Google
This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct
to make the world's books discoverablc online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover.
Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prcvcnt abuse by commercial parties, including placing lechnical restrictions on automated querying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain fivm automated querying Do not send automated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc
translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attributionTht GoogXt "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct and hclping them lind
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of
any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe.
Äbout Google Book Search
Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs
discover the world's books while hclping authors and publishers rcach ncw audicnccs. You can search through the füll icxi of ihis book on the web
at |http: //books. google .com/l
REDE
BEIM BEGINN DER VORLESUNGEN
IN DER
NEUEN PHYSIOT.OGI8CHEN ANSTALT
zu LEIPZIG
AM 26. APRIL 1869
OBHALTEN VON
C. LUDWIG.
• • •
• •
• • «
• • •
J J J O *
• • tf
» ■* "
• •
LEIPZIG: S. HIRZEL.
1869.
3
F7I
m
I8fe3
M.eine liciren ! Der alte Satz dass tlie Noth die
Mutter der "Wissenscrhaft sei , gilt öirgends mehr nls für
(Hp Arziieikunde. Solange unsere Sinne und Glieder mit
Behagen arbeiten , und solange die gütige Natur die
Mittel zum Genüsse reicht fragen wir nicht nach den Ur-
liehcm unserer Freuden; denn nur mit den Schmerzen
treten die Organe in unser BewusstRein, In dem Drange
der Leidenschaft welclie die Pein erweckt, fleht der
Mensch- die himmlischen Mächte um Rettung an und erst
nachdem er dort vergeblich gehofft, lässt er dem Verstände
die Herrschaft, der das Auge dem natürlichen Lauf der
Dinge zulenkt. Dieses geschah noch wie bekannt in den
\'orhaUen des Tempels und dorthin, wo der Grund für die
wissenschaftliche Arzneikunde gelegt wui'de , verlieren
sich auch die Spuren der Physik und C'hemie. Die drei
Wissenschaften wuchsen Ann in Arm empor, jedoch nur
so lange, bis sich der Chemie und Physik auf Wegen, die
weitab von denen der Arzneikunde lagen, leichter gi'cif-
bare und doch nicht mijider lohnende Aufgaben boten.
Je mehr sie den Erwerb auf dieser neuen Bahn häuften,
um so weniger sahen sie auf ihren Ursprung zurück, und
die Trennung der organischen und unorganischen Wis-
senschaften, die anfangs niu- zufallig schien, ward als eine
innerliche empfunden, nachdem wiederholt der Versuch
gescheitert war, die alte Einheit hetziistellen. Was die
l^n^'ollkommenheit der versöhnenden Mittel verschuldet
* c
hatte schob man auf die grundsätzliche Verschieden-
heit der Dinge. Getrennt von ihren natürlichen For-
sc'hungsgenossen stand die Arzneiwissenschaft rathlos ;
und so konnte es kommen, dass im Anfange dieses Jahr-
hunderts die reinen Naturwissenschaften gestützt auf
den messenden A' ersuch und das mathematische Denken
der höchsten Vollendung entgegenreiften, während die
Medizin einem Thun verfiel, das sich zwar Philoacphie
nannte aber doch nur ein Träumen war. Nur ein /weig
der Arzneiwissenschaft , die Anatomie besass auch schon
damals einen zu gesunden Inhalt um sich mehr als vor-
übergehend an den Gedankenspiclen jener Zeit zu be-
theiligen ; weil sie aber noch nicht vermochte die Rich-
tung der ärztlichen Theoiie zu ändern , und weÜ sie sich
ebendeeshalb aus der wissenschaftlichen Medizin Verstös-
sen sah , so wendeten sich die talentvollsten ihrer Vertre-
ter zu der vei^leichenden Anatomie. In diesem Studium
trat dem Anatomen deutlicher als je zuvor die strenge
Abhängigkeit zwischen den Aenderungen der Form und
