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Full text of "Rede beim Beginn der Vorlesungen in der neuen physiologischen Anstalt zu Leipzig am 26. April 1869"

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REDE 



BEIM BEGINN DER VORLESUNGEN 



IN DER 



NEUEN PHYSIOT.OGI8CHEN ANSTALT 



zu LEIPZIG 



AM 26. APRIL 1869 



OBHALTEN VON 



C. LUDWIG. 



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LEIPZIG: S. HIRZEL. 

1869. 

3 




F7I 

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I8fe3 



M.eine liciren ! Der alte Satz dass tlie Noth die 
Mutter der "Wissenscrhaft sei , gilt öirgends mehr nls für 
(Hp Arziieikunde. Solange unsere Sinne und Glieder mit 
Behagen arbeiten , und solange die gütige Natur die 
Mittel zum Genüsse reicht fragen wir nicht nach den Ur- 
liehcm unserer Freuden; denn nur mit den Schmerzen 
treten die Organe in unser BewusstRein, In dem Drange 
der Leidenschaft welclie die Pein erweckt, fleht der 
Mensch- die himmlischen Mächte um Rettung an und erst 
nachdem er dort vergeblich gehofft, lässt er dem Verstände 
die Herrschaft, der das Auge dem natürlichen Lauf der 
Dinge zulenkt. Dieses geschah noch wie bekannt in den 
\'orhaUen des Tempels und dorthin, wo der Grund für die 
wissenschaftliche Arzneikunde gelegt wui'de , verlieren 
sich auch die Spuren der Physik und C'hemie. Die drei 
Wissenschaften wuchsen Ann in Arm empor, jedoch nur 
so lange, bis sich der Chemie und Physik auf Wegen, die 
weitab von denen der Arzneikunde lagen, leichter gi'cif- 
bare und doch nicht mijider lohnende Aufgaben boten. 
Je mehr sie den Erwerb auf dieser neuen Bahn häuften, 
um so weniger sahen sie auf ihren Ursprung zurück, und 
die Trennung der organischen und unorganischen Wis- 
senschaften, die anfangs niu- zufallig schien, ward als eine 
innerliche empfunden, nachdem wiederholt der Versuch 
gescheitert war, die alte Einheit hetziistellen. Was die 
l^n^'ollkommenheit der versöhnenden Mittel verschuldet 



* c 



hatte schob man auf die grundsätzliche Verschieden- 
heit der Dinge. Getrennt von ihren natürlichen For- 
sc'hungsgenossen stand die Arzneiwissenschaft rathlos ; 
und so konnte es kommen, dass im Anfange dieses Jahr- 
hunderts die reinen Naturwissenschaften gestützt auf 
den messenden A' ersuch und das mathematische Denken 
der höchsten Vollendung entgegenreiften, während die 
Medizin einem Thun verfiel, das sich zwar Philoacphie 
nannte aber doch nur ein Träumen war. Nur ein /weig 
der Arzneiwissenschaft , die Anatomie besass auch schon 
damals einen zu gesunden Inhalt um sich mehr als vor- 
übergehend an den Gedankenspiclen jener Zeit zu be- 
theiligen ; weil sie aber noch nicht vermochte die Rich- 
tung der ärztlichen Theoiie zu ändern , und weÜ sie sich 
ebendeeshalb aus der wissenschaftlichen Medizin Verstös- 
sen sah , so wendeten sich die talentvollsten ihrer Vertre- 
ter zu der vei^leichenden Anatomie. In diesem Studium 
trat dem Anatomen deutlicher als je zuvor die strenge 
Abhängigkeit zwischen den Aenderungen der Form und 
der Leistungsiabigkeit der thierischen Werkzeuge ent- 
gegen, und das Nachdenken über (Üese Bedingtheit musste 
den Forscher nothwendig den I^ehrsätzen der Physik 
nähern. In der Anschauung von den Lebenskräften be- 
fangen wagte der Auatom anfangs nur schüchtern den 
Gebrauch der Physik; aber je häutiger und je vorsichtiger 
dieses geschah um so dmchsichtiger ^vurde die einge- 
bildete Scheidewand zwischen der organischen und unor- 
ganischen Natur ; als sich aber das physiologische Expe- 
riment der anatomischen Zergliederung zugesellte , und 
als gleichmässig von Seiten der Physiologie und der 
Physik die Lehre von der Erhaltung der Kraft in ihrt^r 
AUgemeingiltigkeit dargethan wurde, da drängte sich 



