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Full text of "Reden und Aufsätze"

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Reden und Auffätze 


Guſtav Rümelin, 


Kanzler der Univerſität Tübingen. 


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Tübingen, 1875. 
Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung. 


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Vorrede. 


An der Univerſität Tübingen beſteht zufolge einer 
Stiftung des Königs Friedrich die Einrichtung, daß jedes 
Jahr in allen Fakultäten für wiſſenſchaftliche Arbeiten und 
Leiſtungen der Studierenden Preiſe ausgeſezt und am sten 
November als dem Geburtstag des Stifters vertheilt werden. 
Es gehört zu den Obliegenheiten des Kanzlers, dieſen Act 
vorzunehmen und durch eine öffentliche Rede über ein frei 
und ohne Rückſicht auf den Anlaß wählbares Thema ein— 
zuleiten. Hieraus iſt eine Reihe von Vorträgen entſtanden, 
welche auch einem größeren Publikum vorzulegen den Ver— 
faſſer vielſeitig geäußerte Wünſche aufmuntern konnten. 

Dieſen Vorträgen iſt eine ſchon in der Staatswiſſen— 
ſchaftlichen Zeitſchrift abgedruckte akademiſche Antrittsrede 
vorausgeſchickt und ein correſpondirendes, wenn auch um 
25 Jahre auseinanderliegendes, Paar politiſcher Reden aus 
den am betreffenden Ort näher bezeichneten Gründen ange— 
fügt worden. l 

Es folgen ſodann einige Abhandlungen, theils über 
die vielerörterte Frage nach dem Begriff der Statiſtik, theils 
über einige praktiſche Themata aus derſelben, bei welchen 


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der Verfaſſer noch unbeachtete Geſichtspunkte geltend machen 
zu können glaubte. Der erſte dieſer Aufſätze iſt ein ge— 
kürzter Abdruck einer ebenfalls ſchon in der Staatswiſſen— 
ſchaftlichen Zeitſchrift erſchienenen Unterſuchung. 

Dieſe Theile des Buches mögen ſich ſelbſt rechtfertigen, 
ſo gut ſie es vermögen. Dagegen ſcheint der lezte Abſchnitt 
ſchon um der Buntheit ſeines Inhalts willen ein entſchul— 
digendes Fürwort zu bedürfen. Es iſt eine Auswahl und 
Ueberarbeitung von kleineren Aufzeichnungen, die im Lauf 
der Jahre aus Anlaß von Geſprächen, Lectüre oder ſon— 
ſtigen Studien entſtanden ſind. 

Dem Schriftſteller auf dem Gebiet des Wiſſens und 
Denkens kommt nicht wie dem Dichter der Spruch zu gute: 
wer Vieles bringt, wird jedem Etwas bringen. Während 
Dieſem die Mannigfaltigkeit ſeiner Stoffe zur Empfehlung 
dient, erregt ſie bei Jenem Mißtrauen und den Verdacht 
des Dilettantenthums. Man verzeiht heutzutag weit lieber 
große Bücher über kleine Gegenſtände als kurzgefaßte Ur- 


theile über große Fragen. Gleichwohl wagt es der Ver— 


faſſer die kleine, aber wenigſtens nicht leichtfertige, Waare 
vom Stapel laufen und ihr Glück verſuchen zu laſſen. 


Der Verfaſſer. 


Tübingen, 20. Februar 1875. 


Inhalts-Verzeichniß. 


J. Reden. 


Ueber den Begriff eines ſocialen Geſezes. 1867 
Ueber Hegel. 1870 ; 
Ueber das Rechtsgefühl. 1871 


2 
4. Ueber den Begriff des Volkes. 1872 
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Ueber die Lehre von den Seelenvermögen. 1873 — 
Ueber das Verhältniß der Politik zur Moral. 1874 
Ueber die Reichsoberhauptsfrage. Frankfurt 1849. 

Rede zur Feier des Geburtstags des deutſchen Kai— 


ſers. 1874 


II. Aufſätze. 


1. Zur Theorie der Statiſtik I. 1863 

2. Zur Theorie der Statiſtik II. 1874 u 

3. Ueber den Begriff und die Dauer einer Generation 

4. Ueber die Malthus'ſchen Lehren 

5. Stadt und Land D 
III. Kleine Betrachtungen und Bekenntniſſe vermiſchten Inhalts. 

1. Allerlei. Nro. 1—8 8 

2. Wider den neuen Glauben. Nro. 9—13 

3. Wider die Formeln des alten Glaubens. Nro. 14—16 


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Ueber den Begriff eines ſocialen Geſezes. 


Eine akademiſche Antrittsrede. 
1867. 

Ich glaube dem Wiſſenszweig der Statiſtik, welchem 
ich an dieſer Hochſchule Freunde zu gewinnen bemüht ſein 
werde, nichts zu vergeben, wenn ich, abweichend von dem 
ſonſtigen Brauch, bei ſolchem Anlaſſe den Umfang und die 
Bedeutung ſeines Faches in ein möglichſt glänzendes Licht 
zu ſtellen, dießmal lieber von den Grenzen und Schranken 
ſpreche, welche daſſelbe ungeſtraft nicht überſchreiten darf. 

Ich möchte nemlich über den Begriff eines ſocialen 
Geſezes reden, wobei Sie mir freilich werden geſtatten 
müſſen, das weitgreifende Thema nur in leichteren Umriſſen 
zu behandeln. 

Die Frage: was iſt ein ſociales Geſez? wäre leichter 
zu beantworten, wenn für die Vorfrage: was iſt überhaupt 
ein Geſez? eine anerkannte Löſung feſtſtünde. Dieß iſt aber 
keineswegs der Fall. Ganz abgeſehen von jenen Geſezen, 
die nicht ein Sein, ſondern nur ein Sollen ausdrücken, wie 
die Staats- und Sittengeſeze, wird das Wort nicht nur im 
populären, ſondern auch im gelehrten Sprachgebrauch in dem 
allerverſchiedenſten, bald im vagſten, bald im ſtricteſten Sinne 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 1 


9) 


2 


angewendet. Ich will und kann es nun Niemand verwehren 
und möchte ſelbſt nicht darauf verzichten, dem Ausdruck, 
wie es der Zuſammenhang der Rede fordert oder zuläßt, 
bald eine weitere, bald eine engere Bedeutung zu leihen, 
aber ich meine, jeder Denker und Forſcher, was auch immer 
der Gegenſtand ſeiner Unterſuchungen ſein mag, ſollte ſich 
wenigſtens des ſtrengeren Wortſinns ſtets bewußt bleiben, 
in welchem die Sprache der wiſſenſchaftlichen Technik von 
Geſezen allein zu reden geſtattet. Dieſen zunächſt zu er— 
mitteln erſcheint mir weder überflüſſig noch allzuſchwierig. 
Es iſt nicht jede allgemeine Wahrheit von ausnahms- 
loſer Geltung ein Geſetz, alſo z. B. daß Gleiches zu Gleichem 
addirt gleiche Summen ergiebt, daß die Winkel des Dreiecks 
zuſammen gleich zwei Rechten ſind. Man liest und hört 
zwar unzähligemal von den Geſezen der Mathematik; die 
Mathematiker ſelbſt aber bezeichnen ihre Wahrheiten nur 
als Sätze, in dem richtigen Gefühl, daß das Wort Geſez 
nur auf die Ordnungen der realen Welt und nicht auf 
Theoreme anwendbar ſei, die im Wege der Deduction aus 
Axiomen und ſelbſtgeſezten Prämiſſen abgeleitet werden. 
Und doch iſt auch nicht ſchon jede in den Erſcheinungen 
der Wirklichkeit ausnahmslos wahrgenommene Gleihmäßig- 
keit als Geſez zu bezeichnen. Denn es iſt kein Geſez, daß 
das Gold dehnbar und 19 mal ſo ſchwer iſt als das gleiche 
Volumen Waſſer, daß die Vögel Eier legen, die Fiſche mit 
Kiemen athmen, die Schafe und Rinder wiederkäuen. Es 
ſind dieß nur ſtabile Bildungsformen, feſte Typen der 
ſchaffenden Natur, Eigenſchaften, charakteriſtiſche Merkmale 


von Gattungen und Arten. Jene Sätze ſind ſchon logiſch 
genommen nur analytiſche Urtheile, weil wir im Namen 
des Subjects die weſentlichen Prädikate ſchon mitdenken. 
Geſeze beziehen wir aber nicht auf das Seiende, ruhig im 
Raum neben einander Liegende, ſondern auf Vorgänge in 
der Zeit, auf ein Geſchehen, eine Veränderung von Zu— 
ſtänden. 

Und doch trifft auch die regelmäßige Succeſſion der 
gleichen Erſcheinungen noch nicht das Rechte. Denn es iſt 
kein Geſez, daß Tag und Nacht, Sommer und Winter, Ebbe 
und Fluth einander alternirend folgen. Es ſind dieß nur 
thatſächliche Vorgänge, abzuleiten aus anderen, cosmiſchen 
und telluriſchen Thatſachen und aus eigentlichen Geſezen, 
für deren Wirkungen ſie nur ein vereinzeltes, beliebiges 
Beiſpiel bieten. Tag und Nacht, Ebbe und Fluth ſtehen 
nicht zu einander im Verhältniß von Urſache und Wirkung. 

Und nun ſollte man denken: wenn wir ſagen, Geſez 
ſei der Ausdruck für conſtante Verbindungen von Urſache 
und Wirkung, ſo ſeien wir damit zu dem Kern der Frage 
gelangt. Wenigſtens wird das Wort tauſendfältig, alltäg— 
lich, vielleicht überwiegend in dieſem Sinne gebraucht und 
mehrere Schriftſteller erklären geradezu conſtante Cauſal— 
verknüpfungen und Geſeze für ſynonyme Begriffe. Und 
doch welche Conſequenzen ergeben ſich, wenn man mit dieſer 
Definition Ernſt zu machen verſucht! Kann man es denn 
ein Geſez nennen, daß das Waſſer bei einem beſtimmten 
Punkt der Erkaltung zu Eis erſtarrt, bei einem beſtimmten 
Grad von Erwärmung ſich zu Dampf verflüchtigt, daß die 

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Flamme erliſcht, wenn man jie mit Waſſer übergießt oder 
den Luftzutritt abſchneidet, daß der Abſud von Zweigen der 
Indigopflanze einen blauen Farbſtoff giebt, daß der Menſch 
ſtirbt, wenn man ihm Luft oder Nahrung entzieht, den Kopf 
abſchneidet oder eine gewiſſe Doſis von Arſenik oder Blau— 
ſäure in den Magen bringt? Es ſind dieß lauter unzweifel— 
hafte Fälle einer unausbleiblichen Verknüpfung von Urſache 
und Wirkung, aber wenn das Geſeze wären, ſo beſäßen 
wir deren ſchon viele Millionen. Das Conſtante des Cauſal— 
zuſammenhangs kommt hier offenbar nur von der oben 
ſchon erwähnten Conſtanz der Eigenſchaften. Weil die Natur 
in feſten Typen ſchafft und bildet, weil Dinge der gleichen 
Gattung ſtets von gleicher chemiſcher Zuſammenſetzung und 
mechaniſcher Struktur ſind, ſo reagiren ſie auf den gleichen 
äußeren Anſtoß auch ſtets in gleicher Weiſe. Oder mit 
anderen Worten: es giebt zweierlei Eigenſchaften der Dinge, 
ſolche, welche ruhig an ihnen zu haften ſcheinen, unſerer 
ſtändigen Wahrnehmung blos gelegt ſind, und ſolche, welche 
ſich erſt auf einen beſtimmten Anlaß von außen hin be— 
merklich machen; die leztern äußern ſich als conſtante Cauſal— 
zuſammenhänge der ſecundären Art. Alle jene Beiſpiele 
ſind nur ſo oder ſo combinirte, mehr oder weniger com— 
plicirte Einzelfälle für die Wirkung einer weit kleineren 
Zahl allgemeinerer Urſachen. 

Eben dieſe allgemeineren primären Urſachen aber ſind 
es, welche das Geſez ſuchen will. Denn wenn ich nun 
ſage: die Erwärmung eines Körpers verurſacht eine Ver— 
mehrung, die Erkaltung eine Verminderung ſeines Volumens, 


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jo fühlen wir alsbald, daß wir damit wenigſtens den rich— 
tigen Boden der Frage betreten haben, und zwar darum, 
weil jezt nicht mehr von conereten Naturerzeugniſſen, von 
Waſſer und Feuer, von Steinen, Pflanzen und Thieren 
die Rede iſt, ſondern von Kräften, dieſem Schlußſtein 
der ſinnlichen Weltbetrachtung, dem ebenſo räthſelhaften als 
unentbehrlichen Grenzbegriff von Phyſik und Metaphyſik. 
Das Object der Geſeze ſind die conſtanten Wirkungen von 
Kräften. Und doch kann uns eben das gewählte Beiſpiel 
zeigen, daß auch dieſe Faſſung immer noch nicht beſtimmt 
genug iſt. Denn der Phyſiker wird uns ſagen, für die 
Ausdehnung durch Wärme fehle gerade noch das Geſez. 
Wohl werden alle Körper durch Wärme ausgedehnt, aber 
es läßt ſich von keiner Art von Körpern zum voraus und 
ohne beſondere Beobachtung feſtſtellen, wie ein beſtimmter 
Grad von Erwärmung auf ihr Volumen wirken wird. Erſt 
wenn wir ſagen könnten: ein beſtimmtes Maß von Stei— 
gerung der Wärme hat bei einem beſtimmten Grad von 
Dichtigkeit oder Cohäſion der Theile ꝛc. eine Ausdehnung 
des Volumens um ſo und fo viel Procent zur Folge, jo 
beſäßen wir ein Geſez. Das Geſez iſt hienach der Ausdruck 
für die elementare, conſtante, in allen einzelnen Fällen als 
Grundform erkennbare Wirkungsweiſe von Kräften. Es iſt 
nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit üblich geworden, auch 
da, wo wir nur das Daß, noch nicht das Wie der Wir— 
kungen von Kräften feſtſtellen können, von Geſezen zu reden, 
dieſe aber im Unterſchied von den ächten nur empiriſche, 
d. h. hier unvollkommene, gleichſam proviſoriſche zu nennen. 


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Beiſpiele von ächten Geſezen ſind ſomit, daß alle Körper 
ſich im Verhältniß ihrer Maſſe und im umgekehrten Ver— 
hältniß der Quadrate ihrer Entfernung anziehen, daß die 
Elemente ſich nur in beſtimmten Gewichtsmengen, nur in 
ihren Aequivalenten oder deren Vielfachen mit einander 
chemiſch verbinden, daß ſich Wärme und Bewegung mit 
einem ſtets gleichen Aequivalent von Wärme und mechani— 
ſcher Kraft in einander umſezen. Im Geſez erſcheint die 
Kraft als eine begrenzte, an eine beſtimmte, conſtante Wir— 
kungsweiſe gebundene. Das Geſez iſt die Definition von 
Kräften. 

Es fragt ſich nun, ob dieſer zunächſt den Vorgängen 
der lebloſen Natur entnommene Begriff von Geſezen auch 
auf die der belebten anwendbar iſt. Von den Wiſſenſchaften, 
die ſich mit den organiſchen Weſen beſchäftigen, iſt es die 
Phyſiologie, die nach Geſezen ſucht, von Geſezen redet. Sie 
ſezt die anatomiſche Seite ihrer Objecte, die typiſchen Gat— 
tungsformen, den Körper mit ſeinen Theilen als gegeben 


voraus wenigſtens ſind die Lehren von der Entſtehung 
der Typen und Gattungen ſelbſt von noch allzujungem 
Datum — ſie betrachtet die Theile des Körpers in ihrer 
Eigenſchaft als Organe, in ihrer Thätigkeit, ihren Func— 
tionen; ſie löst die mannigfaltigen Erſcheinungen, die wir 
mit dem Geſammtnamen „Leben“ bezeichnen, in einzelne 
Gruppen näher unter ſich verbundener Vorgänge auf. Sie 
glaubt ein Geſez gefunden zu haben, wenn ſie mit Aus⸗ 
ſcheidung des Wandelbaren, Zufälligen, Individuellen die 
conſtante Grundform für die Folge der Erſcheinungen nach— 


weist, wenn es ihr zu zeigen gelungen ift, wie ein unbe— 
kanntes Agens, das auch die Gegner einer beſonderen 
Lebenskraft ſtets wieder irgendwie vorausſezen, vermittelſt 
der in einander greifenden Functionen beſtimmter Organe 
eine Folge von phyſikaliſch-chemiſchen Vorgängen erzeugt, 
deren Effekt dem Lebenszweck dieſer beſonderen Gattung 
ſelbſt zu dienen ſcheint. Die Phyſiologie ſpricht in dieſem 
Sinne von Geſezen der Ernährung, des Wachsthums, der 
Fortpflanzung und Zeugung, des Blutumlaufs, des Ath— 
mungsproceſſes und läßt dabei allerdings noch einen ge— 
wiſſen Spielraum dafür offen, wie viele und welche ſolcher 
beſonderer Gruppen von Lebenserſcheinungen man unter— 
ſcheiden will. Wie abweichend aber auch dieſe Geſeze ſchon 
nach ihrer Faſſung von den früheren Beiſpielen erſcheinen 
müſſen, und wie man auch immer den Unterſchied von 
phyſikaliſchen und organiſchen Kräften beſtimmen mag; das’ 
phyſiologiſche Geſez iſt dem phyſikaliſchen darin durchaus 
gleichartig, daß es nicht von coexiſtirenden Erſcheinungen, 
nicht von Eigenſchaften, nicht von ſecundären Cauſalver— 
knüpfungen handelt, ſondern uns Kräfte darſtellt in der 
elementaren Grundform ihrer Wirkungsweiſe, daß es die 
Urphänomene aufſucht, aus deren Combinationen ſich die 
Fülle und Mannigfaltigkeit der concreten Wirklichkeit zu— 
ſammenfügt. 

Wenn ich nun aber mit dieſer Forderung an ein Geſez 
hinübertrete in das Reich der pſychiſchen Erſcheinungen, jo 
geſchieht es nicht ohne ein bängliches Gefühl des Zweifels, 
ob auch dieß ſchwankende und ungreifbare Element ein ſo 


feſtes Anfaſſen geſtatten wird. Ein pſychiſches Geſez müßte 
uns hiernach pſychiſche Kräfte darſtellen in der einfachen, 
ſtets gleichen Grundform ihrer Wirkungsweiſe. Giebt es 
nun ſolche Geſeze? Die Pſpychologie ſcheint erſt noch mit 
den Vorfragen ſolcher Unterſuchungen beſchäftigt. Sie hat 
die alte Lehre von den Seelenvermögen umgeſtoßen, ohne 
dem unabweisbaren Bedürfniß der Wiſſenſchaft nach Unter— 
ſcheidung, nach Auflöſung verwickelter Vorgänge in ein— 
fachere auf anderem Wege Erſaz zu leiſten. Man iſt noch 
im Zweifel darüber, ob es geſonderte pſychiſche Kräfte giebt, 
die unter ſich nur dadurch zuſammenhängen, daß ſich ihre 
Wirkungen in demſelben Brennpunkt des Selbſtbewußtſeins 
ſammeln, oder ob ein lebendiges Etwas anzunehmen iſt, 
mit verſchiedenen Functionen, Attributen, Eigenſchaften. 
Und doch hat ſchon vor 2000 Jahren ein großer Denker 
des Alterthums den rechten Weg gefunden, indem er eine 
einzelne Klaſſe unter ſich näher verbundener pſychiſcher Er— 
ſcheinungen, die Denkthätigkeit, herausgriff, allen Inhalt 
dabei, alles Veränderliche und Zufällige ausſchied und nur 
auf die ſtabile Grundform der Thätigkeit ſelbſt achtete. Er 
gelangte ſo zu jenen ſogenannten logiſchen Grundgeſezen der 
Identität und des Widerſpruchs, des ausgeſchloſſenen Dritten, 
der Cauſalität, Sätzen, von welchen man zwar zweifeln 
kann, ob ſie das Weſen des Denkens erſchöpfend beſtimmen, 
die aber offenbar unſerem Begriff von Geſez vollkommen 
entſprechen, indem ſie eine pſychiſche Kraft in den conſtanten 
Grundformen ihrer Wirkungsweiſe erkennen laſſen. Das 
Gleiche würde von den Geſezen der Ideenaſſociation gelten, 


wenn ihre Faſſung ebenſo feſtſtünde, und wenn es der 
Philoſophie gelingen würde, eine Kategorientafel aufzuſtellen, 
alſo z. B. zu beweiſen, daß unſer Denken vermöge der 
Urfunctionen ſeiner Organe jede neue Vorſtellung unter den 
Geſichtspunkten der Qualität und Quantität, der Relation 
und Modalität in unſer Bewußtſein einzureihen gebunden 
ſei, ſo ergäbe dieß pſychiſche Geſeze im ſtricteſten Sinne des 
Worts. Die Aufgabe der Pſychologie ſcheint demnach darin 
zu liegen, daß, was für Eine pſychiſche Kraft, die des 
Denkens, längſt unternommen wurde, auch bei anderen 
einer ähnlichen Iſolirung fähig ſcheinenden Klaſſen von Vor— 
gängen, wie z. B. dem Selbſtbewußtſein, der Phantaſie, 
dem Gewiſſen, den einzelnen, gewöhnlich nur in einem un— 
beſtimmten Pluralis zuſammengefaßten oder mit einem Und 
ſo weiter aufgezählten Grundtrieben unſerer Natur verſucht 
werde. In der Biychologie ſind aber freilich die einfachſten 
Probleme noch die ſchwerſten und gemiedenſten. 

Nach dieſem langen Eingang nun, von dem ich hoffe, 
daß er ſich nicht als ein Um- und Abweg erweiſen wird, 
kehre ich zu der erſten Frage zurück: was iſt ein ſociales 
Geſez? was kann es ſein? Es ergaben ſich uns drei Arten 
von Kräften, phyſiſche, organiſche, pſychiſche; und es iſt 
keine vierte Art von coordinirter Stellung denkbar. Die 
ſocialen Erſcheinungen ſind eine Unterart der pſpychiſchen. 
Es giebt zwei Arten von pſychiſchen Geſezen, die pſycho— 
logiſchen und die ſocialen. Die Pſychologie betrachtet die 
Seelen-Kräfte am typiſchen Individuum als Merkmale der 
Gattung; die ſocialen Wiſſenſchaften betrachten dieſelben 


10 


Kräfte in ihrer Maſſenwirkung, und zwar beſchäftigen ſie 
ſich gerade mit den Effekten, Veränderungen und Modifi— 
cationen, welche ſich aus dem Moment der Maſſenwirkung 
ſelbſt ergeben. Ein ſociales Geſez müßte hiernach der Aus— 
druck ſein für die elementare Grundform der Maſſenwirkung 
pſychiſcher Kräfte. 

Dieſer Auffaſſung ſtellt ſich zunächſt die Einrede ent— 
gegen: wie ſoll man zu ſocialen Geſezen gelangen, wenn 
man außer jenen logiſchen Grundgeſezen faſt noch keine 
pſychiſchen hat; wie will man Maſſenwirkungen erklären 
ohne Kenntniß der Factoren, deren Product ſie ſind? Dieſe 
Einwendung enthält zwar eine große und, wie ich glaube, 
wenig beachtete Wahrheit, aber doch überſieht ſie auch we— 
ſentliche Momente der Sache. 

In der pſychiſchen Welt it das Individuelle das Com— 
plicirteſte, Unentwirrbarſte. Die beſonderen pſpchiſchen 
Kräfte treten uns deutlicher entgegen, wenn wir ihre Wir— 
kungen im Großen, gleichſam aus der Vogelperſpective be— 
trachten. Oder wer wollte die pſpychiſchen Einflüſſe der 
Altersſtufen, des Geſchlechts, der Abſtammung, des Klimas 
und Bodens, der Staatseinrichtungen, an einzelnen Indi— 
viduen erkennen und nachweiſen? Die Pſychologie und 
auch ſchon die Phyſiologie verdanken einer Beobachtung der 
Maſſenwirkungen die wichtigſten Aufſchlüſſe und Beweis— 
mittel. Die ſocialen Wiſſenſchaften ſind daher keineswegs 
blos abhängig von der Pſychologie, ſondern ſie wirken in 
gleichem Maaße auf dieſe fördernd und befruchtend zurück. 

Aber eine noch wichtigere Seite der Sache iſt dieſe. 


11 


Wie uns der Geograph von Meeren und Strömen Vieles 
zu ſagen hat, worauf uns die phyſikaliſch-chemiſche Unter— 
ſuchung des Waſſers niemals führen würde, wie der Wald 
zu vielen Betrachtungen Anlaß giebt, die dem Botaniker 
ganz ferne liegen, jo entſtehen aus der Maſſenwirkung pſy— 
chiſcher Kräfte Erſcheinungen, zu welchen zwar wohl die 
Keime und Anſätze immer auch von der Pſychologie nach— 
weisbar ſein werden, die aber doch über deren ganzen Ge— 
ſichtskreis hinausliegen. Der Unterſchied von Geſchlecht und 
Alter, von dem der Einzelne nur disjunctiv oder ſucceſſiv 
betroffen wird, iſt in der Geſellſchaft gleichzeitig und in 
allen Combinationen vertreten. Der Geſammteffect vieler 
Individualkräfte iſt nicht, wie in der Mechanik, eine Summe 
oder ein Produkt. Dieſe wirken bald vereinigt auf den— 
ſelben Punkt, bald neutraliſiren und ergänzen ſie ſich. Der 
menſchliche Grundtrieb, ſeinen Einzelwillen rückſichtslos und 
unbegrenzt geltend zu machen, findet in der gleichen Eigen— 
ſchaft des Nachbarn jene mächtige Schranke, in welcher die 
Keime aller höheren Entwicklung der Menſchheit zu ſuchen 
ſind. 

Giebt es nun ſolche ſociale Geſeze, welche für die 
Maſſenwirkung pſychiſcher Kräfte die conſtante Grundform 
ausdrücken? Die Gruppe der ſocialen Wiſſenszweige iſt 
bekanntlich noch ſehr jung und unfertig; von vielen Seiten 
wird ihr das wiſſenſchaftliche Zunftrecht überhaupt beſtritten. 
Von den ſocialen Erſcheinungen ſind ganze Strecken noch 
unbekanntes Land oder nur von einzelnen Forſchern flüchtig 
berührt worden. Eine dieſer Wiſſenſchaften aber iſt den 


12 


Schweſtern weit vorausgeeilt und längſt von allen als eben- 
bürtig anerkannt. Sie hat einen Grundſtock feſter Säze, 
die nicht jeder neue Forſcher wieder in Frage ſtellt; ſie 
befaßt ſich nicht mit bloßen Theorien, ſondern ſtellt Geſeze 
auf und vermag ſich bereits in weitem Umfang eines de— 
ductiven Verfahrens zu bedienen. Es iſt die Nationalöco— 
nomie. Sie verdankt, wie ich glaube, ihre raſchen und 
großen Erfolge nicht allein dem praktiſchen Intereſſe, das 
ſich an den Gegenſtand ihrer Unterſuchungen knüpft, ſondern 
noch mehr der Richtigkeit des von ihr eingeſchlagenen Ver— 
fahrens. Ihre Gründer bedienten ſich nemlich ebenfalls 
des Vortheils, ihr Object ſo viel als möglich zu iſoliren; 
ſie giengen auf eine einfache pſychologiſche Thatſache zurück 
und verfolgten ſie in ihren Conſequenzen. Die National- 
öconomie geht ausdrücklich oder ſtillſchweigend von der Vor— 
ausſetzung aus, daß die Menſchen von Natur eine ausge— 
ſprochene Neigung haben, ſich die zu Befriedigung ihres 
Trieblebens dienlichen äußeren Mittel möglichſt reichlich 
und mit der möglichſt kleinen Gegenleiſtung zu verſchaffen, 
ſowie daß vermöge der Gleichartigkeit der menſchlichen Natur 
dieſelben Arten von Gütern ſtets vielen zumal begehrens— 
werth, einige davon allen gleich unentbehrlich ſind. Ob 
jener Trieb, Güter zu erwerben, eine einfache pſychiſche 
Kraft oder ſchon ein Complex, eine chemiſche Verbindung 
von Kräften ſein mag, kann dabei immerhin außer Betracht 
gelaſſen werden, ſo lang die Thatſache ſelbſt von Niemand 
in Zweifel gezogen wird. Indem die Wiſſenſchaft nun die 
Maſſenwirkung dieſes Triebes beobachtet und zuſieht, wie 


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fich derſelbe auf dem Boden der Rechtsordnung bethätigt, 
d. h. unter der weiteren Vorausſezung, daß man ſich der 
fremden Güter nicht mit Liſt und Gewalt, ſondern nur 
mit der freien Zuſtimmung des Beſitzers bemächtigen darf, 
indem ſie ſodann empiriſch gegebene Unterſchiede, wie der 
von der Natur dargebotenen und durch menſchliche Arbeit 
hervorgebrachten, der nur in beſchränktem Maaß vorhandenen 
und der einer beliebigen Vervielfältigung fähigen Güter u.ſ.w. 
beachtet, ergeben ſich ihr eine ganze Reihe einfacher Grund— 
begriffe von Werthen, Preiſen, Löhnen, Arbeit, Kapital, 
Rente, Geld, Kredit und ein förmliches Syſtem wohlge— 
gliederter Lehrſäze. Ja die Nationalöconomie ſcheint mir 
in ihrem vollſten Recht, wenn ſie ihre Fundamentalſäze von 
der Bewegung der Preiſe und Arbeitslöhne, von der Con— 
currenz, dem Geldumlauf geradezu Geſeze nennt; denn ſie 
entſprechen genau der obigen Forderung, indem ſie uns die 
conſtanten Grundformen für die Maſſenwirkung pſpychiſcher 
Kräfte aufzeigen. Die Säze ergeben ſich mit der Sicherheit 
der Deduction aus ganz wenigen Prämiſſen. 

Allein dieſe Präciſion und Bündigkeit der wiſſenſchaft— 
lichen Entwicklung beruht auf einer Abſtraction, auf einer 
abſichtlichen Iſolirung des Objects. In Wahrheit wird der 
Menſch auch in ſeinem wirthſchaftlichen Leben nicht aus— 
ſchließlich durch das Motiv, Güter zu erwerben, beſtimmt; 
es wirken noch mancherlei andere pſychiſche Kräfte und 
Triebe, z. B. ethiſche, politiſche, religiöſe Motive herein. 
Für die Gütergemeinſchaft der erſten Chriſten galt das 
Geſez der Preiſe nicht, und durch das ganze Mittelalter 


14 


glaubte man, daß Bedürfnißloſigkeit und freiwillige Armuth 
eine Staffel zum Himmel ſei. In demſelben Maaße, in 
welchem ſich der Nationalöconom von jener Abſtraction los— 
macht und die Einwirkungen aller übrigen pſychiſchen Kräfte. 
in ſein Syſtem einzufügen ſucht, giebt er die eigenthüm— 
lichen Vortheile ſeiner Methode Preis. Er bedarf nun Lehn— 
ſäze aus andern ſocialen Wiſſenſchaften, zum Theil aus 
ſolchen, die noch gar nicht exiſtiren. Er holt und ſchafft 
ſich dieſe Lehnſäze auf eigene Fauſt; er kann dabei immer 
noch anregend, fruchtbar, geiſtvoll ſein, aber das feſte lo— 
giſche Gefüge ſeiner Säze fällt ihm auseinander. 

Ich komme nun zu einer mir näher liegenden Wiſſen— 
ſchaft, die ebenfalls Geſeze ſucht und gefunden zu haben 
glaubt, der Statiſtik. Ja nach der Auffaſſung vieler ihrer 
namhafteſten Vertreter iſt fie eigentlich eine ſociale Ency⸗ 
clopädie und Univerſalwiſſenſchaft, und die Auffindung ſo— 
cialer Geſeze ihre Domäne, ihr Monopol. Aber auch wer 
ihr, was ich für das Richtigere und praktiſch Zweckmäßigere 
halte, die beſcheidenere Aufgabe ſtellt, durch methodiſche 
Maſſenbeobachtung ſociale Thatſachen feſtzuſtellen und auf— 
zuhellen und hiedurch einer ganzen Gruppe anderer Disci— 
plinen als ihre gemeinſame Hülfswiſſenſchaft empiriſches 
Material und Beweismittel zu bieten, der wird zugeſtehen 
müſſen, daß der Begriff eines ſocialen Geſezes zu der Auf— 
gabe der Statiſtik in einer ſehr innigen Beziehung ſteht 
und daß jedes ſociale Geſez, mag es gefunden ſein, wie 
und von wem es will, eine Art Probe und Legitimation 
vor dem Richterſtuhl der Statiſtik zu erſtehen hat. 


Die ſeitherige Entwicklung der Statiſtik hat mir nun 
immer den Eindruck von der Beſizergreifung eines neuent— 
deckten fruchtbaren Landes gemacht. Die erſten Anſiedler, 
überraſcht von dem Reichthum an neuen und werthvollen 
Producten, haben alle Hände voll zu thun, nur die reifen 
Früchte zu pflücken, die offen liegenden Schäze einzuſammeln. 
Sie werden nicht auch gleich dazu Muße finden, das Land 
auszumeſſen, ſeine Grenzen gegen die Nachbarn auszuſtecken, 
die geographiſche Lage feſtzuſtellen, ihm ſeinen beſtimmten 
Plaz auf der allgemeinen Weltkarte anzuweiſen. In ähn— 
licher Weiſe hat die Statiſtitk bereits ein reichhaltiges und 
werthvolles Material in allen Richtungen zuſammengetragen, 
aber es iſt nicht das gleiche Maaß von Fleiß, Talent und 
Scharfſinn darauf verwendet worden, die allgemeinen Grund— 
begriffe feſtzuſtellen, die eigenthümliche Aufgabe gegenüber 
von andern verwandten Wiſſenszweigen ſcharf abzugrenzen. 
Jener goldene Faden einer gemeinſamen logiſchen Gliede— 
rung und Technik, der alle Wiſſenſchaften zu einem bunten, 
geſchloſſenen Kranze verbinden ſoll, iſt noch keineswegs in 
alle Theile der Statiſtik eingeflochten. Dieſer Mangel tritt 
an keinem Punkte ſo deutlich und ſtörend hervor, als an 
dem Begriff eines Geſezes. Die Statiſtik handhabt dieſen 
Begriff nicht nur, wie mir ſcheint, in einem von den übrigen 
Wiſſenſchaften nicht zugelaſſenen Sinne, ſondern ſie glaubt 
ſogar eine ihr eigenthümliche Theorie darüber aufſtellen zu 
können. Sie vindicirt ſich eine von den übrigen Geſezen 
abweichende neue Art von Geſez und nennt ſie das Geſez 
der großen Zahl. Hiernach ſoll es auch ſolche Geſeze geben, 


16 

welche an wenigen Fällen überhaupt nicht erkennbar ſeien, 
ſondern erſt für die Maſſenbeobachtung, bei einer großen 
Zahl von Fällen hervortreten, und dann in einer numeri— 
ſchen Faſſung, als vorherrſchende, durchſchnittliche, procentale 
Erſcheinungen auszudrücken ſeien. Dieſes Geſez der großen 
Zahl ſcheint mir nun ein unglücklicher Ausdruck für einen 
an ſich richtigen Gedanken. Er erweckt die Vorſtellung, als 
ob es neben den Geſezen, die für alle Fälle gelten, auch 
noch ſolche geben könnte, die nur 23, % u. ſ. w. der Fälle 
beherrſchen. Die Ausnahmsloſigkeit it aber für den wiſſen— 
ſchaftlichen Denker das erſte und unerläßlichſte Merkmal 
eines Geſezes. Wenn er auf einen einzigen Fall ſtößt, in 
dem ſein Geſez nicht wirkt, obgleich ihn deſſen Formel trifft, 
ſo wird ihm ſtets nur der Schluß auf die Falſchheit dieſer 
Formel übrig bleiben. Nur der populären und unwiſſen— 
ſchaftlichen Auffaſſung erſcheint es als eine Ausnahme, 
wenn die Wirkung einer Kraft in dem Schlußeffect einer 
Erſcheinung darum nicht in gewohnter Weiſe zu Tage tritt, 
weil ſie von einer hinzukommenden zweiten Kraft neutrali— 
ſirt wurde. Die erſte hat hier ganz ihrem Geſez gemäß 
gewirkt in dem Widerſtand, den die zweite zu überwinden 
fand, und hat auch den ſchließlichen Effect mitbeſtimmt, da 
dieſer ein anderer hätte werden müſſen, wenn die zweite 
Kraft allein Plaz gegriffen hätte. Die Gründe, mit denen 
man das Geſez der großen Zahl gegen dieſen Einwurf zu 
ſchüzen geſucht hat, ſind mir immer als unklare und uner— 
weisbare Poſtulate erſchienen. 

Gleichwohl weist dieſer Ausdruck auf einen wahren 


17 


und richtigen Gedanken, auf das charakteriſtiſche Merkmal 
der Statiſtik hin. Dieſe bedient ſich nemlich gleich den 
andern ſocialen Wiſſenſchaften der Fiction, einen Collectiv— 
begriff, eine Gruppe vieler und verſchiedenartiger Individuen, 
alſo ein Volk, ein Geſchlecht, eine Altersklaſſe, einen Stand 
wie ein einheitliches Ding oder Weſen zu behandeln. Um 
von dieſem Gollectivjubject Prädikate, Merkmale, Eigen— 
ſchaften auf correcte Weiſe und nicht auf unbeſtimmte Total— 
eindrücke und unzureichende Einzelerfahrungen hin auszu— 
ſagen, iſt es erforderlich, die Gruppe in ihre Individuen 
wieder aufzulöſen und dieſe nach beſtimmten gleichartigen 
Geſichtspunkten einzeln durchzuzählen. So entſtehen die 
großen Zahlen, die zunächſt lediglich nichts ausdrücken, als 
eine geſellſchaftliche, hiſtoriſche Thatſache. Indem man die— 
ſelbe Durchzählung bei andern ähnlichen Gruppen und in 
verſchiedenen Zeiten wiederholt, erweitern ſich die Thatſachen 
zu charakteriſtiſchen Merkmalen von Gruppen und Zeiten; 
indem ſich die Zählungen über die verſchiedenartigſten Le— 
bensverhältniſſe allmälig ausbreiten, entſteht das reichhal— 
tigſte Material vergleichender Combination. Es zeigen ſich 
Aehnlichkeiten, Unterſchiede, Regelmäßigkeiten jeder Art; 
zwei Zahlenreihen ſteigen und fallen immer mit einander; 
bei zwei andern findet das Umgekehrte Statt; die eine ſteigt, 
wenn die andere fällt; wieder andere zeigen keinerlei Re— 
lation zu einander. Es ergeben ſich neben Merkmalen, 
Eigenſchaften und coexiſtirenden Prädikaten auch Cauſal— 
zuſammenhänge, einmalige, wiederkehrende, conſtante. Es 
erſchließt ſich ſo das innere Spiel und Getriebe des ſocialen 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 2 


18 
Lebens; es treten die Maſſenwirkungen pſychiſcher Kräfte 
hervor, deren Zuſammenhänge unter ſich ſelbſt, deren actives 
und paſſives Verhalten zu phyſikaliſchen und ſomatiſchen 
Einflüſſen. Man kann und wird auf dieſem Wege ſchließ— 
lich auch zu Geſezen gelangen; die Methode iſt zwar nicht 
die einzige, aber vielleicht eine der fruchtbarſten, allein das 
Geſez, das ſo gewonnen wird, wird keine ſtatiſtiſche Form, 
feine numeriſche Faſſung mehr haben, es wird ausnahms— 
los und allgemein ſein, wie jedes andere; mit der großen 
Zahl hat es lediglich nichts zu ſchaffen, als daß dieſe zu 
den Mitteln ſeiner Entdeckung gehört hat und zu ſeiner 
Beweisführung noch Dienſte leiſten kann. Es ſcheint mir 
nun, wie wenn viele Statiſtiker und zwar gerade die Gründer 
und Vertreter der thätigſten und verdienteſten Schule dieſen 
natürlichen Stufengang wiſſenſchaftlicher Erkenntniß über— 
ſprungen und den lezten und höchſten Begriff des Geſezes 
auch ſchon auf die Vorſtufen, die bloßen Regelmäßigkeiten, 
Merkmale, Eigenſchaften, Cauſalverknüpfungen angewendet 
hätten. Die franzöſiſchen Statiſtiker namentlich, den hoch— 
verehrten Meiſter Quetelet nicht ausgenommen, ſind allzu⸗ 
geneigt geweſen, da, wo ſich nur die Zahlen conſtant um 
einen gewiſſen Schwerpunkt gruppiren, gleich auch eine loi 
sociale zu verkündigen. Es wird wie von einem Gejez 
oder einer conſtanten Urſache, die auch in der Erſcheinung 
der Rieſen und Zwerge noch mitwirken ſoll, geſprochen, 
daß im mittleren Europa der Mann durchſchnittlich bis zu 
einer Körpergröße von etwa 168 Centimetern, zu einem 
Gewicht von 127 Zollpfunden wachſe und die mittlere Ziffer 


19 


des Weibes um 10 Gentimeter und 14 Pfund übertreffe. 
Der Phyſiolog wird dem Statiſtiker ſehr dankbar ſein für 
ſolche Unterſuchungen; eine Tabelle, welche uns in ähnlicher 
Weiſe den Wuchs und das Gewicht aller Hauptvölker an— 
gäbe, wäre für wiſſenſchaftliche und praktiſche Zwecke höchſt 
werthvoll; aber nach ihrem formellen und logiſchen Cha— 
racter muß ich dieſe Ergebniſſe der verdienſtlichſten For— 
ſchung ganz in die gleiche Linie ſtellen, wie wenn ich in 
einer Naturgeſchichte meiner Kinder leſe: „der indiſche Ele— 
phant erreicht eine Höhe von 14 Fuß und ein Gewicht von 
70 Centnern; das Weibchen iſt etwas kleiner.“ Es iſt 
eine von den unzähligen Eigenſchaften der unzähligen Gat— 
tungen und Arten von Naturgeſchöpfen, und es führt zu 
unabſehbarer Verwirrung in der Wiſſenſchaft, Geſez und 
Eigenſchaft nicht aus einander zu halten. 

Es gehört zu den intereſſanteſten, das Nachdenken ſtets 
von Neuem anreizenden Ergebniſſen ſtatiſtiſcher Unterſuch— 
ungen, daß nach Beobachtungen, die ſich bereits über 70 Mill. 
Geburten aus faſt allen europäiſchen Ländern und vielen 
Jahrzehenden erſtrecken, jedes Jahr im großen Durchſchnitt 
auf je 16 Mädchen 17 Knaben geboren werden, daß dieſer 
Knabenüberſchuß kleiner iſt bei unehelichen Geburten als 
bei ehelichen, größer bei ländlichen als bei ſtädtiſchen, daß 
er verſchwindet und in das Gegentheil umſchlägt, wenn die 
Mutter des Kindes den Vater im Alter erreicht oder über— 
trifft. Allein gleichwohl haben wir darin weder, wie der 
erſte Entdecker der Sache meint, eine ganz beſondere gött— 
liche Anordnung, noch, wie die neueren Statiſtiker ſagen, 


25 


20 


ein Naturgeſez zu erkennen; es find nicht megr und nicht 
weniger als Thatſachen, zu welchen wir noch den Schlüſſel 
des Verſtändniſſes ſuchen. Das was dabei fehlt, iſt viel— 
mehr gerade das Geſez. Dieſes könnte nur das der Zeu— 
gung ſein und könnte nur von der Phyſiologie gefunden 
werden, nicht von der Statiſtik. 

Ebenſo redet man allgemein von Mortalitätsgeſezen 
und verſteht darunter den großen Durchſchnitt der Abſterbe— 
ordnung einer Bevölkerung. Es kann beinahe komiſch her— 
auskommen, aber die Conſequenz gebietet mir, ſelbſt der 
beſtbeglaubigten und ſicherſten aller empiriſchen Thatſachen, 
dem Saz, daß alle Menſchen ſterben müſſen, den Namen 
eines wiſſenſchaftlichen Geſezes zu beſtreiten, um wie viel 
mehr jenen Tabellen, nach welchen beſtimmte Procente gleich 
bei und nach der Geburt, andere im Greiſenalter, andere 
zwiſchen dieſen beiden Grenzen in verſchiedenen Abſtufungen 
dem Tod verfallen ſein, der Menſch aber im Geſammtdurch— 
ſchnitt etliche und dreißig Jahre alt werden ſoll. Wenn 
ſich hierüber etwas Geſezmäßiges und Normales aufſtellen 
läßt, ſo dürfte man noch mit dem meiſten Recht ſagen, der 
menſchliche Organismus ſei von der Natur darauf angelegt, 
daß alle im Alter von 100 und ungeraden Jahren der 
Euthanaſia verfallen, ſo daß die Sterbetafeln der verſchie— 
denen Zeitalter und Völker nur die Sproſſe der Leiter an— 
geben, auf welcher die Menſchheit in ihrem Weg zu jenem 
idealen Ziele angelangt iſt. 

Es giebt ſodann eine Menge conſtanter Cauſalver— 
knüpfungen im ſocialen Leben, die ſich ſtatiſtiſch beweiſen 


21 


laſſen, z. B. daß Alter und Geſchlecht die Diſpoſition für 
gewiſſe Arten von Handlungen verſtärken oder abſchwächen, 
daß Erſchwerung des Nahrungsſtands eine Verminderung 
und Verſpätung der Heirathen, und dieſe wieder eine Ver— 
mehrung unehelicher Geburten zur Folge hat, daß Miß— 
ernten die Geburten und Ehen vermindern, die Krankheits— 
und Sterbefälle vermehren, daß die Errichtung von neuen 
Verkehrswegen den Handel befördert, die Preiſe ausgleicht, 
den Werth der anliegenden Grundſtücke erhöht u. ſ. w. 
Der Cauſalzuſammenhang liegt bei dieſen Erſcheinungen in 
der Regel auf der Hand und war ſchon lange, bevor es 
methodiſche Maſſenbeobachtungen ſocialer Vorgänge gab, ge— 
kannt. Die Statiſtik hat nur das große Verdienſt, ſolche 
Säze, die in vager Allgemeinheit wenig Werth haben, genau 
feſtzuſtellen und zu begrenzen, die Bedingungen nachzuweiſen, 
unter welchen die Wirkungen ſtärker oder ſchwächer hervor— 
treten und ſie dadurch erſt zu einem brauchbaren Material 
wiſſenſchaftlicher Erkenntniß zu erheben. Aber von ſocialen 
Geſezen dürfen dabei nur diejenigen reden, die nach den 
obigen Beiſpielen es auch ein Naturgeſez nennen, daß der 
Indigo eine blaue Farbe giebt, und Arſenik den menſch— 
lichen Organismus zerſtört. Auch hier folgt die Conſtanz 
der Wirkungen nur aus der Conſtanz der Begriffe und 
ihrer Merkmale; und wenn die Statiſtik Erfahrungsſäzen, 
die ſo alt ſind als die menſchliche Erinnerung überhaupt, 
blos um der genaueren Beobachtung und Begründung willen, 
den anſpruchsvollen Titel wiſſenſchaftlicher Geſeze beilegt, 
ſo ſezt ſie ſich der Gefahr aus, dem Spott zu verfallen, 


22 


mit dem der Dichter die Philoſophen trifft, wenn er an 
bekannter Stelle ſagt: 

Der Schnee macht kalt, das Feuer brennt, 

Der Menſch geht auf zwei Füßen; 

Das kann, wer auch nicht Logik kennt, 

Durch ſeine Sinne wiſſen; 

Doch wer Metaphyſik ſtudiert, 

Der weiß, daß wer verbrennt, nicht friert, 

Weiß, daß das Naſſe feuchtet, 

Und daß das Helle leuchtet. 


Den kühnſten Anlauf hat jedoch die Statiſtik genommen, 
als ſie ihre Begriffe von Geſez und Geſezmäßigkeit auch 
auf ein Gebiet übertrug, in welchem wir von Geſez nur 
in ganz anderem Sinne zu reden gewöhnt ſind, auf das 
der willkürlichen menſchlichen Handlungen. Um nur Eines 
der Beiſpiele, die Statiſtik der Verbrechen, anzuführen, ſo 
wird zwar Jedermann bei verſtändiger Ueberlegung zum 
voraus vermuthen, daß in einem größeren Staat bei gleichen 
Geſezen, Sitten und Einrichtungen die Zahl aller zur ge— 
richtlichen Behandlung gelangenden Verbrechen und Ver— 
gehen in gewöhnlichen Zeiten von einem Jahr zum andern 
nicht ſehr bedeutend differiren müßte; er wird auch erwarten, 
daß jedes Jahr die leichteren Vergehen zahlreicher ſein 
werden, als die ſchwereren, die Verbrechen gegen Perſonen 
ſeltener, als die Eingriffe in fremdes Eigenthum; er wird 
wahrſcheinlich finden, daß ſtets mehr Männer vor den 
Schranken der Gerichte ſtehen werden, als Weiber, und 
mehr jüngere Perſonen als ältere u. ſ. w. Wenn man 
dann nun aber dieſe franzöſiſchen und belgiſchen Tabellen 
der Kriminalſtatiſtik zur Hand nimmt, ſo wird man doch 


23 


immer noch lebhaft überrascht ſein von dem Grad der Regel— 
mäßigkeit in Bewegung und Vertheilung der Ziffern. Die 
Schwankungen ſind, wo nicht beſondere äußere Ereigniſſe, 
wie Mißernten, Krieg, Revolution dazwiſchentreten, in der 
That kleiner, als bei Geburten und Sterbfällen, und weit 
kleiner als z. B. die der durchſchnittlichen Monatswärme 
in unſerem Klima. Einige unſerer bedeutendſten Statiſtiker, 
die ſich um dieſe Art von Unterſuchungen beſonders ver— 
dient gemacht haben, waren von dieſen Gleichmäßigkeiten 
im Großen wie im Kleinen ſo überraſcht, daß ſie die weit— 
gehendſten Folgerungen daran anknüpften. Bei dem Stand— 
punkt der Vogelperſpective, der der Statiſtik eigenthümlich 
iſt, erſchien ihnen die Geſellſchaft als Ein Ganzes ein be— 
ſtimmtes Maaß von Diſpoſition zu Verbrechen in ſich zu 
ſchließen, das an ihre einzelnen Glieder, an Alter und Ge— 
ſchlecht, an Stadt und Land, an Stände, Beſizklaſſen, Pro— 
vinzen, in feſten Proportionen ausgetheilt, in gleichen Ge— 
ſammtergebniſſen mit unerheblichen Schwankungen Jahr für 
Jahr zur Verwirklichung gelangt. Der Antheil der Ein— 
zelnen, die individuelle Freiheit tritt dabei ganz in den 
Hintergrund; der Einzelne iſt für die Statiſtik nur eine 
Nummer, und ſie fragt nicht darnach, ob der Hans oder 
Kunz, der & oder die Y ſich zu ihren Contingenten ſtellt. 
Eine menſchliche Willensfreiheit, vermöge welcher die Hand— 
lungen rein aus dem innerſten, aller Beobachtung entzogenen, 
keiner Nöthigung der Motive unterworfenen Centrum des 
Ichs hervorgehen, möge dabei immerhin noch beſtehen, aber 
ſie gehöre, wie es Quetelet ausdrückt, für den Statiſtiker 


24 

zu den zufälligen Urſachen, die bei erweitertem Umfang 
der Beobachtungen gegen die conſtanten Urſachen ganz ver— 
ſchwinden. Jene ſtabilen Zahlen und Proportionen, wie— 
wohl ſie von Haus aus nichts ſind als ein Product aus 
thatſächlich gegebenen Faktoren, verwandeln ſich bei dieſer 
Betrachtung allmälig in etwas Reales, in herrſchende Mächte, 
in ſociale Geſeze, die nun das ſittliche Leben der Menſchen 
mit gleicher Gewalt regieren, wie Geburt und Tod, wie 
Preiſe und Arbeitslöhne. 

Es mag ſchwer ſein, bedeutende Wahrheiten mit leich— 
teren und gröberen Mißverſtändniſſen in einen dichteren 
Knäuel zu verſchlingen, als in dieſer Gedankenreihe ge— 
ſchehen iſt. 

Man kann dieſem Raiſonnement zwar unbedenklich ein— 
räumen, daß derjenige Begriff von Willensfreiheit, der darin 
vorausgeſezt und bekämpft wird, in der That unvereinbar 
iſt mit den Ergebniſſen der Kriminalſtatiſtik. Denn wenn 
die freie Handlung ſo viel iſt, als die nicht motivirte, gleich— 
ſam dem Cauſalitätsgeſez entrückte, aus einem unerforſchten 
Urgrunde wie Schöpfungsacte hervorquellende, dann müßte, 
wofern überhaupt Jemand im Stande iſt, dieſe Vorſtellung 
auszudenken, jede beliebige Zahl freier Handlungen nur 
einen ungeordneten Haufen unbekannter und unter ſich un— 
vergleichbarer Dinge darſtellen und von einer conſtanten 
Gruppirung der Ziffern könnte wirklich keine Rede ſein. 
Ich glaube aber nicht, daß auch der Extremſte der Inde— 
terminiſten heute noch ſich zu einem Freiheitsbegriff dieſer 
Art bekennen wird. Durch das Gewicht der ſtärkſten Motive 


— 


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25 


beſtimmt zu jein, voraus erkannt und gejagt werden zu 
können, widerſpricht ſo wenig der freien Handlung, daß es 
vielmehr zu ihren weſentlichſten Attributen gehört. Die 
innere Erfahrung ſagt es uns jeden Tag, daß unſere freieſten 
Handlungen die motivirteſten ſind; wir beſinnen uns keinen 
Augenblick, von Perſonen, die wir genau zu kennen glauben, 
vorauszuſagen, wie ſie im gegebenen Fall handeln werden. 
Beim Blick auf die ungewiſſen Wechſelfälle der Zukunft iſt 
die Conſtanz der Charaktere der einzige feſte Anhaltspunkt 
unſerer Entwürfe. Wenn mir die Statiſtik ſagt, daß ich 
im Lauf des nächſten Jahres mit einer Wahrſcheinlichkeit 
von 1 zu 49 ſterben, mit einer noch größeren Wahrſchein— 
lichkeit ſchmerzliche Lücken in dem Kreis mir theurer Per— 
ſonen zu beklagen haben werde, ſo muß ich mich unter den 
Ernſt dieſer Wahrheit in Demuth beugen; wenn ſie aber, 
auf ähnliche Durchſchnittszahlen geſtützt, mir ſagen wollte, 
daß mit einer Wahrſcheinlichkeit von ! zu ſo und ſo viel 
eine Handlung von mir der Gegenſtand eines ſtrafgericht— 
lichen Erkenntniſſes ſein werde, ſo dürfte ich ihr unbedenk— 
lich antworten: ne sutor ultra crepidam! Nachdem man 
erkannt hat, daß Freiheit und Nothwendigkeit ſchon logiſch 
nicht richtig geſtellte Gegenſäze ſind, daß dem Nothwendigen 
nur das Zufällige gegenüberſteht, der Freiheit aber der 
Zwang oder die äußerliche Nothwendigkeit, während die 
innere Nothwendigkeit mit ihr verwandt wo nicht identiſch 
iſt, iſt das große Myſterium, das ſich an die Frage der 
menſchlichen Willensfreiheit knüpft, zwar keineswegs ge— 
löst, aber es iſt wenigſtens in eine Sphäre gerückt wor— 


26 


den, zu welcher die Tabellen der Statiſtik nicht hinüber— 
greifen. 

Man hat aber überhaupt die Tragweite ſolcher Regel— 
mäßigkeiten, wie ſie ſich für die Maſſenbeobachtung der 
Verbrechen nach Zahl und Unterarten ergeben, weit über— 
ſchäzt, ſchon darum, weil ſich die Zählungen bis jezt nur 
auf wenige Jahrzehende und Länder erſtrecken, während 
die Reſultate nicht nur möglicher, ſondern wahrſcheinlicher 
Weiſe ganz andere ſein müßten, wenn ſich die Beobach— 
tungen über eben ſo viele Jahrhunderte und alle civiliſirten 
Völker ausbreiten würden. Alle jene Zahlen, man mag 
ſie ſtellen und ordnen wie man will, werden niemals etwas 
Anderes ſein, als der Ausdruck von Thatſachen, als ein 
werthvolles Material zur Charakteriſtik von Völkern, Staaten 
und Zeiten, als hiſtoriſche Zeugniſſe der ſchäzbarſten Art, 
als reichhaltige Aufſchlüſſe für den Geſezgeber und Staats— 
mann, für alle ſocialen Wiſſenſchaften, für jeden Denkenden. 
Unwiderſprechlich zeigen ſie freilich, daß der Einzelne auch 
in ſeinem ſittlichen Handeln ſich vielfältig bedingt findet 
durch die Geſellſchaft, durch religiöſe Vorſtellungen und po— 
litiſche Einrichtungen, durch Bildung, Beſiz, Stand, Ab— 
ſtammung, Geſchlecht und Alter; aber wer hat daran jemals 
zweifeln können, wenn er mit unbefangenem Blick in das 
Buch der Geſchichte, in Welt und Leben blickt, und wer 
hat aus der Mannigfaltigkeit der Motive, die auf uns ein— 
wirken, ſchließen dürfen, daß nicht doch eine Kraft in uns 
wohne, jedem einzelnen unter ihnen Widerſtand zu leiſten? 

Ich will dieſe Rundſchau nach ſocialen Geſezen nicht 


27 


weiter fortführen; die Ausbeute war nicht groß. Ich läugne 
aber, daß dieß dem Zweig der ſocialen Fächer zum Vor— 
wurf dienen kann. Die jüngſten Wiſſenſchaften ſind immer 
die ſchwerſten; denn ſie behandeln Probleme, welche man 
früher ganz überſah oder gar nicht die Mittel hatte in An— 
griff zu nehmen. Ich habe von der Zukunft der Statiſtik, 
von dem wiſſenſchaftlichen Werth, den eine fortgeführte und 
immer weiter ausgebreitete methodische Beobachtung ſocialer 
Thatſachen haben wird, die höchſte Meinung; ja ich glaube, 
daß die Natur der Verhältniſſe ihr für jezt eine Art Führer— 
ſchaft unter den ſocialen Wiſſenszweigen, obgleich ſie nur 
deren Hilfswiſſenſchaft iſt, zugewieſen hat, um nach allen 
Richtungen das Material beizubringen, ohne deſſen Grund— 
lage überall nur Luftſchlöſſer gebaut werden können. Aber 
gerade, weil es eine ſo lohnende Aufgabe iſt, die großen 
ſocialen Thatſachen feſtzuſtellen und aufzuhellen, Völker, 
Staaten, Gruppen und Gemeinſchaften jeder Art in prä— 
ciſer Weile zu charakteriſiren, eine Menge ganz neuer oder 
nie beachteter Cauſalverknüpfungen aufzudecken, ſo möge ſie 
die Hände auch nicht vorſchnell nach den lezten Kränzen 
ausſtrecken, welche die Wiſſenſchaft ihren Meiſtern bietet, 
der Entdeckung neuer Geſeze. Die Natur liebt es, mit 
wenigen Kräften und Stoffen das Wunderwerk der Schöpf— 
ung zu bilden. In andern Wiſſenſchaften iſt die Entdeckung 
eines neuen Geſezes ein ſeltenes und ſtets Epoche machendes 
Ereigniß. Die Statiſtik ſoll ſich nicht als das Sonntags— 
kind unter ihren Schweſtern betrachten, das die neuen Ge— 
ſeze duzendweiſe am Wege aufliest. 


28 


Jener Forderung an ein jociales Geſez, daß es die 
conſtante Grundform angebe für die Maſſenwirkung pſychi— 
ſcher Kräfte, ſchienen nur einige allgemeine Säze der Na— 
tionalöconomie über die Ordnung und Gliederung des wirth— 
ſchaftlichen Lebens zu genügen; aber auch dieſen ſchien keine 
unbedingte Geltung zuzukommen, ſondern ſie waren auf die 
Vorausſezung gegründet, daß die wirthſchaftlichen Verhält— 
niſſe nur unter dem Einfluß der auf ſie unmittelbar be— 
züglichen Triebe ſtehen, und kein Herübergreifen der übrigen 
pſychiſchen Kräfte Statt finde. Sollte dieſer hypothetiſche 
Charakter vielleicht mehr als ein blos zufälliges, ſollte er 
ein allgemeines Merkmal aller ſocialen Geſeze ſein? Sollte 
das Ineinandergreifen aller pſychiſchen Kräfte ſich vielleicht 
immer und überall einer wiſſenſchaftlichen Feſtſtellung ent— 
ziehen, und ſich die pſychiſchen Kräfte gerade darin von den 
phyſikaliſchen und organiſchen weſentlich unterſcheiden, daß 
dieſen ein ewig unwandelbares Maaß der Leiſtungsfähig— 
keit zukommt, jene aber bei aller Beharrlichkeit ihrer Grund— 
form hinſichtlich ihres Stärkegrads einer allmählichen inneren 
Umbildung unterworfen ſind? So klein auch das Bruch— 
ſtück iſt, das wir von der Geſchichte unſerer Gattung kennen, 
ſo ſcheint es doch zu dem Schluſſe zu berechtigen, daß dabei 
ein allmähliges Sichheraufarbeiten der höheren pſychiſchen 
Kräfte über die niedrigen, der humanen über die animali— 
ſchen Statt findet. Die geiſtigen Errungenſchaften eines 
Zeitalters in Geſez und Sitte, in Religion, Wiſſenſchaft 
und Kunſt ſind Dämmen und Bollwerken zu vergleichen, 
die hundertmal zerriſſen, wieder erneuert und weiter ge— 


29 


führt, ein den Fluthen wilder Begierden abgewonnenes 
Land ſchützen und ausbreiten. Das nachfolgende Geſchlecht 
hat immer den Vortheil, mit größerem Grundkapital zu 
arbeiten; wenn der Einzelne auch ſtets wieder mit gleichen 
Trieben und Anlagen zur Welt kommt, ſo bietet ihm doch 
der ſchon geſammelte Bildungsſchaz der Geſellſchaft eine 
ſtets wachſende Hilfe und Förderung für die Entwicklung 
ſeiner höheren Seelenkräfte. Und wenn dem ſo wäre, dann 
könnten in der That alle ſocialen Geſeze, die ſich nur mit 
der Maſſenwirkung einzelner pſychiſcher Kräfte befaſſen, 
auch blos eine bedingte Geltung anſprechen, und es gäbe 
nur Eine Art von großen und abſoluten Geſezen, die Ent— 
wicklungsgeſeze der Menſchheit, die noch für ungemeſſene 
Fernen der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß verſchloſſen und nur 
einem ahnungsvollen Glauben zugänglich ſein werden. 

Laſſen Sie mich an dieſe vorgreifenden Fragen und 
Vermuthungen eine lezte Betrachtung anknüpfen. 

Ich habe bisher von allen möglichen Arten von Geſez 
geſprochen, aber Eine Art als eine ganz heterogene und 
unvergleichbare Sache bei Seite gelaſſen, die Geſeze des 
Sollens, das Sittengeſez und deſſen wandelbare, ſociale 
Verwirklichung in den Staatsgeſezen. Natur und Sitten— 
geſez erſcheinen in ihrem innerſten Weſen ſo grundverſchieden, 
daß man ſich wundern muß, wie die Sprache nur dazu 
kommen konnte, Etwas, was mit unfehlbarer Sicherheit und 
ſtets gleichmäßiger Kraft die reale Welt beherrſcht und eine 
tauſendmal unbeachtete, nie ganz befriedigte Forderung, alſo 
z. B. zwei Dinge wie die Pflicht der Elternliebe und das 


30 


Parallelogramm der Kräfte, mit Einem Namen zu bezeichnen. 
Allein das verbindende Mittelglied, der vage Gegenſaz gegen 
das Willkührliche und Ungeordnete, iſt wohl nicht der einzige 
Rechtfertigungsgrund des anſcheinend befremdlichen Sprach— 
gebrauchs; es liegen ihm, wie ſo oft, noch tiefere und ah— 
nungsreichere Beziehungen zu Grunde. Das Sittengeſez iſt 
auch ein Naturgeſez; es iſt kein ideales Phantom, kein 
leeres Gedankending, ſondern die Aeußerung einer realen 
lebendigen Kraft. Und zwar ſind es die höchſten pſychiſchen 
Kräfte, die darin ihren Ausdruck finden, jener unbeſtimmte 
Drang, für unſer Ich und das Ganze unſerer Erfahrung 
ein leztes und höchſtes Centrum zu ſuchen, das Bruchſtück 
unſeres individuellen Lebens einer harmoniſchen Weltord— 
nung, einem Reich der höchſten Zwecke einzufügen. Der 
categoriſche Imperativ, das in ſeinem Inhalt ſo wandelbare 
und ſo oft fehlgreifende Gefühl eines unbedingten Sollens 
iſt nur eine der eigenthümlichen Grundformen für die Wir— 
kungsweiſe der edelſten unſerer pſychiſchen Kräfte. Das 
Sittengeſez iſt ſo ganz ein Geſez im Sinne der obigen De— 
finition, und es iſt nicht unberechtigt, das, was die Wirkungs— 
weiſe der höchſten Kräfte ausdrückt, das Geſez ſchlechtweg 
zu nennen. Die Kraft, die ein ideales Ziel ſtets äußerlich 
vor unſern Weg hinzuſtellen ſcheint, die, von keiner Lebens— 
form dauernd befriedigt, ſtets mit der Deviſe: plus ultra 
vorwärts ſchreitet, ſie iſt ſelbſt von durchaus realer Natur. 
In ihrer Maſſenwirkung ruht das Geſez des Fortſchritts. 
Die Menſchheit gleicht nicht jenem Tantalus, der einſt zu 
den Tafeln der Götter zugelaſſen, dann die Arme ewig 


31 


vergeblich ausſtreckt nach den labenden Früchten, ſondern 
dem Sohn der Alkmene, der aus niedrigem Knechtesdienſt, 
nach langen und gefahrvollen Kämpfen, in Schmerzen und 
Flammen geläutert, emporſteigt zu den Sizen der Himm— 
liſchen. Das Sittengeſez iſt ein wahres Naturgeſez als das 
Geſez unſerer wahren Natur; es iſt in ſeiner Maſſenwirkung 
nur ein ſcheinbar unkräftiges, auf die Dauer aber das 
mächtigſte und höchſte aller ſocialen Geſeze. 


Ueber Hegel. 


6. Nov. 1870. 


Das Jahr 1870, in deſſen Neige wir jezt ſtehen, ſchien 
bei ſeinem Eintritt wie der Welt im Großen ſo unſerer Hoch— 
ſchule im Kleinen gerade nichts Beſonderes und Ungewöhn— 
liches zu verſprechen. Nur eine einzige, den ſtillen und ge— 
meſſenen Gang unſeres akademiſchen Lebens unterbrechende 
Feier durften wir in ſichere Ausſicht nehmen. Am 27. Aug. 
1770 war der Philoſoph Hegel geboren, und nachdem wir 
in den lezten Jahren mehreren anderen unter den geiſtigen 
Heroen unſerer Nation bei ihrer Säcularfeier durch beſon— 
dere akademiſche Feſtreden den Tribut der Dankbarkeit er— 
ſtattet hatten, konnte es nicht zweifelhaft ſein, daß wir das 
gleiche Gedächtniß dem geiſtvollen Landsmann nicht verſagen 
werden, der nicht nur hier ſeine Bildung empfieng, ſondern 
deſſen Lehre an unſerer Hochſchule durch einen Kreis hoch— 
begabter Schüler eine eigenthümliche, in der Geſchichte der 
deutſchen Wiſſenſchaft bedeutungsvolle Aufnahme und Fort— 
bildung gefunden hat. Es war daher auch bereits die Ein— 
leitung getroffen, daß am 27. Auguſt das Gedächtniß Hegel's 
durch einen der ordentlichen Vertreter des Faches in einer 
beſonderen akademiſchen Feſtrede gefeiert werden ſolle. 


33 


Allein das Jahr 1870, reicher als irgend einer ſeiner 
Vorgänger ſowohl an getäuſchten als an überbotenen Hoff— 
nungen, hat uns gar Vieles gebracht, was die kühnſten 
Träume überflog, aber das Eine, was wir mit Sicherheit 
hätten erwarten dürfen, eine ordentliche und rechtzeitige 
akademiſche Hegelfeier hat es uns nicht gegönnt. Die großen 
Schlachtentage des Auguſts ließen uns nicht an die Ge— 
burtstage von Philoſophen denken. Dieß Jahr iſt vor 
unſerm ſtaunenden Blick zu einem jener großen Markſteine, 
zu einer der Leuchtfackeln der Weltgeſchichte geworden, welche 
die dunkeln und verſchlungenen Pfade der Vergangenheit 
mit Einem Male erhellen und uns für die Zukunft eine 
breite, weithin ſichtbare Hochſtraße zeigen. Wenn die Ge— 
ſchichtsauffaſſung Hegel's in ihrem Rechte iſt, daß der Reihe 
nach führende Volksgeiſter auf und wieder abtreten, welche 
als die Träger der herrſchenden Weltanſchauung den Zeit— 
altern das eigenthümliche Gepräge ihres Weſens aufdrücken, 
ſo kann es in der Geſchichte nicht wohl ein wichtigeres Er— 
eigniß geben, als einen ſolchen Scenenwechſel auf dem Welt— 
theater, wenn das bisher führende Volk hinter die Bühne 
tritt und ein anderes, das bis dahin zur Seite geſtellt war, 
den Vordergrund in Beſiz nimmt. Doppelt großartig aber 
wird der Eindruck ſein, wenn dieſer Wechſel mit ſo glän— 
zendem dramatiſchem Effekt erfolgt, in ſo gewaltigen Schlägen, 
als die Strafe unerhörter Anmaaßung und Verblendung, als 
ein Sieg der ſtillen und verkannten Kraft, als ein Gottes— 
gericht wie kaum je ein zweites mit deutlicherer Flammen 
ſchrift in die Tafeln der Geſchichte eingezeichnet worden. 


“ * er > 
Rümelin, Reden u. Aufjäße. > 


Die deutſche Wiſſenſchaft und auch das Leben der deut— 
ſchen Hochſchulen ſteht dieſen großen Weltereigniſſen nicht 
ſo fern, als es dem erſten Anblick ſcheinen mag. Ich denke 
dabei nicht blos an die Tauſende von Jünglingen, welche 
die Hörſäle verlaſſen haben, um ſich in die Reihen der 
deutſchen Krieger einzuſtellen, an die akademiſchen Lehrer, 
die in den mannigfaltigſten Formen ihre Kräfte der Sache 
des Vaterlandes zur Verfügung geſtellt haben. Ich will 
es auch nur flüchtig und fragend erwähnen, ob nicht jene 
überlegene Kunſt der deutſchen Heeresordnung und Krieg— 
führung, deren Erfolge die Welt jezt mit Staunen erfüllen, 
auch ein Stück deutſcher Wiſſenſchaft iſt und in der ſoliden 
Methode der Forſchung wurzelt, welche, allen Phraſen und 
allem Schwindel feind, immer wieder die Fragen trennt und 
vereinfacht und die allgemeinen Sätze nur aus einer Menge 
der gründlichſten Detailunterſuchungen abzuleiten geſtattet. 
Noch weit näher zeigt ſich jener Zuſammenhang bei einer 
allgemeineren Betrachtung. Dem Zeitalter der Staats— 
männer und Feldherrn iſt das der Dichter und Denker voran— 
gegangen; noch lange bevor das deutſche Volk auch nur 
das Bedürfniß einer ſtaatlichen Einigung empfand, hat es 
aus tiefem Verfall, aus confeſſioneller und politiſcher Spal— 
tung heraus in der Gemeinſchaft ſeines geiſtigen Beſizthums 
ein nationales Band gefunden; die deutſchen Hochſchulen 
bildeten längſt troz aller Schlagbäume an den Landesgrenzen 
Einen deutſchen Bundeskörper. Allein wenn wir bisher 
auf die Gründer unſerer claſſiſchen Epoche, auf jene Meiſter 
blickten, welche in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 


35 


gewirkt oder die maßgebenden Keime ihrer Bildung em— 
pfangen haben, ſo konnten wir noch ſehr im Zweifel ſein, 
ob dieſe glänzende Erſcheinung in der Entwicklung unſeres 
Volks nach rückwärts zu deuten ſei oder nach vorwärts, ob 
ſie dem Abendroth eines ſinkenden Tages oder dem Morgen— 
roth eines aufſteigenden zu vergleichen ſei. Man hatte ja 
aus den Beiſpielen der antiken Völker die Regel abgeleitet, 
daß das Zeitalter der geiſtigen Blüthe eines Volks nie mit 
dem Höhepunkt ſeiner politiſchen Macht zuſammenfallen, 
auch ihm nicht vorausgehen könne, ſondern nachfolgen müſſe. 
Erſt in der Dämmerung beginnt der Vogel der Minerva 
ſeinen Flug, ſo lautet eines von jenen geiſtreichen Schlag— 
wörtern Hegel's. Das deutſche Volk ſollte ſeine politiſche 
Machtperiode ſchon im Mittelalter unter ſeinen großen 
Kaiſern gehabt haben; jezt ſollte ihm nur wie einſt dem 
Griechenvolke die Miſſion übrig geblieben ſein, als geiſtiges 
Ferment, aber machtlos und zerſplittert, das europäiſche 
Völkerleben zu befruchten. Es ließ ſich Vieles für und 
wider dieſe Meinung ſagen und auf dem Weg der Theorie 
war zu keiner Entſcheidung darüber zu kommen. Das Jahr 
1870 hat uns dieſe Entſcheidung gebracht. Die großen 
Geiſter unſerer claſſiſchen Kulturepoche ſind nicht die ſpäten 
Nachzügler und Grabredner, ſondern die Boten und Vor— 
läufer unſerer politiſchen Größe geworden; ihre Leiſtungen 
erinnern uns nicht mehr an den Dämmerungsflug des Vogels 
der Weisheit, ſondern ſie waren der herzerhebende Lerchen— 
ſchlag, der unſerm Volke einen neuen Frühlingstag an— 
kündigte. Und ſo ſcheint es mir, fällt von den neueſten 


5 
> & 


36 


Großthaten unſeres Volkes auch ein neues verklärendes 
Licht auf jene Männer einer früheren Generation zurück, 
die einſt aus der ſtillen Tiefe ihres eigenen Gemüthes und 
Geiſtes heraus dem deutſchen Volk ſein wahres Weſen auf— 
geſchloſſen und die lang verhaltenen Siegel ſeines Genius 
gelöst haben. Wir wollen ihrer mit verdoppelter Dank— 
barkeit gedenken; wir wollen keinen vergeſſen und Jedem 
ſeine Ehre gönnen. Und ſo wollen Sie mir erlauben, nach— 
dem der erſte Sturm des Kriegs die rechtzeitige volle und 
würdigere Gedächtnißfeier Hegel's, wie ſie von berufenerer 
Seite beabſichtigt war, vereitelt hat, daß ich die lezte für 
dieß Jahr noch gebotene Gelegenheit benütze, um wenigſtens 
noch als Laie und Dilettant von dem Philoſophen Hegel 
zu reden und das Verſäumte ſei es auch nothdürftig noch 
nachzuholen. Ich denke dabei nicht daran, Ihnen das Leben 
und die Perſönlichkeit des Philoſophen zu ſchildern, noch 
weniger, Ihnen die Grundzüge ſeines Syſtems und die Stel— 
lung, die daſſelbe in der Reihe ſolcher Syſteme einnimmt, 
zu ſchildern. Gleichwohl glaube ich von einem andern Ge— 
ſichtspunkt aus doch auch einen gewiſſen Beruf zu haben 
von der Sache zu reden. Meine eigene Studienzeit fiel 
nemlich gerade in die Periode, in welcher die Hegel'ſche 
Philoſophie an unſerer Univerſität durch junge Docenten 
der glänzendſten Begabung eingeführt und in den raſcheſten 
Aufſchwung gebracht wurde. Ich kann wohl ſagen: meine 
ganze Studienzeit ſtand förmlich unter dem Bann des Hegel— 
thums; wer ſich überhaupt mit Philoſophie zu befaſſen hatte, 
der mußte entweder ſelbſt ein Hegelianer ſein oder zu dieſem 


37 


Syſtem wenigſtens eine bewußte und feſte Stellung ein— 
nehmen, und dieſe Herrſchaftsperiode mag etwa vom Anfang 
der dreißiger bis in die Mitte der vierziger Jahre gedauert 
haben. 

Wie bekannt nahm aber der Tübinger Zweig der Hegel'— 
ſchen Schule bald eine eigenthümliche und oppoſitionelle Hal— 
tung in derſelben ein. In Berlin ſtand dieſe Philoſophie 
zu den herrſchenden Gewalten in Staat und Kirche in dem 
Verhältniß der entente cordiale, des herzlichen Einverſtänd— 
niſſes. Insbeſondere lebten Philoſophie und Religion auf 
dem beſten Fuß mit einander. Die Metaphyſik und die chriſt— 
liche Dogmatik hätten, ſo ſagte man, den gleichen Inhalt; nur 
werde, was im Dogma in der Form der Vorſtellung, für 
die Stufe der Einbildungskraft gefaßt ſei, in der Philoſophie 
in das Element des Begriffes, des reinen Gedankens er— 
hoben. In der Geſchichte wurde aller Accent auf die Ent— 
wicklung und Bewegung von Ideen gelegt, woneben der 
pragmatiſche Zuſammenhang, die realiſtiſche Wahrheit der 
einzelnen Begebenheit als durchaus bedeutungslos angeſehen 
wurde. Die jungen Führer der Tübinger Abzweigung waren 
darüber ganz anderer Anſicht. Einmal vermochten ſie wohl 
überhaupt nicht in dem Grade, in welchem es die ſtrenge 
Schule verlangte, die damals ſogenannte Verſtandesauffaſ— 
ſung der Dinge in ſich über Bord zu werfen; ſodann 
mußten ſie bald finden, daß das große Arcanum und Zauber— 
mittel des Syſtems, die dialektiſche Methode, ſich ohne be— 
ſondere Schwierigkeiten auch zu ganz andern Dienſten und 
in ganz andern Richtungen verwenden ließe, als wozu der 


38 


Meiſter fie gebraucht hatte. Und ſo entwickelte ſich auf dem 
Boden der hieſigen Univerſität jener linke Flügel des Hegel'— 
ſchen Syſtems, der zuerſt die Fahne der hiſtoriſchen Kritik 
wieder entfaltet, der durch die damalige Vertrauensſeligkeit 
über den Einklang von Wiſſen und Glauben einen dicken 
und groben Strich gemacht hat und der durch den hiemit 
gegebenen Anſtoß, wie durch eine Reihe bedeutender Schrift— 
werke in der Kulturgeſchichte des deutſchen Volks für immer 
einen angeſehenen Plaz behaupten wird. Und da nun in 
meine eigene Studienzeit gerade ſowohl das erſte Aufkommen 
der Hegel'ſchen Philoſophie an unſerer Univerſität als jener 
erſte Abfall von der alten Schule trifft (der durch das Er— 
ſcheinen des Strauß'ſchen Lebens Jeſu bezeichnet wird) und 
da ich dieſen Dingen wenn auch nicht mit vollem Verſtändniß, 
doch wenigſtens mit vollem Intereſſe gefolgt bin, ſo erlaube 
ich mir aus meinen Erinnerungen Ihnen zu berichten, nicht 
was die Hegel'ſche Philoſophie war und lehrte, ſondern 
wie ſie auf uns wirkte. Ich wünſche kurz zu ſagen, einmal 
was uns daran anziehend, beſtechend, imponirend erſchien, 
ſodann was daran für uns unverſtändlich, unwirkſam, be— 
fremdlich oder gar abſtoßend war, und ſchließlich was nach 
Abwägung des Einen und Andern als bleibende Frucht 
jener Studien etwa in uns zurückgeblieben iſt. 

Wir kamen damals vielleicht mit einem idealiſtiſcheren 
Zug auf die Hochſchule, als es heutzutag durchſchnittlich 
der Fall ſein mag, mit einem unklaren ahnungsvollen En— 
thuſiasmus für eine unbekannte Weisheit; etwa wie der 
Schüler im Fauſt wenn er ſagt: 


— ———— 


39 


Ich wünſchte recht gelehrt zu werden 
Und möchte gern, was auf der Erden 
Und in dem Himmel iſt, erfaſſen, 
Die Wiſſenſchaft und die Natur. 


Wir hegten noch den harmloſen Glauben, daß es eine 
volle und unverhüllte Wahrheit gebe, daß die Lehrer an den 
Hochſchulen ſie wüßten und vortrügen und daß es nur an 
uns hänge, ſie in uns aufzunehmen und zu begreifen. 

Dieſem Verlangen nach einer aus dem Vollen geſchöpf— 
ten Wahrheit konnte nun nichts Willkommeneres, nichts 
Imponirenderes begegnen als die Hegel'ſche Philoſophie. 
Denn ſie iſt ein Syſtem im eminenteſten Sinne des Worts, 
von der univerſellſten Anlage und Conſtruction; ſie zieht 
alle Gebiete menſchlicher Erfahrung in ihren Kreis; ſie 
giebt Antwort auf alle Fragen. Ich glaube, daß man für 
alle Zeiten in der Hegel'ſchen Encyclopädie der philoſophiſchen 
Wiſſenſchaften das Werk eines großartig angelegten Geiſtes, 
einen logiſchen Aufbau des Kosmos von grandioſer Archi— 
tectonik und Symmetrie bewundern wird. 

Und dieſer das geſammte Weltall umfaſſende Gedanken— 
bau war ein Werk aus Einem Guß wie kaum irgend ein 
zweites Syſtem. Faſt alle andern Syſteme ſehen ſich ge— 
nöthigt, dem Denken irgend eine unüberſteigliche, äußerlich 
gegebene Schranke gegenüberzuſtellen, die nicht aus dem 
Gedanken ſelbſt abzuleiten iſt, ſei es eine ewige Materie, ein 
Chaos blinder Naturkräfte, oder ein Ding an ſich, ein Wille, 
ein ewiger vorzeitlicher Ungrund oder was ſonſt, und das 
Denken war nur das formgebende, geſtaltende Princip ohne 
eigene Schöpferkraft. Das Hegel'ſche Syſtem hat allen 


40 


Dualismus beſeitigt; es it der reinſte Monismus des Ge— 
dankens. Es eriftirt lediglich nichts als Geiſt, als das 
Abſolute, die Idee, die ewige Vernunft in den verſchiedenen 
Stufen und Momenten ihrer Selbſtentfaltung. Selbſt die 
ſtarren, unlebendigen, Zeit und Raum erfüllenden Geſtalten 
der Natur, die den ſchärfſten Gegenſaz zu allem Geiſtigen 
zu bilden ſcheinen, ſind doch auch nichts anderes als eine 
beſondere Art von Gedankenformen, die der Geiſt aus der 
Bewegung ſeines innerſten Weſens hervorgehen läßt. Man 
hat daher mit Recht die Hegel'ſche Lehre als das Syſtem 
des Panlogismus bezeichnet. Rein aus eigenen Mitteln, 
und ſcheinbar wenigſtens, ohne nach rechts und links auf 
die empiriſch gegebene Wirklichkeit hinüberzublicken, baut 
Hegel in einer unendlichen Reihenfolge von Denkbeſtim— 
mungen, deren jede einzelne mit Nothwendigkeit aus der 
vorangehenden folgen ſoll, die concrete Wirklichkeit vor un— 
ſerm ſtaunenden Blick auf. Das Wunder, wie einſt Gott 
die Welt aus Nichts geſchaffen hat, wiederholt ſich vor un— 
ſern Augen. Denn in der That nimmt auch der Hegel'ſche 
Gedankenbau ſeinen Ausgang von dem reinen Nichts und 
erzeugt durch die angeblich immanente Bewegung des Den— 
kens ſelbſt immer höhere und beziehungsreichere Begriffe, 
die aber zunächſt alle immer noch in dem ätheriſchen Ele— 
mente des reinen und abſtracten Denkens liegen. Es ſind 
dieß gleichſam die Gedanken des in ſich brütenden Gottes, 
die dem Akte der Weltſchöpfung vorausgehen. Denn nun, 
nachdem die Idee jene Reihe der allgemeinen nothwendigen 
Denkformen in ſich durchlaufen hat, da tritt ſie — durch 


einen wunderbar kühnen Sprung ihres Auslegers — aus 
jenem luftigen Element der Abſtraction, das ihr nicht mehr 
genügt, heraus, entläßt ihre eigenen Denkmomente aus 
ſich zu geſondertem, ihr ſelbſt entfremdetem Daſein; ſie 
wird zur Natur. Die Natur iſt der verhüllte Geiſt, der 
Gedanke in ſeiner Selbſtentäußerung. Die Natur iſt auch 
Gedanke, aber ſie weiß es nicht. Sie ſpielt in einer un— 
endlichen Fülle der mannigfaltigſten Geſtalten, aber ihr 
Schaffen durchdringt ein Zug nach vorwärts, nach dem 
Lichte des Bewußtſeins und der Erkenntniß. Von den 
blinden und lebloſen Kräften ſteigt ſie zu den organiſchen 
Weſen auf, von einer Stufe zur andern, dabei ſpielend, 
variirend, oft ſcheinbar rückſchreitend, bis endlich in dem 
Bewußtſein des Menſchen der Durchbruch gelingt. Damit 
beginnt die Philoſophie des Geiſtes. Die ewige Vernunft 
kehrt aus ihrer Entfremdung im Naturleben zu ſich ſelbſt 
zurück; ſie findet ſich wieder, bereichert und verklärt, zur 
Stufe der Freiheit durchgedrungen. Aber alsbald beginnt 
wieder die neue Gliederung von Stufe zu Stufe; das in— 
dividuelle ſubjective Seelenleben iſt nur eine erſte, mangel— 
hafte Geſtalt der Idee, die ſich ſelbſt wieder gefunden hat; 
reicher iſt der Gedanke der Freiheit verwirklicht auf der 
Stufe des objectiven Geiſtes in den ſocialen Formen von 
Recht und Sitte, von Familie, Geſellſchaft und Staat, wie 
in der ſtetigen fortſchrittlichen Entwicklung der Weltge— 
ſchichte. Zur vollen Rückkehr in ſich ſelbſt, zum Abſchluß 
ihres unendlichen Kreislaufes gelangt die Idee in den 
Stufen des abſoluten Geiſtes, der Kunſt, der Religion, der 


Philoſophie; hier beſchaut der Geiſt in ſeliger Freiheit fein 
eigenes ewiges Thun in verklärten Formen der Anſchauung, 
der Vorſtellung, des Begriffs. 

So viel Dunkles, Anfechtbares und Unzulängliches 
dieſer Gedankengang auch im Einzelnen enthalten mag, daß 
er auf jugendliche, erkenntnißdurſtige Gemüther anregend, 
beſtechend, überwältigend zu wirken vermochte, daß wir 
glauben konnten, jener Iſisſchleier, der das Götterbild der 
Wahrheit verhüllt, ſei hier wenn auch nicht weggezogen doch 
gelüftet und aufgedeckt, iſt wohl begreiflich. Freilich blieb 
uns Vieles nur halb verſtändlich und oft genug mochte 
der Spruch Mephiſto's anwendbar ſein: Im Ganzen haltet 
euch an Worte. 

Auf der andern Seite ſchien uns für die Wahrheit 
der Grundgedanken der Hegel'ſchen Lehre ihre Zuſammen— 
ſtimmung mit der unmittelbaren Erfahrung und Wirklich— 
keit ein ſtarkes Zeugniß zu ſein. Im Ganzen liegt ja bei 
allen philoſophiſchen Syſtemen ihre eigentliche Ueberzeugungs— 
kraft weniger in dem logiſchen Zwang, mit dem ſie uns ge— 
fangen nehmen, als in ihrer Bewährung im Gro 


zen und 
Ganzen, in der Rechnungsprobe, die ſchließlich im Vergleich 
mit dem unmittelbaren Eindruck des Weltlaufes und der 
Geſammterfahrung herauszukommen ſcheint, in der Kleinheit 
des Reſtes, der am Ende als unerklärt übrig zu bleiben 
pflegt. 

Eine ſolche Bewährung durch die praktiſche Rechnungs— 
probe ſchien nun der Hegel'ſchen Lehre in zwei wichtigen 
Beziehungen zu Statten zu kommen. 


43 


Faſt alle andern Philoſophen waren zunächſt nur dar— 
auf bedacht geweſen, in dem ſteten Wechſel und der Flucht 
aller Erſcheinung das Beharrende und Bleibende aufzu— 
ſuchen, die feſten Pfeiler und Bögen zu bauen, zwiſchen 
welchen der ruheloſe Strom des Weltlaufes unaufhaltſam 
hindurchbraust. Die Flucht der Erſcheinungen ſelbſt wußten 
ſie nicht zu deuten; ſie nahmen ſie als eine gegebene That— 
ſache und Schranke hin, die gegenüber von der ruhig be— 
harrenden Idee oder Wahrheit nur als ein Scheinbares, 
Unweſentliches, oder wie Plato ſagt als das Nicht Seiende 
galt. Für Hegel dagegen gab es, wie für ſeinen Vor— 
gänger im grauen Alterthum Herakleitos den Dunkeln, 
überhaupt kein Sein, ſondern nur ein unendliches Werden. 
Nichts iſt bleibend als die Bewegung ſelbſt. Alles iſt Proceß 
und Entwicklung, das Glied einer Reihe, die Stufe einer 
Treppe, die nach oben führt. Unaufhörlich und nach allen 
Richtungen wiederholt ſich der Gang, daß ein Moment 
geſezt wird, dieſem ein Zweites entgegentritt und es auf— 
hebt, und daß aus dieſem Conflict ein Drittes, bereichert 
und vertieft hervorgeht. Alles Einzelne iſt einſeitig, relativ, 
mangelhaft, vorübereilend; die Wahrheit liegt nie im Ein— 
zelnen für ſich, ſondern immer erſt in der Reihe. 

Wir waren damals gewöhnt, uns neben den Werken 
der Philoſophen, die wir ſtudiren ſollten, eines kleinen me 
taphyſiſchen Handbüchleins oder Catechismus zu bedienen, 
deſſen Sprüche uns weit verſtändlicher und geläufiger waren 
als die oft abſtruſen Formeln der Schule. Es war Göthes 
Fauſt. Und ſo überſezten wir uns die Hegel'ſchen Sätze, 


44 


daß das Abſolute nicht Subſtanz ſondern Subject ſei, und 
in einem unendlichen dialectiſchen Proceß ſeine Momente 
ſetze und aufhebe, leichter in die Worte des Erdgeiſtes, 
der Fauſt zuruft: 


In Lebensfluthen, im Thatenſturm 

Wall' ich auf und ab, webe hin und her. 
Geburt und Grab ein ewiges Meer, 

Ein wechſelnd Weben, Ein glühend Leben, 

So ſchaff' ich am ſauſenden Webſtuhl der Zeit 
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid. 


Daß Hegel dieſe Flucht und Vergänglichkeit aller Er— 
ſcheinungen nicht als einen irrationellen und unerklärt blei— 
benden Reſt bei Seite ſtehen ließ, ſondern gerade hierin 
die nothwendige Form und Methode der Wahrheit, das 
Weſen aller Entwicklung erkannte, durfte uns als ein un— 
beſtreitbarer Vorzug vor andern Syſtemen erſcheinen und 
war mit dem Eindruck, den eine unbefangene Betrachtung 
des Weltlaufes machte, weit leichter in Uebereinſtimmung 
zu bringen. 

Noch in einer andern Beziehung ſchien dieſem Syſtem 
der Vorzug der praktiſchen Bewährung zuzukommen. Andere 
Philoſophen beſchäftigten ſich mit den allgemeinſten, ſublim— 
ſten Fragen der Erkenntnißlehre, der Logik, der Metaphyſik, 
der Ethik, welche, man mochte ſie ſo oder anders löſen, 
auf die unmittelbaren Forderungen und Probleme der Gegen— 
wart, auf die concrete Wirklichkeit, in der wir zu leben 
und zu handeln haben, nur durch Einſchaltung vieler Zwi— 
ſchenglieder Anwendung finden konnten. Sie legten gleich— 
ſam die Schätze ihrer Weisheit weit von unſern Wohn— 


45 
pläzen an abgelegenen Stellen nieder, wohin nur wenige, 
ungangbare und ſchwer findbare Wege führten. Hegel 
führte, um bei dieſem Bilde ſtehen zu bleiben, ſeine geiſtigen 
Errungenſchaften bis unmittelbar vor die Thüre unſeres 
Hauſes. Er geht zwar auch immer von abſträcten Denkbe— 
ſtimmungen aus, aber er kommt ſtets, oft in überraſchender 
Weiſe und nach wenigen Zwiſchengliedern bei den Aufgaben 
und Intereſſen des modernen Lebens, der gegenwärtigen 
Geſellſchaft an. Die Erſcheinungen der Gegenwart waren 
ihm überall nicht Zufälligkeiten, die dem Philoſophen ferne 
liegen, ſondern nach ſeiner ganzen Grundauffaſſung der 
Geſchichte der Höhepunkt, der momentane Schlußſtein einer 
fortſchrittlichen Entwicklung. Alles was wirklich iſt, iſt ver— 
nünftig, alles was vernünftig iſt, iſt wirklich; ſo lautet 
jener vielberufene und vielgeſchmähte Satz, der in Ver— 
bindung mit dem zweiten, vorhin erwähnten, daß jede ein— 
zelne Erſcheinung einſeitig und nur als Glied einer Ent— 
wicklungsreihe zu beurtheilen ſei, gegen die nächſtliegenden 
Einwände gedeckt, jedenfalls der prägnanteſte Ausdruck von 
Hegels tiefſinniger Originalität iſt. Für Hegel war die 
Gegenwart, wenn auch nicht die lezte, doch die neueſte, re— 
lativ höchſte Offenbarungsſtufe des Weltgeiſtes; wenn Alles 
Geiſt iſt und außer ihm nichts exiſtirt, ſo muß ja ein Glanz 
der Verklärung auf die Wirklichkeit fallen. Das Ideal iſt 
nicht in weiter Ferne, das Gute nicht in einem ewig uner— 
füllten Sollen zu ſuchen; ſondern es iſt da, als Errungen— 
ſchaft der weltgeſchichtlichen Entwicklung, als Geſez und 
Sitte, als Familie, Geſellſchaft und Staat. In dieſe gött— 


8 46 

liche gegenwärtige Ordnung ſich einzuleben, an ihrer Fort— 
bildung mitzuwirken, den nächſten Forderungen des Tages, 
des Berufs, dem man ſich widmet, dem Kreis, in dem man 
lebt, dem Staat, deſſen Bürger man iſt, volles Genüge zu 
thun, das ft für Hegel der Kern aller Ethik. Was man 
uns in dem Religionsunterricht der Schule gelehrt, daß die 
Welt mit Allem, was darinnen ſei, ein Werk und Spiegel 
göttlicher Güte und Weisheit ſei, daß Alles was geſchieht 
nach Gottes Willen und weiſem Rathſchluß geſchehe, das 
ſchien uns jener Hegel'ſchen Lehre von der Vernünftigkeit 
alles Wirklichen und der Wirklichkeit alles Vernünftigen 
gar nicht ſo ferne zu ſtehen; es ſchien ja vielmehr hier nur 
ein Ernſt mit dieſer Anſchauung gemacht, den man ſonſt 
nicht zu machen pflege; es ſchien blos der Widerſpruch aus 
ihr entfernt, daß der Menſch fortwährend im Stande ſein 
ſoll, einen Strich durch die Rechnung Gottes zu machen 
und die Erfüllung der göttlichen Plane zu vereiteln. 

Man hat der Hegel'ſchen Philoſophie den doppelten Vor— 
wurf gemacht, daß ſie das Subject, den Einzelnen zu hoch 
und zu niedrig ſtelle; zu hoch, nicht nur, weil ſie, wie alle 
pantheiſtiſchen Syſteme, dem Menſchen einen Antheil an dem 
unmittelbaren göttlichen Leben leiht, ſondern noch mehr, 
weil ſie in menſchlichen Thätigkeiten, in Kunſt, Religion, 
Philoſophie die höchſte Wirkungsform des abſoluten Geiſtes 
findet; zu niedrig dagegen, weil ſie rückſichtsloſer als irgend 
eine andere Theorie, die Individualität mit ihrem jubjec- 
tiven Fühlen, Meinen und Wollen den allgemeinen ſocialen 
und kosmiſchen Mächten unterordnet. Ich will hier nicht 


— 


47 


unterſuchen, was an dem einen und dem andern Vorwurf 
wahr und begründet iſt; aber das kann ich ſagen, daß uns 
jenes angebliche ſchwellende Gefühl eigenen Götterthums 
völlig unbekannt war; eine Eigenſchaft, die man nicht nur 
mit allen andern Menſchen, ſondern am Ende auch mit den 
Thieren, Pflanzen, Metallen zu theilen hat, könnte ja Nie— 
mand hochmüthig machen; und von unſerem eigenen philo— 
ſophiſchen Denken bildeten wir uns entfernt nicht ein, daß 
wir damit dem ewigen Weltgeiſt zu ſeinem Selbſtbewußt— 
ſein behilflich wären. Weit wirkſamer und hervortretender 
war die andere Seite der Sache, daß der Einzelne nur die 
flüchtige Welle, das verſchwindende Atom in dem unend— 
lichen Weltproceß ſei, ohne den Anſpruch auf eine ſelb— 
ſtändige Geltendmachung ſeiner Individualität, ohne Bürg— 
ſchaft für ihre Erhaltung und ihr Fortſchreiten zu höheren 
Offenbarungen. Dieſe Forderung einer unbedingten Re— 
ſignation hat für den jugendlichen Geiſt einen verführeri— 
ſchen Reiz, der ſich für das gereifte Lebens- und Ichgefühl 
wieder verliert. Es mag dieß dieſelbe pſychologiſche Urſache 
haben, aus welcher der Jüngling die von Kraft und Ge— 
ſundheit ſchwellenden Glieder, alle Hoffnungsträume einer 
reichen Zukunft leichter und williger der Gefahr und dem 
Kugelregen ausſezt, als der Gebrechliche, dem Gegenwart 
und Zukunft nur Trübes bietet. Der Stolz der Entſagung 
und opferwilligen Hingabe verleiht bei ſicherem Beſiz eine 
angenehme Schwellung des Selbſtgefühls. 

Ich komme zu der unerquicklichſten und peinlichſten 
Seite des Studiums der Hegel'ſchen Schriften und Lehren, 


zu der eigenthümlichen Form der Beweisführung und Ge— 
dankenentwicklung oder zu der ſogenannten dialectiſchen Me— 
thode. Wenn man ſich nemlich etwa vermaß, an einen 
ſtrikten Hegelianer die Frage zu ſtellen: aber womit beweist 
Ihr denn die Wahrheit Eurer Behauptungen, ſo erhielt 
man eine vornehm abweiſende, mit tiefen und dunkeln 
Orakelſprüchen verſezte Antwort, etwa folgenden Inhalts: 
was man ſo gemeinhin unter Beweiſen verſteht, jenes Hin— 
und Herwägen von Gründen und Gegengründen, jenes 
Zurückführen der Sätze auf gemeinſame bereits erwieſene 
oder anerkannte Ausgangspunkte, das gehört nur in die 
niedrige Sphäre des verſtandesmäßigen Erkennens. Für 
das philoſophiſche Denken hat es keine Berechtigung. Die 
Wahrheit erweist ſich durch die Darlegung ihrer ſelbſt; 
dem Begriff kommt eine eigene, immanente Bewegung zu, 
welcher ſich das Subject nur darbieten und aufſchließen 
kann, indem es ſeine eigenen willkührlichen Einfälle zurück— 
hält, und dieſe Bewegung wird ihrem inneren Weſen nach 
immer eine dreigliedrige ſein. Die erſte Stufe bildet dabei 
ſtets die unmittelbare, der gemeinen Vorſtellung entnommene 
Auffaſſung eines Gegenſtandes, wie er ſich aus der Wahr— 
nehmung, durch Aneinanderreihung verſchiedener Eigenſchaf— 
ten oder Merkmale ergiebt. Dieſe Stufe gehört noch der 
Verſtandesſphäre an. Nun bemächtigt ſich aber ein höheres 
Organ dieſes Stoffs, die Vernunft, und übt daran eine 
doppelte Function, einmal eine critiſche, negative, dialectiſche, 
indem ſie in jenen vom Verſtand angenommenen Merkmalen 
innere Widerſprüche entdeckt und heraushebt und damit den 


49 

Begriff in ſein Gegentheil verkehrt, jo daß das was man 
feſt zu haben glaubt, wie zwiſchen den Händen zerrinnt, 
ſodann aber auch eine poſitive, ſpeculative Thätigkeit, indem 
ſie es bei dieſem negativen Reſultat nicht bewenden läßt, 
ſondern zu einem neuen Begriff, der höheren Einheit oder 
Vermittlung jener Gegenſätze fortſchreitet, mit welchem nun 
zugleich der Ausgangspunkt für eine Wiederholung ganz 
derſelben dreigliedrigen Bewegung gegeben iſt; wie ſich denn 
in der That das ganze Syſtem von A bis Z durch un— 
zählige Paragraphen in ſtets wiederkehrendem triadiſchem 
Rythmus fortwindet. 

Ich kann nicht ſagen, wie viel Mühe und Kopfzer— 
brechen es uns gekoſtet hat, dieſe ſogenannte ſpeculative 
Methode Hegels auch nur ſoweit in uns aufzunehmen, um 
zu begreifen, wie ſie denn eigentlich von ihrem Urheber 
gemeint war. Es fragte einer den andern kopfſchüttelnd: 
verſtehſt du es denn? bewegt ſich der Begriff in dir von 
ſelbſt und ohne dein Zuthun? ſchlägt er in ſein Gegentheil 
um und ſpringt daraus die höhere Einheit der Gegenſätze 
hervor? Wem man dieß zutraute, der galt für einen ſpe— 
culativen Kopf. Wir andern ſtanden nur auf der Stufe 
des Denkens in endlichen Verſtandescategorieen. Denn das 
Prädicat verſtändigen Denkens, durch welches ſich jezt Jeder— 
mann geehrt findet, galt damals ſonderbarer Weiſe für 
einen Tadel. Wir ſuchten den Grund, warum wir dieſe 
Methode nicht recht verſtehen konnten, in der Stumpfheit 
unſerer eigenen Begabung und waren nicht ſo keck, ihn in 
der Unklarheit und den Mängeln der Methode ſelbſt zu 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 4 


50 


vermuthen. Immerhin aber war es nicht allzuſchwer, ſich 
jenen dreigliedrigen Schematismus anzueignen; und es fehlte 
in keinem der philoſophiſchen oder theologiſchen Aufſätze, 
die wir zu fertigen hatten, die obligate Dreitheilung, wobei 
gewöhnlich der erſte Theil die herkömmliche Auffaſſung, z. B. 
das kirchliche Dogma, darlegte, der zweite daran allerhand 
Bedenkliches und Widerſprechendes nachwies, der dritte oder 
ſpeculative Theil aber, ſo gut es gehen mochte, die ſoge— 
nannte höhere Einheit oder Vermittlung der Gegenſätze 
vortrug. 

Hätten wir damals ſchon jene „logiſchen Unterſuchungen“ 
eines neueren Forſchers gekannt, die der dialectiſchen Me— 
thode Hegels den Todesſtoß verſezt haben, ſie hätten uns 
vielleicht einen großen Dienſt erwieſen. Ich kann aber 
freilich nur ſagen, vielleicht. Denn es lebte und wirkte ja 
damals in Tübingen ſelbſt ein Vertreter der alten und 
guten Logik, der das Blendwerk der neuen Dialectik, das 
Spiel mit dem Sein, Nichts und Werden, klar durchſchaute 
und darlegte, der aber den jungen Adepten der neuen Weis— 
heit einer veralteten Schule anzugehören ſchien, zumal da 
er ſeine ſcharf gedachten Sätze in ſchmuckloſer, von Schema— 
tismus nicht ganz freien Weiſe vorzutragen pflegte. 

Außer einem kleinen Häuflein von dem alten Stamm 
der Schule befaßt ſich heute Niemand mehr mit dieſer dia— 
lectiſchen Methode; ſie gilt als eine Verirrung, als ein mit 
allzugroßer Zuverſicht-und Kühnheit unternommenes Atten— 
tat gegen die alte, weltgiltige, ewige Logik. Niemand glaubt 
mehr, daß der menſchliche Intelleet in zwei Vermögen, 


51 


Verſtand und Vernunft, zerfalle, von denen das eine für 
wahr halten kann und muß, was dem andern als falſch 
erſcheint. Seit Jahrtauſenden hatte die Menſchheit nach 
dem erſten aller Geſeze gedacht, daß Widerſprechendes nicht 
ſein und nicht gedacht werden könne, daß niemals ein Ur— 
theil und das ihm entgegengeſezte zugleich wahr ſeien. Sie 
wird auch nach und troz Hegel darnach die weiteren Jahr— 
tauſende fort denken, die ihr noch beſchieden ſein mögen. 
Was Hegel gegen die Sätze des Widerſpruchs und des 
ausgeſchloſſenen Dritten vorbringt, ſind Mißverſtändniſſe 
oder bereits Verlezungen derſelben. Faſt auf jeder Seite 
der Hegel'ſchen Schriften iſt zu leſen, daß A auch non A 
ſei. Faſt auf jeder Seite werden verwandte, aber ſcharf 
zu ſcheidende Begriffe, wie Gleichheit, Einheit, Identität 
auf der einen, Ungleichheit, Gegenſaz, Gegentheil, Wider— 
ſpruch auf der andern Seite unter ſich verwechſelt und ver— 
ſchoben. Niemand wird ferner daran glauben, daß die 
Begriffe ſelbſt in ihm denken, daß es überhaupt ein Denken 
oder ein Gedachtes geben könne, ohne ein Etwas, was denkt. 

Wenn wir es uns begreiflich machen wollen, wie ein 
ſo großer Denker dazu kam, an einer ſo eigenthümlichen 
Verirrung ſein Leben lang feſtzuhalten, ſo müſſen wir uns 
in die geiſtige Atmoſphäre jener claſſiſchen Periode zurück— 
verſetzen. Unſere großen Philoſophen von Kant an glänzen 
wohl überhaupt mehr durch die Tiefe, den Scharfſinn, die 
Kühnheit, als durch die Klarheit und Präciſion ihres Den— 
kens. Sie griffen gleich nach den höchſten Problemen, ſie 
tauchten in die unterſten Tiefen der Metaphyſik; den Unter— 

4 * 


ſchied von Verſtand und Vernunft ſteigerte man allgemein 
in einer Weiſe, die wir nicht mehr verſtehen. Auch Kant 
hatte in den Antinomieen widerſprechende Sätze als gleich 
wahr nachzuweiſen geſucht. Der verführeriſche Reiz der 
myſtiſchen Dreizahl, des Spiels mit Eins und Drei und 
Drei und Eins macht ſich vielfach geltend. Auch Kant 
liebte die dreigliedrige Eintheilung. Fichte hat auf Theſis, 
Antitheſis und Syntheſis ſein ganzes Syſtem aufgebaut. 
Die Philoſophen waren faſt alle ehemalige Theologen; die 
eracten Wiſſenſchaften und ihre Methoden ſtanden weit nicht 
ſo hoch wie jezt. Dazu war man ohne viel Bedenken ſtets 
bereit, die Merkmale des Seins auch auf das Denken zu 
übertragen, ſogar von einer Einheit des Seins und Denkens 
zu reden. In der realen Welt, der phyſiſchen und ſo— 
cialen, iſt es ja ſo, daß Alles fließt, daß Extreme in ein— 
ander übergehen, daß polare Kräfte ſich bekämpfen und aus 
ihrem Streit ein neues Drittes hervorgeht. Dem Welt— 
gang ſelbſt läßt ſich in der That ein Analogon jener dia— 
lectiſchen Methode beilegen. Beim Uebertragen auf den 
Denkproceß konnte man dann leichter überſehen, daß Ge— 
danken fixirte Bilder ſind, und daß, wenn man dem Denken, 
den Begriffen, die Flüſſigkeit der realen Dinge beilegt, 
man denſelben Fehler begeht, wie wenn man ſagt, daß die 
gemalte Roſe mit der wirklichen verwelke, das Porträt mit 
dem Original alt werde und ſterbe. 

Hegel hatte geglaubt, mit ſeiner dialectiſchen Methode 
dem menſchlichen Denken einen feſten Gang von innerer 
Nothwendigkeit zu leihen und hat ſich darin gewaltig ge— 


täuſcht. Sie erwies ſich vielmehr als ein Hauptſchlüſſel, 
ein Paſſepartout, der ſich beliebig nach jeder Richtung ver— 
wenden ließ. Der eine ſeiner Schüler hatte vermittelſt 
derſelben die lutheriſche Dogmatik ſtreng nach dem Richt— 
ſcheit der ſymboliſchen Bücher conſtruirt; andere warfen 
damit das Chriſtenthum und alle Religion über Bord. Hegel 
hatte in politiſchen Dingen eine ſtreng conſervative Rich— 
tung eingehalten, manche ſeiner Schüler huldigten den de— 
ſtructivſten Anſichten. Es ging zulezt Alles aus den Fugen 
und keine Schule hat ſich in ſo radicale Gegenſätze geſpalten. 

Auch für die Streitfrage über Hegel's Stil und Dar— 
ſtellung bildet dieſe Methode das entſcheidende Moment. 
Niemand wird läugnen können, daß ſich in Hegel's Schriften 
Stellen von großer Sprachgewalt finden, weittragende Ge— 
danken in ſchlichtem monumentalem Ausdruck, die über— 
raſchendſten und geiſtvollſten Vergleichungen. Aber man 
wird ſolche Stellen doch faſt nur da finden, wo ſein Geiſt 
ſich frei und ausgeſpannt von dem Joch der Methode be— 
wegen kann, in den Vorreden, den Zuſätzen und Excurſen 
ſeiner Paragraphen. Wo das monotone Einerlei des drei— 
taktigen Stechſchrittes beginnt, wird es dem Leſer ſelten ſo 
wohl und wir vermiſſen oft ſchmerzlich genug jenes Luſtge— 
fühl, mit dem wir einer klaren, beflügelten, überwältigenden 
Gedankenentwicklung zu folgen pflegen. 

Und ſo iſt es auch zu wenig geſagt, wenn man die 
dialectiſche Methode nur die Achillesferſe des Syſtems ge— 
nannt hat. Dieß Bild ſezt einen ſonſt makelloſen und un— 
verwundbaren Körper voraus, der nur eine einzige ſchwache 


Stelle hat. Die Hegel'ſche Methode gleicht aber mehr einem 
ſchädlichen Stoff oder Ausſaz, der den ganzen Körper bis 
in die innerſten Poren durchzieht und durchdringt, und 
allen Theilen ein krankes Element beimiſcht. Die Nach— 
welt wird Hegel's Schriften um dieſer Methode willen un— 
lesbar finden. 

