, sinnlicher Mund auf. Sichergestellt
ist, dass er sich nie für ein wirkliches Weib gehalten hatte.
Auch bei den mit conträrer Sexualempfindung behafteten In-
dividuen kann die an und für sich perverse Geschlechtsempfindung
und Geschlechtsrichtung mit anderweitigen Perversionserscheinungen
complicirt sein.
Complicationen der conträren Sexualempfindung. 303
Es dürfte sich hier um ganz analoge Vorkommnisse bezüg-
lich der Bethätigung des Triebs handeln, wie bei dem geschlechtlich
zu Personen des anderen Geschlechts hinneigenden, aber in der
Bethätigung des Triebs perversen Individuum.
Bei dem Umstand, dass eine fast regelmässige Begleiterscheinung der
conträren Sexualempfindung ein krankhaft gesteigertes Geschlechtsleben ist»
werden wollüstig- grausame sadistische Akte in Befriedigung der Libido leicht
möglich. Ein bezeichnendes Beispiel in dieser Hinsicht ist der Fall Zastrow
(Casper-Liman, 7. Aufl., Bd. I, p. 160, II, p. 487), der eines seiner Opfer,
einen Knaben , biss , ihm das Präputium zerriss , den Anus schlitzte und das
Kind strangulirte.
Z. stammte von psychopathischem Grossvater, melancholischer Mutter;
deren Bruder fröhnte abnormem Geschlechtsgenuss und beging Selbstmord.
Z. war ein geborener Urning, war in Habitus und Beschäftigung männlich
geartet, mit Phimosis behaftet, ein psychisch schwacher, ganz verschrobener,
social unbrauchbarer Mensch. Er hatte Horror feminae, fühlte sich in seinen
Träumen als Weib dem Manne gegenüber, hatte peinliches Bewusstsein der
fehlenden normalen Geschlechtsempfindung und des perversen Triebs, ver-
suchte durch mutuelle Onanie Befriedigung und hatte häufig päderastische
Gelüste.
Aehnliche derartige sadistische Antriebe bei conträr Sexualen finden
sich auch in einzelnen der vorausgehenden Krankengeschichten (vgl. Beob. 107,
108 dieser Auflage und die 6. Auflage, Beob. 96, ferner Moll, Contr. Sexual-
empfindung, 2. Aufl., p. 189; v. Krafft, Jahrb. f. Psychiatrie XII, p. 389
und 357.).
Als Beispiele perverser Sexualbefriedigung auf dem Boden der conträren
Sexualempfindung möge noch der Grieche erwähnt werden, der, wie Athenäus
berichtet, in eine Cupidostatue verliebt war und sie im Tempel zu Delphi
schändete; ferner, neben monströsen Fällen bei Tardieu (Attentats p. 272)»
der von Lombroso (L'uomo delinquente p. 200) berichtete scheussliche Fall
eines gewissen Artusio, der einem Knaben eine Bauchwunde versetzte und ihn
durch diese sexuell missbrauchte.
Belege dafür, dass auch Fetischismus bei couträrer Sexualempfindung
vorkommt, sind Beob. 84 (Taschentuch), 108 (Stiefel), 110 (8. Aufl., Mund),
ferner ein von mir mitgetheilter Fall von Schuhfetischismus in „ Jahrbücher
für Psychiatrie" XII', 1; Moll, 2. Aufl., p. 179. Nicht selten ist auch Masochis-
mus als Complication von conträrer Sexualempfindung vgl. Moll, 2. Aufl.,
p. 172 (Fall 12) und p. 190. Derselbe, Internation. Centralbl. f. d. Physiol.
und Pathol. der Harn- und Sexualorgane IV, Heft 5 (Homosexualität eines Weibes
mit passivem Flagellantismus und Koprophagie) ; v. Krafft, Beob. 43 der
6. Aufl. dieses Buches, ferner Beobachtung 108 dieser und 114 der 8. Aufl.,.
ferner „ Jahrbücher für Psychiatrie" XII, p. 339 (Homosexualität, abortiver
Masochismus), p. 351 (psych. Hermäphrodisie, Masochismus).
304 Conträre Sexualempfindung.
Zur Diagnose, Prognose und Therapie der conträren
Sexualempfindung.
Während die conträre Sexualempfindung für die bisherige
Wissenschaft nur ein anthropologisches, klinisches und forensisches
Interesse bieten konnte, kann auf Grund neuester Forschungen
nunmehr auch an die Therapie dieser unheilvollen, ihren Träger
social, moralisch und physisch so schwer heimsuchenden Anomalie
gedacht werden.
• Eine Vorbedingung für ein therapeutisches Eingreifen ist die
genaue Differenzirung der erworbenen von den angeborenen Fällen
und unter diesen letzteren wieder die Einreihung des concreten
Falles in die wissenschaftlich empirisch gefundenen Categorien.
Die diagnostische Auseinanderhaltung der erworbenen Fälle
von den angeborenen ist ohne Schwierigkeiten in den Anfangsstadien.
Ist schon Inversio sexualis erfolgt, so wird die retrospective
Entwicklung des Falles über denselben Klarheit verbreiten.
Die prognostisch wichtige Entscheidung, ob angeborene oder
erworbene conträre Sexualempfindung bestehe, lässt sich in solchen
Fällen nur durch eine minutiöse Anamnese gewinnen.
Die Ermittlung , ob conträre Sexualempfindung schon lange
vor der Hingabe an Masturbation bestand, wird im Sinne der An-
geborenheit der Anomalie von grösster Wichtigkeit sein. Eine
Schwierigkeit erwächst dabei durch die Möglichkeit unrichtiger
zeitlicher Localisation in der Vergangenheit (Erinnerungstäuschung.)
Für die Annahme erworbener conträrer Sexualempfindung
ist wichtig der Nachweis heterosexualer Empfindung vor dem Zeit-
punkt des Beginnes der Auto- oder mutuellen Masturbation.
Im Allgemeinen sind die erworbenen Fälle charakterisirt da-
durch, dass
1) Die homosexuale Empfindung secundär in der Lebens-
geschichte auftritt und jeweils auf Momente, welche die normale
Geschlechtsbefriedigung störten (masturbatorische Neurasthenie, psy-
chische Momente), sich zurückführen lässt.
Es ist jedoch anzunehmen, dass hier ab origine, selbst trotz
mächtiger grobsinnlicher Libido, die Empfindung und Neigung
zum anderen Geschlecht, besonders in seelischer Hinsicht und
speciell in ästhetischer, schwach veranlagt ist (vgl. pag. 240).
Diagnose, Prognose, Therapie. 305
2) Die homosexuale Empfindung wird vom Bewusstsein —
so lange nicht Inversio sexualis erfolgt ist — als lasterhaft und
krankhaft aufgefasst und ihr nur faute de mieux nachgegeben.
3) Die heterosexuale Empfindung bleibt lange die vorherr-
schende und die Unmöglichkeit ihrer Befriedigung wird peinlich
empfunden. Jene geht unter in dem Masse, als die homosexuale
zur Geltung gelangt.
Bei den angeborenen Fällen dagegen ist
a) Die homosexuale Empfindung die primär auftretende und
in der Vita sexualis dominirende. Sie erscheint als die natur-
gemässe Art der Befriedigung und gibt sich als dominirend auch
im Traumleben des Individuums kund.
b) Die heterosexuale Empfindung fehlt von jeher oder, wenn
auch in der Lebensgeschichte des Individuums zu Tage tretend
(psychosexuale Hermaphrodisie), so ist sie doch eine episodische
Erscheinung, findet keine Wurzeln in der Psyche des Individuums
und ist wesentlich nur Mittel zur Befriedigung sexueller Dränge.
Die Differenzirung der übrigen Gruppen der angeboren con-
trär Sexualen von einander und von den erworbenen Fällen über-
haupt wird nach dem Vorausgehenden keinen Schwierigkeiten be-
gegnen.
Die Prognose der erworbenen Fälle von conträrer Sexual-
empfindung ist eine jedenfalls viel günstigere als die der ange-
borenen. Bei den ersteren dürfte die eingetretene Effeminatio —
die seelische Umwandlung des Individuums im Sinne seiner per-
versen Sexualgefühle — die Grenze sein, von welcher an für die
Therapie nicht mehr zu hoffen ist. Bei den angeborenen Fällen
bilden die verschiedenen in diesem Buche aufgestellten Categorien
ebenso viele Gradstufen psychosexualer Belastung, und wird bestimmt
nur innerhalb der Categorie der Hermaphroditen, möglicherweise
(s. u. den Fall von Schrenk-Notzing) auch bei schwereren Ent-
artungszuständen Hülfe möglich sein.
Um so wichtiger wäre die Prophylaxe dieser Zustände —
für die angeborenen die Nichterzeugung solcher Unglücklichen, für
die erworbenen die Bewahrung vor den Schädlichkeiten, welche
zu dieser fatalen Verkehrung der Geschlechtsempfindung erfahrungs-
gemäss führen können.
Unzählige Belastete verfallen diesem traurigen Schicksal, weil Eltern
und Erzieher keine Ahnung von den Gefahren haben, welche die Masturbation
den Kindern auf solcher Grundlage bereiten kann.
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 20
306 Conträre Sexualempfindung.
In vielen Schulen, Pensionaten wird Masturbation und Unzucht geradezu
gezüchtet. Auf das physische und moralische Verhalten der Schüler wird
heutzutage viel zu wenig geachtet.
Wenn nur der Lehrstoff persolvirt wird, das ist die Hauptsache. Dass
darüber mancher Schüler an Leib und Seele verdirbt, kommt nicht in Betracht.
Mit einer lächerlichen Prüderie wird den heranwachsenden jungen
Leuten die Vita sexualis verschleiert gehalten, den Regungen ihres Sexual-
triebes aber nicht die mindeste Beachtung geschenkt. Wie wenig Hausärzte
werden in den Entwicklungsjahren der Kinder ihrer oft recht belasteten
Clienten zu Rathe gezogen!
Man meint Alles der Natur überlassen zu müssen. Inzwischen regt
sich diese übermächtig und führt den Hülf- und Schutzlosen auf gefährliche
Abwege.
Ein näheres Eingehen auf diese prophylactische Seite der
Frage ist hier nicht zulässig1).
Für Eltern und Erzieher geben die in diesem Buche nieder-
gelegten Erfahrungen, sowie zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten
über Masturbation Anhaltspunkte und Winke.
Die Aufgaben der Behandlung bestehender conträrer Sexual-
empfindung gegenüber sind folgende:
1) Bekämpfung von Onanie und anderen die Vita sexualis
schädigenden Momenten.
2) Beseitigung der aus antihygienischen Verhältnissen der
Vita sexualis entstandenen Neurose (Neurasthenia sexualis und uni-
versalis).
3) Psychische Behandlung im Sinne einer Bekämpfung homo-
sexualer und der Förderung heterosexualer Gefühle und Impulse.
Der Schwerpunkt der Aufgabe wird in der Erfüllung der
3. Indication liegen, namentlich auch bezüglich der Onanie.
Nur in sehr seltenen Fällen vermag bei noch nicht vorge-
schrittener erworbener conträrer Sexualempfindung die Erfüllung
von 1 und 2 zu genügen, wie nachfolgender vom Verf. in der Zeit-
schrift „ Irrenfreund " 1885 Nr. 1 ausführlich berichteter Fall erweist.
*) Bemerkenswerth im Sinne einer Prophylaxe sind folgende Worte, welche
mir der Patient der Beob. 88 der 6. Auflage schrieb: „Wenn es einmal dazu
käme, nicht wie bei den Spartanern, wo die kraftlose Jugend vernichtet wurde
und im Sinne einer guten Zuchtwahl nach Darwin's Ideen, sondern dass, die
Erkennung unserer conträren Sexualempfindung schon in der Jugend voraus-
gesetzt, in dieser Lebenszeit durch Suggestion diese schlimmste aller Krank-
heiten geheut werden könnte! Wahrscheinlich würde die Heilung in der
Jugend eher zu bewerkstelligen sein als später."
Therapie. 307
Beobachtung 128. Z. , 51 Jahre, von psychopathischer Mutter, kam
früh in die Kadettenschule , wurde dort zur Onanie verleitet, entwickelte sich
gut, empfand geschlechtlich normal, wurde in Folge von Masturbation im
17. Jahre leicht neurasthenisch , verkehrte sexuell mit Genuss mit Weibern,
heirathete mit 25 Jahren, bekam nach einem Jahr vermehrte neurasthenische
Beschwerden und verlor nun die Neigung zum Weib gänzlich. An deren
Stelle trat conträre Sexualempfindung. In einen Hochverrathsprocess ver-
wickelt, kam er auf 2 Jahre ins Gefängniss, dann 5 Jahre nach Sibirien. In
diesen 7 Jahren nahm unter dem Einfluss fortgesetzter Masturbation die Neur-
asthenie und die conträre Sexualempfindung immer mehr zu. Mit 35 Jahren
der Freiheit zurückgegeben, trieb sich Pat. seither wegen hochgradiger neur-
asthenischer Beschwerden in allen möglichen Kurorten herum. In dieser
langen Zeit änderte sich sein abnormes geschlechtliches Fühlen in keiner Weise.
Er lebte meist getrennt von seiner Frau, die er zwar wegen geistiger Vorzüge
hochachtete, jedoch als Weib wie jedes andere mied. Seine conträre Sexual-
empfindung war eine rein platonische. Es genügte ihm „Freundschaft", ein
herzliches Umarmen, Küssen. Gelegentlich vorkommende Pollutionen waren
durch lascive Träume ausgelöst, die Personen des eigenen Geschlechts zum
Inhalt hatten. Auch bei Tage Hess das schönste Weib ihn kalt, während der
blosse Anblick schöner Männer Erection und Ejaculation hervorbrachte. Im
Circus und im Ballet interessirten ihn nur Athleten und Tänzer. In Zeiten
grösserer P]rregbarkeit bewirkte selbst der Anblick männlicher Statuen Erection.
Gelegentlich verfiel er wieder in sein altes Laster der Masturbation. Vor
Päderastie hatte der ästhetisch gebildete, feinfühlige Mann Abscheu.
Er empfand seine perverse Sexualempfindung immer als etwas Krank-
haftes, ohne jedoch darüber — bei seiner offenbar sehr abgeschwächten Libido
und Potenz — sich unglücklich zu fühlen.
Der Status praesens ergab den gewöhnlichen Befund der Neurasthenie.
Wuchs, Benehmen und Kleidung boten nichts Auffälliges. Elektrische Massage
hatte ungewöhnlichen Erfolg. Schon nach wenig Sitzungen war Pat. geistig
und körperlich viel frischer. Nach 20 Sitzungen erwachte die Libido wieder,
aber nicht im bisherigen Sinn, sondern in normaler Weise, wie Pat. bis zum
25. Jahre geschlechtlich empfunden hatte. Lascive Traumbilder hatten nur
mehr Verkehr mit dem Weibe zum Inhalt, und eines Tages theilte Pat.
freudig mit, dass er coitirt und dieselbe natürliche Wollustempfindung wie
vor 26 Jahren dabei gehabt habe. Er lebte nun wieder mit seiner Frau zu-
sammen, hoffte dauernd von Neurasthenie und conträrer Sexualempfindung
befreit zu sein , welche Hoffnung auch während der 6 Monate , die ich noch
Pat. beobachten konnte, erfüllt blieb.
In der Regel wird die körperliche Behandlung, wenn auch
unterstützt durch moralische Therapie im Sinne energischer Rath-
schläge behufs Meiden von Masturbation, Unterdrückung homo-
sexualer Gefühle und Dränge und Weckung heterosexualer, selbst
bei erworbenen Fällen von conträrer Sexualempfindung, nicht aus-
reichen.
308 Conträre Sexualempfindung.
Hier kann nur eine Methode der psychischen Behandlung —
die Suggestion — Hülfe bringen.
Die folgende Beobachtung ist ein interessantes und für leich-
tere Formen der Anomalie ermuthigendes Beispiel erfolgreicher
Autosuggestion .
Beobachtung 129. Autobiographie eines psychischen
Hermaphroditen. Erfolgreiche Selbstbekämpfung homo-
sexualer Neigungen.
Mein Vater ist einmal vom Schlage gerührt worden, ist aber geheilt
bis auf geringe Verzerrung des Gesichtes. Meine Mutter ist sehr anämisch
und melancholisch gewesen. Beide litten stark an Hämorrhoiden, und mein
Vater schrieb diesen seine Kreuzschmerzen zu, an denen er auch nach seiner
Verheirathung hin und wieder litt.
Ich bin, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein passiver Charakter.
Als Kind schwelgte ich in allerhand (auch religiösen) Phantastereien. Ich
litt an Bettnässen und soll im Schlafe an meinen Genitalien gespielt haben,
weshalb ich von meinem Vater mit den Händen ans Bett gefesselt wurde !
(Ich war damals noch vollständig Kind und habe nicht onanirt.) Ich war
stets sehr schüchtern und unbeholfen im Verkehr. Mit ca. 14 oder 15 Jahren
wurde ich zur Onanie verleitet. Das mit dem auflebenden Geschlechtsgefühl
verbundene Drängen und Sehnen dem Weibe gegenüber war eigentlich nur
platonischer Natur; auch fehlte mir der Verkehr mit Damen. Mit 18 Jahren
ungefähr versuchte ich mein geschlechtliches Bedürfniss auf natürliche Weise
zu befriedigen, mehr aus Neugierde als aus innerem Drang. Ohne je eine
Neigung zu einem Weibe empfunden zu haben, befriedigte ich seit dieser Zeit,
so oft ich konnte, mein Bedürfniss durch geschlechtlichen Umgang.
Bald nach Eintritt der Pubertät war ich sehr anämisch geworden und
sah viel älter aus, als ich war. Jetzt aber traten noch melancholische Ge-
danken und sonderbare Ideen hinzu. Es war mir eine Wollust, mich so er-
niedrigt wie nur möglich vorzustellen. Es ist vielleicht von Interesse, wenn
ich hinzufüge, dass ich damals mit religiösen Zweifeln kämpfte und erst später
den Muth fand, mich über die Religionen zu stellen. Ich verliebte mich in
junge Männer. Anfangs trat ich diesen Vorstellungen entgegen, später waren
sie so mächtig, dass ich ein ächter Urning wurde. Die Weiber erschienen mir
wie Menschen IL Classe. Ich war in einer trostlosen Verfassung. Lebens-
überdruss und menschenfeindliche Regungen nisteten sich in meiner kranken
Seele ein. Eines Tages las ich: Was will das werden? — Und ehe ich es
selbst mir verrieth, war ich ein Socialdemokrat, aber ein idealer. Das Leben
hatte wieder Werth für mich ; denn ich hatte ein Ideal : der friedliche Kampf
für die sociale Hebung der Proletarier. Dieses brachte eine mächtige Um-
wälzung in mir hervor. Wie in meinen besten Tagen (im Alter von 16,
17 Jahren) begeisterte ich mich für Kunst, namentlich Dramatik. Ich schreibe
augenblicklich ein Schauspiel und einen Schwank und wälze grosse Ideen in
mir herum. Ich las eine Bemerkung Schlegel's über Sophokles, der seinen
körperlichen Uebungen seine Energie und Schaffenskraft und der Musik das
künstlerische Masshalten verdankte. Dann eine andere Stelle : „Der Dramatiker
Therapie. 309
muss vor allen Dingen geistig intakt sein." Das fiel mir sehr schwer auf die
Seele; denn meine conträren Sexualempfindungen konnten doch unmöglich
einem ganz gesunden Geist entstammen.
Ich kam auf den Gedanken, mich hypnotisch behandeln zu lassen ; aber
die Scham hinderte mich daran. Nun redete ich mir selbst ein, dass ich doch
eigentlich ein furchtbarer Schwächling sei, mir selbst so wenig zuzutrauen, und
nahm mir ernstlich vor, meine Urninggelüste zu unterdrücken. Gleichzeitig
bekämpfte ich durch zweckentsprechende Lebensweise meine Nervosität. Ich
ruderte, paukte, war viel in frischer Luft und hatte die Freude, als ich ein-
mal erwachte, mir wie ein ganz anderer Mensch vorzukommen. Wenn ich an
die Zeit vom 20. bis 26. Lebensjahr dachte, so war es mir, als ob diese Zeit
hindurch ein mir völlig fremder und grauenerregender Mensch in meiner Haut
gewohnt hätte.
Ich war erstaunt, dass der hübscheste Bereiter, der strammste Bierführer
mir fast gar kein Interesse abnöthigte ; selbst die muskulösen Steinsetzer Hessen
mich kalt. Mich ekelte, wenn ich daran dachte, dass derlei Menschen mir
jemals schön vorgekommen waren. Mein Selbstgefühl steigt; ich bin zwar
sehr gutmüthig, aber ein durchaus aktiver Charakter. Mein Aussehen hat sich
seit meinem 20. Jahr stetig gebessert. Ich sehe jetzt meinem Alter vollständig
entsprechend aus. Rückfälle in meine Urninggelüste treten zwar ein, doch
unterdrücke ich sie energisch. Meine Libido befriedige ich nur durch Bei-
schlaf und hoffe, dass bei weiterer zweckentsprechender Lebensweise auch die
Lust eine grössere wird.
In der Regel wird nur die Fremdsuggestion, und zwar
nur die durch Hypnose bewerkstelligte, Aussicht auf Erfolg bieten.
Die Aufgabe posthypnotischer Suggestion ist es in solchen
Fällen, den Drang zur Masturbation, sowie homosexuale Gefühle und
Dränge ab- und heterosexuale nebst dem Bewusstsein der Potenz
anzusuggeriren.
Eine Vorbedingung ist natürlich die Möglichkeit, eine genügend
vertiefte Hypnose herbeizuführen. Dies gelingt gerade bei Neur-
asthenikern nur zu häufig nicht, da sie vielfach aufgeregt, befangen
und nicht im Stande sind, ihre Gedanken zu concentriren.
Angesichts der enormen Wohlthat, welche solchen Unglück-
lichen erwiesen werden kann, und im Hinblick auf Ladame's Fall
(s. u.) sollte man in derartigen Fällen künftig Alles aufbieten, um
das einzige Rettungsmittel, die Hypnose, zu erzwingen. Befriedigend
war der Erfolg in folgenden zwei Fällen.
Beobachtung 130. Durch Masturbation erworbene conträre
Sexualempfindung. Herr X., Geschäftsmann, 29 Jahre. Eltern des Vaters
gesund. In des Vaters Familie nichts von Nervosität.
Vater war ein reizbarer, griesgrämiger Mann. Ein Bruder des Vaters
sei ein Lebemann gewesen und ledig gestorben.
310 Conträre Sexualempfindung.
Die Mutter starb im 3. Wochenbett, als Pat. 6 Jahre alt war ; sie hatte
eine tiefe, rauhe, mehr männliche Stimme und barsches Auftreten.
Von den Geschwistern des Pat. ist ein Bruder reizbar, „melancholisch",
neutral gegen Weiber.
Pat. litt als Kind an Scharlach mit Delirien. Er sei bis zu seinem
14. Lebensjahr heiter und gesellig gewesen, von da ab still, einsam, „melan-
cholisch". Die erste Spur des geschlechtlichen Empfindens stellte sich mit
10 — 11 Jahren ein; er lernte damals die Onanie von anderen Knaben kennen
und trieb mit diesen mutuelle Masturbation.
Mit 13 — 14 Jahren zum erstenmale Samenergiessung. Pat. nahm bis
vor 1/t Jahr keine üblen Folgen der Onanie wahr.
In der Schule habe er leicht gelernt, mitunter habe er Kopfweh gehabt.
Vom 20. Lebensjahre ab Pollutionen, trotz täglicher Onanie. Bei den Pollu-
tionen Träume, „Begattungssituationen", es schwebte ihm vor, wie Mann und
Weib den Akt vollziehen. Im 17. Lebensjahre wurde er von einem mann-
männlich liebenden Individuum zu mutueller Onanie verführt. Bei dieser Ver-
führung habe er Befriedigung empfunden, insoferne er von jeher sehr ge-
schlechtsbedürftig war. Es dauerte lange, ehe Pat. neuerliche Gelegenheit zu
mannmännlichem Verkehr aufsuchte. Es war ihm bloss darum zu thun, den
Samen los zu werden.
Er empfand keine Freundschaft, keine Liebe zu Personen, mit denen
er verkehrte. Er empfand nur Befriedigung, wenn er der passive Theil war,
wenn er manustuprirt wurde. Er hatte keine Achtung vor dem Betreffenden,
wenn er den Akt einmal vollzogen hatte. Gewann er später hingegen Ach-
tung, so unterliess er den Akt. Später war es ihm gleich, ob er onanirte
oder onanisirt wurde. Wenn er selbst onanirte, dachte er an die Hand
von gefälligen Männern, die ihn onanisirten. Harte, rauhe Hände waren
ihm lieber.
Pat. glaubt, dass er ohne Verführung auf eine naturgemässe Bahn der
Befriedigung des Geschlechtstriebs gelenkt worden wäre. Liebe zum eigenen
Geschlecht habe er niemals empfunden, doch habe er sich in dem Gedanken
gefallen, mit Männern der Liebe zu pflegen. Er habe anfangs sinnliche
Regungen gegenüber dem anderen Geschlecht gehabt. Getanzt habe er gern;
er habe auch an Weibern Gefallen gefunden und habe mehr auf Figur ge-
sehen, als auf das Gesicht. Er habe auch Erectionen bekommen, wenn er
ein sympathisches Weib sah. Er habe nie versucht, den Beischlaf auszuführen,
weil er sich vor Ansteckung fürchtete; er wisse gar nicht, ob er einem Weib
gegenüber potent wäre. Er glaube, dass dies nicht mehr der Fall sei, denn
seine Gefühle gegenüber den Weibern seien erkaltet, besonders seit dem
letzten Jahr.
Während er früher in seinen sinnlichen Träumen Vorstellungen von
Männern und Weibern hatte, träumte er später nur von Annäherungen an
den Mann; von sinnlichen Beziehungen zu einem Weibe in den letzten Jahren
geträumt zu haben, kann er sich nicht erinnern. — Im Theater interessire
ihn immer die weibliche Figur, ebenso im Circus und Ballet. In Museen
haben ihn männliche und weibliche Statuen gleich angezogen.
Pat. sei starker Raucher, Biertrinker, liebe Herrengesellschaft, sei Turner,
Schlittschuhläufer. Das Geckenhafte sei ihm immer zuwider gewesen, er habe
Therapie. 311
niemals das Bedürfniss gehabt, Männern zu gefallen, schon eher den Wunsch,
Damen zu gefallen.
Er empfinde jetzt seine Position peinlich, weil die Onanie überhand
genommen habe. Die früher unschädlich getriebene Onanie entfalte jetzt
schädliche Wirkungen.
Seit Juli 1889 leide er an Hodenneuralgie ; der Schmerz trete besonders
Nachts auf; Nachts trete auch Zittern auf (gesteigerte Reflexerregbarkeit) ; der
Schlaf sei unerquicklich, Pat. wache auf mit Schmerzen im Hoden. Er sei
geneigt, jetzt häufiger zu onaniren als früher. Er habe Angst vor der Onanie.
Er hoffe, dass sein Geschlechtsleben noch in normale Bahnen gelenkt werden
könne. Er denke jetzt an die Zukunft, er habe schon ein Verhältniss, das
Mädchen sei ihm sympathisch, auch der Gedanke, sie als Frau zu besitzen
sei ihm angenehm.
Seit 5 Tagen habe er sich der Onanie enthalten, er glaube aber kaum,
dass er im Stande wäre, durch eigene Kraft der Onanie zu entsagen. In
letzter Zeit sei er sehr niedergeschlagen gewesen, habe keine Arbeitslust, sei
lebensüberdrüssig.
Pat. ist gross, kräftig, wohlgenährt, dichtbebartet. Schädel und Skelet
normal.
P. S. R. sehr prompt; tiefe Reflexe in o. E. sehr gesteigert, Pupillen
über mittelweit, beiderseitig gleich, sehr prompt reagirend. Carotiden von
gleichem Caliber. Hyperaesthesia urethrae. Samenstrang und Testikel nicht
empfindlich; ganz normale Genitalien.
Pat. wird beruhigt, auf glückliche Zukunft vertröstet unter der Be-
dingung, dass er der Onanie entsage und sein geschlechtliches Fühlen von
Personen des eigenen Geschlechts ab- und auf weibliche lenke.
Verordnung von Halbbädern (24 — 20° R.) extr. Secal. cornut. aquos. 0,5,
Antipyrin 1,0 pro die; Abends 4,0 Bromkalium.
13. December. Pat. kommt heute verstört in die Sprechstunde, klagend,
dass er aus eigener Kraft dem Reiz zur Masturbation nicht widerstehen könne,
und bittet um Hülfe.
Ein Hypnoseversuch bringt Pat. in tiefes Engourdissement.
Er erhält Suggestionen:
1) ich kann, darf und will nicht mehr onaniren;
2) ich verabscheue die Liebe zum eigenen Geschlecht und werde keinen
Mann mehr schön finden;
3) ich will und werde gesund werden, ein braves Weib lieben, glück-
lich sein und glücklich machen.
14. December. Pat. hat heute beim Spaziergang einen schönen Mann
gesehen und sich mächtig zu ihm hingezogen gefühlt.
Von nun an jeden 2. Tag hypnotische Sitzungen mit obigen Suggestionen.
Am 18. December (4. Sitzung) gelingt Somnambulismus. Der Drang zur Onanie
und das Interesse am Manne schwinden.
In der 8. Sitzung wird „volle Potenz" zu den obigen Suggestionen hin-
zugefügt. Pat. fühlt sich moralisch gehoben und körperlich gekräftigt. Die
Hodenneuralgie ist geschwunden. Er findet, er sei jetzt auf dem Nullpunkt
geschlechtlicher Empfindung.
Masturbation und conträre Sexualempfindung glaubt er los zu sein.
312 Conträre Sexualempfindung.
Nach der 11. Sitzung erklärt er weitere ärztliche Hülfe für unnöthig.
Er wolle jetzt heim und sein Mädchen heirathen. Er fühle sich ganz gesund
und potent. Pat. wird Anfang Januar 1890 aus der Behandlung entlassen.
Im März 1890 schrieb mir Pat.: „Ich hatte seither noch einige Male
Gelegenheit, meine ganze moralische Kraft zusammennehmen zu müssen, um
meine Angewohnheit zu bekämpfen, und ist es mir Gott sei Dank gelungen,
mich von diesem Uebel zu befreien. Schon einige Male war ich in der Lage,
den Coitus auszuführen, wobei ich einen leidlichen Genuss empfand. Ich sehe
meiner glücklichen Zukunft mit Ruhe entgegen."
Beobachtung 131. Erworbene conträre Sexualempfindung.
Erhebliche Besserung durch hypnotische Behandlung. Herr P.,
geb. 1863, Fabrikbeamter, stammt aus einer angesehenen Patrizierfamilie
Mitteldeutschlands, in welcher Nervosität und Irrsinn häufig vorkamen.
Der Urgrossvater väterlicherseits und dessen Schwester starben irrsinnig,
die Grossmutter an Apoplexie, des Vaters Bruder im Irrsinn, dessen Tochter
an Gehirntuberculose. Muttersmutter war jahrelang schwermüthig,, Vater der
Mutter geisteskrank; der Bruder der Mutter nahm sich in einem Anfall von
Geistesstörung das Leben. Der Vater des Pat. ist sehr nervös. Ein älterer
Bruder ist schwer neurasthenisch mit Anomalien der Vita sexualis, ein anderer
ist Gegenstand der Beob. 118 der 7. Aufl. der Psychop. sexualis, ein dritter
bietet excentrisches Benehmen und soll fixe Ideen haben, eine Schwester ist
krampfkrank, eine andere starb als kleines Kind an Convulsionen.
Pat. ist belastet, denn schon früh war er höchst sonderbar, reizbar, jäh-
zornig und machte seiner Umgebung den Eindruck eines abnormen Menschen.
Sehr früh zeigte sich bei ihm die Vita sexualis mächtig und wurde
ohne alle Verführung durch Onanie befriedigt. Vom 16. Jahr ab besuchte
der früh entwickelte Knabe die Bordelle der Hauptstadt, seine freien Aus-
gänge an Sonn- und Feiertagen dazu benutzend. Er coitirte mit Genuss, be-
friedigte sich während der Wochentage mit Onanie. Vom 20. Jahre ab und
selbständig geworden, excedirte Pat. mit Prostituirten , erkrankte an Neur-
asthenia sexualis und wurde relativ impotent und unbefriedigt vom Coitus
durch Erectionsschwäche und Ejaculatio praecox. Seine Libido sexualis wurde
mächtiger denn je und in Onanie befriedigt. Pat. lernte Anfang 1888 einen
jungen Mann kennen. „Durch sein gefälliges Gesicht, sein einschmeichelndes
Benehmen, durch seine schönen äusseren Körperformen erwarb er meine ganz
besondere Zuneigung. Ich wünschte ihn anzusprechen und freute mich immer
auf den AugenbUck, wo ich ihn sah. Ich wurde ganz verliebt in ihn. Damit
erlosch meine Liebe zum Weibe. Jener Mann vermochte mich dermassen
zu erregen, dass ich auf Sekunden das Gedächtniss schwinden fühlte und
stotterte.
Bald darauf lernte ich einen Herrn kennen, der mir ebenfalls höchst
sympathisch war und entscheidend mein künftiges Leben beeinflusste. Er war
mannliebend. Ich gestand ihm, dass ich vor dem weiblichen Geschlecht nur
mehr Ekel empfinde und mich zum Manne hingezogen fühle.
Als ich einst meinen Kameraden fragte, wie er es denn anstelle, dass
sich ihm Soldaten ergeben, antwortete er mir, die Hauptsache sei Schneid;
es könne jeder herumgebracht werden. Ende 1888 machte ich mich, eingedenk
Therapie. 313
jener Worte, an einen Offiziersburschen und wurde durch ihn mächtig angeregt,
obschon nie die Ejaculation sich einstellte. Da ich sah, dass der Soldat nicht
ohne Weiteres sich ergeben wollte, gab ich ihn auf. Alium quondam militem
in cubiculum allectum rogavi ut veste exuta mecum in lectum concumberet.
Rogatus fecit quae volui et alter alterius penem trivit.
Obwohl ich nach diesem glücklichen Erfolg viele Leute so missbrauchte,
war ich doch nur in Einen sozusagen verliebt. Es war ein sehr hübscher
Bursche von 17 Jahren. Seine Stimme klang mir so einschmeichelnd, sein
Benehmen war so anständig zärtlich, dass ich ihn jetzt noch nicht vergessen
kann. In meinen Träumen beschäftigte ich mich nur mit schönen jungen
Männern und konnte vor Sinnlichkeit oft lange Nächte nicht schlafen."
Anfang 1889 erweckte das Benehmen des Pat. Verdacht auf mannmänn-
liche Liebe. Eine ihm drohende Anzeige erschreckte und verstimmte ihn tief,
so dass er Selbstmord plante. Auf Rath des Hausarztes der Familie kam er
nach der Hauptstadt. Da Pat. unfähig war, seinen gewohnten Gelüsten aus
eigener Macht zu entsagen, wurde eine hypnotische Behandlung eingeleitet.
Sie erzielte nur leichtes Engourdissement und war gegenüber den Ver-
führungen früherer Geliebten, in deren Nähe Pat. sich befand, von geringem
Erfolge begleitet.
Es fehlte Pat. damals noch an dem sittlichen Ernst. Die Situation
besserte sich angesichts der Vorstellungen der bestürzten Angehörigen und
dem Gespenst einer wirklich drohenden gerichtlichen Untersuchung.
Pat. entschloss sich zu einem Kurversuch bei Verf.
Ich fand einen zarten, blassen, schwer neurasthenischen, gemüthlich
gedrückten, an seiner Zukunft verzweifelnden Menschen ohne äussere Degene-
rationszeichen. Pat. sah seine schiefe Position ein und schien Alles dransetzen
zu wollen, um wieder ein ordentlicher, anständiger Mensch zu werden.
Er beklagte tief seine sexuelle Perversion, die er als eine zwar krank-
hafte, aber erworbene beurtheilte. Er machte kein Hehl daraus, dass er sich
jungen Männern gegenüber nicht beherrschen könne, ebensowenig könne er
dafür gut stehen, dass er sich von Onanie, zu der er faute de mieux ge-
zwungen sei, zu enthalten vermöge. Nur ein mächtiger, ihm aufgedrungener
Wille vermöchte ihn dagegen zu schützen.
Seine mannmännliche Liebe habe bisher ausschliesslich in mutueller
Onanie bestanden; Erection trete erst bei Berührung geliebter Männer ein, die
Ejaculation erfolge früh, aber blosse Umarmung genüge nicht. In einer be-
sonderen sexuellen Rolle habe er sich dem Manne gegenüber nicht gefühlt.
Genitalien und vegetative Organe normal.
Neben Anordnung einer Behandlung contra neurastheniam wurde am
8. April mit einer hypnotisch-suggestiven begonnen.
Die Hypnose gelang leicht durch blosses Anblicken und Verbalsuggestion.
Nach einer halben Minute verfiel Pat. in tiefes Engourdissement mit katalepti-
formem Verhalten der Muskulatur. Die Erweckung geschah, indem man Er-
wachen beim Zählen auf 3 suggerirte. Posthypnotische Suggestionen waren
jeweils erzielbar. Die intrahypnotischen Suggestionen erstreckten sich auf
1) das Verbot der Onanie,
2) die Aufforderung, mannmännliche Liebe verächtlich, abscheulich zu
finden und sie für unmöglich zu erklären,
314 Conträre Sexualempfindung.
3) den Befehl, ausschliesslich Damen schön zu finden, sich ihnen zu nähern,
von ihnen zu träumen, bei ihrem Anblick Libido und Erection zu
bekommen.
Die Sitzungen fanden täglich statt. Am 14. April meldete Pat. mit
Genugthuung und einer Art sittlicher Befriedigung, dass er mit Genuss coitirt
und tardiv ejaculirt habe.
Am 16. fühlte er sich frei von masturbatorischen Anwandlungen, zum
Weibe • hingezogen , ganz gleichgültig gegenüber Männern. Er träume von
weiblichen Reizen und weiblichem Umgang.
Am 1. Mai erscheint und fühlt sich Pat. sexuell ganz normal. Er ist
physisch eine ganz andere Persönlichkeit geworden, voll Muth und Selbst-
vertrauen.
Er coitirt normal mit voller Befriedigung und glaubt sich vor Rück-
fall sicher.
In einem späteren Briefe schreibt Herr P. :
„Wie es nicht anders denkbar ist, befinde ich mich fortdauernd befreit
von jenen Verirrungen. Das Einzige, was noch an die dunkle Zeit erinnert,
sind die allerdings seltenen Träume aus der trostlosen Vergangenheit, die zu
bannen nicht in meiner Macht steht und die mich zuweilen sogar angenehm
in Gedanken beschäftigen. Durch eigenen Willen, so hoffe ich, wirde a mir
aber in Bälde doch gelingen, ihrer ganz und gar los zu werden. Sollte ich
je wieder schwach werden, so werden mich Ihre eindringlichen Vorstellungen
— ich bin dessen gewiss — energisch widerstehen lassen, und ich werde nicht
unterliegen."
Am 20. Oktober 1890 schrieb mir P. :
„Von Onanie bin ich völlig geheilt, und die mannmännliche Liebe
findet keinen Gefallen bei mir. Die volle Potenz scheint jedoch noch nicht
wiedergekehrt, trotzdem ich solid lebe. Gleichwohl fühle ich mich zu-
frieden."
Weitere Fälle von durch hypnotische Suggestivbehandlung beseitigter,
erworbener conträrer Sexualempfindung siehe Wetterstrand, Der Hypnotismus
und seine Anwendung in der praktischen Medicin, 1891 p. 52 u. ff.; Bern-
heim, „Hypnotisme", Paris 1891 etc p. 38; meine Psychopathia sexualis, 8. Aufl.,
Beob. 136.
Die vorausgehenden Thatsachen des Erfolges hypnotischer
Suggestion gegenüber Fällen von erworbener conträrer Sexual-
empfindung lassen an die Möglichkeit denken, auch Unglücklichen,
welche mit angeborener Perversion der Sexualempfindung behaftet
sind, einiger massen Hülfe zu bringen.
Allerdings ist die Situation hier eine ganz andere, insofern
eine angeborene Anomalie zu bekämpfen, eine krankhafte psycho-
sexuale Existenz zu vernichten und eine neue gesunde zu
schaffen wäre.
Am günstigsten liegen noch die Verhältnisse beim psych o-
sexualen Hermaphroditen, wo wenigstens Rudimente hetero-
Therapie. 315
sexualer Empfindung suggestiv gekräftigt und zur Geltung gebracht
werden können.
Beobachtung 132. Herr v. X., 25 Jahre, Gutsbesitzer, stammt von
neuropathischem, jähzornigem Vater. Derselbe soll sexuell normal sein. Die
Mutter war nervenleidend, gleichwie 2 ihrer Schwestern. Muttersmutter war
nervös, Muttersvater ein Lebemann, in Venere höchst ausschweifend. Pat. ist
der Mutter nachgeartet, einziges Kind. Er war von Geburt an schwächlich,
litt viel an Migräne, war nervös, machte verschiedene Kinderkrankheiten durch,
ergab sich vom 15. Jahre an der Onanie ohne Verführung.
Bis zum 17. Jahre will er weder für das weibliche noch für das männ-
liche Geschlecht irgend eine Neigung gefühlt haben; nun erwachte Neigung
zum Manne. Er verliebte sich in einen Kameraden. Dieser erwiderte seine
Liebe. Die Beiden umarmten, küssten, masturbirten einander. Gelegentlich
übte Pat. Coitus inter femora viri aus. Päderastie perhorrescirte er.
Lascive Träume drehten sich nur um Männer. Im Theater und Circus
interessirten nur solche. Die Neigung richtete sich auf etwa 20jährige. Schöner
üppiger "Wuchs war Pat. sympathisch.
Unter dieser Voraussetzung war ihm der Stand des betreffenden Mannes
ganz gleichgültig. Er fühlte sich in seinen sexuellen Rencontres immer in
männlicher Rolle.
Vom 18. Jahre an war Pat. der Gegenstand der Sorge seiner hochacht-
baren Familie, da er eine Liebschaft mit einem Kellner anfing, sich dadurch
auffällig, lächerlich machte und ausbeuten Hess. Man nahm ihn heim. Er
trieb sich mit Bedienten, Stallknechten herum. Es gab Scandal. Man schickte
ihn auf Reisen. In London hatte er eine Chantage-Affaire. Es gelang ihm,
in sein Heimathland zu entfliehen.
Auch durch diese bittere Erfahrung blieb er ungewitzigt und zeigte
neuerlich fatale Inclinationen zu männlichen Personen. Man sandte Pat. zu
mir behufs — Heilung von seiner fatalen Neigung. (December 1888.) Pat.
ist ein grosser, stattlicher, robuster, gut genährter junger Mann von durchaus
männlichem Bau, grossen, gut entwickelten Genitalien. Gang, Stimme und
Haltung sind männlich. Ausgesprochene männliche Passionen hat er nicht.
Er raucht wenig und nur Cigaretten, trinkt sehr wenig, liebt Süssigkeiten ,
Musik, schöne Künste, Eleganz, Blumen, verkehrt mit Vorliebe in Damenkreisen,
trägt Schnurrbart, sonst aber das Gesicht glatt rasirt. Seine Kleidung hat
nichts Stutzerhaftes. Er ist ein weichlicher, blasser Mensch, ein vornehmer
Bummler und Tagedieb, schwer vor Mittags aus dem Bette zu bringen. Seine
Neigung zum eigenen Geschlecht will er nie als etwas Krankhaftes empfunden
haben. Er hält sie für angeboren , möchte , durch üble Erfahrungen belehrt,
von seiner Perversion loskommen, vertraut aber wenig seiner eigenen Kraft.
Er habe es schon versucht, gerathe dann aber wieder gleich in Masturbation,
die er als schädlich empfinde, da sie (übrigens leichte) neurasthenische Be-
schwerden mache. Moralische Defekte bestehen nicht. Die Intelligenz steht
ein wenig unter dem Durchschnittsmittel. Sorgfältige Erziehung und aristo-
kratische Manieren stehen zu Gebot. Das exquisit neuropathische Auge ver-
räth die nervöse Constitution. Pat. ist kein vollkommener und hoffnungsloser
Urning. Er besitzt heterosexuale Empfindungen, aber seine
316 Conträre Sexualempfindung.
sinnlichen Regungen gegenüber dem schönen Geschlecht
treten nur selten und schwach zu Tage. 19 Jahre alt wurde er
von Freunden zum erstenmal in ein Lupanar gelockt. Er empfand keinen
Horror feminae, hatte ausreichende Erectionen, coitirte mit einigem Genuss,
jedoch ohne das intensive Wollustgefühl, das er bei männlicher Umarmung
empfand.
Seither versicherte Pat. noch sechsmal coitirt zu haben, zweimal sua
sponte. Er versichert jederzeit dazu in der Lage zu sein, jedoch nur faute de
mieux, etwa wie ihm Masturbation, wenn ihn der sexuelle Drang plagt, als
Surrogat für mannmännlichen Verkehr diene. Er habe sogar schon an die
Möglichkeit gedacht, eine sympathische Dame zu finden und zu heirathen. Den
ehelichen Umgang und die definitive Abstinenz vom Manne würde er freilich
als harte Pflichten betrachten.