^■f'.Si 



von si-'lbst die (.'eberzeitguiig auf, tliiss tlie Axiome der 
theoretischen Mechanik genügend seien um die Krschei- 
nungen des thierischcn l^ebens zu erklären, uud noch 
melir dass, wenn überhaupt, dieses nui- mit jenen Grund- 
sätzen gelingen könne. Von dem Tage an wo der l'hy- 
siologie dieses Ziel gesteckt war, trat sie aus dem zwar 
ehrenvollen aber doch beschränkten Stande einer ärat- 
liehen Hilfswissenschaft heraus. Ihrer neuen Au%abe 
getreu hat sie sich fem vom Krankenbette weiter ent- 
wickelt, und vielleicht gerade darum hat sie nach 
wenigen mühevollen Jahren den früher unerreichbaren 
Krfolg erlebt, (lass die l'athologie in eine neue Betrach- 
tungsweise der Organismen einlenkte. 

Dieser sclbstständigc Beruf der jungen Wissenschaft 
mag anfangs und vielleicht heute noch Vielen unklar ge- 
blieben sein. Je nach ihrem Tliun und dem Standpunkte 
des Beschauers galt und gilt sie als ein Zweig der .\rznei- 
kunde, der mehr als die andern von den EiTungenscbaf- 
ten der Physik und CHiemie Gebrauch macht, oder sie 
wird unter dem Namen der organischen Physik und der 
/oochemie als ein technischer Ausläufer der reinen Natur- 
wissenschaften gewerthet. Allerilings sie ist aus der Ana- 
tomie liervorgewachsen, und bei dem l'hysiker und dem 
Chemiker in die Lehre gegangen, aber sie hat zu den 
Werkzeugen, die sie sich dort zu eigen gemacht, neue 
gefügt und mit beiden Neues gefordert. 

Die physiologische Chemie geht zwar von derselben 
Betrachtung und Behandlung der Atome aus, die auch 
der organischen C^hemie nöthig und geläufig sind; ja sie 
arbeitet heute noch vorzugsweise mit den Molekülen 
welche der oi^anische C-'hemiker in seinem eignen In- 
teresse rein darstellte. Aber, imd hierin liegt der Unter- 



schied der organischen und der lchendiy:cn Chemie, beide 
erreichen dasselbe Resultat auf durchaus andern A\'egcii. 
Wenn die organische (yheniie die Producte des thieri- 
sdien Stoffwechsels erzeugt, die verwickelten Atomgrup- 
pen sj>altet und die einfachen zusammenlegt, so greift sie 
zu hohen Drücken "und Temperaturen, zu starken Affini- 
täten und andern machtvollen Kräften; zu demselben 
Ziele gelangt die lebendige Chemie mit bescheideneren 
Mitteln, die durch ihre Organisation den Mangel an Ge- 
walt ersetzen. Wie es kommen mag dass die Moleküle 
solange sie in die thierischen (iewebe gebettet sind, an- 
ders wirken, als wenn sie regellos durcheinander liegen, 
vermag heute noch niemand zu sagen. Die physiologische 
Chemie soll uns erst den Aufschluss geben , sie soll , und 
darin liegt ihre eigenste Aufgabe, die A\'issenschaft mit 
einem neuen Zweig der Affinitätslehre bereichern, /u 
diesem Ende bedarf sie der innigen Verbindung mit der 
Anatomie und dem physiologischen Experimente, mit 
einem Worte andere Metlioden der Forschung als die 
reine Chemie. Will man danach die lebendige Chemie 
noch unter die angewandten Fächer der reinen zählen, 
so darf man mindestens nicht vergessen dass sie in an- 
derer Weise zu ihrer Mutter steht wie die Chemie der 
Gewerbe. 