der Leistungsiabigkeit der thierischen Werkzeuge ent-
gegen, und das Nachdenken über (Üese Bedingtheit musste
den Forscher nothwendig den I^ehrsätzen der Physik
nähern. In der Anschauung von den Lebenskräften be-
fangen wagte der Auatom anfangs nur schüchtern den
Gebrauch der Physik; aber je häutiger und je vorsichtiger
dieses geschah um so dmchsichtiger ^vurde die einge-
bildete Scheidewand zwischen der organischen und unor-
ganischen Natur ; als sich aber das physiologische Expe-
riment der anatomischen Zergliederung zugesellte , und
als gleichmässig von Seiten der Physiologie und der
Physik die Lehre von der Erhaltung der Kraft in ihrt^r
AUgemeingiltigkeit dargethan wurde, da drängte sich
^■f'.Si
von si-'lbst die (.'eberzeitguiig auf, tliiss tlie Axiome der
theoretischen Mechanik genügend seien um die Krschei-
nungen des thierischcn l^ebens zu erklären, uud noch
melir dass, wenn überhaupt, dieses nui- mit jenen Grund-
sätzen gelingen könne. Von dem Tage an wo der l'hy-
siologie dieses Ziel gesteckt war, trat sie aus dem zwar
ehrenvollen aber doch beschränkten Stande einer ärat-
liehen Hilfswissenschaft heraus. Ihrer neuen Au%abe
getreu hat sie sich fem vom Krankenbette weiter ent-
wickelt, und vielleicht gerade darum hat sie nach
wenigen mühevollen Jahren den früher unerreichbaren
Krfolg erlebt, (lass die l'athologie in eine neue Betrach-
tungsweise der Organismen einlenkte.
Dieser sclbstständigc Beruf der jungen Wissenschaft
mag anfangs und vielleicht heute noch Vielen unklar ge-
blieben sein. Je nach ihrem Tliun und dem Standpunkte
des Beschauers galt und gilt sie als ein Zweig der .\rznei-
kunde, der mehr als die andern von den EiTungenscbaf-
ten der Physik und CHiemie Gebrauch macht, oder sie
wird unter dem Namen der organischen Physik und der
/oochemie als ein technischer Ausläufer der reinen Natur-
wissenschaften gewerthet. Allerilings sie ist aus der Ana-
tomie liervorgewachsen, und bei dem l'hysiker und dem
Chemiker in die Lehre gegangen, aber sie hat zu den
Werkzeugen, die sie sich dort zu eigen gemacht, neue
gefügt und mit beiden Neues gefordert.
Die physiologische Chemie geht zwar von derselben
Betrachtung und Behandlung der Atome aus, die auch
der organischen C^hemie nöthig und geläufig sind; ja sie
arbeitet heute noch vorzugsweise mit den Molekülen
welche der oi^anische C-'hemiker in seinem eignen In-
teresse rein darstellte. Aber, imd hierin liegt der Unter-
schied der organischen und der lchendiy:cn Chemie, beide
erreichen dasselbe Resultat auf durchaus andern A\'egcii.
Wenn die organische (yheniie die Producte des thieri-
sdien Stoffwechsels erzeugt, die verwickelten Atomgrup-
pen sj>altet und die einfachen zusammenlegt, so greift sie
zu hohen Drücken "und Temperaturen, zu starken Affini-
täten und andern machtvollen Kräften; zu demselben
Ziele gelangt die lebendige Chemie mit bescheideneren
Mitteln, die durch ihre Organisation den Mangel an Ge-
walt ersetzen. Wie es kommen mag dass die Moleküle
solange sie in die thierischen (iewebe gebettet sind, an-
ders wirken, als wenn sie regellos durcheinander liegen,
vermag heute noch niemand zu sagen. Die physiologische
Chemie soll uns erst den Aufschluss geben , sie soll , und
darin liegt ihre eigenste Aufgabe, die A\'issenschaft mit
einem neuen Zweig der Affinitätslehre bereichern, /u
diesem Ende bedarf sie der innigen Verbindung mit der
Anatomie und dem physiologischen Experimente, mit
einem Worte andere Metlioden der Forschung als die
reine Chemie. Will man danach die lebendige Chemie
noch unter die angewandten Fächer der reinen zählen,
so darf man mindestens nicht vergessen dass sie in an-
derer Weise zu ihrer Mutter steht wie die Chemie der
Gewerbe.
