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Full text of "Raymundus Lullus und seine Stellung zur arabischen Philosophie, mit einem Anhang Enthaltend die zum ersten male Veröffentlichte "Declaratio Raymundi per Modum Dialogi Edita.""

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Raymundus  LuUus 


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und  die  Grundzüge  seines  pliilosophisclien  Systems 

aufgezeigt  als  ein  Reaktionsversuch 
gegen    die   arabische  Philosopie. 


Inaugur  al  ■  Dissertation 

zur  Erlangung  der  Doktorwürde 

der   hohen   philosophischen    Fakultät    (I.  Sektion) 

der  kgl.  bayer.  Ludwig  •  Maximilians  •  Universität 

zu  München 

am    1'').  .l;iiiii;ii-   lOOS  vorgelegt 


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•     P.  Otto  Reicher, 

Mitglied  4iiaUipHMMnvMBHMMiiierprovinz. 


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TUE  INSTITUTE  OF  MEDIAEVAL  STUOIES 

10  ELMSLEY   PLACE 
TORONTO  5,   CANADA. 

NOV  3  0  lS3f 


Genelimigt  auf  Antrag  der  Herren 
von  Hertliii^*  und  Lipps. 


Einleitung. 

Eine  der  am  meisten  umstrittenen  Persönlichkeiten  in  der 
Geschichte  der  Philosophie  ist  der  Mann,  dessen  Name  mit  der 
berühmten  oder  berüchtigten  Ars  magna  unzertrennlich  verknüpft 
ist,  Raymundus  Lullus  oder,  wie  er  in  der  Sprache  seines 
Volkes  hieß,  Ramon  LuH. 

Schon  frühzeitig  nach  seinem  Tode,  wenn  nicht  schon  zu 
seinen  Lebzeiten,  begann  der  Streit  der  Meinungen  über  ihn.  Von 
den  einen  gepriesen  als  ein  homo  mirifici  plane  ingenii^,  als  vere 
Proteus  ingenio,  Daedalus  arte  et  Polycletus  norma  iudicii  ^, 
galt  er  anderen  im  Gegenteil  als  stullissime  subtilis'*  und  seine 
Wissenschaft  als  ein  System,  „cui  nihil  interest  solidi,  quae  tan- 
tum  abest,  ut  eruditos  faciat,  quin  potius  homines  ratione  recte 
utentes  nunquam  efformare  potuerit"  ^.    Die  Anhänger  und  Schüler 


'  Diese  Schreibweise  wäre  die  richtige,  da  Lullus  selbst  sich  ihrer  be- 
diente. Der  1298  den  Kartäusern  zu  Paris  von  ihm  geschenkte  cod.  3348  A 
der  Biblioth.  nationale  entliält  die  Widmung:  Ego  Raymundus  Lul  do  librum 
istum  conventui  fratrum  de  Cartusia  Parysius.  (Del i sie,  Cuhhici  des  Mss.  de 
hl  liihl.  H/iL,  II,  p.  252.)  Ebenso  cod  mss.  lat.  IV,  139  der  Bibhotheca  mss. 
8.  Marci  Venetiarum:  .  .  .  ego  magister  Raymundus  Lul  cathelanus  transmitto 
et  do  istum  librum  .  .  .  (Delisle,  /.  r.  II,  p.  171.)  Die  gloicho  Form  findet 
flieh  in  einem  an  d(n  König  von  Aragonien  gerichteten  iirief  Lulls,  welchen  M. 
de  Bofarnll  nach  dem  im  nragonischen  Archiv  vorhandenen  Origiruil  veriUfent- 
lichte  und  welcher  in  der  lionKtnld  XI  (1882)  p.  189  abgedruckt  ist.  Jedoch  hat 
die  Form  des  Namens  später  sehr  gewechselt;  eine  der  g(!bräu(hlich.'sten  war 
liUyl.  Die  heutige  SchreibweiHe  in  Katalonien  ist  Llull.  Wenn  wir  die  der 
Iritinisierten  Form  entlehnte  Schreibweise  beibehalten,  so  dürfte  dies  damit  hin- 
reichend begründet  sein,  daß  Joch  diese  P'orm  fast  allgemein  eingebürgert  ist. 
Herrn.  CoFiring,  angegeben  bei  Thomas  Po j)e- Klon  iil ,  Cmsuni 
nlthriormn  tiutonnn,   Londini    1000,  sub  v.   Lullus,  p.  2\)i'). 

^  Mich.  Majer,   Si/mh.  uiir.  wrnmir  1.  !>,   f.  40.')   (bei    rope-Hlounl    /.(.). 

*  Lausius  in  seiner  (intlin  ninlra   llis/mti.  p.  377  (Pope   Hl  nun  I    /.  /•.). 

''  Rapin.    ht/lcj-.  in   I'hiloH.,  sect.    17  iPope    IMoiint   /.  r.). 
HuilruK«'   VFF,   1-  .'>.     Kiirli.r,  Uftymiiriiln.   I.nlhi-.  1 


2  Raymundus  Lullus. 

LuUs  sehen  es  als  eine  unumstößliche  Tatsache  an,  da(ä  ihrem 
Meister  kein  Gebiet  menschlichen  Wissens  verschlossen  war;  seine 
ganze  Lehre  und  Weisheit  führen  sie  auf  unmittelbare  göttliche 
Eingebung  zurück  und  sehen  in  ihm  den  Doctor  üluminatus  y.ai' 
£^oy)]v;  und  wenn  auch  die  Anklagen  des  Dominikaners  und  spa- 
nischen Inquisitors  Nikolaus  Eymerich  gegen  Lullus  und  dessen 
Schule  höchst  verdächtig  sind,  so  ist  den  Lullisten  immerhin  die 
Behauptung  zuzutrauen,  welche  dieser  ihnen  zum  Vorwurf  macht: 
„Quod  doctrina  veteris  testamenti  attribuitur  Deo  Patri,  doctrina 
Novi  Testamenti  Deo  Filio,  sed  doctrina  Raymundi  Lulli  Deo 
Spiritui  Sancto"  ^  Dafür  werden  die  Gegner  Lulls  nicht  müde, 
seine  Lehre  als  eine  Eingebung  des  Teufels  hinzustellen  -  und  ihn 
selbst  um  jeden  Preis  zum  Häretiker  zu  stempeln  -^ 

Wenn  man  aber  auch  von  jenen  Kreisen  absieht,  in  denen 
man  in  erster  Linie  die  Orthodoxie  für  die  Beurteilung  zugrunde 
legte  und  wo  nur  zu  oft  ein  Extrem  das  andere  hervorrief  und 
stützte,  so  erscheint  Lullus  doch  immer  noch  in  ganz  verschieden- 


^  Nie.  Kymericus,  Directorium  Inquisitor rim,  cum  commentariis  Fran- 
clsci  Penae.    Venetiis  1607,  p.  260:  De  Lullistis  et  eorum  erroribus;  error  7. 

-  Nie.  Eymerich,  Dlrector.  Inqnhit.,  p.  255:  Quae  doetrina  (sc.  Lulli) 
erat  plurimum  divulgata,  quam  ereditur  habuisse  a  diabolo,  cum  eam  non  lia- 
buerit  ab  homine  nee  humano  studio  nee  a  deo,  cum  deus  non  sit  doetor  hae- 
resum  nee  errorum. 

'  Von  Eymerich  wird  im  Dircct.  Inquisit.  eine  Bulle  Gregors  XI.  vom 
25,  Januar  1376  im  Wortlaut  angeführt,  worin  Schriften  Kaymunds  verworfen 
werden,  nachdem  derselbe  Papst  schon  am  5.  Juni  1372  und  29.  September  1374 
eine  Prüfung  der  lullischen  Schriften  angeordnet  hatte.  Während  nun  die  beiden 
ersten  Aktenstücke  von  1372  und  1374  in  den  päpstlichen  Registerbänden  er- 
wähnt sind,  fehlt  die  Bulle  des  Jahres  1376,  weshalb  die  Lullisten  dieselbe 
schon  frühzeitig  als  eine  Fälschung  P]ymerichs  erklärten ;  ob  mit  Recht  oder 
Unrecht,  ist  bis  heute  unentschieden  und  unentscheidbar,  da  die  Registerbände 
für  die  Jahre  1376  und  1377  verloren  gegangen  oder  vielleicht  gar  nicht  ange- 
fertigt worden  sind  (vgl.  Denifle  im  ArcJiir  für  Literatur-  und  Kirchcn- 
geachichte,  IV,  352  ff)  Wie  es  sich  aber  mit  der  ßulle  auch  verhalten  mag: 
das  läßt  sieh,  auch  wenn  man  zu  einer  angeblichen  Verwechslung  mit  einem 
anderen  Raymundus  (de  Tarrega)  seine  Zuflucht  nimmt,  doch  nicht  hinwegleug- 
nen, dafs  der  wiederholt  aufgegriffene  Streit  über  die  Orthodoxie  in  der  Lehre 
sich  um  unseren  Raymundus  Lullus  drehte,  und  daß  verschiedene  seiner  Schrif- 
ten mehrmals  auf  den  Index  der  verbotenen  Bücher  gesetzt,  freilich  auch  wie- 
derholt, zum  Teil  auf  Drängen  der  spanischen  Regierung,  von  demselben  wie- 
der gestrichen  wurden.  Vgl.  Annicctn  juris  Pontificii,  Ser.  II,  2465 — 2480. 
Romae  1857. 


Einleitung.  3 

artiger  Beleuchtung.  Unter  denjenigen,  die  sich  zum  Teil  an  ihn 
anschlössen,  finden  wir  den  Kommentator  Lulls,  Agrippa  von 
Nett  es  heim,  obwohl  derselbe  durchaus  nicht  ganz  auf  ihn  ein- 
geschworen ist  ^  Jacobus  Faber  (Stapulensis)  hat  die  Hoch- 
schätzung, die  er  für  den  Philosophon  von  Mallorka  hegte,  auch 
seinem  Schüler  Carolus  Bovillus  eingepflanzt'^.  Ebenso  hat 
Giordaiio  Bruno  sich  eingehend  mit  ihm  befafet,  die  „Ars 
magna''  als  Mittel  zu  Gedächtnis-  und  Redeübungen  geschätzt, 
öfter  über  sie  gelesen  und  die  Lullische  Kunst  auch  in  eigenen 
Schriften  behandelt.  Auch  in  Leibnizens  philosophischem  Ent- 
wickelungsgange  ist  der  Versuch,  das  begriff'liche  Denken  nach 
dem  Vorbild  der  Mathematik  in  allgemeine  Formeln  zu  kleiden  % 
nicht  der  einzige  Zug,  der  an  Lullus  erinnert. 

Andere  konnten  allerdings  seiner  Philosophie  keine  gute 
Seite  abgewinnen  \  und  das  strenge  Urteil,  welches  Tennemann 
am  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  über  ihn  gefällt  hat,  „dafe 
er  ein  lebhafter,  schwärmerischer  Kopf  war,  der  mit  Leichtigkeit 
über  alle  Dinge  schwatzen  konnte,  ohne  über  die  Oberfläche  ein- 
zudringen" ^,  hat  sich  bis  heute,  wenigstens  in  Deutschland,  kaum 
gemildert.  Trotz  zahlreicher  Einzeluntersuchungen,  die  wir  dem 
Eifer  verdanken,  mit  dem  sich  seit  einiger  Zeit  spanische  Forscher 
dem  Vater  der  „Filosofia  Nacional  de  Catalumja"  zugewandt  haben, 
ist  doch  die  bisher  übliche  Auffassung  von  der  lullischen  F^hilosophie 
im  wesentlichen  dieselbe  geblieben.  Für  die  Bedeutung,  die  man 
unserem  Philosophen  beimifät,  daif  vielleicht  gerade  deswegen, 
weil  es  nicht  fachwissenschaftlich  ist,  das  Urteil  H.  St.  C^ham- 
berlains  als  typisch  gelten,  der  es  Giordano  Bruno  nicht  ver- 
zeilien    kann,    daü  dieser    „dem   spanischen  Narren    und  Gaukler, 


'  So  sagt  er  Di'  incerUlnd.  H  rdnltatr  sricnt.  cap.  9  (ed.  Hagae-Coniitum 
1G62,  p.  63):  Hoc  autem  adnionere  vos  oportet,  hanc  (Lulli)  arteni  ad  ponipinn 
ingenii  et  doctrinao  OHtontationom  potiu8,  (luam  ad  conipararidani  crmlit ionein 
valere  ac  longo  piuB  liabero  aiidacia<>  (|uani  officaciac. 

'■'  Vgl.  den  .Schluß  der  yuw  I'<ivillu8  verfaßten  Hi(»grapliie  Liil  s.  Arid 
SS.  Jan.,  tom.  V,  p.  OÖl). 

''  Vgl.  Kuno  Firtcher,   (icsrh.  ih-r  luin-rrn   l'/ii/ns.,  III   (4.  A)  S.  14. 

*  So  Huco  von  Verulam,  De  attt/iHnilat.  Srinil.  VI.  2,  Works,  ed.  hy 
Spedding,  Kllia  and  Heatli,   Vol.   1.  p.  f;09. 

•  Tennemann,    (J*'Hrh.  <lrr  l'hiloM.,    \h\.   VIII.  2,  S.  H34  (Leipzig  IHll). 

V   3 


4  Rayinundus  Lullus. 

Ramon  Lull,  der  mit  Hilfe  von  Drehscheiben  Erkenntnis  mecha- 
nisch zu  erlangen  vorgab,  die  Hälfte  seines  Lebens  widmet  und 
ihn  als  omniscium  propemodumque  divinum,  allwissend  und  fast 
göttlich,  preist"  ^ 

Bei  dieser  Sachlage  mag  es  gewagt  erscheinen,  Lullus  zum 
Gegenstand  einer  wissenschaftlichen  Untersuchung  zu  machen; 
jedenfalls  ist  mit  der  Gefahr  zu  rechnen,  data  einer  solchen  das 
nämliche  entgegengehalten  wird,  was  man  schon  vor  Zeiten  dar- 
über urteilte: 

„Qui  Lulli  lapidem  quaerit,  quem  quaerere  nulli 
Profuit,  haud  Lullus,  sed  mihi  Nullus  erit." 

Trotzdem  darf  man  sagen,  daß  eine  erneute  Untersuchung 
der  wirklichen  Bedeutung  Lulls  und  des  wahren  Sinnes  seiner 
Lehre  für  die  Geschichte  der  mittelalterlichen  Philosophie  ein  drin- 
gendes Desiderat  ist.  Hatte  Helfferich  schon  um  die  Mitte  des 
vorigen  Jahrhunderts  gesagt,  „daß  Lull  außerhalb  Spaniens  von  nie- 
mand nach  Gebühr  gewürdigt  worden  ist"  ^^  so  konnte  30  Jahre 
später  R.  Otto  immer  noch  den  „balearischen  Doctor  Illuminatus 
für  den  Theologen  wie  für  den  Kulturhistoriker  eine  Gestalt  mit 
vielen  rätselhaften  Zügen"  nennen  ^  und  bis  jetzt  ist  es  noch  wenig 
anders  geworden.  Nicht  als  ob  die  Forschung  über  Lullus  vernach- 
lässigt worden  wäre;  vielmehr  ist  die  darüber  existierende  Literatur 
älterer  wie  neuerer  Zeit  ziemlich  reichhaltig.  Aber  in  zweifacher 
Hinsicht  scheint  mir  in  derselben  gefehlt  worden  zu  sein. 

Einmal  hat  man  in  allzu  einseitiger  Weise  die  Ars  lulliana 
betont  und  dieselbe  für  alle  möglichen  Wissenschaften  in  An- 
spruch genommen,  gleich  als  ob  diese  Ars  Selbstzweck  gewesen 
w^äre  und  nicht  vielmehr  bloß  das  Mittel  zur  Erreichung  eines 
ganz  anderen  Zieles;  man  hat  dabei  vergessen,  daß  Raymund 
neben  seinen  „Arfes^'  doch  noch  eine  ganze  Reihe  anderer  Schriften 
verfaßt  hat,  die  mit  jenen  in  keinem  oder  nur  in  sehr  losem  Zu- 
sammenhang stehen. 

Andere  aber  sind  auch  über  diese  einseitige  Betonung  der 
lullischen  Ars  noch  hinausgegangen  und   haben  an  derselben  nur 


'  Chamberhiin,  Inntuttnu'l  Kant,  S.  361  f.  (1905). 

■  Adolf  Helfferich,  liitinnnnd  Lull  und  die  Anfänyc  ilrr  h-<ifaJonisrhru 
Liieratur.     S.  70.     Berlin  1858.  " 

^  Zeitschrift  für  roman.    rhilologie  XII  (1888),  p.  511. 


Einleitung.  5 

die  eine  Seite  hervorgehoben,  nämlich  die  äußere  Technik.  In- 
folge dieser  Auffassung  haben  sich  für  unser  Bewußtsein  die  Vor- 
stellungen der  Ars  lulHana  und  ihres  Urhebers  so  innig  mitein- 
ander verknüpft,  daß  wir  heute  an  Raymundus  Lullus  kaum  denken 
können,  ohne  auch  zugleich  dessen  Kreise  und  Drehscheiben  vor 
uns  zu  sehen,  ja  vielfach  in  diesen  das  eigenthche  Wesen  des 
lullischen  Systems  zu  erblicken. 

Man  mag  ja  über  die  äußere  Form,  in  der  uns  ein  philo- 
sophisches System  entgegentritt,  denken,  wie  man  will;  jeden- 
falls darf  dieselbe  nicht  die  wichtigste,  noch  weniger  die  einzige 
Grundlage  bilden,  worauf  sich  das  Urteil  der  Geschichte  stützt. 
Für  den  historischen  Rückblick,  der  die  Entwickelung  des  mensch- 
lichen Denkens  aufzuzeigen  hat,  muß  in  erster  Linie  der  Inhalt 
mafsgebend  sein,  mag  derselbe  auch  durch  die  Form,  in  die  er 
hineingezwängt  wurde,  eine  verzerrte  (iestalt  angenommen  haben. 
So  wertvoll  das  Material  ist,  welches  PrantH  über  unseren 
Autor  zusammengetragen  hat,  so  sehr  es  anzuerkennen  ist,  daß 
er  sich  bestrebte,  aus  den  Originalwerken  des  Lullus  selbst  zu 
schöpfen,  so  kann  ihm  doch  der  Vorwurf  nicht  erspart  bleiben, 
daß  auch  er  dem  genannten  Fehler  in  hohem  Grade  verfallen  ist. 
Der  Umstand  allein,  daß  er  denselben  nur  unter  dem  (Jesichts- 
punkte  seiner  Bedeutung  für  die  Entwicklung  der  Logik  ins  Auge 
faßte,  hätte  ihm  sagen  müssen,  daß  er  kein  vollkommenes  Bild 
von  diesem  seltsamen  Manne  entwerfen,  daß  es  darum  aber  auch 
nicht  seine  Absicht  sein  könne,  „die  Mitwelt  (oder  etwa  auch  die 
Nacliwelt)  der  Mühe  zu  überheben,  in  dem  üppig  wuchernden 
Wust  des  Lullus  zu  i)lättern"  -.  Während  man  so  bald  für,  bald 
gegen  Lullus  und  sein  System  Stellung  genommen,  hat  man  einer 
P'rage,  deren  Beantwortung  von  der  größten  Wichtigkeit  ist,  nicht 
die  nötige  Beachtung  geschenkt. 

Mit  I^echt  begnü;:t  man  sich  heute  in  der  geschichtlichen 
Darstellung.'  nicht  mehr  damit,  die  einzelnen  historischen  Ereig- 
nisse aneinander  zu  reihen;  man  will  nicht  mehr  l)loß  wissen, 
was  geschehen,  sondern  wie  es  geworden  ist.  ..Das  Einzelne,  Be- 
sondere  selbst    ist   unser    wis.sensch.iltliches  C)ljj(?kt,"    sjigt    Bern- 

'   Prantl,    (iinrli.  iln-   Li></il,-   im    Ahrmlhi ,iili-,    III,   S.    lir>      177. 
'   (ifurh.   ,l,r    1,'xiih,    III,   S.    145. 


6  Rajniundus  Lullu3. 

heim  S  ^nur  nicht  in  zusammenhangsloser  Isoliertheit,  sondern 
im  Zusammenhang  der  Entwickelung,  innerhalb  deren  es  steht 
und  soweit  es  für  diese  in  Betracht  kommt." 

Diese  Grundsätze  müssen  auch  für  das  Verständnis  der  philo- 
sophischen Systeme  beachtet  werden,  die  im  Laufe  der  Geschichte 
aufgetaucht  sind.  Mag  man  immerhin  der  Behauptung  Ren  ans 
zustimmen,  dat^  es  in  einer  Hinsicht  wichtiger  sei,  zu  wissen,  wie 
man  über  ein  Problem  gedacht  habe,  als  über  das  Problem  selbst 
sich  klar  zu  sein  -,  so  ist  es  sicher  von  nicht  geringerer  Bedeu- 
tung, sich  zu  fragen,  ob  nicht  die  verschiedenen  V^ersuche,  ein 
Problem  zu  lösen,  in  gegenseitigem  Zusammenhang  stehen  und 
welcher  Art  derselbe  sei. 

Auch  die  lullische  Philosophie  wird  eine  ganz  verschiedene 
Beurteilung  erfahren,  je  nachdem  dieselbe  als  ein  Geistesprodukt 
aufgefa&t  wird,  das  ohne  jede  Vermittelung  auftaucht;  in  diesem 
Falle  mut3  sie  aus  sich  selbst  heraus  verstanden  werden  und  in 
sich  selbst  ihren  vollen  Wert  tragen:  oder  aber  ob  man  in  ihr 
eine  Erscheinung  sieht,  die  in  ihrer  Veranlassung  wie  in  ihrer 
Tendenz  auf  etwas  anderes  hinweist.  In  letzterem  Falle  ist  die 
Berücksichtigung  dieser  beiden  Momente  unerläßlich,  nicht  bloß 
um  ihren  Gedankengang  vollkommen  verständlich  zu  machen, 
sondern  auch,  um  sie  gerecht  beurteilen  zu  können:  ..car  lors 
meme  que  la  question  est  insoluble,  le  travail  de  Tesprit  humain 
pour  la  resoudre  constitue  un  fait  experimental  qui  a  toujours 
son  interet"  -^ 

In  der  vorliegenden  Abhandlung  ist  der  Versuch  unter- 
nommen, die  lullische  Philosophie  in  einen  solchen  Zusammen- 
hang einzureihen.  Es  soll  gezeigt  werden,  daß  wir  in  derselben 
durchaus  kein  völlig  isoliertes,  von  dem  ganzen  übrigen  Geistes- 
leben der  damaligen  Zeit  losgerissenes,  gewissermaßen  absolutes 
System  zu  erblicken  haben,  für  welches  kein  anderer  Existenz- 
grund angegeben  werden  könnte  als  schrullenhafte  Anwandlungen 
seines  Urhebers,  sondern  daß  dieses  ganze  System  nicht  mehr 
und   nicht   weniger   ist    als   die  zielbewußte   Reaktion    gegen    den 

'  Bernheim,   Lehrbuch  der  hi.^tor.  Methode  3.  und  4.  Aufl.   1903,    S.  7. 
■•*  Renan,  Averroh  et  VAierrolsnie,  3<^,  ed.  (Paris  1869)  IX. 
"  Renan,  n.  a.  O. 


Einleitung:. 


ö- 


mächtigen  Einfluß,  welchen  die  arabische  Philosophie  und  Theo- 
logie damals  in  immer  steigendem  Maße  auf  das  christliche  Abend- 
land ausübte. 