In einer ebenso eigenthümlichen Beziehung steht die 
Physik der belebten zu der der unbelebten Natur. Beide 
sind Zweige der Mechanik, und der physiologische l'iiy- 
siker kann nur dann mit Erfolg seine Netze wei-fen, wemi 
er den Grund der allgemeinen Physik betritt. Aber der 
würde sehr weit irren, der den thierischen Leib und sein 
Leben als ein Resultat der Massenanordnung und der Be- 
wegungsformen betrachten wollte, welche die anorganische 



Welt beheiistiht und vollführt. Aeusserliche Aehnlich- 
keiteii hiibeii uns vielmals verleitet die unmittelbarste 
Anwendung von den physikalischen (jesetzen der Hy- 
draulik, der üitfusion, der Elastizität zu machen und 
jedesmal ist, wo dieses geschehen, auf das scheinbare 
Gelingen die Knttäuschung gefolgt. Die organische Na- 
tur ist immer originell und selbst im Kleinsten und lln- 
scheinbarstt'ii überreich. Freilich der Physik des Ijeben- 
digen ist es noch nie gelungen ein neues mechanisches 
Axiom zu linden, und es ist auch nicht wahrscheinlich 
dass sie die breit und sorgfältig angelegten Fundamente 
der allgemeinen Bewegungslehre wesentlich ändern 
werde ; aber in der Anwendung der mechanischen Grund- 
sätze muss sie ihren eignen Weg gehn, und wie sich die 
/eile vom Krystall, der Muskel vom Magneten unter- 
scheidet, so hebt sich die Physik der lebendigen von der 
der unbelebten Natur ab. 

Die Zweige der Physiologie endlich , welche aus der 
Pathologie zu ihr übertraten, die Anatomie und die Histo- 
logie, haben durch ihre neue Verbindung neue Bedin- 
gungen ihres Gedeihens empfangen; neue Methoden zur 
Erkennung und Auswerthung der l'onnen wmden ihnen 
zugeführt. Seitdem sich der Anatom bestreben muss die 
Formen nicht bloss ruhend sondern auch bewegt zu er- 
kennen , sind überall neue Eigenschaften gefunden , die, 
obwohl sie seit J ahrhimderten oifen vorlagen, doch nie- 
mals beachtet wurden. Die wahren Grundsätze der mes- 
senden Anatomie, hier nicht so klar wie am Krystall, 
sind erst in das Bewusstsein getreten seitdem es eine 
.Vnatomie des bewegten Körpers giebt, — l'nd nicht 
minder ist die Histologie fortgeschritten seit sie in die 
lebendigste Wechselwirkung mit der physiologischen 



8 



Chemie gekommen. Sie hat wiis sie fjab leichlirh ziirflck- 
empfiingen durch die chemischen Methoden der Färbung, 
der Zerklüftung, der Reduction edler ^[etalle u. s. w. 
Wenn also die Physik und (lie(Jhemie des Lebenden nicht 
ohne die Hilfe der physiologischen Anatomie bestehn, 
so wird sich noch weniger die letztere von den erstoreii 
trennen können. 

Wenn ich bisher im (jeiste zu denen gesprochen, 
welche vor den Pforten dieses neuen Haxises stehend fra- 
gen, welcher neuen Wissenschaft ein so stattliches Heim 
gegründet sei, so richte ich nun das Folgende an Sie, die 
durch das Betreten dieser Räume sich entschlossen zeigen 
tiefer in unsere AVissenschaft einzudringen. 

Wenn Sie durch das Haus, welches uns die Huld und 
Weisheit unseres Königlichen Herrn verordnet und die 
ITiatkraft Seiner höchsten Räthe erbaut hat , den prü- 
fenden Blick senden, so werden Sie gleich erkennen, dass 
es duixhweg das Gepräge einer schmucken Werkstatt 
trügt. Wie die drei Zweige unserer Wissenschaft sich in 
unauflöslicher Gemeinschaft in die Arbeit theilen und in 
ihr sieh unterstützen , sendet auch das Haus drei Hügel 
aus. Jedes Fach hat sich von diesen den gewählt, der ihm 
nach l.icht und Luft am besten zusagt, l'nd wie der 
Grundriss, so schliesst sich auch der Ausbau den Be- 
dürfiiissen der Wissenschaft an. Die Mauer trägt nicht 
bloss das Uach , sie sichert zugleich den festen Stand fei- 
ner Beobachtungswerkzeuge, das Kellergeschoss bald xer- 
tieft und bald erhöht birgt das , was Schutz gegen die 
Schwankungen der Temperatur sucht, und was durch 
Jiärm und Geruch die andern Arbeiten stören würde; die 
Esse wird zum Zugrohr, das Wasser und Gas treiben Ma- 
schinen, welche als unermüdliche Gehülfen die Hand des 



Forschers von der grobt'ii Arbeit und von dem neugieri- 
gen Blick des rnverstaiides befreien. Rings an Wund 
und Decke scheu Sie Tröge, Nisclien, Regulatoren, tie- 
hänge in wcehsclvoller lleihe und aus den Schränken 
leuchten die edlen Werkzeuge welche die Tragweite luisc- 
rcr Sinne bis zur Grenze des unendlich Kleineu führen. 