Da hier doch Rudimente heterosexualen Fühlens vorhanden waren und
der Fall nicht als hoffnungslos betrachtet werden konnte, erschien mir ein
therapeutischer Versuch geboten. Die Indicationen waren klar genug, aber
auf den Willen des schlaffen und seiner fatalen Lage sich keineswegs klar be-
wussten Patienten kein Verlass. Es lag nahe, in der Hypnose eine Stütze für
den moralischen ärztlichen Einfluss zu suchen. Die Erfüllung dieser Hoffnung
erschien zweifelhaft durch die Mittheilung des Pat., der bekannte Hansen
habe wiederholt vergebens Hypnose bei ihm versucht.
Gleichwohl musste dieser Versuch aus Rücksicht für die wichtigsten
socialen Interessen des Pat. wiederholt werden. Zu meinem grossen Erstaunen
führte die Bernheim'sche Methode sofort zu tiefem Engourdissement mit
Möglichkeit posthypnotischer Suggestion.
Bei der 2. Sitzung gelingt Somnambulismus durch blosses Anblicken.
Pat. ist nach jeder Richtung hin suggestibel, man kann durch Streichen der
Haut Contracturen hervorrufen. Die Erweckung geschieht durch Zählen auf 3.
Pat. hat Amnesie ausserhalb der Hypnose für alles in dieser Geschehene. Diese
wird nun jeden 2. — 3. Tag behufs Ertheilung hypnotischer Suggestionen vor-
genommen. Daneben Traitement moral und Hydrotherapie.
Die in Hypnose ertheilten Suggestionen sind folgende :
1) Ich verabscheue die Onanie, denn sie macht siech und elend;
2) ich habe keine Neigung mehr zum Manne, denn die Liebe zum
Manne ist gegen die Religion, gegen die Natur und gegen das
Gesetz;
3) ich empfinde Neigung zum Weib , denn das Weib ist lieb und
begehrenswerth und für den Mann geschaffen.
Pat. sagt in den Sitzungen jeweils diese Suggestionen verbotenus auf.
Schon nach der 4. Sitzung fällt es auf, dass Pat. in Kreisen, in welchen er
eingeführt ist, Damen die Cour macht. Kurz darauf, als eine berühmte Sän-
gerin gastirt, ist er Feuer und Flamme für sie. Einige Tage später erkundigt
sich Pat. sogar nach der Adresse eines Lupanar.
Gleichwohl sucht Pat. noch mit Vorliebe die Gesellschaft der jungen
Herren auf, jedoch ergibt die genaueste Ueberwachung durchaus nichts Ver-
dächtiges.
17. Februar. Pat. bittet um Erlaubniss zu coitiren und ist von seinem
Debüt bei einer Dame der Halbwelt sehr befriedigt.
Therapie. 317
16. März. Bisher etwa zweimal per Woche Hypnose. Pat. kommt durch
einfaches Anblicken jeweils in tiefen Somnambulismus, sagt auf Verlangen seine
Suggestion auf, ist beliebiger posthypnotischer Suggestion zugänglich , weiss
im wachen Zustande nicht das Mindeste von den Beeinflussungen im hypno-
tischen Zustand. In diesem versichert er jeweils von Onanie und sexuellen
Gefühlen gegenüber Männern ganz frei zu sein. Da er stereotyp in Hypnose
dieselben Antworten gibt, z. B. an dem so und so vielten zum letztenmal
onaniit zu haben, und zu tief unter dem Willen des Arztes steht, um lügen
zu können, verdienen seine Angaben allen Glauben, zumal da er blühend aus-
sieht, frei von allen neurasthenischen Beschwerden ist, im Verkehr mit Herren
nicht im geringsten mehr bedenklich ist, und ein offenes, freies, mannhaftes
Wesen entwickelt.
Da er zudem aus eigenem Antrieb ab und zu und mit Genuss coitirt,
gelegentliche Pollutionen nur mehr durch lascive Traumbilder, welche weib-
liche Personen betreffen, ausgelöst werden, kann an der günstigen Umwand-
lung der Vita sexualis nicht mehr gezweifelt werden und lässt sich annehmen,
dass die hypnotischen Suggestionen nunmehr zu festen autosuggestiven Direc-
tiven des ganzen Fühlens, Vorstellens und Strebens geworden sind. Eine Natura
frigida dürfte Pat. wohl immer bleiben , aber er spricht öfter vom Heirathen
und seinem Vorsatz, sobald er eine ihm sympathische Dame kennen lernt, um
sie zu werben. Pat. wird aus der Behandlung entlassen. (Eigene Beobachtung.
Internat. Centralblatt für die Physiol. u. Pathol. der Harn- und Sexualorgane,
Band I.)
Im Juli 1889 erhielt ich einen Brief des Vaters, welcher volles Wohl-
befinden und Wohlverhalten seines Sohnes meldet.
Am 24. Mai 1890 traf ich zufällig meinen früheren Pat. auf einer
Reise. Sein blühendes frisches Aussehen liess Günstiges vermuthen. Er theilte
mit, dass er zwar noch einzelne Männer sympathisch finde, aber nie mehr
Anwandlungen im Sinne mannmännlicher Liebe verspüre. Er coitire gelegent-
lich mit vollem Genuss mit Frauenzimmern und denke jetzt ernstlich an
Heirath.
Ich hypnotisirte Pat. probeweise in der früheren Weise und fragte nach
den Befehlen, die ich ihm seiner Zeit ertheilt habe. In tiefem Somnambulis-
mus, mit ganz demselben Tonfall wie früher, sagte Pat. seine im December
1888 erhaltenen Suggestionen her — jedenfalls ein zutreffendes Beispiel der
möglichen Dauer und Macht posthypnotischer Suggestion.
Beobachtung 133. Psychische Hermaphr odisie. Erfolgreiche
Behandlung durch hypnotische Suggestion. Herr Z., 29 Jahre, be-
hauptet von gesunden Grosseltern, gesundem Vater, aber nervöser Mutter zu
stammen. Er ist einziges Kind, wurde von der Mutter verzärtelt. 8 Jahre
alt wurde, er sexuell mächtig durch einen Bedienten erregt, der ihm porno-
graphische Bilder und seinen Penis zeigte.
Mit 12 Jahren verliebte sich Z. in seinen Hauslehrer. Beim Einschlafen
erschien ihm das Bild dieses Mannes in nackter Gestalt. Er dachte sich diesem
gegenüber in weiblicher Situation und schwelgte in dem Gedanken, diesen ein-
mal zu heirathen.
Mit 13 Jahren auf einem Hausball ei'regte jedoch eine junge Gouver-
318 Conträre Sexualempfindung.
nante seine Phantasie und mit 15 Jahren verliebte er sich in eine junge Dame.
Er blieb sinnlich sehr erregbar, jedoch in der Folge ausschliesslich durch sym-
pathische Männer. Masturbation kam nicht vor.
20 Jahre alt wurde Pat. neurasthenisch (ex abstinentia?). Er versuchte
nun Coitus, reüssirte nicht. Dafür bekam er mächtige Libido, als er Gelegen-
heit hatte, in einem Dampfbad viri nudi ansichtig zu werden. Dieser bemerkte
seine Erregung, machte sich an ihn, masturbirte ihn, was Pat. grossen Genuss
gewährte. Er fühlte sich mächtig zu diesem Manne hingezogen, Hess sich von
ihm weiter masturbiren. Dazwischen Coitusversuche mit Frauenzimmern, die
aber jeweils mit Fiasco endigten. Pat. war sehr betrübt darüber, consultirte
Aerzte, die seine Impotenz mit Nervosität erklärten und meinten, das werde
sich bald geben.
Bis zum 25. Jahre bestand seine sexuelle Befriedigung in etwa einmal
monatlich erfolgender Masturbation durch den geliebten Mann. Zu dieser Zeit
fühlte er sich zum letztenmal zu einem Weibe hingezogen. Es war eine Bauern-
jungfer. Diese zeigte sich seinen Wünschen unzugänglich. Da zugleich der
Geliebte nicht mehr erreichbar wurde, verfiel Pat. auf Automasturbation. Seine
Neurasthenie steigerte sich in Folge dessen sehr. Er konnte deshalb seine
Studien nicht beendigen, wurde leutscheu, dysthymisch, abulisch, machte nun
erfolglos verschiedene Kuren in hydropathischen Etablissements. Wegen fort-
dauernder schwerer (cerebrospinaler) Neurasthenie kam Pat. Ende Februar 1890
zu mir, um sich Raths zu erholen.
Grosser, schlanker Mann von aristokratischen, entschieden männlichen
Manieren, neuropathische Erscheinung, grosse, in der Wangenhaut leistenartig
sich verlierende Ohrläppchen. Ganz normale Genitalien. Gewöhnliches Bild
einer cerebrospinalen Neurasthenie massigen Grades. Grosse Verstimmung,
Klagen, dass das Leben so unbefriedigend erscheine bis zum Taedium vitae,
peinlich berührt von seiner sexuellen Abnormität, zumal da er von seiner
Familie gedrängt werde, zu heirathen.
Am Weib interessire ihn nur die Psyche, nicht der Körper. Sexuell
habe er nur Neigung zu Männern und zwar solchen von Distinction. Seine
Träume haben sich noch nie um Personen des eigenen, sondern nur um solche
des anderen Geschlechts gedreht. In diesen wollüstigen Träumen habe er sich
in der Rolle des Weibes gesehen.
Die raffinirteste Puella habe ihn nie zu Erection oder gar zu Libido zu
bringen vermocht.
Sein sexueller Verkehr mit Männern habe in ■ passiver oder mutueller
Masturbation bestanden. Automasturbation habe er nur selten und faute de
mieux sich ergeben. Seit 5 Monaten habe er sich derselben enthalten, seit
August 1889 auch keinen mannmännlichen Umgang mehr gehabt.
Versuch einer Hypnose nach Bernheim's Methode schlägt fehl; längeres
Streichen der Stirn bringt tiefes Engourdissement mit Katalepsie hervor.
Diese Methode wird benützt, um bei dem bedauernswerthen Kranken
eine Suggestionsbehandlung durchzuführen. Der hypnotische Zustand ist immer
der gleiche, zu Somnambulismus ist er nicht zu bringen.
In der 3. Sitzung erhält Pat. die Suggestionen: Onanie und Männerliebe
abscheulich, Weiber schön zu finden, von solchen zu träumen.
Nach der 6. Sitzung (10. März) vollzieht sich ein sichtlicher Umschwung
Therapie. 319
m der psychischen Existenz. Pat. wird ruhiger, fühlt sich freier, träumt ab
und zu von Weibern, nicht mehr von Männern, findet, dass sie ihm ganz gleich-
gültig werden, berichtet mit Genugthuung, dass er gar keine Anwandlungen
zu Masturbation mehr habe. Er nähert sich dem schönen Geschlecht, bemerkt
aber, dass dasselbe nicht die mindeste Anziehungskraft für ihn habe.
Am 19. März rufen Geschäfte den Pat. nach seiner Heimath, so dass die
Behandlung abgebrochen werden muss.
Am 17. Mai 1890 kehrt Pat. in die Behandlung zurück. Er versichert,
inzwischen nicht mehr masturbirt, seinem Trieb zu Männern widerstanden zu
haben. Auch habe er nicht mehr von solchen geträumt, 2mal sogar von Frauen,
aber ganz platonisch. Seine cerebrale Asthenie (ex abstinentia?) ist gesteigert.
Er leidet offenbar unter dem Mangel einer seelischen und sinnlichen Be-
friedigung seiner Vita sexualis, da homosexuale Liebe und Masturbation ihm
unmöglich geworden sind , aber auch der Umgang mit dem Weibe ihm ver-
sagt ist. Pat. ist davon peinlich berührt bis zu Taed. vitae.
Er wird nun einer antineurasthenischen Behandlung (Hydro-Electro-
therapie) unterworfen und die hypnotische Behandlung wieder aufgenommen.
Erst nach 10 Wochen mühsamer Behandlung schwinden die neurasthenischen
Beschwerden. Damit geht parallel eine Aenderung der psychischen Persön-
lichkeit.
Pat. bemerkt mit Genugthuung, dass er kräftiger wird, dass sein Sexual-
leben keine dominirende Rolle mehr spielt. Er fühlt sich zwar eher zum
Manne hingezogen , als zum Weib , widersteht aber leicht homosexualen Ge-
lüsten. Aus seinem bisherigen Boudoir wird ein Arbeitszimmer, statt Putz und
frivoler Lektüre treibt er sich nun in Bergen und Wäldern herum. Der Ge-
fahren eines Fiasco wegen wird die Initiative auf heterosexualem Gebiet dem
Pat. überlassen.
Erst in der 14. Kurwoche stellt er sich selbst auf die Probe. Sie fällt
glänzend aus. Pat. wird ein fröhlicher Mensch, gesund an Leib und Seele,
äussert die besten Hoffnungen bezüglich seiner Zukunft und selbst Heiraths-
gedanken.
Er empfindet wachsenden Genuss in normalem sexuellem Verkehr, hat
gelegentlich lascive, Weiber betreffende Träume, träumt nie mehr von Männern.
Ende September beendet Pat. seine Kur. Er fühlt sich ganz normal
im heterosexualen Verkehr, von seiner Neurasthenie befreit und trägt sich mit
Heirathsabsichten. Gleichwohl bekennt er offen, dass er noch immer Erection
bekomme, wenn er eines nackten hübschen Mannes ansichtig werde, jedoch
widerstehe er mit Leichtigkeit auftauchenden Gelüsten und habe in seinem
Traumleben ausschliesslich „relations avec la femme".
Im April 91 sah ich Pat. in bestem Wohlsein wieder. Er hält seine
Vita sexualis für vollkommen sanirt, insofern er regelmässig mit vollem Genuss
und voller Potenz coitirt, nur von Weibern träumt, nie mehr Anwandlungen
zu Masturbation hatte. Gleichwohl macht er das interessante Geständniss,
dass er häufig post coitum noch flüchtig und leicht beherrschbar „goüt pour
l'homme" habe. Er hält sich für dauernd hergestellt und trägt sich mit
Heirathsgedanken.
Weitere Fälle siehe meine Psychopathia sexualis. 8. Aufl., Beob. 137.
138. 140. 141.
320 Conträre Sexualempfindung.
Dass auch bei den schwersten Fällen angeborener conträrer
Sexualempfindung Suggestionsbehandlung Erfolg haben kann, lehren
Fälle des Verf. und von Ladame, in welchen wenigstens die Ab-
suggerirung homosexueller Empfindungen und damit die (gegenüber
der Gefahr von Schande und richterlicher Verfolgung) wohlthätige
sexuelle Neutralisirung gelang.
Aber auch Ersetzung der homosexualen Empfindung durch
heterosexuale, selbst mit Potenz, gelang Wetterstrand (berichtet
von Schrenck, op. cit. als Fall 49), Bernheim (bei Schrenck
Fall 51), Müller (Schrenck op. cit. Fall 53), Schrenck (op. cit.
Fall 66, 67), dem Letzteren sogar in Fällen von Effeminatio (Schrenck
op. cit. Fall 62. 63).
Nur da, wo die Hypnose zum Somnambulismus vertieft werden
kann, lassen sich übrigens solche entscheidende und dauernde Er-
folge erhoffen. Vor Illusionen dürfte gleichwohl zu warnen sein.
IV. Specielle Pathologie.
Die Erscheinungen krankhaften Sexuallebens in den verschiedenen
Formen und Zuständen geistiger Störung.
Psychische Entwicklungshemmungen.
Das Geschlechtsleben ist bei den Idioten im Allgemeinen wenig
entwickelt. Es fehlt sogar gänzlich bei den Idioten hohen Grades.
Die Genitalien sind dann häufig klein und verkümmert, die Men-
struation tritt spät oder gar nie ein. Es besteht Impotenz resp.
Sterilität. Auch bei höherstehenden Idioten steht das Geschlechts-
leben nicht im Vordergrund. In seltenen Fällen tritt es mit einer
gewissen Periodicität und dann mit grosser Intensität zu Tage. Es
kann sogar brunstartig erscheinen und stürmisch befriedigt werden.
Perversionen des Geschlechtstriebs scheinen auf tiefer Stufe der
geistigen Entwicklung nicht vorzukommen.
Wird dem Drang nach sexueller Befriedigung Widerstand
geleistet, so entstehen hier mächtige Affekte mit gefährlichen Ge-
walthandlungen gegen die betreffenden Personen. Dass der Idiot
in der Befriedigung seines Triebs nicht wählerisch ist und sich
selbst an den nächsten Anverwandten vergreift, ist begreiflich.
So berichtet Marc-Ideler (a. a. 0.) von einem Idioten, der seine
eigene Schwester stupriren wollte und sie fast erwürgt hätte, als man ihn
daran hinderte.
Einen analogen Fall th eilte Friedreich (Friedreich's Blätter 1858,
p 50) mit.
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 21
322 ^as krankhafte Sexualleben
Fälle von Unzuchtsvergehen mit kleinen Mädchen habe ich wiederholt
begutachtet.
Auch Giraud (Annal. med. psych. 1885, Nr. 1) theilt einen bezüglichen
Fall mit. Die Einsicht in die Bedeutung der That fehlt immer, ein instinctives
Bewusstsein, dass dergleichen obscöne Handlungen öffentlich nicht zulässig
sind, ist vielfach vorhanden und veranlasst dann zur Vornahme der geschlecht-
lichen Handlung an einsamem Orte.
Bei den Imbecillen ist das Geschlechtsleben in der Regel ent-
wickelt wie bei Vollsinnigen. Die sittlichen Hemmungsvorstellungen
sind dürftig und damit tritt es mehr weniger unverhüllt zu Tage.
Jedenfalls sind schon aus diesem Grund Imbecille störend in der
Gesellschaft. Krankhafte Steigerung und Perversion des Triebes
sind selten.
Die häufigste Befriedigung des Sexualtriebs ist Onanie. An
erwachsene Personen des anderen Geschlechts wagt sich der Schwach-
sinnige selten.
Häufig macht er sich mit Thieren zu schaffen. Die weitaus
grössere Zahl von Thierschändern betrifft Imbecille. Ziemlich häufig
sind auch Kinder Opfer ihrer Angriffe.
Emminghaus (Machka's Handb. IV. p. 234) weist auf die Häufigkeit
der ungenirten Manifestation sexueller Triebe hin, die sich in öffentlicher
Masturbation, Exhibition der Genitalien, Angriffen auf Kinder, auch solche
des eigenen Geschlechts, und in Sodomie äussern.
Giraud (Annal. med. psychol. 1855, Nr. 1) hat eine ganze
Serie von unsittlichen Attentaten an Kindern mitgetheilt1).
1) H, 17 Jahre alt, imbecill, hat ein kleines Mädchen in einer Scheune
mit Nüssen beschenkt. Genitalia puellae nudavit, sua genitalia ei ostendit et
in abdomine infantis coitum conatus est. Der sittlich-rechtlichen Bedeutung
der That ist er sich nicht bewusst.
2) L., 21 Jahre alt, imbecill, degenerativ, ist mit Viehhüten beschäftigt.
Da kommt seine 11jährige Schwester mit einer 8jährigen Gespielin und er-
zählt, wie gerade ein Unbekannter unzüchtige Attentate an ihnen versucht hat.
L. führt die Kinder sofort in ein unbewohntes Häuschen, versucht Coitus an
dem 8jährigen Kind, lässt aber ab von ihm, da die Immissio nicht gelingt
und das Kind schreit. Auf dem Heimweg verspricht er dem Kind, es zu
*) Zahlreiche andere Fälle s. Henke's Zeitschr. XXIII, Ergänzungsheft,
p. 147. — Comb es, Annal. med. psych. 1866. — Liman, Zweifelh. Geistes-
zustände p. 389. — Casper-Liman, Lehrb., 7. Aufl., Fall 295. — Bartels,
Friedreich's Blätter f. ger. Med. 1890, Heft 1.
bei erworbenen geistigen Schwächezuständen. 323
heirathen, wenn es nichts verrathe. Vor dem Richter meinte er, durch Heirath
könne er sein Unrecht gut machen.
3) G., 21 Jahre alt, mikrocephal, imbecill, seit dem 6. Jahre Masturbant,
später bald aktiver, bald passiver Päderast, hat wiederholt Knaben zu päde-
rastiren versucht und kleine Mädchen attaquirt. Er war absolut einsichtslos
für seine Handlungen. Seine sexuellen Gelüste kamen zeitweise und brunst-
artig wie beim Thier1).
4) B., 21 Jahre alt, imbecill, verlangt, allein mit der 19jährigen Schwester
im Wald, von dieser Gestattung des Coitus. Sie weigert sich. Er droht sie
zu erwürgen, sticht sie mit dem Messer. Das geängstigte Mädchen reisst ihn
am Penis, worauf er von ihr ablässt und ruhig an seine Arbeit zurückkehrt.
B. hat mikrocephalen difFormen Schädel, ist einsichtslos für seine That.
Emrainghaus (op. cit. p. 234) theilt den Fall eines Exhibitio-
nisten mit.
B eobachtung 134. Ein 40 Jahre alter Mann, verheirathet, hatte 16 Jahre
hindurch in Parkanlagen und anderen öffentlichen Orten in der Dämmerung
vor kleinen Mädchen, weiblichen Dienstboten u. s. w. exhibitionirt und dabei
durch Pfeifen auf sich aufmerksam gemacht. Von Auflauernden oft geprügelt,
hatte er künftig die betreffenden Orte gemieden, jedoch im Uebrigen sein
Treiben anderwärts fortgesetzt. Hydrocephalus. Schwachsinn leichten Grades.
Geringe Bestrafung.
Beobachtung 135. X., aus erblich belasteter Familie, imbecill, defekt
und verschroben im Denken, Fühlen und Streben, hat es durch Protection und
Nachhilfe bis zum Referendar gebracht. Accusatus est quod iterum iterumque
ancillis genitalia sua ostendit et superiorem corporis partem de fenestra de-
monstravit. Sonst keine Erscheinungen von Geschlechtstrieb. Angeblich keine
Masturbation. (Sander, Archiv f. Psych. I. p. 655.)
Beobachtung 136. Päderastirung eines Kindes. Am 8. April
1884 Morgens 10 Uhr gesellte sich zur X., welche einen 16 Monate alten
Knaben auf dem Schoss hielt, auf öffentlicher Strasse ein gewisser Vallario
und nahm der X. das Kind ab, vorgebend, es etwas spazieren tragen zu wollen.
Er ging x\i Kilometer fort, kam zurück, erklärte, der Knabe sei ihm vom Arm
gefallen und habe sich dabei am After verletzt. Dieser war geschlitzt und
es ergoss sich aus ihm Blut. Am Thatort fanden sich Spuren von Sperma vor.
V. gestand sein scheussliches Verbrechen, benahm sich aber in der Haupt.
Verhandlung so sonderbar, dass eine Prüfung seines Geisteszustandes verfügt
wurde. Den Gefängnisswärtern hatte er den Eindruck eines Imbecillen ge-
macht. V., 45 Jahre, Maurer, moralisch und intellectuell defectiv, ist doli-
chomikrocephal, hat schmalen , verkümmerten Gesichtsschädel , asymmetrische
Gesichtshälfte und Ohren, niedere, fliehende Stirn. Genitalien normal. V. zeigt
*) Weitere Fälle von Päderastie s. Casper, Klin. Novellen, Fall 5. —
Combes, Annal. med. psychol. 1866, Juli.
324 Das krankhafte Sexualleben
allgemein herabgesetzte Hautsensibilität, ist imbecill, verfügt nicht über Be-
griffe. Er lebt in den Tag hinein, lebt für sich, thut nichts aus eigener Ini-
tiative. Er ist wunschlos, gemüthlos, hat nie coitirt. Ueber seine Vita sexualis
ist sonst nichts heraus zu bekommen. Nachweis der intellectuellen und mora-
lischen Idiotie aus Mikrocephalie ; Zurückführung des Verbrechens auf einen
perversen, unbeherrschbaren Sexualtrieb. Versetzung in ein Irrenbaus. (Virgilio,
II Manicomio V. Jahrgang Nr. 3.)
Dass imbecille Frauenspersonen durch schamlose Prostitution
und andere Unsittlichkeiten anstössig werden können, lehrt ein von
L. Meyer (Arch. f. Psych. Bd. I, p. 103) besprochener Fall1).
Erworbene geistige Schwächezustände.
Der mannigfachen Anomalien der Vita sexualis bei Dementia
senilis wurde schon in der allgemeinen Pathologie gedacht. Bei
den anderweitigen erworbenen geistigen Schwächezuständen, wie
sie durch Apoplexie, Trauma capitis entstehen oder als Secundär-
stadien nach nicht zum Ausgleich gelangten Psychosen oder auf
Grund chronisch entzündlicher Vorgänge in der Hirnrinde (Lues,
Dem. paralytica) vorkommen, scheinen Perversionen des Geschlechts-
triebs selten zu sein und die geschlechtlich anstössigen Handlungen
auf blosser krankhafter Steigerung oder ungehemmter Geltend-
machung eines an und für sich nicht abnormen Geschlechtslebens
zu beruhen.
1) Consecntive Geistesschwäche nach Psychosen.
Casper (Klin. Novellen, Fall 31) theilte einen hieher ge-
hörigen Fall von Unzucht mit einem Kinde mit, deren sich ein
Dr. med., 33 Jahre alt, secundär geistesschwach nach hypochon-
drischer Melancholie, schuldig gemacht hatte. Er entschuldigte sich
in höchst läppischer Weise, hatte keine Einsicht für die sittlich-
rechtliche Bedeutung der Handlung, die offenbar die Folge eines
durch geistige Schwäche nicht beherrschbaren sexualen Triebs war.
Einen analogen Fall stellt der 21. in Liman's „Zweifelhafte
*) S. f. Sander, Viertel] ahrsschr. f. ger. M. XVIII, p. 31. — Casper,
Klin. Novellen, Fall 27.
bei erworbenen geistigen Schwächezuständen. 325
Geisteszustände" dar (Dementia aus Melancholie; Verletzung der
Schamhaftigkeit durch Exhibition).
2) Schwachsinn nach Apoplexie.
Beobachtung 137. B., 52 Jahre alt, hatte eine Gehirnaffection durch-
gemacht und in Folge derselben nicht mehr seinem Beruf als Kaufmann vor-
zustehen vermocht.
Eines Tages , in Abwesenheit seiner Frau , lockte er zwei kleine Mäd-
chen in sein Haus, gab ihnen Spirituosen zu trinken, machte dann wollüstige
Manipulationen mit den Kindern, befahl ihnen, nichts zu verrathen und ging
dann seinen Geschäften nach. Die Expertise constatirte Schwachsinn nach
wiederholter Apoplexie. B., der bisher musterhaft sich betragen hatte, will
in seinem ihm selbst unerklärlichen Drang und seiner Sinne nicht mehr
mächtig, die incriminirte Handlung begangen, und als er zu sich kam und
des Geschehenen bewusst wurde, sich geschämt und die Mädchen gleich
weggeschickt haben. B. war seit seinen apoplectischen Insulten geistig ge-
schwächt, unfähig zum Beruf, halbgelähmt, in Sprache und Auffassung ver-
langsamt. Er weinte oft ganz kindisch, hatte bald nach der Verhaftung
einen ungeschickten Selbstmordversuch gemacht. Seine sittliche und intel-
lectuelle Energie in der Bekämpfung sinnlicher Regungen war jedenfalls er-
heblich geschwächt. Keine Verurtheilung. (Giraud, Annal. med. psychol.
1881, März.)
3) Schwachsinn nach Kopfverletzung.
Beobachtung 138. K. wurde 14 Jahre alt von einem Pferde an dem
Kopf verletzt. Der Schädel war an mehreren Stellen gebrochen, mehrere
Knochenstücke mussten entfernt werden.
Von da an erschien K. geistig beschränkt, leidenschaftlich aufbrausend.
Allmählig entwickelte sich eine unmässige, wahrhaft thierische, ihn zu den
unzüchtigsten Handlungen anleitende Sinnlichkeit. Eines Tages notzüchtigte
er ein 12jähriges Mädchen und erwürgte es, da er die Entdeckung der That
besorgte. Verhaftet gestand er. Der Gerichtsarzt erklärte ihn für zurech-
nungsfähig. Hinrichtung.
Die Section ergab Verwachsung fast aller Schädelnähte , auffallende
Asymmetrie der Schädelhälften, Spuren geheilter Schädelsprünge. Die afficirte
Gehirnhälfte war von strahligen Narbenmassen durchsetzt und um ein Drittel
kleiner als die andere. (Friedreich's Blätter 1855, Heft 6.)
4) Erworbene Geistesschwäche, wahrscheinlich durch Lnes.
Beobachtung 139. Offizier X. Saepius cum parvis puellis stupra
fecit, eas masturbare ipsum iussit, genitalia sua ostendit earumrpie genitalia
tetigit.
326 Das krankhafte Sexualleben
X., früher gesund und von tadelloser Aufführung, war 1867 an Syphilis
erkrankt. 1879 trat Lähmung des 1. Abducens ein. Man bemerkte in der
Folge Gedächtnissschwäche, Aenderung des ganzen Wesens und Charakters,
Kopfweh, zeitweise Incohärenz der Rede, Verminderung der Gedankenschärfe
und Logik, zeitweise Ungleichheit der Pupillen, Parese des rechten Mund-
facialis.
X., 37 Jahre alt, bietet bei der Exploration keine Spuren von Lues. Die
Lähmung des Abducens besteht fort. Das linke Auge ist amblyopisch. Er
ist geistig geschwächt, behauptet bei der Wucht der gegen ihn vorliegenden
Beweise, es handle sich nur um ein harmloses Missverständniss. Spuren von
Aphasie. Gedächtnissschwäche, namentlich für Jüngsterlebtes, Oberflächlichkeit
der gemüthlichen Reaktion, rasche geistige Erschöpfbarkeit bis zum Versagen
des Gedächtnisses und der Rede. Nachweis, dass der ethische Defekt und der
perverse geschlechtliche Antrieb Symptome eines wahrscheinlich durch Lues
bedingten krankhaften Hirnzustandes sind.
Einstellung des Strafverfahrens. (Eigene Beobachtung. Jahrbücher für
Psychiatrie.)
5) Dementia paralytica.
Das Sexualleben ist hier in der Regel krankhaft mitafficirt,
in den Anfangsstadien der Krankheit, sowie in episodischen Auf-
regungszuständen gesteigert, zuweilen auch pervers; in den End-
stadien des Leidens pflegen Libido und Potenz bis auf den Null-
punkt zu sinken.
Gerade wie im Prodromalstadium der senilen Formen begegnet
man hier früh, neben mehr weniger deutlichen Ausfallserscheinungen
in der sittlichen und intellectuellen Sphäre, Aeusserungen eines zu
Tage tretenden, jedenfalls gesteigerten Geschlechtstriebs (unzüchtige
Reden, Lascivität im Verkehr mit dem anderen Geschlecht, Heiraths-
pläne, Besuch von Bordellen u. s. w.) mit für die Umneblung des
Bewusstseins charakteristischer Ungenirtheit.
Verführung, Entführung, öffentliche Skandale sind hier an der
Tagesordnung. Anfangs wird den Umständen noch einigermassen
Rechnung getragen, wenn auch der Cynismus der Handlungsweise
auffällig genug ist. Mit fortschreitender geistiger Schwäche werden
derartige Kranke durch Exhibition, Masturbation auf offener Strasse,
Unzucht mit Kindern anstössig.
Kommt es zu psychischen Erregungszuständen, so werden auch
wohl Nothzuchtsversuche begangen oder wenigstens grobe Ver-
letzungen des Anstands, indem der Kranke Weiber auf der Strasse
attaquirt, öffentlich in höchst defekter Toilette erscheint oder in
solcher in fremde Häuser eindringt, in der Absicht, mit der Frau
bei Epileptikern. 327
eines Bekannten zu cohabitiren, die Tochter des Hauses vom Fleck
weg zu heirathen.
Zahlreiche Fälle dieser Kategorie finden sich bei Tardieu (Attentats
aux moeurs); Mendel (Progr. Paralyse der Irren 1880: p. 123); Westphal
(Archiv f. Psych. VII, p. 622) ; dass auch Bigamie hier vorkommen kann, lehrt
ein Fall von Petrucci (Annal. med. psychol. 1875).
Bezeichnend ist die brutale Rücksichtslosigkeit, mit welcher die
Kranken in vorgerückten Stadien in der Befriedigung ihrer sexuellen Triebe
vorgehen.
In einem von Legrand (La folie p. 519) berichteten Falle wurde ein
Familienvater auf offener Strasse masturbirend betroffen. Er verzehrte nach
dem Akt sein Sperma!
Ein von mir beobachteter Kranker, ein Offizier aus vornehmer Familie,
machte am hellen Tage unzüchtige Angriffe auf kleine Mädchen in einem
Badeorte.
Ein ähnlicher Fall wird von Dr. Regis (De la dynamie ou exaltation
fonctionnelle au debut de la paral. gen. 1878) berichtet.
Dass auch Päderastie und Bestialität im Prodromalstadium und Ver-
lauf dieser Krankheit vorkommen, lehren Beobachtungen von Tarnowsky
(op. cit. p. 82).
Epilepsie.
An die erworbenen psychischen Schwächezustände reiht sich
die Epilepsie an, weil sie häufig zu solchen führt und dann alle
die Möglichkeiten bezüglich einer rücksichtslosen Befriedigung des
Geschlechtstriebs sich ergeben, die im Vorausgehenden besprochen
wurden. Zudem ist der Geschlechtstrieb bei vielen Epileptischen
ein sehr reger. Meist wird er durch Masturbation befriedigt, ab
und zu durch Unzucht mit Kindern, Päderastie. Perversion des
Triebs mit entsprechenden perversen geschlechtlichen Handlungen
dürfte selten vorkommen.
Viel wichtiger sind die in der Literatur sich mehrenden Fälle,
in welchen Epileptiker intervallär keine Zeichen eines regen Ge-
schlechtslebens bieten, wohl aber im Zusammenhang mit epilep-
tischen Insulten und zur Zeit äquivalenter oder postepileptischer
psychischer Ausnahmezustände. Diese Fälle sind klinisch bisher
kaum und forensisch gar nicht gewürdigt, verdienen aber ein ein-
gehendes Studium, da gewisse Fälle von Unzucht und Nothzucht
dadurch einem richtigen Verständniss entgegengeführt und Justiz-
morde vermieden werden.
328 Das krankhafte Sexualleben
Aus den folgenden Thatsachen dürfte sich jedenfalls klar er-
geben, dass die mit dem epileptischen Insult einhergehenden Hirn-
veränderungen eine krankhafte Erregung des Geschlechtslebens1)
bedingen können. In psychischen Ausnahmezuständen ist der Epi-
leptiker überdies vermöge seiner Bewusstseinsstörung widerstands-
los gegen seine Triebe.
Ich sehe seit Jahren einen jungen Epileptiker, schwer belastet, der
jeweils im Anschluss an gehäufte Insulte sich auf seine Mutter stürzt und sie
stupriren will. Patient kommt nach einiger Zeit wieder zu sich mit Amnesie
für das Vorgefallene. Intervallär ist er ein streng sittlicher, geschlechtlich
nicht bedürftiger Mann.
Vor einigen Jahren lernte ich einen Bauernknecht kennen , der im Zu-
sammenhang mit epileptischen Anfällen rücksichtslos onanirte, intervallär von
tadellosem Verhalten war.
Simon (Crimes et delits, p. 220) erwähnt eines 23jährigen epüeptischen
Mädchens von bester Erziehung und strengster Sittlichkeit, das im Vertigo-
anfall einige schlüpfrige Worte vor sich hinspricht, dann die Köcke aufhebt,
lascive Bewegungen macht und sein (geschlossenes) Unterbeinkleid zu zerreissen
bemüht ist.
Kiernan (Alienist und Neurologist, Januar 1884) berichtet von einem
Epileptiker, der als Aura von Anfällen jeweils die Vision eines schönen Weibes
in lasciven Stellungen hatte und darüber Ejaculation bekam. Nach Jahren,
und unter Brombehandlung, stellte sich statt dieser Vision die eines Teufels
ein, der mit einem Dreizack auf ihn losging. Im Momente, wo dieser ihn
erreichte, wurde er regelmässig bewusstlos.
Derselbe Autor erwähnt einen höchst ehrbaren Mann, der 2 — 3mal jähr-
lich epileptische Anfälle, gefolgt von Wuth und Dysthymie und päderastischen
Antrieben in der Dauer von 8 — 14 Tagen, hatte ; ausserdem eine Dame, die im
Klimakterium epileptische Anfälle und im Zusammenhang damit sexuelle Im-
pulse zu einem Knaben bekam.
Beobachtung 140. W., unbelastet, früher gesund, vor und nachher
geistig normal, still, gutmüthig, sittlich, dem Trunk nicht ergeben, hatte am
13. April 1877 keine Esslust. Am 14. Morgens sprang er in Gegenwart von
Frau und Kindern auf, stürzte sich auf eine anwesende Freundin seiner Frau,
beschwor zuerst sie, dann seine Frau, ihn zum Coitus zuzulassen. Abgewiesen,
bekam er einen epilepsieartigen Insult; im Anschluss daran tobte, zerstörte
a) Arndt, Lehrb. d. Psych, p. 410, hebt speciell das brünstige Element
beim Epileptischen hervor. „Ich habe E. gekannt, welche in sinnlichster Lust
gegen ihre leibliche Mutter entbrannten, und solche, welche im Verdacht selbst
seitens ihrer Väter standen, mit ihrer Mutter geschlechtlichen Umgang zu
pflegen." Wenn A. aber behauptet, dass wo immer ein absonderliches sexuelles
Leben besteht, vielleicht immer an ein epileptisches Moment zu denken sei,
so ist er im Irrthum.
bei Epileptikern. 329
er, begoss die zu seiner Ergreifung Nabenden mit kochendem Wasser und
warf ein Kind in den Ofen. Darauf wurde er bald ruhig, blieb noch einige
Tage verworren und kam dann mit völliger Amnesie für alles Vorgefallene
zu sich. (Kowalewsky, Jahrbücher f. Psych. 1879.)
Ein weiterer, von Casper begutachteter Fall (Klin. Novellen, p. 267),
in welchem ein sonst anständiger Mann kurz hinter einander auf offener
Strasse 4 Weiber attaquirte (das eine Mal sogar vor 2 Zeugen) und eines der-
selben notzüchtigte, während doch seine „ junge, nette, gesunde Frau" ganz
in der Nähe wohnte, dürfte ebenfalls mit (larvirter) Epilepsie in Verbindung
zu bringen sein, zumal da der Betreffende Amnesie für seine skandalösen Hand-
lungen bot.
Zweifellos klar ist die epileptische Bedeutung der sexuellen
Akte in den folgenden Beobachtungen.
Beobachtung 141. L., Beamter, 40 Jahre alt, liebevoller Gatte, guter
Vater, hat während 4 Jahren 25 schwere Vergehen gegen die öffentliche
Schamhaftigkeit begangen, wegen deren er längere Freiheitsstrafen zu ver-
büssen hatte.
In den ersten 7 Anklagefällen war er beschuldigt, vor Mädchen von
11 — 13 Jahren im Vorbeireiten seine Genitalien entblösst and sie mit obscönen
Worten darauf aufmerksam gemacht zu haben. Sogar im Gefängniss hatte
er sich genitalibus denudatis am Fenster, das auf eine belebte Promenade
ging, gezeigt.
L.'s Vater war geisteskrank, L.'s Bruder wurde einmal, bloss mit dem
Hemde bekleidet, auf der Strasse betroffen. L. hatte während der Militär-
dienstzeit 2mal tiefe Ohnmächten gehabt. Seit 1859 litt er an sich häufenden
eigenthümlichen Schwindelanfällen — er wurde dann ganz matt, zitterte am
ganzen Körper, wurde leichenblass , es wurde ihm dunkel vor den Augen, er
sah helle Sternchen flimmern und musste "sich stützen, um nicht umzufallen.
Nach heftigeren Anfällen grosse Mattigkeit, profuse Schweisse.
Seit 1861 grosse Reizbarkeit, die dem sonst so belobten Beamten ernste
Rügen im Dienst eintrug. Seine Frau fand ihn verändert — er hatte Tage,
an welchen er wie wahnsinnig im Hause herumlief, den Kopf zwischen den
Händen hielt, ihn an die Wand stiess und über Kopfschmerz klagte. Im Sommer
1869 stürzte Pat. 4mal zu Boden, starr, mit offenen Augen daliegend.
Auch die Dämmerzustände wurden constatirt.
L. behauptete von den ihm zur Last gelegten Vergehen nicht das Ge-
ringste zu wissen. Die Beobachtung ergab weitere und heftigere Anfälle von
Vertigo epilept. L. wurde nicht verurtheilt. 1875 entwickelte sich Dementia
paralytica mit baldigem tödtlichem Ausgang. Westphal, Arch. f. Psych.
VII, p. 113.)
Beobachtung 142. Ein 26 Jahre alter reicher Mann lebte seit 1 Jahr
mit einem Mädchen, das er sehr liebte. Er cohabitirte selten, war nie pervers.
2mal während dieses Jahres hatte er nach Excess in Alkohol epileptische
Insulte gehabt. Am Abend nach einem Diner, wobei er viel Wein getrunken,
330 Das krankhafte Sexualleben
ging er in die Wohnung der Maitresse, festen Schrittes in deren Schlafzimmer,
obgleich das Kammermädchen meldete, die Herrin sei nicht zu Hause; von
da ging er in ein Zimmer, wo ein 14 jähriger Knabe schlief, und begann diesen
zu nothzüchtigen. Auf das Geschrei des Knaben, dem er das Präputium und
die Hand verletzt hatte, eilte das Dienstmädchen herbei. Da liess er ab vom
Knaben und that dem Mädchen Gewalt an. Darauf legte er sich zu Bett und
schlief 12 Stunden. Erwacht, wusste er nur summarisch von Betrunkenheit
und einem Coitus. In der Folge wiederholt epileptische Insulte. Tarnowsky
op. cit. p. 52.)
Beobachtung 143. X., von höherem Stand, führt einige Zeit ein
dissolutes Leben und bekommt epileptische Anfälle. Er verlobt sich dann.
Am Hochzeitstag, kurz vor der Trauung, erscheint er am Arm seines Bruders
in dem mit Hochzeitsgästen erfüllten Saal. Vor seiner Braut angelangt, denudat
coram publico genitalia et masturbare incipit. Er wird sogleich nach einer
psychiatrischen Klinik gebracht, onanirt unterwegs fortwährend und ist noch
einige Tage von diesem Drang in abnehmendem Masse heimgesucht. Nach
Beendigung dieses Paroxysmus hatte Pat. nur eine ganz verschwommene Er-
innerung für die Ereignisse und vermochte keine Erklärung seiner Handlungs-
weise zu geben. (Ebenda p. 53.)
Beobachtung 144. Z., 27 Jahre, schwer erblich belastet, epileptisch,
nothzüchtigt ein 11 jähriges Mädchen, tödtet es dann. Er läugnet die That,
Amnesie, bezw. psychische Ausnahmezustände zur Zeit des Crimen nicht er-
wiesen. (Pugliese, Arch. di Psich. VIII, p. 622.)
Beobachtung 145. V., 60 Jahre, Arzt, beging Unzucht mit Kindern.
Verurtheilung zu 2 Jahre Kerker. Dr. Marandon constatirt später epileptoide
Angstanfälle, Demenz, erotische und hypochondrische Delirien, zeitweise Angst-
anfälle. (Lacassagne, Lyon. med. 1887, Nr. 51.)
Beobachtung 146. Am 4. August 1878 Nachmittags pflückte die fast
15 Jahre alte H. mit mehreren kleinen Mädchen und Knaben auf offener
Strasse Stachelbeeren. Plötzlich warf die H. die 9 Va jährige L. zu Boden,
fixirte und entblösste sie und forderte den 772jährigen A. und den 5jährigen
0. auf, eine Conjunctio membrorum mit dem Mädchen auszuführen, was diese
auch thaten.
Die H. hatte guten Leumund. Seit 5 Jahren litt sie an nervöser Reiz-
barkeit, Kopfweh, Schwindel, epileptischen Anfällen, blieb in der Entwicklung
geistig und körperlich zurück. Sie ist noch nicht menstruirt, bietet aber Moli-
mina menstr. Ihre Mutter ist epilepsieverdächtig. Seit V4 Janr hatte die H.
öfter nach Anfällen verkehrte Sachen gemacht und dafür Amnesie geboten.
Die H. erscheint deflorirt. Geistige Defecte bietet sie nicht. Von ihrer
incriminirten That erklärt sie nicht das Geringste zu wissen.
Nach dem Zeugniss der Mutter hatte sie am Morgen des 4. August
einen epileptischen Anfall gehabt und hatte die Mutter sie deshalb angewiesen,
das Haus nicht zu verlassen. (Pürkhauer, Friedreich's Blätter f. ger.
Med. 1879, H. 5.)
bei Epileptikern. 331
Beobachtung 147. Unzüchtige Handlungen in Zuständen
krankhafter Bewusstlosigkeit bei einem Epileptiker.