Damit  sind  auch  schon  die  Grenzen  gezogen,  innerhalb  deren 
sich  die  folgende  Untersuchung  bewegen  wird.  Es  soll  keineswegs 
die  Stellung  genau  präzisiert  werden,  welche  Lullus  zu  den  um 
die  Wende  des  13.  und  14.  Jahrhunderts  diskutierten  philoso- 
phischen Problemen  im  Einzelnen  eingenommen  hat;  denn  dazu 
wäre  ich  noch  gar  nicht  in  der  Lage.  Es  w^ird  aber  auch  für 
den  in  Rede  stehenden  Nachweis  genügen,  das  System  der  luUi- 
schen  Philosophie  in  seinen  allgemeinsten  Umrissen  vorzuführen. 
—  Noch  mehr  muß  ich  es  mir  versagen,  Quellenkritik  zu  treiben. 
Ohne  Zweifel  fußt  Lullus  direkt  auf  arabischen  Philosophen.  Aber 
als  Nichtorientalist  ~  ein  Mangel,  den  ich  freilich  selbst  am 
meisten  beklage  —  bin  ich  nicht  imstande,  diese  Spuren  aufzu- 
suchen, um  so  weniger  als  seine  unmittelbaren  Quellen,  wie  es 
scheint,  nicht  bei  den  Koryphäen  der  arabischen  Philosophie, 
Algazel  ausgenonnnen,  zu  suchen  sind,  als  vielmehr  bei  deren 
weniger  bekannten  und  bedeutenden  Schülern  ^ 

Dagegen  erschien  es  unerläßlich,  einen  Überblick  über  den 
Lebensgang  und  die  literarische  Tätigkeit  Lulls  vorauszuschicken. 
Das  eigenartige  Charakterbild,  das  hier  zutage  tritt,  mag  einer- 
seits einer  besseren  Würdigung  der  philosophisch-theologischen 
Anschauungen  dieses  Mannes  die  Wege  ebnen,  andererseits  soll 
diese  Lebensskizze  der  Darlegung  seines  wissenschaftlichen  Systems 
insofern  ergänzend  an  die  Seite  treten,  als  sie  zeigt,  wie  Lullus 
seinen  theoretischen  Anschauungen  auch  im  praktischen  Leben 
mit  allen  ilim  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  Anerkennung  zu  ver- 
schaffen suchte. 

'  Vgl.  Rosellö,  Ohras  (h-  l{<i,„o„  Lnll  ( Talma  de  Malloica  lUOl).  l'n»- 
logo  (von  M.  Obrudor  y  Kennussarl  p.  XXIX  f.,  Atim.  1,  wonach  1).  Miguel 
Asin  die  Abhängigkeit  verschiedener  iiilliacher  Schriften  von  dem  Buch  Alfn- 
hntnt,  einer  Schrift  des  arahisch-murciariischen  l'hilosophen  iVIohidin,  nachge- 
wiesen hat.  Die  Abhandlung  D.  Mig.  Asins,  die  mir  erst  kurz  vor  der 
Drucklegung  zuging,  findet  sich  in  .Jhnnrhdjr  n  Mrnrmlcz  ij  /'r/m/o  ni  ,/  awit 
riift^MiiHo  Je  MH  I'rofi'Morfit/o.  Hsliulitts  ilr  muliriÖH  h'sjmüohf."  'i'om.  II,  |).  217  -'iftü. 
Madrid   1^9». 


I.  Abschnitt. 

Zur  Biographie  Raymund  Lulls. 

I.  Kapitel. 

Quellenkritische  Vorbemerkungen  und  Literatur  i. 

Bei  dem  Versuch,  ein  Bild  vom  Lebensgang  des  Raymimdus 
Lullus  zu  entwerfen,  sind  wir  in  der  glücklichen  Lage,  uns  auf 
zeitgenössische  Vorarbeiten  stützen  zu  können.  Dieselben  sind 
niedergelegt  in  einer  uralten  Biographie,  welche  der  Bollandist 
J.  B.  Soll i er  nach  einem  auf  der  Insel  Majorca  vorhandenen 
Manuskript  -  in  den  Acta  Sandorum  zum  Abdruck  gebracht  hat  ^. 
Eine  Lücke,  die  sich  in  dem  hier  gebotenen  Texte  lindet,  ist  ohne 
Bedeutung,  zumal  da  dieselbe  von  dem  Herausgeber  lullischer 
Schriften,  dem  kurfürstlich-pfälzischen  Hofkaplan  Jvo  Salzinger, 

^  Eine  erschöpfende  Quellen-  und  Literaturangabe  soll  hier  nicht  geboten 
werden.  Das  überaus  reiche  Material  findet  sich  giewissenhaft  und  ziemlich 
vollständig  zusammengestellt  bei  U.  Chevalier,  Repertoire  des  soiirces  histo- 
ri(jH<'}i  (/)(  nioi/cn  <h/r.  I.  Biobibliographie.  2*"  edit ,  sowie  in  einer  von  P.  Mich. 
Biehl  in  den  Etudes  fVanciscaines  tom.  XV  (1906),  p.  328  — 345  veröffentlichten 
Abhandlung  (/.  c.  p.  343,  Anm.  4). 

^  Die  lUstoirc  litteraire  de  Ja  France,  tom.  29,  p.  4,  Anm.  1  schreibt: 
„I.e  manuscrit  employe  par  los  Bollandistes  etait  ä  Rome  {Acta,  vol.  cite,  p.  641; 
Salzinger,  /.  c),  non,  comme  on  la  dit  {Iiio(/r.  f/en.  art.  Lulle,  tom.  XXXII, 
col.  227),  ä  la  Sapience,  mais  probablement  a  Saint-Isidore."  Das  ist  eine  völ- 
lige Vermengung  verschiedener  Tatsachen.  Der  Jesuit  Custurer  schreibt  in 
seinem  in  den  Acta  SS.  (tom.  V.  Jun..  p.  641)  mitgeteilten  Brief,  dafs  den  An- 
gaben einiger  Lullisten  zufolge  ein  altes  Manuskript  der  in  Frage  kommenden 
Biographie  im  Collegium  Franciscanum  Ilibernorum  S.  Isidori  zu  Rom  aufbe- 
wahrt werde.  Aber  das  von  ihm  aufgefundene  und  herausgegebene  ist  nicht 
jenes  von  S.  Isidor,  sondern  von  der  Bibliothek  des  Collegium  B.  Mariae  de 
Sapientia,  freilich  nicht  der  Sapientia  in  Rom,  sondern  auf  Majorca  Ob  das 
Manuskript  von  S.  Isidor  noch  vorhanden  ist,  ist  fraglich.  Die  Nachforschungen, 
welche  einer  meiner  Freunde  dort  anstellte,  waren  resultatlos. 

«  Tom.  V.  Jun.,  p.  661-668. 


1.  Zur  Biographie.     1.  Quellen.  9 

in  der  nach  einem  Pariser  Manuskript  besorgten  Wiedergabe  der 
Biographie  ergänzt  ist.  Der  Bericht  beginnt  mit  den  Worten: 
Jesus.  Ad  honorem,  laudem  et  amorem  Domini  Dei  nostri  Jesu 
Christi  Raymundus,  quorundam  suorum  amicorum  rehgiosorum 
devictus  instantia^  narravit  scribique  permisit  ista,  quae  sequuntur 
hie  de  conversione  sua  ad  poenitentiam  et  de  aliquibus  gestis 
eius.  Dann  wird  in  einfacher  und  schlichter  Sprache  das  Leben 
und  Wirken  Raymunds  mit  Ausnahme  der  letzten  Lebensjahre 
erzählt;  mit  dem  Jahre  1311  bricht  die  Darstellung  ab.  Auf  diesen 
letzteren  Umstand,  wie  auch  auf  die  Einleitungsworte  stützte  man 
sich,  wenn  man  die  Schrift  nicht  blois  auf  Zeitgenossen  Lulls,  son- 
dern auch  auf  persönliche  Mitteilungen  desselben  zurückführte, 
und  diese  beiden  (Iründe  reichten  hin,  um  bisher  unbestritten 
diese  Biographie  als  Vita  ab  Anonijmo  coaeoo  scripta^  ipso  Beato 
adhiic  superstite  oder  kurz  als  Vita  coaetanea  zu  bezeichnen.  Erst 
Biehl  hat  in  neuester  Zeit  die  Authentizität  dieser  Quelle  in 
Zweifel  gezogen  und  für  seine  abweichende  Ansicht  folgende 
Gründe  vorgebracht  ^i 

1 .  Die  Biographie  sagt  von  Lullus,  daß  er  von  Genua  aus 
„ad  papam  Avenione  tunc  temporis  residentem"  sich  begeben 
habe  ^.  Nach  dieser  Ausdrucksweise  könne,  so  meint  Biehl,  die 
Abfassung  erst  erfolgt  sein,  nachdem  die  Päpste  ihre  Residenz 
in  Avignon  bereits  aufgegeben  hatten,  also  erst  nach  dem 
Jahre  1378. 

2.  Lullus  habe  vom  Konzil  von  Vienne  nur  die  Gründung 
eines  einzigen  Kollegs  (la  fondation  d'un  seul  College)  für  das 
Studium  orientalischer  Sprachen  gefordert,  während  das  Konzil 
deren  fünf  bewilligte  und  somit  eine  Weitherzigkeit  zeigte,  zu 
welcher  die  früheren  Klagen  Raynmnds  wenig  palUen,  wenn  der- 
selbe bloß  auf  ein  Kolleg  hingearbeitet  hätte. 

3.  Der  anonyme  Autor  sage,  daß  Raynumd  vmou  Teil  seiner 
Schriflen    «apud    quendiini    riobilem    civitatis   Majoricainm"  *   habe 

'  Die  in  (J'ti  Artn  SS.  p.  041  gobrnchto  Heproduktioii  «l«'r  Kin/^angsworto 
hat  ^in  ffrancia",  eine  LeHart,  die  wohl  auf  einem  Schreibv(!rHehen  beruht.. 

'    Vgl.    l''jHflr-<    frinirlsrnim-s^    toMI.    XV,    J>.    .'142  11 

"  Vgl.  Acta  SS.,  tom.   V.  Jun.,  p.  607  In"  34). 
*  Vgl.    Ar/n  SS.   I.  c.   p    008,   n"  'M. 


< 


10  Raymundus  LuUus. 

aufbewahren  lassen.  Dieser  nobilis  könne  nur  der  Schwieger- 
sohn LuUs  sein,  dem  jedoch  dieser  nicht  nur  seine  Schriften  nicht 
vermacht,  sondern  im  Gegenteil  aufgetragen  habe,  dieselben  dem 
Kloster  de  la  Real  zu  überbringen,  wie  das  Testament  Raymunds 
ausweise.  Dieser  Punkt  sei  also  nur  eine  ungenaue  Anspielung 
auf  das  Testament  Lulls. 

Auf  diese  Gründe  ist  folgendes  zu  erwidern: 
ad  1.  Man  kann  den  Versuch  unterlassen,  das  beanstandete 
„tunc  temporis"  mit  Bestimmtheit  zu  erklären,  und  darf  die  darin 
liegende  auffallende  Ausdrucksweise  ohne  weiteres  als  solche  zu- 
geben. Allein  dieser  Grund  scheint  mir  kaum  imstande  zu  sein, 
die  anderen  durchschlagenden  Gründe,  welche  für  das  höhere  Alter 
der  Biographie  sprechen,  zu  entkräften. 

Biehl  stützt  sich  bei  seinen  Ausführungen  auf  den  Text,  wie 
ihn  die  ActAi  Sanctorum  enthalten.  Nun  ist  aber  sowohl  dieser, 
wie  auch  der  von  Salzinger  ^  wiedergegebene,  nur  unvollständig. 
Dieser  Text  schliefet  mit  der  Bezeichnung  von  drei  Plätzen,  an 
denen  Lullus  seine  Schriften  aufbewahren  liefe  '\  An  diese  Be- 
merkung reiht  sich  nun,  wie  den  vortrefflichen  Ausführungen  von 
Littre^  zu  entnehmen  ist,  in  dem  cod.  lat.  15450  f.  80  der  Bi- 
bliotheque  nationale  ein  in  zwei  Abschnitte  geteilter  Katalog  der 
lullischen  Schriften  an,  der  mit  den  Worten  eingeleitet  wird: 
„Libri,  quos  ipse  fecit,  sunt  hi,  qui  in  hac  pagina  continentur." 
Der  erste  Abschnitt  aber  schliefe,t  mit  der  Bemerkung:  „Isti  libri 
fuerunt  numerati  in  fine  Augusti  anno  MGCCXI".  Der  zweite 
Abschnitt  gibt  noch  einen  Nachtrag  zum  ersten  und  zählt  aufeer- 
dem  solche  Schriften  auf,  die  erst  nach  1311  verfafet  wurden. 
Wenn  nun  auch  die  Biographie  gerade  mit  dem  Jahre  1311 
schliefet,  so  legt  dieses  Zusammentreffen  doch  zum  mindesten 
die  Vermutung   nahe,   dafe   dieselbe   in   diesem   Jahre    geschrieben 


'  li.  Ratpn.  LuJ/i  opcra,  ed.  Moguntina,  tom.  I,  Warum  Salzinger  nicht 
den  ganzen  ihm  vorliegenden  Text  abdrucken  ließ,  läßt  sich  wohl  nicht  sicher 
feststellen;  vielleicht  jius  dem  Grunde,  weil  derselbe  nicht  zu  seinen  alchy mi- 
stischen Bestrebungen  paßte. 

^  „Divulgati  quidem  sunt  libri  sui  per  Universum;  sed  in  tribus  locis 
fecit  eos  praecipue  congregari,  videlicet  in  monasterio  Chartusiensium  Parisiis 
et  apud  quendam  nobilem  civitatis  Januae  et  etiam  apud  quendam  nobilem  ci- 
vitatis Majoricarum."     Acta  SS.  Jun.  t,  V,  p.  668  (n"  37). 

"  Histoire  littei'airc  de  Ja  France,  t.  29,  p.  71. 


I.  Zur  Biographie.     1.  Quellen.  11 

und  im  engen  Zusannmenhang  mit  deren  Schlußworten  der  erste 
Abschnitt  des  Katalogs  angefügt  wurde. 

Dazu  kommt  noch  ein  weiterer  Grund.  Der  cod.  lat.  10561 
der  Münchener  Hof-  und  Staatsbibliothek  bringt  im  Fase.  I  fol.  12 
die  Inhaltsangabe  eines  Pariser  Codex  (wohl  des  oben  zitierten), 
worin  an  vierter  Stelle  die  alte  Biographie  mit  ihren  Eingangs- 
worten (der  volle  Text  ist  schon  fol.  1  —  11  vorausgenommen) 
erwähnt,  dann  aber  gleichfalls  der  Schrittenkatalog  von  1311  mit 
der  Anfangs-  und  Schlußbemerkung  zum  ersten  Abschnitt  aufge- 
führt wird.  Der  Titel  dieser  Inhaltsangabe  lautet  nun  folgender- 
maßen: „Tabula  tractatuum  contentorum  in  volumine  manuscripto 
pergameo  in  fol.  operum  D.  Doctoris  et  Martyris  Raymundi  Lullij, 
quod  servatur  in  Bibliotheca  Magistrorum  et  Dominorum  Docto- 
rum  in  Sorbona.  In  cuius  fine  extremo  et  novissima  pagina  sie 
scriptum  est:  Iste  über  est  pauperum  Magistrorum  de  Sorbona  in 
Theologia  sludentium  Parisius  ex  legato  Thomae  le  Misier  Cano- 
nici Atrebatensis  in  medicina  magistri,  pretii  centum  librarum 
turonensium  anno  Domini  MCCCXXXVl  mense  Septembri.  Anima 
eins  requiescat  in  pace." 

Der  erwähnte  Pariser  Codex,  der  den  lateinischen  Text  der 
Vita  ab  Anonyme  scripta  enthält,  ging  also  schon  im  Jahre  1336 
aus  der  Hinterlassenschaft  eines  Kanonikers  Tliomas  le  Misier 
in  den  Besitz  der  Sorbonne  über;  sie  muß  also  vor  diesem  Jahre 
bereits  geschrieben  vorgelegen  haben.  Ja  es  dürfte  kaum  eine  zu 
gewagte  V^ermutung  sein,  wenn  wir  als  Verfasser  der  Biographie 
eben  diesen  Thomas  le  Misier  ansehen,  welchem  Lullus  als  seinem 
Freunde  eine  eigene  Schrift  dediziertc  und  welcher  .selbst  mehrere 
Werke  Haymunds  überarbeitete. 

ad  2.  Daß  Lullus  in  der  Tat  mehr  als  ein  einziges  Sprachen- 
kolleg anstrebtf*,  wird  sich  später  ergeben.  Was  aber  Biehl  aus 
der  Biographie  herausliest,  muß  nicht  notwendig  in  ihr  gefunden 
werden;  denn  der  Text  sagt  keineswegs,  daß  Lullus  nur  auf  ein 
Kolleg  hinarbeitete,  sondern  in  einem  ganz  allgemein  und  neutral 
gewahltr^n  Ausdruck  schreibt  h'w  ihm  die  Forderung  zu,  „ut  locus 
constitueretur  sufficiens,  in  (|uo  viri  devoti  et  inlellectu  vigentes 
ponerentur,  studentes  in  diversis  linguarum  gcneribus"  '. 

'  Acta  SS.  tom.  cit.  p.  fJO?   (ri"  3«). 


12  Raymundus  Lullus. 

ad  3.  Zunächst  glaube  ich  mit  Biehl,  daL^  unter  dem  an- 
gesehenen Bürger  von  Majorca  der  Schwiegersohn  des  Lullus  zu 
verstehen  sei,  dem  aber  dieser  keineswegs  seine  Schriften  ver- 
machen (leguer)  wollte,  wie  Biehl  der  Biographie  imputiert;  viel- 
mehr spricht  der  Text  nur  von  einem  congregari.  Übrigens  liegt 
bei  Biehl  eine  petitio  principii  vor,  wenn  er  diese  Stelle  als 
eine  ungenaue  Anlehnung  an  Raymunds  Testament  bezeichnet. 
Da  dieses  am  26.  April  1313  abgefai3t  wurde,  so  ist  der  gemachte 
Einwand  nur  unter  der  Voraussetzung  denkbar,  dafs  die  Vita  Ano- 
nymi nach  diesem  Zeitpunkt  geschrieben  w^urde.  War  sie  aber, 
wie  die  Handschriften  andeuten  und  wie  bisher  angenommen 
wurde,  bereits  im  August  1311  abgeschlossen,  dann  ist  ja  ihr 
Bericht  nicht  mehr  ungenau.  Denn  nur  wenn  Lullus  seine  Werke 
bei  seinem  Schwiegersohn  hinterlegt  hat,  kann  er  ihm  1313  den 
Auftrag  geben,   dieselben  dem  genannten  Kloster  zu   überbringen. 

So  gestattet  uns  meines  Erachtens  die  Kritik  nicht  bloß,  an 
der  Authentizität  der  Biographie  festzuhalten,  sondern  sie  zwingt 
uns  dazu.  Dagegen  mag  über  die  Form  gestritten  werden,  in 
welcher  dieselbe  zuerst  abgefa&t  wurde.  Wie  PasquaP  be- 
richtet, hatte  dieser  ein  Exemplar  dieser  Vita  in  katalonischer 
Sprache  zur  Vorlage,  das  in  manchen  Einzelheiten  eine  grötiere 
Einfachheit  erkennen  läßt.  Während  Cu sturer  dasselbe  für  eine 
Übersetzung  aus  dem  lateinischen  Original  hielt,  kommt  Pasqual 
zum  umgekehrten  Resultat,  obgleich  die  ihm  vorliegende  Hand- 
schrift den  Charakter  des  15.  Jahrhunderts  aufweist'-^.  Jedenfalls 
existierte  der  lateinische  Text  schon  im  Jahre  1336. 

Diese  Vita  coaetanea  bildet  den  Grundstock  für  alle  späteren 
Biographien,  die  über  Lullus  verfaßt  wurden.  Aus  ihr  hat  der 
schon  oben  erwähnte  Carolus  Bovillus  (Charles  Bouille)  ge- 
schöpft, der  freilich  zu  seiner  1511  geschriebenen,  1514  gedruckten 


'    Vindicinc  LnlH(tn<ii',  toni.  I.     Vita  B.  Raymundi  Lulli,  p.  4. 

'^  Eine  Publikation  des  katalonischen  Textes  ist  für  die  nächste  Zeit  ge- 
plant in  der  gegenwärtig  erscheinenden  Sammlung  „Ohres  de  Ratnon  Lull. 
Kdicio  origimd  feta  en  risfa  deh  tni/lors  ij  nu's  antichs  tnanK.^cn'f.s".  Palma 
de  Mallorca.  'Vol.  I.  1906.  Vol.  II.  1906-1908.  Der  verdienstvolle  Heraus- 
geber der  Sammlung,  M.  Obrador  y  Benassar,  mit  dem  ich  nach  Schluß 
der  Arbeit  zusammenzutreffen  Gelegenheit  hatte,  ist  der  Ansicht,  daß  der  latei- 
nische und  katalonische  Text  ziemlich  gleichzeitig  entstanden  seien. 


I.  Zur  Biographie.     1.  Quellen.  13 

Arbeit  auch  mündliche  Mitteilungen  verwertete  und  schon  manche 
sagenhafte  Züge  mit  der  historischen  Wahrheit  verflocht  ^  An 
ihn  reiht  sich  eine  ganze  Kette  von  Lull-Biographen  an  -,  aber 
bald  mehr  bald  weniger  tritt  Phantasie  und  Dichtung  an  Stelle 
der  einfachen  Erzählung  in  der  Vita  coaetanea.  Zu  ihrem  vollen 
Rechte  kam  die  Kritik  in  den  „Disertacmies  historicas  del  ciilto 
immemorial  del  B.  Raymundo  Lullio^'  ^  des  spanischen  Jesuiten 
Jac.  Gusturer,  sowie  in  der  Abhandlung,  die  dessen  Ordens- 
genosse J.  B.  Sollier  für  die  Aufnahme  in  die  Acta  Sanctonim^ 
der  Bollandisten  abfaßte.  Gegen  den  Vorwurf  der  Häresie 
wurde  Lullus  von  Ant.  Raym.  Pasqual  in  einer  umfangreichen 
Arbeit  verteidigt,  deren  erster  Band  eine  ziemlich  kritische  Bio- 
graphie enthält '". 

Aus  der  neueren  Zeit  ist  namentlich  Littre  zu  nennen,  dessen 
wertvolle  Notizen  über  das  Leben  und  die  Schriften  des  Ray- 
mundus  Lullus  in  der  Histoire  litteraire  de  la  France  ^  niedergelegt 
sind.  Gut  und  kritisch  gearbeitet  sind  die  von  Hartmann '^  und 
Zöckler^  über  Lullus  verfa&ten  Artikel,  Die  in  neuester  Zeit 
fast  gleichzeitig  erschienenen  Arbeiten  von  M.  Andre",  Zwemer^^ 
und  Barber^^  seien  nur  erwähnt.  Eine  gut  orientierende  Zu- 
sammenfassung über  das  Leben  und  einen  Teil  der  Schriften 
Lulls  gibt  P.  Girolamo  Golubovich  in  seiner  Bibliotheca  bio- 
bibliografica  della   Terra  Hanta  e  deW  Oriente  Francescano^-. 


*  Acta  SS.  Jun.  t.  V,  p,  668:  Vita  II.  auctore  Carolo  Bovillo  .  .  .  Con- 
clusiuncula  (p.  673):  „llaec  sunt,  .  .  .  quae  .  .  .  partim  audita,  partim  litteris 
perspecta  vora  esse  credo." 

■'  Acta  SS.  Jun.  t.  V,  p.  639  f. 

