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Reden und Auffätze
Guſtav Rümelin,
Kanzler der Univerſität Tübingen.
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Tübingen, 1875.
Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung.
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Vorrede.
An der Univerſität Tübingen beſteht zufolge einer
Stiftung des Königs Friedrich die Einrichtung, daß jedes
Jahr in allen Fakultäten für wiſſenſchaftliche Arbeiten und
Leiſtungen der Studierenden Preiſe ausgeſezt und am sten
November als dem Geburtstag des Stifters vertheilt werden.
Es gehört zu den Obliegenheiten des Kanzlers, dieſen Act
vorzunehmen und durch eine öffentliche Rede über ein frei
und ohne Rückſicht auf den Anlaß wählbares Thema ein—
zuleiten. Hieraus iſt eine Reihe von Vorträgen entſtanden,
welche auch einem größeren Publikum vorzulegen den Ver—
faſſer vielſeitig geäußerte Wünſche aufmuntern konnten.
Dieſen Vorträgen iſt eine ſchon in der Staatswiſſen—
ſchaftlichen Zeitſchrift abgedruckte akademiſche Antrittsrede
vorausgeſchickt und ein correſpondirendes, wenn auch um
25 Jahre auseinanderliegendes, Paar politiſcher Reden aus
den am betreffenden Ort näher bezeichneten Gründen ange—
fügt worden. l
Es folgen ſodann einige Abhandlungen, theils über
die vielerörterte Frage nach dem Begriff der Statiſtik, theils
über einige praktiſche Themata aus derſelben, bei welchen
12
der Verfaſſer noch unbeachtete Geſichtspunkte geltend machen
zu können glaubte. Der erſte dieſer Aufſätze iſt ein ge—
kürzter Abdruck einer ebenfalls ſchon in der Staatswiſſen—
ſchaftlichen Zeitſchrift erſchienenen Unterſuchung.
Dieſe Theile des Buches mögen ſich ſelbſt rechtfertigen,
ſo gut ſie es vermögen. Dagegen ſcheint der lezte Abſchnitt
ſchon um der Buntheit ſeines Inhalts willen ein entſchul—
digendes Fürwort zu bedürfen. Es iſt eine Auswahl und
Ueberarbeitung von kleineren Aufzeichnungen, die im Lauf
der Jahre aus Anlaß von Geſprächen, Lectüre oder ſon—
ſtigen Studien entſtanden ſind.
Dem Schriftſteller auf dem Gebiet des Wiſſens und
Denkens kommt nicht wie dem Dichter der Spruch zu gute:
wer Vieles bringt, wird jedem Etwas bringen. Während
Dieſem die Mannigfaltigkeit ſeiner Stoffe zur Empfehlung
dient, erregt ſie bei Jenem Mißtrauen und den Verdacht
des Dilettantenthums. Man verzeiht heutzutag weit lieber
große Bücher über kleine Gegenſtände als kurzgefaßte Ur-
theile über große Fragen. Gleichwohl wagt es der Ver—
faſſer die kleine, aber wenigſtens nicht leichtfertige, Waare
vom Stapel laufen und ihr Glück verſuchen zu laſſen.
Der Verfaſſer.
Tübingen, 20. Februar 1875.
Inhalts-Verzeichniß.
J. Reden.
Ueber den Begriff eines ſocialen Geſezes. 1867
Ueber Hegel. 1870 ;
Ueber das Rechtsgefühl. 1871
2
4. Ueber den Begriff des Volkes. 1872
>
Ueber die Lehre von den Seelenvermögen. 1873 —
Ueber das Verhältniß der Politik zur Moral. 1874
Ueber die Reichsoberhauptsfrage. Frankfurt 1849.
Rede zur Feier des Geburtstags des deutſchen Kai—
ſers. 1874
II. Aufſätze.
1. Zur Theorie der Statiſtik I. 1863
2. Zur Theorie der Statiſtik II. 1874 u
3. Ueber den Begriff und die Dauer einer Generation
4. Ueber die Malthus'ſchen Lehren
5. Stadt und Land D
III. Kleine Betrachtungen und Bekenntniſſe vermiſchten Inhalts.
1. Allerlei. Nro. 1—8 8
2. Wider den neuen Glauben. Nro. 9—13
3. Wider die Formeln des alten Glaubens. Nro. 14—16
Seite
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Ueber den Begriff eines ſocialen Geſezes.
Eine akademiſche Antrittsrede.
1867.
Ich glaube dem Wiſſenszweig der Statiſtik, welchem
ich an dieſer Hochſchule Freunde zu gewinnen bemüht ſein
werde, nichts zu vergeben, wenn ich, abweichend von dem
ſonſtigen Brauch, bei ſolchem Anlaſſe den Umfang und die
Bedeutung ſeines Faches in ein möglichſt glänzendes Licht
zu ſtellen, dießmal lieber von den Grenzen und Schranken
ſpreche, welche daſſelbe ungeſtraft nicht überſchreiten darf.
Ich möchte nemlich über den Begriff eines ſocialen
Geſezes reden, wobei Sie mir freilich werden geſtatten
müſſen, das weitgreifende Thema nur in leichteren Umriſſen
zu behandeln.
Die Frage: was iſt ein ſociales Geſez? wäre leichter
zu beantworten, wenn für die Vorfrage: was iſt überhaupt
ein Geſez? eine anerkannte Löſung feſtſtünde. Dieß iſt aber
keineswegs der Fall. Ganz abgeſehen von jenen Geſezen,
die nicht ein Sein, ſondern nur ein Sollen ausdrücken, wie
die Staats- und Sittengeſeze, wird das Wort nicht nur im
populären, ſondern auch im gelehrten Sprachgebrauch in dem
allerverſchiedenſten, bald im vagſten, bald im ſtricteſten Sinne
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 1
9)
2
angewendet. Ich will und kann es nun Niemand verwehren
und möchte ſelbſt nicht darauf verzichten, dem Ausdruck,
wie es der Zuſammenhang der Rede fordert oder zuläßt,
bald eine weitere, bald eine engere Bedeutung zu leihen,
aber ich meine, jeder Denker und Forſcher, was auch immer
der Gegenſtand ſeiner Unterſuchungen ſein mag, ſollte ſich
wenigſtens des ſtrengeren Wortſinns ſtets bewußt bleiben,
in welchem die Sprache der wiſſenſchaftlichen Technik von
Geſezen allein zu reden geſtattet. Dieſen zunächſt zu er—
mitteln erſcheint mir weder überflüſſig noch allzuſchwierig.
Es iſt nicht jede allgemeine Wahrheit von ausnahms-
loſer Geltung ein Geſetz, alſo z. B. daß Gleiches zu Gleichem
addirt gleiche Summen ergiebt, daß die Winkel des Dreiecks
zuſammen gleich zwei Rechten ſind. Man liest und hört
zwar unzähligemal von den Geſezen der Mathematik; die
Mathematiker ſelbſt aber bezeichnen ihre Wahrheiten nur
als Sätze, in dem richtigen Gefühl, daß das Wort Geſez
nur auf die Ordnungen der realen Welt und nicht auf
Theoreme anwendbar ſei, die im Wege der Deduction aus
Axiomen und ſelbſtgeſezten Prämiſſen abgeleitet werden.
Und doch iſt auch nicht ſchon jede in den Erſcheinungen
der Wirklichkeit ausnahmslos wahrgenommene Gleihmäßig-
keit als Geſez zu bezeichnen. Denn es iſt kein Geſez, daß
das Gold dehnbar und 19 mal ſo ſchwer iſt als das gleiche
Volumen Waſſer, daß die Vögel Eier legen, die Fiſche mit
Kiemen athmen, die Schafe und Rinder wiederkäuen. Es
ſind dieß nur ſtabile Bildungsformen, feſte Typen der
ſchaffenden Natur, Eigenſchaften, charakteriſtiſche Merkmale
von Gattungen und Arten. Jene Sätze ſind ſchon logiſch
genommen nur analytiſche Urtheile, weil wir im Namen
des Subjects die weſentlichen Prädikate ſchon mitdenken.
Geſeze beziehen wir aber nicht auf das Seiende, ruhig im
Raum neben einander Liegende, ſondern auf Vorgänge in
der Zeit, auf ein Geſchehen, eine Veränderung von Zu—
ſtänden.
Und doch trifft auch die regelmäßige Succeſſion der
gleichen Erſcheinungen noch nicht das Rechte. Denn es iſt
kein Geſez, daß Tag und Nacht, Sommer und Winter, Ebbe
und Fluth einander alternirend folgen. Es ſind dieß nur
thatſächliche Vorgänge, abzuleiten aus anderen, cosmiſchen
und telluriſchen Thatſachen und aus eigentlichen Geſezen,
für deren Wirkungen ſie nur ein vereinzeltes, beliebiges
Beiſpiel bieten. Tag und Nacht, Ebbe und Fluth ſtehen
nicht zu einander im Verhältniß von Urſache und Wirkung.