T., Steuereinnehmer, 52 Jahre alt, verheirathet, ist angeklagt, seit etwa
17 Jahren mit Knaben Unzucht getrieben zu haben, indem er theils dieselben
masturbirte, theils sich von ihnen masturbiren Hess. Der Angeklagte, ein ge-
schätzter Beamter, ist sehr bestürzt über diese schreckliche Beschuldigung und
behauptet, von den ihm zur Last gelegten Handlungen nicht das Geringste zu
wissen. Seine Geistesintegrität erschien fraglich. Sein Hausarzt, der T. seit
20 Jahren kannte, hebt seinen verschlossenen düsteren Charakter und häufigen
Stimmungswechsel hervor. Seine Frau berichtet, dass T. sie einmal ins Wasser
stürzen wollte, ebenso dass er zeitweise Anfälle hatte, in denen er seine Kleider
vom Leibe riss, sich zum Fenster hinausstürzen wollte. T. weiss auch von
diesen Vorfällen nichts. Auch andere Zeugen berichten von auffallendem
Wechsel der Stimmung, Bizarrerien des Charakters. Ein Arzt will auch zeit-
weise Schwindel- und Krampfanfälle bei T. constatirt haben.
T.'s Grossmutter war irrsinnig, sein Vater war dem chronischen Alko-
holismus anheimgefallen und hatte in den letzten Jahren an epileptiformen
Anfällen gelitten; dessen Bruder war irrsinnig und hatte einen Verwandten
in einem deliranten Zustand getödtet. Ein weiterer Onkel des T. hatte sich
entleibt. Von den 3 Kindern des T. war eines geistesschwach, ein anderes
schielend, ein drittes hatte an Convulsionen gelitten. Der Angeklagte gab an,
er habe zeitweise Anfälle gehabt, in welchen sich sein Bewusstsein trübte, so
dass er nicht mehr wusste, was er that. Diese Anfälle wurden von einem
auraartigen Schmerz im Nacken eingeleitet. Es trieb ihn dann an die frische
Luft. Er habe nicht gewusst, wohin er ging. Seine Frau habe ihn geschlecht-
lich vollkommen befriedigt. Seit 18 Jahren habe er ein chronisches Ekzem am
Scrotum (thatsächlich) , das ihm oft eine ausserordentliche geschlechtliche Er-
regung verursache. Die Gutachten der 6 Sachverständigen waren einander
entgegengesetzt (Geistesgesundheit — Anfälle larvirter Epilepsie), die Stimmen
der Jury waren getheilt, so dass Freisprechung erfolgte. Dr. Legrand du
Saulle, der als Experte berufen war, constatirte, dass T. bis zum 22. Jahr
etwa 10 — 18mal jährlich ins Bett urinirt hatte. Nach dieser Zeit hatte die
Enuresis nocturna aufgehört, aber seitdem waren zeitweise Stunden bis einen
Tag andauernde tiefe Dämmerzustände mit Amnesie aufgetreten. Bald darauf
wurde T. wegen öffentlicher Unsittlichkeit nochmals angeklagt und zu 15 Mo-
naten verurtheilt. Im Kerker kränkelte er und wurde zusehends geistig
schwächer. Er wurde deshalb begnadigt, aber die Geistesschwäche nahm über-
hand. Wiederholt wurden epileptiforme Anfälle (tonische Krämpfe mit Be-
wusstseinverlust und Zittern) an T. bemerkt. (Auzouy, Annal. med. psychol.
1874, November; Legrand du Saulle, Etüde med. legale etc., p. 99.)
Der folgende, vom Verfasser selbst beobachtete und in Fried-
reich's Blättern mitgetheilte Fall von Unzuchtsdelikten mit Kindern
möge diese für das Forum höchst wichtige Casuistik1) beschliessen.
*) Vgl. ausserdem Lim an, Zweifelhafte Geisteszustände, Fall 6; die
Arbeit von Lasegue, Ueber Exhibitionisten (Union med. 1877); Ball und
Chambard, Art. Somnambulisme (Dict. des scienc. med. 1881).
332 Das krankhafte Sexualleben
Er ist um so werthvoller, als der Befund eines epileptischen Be-
wusstlosigkeitszustands zur Zeit der That sichergestellt ist, und wie
die — aus naheliegenden Gründen — lateinisch gegebene Species
facti lehrt, ein combinirtes raffinirtes Handeln in solchem Zustand
gleichwohl möglich ist.
Beobachtung 148. P., 49 Jahre alt, verheirathet , Siechenhaus-
pfründner, ist angeschuldigt , am 25. Mai 1883 an der 10jährigen D. und der
9jährigen G. in seiner Arbeitshütte folgende scheussliche Unzuchtsdelikte be-
gangen zu haben:
Die D. gibt an:
Ich war mit der G. und meinem 3jährigen Schwesterchen J. auf der
Wiese. P. rief uns in seine Arbeitshütte und verriegelte die Thüre. Tum nos
exosculabatur, linguam in os meum demittere tentabat faciemque mihi lam-
bebat; sustulit me in gremium, bracas aperuit, vestes meas sublevavit, digitis
me in genitalibus titillabat et membro vulvam meam fricabat ita ut humida
fierem. Als ich schrie, schenkte er mir 12 Kreuzer und drohte mich zu er-
schiessen, wenn ich etwas ausplaudere. Schliesslich lud er mich ein, am fol-
genden Tage wiederzukommen.
Die G. deponirt:
P. nates et genitalia D . . . ae exosculatus, iisdem me conatibus aggressus
est. Deinde filiolum quoque tres annos natum in manus acceptum osculatus
est nudatumque parti suae virili appressit. Postea quae nobis essent nomina
interrogavit ac censuit, genitalia D . . . ae meis multo esse maiora. Quin etiam
nos impulit, ut membrum suum intueremur, manibus comprehenderemus et
videremus, quantopere id esset erectum.
P. gibt im Verhör vom 29. Mai an , er erinnere sich nur dunkel , vor
Kurzem kleine Mädchen geliebkost, beschenkt, geküsst zu haben. Wenn er
etwas Anderes gethan, müsse er unzurechnungsfähig gewesen sein. Er leide
übrigens seit einem Sturz vor Jahren an Kopfschwäche. Am 22. Juni weiss
er überhaupt nichts mehr von den Vorgängen am 25. Mai, auch nichts vom
Verhör am 29. Mai. Diese Amnesie bewährt sich im Kreuzverhör.
P. stammt aus gehirnkranker Familie, ein Bruder ist epileptisch. P. war
früher Trinker. Eine Kopfverletzung erlitt er thatsächlich vor Jahren. Seither
hatte er binnen Wochen bis Monaten wiederkehrende Anfälle geistiger Störung
mit einleitender Morosität, Gereiztheit, Neigung zu Alkoholexcessen , Angst,
Verfolgungsdelir bis zu gefährlichen Drohungen und Gewaltthätigkeit. Dabei
acustische Hyperästhesie, Schwindel, Kopfweh, Congestion zum Gehirn. Alles
dies bei schwerer Bewustseinsstörung und Amnesie für die ganze bis zu Wochen
sich erstreckende Anfallszeit.
Intervallär litt er an Kopfweh, ausgehend von der Stelle der erlittenen
Kopfverletzung (kleine auf Druck schmerzhafte Hautnarbe an der rechten
Schläfe). Mit Exacerbation des Kopfschmerzes war er gereizt, moros bis zu
Lebensüberdruss, rauschartig benommen im Sensorium. In einem solchen Zu-
stand hat P. 1879 einen ganz impulsiven Selbstmordversuch gemacht, dessen
er sich hinterher nicht erinnerte. Bald darauf ins Krankenhaus aufgenommen,
machte er den Eindruck des Epileptikers, stand längere Zeit in Bromkali-
bei Epileptikern. 333
behandlung. Ende 1879 ins Siechenhaus aufgenommen, hatte man nie an ihm
einen eigentlichen epileptischen Insult wahrgenommen.
Intervallär war er ein braver, fleissiger, gutmüthiger Mensch, hatte nie
Spuren von sexueller Erregung geboten, auch bisher nicht in seinen Ausnahme-
zuständen, überdies mit seinem Weib bis auf die letzte Zeit ehelich verkehrt.
Um die Zeit der incriminirten That hatte P. wieder Spuren eines nahenden
Anfalls geboten, auch den Arzt um neuerliche Darreichung des Bromkali
gebeten.
P. versichert, dass er seit jenem Sturz intolerant für calorische Schäd-
lichkeiten und Alkohol sei und davon gleich sein Kopfweh bekomme und
verwirrt werde. Seine weiteren Angaben von Gedächtnissschwäche, geistiger
Schwäche, Reizbarkeit, schlechtem Schlaf bestätigt die ärztliche Beobachtung.
Uebt man an der Stelle des Trauma einen kräftigen Druck aus, so wird
P. congestiv, gereizt, verstört, zittert am ganzen Körper, erscheint aufgeregt,
im Bewusstsein gestört und verbleibt so durch Stunden.
Zu Zeiten, wo er frei von Sensationen ist, die jeweils von der Narbe
ausgehen, erscheint er artig, mimisch, frei, willig, offen, jedoch andauernd
geistig geschwächt und dämmerhaft. P. wurde nicht verurtheilt. (Ausf. Gut-
achten s. Friedreich's Blätter.)
Periodisches Irresein.
Gleichwie in den Fällen nicht periodischer Manie, zeigt sich
vielfach bei den Anfällen periodischer eine krankhafte Steigerung
oder wenigstens ein deutliches Hervortreten der sexuellen Sphäre
(s. u. Manie).
Dass die Sexualempfindung dann auch pervers sein kann, lehrt
folgender von Servaes (Arch. f. Psych.) berichteter Fall.
Beobachtung 149. Catharine W., 16 Jahre alt, noch nicht men-
struirt, früher gesund. Vater jähzorniger Natur.
7 Wochen vor der Aufnahme (3. December 1872) melancholische Ver-
stimmung und Reizbarkeit. Am 27. November zweitägiger Tobsuchtsanfall.
Dann wieder melancholisch. Am 6. December normaler Zustand.
Am 24- December (28 Tage nach dem ersten Tobanfall) still, scheu, ge-
drückt. Am 27. December Exaltationszustand (Heiterkeit, Lachen u. s. w.) mit
brünstiger Liebe zu einer Wärterin. Am 31. December plötzlich melancholische
Starre, die sich nach 2 Stunden löst. Am 20. Januar 1873 neuer Anfall,
ganz wie der frühere. Ein gleicher am 18. Februar, zugleich mit den Spuren
von Menses. Patientin hatte absolute Amnesie für das in den Paroxysmen
Geschehene und hörte schamroth, mit unverhohlenem Erstaunen, was man ihr
berichtete.
In der Folge noch abortive Anfälle, die mit Regelung der Menses im
Juni vollem psychischem Wohlbefinden wichen.
334 Psychopathia sexualis periodica.
In einem anderen Fall, von Gock berichtet (Ar h. f. Psych.
V), in welchem es sich wahrscheinlich um cyclisches Irresein bei
einem schwer belasteten Manne handelte, trat im Exaltationszustand
Geschlechtstrieb zu Männern auf. Hier hielt sich aber der Be-
treffende für ein Frauenzimmer, und fragt es sich, ob nicht eher
der Wahn veränderten Geschlechts als eine conträre Sexualempfin-
dung das geschlechtliche Vorgehen bestimmte.
Von grösstem Interesse sind im Anschluss an diese Fälle von
krankhafter Aeusserungsweise des Geschlechtslebens, als Theil-
erscheinung einer Manie, diejenigen, wo ein krankhaftes und viel-
fach auch perverses Geschlechtsleben anfallsartig zu Tage tritt,
analog einer Dipsomanie den Kern der ganzen psychischen Störung
ausmacht, während intervallär der Geschlechtstrieb weder abnorm
stark noch pervers ist.
Ein ziemlich reiner Fall von solcher periodischer Psycho-
pathia sexualis, geknüpft an den Vorgang der Menstruation, ist
der folgende von Anjel (Arch. f. Psych. XV. H. 2) mitgetheilte.
Beobachtung 150. Ruhige Dame, nahe dem Klimakterium. Starke
erbliche Belastung. In jungen Jahren Anfälle von petit mal. Stets excentrisch,.
heftig, streng sittlich, kinderlose Ehe.
Vor mehreren Jahren, nach heftigen Gemüthsbewegungen, hysteroepilep-
tischer Anfall, darauf mehrwöchentliches postepileptisches Irresein. Dann
mehrmonatliche Schlaflosigkeit. In der Folge jeweils menstruale Insomnie und
Drang, pueros decimum annutn nondum agentes allicere, osculari et genitalia
eorum tangere. Drang zu Coitus, überhaupt zu Verkehr mit einem Erwach-
senen besteht in dieser Zeit nicht.
Patientin spricht manchmal offen über diesen Drang, bittet sie zu über-
wachen, da sie nicht für sich gutstehen könne. Intervallär meidet sie ängst-
lich jedes bezügliche Gespräch, ist streng decent, in keiner Weise geschlechts-
bedürftig.
Bezüglich derartiger, noch wenig gekannter Fälle von perio-
discher Psychopathia sexualis hat Tarnowsky (op. cit. p. 38}
werthvolle Beiträge geliefert, jedoch sind seine Fälle nicht sämmt-
lich periodischen Charakters.
Tarnowsky berichtet Fälle, wo verheiratbete , gebüdete Männer,.
Famüienväter , von Zeit zu Zeit gezwungen waren, den abscheulichsten Ge-
schlechtsakten sich zu ergeben, während sie intervallär geschlechtlich normal
waren, ihre paroxystischen Akte perhorrescirten und vor der zu gewärtigenden
Wiederkehr neuerlicher Anfälle zurückschauderten.
Kam es dann neuerlich zum Paroxysmus , so schwand die normale Ge-
schlechtsempfindung, es kam ein psychischer Aufregungszustand mit Schlaf-
Psychopathia sexualis periodica. 335
losigkeit, mit Vorstellungen und Drängen, im Sinne der perversen geschlecht-
lichen Handlungen vorzugehen, mit ängstlicher Beklemmung und immer mäch-
tiger anwachsendem Impuls zur sonst perhorrescirten , nun aber erlösenden,
weil den Zustand lösenden geschlechtlichen Handlung.
Die Analogie mit dem Dipsomanen ist eine vollkommene.
Weitere Fälle (periodische Päderastie betreffend) siehe Tar-
nowsky, op. cit. p. 41. Der dort p. 46 berichtete Fall dürfte in
das Gebiet der Epilepsie gehören.
Der folgende Fall, von Anjel (Arch. f. Psych. XV, H. 2)
berichtet, ist einer der bezeichnendsten für das anfallsweise Auf-
treten von krankhafter Sexualerregung.
Beobachtung 151. Herr aus höheren Ständen, 45 Jahre alt, allgemein
beliebt, unbelastet, sehr geachtet, streng sittlich, seit 15 Jahren verheirathet,
mit früher normalem Geschlechtsverkehr, Vater mehrerer gesunder Kinder, in
bester Ehe lebend, hatte vor 8 Jahren heftigen Schreck erlitten. Im Anschluss
daran mehrere Wochen lang Angstgefühle und Herzkrämpfe. Dann kamen,
eigenthümliche Anfälle in Zwischenräumen von Monaten bis zu einem Jahr,
die Patient seinen „ moralischen Schnupfen" nennt. Er wird schlaflos. Nach
3 Tagen Verlust des Appetits, wachsende Gemüthsreizbarkeit, verstörtes Aus-
sehen, starrer Blick, Vorsichhinstarren, grosse Blässe, wechselnd mit Erröthen,
Zittern der Finger, geröthete glänzende Augen mit eigenthümlich lüsternem
Ausdruck, hastige, überstürzte Redeweise. Drang zu kleinen Mädchen von
5 — 10 Jahren, selbst zu den eigenen. Bitte an die Frau, die Mädchen vor ihm
in Sicherheit zu bringen. Patient schliesst sich tagelang in diesem Zustand
im Zimmer ein. Früher drängte es ihn, weibliche Schulkinder auf der Strasse
abzupassen, und er empfand eine eigenthümliche Befriedigung, iis praesentibus
genitalia nudare, se mingentem fingens.
Aus Furcht vor Skandal schliesst er sich im Zimmer ab, still brütend,
bewegungsunfähig, abwechselnd von quälenden Angstgefühlen gepeinigt. Das
Bewusstsein scheint ganz ungetrübt. Dauer der Anfälle 8— 14 Tage. Ursachen,
der Wiederkehr ganz unklar. Plötzliche Besserung; grosses Schlaf bedürfniss,
nach dessen Befriedigung wieder ganz wohl. Intervallär nichts Abnormes.
Anjel nimmt eine epileptische Grundlage an und hält die Anfälle für das
psychische Aequivalent eines epileptischen Insults.
Manie.
An der allgemeinen Erregung, welche hier im psychischen
Organ besteht, betheiligt sich vielfach auch die sexuelle Sphäre,
Bei manischen Personen weiblichen Geschlechts ist dies sogar Regel.
Im einzelnen Fall kann es fraglich sein, ob der an und für sich
nicht gesteigerte Trieb bloss rücksichtslos entäussert wird oder
336 Satyriasis und Nymphomanie.
wirklich in krankhafter Steigerung vorhanden ist. Meist wird die
letztere Annahme die richtige sein, sicher da, wo sexuelle Delirien
und äquivalente religiöse fort und fort geäussert werden. Je nach
der Höhe der Krankheit äussert sich der gesteigerte Trieb in ver-
schiedenartiger Form.
Bei blosser manischer Exaltation und da, wo es sich um
Männer handelt, beobachtet man Courmacherei, Frivolität, Lascivität
in der Rede, Aufsuchen von Bordellen — bei Weibern Neigung, in
Herrengesellschaft zu kokettiren, sich zu putzen, pomadisiren, von
Heiraths- und Skandalgeschichten zu sprechen, andere Weiber
sexuell zu verdächtigen, oder — in äquivalenter religiöser Inbrunst,
zeigt sich Drang, sich an Wallfahrten, Missionen zu betheiligen,
ins Kloster zu gehen oder wenigstens Pfarrersköchin zu werden,
wobei viel von der eigenen Unschuld, Jungfräulichkeit die Rede ist.
Auf der Höhe der Manie (Tobsucht) begegnet man Auffor-
derungen zum Coitus, Exhibition, Zoten, massloser Gereiztheit gegen
die weibliche Umgebung, Neigung zu Schmierereien mit Speichel,
Urin, selbst Koth, religiös- sexuellen Delirien, vom hl. Geist über-
schattet zu sein, das Jesuskindlein geboren zu haben u. s. w., rück-
sichtloser Onanie, beckenwetzenden Coitusbewegungen.
Bei tobsüchtigen Männern hat man sich schamloser Mastur-
bation, Nothzucht an weiblichen Individuen zu versehen.
Satyriasis und Nymphomanie.
Psychische Erregungszustände, in welchen ein krankhaft ge-
steigerter Sexualtrieb im Vordergrund des Krankheitsbildes steht,
hat man als Satyriasis (beim Mann) und als Nymphomanie s. Utero-
manie (beim Weib) bezeichnet.
Moreau (a. a. 0.) hält diese Zustände für eigenartige, ge-
wiss aber mit Unrecht. Der sexuelle Symptomencomplex ist immer
nur Theilerscheinung innerhalb einer allgemeinen Psychose (Manie,
hallucinatorischer Wahnsinn?).
Das Wesentliche innerhalb des sexuellen Erregungszustands
ist ein Zustand psychischer Hyperästhesie mit Betheiligung der
sexuellen Sphäre. Die Phantasie führt nur sexuelle Bilder vor bis
zu Hallucinationen und Illusionen und wahrem hallucinatorischem
Delirium.
Die gleichgültigsten Vorstellungen wecken sinnliche Beziehungen,
Satyriasis und Nymphomanie. 337
und die wollüstige Lustbetonung der Vorstellungen und Apper-
ceptionen ist eine hochgesteigerte. Der krankhafte Bewusstseins-
inhalt nimmt das ganze Fühlen und Streben in Beschlag, geht
mit einer allgemeinen körperlichen Aufregung, ähnlich der beim Coitus
stattfindenden (s. p. 33), einher. Vielfach sind die Genitalorgane in
anhaltendem Turgor (Priapismus beim Manne).
Der von Geschlechts wuth heimgesuchte Mann sucht den Trieb
um jeden Preis zu befriedigen und wird dadurch Personen des an-
deren Geschlechts höchst gefährlich. Faute de mieux onanirt oder
sodomirt er. Das nymphomanische Weib sucht Männer durch Ex-
hibition oder brünstige Geberden an sich zu locken, geräth An-
gesichts solcher in hochgradig sexuelle Erregung, die in Mastur-
bation oder beckenwetzenden Bewegungen befriedigt wird.
Satyriasis ist selten. Nymphomanie wird häufiger beobachtet,
nicht so selten im Klimakterium. Sogar im Senium kann sie vor-
kommen. Abstinenz1) bei beständiger Anregung der sexuellen
Sphäre durch psychische und periphere Reize (Pruritus pudendi,
Oxyuris u. s. w.) kann diese Zustände hervorbringen, wahrschein-
lich aber nur bei Belasteten.
Die Behauptung, dass sie auch in Folge von Vergiftung durch
Canthariden vorkomme, scheint auf Verwechslung mit Priapismus
zu beruhen. Das anfängliche Wollustgefühl, das mit Priapismus
ab intoxicatione cantharid. verbunden ist, geht wenigstens bald in
das Gegentheil über. Satyriasis und Nymphomanie sind acute psycho-
sexuale Erkrankungszustände.
Es gibt übrigens auch solche, die man nicht ohne Grund als
chronische Fälle von Satyriasis, resp. Nymphomanie, bezeichnen könnte.
Dahin gehören Männer, die, meist nach Abusus Veneris, be-
sonders durch Masturbation, an Neurasthenia sexualis leiden, gleich-
wohl eine hochgesteigerte Libido sexualis besitzen. Ihre Phantasie
ist, gleichwie in acuten Fällen, sehr erregt, ihr Bewusstsein mit
schmutzigen Bildern erfüllt, so dass selbst das Erhabenste mit
cynischen Bildern und Vorstellungen besudelt wird.
Das Denken und Verlangen solcher Menschen ist nur auf
die Sexualsphäre gerichtet, und da ihr Fleisch schwach ist, kommen
sie, unterstützt durch ihre Phantasie, zu den grössten Perversitäten
geschlechtlichen Handelns.
*) Vgl. die interessanten Fälle bei Marc- Ideler II, p. 137. — Ideler,
Grundriss der Seelenheilkunde II, p. 488—492.
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 22
338 Das krankhafte Sexualleben bei Melancholie, Hysterie.
Analoge Zustände bei Frauen kann man als chronische Nympho-
manie bezeichnen. Sie führen natürlich zu Prostitution. Legrand
du Saulle (La folie p. 510) theilt interessante Fälle mit, die offen-
bar nicht anders sich deuten lassen.
Melancholie.
Bewusstsein und Stimmung des Melancholischen sind einer
Weckung sexueller Triebe nicht günstig. Gleichwohl kommt es
zuweilen vor, dass solche Kranke masturbiren.
In Fällen meiner Erfahrung handelt es sich immer um be-
lastete und schon vor der Krankheit der Masturbation ergebene
Kranke. Eine Befriedigung einer wollüstigen Erregung schien den
Akt nicht zu motiviren, als vielmehr Gewohnheit, Langeweile, Angst
und der Drang, eine temporäre Aenderung der peinlichen psychischen
Situation herbeizuführen.
Hysterie.
Aeusserst häufig ist bei dieser Neurose auch das sexuelle
Leben abnorm, bei belasteten Fällen wohl immer.
Alle möglichen Anomalien der sexuellen Funktion kommen
hier vor, in buntem Wechsel und sonderbarer Verquickung, auf
hereditär degenerativer Grundlage und bei moralischer Imbecillität,
in den perversesten Erscheinungsformen. Die krankhafte Aende-
rung und Verkehrung der Geschlechtsempfindung bleibt niemals
ohne Folgen für das Gemüthsleben dieser Kranken.
Ein denkwürdiger bezüglicher, von Giraud mitgetheilter Fall
ist der folgende:
Beobachtung 152. Marianne L. in Bordeaux hat Nachts, während
ihre Herrschaft unter dem Einfluss von ihr beigebrachten Narcoticis fest schlief,
deren Kinder ihrem Geliebten zu geschlechtlichem Genuss preisgegeben und
zu Zeugen der unmoralischsten Scenen gemacht. Es ergab sich, dass die L.
hysterisch (Hemianästhesie und Krampfanfälle) und vor ihrer Erkrankung eine
anständige, vertrauenswürdige Person gewesen war. Seit der Krankheit hatte
sie sich schamlos prostituirt und ihren moralischen Sinn eingebüsst.
Häufig ist bei Hysterischen das Sexualleben krankhaft erregt.
Diese Erregung kann intermittirend (menstrual ?) sich geltend machen.
Schamlose Prostitution, selbst seitens Ehefrauen, kann die Folge
Das krankhafte Sexualleben bei Paranoia. 339
sein. In milderer Form äussert sich der sexuelle Drang in Onanie,
Nacktgehen im Zimmer, Sichsalben mit Urin und anderen un-
sauberen Stoffen, Anlegen von Männerkleidern u. s. w.
Schule (Klin. Psychiatrie 1886, p. 237) findet besonders
häufig krankhaft gesteigerten Geschlechtstrieb, „welcher disponirte
Mädchen und selbst in glücklicher Ehe lebende Frauen zu Messa-
linen werden lässt". Der genannte Autor kennt Fälle, wo bereits
auf der Hochzeitsreise Fluchtversuche mit Männern aus zufälliger
Begegnung gemacht wurden, wo geachtete Frauen Liaisons ohne
Wahl anknüpften und in unersättlicher Gier jede Würde opferten.
Bei hysterischer Geistesstörung kann sich das krankhaft er-
regte Sexualleben in Eifersuchtswahn, grundlosen Anklagen männ-
licher Personen wegen unzüchtiger Handlungen1), Coitushallucina-
tionen2) u. s. w. äussern.
Zeitweise kann auch Frigidität vorkommen mit mangelndem
Wollustgefühl, meist auf Grund genitaler Anästhesie.
Paranoia.
Abnorme Erscheinungen seitens des Sexuallebens sind in den
verschiedenen Formen der primären Verrücktheit nichts Seltenes.
Entwickeln sich doch manche derselben auf der Grundlage sexuellen
Abusus (masturbatorische Paranoia) oder sexueller Erregungsvor-
gänge, und handelt es sich um psychisch degenerative Individuen,
bei denen erfahrungsgemäss, neben anderweitigen funktionellen De-
generationszeichen, auch das sexuelle Leben vielfach tief belastet ist.
Besonders deutlich tritt das krankhaft gesteigerte, nach Um-
ständen auch perverse sexuelle Leben zu Tage in der Paranoia
erotica und der religiosa. Bei der ersteren äussert sich aber der
sexuelle Erregungszustand nicht sowohl in direkt auf die Befriedi-
gung des Geschlechtsgenusses abzielenden Vorgängen und Hand-
lungen, als vielmehr (jedoch nicht ausnahmslos) in platonischer
Liebe, in Schwärmerei für eine durch ästhetische Befriedigung im-
ponirende Person des anderen Geschlechts, nach Umständen sogar
für ein Phantasiegebilde, ein Bild oder eine Statue.
*) S. u. a. Fall Merlac in d. Verf. Lehrb. d. ger. Psychopathol., 2. Aufl.
p. 322. — Morel, Traite des malad, mentales p. 687. — Legrand, La folie
p. 337. — Process La Ronciere in Annal. d'byg., 1. Serie, IV., 3. Serie, XXII.
2) Darauf beruhen die Incuben in den Hexenprocessen des Mittelalters.
340 Das krankhafte Sexualleben bei Paranoia.
Die schwächlich oder rein geistig sich kundgebende Liebe zum
anderen Geschlecht hat übrigens nicht selten ihren Grund in durch
lang getriebene Masturbation entstandener Schwächung der Zeu-
gungsorgane, und unter der keuschen Begeisterung für ein geliebtes
Wesen kann sich grosse Lüsternheit und sexueller Missbrauch ver-
bergen. Episodisch, namentlich bei Weibern, kann sogar heftige
sexuelle Erregung im Sinne der Nymphomanie auftreten.
Auch die Paranoia religiosa fusst grösstentheils auf der sexuellen
Sphäre, die in Form abnorm frühen und krankhaft starken Sexual-
triebs sich kund gibt. Die Libido findet Befriedigung in Mastur-
bation oder religiöser Schwärmerei, deren Gegenstand einzelne Geist-
liche, Heilige u. s. w. sein können.
Diese psycho-pathologischen Beziehungen zwischen sexuellem
und religiösem Gebiet wurden p. 9 ausführlich besprochen.
Verhältnissmässig häufig sind — abgesehen von Masturbation —
bei religiöser Paranoia sexuelle Delikte.
Einen bemerkenswerthen Fall von religiösem Wahnsinn, der
zu Ehebruch führte, enthält Marc's Werk (Uebers. von Ideler II,
p. 160). Einen Fall von Unzucht mit kleinen Mädchen seitens
eines an Paranoia religiosa leidenden 43jährigen Mannes, der tem-
porär erotisch erregt war, hat Giraud (Annal. med. psychol.) be-
richtet. Hierher gehört auch ein Fall von Incest (Li man, Viertel-
jahrsschr. f. ger. Med.).
Beobachtung 153. M. hat seine Tochter geschwängert. Seine Ehefrau,
Mutter von 18 Kindern und selbst schwanger von ihrem Manne, erstattete die
gerichtliche Anzeige. M. litt seit 2 Jahren an religiöser Paranoia. „Es wurde
mir die Offenbarung, dass ich mich zu meiner Tochter, zu der ewigen Sonne,
legen solle. Dann entstände ein Mensch von Fleisch und Blut durch meinen
Glauben, der 18 Jahrhunderte alt sei. Dieser Mensch als eine Brücke in das
ewige Leben zwischen altem und neuem Testament." Diesem, nach seiner
Meinung göttlichen Befehl hatte der Wahnsinnige Folge geleistet.
Auch bei Paranoia persecutoria kommen zuweilen pathologisch
motivirte sexuelle Handlungen vor.
Beobachtung 154. Eine 30 Jahre alte Frauensperson hatte einen in
der Nähe spielenden 5jährigen Knaben durch Versprechung von Geld und
Braten an sich gelockt, pene lusit, supra puerum flexa coitum conavit. Die
Betreffende war Lehrerin, von einem Manne verführt und Verstössen worden,
hatte sich, früher streng sittlich, einige Zeit der Prostitution ergeben. Der
Schlüssel zur Erklärung ihres sittenlosen Lebenswandels ergab sich insofern,
als sie weitverzweigten Verfolgungswahn bot, wähnte, unter dem geheimniss-
Das krankhafte Sexualleben bei Paranoia. 341
vollen Einfluss ihres Verführers zu stehen, der sie zu sexuellen Handlungen
nöthige. So glaubte sie auch, der Knabe sei ihr durch ihren Verführer in den
Weg geschickt worden. An rohe Sinnlichkeit als Motiv des Verbrechens
Hess sich um so weniger denken, als es der Person leicht gewesen wäre, auf
naturgemässe Weise ihren Sexualtrieb zu befriedigen. (Küssner, Berl. klin.
Wochenschrift.)
Aehnliche Fälle hat Cullerre (Perversions sexuelles chez les
persecutes in Annal. rnddico-psychol., Mars 1880) mitgetheilt, z. B.
die Beobachtung eines Kranken, der, an Paranoia sexualis perse-
cutoria leidend, seine Schwester zu nothzüchtigen versuchte, dem
vermeintlichen Zwang Folge gebend, den auf ihn die Bonapartisten
ausübten.
In einem anderen Falle wird ein an elektro-magnetischem
Verfolgungswahnsinn leidender Capitän von seinen Verfolgern zu
Päderastie gereizt, die er lebhaft perhorrescirt. In einem ähnlichen
Fall reizt der Verfolger zu Onanie und Päderastie.
V. Das krankhafte Sexualleben vor dem
Criminalforum x).
Die Gesetzbücher aller Culturnationen verfolgen Denjenigen,
welcher unzüchtige Handlungen begeht. Insofern die Erhaltung
von Zucht und Sitte eine der wichtigsten Existenzbedingungen für
das staatliche Gemeinwesen ist, kann der Staat kaum genug thun
als Hüter der Sittlichkeit in dem Kampf gegen die Sinnlichkeit.
Dieser Kampf ist ein ungleicher, insofern nur eine gewisse Zahl
von sexuellen Ausschweifungen gerichtlich verfolgt werden kann,
den Ausschweifungen eines so mächtigen Naturtriebs gegenüber die
Strafdrohung nur sehr wenig auszurichten vermag und es in der
Natur der sexuellen Delikte liegt, dass nur ein Theil derselben zur
Kenntniss der Behörde gelangt. Dem Walten dieser kommt die
öffentliche Meinung zu Hülfe, indem sie derlei Delikte als entehrend
ansieht.
Aus der Criminalstatistik ergibt sich die traurige Thatsache,
dass die sexuellen Delikte in unserem modernen Culturleben eine
fortschreitende Zunahme aufweisen2), darunter ganz speziell die
Unzuchtsvergehen an Individuen unter 14 Jahren.
Der Moralist sieht in diesen traurigen Thatsachen weiter nichts
als einen Verfall der allgemeinen Sittlichkeit und kommt nach Um-
ständen zu der Anschauung, dass die im Vergleich zu vergangenen
*) S. Weisbrod, Die Sittlichkeitsverbrechen vor dem Gesetz , Berlin
1891. — Dr. PaBquale Penta, I pervertimenti sessuali neu' uomo. Napoli
1893. — Seydel, Die Beurtheilung der perversen Sexualvergehen in foro.
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1893. Heft 2.
*) Vgl. Casper, Klin. Novellen. — Lombroso, Goltdammer's Archiv
Bd. 30. — Oettingen, Moralstatistik p. 494.
Yerkennung pathologischer Sexualfunktion in foro. 343
Jahrhunderten übergrosse Milde des Gesetzgebers in der Bestrafung
sexueller Delikte daran theilweise schuld sei.
Dem ärztlichen Forscher drängt sich der Gedanke auf, dass
diese Erscheinung im modernen socialen Culturleben mit der über-
handnehmenden Nervosität der letzten Generationen in Zusammen-
hang stehe, insofern sie neuropathisch belastete Individuen züchtet,
die sexuelle Sphäre erregt, zu sexuellem Missbrauch antreibt und
bei fortbestehender Lüsternheit, aber herabgeminderter Potenz, zu
perversen sexuellen Akten führt.
Wie berechtigt derartige Anschauungen speziell zur Erklärung
der in auffallender Weise sich mehrenden Unzuchtsdelikte an Kin-
dern sind, wird sich aus dem Folgenden klar ergeben.
Dass bezüglich der Begehung von sexuellen Delikten neuro-
und selbst psychopathische Bedingungen vielfach ausschlaggebend
sind, ist aus dem bisher Erörterten leicht ersichtlich. Damit wird
nichts Geringeres als die Zurechnungsfähigkeit vieler eines Un-
zuchtsdeliktes beschuldigter Menschen in Frage gestellt.
Der Psychiatrie kann die Anerkennung nicht versagt werden,
dass sie die psychisch krankhafte Bedeutung zahlreicher monströser,
paradoxer sexueller Akte erkannt und nachgewiesen hat.
Von diesen Thatsachen psycho-pathologischer Forschung hat
die Jurisprudenz als Gesetzgebung und Rechtssprechung bisher sehr
wenig Notiz genommen. Sie setzt sich damit in Widerspruch mit
der Medizin und steht beständig in Gefahr, Urtheile und Strafen
über Solche zu verhängen, die wissenschaftlich als für ihre Hand-
lungen unzurechnungsfähig dastehen.
Durch diese oberflächliche Behandlung von tief in das Inter-
esse und Wohl der Gesellschaft eingreifenden Delikten geschieht
es gar leicht der Justiz, dass sie einen Verbrecher, der gemein-
gefährlicher als ein Mörder oder als ein wildes Thier ist, nach festem
Strafmass abstraft und ihm nach ausgestandener Strafe die Gesell-
schaft wieder ausliefert, während die wissenschaftliche Forschung
nachweisen kann, dass ein originär psychisch und sexuell entarteter
und damit unzurechnungsfähiger Mensch der Thäter war, der zeit-
lebens unschädlich gemacht werden müsste, aber nicht bestraft
werden sollte.
Eine Justiz, die nur die That und nicht den Thäter würdigt,
wird immer Gefahr laufen, wichtige Interessen der Gesellschaft
(allgemeine Sittlichkeit und Sicherheit) wie auch solche des Indivi-
duums (Ehre) zu verletzen.
344 Sexuale Delikte. Kriterien pathologischer Sexualempfindung.
Auf keinem Gebiete des Strafrechts ist ein Zusammenarbeiten
von Richter und medizinischen Experten so sehr geboten, wie bei
den sexuellen Delikten, und nur die anthropologisch-klinische For-
schung vermag hier Licht und Klarheit zu verbreiten.
Die Art des Deliktes kann niemals an und für sich eine
Entscheidung darüber herbeiführen, ob es sich um einen psycho-
pathischen oder einen in physiologischer Breite des Seelenlebens
zu Stande gekommenen Akt handelt. Der perverse Akt ver-
bürgt nicht die Perversion der Empfindung. Jedenfalls sind
die monströsesten und perversesten sexuellen Handlungen bei geistig
Gesunden schon vorgekommen. Aber die Perversion der
Empfindung muss als eine krankhafte erwiesen werden.
Dieser Nachweis wird geliefert durch Entwicklung ihrer Entstehungs-
bedingungen und durch ihre Constatirung als Theilerscheinung eines
neuro- oder psychopathischen Gesammtzustandes.
Wichtig ist die Species facti, aber auch sie gestattet nur
Vermuthungen, insofern dieselbe sexuelle Handlung, je nachdem
sie z. B. ein Epileptiker, Paralytiker oder geistig Gesunder begeht,
ein anderes Gepräge und Besonderheiten der Handlungsweise
aufweist.
Periodische Wiederkehr des Aktes unter identischen Modali-
täten, impulsive Art der Ausführung erwecken gewichtige Prä-
sumptionen für eine pathologische Bedeutung. Die Entscheidung
liegt jedoch in der Zurückführung der That auf ihre psychologischen
Motive (Abnormitäten des Vorstellens und Fühlens) und in der Be-
gründung dieser elementaren Anomalien als Theilerscheinungen eines
neuropsychopathischen Gesammtzustandes — entweder einer psychi-
schen Entwicklungshemmung oder eines psychischen Degenerations-
zustandes oder einer Psychose.
Die in dem allgemein- und speciell-pathologischen Theil dieses
Buches niedergelegten Erfahrungen dürften für den Experten von
Werth für die Auffindung der Impulse zur Handlung sein.
Diese für die Entscheidung, ob bloss Immoralität oder ob
Psychopathie vorliege, un erlässlichen Thatsachen können nur durch
eine gerichtsärztliche Untersuchung, die nach Regeln der Wissen-
schaft die ganze Persönlichkeit anamnestisch und gegenwärtig, anthro-
pologisch und klinisch berücksichtigt, gewonnen werden.
Der Nachweis einer originären angeborenen Anomalie des
Sexuallebens ist wichtig und fordert auf, in der Richtung eines
psychischen Degenerationszustandes Untersuchungen anzustellen.
Fragliche Zurechnungsfähigkeit. 345
Eine erworbene Abweichung muss, um als krankhaft anerkannt
werden zu können, auf eine Neuro- oder Psychopathie zurückgeführt
werden.
Praktisch muss hier zunächst an Dementia paralytica und an
Epilepsie gedacht werden. Die Entscheidung bezüglich der Zurech-
nungsfähigkeit findet ihren Schwerpunkt in dem Nachweis eines
psychopathischen Zustandes bei dem eines sexuellen Deliktes Be-
schuldigten.
Dieser Nachweis ist unerlässlich, um der Gefahr zu begegnen,
dass nicht blosse Immoralität mit dem Deckmantel der Krankheit
entschuldigt werde.
Psychopathische Zustände können zu Sittlichkeitsverbrechen
führen und zugleich die Bedingungen der Zurechnungsfähigkeit auf-
heben, insofern
1) dem normalen, eventuell gesteigerten Sexualtrieb keine sitt-
lichen und rechtlichen Gegenvorstellungen gegenübergestellt werden
können, und zwar: a) indem solche nie erworben wurden (ange-
borene geistige Schwächezustände) oder b) in Verlust geriethen
(erworbene geistige Schwächezustände);
2) der Sexualtrieb gesteigert ist (psychische Exaltatiönszustände)
und zugleich das Bewusstsein getrübt, der psychische Mechanismus
zu gestört ist, um die virtuell allerdings vorhandenen Gegenvorstel-
lungen wirksam werden zu lassen;
3) der Sexualtrieb pervers ist (psychische Degenerationszustände).
Er kann zugleich gesteigert und unwiderstehlich sein.
Ausserhalb eines psychischen Defekt-, Entartungs- oder Er-
krankungszustandes stehende Fälle von sexuellem Delikt können
niemals der Entschuldigung der Unzurechnungsfähigkeit theilhaftig
werden.
In zahlreichen Fällen wird statt eines psychisch-krankhaften
Zustandes eine Neurose (lokale oder allgemeine) gefunden werden.
Insofern die Uebergänge zwischen Neurose und Psychose fliessende
sind, elementare psychische Störungen bei jener häufig, bei tiefer
Perversion des Sexuallebens wohl immer zu finden sind, die neu-
rotische Aflektion, wie z. B. Impotenz, reizbare Schwäche u. s. w.,
auf die Begehung der strafbaren That Einfluss gewann, wird eine
gerechte Justiz, unbeschadet der nur aus psychischem Defekt oder
aus Krankheit statuirbaren Mangels der Zurechnungsfähigkeit, auf
mildernde Umstände der Strafthat erkenneD.
Der praktische Jurist wird aus verschiedenen Gründen An-
346 Indicien für pathologische Begründung sexueller Delikte.
stand nehmen, bei allen sexuellen Delikten Gerichtsärzte zu berufen
behufs Anstellung einer psychiatrischen Expertise.
Ob und wann er dazu bemüssigt ist, muss freilich seinem Ge-
wissen und Ermessen anheim gegeben werden. Indicien dafür, dass
der Fall pathologisch sein dürfte, ergeben sich jedenfalls unter
folgenden Umständen:
Der Thäter ist ein Greis. Das sexuelle Delikt wurde mit auf-
fallendem Cynismus öffentlich begangen. Die Art der Geschlechts-
befriedigung ist eine läppische (Exhibitioniren) oder grausame (Ver-
stümmelung, Lustmord) oder perverse (Nekrophilie u. s. w.).
Erfahrungsgemäss lässt sich sagen, dass unter den vorkom-
menden sexuellen Akten Nothzucht, Schändung, Päderastie, Amor
lesbicus, Bestialität eine psycho-pathologische Begründung haben
können.
Beim Lustmord, sofern er über den Zweck der Ermordung
hinausgeht, desgleichen bei der Leichenschändung sind psycho-
pathische Zustände wahrscheinlich.
Das Exhibitioniren, sowie die mutuelle Masturbation lassen
pathologische Bedingungen sehr wahrscheinlich erscheinen. Die
Onanisirung eines Anderen, sowie die passive Onanie kann bei De-
mentia senilis, conträrer Sexualempfindung, aber auch bei blossen
Wüstlingen vorkommen.
Der Cunnilingus, gleichwie das Fellare (penem in os mulieris
arrigere) bot bisher nur ausnahmsweise psycho-pathologische Be-
ziehungen.
Diese sexuellen Scheusslichkeiten scheinen fast ausschliesslich
bei im natürlichen Geschlechtsgenusse übersättigten, zugleich in der
Potenz geschwächten Wüstlingen vorzukommen. Die Paedicatio
mulierum erscheint nicht psychopathisch, sondern Praktik moralisch
tiefstehender Ehemänner aus Scheu vor Nachkommenschaft, sowie
übersättigter Cyniker im ausserehelichen Geschlechtsgenuss.
Die praktische Wichtigkeit des Gegenstandes nöthigt dazu,
die vom Gesetzgeber als sexuelle Delikte mit Strafe bedrohten ge-
schlechtlichen Handlungen vom gerichtsärztlichen Standpunkt speciell
ins Auge zu fassen. Dabei ergibt sich der Vortheil, dass die psycho-
pathologischen, nach Umständen ganz analogen Handlungen in das
richtige Licht durch noch in die physio-psychologische Breite fallende
gestellt werden.
Verletzung der Sittlichkeit. 347
1) Verletzung der Sittlichkeit in Form des Exhibitionirens x).
(Oesterreich § 516. Entwurf § 195. Deutsch. Stgsb. § 183.)
Schamhaftigkeit ist in dem Kulturleben der heutigen Menschen
eine durch Erziehung vieler Jahrhunderte so gefestigte Charakter-
erscheinung und Direktive, dass sich vorweg Vermuthungen einer
psycho-pathologischen Beziehung ergeben müssen, wenn der öffent-
liche Anstand in gröblicher Weise verletzt wird.