Dieß führt zu der lezten Frage: was bleibt überhaupt 
demjenigen aus dem Studium der Hegel'ſchen Werke als 
feſte Errungenſchaft übrig, der in jener dialectiſchen Me— 
thode ein Blendwerk, ja eine Verlezung der unvergänglichen 
logiſchen Grundgeſeze erkannt zu haben glaubt, der dem 
ganzen Syſtem jede Beweiskraft abſprechen muß? Erlauben 
Sie mir, darüber ein individuelles Votum noch in der 
Kürze auszuſprechen. Man kann die Aufgabe des menſch— 
lichen Denkens nicht großartiger und univerſaler auffaſſen, 
als es Hegel gethan. Denn ein höheres Ziel können wir 
uns nicht vorſtellen, als im Weltall die gegliederte Offen— 
barung der ewigen Vernunft, des Einen und höchſten Geiſtes 
darzulegen, wenn wir auch nie den Zweifel bewältigen 
werden, daß ſich Wirklichkeit niemals aus rein intellectuellen 
Vorgängen erklären laſſe; und wenn irgendwo möchte hier 
der Spruch gelten: in magnis voluisse sat est. Der 
Stufengang dieſer Offenbarungen durch die verſchiedenen 
Gebiete und Ordnungen des unbewußten und bewußten 
Lebens iſt von keinem Denker beſſer und eingehender nach— 
gewieſen worden. Der Gedanke, daß nichts ſtarr und feſt, 
ſondern Alles in ſtetem Fluß und Werden begriffen iſt, war 
nicht neu, aber die Idee der Entwicklung wurde von keinem 


der früheren Philoſophen tiefer und fruchtbarer erfaßt. 
Ebenſo hat Hegel in einer Reihe einzelner Zweige der 
Philoſophie ſchöpferiſch und bahnbrechend gewirkt. Seine 
Leiſtungen ſind hier allerdings von ſehr ungleichem Werth. 
Seine Logik wird nur als ein intereſſanter aber mißlungener 
Verſuch gelten, die alten Denkgeſeze umzugeſtalten, die all— 
gemeinen Begriffe und Denkformen, welche ſich uns theils 
aus der Natur unſerer eigenen Denkorgane, theils aus dem 
Stoff der Wahrnehmungen ergeben, ſo an einander aufzu— 
reihen, daß von dem einfachſten zum reichſten Begriffe fort— 
gegangen und jede neue Stufe rein aus den vorangegange— 
nen abgeleitet wird. Hegel's Naturphiloſophie ſteht den 
heutigen Methoden der Naturforſchung am fremdeſten gegen— 
über; ſie zeigte, wie gefährlich alles Conſtruiren realer Er— 
ſcheinungen aus allgemeinen Begriffen iſt; denn Hegel hat 
die falſchen und die richtigen Anſichten ſeiner Zeit in gleicher 
Weiſe als Dentnothwendigkeiten deducirt. Gleichwohl hat 
der Grundgedanke, die Natur als erſtarrten, nach dem Licht 
des Bewußtſeins emporringenden Geiſt zu betrachten, eine 
tiefere Berechtigung, die durch die Unvollkommenheiten der 
einzelnen Deutungen nicht in Frage geſtellt wird. Die 
Pſychologie iſt das Feld, in welchem Hegel's Leiſtungen 
am wenigſten original und ſchöpferiſch ſind. Sein Geiſt 
bewegte ſich zu ausſchließlich in den ätheriſchen Schichten 
der allgemeinen Begriffe, als daß er für die verſchlungenen 
Windungen und Regungen der individuellen Seele das 
rechte Intereſſe und Verſtändniß hätte finden können. Er 
ſah hier nur die Sphäre des Zufälligen und warnt davor, 


die Eigenthümlichteiten des Menſchen zu hoch anzuſchlagen. 
Es bleiben drei Gebiete übrig, in welchen Hegel's Leiſtungen 
Epoche machend und von unvergänglicher Geltung ſind, die 
Aeſthetik, die Rechtsphiloſophie, die Philoſophie der Geſchichte. 

Seine Aeſthetik iſt ein bahnbrechendes Werk, das zum 
erſtenmal den ganzen Stoff geſtaltend und ordnend bewältigt 
hat. Die dialectiſche Methode war hier bei rein intellec— 
tuellen Vorgängen, „in den heitern Regionen, wo die reinen 
Formen wohnen,“ fruchtbarer und berechtigter als anderswo. 
Man wird heutzutag kaum irgend ein äſthetiſches Buch oder 
Urtheil finden, in welchem nicht Hegel'ſche Gedanken offen 
oder verſteckt eine Hauptrolle ſpielten. Dieß Verdienſt wird 
dadurch nicht geſchädigt, daß die Gegenwart das Bedürfniß 
hat, die äſthetiſchen Begriffe nicht mehr aus den fernen 
Wolken der Idee herunterzuholen, ſondern von unten, auf 
der Grundlage phyſiologiſcher und pſychologiſcher Thatſachen 
aufzubauen. 

Hegel's Rechtsphiloſophie iſt in formeller Beziehung 
nach Gliederung und Anordnung des Stoffs das ſchwächſte 
unter ſeinen Werken, aber zugleich das reichſte an neuen 
und fruchtbaren Gedanken. Man hatte das Gute bis dahin 
nur entweder aus dem Gewiſſen der Einzelnen oder aus 
einem nicht weiter erklärlichen göttlichen Gebote, den Staat 
ebenſo nur entweder durch ein Zuſammentreten vieler Einzel— 
willen oder durch beſondere göttliche Anordnung zu erklären 
gewußt. Hegel ſtellte den neuen Begriff des objectiven 
Geiſtes, der ſubſtantiellen Sittlichkeit auf. Das Gute iſt 
ihm nicht ein bloßes Ideal, das nie und nirgends zu er— 


en 
2 


faſſen iſt, ſondern es iſt da, es iſt realiſirt in den ſocialen 
Mächten und Ordnungen, die, nicht von menſchlicher Will— 
kühr abhängig, auf ſich ſelbſt ruhen und als die höheren 
Offenbarungsſtufen des Weltgeiſtes über der niedrigeren 
Sphäre des ſubjectiven Geiſtes aufgelagert ſind. Familie, 
Geſellſchaft und Staat ſind die realiſirte Sittlichkeit; der 
Staatsidee ſelbſt insbeſondere hat Hegel die verlorene und 
vergeſſene Hoheit und Majeſtät wieder zurückgegeben; er 
unterwirft nicht den Staat dem Menſchen, ſondern den 
Menſchen dem Staat. Der Staat iſt nicht, wie nach mo— 
dernen Theorieen, einem in periodiſchen Abſtimmungen be— 
ſtehenden allgemeinen Volks- oder Mehrheitswillen unter 
die Füße geworfen, ſondern ruht auf ſeiner eigenen Au— 
torität, die ihm Niemand leihen oder nehmen kann. Die 
Freiheit iſt nicht Willkühr und Belieben des Einzelnen, 
ſondern die Verwirklichung der ſittlichen ſocialen Ordnung. 
Auch wem dieſe Anſchauungen Hegel's ganz aus dem Herzen 
genommen ſind, der wird doch immer noch etwas Weſent— 
liches darin vermiſſen. Die ſocialen Ordnungen ſind bei 
Hegel über der Sphäre des individuellen Lebens wie ein 
höheres Stockwerk ausgebreitet, ungefähr wie die Thierwelt 
über der Pflanze, das Menſchliche über dem Thieriſchen. 
Unſer moderner Naturalismus verlangt wenigſtens, daß 
ihm die Treppen aufgezeigt werden, die von einem Stock— 
werk zum andern führen. Jener objective Geiſt, jene ſitt— 
lichen Subſtanzen ſind uns nur verſtändlich als die Maſſen— 
wirkungen der ſocialen und metaphyſiſchen Triebe, welche 


neben den animaliſchen und egoiſtiſchen zur natürlichen Aus— 
ſtattung der individuellen Seele gehören. 

Noch größer vielleicht iſt das Verdienſt Hegel's um ein 
philoſophiſches Verſtändniß der Geſchichte. Seine ganze 
Methode, die Grundanſchauung, überall Entwicklung, Pro— 
ceß, Fortſchritt zu ſehen, hatte hier ihre eigentliche Hei— 
math und Berechtigung. Die Aufgabe, in dem Gang 
der Univerſalgeſchichte feſten Plan und Sinn zu finden, 
war zuvor nur als ein Poſtulat behandelt oder in allge— 
meinen Phraſen abgefertigt worden. Hegel's Philoſophie 
der Geſchichte, eine kleine, nur ſkizzenhafte Arbeit und in 
der Deutung des Einzelnen vielfach nicht genügend, iſt doch 
der erſte bedeutende Verſuch, auch dieß unabſehbare, un— 
faßbare Gebiet dem menſchlichen Erkennen zu erobern. Der 
Grundgedanke, in der Völkergeſchichte eine Reihe von Welt— 
anſchauungen von ſteigender Vertiefung, von ſtetem Fort— 
ſchritt im Sinn der Freiheit, der Herrſchaft des Geiſtes 
über das Natürliche, ſodann die führenden Volksgeiſter als 
die Träger und Darſteller dieſer Weltanſchauungen zu be— 
trachten, iſt bewußt und unbewußt in die ganze ſeitherige 
Geſchichtsbehandlung übergegangen. Der größte Hiſtoriker 
unſers Volks und Zeitalters mag zwar mit Recht ſpotten 
über alle philoſophiſchen Conſtructionen von Thatſachen, doch 
beſteht ſeine eigene größte Leiſtung eben darin, dem Welt— 
gang ſeine dialectiſche Methode abzulauſchen und uns in 
künſtleriſcher Darſtellung vorzuführen. 

Der Sinn für politiſche und hiſtoriſche Erſcheinungen 
war überhaupt nächſt der immenſen Befähigung zu abſtrac— 


tem Denken das ſtärkſte Element in Hegel's geiftiger Aus— 
ſtattung. Er ſteht hierin über allen neueren Philoſophen. 
Vor Fichte's überfliegendem Idealismus hat er den Um— 
fang und die Gründlichkeit empiriſchen Wiſſens voraus. 
Es kam ihm darin vielleicht auch die praktiſche Schule zu 
Statten, die dem Altwürtemberger unſere damals ſehr be— 
wegten Verfaſſungskämpfe boten. Am Anfang dieſes Jahr— 
hunderts hat Hegel den Entwurf einer deutſchen Reichs— 
verfaſſung ausgearbeitet, in welchem die militäriſch-diplo— 
matiſche Einheit und die Gemeinſamkeit des Rechts- und 
Verkehrslebens für die unerläßlichen Hauptpunkte erklärt 
werden, freilich mit dem Zuſaz, daß etwas derartiges in 
Deutſchland mit friedlichen Mitteln niemals zu erreichen 
ſein werde. Dem preußiſchen Staat, in deſſen jähem Sturz 
durch die Jenaer Schlacht er eine gerechte Strafe politischer 
Unfähigkeit erkannte, wendete er ſich nach ſeiner Wieder— 
geburt mit voller Wärme und einſichtsvoller Würdigung zu; 
er ſah in ihm die Keime und Elemente des Staats, welcher 
der Idee entſpräche. Ja ich ſage nicht zu viel, wenn ich 
in den großen Ereigniſſen unſerer Tage auch einen Triumph, 
eine Bewährung Hegel'ſcher Staatsweisheit ſehe. Das 
Volk, dem die Hoheit und Autorität der Staatsidee ganz 
abhanden gekommen, das ſeit zwei Generationen den Staat 
zum Spielball der Parteien und Leidenſchaften machte, das 
mal ſeine Staatsform erneuert hat, und nie anders als 
durch Gewalt und Meineid von oben oder unten, das in 
den wechſelnden Stimmungen haltloſer Maſſen noch die 
einzige Quelle aller öffentlichen Ordnung ſieht, warf in 


frevelhaftem Uebermuth dem Staate den Handſchuh hin, 
der vor Allem auf das Pflichtgefühl und die Hingabe Aller 
an das Gemeinweſen aufgebaut iſt, der allein ſich das koſt— 
bare Gut eines ächten, nicht ungebundenen aber ſelbſtän— 
digen Königthums zu bewahren wußte, deſſen größter König 
ſich nur des Staates erſten Diener nannte, deſſen Fürſten— 
haus, wie kein anderes, von dem Bewußtſein eines Berufes, 
einer geſchichtlichen Miſſion durchdrungen blieb. Der Kampf 
bot der erſtaunten Welt das Schauſpiel, wie wenn der ei— 
ſerne Topf mit dem thönernen zuſammenſtößt; das eine 
Volk liegt in Scherben zerſchmettert am Boden, mit Einem 
Schlage des höchſten ſocialen Gutes, des Staates ſelbſt ver— 
luſtig, das Chaos, den Abgrund der Anarchie vor Augen; 
das andere ſteht aufrecht, mit Siegeskränzen ohne gleichen 
überdeckt, eine glänzende Epoche ſeiner Geſchichte abſchließend, 
eine noch glänzendere eröffnend. 

Noch in anderer Weiſe iſt gerade jezt die Erinnerung 
an Hegel eine beziehungsreiche. Er iſt ein Vermittler zwi— 
ſchen Nord und Süd unſeres Vaterlandes. Bei uns ge— 
boren und gebildet, hat er dort gelehrt und gewirkt. Dem 
Norden hat er die neue Lehre von der ſelbſtändigen Hoheit 
der Staatsidee verkündigt; Tauſenden, die im öffentlichen 
Dienſt des preußiſchen Staates ſtanden oder noch ſtehen, 
hat er die ſelbſtloſe Hingabe an die Allgemeinheit, an die 
ſittlichen Subſtanzen, und den Maßſtab der höchſten Ge— 
ſichtspunkte für alles Wirken im Staat gelehrt. Ein ſchwä— 
biſcher Denker hat früh und zuerſt in dem preußiſchen Staat 
die Anlage zu einem höheren weltgeſchichtlichen Beruf ge— 


61 


ahnt, hat über ihn gleichſam die Weihe und den Segen 
des deutſchen Gedankens ausgeſprochen. Es handelt ſich 
heute um neue und dauernde Bande zwiſchen Süd und 
Nord. Wozu unſer großer Landsmann uns rathen würde, 
womit wir ſein 100jähriges Gedächtniß am würdigſten feiern 
und ehren könnten — ich brauche es nicht auszuſprechen. 


Ueber das Redtsgefühl. 


6. Nov. 1871. 


Wenn uns Jemand auf die Frage: was iſt das Recht? 
die Antwort giebt: was im Staat geſezliche Geltung hat, 
jus est quod jussum est, ſo mag dieſe Auskunft immerhin 
für den Hausbrauch zureichen und der praktiſche Juriſt, 
wofern er überhaupt ein Bedürfniß nach einer ſolchen all— 
gemeinen Begriffserklärung empfindet, wird vielleicht mit 
dieſer ſein Lebenlang auskommen können. Gleichwohl zeigt 
ſchon ein kurzes Nachdenken, daß jene Definition an dem 
ſchlimmſten Fehler leidet, ſich im Kreis zu drehen, und uns 
kaum etwas Weiteres ſagt, als wenn ſie einfach hieße: 
Das Recht iſt das Recht. Denn die Geſeze fallen ja nicht 
vom Himmel herab, ſondern die Menſchen müſſen ſie machen, 
und, damit die Geſeze das Recht enthalten können, es vor— 
her in ſie hineinlegen, alſo ſonſt woher nehmen. Da wir 
uns auch niemals bedenken, manche Geſeze als ſchlechte und 
ungerechte zu bezeichnen, ſo müſſen wir offenbar in uns 
ſelbſt einen Maßſtab haben, um das Recht von dem, was 
nicht Recht iſt, zu unterſcheiden. Und wenn wir weiter 
nach dieſem Maßſtab fragen, ſo ſpricht man uns von einem 
ungeſchriebenen Natur- oder Vernunftrecht, das wir in uns 


63 


tragen, von einer Rechtsidee, einem Rechtsſinn, Rechtstrieb, 
Rechtsbewußtſein, Rechtsgefühl. Und von einer ſolchen in 
dem Innern des Menſchen enthaltenen Wurzel oder Quelle 
des Rechts ſprechen nicht nur die Laien und die Philoſophen, 
ſondern auch die Juriſten ſelbſt können ſich dieſer Hypotheſe 
nicht entſchlagen. 

Einer der größten Meiſter des Fachs, der Stifter der 
hiſtoriſchen Rechtsſchule, führt alles Recht in lezter Inſtanz 
auf das in einem Volk lebende gleiche Gefühl einer inneren 
Nothwendigkeit zurück, das ſich nicht weiter erklären laſſe; 
und es zeigt ſich damit, daß dieſelbe Wiſſenſchaft, die ſich 
ihrer logiſchen Stärke, ihrer klaren und präciſen Begriffe 
mit beſonderem, nicht unberechtigtem Stolze zu rühmen 
pflegt, ihre letzte Stütze und Beglaubigung aus dem nebel— 
hafteſten Elemente unſeres Seelenlebens, aus einem Gefühle, 
welches ſich einer weiteren Erklärung entziehe, ableiten ſoll. 

Um alſo zu erfahren, was das Recht ſei, werden wir 
von den Juriſten weiter gewieſen an die Pſychologen, um 
dieſen die Fragen vorzulegen: was iſt und wo ſteckt jenes 
eigenthümliche Etwas in uns, aus dem wir das Recht 
ſchöpfen und bemeſſen? iſt es ein Gefühl oder ein Gedanke, 
ein Sinn oder ein Trieb, ein Einfaches oder ein Zuſam— 
mengeſeztes? was ſagt es aus und wieweit reicht ſeine 
Wirkung und Bedeutung für Leben und Wiſſenſchaft? Allein 
wenn wir nun die pſychologiſchen Lehrbücher nachſchlagen, 
ſo werden wir in den meiſten gar keine, in den andern 
theils unzulängliche, theils unter ſich verſchiedene Antworten 
auf jene Fragen finden; insbeſondere werden wir uns bald 


64 


in die Lehre von den Erkenntnißkräften, bald in die vom 
Willen, bald in die von den Gefühlen verwieſen ſehen. 

Erlauben Sie mir, daß ich es in der Kürze verſuche, 
eine Antwort auf jene Frage zu geben, daß ich dabei 
fremde Anſichten unerwähnt laſſe, ſowohl die, denen ich 
beipflichte, als die, denen ich abgeneigt bin, und daß ich 
dabei einige allgemeine Sätze als Poſtulate oder Lehrſätze 
vorausſchicke. Denn es iſt unvermeidlich, etwas weiter aus— 
zuholen. Ich wüßte aus der ganzen Pſychologie keinen 
einzigen hieher bezüglichen Saz zu nennen, auf welchen man 
ſich als auf einen allgemein zugeſtandenen berufen dürfte. 

Spinoza ſagt einmal: der Menſch erſtrebt, will, ver— 
langt oder begehrt nichts deßwegen, weil er es für gut 
hält, ſondern umgekehrt, weil er es erſtrebt, will, verlangt 
oder begehrt, hält er es für gut. Ich möchte dieſem Saz 
eine weit größere Tragweite zuſchreiben, als die ſein Autor 
ſelbſt ihm gab, und ihn gerade heutzutage, wo es eine ſo 
vorherrſchende Uebung iſt, alle pſychiſchen Vorgänge von 
den Vorſtellungen aus zu conſtruiren und die Seele als 
einen paſſiven Tummelplaz innerer Bilder zu deuten, an 
die Spitze aller pſychologiſchen Lehrbücher ſchreiben. Alſo: 
der Menſch will nicht etwas, weil er es für gut hält, jon- 
dern weil er es will, nennt er es gut. 

Der Intellect, um dieſen neuerlichen und bequemen 
Ausdruck für das Ganze unſerer Erkenntnißkräfte zu ge— 
brauchen, iſt nicht das Primäre und Leitende in uns, ſon— 
dern er nimmt nur eine ſecundäre und dienende Stellung 
ein. Alle ſeine Thätigkeiten ſind nur formeller Art, und 


65 

beſtehen in einem fortwährenden Bilden und Umbilden, 
Verknüpfen und Unterſcheiden nach ſtets gleichen Formen 
und Geſezen. Seine Richtung, ſein Stoff wird ihm durch 
den Willen, oder wie ich lieber ſage, da es kein Wollen im 
Allgemeinen geben kann, durch die Triebe geſezt. Er iſt 
für ſich intereſſelos und keines urſprünglichen Werthurtheils 
fähig; und ſo wenig er uns von einem Wein oder einer 
Speiſe zu ſagen wüßte, ob ſie wohlſchmeckend ſind, wenn 
ſich nicht an die Reize unſerer Zungen- und Gaumennerven 
eine angenehme Empfindung anknüpfte, eben ſo wenig ver— 
möchte er uns anzugeben, was gut oder ſchön, ja ſelbſt 
nicht was wahr iſt, wenn ſeinen Gebilden nicht eine Scala 
von eigenthümlichen Gefühlen der Luſt oder Unluſt zur 
Seite gienge. Die Triebe, die als organiſche Reize oder 
nach Art derſelben wirken und durch einen ununterbrochenen 
Strom von Gefühlen ihrer Befriedigung oder Nichtbefrie— 
digung mit einem Centralpunkt unſeres pſychiſchen Lebens 
in Verbindung ſtehen, find die Directiven des Intellects und 
die Kräfte, die das ganze, bunte und verworrene Spiel 
unſerer inneren Vorgänge wie an unſichtbaren Fäden leiten 
und beherrſchen. 

Daß es ſich bei den Thieren ſo verhält, die Triebe 
das Leitende, die intellectuellen Kräfte das Dienende ſind, 
giebt Jedermann zu. Und auch für jene Millionen, die 
ſich nach des Dichters Wort nur beſchäftigen, daß die Gat— 
tung beſtehe, die ihr Lebenlang über die Motive von Hunger 
und Liebe, von Erwerb und Bequemlichkeit nicht hinaus— 
kommen, dürfte es nicht allzuſchwer ſein, dieß Zugeſtändniß 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. » 


66 


zu erlangen. Aber für die höheren Gebiete menschlicher 
Beſtrebungen, wie Religion und Moral, Kunſt und Wiſſen— 
ſchaft, iſt, obgleich es dem Sprachgebrauch ganz geläufig iſt, 
von ſittlichen Trieben, von einem Wiſſens- und Erkenntniß⸗ 
trieb, von einem religiöſen Trieb zu reden, doch die Neigung 
vorherrſchend, ſie aus intellectuellen Vorgängen oder, als 
ob damit etwas erklärt wäre, aus der Erfahrung und ge— 
ſchichtlichen Entwicklung abzuleiten, gleichſam wie wenn die 
Form eines Triebs für dieſe Dinge nur eine trübe und 
unwürdige Quelle wäre. Ich muß geſtehen, daß ich die 
Einſicht in das Weſen der Triebe, in den Primat des 
Willens als den eigentlichen Schlüſſel zum Verſtändniß der 
einzelnen Menſchenſeele wie der Geſchichte unſeres Geſchlechts 
betrachte, und daß mir jene höchſten Güter der Menſchheit 


wie in die Luft geſtellt und der beſtändigen Gefahr ihres 


Untergangs ausgeſezt erſcheinen würden, wenn ich ihre 
Wurzel nur in dem ſchwankenden Elemente wechſelnder Vor— 
ſtellungen und zerfahrener Meinungen, nicht in feſten An— 
ſätzen unſeres Willens, in unabweisbaren und unverlierbaren 


Forderungen unſeres Gemüthes ſuchen dürfte. Und wenn 


dem ſo wäre, wenn Triebreize von höherer Natur zur 
menſchlichen Mitgift gehörten, dann wären uns diejenigen, 
welche nur eine beliebige Anzahl von Jahrtauſenden zur 
Verfügung fordern, um die Menſchenſeele aus der des Affen 
und des Protamnion allmälig herauswachſen zu laſſen, 


vor Allem einen Beweis dafür ſchuldig, wie jemals durch 


den Kampf ums Daſein und das Mittel der Zuchtwahl der 
Trieb des Mitleids, das Gewiſſen, die Luſt am Schönen, 


— 


67 


der Drang nach Wahrheit, das Suchen der Gottheit habe ent— 
ſtehen können; ſie müßten uns begreiflich machen, wie über— 
haupt in ein Geſchöpf ganz neue Triebe, neue Quellen von Luſt— 
und Unluſtgefühlen hereinkommen können, ohne von Anfang 
an wenigſtens in ſtillem Keim darin verborgen zu liegen. 

Der Vorzug des Menſchen vor dem Thier beſteht für 
dieſe Auffaſſung weit weniger in einer ſchon urſprünglich 
höheren Intelligenz, als in dem reicheren, vielgeſtaltigeren 
Triebleben, deſſen mannigfache Combinationen und Conflicte 
dem Intellect zahlreichere und ſchwierigere Aufgaben ſtellen, 
ihn zu immer höheren Leiſtungen anſpornen und durch Feſt— 
halten und allmäliges Anſammeln ſeiner Errungenſchaften 
im Lauf der Jahrhunderte weit über ſeine erſte Stufe hin— 
ausheben. Denn der Intellect iſt das Element der Bildung 
und des Fortſchritts; während jede Generation wieder mit 
den gleichen Trieben geboren wird, verfeinern ſich nur die 
Befriedigungsmittel des Trieblebens, weil der Intellect mit 
jedem Geſchlecht an einer neuen und höheren Stufe einſezt 
und ſeine Arbeit beginnt. Im Menſchen ſind aber nicht 
nur die animaliſchen Triebreize der Selbſterhaltung und 
Selbſterweiterung, des Geſchlechts- und Gattungslebens, der 
geſelligen Gruppirung in reichſter Gliederung vereinigt, ſon— 
dern zu dieſem Complexe elementarer Grundkräfte geſellen 
ſich nun noch einige weitere Triebreize hinzu, die wir als 
dem Menſchen eigenthümliche die humanen zu nennen pflegen. 
Sie treten nicht wie jene animaliſchen Triebe als unge— 
ſtümme Forderungen unſerer Natur auf, die ſich bis zur 
brennenden Leidenſchaft ſteigern laſſen, ſondern als ſanftere 

5 


68 


und mildere Reize. Aber als Erſaz für ihr fchwächer: 
ſinnliche Triebgewalt haben ſie ein von ihrem Auftreten 
unzertrennliches begleitendes Gefühl, daß pie Luſtempfin 
dungen, die ſie bieten, von anderer, reinerer, höherer Ar: 
ſeien, und ſich den übrigen Luſtreizen als die vornehmeren, 
als die Werthgefühle gegenüberſtellen. Ich glaube, daß win 
drei ſolcher höheren Klaſſen von humanen Trieben unter— 
ſcheiden müſſen, die ſich über den animaliſchen Grundſtoch 
unſerer Kräfte noch wie höhere Stockwerke, die eine freiere 
Aus- und Rundſicht geſtatten, erheben. Die erſte davon 
iſt das Mitgefühl, die Theilnahme an fremdem Wohl und 
Wehe und das Bedürfniß dieſer Theilnahme von anderen, 
die Luſt zu lieben und geliebt zu ſein. Indem die Sprache 
dieſen Zug unſerer Seele den der Menſchlichkeit nennt und 
von dem Mitleidloſen jagt, er ſei kein Menſch und babe 
kein menſchliches Herz, ſpricht ſie es ſelber aus, daß an 
dieſem Punkte das Grenzmerkmal unſerer Gattung liegt. 
Den zweiten dieſer humanen Triebe möchte ich den intellec⸗ 
tuellen Functionstrieb oder auch den Erkenntnißtrieb, den 
Trieb der Beſchaulichkeit nennen. Beim Thier iſt der In— 
tellect nur der ſtumme Diener, deſſen Thätigkeit ganz in 
den Objecten der Begierden aufgeht; der Menſch aber be— 
trachtet die Dinge auch um der Luſt willen, die ihm das 
Betrachten ſelbſt gewährt, ohne alle weiteren ſachlichen 
Zwecke; an die Function, an das Spiel des Intellectes ſelbſt 
knüpfen ſich gewiſſe Reize, und zwar an den leichten, unge⸗ 
hemmten, normalen Gang ſeiner Bewegungen, an die Klar 


heit und Genauigkeit, an die Uebereinſtimmung und den 


69 


Einklang der Vorſtellungen Gefühle der Luſt, an die Stö— 


* 


rungen ſeines Verlaufs, an das Verworrene, Dunkle, Wider— 
ſprechende Gefühle der Unluſt. Das glänzendſte Erzeugniß 
dieſes intellectuellen Spieltriebs iſt die Sprache, die dem 
Thier nur darum fehlt, weil ſein Intellect in der Dienſt— 
barkeit aufgeht und die Betrachtung nicht um ihrer ſelbſt 
willen begehrt wird. Dieſe beiden zu den animaliſchen 
Luſtquellen hinzutretenden neuen Elemente würden, wenn 
ſie allein ſtünden, den Menſchen in einen unverſöhnlichen 
hoffnungsloſen Zwieſpalt mit ſich ſelber ſetzen; das Mitge— 
fühl und die Selbſtliebe würden immer Entgegengeſeztes 
begehren und der Intellect könnte ſeiner Dienſtbarkeit und 
jenem freien Spiel ſeiner Kräfte nie zugleich gerecht werden. 
Vor dieſer Gefahr eines unſeligen Dualismus bewahrt uns 
die dritte und lezte Klaſſe der humanen Triebe, die Krone 
und der Abſchluß unſerer natürlichen Ausſtattung. Sie 
gibt ſich kund in einem Verlangen nach Harmonie und Ein— 
klang unſeres Lebens, nach Uebereinſtimmung und Ordnung 
in dem bunten Chaos unſerer inneren Vorgänge, in dem 
wechſelnden Spiel von widerſtrebenden Motiven. In der 
Idee der Ordnung, der Harmonie treffen Wille und In— 
telleet von verſchiedenen Wegen aus wie in ihrem gemein— 
ſamen Ziel und Brennpunkt zuſammen. Denn wie ſchon 
bei dem rein theoretiſchen Spiel unſerer intellectuellen Kräfte 
die höchſten Luſtgefühle ſich daran knüpfen, wenn das Viele 
und Mannigfaltige, das iſolirt Auseinanderliegende durch 
Gliederung, zugleich geſondert und verknüpft, ſich zu einem 
Ganzen verbindet und in eine einheitliche Spitze ausläuft, 


ebenſo ergreift das Centrum unſers Seelenlebens, auf wel— 
ches die Mannigfaltigkeit und der Gegenſaz der Impulſe 
ſtörend und ſchmerzlich wirkt, die Idee des Einklangs und 
inneren Friedens als das höchſte und lezte Mittel, ſeinen 
heißen Drang nach Glückſeligkeit zu ſtillen und einen Schluß— 
punkt aller Lebenszwecke zu finden. Ich möchte dieſe lezte 
Forderung unſeres Willens den Ordnungstrieb, den Trieb 
der Lebensharmonie nennen oder auch die Bezeichnung als 
Vernunfttrieb zulaſſen. Denn indem der Intellect dieſe 
lezte und höchſte ſeiner Functionen übt, bei welcher ſeine 
Dienſtbarkeit zur Freiheit wird, legt er auch den niedrigeren 
Namen des Verſtandes ab und nimmt, obgleich die Form 
ſeiner Thätigkeit ſich nicht verändert, den höheren Namen 
der Vernunft an. 

Dieſer Ordnungstrieb gliedert ſich nun aber wieder in 
verſchiedene Triebformen, je nachdem er auf die Sphäre 
des Willens oder des Intelleets oder auf den Einigungs— 
punkt beider, auf das Centrum der Seele gerichtet iſt. Als 
contemplativer Ordnungstrieb ſucht er die Einheit und Har— 
monie für die Weltbetrachtung; er erzeugt die Idee des 
Schönen und des Wahren, die Kunſt und Wiſſenſchaft. 
Als praktiſcher, auf den Willen bezogener Trieb ſucht er 
die Einheit und Harmonie für die Bethätigung des Trieb— 
lebens; er erzeugt die Idee des Guten mit der Unterſchei— 
dung einer jubjectiven und einer ſocialen Form, die Sitt— 
lichkeit und das Recht. Seine lezte Geſtalt erreicht dieſer 
Ordnungstrieb, wenn er Intelleet und Wille, das Ich und 
die Welt zuſammenfaſſend, unſer ganzes individuelles Daſein 


71 
in eine lebendige Harmonie und Einheit mit dem Höchſten 
und Beſten, was wir noch zu denken und zu ahnen ver— 
mögen, zu ſezen ſucht; er erzeugt die Idee Gottes und die 
Formen des religiöſen Lebens. 

Ich habe von einem ſittlichen Ordnungstrieb geſprochen 
und bin damit nach langem, wie ich hoffe, nicht vergeblichem 
Umweg an die Stelle gekommen, die wieder zu unſerem 
Thema führt. Es iſt ein Treibendes, eine Kraft in uns, 
die gegenüber von dem bunten und wilden Spiel mannig— 
faltiger und widerſtrebender Begierden in uns und um uns 
etwas Feſtes und Ordnendes fordert, die neben den vielen 
Dingen, die wir Güter nennen, weil ſie einem unſrer Trieb— 
reize entſprechen, Ein Gutes, das Gute ergreift und allen 
übrigen Motiven als das allein Berechtigte mit dem Gefühl 
eines unbedingten Sollens entgegenſtellt. Was dieß Gute 
ſei, darüber gehen zwar Völker und Zeitalter weit ausein— 
ander; aber überall iſt es eine Ordnung und feſte Norm; 
überall enthält es eine Werthunterſcheidung unſerer Triebe, 
bei welcher die humanen Triebe höher geſchäzt werden, als 
die animaliſchen, die ſocialen höher als die egoiſtiſchen. 
Im Eſſen und Trinken, in der Feigheit, dem Wankelmuth, 
der Lüge, in der Unempfindlichkeit für Ehre iſt es niemals 
gefunden worden. 

Dieſer ſittliche Ordnungstrieb iſt nun auch wieder in 
zwei getrennte Formen gegliedert. Die eine derſelben be— 
zeichnen wir mit dem Namen des Gewiſſens. Es fordert 
den Einklang und die Harmonie unſeres inneren indivi— 
duellen Wollens; es ſtellt jene Idee des Guten, wie es 


72 
dieſe ſelbſt gebildet oder durch Autorität und Ueberlieferung 
empfangen hat, allen andern Motiven als das zur Herr— 
ſchaft Beſtimmte, als das Geſollte gegenüber, und hält 
daran auch unterliegend feſt. Neben dieſer bekannten und 
unbeſtrittenen Erſcheinung ſteht noch eine zweite Geſtalt 
jenes ſittlichen Ordnungstriebs, in welcher ſich dieſer, mit 
unſeren ſocialen Trieben verſchmolzen, nach Außen kehrt 
und die Idee des Guten als die beherrſchende Macht des 
geſellſchaftlichen Lebens vertritt. In ihren einfachſten und 
elementarſten Aeußerungen erkennen wir dieſe Triebform, 
wenn wir den Schwächeren mißhandelt ſehen von dem 
Stärkeren, wenn Rache genommen wird an dem Schuld— 
loſen, wenn eine Macht nach Laune und Willkühr ausgeübt 
wird. Das Gefühl, das uns bei ſolchem Anblick ergreift, 
iſt von der paſſiven Form des Mitleids deutlich unterſchieden; 
es äußert ſich als Entrüſtung und Empörung des Gemüths 
und iſt von dem unmittelbaren Drang nach einer einſchrei— 
tenden Handlung begleitet. Wir gewinnen dieß Gefühl 
nicht erſt aus der Erfahrung, bei reiferer Ausbildung unſerer 
Verſtandeskräfte, ſondern es tritt mit friſcher und voller 
Energie ſchon in den erſten Lebensjahren auf, wenn der 
Vater die Kinder, der Lehrer die Schüler ungleich behandelt, 
den leichten Fehler ſchwer, den ſchweren leicht oder gar 
nicht rügt und den gleichen Fall heute ſo und morgen 
anders entſcheidet. Wiewohl dieſer Zug unſers Seelen— 
lebens alle Merkmale eines Triebs, eines conſtanten Willens— 
anſazes, einer drängenden inneren Kraft hat, ſo iſt es doch 
üblich, ihn, da er ſich als eine eigenthümliche Form von 


Luſt und Unluſtgefühlen äußert, ein Gefühl und zwar nach 
dem Object, das er ins Leben ruft, das Rechts gefühl 
zu nennen. 

Gewiſſen und Rechtsgefühl ſind die zwei einander 
coordinirten, verſchwiſterten Geſtalten, in welche ſich der 
ſittliche Ordnungstrieb ausprägt. Beide äußern ſich wie 
alle Triebe als ein dunkler unbeſtimmter Drang nach einer 
eigenthümlichen Art von Luſt und Werthgefühlen, ſie wirken 
als Druck auf den Intellect, dazu führende Vorſtellungen zu 
erzeugen und leiten ihn hiebei durch die ſein Thun, ſeine 
Annäherung oder Entfernung von ſeinem Ziel begleitenden 
Nuancen von Luſt und Unluſtgefühlen. Gewiſſen und 
Rechtsgefühl haben die Idee des Guten zu ihrem gemein— 
ſamen Inhalt und Ziel; ſie faſſen es als ordnende Norm 
des Willens und wollen es zur Macht und Herrſchaft bringen; 
ſie ſind Forderungen an das Gemüth, das Gute zu ver— 
wirklichen. Aber von dieſer gemeinſamen ethiſchen Wurzel 
aus treiben ſie verſchiedene, deutlich geſonderte Zweige. 
Das Gewiſſen kehrt ſeine Forderung nur nach Innen; es 
wirkt auf das Gemüth der einzelnen individuellen Seele; 
das Rechtsgefühl wendet ſich nach Außen; es will eine ſitt— 
liche Ordnung verwirklicht ſehen, nicht als ein ohnmächtiges 
inneres Wollen von zweifelhaftem Erfolg, ſondern als eine 
herrſchende, die Willkühr des Einzelnen überwältigende 
Macht, als eine ſichtbare reale Erſcheinung. Während das 
Gewiſſen nur die inneren Regungen und Vorgänge des Ge— 
müths richtet und ordnet, ſieht das Rechtsgefühl nur auf 
die That, die auf Andere Bezug hat und beachtet die Ge— 


ſinnung nur, ſoweit ſie zum Verſtändniß der gegebenen äußern 
That dient. Während das Gewiſſen den einzelnen Fall 
für ſich in ſeiner concreten Beſonderheit prüft und ordnet, 
ſieht das Rechtsgefühl in der einzelnen That nur die Gat— 
tung; es muß jeden Fall als einen allgemeinen denken und 
fordert Normen von genereller Geltung. Und zwar liegt 
in dieſem characteriſtiſchen Zug des Rechtsgefühls nach All— 
gemeinheit ſowohl ein ethiſches als ein logiſches Moment. 
Wie würde Dir der Fall erſcheinen, wenn Du an der Stelle 
des andern wärſt und wie wäre es, wenn Alle ſo handeln 
wollten; das ſind die ſpecifiſchen und erſten Fragen, die 
das Rechtsgefühl ſtellt. Jener erſte unter den humanen 
Trieben, das Mitgefühl, welches uns fremdes Wohl und 
fremden Schmerz ſympathiſch mitempfinden heißt, verdichtet 
und verklärt ſich im Rechtsgefühl zu einem allgemeinen 
Princip, zu dem Saz von der Gleichwerthigkeit aller In— 
dividuen; wenn der Fall der gleiche iſt, ſo iſt zwiſchen 
dem A und B, zwiſchen mir und dem andern kein Unter— 
ſchied. Gleiche Fälle trifft die gleiche Regel. Dieß iſt das 
eigentliche Grundaxiom des Rechtsgefühls und der erſte 
fundamentalſte aller Rechtsſäze. Er enthält ſowohl die 
logiſche Allgemeinheit als die ethiſche Gleichheit vor dem 
Geſez; er entſpricht gleichmäßig der Forderung des Mit— 
gefühls und des Denkgeſezes. Hierin liegt nun aber auch, 
daß das Rechtsgefühl nicht, wie das Gewiſſen, auf die 
Verwirklichung der Idee des Guten in ihrem ganzen Um— 
fang gerichtet iſt, daß es die höchſten Ziele der Ethik zur 
Seite läßt und nur diejenigen Theile des Guten ergreift, 


die ſich in allgemeine, für Gleiches gleiche, auf äußere Hand— 
lung bezügliche und erzwingbare Normen faſſen laſſen; es 
ſtrebt nicht nach dem idealen Ziel voller Verwirklichung 
der individuellen und geſelligen Lebenszwecke, ſondern es 
will nur die Grundlagen, den Unterbau ſchaffen und ſichern, 
auf dem dieſe zarteren und beweglicheren Gebilde ſich ent— 
wickeln mögen, aber dieſe Beſtandtheile des Guten will es 
dann auch den Schwankungen des individuellen Meinens 
und Beliebens entrückt und in unantaſtbarer Kraft und 
Majeſtät feſtgeſtellt ſehen. Die Gerechtigkeit erſchöpft den 
Kreis des Guten nicht, aber ſie iſt die erſte aller Tugenden. 
Das Recht iſt nicht eine bloße Vorbedingung, ſondern ein 
Theil und Stück des Guten ſelbſt, und zwar ſein Funda— 
ment. In dieſer Stellung von Recht und Sittlichkeit liegt 
es nun auch, daß zwar in der Seele des Einzelnen Ge— 
wiſſen und Rechtsgefühl niemals in Colliſion kommen, weil 
das Gewiſſen den ganzen Inhalt des Rechtsgefühls in ſich 
aufnimmt und nur nicht volles Genüge daran findet, daß 
aber in der Geſellſchaft Recht und Moral wohl zeitweiſe 
auseinandertreten und in Widerſpruch gerathen können, ſei 
es, daß das Recht oder die Sitte einen Vorſprung in ſeiner— 
Entwicklung hat. In dieſer Weiſe läßt ſich, wie ich meine, 
aus einer bloßen Beobachtung und Beſchreibung des Rechts— 
gefühls oder aus der Zuſammenſtellung der erſten und elemen— 
tarſten Gebilde, die der Intellect unter ſeiner Leitung her— 
vorbringt, auch das Weſen des Rechtes ſelbſt entwickeln. 
Denn ich möchte glauben, daß eine bloße Zuſammenfaſſung 
der bezeichneten Merkmale des Rechtsgefühls zu einer Defi— 


76 


nition des Rechtes führt, wenn ich ſage: das Recht iſt eine 
geſellſchaftliche Lebensordnung, durch welche die Idee des 
Guten zur äußeren Macht geſtaltet wird, um nach allge— 
meinen, für das Gleiche gleichen Normen der menſchlichen 
Handlungen die Grundlagen für die Erfüllung der menſch— 
lichen Lebenszwecke ſicherzuſtellen. 

Um das Weſen des Rechtsgefühls noch einen Schritt 
weiter zu verfolgen und vom Recht zum Staat zu gelangen, 
kann vielleicht eine Vergleichung einige Dienſte leiſten. 
Wenn wir einen Bienenſtock betrachten, ſo macht er un— 
verkennbar den Eindruck eines einheitlichen gegliederten 
Ganzen. Gleichwohl denken wir nicht daran, die Entſtehung 
dieſes Ganzen auf den Akt eines intelligenten Willens 
zurückzuführen, und auch das halten wir nicht für geboten, 
in die Seele der einzelnen Bienen, ſei es als unbewußte 
Vorſtellung oder in der Form eines inſtinctartigen Thuns 
den Plan oder Entwurf jenes Ganzen voraus zu verlegen. 
Wir begnügen uns dem einzelnen Thier die Triebe beizu— 
legen, mit ſeinesgleichen zuſammen und um ein die Fort— 
pflanzung verbürgendes Individuum geſchaart zu leben, 
eine Zelle von beſtimmter Art und Conſtrüction zu bauen, 
die Zuckerſäfte aus den Blüthen zu ſaugen, Vorräthe für 
den Winter zu ſammeln und Aehnliches, aber das Ganze 
des Stocks entſteht uns nun einfach aus der Maſſenwirkung 
dieſer individuellen Triebe; das gleichartige Thun der 
Einzelnen ſcheint ſich uns von ſelbſt zu dieſem gegliederten 
Ganzen zuſammenzuſchließen, und zufällige Momente, wie 
die Geſtalt des Baumes oder Korbes ſpielen ihre Rolle 


77 


mit; wenn dieß Ganze nun aber einmal vorhanden iſt, 
dann wirkt es auf die einzelne Biene, die es hat machen 
helfen, doch wieder als ein neuer Factor zurück, beſtimmt 
und modificirt im Einzelnen vielfach ihr Thun, giebt jenen 
Trieben eine beſondere Form und Richtung und kann ſo 
ſchließlich faſt als das Primäre erſcheinen, obgleich es ur— 
ſprünglich nur das Product vieler kleiner aber gleichartiger 
Kräfte war. Oder ich könnte an den Wald erinnern, der 
nichts iſt als eine Vielheit beiſammenſtehender Bäume und 
doch ein Ganzes von eigenthümlichen Merkmalen wird und 
das Wachsthum des einzelnen Baumes mitbeſtimmt. 

In gleicher Weiſe möchte ich nun behaupten, entſteht 
der Staat durch die natürliche Maſſenwirkung, als das 
ſpontane Geſammtproduct des in den einzelnen Gliedern 
einer geſellſchaftltchen Gruppe vorhandenen Rechtsgefühls. 
Jener ſociale Ordnungstrieb, der die Idee des Guten zur 
Rgeſellſchaftlichen Macht zu geſtalten ſtrebt, ruft, ohne daß 
in irgend einem Kopf ſchon die Vorſtellung eines geſell— 
ſchaftlichen Centralinſtituts ausgebildet wäre, von ſelbſt ein 
ſolches, wie durch den Maſſendruck vieler kleiner Kräfte 
nach Einem Punkte, ins Leben; es kann nun ein durch 
Zufall, ja durch Frevel entſtandenes Gewaltverhältniß der 
Kriſtalliſationspunkt einer ſittlichen Ordnung werden, dem 
ein allgemeines Verlangen ein höheres Mandat von ſelbſt 
entgegenbringt. Wenn dann aber dieſe ſociale Macht ein— 
mal vorhanden iſt und in einem individuellen oder collec— 
tiven Willen ihre einheitliche Spitze gefunden hat, dann 
löst ſie ſich von ihrer Entſtehungsform ab; ſie geſtaltet 


ſich zu einem ſelbſtändigen jocialen Eigenweſen und wirkt 
ihrer eigenen Natur gemäß auf die Einzelnen zurück; und 
jenem Rechtsgefühl, das in der Seele des Einzelnen gleich 
dem Gewiſſen nur ein zartes Gebilde iſt und ſtets einen 
ſchweren Stand gegen den Andrang brennender Begierden 
hat, ſtellt ſich nun in der öffentlichen Ordnung eine ſicht— 
bare Verkörperung ſeiner Zwecke gegenüber, an deren feſten 
Pfeilern ſich die Willkühr der Einzelnen bricht; und es iſt 
in dieſem Sinn berechtigt, von einem objectiv gewordenen 
Geiſt zu reden. Aber jener Maſſendruck des Rechtsgefühls 
iſt nur die Wurzel der Staatenbildung; die Verwirklichung 
des Rechts iſt nur die erſte und weſentliche Function der 
Staatsgewalt. Die im Staat zum Volk geeinigte Menge 
führt ihm noch mancherlei geiſtige Intereſſen und Forde— 
rungen zur Beachtung zu; der Staat erweitert ſich zu einem 
Träger und Organ des Volksgeiſtes, zu einem Univerſal— 
inſtitut für die Sicherung und Förderung aller Lebens- 
zwecke. Damit tritt zu jenem primären Zweck der Rechts— 
verwirklichung ein weiteres Element von beweglichem, un— 
begrenztem, zufälligem Charakter hinzu, das nach der Ver— 
ſchiedenheit der Zeiten und Völker von engerem oder weiterem 
Umfang werden kann. Ich halte es für verwirrend, dieſe 
beiden Gebiete des Rechts und des Wohls zuſammenzu— 
werfen, dem Rechtsbegriff einen ſo weiten Umfang zu leihen, 
daß er auch die ganze Wohlfahrtspflege in ſich ſchließt, 
und zu dieſem Zwecke Rechte auf Arbeit und Muße, auf 
Bildung, Geſundheit, Familienleben aufzuſtellen, die der 
Staat durch Hilfe und poſitive Veranſtaltungen zu ver— 


79 


bürgen verpflichtet ſein ſoll. Es fehlt bei dieſem Gebiet 
der ſtaatlichen Thätigkeit jenes Gefühl der inneren Noth— 
wendigkeit, das alle Erſcheinungen des Rechtslebens zu be— 
gleiten pflegt. Mein Rechtsgefühl fordert nicht, daß der 
Staat eine Univerſität gründet, oder daß er an derſelben 
akademiſche Preiſe für wiſſenſchaftliche Arbeiten der Stu— 
dierenden ausſezt, wohl aber fordert es, wenn er dieß ein— 
mal thut, daß er die Preiſe denen, welche die von ihm 
aufgeſtellten Bedingungen erfüllen, auch wirklich ertheilt, 
daß er den Verfaſſer einer vreiswürdigen Arbeit, wenn er 
nach dem Statut zur Bewerbung nicht befugt war, zurück— 
weiſt, daß er die Preiſe der beſten Arbeit ohne jede Neben— 
rückſicht zuerkennt. Alles, was im Staat geſchieht, ſoll mit 
Gerechtigkeit aber nicht aus Gerechtigkeit geſchehen. Wohl 
fällt alles Recht ſchließlich unter den Begriff des Zweck— 
mäßigen und einer Wohlfahrtspflege, ſchon weil es unter 
den Begriff des Guten fällt und das Gute nur als das 
wahrhaft Zweckmäßige, mit dem Ganzen der menſchlichen 
Lebenszwecke im Einklang Stehende gedacht werden kann. 
Aber darum hat der Rechtsbegriff doch wieder innerhalb 
dieſer weiten Sphäre ſeine engere ſpeeifiſche Begrenzung 
an jenen Aeußerungsformen des Rechtsgefühls, an der 
ethiſch-logiſchen Forderung der Allgemeinheit und Gleichheit. 

Wenn nun die hier vorgetragene Auffaſſung Wahrheit 
enthalten ſollte, ſo würde das Recht mit den andern höchſten 
Gütern der Menſchheit, Religion und Moral, Kunſt und 
Wiſſenſchaft in Einer Reihe ſtehen, aus Einer Quelle fließen, 
nemlich aus einem an die Spitze unſeres geſammten Trieb— 


lebens ſtehenden höchſten Trieb, der auf den Einklang aller 
unſerer Seelenvorgänge, auf die Harmonie unſeres Lebens 
und der Welt gerichtet iſt, und zwar würde das Recht in 
einem beſtimmten Zweig dieſer Ordnungstriebe wurzeln, 
den wir das Rechtsgefühl nennen, der mit dem Gewiſſen 
zuſammen die ſittliche Anlage der menſchlichen Natur bildet 
und die Idee des Guten zu realer Geſtaltung führt. Das 
Recht iſt hiernach wohl in ſeiner concreten Erſcheinung etwas 
empiriſch und geſchichtlich Gewordenes, aber es ſtammt aus 
einem urfprünglichen Trieb und feſten Willensanſaz der 
menſchlichen Natur, der ſich, wie die anderen höheren An— 
lagen, erſt allmälig im Lauf der Jahrtauſende zur vollen 
und ſelbſtändigen Entwicklung ſeines Weſens heraufarbeitet. 

Eine ſolche ideale Auffaſſung des Rechts liegt nun 
allerdings weit ab von dem gemeinen und populären Be— 
wußtſein. Dieſem erſcheint das Recht als etwas, was die 
Juriſten erfunden oder gemacht hätten und heute noch 
machen können, als verkörpert in der Geſtalt eines Proceſſes, 
der ſich mit Hilfe von Advokaten vor dem Richter abſpielt, 
eines Schrift- und Redeſtreites, in welchem es ſich um die 
Ermittlung oder Vertuſchung gewiſſer Thatſachen, um 
die Anwendbarkeit oder Auslegung von dieſem oder jenem 
Paragraphen einer Vorſchrift oder Urkunde handelt, bei 
welchem der ſchlauere und ſachkundigere Theil zu ſiegen 
ſcheint, wo von ſittlichen Zwecken, von einer Verwirklichung 
der Idee des Guten kaum ein Anklang an den Tag tritt, 
wo jenes Rechtsgefühl, das die Wurzel alles Rechtes ſein 
ſoll, um ſeine Meinung gar nicht gefragt wird, und auch, 


81 


wenn es gefragt würde, vielleicht nichts Brauchbares zu 
ſagen wüßte. 

Man kann im Hinblick auf die praktiſche Geſtaltung 
des Rechtslebens wohl zu der Frage kommen, welchen 
Werth und welche Stellung denn jenes Rechtsgefühl noch 
für die Rechtswiſſenſchaft hat, ob es ihr nur den erſten 
Anſtoß giebt, von dem im weiteren Verlauf der Sache nicht 
mehr die Rede iſt, oder ob es der leitende beſtimmende 
Faktor, der Führer auf dem ganzen Wege, die wirkliche 
und einzige Quelle der Rechtsbegriffe ſein könne? Hierüber 
ſcheinen mir Mißverſtändniſſe zu beſtehen, bei welchen jenem 
pſychologiſchen Ausgangspunkt bald ein zu großer, bald 
ein zu kleiner Spielraum überlaſſen wird. 

Niemand wird, wie ich glaube, aus dem bloßen Rechts— 
gefühl oder, was ich hier für gleichbedeutend halte, aus 
der Idee, dem Begriff des Rechts auch nur einen einzigen 
concreten Rechtsſaz abzuleiten vermögen, und die Verſuche, 
im Wege der Begriffsentwicklung, der Deduction aus Axiomen 
und elementaren Säzen ein Rechtsſyſtem, ein ſogenanntes 
Natur- oder Vernunftrecht herauszuſpinnen, ſind mit Grund 
ſtets ein Gegenſtand des Spottes von Seiten der Rechts— 
gelehrten gegen die Philoſophen geweſen. Das Recht iſt 
ein Ordnungsbegriff; zu einer Ordnung gehören aber immer 
zwei Dinge, etwas, was ordnet und etwas was geordnet 
wird; dieß Leztere iſt die Subſtanz der Sache, der Stoff, 
der durch ſeine Natur das Thun des Ordnenden beſtimmt. 
Der Stoff des Rechtes aber iſt nichts weniger als die ganze 
unabſehbare Fülle aller menſchlichen Lebensverhältniſſe. 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 6 


82 
Das Recht erzeugt und ſchafft nicht etwa aus ſeinen Mitteln 
die perſönliche Freiheit, das Eigenthum, die Familie, den 
Vertrag, ſondern es findet dieſe Verhältniſſe als Wirkungen 
des natürlichen Trieblebens vor; es zeichnet nur ſeine 
ordnenden Linien hinein; es regelt ſie nach dem Princip 
der Coexiſtenz, nach den Bedürfniſſen und ſittlichen Grund— 
anſchauungen der Geſellſchaft, und auch dieſen lezteren Faktor 
ſchöpft es nicht aus ſich ſelbſt. So liegt für alles Familien— 
recht der Ausgangspunkt in phyſiologiſchen Thatſachen, wie 
dem Unterſchiede der Geſchlechter, den Geſezen der Fort— 
pflanzung, der Hilfloſigkeit und dem allmäligen Wachsthum 
des Kindes. Dieſe phyſiſchen Grundlagen unterliegen nun 
einer ſittlichen Geſammtauffaſſung, die durch die Geſittungs— 
ſtufe des Zeitalters und Volkes bedingt iſt, über die Stel— 
lung des Weibes, über den Umfang der väterlichen Gewalt, 
den Charakter der Ehe, die Grenze des Verwandtſchafts— 
bands, die Beweglichkeit des Grundeigenthums u. ſ. w. 
Erſt als drittes Element tritt nun das Recht hinzu, um 
dieſe Grundanſchauung gegebener Thatſachen in die Geſtalt 
feſter, zwingender, allgemeiner Normen auszuprägen, die— 
ſelben nach allen Richtungen im Einzelnen durchzudenken, 
unter ſich und mit den andern hereingreifenden Lebens— 
verhältniſſen in Einklang zu ſezen, an den Kreuzungspunkten 
verſchiedener Normen einen Ausgleich zu finden und ſo das 
geſammte Familienleben in die ſociale Ordnung als ein 
homogenes Glied einzufügen. Das Rechtsgefühl wird nun 
zwar auf dieſem ganzen Wege leitend oder begleitend, zu— 
ſtimmend oder abwehrend mitgehen, aber jene Kreuzungen 


83 


der Rechtsſäze ſind jo mannigfaltig, die Verſchlingungen 
der Lebensverhältniſſe jo unabſehbar, zumal auf den höheren 
Geſittungsſtufen, das Bedürfniß haarſcharfer und präciſer 
Unterſcheidungen wird ein ſo dringendes, daß dem Rechts— 
gefühl auf dieſer langen Bahn bald der Athem ausgeht 
und es von einem logiſch-techniſchen Element abgelöst werden 
muß. Das geſammte Rechtsleben entwickelt ſich zu einem 
Specialfach, in welchem der rothe Faden des Rechtsgefühls 
zwar nie ganz abreißen kann, aber in den dichtverſchlungenen 
Knoten der Caſuiſtik ſchwer noch herauszufinden ſein mag. 
Noch weit mehr tritt dieß bei dem hiſtoriſchen Theil der 
Rechtskunde hervor. Mit der Frage: was iſt oder war 
thatſächlich geltendes Recht, hat das Rechtsgefühl nichts 
mehr zu ſchaffen; ſie ſteht ganz unter dem Bann einer 
wiſſenſchaftlichen Technik, unter dem Geſez der Hermeneutik 
und hiſtoriſchen Kritik, wiewohl ſich behaupten läßt, daß 
auch hier noch ein ſympathiſches Nachempfinden der Recht 
ſchaffenden Abſicht des Geſezgebers die grammatikaliſch— 
logiſche Deutung der Worte ergänzen kann. 

Wenn aber ſo die Rechtswiſſenſchaft ſich im Verlauf 
ihrer Entwicklung von der erſten pſychologiſchen Wurzel 
alles Rechtes ablöſen mußte, wenn ſich jenes einfache Rechts— 
gefühl, wo es doch den Verſuch macht, mitzuſprechen, ge— 
fallen laſſen muß mit einem taceat mulier in ecelesia (das 
Weib ſoll ſchweigen in der Gemeinde) abgewieſen zu werden, 
ſo ſind doch auch die Mißſtände und Gefahren des anderen 
Extremes nicht zu unterſchäzen. Wenn das Recht, wie 
kaum irgend etwas Anderes, Alle angeht und den Wollenden 


* 


6 


84 


wie den Widerſtrebenden berührt und erfaßt, wenn unſer 
landsmänniſcher Dichter, der doch ſelbſt zur Zunft der 
Rechtsgelehrten gehörte, ſagen durfte: „das Recht iſt ein 
gemeines Gut, Es lebt in jedem Erdenſohne; Es quillt in 
uns wie Herzensblut“, ſo ſollte man erwarten dürfen, daß 
die Wiſſenſchaft und Verwaltung des Rechts ſich in ſtetiger 
Fühlung mit dem Rechtsgefühl des Volkes hielte und wenig— 
ſtens nicht bis zur Unverſtändlichkeit davon entfernte. Eine 
noch nicht lange, ja kaum vergangene Zeit zeigt uns in 
einem abſtoßenden Bild, wieweit hier die Verirrung gehen 
konnte, wie ſich die Rechtsverſtändigen zu einer Gelehrten— 
zunft mit einem der übrigen Welt unzugänglichen Apparat 
von Formeln und Diſtinctionen, ſchlimmer als die altrömi— 
ſchen Pontifices, abſondern durften. Die Gegenwart iſt 
auf dem Wege, auch hier Wünſchen, die lange vergeblich 
gehegt wurden, entgegenzukommen und jene verlorene Füh— 
lung mit dem Rechtsbewußtſein des Volkes wieder zu ge— 
winnen. Hiebei betrachte ich es nur als zweifelhaften Ge— 
winn, wenn die Laien in einem die Entſcheidung einſchlie— 
ßenden Umfang zur praktiſchen Rechtspflege berufen werden, 
da es immer ein Widerſpruch und ein Mißtrauensvotum 
gegen die Wiſſenſchaft bleiben wird, das unentwickelte und 
naive Rechtsgefühl dem geübten und ausgebildeten gleich— 
zuſtellen, und doch die Verwaltung des Rechts nicht zum 
pädagogiſchen Mittel der Volkserziehung dienen darf. Von 
ungleich größerem Werth iſt die Oeffnung der Gerichtsſäle, 
die Mündlichkeit und Vereinfachung des Verfahrens, die 
Fertigung zuſammenfaſſender Geſezbücher in gemeinverſtänd— 


85 
licher Sprache, die Beſeitigung eines verwirrenden Wuſtes 
von Land- und Sonderrechten. Ein großer Schritt bleibt 
aber in dieſer Richtung zu thun übrig. Es muß jedem 
unbefangenen Sinn im höchſten Grad unnatürlich erſcheinen, 
daß der praktiſch eingreifendſte, den Einzelnen am nächſten 
berührende Theil des Rechts in einer fremden, nur dem 
Gelehrten zugänglichen Sprache abgefaßt, einem längſt hinter 
uns liegenden Volk und Zeitalter entnommen, auf durch— 
aus abweichende geſellſchaftliche Verhältniſſe berechnet iſt. 
Noch unbegreiflicher iſt es aber, wenn gerade diejenigen, 
welche das im Volk thatſächlich lebende Gefühl einer inneren 
Nothwendigkeit zur Quelle und beſten Stüze alles Rechts 
machten, nur allein der Gegenwart den Beruf und die Be— 
fugniß abſprechen, ein verſtändliches und ihren Bedürf— 
niſſen entſprechendes Recht zu ſuchen. Es war ein unend— 
lich großer Fortſchritt, als zu einer Zeit, da das Latein 
noch eine allgemeine Welt- und Kulturſprache war, an die 
Stelle zahlreicher, unzulänglicher Volksrechte, die auf viel— 
deutigen Symbolen und Sprüchen, auf wandelbarem Ge— 
brauche ruhten, das römiſche Recht trat, das ſeinen uni— 
verſalen Charakter als ahatjächliches Weltrecht ſchon durch 
Jahrhunderte bewährt hatte, das Meiſterwerk eines Volkes, 
in welchem jenes der menſchlichen Natur inwohnende Rechts— 
gefühl zuerſt in der Welt einen ſelbſtändigen, von Religion, 
Politik und Moral abgelösten Ausdruck gefunden, das die 
Grundbegriffe des Rechts und deſſen eigenthümliche Metho— 
dik für alle Zeiten feſtgeſtellt hat, das von nationaler Be— 
ſchränktheit aus in ſicherem und ſtetigem Gang, und mit 


86 
unvergleichlicher Schärfe und Conſequenz zu einem Syſtem 
weltgiltiger Sätze hindurchgedrungen iſt. Trozdem konnte 
die Aneignung eines fremden und fremdſprachigen Rechts 
nur eine Nothhilfe, ein vorübergehendes Auskunftsmittel 
ſein, das in dem Grade unhaltbar werden mußte, in wel— 
chem die lateiniſche Sprache ſelbſt eine todte wurde und 
eine neue Zeit neue Lebens- und Wirthſchaftsverhältniſſe 
und eine neue Geſittungsſtufe erzeugte. Wenn nicht alle 
Zeichen trügen, ſo iſt der Zeitpunkt für den Abſchluß 
dieſer Lehrjahre herangekommen; die Wiſſenſchaft vermag 
die bleibenden und die vergänglichen Elemente jener werth— 
vollen Ueberlieferung zu unterſcheiden und die neuen Be— 
dürfniſſe und Anſchauungen haben den alten Bau ſchon 
von Innen und Außen nach allen Richtungen durchbrochen 
und umgeſtaltet. Das deutſche Volk iſt ſeit den Römer— 
tagen das erſte, in welchem das Rechtsgefühl einen neuen 
Ausdruck von eigenthümlicher Kraft und Tiefe gefunden 
hat; nachdem es ſeiner Art gemäß zuerſt bei Fremden in 
die Schule gegangen iſt, mag es berufen ſein, den Weg 
von einem nationalen zu einem univerſalen Recht zum 
zweitenmal zu finden, das innige Band von Recht und 
Moral, von Humanität und Logik noch feſter zu knüpfen, 
als es einſt dem römiſchen Volk gelungen war. Unſer 
Volt hat in unerreichter Waffenthat dem romaniſchen Ueber— 
gewicht ein Ziel geſezt; es iſt ſtill und, wie wenn nichts 
geſchehen wäre, zu den Werken des Friedens zurückgekehrt; 
nach verſchiedenen Richtungen findet es hier die Aufgabe, 
an römiſchen Ueberlieferungen das Bewährte und das ſeinem 


87 


Geiſte Fremde zu ſcheiden; ich ſchließe mit der Hoffnung, 
eine nicht ferne Zukunft werde Urſache finden, nicht blos 
das deutſche Schwert, den deutſchen Fleiß, die deutſche 
Wiſſenſchaft zu preiſen, ſondern auch das deutſche Rechts— 
gefühl und das deutſche Recht. 


Ueber den Begriff des Volkes. 


6. Nov. 1872. 


Wer das Bedürfniß hat, in klaren und einfachen Grund— 
begriffen zu denken und dabei durch Beruf und Neigung 
darauf hingewieſen iſt, ſich mit den ſogenannten ſocialen 
oder Geſellſchaftswiſſenſchaften zu beſchäftigen, dem werden 
bei ſeinen Studien auch trübe und unerquickliche Stunden 
ſchwerlich ganz erſpart bleiben. Denn dieſe Fächer, wie— 
wohl ſie weder an theoretiſchem Reiz noch in ihrer prak— 
tiſchen Tragweite hinter anderen zurückſtehen, haben doch 
noch immer, ſei es nun blos in Folge ihrer Jugend oder 
auch anderer Umſtände, an einer eigenthümlichen Unſicher— 
heit und Verſchwommenheit ihrer erſten Begriffe zu leiden. 
Schon der Begriff der Geſellſchaft ſelbſt will ſich ſchwer 
feſt anfaſſen und ſcharf umgrenzen laſſen; noch mehr ſcheint 
mir dieß bei dem vieldeutigen Worte „Volk“ zuzutreffen, 
das uns doch auf Schritt und Tritt im Leben, wie in der 
Wiſſenſchaft entgegentritt. Denn gleich die erſten und 
elementarſten Fragen der Logik und Grammatik, zu welcher 
Art und Klaſſe von Begriffen der des Volkes zu ſtellen 
ſei, führen auf Schwierigkeiten. Iſt es ein Gattungsbe— 
griff, ſo daß der Einzelne ſich zu ſeinem Volke verhielte 


89 


wie ein beliebiges Beiſpiel einer beſtimmten typiſchen Form 
und dem Ganzen keinerlei Merkmale und Wirklichkeit für 
ſich, ſondern nur in den Einzelnen zukämen? Oder iſt das 
Wort zu den Collectivnamen, zu jenen bloßen Summirbe— 
griffen zu ſtellen, wo unter ſich ſelbſtändige und verſchiedene 
Dinge um Einer gemeinſamen Beziehung willen in eine 
numeriſche Einheit zuſammengefaßt werden, wie etwa die 
Menge, der Haufen, das Publikum, die Zuhörerſchaft? 
Oder iſt ein Volk als ein Ganzes zu denken, zu dem ſich 
die Einzelnen als ſeine Theile verhalten? und iſt dieß 
Ganze vielleicht, nach der jezt ſo beliebten Analogie als 
ein Organismus zu faſſen, deſſen einzelne Glieder, für ſich 
unfähig zu exiſtiren, erſt in der unendlichen Wechſelwirkung 
unter ſich und mit dem Ganzen ſich zur lebendigen Einheit 
ergänzen? Und iſt ſo ſchließlich nicht das Volk, ſtatt eine 
Gattung zu bezeichnen, vielmehr ſelbſt ein Individualbegriff, 
ein Einzelweſen von einer höheren Ordnung, wie wir all— 
täglich vorauszuſezen ſcheinen, wenn wir vom Charakter, 
vom Geiſt, ja von einer Seele des Volkes reden? Jede 
von dieſen Deutungen ſcheint etwas Richtiges zu ſagen, 
keine eine einfache Zuſtimmung zuzulaſſen, keine das Weſen 
der Sache erſchöpfend zu treffen. Aehnlich wie in früheren 
Jahrhunderten ein langer Streit darüber war, ob die all— 
gemeinen Begriffe etwas wirklich Seiendes, Reales be— 
zeichnen, oder bloße Namen, bloße Gebilde der menſchlichen 
Denkproceſſe ſeien, ſo ſcheinen ſich jezt auf dem Gebiet der 
ſocialen Wiſſenſchaften die Anſichten über die Frage zu 
ſpalten, ob die Gemeinſchaften das eigentlich Reale und 


90 > 
Wirkende jeien, oder die Einzelnen. Machen wir das Volk 
oder macht das Volk uns? ſind wir, indem Jeder der 
Mittelpunkt des Weltalls zu ſein glaubt, nicht vielmehr 
nur die flüchtigen Producte eines ſocialen Einzelweſens, 
eines Geſammtgeiſtes, der unabhängig von uns die Geſeze 
ſeines Blühens, Reifens und Abſterbens in ſich ſelber trägt? 
Und iſt es in dieſem Sinne berechtigt, wie man neuerlich 
verſucht hat, neben die alte Seelenlehre, die von dem indi— 
viduellen Geiſte handelt, die Völkerpſychologie als eine neue 
und unabhängige Wiſſenſchaft zu ſtellen? 

Aber noch von einer zweiten, ganz anderen Seite her 
führt uns der Begriff des Volkes in Zweifel und Uns 
ſicherheit. Man hat es ſchon oft als einen Mangel der 
deutſchen Sprache bezeichnet, daß ſie für zwei ſo grund— 
verſchiedene Dinge, wie die Gemeinſchaft der Abſtammung 
und die des Staatsverbandes nur das Eine Wort, Volk, 
beſizt, während die anderen Sprachen beides genau aus— 
einander zu halten wiſſen, und ſchon die Griechen das 
Eine 8908, das andere cs, die Römer jenes natio 
und dieſes populus genannt haben. Wenn wir die Juden 
ein Volk nennen, obgleich ihnen die Gemeinſchaft des Staats, 
der Sprache, ja ſelbſt der Wohnräume fehlt, nur um der 
Stammes- und Glaubenseinheit willen, die Schweizer, ob— 
gleich ſie ganz verſchiedener Abſtammung und Sprache ſind, 
nur um des Staatsverbandes willen, und dann wieder die 
Polen, bei denen ſich alles dieß gerade umgekehrt verhält, 
was bleibt denn noch als gemeinſamer Grundgedanke des 
Ausdrucks übrig? Und doch iſt wenigſtens die feinere und 


91 
beſonnenere Redeweiſe auch wieder ſpröder und zurückhalten— 
der in dem Gebrauch dieſes Ausdrucks als andere Sprachen 
mit den ihrigen. Jene Haufen von Individuen, welche 
die Steppen Aſiens, die libyſchen Wüſten, die americaniſchen 
Prairien weidend, raubend, jagend durchziehen, jene Ge— 
noſſenſchaften von Negern und Polyneſiern, deren Zuſam— 
menleben uns nur den Wechſel zwiſchen dumpf brütender 
Trägheit und wilden Ausbrüchen der Sinnenluſt und Leiden— 
ſchaft zeigt, jene Barbarennamen, welche, ohne eine Spur 
ihres Daſeins zurückzulaſſen, in dem Dunkel der Jahr— 
hunderte begraben liegen: wir nennen ſie Horden, Stämme, 
ja auch noch Völkerſchaften; aber das Wort Volk ſcheint 
uns zu gut für dieſen Zweck, obgleich weder die Einheit 
des Stammes noch der Staatsgewalt fehlt, und wir ge— 
brauchen es nur widerwillig und durch den Mangel unſerer 
Sprache gezwungen. Denn das Wort geht uns nun ein— 
mal in jener trockenen, ethnographiſchen und politiſchen 
Bedeutung nicht auf; wir fühlen bei demſelben einen warmen, 
herzſchwellenden Oberton mitklingen, als ob von einem 
Vaterlande, einer geiſtigen Heimath die Rede wäre. Am 
liebſten würden wir den Schmuck dieſes Namens ganz jenen 
Gruppen der Menſchheit vorbehalten, welche eine eigen— 
thümliche Anlage an Geiſt und Gemüth in feſten und blei— 
benden Formen auszuprägen vermochten und in dem Drama 
der Weltgeſchichte als Träger und Vertreter einer beſtimm— 
ten und unvergeßlichen Art, die Räthſel des Menſchen— 
lebens auszulegen, einen beſondern Act oder Auftritt aus— 
füllen. Wenn wir aber ſo eine gewiſſe Zuthat von geiſtiger 


Bildung und Entwicklung mitdenken, jo hat es doch das 
freie Spiel des Sprachgeiſtes auch wieder gefügt, daß wir 
das Volk in einen Gegenſaz zu den höher gebildeten Klaſſen 
der Geſellſchaft ſtellen und in dieſem Sinne von Volks— 
ſchulen, Volksbüchern, Volksſchriften reden. Noch weiter 
und bedenklicher aber entfernt ſich die Redeweiſe von den 
Ausgangspunkten des Begriffs, wenn dieſe Unterſcheidung 
auf das politiſche Gebiet übergetragen und die numeriſche 
Maſſe als das vorgeblich wahre und eigentliche Volk den 
Trägern und Organen der Staatsgewalt, den Vertretern 
beſonderer Lebenskreiſe und geſellſchaftlicher Intereſſen ent— 
gegengeſtellt und in ſolcher Richtung von Volkswohl, Volks— 
willen, einer Volksparthei geſprochen wird. 

Dieſer flüchtige Ueberblick hat wohl gezeigt, daß der 
Begriff des Volkes, den die Wiſſenſchaft ſo gut wie der 
tägliche Sprachgebrauch ſtets nach allen Richtungen hin 
verwendet, keineswegs jo einfach und ſcharf umgrenzt iſt, 
als er dem erſten Anblick erſcheinen mag, daß er vielmehr 
jenem Chamäleon gleich in die verſchiedenſten Farben ſchillert, 
je nachdem man von der einen oder andern Seite her an 
ihn herantritt. 

Ich beabſichtige nun nicht und wäre es wohl auch 
nicht im Stande, alle die Fragen und Räthſel, die ich hier 
angeregt habe, jezt der Reihe nach zu löſen, aber ich darf 
vielleicht Ihre Aufmerkſamkeit für einige Bemerkungen in 
Anſpruch nehmen, mit welchen ich verſuche einige Klarheit 
in die Sache zu bringen. 

Die Entſtehung der meiſten Völker fällt in dunkle, 


unſerer Forſchung entrückte Vorzeit, aber auch wo fie durch 
geſchichtliche Zeugniſſe aufgehellt werden kann, zeigt man 
uns nur, wie dieſe beſtimmte Verhältniſſe geworden ſind 
und pflegt den Grund, auf welchem alle Völkerbildung 
beruht, ſtillſchweigend vorauszuſezen. Dieſer kann nur in 
der natürlichen Anlage und Ausſtattung der menſchlichen 
Gattung liegen und iſt nicht von dem Hiſtoriker, ſondern 
von dem Pſychologen nachzuweiſen. Ich glaube mir nun, 
wie in einem früheren Fall, auch dießmal als Poſtulat 
das Zugeſtändniß erbitten zu müſſen, daß alle weſentlichen 
Richtungen und Ziele menſchlichen Denkens und Thuns ihre 
Wurzel nicht in intellectuellen Vorgängen, ſondern in dunkeln 
Reizen und Trieben haben, welche als Quellen ſpecifiſcher 
Gefühle von Luſt und Unluſt auf uns wirken und unſern 
Intellect nach beſtimmten Richtungen hin in Bewegung 
ſezen. So iſt es denn auch von jeher üblich geweſen, den 
Menſchen ſchon ſeiner urſprünglichen Anlage nach zu den 
geſelligen Geſchöpfen zu rechnen und ihm ausdrückliche Triebe 
der Geſelligkeit beizulegen. Nur pflegt man es dabei zu 
unterlaſſen, dieſe geſelligen Triebe einzeln zu nennen und 
nach Richtung und Wirkung genauer zu umgrenzen. Wie 
es unter den Thierarten ſolche giebt, die immer einzeln 
oder ſtets paarweiſe leben, ſolche, welche in kleinen Truppen 
oder Rudeln, oder welche in großen Heerden und Schwärmen 
zuſammen ſind, ſolche, welche ſich nur für beſtimmte Zwecke 
der Jagd oder Wanderung, oder welche ſich bleibend zu 
einander geſellen, endlich ſolche, welche alle Lebenszwecke 
in gemeinſamer Ordnung und ineinandergreifender Arbeit 


94 


verfolgen, ſo kommt auch der menſchlichen Gattung ſchon 
von Natur eine ganz beſtimmte Form des geſellſchaftlichen 
Zuſammenſeins zu. Es iſt nicht richtig und wenigſtens 
ungenau, dieſe einfach als einen Trieb der Geſelligkeit zu 
bezeichnen. Läge in uns nur das Verlangen, uns an andere 
anzuſchließen und folgerichtig an den größten Haufen am 
liebſten, ſo müßte wohl die Weltgeſchichte ein ganz anderes 
Anſehen zeigen. Die menſchlichen Wohnſitze wären möglichſt 
nahe zuſammen gerückt und würden ſich gleichmäßig nach 
der Peripherie hin ausbreiten; es würde wohl Eine Sprache 
und Eine Kultur, jedoch von niedriger Entwicklung, herrſchen. 
Es iſt vielmehr ein Trieb der Gruppirung, der uns beſeelt, 
nicht der Geſelligkeit. Unſer Drang geht nicht dahin, uns 
ins Unbegrenzte anzuſchließen, ſondern einer Gruppe an— 
zugehören, in einen beſtimmten Kreis einzutreten, der ſich 
geſchloſſen und abgegrenzt gegen andere zu behaupten ſtrebt. 
Dem Sich anſchließen wollen iſt untrennbar gleich das Sich 
abſchließen wollen beigeſellt. Unſer Selbſtgefühl zu dem 
einer Gruppe zu erweitern, in ihr aufzugehen, mit ihren 
Intereſſen die unſrigen zu verſchlingen, das iſt der Inhalt 
und die beſtimmtere Form des menſchlichen Geſelligkeits— 
triebs. Ihr iſt es zuzuſchreiben, daß die Menſchheit nicht 
Eine gleichförmige Heerde bildet, ſondern in ſich gegliedert 
und abgegrenzt ein- Ganzes von unabſehbarer Mannig— 
faltigkeit und Abſtufung darbietet, daß die fließend immer 
gleiche Reihe belebend abgetheilt iſt, daß beſtimmte Vor— 
ſtellungskreiſe ſich in ihrer vollen Kraft und Selbſtändig— 
keit zu feſten und widerſtandsfähigen Geſtalten ausprägen. 


95 


In dem reichen Apparat von großen und kleinen Mitteln, 
durch welche die Weltordnung den Menſchengeiſt ruhelos 
vorwärts drängt, nimmt dieſe Neigung, ſich in eine Gruppe 
zu ſtellen, einen der erſten Pläze ein. Neue Ideen müßten ſich 
in dem unabſehbaren Wogenſchlag der Meinungen wie eine 
flüchtige Wellenfurche wieder verlieren, wenn dieſer Drang 
nicht wäre, uns um ein aufgerichtetes Banner zu ſchaaren, 
und mit dem Aufgebot aller Kräfte für das gemeinſam 
ergriffene Ziel einzuſtehen, ja zulezt den urſprünglichen 
Zweck faſt vergeſſend, nur darum, weil das Panier einmal 
aufgepflanzt iſt und wir zu ihm ſtehen, noch fortzukämpfen. 
Wir treten damit faſt blind und unbewußt in die Dienſt— 
barkeit allgemeiner Gedanken. Von jenen Tauſenden, die 
einſt auf Tod und Leben darum gekämpft haben, ob in 
Chriſtus zwei Naturen waren oder eine und ob ſein Weſen 
dem des Vaters gleich oder nur ähnlich war, wie Wenige 
mochten auch nur die Streitfrage näher kennen und wie 
noch wenigere ſich von dem Intereſſe Rechenſchaft zu geben 
im Stande geweſen ſein, das es für ſie haben könne, ob 
die Frage ſo oder anders gelöſt würde? Auf allen Blättern 
der Geſchichte und in allen Geſtalten, erhebenden und ab— 
ſtoßenden, tritt uns dieſer Eifer um die Gruppe entgegen, 
als Vaterlandsliebe wie als politiſcher Partheigeiſt, als 
Glaubenseifer wie als Religionshaß, als Martyrthum und 
Sektengeiſt, als Standesehre wie als Kaſtenſtolz, als Fa— 
milienſinn und als Geſchlechterhaß. Auch ſpielend noch 
ſehen wir ſolchen Corpsgeiſt ſeine Ranken treiben, wenn die 
Jugend ohne ſonſt erkennbare Zwecke für den Namen ihrer 


96 
Gruppe, für em farbiges Band mit ritterlicher Hingabe 
des Leibes und des Geiſtes Gaben einſezt. 

Denn das iſt eben das Beſondere und Folgenreiche, 
daß uns die Natur zwar die Neigung ins Herz gelegt hat, 
uns in eine geſchloſſene Gruppe unſerer Mitgeſchöpfe hinein— 
zuſtellen, daß ſie aber dieſen Kreis ſelbſt nicht in feſter 
und unabänderlicher Weiſe uns vorgezeichnet hat. Die 
Gruppirungsmotive ſind uns offen gelaſſen und wir ſehen 
ſie wechſeln durch alle Zeitalter: ja man könnte denken, 
der Faden der Weltgeſchichte wickle ſich eben in der Reihe 
jener wechſelnden zur Herrſchaft gelangenden Motive für 
die menſchliche Gruppirung ab. Es giebt wohl Eine Ge— 
meinſchaft, die als eine grundlegende, als die unerläßliche 
Vorbedingung für jede andere betrachtet werden kann; es 
iſt das räumliche Zuſammenſein, die Möglichkeit des ſprach— 
lichen Verkehrs und der nächſten Hilfeleiſtung, ohne welche 
keine Gruppirung wohl denkbar iſt. Wir finden uns durch 
die Geburt einem beſtimmten Kreis zugewieſen, in welchem 
wir die erſten Eindrücke und Vorſtellungsreihen, die erſte 
Entwicklung unſerer Kräfte empfangen. Dieß Band iſt 
jedoch keineswegs ein zwingendes; es begründet zunächſt 
weit mehr ein Verhältniß der Abhängigkeit als der An— 
hänglichkeit. Die Familie iſt gar nicht für ſich ſchon, wie 
man ſo oft preiſen hört, ſondern erſt durch Hinzutritt einer 
höheren allgemeinen Geſittung, der Heerd und die Quelle 
ſittlicher Empfindungen; ſie begründet bei allen roheren 
Völkern nur ein Verhältniß brutaler Herrſchaft, der Männer 
über die Weiber, der Eltern über die Kinder, gegen welches 


97 


uns das Familienleben der Thiere leicht als das Reinere 
und Höhere erſcheinen kann. Und was iſt für den Unter— 
drückten, den Leibeigenen, den Sclaven der Boden der 
Heimath, das Land der Väter, die Sprache des Gebieters, 
die er zu erlernen hat? Der Trieb der Gruppirung greift 
frei und nach allen Richtungen über die Grenzlinien dieſer 
erſten Naturbande hinaus; wir haben noch weitere Be— 
dürfniſſe als das, in einer beſtimmten Heerde heranzu— 
wachſen. 

Und hier iſt eine andere Betrachtung einzureihen. 
Jene Neigung, einer geſchloſſenen Gruppe anzugehören, iſt 
nicht die einzige Form unſerer ſocialen Triebe. Es reiht 
ſich ihr noch eine zweite an, die für unſer Thema von 
gleich großer Bedeutung iſt. 

Es giebt eine ſehr einfache und unſcheinbare pjycholo- 
giſche Thatſache, welche in ihren Wirkungen für das Ver— 
ſtändniß aller geſellſchaftlichen Erſcheinungen von entſchei— 
dender Wichtigkeit iſt. Wenn ich irgend einen Gedanken, 
eine Meinung, ein Urtheil gegen einen Andern ausſpreche 
und ſich hiebei die Uebereinſtimmung dieſes zweiten mit 
meiner Meinung ergiebt, ſei es, daß er dieſelbe ſchon un— 
abhängig von mir in ſich ausgebildet, oder auf meine 
Anregung willig in ſich aufgenommen hat, ſo tritt in dem 
Vorſtellungskreis von mir und von dieſem Andern etwas 
Neues ein; es wird nicht blos eine Gleichheit und Ueber— 
einſtimmung conſtatirt, nicht blos für die Formel & = B 
und A+B= 2 A ein neues Beiſpiel ermittelt, ſondern 
durch das bloße Bewußtſein der Uebereinſtimmung tritt 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. ‘ 


98 


für beide Theile eine Verſtärkung und Befeſtigung jener 
Vorſtellungen ein. Der Akt erſcheint uns nicht wie eine 
bloße Addition, ſondern könnte uns eher an ein Multipli— 
eiren oder Potenziren erinnern; wir empfinden einen Zu— 
wachs von Intenſität, Klarheit und Sicherheit der Vor— 
ſtellung, den wir zwar jo wenig wie andere pſpchiſche 
Erſcheinungen unter einen numeriſchen Ausdruck bringen 
können, aber deutlich genug im Bewußtſein als einen Grad— 
unterſchied empfinden. Mit der Zahl der Zuſtimmenden 
wächst in jedem derſelben, wenn auch nicht in ſtetigem 
Verhältniß, die Zuverſicht der gemeinſamen Gedanten. 
Wenn wir uns etwa als Bild und Veranſchaulichungsmittel 
denten wollten, daß jeder unſerer Vorſtellungen und Vor— 
ſtellungsgruppen auch ein beſtimmtes Gebilde in unſerem 
Gehirne, ſei es eine jener zarten Faſern oder eine Win— 
dung und Verſchlingung von ſolchen entſpräche, ſo würden 
wohl die iſolirten Vorſtellungen dünnere und lösbarere, 
die gemeinſamen aber ſtärkere und widerſtandsfähigere Ge— 
bilde hervorbringen und die herrſchenden und allgemeinen 
Vorſtellungen könnten wie feſte und bleibende Geflechte 
heraustreten. Die Köpfe der Einzelnen wären Inſtrumen— 
ten zu vergleichen, auf welchen gewiſſe Saiten gleich ge— 
ſtimmt ſind und die Luftſchwingung, die gerade dieſer 
Saitenſtimmung entſpräche, mit dem gleichen vollen Ton 
beantworten würden. a 

Ich glaube, daß man es als einen der elementaren 
Grundſäze für die Maſſenwirkung pſychiſcher Kräfte be— 
zeichnen darf, daß die Vorſtellungen des Einzelnen durch 


99 


das bloße Bewußtſein der Uebereinſtimmung mit Andern 
eine Verſtärkung und Befeſtigung erleiden, welche dem iſo— 
lirten Bewußtſein fehlt. 

Bei näherem Hinſehen findet man jedoch noch eine 
Einſchränkung oder Ergänzung dieſer Regel geboten. Sie 
wirkt weit ſchwächer in der Sphäre des niederen Trieb— 
lebens als in der des höheren. Ob die Luft warm oder 
kalt, ob eine Speiſe wohlſchmeckend iſt oder nicht, darüber 
bedarf unſer unmittelbares Gefühl keiner Beſtätigung und 
würde auch durch fremden Widerſpruch nicht irre gemacht. 
Auch über Fragen perſönlicher Vortheile und Intereſſen 
fehlt uns die Zuverſicht des eigenen Urtheils nicht. Wir 
fühlen uns hier von Andern nur inſoweit abhängig, als 
uns ihr Urtheil über unſere Geſinnung und Handlungs— 
weiſe nicht gleichgiltig läßt und unſer Selbſtgefühl ihren 
Haß oder ihre Mißachtung nicht leicht zu ertragen vermag, 
ſondern ſich erſt in dem Wiederſchein fremder Meinung 
ſelbſt beſizt und genießt. Anders iſt es auf dem Boden 
der idealen Güter, im Streben nach Wahrheit und Schön— 
heit, nach Recht und Sitte, nach Gottesgemeinſchaft. Hier 
trifft unſer Blick nicht mit dem ſicheren Inſtinct, wie bei 
jenen niedrigeren Intereſſen, das was unſer Herz ſucht und 
will; unſicheren Tritts ſteht der Einzelne vor den tauſend 
Möglichkeiten, die ſich vor ihm ausbreiten, und ſucht zagend 
und meiſt vergeblich in ſich ſelbſt den ſicheren Wegweiſer. 
Wir empfinden einen Trieb nach Ergänzung und Aner— 
kennung, nach einer geiſtigen Anlehnung; wir möchten für 
unſere Gefühle und Gedanken einen feſten Halt ſuchen in 


7 * 
4 


100 


der Zuſtimmung derer, die mit uns leben und vor uns 
gelebt haben. Je größer der Kreis der Zuſtimmenden iſt 
und jemehr der Inhalt zugleich den beſonderen Bedürfniſſen 
und Richtungen des Einzelgeiſtes entgegenkommt, deſto feſter, 
ſicherer, ausgeprägter werden jene Vorſtellungsreihen, deſto 
dominirender, um bei dem obigen Bild zu bleiben, die ihnen 
entſprechenden Stränge oder Knoten der Gehirnfaſern. Und 
hier iſt es denn, wo der Genius ſeine Stätte findet, der 
einem weiten Kreis vorfühlt und vordenkt, der das, was 
alle ſuchen und vermiſſen aber nicht finden, tiefer und klarer 
empfindet und ihm den typiſchen Ausdruck zu leihen weiß, 
in welchem alle die Löſung des Räthſels willig hinnehmen. 
Zwar können ſich auch dieſe lichtbringenden und bahn— 
brechenden Geiſter jenes allgemeinen Triebs nach geiſtiger 
Anlehnung nicht entſchlagen; auch ſie müßten an ſich ſelbſt 
irre werden, wenn ſie Niemandes Zuſtimmung fänden, aber 
was ihnen die Gegenwart verſagt, ſuchen ſie in der Ver— 
gangenheit oder erwarten von der Zukunft den Wiederklang 
gleichgeſtimmter Geiſter. 

Sollte es nun nicht aus einer einfachen Maſſenwirkung 
dieſes individuellen Triebes nach geiſtiger Anlehnung er— 
klärbar ſein, wie jene allgemeinen Ideen des Wahren und 
Schönen, des Rechts und des Guten und der Gottheit in 
allen den wechſelnden, beſonderen Geſtalten, welche ſie in 
verſchiedenen Kreiſen und Zeiten angenommen haben, ent— 
ſtehen konnten, wie insbeſondere der Anſchein erwachſen 
mußte, als ob dieſe Ideen, obgleich ſie ihren Urſprung nur 
Einzelnen und einer unendlichen Wechſelwirkung zwiſchen 


Einzelnen verdanken, dennoch ihre Realität nicht in den Köpfen 
dieſer Einzelnen hätten, ſondern zwiſchen und über den— 
ſelben ſelbſtändig in den Regionen einer höheren Geiſtes— 
welt ſchwebten? Wie bei optiſchen Vorgängen und Viſionen 
löſen wir die feſten Gebilde unſeres Innern von uns ab 


und projiciren ſie nach Außen, daß ſie uns wie Autoritäten 
und geiſtige Mächte gegenübertreten. Man könnte das Bild 
von einem großen See gebrauchen, der obgleich ihn nur 
die tauſend kleinen Quellen, die ſich aus Regen, Schnee 
und Gletſcherwaſſer bilden, urſprünglich gefüllt haben und 
fortwährend ſpeiſen müſſen, dennoch uns als ein ſelbſtändiges 
gewaltiges Phänomen von eigener Kraft und Schönheit 
gegenübertritt, zu dem ſich jene Bäche und Flüßchen, die 
in ihn einmünden, nur wie ein ſchmückendes Anhängſel ver— 
halten. Und doch würde dieß Bild zu wenig ſagen, da 
jene Bäche doch immer nur gebend und nicht empfangend 
ſind, während jene idealen Güter dem Einzelnen wie Offen— 
barungen geboten zu werden ſcheinen, die ihren ſubjectiven 
Urſprung abgelegt und vergeſſen haben. Die große Lehre 
vom objectiven Geiſt, welche die Wiſſenſchaft als ein un— 
verlierbares Gut betrachten darf, wird in dieſer Deutung 
vielleicht verſtändlicher als bei ihrem Urheber ſelbſt, welcher 
jene geiſtigen Mächte ganz abgelöst von allem ſubjectiven 
Thun und ohne Vermittlung nur als höhere Offenbarungs— 
ſtufen in der dialectiſchen Selbſtentwicklung des abſoluten 
Geiſtes erſcheinen läßt und ihnen damit allen realiſtiſchen 
Zuſammenhang entzieht. Ebenſo läßt aber auch dieſe Ent— 
ſtehungsweiſe begreifen, wie jene idealen Güter, Wiſſenſchaft 


102 


und Kunſt, Recht, Moral und Religion ihre Selbſtändigkeit 
unter einander entwickeln und behaupten können, wie Eines 
dem Andern vorauseilen oder von ihm überholt und zurück— 
gedrängt werden kann, wie dieſe Colliſionen zwiſchen Religion 
und Staat, Recht und Sitte, Wiſſenſchaft und Glauben, Er 
die Unluſt und den Zwieſpalt, den ſie dem einzelnen nach Har 
monie und Einheit verlangenden Gemüthe bereiten müſſen, 
ie Menſchheit in fortwährende unruhige Bewegung verſezen 
und zu den wichtigſten Reizmitteln ihres Fortſchritts gehören. 
Wenn wir uns nun neben dieſem Verlangen nach 
geiſtiger Anlehnung noch jenes Triebes der Gruppirung 
erinnern und als Drittes oder eigentlich Erſtes die natür— 
lichen Unterlagen aller menſchlichen Geſelligkeit, das räum— 
liche Zuſammenſein, den ſprachlichen Verkehr, den Aus— 
tauſch der Bedürfniſſe und Genußmittel nebſt den geogra— 
phiſchen Einflüſſen und der Vererbung der Eigenſchaften 
hinzudenken, welche zwar für ſich kein Band der Gemüther, 
aber eine Verflechtung der Intereſſen und Gewöhnungen 
bewirken, an die ſich leicht höhere Beziehungen anlehnen, 
ſo haben wir, wie ich glaube, die Elemente beiſammen, 
welche die Pſychologie als die erſten uud wirkſamſten Keime 
der Völkerbildung aufzuzeigen vermag. Wir ſehen wie 
vielerlei zuſammentreffen muß, um alle Vorbedingungen 
des vollen Begriffes zu vereinigen, wie dieſer aber auch 
Abſtufungen in ſich zuläßt, je nachdem das eine oder andere 
jener Elemente noch fehlt. Nicht jeder Ort, wo man ge— 
boren iſt, iſt eine Heimath, nicht jedes Land der Väter 
auch ein Vaterland. Ich kann durch die Gemeinſchaft von 


105 


Staat und Recht an ſolche gekettet jein, deren Sprache ich 
nicht verſtehe, deren Sitte, Bildung und Glauben mir fremd 
iſt. Die menſchliche Freiheit ſteht wieder über allen dieſen 
einzelnen Anziehungskräften; ich kann mich von Allem los— 
reißen, zu den Fremden gehen und mit König Davids Ahn— 
frau ſprechen: Dein Volk ſei mein Volk und dein Gott 
ſei mein Gott. Der Begriff des Volks iſt nicht durch rein 
objective Merkmale feſt umgrenzt, ſondern er erfordert auch 
die ſubjective Empfindung. Mein Volk ſind diejenigen, 
die ich als mein Volk anſehe, die ich die Meinen nenne, 
denen ich mich verbunden weiß durch unlösbare Bande. 
Und hier iſt eine Theiluug, ein Zwieſpalt der Empfindungen 
möglich; das eine Motiv kann mich zu dieſem, das andere 
zu jenem Kreiſe hinziehen; der Glaube kann mich einer 
Gruppe zuweiſen, von der mich der Verband der Gemeinde, 
des Staats, der Sprache, der Abſtammung trennt. Aber 
unſer Gemüth wird jede ſolche Theilung und Gebrochenheit 
ſeiner Stimmung als eine Störung empfinden und beklagen; 
es wird ſtets von einer ſtillen Sehnſucht begleitet ſein nach 
einer vollen einheitlichen Lebensgemeinſchaft. Es wird ihm 
als ein ideales Ziel die centrale, alle Lebensziele umſchlie— 
ßende Gruppe vorſchweben, in welcher alle die einzelnen 
Gruppirungsmotive ihren Halt- und Sammelpunkt finden, 
in der wir das volle Bewußtſein haben: dieß ſind die 
Unſern, die Angehörigen, zu denen wir ſtehen, mit denen 
wir ausharren, deren Geſchick wir theilen, von denen zu 
ſcheiden ein unerträglicher Gedanke wäre. 

Dieß ideale Ziel der Univerſal-Gruppe, der vollen 


104 
Lebensgemeinſchaft iſt es nun, was unſer deutſches Wort Volk 
in ſeinem tieferen Sinn bezeichnen will, ohne ſich darum auch 
jenen unvollkommeneren Formen, die durch die einzelnen 
Hauptmerkmale beſtimmt werden, zu verſchließen. f Und jo 
mögen wir es uns immerhin gefallen laſſen, wenn im natur— 
geſchichtlichen Sinn jede durch einen auf Abſtammung und 
Sprache gegründeten Typus ſich von ihren Nachbarn abgren— 
zende Gruppe, und im politiſchen Sinn jede durch Eine 
Staatsgewalt beherrſchte Menge ein Volk genannt wird. Wir 
müſſen dann, wenn auch mit widerſtrebendem Gefühl, die ver— 
wirrenden Folgerungen dieſes Sprachgebrauchs hinnehmen, 
daß der Einzelne zu zwei oder drei Völkern gehört und ge— 
ſagt werden kann: das belgiſche Volk beſteht aus zwei, das 
engliſche und ſchweizeriſche aus drei, das öſtreichiſche und 


ruſſiſche aus ich weiß nicht wie vielen — Völkern. In 
jenem volleren Sinn kann Niemand zu mehr als Einem 
Volk gehören, wohl aber auch zu gar keinem. Nicht jede 
natio, nicht jeder populus begründet in ihren Gliedern das 
Gefühl der vollen Zuſammengehörigkeit; die einen werden 
nie zu einem Volk, die andern erſt nach langen inneren 
und äußeren Kämpfen; die einen entſchwinden aus der 
Erinnerung der Menſchheit, wie wenn ſie nie geweſen wären; 
die andern graben auch über die Dauer ihres phyſiſchen 
Beſtandes hinaus das Gedächtniß ihres Wirkens für alle 
Zeiten in die Tafeln der Geſchichte ein. 

Es iſt Vieles, was zuſammentreffen muß, um jenem 
Ideal zu entſprechen und die Wirklichkeit bietet uns immer 
nur eine annähernde Löſung. Ein Land, groß und frucht— 


105 


bar genug, um eine dichte, zahlreiche, zum Selbſtſchuz gegen 
alle Nachbarn befähigte Menge zu ernähren, von mannigfal— 
tiger Gliederung, um eine vielſeitigere Entwicklung des wirth— 
ſchaftlichen und intellectuellen Lebens zu geſtatten; auf dieſem 
Boden eine ſprachgeeinigte Bevölkerung, die ihn bebaut und 
erkämpft hat und ſich durch gemeinſame Thaten und Leiden 
verbunden weiß; dieſe Menge geſchüzt und geordnet durch 
eine einheitliche Staatsgewalt, die ihrem Schooß entſprungen, 
mit ihren Intereſſen und Erinnerungen verwachſen iſt, und 
nun auf der Grundlage dieſer geſicherten Staatsordnung 
die Blüthe und Pflege aller jener idealen Güter der Menſch— 
heit, des intellectuellen, ſittlichen und religiöſen Lebens in 
freien und mannigfachen Formen, auch in Gegenſäzen und 
Kämpfen, übek welche ſich das befeſtigte Gemeingefühl über— 
legen und verſöhnend ausbreitet — dieß heißt, ein Volk 
ſein. Es iſt ein Ziel, des Schweißes der Edlen werth, die 
Sehnſucht von Jahrhunderten, von allen jenen bloßen 
Stamm-, Sprach- und Staatsgenoſſenſchaften geſucht und 
erſtrebt, von wenigen und meiſt nur auf kürzere Dauer 
erreicht; ein Urbild menſchlichen Daſeins, das den Dichtern 
und Denkern aller Zeiten vor der Seele ſtand. Mit kühnem 
und vielleicht die Bedingungen der Wirklichkeit überfliegen— 
dem Geiſtesſchwung hat ein deutſcher Denker, Fichte, ein 
ſolches Ideal gezeichnet, in jener achten ſeiner Reden an die 
deutſche Nation, welche die Ueberſchrift trägt: was ein Volk 
ſei in des Wortes höherer Bedeutung, und worin er Volk 
und Vaterland als Träger und Unterpfand der irdiſchen 
Ewigkeit darſtellt. Und der Dichter, dem der Vorwurf ge— 


106 


macht werden will, daß er nur dem individuellen Gefühl 
und Geiſtesleben, nicht auch dem der Gemeinſchaften ein 
volles Verſtändniß entgegengebracht habe, läßt denjenigen 
ſeiner poetiſchen Helden, welchem er am meiſten den Hauch 
des eigenen Geiſtes geliehen hat, ſich vermeſſen, daß er 
niemals ruhen und ewig raſtlos fortſtreben, ja ewig verloren 
ſein wolle, wenn er zum Augenblick ſprechen würde: ver— 
weile doch, du biſt ſo ſchön, und er läßt Fauſt ſeinen Einſaz 
verlieren, als er in gemeinnüziger That der Weisheit höchſten 
Schluß erkennt und jenen Augenblick als eingetreten erklärt 
bei dem Gedanken: Solch ein Gewimmel möcht ich ſehen, 
Auf freiem Grund mit freiem Volke ſtehen. 

Von dieſer Unterſcheidung niedrigerer und höherer 
Formen des Volksthums aus kann es nun vielleicht auch 
gelingen, auf jene am Eingang erwähnten Fragen über 
die logiſche und grammaticaliſche Natur dieſes Begriffes 
eine Antwort zu finden. Jene ungeſchichtlichen Horden 
und Stammgenoſſenſchaften, denen jede innere Entwicklung 
zu fehlen ſcheint, wo ſeit Jahrhunderten bei ſtets gleicher 
Beſchäftigung und engſtem Vorſtellungskreis jeder Einzelne 
in gleicher Weiſe als Typus des Ganzen dienen kann, 
mögen wir immerhin als bloße Varietäten einer Race oder 
Species betrachten, bei welchen das Ganze keinen weiteren 
Zweck erkennen läßt, als das ſtets gleiche Beiſpiel der 
Gattung immer von Neuem zu erzeugen, zumal da wir 
kleine Abweichungen und langſame Umbildungen ja auch 
bei den Organismen der Thier- und Pflanzenwelt nicht 
mehr als ausgeſchloſſen anſehen ſollen. Eine Schilderung 


107 


der Eigenschaften, Sitten und Gebräuche von Kamtſchadalen 
und Papuanegern, von Karaiben und Irokeſen macht uns 
einen ſehr verwandten Eindruck, wie wenn wir in der 
Naturgeſchichte von Bibern, Känguruhs und Gorillas leſen, 
wenigſtens inſoweit als jeder Einzelne den Typus ſeiner 
Art in gleicher Weiſe vertritt. Wenn ſodann in ganzen 
Staaten und Reichen ein auf rohe Gewalt und Willkühr 
geſtütztes Regiment über eine träge, paſſive, auf die engen 
Beziehungen eines ſtabilen Privatlebens beſchränkte Maſſe 
geführt wird, ſo wüßte ich nicht zu ſagen, warum auf eine 
ſolche Volksmenge ein höherer Begriff als der eines Col— 
lectivnamens angewendet werden ſollte. Wo dagegen ein 
Kulturvolk alle Kräfte und Anlagen der menſchlichen Natur 
in eigenthümlichen Formen und in der lebendigſten Wechſel— 
wirkung der Theile und des Ganzen fortentwickelt, da 
könnte ſich zwar vielleicht eine nüchternere Auffaſſung noch 
mit der Analogie eines Stromes, eines Waldes, eines Ge— 
birges begnügen, wo auch dem Ganzen Eigenſchaften zu— 
kommen, die das Einzelne nicht hat, und das Einzelne ſich 
ebenſo gebend als empfangend verhält, doch mag man, 
wenn man die Unähnlichkeiten dabei nicht ganz vergeſſen 
will, auch das höhere und in einzelnen Beziehungen zu— 
treffendere Bild eines Organismus gebrauchen. Wenn 
man aber mit dieſem Bild nun vollends ſoweit Ernſt machen 
will, daß man das Volk zu einem Individualbegriff, zu 
einem beſeelten Einzelweſen von einer höheren Ordnung 
der Geiſteswelt ſteigert, dem gegenüber von den atomiſti— 
ſchen wechſelnden Individuen die wahre und eigentliche 


108 
Realität zukomme, dann geſtehe ich mit meinen Gedanken 
zu ſolcher Höhe nicht mehr nachfolgen zu können. Von 
einem Volksgeiſt, Volkscharacter, einer Volksſeele können 
wir nur in demſelben Sinn reden, in welchem wir dieß 
auch vom Geiſt eines Zeitalters, vom Charakter einer Gegend, 
Verſammlung, von der Seele eines Gedichtes thun. Der 
Gedanke, eine Völkerpſychologie als eine beſondere und 
coordinirte Wiſſenſchaft neben die ſeitherige Seelenlehre zu 
ſtellen, iſt zwar von geiſtvollen Männern erfaßt und zu 
begründen verſucht worden, er wird ſich aber ſchwerlich auf 
die Dauer zu behaupten vermögen. Die Characteriſtik der 
Kulturvölker wird der Hiſtoriker auch in Zukunft unter 
ſeine Aufgaben ſtellen; die der ungeſchichtlichen Horden 
und Stämme wird er dem Anthropologen und Geographen 
abtreten; die eigenthümliche Wechſel- und Maſſenwirkung 
der pſychiſchen Individualkräfte in der Geſellſchaft iſt das 
beſondere Gebiet, ja das Grundthema der ſocialen Wiſſen— 
ſchaften. Pſychologie wird es immer nur Eine geben. 
Ein geiſtiges Einzelweſen ohne die einheitliche Spitze eines 
Selbſtbewußtſeins wird aber allen denen ein phantaſtiſcher 
Begriff bleiben, welche ſich einen Willen ohne ein Wollen— 
des, Gedanken ohne ein Denkendes nicht vorzuſtellen im 
Stande ſind. Wohl giebt es eine Form, in welcher ſich 
ein Volk zum lebendigen, denkenden und wollenden Einzel— 
weſen zu entwickeln vermag; es iſt dies die Inſtitution des 
Staats, in welcher ein einheitlicher, ordnender, intelligenter 
Wille die Kräfte, Anlagen und Richtungen eines Volks zur 
realen äußeren Geſtaltung bringt, und das Volk zu einem 


109 


bejeelten, perſönlichen Weſen wird. Darüber hinaus liegt 
nichts Faßbares mehr. 

Geſtatten Sie mir dieſe Bemerkungen über mein Thema 
noch mit einigen flüchtigen Bildern aus dem Buch der Ge— 
ſchichte zu beleben. Der Gedanke, ein Volk zu ſein in des 
Wortes höherer Bedeutung, als geſchloſſene Gruppe ſich 
die höchſten Aufgaben vor Augen zu ſtellen und mit Unter— 
ordnung aller andern Zwecke zu verfolgen, iſt niemals 
ernſter und großartiger erfaßt und ausgeführt worden, 
als von den Kindern Iſraels. Hier war, wie Fichte will, 
Volk und Vaterland Träger und Unterpfand einer irdiſchen 
Ewigkeit, und das Volksleben wie ein permanenter Dienſt 
im Heiligthum betrachtet. Wenn es dieſem Volk gleichwohl 
zu keiner Epoche ſeiner Geſchichte gelungen iſt, ſein theore— 
tiſches Ideal auch nur annähernd in die Gegenwart ein— 
zuführen, wenn ſich die Hoffnung dieſer Verwirklichung früh 
genug auf die unbeſtimmte Zukunft, auf die Erſcheinung 
eines Retters und Geſalbten des Herrn zurückzog, ſo lag 
der Grund hievon wohl auch in äußeren Dingen, in der 
Lage und Kleinheit des Gebiets, der Nähe mächtiger Nach— 
barn, in der allen Prieſterſtaaten eigenthümlichen Vernach— 
läßigung kriegeriſcher Eigenſchaften, aber doch noch weit 
mehr in den inneren Mängeln jenes Ideals ſelbſt, in der 
Enge des Geſichtskreiſes, in der Unmöglichkeit, bei Ver— 
achtung oder Unkenntniß von Wiſſen und Kunſt, von höherer 
Geſelligkeit, von Mannigfaltigkeit der Beſchäftigung, dem 
Leben noch irgend einen conereten Inhalt zu geben, an 
dem ſich jene ſtetige Beziehung auf das Göttliche lebendig 


beweiſen konnte, jo daß nach Befolgung all der vielen Ge— 
bote und Verbote dem Einzelnen kein weiteres Ziel vor 
Augen geſtellt werden konnte, als ruhig unter ſeinem Feigen— 
baum zu ſizen und dereinſt zu ſeinen Vätern verſammelt 
zu werden oder in Abrahams Schooße zu liegen. Den— 
noch hat dieß Volk noch vor ſeiner Auflöſung als Staat 
der Welt die vollendetſte Frucht menſchlichen Gemüths und 
Geiſtes zurückgelaſſen und bewährt nun ſeit langen Jahr— 
hunderten der Zerſtreuung die wunderbare Gruppirungs— 
kraft ſeiner Stammes- und Glaubenseinheit. 

In anderer Weiſe, mit helleren Augen, mit freierem 
Geiſte haben die Hellenen, der intelligenteſte unter allen 
Zweigen der Menſchheit, die Aufgabe ergriffen, in den 
Sammelpunkt des geſchloſſenen Volksſtaats die Erfüllung 
aller menſchlichen Lebenszwecke zu verlegen. Niemals iſt der 
Einzelne mehr im Ganzen aufgegangen und nie hat er von 
dieſem Ganzen einen reicheren Gehalt und Schmuck ſeines 
eigenen Lebens zurückempfangen als in jenen Städterepu— 
bliken an den Ufern des Eurotas und Ilyſſus. In dauer— 
hafteren, aber gebundeneren Formen bewegte ſich dieſe 
Hingebung in Sparta, wo die Aufgabe nur ſchien, einer 
Kriegerkaſte die bleibende Herrſchaft im eroberten Land und 
die politiſche Leitung der Nachbarſtaaten zu ſichern. In 
flüchtigeren, aber reicheren und glanzvolleren Geſtalten 
drängte ſich die atheniſche Volksherrſchaft von raſch erſtie— 
gener Höhe noch raſcher dem Abgrund ihrer inneren Wider— 
ſprüche entgegen, wußte aber im Sinken und Erlöſchen noch 8 
mehr zündende und leuchtende Funken des Geiſtes in die 


111 


Welt hinauszuſprühen, als andere Völker in langen Jahr— 
tauſenden zu erzeugen vermocht haben. 

Wenn bei den Juden die Stammeseinheit Alles, bei 
den Griechen noch Vieles galt, ſo war ſie bei den Römern 
ſchon von Anfang an nicht vorhanden; hier iſt der Staat 
nicht aus dem Weſen des Volkes, ſondern das Volk erſt 
aus der Entwicklung des Staates herausgewachſen; ſie ſind 
das erſte Beiſpiel eines nicht ethnographiſcheu, ſondern 
politiſchen Volks. Bei gleicher Bürgertugend aber größerer 
Achtung vor der geſchichtlich gewordenen und ſelbſtgeſchaf— 
fenen Ordnung, wußten ſie zuerſt das Privatleben von dem 
öffentlichen als eine Sphäre gleicher perſönlicher Freiheit 
ſcharf und ſtreng abzugrenzen und der Logik allgemein an— 
wendbarer Principien zu unterwerfen, aber troz dieſer 
Scheidung und durch dieſelbe ihrem Staatsgebäude eine 
Stärke uud Dauer zu geben, die niemals wieder erreicht 
worden iſt. Das Weltreich aber, das ſie durch die kluge 
und rückſichtloſe Verwendung dieſer gewaltigen Mittel grün— 
deten, iſt das Grab ihrer eigenen und aller Völkerfreiheit 
geworden, und Jahrhunderte hindurch mußte ſich jener un— 
ausrottbare Trieb der Gruppirung auf die localen und 
geſelligen Zwecke, die Philoſophenſchulen, die geheimen und 
offenen Kulte und Secten zurückziehen und hier um ſo 
tiefere Wirkungen üben, je mehr ihm bei reichen Schätzen 
der Bildung der natürliche Spielraum entzogen war. 

Das Meiſte und Beſte aber von Allem, was unſere 
bildungsſtolze Gegenwart aufzuweiſen hat, ſtammt immer 


112 
noch aus der Erbſchaft jener drei Völker des Alterthums, 
Juden, Griechen und Römer. 

Das dunkle Jahrtauſend, deſſen vieldeutigen Inhalt 
wir unter dem unbeſtimmten Namen des Mittelalters zu- 
ſammenzufaſſen uns gewöhnt haben, führt zwar ganz neue 
Völter auf die Weltbühne, aber doch zunächſt nur, um ſie 
zu miſchen, zu zerſezen und in die Dienſtbarkeit der alten 
Ueberlieferungen zu bringen. Wenn wir uns an den 
Menſchen jener Zeit die Frage gerichtet denken: wer biſt 
Du und zu wem gehörſt Du, ſo würde er wohl zuerſt 
mit den Worten des lutheriſchen Catechismus geantwortet 
haben: ich bin ein Chriſt, und hätte, wenn man noch 
weiter fragte, hinzugefügt: ich bin der Dienſt- und Lehens— 
mann des Grafen oder Abtes So und So. Das weiteſte 
und allgemeinſte Band der Religion, und wieder das 
engſte und nächſte der localen Beziehungen waren die 
herrſchenden Motive der Gruppirung; in der großen Mitte 
zwiſchen beiden lag nichts. Hiefür fehlte ſchon die nöthige 
Vielſeitigkeit unmittelbarer Berührungen. Für die meiſten 
Menſchen war der Beſuch des nächſten Jahrmarkts oder 
Wallfahrtsortes das größte Reiſeziel und bedeutendſte Er— 
lebniß. Nicht blos Sprachen, ſondern ſchon Dialekte bildeten 
die Grenzen des Verſtändniſſes. Für die leitenden Klaſſen 
war das Latein lebende und Welt-Sprache. 