Und nun ſollte man denken: wenn wir ſagen, Geſez
ſei der Ausdruck für conſtante Verbindungen von Urſache
und Wirkung, ſo ſeien wir damit zu dem Kern der Frage
gelangt. Wenigſtens wird das Wort tauſendfältig, alltäg—
lich, vielleicht überwiegend in dieſem Sinne gebraucht und
mehrere Schriftſteller erklären geradezu conſtante Cauſal—
verknüpfungen und Geſeze für ſynonyme Begriffe. Und
doch welche Conſequenzen ergeben ſich, wenn man mit dieſer
Definition Ernſt zu machen verſucht! Kann man es denn
ein Geſez nennen, daß das Waſſer bei einem beſtimmten
Punkt der Erkaltung zu Eis erſtarrt, bei einem beſtimmten
Grad von Erwärmung ſich zu Dampf verflüchtigt, daß die
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Flamme erliſcht, wenn man jie mit Waſſer übergießt oder
den Luftzutritt abſchneidet, daß der Abſud von Zweigen der
Indigopflanze einen blauen Farbſtoff giebt, daß der Menſch
ſtirbt, wenn man ihm Luft oder Nahrung entzieht, den Kopf
abſchneidet oder eine gewiſſe Doſis von Arſenik oder Blau—
ſäure in den Magen bringt? Es ſind dieß lauter unzweifel—
hafte Fälle einer unausbleiblichen Verknüpfung von Urſache
und Wirkung, aber wenn das Geſeze wären, ſo beſäßen
wir deren ſchon viele Millionen. Das Conſtante des Cauſal—
zuſammenhangs kommt hier offenbar nur von der oben
ſchon erwähnten Conſtanz der Eigenſchaften. Weil die Natur
in feſten Typen ſchafft und bildet, weil Dinge der gleichen
Gattung ſtets von gleicher chemiſcher Zuſammenſetzung und
mechaniſcher Struktur ſind, ſo reagiren ſie auf den gleichen
äußeren Anſtoß auch ſtets in gleicher Weiſe. Oder mit
anderen Worten: es giebt zweierlei Eigenſchaften der Dinge,
ſolche, welche ruhig an ihnen zu haften ſcheinen, unſerer
ſtändigen Wahrnehmung blos gelegt ſind, und ſolche, welche
ſich erſt auf einen beſtimmten Anlaß von außen hin be—
merklich machen; die leztern äußern ſich als conſtante Cauſal—
zuſammenhänge der ſecundären Art. Alle jene Beiſpiele
ſind nur ſo oder ſo combinirte, mehr oder weniger com—
plicirte Einzelfälle für die Wirkung einer weit kleineren
Zahl allgemeinerer Urſachen.
Eben dieſe allgemeineren primären Urſachen aber ſind
es, welche das Geſez ſuchen will. Denn wenn ich nun
ſage: die Erwärmung eines Körpers verurſacht eine Ver—
mehrung, die Erkaltung eine Verminderung ſeines Volumens,
|
jo fühlen wir alsbald, daß wir damit wenigſtens den rich—
tigen Boden der Frage betreten haben, und zwar darum,
weil jezt nicht mehr von conereten Naturerzeugniſſen, von
Waſſer und Feuer, von Steinen, Pflanzen und Thieren
die Rede iſt, ſondern von Kräften, dieſem Schlußſtein
der ſinnlichen Weltbetrachtung, dem ebenſo räthſelhaften als
unentbehrlichen Grenzbegriff von Phyſik und Metaphyſik.
Das Object der Geſeze ſind die conſtanten Wirkungen von
Kräften. Und doch kann uns eben das gewählte Beiſpiel
zeigen, daß auch dieſe Faſſung immer noch nicht beſtimmt
genug iſt. Denn der Phyſiker wird uns ſagen, für die
Ausdehnung durch Wärme fehle gerade noch das Geſez.
Wohl werden alle Körper durch Wärme ausgedehnt, aber
es läßt ſich von keiner Art von Körpern zum voraus und
ohne beſondere Beobachtung feſtſtellen, wie ein beſtimmter
Grad von Erwärmung auf ihr Volumen wirken wird. Erſt
wenn wir ſagen könnten: ein beſtimmtes Maß von Stei—
gerung der Wärme hat bei einem beſtimmten Grad von
Dichtigkeit oder Cohäſion der Theile ꝛc. eine Ausdehnung
des Volumens um ſo und fo viel Procent zur Folge, jo
beſäßen wir ein Geſez. Das Geſez iſt hienach der Ausdruck
für die elementare, conſtante, in allen einzelnen Fällen als
Grundform erkennbare Wirkungsweiſe von Kräften. Es iſt
nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit üblich geworden, auch
da, wo wir nur das Daß, noch nicht das Wie der Wir—
kungen von Kräften feſtſtellen können, von Geſezen zu reden,
dieſe aber im Unterſchied von den ächten nur empiriſche,
d. h. hier unvollkommene, gleichſam proviſoriſche zu nennen.
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Beiſpiele von ächten Geſezen ſind ſomit, daß alle Körper
ſich im Verhältniß ihrer Maſſe und im umgekehrten Ver—
hältniß der Quadrate ihrer Entfernung anziehen, daß die
Elemente ſich nur in beſtimmten Gewichtsmengen, nur in
ihren Aequivalenten oder deren Vielfachen mit einander
chemiſch verbinden, daß ſich Wärme und Bewegung mit
einem ſtets gleichen Aequivalent von Wärme und mechani—
ſcher Kraft in einander umſezen. Im Geſez erſcheint die
Kraft als eine begrenzte, an eine beſtimmte, conſtante Wir—
kungsweiſe gebundene. Das Geſez iſt die Definition von
Kräften.
Es fragt ſich nun, ob dieſer zunächſt den Vorgängen
der lebloſen Natur entnommene Begriff von Geſezen auch
auf die der belebten anwendbar iſt. Von den Wiſſenſchaften,
die ſich mit den organiſchen Weſen beſchäftigen, iſt es die
Phyſiologie, die nach Geſezen ſucht, von Geſezen redet. Sie
ſezt die anatomiſche Seite ihrer Objecte, die typiſchen Gat—
tungsformen, den Körper mit ſeinen Theilen als gegeben
voraus wenigſtens ſind die Lehren von der Entſtehung
der Typen und Gattungen ſelbſt von noch allzujungem
Datum — ſie betrachtet die Theile des Körpers in ihrer
Eigenſchaft als Organe, in ihrer Thätigkeit, ihren Func—
tionen; ſie löst die mannigfaltigen Erſcheinungen, die wir
mit dem Geſammtnamen „Leben“ bezeichnen, in einzelne
Gruppen näher unter ſich verbundener Vorgänge auf. Sie
glaubt ein Geſez gefunden zu haben, wenn ſie mit Aus⸗
ſcheidung des Wandelbaren, Zufälligen, Individuellen die
conſtante Grundform für die Folge der Erſcheinungen nach—
weist, wenn es ihr zu zeigen gelungen ift, wie ein unbe—
kanntes Agens, das auch die Gegner einer beſonderen
Lebenskraft ſtets wieder irgendwie vorausſezen, vermittelſt
der in einander greifenden Functionen beſtimmter Organe
eine Folge von phyſikaliſch-chemiſchen Vorgängen erzeugt,
deren Effekt dem Lebenszweck dieſer beſonderen Gattung
ſelbſt zu dienen ſcheint. Die Phyſiologie ſpricht in dieſem
Sinne von Geſezen der Ernährung, des Wachsthums, der
Fortpflanzung und Zeugung, des Blutumlaufs, des Ath—
mungsproceſſes und läßt dabei allerdings noch einen ge—
wiſſen Spielraum dafür offen, wie viele und welche ſolcher
beſonderer Gruppen von Lebenserſcheinungen man unter—
ſcheiden will. Wie abweichend aber auch dieſe Geſeze ſchon
nach ihrer Faſſung von den früheren Beiſpielen erſcheinen
müſſen, und wie man auch immer den Unterſchied von
phyſikaliſchen und organiſchen Kräften beſtimmen mag; das’
phyſiologiſche Geſez iſt dem phyſikaliſchen darin durchaus
gleichartig, daß es nicht von coexiſtirenden Erſcheinungen,
nicht von Eigenſchaften, nicht von ſecundären Cauſalver—
knüpfungen handelt, ſondern uns Kräfte darſtellt in der
elementaren Grundform ihrer Wirkungsweiſe, daß es die
Urphänomene aufſucht, aus deren Combinationen ſich die
Fülle und Mannigfaltigkeit der concreten Wirklichkeit zu—
ſammenfügt.
Wenn ich nun aber mit dieſer Forderung an ein Geſez
hinübertrete in das Reich der pſychiſchen Erſcheinungen, jo
geſchieht es nicht ohne ein bängliches Gefühl des Zweifels,
ob auch dieß ſchwankende und ungreifbare Element ein ſo
feſtes Anfaſſen geſtatten wird. Ein pſychiſches Geſez müßte
uns hiernach pſychiſche Kräfte darſtellen in der einfachen,
ſtets gleichen Grundform ihrer Wirkungsweiſe. Giebt es
nun ſolche Geſeze? Die Pſpychologie ſcheint erſt noch mit
den Vorfragen ſolcher Unterſuchungen beſchäftigt. Sie hat
die alte Lehre von den Seelenvermögen umgeſtoßen, ohne
dem unabweisbaren Bedürfniß der Wiſſenſchaft nach Unter—
ſcheidung, nach Auflöſung verwickelter Vorgänge in ein—
fachere auf anderem Wege Erſaz zu leiſten. Man iſt noch
im Zweifel darüber, ob es geſonderte pſychiſche Kräfte giebt,
die unter ſich nur dadurch zuſammenhängen, daß ſich ihre
Wirkungen in demſelben Brennpunkt des Selbſtbewußtſeins
ſammeln, oder ob ein lebendiges Etwas anzunehmen iſt,
mit verſchiedenen Functionen, Attributen, Eigenſchaften.