Die Vermuthung wird berechtigt sein, dass ein Individuum,
welches derart das Sittlichkeitsgefühl seiner Mitmenschen und zu-
gleich seine eigene Würde verletzt, der Gefühle der Sittlichkeit
nicht theilhaftig werden konnte (Idioten) oder verlustig ging (er-
worbene geistige Schwächezustände) oder in einem Zustand von
Trübung seines Bewusstseins (transitorisches Irresein, geistige
Dämmerzustände) gehandelt hat.
Eine ganz eigenartige, hierher gehörige Handlung stellt das
sog. Exhibitioniren dar.
Die bisherige Casuistik weist ausschliesslich Männer auf, die
vor Personen des anderen Geschlechts ostentativ ihre Genitalien
entblössten, dieselben eventuell auch verfolgten, ohne jedoch irgend-
wie aggressiv zu werden.
Die läppische Art und Weise dieser Geschlechtsbethätigung
oder eigentlich sexuellen Demonstration weist auf intellectuellen
und ethischen Schwachsinn oder wenigstens auf temporäre Hem-
mung intellectueller und ethischer Funktionen bei gleichzeitig er-
regter Libido auf Grund einer erheblichen Bewusstseinstrübung
(krankhafte Bewusstlosigkeit , Sinnesverwirrung) hin und stellt zu-
gleich die Potenz dieser Individuen in Frage. Darnach ergeben sich
verschiedene Kategorien von Exhibitionisten.
Eine erste umfasst erworbene geistige Schwächezu-
stände, bei welchen durch die zu Grunde liegende Hirn- (Rücken-
marks)krankheit das Bewusstsein getrübt, die ethischen und intellec-
tuellen Funktionen geschädigt sind, eine von jeher mächtig be-
stehende oder durch den Krankheitsprocess angefachte Libido damit
kein Gegengewicht zu finden vermag, überdies Impotenz besteht
^Boissier et Lachaux, Perversions sexuelles ä forme obsedante.
Archives de neurologie 1893, Octobre.
348 Verletzung der Sittlichkeit.
und den geschlechtlichen Drang nicht mehr in kraftvollen Akten
(eventuell Nothzucht), sondern nur in läppischen zu bethätigen ge-
stattet.
In diese Kategorie fällt die Mehrzahl der mitgetheilten Fälle 1)-
Es sind der Dementia senilis, dem paralytischen Blödsinn verfallene
oder auch durch Alkoholismus, Epilepsie u. s. w. geistig defekte
Individuen.
Beobachtung 155. Z., höherer Beamter, 60 Jahre alt, Wittwer,
Familienvater, hat dadurch Anstoss erregt, dass er einem 8jährigen, ihm
gegenüber wohnenden Mädchen während eines Zeitraums von 14 Tagen wieder-
holt genitalia sua de fenestra ostendit. Nach mehreren Monaten hat dieser
Mann unter gleichen Umständen seine unanständige Handlung wiederholt. Er
erkannte im Verhör das Abscheuliche seiner Handlungsweise an, wusste keine
Entschuldigung dafür. Ein Jahr später Tod in Hirnerkrankung. (Lasegue,
op. cit.)
Beobachtung 156. Z., 78 Jahre, Seemann, hat wiederholt an Kinder-
spielplätzen und in der Nähe von Mädchenschulen exhibitionirt. Es war dies
die einzige Art seiner Geschlechtsbethätigung. Z. , verheirathet , Vater von
10 Kindern, hat vor 12 Jahren eine schwere Kopfverletzung erlitten, von
welcher eine tiefe Knochennarbe datirt. Druck auf diese Narbe macht Schmerz;
dabei röthet sich das Gesicht, die Miene wird starr. Pat. erscheint somnolent,
es kommt zu Zuckungen in der rechten Oberextremität (offenbar epileptoide
Zustände im Zusammenhang mit einer Hirnrindenerkrankung). Im Uebrigen
Befund einer (senilen) Demenz und vorgeschrittenes Senium. Ob das Exhibi-
tioniren mit epileptoiden Anfällen coincidirte, ist nicht mitgetheilt. Nachweis
einer Dementia senilis. Freisprechung. (Dr. Schuchardt, op. cit.)
Eine Anzahl hierher gehöriger Fälle hat Pelanda (op. cit.)
mitgetheilt.
1) Paralytiker, 60 Jahre alt. Mit 58 Jahren hatte er begonnen, vor Frauen
und Kindern zu exhibitioniren. Er war in der Irrenanstalt (Verona) noch
längere Zeit lasciv und versuchte auch Fellatio.
2) Alter Potator, 66 Jahre, schwer belastet, an Folie circulaire leidend.
Seine Exhibition wurde zum erstenmal in der Kirche während des Gottes-
dienstes bemerkt. Sein Bruder war ebenfalls Exhibitionist.
3) Mann, 49 Jahre, belastet, Potator, von jeher sexuell sehr erregbar,
wegen Alkohol, chron. in der Irrenanstalt, exhibirt jeweils, wenn er eines
weiblichen Wesens ansichtig wird.
l) Lasegue, Union medicale 1877, Mai; Laugier, Annal. d'hygiene
publ. 1878, Nr. 106; Pelanda, Ueber Pornopathiker , Archivio di Psichiatria
VIII; Schuchardt, Zeitschr. f. Medicinalbeamte 1«90, Heft 6.
Verletzung der Sittlichkeit. 349
4) Mann, 64 Jahre, verheirathet, Vater von 14 Kindern. Schwere
Belastung. Rhachitisch mikrocephaler Schädel. Seit Jahren Exhibitionist trotz
wiederholter Bestrafungen.
Beobachtung 157. X., Kaufmann, geb. 1833, ledig, hat wiederholt
vor Kindern exhibitionirt oder auch urinirt, einmal auch in derartiger Situation
ein kleines Mädchen abgeküsst. Vor 20 Jahren hatte X. eine schwere geistige
Krankheit von 2jähriger Dauer durchgemacht, in welcher ein apoplectischer
Anfall vorgekommen sein soll.
Später, nach Verlust seines Vermögens, ergab er sich dem Trunk und
erschien in den letzten Jahren öfters wie geistesabwesend.
Der Stat. praes. ergab Alkoholismus, Senium praecox, geistige Schwäche.
Penis klein, Phimosis, Hoden atrophisch. Nachweis geistiger Krankheit. Frei-
sprechung. (Dr. Schuchardt, op. cit.)
Derartige Fälle von Exhibitioniren erinnern an die Gepflogen-
heit junger, mehr weniger noch bübischer, sexuell erregter Leute,
aber auch gar mancher erwachsener Cyniker von tiefstehender Moral,
die sich damit vergnügen, die Wände öffentlicher Aborte u. s. w.
mit Bildern männlicher und weiblicher Genitalien zu besudeln —
eine Art von ideellem Exhibitioniren , von dem aber zum reellen
noch ein weiter Schritt ist.
Eine weitere Kategorie von Exhibitionisten wird durch Epi-
leptiker1) gebildet.
Diese Kategorie unterscheidet sich von der vorausgehenden
wesentlich dadurch, dass ein bewusstes Motiv für das Exhibitioniren
fehlt, dieses vielmehr als eine impulsive Handlung erscheint, die,
ganz ohne Rücksicht auf die äusseren Umstände, im Sinne einer
krankhaften organischen Nöthigung sich den Vollzug erzwingt.
Ein geistiger Dämmerzustand ist tempore delicti immer vor-
handen, und daraus erklärt es sich wohl, dass der Unglückliche
ohne Bewusstsein der Bedeutung seiner Handlung, jedenfalls ohne
Cynismus, in blindem Drange seine Handlung begeht, die er,
wieder zu sich gekommen, bedauert, verabscheut, sofern nicht schon
dauernde geistige Schwäche besteht.
Das Primum movens in diesem geistigen Dämmerzustand ist,
gleichwie bei anderen impulsiven Akten, ein Gefühl ängstlicher
Beklemmung. Associirt sich damit ein sexuelles Gefühl, so erhält
das Vorstellen eine bestimmte Direktive im Sinne einer entsprechen-
den (sexuellen) Handlung.
*) Instructiver Fall von Morselli, Bolletino della R. Accademia medica
di Genova, Vol. IX (1894), fasc. 1.
350 Verletzung der Sittlichkeit.
Dass bei Epileptikern gerade sexuelle Vorstellungen besonders
leicht tempore insultus auftauchen, erklärt sich aus p. 327 bis 333
dieses Buches.
Ist aber eine solche Association einmal geknüpft, eine be-
stimmte Handlung in einem Anfall zu Stande gekommen, so wieder-
holt sie sich um so leichter in jedem folgenden, weil sich ein
ausgefahrenes Geleise in der Bahn der Motivation sozusagen ge-
bildet hat.
Der angstvolle Zustand im dämmerhaften Bewusstsein lässt
den associirten sexuellen Impuls als einen Befehl, als eine innere
Nöthigung erscheinen, die rein impulsiv und in absolut unfreiem
Zustand vollzogen werden.
Beobachtung 158. K., Subalternbeamter, 29 Jahre, aus neuropathischer
Familie, in glücklicher Ehe lebend, Vater eines Kindes, hat wiederholt, be-
sonders in der Dämmerung, vor Dienstmädchen exhibitionirt. K. ist gross,
schlank , blass , nervös , hastig in seinem Wesen. Nur summarische Er-
innerung für die Delikte. Seit der Kindheit häufige starke Congestiv-
zustände mit heftiger Röthe des Gesichts, beschleunigtem, gespanntem Puls,
starrem, wie abwesendem Blick. Ab und zu dabei Unbesinnlichkeit, Schwindel.
In diesem (epileptischen) Ausnahmezustande gab K. erst auf wiederholtes An-
rufen Antwort und kam dann wie aus einem Traum zu sich. K. will
stets vor seinen incrim. Akten sich einige Stunden erregt und unruhig gefühlt,
Angst mit Beklemmung und Fluxion zum Kopf verspürt haben. Dabei sei er
öfter ganz taumelig gewesen und habe ein unbestimmtes Gefühl geschlecht-
licher Erregung gehabt. Auf der Höhe solcher Zustände sei er planlos von
Hause fort und habe irgendwo seine Genitalien präsentirt. Zu Hause habe er
dann von diesen Vorkommnissen nur eine traumhafte Erinnerung gehabt und
sich sehr matt und abgeschlagen gefühlt. Bemerkenswerth ist auch, dass er
seine Genitalien während der Exhibition mit Streichhölzchen beleuchtet hatte.
Gutachten, dass auf epileptischer Grundlage und zwangsmässig die incrim.
Handlungen vorkamen. Gleichwohl Verurtheilung unter Annahme mildernder
Umstände. (Dr. Schuchardt, op. cit.)
Beobachtung 159. L. , 39 Jahre alt, ledig, Schneider, von wahr-
scheinlich dem Trunk ergebenem Vater, hatte zwei epileptische Brüder und
einen, der geisteskrank war. Er selbst bietet leichtere epileptische Insulte, hat
von Zeit zu Zeit Dämmerzustände, in welchen er planlos herumirrt und hinter-
her nicht weiss, wo er gewesen ist. Er galt als ein anständiger Mensch, steht
jetzt unter Anklage, 4 — 6mal in fremdem Hause seine Genitalien exhibirt und
daran gespielt zu haben. Seine Erinnerung für diese Handlungen war eine
höchst summarische.
L. war wegen wiederholten Desertirens vom Militär (wahrscheinlich eben-
falls in epileptischen Dämmerzuständen) schwer bestraft worden, im Zuchthaus
geistig erkrankt, wegen „epileptischen Irreseins" nach der Charite gekommen
und dort „geheilt" entlassen worden. Bezüglich der incriminirten Handlungen
Verletzung der Sittlichkeit. 351
Hessen sich Cymsmus und Uebermuth ausschliessen. Dass sie im geistigen
Dämmerzustand vorkamen, ist u. a. daraus wahrscheinlich, dass den ihn ver-
haftenden Polizeiorganen der „blödsinnige", recte in geistigem Dämmerzustand
befindliche Mensch psychisch auffällig war. (Lim an, Viertel] ahrsschr. f. ger.
Med. N. F. XXXVIII, H. 2.)
Beobachtung 160. L., 37 Jahre, hat vom 15. Oktober bis 2. Novem-
ber 1889 eine grosse Zahl von Exhibitionen vor Mädchen sich zu Schulden
kommen lassen und zwar am hellen Tage, auf offener Strasse und sogar in
Schulen, in welche er eindrang. Gelegentlich kam es vor, dass er von den
Mädchen Masturbation oder Coitus begehrte und da dies verweigert wurde,
vor den Betreffenden masturbirte. In G. schlug er in einer Schankwirthschaft
mit dem entblössten Penis an die Fensterscheiben, so dass es die in der Küche
befindlichen Kinder und Mägde sehen mussten.
Nach der Verhaftung stellte sich heraus, dass L. schon unzählige Male
seit 1876 wegen Exhibitionirens Aergemiss erregt hatte, jedoch jeweils wegen
ärztlich erwiesener geistiger Krankheit ohne Bestrafung durchgekommen war.
Dagegen war er schon beim Militär wegen Desertirens, Diebstahls, später auch
einmal als Civilist wegen Cigarrendiebstahls gestraft worden. Wiederholt war
L. wegen Irrsinns (Wahnsinnsanfälle?) in Irrenanstalten gewesen. Im Uebrigen
war er durch wandelbares, streitsüchtiges Wesen, zeitweise Erregung, Unstetig-
keit vielfach auffällig geworden.
L.'s Bruder starb an Paralyse. Er selbst bietet keine Degenerations-
zeichen, keine epileptischen Antecedentien. Er ist zur Zeit der Beobachtung
weder geistig krank, noch geistig geschwächt.
L. benimmt sich höchst decent, äussert tiefen Abscheu gegenüber seinen
sexuellen Delikten.
Er erklärt sie folgendermassen : Sonst kein Säufer, bekomme er zeiten-
weise einen Drang zu trinken. Bald nachdem er damit begonnen, stelle sich
Blutandrang zum Kopf, Schwindel, Unruhe, Angst, Beklemmung ein. Er
gerathe dann in einen traumartigen Zustand. Ein unwiderstehlicher Reiz
zwinge ihn nun, sich zu entblössen, wovon er Erleichterung und Freiheit des
Athmens empfinde.
Wenn er einmal sich entblösst habe, wisse er nicht mehr, was er thue.
Als Vorboten solcher Anfälle habe er oft kurze Zeit vorher Flimmern
vor den Augen und Schwindel.
Für die Zeit seiner Dämmerzustände habe er nur eine ganz unklare
traumhafte Erinnerung.
Erst mit der Zeit hatten sich sexuelle Vorstellungen und Dränge diesen
angstvollen Dämmerzuständen associirt. Schon Jahre vorher war er in solchen
ganz ohne Motiv und mit höchster Gefahr desertirt, einmal zu einem Fenster
des zweiten Stocks hinabgesprungen, ein andermal aus einer guten Stellung
planlos in ein Nachbarland gelaufen, wo er wegen Exhibition sofort verhaftet
wurde
Wenn L. ausserhalb seiner krankhaften Perioden gelegentlich sich ein-
mal berauschte, kam es nie zum Exhibitioniren. Im luciden Zustand ist sein
sexuelles Fühlen und Verkehren ganz normal. (Dr. Hotzen. Friedreich's
Blätter 1890, H. 6.) Weitere Fälle s. o. Beob. 141, 143.
352 Verletzung der Sittlichkeit.
Eine klinisch den epileptischen Exhibitionisten nahestehende
Gruppe wird durch gewisse Neurastheniker repräsentirt, bei
denen ebenfalls anfallsweise (epileptoide?) Dämmerzustände x) in
Verbindung mit ängstlicher Beklemmung vorkommen, in welcher
mit dieser associirte sexuelle Dränge ganz impulsiv zu exhibitio-
nistischen Akten führen können.
Beobachtung 161. Gymnasiallehrer Dr. S. hat dadurch öffentliches
Aergerni8s erregt, dass er wiederholt im Berliner Thiergarten vor Damen und
Kindern mit genitalibus denudatis herumlaufend gesehen wurde. S. gibt dies
zu, stellt aber Absicht und Bewusstgein, ein öffentliches Aergerniss zu geben,
in Abrede und entschuldigt sich damit, dass das schnelle Laufen mit ent-
blössten Genitalien ihm gegen nervöse Aufregungen Erleichterung gewährte.
Muttersvater war gemüthskrank und endigte durch Selbstmord, die Mutter war
Constitutionen neuropathisch , Nachtwandlerin und vorübergehend gemüths-
krank gewesen. Inculpat ist neuropathisch, war Nachtwandler, hatte von jeher
Abneigung gegen geschlechtlichen Verkehr mit Frauenspersonen, trieb in jungen
Jahren Onanie, ist ein scheuer, schlaffer, leicht in Verlegenheit und Verwir-
rung gerathender Mensch, neurasthenisch. Er war sexuell immer sehr erregt.
Er träumte oft, dass er mentula denudata umherlaufe oder im Hemde an einem
Reck hänge, den Kopf nach unten, so dass das Hemd zurückfalle und das
erigirte Glied entblösst sei. Diese Träume führen dann zur Pollution und er
habe eine halbe bis ganze Woche Ruhe.
Auch im wachen Zustand befalle ihn im Sinn seiner Träume oft der
Drang, mit entblösstem Glied umherzulaufen. Indem er zur Entblössung
schreite, werde ihm glühend heiss, er laufe dann planlos herum, das Glied
werde feucht, jedoch komme es nicht zur Pollution. Endlich erfolge relaxatio
membri, er stecke es ein, komme dann zu sich, froh, wenn den Vorgang Nie-
mand gesehen habe. Er befinde sich in solchen Erregungen wie im Traum,
wie in Trunkenheit. Nie habe er dabei die Absicht gehabt, Weiber zu
provociren. S. ist nicht epileptisch. S.'s Angaben haben das Gepräge der
Wahrheit. Er hat thatsächlich nie Weiber in diesen Zuständen verfolgt, oder
auch nur angesprochen. Frivolität, Rohheit lässt sich ausschliessen. Jedenfalls
geht das Handeln des S. aus krankhaftem Empfinden und Vorstellen hervor
und befand sich S. zur Zeit seiner Handlungen in einem Zustand krankhafter
Störung der Geistesthätigkeit. (Li man, Vierteljahrsschrift für gerichtl. Med.
N. F. XXX. VIII. Heft 2.)
Beobachtung 162. X., 38 Jahre, verheirathet, Vater eines Kindes,
von jeher düster , schweigsam , häufig an Kopfweh leidend, schwer neur-
asthenisch, jedoch physisch nicht krank, viel mit nächtlichen Pollutionen
geplagt, ist wiederholt Ladenmädchen, denen er in einem Anstandsorte auf-
gelauert hatte , mit exhibitionirten Genitalien , am Penis herummanipulirend,
auf der Strasse nachgegangen. In einem Falle hatte er das betreffende Mädchen
*) Vgl. v. Kr äfft, Ueber transitorisches Irresein bei Neurasthenischen.
Zeitschrift „ Irrenfreund " 1883, Nr. 8, und Wiener Klin. Wochenschr. 1891, Nr. 50.
Verletzung der Sittlichkeit. 353
sogar bis in den Laden hinein verfolgt. (Trochon, Arch. de l'anthropologie
criminelle III, p. 256.)
In der folgenden Beobachtung erscheint das Exhibitioniren
nebensächlich gegenüber einem impulsiven Drang, durch Mastur-
bation eine plötzlich entstandene heftige Libido zu befriedigen.
Beobachtung 163. R., Kutscher, 49 Jahre, in Wien seit 1866 ver-
heirathet, kinderlos, stammt von neuropathischem , sexuell excessivem Vater,
welcher an einer Gehirnkrankheit starb. Er bietet keine Degenerations-
zeichen.
29 Jahre alt erlitt er eine schwere Commotio durch Sturz von einer Höhe.
Seine Vita sexualis war bis dahin normal gewesen. Seither befiel ihn alle
3 — 4 Monate eine ihm höchst peinliche sexuelle Erregung mit gebieterischem
Drang zu Masturbation. Voraus gehe ein Gefühl grosser Ermattung und Un-
behaglichkeit , mit dem Bedürfniss nach alkoholischen Getränken. In der
Zwischenzeit sei er sexuell kalt und habe nur höchst selten das Bedürfniss
gehabt, mit seiner Frau, die überdies seit 5 Jahren krank und beischlafs-
unfähig ist, zu coitiren.
Als junger Mensch versichert er nie masturbirt zu haben, ebenso wenig
habe er an diese Art, sich geschlechtlich zu befriedigen, jemals in der Zwischen-
zeit seiner Anfälle gedacht.
Der Impuls zur Masturbation wird in der gefährlichen Zeit jeweils durch
gewisse weibliche Reize — kurzer Rock, hübscher Fuss und Waden, elegante
Erscheinung — ausgelöst. Das Alter ist ganz gleichgültig. Selbst kleine
Mädchen können erregend wirken. Der Antrieb sei plötzlich, unwiderstehlich.
R. schildert Situationen und Vorgehen im Sinne eines impulsiven Aktes. Er habe
oftmals zu widerstehen versucht, aber dann werde ihm heiss, schrecklich bang,
es walle ihm heiss auf zum Kopf, er sei wie im Nebel, verliere zwar nie ganz
das Bewusstsein, sei aber wie von Sinnen. Dabei habe er heftige stechende
Schmerzen in Hoden und Samenstrang. Er bedauere, bekennen zu müssen,
dass der Impuls stärker sei als der Wille. Es zwinge ihn in solchen Situationen,
sich zu masturbiren, gleichviel wo er sich befinde. Mit der erfolgten Ejacu-
lation werde ihm wieder leicht und er finde seine Selbstbeherrschung wieder.
Die Sache sei ihm schrecklich fatal. Sein Vertheidiger theilt mit, dass R.
schon 6mal wegen desselben Delikts — Exhibition und Masturbation auf
offener Strasse — bestraft wurde. Eine verlangte Untersuchung des Geistes-
zustands sei jedesmal abschläglich beschieden worden , weil der Gerichtshof
fand, dass aus den Akten Zweifel bezüglich der Zurechnungsfähigkeit sich
nicht ergäben.
Am 4. November 1889 befand sich R. gerade wieder in der gefährlichen
Zeit auf der Strasse, als ein Trupp Schulmädchen daher kam. Da erwachte
sein unbändiger Drang. Um auf einen Abort zu gehen, reichte die Zeit nicht,
er war zu aufgeregt. Sofort Exhibition, Masturbation unter einem Hausflur
grosser Skandal, sofortige Arretirung. R. ist nicht schwachsinnig, auch nicht
ethisch defekt. Er beklagt sein Geschick, schämt sich tief seiner Handlung,
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl 23
354 Verletzung der Sittlichkeit.
fürchtet sich vor neuen Attaquen, empfindet aber seine Zustände als krankhafte,
als ein Verhängniss, dem gegenüber er sich machtlos fühlt.
Er hält sich für noch potent. Penis abnorm gross. Cremasterreflex
vorhanden, gesteigerter Patellarreflex. Seit einigen Jahren Schwäche des
Sphincter vesicae. Verschiedene neurasthenische Beschwerden.
Das Gutachten erwies, dass R. unter dem Einfluss krankhafter Be-
dingungen und impulsiv handelte. Keine Verurtheilung. Pat. kam in die
Irrenheilanstalt, aus welcher er nach einigen Monaten entlassen wurde.
In der vorausgehenden Beobachtung liegt der Schwerpunkt
klinisch nicht in der vorhandenen Neurose, sondern vielmehr in
dem impulsiven Charakter der Handlung (Exhibition bezw. Mastur-
bation).
Offenbar ist mit der Aufstellung der Categorien der imbecillen,
der geistig geschwächten, sowie der in neurotischem (epileptischem
oder neurasthenischem) Dämmerzustand befindlichen Exhibitionisten
die klinisch-forensische Seite dieser Erscheinung noch nicht er-
schöpft und lässt sich den gefundenen eine weitere anreihen, deren
Repräsentanten auf Grund schwerer Belastung (hereditär
degenerative Neurose?) periodisch und höchst impulsiv zum
Exhibiren gedrängt werden.
Mit Recht legt Magnan1), dem ich die beiden folgenden
instruktiven Fälle entlehne, bezüglich dieser Zustände von Psycho-
pathia sexualis periodica (vgl. p. 334), bei welcher der zufällig ge-
weckte Drang zum Exhibiren nur Theilerscheinung eines grösseren
klinischen Ganzen ist, gleichwie der Drang nach Alkoholicis bei der
Dipsomania periodica, grossen Werth auf das impulsive periodische
Gepräge dieser krankhaften Antriebe, nicht minder darauf, dass sie
von oft qualvoller Angst begleitet sind, die nach ihrer Realisirung
einem Gefühl grosser Erleichterung Platz macht.
Diese Thatsachen, nicht minder das ganze klinische Bild der
psychischen Entartung, meist zurückführbar auf hereditäre oder in
den ersten Lebensjahren die Hirnentwicklung schädigende Be-
dingungen (Rhachitis u. s. w.) sind gerichtsärztlich von entschei-
dender Bedeutung.
Beobachtung 164. G. , 29 Jahre, Garcon eines Cafe, hat 1888 unter
der Kirchenthür vor mehreren in einem Gewölbe gegenüber arbeitenden Mäd-
chen exhibirt. Er gesteht das Factum, sowie dass er schon mehrmals am
gleichen Ort zu gleicher Tageszeit sich desselben Vergehens schuldig gemacht
') Recherches sur les centres nerveux. 2e Serie. Paris 1893.
Verletzung der Sittlichkeit. 355
habe und deshalb schon im Vorjahr mit 1 Monat Gefängniss bestraft wor-
den sei.
G. hat sehr nervöse Eltern. Sein Vater ist psychisch nicht äquilibrirt,
höchst jähzornig. Seine Mutter ist zeitweise psychisch krank und mit schwerer
Nervenkrankheit behaftet.
G. hatte von jeher nervöses Zucken im Gesicht, beständigen Wechsel
von unmotivirter Verstimmung mit Taed. vitae und Zeiten heiterer Erregung.
Mit 10 und 15 Jahren hatte er ob geringfügiger Anlässe sich tödten wollen.
Bei Gemüthsbewegungen hat er gleich Zuckungen in den Extremitäten. Er
bietet constant allgemeine Analgesie. Im Gefängniss war er anfangs ausser
sich vor Scham über die Schande, die er seiner Familie zugefügt, erklärte sich
für den schlechtesten, der schwersten Strafe bedürftigen Menschen.
Bis zum 19. Jahre hatte G. mit Auto- oder mutueller Masturbation sich
befriedigt, gelegentlich auch einmal Mädchen onanisirt. Von da ab in einem
Cafe bedienstet, regten ihn weibliche Besucher desselben so mächtig auf, dass
es öfters zu Ejaculation kam. Er litt fast beständig an Priapismus, und wie
seine Frau versichert, störte ihm derselbe trotz Coitus oft die Nachtruhe. Seit
7 Jahren hatte er wiederholt an seinem Fenster exhibirt, sich auch nudatus
feminis vicinis gegenüber exponirt.
1883 schloss er eine Ehe aus Neigung. Der eheliche Umgang genügte
nicht seinem excessiven Bedürfniss. Die sexuelle Erregung war zeitweise so
heftig, dass er Kopfweh bekam, ganz verwirrt, wie betrunken, auffällig und
unbrauchbar im Beruf erschien.
In einem solchen Zustand am 12. Mai 1887 hatte er kurz hinter einander
in zwei Strassen von Paris vor Damen exhibirt. Seither kämpfte er einen
verzweiflungsvollen Kampf gegen seine ihn fast permanent verfolgenden krank-
haften Antriebe, auf deren Höhe er düster, verstört war und Nächte hindurch
weinte. Gleichwohl wurde er immer wieder rückfällig. Gutachten: Nachweis
hereditärer Degeneration mit Zwangsvorstellungen und unwiderstehlichen An-
trieben („Perversion delirante du sens genital"). Freisprechung. (Magnan,
Arch. de Fanthropologie criminelle, V. Bd. Nr. 28.)
Beobachtung 165. B. , 27 Jahre, von neuropathischer Mutter und
alkoholischem Vater, hat einen Bruder, der Säufer und eine Schwester, die
hysterisch ist. Vier Blutsverwandte von väterlicher Seite sind Säufer, eine
Cousine ist hysterisch.
Vom 11. Jahre an Onanie, solitär oder mutuell. Vom 13. Jahre ab
Dränge zu exhibiren. Er versuchte es am Pissoir einer Strasse, empfand wol-
lüstiges Behagen, aber gleich darauf Gewissensbisse. Versuchte er im weiteren
Verlauf seinen Trieb zu bekämpfen, so fühlte er heftige Angst und Beklem-
mung auf der Brust. Als Soldat trieb es ihn häufig, mentulam Kameraden
unter verschiedenen Vorwänden zu zeigen.
Vom 17. Jahre an verkehrte er sexuell mit Weibern. Es gewährte ihm
grossen Genuss, sich vor ihnen nackt zu zeigen. Sein Exhibitioniren auf den
Strassen setzte er fort. Da er aber nur selten vor Pissoirs auf Zuschauerinnen
rechnen konnte, verlegte er den Schauplatz seiner Delikte in Kirchen. Um an
dieser Stelle zu exhibiren, musste er sich immer vorher Muth antrinken.
Unter dem Einfluss geistiger Getränke war der sonst noch leidlich be-
356 Verletzung der Sittlichkeit.
herrschbare Drang unwiderstehlich. Er wurde nicht verurtheilt, verlor seinen
Posten, trank mehr seitdem. Nicht lange danach neuerliche Arretirung, da
er in einer Kirche exhibirt und sogar masturbirt hatte. (Magnan, ebenda.)1)
Beobachtung 166. X., Barbiergehilfe, 35 Jahre, wiederholt wegen
Vergehens gegen die Sittlichkeit bestraft, ist neuerdings verhaftet, da er, seit
3 Wochen in der Nähe einer Mädchenschule herumlungernd, die Aufmerksam-
keit von Mädchen auf sich zu lenken suchte, und wenn ihm dies gelungen
war, exhibitionirt hatte. Gelegentlich hatte er ihnen auch Geld versprochen
mit den Worten: „Habeo mentulam pulcherrimam , venite ad me ut eam
lambatis."
X. gesteht im Verhör Alles zu, weiss aber nicht, wie er dazu gekommen
sei. Er sei sonst der vernünftigste Mensch, habe aber den Hang in sich, dies
Vergehen zu verüben und könne ihn nicht bezwingen.
Schon 1879 als Militär war er einmal vom Dienste fort, hatte sich in
der Stadt herumgetrieben und vor Bändern exhibitionirt. 1 Jahr Gefängniss.
1881 dasselbe Vergehen. Er lief den schreienden Kindern nach und sah sie
„starr" an. Gefängniss 1 Jahr 3 Monate. 2 Tage nach der Entlassung aus
dem Gefängniss sagte er zu zwei kleinen Mädchen : „si mentulam meam videre
vultis mecum in hanc tabernam veniatis." Er leugnete diese Worte, behauptete
Trunkenheit. 3 Monate Gefängniss.
1883 neuerliche Exhibition. Er sprach dabei nichts, behauptete im Ver-
hör, seit seiner schweren Krankheit vor 8 Jahren an derartigen krankhaften
Erregungen zu leiden. 1 Monat Gefängniss.
1884 Exhibition vor Mädchen auf einem Kirchhof, 1885 neuerlich. Er
erklärte: »Ich sehe mein Unrecht ein, es ist aber wie eine Krankheit. Wenn
es über mich kommt, kann ich mich solcher Handlungen nicht erwehren. Es
dauert manchmal eine geraume Zeit, dass mir diese Neigungen fernbleiben."
6 Monate Gefängniss.
Am 12. August 1885 entlassen, wurde er schon am 15. August rück-
fällig. Dieselbe Verantwortung. Diesmal ärztliche Untersuchung. Sie konnte
keine geistige Störung finden. 3 Jahre Zuchthaus.
Aus diesem entlassen, eine Reihe neuer Exhibitionen.
Die diesmalige Exploration ergab Folgendes:
Vater litt an Alkohol, chron. und soll dieselben unzüchtigen Handlungen
begangen haben. Mutter und eine Schwester nervenkrank, die ganze Familie
von heftigem Temperament.
X. litt vom 7. — 18. Jahre an epileptischen Krämpfen. Mit
16 Jahren erste Cohabitation. Später Gonorrhöe und angeblich Syphilis. In
der Folge normaler Geschlechtsverkehr bis zum 21. Jahre. Damals hatte er
oft in der Nähe eines Spielplatzes vorbeizugehen und befriedigte gelegentlich
das Bedürfniss zu uriniren, wobei es vorkam, dass die Kinder neugierig zu-
schauten.
Gelegentlich bemerkte er, dass dies Zuschauen ihn sexuell erregte, ihm
*) Analoge Beobachtung: Boissier u. Lachaux, Archiv, de neuro-
logie 1893. Oct.
Verletzung der Sittlichkeit. 357
Erection und sogar Ejaculation machte. Er fand an dieser Art der Geschlechts-
befriedigung nunmehr Gefallen, wurde gleichgültiger gegen Coitus, befriedigte
sich nur mehr auf jene Weise, fühlte davon sein ganzes Denken beherrscht,
träumte von solcher Exhibition unter Pollutionen. Er habe immer mehr ver-
gebens gegen seinen Exhibitionsdrang angekämpft. Dieser sei stets mit solcher
Gewalt über ihn gekommen , dass er um sich her nichts Anderes berücksich-
tigte, nichts sah und hörte, vollständig wie „ohne Verstand", wie „ein Bulle,
der mit dem Kopf durch die Wand will".
X. bietet abnorm breiten Schädel, kleinen Penis; linker Hoden verküm-
mert. Patellarreflex fehlt. Erscheinungen von Neurasthenie, besonders cere-
braler. Häufig Pollutionen. Die Träume drehen sich meist um normalen
Beischlaf, nur selten um Exhibition vor kleinen Mädchen.
Bezüglich seiner abnormen Geschlechtsakte versichert er, der Trieb,
Mädchen aufzusuchen und anzulocken, sei das Primäre, und erst dann, wenn
es ihm gelungen sei, earum intentionem in sua genitalia nudata transferre,
erectionem et eiaculationem fieri. Beim Akt schwinde ihm das Bewusstsein
nicht. Nach demselben sei er ärgerlich über die That und sage sich, wenn
nicht dabei ertappt, „ wieder einmal dem Staatsanwalt entgangen".
Im Gefängniss habe er den Trieb nicht; hier belästigen ihn nur die
Träume und Pollutionen. In der Freiheit habe er täglich die Gelegenheit
gesucht, sich durch E. zu befriedigen. Er gäbe 10 Jahre seines Lebens, um
die Sache loszuwerden; fl dieses ewige Angstleben, dieses Schweben zwischen
Freiheit und Nichtfreiheit sei unerträglich".
Das Gutachten nahm eine angeborene (?) Perversität der Geschlechts-
empfindung an, bei unverkennbarer erblicher Belastung, neuropathischer Con-
stitution, Schädelasymmetrie, mangelhafter Entwicklung der Genitalien.
Bemerkenswerth sei auch, dass das Exhibitioniren auftrat, als
das epileptische Leiden aufhörte, so dass man an eine vicariirende
Erscheinung denken möchte.
Die sexuelle Perversität entwickelte sich bei vorhandener Disposition
durch zufällige Ideenassociation sexuellen Inhalts (neugieriges Zuschauen
der Kinder, als er urinirte) mit einer an und für sich bedeutungslosen
Handlung.
Der Kranke wurde nicht verurtheilt und einer Irrenanstalt übergeben.
(Dr. Frey er, Zeitschr. f. Medicinalbeamte 3. Jahrg. Nr. 8.)
Beobachtung 167. Abends 9 Uhr im Frühling 1891 kam eine Dame
ganz bestürzt zu dem Polizisten im Stadtpark zu X. mit der Anzeige, aus
dem Gebüsch sei ein vorne ganz entblösster Mann auf sie zugetreten, so dass
sie entsetzt geflohen sei. Der Polizist begab sich sofort nach dem bezeich-
neten Ort und fand einen Mann vor, der ventrem et genitalia nuda exponirte.
Er versuchte zu entfliehen, wurde aber eingeholt und verhaftet. Derselbe gab
an, er sei durch Alkoholgenuss sexuell erregt und im Begriff gewesen, eine
Prostituirte aufzusuchen. Auf dem Wege durch den Park habe er sich aber
erinnert, dass ihm Exhibition einen viel grösseren Genuss bereite als Coitus,
den er nur selten und faute de mieux pflege. Nachdem er sein Hemd aus-
gezogen und den Obertheil seiner Beinkleider abgerissen, habe er sich nun in
ein Gebüsch postirt et quum duae feminae advenissent nudatis genitalibus iis
358 Verletzung der Sittlichkeit.
occurrisse. Bei solcher Exhibition werde ihm angenehm warm und das Blut
steige ihm zu Kopf.
Der Verhaftete ist ein Fabrikarbeiter, dem sein Werkmeister das Zeug-
niss eines pflichttreuen, sparsamen, nüchternen, intelligenten Menschen ertheilt.
Schon 1886 war B. bestraft worden, weil er zweimal an öffentlichem
Ort, das eine Mal am hellen Tage, das andere Mal Abends unter einer Laterne
sitzend, exhibirt hatte.
B., 37 Jahre, ledig, macht durch stutzerhafte Kleidung, manierirte
Sprache und Bewegungen einen eigenthümlichen Eindruck. Sein Auge hat
einen neuropathischen, schwärmerischen Ausdruck; um seinen Mund spielt ein
selbstgefälliges Lächeln. Er stammt angeblich von gesunden Eltern. Eine
Schwester des Vaters und eine solche der Mutter waren irrsinnig. Andere
Geschwister dieser galten als religiös excentrisch.
B. hat nie schwere Krankheiten durchgemacht. Von Kindsbeinen auf
war er excentrisch, phantastisch, liebte Ritter- und andere Romane, ging ganz
in solchen auf, weitergehend sich in seiner Phantasie mit dem Romanhelden
identificirend. Er hielt sich immer für etwas Besseres als die Anderen, legte
grossen Werth auf elegante Kleidung und Pretiosen, und wenn er Sonntags
einherstolzirte, dünkte er sich in seiner Phantasie als ein hoher Beamter.
Epileptische Erscheinungen hat B. nie geboten. In jungen Jahren
massige Masturbation, später massiger Coitus. Niemals früher perverse sexuelle
Empfindungen oder Dränge. Eingezogene Lebensweise, in den Freistunden
Lektüre (populäre, ferner Rittergeschichten, Dumas u. A.). B. war kein Trinker.
Nur ausnahmsweise bereitete er sich eine Art Bowle, von deren Genuss er
jeweils sich sexuell erregt fühlte.
Seit einigen Jahren, bei bedeutend verminderter Libido, hatte er an-
lässlich solcher Alkoholgenüsse den „verflucht dummen Gedanken" und die
Begierde bekommen, genitalia adspectui feminarum publice exhibere.
Gerathe er in diese Situation, so werde ihm warm, das Herz schlage
heftig , das Blut schiesse ihm in den Kopf und er könne sich dann seines
Triebes nicht mehr erwehren. Er höre und sehe dann nichts Anderes mehr
und sei ganz versunken in seine Lust. Nachträglich habe er sich dann oft
seinen verrückten Schädel mit den Fäusten geschlagen und sich fest vor-
genommen, derlei nicht mehr zu thun, aber die verrückten Ideen seien immer
wieder gekommen.
Bei seinen Exhibitionen gerathe sein Penis nur in Halberection und nie
erfolge eine Ejaculation, die auch beim Coitus nur tai-div eintrete. Es genüge
ihm beim Exhibiren genitalia sua adspicere, und er habe dabei die wollüstig
betonte Vorstellung, dass dieser adspectus Frauen höchst angenehm sein müsse,
da ja auch er genitalia feminarum so gerne anschaue. Zum Coitus sei er nur
fähig, wenn ihm die Puella sich sehr entgegenkommend zeige. Andernfalls
zahle er lieber und gehe unverrichteter Dinge davon. In erotischen Träumen
exhibire er vor jungen üppigen Frauenzimmern.
Das gerichtsärztliche Gutachten erwies die hereditär -psychopathische
Persönlichkeit des Inculpaten, den perversen impulsiven Antrieb zu den in-
criminirten Delikten und brachte den bemerkenswerthen weiteren Beweis, dass
auch die Impulse zum Alkoholgenuss bei dem sonst nüchternen und sparsamen
B. auf krankhaften periodisch wiederkehrenden Nöthigungen beruhen. Dass
Verletzung der Sittlichkeit. 359
B. in seinen Anfällen in einem psychischen Ausnahmezustand, in einer Art
Sinnesverwirrung, ganz versunken in seine sexuell perversen Phantasien sich be-
fand, geht aus der Species facti klar hervor. So erklärt sich auch, dass er
das Nahen des Polizisten erst gewahr wurde, als es zur Flucht zu spät war.
Interessant ist in diesem hereditär degenerativ-impulsiven Exhibitionismus die
Erweckung des perversen sexuellen Dranges aus seiner Latenz durch den Ein-
fluss des Alkohols.
Eine forensisch bemerkenswerthe Varietät der Exhibitionisten,
jedenfalls auf gleicher klinischer neurotisch-degenerativer Grundlage
stehend und im eigenartigen Vorgehen durch heftige Libido (Hyper-
aesthesia sexualis) bei geschädigter Potenz bedingt, stellen die sog.
Frotteurs dar.
Die folgenden drei Magnan (op. cit.) entlehnten Beobach-
tungen sind typisch.
Beobachtung 168. D., 44 Jahre, belastet, Alkoholiker und an Satur-
nismus leidend, hatte bis vor einem Jahre viel onanirt, oft auch pornographische
Bilder gezeichnet und sie seinen Bekannten gezeigt. Wiederholt hatte er sich,
allein zu Hause, als Weib angezogen.
Seit 2 Jahren, wo er impotent wurde, fühlte er das Bedürfniss, im Menschen-
gedränge in der Dämmerung mentulam denudare eamque ad nates mulieris
crassissimae terere.
Einmal in flagranti ertappt, war er zu 4 Monaten Gefängniss verurtheilt
worden.
Seine Frau hat eine Milchwirthschaft. Iterum iterumque sibi temperare
non potuit quin genitalia in ollam lacte completam mergeret. Er hatte dabei
ein wollüstiges Gefühl „wie von Berührung durch Sammt".
Er war cynisch genug, diese Milch für sich und die Kunden zu benutzen.
Im Gefängniss entwickelte sich bei ihm alkoholischer Verfolgungs-
wahnsinn.
Beobachtung 169. M., 31 Jahre, seit 6 Jahren verheirathet, Vater
von 4 Kindern, schwer belastet, episodisch an Melancholie leidend, wurde vor
3 Jahren von seiner Frau betreten, wie er ein Seidenkleid anhatte und sich
masturbirte. Eines Tages wurde er in einem Laden betreten, wo er Frottage
an einer Dame trieb. Er war tief zerknirscht, verlangte empfindliche Strafe
für seinen übrigens unwidei-stehlichen Trieb.
Beobachtung 170. G., 33 Jahre, schwer hereditär belastet, wird
an einer Omnibusstation betreten, als er Frottage mit seinem Glied an einer
Dame trieb. Tiefe Zerknirschung, aber Versicherung, dass er beim Anblick
der markanten Posteriora einer Dame unwiderstehlich hingerissen sei, Frottage
zu treiben, dabei ganz verwirrt sei und nicht mehr wisse, was er thue.
Versetzung in die Irrenanstalt.
360 Verletzung der Sittlichkeit.
Beobachtung 171. Ein Frotteur. Z., 1850 geboren, von tadel-
losem Vorleben, aus guter Familie, Privatbeamter, finanziell gut situirt, un-
belastet, nach kurzer Ehe seit 1873 Wittwer, war seit geraumer Zeit in Kirchen
dadurch auffällig geworden, dass er sich an Frauenzimmer, gleichgültig ob
jung oder alt, von hinten angedrängt und an deren Tournüren herummani-
pulirt hatte. Man lauerte ihm auf und eines Tages gelang seine Verhaftung
in flagranti. Z. war auf's Höchste bestürzt, verzweifelte über seine Lage und
bat, indem er ein unumwundenes Geständniss ablegte, um Schonung, da ihm
sonst nur der Selbstmord übrig bleibe.
Seit 2 Jahren sei er von dem unglückseligen Hang befallen, sich im
Menschengewühl, in Kirchen, an Theaterkassen u. s. w. von rückwärts an
Frauenspersonen anzudrängen und mit deren aufgebauschten Kleidern zu mani-
puliren, wobei Orgasmus und Ejaculation eintrete.