In einer ebenso eigenthümlichen Beziehung steht die
Physik der belebten zu der der unbelebten Natur. Beide
sind Zweige der Mechanik, und der physiologische l'iiy-
siker kann nur dann mit Erfolg seine Netze wei-fen, wemi
er den Grund der allgemeinen Physik betritt. Aber der
würde sehr weit irren, der den thierischen Leib und sein
Leben als ein Resultat der Massenanordnung und der Be-
wegungsformen betrachten wollte, welche die anorganische
Welt beheiistiht und vollführt. Aeusserliche Aehnlich-
keiteii hiibeii uns vielmals verleitet die unmittelbarste
Anwendung von den physikalischen (jesetzen der Hy-
draulik, der üitfusion, der Elastizität zu machen und
jedesmal ist, wo dieses geschehen, auf das scheinbare
Gelingen die Knttäuschung gefolgt. Die organische Na-
tur ist immer originell und selbst im Kleinsten und lln-
scheinbarstt'ii überreich. Freilich der Physik des Ijeben-
digen ist es noch nie gelungen ein neues mechanisches
Axiom zu linden, und es ist auch nicht wahrscheinlich
dass sie die breit und sorgfältig angelegten Fundamente
der allgemeinen Bewegungslehre wesentlich ändern
werde ; aber in der Anwendung der mechanischen Grund-
sätze muss sie ihren eignen Weg gehn, und wie sich die
/eile vom Krystall, der Muskel vom Magneten unter-
scheidet, so hebt sich die Physik der lebendigen von der
der unbelebten Natur ab.
Die Zweige der Physiologie endlich , welche aus der
Pathologie zu ihr übertraten, die Anatomie und die Histo-
logie, haben durch ihre neue Verbindung neue Bedin-
gungen ihres Gedeihens empfangen; neue Methoden zur
Erkennung und Auswerthung der l'onnen wmden ihnen
zugeführt. Seitdem sich der Anatom bestreben muss die
Formen nicht bloss ruhend sondern auch bewegt zu er-
kennen , sind überall neue Eigenschaften gefunden , die,
obwohl sie seit J ahrhimderten oifen vorlagen, doch nie-
mals beachtet wurden. Die wahren Grundsätze der mes-
senden Anatomie, hier nicht so klar wie am Krystall,
sind erst in das Bewusstsein getreten seitdem es eine
.Vnatomie des bewegten Körpers giebt, — l'nd nicht
minder ist die Histologie fortgeschritten seit sie in die
lebendigste Wechselwirkung mit der physiologischen
8
Chemie gekommen. Sie hat wiis sie fjab leichlirh ziirflck-
empfiingen durch die chemischen Methoden der Färbung,
der Zerklüftung, der Reduction edler ^[etalle u. s. w.
Wenn also die Physik und (lie(Jhemie des Lebenden nicht
ohne die Hilfe der physiologischen Anatomie bestehn,
so wird sich noch weniger die letztere von den erstoreii
trennen können.
Wenn ich bisher im (jeiste zu denen gesprochen,
welche vor den Pforten dieses neuen Haxises stehend fra-
gen, welcher neuen Wissenschaft ein so stattliches Heim
gegründet sei, so richte ich nun das Folgende an Sie, die
durch das Betreten dieser Räume sich entschlossen zeigen
tiefer in unsere AVissenschaft einzudringen.
Wenn Sie durch das Haus, welches uns die Huld und
Weisheit unseres Königlichen Herrn verordnet und die
ITiatkraft Seiner höchsten Räthe erbaut hat , den prü-
fenden Blick senden, so werden Sie gleich erkennen, dass
es duixhweg das Gepräge einer schmucken Werkstatt
trügt. Wie die drei Zweige unserer Wissenschaft sich in
unauflöslicher Gemeinschaft in die Arbeit theilen und in
ihr sieh unterstützen , sendet auch das Haus drei Hügel
aus. Jedes Fach hat sich von diesen den gewählt, der ihm
nach l.icht und Luft am besten zusagt, l'nd wie der
Grundriss, so schliesst sich auch der Ausbau den Be-
dürfiiissen der Wissenschaft an. Die Mauer trägt nicht
bloss das Uach , sie sichert zugleich den festen Stand fei-
ner Beobachtungswerkzeuge, das Kellergeschoss bald xer-
tieft und bald erhöht birgt das , was Schutz gegen die
Schwankungen der Temperatur sucht, und was durch
Jiärm und Geruch die andern Arbeiten stören würde; die
Esse wird zum Zugrohr, das Wasser und Gas treiben Ma-
schinen, welche als unermüdliche Gehülfen die Hand des
Forschers von der grobt'ii Arbeit und von dem neugieri-
gen Blick des rnverstaiides befreien. Rings an Wund
und Decke scheu Sie Tröge, Nisclien, Regulatoren, tie-
hänge in wcehsclvoller lleihe und aus den Schränken
leuchten die edlen Werkzeuge welche die Tragweite luisc-
rcr Sinne bis zur Grenze des unendlich Kleineu führen.