Aber langſam und in der Stille bereiteten ſich neue 
Anſchauungen vor; gegen Ende des Mittelalters treten die 
neueuropäiſchen Kulturvölker aus der verworrenen Maſſe 
als geſchloſſene Gruppen heraus, zunächſt die Spanier, die 


113 

Franzoſen, die Engländer. Bei ihnen allen gieng die Bil- 
dung eines neuen Volkes aus zuvor getrennten Stämmen 
und Provinzen Hand in Hand mit der Ueberwindung 
äußerer oder innerer Feinde und der Erſtarkung einer ein— 
heitlichen Staatsgewalt; die Grenzlinien der Stämme ver— 
ſchwanden hinter der politiſchen Einheit. Aus dem weiten 
Hintergrund gleichartiger Bildung hebt ſich zuerſt wieder 
das beſondere Volksthum in kräftiger Schattirung ab. 

Auch die Deutſchen, die damals an Macht, Wohlſtand 
und Bildung hinter keinem der Nachbarn zurückſtanden, 
nahmen um dieſelbe Zeit, nachdem ſie ſo lange bei äußerer 
Herrſchaft doch in allen geiſtigen Dingen die Schüler der 
romaniſchen Völker geblieben, den Anlauf, dieſe Lehrjahre 
abzuſchließen und eine Geſtaltung ihres religiöſen und poli— 
tiſchen Lebens zu ſuchen, die ihrem jezt entwickelteren Eigen— 
weſen entſpräche. Welchen Erfolg dieſer Verſuch hatte, 
wie wir uns daran verbluteten, wie wir in zwei große 
Lager geſpalten, zerriſſen in Hunderte von Territorien, deren 
meiſte man nicht Staaten, ſondern Zerrbilder von Staaten 
nennen konnte, den Hohn und frechen Uebermuth des nur 
durch ſeine Einigung ſtärkeren Nachbars ertragen mußten, 
wie wir an uns ſelbſt zu verzweifeln anfiengen, wie dann 
langſam ein Stern der Hoffnung aufgieng, ein geiſtiges 
Band der Sprache, Litteratur und Wiſſenſchaft die getheilten 
Stämme umflocht, wie das Verlangen, endlich ein Volk zu 
werden und ein Vaterland zu haben, allgemeiner und bren— 
nender wurde, wie zulezt die Erfüllung eintrat in Formen 
und Wegen, die Manchen unerwünſcht, für Alle überraſchend 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 8 


114 


und überwältigend waren, — wem brauche ich alles dieß 
zu ſagen? Ein Volk für den Ethnographen ſind wir ja 
ſchon längſt und immer geweſen, ſogar wenn man darauf 
Werth legen wollte, reiner und weniger gemiſcht, als die 
andern alle; ein politiſches Volk hätte uns Jemand in den 
Zeiten unſerer großen Kaiſer auch nennen können, nur 
fehlte das Bewußtſein davon und die geiſtige Selbſtändig— 
keit; ein Volk im ächten wahren Sinn des Worts, dem 
wir uns angehörig wiſſen und empfinden, das uns ein 
Vaterland giebt, ſind wir erſt durch die neueſten Ereigniſſe 
geworden; es ſind dafür nicht alle, aber die entſcheidenden 
Bedingungen erfüllt worden. 

Man ſollte denken, daß unſere ganze bisherige Ge— 
ſchichte nur eine Einleitung, nur Wander- und Lehrzeit 
war und jezt erſt die Meiſterjahre angebrochen wären. Wir 
haben nicht Zeit rückwärts zu ſchauen und ſehen uns 
gleich vor die größten Aufgaben geſtellt. Vieles könnte 
uns hiebei ängſtlich machen, aber Eine Bürgſchaft des Er— 
folges muß ich nennen, da ihre Erwähnung zugleich den 
Abſchluß meines Themas bildet. 

Wie der Einzelne nichts Großes vollbringt ohne Ver— 
trauen auf ſich ſelbſt und ein gewiſſes Gefühl ſeines Werthes, 
der Werth ſeiner Leiſtungen aber keineswegs von dem Maaß 
dieſes Selbſtgefühls abhängt, ſo iſt auch bei den Völkern 
der Nationalſtolz, das Hochgefühl der eigenen Größe nur 
ein unentbehrliches Mittel, aber nicht der Zweck der Sache. 
Nicht darin beſteht die Bedeutung eines Volkes in der 
Entwicklung der Menſchheit, daß es für ſich etwas ganz 


115 


Beſonderes und Unvergleichliches zu fein glaubt, ſondern 
daß es für eine beſtimmte Seite und Form des allgemeinen 
Menſchenideales einen vollen und für alle Zeiten muſter— 
giltigen Ausdruck findet und den in der Natur unſerer 
Gattung begründeten Reichthum vielfacher und gleichwerthi— 
ger Geſtalten menſchlichen Daſeins zur Anſchauung bringt. 
Die Idee der Menſchheit ſteht noch höher als alles Volks— 
thum; in dem Geiſterreigen ahnender Völker breitet die 
Menſchheit die Fülle ihres Inhaltes aus. Nun hat aber 
noch nie die eigenthümliche Gemüthsart eines Volkes zu 
dieſer Idee der Menſchheit eine directere Beziehung gehabt 
als die der Deutſchen. Andere Völker dienten ihr ohne es 
zu wiſſen und zu wollen. Uns aber hat der beſondere Gang 
unſerer Geſchicke dahin geleitet, jenes Ziel unmittelbar und 
mit Bewußtſein als unſer Wahrzeichen aufzuſtellen. Man 
hat uns jo oft geſcholten, daß wir das Eigene nicht zu 
ſchätzen wiſſen und das Fremde bewundern; eine rechte 
Doſis von Nationalſtolz uns einzuimpfen, hat niemals 
gelingen wollen, und nachdem wir die größten Thaten 
fertig gebracht, laſſen wir uns kaum für eine Erinnerungs— 
feier daran erwärmen. Mit dem beſten Willen bringen 
wir es nicht dahin, das Fremde zu verachten, den Haß 
der Feinde mit der gleichen Erregung zu erwiedern; wir 
können nicht davon laſſen, das Gute zu ſuchen und anzu— 
erkennen, wo es auch ſei. Vom Weltbürgerthum, von einer 
Weltlitteratur aus ſind wir zum Bewußtſein unſerer natio— 
nalen Aufgabe geführt worden. Die Poeſie keines Volkes 
hat jo direct nach den Höhen der Menſchheit den Blick ge— 
8 * 


116 

richtet; die Wiſſenſchaft keines andern hat einen ſo uni— 
verſellen und internationalen Charakter. Zur Nation euch 
zu bilden, hat uns Schiller geſagt, ihr hofft es, Deutſche, 
vergebens; bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menſchen 
euch aus. Manche unſerer Eigenſchaften halten uns auf 
oder ziehen uns vom Ziele ab, aber dieſer ideale Zug, die 
Liebe zur Wahrheit und Gerechtigkeit und Humanität wird 
uns immer wieder auf die rechte Straße weiſen. Und bei 
dieſem eigenthümlichen Zug nach dem allgemein Menſch— 
lichen hin dürfen wir vielleicht hoffen, daß wir in den 
ſchweren Kämpfen und Aufgaben, die unſerer warten, nicht 
allein ſein werden, ja daß der Genius der Menſchheit als 
ſtiller Bundesgenoſſe an unſerer Seite ſtehen wird. 


Ueber die Lehre von den Seelenvermögen. 


6. Nov. 1873. 


Man ſollte denken, die Pſychologie könnte und müßte 
die Königin aller Wiſſenſchaften ſein, und wer die höchſte 
irdiſche Erſcheinung, den Menſchengeiſt zu deuten wüßte, 
für den würde auch Natur und Welt kein Räthſel mehr 
bieten. In Wirklichkeit aber iſt bekanntlich die Seelenlehre 
noch gar weit entfernt, einen ſo hervorragenden Plaz unter 
ihren Schweſtern einzunehmen. Wiewohl ſie auch in dieſem 
Stand der Erniedrigung noch allen andern Wiſſenszweigen 
die Ausgangspunkte und lezten Bürgſchaften ihrer Erkennt— 
niß zu bieten hat, ſo iſt ſie doch im Ganzen unter dieſen 
wie der ſchwerſte, ſo auch der unvollkommenſte. Ich wüßte 
wenigſtens keine Wiſſenſchaft, die noch ärmer wäre an 
feſten, allgemein anerkannten, und von jedem neuen 
Forſcher ohne Weiteres vorausgeſezten Wahrheiten. Und 
zwar trifft die Unſicherheit vielleicht noch weniger die ein— 
zelnen empiriſchen Erſcheinungen, die uns im praktiſchen 
Leben vorkommen, als die Anfänge und die allgemeinſten 
grundlegenden Begriffe. Nicht nur die Fragen über das 
Weſen der Seele ſind beſtritten, ob überhaupt eine Seele 
als ein Ding und reales Etwas anzunehmen ſei oder ob 


118 

dieſer Begriff nur als ein zuſammenfaſſender Name für 
eine Reihe von Vorgängen und Erſcheinungen einer inneren 
Wahrnehmung gebraucht werde, ſondern ſchon die allererſten, 
auch nur ſummariſchen Unterſcheidungen und Eintheilungen 
dieſer inneren Vorgänge machen uns die größten Schwierig— 
keiten. Ich denke hier an die bekannte Lehre von den 
Seelenvermögen. Die Meiſten von uns haben wohl in 
der Schule gelernt oder in Büchern geleſen, daß der menſch— 
lichen Seele drei Grundvermögen beizulegen ſeien, die wir 
am häufigſten mit den drei kurzen Worten, Denken, Fühlen, 
Wollen bezeichnet hören, wobei jedoch für Denken auch Vor— 
ſtellen oder Erkennen, für Wollen auch Streben oder Be— 
gehren, ſeltener für Fühlen auch Empfinden geſagt wird. 
Dieſe Lehre macht den Anſpruch, daß durch ſie für alle 
Vorgänge unſeres pſychiſchen Lebens eine erſchöpfende Ein— 
theilung geboten ſei, ſo daß, was auch immer unſer Be— 
wußtſein als einen Act innerer Erfahrung zu unterſcheiden 
vermag, entweder ein Vorſtellen oder ein Begehren oder 
ein Fühlen oder ein aus zwei oder allen drei ſolchen Ele— 
menten Gemiſchtes ſein müßte. Sie will aber noch weiter 
damit ſagen, daß jene drei Thätigkeiten einander gleichge— 
ordnet, daß ſomit keines aus dem andern abgeleitet ſei, 
ſondern alle drei auf einen gemeinſamen Urſprung, nemlich 
eben die Seele zurückweiſen. 

Es wäre nun in der That ein großer Schritt in der 
Entwicklung einer noch ſo unfertigen Wiſſenſchaft, wenn dieſe 
Unterſcheidung von drei Grundvermögen der Seele wirklich 
feſtſtünde. Sie hätte dann wenigſtens einmal feſten Boden 


119 


unter den Füßen, es wären die erſten Pfeiler eingeſchlagen, 
das Fundament, auf dem ſich weiter bauen ließe und die 
pſychologiſchen Begriffe ſchwebten nicht mehr jo haltlos und 
zerfahren in der Luft. Allein es fehlt noch gar viel daran, 
daß jener Saz von den drei Seelenvermögen bereits als 
ein ſicheres Beſizthum der Wiſſenſchaft anzuſehen wäre und 
es ſtehen ihr noch mancherlei und erhebliche Einwürfe gegen— 
über. Befremdlich iſt es ſchon, daß er noch von ſo jungem 
Datum, kaum 100 Jahre alt und nach kurzer Herrſchaft 
ſchon wieder lebhaft beſtritten iſt. Man ſollte denken, daß 
eine einfache Grundwahrheit früher und allgemeiner erkannt 
und einmal erkannt nicht wieder beſtritten worden wäre. 
Die Philoſophen des Alterthums ſprechen bald von zwei, 
bald von drei oder vier Grundkräften der Seele, wobei ſie 
zwar wohl theilweiſe an das eine oder andere jener drei 
Vermögen anſtreifen, aber doch im Weſentlichen von andern 
Geſichtspunkten ausgehen. Beſonders beliebt und dem po— 
pulären Verſtändniß naheliegend erſchienen immer Zwei— 
theilungen, ſei es, daß man in der Erinnerung an den 
Gegenſaz von Körper und Geiſt oder von Thieriſchem und 
Menſchlichem die Sinnlichkeit und Vernunft unterſchied und 
dabei zur Sinnlichkeit nicht blos die Wahrnehmungen, ſon— 
dern auch die Empfindungen und Begierden, zur Vernunft 
auch das vernünftige Wollen rechnete, oder daß man nur 
animus und mens, Sinn und Trieb, Verſtand und Charak— 
ter, Herz und Kopf, Wille und Vorſtellung auseinanderhielt. 
Das Gefühl wurde lange nicht als eine beſondere eben— 
bürtige Seelenthätigkeit anerkannt, ſondern lief wie ein 


120 N 


blinder Paſſagier, ein zufälliges und beiläufiges Anhängſel, 
das einer beſonderen Beachtung weder fähig noch werth 
erſchien, mit nebenher. 

Wenn auch nicht ohne anſtreifende Vorläufer, war es 
zuerſt Kant, der jene Trias von Seelenvermögen feſtgeſtellt 
und zur Anerkennung in den pſychologiſchen Lehrbüchern ge— 
bracht hat, und ſie liegt ſeinen drei Hauptwerken in der Weiſe 
zu Grunde, daß er in der Kritik der reinen Vernunft das Er— 
kenntnißvermögen, in der Kritik der praktiſchen Vernunft das 
Begehrungsvermögen, in der Kritik der Urtheilskraft das Ge— 
fühlsvermögen darauf hin unterſucht hat, welche unter den 
jedem dieſer Vermögen zukommenden Begriffen der Erfahrung 
entnommen und welche als ein eigener, urſprünglicher, aprio- 
riſcher Beſiz des Menſchengeiſtes zu der Erfahrung hinzuge— 
bracht und in ſie hineingelegt werden. Während nun dieſe 
Kantiſche Theorie im Allgemeinen ſowohl in die deutſche 
Wiſſenſchaft als in den Begriffsvorrath der gebildeten Klaſſen 
Eingang gefunden hat, begegnete ſie auch mancherlei Anfech— 
tungen, beſonders einer ſcharfen und einſchneidenden Kritik 
von Seiten Herbarts und ſeiner Schule. Der Widerſpruch 
kehrte ſich hiebei weniger dagegen, daß man überhaupt die 
verſchiedenen Vorgänge des Seelenlebens in jenen drei Klaſſen 
zur Ueberſicht und für den praktiſchen Gebrauch unterbringen 
könne, als daß an die Stelle der einheitlichen und einfachen 
Seele drei von einander unabhängige Grundkräfte geſezt 
werden, deren ineinandergreifendes Zuſammenwirken nur 
wieder durch die Annahme weiterer, eben hiezu dienender 
Vermögen begreiflich gemacht werden könnte. Die poſitive 


121 


Deutung des Seelenlebens, wie fie in dieſer Schule üblich 
ift, ſtellt ſodann die Vorſtellungen und deren Bewegungen 
an die Spize der Pſychologie, ſo daß auch alles Fühlen 
und Begehren nur als ein abgeleiteter, durch Druck und 
Spannung, durch Steigen und Sinken von Vorſtellungen 
veranlaßter Zuſtand der Seele erſcheint. 

Da nun dieſe Auffaſſung eine weite Verbreitung und 
großes Anſehen in der deutſchen Philoſophie der Gegenwart 
gewonnen hat, und jedenfalls der kritiſche Theil der Herbart— 
ſchen Sätze noch Beachtung finden wird, wenn das, was an 
die Stelle der alten Lehre geſezt werden ſoll, als Ganzes 
wenige Anhänger mehr zählen dürfte, ſo erſcheint die frühere 
Theorie immerhin nicht mehr als eine ſichere Errungenſchaft, 
wofür ſie eine Zeitlang gelten konnte, ſondern als ein frag— 
licher und erſchütterter Beſiz der Wiſſenſchaft, und es iſt weder 
eine überflüſſige, noch, wie ich glaube, eines allgemeineren 
Intereſſes entbehrende Aufgabe, die Berechtigung der Lehre 
von den drei Seelenvermögen zu prüfen und zu beſprechen. 
Erlauben Sie, daß ich ohne jeglichen Anſpruch, etwas Er— 
ſchöpfendes oder Abſchließendes über ein ſo weitgreifendes 
Thema zu ſagen, Ihnen einige Anſichten darüber vorlege. 

Es ſchien mir immer für mancherlei pſychologiſche 
Fragen lehrreich und fruchtbar, darauf zu achten, welche 
Methode wir anzuwenden und welcher Ausdrücke wir uns 
zu bedienen pflegen, wenn wir ein menſchliches Individuum 
in Worten beſchreiben und von andern unterſcheiden wollen. 
Wenn es ſich nur um eine Schilderung der körperlichen 
Eigenſchaften handelt, ſo erſcheint das Verfahren ſehr ein— 


122 

fach. Jeder Steckbrief, den wir in der Zeitung leſen, jedes 
Signalement in einem Reiſepaß giebt uns darüber Aus— 
kunft. Es werden, wie Sie wiſſen, dabei eine mäßige Zahl 
von Rubriken ſchablonenhaft aufgeſtellt, neben Geſchlecht 
und Alter in der Regel die Größe, die Figur, die Haare 
nach Farbe und Fülle, Stirne, Naſe, Augen, Wangen, 
Mund, Zähne und in jeder dieſer Rubriken wird ein kurzes 
Prädikat beigefügt, das ein quantitatives Verhältniß, eine 
Dimenſion, eine Farbe oder Aehnliches ausdrückt, wie z. B. 
groß, dicht, breit, ſchwarz u. ſ. f. So grob nun auch die 
Umriſſe eines ſo gezeichneten Bildes ſind, ſo iſt es doch 
überraſchend, daß es durch ſo einfache Mittel mit einem 
Duzend Worte gelingt, ein Individuum von Hundert Tau— 
ſenden, ja Millionen auszuſondern. Man ſieht daran wie 
alle Individualität nur darin liegt, daß Merkmale, welche 
Allen zukommen, nur in verſchiedenen Maaßen und Graden, 
ſich bei dem Einzelnen in einer beſtimmten Miſchung und 
Combination dieſer Maaße zuſammenfinden. Unzählige 
junge Männer mögen eine unterſezte Figur und dabei blaue 
Augen haben; wenn aber hinzugefügt wird, blonde und 
krauſe Haare, ſo ſind es ſchon nur Wenige, die dieſe vier 
Merkmale theilen; und ſo geht es fort, wenn ein fünftes, 
ſechstes, ſiebentes Kennzeichen hinzutritt; der Kreis wird 
immer kleiner, die Möglichkeit der Combination immer 
größer; jeder einzelne Zug für ſich kommt Unzähligen zu, 
aber dieſer beſtimmte Complex von Zügen iſt ein Unicum. 

Sollte nun dieſe Methode, die für die körperliche Cha— 
racteriſtik ſo praktiſche Dienſte leiſtet, nicht auch für die 


123 
pſychiſche oder geiſtige Seite anwendbar ſein? Sollte die 
Einzigkeit des Individuums hier in etwas Anderem be— 
ſtehen als daß Gattungsmerkmale ſich in dieſer beſtimmten 
Miſchung ihrer Arten und Maaße doch nur dieß Einemal 
begegnen? Allein wenn wir dieß verſuchen, ſo ſtoßen wir 
gleich auf die Schwierigkeiten: wie heißen denn die Rubriken, 
die in die Schablone einzutragen wären, die Prädikamente, 
die jenen Signalements der Steckbriefe entſprechen würden? 
Die Sprache bietet uns zwar eine Unzahl von pſycholo— 
giſchen Begriffen, aber ſie decken oder durchkreuzen oder 
widerſprechen ſich und jede Auswahl erſcheint willkührlich 
und mangelhaft. Machen wir nun die Probe mit den drei 
Grundkräften oder Seelenvermögen, ſo ſehen wir uns ſofort 
enttäuſcht. Wenn ich von irgend Jemand fragen wollte, 
was hat er für ein Vorſtellungs- oder Gefühls- oder Be— 
gehrungsvermögen, ſo muß ich die Fragſtellung als eine 
falſche, wo nicht alberne erkennen. Denn welche Art von 
Prädikaten ich auch gebrauchen will, groß oder klein, ſchwach 
oder ſtark, eng oder weit, ſtill oder bewegt, oder was ſonſt, 
ſo entſteht ein Widerſinn. Denn Niemand hat ja ein Be— 
gehrungsvermögen nur im Allgemeinen, ſondern Alle be— 
gehren, aber der eine dieſes, der andere jenes und Jeder 
von dem, was er begehrt, das Eine wieder lebhafter und 
heftiger als das Andere. Den Einen freut es, wie uns 
der Dichter ſagt, den Staub von Olympia aufzuwirbeln, 
den Andern das Korn von der libyſchen Tenne in ſeine 
Scheune zu ſammeln. Niemand begehrt Alles, Jedermann 
Etwas und Vieles. Ebenſo iſt es mit dem Vorſtellen und 


124 


Fühlen. Alle ſtellen vor, alle fühlen, aber ihr Vorſtellen 
und Fühlen iſt ein in ſo mannigfaltiger Weiſe abweichen— 
des, daß wenn ich das Ganze mit einem einzigen Prädikat 
verbinden wollte, es ungefähr lauten müßte, wie wenn 
Jemand ſagte: das Pflanzenreich iſt gut oder es iſt ſchlecht, 
es iſt giftig oder wohlſchmeckend, groß oder klein. 

Um nun feſtere und brauchbarere Anhaltspunkte zu 
gewinnen, verſuchte ich eine rein empiriſche, oder wenn man 
will, ſtatiſtiſche Methode anzuwenden. Ich bemerkte mir 
alle Formeln und ſprachlichen Ausdrücke, durch welche wir 
einzelne Menſchen zu characteriſiren pflegen, mochten ſie 
nun in Büchern oder im Leben, bei Dichtern oder Geſchicht— 
ſchreibern, für hervorragende oder alltägliche Perſönlich— 
keiten, in deutſchen oder in anderen mir bekannten Sprachen 
begegnen, und ich ſah jedes der Merkmale darauf an, was 
eigentlich damit geſagt, welche Seite des Seelenlebens da— 
durch beſtimmt werden wolle. Man hat auf dieſem Wege 
raſch Hunderte von Prädikaten zuſammen, aber man iſt 
bald überraſcht zu bemerken, daß ſie ſich doch in nur wenige 
Klaſſen oder Gruppen ordnen laſſen, denen auch die ver— 
einzelten Nachzügler, auf die man ſpäter noch ſtößt, un— 
ſchwer einzureihen ſind. 

Wenn wir von Jemand ausſagen, daß er von den 
Gegenſtänden ſeiner ſinnlichen Wahrnehmung ſich die Ge— 
ſtalt, Größe und Farbe leicht und ſicher einpräge, den Ort 
dieſer Wahrnehmung oder einen einmal zurückgelegten Weg 
nicht wieder vergeſſe, oder daß er Sinn für mechaniſche 
Cauſalität habe, jede Maſchine ſchnell begreife, oder daß 


125 


er gut erzähle oder ſeine Meinungen überzeugend darzu— 
legen und gegen Einwürfe zu begründen wiſſe, daß er 
leicht Sprachen lerne, daß er ſeine Vorſtellungen vielfältig 
unter einander in immer neue Combinationen bringe, oder 
daß er Anlage für Mathematik habe, aber einer abſtracten 
Gedankenbewegung nur ſchwer zu folgen vermöge, ſo iſt 
leicht zu erkennen, daß wir mit dieſen und hundert ähn— 
lichen Prädikaten den Intellect eines Menſchen kennzeichnen, 
ſeine intellectuellen Anlagen und Kräfte, die Vorſtellungs— 
reihen, die ſein Bewußtſein erfüllen, aber nicht nach ihrem 
Inhalt, ſondern nach ihren formalen Seiten, ihrem Fluß, 
dem Grad ihrer Beſtimmtheit, der Art ihrer Bewegungen 
und Verknüpfungen. 

Von einer ganz andern Art ſind dagegen Prädikate 
wie die folgenden. Wir hören von Jemand, daß es ihm 
eine wichtige Herzensangelegenheit ſei, gut und viel zu 
eſſen, eine noch wichtigere, gut und viel zu trinken, oder 
daß er für die Triebreize des ſexuellen Lebens in hohem 
Grade empfänglich ſei, oder er ſei ſehr ſparſam und auf 
Nichts ſo ſehr, wie auf die Vermehrung ſeines Vermögens 
bedacht; er ſei geſellig und könne keine Stunde allein ſein; 

für ſeine Handlungsweiſe ſei es ein entſcheidender Punkt, 
was die Leute darüber ſagen. Eben dahin gehören aber 
auch die Urtheile, es ſei Jemand gutherzig, mitleidig und 
könne keine Fliege leiden ſehen, oder er ſei wißbegierig 
und intereſſire ſich für wiſſenſchaftliche Fragen auf dieſem 
oder jenem Gebiet; er liebe die Muſik und die Gaben der 
Poeſie, während ihn die bildenden Künſte kalt laſſen; ſein 


126 


Rechtsgefühl ſei ſtärker entwickelt als die Empfänglichkeit 
für die Regungen des Gewiſſens, ſociale und politiſche 
Fragen beſchäftigen ihn lebhafter als kirchliche und religiöſe 
Dinge. Alle dieſe und ähnliche Prädikate, ſo buntſcheckig 
und fremdartig ſie ſich neben einander ausnehmen, haben 
doch den gemeinſamen Ausgangs- und Sammelpunkt, daß 
ſie angeben, auf was ein Menſch ſein Intereſſe und ſeine 
Aufmerkſamkeit richtet, welche Motive ihn beſtimmen, was 
er für Güter hält, die er erſtrebt, was für Uebel, die er 
vor anderen vermeidet, oder mit andern Worten, ſie ſagen 
uns, welche unter den verſchiedenen in die menſchliche Natur 
eingepflanzten Triebreizen, auf denen alle unſere Vorſtel— 
lungen von Gütern des Lebens ruhen, auf ein Individuum 
eine ſtärkere, und welche eine ſchwächere Wirkung ausüben; 
ſie bieten uns zuſammen die Scala des menſchlichen Trieb— 
lebens mit Angabe der den einzelnen Trieben zukommenden 
Stärkegrade; ſie geben den Inhalt, die Ziele und Zwecke, 
in welche wir den Werth des Menſchenlebens zu ſezen 
pflegen. 

Es giebt nun aber noch eine dritte Art von Unter— 
ſcheidungsmerkmalen der Perſönlichkeiten. Der eine er— 
ſcheint uns lebhaft und leicht erregbar, der andere ruhig 
und ſtill, bei jenem wie bei dieſem können die einzelnen 
Eindrücke und Regungen flüchtig oder nachhaltig ſein. Auch 
die Empfänglichkeit für Luſt und Unluſtgefühle hat ſehr 
verſchiedene Grade; und wie wir den Körpern eine ver— 
ſchiedene Wärmecapacität beilegen, indem das gleiche Maaß 
zugeführter Wärme bei dem einen Körper eine ſchwächere, 


127 


bei dem andern eine ſtärkere Erwärmung hervorbringt, To 
gelangt bei gleichem Anlaß der eine leichter, der andere 
ſchwerer zu einem Gefühl der Luſt; der eine hofft immer 
das Beſte und ſieht den Weltlauf in roſigem Lichte; der 
andere fürchtet immer das Schlimmſte und blickt in die Welt 
wie durch ein getrübtes Glas. Ebenſo kann der Eine den 
vollen Schwerpunkt aller ſeiner pſychiſchen Kräfte in ſein 
momentanes Thun verlegen; er tritt muthig, mit geſam— 
melter Gegenwart des Geiſtes für das ein, was ihn bewegt; 
der andere iſt verzagt, unſchlüſſig, zerſtreut oder zerfahren. 
Der eine giebt ſich immer wie er iſt und trägt ſein Herz 
auf der Zunge; der andere iſt verſchloſſen und ſchwer zu 
enträthſeln. Dieſe und eine Menge ähnlicher Bezeichnungen 
mit allen dazwiſchenliegenden Nuancen des Maaßes drehen 
ſich alle um Einen Punkt; ſie drücken die Grade, die Formen 
und Arten jener inneren Erregungen aus, von welchen alle 
übrigen pſychiſchen Vorgänge begleitet ſind und durch welche 
ſie erſt die unſrigen, auf ein innerſtes Centrum, das Ich, 
bezogen werden und die entweder angenehmen oder unan— 
genehmen Zuſtände dieſes Ichs bilden. Einen Theil dieſer 
Prädikate pflegen wir unter dem ſchwankenden Begriff des 
Temperaments zuſammenzufaſſen, den ganzen Complex der 
Eigenſchaften aber, die ſich auf die Art beziehen, in welcher 
das Centrum unſeres inneren Lebens, das Ich, von den 
Vorgängen deſſelben berührt und afficirt wird, bezeichnen 
wir mit dem Namen der Gemüthsart oder des Naturells. 

Neben dieſen drei Grundformen von Bezeichnungen, 
durch welche wir Menſchen zu characteriſiren gewöhnt ſind, 


128 


giebt es zwar noch mancherlei andere Prädikate, die in 
praktiſche Anwendung kommen; ſie ſind aber alle entweder 
Miſchformen und Zuſammenſezungen aus jenen drei Klaſſen, 
oder ſind es überhaupt nicht rein pſychologiſche Merkmale. 
Wenn wir Jemand muſicaliſch nennen, ſo legen wir ihm 
zweierlei bei, eine Neigung und eine Fähigkeit, die Freude 
an der Muſik und einen entwickelten Tonſinn, d. h. die 
Fähigkeit, Töne und ihre Intervalle zu unterſcheiden und 
eine Reihe derſelben zu einem Ganzen zuſammenzufaſſen. 
Wenn ich Jemanden das Prädikat eines Philoſophen er— 
theile, ſo ſeze ich bei ihm, was der Name beſagt, Liebe 
zur Weisheit und Befähigung für abjtractes Denken voraus. 
Im Ehrgeiz liegt Beides, ein hervortretender Trieb nach 
Auszeichnung und eine Gemüthsart von tiefer Erregbarkeit. 
Wenn wir Jemand einen tüchtigen, brauchbaren, ausge— 
zeichneten Menſchen, einen Andern einen Schlingel oder 
Taugenichts nennen, ſo meſſen wir dabei das Ganze ſeiner 
pſychiſchen Eigenſchaften an den allgemeinen oder beſonderen 
Zwecken des praktiſchen Lebens und ziehen nur das Schluß— 
facit aus einer nicht näher ausgeführten, aber vorausge— 
ſezten Prüfung derſelben. Wenn wir dagegen Jemand als 
Orthodoxen oder Freigeiſt, abs conſervativ oder Democraten 
bezeichnen, ſo wollen wir ihn damit überhaupt nicht im 
pſychologiſchen Sinn characteriſiren, ſondern wir drücken 
damit nur ſeine Stellung zu allgemeinen Zeitfragen aus, 
die noch durch ganz andere Factoren bedingt ſein kann. 
Im Uebrigen habe ich noch kein menſchliches Prädikat finden 


129 


können, das nicht einem jener drei Elemente oder einer 
Combination derſelben zuzutheilen wäre. 

Wir hatten vorhin geſehen, daß ſich die Lehre von 
den drei Seelenvermögen ganz unbrauchbar erwies, um 
durch irgend eine Art von Attributen derſelben Individuen 
zu characteriſiren, was dieſelbe doch unzweifelhaft leiſten 
müßte, wenn die menſchliche Seele aus dieſen drei Grund— 
kräften zuſammengeſezt wäre. Dagegen hat ſich uns eine 
andere Dreiheit ergeben, die ich mit den Namen Intellect, 
Triebleben und Gemüthsart bezeichnet habe, und ich brauche 


wohl kaum noch darauf aufmerkſam zu machen, daß uns 


hier unter abweichender Form doch nichts Anderes als jene 
Trias von Vorſtellen, Wollen und Fühlen entgegentritt, 
daß der Intellect dem Vorſtellen, die Triebe dem Begehren, 
die Gemüthsart dem Fühlen entſprechen. Der Unterſchied 
liegt nur darin, daß wir nicht auf drei Vermögen oder 
einheitliche Grundkräfte, ſondern auf drei Gruppen unter 
ſich gleichartiger Erſcheinungen geführt wurden, auf drei 
Klaſſen von pſychiſchen Vorgängen, Functionen, Lebens— 
äußerungen, die zuſammen unſer Seelenleben ausmachen. 
Der Hauptgedanke jener alten Lehre, die Unterſcheidung 
der drei Seelenthätigkeiten des Vorſtellens, Wollens und 
Fühlens ſchien ſich zu bewähren und nur eine etwas ver— 
änderte Geſtalt anzunehmen. 

Man kann nun zwar gegen die hier angewendete Me— 
thode den Einwurf erheben, daß ſich auf dieſem Wege eine 
vollſtändige Aufzählung der pſychiſchen Thatſachen und 
Merkmale gar nicht gewinnen laſſe und es ſich in der 


FM . w Ü 
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 9 


130 
Piyhologie überhaupt nicht um dasjenige handeln könne, 
wodurch ſich ein Menſch vom andern unterſcheide, ſondern 
was allen gemeinſam ſei. Und in der That giebt es man— 
cherlei Prädikate, welche wir niemals für menſchliche Cha— 
rakteriſtik anwenden, obgleich ſie nur etwas vollkommen 
Zutreffendes beſagen würden. Denn wir werden wohl 
niemals über Jemanden bemerken hören, daß ihm der 
Schnee weiß, das Eiſen hart, das Feuer heiß, der Himmel 
blau erſcheine, oder daß er ein und daſſelbe Urtheil nicht 
zugleich zu bejahen und zu verneinen vermöge, daß er die 
Geſundheit der Krankheit, die Luſt dem Schmerz vorziehe, 
daß ihm die Befriedigung ſeiner Wünſche angenehm, deren 
Vereitlung unangenehm ſei, daß für ihn ſein Ich den Mittel— 
punkt ſeines inneren Lebens bilde. Dieß würde uns vor— 
kommen, wie wenn in einem körperlichen Signalement von 
Jemand angegeben würde, daß ſich ſeine Naſe unterhalb 
der Augenlinie aber oberhalb des Mundes befinde. Es 
kann nun allerdings ſehr lehrreich für den Pſychologen 
ſein, ſich auch eine Sammlung von ſolchen menſchlichen 
Prädikaten anzulegen, die wir niemals zu denken, zu leſen 
oder zu hören pflegen, weil die Sprache uns nicht dazu 
dient, das Selbſtverſtändliche zu ſagen. Er wird jedoch 
dabei im günſtigſten Fall nicht mehr erreichen als durch 
die Sammlung der Unterſcheidungsmerkmale. Denn eine 
nähere Betrachtung von dieſen ergiebt, daß ſie die gemein— 
ſamen Merkmale der Gattung oder Art immer ſchon voraus— 
ſezen und mit andeuten. Alle geiſtigen Signalements, wie 
ſie auch lauten mögen, drücken immer ein Plus oder Minus 


von einem allgemein menſchlichen Merkmal aus und denken 
ein Mittleres als den Nullpunkt hinzu, von dem aus die 
Stärkegrade nach zwei Seiten hin beſtimmt werden. Mögen 
wir Jemand dumm oder geſcheidt, lebhaft oder ſtill, offen 
oder verſchloſſen, geizig oder verſchwenderiſch, muthig oder 
feig nennen, ſo denken wir immer einen Durchſchnitt als 
Maßſtab mit und eine Liſte aller Abweichungen enthält 
daher zugleich auch alle pſychiſchen Merkmale des typiſchen, 
mittleren Menſchen, deſſen Seelenleben der Pſycholog zu— 
nächſt im Auge hat. Kein einzelner Menſch kann Eigen— 
ſchaften haben, die nicht in der Gattung liegen, wozu ein 
Keim und Anſaz nicht in Jedem zu treffen wäre, ſei es 
auch nur ſo, wie der Taube wenigſtens Ohren, der Blinde 
wenigſtens eine Augenhöhle, Brauen und Lider hat. 

Auch unter denjenigen, welche in der Anerkennung 
jener drei Grundfunctionen übereinſtimmen, beſtehen übri— 
gens noch große Meinungsverſchiedenheiten über die weiteren 
daran ſich knüpfenden Fragen. Verhält ſich die Seele in 
jedem Augenblick vorſtellend, ſtrebend und fühlend zugleich, 
oder thut ſie bald das Eine bald das Andere, ſo daß jede 
dieſer Functionen auch unterbrochen werden und ruhen kann. 
Wenn die Pſychologen hierauf je nach ihrer Selbſtbeobach— 
tung verſchiedene Antworten geben, ſo kann ich nicht glauben, 
daß in einem Punkte von ſolcher Bedeutung ein Unterſchied 
zwiſchen dem einen und andern Individuum Statt findet, 
ſondern nur daß die Frage ſelbſt verſchieden aufgefaßt 
und namentlich der Begriff des Wollens oder Begehrens 
bald in einem engeren bald in einem weiteren Sinn ver— 

9 * 


132 


ftanden worden iſt. Wenn uns ein ſcharfer und beſonnener 
Denker, wie Bona Meyer, verſichert, daß nach ſeiner Selbſt— 
beobachtung er viele Vorſtellungen habe, denen weder ein 
Begehren noch ein Gefühl von Luſt oder Unluſt zur Seite 
gehe, und ebenſo Gefühle und Empfindungen, die von keinem 
Vorſtellen begleitet ſeien, ſo wird dieß in dem Sinne, wie 
es gemeint iſt, wohl Jeder beſtätigen. Wir ſehen täglich 
Perſonen und Sachen und nehmen Vorſtellungen davon in 
uns auf, die uns völlig gleichgiltig laſſen, keine Spur von 
Streben, von Luſt oder Unluſt in uns erregen. Auch kann 
ich füglich in meinem Zimmer eine behagliche Empfindung 
von Wärme haben, ohne mir den Ofen oder das Feuer oder 
den Thermometer oder irgend etwas damit Zuſammenhän— 
gendes vorzuſtellen. Allein das trifft nicht die Frage, die 
eigentlich gemeint iſt. Nicht darum handelt es ſich, ob ein 
einzelnes Vorſtellen ohne ein ebendarauf bezügliches Streben 
oder Fühlen vorkommt, ſondern ob ein Zuſtand der Seele 
nachweisbar iſt, in welchem ſie nur vorſtellt oder nur be— 
gehrt oder nur fühlt ohne irgend ein Mitklingen oder 
Wirken der andern Functionen. Und dieß, glaube ich, iſt 
zu verneinen. Wenn ich ein Haus, die Wieſe, den Wald 
gleichgiltig anſehe, ſo geſchieht dieß nur, wenn und ſolange 
ich dieſen Dingen nur eine ſchwache und getheilte Aufmerk— 
ſamkeit ſchenke und zugleich an andere Dinge denke; ſobald 
ich die volle, geſammelte Aufmerkſamkeit dahin lenken würde, 
ſo könnte dieß nur in Folge eines Motivs, eines Intereſſes, 
alſo eines Strebens geſchehen, und es würde dieſem Streben 
ein ſeinem Erfolg oder Nichterfolg entſprechendes Gefühl 


133 


zur Seite gehen. Man ſpricht von der Seele als einem 
einfachen Weſen und von der Enge des Bewußtſeins, welche 
die Fixirung der Aufmerkſamkeit ſtets nur auf Einen Punkt 
geſtatte; ich will darüber hier keine Meinung ausſprechen, 
aber jede unbefangene Selbſtbeobachtung ſcheint mir zu be— 
zeugen, daß wenigſtens auf unſere normalen und alltäg— 
lichen Seelenzuſtände das Prädikat der Einfachheit nicht 
anwendbar, daß vielmehr ſtets Verſchiedenes gleichzeitig 
nebeneinander in uns vorgeht und auch die Richtung der 
Aufmerkſamkeit nur ausnahmsweiſe eine ganz ungetheilte 
iſt. Wenn ich mich entſchließe einen Spaziergang zu machen, 
um friſche Luft zu ſchöpfen, ſo begleitet dieß Wollen, ohne 
noch weiter ins Bewußtſein zu treten, die ganze Ausführung 
des Vorſazes, und die Beine vollziehen dieſen, zwar ohne 
beſondere Weiſung hiefür zu bedürfen, aber doch unter dem 
ſtetigen Druck jenes Wollens, da ſie ſonſt ſofort ſtille ſtehen 
müßten. Auf dem Wege drängen ſich mancherlei Sinnes— 
wahrnehmungen auf von Flur, Waſſer, Wald, von Men— 
ſchen und Thieren; dabei iſt Luft, Boden, Temperatur 
theils angenehm theils unerfreulich. All dieß wird vorge— 
ſtellt und empfunden, aber doch nur nebenbei, mit ſchwacher 
Betonung. Die Gedanken ſelbſt ſind ganz wo anders; ſie 
bewegen ſich entweder um eine perſönliche oder berufliche 
Angelegenheit oder um die Arbeit des Tages, oder gehen 
ſie auch ihrerſeits ſpazieren in freiem Spiel von Erinne— 
rungen, Planen, Betrachtungen leichterer oder ernſterer 
Natur; die ganze Reihe dieſer Vorſtellungen iſt begleitet 
von leichten Modulationen angenehmer oder unangenehmer 


154 


Gefühle, die von dem Inhalt und Verlauf dieſer Vorſtellungen 
erregt werden. Dieſe wechſelnden Gefühle ſelbſt aber haben 
wieder zu ihrer Unterlage eine mitgebrachte, ſei es behag— 
liche oder unbehagliche Grundſtimmung des Gemüths, die 
ihrerſeits wieder theils durch dauernde Urſachen, theils durch 
beſondere Anläße, Tageserlebniſſe, körperliches Befinden ꝛc. 
bedingt iſt. Alles dieß tritt nicht zuſammen in Eine Be— 
leuchtung des Bewußtſeins, kann aber durch nachträgliche 
Reflexion und Analyſe aufgedeckt werden; als Niederſchlag 
des ganzen Complexes von inneren Vorgängen bleibt viel— 
leicht nur eine leichte Modification der mitgebrachten Stim— 
mung zurück, aber Vorſtellen, Fühlen und Wollen laufen 
immer gleichzeitig neben einander her, und ich muß glauben, 
hiemit nicht eine blos individuelle Erfahrung gezeichnet zu 
haben. Wenn meine Zuhörer meinen Worten folgen und 
die durch dieſelben angeregte Reihe von Vorſtellungen an 
ſich vorübergleiten laſſen, ſo ſcheint es, wie wenn hiebei 
nur von einer rein intellectuellen Thätigkeit die Rede ſein 
könnte; aber es war ein Motiv, ein Intereſſe erforderlich, 
um Sie in dieſen Saal zu führen, ſei es der Wißbegierde 
oder der Unterhaltung oder um zu ſehen oder geſehen zu 
werden oder was ſonſt. Dieß Motiv bedingt Ihre Auf— 
merkſamkeit und kann ſie allein feſthalten; ſobald es ent— 
ſchwindet oder nachläßt, ſo werden auch die Gedanken ſo— 
fort eine andere Richtung einſchlagen. Dieſem Streben 
und Vorſtellen geht nun aber eine Scala von Gefühlen, 
angenehmen oder unangenehmen oder gemiſchten zur Seite, 
je nachdem Sie meine Anſichten einleuchtend oder unklar 


135 


und zweifelhaft fanden, Sie leichter oder ſchwerer hören 
und folgen können u. ſ. f. Die Trias kehrt ſo überall 
wieder. Das Gefühl kann niemals pauſiren, denn es iſt 
das eigentliche und innerſte Leben, die centralſte unter den 
Functionen der Seele. Es hat eine unabſehbare Mannig— 
faltigkeit je nach dem Stärkegrad und den Quellen ſeiner 
Erregung, ſowie durch das Zuſammenwirken und die 
Miſchung verſchiedener Reize, aber es gewinnt bei jedem 
Menſchen einen Grundaccord, den wir die Gemüthſtimmung 
nennen, welcher als der gewohnte Mittelzuſtand mit dem 
Bewußtſein ſo verſchmilzt, daß nur die größeren Abwei— 
chungen nach der einen oder andern Seite deutlicher heraus— 
treten und ſpeciell von uns bemerkt werden. Ebenſo muß 
immer ein Intereſſe, ein Trieb in uns wirken, wäre es 
auch nur, wenn alle anderen Reize ruhen, der horror vacui, 
der Trieb, der Langeweile zu entgehen, die Leere des Da— 
ſeins auszufüllen und ſich den Intellect etwas vorträumen 
oder aufſpielen zu laſſen. Denn auch dieſer kann nie zur 
Ruhe kommen; bald in Sinneswahrnehmungen, bald in 
Reproductionen, in Umbildung und Verknüpfung derſelben 
zu inneren Bildern oder abſtracten Zeichen und Formen 
zieht eine ununterbrochene Reihe von hellen oder trüben, 
beſtimmten oder verſchwommenen, einfachen oder combinirten 
Vorſtellungen wie in einem Schattenſpiel an der Leuchte 
des Bewußtſeins vorüber; und ich weiß nur die einzige 
Ausnahme von der allgemeinen Regel, daß bei hoch ge— 
ſteigerten Empfindungen von Schmerz oder Luſt die intel— 
lectuelle Thätigkeit für Augenblicke wie gelähmt erſcheint 


136 
und bei den heftigſten Erregungen das Bewußtſein ganz 
entſchwinden kann. 

Wenn aber das beſtändige Zuſammenſein dieſer drei 
Seelenthätigkeiten die normale Grundthatſache iſt, ſo muß 
auch in der gewöhnlichen Lehre der Ausdruck „Seelenver— 
mögen“ ſchon darum unhaltbar erſcheinen, weil es ſich 
nicht um bloße Möglichkeiten oder Fähigkeiten handelt, die 
der Menſch ausüben und auch wieder nicht ausüben kann, 
je nachdem es ihm beliebt, etwa wie wir ein Sehvermögen 
haben, deſſen Thätigkeit wir ſiſtiren können, wenn wir die 
Augen ſchließen. Der Menſch kann nicht blos in jedem 
Augenblick vorſtellen, fühlen und wollen, ſondern er muß 
es thun; es iſt ihm gar nicht möglich, das Eine oder Andere 
zu unterlaſſen, und jeder Verſuch, den wir hiezu machen, 
iſt ſofort wieder ein Streben, ein Vorſtellen und ein Fühlen. 

Den Vorwurf der Herbartſchen Schule gegen die Lehre 
von den Seelenvermögen, daß ſie an die Spize einer Wiſſen— 
ſchaft eine Dreiheit ſeze, ohne von derſelben einen Weg zu 
der Einheit der Seele, die doch vorausgeſezt werden muß, 
angeben zu können, müſſen wir nun freilich bei dieſer Auf— 
faſſung in verſtärktem Grade auf uns nehmen. Denn nicht 
nur drei, ſondern eine viel größere Zahl von Kräften oder 
Eigenſchaften, deren keine auf die andere zurückzuführen iſt, 
mußten wir gelten laſſen. Denn gerade wie im körper— 
lichen Leben die blauen Augen neben ſcharfem oder ſchwachem 
Sehvermögen, neben dichten oder dünnen, hellen oder dunkeln, 
ſchlichten oder krauſen Haaren, neben guten oder ſchlechten 
Zähnen u. ſ. f. vorkommen, ſo zeigt uns auch die Erfah— 


137 


rung eine Reihe von Eigenschaften pſychiſcher Art, bei 
welchen jeder Stärkegrad mit jedem Stärkegrad aller andern 
vereinbar iſt. Mit einem guten Ortsgedächtniß oder ſtark 
entwickelten Tonſinn kann viel oder wenig Einbildungskraft, 
ein ſcharfes oder ſtumpfes Denkvermögen, kann jede Art 
von Begierden oder von Gemüthseigenſchaften verbunden 
ſein. Die zarteſte Mutterliebe kann mit Bosheit oder 
Herzensgüte, mit Geiz oder Verſchwendung, mit Muth oder 
Verzagtheit, mit jedem Maaße von intellectueller Begabung 
zuſammenbeſtehen. Zwei Erſcheinungen aber, deren Steigen 
oder Sinken keinerlei Rapport zu einander zeigt, können 
auch in keinem Cauſalzuſammenhang mit einander ſtehen 
und auf keine einheitliche Quelle zurückgeführt werden. 
Wenn in einer Wiſſenſchaft die Forſchung auf eine 
Mehrheit oder Vielheit von Kräften oder Erſcheinungen 
führt, die weder auseinander noch aus einer gemeinſamen 
Wurzel abzuleiten ſind, ſo iſt dieß Ergebniß zwar immer 
ein un vollkommenes, da es der Forderung einer ſyſtema— 
tiſchen Einheit nicht entſpricht, aber es iſt darum noch kein 
falſches. Denn alle Erkenntniß beginnt mit dem Unter— 
ſcheiden. Willſt im Unendlichen dich finden, mußt unter— 
ſcheiden und dann verbinden, ſo mahnt uns der Dichter. 
So lange es uns nicht gelungen iſt, das Unterſchiedene 
auch wieder zu verknüpfen, müſſen wir uns zwar beſcheiden, 
dem Ziele noch fern zu ſein, aber doch können wir, ſobald 
nur die Unterſcheidung eine richtige war, der Wahrheit 
näher ſtehen, als alle jene Verſuche, von allgemeinen Be— 
griffen und Principien aus im Wege einer Conſtruction, 


138 


die doch immer nur durch verſtohlenen Seitenblick auf die 
empiriſchen Thatſachen zu Stande kommt, zu dem Reichthum 
und der Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen, des wirklichen 
Seelenlebens gelangen zu wollen. 

Uebrigens iſt es ja gar nicht einmal ſo, daß um jener 
Vielheit von Kräften willen unſer ganzes Wiſſen von der 
Menſchenſeele in Stücke auseinanderfallen müßte. Das 
Athmen und Verdauen, das Sehen, Hören, Riechen und 
Schmecken gehen auch nebeneinander her, ohne daß wir ſie 
auseinander oder von einem dritten herzuleiten wüßten 
und doch erſcheint es uns nicht als ein Widerſpruch, dabei 
den einheitlichen Organismus des Menſchenkörpers feſtzu— 
halten. Ebenſo wenig hindert uns eine Mehrheit von coordi— 
nirten Kräften und Thätigkeiten, die Seele des Menſchen 
als Einheit, als ein reales Etwas zu denken, und ich wüßte 
nicht, warum ich, etwa aus theoretiſchen Serupeln über 
den Begriff des Dings und ſeiner Eigenſchaften, mir die 
Seele nicht als eine lebendige Monade denken dürfte, die 
ihr Weſen in verſchiedenen, von einander geſonderten aber 
in einander wirkenden Functionen bethätigt und ausein— 
anderlegt. Ein Ich, das Glückſeligkeit fordert, das nach 
dem höchſten Luſtgefühl der Selbſtbethätigung unabläßig 
hindrängt — darin ſcheint mir der innerſte Kern und das 
Weſen der individuellen Seele zu liegen, das iſt ihre cen— 
trale, alles Andere beherrſchende Function. Worin aber 
dieß Glück, dieſe geforderte Luſt zu ſuchen iſt, das iſt in 
dieſem erſten aller Merkmale noch nicht enthalten. Es iſt 
eine Reihe von Trieben, von angeborenen Willensanſäzen 


139 


und Strebungen, in welchen dieß geſuchte Glück beſtimmte 
Formen und Geſtalten gewinnt. Die Triebe ſind die ge— 
ſonderten, ſpecifiſchen Quellen der Luſtgefühle und des Be— 
griffs von Lebensgütern; ſie ſind von der mannigfaltigſten 
Art, ſie erſtrecken ſich auf das animaliſche, geſellige und 
geiſtige Leben und können durch dieſe Mannigfaltigkeit 
unter ſich in Spannung und Zwieſpalt gerathen; ſie wirken 
als organiſche Reize; dunkel und unbewußt kennen ſie ſelbſt 
die Objecte nicht, auf welche ſie gerichtet ſind, aber ſie 
üben einen Druck nach der Richtung hin, in welcher dieſe 
zu ſuchen wären und kommen nicht zur Ruhe, bis ſie ge— 
funden ſind. Der Intellect iſt das Vollzugsorgan für dieß 
Wollen; durch ihn tritt das Ich in Rapport mit der Außen— 
welt, erkennt und beleuchtet ſeine eigenen Zuſtände und 
verwirklicht alle Lebensziele. Die Erfolge und Nichterfolge 
dieſes Wollens und Vorſtellens werden von dem Glück und 
Luſt fordernden Centrum als ſeine Zuſtände empfunden, 
durch eine fortwährende, wechſelnde, innere Erregung, die 
wir Gefühl nennen, aber nicht näher beſchreiben können, 
begleitet und geleitet. Dieſe Gefühle ſind das innerſte 
Leben der Seelenmonade ſelbſt; ſie vergleicht die Arten und 
Grade der Luſt und Unluſt, die aus den verſchiedenen 
Trieben fließt, und giebt im Fall ihrer Colliſion den Aus— 
ſchlag dahin, wo ſie das höchſte Gefühl von Luſt und Werth 
des Lebens erwartet. Im Trieb und Intellect tritt die 
Seele in Beziehung zur Außenwelt und gewinnt den In— 
halt des Glücks, das ſie ſucht; im Gefühl iſt ſie genießend 
und leidend bei ſich ſelbſt. An der Spize des Ganzen 


140 


ſteht die Centralkraft des luſtwollenden Ichs. Streben, 
Vorſtellen und Fühlen aber ſind die ineinandergreifenden 
Formen, in denen die Grundkraft ſich bethätigt. Eine Lo— 
cation derſelben iſt widerſinnig, da jedes todt iſt ohne das 
andere, aber das Fühlen ſteht dem Centrum am nächſten, 
das Vorſtellen am fernſten, obgleich dieß erſt Licht, Leben 
und Wirklichkeit ſchafft und das Band zum Weltganzen 
knüpft. Die Gefühle ſind darum auch nichts weniger als 


A 


bloße Nebenproducte des Vorſtellens und Wollens; viel— 
mehr liegen in ihnen die feinſten und lezten Entſcheidungen, 
die Abmeſſung des Werths der Güter des Lebens; ja ſelbſt 
die Erkenntniß der Wahrheit, die zwingende Kraft einer 
logiſchen Beweisführung hängt in lezter Inſtanz an einem 
Gefühl von Befriedigung über den leichten und normalen 
Ablauf einer Vorſtellungsreihe. 

Eine ſolche Auffaſſung des allgemeinſten Charakters 
unſers Seelenlebens, ſo mangelhaft ſie noch ſein mag, 
ſcheint doch dem Bilde, das Jedem die unbefangene innere 
Erfahrung bietet, näher zu liegen als jene kunſtvollen 
Schultheorieen, bei welchen wir das Gefühl nicht loswerden 
können, daß hier Nebendinge zur Hauptſache gemacht werden 
und umgekehrt, und daß an die Stelle all der lebens— 
warmen Empfindungen, in denen wir unſer Selbſt mit 
ſeinem Wohl und Wehe und den Sinn und Zweck unſers 
Daſeins zu genießen glauben, ausgebeinte und abgeblaßte 
Schemen und mechaniſche Bewegungen, die unſerem Be— 
wußtſein ganz fremd und gleichgiltig ſind, geſezt werden. 
Die Philoſophen haben mit einer eigenthümlichen Schwierig— 


141 


keit bei der Beobachtung ihrer Seelenzuſtände zu thun; fie 
ſind ja gerade dadurch Philoſophen, daß bei ihnen die auf 
die intellectuellen Functionen ſelbſt gerichteten Strebungen, 
wie der Erkenntnißtrieb, der bei den meiſten Menſchen 
hinter die praktiſchen Begierden ganz zurücktritt, in hervor— 
ragender Weiſe zur Entwicklung gelangt ſind und jedenfalls 
ſtehen ſie während der philoſophiſchen Thätigkeit ſelbſt ganz 
unter der Herrſchaft dieſes Motivs und alle andern Triebe 
bleiben ſolange im Hintergrund. Die Gefühle aber, welche 
den Functionen der höheren und geiſtigen, namentlich der 
beſchaulichen Triebe zur Seite gehen, ſind ihrer Natur nach 
nicht ſtürmiſch und lebhaft bewegt, ſondern haben nur den 
Charakter von zarten und ſanften Modulationen der Stim— 
mung, die den Gang der Meditation in kaum merklicher 
Weiſe afficiren. Die Seele erſcheint daher dem Philoſophen 
leichter als dem Dichter oder dem gewöhnlichen Bewußtſein 
als ein erkennendes Weſen, in welchem die Vorſtellungen 
frei und nur nach ihren inneren logiſchen Beziehungen ihr 
Spiel treiben. Es iſt dieß aber ungefähr, wie wenn wir das 
Leben und Treiben auf den Straßen einer Stadt nach der 
Stille eines Sonntagsmorgens, oder das Klima eines nörd— 
lichen Küſtenſtriches nach den halcyoniſchen Tagen beurtheilen 
wollten. So nur kann ich es verſtehen, wie ein ſo ſcharfer 
und tiefſinniger Denker wie Herbart in der kühlen Stim— 
mung der abſtracteſten Gedanken darauf verfallen konnte, 
Fühlen und Wollen nur als beiläufige Nebenerfolge von 
Stößen und Püffen, von Klemmungen und Verſchmelzungen, 
vom Steigen und Sinken ſeiner Vorſtellungen anzuſehen. 


142 


Es ſieht nun zwar nur wie eine harmloſe, theoretiſche 
Frage aus, ob Wollen und Fühlen ſelbſtändigen Urſprungs 
oder nur Folge von Bewegungen der Vorſtellungen ſind, 
ob dem Denken der Primat in unſerem Seelenleben zu— 
komme, oder ob es andere gleichgeordnete oder ſtärkere 
Kräfte neben ſich gelten laſſen muß, aber ſie iſt vielmehr 
von eminenter praktiſcher Bedeutung und Tragweite. Die 
ganze Lebensauffaſſung, die Frage, wie der Menſch auf 
den Menſchen wirken kann, in der Erziehung, in der Ge— 
ſellſchaft, in der Leitung des Völkerlebens wird dadurch 
eine andere. Es würde, wie ich glaube, bedenklich aus— 
ſehen um Moral und Religion und alle höhere Bildung, 
wenn ihre Macht über die Gemüther nur auf logiſchen 
Argumenten, auf der Unanfechtbarkeit des Zuſammenhangs 
in einer Reihenfolge von Vorſtellungen beruhte, wenn ſie 
nicht ihre eigenen ſelbſtändigen Wurzeln in unſerer Seele 
tiefſtem Grunde hätten. Glücklicher Weiſe verhält es ſich 
ſo und der Irrthum iſt nicht ſo gefährlich, wie er ſcheint; 
aber ein Geſchlecht und Zeitalter, das von der Voraus— 
ſezung ausgeht, daß Wollen und Fühlen vom Vorſtellen 
ſtammt und von ihm aus zu leiten iſt, kann dabei immer— 
hin manche wunderſame Irrfahrten und unerfreuliche Er— 
fahrungen machen. 

Ich wünſche Sie nun davon überzeugt zu haben, daß, 
was Sie in der Schule oder ſonſt von den drei Seelen— 
vermögen gehört haben, keine Irrlehre war, daß zwar der 
Name eines Vermögens und die Vorſtellung von drei ein— 
heitlichen Grundkräften daraus fernzuhalten iſt, unſer 


75 


143 

Seelenleben aber in Wahrheit ſich beſtändig und aus— 
ſchließlich in den drei Grundformen von Fühlen, Wollen 
und Vorſtellen bewegt, auch daß die Zumuthung, neben 
dieſer Dreiheit die Einheit der Seele feſtzuhalten, noch 
keineswegs die Schwierigkeiten einer Trinitätslehre in ſich 
ſchließt. Es müßte nur die Mangelhaftigkeit meiner eigenen 
Darſtellung Schuld ſein, wenn meine Polemik gegen den 
Primat des Vorſtellens den Eindruck gemacht hätte, als 
ob ich überhaupt den Werth des Denkens herabdrücken 
wollte, aber das glaube ich ſchließlich vor einer Zuhörer— 
ſchaft, deren größter Theil mehr, als es in andern Lebens— 
kreiſen gefordert wird, auf die Pflege der intellectuellen 
Thätigkeit hingewieſen iſt, noch betonen zu dürfen, daß 
ſelbſt am Suchen und Finden der Wahrheit, die doch ſo 
ganz im Reich der Vorſtellungen zu liegen ſcheint, ein 
richtiges Denken keinen größeren Antheil hat als ein rich— 
tiges Fühlen und Wollen. 


Ueber das Verhältniß der Politik zur Moral. 


6. Nov. 1874. 


Ueber das, was wir zu thun und zu laſſen haben, 
ſind wir bekannter und glücklicher Weiſe nicht ausſchließlich 
auf die Schärfe und Klarheit unſers Denkvermögens an— 
gewieſen, ſondern wir haben einen inneren Führer an 
jenen natürlichen Gefühlen, die unbewußt ſofort nach der 
einen oder andern Seite hindrängen, die, obwohl keines— 
wegs unfehlbar, doch nicht leicht gänzlich irre gehen und 
nicht ſelten auch auf ſchwierige und verwickelte Fragen, 
lange bevor der Verſtand der Verſtändigen eine Löſung 
gefunden hat, mit blindem Takt eine Antwort geben. Aber 
anders iſt es, wenn man dieſe Gefühle dann zur Rede 
ſtellt und Rechenſchaft verlangt über ihr Thun; da ergeht 
es ihnen wie dem Nachtwandler, der zuvor mit ſicherem 
Tritt auf dunkeln und gefahrvollen Wegen geſchritten iſt, 
aber dann plözlich aufgeweckt, verwirrt und rathlos vor 
uns ſteht und nicht zu ſagen weiß, wie er hieher gekommen 
iſt. Etwas Aehnliches widerfährt uns bei dem Thema, 
für welches ich heute Ihre Aufmerkſamkeit in Anſpruch 
nehmen möchte. Iſt die Politik, d. h. die freie Leitung 
des Staatsganzen dem Sittengeſez untergeordnet oder hat 


145 


ſie eigenen und unabhängigen Gejezen zu folgen und giebt 
es demnach Handlungen, die in der Politik erlaubt, in der 
Moral verboten ſind und umgekehrt? 

Unſer natürliches Gefühl, wie es ſich in den geläufigen 
und vorherrſchenden Meinungen und Anſchauungen kund— 
giebt, wird die erſte Frage von der Unterordnung der Po— 
litik unter das Sittengeſez, ohne auch nur einen Augenblick 
zu ſchwanken, mit einem entſchiedenen Ja beantworten. 
Aber es wird dann auch, ſei es mit wirklichem oder nur 
ſcheinbarem Widerſpruch, die zweite Frage von den hier er— 
laubten und dort verbotenen Handlungen zu bejahen ge— 
neigt ſein. Wenigſtens preiſen und verehren wir die 
Männer, welche ihr Volk aus der Knechtſchaft, aus Zer— 
riſſenheit und Ohnmacht befreit, und auf eine höhere Stufe 
der Wohlfarth, Macht und Freiheit gehoben haben, ohne 
zu verkennen und dadurch beirrt zu werden, daß es dabei 
nicht ohne Liſt und Gewalt, ohne Blut und Eiſen, ohne 
Mittel, die wir ſonſt verwerfen, abgegangen iſt. Umge— 
kehrt tadeln wir den Fürſten, der voll von Geiſt, edlem 
Streben und ſittlichem Zartgefühl, die Aufgaben, die ſein 
Volk und Zeitalter ihm zu ſtellen ſchienen, unerkannt und 
unerfüllt gelaſſen hat. Wenn wir nun aber jene Gefühle 
zur Rede ſtellen und befragen: wie kommt ihr dazu, die 
unbedingte Verbindlichkeit des Sittengeſezes zwar im All: 
gemeinen zu behaupten, aber im Beſonderen nicht gelten zu 
laſſen oder den Saz, daß der Zweck die Mittel heilige, 
zwar als Princip zu verabſcheuen, aber im Einzelnen dar— 
nach zu verfahren, dann werden ſie antworten: das wiſſen 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 10 


146 


wir nicht, das müßt ihr uns nicht fragen; wenn ihr Theorie 
haben wollt, ſo wendet euch an eure Gelehrten, ſchlagt in 
euren vielen Büchern nach, was ſie davon ſagen. 

Wenn wir aber dieſem Rathe nun folgen und bei den 
Theoretikern Umfrage halten, da zeigt ſich, daß die Schwierig— 
keiten nun erſt recht wachjen, ſtatt abzunehmen und wir 
gerathen in ein Labyrinth der widerſprechendſten Meinun— 
gen und Deutungen. Es iſt dabei auch keineswegs ſo, wie 
man vermuthen möchte, daß auf der einen Seite die Poli— 
tiker und Staatsrechtslehrer, auf der andern die Philo— 
ſophen und Moraliſten ſtünden, daß jene für die Sonder— 
rechte der Staatskunſt, dieſe für den Primat des Sitten— 
geſezes ſtritten, ſondern es verhält ſich eben ſo oft umgekehrt. 
Ein unübertroffener Meiſter der praktiſchen Politik, Friedrich 
der Große, hat mit dem wärmſten ſittlichen Eifer gegen 
die Lehren Macchiavells und für die Alleinherrſchaft der 
Moral gekämpft; freilich hat er dieß Buch noch als Kron— 
prinz geſchrieben und die Politik des Königs iſt, wenn auch 
nicht in den Fußſtapfen Macchiavells, doch dunklere und 
verwickeltere Pfade gegangen, als der jugendliche Autor 
von Schloß Rheinsberg ſich mochte träumen laſſen; wobei 
wir uns nicht verhehlen können, daß Mit- und Nachwelt 
den Büchern des Königs geringere Bewunderung zollt als 
ſeinen Thaten. Um dieſelbe Zeit hat ein edler Denker von 
unantaſtbarer ſittlicher Reinheit, Chriſtian Garve, von 
ſeinem Studier- und Krankenzimmer aus das unabhängige 
Recht der Politik mit Kühnheit und Scharfſinn verfochten 
und ſich in ſeinen geſchichtlichen Belegen am liebſten und 


147 


häufigſten auf die Thaten ſeines großen Königs berufen. 
Auf der andern Seite iſt einer der erſten Staatsrechts— 
lehrer unſerer Zeit, einſt eine Zierde unſerer Hochſchule, 
erſt vor Kurzem noch mit der größten Entſchiedenheit für 
die Unterordnung der Politik unter die Moral eingetreten. 
Auch unter den Geſchichtſchreibern alter und neuer Zeiten 
finden wir die doppelte Richtung vertreten; die einen lieben 
es, ihre Erzählungen mit einer fortlaufenden ſittlichen Kritik 
und mürriſchen Strafpredigt zu begleiten; bei andern ſcheint 
uns der ſittliche Maßſtab oft ganz zu entſchwinden und ſie 
wiſſen auch für unverantwortliche Handlungen mehr und 
beſſere Motive aufzufinden, als die Handelnden ſelbſt viel— 
leicht ſich nur gedacht haben mögen. 

Ich will mich nun auf den Verſuch beſchränken, die 
Fragen richtig zu ſtellen, jene Ausſagen unſers natürlichen 
ſittlichen Gefühls näher zu deuten und zu prüfen und die 
Mittelglieder aufzuſuchen, die zwiſchen deren ſcheinbaren 
Widerſprüchen vielleicht eine Verbindung herſtellen. 

Die erſten Schritte auf dieſem Wege ſind nicht ſchwer. 
Außer Frage ſteht wohl vor Allem die univerſelle Geltung 
der ſittlichen Anforderungen. Es kann überhaupt Niemand 
und auch keine Gattung freier menſchlicher Handlungen 
geben, welche außerhalb oder gar über dem Sittengeſez 
ſtünde. Das Gewiſſen, jenes Gefühl eines unbedingten 
Sollens begleitet ſchlechthin unſer geſammtes Wollen und 
unſer Inneres kann an keiner Stelle einen blinden Fleck 
bergen, der ſeiner Leuchte verſchloſſen bleiben könnte. Wenn 
alſo alle Politik von Menſchen gemacht wird und aus 

1055 


148 

deren freien Entſchließungen hervorgeht, jo muß ſie auch 
in ihrem ganzen Umfang unter die Controle des Gewiſſens 
und unter die Herrſchaft ſittlicher Geſeze fallen. Der 
Staatsmann kann nicht in zwei Menſchen zerlegt werden, 
von denen der Nichtpolitiker ein Gewiſſen hätte, der Poli— 
tiker aber nicht. Vielmehr iſt ſehr leicht das gerade Gegen— 
theil nachzuweiſen. Wir halten in allen Dingen den für 
ſtärker verpflichtet, der für Andere zu handeln hat, als 
der nur ſeine eigene Sache führt. Meinen eigenen Vor— 
theil außer Acht zu laſſen, gereicht mir nicht zum Vorwurf; 
als Vormund oder Verwalter fremden Gutes werde ich im 
gleichen Fall ſtrafbar. An den Entſchließungen der Staats- 
lenker hängt das Wohl von Millionen; wie ihr Mandat 
das höchſte iſt, ſo iſt auch ihre ſittliche Verantwortung die 
größte und ſchwerſte. | 

Hiemit ift jedoch nur der Politiker unter das Sitten— 
geſez geſtellt, nicht auch ſeine Politik. Dem Staatsmann 
wird nur der höchſte Grad von Pflichtgefühl auferlegt, 
aber der Inhalt ſeiner Pflichten iſt ihm damit nicht be— 
zeichnet. Es ſchließt ſich an jenen erſten Saz ſogleich ein 
zweiter an, der nicht ebenſo allgemein erkannt und zuge— 
ſtanden, aber im Grunde gleich unanfechtbar iſt. 

Wir pflegen in der Regel unter dem Sittengeſez nichts 
anders zu verſtehen, als den Inhalt der Pflicht- und 
Tugendlehre, den Inbegriff der Normen, nach denen der 
Einzelne ſowohl ſeine eigenen inneren Gemüthszuſtände, 
als ſein Verhalten gegen ſeine Nebenmenſchen zu ordnen 
hat. Du ſollſt Gott lieben von ganzem Herzen und deinen 


149 


Nächſten wie dich ſelbſt, das iſt der Inbegriff des chriſt— 
lichen Sittengeſezes nach des Meiſters eigenen Worten. 
Aber auch alle philoſophiſchen Syſteme, auf welchen Wegen 
immer ſie die ſittlichen Grundbegriffe finden und begrenzen, 
kommen doch ſchließlich dahin, in irgend einer Form dem 
natürlichen, egoiſtiſchen Willen des Einzelnen Schranken 
zu ſezen und ihm ſeine Stellung in der menſchlichen Ge— 
ſellſchaft als einem dienenden Glied eines Gemeinweſens 
anzuweiſen. Das Sittengeſez iſt, ſei es in reinerer oder 
trüberer Geſtalt, für den Einzelnen ein Geſez der Liebe. 

Es wäre nun aber ebenſo unlogiſch als unausführbar, 
an das Gemeinweſen ſelbſt die gleichen Anforderungen zu 
ſtellen, wie an deſſen dienende Glieder. Jenes „Du ſollſt“ 
und „Du ſollſt nicht“ in den zehn Geboten und in aller 
Geſezesſprache hat ſeinen guten Sinn nur, wenn der Staat 
der gebietende, der Einzelne der angeredete Theil iſt. Der 
Staat ſelbſt hat ja keine Eltern, die er ehren müßte; er 
lebt in keiner Ehe, die er brechen könnte. Das „Du ſollſt 
nicht tödten“ kann nicht an den gerichtet ſein, der ſelbſt 
und allein das Schwerdt zu führen hat, um den Mörder 
zu ſtrafen, der Millionen dafür aufwenden muß, um die 
wirkſamſten Mordinſtrumente für den Fall der Selbſthilfe 
vorzubereiten. Ebenſo muß der Staat, um ſeine Aufgaben 
zu erfüllen, ſich gelüſten laſſen nach unſern Häuſern und 
Aeckern, nach Ochs und Eſel und all unſerer Habe, ohne 
den Einzelnen zu fragen, wie ihm dieß gefalle. 

Und wie ſollte das, was von der Nächſtenliebe gilt, 
auch auf das Verhältniß des Staats zu andern Staaten 


150 

anwendbar ſein? Keines von allen den Banden, welche 
die Einzelnen unter einander umſchließen, verknüpft die 
Staaten unter ſich. Wenn hier auch idealere Ziele offen 
zu halten und zu erſtreben ſind, ſo ſtehen jene einander 
doch thatſächlich wie im Naturzuſtand gegenüber, fremd, 
zur Vorſicht und zum Mißtrauen genöthigt, wie Wanderer, 
die ſich in der Einſamkeit begegnen; ſie haben keine höhere 
ordnende und richtende Gewalt über ſich. Der Spruch, 
den andern zu lieben, wie ſich ſelbſt, kann hier gar keine 
Anwendung finden. Demjenigen, der ihm einen Streich 
giebt auf den rechten Backen, den linken auch darzubieten, 
iſt der Staat ſo weit entfernt, daß er vielmehr bemüht 
ſein wird und muß, auch ſchon dem nur drohenden Streich 
mit einem möglichſt energiſchen Gegenſchlag zuvorzukommen. 
Der Nachbarſtaat kann in die äußerſte Bedrängniß verſezt 
werden, durch Elementarereigniſſe, feindlichen Einfall, innere 
Zerrüttung; ob unſer Staat ihm beiſtehen wird, hängt gar 
nicht von dem Grad jener Hilfsbedürftigkeit, ſondern einzig 
davon ab, ob wir dieß unſerem Intereſſe entſprechend 
finden; nach Umſtänden haben wir ſogar Urſache, uns 
über deſſen Schwächung zu freuen oder daraus Vortheile 
zu ziehen, wo nicht gar über ihn herzufallen. Mit Einem 
Worte, das ganze Kapitel von den Liebespflichten und 
damit das Hauptſtück aller Moral fällt für die Staaten 
aus. Nicht auf Liebe Anderer, ſondern auf die Selbſtliebe, 
auf die Erhaltung und Entwicklung der eigenen Macht 
und Wohlfarth ſind ſie angewieſen, und wenn man hie— 
für den freilich wenig paſſenden Namen „Egoismus“ ge— 


151 


brauchen will, nun jo iſt Egoismus das Grundprincip aller 
Politik. 

Wenn wir aber ſo den Staat von allen Liebespflichten 
entbinden mußten, ſo ſollte man denken, daß er um ſo 
ſtrenger und unverbrüchlicher ſeinen Rechtspflichten nach— 
zukommen habe. Wenn er Niemanden Wohlthaten zu er— 
zeigen ſchuldig iſt, ſo müßte er um ſo ſicherer ſich aller 
Rechtsverlezungen zu enthalten, ſeine Verträge, Zuſagen 
und Verbindlichkeiten zu erfüllen, ſich als Glied einer großen 
über ihm ſtehenden Rechtsordnung zu betrachten und ver— 
halten haben. Und in der That, wer ſollte die Geltung 
des Rechtsprincips nicht als die oberſte Norm alles Staats— 
lebens anerkennen? Das Recht iſt ja das Element, in 
dem der Staat ſich bewegt, das Rechtsgefühl iſt die lezte 
Wurzel ſeiner Exiſtenz; die Mißachtung des Rechts iſt die 
Untergrabung ſeines eigenen Fundaments. 

Gleichwohl iſt das Verhältniß des Staats zum Recht 
ein weſentlich anderes, als das des Einzelnen, des Staats— 
bürgers. Ueber dieſem ſteht das Recht als eine ihn be— 
herrſchende Macht, der er ſich unter allen Umſtänden zu 
fügen hat. Es liegt unvergleichlich mehr daran, daß das 
Recht, auch das unvollkommene, Geltung habe als daß der 
Einzelne Schaden leide oder gar zu Grunde gehe. In 
dieſem Sinn müſſen wir uns jogar das fiat justitia, pereat 
mundus gefallen laſſen. Der Staat aber ſteht wohl unter 
der Rechtsidee, die er als ein Höheres über ſich anzuer— 
kennen und zu verehren hat, aber das concrete, beſondere 
Recht der jeweiligen Gegenwart ſteht nicht über ihm; dieſes 


hat er überkommen oder gemacht; es iſt ſein Werk und 
Product. Es iſt auch nicht fertig und abgeſchloſſen, ſondern 
der Entwicklung und Vervollkommnung ebenſo fähig als 
bedürftig. Er hat das mangelhafte Recht zu ändern und 
das beſſere an ſeine Stelle zu ſezen. Allerdings ſoll auch 
dieſe Aenderung nur in den Formen erfolgen, welche im 
Recht ſelbſt hiefür vorgeſehen ſind, und wohl dem Staate, 
deſſen innere Einrichtungen ſo einſichtig und glücklich ge— 
ordnet ſind, um jede unabweisbar gewordene Veränderung 
in den legalen Formen zu ermöglichen oder deſſen Verträge 
mit andern Staaten ihrer Form nach kündbar, in ihrem 
Inhalt erträglich ſind. Wie aber, wenn das Eine oder 
Andere nicht der Fall iſt, wenn eben diejenigen, deren 
Vortheile bei der nothwendig gewordenen Aenderung eine 
Einſchränkung erleiden ſollen, auch das Recht haben dieſe 
Aenderung zu verhindern? Soll dann der Staat in ruhiger 
Ergebung zuſehen, wie ſich die Uebel und Mißſtände, um 
deren Beſeitigung es ſich handelt, von Tag zu Tag dro— 
hender und unerträglicher geſtalten? Wenn der deutſche 
Bund den veränderten Bedürfniſſen eines anderen Ge— 
ſchlechts, den Forderungen eines geſteigerten Nationalge— 
fühls nicht mehr genügte, der Bundesvertrag aber auf 
ewige Zeiten abgeſchloſſen und unkündbar, zu ſeiner Ver— 
änderung Einſtimmigkeit erforderlich, ein einſtimmiger Be— 
ſchluß aber niemals zu erwarten war, weil jeder denkbare 
und wirkſame Vorſchlag dem Intereſſe irgend eines Theiles 
zu nahe treten mußte, wie war da herauszukommen, was 
ſollte geſchehen? Bei dem gordiſchen Knoten wäre für 


Alexander neben der kunſtmäßigen und der gewaltſamen 
Löſung noch die dritte Möglichkeit geblieben, ihn ungelöst 
liegen zu laſſen wo er lag. Aber die politiſchen Verwick— 
lungen laſſen ſich nicht bis auf Weiteres zu den Akten 
legen, ſondern ſie drängen wie lebendige Kräfte auf eine 
Entſcheidung hin, die, wenn der friedliche Weg abgeſchnitten 
iſt, auf dem der Gewalt, durch Blut und Eiſen erfolgen 
muß. Die tiefe Kränkung und Entrüſtung, mit welcher 
die Verlezten, noch mehr das ſchmerzliche Gefühl, mit 
welchem auch die Zuſtimmenden und Gewinnenden einen 
ſolchen Act des Rechtsbruches begleiten, zeigen deutlicher 
als alles Andere, daß der Staat im Recht wurzelt und es 
zu den traurigſten Colliſionen der Pflichten gehört, wenn 
das Nothrecht der Politik das anerkannte und gegenwärtige 
Recht auf die Seite drängt, aber an der Sache ſelbſt wird 
mit allem Bedauern nichts geändert. 

Die Begriffe und Grenzen von Nothſtand und Nothwehr 
ſind ſchon im gemeinen Recht ſchwer genug genau zu be— 
ſtimmen, doch bildet hier wenigſtens die unmittelbare, drän— 
gende Gefahr des Augenblicks ein feſtes Merkmal. Der Staat 
aber hat nicht blos der gegenwärtigen, ſondern auch ſchon 
der drohenden Gefahr zuvorzukommen. Nur ſelten handelt 
es ſich für ihn gleich um Sein oder Nichtſein, ſehr oft aber 
um Schwächung ſeiner Macht oder Unabhängigkeit, um die 
Wahrung von Intereſſen, deren Preisgebung ſeine ganze 
künftige Entwicklung untergraben müßte. Für ihn kann 
ein Nothſtand vorliegen, wo es uns gar nicht einfiele, ihn 
für den Privaten gelten zu laſſen. Der überſchuldete, 


154 


zahlungsunfähig gewordene Staat, dem eine weitere Stei— 
gerung der Steuerlaſt ſeiner Unterthanen als unmöglich 
erſcheint, kann ſich nicht wie der Bürger verganten laſſen, 
er kann nicht ſeine Feſtungen, Arſenale und Flotten, ſeine 
Sammlungen und öffentlichen Gebäude, ja nicht einmal 
ſeine Wälder und Eiſenbahnen unter den Hammer bringen; 
er kann ſich auch nicht in das Armenhaus weiſen und auf 
ſeine Competenz beſchränken laſſen, ſondern er muß im 
Weg der Selbſthilfe die Forderungen auf das Maaß ſeines 
Könnens nach eigenem Ermeſſen herabſezen, wobei faſt nie— 
mals die Theilfragen eine zweifelloſe Entſcheidung zulaſſen 
werden. 

Oder, um ein anderes Beiſpiel zu wählen, wenn die 
ſüddeutſchen Staaten am Anfang dieſes Jahrhunderts, nach— 
dem ſie zehn Jahre lang für Kaiſer und Reich gekämpft 
und ſeit dem preußiſchen Separatfrieden ihre Länder als 
einzigen Schauplaz des Kriegs allen Drangſalen von Freund 
und Feind preisgegeben hatten ſehen müſſen, dem ſiegreich 
vordringenden, übermächtigen Gegner, der nur zwiſchen 
Bündniß und Verderben die Wahl ließ, Heerfolge leiſteten, 
wenn ſie ſodann acht Jahre ſpäter, als der Glücksſtern 
des neuen Attila erbleicht war, wieder von ihm ab— 
fielen und dabei noch den Gewinn des alten Bündniſſes 
in das neue hinüberzuretten vermocht haben, ſo war dieß 
Verhalten zwar nicht ſchön und hochherzig zu nennen, die 
Geſchichtſchreiber werden es nicht preiſen, die Dichter können 
es nicht verherrlichen, aber ſchön und edel ſind auch die 
Prädikate nicht, um welche die Staatskunſt zu buhlen hat; 


155 
dafür war es richtig und pflichtgemäß, der Nothlage eines 
zu eigenem Widerſtand unfähigen Staates entſprechend; 
und jene Fürſten oder ihre Rathgeber hätten eine weit 
ſchwerere ſittliche Verantwortung auf ſich gezogen, wenn 
ſie, um für ſich das Hochgefühl ritterlicher Treue und 
Standhaftigkeit davon zu tragen, ihre Länder dem Ver— 
derben, ihre Staaten der Zerſtücklung oder dem Untergang 
ausgeſezt hätten. 

Eine unbedingte Pflicht des Staats, die von ihm ein— 
gegangenen oder anerkannten Verträge zu halten, läßt ſich 
nicht behaupten. Wer kann läugnen, daß das Recht und 
der Beſizſtand, wie ihn die in Geltung ſtehenden europäi— 
ſchen Verträge und Friedensſchlüſſe geſchaffen haben, in 
nicht wenigen Fällen nur verjährten Raub und ungerechten 
Gewinn darſtellt und jedenfalls in den Augen der Beſiegten 
niemals für Recht gelten wird? Der ſonſt übliche Begriff 
der Verjährung iſt überhaupt im Völker- und Staaten— 
leben gar nicht zu brauchen. Es giebt Rechtsverlezungen, 
die faſt ſofort, andere die niemals verjähren. Daß die 
ſchönſten Länder des Erdkreiſes, die Wiege des chriſt— 
lichen Glaubens, die erſten Size und Pflanzſtätten einer 
edleren Menſchlichkeit von einem Barbarenvolk, unter deſſen 
Roſſeshufen das Gras verdorrt, unterjocht ſind, daß zehn 
Millionen Chriſten der edelſten Stämme als rechtloſe Rajas 
dem Uebermuth und der Habſucht türkiſcher Paſchas ver— 
fallen ſind, das iſt für uns nach vier Jahrhunderten und 
troz zahlreicher Verträge und Bürgſchaften der Großmächte 
immer noch nichts anders als eine brutale Thatſache ge— 


worden und wird es bleiben, bis der Tag der Abrechnung 
gekommen ſein wird. Dagegen war es auch eine unzweifel— 
hafte Rechtsverlezung, daß und wie den geiſtlichen Souve— 
rainetäten in und außer Deutſchland ein Ende gemacht 
worden iſt, aber die Verjährung hatte begonnen, noch be— 
vor die Tinte aufgetrocknet war, deren die Dekrete bedurften. 
Ja es giebt ein Vernunftrecht neben dem geſchriebenen, 
ein Recht der Zukunft neben dem der Vergangenheit, mögen 
nun auch dieſe Säze jo gefährlich lauten, als ſie wollen. 
Es iſt die Aufgabe der Staatskunſt, das geſchichtlich gegebene 
Recht in das vernünftige überzubilden, wenn es ſein kann, 
in den Formen des Rechts, wenn nicht, auch ohne ſie. 
Und ſo ſind wir denn ſchließlich für die Rechtspflichten 
zu demſelben Ergebniß gelangt, wie für die Liebespflichten. 
Wohl ſteht die Politik, wie alles menſchliche Handeln, 
unter der Herrſchaft eines ſittlichen Sollens, aber die Moral, 
welche dem Einzelnen ſeine Tugenden und Pflichten vor— 
zeichnet, iſt für die Lenkung des Staatsganzen nicht zu ge— 
brauchen. Dieſe Moral und die Politik gehen ſchon in der 
Wurzel auseinander. Für den Einzelnen im Staat gilt 
das Princip der Selbſthingabe, für den Staat das der 
Selbſtbehauptung. Der Einzelne dient dem Recht; der 
Staat handhabt, leitet und ſchafft daſſelbe. Der Einzelne 
iſt nur ein flüchtiges Glied in dem ſittlichen Ganzen; der 
Staat iſt, wenn nicht dieſes Ganze ſelbſt, doch deſſen reale 
ordnende Macht; er iſt unſterblich und ſich ſelbſt genug. 
Wir müſſen in dieſem Sinne die erſte Frage, ob die Politik 
der Moral untergeordnet ſei, mit Nein, die andere, ob ſie 


ein ſelbſtändiges und unabhängiges Princip ihres Handelns 
in ſich trage, mit Ja beantworten, und wir wiederholen 
damit nur den wahren Sinn des alten Sazes: salus pub- 
lica suprema lex esto, der Erhaltung und Wohlfarth des 
Gemeinweſens iſt jede andere Rückſicht untergeordnet. 

Nun aber, wenn wir ſo die Politik von der Privat— 
moral völlig abgelöst haben, iſt damit nicht überhaupt jeder 
ſittliche Halt und Boden verloren und ſtehen wir nicht ſchon 
ganz auf der ſchiefen Ebene, die uns unaufhaltſam in den 
Abgrund von Macchiavellis verrufenen Lehren führt, daß 
für politiſche Zwecke auch Verbrechen zu den erlaubten 
Mitteln zu rechnen ſeien? Man kann von unſerem Thema 
nicht wohl reden, ohne die Macchiavellifrage, ſei es auch 
nur im Vorübergehen, zu berühren. 

Während ſonſt der Welt nachgeſagt wird, daß ſie das 
Strahlende zu ſchwärzen liebt, zeigen viele moderne Schrift— 
ſteller, und vielleicht die deutſchen vor allen andern, die 
umgekehrte Neigung, das Schwarze weiß zu waſchen oder 
zu brennen, und die in der Geſchichte mit irgend einem 
Flecken oder Brandmal behafteten Perſonen in eine jo 
günſtige Beleuchtung zu ſtellen, daß ſich das überlieferte 
Bild in das Gegentheil verkehren müßte. So iſt es ſchon 
lange und nach dem Vorgange großer Autoritäten üblich 
geworden, den Verfaſſer des berühmten Buches vom Fürſten 
zum nationalen Patrioten zu verklären, der nur Italiens 
Heilung ſuchte, deſſen Zuſtand aber ſo verzweifelt fand, 
daß er kühn genug war, ihm Gift zu verſchreiben. Man 
kann zu einer ſolchen Auffaſſung allerdings durch jenes 


158 


glänzende Schlußcapitel von der Befreiung Italiens ver- 
leitet werden, aber doch nur wenn man es iſolirt betrachtet 
und einſeitig zum Ausgangspunkt ſeines Urtheils macht. 
Ich vermag mich aber ſo wenig zu überzeugen, daß der 
Gedanke an Italiens Einheit und Freiheit der Leitſtern in 
Macchiavellis Leben und Schriften war, daß ich vielmehr 
jenen Abſchnitt nur als ein redneriſches Ornament, als den 
effektvollen und beſchönigenden Abſchluß einer ſo vielfach 
anſtößigen Schrift auffaſſen kann. Macchiavell war Poli⸗ 
tiker und Menſchenkenner genug, um dem jungen Mediceer, 
für den er ſein Buch ſchrieb, um dem florentiniſchen Staat 
nicht im Ernſt die Aufgabe zu ſtellen, die ſpaniſchen und 
franzöſiſchen Heere aus Italien hinauszuwerfen; wohl aber 
konnte es von pſychologiſcher Wirkung und den perſönlichen 
Zwecken der Schrift dienlich ſein, dem jungen Mann eine 
ſolche Ausſicht in blendende Beleuchtung zu rücken. Denn 
das iſt ja eben der Grundmangel aller dieſer politiſchen 
Rathſchläge, daß von idealen Zielen, von Menſchenwerth 
und Menſchenglück, von ſittlichen Zwecken des Staats gar 
nicht die Rede iſt, ſondern ſich Alles ſtets nur um die Frage 
dreht, wie gelangt man zur Herrſchaft im Staat, ſei es 
eine Parthei oder ein Einzelner, wie behauptet man das 
Errungene, wie macht man ſeine Gegner unſchädlich, und 
daß von all dem geſprochen wird, wie wenn eine Anweiſung, 
Feſtungen zu belagern oder Schach zu ſpielen, abzufaſſen 
geweſen wäre. Ehrgeiz und Herrſchſucht aber gehören in 
die Privatmoral, nicht in die Politik, die vom Staatswohl 
handelt. Bei aller Bewunderung, die man dem klaren und 


— — 


ſcharfen Denker, dem claſſiſchen Schriftſteller zollen muß, 
kann man doch Macchiavellis Lehren das Prädikat der Ver— 
ruchtheit und ſeinem Charakter das der Unlauterkeit nicht 
erſparen. Einen Cäſar Borgia zu verherrlichen, nicht etwa 
abgeſehen von ſeinen Frevelthaten, ſondern eben weil er 
keine Scheu trug dieſe zu begehen, iſt Läſterung und Ver— 
rath gegen alle ſittlichen Ideen der Menſchheit, für welche 
jeder Verſuch einer Beſchönigung zurückzuweiſen iſt. Es 
ſind zwei ſehr verſchiedene Dinge, ob ich ſage: der Staat 
als der Schlußſtein aller ſittlichen Ordnung kann nicht nach 
den Normen der den Einzelnen im Staat betreffenden Moral 
geleitet werden, oder ob es heißt: um die Herrſchaft im 
Staat zu erringen oder zu behaupten, darf man auch vor 
Verbrechen nicht zurückſcheuen. 

Es iſt ſcheinbar ein großer, in Wahrheit aber nur ein 
kleiner Schritt von Macchiavell zu der ſogenannten Jeſuiten— 
moral, wornach der Zweck die Mittel heiligen und eine 
ſonſt und an ſich verwerfliche Handlung dann zuläſſig ſein 
ſoll, wenn ſie einem höhern Zweck, der Verherrlichung Gottes, 
in majorem Dei gloriam, dient. Groß ſcheint der Unter— 
ſchied, weil hier doch wenigſtens von höheren Zielen die 
Rede iſt und das Princip, daß Niederes dem Höheren zu 
dienen habe, nicht anzufechten wäre; aber er wird verſchwin— 
dend klein, weil dieß angeblich Höhere in Wahrheit doch 
auch wieder nur die Herrſchaft iſt, blos die hierarchiſche 
ſtatt der politiſchen. Ein wirkliches Reich Gottes auf Erden 
im Lichte des chriſtlichen Glaubens, eine wahre Geſellſchaft 
Jeſu könnte doch nur ein Reich der Wahrheit, der Liebe 


160 

und Gerechtigkeit ſein, und daß zu deſſen Gründung und 
Ausbreitung auch Lüge und Frevelthat ſollte dienen können, 
iſt zu widerſinnig als daß es Jemand auch nur im Ernſt 
behaupten könnte. Wenn man aber an die Stelle der Re— 
ligion den Begriff der Kirche, und an die Stelle der Kirche 
den einer geſellſchaftlichen Beherrſchungsanſtalt ſezt, die mit 
dem Staat zu concurriren, ihn ſchließlich zu verdrängen 
und zu erſetzen beſtimmt iſt, dann muß man allerdings, um 
eine ſo unnatürliche und widerſpruchsvolle Macht ins Werk 
zu ſetzen, bei dem florentiniſchen Großmeiſter in die Schule 
gehen und lernen, mit welchen Mitteln Herrſchaft über 
Menſchen am ſicherſten gegründet und behauptet wird; nur 
muß man des Scheines wegen, was Macchiavell ſelbſt ja 
auch gelegentlich empfiehlt, das was der Meiſter nackt und 
unverblümt mit anerkennenswerther Ehrlichkeit herausgeſagt 
hat, mit dem Mantel frommer Redensarten und täuſchender 
Sophiſtikt verhüllen und verbrämen. 

Denn das iſt ja unläugbar ein Kern von Wahrheit 
oder vielmehr die richtige Faſſung für die Heiligung der 
Mittel durch den Zweck, daß die niedrigeren Güter und 
Ziele menſchlichen Strebens den höheren unterzuordnen und 
aufzuopfern ſind. Ohne dieſen Saz kann man überhaupt 
zu keinem Sittengeſez gelangen; die Unterſcheidung von 
niedrigeren und höheren Trieben und Strebungen der Men— 
ſchennatur iſt der einzig mögliche Ausgangspunct aller Ethik. 
Wenn nicht ein Maßſtab in uns läge, um den Werth 
menſchlicher Handlungen und Eigenſchaften gegen einander 
abzuwägen, ſo wäre nicht einzuſehen, wie wir jemals von 


161 


dem Begriff eines Gutes zu dem des Guten gelangen 
könnten. Ja in die Metaphyſik hinüber find wir genöthigt 
dieſe Unterſcheidung zu verpflanzen; jeder Verſuch einer 
Theodicee hat ſtets darin ſeinen Ausgangspunkt genommen; 
in die Gedanken des Weltenſchöpfers ſelbſt tragen wir ſie 
hinauf, wenn uns der Dichter von ihm ſagt: 
Der Freiheit 

Entzückende Erſcheinung nicht zu ſtören, 

Läßt er der Uebel grauenvolle Schaar 

In ſeinem Weltall toben. 


Die Politik aber kann dieſes Princip ſo wenig ent— 
behren, daß ſie vielmehr faſt ausſchließlich in der Anwen— 
dung und Durchbildung deſſelben beſteht. Das Intereſſe 
eines Einzigen oder Weniger iſt dem Vieler oder Aller 
unterzuordnen. Das Gut der individuellen Freiheit iſt den 
Einſchränkungen unterworfen, welche das Gemeinwohl er— 
fordert, aber die Möglichkeit eines Mißbrauchs rechtfertigt 
keine allgemeinen Verbote. Die ſittlichen Güter des Volkes 
ſind vor allem Andern zu wahren und hochzuhalten. Es 
iſt beſſer, daß das Geſez in der Anwendung auf einen ein— 
zelnen Fall zu materiellem Unrecht führt, als daß es ver— 
lezt und mißachtet wird, aber große und allgemeine Inter— 
eſſen ſind dem Buchſtaben des Geſezes nicht aufzuopfern. 
Das Intereſſe des fremden Staats kann nur inſoweit Be— 
achtung finden als es mit dem des eigenen vereinbar iſt. 
Die Erhaltung des Staats rechtfertigt jedes Opfer und ſteht 
über jedem Gebot. 

Ueberall wo der Staatsmann eine Entſcheidung zu 
treffen hat, ſteht er vor dieſen oder ähnlichen Sätzen; er 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 11 


162 
hat zwiſchen verſchiedenen vorliegenden Möglichkeiten eine 
Wahl zu treffen, das kleinere Uebel dem größeren, das 
größere Gut dem kleineren vorzuziehen. 

Eine Theorie des politiſchen Sollens, eine Staatsſitten— 
lehre oder politiſche Ethik könnte wohl nur in einer voll— 
ſtändigen Zuſammenfaſſung und tieferen Begründung eben 
ſolcher Sätze, wie die angegebenen, beſtehen; ſie wäre eine 
vergleichende Werthabmeſſung der menſchlichen Güter und 
Zwecke nach ihrer Bedeutung für das Wohl des Ganzen, 
eine politiſche Güterlehre, an welche ſich entſprechend eine 
Pflichten- und Tugendlehre anzuſchließen hätte. Das Ideal 
einer ſittlich geſunden Gemeinſchaft ſtünde dem der ſittlich 
geſunden Menſchenſeele, das die Moral entwirft, zur Seite. 

Es iſt nun aber wohl auch einleuchtend, daß, wenn 
wir die Politik von der Moral abgelöst und ihr ein eigenes 
Princip des Sollens zuerkannt haben, ſie damit noch keines— 
wegs aus dem Kreis der ſittlichen Ideen überhaupt heraus— 
tritt oder gar in einen Widerſpruch zum Moraliſchen treten 
und zum Unmoraliſchen werden kann. Sie ſteht mit dem, 
was wir gewöhnlich allein Moral zu nennen pflegen, als 
ein ihr coordinirtes Glied gemeinſam unter dem höheren 
Begriff einer Ethik oder Sittenlehre im weiteren Wortſinn. 

Ob wir uns aber nicht überhaupt oft unnöthige Schwie— 
rigkeiten machen, indem wir die in beſtimmten Worten ein— 
mal fixirten Begriffe recht gefliſſentlich zu ſcharfen Gegen— 
ſätzen unter einander ſteigern und den fließenden und be— 
weglichen Charakter der realen Erſcheinungen, für welche 
jene Worte doch nur ein Merkzeichen ſein ſollen, ganz aus;. 


163 

dem Auge verlieren? Politik, Recht und Moral, die wir 
ſo gerne recht weit und ſcharf auseinanderrücken, ſind nur 
die eng verſchlungenen Zweige Eines Stammes; ihr ge— 
meinſamer Grundbegriff iſt die Ordnung der menſchlichen 
Triebe und Handlungen nach einem in uns gelegten Maß— 
ſtab ihres verſchiedenen Werthes. Die Politik hat das 
thatſächlich gegebene Recht theils zu wahren theils weiter— 
zubilden; das Recht iſt derjenige Theil des Guten, der 
dazu geeignet iſt oder erſcheint, zu einer allgemein giltigen 
und zwingenden Norm des menſchlichen Zuſammenlebens 
geſtaltet und erhoben zu werden. Das Gute ſelbſt aber iſt 
ſchließlich nur wieder das wahrhaft Zweckmäßige und Ver— 
nünftige, das was ächtes und allgemeines Menſchenglück 
ſchafft und bedingt, was die Menſchheit fördert und zur 
Entwicklung ihrer edelſten und höchſten Kräfte führt. Und 
damit weist auch der Begriff des Guten im Kreislauf wieder 
zu den Aufgaben der Politik zurück. 

Alle dieſe Begriffe ſind nicht in ſich fertig und abge— 
ſchloſſen, ſondern in den lebendigen Fluß der Geſchichte 
hineingeſtellt, und unter ſich in ununterbrochener und innig— 
ſter Wechſelwirkung. Wohl haben wir im Gewiſſen als 
feſten Ausgangspunkt das Gefühl eines unbedingten Sollens, 
den Glauben an die Exiſtenz eines an ſich Werthvollen und 
Guten; was aber dieß Gute wirklich und im Einzelnen ſei, 
weiß das Gewiſſen von ſich aus nicht; die Antwort darauf 
giebt dem Einzelnen die geſchichtliche Entwicklungsſtufe des 
Zeitalters und Volkes, dem er angehört. Ihm verſchlingt 
ſich Form und Inhalt in ein ungetrenntes Ganzes und 

11 * 


164 


das Gebotene kleidet ſich für ihn in das Anſehen einer 
höheren oder göttlichen Ordnung. Nicht weil es Jehova 
unter Bliz und Donner aus einer Rauchwolke vom Sinai 
verkündigt und mit eigenem Finger auf ſteinerne Tafeln 
geſchrieben hat, ſollen wir Vater und Mutter ehren, nicht 
tödten, nicht ſtehlen, nicht ehebrechen, ſondern umgekehrt, 
weil wir in dieſen Normen die erſten und bleibenden Grund— 
bedingungen menſchlichen Zuſammenlebens, die Anfänge jeder 
ſittlichen Ordnung des Friedens und der Gerechtigkeit er— 
kennen, umgeben wir ſie durch eine Uebertragung, die mehr 
iſt als eine bloße Anbequemung an hergebrachte Vorſtel— 
lungen, mit der Weihe göttlicher Befehle. Der Inhalt der 
Idee des Guten gelangt in der Geſchichte zu wachſender 
Vertiefung und Befeſtigung; das Recht gleicht jenen Dämmen 
und Deichen, die das der Meeresfluth entriſſene oder aus— 
geſezte Land zum feſten und dauernden Beſiz machen; die 
Politik errichtet, ſichert, erweitert dieſe Dämme; die Haupt— 
arbeit dagegen, das neue Land zu gewinnen und das ge— 
wonnene anzubauen, ruht auf den Einzelnen, auf den in— 
dividuellen ſittlichen Kräften, die an dem bereits Errungenen 
Uebung, Bildung und Anſporn zu weiterem Vordringen ges 
funden haben. So dienen Politik, Recht und Moral nur 
Einem Ziele, dem Fortſchritt der Menſchheit. 

Ich glaube jedoch hier die Einwendung zu hören, daß 
mit einer ſolchen Darſtellung die Politik in eine ideale Höhe 
gerückt und den praktiſchen Schwierigkeiten und Fragen, an 
welche wir bei dem Verhältniß der Politik zur Moral zu 
denken pflegen, mehr ausgewichen als Genüge geleiſtet 


165 


ſcheine, daß es ſich vor Allem darum handle, ob es zu— 
läſſig ſei im Intereſſe der öffentlichen Wohlfarth Hand— 
lungen zu begehen, welche Geſez und Moral unbedingt 
verbieten. Es iſt zuzugeben, daß ſolche Colliſionen nicht 
nur denkbar ſind, ſondern vielfach vorkommen und daß jede 
Theorie ſchuldig iſt, auch nach dieſer Seite hin Rede zu ſtehen. 

Die Frage, ob verbrecheriſche Handlungen in politiſchen 
Motiven eine Rechtfertigung finden können, iſt einfach durch 
die Hinweiſung auf die Strafgeſeze zu beantworten. Dieſe 
haben niemals unter den Bedingungen, welche die Straf— 
barkeit ausſchließen, wie Nothwehr, Unzurechnungsfähigkeit, 
auch das Motiv politiſcher Zweckmäßigkeit oder Nothwendig— 
keit aufgezählt; der Richter könnte dieſen Beweggrund daher 
nur wie andere beſondere Umſtände der That bei der 
Strafausmeſſung in Betracht ziehen. Von ganz anderer 
Art und Tragweite dagegen iſt der Fall, wenn Jemand 
im vollen Bewußtſein, etwas geſezlich Verbotenes zu thun, 
aber auch entſchloſſen dem Geſez die ſchuldige Sühne zu 
leiſten, ſich dem gemeinen Beſten zum Opfer bieten zu ſollen 
glaubt. Hierüber wird unſer ſittliches Urtheil nicht im All— 
gemeinen, ſondern nur nach allen beſonderen Umſtänden 
des einzelnen Falls zu richten wagen; es wird dem muthigen 
und verantwortungsvollen Entſchluß eines General York 
die vollſte Anerkennung nicht verſagen, die That eines 
Stapf, einer Charlotte Corday von der eines Sand oder 
Blind unterſcheiden, den Brudermord Timoleons, die Rechts— 
verlezung des Conſul Cicero, die Thaten eines Brutus, 
eines Harmodius und Ariſtogiton je wieder nach anderem 


166 

Maaß zu würdigen haben. Es kann ſich hiebei nicht blos 
darum fragen, wie die Sache etwa von dem Handelnden 
gemeint war, ſondern wie ſie wirklich lag. Bei politiſchen 
Handlungen von außerordentlichem Charakter, zu denen 
Niemand verbunden iſt, iſt Einſicht und Verſtändniß uner— 
läßliche Pflicht und Thorheit wird zur verbrecheriſchen An— 
maaßung. Für den Politiker iſt überhaupt Klugheit nicht 
blos eine intellectuelle, ſondern eine Attliche Eigenſchaft 
und wem ſie fehlt oder wer gar nicht beurtheilen kann, ob 
ſie ihm fehlt, der verſündigt ſich ſchon dadurch, daß er nach 
einem Berufe greift, dem er nicht gewachſen iſt und in dem 
er doch nicht blos ſeine eigene Sache zu führen hat. 

Das Strafgeſez läßt nun aber freilich noch viele Hand— 
lungen ungeahnt, die gleichwohl als unſittlich gelten müſſen, 
ſo vor Allem das Lügen, das wir nach alten Traditionen 
als eine faſt unerläßliche Beigabe der Politik und Diplo— 
matie anzuſehen gewöhnt ſind. Wie ſtellt ſich die Politik 
dazu? Ich möchte antworten: alle politiſche Thätigkeit be— 
ruht auf einem durch Geburt oder Wahl verliehenen Amt; 
kein Amt oder Dienſtverhältniß aber kann zu unehrenhaften 
und ſittlich unerlaubten Handlungen ermächtigen oder ver— 
pflichten. Auch wird der Staatsmann im inneren Staats— 
leben ſowie im friedlichen Verkehr der Völker keinen Anlaß 
finden können, die Pflicht einer richtig verſtandenen Offen— 
heit und Wahrhaftigkeit zu verlezen. Die Kriegslage aber 
und ſchon die nur drohende Kriegsgefahr gehören dem Noth— 
ſtand an, deſſen Mittel durch das Völkerrecht und die Rück— 
ſichten einer natürlichen Humanität begrenzt ſind. Ueber 


ee 


167 


dieſe hinaus noch die Forderungen des Edelmuths und einer 
romantiſchen Rittermoral hinzuzufügen, iſt zweckwidrig und 
widerſpricht der Stellung desjenigen, der nicht für ſich 
ſondern für andere, für Alle zu handeln hat. Großherzig 
und edelmüthig kann man nur auf eigene Koſten ſein, nicht 
auf fremde. Wo Gewalt erlaubt iſt, kann Liſt nicht ver— 
boten ſein; wen man tödten darf, den muß man auch täuſchen 
dürfen, und wenn man mit beidem den gleichen Erfolg er— 
zielen könnte, ſo müßte die Täuſchung als das humanere 
und jchonendere Mittel den Vorzug verdienen. 

Man gelangt auf dieſem Gebiete allerdings bald in 
die Neze einer difficilen Caſuiſtik wie in jenen Fragenſpielen 
der Moralcompendien über die Nothlügen oder ob der 
Schiffbrüchige, welcher einen Balken ergriffen hat, der nur 
einen einzigen tragen kann, einen zweiten, der denſelben 
erfaſſen will, zurückſtoßen dürfe. Ein gefeierter Staats— 
rechtslehrer findet es unanſtößig, aus einem freiwillig an— 
gebotenen Verrath Nuzen zu ziehen oder Vertreter unſeres 
guten Rechtes durch Geſchenke zu gewinnen, erklärt aber 
die Beſtechung fremder Beamten zur Begehung einer Pflicht— 
widrigkeit für unſtatthaft. Es wird ſich in ſolchen Dingen 
immer Vieles für und wider ſagen laſſen. Unter der 
Vorausſezung, daß es ſich nicht um den friedlichen, ſondern 
um den feindlichen Verkehr der Völker handelt, würde mein 
ſittliches Gefühl eine ſo haarſcharfe Grenzlinie an dem be— 
zeichneten Punkt nicht fordern oder begründet finden. Wenn 
ein Heerführer, der eine belagerte Feſtung mit Anwendung 
der furchtbarſten Zerſtörungsmittel und unter Aufopferung 


168 


zahlloſer Güter und Menschenleben in ſeine Hand zu bringen 
berechtigt und verpflichtet iſt, die Möglichkeit, ihre Thore 
durch einen goldenen Schlüſſel zu öffnen, zurückwieſe, ſo 
würde dieſe Zartheit ſeines individuellen Gewiſſens doch 
nur auf Koſten Anderer ſeine Befriedigung finden und es 
lägen Geſundheit und Leben von tauſenden ſeiner eigenen 
Landsleute und der Feinde auf der andern Wagſchaale. 
Es wäre widerſinnig im Krieg einſeitig darauf zu verzichten, 
durch Beſtechung Spione unter den Unterthanen des feind— 
lichen Staats zu gewinnen. Es handelt ſich hier um außer— 
ordentliche Lagen, in denen die höchſten Güter eines Staats 
oder einer Nation auf dem Spiele ſtehen, und denen, welche 
die Verantwortung tragen, nicht anzuſinnen iſt, über die 
Zwirnfäden der Caſuiſtik zu ſtolpern. 

Daß aber Politik und Moral, ſo unabhängig ihre 
Pfade in vielen Dingen neben einander herlaufen, doch 
aus Einer Quelle fließen und ſchließlich in ein gemeinſames 
Ziel einmünden, das ſehen wir vielleicht am deutlichſten 
daran, daß ihre hiſtoriſche Entwicklung in einer ſtetigen 
gegenſeitigen Annäherung beſteht, daß die Moral immer 
politiſcher, die Politik immer moraliſcher zu werden, wenig— 
ſtens die Tendenz zeigt. Für die chriſtlich mittelalterliche 
Weltanſchauung waren alle ſittlichen Ideale das Monopol 
der Kirche; der Staat galt als mit dem Brandmal der 
Weltlichkeit geächtet und erniedrigt; er war auch darnach; 
es gab in ihm nicht ſowohl Pflichten und Rechte, als Laſten 
und Forderungen. Auch die neuere Philoſophie fand nur 
ſchwer den Weg, der Idee des Staats gerecht zu werden; 


—— 


— ——ü—ñ—ũäs . — . — en Din 


— 


169 


man begriff ihn nur als einen Aſſekuranzvertrag zum Schuz 
des Einzelnen; in der Moral war kaum von ihm die Rede. 
Es iſt ein bleibendes und glänzendes Verdienſt von Hegel, 
vielleicht ſein größtes, den Staat als die objective Ver— 
wirklichung ſittlicher Ideen, ja als deren höchſte Form er— 
kannt und das Verhältniß des Einzelnen zum Staat in 
die Ethik ſelbſt aufgenommen zu haben. Aber auch von 
ganz andern Ausgangspunkten iſt ein hervorragendes Werk 
chriſtlicher Ethik zu dem gleichen Ziel gelangt, die Erfüllung 
der ſittlichen Ideale der Menſchheit nicht der Kirche, ſondern 
dem Staat zuzuweiſen. 