Z. versichert, niemals der Masturbation ergeben gewesen zu sein, auch
nach keiner Richtung sexuell pervers empfunden zu haben. Seit dem frühen
Tod seiner Frau habe er seine mächtigen sexuellen Bedürfnisse durch tempo-
räre Liebschaften befriedigt, von Bordellen und Lustdirnen sich von jeher
angewidert gefühlt. Der Anreiz zu Frottage sei ihm vor 2 Jahren, als er zu-
fällig in der Kirche verweilte, plötzlich gekommen. Obwohl er sich bewusst
war, dass es unanständig sei, habe er sich nicht enthalten können, sofort ihm
nachzugeben. Seither sei er so erregbar durch die Posteriora weiblicher In-
dividuen geworden, dass es ihn förmlich getrieben habe, Gelegenheiten zu
Frottage aufzusuchen. Am Weib errege ihn nur die Tournüre, alles Uebrige
an Körper oder Kleidung desselben sei ihm ganz gleichgültig, ebenso ob das
Weib jung oder alt, schön oder hässlich. Zu naturgemässer Befriedigung habe
er seither keine Inclination mehr. Neuerlich erscheinen auch in seinen ero-
tischen Träumen Frottagesituationen.
Während solcher sei er sich seiner Lage und seiner Handlung voll-
kommen bewusst und bemüht, dieselbe so unauffällig als möglich zu begehen.
Nach dem Akt habe er sich immer seiner Handlungsweise geschämt.
Die Expertise gab keine Zeichen von geistiger Krankheit oder geistiger
Schwäche, wohl aber solche von Neurasthenia sexualis — ex abstinentia libidi-
nosi (?), worauf auch der Umstand hinwies, dass schon blosse Berührung des
Fetisch mit den nicht exhibirten Genitalien zur Ejaculation genügte. Offenbar
gelangte der sexuell geschwächte, seiner Potenz misstrauende, libidinöse Z. zu
Frottage, indem der Anblick der Posteriora feminae zufällig mit einer sexuellen
Erregung zusammentraf und diese associative Verbindung einer Wahrnehmung
mit einem Gefühl die erstere die Bedeutung eines Fetisch gewinnen liess.
Im Sinne der den öffentlichen Anstand verletzenden und damit
strafbaren Handlungen lassen sich hier die Fälle von Statuen-
schändung anreihen, deren Moreau (op. cit.) eine ganze Reihe
aus alter und neuer Zeit gesammelt hat. Leider sind sie zu anek-
dotenhaft berichtet, um sicher beurtheilt zu .werden. Den Eindruck
des Pathologischen rufen sie immerhin hervor, so z. B. die Ge-
schichte jenes jungen Mannes (von Lucianus und dem hl. Clemens
Nothzucht und Lustmord. 36 X
von Alexandrien erzählt), der eine Venus von Praxiteles zur Be-
friedigung seiner Lüste gebrauchte, ferner der Fall des Clisyphus,
der im Tempel zu Samos die Statue einer Göttin schändete, nach-
dem er an einer gewissen Stelle ein Stück Fleisch angebracht hatte.
Aus neuerer Zeit theilte das Journal L'evenement vom 4. März 1877
die Geschichte eines Gärtners mit, der sich in die Statue der Venus
von Milo verliebt hatte und über Coitusversuchen an dieser Bild-
säule betreten wurde. Diese Fälle stehen jedenfalls mit abnorm
starker Libido, bei mangelhafter Potenz oder Fehlen von Muth
oder Gelegenheit zu normaler Geschlechtsbefriedigung, in ätiolo-
gischem Zusammenhang.
Dasselbe muss angenommen werden für die sog. „Voyeurs"1),
d. h. Menschen, welche so cynisch sind, dass sie sich den Anblick
eines Coitus zu verschaffen suchen, um ihrer eigenen Potenz auf-
zuhelfen oder beim Anblick eines erregten Weibes Orgasmus und
Ejaculation zu bekommen! Bezüglich dieser aus verschiedenen
Gründen hier nicht weiter zu erörternden sittlichen Verirrung möge
es genügen, auf Coffignon's Buch „La corruption ä Paris" zu
verweisen. Die Enthüllungen auf dem Gebiet sexueller Perversität
und wohl auch Perversion, welche dieses Werk bringt, sind grauen-
erregend.
2) Nothzucht und Lustmord.
(Oesterr. Stgsb. § 125, 127; Oesterr. Entw. § 192; Deutsch. Stgsb. § 177.)
Unter Nothzucht versteht der Gesetzgeber den an einer
Erwachsenen durch gefährliche Bedrohung oder wirkliche Gewalt-
tätigkeit erzwungenen, an einer solchen im Zustande der Wehr-
oder Bewusstlosigkeit ausgeführten oder an einem Mädchen unter
14 Jahren unternommenen ausserehelichen Beischlaf. Immissio penis
oder wenigstens conjunctio membrorum (Schütze) ist zum That-
bestand erforderlich. Auffallend häufig ist heutzutage Nothzucht
*) Dr. Moll nennt diese Perversion (?) Mixoskopie (von fu£i? = geschlecht-
liche Vereinigung und axcTrretv = zuschauen). Seine Vermuthung, sie sei dem
Masochismus verwandt, indem vielleicht ein Reiz für den Voyeur darin liegt,
dass er leidet, indem er ein Weib in dem Besitz eines Anderen sieht, erscheint
mir nicht zutreffend. Weiteres Detail siehe bei Moll, „Die conträre Sexual-
empfindung'', p. 137.
362 Nothzucht und Lustmord.
an Kindern. Hof mann (Ger. Med. I, p. 155) und Tardieu (Atten-
tats) berichten entsetzliche Fälle.
Der Letztere constatirt die Thatsache, dass von 1851 bis incl.
1875 in Frankreich 22 017 Nothzuchtfälle abgeurtheilt wurden, da-
von allein 17 657 an Kindern begangen.
Das Verbrechen der Nothzucht setzt einen temporär durch
Alkoholexcess oder sonstwie mächtig erregten Geschlechtsdrang vor-
aus. Dass ein sittlich intakter Mensch das doch höchst brutale
Verbrechen begehe, ist unwahrscheinlich. Lombroso (Goltdam-
mer's Archiv) hält die Mehrzahl der Nothzüchter für degenerative
Menschen, besonders dann, wenn die Nothzucht an Kindern oder
alten Weibern begangen wurde. Bei vielen derartigen Menschen
will er Degenerationszeichen gefunden haben.
Thatsächlich ist Nothzucht vielfach impulsiver Akt belasteter
imbeciller Menschen *), wobei nach Umständen selbst die Bande der
Blutsverwandtschaft nicht respektirt werden.
Denkbar und vorgekommen sind Fälle bei Tobsucht, Satyriasis,
Epilepsie.
Dem Akt der Nothzucht kann die Tödtung des Opfers folgen2).
Es kann sich um unbeabsichtigte Tödtung, um Mord als Mittel, den
einzigen Zeugen der Unthat ewig stumm zu machen, handeln, oder
um Mord aus Wollust (s. o.). Nur für solche Fälle sollte der Aus-
druck „Lustmord" 3) gebraucht werden.
Die Triebfedern des Mordes aus Wollust wurden früher er-
örtert. Die dabei angeführten Beispiele sind charakteristisch für
die Handlungsweise. Die Präsumption eines Mordes aus Wollust
wird sich immer da ergeben, wo sich Verletzungen der Genitalien
von solchem Charakter und Umfang vorfinden, dass sie aus einem
brutal unternommenen Coitus allein nicht erklärbar sind, noch mehr,
wenn Körperhöhlen geöffnet, Körpertheile (Därme, Genitalien) heraus-
gerissen sind4), fehlen.
Der Lustmörder aus psychopathischen Bedingungen dürfte
niemals Complicen haben.
Beobachtung 172. Schwachsinn, Epilepsie. Versuchte Noth-
zucht. Tod des Opfers. Am 27. Mai 1888 Abends spielte der 8jährige
') Annal. medico-psychol. 1849, p. 515; 1863, p. 57; 1864, p. 215; 1866,
253.
2) Vgl. die Fälle bei Tardieu, Attentats, p. 182—192.
3) Vgl. Holtzendorff, Psychologie des Mords.
4) Tardieu, Attentats, Beob. 51, p. 188.
Nothzucht und Lustmord. 363
Knabe Blasius mit anderen Kindern in der Nähe des Dorfes S. Ein unbe-
kannter Mann kam des Weges daher und lockte den Knaben in den Wald.
Am folgenden Tag fand man in einer Schlucht die Leiche des Knaben
mit aufgeschlitztem Bauch, einer Schnittwunde in der Herzgegend und zwei
Stichwunden am Halse.
Da schon am 21. Mai ein Mann, auf welchen die Beschreibung des
Mörders des Knaben passte, ein 6jähriges Mädchen in analoger Weise zu be-
handeln versucht hatte, was nur durch zufällige Umstände vereitelt wurde,
vermuthete man einen Lustmord.
Es wurde constatirt, dass die Leiche in hockender Stellung, nur mit
Hemd und Brustfleck bekleidet aufgefunden wurde, ferner dass am Hodensack
eine lange Schnittwunde sich vorfand.
Der Verdacht des Mordes lenkte sich auf einen Bauernknecht E., jedoch
gelang es bei der Confrontation mit den Kindern nicht, seine Identität mit
dem Unbekannten, der den Knaben in den Wald gelockt hatte, zu erweisen.
Ueberdies brachte er mit Hülfe seiner Schwester einen Alibibeweis zu Stande.
Der unermüdlichen Gendarmerie gelang es, neue Verdachtmomente zu
sammeln und endlich gestand E.
Das Mädchen habe er in den Wald gelockt, niedergeworfen, dessen
Geschlechtstheile entblösst, dasselbe brauchen wollen. Da es aber einen Kopf-
ausschlag hatte und heftig schrie, sei ihm die Lust vergangen und er entflohen.
Nachdem er den Knaben in den Wald gelockt, unter dem Vorwand,
ihm Vogelnester auszuheben, sei ihm die Lust gekommen, ihn zu brauchen.
Da derselbe sich weigerte, die Hose abzuziehen, habe er ihm dieselbe herab-
genommen, da er zu schreien anfing, ihm zwei Stiche in den Hals versetzt.
Darauf habe er ober dessen Schamberg, in Nachahmung eines weiblichen Ge-
schlechtstheils, einen Schnitt gemacht, um durch diese Spalte seine Lust zu
befriedigen. Da der Körper aber gleich kalt geworden sei, habe er die Lust
verloren und bei der Leiche gleich Messer und Hände gereinigt und die Flucht
ergriffen.
Es sei ihm nämlich, wie er den Knaben todt sah, Angst aufgestiegen
und sein Glied sei schlapp geworden.
Während seines Verhörs spielte E. ganz apathisch an einem Rosen-
kranz. Er habe im Schwachsinn gehandelt. Er könne nicht begreifen, wie
er so was habe thun können. Es müsse im Geblüte stecken, denn er werde
öfters blöde, fast zum Umfallen. Frühere Dienstgeber berichten, dass er
Zeiten hatte, wo er gedankenlos, störrisch war, Tagelang nichts arbeitete, die
Gesellschaft mied.
Sein Vater gibt an, dass E. schwer lernte, ungeschickt zur Arbeit und
oft so stutzig war, dass man sich gar nicht getraute, ihn zu strafen. Er ass
dann nichts, lief gelegentlich auf und davon, blieb Tage lang aus.
Auch schien er in solchen Zeiten ganz in Gedanken verloren, verzerrte
ganz eigenthümlich das Gesicht und sprach ganz ungereimte Dinge.
Noch als Jüngling habe er gelegentlich ins Bett gepisst und sei auch
als Schüler öfter mit nassen oder kothigen Kleidern aus der Schule heim-
gekommen. Im Schlaf war er sehr uhruhig, so dass man nicht neben ihm
schlafen konnte. Er habe niemals Kameraden gehabt. Grausam, schlecht
oder unsittlich sei er nie gewesen.
364 Nothzucht und Lustmord.
Die Mutter deponirt analog, femer dass E. im 5. Jahr zum erstenmal Con-
vulsionen und einmal 7 Tage lang die Sprache verloren hatte. Etwa im 7. Jahre
habe er einmal 40 Tage lang Convulsionen gehabt und sei auch wassersüchtig
gewesen. Auch später habe es ihn noch oft im Schlafe gerissen, er habe
dabei oft im Schlafe gesprochen und am Morgen nach solchen Nächten sei
jeweils das Bett ganz nass gewesen.
Zeitweilig sei gar nichts mit ihm zu richten gewesen. Da die Mutter
nicht wusste, ob das Bosheit oder Krankheit sei, habe sie sich nicht getraut,
ihn zu bestrafen.
Seit den Fraisenanfällen im 7. Jahre sei er geistig so zurückgegangen,
dass er nicht einmal die gewöhnlichen Gebete lernen konnte, auch sei er sehr
jähzornig geworden.
Nachbarn, Gemeindevorsteher, Lehrer bestätigen, dass E. ein eigen-
artiger, geistig schwacher, jähzorniger, zeitweise ganz eigentümlicher, offen-
bar in einem psychischen Ausnahmezustande befindlicher Mensch war.
Aus den Explorationen der Gerichtsärzte ergibt sich Folgendes:
E. ist gross, schlank, schlecht genährt, hat einen Schädelumfang von
schwach 53 cm. Der Schädel ist rhombisch verschoben, in der Hinterhaupt-
gegend steil abfallend.
Die Miene ist intelligenzlos, der Blick ist starr, ausdruckslos, die Körper-
haltung nachlässig, nach vorne gebeugt; die Bewegungen sind langsam, schwer-
fällig. Genitalien normal entwickelt. Die ganze Erscheinung des E. deutet
auf Torpidität und geistige Schwäche.
Degenerationszeichen, Abnormität vegetativer Organe, Störungen von
Seiten der Mobilität und Sensibilität sind nicht nachweisbar. E. stammt aus
ganz gesunder Familie. Er weiss nichts von Fraisen, nächtlichem Bettnässen,
erzählt aber, dass er in den letzten Jahren Anfälle von Schwindel und „Blödig-
keit" im Kopf gehabt habe.
Seinen Mord leugnet er Anfangs rundweg. Später gesteht er Alles
ganz zerknirscht und motivirt sein Verbrechen klar vor dem Untersuchungs-
richter. Nie sei ihm früher ein solcher Gedanke gekommen.
E. ist seit Jahren der Onanie ergeben. Er trieb sie bis zu zweimal
täglich. Aus Mangel an Muth will er sich nie daran gewagt haben, vom
Weibe den Coitus zu begehren, obwohl ihm in erotischen Träumen ausschliess-
lich bezügliche Situationen vorschwebten. Weder im Traum noch im wachen
Zustand habe er je perverse Trieb richtungen gehabt, speciell keine conträr
sexualen und keine sadistischen. Auch der Anblick des Tödtens von Thieren
habe ihn nie interessirt. Als er das Mädchen in den Wald lockte, habe er
an demselben allerdings seine Lust befriedigen wollen; wie es aber kommen
konnte, dass er an dem Knaben sich vergriff, wisse er nicht zu erklären. Er
müsse damals von Sinnen gewesen sein. Die Nacht nach dem Morde habe er
aus Angst nicht geschlafen, seine That auch schon zweimal gebeichtet, um
sein Gewissen zu erleichtern. Er fürchte sich nur vor dem Gehängtwerden.
Nur das möge man ihm nicht anthun, er habe ja in Schwachsinnigkeit seine
That begangen.
Warum er dem Knaben den Leib ganz aufgeschnitten, wisse er nicht zu
sagen. Es sei ihm nicht beigefallen, in den Eingeweiden zu wühlen, sie zu
beriechen u. s. w. Er behauptet am Tage nach dem Attentat auf das Mädchen
Nothzucbt und Lustmord. 365
und in der Nacht nach dem Morde des Knaben seinen Fraisenanfall gehabt
zu haben. Zur Zeit seiner Strafthaten sei er zwar ganz bei sich gewesen,
habe aber das, was er thue, gar nicht bedacht.
Er leide viel an Kopfweh, vertrage keine Hitze, keinen Durst, kein
geistiges Getränke, habe "Stunden, wo er ganz verwirrt im Kopfe sei. Die
Prüfung der Intelligenz ergibt einen hohen Grad von Schwachsinn.
Das Gutachten (Dr. Kautzner in Graz) erweist die Imbecillität und
die epileptische Neurose des Angeklagten und macht es wahrscheinlich, dass
die Verbrechen desselben, für welche zudem nur eine summarische Erinnerung
besteht, in einem durch die Neurose bedingten (präepileptischen) psychischen
Ausnahmszustand begangen wurden. Unter allen Umständen sei E. höchst ge-
meingefährlich und wahrscheinlich lebenslänglich der Internirung in einer
Irrenanstalt bedürftig.
Beobachtung 173 *)• Nothzucht an einem kleinen Mädchen
durch einen Idioten. Tod des Opfers.
Am 3. September 1889 Abends ging die 10jährige Arbeiterstochter Anna
nach der 3/< Std. entfernten Dorfkirche und kehrte nicht zurück. Am andern
Tage fand man deren Leiche etwa 50 Schritte von der Landstrasse in einem
Gehölze, das Gesicht der Erde zugekehrt, den Mund mit Moos verstopft, am
Anus die Spuren einer Vergewaltigung.
Der Verdacht der Thäterschaft lenkte sich auf den 19 Jahre alten Tage-
löhner K. , da dieser schon am 1. September das Kind beim Heimgang von
der Kirche in den Wald zu locken versucht hatte.
K., verhaftet, leugnete Anfangs, legte aber dann ein umfassendes Ge-
ständniss ab. Er hatte das Kind durch Ersticken getödtet und als es nicht
mehr „ zappelte" actum sodomiticum in ano infantis perpetravit.
Niemand hatte während der Voruntersuchung die Frage nach dem
Geisteszustand dieses monströsen Verbrechers aufgeworfen; der Antrag des
kurz vor der Hauptverhandlung bestellten Vertheidigers auf Prüfung des
Geisteszustands wurde verworfen, „da sich aus den Akten kein Anhalt für An-
nahme einer Geistesstörung ergebe".
Zufällig gelang dem braven Vertheidiger die Constatirung, dass des An-
geklagten Urgrossvater und Vatersschwester irrsinnig, sein Vater von Jugend
auf Schnapstrinker \ma auf einer Körperhälfte krüppelhaft gewesen war, und
diese Thatsachen in der Hauptverhandlung verificiren zu lassen.
Auch das machte keinen Eindruck. Endlich bewog die Verteidigung
den Gerichtsarzt zum Antrag, es möge K. auf 6 Wochen zur Beobachtung in
die Irrenanstalt gesendet werden.
Das Gutachten der Aerzte der Anstalt erwies K. als Idioten, dem seine
That nicht zugerechnet werden könne.
Er erschien interesselos, stumpfsinnig, apathisch, hatte grösstentheils die
Kenntnisse aus der Schulzeit vergessen, zeigte nie weder in Stimme noch Mimik
irgend eine Regung des Mitleids, der Reue, der Scham, Hoffnung, Furcht vor
der Zukunft. Gesicht starr wie eine Maske.
*) Vgl. das ausführliche gerichtsärztliche Gutachten über diesen Fall in
Friedreich's Blättern 1891, Heft 6.
366 Nothzucht und Lustmord.
Ganz abnormer kugelähnlicher Schädel. Nachweis, dass das Gehirn
schon während der Fötalperiode oder in den ersten Entwicklungsjahren er-
krankt war.
K. wurde auf dieses Gutachten hin zu dauernder Versorgung der Irren-
anstalt zugewiesen.
Dem unermüdlichen Pflichtbewusstsein eines wackeren Vertheidigers ver-
dankt« in diesem Fall die Justiz die Verhütung eines Justizmordes, die mensch-
liche Gesellschaft eine Ehrenrettung.
Beobachtung 174. Lustmord. Moralische Imbecillität.
Mann in mittleren Jahren, in Algier geboren, angeblich aus arabischem
Stamme. Er hat einige Jahre in der Colonialtruppe gedient, war dann als
Matrose zwischen Algier und Brasilien gereist und hatte sich später, von der
Hoffnung auf leichteren Verdienst gelockt, nach Nordamerika gewendet. War
in seinem Kreise als arbeitsscheu, feig, gewaltthätig bekannt. Des öfteren
war er wegen Vagabondage bestraft worden; man sagte ihm nach, dass er
ein Dieb niedrigster Sorte sei, sich mit Frauenzimmern der gemeinsten Art
herumtreibe und mit ihnen gemeinsame Sache mache. Auch von seinen per-
versen sexuellen Beziehungen und Bethätigungen wusste man. Er hatte wieder-
holt Weiber, mit denen er sexuell verkehrt hatte, gebissen und geschlagen.
Der Personenbeschreibung nach glaubte man in ihm eines Unbekannten hab-
haft geworden zu sein, der Nachts in den Gassen Weiber durch Umarmen
und Küssen beängstigte und dem man den Namen „Jack the kisser" bei-
gelegt hatte.
Er war grosser Statur (über 6 Fuss hoch), ganz leicht gebeugt. Stirn
niedrig, auffallend vorspringende Backenknochen, massive Kiefer, kleine, eng
zusammengerückte, geröthete Augen, stechender Blick, grosse Füsse, Hände
wie Vogelklauen, schlenkernder Gang. Seine Arme und Hände trug er mit
zahlreichen Tätowirungen, darunter das bunte Bild eines Weibes „Fatima"
umschrieben, was bemerkenswerth erscheint, da Tätowirung von Frauenbild-
nissen bei den Arabern der algerischen Truppen als entehrend gilt, und Prosti-
tuirte dort ein Kreuz tätowirt zu tragen pflegen. Seine Erscheinung machte
den Eindruck tiefstehender Intelligenz.
N. wurde des Mordes an einer älteren Frauensperson überwiesen, mit
der er zusammen genächtigt hatte. Die Leiche zeigte verschiedene, durch ihre
Länge auffallende Wunden, die Bauchhöhle war eröffnet, Darmstücke waren
herausgeschnitten, ebenso ein Ovarium, andere Theile in der Umgebung der
Leiche verstreut. Mehrere der Wunden bildeten ein Kreuz, eine hatte die
Form eines Halbmondes. Der Mörder hatte sein Opfer erwürgt, N. leugnete
den Mord und jede Neigung zu derartigen Akten. (Dr. Mac-Donald, Clark
university, Mass.)
Körperverletzung, Sachbeschädigung, Thierquälerei. 367
3) Körperverletzung, Sachbeschädigung, Thierquälerei auf Grund von
Sadismus.
(Oesterr. § 152, 411; Deutschi. § 223 [körperl. Beschädigung]; Oesterr. § 85,
468; Deutschi. §303 [Sachbeschädigung]; Oesterr. Polizeiverordnung; Deutsch.
Stgsb. § 360 [Thierquälerei].
Abgesehen von dem im vorausgehenden Abschnitt besprochenen
Lustmord finden sich als mildere Ausdrucksweisen sadistischer An-
triebe, solche zum Blutigstechen, Flagelliren, Besudeln von weib-
lichen Individuen, Flagelliren von Knaben, Misshandeln von Thieren
u. s. w. vor.
Die schwer degenerative Bedeutung derartiger Fälle ergibt sich
klar aus der im allgemeinen pathologischen Theil besprochenen
Casuistik. Solche geistig Entartete können, falls sie ihre perversen
Gelüste nicht zu beherrschen vermögen, nur Gegenstand der Ver-
sorgung in einer Irrenanstalt sein.
Beobachtung 175. X., 24 Jahre. Eltern gesund, 2 Brüder an Tuber-
culose gestorben, eine Schwester leidet an periodischen Krämpfen. X. empfand
schon mit 8 Jahren ein eigenthümliches Wollustgefühl unter Erection beim
Andrücken des Abdomen an die Schulbank.
Er verschaffte sich nun oft diesen Genuss. Später mutuelle Masturba-
tion mit einem Mitschüler. Erste Ejaculation mit 13 Jahren. Beim ersten
Coitusversuch mit 18 Jahren impotent. Fortsetzung von Automasturbation,
schwere Neurasthenie nach Lektüre eines populären, die Folgen der Onanie
bedenklich schildernden Buches. Besserung durch Wasserkur. Bei neuerlichem
Coitusversuch abermals impotent. Rückkehr zu Masturbation. Diese versagt
mit der Zeit. Nun greift X. lebende Vögel bei den Schnäbeln, schwingt sie in
der Luft. Der Anblick des gequälten Thieres führt die ersehnte Erection her-
bei. Sobald das Thier mit seinen Schwingen die Glans penis berührt, erfolgt
die Ejaculation unter grossem Wollustgefühl. (Dr. Wachholz, Friedreich's
Blätter f. ger. Med. 1892, 6. Heft, p. 436.)
Beobachtung 176. Sadismus an Knaben und Mädchen, ver-
übt von einem moralischen Idioten.
K., 14 Jahre 5 Monate alt, tödtet einen kleinen Knaben in grausamer
Weise. Die Untersuchung fördert neben 2 Fällen von Tödtung eine Reihe von
(7) Fällen zu Tage, in denen K. kleine Knaben grausam gepeinigt hatte.
Alle diese Kinder standen im Alter von 7 — 10 Jahren. K. lockte sie abseits,
kleidete sie vollständig nackt aus, fesselte ihnen Hände und Füsse, band sie
an irgend einem Gegenstande fest, knebelte ihnen den Mund mit einem Taschen-
tuch und schlug sie dann mit einem Stock oder Riemen oder Tauende, lang-
sam, mit minutenlangen Pausen — dabei „ lächelnd", ohne ein Wort zu sprechen.
3(58 Körperverletzung, Sachbeschädigung, Thierquälerei.
Einen der Knaben zwingt er unter Todesandrohung zweimal das Vaterunser
herzusagen und Stillschweigen zu schwören, dann lästerliche Worte nachzu-
sprechen. In einem späteren Fall versetzt er dem Knaben Nadelstiche in die
Wange, spielt mit seinen Genitalien, bringt ihm auch dort und in der Scham-
gegend Stiche bei, befiehlt ihm, sich auf den Bauch zu legen, tritt und springt
auf ihm herum, sticht und beisst ihn endlich in die Nates, Einen anderen
Knaben beisst er in die Nase, bringt ihm mit einem Messer Stiche bei. Das
achte seiner Opfer ist ein kleines Mädchen, das er in den Laden seiner Mutter
lockt. Dort überfällt er es von rückwärts, hält ihm mit der einen Hand den
Mund zu, mit der anderen schneidet er ihm die Kehle ab.
Die Leiche wird in einem Winkel, mit Kohlenasche und Mist bedeckt,
gefunden, das Haupt vom Rumpf getrennt, das Fleisch von den Knochen ge-
löst, der Körper durch zahlreiche Schnittwunden verletzt. Der grösste, klaf-
fendste Schnitt fand sich an der Innenseite des linken Schenkels, durch das
Genitale bis in die Bauchhöhle dringend. Ein anderer Schnitt erstreckte sich
von der Fossa iliaca schief über das Abdomen. Kleider und Wäsche waren
zerschnitten und zerrissen.
Die Leiche des neunten Opfers hatte die Kehle durchschnitten, Blut
war aus den Augen geflossen, das Herz war von zahlreichen Stichen durch-
bohrt. Eine Menge von Stichen drang in die Bauchhöhle. Das Scrotum war
eröffnet, die Testikel hingen heraus, die Glans penis abgeschnitten.
K. hatte den Knaben ähnlich wie das Mädchen an sich gelockt, ihm
zuerst die Kehle durchschnitten, dann die Stiche beigebracht.
K., über dessen hereditäre Verhältnisse nichts bekannt ist, war das ganze
erste Lebensjahr hindurch schwer krank, zum Skelett abgemagert. Von da ab
erholte er sich allmählig und soll bis auf häufige Klagen über Schmerzen in
Kopf und Augen und Schwindel nicht krank gewesen sein, bis er im 11. Jahre
eine „schwere Krankheit" mit Delirien durchmachte. Der Kopfschmerz pflegte
ihn jeweils plötzlich zu überfallen, so dass er vom Spiel weglief und erst
nach einer Weile dazu zurückkehren konnte. Befragt, gab er in solchen
Fällen nur langsam zur Antwort „mein Kopf, mein Kopf.
Es war ein unlenksames Kind, ungehorsam, unerziehbar. Zeigte jähen
extremen Wechsel in Stimmungen, Begehrungen und Behauptungen. Einmal
wird er, als etwa 3jähriges Kind entdeckt, wie er ein Hühnchen mit Messer-
stichen martert. Er fabulirt mit dem vollen Schein der Wahrhaftigkeit. In
der Schule ist er störend, grimassirt; fortwährend flüstert er vor sich hin, ist
widerspenstig und respektlos. Strafe sieht er als Ungerechtigkeit an, wird
renitent. In der Correctionsschule hält er sich abseits, mit sich selbst be-
schäftigt, ist misstrauisch, bei den Kameraden unbeliebt, hat keinen Genossen.
Die intellectu eilen Fähigkeiten sind gut, es wird ihm heller Verstand, Scharf-
sinn, gutes Gedächtniss zugestanden. Ethisch dagegen zeigt er sich sehr
defekt. Er zeigt nicht das leiseste Gefühl von Schmerz oder Reue wegen
seiner Thaten, nicht das geringste Bewusstsein von Verantwortlichkeit. Nur
für seine Mutter hat er etwas wie zartere Regungen. Seinen Verbrechen legt
er keine besondere Bedeutung bei. Er erörtert kalt erwägend seine Chancen,
meint, zum Tode könne man ihn nicht verurtheilen , da er erst 14 Jahre alt
sei; 14jährige Jungen zu hängen sei bisher, wie er wisse, nicht üblich gewesen
und mit ihm werde man nicht den Anfang machen, lieber das Motiv zu seinen
Körperverletzung, Sachbeschädigung, Thierquälerei. 360
Handlungen ist von K. selbst nichts zu erfahren. Einmal gibt er an, er sei
•durch Lecture von den Torturen der Gefangenen bei den Indianern mit dieser
Grausamkeit bekannt und zur Nachahmung gereizt worden. Er habe sogar
einmal deswegen zu den Indianern entlaufen wollen. Wenn er sich ein Opfer
ersah, so hatte er immer die Phantasie erfüllt von Vorstellungen grausamer
Aktionen.
Am Morgen solcher Tage sei er immer mit Schwindel und eingenom-
menem Kopf erwacht und das habe den ganzen Tag angehalten.
Von körperlichen Abnormitäten werden nur der ungewöhnlich grosse
Penis und die ebensolchen Testes erwähnt. Der Mons venei-is zeigt volle Be-
haarung, das ganze Genitale die Entwicklungsverhältnisse eines Mannes. Auf
Epilepsie deutende Symptome sind nicht nachzuweisen. (Dr. Mac-Donald,
Clark university, Mass.).
Beobachtung 177. Sadismus. Körperverletzung. B., 17 J.,
Blechschmied, kaufte am 4. Januar 1893 ein langes Messer, ging zu einer Pro-
stituirten, mit der er wiederholt sexuell verkehrt hatte, gab ihr Geld und Hess
sie ausgekleidet auf den Bettrand sitzen. Nun versetzte er ihr, während sein
Membrum in Erection sich befand, 3 leichte Messerstiche auf Brust und Bauch.
Als auf das Schreien der Puella Leute herbeieilten, entfloh B. , stellte sich
aber alsbald der Polizei. Er behauptete zuerst im Streit, dann ohne Motiv
das Mädchen gestochen zu haben. In der Blutsverwandtschaft des Vaters kam
wiederholt Geisteskrankheit vor. B. ist nicht belastet, kein Trinker, hat keine
schweren Krankheiten durchgemacht, nie masturbirt, seit 2 Jahren coitirt.
Genitalien normal. Er erscheint in der Beobachtung geistig normal, schämt
sich seiner That, für welche die Expertise mit Recht ein sexuelles Motiv an-
nahm. Trotz Constatirung von geistiger Gesundheit Freisprechung. (Coutagne.
Annal. med. psych. 1893, Juli, August.)
Beobachtung 178. Morde aus Sadismus. Verheiratheter Mann,
zur Zeit des letzten (d. h. entdeckten) Verbrechens 30 Jahre alt. Er hatte
ein Mädchen in den Glockenthurm der Kirche, an der er Küster war, gelockt
und dort getödtet. Unter dem Zwang des Indicienbeweises schritt er zu einem
Geständniss, noch einen zweiten ähnlichen Mord bekennend. Beide Leichen
zeigten zahlreiche Hiebquetschwunden der Weichtheile des Kopfes, Schädel-
knochenbrüche, Blutaustritte unter der Dura mater und im Gehirn. Beide
Leichen zeigten keinerlei Verletzung am übrigen Körper, insbesondere waren
die Genitalorgane unversehrt.
In der Leibwäsche des Verbrechers, der bald nach der That verhaftet
wurde, fanden sich Spermaflecken. L. wird als von einnehmendem Aeusseren
geschildert, dunkel, bartlos. Ueber hereditäre Verhältnisse, Antecedentien,
seine Vita sexualis anteacta etc. fehlen die Angaben.
Als Motiv gestand er „Wollust der grausamsten und abscheulichsten
Art". (Dr. Mac-Donald, Clark university, Mass.)
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 24
370 Masochismus und geschlechtliche Hörigkeit.
4) Masochismus und geschlechtlich Hörigkeit.
Auch dem Masochismus *) kann unter Umständen eine foren-
sische Bedeutung zukommen, denn den Grundsatz „volenti non fit
injuria" kennt das moderne Strafrecht nicht mehr, und das geltende
österreichische Strafgesetz sagt in § 4 ausdrücklich: Verbrechen
werden auch an solchen Personen begangen, die ihren Schaden
selbst verlangen.
Von ungleich grösserem criminalpsychologischem Interesse sind
dagegen die Thatsachen der geschlechtlichen Hörigkeit (vgl.
p. 142). Ist die Sinnlichkeit übermächtig, eventuell durch einen
Fetischzauber gefangen und die moralische Widerstandskraft eine
geringe, so kann ein hab- oder rachsüchtiges Weib, in dessen Ge-
walt der Mann durch Liebesleidenschaft gerathen ist, ihn zum
schwersten Verbrechen hinreissen. Der folgende Fall ist ein denk-
würdiges Beispiel dafür.
Beobachtung 179. Mord der Familie aus geschlechtlicher
Hörigkeit.
N., Seifenfabrikant in Catania, 34 Jahre, früher gut beleumundet, hat
in der Nacht vom 21. December 1886 seine neben ihm schlafende Frau er-
dolcht und seine 7jährige und seine 6wöchentliche Tochter erdrosselt. N.
leugnete zuerst, suchte den Verdacht auf einen Anderen zu lenken, legte dann
ein unumwundenes Geständniss ab und bat, ihn hinzurichten.
J) Wie Herbst (Handb. des österr. Strafrechts. Wien 1878, p. 72) be-
merkt, gibt es trotzdem Verbrechen, welche durch den Mangel der Einwilligung
des Verletzten bedingt und daher nicht vorhanden sind, sobald der als ver-
letzt Erscheinende dazu seine Einwilligung gegeben hat, z. B. Diebstahl,
Nothzucht.
Herbst zählt aber hieher auch die Einschränkung der persönlichen
Freiheit (?).
In der jüngsten Zeit ist eine principielle Aenderung der Anschauungen
in diesem Punkte eingetreten. Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich
betrachtet bei der Tödtung eines Menschen dessen Einwilligung als so schwer-
wiegenden Umstand, dass eine ganz andersartige, viel mildere Strafe eintritt
(§ 216). Ebenso der Entwurf des österr. Strafgesetzes (§ 222). Man hat dabei
die sogen. Doppelselbstmorde der Liebespaare im Auge gehabt. Bei Körper-
verletzung und Freiheitsentziehung wird aber wohl die Einwilligung des Ver-
letzten eine analoge Berücksichtigung durch den Richter finden müssen. Für
die Beurtheilung der Wahrscheinlichkeit einer behaupteten Einwilligung ist
jedenfalls die Kenntniss des Masochismus von Wichtigkeit.
Masochismus und geschlechtliche Hörigkeit. 371
N., aus ganz gesunder Familie, früher gesund, geachteter und tüchtiger
Geschäftsmann , in guter Ehe lebend , befand sich seit Jahren unter dem fas-
cinirenden Einfluss einer Maitresse, die ihn an sich zu locken gewusst hatte
und ihn ganz beherrschte.
Der Welt und der Frau hatte er diese Beziehungen geheim zu halten
vermocht.
Jenes Monstrum von Weib wusste durch Erweckung von Eifersucht und
Erklärung, N. könne nur durch die Ehe ferner in ihrem Besitz bleiben, den
schwachen und liebestollen N. soweit zu treiben, dass er zum Mörder an Weib
und Kindern wurde. Nach der That hatte er seinen kleinen Neffen gezwungen
ihn zu fesseln, wie wenn er selbst das Opfer von Mördern gewesen wäre und
hatte ihm Schweigen geboten, bei Gefahr seines Lebens. Als Leute kamen,
spielte er die Rolle eines unglücklichen Überfallenen Familienvaters!
Nach seinem Geständnisse äusserte er tiefe Reue. In den 2 Jahren der
Untersuchung und der wiederholten Hauptverhandlungen bot N. nie Erschei-
nungen geistiger Störung.
Seine Liebestollheit zur Metze konnte er sich nur mit einer Art Fasci-
nation erklären. Ueber seine Frau hatte er sich nie zu beklagen gehabt. Von
abnorm starkem oder perversem Sexualtrieb fanden sich keine Spuren an
diesem denkwürdigen Ausnahmsverbrecher aus Leidenschaft vor. Seine Reue
und Zerknirschung bewiesen, dass er auch moralisch nicht defekt war. Nach-
weis geistiger Gesundheit. Ausschluss unwiderstehlichen Zwanges. (Mandalari,
il Morgagni 1890 Februar.)
Die Zurechnungsfähigkeit in diesem entsetzlichen Fall und
in vielen analogen ist selbstverständlich nicht zu bestreiten, und bei
der heutigen Lage der Dinge, wonach Laien die feinere Analyse
der Motive einer That ferne liegt und Juristen von aller Psycho-
logie zu Gunsten des logischen Formalismus systematisch ferne
gehalten werden, ist nicht anzunehmen, dass bei Richtern und Ge-
schworenen die geschlechtliche Hörigkeit Beachtung finde — um so
weniger, weil bei ihr das Motiv zu strafbaren Handlungen nicht
krankhaft ist und die Intensität eines Motivs an und für sich nicht
in Betracht kommen kann.
Gleichwohl sollte in solchen Fällen in Erwägung gezogen
werden, ob hier noch Empfänglichkeit für moralische Gegenmotive
vorhanden oder diese ausgeschaltet waren, was eine Störung des
psychischen Gleichgewichts bedeutet.
Zweifelsohne wird in solchen Fällen eine Art erworbener
moralischer Schwäche hervorgerufen, welche die Zurechnungsfähig-
keit beeinflusst. Immer sollte geschlechtliche Hörigkeit bei ange-
stifteten Delikten als Milderungsgrund der Strafe Berücksichtigung
finden.
372 Körperverletzung, Raub, Diebstahl.
5) Körperverletzung, Raub, Diebstahl auf Grund von Fetischismus.
(Oesterr. § 190; Deutschi. § 249 [Raub]; Oesterr. § 171 u. 460; Deutschi. § 242
[Diebstahl]).
Aus dem bezüglichen Kapitel der allgemeinen Pathologie geht
hervor, dass pathologischer Fetischismus die Ursache von Delikten
werden kann. Als solche kennt man bis jetzt Zopfabschneiden
(Beob. 76, 77, 78), Rauben oder Stehlen von Frauen wasche, Taschen-
tüchern, Schürzen (Beob. 80, 81, 83, 84), Frauenschuhen (Beob. 65,
85, 86), Seidenstoffen (Beob. 91). Daran, dass derartige Attentäter
psychisch schwer belastet sind, kann nicht gezweifelt werden. Zur
Annahme geistiger Unfreiheit und damit der Unzurechnungsfähig-
keit muss aber der Nachweis erbracht werden, dass unwidersteh-
licher Zwang, sei es im Sinne eines impulsiven Aktes, sei es durch
Schwachsinn, der eine Beherrschung des strafbaren perversen An-
triebes unmöglich machte, vorhanden war.
Derartige Delikte und die eigenthümliche Art ihrer Ausfüh-
rung, die doch von einem gewöhnlichen Raub oder Diebstahl be-
deutend abweicht, nöthigen immerhin zu einer gerichtsärztlichen
Exploration.' Dass aber das Delikt an und für sich keineswegs
psychopathologischen Umständen zu entspringen braucht, lehren
jene seltenen Fälle von Zopfabschneiden !) aus blosser — Gewinn-
sucht.
Beobachtung 180. Taschentuchfetischismus. Fortgesetzte
Diebstähle von Weibern gehörigen Taschentüchern.
D., 42 Jahre, Dienstknecht, ledig, wurde am 1. März 1892 von der Be-
hörde zur Beobachtung seines Geisteszustandes der Kreisirrenanstalt Deggen-
dorf (Niederbayern) übergeben.
Er ist ein 1,62 m grosser, kräftiger, gut genährter Mann. Der Schädel
ist submicrocephal, der Gesichtsausdruck fatuös. Der Ausdruck der Augen ist
exquisit neuropathisch. Die Genitalorgane sind ganz normal. Ausser einem
massigen Grad von Neurasthenie und gesteigerten Patellarreflexen ist von
Seiten des Nervensystems an D. nichts körperlich Abnormes aufzufinden.
1878 war D. zum erstenmal vom Schwurgericht Straubing wegen Raubes
und Diebstahls von Taschentüchern zu V/z Jahren Gefängniss verurtheilt
worden.
J) Nach österr. Recht dürfte dieses Delikt als leichte körperliche Be-
schädigung unter § 411 fallen, nach deutschem Strafrecht liegt hier Körper-
verletzung vor (vgl. Liszt, Lehrb. p. 325).
Körperverletzung, Raub, Diebstahl. 373
1880 stahl er im Hofe einer Wirthschaft einer Händlersfrau ein Taschen-
tuch und erhielt dafür 14 Tage Gefängniss.
1882 versuchte er auf offener Landstrasse einem Bauernmädchen das
Taschentuch aus der Hand zu reissen. Wegen versuchten Raubes angeklagt,
wurde er über amtsärztliches Gutachten, das hochgradige Geistesschwäche und
eine krankhafte Störung der Geistesthätigkeit tempore delicti constatirte, frei-
gesprochen.
1884 wurde er wegen des unter identischen Umständen begangenen wirk-
lichen Raubs eines weiblichen Taschentuchs vom Schwurgericht zu 4 Jahren
Gefängniss verurtheilt.
1888 zog er auf offenem Marktplatz einem Frauenzimmer das Taschen-
tuch aus der Tasche. Verurtheilung zu 4 Monaten.
1889 wegen des gleichen Reats 9 Monate Gefängniss.
1891 dito, 10 Monate. Sonst weist seine Strafliste nur einige kleine
Geld- und Haftstrafen wegen unbefugten Tragens von Messern und Land-
streicherei auf.
Alle Diebstähle von Taschentüchern waren ausnahmslos an jugendlichen
Frauenzimmern verübt worden und zwar meist am hellen Tage, in Gegenwart
anderer Personen und so plump und rücksichtslos, dass D. jeweils sofort arretirt
wurde. Nirgends in den Akten finden sich Anhaltspunkte dafür, dass D. sonst
irgend etwas und sei es auch noch so Unbedeutendes, gestohlen habe.
Am 9. December 1891 war D. wieder einmal aus dem Gefängniss ent-
lassen worden. Am 14. wurde er ertappt, wie er in einem Jahrmarktsgedränge
einem Bauernmädchen das Taschentuch aus der Tasche zog.
Sofort arretirt, fand man bei ihm noch 2 weisse, Weibern gehörige
Taschentücher vor.
Auch bei den früheren Diebstählen waren ganze Collectionen von weib-
lichen Taschentüchern bei D. vorgefunden worden (1880 32 Stück, 1882 14,
von denen er 9 auf blossem Leibe trug; ein andermal 25 Stück. Bei der Ver-
haftung 1891 fand man bei der Leibesvisitation 7 weisse Taschentücher vor).
In den Verhören hatte D. stets als Motiv der Diebstähle angegeben, er
sei hochgradig betrunken gewesen und habe sich nur einen Spass erlauben
wollen.
Die bei ihm vorgefundenen Taschentücher wollte er gekauft, eingetauscht
oder von Dirnen erhalten haben, mit denen er verkehrt hatte.
D. erscheint in der Beobachtung in höherem Grad geistig beschränkt,
dabei durch Vagabundage, Trunk, Masturbation herabgekommen, aber gut-
müthig, lenksam und keineswegs arbeitsscheu.
Er weiss nichts von seinen Eltern, ist ohne jede Aufsicht herangewachsen,
erbettelte sich als Kind seinen Unterhalt, wurde mit 13 Jahren Stallbube, mit
14 Jahren zu Päderastie missbraucht. Er versichert, dass er früh und mächtig
seinen Sexualtrieb empfunden, früh coitirt und daneben Masturbation ge-
trieben habe. 15 Jahre alt, habe ihm ein Kutscher mitgetheilt, dass man mit
Taschentüchern von jungen Frauenzimmern sich grossen Genuss verschaffen
könne, wenn man jene ad genitalia applicire. Er versuchte dies, fand diese
Angabe bestätigt und versuchte sich von nun an auf alle mögliche Weise der-
artige Tücher zu verschaffen. Sein Trieb wurde so übermächtig, dass er, so-
bald er eines ihm zusagenden Frauenzimmers ansichtig wurde, das ein Taschen-
374 Körperverletzung, Raub, Diebstahl.
tucb in der Hand oder siebtbar in der Tasche trug, unter heftiger sexueller
Erregung vom Drange erfasst wurde, sich an die betreffende Person heran-
zudrängen und ihr das Taschentuch zu entwenden.