Jeder Jüngling der Tliatkraft in sich siiürt,der begierig
ist sein Denken und sein Ei-tinden an der I^gik und der
Pliantasie der Natur zu messen, wird durch diesen Reich-
thum der helfenden Mittel sicherlich zur Arbeit er-
niuthigt. Er wird sich, wenn er den organischen Natui-
wisseuschaftcn zugeneigt ist, verpflichtet fühlen das
Seine zu thun nachdem der Staat mit freigebiger Hand
ilim mit Raum und üeräthen auf das Bereitwilligste ent-
gegenkam.
Wenn uns wie Rechtens nicht der blinde Trieb,
sondern die Besonnenheit zur Arbeit führen, dann wird
die Frage nicht fehlen, wo sind die Früchte der Thätig-
keit die dieses Haus pflegt? Vergebens sucht das Auge
nach den sichtbaren Erzeugnissen, nach Sammlungen und
nach kunstvollen Präparaten. AUcrtlings, die Physiologie
erzeugt nicht heute luid vielleicht niemals kunstreiche
Gestalten, die nach dem Vorbild der Natur mit ihren
Mitteln geformt sind; denn je tiefer wir eindringen, um
so unnachahmlicher erscheint uns der Organismus als
mechanische« Kunstwerk. Aber trotz dieses Mangels
fehlt uns der lohnende Erfolg nicht; die verwandten Ge-
biete des Wissens und Könnens leben und entwickeln
sich unter dem /utliun unserer Wissenschaft, und sie
die ein Abbild des Lebens ist. wirkt durch ihren Inhalt
auf das Ijeben zurück. Der Reiz der in dieser praktischen
Befruchtung liegt, erhöht sich durch das Bewusstsein,
t»
dass unsere Wissenscliaft, weil sie in den ereten Anian-
^en steht, der Zukunft ntich taiisenditlUige Erfolge ver-
spricht, von denen jeder strebende Jünger seinen Theil
mit Sicherheit hinnimmt, und nicht minder durch die
Erfahrung, dass die Kreise ihrer Anwendung lun so grös-
ser werden, je mehr sie selbst an Inhalt wächst.
Dfis Gebiet das an die Kcsultate der l'hysinlogie
zunächst und heute noch zumeist ankndpft. ist die l'a-
thülogie. l ml uns bindet schon alleiii die Dankbarkeit an
unsere ehrwürdige V'orwissenschaft. Wir Physiologen sind
zum grössten Theil in ihrem laiterricht erwachsen, sie sen-
det uns einen grossen Kreis ausgezeichneter Schüler , sie
■ hat die Anfänge unserer Wissenschaft mit Jiiebe gepflegt.
Könnten wir auch dieses vergessen, so würde ims doch
jeder Tag au dem wir thätig sind auf dem gleichen Felde
des Strebens vereint finden. Die beiden AVissenschaf-
ten werden, obwohl sie mit verschiedenen Mitteln unglei-
chen Zielen zustreben , doch immer Hand in Hand gehn.