Und doch hat ſchon vor 2000 Jahren ein großer Denker
des Alterthums den rechten Weg gefunden, indem er eine
einzelne Klaſſe unter ſich näher verbundener pſychiſcher Er—
ſcheinungen, die Denkthätigkeit, herausgriff, allen Inhalt
dabei, alles Veränderliche und Zufällige ausſchied und nur
auf die ſtabile Grundform der Thätigkeit ſelbſt achtete. Er
gelangte ſo zu jenen ſogenannten logiſchen Grundgeſezen der
Identität und des Widerſpruchs, des ausgeſchloſſenen Dritten,
der Cauſalität, Sätzen, von welchen man zwar zweifeln
kann, ob ſie das Weſen des Denkens erſchöpfend beſtimmen,
die aber offenbar unſerem Begriff von Geſez vollkommen
entſprechen, indem ſie eine pſychiſche Kraft in den conſtanten
Grundformen ihrer Wirkungsweiſe erkennen laſſen. Das
Gleiche würde von den Geſezen der Ideenaſſociation gelten,
wenn ihre Faſſung ebenſo feſtſtünde, und wenn es der
Philoſophie gelingen würde, eine Kategorientafel aufzuſtellen,
alſo z. B. zu beweiſen, daß unſer Denken vermöge der
Urfunctionen ſeiner Organe jede neue Vorſtellung unter den
Geſichtspunkten der Qualität und Quantität, der Relation
und Modalität in unſer Bewußtſein einzureihen gebunden
ſei, ſo ergäbe dieß pſychiſche Geſeze im ſtricteſten Sinne des
Worts. Die Aufgabe der Pſychologie ſcheint demnach darin
zu liegen, daß, was für Eine pſychiſche Kraft, die des
Denkens, längſt unternommen wurde, auch bei anderen
einer ähnlichen Iſolirung fähig ſcheinenden Klaſſen von Vor—
gängen, wie z. B. dem Selbſtbewußtſein, der Phantaſie,
dem Gewiſſen, den einzelnen, gewöhnlich nur in einem un—
beſtimmten Pluralis zuſammengefaßten oder mit einem Und
ſo weiter aufgezählten Grundtrieben unſerer Natur verſucht
werde. In der Biychologie ſind aber freilich die einfachſten
Probleme noch die ſchwerſten und gemiedenſten.
Nach dieſem langen Eingang nun, von dem ich hoffe,
daß er ſich nicht als ein Um- und Abweg erweiſen wird,
kehre ich zu der erſten Frage zurück: was iſt ein ſociales
Geſez? was kann es ſein? Es ergaben ſich uns drei Arten
von Kräften, phyſiſche, organiſche, pſychiſche; und es iſt
keine vierte Art von coordinirter Stellung denkbar. Die
ſocialen Erſcheinungen ſind eine Unterart der pſpychiſchen.
Es giebt zwei Arten von pſychiſchen Geſezen, die pſycho—
logiſchen und die ſocialen. Die Pſychologie betrachtet die
Seelen-Kräfte am typiſchen Individuum als Merkmale der
Gattung; die ſocialen Wiſſenſchaften betrachten dieſelben
10
Kräfte in ihrer Maſſenwirkung, und zwar beſchäftigen ſie
ſich gerade mit den Effekten, Veränderungen und Modifi—
cationen, welche ſich aus dem Moment der Maſſenwirkung
ſelbſt ergeben. Ein ſociales Geſez müßte hiernach der Aus—
druck ſein für die elementare Grundform der Maſſenwirkung
pſychiſcher Kräfte.
Dieſer Auffaſſung ſtellt ſich zunächſt die Einrede ent—
gegen: wie ſoll man zu ſocialen Geſezen gelangen, wenn
man außer jenen logiſchen Grundgeſezen faſt noch keine
pſychiſchen hat; wie will man Maſſenwirkungen erklären
ohne Kenntniß der Factoren, deren Product ſie ſind? Dieſe
Einwendung enthält zwar eine große und, wie ich glaube,
wenig beachtete Wahrheit, aber doch überſieht ſie auch we—
ſentliche Momente der Sache.
In der pſychiſchen Welt it das Individuelle das Com—
plicirteſte, Unentwirrbarſte. Die beſonderen pſpchiſchen
Kräfte treten uns deutlicher entgegen, wenn wir ihre Wir—
kungen im Großen, gleichſam aus der Vogelperſpective be—
trachten. Oder wer wollte die pſpychiſchen Einflüſſe der
Altersſtufen, des Geſchlechts, der Abſtammung, des Klimas
und Bodens, der Staatseinrichtungen, an einzelnen Indi—
viduen erkennen und nachweiſen? Die Pſychologie und
auch ſchon die Phyſiologie verdanken einer Beobachtung der
Maſſenwirkungen die wichtigſten Aufſchlüſſe und Beweis—
mittel. Die ſocialen Wiſſenſchaften ſind daher keineswegs
blos abhängig von der Pſychologie, ſondern ſie wirken in
gleichem Maaße auf dieſe fördernd und befruchtend zurück.
Aber eine noch wichtigere Seite der Sache iſt dieſe.
11
Wie uns der Geograph von Meeren und Strömen Vieles
zu ſagen hat, worauf uns die phyſikaliſch-chemiſche Unter—
ſuchung des Waſſers niemals führen würde, wie der Wald
zu vielen Betrachtungen Anlaß giebt, die dem Botaniker
ganz ferne liegen, jo entſtehen aus der Maſſenwirkung pſy—
chiſcher Kräfte Erſcheinungen, zu welchen zwar wohl die
Keime und Anſätze immer auch von der Pſychologie nach—
weisbar ſein werden, die aber doch über deren ganzen Ge—
ſichtskreis hinausliegen. Der Unterſchied von Geſchlecht und
Alter, von dem der Einzelne nur disjunctiv oder ſucceſſiv
betroffen wird, iſt in der Geſellſchaft gleichzeitig und in
allen Combinationen vertreten. Der Geſammteffect vieler
Individualkräfte iſt nicht, wie in der Mechanik, eine Summe
oder ein Produkt. Dieſe wirken bald vereinigt auf den—
ſelben Punkt, bald neutraliſiren und ergänzen ſie ſich. Der
menſchliche Grundtrieb, ſeinen Einzelwillen rückſichtslos und
unbegrenzt geltend zu machen, findet in der gleichen Eigen—
ſchaft des Nachbarn jene mächtige Schranke, in welcher die
Keime aller höheren Entwicklung der Menſchheit zu ſuchen
ſind.
Giebt es nun ſolche ſociale Geſeze, welche für die
Maſſenwirkung pſychiſcher Kräfte die conſtante Grundform
ausdrücken? Die Gruppe der ſocialen Wiſſenszweige iſt
bekanntlich noch ſehr jung und unfertig; von vielen Seiten
wird ihr das wiſſenſchaftliche Zunftrecht überhaupt beſtritten.
Von den ſocialen Erſcheinungen ſind ganze Strecken noch
unbekanntes Land oder nur von einzelnen Forſchern flüchtig
berührt worden. Eine dieſer Wiſſenſchaften aber iſt den
12
Schweſtern weit vorausgeeilt und längſt von allen als eben-
bürtig anerkannt. Sie hat einen Grundſtock feſter Säze,
die nicht jeder neue Forſcher wieder in Frage ſtellt; ſie
befaßt ſich nicht mit bloßen Theorien, ſondern ſtellt Geſeze
auf und vermag ſich bereits in weitem Umfang eines de—
ductiven Verfahrens zu bedienen. Es iſt die Nationalöco—
nomie. Sie verdankt, wie ich glaube, ihre raſchen und
großen Erfolge nicht allein dem praktiſchen Intereſſe, das
ſich an den Gegenſtand ihrer Unterſuchungen knüpft, ſondern
noch mehr der Richtigkeit des von ihr eingeſchlagenen Ver—
fahrens. Ihre Gründer bedienten ſich nemlich ebenfalls
des Vortheils, ihr Object ſo viel als möglich zu iſoliren;
ſie giengen auf eine einfache pſychologiſche Thatſache zurück
und verfolgten ſie in ihren Conſequenzen. Die National-
öconomie geht ausdrücklich oder ſtillſchweigend von der Vor—
ausſetzung aus, daß die Menſchen von Natur eine ausge—
ſprochene Neigung haben, ſich die zu Befriedigung ihres
Trieblebens dienlichen äußeren Mittel möglichſt reichlich
und mit der möglichſt kleinen Gegenleiſtung zu verſchaffen,
ſowie daß vermöge der Gleichartigkeit der menſchlichen Natur
dieſelben Arten von Gütern ſtets vielen zumal begehrens—
werth, einige davon allen gleich unentbehrlich ſind. Ob
jener Trieb, Güter zu erwerben, eine einfache pſychiſche
Kraft oder ſchon ein Complex, eine chemiſche Verbindung
von Kräften ſein mag, kann dabei immerhin außer Betracht
gelaſſen werden, ſo lang die Thatſache ſelbſt von Niemand
in Zweifel gezogen wird. Indem die Wiſſenſchaft nun die
Maſſenwirkung dieſes Triebes beobachtet und zuſieht, wie
13
fich derſelbe auf dem Boden der Rechtsordnung bethätigt,
d. h. unter der weiteren Vorausſezung, daß man ſich der
fremden Güter nicht mit Liſt und Gewalt, ſondern nur
mit der freien Zuſtimmung des Beſitzers bemächtigen darf,
indem ſie ſodann empiriſch gegebene Unterſchiede, wie der
von der Natur dargebotenen und durch menſchliche Arbeit
hervorgebrachten, der nur in beſchränktem Maaß vorhandenen
und der einer beliebigen Vervielfältigung fähigen Güter u.ſ.w.
beachtet, ergeben ſich ihr eine ganze Reihe einfacher Grund—
begriffe von Werthen, Preiſen, Löhnen, Arbeit, Kapital,
Rente, Geld, Kredit und ein förmliches Syſtem wohlge—
gliederter Lehrſäze. Ja die Nationalöconomie ſcheint mir
in ihrem vollſten Recht, wenn ſie ihre Fundamentalſäze von
der Bewegung der Preiſe und Arbeitslöhne, von der Con—
currenz, dem Geldumlauf geradezu Geſeze nennt; denn ſie
entſprechen genau der obigen Forderung, indem ſie uns die
conſtanten Grundformen für die Maſſenwirkung pſpychiſcher
Kräfte aufzeigen. Die Säze ergeben ſich mit der Sicherheit
der Deduction aus ganz wenigen Prämiſſen.