Im nüchternen Zustand war es ihm meist möglich, aus Furcht vor
Strafe diesem Drange zu widerstehen. Hatte er aber getrunken, so war die
Widerstandsfähigkeit geschwunden. Bereits in der Militärzeit hat er sich von
jungen und ihm zusagenden Frauenzimmern gebrauchte Taschentücher geben
lassen und dieselben, wenn er sie einige Zeit getragen, wieder vertauesht.
Wenn er bei Mädchen nächtigte, hatte er gewöhnlich sein eigenes Taschen-
tuch mit dem des Mädchens vertauscht. Wiederholt hatte er auch Taschen-
tücher gekauft, um sie bei Frauenzimmern auszutauschen.
Solange die Taschentücher neu und ungebraucht waren, übten sie
keinerlei Wirkung auf ihn aus. Erst wenn sie von Mädchen getragen waren,
erregten sie ihn sexuell.
Um ungebrauchte Taschentücher mit Frauenzimmern in Berührung zu
bringen, hat er, wie auch aus den Akten hervorgeht, wiederholt ihm begeg-
nenden Frauenzimmern Taschentücher in den Weg gelegt und sie zu nöthigen
versucht, darauf zu treten. Einmal fiel er ein Mädchen an, drückte ihm ein
Taschentuch an den Hals und lief wieder davon.
War er in den Besitz eines von einem Frauenzimmer berührten Taschen-
tuchs gelangt, so stellte sich bei ihm Erection und Orgasmus ein. Er legte
dann das betreffende Tuch ad corpus nudum, am liebsten ad genitalia und
erzielte damit eine befriedigende Ejaculation.
Coitus hat er von den Frauenzimmern nie begehrt, zum Theil weil er
abgewiesen zu werden fürchtete, wesentlich aber, „weil ihm das Taschentuch
lieber war, als das Mädchen".
D. machte diese Geständnisse nur sehr zurückhaltend und stückweise.
Wiederholt gerieth er ins Weinen und wollte nicht mehr weiter reden, weil
er sich so schäme. Er sei ja auch kein Dieb, habe nie auch nur um einen
Pfennig Werth gestohlen, selbst wenn er in bitterer Noth war. Nie habe er
sich entschliessen können, die Taschentücher zu veräussern.
In treuherzigem Ton versichert er, „ich bin kein schlechter Kerl. Nur
wenn ich diese Dummheiten mache, bin ich ganz auseinander".
Das treffliche Anstaltsgutachten betonte den auf abnormer Veranlagung
beruhenden krankhaften unwiderstehlichen Zwang, unter dem die Reate be-
gangen wurden, neben dem Schwachsinn massigen Grades. Freispruch wegen
Diebstahls.
6) Unzucht mit Individuen unter 14 Jahren. Schändung (Oesterr.).
(Oesterr. Stgsb. § 128, 132; Oesterr. Entw. § 189, 1913; Deutsch. Stgsb.
§ 174, 1763.)
Unter Unzucht (Schändung) an geschlechtlich unreifen Indivi-
duen fasst der Gesetzgeber alle möglichen unzüchtigen Handlungen
an Personen unter 14 Jahren zusammen, die nicht unter den Be-
Schändung. 375
griff Nothzucht gehören. Der Ausdruck „Unzucht" im gesetzlichen
Sinne des Wortes vereinigt die trostlosesten Verirrungen und grössten
Scheusslichkeiten, deren nur der von Wollust triefende, sittlich und
meist auch sexuell schwache Mensch fähig werden kann.
Ein gemeinsamer Zug dieser an mehr oder weniger noch der
Kindheit angehörigen Individuen begangenen Unzuchtsdelikte ist
der des Unmännlichen, Bübischen, oft geradezu Läppischen. That-
sächlich werden derartige Delikte, abgesehen von pathologischen
Existenzen, wie sie Imbecille, Paralytiker und dem Altersblödsinn
Verfallene repräsentiren, fast ausschliesslich von jugendlichen Men-
schen, die ihrer Potenz und ihrem Muth noch nicht trauen, oder
von Wüstlingen, die ihre Potenz mehr weniger eingebüsst haben,
begangen. Es ist psychologisch undenkbar, dass der völlig potente
und geistig intakte Erwachsene Gefallen an der Unzucht mit Kin-
dern fände.
Die Phantasie des Wüstlings in der aktiyen und passiven In-
scenirung unzüchtiger Handlungen ist eine äusserst grosse, und es
fragt sich, ob mit der folgenden summarischen Aufzählung der
forensisch bis jetzt bekannten alle Möglichkeiten erschöpft sind.
Am häufigsten besteht die Unzucht in wollüstiger Betastung
(nach Umständen auch Flagellation x), aktiver Manustupration, Ver-
leitung von Kindern zur Unzucht durch Benützung derselben zu
Onanisirung, wollüstiger Betastung. Seltenere Delikte sind Cunni-
lingus, Irrumare an Knaben oder Mädchen, Paedicatio puellarum,
Coitus inter femora, Exhibition.
In einem Fall, den Maschka (Handb. III, p. 174) berichtet, Hess ein
junger Mann Mädchen von 8 — 12 Jahren nackt in seinem Zimmer tanzen,
springen, vor seinen Augen uriniren, bis er Ejaculation bekam.
Nicht selten ist der Missbrauch von Knaben durch wollüstige Weiber,
die mit diesen eine Conjunctio membrorum vornehmen, um durch Friction
sich zu befriedigen, oder sich durch Onanisirung zu befriedigen suchen2).
Eines der scheusslichsten Beispiele hat Tardieu erlebt. In demselben
masturbirten Dienstmägde im Verein mit ihren Liebhabern ihnen anvertraute
Kinder, trieben Cunnilingus mit einem 7jährigen Mädchen, introducirten ihm
Rüben und Kartoffeln in vaginam und einem 2jährigen Knaben in anum!
Beobachtung 181. Z., 62 Jahre, schwer belastet, Masturbant, hat
angeblich nie coitirt, häufig Fellatio getrieben. Er befindet sich in der Irren-
*) Fälle s. Friedreich's Blätter f. ger. Anthropologie 1859, III, p. 77.
2) Fälle Maschka, Hdb. III, p. 175. — Casper's Viertel] ahrsschr. 1852,
Bd. I. — Tardieu, Attentats aux moeurs.
376 Schändung.
anstalt wegen Paranoia. Sein grösster Genuss war es gewesenJIO — 14jährige
Mädchen an sich zu locken, Cunnilingus und andere Scheusslichkeiten mit
ihnen zu treiben. Er ejaculirte dabei unter Orgasmus.
Masturbation verschaffte ihm nicht dieselbe Befriedigung und brachte
nur mühsam Ejaculation zu Stande. Faute de mieux war er auch Fellator
virorum, gelegentlich Exhibitionist. Phimosis. Asymmetrischer Schädel. (Pe-
landa, Arch. di Psichiatria X, fascic. 3 — 4.)
Beobachtung 182. X., Priester, 40 Jahre, stand unter der Anklage,
Mädchen von 10 — 13 Jahren zu sich gelockt, sie entkleidet, wollüstig betastet
und im Anschluss daran sich masturbirt zu haben.
Er ist belastet, von Kindheit auf Onanist, moralisch imbecill, von jeher
sexuell sehr erregbar. Schädel etwas klein. Penis ungewöhnlich gross; An-
deutung von Hypospadie. (Ebenda.)
Beobachtung 183. K. , 23 Jahre, Werkelmann, ist angeklagt und
überwiesen, wiederholt kleine Knaben und hie und da auch Mädchen an
sich gelockt und an abgelegenen Orten mit ihnen Unzucht (mutuelle Mastur-
bation, Fellatio puerorum, Betastung der Genitalien von Mädchen) getrieben
zu haben.
K. ist imbecill, auch körperlich verkümmert, kaum 1,5 m hoch, von
rhachitisch hydrocephalem Schädel, mit gerieften, defekten, unregelmässigen,
schlechten Zähnen. Wulstige Lippen, blöde Miene, stotternde Sprache, täp-
pische Haltung vervollständigen das Bild geistig-körperlicher Entartung. K. be-
nimmt sich wie ein Kind, das auf einem dummen Streich ertappt wurde.
Bartwuchs kaum erkenntlich. Genitalien gut und normal entwickelt.
Er hat ein oberflächliches Bewusstsein, etwas Ungehöriges begangen zu
haben, aber der sittlichen, socialen und rechtlichen Bedeutung seiner Delikte
ist er sich nicht bewusst.
K. stammt von einem trunksüchtigen Vater und einer Mutter, die durch
die üble Behandlung ihres Mannes irrsinnig wurde und im Irrenhause starb.
Der Knabe erblindete fast völlig in den ersten Lebensjahren durch Hornhaut-
geschwüre, wuchs vom 6. Jahre bei einer Armenbetheilten auf und verdiente
sich> herangewachsen, kümmerlich seinen Unterhalt als Drehorgelspieler.
Sein Bruder ist ein Taugenichts, er selbst galt als ein mürrischer,
zänkischer, boshafter, launenhafter, reizbarer Mensch.
Das Gutachten betonte die intellectuelle, moralische und körperliche
Verkümmerung des Inculpaten.
Leider muss zugestanden werden, dass gerade die scheuss-
lichsten dieser Unzuchtsdelikte geistig Gesunde betreffen, die aus
Uebersättigung im Geschlechtsgenuss , aus Geilheit und Rohheit,
nicht selten in angetrunkenem Zustande, so weit ihre Menschen-
würde vergessen.
Ein grosser Theil dieser Fälle steht aber entschieden auf
Thierschändung. 377
krankhaftem Boden. Dies gilt namentlich für diejenigen , wo ein
Greis *) der Verführer der Jugend ist.
Ich stimme Kirn bei, wenn er in solchen Fällen unter allen
Umständen ein Exploratio mentalis für nöthig hält, da hier häufig
genug ein wiedererwachender, perverser, krankhaft starker, zudem
unbeherrschbarer Geschlechtstrieb, als Theilerscheinung einer De-
mentia senilis, sich ermitteln lässt.
7) Unzucht wider die Natur (Sodomie)2).
(Oesterr. Stgsb. § 129; Entw. § 190; Deutsch. Stgsb. § 175.)
a) Thierschändung (Bestialität)3).
Auch die Thierschändung, so monströs und widerlich sie jedem
anständigen Menschen erscheinen muss, entspringt keineswegs immer
psycho-pathologischen Bedingungen. Tiefstehende Moralität, grosser
geschlechtlicher Drang bei erschwerter naturgemässer Befriedigung,
dürften Hauptmotive dieser sowohl bei Männern als bei Frauen vor-
kommenden widernatürlichen Geschlechtsbefriedigung sein.
Durch Polak wissen wir, dass sie in Persien nicht selten aus dem Wahn
hervorgeht, durch den sodomitischen Akt die Gonorrhöe los zu werden, gleich-
wie in Europa noch vielfach der Glaube besteht, der Beischlaf mit einem
kleinen Mädchen vermöge von der Venerie zu heilen.
Erfahrungsgemäss ist Bestialität in Kuh- und Pferdeställen kein allzu
>) Vgl. Kirn, Allg. Zeitschr. f. Psych. 39, p. 217.
2) Ich folge dem herrschenden Sprachgebrauch, indem ich Bestialität
und Päderastie unter dem gemeinsamen Ausdruck Sodomie bespreche. In der
Genesis (Cap. 19), woher dieses Wort stammt, bezeichnet es auschliesslich das
Laster der Päderastie. Später hat man Sodomie vielfach als gleichbedeutend
mit Bestialität gebraucht. Die Moraltheologen, wie der hl. Alphons von Liguori,
Gury u. A. haben immer richtig, d. h. im Sinne der Genesis unterschieden
zwischen: Sodomia, i. e. concubitus cum persona ejusdem sexus und Bestia-
litas, i. e. concubitus cum bestia (vgl. Olfers, Pastoralmedicin p. 78).
Die Juristen haben Verwirrung in die Terminologie gebracht, indem sie
eine „Sodomia ratione sexus" und eine „S. ratione generis" statuiren. Die
Wissenschaft sollte aber sich hier als ancilla Theologiae bekennen und zum
richtigen Sprachgebrauch zurückkehren.
$) Interessante histor. Notizen s. Krauss, Psychol. des Verbrechens, p. 180;
Maschka, Hdb. III, p. 188; Hofmann, Lehrb. d. ger. Med., p. 180; Kosen-
baum, Die Lustseuche. 5. Aufl. 1892.
378 Thierschändung.
seltenes Vorkommniss. Gelegentlich kann sich der Betreffende auch an Ziegen,
Hündinnen, ja, wie ein Fall bei Tardieu und einer bei Schauenstein
(Lehrb. p. 125) lehren, sogar an Hennen vergreifen.
Bekannt ist die Verfügung Friedrichs d. Gr. im Falle eines Cavalle-
risten, der eine Stute geschändet hatte: „Der Kerl ist ein Schwein und soll
unter die Infanterie gesteckt werden."
Der Verkehr weiblicher Individuen mit Thieren beschränkt sich auf den
mit Hunden. Ein monströses Beispiel von sittlicher Depravation in grossen
Städten ist der von Maschka (Handb. III) berichtete Fall einer Weibsperson
in Paris, die in geschlossenen Kreisen gegen ein Eintrittsgeld vor Wüstlingen
sich damit producirte, dass sie sich von einem abgerichteten Bulldogg be-
gatten liess!
Beobachtung 184. In einer Provinzstadt ertappte man einen 30 Jahre
-alten Mann aus höherem Stande im sodomitischen Verkehr mit einer Henne.
Man hatte lange nach dem Uebelthäter gefahndet, weil die Hennen im Hause,
eine nach der anderen, zu Grunde gingen. Auf die Frage des Gerichtspräsi-
denten, wie der Betreffende zu dieser scheusslichen Handlung gekommen sei,
vertheidigte sich der Angeklagte mit Hinweis auf seine kleinen Genitalien,
die ihm den Verkehr mit Weibern unmöglich machten. Die ärztliche Unter-
suchung ergab thatsächlich äusserst kleine Genitalien. Das Individuum war
geistig ganz normal.
Ueber etwaige Belastung, Zeit des Erwachens des Sexualtriebs u. s. w.
fehlen Angaben. (Gyurkovechky, Männl. Impotenz 1889, S. 82.)
Beobachtung 185. Am 23. September 1889 Mittags fing der 16 Jahre
alte Schuhmacherlehrling W. im Garten des Nachbars eine Gans und beging
an dem Thier Akte der Bestialität, bis der Nachbar hinzukam. Auf dessen
Vorhalt sagte W. : „Nun, fehlt der Gans etwas?" und entfernte sich. Im
Verhör gestand er den Sachverhalt, entschuldigte sich aber mit temporärer
Geistesabwesenheit. Seit einer schweren Krankheit mit 12 Jahren habe er
mehrmals im Monat mit Hitze im Kopf verbundene Anfälle, in welchen er
geschlechtlich sehr aufgeregt sei, sich nicht zu helfen wisse, auch nicht wisse,
was er thue. In einem solchen Anfall habe er die That begangen. Er ver-
antwortete sich in gleicher Weise in der Hauptverhandlung, behauptete, von
der Species facti nur aus den Angaben des Nachbars etwas zu wissen. Der
Vater theilt mit, dass W., aus gesunder Familie stammend, seit Scarlatina
mit 5 Jahren immer kränklich gewesen sei, mit 12 Jahren eine hitzige Kopf-
krankheit gehabt habe. W. war gut beleumundet, lernte gut in der Schule,
half später seinem Vater beim Handwerk. Der Masturbation war er nicht
ergeben.
Die ärztliche Exploration ergab keine intellektuellen noch ethischen
Defecte. Die körperliche Untersuchung ermittelte normale Genitalien, Penis
relativ stark entwickelt, erhebliche Steigerung des Kniesehnenreflexes. Im
Uebrigen negativer Befund.
Die Amnesie tempor. delicti erwies sich als nicht stichhaltig. Von
früheren Anfällen geistiger Störung war nichts zu eruiren, von solchen in der
6wöchentlichen Beobachtungszeit nichts wahrzunehmen. Eine Perversion der
Thierschändung. 379
Vita sexualis bestand nicht. Das ärztliche Gutachten gab die Möglichkeit zu,
dass von einer Hirnerkrankung herrührende organische Momente (Fluxion zum
Kopf) von Einfluss bei Verübung der incriminirten Handlung gewesen sein können.
(Aus einem Gutachten des Herrn Dr. Fritsch in Wien.)
Innerhalb der Bestialität findet sich aber eine Gruppe von
Fällen, in welchen entschieden eine pathologische Grundlage be-
steht, insofern schwere Belastung, constitutionelle Neurosen, Im-
potenz beim normalen Akt, impulsive Art der Ausführung des
widernatürlichen Aktes darauf hinweisen. Er wäre zweckmässig,
diese pathologischen Fälle eigens zu benennen, etwa indem für die
nicht pathologischen der Ausdruck Bestialität beibehalten, für die
krankhaften der der Zooerastie gewählt würde.
Beobachtung 186. Impulsive Sodomie. A., 16 Jahre, Gärtner-
junge, unehelich, "Vater unbekannt, Mutter schwer belastet, hysteroepileptisch.
A. hat difformen, asymmetrischen Gehirn- und Gesichtsschädel, desgleichen
Skelet, ist klein, war seit der Kindheit Masturbant, immer moros, apathisch,
die Einsamkeit liebend, höchst reizbar, in seinen Affecten von geradezu patho-
logischer Reaction. Er ist imbecill, wohl durch Masturbation körperlich sehr
herabgekommen und neurasthenisch. Ueberdies bietet er hysteropathische
Symptome (Einschränkung des Sehfelds, Dyscbromatopsie, Herabsetzung von
Geruch, Geschmack, Gehör rechts, Anaesthesia testiculi dextr., Clavus u. s. w.).
A. ist überwiesen, Hunde und Lapins theils masturbirt, theils sodomisirt
zu haben. 12 Jahre alt, sah er, wie Knaben einen Hund masturbirten. Er
machte es nach und konnte sich nicht enthalten, in der Folge Hunde, Katzen,
Lapins in dieser scheusslichen Weise zu misshandeln. Viel häufiger sodomisirte
er aber weibliche Kaninchen, die einzigen Thiere, welche für ihn einen Reiz
hatten. Mit Einbruch der Nacht pflegte er sich nach dem Kaninchenstall
seines Herrn zu begeben, um seinem entsetzlichen Drang zu fröhnen. Man
fand wiederholt Lapins mit zerrissenem Rectum. Die bestialen Akte spielten
sich immer in derselben Weise ab. Es handelte sich um förmliche Anfälle,
die etwa alle 8 Wochen und jeweils Abends in identischer Weise sich einstellten.
A. bekam gfosses Unbehagen, ein Gefühl, wie wenn man ihm den Kopf zer-
hämmere. Es war ihm, wie wenn er den Verstand verliere. Er kämpfte gegen
den auftretenden Zwangsgedanken, Lapins zu sodomisiren, empfand wachsende
Angst dabei, Steigerung des Kopfschmerzes bis zur Unerträglichkeit. Auf der
Höhe des Zustands Glockenläuten, Ausbruch von kaltem Schweiss, Zittern der
Kniee, endlich Aufhören der Widerstandsfähigkeit und impulsive Ausführung der
perversen Handlung. Sobald dieselbe geschehen ist, wird er frei von Angst.
Die nervöse Krise ist geschwunden, er ist wieder Herr seiner selbst, empfindet
tiefe Beschämung über das Vorgefallene und fürchtet die Wiederkehr solcher
Situationen. A. versichert, dass er in solchen Krisen, vor die Wahl gestellt,
ein Weib oder ein Lapinweibchen zu gebrauchen, nur sich zu letzterem ent-
schliessen könnte. Auch intervallär erregen einzig unter den Hausthieren
Lapins sein Wohlgefallen. In seinen Ausnahmszuständen genügt ihm zur
380 Thierscbändung.
sexuellen Befriedigung meist das blosse Andrücken, Küssen u. s. w. des Lapin,
zuweilen geräth er aber dabei in solchen furor sexualis, dass er stürmisch das
Thier sodomisiren muss.
Die erwähnten bestialen Akte sind die einzigen, welche ihn sexuell be-
friedigen und die einzige ihm mögliche Art sexueller Thätigkeit. A. versichert,
dass er dabei nie ein Wollustgefühl hatte, sondern Befriedigung nur insofern,
als er dadurch aus seiner qualvollen, durch impulsiven Zwang geschaffenen
Situation befreit wurde.
Es gelang leicht der ärztlichen Epikrise nachzuweisen, dass dieses mensch-
liche Scheusal ein psychisch Degenerirter, unfreier Kranker, kein Verbrecher
ist. (Boeteau, La France medicale 38. Jahrgang Nr. 38.)
Beobachtung 187. X., Bauer, 40 Jahre, griechisch-katholisch. Vater
und Mutter waren starke Trinker. Vom 5. Jahre ab bekam Patient epileptische
Anfälle, d. h. er fällt bewusstlos um, liegt 2 — 3 Minuten regungslos, dann
rafft er sich auf und läuft planlos mit weit aufgerissenen Augen davon. Mit
17 Jahren Erwachen des Geschlechtstriebs. Patient hatte weder sexuelle Nei-
gung zu Weibern, noch zu Männern, wohl aber zu Thieren (Vögel, Pferde u. s. w.).
Er coitirte mit Hühnern, Enten, später mit Pferden, Kühen. Nie Onanie.
Patient ist Heiligenbildmaler, sehr geistesbeschränkt. Seit Jahren reli-
giöse Paranoia mit Ekstasezuständen. Er hat eine „unerklärliche" Liebe für
die Gottesmutter, für die er sein Leben hingeben möchte. In die Klinik auf-
genommen, erweist sich Patient frei von Gebrechen und von anatomischen
Degenerationszeichen.
Er hat von jeher Aversion gegen Frauen gehabt. Bei einmaligem
Versuch, mit einem Weib zu coitiren, war er impotent, Thieren gegenüber
immer sehr potent. Er ist Frauen gegenüber sehr schamhaft. Coitus mit
solchen erscheint ihm fast wie Sünde (Kowalewsky, Jahrb. für Psychiatrie
Vn, Heft 3).
Beobachtung 188. T. , 35 Jahre , von trunksüchtigem Vater und
psychopathischer Mutter, war nie schwer krank gewesen und hatte in seinem
Benehmen nie etwas Auffälliges geboten. Schon mit 9 Jahren trieb er Unzucht
mit einem Huhn , später mit anderen Hausthieren. Als er mit Weibern zu
cohabitiren begann, schwanden seine bestialen Gelüste. Er heirathete mit
20 Jahren, war sexuell befriedigt.
Mit 27 Jahren begann er zu trinken. Da erwachten seine früheren
perversen Neigungen wieder. Als er eines Tages seine Ziege zum Beschälen
in ein nahes Dorf führte, erwachte in ihm der Drang, sie zu sodomisiren,
wurde immer mächtiger, jedoch noch mühsam bekämpft. Herzklopfen, quä-
lender Schmerz auf der Brust, heftiger Orgasmus machten ihn seinem Drang
erliegen. T. versichert, dass er bei solchen bestialen Akten viel grössere
Wollust empfunden habe, als beim Coitus cum femina.
Seine bestialen Handlungen blieben unbemerkt. Er kam schliesslich
wegen Alkoholwahnsinn in die Irrenanstalt und bei Aufnahme der Anamnese
machte er die obigen Enthüllungen. (Boissier et Lachaux, Annal. medico-
psychol. Juli-August 1893, p. 381.)
Zooerastie. 381
Grosse Schwierigkeiten bieten sich für die Erklärung des Zu-
standekommens der Zooerastie. Der Versuch, sie auf Fetischismus
zurückzuführen, gleichwie dies bei der Zoophilia erotica (vgl. p. 191)
möglich ist, gelingt nicht bei den bisher beobachteten Fällen von
Zooerastie.
Es fragt sich, ob Zoophilia überhaupt zu geschlechtlichen
Acten an Thieren (also eventuell Bestialität) führen könnte. Ist sie
wirklich eine fetischistische Erscheinung, so wird diese Möglichkeit
auf Grund der Erfahrungen hinsichtlich des Fetischismus überhaupt,
kaum annehmbar.
Auch im berichteten Falle von Zoophilia erotica fetischistica
(p. 192) kam es bemerkenswerther Weise nicht zu solchen An-
wandlungen, und der Träger der Beobachtung dachte gar nicht
an den Sexus der betreifenden Thiere. Es bleibt angesichts der
Zooerastie vorläufig nichts übrig, als sie für eine originäre, etwa
der conträren Sexualempfindung gleichzustellende Perversion der Vita
sexualis zu halten.
Der folgende, allerdings rudimentäre und abortive Fall von
Zooerastie spricht jedenfalls zu Gunsten einer solchen Annahme
und für die völlige Unbewusstheit der Motivation des bezüglichen
Dranges.
Beobachtung 189. Y., 20 Jahre, intelligent, wohlerzogen, erblich an-
geblich nicht belastet, körperlich gesund bis auf Erscheinungen von Neurasthenfe
und Hyperaesthesia uretbrae, hat angeblich nie masturbirt. Von Kindheit auf
grosse Freude an Thieren, besonders Hunden und Pferden. Seit der Pubertät
Potenzirung dieses Sports, bei dem aber nie sexuelle Vorstellungen untergelaufen
zu sein scheinen.
Eines Tages, beim erstmaligen Besteigen eines Pferdes, Wollust-
empfindung. Nach 14 Tagen bei neuerlichem Anlass dasselbe, zugleich mit
Erection.
Kurz darauf erster Ritt. Diesmal Ejaculation. Nach 1 Monat derselbe
Vorfall. Patient empfindet darüber Aerger und Abscheu, abstinirt vom Reiten.
Nunmehr fast tägliche Pollutionen.
Der Anblick von Reitern und von Hunden macht ihm Erectionen. Fast
allnächtlich Pollution, mit der Traumvorstellung, er sitze zu Pferde oder dres
sire Hunde. Patient sucht ärztliche Hülfe. Eine Sondenkur beseitigt die
Hyperaesthesia urethrae und mindert die Pollutionen. Dem Rath des Arztes,
zu coitiren, folgt Patient widerstrebend, theils aus fehlender Zuneigung zum
andern Geschlecht, theils aus Misstrauen in seine Potenz.
Er macht erfolglose Coitusversuche , erzielt nicht einmal Erection, die
aber sofort auftritt, als er einem Reiter begegnet. Er wird deprimirt, hält
sich für ein abnormes Wesen und Heilung für unmöglich.
Entsprechende ärztliche Behandlung. Neuer Coitusversuch gelingt
382 Zooerastie.
unter Zuhülfenahme der die Erection fördernden Phantasiebilder von Hunden,
Reitern.
Patient reüssirt immer leichter, fühlt seine Zuneigung zu Thieren
schwinden, hat keine Erectionen beim Anblick von Reitern, Hunden mehr, die
Pollutionen auslösenden Traumvorstellungen haben immer seltener Thiere
zum Inhalt, er träumt von Mädchen. Der anfangs noch durch rasch erlahmende
Erection und Ejaculatio praecox pathologische Coitus wird unter Zuhülfe-
nahme einer Sondenkur normal. Patient ist sexuell befriedigt und von
seinem abnormen sexuellen Trieb befreit. (Dr. Hanc, Wien. med. Blätter.
1887. Nr. 5.)
Der vorausgehende Fall rechtfertigt die Annahme einer origi-
nären Perversion, denn anstatt der Vorstellung des normalen Objektes
(Weib) ist es die häufig gesehener Thiere (Pferde, Hunde), welche
sexuelle Gefühle und Dränge erweckt. Daneben mag noch ein
dunkles sadistisches Motiv im Spiele gewesen sein, da, wenigstens
in der Vita sexualis des Träumenden, es sich um das Reiten auf
Pferden und das Dressiren von Hunden handelte.
Auffällig erscheint die grosse Seltenheit der Fälle wirklicher
Zooerastie. Sie erklärt sich wohl aus der Leichtigkeit, mit der sie
verborgen bleiben.
Die forensisch bedeutungsvolle Unterscheidung von Bestialität
und von Zooerastie kann in concreto nicht schwierig sein.
Wer bei Gelegenheit zur Befriedigung normaler sexueller Dränge
ausschliesslich bei Thieren geschlechtliche Befriedigung sucht und
findet, muss vorweg die Vermuthung pathologischer Bedeutung
seiner perversen Triebrichtung für sich haben, jedenfalls ungleich
mehr als der conträr Sexuale, weil bei sexuellen Handlungen an
Thieren die psychische Ansteckung fehlt, die Möglichkeit, dass
die Perversion des einen Theils zur Perversität des andern ge-
führt habe.
Immerhin lässt sich annehmen, dass die Zahl der Fälle von
Zooerastie gegenüber denen von conträrer Sexualempfindung eine
ungleich geringere ist. Es ergiebt sich dies a priori aus dem
Charakter beider Perversionen, der weit grösseren Entfernung des
Zooerasten gegenüber dem conträr Sexualen vom normalen Objekt.
Damit würde die erstere Perversion viel schwerer, weil degenerativer
als die des Letzteren sich qualificiren.
Päderastie. 383.
b) Unzucht mit Personen desselben Geschlechts (Päderastie, Sodomia
sensu strictiori).
Deutschland kennt nur widernatürliche Unzucht zwischen männ-
lichen Personen. Oesterreich kennt solche zwischen Personen des-
selben Geschlechts, wonach also auch Unzucht zwischen Weib und
Weib strafrechtlicher Verfolgung unterstehen würde.
Unter den unzüchtigen Handlungen zwischen männlichen Indi-
viduen nimmt die Päderastie (Immissio penis in anum) das Haupt-
interesse in Anspruch. An diese Perversität sexuellen Handelns
hat der Gesetzgeber wohl ausschliesslich gedacht und nach den Aus-
führungen hervorragender Interpreten der Strafgesetzgebung (Oppen-
hoff, Stgsb., Berlin 1872, p. 324 und Rudolf und Stenglein,
D. Strafgesb. f. d. Deutsche Reich 1881, p. 423) gehörte Immissio
penis in corpus vivum zum Thatbestand des im § 175 vorgesehenen
Verbrechens.
Nach dieser Auffassung entfiel die strafgerichtliche Ahndung
von anderweitigen unzüchtigen Handlungen zwischen männlichen
Personen, soweit sie nicht durch Verletzung der öffent-
lichen Schamhaftigkeit, Anwendung von Gewalt oder Vor-
nahme an Knaben unter 14 Jahren complicirt erschien.
Von dieser Auffassung ist man in der letzten Zeit wieder abgegangen
und erachtet das Verbrechen der widernatürlichen Unzucht unter
Männern als vorhanden, wenn auch nur beischlafähnliche Hand-
lungen stattfanden x).
Die Forschungen über conträre Sexualempfindung haben die
mannmännliche Liebe in ein ganz anderes Licht gestellt als das,
in welchem die aus ihr hervorgehenden Unzuchtsdelikte, speciell
die Päderastie, zur Zeit der Abfassung der Gesetzbücher standen. Die
Thatsache einer psychopathologischen Begründung vieler Fälle von.
conträrer Sexualempfindung lässt keinen Zweifel darüber zu, dass
*) Wie spitzfindig, anstössig und bedenklich für den Richter die Be-
urtheilung. dieser „beischlaf ähnlichen" Handlungen für die Constatirung des
objektiven Thatbestandes des Verbrechens sein mag, deuten gut an eine Arbeit
über eine Strafbarkeit des mannmännlichen Verkehrs in der Zeitschr. f. d. ge-
sammte Strafrechtswissenschaft Bd. VII, Heft 1, sowie eine solche in Fried-
reich's Blättern f. gerichtl. Medicin. Jahrgang 1891, Heft 6. — Siehe ferner
Moll's Buch „Conträre Sexualempfindung" p. 223 u. ff., und Bernhardi,
„Der Uranismus", Berlin 1882.
J
384 Zurechnungsfähigkeit der Conträrsexualen.
auch die Päderastie die Handlung eines Unzurechnungsfähigen sein
kann und zwingt dazu, ferner in foro nicht bloss die That, sondern
auch den geistigen Zustand des Thäters zu berücksichtigen.
Die Eingangs dieses Abschnitts aufgestellten Gesichtspunkte
müssen auch hier massgebend sein. Nicht die That, sondern einzig
und allein die anthropologisch-klinische Würdigung des Thäters
kann die Entscheidung herbeiführen, ob strafwürdige Perversität
oder krankhafte und nach Umständen die Strafbarkeit ausschliessende
Perversion des geistigen und Trieblebens vorliege.
Die nächste Frage in foro muss dahin gehen, ob die sexuelle
Neigung zu Personen desselben Geschlechts eine angeborene oder
eine erworbene Erscheinung sei, im letzteren Falle, ob sie eine
krankhafte Perversion oder bloss eine moralische Verirrung (Per-
versität) darstellt.
Die angeborene conträre Sexualempfindung kommt nur bei
krankhaft veranlagten (belasteten) Individuen vor, als Theilerschei-
nung einer durch anatomische oder funktionelle oder durch beiderlei
Abnormitäten gekennzeichnete Belastung. Um so klarer wird der
Fall und um so sicherer die Diagnose, wenn das Individuum in
Charakter und ganzem Fühlen seiner geschlechtlichen Eigenart ent-
sprechend erscheint, der Neigung zu Personen des anderen Geschlechts
vollkommen entbehrt oder gar Horror vor sexuellem Verkehr mit
solchen empfindet, wenn der Betreffende in dem Drang zur Be-
friedigung der conträren Sexualempfindung Merkmale anderweitiger
Anomalie des Sexuallebens, sowie tiefere Degeneration in Form von
Periodicität des Drangs und impulsivem Handeln bietet und eine
neuro- und psychopathische Persönlichkeit ist.
Die weitere Frage betrifft den Geisteszustand des Urnings.
Ist dieser ein solcher, dass die Bedingungen der Zurechnungsfähig-
keit überhaupt fehlen, so ist der Päderast kein Verbrecher, sondern
•ein unzurechnungsfähiger Geisteskranker.
Dieser Fall ist aber bei geborenen Urningen offenbar der
seltenere. In der Regel bieten sie höchstens elementare psychL^no
Störungen, welche die Zurechnungsfähigkeit an und für sich nicht
aufheben.
Damit ist aber die forensische Frage der Verantwortlichkeit
des Urnings nicht abgethan. Der Sexualtrieb ist eines der mächtig-
sten organischen Bedürfnisse. Keine Gesetzgebung findet die ausser-
eheliche Befriedigung des Sexualtriebs an und für sich strafbar:
dass der Urning pervers fühlt, ist nicht seine Schuld, sondern die
Zurechnungsfähigkeit der Conträrsexualen. 385
einer abnormen Naturanlage. Sein sexuelles Verlangen mag ästhetisch
höchst widerlich sein, von seinem krankhaften Standpunkt aus ist
es ein natürliches. Dazu kommt, dass bei der Mehrzahl dieser
Unglücklichen der perverse Sexualtrieb mit abnormer Stärke sich
geltend macht und dass ihr Bewusstsein vielfach den perversen
Trieb nicht als etwas Widernatürliches erkennt. Damit ermangeln
sie sittlicher, ästhetischer Gegengewichte zur Bekämpfung des
Drangs.
Unzählige normal constituirte Menschen sind im Stande, auf
Befriedigung ihrer Libido zu verzichten, ohne durch diese erzwungene
Abstinenz an ihrer Gesundheit Schaden zu nehmen. Viele Neuro-
pathiker — und dies sind Urninge durchweg — werden dagegen
schwer nervenkrank, wenn sie dem Naturtrieb nicht genügen oder
ihn in für sie perverser Weise befriedigen.
Die meisten Urninge sind in peinlicher Lage. Auf der einen
Seite ein abnorm starker, in seiner Befriedigung wohlthätig und
als Naturgesetz empfundener Trieb zum eigenen Geschlecht — auf
der anderen Seite die öffentliche Meinung, welche ihr Thun brand-
markt, und das Gesetz, welches sie mit schimpflicher Strafe bedroht.
Auf der einen Seite qualvolle Seelenzustände bis zu Gemüthskrank-
heit und Selbstmord, mindestens Nervensiechthum, — auf der anderen
Seite Schande, Verlust der Stellung u. s. w. Dass hier Noth- und
Zwangslagen geschaffen werden können durch eine unselige krank-
hafte Disposition und Naturanlage, kann nicht bezweifelt werden.
Diesen Thatsachen müssen jedenfalls Gesellschaft und Forum gerecht
werden; die erstere, indem sie solche Unglückliche bedauert, nicht
verachtet, das letztere, indem es sie straflos lässt, insofern sie sich
innerhalb der Schranken bewegen, die überhaupt der Bethätigung
des Sexualtriebes gezogen sind.
Als Bestätigung dieser Anschauungen und Forderungen, welche bezüglich
dieser Stiefkinder der Natur sich ergeben müssen, sei es gestattet, ein Pro-
"^moria eines Urnings an den Verfasser hier zum Abdruck zu bringen. Der
Schreiber der folgenden Zeilen ist ein hochgestellter Mann in London.
„Sie haben keinen Begriff, welch fortdauernde schwere Kämpfe wir
Alle — und die Denkenden und Feinfühlenden unter uns am meisten — heute
noch zu bestehen haben und wie sehr wir unter der jetzt noch herrschenden
falschen Anschauung über uns und unsere sogenannte .Unsittlichkeit1 zu
leiden haben.
Ihre Anschauung, dass die in Rede stehende Erscheinung, als letzte Ur-
sache in den meisten Fällen, einer angeborenen »krankhaften' Disposition zuzu-
schreiben ist, wird es vielleicht am ehesten möglich machen, die bestehenden
v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 25
386 Zurechnungsfähigkeit der Conträrsexualen.
Vorurtheile zu überwinden und, statt Abscheu und Verachtung, Mitleid für
uns arme ,kranke' Menschen zu erwecken.
So sehr ich also glaube, dass die von Ihnen vertretene Ansicht eine für
uns möglichst vortheilhafte ist, so vermag ich doch im Interesse der
Wissenschaft das* Wort ,krankhaft' nicht so ohne Weiteres zu acceptiren
und möchte mir gestatten, Ihnen noch einige darauf bezügliche Auseinander-
setzungen zu geben.
Anomal ist die Erscheinung unter allen Umständen, dem Wort krank-
haft liegt aber noch eine andere Bedeutung bei, die ich in diesem Falle nicht
zutreffend finden kann, wenigstens bei sehr vielen Fällen nicht, die ich zu
beobachten Gelegenheit hatte. Ich will a priori zugeben, dass man bei den
Urningen in einer weit höheren Proportion Fälle von geistigen Störungen, von
nervöser Ueberreizung etc. constatiren kann, als bei anderen normalen Men-
schen. Hängt diese gesteigerte Nervosität aber nothwendig mit dem Wesen
des Urningthums zusammen oder ist sie nicht in weitaus den meisten Fällen
dem Umstand zuzuschreiben, dass der Urning in Folge der jetzt herrschenden
Gesetzgebung und gesellschaftlichen Vorurtheile nicht wie die anderen Menschen
in einfacher und leichter Weise zur Befriedigung der ihm angeborenen ge-
schlechtlichen Neigung gelangen kann?
Der urningische Jüngling, schon wenn er die ersten geschlechtlichen
Regungen empfindet und sie naiv seinen Kameraden äussert, findet bald heraus,
dass er bei Anderen kein Verständniss findet; er verschliesst sich nun in sich.
Macht er dem Lehrer oder seinen Eltern Mittheilung von dem , was ihn be-
wegt, so wird ihm die Regung, die ihm so natürlich ist wie dem Fische das
Schwimmen, als verderbt und sündhaft geschildert, es wird ihm gepredigt,
dass dies um jeden Preis bekämpft und unterdrückt werden müsse. Es be-
ginnt nun ein innerer Kampf, eine gewaltsame Unterdrückung der geschlecht-
lichen Regung, und je mehr die natürliche Befriedigung derselben unterdrückt
wird, desto lebhafter fängt die Phantasie an zu arbeiten und zaubert gerade
immer wieder die Bilder herauf, die man gerne bannen möchte. Je energischer
der Charakter ist, der diesen inneren Kampf kämpft, desto mehr muss das
ganze Nervensystem darunter leiden. Eine solche gewaltsame Unterdrückung
eines uns so tief eingepflanzten Triebes entwickelt meiner unmassgeblichen
Ansicht nach erst die krankhaften Erscheinungen, die wir bei vielen Urningen
beobachten können, sie hängt aber nicht nothwendig mit den betreffenden
umingischen Dispositionen selbst zusammen.
Die Einen nun setzen diesen steten inneren Kampf mehr oder weniger
lang fort und reiben sich dabei auf, die Anderen kommen schliesslich zur Er-
kenntniss, dass der ihnen angeborene so mächtige Trieb unmöglich sündhaft
sein könne, sie versuchen also nicht länger das Unmögliche — die Unter-
drückung desselben. Nun beginnt kaber erst recht die Serie der Leiden und
steten Aufregungen ! Der Dioning, wenn er für seine geschlechtlichen Regungen
Befriedigung sucht, weiss sie immer leicht zu finden; nicht so der Urning!
Er sieht die Männer, die ihn reizen, er darf aber nichts sagen, ja nicht ein-
mal merken lassen, was ihn bewegt. Er denkt, dass er allein auf der ganzen
Welt so abnorme Empfindungen habe. Naturgemäss sucht er den Umgang
mit jungen Männern, wagt es aber nicht, sich ihnen anzuvertrauen. So verfällt
er darauf, als Ersatz sich selbst die Befriedigung zu verschaffen , die er sonst
Zurechnungsfähigkeit der Conträrsexualen. 387
nicht erreichen kann. Das Onaniren wird in ausgedehntem Masse geübt, und
alle Folgen dieses Lasters machen sich geltend. Wenn dann nach einer ge-
wissen Zeit eine Zerrüttung des Nervensystems eintritt, ist die krankhafte Er-
scheinung wiederum nicht durch das Urningthum an sich bedingt, sondern
eben nur dadurch entstanden , dass der Urning in Folge der heute allgemein
herrschenden Anschauung die ihm natürliche normale Befriedigung seines
Geschlechtstriebes nicht finden konnte und so der Onanie verfiel.
Oder nehmen wir nun an, der Urning habe das seltene Glück gehabt,
bald eine gleichempfindende Seele zu finden, oder er sei von einem erfahrenen
Freunde bald über die Vorgänge in der urningischen Welt aufgeklärt worden,
so bleiben ihm vielleicht manche innere Kämpfe erspart, aber eine lange Reihe
von aufregenden Sorgen und Aengsten folgt auch ihm auf allen seinen
Schritten. Nun weiss er, dass er nicht mehr der Einzige auf der Welt mit
solch abnormen Empfindungen ist; er öffnet die Augen und wundert sich, wie
zahlreiche Genossen er in allen socialen Kreisen und in allen Berufsklassen
findet; er erfährt auch, dass es im Urningthum so gut wie bei den Dioningen
eine Prostitution gibt und dass käufliche Männer zu haben sind, so gut wie
Dirnen. An Gelegenheit zur Befriedigung der geschlechtlichen Triebe fehlt es
also nicht mehr. Aber doch wie verschieden von den Dioningen entwickeln
sich hier die Dinge!
Nehmen wir den glücklichsten Fall an! Der gleichempfindende Freund,
nach dem man sich das ganze Leben gesehnt, ist gefunden. Ihm darf man
sich aber nicht offen hingeben , wie der Jüngling dem Mädchen , das er liebt.
In steter Angst müssen Beide ihr Verhältniss stets verheimlichen, ja selbst die
zu grosse Intimität, die leicht Verdacht erregen könnte — zumal wenn Beide
nicht von gleichem Alter sind oder nicht derselben Gesellschaftsklasse an-
gehören — , muss der Aussenwelt verborgen bleiben. So beginnt mit dem Ver-
hältniss selbst eine Kette von Aufregungen, und die Furcht, das Geheimniss
könnte doch verrathen oder errathen werden, lässt den Armen zu keinem
frohen Genuss mehr kommen. Ein jedem Anderen gleichgültiges Vorkommniss
macht ihn zittern , weil dadurch ein Verdacht erweckt werden könnte und
sein Geheimniss an den Tag kommen könnte, wodurch seine ganze gesell-
schaftliche Stellung untergraben würde und er Amt und Beruf verlieren müsste.
Und diese stete Aufregung, diese fortwährende Angst und Sorge sollte spur-
los vorübergehen und nicht eine Rückwirkung üben auf das ganze Nerven-
system?
Ein Anderer, weniger glücklich, fand nicht den gleichgesinnten Freund,
sondern fiel einem hübschen Manne in die Hände, der ihm erst bereitwillig
entgegenkam, bis ihm die innersten Geheimnisse verrathen waren. Nun werden
die raffinirtesten Erpressungen ausgeübt. Der unglücklich Verfolgte , vor die
Alternative gestellt, zu zahlen oder social unmöglich zu werden, eine geachtete
Stellung zu verlieren, über sich und seine Familie Schande hereinbrechen zu
sehen, zahlt, und je mehr er zahlt, desto gieriger wird der Vampyr, der an
ihm saugt, bis schliesslich nur die Wahl bleibt zwischen gänzlichem finanziellen
Ruin oder- Entehrung. Wer will sich wundern , wenn die Nerven eines Jeden
diesem fürchterlichen Kampfe nicht gewachsen sind?