Der Pathologe will dem kranken Organe die Gesundheit
wiedergel>en , lUe Physiologie will die Leistungen des
gesimden ( )rgans vervoUkonimncn und vervielfältigen ;
die Pathologie muss ihre Schlüsse fast allein auf die
Beobachtung bauen: weil sie dem sollen Menschen ver-
antwortlich entgegentritt, kann sie nicht wie wir das tief
einschneidende Experiment verwenden, ilit dieser Er-
kenntnies fällt fi-eilich das Voriu-theil als ob die Physio-
logie die Wissenschaft und die Patliologie die Praxis des
Arztes sei, es bricht damit die Meinung zusammen, als
ob die AVissenschaft der Pathologie erst dann beginnen
könne, wenu die Physiologie vollendet sei. Wäre die
Krankheit nichts anderes als ein Mehr oder AVeniger des
physiologischen Znstandes, so würde allerdings die patho-
II
loiiisflie 'l'heurie ycscliafifii sein, wenn die beubuchLendc
und dunkende Pliysiulogiu ihr das Leben als ein fertiges
Rcdienexempel entgegenbringen könnte. Aber i'üblten
wir lebhafter als es in Wirklichkeit der Vau ist die
Kraft in uns ein solch übernienschlit;hes Werk zu
vollenden, au würden wir dennuch der Pathulogie i'athen,
selbfitständig zur Arbeit zu greifen; die einsichtige
Pathologie ist ja aucli ohne unsere Mahnung seit lange
hierzu geschritten. In den kranken Prozess mischen sicli
zahlreiche nath Masse und Bewegung eigeiithümüche
Bedingungen, die niemals in unsem Kreis fallen; die
(iesetze ihrer Wirkung, die Mittel sie zu beseitigen niuss
der Arzt selbst suchen . dort liegt nicht das Feld unserer
'lliätigkeit. Aber trotz alle dem ist die Pathologie an die
physiologischen Versuche und die Physiologie an die
ärztliche Beobaclitung gekettet. Beide durchforschen dic-
xselben ( )rgane und ( hganyruppcn und beide finden an
den Vorgängen , die den Gegenstand ihrer Aufmerksam-
keit bilden, zahlreiche Bedingimgen übereinstimmend be-
theiligt; jeder Krankheitsfall ist, wenn man will, ein
physiologisches Experiment, das uns um so werthvoller
ist, als wir es meist nicht einmal künstlich bewirken
können, und umgekehrt jedes ])liysiologische Experiment
ist eine kfUistlich erzeugte Krankheit, die, weil sie nach
l'rsache und Folge genauer erkannt wird als die natür-
liche, für den Pathologen die grösste Bedeutung gewinnt.
So haben denn auch erfahrungsgemäss die Fächer der
Physiologie und Pathologie, die auf gleicher Stufe ihrer
Ausbildung stelin, sieh gegenseitig machtvoll geholfen.
Die Uiüptrik des kranken und gesunden Auges, die nor-
male und die pathologische Histologie sind sich in so
zahlreifhen Fällen entgegengekommen . dass es schwer
P
»
sein würde zu entscheiden, wer dem andern unentbehr-
licher sei. -^ Die Physiologie wird sich darum niemals
von üirer strebenden Schwester trennen können , wenn
sie auch scheinbar noch so fernen Gebieten zustrebt, die
so fem stehen wie das Hiechthnm und die höchste Fülle
der Körperkraft. Aber zu der letztern zieht es doch
unsere Wissenschaft vor Allem , denn da ist ihr erster
und ihr umfassendster Wirkungskreis. Wo der gesunde
Leib des Menschen sich mit der Welt berührt, wo er ihr
giebt und von ihr empfangt, da wird es gut sein wenn sie
untersucht, ob beides in der rechten Art geschehe.
Die Kreise der menschlichen Gesellschaft, welche
mit dem Einflüsse der Naturwissenschaften auf die tech-
nischen Zweige nicht vertraut sind, werden, wie sie es
voreinst beim Eindringen der Chemie und Physik in
die Gewerbe gethan haben, unsem Wissenszweig weit
von sich weisen. Die gesunden Glieder, werden sie
sagen, sind ohne diess dem Bewusstsein unterthan; die
Sinne , die als Wächter der Gesundheit wirken , sind
mit den höchsten Instinkten ausgerüstet, und das was
ihnen in anderen (iebieten an ursprünglicher Begabung
fehlte hat eine viel tausendjährige Erfahrung, die uns
eine fortlaufende l'eberlieferung erhielt , hat das gereifte
l'rtheil und der gebildete Geschmack längst ersetzt.
Selbstverständlich, fahren sie fort, kann darum die Phy-
siologie nichts anderes wollen und leisten als forsc;hend
hinter der Praxis herzuschreiten, um dem Kunstfertigen
zu erklären , warum und wie sein Werk entstanden ist.