Allein dieſe Präciſion und Bündigkeit der wiſſenſchaft—
lichen Entwicklung beruht auf einer Abſtraction, auf einer
abſichtlichen Iſolirung des Objects. In Wahrheit wird der
Menſch auch in ſeinem wirthſchaftlichen Leben nicht aus—
ſchließlich durch das Motiv, Güter zu erwerben, beſtimmt;
es wirken noch mancherlei andere pſychiſche Kräfte und
Triebe, z. B. ethiſche, politiſche, religiöſe Motive herein.
Für die Gütergemeinſchaft der erſten Chriſten galt das
Geſez der Preiſe nicht, und durch das ganze Mittelalter
14
glaubte man, daß Bedürfnißloſigkeit und freiwillige Armuth
eine Staffel zum Himmel ſei. In demſelben Maaße, in
welchem ſich der Nationalöconom von jener Abſtraction los—
macht und die Einwirkungen aller übrigen pſychiſchen Kräfte.
in ſein Syſtem einzufügen ſucht, giebt er die eigenthüm—
lichen Vortheile ſeiner Methode Preis. Er bedarf nun Lehn—
ſäze aus andern ſocialen Wiſſenſchaften, zum Theil aus
ſolchen, die noch gar nicht exiſtiren. Er holt und ſchafft
ſich dieſe Lehnſäze auf eigene Fauſt; er kann dabei immer
noch anregend, fruchtbar, geiſtvoll ſein, aber das feſte lo—
giſche Gefüge ſeiner Säze fällt ihm auseinander.
Ich komme nun zu einer mir näher liegenden Wiſſen—
ſchaft, die ebenfalls Geſeze ſucht und gefunden zu haben
glaubt, der Statiſtik. Ja nach der Auffaſſung vieler ihrer
namhafteſten Vertreter iſt fie eigentlich eine ſociale Ency⸗
clopädie und Univerſalwiſſenſchaft, und die Auffindung ſo—
cialer Geſeze ihre Domäne, ihr Monopol. Aber auch wer
ihr, was ich für das Richtigere und praktiſch Zweckmäßigere
halte, die beſcheidenere Aufgabe ſtellt, durch methodiſche
Maſſenbeobachtung ſociale Thatſachen feſtzuſtellen und auf—
zuhellen und hiedurch einer ganzen Gruppe anderer Disci—
plinen als ihre gemeinſame Hülfswiſſenſchaft empiriſches
Material und Beweismittel zu bieten, der wird zugeſtehen
müſſen, daß der Begriff eines ſocialen Geſezes zu der Auf—
gabe der Statiſtik in einer ſehr innigen Beziehung ſteht
und daß jedes ſociale Geſez, mag es gefunden ſein, wie
und von wem es will, eine Art Probe und Legitimation
vor dem Richterſtuhl der Statiſtik zu erſtehen hat.
Die ſeitherige Entwicklung der Statiſtik hat mir nun
immer den Eindruck von der Beſizergreifung eines neuent—
deckten fruchtbaren Landes gemacht. Die erſten Anſiedler,
überraſcht von dem Reichthum an neuen und werthvollen
Producten, haben alle Hände voll zu thun, nur die reifen
Früchte zu pflücken, die offen liegenden Schäze einzuſammeln.
Sie werden nicht auch gleich dazu Muße finden, das Land
auszumeſſen, ſeine Grenzen gegen die Nachbarn auszuſtecken,
die geographiſche Lage feſtzuſtellen, ihm ſeinen beſtimmten
Plaz auf der allgemeinen Weltkarte anzuweiſen. In ähn—
licher Weiſe hat die Statiſtitk bereits ein reichhaltiges und
werthvolles Material in allen Richtungen zuſammengetragen,
aber es iſt nicht das gleiche Maaß von Fleiß, Talent und
Scharfſinn darauf verwendet worden, die allgemeinen Grund—
begriffe feſtzuſtellen, die eigenthümliche Aufgabe gegenüber
von andern verwandten Wiſſenszweigen ſcharf abzugrenzen.
Jener goldene Faden einer gemeinſamen logiſchen Gliede—
rung und Technik, der alle Wiſſenſchaften zu einem bunten,
geſchloſſenen Kranze verbinden ſoll, iſt noch keineswegs in
alle Theile der Statiſtik eingeflochten. Dieſer Mangel tritt
an keinem Punkte ſo deutlich und ſtörend hervor, als an
dem Begriff eines Geſezes. Die Statiſtik handhabt dieſen
Begriff nicht nur, wie mir ſcheint, in einem von den übrigen
Wiſſenſchaften nicht zugelaſſenen Sinne, ſondern ſie glaubt
ſogar eine ihr eigenthümliche Theorie darüber aufſtellen zu
können. Sie vindicirt ſich eine von den übrigen Geſezen
abweichende neue Art von Geſez und nennt ſie das Geſez
der großen Zahl. Hiernach ſoll es auch ſolche Geſeze geben,
16
welche an wenigen Fällen überhaupt nicht erkennbar ſeien,
ſondern erſt für die Maſſenbeobachtung, bei einer großen
Zahl von Fällen hervortreten, und dann in einer numeri—
ſchen Faſſung, als vorherrſchende, durchſchnittliche, procentale
Erſcheinungen auszudrücken ſeien. Dieſes Geſez der großen
Zahl ſcheint mir nun ein unglücklicher Ausdruck für einen
an ſich richtigen Gedanken. Er erweckt die Vorſtellung, als
ob es neben den Geſezen, die für alle Fälle gelten, auch
noch ſolche geben könnte, die nur 23, % u. ſ. w. der Fälle
beherrſchen. Die Ausnahmsloſigkeit it aber für den wiſſen—
ſchaftlichen Denker das erſte und unerläßlichſte Merkmal
eines Geſezes. Wenn er auf einen einzigen Fall ſtößt, in
dem ſein Geſez nicht wirkt, obgleich ihn deſſen Formel trifft,
ſo wird ihm ſtets nur der Schluß auf die Falſchheit dieſer
Formel übrig bleiben. Nur der populären und unwiſſen—
ſchaftlichen Auffaſſung erſcheint es als eine Ausnahme,
wenn die Wirkung einer Kraft in dem Schlußeffect einer
Erſcheinung darum nicht in gewohnter Weiſe zu Tage tritt,
weil ſie von einer hinzukommenden zweiten Kraft neutrali—
ſirt wurde. Die erſte hat hier ganz ihrem Geſez gemäß
gewirkt in dem Widerſtand, den die zweite zu überwinden
fand, und hat auch den ſchließlichen Effect mitbeſtimmt, da
dieſer ein anderer hätte werden müſſen, wenn die zweite
Kraft allein Plaz gegriffen hätte. Die Gründe, mit denen
man das Geſez der großen Zahl gegen dieſen Einwurf zu
ſchüzen geſucht hat, ſind mir immer als unklare und uner—
weisbare Poſtulate erſchienen.