Dem Einen versagen sie ganz, die geistige Störung tritt ein und der
Arme findet endlich in der Irrenanstalt die Ruhe, die er im Leben nicht finden
388 De lege lata und de lege ferenda.
konnte. Ein Anderer macht in der Verzweiflung diesem unerträglichen Zu-
stand durch Selbstmord ein Ende. Wie viele der oft unerklärlichen Selbst-
morde junger Männer hierher zu zählen sind, lässt sich gar nicht ergründen!
Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich behaupte, dass mindestens die
Hälfte der Selbstmorde bei jungen Männern auf solche Umstände zurückzu-
führen sind. Selbst in den Fällen, wo nicht der erbarmungslose Erpresser einen
Urning verfolgt, sondern nur ein Verhältniss zwischen zwei Männern besteht,
das an sich befriedigend verläuft, führt die Entdeckung oder auch nur die
Furcht vor der Entdeckung gar oft zum Selbstmord. Wie viele Offiziere, die
zu einem ihrer Untergebenen, wie viele Soldaten, die zu einem Kameraden
ein Verhältniss hatten, haben im Augenblick, da sie sich entdeckt glaubten,
durch eine Kugel der ihnen drohenden Schande zu entgehen versucht! Und
ähnlich in allen anderen Berufsarten!
Wenn also thatsächlich gewiss zugegeben werden muss, dass bei den
Urningen mehr geistige Abnormitäten und wohl auch mehr wirklich geistige
Störungen beobachtet werden können als bei anderen Menschen, so ist damit
aber der Beweis durchaus nicht erbracht, dass diese geistige Störung noth-
w endig mit dem Urningthum zusammenhänge und dass eines das andere
bedinge. Nach meiner festen Ueberzeugung ist weitaus der grösste Theil der
bei Urningen beobachteten geistigen Störungen oder krankhaften Dispositionen
nicht auf Rechnung ihrer sexuellen Abnormität zu setzen, sondern sie sind
hervorgerufen durch die jetzt bestehende falsche Anschauung über das Urning-
thum und, damit zusammenhängend, durch die bestehende Gesetzgebung und
die herrschende Meinung über diesen Gegenstand. Wer nur annähernd einen
Begriff hat von der Fülle von geistigen und moralischen Leiden, von den
Aengsten und Sorgen, die ein Urning erdulden muss, von den ewigen Heuche-
leien und Verheimlichungen, die er üben muss, um den ihm innewohnenden
Trieb zu verbergen, von den unendlichen Schwierigkeiten, die sich der ihm
naturgemässen Befriedigung seiner sexuellen Triebe entgegenstellen — , der kann
sich nur darüber wundern, dass nicht noch mehr ernste geistige Störungen
und nervöse Erkrankungen bei den Urningen vorkommen. Der grösste Theil
dieser krankhaften Zustände käme aber gewiss gar nicht zur Entwicklung,
wenn der Urning wie der Dioning in einfacher und leichter Weise seine ge-
schlechtliche Befriedigung finden könnte, wenn er nicht diesen ewigen foltern-
den Aengsten ausgesetzt wäre!"
De lege lata sollte der Urning insofern Berücksichtigung
finden, dass der betreffende Paragraph nur im Sinne von wirk-
licher Päderastie ausgelegt wird und dass der psychisch-soma-
tischen Abnormität durch genaue Expertise und durch individuali-
sirende Erwägung der Schuldfrage Rechnung getragen wird.
De lege ferenda wünschen die Urninge nichts sehnlicher als
die Aufhebung des Paragraphen. Dazu wird sich der Gesetzgeber
nicht so leicht verstehen wollen, wenn er bedenkt, dass Päderastie
häufiger ein abscheuliches Laster als die Folge eines körperlich-
geistigen Gebrechens ist, dass zudem viele Urninge, wenn auch zu
De lege lata und de lege ferenda. 389
sexuellen Handlungen am eigenen Geschlecht genöthigt, doch keines-
wegs gezwungen sind, der wirklichen Päderastie zu fröhnen, eine
sexuelle Handlung, die zu allen Zeiten als eine cynische, ekle und,
als passive, wohl auch als schädliche dastehen wird. Ob aber
nicht aus Utilitätsgründen (Schwierigkeit der Feststellung der
Schuldfrage, Vorschubleistung der scheusslichsten Erpressungen,
Chantage u. s. w.) es opportun wäre, die strafgerichtliche
Verfolgung mannmännlicher Liebe aus den Codices zu
streichen, das möge der Gesetzgeber der Zukunft reif-
lich erwägen1).
Meine Gründe für Abschaffung des betr. Gesetzesparagraphen
sind etwa folgende :
1. Die in der Gesetzgebung vorgesehenen Delikte entspringen
in der Regel einer krankhaften seelischen Veranlagung.
2. Nur eine sorgfältige ärztliche Untersuchung vermag die
Fälle blosser Perversität von denen krankhafter Perversion zu
differenziren. Mit der Erhebung der Anklage ist das Individuum
aber bereits social vernichtet.
3. Die Mehrzahl dieser Urninge ist neben der Perversion des
Triebes mit abnormer Stärke desselben heimgesucht. In der Be-
thätigung ihres Geschlechtstriebes stehen diese geradezu unter einem
physischen Zwang.
4. Vielen derselben erscheint ihre Geschlechtsbefriedigung nicht
als eine unnatürliche, im Gegentheil als eine natürliche und die
vom Gesetz zugelassene als eine widernatürliche. Sie entbehren
damit aller sittlichen Corrective, die sie von ihrem sexuellen Delikt
abhalten könnten.
5. Beim Mangel einer Definition, was unter widernatürlicher
Unzucht zu verstehen sei, ist dem subjektiven Ermessen des Richters
ein zu grosser Spielraum eingeräumt. Die immer spitzfindiger
werdende Auslegung des § 175 in Deutschland beweist die Un-
sicherheit der Rechtsauffassung. Entscheidend für diese und die
Rechtsprechung ist gleichwohl der objektive Thatbestand. (Nach
dem subjektiven wird in der Regel gar nicht gefragt.) Wie soll
jener festgestellt werden? Das Delikt wird ja doch in der Regel
ohne Zeugen begangen.
*) Vgl. die kürzlich erschienene Broschüre des Verf. : „Der conträr Sexuale
vor dem Strafrichter. " Leipzig u. Wien (Deutike).
390 De lege lata und de lege ferenda.
6. Theoretische strafrechtliche Gründe für die Beibehaltung
des betreffenden Paragraphen lassen sich nicht gut aufstellen. Ab-
schreckend wirkt er nur selten, bessernd niemals, denn krankhafte
Naturerscheinungen werden nicht durch Strafen amovirt; als Sühne
für eine strafbare Handlung, die nur unter gewissen und vielfach
fälschlichen Voraussetzungen eine solche ist, kann er zur grössten
Ungerechtigkeit führen. Man vergesse nicht, dass in verschiedenen
Kulturländern dieser Strafrechtsparagraph nicht besteht, dass er in
Deutschland nur noch eine Konzession an das öffentliche Sittlichkeits-
gefühl darstellt, das aber diesen Delikten gegenüber von falscher
Voraussetzung ausgeht und Perversion und Perversität verwechselt.
7. Während meines Erachtens die öffentliche Sittlichkeit und
die Jugend genugsam in Deutschland durch andere Paragraphen
des Strafgesetzbuches geschützt sind, schadet der § 175 entschieden
mehr als er nützt, indem er einer der scheusslichsten Niederträchtig-
keiten — dem sogenannten Chantage — Vorschub leistet.
Allerdings wird auch der denuncirende Chanteur bestraft,
aber er hat die grosse Chance, dass sein Opfer es nicht zum Aeusser-
sten — nämlich zur Strafanzeige — kommen lässt. Im schlimmsten
Fall sitzt solch ein Wicht ein bischen Gefängniss ab, ohne in seiner
Schandexistenz gefährdet zu sein, während sein Opfer ehrlos, ruinirt
ist und nicht selten durch Selbstmord endet.
8. Sollte der deutsche Gesetzgeber durch Aufgebung des § 175
den Schutz der Jugend gefährdet erachten, so würde Ausdehnung
des § 176, 1, auf Personen überhaupt (der jetzige Paragraph
ahndet nur an Frauenspersonen mit Gewalt oder Drohung er-
zwungene unzüchtige Handlungen) gewiss genügen. Einen solchen
Paragraphen hat der Code penal francais. Eventuell Hesse sich
daran denken, überdies in § 176, 3, das Alter (14 Jahre), von
welchem an unzüchtige Handlungen, an jugendlichen Personen be-
gangen, straflos bleiben, höher zu setzen. Dies würde auch weib-
lichen Individuen zu gut kommen, die doch im 15. Jahre nur
ausnahmsweise die erforderliche Reife des Geistes und nöthige Selbst-
bestimmungsfähigkeit besitzen, um sich selbst zu schützen. Dadurch
wäre aber auch jugendlichen Individuen männlichen Geschlechts
(etwa bis zum beendigten 16. Jahre) ein wirksamerer Schutz ge-
boten, als durch den § 175, der bekanntlich nur Päderastie (und
nach neuerer Auslegung andere beischlafähnliche Handlungen) im
Auge hat, Onanisirung und andere Unzucht aber straflos lässt.
Gerade mit solchen Unzuchtshandlungen werden aber Perverse der
De lege lata und de lege ferenda. 391
Jugend gefährlich, nur ganz ausnahmsweise durch Päderastie. Von
einem gewissen Alter, etwa dem erreichten 16. Jahre an, wo ein
genügendes Mass sittlicher und intellectueller Reife zu Gebote steht,
hat der Gesetzgeber weder ein Recht, noch eine Pflicht, unsittliche
Handlungen inter mares, die portis clausis und im gegenseitigen
Einverständniss erfolgen, mit Strafe zu bedrohen. Derlei hat Jeder
mit sich selbst abzumachen, denn ein öffentliches oder privates
Interesse wird dabei nicht verletzt.
Was de lege lata bezüglich der angeborenen c. S. gesagt
wurde, dürfte wesentlich auch für die erworbene gültig sein. Die
begleitende Neurose oder Psychose wird diagnostisch und forensisch
bezüglich der Schuldfrage schwer ins Gewicht fallen.
Von hohem psychopathologischem und nach Umständen auch
criminellem Interesse ist die Thatsache, dass, wenn derlei conträr
sexuale Individuen Zurückweisung ihrer Liebe oder gar Untreue
von ihren bisherigen Geliebten erfahren, sie all jener psychischen
Reaktionen in Gestalt von Eifersucht, Rachsucht fähig sind, die
wir bei Liebesverhältnissen zwischen Mann und Weib so häufig
beobachten können und die nicht selten zu schweren Gewaltthaten
von Seiten des in seinen tiefsten Empfindungen Gekränkten am Gegen-
stand seiner bisherigen Liebe oder dem Räuber seines Glückes führen.
Nichts beweist wohl besser das tief Constitutionelle, das ganze
Fühlen, Denken und Streben Beherrschende solcher conträrsexualen
Empfindungen, ihre vollkommene Substituirung für heterosexuale
normale Empfindungs- und Entwicklungsweise. Ein Beispiel dafür,
welcher Handlungen solche verschmähte oder verrathene Liebe fähig
ist, ist der folgende denkwürdige, der neuesten amerikanischen
Gerichtspraxis entlehnte Fall, für dessen Zusammenstellung aus
Zeitungen und Gerichtsverhandlungen ich Herrn Dr. Boeck in
Wien zu besonderem Danke verpflichtet bin.
Beobachtung 190. Ein conträrsexuales Mädchen mordet
die Geliebte aus verschmähter Liebe.
Im Januar 1892 tödtete zu Memphis in Nordamerika ein junges Mädchen,
Alice M., einer der angesehensten Familien der Stadt entsprossen, ihre gleich-
falls den besten Kreisen angehörende Freundin Freda W. auf offener Strasse,
indem sie ihr mit einem Rasirmesser mehrere tiefe Schnitte in den Hals bei-
brachte.
Die Untersuchung ergab Folgendes :
AI. ist von der Ascendenz der Mutter her schwer belastet — ein Onkel
und mehrere Vettern ersten Grades waren geisteskrank — die Mutter selbst,
psychopathisch veranlagt, machte nach der Geburt jedes ihrer Kinder „puer-
392 T)e lege lata und de lege ferenda.
peral. Irresein" durch, am schwersten nach der Geburt des 7. — der An-
geklagten AI. — , später verfiel sie in einen geistigen Schwächezustand mit
Verfolgungsideen.
Ein Bruder der Angeklagten litt eine Zeitlang an „Irresein", angeblich
nach einem Sonnenstich.
Alice M. ist 19 Jahre alt, von mittlerer Grösse, nicht hübsch. Das
Gesicht ist kinderhaft und „fast zu klein für ihre Gestalt", asymmetrisch, die
rechte Gesichtshälfte stärker entwickelt, als die linke, die Nase „von auffallen-
der Unregelmässigkeit", der Blick stechend. AI. M. ist Linkshänderin.
Vom Eintritte der Pubertät ab stellten sich häufig schwere und an-
haltende Kopfschmerzen ein — , einmal in jedem Monat litt sie an Nasenbluten,
häufig, und auch noch in der letzteren Zeit, an Anfällen von allgemeinem Zittern
und Schütteltremor. Einmal war damit auch Bewusstseinsverlust verbunden.
AI. war ein nervöses, reizbares Kind, im Wachsthum hinter ihrem Alter
zurück. Sie hatte niemals Freude an Kinder- und zumal an Mädchenspielen.
Im Alter von 4 — 5 Jahren machte es ihr viel Vergnügen, Katzen zu schinden
oder an einem Bein aufzuhängen.
Ihren jüngeren Bruder und seine Spiele zog sie den Schwestern vor —
sie wetteiferte mit ihm im Spiel mit Peitschen von Kreiseln, base-ball and
foot-ball, dann im Scheibenschiessen und allerhand tollen Streichen. Klettern
war eine Lieblingsübung von ihr, in der sie grosse Gewandtheit besass. Mit
besonderer Vorliebe trieb sie sich bei den Maulthieren im Stalle herum. In
ihrem 6. oder 7. Jahre, da ihr Vater ein Pferd kaufte, liebte sie es, dieses zu
füttern und zu warten und ungesattelt in Knabenweise auf den Anger zu
reiten. Auch später befasste sie sich damit, das Pferd zu putzen, ihm die Hufe
zu waschen, sie führte es an der Halfter über die Strasse, sie schirrte es an,
spannte es ein, sie verstand sich auf Bespannung sowie darauf, Fehler an der-
selben zu verbessern.
In der Schule kommt sie nur langsam und mangelhaft fort, ist unfähig
zu anhaltender Beschäftigung mit einer Sache, fasst und behält schwer. —
Unterricht in Musik und Zeichnen schlägt gänzlich fehl, zu weiblichen Hand-
arbeiten ist sie nicht zu bringen. — An Leetüre hat sie auch später keinen
Geschmack, sie liest weder Bücher noch Zeitungen. Sie ist eigensinnig und
launenhaft, wird von ihren Lehrern und von Bekannten für nicht normal ge-
halten. Sie gibt sich als Kind nicht mit Knaben ab, hat keine Gespielen unter
diesen, hat später kein Interesse an jungen Männern, keine Courmacher. Sie
benimmt sich gegen junge Männer stets gleichgültig, manchmal schroff und
gilt bei diesen als „verrückt".
Zu Freda W. dagegen, einem Mädchen gleichen Alters, Tochter einer
befreundeten Familie, fühlte sie eine aussergewöhnliche Zuneigung „so lange
sie denken kann". Fr. war mädchenhaft zart und gefühlvoll — die Neigung
bestand auf beiden Seiten, viel heftiger jedoch auf Seiten Al.'s; sie steigerte
sich mit den Jahren mehr und mehr, bis zur Leidenschaft. Ein Jahr vor der
Katastrophe übersiedelte die Familie W. nach einer anderen Stadt — AI. blieb
in tiefer Trauer zurück — eine zärtliche Liebescorrespondenz entwickelte sich.
Zweimal kommt AI. zu Besuch zu Fr.'s Familie — die beiden Mädchen
verkehren dabei mit einander, wie die Zeugen versichern, „widerlich zärtlich".
Man sieht sie stundenlang in einer Hängematte liegen, sich an einander pressend
De lege lata und de lege ferenda. 393
und küssend — „es war ein Gedrücke und ein Geküsse zwischen beiden
Mädchen, dass es Einem zum Ekel wurde". — AI. schämt sich, dergleichen
in der Oeffentlichkeit zu thun, Fr. tadelt sie dafür.
Während eines Gegenbesuchs Fr.'s macht AI. den Versuch, diese zu
tödten — sie will ihr im Schlaf Laudanum in den Mund giessen — der Ver-
such scheiterte, da Fr. erwachte.
AI. nimmt dann vor Fr. das Gift selbst und liegt lange schwer krank
darnieder. Das Motiv des Mord- und des Selbstmord- Versuches war aber dieses:
Fr. hatte Interesse für 2 junge Männer gezeigt, AI. erklärte, Fr.'s Liebe nicht
entbehren zu können, dann wieder „sie habe sich tödten wollen, um sich von
ihren Qualen zu erlösen und Fr. frei zu machen". Nach der Genesung Al.'s
nimmt die Correspondenz , von Liebesgluth mehr denn je erfüllt, ihren
Fortgang.
Bald darauf beginnt AI. der Geliebten den Vorschlag zur Ehe zu ent-
wickeln. Sie sendet ihr einen Verlobungsring — sie droht mit Mord im Falle
des Wortbruchs. Sie sollten einen falschen Namen annehmen, zusammen nach
St. Louis entfliehen. — AI. wollte Männerkleider anziehen und auf Arbeit für
sie Beide ausgehen; — sie wollte sich auch, wenn Fr. darauf bestände, einen
Schnurrbart wachsen lassen, den sie sich durch Rasiren zu erzeugen hoffte.
Unmittelbar vor der Ausführung der Flucht Fr.'s wird die Sache ent-
deckt ; die Flucht wird vereitelt, man schickt den „Verlobungsring" und andere
Liebeszeichen an Al.'s Mutter und verbietet jeden weiteren Umgang der beiden
Mädchen.
AI. ist völlig gebrochen. Sie wird schlaflos, nimmt nur widerwillig
spärliche Nahrung, ist antheillos, tief zerstreut (sie setzt auf Haushaltungs-
rechnungen statt ihres Namens den der Geliebten). Den Ring und die übrigen
Liebeszeichen, darunter einen Fingerhut Fr.'s, den sie mit Blut von dieser ge-
füllt hatte, verbirgt sie in einem Winkel der Küche, bringt dort oft Stunden
mit deren Betrachtung zu, bald in Lachen, bald in Weinen ausbrechend.
Sie magert ab, das Gesicht nimmt eine ängstliche Miene an, die Augen
bekommen einen „eigenthümlich unheimlichen Glanz". Als ihr zu dieser Zeit
der bevorstehende Besuch Fr.'s in M. zur Kenntniss kommt, fasst sie den Vor-
satz, Fr. zu tödten, wenn sie sie nicht besitzen kann. Sie bringt ein
Rasinnesser ihres Vaters an sich und bewahrt es sorgfältig auf.
Mit dem Verehrer Fr.'s knüpft sie, Interesse für ihn heuchelnd, eine
Correspondenz an, um sich in seine Beziehungen zu Fr. Einblick zu verschaffen
und sich über deren weitere Entwicklung in Kenntniss zu erhalten.
Während des Aufenthaltes Fr.'s in M. scheitern alle ihre Versuche einer
Annäherung oder eines schriftlichen Verkehrs. Sie passt Fr. auf der Strasse
ab, will einmal bereits den Ueberfall ausführen, wird aber durch einen Zufall
abgehalten. Erst am Tage der Abreise Fr.'s gelingt es ihr, an Fr. auf dem
Wege zum Dampfboot heranzukommen.
Tief verletzt, dass Fr. auf dem ganzen Wege, den sie in ihrem Wägelchen
neben ihr her fährt, nur einen Augenvvink, aber kein Wort für sie hat, springt
sie endlich heraus, auf Fr. zu und bringt ihr mit dem Rasirmesser einen
Schnitt bei. Von Fr.'s Schwester geschlagen und beschimpft, geräth sie in
besinnungslose Wuth und schneidet blindlings Fr.'s Hals mit mächtigen tiefen
Schnitten durch, deren einer fast von einem Ohr bis zum anderen reicht. —
394 Gezüchtete, nicht krankhafte Päderastie.
Während Alle sich um Fr. bemühen, jagt AI. in ihrem Wagen im Galopp davon
und kreuz und quer durch die ganze Stadt nach Hause. — Der Mutter erzählt
sie sofort, was sie gethan. Für das Entsetzliche ihrer Handlung hat sie keinen
Sinn; Tadel, Hinweis auf die Folgen für sie lässt sie kalt und unbewegt;
nur als sie von dem Tode und dem Begräbniss Fr.'s hört und sich des Ver-
lustes der Geliebten bewusst wird, bricht sie in Thränen und leidenschaftlichen
Jammer aus, küsst alle Bildnisse, die sie von Fr. besitzt, spricht als ob Fr.
noch leben würde.
Auch während der Gerichtsverhandlung ist sie auffällig durch ihre Gleich-
gültigkeit für ihre tief bekümmerten, gebeugten Angehörigen, ihre Stumpfheit
gegenüber allen ethischen Beziehungen der That.
Nur Momente, die ihre leidenschaftliche Liebe zu Fr. oder ihre Eifer-
sucht beleben, bringen sie in Bewegung und in masslosen Affect. Fr. „hat
ihr die Treue gebrochen", sie „hat sie getödtet, weil sie sie
geliebt hat". — Ihre intellectuelle Entwicklung wird von allen Experten
als die eines 14- oder 13jährigen Mädchens geschildert. Dass ihrer „Verbin-
dung" mit Fr. Kinder nicht hätten entspriessen können, wird von ihr ver-
standen — dass ihre „Ehe" ein Unding gewesen wäre, will sie jedoch nicht
zugeben. Supposition sexuellen (etwa masturbatorischen) Verkehrs mit Fr.
lehnt sie ab. Hierüber, wie über ihre Vita sexualis peracta wird überhaupt
nichts bekannt; auch eine gynäkologische Exploration ist nicht vorgenommen
worden.
Der Process endete mit dem Verdict auf Geisteskrankheit. (The Mem-
phis medical monthly 1892.)
Die gezüchtete, nicht krankhafte Päderastie J).
Sie stellt eines der entsetzlichsten Blätter in der Geschichte
menschlicher Ausschweifungen dar.
Die Motive, die einen sexuell ursprünglich normal fühlenden,
geistig gesunden Mann zur Päderastie gelangen lassen, können ver-
schiedenartig sein. Temporär kommt sie vor als Mittel der sexuellen
Befriedigung faute de mieux — gleichwie in seltenen Fällen Bestia-
lität — bei erzwungener Abstinenz vom normalen Geschlechts-
genuss 2). Derlei kommt vor auf Schiffen mit langer Fahrzeit , in
*) Interessante histor. Notizen s. K r a u s s , Psychol. des Verbrechens
p. 174; Tardieu, Attentats; Maschka, Hdb. III, p. 174. Das in Rede
stehende Laster scheint aus Asien über Kreta nach Griechenland gekommen
und in der Zeit des klassischen Hellas allgemein verbreitet gewesen zu sein.
Von da kam es nach Rom, wo es üppig gedieh. In Persien, China (wo es
sogar tolerirt ist) ist es sehr verbreitet, aber auch in Europa (vgl. Tardieu,
Tarnowsky U.A.).
*) Dass sexueller Verkehr mit dem eigenen Geschlecht auch bei zur
Gezüchtete, nicht krankhafte Päderastie. 395
Gefängnissen, Bagno's u. s. w. Höchst wahrscheinlich befinden sich
unter der betr. Gesellschaft einzelne Menschen mit tiefer Moral und
mächtiger Sinnlichkeit, oder auch wirkliche Urninge, die zu Ver-
führern der Anderen werden. Wollust, Imitationsdrang, Habsucht
tragen das Ihrige bei.
Bezeichnend für die Stärke des sexuellen Triebes bleibt es
immerhin, dass solche Triebfedern genügen, um die Scheu vor dem
widernatürlichen Akt überwinden zu lassen.
Eine andere Kategorie von Päderasten stellen alte Wollüst-
linge dar, die in normalem Geschlechtsgenuss übersättigt sind, darin
ein Mittel finden, ihre Wollust aufzukitzeln , indem der Akt einen
neuartigen Reiz darstellt. Damit helfen sie temporär ihrer psychi-
schen und somatischen, tief gesunkenen Potenz auf. Die neuartige
geschlechtliche Situation macht sie sozusagen relativ potent und
ermöglicht Genüsse, die ihnen der sexuelle Umgang mit dem Weib
nicht mehr zu bieten vermag. Mit der Zeit erlahmt auch die
Potenz für den päderastischen Akt. Dann kann der Betreffende zu
passiver Päderastie kommen, als einem Reizmittel für die tem-
poräre Ermöglichung der activen, gleichwie gelegentlich zu Flagel-
lation, Zuschauen bei obscönen Scenen (Maschka's Fall von Thier-
schändung!) gegriffen wird.
Den Schluss der sexuellen Thätigkeit derartig sittlich ver-
kommener Existenzen bilden Unzucht aller Art mit Kindern,
Cunnilingus, Fellare und andere Scheusslichkeiten.
Diese Sorte von Päderasten ist die gemeingefährlichste, da sie
zunächst und zumeist Knaben nachstellt und sie an Leib und
Seele verdirbt.
Schrecklich sind in dieser Hinsicht die Erfahrungen , welche Tar-
nowsky (op. cit. p. 53 u. ff.) in der Petersburger Gesellschaft gesammelt hat.
Der Schauplatz dieser Brutstätten gezüchteter Päderastie sind Institute. Alte
Wollüstlinge und Urninge spielen die Rolle der Verführer. Dem Verführten
fällt es anfangs schwer, den eklen Akt zu vollbringen. Er nimmt zunächst
die Phantasie zu Hilfe , indem er sich das Bild eines Weibes vorstellt. All-
mählig gewöhnt er sich an die Scheusslichkeit. Schliesslich wird er, gleich-
wie der durch Masturbation sexuell Verdorbene, relativ impotent dem Weib
gegenüber und lüstern genug, um an dem perversen Akt Gefallen zu finden.
Unter Umständen wird der Betreffende zum verkäuflichen Kyneden.
Solche Existenzen sind, wie Tardieu's, Hofmann's, Liman's und Taylor' s
Abstinenz genöthigten Thieren vorkommt, geht aus Zusammenstellungen von
Lombroso (Der Verbrecher, übers, v. Fränkel, p. 20 u. ff.) hervor.
396 Gezüchtete, nicht krankhafte Päderastie.
Erfahrungen lehren, nicht selten in Grossstädten. Aus zahlreichen Mitthei-
lungen, die mir von Urningen zugingen, geht auch hervor, dass gewerbsmässige
Prostitution und förmliche Prostitutionshäuser für mannmännliche Liebe da-
selbst bestthen. Bemerkenswerth sind die Coquetteriekünste , welche solche
■männliche Meretrices in Form von Putz, Parfüms, Kleidung mit weiblichem
Zuschnitt u. s. w. anwenden, um Päderasten und Urninge anzulocken. Diese
absichtliche Nachäffung weiblicher Eigenthümlichkeiten findet sich übrigens
spontan und unbewusst bei angeborenen und manchen erworbenen Fällen von
(krankhafter) conträrer Sexualempfindung.
Interessante, für den Psychologen und namentlich den Polizei-
beamten werthvolle Aufschlüsse über das sociale Leben und Treiben
der Päderasten bilden die folgenden Zeilen.
Coffignon, La corruption ä Paris, p. 327, theilt die activen Päderasten
ein in amateurs, entreteneurs und souteneurs.
Die amateurs („rivettes") sind debauchirte, jedenfalls aber vielfach an-
geboren conträrsexuale Leute von Stand und Vermögen, die in der Befriedi-
gung ihrer homosexualen Gelüste sich hüten müssen, entdeckt zu werden. Sie
gehen zu diesem Zweck in Lupanare, Maisons de passe oder Privatwohnungen
weiblicher Prostituirter , die mit den männlichen auf gutem Fuss zu stehen
pflegen. So entgehen sie dem Chantage.
Einzelne dieser amateurs sind kühn genug, an öffentlichem Ort ihren
abscheulichen Gelüsten zu fröhnen. Sie riskiren dabei Verhaftung, weniger
leicht (in der grossen Stadt) Chantage. Die Gefahr soll ihren heimlichen
Genuss erhöhen.
Die entreteneurs sind alte Sünder, die es nicht lassen können, selbst
auf die Gefahr hin, in die Hände eines Chanteurs zu fallen, sich eine (männ-
liche) Maitresse zu halten.
Die souteneurs sind bestrafte Päderasten, welche sich ihren Jesus"
halten, ihn auch ausschicken, um Kunden anzulocken („faire chanter les
rivettes") und womöglich dann im richtigen Moment erscheinen, um das Opfer
zu rupfen.
Sie leben nicht selten in Banden zusammen, die einzelnen Mitglieder
je nach ihren activen und passiven Gelüsten, als Mann oder Weib. Bei solchen
Banden gibt es förmliche Hochzeiten, Trauungen, Bankett und Geleiten der
Neuvermählten in ihre Gemächer.
Diese souteneurs ziehen sich ihre Jesus heran.
Die passiven Päderasten sind „petits Jesus", „Jesus" oder „Tanten".
Die petits Jesus sind verlorene verdorbene Kinder, welche der Zufall in
die Hände eines activen Päderasten führt, der sie verführt und ihnen dann
ihre scheussliche Erwerbsbahn eröffnet, sei es als entretenus, sei es als männ-
liche Strassenhetären mit oder ohne souteneur.
In der Lehre Solcher, welche diese Kinder in der Kunst weibischer
Kleidung und Haltung unterrichten, werden die geriebensten und gesuchtesten
petits Jesus herangebildet.
Allmählig suchen sich diese dann vom Lehrer und Exploiteur zu eman-
Gezüchtete, nicht krankhafte Päderastie. 397
cipiren, um femme entretenue zu werden, nicht selten sogar durch anonyme
Denunciation des souteneur bei der Polizei.
Des souteneur und des petit Jesus Sorge ist, dass dieser letztere durch
allerhand Toilettenkünste möglichst lange jünglinghaft erscheine.
Die äusserste mögliche Grenze dürfte das 25. Lebensjahr sein. Dann
wird jener ein Jesus und femme entretenue, wobei er meist von mehreren zu-
gleich ausgehalten wird. Die Jesus zerfallen in die Kategorien der „filles
galantes", d. h. solcher, die wieder in den Besitz eines souteneur gerathen
sind, ferner der „pierreuses" (gewöhnliche coureurs des rues gleich ihren weib-
lichen Kollegen) und der „domestiques".
Diese verdingen sich zu activen Päderasten, um ihren Lüsten zu fröhnen
oder auch um ihnen petits Jesus zuzubringen.
Eine Untergruppe dieser domestiques bilden solche, die als femme de
chambre petits Jesus ihre Dienste widmen. Ein Hauptziel dieser domestiques
ist es, in ihrer Stellung sich compromittirendes Material zu verschaffen, mit
Hilfe dessen sie später einmal Chantage treiben und sich durch solche Er-
pressung auf ihre alten Tage eine gesicherte Existenz schaffen können.
Die scheusslichste Kategorie unter den passiven Päderasten sind wohl
die „Tantes", d. h. der souteneur irgend einer Prostituirten, der, eine sexuell
normale Existenz, aber ein moralisches Ungeheuer, Päderastie (passiv) nur aus
Gewinnsucht oder zu Chantagezwecken treibt.
Die reichen amateurs haben ihre Reunions, Gesellschaftslokale, wo die
passiven in weiblicher Kleidung erscheinen, scheussliche Orgien gefeiert werden.
Die Kellner, Musikanten u. s. w. bei solchen Festen sind lauter Päderasten.
Die filles galantes wagen es nicht, ausser im Carneval, sich in Weibertoilette
auf der Strasse zu zeigen, aber sie wissen ihrem Exterieur durch etwas weib-
lichen Zuschnitt der Kleidung u. s. w. ein ihr Schandgewerbe andeutendes
Etwas zu verleihen.
Sie locken an durch Gesten, Handgreiflichkeiten u. s. w. und führen
ihre Eroberungen in Hotels, Bäder oder Bordelle.
Was Verfasser über Chantage sagt, ist allgemein bekannt. Es gibt Fälle,
wo sich Päderasten ihr ganzes Vermögen erpressen Hessen.
Die folgende Notiz aus einer Berliner (National-?) Zeitung
vom Februar 1884, welche mir durch einen Zufall unter die Hand
kam, scheint geeignet, das Leben und Treiben der Päderasten und
der Urninge zu kennzeichnen.
„Der Ball der Weiberfeinde. Fast alle socialen Elemente Berlins
haben ihre geselligen Vereinigungen : die Dicken, die Kahlköpfigen, die Jung-
gesellen, die Wittwer — warum nicht auch die Weiberfeinde? Diese psycho-
logisch merkwürdige und gesellschaftlich nicht allzu erbauliche Menschen-
species hatte dieser Tage einen Ball. „Grosser Wiener Maskenball" — so
lautete die Ansage: bei der Billetvertheilung bezw. dem Billetverkauf wird
mit grosser Rigorosität verfahren , die Herrschaften wollen unter sich sein.
Ihr Rendez-vous ist ein bekanntes grösseres Tanzlokal. Wir betreten den Saal
gegen Mitternacht. Nach den Klängen eines gutbesetzten Orchesters wird flott
398 Gezüchtete, nicht krankhafte Päderastie.
getanzt. Der starke Tabaksqualm, der die Gaslustres verschleiert, lässt die
Details des wogenden Treibens nicht sofort hervortreten. Erst in der Tanz-
pause können wir nähere Umschau halten. Die Masken sind bei Weitem in
der Mehrzahl; schwarzer Frack und Ballrobe erscheinen nur vereinzelt.
Doch, was ist das? Die Dame, die eben in rosa Tarlatan an uns vor-
überrauscht, hat eine glimmende Cigarre im Mundwinkel und pafft wie ein
Dragoner. Und ein blondes, nur leicht „ weggeschminktes" Bärtchen trägt sie
auch. Und jetzt spricht sie mit einem starkdekolletirten „ Engel" in Tricots,
der mit auf dem Rücken verschränkten nackten Armen dasteht und gleich-
falls raucht. Das sind zwei Männerstimmen und die Unterhaltung ist gleich-
falls stark männlich; sie dreht sich um den „verfl Tobak, der keine
Luft hat". Also zwei Männer in Damenkleidem.
Ein landesüblicher Clown steht dort an einer Säule im zärtlichen Ge-
spräch mit einer Balleteuse und hat seinen Arm um ihre tadellose Taille ge-
schlungen. Sie hat einen blonden Tituskopf, scharfgeschnittenes Profil und
anscheinend üppige Formen. Die blitzenden Ohrgehänge, das Collier mit dem
Medaillon um den Hals, die vollen runden Schultern und Arme lassen einen
Zweifel an ihrer „ Echtheit" nicht aufkommen, bis sie mit einer plötzlichen
Wendung von dem sie umfangenden Arme sich losmacht und gähnend sich
abwendet mit dem im tiefsten Bass geleisteten Stossseufzer : „Emil, du bist
heute zu langweilig!" Der Uneingeweihte traut seinen Augen kaum; auch
die Balleteuse ist männlichen Geschlechts!
Misstrauisch mustern wir weiter. Wir vermuthen fast, hier werde ver-
kehrte Welt gespielt; denn hier geht oder vielmehr trippelt ein Mann —
nein, entschieden kein Mann, obgleich er ein sorgfältig gepflegtes Schnurr-
bärtchen trägt. Der wohlfrisirte Lockenkopf, das gepuderte und geschminkte
Gesicht mit den stark „nachgetuschten" Augenbrauen, die goldenen Ohr-
gehänge, das von der linken Schulter nach der Brust zu verlaufende Vor-
steckbouquet von lebenden Blumen, das den eleganten schwarzen Leibrock
ziert, die goldenen Armbänder an den Handgelenken und der zierliche Fächer
in der weissbeganteten Hand — das sind doch keine Attribute des Mannes.
Und wie coquett er den Fächer handhabt, wie er tänzelt und sich dreht, wie
er trippelt und lispelt! Und doch! Und doch hat die grundgütige Natur diese
Puppe als Mann geschaffen. Er ist Verkäufer in einem hiesigen grossen Con-
fectionsgeschäft, und die Balleteuse von vorhin ist sein „Kollege".
Am Ecktischchen dort scheint grosser Cercle abgehalten zu werden.
Mehrere ältere Herren drängen sich um eine Gruppe stark decolletirter Damen,
die beim Glase Wein sitzen und — der lauten Heiterkeit nach — nicht allzu
zarte Scherze machen. Wer sind diese drei Damen? „Damen" ! lächelt mein
kundiger Begleiter. Nun wohl: die rechts mit den braunen Haaren und dem
halblangen Phantasiecostüme ist die „Butterrieke", ihres Zeichens ein Friseur;
die zweite, blonde, im Chansonnettencostüme und mit dem Perlencollier ist
hier unter dem Namen „Miss Ella aufs Seil" bekannt und ihres Zeichens ein
Damenschneider, — und die Dritte — nun^ das ist die weit und breit be-
rühmte „Lotte".
.... Das kann aber doch unmöglich ein Mann sein? Diese Taille,
diese Büste, diese klassischen Arme, das ganze Air und Wesen ist doch aus-
gesprochen weiblich!
Gezüchtete, nicht krankhafte Päderastie. 399
Ich werde dahin belehrt, dass „Lotte" früher Buchhalter gewesen ist.
Heute ist sie oder vielmehr er allerdings ausschliesslich „ Lotte" , und findet
ein Vergnügen daran, die Männerwelt möglichst lang über sein Geschlecht
zu täuschen. Lotte singt eben einen nicht ganz courfähigen Chanson und
entwickelt dabei eine durch langjährige Schulung erworbene Altstimme, um
die sie manche Sängerin beneiden dürfte. „Lotte" hat auch schon als Damen-
komiker „gearbeitet". Heute hat sich der ehemalige Buchhalter so in die
Damenrolle hineingefunden, dass er auch auf der Strasse fast ausschliesslich
in Damenkleidern erscheint und sich, wie seine Wirthsleute erzählen, sogar
eines gestickten Damen-Nachtnegliges bedient.
Bei genauer Musterung der Anwesenden entdeckte ich zu meiner Ver-
wunderung auch allerhand Bekannte : meinen Schuhmacher, den ich für alles
Andere eher als für einen „Weiberfeind" gehalten; er ist heute „Troubadour"
mit Degen und Federhut, und seine „Leonore" im Brautcostüm pflegt mir im
Cigarrenladen die „Bock" und „Uppmann" vorzulegen. Die „Leonore", welche
in der Pause die Handschuhe abgelegt hat, erkenne ich ganz genau an den
grossen, erfrorenen Händen. Richtig! da ist ja auch mein Shlipslieferant. Er
läuft in einem bedenklichen Costüm als Bacchus umher und ist der Seladon
einer widerwärtig ausstaffirten Diana, die sonst in einem Weissbierlokal als
Kellner fungirt. Was an wirklichen „Damen" auf dem Balle verkehrt, ent-
zieht sich der öffentlichen Schilderung. Jedenfalls verkehren sie nur ganz
unter sich und vermeiden jede Annäherung an die weiberfeindlichen Männer,
während diese wieder konsequent unter sich bleiben und sich amüsiren, die
holde Weiblichkeit aber gänzlich ignoriren.
Diese Thatsachen verdienen die volle Aufmerksamkeit der
Polizeibehörden, welche in die Lage versetzt sein sollten, gesetzlich
ebenso eine Handhabe gegen die männliche Prostitution
zu besitzen, wie sie eine solche gegen die weibliche
haben.
Jedenfalls ist die männliche Prostitution viel gefährlicher für
die Gesellschaft als die weibliche und der grösste Schandfleck in
der Geschichte der Menschheit.
Aus Mittheilungen eines höheren Polizeibeamten in Berlin
ersehe ich, dass die Berliner Polizei die männliche Demimonde der
deutschen Hauptstadt genau kennt und Alles aufbietet, um das
Erpresserthum unter den Päderasten, das vielfach selbst vor dem
Mord nicht zurückschreckt, mit allen Mitteln zu bekämpfen.
Die obigen Thatsachen rechtfertigen den Wunsch, dass der
Gesetzgeber der Zukunft wenigstens aus Utilitätsgründen
auf die Verfolgung der Päderastie verzichte.
Bemerkenswerth in dieser Hinsicht ist, dass der Code francais
sie straflos lässt, so lange sie nicht zugleich ein outrage public ä
la pudeur bildet. Wohl aus rechtspolitischen Gründen übergeht
jni) Fälschlich imputirte Päderastie.
auch der neue italienische Strafkodex das Delikt der widernatür-
lichen Unzucht mit Schweigen, gleichwie die Gesetzgebung Hollands
und, soweit ich Kenntniss habe, die Belgiens und Spaniens.
Inwieweit gezüchtete Päderasten noch physisch und moralisch
als gesund zu betrachten sind, mag dahingestellt bleiben. An
genitalen Neurosen leiden wohl die meisten. Jedenfalls finden
sich hier fliessende Uebergänge zur erworbenen krank-
haften conträren Sexualempfindung (s. p. 189). Die Zurech-
nungsfähigkeit dieser jedenfalls noch tief unter dem sich prostituiren-
den Weib stehenden Existenzen kann im Allgemeinen nicht bestritten
werden.
Die verschiedenen Kategorien der mannmännlich liebenden In-
dividuen lassen sich bezüglich der Art ihrer Geschlechtsbefriedigung
im Grossen und Ganzen dahin charakterisiren, dass der geborene
Urning nur ausnahmsweise Päderast wird und dazu eventuell
kommt, nachdem er die anderweitigen zwischen männlichen Individuen
möglichen Un Zuchtshandlungen durchgemacht und erschöpft hat.
Passive Päderastie ist ideell und praktisch die ihm adäquate
Art des sexuellen Aktes. Aktive Päderastie übt er allerdings aus
Gefälligkeit. Das Wichtigste ist die angeborene und unwandelbare
Perversion der Geschlechtsempfindung. Anders der gezüchtete
Päderast. Er hat normal geschlechtlich gehandelt oder wenigstens
empfunden, und episodisch oder nebenher verkehrt er mit dem
anderen Geschlecht.
Seine geschlechtliche Perversität ist weder originär noch un-
wandelbar. Er beginnt mit Päderastie und hört eventuell auf mit
anderen, mit Schwäche des Erections- und Ejaculationscentrums ver-
träglichen sexuellen Praktiken. Sein sexuelles Sehnen auf der Höhe
der Leistungsfähigkeit ist nicht passive, sondern aktive Päderastie.
Zu passiver versteht er sich gleichwohl aus Gefälligkeit oder aus
Gewinnsucht in der Rolle der männlichen Hetäre oder als Mittel,
um im Zustande erlöschender Potenz gelegentlich doch die aktive
Päderastie zu Stande zu bringen.
Eine hässliche Erscheinung, der noch hier im Anhang gedacht
werden möge, ist die Paedicatio mulierum1), nach Umständen
selbst uxorum! Wüstlinge vollziehen sie zuweilen aus besonderem
*) Vgl. Tardieu, Attentats p. 198. Martine au, Deutsche med. Ztg.
1882, p. 9. Virchow's Jahrb. 1881. I, p. 533. Coutagne, Lyon medical
Nr. 35. 36.
Fälschlich imputirte Päderastie. 401
Kitzel an feilen Dirnen oder selbst an ihren Ehefrauen. Tardieu
gibt Beispiele, wo Männer neben Coitus ihre Ehefrauen zeitweise
pädicirten ! Zuweilen kann Furcht vor neuerlicher Schwängerung
den Mann zu dieser Handlung bestimmen und das Weib veranlassen,
den Akt zu toleriren!
Beobachtung 191. Imputirte, aber nicht erwiesene Päde-
rastie. Ergebnisse aus den Akten.
Am 30. Mai 1888 wurde Dr. ehem. S. in H. durch einen anonymen
Brief bei seinem Schwiegervater beschuldigt, er stehe mit dem 19 Jahre alten
Fleischhauersohne G. in einem unsittlichen Verhältniss. Dr. S. erhielt den Brief,
eilte, empört über dessen Inhalt, zu seinem Vorgesetzten, welcher versprach,
discret in dieser Angelegenheit vorgehen und sich bei der Polizei erkundigen
zu wollen, ob und was eventuell über diese Angelegenheit im Publikum ge-
sprochen werde.