Wäre diess das Ziel unserer Wissenschaft, wäre ihr Trieb
nichts anderes als leere Neugierde, so wäre der spöttische
Blick, mit dem sie unser grösster Dichter betrachtet, nur
zu gerechtfertigt. Die Vertreter der Physiologie, welche
13
die Grenzen ihres Könnens an dem messenden ^'erwiehe
erkannt haben, sind anderer Ueberzeugung ; sie hoften,
es werde ihnen gelingen , mit der Kcnntniss die sie aus
der Analyse der thierisehen I'unktionen geschöpft, fördernd
und hemmend iu das Leben einzugreifen. UnseJ* Glauben
wird um so fester, weil wir von einer nencn Seite her der
l'jrfahrung des Lebens nahi- treten.
P^ins der ersten Resultate physiologischer l'ürschung
bestand bekanntlich in der Krkenntniss dass die Me-
chanik unserer Sinne und Glieder, obwohl der >Seele
dienstbar, doch m"sprünglich dem Bewusstsein vollständig
entzogen sei, und dass sie in dieses sieh erst durch die
wissenschaftliche Beobachtung hebe, \'or dem Hinzu-
treten der Wissenschaft konnte also nm- ein empirischer
Ciebraueh von den uns angebornen Werkzeiigen gemacht
werden , luid solange diess gescliieht , bleibt dem Zweifel
Kaum , ob der Mensch , wenn er sich künstlerisches Em-
pfinden schafft , ^venn er der äusseren Natur widerstehn
oder verbessernd und gestaltend in sie eingreifen will,
auch hiezu das Zweckmässigste gewäMt hat. Diesen
Zweifel rechtfertigt die Erfahrung ; ein günstiges Geschick
hat es gleich im Anfang ihres praktischen Wirkens der
Physiologie vei"gönnt, dass sie in solchen Zweigen mensch-
licher T-eistung unerwartete technische Fortschritte an-
bahnte, die seit ältester Zeit von den edelsten Geistern
und den feinsten Sinnen empiriscli gepflegt wurden ; in
der Musik, in der Fax'benlehi-e , in der Linguistik. — Ks
wird genügen an die harmonische Stimmung musikali-
st^her Instrumente und die Sc:h webungen, an die Mischung
und den C'ontrast der Farben, an die Darstellung der
Sprachlaute durch Noten und Mundstellungen zu erinnern,
um darzuthun wie erfolgreich alles dieses für die Technik
14
der Musik, die Gebung der Faihen. dieTransscnjition der
Sprachen n. s. w. geworden ist. Wie die 'i'ragweite der
Physiologie so wird an diesen Beispielen aueh ihr eigen-
thümlicher Weg klar. Die physiologischen Erfinder waren
weder Künstler noch Philologen ; weder dm-eh die An-
schauung des Kunstwerkes iioeh durch die Analyse der
Litteratur wm'deu sie Entdet^ker ; das Experiment an den
Sinnen selbst war ihr Leiter; erst als sie die Fordei-ungen
ihrer Resultate mit dem verglichen was die Kunst bis-
her als ihre Vorbedingung gefordert , erst da ergab sicli
ausnahmslos dasa die ll^eln, welche alle Künstlei- als
giltig hinstellen, auch eine Folgening der physiologischen
Theorie waren.
Die Aufgabe, welche uns die Kün.ste stellten, 'kehrt
bei jedem \'organg wieder, in welchem das Leben und
der Leib als eine seiner Bedingungen eintreten ; wer kann
also ermessen was die Gesimdheitslehre , das vielgestaltige
Handwerk, die Viehzucht, ja was die Gewerbe von uns
verlangen, welche den todten Leib des Thieres ausbeuten.