Jeder Jüngling der Tliatkraft in sich siiürt,der begierig 
ist sein Denken und sein Ei-tinden an der I^gik und der 
Pliantasie der Natur zu messen, wird durch diesen Reich- 
thum der helfenden Mittel sicherlich zur Arbeit er- 
niuthigt. Er wird sich, wenn er den organischen Natui- 
wisseuschaftcn zugeneigt ist, verpflichtet fühlen das 
Seine zu thun nachdem der Staat mit freigebiger Hand 
ilim mit Raum und üeräthen auf das Bereitwilligste ent- 
gegenkam. 

Wenn uns wie Rechtens nicht der blinde Trieb, 
sondern die Besonnenheit zur Arbeit führen, dann wird 
die Frage nicht fehlen, wo sind die Früchte der Thätig- 
keit die dieses Haus pflegt? Vergebens sucht das Auge 
nach den sichtbaren Erzeugnissen, nach Sammlungen und 
nach kunstvollen Präparaten. AUcrtlings, die Physiologie 
erzeugt nicht heute luid vielleicht niemals kunstreiche 
Gestalten, die nach dem Vorbild der Natur mit ihren 
Mitteln geformt sind; denn je tiefer wir eindringen, um 
so unnachahmlicher erscheint uns der Organismus als 
mechanische« Kunstwerk. Aber trotz dieses Mangels 
fehlt uns der lohnende Erfolg nicht; die verwandten Ge- 
biete des Wissens und Könnens leben und entwickeln 
sich unter dem /utliun unserer Wissenschaft, und sie 
die ein Abbild des Lebens ist. wirkt durch ihren Inhalt 
auf das Ijeben zurück. Der Reiz der in dieser praktischen 
Befruchtung liegt, erhöht sich durch das Bewusstsein, 



t» 



dass unsere Wissenscliaft, weil sie in den ereten Anian- 
^en steht, der Zukunft ntich taiisenditlUige Erfolge ver- 
spricht, von denen jeder strebende Jünger seinen Theil 
mit Sicherheit hinnimmt, und nicht minder durch die 
Erfahrung, dass die Kreise ihrer Anwendung lun so grös- 
ser werden, je mehr sie selbst an Inhalt wächst. 

Dfis Gebiet das an die Kcsultate der l'hysinlogie 
zunächst und heute noch zumeist ankndpft. ist die l'a- 
thülogie. l ml uns bindet schon alleiii die Dankbarkeit an 
unsere ehrwürdige V'orwissenschaft. Wir Physiologen sind 
zum grössten Theil in ihrem laiterricht erwachsen, sie sen- 
det uns einen grossen Kreis ausgezeichneter Schüler , sie 
■ hat die Anfänge unserer Wissenschaft mit Jiiebe gepflegt. 
Könnten wir auch dieses vergessen, so würde ims doch 
jeder Tag au dem wir thätig sind auf dem gleichen Felde 
des Strebens vereint finden. Die beiden AVissenschaf- 
ten werden, obwohl sie mit verschiedenen Mitteln unglei- 
chen Zielen zustreben , doch immer Hand in Hand gehn. 
Der Pathologe will dem kranken Organe die Gesundheit 
wiedergel>en , lUe Physiologie will die Leistungen des 
gesimden ( )rgans vervoUkonimncn und vervielfältigen ; 
die Pathologie muss ihre Schlüsse fast allein auf die 
Beobachtung bauen: weil sie dem sollen Menschen ver- 
antwortlich entgegentritt, kann sie nicht wie wir das tief 
einschneidende Experiment verwenden, ilit dieser Er- 
kenntnies fällt fi-eilich das Voriu-theil als ob die Physio- 
logie die Wissenschaft und die Patliologie die Praxis des 
Arztes sei, es bricht damit die Meinung zusammen, als 
ob die AVissenschaft der Pathologie erst dann beginnen 
könne, wenu die Physiologie vollendet sei. Wäre die 
Krankheit nichts anderes als ein Mehr oder AVeniger des 
physiologischen Znstandes, so würde allerdings die patho- 