Am Morgen des 31. Mai verhaftete die Polizei den in der Wohnung
des Dr. S. an Gonorrhöe und Orchitis krankliegenden G. Dr. S. bemühte sich
beim Staatsanwalt um Entlassung des G. und bot Caution an, was aber ab-
gelehnt wurde. In seiner Eingabe an das Landgericht gibt Dr. S. an, dass er
vor 3 Jahren den jungen G. auf der Strasse kennen lernte, ihn dann aus den
Augen verlor, im Herbst 1887 im Laden seines Vaters wieder traf. G. besorgte
vom November 1887 ab dem Dr. S. den Fleischbedarf für dessen Küche, kam
Abends, um die Bestellung entgegenzunehmen, und am folgenden Morgen,
um die Waare zu bringen. Dr. S. wurde so mit G. näher bekannt und all-
mählig befreundet. Als S. erkrankte und bis Mitte Mai 1888 meist auf dem
Krankenlager war, erwies ihm G. so viel Aufmerksamkeiten, dass ihm S. und
dessen Frau ob seines harmlosen, kindlichen, heiteren Wesens herzlich gewogen
wurden. Dr. S. zeigte und erklärte ihm seine Sammlungen von Alterthümern,
und die Beiden verbrachten die Abende gesellig zusammen, wobei auch meist
Frau Dr. S. sich betheiligte. Ausserdem will S. mit G. Versuche über Wurst-
und Geleefabrikation u. s. w. angestellt haben. Ende Februar 1888 erkrankte
G. an Gonorrhöe. Da Dr. S. ihn als Freund schätzte, Liebe zur Kranken-
pflege hatte und mehrere Semester Medicin studirt hatte, nahm er sich des
G. an, gab ihm ein Medikament u. s. w. Da G. noch im Mai krank war
und aus verschiedenen Gründen ein Verlassen des elterlichen Hauses wünschens-
werth war, nahm ihn das Ehepaar S. zur weiteren Pflege in die eigene
Wohnung.
S. weist alle daraus erflossenen Verdächtigungen entrüstet zurück, stützt
sich auf sein ehrenhaftes Vorleben, seine gute Erziehung, auf den Umstand,
dass G. damals mit einer ekelhaften, ansteckenden Krankheit behaftet war
und S. selbst an einer schmerzhaften Krankheit (Nierensteine mit zeitweiser
Kolik) litt.
Gegenüber dieser harmlosen Darstellung des S. müssen aber folgende
gerichtlich constatirte und bei- der ersten Urtheilsschöpfung verwerthete That-
sachen berücksichtigt werden.
Das Verhältniss des S. zu G. hatte sowohl bei Privatpersonen als auch
in Wirthshäusern seiner Anstössigkeit halber Anlass zu Bemerkungen gegeben.
v. Krat'ft-Ebing, Psychopathia sexualis. 9. Aufl. 26
402 Fälschlich imputirte Päderastie.
G. brachte meist die Abende im Familienkreise des S. zu, wurde zuletzt- ganz
heimisch daselbst. Die Beiden machten gemeinschaftliche Spaziergänge. Auf
einem solchen äusserte sich einmal S. zu G. , er sei ein hübscher Junge, er
habe ihn lieb. Damals war auch von geschlechtlichen Ausschweifungen, u. a.
von Päderastie die Rede. S. will dieses Thema nur berührt haben, um den G.
davor zu warnen. Bezüglich des häuslichen Verkehrs ist erwiesen, dass S.,
auf dem Sopha sitzend, den G. bisweilen um den Hal& nahm und küsste.
Dies geschah sowohl in Gegenwart der Frau des S. als auch des Dienst-
mädchens. Als G. an Gonorrhöe krank war, unterrichtete ihn S. in der An-
wendung der Einspritzungen und nahm dabei dessen membrum in die Hand. G.
gibt an, dass S. auf seine Frage, warum er ihn so lieb habe, erwiderte: „Ich
weiss es selbst nicht." Wenn G. einige Tage ausblieb, beklagte sich S. mit
Tbränen in den Augen, wenn er wiederkam, darüber. Auch theilte ihm S.
mit, seine Ehe sei keine glückliche, und bat G. unter Thränen, er möge ihn
nicht verlassen, er müsse ihm Ersatz für seine Frau bieten.
Aus all dem folgerte die Anklage mit Berechtigung, dass das Verhält-
niss zwischen den beiden Angeklagten eine geschlechtliche Richtung hatte.
Dass Alles öffentlich und von Jedermann erkennbar geschah, spricht nach der
Anklage nicht für die Harmlosigkeit des Verhältnisses, sondern vielmehr für
die Höhe der Leidenschaft des S. Zugegeben wird das makellose Vorleben
des Angeklagten, sein ehrenhaftes Verhalten und sein weiches Gemüth. Wahr-
scheinlich gemacht wird das nicht glückliche eheliche Verhältniss des S. und
dass er eine sinnlich angelegte Natur war.
G. wurde im Laufe der Untersuchung wiederholt gerichtsärztlich ex-
plorirt. Er ist von kaum mittlerer Grösse, blasser Gesichtsfarbe, kräftigem
Körperbau. Penis und Hoden sind sehr kräftig entwickelt.
Uebereinstimmend wurde gefunden, dass der After durch Faltenlosigkeit
in seiner Umgebung, Erschlaffung des Schliessmuskels krankhaft verändert sei
und dass diese Veränderungen einen Wahrscheinlichkeitsschluss auf passive
Päderastie gestatten.
Auf diese Thatsachen gründete sich die Urtheilsschöpfung. Sie erkannte
an, dass das zwischen den Angeklagten bestandene Verhältniss nicht mit Noth-
wendigkeit auf widernatürliche Unzucht hinweise, ebensowenig der an G. fest-
gestellte körperliche Befund für sich allein diesen Beweis liefere.
Aus der Verbindung dieser beiden Momente gewann jedoch der Gerichts-
hof die Ueberzeugung von der Schuld der beiden Angeklagten und erachtete
für erwiesen: „dass der abnorme Zustand am After des G. durch das längere
Zeit hindurch fortgesetzte Einführen des Gliedes des Angeklagten S. in den-
selben hervorgerufen wurde, und dass sich G. willig dazu hergab, die Vor-
nahme dieser unzüchtigen Handlungen an sich duldete."
Damit erschien der Thatbestand des § 175 R.-St.-G.-B. festgestellt. Bei
Bemessung der Strafe wurde der Bildungsgrad des S., sowie dass er offenbar
der Verführer des G. war, bei letzterem diese Rücksicht, sowie sein jugend-
liches Alter, bei Beiden endlich ihre bisherige Unbescholtenheit in Betracht
gezogen und demgemäss Dr. S. zu Gefängnissstrafe von 8 Monaten, G. zu einer
solchen von 4 Monaten verurtheilt.
Die Verurtheilten legten Revision beim Reichsgericht in Leipzig ein und
bereiteten sich vor, bei eventueller Verwerfung ihres Gesuches hm Revision
Fälschlich imputirte Päderastie. 403
Materialien zu gewinnen, um die Wiederaufnahme des Verfahrens herbeiführen
zu können.
Sie unterwarfen sich einer Untersuchung und Beobachtung durch her-
vorragende Fachmänner. Diese erklärten, dass nach den Befunden am After
des G. keinerlei Anhaltspunkte für stattgehabte passive Päderastie vorhan-
den seien.
Da es den Betheiligten von Werth schien, auch die psychologische Seite
des Falles, auf die im Process nicht eingegangen worden war, klar zu stellen,
wurde der Verfasser mit der Untersuchung und Beobachtung des Dr. S. und
des G. betraut.
Ergebnisse der persönlichen Exploration vom 11. bis
13. December 1888 in Graz.
Dr. S. , 37 Jahre alt , seit 2 Jahren verheirathet , kinderlos , gewesener
Vorstand des städtischen Laboratoriums in H., stammt von einem Vater, der
infolge grosser Thätigkeit nervös gewesen sein soll, mit 57 Jahren einen Schlag-
anfall erlitt und mit 67 Jahren an einer erneuten Apoplexie zu Grunde ging.
Die Mutter lebt, wird als eine rüstige, aber seit Jahren nervenleidende Per-
sönlichkeit geschildert. Deren Mutter starb ziemlich bei Jahren, angeblich
an einer Geschwulst des Kleingehirns. Ein Bruder des Vaters der Mutter soll
Trinker gewesen sein. Des Vaters Vater starb früh an Gehirnerweichung.
Dr. S. hat 2 Brüder, die sich völliger Gesundheit erfreuen.
Er selbst erklärt, von nervösem Temperament, kräftiger Constitution
gewesen zu sein. Nach einem acuten Gelenkrheumatismus, den er im 14. Jahre
durchmachte, will er einige Monate an grosser Nervosität gelitten haben. In
der Folge litt er oft an rheumatischen Beschwerden, sowie Herzklopfen und
Kurzathmigkeit. Diese Beschwerden verloren sich allmählig unter dem Ge-
brauch von Seebädern. Vor 7 Jahren zog er sich eine Gonorrhöe zu. Diese
Tripperkrankheit wurde chronisch und verursachte längere Zeit Blasen-
beschwerden.
1887 erlitt Dr. S. den ersten Anfall von Nierensteinkolik. Solche Anfälle
wiederholten sich im Winter 1887 — 1888 mehrmals, bis am 16. Mai 1888 ein
ziemlich grosser Nierenstein abging. Seither war sein Befinden ein ziemlich
befriedigendes. So lange er steinleidend war, will er beim Coitus, im Moment
der Samenergiessung, einen heftigen Schmerz in der Harnröhre verspürt haben,
desgleichen wenn er urinirte.
Bezüglich seines Curriculum vitae gibt S. an, er habe bis zum 14. Jahre
das Gymnasium besucht, von da an, infolge seiner schweren Erkrankung, pri-
vatim weiter studirt. Darauf sei er 4 Jahre in einem Droguengeschäft ge-
wesen, habe dann 6 Semester medicinischen Studien auf der Universität ob-
gelegen, im 1870er Krieg als freiwilliger Krankenpfleger Dienste geleistet. Da
er kein Abiturientenzeugniss besass, habe er das Studium der Medicin auf-
gegeben, den Dr. philos. erworben, dann in K. an der Mineraliensammlung,
später in H. als Assistent des mineralogischen Instituts gedient, dann Special-
studien im Gebiete der Chemie der Nahrungsmittel gemacht und vor 5 Jahren
die Stelle eines Vorstandes des städtischen Laboratoriums übernommen.
Explorat macht alle diese Angaben in prompter präciser Weise, besinnt
sich nicht auf seine Antworten, so dass man immer mehr den Eindruck ge-
404 Fälschlich imputirte Päderastie.
winnt, dass man es mit einem wahrheitsliebenden und die Wahrheit sprechen-
den Menschen zu thun habe, um so mehr als in den Explorationen der folgen-
den Tage die Angaben durchaus identisch lauten. Hinsichtlich seiner Vita
sexualis gibt Dr. S. in bescheidener, decenter und offener Weise an, dass er
vom 11. Jahre an sich über den Unterschied der Geschlechter klar zu werden
begann, bis zum 14. Jahre einige Zeit der Onanie ergeben war, mit 18 Jahren
zum ersten Mal und in der Folge massig coitirte. Sein sinnliches Verlangen
sei nie sehr gross gewesen, der sexuelle Akt bis auf die letzte Zeit nach jeder
Richtung normal, mit befriedigendem Wollustgefühl und Potenz. Seit seiner
vor 2 Jahren geschlossenen Ehe habe er ausschliesslich mit seiner Ehefrau, die
er aus Neigung geheirathet und noch jetzt herzlich liebe, coitirt, mindestens
mehrmals in der Woche.
Frau Dr. S. , deren Einvernehmung dem Gutachter möglich war, be-
stätigte vollinhaltlich diese Angaben.
Alle Kreuz- und Querfragen im Sinne einer perversen Geschlechts-
empfindung dem Manne gegenüber beantwortete Dr. S. in den wiederholten
Explorationen negativ, vollkommen übereinstimmend und ohne je auf die Ant-
wort sich zu besinnen. Selbst als man ihn in eine Falle zu locken versucht,
indem man ihm vorstellt, dass der Nachweis einer perversen Geschlechts-
empfindung für die Zwecke der Begutachtung höchst förderlich wäre, bleibt
er bei seinen Angaben. Man gewinnt den werthvollen Eindruck, dass S. von
den Thatsachen der Wissenschaft über mannmännliche Liebe nicht das Min-
deste weiss. So erfährt man, dass seine Pollutionsträume nie Männer zum In-
halte hatten, dass ihn nur weibliche Nuditäten interessirten, dass er sehr gerne
auf Bällen mit Damen tanzte u. s. w. Spuren irgendwelcher sexueller Inclina-
tion zum eigenen Geschlecht sind an S. in keiner Weise zu entdecken. Be-
züglich des Verhältnisses zu G. äussert sich Dr. S. genau so, wie er in der
Untersuchung vor dem Richter angegeben hat. Er weiss seine Neigung zu G.
nur dadurch zu erklären, dass er ein nervöser Mensch, ein Gemüths- und Rüh-
rungsmensch sei, sehr empfänglich für freundliches Entgegenkommen. Er habe
sich in seiner Krankheit vereinsamt und verstimmt gefühlt; seine Frau sei
häufig fort im Elternhause gewesen und so sei es vorgekommen, dass er mit
dem gutmüthigen, artigen G. befreundet worden sei. Er habe noch jetzt ein
Faible für ihn, fühle sich in seiner Gesellschaft auffallend ruhig und zufrieden.
Er habe schon 2mal früher solche innige Freundschaften gehabt, so als
er noch Student war, einem Corpsbruder gegenüber, einem Dr. A., den er auch
umarmt und geküsst habe; später einem Baron M. gegenüber. Wenn er
diesen einige Tage nicht sehen konnte, sei er ganz trostlos gewesen bis zum
Weinen.
Eine solche Gemüthsweichheit und Anhänglichkeit habe er auch Thieren
gegenüber. So habe er einen Pudel, der vor einiger Zeit starb, betrauert, wie
ein Familienglied, das Thier oft geküsst. (Bei Erwähnung dieser Erinnerungen
treten Explorat Thränen in die Augen.) Diese Angaben werden vom Bruder
des Exploraten bestätigt, mit dem Bemerken, dass bezüglich der auffallenden
Freundschaft seines Bruders mit A. und M. auch der leiseste Verdacht sexueller
Färbung oder gar Beziehung ausgeschlossen erscheine. Auch das vorsichtigste
und eingehendste Examiniren des Dr. S. ergibt für derartige Vermuthungen
nicht den geringsten Anhaltspunkt.
Fälschlich imputirte Päderastie. 405
Er behauptet auch dem G. gegenüber nie die geringste sinnliche Regung,
geschweige Erection oder gar sinnliches Verlangen gehabt zu haben. Die an
Eifersucht grenzende Zuneigung zu G. motivirt S. einfach mit seinem senti-
mentalen Temperament und mit seiner überschwänglichen Freundschaft. G.
stehe ihm noch jetzt so nahe, wie wenn er sein Sohn wäre.
Bezeichnend ist, dass S. erklärt, wenn G. ihm von seinen galanten Aben-
teuern mit Frauenzimmern erzählte, habe es ihn nur gekränkt, dass G. Gefahr
lief, durch seine Ausschweifungen sich zu schaden, seine Gesundheit zu rui-
niren. Ein Gefühl der eigenen Kränkung habe er dabei nie empfunden. Wenn
er heute ein braves Mädchen für G. wüsste, so möchte er ihm dasselbe herz-
lich gönnen und behufs Eheschliessung Vorschub leisten.
S. will erst im Laufe der gerichtlichen Untersuchung eingesehen haben,
dass er unklug handelte im socialen Verkehr mit G. , indem er sich dadurch
in das Gerede der Leute brachte. Mit der Harmlosigkeit dieses Freundschafts-
verhältnisses erklärt er dessen Oeffentlichkeit.
Bemerkenswerth ist, dass Frau Dr. S. im Verkehr zwischen ihrem Mann
und G. nie etwas Verdächtiges bemerkte, während doch die einfachste Frau
schon ganz instinktiv derlei bemerken würde. Frau S. hat auch an der Auf-
nahme des G. ins S.'sche Haus keinen Anstand genommen. Sie macht in dieser
Hinsicht geltend, dass das Fremdenzimmer, in welchem G. krank lag, im ersten
Stock sich befindet und die Familienwohnung im dritten Stock; dass ferner S.
nie allein mit G., während er im Hause war, verkehrte. Sie erklärt, von der
Unschuld ihres Mannes überzeugt zu sein und ihn nach wiß-^vor zu lieben.
Dr. S. gibt rückhaltlos zu, dass er G. früher oft geküsst und mit ihm
auch über geschlechtliche Verhältnisse gesprochen habe. G. sei nämlich sehr
auf Weiber aus und da habe er ihn aus Freundschaft gewarnt vor geschlecht-
lichen Ausschweifungen, namentlich dann, wenn G., wie dies oft geschah, in-
folge sexueller Debauchen schlecht aussah.
Die Aeusserung, G. sei ein hübscher Mensch, habe er allerdings einmal
gemacht, aber in ganz harmloser Beziehung.
Das Küssen des G. sei aus überschwänglicher Freundschaft erfolgt, wenn
G. ihm gerade eine besondere Aufmerksamkeit oder Freude erwiesen habe.
Niemals habe er dabei irgend eine sexuelle Empfindung verspürt. Auch wenn
er hie und da einmal von G. träumte, sei dies in ganz harmloser Weise ge-
schehen.
Von grossem Werth erschien es dem Verf., auch über die Persönlichkeit
G.'s ein Urtheil gewinnen zu können. Von der gebotenen Gelegenheit wurde
am 12. December d. J. ausgiebiger Gebrauch gemacht.
G. ist ein etwas zart gebauter, dem Alter — 20 Jahre — entsprechend
entwickelter, neuropathisch und sinnlich erscheinender junger Mann. Die Geni-
talien sind normal und kräftig entwickelt. Den Befund am After glaubt der
Verf. übergehen zu dürfen, da er sich nicht berufen fühlt, über jenen ein
Urtheil abzugeben. Bei längerem Verkehr mit G. bekommt man den Eindruck
eines harmlosen, gutmüthigen , nicht hinterlistigen Menschen , der leichtsinnig
aber keineswegs sittlich verdorben ist. Nichts in Kleidung und Benehmen
deutet auf perverse Geschlechtsempfindung. Im Sinne einer männlichen Cour-
tisane kann nicht der leiseste Verdacht sich regen.
G. , in medias res geführt, spricht sich dahin aus, dass S. und er im
406 Fälschlich imputirte Päderastie.
Gefühl ihrer Unschuld die Sache so gesagt hätten, wie sie wirklich war, und
daraus habe man den ganzen Process aufgebauscht.
Anfangs sei ihm die Freundschaft des S. und namentlich das Küssen
selbst auffällig vorgekommen. Später habe er sich überzeugt, dass es blosse
Freundschaft war, und sich darüber nicht mehr gewundert.
G. habe den S. als väterlichen Freund erkannt und, da er ihm so un-
eigennützig entgegenkam, ihn gerne gehabt.
Der Ausdruck „hübscher Junge* sei gefallen, als G. eine Liebschaft hatte
und wegen einer glücklichen Zukunft S. seine Befürchtungen aussprach. Da
habe ihn S. getröstet und gesagt, er habe ja ein angenehmes Aeussere und
werde schon eine Parthie machen.
Einmal habe S. ihm, G. , geklagt, dass seine Frau Neigung zum
Trinken habe, und sei bei dieser Mittheilung in Thränen ausgebrochen. Da
sei G. gerührt über das Unglück seines Freundes gewesen. Bei dieser Ge-
legenheit habe ihn S. geküsst und um seine Freundschaft und häufigen Besuch
gebeten.
S. habe nie spontan das Gespräch auf sexuelle Dinge gebracht. Als ihn
G. einmal fragte, was Päderastie sei, von der G. in England viel gehört haben
will, habe ihm S. dies erklärt.
G. gibt zu, dass er ein sinnlich veranlagter Mensch sei. Mit 12 Jahren
sei er durch Reden der Lehrlinge in das Geschlechtsleben eingeweiht worden.
Er habe nie onanirt, mit 18 Jahren zum erstenmal coitirt, seither fleissig das
Bordell besucht. Nie habe er eine Neigung zum eigenen Geschlecht verspürt,
nie, wenn ikn S. küsste, eine sexuelle Regung empfunden. Er habe immer
mit Genuss und ganz normal coitirt. Seine Traumpollutionen seien immer
von lasciven Bildern, Weiber betreffend, begleitet gewesen. Die Insinuation,
passiver Päderastie ergeben gewesen zu sein, weist er mit Berufung auf
seine Descendenz aus gesunder und anständiger Familie entrüstet zurück.
Bis zum Auftauchen der bezüglichen Gerüchte sei er harmlos und ahnungs-
los gewesen. Die an seinem Anus gefundenen Anomalien versucht er zu er-
klären, wie es in den Akten zu ersehen ist. Automasturbation in ano stellt
er in Abrede.
Bemerkt zu werden verdient, dass Herr J. S. über angebliche mann-
männliche Liebe seines Bruders nicht minder erstaunt gewesen sein will, als
andere seinem Bruder nahestehende Leute. Allerdings habe er auch nicht
begreifen können, was den Bruder an G. fesselte, und dass alle Vorstellungen,
die Dr. S. von seinem Bruder bezüglich des Verhaltens G. gegenüber gemacht
wurden, vergebens waren.
Der Untersuchende hat sich die Mühe genommen, Dr. S. und G. als sie
in Gesellschaft von S.'s Bruder und Frau 'Dr. S. in Graz soupirten, in unauf-
fälliger Weise zu beobachten. Diese Beobachtung ergab nicht das Mindeste
im Sinne einer verbotenen Freundschaft.
Der Gesammteindruck, den mir Dr. S. machte, war der eines nervösen,
sanguinischen, etwas überspannten Individuums, dabei gutmüthig, offenherzig
und vorwaltend Gemüthsmensch.
Dr. S. ist körperlich kräftig, etwas korpulent mit leicht brachycephalem,
symmetrischem Schädel. Die Genitalien sind stark entwickelt, der Penis etwas
bauchig, Vorhaut etwas hypertrophisch.
Fälschlich imputirte Päderastie. 407
Gutachten.
Päderastie ist eine im heutigen Dasein der Menschen leider nicht seltene,
immerhin aber bei den Bevölkerungen Europas ungewöhnliche, perverse, selbst
monströs zu nennende Art der geschlechtlichen Befriedigung. Sie setzt eine
angeborene oder erworbene Perversion des geschlechtlichen Empfindens, zu-
gleich einen originären oder durch krankhafte Einflüsse erworbenen Defekt
sittlicher Gefühle voraus.
Die gerichtlich medicinische Wissenschaft kennt genau die physischen
und psychischen Bedingungen, auf Grund welcher diese Verirrung des Ge-
schlechtslebens vorkommt, und im concreten und namentlich zweifelhaften Fall
erscheint es geboten, nachzuforschen, ob auch diese empirischen, subjectiven
Bedingungen für Päderastie vorhanden sind.
Dabei ist wieder wesentlich zu unterscheiden zwischen aktiver und
passiver Päderastie.
Aktive Päderastie kommt vor:
I. Als nicht krankhafte Erscheinung:
1) Als Mittel der sexuellen Befriedigung bei grossem geschlechtlichen
Bedürfniss und erzwungener Enthaltung von natürlichem Ge-
schlechtsgenuss.
2) Bei alten Wüstlingen, die in normalem Geschlechtsgenuss über-
sättigt und mehr oder weniger impotent geworden, überdies sitt-
lich depravirt, zur Päderastie greifen, um durch diesen neuartigen
Reiz ihre Wollust aufzukitzeln, ihrer psychischen und somatischen
tief gesunkenen Potenz wieder aufzuhelfen.
3) Traditionell bei gewissen Völkern auf tiefer Culturstufe bei un-
entwickelter Gesittung und Moral.
IL Als krankhafte Erscheinung:
1) Auf Grund angeborener conträrer Sexualempfindung, bei Abscheu
vor dem geschlechtlichen Verkehr mit dem Weib, bis zur abso-
luten Unfähigkeit dazu. Wie schon Casper wusste, ist aber hier
Päderastie sehr selten. Der sogenannte Urning befriedigt sich
ara Manne durch passive oder mutuelle Onanie oder beischlafs-
ähnliche Handlungen (z. B. Coitus inter femora) und gelangt zur
Päderastie nur höchst ausnahmsweise aus geschlechtlicher Brunst
oder aus Gefälligkeit bei tiefstehendem oder tiefgesunkenem mora-
lischen Sinn.
2) Auf Grund erworbener krankhafter Sexualempfindung:
a) Durch langjährige Onanie, die endlich impotent dem Weibe
gegenüber machte, bei fortbestehender reger Geschlechtslust.
b) Durch schwere psychische Krankheit (Altersblödsinn, Hirn-
erweichung der Irren etc.), bei welcher eine Verkehrung der
Geschlechtsempfindung sich einstellen kann.
Passive Päderastie kommt vor:
I. Als nicht krankhafte Erscheinung:
1) Bei Individuen aus der Hefe des Volkes, die das Unglück hatten,
von Wollüstlingen im Knabenalter verführt zu werden, deren
408 Fälschlich imputirte Päderastie.
Schmerz und Ekel durch Geld aufgewogen wurde, die sittlich
verkamen und herangewachsen so tief gesunken waren, dass sie
sich in der Rolle männlicher Hetären gefielen.
2) Unter analogen Verhältnissen wie bei I. 1) als Belohnung für
aktiv gestattete Päderastie.
IL Als krankhafte Erscheinung:
1) Bei mit conträrer Sexualempfindung Behafteten, als Gegenleistung
an Männer für erwiesene Liebesdienste, unter Ueberwindung von
Schmerz und Ekel.
2) Bei sich dem Manne gegenüber als Weib fühlenden Urningen
aus Drang und Wollust. Bei solchen Weibmännern besteht Horror
feminae und absolute Unfähigkeit zu sexuellem Verkehr mit dem
Weibe. Charakter und Neigungen sind weibisch.
Dergestalt sind die von der gerichtlichen Medicin und Psychiatrie ge-
sammelten Frfahrungen. Vor dem Forum der medicinischen Wissenschaft be-
darf es des Nachweises, dass ein Mann in eine der obigen Kategorien gehöre,
um glaubhaft zu machen, dass er Päderast sei.
Vergebens forscht man in dem Vorleben und in der Erscheinung des Dr. S.
nach Merkmalen, die ihn in eine der für aktive Päderastie wissenschaftlich
feststehenden Kategorien einreihen Hessen. Er ist weder die zu sexueller
Abstinenz genöthigte, noch die durch Debauchen gegenüber dem Weibe im-
potent gewordene, noch die mannliebend geborene, noch durch Masturbation
dem Weibe entfremdete und durch fortbestehenden Geschlechtsreiz zum Manne
gedrängte, noch die durch schwere geistige Erkrankung sexuell pervers ge-
wordene Persönlichkeit.
Es mangeln ihm sogar die allgemeinen Bedingungen für Päderastie —
sittliche Imbecillität oder sittliche Depravation einer- und übergrosse Ge-
schlechtslust andererseits.
Ebenso unmöglich ist die Unterbringung des Complicen G. in einer der
empirischen Kategorien passiver Päderastie, denn er besitzt weder die Eigen-
schaften der männlichen Hetäre, noch die klinischen Kennzeichen des effemi-
nirten, noch die anthropologischen und klinischen Stigmata des Weibmannes.
Von allem ist er das Gegentheil.
Wollte man medicinisch-wissenschaftlich ein päderastisches Verhältniss
zwischen den Beiden plausibel machen, so hätte Dr. S. die Antecedentien und
Merkmale des activen Päderasten sub I. 2) und G. die der passiven sub IL 1)
oder 2) zu bieten!
Vom gerichtlich psychologischen Standpunkt aus ist die dem Verdikt
zu Grunde liegende Annahme unhaltbar.
Mit demselben Recht könnte man Jedermann für einen Päderasten
halten. Es bleibt übrig zu erwägen, ob psychologisch die von Dr. S. und G.
abgegebenen Erklärungen für ihre immerhin auffällige Freundschaft stich-
haltig sind.
Psychologisch steht es nicht ohne Analogie da, dass ein so gemüths-
weicher und excentrischer Mann wie S. — auch ohne alle sexuelle Regungen —
in ein transcendentales Freundschaftsverhältniss eintritt.
Es genügt, an die innige Freundschaft in Mädchenpensionaten, an die
X
Amor lesbicus. 409
aufopfernde Freundesliebe sentimentaler junger Leute überhaupt, an die Zärt-
lichkeit, welche der empfindsame Mensch zuweilen selbst einem Hausthiere
gegenüber erweist — wo doch Niemand an Sodomie denken wird — zu erinnern.
Bei der psychologischen Eigenart des S. ist eine überschwängliche Freundschaft
dem jungen G. gegenüber immerhin begreiflich. Aus der Offenheit dieser
Freundschaft lässt sich viel eher auf deren Harmlosigkeit als auf sinnliche
Leidenschaft schli essen.
Es gelang den Verurtheilten , die Wiederaufnahme des Verfahrens zu
erreichen. Am 7. März 1890 fand die neuerliche Hauptverhandlung statt. Sie
lieferte für die Angeklagten bezüglich der Zeugenaussagen wesentlich ent-
lastende Thatsachen.
Die frühere sittliche Lebensführung des S. wurde allgemein anerkannt.
Die barmherzige Schwester, welche den erkrankten G. im S.'«chen Hause
pflegte, fand im Verkehr zwischen S. und G. nie etwas Bedenkliches. Die
früheren Freunde des S. bezeugten seine Moralität, seine innige Freundschaft
und seine Gepflogenheit, sie beim Kommen und Gehen zu küssen. Die früher
am Anus des G. vorgefundenen Veränderungen fanden sich nicht mehr vor.
Einer der vom Gerichtshof geladenen Sachverständigen gab die Möglichkeit
zu, dass sie durch blosse Digitalmanipulation entstanden waren. Ihr diagnosti-
scher Werth wurde von den vom Vertheidiger geladenen Sachverständigen
überhaupt bestritten.
Der Gerichtshof erkannte hierauf, dass der Beweis des imputirten Ver-
brechens nicht gelungen sei und fällte ein freisprechendes Erkenntniss.
Amor lesbicus J).
Die forensische Bedeutung ist eine sehr geringe da, wo es
sich um sexuellen Verkehr unter Erwachsenen handelt. Praktisch
könnte sie nur in Oesterreich in Betracht kommen. Als Pendant
zum Urningthum hat diese Erscheinung anthropologisch-klinischen
Werth. Das Verhältniss ist mutatis mutandis das gleiche wie bei
Männern. An Häufigkeit scheint der Amor lesbicus dem mannmänn-
lichen Verkehr nicht nachzustehen. Die grosse Mehrzahl der weib-
lichen Urninge folgt nicht einem angeborenen Drang, sondern ent-
wickelt sich unter analogen Bedingungen wie der gezüchtete Urning.
Besonders gedeiht diese „verbotene Freundschaft" in den weib-
lichen Strafanstalten.
x) Vgl. Mayer, Friedreich's Blätter 1875, p. 41. — Krausold,
Melancholie und Schuld 1884, p. 20. — Andronico, Archiv, di psich.
scienze penali et anthropol. crim. Vol. III, p. 145. Chevalier, L'inversion
sexuelle. Paris 1893, p. 217 (sehr eingehende Darstellung der „saphischen
Liebe" im modernen Paris).
4 IQ Amor lesbicus.
Krausold (op. cit.) berichtet: „Die weiblichen Gefangenen schliessen
oft solche Freundschaften, bei denen es allerdings, wenn möglich, auf ein
mutuelles Manustupriren hinausläuft.
Allein nicht nur vorübergehende manuelle Befriedigung ist der Zweck
solcher Freundschaften. Sie werden auch für längere Zeit, sozusagen systema-
tisch geschlossen, wobei sich eine horrende Eifersucht und die Gluth der Liebe
entwickelt, wie sie unter Personen verschiedenen Geschlechts kaum heftiger
vorkommen kann. Wenn die Freundin einer Gefangenen " von einer Anderen
nur angelächelt wird, kommt es oft zu den heftigsten Eifersuchtsscenen, zu
Prügeleien.
Hat nun die gewaltthätige Gefangene der Hausordnung gemäss Fesseln
angelegt bekommen, so sagt sie: „sie habe von ihrer Freundin ein Kind
erhalten".
Interessante Mittheilungen über gezüchteten Amor lesbicus
verdanken wir auch Parent-Duchatelet (De la prostitution 1857,
Bd. I, p. 159).
Der Ekel vor den abscheulichsten und perversesten Akten (Coitus in axilla,
ore, inter mammas etc.), welche Männer an Lustdirnen begehen, soll nach diesem
erfahrenen Autor nicht selten diese unglücklichen Geschöpfe zu lesbischer Liebe
bringen. Aus seinen Andeutungen geht hervor, dass es wesentlich Prostituirte
von grosser Sinnlichkeit sind, die, unbefriedigt von dem Umgang mit impotenten
oder perversen Männern und angewidert von deren Praktiken, zu jener Ver-
irrung gelangen.
Ueberdies sind Prostituirte, die sich als Tribaden bemerklich machen,
durchweg Personen, die mehrjährige Gefängnissinsassen waren und in diesen
Brutstätten lesbischer Liebe ex abstinentia sich diese Verirrung aneigneten.
Interessant ist, dass die Prpstituirten Tribaden verachten, gleichwie der
Mann den Päderasten verachtet, während die weiblichen Sträflinge dieses Laster
nicht als anstössig betrachten.
Parent führt den Fall einer Prostituirten an, die betrunken einer
Anderen lesbisch Gewalt anthun wollte. Darüber geriethen die andern Bordell-
mädchen in solche Entrüstung, dass sie die Sittenlose der Polizei denuncirten.
Aehnliche Erfahrungen berichtet Taxil (op. cit. p. 166. 170).
Auch Mantegazza (Anthropologisch-culturhistorische Studien, p. 97)
findet, dass der sexuelle Verkehr zwischen Weibern vorzugsweise die Be-
deutung eines Lasters hat, das auf Grund unbefriedigter Hyperaesthesia sexualis
sich entwickelt.
Bei zahlreichen derartigen Fällen — ganz abgesehen von angeborener
conträrer Sexualempfindung — gewinnt man jedoch den Eindruck , dass ganz
analog wie bei Männern (s. o.) das gezüchtete Laster allmählich zu erworbener
conträrer Sexual empfindung, mit Abscheu vor dem sexuellen Umgang mit dem
anderen Geschlecht führte.
Um solche Fälle mag es sich jedenfalls bei Parent handeln, bei welchen
die Correspondenz mit der Geliebten ebenso schwärmerisch und überschwäng-
lich war, wie unter Liebenden verschiedenen Geschlechts, Untreue und Tren-
Amor lesbicus. 411
nung die Verlassene ausser sich brachte, die Eifersucht grenzenlos war und
zu blutiger Rache führte. Entschieden krankhaft , möglicherweise Beispiele
von angeborener conträrer Sexualempfindung sind folgende Fälle von Amor
lesbicus bei Mantegazza p. 98:
1) Am 5. Juli 1777 wurde in London eine Frau vor Gericht gestellt, die
sich, als Mann verkleidet, schon 3mal mit verschiedenen Frauen ver-
heirathet hatte. Sie wurde vor aller Welt als Weib erkannt und zu
6 Monaten Kerker verurtheilt.
2) 1773 machte eine andere als Mann verkleidete Frau einem Mädchen
den Hof und hielt um seine Hand an, aber das kühne Wagniss ge-
lang nicht.
3) Zwei Frauen lebten 30 Jahre zusammen wie Mann und Frau. Erst
auf ihrem Todtenbette enthüllte die „Gattin" den Umstehenden das
Geheimniss.
Neuere bemerkenswerthe Mittheilungen gibt Coffignon (op.
cit. p. 301).
Er berichtet, dass diese Verirrung neuerlich sehr in der „Mode" ist —
zum Theil durch bezügliche Romane, zum Theil durch Erregung der Geni-
talien in Folge excessiver Arbeit an der Nähmaschine, Zusammenschlafen weib-
licher Dienstboten in demselben Bett, Verführung in Pensionaten durch ver-
dorbene Zöglinge oder Verleitung von Töchtern des Privathauses durch perverse
Dienstmädchen.
Verfasser behauptet, dass dieses Laster („Saphismus") vorzugsweise bei
den Damen der Aristokratie und bei Prostituirten angetroffen werde.
Er unterscheidet aber nicht physiologische und pathologische Fälle, unter
den letzteren nicht erworbene und angeborene. Einige, entschieden patholo-
gische Fälle betreffende Details entsprechen ganz den Erfahrungen, welche
bezüglich conträrsexualer Männer bekannt sind.
Die Saphisten haben ihre Orte des Stelldicheins in Paris, erkennen ein-
ander an Blick, Geberden u. s. w. Saphistenpaare lieben es, sich ganz gleich
zu kleiden, zu schmücken u. s. w. Man nennt sie dann „petites soeurs".
Mit folgenden markanten Zügen charakterisirt Chevalier
(L'inversion sexuelle, Paris 1893), p. 268, die Perversität und unter-
scheidet er sie von der Perversion:
„. . . que l'on soit pederaste ou lesbienne par surexcitation des sens
epuises, par avilissement mercantile, par besoin d'une ,trompe la faim', par
faiblesse d'esprit ou dilettantisme : il ressort de cette analyse que Tanomalie
ne nait pas avec l'individu, que l'enfance l'ignore, qu'elle ne se montre guere
d'un seul coup, mais peu ä peu , graduellement, ä un certain äge, apres des
pratiques sexuelles normales, qu'elle n'est ni permanente, ni absolue, qu'elle se
concilie avec la pleine conscience et l'integrite de l'intelligence , qu'elle peut
s'amender et disparaitre, qu'elle ne s'accompagne primitivement d'aucune tare
412 Nekrophilie. Incest.
physique ou psychique saillante, qu'elle n'a pas d'autre criterium objectif que
le fait lui-meme, quelle n'est ni fatale ni irrestible dans ses impulsions, qu'elle
constitue enfin un etat particulier d'origine plus sociale qu'individuelle.
Defaut d'instinctivite , de spontaneite, d'incoercibilite , d'imutabilite,
absence ou posterioritc des defectuosites organiques et mentales correlatives,
acquisition tardive et artificielle, premeditation des actes, conscience; genese
d'ordre mesologique, necessite d'une initiation prealable, et surtout nulle
trace d'heredite, ce sont bien lä les caracteres de la passion pure, du vice
sans alliage. Somme toute rien: de pathologique ; on doit donc prevenir, on
peut donc reprimer."
8) Nekrophilie1).
(Oesterr. Stgsb. § 306.)
Die in Rede stehende scheussliche Art der sexualen Befriedi-
gung ist so monströs, dass die Vermuthung eines psychopathischen
Zustandes unter allen Umständen gerechtfertigt und die Forderung
Maschka's, in solchen Fällen immer den Geisteszustand des Thäters
untersuchen zu lassen, wohl begründet ist. Jedenfalls gehört eine
krankhafte und entschieden perverse Sinnlichkeit dazu, um die natür-
liche Scheu, welche der Mensch vor Leichen hat, zu überwinden
und gar an der sexuellen Vereinigung mit einem Cadaver Gefallen
zu finden.
Leider ist bei den meisten in der Literatur verzeichneten
Fällen der Geisteszustand nicht untersucht worden, so dass die
Frage, wie Nekrophilie mit geistiger Gesundheit verträglich sei,
eine offene bleiben muss. Wer Kenntnisse von den gräulichen
Verirrungen des Sexualtriebs hat, wird jene Frage nicht ohne Weiteres
zu verneinen sich getrauen.
9) Incest.
(Oesterr. Stgsb. § 132; Entw. § 189; Deutsch. Stgsb. § 174.)
Die Bewahrung sittlicher Reinheit des Familienlebens ist eine
Frucht der Culturentwicklung , und lebhafte Unlustgefühle erheben
sich beim ethisch intakten Culturmenschen da, wo ein lüsterner
Gedanke bezüglich eines Gliedes der Familie auftauchen mag. Nur
*) Vgl. Maschka, Hdb. III, p. 191 (gute histor. Notizen). — Legrand,
La folie p. 521.
Incest. 413
mächtige Sinnlichkeit und defekte rechtlich- sittliche Anschauungen
dürften im Stande sein, zum Incest zu führen.
Beide Bedingungen können in belasteten Familien zusammen-
treffen. Trunksucht und ein Zustand des Rausches bei männlichen,
Schwachsinn, der das Schamgefühl unentwickelt lässt und nach
Umständen mit Erotismus bei weiblichen Individuen zusammentrifft,
erleichtern das Vorkommen blutschänderischer Handlungen. Aeussere,
Vorschub leistende Bedingungen sind die mangelhafte Trennung der
Geschlechter in Proletarierkreisen.
Als entschieden pathologische Erscheinungen haben wir Incest
bei angeborenen und erworbenen geistigen Schwächezuständen, ferner
in seltenen Fällen von Epilepsie und Paranoia vorgefunden.
In einer grossen Zahl von Fällen, wohl der Mehrzahl, lässt
sich jedoch eine pathologische Begründung des nicht bloss die
Bande des Bluts, sondern auch die Gefühle eines Culturvolks tief
verletzenden Aktes nicht erweisen. In gar manchem Falle, der in
der Literatur berichtet ist, ist übrigens eine psychopathische Be-
gründung zur Ehre der Menschheit möglich.
Im Falle Feldtmann (Marc-Ideler I, p. 18), wo ein Vater be-
ständig unsittliche Attentate auf seine erwachsene Tochter machte und sie
schliesslich tödtete, bestand bei dem unnatürlichen Vater Schwachsinn und
wahrscheinlich überdies periodische Geistesstörung. In einem anderen Falle
von Incest zwischen Vater und Tochter (1. c. p. 247) war wenigstens diese
schwachsinnig. Lombroso (Archiv, di Psichiatria VIII, p. 519) berichtet den
Fall eines 42 Jahre alten Bauern, welcher mit seinen 22, 19 und 11 Jahre
alten Töchtern Incest trieb, die 11jährige sogar zur Prostitution zwang und
im Bordell aufsuchte. Die gerichtsärztliche Untersuchung ergab Belastung,
intellectuellen und moralischen Schwachsinn, Potatorium.
Psychisch unexplorirt sind Fälle wie der von Schürmayer (Deutsche
Zeitschr. für Staatsarzneikunde XXII, H. 1) berichtete, in welchem eine Frau
ihren 572jährigen Sohn auf sich legte und mit ihm Nothzucht trieb, ferner
der von Lafarque (Journ. med. de Bordeaux 1874), wo ein 17jähriges
Mädchen den 13jährigen Bruder auf sich legte, membrorum conjunctionem
bewerkstelligte und den Bruder masturbirte.
Belastete Individuen betreffen die folgenden Fälle. Magnan (Ann.
med.-psych. 1885) erwähnt ein 29jähriges Fräulein, das, gleichgültig gegen
andere Kinder oder gar Männer, schrecklich unter dem Anblick seiner Neffen
litt und kaum dem Antrieb, mit ihnen zu cohabitiren, zu widerstehen ver-
mochte. Diese sexuelle Pica bestand jeweils nur so lange, als die Neffen ganz
jung waren.
Legr and (Ann. med.-psych. 1876, Mai) erwähnt ein junges Mädchen
von 15 Jahren, das seinen Bruder zu allen möglichen sexuellen Excessen an
ihrem Körper verführte, und nachdem der Bruder nach 2jährigem blutschän-
414 Unsittliche Handlungen mit Pflegebefohlenen.
deri8chem Umgang gestorben war, einen Mordversuch an einem Verwandten
machte. An gleicher Stelle findet sich der Fall einer 36jährigen Ehefrau, die
ihre offene Brust zum Fenster hinausbing und mit ihrem 18jährigen Bruder
Unzucht trieb; ferner der einer Mutter von 39 Jahren, die mit ihrem Sohn,
in den sie sterblich verliebt war, Incest trieb und, schwanger von ihm,
Abortus provocirte.
Dass verworfene Mütter in Grossstädten zuweilen ihre kleinen
Töchter, um sie für die sexuelle Benutzung durch Wüstlinge zu
präpariren, in scheusslicher Weise bearbeiten, wissen wir durch
C a s p e r. Diese verbrecherische Handlung gehört in ein anderes
Gebiet.
10) Unsittliche Handlungen mit Pflegebefohlenen, Verführung
(Oesterreich).
(Oesterr. Stgsb. § 131; Entw. § 188; Deutsch. Stgsb. § 173.)
Dem Incest nahestehend, jedoch das sittliche Gefühl nicht so
tief verletzend, erscheinen die Fälle, wo Jemand eine seiner Auf-
sicht oder seiner Erziehung anvertraute und mehr oder weniger in
Abhängigkeit von ihm stehende Person zur Begehung oder Duldung
einer unzüchtigen Handlung verleitet. Eine psychopathische Be-
deutung scheinen derartige, strafrechtlich besonders qualificirte un-
züchtige Handlungen nur ausnahmsweise zu haben.
UNIVERSITY OF ILLINOIS-URBANA
132.75K85P C001
PSYCHOPATHIA SEXUALIS MIT BESONDERER BER
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