Da diese Fragen aus Gebieten stammen, die durch die
Eifahrung weniger befruchtet und entwickelt sind, da
sie nicht wie die Kunst und die Litteratur nur ihre unter-
geordnete Seite der mechanischen Welt zuwenden, so wird
die Hoflhung und der Folgenreichthum des Gelingens hier
noch weit grösser sein , als dort. Versetzt man sich über
die Spanne der Zeit hinaus, in welcher das physiologische
Wissen entwickelt und der Widerstand besiegt ist, den
die Gewöhnung an das Alte dem Besseren entgegensetzt,
so .seilen wir im Geiste den Menschen bewuast mit seiner
Kraft und .seinem Widerstand rechnen, und dort Sicherheit
und höcrhste Leistung eintreten, wo heute nur, wenn es
hoch kommt, ein nrisicheres Treffen stattfindet. Wir sehen
A
15
wie menschliches (jcwhit'k iinil iiienschliche Einsicht sich
freudig ihrer Siege bewusst ist, aber verhehlen wir es uns
nicht, wir sehen dass Alles was uns gelungen nur den
Genuss der Sinne erhüht mid die Bequemlichkeit der
Glieder gefördert hat. I^nd auch dieses wäre noch nicht
ihi-e schlimmste "Wirkung; mit dem Bewusstsein, dase
unsere Glieder sich masehinenmässig regen , muss das
freudige Gefühl des freien Schaffens, und mit der Herr-
schaft der von aiissen eingeprägten , mit dem I^nter-
gang der selbst erfundenen Regel muss das Stieben des
Arbeiters zu (irunde gelin. So würde es sein, wenn unsere
Wissenschaft nur dem Leibe und seinen Genüssen diente.
Doch schon hebt sie den Blick höher , und ein jüngeres
Geschlecht ihrer Verehrer betritt mit ruhigem Bedacht
das Gebiet, das zwei ehrwüi'dige Cienossen unserer Hoch-
schule, E. H. Weber und Th. Ebchner erschlossen haben.
An den Nerven diingt der l-'orscher empor zur Seele ; an-
fangs vielleicht von dem Irrthum befangen da-ss das Be-
reich des Mechanisf^hen nirgends sein Ende finde. Aber
je öfter er die Vorstellung des Raiuns und die Enei^en
der Emjjfindung mit den Bewegungserscheinungen im
Nerven vergleicht, die jene auslösen, um so fester be-
gründet sich das Bewusstsein, dass jenseits der Nerven
ein neues Gebiet beginne. Gerade weil unsere ^\'^issen-
scrhaft mit der Mechanik des Leibes vertraut ist, weiss sie
dieser ihre Grenzen zu sti>cken, und so konnte es nur die
f(;rner Stehenden tiberraschen , als die Anhänger der me-
chanischen Physiologie allseitig darin zusammentrafen:
(lie Seele lebe ausserhalb der Grenzen der Mechanik, aus
der blossen Beweginig endlicher Massen könne ihr A\'ir-
ken niclit begriffen werden. Doch wie eigenthümlich auch
dfis lieben der Seele sein mag, immerhin folgt- es der Zeit
1,6
und ihrem Wechsel, und ihre Kräfte regen sich unter dem
Reiz bewegter MsisRcn , und durch sie wird das Molekül
des Nerven in Bewegung gesetzt. Von diesem AngiifFs-
punkte ans, den sie der Messung bietet, Hess sich finden
die Geschwindigkeit mit der eine Vorstellung oder ein
Willensakt entsteht; von da nus lässt sich schätzen und
zwar iin mechanischen Maass die Kraft des Willens die
den Nerven erregt, und das Gesetz war zu ermitteln nach
dem die Empfindung mit dem äusseren Reize wächst.
Hierdurch geschärft dringt der Bli(;k tiefer in die Vor-
stellung von Raum und Zeit, und sieht wie sich die Ener-
gien des Denkens dui'ch ihre Ki-fahmngen am en-egten
Nerven mit bestimmten Gestalten erfüllen; so giebt die
Physiologie dem Denken über .sich selbst eine grössere
Sicherheit und empfangt dafür von dem erhabensten Ge-
biete der menschlichen Forschung eine höhere Weihe. —
Der Abriss den ich von dem Bereic;h der Physio-
logie gegeben , rechtfertigt und erklärt , so hoffe ich,
die Theilnahme welche sie in Deutschland gefunden.