Andererſeits iſt aber ebenſo in der Politik die wachſende 
Richtung auf höhere Ziele nicht zu verkennen. Im vorigen 
Jahrhundert beſtand ſie noch in einem Intriguenſpiel der 
Kabinette; ſich gegenſeitig auszulauern und zu überliſten, 
wo möglich die Kammerdiener und Weiber am Hofe zu 
gewinnen, gehörte zu den wichtigſten Aufgaben der Diplo— 
maten; Länderſchacher und Theilung, Streit um Rang und 
Macht war das Hauptthema; das Wohl der Völker kam 
nur in den Formen der Phraſe zur Sprache. Bei den 
freieren Staatseinrichtungen der Gegenwart werden die 
Schickſale der Völker nicht mehr in den Kabinetten und 
Vorzimmern der Fürſten, ſondern in öffentlichen Berathun— 
gen ihrer Vertreter erörtert und entſchieden; Plane, welche 
das Licht der Oeffentlichkeit zu ſcheuen haben, ſind zwar 
noch lange nicht unmöglich, aber um Vieles ſchwieriger zur 
Ausführung geworden. Nachdem zwei große Kulturvölker 
aus kläglicher Zerriſſenheit zu nationaler Einigung gelangt 


170 

ſind, ſind die wahren und natürlichen Grenzen der euro— 
päiſchen Staatenfamilie wenigſtens im Weſentlichen gefunden 
und bleibend feſtgeſtellt. Die allgemeine Wehrpflicht macht 
Kriege unmöglich, welche nicht auch von den Völkern als 
gerecht oder unabweisbar erkannt werden. Die Kriege 
ſelbſt ſind von kürzerer Dauer und werden menſchlicher ge— 
führt. Von demſelben Staat, in deſſen Heer vor 109 Jahren 
noch die eigene Mannſchaft lebend in die Feſtungsgräben 
geworfen wurde, damit ihre Leiber ſie ausfüllten und den 
Sturmcolonnen als Brücke dienten, ſind die neueſten Anre— 
gungen zu weiteren Fortſchritten in der Humanität der 
Kriegsführung ausgegangen.“ 

Unſer deutſches Volt aber, jezt ſtark genug, um nicht 
fremden Gutes zu begehren und doch das eigene gegen alle 
Welt zu behaupten, hat aus der Hand der Geſchichte die 
Miſſion empfangen, in der Mitte des Welttheils ein Reich 
des Friedens zu gründen, für deſſen Politik die Pflege der 
Wohlfarth, Freiheit und der Geſittung die oberſte Richt— 
ſchnur ſind. Uns war es vergönnt die Erfolge einer Staats- 
kunſt zu ſehen und zu genießen, welche eine Prüfung nach 
dem höchſten Maßſtab der Geſchichte nicht zu ſcheuen hat. 
Zum zweitenmal im Lauf des Jahrhunderts hat die Noth 
und Verwirrung der Zeiten dem deutſchen Volk einen Mann 
gegeben, in welchem das gewaltigſte Wollen ſich mit dem 
richtigſten verſchmolz. 

Aber die Bedingung einer ſittlichen Politik der Staaten 
iſt der ſittliche Geiſt der Völker ſelbſt. Nur wenn im 
deutſchen Volke die Empfänglichkeit für die idealen Güter 


das Uebergewicht über Erwerbſinn und Genußſucht, über 
Gleichgiltigkeit gegen das Gemeinweſen, über beſchränkte 
Vorurtheile behauptet, kann in einem Staatsweſen, das 
auf dem gleichen Wahlrecht Aller fußt, auch deſſen Politik 
im gleichen Geiſte geführt werden. Die Moral des Volks 
und die ſeiner Staatsmänner gehen Hand in Hand. Es 
kann in freien Staaten nur ein vorübergehender Glücksfall 
ſein, wenn die Regierung eines Volkes beſſer iſt als ſeine 
Sitten. Und nur in dieſer ſtetigen und lebendigen Wechſel— 
wirkung liegt die lezte Löſung des Räthſels, an dem dieſe 
Betrachtung ſich verſucht hat. 


Rede über die Reichsoberhauptsfrage. 
Frankfurt 22. Januar 1849. 


Vorbemerkungen. 

Ueber das Frankfurter Parlament iſt nur ſelten noch 
ein gerechtes und verſtändiges Urtheil zu hören. Jeder 
publiciſtiſche Grünſchnabel ergeht ſich mit Behagen in ab— 
ſchäzigen Redensarten über die doctrinären und unprak— 
tiſchen Profeſſoren, die, ſtatt das Eiſen zu ſchmieden, ſo 
lange es noch warm war, die beſte Zeit mit langen Reden 
über abſtracte Freiheitsfragen hingebracht, die Begeiſterung 
des Volkes gelähmt, ſein Vertrauen verſcherzt und damit 
ſchließlich die Macht verloren haben, den widerſtrebenden 
Regierungen gegenüber ihr Verfaſſungswerk durchzuſezen. 
Nach der andern Lesart war die Verſammlung ſelbſt bis 
ins Mark von dem Gift umſtürzender Ideen angefreſſen 
und die von ihr feſtgeſtellte Verfaſſung ein revolutionäres, 
für die Regierungen ſchlechthin unannehmbares Werk. 

Nachdem nun vollends die deutſche Einheit auf ganz 
anderen Wegen und in Begleitung weltgeſchichtlicher Glanz— 
effekte fertig gebracht worden iſt, iſt jene Verſammlung von 
1848 verſunken und vergeſſen; man glaubt auf fie, wie 
auf eine Kinderkrankheit zurückſehen zu dürfen, die einen 


173 


Augenblick gefährlich erſchienen war, von der man aber 
nur ein ganz dunkles Bild in der Erinnerung bewahrt. 

Das Urtheil der Geſchichte und Nachwelt wird wohl 
anders lauten. Zwar dagegen wüßte ich nichts zu ſagen, 
wenn man jene Erfahrungen als Beweis anführen wollte, 
daß eine große Verſammlung gewählter Volksvertreter ſelbſt 
bei einer Fülle von Talenten und beim beſten Meinen und 
Wollen für ſich allein unfähig iſt zu praktiſcher und ſchöpfe— 
riſcher Politik, daß ihr, wenn ſie nicht die Wege eines 
Konventes einſchlagen will oder kann, nur übrig bleibt, 
an den vorhandenen Staatsgewalten Halt und Anlehnung 
zu gewinnen und daß zwiſchen dieſen beiden Möglichkeiten 
keine andere mehr in der Mitte liegt. 

Dagegen wird der Frankfurter Verſammlung Ein 
großes und unvergängliches Verdienſt nie beſtritten werden 
können. Sie hat den Gedanken der nationalen Einigung 
aus der Region nebelhafter Träumereien und zerfahrener 
Meinungen herausgeholt, für denſelben die politiſche Geſtalt 
und Formulirung gefunden und unter unſäglichen Schwierig— 
keiten durch die Löſung des Räthſels, wie und wie allein 
die Sache gemacht werden könne, das Ziel und Programm 
für die weitere Entwicklung feſtgeſtellt. Daß ein deutſcher 
Bundesſtaat mit zwei rivaliſirenden europäiſchen Groß— 
mächten undenkbar, daß für den öſtreichiſchen Ländercom— 
plex in demſelben kein Plaz, daß Preußen zu einer blei— 
benden Führerſtellung in demſelben berufen ſei, dieſe ganze 
Idee des kleindeutſchen Reiches mit der erbkaiſerlichen Spize, 
die ſchließlich zum Sieg und zur Verwirklichung gelangte, 


174 

mußte zuerſt als der Eck- und Grundſtein des künftigen 
Baues ausgemeiſelt und eingegraben ſein. Sie mußte in 
der Verwirrung der Parteimeinungen allmälig Propaganda 
machen bei den politiſch denkenden Köpfen der Nation, und 
wenn Bismark, der zuerſt ſelbſt zu ihren Gegnern gehört 
hatte, ſie nicht ergriffen und vorbereitet gefunden hätte, 
ſo wären ſeine Politik und deren Erfolge unmöglich ge— 
weſen. 

Man hat jezt aber keine Vorſtellung mehr davon, wie 
ſchwer es war im Jahr 1848 zu dieſer Löſung zu gelangen. 
Der Gedanke war wohl ſchon von Einzelnen ausgeſprochen, 
von Paul Pfizer, von der deutſchen Zeitung, aber nur auf 
literariſchem und journaliſtiſchem Feld neben hundert andern 
Projecten und ohne Premirung des Hauptpunktes, des 
Ausſcheidens von Oeſtreich. Auch der Dahlmannſche Ent— 
wurf im Siebzehnerausſchuß hatte dieſen Punkt unausge— 
ſprochen gelaſſen und darum die Zuſtimmung der öſtrei— 
chiſchen Vertrauensmänner ſelbſt finden können. 

Zu ſagen, die Frankfurter Verſammlung hätte gleich 
in den erſten Wochen, noch getragen von dem Strom der 
allgemeinen Begeiſterung, geſtüzt auf die Ohnmacht oder 
den guten Willen der Regierungen, irgendwelche Ver— 
faſſung des deutſchen Bundes oder Reiches deeretiren und 
das Weitere dann der Zukunft anheimſtellen ſollen, iſt, milde 
ausgedrückt, nicht mehr als ein albernes Gerede zu nennen. 
Als ob für das deutſche Volk irgend welche beliebige Ver— 
faſſung getaugt hätte! Und doch wäre auch nicht einmal 
für irgend welche Verfaſſungsform damals irgend welche 


Mehrheit zu finden geweſen. Die Frage über eine concrete 
Neugeſtaltung der deutſchen Dinge war viel zu neu und 
unvorbereitet vor die Nation und ihre Vertreter gebracht 
worden. 

Ich darf hier wohl zum Beleg eine kleine perſönliche 
Erinnerung anführen. Es ſollten in den erſten Tagen die 
Mitglieder eines Verfaſſungsausſchuſſes in den Abtheilungen 
gewählt werden. Da man ſich gegenſeitig noch gar nicht 
kannte, ſo wurde in der Abtheilung, welcher ich zugelooſt 
war, beſchloſſen, daß vor der Abſtimmung Jeder in der 
Kürze eine Art von politiſchem Programm und Glaubens 
bekenntniß ablegen ſolle. Da hieß es in der That: ſo viel 
Köpfe ſo viel Meinungen. Die Buntſcheckigkeit der Vota 
erregte allmählig Heiterkeit. Ich war unter etwa 36 Col— 
legen der Einzige, der ſich zu dem Pfizer-Dahlmannſchen 
Programm bekannte, freilich auch mit dem Zuſaz, daß die 
nähere Geſtaltung der Sonderſtellung von Oeſtreich noch 
weiterer Berathung bedürfe. Das mitleidig wohlwollende 
Lächeln der Nachbarn und Zuhörer zeigte mir, daß dieſes 
Votum als die abſonderliche Meinung eines jugendlichen 
Träumers und Dilettanten in politiſchen Dingen erſchien. 

Hätte die Verſammlung etwa gleich mit dem anfangen 
ſollen und können, was ihr am Ende noch faſt unmöglich 
erſchien, den Collegen aus Oeſtreich, einem Drittheil ihres 
Beſtandes, direct oder indirect die Thüre zu weiſen? 

Wenn man den ganzen Sommer hindurch die Be— 
rathung der Grundrechte und mancherlei Allotria in ihrer 
ganzen Breite und Weitſchweifigkeit zuließ, ſo geſchah es, 


176 
weil man noch rathlos vor der Hauptfrage ſtand und keiner 
der Entwürfe auf eine Mehrheit rechnen konnte. Der 
Schwerpunkt der Berathungen lag damals außerhalb der 
öffentlichen Sizungen. In den Klubs und noch mehr in 
kleineren Kreiſen wurden die verſchiedenen Möglichkeiten, 
das neun-, das ſieben-, das fünfköpfige Directorium, die 
Trias, die Wahlmonarchie, das Alternat, das Doppelprä— 
ſidium und was Alles ſonſt noch durchgeſprochen. Nicht 
aus vorgefaßten Meinungen, ſondern durch die innere Kraft 
und Dialectik ſeiner Argumente brach ſich hier allmälig 
der kleindeutſche Gedanke Bahn und gewann Tag für Tag 
einzelne Anhänger aus dem Kreiſe der früheren Gegner. 
Im Herbſt trat er in der Geſtalt des Gagernſchen Pro— 
gramms an die Oeffentlichkeit. 

Für die Abgeordneten aus Preußen und den nord— 
deutſchen Kleinſtaaten war das Opfer dieſes Entſchluſſes 
nicht groß. Das Häuflein der Kleindeutſchen in den Süd— 
ſtaaten aber hatte einen ſchweren Stand. In Würtemberg 
war die öffentliche Meinung entſchieden großdeutſch, theils 
aus democratiſchen, theils confeſſionellen oder particulariſti— 
ſchen Motiven. Die alten bewährten Führer der liberalen 
Partheien, das Haupt des Märzminiſteriums, die beiden 
Kammern, die große Mehrzahl der Reichstagsabgeordneten 
ſtand in dieſem Lager. Von den Unſrigen waren die be— 
kannten Namen, Mathy, R. Mohl, Wurm außer Landes 
anſäßig und außer Fühlung mit ihren Wählern; wir drei 
andern, unbekannt und ohne Bedeutung, erſchienen wie 


177 


Abtrünnige. Ich wurde überhäuft mit Kundgebungen des 
Mißfallens und perſönlichen Bedrohungen. 

In dieſem Zuſammenhang mag die nachfolgende, bei 
der Berathung über die Erblichkeit der Reichsoberhaupt— 
würde gehaltene Rede, wenn ſie auch weder damals eine 
erhebliche Bedeutung hatte, noch dem heutigen Leſer etwas 
Neues ſagen kann, doch noch einiges Intereſſe bieten, auch 
abgeſehen von der kleinen Genugthuung, die es dem Redner 
gewähren kann, vor 25 Jahren im Ganzen nicht ſo fehlge— 
griffen und auch die militäriſch-politiſche Lage der Südſtaaten 
dem Erfolg nach nicht unrichtig beurtheilt zu haben. 

Die Rede iſt aus den amtlichen ſtenographiſchen 
Sitzungsberichten, unter Weglaſſung der damals ſo zahl— 
reichen Zwiſchenrufe von Zuſtimmenden und Gegnern, ab— 
gedruckt. 

Meine Herren! Ich bekenne mich offen zu denjenigen, 
welche den Eintritt Oeſterreichs in den deutſchen Bundes— 
ſtaat, wie wir ihn nöthig haben, für unmöglich, welche die 
Löſung unſerer Aufgabe nur in der Gründung von zwei 
ſelbſtändig neben einander ſtehenden, durch Sympathien, 
Intereſſen und Verträge an einander geketteten Bundes— 
ſtaaten für erreichbar halten. Ich will in dem engeren 
deutſchen Bundesſtaate, den wir hier zu gründen berufen 
ſind, den König von Preußen als erblichen König der 
Deutſchen. Die allgemeinen politiſchen Gründe für dieſe 
Anſicht hier zu entwickeln, unterlaſſe ich; ich will dieſes 
einflußreicheren und beredteren Stimmen dieſes Hauſes 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 12 


178 


überlaſſen, die es nach mir thun werden oder vor mir ge— 
than haben. Ich habe in dieſer Frage nur das Wort er— 
beten, weil ich einer von den wenigen Süddeutſchen bin, 
welche entſchieden auf dieſer Seite ſtehen, und weil ich 
wünſchte, daß auch aus meinem engeren Vaterlande ein 
Zeugniß dafür abgelegt würde, daß es auch dort nicht an 
ſolchen fehlt, die ſich in das Unvermeidliche fügen, die be— 
reit ſind, mancherlei Sympathien und Intereſſen um den 
Preis eines großen Vaterlandes hinzugeben. Ich bedauere, 
daß es einem andern Manne aus meinem Vaterlande nicht 
gegönnt, daß Paul Pfizer verhindert iſt, in dieſen Tagen 
auf dieſer Tribüne zu ſtehen und für eine Idee zu 
ſprechen, welche er ein Recht hat, ſein Eigenthum zu 
nennen, worin er ſchon vor Jahren mit ſtaatsmänniſcher 
Vorausſicht die künftige Form der deutſchen Einigung 
gefunden hat. Allein ſo ſehr wir alle ihn hier vermiſſen, 
ſo wollte ich doch nicht, daß gar keine Stimme aus meiner 
Heimath in dieſem Sinne ſich vernehmen ließe. 

Es iſt gegenüber einer beſtimmten, ſo ſchwierigen 
Frage, wie die über das Oberhaupt, nicht leicht, von 
einer öffentlichen Meinung zu ſprechen, zumal in einem 
Lande, wo das politiſche Urtheil ſich ſelbſt noch erſt aus 
einer trüben und verworrenen Gährung herauszuarbeiten 
hat. Ich weiß ſehr wohl, daß auch bei uns die demokrati— 
ſchen Vereine gegen jede monarchiſche Spize ſind, ich weiß 
und begreife es vollkommen, daß diejenigen Theile von 
Würtemberg, welche in den lezten Kriegsjahren mit uns 
verbunden wurden und bis heute noch nicht recht zu einem 


179 


Ganzen zujammengewadhfen find, theils im Hinblick auf 
geſchichtliche Erinnerungen, theils aus confeſſionellen Rück— 
ſichten nicht für ein preußiſches Kaiſerthum ſein können, 
ich muthe es ihnen auch nicht zu. Ich gebe ferner zu, 
daß, wenn es uns gelingen ſollte, dieſen Plan durchzuführen, 
er bei uns nicht mit Jubel begrüßt werden dürfte, daß 
das Volt lange Zeit dazu brauchen würde, ehe es ſich 
hineinfinden könnte; ich muß aber auch die Ueberzeugung 
ausſprechen, daß dieſe Idee in unſerem Lande bei ihrer 
Ausführung wenigſtens nicht auf weſentliche und unüber— 
ſteigliche Hinderniſſe ſtoßen und daß das Urtheil des Volkes 
vorzüglich von der Stellung abhängen wird, die die Re— 
gierung gegenüber dieſer Frage einnehmen wird. Die 
Männer, die an der Spize unſerer Landesverwaltung ſtehen, 
genießen ein ſolches Vertrauen beim Volke, daß es ihnen 
glauben wird, wenn ſie ihnen ſagen, dieſes Opfer ſei ein 
nothwendiges für die Einheit des Ganzen. 

Meine Herren! Wir Bewohner des ſüdweſtlichen 
Deutſchlands befinden uns dieſer Oberhauptsfrage gegen— 
über in einer eigenthümlichen und peinlichen Stellung. Es 
hat Niemand, kein deutſcher Stamm ein größeres Intereſſe 
an der deutſchen Einheit, als wir; aber keiner hat auch 
das ſo ſchwer zu empfinden, wenn Deutſchland entweder 
nicht einig, oder kein Ganzes werden wird. Wir Schwaben 
haben den Fluch der Zerſtückelung und Schwäche Deutſch— 
lands ſchwerer getragen, als irgend ein anderes Volk. 
Wir, deren Herzöge einſt des Reiches Fahne trugen und 
vorangiengen bei den Römerzügen, wir ſind im lezten 

1 


180 


Jahrhundert zu Söldlingen herabgeſunken und zu jener 
Politik genöthigt worden, die dem Glücke des Siegers zu 
folgen hat, wir haben das zweideutige Lob, auf allen Schlacht— 
feldern Europa's für und gegen alle großen Armeen des 
Feſtlandes gekämpft zu haben. Es hat uns bei allen dieſen 
Kämpfen niemals an Muth und Tapferkeit gefehlt, aber 
niemals haben wir für ein Vaterland gekämpft. Und wenn 
es ſich heute wiederholt, wenn heute die Franzoſen über 
den Oberrhein kommen, ſo haben wir abermals nur die 
traurige Wahl, ob wir unſer Land allen Drangſalen des 
Kriegs, aller Willkür eines übermüthigen Feindes hingeben, 
oder ob wir Verräther werden wollen am deutſchen Volke. 
Ich weiß gewiß, daß unſer Volk und daß der Fürſt, der 
an der Spize deſſelben ſteht, keinen Augenblick im Zweifel 
ſein wird, welche Wahl ſie zu treffen hätten; aber traurig 
iſt es, wenn ein braves und tapferes Volk keine Wahl hat, 
als eine ſolche. Das können Sie alſo glauben, uns iſt es 
Ernſt damit, daß es ein ſtarkes Deutſchland gebe. Wir 
ſind zu jedem Opfer bereit. Wir treten nicht mit Anſprüchen 
auf eine ſelbſtändige Stellung, wie unſere öſtlichen Nach— 
barn, auf; „wir ſtehn zurück, wir ſind die Flehenden, die 
Hülfe heiſchen bei den mächtigen Freunden.“ Allein das 
iſt wahr, wenn man nun dem Süddeutſchen ſagt, die deutſche 
Einheit ſei ein preußiſches Erbkaiſerthum, ſo iſt das eine 
harte Lehre. Wer mag ſie hören? Sie können ſich dar— 
über nicht wundern; es iſt auch für den Vorurtheilsloſeſten 
bei uns, gleichſam als wenn man ihn unter ein Sturzbad 
kalten Waſſers ſtellte. Es benimmt einem Anfangs den 


181 


Athem, und man braucht einige Zeit, bis man ſich daran 
gewöhnt hat und wohl dabei fühlt. 

Ich bin daher mit demjenigen, was mein Landsmann 
M. Mohl vor kurzem in Beziehung auf die Stellung der ſüd— 
deutſchen Staaten zur Oberhauptsfrage geſagt hat, in vielem 
einverſtanden, beſonders in dem, was er über die Sympathien 
und Stimmungen des Volkes geſagt hat. Dagegen bin ich 
nicht einverſtanden, wenn er uns bewieſen hat, daß es ſo ſehr 
gegen die Intereſſen der ſüddeutſchen Staaten ſei, in ein 
ſolches deutſches Reich einzutreten. Der erſte und größte 
Grund, den er geltend gemacht hat, ſind unſere materiellen 
Intereſſen. Ich ſtehe in dieſer Beziehung auch auf dem Stand— 
punkte eines Süddeutſchen, und fühle mich verpflichtet, die 
Intereſſen meiner Wähler und meines Landes hierin nach 
ihrem ganzen Umfange zu wahren. Die Norddeutſchen, 
die Herren vom Freihandelsverein, kennen unſer Land nicht. 
Sie ſehen nur die ſchönen rebenbegränzten Berge und die 
anmuthigen Thäler, aber ſie wiſſen nicht, daß um dieſe 
Berge und in dieſen Thälern ein verarmendes Volk wohnt, 
für das der Boden nicht mehr ausreicht, der es zu ernähren 
hat. Sie wiſſen nicht, daß in dieſen Thälern viel tauſend 
arbeitsloſe und fleißige Hände ſind, die nichts weiter ver— 
langen, als daß ſie wenigſtens an den Hemden und Kleidern, 
die ſie auf dem Leibe tragen, den Lohn der Arbeit ſelber 
verdienen. Da ſprechen Sie von künſtlicher unnatürlicher 
Induſtrie, die wir auf Koſten Anderer gründen wollen, 
während wir nur das Natürliche und Nothwendige fordern. 
Wir wollen nur eine kurze vorübergehende mäßige Nach— 


182 


hülfe, damit unſerm Volke neue Erwerbszweige geſchaffen 
werden; wir wollen, wenn einmal die Maſchinen viele Ge— 
werbe zu Grunde richten, daß es wenigſtens die eigenen 
Maſchinen ſeien, die dieß thun. Allein jo ſehr ich in Be⸗ 
ziehung auf das Materielle dieſer Frage auf ſüddeutſcher 
Seite ſtehe, ſo kann ich doch nicht einſehen, inwiefern hierin 
ein Motiv gegen die Gründung eines ſtarken Deutſchlands 
liegen ſolle. Man befürchtet, wir Süddeutſche ſeien in 
dieſem neuen Deutſchland in der Minorität. Ich glaube 
das nicht. Herr Stahl hat uns ſchon bewieſen, daß es 
ſich hier überhaupt nicht um einen Gegenſaz von Nord und 
Süden handle. Ich glaube vielmehr, daß diejenigen Theile 
von Deutſchland, in welchen eine kräftige Unterſtüzung der 
vaterländiſchen Arbeit ein unabweisbares Bedürfniß ge— 
worden iſt, auch ohne Oeſterreich einen größeren Theil von 
Deutſchland ausmachen, als diejenigen, in welchen es nicht 
der Fall iſt. Allein ſelbſt wenn wir die Majorität hätten, 
ſo verlange ich nicht, daß dieſe Frage einfach durch eine 
Majorität, die ſich für das eine Extrem entſcheidet, mag 
auch der andere Theil darüber zu Grunde gehen, abgemacht 
werde. Es iſt eine Sache, wo zwei verſchiedene Intereſſen 
einander gegenüber ſtehen und wir haben hier den erſten 
Beweis zu liefern, daß wir im Stande ſind, uns zu ver— 
ſtändigen und zu einigen über abweichende Anſprüche. Eine 
ſolche Verſtändigung wird erreicht werden, ſobald einmal 
alle Intereſſen ſich hören laſſen können, ſobald die Fragen 
nicht im Allgemeinen, ſondern im Einzelnen beſprochen 
werden, ſobald die Entſcheidung nicht mehr vom Zuſtande— 


183 


kommen eines einſtimmigen Beſchluſſes von einem Duzend 
einzelner Regierungen abhängt, ſondern von den Beſchlüſſen 
eines Reichstags, von den Vertretern der ganzen Nation. 
Die Frage über die Verhältniſſe zu Oeſterreich in Beziehung 
auf Zoll und Handel bleibt jedenfalls eine Sache für ſich, 
die von Unterhandlungen abhängt, mag es nun mit der 
deutſchen Verfaſſung werden wie es will. Ob wir mit 
Oeſterreich ein Zoll- und Handelsgebiet bilden werden, was 
ich ſo ſehnlich wünſche, als irgend Jemand, und wann, das 
hängt nicht von der heutigen Abſtimmung ab, ſondern da— 
von, was die Intereſſen beider Länder gebieten; denn dieſe 
ſind mächtiger, als alle politiſchen Rückſichten des Augen— 
blicks. Wenn ich aber auch zugebe, daß ein Zuſtandekommen 
einer ſolchen Zollunion durch unſere Entſcheidung verzögert 
werden könnte, ſo kann ich von ein paar Monaten oder 
Jahren, um welche ein für uns günſtiger Handelsvertrag 
früher oder ſpäter in's Leben tritt, die Auferſtehung eines 
ſtarken Deutſchlands niemals abhängig machen. 

Der andere Punkt, in Beziehung auf welchen uns 
bewieſen werden will, daß es gegen das Intereſſe der ſüd— 
weſtlichen Staaten ſei, mit Norddeutſchland inniger zu— 
ſammenzuhängen, als mit Oeſterreich, iſt der militäriſch-po— 
litiſche. Man ſagt uns, bei unſerer Lage zwiſchen Frankreich 
und Oeſterreich ſei Oeſterreich unſer natürlicher Beſchüzer, 
wir ſeien nur dann geſichert, wenn wir mit Oeſterreich im 
innigſten und nächſten Bunde ſtehen. Ich will Sie hier 
nicht an die Kriegsgeſchichte erinnern und mich nicht auf 
ein Gebiet verirren, auf dem ich nicht zu Hauſe bin, allein 


184 


das ſcheint mir auf der Hand zu liegen, daß ein Land, 
deſſen Beſchüzer hundert Stunden hinter ihm liegen, ſchlecht 
beſchüzt iſt, daß ein Land ſchlecht beſchüzt iſt, wenn es noth— 
wendig der Tummelplaz der feindlichen Heere, der Siz des 
Krieges ſein wird; und in welcher Weiſe Oeſterreich unſer 
Land anſieht, davon möchte ich aus der jüngſten Zeit noch 
einen Beweis anführen und an eine alte Sünde des deut— 
ſchen Bundes erinnern. Man hat von deutſchem Geld, 
nachdem es lange im Kaſten gelegen iſt, und ich weiß nicht, 
wem Zinſen getragen hat, nicht eine deutſche Feſtung an 
die ſchwache Grenze Deutſchlands, ſondern an die Oſtgrenze 
unſeres Landes eine bayeriſche und öſterreichiſche Feſtung 
gebaut. Man hat unſere Länder dadurch zum Voraus als 
eine Beute bezeichnet, die man dem vordringenden Feinde 
hinwirft und überläßt. Wir können nur recht geſchüzt 
werden dadurch, daß wir mit einem ſtarken Norddeutſchland 
verbunden ſind; wir werden am beſten dadurch geſchüzt 
ſein, daß am mittleren Rheine Norddeutſchland eine ebenſo 
ſtarke und drohende Stellung an der ſchwachen Seite Frank— 
reichs hat, wie Frankreich am Oberrhein gegen die ſchwachen 
Seiten von Deutſchland; wir ſind viel ſicherer, wenn in 
erſter Linie Norddeutſchland für uns einzuſtehen hat, denn 
der Schuz Oeſterreichs bleibt uns unter allen Umſtänden im 
Rückhalt, weil es in ſeinem Intereſſe liegt, daß kein neuer 
Rheinbund an ſeinen Grenzen entſtehe. Wenn wir mit 
einem ſtarken Norddeutſchland verbunden ſind, ſo wird der 
Kriegsſchauplaz zwiſchen dem mittleren Rheine und der 
Maas ſein, und ein Krieg zwiſchen Oeſterreich und Frank— 


185 


reich wird entweder in Deutſchland gar nicht geführt werden 
können, oder es wird zugleich ein Krieg gegen Deutſchland 
ſein. Dieſer Bund macht nicht nur uns ſicher, ſondern er 
ſchüzt und ſtärkt zugleich Oeſterreich. Oeſterreich iſt um 
Vieles kräftiger, wenn es dieſe Vorlande nicht mehr zu 
decken hat, wenn ein ſtarkes Deutſchland zwiſchen ihm und 
Frankreich ſteht, es kann dann um ſo viel ſtärker nach 
anderen Richtungen hin wirken, in welchen es ſeine ge— 
ſchichtliche Aufgabe hat und in denen es bisher ſo wenig 
gethan hat. 

In Beziehung auf dieſe zwei wichtigſten Punkte bin 
ich alſo mit denjenigen meiner Landsleute nicht einver— 
ſtanden, welche uns von einem Intereſſe des ſüdweſtlichen 
Deutſchlands gegen eine ſolche Geſtaltung der deutſchen 
Verfaſſung reden; allein ſelbſt wenn dieſe Gründe nicht 
richtig wären, ſelbſt auf die Gefahr aller dieſer traurigen 
Möglichkeiten hin würde ich dennoch ſagen, wir wollen 
lieber auf einem verlaſſenen, preisgegebenen Vorpoſten eines 
deutſchen Reiches ſtehen, wir wollen lieber die Stiefſöhne 
eines deutſchen Vaterlandes ſein, als gar kein Vaterland 
haben. Herr Welcker hat dieſen Ausdruck hart, übertrieben 
und ungerecht gefunden, allein ich kann es nicht anders an— 
ſehen, und ich möchte Ihnen die Worte wiederholen, die Herr 
Dahlmann bei anderer Gelegenheit in Beziehung auf ver— 
ſchiedene Anträge über das Suspenſivveto gebraucht hat: 
alle dieſe Anträge ſind gleichviel werth, ich will Niemand 
zu nahe treten, aber ſie ſind alle gar nichts werth. Es 
handelt ſich bei allen darum, ob Sie einen Bundesſtaat 


186 


mit zwei Großmächten machen wollen, von denen die eine 
noch eine Stellung außerhalb Deutſchland hat; wenn Sie 
zwei Großmächte haben, ſo haben Sie auch 30 kleine Staaten, 
das hängt aufs Innigſte zuſammen. Die beiden Groß— 
mächte werden entweder mit einander gehen und auf die 
kleinen drücken, und ſie werden dieß beſonders dann thun, 
wenn es ſich darum handelt, die politiſche Entwickelung zu 
retardiren, oder ſie werden nicht zuſammengehen (und das 
wird in allen großen politiſchen Fragen ſein), dann werden 
ſie ſich gegenſeitig neutraliſiren und gegen einander intri— 
guiren und die Folge wird ſein, daß es weder vor unſerem 
Volke, noch in den Augen des Auslandes ein großes Deutſch— 
land geben wird. Dem können Sie nicht entgehen; mag 
Herr Welcker ſagen, was er will, ich kann es nicht anders 
nennen, als es ſind alle die großen Gebrechen des alten 
Bundestages. Man beruft ſich auf das Parlament, allein 
das Parlament kann gegen ſolche unnatürliche Verhältniſſe 
nicht aufkommen, es wird entweder ganz ohnmächtig oder 
der Heerd und Tummelplaz aller dieſer Intriguen ſein, 
das Parlament wird nichts beſchließen können, was ent— 
weder Preußen oder Oeſterreich nicht will, und dann — 
Herr Welcker hat es zwar eine Kinderei genannt, wenn 
man einen Werth darauf legen wolle, daß Oeſterreich neben 
ſeiner Stellung im deutſchen Bunde auch noch Geſandte für 
Ungarn u. ſ. w. habe, daß es eine einheitliche, geſchloſſene 
Armee halte ꝛc., allein, meine Herren, eben in dieſen Kin— 
dereien liegt das Weſen der Sache, und wenn in Peters— 
burg, London und Paris neben dem deutſchen Geſandten 


187 


ein Geſandter für Ungarn iſt, jo wird man wohl wiſſen 
daß hinter dieſem Geſandten die 600,000 öſterreichiſchen 
Bajonette ſtehen. Die Folge würde dann ſein, daß Preußen 
ſeine europäiſche Stellung aufgibt, nur eine Stellung in 
Deutſchland hat, und hier ſeinen geſezmäßigen Drittelsein— 
fluß ausübt, während Oeſterreich innerhalb Deutſchland 
ganz dieſelbe Berechtigung mit Preußen, daneben aber 
ſeine europäiſche Stellung beibehält. Sie mögen über das 
Machtgefühl und Machtverhältniß der beiden Staaten ur— 
theilen, wie Sie wollen, in ein ſolches Verhältniß wird 
Preußen niemals eintreten, und Niemand, der die Geſchichte 
kennt, wird das erwarten und Preußen zumuthen. 

Die Gegner unſerer Anſicht ſind in Einem ſehr ſtark, 
nämlich darin, uns die Mängel unſeres Planes vorzuführen, 
ſie können das und machen auch redlichen Gebrauch davon, 
ſie können alles das, was uns das Herz ſchwer gemacht 
hat, bis wir zu dieſem Entſchluß kamen, wieder an uns 
vorüberführen, ſie können die Wunde jeden Tag wieder 
aufreißen, und ich meinerſeits geſtehe Ihnen, daß, ſo oft 
Sie mir die Worte zurufen: das ganze Deutſchland ſoll es 
ſein, wenn ich auch Alles weiß, was ſich gegen dieſen Vor— 
wurf einer Theilung ſagen läßt, es mich doch jedesmal 
wieder trifft. Sie können unſere Sache ſchlecht machen, 
Eines aber können Sie nicht, Sie ſind nicht im Stande, 
ihr etwas Größeres, etwas gleich Großes, ja Sie ſind nicht 
im Stande, ihr nur irgend Etwas entgegenzuſtellen, was 
dem Auslande und dem Volke gegenüber einen kleinen Grad 
von Verſtändlichkeit, von Lebensfähigkeit hat. Unſer Ge— 


188 


danke iſt offen und klar, jene Mängel liegen zu Tage, 
Niemand kann ſie verdecken; aber es iſt ein klarer, ſcharf 
durchſchneidender Gedanke der Einheit und der Macht, und 
er iſt allem dem Halben und Verworrenen, das Sie ihm 
gegenüberſtellen, weit überlegen. Ich gebe nicht zu, daß 
man das eine Zerſtückelung, eine Theilung von Deutſchland 
nennen darf, was gegenüber den früheren Zuſtänden nur 
eine noch unvollkommne, nicht für Alle gleichmäßige, aber 
jedenfalls weit größere Einigung von Deutſchland iſt. 
Allein ſelbſt wenn Sie Recht hätten, wenn es eine Ver— 
ſtümmlung von Deutſchland wäre, ſo ſage ich Ihnen, ich 
würde mir lieber einen Arm abhauen laſſen und einarmig 
durch die Welt gehen, als zwei geſunds Arme haben, wo— 
von der eine auch noch einer zweiten Perſon angewachſen 
wäre, die das gleiche Recht hätte, ſich deſſelben zu bedienen, 
wie ich. Es iſt dieß keine Theilung, keine Trennung. 
Ich ſehe das Verhältniß ſo an, wie es bei den alten Römern 
und Griechen war; wenn da ein Theil der Bürger auszog, 
um eine Colonie zu gründen und die Macht des Mutter: 
landes zu verſtärken, ſo nahmen ſie das Feuer von den 
Altären der heimiſchen Tempel mit. Sie blieben auch in 
der Ferne in dem gemeinſamen Bande der Liebe und der 
Sprache, der Erinnerungen und Stammverwandtſchaft, und 
dieſe Colonie, von der hier die Rede iſt, meine Herren, ſie 
iſt nicht ferne, es liegt kein Ocean dazwiſchen, ſie iſt nicht 
abhängig von uns, ſondern iſt ſtark und mächtig wie wir, 
und es ſind alle Bedingungen da, die eine einige, dauernde 
Verbindung möglich machen. Man hat viel von Klein— 


189 


Deutſchland und Groß-Deutſchland geſprochen und geſucht, 
das kleine Deutſchland recht klein zu machen. Ich habe 
aber nie gehört, daß man dort, woher dieſe Namen über— 
haupt kommen, das kleine Griechenland, daß man Athen, 
Sparta, Corinth und Argos jemals herabgeſezt hätte gegen 
das große Griechenland in Italien. Sie reizen uns mit 
Ihrem großen Deutſchland und ſpiegeln uns einen Traum 
von einem einheitlichen unermeßlichen Coloß von 70 Mil— 
lionen vor, der zu gründen ſei. Ich muß gegenüber von 
ſolchen Unmöglichkeiten ſagen, mir iſt dies Klein-Deutſchland, 
von dem Sie ſo verächtlich reden, immer noch lieber als 
gar keines. 

Man ſagt ferner, dieſe Union mit Oeſterreich werde 
nicht zu Stande kommen. Wie man denn denken könne, 
daß Oeſterreich ſich werde aus Deutſchland herausdrängen 
laſſen; ja man führt uns alle Schrecken des Bürgerkriegs 
vor, der an einen ſolchen Beſchluß ſich hängen werde. Ich 
kann das nicht glauben und unter den vielen Gründen, 
aus denen ich denke, daß kein Bürgerkrieg entſtehen wird, 
möchte ich nur einen hervorheben. Das öſterreichiſche Mini— 
ſterium hat in dem Programm von Kremſier eine offene 
und ehrliche ſtaatsmänniſche Anſicht ausgeſprochen, und wer 
über den Sinn derſelben irgend noch im Zweifel war, den 
hat gewiß die Note über das Conſulatweſen vollends über— 
zeugt. Das Miniſterium hat nach der Ankunft des Herrn 
v. Schmerling eine andere Anſicht über die Sache gewonnen. 
Ich weiß nicht, was Herr v. Schmerling dem öſterreichiſchen 
Miniſterium geſagt und gerathen hat, aber wenn es ſich 


190 

nun herausſtellen jollte, daß der Rath, den Herr Schmer— 
ling dem Miniſterium gegeben hat, doch nicht Stich hält 
gegen die Anſicht, die das Miniſterium bis zum 27. Decem— 
ber gehabt, glauben Sie oder haben Sie jemals gehört, 
daß Jemand deßhalb das Schwert gezogen hat, weil man 
ihn überzeugt, ſeine frühere Anſicht ſei doch die richtige 
und der davon abweichende Rath doch ein irriger geweſen? 
So hoch man auch die Anſichten des Herrn v. Schmerling 
ſtellen mag, einen Bürgerkrieg und eine Theilung Deutſch— 
lands in zwei feindliche Lager werden ſie nicht veranlaſſen. 
Man ſchreckt uns ferner mit einem Krieg und ſagt in dem— 
ſelben Athemzug, wenn Oeſterreich von Deutſchland ge— 
trennt werde, entſtehe ein ſlaviſches Reich, was ſchwer zu 
glauben iſt. Glauben Sie aber, daß die Slaven einen 
Krieg anfangen würden, um in einen deutſchen Bundesſtaat 
aufgenommen zu werden, daß ſie das Schwert ziehen, 
damit Wien aufhöre, der Centralpunkt ihrer Politik 
zu ſein? 

Eben ſo groß ſind aber die Gründe von unſerer Seite, 
die das Zuſtandekommen einer ſolchen Union wahrſcheinlich 
machen. Preußen hat ſich geſchichtlich im Gegenſaz zu 
Oeſterreich entwickelt. Aber das hat gerade dann ein Ende 
gefunden, wenn es mit dem übrigen Deutſchland zuſammen— 
wächſt und in ihm aufgeht. Deutſchland wird kein Preußen 
ſein und wir acht Millionen Süddeutſche ſind gerade eine 
Bürgſchaft für Oeſterreich, daß keine antiöſterreichiſche 
Politik in dem neuen Deutſchland jemals gelten wird. 
Schon in Preußen ſelbſt hat das excluſive Preußen— 


191 


thum kaum eine Mehrheit; wie ſoll es ſie haben im übrigen 
Deutſchland, wo das Gewicht aller kleinen Staaten dazu 
kommt, die zuſammen größer ſind, als Preußen ſelbſt? 
Wenn man ferner ſagt, Oeſterreich werde dann auf Deutſch— 
land keinen Einfluß mehr haben, ſo muß ich Ihnen geſtehen, 
ich fürchte eher, daß der Einfluß Oeſterreichs zu groß als 
zu klein ſein wird. 

Was zum Schluß die Erblichkeit betrifft, ſo möchte ich 
dafür nur Einen Grund anführen, der für mich ein ent— 
ſcheidender iſt. Wir wollen einen preußiſchen Erbkaiſer 
eben darum, weil wir nicht preußiſch werden wollen. Wir 
wollen uns ganz hingeben, aber wir verlangen das Gleiche 
auch von Preußen. Wir verlangen, daß es ſeinen ſtaat— 
lichen Organismus als ein fügſames Glied in die deutſche 
Verfaſſung einreihe, daß es uns in Berlin nicht den Doppel— 
gänger eines Reichstags hinſtelle, daß es nicht die Stellung 
und Gliederung einer Großmacht fortbehalte, daß der Unter— 
ſchied unter den deutſchen Staaten kein anderer werde, als 
der zwiſchen mittelbaren und unmittelbaren Reichslanden. 
Dieſe Forderung können wir aber nur dann ſtellen, wenn 
die Verbindung keine zeitliche, ſondern eine unauflösliche 
iſt. Wir können nicht erwarten, daß Preußen, wenn es 
nach ſechs Jahren wieder abzutreten hat, ſeine geſammte 
Staatsverfaſſung ſo lange ſuspendire. Es muß bleiben, 
was es iſt, und wir kommen aus dem Gegenſaz von großen 
und kleinen Staaten nie heraus; denn, wenn Preußen ſeine 
ſelbſtändige Stellung behält, ſo werden es die Anderen 
auch thun. Ein vollkommenes Zuſammenwachſen iſt nur 


192 


unter dieſer einen Bedingung möglich, von der ich ge: 
ſprochen habe. 

Man ſagt ferner, man könne für keine Erblichkeit 
ſtimmen, ſo lange das Verhältniß zu Oeſterreich im Un— 
klaren ſei. Meine Herren, das iſt ein fehlerhafter Zirkel 
in der Logik; ich ſage Ihnen, das Verhältniß Oeſterreichs 
wird auf die Minute hin ſo lange im Unklaren bleiben, 
als Sie darüber im Unklaren ſind, und es wird klar werden 
in dem Augenblick, wo Sie ein klares Wort geſprochen 
haben werden. Man iſt in Olmütz und Wien nicht im 
Unklaren. Man wird dort die Verfaſſung machen, wie 
man ſie in Oeſterreich bedarf, wie ſie für den Zuſammen— 
halt des großen Ländercomplexes unentbehrlich iſt. Unſer 
Miniſterium ſoll unterhandeln und hat die Grundlagen der 
Verfaſſung nicht, auf die hin es unterhandeln ſoll. Frei— 
lich, wenn Sie gar keinen Bundesſtaat machen, dann kann 
Oeſterreich wohl eintreten, dann wird Alles anders: aber 
Sie müſſen von Ihrer Seite das entſcheidende Wort ſprechen, 
und die ſchwierige Frage löſen und das Weitere wird folgen. 
Ich gebe zu, die Erblichkeit iſt ein großer und kühner Ge— 
danke, es iſt ein kühner Griff wie keiner; es wird etwas 
hingeſtellt, was den Ausgangs- und Zielpunkt der künftigen 
Geſchichte Deutſchlands bezeichnen wird. Allein alles An— 
dere, was Sie dieſer Erblichkeit gegenüberſtellen, ſind lauter 
Proviſoria, bei allem Anderen, was Sie machen, ſchieben 
Sie die Entſcheidung der Zukunft zu. Das deutſche Volk 
hat uns aber berufen, daß wir eine Verfaſſung und nicht daß 
die Exreigniſſe ſie machen. Es wird zwar geſchehen, was wir 


193 


wollen, wenn Sie es auch nicht beſchließen, ich möchte aber 
um unſeres Namens in der Weltgeſchichte willen, daß wir 
die Sache machten. Sie ſchieben die Sache der Zukunft 
zu; unſer Wahlſpruch iſt umgekehrt. Nicht die Zukunft 
ſoll die Verfaſſung Deutſchlands, ſondern unſere Verfaſſung 
ſoll die Zukunft machen. 


Rümeliu, Reden u. Aufſätze. 13 


Rede zur Feier des Geburtstags des deut— 
ſchen Kaiſers. 


Tübingen 22. März 1874. 


Es ſind heute drei Jahre, daß der 22. März zum 
erſtenmal über die ſchwarz-weißen Grenzpfähle hinaus eine 
Bedeutung gewonnen hat, damals ſogar in noch weiterem 
Umkreis als heute. Denn von den Pariſer Forts, von 
einer Menge eroberter Feſtungen und beſezter Städte don— 
nerten die deutſchen Kanonen den Franzoſen das Geburts— 
feſt eines neuen Kaiſers als das Wahrzeichen eines neuen 
Zeitalters in die Ohren. Von denjenigen, welche zuvor 
lieber eine andere Löſung der deutſchen Dinge gewünſcht 
hatten, kamen die einen, überwältigt von dem Eindruck 
unerhörter Siege und des glorreichſten Friedens, ſelbſt 
herüber zu uns auf den neuen Boden, die anderen ent— 
hielten ſich wenigſtens der auffallenderen Kundgebungen 
ihres abweichenden Standpunkts. Allein dieſe Flitterwochen 
der neuen Aera gingen bald vorüber. Weder die Einzelnen 
noch ganze Völker halten ſich ſo lange auf der Höhe einer 
begeiſterten Empfindung. An die Stelle der Feſttagsfreude 
trat wieder die gedämpftere Stimmung der werktägigen 


195 


Arbeit. Man gewöhnte ſich bald, Kaiſer und Reich, wie 
andere Dinge, als das Gegebene und Selbſtverſtändliche 
anzuſehen, für welches man keine beſondere Urſache hat, 
ſich zu erwärmen, zumal da die Einführung der neuen 
Ordnung der Dinge nicht ohne einzelne Reibungen und 
Opfer hatte vor ſich gehen können. Indeſſen rüſteten in 
der Stille die alten, nur für den Augenblick verſtummten 
Gegner zu neuem Kampf. 

Was iſt es nun, das an dem diesmaligen Jahrestag 
uns zahlreicher als je und ich glaube auch, in erregterer 
Stimmung und gehobenerem Muthe hier zuſammengeführt 
hat? Im ruhigen und ungeſtörten Beſiz pflegt der Menſch 
den wahren Werth ſeiner Güter nicht zu ſchäzen; erſt wenn 
eine Gefahr an ſie herantritt, wenn etwa eine Krankheit 
die uns theuren Perſonen niederwirft, fühlen wir alsbald 
an dem ſtärkeren Klopfen unſeres Herzens, wie viel für 
uns auf dem Spiel ſteht. So iſt es uns nun bei den 
lezten Wahlen mit Kaiſer und Reich gegangen; wir waren 
betroffen von den unerwarteten Gefahren, die es bedrohten. 
Und es iſt in der That eine ſehr ſchwere und ernſte That— 
ſache, über deren Tragweite ſich Niemand einer Täuſchung 
hingeben darf, daß das deutſche Volk bei ſeinem zweiten 
Wahlgang ein volles Drittheil von gefährlichen und ge— 
ſchworenen Feinden der neuen Ordnung in den Reichstag 
geſchickt hat. 

Es iſt jezt nicht mehr an der Zeit, die Hände in den 
Schooß zu legen; wir müſſen brechen mit der deutſchen 
Art oder Unart, daß der Bürger meint, er dürfe nur von 

13 * 


196 


Zeit zu Zeit, nach Laune, nach geringfügigen Geſichts— 
punkten, ja aus den unverantwortlichſten Motiven einen 
Wahlzettel in eine Urne werfen oder auch nicht werfen, 
um dann als kritiſirender, raiſonnirender oder gleichgiltiger 
Zuſchauer den weiteren Verlauf der Dinge abzuwarten und 
die Verantwortung Andern zu überlaſſen. 

Es kann jezt und für die nächſte Zukunft nur noch 
zwei Lager in Deutſchland geben, ſolche, welche das Reich 
bekämpfen und untergraben, und ſolche, welche es beſchüzen 
und befeſtigen wollen. Und es muß der Spruch gelten: 
wer nicht für mich iſt, der iſt wider mich. 

Wenn unſere Gegner, deren Standpunkte doch himmel— 
weit aus einander liegen, dennoch in geſchloſſenen Reihen 
kämpfen, warum ſollten wir es nicht können, die wir Alle 
den Kaiſer ehren wollen, aber es doch nicht unterlaſſen, ſo 
oft nur um den Bart des Kaiſers mit einander zu ſtreiten? 

Sehen wir uns dieſe Gegner doch näher an, wer ſie 
ſind und was uns in Ausſicht ſtünde, wenn ſie, ich will 
nicht einmal ſagen, ſiegen, ſondern nur noch feſteren Fuß 
und größeren Zuwachs gewinnen ſollten. An der Spize 
der Einen zieht nur eine lange Reihe ſchwarzer Röcke, die 
Anderen aber folgen unheimlichen Geſtalten mit der Jako— 
binermüze und rothen Fahnen. Ich weiß in der That keine 
gröbere und keckere Unwahrheit, als die Behauptung, die 
wir täglich hören und von hohen und höchſten kirchlichen 
Würdenträgern in Erlaſſen und Hirtenbriefen in den ſtärkſten 
Ausdrücken wiederholt finden, daß in deutſchen Landen die 
katholiſche Religion verfolgt und unterdrückt werde, daß 


197 


das neue Reich gleich nach ſeinem Entſtehen nichts Beſſeres 
zu thun gewußt habe, als einen Hader mit der katholiſchen 
Kirche vom Zaun zu brechen. In keinem europäiſchen Lande 
hatte dieſe eine ſo maßloſe Freiheit genoſſen, wie in Preußen, 
und ſo verfehlt und ſchädlich auch dieſe Zugeſtändniſſe waren, 
ſo würde man doch nicht ohne die zwingendſten Gründe zu 
einem anderen Syſtem übergegangen ſein, da man ja einer 
konfeſſionellen Minderheit ohne Gefahr etwas mehr ein— 
räumen kann als der Mehrheit. In den übrigen deutſchen 
Ländern, und zwar in den vorherrſchend proteſtantiſchen 
noch mehr als in den katholiſchen ſelbſt, hat man der ka— 
tholiſchen Kirche nicht nur die volle Achtung ihrer ver— 
faſſungsmäßigen Rechte, ſondern die entgegenkommendſte 
Rückſicht und Liberalität erwieſen. Auch muß man zur 
Steuer der Wahrheit anerkennen, daß es nicht die deutſchen 
Biſchöfe geweſen ſind, welche von ſich aus den Frieden ge— 
brochen hätten. Drüben über den Bergen jene Geſellſchaft 
mit dem unbefugteſten Namen, welche die Geſchichte als die 
ſchlimmſte Feindin aller menſchlichen Bildung und Geſit— 
tung brandmarken muß, ſie war es, die unter dem Schuz 
der individuellen Freiheiten des modernen Staates und mit 
Hilfe des allgemeinen Wahlrechts, das leider bis jezt der 
Finſterniß und dem Unverſtand mehr Früchte getragen hat, 
als dem Licht und der Vernunft, die Zeit wiedergekommen 
glaubte, um die alten Plane und Ziele unter neuen Formen 
wieder aufzunehmen. Syllabus und Eneyklika, wiewohl 
ſie den Genius des Jahrhunderts keck genug ins Geſicht 
ſchlugen, waren nur die Vorläufer, aber wir in unſern 


198 


Tagen ſollten das Unglaubliche erleben, deſſen Vorherſagung 
ein Jahrzehnt vorher noch als der Einfall eines Thoren 
erſchienen wäre: die päpſtliche Unfehlbarkeit. Mag auch 
das noch zur Glaubensfreiheit gerechnet werden müſſen, 
daß eine ſo ungeheuere, alles frühere Recht umſtoßende 
Neuerung den Katholiken verkündigt, ein ſolches Joch ihnen 
auferlegt werden durfte, ſo gehört es dann doch auch ebenſo 
zu den unveräußerlichen Rechten jedes freien und denken— 
den Menſchen, es auszuſprechen, wie ihm und wie allen 
anderen Chriſtenmenſchen dieſe That erſcheinen muß, als 
die unerhörteſte Anmaßung, als ein Frevel gegen alle ge— 
ſunde Vernunft, gegen alles religiöſe Gefühl, deſſen erſte 
Regung die Demuth und Erkenntniß menſchlicher Schwach— 
heit iſt, gegen alles Gewiſſen, deſſen erſte Forderung die 
innere Wahrhaftigkeit iſt, die es verbietet, ſich ſelbſt oder 
irgend einen ſeiner Nebenmenſchen in menſchlichen oder 
göttlichen Dingen für unfehlbar zu halten. Seitdem die 
römiſchen Imperatoren des Alterthums ſich haben Altäre 
errichten und Opfer darbringen laſſen, hatte ſich in der 
gebildeten Welt nie wieder ein lebender Menſch vermeſſen, 
ſich ein Attribut der Gottheit beizulegen. Eine Kirchenge— 
ſellſchaft, die ſich mit dem Anſpruch auf die übermenſchliche 
Autorität ihres unumſchränkt gebietenden Oberhauptes auf 
dem Staatsgebiet niederläßt und nach ihrem Gefallen die 
Grenzen ihrer Zuſtändigkeit abmeſſen will, iſt ja ſchlechthin 
unvereinbar mit jeder Art von Staatsbegriff und unver— 
hüllte Prieſterherrſchaft, die ſchlechteſte und für ein freies 
und edles Volk unerträglichſte aller Staatsformen. 


199 


Mögen ſich das die romanischen Völker, Franzoſen, 
Italiener, Spanier bieten laſſen! Dort, wo die Maſſe der 
Gebildeten auf dem Standpunkt ſteht, daß Religion nur 
für die Weiber und die unteren Volksklaſſen gut und nöthig 
ſei, mag man ſich freilich darüber wundern, daß man bei 
uns ſo viel Weſens daraus mache, wenn zu hundert ver— 
alteten und unannehmbaren Glaubensſäzen noch ein hun— 
dert und erſter hinzutrete, der noch etwas weniger ver— 
nünftig wäre. Der Geiſt der germaniſchen Völker aber, 
welchem zu allen Zeiten die Religion eine ernſte und heilige 
Angelegenheit geweſen iſt, weiſt ſolche Zumuthungen mit 
Entrüſtung zurück, und alle Zweige derſelben drängen in 
dieſer Sache nach Einem Ziele hin. Zollen wir unſeren 
Dank und unſere Anerkennung den braven Brüdern in der 
Schweiz, die in dieſem Kampfe als die Tapferſten und 
Vorderſten fechten und uns zeigen, wie die Sache praktiſch 
anzufaſſen wäre. Unſere Stammgenoſſen in Oeſtreich haben 
muthig begonnen, die allzulang getragenen Feſſeln abzu— 
ſtreifen. Das freie England begleitet unſere Kämpfe mit 
den wärmſten Sympathieen. Der Sieg in dieſer Sache 
kann nicht zweifelhaft ſein; der Staat wird und muß ſeine 
unverlierbaren Hoheitsrechte behaupten und dann, wenn 
der Sieg erſtritten iſt, wird es auch an einem billigen 
Friedensſchluß und an einer Verſtändigung nicht fehlen, 
wie man ſie einer Minderheit irregeleiteter Brüder und 
Mitbürger nicht verſagen wird. 

Man könnte vielleicht darüber ſtreiten, und es wäre 
ſchwer, ſich zu entſcheiden, was mehr zu fürchten wäre, ein 


200 


Sieg der Ultramontanen oder der Socialdemokraten, ob 
etwa die Inquiſition, die ja auch von Einem der Unfehl— 
baren eingeführt und niemals wieder außer Geltung geſezt 
worden iſt, ſchlimmer wäre als eine neue Auflage der 
Pariſer Kommune. Im einen Fall wird ein finſteres Ge— 
ſpenſt des Mittelalters, im andern ein problematiſcher Ge— 
danke der Zukunft in häßlichſter Entſtellung heraufbe— 
ſchworen. 

Es ſei fern von mir, hier von Socialismus und 
Arbeiterfrage reden zu wollen; ich kann nur kurz meine 
und Vieler Ueberzeugung ausſprechen, daß für die Gegen— 
wart und nächſte Zukunft keine ſchwerere und ernſtere Pflicht 
und Aufgabe beſteht, als die: eine zahlreiche und achtungs— 
werthe Klaſſe, welcher bis jezt die Bürgſchaften einer feſt— 
begründeten und geſicherten bürgerlichen Exiſtenz mehr als 
den andern Ständen fehlen, zu einem friedlichen, geordneten, 
nach ihrer Bedeutung in das Ganze eingefügten Glied der 
Geſellſchaft zu erheben, und daß wir, um dies zu erreichen, 
werden lernen müſſen, Manches, was uns bisher als un— 
umſtößliche Wahrheit galt, zu den Vorurtheilen zu werfen 
und Opfer zu bringen, die uns heute noch als unannehm— 
bar erſcheinen. Aber ein Anderes iſt der Kern und Unter— 
grund von Wahrheit und Berechtigung, den dieſe Forde— 
rungen in ſich bergen mögen, ein Anderes die Art und 
Form, in der ſie uns jezt gegenübertreten. Wenn eine 
Enteignung der Beſizenden der Zweck, Gewalt, Umſturz, 
Petroleum die Mittel ſein ſollen, wenn katilinariſche Exi— 
ſtenzen, verkommene Literaten, Leute, die es bequemer finden, 


201 


auf Vereinskoſten als von der eigenen Arbeit zu leben, 
von Stadt zu Stadt umherziehen, um in braven und fried— 
lichen Männern durch Lügen und Vorſpiegelungen die ge— 
fährlichſte aller Leidenſchaften, den Klaſſenhaß, anzuſchüren, 
wenn in der Parteipreſſe täglich die Greuel der Pariſer 
Kommune gerechtfertigt, ja als Heldenthaten geprieſen und 
gefeiert werden, wenn Religion als Unſinn, Eigenthum als 
Diebſtahl erklärt wird, wenn weitverzweigte Vereine in 
internationale Verbände treten und von auswärtigen Obern 
Befehle empfangen, dann bleibt in der That nichts übrig, 
als die Staatsanwälte und Polizeibehörden anzurufen, und 
wenn ſich die beſtehenden Geſeze als unzureichend erweiſen, 
ſie ſo zu ergänzen, daß einer ſo ſchweren Gefährdung der 
öffentlichen Wohlfahrt Schranken geſezt werden können; und 
zwar müßte man dies thun, bevor es zu ſpät geworden iſt. 
Inzwiſchen mag es immerhin von einigem Werth ſein, 
wenn etliche der Agitatoren, ſtatt ſich in dem Zuruf und 
Beifall unkundiger Geſinnungsgenoſſen zu ſteigern und zu 
berauſchen, im Reichstag Gelegenheit finden, auf die Sprache 
von Recht und Vernunft zu hören und die Bedeutung der 
realen Mächte des Lebens und des Staats abzuwägen, die 
ſie über den Haufen werfen zu können meinen. 

Ich komme zu einer andern Klaſſe von Feinden des 
Reichs, die zwar auch eine rothe, aber nicht die blutrothe 
Fahne ſchwingen, die nicht alle Bildung und ſittliche Ord— 
nung, ſondern nur die beſtehende Staatsform bekämpfen. 
Wenn es nach ihrem Kopf gegangen wäre, ſo hätte Deutſch— 
land in einen Haufen föderirter Winkelrepubliken theils 


202 

zerſchlagen, theils zuſammengefaßt werden müſſen, etwa 
wie die Kantone Murcia und Granada nach dem Recept 
der Herren Figueras und Pi y Margall; und da ihnen 
die Weltgeſchichte dieſen Gefallen nicht gethan hat und auch 
gar wenig Neigung an den Tag legt, dies bald nachzu— 
holen, ſo ſind ſie zwar ſo gnädig, dem Reich die formelle 
Anerkennung ſeines Beſtehens nicht länger zu verſagen; ſie 
ſuchen es aber in jeder Weiſe herabzuſezen und ſchlecht zu 
machen, indem ſie die hohle Phraſe von Cäſarismus und 
Militarismus zu Tode hezen und unſeres Volkes beſte 
Männer von Tag zu Tag mit Koth bewerfen. Nach ihrer 
Meinung hätten die deutſchen Heere nach dem Siege von 
Sedan aus heiligem Reſpekt vor dem Namen Republik Halt 
machen und Frieden ſchließen müſſen, ohne die dem Reich 
früher entriſſenen deutſchen Länder wieder in Anſpruch zu 
nehmen und eine wirkſame Deckung der militäriſchen Weſt— 
grenze zu erreichen; ja heute noch, wurde uns erſt kürzlich 
geſagt, müßten wir die Elſäßer und Deutſch-Lothringer 
darüber abſtimmen laſſen, ob es ihnen denn wirklich auch 
gefällig iſt, zu uns zu gehören, und wenn ſie dies verneinen 
ſollten, die Länder mit den Feſtungen wieder an Frank— 
reich zurückgeben. 

Das Beſte iſt, daß dieſe Art von Demokraten nur ein 
kleines Häuflein bildet, wiewohl ſie gerade für unſer Land 
eine nicht zu unterſchäzende Bedeutung hat. Denn wie 
man früher ſchon nicht ganz mit Unrecht den Schwaben 
einen potenzirten Deutſchen im Guten wie im Schlimmen 
genannt hat, ſo können wir in der That eine gewiſſe Nei— 


FREE IE 


205 
gung, eigenfinnig auch an dem unmöglich Gewordenen oder 
dem ſtets Unmöglichen feſtzuhalten und daran das Hoch— 
gefühl von angeblicher Konſequenz und Charakterſtärke zu 
knüpfen, ſowie eine leichte Anlage zur Querköpfigkeit nicht 
ganz in Abrede ſtellen. 

Vor noch nicht langer Zeit hätte ich auch noch von 
einer vierten Klaſſe von Gegnern des Reiches ſprechen 
müſſen, ich halte es aber neben ſo vielem Unerfreulichen 
für eine der erfreulichſten neueren Thatſachen, daß wenig— 
ſtens in unſerem Lande die Partikulariſten und die Natio— 
nalen in einen heilſamen Prozeß gegenſeitiger Verſchmelzung 
eingetreten ſind. Vor einigen Jahren noch ſchien es Vielen, 
wie wenn die Einzelſtaaten in ihrem Verhältniß zum Reich 
jenen Schiffen in der Fabel glichen, die in die Nähe des 
Magnetberges geriethen, der ihnen die eiſernen Nägel und 
Klammern aus den Rippen zog, daß ſie auseinanderfallen 
mußten. Dieſe Meinung, die freilich von Anfang an eine 
verfehlte war, wird heute nur noch wenig einſichtige Ver— 
treter finden. Die Auseinanderſezung zwiſchen dem Bund 
und ſeinen Gliedern iſt in der Hauptſache abgeſchloſſen und 
es kann ſich nur noch um kleine Grenzberichtigungen handeln, 
wie ſie zwiſchen anſtoßenden Gebieten niemals ganz aufhören. 
Es hat ſich gezeigt, daß die meiſten Einzelſtaaten vollkommen 
lebensfähig geblieben ſind und bleiben werden. Weitaus 
die meiſten und die den Einzelnen am nächſten und un— 
mittelbarſten berührenden öffentlichen Funktionen ſind auf 
ihrer Seite geblieben und an der Regelung der den Bundes— 
organen vorbehaltenen Angelegenheiten nehmen das Volk 


und die Regierung in einer Art und in einem Umfang 
Antheil, die jedem billigen Anſpruch genügen müßten. 
Unſere Regierung hat die Bahn einer loyalen und reichs— 
treuen Politik betreten. Sollte es vielleicht auch hie und 
da an kleinen Reibungen nicht fehlen, ſo ſind ſie doch un— 
erheblich und bergen keine Gefahr. Unſere inneren Zu— 
ſtände ſind, wenn man nicht einen idealen, ſondern den 
praktiſchen Maßſtab eines etwas geſchichts- und weltkun— 
digen Beurtheilers anlegt, im Großen und Ganzen befrie— 
digende und wohlgeordnete zu nennen; wir haben in frei— 
ſinnigen Inſtitutionen, in ſorgfältiger, ehrlicher und humaner 
Rechts- und Wohlfahrtspflege den Vergleich mit andern 
Ländern nicht zu ſcheuen; um Einzelnes können uns die— 
ſelben beneiden und thun es auch. Nach meiner Erfahrung 
und Ueberzeugung kann man mit ungetheiltem Herzen ein 
guter Württemberger und ein guter Deutſcher ſein; man 
kann ohne Gewiſſensnöthen nach dem Spruche leben: Gebet 
dem Kaiſer was des Kaiſers iſt und dem König was des 
Königs iſt. 

Aber das kann doch kein Einſichtiger ſich verhehlen, 
daß wir dies Gefühl befriedigender und befeſtigter Zuſtände 
nicht uns allein, daß wir es weſentlich mit dem Reichs— 
verbande danken, auf welchem dieſelben wie auf ihrem 
Fundament, ihrer Grundmauer ruhen. Wären wir noch 
wie früher der europäiſche Kleinſtaat, der nicht wüßte, ob 
er im nächſten Krieg zu Oeſtreich, Preußen oder Frankreich 
zu halten gezwungen oder veranlaßt ſein wird, der das 
franzöſiſche Ausfallthor am Rhein ſich im Nacken wüßte, 


205 


wie prekär und ſchwankend wären nicht nur die politiſchen, 
ſondern auch die wirthſchaftlichen Verhältniſſe! Man konnte 
jenen Zuſtand etwa einem gefälligen, bequemen, auch nicht 
allzu koſtſpieligen Anzug vergleichen, der nur einen einzigen 
Fehler hätte, daß er nicht naß werden, daß es nicht regnen 
und nicht ſchneien durfte. 

Und wie mit der äußeren, ſo verhält es ſich auch mit 
der inneren Sicherheit. Wir ſtehen in einem großen Kultur— 
kampf der Staatsgewalt mit der Hierarchie, der modernen 
Geſellſchaft gegen auflöſende und zerſtörende Elemente. 
Wiewohl weder die eine noch die andere Gefahr gerade 
unſer Land ſo nah und unmittelbar bedroht, wie manche 
andere Länder, ſo iſt doch kein Zweifel, daß, wenn jene 
feindlichen Gewalten ihre Erfolge anderwärts errungen 
hätten, ſie nicht an unſern Grenzpfählen Halt machen, daß 
ſie auch uns Verwirrung und Zerſezung bringen würden. 

Denn das liegt ja zu Tage; gegen das Reich kehren 
jene Mächte für jezt nur deswegen vorzugsweiſe ihre Spize, 
weil dort die größten Widerſtandskräfte liegen, weil dahin 
die erſten Stöße zu richten ſind und ohne einigen Erfolg 
an dieſem Punkte anderwärts nichts zu hoffen iſt. Aber 
ihrer innerſten Natur nach ſind ſie ja um nichts feindlicher 
gegen das Reich, als gegen den Staat überhaupt, gegen 
alle ſittliche und geſellſchaftliche Ordnung, gegen alle Bil— 
dung und wahre Freiheit. 

Und dies iſt der eigentliche Zweck und das Ziel von 
Allem, was ich bisher geſagt habe. Ich wollte in Ihnen 
die Ueberzeugung erwecken, oder zur vollſten Lebendigkeit 


206 


und Klarheit ſteigern, daß Kaiſer und Reich nicht blos ein 
dem Einzelnen fern liegendes Inſtitut ſind, das etwa zum 
Schuz nach Außen, für den Verkehr, für Münze, Maß 
und Gewicht und ähnliche Dinge dient, ſondern der Grund— 
pfeiler und Eckſtein für die Vertheidigung und Befeſtigung 
aller nationalen und höheren Güter, für das ganze wirth— 
ſchaftliche Leben, für Bildung und Freiheit, für die ächte 
Religion wie für die freie Wiſſenſchaft, für Alles, was 
dem menſchlichen Leben Schmuck und Werth zu leihen ver— 
mag. Fiele oder ſänke das Reich, ſo ſtünden wir vor dem 
Abgrund, vor einem neuen Chaos der Verwirrung und 
Auflöſung. 

Und nun geſtatten Sie mir noch einige direkt auf den 
Gegenſtand der heutigen Feier bezügliche Worte beizufügen. 
Wenn es zu den ſchlagendſten Zeugniſſen für die Treff— 
lichkeit der konſtitutionell monarchiſchen Staatsform gehört, 
daß ſie auch den mittelmäßigen, ja den ſchwachen und un— 
bedeutenden Herrſcher zu ertragen vermag, ſo giebt es doch 
keine erfreulichere und glänzendere Erſcheinung, als wenn 
die Perſönlichkeit und die Hoheit des Amts in Einer Linie 
ſtehen, wenn, wie bei Kaiſer Wilhelm, die Eigenſchaften 
des Fürſten ſich decken mit den Bedürfniſſen des Zeitalters 
und ſeiner Nation. Ohne eigenwilliges Eingreifen und doch 
mit ſelbſtändigem Urtheil und Entſchluß hat er im Krieg 
und Frieden zu rechter Zeit das Rechte gefunden. Wo 
hat er in großen Dingen etwas gethan, was er hätte unter— 
laſſen ſollen, wo etwas unterlaſſen, das er hätte thun 
müſſen? Wie hat er gerade in dem abgelaufenen Jahr 


in den Briefen an den Papſt und den Grafen Ruſſell, in 
einfacher und edler Form, kein Wort zu viel und keins zu 
wenig, den vollſten Gehalt der Sache zum erſchöpfenden 
Ausdruck gebracht! Wahrlich, nie hat eine glänzendere 
Krone ein würdigeres Haupt geſchmückt. 

Der Kaiſer tritt heute in ſein 78. Lebensjahr und die 
Bürde dieſer Jahre hat ſich zulezt nicht mehr in dem Grade, 
wie früher, verläugnet. Wer wünſcht nicht, daß dies theure 
Leben dem Reich noch lange erhalten bleibe, daß der hohe 
Fürſt ſich der großartigen Früchte ſeines Wirkens noch 
lange erfreuen möge? M. H.! Der Hort und Schirmherr 
aller unſerer nationalen Güter, der glorreiche Führer des 
deutſchen Volkes in ſeinen äußeren und inneren Kämpfen, 
der deutſche Kaiſer Wilhelm lebe hoch! 


Zur Cheorie der Statiſtik. 


I. 1863. 


Nachdem R. Mohl die zahlreichen und weit ausein— 
ander laufenden Definitionen der Statiſtik als eine „pſy— 
chologiſche Merkwürdigkeit“ und „wunderliche Literatur“ 
bezeichnet hat, da doch die Frage an ſich einfach und ſchon 
von den Gründern jener Wiſſenſchaft gelöst worden ſei, 
iſt es eine mißliche Sache geworden, ſich an jenem Problem 
von Neuem zu verſuchen. Wenn dies nun dennoch hier 
und dort immer wieder geſchieht, wenn alſo ſelbſt die Ge⸗ 
fahr der Lächerlichkeit nicht als hinreichendes Abſchreckungs— 
mittel wirkt, ſo muß doch wohl irgend ein verborgener 
Stachel und Reiz in der Sache liegen und man möchte an 
die Freier in Gozzi's Mährchen denken, die uneingeſchüchtert 
durch die blutigen Köpfe unglücklicher Vorgänger ſich ſtets 
von Neuem wieder zu Turandot's Räthſel herandrängten. 
Der Verfaſſer nun iſt wenigſtens nicht aus Fürwiz, nicht, 
um etwas Neues vorzubringen, auf dieſe Frage geführt 
worden; die Veranlaſſung lag für ihn in praktiſchen Berufs— 
arbeiten von ſtatiſtiſcher Art, die mit Nothwendigkeit auf 
principielle Unterſuchungen hinwieſen und ohne Klarheit 
über die Grenzen und Aufgabe des Fachs als unlösbar 


209 


erſchienen. Als er nun in der Literatur dieſer Disciplin 


Aufſchlüſſe ſuchte und jenes Labyrinth von Meinungen 
durchirrt hatte, mußte ſich ihm die Ueberzeugung aufdrän— 
gen, daß auch die beſten und anerkannteſten Begriffsbe— 
ſtimmungen immer noch Etwas als Statiſtik bezeichnen, 
was mit der Praxis des Fachmannes nicht recht harmo— 
niren will, was dieſem die Grenzen ſeiner Kunſt in viel 
zu vage und nebelhafte Regionen rückt. So lange die 
Statiſtik im Weſentlichen doch noch als die Wiſſenſchaft 
von den menſchlichen Zuſtänden bezeichnet wird, die zwar 
vorzugsweiſe die ſtaatlichen und geſellſchaftlichen Verhält— 
niſſe ins Auge zu faſſen, aber doch auch noch manches 
Andere zu berückſichtigen habe, die zwar vorzugsweiſe be— 
ſchreibender und darſtellender Natur ſei, aber doch nach 
Umſtänden auch Urſachen und Geſeze zu erforſchen habe, 
die zwar vorzugsweiſe mit der Gegenwart beſchäftigt, aber 
doch auch an der Behandlung früherer Zeitperioden nicht 
behindert ſei, die zwar gerne und vorzugsweiſe ihre Er— 
gebniſſe in Zahlen ausdrücke, aber doch auch anderer Dar— 
ſtellungsmittel ſich zu bedienen habe, ſo lange alſo die 
ziemlich unwiſſenſchaftliche Formel: vorzugsweiſe dieſes, 
aber doch auch Anderes, noch eine ſo bedeutende Rolle in 
den Definitionen ſpielt, darf man die Akten in der That 
noch nicht für geſchloſſen erklären. Der Verfaſſer wurde 
nun durch ein von mannigfaltiger ſtatiſtiſcher Praxis be— 
gleitetes und unterbrochenes Nachdenken zu einer Auffaſſung 
geführt, die ihm über manche Zweifel und Bedenken hin— 
weghalf und von der er ſich, wie es zu gehen pflegt, ſchließ— 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. h 14 


210 


lich glauben machte, daß ſie auch andern, namentlich den 
Fachmännern, wenigſtens als ein Verſuch, auf einige neue 
Seiten der Sache aufmerkſam zu machen, von Intereſſe 
ſein könnte. Er erlaubt ſich daher, dieſelbe in kürzeſter 
Weiſe hier darzulegen und glaubt von jeder weiteren Ein— 
leitung, namentlich von einer vorausgehenden Ueberſicht 
und Kritik anderer Anſichten um ſo mehr Umgang nehmen 
zu dürfen, als hierüber Mohl bereits in ſeiner gediegenen 
Weiſe Bericht erſtattet hat und auch Andere, wie z. B. 
Jonak, klare und gründliche Aufſchlüſſe geben. 

Auf die Gefahr hin, jenes Prädikat der Wunderlich— 
keit gleich vornherein zu provociren, müſſen wir den Leſer 
bitten, den Ausgangspunkt in einem beliebigen Compendium 
der Logik, nicht der ſpeculativen, ſondern der vulgären zu 
nehmen, und zwar in dem nach der üblichen Eintheilung 
zweiten Abſchnitt derſelben, der Methodologie oder Lehre 
von der allgemeinen wiſſenſchaftlichen Technik. Wir denken 
uns, daß daſelbſt Deduction und Induction oder der Schluß 
vom Allgemeinen aufs Einzelne und vom Einzelnen aufs 
Allgemeine, als die beiden Grundformen aller wiſſenſchaft— 
lichen Gedankenentwicklung vorangeſtellt ſind, daß ſodann 
in dem Kapitel der Induction näher von den Bedingungen 
einer richtigen Induction die Rede war und unter dieſen 
wieder die richtige Beobachtung der einzelnen Erſcheinungen, 
aus welchen Inductionsſchlüſſe abgeleitet werden wollen, 
genauer erörtert wird. Hier unterſcheidet man nun die 
natürliche Beobachtung und die methodiſche. In der natür— 
lichen betrachtet der Menſch mit ſeinen natürlichen Wahr— 


211 


nehmungsorganen das Object in eben dem Zuſtand, in 
welchem die Wirklichkeit es ihm darbietet. Dieſe Beobach— 
tungsweiſe hat aber einen doppelten Mangel, einmal an 
der Unzulänglichkeit und Unzuverläßigkeit der menſchlichen 
Wahrnehmung ſelbſt, ſodann an der großen Complieirtheit 
aller realen Erſcheinung. Beide Mängel ſucht die metho— 
diſche Beobachtung zu beſeitigen oder zu vermindern, den 
erſten, indem ſie durch wiſſenſchaftliche Werkzeuge die menſch— 
lichen Wahrnehmungsorgane ergänzt und verſchärft, wie 
durch den ganzen Apparat von Maaßen, Waagen, optiſchen, 
akuſtiſchen, meteorologiſchen 2c. Inſtrumenten, den zweiten, 
indem ſie das Object ſelbſt für die Beobachtung präparirt 
durch den wiſſenſchaftlichen Verſuch oder das Experiment. 
Dieſes hat wieder zwei Grundformen; die eine beſteht darin, 
daß das Object der Beobachtung durch möglichſte Beſeiti— 
gung aller ſtörenden oder unweſentlichen Coefficienten auf 
ſeine einfachſte Geſtalt, auf ein Urphänomen zurückgeführt 
wird; das andere, daß das Object in ſeinem Verhalten zu 
abſichtlich hinzugefügten Coefficienten betrachtet wird. Auf 
die leztere Form ſind die Wiſſenſchaften, welche organiſche 
Weſen zum Gegenſtand haben, weil hier ſchon das Urphä— 
nomen ſelbſt immer noch eine ſehr complicirte Erſcheinung 
bleibt, vorzugsweiſe angewieſen. 

Die gewöhnlichen Compendien der Logik, wenigſtens 
diejenigen, die dem Verfaſſer zur Hand waren, behandeln 
die Lehre von den Mitteln der wiſſenſchaftlichen Beobach— 
tung ziemlich kurz und würdigen nur etwa das Experiment 
eines näheren Eingehens. Der Gegenſtand erſcheint uns 

14* 


aber für die Eintheilung, ſowie für die Einſicht in den 
ganzen Charakter der verſchiedenen Wiſſenſchaften, mit denen 
unſer Gegenſtand ſich berührt, wichtig genug, um eine 
weitere Fortführung dieſer Betrachtung zu rechtfertigen. 
Der Kosmos, die Welt zerfällt für unſere Betrachtung 
in die zwei großen Hälften, das Reich der Natur und die 


0 


— 


Menſchenwelt. Natur nennen wir Alles, was ſich uns als 
ein ohne Zuthun des menſchlichen Willens Wirkendes dar— 
ſtellt. Sowohl die Wiſſenſchaften von der Natur als die 
vom Menſchen ſind Erfahrungswiſſenſchaften, d. h. ſie be— 
ruhen in lezter Inſtanz auf Induction und Beobachtung, 
mag nun im Uebrigen der Antheil des deductiven Ver— 
fahrens größer oder kleiner ſein. Allein die beiden Haupt— 
gattungen von Wiſſenſchaften ſind ſehr verſchieden von 
einander in Beziehung auf die Mittel der wiſſenſchaftlichen 
Beobachtung. 

Wenn in den Naturwiſſenſchaften durch die obigen 
Mittel der natürlichen und methodiſchen Beobachtung ſo 
Großes geleiſtet wird, wenn ſie ſich mit Stolz neben der 
Mathematik als die einzigen exacten, d. h. die Anerkennung 
ihrer Lehrſäze erzwingenden Wiſſenſchaften nennen, ſo be— 
ruht dies nur auf der Einen großen Regel, daß in der 
Natur das Einzelne typiſch iſt, daß ſchon eine einzige genau 
conſtatirte und correct beobachtete Thatſache zu einem In— 
ductionsſchluß berechtigt und die Wiederholung der Beob— 
achtung in der Regel nur zur Controle des menſchlichen 
Verfahrens erforderlich iſt. Wenn der Phyſiker in Einem 
unzweifelhaften Falle bemerkt hat, daß ein gewiſſer Körper 


zu den electriſchen Leitern gehört, jo weiß er, daß dieſer 
und alle andern Körper der gleichen Art jezt und allzeit 
und überall unter denſelben äußeren Umſtänden electriſche 
Leiter waren, ſind und ſein werden. Wenn der Chemiker 
das Verhalten eines neuentdeckten Grundſtoffes zum Sauer— 
ſtoff durch Ein richtiges Experiment ermittelt hat, ſo zweifelt 
er nicht, daß ſich dies Experiment in Amerika ſo gut wie 
in Europa, in 1000 Jahren ſo gut wie jezt wiederholen 
läßt. Wenn uns der Zoolog aus Einer Beobachtungsreihe 
ſchildert, wie die Grasmücke ihr Neſt baut, ihre Eier aus— 
brütet, ihre Jungen füttert, ſo iſt er ſicher, uns damit einen 
typiſchen Vorgang geſchildert zu haben. Allein ſchon wenn 
wir zu den unter menſchlicher Einwirkung ſtehenden Pflanzen 
und Thieren übergehen, vermindert ſich die Zuverſicht, mit 
der wir die einzelne Erſcheinung als eine typiſche betrachten, 
und wenn wir zulezt vollends hinüberſchreiten in das Reich 
der menſchlichen Pſyche, jo erliſcht ſie ganz. 

Im Reich der Natur iſt das Einzelne typiſch, in der 
Menſchenwelt individuell. Unmöglich kann aber hiebei in— 
dividuell ſo viel heißen als indeterminirt, außerhalb des 
Cauſalitätsgeſezes ſtehend, jeder Erklärung und Zurück— 
führung auf conſtante Urſachen ſich entziehend. Sonſt wäre 
auf dieſem Gebiet überhaupt keine Wiſſenſchaft denkbar 
und alle Erfahrung werthlos. Wie die Wirklichkeit über— 
haupt keine Sprünge und ſcharfe Grenzlinien kennt, ſo iſt 
auch jener Unterſchied nur ein fließender. Auch kein Sand— 
korn, kein Grashalm, kein Holzwurm gleicht genau dem 
andern, noch weniger ein Hund oder Affe; aber das Ab— 


weichende erſcheint uns hier verſchwindend klein gegen das 
Uebereinſtimmende und erklärt ſich meiſt aus erkennbaren 
Verſchiedenheiten der äußeren Bedingungen. Und doch tritt 
ſchon innerhalb jener Beiſpiele eine Abſtufung deutlich her— 
vor. Je höher wir heraufſteigen in der fortſchreitenden 
Reihe der Organiſationen, deſto zahlreicher werden die 
Factoren des organiſchen Lebens, deſto mannigfaltiger ihre 
Combinationen, deſto weiter eben damit der Spielraum in— 
dividueller Abweichungen. Und wie man zwar 6 Zeichen 
ſchon auf 720 Arten zuſammenſezen kann, 12 Zeichen aber 
nicht etwa doppelt ſo viel mal, ſondern gleich 490 Millionen 
mal, ſo ſteigern ſchon wenige neu hinzutretende Elemente 
im organischen Leben die Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen 
in unendlicher Progreſſion. Das Individuelle entwickelt 
ſich genau im Verhältniß des zunehmenden Reichthums der 
Lebensformen. Auch innerhalb der Menſchenwelt ſezt ſich 
der gleiche Stufengang noch fort; der Wilde iſt typiſcher 
als der civiliſirte Menſch; der Neger und Mongole iſt es 
mehr als der Kaukaſier; der Menſch des Alterthums mehr 
als der des Mittelalters; und dieſer mehr als der moderne. 
Der Mann iſt individueller als das Weib; der Erwachſene 
als das Kind, der Gebildete als der Ungebildete, der edle 
Menſch als der gemeine. Aber dieſe lange Reihe vom 
Sandkorn bis zum großen Denker oder Dichter zerfällt 
uns in zwei Hälften; ſie zeigt Einen Sprung, den größten, 
den wir überhaupt in dem Stufengang der Natur wahr— 
nehmen, den vom Thier zum Menſchen. Im Ganzen und 
Großen ſind wir berechtigt, Natur und Menſchenwelt als 


215 
das Reich der typischen Einzelnheiten und der Individua— 
litäten zu unterſcheiden. Geſezmäßig iſt die Entwicklung 
des genialſten Menſchen um nichts weniger, als die der 
dürftigſten Kryptogame; das ſind wir durch den Cauſalitäts— 
begriff geneigt a priori vorauszuſezen; aber in der Be— 
trachtung des Menſchen verbirgt ſich das Geſez unter der 
unabſehbaren Menge von ſtörenden oder modificirenden. 
Coefficienten der Erſcheinung. Mit andern Worten: der 
Inductionsſchluß, die Concluſion von Einem oder mehreren 
Einzelnen auf die Gattung verändert ſich, zwar nicht ſeiner 
Natur, aber ſeiner Geſtalt nach und verliert die Leichtigkeit 
und Sicherheit ſeiner Anwendung, wie fie den Naturwiſſen— 
ſchaften zu Statten kommt. Wenn die einfache Beobachtung 
der einzelnen Erſcheinung, wenn Inſtrument und Experiment 
ihre Dienſte verſagen, wie gelangen nun die mit der Welt 
der Individualitäten beſchäftigten Wiſſenſchaften gleichwohl 
zu Erfahrung, welcher Erſaz findet ſich für die verlorenen 
Beobachtungsmittel der Naturwiſſenſchaften? Hier bieten 
ſich nun zunächſt zwei eigenthümliche Vorzüge dieſer Wiſſen— 
ſchaften vor den mit der Natur beſchäftigten dar. 

Das Nächſte und Wichtigſte iſt, daß für die Beobach— 
tung von Menſchen und menſchlichen Verhältniſſen zu der 
äußeren Erfahrung die innere hinzutritt. Der Menſch er— 
kennt den Menſchen von innen heraus; der Andere tritt 
uns nicht, wie die Naturobjecte, als eine verſchloſſene Er⸗ 
ſcheinung entgegen, ſondern das eigene Selbſtbewußtſein 
gibt uns den Schlüſſel zu ſeinem Verſtändniß. Der zweite 
Unterſchied, der weniger die Mittel als das Feld der Beo— 


216 


bachtung betrifft, iſt zwar nur relativ, aber doch immer 
noch von größter Bedeutung. In der Natur beſchränkt 
ſich die Beobachtung auf die Gegenwart, wenn auch das 
Gegenwärtige vielfach zu Schlüſſen auf Vergangenes be— 
rechtigt; es gibt zwar eine Bildungsgeſchichte des Planeten 
und der Erdrinde, ja, auch abgeſehen von Darwin's Lehren, 
der Gattungen und Arten; allein innerhalb der hiſtoriſchen 
Zeit ſind ſolche Veränderungen jedenfalls verſchwindend 
klein gegenüber von der Stabilität und Unveränderlichkeit 
der Naturerſcheinungen. Die Jahrzehnte der Menſchheit 
entſprechen kaum den Jahrtauſenden der Natur. In den 
Wiſſenſchaften vom Menſchen wächst der Stoff ſelbſt von 
Geſchlecht zu Geſchlecht. Die Menſchheit hat eine Geſchichte 
und wälzt deren Nachwirkung und Erinnerung lawinen— 
artig mit ſich fort. Die Beobachtung des Menſchen be— 
ſchränkt ſich daher nicht auf die Gegenwart, ſondern erſtreckt 
ſich rückwärts auf Jahrtauſende und findet daſelbſt einen 
unabſehbaren Reichthum der heterogenſten Erſcheinungen. 
Jedes Geſchlecht tritt unmittelbar in eine Erbſchaft von 
Sprache und Vorſtellungen, Erfahrungen, Fertigkeiten und 
angeſammelten Gütern, materiellen und geiſtigen, aller Art 
ein, und außerdem bewahren zahlreiche ſprachliche und 
andere Denkmäler die Erinnerungen längſt verſchwundener 
Ereigniſſe und Lebensanſchauungen. 

Allein von ſo unendlicher Bedeutung jenes Hinzutreten 
der inneren Erfahrung und die Ausdehnung des Beobach— 
tungsfeldes auf die Vergangenheit iſt, ſo vermag beides 
doch vom methodologiſchen Standpunkt aus den Vortheil, 


217 


den die Naturwiſſenſchaften durch den typiſchen Charakter 
der einzelnen Erſcheinung haben, bei Weitem nicht auszu— 
gleichen. Weder das Eine noch das Andere kann über 
unmaaßgebliche Individualfälle hinausführen. Es mag 
genialen Geiſtern in der überraſchendſten Weiſe gelingen, 
ihr Inneres zu einem Spiegelbild ihrer Zeit, ihres Volkes, 
der Menſchheit zu läutern; es wird andere geniale Geiſter 
unter anderen Verhältniſſen geben, deren Inneres von den 
gleichen Erſcheinungen ein ganz abweichendes Bild zurück— 
wirft, ohne daß ſich ein Maaßſtab fände, eine wiſſenſchaft— 
liche Entſcheidung zu treffen. Die Geſchichte berichtet uns 
von Perſonen und Dingen, die nur einmal in einem nicht 
wiederkehrenden Complex von Umſtänden gerade ſo ge— 
worden ſind, und die ſich uns überdies nur durch das un— 
glaublich trübe Medium einer beſchränkten Beobachtung und 
befangenen Beurtheilung darſtellen. Die Wiſſenſchaften 
vom Menſchen aber, ſoweit ſie nicht blos beſchreibender 
oder erzählender Art ſind, ſuchen nicht Aufſchlüſſe über 
einzelne Individuen, ſondern über collective Begriffe, ſei 
es von Menſchen oder menſchlichen Lebenskreiſen, ſie fragen 
nicht nach dem Einmal Geſchehenen, ſondern nach den Ge— 
ſezen alles Geſchehens. Deſſen aber, was von allen Men— 
ſchen ausnahmslos geſagt werden kann, iſt ſehr wenig und 
mußte ſich ſchon den erſten Generationen der Menſchheit 
aufdrängen. Wenn wir ſagen, daß der Menſch vom Manne 
erzeugt, vom Weibe als Kind geboren wird, mit einem 
thieriſch organiſirten Leib ausgeſtattet iſt, der Nahrung und 
des Schlafes bedarf, dem Irrthum unterworfen, dem Tod 


und der Verweſung des Leibes verfallen iſt, jo müſſen wir 
fürchten, für den Theologen bereits zu viel geſagt zu haben. 
Um ganze Zeitalter, Staaten und Völker zu charakteriſiren, 
muß die Geſchichte mit mehr oder weniger Takt und Recht 
einzelne Perſonen und Thatſachen als typische behandeln, 
wiewohl an ſich ſchon ein Widerſpruch darin liegt, das 
Hervorragende typiſch zu nennen. Die Geſchichte kann es 
nur zum nothdürftigen Begreifen abgeſchloſſener Erſchei— 
nungen bringen; ſie hat aber noch kein einziges erwieſenes 
und unbeſtrittenes Geſez der menſchlichen Entwicklung im 
Großen aufgefunden, wenn man etwa von ſolchen Säzen 
abſieht, die ſich ohne Geſchichtskenntniß auf dem Wege der 
Deduction erweiſen laſſen oder faſt tautologiſch ſind, wie 
z. B., daß nichts Menſchliches von beſtändiger Dauer und 
in der Entwicklung der Völker kein Sprung denkbar ſei. 
So lange die Wiſſenſchaften vom Menſchen auf der Grund— 
lage vereinzelter Beobachtung, ſei es des Gegenwärtigen 
oder Vergangenen, ſtehen, können ſie nicht über den Stand— 
punkt der Weisheit der Sprüchwörter hinauskommen. Die 
deutſche Sprache zählt allein Tauſende von Sprüchwörtern, 
in denen die gemeine Erfahrung von Jahrhunderten nieder— 
gelegt iſt; es iſt aber nicht eines darunter, deſſen Gedanken 
nicht durch den Inhalt von einem Duzend anderer wieder 
eingeſchränkt, modificirt und völlig verneint würden. Jene 
Wiſſenſchaften könnten ſich daher über die Stufe der Kind— 
heit, auf der ſie noch vor wenigen Generationen ſtanden 
und theilweiſe noch ſtehen, niemals erheben, wenn es nicht 
für ſie Beobachtungsmittel gäbe, durch welche die Unzu— 


länglichkeit der vereinzelten und individuellen Erfahrung 
vermindert und die Erfahrung als ein Ganzes ergriffen 
wird. Dieſes methodiſche Mittel, das jenen Wiſſenſchaften 
den Mangel der Inſtrumente und des Experiments zu er— 
ſezen, ein vollſtändiges und zuverläßiges empiriſches Ma— 
terial zu liefern hat, iſt die Erweiterung der vereinzelten 
und zufälligen Beobachtung zur univerſalen und methodiſch 
organiſirten. Man kann es kurz die methodiſche Maſſen— 
beobachtung nennen. Sie beſteht darin, daß über ganze 
Gruppen von Individuen ein Nez von Obſervatorien aus— 
gebreitet wird, um nach Einer Methode alle gleichartigen 
Erſcheinungen zu beobachten und zu regiſtriren. Da dieſe 
Beobachtungsweiſe menſchliche Collectivbegriffe, wie Volk, 
Stamm, Kirche, Bezirk, Gemeinde, Stände 2c. in die Indi— 
viduen, die ſie zuſammenfaſſen, wieder auflöst und von 
jedem Einzelnen zu beobachten hat, ob eine gewiſſe Er— 
ſcheinung bei ihm Statt findet oder nicht, ſo begreift es 
ſich, daß es ſich dabei ſtets zugeich um ein Zählen handelt 
und daß die Zahl ein charakteriſtiſches Merkmal dieſer 
Beobachtungsmethode iſt. Je zahlreicher nun die Objecte 
ſolcher Beobachtungen werden, je umfaſſender die einzelnen 
Gruppen, und auf je mehr Gruppen ſich gleichförmige Be— 
obachtungen erſtrecken, deſto vollſtändiger und gründlicher 
wird die Charakteriſtik der betreffenden Collectipbegriffe 
werden, und deſto reicher das Material zu Inductions— 
ſchlüſſen und zur Erkenntniß des Zuſammenhangs der 
menſchlichen Erſcheinungen. Man wird ganz in ähnlicher 
Weiſe, wie in den Naturwiſſenſchaften, Schlußfolgerungen 


220 


ziehen können, wie z. B. daß zwei Erſcheinungen, die ſtets 
verbunden oder ſtets getrennt ſind, oder die, wo ſie zu— 
ſammentreffen, ſtets noch eine dritte, aber niemals eine ge— 
wiſſe andere, vierte Erſcheinung zur Begleitung haben u. ſ. w., 
unter ſich oder mit dieſer dritten und vierten in einer ge— 
wiſſen Cauſalbeziehung ſtehen müſſen. Damit iſt ein Weg 
gewonnen, um Gruppen, Collectivbegriffe in correcter Weiſe 
zu charakteriſiren, Geſeze der menſchlichen Lebenserſchei— 
nungen wiſſenſchaftlich zu finden und zu erweiſen, mit 
Einem Worte, die Erfahrungswiſſenſchaften vom Menſchen 
zu exacten, ihr Beweisverfahren zu einem zwingenden zu 
erheben, die durch ihr Vielerlei verwirrenden Erſcheinungen 
der Menſchenwelt methodiſch zu bewältigen und der wiſſen— 
ſchaftlichen Behandlung zu unterwerfen. Dieſes Mittel 
der univerſellen Obſervation, deſſen Gedanke ein alter und 
nahe liegender iſt, konnte erſt in ſehr vorgerückten Bildungs— 
zuſtänden zur Ausführung kommen; es iſt bis jezt nur in 
ſchwachen Anfängen ausgebildet und hat auch ſo ſchon eine 
Reihe von Wiſſenſchaften theils geſchaffen, theils reformirt, 
theils befruchtet. Es erlaubt Frageſtellungen an das Object 
gleich dem Experiment und ergänzt die Unzulänglichkeit der 
ſubjectiven Wahrnehmung, gleich den wiſſenſchaftlichen In— 
ſtrumenten. Der mögliche Umfang ſeiner Ausdehnung und 
Wirkung iſt unabſehbar. 

Die Analogie der Naturwiſſenſchaften, welche keine 
beſondere Empirologie unterſcheiden, ſondern von welchen 
jede ihre Beobachtungsmittel ſelbſtſtändig in Anwendung 
bringt, würde darauf führen, daß auch unter den Erfah— 


221 


rungswiſſenſchaften vom Menſchen jede jenes Mittel der 
univerſellen Obſervation für ſich ſelbſt und nach ihren 
eigenen Bedürfniſſen als einen integrirenden Theil ihrer 
Forſchungsmethode handhabte, und vielleicht wird auch in 
nicht allzuferner Zeit das Princip der Theilung der Arbeit 
auf eine ſolche weitere Specialiſirung der wiſſenſchaftlichen 
Thätigkeit hinführen. Bis jezt aber haben ſehr erhebliche 
innere und äußere Gründe auf einen abweichenden Gang 
der Sache geleitet. Es hat ſich für alle Wiſſenſchaften vom 
Menſchen eine gemeinſame Hilfswiſſenſchaft gebildet, welche 
jeder von ihnen das Material einer univerſellen Empirie, 
deſſen ſie bedarf, zur Verfügung ſtellt. Der äußere Grund 
zu dieſer Entwicklung der Dinge lag darin, daß es zuerſt 
der Staat war, welcher für practiſche Zwecke das Bedürf— 
niß einer methodischen Maſſenbeobachtung empfand, und 
durch beſondere Veranſtaltung, insbeſondere die Errichtung 
ſtaatswiſſenſchaftlicher Obſervatorien befriedigte, nach und 
nach aber dieſe Inſtitute auch für allgemeinere wiſſenſchaft— 
liche Zwecke, an denen er kein ſo unmittelbares Intereſſe 
hatte, verwenden ließ. Dazu kam, daß die Handhabung 
dieſes Beobachtungsmittels einen äußeren Apparat und 
Aufwand von Mitteln, eine gewiſſe Organiſation erfordert, 
die zumal bei bureaukratiſchen Einrichtungen am leichteſten 
der Staat in die Hand nimmt und die, wenn ſie einmal 
vorhanden iſt, leicht auch für verſchiedenartige Zwecke be— 
nüzt werden kann. Der innere Grund für jene Gruppi— 
rung aber iſt, daß eine ſolche wiſſenſchaftliche Frageſtellung 
an die Geſellſchaft und die weitere formelle Behandlung 


ihrer Ergebniſſe bei aller Verſchiedenheit der Gegenſtände 
doch eine gewiſſe gleichartige Technik und Methodik erfordert; 
noch mehr aber, daß die Erfahrungswiſſenſchaften vom 
Menſchen, wenn ſie auch nicht ohne unnatürlichen Zwang 
in Eine Disciplin zuſammengedrängt werden können, doch 
eine Gruppe aneinandergränzender und verwandter Dis— 
ciplinen bilden und ſehr häufig, ja in der Regel Eine und 
dieſelbe Ermittlung von Thatſachen in verſchiedene Fächer 
einſchlägt. Als die Aufgabe dieſer Hilfswiſſenſchaft be— 
zeichnen wir nun kurz: die Ermittlung von Merkmalen 
menſchlicher Gemeinſchaften auf der Grundlage methodiſcher 
Beobachtung und Zählung ihrer gleichartigen Erſcheinungen, 
und faſſen dabei unter dem allgemeinen Namen von Ge— 
meinſchaften ſowohl natürliche Gruppen von Individuen, 
wie Völker, Staaten, Provinzen 2c., als die einer geſon— 
derten Betrachtung fähigen Lebenskreiſe, wie die politiſchen, 
wirthſchaftlichen, geſelligen, kirchlichen ꝛc. Verhältniſſe zu— 
ſammen. 

Man hat eingewendet: die bloße Anwendung eines 
formellen Verfahrens, die Handhabung eines gewiſſen Be— 
obachtungsmittels könne nicht den Inhalt einer beſonderen 
Wiſſenſchaft bilden, ſo wenig, als man ſich z. B. die Mi— 
croscopie als eine Wiſſenſchaft denken könne. Allein die 
große Bedeutung und Tragweite einer univerſellen, organi— 
ſirten Obſervation für eine Gruppe zuſammengehöriger 
Wiſſenſchaften dürfte im Obigen hinreichend nachgewieſen 
ſein, um eine ſolche Vergleichung abzulehnen. Ueberdies 
aber gibt es noch andere längſt anerkannte Hilfswiſſen— 


223 


ſchaften, die ebenfalls nur in der Handhabung eines for- 
mellen und methodischen Verfahrens beſtehen. Wir wollen 
die Philologie unerwähnt laſſen, deren Begriff ſelbſt ein 
noch beſtrittener iſt, nennen aber um ſo mehr die philo— 
logiſche Kritik und Hermeneutik, denen das wiſſenſchaftliche 
Zunftrecht Niemand beſtreitet, und deren Aufgabe doch nur 
darin beſteht, literariſche Denkmale in der Geſtalt und mit 
der gelehrten Ausſtattung herzuſtellen, worin ſie den Zwecken 
der verſchiedenen Wiſſenſchaften dienen können. Sie ſind 
Hilfswiſſenſchaften aller auf Literarische Mittel angewieſenen 
Disciplinen und haben das Gleiche zu leiſten, ob der Autor, 
mit dem ſie ſich beſchäftigen, ein Dichter oder Geſchicht— 
ſchreiber, Philoſoph oder Naturforſcher iſt. Solche heuri— 
ſtiſche Disciplinen, die den objectiven Wiſſenſchaften den 
unentbehrlichen Stoff in methodiſcher Bearbeitung liefern, 
haben das gleiche Verdienſt, wie etwa der gelehrte Reiſende, 
der ein unbekanntes Land erforſcht hat und die Ergebniſſe 
der Reiſe gleichſam auf den Tiſch der Wiſſenſchaft nieder— 
legt, ſo daß der Naturforſcher, wie der Philoſoph, der 
Sprachgelehrte oder der Hiſtoriker, der Nationalökonom 
oder auch der practiſche Kaufmann davon Gebrauch machen 
kann. Ob die ſpeciellen Fachmänner, welche ſich die Re— 
ſultate einer ſolchen wiſſenſchaftlichen Reiſe aneignen, die 
Mittel und Eigenſchaften gehabt hätten, jene Reiſe für die 
Zwecke ihrer Wiſſenſchaft noch fruchtbringender zu machen, 
iſt keineswegs zum Voraus gewiß, da dieſer Weg, wiſſen— 
ſchaftliches Material zu ſammeln, ſelbſt ſchon wieder Spe— 


224 
cialitäten, eine Vereinigung ſeltener Eigenschaften und Er— 
fahrungen zu erfordern ſcheint. 

Und nun endlich, wie heißt dieſe gemeinſame Hilfs— 
disciplin aller Erfahrungswiſſenſchaften vom Menſchenleben? 
Man könnte an allerhand mehr oder weniger bezeichnende 
Namen, an Obſervationiſtik, Empirologie, Empiriſtik des 
Menſchen, ſociale Heuriſtik und Aehnliches denken, aber 
die Bemühung iſt überflüſſig; der Name iſt ſchon da; ſie 
heißt — Statiſtik. Sie führt dieſen Namen jedoch nicht 
bei den Theoretikern, ſondern nur in der Auffaſſung der 
Praktiker und im gemeinen Sprachgebrauch. Sie hat auf 
denſelben auch kein unzweifelhaftes hiſtoriſches, noch weniger 
ein etymologiſches Recht. Die oben erwähnte Thatſache, 
daß jene Hilfswiſſenſchaft zuerſt und lange blos im Dienſt 
des Staats und der Staatswiſſenſchaften geſtanden iſt, war 
die Urſache, daß ihr eigenthümlicher, methodologiſcher Cha— 
rakter verborgen blieb und nur als unweſentliche Beigabe 
einer beſtimmten ſtaatswiſſenſchaftlichen Disciplin, der 
Staats- oder Zuſtandskunde, erſchien. So bezeichnet Sta— 
tiſtik etymologiſch, wie hiſtoriſch urſprünglich eine Staats— 
wiſſenſchaft. Allein die Anwendung jenes fruchtbaren Be— 
obachtungsmittels der univerſellen Zählung dehnte ſich bald 
auf eine Menge weder den Staat noch die Geſellſchaft be— 
treffender Objecte, wie phyſiologiſche, pathologiſche, pſycho— 
logiſche se. Fragen aus, und mußte den Gedanken an eine 
Trennung von Methode und Materie bald nahelegen. Da, 
wo die Statiſiik am ſorgfältigſten und umfaſſendſten aus— 
gebildet wurde, wie in Belgien und Frankreich, mußten 


225 


die Fachmänner zuerſt bemerken, daß eine gewiſſe, ſtets 
mit Zahlen in Berührung ſtehende Methode das Eigen— 
thümliche ihrer wiſſenſchaftlichen Thätigkeit ſei und ſuchten 
daher ihr Fach zuerſt aus den fremden Banden zu eman- 
cipiren. Die Lehrer der Staatswiſſenſchaften aber, zumal 
in Deutſchland, behaupteten ihren Beſizſtand aufrecht und 
ſuchten die auseinander drängenden ungleichartigen Elemente 
dadurch beiſammen zu halten, daß ſie den Umfaſſungsreif 
immer dünner und weiter machten, d. h. den Begriff der 
Statiſtik immer mehr ausdehnten und verflüchtigten und 
ſo am Ende aus den urſprünglichen Staatsmerkwürdigkeiten 
eine allgemeine Zuſtandswiſſenſchaft, eine Darſtellung des 
Lebens der Menſchheit als ruhenden Daſeins machten. 
Jener merkwürdige logische Inſtinet aber, der die Maſſen 
bei der Sprachbildung leitet, und ohne den bei der Denk— 
ſchwäche der meiſten Einzelnen die Wunderwerke der menſch— 
lichen Sprachen nicht begreiflich wären, folgte der deutſchen 
Wiſſenſchaft in dieſem Punkte nicht in die Nebelregion ihrer 
luftigen Abſtractionen, ſondern hielt ſich einfach an die 
charakteriſtiſche Außenſeite der Sache und entſchloß ſich 
kurz, im Sinne der praktiſchen Fachmänner alles das eine 
ſtatiſtiſche Mittheilung zu nennen, wo auf Grund umfaſ— 
ſender Zählungen von Einzelfällen allgemeine Thatſachen 
oder Merkmale des menſchlichen Zuſammenlebens dar— 
geſtellt werden, mochte nun der Gegenſtand den Staat, 
oder die Geſellſchaft, mochte er die Schließung von 
Ehen, die Verbreitung von Bibeln, den Häringsfang, 
oder das Schlachten von Kälbern betreffen. Wir haben 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 15 


226 


uns die Mühe genommen, ſeit längerer Zeit auf alle Fälle 
zu achten, wo das Wort Statiſtik und ſtatiſtiſch in Büchern 
und Zeitſchriften aller Art beiläufig gebraucht wird und 
haben dabei den obigen Sinn des Wortes jo conjtant?vor- 
gefunden, daß wir ſagen möchten, es laſſe ſich „ſtatiſtiſch“ 
beweiſen, was man unter Statiſtik verſteht. Wenn man 
in der Inhaltsangabe eines Zeitungsblatts die Ueberſchrift 
lieſt: Statiſtiſches, ſo darf man darauf rechnen, an dem 
betreffenden Ort das Ergebniß irgend einer Zählung an— 
geführt zu ſehen; wäre Statiſtik Staaten- oder Zuſtands— 
kunde, ſo müßte ja der größte Theil von dem Inhalt aller 
Zeitungen ſtatiſtiſcher Art ſein. R. Mohl wird ſelbſt nichts 
Unlogiſches darin finden, wenn wir an ſeinem Württem— 
bergiſchen Staatsrecht, das doch an ſich ſeinem ganzen In— 
halt nach unter die Rubrik der Staatenkunde und Zuſtands— 
wiſſenſchaften fallen müßte, noch beſonders die werthvollen 
„ſtatiſtiſchen“ Beigaben in den Noten rühmen würden. 
Auch die allgemein gebrauchten Ausdrücke: ſtatiſtiſche Er— 
hebung, ſtatiſtiſcher Beweis, weiſen offenbar darauf hin, 
daß es ſich hier um eine Beobachtungsmethode, um einen 
methodologiſchen Begriff handelt. Man ſpricht ja nicht von 
einer chemiſchen Erhebung, von einem botaniſchen, geogra— 
phiſchen, politiſchen, äſthetiſchen Beweis; nur wenn einer 
Wiſſenſchaft eine gewiſſe Gattung der logiſchen Beweisarten 
eigenthümlich iſt oder wenn ſie eine poſitive Beweistheorie 
aufſtellt, verbindet man ihren Namen adjectiviſch mit dem 
Begriff des Beweiſes, wie in den Ausdrücken: mathema— 
tiſcher, juriſtiſcher Beweis. Etwas „ ſtatiſtiſch“ beweiſen, 


227 


kann daher nicht heißen: aus der Staatenkunde oder Zu- 
ſtandswiſſenſchaft, denn das iſt keine beſondere Beweisart, 
ſondern es heißt: aus den Ergebniſſen dieſer beſtimmten 
Art von methodiſcher Beobachtung. Was die ſtatiſtiſchen 
Staatsbehörden treiben, iſt nicht Staatenkunde, nicht Zu— 
ſtandswiſſenſchaft, wenn es auch immerhin mit noch vielem 
Andern unter dieſem weiten Mantel Plaz finden kann; die 
praktiſchen Statiſtiker beſchäftigen ſich nicht mit dem Staats— 
recht ihres Landes, obwohl das unzweifelhaft zur Staaten— 
kunde vor allem Andern zu rechnen wäre, ſondern überlaſſen 
das den Univerſitätslehrern und der freien Wiſſenſchaft; 
ſie regiſtriren nicht beſondere Ereigniſſe und einzelne That— 
ſachen, wenn ſie auch noch jo wichtig und charakteriſtiſch 
für die Staatskunde und die „Zuſtände“ ſind, und über— 
laſſen es den Staatsarchiven, die Urkunden darüber auf— 
zubewahren; ſie ſchildern nicht Sitten und Gebräuche, nicht 
Hochzeiten und Leichenfeiern 2c., wiewohl dies ganz un— 
mittelbar zur Kenntniß der „Zuſtände“ gehören würde; ſie 
räumen überhaupt grundſäzlich keinem Einzelnen einen ty— 
piſchen Charakter ein, ſondern ſie ſuchen überall das der 
vereinzelten Beobachtung Unzugängliche, das ewig Fließende 
und Mannigfaltige, individuell Verſchiedene an irgend einem 
Punkte feſt zu faſſen und in das Nez ihrer Obſervatorien 
hereinzuziehen, um es dann zu ſortiren, zu ordnen, und 
für den Gebrauch der Wiſſenſchaften oder der praktiſchen 
Zwecke, in deren Dienſt ſie ſtehen, zuzubereiten. Dies und 
immer wieder dies iſt nach unſeren Wahrnehmungen die 
praktiſche Thätigkeit des Statiſtikers, und ſie ſteht hiedurch 


15 * 


228 


in vollem Einklang ebenſo mit demjenigen, was der herr— 
ſchende Sprachgebrauch mit dem Wort verbindet, als mit 
unſerer obigen Entwicklung. 