Gleichwohl weist dieſer Ausdruck auf einen wahren
17
und richtigen Gedanken, auf das charakteriſtiſche Merkmal
der Statiſtik hin. Dieſe bedient ſich nemlich gleich den
andern ſocialen Wiſſenſchaften der Fiction, einen Collectiv—
begriff, eine Gruppe vieler und verſchiedenartiger Individuen,
alſo ein Volk, ein Geſchlecht, eine Altersklaſſe, einen Stand
wie ein einheitliches Ding oder Weſen zu behandeln. Um
von dieſem Gollectivjubject Prädikate, Merkmale, Eigen—
ſchaften auf correcte Weiſe und nicht auf unbeſtimmte Total—
eindrücke und unzureichende Einzelerfahrungen hin auszu—
ſagen, iſt es erforderlich, die Gruppe in ihre Individuen
wieder aufzulöſen und dieſe nach beſtimmten gleichartigen
Geſichtspunkten einzeln durchzuzählen. So entſtehen die
großen Zahlen, die zunächſt lediglich nichts ausdrücken, als
eine geſellſchaftliche, hiſtoriſche Thatſache. Indem man die—
ſelbe Durchzählung bei andern ähnlichen Gruppen und in
verſchiedenen Zeiten wiederholt, erweitern ſich die Thatſachen
zu charakteriſtiſchen Merkmalen von Gruppen und Zeiten;
indem ſich die Zählungen über die verſchiedenartigſten Le—
bensverhältniſſe allmälig ausbreiten, entſteht das reichhal—
tigſte Material vergleichender Combination. Es zeigen ſich
Aehnlichkeiten, Unterſchiede, Regelmäßigkeiten jeder Art;
zwei Zahlenreihen ſteigen und fallen immer mit einander;
bei zwei andern findet das Umgekehrte Statt; die eine ſteigt,
wenn die andere fällt; wieder andere zeigen keinerlei Re—
lation zu einander. Es ergeben ſich neben Merkmalen,
Eigenſchaften und coexiſtirenden Prädikaten auch Cauſal—
zuſammenhänge, einmalige, wiederkehrende, conſtante. Es
erſchließt ſich ſo das innere Spiel und Getriebe des ſocialen
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 2
18
Lebens; es treten die Maſſenwirkungen pſychiſcher Kräfte
hervor, deren Zuſammenhänge unter ſich ſelbſt, deren actives
und paſſives Verhalten zu phyſikaliſchen und ſomatiſchen
Einflüſſen. Man kann und wird auf dieſem Wege ſchließ—
lich auch zu Geſezen gelangen; die Methode iſt zwar nicht
die einzige, aber vielleicht eine der fruchtbarſten, allein das
Geſez, das ſo gewonnen wird, wird keine ſtatiſtiſche Form,
feine numeriſche Faſſung mehr haben, es wird ausnahms—
los und allgemein ſein, wie jedes andere; mit der großen
Zahl hat es lediglich nichts zu ſchaffen, als daß dieſe zu
den Mitteln ſeiner Entdeckung gehört hat und zu ſeiner
Beweisführung noch Dienſte leiſten kann. Es ſcheint mir
nun, wie wenn viele Statiſtiker und zwar gerade die Gründer
und Vertreter der thätigſten und verdienteſten Schule dieſen
natürlichen Stufengang wiſſenſchaftlicher Erkenntniß über—
ſprungen und den lezten und höchſten Begriff des Geſezes
auch ſchon auf die Vorſtufen, die bloßen Regelmäßigkeiten,
Merkmale, Eigenſchaften, Cauſalverknüpfungen angewendet
hätten. Die franzöſiſchen Statiſtiker namentlich, den hoch—
verehrten Meiſter Quetelet nicht ausgenommen, ſind allzu⸗
geneigt geweſen, da, wo ſich nur die Zahlen conſtant um
einen gewiſſen Schwerpunkt gruppiren, gleich auch eine loi
sociale zu verkündigen. Es wird wie von einem Gejez
oder einer conſtanten Urſache, die auch in der Erſcheinung
der Rieſen und Zwerge noch mitwirken ſoll, geſprochen,
daß im mittleren Europa der Mann durchſchnittlich bis zu
einer Körpergröße von etwa 168 Centimetern, zu einem
Gewicht von 127 Zollpfunden wachſe und die mittlere Ziffer
19
des Weibes um 10 Gentimeter und 14 Pfund übertreffe.
Der Phyſiolog wird dem Statiſtiker ſehr dankbar ſein für
ſolche Unterſuchungen; eine Tabelle, welche uns in ähnlicher
Weiſe den Wuchs und das Gewicht aller Hauptvölker an—
gäbe, wäre für wiſſenſchaftliche und praktiſche Zwecke höchſt
werthvoll; aber nach ihrem formellen und logiſchen Cha—
racter muß ich dieſe Ergebniſſe der verdienſtlichſten For—
ſchung ganz in die gleiche Linie ſtellen, wie wenn ich in
einer Naturgeſchichte meiner Kinder leſe: „der indiſche Ele—
phant erreicht eine Höhe von 14 Fuß und ein Gewicht von
70 Centnern; das Weibchen iſt etwas kleiner.“ Es iſt
eine von den unzähligen Eigenſchaften der unzähligen Gat—
tungen und Arten von Naturgeſchöpfen, und es führt zu
unabſehbarer Verwirrung in der Wiſſenſchaft, Geſez und
Eigenſchaft nicht aus einander zu halten.
Es gehört zu den intereſſanteſten, das Nachdenken ſtets
von Neuem anreizenden Ergebniſſen ſtatiſtiſcher Unterſuch—
ungen, daß nach Beobachtungen, die ſich bereits über 70 Mill.
Geburten aus faſt allen europäiſchen Ländern und vielen
Jahrzehenden erſtrecken, jedes Jahr im großen Durchſchnitt
auf je 16 Mädchen 17 Knaben geboren werden, daß dieſer
Knabenüberſchuß kleiner iſt bei unehelichen Geburten als
bei ehelichen, größer bei ländlichen als bei ſtädtiſchen, daß
er verſchwindet und in das Gegentheil umſchlägt, wenn die
Mutter des Kindes den Vater im Alter erreicht oder über—
trifft. Allein gleichwohl haben wir darin weder, wie der
erſte Entdecker der Sache meint, eine ganz beſondere gött—
liche Anordnung, noch, wie die neueren Statiſtiker ſagen,
25
20
ein Naturgeſez zu erkennen; es find nicht megr und nicht
weniger als Thatſachen, zu welchen wir noch den Schlüſſel
des Verſtändniſſes ſuchen. Das was dabei fehlt, iſt viel—
mehr gerade das Geſez. Dieſes könnte nur das der Zeu—
gung ſein und könnte nur von der Phyſiologie gefunden
werden, nicht von der Statiſtik.
Ebenſo redet man allgemein von Mortalitätsgeſezen
und verſteht darunter den großen Durchſchnitt der Abſterbe—
ordnung einer Bevölkerung. Es kann beinahe komiſch her—
auskommen, aber die Conſequenz gebietet mir, ſelbſt der
beſtbeglaubigten und ſicherſten aller empiriſchen Thatſachen,
dem Saz, daß alle Menſchen ſterben müſſen, den Namen
eines wiſſenſchaftlichen Geſezes zu beſtreiten, um wie viel
mehr jenen Tabellen, nach welchen beſtimmte Procente gleich
bei und nach der Geburt, andere im Greiſenalter, andere
zwiſchen dieſen beiden Grenzen in verſchiedenen Abſtufungen
dem Tod verfallen ſein, der Menſch aber im Geſammtdurch—
ſchnitt etliche und dreißig Jahre alt werden ſoll. Wenn
ſich hierüber etwas Geſezmäßiges und Normales aufſtellen
läßt, ſo dürfte man noch mit dem meiſten Recht ſagen, der
menſchliche Organismus ſei von der Natur darauf angelegt,
daß alle im Alter von 100 und ungeraden Jahren der
Euthanaſia verfallen, ſo daß die Sterbetafeln der verſchie—
denen Zeitalter und Völker nur die Sproſſe der Leiter an—
geben, auf welcher die Menſchheit in ihrem Weg zu jenem
idealen Ziele angelangt iſt.
Es giebt ſodann eine Menge conſtanter Cauſalver—
knüpfungen im ſocialen Leben, die ſich ſtatiſtiſch beweiſen
21
laſſen, z. B. daß Alter und Geſchlecht die Diſpoſition für
gewiſſe Arten von Handlungen verſtärken oder abſchwächen,
daß Erſchwerung des Nahrungsſtands eine Verminderung
und Verſpätung der Heirathen, und dieſe wieder eine Ver—
mehrung unehelicher Geburten zur Folge hat, daß Miß—
ernten die Geburten und Ehen vermindern, die Krankheits—
und Sterbefälle vermehren, daß die Errichtung von neuen
Verkehrswegen den Handel befördert, die Preiſe ausgleicht,
den Werth der anliegenden Grundſtücke erhöht u. ſ. w.
Der Cauſalzuſammenhang liegt bei dieſen Erſcheinungen in
der Regel auf der Hand und war ſchon lange, bevor es
methodiſche Maſſenbeobachtungen ſocialer Vorgänge gab, ge—
kannt. Die Statiſtik hat nur das große Verdienſt, ſolche
Säze, die in vager Allgemeinheit wenig Werth haben, genau
feſtzuſtellen und zu begrenzen, die Bedingungen nachzuweiſen,
unter welchen die Wirkungen ſtärker oder ſchwächer hervor—
treten und ſie dadurch erſt zu einem brauchbaren Material
wiſſenſchaftlicher Erkenntniß zu erheben. Aber von ſocialen
Geſezen dürfen dabei nur diejenigen reden, die nach den
obigen Beiſpielen es auch ein Naturgeſez nennen, daß der
Indigo eine blaue Farbe giebt, und Arſenik den menſch—
lichen Organismus zerſtört. Auch hier folgt die Conſtanz
der Wirkungen nur aus der Conſtanz der Begriffe und
ihrer Merkmale; und wenn die Statiſtik Erfahrungsſäzen,
die ſo alt ſind als die menſchliche Erinnerung überhaupt,
blos um der genaueren Beobachtung und Begründung willen,
den anſpruchsvollen Titel wiſſenſchaftlicher Geſeze beilegt,
ſo ſezt ſie ſich der Gefahr aus, dem Spott zu verfallen,
22
mit dem der Dichter die Philoſophen trifft, wenn er an
bekannter Stelle ſagt:
Der Schnee macht kalt, das Feuer brennt,
Der Menſch geht auf zwei Füßen;
Das kann, wer auch nicht Logik kennt,
Durch ſeine Sinne wiſſen;
Doch wer Metaphyſik ſtudiert,
Der weiß, daß wer verbrennt, nicht friert,
Weiß, daß das Naſſe feuchtet,
Und daß das Helle leuchtet.