»  Mallorca  1700.         '  Jun.  t.  V,  p.  633-736. 
A.   H.   Pasqual,      Vintfiridr  LnllitUKn;  sirc  ilemonstratio  crUint   itn)ni(- 
nitatiH  (ioc(n'n((f  illuinindti  (/orforis  li.    Ii<ii/)ni(H(h'   Lnf/i  MdrfijriH    ab    crrorihus 
eidnn  a   Xicolao  h'i/nit'rico  itnjj(iciis,  a  ct^n.suj'is  dh  Albitio  (.'ariiinali  relatis,  rv- 
lujuiHtjue  nliorum  liturin.     Tom.  I  — IV.     Avenione  1787. 

«  Tom.  29,  p.  1-886. 

'  Wetz  er- Weite,   Kirrhnilcxihon',  X,  747-753. 

"  Uenlencyklojn'ltlif  für  prot.   T/nol.   ii.  Kirche  \   Hd.  11,  S.  706     716. 

"  Le  hienhi'ut'cii.r   /{tii/inomf    /jkUc^   i'aris    lÜOO. 

'**  I{(njnn(n<l   l.ull^    l-'iisl   Missiotinri/  lu  Ihr  Mosiftns.     New    ^ Ork    1902. 

"    If/ii/nnint/    f^u//^    fhi-   Hl iiininntfil  tloiiftr.     A   sh((/i/   In    niril iii'iil    inissions. 
London  1903. 

■'  Quaracclii.     Tom.   1  (1906y,  p.  361—392. 


14  Raymundus  Lullus. 

Eine  Ergänzung  der  Vita  coaetanea,  zum  Teil  auch  eine 
Bestätigung  derselben  bilden  die  Mitteilungen,  welche  Lullus  selbst 
in  seinen  Schriften  über  sein  Leben  macht.  Doch  ist  in  P3e- 
nutzung  dieser  Angaben  grofäe  Vorsicht  geboten;  denn  die  reiciie 
Phantasie,  mit  der  Räymund  begabt  ist,  kommt  oft  auch  in  seinen 
Schriften  zum  Durchbruch,  und  es  ist  häufig  schwer  zu  unter- 
scheiden, was  in  seinen  Werken  als  nüchtern^  Wirklichkeit  und 
was  als  allegorische  Einkleidung  oder  mystische  Übertreibung  an- 
gesehen werden  muß.  Dazu  kommen  noch  einzelne  offizielle  Akten- 
stücke, die  auf  das  Leben  und  die  Tätigkeit  Raymunds  Bezug 
haben.  Hier  scheint  sich  allerdings  der  Forschung  noch  ein  ziem- 
lich weites  Gebiet  zu  eröffnen,  sei  es  um  die  in  spanischen  Archi- 
ven und  Bibliotheken  noch  etwa  verborgenen  Dokumente  ans 
Licht  zu  bringen,  sei  es  um  die  über  schon  bekannte  Schriftstücke 
noch  bestehenden  Zweifel  zu  zerstreuen. 


IL  Kapitel. 
Lulls  Jugendleben. 

Über  Geburt  und  Kindheit  Raymund  Lulls  berichtet  uns  die 
Vita  coaetanea  nichts;  jedoch  gibt  uns  ein  Bericht  über  die  Unter- 
suchung, die  der  Bischof  von  Tarragona  auf  Befehl  des  Papstes 
Gregor  XL  anläE^lich  des  Streites  über  Raymunds  Orthodoxie 
angestellt  haben  soll,  näheren  Aufschlulä  ^ 

Lullus  entstanunt  darnach  einer  katatonischen  Adelsfamilie, 
die  ursprünglich  ihren  Sitz  in  Barcelona  hatte.  Aber  schon  im 
Jahre  1229  war  sein  Vater  mit  Jakob  L  von  Aragonien  zur  Er- 
oberung der  Insel  Majorka  ausgezogen  und  hatte  sich,  nachdem 
der  Zug  am  letzten  Tag  dieses  Jahres  -  siegreich  beendigt  wurde. 


'  Diese  „Informatio  Än'hiejtiscopi  Tarraconensh'^  ist  abgedruckt  bei 
Pasqual,  Vindiciae  Lid/.  Tom.  I,  p.  H84— 403.  Die  Echtheit  derselben  steht 
nicht  unzweifelhaft  fest;  da  dieselbe  aber  andrerseits  den  Angaben  lullischer 
Schriften  und  sonstiger  lierichte  nicht  widerspricht,  so  dürfen  wir  in  ihr  wolil 
die  Tradition  erblicken,  wie  sie  sich  um  die  Wende  des  14.  und  15.  Jahrhunderts 
entwickelt  hatte. 

-  Lafuente  nimmt  das  Jahr  1228  an.  Vgl.  i\l.  Ijafuente,  Historia 
general  de  Espana.  Tom,  V,  p.  409.  Zur  Erklärung  dieser  Verschiedenheit 
ebd.  Anni.  1. 


I.  Zur  Biographie.      2.  Jugendleben.  15 

daselbst  ansässig  gemacht.  Hier  erblickte  Rayinund  das  Licht  der 
Welt,  doch  läßt  sich  das  Jahr  seiner  Geburt  nicht  genau  bestim- 
men. Wohl  hat  PasquaH  auf  Grund  einiger  Angaben,  die  Lullus 
im  Liher  magnus  content plationls  und  in  mehreren  anderen  Schriften 
macht,  das  Jahr  1232  als  Geburtsjahr  nachzuweisen  gesucht;  aber 
er  muß  zu  seiner  Beweisführung  die  Texte,  auf  welche  er  sich 
stützt,  so  sehr  pressen  und  daneben  so  viele  Kunstgriffe  an- 
wenden, daß  die  von  ihm  festgehaltene  Zeitangabe  doch  zu  ge- 
sucht erscheint.  Mehr  läßt  sich  mit  Sicherheit  kaum  nachweisen, 
als  daß  die  Geburt  Ravmunds  in  die  Mitte  der  dreißiger  Jahre 
des  1 3.  Jahrhunderts  zu  verlegen  ist  ^. 

Seine  erste  Jugendzeit  verlebte  Raymund  am  Hofe  des  Königs 
Jakob  I.  von  Aragonien  (Jaime  I.  el  Conquistador);  später  erhielt 
er  das  Amt  eines  Seneschall  bei  dessen  gleichnamigem  Sohne,  dem 
nachmaligen  König  Jakob  von  Mallorka. 

Die  Bildung,  welche  Lullus  während  seiner  Jugendzeit  sich 
aneignete,  war  jedenfalls  keine  gelehrte.  Aber  wenn  auch  die 
Informatio  Archiepiscopi  Tarraconensis  ihn  „generali  scientiarum 
et  liberalium  artium  ignorantia  gravatus"  nennt,  so  dürfen  wir 
doch  nicht  annehmen,  daß  er  seine  Jugendjahre  ganz  im  Nichts- 
tun durchlebt  habe.  Am  Hofe  erzogen,  wurde  er  eben  in  die 
höfische  Bildung  jener  Zeit  eingeführt  und  eignete  sich  auch  die 
höfischen  Sitten  und  Gepflogenheiten  des  13.  Jahrhunderts  an; 
diesen  blieb  er  treu  als  Seneschall,  und  auch  der  Ehestand,  in 
den  er  inzwischen  getreten  war,  brachte  hierin  keine  Änderung. 
Es  war  die  Zeit,  in  welcher  der  Minnesang  an  den  Höfen  in 
Blüte  kam,  und  diese  Beteiligung  am  Tun  und  Treiben  der 
Minnesänger  mit  seinen  guten  Seiten,  aber  auch  mit  seinen 
Auswüchsen  und  Freiheiten  ist  wohl  gemeint,  wenn  die 
Vita  coaetanea,  deren    Bericht   hier   einsetzt,    von  Raymuiid    sagt. 


>    Vinfi.  Lull.     Tom.  I,  p.  18     16. 

'  Die  htfornififio  Arrhir/».  'rarrar.  sagt:  ,non  diu  post  ncquisitionem 
iliiuH  insulae  (Majorku  int  gemeint)  super  Mauros  die  ultima  aiiiii  1229  cclcliratam 
natus;  et  quidem  8ub  Hanctae  memctriae  Gregorio  l'apa  IX.  u(i(M)<|u<>  iion  solum 
ante  Dominum  Fapam  Alexandrum  IV.,  8ed  et  ante  Dominos  l'apan  Innocun- 
tium  IV.  et  (JoeloHtinum  W ."  (I'untjual,  Vitid.  Lull.  Tom  I,  p.  W^h).  Der 
letztere  Zu^iatz  hat  oflcnbar  den  Zweck,  Verwecliylun;^ori  unneren  KaymunduH 
mit  anderen  Trägern  dieuea  Namenu  entgegenzutreten  oder  vurzubeugen. 


16  Raymundus  Lullus, 

daß  er  „iuvenis  adhuc  in  vanis  cantilenis  seu  carminibus  com- 
ponendis  et  aliis  lasciviis  saeculi  deditus  esset  nimis"  ^.  Wenn 
Lullus  selbst  in  späteren  Schriften  sich  ziemlich  mißfällig  über 
sein  Jugendleben  ausspricht,  so  ist  dabei  zu  bedenken,  daß  ein 
solches  Urteil  von  der  viel  ernsteren  Lebensauffassung  diktiert  ist, 
der  er  sich  inzwischen  zugewandt  hatte.  Er  war  gewiß  nicht 
besser,  aber  wohl  auch  nicht  schlechter  als  andere  Personen 
aus  seinem  Milieu.  Es  ist  ebenso  verfehlt,  wenn  man  seine  Ver- 
standesbildung auf  das  tiefste  Niveau  herabzudrücken  sucht,  wie 
es  unangebracht  ist,  ihn  nach  der  ethischen  Seite  hin  als  den 
Ausbund  aller  Lasterhaftigkeit  hinzustellen,  besonders  wenn  es 
zu  dem  Zweck  geschieht,  damit  seine  spätere  übernatürliche  Er- 
leuchtung und  Bekehrung  in  desto  wunderbarerem  Lichte  erstrahle. 


III.  Kapitel. 
Sinnesänderung.     Lebensaufgabe. 

Mitten  in  seiner  Troubadourtätigkeit,  während  er  mit  der 
Abfassung  eines  Liebesgedichtes  beschäftigt  ist,  wird  Raymund 
aufgeschreckt  durch  die  Erscheinung  des  Gekreuzigten,  welche 
sich  in  den  folgenden  Tagen  noch  viermal  wiederholt. 

Es  hat  für  uns  kein  Interesse,  in  den  Streit  über  das  Wesen 
und  den  Charakter  dieser  Visionen  einzugreifen ;  für  unseren  Zweck 
ist  nur  die  Wirkung  von  Bedeutung,  die  sie  auf  Raymund  aus- 
übten. Dieser  betrachtete  das  Vorkommnis  als  eine  übernatür- 
liche Mahnung,  eine  andere  Lebensweise  zu  beginnen,  und  mit 
dem  nämlichen  Feuereifer,  mit  dem  er  bisher  dem  Minnedienst 
gehuldigt,  strebt  er  jetzt,  diesem  Ruf  zu  folgen.  Er  geht  mit  sich 
zu  Rate,  wie  er  Gott  am  besten  dienen  könne,  und  das  Resultat 
seiner  Erwägungen  ist  ein  dreifaches:  bei  der  Bekehrung  der  Un- 
gläubigen das  Martyrium  zu  linden,  ferner  ein  Buch  gegen  die 
Irrtümer  der  Ungläubigen  zu  schreiben  und  endlich  beim  Papst 
und  den  christlichen  Fürsten  auf  die  Errichtung  von  Häusern  hin- 
zuarbeiten, in  welchen  geeignete  Personen  zum  Zweck  einer  er- 
folgreichen Missionstätigkeit  die  Sprachen  der  Ungläubigen,  nament- 


*  cap.  I,  1.     {Acta  SS.  tom.  cit.  p.  661.) 


I.  Zur  Biographie.      8.  Sinnesänderung.    Lebensaufgabe.  \1 

lieh  das  Arabische,  erlernen  sollten.  Unter  diesen  Ungläubigen, 
gegen  die  seine  Pläne  gerichtet  sind,  versteht  er  namentlich  die 
Sarazenen,  die  arabische  Bevölkerung,  deren  Vorherrschaft  auf 
den  Balearen  zwar  gebrochen,  die  aber  doch  nicht  gänzlich  ver- 
schwunden war,  die  sodann  in  Spanien  überall  unter  den  Christen 
lebte  und  die  besonders  das  nördliche  Afrika  bewohnte  K 

Hier  taucht  zum  erstenmal  das  Ziel  auf,  welches  LuUus  nun 
während  seines  ganzen  Lebens  verfolgt.  Man  begegnet  diesen 
Plänen  von  jetzt  ab  auf  Schritt  und  Tritt,  manclimal  in  modi- 
fizierter Form,  aber  immer  mit  dem  einen  Grundgedanken,  der 
auch  hier  schon  jenem  dreifachen  Plan  zugrunde  liegt:  dem  Einfluß 
entgegenzuarbeiten,  den  das  Arabertum  auf  das  christliche  Abend- 
land ausübte. 

Lullus  verhehlte  sich  keineswegs  die  Schwierigkeiten,  welche 
der  Ausführung  seines  Entschlusses  im  Wege  standen.  Aber  mit 
jener  Entschiedenheit,  die  ihn  auch  in  der  weiteren  Verfolgung 
des  einmal  gesteckten  Zieles  so  sehr  auszeichnet,  trifft  er  alsbald 
Vorkehrungen,  dieselben  zu  überwinden. 

Vor  allem  ist  es  der  Mangel  wissenschaftlicher  Bildung,  der 
ihm  Sorge  bereitet.  Daher  beschlol.^  er,  sich  nach  Paris  zu  be- 
geben, um  dort  das  in  der  Jugend  Versäumte  nachzuholen,  und 
nur  die  Vorstellungen  seiner  Umgebung,  besonders  der  Eiiiflul.^ 
Raymunds  von  Penaforte,  konnten  ihn  von  diesem  Vorhaben 
abbringen.  Er  kehrte  von  den  Wallfahrten,  die  er  unternommen, 
wieder  nach  Majorka  zurück,  aber  nicht  um  seinen  Plan  aufzu- 
geben, sondern  um  dort  wenigstens  teilweise  sich  jene  Ausbildung 
anzueignen,  die  ihm   Paris  hätte  bieten  sollen. 

Noch  ein  zweites  Hindernis  muLHe  überwunden  werden. 
Wenn  die  Kenntnis  der  Sprache  der  Ungläubigen  notwendig  wai-, 
um  hei  denselben  niil  Erfolg  missionieren  zu  können,  dann  konnte 
auch  er  ihnen  den  (ilaiihen  nicht  predigen,  wenn  er  ihie  Sprache 
niclit  verstand.  Daher  nahm  er  sich  zu  gleicher  Zeit  eiiK.Mi  ;ira- 
bischen  Diener,  um  unter  dessen  Anleitung  diesem  Maiij^el  ah/.u- 
lielfen,  und  trotzdem  er. schon  etwa  IM)  Jahre  zählte,  erreichte  er 

'  „SariicenoH,  qui  huh  multitudine  C'hrit*tiunoH  undiquc  rircufiKMnKunt." 
\'i/u  fottt't.  cap.  I,  3,     {Artti  SS.  toin.  cit.  p.  fjfll.) 

li«- i  t  nitC*'   ^II<  4--.'i.     K<'ii'li<-r.    KttyiiiiiiKlii»   Liillii-.  J 


18  Baymundus  Lullus. 

dennoch  dabei  eine  solche  V^ollkonunenheit,  daLi  er  imstande  war, 
einige  seiner  Schriften  arabisch  abzufassen. 

Raymunds  Pläne  sind  nun  keineswegs  originell.  Der  Missions- 
eifer, von  dem  er  erfäfet  wurde,  blühte  um  diese  Zeit  besonders 
in  den  neugegründeten  Orden  der  Franziskaner  und  Dominikaner. 
Der  Ordensgeneral  der  letzteren,  Raymund  von.  Pefiaforte,  wulMe 
auch  den  aragonischen  Hof  für  den  Gedanken  der  Missionierung 
zu  gewinnen,  und  eine  solche  Bewegung  konnte  unserem  Ray- 
niundus  Lullus  wohl  nicht  entgehen,  auch  wenn  ihm  das  Hofleben 
keine  Zeit  ließ,  sich  mit  diesen  religiösen  Fragen  näher  zu  be- 
fassen. Aber  auch  der  Gedanke,  Studienhäuser  zur  Erlernung 
der  Sprachen  zu  gründen,  war  nicht  neu.  Gerade  im  Domini- 
kanerorden finden  wir  schon  frühzeitig  eine  dahin  zielende  Bewe- 
gung. Schon  das  spanische  Provinzialkapitel,  das  1250  zu  Toledo 
abgehalten  wurde,  bestimmte  eine  Anzahl  von  Ordensmitgliedern 
für  das  Studium  des  Arabischen^.  Eine  gleiche  Verordnung  er- 
ließ das  Generalkapitel  zu  Valenciennes  im  Jahre  1259'-.  Mög- 
licherweise wurde  Lulkis  zu  dem  Entschluß,  ein  Buch  gegen  die 
Ungläubigen  zu  schreiben,  gleichfalls  durch  Beispiele  angeregt,  die 
er  vor  Augen  hatte.  Thomas  von  Aquino  hatte  ja  zu  dem 
gleichen  Zwecke  im  Auftrage  seines  berühmten  Ordensgenerals  die 
Summa  contra  gentües  abgefaßt,  und  wenn  die  in  neuester  Zeit 
aufgestellte  Behauptung  richtig  ist,  daß  Raymund  Martini  einen 
Teil  seines  Put/io  fidel  bereits  vor  der  Summa  contra  (jcntiles  ge- 
schrieben habe  '^,   so    konnte  Lullus  auch    davon    Kenntnis   haben. 


IV.  Kapitel. 

Die  Ars  generalis. 

Das  erste,  was  Raymund  von  seinen  Plänen    in  Ausführung 
brachte,  war  die  Schrift  gegen  die  Ungläubigen,  die  Ars  ijeneraUs. 


'  Mortier,  Hisfolre  des  »laifres  </nu'rnu.r  de  Vordre  des  freres  Precheurs. 
t.  I  (l'aiis  1903),  p.  519. 

^  Momimenta  ordinis  frutruni  rrnedlcatorum  Ilistorird.  t.  III  (Acta 
Capitiilorum  geneialiuni.    Vol.   i),  p.  98  (rec.  fr,  13.  M.  Reichert.  Romae  1898). 

'  Miguel  Asin,  EJ  ((rerrois}no  teologt'co  de  Snnto  Tomas  de  Aquino. 
Zaragoza  1904. 


I.  Zur  Biographie.      4.  Die  Ars  generalis.  19 

Nachdem  er  neun  Jahre  lang  sich  dem  Studium  der  Grammatik 
und  der  arabischen  Sprache  gewidmet,  zog  er  sich  auf  den  Berg 
Randa  in  die  Einsamkeit  zurück.  Hier  nun,  so  erzählt  die  Vita 
Anonijmi,  erleuchtete  Gott  seinen  Geist,  „dans  eidem  formam  et 
modum  faciendi  librum,  de  quo  supra  dicitur,  contra  errores  in- 
fidehum"  ^  Die  Frage  nach  dem  Ursprung  des  Buches  scheidet 
hier  völlig  aus.  Was  man  auch  immer  unter  forma  und  modus, 
die  auf  übernatürhchen  Einflufe  zurückgeführt  werden,  verstehen 
mag,  die  Worte  der  Vita  wie  zahlreiche  diesbezügüche  Andeutungen 
in  den  Schriften  Lulls  können  nur  den  dem  Mittelalter  ganz  ge- 
läufigen Sinn  haben,  wonach  das  unmittelbare  Ergebnis  eigenen 
Forschens  und  Nachdenkens  einer  höheren  Ursache  zugeschrieben 
wird.  Für  uns  ist  nur  die  Tatsache  von  Bedeutung^  daß  dieses 
gegen  die  Ungläubigen  gerichtete  Buch  kein  anderes  ist  als  die 
viel  gerühmte  und  noch  mehr  geschmähte  Ars  generalis.  In  ihr 
glaubte  Lullus  ein  Mittel  gefunden  zu  haben,  das  mit  Erfolg  zur 
Verteidigung  des  Glaubens  in  Anw^endung  gebracht  werden  könnte. 
Wie  hoffte  er  nun  dieses  Ziel  zu  erreichen?  Die  Vita  coaetanea 
sagt:  „Goepit  ordinäre  et  facere  librum  illum,  vocans  ipsum  primo 
Artem  maiorem,  sed  postea  Aitem  generalem,  sub  qua  arle 
plures  .  .  .  fecit  libros,  in  eisdem  multum  generalia  principia  ac 
magis  specifica,  secundum  capacitatem  simph'cium,  prout  experi- 
ontia  eum  docuerat,  explicando"  '^. 

Das  Wesen  der  Ars  generulis  machen  demnach  die  „prin- 
cipia" aus,  welche  derselben  zugrunde  liegen  und  in  ihr  erklärt 
werden  sollen.  Ein  Teil  dieser  principia  stellt  sich  nun  zunächst 
dar  als  eine  Reihe  abstrakter  Begriffe,  und  diese  sind  es,  von 
welchen  sich  Raymund  im  Kampfe  gegen  dun  Unglauben  einen 
Erfolg  verspricht.  Si(.'  bilden  den  (Mgentlichen  Kern  nicht  bloti 
der  Ars  lullianu,  sondern  des  ganzen  lulli sehen  Systems. 

Daneben  niuü  aber  in  Erwägung  gezogen  werden,  zu  wessen 
(iunsten  I.ullns  .seine  Ars  ausgesonnen  hat.  Das  gewöhnliehe  Volk, 
das  mitten  unter  den  Ungläubigen  l<l)l  und  unter  deren  bestän- 
digen Einwnrf(.*n  gegen  den  rhrisilichen  (ilaiihcii  /n  leiden  hat, 
ist  CS  in  erster  Liin'e,    dem  der  apologetiscln;  /weck    der  Ais   t/c- 


'  CH|).  II,  10.     (Arta  SS.  toin.  cit.  p.  r,f;:{.) 
'  rap.   If.  10,     {Arta  SS.  p.   fWi.S.) 


Q  >« 


20  Raymundus  Lullus. 

neralls  zugute  kommen  soll.  Ihm  wollte  Raymund  damit  ein 
Mittel  an  die  Hand  geben,  sich  dieser  Angriffe  zu  erwehren,  aber 
zugleich  sich  selbst  und  den  Gegnern  Rechenschaft  über  die  Wahr- 
heit seines  Glaubens  abzulegen.  Sollte  dieser  Zweck  erreicht 
werden,  dann  mutete  das  Volk  mit  diesen  abstrakten  Begriffen 
umgehen  lernen;  daher  ist  ein  anderer  Teil  der  principia  mehr 
praktisch  gehalten,  in  diesem  Teil  wird  in  einer  vielleiciit  tra- 
ditionell festgelegten  Reihenfolge  eine  Anzahl  von  Fragen  ange- 
geben, nach  welchen  ein  Gegenstand  untersucht  werden  kann, 
es  werden  die  Subjekte  näher  bezeichnet,  auf  welche  diese  Fragen 
Anwendung  finden  sollen,  es  wird  eine  Anleitung  gegeben,  wie 
man  dieselben  auch  auf  das  moralische  Gebiet  übertragen  könne. 

So  stellt  sich  die  Ars  zunächst  dar  als  eine  Art  heuristischer 
Methode,  durch  welche  auch  Ungeschulten,  die  über  vorgelegte 
Zweifel  und  Einwürfe  nicht  selbständig  zu  entscheiden  vermocliten, 
auf  schematischem  Wege  Gedanken   aufgedrängt  werden  muLHen. 