II 

loiiisflie 'l'heurie ycscliafifii sein, wenn die beubuchLendc 
und dunkende Pliysiulogiu ihr das Leben als ein fertiges 
Rcdienexempel entgegenbringen könnte. Aber i'üblten 
wir lebhafter als es in Wirklichkeit der Vau ist die 
Kraft in uns ein solch übernienschlit;hes Werk zu 
vollenden, au würden wir dennuch der Pathulogie i'athen, 
selbfitständig zur Arbeit zu greifen; die einsichtige 
Pathologie ist ja aucli ohne unsere Mahnung seit lange 
hierzu geschritten. In den kranken Prozess mischen sicli 
zahlreiche nath Masse und Bewegung eigeiithümüche 
Bedingungen, die niemals in unsem Kreis fallen; die 
(iesetze ihrer Wirkung, die Mittel sie zu beseitigen niuss 
der Arzt selbst suchen . dort liegt nicht das Feld unserer 
'lliätigkeit. Aber trotz alle dem ist die Pathologie an die 
physiologischen Versuche und die Physiologie an die 
ärztliche Beobaclitung gekettet. Beide durchforschen dic- 
xselben ( )rgane und ( hganyruppcn und beide finden an 
den Vorgängen , die den Gegenstand ihrer Aufmerksam- 
keit bilden, zahlreiche Bedingimgen übereinstimmend be- 
theiligt; jeder Krankheitsfall ist, wenn man will, ein 
physiologisches Experiment, das uns um so werthvoller 
ist, als wir es meist nicht einmal künstlich bewirken 
können, und umgekehrt jedes ])liysiologische Experiment 
ist eine kfUistlich erzeugte Krankheit, die, weil sie nach 
l'rsache und Folge genauer erkannt wird als die natür- 
liche, für den Pathologen die grösste Bedeutung gewinnt. 
So haben denn auch erfahrungsgemäss die Fächer der 
Physiologie und Pathologie, die auf gleicher Stufe ihrer 
Ausbildung stelin, sieh gegenseitig machtvoll geholfen. 
Die Uiüptrik des kranken und gesunden Auges, die nor- 
male und die pathologische Histologie sind sich in so 
zahlreifhen Fällen entgegengekommen . dass es schwer 



P 



» 



sein würde zu entscheiden, wer dem andern unentbehr- 
licher sei. -^ Die Physiologie wird sich darum niemals 
von üirer strebenden Schwester trennen können , wenn 
sie auch scheinbar noch so fernen Gebieten zustrebt, die 
so fem stehen wie das Hiechthnm und die höchste Fülle 
der Körperkraft. Aber zu der letztern zieht es doch 
unsere Wissenschaft vor Allem , denn da ist ihr erster 
und ihr umfassendster Wirkungskreis. Wo der gesunde 
Leib des Menschen sich mit der Welt berührt, wo er ihr 
giebt und von ihr empfangt, da wird es gut sein wenn sie 
untersucht, ob beides in der rechten Art geschehe. 

Die Kreise der menschlichen Gesellschaft, welche 
mit dem Einflüsse der Naturwissenschaften auf die tech- 
nischen Zweige nicht vertraut sind, werden, wie sie es 
voreinst beim Eindringen der Chemie und Physik in 
die Gewerbe gethan haben, unsem Wissenszweig weit 
von sich weisen. Die gesunden Glieder, werden sie 
sagen, sind ohne diess dem Bewusstsein unterthan; die 
Sinne , die als Wächter der Gesundheit wirken , sind 
mit den höchsten Instinkten ausgerüstet, und das was 
ihnen in anderen (iebieten an ursprünglicher Begabung 
fehlte hat eine viel tausendjährige Erfahrung, die uns 
eine fortlaufende l'eberlieferung erhielt , hat das gereifte 
l'rtheil und der gebildete Geschmack längst ersetzt. 
Selbstverständlich, fahren sie fort, kann darum die Phy- 
siologie nichts anderes wollen und leisten als forsc;hend 
hinter der Praxis herzuschreiten, um dem Kunstfertigen 
zu erklären , warum und wie sein Werk entstanden ist. 
Wäre diess das Ziel unserer Wissenschaft, wäre ihr Trieb 
nichts anderes als leere Neugierde, so wäre der spöttische 
Blick, mit dem sie unser grösster Dichter betrachtet, nur 
zu gerechtfertigt. Die Vertreter der Physiologie, welche 