Denn so gefasst reiht sich ihr Bestieben den edlen
Zweigen menschlicher Thätigkeit an, welche dem Volke,
in dem sie wirken, eine dauernde Frische des Lebens
sichern ; sie kräftigt den Leib zum gefügigen ,Werk-
zeug des Willens, den Gewerben zeigt sie einen Weg des
Erfindens, den Künsten die empfindlichsten Angi-iffs-
punkte , aus der Gffenbarung der Natiu- schöpft sie für
den Dichter neue Gedanken, den Wissenschaften des
Geistes dient sie mit der Schärfe ihrer Methoden; so ist
sie im vollsten Sinne eine königliche Wissenschaft, dem
Lenker des Volkes, der zur Pflege der Menschenkraft be-
rufen ist, ein werthvolles Werkzeug.
Nur so wird es fasslich, dass das vielumworbene Auge
17
gerade unseres Königs und Herrn auf den ersten Anfängen
dieser Wissenschaft fördernd und ermuthigend rulite.
Sollte Sein Geist, geführt vom erhabensten Dichter ver-
gangener Jalu-h änderte, vergebens in die Tiefen des Men-
schen gestiegen sein? Sollte ein König, der die Kraft
Seines Staates auf die Sitte und Bildung Seines ^'olkes
stellt , nicht den Zusammenhang dieser Wissens(;haft mit
Seinen Thatcn erkennen? Allerdings Keiner von uns war
in dem Rathe, welcher den Entscliluss fasste der heute
ztn Vollendung reifte, aber wessen Herz fühlte nicht das
Bedürfiiiss in unserem Könige den Begründer auch
dieser Stätte zu ehren , die sich heute der Wissenschaft
eröffnet.
Als aber der höchste I^eitcr des Unterric:hts in diesem
Königreiche , Sr, Excellcnz der Herr Staatsrainister von
Fälkenstein, den Neubau dieses Hauses anbefahl, da
konnte man aus seinen "Weisungen erkennen wie weit
sein Blick über das Maass des gewöhnlichen hinaus-
reichte, und wie die Liebe zur Wissenschaft das mit Eifer
förderte was sich seiner Einsicht dargeboten. Vei^egen-
wärtige ich mir, was Herr von Falkenstein für die Neu-
gestaltung der Räume und noch mehr, was er für die des
Lehrfachs gethan, so sehe ich dass AUes, was hier neu
und rühmlich ist, mir ihm zu danken sei.
Entschluss und Ausführung unseres Werkes fiel in
eine Zeit die den Künsten des Friedens nicht günstig
war ; nur hier in unserm Königreiche fanden sich die
reichen Mittel auch noch zu dieser Anstalt. AVer könnte
zweifeln, dass wir das überraschende Resultat diessmal der
Klug:heit und Treue verdanken, mit welcher Sr. Excellenz
Herr (ieheime Rath Dr. Hübk!. das Öffentliche Gut ge-
pflegt liat. bis es am rechten t)rt die rechte \'erwendung
18
fand. Seiner werkthätigen Sorgfalt für die WissenRchaft
wollen wir immer eingedenk sein.
In die Tlntwerfung des Plans haben sich Herr Ober-
landbaum elfter HXkel und Herr Direktor Zocher getheilt:
bis die Physiologie den Plan dankbar und befriedigt
hinnahm, hat die Baukunst lange und oft erwogen. Als
das mühevolle Plänen zu Ende war, da begannen genuss-
volle Tage. Die überaus kraftvolle und geschickte Lei-
tung des Baues unter den Händen des Herrn Conimissions-
ratbes Graf, des Herrn Inspector und des Herrn Archi-
tekten Nake förderte das Haus rasch , so dass die Anstalt
10 Monate nach dem ersten Spatenstieb schon die neuen
Räume beziehn konnte. Meinem Collegen Schweiggeu-
Seidel und mir ist es ein Bedürfniss diesen Herren für
die vielen genussreichen Stunden zu danken die uns das
Baujahr durch sie gebracht hat.
Meine Herren , so stimmen Sie zum Schluss aus ge-
hobener Brust laut in den Zuruf ein, den ich in dank-
barer Freude Sr. Majestät unserm AUergnädigsten Herrn,
dem Könige Johann, den icli unserm glücklichen Sachsen
bringe.
rciithoprDDilHlrtfi] in
LANE MEDICAI. LIBRARY
771 Ludwig. 0. F. W. SM2
L94 Rede
1869
— ■ !
■ • 1
, • [
'
y
.^^ : r ::y
y
V—rjzzy