Diese  beiden  Prinzipienreihen,  die  abstrakten  Begriffe  sowie 
die  praktische  Anleitung,  mit  denselben  umzugehen,  sollen  endlich 
noch  eine  w^eitere  Unterstützung  finden  in  der  eigenartigen  äul.^eren 
Technik,  welche  Lullus  seiner  Ars  beigegeben  hat.  Die  Kreise 
und  geradlinigen  Figuren,  deren  er  sich  bediente,  sollen  einerseits 
noch  eine  weitere  Nachhilfe  sein,  um  die  konkreten  Fragen,  die 
eine  Lösung  verlangten,  zu  den  abstrakten  Begriffen  in  Beziehung 
zu  bringen,  andrerseits  aber  mag  Raymund  damit  wohl  auch  die 
Absicht  verbunden  haben,  den  Inhalt  jener  abstrakten  Begriffe  in 
symbolischer  Weise  zur  Anschauung  und  so  dem  Verständnis 
näher  zu  bringen.  Ob  diese  mechanische  Darstellung  eine  geeig- 
nete Metliode  war,  dieses  Ziel  zu  erreichen,  mag  dahingestellt 
sein;  aber  sicher  war  es  ihre  Aufgabe  nicht,  sich  ihren  wissen- 
schaftlichen (liehalt  sell)st  zu  konstruieren,  die  Prinzipien,  die  zur 
Verteidigung  des  Glaubens  dienen  sollen,  selbst  zu  finden.  Dieser 
Inhalt  der  Ars  generalis  steht  vielmehr  der  äuiäeren  Form  als 
etwas  ganz  Selbständiges  gegenüber;  er  mag  durch  eigenes  Nach- 
denken gefunden  oder  aus  irgend  welchen  Quellen  geschöpft  sein, 
aber  jedenfalls  ist  er  von  auL^en  her  in  die,  vielleicht  starre.  Form 
der  Ars  hineingegossen,  oder  besser,  hineingezwängt.  Und  die 
Ars  soll  keine  Maschine  sein,   welche  an  Stelle  des  Denkens   das 


I.  Zur  Biographie.      4.  Die  Ars  generalis.  21 

Drehen  von  Kreisen  setzt.  Wer  der  Vernunfterkenntnis  eine  so 
hohe  Stellung  einräumt,  wie  LuUus  es  getan,  der  wäre  ein  psycho- 
logisches Rätsel,  wenn  er  daneben  von  einem  äußeren  Mecha- 
nismus, von  der  bloßen  Kombination  allgemeiner  Begriffe,  einen 
erkenntnistheoretischen  Fortschritt  erhoffen  wollte.  Vielmehr  soll 
jene  Ars  das  endgültige,  fertige  Resultat  menschlichen  Denkens  und 
Forschens  denjenigen  in  einer  leicht  faßlichen  Form  bieten,  welche 
selbst  nicht  imstande  sind,  sich  im  einzelnen  Fall  die  Verteidi- 
gungsgründe für  ihren  Glauben  zurecht  zu  legen.  In  dieser  Hin- 
sicht verfolgt  also  die  Ars  (jeneralis  neben  dem  apologetischen 
noch  einen  populär-didaktischen  Zweck.  Darum  hat  Lullus 
auch  stets  an  seine  Ars  die  verbessernde  Hand  angelegt,  sie  nach 
verschiedenen  Gesichtspunkten  bearbeitet  und  den  anfangs  allzu 
komplizierten  Apparat  derselben  schon  bald  vereinfacht  ^ 

Die  lullische  Methode  ist  in  dieser  Beziehung  tatsächlich  eine 
Ars^  weil  sie  eine,  wenn  auch  symbolische,  so  doch  immerhin 
künstliche  Anordnung  eines  bestimmten  wissenschaftlichen  Stoffes 
darstellt;  sie  ist  auch  eine  Ars  generalis,  aber  nicht  deswegen, 
weil  man  vermittelst  derselben  Aufschlul.^  über  alle  möglichen 
Fragen  und  Probleme  erhalten  kann,  sondern  weil  sie  sich  stützt 
auf  die  principia  generaUa. 

Wenn  Lullus,  wie  oben  angedeutet  wurde,  sein  System  nicht 
auf  einmal  durch  plötzliche  P^rleuchtung  von  oben  empfangen  hat, 
wenn  dasselbe  vielmehr  die  F'ruclit  eigener  Arbeit  ist,  so  taucht 
die  Frage  auf,  wann  er  denn  dasselbe  ausgebildet  habe.  Die 
Antwort  darauf  scheint  nicht  allzu  schwierig.  Es  ist  kaum  an- 
zunehmen, daf^  Raymund  während  seines  neunjährigen  Aufent- 
lialtes  auf  Majorka  sich  ausschlietMich  dem  Studium  der  lateini- 
sclien  und  arabischen  Sprache  liiiigegeben  habe  -.     Vielmehr  hatte 


'  Die  Vita  conet.  bemerkt  cap.  II,  14  (Acht  SS.  p.  063),  ilul.'i  Lullus  wjili, 
reiifl  Heines  Anfentlialtes  in  Montpellier  die  Ars  inmifirti  rrrihills  fortiggt'.'st(!llt. 
habe,  „ponendo  in  ipso  libro,  nee  non  et  in  omnibus  aliis  lil)ri.s  <|H().s  ex  tunc. 
fecit,  quattuor  tantum  figuraB,  resecatis  seu  potius  diB.sinuilatis,  proph'r  fragi- 
litatem  huniani  intellectus  quam  f'uerat  expcrtu/)  I'ariHÜH,  diiodecim  figuris  ex 
sexdecim  qua«  posuerat  in  Ait(j  sua  " 

•'  Iher  int  noch  die  Nehenfrage  zu  erörtern,  oli  Lullus  (iberliaupl  Lal«'in 
veratftnden  habe.  Der  ungenannte  V^erfassor  der  „  Vurstndicn  iihrr  ihts  I, fluni 
des  Hfl  j/m  lind  UM  IjhIIiih**  (Honner  ^Zrilurhri/f  (iir  I'liiittsttf/Iiir  u.  La/h  I'hi'oloi/ir" , 
1852,   Heft  ^3)   neigt  (/,  r.  p    fi'J  ti  )  dn    Auhiclit   zu,  dali   Lullus   wrih-r   \ui    mich 


22  Raymundus  Lullus. 

er  hier  MuL^e  genug,  sich  in  die  Scholastik  einführen  zu  lassen 
und  zü  gleicher  Zeit  in  den  Ideenkreis  arabischer  Philosophie  und 
Theologie  sich  einzuleben  und  sich  so  die  Waffen  für  den  ge- 
planten Kampf  gegen  den  Arabismus  herzurichten.  Im  taglichen 
Umgang  bot  sich  ihm  Gelegenheit,  die  Einwürfe  der  Ungläubigen 
gegen  das  Christentum  näher  kennen  zu  lernen,  sich  in  der  Zurück- 
weisung derselben  zu  schulen  und  so  allmählich  ein  System  christ- 
licher Religionsphilosophie  auszubauen,  das  den  Gegensatz  zum 
Arabismus  bilden  sollte. 

Die  Vita  coaetanea  erwähnt  allerdings  aufser  dem  angeführten 
Sprachenstudium  von  all  dem  nichts,  sondern  geht  über  den  ge- 
nannten Zeitraum  von  neun  Jahren  nach  einigen  nebensächlichen 
Bemerkungen  stillschweigend  hinweg.  Es  ist  nun  keineswegs 
das  Bedürfnis,  diese  verhältnismälMg  lange  Frist  mit  einer  ent- 
sprechenden Tätigkeit  seitens  Lulls  auszufüllen,  welches  jene  Ver- 
mutungen aufgedrängt  hat;  vielmehr  haben  andere  Gründe  dazu 
geführt. 

In  der  alten  Biographie  wird  nämlich  erzählt,  dafa  bald  nach 
dem  einsamen  Leben  auf  dem  Berg  Handa  der  König  von  Ma- 
jorka  ',  „audito,  quod  Raymundus  iam  fecisset  multos  libros"  '-', 
Lullus  nach  Montpellier  kommen  und  dessen  Bücher  hier  durch 
einen  Franziskaner  prüfen  liet^.  Vorzüglich  war  es  der  Liber  mag- 
nus  contemplaüoniSy   der  das  Lob  des  Examinators  fand.     Da  nun 


nach  seiner  Bekehrung  die  Sprache  der  Gelehrten  verstanden  hahe.  Dabei  stützt 
er  sich  auf  eine  Stelle  der  Vlia,  welche  sagt,  „utpote  qui  nee  etiam  de  gram- 
niatica  aliquid  forte  nee  niinimum  didicisset"  (cap.  I,  3.  Ada  SS.  p.  661)  und 
faßt  hier  (jranimatica  ausdrücklich  in  der  Bedeutung  von  „lateinische  Sprache". 
Er  übersieht  aber,  daß  weiter  unten  (cap.  I,  7.  Acta  SS.  p,  662)  von  dem  Auf- 
enthalt Lulls  auf  Majorka  gesagt  ist:  „et  sie  in  eadeni  civitate  didicit  parteni 
de  gramniatica/  Wenn  Lullus  auch  bisweilen  zugesteht,  daß  er  liatein  nicht 
»verstehe,  so  ist  damit  ein  solcher  Grad  von  Kenntnis  des  Lateinischen  gemeint, 
der  ihm  die  Übersetzung  seiner  katalonischen  Schriften  ermöglicht,  hatte;  so  in  der 
Einleitung  zu  Eis  reut  noms  (/c  Den:  „Perque  eu,  Ramon,  supplich  al  sant  Pare 
Apostolich  e  als  senyors  Cardenals  qu  el  fassen  pausar  en  lati,  car  eu  no  li 
sabria  pausar,  per  90  car  ignor  grammatica."  Vgl.  Rosellö,  Ohras  rimadas  de 
Ramon  LnU.  Palma  1859,  p.  201.  Das  schließt  aber  nicht  aus,  daß  er  in  den 
Grundbegritfen  der  lateinischen  Sprache  unterrichtet  war. 

'  Es  ist  der  Sohn  Jakobs  1.  von  Aragonien,  der  hier  den  Titel  König 
von  Majorka  führt. 

''  cap.  II,  12.     [Acta  SS.  p.  663.) 


I.  Zur  Biographie.      5.  Äußere  Tätigkeit.  23 

dieses  Ereignis  spätestens  in  das  Johr  1276  zu  verlegen  ist,  seine 
«Bekehrung"  aber  gegen  die  Mitte  der  sechziger  Jahre  stattfand, 
so  bleibt  keine  genügende  Zeit  übrig,  welche  das  Entstehen  dieser 
Schriften,  namentlich  des  umfangreichen  Liher  contemplationis  i, 
erklären  würde,  wenn  man  nicht  annimmt,  dafe  Lullus  schon 
vorher  an  denselben  gearbeitet  habe.  Dazu  kommt,  daß  der  Liber 
contemplationis  in  Deum  nicht  etwa,  wie  der  Titel  vermuten  lassen 
könnte,  eine  Sammlung  mystisch-asketischer  Reflexionen  und  Er- 
güsse darstellt,  sondern,  allerdings  in  der  Form  eines  Gespräches 
mit  Gott,  sich  als  eine  Art  Summe  des  gesamten  theologisch- 
philosophischen Wissens  Raymunds  präsentiert,  worin  die  An- 
sichten der  philosophi  antiqui  kritisiert  und  die  Meinungen  der 
arabischen  Denker  besprochen  werden.  Besonders  ist  es  das 
ganze  Kapitel  187  „De  modo  disputandi  de  fide",  welches  eine 
Fülle  von  Ratschlägen  erteilt,  die  nur  aus  längerer  praktischer 
Erfahrung  hervorgegangen  sein  können;  und  wenn  Lullus  das 
selbst  befolgt  hat,  was  er  hier  anempfiehlt  -,  so  ist  es  überaus 
wahrscheinlich,  dalii  in  dieser  Zeit  schon  manche  Schriften  kurz 
skizziert  wurden,  welche  erst  später  die  endgültige  Form  erhielten. 


V.  Kapitel. 
Äußere  Tätigkeit  Lulls. 

Mit  der  Abfassung  der  Ars  generalis  war  das  Lebenswerk 
Raymunds  noch  nicht  abgeschlossen,  ja  auch  der  eine  Zweck, 
dem  sie  dienen  sollte,  noch  lange  nicht  erreicht;  es  wurde  schon 
oben  gesagt,  dali  die  Ars  der  Verbesserung  und  des  Ausbaues 
bedurfte,  und  namentlich  wai"  es  nötig,  die  Kenntnis  derselben  in 
weitere  Kreise  zu  tragen. 

Die  rastlose  F^norgie,  welche  Lull  chaiakterisicrl,  Lrieb  ihn 
indes  bald  auch  zur  Ausführung  seiner  weiteren  Entschlüsse.  Das 
ZusammentronV'ii  mit  dem  König  Jakob  von  Mallorka  in  Mont- 

'  Derselbe  umfnfH  in  der  Salzingerschen  (Mainzrr)  Folio-AuHgabo  die 
beiden  Bände  IX.  und  X. 

*  cap.  1H7,  n"3:  „(^iiirfjuid  in  prinripio  roncordctur  ot  ronerdatur  ab  ani- 
babuH  partibuH,  opori(;t  Hcribi,  uc  in  fiiic,  «juandu  vriiiat  (-otiriiisio,  poHsit  ncguri." 
Ed.  Moguiit.  t.  IX,  p.  454 


24  Raymundiis  Lullus. 

pellier  bot  ihm  hiezu  die  erste  Gelegenheit.  Er  wußte  den  Fürsten 
für  die  Gründung  des  Klosters  Miramar  auf  Mallorka  zu  ge- 
winnen, in  welchem  beständig  dreizehn  Pranziskanerbrüder  dem 
Studium  der  arabischen  Sprache  obliegen  sollten,  um  nach  dessen 
Vollendung  von  hier"  aus  ihre  Missionsreisen  anzutretend  Es 
scheint,  daß  die  Gründung  alsbald  bewerkstelligt  wurde,  denn  als 
Johann  XXI.  dem  Kloster  unter  dem  17.  Oktober  1276'^  die  Be- 
stätigungsurkunde ausstellte,  war  dasselbe  mit  der  entsprechenden 
Anzahl  von  Brüdern  bereits  besetzt  ■'^.  Daß  Lullus  sich  selbst  län- 
gere Zeit  in  der  neuen  Gründung  aufgehalten  habe,  ist  lediglich 
eine  Vermutung,  die  sich  darauf  stützt,  daß  die  Vita  Anonijmi 
über  die  nächsten  zehn  Jahre  keinerlei  Angaben  macht.  Aber 
immerhin  erscheint  diese  Annahme  noch  begründeter  als  der  Ver- 
such verschiedener  Biographen,  nach  welchen  Raymund  in  dieser 
Zeit  fast  die  ganze  damals  bekannte  Welt  durchreist  hättet  Die 
Erzählung  Blanquenia,  deren  Einzelheiten  diesen  Aufstellungen  zu- 
grunde liegen,  ist  doch  zu  sehr  Roman,  als  daß  die  darauf  auf- 
gebauten Konstruktionen  für  historische  Wahrheit  gelten  könnten. 
Dagegen  entfaltet  Lullus  vom  Jahre  1287  an  enie  unermüd- 
liche Tätigkeit,  um  seine  Pläne  nach  und  nach  ins  Werk  zu  setzen. 
Von  jetzt  ab  ist  er  tatsächlich  fast  beständig  auf  der  Wande- 
rung; er  reist  von  Stadt  zu  Stadt,  von  Land  zu  Land,  um  überall 

'  Die  Bemerkung  der  Bonner  „Zeitschrift  für  PJiilos.  n.  kath.  Theologie" 
(1852,  Heft  83,  S.  68).  daß  Kaymund  in  keinem  seiner  Werke  sich  über  die 
Gründung  dieses  Klosters  äußere,  ist  irrig.  In  dem  Gedicht  „Lo  dnü  de 
Ramon"  heißt  es: 

Lo  Monastir  de  Miramar 
Fiu  ä  frares  menors  donar, 
Per  Sarrah  ins  a  preycar, 
(Ro seile),  Ohras-  rimadas.     Palma  1859,  p.  365.) 

2  XVI.  Kai.  Novembr.,  nach  Reg.  Vat.  Joh.  XXI.  ep.  53  (vgl.  Stapper, 
Fapst  Johannes  XXI.  Münster  1898,  Ö.  101).  Das  liidlariuin  I'^raneisettnuin 
tom.  III  ad  ann.  1276  hat  XVI.  Kai.  Oct.;  Wadding,  Ammles  Min.,  tom.  VI, 
p.  436  XVI.  Kai.  Dec. 

•'  „Per  ministrum  provincialem  huiusmodi  fratrum  numerus  iam  est  ad 
hoc  per  Dei  gratiam  constitutus  et  inibi  per  eosdem  laudabiliter  studio  insisti- 
tur  memorato."     {Bull.    Fnnic.,  I.  c.) 

'  So  z.  B.  Pasqual,  IV/n/.  Lii//.  I  cap.  14  (p.  128  ft".);  Rosellö.  Obras 
rimadas  p.  51  ff".;  Andre,  Le  hieiili.  I\.  Lulle,  cap  VII.  Dagegen  erwähnt 
Perroquet,  Apologie  de  la  rie  et  des  o'nrres  dn  hienh.  U.  Lulle  (Vendosme  1667) 
von  diesen  Reisen  noch  nichts. 


I.  Zur  Biographie.       5.  Äußere  Tätigkeit.  25 

für  seine  Ideen  Propaganda  zu  machen  und  seine  Ars  <jeneraUs 
weiter  zu  verbreiten,  er  sucht  auf  kirchenpohtische  Verhältnisse 
Einfluls  zu  gewinnen,  um  auf  diesem  Wege  zum  Ziel  zu  kommen, 
und  er  geht  daneben  noch  selbst  in  die  Missionsgebiete,  um  der 
Verkündigung  des  christlichen  Glaubens  zu  dienen. 

Zuerst  begibt  sich  Raymund  nach  Rom,  um  bei  der  päpst- 
lichen Kurie  die  Gründung  weiterer  Studienklöster  nach  dem  in 
Miramar  geschaffenen  Vorbilde  durchzusetzen.  Vielleicht  setzte  er 
eine  besondere  Hoffnung  auf  den  damals  regierenden  Papst  Ho- 
norius  IV.,  der  im  Jahre  vorher  (23.  Jan.  1286)  schon  in  einem 
Briefe  an  den  Kanzler  von  Paris  für  die  Pflege  der  orientalischen 
Sprachen  zum  Zweck  der  Missionierung  eingetreten  war  ^  Aber 
als  Raymund  nach  Rom  kam,  war  Honorius  IV.  tot  (gest.  3.  April 
1287) '-,  und  so  hatte  er  wenig  Aussicht  auf  Erfolg.  Daher  machte 
er  sich  auf  den  Weg  nach  Paris,  wo  er  frühestens  im  Dezember 
1288  3  eintraf. 

In  Paris  nahm  Lullus  nicht  bloß  Veranlassung,  den  allge- 
meinen Studienbetrieb  an  der  Universität  kennen  zu  lernen,  son- 
dern vor  allem  lag  ihm  die  Verbreitung  seiner  Ars  genendls  am 
Herzen.  Mit  Erlaubnis  des  Kanzlers  Berthold  trug  er  dieselbe 
öffentlich  vor,  allerdings  wie  es  scheint,  mit  wenig  Erfolg;  denn 
auf  Grund  dieser  Vorlesungen  nahm  er  in  Montpellier,  wohin  er 
sich  von  Paris  aus  gewandt  hatte,  die  schon  oben  erwähnte  Ver- 
einfachung' derselben  vor.  In  Montpellier  glückte  es  ihm,  ein 
Empfehlungsschreiben  des  damaligen  F'ranziskanergenerals  Ray- 
m  und  US   Gaufredi   zugunsten   seiner   Ars   zu    erlangen  •.     Hatte 


'  Potthast,  /«*/'//.  l'<j)it.  22  355;  Fruu,  Le^i  rrgistrea  d' Honorius  I  \' ,  col. 
211.  n"  274. 

'■'  Pasqual  iVim/.  Lull.  t.  I  p.  165),  Rosello  (Ohnts  riiiidthis,  p.  56  f.) 
und  Andr«'  (/>/'  himh.  li.  Lii/h',  p.  117)  iK-lmicii  liior  oinon  Fohler  in  «ler  l'/fa 
an  iin»!  lassen  f>ullii.s  licreits  12><5  nach  dem  'l'odo  Miutiiia  IV.  nach  Hom  kom- 
men. Auf  sein  IJetieihen  hätte  dann  llonoiiiis  den  erwiilint«'n  Hrief  ausgefertigt 
und  Lull  «len.selhen  na«  h  i'aris  iiherbracht.  Diese  Ann;ilimcn  Itunilicn  alle  auf 
<ler  irrigen  Voraussetzung,  «lafj  die  Heise  nach  Paris  spätestens  12^7  erfolgt  sei. 

■'  iJenifle  hat  schon  (Chrirfiif.  Cnir.  I'aiis.  II,  1  p.  23  f.)  auf  (Jrund 
der  von  ihm  dort  Huh  n"  550  und  551  mitgeteilten  Hriofe  Nicolaus'  IV.  iiii  die 
beiden  Kanzler  Nie.  de  NonufK  uriii  und  Herlhojdu.s  die  irrige  Aiisi(  jil  dir  ///.>/. 
im^rairf  (t.  2«,  p.   14,   A.    1)  berichtigt. 

*  Wadding,  Ann.  min.  t.  VI  ad  aun.  121)0,  n"  18.  Der  Text  int  abge- 
druckt in  der  lionner  „ZrifHchriff  für  l'hiloH.  n.  kulh.  'J'hrol/'  1852  (lieft 83,  S.  107). 


26  Kaymundus  LuUus. 

Liilliis  sich  um  den  Orden  der  rninderon  Brüder  schon  dadurcli 
verdient  gemacht,  dala  er  die  Gründung-  des  Klosters  Miramar  ver- 
anlaCUe,  so  scheint  er  auch  sonst  demselben  sehr  gewogen  ge- 
wesen zu  sein;  denn  in  dem  erwähnten  Schreiben  wird  er  „ami- 
cus  ordinis  et  devotus  ab  antiqno  in  relevandis  fratrum  nostro- 
rum  inopiis  gratiosus  et  in  subsidiis  soUicitus  et  attentus"  ge- 
nannt. Daher  werden  die  Provinziale  angewiesen,  ihn  überall 
gut  aufzunehmen;  den  Brüdern  aber,  welche  Lust  dazu  haben, 
soll  Gelegenheit  gegeben  werden,  die  von  ihm  gelehrte  Ars,  „per 
quam  convincere  nititur  infideles",  zu  hören. 