13 



die Grenzen ihres Könnens an dem messenden ^'erwiehe 
erkannt haben, sind anderer Ueberzeugung ; sie hoften, 
es werde ihnen gelingen , mit der Kcnntniss die sie aus 
der Analyse der thierisehen I'unktionen geschöpft, fördernd 
und hemmend iu das Leben einzugreifen. UnseJ* Glauben 
wird um so fester, weil wir von einer nencn Seite her der 
l'jrfahrung des Lebens nahi- treten. 

P^ins der ersten Resultate physiologischer l'ürschung 
bestand bekanntlich in der Krkenntniss dass die Me- 
chanik unserer Sinne und Glieder, obwohl der >Seele 
dienstbar, doch m"sprünglich dem Bewusstsein vollständig 
entzogen sei, und dass sie in dieses sieh erst durch die 
wissenschaftliche Beobachtung hebe, \'or dem Hinzu- 
treten der Wissenschaft konnte also nm- ein empirischer 
Ciebraueh von den uns angebornen Werkzeiigen gemacht 
werden , luid solange diess gescliieht , bleibt dem Zweifel 
Kaum , ob der Mensch , wenn er sich künstlerisches Em- 
pfinden schafft , ^venn er der äusseren Natur widerstehn 
oder verbessernd und gestaltend in sie eingreifen will, 
auch hiezu das Zweckmässigste gewäMt hat. Diesen 
Zweifel rechtfertigt die Erfahrung ; ein günstiges Geschick 
hat es gleich im Anfang ihres praktischen Wirkens der 
Physiologie vei"gönnt, dass sie in solchen Zweigen mensch- 
licher T-eistung unerwartete technische Fortschritte an- 
bahnte, die seit ältester Zeit von den edelsten Geistern 
und den feinsten Sinnen empiriscli gepflegt wurden ; in 
der Musik, in der Fax'benlehi-e , in der Linguistik. — Ks 
wird genügen an die harmonische Stimmung musikali- 
st^her Instrumente und die Sc:h webungen, an die Mischung 
und den C'ontrast der Farben, an die Darstellung der 
Sprachlaute durch Noten und Mundstellungen zu erinnern, 
um darzuthun wie erfolgreich alles dieses für die Technik 



14 

der Musik, die Gebung der Faihen. dieTransscnjition der 
Sprachen n. s. w. geworden ist. Wie die 'i'ragweite der 
Physiologie so wird an diesen Beispielen aueh ihr eigen- 
thümlicher Weg klar. Die physiologischen Erfinder waren 
weder Künstler noch Philologen ; weder dm-eh die An- 
schauung des Kunstwerkes iioeh durch die Analyse der 
Litteratur wm'deu sie Entdet^ker ; das Experiment an den 
Sinnen selbst war ihr Leiter; erst als sie die Fordei-ungen 
ihrer Resultate mit dem verglichen was die Kunst bis- 
her als ihre Vorbedingung gefordert , erst da ergab sicli 
ausnahmslos dasa die ll^eln, welche alle Künstlei- als 
giltig hinstellen, auch eine Folgening der physiologischen 
Theorie waren. 

Die Aufgabe, welche uns die Kün.ste stellten, 'kehrt 
bei jedem \'organg wieder, in welchem das Leben und 
der Leib als eine seiner Bedingungen eintreten ; wer kann 
also ermessen was die Gesimdheitslehre , das vielgestaltige 
Handwerk, die Viehzucht, ja was die Gewerbe von uns 
verlangen, welche den todten Leib des Thieres ausbeuten. 
Da diese Fragen aus Gebieten stammen, die durch die 
Eifahrung weniger befruchtet und entwickelt sind, da 
sie nicht wie die Kunst und die Litteratur nur ihre unter- 
geordnete Seite der mechanischen Welt zuwenden, so wird 
die Hoflhung und der Folgenreichthum des Gelingens hier 
noch weit grösser sein , als dort. Versetzt man sich über 
die Spanne der Zeit hinaus, in welcher das physiologische 
Wissen entwickelt und der Widerstand besiegt ist, den 
die Gewöhnung an das Alte dem Besseren entgegensetzt, 
so .seilen wir im Geiste den Menschen bewuast mit seiner 
Kraft und .seinem Widerstand rechnen, und dort Sicherheit 
und höcrhste Leistung eintreten, wo heute nur, wenn es 
hoch kommt, ein nrisicheres Treffen stattfindet. Wir sehen 