Aber allerdings nur die Praxis der Fachmänner ſteht 
in dieſem Einklange, nicht auch ihre Theorie. In dieſer, 
ſowie auch in den Verhandlungen der ſtatiſtiſchen Congreſſe, 
ſteht noch Vieles mit. unſerer Auffaſſung im Widerſpruch. 
Namentlich werden ſich die Statiſtiker ſchwer zu dem Ge— 
ſtändniß entſchließen, daß ihr Fach eine bloße Hilfswiſſen— 
ſchaft bilden ſolle. Die richtige Einſicht wird hier beſonders 
dadurch erſchwert, daß die meiſten Gelehrten dieſer Art 
mit ihrer ſtatiſtiſchen Beſchäftigung zugleich eine Vorliebe 
für ein beſtimmtes unter den Fächern, denen die Statiſtik 
dienen kann, vereinigen und dann in ihrer Vorſtellung leicht 
Beides ſich zu Einer complexen Idee verſchmilzt. Man 
kann mit Statiſtik verſchiedene andere wiſſenſchaftliche Be— 
ſchäftigungen verknüpfen; der eine iſt daneben National— 
ökonom, der andere Ethnograph, der dritte Hiſtoriker, ein 
anderer, wie uns Kolb's ſonſt ſehr ſchäzenswerthe Hand— 
bücher zeigen, politiſcher Parteimann; und für Jeden ent— 
ſteht die Verſuchung, ſich aus dem Inhalt und der Methode 
ſeiner Studien zuſammen wieder ein anderes Bild der ſta— 
tiſtiſchen Wiſſenſchaft zu conſtruiren; wobei es dann immer 
ein ſeltſamer, von den Vertretern der Zuſtandswiſſenſchaft 
mit Recht gerügter Widerſpruch bleibt, ſich eine ſelbſtſtän— 
dige, beſchreibende oder ſyſtematiſche Wiſſenſchaft zu denken, 
die auf die Zahl als Darſtellungsmittel beſchränkt ſein ſoll. 
Knies hat in unſeren Augen das große und nicht genug 


229 


zu ſchäzende Verdienſt, zuerſt erkannt zu haben, daß der 
Name Statiſtik heterogene Dinge zuſammenzwängt, aber 
bei der Operation der Trennung hat er das Meſſer nicht 
an der richtigen Stelle angeſezt und nicht mit ſicherer Hand 
geführt, insbeſondere das eine abgeſchnittene Stück, das 
er politiſche Arithmetik nennt, nicht richtig charakteriſirt. 
Unſere Auffaſſung der Sache, wornach einer ganzen Gruppe 
von unter ſich verſchiedenen, aber durch das gleiche metho— 
dologiſche Bedürfniß verbundenen Wiſſenſchaften die Statiſtik 
als die gemeinfame und unentbehrliche Hilfswiſſenſchaft 
gegenübertritt, ſcheint uns die von Knies mit Scharfſinn 
und Klarheit dargelegten Bedenken in ungezwungenerer 
Weiſe zu heben und zugleich die ganze Entwicklung der 
Statiſtik verſtändlicher zu machen. Auch ſchließt ſie keines— 
wegs eine Degradation der Statiſtik in ſich. Kant hat 
bekanntlich, als Jemand die Philoſophie die Magd der 
Theologie nannte, geantwortet: ja, aber die Magd, die 
mit der Fackel vorausleuchtet. So hoch wollen wir die 
Hilfsfunetionen der Statiſtik nicht ſtellen, wohl aber ließe 
ſich in einem ähnlichen Bilde ſagen: ſie iſt zwar in dienen— 
der Stellung, aber ſie iſt die Verwalterin, die in ein zuvor 
verſchuldetes und diſſolutes Hausweſen Klarheit und Ord— 
nung gebracht, den unnüzen Hausrath in die Rumpelkammer 
geworfen oder veräußert hat, die alle Einkäufe beſorgt und 
mit ſtetiger Sorgfalt über dem Gleichgewicht von Einnahmen 
und Ausgaben wacht, das die Gebieterinnen immer noch 
ſtets geneigt ſind außer Augen zu laſſen. Oder mit anderen 
Worten: Die Statiſtik hat einer Reihe von Wiſſenszweigen, 


230 

die zuvor in ihren Darſtellungen auf allgemeine Phraſen, 
in ihren Lehren und Gründen auf halbwahre, im günſtig— 
ſten Fall geiſtreiche Hypotheſen beſchränkt waren, ein feſtes 
Fundament unter die Füße geſtellt und ein wiſſenſchaft— 
liches Heimathrecht verſchafft. Ohne Statiſtik würde die 
Bevölkerungslehre gar nicht exiſtiren; die glänzende Ent— 
wicklung der Nationalökonomie wäre gar nicht denkbar; 
der Finanzwiſſenſchaft fehlte es an Stoff, wie an Beweis— 
mitteln; die Geſchichte wäre in zahlloſen Fällen darauf 
beſchränkt, uns in arbiträrer Weiſe ein Einzelnes für ein 
Typiſches auszugeben; die Völker- und Staatenkunde ſtünde 
auf dem Standpunkte des alten Fabri und würde uns etwa 
von England berichten: es habe ſchöne Manufacturen und 
viele Fabriken, beſonders in Baumwollen- und Eiſenwaaren; 
der Handel ſei ſehr blühend; auch der Ackerbau und die 
Viehzucht ſtehen im Flor; es gebe viele reiche, aber auch 
viele arme Leute daſelbſt u. ſ. w. 

Die Frage, zu welchen Wiſſenſchaften die Statiſtik in 
einem näheren Verhältniß ſteht, iſt es nicht ohne Intereſſe 
zuerſt negativ zu beantworten. Sie hat kein inneres Ver— 
hältniß zu allen denjenigen Disciplinen, deren methodolo— 
giſches Verfahren das der Deduction iſt; alſo vor Allem 
nicht zur Mathematik, die aus einigen Axiomen, den Pro- 
dukten logiſcher Grundgeſeze und elementarer Anſchauung, 
ihren Inhalt conſtruirend entwickelt und keiner Beobach— 
tungen für ihre Lehrſäze bedarf. Es iſt eigenthümlich, daß 
diejenige Wiſſenſchaft, der Manche die Statiſtik als einen 
ihrer Beſtandtheile unterordnen, ihr am diametralſten gegen— 


überſteht. Daß die Statiſtik die gleichartigen individuellen 
Erſcheinungen, die innerhalb ihres Beobachtungsfeldes ein— 
treten, regiſtrirt, zählt, in Zahlengruppen darſtellt und dieſe 
Zahlen etwa noch durch Reduction auf procentale Verhält— 
niſſe und ähnliche Operationen verſtändlicher macht, be— 
gründet ſo wenig einen mathematiſchen Grundcharakter ihrer 
Methode und Aufgabe, als wir einen Kaſſier oder Buch— 
führer oder den Handwerker, der elliptiſche Tiſche, cylinder— 
förmige Oefen oder Billardkugeln fertigt, einen Mathema— 
tiker nennen. An der ſogenannten politiſchen Arithmetik 
iſt ſchon der Ausdruck ſelbſt nicht richtig; man ſpricht von 
Zinsrechnung, von kaufmänniſchem Rechnen, aber nicht von 
kaufmänniſcher Arithmetik; die Mathematik fragt nichts 
darnach, auf welche praktiſche Verhältniſſe man ihre Ope— 
rationen anwendet und ob man ihre Lehrſäze von der 
Wahrſcheinlichkeitsrechnung am grünen Tiſch oder an der 
menſchlichen Sterblichkeit erprobt. So wichtig für die Schule 
und das Leben das ſogenannte Rechnen mit benannten 
Zahlen iſt, ſo bildet es doch, wiſſenſchaftlich genommen, 
niemals einen Theil der Arithmetik. 

Ebenſo ſteht die Statiſtik den philoſophiſchen Wiſſen— 
ſchaften aus dem methodologiſchen Grunde fern, weil dieſe 
zwar auf Erfahrung ruhen, ſofern ſie gerade das Ganze 
der Erfahrung und das Einzelne im Zuſammenhang dieſes 
Ganzen zu begreifen ſuchen, aber dieſe Erfahrung nicht 
ſelbſt erzeugen, ſondern aus andern Wiſſenſchaften als be— 
reits ermittelt entlehnen und auf deductivem Wege zu einem 
Gedankenſyſtem zu vergeiſtigen bemüht ſind. So ſezt die 


232 


ſogen. Naturphiloſophie die Naturwiſſenſchaften, die Ethik, 
Aeſthetik, Rechts-, Religionsphiloſophie gewiſſe pſychologiſche 
und geſchichtliche Thatſachen als gegeben voraus. Nur 
Eine dieſer Disciplinen macht hievon eine wichtige Aus— 
nahme, die Pſychologie; ſie nimmt ihre Erfahrung nicht 
anders woher, um ſie nur philoſophiſch zu reconſtruiren, 
ſondern ſie iſt ſelbſt Erfahrungswiſſenſchaft und ſteht mit 
den Naturwiſſenſchaften darin auf ganz gleichem Boden, 
daß ſie im Wege der Beobachtung und Induction Geſeze 
zu finden hat. Man hat ſie der Philoſophie nur einreihen 
können, weil man ſich, gewiſſermaaßen aus praktiſchen 
Gründen, genöthigt ſah, dieſer das ganze Feld der inneren 
Erfahrung zuzutheilen. Wenn die Statiſtik der Viychologie. 
bis jezt nur geringe Dienſte geleiſtet hat, ſo iſt wohl der 
Hauptgrund, daß beide Wiſſenſchaften noch in ihren An— 
fängen ſtehen, die Pſychologie noch kaum befähigt iſt, um 
der Statiſtik nur beſtimmte Fragen zu ſtellen, die Statiſtik 
noch nicht entwickelt genug, um ihre Methode auf piychiiche 
Thatſachen anzuwenden. 

Als eine dritte Klaſſe von deductiven Wiſſenſchaften 
erſcheinen diejenigen, welche in poſitiven Urkunden eine ge— 
gebene Quelle für die Ableitung ihrer Erkenntniß haben. 
Unter dieſem Geſichtspunkt treffen zwei ſonſt ſehr heterogene 
Wiſſenſchaften zuſammen, die Theologie und die Rechts— 
wiſſenſchaft nach ihrer poſitiven Seite. Die wiſſenſchaftliche 
Thätigkeit beſteht im Weſentlichen hier im Interpretiren 
und Subſumiren und ein inductives Verfahren iſt nur in 
ſecundärer Weiſe denkbar. Die ſogenannte Criminalſtatiſtik 


233 


z. B. berührt nicht die Rechts-, ſondern die Staatswiſſen— 
ſchaft, nicht den Richter oder Rechtsausleger, ſondern den 
Geſezgeber, ſodann und von anderen Geſichtspunkten aus 
den Pſychologen, Ethnographen ꝛc. 

So bleibt alſo nur der Kreis der Inductions- oder 
Erfahrungswiſſenſchaften übrig. Unter dieſen ſind gemäß 
dem Obigen die Naturwiſſenſchaften von einer Beziehung 
zur Statiſtik inſoweit ausgeſchloſſen, als der typiſche Cha— 
rakter der Einzelerſcheinung reicht. Da das Individuelle 
jedoch überhaupt in den höhern Organiſationsſtufen allmälig 
ohne ſcharf abzuſchneidende Grenzlinie beginnt und beſonders 
in dem Leben der Thiere, die unter der menſchlichen Ein— 
wirkung ſtehen, ein allmäliches Hinausſchreiten der Natur 
über die urſprünglichen Grenzen ihrer Typen eintreten 
kann, ſo gibt es ein gemiſchtes Grenzgebiet, in welchem die 
Statiſtik, obwohl ſie ihre eigentliche Heimath in der In— 
dividualwelt der menſchlichen Gattung hat, doch ein ana— 
loges Verfahren auch auf einzelne Erſcheinungen anderer 
Organismen anwendet, wie z. B. die Unterſuchungen über 
Vererbung von Geſchlecht und Eigenſchaften durch ſtatiſtiſche 
Behandlung der Erfahrungen bei Züchtung von Hausthieren 
werthvolles Material gewonnen haben. Das wichtigſte und 
umfaſſendſte Gebiet, wo die beiden großen Begriffe, Natur 
und Menſch, Typiſches und Individuelles, ſich durchdringen, 
iſt der Leib des Menſchen, die ſomatiſche Phyſiologie. 
Einen eigenthümlichen Pendant des ſtatiſtiſchen Verfahrens 
bildet die meteorologiſche Obſervation, bei welcher der Be— 
griff des Individuellen ganz wegfällt und es ſich darum 


234 


handelt, einen unter dem abſtracten Collectivbegriff der 
Witterung zuſammengefaßten Complex geographiſcher Data 
und fluctuirender phyſiſcher Vorgänge durch ſucceſſive Be— 
obachtung an einem gegebenen Orte zu charakteriſiren. 
Der Wechſel der Erſcheinung von Moment zu Moment, 
ſtatt von Individuum zu Individuum, weiſt hier in ähn— 
licher Art darauf hin, Durchſchnitte und Mittelwerthe zu 
ſuchen und begründet die äußere Analogie des Verfahrens. 

So kommen wir denn auf die ſchon früher genannten 
Erfahrungswiſſenſchaften vom Menſchen zurück, zu denen 
ſich die Statiſtik als ihre gemeinſame Hilfswiſſenſchaft ver— 
hält. Sie laſſen ſich eintheilen in die Lehren vom natur- 
geſchichtlichen und vom geſchichtlichen Menſchen. Der Menſch 
kann entweder betrachtet werden nach ſeinem allgemeinen 
Gattungscharakter, nach der urſprünglichen und conſtanten 
Ausſtattung und Begrenzung ſeiner Natur. Hieraus ent— 
ſtehen die anthropologiſchen Disciplinen, die ſich dem Stoff 
nach in die ſomatologiſche und pſychologiſche und dann viel— 
leicht je wieder in eine phyſiologiſche und pathologiſche 
Seite theilen. Eine zweite Betrachtungsweiſe iſt nun aber: 
wie ſtellt ſich dieſer naturgeſchichtliche Menſch in der Wirk— 
lichkeit dar, oder was iſt aus der Menſchheit in Folge des 
menſchlichen Zuſammenlebens unter den geographiſchen Ein— 
wirkungen ihrer Wohnſize im Verlauf der Jahrhunderte 
geworden? Der Anthropologie als der Lehre vom natür— 
lichen Menſchen tritt die Geſchichte im weitern Sinn des 
Worts als die Lehre vom empiriſch gewordenen Menſchen 
gegenüber. Sie bildet jedoch, ſo wenig als die Lehre von 


235 
der Natur, Eine Wiſſenſchaft; was man Univerſalgeſchichte 
zu nennen pflegt, iſt ſelbſt nur ein Theil davon. Der un— 
abſehbare Stoff löst ſich, wie der der Natur, vermöge der 
Schranken der menſchlichen Erkenntniß in eine Reihe mehr 
oder weniger ſelbſtſtändiger Gruppen auf. Und zwar bieten 
ſich der natürlichen Betrachtung zunächſt zweierlei Arten 
von Gruppen dar, eine von Subjecten und eine von Ob— 
jecten, oder eine der Individuen und eine der Lebenskreiſe. 
Man kann nämlich entweder natürliche Gemeinſchaften von 
Individuen ins Auge faſſen und ſodann ihre Eigenthüm— 
lichkeiten durch alle Lebensgebiete hindurch verfolgen und 
im Zuſammenhang aller Erſcheinungen darſtellen. Oder 
man kann beſtimmte Lebensgebiete, die einzelnen, für unſere 
Betrachtung ſich ausſondernden Seiten der menſchlichen 
Exiſtenz aufſuchen und ſie dann durch alle Individual— 
gruppen hindurch vergleichen und wiſſenſchaftlich zu begreifen 
ſuchen. Die natürlichen und gegebenen Gruppen von In— 
dividuen ſind die Völker, ſofern ſie ihr geſellſchaftliches 
Leben in einer einheitlichen Spize zuſammenfaſſen und als 
Staaten beſondere Perſönlichkeiten und Glieder der Menſch— 
heit bilden. Es laſſen ſich dann ganze Gruppen von Völkern 
oder einzelne Theile in ähnlicher Weiſe betrachten. Die 
verſchiedenen Lebensgebiete dagegen, die ſich zum Gegen— 
ſtand abgeſonderter wiſſenſchaftlicher Behandlung eignen, 
ſind nicht erſchöpfend aufzuzählen; es läßt ſich wenigſtens 
nach dem jezigen unvollkommenen Stand der Piychologie 
und der ſocialen Wiſſenſchaften nicht abgrenzen, was Alles 
an dem vielgeſtaltigen Menſchenleben ſich zu einer beſon— 


236 


deren Gruppe wiſſenſchaftlich verbundener Objecte zuſammen— 
faſſen laſſe. Stünde die Pſychologie auf feſteren Funda— 
menten, als es der Fall iſt, ſo würden ſich aus ihr die 
natürlichen Lebensgebiete von ſelbſt ergeben, da jedem 
Grundbedürfniß der Menſchennatur auch eine ſociale Ver— 
wirklichung entſprechen muß. So läßt ſich nur ſagen, daß 
ſich das wirthſchaftliche, geſchlechtliche, geſellige, das intel— 
lectuelle Leben in ſeinen drei Gliedern, Sprache, Wiſſen— 
ſchaft und Kunſt, das ſittliche, das religiöſe, endlich das 
alle Lebenskreiſe ordnende politiſche Leben von ſelbſt als 
ſolche beſondere Sphären wiſſenſchaftlicher Behandlung, die 
in Grundrichtungen der Menſchennatur wurzeln, darbieten. 
Es läßt ſich aber auch auf den Bildungsprozeß der Menſch— 
heit ſelbſt der Blick richten, z. B. auf die geographiſchen 
Einwirkungen, auf die Fortpflanzung des Bildungskapitals 
durch Tradition und Erziehung ꝛc. und unter jedem ſolchen 
Geſichtspunkt gruppirt ſich das empiriſche Material wieder 
anders. Das Univerſum und insbeſondere die Menſchen— 
welt hat nirgends ſcharfe Grenzlinien; der Linien, die die 
menſchliche Beobachtungsweiſe darin ziehen kann, ſind un— 
zählige; jede wird an irgend einem Theile fließend oder 
willkürlich ſein. 

Alle dieſe Wiſſenſchaften nun, ſowohl die, die den 
natürlichen, als die den geſchichtlich gewordenen Menſchen 
und lezteren nach Gruppen von Individuen oder von Ob⸗ 
jecten betrachten, ſind Erfahrungswiſſenſchaften und beruhen, 
wie die Naturwiſſenſchaften, auf Induction; ſogar noch 
mehr, als dieſe, weil die deductive und mathematiſche Be— 


237 


handlung in der unorganiſchen Welt einen weit größeren 
Spielraum hat als in der organiſchen. Alle haben daher 
empiriſche Objecte zu beobachten und in ihnen die con— 
ſtanten Urſachen oder Geſeze aufzuſuchen; d. h. ſie haben 
einen empiriſchen und einen ätiologiſchen Theil und jeder 
Irrthum hat ſtets ſeinen Grund darin, daß entweder mangel— 
haft beobachtet oder falſch geſchloſſen worden iſt. Der em— 
piriſche Theil iſt nun aber ſelbſt wieder von zweierlei Art. 
Der Gegenſtand wird entweder ſo, wie er ſich der gegen— 
wärtigen Beobachtung in der Breite ſeiner gleichzeitigen 
räumlichen Ausdehnung und Erſcheinung darbietet, ermittelt, 
oder wird ſeine Entſtehung und Entwicklung in der Zeit 
aufgeſucht. Das erſte nennen wir den graphiſchen, das 
zweite den hiſtoriſchen Theil der hier beſprochenen Wiſſen— 
ſchaften. Und hier nun eben dieſer graphiſche, auf Beob— 
achtung ruhende Theil jener Wiſſenſchaften iſt der Ort, an 
dem die Statiſtik ihr Heimathrecht hat. Sie fällt nicht mit 
demſelben zuſammen, aber ſie iſt ganz in demſelben ent— 
halten. Jene individuelle Beobachtung nemlich, der wir 
die Statiſtik, als die univerſelle gegenüber geſtellt haben, 
iſt nicht überhaupt ausgeſchloſſen und unbrauchbar für 
wiſſenſchaftliche Zwecke; ſie wird nur immer etwas Un— 
ſicheres, für ſich allein Ungenügendes haben; auch gibt es 
unzweifelhaft Einzelnheiten, denen eine typiſche Bedeutung 
beigelegt werden kann; und der Geiſt und Takt, mit welchem 
der Forſcher von ſeiner individuellen Erfahrung und den 
typiſchen Einzelnheiten Gebrauch zu machen weiß, wird 
ſchließlich immer von entſcheidender Bedeutung für das 


238 


Maaß ſeiner wiſſenſchaftlichen Befähigung bleiben. Allein 
das ſtatiſtiſche Verfahren, die univerſelle Beobachtung iſt 
es, was die ſubjective Erfahrung, die Hypotheſe zu er— 
gänzen und zur wiſſenſchaftlichen Erkenntniß zu erheben hat. 

So erſcheint denn die Statiſtik auch in dieſem Zu— 
ſammenhang wieder als die gemeinſame Hilfswiſſenſchaft 
für die empirologiſche und zwar graphiſche Seite der Wiſſen— 
ſchaften vom Menſchen. Bei dem engen Zuſammenhang 
derſelben dient ſie in der Regel durch Eine Klaſſe von 
Beobachtungen mehreren von ihnen zugleich. Denn jede 
geſellſchaftliche Thatſache wird theils die Gruppe von In— 
dividuen, welche das Feld der Beobachtung bildete, theils 
die beſtimmten Lebensgebiete, denen das Object der Beob— 
achtung angehört, theils näher oder entfernter die menſch— 
liche Gattung characteriſiren, und jedenfalls immer dabei 
noch eine hiſtoriſche Bedeutung haben. Eine Ermittlung 
der iriſchen Auswanderung z. B. wird dem Ethnographen, 
dem Politiker, dem Nationalöconomen, dem Populationiſtiker, 
dem Pſychologen und dem Hiſtoriker Stoff zu wiſſenſchaft— 
licher Betrachtung ſein können. Die Statiſtik hat im All— 
gemeinen zu allen dieſen Fächern die gleiche Stellung; und 
es iſt zufällig, in weſſen Dienſten ihre Inſtitute am meiſten 
in Anſpruch genommen werden. Allein es gibt allerdings 
Eine Disciplin, der ſie näher ſteht, als allen andern, die 
nothwendig ihr erſtes und nächſtes Object bildet. Wenn 
nemlich die Statiſtik eine beſtimmte Gruppe von Individuen 
als das Feld ihrer Beobachtung abſteckt, ſo iſt es eine 
jeder andern vorausgehende Aufgabe, dieſes Terrain ſelbſt 


239 


zu unterſuchen und zu beſtimmen; ſie muß den Grundbe— 
ſtand ihres Beobachtungsfeldes conſtatiren, d. h. die Indi— 
viduen jener Gruppe zählen, nach den fundamentalſten 
phyſiologiſchen Momenten, Geſchlecht und Alter, unterſchei— 
den, die durch Geburten und Sterbfälle, Ab- und Zuzug 
bedingten Fluctuationen des Grundbeſtandes ermitteln, 
woran ſich noch die Berückſichtigung der elementarſten ge— 
ſellſchaftlichen Unterſchiede, des Familienſtandes, des Berufs, 
des Charakters der Wohnpläze ꝛc. leicht anſchließt. Das 
fundamentale Object der Statiſtik iſt hienach die Bevölke— 
rung; es iſt das erſte und wichtigſte Merkmal der menſch— 
lichen Gemeinſchaften, das ſie zu ermitteln hat und ſie kann 
ohne dieſe Grundlage keinen weiteren Schritt mit nur einiger 
Sicherheit thun; auch kann keine der andern Wiſſenſchaften 
ohne Beachtung dieſer Grundlagen von den ſtatiſtiſchen 
Ergebniſſen über irgend einen Punkt Gebrauch machen. 
Darum fällt aber gleichwohl die Bevölkerungslehre nicht 
mit der Statiſtik zuſammen; ſie iſt nur aus ihr hervorge— 
gangen und ihre erſte Frucht. Die Statiſtik iſt überhaupt 
nicht eigentliche Lehre, ſondern wiſſenſchaftliche Praxis, wie 
etwa die Hermeneutik und Critik; ihre Lehre kann nur aus 
ihrer Theorie, aus Betrachtungen, wie die vorliegende, be— 
ſtehen; ähnlich wie eine Lehre der Hermeneutik nur metho— 
dologiſchen Inhalts ſein könnte ). 


) Auch die ſprachliche Form des Wortes iſt hiefür nicht ohne Be 
deutung. Die Namen der Wiſſenſchaften endigen auf —ie oder —ik. 
Die erſteren mit den Formen —logie, —gnoſie, —nomie, —graphie, 
— metrie ꝛc. enthalten eine ſelbſtſtändige Lehre, ein zuſammenhängen— 


240 


Hieraus iſt zugleich klar, daß die Statiſtik ſtets nur 
mit der Gegenwart zu thun hat. Vergangenes läßt ſich 
nicht beobachten, ſondern nur durch Concluſion ermitteln 
aus Spuren, die es zurückgelaſſen hat, aus Zeugniſſen, die 
davon übrig ſind. Eine Statiſtik vergangener Zeiten iſt 
bei unſerer Definition ſo wenig herzuſtellen als eine Her— 
meneutik verlorener Bücher. Was man ſo zu nennen ver— 
ſucht ſein kann, iſt in Wahrheit etwas Anderes. Man 
kann allerdings z. B. eine Bevölkerungsſtatiſtik einer Stadt, 
eines Bezirkes oder Landes fürs Jahr 1600 nachträglich 
fertigen, wenn ſich die Kirchenbücher oder andere Urkunden 
von jener Zeit noch erhalten haben. In dieſem Fall liegen 
aber die Beobachtungen ſelbſt noch aus jener Zeit vor, die 
nur nachträglich geordnet und etwa durch Schlüſſe aus 
Säzen der Bevölkerungslehre ergänzt werden. Hierin liegt 
zugleich, daß jede ſtatiſtiſche Ermittlung mit dem Augen— 
blick ihrer Vollendung bereits begonnen hat, der Geſchichte 
des Ganzes von Forſchungsergebniſſen; die auf —ik ſind ſprachlich 
nur feminina eines Adjectivs nach der griechiſchen Form 7 —ızy dseil. 
,; ſie bezeichnen ſomit urſprünglich keine eigentliche und ſelbſt— 
ſtändige Wiſſenſchaft, ſondern nur eine wiſſenſchaftliche Beſchäftigung, 
Kunſt, Fertigkeit für praktiſche oder theoretiſche Zwecke. Deßhalb 
endigen alle Hilfswiſſenſchaften, alle mehr in einer wiſſenſchaftlichen 
Praxis beſtehenden Disciplinen auf —ik; jo Kritik, Hermeneutik, He— 
raldik, Diplomatik, Numismatik, Mechanik, Optik, Didactik, Pädagogik, 
Dialectik ꝛc. ꝛc. Mehrere andere Disciplinen traten wenigſtens zuerſt 
allein in dieſer Geſtalt auf und behielten dann dieſe Form auch bei, 
nachdem ſie zu ſyſtematiſchen Wiſſenſchaften waren ausgebildet worden; 
ſo Mathematik, Arithmetik, Logik, Grammatik. Bei einigen wenigen 
Namen dagegen kommt die Endung auf —ik nicht von 7 —ız/, ſon— 
dern von za —ıza; wie Phyſik, Metaphyſik, Ethik. 


241 


anheimzufallen, aber nicht um hier wie in einem Abgrund 
zu verſchwinden, ſondern um als ſchäzbarſtes Material der 
Geſchichte ſelbſt und anderer Wiſſenſchaften dauernden Werth 
zu behaupten. 

Es fragt ſich nun aber noch, wie ſich die Aufgabe der 
Statiſtik in ihrem Verhältniß zu den Erfahrungswiſſen— 
ſchaften vom Menſchen näher geſtaltet, bis zu welchem 
Punkte ſie die Beobachtung fortzuführen, in welchem Zu— 
ſtand ſie deren Ergebniſſe an die anderen Wiſſenſchaften 
abzuliefern hat. Wäre ihr Geſchäft mit der Beobachtung 
und Zählung gewiſſer gleichartiger Einzelfälle abgeſchloſſen, 
jo würde ſie den Namen einer Wiſſenſchaft nicht in An— 
ſpruch nehmen können, wiewohl auch zur Anordnung und 
Leitung einer ſtatiſtiſchen Aufnahme immer noch mancherlei 
Kenntniſſe und adminiſtrative Fähigkeiten erforderlich ſind; 
ſie verhielte ſich dann zu jenen Wiſſenſchaften im Grunde 
doch nicht anders, als der Kräuterſammler zur Botanik. 
Wir haben daher oben ſchon gejagt: die Aufgabe der Sta— 
tiſtik ſei die Ermittlung von Merkmalen oder die Charakte— 
riſtik menſchlicher Collectivbegriffe auf Grund univerſeller 
Beobachtungen und Zählungen. Der Statiſtiker muß die 
Zahlen, die er mittheilt, zugleich interpretiren, als ein Merk— 
mal der Gruppe, welcher ſie entnommen ſind, nachweiſen. 
Wir wollen das an dem nächſten beſten vulgären, zufällig 
ſich darbietenden Beiſpiel zu zeigen ſuchen. Nach der Auf— 
nahme des Viehſtandes von 1861 ergaben ſich für Würt— 
temberg 96,000 Pferde, ſo und ſo viel unter, ſo viel über 
drei Jahre, ſo viel in dem Ort, Bezirk, Kreis, ſo viel in 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 16 


242 
jenem. Solche Zahlen ſind ſtumm; der Leſer und Hörer 
vermag zunächſt nicht mehr dabei zu denken, als wenn man 
ihm ſagte: das Pferd heißt auf tamuliſch ſo und ſo. Er 
weiß gleich vornherein nicht: iſt dies nun viel oder wenig? 
Der Statiſtiker hat nun den ſtummen Zahlen den Mund 
zu öffnen. Er wird zeigen, daß zur Würdigung jener Zahl 
zunächſt ein doppeltes Verhältniß zu beachten iſt, das zum 
Areal, und zwar ſpeciell zum landwirthſchaftlich benüzten, 
ſodann das zur Bevölkerung, und daß zwiſchen dieſen beiden 
Geſichtspunkten eine umgekehrte Proportion Plaz greifen 
muß, ſofern, je mehr Menſchen auf einer beſtimmten Fläche 
ihre Nahrung zu erzeugen haben, um ſo weniger Pferde 
ceteris paribus noch ihre Nahrung darauf finden können. 
Er wird nun unter dieſem doppelten Geſichtspunkt den 
Pferdeſtand anderer Länder, zunächſt der benachbarten und 
der deutſchen, vergleichen, Württemberg ſeinen beſtimmten 
Plaz in ihrer Reihe ermitteln, und ſo ſchließlich etwa zeigen, 
daß es der abſoluten Zahl nach im Vergleich zum Areal 
hinter dem Durchſchnitt der deutſchen Länder noch zurück— 
ſteht, daß aber relativ genommen nur noch Sachſen unter 
allen deutſchen Ländern auf dichter bevölkerter Fläche eine 
größere Pferdezahl ernährt, ſomit jener württembergiſche 
Pferdeſtand ſchon im Allgemeinen als ein Merkmal von 
Fruchtbarkeit und intenſivem Anbau erſcheint. Im Rück⸗ 
blick auf frühere Zählungen wird ſodann der Statiſtiker 
zeigen, daß die neueſte Zahl zwar gegen den Stand der 
vorangegangenen Zählungen eine namhafte Vermehrung ent— 
hält, doch immer noch nicht unbedeutend gegen die Pferde— 


243 


zahl der 30er und 40er Jahre zurückſteht, im Großen und 
Ganzen jedoch beim Rückblick auf eine 40jährige Periode 
die Zahl ziemlich ſtationär erſcheint, im Verhältniß zur Be⸗ 
völkerung ſomit immer mehr zurückbleibt. Aus der Zahl 
der Pferde unter drei Jahren läßt ſich noch ſchließen, ob 
das neuerliche Anwachſen auch für die nächſte Zukunft in 
Rechnung zu nehmen iſt. Um ſodann die Gründe dieſer 
Veränderungen näher zu erkennen, wird man auf die ver— 
ſchiedenen Zwecke, denen die Pferde dienen, zu achten, durch 
Vergleichung der Ortsliſten die Militär-, Luxus-, Verkehrs— 
Pferde von den für die Landwirthſchaft verwendeten zu 
unterſcheiden und nachzuſehen haben, auf welche dieſer 
Claſſen und auf welche Bezirke eine Zu- oder Abnahme 
fällt, welche Wirkung insbeſondere z. B. die Eröffnung der 
verſchiedenen Eiſenbahnlinien geäußert hat; an jede Ab— 
oder Zunahme einer jener Rubriken werden ſich mancherlei 
wichtige Folgerungen und Aufſchlüſſe anreihen. Indem 
ſodann auf die Unterſchiede in den einzelnen Landestheilen 
geachtet wird, ergibt ſich, daß jene Geſammtzahl von 96,000 
Pferden ſich aus den verſchiedenartigſten Einzelſummen zu— 
ſammenſezt, daß faſt alle Abſtufungen von den pferdereichſten 
bis zu den pferdeärmſten Gegenden im Lande vertreten 
ſind, und daß in jeder derſelben die Pferdezahl der getreue 
Spiegel der agrariſchen Verhältniſſe iſt. Im Anſchluß an 
die populäre und hergebrachte Unterſcheidung des Roß— 
bauern vom Ochſen- und Kühbauer gibt die Vergleichung 
der Pferdezahl mit dem landwirthſchaftlichen Areal in länd— 
lichen Bezirken die natürlichſten Anhaltspunkte für die Ver— 
16 


244 


gleichung der Größe der bäuerlichen Beſizungen. Wo d--500 
Pferde auf der Quadratmeile der Landwirthſchaft dienen, 
wie in Oberſchwaben, können weder Großgüter noch Zwerg— 
wirthſchaften vorherrſchen, wo nur 70—80, muß die Zahl 
der anſehnlicheren Bauerngüter ſehr klein ſein. Zwiſchen 
dieſen Extremen nimmt dann jeder Landestheil und Bezirk. 
ſeine beſtimmte Stelle ein. Man wird die größeren Pferde— 
ſtände nicht in den Gegenden des Wein- und Gartenbaus, 
der Güterzerſtücklung, nicht in den Wald- und Gebirgs— 
regionen, nicht in den Umgebungen der größeren Städte 
und Induſtriebezirke ſuchen. Unter dieſen Geſichtspunkten 
wird zulezt jede einzelne Zahl bedeutſam und markirt eine 
ganz beſtimmte Art von agrariſchen Verhältniſſen. Aus 
der Vergleichung der früheren Ziffern ergibt ſich, in welchen 
Landestheilen und in welchem Umfang die Roßbauern ſich 
in Ochſenbauern verwandeln, und wo die umgekehrte Be— 
wegung vor ſich geht. So verwandeln ſich ſchließlich die 
Ziffern in deutliche Merkmale des Volkslebens und der 
volkswirthſchaftlichen Verhältniſſe; das numeri loquuntur 
iſt zur Wahrheit geworden, aber eben damit auch die Auf— 
gabe des Statiſtikers beendigt. Wenn jene 96,000 Pferde 
durch dieſe, natürlich nur beiſpielsweiſe genannten und die 
Sache nicht erſchöpfenden Betrachtungen zu einem charakte— 
riſtiſchen Merkmal des württembergiſchen Volks- und Wirth— 
ſchaftslebens erhoben ſind, ſo daß den gegebenen Beding— 
ungen weder ein Mehr noch ein Weniger entſprechen würde, 
jo hat er die weiteren Concluſionen, die theoretiſchen wie 
die praktiſchen, Anderen zu überlaſſen. Er hat allerdings, 


245 


wie unſer Beiſpiel zeigt, nach dem Cauſalzuſammenhang 
zu fragen, und es iſt dies ſogar nach unſerer Anſicht der 
wichtigſte Theil ſeiner Arbeit, aber er hat nur die concreten 
Urſachen der ihm vorliegenden Erſcheinungen, nicht die 
conſtanten Urſachen oder Geſeze derſelben aufzufinden. Er 
hat nur die Thatſachen ins Licht zu ſtellen, aber weder 
Lob noch Tadel, weder Theoreme noch Rathſchläge daran 
anzuſchließen. Die Fragen, welchen Werth überhaupt die 
verſchiedenen agrariſchen Syſteme haben, ob die größeren 
oder kleineren bäuerlichen Güter, ſei es im Allgemeinen, 
oder für Württemberg vortheilhafter ſeien, unter welchen 
Bedingungen es für den Landwirth räthlich ſei, zur Pferde— 
haltung überzugehen oder dieſelbe aufzugeben und ähnliche 
wird er der Volkswirthſchaft, beziehungsweiſe den land— 
wirthſchaftlichen Disciplinen überlaſſen. Ebenſo werden 
die betreffenden Staatsbehörden zu prüfen haben, ob etwa 
eine weitere Verminderung des Pferdeſtandes im Intereſſe 
der Kriegsbereitſchaft des Landes nachtheilig ſein würde, 
ob derſelben aus dieſem oder anderem Grunde entgegen— 
gewirkt werden kann und will, ob die Ein- oder Ausfuhr 
von Pferden zu begünſtigen oder zu erſchweren ſein mag, 
ob ſich der Pferdebeſiz zu einem Object der Beſteuerung 
eignet u. ſ. w. Der Statiſtiker hört auf, Statiſtiker zu 
ſein und treibt Nationalökonomie, Politik oder Finanzwiſſen— 
ſchaft, wenn er auf dieſe Gebiete hinübertritt. Alles das 
vollſtändig ans Licht zu ſtellen, was er mit ſeiner Zahlen— 
reihe in der Hand unter vergleichender Zuziehung anderer 
zuverläßiger ſtatiſtiſcher Erhebungen oder notoriſcher That— 


ſachen hinſichtlich der von ihm beobachteten Gruppe beweisen 
oder vielleicht auch nur zu einem hohen Grade von Wahr— 
ſcheinlichkeit bringen kann, das iſt ſein Feld. Es gibt im 
Ganzen nur wenige ſtatiſtiſche Publicationen, in welchen die 
Summe von Folgerungen, die auf ſolchem Wege in ſtrin— 
genter Weiſe aus den Zahlen abgeleitet werden könnten, 
auch nur annähernd gezogen wäre. Tauſende dagegen 
ziehen täglich aus ſtatiſtiſchen Aufnahmen die leichtfertigſten 
Schlüſſe. Aus ſeinen Zahlenreihen correct und erſchöpfend 
zu ſchließen, darin ſehen wir die wichtigſte Eigenſchaft des 
Statiſtikers. Nur dem Kundigen öffnet die ſonſt ſtumme 
Zahl den Mund, wie Bileams Eſelin nur dem Propheten 
vernehmlich war. Das obige Beiſpiel von den Pferden 
gehört zu den einfachſten und greift faſt nur in Ein Fach, 
das der Volkswirthſchaft ein; das Object kann aber eben 
ſo leicht der Art ſein, daß zu einer genügenden Behand— 
lung phyſiologiſche, pſychologiſche, juriſtiſche ꝛc. Kenntniſſe 
erforderlich ſind. Schon in den Fragen der Bevölkerungs— 
ſtatiſtik, z. B. in der Behandlung der Sterbeliſten, greifen 
die mannigfaltigſten und complicirteſten Verhältniſſe in 
einander. Es kann nichts unrichtiger ſein, als die Mei— 
nung, das bloße Zählen und Rechnen und Zahlengruppiren 
mache ſchon den Statiſtiker, er muß univerſelle Bildung 
mit vielſeitigem poſitiven Wiſſen, ein großes Combinations— 
vermögen mit ſcharfer Logik verbinden; eben das, daß er 
einer ganzen Gruppe von Wiſſenſchaften zu dienen hat, 
ſtellt die Forderung an ihn, zwei Eigenſchaften in ſich zu 
vereinigen, die nur durch das Bindeglied hoher, allgemeiner 


Bildung vereinbar ſcheinen, Präciſion des Denkens und 
eine gewiſſe Polyhiſtorie. 

Wenn wir nun in der ganzen bisherigen Ausführung 
das Vorhandenſein einer ſocialen Hilfswiſſenſchaft, die den 
Erfahrungswiſſenſchaften vom Menſchen durch die Hand— 
habung des methodologiſchen Mittels der univerſellen Be— 
obachtung in die Hände arbeitet, conſtatirt und begründet 
und derſelben den Namen Statiſtik beigelegt haben, ſo 
laſſen wir damit jene andere Wiſſenſchaft von den Zu— 
ſtänden der Menſchheit oder Völker und Staaten an ſich 
ganz unberührt; und dieſe müßte bei unſerer Auffaſſung 
ihren Plaz dann eben unter jenen Wiſſenſchaften, denen 
die Statiſtik zu dienen hat, ſuchen. Nur den Namen haben 
wir ihr entzogen und auch dieſen nicht auf Grund eines 
etymologiſchen oder hiſtoriſchen Anſpruchs; im Gegentheil 
würden wir unſerer Hilfswiſſenſchaft lieber den bezeichnen— 
deren Namen: ſociale Empiriſtik oder einen ähnlichen bei— 
gelegt ſehen. Nur weil ſich der deutſche Sprachgeiſt, der 
usus tyrannus, nun einmal unzweifelhaft in dieſer Richtung 
entſchieden hat, blieb nichts Anderes übrig, als das Kind, 
ſtatt nach ſeinem rechten Vater, nach demjenigen, der es 
groß gezogen und adoptirt hat, zu taufen. Eine andere 
Frage iſt es nun aber, ob jene zweite Wiſſenſchaft, die ſich 
bisher auch Statiſtik nannte und von den Männern der 
Wiſſenſchaft ſogar ausſchließlich ſo genannt wurde, den 
Verluſt jenes Namens eben ſo leicht verſchmerzen wird, 
als unſere Hilfswiſſenſchaft darauf verzichten könnte. Auch 
in der Societät der Wiſſenſchaften iſt ein alter Name, eine 


248 


ſtattliche Firma ein werthvoller Beſiz, zumal für denjenigen, 
mit deſſen ſonſtigen Legitimationspapieren es nicht zum 
Beſten beſtellt iſt. Das Namenloſe iſt auch hier recht- und 
heimathlos, und wo will jene politische Zuſtandswiſſenſchaft 
wieder einen ſo vieldeutigen, proteiſchen Namen finden, als 
Statiſtik mit der doppelten Ableitung von status, der Staat 
und status, der Zuſtand? 

Wir haben keinen Zweifel darüber, daß es ein reales, 
einen beſonderen Plaz im Kreiſe der Wiſſenſchaften erfor— 
derndes Bedürfniß der menſchlichen Erkenntniß iſt, dem jene 
politiſche Zuſtandswiſſenſchaft genügen will, aber die große 
Zahl von vergeblichen Verſuchen zeigt, daß es nicht leicht 
iſt, dies Bedürfniß genau zu bezeichnen und die Aufgabe 
der ihm entſprechenden Disciplin zu beſtimmen. Die Schwie— 
rigkeit iſt dadurch, daß wir unter dem Namen der Statiſtik 
eine methodologiſche Hilfswiſſenſchaft ausgeſondert haben, 
zwar vermindert, aber noch nicht beſeitigt; ſie ſcheint vor— 
zugsweiſe darin zu liegen, zwiſchen zwei Abwegen, die nahe 
aneinander grenzen, die richtige Straße zu finden. Auf 
der einen Seite liegt die Gefahr, daß man nur ein mixtum 
compositum von Notizen aus Geographie, Geſchichte, Staats— 
recht, Ethnographie, Bevölkerungslehre, Volkswirthſchafts— 
lehre zu Stande bringt, das eigentlich nicht zu den Wiſſen— 
ſchaften, ſondern zu jenen mannigfaltigen Complexen von 
Wiſſensſtoffen zu rechnen iſt, in welchen Stücke verſchiedener 
Wiſſenſchaften unter dem Geſichtspunkt eines beſtimmten 
praktiſchen Bedürfniſſes zuſammengefaßt werden, wie z. B. 
Technologie, Handelswiſſenſchaften ꝛc. Das praktiſche Be— 


dürfniß, das bei ſolchen Notizenſammlungen im Stillen als 
das einheitliche Band des Ganzen behandelt wird, iſt dann 
etwa das Intereſſe des Zeitungsleſers. Der andere Ab— 
weg iſt aber, daß man, um aus dem Kreis der Wiſſen— 
ſchaften nicht verdrängt zu werden und doch auch von jenem 
bunten und reichen Stoff nichts fahren zu laſſen, eine 
wiſſenſchaftliche Aufgabe aus ſo weiten und abſtracten Be— 
griffen formulirt, daß in der That de omnibus et quibus- 
dam aliis darin die Rede ſein kann. 

Auf den lezteren Abweg ſcheinen uns nun diejenigen 
gerathen zu ſein, welche den Begriff des Zuſtandes zum 
Fundament einer beſonderen Wiſſenſchaft machen zu können 
glauben, die uns jene Doppelgängerin der Univerſalgeſchichte 
conſtruiren, jene Wiſſenſchaft, die ſich das Leben der Menſch— 
heit als ruhendes Daſein denkt, jene ſtillſtehende Geſchichte, 
die nicht auf das Werden, ſondern nur auf das Gewordene 
achtet und den Bau der Menſchheit durch die Zeichnung 
eines Querdurchſchnittes deutlich macht. Wenn in Wahr— 
heit die Geſchichte eben einmal nicht ſtilleſteht, wenn das 
Leben der Menſchheit kein ruhendes Daſein iſt, ſondern 
ein ruheloſes Schaffen am ſauſenden Webſtuhl der Zeit, 
ſo kann es auch keine Wiſſenſchaft geben, die berechtigt 
wäre, ſich dies jo zu denken. Deductive Wiſſenſchaften 
kann es geben, die eine Fiction oder Abſtraction zu ihrem 
Ausgangspunkt haben, aber eine Erfahrungswiſſenſchaft, 
die auf einer Fiction ruht, muß ſelbſt eine Fiction ſein, 
und eine Lehre von ruhenden Völkerleben kann es ſo wenig 
geben, als von ſtillſtehenden Strömen. So wenig die Ar— 


chitektonik nur die Lehre von den Aufriſſen der Gebäude 
behandelt und die Lehre von den Querdurchſchnitten einer 
andern Disciplin zuweiſt, ſo wenig greift der Geſchicht— 
ſchreiber in fremdes Gebiet hinüber, wenn er uns ein Volks— 
leben bald in einer Reihe ſucceſſiver Begebenheiten, bald in 
einer Ueberſicht ſeiner gleichzeitigen Erſcheinungen ſchildert. 
Beides ſind nur Darſtellungsformen, die durch den discur— 
ſiven Charakter der menſchlichen Erkenntniß bedingt ſind. 

Es mag vielleicht kleinlich erſcheinen und iſt doch nicht 
ohne Bedeutung, wenn wir daran erinnern, daß der Begriff 
des Zuſtandes zu den der deutſchen Sprache eigenthümlichen, 
keineswegs in jeder gebildeten Sprache vorhandenen gehört. 
Nur die an abſtracten Gebilden gleich reiche Sprache der 
Hellenen hat ähnliche Ausdrücke. Den Terminus der grie— 
chiſchen Grammatiker, / ,Hmu ua einc, den wir im deut— 
ſchen durch „zuſtändliche Zeitwörter“ wiedergeben, vermochte 
das Lateiniſche nur durch die negativen Ausdrücke, Verba 
neutra oder intransitiva, zu überſezen. Die Worte status, 
etat, state, heißen nicht „Zuſtand“, ſondern „Stand“. Der 
Stand iſt derjenige Punkt einer von einem Gegenſtand 
durchlaufenen Bahn, auf welchem dieſer ſich in dem Augen— 
blick unſerer Betrachtung befindet, wie wir vom Stand der 
Sonne, der Papiere, eines Prozeſſes reden. Die Sprachen, 
die ſich auf dieſen Ausdruck der Sache beſchränken, ver— 
mögen alſo von dem richtigen Bewußtſein des Heraclitiſchen 
Sazes avre sei keinen Augenblick zu abſtrahiren. In 
dem Wort „Zuſtand“ dagegen ſehen wir von einer voran— 
gegangenen und nachfolgenden Bewegung des Gegenſtandes, 


251 


jowie von allem Verhältniß zu andern Gegenſtänden ab 
und vergleichen ihn nur mit ſich ſelbſt, d. h. mit der nor— 
mirenden Vorſtellung, die das betrachtende Subject dazu 
mitbringt. Der Zuſtand eines Dings iſt die Geſammtheit 
ſeiner gleichzeitigen Merkmale, verglichen mit unſerer For— 
derung an daſſelbe. In dieſem Sinne iſt es, daß wir mit 
dem Worte „Zuſtand“ in der Regel nur Prädikate, die 
ein Werthurtheil enthalten, verbinden, von einem guten 
oder ſchlechten, angenehmen, traurigen, verwahrlosten, be— 
friedigenden Zuſtand reden. Hiebei kommt natürlich Alles 
auf den mitgebrachten Maßſtab an. Qualitative Prädikate 
anderer Art verbinden wir mit dem Begriff des Zuſtandes 
nur dann, wenn ein und daſſelbe Object weſentlichen, die 
Geſammtheit ſeiner Merkmale alterirenden Veränderungen 
unterworfen iſt, wie man z. B. von einem ſtarren oder 
flüſſigen Zuſtand des Waſſers, oder von Zuſtänden des 
Wahnſinns, der Schwermuth, oder weiter von einem Zu— 
ſtand der Fäulniß, der Trockenheit ꝛc. ſpricht. An ſich 
ſollte man meinen, daß das Wort Zuſtand von Einem 
Gegenſtand nicht in der Mehrzahl gebraucht werden könnte, 
da es ſtets nur Eine Geſammtheit von gleichzeitigen Merk— 
malen geben kann. Die deutſche Sprache hat ſich jedoch 
gewöhnt, wenn von einem Collectivbegriff, der eine Man— 
nigfaltigkeit individuell verſchiedener Dinge unter ſich be— 
greift, die Rede iſt, lieber die Mehrzahl zu gebrauchen, 
und ſomit nicht von dem Zuſtande, ſondern von den Zu— 
ſtänden einer Geſellſchaft, eines Volkes, der Menſchheit zu 
reden. An Klarheit der Begriffe iſt jedenfalls mit dieſem 


252 


Pluralis Nichts gewonnen und wenn dann die Gelehrten: 
ſprache noch weiter geht und auch noch die Wörter „zu— 
ſtändlich“ und „Zuſtändlichkeit“ bildet, wenn wir z. B. bei 
einem Schriftſteller über Statiſtik leſen, die Statiſtik be— 
handle diejenigen Erſcheinungen vom Leben der Menſchheit, 
welche ein „Moment der Zuſtändlichkeit“ an ſich haben, ſo 
ſcheint ſich uns damit die Sprachbildung wieder in jene 
Nebel- und Wolkenregion zu verlieren, die nichts mehr 
deutlich erkennen läßt, und erinnert an eine beliebte Eigen— 
heit der deutſchen Gelehrſamkeit, über die der Fremde nicht 
mit Unrecht klagt oder ſpottet. Wenn nun aber an dieſen 
Erläuterungen des Wortes etwas Wahres iſt, ſo würde 
nun die Wiſſenſchaft von dem Zuſtand oder den Zuſtänden 
der Menſchheit nicht weniger ſein, als die Wiſſenſchaft, 
welche die Geſammtheit der gleichzeitigen Merkmale der 
Menſchheit, an ihrer Idee gemeſſen, darſtellt. Dieſer Auf— 
gabe wollen wir die Großartigkeit ihrer Conception nicht 
beſtreiten; wohl aber glauben wir, daß ſie die Bedingungen 
unſerer Erkenntniſſe, ſowie den jezigen Stand aller ſocialen 
und geſchichtlichen Wiſſenſchaften weit überfliegt, daß ſie, 
ſoweit ſie überhaupt als ausführbar erſcheinen kann, der 
Univerſalgeſchichte zuzutheilen iſt, daß ſie zu demjenigen, 
was ſich uns nachher als concreter Inhalt zu Ausfüllung 
jenes Rahmens darbietet, jenen bunten geographiſchen, 
ſtaatsrechtlichen, ſtatiſtiſchen Notizen in einem ſeltſam idealen 
Verhältniß ſteht. Sodann erfordert ſchon die Oekonomie 
des wiſſenſchaftlichen Lebens, für welches das Geſez der 
Theilung der Arbeit gleichmäßig gilt, keiner einzelnen Dis— 


253 


ciplin ein jo ausgedehntes und ungleichartiges Feld abzu— 
meſſen, daß keines Menſchenlebens Kraft und Dauer aus— 
reicht, es auch nur flüchtig zu durchwandern. Zuſtand der 
Menſchheit iſt ein ungreifbarer, unabſehbarer Begriff. 

Gleichwohl erhält ſich allen dieſen Einwendungen gegen— 
über doch das untrügliche Gefühl, daß es ſich hier nur um 
Irrthümer in den Ausdrücken, in der Formulirung handeln 
könne und daß es eine Betrachtungsweiſe des geſellſchaft— 
lichen Lebens geben müſſe, die, wenn ſie auch im weiteren 
Sinn des Worts eine geſchichtliche zu nennen ſein möge, 
doch nach Zweck und Art von der hiſtoriſchen Darſtellung 
zu unterſcheiden ſei. Werden doch ſchon pſychologiſch ganz 
andere geiſtige Kräfte in Bewegung geſezt, wenn ich ein 
Volk in lebendiger Gegenwart, in der Fülle und Breite 
ſeiner mannigfaltigen Thätigkeiten beobachte und zu begreifen 
ſuche, als wenn ich durch Schlußfolgerungen aus Denkmälern 
und Berichten vergangene Begebenheiten oder Zuſtände mich 
zu errathen bemühe. 

Den Ort und die Grenzen der hier in Frage ſtehen— 
den Disciplin haben wir vom Standpunkt unſerer Auf— 
faſſung aus ſchon im Obigen bezeichnet. Indem wir ſämmt— 
liche Wiſſenſchaften, die den ſocialen, geſchichtlich gewordenen 
Menſchen behandeln, in ſolche theilten, welche die natür— 
lichen Gruppen von Individuen, und in ſolche, welche die 
natürlichen Gruppen von Lebenskreiſen zum Gegenſtand 
haben, indem wir die natürlichen und gegebenen Gruppen 
von Individuen in den Völkern, ſofern ſie Staaten bilden, 
erkannten, indem wir ſodann bei jeder Wiſſenſchaft wieder 


254 


einen graphiſchen, hiſtoriſchen und ätiologiſchen oder ſyſte— 
matiſchen Theil unterſchieden, ſo entſpricht der graphiſche 
oder beſchreibende Theil der Völkerlehre genau demjenigen, 
was wir hier ſuchen. 

Wie heißt nun dieſe Wiſſenſchaft, da doch jedes Ding 
vor Allem eines Namens bedarf und bei einer Wiſſenſchaft 
die Namengebung dem Ritterſchlag gleicht, der ſie aus dem 
Stand der Knappen in den Kreis der Freien und Eben— 
bürtigen führt? Die Auswahl iſt auch nach Streichung 
der Statiſtik nicht klein: Völkerbeſchreibung, Voltskunde, 
Völkerkunde, Völkerzuſtandskunde, Staats- oder Staaten— 
kunde, Ethnographie, politiſche Geographie? Es iſt nicht 
gleichgültig, welchen von dieſen Namen man wählt, denn 
jeder gibt dem Grundgedanken eine gewiſſe Modification, 
die nicht ohne weiteren Einfluß bleiben kann. Die erſte 
Frage iſt: ſind die Völker oder Staaten das Object jener 
Wiſſenſchaft oder ſind beide neben einander zu nennen? 
Diejenigen, welche den Namen der Staatenkunde für hin— 
reichend halten, um Alles dasjenige zu umfaſſen, was man 
jener Wiſſenſchaft als ihren Stoff zuzuweiſen pflegt, müſſen 
den Begriff des Staats in einem univerſellen Sinne faſſen, 
den wir nicht für berechtigt halten können. Der Staat iſt 
die das Volksleben ordnende Gewalt, aber nicht das Ord— 
nende, ſondern das Geordnete bildet die Subſtanz einer 
Sache. Allerdings faßt der Staat die Totalität der menſch⸗ 
lichen Beſtrebungen unter einem ſchirmenden Dach und 
hinter ſchüzenden Mauern zuſammen und unterwirft ſie im 
Innern des Baus einer für Alle bindenden Hausordnung; 


ID 

a 

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* 


aber in die Beſchreibung eines Baus und ſeiner inneren 
Ordnung gehört darum doch nicht auch das Leben und der 
Charakter ſeiner Bewohner. Mit weit größerem Recht wird 
vielmehr, wer das Leben und den Charakter dieſer Be— 
wohner ſchildern will, auch das als ein für ſie charakte— 
riſtiſches Merkmal in ſeine Darſtellung mit aufnehmen, was 
für ein gemeinſchaftliches Wohnhaus ſie ſich gebaut und 
welche Hausordnung ſie ſich gegeben haben. Geboren werden 
und Sterben, Heirathen und Kindererzeugen, Kaufen und 
Verkaufen, das Feld beſtellen oder ein Gewerbe treiben, 
Erben und Erwerben, arm ſein oder reich, gebildet oder un— 
gebildet, wohlwollend oder herzlos, fromm oder unfromm ꝛc. 
ſind Ereigniſſe, Handlungen, Eigenſchaften des Lebens 
der Einzelnen, zu denen der Staat zwar mancherlei Be— 
ziehungen, von denen Notiz zu nehmen er mancherlei In— 
tereſſe haben mag, die aber, unabhängig von ihm, den In— 
halt des individuellen Lebens ausmachen und außer und 
vor dem Staat gedacht werden können. Das politiſche 
Leben iſt eine Seite des Volkslebens, nicht umgekehrt. 
tespublica res populi, ſagt Cicero mit einem keineswegs 
blos für Republiken wahren Ausdruck, fährt aber fort: 
populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo 
congregatus sed coetus multitudinis juris consensu et uti- 
litatis communione sociatus. In diefem Sinne war es, 
daß wir oben nicht einfach die Völker als das Object un— 
ſerer Wiſſenſchaft bezeichneten, ſondern die Völker, ſofern 
ſie Staaten bilden, ſich in der Spize einer einheitlichen, 
ordnenden Gewalt zuſammenfaſſen. Es iſt jedoch nur ein 


Mangel der deutſchen Sprache, daß wir dieſen Zuſaz zu 
machen hatten. Das deutſche Wort „Volk“ hat zwei ſehr 
verſchiedene Bedeutungen, eine ethnographiſche und politiſche. 
Die Griechen und Römer hatten dafür getrennte Bezeich— 
nungen, 89% s und % ios, gens (oder natio) und populus. 
Die Deutſchen ſind ein Volk im ethnographiſchen Sinne, 
aber nicht im politiſchen; die Schweizer, die Oeſterreicher 
ſind es im politiſchen, aber nicht im ethnographiſchen. Die 
Ethnographie wäre daher der Geſchichte, der politiſchen 
Geographie, oder der Anthropologie zuzuweiſen; für unſere— 
Wiſſenſchaft aber würden wir am liebſten den Namen 
„Demographie“ wählen. Für die ſchwächſte Einwendung 
gegen eine ſolche Benennung würden wir die halten, daß 
wo möglich ein deutſches Wort zu wählen wäre. Die 
Wiſſenſchaften ſind Gemeingut der Menſchheit und fragen 
nichts nach den Grenzpfählen der Sprachen und Völker; 
dies hat eben ſeinen Ausdruck in ihrer gemeinſamen, den 
alten Sprachen entnommenen Terminologie. Wollte jedes 
gebildete Volk die wiſſenſchaftlichen Ausdrücke in ſeine 
Sprache umprägen, ſo gäbe das nicht nur eine unnöthige 
Erſchwerung aller gelehrten Studien, ſondern auch eine 
wirkliche Gefährdung der Wiſſenſchaften ſelbſt, ſofern im 
Gebiet des abſtracten Denkens nur ſelten zwei Sprachen 
congruente Begriffe bilden. Eine einzelne Wiſſenſchaft iſt 
kein Gattungsbegriff; ſie iſt nur einmal vorhanden und 
fordert daher eine Art von nomen proprium für ihre Be— 
zeichnung. Der wiſſenſchaftliche Terminus will benennen, 
nicht definiren; und das leiſtet uns eben der Gebrauch der 


257 


Fremdſprache beſſer. Man denkt bei Caſus nicht an einen 
Fall, bei Dativ und Accuſativ nicht an ein Geben oder 
Anklagen; die deutſchen grammatiſchen Bezeichnungen aber, 
wie „Weſſenfall, Verhältnißwörter, Beiwörter, Fürwörter“ 
machen Anſpruch darauf, zugleich eine Erklärung der Sache 
zu geben, was doch nie möglich iſt und nur zur Verwirrung 
führt. So ſchlimm iſt es nun zwar nicht mit jenen aus 
Lehre, Kunde, Beſchreibung ꝛc. gebildeten Namen von Wiſſen— 
ſchaften, aber doch wird ſich neben den alten, weltgültigen 
Namen der Phyſik, Logik, Ethik, Geographie, ſelbſt die 
Naturlehre, Denklehre, Sittenlehre, Erdkunde, wiewohl dieſe 
Bezeichnungen noch zu den beſten gehören, nicht behaupten 
können. Wenn man nur die Eine Unbequemlichkeit nimmt, 
daß dieſe Wörter keine adjectiviſche Form haben! Wie 
unzähligemal iſt man veranlaßt, von einer phyſicaliſchen, 
ethiſchen, geographiſchen Unterſuchung, Frage, Schrift, Be— 
ziehung, Seite der Sache zu reden und wie kümmerlich 
muß man ſich da mit den deutſchen Wörtern behelfen! 
Ebenſo iſt es mit der Bildung der Subſtantiva: der Phy— 
ſiker, der Geograph, wo man dann jagen müßte: der Natur- 
lehrer, der Erdkundige. Beſonders ungeſchickt iſt hierin 
aber die Form, Kunde, da das Wort nun einmal urſprüng— 
lich ein Wiſſen' und nicht ein zu Wiſſendes, nicht eine 
Wiſſenſchaft bezeichnet, und dieſer Sinn beſonders in dem 
Adjectiv „kundig“ ausſchließlich zu Tage tritt. Zudem 
haben die Compoſita aus ſolchen Wörtern eine ſo ſchwache 
Cohäſion, daß, wenn ein Wort von ſtärkerer Verwandtſchaft 
in ihre Nähe kommt, ſie eine Neigung zeigen, ihre Ver— 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 17 


258 


bindung wieder aufzulöſen. Statt „Volkskunde, Staats— 
kunde von Bayern“ möchte man lieber ſagen: Kunde vom 
bayeriſchen Volk oder Staat, wenn das Wort Kunde dieſe 
Iſolirung vertrüge und damit nicht in ſeine Grundbedeu— 
tung zurückfiele. Noch weniger aber ließe ſich ſagen: 
Dazu kommt, 
daß die griechiſchen Namen ſchon durch ihre Endungen 
— graphie, —logie ꝛc. ꝛc. den methodologiſchen Charakter 
der einzelnen Wiſſenſchaften andeuten, wenn auch zum Theil 
nur ihre erſte hiſtoriſche Geſtalt. Erdkunde könnte ebenſo— 


Völkerkunde, Staatenkunde von Bayern. 


gut Geologie als Geographie bedeuten, und ſo muß man 
auch fragen: iſt die Volkskunde eine beſchreibende oder eine 
ſyſtematiſche Wiſſenſchaft vom Volk, eine Demographie oder 
Demologie? Der Ausdruck „Beſchreibung“ endlich läßt 
ſich im Sinn von einer beſchreibenden Wiſſenſchaft über⸗ 
haupt nicht ohne Zwang gebrauchen und theilt außerdem 
faſt alle Mängel jener Compoſita von „Lehre“ und „Kunde.“ 
Neue Namen einer Wiſſenſchaft vorzuſchlagen, iſt ſtets ein 
mißliches und in der Regel verlorenes Unternehmen, aber 
das dürfte aus den vorſtehenden Bemerkungen zum Min— 
deſten erhellen, daß in den Namen noch viel Verwirrung 
und Unklarheit herrſcht und daß dabei allerhand tiefer 
liegende Gebrechen zu Tag treten. 

Eine beſondere Erwähnung erfordert noch das Ver— 
hältniß dieſer Völkerkunde oder Demographie zu der poli— 
tiſchen Geographie. Früher pflegte man unter dieſem weiten 
Namen alles das unterzubringen, was man jezt Statiſtik, 
Völker- und Staatenkunde nennt. Später hat man ihr 


259 
nichts von allem dem mehr gelaſſen und überhaupt die 
wiſſenſchaftliche Berechtigung dieſer Disciplin in Frage ge— 
ſtellt. Es iſt jedoch ſeit Humboldt, Ritter, Rougemont ze. 
nicht mehr zweifelhaft, daß es auch eine Geographie des 
Menſchen gibt; nur über ihre Abgrenzung ſteht noch wenig 
feſt. Geographie und Geſchichte, der Planet und die Menſch— 
heit vertreten zuſammen die Totalität aller irdiſchen Er— 
ſcheinungen. Es verſteht ſich, daß beide in mannigfaltiger 
Wechſelbeziehung zu einander ſtehen. Die Verbindung be— 
ſteht aber nicht in Einer beide Gebiete combinirenden Wiſſen— 
ſchaft, ſondern ſie kommt dadurch zu Stande, daß jede jener 
beiden Geſammtwiſſenſchaften einen Zweig treibt, der dem 
andern Theil entgegenwächſt und ſich mit ihm verſchlingt. 
Der Zweig der Geographie iſt derjenige Theil derſelben, 
welcher die Erde als Wohnſiz des Menſchen und die Wir— 
kungen betrachtet, welche ſie in dieſer Eigenſchaft theils 
ausübt, theils erleidet. Sie zeigt einerſeits, an anthropo— 
logiſche Ausgangspunkte anknüpfend, in einer der ſoge— 
nannten Pflanzen- und Thiergeographie correſpondirenden 
Weiſe die Verbreitung der Menſchheit unter dem Einfluß 
der Zonen, der großen Continentalcharaktere, des Klima's ıc., 
die Verbreitung der Nacen und Völkerſtämme, der Sprachen, 
Kulturverhältniſſe u. ſ. w. und heißt in dieſer Eigenſchaft 
Geographie des Menſchen; ſodann zeigt ſie uns die einzelnen 
Länder als die Territorien beſtimmter Völker und Staaten 
und heißt in dieſer Beziehung politiſche Geographie; end— 
lich betrachtet ſie die durch die Thätigkeit der Menſchen 
beſonders markirten Punkte der Erdoberfläche, die einzelnen 
I 


260 
Wohnpläze und heißt in dieſer Eigenſchaft Topographie. 
Während nun in dieſen Disciplinen ſtets vom Areal und 
ſeinen Eigenſchaften ausgegangen wird, betrachtet der von 
dem Stamm der Geſchichtswiſſenſchaften aus ſich abzweigende 
Aſt, die Völkerkunde oder Demographie, zum Theil die— 
ſelben Erſcheinungen, nur nicht als Merkmale der Länder, 
ſondern der Völker. Sie ſchildert ein concretes Volksleben 
als die Geſammtwirkung geographiſcher und geſchichtlicher 
Vorbedingungen; ſie zeigt uns, was das Volk unter der 
Gunſt und Ungunſt ſeines heimathlichen Bodens geworden 
iſt, wie es ihn ſelbſt geſtaltet, ſeine Schäze ausgebeutet, 
ſeine Mängel ergänzt, ſeine Berge und Ströme überwältigt, 
ſeine Pflanzendecke und Thierbelebung verwandelt, ihn mit 
Städten und Dörfern beſäet, mit Straßen und Kanälen 
durchzogen, und ſo gleichſam zu einem beſeelten Raum, 
zum Abdruck ſeines Geiſtes und Willens ungeſchaffen hat. 
Es zeigt ſich ſchon hieran, wie nah jene beiden Wiſſen— 
ſchaften verwandt ſind und wie die Verſchiedenheit mehr 
in dem Geſichtspunkt als in dem Object der Betrachtung 
liegt. So z. B. wird die politiihe Geographie die Ergeb— 
niſſe des Bergbaus, der Landwirthſchaft unter dem Ge— 
ſichtspunkt von Landesprodukten betrachten; die Volkskunde 
dagegen wird den gleichen Gegenſtand als eine Seite der 
wirthſchaftlichen Thätigkeit des Volkes und im Zuſammen— 
hang mit andern Seiten des Volkslebens behandeln. Das— 
ſelbe Object iſt ſo in einem Fall ein Merkmal des Landes 
gegenüber von andern Ländern, im andern ein Merkmal 


261 


der wirthſchaftlichen Thätigkeit des Volkes gegenüber von 
andern Thätigkeiten. 

Den Begriff Geſchichte im weitern Sinn des Wortes 
genommen iſt die Volkskunde oder Demographie ſelbſt eine 
Geſchichtswiſſenſchaft, im engern Sinne ſteht ſie der eigent— 
lichen Geſchichtſchreibung als eine Hilfswiſſenſchaft zur Seite. 
Das Bedürfniß der wiſſenſchaftlichen Arbeitstheilung bringt 
es mit ſich, daß der Geſchichtſchreiber, der uns das Völker— 
und Staatenleben in ſeiner zeitlichen Entwicklung ſchildert, 
ſeinen umfaſſenden Gegenſtand nicht zugleich in der ganzen 
Breite ſeiner Erſcheinung ſtetig fortführen kann, daß er, 
auf die typiſchen und hervorragenden Ereigniſſe und Per— 
ſönlichkeiten angewieſen, nicht zugleich auch dasjenige uns 
vergegenwärtigt, was ſich unmerklich aus einer unendlichen 
Menge einzelner, für ſich bedeutungsloſer Thätigkeiten der 
Individuen zu einer Maſſenwirkung zuſammenſezt. Der 
Hiſtoriker gleicht darin dem dramatiſchen Dichter, der uns 
eine bedeutungsvolle Handlung an Perſonen, die unſer 
Intereſſe erregen, in charakteriſtiſchem Detail vor Augen 
führt, dabei aber dem Leſer oder Zuhörer überläßt, ſich 
den Schauplaz und Boden der Begebenheit mit allerlei 
begleitenden Nebenumſtänden hinzuzudenken oder mit Hilfe 
der theatraliſchen Scenerie zu ergänzen. So bildet die 
Demographie gleichſam den Hintergrund, in welchen der 
Hiſtoriker ſein Gemälde einzeichnet. Eine Geſchichtſchreibung, 
die den unabſehbaren demographiſchen Stoff ſtets in ſeiner 
ganzen Breite mit ſich fortwälzen wollte, müßte verwirrend 
und unverſtändlich werden. Sie kennt kein werthvolleres 


Material, wird aber doch nur mit Auswahl und bei be- 
ſonderem Anlaß davon unmittelbaren Gebrauch machen 
dürfen. Es wird immer wieder die Kunſt des Geſchicht— 
ſchreibers bleiben, das von der Demographie auf dem Wege 
der univerſellen Beobachtung gewonnene Bild des Volks— 
lebens in typiſchen Thatſachen abzuſpiegeln. 

Wenn wir nun endlich auf den Ausgangspunkt unſerer 
Unterſuchung, den Begriff der Statiſtik zurückſehen, ſo be— 
darf es nach dem Obigen keiner nähern Ausführung mehr, 
in welchem Verhältniß jene Demographie zu der Statiſtik 
in unſerem Sinne ſteht. Sie iſt ein ſelbſtändiger Wiſſens— 
zweig, der an der Statiſtik ſeine vornehmſte und unent— 
behrliche Hilfswiſſenſchaft hat und ohne ſie nicht zu einer 
ſelbſtändigen Entwicklung hätte gelangen können. Gleich— 
wohl fallen beide Disciplinen keineswegs zuſammen, ſofern 
einerſeits die Demographie ihren Stoff auch noch aus 
mancherlei andern Quellen ſchöpft, und andererſeits die 
Statiſtik auch noch mancherlei andern Wiſſenszweigen in 
gleicher Weiſe Dienſte leiſtet. Nur der Umſtand, daß die 
Statiſtik bis jezt vorherrſchend in den Händen der Staats— 
behörden lag, und darum vorzugsweiſe für Zwecke der 
Staatskunde in Anſpruch genommen worden iſt, erklärt es, 
wie der politiſche Inhalt und das methodologiſche Verfahren, 
durch das derſelbe großentheils ermittelt wird, anfänglich 
als Eine Wiſſenſchaft erſcheinen konnte und mußte. 

Hiemit ſind wir zugleich am Ziele unſerer Unter— 
ſuchung angelangt. Das was bisher Statiſtik hieß, hat 
ſich uns hiernach in zwei getrennte Disciplinen aufgelöst, 


263 


eine allgemeine methodologiſche Hilfswiſſenſchaft der Er— 
fahrungswiſſenſchaften vom Menſchen, welcher wir, dem 
gemeinen Sprachgebrauch folgend, den Namen Statiſtik 
beilegten, und eine ſelbſtſtändige, auf dem Grenzgebiet von 
Geographie und Geſchichte gelegene, Wiſſenſchaft, für die 
wir den Namen Demographie gewählt haben, die aber auch 
bei entſprechender Erläuterung der Begriffe Völker- oder 
Staaten-, Volks- oder Staatskunde genannt werden mag. 
Unſere Auffaſſung trifft hienach in dem Grundgedanken 
mit der Knies'ſchen Anſicht zuſammen, nur daß wir die 
beiden Glieder weſentlich anders charakteriſiren und anders 
benannt haben. Der Gang unſerer Unterſuchung hat uns 
wiederholt genöthigt, einen höhern Standort und eine weitere 
Rundſchau zu gewinnen, als die beſchränkte Aufgabe Man— 
chem zu erfordern ſcheinen mag. Wenn es ſich aber darum 
handelt, einer noch jungen Wiſſenſchaft ihren feſten Siz in 
dem akademiſchen Saale anzuweiſen, ſo iſt das ohne einige 
Orientirung über die ganze Anordnung dieſes Saales nicht 
wohl möglich. Nun iſt aber nicht wohl zu läugnen, daß 
auf demjenigen Flügel, wo die ſocial-politiſchen Wiſſen— 
ſchaften ihre Size haben, noch eine ziemliche Unordnung 
zu Hauſe iſt, indem faſt jeder neue Forſcher die Pläze 
wieder anders vertheilt und mit anderen Namen belegt. 
Und da unter den uns bekannten Gruppirungen des wiſſen— 
ſchaftlichen Stoffes keine ſich unter diejenigen Geſichtspunkte 
einfügen ließ, die wir nun einmal in dieſer Sache als die 
maaßgebenden betrachten mußten, ſo blieb nichts übrig, 
als theilweiſe ſelbſt wieder eine neue Gruppirung zu ver— 


juchen. Damit iſt nun aber freilich die Schwierigkeit, wie 
die Anfechtbarkeit unſeres Verſuches, die Aufgabe zu löſen, 
weſentlich verſtärkt worden, zumal da die Kritik ſo ſelten 
geneigt iſt, dem Gedankengang eines Schriftſtellers genau 
zu folgen und ſo gerne ſich an das zur Seite Liegende 
und minder Weſentliche anheftet. 

Um aber eine Unterſuchung über Statiſtik mit einer 
ſtatiſtiſchen Notiz zu ſchließen, ſo gibt es, wenn wir Nichts 
übergangen und recht gezählt haben, bis jezt 62 verſchiedene 
Erklärungen über den Begriff der Statiſtik und die unſrige 
wäre dann die 63te. Da wir nun keinen Anſpruch darauf 
machen, das ſeltſame Räthſel ganz gelöst, ſondern nur, 
das Ungenügende der ſeitherigen Löſung neu beleuchtet und 
auf einige noch unbeachtete Seiten der Sache hingewieſen 
zu haben, und da der Drang nach klarer Erkenntniß, der 
„alte Maulwurf“ nach Hegels Ausdruck, keine Ruhe kennt 
und ſich auch vor dem Prädikat der „Wunderlichkeit“ und 
„pſychologiſchen Merkwürdigkeit“ nicht ſcheut, ſo begrüßen 
wir unſern Nachfolger, Nr. 64, mit dem alten akademiſchen 
Wort, das auf dem Felde der wiſſenſchaftlichen Forſchung 
ſeine ſchönſte Bedeutung hat: vivat sequens! 


Zur Cheorie der Statiſtik. 


II. 1874. 


Wenn ich vor zehn Jahren, mit mancherlei Arbeiten 
der praktiſchen Statiſtik beſchäftigt, verſucht habe, mir ſelbſt 
und Andern in der voranſtehenden Weiſe den eigenthüm— 
lichen Charakter der Statiſtik und ihre Stellung in dem 
Zuſammenhang und Ganzen der Wiſſenſchaften deutlich zu 
machen, ſo habe ich in der Zwiſchenzeit durch akademiſche 
Vorleſungen über Statiſtik vielfältigen Anlaß gefunden, 
von verſchiedenen Geſichtspunkten aus auf die theoretiſchen 
Fragen und jene früheren Unterſuchungen zurückzukommen. 
Hiebei hat in den Hauptpunkten die frühere Auffaſſung 
auch einer erneuerten Prüfung Stand gehalten, im Ein— 
zelnen jedoch wurde ich zu mancherlei Ergänzungen und 
Berichtigungen von theilweiſe eingreifenderer Bedeutung ge— 
führt, welche als Nachtrag hier zuſammengeſtellt zu finden 
vielleicht dem Leſer des erſten Aufſazes willkommen ſein 
wird, wenn ſich auch im Intereſſe der Deutlichkeit einige 
kleine Widerholungen nicht ganz werden vermeiden laſſen. 

1. Das was man Statiſtik und das, was man ſtati— 
ſtiſche Methode zu nennen pflegt, iſt genau zu unterſcheiden 
und ſtreng auseinander zu halten. Statiſtik iſt ein Zweig 


der Staatswiſſenſchaften (im weiteren Sinn des Worts) 
und wird es immer bleiben müſſen, wie man ſie auch näher 
formuliren und umgrenzen mag. Jene eigenthümliche Me— 
thode der Forſchung aber, deren weſentlichſtes Merkmal 
wir in die rationelle Durchzählung und Rubricirung vieler 
Einzelfälle ſezen, iſt zwar hiſtoriſch zuerſt im Dienſte ſtati— 
ſtiſcher, und ſomit ſtaatswiſſenſchaftlicher Zwecke angewendet 
worden und hat, weil ihr für dieß Gebiet die hervor— 
ragendſte Bedeutung zukommt, den Namen der ſtatiſtiſchen 
erhalten; ſie iſt aber in ihrer Anwendbarkeit und ihrem 
Weſen nach keineswegs auf dieſen Erfahrungskreis be— 
ſchränkt, ſondern von univerſaler Bedeutung. Sie hat, 
wie alle beſonderen Formen der wiſſenſchaftlichen Methodik, 
ihren Plaz in der Logik. 

Um den Inhalt eines Begriffs, welcher mehrere oder 
viele Individuen oder Einzelfälle in ſich begreift, zu be— 
ſtimmen, kannte die Logik zuvor kein Mittel, als diejenigen 
Eigenſchaften, welche allen Individuen oder Einzelnfällen 
conſtant und übereinſtimmend zukamen, im Wege der In— 
duction zu finden und als die Merkmale des Begriffs zu— 
ſammenzuſtellen. Das, was ſich in dem Einen Fall ſo, 
im andern anders vorfand, alſo die variablen Momente 
wußte man wiſſenſchaftlich nicht zu verwerthen; man ließ 
ſie entweder ganz unbeachtet zur Seite liegen oder that 
man der vorkommenden Abweichungen nur in vagen und 
unbeſtimmten Faſſungen Erwähnung, indem man z. B. 
ſagte: das Schwein bringe auf Einen Wurf 3—15 Junge 
auf die Welt; die Pferde ſeien von verſchiedener Farbe; 


267 
es gebe Braune, Schimmel, Rappen, Fuchſen, Iſabellen. 
Die Menſchen ſterben in jedem Lebensalter, am häufigſten 
in der erſten Kindheit und im Greiſenalter. 

Die ſtatiſtiſche Methode tritt nun für die empiriſchen 
Wiſſenſchaften eben da ein, wo die Induction, der Schluß 
von dem typiſchen Einzelfall auf andere Fälle die Dienſte 
verſagt. Ihr Weſen beſteht darin, daß ſie durch das Mittel 
der Maſſenbeobachtung und Durchzählung auch die variablen 
Momente der Beobachtungsobjecte zu characteriſtiſchen und 
wiſſenſchaftlich brauchbaren Merkmalen der Begriffe zu er— 
heben vermag. Sie zeigt, daß feſte Maaßverhältniſſe auch 
jenes Gebiet der fluctuirenden, von Fall zu Fall verſchie— 
denen Erſcheinungen beherrſchen, daß hier nicht Zufall und 
Willkühr, ſondern nur eine verwickeltere Miſchung und 
Combination der Kräfte und Urſachen walte. Es dient 
offenbar zur Characteriſtik verſchiedener Geſellſchaftskreiſe, 
wenn ſich zeigen läßt, daß in einem jährlich auf 1000, im 
andern auf 10000, im dritten auf 20000 Individuen Ein 
Fall eines Selbſtmords, eines Todſchlags oder daß hier 
auf 1000 Menſchen 18, dort 36 Sterbfälle treffen. 

Dieſe Methode greift nun überall hin, wo es variable 
Momente in den für die Betrachtung zuſammengefaßten 
Erſcheinungen giebt; und ſolche giebt es allenthalben und 
in allen Reichen der Natur. Cs kann ſich auch überall ein 
wiſſenſchaftliches Intereſſe an dieſe variablen Elemente 
knüpfen. Man könnte nach Umſtänden ſelbſt Sandkörner 
nach Größe und Geſtalt zu zählen und zu ſortiren für 
werthvoll achten müſſen. Es iſt zur Zeit nicht abzumeſſen, 


268 

zu welcher Bedeutung die Methode, auch die variablen 
Seiten der Erſcheinungen zum Gegenſtand exacter Forſchung 
zu erheben, auf den verſchiedenen Gebieten der Naturwiſſen— 
ſchaften gelangen kann. Bis jezt findet ſie nur in einem 
Theile derſelben, wie in der Meteorologie, Phyſiologie und 
Mediein eine umfaſſendere, und in ſtetigem Wachsthum be— 
griffene Anwendung. 

2. Wenn dieß richtig, wenn die ſogenannte ſtatiſtiſche 
Methode ein logiſcher Begriff und das Mittel iſt, da wo 
die Induction ihren Dienſt verſagt und die variablen Ele— 
mente der Beobachtungsobjecte beginnen, durch univerſelle 
oder Maſſenzählungen der verſchiedenen Variationsfälle zu 
Erfahrungsſäzen von numeriſcher Faſſung und zu Schlußfol— 
gerungen aus denſelben zu gelangen, ſo liegt darin von 
ſelbſt, daß nicht alle auf ſolchem Wege gefundenen That— 
ſachen oder Wahrheiten zu Einer Wiſſenſchaft, die den Namen 
Statiſtik oder irgend welchen ſonſt zu führen hätte, ver— 
einigt werden können. Die Bemerkungen, welche Roſcher 
über dieſen Punkt macht und gegen welche oben Einwen— 
dungen erhoben wurden, ſind als ganz zutreffend zu er— 
kennen. Die Eintheilung der Wiſſenſchaften hat zu ihrem 
Princip die ſachliche Verſchiedenheit oder Zuſammengehörig— 
keit der Objecte, nicht die logiſchen Mittel der Unterſuchung; 
ſo wenig ſich Alles in Eine Disciplin zuſammenfaſſen läßt, 
was durch Induction, durch Analogie, durch Experiment 
gefunden wird, ſo wenig iſt, was die erwähnte ſtatiſtiſche 
Methode auf den verſchiedenen Wiſſensgebieten zu Tag 
fördert, in den Rahmen einer gemeinſamen Wiſſenſchaft 


269 

einzureihen. Es müßte eine höchſt monſtröſe Geſtalt einer 
wiſſenſchaftlichen Disciplin entſtehen, wenn man Ernſt da— 
mit machen wollte, auch nur, etwa die Iſothermen und 
Iſotheren, die Ergebniſſe der Züchtungsverſuche von Haus— 
thieren, der verſchiedenen Heilmethoden von Fieberkranken, 
die Mortalitätstafeln, die Frequenz der Verbrechen und 
Selbſtmordfälle, die ſocialen Wirkungen der verſchiedenen 
Agrarſyſteme in Einem Buche zu behandeln. Die Statiſtit 
kann unmöglich die Wiſſenſchaft von allem demjenigen ſein, 
was ſich durch die ſtatiſtiſche Methode ermitteln läßt. 

3. Dieſe Methode dient allen empiriſchen Wiſſenſchaften, 
welche Gruppen von ähnlichen Objecten zum Gegenſtand 
ihrer Unterſuchung machen; ſie hat aber nicht zu allen das 
gleiche Verhältniß, nicht für alle die gleiche Bedeutung. 
Auf dem Felde der Naturwiſſenſchaften wird immer die 
Induction den Primat behaupten und jene Methode nur 
einen ſecundären Plaz einnehmen können. Hier herrſchen 
die Gattungsbegriffe und die conſtanten Merkmale der 
Einzelfälle. Neben den Gattungsbegriffen haben wir aber 
die Collectivbegriffe zu unterſcheiden. Von der Gattung 
kann ich nichts ausſagen, als was von jedem Einzelnen 
innerhalb der Gattung gilt; der Gattungsbegriff iſt der 
des typiſchen Individuums oder Einzelfalls, und nicht da— 
neben noch etwas Beſonderes für ſich. Das Bild des 
Löwen, der Roſe iſt das eines Löwen, einer Roſe u. ſ. f. 
Ebenſo iſt es, wenn das unter den Gattungsbegriff Fallende 
nicht Individuen, ſondern Vorgänge, Veränderungen an 
den Dingen ſind. Das Geſez oder die Regel, welche hier 


270 
den Gattungsbegriff bildet, knüpft an beſtimmte Urſachen 
beſtimmte Wirkungen und gilt gleichmäßig für alle von der 
Formel des Geſezes betroffenen Fälle; es ignorirt ſeiner— 
ſeits die etwa im Einzelfall hinzutretenden variablen Fac— 
toren und überläßt dieſe wieder einem etwaigen weiteren 
und abgeſonderten Inductionsverfahren. Dieß iſt der 
Grund, warum der Induction eine ſo große Bedeutung 
zukommt; wenn das Allgemeine nur ein typiſches Einzelnes 
iſt, ſo muß es aus der Beobachtung des Einzelnen auch 
erkannt werden können. In dem Collectipbegriff dagegen 
wird unter ſich Verſchiedenes, um irgend eines gemeinſamen 
Merkmals willen in Eine Gruppe zuſammengefaßt. Das 
Intereſſe iſt auf dasjenige gerichtet, was von der Gruppe 
als Ganzem' auszuſagen iſt, nicht was von jedem einzelnen 
Glied der Gruppe gelten mag. Was ich vom Wald ſage, 
gilt nicht von dem einzelnen Baum, was ich über das 
Publikum eines Theaters, von der Menge, vom Volk, von 
einer Armee urtheile, ſoll nicht auf die Individuen im 
Einzelnen anwendbar ſein. Conſtante Merkmale ſind hier 
gar nicht vorhanden, außer dem einzigen, um deſſen willen 
der Begriff gebildet und benannt worden iſt. Wenn über— 
haupt ſonſtige Merkmale ſollen gewonnen werden können, 
ſo müſſen ſie variabler Natur, nicht allgemein, ſondern 
nur partiell vorhanden, nur in einem quantitativ begrenzten 
Prädicat faßbar, ſomit nur der Durchzählung, der ſtatiſti— 
ſchen Methode zugänglich ſein. 

4. Wo dieſe Collectivbegriffe nichts weiter als eben 
die Vielheit ausdrücken, einen Pluralis in eine Singularis— 


271 
form umzudeuten, jtatt Tauſend das Tauſend zu jagen 
ſcheinen, koͤnnen ſie für die menſchliche Erkenntniß und 
Wiſſenſchaft keine ſonderliche Bedeutung in Anſpruch nehmen. 
Zwar iſt man auch noch innerhalb der Naturwiſſenſchaften 
veranlaßt, von Heerden, Schwärmen, von Wald und Ge— 
birge Merkmale aufzuzählen, die nur vom Ganzen, nicht 
von den Einzelnen gelten können, die ſogar auf einen von 
den Gattungsbegriffen ganz abweichenden Begriff hindeuten, 
der doch auch wieder mit dem logischen Verhältniß des 
Ganzen und der Theile nicht zuſammenzuſtellen oder zu 
verwechſeln iſt. Ihre wahre und volle Bedeutung gewinnen 
dieſe Collectivbegriffe aber Brit für diejenigen Wiſſenſchaften, 
welche den Menſchen und die geſellſchaftliche Gliederung 
und Gruppirung des Menſchen zu ihrem Gegenſtand haben. 
Die Merkmale der menſchlichen Gattung werden in beſon— 
deren Wiſſenſchaften, wie der Phyſiologie und der Pſycho— 
logie behandelt. Innerhalb der Gattung aber ſtoßen wir 
nicht auf Arten und Varietäten, wie wir bei den Hunden 
die Pudel, Doggen, Spitzer, Dachshunde u. ſ. w. unter— 
ſcheiden. Hier combiniren ſich phyſiſche und pfſchiſche, 
geographiſche und hiſtoriſche, wirthſchaftliche und ethiſche 
Momente ſo mannigfaltig, daß uns die Gattungsbegriffe 
ganz verlaſſen, und an ihre Stelle der Begriff der Gruppe, 
als eine beſondere, in ſich ſelbſt auch wieder gegliederte 
Form der Collectivbegriffe tritt. Es giebt natürliche 
Gruppen der menſchlichen Geſellſchaft, wo die Einzelnen 
lebendige Fühlung mit einander haben, in Wechſelwirkung 
unter ſich ſtehen und durch den Maſſeneffekt dieſer Einzel— 


272 

wirkungen der ganzen Gruppe einen beſtimmten Charakter 
leihen, der dann auch wieder auf die einzelnen Glieder 
zurückwirkt; es iſt eine Intereſſengemeinſchaft vorhanden, 
die die einzelnen ſei es in umfaſſenderer oder nur partieller 
Weiſe in eine reale Verbindung bringt. Dahin gehören 
die Begriffe von Familien, Geſchlechtern, Stämmen und 
Völkern, von Gemeinden und Gauen, von Ständen und 
Berufs-, von Religionsgenoſſenſchaften, von Vereinen ver⸗ 
ſchiedener Art. Daneben aber giebt es künſtliche Grup— 
pen, die nur dem Erkenntnißzweck dienen ſollen, deren 
Begriffe wir nur auf die Gemeinſchaft Eines oder weniger 
Merkmale gründen, wo die einzelnen Glieder ſich unter 
ſich nicht näher angehen und aufeinander wirken, bei welchen 
aber ein Intereſſe beſteht zu wiſſen, ob das Eine bekannte 
Merkmal, auf dem der Begriff der Gruppe ruht, auch noch 
weitere gemeinſame oder vorherrſchende Merkmale neben 
ſich hat. Dahin gehören Begriffe wie z. B. die der Gleich— 
altrigen, der Verheiratheten, der Ledigen, der Blinden, der 
Selbſtmörder u. ſ. w. Eine weitere dritte Klaſſe von ge— 
ſellſchaftlichen Collectivbegriffen faßt nicht die Subjecte, 
ſondern die Objecte zuſammen, nicht Individuen, ſondern 
Vorgänge, Thatſachen, welche für das geſellſchaftliche Leben 
Bedeutung haben, z. B. Geburten, Sterbfälle, Todesurſachen, 
Verbrechen, Brandfälle, Erndteerträge, Hagelbeſchädigungen, 
um die gemeinſamen und abweichenden Merkmale derſelben 
zu unterſcheiden. 

5. Dieſe ſocialen Gruppenbegriffe bilden die 
höchſte, wichtigſte, der wiſſenſchaftlichen Behandlung fähigſte 


und bedürftigſte Unterart der Collectivbegriffe. Sie greifen 
über die Kategorie der bloßen Vielheit und Pluralität 
hinaus; der Unterſchied von den Gattungsbegriffen iſt am 
ſtärkſten ausgeprägt, indem der Gruppe als ſolcher charac— 
teriſtiſche Merkmale zukommen, welche nicht bei den Indivi— 
duen oder Einzelfällen zutreffen, ſondern nur als Maſſen— 
wirkungen in numeriſcher, quantitativer Begrenzung zu 
faſſen ſind, bei welchen die variablen oder partiellen Er— 
ſcheinungen das Ueberwiegende und Bedeutungsvolle, die 
conſtanten das Unerhebliche und Verſchwindende ſind. Die 
Induction iſt zwar nicht ausgeſchloſſen, ſofern auch aus 
bedeutenden und hervorragenden Einzelfällen Schlüſſe ge— 
zogen werden können, aber ſie tritt gegen die methodiſche, 
Maſſenbeobachtung und Durchzählung in den Hintergrund, 
während bei den Gattungsbegriffen das Verhältniß ein 
umgekehrtes iſt. Die ſtatiſtiſche Methode iſt ſo das weſent— 
liche und unentbehrliche Mittel, um zu Merkmalen ſocialer 
Gruppenbegriffe zu gelangen. 

Es giebt zwei Grundformen, in welchen dieſe Gruppen— 
merkmale ihren Ausdruck finden. Es kann ſich um con— 
ſtante, allen Gliedern der Gruppe zukommende Merkmale 
handeln, bei welchen der variable Faktor nur in den Neben— 
umſtänden und Modalitäten beſteht. Allen Menſchen kommt 
z. B. ein beſtimmtes Maaß von Körpergewicht und Größe, 
von Puls und Athemfrequenz zu, aber jedem wieder ein 
anderes; alle ſterben in einem beſtimmten Lebensalter, aber 
nicht im gleichen. Hier wird nun durch die Maſſenbeob— 
achtung für eine Gruppe ein Durchſchnittsmaaß gefunden, 


8 8 FT} 2 
Rümeliu, Reden u. Aufſätze. 18 


die Summe der Einzelgrößen dividirt durch die Zahl der 
Fälle. Es entſteht ſo ein typiſches Individuum, wie bei Gat— 
tungsbegriffen, der moyen homme von Quetelet, das als 
characteriſtiſches Merkmal der ganzen Gruppe dient. Das 
Prädikat hat hier die Form einer beſtimmten, abſoluten 
Zahl. 

Die andere Art betrifft Eigenſchaften oder Thatſachen, 
welche nicht bei allen Individuen, ſondern nur bei einem 
Theil derſelben gelten. Hier giebt die Maſſenbeobachtung 
die Zahl der Fälle, in welchen das Merkmal zutrifft oder 
nicht, als einen Bruch des Ganzen, in der Regel als pro— 
centale Ziffer; alſo z. B. auf je 1000 Perſonen treffen 
jährlich 24 Sterbfälle, 36 Geburten, 10 Trauungen; unter 
je 100 ſind 34 verheirathet u. ſ. w. Dieß numeriſche 
Verhältniß bildet dann das characteriſtiſche Merkmal der 
Gruppe, das zur Vergleichung mit andern Gruppen und 
zu weiteren Schlußfolgerungen dient. 

Die beiden Grundformen laſſen ſich noch in mancherlei 
Arten combiniren. 

6. Der Staat iſt kein Collectivbegriff und keine ſociale 
Gruppe. Mag man ihn eine Ordnung, ein Inſtitut, eine 
Perſönlichkeit, einen Organismus oder wie immer nennen, 
er iſt keine Vielheit von ſelbſtändigen, einander coordinirten 
Dingen, kein Verein, ſondern eine reale, individuelle Ein— 
heit, ein Ganzes, deſſen Theile gegliedert und in einander 
verkettet, in aufſteigender Reihe von unter- und übergeord— 
neten Organen, in die pyramidale Spize eines lebendigen 
Willens auslaufen. Die Merkmale des Staats beſtehen 


273 


nicht in Durchſchnitts- oder Bruchziffern; ſie werden nicht 
durch vergleichende Zählungen gefunden, die ſtatiſtiſche 
Methode hat nichts mit ihnen zu ſchaffen. Allerdings 
kommen in der Beſchreibung eines Staats auch Zahlen 
vor; die Einnahmen, Ausgaben, Schulden, Heer und Marine 
repräſentiren beſtimmte Summen von Thalern, Männern, 
Pferden, Schiffen; dieß ſind aber keine Ziffern, die mit 
jener ſtatiſtiſchen Methode zu thun hätten. Denn nicht 
alles Zählen iſt Statiſtik, nur dasjenige, welches aus der 
vergleichenden Maſſenbeobachtung Gruppenmerkmale in nu— 
meriſcher Faſſung findet. Daß der engliſche Staat 785 
Millionen & Schulden, das deutſche Reich im Friedensſtand 
400000 Soldaten hat, iſt eine Notiz von ganz gleichem 
Charakter, wie daß der Montblanc 14800 P. Fuß hoch iſt 
oder ſeit Chriſti Geburt 1874 Jahre abgelaufen ſind. Nur 
das iſt richtig, daß in ſolchen Ziffern, welche zur Beſchrei— 
bung des Staats dienen, mittelbar auch geſellſchaftliche 
Thatſachen von ziffermäßiger ſtatiſtiſcher Faſſung enthalten 
ſind. Das Reich beſtimmt, daß von jedem Centner Speiſe— 
ſalz 2 Thaler Steuer zu zahlen ſind, es kann aber nicht 
beſtimmen, welchen Ertrag dieſer Steuerſaz zu liefern hat; 
wenn die Steuer nun 11 Mill. Thaler einbringt, wenn 
6 Millionen Centner Salz jährlich conſumirt werden 
und auf den Kopf ein Verbrauch von 16 1 fällt, ſo ſind 
dieß geſellſchaftliche Thatſachen oder Merkmale. Auch die 
Einwohnerſchaft gehört zu den Merkmalen der Geſellſchaft, 
nicht des Staates. Der Staat hat keine Einwohner und 
die Zahl ſeiner Unterthanen iſt für ihn etwas Zufälliges, 
18 * 


276 
wenn auch praktiſch ſehr Wichtiges. Die wejentlichen Merk: 
male des Staats liegen in ſeiner Verfaſſung und Verwal— 
tung, ſowie in ſeiner geſchichtlichen Entwicklung. Das ſind 
der ſtatiſtiſchen Methode ganz fremde Gebiete. 

7. Bei der Frage, wie ſich die Geſellſchaftswiſſenſchaften 
zu den Staatswiſſenſchaften verhalten, ob ſie dieſen coor— 
dinirt oder ſubordinirt ſeien und überhaupt einen ſelbſtän— 
digen Plaz in der Reihe der Wiſſenſchaften einnehmen, 
pflegt das nicht beachtet zu werden, daß Staat und Ge— 
ſellſchaft zwei Begriffe von ganz verſchiedenem logiſchen 
Grundcharacter ſind und ganz verſchiedene Unterſuchungs— 
methoden erfordern. 

Es mag immerhin nicht nur zuläßig, ſondern praktiſch 
und zweckmäßig ſein, einen weiteren und engeren Begriff 
der Staatswiſſenſchaften zu unterſcheiden, dem weiteren 
Wortſinn die Geſellſchaftswiſſenſchaften unterzuordnen, dem 
engeren coordinirt gegenüberzuſtellen. Das erſtere geſchieht 
dann ungefähr mit demſelben Recht, mit welchem wir Ana— 
tomie und Phyſiologie zu den medieiniſchen Wiſſenſchaften 
zählen, obgleich ſie nichts mit dem Heilen zu thun haben. 
Der Staat iſt die die Geſellſchaft ordnende Macht, und 
wer zu ordnen hat, muß das kennen, was geordnet werden 
ſoll. Die geſellſchaftlichen Zuſtände und Thatſachen ſind 
der Stoff und das Subſtrat der ſtaatlichen Thätigkeit. 
Deßhalb ſind aber doch Staats- und Geſellſchaftswiſſen— 
ſchaften wieder ſo verſchieden, als Hygieine und Therapie 
etwas weſentlich Anderes ſind als die Lehren vom geſunden 
und kranken menſchlichen Körper. Der Staat iſt ein Pro— 


277 


duct von bewußten menſchlichen Willensacten, er iſt wenig— 
ſtens im einzelnen immer etwas Gemachtes. Die Geſell— 
ſchaft und ihre einzelnen Gruppen ſind etwas unbewußt, 
durch die ſpontane Maſſenwirkung vieler individueller Kräfte 
und Triebe, durch das Wechſelſpiel in den Einwirkungen 
des Einzelnen auf Viele und der Vielen auf Einzelne Ge— 
wordenes und ſtetig Werdendes. Die Geſellſchaftswiſſen— 
ſchaften ſuchen, wie aus der Vogelperſpective, auf die Er— 
ſcheinungen des Privatlebens, auf das bunte Spiel freier 
Individualkräfte herabzuſehen, einen Ueberblick darüber zu 
gewinnen, die Maſſeneffekte und die hervortretenden Regel— 
mäßigkeiten und conſtanten Cauſalzuſammenhänge aufzu— 
finden. Unter den Faktoren, welche das geſellſchaftliche 
Leben beſtimmen, iſt zwar auch das ſtaatliche Eingreifen 
ſelbſt wieder enthalten, und umgekehrt beſtimmen die in 
der Geſellſchaft vorwaltenden Meinungen, Stimmungen und 
Intereſſen auch ihrerſeits die Entſcheidungen der Staats— 
gewalt; ein reines Ausſcheiden iſt niemals möglich, aber 
darum ſtehen ſich doch Staat und Geſellſchaft wie Bewußtes 
und Unbewußtes, wie Ordnendes und zu Ordnendes, wie 
That und Zuſtand, wie gegliederte Einheit und Gruppe 
von Coordinirtem, wie öffentliches und Privatleben in deut— 
lich unterſchiedener Stellung gegenüber. Es iſt unzuläßig, 
die Staats- und Geſellſchaftswiſſenſchaften in einander ein— 
zuſchachteln, das Eine dem Andern unterzuordnen. 

8. Dieſe Unterſcheidung iſt maßgebend für den Begriff 
der Statiſtik und den Gebrauch ihres Namens. Sie kann 
nicht Staats- und Geſellſchaftswiſſenſchaft zugleich ſein, 


wenn ſie aufhören ſoll, ein unlogiſches Gemiſch und Con— 
glomerat bunter Notizen und Data darzuſtellen, das den 
Namen einer Wiſſenſchaft kaum verdient. Sie muß ſich 
auf die eine oder andere Seite ſtellen. Hiſtoriſch und ety— 
mologiſch iſt die Statiſtik nun allerdings das empiriſche 
Wiſſen, deſſen der Statiſta, d. h. der Staatsmann oder der 
zu einer höheren ſtaatlichen Thätigkeit Berufene außer der 
Jurisprudenz noch bedarf, eine Zuſammenſtellung von No— 
tizen, die theils den Staat theils die Geſellſchaft betreffen, 
ähnlich wie jezt etwa die ſogenannte politiſche Geographie. 
Aber im Verlauf ihrer Entwicklung wuchs aus dem Be— 
dürfniß nach exacten Thatſachen jene eigenthümliche Me— 
thode heraus, durch rationelle Maſſenbeobachtung brauchbare 
Merkmale der ſocialen Collectivbegriffe in numeriſcher Faſ— 
ſung zu gewinnen, und die Natur und Tragweite dieſer 
Methode führt zu einer ſocialen Empiriſtik, einer beſonderen 
Hilfsdisciplin aller Geſellſchaftswiſſenſchaften, welche die 
variablen Erſcheinungen des ſocialen Lebens in ihrer quan— 
titativen Umgrenzung ermittelt und für den Gebrauch der 
verſchiedenen Wiſſenſchaften vorbereitet. Die Staatenkunde 
oder Staatenbeſchreibung, welche die Verfaſſung und Ver— 
waltung der gegenwärtigen Staaten auf Grundlage ihrer 
geographiſchen, ethnographiſchen, hiſtoriſchen und ſocialen 
Vorausſezungen darzuſtellen hat, bewahrt neben jener Hilfs— 
disciplin unabhängig ihren Plaz und ihre Bedeutung. Es 
fragt ſich nun, welchem von beiden Theilen, der ſocialen 
Empiriſtik oder der Staatenkunde der Name der Statiſtik 
zukommen ſoll. Dieß iſt an ſich ein Gegenſtand arbiträrer 


279 


Entſcheidung. Die Staatenkunde hat unzweifelhaft den 
hiſtoriſchen Rechtstitel für jenen Namen, aber der Sprach— 
gebrauch hat ſich doch mehr dahin entſchieden, bei Statiſtik 
an Zählungsergebniſſe zu denken und die Gewinnung und 
Verarbeitung von ſolchen ein ſtatiſtiſches Verfahren zu 
nennen, andererſeits aber etwa eine Darſtellung der deut— 
ſchen Reichsverfaſſung, der preußiſchen Kreisordnung, der 
ruſſiſchen Agrarinſtitute nicht zur Statiſtik zu rechnen, ſon— 
dern zum Staatsrecht oder zur Staatenkunde. Es wäre 
vielleicht beſſer geweſen und hätte mancher Verwirrung 
vorgebeugt, wenn man jener Methode, Begriffe durch Merk— 
male von numeriſcher Faſſung zu beſtimmen, den Namen 
der numeriſchen, ſtatt der ſtatiſtiſchen, der darauf begrün— 
deten techniſchen Disciplin den Namen der ſocialen Em— 
piriſtik gegeben, den der Statiſtik dagegen der Staatenkunde 
gelaſſen hätte, aber es iſt nun einmal anders gegangen 
und nichts mehr daran zu ändern. Ungenau, aber erträg— 
lich und erklärlich bleibt es, daß der Sprachgebrauch das 
Prädikat einer ſtatiſtiſchen Notiz auch auf die Merkmale 
des Staats, wofern ſolche nur überhaupt einen ziffermäßigen 
Ausdruck finden, anwendet, alſo z. B. die Budgetſäze, die 
Militärmacht, zumal da hier geſellſchaftliche und ſtaatliche 
Factoren in einander greifen, die Steuererträge auf die 
volkswirthſchaftlichen, die Heeresziffer auf die Bevölkerungs— 
verhältniſſe zurückweiſen. Ebenſo greifen in dem, was man 
Schul- oder Criminalſtatiſtik nennt, wo die ſtatiſtiſche Me— 
thode zur Anwendung kommt, ſtaatliche Inſtitute und ſociale 
Thatſachen in einander. Die Zahl der Fälle, in welchen 


280 


Geſeze, Vorſchriften wirkſam werden und amtliches Ein- 
ſchreiten Statt zu finden hat, hängt nicht von dem Staats- 
willen, ſondern von den variablen Momenten der geſell— 
ſchaftlichen Zuſtände ab; es characteriſirt nicht den Staat, 
ſondern das Volk, ob in einem Lande viele oder wenige 
Fälle von Mord vorkommen, dagegen nicht das Volk, ſon— 
dern den Staat und deſſen Rechtspflege, ob viele oder wenige 
der vorgekommenen Fälle zur Unterſuchung, zur Anklage, 
zur Verurtheilung führen. Dieſes kleine und partielle 
Uebereinandergreifen der Grenzen hindert nichts an dem 
Schlußergebniß, daß, was früher zuſammen unter Statiſtik 
begriffen wurde, in zwei Disciplinen auseinandertritt, die 
ſociale Empiriſtik oder jezt die Statiſtik, und die Staaten— 
kunde, und daß jene zu den Geſellſchaftswiſſenſchaften, dieſe 
zu den Staatswiſſenſchaften im engeren Wortſinn zu ſtellen 
iſt, während es geſtattet bleiben muß, dieſe beiden Gruppen 
im Ganzen den Natur-, Rechts-, Geſchichts-, mathematiſchen, 
philoſophiſchen Wiſſenſchaften als politiſche oder Staats— 
wiſſenſchaften im weiteren Wortſinn zur Seite zu ſtellen. 
9. Die Statiſtik im Sinn einer ſocialen Empiriſtik 
zerfällt aber ſelbſt wieder in zwei getrennte Disciplinen, 
in die heuriſtiſche oder techniſche und in die beſchreibende 
oder demographiſche Statiſtik. Die Aufgabe der erſten iſt 
es, unter Handhabung ihrer eigenthümlichen Methode die 
ſocialen Thatſachen zu ermitteln und durch rationelle Be— 
arbeitung die Ergebniſſe zum Gebrauch der Wiſſenſchaft 
vorzubereiten. Es iſt dieß die Thätigkeit der ſtatiſtiſchen 
Bureaus, der Congreſſe, der Fachmänner. Bei den äußeren 


281 


und inneren Schwierigkeiten richtiger Frageſtellungen und 
Antworten geht hier der praktiſchen Anwendung eine theo— 
retiſche Methodik theils voran, theils zur Seite. 

Neben dieſer fortlaufenden heuriſtiſchen Thätigkeit der 
ſocialen Obſervatorien, welche die bedeutſamen Thatſachen 
des geſellſchaftlichen Lebens im Einzelnen erheben und be— 
arbeiten, beſteht noch das weitere Bedürfniß, den geſammten 
ſo gewonnenen Stoff zu ordnen und zu einem Bild der 
Geſellſchaft nach den verſchiedenen Hauptrichtungen ihrer 
Lebensformen zu verwerthen. Dieß iſt die beſchreibende 
oder demographiſche Statiſtik. Sie iſt für die ſocialen 
Wiſſenſchaften, was die Staatenkunde für die politiſchen 
iſt und liefert das empiriſche Material zu einer ſocialen 
Biologie. Sie zerfällt ſtofflich in drei Theile. Als Be— 
völkerungsſtatiſtik behandelt ſie den Perſonalbeſtand, das 
Gattungs- und Geſchlechtsleben der Geſellſchaft, zeigt deren 
Gliederung nach Geſchlecht und Lebensalter und Familien— 
ſtand, die ſtetigen Veränderungen durch Geburten, Sterb— 
fälle und Wanderungen u. ſ. w. Als öconomiſche oder 
wirthſchaftliche Statiſtik behandelt ſie die Gliederung der 
Geſellſchaft nach dem Unterſchied der Wohnpläze, der Stände 
und Berufsarten, der Agrar-, Gewerbe- und Handelsver— 
hältniſſe, des Vermögens und Einkommens, der Conſumtion. 
Als Kulturſtatiſtik hat ſie die Erſcheinungen des intellec— 
tuellen, ſittlichen und religiöſen Lebens zu ihrem Gegen— 
ſtand. Das durch die techniſche Statiſtik gewonnene Ma— 
terial bildet die Grundlage der Darſtellung, womit jedoch 
die Beiziehung von Lehrſäzen aus der Bevölkerungstheorie, 


282 


der Nationalöconomie, der jocialen Ethik oder bedeutſamer 
geſchichtlicher Thatſachen nicht ausgeſchloſſen ſein kann. 
Dieſe beſchreibende Statiſtik eignet ſich zu zuſammenhän— 
genden wiſſenſchaftlichen Darſtellungen, wie für die Be— 
völkerungsſtatiſtik das Werk von Wappaeus ein claſſiſches 
Muſter iſt, ſowie vor allem andern zum Gegenſtand aka— 
demiſcher Vorträge. Sie iſt neben der Nationalökonomie 
das wichtigſte propädeutiſche Fach für die Verwaltungslehre. 

10. Wohl iſt die Staatenkunde in ähnlicher Weiſe eine 
unentbehrliche Hilfsdisciplin für die Staatswiſſenſchaften, 
wie die Statiſtik für die ſocialen und ſtellt den empiriſchen 
Stoff für die wiſſenſchaftliche Verwerthung zuſammen. 
Dennoch kommt ſie der Statiſtik an Bedeutung nicht gleich; 
ſie ſchafft ihren empiriſchen Stoff nicht ſelbſt, ſondern ſam— 
melt und entlehnt ihn von andern Disciplinen. Sie iſt 
mehr ein Wiſſen als eine Wiſſenſchaft. Sie ſtellt aus dem 
poſitiven Staatsrecht der einzelnen Länder, aus Geographie, 
Geſchichte, Ethnographie und Statiſtik ein zuſammenhängen— 
des Bild des Staatenſyſtems der Gegenwart, zunächſt des 
europäiſchen, zuſammen, theils für die theoretiſchen Zwecke 
der politiſchen Wiſſenſchaften, theils für den praktiſchen 
Dienſt der zu ſtaatlicher Wirkſamkeit Berufenen und aller 
Gebildeten. Heutzutage aber, wo zu ſolchem Wirken im 
Staat Alle berufen ſind, iſt der Werth einer unbefangenen 
und objectiven Kenntnißnahme von den Staatszuſtänden 
der Gegenwart nicht hoch genug anzuſchlagen. Ihrem wiſſen— 
ſchaftlichen Charakter nach gehört dieſe Staatenkunde zu den 
hiſtoriſchen Disciplinen. Sie ſchildert die Gegenwart in 


283 


— 


gleicher Weiſe und nach gleichen Grundſäzen, wie der Hi— 
ſtoriker da, wo er nicht erzählt, ſondern ein Geſammtbild 
einer Zeit oder eines Volkes zu zeichnen hat, Vergangenes 
darſtellt. Der Werth der Behandlung des Faches liegt in 
dem Maaß, in welchem die Eigenſchaften des ächten Hiſto— 
rikers dabei zu Tag treten, die zerſtreuten Data verſchie— 
denſter Art ſich zu einem lebendigen Ganzen von innerer 
Verſtändlichkeit geſtalten. 

Dieſe Staatenkunde hat nun freilich eine Art von 
Doppelgänger, der ſie entbehrlich ſcheinen laſſen könnte, 
an der politiſchen Geographie. Dieſe wird vielfach in den 
Compendien ſo behandelt, daß ein principieller Unterſchied 
von jener Staatenkunde kaum aufzufinden wäre. Nur wird 
man ſagen müſſen: Die Geographie überſchreitet eigentlich 
die Grenzen, die ihr Name und Begriff ihr anweiſt, 
wenn ſie Staatseinrichtungen ſchildert. Sie darf ihren 
Ausgangspunkt, das Land, nicht gänzlich verlaſſen; der 
Einfluß des Landes auf das geſellſchaftliche und politiſche 
Leben ſeiner Bewohner wäre das eigentliche Thema einer 
politiſchen Geographie. Sobald ſie ſich mit Verlaſſung 
aller geographiſchen Geſichtspunkte auf die geſammte Thätig— 
keit der innerhalb eines Gebiets wohnenden Menſchen ein— 
läßt, hat ſie gegenüber von Geſchichte, von Staats- und 
Socialwiſſenſchaften keine aufzeigbare Grenze mehr. Allein 
wenn auch die Theorie an dieſen Annexionen der Geogra— 
phie Anſtoß nehmen mag, praktiſch ſind dieſelben nur ein 
Zeugniß für die Bedeutung und Unentbehrlichkeit dieſer 
Wiſſensſtoffe für Jedermann. Es iſt ein praktiſches In— 


284 


tereſſe, aus welchem die Compendien der Geographie die 
wichtigſten Data der Staatenkunde in ihren Bereich mit hin— 
überziehen, und es iſt wünſchenswerth, daß nützliche Kennt— 
niſſe in allen Formen Verbreitung finden, aber von einem 
Competenzconfliet kann ernſtlicher Weiſe nicht die Rede ſein. 