Vielleicht  im  Vertrauen  auf  eine  solche  Empfehlung  geht 
Raymund  abermals  nach  Rom,  um  am  päpstlichen  Hofe  wegen 
der  Errichtung  von  Studienhäusern  vorstellig  zu  werden.  Da  er 
aber  wenig  Entgegenkommen  findet,  so  begibt  er  sich  nach  Genua, 
um  von  hier  aus  selbst  eine  Missionsreise  anzutreten.  Im  Sep- 
tember 1292  treffen  wir  ihn  in  Tunis,  aber  bereits  im  Januar 
1293  befindet  er  sich  wieder  in  Neapel,  wo  er  bis  zur  Wahl 
Gölestins  V.  sich  aufhält.  Dem  neuen  Papste  überreichte  er 
hier  eine  Bittschrift,  worin  er  der  Kurie  die  Forderungen  unter- 
breitet, die  nach  seiner  Ansicht  zur  Missionierung  der  nicht  christ- 
lichen Welt  notwendig  erfüllt  werden  mußten.  Hatte  er  früher 
den  Gedanken,  Studienhäuser  zu  gründen,  ganz  allgemein  zur  Er- 
wägung gestellt,  so  machte  er  jetzt  praktische  Vorschläge  zur 
Subventionierung  derselben;  dazu  regte  er  noch  einen  neuen 
Kreuzzug  zur  Eroberung  der  heiligen  Stätten  an  und  gab  beson- 
dere Anweisungen  über  die  Art  und  Weise,  wie  bei  der  Missions- 
tätigkeit am  zielbewufHesten  vorgegangen  werden  könne  K  Ob 
die  Erfolglosigkeit  dieses  Schrittes  in  der  kurzen  Regierungszeit 
Gölestins  ihren  Grund  hatte  oder  in  der  geringen  Begeisterung, 
die  man  überhaupt  am  römischen  Hofe  seinen  Bestrebungen  ent- 
gegenbrachte, läl^t  sich  wohl  nicht  genau  sagen,  aber  das  Letztere 
ist  wahrscheinlicher.  Mit  dem  Fall  von  Akkon  (1291)  war  die 
letzte  der  Errungenschaften,  \velche  die  Kreuzfahrer  im  hl.  Land 
gemacht  hatten,  verloren  gegangen.     Dieses  traurige  Resultat  ver- 


'  Bie  Petition  bildet  den  Schluf3  seiner  Dispnffttio  (jiiiiKjne  howlnum  sa- 
pioutum.  Opera,  ed.  Mogunt.  toni.  II,  Liber  de  V,  Supientibus,  p.  50  f.  Bei 
Pasqual  ist  sie  abgedruckt  tom.  I,  p.  207  f. 


I.  Zur  Biographie.      5.  Äußere  Tätigkeit.  27 

mochte  zwar  nicht,  jene  Bewegung,  welche  zwei  Jahrhunderte 
lang  das  christliche  Abendland  in  gespannter  Erregung  erhalten 
hatte,  mit  einem  Schlag  zu  unterdrücken;  aber  es  scheint  doch  bei 
den  maßgebenden  Kreisen  die  Erkenntnis  gezeitigt  zu  haben,  dal^ 
neue  Opfer  ebenso  nutzlos  gebracht  würden  wie  die  bisherigen; 
an  Stelle  der  Begeisterung  trat,  wenn  auch  nur  vorübergehend, 
eine  gewisse  Resignation  \  und  so  mochten  die  mit  dem  neuen 
Kreuzzugsplan  verbundenen  früheren  Vorschläge  in  Bausch  und 
Bogen  als  Phantastereien  angesehen  und  behandelt  werden.  Daher 
ist  es  auch  begreiflich,  daln  eine  Petition  ähnlichen  Inhalts  sowie 
die  Widmung  der  in  Rom  verfaßten  Schrift  „De  artlcidis  fidel 
sacrosanctae  et  scdutiferae  ler/is  Christianae''  an  den  folgenden  Papst 
Bonifaz  VIII.  ebenso  resultatlos  blieben. 

Was  die  kirchlichen  Behörden  nicht  gewähren  konnten  oder 
wollten,  das  hoffte  Lullus  mit  Hilfe  anderer  Kreise  zu  erreichen. 
Vor  allem  waren  es  die  weltlichen  Fürsten  und  die  Universität 
Paris,  die  er  zur  Ausführung  seiner  Pläne  heranzuziehen  gedachte. 
So  kehrte  er  denn  Rom  den  Rücken,  um  sich  nach  Paris  zu 
begeben.  Freilich  fand  er  hier  nicht  bloß  solche,  auf  deren  Unter- 
stützung er  bauen  zu  dürfen  glaubte,  sondern  er  gewahrte  auch, 
wie  sehr  der  arabische  Geist,  den  er  in  auswärtigen  Missionen  zu 
bekämpfen  suchte,  daheim  die  christliche  Wissenschaft  schon  in- 
fiziert hatte;  seine  „Deckt ratio  per  modiun  dlalo(/l  edlta  contra  aJl- 
quoritm  phllosophorinn  et  eorum  nequaclum  opinlones  erroneas"  stellt 
die  erste  Abrechnung  mit  den  christlichen  Averroisten  dar. 
Dagegen  suchte  er  die  theologische  Fakultät  in  verschiedenen 
Schriften  für  sicli  zu  gewinnen  und  auch  den  König  Philipp 
(Ion  Schönen  schriftlicli  und  mündlich  seinen  Plänen  günstig 
7.\\  stimmen. 

I)i('  Erfolglo-sigkeit  seinei-  Bcinühungen  verleidete  ihm  auch 
Paris,  und  nach  einem  vorübergehenden  Ik'such  seiner  heimat- 
lichen Insel  unternaliin  <r  \'M)\  «ine  Missionsreise  in  den  Orienl, 
nach    der    Insel    Cypei  n    und    (i<iii    Festland    von     KleiuMsien. 


'  Lnllnfl  flucht  \veni>?HtpnH  in  kommt  Mittnchrift  (Jriiiido  «Iukü^«''!  an/u- 
führc-n:  ,Si  Hicitur,  <jno<l  oinniu  iHta  fiirit,  «juainlo  I)«m)  placiii«rit,  rousidrrato 
(nämlich  der  l'upMt  und  die  KHrdina!«*),  utruni  i)«'us  vi-iit  litMiii  (juarc  rri-avit 
hoininem  fic.  (l'nHqunl,    l'huf    l.iill    t     I   j».  'J0>^   Arnn.) 


28  Raymundus  Lullus. 

Aber  bereits  iin  folgenden  Jahre  kehrt  er  wieder  nach  Europa 
zurück,  wo  sein  Aufenthalt  während  der  nächsten  Zeit  beständig 
zwischen  Montpellier,  Genua  und  Paris  wechselt. 

An  den  neuen  Papst  Benedikt  X[.  scheint  Lullus  sich 
nicht  gew'andt  zu  haben;  dagegen  setzte  er  alles  in  Bewegung, 
um  Clemens  V.  seinen  Ideen  geneigt  zu  machen.  Zuerst  sollte, 
wie  es  scheint,  Jakob  II.  von  Aragonien  bei  einer  Zusammen- 
kunft mit  dem  Papste  in  Montpellier  die  Vermittlung  übernehmen  \ 
Hierauf  begab  sich  Lullus  noch  an  den  Hof  des  Papstes  nach 
Lyon,  um  in  eigener  Person  seine  Sache  zu  vertreten.  Aber 
dem  neuen  Papste  lagen  gleichfalls  andere  Sorgen  zu  sehr  am 
Herzen,  als  dats  er  auf  diese  weittragenden  Ideen  sofort  hätte  ein- 
gehen können. 

Wie  nach  dem  fruchtlosen  Versuch  bei  Nikolaus  IV.  und 
nach  seinem  Mißerfolg  in  Paris,  ging  Lullus  auch  jetzt  wieder, 
nachdem  er  bei  Clemens  V.  kein  Gehör  gefunden  hatte,  ins  Mis- 
sionsgebiet, diesmal  nach  Marokko.  Auch  hier  war  sein  Erfolg 
gering.  Nur  auf  die  Fürsprache  eines  einheimischen  angesehenen 
Priesters  dem  Tode  entronnen,  wurde  er  in  Bugia  eingekerkert 
und  schliefelicli  des  Landes  verwiesen.  Er  fuhr  nach  Pisa,  wo 
er  die  letzte  Schrift,  in  welcher  die  Theorie  seiner  Ars  (joieralis 
dargelegt  wird,  die  Ars  magna  generalis  et  ultima^  zu  Ende  führte. 


'  Lullus  berichtet  darüber  fim  Schlufs  seiner  Dispntafio  Raijnmndi  et 
JltniKir  Srtraccni:  „Dictum  est  de  ordinatione  per  quam  mundus  potest  venire 
in  bonum  statum,  et  de  liac  materia  largius  sum  locutus  in  libro  de  fine  quem 
Dominus  Papa  habet,  quem  Dominus  Rex  Aragoniae  misit  ad  cum,  qui  in 
Monte  Pessulano  obtulit  suam  personam,  suam  terram,  suam  militiam,  suum 
thesauium  ad  pugnandum  contra  Saracenos  omni  tempore  quo  placeret  Domino 
Papae  et  Dominis  Cardinalibus,  et  de  hoc  sum  certus,  quia  ego  ibi  eram"  (ed. 
Mogunt.  t.  IV  lib.  cit.  p.  47).  Es  kann  sich  hier  offenbar  nur  um  die  Zusammen- 
kunft handeln,  welche  Clemens  V.  mit  Jakob  von  Aragonien  im  Oktober  1805 
hatte;  denn  der  erwähnte  Libfr  de  fine  wurde  von  Lullus  im  April  1305  zu 
Montpellier  abgeschlossen;  im  November  ist  Raymund  bereits  in  Lyon  und 
kommt  vor  Mai  1808  nicht  mehr  nach  Montpellier;  die  Dispiitutio  aber,  die 
seinen  Bericht  enthalt,  stammt  schon  vom  April  1308.  In  der  Tat  wurde  bei 
dieser  Zusammenkunft  über  diesbezügliche  Fragen  verhandelt.  So  groß,  wmc 
man  es  nach  den  Worten  Raymunds  vermuten  konnte,  war  freilich  die  l  n- 
eigennützigkeit  des  Königs  keineswegs;  dessen  Eifer  scheint  mehr  auf  eigene 
Vorteile  als  gegen  die  Sarazenen  gerichtet  gewesen  zu  sein.  Vgl.  Regestum 
Clement is    V.  tom.  I  (Romae  1885)  n"  223,  224  und  225. 


I.  Zur  Biographie.      5.  Äußere  Tätigkeit.  29 

Hier  wuLUe  er  die  Bürgerschalt  für  seine  Pläne  zu  interessieren 
und  sich  sowohl  in  Pisa  wie  in  Genua  Eniplehlungsbriefe  an  den 
Papst  und  die  Kardinäle  zu  verschaffen.  In  letzterer  Stadt  ver- 
sprach man  ihm  zur  Ausführung  seiner  Ideen  noch  eine  ansehn- 
liche Summe  Geldes,  wobei  es  allerdings  beim  blof.-ien  Versprechen 
geblieben  zu  sein  scheint  ^ 

Trotz  der  Empfehlungsschreiben  hatte  ein  abermaliger  Ver- 
such in  der  päpstlichen  Residenz  zu  Avignon  ebensowenig  einen 
sichtlichen  Erfolg  wie  die  bisherigen  Bemühungen.  Raymund  ver- 
legte daher  jetzt  seine  Haupttätigkeit  nach  Paris,  um  den  Ara- 
bismus  an  der  Stätte,  wo  er  sich  am  meisten  breit  machte,  am 
nachdrücklichsten  zu  bekämpfen.     Dazu  schlug  er  zwei  Wege  ein. 

Theoretisch  ging  er  in  der  Weise  vor,  dal.s  er  in  zahlreichen 
Schriften  teils  direkt  die  Lehren  der  Averroisten  als  unhaltbar 
nachzuweisen  suchte,  teils  durch  positive  Darlegung  einzelner  Pro- 
bleme christlicher  Philosopliie  und  Theologie  denselben  entgegen 
arbeitete.  Dazu  kam  noch  seine  öffentliche  Lehrtätigkeit  an  der 
Universität,  wobei  es  ihm  diesmal  besser  als  früher  gelang,  mit 
den  Vorlesungen  üher  seine  Arn  das  Interesse  weiterer  Kreise  für 
sich  wach  zu  rufen.  Allerdings  scheinen  auch  die  Gegner  an  der 
Arbeit  gewesen  zu  sein,  so  daL^  Lullus  sich  genötigt  sah,  sich 
seine  Lehre  offiziell  bestätigen  zu  lassen. 

Aus  dieser  Zeit  werden  nämlich  drei  Aktenstücke  erwähnt, 
welche  Lullus  für  sich  erwirkt  haben  soll.  Das  eine  ist  ein  Gut- 
achten der  Universität  Paris  vom  10.  Februar  1310'^,  worin  vierzig 
niagistri  die  Orthodoxie  der  Ars  brevls  bezeugen;  ein  anderes 
vom  2.  August  LHO''*  enthält  eine  Empfehlung  für  Lullus  von 
Seiten  des  Königs  Phili])p  selbst,  während  im  dritten  Schreiben 
(9.  Sept.  Dill)*  (h'r  Kanzler  die  Rechtgläubigkeit  der  lullischen 
Lehre  bestätigt.  Man  hat  die  Autlicntizilät  der  Schriftstücke  in 
Zweifel  gezogen;  aber  auf  Grund  persönlicher  Einsicht  in  ein  Pii- 
vileg  Peters  IV.  von  Aragonien,   welches  die   dici   Dokumente   er- 

'  Mit  U<xlit  itringt  Fiiiku  mit.  diiii  ilicMinaii^iMi  AiifVnlliall  in  (iriiiiu 
(ItTi  hrief  in  Ziisamiiicnluui^,  <iiMi  UiiyrniindH  Freiirul,  (1(M'  (iomiosc  Sfiiiiolu,  an 
.Jakob  II.  rirlitetf.  Vgl.  donsolbon  lu'i  Finko,  Arfa  ArniinnrttHin  toiii  II  ii"  ■''».''»O. 
Ik-rlin  und   I.eipzij;   V.m,  p.  878  f. 

''    Chart,'/.    Inir.    J',i,,m.    II,    1    n"   <\1U   (p.    140  11). 

"  ChnrtHl.   II,   I    n"  6H4  (p.    144).  *    Chnrtul.   II.  1    ii"  (IUI    (p.    14Mj. 


30  Rayniundus  Lullus. 

wähnt,  hat  Delisle^  zugegeben,  daf.^  dieselben  zum  mindesten 
im  Jahre  1369,  in  welchem  das  genannte  Privileg  ausgestellt 
wurde,  existierten;  er  liels  aber  die  Frage  offen,  ob  sie  nicht  um 
diese  Zeit  von  den  Lullisten  gefeilscht  worden  seien.  Darauf  zeigte 
Gaston  Paris  2,  da(3  dieselben,  auch  wenn  man  in  ihnen  F;il- 
schungen  sieht,  nur  kurze  Zeit  nach  dem  Datum,  welches  sie 
tragen,  angefertigt  sein  können  und  zwar  in  Paris  selbst.  De- 
nifle"^  will  die  Authentizität  zugeben,  hat  aber  das  eine  Be- 
denken, daß  die  Ausstellung  dieser  Gutachten  nicht  genügend 
motiviert  erscheint  in  einer  Zeit,  in  der  Lulls  Orthodoxie  gar  nicht 
angezweifelt  wurde.  Die  Grundlage  dieses  Bedenkens  Denifles  scheint 
jedoch  nicht  haltbar  zu  sein.  Man  erwäge,  dafs  es  sich  um  eine 
Zeit  handelt,  in  der  alles  Neue  als  verdächtig  angesehen  wurde. 
Nun  kam  Lullus,  noch  dazu  ein  Laie,  der  nicht  blot^  die  eine 
oder  andere  fremdartige  Theorie  vortrug,  sondern  der  nichts  we- 
niger anstrebte  als  die  Beseitigung  der  bisherigen  Methode,  um 
seine  A)-s  und  mit  ihr  eine  ganz  neue  und  ungewohnte  Termino- 
logie an  deren  Stelle  zu  setzen.  Dies  mui^te  gewiß  Grund  genug 
erscheinen,  um  ihn  wenigstens  mit  kritischen  Augen  zu  überwachen. 
Nimmt  man  noch  hinzu,  daß  Lullus,  wie  sich  später  ergeben  wird, 
den  Klerus  seiner  Zeit  keineswegs  innner  ghmpflich  behandelte, 
so  hat  es  durchaus  nichts  V^erwunderliches  an  sich,  wenn  seine 
Gegner  ihm  zusetzten. 

Es  muß  allerdings  zugegeben  werden:  ein  direkter  Anhalts- 
punkt dafür,  daß  Lullus  der  Gegenstand  solcher  Angriffe  gewesen 
sei,  ergibt  sich  aus  dessen  Schriften  nicht.  Denn  wenn  unser 
Philosoph  auch  in  der  Regel  am  Ende  seiner  Schriften  seine 
Rechtgläubigkeit  beteuert  und  seine  Werke  der  Zensur  der  Kirche 
unterwirft,  so  huldigt  er  dabei  doch  zu  sehr  einer  häufigen  Ge- 
pflogenheit seiner  Zeit,  als  daß  man  daraus  irgend  welche  Fol- 
gerungen ziehen  könnte.  Andererseits  gibt  doch  auch  die  Art 
und  Weise,  wie  Raymund  etwaige  Fehler  und  Verstöße  gegen  die 
Orthodoxie    zu    erklären   sucht,    zu    denken  \       Namentlich    wäre 

'  Journal  des  Sttninfs,   1896,  p.  355. 
-   h','n(('  Jilyfori(/i(r,  tom.  63  (1897),  p.  875-377. 
'-'  CharfnI.  II,  1,  n"  679  Anni.   14  (p.   142);  n«  691  Anni.  (p.  149). 
^  Als  Beispiel  diene  der  Schluß  der  Schrift    „De  (ptattnonlecim  (irtiridis 
fi(/i'i'\   ed.   Mogunt.  toiii.   II,  p    190:    „i'er  gratiam  et  auxilium  nostri  altissiini, 


I.  Zur  Biographie.      5.  Äußere  Tätigkeit.  31 

es  bei  der  Annahme,  dais  derselbe  ganz  unbehelligt  geblieben  sei, 
sclnver  verständlich,  weshalb  er  hierbei  ohne  jeden  Grund  die 
Mahnung  hinzugefügt  haben  sollte,  ihn  nicht  einfach  wegen  seiner 
Ausdrucksweise  zu  verurteilen  und  zu  schmähen,  sondern  Zweck 
und  Bedeutung  des  Ganzen  ins  Auge  zu  fassen  ^ 

Oben  (S.  29)  wurde  gesagt,  dafs  Lullus  zunächst  theoretisch 
den  Averroismus  zu  überwinden  suchte.  Daneben  wollte  er  aber 
auch  praktische  Mal.^nahmen  in  Anwendung  gebracht  wissen. 
Hier  greift  er  zum  Teil  alte  Forderungen  ohne  weiteres  wieder 
auf,  teils  sind  seine  Forderungen  neu  formuliert  und  ziemlich 
radikal  gehalten.  Die  Erfahrung  mochte  ihn  jedoch  gelehrt  haben, 
sich  vom  Ansehen  der  eigenen  Person  nicht  allzuviel  zu  versprechen, 
und  so  war  es  denn  die  Autorität  Pliilipps  des  Schonen,  auf 
die  er  sich  stützen  wollte.  Neben  anderen  Schriften  ist  es  nament- 
lich der  Liher  natalis  pueri  Jesu,  worin  er  ihm  seine  Vorschläge 
unterbreitet. 

Zuerst  schärft  er  dem  König  selbst  das  Gewissen  bezüglich 
seiner  Pflicht  als  defensor  fidei,  der  die  Aufgabe  habe,  im  eigenen 
Land  alles  zu  verhüten,  was  dem  christlichen  Charakter  desselben 
Eintrag  tun  könnte.  Die  nächste  Aufgabe  sei  dann  die,  daf?  die 
Schriften  des  Averroes,  welche  so  viel  Unheil  anstifteten  und  Tag 
für  Tag  die  Quelle  neuer  Irrtümer  werden,  völlig  verboten  und 
beseitigt  würden.  Dagegen  sollte  in  Paris  Gelegenheit  geschaffen 
werden,   die  Sprachen  der  Missionsländer  zu  studieren,  damit  das 


gloriosi  et  omnipotentis  Domini  Dei  explicit  iste  über  articulorum  catholicae  et 
(»rthodoxae  fi<lei,  in  quo  (ut  suhiunximus  in  prinio  prologo)  si  forte  in  aliqua 
part«!  vel  partibuH  huius  libri  eiiavinuis  per  iinproprietatein  vel  insufficientiani 
vocabulorum  seu  dictionum,  vel  per  falsani  jiut  debilem  translaiionem  senten- 
tiarum,  »ive  per  aliqua  quaecunque  illa  sint,  in  quibus  non  erravimus  scienter 
Med  Holum  per  ignorantiam,  .snbicimuH  Imniilitcr  conectioni  .sat  roHanctac  Koma- 
nae  Kcclesiae.'*  * 

'  So  im  Schlu&kapitel  «eines  „('ompnith'Kin  artis  (/rifioiisfra/irar";  „Hi 
forte  quaedam  ad  propunitum  non  bene  diximuH  eongruc,  eo  quod  nimiu  ardua 
Hit  inatcria  vel  «piod  a  rcctiloqiiio  dtnianiUH,  siipplicitci-  postiiluiiHis,  ({iiatciiUH 
in  partem  deteriorem  inte-rprotari  non  liccat,  sed  attendant  diligi'ntn-  i|iiid  de 
fine  intentü  Bignificare  volinuis;  neminem  cnini  mortalium  arbitranuir  in  dictis 
tiuh  calumniari  non  poMBO  .  .  .  ündo  cunuideramuH,  h'\  foinan  Iniic  tarn  glorioHo 
et  Hwbjimi  negotio  ralnmniatoreH  affuciint,  «-oh  qiiirl«Mn  i/^noraMtiac  hhho  vrlainen 
reddct  excu.HaioM,  aut  nostri  et  tranbiatoriu  inbuflicientia  et  improprietate  irdi 
diccndi  pariet  unde  valeant   fmordere  "     (eud.  lat.  mon.   \0b2'ii  i.   1  Mi  v".) 


32  Raymundiis  Lullus 

Beispiel  der  (ranzösischen  Hauptstadt  auch  andere  Städte  zur 
Nachahmung  dieser  Einrichtung  anrege.  Endhch  müßte  der  König 
beim  Papste  dahin  vorstelhg  werden,  daß  alle  f^itler-Orden  zu 
einem  einzigen  vereinigt  würden,  um  in  dieser  Geschlosseniieit 
wirksamer  den  Kampf  gegen  die  Ungläubigen  aufnehmen  und 
sicherer  das  hl.  Land  erobern  zu  können.  Zugleich  solle  der 
Papst   für  die  Aufbringung  der  nötigen  Mittel  Vorsorge   treffen  ^ 

x\uch  für  Lullus  selbst  bot  sich  bald  Gelegenheit,  noch  ein- 
mal  der  kirchlichen  Regierung  seine  Ideen  vorzutragen.  Als 
Clemens  V.  ein  allgemeines  Konzil  nach  Vienne  einberufen 
hatte,  begab  sich  auch  Raymund  dahin  und  legte  der  Kirchen- 
versammlung seine  Schrift  „De  ente  quod  simpUciter  ed  per  .s(^  et 
propfer  se  existens  et  agens^  vor,  worin  er  ausführlicher  als 
bisher  die  nötigen  Reformvorschläge  auseinandersetzt.  Er  be- 
gründet dieselben  in  der  Einleitung  mit  den  Gefahren,  w^elche 
durch  die  Irrtümer  der  Juden,  Sarazenen  und  Heiden  sovrie  vieler 
Philosophen  für  den  katholischen  Glauben  erwachsen  seien;  wolle 
das  Konzil  sich  nicht  der  Lächerlichkeit  preisgeben,  dann  müsse 
es  den  Zweck  erfüllen,  zu  dem  es  einberufen  sei,  nämlich  den 
Glauben  zu  schützen  und  die  bestehenden  Irrtümer  zu  be- 
seitigen -. 