A 



15 



wie menschliches (jcwhit'k iinil iiienschliche Einsicht sich 
freudig ihrer Siege bewusst ist, aber verhehlen wir es uns 
nicht, wir sehen dass Alles was uns gelungen nur den 
Genuss der Sinne erhüht mid die Bequemlichkeit der 
Glieder gefördert hat. I^nd auch dieses wäre noch nicht 
ihi-e schlimmste "Wirkung; mit dem Bewusstsein, dase 
unsere Glieder sich masehinenmässig regen , muss das 
freudige Gefühl des freien Schaffens, und mit der Herr- 
schaft der von aiissen eingeprägten , mit dem I^nter- 
gang der selbst erfundenen Regel muss das Stieben des 
Arbeiters zu (irunde gelin. So würde es sein, wenn unsere 
Wissenschaft nur dem Leibe und seinen Genüssen diente. 
Doch schon hebt sie den Blick höher , und ein jüngeres 
Geschlecht ihrer Verehrer betritt mit ruhigem Bedacht 
das Gebiet, das zwei ehrwüi'dige Cienossen unserer Hoch- 
schule, E. H. Weber und Th. Ebchner erschlossen haben. 
An den Nerven diingt der l-'orscher empor zur Seele ; an- 
fangs vielleicht von dem Irrthum befangen da-ss das Be- 
reich des Mechanisf^hen nirgends sein Ende finde. Aber 
je öfter er die Vorstellung des Raiuns und die Enei^en 
der Emjjfindung mit den Bewegungserscheinungen im 
Nerven vergleicht, die jene auslösen, um so fester be- 
gründet sich das Bewusstsein, dass jenseits der Nerven 
ein neues Gebiet beginne. Gerade weil unsere ^\'^issen- 
scrhaft mit der Mechanik des Leibes vertraut ist, weiss sie 
dieser ihre Grenzen zu sti>cken, und so konnte es nur die 
f(;rner Stehenden tiberraschen , als die Anhänger der me- 
chanischen Physiologie allseitig darin zusammentrafen: 
(lie Seele lebe ausserhalb der Grenzen der Mechanik, aus 
der blossen Beweginig endlicher Massen könne ihr A\'ir- 
ken niclit begriffen werden. Doch wie eigenthümlich auch 
dfis lieben der Seele sein mag, immerhin folgt- es der Zeit 



1,6 



und ihrem Wechsel, und ihre Kräfte regen sich unter dem 
Reiz bewegter MsisRcn , und durch sie wird das Molekül 
des Nerven in Bewegung gesetzt. Von diesem AngiifFs- 
punkte ans, den sie der Messung bietet, Hess sich finden 
die Geschwindigkeit mit der eine Vorstellung oder ein 
Willensakt entsteht; von da nus lässt sich schätzen und 
zwar iin mechanischen Maass die Kraft des Willens die 
den Nerven erregt, und das Gesetz war zu ermitteln nach 
dem die Empfindung mit dem äusseren Reize wächst. 
Hierdurch geschärft dringt der Bli(;k tiefer in die Vor- 
stellung von Raum und Zeit, und sieht wie sich die Ener- 
gien des Denkens dui'ch ihre Ki-fahmngen am en-egten 
Nerven mit bestimmten Gestalten erfüllen; so giebt die 
Physiologie dem Denken über .sich selbst eine grössere 
Sicherheit und empfangt dafür von dem erhabensten Ge- 
biete der menschlichen Forschung eine höhere Weihe. — 

Der Abriss den ich von dem Bereic;h der Physio- 
logie gegeben , rechtfertigt und erklärt , so hoffe ich, 
die Theilnahme welche sie in Deutschland gefunden. 
Denn so gefasst reiht sich ihr Bestieben den edlen 
Zweigen menschlicher Thätigkeit an, welche dem Volke, 
in dem sie wirken, eine dauernde Frische des Lebens 
sichern ; sie kräftigt den Leib zum gefügigen ,Werk- 
zeug des Willens, den Gewerben zeigt sie einen Weg des 
Erfindens, den Künsten die empfindlichsten Angi-iffs- 
punkte , aus der Gffenbarung der Natiu- schöpft sie für 
den Dichter neue Gedanken, den Wissenschaften des 
Geistes dient sie mit der Schärfe ihrer Methoden; so ist 
sie im vollsten Sinne eine königliche Wissenschaft, dem 
Lenker des Volkes, der zur Pflege der Menschenkraft be- 
rufen ist, ein werthvolles Werkzeug. 