Den kühnſten Anlauf hat jedoch die Statiſtik genommen,
als ſie ihre Begriffe von Geſez und Geſezmäßigkeit auch
auf ein Gebiet übertrug, in welchem wir von Geſez nur
in ganz anderem Sinne zu reden gewöhnt ſind, auf das
der willkürlichen menſchlichen Handlungen. Um nur Eines
der Beiſpiele, die Statiſtik der Verbrechen, anzuführen, ſo
wird zwar Jedermann bei verſtändiger Ueberlegung zum
voraus vermuthen, daß in einem größeren Staat bei gleichen
Geſezen, Sitten und Einrichtungen die Zahl aller zur ge—
richtlichen Behandlung gelangenden Verbrechen und Ver—
gehen in gewöhnlichen Zeiten von einem Jahr zum andern
nicht ſehr bedeutend differiren müßte; er wird auch erwarten,
daß jedes Jahr die leichteren Vergehen zahlreicher ſein
werden, als die ſchwereren, die Verbrechen gegen Perſonen
ſeltener, als die Eingriffe in fremdes Eigenthum; er wird
wahrſcheinlich finden, daß ſtets mehr Männer vor den
Schranken der Gerichte ſtehen werden, als Weiber, und
mehr jüngere Perſonen als ältere u. ſ. w. Wenn man
dann nun aber dieſe franzöſiſchen und belgiſchen Tabellen
der Kriminalſtatiſtik zur Hand nimmt, ſo wird man doch
23
immer noch lebhaft überrascht ſein von dem Grad der Regel—
mäßigkeit in Bewegung und Vertheilung der Ziffern. Die
Schwankungen ſind, wo nicht beſondere äußere Ereigniſſe,
wie Mißernten, Krieg, Revolution dazwiſchentreten, in der
That kleiner, als bei Geburten und Sterbfällen, und weit
kleiner als z. B. die der durchſchnittlichen Monatswärme
in unſerem Klima. Einige unſerer bedeutendſten Statiſtiker,
die ſich um dieſe Art von Unterſuchungen beſonders ver—
dient gemacht haben, waren von dieſen Gleichmäßigkeiten
im Großen wie im Kleinen ſo überraſcht, daß ſie die weit—
gehendſten Folgerungen daran anknüpften. Bei dem Stand—
punkt der Vogelperſpective, der der Statiſtik eigenthümlich
iſt, erſchien ihnen die Geſellſchaft als Ein Ganzes ein be—
ſtimmtes Maaß von Diſpoſition zu Verbrechen in ſich zu
ſchließen, das an ihre einzelnen Glieder, an Alter und Ge—
ſchlecht, an Stadt und Land, an Stände, Beſizklaſſen, Pro—
vinzen, in feſten Proportionen ausgetheilt, in gleichen Ge—
ſammtergebniſſen mit unerheblichen Schwankungen Jahr für
Jahr zur Verwirklichung gelangt. Der Antheil der Ein—
zelnen, die individuelle Freiheit tritt dabei ganz in den
Hintergrund; der Einzelne iſt für die Statiſtik nur eine
Nummer, und ſie fragt nicht darnach, ob der Hans oder
Kunz, der & oder die Y ſich zu ihren Contingenten ſtellt.
Eine menſchliche Willensfreiheit, vermöge welcher die Hand—
lungen rein aus dem innerſten, aller Beobachtung entzogenen,
keiner Nöthigung der Motive unterworfenen Centrum des
Ichs hervorgehen, möge dabei immerhin noch beſtehen, aber
ſie gehöre, wie es Quetelet ausdrückt, für den Statiſtiker
24
zu den zufälligen Urſachen, die bei erweitertem Umfang
der Beobachtungen gegen die conſtanten Urſachen ganz ver—
ſchwinden. Jene ſtabilen Zahlen und Proportionen, wie—
wohl ſie von Haus aus nichts ſind als ein Product aus
thatſächlich gegebenen Faktoren, verwandeln ſich bei dieſer
Betrachtung allmälig in etwas Reales, in herrſchende Mächte,
in ſociale Geſeze, die nun das ſittliche Leben der Menſchen
mit gleicher Gewalt regieren, wie Geburt und Tod, wie
Preiſe und Arbeitslöhne.
Es mag ſchwer ſein, bedeutende Wahrheiten mit leich—
teren und gröberen Mißverſtändniſſen in einen dichteren
Knäuel zu verſchlingen, als in dieſer Gedankenreihe ge—
ſchehen iſt.
Man kann dieſem Raiſonnement zwar unbedenklich ein—
räumen, daß derjenige Begriff von Willensfreiheit, der darin
vorausgeſezt und bekämpft wird, in der That unvereinbar
iſt mit den Ergebniſſen der Kriminalſtatiſtik. Denn wenn
die freie Handlung ſo viel iſt, als die nicht motivirte, gleich—
ſam dem Cauſalitätsgeſez entrückte, aus einem unerforſchten
Urgrunde wie Schöpfungsacte hervorquellende, dann müßte,
wofern überhaupt Jemand im Stande iſt, dieſe Vorſtellung
auszudenken, jede beliebige Zahl freier Handlungen nur
einen ungeordneten Haufen unbekannter und unter ſich un—
vergleichbarer Dinge darſtellen und von einer conſtanten
Gruppirung der Ziffern könnte wirklich keine Rede ſein.
Ich glaube aber nicht, daß auch der Extremſte der Inde—
terminiſten heute noch ſich zu einem Freiheitsbegriff dieſer
Art bekennen wird. Durch das Gewicht der ſtärkſten Motive
—
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25
beſtimmt zu jein, voraus erkannt und gejagt werden zu
können, widerſpricht ſo wenig der freien Handlung, daß es
vielmehr zu ihren weſentlichſten Attributen gehört. Die
innere Erfahrung ſagt es uns jeden Tag, daß unſere freieſten
Handlungen die motivirteſten ſind; wir beſinnen uns keinen
Augenblick, von Perſonen, die wir genau zu kennen glauben,
vorauszuſagen, wie ſie im gegebenen Fall handeln werden.
Beim Blick auf die ungewiſſen Wechſelfälle der Zukunft iſt
die Conſtanz der Charaktere der einzige feſte Anhaltspunkt
unſerer Entwürfe. Wenn mir die Statiſtik ſagt, daß ich
im Lauf des nächſten Jahres mit einer Wahrſcheinlichkeit
von 1 zu 49 ſterben, mit einer noch größeren Wahrſchein—
lichkeit ſchmerzliche Lücken in dem Kreis mir theurer Per—
ſonen zu beklagen haben werde, ſo muß ich mich unter den
Ernſt dieſer Wahrheit in Demuth beugen; wenn ſie aber,
auf ähnliche Durchſchnittszahlen geſtützt, mir ſagen wollte,
daß mit einer Wahrſcheinlichkeit von ! zu ſo und ſo viel
eine Handlung von mir der Gegenſtand eines ſtrafgericht—
lichen Erkenntniſſes ſein werde, ſo dürfte ich ihr unbedenk—
lich antworten: ne sutor ultra crepidam! Nachdem man
erkannt hat, daß Freiheit und Nothwendigkeit ſchon logiſch
nicht richtig geſtellte Gegenſäze ſind, daß dem Nothwendigen
nur das Zufällige gegenüberſteht, der Freiheit aber der
Zwang oder die äußerliche Nothwendigkeit, während die
innere Nothwendigkeit mit ihr verwandt wo nicht identiſch
iſt, iſt das große Myſterium, das ſich an die Frage der
menſchlichen Willensfreiheit knüpft, zwar keineswegs ge—
löst, aber es iſt wenigſtens in eine Sphäre gerückt wor—
26
den, zu welcher die Tabellen der Statiſtik nicht hinüber—
greifen.
Man hat aber überhaupt die Tragweite ſolcher Regel—
mäßigkeiten, wie ſie ſich für die Maſſenbeobachtung der
Verbrechen nach Zahl und Unterarten ergeben, weit über—
ſchäzt, ſchon darum, weil ſich die Zählungen bis jezt nur
auf wenige Jahrzehende und Länder erſtrecken, während
die Reſultate nicht nur möglicher, ſondern wahrſcheinlicher
Weiſe ganz andere ſein müßten, wenn ſich die Beobach—
tungen über eben ſo viele Jahrhunderte und alle civiliſirten
Völker ausbreiten würden. Alle jene Zahlen, man mag
ſie ſtellen und ordnen wie man will, werden niemals etwas
Anderes ſein, als der Ausdruck von Thatſachen, als ein
werthvolles Material zur Charakteriſtik von Völkern, Staaten
und Zeiten, als hiſtoriſche Zeugniſſe der ſchäzbarſten Art,
als reichhaltige Aufſchlüſſe für den Geſezgeber und Staats—
mann, für alle ſocialen Wiſſenſchaften, für jeden Denkenden.