Einen  eigenen  Abschnitt  der  Schrift  machen  die  zehn  ordi- 
nationes   aus,    welche   nach   Raymunds  Vorschlag  das   Konzil    er- 


'   yv/  cri'iHitdi'  l\i'))mn(li  Oe  )ial(ili  jxti-nili  pucri  JJu'sit  I/h,r.   inipr.  Parisiis 
per  Gnidonem  Mercatoroni.     1499.     cap.  28,  f.  06. 

-  „Multa  eiiim  iTiali\.  principia  sunt  orta  contra  sanctani  fidtMii  oatholicani, 
quae  inipediunt  quod  ipsa  non  sit  bene  cognita  neque  dilecta,  ratione  cuius  se- 
quitur  niagnuni  damnuni  et  deviatio  finis,  quare  nuindus  sit  creatus;  quae  mala 
principia  sunt  intidolitates  .Tudaeoruni,  Saracenoruni,  pnganorum  et  errorum 
falsorum  philosopliorum  et  etiam  cismaticoruni  fnisorun)  Cliristianorum.  Et  quia 
concilium  generale  est  niandatum  apud  Viennensem  ciVitatem  per  Doniinun) 
Papam  Clenienteni  quintum  et  per  reverendos  Cardinales,  et  spero  quod  ipsum 
concilium  sit  factum  per  deum  et  ])ropter  deuni,  ut  sancia  fides  catholica  sit 
exaltata,  et  errores  qui  sunt  contra  ipsam  sint  dcstructi;  aliter  concilium  esset 
in  derisioncm  et  extra  finem  deductum,  quod  esset  valde  magnum  damniim  et 
adeo  ingrat.um,  et  illi  qui  hoc  facerent  poenas  infernales  expectant,  quod  absit. 
''Verum  propter  hoc  intendimus  praesentare  istum  libruni  illis  concilium  generale 
facientibus,  ut  simus  excusati  in  die  iudicii  per  ipsum  librum  praesentatuni,  in 
quo  multa  bona  sunt  ordinanda  et  facienda."  (/)<■  ('utc  quod  siniplicitcr  fut 
per  se  et  inopter  se  existens  et  <i(jeiis.     Cod.   lat,   mon.    10  537,   f.  36.) 


I.  Zur  Biographie.      5.  Äußere  Tätigkeit.  33 

lassen  sollte;  dieselben  enthalten  neben  den  bisherigen  noch  einige 
neue  Forderungen,  welche  auf  die  Reform  des  kirchlichen  Lebens 
Bezug  haben;  so  wünscht  er  Bestimmungen  über  die  Tracht  der 
Kleriker  \  gegen  die  Wucherer-  und  über  die  Missionierung  der 
in  christlichen  Ländern  lebenden  Nichtchristen  -K 

War  nun  Raymund  bisher  auf  kirchlicher  Seite  stets  zurück- 
gewiesen worden,  so  konnte  er  sich  bei  seinem  diesmaligen  Ver- 
suche eines  nicht  unbedeutenden,  wenn  auch  nur  teilweisen  Er- 
folges erfreuen  ^.  Er  hatte  seine  alte  Forderung  nach  Sprachen- 
kollegien  abermals   erhoben  •'•,    und   das   Konzil   kam    ihm   in   der 


*  or(l.  V:  ^.  .  .  quod  differentia  existat  inter  habitum  clericalem  et  sae- 
culareni,  et  hoc  simpliciter,  non  mixtini;  hoc  pro  tanto  dico  quod  clericus  nullo 
modo  induat  paniium  ruheum  nee  viridem,  et  quod  tonsura  sit  a  parte  ante 
et  post  rotunda,  et  quod  nulhis  hiicus  portet  tonsuram;  et  .  .  .  quod  cappa  cleri- 
corum  sit  proportionata  quoad  longitudinem  et  etiam  caputium,  ut  non  sit  magna 
perditio  pannorum  et  vana  gloria  et  in  aliquibus  hypocrisis."  (Cod.  Lit.  mon. 
10537  f.  60  \^) 

-  ord.  VII:  „.  .  .  quod  Christianus  usurarius  non  potest  facere  tostamen- 
tum  neque  sacramento  eins  crederetur,  et  quod  (sit)  omnino  excommunicatus." 
(Cod.  lat.  mon.   10587  f.  61  r".) 

•'  ord.  VIII:  „Multi  Judaei  et  etiam  Saraceni  sunt  subditi  christianis  et 
maxime  in  Hispania;  et  ideo  bonum,  magnum  et  verum  est  quod  Judaeis  prao- 
dicetur  in  die  Sabbati  et  Saracenis  in  die  Veneris,  quia  in  illis  diebus  est  festum 
eorum."     (Cod.  lat.  mon.  10537  f.  61  r".) 

*  Man  darf  indes  keineswegs  Raymund  das  ganze  Verdienst  liiefiir  zu- 
schreiben. Wurde  schon  oben  (S.  18)  darauf  hingewiesen,  daß  Lulhis  die  An- 
regung zu  seinen  Plänen  nicht  aus  sich  aliein  geschöpft  hat,  so  ist  hier  noch 
besonders  zu  betonen,  daß  giMado  in  der  Zeit  vor  dem  Konzil  auch  noci»  von 
anderer  »Seite  für  liie  Verwirklichung  der  von  LuUus  vertretenen  Ideen  gearbeitet 
wurde.  Petrus  de  Bosco  (Pierre  Dubois)  hatte  in  seiner  zwischen  1805  und 
1307  verfaßten  Schrift  „l^r  rt'i'nin'ratiotir  tcriuic  sitnvttii'"  unter  anderen  die 
gleichen  Forderungen  erhoben,  die  Raynnind  zum  Teil  schon  früher  gestellt 
hatte  und  die  er  in  seinem  noch  ungedruckt(;n  Traktat  „De  (tnfitisiti(nir  hrrat' 
Hfinrtnc"  (1309)  wie  in  seinem  „/j'hn-  nafa/is  /iio-ri  Jesu"  (1810)  ebenfalls 
schriftlich  niederlegte.  Vgl.  z.  H.  Ih'  nrHptro/ioiic  '/'n-rar  Smir/ai-  (ed.  f/ang- 
loiö,  Paris  1891),  p.  47  ft'.  (Studium  der  orientalischen  Sprachen),  |>.  18  1.  (Ver- 
einigung der  Ritterorden). 

''  ord,  1:  „Quod  Dominus  Papa  et  Reverendi  Domini  Cardinales  liuiant 
tria  loca:  unum  Romae,  aliurn  Parisius  ot  terfinrii  in  Tok-ta  Civitate,  in  quibns 
addisrnnt  sapientcs,  bene  ■'■cicntes  philosophiani  et  theologiam,  lin^iias  inlidc- 
lium,  et  quod  .sint  d«voti,  ut  moriantur  propter  (Jliristum  per  e,\altati(tneni  lidei, 
et  quod  vadant  praedieare  Kvangelia  (»er  Universum  ninndiiMi,  ut  in  Kvangidio 
praeceptum  eat;    et  in  ilÜH  locis  sint  tales  homines    in    pr-rpetuiiin    addi.srentoH. 

liritr&K'*   VII,   1  — ■'•.     K«-ii'li<-r.   Uuyiiiiuiilii-   l.iillii^.  •) 


34  Raymuiulus  Liillus. 

weitherzigsten  Weise  entgegen  in  der  Bestimmung,  daß  am  je- 
weiligen Sitz  der  römischen  Kurie,  ferner  an  den  Hochschulen 
zu  Paris,  Oxford,  Bologna  und  Salamanca  die  hebräische,  ara- 
bische und  chaldäische  Sprache  zu  dem  ausgesprochenen  Zweck 
der  leichteren  Missionierung  der  Ungläubigen  gelehrt  werden  sollte  ^ 
Auch  die  Vereinigung  der  Ritterorden  zu  einem  einzigen  neuen 
Orden  hatte  Lullus  wieder  gefordert  und  dazu  den  Eventualantrag 
gestellt,  da(.^  für  den  Fall  der  Aufhebung  des  Templerordens  we- 
nigstens das  Vermögen  desselben  den  übrigen  Ritterorden  zum 
Kampfe  gegen  die  Sarazenen  überwiesen  w^erden  sollte '-.  DaL^  das 
Konzil  sich  mit  dieser  Frage  w^enigstens  befaßt  habe,  geht  aus 
dem  Schreiben  hervor,  welches  Clemens  V.  an  die  Kuratoren  und 
Administratoren  von  Templergütern  richtete  •'. 

Mit  der  Reise  nach  Vienne  bricht  die  Vita  coaetanea  ab  und 
wir  müssen  Raymunds  weitere  Schicksale  hauptsächlich  an  der 
Hand  seiner  Schriften  verfolgen,  in  denen  er  zum  größeren  Teil 
Ort  und  Jahr  der  Abfassung,  bezw.  Vollendung  angegeben  hat. 

Vielleicht  noch  während  des  Konzils,  aber  jedenfalls  alsbald 
nach  dem  Schluß  desselben  begab  er  sich  nach  Montpellier, 
wo  wir  ihn  im  Mai  1312  antreffen.  Bereits  im  Juli  desselben 
Jahres  befindet  er  sich  auf  Majorka,  von  wo  er  zuerst  sich 
nach  Messina  begibt,  um  von  hier  aus  seine  letzte  Missions- 
reise nach  Tunis  und  der  Berberei  anzutreten.  Er  scheint 
selbst  nicht  mehr  gehofft  zu  haben,  lebend  in  die  Heimat  zurück- 
zukehren; denn  noch  vor  seiner  Abreise  von  Majorka  traf  er  in 
seinem  am  20.  April  1318  abgefaßten  Testament  genaue  Be- 
stimmungen über  seine  Hinterlassenschaft'.    Das  Martyrium,  nach 

quando  iinus  bene  fuiidatus  mittctur  ad  praedicandum,  ponatur  alius.  Tales 
auteni  lioniines  convertent  totum  inundum,  et  hoc  Deo  adiiivante."  (Cod.  lat. 
nion.  10537  f.  59.)  '   Vgl.   Clement,  lib.  V.  tit.  I,  de  magistris,  c.  1. 

•^  Vgl,  Finke,  Papsttum  und  Untergang  des  Tenipleroidens  I.  S.  358. 

'  Vgl.  llefele,  KonzUiengesvli.  Bd.  6,  S.  469.  Das  Schreiben  selbst 
siehe  bei  Raynald,  Anna!.,  ad  ann.  1312,  n"  6.  Ferner  vgl.  Finke  a.  a.  0, 
S.  345  ff. 

■*  Zum  erstenmal  wurde  Lulls  Testament  veröffentlicht  1894:  Kf  test<i- 
niento  de  Bamon  Lull  //  1a  escnela  Juh'mia  en  Barcelona;  memoria  leida  en  la 
real  acadomia  de  buenas  letras  en  la  sesion  ordinaria  celebrada  el  dia  15,  de 
enero  de  1894  por  1).  Francisco  de  Bofarull  y  Sans,  Barcelona  1896.  Es 
ist  auch  abgedruckt  im  ßoletin  de  l<(  lieal  Aeadettii((  de  la  hixtoria  XXX  (1897, 
Madrid),  p.  91     93, 


].  Zur  Biographie.      5.  Äußere  Tätigkeit.  35 

dem  er  sich  so  sehr  gesehnt,  sollte  er  endlieh  finden.  Nach  der 
Tradition  wurde  er  von  den  Ungläubigen  gesteinigt,  aber  von 
einigen  christlichen  Kaufleuten  noch  lebend  angetroffen  und  nach 
Majorka  zurückgebracht.  Angesichts  seiner  heimatlichen  Insel 
soll  er  am  29.  Juni  1315  den  Geist  aufgegeben  haben  ^. 


'  Gaston  Paris  hat  [Revue  hisforiqne  tom.  63,  p.  375  ft'.)  auf  eine  Notiz 
aufmerksam  gemacht,  welche  im  Widerspruch  zur  Tradition  stehen  soll.  Wie 
die  Hist.  litt.  (tom.  29,  p.  370)  anführt,  trägt  ms.  16432  des  British  Museum, 
welrhes  die  von  Lulhis  1313  verfafste  „Consolacio  cJ'  erniita"  enthält,  am  8chluf3 
die  Bemerkung:  En  1*  any  de  Nostre  Senyor  MCCCXV  fina  sos  dies  Ranion 
Lull  en  la  ciutat  de  Mallorques,  segons  es  stat  estrohat  en  un  libre  molt  antic 
en  lo  peu  del  devant  dit  libre  o  tractat  de  Consolacio  d'  ermita. "  Dabei  scheint 
G.  Paris  anzunehmen,  daß  Kaymund  eines  natürlichen  Todes  gestorben  sei. 
Sollte  nicht  diese  Notiz  in  der  oben  angegebenen  Tradition  verwertet  sein  im 
Gegensatz  zu  einer  anderen  Überlieferung,  wonach  Lullus  schon  in  Afrika  ge- 
storben wäre?  —  Bezüglich  des  Datums  von  Raymunds  Tode  kommen  neuer- 
dings einige  von  Finke  veröffentlichte  Briefe  in  Betracht.  Am  5.  August  1315 
schreibt  Jakob  II.  von  Aragonien  an  den  Guardian  des  Franziskanerklosters  zu 
Ilerda,  daß  Raymnnd  ihm  kürzlich  mitgeteilt  habe,  „se  disputando  cum  Sarra- 
cenis  Tunicii,  ubi  presens  est,  quosdam  composuisse  libros"'  und  daß  er 
darum  bitte,  ihm  seinen  im  Konvent  zu  Ilerda  weilenden  ehenuiligen  Schüler 
Simon  de  Podio  Cerritano  zu  schicken,  damit  dieser  seine  Schriften  ins 
Lateinische  übertrage.  (Finke,  Acta  Aragon,  tom  II,  p.  900,  n"578.)  In  einem 
zweiten  Brief  vom  29.  Oktober  1315  stellt  der  König  die  gleiche  Bitte  an  den 
Franziskanerprovinzial  von  Aragonien.  (a.  a.  0.  p.  901,  n^  579. J  Vielleicht  ist 
der  in  den  beiden  angegebenen  Daten  liegende  Widerspruch  mit  dem  traditio- 
nellen Datum  des  Todestages  auf  eine  Verschiedenheit  der  Zeitrechnung  zurück- 
zuführen; möglicherweise  hatte  auch  der  König  noch  keine  Kenntnis  von  dem 
inzwi.sciien  erfolgt<'n  Tode  Raymunds,  Immerhin  tauclien  hier  neue  Fragen  auf, 
welche  den  oben  (S.  14)  goäußortrn  Wunsch  nach  neuem  (.JuclIiMiniatcrial  noch 
berechtigter  erscheinen  lassen. 


:r- 


IL  Abschnitt. 

Über  die  Schriften  des  Raymundus  Lullus. 


Wir  würden  von  dem  berühmten  Katalonler  nur  ein  ein- 
seitiges Bild  gewinnen,  wollten-  wir  nicht  auch  einen  Blick  auf 
seine  schriftstellerische  Tätigkeit  werfen;  denn  gerade  auf  dieses 
Gebiet  hat  er  sich  mit  einem  Eifer  verlegt,  der  seiner  übrigen 
Schaffenskraft  sicher  nicht  nachsteht.  Wenn  auch  die  Angabe 
einiger  Schriftsteller,  daß  er  drei-  bis  viertausend  Werke  verfaßt 
habe,  ins  Reich  der  Fabel  gehört,  so  geben  uns  doch  die  vor- 
handenen Verzeichnisse  seiner  Schriften  immer  nocli  einen  ge- 
nügenden Beweis  für  seine  rastlose  Tätigkeit. 

Die  älteste  Zusammenstellung  der  hillischen  Werke  findet 
sich  im  Katalog  des  Jahres  1311,  welcher  der  Vita  coaetanea  an- 
gefügt ist.  Während  aber  dieser  auch  mit  seinem  späteren  Nach- 
trag keine  vollständige  Übersicht  bietet  —  es  fehlen  verschiedene 
Schriften,  die  sicher  von  Lullus  herrühren  — ,  leiden  andere  Zu- 
sammenstellungen an  dem  entgegengesetzten  Fehler,  daß  in  mehr 
oder  weniger  unkritischer  Weise  alles  aufgenommen  wurde,  was 
man  Lullus  zuschrieb.  Ein  bedenkliches  Erzeugnis  dieser  Art  ist 
der  Katalog,  welcher  der  Mainzer  „Gesamtausgabe^*  der  Werke 
Lulls  vorangeschickt  ist.  Die  von  Nico  laus  Antonio  ^  Custu  rer- 
und den  Acta,  Sandonim-^  gebrachten  Aufzählungen  sind  aus  Wad- 
ding^  und  aus  der  von  Alphons  Proaza  besorgten  Ausgabe 
von   Lulls   Ars   inventiva   reritatis-*   herübergenommen.     In    diesen 

'  Nie.  Antonio,   Bibtiotheca   Ilisjxni.  rcfus;,  IT,  84  ff. 

-   Diserhirioni's  liixforirds,  p.   598  ff. 

■'  Jun.  tom.  V,  p.  697  ff 

'  W  ad  ding,  Scripforcs   Ordinis   Mhionini. 

"  impr.  Valentiae  1515. 


11.    Die  Schriften  Liills.  37 

sind  die  unechten  Werke  großenteils  ausgeschieden,  aber  immerhin 
herrscht  auch  in  ihnen  noch  eine  ziemhche  Unordnung.  Bald  sind 
Schriften  wiederholt  aufgeführt  unter  dem  gleichen  Titel  \  bald 
unter  verschiedenen  Namen  -. 

Verwirrung  hat  ferner  der  Umstand  geschaffen,  daß  Über- 
setzungen neben  dem  katalonischen  Original  als  eigene  Schriften 
gezählt  werden  -l  Dadurch,  dal?,  manche  Titel  in  den  Hand- 
schriften falsch  gelesen  wurden,  wurde  der  AVirrwarr  noch  größer^. 
Dazu  kommt,  daß  einzelne  Abschnitte  aus  größeren  Werken  Lulls 
gesondert  abgeschrieben  wurden  ^,  und  einzelne  Werke  Raymunds 


*  So  findet  sich  in  den  Katalogen  von  Wadding,  Antonio,  Custiirer 
und  den  Acta  SS.  übereinstimmend  die  Schrift  „/V  reprobationc  crroruni  Arer- 
rois"  sowohl  unter  den  lilri  philosojihici  (als  Nr.  85)  wie  unter  den  /ihr/'  ra- 
riftntnt  f/iaputationuni  (als  Nr.  245)  eingereiht. 

-  Der  in  den  Katalogen  unter  Nr.  220  angegebene  „Libcr,  utrum  fidelis 
posüit  soltere  et  destmcrc  omnes  obiectiones,  qnas  infidele.s  possnnt  faccrc  contra 
aanctam  fidem  catholicam'^  ist  identisch  mit  Nr.  243  „De  quacstioiie  quadfan 
ralde  alta  et  profunda."  —  Ebenso  werden  mit  Unrecht  als  verschiedene  Schriften 
aufgeführt  die  „Dispntatio  Fetri  Clerici  et  liatimioidi  Plian/asfiri"  (Nr.  253) 
und  „Phantast  icnni"  (Nr.  140),  ein  Fehler,  der  sich  bei  W  ad  ding  noch  nicht 
findüt.  Den  „Tractatn.s  de  (trticuli^  fdei"  (Nr.  242)  halte  ich  für  identisch  mit 
der  Schrift  „De  /jrohatione  nnltatis  Dei,  Trinitatis,  Incartaitionis^  Creationis  et 
ReHarrectionis"  (Nr.  242);  beide  haben  das  gleiche  Incipit,  und  die  erstere 
Schrift  behandelt  der  Keihe  nacli  die  unitas  Dei,  pluralitas  in  Deo  (—  Trinitas), 
incarnatio,  creatio  und  resurrectio  (Cod.  lat.  mon.  10504  f.  1  sqq.,  und  10587 
f.   1  sqq.) 

■^  So  der  yj/jiher  <le  oratiOnihns  et  catifenip/ationihns'^  (Nr.  186  katatonisch, 
Nr.  171  lateinisch).  Kbenso  Nr.  237,  „(Jalti  haheat  Jionia  eredere" ,  ine.  „Cum 
sint  plures  Christiani"  und  Nr.  225,  „Liher  de  iis,  (/ntw  lionio  de  I)ea  dehet 
credere" ,  ine.  „Com  malo.s  (aic!)  Christians";  Cod.  lat.  mon.  10516  f.  Hl  :  „Lihre 
f/ae  den  hom  crenre  de  dea" ,  ine.  „Com  molts  Christians".  —  Der  „LIber  de 
inirnhillbus  orbis,  dietuH  Felix"  (Nr.  207)  ist  nur  die  Übersetzung  zu  Nr.  200, 
„Liher  dr  itiirarnUff  e.ae.li  i-t   ininidi". 

'  Die  vier  übcrein.stimmenden  Kataloge  führen  eine  Schrift  an  „l/d>er 
dietuH  opuH  bnninti"  (n"  172),  welche  keine  ander«'  ist  als  der  „IJb^r  onitio- 
num"  (n"  16>*'j  und  dieser  wieder  i.st  identi.sch  mit  dem  „Über  de  or<ilinnibns" 
(n"  142).  —  Ahnlich  verhält  es  sich  mit  der  Schrift  „l>e  a//'(itn  sirr  de  ae.rla 
nenun**^  worin  Lullub  über  dm  von  ilitii  angenommenen  8echHt<'n  Sinn,  die 
SprechfUhiKkeit,  handelt;  daniu.s  wird  eine  Schrift  „De  O/fm/it"  (Nr.  9H)  und 
eine  andere  „De  xerlo  Mensn"   den  unechten  beig(!zählt. 

"^  Die  von  der  ///>/.  ////.  (tom.  29,  p.  832)  angeführte  Schrift  „ih  ^eplr,n 
Snrtutnientin  Hrcleifiae"  igt  riin  «in  liruchntück  auH  d«'r  „hinjaitiilin  jidelin  et 
infiileliM." 