Diejenigen, welche auf den geſchichtlichen Gang der 
Sache geſtüzt, auf den Namen Statiſtik auch für die Staaten— 
kunde nicht zu verzichten geneigt ſind, müßten ſich wenigſtens 
die Unterſcheidung einer ſocialen und einer politiſchen Sta— 
tiſtik gefallen laſſen, und das was oben als heuriſtiſche 
und beſchreibende Statiſtik bezeichnet wurde, zur ſocialen 
Statiſtik rechnen, die Staatenkunde aber als politiſche Sta— 
tiſtik bezeichnen. Im Intereſſe der Vereinfachung und Klar— 
ſtellung der wiſſenſchaftlichen Namen und Begriffe iſt jedoch 
ein ſolcher Sprachgebrauch nicht empfehlenswerth, wenn 
auch nicht gerade unbedingt verwerflich. 


Ueber den Begriff und die Dauer einer 
Generation. 


Der Begriff der Generation gehört der Bevölkerungs— 
lehre und Statiſtik an, die bis jezt, ſo viel mir bekannt 
iſt, ſich nicht um denſelben bekümmert haben, obſchon es 
ſich vielleicht der Mühe wohl verlohnen dürfte. 

Schon der Sprachgebrauch iſt ſchwankend und irre— 
führend. Wir legen dem Wort offenbar ganz verſchiedene 
Bedeutungen bei. Wenn Jemand ſagt: die jezige Gene— 
ration wird es wohl nicht erleben, daß man in Luftballonen 
nach Amerika reist oder daß das Kreuz auf der Aja Sofia 
aufgerichtet wird, ſo verſteht er unter Generation die Ge— 
ſammtheit aller jezt lebenden Menſchen. Wenn ich aber 
ſage: der 30jährige Krieg liegt (erſt oder ſchon) um acht 
Generationen hinter uns, ſo ſoll das heißen, die jezt Leben— 
den müſſen in der Reihe ihrer Ascendenten etwa bis zum 
achten Grade hinaufſteigen, um zu einem Zeitgenoſſen 
des 30jährigen Kriegs zu gelangen. Generation heißt 
hier Zeugung und wird als Zeitmaaß gebraucht, um 
den Altersabſtand zwiſchen Erzeugern und Erzeugten aus— 
zudrücken. Jeder iſt von ſeinem Vater oder ſeinem Kinde 
um Eine, von ſeinem Großvater oder Enkel um zwei Gene— 


286 

rationen entfernt. Im erſten, obigen Wortſinn lebt ſtets 
gleichzeitig nur Eine Generation, im zweiten dagegen leben 
immer zwei, theilweiſe aber auch drei und vier Generationen 
gleichzeitig neben einander. Nur in dieſer lezteren Faſſung 
läßt der Begriff eine ſtatiſtiſche Behandlung und Beleuch— 
tung zu. Als Synonym von noch etwas vagerer Bedeu— 
tung gebrauchen wir auch den Ausdruck Menſchenalter, der 
dann wieder in den Begriff der mittleren Lebensdauer 
hinüberſpielt. 

Wir begegnen dem Begriff der Generation ſchon im 
frühen Alterthum. In Ermanglung von Kalendern und 
feſten Zeitrechnungen dienten die Geſchlechtstafeln als Zeit— 
maaß. Es iſt intereſſant, daß das griechiſche Wort 78e 
ſchon in demſelben Doppelſinn gebraucht wird, wie bei uns 
die Generation. Wenn Jeſus, von ſeiner Wiederkunft redend, 
jagt (Matth. 24, 34): wahrlich ich ſage euch, dieß Geſchlecht 
wird nicht vergehen bis dieß Alles geſchehe, ſo verſteht er 
unter „dieſem Gejchlecht” „ e even die Geſammtheit 
aller ſeiner Zeitgenoſſen und will erklären, daß unter den 
jezt Lebenden ſolche ſeien, die das noch erleben werden, 
was er vorausſagt. 

Wer denkt andererſeits nicht an Neſtor, den alten 
Zecher, der drei Menſchenalter ſah? Die Stelle bei Homer 
Iliad. I, 250 lautet bei Voß: 


Dieſem waren ſchon zwei der redenden Menſchengeſchlechter 
Abgewelkt, die vordem ihm zugleich aufwuchſen und lebten 
Dort in der heiligen Pylos, und jezt das dritte beherrſcht er. 


Es iſt nicht ganz leicht zu ſagen, was eigentlich damit 
gemeint ſein ſollte. Die den Worten zunächſt liegende Vor— 


287 


ſtellung, daß Jemand zum drittenmal jeine ganze Zeitge— 
noſſenſchaft erneuert, daß zweimal alle gleichzeitig Lebenden 
neben ihm wegſterben und ihn allein übrig laſſen, iſt aben— 
theuerlich und unvollziehbar, da der Gang einer Bevölke— 
rung mit Abſterben und Erneurung etwas Continuirliches 
und ohne Ein- oder Abſchnitte iſt. Die Generationen folgen 
einander nicht, wie Wachpoſten oder Stationen, die ſich 
ablöſen; es läßt ſich niemals ein Moment bezeichnen 
oder denken, wo die eine aufhört und die andere beginnt. 
Blos drei Generationen zu ſehen wäre dagegen gar nichts 
Beſonderes. Denn Jeder, der in ſeiner Jugend einen 
Großvater hat und im Alter ein ſolcher wird, ſieht fünf 
Generationen ſeines eigenen Geſchlechts; ja es iſt dieß 
eigentlich der normale Fall. Der natürliche und beſte 
Sinn der Homeriſchen Worte wäre wohl: Die Krieger, die 
Neſtor vor Troja geführt hat, ſind ſchon die Enkel der 
Männer, mit welchen er einſt ins Feld gezogen war. Um 
dieß zu leiſten, mußte er noch nicht gerade 100 Jahre alt 
ſein; auch SO würden genügen, wenn wir uns die Krieger 
als durchſchnittlich etwa dreißigjährige denken. In einem 
wildheroiſchen, fehdereichen Zeitalter iſt es für den Mann 
und Krieger ſchwer, unverſehrt und rüſtig ein hohes Alter 
zu erreichen, wie noch heute unter den Wilden alte Männer 
ſelten ſind. Es mochte immerhin auch von Neſtors Männern 
der eine oder andere zu Hauſe einen Vater, vielleicht ſogar 
einen Großvater haben, aber dieſe konnten nicht mehr ins Feld 
rücken, ſie zählten nicht mehr zu dem activen Beſtande des 
Volkes, ſie gelten mit den Geſtorbenen als Hingeſchwundene. 


288 


Für Herodot iſt die 54 oder Generation ein ganz 
geläufiger Begriff. Die egyptiſchen Prieſter weiſen ihm 
eine Reihe von 341 Königen auf, und er berechnet daraus, 
da drei Generationen 100 Jahre ausmachen, einen Zeit— 
raum von 11340 Jahren. Auch an andern Stellen nimmt 
er 33 Jahre als die Dauer einer Generation an. Es iſt 
freilich dabei die falſche Vorausſezung, daß je ein König 
eine Generation vertrete, da, abgeſehen von Dynaſtiewechſel 
und Umwälzungen, auch der Bruder dem Bruder oder gar 
der Oheim dem Neffen, wie andererſeits der Enkel dem 
Großvater nachfolgen kann. Ueberdieß kommt bei Königs— 
reihen in der Regel nur der Altersabſtand zwiſchen dem 
Vater und dem Erſtgeborenen ſeiner Söhne in Betracht. 

Aber wie ſteht es überhaupt mit dieſem Herodotiſchen, 
auch ſonſt vielfach nachgeſprochenen Saz, daß die' Dauer 
einer Generation ein Drittheil eines Jahrhunderts oder 
33½ Jahre betrage? Iſt eine Generation wirklich eine 
beſtimmte Zeitgröße, iſt ſie eine conſtante oder eine variable 
und wenn lezteres der Fall iſt, woran liegt es und was 
liegt daran, ob die Generationen kürzer oder länger ſind? 
und welche Mittel ſtehen der Statiſtik zu Gebot, um auf 
dieſe Frage eine Antwort zu geben? 

Der ſtatiſtiſche Ausdruck für die Generation als Zeit⸗ 
maaß wäre die durchſchnittliche Altersdifferenz zwiſchen 
Vätern und Kindern für eine gegebene Zeitperiode. Ich 
ſage abſichtlich nicht: zwiſchen Eltern und Kindern, und 
aus Gründen praktiſcher Zweckmäßigkeit auch nicht: zwiſchen 
Vätern und Söhnen. Die Altersdifferenz zwiſchen Müttern 


und Kindern wäre wieder eine Aufgabe für ſich, aber das 
Intereſſe daran, da nun einmal die Männer das leitende 
und herrſchende Geſchlecht ſind, von untergeordneter Be— 
deutung. Dagegen zwiſchen dem väterlichen und mütter— 
lichen Alter die Mitte nehmen und damit das Alter der 
Kinder vergleichen, würde die Aufgabe außerordentlich com— 
pliciren und ſchließlich doch nur auf einer werthloſen Fie— 
tion beruhen. 

Das nächſtliegende und wirkſamſte Mittel, die Alters— 
differenz zwiſchen Vätern und Kindern zu finden, wäre die 
directe Aufnahme, indem man aus Anlaß einer Zählung 
von einer ganzen Bevölkerung oder wenigſtens bei einem 
großen Theile neben dem Alter des einzelnen Individuums 
auch das ſeines Vaters ermittelte und aus den ſo gewon— 
nenen Zahlen den Durchſchnitt, die Ziffer des mittleren 
Menſchen ſuchte. Dieß iſt noch niemals geſchehen und wird 
aus vielen Gründen auch ſchwerlich bald verſucht werden. 

Man wird daher immer auf indirekte Mittel, auf das 
Surrogat von Schäzungen und Combinationen, von Schlüſſen 
aus einer größeren oder kleineren Anzahl von Beiſpielen 
angewieſen bleiben. 

Die ganze Frage läßt ſich übrigens nur auf dem 
Boden der monogamiſchen Sitte der civiliſirten Völker be— 
handeln. Wo Polygamie und Sclaverei neben ſehr früher 
Pubertät beſtehen, wo die Kinder Eines Mannes im Alter 
bis zu 50 Jahren von einander entfernt ſein können, da 
verſchieben und verſchlingen ſich die Generationen in einer 


Rümebhin, Reden u. Aufſätze. 19 


Weiſe, die ſich nicht mehr verfolgen läßt und zugleich kein 
Intereſſe mehr bietet. 

Es iſt einleuchtend, daß die Dauer der Generationen 
von zwei Factoren abhängt, einmal ob die Männer früh 
oder ſpät zur Heirath gelangen, ſodann ob die Periode der 
Fruchtbarkeit der Ehen von kürzerer oder längerer Dauer 
iſt, und beide Momente greifen wieder inſoweit ineinander, 
als bei frühen Ehen die Wahrſcheinlichkeit für eine längere 
Dauer der Fruchtbarkeit ſpricht. Der Altersabſtand des 
Vaters und der Kinder iſt weder nach dem erſtgeborenen 
noch nach dem jüngſten, ſondern nach dem Durchſchnitts— 
alter der Kinder zu berechnen, wofür bei Ermanglung der 
Detailangaben die halbe Differenz zwiſchen dem älteſten 
und jüngſten der Kinder zu nehmen iſt. Der ſtatiſtiſche 
Ausdruck oder das ſtatiſtiſche Aequivalent für die Dauer 
einer Generation iſt ſomit das durchſchnittliche Heiraths— 
alter der Männer plus der halben Dauer der durchſchnitt— 
lichen Fruchtbarkeit der Ehen. | 

Aber auch die jo geitellte Frage vermag die Statiſtik 
zur Zeit nur mit ſehr ungenügenden Mitteln anzufaſſen, 
da weder über das Durchſchnittsalter der heirathenden 
Männer noch über die Dauer der ehelichen Fruchtbarkeit 
Aufnahmen und zureichende Notizen gegeben find. 

Es liegen keine Thatſachen vor, welche uns berechtigen 
innerhalb des Gebiets chriſtlich europäiſcher Geſittung eine 
Verſchiedenheit der Völker hinſichtlich der Neigung zur Ver— 
heirathung anzunehmen. Die Frequenz der Heirathen, wie 
deren Frühzeitigkeit hängt nicht vom Wollen, ſondern vom 


291 


Können ab, nur daß in Betreff der phyſiſchen Bedingungen, 
des Eintritts der Pubertät zwiſchen den Ländern der ſüd— 
lich und der nördlich gemäßigten Zone einiger Unterſchied 
beſteht. Das Entſcheidende liegt in den wirthſchaftlichen 
Bedingungen. Wo es leicht iſt, einen häuslichen Heerd 
zu gründen und eine Familie zu ernähren, wird früh ge— 
heirathet, wo es ſchwer iſt, ſpät; dort bleiben wenige 
Männer ehelos, hier viele. Die günſtigſten Bedingungen 
ſind, wo fruchtbarer Boden noch im Ueberfluß vorhanden, 
die Arbeit geſucht und lohnend, der Unterhalt leicht zu ge— 
winnen iſt, wie in Rußland, den Agrarſtaaten des mittleren 
Unionsgebiets, Canada, Auſtralien. Hier heirathen die 
meiſten Männer ſchon in der erſten Hälfte der zwanziger 
Jahre und der Kinderſegen wird nicht geſcheut, zumal auf 
den Gebieten der germaniſchen Race. Das entgegengeſezte 
Ende bilden die Gebiete, wo die freie Niederlaſſung, ſei es 
rechtlich oder ſachlich, eingeſchränkt iſt, wo in der Landwirth— 
ſchaft oder im Gewerbe Vacaturen abzuwarten ſind, nament— 
lich die Gegenden der bäuerlichen Hofwirthſchaft, wo ein 
Sohn auf den Tod oder Rücktritt des Vaters zu warten 
hat, die übrigen ſich die Bedingungen der Verehelichung 
vorher durch Arbeit ſichern müſſen. Im würtembergiſchen 
Oberſchwaben iſt in den Bezirken der bäuerlichen Hofwirth— 
ſchaft noch von den 35jährigen Männern die größere Hälfte 
unverheirathet. Aehnliche Verhältniſſe ſind in Altbayern, 
Oberöſtreich, Weſtphalen, Hannover u. ſ. w. Das durch— 
ſchnittliche Alter der Verheirathung rückt hier bis in die 


Mitte der dreißiger Jahre hinaus. 
19 * 


Zwiſchen dieſen beiden, um etwa 10 Jahre auseinan— 
der liegenden Grenzen bewegen ſich nun in zahlreichen Ab— 
ſtufungen die mittleren Verhältniſſe der meiſten europäiſchen 
Völker, wo bei vollkommen occupirtem Boden und dichterer 
Bevölkerung, aber bei freierer Bewegung dem jungen Mann 
eine etwas kürzere oder längere Wartezeit bis zur Grün— 
dung eines eigenen Familienlebens auferlegt iſt. Für Eng— 
land wird das durchſchnittliche Heirathsalter der Männer 
zu 28 Jahren angegeben, für Frankreich zu 30, für Belgien 
zu 32. Für Deutſchland dürfte im Ganzen auch die Zahl 
von 30 Jahren anzunehmen ſein; für Würtemberg und 
Bayern iſt ſie nicht unter 32 Jahren zu ſezen; für Preußen 
und Sachſen ſteht ſie wahrſcheinlich unter 30 Jahren. Es 
ſind jedoch hier überall die Ehen der Wittwer mitgerechnet; 
wenn es ſich blos um erſte Ehen handelt, wären ſämmt— 
liche Ziffern etwa um 1 —2 Jahre niedriger zu ſezen. 
Für Norwegen haben wir die Ziffer von 30,38, für Nieder— 
lande von 31,25 Jahren, jo daß wir im Ganzen als mit— 
teleuropäiſches Durchſchnittsalter der heirathenden Männer 
30 Jahre annehmen dürfen. 

Da die Generation jedoch nicht allein durch die Alters— 
differenz zwiſchen den Vätern und den älteſten, ſondern 
zwiſchen den Vätern und allen Kindern beſtimmt wird, ſo 
handelt es ſich nun weiter darum, den mittleren Alters— 
unterſchied zwiſchen den älteſten und jüngſten Geſchwiſtern 
oder was dasſelbe iſt, die mittlere Dauer der Fruchtbarkeit 
der Ehen zu beſtimmen. 

Hier laſſen uns nun die bisherigen Mittel der Statiſtik 


293 


ganz im Stich; ich habe wenigſtens nirgends Angaben 
darüber zu finden vermocht, und, da der Gegenſtand auch 
abgeſehen von der Aufgabe, die Länge der Generationen 
zu finden, Intereſſe bietet, ſo ſuchte ich wenigſtens an 
einer anſehnlichen Zahl von Beiſpielen feſte Anhaltspunkte 
zu gewinnen. 

Die Würtembergiſchen Familienregiſter enthalten die 
hiezu erforderlichen Notizen vollſtändig. Unter Weglaſſung 
der kinderloſen, ſowie derjenigen Ehen, bei welchen die 
Kindererzeugung nicht als abgeſchloſſen betrachtet werden 
konnte, zählte ich 500 Ehen aus dem Tübinger Familien— 
regiſter durch. 

Die Fruchtbarkeit der Ehen nach der Zeit, die zwiſchen 
der Trauung und der Geburt des lezten Kindes liegt, be— 
rechnet, kamen auf jene 500 Ehen 6107 Jahre der Frucht— 
barkeit, auf Eine Ehe alſo durchſchnittlich 12,2 Jahre. 
Und zwar betrug die Dauer der Fruchtbarkeit bei 

74 Ehen = 14,8% der gezählten Ehen 1—5 Jahre 


1 29 mt —— 2 5, 3 0% 5 „ " 6—1 0 7 

136 „ 5 27,2% 7 „ 7 5 " 
BE Er , 5 h 
e 1 H „ von 21 bis 28 J. 


In dieſen 500 Ehen wurden 3008 Kinder geboren, 
alſo auf eine fruchtbare Ehe 6,01. Die kinderloſen Ehen 
berechnete ich zu /7 oder 14—15% aller Ehen 83). Die 


) Es mußten, um in einem alphabetiſch geordneten Regiſter bis 
zu 500 zählbaren Ehen zu gelangen, 69 kinderloſe Ehen übergangen 
werden; mit deren Zurechnung ergiebt ſich eine mittlere Fruchtbarkeit 
der Ehen von 5,29 Kindern. 


294 

Tübinger Bevölkerung beſteht größtentheils aus Wein— 
gärtnern und kleinen Handwerkern, bei welchen neben 
enormer Kinderſterblichkeit ſehr kinderreiche Ehen die Regel 
bilden. 10-12 Kinder, wovon zwei Drittheile wieder als— 
bald wegſterben, ſind ſehr häufig. Ich fand z. B. eine 
Ehe, in welcher 16 Kinder geboren wurden, von denen 
Eines erwachſen wurde, und ein zweites 5 Jahre alt wurde; 
die 14 andern ſtarben im erſten Lebensjahr, meiſt in den 
erſten Monaten und Wochen. Ein Mann, der zweimal 
verheirathet war, hatte 19 Kinder, von denen das älteſte 
und jüngſte um 44 Jahre im Alter auseinander waren. 

Nach den gleichen Grundſäzen gieng ich den gothaiſchen 
gencalogiſchen Kalender durch und fand hier 264 Ehen, 
deren Fruchtbarkeitsdauer im Ganzen 3306 Jahre aus— 
machte, ſomit 12,5 Jahre auf Eine Ehe, eine von der 
obigen nur wenig abweichende Zahl. Es waren darunter 
37 Ehen = 14% mit einer Fruchtbarkeitsperiode v. 1—5 J. 


Gies 1 „ 6-10 „ 
e,, 2 re 5 „11-15 
Sr ee 5 „ 16—20 „ 
14... 580, , 1 „21—25 „ 


Die Kinderzahl ließ ſich nicht vergleichen, weil nur 
die lebenden aufgezählt ſind; ſie iſt aber ohne Zweifel 
kleiner als die oben für die Stadt Tübingen genannte. 

Der Grund, warum gleichwohl die Dauer der Frucht— 
barkeit noch eine etwas größere iſt, dürfte darin zu ſuchen 
ſein, daß in den hier in Betracht kommenden geſellſchaft— 
lichen Kreiſen die Männer, wenn ſie überhaupt heirathen, 


früh zu heirathen pflegen, da das Zuwarten an den öco— 
nomiſchen und ſonſtigen Bedingungen nicht mehr leicht etwas 
ändern kann. 

Die Uebereinſtimmung der Ergebniſſe aus zwei ſo ver— 
ſchiedenen Lebenskreiſen iſt jedenfalls von Werth und In— 
tereſſe und macht es wahrſcheinlich, daß mit der Ziffer 12 
ein allgemeinerer Durchſchnitt wenigſtens annähernd ge— 
troffen iſt. Für England, wo die Männer um 2—3 Jahre 
früher heirathen als in Deutſchland und Frankreich und 
großer Kinderſegen herrſcht, dürfte der Durchſchnitt für die 
Dauer der ehelichen Fruchtbarkeit auf 13— 14 Jahre zu 
erhöhen, für Frankreich, wo im Durchſchnitt nicht über 3 
Kinder auf die Ehe kommen, auf 7—8 Jahre zu erniedrigen 
ſein. Höher als 14, niedriger als 7—S iſt die Ziffer 
ſchwerlich irgendwo. 

Es wären hienach die beiden Elemente, um die Dauer 
einer Generation zu beſtimmen, beiſammen; die oben an— 
gegebene Formel, durchſchnittliches Heirathsalter der Männer 
plus der halben Dauer der mittleren ehelichen Fruchtbarkeit 
erfordert jedoch noch eine kleine Modification. Es war 
aus praktiſchen Gründen nicht wohl anders möglich, die 
Dauer der ehelichen Fruchtbarkeit zu beſtimmen, als durch 
die Meſſung des Zeitraums von der Trauung bis zur 
Geburt des lezten Kindes. Eigentlich handelt es ſich aber 
um die Altersdifferenz zwiſchen den älteſten und jüngſten 
Kindern derſelben Ehe. Die Geburt des älteſten Kindes 
fällt der Regel nach erſt auf den Schluß des erſten Jahres 
nach der Trauung; wenn die eheliche Fruchtbarkeit eine 


296 


Periode von 12 Jahren umfaßt, ſo wird die Altersdifferenz 
des älteſten und jüngſten Kindes durchſchnittlich nur 11 Jahre 
betragen. Man muß demnach dieß Eine, erſte Jahr der 
Ehe noch dem Heirathsalter hinzufügen und von der Dauer 
der ehelichen Fruchtbarkeit für den vorliegenden Zweck, die 
Altersdifferenz zwiſchen Geſchwiſtern zu finden, in Abzug 
bringen. 

So wäre demnach die geſuchte Größe für Deutſchland 
30 Jahre + ! + e, oder 36 Jahre, für England 
etwa 28 + 1 + / = 35½, für Frankreich 30 + 14. 
2 — 34½. Für die kinderreichen Länder mit früher Ver— 
heirathung, wie das Unionsgebiet, Rußland, Auſtralien 
würden ſich etwa die Zahlen 25 +1 + % — 32½, 
für die Gebiete erſchwerter Niederlaſſung, der untheilbaren 
Hofgüter mit kleiner Kinderzahl die Ziffern 34 + 1 2 
— 59 ergeben, und die Dauer einer Generation wird ohne 
Zweifel bei allen Völkern der gemäßigten Zone mit mono— 
gamiſcher Sitte weder die Grenze von 32 Jahren nach 
unten, noch von 39 Jahren nach oben im mittleren Durch— 
ſchnitt überſchreiten, für die Gegenwart aber und die 
mitteleuropäiſchen Verhältniſſe zu 35—36 Jahren anzu— 
nehmen ſein. 

Herodot hat mit ſeinen 33 ½ Jahren für die dortigen 
und damaligen Verhältniſſe, für die Freien und das ſüd— 
liche Clima, ſehr wahrſcheinlich ganz das Richtige getroffen, 
für uns und jezt iſt ſeine Zahl um 2—3 Jahre zu niedrig. 
Ich vermuthe, daß er auch dieſen Maßſtab von den egyptiſchen 
Prieſtern empfieng, die in Genealogieen wohl bewandert 


297 


waren und durch die Wahrnehmung geleitet ſein mochten, 
daß der Regel nach zwiſchen der Geburt des Urgroßvaters 
und des Urenkels ein Zeitraum von ungefähr 100 Jahren 
liegt, ſomit das Jahrhundert drei Generationen umfaßt. 
Ein falſcher Sinn wird aber mit dieſem Ausdruck verbun— 
den, wenn man, wie häufig die Meinung iſt, glaubt, daß 
binnen eines Jahrhunderts drei Generationen geboren 
werden und ſterben. Vielmehr wird in den normalen 
Fällen ſchon der Zeitraum von der Geburt des Vaters 
bis zum Tode des Sohnes ein Jahrhundert füllen, z. B. 
wenn der Sohn 70 Jahre alt wird und der Vater bei der 
Geburt des Sohnes 30 Jahre zählte, mag er dann nach— 
her noch kürzer oder länger gelebt haben. 

Zur Ergänzung und Illuſtration des Bisherigen mögen 
noch einige geſchichtliche Data dienen. 

Die Königin Victoria ſtammt in direct aufſteigender 
Linie im söten Grade von Wilhelm dem Eroberer, der 
506 Jahre vor ihr geboren iſt; die Länge einer Generation 
iſt ſomit 32,2 Jahre. Die Zahl der regierenden Könige 
von England aber betrug 34, die durchſchnittliche Regierungs- 
zeit 23,7 Jahre. Ebenſo ſind es genau 25 Generationen 
bis zu einem andern ihrer Ahnherrn, dem mit Wilhelm 
dem Eroberer gleichzeitigen Azzo von Eſte, dem Stamm— 
vater des Welf-Eſte'ſchen Hauſes und Urgroßvater Hein— 
richs des Löwen. 

Der Graf von Chambord, geb. 1820, iſt von Hugo 
Capet, dem Stammvater des franzöſiſchen Königshauſes, 
(der 998 ſtarb und etwa 930 geboren ſein mag) um 27 


298 


Generationen entfernt, während 34 Könige über Frankreich 
regierten, und es kommen auf eine Generation im Durch— 
ſchnitt 33 Jahre, auf die Regierungszeit eines Königs 
26 Jahre. 

Von Franz Joſeph bis Rudolf von Habsburg ſind 
15 Generationen zu 32,8 Jahren, von Kaiſer Wilhelm 
bis auf den Burggrafen Friedrich von Hohenzollern 14 zu 
32 Jahren, von Ludwig II. von Baiern bis Otto von 
Wittelsbach 22 Geſchlechter zu 32 Jahren, von König Karl 
von Würteuberg bis zu Ulrich dem Stifter 18 Generationen 
zu 34 Jahren. König Albert von Sachſen iſt 12 Gene— 
rationen zu 32 Jahren von Herzog Albert, dem Stifter der 
albertiniſchen Linie und 30 Generationen zu ebenfalls 32 
Jahren von dem Landgrafen Burkhard von Thäringen 
(892— 908) entfernt. Von Michael Romanow auf Kaiſer 
Alexander II. ſind 7 Generationen zu nur 31% Jahren, 
da hier in der jung verſtorbenen Anna Petrowna ein weib— 
liches Zwiſchenglied eintritt. Von Alexander bis zu dem älte— 
ſten Oldenburgiſchen Stammherrn Elimar (reg. 1108-1143) 
ſind 22 Generationen zu 33 Jahren. Ebenſo iſt der Durch— 
ſchnitt in der Reihe von Victor Emanuel bis zu dem erſten 
Grafen von Savoien Berthold ums Jahr 1000 (26 Ge— 
nerationen). Den genealogiſchen Geſchichtstabellen von 
Hopf und Hübner, aus welchen dieſe Gelehrſamkeit ge— 
ſchöpft iſt, läßt ſich ohne viel Mühe noch eine Unzahl ähn— 
licher Beiſpiele entnehmen. 

Die Ergebniſſe ſind ſowohl unter ſich als mit den 
obigen Ausführungen übereinſtimmend. Denn es iſt ganz 


der Natur der Sache entſprechend, daß bei fürjtlichen Dy— 
naſtieen, wo nur die Altersdifferenz zwiſchen dem Vater 
und dem älteſten der Söhne, nicht allen Kindern in Frage 
kommt, der Abſtand um einige Jahre niedriger erſcheint, 
als im Maſſendurchſchnitt. Auch pflegen Prinzen und Thron— 
folger früh zu heirathen. Die Ziffern müßten noch etwas 
niedriger ſein, wenn nicht im Lauf der Jahrhunderte immer 
auch wieder ein Ueberſpringen der Succeſſion auf die jün— 
geren Linien Statt fände. Daß dieſer Fall bei Würtem— 
berg häufiger eintrat, iſt wohl der Grund, daß hier die 
Generationendauer die höchſte Ziffer erreichte, während um— 
gekehrt das mehrfache Einrücken weiblicher Linien in die 
Reihe wie bei England eine Verkürzung der Generations— 
dauer veranlaßt, da ſie ein jüngeres Heirathsalter haben. 

Wenn man die Geſchlechtsregiſter bürgerlicher Familien 
verfolgt, z. B. an der Hand des Werkes von Faber über 
die Würtembergiſchen Familienſtiftungen, ſo wird man zwar 
große Mannigfaltigkeit der Verhältniſſe finden, aber doch 
bald zu dem Hauptreſultat gelangen, daß wenn man nur 
in der Reihe der älteſten Söhne aufſteigt, die Generation 
30—32 Jahre, wenn man die Linie der jüngſten Söhne 
feſthält, die Generation gegen 40 Jahre beträgt, der mittlere 
Durchſchnitt aber ſich um 35—36 Jahre bewegt. In der 
weiblichen Linie ſind die Generationen um etwa 2—4 Jahre 
kürzer, freilich auch mit zahlreichen Variationen. Uebrigens 
gehen alle dieſe Notizen nur ſelten über 200 Jahre zurück. 
Es drängte ſich bei den geſammelten Beiſpielen auch die 
Bemerkung auf, daß vom Anfang dieſes Jahrhunderts an 


300 


rückwärts die Männer in den Mittelklaſſen früher gehei— 
rathet haben, als jezt, und daß das mittlere Verheirathungs— 
alter der Männer für erſte Ehen in dieſen Ständen im 
vorigen Jahrhundert ſchwerlich mehr als 25 Jahre betragen 
hat, ſomit für Würtemberg, auf das ſich die Notizen be— 
ziehen, ſeitdem ungefähr um 5—6 Jahre geſtiegen ſein 
würde. 

Es bleibt nun noch die Frage übrig: wozu dieſe ganze 
Unterſuchung, welchen Werth und welche Bedeutung hat 
überhaupt der Begriff und die Dauer der Generation, was 
liegt daran und iſt daraus zu erſehen, ob dieſe Dauer 
kürzer oder länger iſt? 

Ich glaube, daß auch der Begriff der Generation zu 
den der Bevölkerungsſtatiſtik eigenthümlichen Formen und 
Mitteln gehört, die ſocialen Zuſtände der Völker zu charac— 
teriſiren und unter einander zu vergleichen. 

Die jungen, aufſtrebenden, in raſcher Entwicklung und 
ſchnellem Wachsthum der Zahl begriffenen Völker haben 
kurze Generationen. Die jungen Männer gelangen früh 
zur eigenen Erwerbsfähigkeit und Gründung eines Haus- 
ſtandes, während ihre Väter ſelbſt noch im kräftigſten Alter 
ſtehen. Das elterliche Erbe und Vermögen iſt in ferner 
Ausſicht und Jeder iſt auf ſeine eigene Arbeit und Thätig— 
keit angewieſen. Das junge Geſchlecht macht ſich früher, 
kräftiger und in größerer Anzahl geltend im Staat und in 
der Gemeinde, in den wirthſchaftlichen wie in den geiſtigen 
Gebieten. Es findet ein raſcherer Umſaz auch in der Ideen— 
welt ſtatt. Jugendliche, ideale, radicale Anſichten und Be— 


ſtrebungen drängen ſich mit Ungeſtüm und nicht ohne Er— 
folg vor. Die jungen Männer ſind bei raſcher Volksver— 
mehrung nicht blos um ſoviel zahlreicher als die älteren, 
als ſie noch weniger durch den Tod gelichtet ſind, ſondern 
auch weil ſie ſchon aus viel ſtärkeren Geburtsklaſſen ſtammen. 
Ihre Stimmen legen in allen Dingen ein großes Gewicht 
in die Wagſchaale. 

Es iſt wohl denkbar, daß einer ſolchen Neigung zu 
rapider und ſich überſtürzender Entwicklung andere Factoren 
die Wage halten, z. B. in China, wo frühe Heirathen und 
kurze Generationen herrſchen, wo, wie man ſagt, die Männer, 
die mit 20 Jahren noch ehelos ſind, ſich darüber vor der 
Obrigkeit zu rechtfertigen haben, aber die enorme Ausdeh— 
nung und unbegrenzte Dauer der elterlichen Gewalt und 
die ſonſtigen Bürgſchaften der Stabilität gegenüberſtehen. 
Darum iſt jene Tendenz aber doch in der Natur der Sache 
begründet; ſie wird den freieſten Spielraum finden in 
Colonialländern gebildeter Völker, ſei es denen der Griechen 
oder Römer oder der Engländer und Spanier, vor Allem 
bei republicaniſchen Staatseinrichtungen. Die Colonien 
ſind immer raſchlebiger als die Mutterſtaaten, ſei es auf— 
wärts oder abwärts. 

Alles dieß verhält ſich anders bei den alten gereiften 
Völkern mit vollſtändig angebautem Boden und beengterem 
Nahrungsſtand, mit größeren und complicirteren Bedürf— 
niſſen. Die Männer gelangen ſpäter, nach längerer Vor— 
bildung und Dienſtbarkeit zur wirthſchaftlichen Selbſtändig— 
keit und Gründung des eigenen Heerdes. Der Schwerpunkt 


302 
für die Entwicklung des politiſchen, wirthſchaftlichen und 
geiſtigen Lebens liegt in den mittleren Altersklaſſen. Jeder 
Fortſchritt vollzieht ſich unter größeren Schwierigkeiten und 
Kämpfen; in langſamem und ſtetigem Gang brechen ſich 
die Veränderungen in der Geſellſchaft ihre Bahn, und auf 
jeden Erfolg treten wieder Hemmungen und Rückſchläge 
ein. Und alles dieß hängt aufs Innigſte damit zuſammen, 
daß die Söhne nicht neben den Vätern, ſondern erſt nach 
ihnen zu Einfluß und maßgebender Stellung gelangen 
können, daß die Generationen weiter aus einander liegen. 

Man könnte vielleicht denken, eine Differenz von 
höchſtens S—10 Jahren in der Dauer der Generationen 
könne keine ſo große Wirkung haben, aber ſie reicht doch 
gerade hin, die eingreifendſten Verſchiedenheiten zu begrün— 
den. Wenn das Leben des Menſchen nach dem bekannten 
Bibelſpruch 70 Jahre währet und die Altersdifferenz zwiſchen 
Vätern und Kindern im Durchſchnitt 35—36 Jahre beträgt, 
ſo haben kaum zwei volle Generationen neben einander zu 
leben. Wenn die Kinder den Vätern nur um 28— 30 Jahre 
im Alter nachſtehen, jo läßt die Lebensgrenze von 70 Jahren 
für 2½ Generationen Raum. Hier wird eine mannig— 
fachere geiſtige Berührung und Reibung der verſchiedenen 
Altersklaſſen Plaz greifen. Es werden verhältnißmäßig 
viele und bis in die ſpäteren Jugendjahre das Glück eines 
großelterlichen Hauſes genießen, im andern Fall wenigere 
und der Regel nach nur für die erſten Kinderjahre. Es 
iſt nicht ohne Bedeutung, wenn dem heranwachſenden Ge— 


303 


ſchlecht auch die Vorſtellungskreiſe des abſterbenden noch 
unmittelbar zur Anſchauung und Kenntniß gelangen. 

Die Kräfte der Stabilität und Beharrung ſind nirgends 
ſtärker als in den Gebieten der bäuerlichen Hofwirthſchaft, 
wo die Generationen am weiteſten auseinanderliegen, wenn 
zu den ſpäten Heirathen noch eine längere eheliche Frucht— 
barkeit hinzutritt. 

Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, daß auf die 
Frage, wie viel Generationen es etwa ſeien von der jezigen 
bis zu der von Shakeſpeare und Königin Eliſabeth, die Ant— 
wort eine andere ſein muß, wenn der Fragende ein Kind, 
ein Greis oder von mittlerem Alter iſt. Unwillkührlich 
aber ſuchen wir doch nach einem feſten Ausgangspunkt, 
und indem wir die Jugend als die künftige, die Greiſe 
als die vorangegangene Generation bezeichnen, ſehen wir 
einen ſolchen in dem mittleren Mannesalter. Schopen— 
hauer, der in geiſtreicher Spielerei die menſchlichen Lebens— 
alter zu der Reihenfolge der Planeten und ihrer Namen 
in Beziehung ſezt, weiſt den Jupiter als den Herrſchergott 
den Fünfzigjährigen zu, weil ſie die Beherrſcher ihres Zeit— 
alters ſeien in Staat und Geſellſchaft, in Kunſt und Wiſſen— 
ſchaft. Die leitenden und maßgebenden Altersklaſſen gelten 
als die Vertreter der jeweiligen Gegenwart, und ſo nennen 
wir das Zeitalter der franzöſiſchen Revolution das unſerer 
Großväter, obgleich es für die Greiſe die Generation ihrer 
Väter, für die Jungen die ihrer Urgroßväter iſt. 

Ein Jahrhundert iſt eine dunkle, imponirende, unſern 
natürlichen Maßſtab überſchreitende Zeitgröße; die Gene— 


ration aber, der Altersabſtand von Vätern und Söhnen 
iſt uns ein anſchauliches und verſtändliches Zeitmaaß. Die 
ganze Weltgeſchichte tritt uns menſchlich näher und rückt 
enger zuſammen, wenn wir uns vorſtellen, wie oft wir den 
uns bekannten Weg vom Sohn zum Vater zurückzulegen 
haben. Der Unterſchied in den Anſchauungen und dem 
Ideenkreiſe der Eltern und Kinder erſcheint uns als ein 
relativ kleiner und mehr als leichte Schattirung innerhalb 
derſelben Grundfarbe, und da muß es uns überraſchen, 
daß wir dieſen Unterſchied nur zu verdreifachen und zur 
Maſſenwirkung zu verdichten haben, um zu Friedrich dem 
Großen und Voltaire, zu Klopſtock und Leſſing zu gelangen, 
Rur zu verſiebenfachen, um in ein ganz anderes europäiſches 
Staatenſyſtem und in die Vorſtellungskreiſe von Guſtav 
Adolph, Cromwell, Richelieu und dem großen Kurfürſten 
verſezt zu werden. Der 30te unſerer Ahnherrn aber mochte 
noch Thor und Odin Pferde ſchlachten, der bote ſeine 
Heerden durch die Triften von Mittelaſien führen. Nicht 
gewaltſame Umwälzungen und vulcaniſche Ausbrüche ge— 
ſtalten das Leben der Menſchheit in periodiſchen Anläufen 
um, ſondern die kleinen Differenzen in den Sitten und 
Anſchauungen der Väter und der Söhne ſteigern ſich zu 
den Maſſeneffekten, deren Inhalt und Reihenfolge wir die 
Kulturgeſchichte der Menſchheit nennen. 


Ueber die Malthus'ſchen Lehren. 


Die bekannten Säze von Malthus ſind ebenſo anfecht— 
bar in ihrer ſtatiſtiſchen und pſychologiſchen Begründung 
im Einzelnen als unumſtößlich und von einleuchtendſter 
Wahrheit im Ganzen. 

Es iſt freilich unhaltbar, daß, wenn in jeder Ehe auch 
nur vier Kinder geboren werden, die menſchliche Geſellſchaft 
ſich im Lauf von 25 Jahren verdoppeln müſſe. Denn die 
Geſellſchaft beſteht nur zu einem ſtarken Drittheil aus 
Perſonen im zeugungskräftigen Alter; auf den weit über— 
wiegenden Reſt fällt kein Zuwachs, ſondern nur Abgang. 
Dagegen wird allerdings, wenn auf die jungen Paare je 
vier Kinder gerechnet werden, die Kopfzahl der Regel nach 
nicht blos verdoppelt, ſondern verdreifacht, von zwei auf 
ſechs geſteigert werden, da die Eltern wohl ſo lange neben 
den Kindern leben können, bis auch dieſe fortpflanzungs— 
fähig geworden ſind. Die Frage, welcher Volkszuwachs als 
ein möglicher oder normaler anzuſehen ſein mag, ließ ſich 
mit den damaligen Mitteln der Statiſtik, wie ſie Malthus zu 
Gebot ſtanden, überhaupt nicht genügend beantworten; die 
Aufnahmen der lebenden Bevölkerungen nach Alter, Ge— 
ſchlecht und Familienſtand ſind für dieſen Zweck unerläßlich. 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 20 


306 
An der pſpchologiſchen Begründung finde ich den 

weſentlichſten Mangel darin, daß Malthus überhaupt nur 
die zwei Factoren ins Feld führt, den Geſchlechtstrieb und 
den Nahrungsſtand oder die Grenzen der Unterhaltsmittel, 
während in der That die Erſcheinungen von viel compli— 
cirterer Natur ſind. Zwar ſagt uns auch der Dichter: 

Einſtweilen bis den Bau der Welt 

Philoſophie zuſammenhält, 

Erhält ſie ) das Getriebe 

Durch Hunger und durch Liebe. 


Allein hier iſt doch mehr nur von den großen Haupt— 
triebrädern der ganzen geſellſchaftlichen Maſchine die Rede. 

Es iſt ein leicht erklärlicher und faſt allgemeiner Irr— 
thum oder Euphemismus, der menſchlichen Natur einen 
Fortpflanzungstrieb beizulegen oder den Ausdruck Ge— 
ſchlechtstrieb in dieſem Sinne zu gebrauchen. Richtig ver— 
ſtanden, weiß die Pſychologie nichts von einem Trieb des 
Menſchen, ſeine Gattung fortzupflanzen, wohl aber kennt 
ſie zwei verſchiedene Triebe, deren combinirte Functionen 
eine ſolche Wirkung haben, nemlich den Trieb der Geſchlechts— 
luſt und den der Kinderliebe. Jener, ſo verſchiedene und 
ſo ideale Motive ſich ihm beigeſellen können, iſt doch auf 
die ſinnlichen Reize um ihrer ſelbſt willen gerichtet, nicht 
auf die von der Ordnung der Natur daran geknüpfte 
Wirkung, welche vielmehr denjenigen, die die erſten Er— 
fahrungen zu machen hatten oder den Cauſalzuſammenhang 
nicht durch Ueberlieferung kennen, als die' wunderbarſte 


) Die Natur. 


307 


Sache von der Welt vorkommen mußte. Der Trieb der 
Kinderliebe aber iſt die angeborene Geneigtheit der Er— 
zeuger, und zwar der Mutter in ſtärkerem Maaße als des 
Vaters, das vorhandene, das bereits entſtandene lebende 
Weſen wie einen Theil oder Anhang des eigenen Selbſt 
zu betrachten und die Sorge für ſeine Erhaltung und 
Wohlfahrt in die Reihe der eigenen und ſelbſtiſchen Inte— 
reſſen aufzunehmen. Die Luſt, überhaupt Kinder zu haben, 
iſts nicht die unmittelbare und nächſte Aeußerung dieſes 
Triebs der' Kinderliebe; ſie iſt allerdings ein durch dieſen 
noch latenten Trieb angeregtes Vorgefühl und Phantaſie— 
ſpiel; es haben aber noch andere Motive daran Antheil, 
das Verlangen, dem vergänglichen und verlaſſenen Ich eine 
Ergänzung, der Leere des Daſeins Inhalt und Ziel zu 
geben und der hinter aller Selbſtſucht immer noch verſteckte 
Wunſch, zu lieben und geliebt zu werden. 

Der Wunſch, Kinder zu haben, und der Sexualtrieb 
ſind pſychologiſch ganz unabhängig von einander; ſie treffen 
auch thatſächlich nur in einer kleinen Anzahl von Fällen 
zuſammen. Wenn die Erhaltung und Vermehrung der 
menſchlichen Gattung von dem Verlangen, Kinder zu haben, 
abhienge, ſo wäre es gar ſchlecht um dieſelbe beſtellt. Die 
Natur überliſtet uns gleichſam, indem ſie an etwas um 
ſeiner ſelbſt willen heftig Begehrtes eine nicht gewollte 
Wirkung knüpft, die mit dieſer Wirkung verbundenen 
Schmerzen, Sorgen und Laſten aber dann wieder durch 
einen zweiten Trieb, die Liebe zu dem Erzeugten zu er— 
20 * 


308 


leichtern und zu verſüßen, und das Erzeugte damit gegen 
den ſonſt ſicheren Untergang zu ſchüzen weiß. 

Keine Frau in der Welt wird jemals wünſchen ſo 
vielfache Mutter zu werden, als es phyſiologiſch möglich 
wäre, und kein Mann in der Welt wird auch nur nach 
dem hundertſten Theil der Vaterfreuden und Sorgen Ver— 
langen tragen, deren Objecte ins Leben zu rufen ihm weder 
Luſt noch Fähigkeit fehlen würde. Es handelt ſich hiebei 
keineswegs blos um Nahrung und Unterhalt, ſondern um 
eine Laſt von Sorgen und Störungen, die auch dem Reichſten 
nicht erſpart ſind, wenn, wie man ſagt, unter einem halben 
Duzend Kinder durchſchnittlich wenigſtens Ein Schmerzens— 
kind ſein wird. So lebhaft auch jene Triebe der Geſchlechts— 
luſt und Kinderliebe in uns ſein mögen, ſo ſteht ihrem 
unbeſchränkten Walten doch die mächtige Gegenwirkung 
zahlreicher anderer, von ihnen unabhängiger Triebe zur 
Seite, die zu Colliſionen führt und zu Compromiſſen nöthigt. 
Jedermann wünſcht im Leben vorwärts zu kommen, ſeine 
Kräfte und Anlagen frei zu entfalten, ſeine wirthſchaftliche 
Lage zu verbeſſern, ſeine Lebensgenüſſe zu ſteigern, zu 
einem ſorgenfreien und bequemen Daſein zu gelangen und 
gerade die Edelſten und Begabteſten wollen am wenigſten 
in Erwerb und häuslichen Dingen aufgehen. Ja der Trieb 
der Kinderliebe ſelbſt gebietet eine Begrenzung; der kleineren 
Zahl kann man größere Sorgfalt widmen, ein größeres 
Erbtheil zuwenden, die Erhaltung ihrer geſellſchaftlichen 
Stellung ſichern. 

Malthus unterſcheidet unter den Checks oder Hemm— 


309 
niffen gegen ein Uebermaß der Kinderzeugung, zu welchem 
er eine natürliche Tendenz annimmt, ſoweit dieſelben in 
menſchlichen Handlungen liegen, nur zwei Arten, die mo— 
raliſche Enthaltſamkeit auf der einen, und die Laſter der 
Proſtitution, Fruchtabtreibung ꝛc. auf der andern Seite; 
wobei er freilich unbeſtimmt läßt, wieweit das Prädikat 
„moraliſch“ bei den verſchiedenen Arten und Formen der 
Enthaltſamkeit gelten ſoll. In Wahrheit aber ſcheint hier 
zwiſchen Tugend und Laſter ein weites Feld von Motiven 
zu liegen, die weder moraliſch noch unmoraliſch zu nennen, 
ſondern der natürliche Gegendruck anderer Seelenkräfte 
ſind, die ebenſo gut zur menſchlichen Ausſtattung gehören. 
Wenn in einem Lande für Millionen von Ehen das régime 
conjugal herrſcht, die Zahl von drei Kindern nicht zu über— 
ſchreiten — im Gegenſaz zu dem numerum liberorum finire 
flagitium habetur, das Tacitus an unſern Vorfahren rühmt 
— wer will dieß moraliſch, wer unmoraliſch nennen oder 
entſcheiden, in welchen Fällen es das eine wäre, in welchen 
das andere? Relativ genommen, als Herrſchaft verſtän— 
diger Ueberlegung über blinde Begier, und zumal im Ver— 
gleich mit dem in Deutſchland ſo weit verbreiteten gemeinen 
Aſtarte- und Molochdienſt, der jährlich Hunderttauſende von 
zarten Kinderleben elender verkommen läßt, als wenn ſie 
einem glühenden Gözenbild in die Arme gelegt würden, 
mag man die Sitte immerhin zu den moraliſchen Enthal— 
tungen rechnen. Im Uebrigen würden die dabei vorherr— 
ſchenden Motive des Wohllebens und der Bequemlichkeit ge— 
rade keinen beſonderen Anſpruch auf jenes Prädikat erheben. 


310 


Wäre dem wirklich ſo, wie die Malthus'ſche Lehre 
ſagt, daß die Vermehrung der Bevölkerung nur an die 
der Nahrungsmittel gebunden iſt, daß die auf Fortpflan— 
zung bezüglichen Naturtriebe die Kraft und Tendenz haben, 
die Grenzen der Unterhaltsmittel fortwährend zu über— 
ſchreiten und nur durch Hemmniſſe verſchiedener Art inner— 
halb derſelben feſtgehalten werden, ſo wäre ein eigentlicher 
Fortſchritt der Menſchheit in ihrem wirthſchaftlichen Leben 
wie in ihrer Geſittung nicht denkbar. Eine ſtetige Steige— 
rung und Verfeinerung der Bedürfniſſe und Lebensgenüſſe 
könnte nicht eintreten, wenn jede Lücke gleich ausgefüllt, 
jeder Ueberſchuß an Mitteln von dem verſtärkten Nachwuchs in 
Anſpruch genommen würde. Die Geſellſchaft bliebe an die 
erſte Stufe ihrer Lebensweiſe gefeſſelt. Die natürliche 
Neigung der Menſchen, ihre Glückſeligkeit im Ganzen, ihre 
Annehmlichkeiten des Lebens zu ſteigern, muß offenbar 
über ſtärkere pſychiſche Kräfte verfügen, wenn es den ge— 
ſchlechtlichen Neigungen nicht gelingt, alle neuen wirthſchaft— 
lichen Mittel in ihre Dienſtbarkeit zu bringen. An die 
Stelle des aus den Malthus'ſchen Säzen folgenden Geſezes, 
daß die Geſellſchaft die Tendenz habe, jede Steigerung 
ihrer wirthſchaftlichen Mittel mit einer entſprechenden Ver— 
mehrung der Bevölkerung zu begleiten, ſcheint eine andere 
Regel geſtellt werden zu dürfen, daß jedes zur Geſittung 
berufene Volk die Tendenz hat, ſein Einkommen raſcher zu 
vermehren als ſeine Kopfzahl, und mit dem Zuwachs an 
Perſonen in einer ſtetig wachſenden Entfernung hinter dem 
Zuwachs an wirthſchaftlichen Mitteln zurückzubleiben. Denn 


311 


wenn der Quotient, d. h. die Summe der Bedürfniſſe und 
Lebensgenüſſe für den Einzelnen ſtetig anwachſen ſoll, ſo 
dürfen der Dividendus, das Volkseinkommen und der Di— 
viſor, die Volkszahl, ſich nicht in gleicher Proportion ver— 
mehren. 

Es iſt dieß nicht eine Widerlegung oder Umſtoßung 
der Malthus'ſchen Säze, ſondern nur eine verſchärftere 
Faſſung. Nach Malthus ſoll und wird der Volkszuwachs 
nur immer gleichen Schritt halten wollen mit der Steigerung 
der wirthſchaftlichen Mittel, nach der obigen Formel kann 
derſelbe nicht einmal bis zu dieſer Grenze reichen, ſondern 
muß iminer um einen Schritt, deſſen Maaß ſelbſt im Wachſen 
begriffen iſt, dagegen zurückbleiben. Nur hat Malthus die 
natürlichen Checks nicht vollſtändig aufgezählt und die ſitt— 
lich indifferenten, die ſpontane Gegenwirkung des übrigen 
Trieblebens nicht genug beachtet. 

Die Vermehrung des Volkseinkommens und der Volks— 
zahl bleiben auch ſo Correlate und dieſe vou jener ab— 
hängig. 

Da jedoch die Steigerung des Einkommens in erſter 
Linie auf der Thätigkeit und Energie der Völker beruht, 
erſt in zweiter anf der Gunſt natürlicher Bedingungen und 
angeſammeltem Kapital, ſo hängt auch der Volkszuwachs 
von den moraliſchen und intellectuellen Eigenſchaften der 
Völker ab. Nur ein fleißiges, thatkräftiges und intelligen— 
tes Volk kann ſeine Zahl namhaft und nachhaltig ſteigern. 
Da die Erhöhung des Quotienten auf verſchiedene Weiſe 
möglich iſt, ſo iſt auch das Verhalten der civiliſirten Völker 


312 


in dieſem Punkt ein ſehr verſchiedenes, wie das Beiſpiel 
von Frankreich gegenüber von England und Deutſchland 
zeigt. Die Colonialländer ſind hiebei immer in einer ganz 
exceptionellen Lage. 

Die Frage, welcher Volkszuwachs als ein möglicher, 
natürlicher, normaler anzuſehen wäre, läßt ſich nicht all— 
gemein für die Menſchheit überhaupt, alſo in einer für 
Neger, Indianer, Chineſen, Europäer u. ſ. w. gleich— 
mäßig geltenden Weiſe, ſondern nur für die alten euro— 
päiſchen Kulturländer ſtellen, für welche auch allein die 
erforderlichen ſtatiſtiſchen Mittel wenigſtens nothdürftig vor— 
handen ſind. : 

Wenn man nur die Grenzen der phyſiologiſchen Mög— 
lichkeit aufſucht und etwa rechnet, daß jede Frau während 
einer 30jährigen Fruchtbarkeitsperiode 30, oder auch nur 
20 oder 15 Kinder zur Welt bringen könnte, ſo gelangt 
man zu Reſultaten, wie wenn man mit den Eiermillionen 
beim Lachs, Kabliau oder Hauſen Ernſt machen wollte. 
Die phyſiologiſche Möglichkeit iſt pſychologiſch durch die 
Freiheit der Motive begrenzt und die Frau nicht als Ge— 
bärmaſchine anzuſehen. 

Es handelt ſich zuerſt darum, wie viele Jahresklaſſen 
einer weiblichen Bevölkerung ſind als im fruchtbaren Alter 
ſtehend zu zählen und der weiteren Berechnung zu Grund 
zu legen? 

Es iſt nun nicht in Abrede zu ſtellen, daß einerſeits 
17jährige Frauen Mütter werden und andererſeits auch 
48 und 50jährige, und daß überhaupt die Fruchtbarkeit 


313 


bei den meiſten Frauen erſt in der zweiten Hälfte oder 
gegen Ausgang der vierziger Jahre zu Ende geht. Aber 
es werden wohl nicht dieſelben Frauen ſein, die mit 17 
Jahren und dann auch noch mit 48 Jahren geboren haben. 
Wenn auch hie und da ſchon eine ſolche Ausnahme vorge— 
kommen ſein mag, ſo iſt doch unzweifelhaft, daß der Regel 
nach diejenigen, die früh zu gebären angefangen haben, 
auch früher damit aufhören, und daß diejenige Dauer der 
weiblichen Fruchtbarkeit, die praktiſch in Betracht kommen 
kann, nicht nach den extremen Grenzjahren bemeſſen werden 
kann. Es iſt an einem anderen Orte gezeigt worden, daß 
die durchſchnittliche Dauer der ehelichen Fruchtbarkeit ſich 
um die Grenze von 12—13 Jahren bewegt, jedoch zuzu— 
geben, daß hiebei ſchon Malthus'ſche Erwägungen, die hier 
noch zu ignoriren ſind, mitwirken und daß die natürliche 
Dauer der weiblichen Fruchtbarkeit erheblich weiter hinaus— 
zurücken iſt. 

Ich glaube gemäß den dort gegebenen näheren Aus— 
führungen eher zu hoch als zu niedrig zu greifen, wenn 
ich (wie Roſcher) dieſe Grenze zu 22 Jahren annehme und 
demgemäß 22 Jahresklaſſen der weiblichen Bevölkerung als 
für die Fortpflanzung der Gattung praktiſch in Betracht 
kommend rechne. Man kanu dabei zweifeln, wie dieſer 
Zeitraum abzugrenzen iſt, ob man die Periode vom 18ten 
bis 40ten oder vom 20ten bis 42ten für geeigneter hält; 
im erſten Fall wird, weil die jüngeren Klaſſen zahlreicher 
ſind als die älteren, die Geſammtzahl etwas größer, doch 
iſt der Unterſchied nicht ſehr erheblich. Im einen wie im 


314 


andern Fall iſt vorausgeſezt, daß die außerhalb jener 
Grenzen liegenden Geburten durch die weit zahlreicheren 
Fälle innerhalb derſelben reichlich ausgeglichen werden, in 
welchen die Fruchtbarkeit erſt ſpäter beginnt oder früher 
erliſcht. Die Mitte zwiſchen jenen beiden Berechnungs— 
arten wird gefunden, wenn man das Alter von 19 bis 
41 Jahren zu Grunde legt. Nach den Altersaufnahmen 
aus mitteleuropäiſchen Ländern ergiebt dieß auf 1000 Ein— 
wohner 165 im Alter der Fruchtbarkeit ſtehende weibliche 
Perſonen, oder 16,5% einer Bevölkerung. 

Es fehlt an genügendem ſtatiſtiſchem Material, um 
den Procentſaz der unfruchtbaren Frauen oder, richtiger, 
Ehen genauer feſtzuſtellen. Die vereinzelten Zählungen 
geben ein von 10—20% ſchwankendes Reſultat. Nach 
meinen, allerdings auch beſchränkten Notizen fand ich ca 7 
der Ehen von noch gebärfähigen Frauen unfruchtbar. Für 
den nicht zur Verheirathung gelangenden Theil der weib— 
lichen Bevölkerung iſt in keinem Fall ein günſtigeres Er— 
gebniß anzunehmen, da im Allgemeinen doch die geſünderen 
und gebrechenfreieren Frauen in die Ehe treten. Man iſt 
daher ſicher, eher hinter der Wahrheit zurückzubleiben, wenn 
man, da es ſich bei dieſem ganzen Verfahren doch nur um 
runde und annähernd giltige Ziffern handeln kann, an— 
nimmt, daß unter jenen 165 Frauen 15 als unfruchtbar 
und ſomit 150 als für die Fortpflanzung geeignet gelten 
können. 

Nun hängt die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung natür— 
lich davon ab, wie viele Geburten durchſchnittlich je auf 


315 


Eine Frau während der Dauer ihrer productiven Periode 
fallen. Rechnet man je 3 Geburten auf Eine Frau, ſo 
treffen auf 1000 Einwohner 55 Geburten - 20 (20,45). 


Bei je 4 Geburten ergeben 19 oder 27 (27,27) 
Geburten auf 1000 Einwohner, bei je 5 Geburten 34 (34,09), 
bei je 6 Geburten 41 (40,9) bei je 7 Geburten 48 (47,7), 
bei je 8 Geburten 54 (54,5) u. ſ. w 

Hier fragt es ſich nun aber weiter, welche Zahl von 
Sterbfällen man dieſen Geburtenziffern gegenüberzuſtellen 
hat, wenn man ſich nicht an die rein thatſächlich gegebenen 
durchſchnittlichen Sterblichkeitsziffern der europäiſchen Län— 
der, ſofern dieſe ſchon der Ausdruck für pathologiſche Zu— 
ſtände ſind, halten darf, ſondern die möglichen, normalen, 
wenn auch nicht rein idealen Verhältniſſe ſucht. 

Dieſes rein ideale Verhältniß wird von Hofmann, 
dem hierin auch Wappaeus folgt, in der Weiſe gefunden, 
daß, wenn der Abgang durch Todgeburten und Kinder— 
ſterblichkeit auf 10 Procent der Geborenen reducirt, die 
übrigen aber alle das natürliche Lebensziel von 75 Jahren 
erreichen würden, unter der Annahme von 40 Geburten 
auf je 1000 Menſchen (1: 25 Lebenden) der jährliche Ab— 
gang ½¼ 56 50 — 1¼ß30 der lebenden Bevölkerung be— 
tragen würde, alſo 1: 57,7 Lebenden, oder auf je 1000 E. 
17,3 Sterbfälle. Nach dieſem Phantaſiebild würde die 
jährliche Zunahme bei 40 Geburten und 17,3 Sterbfällen 
22,7 Perſonen auf 1000 ausmachen oder 2,27% der Be— 
völkerung. 

Die Vorausſezungen dieſer Rechnung erinnern ſo leb— 


316 


haft an die Fabeln von einem Saturniſchen Zeitalter, daß 
man auch ſchon eine nur entfernte Annäherung wirklich 
vorkommender Zahlen an jenen Maßſtab für rein unmög— 
lich halten möchte. Um ſo überraſchender iſt es, daß es 
wirklich ein europäiſches Land giebt, deſſen Mortalität 
wenigſtens nur unbedeutend hinter jenem idealen Kanon 
zurückzuſtehen ſcheint. In den 20 Jahren von 1841—60 
ſind in Norwegen bei einer mittleren Bevölkerung von 
1,409,259 Einwohner im Jahresdurchſchnitt einſchließlich 
von 1904 Todgeborenen 26,690 Sterbfälle eingetreten, was 
eine Sterblichkeit von 18,94 p. m. oder 1: 53,1 ergiebt. 
Dabei hat allerdings die jährliche Geburtenzahl nicht 40, 
ſondern nur 33,2 p. m., und andererſeits die Kinder— 
ſterblichkeit des erſten Jahres nicht blos 10%, ſondern 
mehr als das doppelte, 19% der lebend geborenen, alſo 
mit Einſchluß von 4% Todgeborenen 23% aller Geborenen 
betragen. 

Die für England und Wales für den Zeitraum 
1841—50, ſowie für Schweden pro 1856—60 angegebene 
Sterblichkeitsziffer iſt mit einem Zuſchlag für die Todge— 
borenen ebenfalls nicht höher als 21—22 p. m. 

Man nimmt nun zwar, und wohl mit Recht an, daß 
die Sterbeliſten theils überhaupt, theils insbeſondere in den 
Handel und Schifffahrt treibenden Ländern, wo Viele außer— 
halb ihres Wohnſizes ſterben, unvollſtändig ſind, und es 
mag dieß beſonders für England und Norwegen zutref— 
fend ſein. 

Allein ſelbſt wenn man die Zahlen noch etwas erhöht, 


317 


bleibt es immer noch unerklärt, daß fie jenem Ideal jo 
nahe kommen, während doch die Kinderſterblichkeit thatſäch— 
lich eine doppelt ſo große, als die dort angenommene war 
und von 100 Geborenen nicht 90, wie dort vorausgeſezt 
wird, ſondern nur etwa 11—12 das 75. Lebensjahr zu 
erreichen pflegen. 

Die Löſung der Schwierigkeit iſt wohl darin zu ſuchen, 
daß jene Hofmann'ſche Rechnung einen Widerſpruch in ſich 
ſchließt, indem ſie einerſeits eine ſtabile Bevölkerung voraus— 
ſezt, wenn ſie die 75jährigen als ½s der Lebenden an— 
nimmt, und andererſeits eine wachſende, wenn ſie auf 25 
Lebende jährlich eiue Geburt, oder nach Abzug eines Zehn— 
theils auf 1000 Einwohner einen Zuwachs von 36 annimmt. 
Die Fiction, daß gemäß dem Bibelſpruch von den 70 und 
wenn es hoch kommt, 80 Jahren alle Menſchen erſt mit 
75 Jahren ſterben, führt auch bei einer viel kleineren Ge— 
burtenzahl als 36 p. m. zu einem Anwachſen der Bevöl— 
kerung, bei welchem die jüngſte Altersklaſſe mehrmals ſo 
zahlreich ſein müßte als die älteſte, ſomit die 75jährigen 
nicht %75, ſondern ein mehrfach kleinerer Bruchtheil aller 
Lebenden ſein würden. 

Eben darin liegt auch der Grund, daß unter günſtigen 
wirthſchaftlichen Bedingungen bei raſchem Anwachſen der 
Bevölkerung, ſobald nur die Kinderſterblichkeit ſich inner— 
halb mäßiger Grenzen bewegt, die allgemeine Sterblichkeits— 
ziffer eine ſehr niedrige werden kann, weil die alten, in 
die Sterbereihe einrückenden Altersklaſſen numeriſch viel 
ſchwächer ſein werden, als die mittleren und jüngeren. 


318 


Daraus erklären ſich die günſtigen Ziffern bei England 
und Norwegen für die betreffenden Zeitperioden. 

Verzichtet man darauf, im Wege der Conſtruction eine 
ideale Sterblichkeitsziffer zu finden und beſchränkt man ſich 
darauf, an der Hand des ſtatiſtiſchen Materials, das der 
Erfahrung entnommen iſt, die relativ günſtigſten, am 
wenigſten ſchon den Eindruck pathologiſcher Erſcheinungen 
machenden Verhältniſſe aufzuſuchen, ſo überzeugt man ſich, 
daß eine Sterblichkeit von 1:50 oder 20 auf Tauſend, 
als das Niedrigſte und Günſtigſte anzuſehen iſt, das wenig— 
ſtens bis jezt überhaupt nur ſelten, aber jedenfalls noch 
nie in einem längeren Zeitraum von mehreren Jahrzehen— 
den, und nur von den civiliſirteſten Völkern in der günſtig— 
ſten Entwicklungsperiode einigermaßen erreicht worden iſt. 

Dieſe Grenze iſt auch nur denkbar bei einer mäßigen 
Geburtenzahl; ſie wird mit ſteigender Fruchtbarkeit ſtetig 
höher hinaufgerückt werden, weil dann in der lebenden Be— 
völkerung die jüngſten Jahresklaſſen mit der größten Lebens— 
gefährdung relativ immer ſtärker vertreten ſein werden. 

Sieht man nun auf die obigen Annahmen hinſichtlich 
der mit der wachſenden Geburtenzahl für jede einzelne Frau 
ſteigenden Fruchtbarkeit im Ganzen zurück, ſo mögen ſich 
mit annähernder Richtigkeit etwa die aus der folgenden 
Tabelle erſichtlichen Normen ergeben. 


319 


Auf je 1000 Perſonen treffen 


bei je Geborene Geſterbene 9 n Verdopplungsperiode 
3 Geburten per mille 
für eine Frau 20 20 0 0 
— 1 ’ 5 139 Jahre 
— 5 — 34 24 10 69,6 
— 6 — 41 26 15 46,3 
— 7 — 48 28 20: 35 


Es iſt leicht, dieſe Tabelle durch Einſchaltung von 
Zwiſchengliedern für 3½, 4½ u. ſ. w. Geburten für je eine 
der 150 angenommenen Frauen zu ergänzen. 

Der von Malthus zu Grund gelegte Fall, daß auf eine 
Ehe 4 Kinder kommen, führt alſo nach dem Obigen nicht 
zu einer Verdopplung alle 25, ſondern erſt alle 139 Jahre. 

Es mag nicht ohne Intereſſe ſein, der obigen Tabelle 
die faktiſchen Verhältniſſe in einigen Hauptländern Europas 
gegenüberzuſtellen, wofür die Daten theils dem Werk Sta- 
tistique internationale von Quetelet und Heuſchling, Bru— 
relles 1865, theils neueren Quellen entnommen ſind. 

Es kamen auf je 1000 Einwohner (mit den Todgeborenen) 


Natürl. 285 
Periode Geburten Sterbfälle Zuwachs eee ee 
p. mille een 
Frankreich 1851-60 26,2 23,9 2,3 302 
Belgien 1851-60 31,6 23,7 eg 88 
England*u. Wales 1851—60 32,4 23,3 10,1 69,7 
Niederlande 1850 —59 34,3 25,9 8,4 82,8 
Norwegen 1851—60 34,7 18,9 15,8 44 
Bayern 1860-68 37,3 30,4 6,9 100 
Preußen 1851—60 39,1 29 10,1 69,7 
Sachſen 1859. 6 % 2 18,1 53 


Württemberg 1868—74 42,6 33,3 9,3 75 


) mit Interpolation der Todgeborenen. 


320 


Man ſieht, die thatſächlichen Verhältniſſe der wichtig— 
ſten 0 Kulturländer erreichen in keinem Fall 
weder die obere noch die untere Grenze jener fingirten 
Normaltabellen, bewegen ſich aber in großer Wannigfaltig- 
keit innerhalb jener Extreme. 

Man ſieht ferner was dazu gehören würde und wie— 
weit alle dieſe Völker davon entfernt ſind, einen Jahres— 
zuwachs von 2 Procent zu erreichen. 

Wenn man von einzelnen Jahrzehenden oder Jahr— 
fünften beſonders proſperirender Zuſtände abſieht und die 
lezten 50—60 Jahre ſeit den erſten zuverläßigeren Volks— 
zählungen zuſammenfaßt, ſo iſt kein einziges Volk in Europa, 
das einen durchſchnittlichen Jahreszuwachs von 1½ Pro— 
cent nachweiſen könnte. Nur England (im engeren Sinn) 
und das Königreich Sachſen mit 1,3— 1,4% reichen nahe 
an dieſe Grenze hin. 

Wenn in einigen Colonialländern, wie im Unionsge— 
biet, die Grenze von 2 Procent auch abgeſehen von der 
Einwanderung durch rein inneren Zuwachs ſchon erreicht 
und überſchritten worden ſein ſollte, was immer noch ſehr 
anfechtbar iſt, ſo ſind die Verhältniſſe hier ſo abweichend 
und ſingulär, daß weder für noch gegen die Malthus'ſche 
Theorie Argumente daraus geſchöpft werden können. 

Denken wir uns, daß nach Art eines altlatiniſchen 
Ver sacrum, wie wir ihn aus dem ſchönen Uhlandiſchen 
Gedichte kennen, etwa 1000 junge Paare unter günſtigen 
Umſtänden eine Pflanzung gründen. Die jungen Frauen 
werden hier nicht wie in einer alten Geſellſchaft 16, ſondern 


321 


50 Procent der Bevölkerung bilden; fie werden nicht 25 
Jahre, ſondern 3 bis 4 Jahre nöthig haben, um die Kopf— 
zahl der Colonie zu verdoppeln. Alte Leute wird es hier 
viele Jahre lang noch gar keine geben; dagegen wird es 
wimmeln von jungem Volk. Die Generationen werden 
deutlich von einander geſchieden ſein; gewiſſe Altersſtufen 
werden lange Zeit ganz herausfehlen; die Bevölkerung wird 
keine continuirliche, lückenloſe Reihe von Altersklaſſen bilden. 
Die Fruchtbarkeit derſelben wird ſich in den größten 
Schwankungen bewegen; ſie wird zeitweiſe ſehr klein werden, 
wenn eine Generation ſchon aufgehört hat productiv zu fein 
und die nächſte noch nicht recht angefangen, dann wieder 
ſehr groß, wenn das neue Geſchlecht ganz in das ent— 
ſprechende Alter eingerückt iſt. Die Folgen einer ſo eigen— 
thümlichen Zuſammenſezung der erſten Geſellſchaft werden 
wohl allmälig unmerklicher werden und zulezt ganz ver— 
ſchwinden, aber es werden nicht nur Generationen, ſondern 
Jahrhunderte nöthig ſein, bis ſich alle Nachwirkungen für 
die Zuſammenſezung des Volks nach Altersklaſſen verloren 
haben, zumal wenn die Urſache, das Eintreten junger Paare, 
ſich periodiſch durch Nachwanderungen erneuert. 

Nicht ſo deutlich und rein, wie in dieſem fingirten 
Beiſpiel, aber im Ganzen kommen doch alle Colonialſtaaten 
auf eine ſehr ähnliche Weiſe zu Stande. Die erſte An— 
ſiedlung geſchieht durch Männer in jungen oder mittleren 
Jahren, die Frauen mitbringen oder ſich zu verſchaffen 
haben; die einzeln oder in Schaaren Nachrückenden ge— 
hören lange Zeit den Altersſtufen an, in denen man zu 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 21 


322 


Wagniß und Abentheuer aufgelegt iſt; die Zahl der Greiſe 
iſt verſchwindend klein in ſolcher Geſellſchaft, die der Kinder 
und jungen Altersklaſſen wächst in rapiden Verhältniſſen 
an. Heute noch ſind in den Vereinigten Staaten unter 
1000 Einwohner nur 14 über 70 Jahre alt, in Frankreich 
37, und die 22 Jahresklaſſen der gebärfähigen Frauen 
machen dort nicht 16, ſondern 18— 19/0 der lebenden Bevöl— 
kerung aus. Dieſe Anomalieen in der Zuſammenſezung der 
Bevölkerung hat man ſich nach rückwärts als wachſend vor— 
zuſtellen. Der Verſchmelzungsproceß der Generationen, wie 
er bei den alten Kulturvölkern längſt vollzogen iſt, wird, 
je weiter man zurückgeht, deſto unausgeglichener, und dabei 
treten durch den Umfang und die großen Fluctuationen 
der Einwanderungen immer neue Störungen und Unregel— 
mäßigkeiten ein. Man müßte, um ſich über den natürlichen 
Zuwachs in den Colonialgebieten ein ſicheres Urtheil zu 
bilden, Altersaufnahmen für die betreffenden Perioden 
haben. 

Wenn man dazu aber bedenkt, wie in fruchtbaren, 
jugendlich aufſtrebenden Colonieen, wo der Unterhalt ohne 
viel Arbeit weit mehr durch Viehzucht als Ackerbau ge— 
wonnen wird und beſtes Land im Ueberfluß zu haben iſt, 
ſehr frühe Heirathen zuläßig und üblich ſind, die Frucht— 
barkeit der Ehen ſowohl nach ihrer Dauer als der Ergiebig— 
keit eine ſehr große iſt, wie die Frauen, von Feld- und 
ſchwererer häuslicher Arbeit entbunden, ſich der Pflege der 
Kinder widmen können, wie dadurch großer Kinderreichthum 
neben mäßiger Kinderſterblichkeit erreicht wird, ſo iſt es 


dort in der That denkbar, daß, wie die obige Tabelle fordert, 
auf 1000 Einwohner 48 Geburten und nicht mehr als 28 
Todesfälle, ſomit ein natürlicher Jahreszuwachs von 20 
p. m. trifft. 

Ob dieſe Grenze im Unionsgebiet in der früheren Zeit 
noch ſo namhaft und bis 28 und 29 p. m. überſchritten 
worden iſt, wie Wappaeus (Bevölkerungsſtatiſtik I. 124) an⸗ 
nimmt, muß man bezweifeln, wenn man bedenkt, daß hiezu 
etwa ein Verhältniß von 50 Geburten zu 21—22 Sterb— 
fällen auf 1000 Einwohner erforderlich wäre, ſomit eine 
Durchſchnittsfruchtbarkeit der Ehen von 7—8 Kindern neben 
der ſchwächſten Kinderſterblichkeit. Gegen die Berechnung 
iſt unter anderem einzuwenden, daß wir für das Unions— 
gebiet nur die Einwanderung aus Europa, nicht aber die 
von der Landſeite, von den damaligen franzöſiſchen und 
engliſch gebliebenen Beſizungen kennen, die doch ſowohl nach 
geſchichtlichen Zeugniſſen als innerer Wahrſcheinlichkeit ſehr 
erheblich war und daß auch der geſammte, heimlich betrie— 
bene Import von Negerſclaven unbeachtet bleibt. 

Bei den alten Kulturvölkern dagegen, wo die Schichten 
der Generationen längſt in einander verwachſen ſind und die 
Reihen der lebenden Altersklaſſen mit denen einer Sterbe— 
tafel noch einige natürliche Aehnlichkeit bewahrt haben, wird 
ein Jahreszuwachs von 2 Procent noch niemals vorgekommen 
ſein und ſchwerlich jemals, wenigſtens nicht für einen län— 
geren Zeitraum erreicht werden können. Unſer Welttheil 
hat noch niemals eine Periode günſtigerer und großartigerer 
Entwicklung aller wirthſchaftlichen und ſocialen Verhältniſſe 


21 * 


324 


geſehen, als die lezten 50 Jahre; feine Bevölkerung iſt 
rund von 200 auf 300 Millionen geſtiegen, und doch macht 
dieß erſt 0,8% jährlichen Zuwachs und diejenigen Völker, 
bei denen die Zunahme die ſtärkſte war, haben das Doppelte 
dieſes Durchſchnittes noch nicht erreicht. 

Es waren dabei viele und gewaltige Hemmungen oder 
checks im Malthus'ſchen Sinn erforderlich, um den Zuwachs 
nicht noch viel größer werden zu laſſen. Den kleinſten 
Antheil daran mag der Factor der „moraliſchen“ Enthalt— 
ſamkeit haben, einen beträchtlich größeren die unmoraliſchen 
Potenzen, die Malthus aufzählt; ſodann die repreſſiven 
Checks der Kriege und Epidemieen und das Sicherheits— 
ventil der Auswanderung. Gewiß der größte Antheil aber 
fällt auf jene Motive, die ſich weder als moraliſch noch als 
unmoraliſch bezeichnen laſſen, auf den natürlichen Gegen— 
druck anderer Triebe und Forderungen des menſchlichen 
Weſens, auf das allen geſitteten Völkern eigene Verlangen, 
ihr Einkommen raſcher zu ſteigern als ihre Zahl, den Quo— 
tienten von Gütern und Genüſſen des Lebens dadurch zu 
erhöhen, daß der Diviſor langſamer wächst als der Divi— 
dendus. 

Alle dieſe Ausführungen, welche theilweiſe gegen die 
Malthus'ſchen Säze ihre Spize zu kehren ſcheinen, wollten 
dieſe nur ergänzen und im Einzelnen berichtigen; ſie laſſen 
aber den Kern und das Weſen derſelben ganz unberührt, 
ja vielleicht nur in eine verſtärkte Beleuchtung treten. 

Nur mit Sophismen oder ſchiefen und halbwahren Ar— 
gumenten läßt ſich bekämpfen, daß die gewaltigſten Natur— 


325 


triebe auf eine maßloſe Vermehrung der Bevölkerungen 
hindrängen, daß ſie einer beſtändigen Hemmung und Re— 
preſſion durch andere Kräfte bedürfen, daß jener Drang 
und feine Hemmungen das Haupttriebrad aller geſchicht— 
lichen Entwicklung ſind. Die verſchiedenen Völker ſpiegeln 
ihren Werth und Charakter in nichts ſo deutlich ab, als 
in der Art, wie ſie jenen Conflict zwiſchen dem Geſchlechts— 
trieb und den übrigen Forderungen der menſchlichen Natur 
zur Löſung, welche Gefühle und Motive ſie dabei zum 
Opfer bringen, wohin der Schwerpunkt ihrer Compromiſſe 
deutet. Denn der Conflict ſelbſt iſt da und unabweisbar; 
weder der Einzelne noch die Geſellſchaft kann ihn ignoriren 
und an ihm vorübergehen. 

Ob und wenn ſich Malthus darin getäuſcht hat, daß 
er die natürliche Verdopplungsperiode einer Volkszahl zu 
niedrig annahm, iſt ganz gleichgiltig; ſeine Argumente da— 
für, daß die Vermehrung der Unterhaltsmittel nicht gleichen 
Schritt zu halten vermöchte mit der durch menſchliches 
Können und Wollen geforderten Progreſſion der Geſell— 
ſchaft, gelten für eine Verdopplungsperiode von 100 und 
noch mehr Jahren ſchließlich ebenſo gut wie für die von 
einer einzigen Generation. 

Es führt zu ſehr ernſten Betrachtungen, wenn man 
erwägt, daß einerſeits ein ſtetiges und anſehnliches Ueber— 
gewicht der Geburtenzahlen über die Sterbfälle als das 
Normale, und ein Stillſtand oder ganz ſchwacher Zuwachs 
einer Bevölkerung als eine krankhafte Erſcheinung betrachtet 
werden muß, und daß wir uns andererſeits auch ſchon eine 


326 


weit unter dem Normalen zurückbleibende Vermehrung in 
den alten Kulturländern gar nicht als einen für eine Reihe 
von Jahrhunderten andauernden Zuſtand vorzuſtellen ver— 
mögen. 

Ein Jahreszuwachs von 17% kann als ein mäßiges 
Verhältniß gelten und iſt in den lezten 60 Jahren in Eng— 
land, Preußen und den ſcandinaviſchen Ländern noch neben 
ſtarker Auswanderung erreicht oder überboten worden. 
Dennoch führt er zu der Conſequenz, daß das deutſche 
Reich bis zum Jahr 2000 eine Bevölkerung von etwa 160 
Millionen haben müßte. 

Auch diejenigen europäiſchen Völker, deren Zunahme 
die langſamſte geweſen iſt, ſind doch in der gleichen Periode 
immer noch um mehr als % jährlich gewachſen. Dieß 
Drittheilprocent ergäbe aber für das deutſche Reich nach 
weiteren 1000 Jahren ſeiner Geſchichte eine Einwohnerzahl 
von 1200 Millionen, und nach 2000 Jahren von 36 Mil— 
liarden. 

Wenn man rückwärts geht um 1000 Jahre bis in die 
Zeiten Karls des Großen, jo dürften, um im Ganzen % 
Jahreszuwachs zu erhalten, auf dem jezigen Areal des 
deutſchen Reichs damals nur etwa 130 Menſchen auf der 
Quadratmeile gewohnt haben, was zu den ſonſtigen That— 
ſachen aus jener Zeit, namentlich dem ſtarken Heerbann 
der germaniſchen Völker nicht paſſen will. Die Zunahme 
hat im Lauf der Jahrhunderte ſchwerlich mehr als / 
im Geſammtdurchſchnitt betragen. Und doch wenn wir auch 
nur dieß kleine Verhältniß der Rechnung für ein weiteres 


327 


Jahrtauſend in Ausſicht nehmen, jo gelangen wir gleich 
wieder auf eine fabelhafte Ziffer von 600 Millionen. 

Wenn ein Zuwachs, den wir, wo er in der Wirklich— 
keit vorkommt, von einem völligen Stillſtand der Volkszahl 
kaum noch unterſcheiden und nur als eine krankhafte Er— 
ſcheinung, als Folge von ganz anomalen Zuſtänden, als 
Symptom eines ſinkenden Volkes anzuſehen gewöhnt ſind, 
im großen Durchſchnitt der einzige auf die Dauer mögliche 
ſein ſoll, heißt das dann nicht ſo viel als: es iſt keinem 
Volk vergönnt, ſich in normaler und natürlicher Entwick— 
lung durch eine Reihe von Jahrhunderten oder gar Jahr— 
tauſenden zu erhalten, und einen auch nur nennenswerthen 
Ueberſchuß der Geburten über die Sterbfälle, der doch als 
das Naturgemäße gelten muß, zu behaupten? Die Maſſen— 
wirkung jenes pſychologiſchen Conflicts zwiſchen dem Zeu— 
gungstrieb und dem übrigen menſchlichen Triebleben er— 
ſcheint als eine ſo übermächtige Gewalt, daß kaum irgend 
ein Mittel denkbar bleibt, um zerſtörende Cataſtrophen und 
die repreſſiven Checks der Weltgeſchichte zu vermeiden. Die 
Völker ſcheinen wie durch eine Naturnothwendigkeit zum 
Untergang beſtimmt und man weiß nicht, ob das Bibelwort: 
ſeid fruchtbar und mehret euch, mehr ein Fluch oder mehr 
ein Segen ſein ſollte. Es darf uns nicht befremden, wenn 
die Malthus'ſchen Lehren den Theologen wie den im Leib— 
niziſchen Optimismus genährten Philoſophen als eine Ver— 
urtheilung des Weltplanes, als eine Verdächtigung der 
göttlichen Weisheit erſchienen. 

Wollte man ſich dagegen etwa auf China berufen, wo 


328 


jene monſtröſen, unglaublich erſcheinenden Ziffern von Hun— 
derten von Millionen Menſchen zur Wahrheit geworden 
ſind, wo ein mindeſtens 5 Jahrtauſende altes Volk eine 
abgeſchloſſene Welt bildet, ſo wäre zunächſt darauf zu er— 
wiedern: jenes Land iſt ſiebenmal ſo groß als Deutſchland, 
wärmer und fruchtbarer als die europäiſchen Länder; es 
gewährt im größeren Theil ſeines Gebiets zwei Jahres— 
erndten; das Volk lebt faſt ganz ohne Viehzucht von vege— 
tabiliſcher Nahrung; die Tödtung der Kinder, beſonders 
der Mädchen, wird im großartigſten Maaß betrieben und 
iſt durch Geſez geſtattet; und dennoch iſt die Dichtigkeit der 
Bevölkerung durchſchnittlich nicht ſo groß, wie in Sachſen, 
Belgien, England. Dazu iſt uns die Geſchichte des Landes 
und die Entſtehung dieſer großen Bevölkerung faſt völlig 
unbekannt. 

Wohl kann man jagen: bange machen gilt nicht, oder: 
wo ſo ein Köpfchen keinen Ausgang ſieht, ſtellt es ſich gleich 
das Ende vor. Man kann anführen, daß man vor ein 
paar Jahrhunderten die jezigen Volkszahlen für ebenſo un— 
möglich gehalten hätte. Man kann ſich auf unbeſtimmte 
Möglichkeiten, auf chemiſche Entdeckungen, techniſche Erfin— 
dungen, auf die unabſehbaren Wirkungen eines erweiterten 
Weltverkehrs berufen. Man kann davon träumen, daß der 
Stickſtoff der Luft ein menſchliches Nahrungsmittel wird, 
daß man mit Waſſerſtoffgas heizen und beleuchten wird, 
daß die Wälder aus fruchtbaren Bäumen beſtehen, mit eß— 
baren Pilzen bedeckt ſein werden, daß der Gartenbau an 
die Stelle unſerer Feldwirthſchaft tritt und zwei oder 


329 


mehr Jahreserndten ſtatt einer einzigen gewonnen werden 
u. ſ. w. 

Durch all dieſe und andere Einwürfe will ſich doch 
die einfache Schlußfolgerung nicht entkräften laſſen, daß 
der mäßige Jahreszuwachs von 1 Procent, der hinter dem 
faktiſchen Ueberſchuß der Geburten über die Sterbfälle der— 
malen noch zurückbleibt, für das deutſche Reich in zwei 
Jahrhunderten zu einer Bevölkerung von 300 Millionen, 
für Europa von 2300, in drei Jahrhunderten zu 650, be— 
ziehungsweiſe 4800 Millionen führt. Daß aber in einem 
zwiſchen dem 47ten und 5äten Grad nördlicher Breite ge— 
legenen Lande 30000 Menſchen auf der Quadratmeile leben 
ſollten, muß der nüchternen Ueberlegung als ein Unding 
erſcheinen. Es ſind alſo entweder durchgreifende Verän— 
derungen der Volksſitte oder großartige Checks der repreſ— 
ſiven Gattung unausbleiblich. 

Und auch der Betrachtung wird ſich kaum aus dem 
Wege gehen laſſen, daß einem reifen Kulturvolk eine ſtetige 
und friedliche Fortentwicklung, welche uns ohne ſtetige Ver— 
mehrung ſeiner Zahl nicht denkbar erſcheint, ſchon durch 
die Ordnung der Natur verſagt, daß einer Colliſion zwiſchen 
den dämoniſchen Gewalten des Geſchlechtslebens und den 
Grenzen der Unterhaltsmittel auf einer gegebenen Erdfläche 
nicht auszuweichen iſt, und daß dieſe Colliſion zu den regel— 
mäßigen Fermenten und nothwendigen Störungen gehört, 
durch welche die Völker gerüttelt, geprüft und umgewandelt, 
die Menſchheit ruhelos immer wieder auf neue Bahnen ge— 
drängt wird. 


330 


Ebenſo gewiß aber iſt, daß von ſolchen allgemeinen 
Zukunftserwägungen kein Weg zu praktiſchen Schlüßfolge- 
rungen für die Gegenwart führt. Wie der Dichter ſagt: 
wir, wir leben, unſer ſind die Stunden und der Lebende 
hat Recht, ſo wird und muß jede Generation ſich nach ihren 
Verhältniſſen und Bedingungen einrichten und den künftigen 
Geſchlechtern überlaſſen, es ebenſo zu halten. Sie würde 
ſo verfahren, auch wenn jene Schlüſſe auf die Zukunft noch 
viel ſicherer und unwiderlegbarer wären, als ſie etwa ſein 
mögen. 

Es mag jedoch wenigſtens Eine Nuzanwendung der 
Malthus'ſchen Säze auf die Gegenwart und die deutſchen 
Zuſtände hier geſtattet ſein. 

Der nationale Aufſchwung ſeit 1870 iſt auch von einer 

namhaften Steigerung der Trauungen und Geburten be— 
gleitet, welche wieder in den Erleichterungen des Erwerbs, 
in Freizügigkeit, Beſeitigung von Verehelichungshinderniſſen, 
Gewerbeordnung und geſteigerter wirthſchaftlicher Entwick— 
lung ihre Urſache hat. 

Eine Zuſammenſtellung über den Gang der Bevölke— 
rung in allen deutſchen Ländern gemäß den neu verein— 
barten Formularen liegt noch nicht vor, doch haben wir 
die Notiz, daß im Jahr 1872 in Preußen 1,023,500, in 
Bayern 201,500, in Württemberg 83000, zuſammen 1,3089000 
Geburten und 765000, 159000, 60000 zuſammen 985000 
Sterbfälle gezählt wurden, ſo daß, wenn man dieſe Ver— 
hältniſſe von drei Viertheilen des Reichs auch für das lezte 
Viertheil vermuthen und anwenden darf, im deutſchen Reich 


331 


in Einem Jahr 1,714000 Kinder geboren und 15288000 
Perſonen geſtorben wären, was einen Ueberſchuß von 
426000 = 1,12% ergiebt. Dieß macht für je 1000 E. 
42,7 Geburten, 31,5 Sterbfälle und 11,2 P. natürlichen 
Zuwachs. 

Es iſt viel eher eine zu niedrige als eine zu hohe 
Annahme, daß auf jene 1,714000 Kinder ein Abgang von 
30% für die im erſten Lebensjahr Geſtorbenen mit Ein— 
ſchluß der Todgeborenen fällt, daß alſo 514000 Kinder in 
Einem Jahr zur Welt kommen, nur um ſie alsbald, und 
die meiſten auf eine jämmerliche Weiſe, wieder zu verlaſſen. 

Nicht nur in Frankreich, über deſſen ſittliche Zuſtände 
hinſichtlich des Geſchlechtslebens wir uns ſo leicht mit ſehr 
unberechtigtem Phariſäerſtolz erheben zu dürfen glauben, 
auch in Belgien und den weit kinderreicheren germaniſchen 
Stämmen der Scandinavier und Engländer iſt jener Kinder— 
verluſt des erſten Lebensjahrs weit geringer, und der mittel— 
europäiſche Durchſchnitt, ſobald man Deutſchland wegläßt, 
geht nicht über 20% aller Geborenen. Wenn Deutſchland 
in dieſem Punkt ſo viel ungünſtigere Verhältniſſe gegen— 
über von Völkern darbietet, denen es ſich ſonſt in allen 
Merkmalen der Civiliſation gleichzuſtellen gewöhnt und be— 
rechtigt iſt, ſo wird Niemand phyſiſche Momente anzuführen 
vermögen, die das Kinderleben unter deutſchem Himmel 
ſchwerer gefährden, als im übrigen mittleren und nörd— 
lichen Europa, Niemand wird die Urſachen wo anders als 
in Handlungen und Unterlaſſungen der Menſchen, in übler 
Sitte, in leichtſinniger Kindererzeugung, in unverſtändiger, 


332 


gleichgiltiger, fahrläßiger oder gewiſſenloſer Behandlung 
des Kinderlebens ſuchen dürfen. Nur bei unſern ſlaviſchen 
Nachbarn im Oſten, deren Geſittung wir ſonſt der unſrigen 
nicht gleichachten, finden ſich ähnliche Verhältniſſe. 

Wenn man auch nur die mitteleuropäiſche Proportion 
von 20 Procent, wiewohl ſie ſelbſt ſchon keineswegs als 
das Natürliche gelten kann, zu Grunde legt, ſo ſind in 
Deutſchland nicht weniger als jährlich 170000 Kinder als 
Opfer dieſer Form des modernen Molochdienſtes und der 
unmoraliſchen repreſſiven Checks von Malthus zu betrachten. 
Wenn dieſe am Leben blieben, ſo würde der Jahreszuwachs 
ſchon 1½% betragen, wenn ſie, was wohl das Erwünſchtere 
iſt, gar nicht geboren würden, ſo würde der gleiche Zuwachs 
erzielt, wie vorher, aber unter Erſparung einer Unſumme 
von Leiden, Sünden und wirthſchaftlichen Nachtheilen. 

Wenn wir dahin gelangen könnten, daß ſtatt 40 Ge— 
burten nur 30, ſtatt 30 Sterbfällen nur 20 auf je 1000 
Seelen träfen, ſo bliebe der Jahreszuwachs unverändert, 
aber an die Stelle einer kranken Oeconomie des Geſchlechts— 
lebens träte eine geſunde und es würde einer der häßlichſten 
Flecken von der deutſchen Geſittung entfernt. 


Stadt und Land ). 


Stadt und Land unter allen denkbaren Rubriken mit 
einander zu vergleichen, dieſen Gegenſaz in jede Unter— 
ſuchung ſocialer Thatſachen hineinzutragen, iſt in der Sta— 
tiſtik ſchon längſt ganz beſonders beliebt und gebräuchlich. 
Man ſpricht von einer ſtädtiſchen und ländlichen Geburts-, 
Trauungs- und Sterbeziffer, von ſtädtiſcher und ländlicher 
Frequenz der unehelichen Geburten, der Selbſtmordfälle, 
der Verbrechen; man findet Abweichungen in der Körper— 
größe, der Militärtüchtigkeit, der mittleren Lebensdauer 
u. ſ. w. Es gehört dieſe Unterſcheidung, etwa neben Ge— 
ſchlecht und Alter, zu den Reagentien erſter Ordnung, die 
in der Analytik der Statiſtiker zur Anwendung gelangen. 

Wenn nur auch der Gewinn an Verſtändniß der Sache, 
an wirklicher Einſicht in den Zuſammenhang der Erſchei— 
nungen der Mühe und Sorgfalt entſpräche, die in ſolchen 
Unterſuchungen ſteckt! Aber wer, wenn er ſich durch all 
dieß Material durchgearbeitet hat, kann denn ſchließlich 
ſagen, ob nun wirklich etwa die ländliche Fruchtbarkeit größer 


) Ein Theil dieſes Aufſazes iſt Auszug und Umarbeitung einer 
ſchon früher (Württembergiſche Jahrbücher für Statiſtik und Landes— 
kunde. 1870. Seite 446 und ff.) geführten Unterſuchung. 


* 


iſt oder die ſtädtiſche, und ob hier mehr Leute ſterben oder 
dort? Es iſt bald ſo bald anders. Wenn ſich aber auch 
wirklich conſtantere Unterſcheidungsziffern nachweiſen laſſen 
ſollten, was iſt denn damit anzufangen, worin liegt der 
Grund der Abweichungen? 

Iſt denn überhaupt ein Cauſalzuſammenhang erkenn— 
bar zwiſchen der Größe der Wohnpläze und den Thatſachen 
der menſchlichen Biotik? Warum in aller Welt ſoll der— 
jenige, der einer größeren Anzahl von Menſchen durch 
längere Häuſerreihen nahe gerückt iſt, mehr Kinder er— 
zeugen oder weniger, länger leben oder kürzer, früher hei— 
rathen oder ſpäter, eine kleinere oder größere Neigung zu 
verbrecheriſchen Handlungen haben, als wer nur mit einer 
kleineren Zahl von Nachbarn und Genoſſen ſeines Wohn— 
plazes zuſammenlebt? Oder, wenn der Schwerpunkt in 
der Beſchäftigung liegen ſoll, warum ſollte der Handwerker 
früher ſterben oder ſpäter als der Bauer, die Tochter des 
Einen der Verſuchung ausgeſezter ſein oder leichter unter— 
liegen als die des Andern? Ein unmittelbarer Zuſammen— 
hang von Urſache und Wirkung iſt nicht erſichtlich; wenn 
er aber in Zwiſchengliedern liegt, ſo wären dieſe zu nennen 
und nachzuweiſen, auch zu zeigen, ob ſie überall und noth— 
wendig Plaz greifen, oder nur zuweilen und unter beſon— 
deren Bedingungen. 

Sodann faßt man gewaltſam das unter ſich Ungleichſte 
in Eine abjtracte Formel zuſammen, wenn man auf der 
einen Seite die kleinen Land-, wie die Haupt- und Groß— 
ſtädte, die Fabrik- und Handelspläze, die Size von Garni— 


3 


335 


ſonen, Hochſchulen, Gebäranſtalten, Kranken- und Findel— 
häuſern, von Strafanſtalten und Inſtituten aller Art in 
die Eine Rubrik „Stadt“ zwängt, auf der andern Hofgüter, 
Weiler, Bauerndörfer, oder engliſches und iriſches Pachter— 
thum, ſüdeuropäiſches Colonat, ruſſiſchen Gemeindebeſiz 
u. ſ. w. in die Uniform des Wortes „Land“ einkleidet. 
Das Weſentliche und Charakteriſtiſche ſo grundverſchiedener 
Dinge wird damit mehr verwiſcht und begraben, als mar— 
kirt und erkannt. Es iſt nicht viel anders als wenn man 
Weiß, Schwarz und Roth in den einen Farbentopf, Gelb, 
Grün und Violett in den andern werfen und dann aus 
den kleinen Nuancen des graubraunen Gemiſches die Natur 
jener einfachen Farbenelemente wieder herausdeuten wollte. 

Es war zwar rationell und unanfechtbar, wenn die 
Statiſtiker neuerdings mit Rückſicht auf die hiſtoriſchen Zu— 
fälligkeiten des Städtenamens die Begriffe von Stadt und 
Land ganz fallen ließen und die Unterſcheidung von Wohn— 
pläzen unter oder über 2000 Einwohnern dafür einſezten; 
doch iſt dadurch nur an die Stelle concreter geſchichtlicher 
Thatſachen eine willkührlich gegriffene numeriſche Grenz— 
linie gerückt worden; die größeren Bauerndörfer ſind nun 
den Landſtädten gleichgeſtellt; die Unterſcheidung deckt ſich 
noch weniger als ſchon vorher mit der von Ackerbau und 
Gewerbe; und die Bürgſchaft dagegen, daß in den Tabellen 
doch nicht immer wieder Gemeinden, die mit ihren Parzellen 
im Ganzen über 2000 Einwohner zählen, als Wohnpläze 
mit mehr als 2000 Einwohnern aufgenommen werden, iſt 
nicht hoch anzuſchlagen. Jedenfalls aber erſcheinen nun 


336 


jene Abweichungen in Fruchtbarkeit, Mortalität und Mora— 
lität nur noch unverſtändlicher, wenn dem abſtracten Moment 
der bloßen Einwohnerzahl eine magiſche Kraft zukommen 
ſoll, die Menſchen zeugungsfähiger, langlebiger und beſſer 
oder ſchlechter zu machen. 

Da nun aber alle dieſe Bemerkungen an der thatſäch— 
lichen und tiefgreifenden Bedeutung des ſocialen Factors 
„Stadt und Land“ nichts ändern können und wollen, ſo 
fühlt man das Bedürfniß, die Sache noch näher anzuſehen 
und den Knäuel von Cauſalverſchlingungen, der in den 
Ziffern der Tabellen zu ſtecken ſcheint, genauer zu entwirren 
und in ſeine Elemente auseinander zu legen. 

Man wird hier vor allem Andern die bevölkerungs— 
ſtatiſtiſchen Momente von den culturſtatiſtiſchen, die phy— 
iologiſchen von den pſychologiſchen Seiten der Sache unter— 
cheiden müſſen. Beides greift zwar wohl auch wieder in 
einander, darf aber darum doch nicht vermengt werden. 

Da zeigt ſich nun auch hier wieder der große Werth, 
der genauen Altersaufnahmen ganzer Bevölkerungen mit 
Unterſcheidung von Geſchlecht und Familienſtand zukommt. 
Erſt hiemit gewinnt die Statiſtik das unerläßliche Inventar 
des geſellſchaftlichen Perſonalbeſtandes und den vollen Ein— 
blick in das innere Getriebe der ſocialen Erſcheinungen und 
der Bewegung der Bevölkerungen. Und ſo liegt auch hier 
der Schlüſſel, um das bunte und widerſpruchsvolle Material 
der ſtatiſtiſchen Unterſuchungen über die ſtädtiſchen und 
ländlichen Bevölkerungen aus den einfachen und primären 
Urſachen abzuleiten und verſtändlich zu machen. 


j 
j 


337 


Ich glaube ein inſtruktives Beiſpiel zu wählen, wenn 
ich nach der Württembergiſchen Aufnahme von 1867 — 
die Ergebniſſe der neueren Zählung von 1871 ſind noch 
nicht ſo weit bearbeitet, — der Altersmiſchung der Stadt 
Stuttgart die eines rein ländlichen Bezirkes gegenüberſtelle 
und als Typus eines ſolchen das Oberamt Maulbronn 
wähle, in welchem auf 3,8 Quadratmeilen 22400 Ein— 
wohner in 23 Gemeinden, wovon nur ein einziger Wohn— 
plaz die Grenze von 2000 Einwohner um ein Weniges 
überſchreitet, in kleinbäuerlicher Dorfwirthſchaft ohne Fa— 
briken und ſtädtiſchen Gewerbebetrieb leben, das weder zu 
den armen noch zu den wohlhabenden Bezirken des alt— 
württembergiſchen Landes gerechnet wird, noch auch ſonſt 
ſinguläre Merkmale erkennen läßt. 

Zum beſſeren Verſtändniß ſind in der folgenden Ta— 
belle die entſprechenden Ziffern für die Geſammtbevölkerung 
Württembergs beigefügt. 

Von je 10000 Lebenden ſtanden im Jahr 1867 im Alter von 


in der Stadt Stuttgart im Bezirk Maulbronn im Landesdurchſchnitt 


0—5 Jahren 946 1423 1212 
5—10 „ 717 1226 1027 
10—15 „ 679 992 906 
15—20 „ 1224 846 940 
20—25 „ 1574 729 897 
25—30 „ 1203 770 832 
30—40 „ 1500 1200 1277 
40—50 „ 970 1113 1116 
50—60 „ 643 874 908 
60—70 „ 388 575 630 
70—80 „ 133 226 217 
80-90 „ 21 26 36 
„ 2 0 2 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 22 


338 


Wenn man die Altersklaſſen nur in drei Gruppen, 
0—15, 15—40, und über 40 Jahre zuſammenfaßt und 
die Ziffern auf Procente reducirt, ſo ergeben ſich 


im Alter von im Alter von im Alter von 

0—15 Jahren 15—40 Jahren + 40 Jahren 
für die Stadt 23,42% 55,01% 21,57% 
den Landbezirk 36,41% 35,45% 27,54% 
das Königreich 31,45% 39,46% 29,09% *) 


Die großen Abweichungen der Altersmiſchung ſpringen 
in die Augen. Auf dem Land ſind 36% der ganzen Be— 
völkerung Unmündige unter 15 Jahren, in der Stadt nur 
23%; die jugendlichen Altersklaſſen der 15—40 Jährigen 
ſind in der Stadt in ganz abnormer Weiſe überfüllt und 
machen 55%, weit über die Hälfte der Einwohnerzahl, auf 
dem Land nur ein ſtarkes Drittheil, 35%, aus; in den 
mittleren und höheren Jahren überwiegt die Landbevölke— 
rung wieder im Verhältniß von 27 zu 21 Procenten. 

Vergleicht man das numeriſche Verhältniß der Ge— 
ſchlechter, ſo kamen auf 100 männliche Perſonen in der Stadt 
Stuttgart 101,6 weibliche, im Bezirk Maulbronn 106,8, 
aber in den Altersklaſſen von 0—15 Jahren kamen auf 
100 männliche Perſonen in der Stadt 99,3, auf dem Land 


— 


102,1 weibliche, im Alter von 15—40 Jahren in der Stadt 


) Für Berlin giebt Schwabe das Verhältniß an: 0-15 Jahre 
28%, 15—40 Jahre 50,5%, über 40 Jahren 21,5%. Für München 
ſind die Ziffern 21,8. 47,6. 30,6, für Nürnberg 26,6. 49,1. 24,3, wo⸗ 
bei jedoch zu beachten iſt, daß zur Zeit der Zählung (1871) wegen 
der Occupationstruppen der Stand der Garniſon in dieſen Städten 
ein unternormaler geweſen ſein kann. 


339 
97,3, auf dem Land 115, im Alter von mehr als 40 Jahren 
dort 129,5, hier 104 weibliche Perſonen. 

Ferner waren in der Stadt 27,2% der Einwohnerzahl 
verheirathet, auf dem Land 33,4%; wenn man aber die 
Verheiratheten nebſt den Verwittweten und Geſchiedenen 
nur mit den Altersklaſſen von mehr als 20 Jahren ver— 
gleicht, jo waren in der Stadt 50,3% ledig, auf dem Lande 
nur 29%. 

Woher kommen denn nun aber alle dieſe auffallenden 
Unterſchiede in der Zuſammenſezung einer ſtädtiſchen und 
ländlichen Bevölkerung nach Alter, Geſchlecht und Familien— 
ſtand? Der Grund iſt nicht ſchwer aufzufinden. 

Die Stadt hat neben ihren anſäßigen und ortsange— 
hörigen Einwohnern noch eine zwar immer vorhandene, aber 
in den Perſonen ſtetig wechſelnde, fluctuirende, vom Land 
geliehene Bevölkerung, die bis zu einem Viertheil der Ge— 
ſammtzahl betragen, ja bis zu einem Drittheil ſteigen kann. 

Das Hauptcontingent dazu werden immer die Dienſt— 
mädchen für die Bedürfniſſe der Haushaltung ſein, die in 
keinem Hauſe, ja faſt auf keinem Stockwerk fehlen. Die 
Stadt kann ſie nicht ſelbſt in genügender Zahl liefern; ſie 
kommen von den Dörfern und Landſtädtchen, bringen eine 
größere oder kleinere Zahl von Jahren in der Stadt zu, 
um dann in den meiſten Fällen wieder in ihre Heimath 
zurückzukehren. Ihre Zahl beträgt in Stuttgart etwa 8 
Procent der ganzen Bevölkerung. 

Den zweiten Faktor dieſer Art bilden die Gehilfen in 
den Gewerben, die Lehrjungen und Geſellen im Handwerk, 


22 * 


340 


die Lehrlinge und Commis in den Comptoirs und Kauf— 
läden. Auch dieſe kommen der Maſſe nach von außen herein 
und ziehen nach einigen Jahren wieder fort. Ihre Zahl kann 
der der Dienſtmägde gleich kommen oder ſie noch übertreffen. 

Neben dieſen beiden Hauptklaſſen der geliehenen Be— 
völkerung kommen nun noch in geringerer Anzahl einer— 
ſeits die männlichen Dienſtboten für Haus oder Gewerbe, 
andererſeits die weiblichen Gehilfen im Gewerbe, in den 
Wirthſchaften, Läden, die Nähmädchen u. ſ. w. hinzu. 

Dieß ſind die conſtanten Elemente, welche in keinem 
Wohnplaz von ſtädtiſchem Charakter fehlen werden. Sie 
bilden ein zahlreiches, häufig wechſelndes Perſonal, das der 
Regel nach im Alter von 15—40 Jahren ſtehen, unver— 
heirathet ſein und ſo ziemlich gleich auf die beiden Ge— 
ſchlechter vertheilt ſein wird. 

Zu dieſen conſtanten Zuflüſſen einer ledigen Jugend 
vom Land herein geſellen ſich nun noch eine Reihe von 
variablen, die vorhanden ſein oder fehlen können. Dazu 
gehören vor Allem Garniſonen und höhere Lehranſtalten, 
welche die Zahl der jungen Männer ſehr ſteigern; ſodann 
Fabriken, bei welchen es darauf ankommt, ob ſie vorzugs— 
weiſe männliche oder weibliche Arbeiter beſchäftigen und 
einer kleineren oder größeren Zahl die Verheirathung er— 
möglichen. Dann giebt es noch eine Reihe von Inſtituten 
von anderweitiger Wirkung für den Zuzug von Ortsfrem— 
den, wie Strafanſtalten, Erziehungs- und Waiſenhäuſer, 
oder die für die Geburts- und Sterbeliſten ſo wichtigen 
Gebäranſtalten, Spitäler und Findelhäuſer. 


341 


Aus dieſem Einen Grundmerkmal des Stadtcharakters, 
dem ſtarken Zufluß einer ortsfremden ledigen Jugend zu 
vorübergehendem Dienſt und Aufenthalt ergeben ſich nun 
eine Reihe bevölkerungsſtatiſtiſcher Unterſchiede zwiſchen 
Stadt und Land als natürliche und nothwendige Folgen. 
Denn 

1) iſt es klar, daß, wenn auf dem Lande 70% 
aller Erwachſenen verheirathet zu ſein pflegen, in der Stadt 
noch nicht die Hälfte, dort auch mehr Kinder geboren werden 
als hier, ſomit die ſtädtiſche Fruchtbarkeit, als Verhältniß 
der Geburten zu der Einwohnerzahl ausgedrückt, kleiner 
ſein wird. 

2) Es iſt wenigſtens nicht auffallend und kann der 
Stadtbevölkerung nicht zum beſonderen Vorwurf gereichen, 
wenn mehr uneheliche Geburten vorkommen als auf dem 
Lande. Denn die Zahl der unverheiratheten und im Alter 
der Geſchlechtsreife ſtehenden Perſonen iſt ja eine viel 
größere. So machen in Stuttgart die Mädchen im Alter 
von 18—35 Jahren 14— 15%“, in einem Landbezirk nur 
89% der ganzen Bevölkerung aus. Erſt wenn die Zahl 
der unehelichen Geburten in der Stadt in einer ſtärkeren 
Proportion als z. B. eben dieſer von 14: 8 die der länd— 
lichen überſchreiten würde, wäre ein für die ſtädtiſche 
Moralität ungünſtiger Schluß gerechtfertigt. Es iſt ja über— 
haupt eine ganz irreführende Methode der herkömmlichen 
Statiſtik, die Frequenz der unehelichen Geburten nach ihrem 
Verhältniß zu der Zahl der ehelichen oder aller Geburten 
zu bemeſſen, ſtatt nach der Zahl der geſchlechtsreifen un— 


342 


verheiratheten Frauenzimmer, die allein maßgebend jein 
kann ). 

3) Es iſt füglich nicht anders zu erwarten, als daß 
die Mortalität oder ſogenannte Sterbeziffer in der Stadt 
eine kleinere und günſtigere iſt, als auf dem Land, wenn 
dort 55, hier nur 35 Procente der ganzen Bevölkerung 
im Alter der größten Lebensfeſtigkeit ſtehen, wenn auf dem 
Land die gefährdetſten Altersklaſſen der erſten Kindheit und 


Mit welcher Vorſicht überhaupt die Angaben über die unehe— 
lichen Geburten der einzelnen Wohnpläze zu behandeln ſind, läßt ſich 
an einem ſchlagenden Beiſpiel zeigen. In Stuttgart ſind nach der 
officiellen Aufnahme 7—8 Procente aller Geburten uneheliche und die 
Zahl iſt die günſtigſte im ganzen Land. Dieß kommt aber nur daher, 
daß bei der Zählung die Ortsangehörigkeit zu Grunde gelegt war und 
die in Stuttgart geborenen unehelichen Kinder ortsfremder Mütter in 
die Kirchenbücher ihrer Heimathgemeinde eingetragen wurden. Zählte 
man alle faktiſch in Stuttgart geborenen unehelichen Kinder, jo würde 
der Procentſaz auf 25 ſteigen; zieht man davon die Kinder der in 
die Gebäranſtalt von auswärts aufgenommenen Mütter ab, ſo ſinkt 
die Zahl wieder auf 18%. Da nun aber immer noch viele Mädchen, 
die eine Geburt zu erwarten haben, namentlich Dienſtmägde, nicht in 
die Gebäranſtalt gehen, ſondern nach Hauſe oder ſonſt aufs Land, ſo 
müßte man auch dieſe Fälle in Berechnung nehmen. Man müßte 
überhaupt nicht die in der Stadt geborenen, ſondern die in der Stadt 
erzeugten unehelichen Kinder wiſſen, und dieſe nicht mit den ehelichen 
oder allen Geburten, ſondern mit der Zahl der ledigen, geſchlechtsreifen 
Mädchen der Stadt vergleichen können, um die allein richtige Grund— 
lage eines Urtheils zu gewinnen. Dieß iſt aber noch nie und nirgends 
geſchehen und auch ſo gut als unmöglich. Wo und ſo lange man 
aber im conereten Fall dieſe und ähnliche Faktoren gar nicht kennt 
und zu unterſcheiden vermag, muß man ſich bei der Vergleichung der 
unehelichen Geburten in Stadt und Land, wie zwiſchen einzelnen 
Städten des Rühmens auf der einen, des Verdammens auf der andern 
Seite völlig enthalten. 