Nur so wird es fasslich, dass das vielumworbene Auge 



17 



gerade unseres Königs und Herrn auf den ersten Anfängen 
dieser Wissenschaft fördernd und ermuthigend rulite. 
Sollte Sein Geist, geführt vom erhabensten Dichter ver- 
gangener Jalu-h änderte, vergebens in die Tiefen des Men- 
schen gestiegen sein? Sollte ein König, der die Kraft 
Seines Staates auf die Sitte und Bildung Seines ^'olkes 
stellt , nicht den Zusammenhang dieser Wissens(;haft mit 
Seinen Thatcn erkennen? Allerdings Keiner von uns war 
in dem Rathe, welcher den Entscliluss fasste der heute 
ztn Vollendung reifte, aber wessen Herz fühlte nicht das 
Bedürfiiiss in unserem Könige den Begründer auch 
dieser Stätte zu ehren , die sich heute der Wissenschaft 
eröffnet. 

Als aber der höchste I^eitcr des Unterric:hts in diesem 
Königreiche , Sr, Excellcnz der Herr Staatsrainister von 
Fälkenstein, den Neubau dieses Hauses anbefahl, da 
konnte man aus seinen "Weisungen erkennen wie weit 
sein Blick über das Maass des gewöhnlichen hinaus- 
reichte, und wie die Liebe zur Wissenschaft das mit Eifer 
förderte was sich seiner Einsicht dargeboten. Vei^egen- 
wärtige ich mir, was Herr von Falkenstein für die Neu- 
gestaltung der Räume und noch mehr, was er für die des 
Lehrfachs gethan, so sehe ich dass AUes, was hier neu 
und rühmlich ist, mir ihm zu danken sei. 

Entschluss und Ausführung unseres Werkes fiel in 
eine Zeit die den Künsten des Friedens nicht günstig 
war ; nur hier in unserm Königreiche fanden sich die 
reichen Mittel auch noch zu dieser Anstalt. AVer könnte 
zweifeln, dass wir das überraschende Resultat diessmal der 
Klug:heit und Treue verdanken, mit welcher Sr. Excellenz 
Herr (ieheime Rath Dr. Hübk!. das Öffentliche Gut ge- 
pflegt liat. bis es am rechten t)rt die rechte \'erwendung 



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fand. Seiner werkthätigen Sorgfalt für die WissenRchaft 
wollen wir immer eingedenk sein. 

In die Tlntwerfung des Plans haben sich Herr Ober- 
landbaum elfter HXkel und Herr Direktor Zocher getheilt: 
bis die Physiologie den Plan dankbar und befriedigt 
hinnahm, hat die Baukunst lange und oft erwogen. Als 
das mühevolle Plänen zu Ende war, da begannen genuss- 
volle Tage. Die überaus kraftvolle und geschickte Lei- 
tung des Baues unter den Händen des Herrn Conimissions- 
ratbes Graf, des Herrn Inspector und des Herrn Archi- 
tekten Nake förderte das Haus rasch , so dass die Anstalt 
10 Monate nach dem ersten Spatenstieb schon die neuen 
Räume beziehn konnte. Meinem Collegen Schweiggeu- 
Seidel und mir ist es ein Bedürfniss diesen Herren für 
die vielen genussreichen Stunden zu danken die uns das 
Baujahr durch sie gebracht hat. 

Meine Herren , so stimmen Sie zum Schluss aus ge- 
hobener Brust laut in den Zuruf ein, den ich in dank- 
barer Freude Sr. Majestät unserm AUergnädigsten Herrn, 
dem Könige Johann, den icli unserm glücklichen Sachsen 
bringe. 



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LANE MEDICAI. LIBRARY 



771 Ludwig. 0. F. W. SM2 

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1869 




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