3  8  Raymundus  Lulliis. 

von  Seiten  seiner  Freunde  oder  Schüler  eine  Überarbeitung  er- 
fuhren ^ 

Angesichts  dieser  Verwirrung,  die  hier  noch  allenthalben 
herrscht,  kann  eine  genaue  Zahl  der  hillischen  Werke  heute  über- 
haupt noch  nicht  angegeben  werden.  Immerhin  ist  es  kaum  zu  hoch 
gegriffen,  wenn  man  dieselben  auf  etwa  dreihundert  schätzt;  denn 
wenn  auch  bei  einer  kritischen  Untersuchung  manche  bisher  unter 
selbständigem  Titel  aufgeführte  Schriften  verschwinden  müssen,  so 
darf  andererseits  nicht  vergessen  werden,  daP3  verschiedene  Werke 
verloren  gingen  oder  noch  nicht  ans  Tageslicht  gezogen  sind  % 

In  Anbetracht  seiner  vielseitigen  Tätigkeit  und  seines  un- 
stäten  Lebens  ist  die  erzielte  Leistung  gewiß  staunenswert.  Aber 
schon  Tennemann '"^  hat  mit  Recht  darauf  hingewiesen,  daß  unter 
dieser  großen  Zahl  von  Schriften  sich  eine  ganze  Reihe  von  klei- 
neren Traktaten  findet,    und  daß  manche  Abhandlungen  nur  die 

^  Die  Hist.  litt.  (tom.  29,  p.  107)  erwähnt,  daß  die  luliische  Schrift  „De 
quinque  sajyientihiis"  oder  ,,Dis2)utafio  qninque  sapientum"  im  Cod.  lat.  15450 
der  Bibl.  nation.  und  im  Cod.  lat.  mon.  10564,  fasc.  IT,  den  Titel  führe:  „Vani- 
hola  gentilis  iuvans  ad  disponemhim  christicolas."  Die  in  München  unter  diesem 
Titel  vorhandene  Schrift  stammt  keinesfalls  von  Lullus,  sondern  ist  eine  Über- 
arbeitung mehrerer  lullischer  Schriften  zum  Zweck  leichteren  Verständnisses. 
Der  genannten  Farahola  geht  eine  Einleitung  voraus,  welche  besagt,  daß  Lullus 
zwar  den  Glaubensinhalt  der  Katholiken,  Juden  und  Sarazenen  gut  darlegt,  „sed 
valde  brcviter,  de  qualibet  secta  generaliter".  Daher  erschien  dem  Uberarbeitor 
eine  deutlichere  Abfassung  notwendig,  und  so  nahm  er  das  Material  aus  lulli- 
schen  Schriften,  um  es  zu  ordnen:  „ideo  illud  quod  a  Ray  mundo  habere  et 
invenire  potui  de  ista  materia,  in  hoc  loco,  ut  brevius  potui,  hie  elegi,  adduxi 
et  in  modum  qui  sequitur  ordinavi;  de  hac  materia  in  libro  de  gentili,  facto 
a  Kaymundo,  aliqua  assumpsi  et  de  libro  quinque  hominum  sapientum."  (Cod. 
lat.  mon.  10564,  fasc.  II,  f.  2  v".)  —  Die.selbe  Schrift  findet  sich  unter  anderem 
Titel  auch  im  Cod.  lat.  mon.  10  595,  f.  71,  und  zwar  verrät  hier  der  Titel  den 
Verfasser:  „Istud  est  prooemium  magistri  Thomae  Lemisier  canonici  Atreba- 
tensis  in  medicina  magistri  (Lulls  Freund;  vgl.  oben  S.  11),  et  hoc  super  librum 
gentilis  et  trium  sapientum."  Im  Cod.  lat.  mon  10533,  f.  80  fehlt  der  Titel 
ganz.  Die  Überschrift  ^Farabola  gentilia  etc."  erklärt  sich  aus  der  Form,  die 
der  Verfasser  für  seine  Überarbeitung  gewählt  hat:  „Sed  quia  Raymundus 
quandoque  aliquas  parabolas  facit,  ut  apte  veniat  ad  intentum,  ideo  per  modum 
eins  fingere  intendo  huius  rei  introitum  in  hunc  modum  "  Dann  folgt  der  Titel. 
(Cod.  lat.  mon.   10  564,  f   2  v".) 

'■'  So    hat    Haureau    eine    vorher    nirgends    erwähnte   Schrift  Raymunds 
entdeckt:    f,ConsoUUio   Venetonun    et   tot  ins  goitis  desolatacJ'     Vgl.  Haureau 
Noticcs  et  extntits,  IV,  290—294. 

*'  Tenncmaiin,   Gi'scJi.  der  riiihs.  VI  11.  2,  S.  833  f. 


JI.    Die  Schriften  Lulls.  39 

veränderte  Form  einer  schon  früher  verfaßten  Schrift  darstellen. 
Dazu  kommt,  dal^  Lullus  sich  häufig  wenig  Mühe  gibt,  Abwechs- 
lung in  seine  Schriften  zu  bringen.  Wenn  die  verschiedensten 
Fragen  nach  dem  gleichen  Schema  behandelt  werden,  wenn,  wie 
z.  B.  im  ,,Liher  contradlctionis"  in  ununterbrochenem  Einerlei  die 
nackten  Syllogismen  sich  aneinanderreihen,  bis  die  Zahl  hundert 
voll  ist,  so  ist  eine  solche  äuläere  Form  gewiß  nicht  geeignet,  die 
Lektüre  angenehm  zu  machen;  aber  diese  zahllosen  Wiederholungen 
eines  und  desselben  Gedankens  lassen  es  auch  begreiflich  erschei- 
nen, daß  Lullus  wenig  Zeit  gebraucht  haben  kann,  um  eine  solche 
Schrift  abzufassen. 

Fast  mehr  noch  als  über  die  große  Zahl  seiner  Werke  hat 
man  sich  über  die  Vielseitigkeit  des  Wissens,  das  er  in  denselben 
niedergelegt  hat,  gewundert.  Es  ist  gewiß  anerkennenswert,  daß 
Lullus,  der  doch  den  größten  Teil  seiner  Kenntnisse  sich  als  Auto- 
didakt angeeignet  haben  muß,  sich  auf  allen  Gebieten  orientiert 
hat.  Aber  diese  Vielseitigkeit  darf  doch  nicht  in  dem  Sinn  ver- 
standen werden,  als  ob  unser  Schriftsteller  Gebiete,  die  ihm  schein- 
bar fern  lagen,  wie  Jurisprudenz  und  Medizin,  in  gleicher  Weise 
habe  beherrschen  wollen  wie  andere  Wissenszweige.  Es  wäre  un- 
verständhch,  wenn  der  Mann,  i\ev  in  seiner  äußeren  Wirksamkeit 
sein  ganzes  Leben  lang  mit  der  größten  Zähigkeit  sich  an  eine 
einzige  Idee  anklammerte,  auf  dem  (Jebiete  des  theoretischen  Wis- 
sens sich  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  zersplittert  hätte. 
Noch  viel  weniger  ist  die  Auffassung  berechtigt,  Raymund  habe 
die  Absicht  oder  auch  nur  die  Meinung  gehabt,  diese  Wissen- 
schaften aus  seiner  Ars  ijeneralis  herauskonslruieren  zu  können. 
Ihm  war  es  vielmehr  darum  zu  tun,  die  in  seiner  Ars  zur  An- 
wf.'udung  gebrachte  Methode  in  diese  Wissenschaften  hineinzu- 
tragen und  dort  zur  Anerkennung  zu  bringen.  Je  mein-  die 
Wissenschaden  sich  teilten  und  spezialisierten,  desto  weniger  Auf- 
merksamkeit konnte  das  allgemeine  und  abstrakte  System  linden, 
welches  er  für  das  Allheilmittel  gegenüber  dem  Unglauben  ansah; 
und  den  L'nglauben  zu  bekämf)fen,  das  war  nicht  bloß  s(;ino 
Lebr*n.saufgabe,  .sondern  das  hielt  er  für  die  vordringlichste  I 'Dicht 
der  ganzen  Christenheit,  des  l^^pstes,  d<  r  Kinic,  der  Fürsten  und 
der  wissenschaftlichen   Well. 


40  Raymundus  Lulliis. 

Sollten  die  Ungläubigen  aber  die  christliche  Religion  als  die 
wahre  einsehen  lernen,  dann  durften  deren  Bekenner  sich  zu  den 
Lehren  des  Christentums  in  ihrem  praktischen  Verhalten  nicht  in 
Gegensatz  bringen.  Unter  den  oft  recht  naiv  anmutenden  Be- 
weisen dafür,  dals  che  lex  CJiridlana  gegenüber  der  lex  Saracena 
oder  Judaica  die  lex  melior  sei,  findet  sich  auch  {\e\\  daß  nach 
der  lex  melior  auch  die  besseren  Menschen  leben  K  Daher  be- 
kämpft er  mit  allem  Nachdruck  die  Gleichgültigkeit  gegen  das 
christliche  Sittengesetz,  vorzüglich  aber  eifert  er  gegen  die  Mil.^- 
stände  unter  jenen,  deren  Pflicht  es  gewiesen  wäre,  die  Reinheit 
und  Vollkommenheit  dieses  Gesetzes  in  ihrem  Leben  am  deut- 
lichsten zu  dokumentieren,  nämlich  gegen  die  Vertreter  des  Klerus. 

Schon  in  der  Bittschrift  an  Cölestin  V.  sucht  er  darauf  hin- 
zuarbeiten, daß  die  Kleriker  sich  besser  für  seine  Ideen  erwärmen 
sollen,  um  sich  in  der  öffenthchen  Meinung  zu  rehabilitieren-.  In 
seinem  „Liber  de  natali  puerl  Jesu"  weist  er  namentlich  auf  die 
Pflicht  der  Kleriker  hin,  für  die  Einheit  des  Glaubens  zu  sorgen; 
aber  ihre  Habsucht  lä(H  sie  grofäenteils  auf  jede  höhere  Pflicht 
vergessen  ^^.  Vor  allem  aber  ist  die  „Disputatio  Fetri  Clerici  et 
Raymwidi  Fhantastici"  ^  eine  beif^ende  Satire  auf  die  kirchlichen 
Mifsstände  jener  Zeit.     Der  Inhalt  ist  kurz  folgender: 

Auf  dem  Wege  zum  Konzil  von  Vienne  trifft  Raymund 
mit  einem  Kleriker  Petrus  zusanmien,  dem  er  auseinandersetzt, 
was  er  auf  dem  Konzil  zu  erreichen  wünsche.  Deswegen  vom 
Kleriker  verlacht  und  nicht  blol.^  als  phantasticus,  sondern  als 
phantasticissimus  bezeichnet,  schlägt  Raymund  eine  Disputation 
darüber   vor,    wer   von   beiden    ein  Phantast   genannt   zu   werden 


'  Vgl.  Lih.  iiiagiiüs  contewpJafloiiis,  cap.  188  (ed.  Mogunt.  t.  IX,  p.  458). 

-  „Concirats  con  publica  utilitat  es  poc  aniada  e  con  tuit  clamcii  contra 
clerigues,  per  que  seria  gran  escusa  als  clerigues  en  tractar  les  cosos  daniiint 
dites,  car  bon  exempli  darien  de  si  niateis  e  de  lurs  obres."  (Cod.  hisp.  nion.  60, 
f.  78  v".)  Übersetzung  von  Salzinger  (ed.  Mogunt.  t.  II,  De  F.  Sapicnfibits 
p  51):  „Considerate  quod  publica  utilitas  paruni  anietur  et  quod  oninos  clament 
contra  clericos;  quare  esset  magna  excusatio  clericis  in  tractando  supradicta, 
quia  darent  bonum  e.xemplum  de  se  ipsis  et  de  suis  operibus." 

^  „Videt  tarnen  (sc.  „natus  puer  dei  tilius")  aliquos  praelatos  futuros, 
qui  ipso  diniisso  videntur  aurum  coniedere,  nee  potest  (Ms  aliquid  terrenuni  suf- 
ficero  pro  se  et  suo  maledicto  sanguine."     (ed.  Paris.   1499,  f.  59  r°.) 

^  inipr.  Parisiis  1499. 


II.   Die  Schriften  Lulls.  41 

verdiene.  Der  Kleriker  erzählt,  wie  er,  aus  ärniMcben  Verhält- 
nissen hervorgegangen  und  nur  auf  Almosen  angewiesen,  seine 
Studien  vollendet  habe;  dann  aber  habe  er  eine  fette  Pfründe  er- 
halten, Benefizien  zusammengehäuft,  seine  Brüder  bereichert,  seine 
Schwestern  vornehm  verheiratet  usw.  Nun  hofft  er  noch  auf  eine 
hohe  Prälatur,  um  ein  angenehmes  und  gemächliches  Leben  führen 
zu  können.  Raymund  dagegen  schildert,  wie  er  seine  Gattin, 
seine  Kinder  und  sein  Vermögen  verlassen  habe,  um  einzig  für 
das  erhabene  Ziel  zu  arbeiten,  das  er  sich  gesteckt.  Fünf  Kapitel 
hindurch  wird  die  Unteredung  fortgeführt,  indem  der  Kleriker  die 
Zustände  seiner  Zeit  zu  rechtfertigen  sucht,  während  Ra3anund  sie 
scharf  kritisiert,  um  am  Sc]ilul3  noch  einmal  den  ganzen  Gegen- 
satz der  beiderseitigen  Anschauungen  in  prägnanter  Weise  her- 
vorzuheben ^ 

Es  ist  völlig  belanglos,  ob  die  geschilderte  Unterredung  wirk- 
lich stattgefunden  hat  oder  nur  fingiert  ist.  Letzteres  hat  die 
grötste  Wahrscheinlichkeit  für  sich.  Als  kulturgeschichtliches  Sitten- 
gemälde hat  die  Schrift  in  jedem  Falle  ihren  Wert.  Dals  aber 
Raymund  durch  eine  solche  Sprache,  die  er  wohl  nicht  bloU  in 
seinen  Schriften  führte,  sich  in  den  Reihen  jener  Kleriker,  die 
von  seiner  Kritik  getroffen  wurden,  keine  Freunde  schuf,  bedarf 
wohl  keines  eigenen  Beweises. 

Einen  weiteren  Übelstand,  welcher  der  erfolgreichen  Missio- 
nierung der  Ungläubigen  hinderlich  war,  erblickte  LuÜus  in  der 
religiösen  Unwissenheit  des  christlichen  Volkes  selbst.  Solange  die 
Christen  nicht  genügend  in  ihrem  Glauben  unterrichtet  und  darum 

'  ,Ait  Clericus:  ^RemundL,  non  est  alia  eccleyia  in  mundo  ueqiie  hone 
ordinata  ad  servienduni  Deo  ut  Roniana  Eccleaia;  et  hoc  potes  videre  in  occle- 
siis  in  quihus  clerici  ordinate  ceiehrant,  ordinate  cantant,  et  huinsniodi  talia." 
--  Alt  Remiindus:  „Knio,  ut  dicis;  attamcn,  quid  est  de  ((uilmschini  cleiigis 
qui  protinus  extra  aedein  bacrani  cum  magna  pümpa  Hunt  e(]uitunte8,  vi  in 
pinguihus  menais  com<'dentes,  multas  otiam  et  magnas  henrfieioruni  provi8i<me8 
habentes,  pauperes  autem  Christi  ad  eoruni  portas  clamant  f  Videturn«'  tilji  hie 
esse  ordo  ronsentaneus  quem  hahent  clerici  in  ecciesia  celel)raiidi  et  iioiaH  de- 
cantandi?  Adhuc  id  a  te  qtiaero,  «i  bit  ordo  unum  i)orium  virum  Hciiiitilicnm 
unam  |>arvam  hahere  praehendam,  et  ciericum  illi  prorHUS  oppoHitinn  muItaH 
hnhere,  magnaB  et  (ut  ipsi  aiunt)  pingueB?"  -  Ait  (.'lericus:  ^Remiirnh'.  phan- 
tasticuH  en,  qui  me  talihun  quaeHtionil)Us  laceHMiH.  VA  idco  d««  cetcro  tccum 
ampiius  confcrre  nolo."  Kt  aheunte«  (hHCCHMerunt  ah  invicem,  ('loricuH  d  Rr 
mundu8."     {Ilmnloiilii-nn,  impr.   I'ari«.    1  lÜU,  f.  85  v".) 


42  Kaymuiulii.s  Lullus. 

nicht  imstande  sind,  den  Ungläubigen  gegenüber  mit  Gründen  für 
den  christlichen  (Jlauben  einzutreten,  wird  es  auch  nicht  gehngen, 
diese  dem  Christentum  zuzuführen  ^  Dem  sucht  er  in  einer  Reihe 
von  didaktischen  Schriften  zu  begegnen.  Ein  Werk  dieser  Art  ist 
die  „Doctrlna  puerilis" ,  die  zunächst  für  den  praktischen  Unter- 
riclit  seines  Sohnes  bestimmt  war.  Auch  die  Schrift  „De  lege  meliore'^ 
(unter  anterem  Titel  „De  veritate  legis  Christianae" ,  oder  „Quae 
lex  Sit  melior,  maior  ac  verior^*)  hat  zum  Zweck,  den  religiösen 
Unterricht  des  Volkes  zu  fördern  -. 

Auch  für  die  mangelhafte  Kenntnis  der  Glaubenswahrheiten 
scheint  Lullus  den  Klerus  seiner  Zeit  verantwortlich  gemacht  zu 
haben;  wenigstens  hat  sein  Büchlein  „Clericus"  oder  „Liber  Cleri- 
corum"  den  Zweck,  den  Geistlichen  selbst  eine  Art  Katechismus 
zu  sein  und  auf  diese  Weise  dem  Kampf  gegen  den  Unglauben 
zu  dienen  ^. 

Möglicherweise  haben  diese  populär-didaktischen  Bestrebungen 
Lullus  mit  veranlaßt  zu  der  eigenartigen  Darstellungsweise,  die  er 
für  viele  seiner  Schriften  gewählt  hat.  Es  ist  die  Form  des  Dia- 
logs,   deren    er   sich    liäufig   bedient,    um   die  Untersuchung   über 


^  ^Quoniam  infideles  literati  percipiuiit   a   fidelibus   liteiatis    quod   sacro 
sancta  fides  Catholica  non  probatur,    et  quia  fideles  instiucti    iniperfecte    in  de- 
monstrationc  ab  antiquis  eis  dicunt  fidem  non  posse  demonstrari,  dubitant  con- 
verti   ad   fidem  Christianam."     Epistola  Rcujuiundi  ad  Christianum,     (Cod.  lat. 
mon.   10568,  VI,  f.  23  r".) 

■  Dieser  Zweck  ist  in  der  Einleitung  klar  ausgesprochen:  „Cum  multi 
Christian!  laici  sint  mercatores  et  hac  occasione  vadant  ad  terras  Saracenorum 
qui  saepe  cos  interrogant  de  lege  Christiana,  volentes  cum  ipsis  disputare, 
quibus  Christiani  nescinnt  respondere,  quia  de  lege  huiusmodi  sufficientem  no- 
titiam  non  habent,  sed  credulitatem,  dubitantes  in  lege  Mahometi,  ideo  facimus 
hunc  librum,  ut  sciant  cognoscere  legem  nostram  meliorem,  maiorem  ac  verio- 
rem  esse  quacunque  alia,  et  cum  ipso  disputare  valeant  cum  Judaeis  omnibus- 
que  Christi  adversariis."     (Cod.  lat.  mon,   10655,  f.  221.) 

'  „Praesentem  librum  facimus,  ut  habeant  ignorantes  clerici  doitrinam, 
qua  possint  aliquo  modo  de  peccatis  cognoscere.  Turpe  enim  clerico  est  prin- 
cipia  ad  quae  ipse  finaliter  ordiuatur  ignoraro,  non  secus  ac  militi,  si  apte 
arma  in  hello  tractare  non  novit  ant  equum  insidere.  Per  talem  namque  igno- 
rantiam  clericorum  deperit  devotio,  quia  devotionis  dispositione  carent,  quae 
quidem  carentia  magnam  fidei  catholicac  per  illos  affert  iacturam  qui  eam  te- 
nentur  colere,  laudare,  multiplicare  et  per  Universum  mundum  praedicare, 
errores  destruere  infidelium  et  bono  catholicos  populäres  exemplo  docere," 
(impr.  Parisiis  1499,  f.  67  vM 


II.    Die  Schriften  Lulls.  43 

irgendeinen  Gegenstand  durchzuführen.  Bald  sind  es  allegorische 
Personen,  welche  miteinander  ein  Problem  erörtern,  bald  unter- 
hält er  sich  selbst  mit  einem  Heterodoxen,  sei  dieser  nun  ein 
Grieche,  Jude  oder  Sarazene,  in  Rede  und  Gegenrede  über  die 
Einwände,  welche  gegen  den  katholischen  Glauben  gemacht  wer- 
den können.  In  der  Regel  werden  diese  Dialoge  mit  einer  alle- 
gorischen Erzählung  eingeleitet,  wie  denn  Lullus  überhaupt  sich 
als  Meister  in  der  didaktischen  Erzählungsform  gezeigt  hat  ^ 

Für  die  genannten  Bestiebungen  war  es  sicher  zweckdien- 
lich. daL=j  Raymund  seine  Schriften  zum  grollten  Teil  in  der 
Vulgärsprache  abfat^te  (einige  Abhandlungen  sind  ursprünglich 
arabisch  geschrieben).  Ob  freilich  diese  Schreibweise  mit  Absicht 
gewählt  war  oder  ihren  Grund  im  mangelnden  Verständnis  der 
lateinischen  Sprache  hatte,  hängt  eben  von  der  Frage  ab,  ob  und 
inwieweit  Lullus  des  Lateinischen  mächtig  war'-.  Verstand  er  dasselbe 
nicht,  so  ist  immerhin  der  Fall  denkbar,  daß  diese  Unkenntnis  eine 
beabsichtigte  war.  Denn  wenn  er  mit  30  Jahren  noch  das  Studium 
des  Arabischen  zu  bewältigen  vermochte,  so  konnte  ihm,  dem 
Spanier,  auch  die  lateinische  Sprache  keine  besonderen  Schwierig- 
keiten bereiten;  wenn  er  sie  trotzdem  vernachlässigte,  so  lag  wohl 
der  Grund  darin,  dat.^  sie  ihm  für  seine  Zwecke  entbehrlich  er- 
schien. Aber  jedenfalls  ist  es  zu  weit  gegangen,  wenn  H  elf  (er  ich  * 
sogar  das  schlechte  Latein,  in  dem  sich  uns  die  lullischen  Schrif- 
ten präsentieren,  auf  die  Absicht  zurückführt,  populär  zu  schrei- 
ben. Wenn  Lullus  in  lateinischer  Spraciie  geschrieben  hat,  so 
triftl  das  sicher  nur  für  den  kleineren  Teil  seiner  Werke  zu;  diese 
aber  hat  er  in  einem  Stil  abgefatU,  so  gut  oder  so  schlecht  er 
ihn  eben  beherrschte;  sonst  aber  sind  die  stilistischen  Mängel  auf 
die  Übersetzer  zurückzuführen.  . 

Schon  frühzeitig  trug  nämlich  Haymund  Sorge  dalür,  dal."i 
.seine  Schriften  ins  Lateinische  übertragen  wurden.  Gelegenheit 
dazu  bot  ihm   wohl   drr  Aiifonthalt  in  Klöstern,  in  denen  ihm  die 

'  z.  H.  in  seiner  Schrift  „/a-  tnii<ihilihit.<  orhts"  ( Ijihrr  dr  Mtnunlli'H^ 
\s<»vori  K.  Ifofniuriii  da«  7.  liuch  („<it'i  <■'<  *li'  /'•<  hvstirs")  im  kataloniHchen 
Originaltext  neb^t  ChtTaftziing  voröffi«ntli<lit  hat  (Ahli.  ihr  hiil.  /"/'//.  Ah'nl.il. 
WiHjfentirh.  XII.  3,  S.  174,  München  1871). 

'  Vgl.  oben  8.  21,  Anm.  2. 

"  .\<1.   Ilelfferich,   /.'.   Lu//  ii.  Uir  Aitfiimjc  ilir  kntnl.  Litit'intnr  S.  161. 


44  Hiiymundus  liulliis. 

nötigen  Kräfte  znr  Vertilgung  gestellt  werden  konnten.  Solche 
Übertragungen  wurden  hergestellt  in  Pisa^  und  schon  früher  auf 
Majorka-.  An  letzterem  Ort  wurde  noch  in  Lulls  Testament 
eine  eigene  Summe  ausgesetzt  zum  Zweck  solcher  Übersetzungen  -K 
Diese  testamentarische  Bestimmung  wurde  auf  Majorka  durch 
den  ')H(((jister  grannnatkae-  des  dortigen  Kapitels  ausgeführte 

Wie  für  die  Übersetzung,  so  hatte  Lullus  auch  für  die  Ver- 
breitung seiner  Schriften  schon  zu  Lebzeiten  Sorge  getragen.  Ge- 
legentlich suclite  er  dies  wohl  durch  private  Schenkung  zu  er- 
reichen •',  namentlich  aber  dadurch,  daih  er  seine  Werke  an  eigenen 


'  Die  „Disputatio  Raymundi  Chrisfiani  et  Hanta/'  Saraccni"  trägt  am 
Schluß  die  Bemerkung:  ^Anno  Domiiii  1808  tinivit  Raymundus  istum  librum 
secundo  in  sermone  latino  Pisis  in  monasterio  sancti  Dominici  in  mense  Aprili, 
quem  primo  composuerat  in  lingua  Arabien  una  cum  Homerio  Saraceno  in  civi- 
tate  Bugia."     (Cod.  lat.  mon.  10  593,  f.   164  v".) 