Unwiderſprechlich zeigen ſie freilich, daß der Einzelne auch
in ſeinem ſittlichen Handeln ſich vielfältig bedingt findet
durch die Geſellſchaft, durch religiöſe Vorſtellungen und po—
litiſche Einrichtungen, durch Bildung, Beſiz, Stand, Ab—
ſtammung, Geſchlecht und Alter; aber wer hat daran jemals
zweifeln können, wenn er mit unbefangenem Blick in das
Buch der Geſchichte, in Welt und Leben blickt, und wer
hat aus der Mannigfaltigkeit der Motive, die auf uns ein—
wirken, ſchließen dürfen, daß nicht doch eine Kraft in uns
wohne, jedem einzelnen unter ihnen Widerſtand zu leiſten?
Ich will dieſe Rundſchau nach ſocialen Geſezen nicht
27
weiter fortführen; die Ausbeute war nicht groß. Ich läugne
aber, daß dieß dem Zweig der ſocialen Fächer zum Vor—
wurf dienen kann. Die jüngſten Wiſſenſchaften ſind immer
die ſchwerſten; denn ſie behandeln Probleme, welche man
früher ganz überſah oder gar nicht die Mittel hatte in An—
griff zu nehmen. Ich habe von der Zukunft der Statiſtik,
von dem wiſſenſchaftlichen Werth, den eine fortgeführte und
immer weiter ausgebreitete methodische Beobachtung ſocialer
Thatſachen haben wird, die höchſte Meinung; ja ich glaube,
daß die Natur der Verhältniſſe ihr für jezt eine Art Führer—
ſchaft unter den ſocialen Wiſſenszweigen, obgleich ſie nur
deren Hilfswiſſenſchaft iſt, zugewieſen hat, um nach allen
Richtungen das Material beizubringen, ohne deſſen Grund—
lage überall nur Luftſchlöſſer gebaut werden können. Aber
gerade, weil es eine ſo lohnende Aufgabe iſt, die großen
ſocialen Thatſachen feſtzuſtellen und aufzuhellen, Völker,
Staaten, Gruppen und Gemeinſchaften jeder Art in prä—
ciſer Weile zu charakteriſiren, eine Menge ganz neuer oder
nie beachteter Cauſalverknüpfungen aufzudecken, ſo möge ſie
die Hände auch nicht vorſchnell nach den lezten Kränzen
ausſtrecken, welche die Wiſſenſchaft ihren Meiſtern bietet,
der Entdeckung neuer Geſeze. Die Natur liebt es, mit
wenigen Kräften und Stoffen das Wunderwerk der Schöpf—
ung zu bilden. In andern Wiſſenſchaften iſt die Entdeckung
eines neuen Geſezes ein ſeltenes und ſtets Epoche machendes
Ereigniß. Die Statiſtik ſoll ſich nicht als das Sonntags—
kind unter ihren Schweſtern betrachten, das die neuen Ge—
ſeze duzendweiſe am Wege aufliest.
28
Jener Forderung an ein jociales Geſez, daß es die
conſtante Grundform angebe für die Maſſenwirkung pſychi—
ſcher Kräfte, ſchienen nur einige allgemeine Säze der Na—
tionalöconomie über die Ordnung und Gliederung des wirth—
ſchaftlichen Lebens zu genügen; aber auch dieſen ſchien keine
unbedingte Geltung zuzukommen, ſondern ſie waren auf die
Vorausſezung gegründet, daß die wirthſchaftlichen Verhält—
niſſe nur unter dem Einfluß der auf ſie unmittelbar be—
züglichen Triebe ſtehen, und kein Herübergreifen der übrigen
pſychiſchen Kräfte Statt finde. Sollte dieſer hypothetiſche
Charakter vielleicht mehr als ein blos zufälliges, ſollte er
ein allgemeines Merkmal aller ſocialen Geſeze ſein? Sollte
das Ineinandergreifen aller pſychiſchen Kräfte ſich vielleicht
immer und überall einer wiſſenſchaftlichen Feſtſtellung ent—
ziehen, und ſich die pſychiſchen Kräfte gerade darin von den
phyſikaliſchen und organiſchen weſentlich unterſcheiden, daß
dieſen ein ewig unwandelbares Maaß der Leiſtungsfähig—
keit zukommt, jene aber bei aller Beharrlichkeit ihrer Grund—
form hinſichtlich ihres Stärkegrads einer allmählichen inneren
Umbildung unterworfen ſind? So klein auch das Bruch—
ſtück iſt, das wir von der Geſchichte unſerer Gattung kennen,
ſo ſcheint es doch zu dem Schluſſe zu berechtigen, daß dabei
ein allmähliges Sichheraufarbeiten der höheren pſychiſchen
Kräfte über die niedrigen, der humanen über die animali—
ſchen Statt findet. Die geiſtigen Errungenſchaften eines
Zeitalters in Geſez und Sitte, in Religion, Wiſſenſchaft
und Kunſt ſind Dämmen und Bollwerken zu vergleichen,
die hundertmal zerriſſen, wieder erneuert und weiter ge—
29
führt, ein den Fluthen wilder Begierden abgewonnenes
Land ſchützen und ausbreiten. Das nachfolgende Geſchlecht
hat immer den Vortheil, mit größerem Grundkapital zu
arbeiten; wenn der Einzelne auch ſtets wieder mit gleichen
Trieben und Anlagen zur Welt kommt, ſo bietet ihm doch
der ſchon geſammelte Bildungsſchaz der Geſellſchaft eine
ſtets wachſende Hilfe und Förderung für die Entwicklung
ſeiner höheren Seelenkräfte. Und wenn dem ſo wäre, dann
könnten in der That alle ſocialen Geſeze, die ſich nur mit
der Maſſenwirkung einzelner pſychiſcher Kräfte befaſſen,
auch blos eine bedingte Geltung anſprechen, und es gäbe
nur Eine Art von großen und abſoluten Geſezen, die Ent—
wicklungsgeſeze der Menſchheit, die noch für ungemeſſene
Fernen der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß verſchloſſen und nur
einem ahnungsvollen Glauben zugänglich ſein werden.
Laſſen Sie mich an dieſe vorgreifenden Fragen und
Vermuthungen eine lezte Betrachtung anknüpfen.
Ich habe bisher von allen möglichen Arten von Geſez
geſprochen, aber Eine Art als eine ganz heterogene und
unvergleichbare Sache bei Seite gelaſſen, die Geſeze des
Sollens, das Sittengeſez und deſſen wandelbare, ſociale
Verwirklichung in den Staatsgeſezen. Natur und Sitten—
geſez erſcheinen in ihrem innerſten Weſen ſo grundverſchieden,
daß man ſich wundern muß, wie die Sprache nur dazu
kommen konnte, Etwas, was mit unfehlbarer Sicherheit und
ſtets gleichmäßiger Kraft die reale Welt beherrſcht und eine
tauſendmal unbeachtete, nie ganz befriedigte Forderung, alſo
z. B. zwei Dinge wie die Pflicht der Elternliebe und das
30
Parallelogramm der Kräfte, mit Einem Namen zu bezeichnen.
Allein das verbindende Mittelglied, der vage Gegenſaz gegen
das Willkührliche und Ungeordnete, iſt wohl nicht der einzige
Rechtfertigungsgrund des anſcheinend befremdlichen Sprach—
gebrauchs; es liegen ihm, wie ſo oft, noch tiefere und ah—
nungsreichere Beziehungen zu Grunde. Das Sittengeſez iſt
auch ein Naturgeſez; es iſt kein ideales Phantom, kein
leeres Gedankending, ſondern die Aeußerung einer realen
lebendigen Kraft. Und zwar ſind es die höchſten pſychiſchen
Kräfte, die darin ihren Ausdruck finden, jener unbeſtimmte
Drang, für unſer Ich und das Ganze unſerer Erfahrung
ein leztes und höchſtes Centrum zu ſuchen, das Bruchſtück
unſeres individuellen Lebens einer harmoniſchen Weltord—
nung, einem Reich der höchſten Zwecke einzufügen. Der
categoriſche Imperativ, das in ſeinem Inhalt ſo wandelbare
und ſo oft fehlgreifende Gefühl eines unbedingten Sollens
iſt nur eine der eigenthümlichen Grundformen für die Wir—
kungsweiſe der edelſten unſerer pſychiſchen Kräfte. Das
Sittengeſez iſt ſo ganz ein Geſez im Sinne der obigen De—
finition, und es iſt nicht unberechtigt, das, was die Wirkungs—
weiſe der höchſten Kräfte ausdrückt, das Geſez ſchlechtweg
zu nennen. Die Kraft, die ein ideales Ziel ſtets äußerlich
vor unſern Weg hinzuſtellen ſcheint, die, von keiner Lebens—
form dauernd befriedigt, ſtets mit der Deviſe: plus ultra
vorwärts ſchreitet, ſie iſt ſelbſt von durchaus realer Natur.
In ihrer Maſſenwirkung ruht das Geſez des Fortſchritts.
Die Menſchheit gleicht nicht jenem Tantalus, der einſt zu
den Tafeln der Götter zugelaſſen, dann die Arme ewig
31
vergeblich ausſtreckt nach den labenden Früchten, ſondern
dem Sohn der Alkmene, der aus niedrigem Knechtesdienſt,
nach langen und gefahrvollen Kämpfen, in Schmerzen und
Flammen geläutert, emporſteigt zu den Sizen der Himm—
liſchen. Das Sittengeſez iſt ein wahres Naturgeſez als das
Geſez unſerer wahren Natur; es iſt in ſeiner Maſſenwirkung
nur ein ſcheinbar unkräftiges, auf die Dauer aber das
mächtigſte und höchſte aller ſocialen Geſeze.