343 


des Greiſenalters numeriſch viel ſtärker vertreten ſind. 
Ueberdieß kehren von den Ortsfremden viele im Fall 
ſchwererer Erkrankung in ihre Heimath zurück. 

4) Ebenſo natürlich aber iſt wieder, daß das Durch— 
ſchnittsalter der Geſtorbenen in der Stadt niedriger iſt als 
auf dem Land und dadurch der Schein entſtehen kann, als 
ob in der Stadt die mittlere Lebensdauer eine geringere 
wäre. Denn wo ſehr viel junge Leute leben, werden eben 
doch immer auch entſprechend mehr von ihnen ſterben, als 
wo nur wenige leben und die jung Geſtorbenen werden 
den Geſammtdurchſchnitt des Alters der Geſtorbenen herab— 
drücken. Auf der andern Seite fällt bei geringerer Frucht— 
barkeit freilich auch der Factor der Kinderſterblichkeit weniger 
ins Gewicht, was jenen Umſtand wieder neutraliſiren 
müßte. Sodann iſt zu beachten, daß häufig Penſionäre, 
Rentiers, Wittwen erſt in höherem Alter in die Stadt ziehen, 
und dann ſowohl die Sterblichkeit als das Durchſchnitts— 
alter der Geſtorbenen erhöhen, ſowie daß in die ſtädtiſchen 
Krankenhäuſer auch Auswärtige aufgenommen werden. Um 
die Mortalität einer Stadtbevölkerung zu beſtimmen, müßten 
alle dieſe einzelnen Factoren iſolirt und begrenzt werden 
können. 

5) Da die vom Land entlehnte jugendliche Bevölkerung 
der Regel nach nicht in der Stadt zur Niederlaſſung und 
Verheirathung gelangt, ſondern zu dieſem Zweck wieder 
auf das Land zurückzukehren pflegt, ſo muß die Trauungs— 
ziffer der Städte eine niedrigere ſein als die auf dem Lande. 

Einige weitere Folgen aus den gleichen Urſachen 


344 


greifen noch über das bevölkerungsſtatiſtiſche Moment hin— 
aus. Denn 

6) wenn nach den Ergebniſſen der Criminalſtatiſtik in den 
Jugendjahren als dem Alter der Leidenſchaft und ſinnlichen 
Begierden die Dispoſition zu rechtswidrigen und gewalt— 
thätigen Handlungen ihren Höhepunkt hat, ſo iſt es nicht 
unerwartet, daß da, wo gerade dieß Alter in übernormaler 
Weiſe vertreten iſt, auch mehr Vergehen und Verbrechen 
vorkommen, als auf dem Lande, das ſeinerſeits einen großen 
Theil ſeines Perſonals aus eben dieſen Altersklaſſen an 
die Städte abgiebt. 

7) Wo es weniger Kinder und Greiſe giebt und ein 
weit größerer Theil der Bevölkerung im erwerbfähigſten 
und arbeitkräftigſten Alter ſteht, da iſt die auf den pro— 
ductiven Klaſſen ruhende Laſt, die Unproductiven, das 
heranwachſende Geſchlecht zu ernähren, leichter zu tragen; 
es kann mehr erworben, erſpart oder verbraucht werden. 
Es giebt viel mehr Leute, die nur für ſich ſelbſt zu ſorgen 
haben. Das Leben wird leichter und bequemer, während 
auf der Landbevölkerung die Sorge für den Nachwuchs weit 
ſchwerer laſtet. | 

S) Wenn die Jugend für alles Neue in Sitten und 
Meinungen empfänglicher iſt als das Alter, ſo müſſen da, 
wo die Jugend die größere Hälfte der ganzen Bevölkerung 
bildet, die Bedingungen für jede Art von Fortſchritt und 
Neuerungen günſtiger liegen, als wo die mittleren und 
höheren Altersklaſſen, von den noch Unmündigen abgeſehen, 
ſchon das numeriſche Uebergewicht behaupten. 


345 


Es iſt hiemit ein innerer Cauſalzuſammenhang nach— 
gewieſen worden zwiſchen der Einen Grundthatſache, daß 
die Stadtbevölkerung ein ſtarkes Element eines fluctuiren— 
den, vom Land entlehnten, jugendlichen und meiſt ledigen 
Perſonals in ſich ſchließt, und zwiſchen einer ganzen Reihe 
bevölkerungs- und culturſtatiſtiſcher Thatſachen, die zu den 
Unterſcheidungsmerkmalen von Stadt und Land gerechnet 
werden. Die Tabellen der Statiſtik ſind damit erſt ver— 
ſtändlich geworden; es iſt ein Schlüſſel geboten, das Nor— 
male von dem Abweichenden, die Regel von der Ausnahme 
zu unterſcheiden und die Gründe von dieſer aufzuſuchen. 

Aber allerdings ſind hier noch Vorbehalte zu machen. 
Die ganze obige Ausführung trifft nur zu, wenn auf der 
einen Seite der große Wohnplaz mit ausgeprägtem Stadt— 
charakter, auf der andern Seite das bäuerliche Dorf ſteht. 

Die kleine Landſtadt iſt, wie ihr Name ſelbſt, eine 
Miſchung oder Zwiſchenform von Land und Stadt; die 
Altersmiſchung der Bevölkerung entſpricht der Regel nach 
dem Landesdurchſchnitt. Es findet ebenſo viel Abfluß in 
die Großſtädte und Induſtriebezirke, als Zuzug vom Lande 
Statt; die anweſenden Ortsfremden ſind ſelten zahlreicher 
als die abweſenden Ortsangehörigen; ein Uebergewicht der 
rechtlichen Bevölkerung über die faktiſche tritt ſehr häufig 
ein. Damit fallen alle oben erwähnten ſpecifiſchen Merk— 
male der Stadtbevölkerung weg oder ſind ſie nur ſchwach 
entwickelt. 

Cine ſcharfe Abgrenzung der Landſtadt von der eigent— 
lichen Vollſtadt, wie ſie der Statiſtiker bedürfte, iſt freilich 


346 


ohne Willkühr nicht auszuführen. Man kann etwa die 
Einwohnerzahl von 10000 als annähernde Grenzlinie be— 
zeichnen. Aber die Städte ſind eigentlich Individuen; es 
giebt eine Reihe ſingulärer Umſtände, welche Ausnahmen 
begründen; wie z. B. Reſidenzen, Size von Landescollegien, 
wiſſenſchaftlichen Inſtituten, Bäder, Fremdenpläze eine ganz 
verſchiedene Gliederung der Bevölkerung nach Geſchlecht, 
Alter und Familienſtand begründen können. 

Ebenſo kann aber, was vom Bauerndorf gilt, nicht 
auch vom Induſtrie- oder Fabrikdorf oder vom Judendorf 
geſagt werden; es würde ſchon auf diejenigen Dörfer, in 
denen, wie z. B. in großen Theilen Frankreichs, eine Be— 
ſchränkung der Kinderzahl zur bäuerlichen Sitte gehört, 
kaum mehr anwendbar ſein. Am wenigſten aber paßt es 
auf die Regionen der Hofgüter. Hof und Dorf liegen in 
den bevölkerungsſtatiſtiſchen Merkmalen ſo weit aus einander 
als Dorf und Stadt; ja ſie treten in einen ganz ähnlichen 
Gegenſaz zu einander. Der Hof wie die Stadt ſucht Arbeits— 
kräfte vom Dorf vorübergehend zu entlehnen. Er bedarf 
landwirthſchaftliches Geſinde, Knechte und Mägde, die wo 
möglich in den beſten Jahren ſtehen und unverheirathet 
ſind. Nur wo die Arbeitskraft leihenden Dörfer fehlen, 
wo die Gutswirthſchaft die faſt ausſchließliche Betriebsweiſe 
iſt, wie in großen Theilen des nordöſtlichen Deutſchlands, 
muß das Gut auch die Arbeitskräfte ſelbſt produciren und 
den Arbeitern die Verheirathung ermöglichen. Daraus er— 
geben ſich dann mannigfach abgeſtufte Zwiſchenformen von 
Dorf- und Hofverhältniſſen in der Bevölkerungsmiſchung. 


347 


Wie oben ein württembergiſcher Bezirk als Typus der 
kleinbäuerlichen Dorfſchaften erſchien, ſo läßt ſich ein anderer, 
das Oberamt Wangen an der ſüdöſtlichen Grenze des Landes, 
ohne Dörfer und nur mit zwei kleinen Städtchen von 2000 
Einwohnern, ſonſt mit bäuerlichen Höfen bedeckt, mit 3000 
Einwohnern, aber 120 Wohnpläzen auf der Quadratmeile, 
als Beiſpiel einer Hofbauernregion und ihrer Bevölkerungs— 
miſchung gebrauchen. Der Unterſchied gegen das klein— 
bäuerliche Dorf iſt augenfällig. Denn es ſtanden von je 
10000 Lebenden 


im Alter von im kleinbäuerlichen im hofbäuerlichen Bezirk 


0 —15 Jahren 3641 2657 
15—40 „ 3545 3989 
EO „ 2754 3354 


Während in dem kleinbäuerlichen Dorfbezirk von den 
über 20 Jahre alten Perſonen 29% ledig, 71% verhei— 
rathet oder verwittwet ſind, treffen in der hofbäuerlichen 
Region auf dieſelben Rubriken 47% Ledige und 53% 
Nichtledige. 

Es ſind alſo im Weſentlichen die gleichen Symptome 
wie in der Stadt, geringe Fruchtbarkeit und ſchwache Ver— 
tretung der jüngſten Altersklaſſen, unter den Erwachſenen 
wenige Ehen, viele Ledige; nur drängt ſich dieſe geliehene 
Bevölkerung nicht jo in den Altersklaſſen von 15—40 Jahren 
zuſammen, ſondern füllt auch noch die ſpäteren, da es auf 
den untheilbaren Höfen viele nicht verheirathete ältere 
Familienglieder giebt. 

Wenn nun aber hiernach in den bevölkerungsſtatiſtiſchen 


348 


Momenten Hof und Stadt, und wieder Dorf und Land— 
ſtadt einander verwandt ſind, ſo folgt daraus, daß der ein— 
fache Gegenſaz von Stadt und Land das Weſen der Sache 
nicht trifft, und daß jene vier Grundformen, villa, vieus, 
oppidum, urbs, zwiſchen welchen noch mancherlei Ueber— 
gangsglieder, wie Weiler, Marktflecken, Mittelſtadt liegen 
und nach den Umſtänden des beſondern Falls einzureihen 
find, unterſchieden werden müſſen. Denn wenn A und D 
gemeinſame Merkmale haben, durch welche ſie ſich gegen 
B und C abgrenzen, jo kann die Vergleichung von A + B 
mit C D nur ein trübes, jene Merkmale verwiſchendes 
Ergebniß als Differenz liefern. Das Reſultat wird ganz 
durch die relative Stärke der einzelnen Summanden unter 
ſich und durch die Modificationen der Verhältniſſe in den 
verſchiedenen Ländern beſtimmt. 

Wenn dann nun vollends nicht blos ganz heterogene 
Erſcheinungen je unter der Rubrik Stadt oder Land zu— 
ſammengefaßt, ſondern auch noch ſcandinaviſche, deutſche, 
franzöſiſche, belgiſche, niederländiſche Agrarverhältniſſe wieder 
in Eine Reihe geſtellt werden, wie will man da zu allge— 
meinen Säzen und Regeln gelangen? Was läßt ſich über 
die Fruchtbarkeit oder Heirathsfrequenz der Stadt- und 
Landbevölkerung irgend Allgemeines behaupten, wenn die 
größere Geburtenziffer für Frankreich, Belgien, Niederlande, 
Dänemark auf Seiten der Städte, für Preußen und Schles— 
wig⸗Holſtein auf Seiten der Landgemeinden, für Württem— 
berg und Sachſen aber kein Unterſchied zu bemerken iſt, 
wenn ebenſo bei der Trauungsziffer ganz ähnliche Abwei— 


349 


chungen Statt finden? Die Mortalität allerdings erſcheint 
nach der Wappaeus'ſchen Tabelle (II, p. 481) überall größer 
für die Stadt als für die Landbevölkerungeu, wenn auch 
in den mannigfaltigſten Abſtufungen. Wo auch ſchon die 
Fruchtbarkeit auf Seite der Städte die größere iſt, wäre 
dieß durch den großen Antheil der Kinderſterblichkeit leicht 
zu erklären. Wo aber dieſe Vorausſezung fehlt, da wäre 
eine ganz andere, gründlichere und vielſeitigere Analyſe 
der ſtatiſtiſchen Tabellen ſtatt der bloßen Schlußziffern er— 
forderlich, um wirklich den Nachweis zu liefern, daß generell 
oder vorwiegend für die Stadtbevölkerungen die Bedingungen 
der Geſundheit und Lebensdauer ungünſtigere ſeien als auf 
dem Land. Eine einzige Specialunterſuchung, welche alle 
Momente berückſichtigt, wie z. B. Schwabes Werk über 
Berlin iſt hier lehrreicher als alle Generaltabellen, wenn 
ſie auf unrichtigen Vorausſezungen und Unterſcheidungen 
beruhen. 

Es giebt geſunde und ungeſunde Wohnpläze bei jeder 
Einwohnerzahl. Wenn die „Agglomeration“ für ſich ge— 
ſundheitsſchädlich wäre, könnte nicht die größte Agglome— 
ration der Welt, London mit 4 Millionen Einwohnern, 
eines der günſtigſten Sterblichkeitsverhältniſſe, das wir 
kennen, (1:50) aufweiſen. Auch andere Städte, wie Frank— 
furt, Genf, Stuttgart, zeigen ſo günſtige Ziffern, als nur 
irgend ein Landbezirk der Welt. Es iſt ein ſchiefer Gegen— 
ſaz, wenn man die ungeſunde Stadtluft der geſunden Land— 
luft gegenüberſtellt. Der Stadtluft würde nicht die Land— 
luft, ſondern die Dorfluft entſprechen. Dieſe iſt bei den 


350 


primitiven Einrichtungen der Kloaken, Dungſtätten, Stal- 
lungen, Straßen, Brunnen, Heerde, Oefen der Regel nach 
nichts weniger als preiswürdig. Aufenthalt und Arbeit 
im Freien iſt im Allgemeinen wohl dem Leben in den ge— 
ſchloſſenen Fabrikräumen vorzuziehen, wirkt aber auch in 
rauher Gegend und Jahreszeit in unzähligen Fällen ſchäd— 
lich. Man darf überhaupt nicht Fabrikarbeiter und land— 
wirthſchaftliche Arbeiter an die Stelle von ſtädtiſchen und 
ländlichen Wohnpläzen ſezen. Fabriken giebt es auch in 
Menge auf dem Land, und die Lage der Fabrikarbeiter 
wie die der landwirthſchaftlichen Taglöhner und Knechte iſt 
in ſich ſelbſt ſehr verſchieden, und läßt auf jeder Seite alle 
Abſtufungen günſtiger und ungünſtiger Verhältniſſe zu. 
Wenn Armuth lebenverkürzend wirkt, ſo iſt ſie in Stadt 
und Land zu finden und bald da größer, bald dort. Einen 
Vortheil wird die Stadt wohl immer behaupten, die leichtere, 
raſchere und wohl auch beſſere Hilfe des Arztes. Ohne 
Zweifel führt der Forſtmann, der Holzhauer, der Schäfer 
eine geſundere Lebensweiſe als der Bergmann oder Fein— 
ſchleifer oder Arbeiter in Bleiweißfabriken; aber dieß ſind 
doch nur beſondere Fälle und zwiſchen der landwirthſchaft— 
lichen und gewerblichen Beſchäftigung im Ganzen iſt hin— 
ſichtlich der Lebensgefährdung kein Unterſchied, den nicht 
Erfahrung und die Macht der Gewohnheit auszugleichen 
vermöchte. Alles ſtatiſtiſche Material liefert nicht einen 
Schatten von Beweis, daß in der mittlexen Lebenserwar— 
tung des Bauern und des Handwerkers, des ländlichen 


Taglöhners und des Fabrikarbeiters, des Dorfſchulzen und 
des Oberbürgermeiſters ein Unterſchied anzunehmen ſei. 

So lange daher nicht viel umfaſſendere, gründlichere 
und methodiſch beſſere Unterſuchungen vorliegen, ſpricht die 
innere Wahrſcheinlichkeit wie die äußere Erfahrung dafür, 
daß zwiſchen dem Zuſammenwohnen mit Vielen oder mit 
Wenigen und zwiſchen der Mortalitätsziffer und Lebens— 
ſicherheit kein Cauſalzuſammenhang beſteht und ſind wir 
in dieſer Sache noch um kein Haar weiter als zu der Weis— 
heit gelangt, die ſchon bei Horaz die Stadtmaus der Land— 
maus zu Gemüthe führt: 


terrestria quando 
Mortales animas vivunt sortita, neque ulla est 
Aut magno aut parvo leti fuga *). 


Alles Bisherige gilt nur von den bevölkerungsſtati— 
ſtiſchen, keineswegs auch von den kulturſtatiſtiſchen Mo— 
menten. Denn ſo wenig ſich erkennen läßt, warum die 
bloße Anhäufung von Häuſern oder Individuen die Ein— 
zelnen fruchtbarer oder unfruchtbarer, länger oder kürzer 
lebend machen ſoll, ſo einleuchtend iſt, daß dieſelbe auf die 
geſellſchaftliche und geiſtige Entwicklung den größten Ein— 
fluß haben kann und muß. Die Mannigfaltigkeit der Be— 
ſchäftigungen, Intereſſen und Anſchauungen bewirkt eine 
ſtärkere, geiſtige Friction, ein freieres und vielſeitigeres Ur— 
theil, eine größere Neigung und Empfänglichkeit für neue 


9 Den irdiſchen Weſen 
Gab das Geſchick nur ſterbliche Seelen; der Kleine und Große, 


Keiner vermag dem Tod zu entfliehn. 


352 


Gedanken und Sitten. Als die Sitze der Organe der 
Staatsgewalt, als Pflegeſtätten der Künſte und Wiſſen— 
ſchaften, alles höheren Unterrichts, als Centralpunkte der 
Gewerbe und des Verkehrs, als Märkte für die ländliche 
Bevölkerung treten die Städte an die Spize alles politiſchen, 
geiſtigen und wirthſchaftlichen Lebens. Die Landbevölkerung 
folgt zögernd und widerſtrebend den von der Stadt aus— 
gehenden Impulſen. Alles dieß ſind bekannte und offen 
zu Tage liegende Erſcheinungen, und der Einfluß der Städte 
war, von den Republiken des claſſiſchen Alterthums abge— 
ſehen, vielleicht noch in keinem Zeitalter ſo groß wie in der 
Gegenwart. * 

Nur muß man ſich auch hier vor einem vagen Gene— 
raliſiren hüten; man darf nicht Heterogenes, wie die Groß— 
und Kleinſtadt, das Dorf und den Hof je in Einen Topf 
werfen. Man darf nicht, was Merkmal des Zeitalters iſt, 
wie das Anwachſen der Großſtädte, die Arbeiterbewegung, 
den Unternehmungsſchwindel, die Börſenkriſen zu Merk— 
malen der Wohnpläze machen. 

Und ebenſo wenig, als man ins Allgemeine von einer 
größeren Mortalität der Städte reden kann, darf man eine 
ungünſtigere Moralität der Stadtbevölkerungen als eine 
ſtatiſtiſche Thatſache bezeichnen. Man müßte an der Menſch— 
heit und ihrer Zukunft verzweifeln, wenn die höhere Aus— 
bildung der intellectuellen Kräfte und der beſſere Schul— 
unterricht zum ſtändigen Begleiter ein niedrigeres Niveau 
der ſittlichen Zuſtände hätte, wenn die Beſchränktheit der 
dorf- und hofbäuerlichen Bevölkerung die günſtigeren Be— 


353 


dingungen für geſellſchaftliche Tugenden böte. Die Städte 
haben die Führung zum Guten wie zum Schlimmen und 
das Land ſträubt ſich bald gegen das Eine bald gegen das 
Andere. 

Die Moralſtatiſtik der Städte bietet auffälligere und 
abſchreckendere Erſcheinungen. Wie ſich in der Großſtadt 
die mannigfaltigſten Richtungen unter ſich zuſammen und 
nach außen abſchließen, ſo gelingt es dort auch dem Laſter, 
ſich durch das Mittel der Gruppirung zu verſtärken. In 
Geſtalt der Proſtitution, des Gaunerthums, der Louis und 
Rowdies tritt es frecher und raffinirter auf und wird zu 
einer ſocialen Macht. Aber dieſe Iſolirung iſt zugleich für 
die übrigen Geſellſchaftskreiſe eine Reinigung. Die Bor— 
delle ſind zugleich ein Schuz für die häusliche Zucht und 
Sitte, wie der alte Cato nicht ſo Unrecht haben mochte, 
wenn er einen Verfall der Sitten darin ſah, daß die jungen 
Römer nicht mehr in die Lenocinien liefen. Neben jenen 
Tauſenden von habituellen Dieben, Strolchen und Dirnen 
leben Hunderttauſende arbeitſamer, ehrbarer, geſitteter 
Bürger. Für die Geſellſchaft iſt es beſſer, wenn Ein Menſch 
den Gerichten zehnmal zu ſchaffen macht als Zehne je Ein 
mal. Man hüte ſich doch ja, die ländlichen Zuſtände in 
geſchlechtlichen Dingen, im häuslichen Frieden, in Treu 
und Glauben, in Sicherheit der Perſon und des Eigen— 
thums idylliſch auszumalen. Es giebt zwar bäuerliche 
Dörfer, bei deren Betrachtung die ideale Vorſtellung nur 
in ſchwachem Maaß Lügen geſtraft wird; es giebt aber 
auch ſolche von einer ſittlichen Verkommenheit, die durch 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 23 


354 


die ſchlimmſten Quartiere der Weltſtädte nicht viel über— 
boten wird. 

Die kleine Landſtadt liegt in der Regel von der Groß— 
ſtadt noch viel weiter ab als vom Dorf. Der charakteri— 
ſtiſche Unterſchied von jener iſt, daß die Geſellſchaft, ob— 
gleich nach Stand und Vermögen abgeſtuft, doch Ein Ganzes 
bildet, daß ſich Alles perſönlich kennt und controlirt. Die 
kleinen Städte ſind die Vermittlungskanäle für den Wechſel⸗ 
verkehr von Stadt und Land. Obwohl von beſchränkterem 
Geſichtskreis und in unruhigen Zeiten leicht aus dem Gleich— 
gewicht geſchoben, bilden ſie ein wohlthätiges temperirendes 
Mittelglied zwiſchen der ſtarken Strömung neuer Tendenzen 
und dem ſtabilen und ſchwerfälligen Element von Dorf 
und Hof. Sie halten ſich von den Exceſſen des großſtäd— 
tiſchen Lebens fern und können doch nicht ſo tief ſinken, 
wie das verkümmernde oder zuchtlos gewordene Dorf. Es 
iſt ein kleiner Grundſtock gebildeter Familien vorhanden, 
der der Regel nach im Anſehen ſteht und die Meinung 
der Maſſen nach ſich zieht. Schon Göthe hat dieſe 
Lichtſeiten warm geprieſen, wenn es in Hermann und 
Dorothea heißt: 

Und Heil dem Bürger des kleinen 
Städtchens, welcher ländlich Gewerb mit Bürgergewerb paart! 
Auf ihm liegt nicht der Druck, der ängſtlich den Landmann beſchränket, 
Ihn verwirrt nicht die Sorge der vielbegehrenden Städter, 
Die dem Reicheren ſtets und dem Höheren, wenig vermögend, 
Nachzuſtreben gewöhnt find, beſonders die Weiber und Mädchen. 

Aber auch Hof und Dorf ſind ſo wenig in Eine Rubrik 
zuſammenzuwerfen, als der oppidane und urbane Wohn— 


355 


plaz. Die hofbäuerliche Bevölkerung iſt der iſolirteſte, dem 
Zeit und Staatsleben fremdeſte, ſtabilſte und conjervativfte 
Theil der Geſellſchaft. Sie zeigt die Licht- wie die Schatten— 
ſeiten primitiver und patriarchaliſcher Zuſtände. Die Schwie— 
rigkeiten eines geordneten Schulunterrichts ſind die größten; 
die Preſſe findet kaum ihren Weg dahin. Die rechtlich oder 
faktiſch gebotene Untheilbarkeit der Güter beherrſcht das 
Familienleben und führt zu feudalen Verhältniſſen. Das 
Gemeinde- und Staatsleben berührt den Einzelnen nur 
wenig; die kirchlichen Beziehungen ſind ihm näher gerückt. 
Die Sorge um Nahrung und Erwerb, der Unterſchied von 
Arm und Reich, die das Dorfleben beherrſchen, treten nur 
ausnahmsweiſe hervor. 

Auch für die culturſtatiſtiſchen, wie für die bevölke— 
rungsſtatiſtiſchen Merkmale ſind ſomit ganz andere Unter— 
ſuchungen und Methoden, ganz andere Unterſcheidungen 
nöthig, als die Abſtractionen von Stadt und Land, von 
Wohnpläzen mit mehr oder weniger als 2000 Einwohnern. 

Zwar iſt beim Gebrauch aller ſtatiſtiſchen Tabellen 
Vorſicht und Einſicht geboten, aber für die Statiſtik der 
Wohnpläze wäre erſt noch ein ganz neuer Boden zu legen. 


Kleine Betrachtungen und Bekenntniſſe ver- 
miſchten Inhalts. 


1. Allerlei. 
1. Menſchliche Lebensdauer. 


„Des Menſchen Leben währet 70 Jahr und wenns 
hoch kömmt, ſo ſinds 80 Jahr.“ Die Statiſtiker berufen 
ſich häufig und gerne auf dieſen bibliſchen Spruch, wenn 
es ſich darum handelt, die faktiſche Mortalität mit einem 
Normalmaaße zu vergleichen. Denn was der Verfaſſer 
des goten Pſalms vor mehr als 2000 Jahren unter ſüd— 
licherem Himmel und ganz abweichenden Geſellſchaftszu— 
ſtänden beobachten konnte, entſpricht auch ganz noch der 
heutigen Erfahrung und populären Anſchauung der Sache. 
Wenn Jemand in den 60ger Jahren ſtirbt, jo meinen wir, 
er hätte wohl noch länger leben können; wer das 80te 
erreicht hat, von dem ſagen wir, er habe ſein Alter hoch 
gebracht; wer aber mit 70 oder in den 70gern Jahren 
ſtirbt, der ſcheint uns das ordentliche und normale Maaß 
eines Menſchenlebens erreicht zu haben; der Geiſtliche wird 
den Angehörigen am Grabe ſagen, daß ſie zufrieden und 


dankbar ſein müßten und keine Urſache haben, ſich zu be— 
klagen. 5 

Eine andere Frage iſt es, auf welche Dauer der menſch— 
liche Organismus von Natur angelegt erſcheine. Darauf 
ſoll und kann jener Bibelſpruch keine Antwort geben, da 
er nur etwas Faktiſches ausſpricht. Ein namhafter Phy— 
ſiolog gelangt durch Beobachtungen des höheren thieriſchen 
Lebens zu der Norm, daß die natürliche Lebensdauer eines 
thieriſchen Organismus mindeſtens das Fünffache der Zeit 
betrage, welche von der Geburt bis zur Vollendung des 
Wachsthums des Knochengerüſtes erforderlich ſei. Auf den 
Menſchen angewendet, würde dieſer Canon, auch wenn man 
das Wachsthum ſchon mit 20 Jahren abgeſchloſſen denkt, 
zu einer natürlichen Lebensdauer von 100 Jahren führen. 
Dieſes Argument hat nun freilich viele unausgefüllte Lücken. 
Denn ſchon eine natürliche Lebensdauer der Säugethiere 
zu finden iſt faſt unmöglich. Von den im Freien lebenden 
und ſterbenden Thieren wiſſen wir weder Alter noch Todes— 
urſachen; die in menſchlicher Obhut ſtehenden Thiere aber 
leben unter außerordentlichen Verhältniſſen, die nicht maß— 
gebend ſind für das Naturgemäße. Die Anwendung auf 
den Menſchen bleibt immer nur ein Schluß nach Analogie. 
Der Neger gilt ſchon mit 16—17 Jahren für ausgewachſen, 
der Nordeuropäer kaum mit 24; dennoch wiſſen wir 
nicht, daß leztere ein entſprechend höheres Alter erreichten, 
als die zwiſchen den Tropen Aufgewachſenen. Immerhin 
wird das Gewicht des Arguments durch ſolche Einwen— 
dungen keineswegs ganz entkräftet; eine gewiſſe Proportion 


358 


der Wachsthumperiode zur Lebensdauer und ein dem Thier— 
leben analoges Verhältniß des menſchlichen Organismus iſt 
ein berechtigter Gedanke. Jedenfalls ſprechen aber auch 
andere Zeugniſſe dafür, daß das Menſchenleben auf höher 
als 70—80 Jahre angelegt ſei. Der natürliche Tod wäre 
eigentlich das, was die Alten die Euthanaſie nannten, das 
Sterben aus Nachlaß der Kräfte, an Altersſchwäche, das 
Erlöſchen des Lebenslichts bei geringfügigem, äußerem An— 
laß. Solche Fälle der Euthanaſie treten aber nur ſelten 
und ausnahmsweiſe ſchon in den 70ger Jahren, meiſt erſt 
in den höchſten Altersſtufen von 80 und mehr Jahren ein. 
Die zahlreichen Beiſpiele von Menſchen, welche bei guten 
Kräften ein Alter von hundert Jahren und noch weit dar— 
über hinaus erreicht haben, wären nicht verſtändlich, wenn 
wir die normale, gleichſam phyſiologiſch begründbare Grenze 
des Menſchenlebens zwiſchen 70 und 80 Jahren ſezen wollten. 
Was ſich in wenigen Fällen verwirklichen ließ, muß unter 
den gleichen oder ähnlichen Bedingungen auch in vielen 
verwirklicht werden können. Die Wahrheit iſt wohl darin 
zu finden, daß der Menſchheit wie im Geiſtigen und Sitt— 
lichen ſo im Phyſiſchen und hinſichtlich der Lebensdauer 
keine feſten und unüberſchreitbaren Grenzen geſteckt ſind, 
ſondern auch hier Alles im Fluß begriffen und perfectibel, 
das Plus ultra niemals ausgeſchloſſen iſt. Wie uns das 
Mittelalter in Beziehung auf Hygieine und Therapie kin— 
diſch und barbariſch erſcheint, ſo werden auch künftige Jahr— 
hunderte über die öffentliche Geſundheitspflege und das 
mediciniſche Wiſſen des 19. Jahrhunderts urtheilen. Eine 


Ahnung des Gedankens, daß die faktiſche Verkürzung der 
menſchlichen Lebensdauer im Vergleich zu derjenigen, auf 
welche unſer Organismus angelegt erſcheint, als eine Wir— 
kung von Irrthum und Sünde, von ſocialen und ſtttlichen 
Gebrechen anzuſehen ſei, liegt in den hebräiſchen Sagen 
vom Alter der erſten Menſchen, in den griechiſchen Mythen 
von einem goldenen Zeitalter, wo allen Menſchen im höchſten 
Alter am Nachlaß der Kräfte zu ſterben, zur Euthanaſie 
zu gelangen vergönnt war. Bei Herodot verſichert der 
König der Aethioper die Geſandten des Cambyſes, auf 120 
Jahre brächten es die Meiſten von ihnen, und etliche noch 
drüber. 

Die heutige Weltanſchauung gebietet, jene Ideale, welche 
man früher rückwärts in einer geträumten Urperiode reiner 
Menſchlichkeit ſuchte, vorwärts zu verlegen in der Zukunft 
unbeſtimmte Fernen. Da wir aber überall nur Fortſchritt 
und Entwicklungsfähigkeit wahrnehmen, ſo geſtattet ſie uns 
auch an ein künftiges, goldenes Zeitalter zu glauben, in 
welchem man von dem mit 80 Jahren Geſtorbenen ſagen 
wird, daß er noch bei guten Kräften abberufen worden und 
nicht zum natürlichen Ziele menſchlicher Lebensdauer ge— 
langt ſei. . 

Bleiben wir aber nur vorerſt bei den 70 Jahren des 
Pſalmiſten ſtehen und bezeichnen es als ein ideales Ziel 
der Menſchheit, daß alle Menſchen das 70. Lebensjahr er— 
reichen, ſo haben wir an dem Bruchtheil oder Procentſaz 
derjenigen, welche wirklich dieß Ziel erreichen, ein Maaß, 
gleichſam einen Kurszettel, nach welchem die Actien der 


360 


Menſchheit, ihre Entfernung von dem Pariſtand zu bemeſſen 
ſind. Von 100 Geborenen werden in Mitteleuropa der— 
malen nur 18 Menſchen 70, und nur 11 75 Jahre alt. 
Die Actien der Menſchheit haben alſo ungefähr den Kurs 
der ſpaniſchen Papiere, und der Hiſtoriker wie der Sta— 
tiſtiker haben alle Urſache zu glauben, daß ein höherer 
Kurs in keinem früheren Zeitalter und Volk in weiterem 
Kreis erreicht worden iſt. 


2. Der Militäraufwand. 


Nicht blos ein democratiſcher Tendenzſtatiſtiker, wie 
Kolb, ſondern auch viele unbefangene Leute von gemäßigten 
Anſichten, ja ſelbſt ein ſo beſonnener und kenntnißreicher 
Gelehrter, wie der Nationalöconom und Finanztheoretiker 
C. H. Rau, pflegen den Aufwand eines Volkes für ſein 
Militärweſen ſo zu berechnen, daß ſie zu dem Betrag des 
Etats der Kriegs- und Marineminiſterien noch die Summe 
der Arbeitslöhne addiren, welche die Mannſchaft während 
ihrer Dienſtzeit zu Hauſe hätte verdienen können. Nimmt 
man den ſeitherigen Aufwand des deutſchen Reichs für ſeine 
Landmacht rund zu 100 Millionen Thalern an, rechnet aber 
dabei, daß die 400,000 präſenten jungen Männer jährlich 
an 300 Arbeitstagen je 2 Mark Lohn hätten verdienen kön— 
nen, was bei den jezigen Preisverhältniſſen nicht einmal 
hoch genug erſcheint, ſo ergeben ſich weitere 80 Millionen 
Thaler. Fügt man nun, was ja nur conſequent wäre, 
dieſen Arbeitslöhnen einen entſprechenden Unternehmer— 


361 


gewinn, etwa Yıo ihres Betrags hinzu, beachtet man ferner, 
was die Familien als Zuſchuß zu dem ungenügenden Sold, 
was ſie für den Aufwand der Einjährigen Freiwilligen in 
die Garniſonen zu ſchicken haben, und wendet man ſchließ— 
lich noch die gleiche Berechnungsweiſe analog auf die 
17,000 Offiziere des Friedensſtandes an, ſo kommt man zu 
dem Reſultat, daß jene 100 Millionen Thaler, die im Reichs— 
budget laufen, auch abgeſehen von der Marine, noch nicht 
die Hälfte des Geſammtaufwandes der Geſellſchaft für die 
Landesvertheidigung ausmachen. 

Dieſe weit verbreitete und landläufige Berechnungs— 
weiſe ſteckt voll von handgreiflichen Irrthümern und will— 
kürlichen Vorausſezungen, die es wohl der Mühe werth iſt, 
aufzudecken. 

Was würde man dazu ſagen, wenn ein Vater, der 
500 Thaler für die Studienkoſten eines Sohnes braucht, 
ſeinen Aufwand zu 1000 Thaler berechnen würde, weil, 
wenn er den Sohn hätte Kaufmann werden laſſen, dieſer 
jezt ſchon ein Salair von 500 Thalern beziehen würde? 
Der Fall iſt aber genau derſelbe. 

Der Militäretat des Reichs ſchließt vor Allem auch 
die ganze Verpflegung der Mannſchaft in ſich, ihre Woh— 
nung, Nahrung, Kleidung, den Aufwand für Holz, Licht, 
Krankheitsfälle. Dieſer ganze Aufwand wäre, wenn die 
Leute zu Hauſe lebten und in Arbeit ſtünden, von den 
Löhnen zu beſtreiten und würde unzweifelhaft den weitaus 
größten Theil derſelben in Anſpruch nehmen. Alſo nur 
der kleine Reſt, den etwa 20—22 jährige junge Männer von 


362 

ihrem Lohn zu erſparen oder für den Unterhalt ihrer An— 
gehörigen zu verwenden pflegen, könnte als ein zu dem 
Reichsmilitäretat hinzutretender Aufwand der Geſellſchaft 
in Betracht kommen. Von jenen 80 Millionen Thalern 
bliebe ſicherlich bei dieſer allein richtigen Berechnungsweiſe 
nur ein Minimum übrig. Allerdings würden vermuthlich 
die jungen Männer von ihren Arbeitslöhnen etwas reich— 
licher leben und ſich manchen Extraſchoppen und Trink— 
exceß geſtatten können, der in den Kaſernen wegfällt, aber 
darin läge weder für das öconomiſche, noch für das mo— 
raliſche Gedeihen der Geſellſchaft ein Nachtheil. 

Sodann aber iſt es nur eine ganz willkührliche An— 
nahme, daß in Deutſchland ſo viele gewerbliche Unter— 
nehmungen aus Mangel an Arbeitskräften unterbleiben, als 
zur lohnenden Beſchäftigung jener 400,000 jungen Männer 
erforderlich wären, und daß, wenn dieſe Zahl zur Ver— 
fügung ſtünde, entſprechend mehr gearbeitet und verdient 
würde. In einem Lande, das jährlich durchſchnittlich 120,000 
Perſonen vorherrſchend aus dem Motiv, weil ſie keinen 
lohnenden und befriedigenden Erwerb zu finden glauben, 
verlaſſen, läßt ſich die Behauptung, daß wünſchenswerthe 
Unternehmungen aus Mangel an Arbeitskräften unterblei— 
ben müſſen, nicht in allgemeiner Faſſung aufrecht erhalten; 
vielmehr müßte die Concurrenz von 400,000 weiteren Ar— 
beitern die Löhne drücken, was wohl den Unternehmern, nicht 
aber den Arbeiterclaſſen ſelbſt zu Statten käme, und dabei 
gleichzeitig noch die Auswanderung ſteigern. 

Letzteres widerſpricht freilich direct der jo häufig ge— 


363 


hörten Behauptung, daß gerade durch die allgemeine Wehr— 
pflicht und die lange Präſenz die Auswanderung ſo ſehr 
um ſich greife. Ohne zu beſtreiten, daß dieß Motiv in 
manchen Einzelfällen entſcheidend oder wenigſtens neben 
anderm wirkſam ſein mag, zeigen ſchon die Beiſpiele von 
England, der Schweiz und den Scandinaviſchen Ländern, 
wo ganz andere Heerſyſteme herrſchen und doch die Aus— 
wanderung ſo ſtark wie in Deutſchland iſt, daß die maß— 
gebenden Faktoren in ganz anderen Verhältniſſen und zwar 
vor allem in der Fruchtbarkeit und Wanderluſt der ger— 
maniſchen Race zu ſuchen ſind. 

Von den Hauptmomenten der ganzen Militärfrage, von 
der abſoluten Nothwendigkeit einer zahlreichen und wohl— 
geübten Armee für Deutſchland, von der Unentbehrlichkeit 
derſelben auch für das wirthſchaftliche Leben und deſſen 
Sicherſtellung, von dem Werthe, den der Heeresdienſt als 
Schule des Volks für die körperliche und ſittliche Kräf— 
tigung des Einzelnen hat, ſoll hier gar nicht weiter die 
Rede ſein. 


3. Die Oekonomie der Aemter. 


Es laſſen ſich in jedem Zweig des öffentlichen Dienſtes, 
der durch Gleichheit des Bildungsganges und der Prüfungs— 
anforderungen für ſich ein Ganzes bildet, drei Arten oder 
Stufen des Dienſtes unterſcheiden. Zuerſt kommen die 
bloßen Verwendungen der Kandidaten zum Probe- oder 
Hilfsdienſt, von widerruflichem, unſtändigem Charakter, ohne 


364 


Gehalt, oder nur mit Taggeldern und knappen Entſchädi— 
gungen für den unmittelbaren Aufwand. Man kann dieß 
die Klaſſe der Vorſtufenämter nennen. Darauf folgen die 
Anfangsdienſte oder erſten feſten Anſtellungen mit beſtimm— 
ten Dienſtrechten und Gehalten, die entweder auch noch den 
eheloſen Stand oder eine nur kleine Familie oder Zu— 
ſchuß aus eigenem Vermögen zur Vorausſezung haben. Die 
dritte Klaſſe bilden die ordentlichen Aemter, deren Dotation 
auf den ſtandesmäßigen Bedarf einer mittleren Familie 
berechnet ſein ſoll oder will. Auch noch eine vierte Stufe 
von höheren, mit einem Repräſentationsaufwand ausge— 
ſtatteten Aemtern zu unterſcheiden, iſt praktiſch ohne Werth, 
da deren Zahl verſchwindend klein iſt und ſie nicht auf dem 
Weg des ordentlichen Vorrückens und meiſt nicht blos für 
die Angehörigen des betreffenden Dienſtzweiges erreich— 
bar ſind. 

Es iſt nun einleuchtend, obgleich von denjenigen, in 
deren Händen die Organiſation der Aemter lag, bis jezt 
noch Niemand daran gedacht zu haben ſcheint, daß die Aus— 
ſichten der Dienſtlaufbahn in jedem Zweig durch das nu— 
meriſche Verhältniß zwiſchen den in jene drei Klaſſen fal— 
lenden Aemtern bedingt ſind, daß bei einer Durchſchnitts— 
berechnung ſich für den einzelnen öffentlichen Diener die 
Zahlen der Jahre, welche er auf jeder der drei Stufen von 
Aemtern zu verbringen hat, gerade ſo zu einander verhal— 
ten müſſen, wie die Zahlen der in jeder der drei Klaſſen 
vorhandenen Aemter. Wenn alſo in einem Fach unter je 
100 Aemtern 20 Vorſtufenſtellen, 30 Anfangsdienſte und 


365 


50 ordentliche Aemter beſtehen, jo hai der Einzelne durch— 
ſchnittlich 20% ſeiner geſammten Dienſtzeit auf Vorſtufen— 
ſtellen, 30% auf Anfangsdienſten zuzubringen und die Hälfte 
derſelben wird auf die ordentlichen Aemter fallen. Wenn 
Einzelne die unteren Stufen raſcher durchlaufen, ſo muß 
dieß ſeine Ausgleichung darin finden, daß dafür Andere 
länger als die bloße Durchſchnittszeit auf denſelben auszu— 
harren haben. Den Eintritt in den öffentlichen Dienſt für 
Diejenigen, welche akademiſche Studien durchzumachen haben, 
auf das 24te Lebensjahr fallend und die Dauer der ge— 
ſammten Dienſtzeit zu 40 Jahren angenommen, würde der 
Einzelne unter der obigen Vorausſetzung 32 Jahre alt, bis 
er zu einem Anfangsdienſt und 44 Jahre, bis er zu einem 
ordentlichen Amte gelangt. 

Es wäre wohl eine billige und beſcheidene Forderung, 
daß der Einzelne nicht über 4 Jahre in der unterſten Stufe, 
nicht über 6 Jahre auf Anfangsſtellen zu dienen und ſomit 
nach 10jähriger Dienſtleiſtung zu einem ordentlichen Amt 
gelangte. Hieraus würde aber folgen, daß 75 Procent 
aller Stellen eines Dienſtzweigs aus ordentlichen Aemtern 
beſtehen müßten, die Zahl der Vorſtufendienſte nicht über 
10, die der Anfangsdienſte nicht über 15 Procent ſtehen 
dürfte. 

Wenn man mit dieſer Norm die faktiſchen Verhält— 
niſſe in den verſchiedenen Dienſtzweigen der deutſchen Länder, 
im Civilſtaatsdienſt der Richter und Verwaltungsbeamten, 
bei den Geiſtlichen, den Lehrern, den Officieren vergleicht, 
ſo wird man auf die erſtaunlichſten Mißverhältniſſe ſtoßen. 


366 


In Württemberg z. B. wird die normale Proportion in 
keiner einzigen Branche auch nur annähernd erreicht *) und 
es iſt nicht zu zweifeln, daß ähnliches auch anderwärts 
Statt findet, da man überall gewöhnt iſt, das Bedürfniß 
weiterer Arbeitskräfte nur durch Vermehrung der Hilfs— 
und Anfangsſtellen zu befriedigen und dadurch das richtige 
Verhältniß, ſelbſt wenn früher ein ſolches beſtanden haben 
ſollte, zu verrücken. 

Am ſchreiendſten freilich ſind dieſe Anomalieen im Mi— 
litärdienſt. Obgleich hier vielfach abweichende Bedingungen 
vorliegen, ſo bilden doch die Lieutnantsſtellen, die zwar den 
Dienſtrechten nach nicht zu den Vorſtufenämtern, aber dem 
Gehalt nach kaum den Anfangsſtellen anderer Dienſtzweige 
gleich zu ſtellen ſind, bereits über 60 Procente aller Offi— 
ziersſtellen und der Einzelne hätte demnach ordentlicher 
Weiſe ½ ſeiner geſammten Dienſtzeit auf ſolchen zuzu— 
bringen. Wenn vollends der dritte Secondelieutenant für 
die Compagnie gefordert werden ſollte, jo würden etwa drei 
Viertheile aller Offiziersſtellen der unterſten Stufe derſelben 
angehören. Das ganze Syſtem müßte, vom Standpunkt 
der Dienſtausſichten und der bürgerlichen Verſorgung aus 
betrachtet, als ein Unding erſcheinen und iſt überhaupt nur 
unter ſingulären Vorausſetzungen, wie ſie z. B. der Faktor 
der nachgeborenen Söhne der Rittergutsbeſizer und die 


) Zu vergleichen mein Aufſaz: Beiträge zur Statiſtik des öffentl. 
Dienſtes, Würtembergiſche Jahrbücher 1865. p. 234, dem hier Einiges 
entnommen iſt. 


367 


Beneficien der Offiziersſöhne in den Kriegs- und Cadetten— 
ſchulen bilden, als möglich zu denken. 

Die Verſpätung der erſten Anſtellung und das lang— 
ſame Vorrücken zu auskömmlichen Aemtern iſt aber ein 
noch ſchlimmerer Mißſtand des öffentlichen Dienſtes als die 
troz aller Aufbeſſerungen noch fortbeſtehende Unzulänglich— 
keit der Gehalte. Es wäre das Schlimmſte noch nicht, 
wenn der Geſichtspunkt der ſoliden und ſicheren Verſorgung 
unter den Motiven für die Wahl der Laufbahn des öffent— 
lichen Dienſtes eine weniger hervorragende Rolle zu ſpielen 
hätte. Die Geld machenden Stände mögen noch ſo viele 
Vortheile voraus haben, ſie werden es nie erreichen, daß 
nicht neben dem freien Dienſt der Muſe und Wiſſenſchaft 
die Pflege der öffentlichen Intereſſen, des Rechts und der 
allgemeinen Wohlfarth, die Vertheidigung des Vaterlands, 
die geiſtige Leitung des heranwachſenden Geſchlechts, die 
Verkündigung der lezten und tröſtlichſten Wahrheiten auch 
die höchſten und würdigſten Gegenſtände menſchlichen Wir— 
kens bleiben und auf die Neigungen einer edleren und be— 
gabteren Jugend den mächtigſten Reiz ausüben werden. Es 
läßt ſich kaum ein unzweideutigeres Symptom kranker und 
unnatürlicher Zuſtände denken, als wenn es in einem Land, 
wie in den Vereinigten Staaten, dahin gekommen iſt, daß 
auf dem Suchen und Bekleiden von Staatsämtern ein ge— 
ſellſchaftlicher und ſittlicher Makel ruht. Das ſpärlichere Ein— 
kommen des öffentlichen Dieners läßt ſich dabei eher in Kauf 
nehmen; ja es hat noch ſeine Vortheile, es erhöht, bei aus— 
reichender Beſchäftigung, die Achtung und ſchüzt in freien 


368 


Staaten gegen die Mißgunſt des Volks und der arbeitenden 
Klaſſen, wenn der Haushalt und Verbrauch des Beamten, 
des Geiſtlichen, des Lehrers ſich innerhalb der beſcheidenen 
Grenze des mittleren Bürgers zu halten hat und ſein An— 
ſehen nur auf ſeiner Bildung und ſittlichen Haltung, auf 
dem Werth und der Bedeutung ſeiner Functionen beruht. 
Aber das iſt eine berechtigte Forderung, nach langjährigen 
Studien und ſchweren Prüfungen nicht erſt noch ein Duzend 
Jahre auf wechſelnden Hilfsſtellen zu verkümmern, über 
das Schwabenalter hinaus in unfruchtbarem Kanzleidienſt 
zu vertrocknen und die unwiederbringlich ſchönſte Lebenszeit 
in zehrendem Warten abzunüzen, ſtatt mit dem Eintritt ins 
reife Mannesalter einen dauernden und ſelbſtändigen Wir: 
kungskreis zu gewinnen, den eigenen Heerd zu gründen 
und ſich, ſei es auch in eingeſchränkter Lage, der Früchte 
ſeiner Arbeit und der langen Vorbereitungen zu erfreuen. 
Ein Verzicht auf dieſe Anſprüche gleicht einem Verzicht auf 
die geſunden Vorbedingungen des Lebensglücks ſelber. Und 
dieſe Mißverhältniſſe ſind es auch weit mehr als die ma— 
geren Gehalte, die den öffentlichen Dienſt allmälig in eine 
gewiſſe Mißachtung gebracht und die Lage des Angeſtellten 
faſt zu einem Gegenſtande des Mitleids von Seiten der 
anderen Stände gemacht haben. 

Es iſt aber eine Lebensfrage für den modernen und 
insbeſondere den deutſchen Staat, daß ſich die beſten Köpfe 
und edelſten Kräfte dem öffentlichen Dienſt widmen und er 
würde es ſchwer zu büßen haben, wenn er dieſe dauernd 
von ſich abſtieße. 


369 


Nur Wenige wiſſen es in ſeinem vollen Umfang zu 
würdigen, welchen Schaz die deutſchen Staaten in der Or— 
ganiſation der Aemter und in der Qualität ihrer öffent— 
lichen Diener vor allen andern Ländern voraushaben, an 
dem wiſſenſchaftlichen geordneten Bildungsgang, an dem 
Gefühl für Standesehre, an der geſicherten Stellung ihrer 
Richter und Verwaltungsbeamten, ihrer Lehrer und Geiſt— 
lichen, an der Unabhängigkeit der Aemterbeſezung von Pa— 
tronage und Parteirückſichten. Man überſieht um einzelner 
Ausnahmen und Mißſtände willen den Stand der Sache 
im Großen und Ganzen. Man führt aus alter Gewohnheit 
unter ganz veränderten Verhältniſſen das Gerede über bu— 
reaucratiſchen Druck, Zopf und Unverſtand fort. Man iſt 
in Gefahr, dem Schlagwort des Selfgovernment nach eng— 
liſchem, für uns unbrauchbaren Vorbild werthvolle Inſti— 
tutionen aufzuopfern. Wenn das Glück der Völker von 
der Freiſinnigkeit der Verfaſſungen, von der Ausdehnung 
des Wahlrechts, von dem Machtumfang der Vertretungs— 
körper und der Durchführung der parlamentariſchen Parthei— 
regierungen abhienge, ſo müßten Rumänien und Griechen— 
land wahre Muſterſtaaten ſein. Erſt die neueſte Zeit hat 
angefangen, die einfachen Wahrheiten wieder gelten zu laſſen, 
daß der Werth einer Verfaſſung ſich nur in der Verwaltung 
erproben kann, daß bei den Geſezen das Wichtigſte ihre 
Vollziehung, daß eine ſchlechte Verfaſſung mit guter Ver— 
waltung unendlich beſſer als das Umgekehrte iſt, und daß 
der öffentliche Dienſt des modernen Staats in ſteigendem 
Maaße gründliche Fachkenntniſſe und ungetheilte Arbeits— 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 24 


370 

kräfte erfordert. Die andern Staaten, die republicaniſchen 
ſo gut wie die monarchiſchen, können in dieſen Dingen weit 
mehr von uns lernen, als wir von ihnen. Von allen den 
Fortſchritten, die Deutſchland in den letzten 60 Jahren ge— 
macht hat, fällt ein ſehr großer, ja vielleicht der größte 
Theil auf die Bildung und Tüchtigkeit ſeiner öffentlichen 
Diener. Zur Bewahrung dieſes Gutes iſt auch die ſorg— 
fältige Beachtung der Oeconomie der Aemter unerläßlich. 


4. Moralſtatiſtik und Willensfreiheit. 


Nur ſo unphiloſophiſche Köpfe, wie Ad. Quetelet und 
Thomas Buckle neben aller ſonſtigen Begabung genannt 
werden müſſen, konnten der nun viel verbreiteten Lehre 
das Wort reden, daß die Thatſachen der Moralſtatiſtik zur 
Läugnung der menſchlichen Willensfreiheit führen müſſen. 
Wenn man zuerſt einen undenkbaren Begriff von Freiheit 
aufſtellt, iſt es nicht zu verwundern, wenn hintendrein die 
Thatſachen zu demſelben nicht ſtimmen wollen. Wenn nur 
derjenige frei zu nennen iſt, der nicht durch Motive beſtimmt 
wird, oder wenigſtens nicht durch ſolche, die auch auf an— 
dere ſeinesgleichen wirken und allen verſtändlich ſind, ſon— 
dern ſeine Entſchlüſſe aus der unergründlichen und unbe— 
rechenbaren Tiefe einer ureigenen und einzigen Indivi— 
dualität ſchöpft, dann ſind die Handlungen Vieler überhaupt 
unter ſich unvergleichbar und jede Conſtanz und Aehnlich— 
keit derſelben iſt ſchon unverſtändlich. Halten wir uns 
näher an die Erfahrung, ſo werden wir von der menſch— 
lichen Willensfreiheit nur etwa in dem Sinne ſprechen, 


371 


daß dem Menſchen gegenüber von der Enge und Gebunden— 
heit der thieriſchen Motive ein unendlich reicherer Spielraum 
von Trieben und Anlagen geſteckt iſt, daß ſich hiebei zu den 
mannigfaltigen Reizen des animaliſchen Lebens noch die Em— 
pfänglichkeit für Luſt- und Werthgefühle einer höheren Ord— 
nung geſellt, daß dieſe mannigfaltigen Motive in vielfältige 
Beziehungen und Verknüpfungen, aber auch zu Reibungen 
und Gegenſäzen auseinander treten, und daß dieß bunte 
Spiel von Reizen in und vor einem bewußten Central— 
punkte, den wir unſer Ich nennen, abläuft, welcher fühlend 
und überlegend den Werth der verſchiedenen Reize abmißt 
und ſchließlich wollend einen Ausſchlag nach der einen oder 
andern Richtung gibt. Einen Ausſchlag, der freilich dem 
Charakter des Einzelnen, d. h. dem geſammten Complex 
von angeborenen und angebildeten oder durch Uebung er— 
ſtarkten Eigenſchaften entſpricht und darum von Jemand, 
der dieſen Charakter vollſtändig kennen würde, vorausgeſagt 
werden könnte, dem aber gleichwohl das Gefühl des anders 
Gekonnthabens, des ſo oder anders Geſollthabens, und ſo— 
mit der Zurechnung als eigener That zur Seite geht. Mit 
einem ſolchen oder ähnlichen Freiheitsbegriff ſteht es nicht 
im Mindeſten im Widerſpruch, wenn viele Menſchen unter 
ähnlichen Bedingungen ähnlich handeln. 

Meine individuelle Freiheit verlangt nur, daß ich gegen 
die äußern Einwirkungen meiner Natur gemäß reagiren 
kann, daß die höheren Kräfte in mir nicht äußerlich an 
ihrer Bethätigung gehemmt ſind; daß aber ein Anderer ne— 
ben mir ebenſo handelt wie ich und von den gleichen Mo— 


24 * 


372 


tiven bewegt wird, hat mit meiner Willensfreiheit Nichts 
zu ſchaffen. Die menſchlichen Individualitäten verhalten 
ſich nicht zu einander wie unvergleichbare Originale, ſon— 
dern liegen alle innerhalb der Grenzen des gleichen Gat— 
tungscharakters; alle Menſchen haben die gleichen Triebe 
und Anlagen; der Unterſchied liegt nur in dem relativen 
Stärkegrad, in welchem die einzelnen Merkmale bei Jedem 
ausgeprägt ſind und die einzelnen Motive beſtimmend auf 
ihn einwirken. Die Zahl der gemeinſamen Motive, deren 
ſich Niemand ganz entſchlagen kann, iſt außerordentlich groß. 
Niemand vermag die phyſiologiſche Einwirkung ſeines Ge— 
ſchlechts oder ſeiner Altersſtufe zu verläugnen. Eine Menge 
anderer Faktoren, wie Klima und Boden, Race, Nationali— 
tät, Sprache, Stand und Beſchäftigung, Wohnplaz, Beſitz, 
Erziehung, Sitte, geſchichtliche Ueberlieferungen, politiſche 
Zuſtände bilden eine Gruppirung der Menſchen und weiſen 
jedem Einzelnen innerhalb derſelben Gruppe, ſo abweichend 
die Empfänglichkeit für jedes einzelne dieſer Motive wieder 
ſein mag, doch einen gewiſſen gemeinſamen Grundtypus an. 
Man kann aber dabei keineswegs ſagen, jeder Einzelne ſei 
nur ein Product dieſes Gruppencharakters, ſondern min— 
deſtens mit gleichem Recht, die Gruppe ſei das Geſammt— 
product der Einzelnen, welche von gleichen pſychiſchen Ele— 
menten aus unter ähnlichen äußeren Einwirkungen gleiche 
oder verwandte Vorſtellungsreihen bilden und ſo einen 
Maſſeneffekt hervorbringen, der vermöge der ſocialen An— 
lagen unſerer Natur auch wieder rückwirkend den Einzelnen 
beſtimmt. Die Freiheit der Menſchen beſteht ja nicht 


375 


darin, daß keine äußeren Momente beſtimmend auf ihn 
einwirken, ſondern in der Weite des Spielraums und der 
Mannigfaltigkeit der Formen und Grade, in welchen die 
Individualität wieder gegen jedes einzelne jener Momente 
zu reagiren vermag. 

Wie kann man dann überraſcht ſein, daß die Zahl der 
Trauungen eines Jahres, wenn kein beſonderer Grund zu 
einer Abweichung vorliegt, von der des Vorjahrs und Nach— 
jahrs nicht merklich verſchieden iſt, daß ſie dagegen höchſt 
empfindlich iſt für jede Veränderung in den wirthſchaft— 
lichen Vorbedingungen der Niederlaſſung, ſchnell wächſt, 
wenn Erleichterungen des Erwerbs eintreten, ebenſo raſch 
ſinkt bei Theurungen, in Kriegszeiten, bei Stockungen der 
Gewerbe, auch daß der Bruchtheil der heirathenden Wittwer 
oder Wittwen von einem Jahr zum andern ungefähr gleich 
bleibt? Nicht dieß, ſondern das Gegentheil, wenn es Statt 
fände, wäre ein Argument gegen die menſchliche Freiheit. Die 
Thiere begatten ſich, ob ihre Nahrungsmittel ſpärlicher oder 
reichlicher vorhanden ſind und laſſen dann die Jungen ver— 
kommen. Der Menſch, frei von der zwingenden Herrſchaft 
des Naturtriebes, überlegt, ob es räthlich iſt, zur Gründung 
einer Familie zu ſchreiten. Daß nun aber nicht Einer, 
ſondern Viele unter den gleichen oder ähnlichen Bedingungen 
eine ſo vernünftige Erwägung anſtellen und daß ſich die 
Wirkung dieſes Faktors bei der Volkszählung bemerklich 
macht, das iſt der handgreiflichſte Beweis für, aber nicht 
gegen die menſchliche Willensfreiheit, wofern man dieſe nicht 
zu einem logiſchen Unding macht. 


374 

Ebenſo iſt es aber auch mit den andern Hauptbeweis— 
mitteln der Criminal- und Selbſtmordſtatiſtik. Man hat 
nicht erſt die Zahlen der Statiſtiker dazu gebraucht, um zu 
wiſſen, daß Handlungen brutaler Gewaltthätigkeit, wie 
Raub, Mord, Widerſezung, Körperverlezung weit häufiger 
von Männern begangen werden, als von Weibern und daß 
wir unter den wegen ſolcher Vergehen Angeklagten ſelten 
Greiſe und Knaben, wohl aber junge Männer in dem Alter 
der Kraft und Leidenſchaft antreffen werden. Ob dagegen 
die Verbrechen gegen das Eigenthum häufiger ſein werden 
oder die gegen die Perſon, das werden wir ſchon nicht 
mehr voraus zu vermuthen wagen, ſondern als von der 
Geſittungsſtufe, dem Charakter und den wirthſchaftlichen 
Verhältniſſen einer beſtimmten Gruppe abhängig denken. 
Nicht zu verwundern wird es aber ſein, wenn innerhalb 
der gleichen Gruppe Zuſammenlebender in angrenzenden 
Jahren die Fälle der Verſuchung zu Uebertretungen oder 
zum Selbſtmord, ſowie das Maaß der Widerſtandskräfte 
gegen ſolche Verſuchungen ſich innerhalb nicht allzuweit ge— 

zogener Grenzen bewegen. : 
Ja wir müſſen uns denken, daß dieſe Regelmäßigkeiten 
mit wachſender Geſittungsſtufe ſich nicht vermindern, ſondern 
vielmehr ſteigern werden. Wenn wir uns ein Volk von 
Philoſophen oder von ächten Chriſten oder eine Republik 
von Engeln vorzuſtellen verſuchen, ſo werden wir eher eine 
größere als eine geringere Conſtanz der Moralſtatiſtik er— 
warten, obgleich und weil wir dabei ein höheres Maaß 
von Willensfreiheit vorausſezen müßten. Das ſtttliche 


375 


Ideal weist auf eine ſtetige Harmonie der Kräfte hin und 
deren Formen werden weit weniger auseinanderliegen als 
die der Disharmonie. 

Schließlich aber liegt das Intereſſante der Moralſta— 
tiſtik gar nicht in dem Nachweis ſolcher Regelmäßigkeiten 
menſchlicher Willensacte, ſondern weit mehr in der zu Tag 
tretenden ſtetigen Bewegung und Veränderung der Zahlen. 
Jene Conſtanz iſt meiſt blos eine ſcheinbare; man erhält 
ſie nur, wenn man vom Einzelnen abſehend, die Mannig— 
faltigkeit der Erſcheinungen verwiſchend, auf die großen 
Durchſchnittszahlen losgeht, in denen das Variable ver— 
ſchwindet oder zurücktritt. In Wahrheit ſind die ſittlichen 
Zuſtände und die Richtungen der menſchlichen Willensacte 
in beſtändigem Fluß begriffen, in ununterbrochenem Fort— 
ſchritt oder Rückſchritt. Von Jahrzehend zu Jahrzehend, 
von Volk zu Volk, von Landſchaft zu Landſchaft, nach Ge— 
ſchlecht, Alter und Stand zeigt eine genauere Beobachtung 
eine ſtetige Veränderung. Die Selbſtmordfrequenz ſteigt 
noch ununterbrochen; ſie iſt nach Volk, Confeſſion, nach 
Ständen, Geſchlecht und Alter höchſt verſchieden, und keines— 
wegs unter beharrenden Proportionen dieſer Faktoren unter 
einander. Selbſt die ſo gern betonte Scala der Todes— 
arten verändert ſich ſtetig und wird nach einigen Jahr— 
zehenden ein ganz anderes Bild zeigen. Und welch bewegtes 
Schauſpiel bieten uns ſchon die dürftigen Data der Reli— 
gionsſtatiſtik! Wenn uns die Statiſtik in dieſen Dingen 
nur die conſtanten Verhältniſſe zu erſchließen vermöchte, 
wäre ſie mit der einmaligen Auffindung derſelben fertig 


376 


und abgeſchloſſen. Erſt indem fie uns dem leiſen, ſtillen 
Schritt der Völker auf neue Bahnen nachzugehen lehrt, 
weiſt ſie uns mit ſicherem Finger auf die wahren Zeichen 
der Zeit, die ſich ſonſt in dem Gewühl verworrener Erſchei— 
nungen ſo leicht auch dem aufmerkſameren Blick verbergen. 

Solche Veränderungen laſſen ſich nur als Maſſen— 
wirkungen einer durch Individuen vermittelten, geiſtigen 
Bewegung denken, und haben den weiten Spielraum indi— 
vidueller Eigenart und Entwicklung zu ihrer unabweisbaren 
Vorausſezung. Bei unfreien Weſen wären ſie gar nicht 
denkbar. 

Pſychologiſch bedeutſam und überraſchend ſind ohne 
Zweifel jene viel erwähnten Regelmäßigkeiten der Moral- 
ſtatiſtik, wie ſie am lehrreichſten in dem ſtatiſtiſchen Muſter— 
kapitel von den Selbſtmordfällen, in dem Antheil der Ge— 
ſchlechter, der Altersſtufen, der Nationalitäten, Confeſſionen, 
Motive, Jahreszeiten und Todesarten zu Tag treten. Aber 
die anſpruchsvollen Worte von Geſez und Nothwendigkeit 
ſollte man dabei nicht ſo leicht in den Mund nehmen, wo 
man nur von phyſiologiſchen Reizen oder pſychologiſchen 
Diſpoſitionen reden könnte. Man nenne uns nur auch ein 
einziges Geſez, das die ſogenannte Moralſtatiſtik ſchon ge⸗ 
funden hätte! Ihr auch ſo noch großes Verdienſt beſteht 
nur darin, daß ſie gewiſſe Cauſalzuſammenhänge, theils 
phyſiologiſchen, theils pſychologiſchen Inhalts, die an ſich 
zu vermuthen und verſtändlich waren, empirisch feſtgeſtellt 
und genauer begrenzt hat, daß ſie die thatſächlichen, ſitt— 
lichen Zuſtände der Völker und Zeitalter durch das Mittel 


377 


der Maſſenbeobachtung ficherer und umfaſſender blos legt, 
als dieß mit den unzureichenden und ſubjectiven Wahr— 
nehmungen des Einzelnen möglich war. 

Das Problem, auf das die Moralſtatiſtik führt, iſt nur 
auch wieder die Wechſelwirkung zwiſchen der Geſellſchaft 
und dem Einzelnen, das complicirte Verhältniß des Schie— 
bens und Geſchobenwerdens. Mit der metaphyſiſchen Frage 
über die menſchliche Willensfreiheit, hat ſie nichts zu ſchaffen. 

Und jo muß ſchließlich auch der Statiſtiker wieder die 
Worte des brittiſchen Dichters gelten laſſen: 

„Das iſt die ausbündige Narrheit dieſer Welt, daß, 
wenn unſer Glück krankt, wir die Schuld unſerer Unfälle 
auf Sonne, Mond und Sterne ſchieben, als wenn wir 
Schurken wären durch Nothwendigkeit, Narren durch ſinn— 
liche Einwirkung, Schelme, Diebe und Verräther durch die 
Uebermacht der Sphären und Alles, worin wir ſchlecht ſind, 
durch göttlichen Anſtoß.“ 


5. Furcht und Mitleid in der Tragödie. 

Warum iſt die Tragödie eine Katharſis, eine Befrei— 
ung von Furcht und Mitleid? warum will ſie uns gerade 
von dieſen beiden Affekten befreien, nicht auch von Haß, 
Zorn und Neid, von Kummer und Traurigkeit und andern 
Stimmungen der Unluſt? Ich erinnere mich nicht, eine 
befriedigende Antwort auf dieſe Fragen gehört zu haben. 

Furcht und Mitleid ſind das natürliche, normale Er— 
gebniß jeder unbefangenen und ernſten Weltbetrachtung. 
Schon der kurzen und flüchtigen Lebenserfahrung drängen 


378 


ſich die unabſehbaren Uebel und Plagen in der Welt, der 
vielfältige Jammer der Menſchheit, die Vergänglichkeit aller 
Freuden und Güter und des Lebens ſelbſt, der Grund— 
vorausſezung von allen anderen, überwältigend auf und 
müſſen naturgemäß zwei Stimmungsformen in uns hervor— 
rufen, Angſt und Bedauern, jene bei dem Gedanken an uns 
ſelbſt und die uns von allen Seiten bedrohenden Gefahren, 
dieſes bei dem Anblick fremder Leiden, welcher uns ſtets 
geboten iſt. Furcht und Mitleid unterſcheiden ſich ſomit 
von den übrigen Affekten dadurch, daß der Anlaß zu ihnen 
beſtändig vorliegt, durch den täglichen Anblick des Welt— 
laufs und Menſchengeſchicks gegeben iſt, während jene an— 
dern Gefühle lebhafterer Unluſt nur zeitweiſe und vorüber— 
gehend durch beſondere Anläſſe in uns erregt werden und 
mit ihnen wieder verſchwinden. Es iſt ein Unterſchied, wie 
zwiſchen chroniſchen und acuten Uebeln. Daraus erklärt ſich 
auch eine andere Schwierigkeit. Gegen die Ariſtoteliſche 
Deutung, daß die Tragödie durch Erregung von Furcht 
und Mitleid die Befreiung von eben dieſen Stimmungen 
bewirke, drängt ſich die Einwendung auf, warum denn, 
da Furcht und Mitleid doch nur unangenehme Gefühle 
ſind, ſie zuerſt erregt und dann wieder beſeitigt werden 
ſollen, ob es denn nicht viel zweckmäßiger wäre, ſie lieber 
gar nicht zu erregen, da es doch immer viel beſſer ſei, gar 
nicht verwundet, als zuerſt verwun det und dann geheilt zu 
werden. Furcht und Mitleid, Angſt und Bedauern ſind 
als ſtändige Grundakkorde, als bereits vorhandene, durch 
die allgemeine und tägliche Lebenserfahrung Jedem nahe— 


379 

gelegte und aufgedrungene Stimmungen, gleichſam als per: 
manente Zugaben unſeres Selbſtgefühles, als ein ſtetiger 
Druck auf unſer Herz zu denken. Der Dichter braucht 
dieſe Stimmungen daher nicht erſt künſtlich zu erregen; er 
knüpft an ſie an als an etwas auf dem Hintergrund unſe— 
res geſammten Lebensgefühls immer wenigſtens latent 
Ruhendes und nur durch Zerſtreuung, durch Arbeit oder 
Leichtſinn vorübergehend Zurückgedrängtes. 

Das Luſtſpiel und die heitere Dichtung ſchafft und er— 
leichtert uns ſolche Zerſtreuung und umhüllt mit einem ge— 
fälligen täuſchenden Schleier die wahre Geſtalt der Dinge. 
Das Schauſpiel oder Epos mit glücklichem Ausgang zeigt 
uns zwar ernſtere Vorgänge; es führt die Gefahren und 
Nöthen des Lebens an uns herauf, leiht aber der menſch— 
lichen Kraft den Sieg über die dunkeln Mächte und läßt 
den Weltlauf halbverhüllt und in hoffnungsreicher Beleuch— 
tung vor uns erſcheinen. Die tragiſche Dichtung erſt nimmt 
Menſchenleben und Schickſal in ihrer wahren, unverſchleier— 
ten Geſtalt, als die ſtändige Quelle von Angſt und Mitleid. 
Aber doch will ſie uns nicht niederdrücken und betrüben, 
ſondern aufrichten und erfreuen. Wie greift ſie dieß an? 

Die Kur, welche der tragiſche Dichter mit uns vor— 
nimmt, gleicht ganz dem Heilverfahren der Homöopathie: 
similia similibus. Wie dieſe zur Heilung des Kranken 
eben dieſelben Mittel anwendet, welche an dem geſunden 
Körper das gleiche Uebel erſt erzeugen würden, nur in ver— 
dünnten, unſchädlichen Doſen, die den natürlichen Heil— 
proceß leichter und raſcher zum Ziele führen, ſo läßt der 


380 


Dichter das Furcht und Mitleid Erregende in einer Geſtalt 
und in einem Maaße vor uns erſcheinen, welches die heilen— 
den Gegenkräfte, die in unſerm Innern ruhen, entbindet 
und belebt; er veranlaßt uns, in etwas leichterer Form 
eben die Reihe von Vorſtellungen und Gefühlen zu durch— 
laufen, durch welche er den Druck von ſeinem eigenen Herzen 
zu löſen gewußt hat. 

Man ſagt, das wichtigſte Mittel, bei den Soldaten 
in der Schlacht die Furcht nicht Herr werden zu laſſen, ſei, 
ſie ſtets in Aufmerkſamkeit und Thätigkeit zu erhalten, 
während bei rein paſſiver und zuwartender Haltung im An— 
geſicht der Gefahr die Angſt auch den Muthigſten überſchleiche. 

In ähnlicher Weiſe verſezt uns der Dichter vor Allem 
in geiſtige Action, indem er uns eine bedeutende Hand— 
lung in ſpannender Reihenfolge der einzelnen Theile vor— 
führt und damit dem Gefühl von Furcht und Mitleid, das 
der Inhalt in uns wecken wird, das Luſtgefühl voller An— 
regung und Beſchäftigung unſerer geiſtigen Kräfte zur Seite 
gehen läßt. Das lebhafte Spiel der Phantaſie iſt an ſich 
ſchon ein angenehmer Zuſtand, wie wir uns ja oft zum 
bloßen Vergnügen recht traurige und ſchauerliche Situationen 
ausmalen. Dazu tritt der Sinnenreiz für Auge und Ohr, 
der Anblick edler Geſtalten, der Wohlklang ſchöner und 
rhythmiſch gefügter Worte. Das Menſchenleben wird vor 
unſern Blicken idealiſirt und verklärt, indem nur bedeutende 
intereſſante Menſchen, die ihren Empfindungen den vollen 
und beflügelten ſprachlichen Ausdruck zu geben, die ergrei— 
fende Geberde beizugeſellen wiſſen, in den entſcheidendſten 


381 


Momenten ihres Lebensgangs vorgeführt werden. In der 
Handlung iſt Plan und inniger Zuſammenhang; der Zu— 
fall und das Unbedeutſame, das in der Wirklichkeit ſo brei— 
ten Raum einnimmt, iſt ausgeſchieden. Es iſt, wie wenn 
höhere, unſichtbare Mächte, von denen wir nur leiſe um— 
fangen ſcheinen, das menſchliche Geſchick an verborgenen 
Fäden lenkten. Das menſchliche Daſein erſcheint wie ein 
Stück aus einer höheren Ordnung der Dinge, das die 
Ahnung eines Zuſammenhangs mit allwaltenden Kräften 
erweckt. Das Thun und Leiden des Einzelnen macht uns 
den Eindruck eines allgemeinen, uns ſelbſt mitbetreffenden 
Falles. Nicht blinder Zufall leitet unſer Geſchick; des 
Einzelnen Daſein iſt nicht wie ein Strich in die Luft oder 
ein Schlag ins Waſſer. Zwar wie dieſe Anknüpfung des 
individuellen Lebens an die Weltordnung vorgeſtellt wird, 
ob durch Göttererſcheinung, Orakelſprüche, durch Verflech— 
tung von Schuld und Schickſal, durch blinde oder ethiſche 
Kräfte, hängt an der Verſchiedenheit der Bildung nach Volk 
und Zeitalter, aber in allen dieſen wechſelnden Formen 
wird doch menſchliches Thun und Leiden in eine höhere 
Region gerückt und das verzweiflungsvolle Gefühl der völ— 
ligen Nichtigkeit und Verlorenheit von uns genommen. 
Furcht und Mitleid verlaſſen uns nicht ganz, aber wir 
fühlen uns geläutert und gehoben; wir ſtehen ſelbſtver— 
geſſend vor einem Ausblick in weite, unabſehbare Gefilde, 
die ſich einen Augenblick in ahnungsvoller Beleuchtung vor 
uns eröffnen. Die Furcht iſt wie im Hochgebirg oder 
Meeresſturm durch die Erhabenheit des Bildes, den Schauer 


382 


der Ehrfurcht verklärt und das Mitleid, ein an ſich weicherer 
und minder aufregender Affekt, iſt in dem verſöhnenden 
Abſchluß ſanft ausgeklungen. 

Damit ſoll keine Auslegung der vielgedeuteten Ariſto— 
teliſchen Worte: Zozw olv zoaywdie ulunoıs at ο 
onovdaiag — di E ον⁰ , POßov 7rEgalvovoa nv av TOLV- 
ıov nesInuceov zaIegoev”) gegeben werden, aber es läßt 
doch vielleicht den Grund, warum gerade Furcht und Mit- 
leid eine ſo hervortretende Rolle in dem Begriff der Tra— 
gödie ſpielen, verſtändlicher erſcheinen. 


6. Zu Hermann und Dorothea. 


Die deutſche Literatur kennt keine vollendetere und 
tadellojere Dichtung als Göthes Hermann und Dorothea. 
Von allen Seiten ſtimmt die Kritik, ſelbſt die ſonſt gegen 
Göthe eingenommene, in den Preis dieſes herrlichen Werkes 
ein. Sogar die Hexameter, an denen die ſtrengere Theorie 
der Neueren ſo Vieles auszuſezen hat, laſſen ſich mit Er— 
folg vertheidigen und nur einzelne derſelben, in welchen der 
Dichter ſeine eigenen Grundſäze außer Acht gelaſſen hat, 
müßten preisgegeben werden. Am allerwenigſten anfecht— 
bar erſcheint die realiſtiſche Wahrheit der Handlung und 
Schilderungen. Dennoch iſt es gerade dieſe Seite, gegen 
welche ich einige kleine Einwendungen vorzubringen habe, 


*) Eine zugleich interpretirende Ueberſezung wäre etwa: Die Tra- 
gödie iſt eine Nachbildung einer ernſten und bedeutenden Handlung — 
ſie bewirkt durch die Erweckung von Furcht und Mitleid eine Ent— 
laſtung des Gemüths von dem Druck eben dieſer Stimmungen. 


383 


von denen ich mich nicht erinnere, ſie anderswo gefunden 
zu haben. 

Die Mutter erzählt, es ſei an einem Montag Morgen, 
den Tag nach dem großen Brand, vor nun zwanzig Jahren 
geweſen, daß der Vater ihr ſeine erſte Liebeserklärung ge— 
macht habe. Hiernach könnte Hermann kaum über 19 Jahre 
alt ſein. Ein 19jähriger Hermann aber iſt ein Unding, 
eine unerträgliche Vorſtellung. Dem 19jährigen Sohn ge— 
genüber können die Eltern noch nicht ungeduldig geworden 
ſein, daß er ſäume, eine Tochter ins Haus zu führen; in 
ſeinem Munde wäre jenes ſich ſchwer aus gepreßter Bruſt 
losringende Geſtändniß an die Mutter, „er entbehre der 
Gattin“, nur komiſch. Wir dürfen ihn nicht als angehen— 
den, ſondern als fertigen, auf dem Höhepunkt jugendlicher 
Kraft und Schönheit angelangten Jüngling denken. Es 
ſchien die Thüre zu klein, die hohen Geſtalten einzulaſſen. 
Hermann lenkt die Hengſte, die er als Fohlen gekauft 
und eingefahren hatte. Er darf auch nicht jünger ſein als 
Dorothea, die doch als in der vollſten Blüthe jungfräulichen 
Alters ſtehend zu denken iſt, und ſchon einmal verlobt war. 

Es iſt unzweifelhaft, daß Göthe keinen 19jährigen 
Hermann vor Augen hatte, ſondern, wenn er überhaupt 
an ein beſtimmtes Alter dachte, einen um etwa 5—6 Jahre 
älteren. Da es von einer Frau immer ein wenig unüber— 
legt iſt, die Dauer ihrer Ehe kürzer anzugeben, als das 
Alter ihres erſten Kindes ſchließen ließe, ſo können wir 
hier eben nur damit helfen, daß es mit jenen 20 Jahren 
nicht ſo ſtreng und wörtlich zu nehmen ſei. Und dieß 


384 


erklärt ſich dann wieder daraus, daß weitaus die meiſten 
Menſchen ſich bei Zahlen, wo ſich kein perſönliches Inter— 
eſſe daran knüpft, gar nichts ſo Beſtimmtes zu denken und 
nicht damit zu rechnen pflegen. Auch Göthe hatte, wie die 
meiſten Dichter, nur einen ſchwach entwickelten Zahlenſinn. 

Noch ein anderer Anachronismus von eigenthümlicher 
Art findet ſich in dem Gedichte. Indem die Mutter durch 
den Garten, Weinberg und das Feld geht, um den Sohn 
zu ſuchen, erfreut ſie ſich an der Fülle der Trauben, die 
kaum ſich unter den Blättern verbergen, der Gutedel und 
Muscateller, darunter der röthlich blauen von ganz beſon— 
derer Größe; gleich darauf ſchreitet ſie durch die wogenden 
Saaten des nickenden Korns, deſſen Erndte am folgenden 
Tag beginnen ſoll. 

Korn auf den Halmen und gefärbte, ausgewachſene 
Trauben fallen aber nicht in Eine Zeit des Jahres zu— 
ſammen. Wenn die Frucht geſchnitten wird, ſind die Beeren 
der Trauben noch klein und grün und von den Blättern 
bedeckt; nur der Kenner vermag ſchon an Holz und Blatt 
die Sorten zu unterſcheiden. Die genannten Sorten ge— 
hören nicht zu den früh reifenden; die Muscateller werden 
nur in den beſſeren Jahren und Lagen ganz reif. Wo wir 
die vier Jahreszeiten gezeichnet oder gemalt finden, hat der 
Sommer die Garben, der Herbſt die Trauben zum Emblem; 
hier werden die Gaben von Ceres und Bacchus von der 
Natur neben einander geboten. 

Wer im Wein- und Rheinland aufgewachſen iſt, wie 
Göthe, weiß das wohl, daß die rothblauen Muſcateller nicht 


385 

vor dem September zu ſehen und nie gleichzeitig mit dem 
ſchnittreifen Korn ſind. Hat nun der Dichter hier wiſſent— 
lich oder unwiſſentlich gehandelt und wäre es erlaubt, die 
charakteriſtiſchen Kennzeichen der Jahreszeiten in Eine An— 
ſchauung zu vermengen? Ich glaube Lezteres verneinen zu 
müſſen und ſchließe daraus, daß auch von Seiten des 
Dichters keine Abſicht, ſondern ein Verſehen vorliegt, das 
um ſo entſchuldbarer iſt, als die Ueberſchreitung ſich inner— 
halb mäßiger Grenzen hält und von den Wenigſten bemerkt 
oder als Störung empfunden wird. Göthe war zur Zeit 
der Abfaſſung ſchon mehr als 20 Jahre von der Zone des 
Weinbaus entfernt. In der Abſicht, aus ſeiner Erinnerung 
ein eindruckvolles Geſammtbild von der Fülle und dem 
Segen des ſchönen Rheingaus zu geben, bemerkte er die 
leichte Verſchiebung der Grenzen und Merkmale der Jahres— 
zeiten nicht, die ſeine Phantaſie ſich geſtattet hatte. 

Dieſe beiden Anachronismen benehmen dem Werth des 
Gedichts nicht das Allermindeſte, aber Fehler ſind es immer— 
hin, wenn auch kleine, und dieß ſcheint mir beſonders in 
Einer Beziehung bemerkenswerth. Göthe iſt der welt- und 
naturkundigſte aller Dichter; ſeine Werke halten, wie die 
keines zweiten, die Prüfung vom Geſichtspunkt der reali— 
ſtiſchen Wahrheit und ſinnlichen Vollziehbarkeit des Darge— 
ſtellten aus. Er ſtand, als er Hermann und Dorothea 
ſchrieb, auf dem Höhepunkt aller ſeiner geiſtigen Kräfte; 
der Glanz und die Friſche der jugendlichen Phantaſie und 
Sprachgewalt war dem 47jährigen noch nicht entſchwunden, 
das Maaß, die Formſicherheit, die Welterfahrung und 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 25 


386 


Weisheit des reiferen Alters hatte ſich ſchon eingeſtellt. 
Es war die Zeit ſeiner höchſten Leiſtungen. Hermann 
und Dorothea iſt auch raſch in Einem Zuge entſtanden. 
Seine Freunde kannten das Gedicht ſchon vor dem Drucke, 
darunter Freunde wie Schiller und Humboldt. Es hat 
unter des Dichters Augen noch eine Menge Auflagen erlebt. 
Entweder bemerkte Niemand jene Fehler oder theilte ſie 
ihm Niemand mit oder fand er es nicht der Mühe werth 
eine Correctur vorzunehmen. Der einzige Schluß, den ich 
ziehen will, iſt: ſo das am grünen Holze geſchieht, was 
ſoll am dürren werden? Wenn unter den denkbar günſtig— 
ſten Umſtänden einer dichteriſchen Compoſition gleichwohl 
derartige Widerſprüche und Mängel ſich dauernd einniſten 
können, was müſſen wir dann für möglich halten in Schrift— 
werken oder Dichtungen, die noch von jugendlichen, minder 
welterfahrenen Autoren verfaßt, in auseinanderfallenden 
Zeiträumen begonnen und vollendet wurden, aus dunkleren 
Zeitaltern ſtammen, dem Verfaſſer nie gedruckt und über— 
ſichtlich vor Augen lagen? Es iſt unglaublich, was für 
unverträgliche Dinge auch in dem Kopf der intelligenteſten 
Menſchen neben einander ruhig ihren Plaz behaupten und 
wie unzähligemal wir im Leben, in der Wiſſenſchaft und 
in der Dichtung die logiſchen Geſeze der Identität und des 
Widerſpruchs: A iſt A und nicht non A, verlezen. Die 
Philologen und Interpreten beachten dieß nicht genug; ſie 
ſchließen zu leicht und raſch auf falſche Lesarten, Emenda— 
tionen, Verſchiedenheit der Verfaſſer, oder ſuchen ſie das 
Widerſprechende durch künſtliche Mittel in Einklang zu 


bringen. Ein 19jähriger Hermann zerſtört, ernſthaft ge- 
nommen, unfehlbar das ganze Gedicht, und doch ſteht er 
da, ſchwarz auf weiß, unanfechtbar, aber Niemand denkt 
daran, Niemand nimmt den Dichter beim Worte. Bei dem 
andern Fehler bin ich möglicher Weiſe der erſte, dem er 
überhaupt aufgefallen iſt, und dieß auch nur gewiſſermaßen 
aus zufälligen und individuellen Gründen, und doch iſt es 
ein Fehler und zwar auf einem Gebiet, wo ſonſt Niemand 
zuverläſſiger iſt als Göthe. Wenn ſo Etwas in einer 
Dichtung des Alterthums ſtünde, würde man es längſt be— 
merkt und gar Viel darüber geſchrieben haben. 


7. Eintheilung der Univerſalgeſchichte. 

Ob nicht die Hiſtoriker ſpäterer Generationen die dritte 
Hauptepoche der Weltgeſchichte erſt mit dem 19ten Jahr— 
hundert beginnen und die ganze Zeit von der Reformation 
bis zur franzöſiſchen Revolution noch zum Mittelalter als 
deſſen Schluß und Uebergangsperiode rechnen werden? Ge— 
wiß iſt, daß ſich das I6te Jahrhundert mit dem 19ten, 
wenn auch von dieſem erſt drei Viertheile abgeſchloſſen vor 
uns liegen, an weltumgef ann Ereigniſſen gar nicht 
vergleichen läßt. 5 

Wohl ſind das Wiedererwachen der Wiſſenſchaften, 
die Buchdruckerkunſt, die Entdeckungen neuer Länder und 
Meere und die Kirchenreformation vier Grund- und Eck— 
ſteine eines neuen Kulturbaues, vier Wegweiſer auf neue 
Bahnen. Aber jener Bau ſelbſt ſtieg noch nicht in die 
Höhe und kam nur da oder dort aus dem Boden heraus. 


25 * 


388 
Oder läßt ſich jagen: die jungen Pflanzen jproßten zwar 
kräftig aus dem Boden heraus, aber ſie vermochten doch 
die alte, übermächtige Pflanzendecke nur an einzelnen Stellen 
zu verdrängen und den Anblick der geſammten Fläche noch 
nicht weſentlich zu verändern. 

Das Wiederaufleben der Wiſſenſchaften kam zunächſt 
nur der claſſiſchen Philologie, blos in vereinzelten, wenn 
auch glänzenden Ausnahmen der Aſtronomie, Phyſik und 
Philoſophie zu gut, während man an den Schulen über die 
alten Methoden und Formen kaum hinauskam. Der Bücher— 
druck konnte ſeine Wirkung in weiten Kreiſen noch wenig 
entfalten, wenn die unendliche Mehrzahl der europäiſchen 
Bevölkerung nicht leſen konnte, wenn die meiſten und faſt 
alle bedeutenden Bücher lateiniſch geſchrieben wurden, wenn 
die ſtrengſte Cenſur waltete und bei freimüthigen Aeuße— 
rungen über religiöſe und bürgerliche Dinge Leib und Leben 
auf dem Spiele ſtand. Die neuentdeckte Welt übt in den 
nächſten Jahrhunderten die große Rückwirkung auf Europa, 
die man bei den erſten Nachrichten erwarten konnte, noch 
nicht aus. Die Vermehrung des Vorraths an edlen Me— 
tallen und die Ueberſiedlung einiger Kulturpflanzen ſind 
das Bemerkbarſte. Handel und Verkehr haben zwar Straßen 
und Emporien gewechſelt, aber an Umfang und Bedeutung 
die ſchon früher von den italiſchen, flandriſchen und Hanſe— 
ſtädten erreichte Stufe nicht weſentlich überboten. Der 
Eröffnung der Oceane gieng die Verödung des Mittel— 
meeres durch die Türkenherrſchaft zur Seite. 

Die Reformation, die bedeutendſte dieſer Veränderungen 


389 


und die noch unerſchöpfte Quelle einer neuen Ideenwelt, 
trat zunächſt doch nur als ein Zurückgreifen auf die vor— 
mittelalterlichen Anſchauungen auf. Nach glänzendem An— 
lauf gerieth die Bewegung ſowohl nach ihrer inneren als 
äußeren Entwicklung ins Stocken. Das Dogma erſtarrte 
zu einer neuen Scholaſtik und ſchweren Feſſel der Geiſter. 
Der kirchliche Zwieſpalt brachte das deutſche Volk an den 
Rand des Verderbens. Nur einem Theil der germaniſchen 
Völker, hauptſächlich dem nördlich wohnenden, gelang es, 
den neuen Glauben zu behaupten; im Süden, wie bei den 
romaniſchen Völkern wurde er wieder unterdrückt; die jla- 
viſchen Stämme wurden von der Bewegung kaum berührt. 

Die Karte von Europa erlitt nur wenige Verände— 
rungen; daß der Islam nach dem Verluſt der weſtlichen 
Halbinſel die öſtliche gewann, war die wichtigſte geweſen. 
Die Zerſplitterung und Ohnmacht des Centrums von Eu— 
ropa, Deutſchland und Italien, iſt noch im Wachſen; der 
moderne Staatsgedanke erwacht, aber nur in der abſtoßen— 
den Durchgangsform des fürſtlichen Abſolutismus. Im 
Uebrigen herrſcht der ganze Feudalismus des Mittelalters, 
die Abgeſchloſſenheit der Stände, die Niederhaltung der 
arbeitenden Klaſſen, Leibeigenſchaft, Hörigkeit und Frohn— 
dienſt des Landmanns nach dem Mißlingen des im Bauern— 
krieg unternommenen Anlaufs in verſchärftem Maße fort. 
Ackerbau und Handwerk bewegen ſich im feſten Geleiſe der 
alten Betriebsformen. Und wie noch bis in dieſes Jahr— 
hundert herein die Städte ganz ihr altes Ausſehen bewahren, 
mit hohen Mauern und tiefen Gräben, mit feſten Thoren 


390 
und Thürmen, „mit dem Druck von Giebeln und Dächern, 
mit der Straßen quetſchender Enge,“ auch noch mit Galgen, 
Pranger und Halseiſen, ſo reicht der wirkliche wie der 
figürliche Zopf der alten Zeit bis in die Tage unſerer 
Großväter. 

Wenn es erlaubt iſt, den Beginn des 19ten Jahrhun— 
derts noch auf 1789 zurückzudatiren, welche Fülle von 
großen Ereigniſſen, welch' gewaltige und tiefgreifende Um— 
geſtaltungen aller Verhältniſſe enthält dieſer Zeitraum von 
kaum dritthalb Generationen! Es giebt in der That in 
der ganzen Weltgeſchichte keine Epoche, in welcher ſich für 
einen ſo weiten Kreis von Völkern und Staaten in gleich 
kurzer Zeit ein gleich großer Wechſel ihrer Zuſtände voll— 
zogen hätte. Der Untergang des römiſchen Reiches und 
die Gründung der germaniſchen Heerkönigthümer hat die 
Karte von Europa, den Schauplaz der Geſchichte, den Völker— 
und Staatenbeſtand wohl weit ſtärker verändert, aber auf 
Koſten des ganzen bis dahin angeſammelten Bildungscapi— 
tals. Die Kulturgeſchichte aber hat ſicherlich dem 19ten 
Jahrhundert nichts Aehnliches an die Seite zu ſtellen. Jezt 
erſt giengen die früher gelegten Keime zu vollen Saaten 
auf und überwuchſen nach allen Richtungen die alte Pflanzen— 
decke. Amerika, der Bücherdruck, die Befruchtung der Wiſſen— 
ſchaften und Künſte durch die klaſſiſchen Studien kamen 
erſt zu ihrer vollen Bedeutung; das proteſtantiſche Princip 
der freien Individualität und Forſchung auf Grundlage 
der ſittlichen Ordnungen rang ſich aus den alten Feſſeln 
los. Dazu tritt nun aber eine ganze Reihe neuer Errungen— 


394 
ſchaften, die jenen vier nhezkichen des 16ten e 
ganz ebenbürtig zu achten ſind. 

Es muß hier eine flüchtige Erinnerung an die Fort— 
ſchritte der Technik durch Dampfkraft, Maſchinenweſen, 
Eiſenbahnen, electriſchen Telegraphen, Photographie genügen; 
an den großartigen Aufſchwung aller Natur- und Geſchichts— 
wiſſenſchaften, ſodann an die nationale Einigung von zwei 
bisher durch Zerſplitterung ohnmächtigen großen Kultur— 
völkern im Herzen von Europa. 

Ein im ſpeciellſten Wortſinn univerſal-geſchichtliches 
Moment iſt die Ausbreitung europäiſch-chriſtlicher Herrſchaft, 
Geſittung oder wenigſtens Einwirkung auf den geſammten 
Erdkreis, durch die Entdeckung und Coloniſation eines fünften 
Welttheils, durch die Gründung und Ausbreitung des brit— 
tiſch-indiſchen Reiches, die Aufſchließung Hinteraſiens, den 
Verfall der Osmanenherrſchaft, die Entwicklung Rußlands 
zur europäiſch-aſiatiſchen Großmacht. Das 16te Jahrhundert 
eröffnet eine Epoche blos für denjenigen Theil der germa— 
niſchen Race, der die Reformation angenommen hat, und 
es iſt im Grund nur eine proteſtantiſche Anſchauung, daran 
ein neues Weltalter zu knüpfen, da die übrige Welt da— 
durch nicht oder wenig berührt wurde. Das gte Jahr— 
hundert erſt hat eine den ganzen Erdkreis umfaſſende Be— 
wegung der Macht- und Kulturverhältniſſe ins Leben ge— 
rufen und die ſeitherige Geſchichte eines Theils der cauca— 
ſiſchen Raſſe zu einer wirklichen Welt- und Menſchheits— 
geſchichte zu erweitern den kräftigſten Anfang gemacht. 

Aber auch die Bedeutung dieſes Punktes überragt noch 


392 


ein anderer, nemlich die Gründung des modernen Rechts— 
und Humanitätsſtaats auf der Grundlage allgemeiner Men— 
ſchen- und Bürgerrechte, die Nivellirung der Geſellſchaft 
durch Beſeitigung der trennenden Schranken zwiſchen den 
Ständen, die Emancipation und Hebung der unteren Ge— 
ſellſchaftsklaſſen, die Bildung eines neuen Standes, der freien 
Lohnarbeiter, die Aufhebung der Sclaverei in dem Herr— 
ſchaftsgebiete der chriſtlich europäiſchen Völker. 

Die ſocialen Veränderungen ſind aber überall weitaus 
die wichtigſten; erſt durch dieſe leztgenannten Momente 
wurde das mittelalterliche Staats- und Geſellſchaftsweſen 
ſowohl im Princip als in der Wirklichkeit beſeitigt und der 
entſcheidende Schritt in eine ganz neue Aera gethan. 

Wohl kennt die Entwicklung der Völker im Allgemeinen 
keine ſcharfen Ab- und Einſchnitte, da ſich der Strom der 
cauſalen Verkettungen unaufhaltſam fortwälzt und die 
Kanäle nach vor- und rückwärts niemals fehlen können, 
aber wie auch die Ströme bald raſcher bald langſamer fließen 
und vorgelagerte Hinderniſſe zuerſt zu durchnagen und dann 
zu durchbrechen haben, um ſich nun mit breiter Fluth über 
eine neue und veränderte Landſchaft zu ergießen, ſo hat 
auch die Geſchichte der Menſchheit ihre Stockungen, Strom— 
ſchnellen und Durchbrüche, welche für ihre Betrachtung die 
natürlichen Stationen und Markſteine bilden müſſen. 

Den Charakter eines ſolchen gewaltſamen Durchbruchs 
hat aber kaum irgend ein geſchichtliches Ereigniß in gleicher 
Weiſe wie die franzöſiſche Revolution. In ihrem rapiden 
Verlauf, ihren erſchütternden Rückſchlägen nach allen Seiten 


und bis in entlegene Welttheile, in der Tragweite ihrer 
Tendenzen ift fie eine Geſchichtsſtation erſten Rangs und 
hat mit den mittelalterlichen Gedankenkreiſen noch in ganz 
anderer Weiſe aufgeräumt als die Reformation. 

Aber es läßt ſich nun freilich ſagen: auch wenn dieß 
Alles zuzugeben und die Zeit vom 16ten Jahrhundert bis 
zur franzöſiſchen Revolution wirklich nur die Einleitung und 
Vorſtufe der Neuzeit wäre, ſo ſei dieß doch noch kein Grund, 
ſie dem Mittelalter zuzuweiſen. Es liege vielmehr im 
Weſen einer Uebergangsperiode, daß man ſie mindeſtens 
ebenſogut als erſtes Glied des Neuen wie als Schlußglied 
des Alten betrachten könne; ſie ſei ein Janus, der vor- und 
rückwärts blicke, den Ein- und Ausgang andeute, aber doch 
in erſter Linie als das Symbol des Eintritts über die 
Schwelle eines Neuen gelte. 

Die Geologen haben in ihrer wunderlich aus allen 
Gebieten und Sprachen zuſammengeleſenen Terminologie 
innerhalb der Tertiärformation eine eocäne, miocäne, plio— 
cäne Periode unterſchieden, je nachdem die neuen Formen 
(Ae) erſt im Aufgang (ng) begriffen oder gegen die 
älteren Gebilde noch die Minderheit (s) oder aber be— 
reits das Ueberwiegende, die Mehrheit (rrAeio) find. In 
ähnlicher Weiſe könnte man das 16te Jahrhundert eocän, 
das 17te und 18te miocän und das 19te pliocän, wo nicht 
pantocän, zu nennen verſucht ſein. Aber der geologiſche 
Vorgang würde dann dafür ſprechen, es bei der alten Ein— 
theilung zu belaſſen und das Tertiär oder die dritte welt— 
geſchichtliche Epoche mit dem Eocänen zu beginnen. 


394 


Allein die Hiſtoriker folgen auch ſonſt nicht dieſem 
mehr ſcientifiſchen als der Wirklichkeit adäquaten Einthei— 
lungsprinciv. Das Entſcheidende für den Charakter einer 
Epoche iſt ſtets das darin Vorwaltende, nicht der Keim des 
Zukünftigen. Die Entſtehung des Chriſtenthums, das Auf— 
treten der germanischen Stämme waren unzweifelhaft eocän 
und die nächſtfolgenden Jahrhunderte miocän. Dennoch 
ſchließen wir das Alterthum und beginnen das Mittelalter 
erſt, als das Pliocän eintrat und jene beiden Factoren 
einer neuen Aera zu den herrſchenden Mächten ihres Zeit— 
alters erſtarkt waren. Die ganze Oekonomie der Geſchichts— 
darſtellung müßte aus Rand und Band gehen, wenn man 
dieß Princip, jedes Zeitalter als eine Gegenwart zu ver— 
ſtehen, fallen ließe. 

Die Dinge ſind und bleiben allerdings, was ſie ſind, 
wie auch der Hiſtoriker ſeine Linien und Striche darin ein— 
zeichnen mag, ungefähr wie wir von dem Wendekreis des 
Krebſes und Steinbocks, von den Länge- und Breitegraden 
unſerer Landkarten nichts bemerken, wenn wir an Ort und 
Stelle kommen. Aber wie wir uns ohne dieſe Kreiſe auf 
unſerem Planeten nicht orientiren könnten, ſo beruht auch 
alles Verſtändniß der Geſchichte unſeres Geſchlechts auf 
einer richtigen Gruppirung des Stoffs. Und es iſt nicht 
gleichgiltig, ob wir, die an den Aufgaben der Gegenwart 
zu arbeiten haben, uns dabei bewußt ſind, in einem der 
größten Wendepunkte und Haupteinſchnitte der Weltgeſchichte, 
wie ſie nur nach vielen Jahrhunderten wiederkehren, in 


einem der bedeutungsvollſten unter allen Zeitaltern zu leben 
und zu wirken. 


8. Strauß. 


Chriſten ſind wir nicht mehr; Religion brauchen wir 
nicht; die Welt erklären wir für die Welt, indem wir ihr 
Titel und Rang des Univerſums verleihen; unſer Leben 
ordnen wir von dem Standpunkt eines wohlhabenden, ge— 
lehrten und kunſtſinnigen Deutſchen aus dem Bismark'ſchen 
Zeitalter und all' dieß zuſammen nennen wir dann den 
neuen Glauben. 

Göthe hatte vielleicht doppelt Unrecht, ſowohl wenn er 
von dem lyriſchen Dichter Menſchengeſchick bezwingenden 
Gehalt fordert, als wenn er dieſen gerade in den Uhland— 
ſchen Dichtungen ganz vermißte; wohl aber darf man von 
dem, was ſich für einen neuen Glauben ausgiebt, erwarten, 
daß es uns das Menſchengeſchick verſtehen und bezwingen 
lehrt. Strauß führt das Volk aus dem Egypterland, aber 
nur um ihm die Sandwüſte dafür als dauernden Aufent— 
halt anzuweiſen. „Was fruchtbar ift, allein iſt wahr.“ 

Wenn ein Gefangener in ſeiner Thurmzelle einen ein— 
zigen ſchmalen Spalt hat, durch welchen er etwas Licht und 
Luft empfängt, vorüberziehende Wolken und Sterne, einige 
Blätter und Aeſte eines Baumes ſieht, und gerne wiſſen 
möchte, wie die Rundſicht des Thurmes im Ganzen ſich 
ausnehme, wird dann wohl ſeine Sehnſucht geſtillt ſein, 
wenn ihm der Wärter etwa den Aufſchluß giebt: das, was 
man von der Plattform des Thurmes ſieht, nennt man die 


396 


Umgegend oder das Panorama? Viel mehr als dieß iſt 
es nicht, was uns Strauß über das Univerſum mittheilt 
und genau dasjenige, um was es mehr iſt, ſind haltloſe 
Vermuthungen. Er hatte Großes und Glänzendes als Kri— 
tiker geleiſtet; als er nun aber zulezt ſelbſt mit der Fackel 
voranſchritt und die alten Räthſel zu deuten unternahm, 
da iſt er in faſt kläglicher Weiſe auch hinter billigen Er— 
wartungen zurückgeblieben. 

Die alten Hegelianer, wenn ſie auch dem Meiſter nicht 
treu geblieben ſind, haben doch vielfach mit gar zu vor— 
nehmer Geringſchäzung die neueren philoſophiſchen Arbeiten 
ignoriren zu dürfen geglaubt. Syſteme, die das Ganze der 
Welt zu erklären verſuchen, werden allerdings nicht mehr 
aus dem Aermel geſchüttelt, wie es die Kant'ſchen Epigonen 
Fichte, Schelling und Hegel mit der Zuverſicht vormaliger 
Theologen thun zu dürfen glaubten. Aber in treuer Ge— 
dankenarbeit, mit Geiſt und Scharfſinn, mit weit ſoliderer 
Logik und mit größerer Beſcheidenheit ſind Manche den 

Theilfragen und einzelnen Grundproblemen der Metaphyſik 
näher getreten. Wenn Strauß von dem Notiz genommen 
hätte, was nach Hegel in der Erkenntnißlehre, der Logik 
und Pſychologie, in der Kritik der materialiſtiſchen Theorieen 
geleiſtet worden iſt, hätte er ſein Buch vom neuen Glauben 
nicht ſo ſchreiben können und ſich gegenüber der Frage: wie 
erklären wir die Welt? weit vorſichtiger und reſignirter 
verhalten müſſen. Er hat vergeſſen, um welcher Eigenſchaft 
willen das Delphiſche Orakel Socrates den Weiſeſten unter 
den Hellenen genannt hat. 


397 

Strauß hat den Plaz, den er in der Litteratur und 
Kulturgeſchichte des 19ten Jahrhunderts einzunehmen be— 
rufen war, durch ſein leztes Buch ſelbſt um mindeſtens Eine 
Stufe herabgedrückt. Wie es einen Schatten auf die Lauf— 
bahn des Göz von Berlichingen warf, daß er noch der 
Hauptmann von aufſtändiſchen Bauern, von Metzler und 
Conſorten werden mußte, ſo verdunkelte Strauß den Glanz 
ſeiner früheren Leiſtungen, indem er noch bei der Bande 
der Materialiſten eine Führerſtelle einnahm. 

Es wird aber in der That ſchwer ſein, Strauß den 
richtigen Plaz in der deutſchen Litteratur anzuweiſen. Denn 
unter den eigentlichen Wiſſenſchaften wird ihn keine zu den 
Ihrigen rechnen wollen. Die Philoſophen werden ſein 
leztes Buch nur als das Werk eines Dilettanten, nicht als 
Legitimation für den Eintritt in den Saal der Meiſter 
gelten laſſen. 

Die Hiſtoriker werden ihm auch kein volles Bürger— 
recht, ſondern nur die Stelle eines Gaſtes oder Beiſizers 
einräumen wollen. Die blos verneinende Kritik hat für 
den Hiſtoriker nur untergeordneten Werth; daß die vier 
Evangelien, ſo wie ſie lauten, nicht wirkliche Geſchichte 
geben, dafür brauchte dieſer gar keine umſtändlichen Beweiſe. 
Wie die Sache aber wirklich geweſen und geworden iſt, 
darüber weiß Strauß nicht viel Erhebliches zu ſagen. Die 
ächte poſitive, hiſtoriſche Phantaſie, die ſchöpferiſche Kritik 
und Kombinationsgabe, die aus zerſtreutem und verwirren— 
dem Material ein Ganzes ordnend aufbaut, tritt bei Renan, 
wenn auch in Begleitung unſoliderer Beigaben, viel ſtärker 


398 


hervor als bei Strauß. Die Geſchichte des Urchriſtenthums 
wurde durch dieſen kaum gefördert; an den Unterſuchungen 
der Baur'ſchen Schule hat er ſich kaum ſelbſtändig be— 
theiligt. So bleiben die biographiſchen Denkmale, kleine 
Kunſtwerke auf der Grundlage ſolider Quellenforſchung und 
Kritik, doch vom Standpunkt des Hiſtorikers nicht von grö— 
ßerer Tragweite. Die Bedeutung von Ulrich Hutten wird 
überſchäzt und ſeine Geſtalt iſt nicht in den geſchichtlichen 
Hintergrund eingezeichnet, auf dem ſie ganz verſtändlich 
würde; Friſchlin war ein jo dickes und gutes Buch gar 
nicht werth. Der Reiz und Werth dieſer Schriften liegt 
anderswo als in der Ausbeute für die hiſtoriſche Forſchung. 

So bleiben nur die Theologen übrig. Aber ſollten 
dieſe nicht vor allen Andern das Recht haben, denjenigen 
aus ihren Reihen zu weiſen, der ihnen ſagt: Ihr habt gar 
keine Wiſſenſchaft; euer Fundament, die evangeliſche Ge— 
ſchichte, iſt eine Sammlung von Sagen und Mythen; die 
Dogmen, die ihr darauf gebaut habt, ſind Hirngeſpinnſte; 
ihre Geſchichte iſt ein Proceß allmäliger Zerſezung; ſie 
löſen ſich ſchließlich in einige allgemeine metaphyſiſche und 
ethiſche Säze auf, die beſſer und leichter auf anderem und 
directem Wege zu gewinnen ſind? Dennoch werden die 
Theologen Strauß nicht von ſich abſchütteln können. Auf 
ihrem Gebiet liegen nun einmal ſeine Hauptwerke; ſie waren 
nicht zu ignoriren, und gaben den Anſtoß für eine neue 
und große Bewegung der Theologie. 

Zwar dem blinden Offenbarungsglaubigen, der ſeine 
Vernunft zum Voraus gefangen giebt, konnte die Kritik des 


399 

Lebens Jeſu nichts anhaben, wie es andrerſeits für den 
modernen Denker, dem jeder Wunderbericht ſchon als ſol— 
cher unglaublich erſcheinen muß, wenig Werth hat, die ein 
für allemal erkannte Wahrheit an hundert Einzelfällen mit 
gleichen oder ähnlichen Argumenten nachgewieſen zu ſehen. 
Auch die Kritik des alten Rationalismus, der die Wunder 
durch exegetiſche Künſte wegbringen wollte, war eine gar 
zu leichte Aufgabe. Aber vernichtend war dieſe Kritik für 
die Illuſionen derjenigen, welche den Zwieſpalt zwiſchen 
dem alten Glauben und der modernen Denkweiſe ver— 
tuſchen, durch kleine Conceſſionen, künſtliche Interpretationen, 
nebelhafte Theoreme aus der Welt ſchaffen zu können glaub— 
ten, für die Steudel, Olshauſen, Tholuk, Eſchenmayer u. ſ. w. 
Hier wurden alle Ausflüchte und Winkelzüge ſchonungslos 
aufgedeckt; das aut aut, die Alternative, entweder mit dem 
Glauben Ernſt zu machen oder mit dem Denken, wurde 
ſchärfer und unausweichbarer als jemals jeder Schule wie 
jedem Einzelnen vor die Seele geſtellt. 

Daß Bücher, welche an ſich Unglaubliches berichten, 
ſich eben dadurch als unglaubwürdig und ungeſchichtlich 
erweiſen, darüber waren ſchon in unſerer großen Litteratur— 
epoche weder Dichter noch Denker, weder Leſſing, Göthe, 
Schiller, noch Kant, Fichte, Schelling im Zweifel. Göthe 
ſchreibt an Lavater: „Du hältſt das Evangelium, wie es 
ſteht, für die göttlichſte Wahrheit; mich würde eine ver— 
nehmliche Stimme vom Himmel nicht überzeugen, daß das 
Waſſer brennt und das Feuer löſcht, daß ein Weib ohne 
Mann gebiert und daß die Todten auferſtehen; vielmehr 


400 


halte ich dieß für Läſterungen gegen den großen Gott und 
ſeine Offenbarung in der Natur“. Schiller ſagt von den 
bibliſchen Schriften, daß er in allem, was hiſtoriſch iſt, den 
Unglauben zu jenen Urkunden gleich ſo entſchieden mit— 
bringe, daß ihm die Zweifel an einem einzelnen Factum 
noch ſehr raiſonnabel vorkommen. Auch der Mythusbegriff, 
auf deſſen Anwendung durch Strauß ſo großer Werth ge— 
legt werden will, würde jenen Männern nichts Neues oder 
nichts Erhebliches geſagt haben. 