-  Vgl.  „De  ariladis  fidel  catholicae  liber"  (Cod.  lat.  mon.  10504,  f.  14  v") : 
„Translatio  huius  operis  facta  est  de  vulgari  in  latinum,  ut  dictum  est,  in  civi- 
tate  Maioricensi  anno  incarnationis  Domini  nostri  Jesu  Christi  1300  mense  lulii." 

•'  Das  Testament  bestimmt:  „.  .  .  de  quibus  quidem  praedictis  centum 
quadraginta  libris  et  duobus  solidis  et  etiam  de  omnibus  aliis  denariis  quos 
habebo  tempore  obitus  mei,  solutis  inde  prius  legatis  praedictis,  volo  et  mando 
quod  fiant  inde  et  scribantur  libri  in  pergameno  in  romancio  et  latino  ex  illia 
libris  quos  divina  favente  gratia  noviter  compilavi."  Vgl.  Bolct'm  de  la  Real 
Acadcmia  de  hidoria  XXX  (Madrid  1897),  p.  92.  Vgl.  dazu  die  Korrekturen 
von  Delisle  [Jourxal  den  Savants,  1896,  p.  345—355)  und  Morel  Fatio 
[Romania  XXV,   1896,  p.  326-327). 

*  Zu  diesem  maghter  cframmaticue  vgl.  die  Bestimmung  des  vierten  Lateran- 
konzils, cap.  XI  (Mansi,  22,  999)  und  die  von  der  Ecclesia  Barchinonen- 
sis  für  Majorka  getroffenen  Ausfilhrungsbestimmungen  (Mansi  23,  189). 

'  Im  Testament  ist  unter  den  für  die  Übersetzung  und  Vervielfältigung- 
bestimmten  Büchern  auch  der  Traktat  „De  secretis  sanctissimae  triHf'tatis  et 
incarn(tti<)uis"  genannt.  Dieser,  in  den  Handschriften  bloß  „De  frhtifafe"  be- 
titelt, trägt  am  Schluß  die  Bemerkung:  „Ad  honorem  et  gloriam  Domini  nostri 
Jesu  Christi  finivit  Raymundus  hunc  librum  in  civitate  Maioricarum  in  mense 
Septembris  anno  incarnationis  Jesu  Christi  Millesimo  CCCXll.  —  Istum  quidem 
librum  transtiilit  Raymundus  Lul}^  in  romancio  ab  uno  eodemque  libro  quem 
fecerat  in  arabico  anno  quo  supra.  Verumtamen  Guillelmus  magister  presbyter 
regens  studium  grammaticale  capituli  Maioricarum  praesentem  librum  transtulit 
de  romancio  in  latinum  mense  Aprilis  in  civitate  praedicta  anno  Domini 
M"CCC®VI"  decimo  incarnationis  Domini  nostri  Jesu  Christi.  Deo  gratias."  (Cod. 
lat.  mon.   10495,  f.  195  v".) 

"  Der  Cod.  mss.  lat.  IV,  139  der  Bibl.  mss.  S.  Marci  Venetiarum  enthält 
außer  der  Widmung  an  den  Empfänger  Petrus  Gradonicus  noch  die  Bitte:  „Sed 
supplico  quod  nobilis  vir  dominus  Petrus  Ceno  possit  habere  usum  de  ipso 
quandiu  sibi  placuerit. "     Delisle,    Cabiiwt  <fes  MfoiHscr.  II,  171,   Anm.  4. 


II.    Die  Schriften  LuUs.  45 

Sammelstellen  aufbewahren  lieis,  eine  Maßnahme,  die  übrigens 
schon  durch  das  beständige  Wanderleben  Lulls  angezeigt  erschien. 
Der  Bericht  der  Vita  Anonymi,  wonach  Raymund  drei  solcher 
Stellen  errichtet  hatte,  nämlich  im  Kartäuserkloster  zu  Paris, 
bei  einem  vornehmen  Bürger  von  Genua  und  einem  solchen  von 
Majorka,  wird  sowohl  durch  das  Testament  Lulls  ^  wie  auch 
durch  handschriftliche  Notizen  bestätigt-. 

Mit  der  Ausbreitung  der  Schule  Lulls  wurden  auch  dessen 
Schriften  in  weitere  Kreise  getragen.  Die  meisten  derselben  finden 
sich  heute  wohl  noch  in  Spanien.  Die  in  Paris  angesammelten 
Werke  sind  zum  größten  Teile  in  die  Bibliotheque  nationale  über- 
gegangen, während  .jene,  welche  in  Genua  vorhanden  waren,  nach 
verschiedenen  Richtungen  zerstreut  zu  sein  scheinen;  die  Vaticana, 
die  Bibliotheca  S.  Marci  in  Venedig,  das  Kloster  St.  Isidor  in 
Rom  sind  im  Besitze  lullischer  Schriften.  Eine  nicht  unbeträcht- 
liche Anzalil  dersell)en   ist  in   der  Bibliothek   des  Stiftes  Innichen 


'  „De  quibus  qniJeni  libris  omnibus  siipradictis  iiiando  fieii  in  porgaincno 
in  latino  uniim  librum  in  uno  volumine  qui  iiiittatur  per  dictos  nianumissores 
meo9  Parisius  ad  monasterium  de  Xarcossa  (Del isla  liest  Xartossa).  quem 
libnim  ibi  dimitto  amore  Dei.  Item  mando  fieri  de  omnibus  supradictis  libris 
unum  aliuni  librum  in  uno  volumine  in  pergameno  scriptum  in  latino  quem 
dimitto  et  mando  mitti  apud  .lanuam  Misser  Persival  Espinola. "  Die  übrigen 
Schriften  sollen  mit  dem  Kest  seines  Meldes  an  Ordenshäuser  verschenkt  wer- 
den, „ita  quod  ponantur  in  armario  cuiuslibet  ecclesiae  in  qua  illos  dabunt 
cum  catena.  Ita  quod  quilibet  ipsius  ecclesiae  volens  illos  legere  possit  ipsos 
legere  et  videre.  Itom  lego  monasterio  de  Rcgali  unum  cott're  meum  cum  libris 
qui  ibi  sunt,  quem  habeo  in  hospitio  dicti  Petri  de  Sanctominato"  (des  Schwieger- 
sohnes Lulis).  Vgl.  I!(//i'fin  (Ir  In  licdl  A<-(i(Jnni(i  t/t'  hi  liis/orid  XXX  (Madrid 
1897),  p.  92  f. 

-  Ms.  lat.  10  111  der  Hibl.  Nation,  (aus  der  liibl.  der  Sorbonne  stimmend) 
trägt  folgenden  Vcrmoik  des  lübliothekars:  ,In  isto  volumine  contincutur  isti 
libri  qui  hie  nominantur" :  (folgen  die  Titel).  „Libros  prenominatos  ponit  magister 
itaymunduH  FjuI  in  custodia  domus  Sarboni  Parisius  cathenatos."  Daneben  steht: 
„.MultoH  alios  libroB  fr'cit  K'aymundus,  qui  sunt  in  monasterio  Cartusicnsi  Pari- 
öiu«,  de  quibus  quilibet  potent  babcr«?  excmplar,  ut  puta  Ars  geneialis,  otc;," 
Ü)eli8le,  CnhinH  th-n  Msx.  II,  171;  Journnl  r/.'.s  Snnnits  1896,  p.  851  )  Ms. 
lat.  3348  A  i\('V  Hibl.  nat.  (aus  d»Mn  Kartüuserkloster  Vauvcrl)  onfiiäit  die 
Notiz:  «Hoc  est  primum  voliimrn  mcditatiomim  magisiri  Paymundi,  (|uod  ipso 
dedit  fratrihuH  et  domui  Valiis  viridis  prcqx;  l'arisiuH,  cum  duobus  aliis  HtMjucn- 
tihus  voluminihuH  istiuH  trartatu»,  anno  gratio  MCCXCVIII."  (ÜeliMl»',  Cnhim-t 
'tfM  Mhh.  II,  252.) 


46  Raymundus  Tiullus. 

in  Tirol  vorhanden,  welche  sie  durch  Legat  eines  gewissen  Nicolaiis 
Poli,  Doctor  medicinae,  erhielt^. 

Eine  noch  reichere  Sammlung,  den  größten  Teil  aller  von 
Lullus  verfaßten  Schriften,  besitzt  die  kgl.  Hof-  und  Staatsbibliothek 
zu  München,  meist  iti  lateinischen  Übersetzungen,  zum  Teil  auch 
in  katalonischen  Texten.  Dieselben  entstammen  alle  der  kurpfäl- 
zischen Bibliothek  zu  Mannheim,  wohin  sie  auf  Betreiben  des 
Kurfürsten  Johann  Wilhelm  von  der  Pfalz  zusammengebracht 
wurden.  Aber  die  besondere  Vorliebe,  welche  dieser  Fürst  für 
unseren  Raymundus  Lullus  hegte,  beruhte  nicht  etwa  auf  einer 
Ideengemeinschaft  mit  dem  majorkanischen  Philosophen,  sie  war 
im  Gegenteil  Absichten  entsprungen,  welche  diesem  ganz  ferne 
gelegen  hatten. 

In  dem  oben  gemachten  Versuch,  die  Werke  Lulls  im  allge- 
meinen zu  charakterisieren,  wurde  eine  ganze  Reihe  von  Schriften 
nicht  genannt,  die  unter  seinem  Namen  kursieren.  Dieselben  sind 
ziemlich  zahlreich  '^  und  durchweg  alchymistischen  Inhalts.  Man 
hat  schon  die  verschiedensten  Gründe  angeführt,  welche  die  Un- 
echtheit  dieser  Schriften  unwiderleglich  dartun,  man  hat  hinge- 
wiesen auf  Aussprüche  Lulls,  in  denen  er  sich  abfällig  über  das 
Beginnen  der  Alchymisten  äutäert;  man  hat  bemerkt,  dafs  viele 
dieser  Schriften  nach  lullischer  Art  zwar  mit  dem  Datum  ver- 
sehen, aber  ganz  kritiklos  in  die  Zeit  nach  dem  Tode  Raymunds 
verlegt  wurden  ^;  man  hat  auf  die  Differenzen  aufmerksam  ge- 
macht, die  sich  bezüglich  der  Regierungszeiten  der  englischen 
Könige  ergeben,  bei  denen  Raymund  in  London  seine  geheimen 
Künste  in  Anwendung  gebracht  haben  soll,  aber  alles  vergebens. 
Lullus  muLHe  einmal  Alchymist  sein  und  bleiben,  und  diesem  Um- 
stand hat  er  namentlich  in  Deutschland  zum  grollen  Teil  seine 
Berühmtheit  —  auch  heute  noch  —  zu  verdanken.  Aber  vor- 
züglich um  die  Wende  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  scheint  man 
besonders    für    die    alchymistisclien     Kenntnisse    Raymunds    sich 


'  Derselbe  wird  ausdrücklich  „legator  Hibliotliecae"  genannt.  Vgl.  Sh/)- 
Itlcnientiint  <(d  tnohumcutn  Briricusid  ('(/if<i  Brixi)t<(i'  17 (>.'>.  ViiacutH  Kpitapltii^ 
('/  Inscrijifionibiis  in  Eccfcs/is  confcrnii/iis  et  ral/is  I'nsfrissyn'  Dioi'ce.sia  liririemus. 
Adjectum  anno  1775,  p.  72. 

-  Salzinger  zählt  im  tom.  I.  der  edit.  Mogunt.  deren  77  auf. 

■'  z.  B.  in  die  Jahre  1330,   1338,  1349,  1357. 


II.     Die  Schriften  Lulls.  47 

interessiert  zu  haben.  Borrichius  halte  in  seiner  Abhandlung 
yjDe  ortu  et  progressu  Chemiae  dissertatio^'  ^  ihm  (Heselben  mit 
großem  Eifer  zu  vindizieren  gesucht. 

Um  diese  Zeit"-  wurde  nun  Kurfürst  Johann  Wilhelm  von 
der  Pfalz  durch  den  reguherten  Ghorherrn  Ivo  Salzin g er,  den 
er  in  Düsseldorf  kennen  lernte,  in  die  alchymistischen  Geheimnisse 
dieser  eingeschmuggelten  lullischen  Kmist  eingeweiht.  Der  Kur- 
fürst, dem  nun  daran  gelegen  war,  die  sämtlichen  Schriften  Lulls 
in  seinen  Besitz  zu  bekommen,  liel.^  durch  seinen  Bibliothekar 
Bucheis  Nachforschungen  nach  solclien  anstellen.  Im  Jahre  1711 
reiste  dieser  nach  Italien,  wo  er  in  Florenz  und  Bom  nach 
Manuskripten  lullischer  Werke  fahndete.  Auch  aus  Paris  liet^  sich 
der  Kurfürst  eine  grol3e  Anzahl  solcher  Schriften  verschaffen  "\ 

Im  Jahre  1713  traf  der  Bibliothekar  schon  wieder  die  Vor- 
bereitungen zu  einer  Reise  nach  Barcelona  und  den  balearischen 
Inseln,  um  die  dort  befindlichen  Manuskripte  abzuschreiben.  Der 
Kurfürst  drängte  mit  aller  Eile  auf  die  Veranstaltung  einer  Aus- 
gabe der  lullischen  Werke  hin,  um  der  gebildeten  Welt  das  in 
denselben  niedergelegte  Wissen  nicht  länger  vorzuenthalten,  und 
bereits  Ende  des  Jahres  1712  war  der  Vertrag  mit  dem  Buch- 
drucker abgeschlossen  und  mit  dem  Druck  begonnen  worden  ^. 


'  Bihliotherri  Chcuiicn  Curiosa  J.  Jac.  Maugeti.  Genevac  1702;  aiicli 
ITafniae  1668. 

"■'  Die  folgenden  Notizen  stützen  sicli  liau[>tsäclilicli  auf  .Seh unk.  lii'i- 
fröf/r  zur  Mditizor  Oesrhichtt',  III,  S.  409  ff.,  sowie  auf  ein  von  Herrn  Anticjuar 
Lud,  Rosenthal  mir  in  freundliclistcr  Weise  zur  Verfügung  gestelltes 
Manuskript,  das  den  Hriefwerhsel  zwisrhen  den  heid(;n  Jesuiten  Custurer  und 
iSollier  unter  sich,  sowie  zwisclien  diesen  heiden  einerseits  und  dem  kurfürst- 
lichen Hofe  zu  Düsseldorf  andererseits  (meist  in  den  Originalbriefen)  aus  den 
Jahren  1710  -1713  enthkit. 

'  Brief  Huchels*  an  Soliier  vom  6.  Januar  1713:  „Serenissimus  Klcctor 
trecentos  circiter  tractatus  LuUianos  accepit  parisiis  ex  (iymnasio  Sorlionieo ; 
legati  fuerunt  eidem  hi  anno  MCCCXXXVI  a  Thoma  Atrehatensi,  cui  Haymun- 
du3  Lullus  lihrum  inscripsit  ..." 

*  Bucheis  (6.  Januar  1713)  an  .Sollier;  „inito  cum  Ty|M>grnpli()  Mogun- 
tino  quinque  ahhinc  septimanis  contractu,  (|ui  priora  tria  Volumina  typis  cle- 
gantihHimlH  editurum  sese  est  stipiilatus.  iam  tum  Huh  praeh)  Hudant  lihri,  qui 
hactenuü  in  iam  vnrÜH  provinciis  et  tarn  rcmotis  HihliotheciH  hituerunt  ititer 
hlnttnH  et  tineaM,  scdeoim  oceupantur  in  caidandis  figuris,  et  nihil  est  <|Uod 
Klector  SereniHHimuH  ita  in  votis  liaheat  quam  Lullianwrum  lihrorum  editionem; 
hinc    varÜH   promiHHin   iuvit^it   m(>    i{uat<niiH    l'ar(-in<m«'m   et    inde    proticiHcar   ad 


48  Rayniundus  Lullus. 

Trotzdem  scheint  es  den  beiden  Jesuiten  Custurer  und 
So  liier,  welche  die  Aufnahme  der  alchymistischeii  Schriften  zu 
verhindern  suchten,  gelungen  zu  sein,  einen  Aufschub  herbeizu- 
führen, der  freilich  nicht  lange  andauerte.  Nach  Johann  Wil- 
helms Tode  (171())  nahm  sich  dessen  Nachfolger  Karl  Philipp 
und  Kurfürst  Lothar  Franz  von  Mainz  der  Angelegenheit  an 
und  im  Jahre  1721  erschien  der  erste  Band  der  FoHo-Ausgabe. 
Dieselbe  war,  wie  Schunk  mitteilt  \  auf  mehr  als  sechzig  Bände 
berechnet,  fand  jedoch  mit  dem  zehnten  Band  im  Jahre  1742 
ihren  Abschluß,  und  auch  von  diesen  zehn  Bänden  sind  der 
siebente  und  achte  nirgends  aufzufinden.  Savigny'  vermutete 
zuerst,  daß  dieselben  wohl  nie  erschienen  seien.  Einen  V^erlust 
bedeutete  es  nicht,  daL^  die  in  ihrer  ganzen  Anlage  verfehlte  Aus- 
gabe nicht  zu  Ende  geführt  wurde  ^,  und  Helfferich  tut  den  bei- 
den Jesuiten  sehr  Unrecht,  wenn  er  ihnen  in  ihrer  Stehungnahme 
gegen  dieselbe  unlautere  Motive  unterschiebt^.  Das  gesamte  bereit- 
gestellte Material  wurde  noch  1790,  als  Schunk  seinen  Bericht 
schrieb,  im  erzbischöflichen  Seminar  zu  Mainz  aufbewahrt.  Schunks 
Wunsch,  daß  dasselbe  durch  Einverleibung  in  eine  Bibliothek  einen 
besseren  Platz  finden  möchte,  ist  heute  erfüllt. 


insulas  ßaleares,  ibidem  desciipturus  libios  Lullianos  qui  nobis  desunt,  iie  le- 
tardetur  opus  inceptum,  et  litteratus  oibis  diutius  Beati  Martyris  vigiliis  et 
labore  defraudetur." 

•  A.  a.  0.  S.  413  Anni. 

-  Savigny,   Gesch.  (Jeff  rthn.   Rechtes,  2.  Au3g.,  V,  615. 

^  Eine  Inhaltsangabe  der  erschienenen  acht  Bände  bei  Joh.  Ed.  P^rd- 
mann,  Grundriß  der  GeschicJife  der  Philosophie,  4.  Aufl.,  bearbeitet  von  Benno 
Erdmann.     Berlin  1896.  Bd.  I,  S.  412-414. 

•*  Helfferich,    /.'.  Lu//  und  die  Anfihi(/e  der  l.-at(ii.  Litferafur,  S.   162  f. 


Curriculum  vitae. 


Am  i.  Dezember  1874'  in  dem  württembergischen  Markt- 
flecken Erlenbach  geboren  verlor  ich  schon  frühzeitig  meinen  teuren 
V^ater  durch  den  Tod.  Trotz  mancher  Sorgen,  die  damit  ins  elter- 
liche Haus  einzogen,  ermöglichte  es  mir  der  Opfersinn  meiner  treu- 
besorgten Mutter,  dafe  ich  einige  Jahre  hindurch  von  meinem 
Fleimatsorte  aus  täglich  die  benachbarte  Privatlateinschule  zu 
Neckarsulm  besuchen  konnte.  Im  Jahre  1888  trat  ich  an  das 
Gynmasium  zu  Landshut  a.  Isar  über,  wo  ich  hauptsächlich  durch 
die  Unterstützung  des  dortigen  Franziskanerklosters  in  den  Stand 
gesetzt  wurde,  meinen  Studiengang  an  der  Mittelschule  zu  voll- 
enden. Nachdem  ich  an  der  genannten  Anstalt  im  Jahre  1894 
das  Reifezeugnis  erlangt  hatte,  wurde  mir  vom  damaligen  Pro- 
vinzial  der  bayerischen  Franziskanerprovinz  und  späteren  Bischof 
von  Augsburg,  P.  Petrus  floetzJ,  die  erbetene  Aufnahnje  in  den 
F'ranziskanerorden  gewährt,  in  welchen  ich  am  22.  September 
I81)i  eintrat.  Nach  zurückgelegtem  Probejahr  oblag  ich  in  den 
beiden  Studienklöstern  der  Ordensprovinz  zu  Bad-Tölz  und  München 
dem  Stuflium  der  Philos(jplii<'  und  Theologie.  Nach  Fmpfang  dei- 
Prieslerweihe  wurde  ich  in  dci-  .Seelsorge  verwende!,  X'on  189*1 
bis  1905  war  ich  als  Präfekt  am  Franziskanerkonvikt  zu  llam- 
berg  tälig,  und  zugleich  war  niii-  die  Seelsorge  Ini-  die  doilii^e 
(iarni.son  übertragen.  Dem  Wunsche  meiner  Ordensobeiii  folgend 
besüchle  ich  vom  Jahre  1 9(1.")  an  di(.'  Universität  Münclieii.  nrn 
mich  liier  .speziell  d<'m  Studium  ^Ici  l'hilnsopliic  zu  widmen.  Iliei 
hörle  ich  die  Vorlesungen  folgmder  llerjcn   Dn/.enhii: 

I.  in  der  philosophischen  FakuMäl:  Di.  (Jrilllei  ((Jeschichle 
der  rujueren  Philosophie):  Dr.  Hell  (Aiabi.sche  (iraimnalik);  Dr. 
v.  Hertlinj(  ((Jescliichle  der  Philosophie:  .Metaphysik:  philosophische 
Übimgen);   Di.  läpps  (Psychologie:  Lo|/ik  :  psycholoj^isclie  Übungen) 


Dr.  Föhlmann  (Geschichte  der  sozialen  Frage  in  dei-  antiken  Welt); 
Dr.  Schneider  (Psychologie;  Logik;  (jieschichte  der  Philosophie); 
Dr.  Simonsfeld  (Paläographie;  rrkiindenletire;  Literatnrkunde  und 
niiltclalterliche  Chronologie;  historische  Übungen); 

II.  in  der  theologischen  Fakultät;  Dr.  Schaub  (die  ethischen 
Probleme  der  sozialen  Frage;  moderne  Bestrebungen  auf  soziaienf 
Gebiet); 

III.  in  dei"  juristischen  Fakultät:  Dr.  Birkrneyer  (Rechts- 
])hilosophle); 

IV.  in  der  staatswissenscliattlichen  Fakultät;  Dr.  Brentano 
(Wirtschaftsgeschichte;  allgemeine  Volkswirtschaftslehre;  ökono- 
juische  Politik);  Dr.  v.  Mayr  (allgemeine  und  praktische  National- 
ökonomie; Sozialpolitik;  Wirtschaitsstatistik);  Di'.  Wasserrab  (So- 
ziologie und  soziale  Frage;  Grundzüge  der  Sozialpolitik). 

Für  die  zahlreichen  und  vielseitigen  Anregungen,  die  mii- 
während  meines  Universitätsstndiums  zuteil  geworden  sind,  schulde 
ich  allen  meineii  hochverehrten  Lehrern  den  grötüen  Dank,  dem 
ich  an  dieser  Stelle  nur  schwaclien  Ausdruck  verleihen  kann.  Zu- 
gleich drängt  es  mich,  die  Pllicht  der  Dankbarkeit  all  denjenigen 
gegeniiber  ötfentlich  anzuerkennen,  die  mir  die  Studienlaufbahn  er- 
öffnet haben  oder  im  Verlauf  derselben  woldwollend  und  fördernd 
zur  Seite  gestanden   sind. 

P.  Otto  Reicher,  O.  F.  M. 


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