Allein für die Theologen waren dieß nur allgemeine 
Behauptungen von Laien, die in den Augen des Fach— 
manns keine Geltung haben. Strauß aber hat ſie nun 
als Zunftgenoſſe mit der gründlichſten Gelehrſamkeit wie 
mit den ſchärfſten Waffen der Logik durchgefochten und 
keine Wahl gelaſſen, als entweder auf alle Kritik zu ver— 
zichten oder ihr bis ans Ende zu folgen *). 


) Gerade weil das Leben Jeſu jo ganz auf theologiſchem Boden 
ſtand und unter allen Umſtänden Kenntniß des Griechiſchen voraus— 
ſezen mußte, war es um ſo unverſtändlicher, die neue Bearbeitung 
„für das deutſche Volk“ beſtimmt zu ſehen. Ein gedrucktes Buch iſt 
im Allgemeinen für diejenigen beſtimmt, die es leſen wollen, und 
braucht dieſe nicht zu bezeichnen. Einſchränkende Zuſäze ſind wohl 
gerechtfertigt, „für Kinder, für Jungfrauen, für Notariatskandidaten“, 
oder auch wenn Schleiermacher ſagt: Reden über Religion für die 
Gebildeten unter ihren Verächtern; aber die erweiternden Locktitel „für 
Jedermann, für alle Gebildeten, und gar „für das deutſche Volk“ 
haben einen ſtörenden Beigeſchmack von Buchhändleranzeige und Re— 
clame. Ob wohl in Frankreich auf einem Büchertitel pour le peuple 
frangais ſtehen dürfte? Uebrigens hat auch „das deutſche Volk“ mit 
dieſem Leben Jeſu nichts anzufangen gewußt, konnte daſſelbe nicht 
verſtehen und hat es daher auch mehr gekauft als geleſen oder gar 
begriffen. 


401 


Wenn ſein Werk über Dogmatik, obgleich noch gelehrter 
und formvollendeter, in ſeiner Wirkung hinter dem Leben 
Jeſu weit zurückblieb, ſo geſchah dieß, weil er hier aus 
dem Kreiſe der Theologie ſchon ganz heraustrat, dem We— 
ſen der Religion, in der er, Hegel folgend, nur eine trübere 
Form des Wiſſens ſah, nicht gerecht wurde und den reli— 
giöſen Gehalt der chriſtlichen Dogmen zu abſtracten Sätzen 
verduften ließ. 

Strauß ſpielt in der Entwicklung der Theologie un— 
gefähr eine Rolle, wie Napoleon J. in der deutſchen Ge— 
ſchichte. Obgleich ein Feind, hat er doch mit alten ver— 
rotteten Formen aufgeräumt und den andern Theil ge— 
nöthigt, neue Wege aufzuſuchen, um gegen ihn ſelbſt zu 
Feld zu ziehen. 

Freilich iſt die Aehnlichkeit damit zu Ende. Die theo— 
logiſchen Befreiungskriege ſind nicht nachgefolgt. Vielmehr 
trat in Folge der durch das Leben Jeſu angeregten Be— 
wegung die verhängnißvolle Wendung ein, daß die prote— 
ſtantiſche Theologie, die ſich bis dahin mit der Philoſophie 
und deutſchen Wiſſenſchaft Hand in Hand fortentwickelt 
und zu verſtändigen gewußt hatte, dieſen jezt gefährlich er— 
ſcheinenden Umgang abbrach, ſich auf ſich ſelbſt zurückziehen 
zu können glaubt, den Zwieſpalt mit der modernen Wiſſen— 
ſchaft immer größer werden ließ, die Maſſe der gelehrten 
und gebildeten Stände immer weiter von ſich entfernte, 
und daß ſo auch die proteſtantiſche Kirche in eine ihrem 
innerſten Weſen widerſtrebende, für alle Theile gefahrvolle 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 26 


402 


Entfremdung und Feindſchaft gegen die beiten Elemente 
ihres Volkes und Zeitalters hineingezogen wurde. 

Strauß aber, der hiezu den Anſtoß gegeben hatte, 
und dann ſeinerſeits in eine immer feindſeligere Richtung 
gegen die chriſtliche und gegen alle Religion gerieth, gab 
ſeinen Plaz als Gelehrter eines beſtimmten Faches auf und 
nimmt einen ſolchen nur noch in der allgemeinen Kultur— 
und Litteraturgeſchichte in Anſpruch. In den ſchriftſtel— 
leriſchen Tugenden, als Meiſter der Sprache und Darſtel— 
lung, ſowohl im ernſten Schritt der Wiſſenſchaft, wie in 
dem leichteren Geplänkel kleinerer Ausführungen, in der 
Erzählung wie im Urtheil ſucht er ſeinesgleichen in un— 
ſerer ganzen Litteratur. Wo iſt ein Schriftſteller, der in 
ſo vielen Bänden auf jeder Seite friſch, lebendig, anregend 
wäre, niemals langweilig, geſchmacklos oder unklar? Das 
feinſte Sprachgefühl, die ſolideſte philologiſche Bildung und 
eine dichteriſche Begabung, um die ihn manche, die ſich 
Poeten nennen, beneiden dürften, begleiteten alle ſeine 
ſchriftſtelleriſchen Leiſtungen. Sein Styl gleicht einem hellen, 
ſprudelnden und perlenden Quellwaſſer, bei dem man überall 
auf den klaren Grund ſieht. Die „unzeitgemäßen Betrach— 
tungen“ werden mit ihrem kleinlichen Genergel an dem öf— 
fentlichen Urtheil nichts ändern. Der Styl eines Schrift— 
ſtellers iſt als Ganzes zu nehmen; das Geſchäft, da oder 
dort Etwas mit rother Dinte anzuſtreichen, mag man 
denjenigen Schulmeiſtern überlaſſen, die an der Correctur 
ihrer Schülerhefte noch nicht genug haben. Die biogra— 
phiſchen, publiciſtiſchen literargeſchichtlichen Arbeiten, ſowie 


die kleinen Genrebilder gehören zu den Schmuckſachen der 
deutſchen Litteratur. Die Streitſchriften über das Leben 
Jeſu mögen nicht ohne das Leſſing'ſche Vorbild entſtanden | 
ſein; ſie haben daſſelbe aber nicht nur erreicht, ſondern 
übertroffen. Es mag heutzutag anſtößig und kezeriſch klin— 
gen, aber in der Leſſing'ſchen Polemik tritt die Luſt an der 
Menſur und der Darlegung der eigenen Fechterkunſt um 
ihrer ſelbſt willen oft ſtörend hervor. Die Formen der 
Dialectik ſind zu lebhaft und dramatiſch für wiſſenſchaft— 
liche Erörterungen, wie umgekehrt in ſeinen Dramen die 
Gedankenſpalterei und das dialectiſche Wortgefecht läſtig 
werden kann; mancher Hieb geht doch auch ins Blaue und 
es fehlt nicht an ermüdenden Abſchweifungen. Strauß 
wußte dieſe Auswüchſe zu beſeitigen und doch alle Vorzüge 
einer ſachkundigen, ſchlagfertigen und feſſelnden Streitfüh— 
rung zu bewahren. 

Talentreicher, gelehrter, ſcharfſinniger, geſchmackvoller 
iſt Leſſing nicht geweſen, aber er war gleichwohl die höher 
und origineller angelegte Natur. Es fehlt Strauß jene 
lezte Vertiefung des Geiſtes und Gemüths, die volle Mit— 
empfindung des menſchlichen Weſens und Geſchicks, die den 
Weiſen, den Geſchichtſchreiber, den großen Forſcher, den 
Gründer einer Schule, den Führer einer geiſtigen Genoſſen— 
ſchaft kennzeichnet. Denn was ſoll und kann das eigent— 
lich noch heißen, ein Straußianer zu ſein? Etwa das 
Chriſtenthum für einen abgelegten Irrthum, die religiöſen 
Bedürfniſſe für eine Selbſttäuſchung zu halten und dann 


zuzuſehen, wie man ohne dieſe Stüzen durchkommt? Der 
26 * 


404 

praktiſche Abſchluß ſeines Standpunkts war eigentlich, die 
ungebildeten Maſſen, welche bisher ihr individuelles Schick— 
ſal als ein Stück einer gottgewollten Ordnung anſehen 
durften, durch Belehrungen über die aus der Idee der 
Gattung folgenden Verbindlichkeiten, ſodann aber durch Po— 
lizei und Juſtiz, nöthigenfalls durch Gewalt — es iſt nur 
ſchwer zu ſagen weſſen — im Zaum zu halten, wogegen 
es einer Elite wohlſituirter und hochgebildeter Menſchen 
vergönnt bliebe, durch Wiſſen, Kunſt und edlere Genüſſe 
beglückt zu leben und zu wandeln und etwaiges wi— 
driges Geſchick als Atome des Univerſums mit Reſignation 
zu ertragen. Die Natur und Geſchichte der Menſchheit 
zeigt uns aber andere und ernſtere Züge, und ſchon der 
Kampf ums Daſein hätte den Darwinianer auf andere 
Folgerungen führen müſſen. 

„Der Menſch iſt mehr als Sie von ihm gehalten“ 
ſagt Poſa zum König, und wenn man ſtatt „Nero und 
Buſiris“ beliebige Namen von Matadoren des Materialis— 
mus einſezt, ſo leiden auch die darauf folgenden Worte 
ihre Anwendung: 

Zu einem Nero und Buſiris wirft 

Er Ihren Namen und das ſchmerzt mich; denn 

Sie waren gut. 


II. Wider den neuen Glauben. 
9, 

Es mag wohl ſein, ja es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß 
die Defcendenzlehre viel dauernde Wahrheit zu Tag ge— 
fördert hat, wenn vielleicht auch Kampf ums Daſein und 
Zuchtwahl in eine viel beſcheidenere Stellung zurückgewieſen 
werden ſollten. Jedenfalls wird der Saz, der ſchon in der 
Sage von der Arche Noä ſteckt: ſo viel Arten, ſo viel 
Schöpfungsacte, als abgethan gelten können. Wie viel oder 
wenig nun ſich davon als haltbar erproben wird, mögen 
Andere beurtheilen, aber es ſei deſſen weniger oder mehr, 
ſo müſſen doch alle Freunde und Kenner philoſophiſcher 
Studien gegen die Tragweite Verwahrung einlegen, welche 
in dieſem Fall einem biologiſchen Theorem geliehen wird, 
gegen die Competenzüberſchreitung, mit welcher hier em— 
piriſche Säze in das Gebiet der Metaphyſik herübergezogen 
werden. Die Verlezung der Grenzen geſchieht freilich ebenſo 
von Seiten der Philoſophen ſelbſt als von den Natur— 
forſchern und Niemand war leichtfertiger in dieſem Punkte 
als Strauß. Eine phyſiſche Erklärung der Welt kann nie— 
mals eine metaphyſiſche ſein. Die Metaphyſik hat eben 
daher ihren Namen, daß ſie nach und hinter dem Phyſi— 
ſchen kommt. Die Naturwiſſenſchaften können in der cau— 
ſalen Verkettung der ſinnlich wahrnehmbaren Erſcheinungen 
neue Zwiſchenglieder finden oder vermeintliche alte beſei— 
tigen, bisher Getrenntes als Eins, bisher Vereintes als 
Getrenntes erkennen, aber ſelbſt, wenn ſie dieſes Ziel ſchon 


406 


erreicht hätten, wenn ſie uns den Cauſalzuſammenhang der 
ganzen Sinnenwelt genau und vollſtändig darzulegen ver— 
möchten, ſo wären die Fragen am Ende ſo gut wie am 
Anfang ungelöst: wie und warum es überhaupt eine Welt 
geben könne und eine Ordnung dieſer Welt, warum gerade 
dieſe Ordnung und welcher Plaz dem Menſchen in dieſer 
Ordnung zukäme. Wenn der geſammte Darwinismus ſtatt 
einer Hypotheſe eine felſenfeſte Wahrheit wäre, nun ſo 
wären dann eben dieß die äußeren Formen und Mittel, 
die neben vielen andern auch mitberufen waren zur Ver— 
wirklichung eines ewigen Weltplanes; warum aber gerade 
dieſe mehr als alle ſchon bekannten Naturgeſeze den Anſpruch 
erheben, einen ſolchen Weltplan entbehrlich zu machen, da— 
für iſt nicht der Schatten eines Grundes einzuſehen. Mit 
dem Saz: ſo viel Arten, ſo viel Schöpfungsacte, iſt noch 
nicht auch der weitere: ſo viel Arten, ſo viel Schöpfungs— 
gedanken, beſeitigt. Ob der Menſch aus einem Erdenkloß 
gebildet iſt oder in einem glücklich organiſirten Catarrhinen— 
paar ſeine Ahnen zu ſuchen hat, begründet für die meta— 
phyſiſche Würdigung ſeines Weſens keinen Unterſchied, da 
auch das Leztere den Glauben nicht ausſchlöße, daß er aus 
Gottes Hand hervorgegangen, nach Gottes Bilde geſchaffen 
iſt. Im einen wie im andern Fall iſt er zeitlich entſtanden 
und bedeutet dieß Entſtehen den Durchbruch einer höhern 
Daſeinsform von unbegrenzter Ausſicht und Entwicklung 
aus der gebundenen Enge unbewußten Seins und Lebens. 

Man kann den Widerwillen gegen jede Formulirung 
und Aufſtuzung des theologiſchen Wunderbegriffs vollſtändig 


” 


theilen und es doch um kein Haar rationeller finden, blinde 
Triebkräfte, wie Zuchtwahl und Kampf ums Daſein, als 
ein Leztes, auf ſich ſelbſt Ruhendes, ein in ſich die Stufen— 
folge der lebenden Weſen Tragendes vorzuſtellen. Man 
denkt ſich dabei auch ſtillſchweigend die Hauptſache, die 
ganze übrige Weltordnung als ſchon gegeben dazu, den 
Geſchlechtsunterſchied, die Zeugung, den Planeten mit allen 
ſeinen ſonſtigen Qualitäten. Und wenn es ſich darum han— 
delte, ſowohl das Conſtante als das Variable in der Man— 
nigfaltigkeit der Organismen zu deuten, ſo war freilich 
nichts bequemer, als ſich zwei einander entgegengeſezte Prin— 
cipien anzuſchaffen, deren eines unter dem Namen der An— 
paſſung die veränderlichen, das andere unter dem Namen der 
Vererbung die beharrlichen Erſcheinungen zu erklären dient. 

Man ſpricht jezt mehr als jemals von Monismus, 
während man früher die Sache wohl gekannt, das Wort 
aber viel weniger gebraucht hat. Indem unſer Intellect 
den Begriff einer Ordnung bildet und die Geſammtheit der 
Erſcheinungen demſelben unterſtellt, fordert er Einheit nur 
an der Spize des Ganzen, aber der erſte Act dieſes höch— 
ſten Einen muß eine Differenzirung ſein, die ſich ins Un— 
endliche fortſezt. Dagegen in der hieraus entſtandenen 
Welt der empiriſchen Erſcheinungen kann der Monismus 
nirgends mehr Plaz finden; hier iſt überall Pluralität und 
unendliche Wechſelwirkung. Sein heißt, wie uns Lotze 
lehrt, in Beziehungen ſtehen. Es iſt der Triumph der 
Wiſſenſchaft, die Probleme zu vereinfachen, die Urphänomene 
aufzuſuchen, auf Atome, Molecüle, Zellen, Moneren, die 


408 


elementarſten mechanischen und chemischen Vorgänge zurück— 
zugreifen, aber Monismus braucht man dieß nicht zu nennen 
und den Anſpruch nicht zu erheben, als ob man ſo ohne 
weitere Leihung die Lebenserſcheinungen im Wege der Con— 
ſtruction aus den einfachſten Formen zu entwickeln ver— 
möchte. Man wird an die Hegelſche Logik erinnert, die 
ſich den Schein giebt, als ob ſie ohne Seitenblick auf den 
anderswie gegebenen Vorrath von Ideen und Erfahrungen 
vom reinen, dem Nichts gleichzuachtenden Sein durch einen 
inneren dialectiſchen Proceß zu den höchſten Begriffen und 
realen Erſcheinungen gelangte. Man könnte die angeb— 
lich 18000 Farben der Vaticaniſchen Sammlung ſo in 
einen Farbenkreis ordnen, daß je die zwei nebenein— 
anderliegenden faſt ununterſcheidbdar wären, und wenn 
man dann vom Weißen oder Schwarzen aus die ganze 
Reihe durchlaufen hätte, dieß für eine genetiſche Entwick— 
lung der Farben aus Etwas, was nicht Farbe iſt, aus— 
geben wollen. In ähnlicher Weiſe wird auf allen Gebieten 
ein ſucceſſives Geſchehen mit einem ſpontanen verwechſelt 
und gegen die Wahrheit, daß die Wirkungen den Urſachen 
adäquat ſein müſſen, auf Schritt und Tritt geſündigt. 
Um des logiſchen Wohlgefallens am Monismus willen it 
es keinenfalls nöthig, die ganze organiſche Welt aus Einer 
Grundform abzuleiten; es wäre zum mindeſten ebenſo lo— 
giſch anzunehmen, daß, nachdem auf der abgekühlten Erd— 
rinde die Bedingungen für die Entſtehung organiſchen Le— 
bens eingetreten waren, dieſe an verſchiedenen Orten un— 
ſeres Planeten und in verſchiedenen Zeiten ſchon nicht genau 


409 
die gleichen ſein konnten, daß aber unter ungleichen Be— 
dingungen auch Ungleiches entſtehen mußte, und ſomit gleich 
vornherein eine wenn auch beſchränktere Mannigfaltigkeit 
von Formen gegeben war. 

10. 

Es iſt geſagt worden: „das wäre erſt noch zu beweiſen, 

daß es kein Denken ohne Denkendes geben könne“. Es 


8 


iſt dieß aber, was man eine Verſchiebung der Beweislaſt 
nennt. Affirmanti incumbit probatio, jagen die Juriſten. 
Wir andern Menſchenkinder ſind gemäß der uns zu Theil 
gewordenen Gehirnorganiſation außer Stand, uns irgend 
eine Thätigkeit zu denken ohne ein Etwas, dem ſie zu— 
kommt, irgend ein Prädikat ohne Subject, irgend ein Ver— 
bum im Saz ohne ſein Subſtantiv. Am ſicherſten ſind 
wir dieſes Subjectes, wo es ſich um menſchliche Thätig— 
keiten und Zuſtände handelt; zum Lachen denken wir ein 
Lachendes, zum Sterben ein Sterbendes und ſo doch gewiß 
auch zum Denken, Fühlen, Wollen ein Denkendes, Fühlendes, 
Wollendes. Selbſt da, wo wir dieß Etwas, dem das Thun 
zukommt, noch nicht zu unterſcheiden oder zu benennen ver— 
mögen, deuten wir es wenigſtens durch die ſprachliche Form 
als Pronomen und Neutrum an: es blizt, es klopft, es 
ſtinkt, und wollen damit ſagen: es iſt ein Etwas da, was 
blizt, klopft oder übel riecht. Alſo ſelbſt wenn wir ſagen 
könnten: es denkt, es will, ſo würde dieß doch nichts An: 
deres heißen als: ein Denkendes, ein Wollendes iſt. Wenn 
nun hierin der gemeine Verſtand in Uebereinſtimmung ſteht 
mit aller Grammatik und Logik, die es jemals in der Welt 


410 

gegeben hat, kann man dann von uns erſt noch den Beweis 
für das Negative fordern, daß es kein Denken ohne Den— 
kendes geben könne? Man kommt in der Sache ſofort 
auf die Kategorieen, auf die Stammbegriffe alles Denkens, 
das Ding, deſſen Eigenſchaften und Thätigkeiten zurück, 
welche allem Beweiſen und aller Denknothwendigkeit zu 
Grunde liegen; und man könnte mit gleichem Recht erſt 
einen Beweis dafür fordern, daß es keine Eigenſchaften 
geben könne, die nicht die Eigenſchaften eines Etwas wären. 
Hätte nicht vielmehr Derjenige, der den von aller Welt 
abweichenden Saz aufſtellt: es gibt ein Denken ohne ein 
Etwas was denkt oder es kann ein ſolches geben, die Be— 
weislaſt und uns eine Vorſtellung davon zu entwerfen, wie 
eigentlich ſein Kopf organiſirt iſt und wie wir es etwa 
angreifen müßten, um das Denken in ein ſubjectloſes Ge— 
ſchehen zu verwandeln? 

Die Einwendung war natürlich nur gegen den Gottes— 
begriff in theiſtiſcher Faſſung gerichtet und weist im Hin— 
tergrund auf jenes geheimnißvolle Weſen der Hegelſchen 
Lehre hin, die Idee, bei welcher wie bei Gottheiten von 
unausſprechbaren Namen ſchon verboten war zu fragen, 
was ſie eigentlich ſei, und es für gleich falſch galt zu ſa— 
gen: ſie denke als ſie werde gedacht, die nur durch ein noch 
dunkleres Wort, einen verneinenden Beziehungsbegriff, zu 
dem das Bezogene fehlt, das Abſolute, erläutert wurde. 

Es iſt ja nicht zu beſtreiten, daß wir uns Perſönlich— 
keit und Selbſtbewußtſein nicht ohne Beſchränkung, ohne 
Unterſcheidung von einem Anderen vorzuſtellen vermögen; 


411 


und noch weniger iſt es zu verwundern, daß wenn wir 
vorher einen pantheiſtiſchen Gottesbegriff aufſtellen und 
dabei das AllEins in ſchärfſter Faſſung betonen, dann auch 
keine Form von theiſtiſcher Vorſtellung mehr einen Boden 
findet. Aber wenn uns die Einbildungskraft die Mittel 
verſagt, den Weg nach oben zu gehen, folgt daraus, daß 
wir den Weg nach unten einzuſchlagen und zum Unbe— 
wußten und Unperſönlichen herabzuſteigen haben? Iſt ein 
Denken ohne Denkendes irgend vorſtellbarer als ein all— 
und ſelbſtbewußter Geiſt? Iſt es nicht folgerichtiger, lieber 
ehrlich und beſcheiden zu ſagen: wir wiſſen und begreifen 
das Weſen Gottes nicht, aber wir können es nicht unter— 
laſſen, an die Spize des Weltganzen Geiſt und Wille zu 
ſezen ſtatt Kraft und Stoff und dabei von dem Höchſten 
und Beſten, was wir an unſerem eigenen Weſen kennen, 
aufwärts, ſtatt abwärts zu ſchließen, ein potenzirtes Denken, 
Fühlen und Wollen, und damit auch ein Höchſtes, das 
denkt, fühlt und will, wenn nicht vorzuſtellen, doch zu glau— 
ben und — zu lieben. Etwas Anthropomorphismus läuft 
dabei mit; das iſt nicht in Abrede zu ſtellen und nicht zu 
vermeiden; aber was man uns an ſeiner Stelle bieten will, 
iſt, wenn es blinde und unbewußte Kräfte ſein ſollen, nicht 
ein Ueber- ſondern ein Untermenſchliches; wenn es Geſeze 
ſein ſollen, ſo muthet man uns zu, Ordnungen zu denken, 
zu denen das Ordnende wie das Geordnete fehlt, etwa wie 
wenn ein Staat nur aus Geſezen beſtünde und dieſe ſich 
dann Land und Volk ſelbſt zu ſchaffen hätten; ſoll endlich 
zwar ein Denken an der Spize ſtehen, aber nur ein Nie— 


412 


mandsdenken, eine Idee, die weder denkt noch gedacht wird, 
ſondern nur iſt oder geſchieht, dann haben wir auch An— 
thropomorphismus, ſofern Denken blos ein menschliches 
Attribut iſt, nur einen mit Widerſinn verquickten, und ſtatt 
der vorgeblichen ſublimen Weisheit eine Mißhandlung der ele— 
mentarſten Geſeze und Stammbegriffe aller menſchlichen Logik. 
Pr 
ie Aufgabe, die Welt zu erklären, könnte man etwa 
mit derjenigen vergleichen wollen, aus einigen Fragmenten 
von zweifelhaftem Text ein verlorenes Drama wiederher— 
zuſtellen, oder wenn ſich in der Ecke einer großen Wand— 
fläche noch die Umriſſe einiger Figuren erkennen laſſen, 
aus denſelben den Stoff und Gehalt des ganzen Gemäldes, 
das früher die Wand bedeckt hat, zu errathen, oder auch 
aus einigen Algenexemplaren auf die ganze Flora eines 
Landes zu ſchließen. Aber ſo wenig dieß jemals geleiſtet 
werden wird, ſo ſind doch dieſe Bedingungen noch unend— 
lich leichter; denn es handelt ſich hier doch immer noch 
nur um eine Wahl und ein Errathen innerhalb des Um— 
kreiſes bekannter Vorſtellungen und Erſcheinungen, und es 
wäre denkbar, daß eine geniale Phantaſie, wenn auch nicht 
gerade das richtige, doch ein ähnliches und an ſich denk⸗ 
bares Werk zu Stande brächte. Allein unſere Kenntniß 
der Welt iſt eine ganz unvergleichbar mangelhaftere und 
fragmentariſchere. Unter zahlloſen Weltkörpern kennen wir 
nur einen einzigen, unſern Planeten; von allen andern 
haben wir nur einzelne Daten über Größe, Entfernung und 
Bewegungen, die noch zu nichts Weiterem führen; von un— 


ex 
2 


70 


gezählten Jahrtauſenden der Geſchichte unſerer Erde und der 
Menſchheit ſind uns nur die drei lezten einigermaßen aufge— 
hellt; das Stück, das der Zukunft angehört, iſt ganz zugedeckt. 

Nun müſſen wir aber doch das Weltall als etwas Zu— 
ſammenhängendes, Geordnetes, Entwicklungsſtufen Darſtel— 
lendes und eben damit auch unſern Planeten als ein Glied 
einer Reihe, etwa als die Sproſſe einer Himmelsleiter vor— 
ſtellen. Alſo etwas ſehr mangelhaft Bekanntes als Glied 
einer Reihe von völlig unbekannten Dingen zu begreifen, 
wäre die eigentliche Aufgabe, die uns geſtellt iſt. Um von 
Wiſſenſchaft gar nicht zu ſprechen, auch die Phantaſie des 
genialſten Menſchen vermag keinen Schritt über die Voraus— 
ſezungen unſerer planetariſchen Erfahrungen hinaus zu thun; 
ſie kann einzelne dieſer Bedingungen ſteigern, andere ein— 
ſchränken, aber ſie kann nur Variationen des Gegebenen 
finden, keine neue Melodie. 2 

Welt, Univerſum, Kosmos bedeuten in drei Sprachen 
das Gleiche, ein Ganzes, von dem wir eine winzige Par— 
zelle einigermaßen kennen. Jedes Prädikat, das wir dieſem 
Ganzen beilegen wollen, iſt aus der Luft gegriffen. Strauß 
will es zwar als eine „metaphyſiſche Nothwendigkeit“ be— 
zeichnen, daß ſich die Summe des Seins im Univerſum 
nicht vergrößern könne, weil damit deſſen Unendlichkeit auf— 
gehoben würde. Was ſoll man ſich dabei denken? Un— 
läugbar vergrößert ſich die Summe des Seins auf unſerm 
Planeten fortwährend, ſchon einfach dadurch, daß die Men— 
ſchenzahl wächst, ihre Wiſſenſchaft und Bildung. Sollte 
deßhalb an irgend einem andern Punkt des Weltalls ein 


414 
entſprechender Rückgang und Abgang ſtets in den gleichen 
Zeitmomenten geboten ſein und Plaz greifen? Schwerlich 
würde ſich bei irgend einem Theologen eine willkürlichere 
und unerweislichere Behauptung finden laſſen. 

Nichts Anderes als die Prädicirung eines unbekannten 
Subjects durch ein unbekanntes Prädikat iſt es nun auch 
zu ſagen: die Welt iſt Gott. 

Göthe ſagt, und zwar am Schluſſe ſeiner Laufbahn, 
daß ihm noch Niemand vorgekommen ſei, der wiſſe, was 
das Wort Pantheismus bedeute. Schopenhauer zeigt in 
ſeiner geiſtreichen Art, daß die beiden Formulirungen des 
Gedankens: Gott iſt die Welt, und: die Welt iſt Gott, 
entweder überhaupt Nichts oder eine Beſeitigung des Got— 
tesbegriffs enthalten. Atheismus und Pantheismus laſſen 
ſich in der That nicht auseinander halten. Denn wenn 
Gott mit dem Univerſum zuſammenfällt, ſo iſt er ebendamit 
entbehrlich. „Wozu ein Gott, die Welt iſt ſich genug.“ 

Wenn die pantheiſtiſche Formel ſich auch auf die un— 
bekannten Theile des Weltganzen beziehen ſoll, ſo ſtellt ſie 
nur eine unlösbare Gleichung mit zwei Unbekannten, X = „, 
auf, die völlig werth- und ſinnlos iſt, wenn ſie ſich aber 
auf das unſerer Erkenntniß zugängliche Weltfragment be— 
ſchränken will, ſo läßt ſie das Weſen Gottes in den Er— 
ſcheinungen eines einzelnen unter den vielen Trabanten 
eines der zahlloſen Fixſterne aufgehen, was zu einer Art 
von Planetengott, alſo zum Polytheismus führen könnte, wenn 
ſich überhaupt etwas Ernſthaftes dabei denken, wenn man 
dann nicht zehnmal lieber den Gottesbegriff ganz fallen ließe, 


415 


12. 


Man braucht ſich gegen die Feuerbach'ſchen Säze, daß 
alle Religion anthropologiſchen Urſprungs ſei und auf menſch— 
lichem Verlangen und Bedürfniß beruhe, nicht zu ſträuben, 
ohne daß man darum deſſen näheren Ausführungen und 
weiteren Conſequenzen verfallen müßte. Giebt es denn 
überhaupt eine andere und beſſere Legitimation für irgend 
eine Einrichtung, als daß ſie einem menſchlichen Bedürfniß 
entſpreche, und worin ſollte eine ſolche höhere Beglaubigung 
beſtehen können? Es iſt ja mit Wiſſenſchaft und Kunſt, 
mit Recht und Moral genau ebenſo. Wie will man denn 
in der Begründung der Idee des Guten noch weiter kom— 
men als dahin, daß im Menſchen ein Verlangen, eine un— 
abweisbare innere Forderung liege, nenne man ſie nun 
Gewiſſen, kategoriſchen Imperativ, Vernunfttrieb oder wie 
man will, nach einer feſten Ordnung für ſein getheiltes 
und zerfahrenes Wollen und nach einem Maßſtab für den 
Werth ſeiner Handlungen? Es iſt eine Verwechslung der 
Folgerung mit der Prämiſſe, wenn wir die Ableitung des 
Guten aus einem göttlichen Willen für ein noch weiteres 
Zurückgreifen in der cauſalen Verkettung halten. Denn 
dieß iſt erſt Sache des Glaubens, deſſen Quelle und lezte 
Bürgſchaft wieder in jenem Gefühl einer inneren Nöthi— 
gung liegt. Es iſt auf dem intellectuellen Gebiet nicht 
anders. Die Wahrheit ſcheint uns wie eine lichte Geſtalt 
auf dem Grunde der Erſcheinungen ein objectives Daſein 
zu haben; und doch iſt ihre Beglaubigung auch nur ſub— 


416 

jectiven Urſprungs. Nicht weil ſie irgendwo it, juchen 
wir ſie, ſondern weil wir ſie ſuchen und begehren, verſezen 
wir ſie dorthin. Ihr leztes Zeugniß iſt ein So denken 
müſſen, das nicht weiter bewieſen und entwickelt werden 
kann, ſondern unmittelbar gefühlt wird. Ob die Formen 
und Geſeze unſers Denkens ſelbſt richtig ſind und zur 
Wahrheit leiten können, das wiſſen wir nicht; wir glauben 
es aber und ein Zweifel daran würde uns nichts helfen. 

So ruht auch alle Religion nur auf ſubjectivem Ver— 
langen und Bedürfniß, nur daß wir daſſelbe, gerade wie 
unſer Verlangen nach dem Wahren, Schönen und Guten, 
als ein Allen gemeinſames, zur urſprünglichen Mitgift der 
menſchlichen Natur gehöriges Streben betrachten müſſen. 
Wir finden einen Trieb und Reiz, eine innere Forderung 
in uns vor, unſer Ich und geſammtes individuelles Daſein, 
wie ein bloßes Bruchſtück, in einen lebendigen, nicht blos 
gedachten, ſondern gefühlten und gewollten Zuſammenhang 
mit dem Weltganzen und den darin waltenden Mächten 
einzurücken. Die Vorſtellung einer zuſammenhangsloſen, 
iſolirten und verlorenen Sonderexiſtenz vermögen wir nicht 
zu ertragen. Wer und was auch die allwaltenden Mächte 
ſein mögen, wir erheben den Anſpruch an ſie, daß ſie nicht 
in unnahbarem Jenſeits, in unerreichter Ferne und Gleich— 
gültigkeit von uns abgewendet ſtehen, ſondern daß auch 
unſer Einzeldaſein und Schickſal, unſer Wohl und Wehe 
in irgend einer Art mit aufgenommen und verflochten ſei 
in den Zuſammenhang aller Dinge. 

Es führt zu einer ganzen Kette von weitgreifenden 


417 


n 


Irrthümern, wenn man unter leichter Verſchiebung des 
wahren Verhältniſſes mit Schleiermacher das Weſen der 
Religion in ein Gefühl der ſchlechthinigen Abhängigkeit ſezt. 

Man kann gegen dieſe Formel ſchon einwenden: eine 
gefühlte Abhängigkeit iſt niemals eine ſchlechthinige. 
Denn um einen Zuſtand als den einer unbedingten 
Abhängigkeit zu fühlen, müßte ich ihn doch zuerſt unter— 
ſcheiden können von anderen Zuſtänden einer blos bedingten 
oder gar keiner Abhängigkeit, und ich muß dieſe lezteren 
Zuſtände auch kennen und in mir vorfinden. Ein Weſen 
aber, das mannigfache innere Zuſtände, darunter auch den 
des Freiheitsgefühls oder der blos bedingten Abhängigkeit 
hat, kann keinen ſeiner Zuſtände als den eines ſchlechthi— 
nigen Abhängigkeitsgefühls bezeichnen, weil ein ſolcher doch 
immer nur partiell und vorübergehend iſt, und an den 
ebenſo unläugbar vorhandenen Freiheitsgefühlen ſeine 
Schranken und Bedingungen findet. 

In der That iſt auch das Grundgefühl aller religiöſen 
Erregungen nicht das, daß der Einzelne für ſich gar nichts 
bedeute, daß er eine Null ſei in dem Weltganzen, ſondern 
im Gegentheil, daß auch von ihm darin Notiz genommen 
werde, daß auch er mitzähle und aufgenommen ſei in den 
Rathſchluß der lezten und höchſten Ordnungen und dazu 
berufen, leidend und handelnd zu deren Verwirklichung mit— 
zuwirken. Nicht das Gefühl einer unbedingten Abhängig— 
keit, ſondern einer unbedingten Zugehörigkeit zu dem Plane 
des Weltalls iſt Religion. Sie iſt das Bewußtſein eine 
Weltparzelle zu ſein, ein wenn auch kleines, doch nicht un— 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 27 


418 


beachtetes und mit vorgeſehenes Glied an dem Körper der 
Schöpfung. Wäre „ſeines Nichts durchbohrendes Gefühl“ 
das entſcheidende Merkmal alles religiöſen Lebens, ſo müßten 
wir das direkteſte Gegentheil einer frommen Empfindung 
in der tiefſinnigen und ergreifenden Sage ſehen, daß der 
Erzvater Jakob die Nacht hindurch mit dem Herrn bis zur 
Verrenkung ſeiner Hüfte rang und zu ihm ſprach: ich laſſe 
dich nicht, du ſegneſt mich denn. 

Göthe trifft das Weſen der Sache weit beſſer als 
Schleiermacher, wenn er ſagt: 

In unſers Buſens Reine wogt ein Streben, 

Sich einem Höher'n, Reiner'n, Unbekannten, 

Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben. 

Wir heißens: Fromm ſein. 

Nur iſt das Motiv „aus Dankbarkeit“ zwar ächt Gö— 
thiſch, aber nicht erſchöpfend, nicht den Kern der Sache 
treffend. Denn dieſer liegt in dem Verlangen nach An— 
lehnung und Einfügung unſeres Ichs in den lezten Zu— 
ſammenhang der ganzen Erſcheinungswelt. 

Mit einem ſolchen Verlangen iſt noch keineswegs irgend 
eine beſtimmte Vorſtellung von göttlichen Weſen, ja nicht 
einmal der Gottesbegriff ſelbſt gegeben. Es ſoll und kann 
nicht von angeborenen Ideen die Rede ſein, wohl aber von 
einer angeborenen Dispoſition oder Angelegtheit der Seele, 
auf den Intellect einen Druck oder Reiz zu üben, daß er 
Vorſtellungsreihen ſuche und ausbilde, welche jenem Ver— 
langen entgegenkommen, um dann von den ihr dargebo— 
tenen Vorſtellungen die einen willig hinzunehmen, die an— 
dern zurückzuweiſen, je nachdem ſie jenem Verlangen und 


419 
zugleich den andern gleichberechtigten inneren Forderungen, 
wie den Denkgeſezen und dem Gewiſſen, mehr oder weniger 
entſprechen. 

Es iſt mit den Erkenntniß- und ſittlichen Trieben ganz 
das Gleiche; was wahr, ſchön und gut iſt, wiſſen ſie nicht 
zu ſagen, aber daß es Wahres, Schönes und Gutes geben 
müſſe, das man ſuchen und finden könne, ſtellen ſie dem 
Intellect als Poſtulat und Weiſung hin. | 

Eine höhere und noch weiter zurückgreifende Beglau— 
bigung für menſchliche Seelenthätigkeit als dieß Nichtanders— 
können, als dieſe innere Nöthigung des Suchens giebt es 
nicht und man kann ſich nicht einmal eine Vorſtellung da— 
von bilden, wie eine ſolche beſchaffen ſein müßte. Die ab— 
ſtracte Möglichkeit, daß unſere Denkgeſeze falſch, das Ge— 
fühl eines unbedingten Sollens ein Trugbild, das unſerer 
Einfügung in einen höchſten Zuſammenhang aller Dinge 
ein eitles Phantaſieſpiel wäre, wird ſich niemals läugnen 
und widerlegen laſſen, ſo wenig wir je zu einer Gewißheit 
darüber gelangen werden, daß nicht alle unſere Sinnes— 
wahrnehmungen Täuſchungen ſind. Hier tritt ein Glaube 
ein, deſſen wir uns nicht entſchlagen können, auch wenn 
wir es wollen. Wenn unſere pſpychiſche Ausſtattung ein 
Gefängniß wäre, ſo wäre ſie jedenfalls ein unentrinnbares. 
Alle menſchliche Metaphyſik und Ethik, ſo gut wie alle Re— 
ligion, ſteht und fällt mit der Vorausſezung, daß unſere 
Vernunfttriebe keine Täuſchungen, daß unſer Verlangen 
nach Wahrheit, Tugend und Gottesgemeinſchaft Gaben, 
Stimmen, Zeugniſſe, Spuren und Unterpfänder höherer 


mx 
27 * 


. 
420 


und höchſter Daſeinsformen ſind und die Möglichkeit eines 
Weiterſchreitens bis zu den lezten Zielen verbürgen. 

Man will beſtreiten, daß die religiöſe Anlage zu den 
angeborenen Kräften und der urſprünglichen Mitgift der 
menſchlichen Natur gehöre, da es ja ganze Völker und je— 
denfalls eine Menge einzelner Individuen ohne alle reli— 
giöſe Vorſtellungen gebe. Mit den ganzen Völkern iſt die 
Sache zum mindeſten zweifelhaft; wohl aber giebt es Völker 
genug, bei welchen wir keine Spur von Wiſſenſchaft und 
Kunſt wahrnehmen, ohne daß Jemand den Schluß daraus 
zöge, der Sinn für Wahrheit und Schönheit könne nicht 
ein Inventarſtück der menſchlichen Ausſtattung ſein. Ebenſo 
wenig laſſen wir uns dadurch, daß es Einäugige und 
Blinde, Krüppel und Lahme, ſtumme und taube Menſchen 
giebt, abhalten, von dem Menſchen auszuſagen, daß er 
zwei Augen zum Sehen, zwei Ohren zum Hören, Sprach— 
werkzeuge, zwei Arme und zwei Beine habe. Ueberdieß 
iſt ein völliger Mangel religiöſer Erregungen weit ſeltener 
als es Vielen erſcheinen mag. Wer zwiſchen Atheismus 
und Pantheismus keinen Unterſchied finden kann, wird 
darum doch nicht ſo verkehrt ſein, allen denjenigen, welche 
von dem Begriff Gottes den der Perſönlichkeit fern halten 
zu müſſen und zu können glauben, alſo auch einem Fichte 
und Schleiermacher, die religiöje Empfindung abzuſprechen. 
Selbſt Strauß kann es nach völliger Beſeitigung des Got— 
tesbegriffes nicht laſſen, ſein Univerſum doch wieder mit 
allerhand gottmenſchlichen Attributen auszuſtaffiren, von 
deſſen Vernunft und „Güte“ zu reden, der wir uns mit 


421 
liebendem Vertrauen ergeben jollen und für daſſelbe aus: 
drücklich die gleiche „Pietät“ zu fordern, wie der Fromme 
alten Styls für ſeinen Gott. 

Die unabweisbare Wahrheit, daß alle Religion pſycho— 
logiſchen Urſprungs ſei und in menſchlichen Bedürfniſſen 
wurzele, erhält dagegen ein völlig anderes Anſehen in der 
Faſſung, die Religion ſei nur ein Erzeugniß menſchlicher 
Wünſche und Sorgen, die göttlichen Weſen eine menſchliche 
Erfindung aus egoiſtiſchem Intereſſe, um die Unzulänglich— 
keit der eigenen Kräfte zu ergänzen. Vom timor fecit Deos 
der Epikureer bis zu Feuerbach und Strauß iſt der Ge— 
danke, daß alle Götterverehrung dem Menſchen nur als 
Mittel diene, ſich beſſer durch die Welt zu ſchlagen, in den 
mannigfaltigſten Formen ausgeſprochen worden. Den prä— 
gnanteſten Ausdruck hat ihm lange vor Feuerbach Schiller 
gegeben: 

Was ſollen deine Götter, 
Des kranken Weltplans ſchlauerdachte Retter, 
Die Menſchenwiz des Menſchen Nothdurft leiht? 

Das Poſſenſpiel, ſich zuerſt höhere Weſen zu fingiren 
und frei zu erfinden, um ſie nachher unſern perſönlichen 
Zwecken dienſtbar vorſtellen und machen zu können, wäre 
aber doch gar zu plump, als daß es zu allen Zeiten und 
bei allen Völkern ſo viel Anklang hätte finden können. Die 
Conſequenz wäre nicht abzuweiſen, daß gerade bei denjeni— 
gen, welche die religiöſen Vorſtellungen zuerſt ausgebildet 
und weiter entwickelt haben, jenes Motiv einer intereſſirten 
Furcht vorzugsweiſe ſtark und wirkſam geweſen wäre. Wir 


422 


müßten uns die Neligionsitifter und Alle, die durch die 
Kraft und Eigenthümlichkeit ihrer frommen Erregungen 
für Andere zu Vorbildern geworden ſind, einen Moſes und 
Jeſaias, Zarathuſtra und Sakjamuni, Pythagoras und 
Socrates, Jeſus und Paulus, Auguſtinus und Luther als 
ganz beſonders ängſtliche und egoiſtiſch auf ihr perſönliches 
Wohl bedachte Gemüther, ja, kurz geſagt, als berechnende 
Betrüger vorſtellen. g 

Der Grund aller Religion liegt in einem metaphyſi— 
ſchen Trieb, in einem inneren Drang, aus dem wir zwar 
weitere Folgerungen ziehen, die wir aber unmittelbar nicht 
ſelbſt weiter ableiten können. Daraus folgt die Neigung, 
überhaupt an höhere Weſen und Ordnungen und an die 
Möglichkeit, ſich in Beziehung zu ihnen zu ſezen, zu glauben. 
Bei der Art aber, wie nun der menſchliche Intellect unter 
dem Antrieb jenes Grundgefühls die religiöſen Vorſtellun— 
gen, die demſelben Genüge leiſten ſollten, ſich ausdachte und 
weiter bildete, geſellten ſich allerdings noch mancherlei Mo— 
tive anderer, auch niedrigerer Gattung, Furcht, Hoffnung, 
Selbſtſucht in allen Formen hinzu und ſtellten den Kultus 
in den Dienſt aller möglichen beſonderen Lebenszwecke. Dieß 
gehört aber zur Entwicklungsſtufe jenes Grundgefühls, das 
ſich erſt allmälig zu reinerer Ablöſung von fremdartigen 
Zuthaten hindurchzuarbeiten hat, gerade ſo wie dieß auf 
den andern Gebieten des geiſtigen Lebens der Fall iſt. Das 
hat man aber ſchon lange vor dem Feuerbach'ſchen und 
Strauß'ſchen Buche gewußt. 


Für materialiſtiſche und pantheiſtiſche Standpunkte war 
es von jeher eine ſehr ſchwierige Sache, zu dem Begriff 
eines ſittlichen Sollens zu gelangen; für den Darwinismus 
aber iſt die Aufgabe gar eine verzweifelte. Man will doch 
von allen Seiten die Kardinalpunkte der Moral unange— 
fochten laſſen und muß deßhalb auf irgend einem Wege 
dazu gelangen, Gerechtigkeit, Wohlwollen, Mitleid, Dank— 
barkeit, Vaterlandsliebe und ähnliche den Egoismus ein— 
ſchränkende Tugenden zu empfehlen. Wenn aber der Kampf 
ums Daſein das Triebrad für alle Entwicklung und allen 
Fortſchritt iſt, dann kann die Loſung nur ſein: was gehen 
mich die Andern an? dann iſt jeder nur auf die rückſichts— 
loſeſte Geltendmachung ſeiner individuellen Kräfte ange— 
wieſen und es gienge etwa zu, wie der Küraſſier in Wallen— 
ſteins Lager beſchreibt: 

ss iſt hier juſt wie's beim Einhauen geht: 
Die Pferde ſchnauben und ſezen an; 
Liege wer will mitten auf der Bahn, 
Sei's mein Bruder, mein leiblicher Sohn, 
Zerriß mir die Seele ſein Jammerton, 
Ueber ſeinen Leib muß ich jagen, 

Kann ihn nicht ſachte bei Seite tragen. 


Verſezen wir freilich den conſequenten Darwinianer 
wirklich als Soldaten in die Schlacht mit dem Feldgeſchrei: 
Kampf ums Daſein, dann wäre wohl die nächſtliegende 
Erwägung, daß er ein Thor wäre, ſich den feindlichen 
Kugeln auszuſezen und daß „die Vorſicht das beſſere Theil 
der Tapferkeit ſei.“ Zu einer Ethik wird man von den 


424 


Prämiſſen des Kampfs ums Dajein aus immer nur durch 
eine ganze Reihe von Lehnſäzen oder Erſchleichungen aus 
ganz anderen Anſchauungsweiſen heraus gelangen können. 

Man konnte deßhalb beſonders begierig ſein zu ſehen, 
ob und wie es dem hellen und feinen Geiſt von Strauß 
gelingen werde, den Weg von Darwin'ſchen Prämiſſen zu 
einem ſittlichen Sollen zu finden. Die gerechte Erwartung 
wird aber nur in ſehr ungenügender Weiſe befriedigt. Denn 
auch hier werden die Schwierigkeiten nur durch Vergeſſen 
oder Ignoriren der Vorderſäze und durch Beiziehung ganz 
anderer Vorausſezungen zu löſen geſucht. 

Nachdem zuvor der Menſch vermittelſt der beiden 
„Dietriche der Naturwiſſenſchaften“, der kleinſten Schritte 
und größten Zeiträume, in der üblichen Weiſe als Abkömm— 
ling begünſtigter Affenpaare aufgezeigt, die Unvergleichbar— 
keit der phyſiſchen und pſychiſchen Vorgänge principiell ge— 
läugnet, vielmehr die Möglichkeit, daß ſich Bewegung jo 
gut wie in Wärme, auch in Empfindung umſezen könne, 
behauptet, die Annahme einer Seele mit Carl Vogt für 
eine reine Hypotheſe, die weder zu begründen ſei noch ir— 
gend etwas nüze, erklärt worden iſt, werden wir mit Einem 
Male auf einen ganz anderen Boden geſtellt, wenn es ſich 
darum handelt, die Grundlagen einer Sittenlehre aufzu— 
finden. 

Der Menſch, heißt es nun, iſt kein bloßes Naturweſen; 
die Natur hat in ihm über ſich ſelbſt hinausgewollt (freilich 
ohne daß wir erfahren, wie ſie dieß Münchhauſen'ſche Kunſt— 
werk fertig bringen konnte); die Welt iſt zwar nicht von 


425 


einer höchſten Vernunft, aber auf eine höchſte Vernunft 
angelegt. Die Natur, die ſich im Thier nur empfunden 
hat, will ſich im Menſchen nun auch erkennen. Es ſind 
dieß Hegel'ſche Reminiſcenzen, nur daß jezt an die Stelle 
der „Idee“ die Natur getreten iſt. 

Was man aber von einem Anhänger Darwins am 
wenigſten erwarten ſollte, der eigentliche Ausgangspunkt 
für die Conſtruction ſittlicher Forderungen iſt der Gattungs— 
begriff. Alles ſittliche Handeln, wird geſagt, iſt ein Sich— 
beſtimmen des Einzelnen nach der Idee der Gattung. Wenn 
irgend Jemand in der Welt, ſollte man aber denken, jo 
müßte der Darwiniſt dem Nominalismus huldigen; für ihn 
exiſtirt nur das Einzelne; die Gattung iſt eine Abſtraction, 
eine willkührlich nach den Bedürfniſſen des discurſiven 
Charakters menſchlicher Erkenntniß in die Welt des Seien— 
den hineingezeichnete Figur von ſtets wechſelnden Umriſſen. 
Nun ſollen aber aus der Gattungsgemeinſchaft ſogar Pflich— 
ten folgen. Ich ſoll anerkennen, daß andere daſſelbe ſeien, 
wie ich, mit den gleichen Bedürfniſſen und Anſprüchen! 
Statt zu ſagen: wer die gleichen Anſprüche mit mir macht, 
iſt mein Gegner, deſſen ich mich zu erwehren oder zu ent— 
ledigen habe im Kampf ums Daſein, wird die ungeheure 
Forderung faſt wie etwas Selbſtverſtändliches hingeſtellt, 
ich habe den Andern mir gleich zu achten. 

Wiewohl es bei dem Darwinianer durch die Verläug— 
nung der Vorderſäze ſtärker ins Auge fällt, ſo ſteht Strauß 
doch hierin keineswegs allein, ſondern theilt mit Kant und 
den meiſten Moralphiloſophen den Fehler, den Hauptpunkt 


— — 


426 


ganz in der Stille ſchon vorauszuſezen. Wie wenn es ſich 
um die Gleichheit von Winkeln oder Dreiecken und um rein 
logiſche Deductionen handelte, wird behauptet, daß die 
Menſchen nach ihren Gattungsmerkmalen einander gleich 
oder ähnlich ſeien und — daß nun deßhalb der Einzelne 
den Andern ſich ſelbſt gleich zu ſtellen habe! Aber Ich 
bin Ich und alle anderen gehören zum Nichtich; daß dieſe 
mir gleich zu halten ſeien, das ſagt nicht die Logik, ſondern 
— die Liebe, ja es iſt ſo unlogiſch als möglich. Warum 
ſollten denn die Säze: Jeder iſt ſich ſelbſt der nächſte; jeder 
ſei auf ſeinen Vortheil bedacht und ſehe, wie er die andern 
überliſtet und überwältigt; jeder ziehe die ſinnlichen Ge— 
nüſſe als die reellen und ſicheren den unſinnlichen und ein— 
gebildeten vor u. ſ. w. weniger logiſch und nicht ebenſo 
gut zu einer allgemeinen Formulirung geeignet ſein? In— 
wiefern ſoll denn das Princip: die Maxime deines Han— 
delns muß allgemein anwendbar ſein, rationeller lauten, 
als der Grundſaz: die Maxime deines Handelns braucht 
für Niemand zu paſſen als für dich, oder: der concrete 
Fall iſt niemals ein allgemeiner, ſondern ſtets ein einzelner? 
Oder warum ſoll der Streit mißfällig ſein? Der Streit, 
in dem ich ſiege und gewinne, wird mir gefallen, denjenigen, 
in welchem ich zu unterliegen fürchten muß, werde ich zu 
vermeiden ſuchen; wenn aber Dritte ſtreiten, ſo braucht es 
mir nicht zu mißfallen; duobus litigantibus tertius gaudet; 
jedenfalls aber kann es mir gleichgiltig ſein. 

Wenn uns der Böſewicht ſagte: ich weiß und will 
nichts von eurer Idee der Gattung und folge meinen Be— 


427 
gierden, ohne zu fragen, ob ſich die Maxime meines Han— 
delns zu einer Vorſchrift für Alle eignet, was könnten wir 
ihm darauf antworten als etwa: wir unterwerfen dich aber 
unſerer Ordnung, mit dem ſtillſchweigenden Vorbehalt: ſo 
lange wirs vermögen und deinesgleichen nicht die Mehr— 
heit bilden. 

Man kommt mit ſolch allgemeinen und formalen Ab— 
leitungen aus der Idee, Natur, Gattung, Beſtimmung der 
Menſchheit wie mit der Kant'ſchen Forderung einer Formel 
von univerſeller Anwendbarkeit nicht vom Fleck. Solche 
Säze ſprechen zwar in der Regel etwas ganz Richtiges aus, 
aber ſie leiden alle an einer petitio prineipn, ſie ſezen die 
Hauptſache ſtillſchweigend voraus. Man muß auf die pſy— 
chologiſchen Grundthatſachen, über welche hinaus kein Weg 
mehr führt, zurückgehen, und dort im Einzelnen die Anſäze 
und Keime der ſittlichen Begriffe aufzeigen. 

Ein Verſuch hiezu iſt an einer anderen Stelle für 
die Deutung des Rechtsgefühls gemacht; zu der näheren 
Begründung und Ausführung, welche derſelbe noch erfordern 
würde, iſt hier nicht der Ort. 

Der Inhalt unſeres Seelenlebens ſtammt aus den 
Trieben. Nur daß über dem Gerüſte unſerer animaliſchen 
Willensanſäze noch ein Aufbau von humanen, metaphy— 
ſiſchen Vernunft- oder Ordnungstrieben, die zum Erſaz für 
die geringere ſinnliche Gewalt von einem Gefühl ihres vor— 
züglicheren Werthes begleitet ſind, unter gleichem Dache 
angebracht iſt, rückt uns über die Thierwelt hinaus und 
macht uns zu bewußten Gliedern des Weltganzen. 


Der Trieb des Mitgefühls, das Verlangen nach einer 
feſten Ordnung für unſer Wollen, das Gefühl eines unbe— 
dingten Sollens ſind die Quellen aller ſittlichen Begriffe. 

Wir ſuchen uns immer mit dem unbeſtimmten Com— 
parativ des Höheren, der höheren Triebe, Anlagen, Kräfte 
zu behelfen. Daß wir geneigt ſind unter den doch immer 
relativen Bezeichnungen der räumlichen Dimenſionen das 
Obere für werthvoller zu halten als das Untere und das 
Höhere dem Niederen vorzuziehen, iſt eine wie angeborene 
Weltſymbolik. Wir richten den Blick nach Sonne und 
Sternenhimmel. Suchet was droben iſt; denn alle gute und 
vollkommene Gabe ſcheint uns von oben herab zu kommen. 

Man braucht noch nicht an die Idealität des Raums, 
ſondern nur an die Antipoden zu denken, um das Täu— 
ſchende dieſer Vorſtellungen vom Oberen und Höheren zu 
erkennen. Aber dennoch ſagt uns ein unabweisbares Ge— 
fühl, daß hier mehr ſein müſſe als bloße Symbolik; es 
verwehrt uns, in jenen metaphyſiſchen Anlagen bloße ſub— 
jective Wahngebilde zu ſehen, denen keine Realität gegen— 
überſtünde. Wir fühlen uns getrieben ihnen transcendenten 
Urſprung beizulegen, ſie als Bänder und Pfänder anzu— 
ſehen, die das Bruchſtück unſeres planetariſchen Lebens zu 
dem Ganzen einer vollkommeneren Welt in Beziehung ſezen. 

Der menſchliche Gattungscharakter kann eine höhere 
Bedeutung und gar eine Verpflichtung nur in ſich ſchließen, 
wenn die Gattung mehr iſt als eine blos flüchtige Station 
in den Kämpfen und Wechſelſpielen blinder Kräfte, wenn 
ſie uns als ein verwirklichter Gottesgedanke, als das Glied 


eines allumfaſſenden auf die Verwirklichung idealer Güter 
angelegten Weltplans erſcheinen dürfte. Mit dem Begriff 
einer Beſtimmung des Menſchen mögen uns wenigſtens 
diejenigen nicht kommen, welche alle Teleologie in der Welt— 
erklärung verwerfen. Denn wie kann von der Beſtimmung 
einer Sache die Rede ſein ohne Zweckſezung? Das Geſez 
der Liebe, der Grundpfeiler aller Ethik, hätte einen ſchweren 
Stand, wenn ſeine bindende Kraft nur in einer logiſchen 
Kette von Gleichungen läge oder der Trieb des Mitgefühls 
nur ein allen andern Neigungen und Begierden gleich— 
werthiges Glied wäre. Wir fühlen uns gedrungen, die 
Liebe als ein Weltprincip zu betrachten, welches die Idee 
einer Ordnung in dem Reiche der ſelbſtbewußten Seelen 
zu verwirklichen beſtimmt iſt, ſie auf ein allwaltendes, ſelbſt 
fühlendes und liebendes Weſen zurückzuleiten, das uns in 
dem Drange des Mitgefühls ein Pfand und Siegel unſerer 
ebenbildlichen Abkunft und höheren Beſtimmung ins Herz 
gelegt hat. 

Es ſind dieß freilich unbewieſene und unbeweisbare 
Annahmen; man kann ſie als bloße Wünſche, Träume oder 
Hypotheſen bezeichnen. Ich nenne ſie Säze eines Glaubens, 
der da berechtigt iſt, wo das Wiſſen aufhört und aufhören 
muß, da wo dem Wiſſen nicht widerſpricht, ſondern dieß 
nur ergänzt in der Richtung, auf welche es ſelbſt hinleitet. 
Ohne ſolche Hypotheſen oder Glaubensſäze kann aber der 
Menſch nicht denken und nicht leben, und auch die entgegen— 
geſezten Anſichten ruhen in lezter Inſtanz auf Voraus— 
ſezungen. 


III. Wider die Formeln des alten Glaubens. 


14. a 


Auch wenn man im Menschen eine bejondere, von der 
Thierwelt durch den ſcharfen Einſchnitt neuer und höherer 
pſychiſchen Kräfte geſchiedene Gattung erkennt, ſo kann man 
doch darüber nicht im Zweifel ſein, daß die Menſchheit von 
der Pike auf zu dienen, von Zuſtänden aus, welche nahe 
an die der höheren Säugethiere anſtreifen, ihre Bahn zu 
höheren Zielen zu finden hatte. Alle Thatſachen der Natur— 
und Geſchichtsforſchung weiſen überetnitimmend darauf hin; 
nichts läßt vermuthen oder auch nur denkbar erſcheinen, 
daß die Anfänge unſeres Geſchlechts in paradieſiſchem Glück 
und ſtetiger Gottesgemeinſchaft zu ſuchen wären. Was wir 
von Menſchengeſchichte wiſſen, alle Zeugniſſe der Anthro— 
pologie und Geologie würden durch eine ſolche Annahme 
auf den Kopf geſtellt. Die bibliſche Erzählung vom Pa— 
radies und Sündenfall iſt zwar anſprechender, tiefſinniger 
und gehaltvoller, aber um nichts glaubhafter und denkbarer 
als die Sagen anderer Völker von einem goldenen oder 
ſaturniſchen Zeitalter, wo die Pardel mit den Lämmern 
weideten und die Menſchen im Schatten und von den Früch— 
ten der Bäume Hunderte von Jahren im Verkehr mit den 
ſeligen Göttern lebten. 

Aber eben dieſe Fabel von einem urſprünglichen Stande 
der Unſchuld und Gottähnlichkeit bildet den Grundſtein der 


ganzen kirchlichen Dogmatik, wenn wir dieſe in ihrer allge— 
mein verſtändlichen Faſſung nach Katechismus und Bekennt— 
nißſchriften, und nicht nach den Umdeutungen moderner 
Theologen auslegen. Daß der thatſächliche ſittliche Zuſtand 
des Menſchen eine ſchwere Schuld, einen Abfall von Gott, 
der ihn dereinſt rein und ſich ſelbſt naheſtehend in die Welt 
geſezt habe, enthalte; daß der Menſch unfähig ſei, dieſe Ver— 
ſchuldung und forterbende ſittliche Verderbniß aus ſeinen eige— 
nen Kräften zu beſeitigen; daß Gott deßhalb aus unendlichem 
Erbarmen ſich entſchloſſen habe, Gnade für Recht ergehen 
zu laſſen, aber, weil doch die Sünde nicht ungerächt bleiben 
könne, ein jtellvertretendes Opfer und zwar in der Perſon 
ſeines eigenen, eingeborenen Sohnes anzunehmen, der hiezu 
in die Welt kommen und die Leiden der Menſchheit, dazu 
den ſchmerzlichen und ſchimpflichen Tod eines Miſſethäters 
erdulden mußte; daß ſodann der Einzelne, um an den 
Wirkungen dieſes welterlöſenden göttlichen Aktes Antheil 
zu nehmen, eben dieſe Reihe von Vorſtellungen ſich glaubig 
anzueignen und in dieſem neuerrungenen Gnadenzuſtand 
Gott wohlgefällig zu leben habe — dieſe ganze Kette von 
Säzen, die uns nur darum nicht ſo erſtaunlich vorkommen, 
als ſie ſind, weil ſie uns in noch urtheilsloſer Kindheit 
ſchon eingeprägt werden, bricht haltlos in ſich zuſammen, 
ſobald das erſte Glied abgelöſt wird und die erſten Men— 
ſchen nicht mit Engeln, ſondern mit Wilden zu ver— 
gleichen ſind. 

Man muß dieſen ganzen Ideengang verwerfen, man 
wird auf eine durchaus andere Weltanſchauung gedränät, 


432 


jobald man davon ausgeht, was Vernunft und Erfahrung 
bezeugen, daß der Menſch ſeine Laufbahn hart an der 
Schwelle thieriſcher Exiſtenz zu beginnen hatte, daß ihm für 
die Erreichung ſeines Ziels nichts mitgegeben war als einige 
zarte Keime von Triebkräften einer höheren Lebensordnung, 
eingeſenkt in den Complex animaliſcher Begierden und 
Fähigkeiten, beſtimmt wie ein Sauerteig die trägere Maſſe 
zu durchdringen und umzubilden. Daß der Menſch aber 
unfähig ſei ſich aus eigener Kraft zu vervollkommnen, iſt 
entweder eine Spielerei mit Worten oder eine Läſterung 
des göttlichen Weltplanes. Eigene Kräfte, was man ver— 
nünftiger Weiſe dann unter dem Wort verſtehen müßte, 
hat er ja überhaupt gar keine, ſondern nur verliehene. 
Dieſe verliehenen aber müſſen hinreichen, ſeine Aufgaben 
zu erfüllen, wenn er nicht ein Pfuſchwerk und ein Miß— 
geſchöpf ſein ſoll, das zum Untergang beſtimmt iſt. Sicherer 
iſt nichts und nichts erhebender, als daß die Menſchheit 
in aufſteigender Entwicklung begriffen iſt, wenn ſchon die be— 
ſchriebene Bahn, wie Leibnitz meint, der Spirallinie gleichen 
mag, die auch im Abwärtsgehen, in der fallenden Windung 
ſteigt; und der Maßſtab für das Fortſchreiten kann nur 
in der wachſenden Leitung und Läuterung der niederen 
Kräfte durch die höheren geſucht werden. Wenn der Menſch 
aber damit den Anfang machen mußte, unter dem Einſaz 
aller Kräfte gegen die feindlichen Elemente und wilden 
Thiere um ſein Daſein zu ringen und doch den Weg vom 
Höhlenbewohner, Steineſchleifer und Pfahlbauer bis zu 
Socrates und Plato ohne die Sendung eines nachhelfenden 


433 

Gottesſohnes gefunden hatte, jo konnte es ihm auch an 
einem inneren Leitſtern für die weiteren Wegſtrecken nicht 
mehr fehlen. Die menſchlichen Mängel und Sünden ſind 
nicht der forterbende Fluch eines verſchuldeten Abfalls von 
einſt beſeſſener Gottesgemeinſchaft, ſondern die Reſte und 
Wirkungen des wahren, urſprünglichen Zuſtandes und der 
uns eigenthümlichen Miſchung ungleichartiger Kräfte. 

Die Kluft zwiſchen dieſer Auffaſſung und dem chriſt— 
lichen Dogma erſcheint unüberſteiglich und ſie iſt es auch 
in der That, ſobald uns zugemuthet wird, jener Kette von 
Vorſtellungen auch zugleich eine Reihe entſprechender ge— 
ſchichtlicher Thatſachen zu unterbreiten. Anders iſt es, 
wenn nur von uns gefordert wird, den ſittlich religiöſen 
Gehalt jener Säze gelten zu laſſen. Die Verwerfung der 
hiſtoriſchen Vorgänge hindert die Anerkennung nicht, daß der 
Menſch nach dem Bilde Gottes angelegt und zum Gliede 
eines Gottesreiches berufen iſt; nur ſehen wir darin ein 
Ideal, deſſen Verwirklichung wir vorwärts ſuchen und nicht 
in dem Ahnherrn unſeres Geſchlechtes. An dieſem Ideal 
gemeſſen muß ſich uns die tiefe Verwerflichkeit unſerer 
thatſächlichen Seelen- und Geſellſchaftszuſtände, ſowie das 
Verlangen nach einer Erlöſung von den Hemmungen jenes 
höheren Lebens aufdrängen. Der Einzelne iſt für ſich allein 
unfähig, dieſe Hemmungen zu beſeitigen; nur die Ueber— 
lieferung des von der Menſchheit bereits Errungenen und 
die Gemeinſchaft mit Andern zeigt und bahnt ihm den Weg. 
Der glaubige Aufſchwung des Gemüths, den eine ſolche 
Auffaſſung von Welt und Menſchenleben sub specie aeter- 


Rümelin, Reden mu. Aufſätze. 28 


434 


nitatis erfordert, wird durch nichts ſo erleichtert und ge— 
fördert als durch den Hinblick auf die vorbildliche Geſtalt 
desjenigen, der dieſe höchſte Steigerung des Menſchenziels 
und Menſchenwerths in die Welt geführt und durch das 
reinſte, innigſte und kräftigſte Gottesgefühl in Lehre und 
Leben an ſich verwirklicht hat. 

Freilich „wenn man's ſo hört, möcht's leidlich ſcheinen,“ 
aber wir verkennen keinen Augenblick, daß auch eine ſolche 
oder ähnliche Umdeutung den ganzen Bau der orthodoxen 
Kirchenlehre untergraben, daß fie nicht blos die Säze von; 
Paradies und Erbjünde, von dem zornigen, zur Correctur 
ſeines Werkes veranlaßten Gott, von dem Menſch gewor— 
denen Gottesſohn und deſſen ſtellvertretendem Opfertod zer— 
ſtören, ſondern auch noch die meiſten weiteren Lehren von 
der Inſpiration, Perſon Chriſti, Trinität, Abendmahl u. ſ. w. 
aus ihren Fugen drängen müßte. Und doch gehört der 
obige Standpunkt vielleicht noch zum grünen Holze. 


15. 


Es war ein böſes Wort und eine ſchlechte Prophe— 
zeiung, als vor 20 Jahren geſagt wurde, die Wiſſenſchaft 
müſſe umkehren, in dem Sinne, daß ſie ſich der Theologie 
unterzuordnen habe. Unterdrückt hat man zwar die Wiſſen— 
ſchaft ſchon; ſie iſt ſtillgeſtanden und in Verfall gerathen, 
aber umkehren kann und wird ſie niemals. Wohl aber 
mag es ſich nun fragen, ob es nicht Zeit wäre, nachdem, 
der Berg nicht zum Propheten gekommen iſt, daß nun der 
Prophet zum Berge käme. Die Theologie — es iſt nur 


435 


die evangeliſche, die deutſche, die dogmatiſche gemeint — 
muß, wenn ſie eine Wiſſenſchaft heißen und ſein, und nicht 
eine bloße Paſtoreninſtruction werden will, das, was für 
alle Wiſſenſchaften gilt, auch für ſich gelten laſſen. Unſer 
Intellect erträgt unn einmal die Abtheilung ſeines Willens 


.. 


in verschiedene, von einander abgeſchloſſene Käſten und 


ec 


Schiebfächer nicht; es kann unmöglich in der einen Wiſſen— 
ſchaft wahr ſein, was in der andern falſch iſt. Auch darf 
ſich keine von ihnen träumen laſſen, daß ſie die Garbe Jo— 
ſephs ſei, vor der ſich die Garben der Andern zu verneigen 
hätten; es wäre denn etwa die Logik, der wenigſtens eine 
Art von Cenſor- oder Ephorenamt nicht abzuſtreiten it. 

Die Theologie hat ſonſt immer in inniger Fühlung 
mit der Philoſophie gelebt und eine dauernde Löſung dieſes 
Bandes iſt undenkbar, da ihr Thema ja auch zur Meta— 
phyſik gehört. In den früheren Jahrhunderten und nicht 
blos im Zeitalter der Scholaſtik, ſondern auch noch darüber 
hinaus war die Philoſophie die Dienerin und die unfüg— 
ſamen Denker wurden ignorirt oder verbrannt. Von Leib— 
niz bis Hegel wurde ſie die Führerin oder wenigſtens die 
Magd, die mit der Fackel vorausleuchtet. Es iſt erſt etwa 
30 Jahre, daß die Theologie das jezt läſtig und gefährlich 
ſcheinende Verhältniß abbrach und ihren Weg allein finden 
zu können glaubt. 

Sollte die Philoſophie hieran die Schuld tragen und 
kein Auskommen mehr mit ihr möglich ſein? Sollte ſie ſich 
ſchroffer und unverſöhnlicher zu Religion und Chriſtenthum 
verhalten, als die Kritiken Kant's „des Alleszermalmenden“, 


28 * 


436 
als der Hegel'ſche Banlogismus mit ſeiner zerſezenden Dia— 
lectik? Es wäre freilich faſt mehr eine Aufgabe für den 
Statiſtiker als den Philoſophen, über den Stand der Phi— 
loſophie der Gegenwart Auskunft zu geben, da die Mannig— 
faltigkeit ſo groß iſt, daß ſchon eine ſehr complicirte Ta— 
belle zu ihrer Rubricirung nöthig wäre. Nur die Herbart'- 
ſche Richtung beſteht noch als Schule; die Hegelianer ſtehen 
auf dem Ausſterbeetat; die Anhänger Krauſe's bilden ein 
kleines Häuflein. Schopenhauer und, wenigſtens bis jezt 
noch, auch Hartmann ſind glänzende Irrlichter; geiſtvolle 
Denker und ausgezeichnete Schriftſteller, von deren Werken 
es nicht zu verwundern iſt, wenn ſie lieber und häufiger 
geleſen werden, als die ſchwerflüſſigen Werke der alten 
Meiſter, in welchen der Gedanke mit dem Ausdruck in nicht 
immer glücklicher Weiſe ringt. Aber unter den eigentlichen 
Fachmännern hat jener piquante Peſſimismus doch noch 
kaum Boden gefunden. Ebenſo trifft dieß für den Mate— 
rialismus zu, der ſeine Anhänger bis jezt mehr unter den 
Naturwiſſenſchaftlern, die in der Philoſophie hospitiren, als 
unter den Philoſophen zählt. 

Für das Gros der philoſophiſchen Schriftſteller und 
akademiſchen Lehrer iſt wohl kein Merkmal ſo hervortretend 
und charakteriſtiſch, als daß das Princip der Arbeitstheilung, 
das die neuere deutſche Wiſſenſchaft faſt im Uebermaaß be— 
herrſcht und deren Glanz- wie Schattenſeiten begründet, 
auch auf dem Gebiet der philoſophiſchen Forſchung Plaz 
gegriffen hat. Wie von unſern großen Hiſtorikern keiner 
mehr eine Univerſalgeſchichte ſchreibt oder auch nur eine 


437 


Geſchichte des Alterthums, des Mittelalters, der neuen Zeit 
fertig bringt, dagegen die einzelnen Vorgänge und Jahr— 
hunderte nach allen Richtungen durch die gründlichſte und 
umſichtigſte Quellenforſchung aufgehellt und für ein künf— 
tiges, zuſammenfaſſendes Verſtändniß des Ganzen zuge— 
richtet werden, ſo iſt jezt auch unter den Philoſophen Nie— 
mand mehr, der die ganze Welt der Erſcheinungen aus 
dem reinen Sein oder Nichts conſtruirend aufzubauen ver— 
ſuchte und im Kreis das All am Finger laufen ließe. Das 
Feld der eigentlichen Metaphyſik wird nur mit Beſcheiden— 
heit und Vorſicht betreten, aber die Probleme treten in 
Theilfragen auf den Gebieten der Erkenntnißlehre und Lo— 
gik, der Pſychologie, der Ethik und Rechtsphiloſophie, der 
Aeſthetik aus einander und werden unter einer weit gründ— 
licheren Beachtung der früheren Forſchungen einzeln weiter 
geführt. Wenn man auch einräumen wird, daß gerade 
dem Weſen der Philoſophie, als der auf das Ganze der 
Erfahrung gerichteten Wiſſenſchaft, eine ſolche Theilarbeit 
und Iſolirung der Probleme noch mehr widerſtrebt als 
anderen Disciplinen und daher nur als eine nothwendig ge— 
wordene Uebergangsperiode aufzufaſſen ſein mag, ſo kann 
doch nur Unkenntniß in dieſer Wendung einen Stillſtand 
oder Rückgang ſehen und den Werth der Ergebniſſe, die 
auf dieſem Wege gewonnen werden, unterſchäzen. Auch der 
unläugbare Fortſchritt in der Klarheit und Verſtändlichkeit 
der Gedankenentwicklung gegenüber von den älteren Meiſtern, 
welche die noch widerſtrebende deutſche Sprache zuerſt in 
den Dienſt des abſtracten Gedankens zu zwingen hatten, 


438 . 


iſt nicht hoch genug anzuſchlagen. Hermann Lotze gehört 
zu den ſchärfſten und tiefſten Denkern unſeres Jahrhunderts. 
Seine Schriften werden noch hoch geſchäzt und eifrig ſtudiert 
werden, wenn man die Hauptwerke von Fichte, Schelling, 
Hegel nicht mehr durchlesbar finden, ſondern nur noch aus 
Compendien und Auszügen kennen lernen wird. Es iſt 
keine von allen Fragen, mit denen er ſich beſchäftigt hat, 
die er nicht um ein gutes Stück Weges über ihren früheren 
Standort hinausgeführt hätte. Und dabei fehlen weder die 
Anſäze einer abſchließenden Weltauffaſſung, noch die Hoff— 
nung auf eine zuſammenfaſſende Darſtellung derſelben. 

Weder bei ihm noch bei verſchiedenen Andern unter 
den angeſehenſten Denkern der neueren Zeiten hätte die 
Theologie Urſache, ſich über eine gegen Religion und 
Chriſtenthum abgekehrte oder gar feindliche Richtung, über 
den Mangel an Anknüpfungspunkten zu beklagen. Hier 
iſt nicht von Materialismus, Nihilismus, ethiſchem Indif— 
ferentismus die Rede; ſeit Leibnitz waren die Bedingungen 
für eine Verſöhnung der Theologie und der Wiſſenſchaft, 
wie man denken ſollte, niemals günſtiger und doch fehlt ſo 
gut wie alle nähere Fühlung. Woher dieſe eigenthümliche 
Erſcheinung in einer Zeit, wo mehr als jemals Grund 
vorläge, daß das Verwandte ſich näher träte? 

Es iſt Ein Punkt, der zwar zu allen Zeiten Wiſſen 
und Glauben ſchied, aber niemals eine ſo unüberſteigliche 
Kluft zwiſchen beiden bildete, als jezt — der Wunderbegriff. 
So weit iſt die Wiſſenſchaft erſtarkt, in ſich ſicher und 
übereinſtimmend in allen Zweigen und Richtungen, Schulen 


439 
und Parteien, daß ſie dem Wunder in jeder Art und Ge— 
ſtalt unbedingt und ohne Weiteres die Thüre weiſt. Sie 
erkennt nur das Eine Wunder aller Wunder an, daß es 
überhaupt eine Welt giebt und gerade dieſe, aber innerhalb 
des Cosmos verwirft ſie ſchlechthin jeden wie immer for— 
mulirten Anſpruch, daß die Durchbrechung ſeiner Ord— 
nungen und Geſeze etwas Denkbares und gar etwas Vor— 
züglicheres ſei als deren unwandelbare Geltung. Das 
Wunder iſt in ganz gleicher Weiſe für alle Natur-, Ge— 
ſchichts- und philoſophiſchen Wiſſenſchaften in eben dem, 
was 


2 
“= 


s jein und bedeuten will, ein begriffliches Unding, 
ein directes Attentat auf alle Vernunft und die elemen— 
tarſten Grundlagen aller menſchlichen Wiſſenſchaften. Wiſſen— 
ſchaft und Wunder ſtehen einander gegenüber wie Vernunft 
und Unvernunft. Alle die kleinen Künſteleien, Phraſen 
und Sophismen von noch unbekannten Naturgeſezen, von 
der Macht des Geiſtes über die Natur, von der Durch— 
brechbarkeit der Naturordnung als einem auch mit vorge— 
ſehenen Stück eben dieſer Ordnung ſelbſt, womit die Apo— 
logeten jenen ſchneidenden Gegenſaz abzuſchwächen oder zu 
vertuſchen lieben, ſind nicht mehr werth als in den Papier— 
korb zu wandern. Es iſt eine durchaus unerträgliche Zu— 
muthung, wenn im Kreiſe der Wiſſenſchaften eine derſelben 
erklärt, daß ſie zwar im Allgemeinen die unwandelbare 
Geltung der Naturgeſeze anerkennen, aber doch Ausnahmen 
in Anſpruch nehmen müſſe für einige beſtimmten Perſonen, 
Zeiten und Orte auf der Erde, wo es eben doch möglich 
geweſen ſei, daß ein Weib empfängt ohne Mann, daß ein 


440 


Stern über einem Hauſe ſtehen bleibt, daß ein menſchlicher 
Körper auf der Oberfläche des Waſſers ſchreitet, ohne ein— 
zuſinken, daß man mit Speiſen für Wenige ebenſo viel 
Tauſende ſättigt und das Uebriggebliebene noch mehr iſt 
als der urſprüngliche Vorrath, daß Todte auferſtehen und 
nachher verſchwinden oder in den Luftraum emporſchweben 
. : 

Der Grund, warum der Widerſpruch gegen den Wunder— 
begriff jezt viel intenſiver und allgemeiner iſt als je zuvor, 
liegt nicht blos darin, daß die Natur- und Geſchichtswiſſen— 
ſchaften nach allen Richtungen in den lezten Jahrzehenden 
größere Fortſchritte gemacht haben als früher in ebenſo 
vielen Jahrhunderten, daß ſie dabei die alten Fabeln und 
Vorurtheile aus allen ihren lezten Schlupfwinkeln ver— 
trieben und von nichts eine ſo ſichere und felſenfeſte Ueber— 
zeugung gewonnen haben, als von der Gleichartigkeit alles 
Geſchehens und der Ausnahnsloſigkeit aller wahren und 
wirklichen Geſeze. Es kommt auch noch ein ebenſo wichtiger 
Grund philoſophiſcher Art hinzu. 

Es iſt kein neuer Gedanke, aber einer von den wenigen 
zur allgemeinen Anerkennung gelangten Säze der Philo— 
ſophie, daß das nächſte und erſte Object aller Erfahrung 
und alles Denkens nicht äußere Vorgänge und Erſcheinungen, 
ſondern innere Bilder und Vorſtellungen ſind, und daß 
deßhalb jede Annahme von Dingen außer uns ſchon auf 
einer Schlußfolgerung aus der Form und dem Inhalt dieſer 
Vorſtellungen beruht. Die Bürgſchaft dafür, daß dieſer 
Schluß richtig und unſere Wahrnehmungen keine Viſionen 


441 


und Einbildungen ſind, liegt ſchließlich nur in dem Be— 
wußtſein ihrer Uebereinſtimmung oder Vereinbarkeit ſowohl 
mit unſern eigenen ſonſt vorhandenen und bewährten Vor— 
ſtellungen als mit den Wahrnehmungen anderer Menſchen 
im gleichen Falle. Beides zuſammen erzeugt die Gewißheit, 
daß unſere Auffaſſung einer äußeren Erſcheinung ein denk— 
nothwendiger Act für jeden normalen, dem unſrigen ähn— 
lich organiſirten Intellect ſei. 

Dieſe Säze wirken aber auf den Wunderbegriff ge— 
radezu vernichtend. Nicht Wunder liegen uns vor, die wir 
zu erklären hätten, ſondern Wundervorſtellungen, ja in den 
meiſten Fällen nicht einmal dieſe, ſondern bloße Wunder— 
erzählungen aus zweiter, dritter bis hundertſter Hand. 
Wenn wir ein Wunder denjenigen Vorgang nennen, welchen 
natürlich zu erklären unmöglich iſt, ſo kann dieß Merkmal 
niemals für eine bloße Wundervorſtellung zutreffen, da die 
Möglichkeit einer Selbſttäuſchung hier nie völlig ausgeſchloſ— 
jen ſein kann. Ja ſelbſt wenn es wirklich Wunder gäbe, jo 
könnten ſie gar nicht als ſolche erkannt werden. Der nor— 
mal denkende Menſch müßte ſeine Wahrnehmungen für 
Viſionen halten, weil die einzigen und entſcheidenden Kri— 
terien der Wahrheit nicht zutreffen würden. Daß aber 
Wundervorſtellungen gar nichts Wunderbares, ſondern etwas 
Alltägliches, für ungebildete Zeiten, Völker und Kreiſe faſt 
Normales zu nennen ſind und daß die bewußte Täuſchung 
an ihrer Entſtehung mindeſtens ebenſo viel Antheil hat, 
als die unbewußte, dafür braucht man auch heute noch die 
Beweiſe nicht weit zu ſuchen. 


442 

Wiſſenſchaft und Wunder ſind jo unvereinbare Dinge, 

daß das Eine genau da aufhört, wo das Andere anfängt. 
Wenn daher die Theologie ſelbſt Wiſſenſchaft ſein oder 
auch nur mit ihr im Frieden leben will, ſo ſind auf dieſem 
Punkte keine Compromiſſe möglich, ſondern ſie muß ohne 
alle Klauſeln und Vorbehalte, pure et nude, auf den Wunder— 
begriff verzichten und alle Conſequenzen dieſes Verzichtes 
auf ſich nehmen. Für alle übrigen Dinge würden die An— 
knüpfungspunkte an eine weder wiſſensſtolze noch glaubens— 
feindliche Philoſophie nicht fehlen. 
N Die Eine Forderung ſchließt freilich unſagbar Vieles 
in ſich. Der Dichter ſagt nicht umſonſt: das Wunder iſt 
des Glaubens liebſtes Kind. Sein liebſtes, mag man zu— 
geben, aber nicht ſein einziges und gewiß nicht ſein beſtes 
Kind. 

Was aber vom Dogma noch übrig bliebe und ob das 
Uebrigbleibende noch das Chriſtenthum wäre, iſt eine wohl 
aufzuwerfende Frage, die eine Entſcheidung von kurzer 
Hand nicht erträgt. Wenn die Orthodoxie ſchnell entſchie— 
den ſein ſollte, den zweiten Theil der Frage zu verneinen, 
jo dürfte fie darum doch noch nicht ſchließen: alſo muß es 
doch Wunder geben oder müſſen wir wenigſtens ſolche be— 
haupten. Aber man darf doch daran erinnern, daß die 
Aufgabe, um die es ſich handelt, ſchon vor 50 Jahren ge— 
löst worden iſt, z. B. in der chriſtlichen Dogmatik von 
Schleiermacher. Sie ſagt: „Aus dem Intereſſe der Fröm— 
migkeit kann nie ein Bedürfniß entſtehen, eine Thatſache 
ſo aufzufaſſen, daß durch ihre Abhängigkeit von Gott ihr 


Bedingtſein durch den Naturzuſammenhang ſchlechthin auf— 
gehoben würde.“ Wir würden freilich lieber auch dieß 
Schlechthin noch geſtrichen ſehen. Und man muß über jene 
Löſung ſagen, daß das neue Princip auch einen völligen 
Neubau verlangt hätte, während hier die alten Formeln 
beibehalten und nur vielfach durch eine Art geiſtvoller Liſt 
umgedeutet wurden. 

Wie dem aber auch ſei, eine Kirche, deren Dogma ſich 
mit den elementaren Grundvorausſezungen aller Wiſſen— 
ſchaften in Widerſpruch ſezt, kann dieſen Zuſtand nicht auf 
die Länge ertragen. D 
kennt nur Eine Wahrheit. Wenn ſie die Wiſſenſchaft nicht 
unterdrücken kann und will, ſo muß auch die Theologie in 


enn der menſchliche Geiſt will und 


deren Bahnen einlenken, da die Wiſſenſchaft niemals um 


kehrt. Eine Religion, deren Glaubensformeln veraltet und 
den intelligenteſten Kreiſen der Geſellſchaft fremd geworden 
ſind, wird auf die Dauer auch die Herrſchaft über die 
weniger intelligenten und ungelehrten Klaſſen nicht be— 
haupten; denn jene und nicht dieſe ſind die geiſtigen Führer 
ihres Zeitalters. Iſt denn aber dieſe Herrſchaft über die 
ungelehrten Klaſſen noch vorhanden und geſichert? Die 
Statiſtik kennt Thatſachen hierüber, an denen man er— 
ſchrecken muß. Es iſt die höchſte Zeit, daß man in den 
leitenden Kreiſen den Ernſt der Lage erkenne und auf 
wirkſamere Mittel ſinne als die obligaten Klagen und 
Predigten gegen den Unglauben, welche von den ſicheren 
Kanzelbrüſtungen aus an die Adreſſen der Abweſenden er— 
gehen. 


16. 

„Ihr ſeid das Salz der Erde; wo nun das Salz 
dumm wird, womit ſoll man ſalzen? Es iſt zu nichts hin— 
fort nüze, denn daß man es hinausſchütte und laſſe es die 
Leute zertreten.“ 

Wer es verſucht und vermag, vom Kleinen und Neben— 
ſächlichen abzuſehen und mit hiſtoriſchem Blick auf den Kern 
und Gehalt der Erſcheinungen zu achten, für den iſt der 
deutſche Proteſtantismus in der That das Salz der Erde, 
das koſtbarſte Gut, die erſte unter den geiſtig-ſittlichen 
Mächten der Gegenwart. Die anderen aus der Reformation 
hervorgegangenen Bekenntniſſe, die reformirte, die angli— 
caniſche Kirche, das ſcandinaviſche Lutherthum, die bunte 
Vielheit der Diſſenters, ſo Vieles an ihnen ſonſt zu rühmen 
und vorzuziehen ſein mag, ſie haben doch alle den engen 
Geſichtskreis, die abgeſchloſſenen Formen in Dogma und 
Cultus, die Iſolirung des religiöſen Moments gegen die 
andern Gebiete des geiſtigen Lebens. Die deutſche Theo— 
logie, in den innigſten Verband mit den deutſchen Hochſchulen 
und in den Fluß ihrer freien und mannigfaltigen Bewegung 
hineingeſtellt, hat immer in Fühlung und freier Wechſel— 
wirkung mit allen idealen und humanen Beſtrebungen des 
Volksgeiſtes geſtanden, und es, wenn nicht immer direct 
gefördert, doch wenigſtens ermöglicht, daß vom Beſten, was 
die neuere Welt an Wiſſen und Kunſt beſizt, der größte 
Antheil aus dem Boden des deutſchen Proteſtantismus 
herausgewachſen iſt. Soll und darf dieß anders werden? 
Soll die evangeliſche Kirche Deutſchlands zu den gebildeten 


445 


Klaſſen in die Stellung eintreten, wie die Volksculte des 
ſpäteren Alterthums, wie die katholiſche Kirche der Gegen— 
wart, nur ohne deren Herrſchaftsmittel? Soll ſie in einen 
amerikaniſchen Sektenſchwarm auseinanderſtieben, was ſchließ— 
lich für ein denkendes Volk, das nur an Eine Wahrheit 
zu glauben gewöhnt war, doch nicht viel anders hieße, 
als ſich in ein Irrenhaus zu verwandeln, und was gegen— 
über von den neuen Anläufen der ultramontanen Partei 
zur Knechtung und Schändung aller Vernunft, Freiheit und 
Bildung die äußerſten Gefahren in ſich ſchlöße? Wer es 
gut mit ihr meint, wer in ihr das Palladium des deutſchen 
Idealismus, die Bürgſchaft eines geiſtigen und ſittlichen 
Fortſchritts unſerer Nation erkennt, der kann nur mit 
banger Erwartung auf den Verlauf der Kriſis, in die ſie 
eingetreten iſt, aber — nach meiner Auffaſſung — auch 
nur mit Sorge und Mißtrauen auf die Aerzte blicken, die 
ihr Krankenlager umſtehen und auf die Kuren, die ſie ihr 
anrathen. 

Unzweifelhaft ſind viele freidenkende und beſtgeſinnte 
Männer unter denjenigen, welche für das Nöthigſte eine 
Verfaſſungsreform der evangeliſchen Kirche erklären, die 
Löſung und zum mindeſten die Lockerung des Verbandes 
mit der Staatsgewalt, die Einführung von ſynodalen und 
presbyterialen Organen in das Kirchenregiment, die Ver— 
ſtärkung des Laieneinfluſſes. 

Gegen dieſe Beſtrebungen und ihre Argumente habe 
ich eine Reihe von Bedenken und Einwürfen vorzubringen. 

Die evangeliſche Kirche iſt am Dogma krank, an dem 


446 
Zwieſpalt zwiſchen den überlieferten Glaubensformeln und 
der modernen Bildung und Wiſſenſchaft. Wenn ſie auch 
noch andere Gebrechen haben ſollte, ſo iſt dieſes doch weit— 
aus das wichtigſte und entſcheidende. Die Glaubensartikel 
ſind ihrer Natur nach das Fundament von allem Uebrigen 
und auch den Verfaſſungsfragen könnte jedenfalls nur ein 
ſecundärer Werth beigelegt werden. Wir nennen denjenigen 
keinen guten Arzt, der das Hauptleiden verkennend oder 
ignorirend für ein untergeordnetes Uebel Mittel verordnet, 
von denen er nicht weiß, wie ſie auf den Hauptſiz der 
Krankheit wirken werden. Auch wird demjenigen, der ein 
Herzleiden hat, Jedermann abrathen, ſo lange daſſelbe nicht 
geheilt iſt, eine große Reiſe anzutreten, ſeinen Wohnſiz oder 
Beruf zu wechſeln oder auch nur einen Umzug vorzunehmen. 

Es beruht auf einem unproteſtantiſchen Begriff von 
Kirche, auf falſchen Analogien des politiſchen Lebens, es 
iſt ein verhängnißvoller und folgenſchwerer Irrthum, wenn 
man die ſeitherige Einfügung der Organe des Kirchenregi— 
ments in die der Staatsgewalt als eine Knechtſchaft, die 
Löſung dieſes Bandes als eine Befreiung der evangeliſchen 
Kirche bezeichnet. 

Die evangeliſche Freiheit iſt darein zu ſezen, daß der 
einzelne, ſelbſtſtändige, in den weſentlichen Glaubenswahr— 
heiten unterrichtete Chriſt alle Bedingungen des religiöſen 
Lebens in ſich ſelber trägt, in ſeinem Herzen und Käm— 
merlein erfüllen kann. Wie der ſchiffbrüchige Weiſe des 
Alterthums kann er jagen: omnia mea mecum porto; als 
ein Robinſon auf einer unbewohnten Inſel kann er ſeinem 


447 


Gott und mit feinem Gott leben. Prediger und Gotteshaus 
können ihm nüzlich ſein, ſind ihm aber doch auch entbehrlich. 
Das Bedürfniß der geiſtigen Anlehnung, der gemeinſamen 
Andacht und Erbauung kann er auch ſchon befriedigen, wo 
zwei oder drei beiſammen ſind in Seinem Namen. Er 
muß es aber als zweckmäßig und förderlich, als eine Wohl— 
that anerkennen, daß Allen Gelegenheit und Mittel darge— 
boten werden zur Erweckung, Befeſtigung und Fortbildung 
ihrer frommen Gemüthszuſtände und er wird dieſe Mittel 
in der Einrichtung von geordneten Formen eines Kultus 
finden. Aber beneficia non obtruduntur; die Gemeinſchaft 
der Gleichgeſinnten kann keinen Zwang und keine Gewalt 
gegen ihn ausüben; ihre Aufgabe beſchränkt ſich auf ein 
Einladen und Darbieten, auf die Herſtellung von Weg— 
weiſern für den Irrenden, auf die Unterweiſung der Un— 
mündigen. Doch auch dieſe beſchränktere Aufgabe erfor— 
dert ſchon einen Apparat von äußeren Mitteln, die Her— 
ſtellung und Erhaltung von gottesdienſtlichen Gebäuden, 
die Heranbildung, Beſtellung und den Unterhalt von Geiſt— 
lichen, die Anordnung des Kultus und die Führung der 
Aufſicht über dieſe Einrichtungen. Damit iſt der Stoff 
einer fortlaufenden Verwaltungsthätigkeit und das Bedürfniß 
einer ſtändigen Behörde gegeben, welche aus rechtſchaffenen 
und ſachkundigen Gliedern der Glaubensgenoſſenſchaft zu— 
ſammenzuſezen iſt. Nun muß aber wieder Jemand vor— 
handen ſein, der jene Behörde einſezt und beſtellt, ihr die 
erforderliche Autorität leiht, ſie überwacht und anhält, ihre 
Pflichten zu erfüllen, ihre Befugniſſe nicht zu überſchreiten. 


448 


Und dieſe Function iſt es nun, welche die deutſche 
lutheriſche Kirche, abweichend von dem Presbyterial- und 
Synodalſyſtem der Reformirten, dem Staatsoberhaupt, in 
monarchiſchen Staaten dem Landesfürſten, in republika— 
niſchen der höchſten Obrigkeit zuweist. Es geſchieht dieß 
in der Vorausſezung, daß auch der Staat an einer geord— 
neten Führung und Pflege des religiöſen Lebens ſeiner 
Unterthanen ein hohes und warmes Intereſſe haben müſſe 
und mit dem Vertrauen, daß ein ſolches Mandat in loyaler 
Weiſe geübt und nicht zu einem eigenwilligen oder gewalt— 
ſamen Eingreifen oder zu Einmiſchung fremdartiger Zwecke 
werde mißbraucht werden. Es iſt dieß nicht die Ueber— 
tragung einer Kirchengewalt — denn eine ſolche giebt 
es auf dem Boden des Proteſtantismus überhaupt nicht — 
ſondern einer oberſten Leitung und Ueberwachung des Kir— 
chenregiments, ſoweit ein ſolches nach dem Obigen Plaz greift. 

Der geſchichtliche Gang war nun freilich ein anderer 
und die thatſächlichen Zuſtände geſtalteten ſich vielfach ab— 
weichend von einer ſolchen idealen Conſtruction des Ver— 
hältniſſes. Aber um zu beurtheilen, ob dieſe Anlehnung 
des Kirchenregiments an den ſtaatlichen Organismus an 
ſich als ein Stand der Unfreiheit und des Zwanges anzu— 
ſehen wäre, iſt es doch nöthig, ſich den inneren Zuſammen— 
hang der Sache zu vergegenwärtigen. Deutlicher jedenfalls 
und wirkſamer konnte es nicht ausgedrückt werden, daß der 
Proteſtant in den kirchlichen Verfaſſungsformen etwas Ne— 
benſächliches ſieht und nur unter allen Umſtänden jede Art 
von Hierarchie und kirchlichem Herrſchaftsverhältniß ver: 


mieden wiſſen will, als wenn er auf eine autonome geſell— 
ſchaftliche Organiſation ganz verzichtet und nicht nur die 
Ueberwachung, ſondern auch die oberſte Leitung jener kirch- 
lichen Verwaltungsgegenſtände in die Hände der höchſten 
Obrigkeit ſelbſt niederlegt. 

Im Großen und Ganzen iſt die deutſch proteſtantiſche 
Kirche bei dieſem Syſtem doch nicht übel gefahren; troz 
Allem und Allem war doch immer hier noch mehr geiſtiger 
Zug und freie Bewegung und ebenſo viel ſittlicher Ernſt 
als anderswo; die Theologie ſtand in ſtetiger Fühlung mit 
der Wiſſenſchaft durch den Verband der Hochſchulen; bei 
der Vielheit der Territorien fanden auch neue und abwei— 
chende Richtungen immer irgendwo ein Aſyl. Der Fehler 
lag ſtets viel eher darin, daß man die Conſiſtorien zu viel 
walten ließ als zu wenig; die Gefahren kamen nicht von 
den unfrommen Fürſten, ſondern von den frommen. Der 
Eine geiſtreiche aber ſchief gerichtete Halbtheologe auf dem 
Throne der Hohenzollern hat der evangeliſchen Kirche Deutſch— 
lands mehr Leid zugefügt, als alle die hohen Herren zu— 
ſammen, die als Summi episcopi vielleicht kaum die Un— 
terſcheidungslehren ihrer Kirche kannten und auf der Parade 
und Hirſchjagd beſſer Beſcheid wußten als im Katechismus 
und Geſangbuch. 

Wenn tabula rasa wäre und die Wahl offen ſtünde 
zwiſchen dem Synodal- und Conſiſtorialſyſtem, ſo ließe ſich 
Vieles für und wider ſagen; und Niemand wird läugnen, 
daß das reformirte Princip an ſich das Verſtändlichere und 
Näherliegende iſt. Aber ſo ſteht die Sache ja nicht. Man 


Rümelin, Reden u. Aufſätze. 29 


450 


joll etwas aufgeben, was ſeit Jahrhunderten beſtand. Man 
will aber gleichwohl nicht zum andern Syſtem übergehen, 
ſondern nur eine Miſchform zwiſchen Beidem ſchaffen. Die 
Kirche ſoll zwar vom Staate abgelöst werden, aber nicht 
vom Landesherrn. Dieſer ſoll durch eine Art von Per— 
ſonalunion geiſtliche und weltliche Befugniſſe in ſich ver— 
einigen. Nicht das Staatsoberhaupt als ſolches, ſondern 
der Fürſt als praecipuum membrum eecclesiae — eine 
Eigenſchaft, die vom religiöſen Geſichtspunkt aus nur dem 
weiſeſten und frömmſten, nicht dem mächtigſten Glied der 
Kirche zukommen könnte — ſoll im Weſentlichen die ſeit— 
herigen kirchlichen Hoheitsrechte fortführen. Die Synoden 
ſollen keineswegs, wie in der reformirten Kirche, die ent— 
ſcheidende Inſtanz, die Inhaber des Kirchenregiments ſein, 
ſondern nach der Analogie von Volksvertretungskörpern 
controliren, bitten, debattiren, Beſchwerde führen. Und 
dieſe Veränderung ſoll vor ſich gehen in einem Zeitpunkt, 
wo ein ganz anderes und viel tieferes Gebrechen, der Bruch 
zwiſchen dem Glauben des 16ten und dem Wiſſen des 19ten 
Jahrhunderts, ſo ſehr im Vordergrund ſteht, daß alle anderen 
Fragen dagegen verſchwinden oder davon beherrſcht werden. 

Aber, läßt ſich ſagen, könnten denn nicht eben die 
Synoden das Organ ſein, um dieſen Hauptpunkt zur Sprache 
und zu einem befriedigenden Austrag zu bringen? Und 
dieß gerade iſt es nun, was ich nicht glauben kann, wozu 
ich bei ihnen weder die Competenz noch die Befähigung zu 
finden vermag. 

Man muß in weltlichen Dingen die Autorität der 


451 

Stimmenmehrheiten gelten laſſen, ſchon weil es in den 
meiſten Fällen gar keinen andern Weg giebt zu einer Ent⸗ 
ſcheidung zu gelangen und die Dinge nicht unentſchieden 
gelaſſen werden können. Auf religiöſem Gebiet kann die 
Mehrheit ſo wenig entſcheiden als in der Wiſſenſchaft und 
Kunſt, wenn auch immerhin das Gewicht einer allgemeinen 
oder nahezu allgemeinen Uebereinſtimmung von großer Be— 
deutung bleibt. Aber religiöſe Zeit- und Streitfragen paſſen 
nicht zum Gegenſtand einer Abſtimmung in repräſentativen 
Verſammlungen. Dieſelben ſind daher auch faſt überall 
der Competenz von Synoden entzogen, ſofern dieſe niemals 
über den Lehrbegriff berathen ſollen. Direkt wird dieß 
auch nicht leicht geſchehen, aber indirekt läßt es ſich gar 
nicht verhindern oder umgehen. Wenn es ſich nicht gerade 
um Rechnungsprüfungen und reine Temporalien handelt, 
um deren willen es aber gar nicht der Mühe werth wäre, 
den Apparat von großen Wahlkörpern in Scene zu jezen, 
ſo ſteckt das Dogma faſt in jeder Frage in irgend einer 
Form, und die Parteien, die nach ihrer Stellung zum 
Dogma entſtanden und gewählt ſind, ſuchen ſolche Be— 
ziehungen viel eher auf, als daß ſie ihnen ausweichen würden. 

Man weiß in der That nicht recht, auf was man mit 
bangerem Mißtrauen blicken ſoll, auf eine Mehrheit der 
Paſtoren oder der Laien, auf ein Uebergewicht der ſtren— 
geren oder der freiſinnigeren Parteien. Wenn die innere 
Zuſtändigkeit fehlt, iſt auch das Leztere nicht erfreulich. 
Man iſt verſucht wie Hamlet zu denken: ich habe keine 
Luſt am Mann und am Weibe auch nicht. 


Geiſtliche Sachen wollen nun einmal geiſtlich gerichtet 
sein. Die Religion it ihrem Inhalt nach eine Volksme— 
taphyſik, in welcher die Unſicherheit und Unzulänglichkeit 
des Wiſſens durch vorausgreifenden Glauben ergänzt wird. 
Hier iſt nichts, was ſich mit plumper Hand anfaſſen und 
ohne Wiſſen und tiefes Nachdenken mit dem bloßen ſoge— 
nannten ſchlichten Verſtand oder natürlichen Gefühl des 
gemeinen Mannes entſcheiden läßt. Das rveligiöje Gefühl 
in ſeiner pſychologiſchen Wurzel iſt nur ein dunkler Drang 
nach Ergänzung, nach einem feſten Punkt der Anlehnung 
für unſer ganzes Ich, aber es vermag ſich nicht zugleich 
auch die metaphyſiſchen Vorſtellungsreihen zu ſchaffen, welche 
jenem Drang Genüge leiſten könnten. Dazu gehört eine 
Vereinigung ſittlicher und intellectueller Eigenſchaften, eine 
Vertiefung des Geiſtes und Gemüths, die in urſprünglicher 
und ſchöpferiſcher Kraft blos bei den außerordentlichſten 
Menſchen getroffen, von Andern nur annähernd durch ernſte 
Studien erlangt wird, der Maſſe der Menſchen aber voll— 
ſtändig fehlt. Dieſe bedarf in religiöſen Dingen durchaus 
einer Führung und gewinnt jenen Inhalt von Vorſtellungen 
nur durch Autorität, ſei es die überlieferte einer großen 
Gemeinſchaft, ſei es die gegenwärtige und lebendige eines 
geiſtig überlegenen Individuums. Einer beliebigen Vielheit 
von zuſammengewürfelten oder gewählten Menſchen fehlt 
jede Initiative und Selbſtſtändigkeit des Urtheils, zumal 
wenn es ſich um neue und zweifelhafte Fragen handelt. 

Daraus, daß die Religion für Alle eine gleich wichtige 
Herzensangelegenheit bildet, folgt keineswegs, daß auch alle 


453 
von der Ordnung und Leitung religiöſer Angelegenheiten 
gleich viel verſtehen müßten. Die Geſundheit iſt auch gleich 
wichtig für Jedermann, und doch halten wir nur den Arzt 
für zuſtändig zu unſerer Berathung; das Recht iſt ein ge— 
meines Gut, und doch nehmen die Juriſten ſeine Findung 
und Auslegung in Anſpruch. Wenn der proteſtantiſche 
Laie den Weg zu ſeinem Gott ohne Prieſter und Führer 
findet, ſo folgt daraus noch nicht, daß er auch in einer 
für Andere brauchbaren Weiſe die Schrift auslegen und 
das Dogma deuten könnte. Ebenſo wenig iſt durch eine 
polemiſche Stellung zum herrſchenden Dogma ausgeſchloſſen, 
daß derjenige, der den philoſophiſchen und theologiſchen 
Studien nicht fremd geblieben iſt, bei der Art, wie in Be— 
handlung religiöſer Fragen ſich oft die Laienweisheit und 
Juriſterei breit macht, doch auch an das odi profanum vulgus 
et arceo erinnert werden kann. 

Daraus folgt nun aber auch, daß es ein unpraktiſcher, 
auf idealen Vorausſezungen beruhender Gedanke iſt, das 
Heil in einem Zurückgreifen auf das chriſtliche Bewußtſein 
der Localgemeinden finden zu wollen. Dieß mag von den 
Zeitaltern eines frohen, in ſich ſicheren Glaubenseifers gel— 
ten, wo neue religibſe Ideen von den Maſſen willig auf— 
genommen und fortgebildet werden, wie in den Anfängen 
des Chriſtenthums und der Reformation, aber nicht da, 
wo das Alte nicht mehr feſt, das Neue erſt zu ſuchen iſt, 
wo die leitenden Klaſſen der Geſellſchaft, durch den Zwie— 
ſpalt von Glauben und Wiſſen irre gemacht, ſich dem kirch— 
lichen Leben ferne halten. Hier kann auch die Localge— 


454 

meinde nichts anders jein als eine vielköpfige, in ſich ge- 
ſpaltene Menge, ohne ſicheren Halt und Boden, ein Rohr 
das vom Winde bewegt wird. Iſt der Geiſtliche der Füh— 
rer, ſo bedarf es keiner weiteren Vertretung, iſt er es nicht, 
ſo wird der Zufall beſtimmen, wohin die Entſcheidung fallen 
wird. An die Gemeinden appelliren heißt dem Chaos ent— 
gegentreiben; ſie müßten die Impulſe empfangen und nicht 
geben. 

Zum Gedeihen der evangeliſchen Kirche gehört nichts, 
als eine Theologie, die im Frieden mit der Wiſſenſchaft 
und Bildung ihrer Zeit lebt, und gute Geiſtliche, für die 
anſtändig geſorgt iſt. Jenen Frieden können die Synoden 
nicht bringen, ſie mögen zuſammengeſezt ſein wie ſie wollen; 
es iſt dieß die Aufgabe der Theologen ſelbſt, insbeſondere 
der theologiſchen Lehrer. Man kann ihn auch nicht er— 
zwingen und keine Friſt dafür anſezen. In der Zwiſchen— 
zeit ſollte man an den beſtehenden Verfaſſungsformen mög— 
lichſt wenig rütteln und ändern und nur darauf bedacht 
ſein, das Ganze als das koſtbarſte Gefäß für die Pflege 
der höchſten menſchlichen Intereſſen zuſammenzuhalten und 
nicht in ein ſinnloſes Sektenweſen auseinanderſprengen zu 
laſſen. Aber gar zu lange ſollte die Wartezeit doch nicht dauern. 

Die Synoden ſind freilich nun einmal da und man 
muß mit ihnen leben. Sie können ſich vielleicht auch im 
Kleinen und Einzelnen, zumal in ökonomiſchen Dingen recht 
nüzlich machen, wenn ſie jenen Spruch von den Weibern 
auf ſich anwenden, welcher diejenigen für die beſten erklärt, 
von denen am wenigſten geſprochen wird. 


Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung in Tübingen. 


Hegel 
in 
philoſophiſcher, politiſcher und nationaler Beziehung 
für das deutſche Voll 
dargeſtellt von 


Dr. Karl Köſtlin, 


Profeſſor an der Univerſität Tübingen. 


gr. 8. broch. „ 2. 40. 


„%% 


von 


Dre alt K ö ſt li n, 


Profeſſor an der Univerſität Tübingen. 
gr. 8. broch. M 15. — 


Köſtlins Aeſthetik iſt ein Buch, welches dem Künſtler, Dichter, 
Schriftſteller, Gelehrten, kurz jedem Angehörigen derjenigen Lebens— 
kreiſe, für welche eine gründliche allgemeine und wiſſenſchaftliche Bildung und 
die Erwerbung eines bewußten, äſthetiſchen Urtheils unerläßlich iſt, durch 
Selbſtſtudium jene ſyſtematiſche und ſtreng wiſſenſchaftliche äſthetiſche An— 
ſchauung des Lebens, der Natur und der Kunſt in gewinnender, feſſelnder 
und anregender Form und der ächt populärſten Gemeinverſtändlichkeit zu ver— 
mitteln berufen und im Stande iſt. 


Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung in Tübingen. 


” 


Vene Teſtament. 


Ueberſetzt 
von 
Carl Weizſäcker, 
2, un 
ord. Profeſſor der Univerſität Tübingen. 
in 8. broch. 3. 60. 
Ausg. Nro. 2 auf feinſt Velin Ay 4. 60. 

Das Buch iſt keine Verbeſſerung der Lutheriſchen Bibelüberſetzung, 
ſondern eine neue Ueberſetzung aus dem griechiſchen Urtext. Sie ver— 
folgt denſelben Zweck, welchen zuletzt die Ueberſetzung des Theologen 
de Wette verfolgte (3. Aufl. 1839). Eine wortgetreue möglichſt genaue 
Ueberſetzung in gemeinverſtändliches Deutſch ſoll erſtens allen denjenigen 
dienen, welche den griechiſchen Urtext nicht leſen, und doch verlangen ſo 
gut als die Theologen über den In alt deſſelben unterrichtet zu ſein. 
Fürs zweite ſoll ſie auch als kürzeſtes Hilfsmittel der Erklärung ſich Den— 
jenigen darbieten, welche den Urtext ſelbſt leſen. 

Eine neue Ueberſetzung dieſer Art iſt heutzutage ſchon deßwegen am 
Platze, weil die gründlichere Erforſchung der Handſchriften in den letzten 
Zeiten unſeren griechiſchen Text des neuen Teſtamentes anſehnlich ver— 
beſſert hat, ſo daß wir jetzt viel ſicherer als früher wiſſen, wie dieſer 
Text urſprünglich gelautet hat. Dadurch ſind manche falſche Zuſätze, 
welche erſt durch Abſchreiber hineingekommen waren, entfernt, und ſehr 
viele Stellen, die früher dunkel waren, verſtändlich geworden. Wir hatten 
aber bisher keine Ueberſetzung, welche nach dieſem beſſeren griechiſchen 
Texte gemacht wäre. 

Ebenſo iſt auch die Reihenfolge der einzelnen Schriften und die 
Ueberſchrift derſelben im Anſchluſſe an unſere älteſten Handſchriften und 
kirchlichen Verzeichniſſe hergeſtellt, wie es jetzt in den griechiſchen Text— 
ausgaben geſchieht. 

Unſere Capitel und Verſe gehören nicht in den Text. Die Capitel 
ſind erſt im ſpäten Mittelalter, die Verſe erſt im ſechszehenten Jahr— 
hundert hereingekommen. Dieſe ganze Eintheilung iſt großentheils ſinn— 
verwirrend. Sie verhindert das Verſtändniß einzelner Stellen, weil 
dieſes nur durch den anſchaulichen Zuſammenhang möglich iſt. Noch 
mehr verhindert ſie das Leſen und Verſtehen eines größeren Abſchnittes 
oder eines ganzen Buches. Es iſt daher der Text hier ohne Capitel und 
Verſe gedruckt, und ſind dieſelben nur zur Bequemlichkeit des Leſers, der 
vergleichen will, an den Rand geſetzt. 


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REMOVE 
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