Ueber Hegel.
6. Nov. 1870.
Das Jahr 1870, in deſſen Neige wir jezt ſtehen, ſchien
bei ſeinem Eintritt wie der Welt im Großen ſo unſerer Hoch—
ſchule im Kleinen gerade nichts Beſonderes und Ungewöhn—
liches zu verſprechen. Nur eine einzige, den ſtillen und ge—
meſſenen Gang unſeres akademiſchen Lebens unterbrechende
Feier durften wir in ſichere Ausſicht nehmen. Am 27. Aug.
1770 war der Philoſoph Hegel geboren, und nachdem wir
in den lezten Jahren mehreren anderen unter den geiſtigen
Heroen unſerer Nation bei ihrer Säcularfeier durch beſon—
dere akademiſche Feſtreden den Tribut der Dankbarkeit er—
ſtattet hatten, konnte es nicht zweifelhaft ſein, daß wir das
gleiche Gedächtniß dem geiſtvollen Landsmann nicht verſagen
werden, der nicht nur hier ſeine Bildung empfieng, ſondern
deſſen Lehre an unſerer Hochſchule durch einen Kreis hoch—
begabter Schüler eine eigenthümliche, in der Geſchichte der
deutſchen Wiſſenſchaft bedeutungsvolle Aufnahme und Fort—
bildung gefunden hat. Es war daher auch bereits die Ein—
leitung getroffen, daß am 27. Auguſt das Gedächtniß Hegel's
durch einen der ordentlichen Vertreter des Faches in einer
beſonderen akademiſchen Feſtrede gefeiert werden ſolle.
33
Allein das Jahr 1870, reicher als irgend einer ſeiner
Vorgänger ſowohl an getäuſchten als an überbotenen Hoff—
nungen, hat uns gar Vieles gebracht, was die kühnſten
Träume überflog, aber das Eine, was wir mit Sicherheit
hätten erwarten dürfen, eine ordentliche und rechtzeitige
akademiſche Hegelfeier hat es uns nicht gegönnt. Die großen
Schlachtentage des Auguſts ließen uns nicht an die Ge—
burtstage von Philoſophen denken. Dieß Jahr iſt vor
unſerm ſtaunenden Blick zu einem jener großen Markſteine,
zu einer der Leuchtfackeln der Weltgeſchichte geworden, welche
die dunkeln und verſchlungenen Pfade der Vergangenheit
mit Einem Male erhellen und uns für die Zukunft eine
breite, weithin ſichtbare Hochſtraße zeigen. Wenn die Ge—
ſchichtsauffaſſung Hegel's in ihrem Rechte iſt, daß der Reihe
nach führende Volksgeiſter auf und wieder abtreten, welche
als die Träger der herrſchenden Weltanſchauung den Zeit—
altern das eigenthümliche Gepräge ihres Weſens aufdrücken,
ſo kann es in der Geſchichte nicht wohl ein wichtigeres Er—
eigniß geben, als einen ſolchen Scenenwechſel auf dem Welt—
theater, wenn das bisher führende Volk hinter die Bühne
tritt und ein anderes, das bis dahin zur Seite geſtellt war,
den Vordergrund in Beſiz nimmt. Doppelt großartig aber
wird der Eindruck ſein, wenn dieſer Wechſel mit ſo glän—
zendem dramatiſchem Effekt erfolgt, in ſo gewaltigen Schlägen,
als die Strafe unerhörter Anmaaßung und Verblendung, als
ein Sieg der ſtillen und verkannten Kraft, als ein Gottes—
gericht wie kaum je ein zweites mit deutlicherer Flammen
ſchrift in die Tafeln der Geſchichte eingezeichnet worden.
“ * er >
Rümelin, Reden u. Aufjäße. >
Die deutſche Wiſſenſchaft und auch das Leben der deut—
ſchen Hochſchulen ſteht dieſen großen Weltereigniſſen nicht
ſo fern, als es dem erſten Anblick ſcheinen mag. Ich denke
dabei nicht blos an die Tauſende von Jünglingen, welche
die Hörſäle verlaſſen haben, um ſich in die Reihen der
deutſchen Krieger einzuſtellen, an die akademiſchen Lehrer,
die in den mannigfaltigſten Formen ihre Kräfte der Sache
des Vaterlandes zur Verfügung geſtellt haben. Ich will
es auch nur flüchtig und fragend erwähnen, ob nicht jene
überlegene Kunſt der deutſchen Heeresordnung und Krieg—
führung, deren Erfolge die Welt jezt mit Staunen erfüllen,
auch ein Stück deutſcher Wiſſenſchaft iſt und in der ſoliden
Methode der Forſchung wurzelt, welche, allen Phraſen und
allem Schwindel feind, immer wieder die Fragen trennt und
vereinfacht und die allgemeinen Sätze nur aus einer Menge
der gründlichſten Detailunterſuchungen abzuleiten geſtattet.
Noch weit näher zeigt ſich jener Zuſammenhang bei einer
allgemeineren Betrachtung. Dem Zeitalter der Staats—
männer und Feldherrn iſt das der Dichter und Denker voran—
gegangen; noch lange bevor das deutſche Volk auch nur
das Bedürfniß einer ſtaatlichen Einigung empfand, hat es
aus tiefem Verfall, aus confeſſioneller und politiſcher Spal—
tung heraus in der Gemeinſchaft ſeines geiſtigen Beſizthums
ein nationales Band gefunden; die deutſchen Hochſchulen
bildeten längſt troz aller Schlagbäume an den Landesgrenzen
Einen deutſchen Bundeskörper. Allein wenn wir bisher
auf die Gründer unſerer claſſiſchen Epoche, auf jene Meiſter
blickten, welche in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
35
gewirkt oder die maßgebenden Keime ihrer Bildung em—
pfangen haben, ſo konnten wir noch ſehr im Zweifel ſein,
ob dieſe glänzende Erſcheinung in der Entwicklung unſeres
Volks nach rückwärts zu deuten ſei oder nach vorwärts, ob
ſie dem Abendroth eines ſinkenden Tages oder dem Morgen—
roth eines aufſteigenden zu vergleichen ſei. Man hatte ja
aus den Beiſpielen der antiken Völker die Regel abgeleitet,
daß das Zeitalter der geiſtigen Blüthe eines Volks nie mit
dem Höhepunkt ſeiner politiſchen Macht zuſammenfallen,
auch ihm nicht vorausgehen könne, ſondern nachfolgen müſſe.
Erſt in der Dämmerung beginnt der Vogel der Minerva
ſeinen Flug, ſo lautet eines von jenen geiſtreichen Schlag—
wörtern Hegel's. Das deutſche Volk ſollte ſeine politiſche
Machtperiode ſchon im Mittelalter unter ſeinen großen
Kaiſern gehabt haben; jezt ſollte ihm nur wie einſt dem
Griechenvolke die Miſſion übrig geblieben ſein, als geiſtiges
Ferment, aber machtlos und zerſplittert, das europäiſche
Völkerleben zu befruchten. Es ließ ſich Vieles für und
wider dieſe Meinung ſagen und auf dem Weg der Theorie
war zu keiner Entſcheidung darüber zu kommen. Das Jahr
1870 hat uns dieſe Entſcheidung gebracht. Die großen
Geiſter unſerer claſſiſchen Kulturepoche ſind nicht die ſpäten
Nachzügler und Grabredner, ſondern die Boten und Vor—
läufer unſerer politiſchen Größe geworden; ihre Leiſtungen
erinnern uns nicht mehr an den Dämmerungsflug des Vogels
der Weisheit, ſondern ſie waren der herzerhebende Lerchen—
ſchlag, der unſerm Volke einen neuen Frühlingstag an—
kündigte. Und ſo ſcheint es mir, fällt von den neueſten
5
> &
36
Großthaten unſeres Volkes auch ein neues verklärendes
Licht auf jene Männer einer früheren Generation zurück,
die einſt aus der ſtillen Tiefe ihres eigenen Gemüthes und
Geiſtes heraus dem deutſchen Volk ſein wahres Weſen auf—
geſchloſſen und die lang verhaltenen Siegel ſeines Genius
gelöst haben. Wir wollen ihrer mit verdoppelter Dank—
barkeit gedenken; wir wollen keinen vergeſſen und Jedem
ſeine Ehre gönnen. Und ſo wollen Sie mir erlauben, nach—
dem der erſte Sturm des Kriegs die rechtzeitige volle und
würdigere Gedächtnißfeier Hegel's, wie ſie von berufenerer
Seite beabſichtigt war, vereitelt hat, daß ich die lezte für
dieß Jahr noch gebotene Gelegenheit benütze, um wenigſtens
noch als Laie und Dilettant von dem Philoſophen Hegel
zu reden und das Verſäumte ſei es auch nothdürftig noch
nachzuholen. Ich denke dabei nicht daran, Ihnen das Leben
und die Perſönlichkeit des Philoſophen zu ſchildern, noch
weniger, Ihnen die Grundzüge ſeines Syſtems und die Stel—
lung, die daſſelbe in der Reihe ſolcher Syſteme einnimmt,
zu ſchildern. Gleichwohl glaube ich von einem andern Ge—
ſichtspunkt aus doch auch einen gewiſſen Beruf zu haben
von der Sache zu reden. Meine eigene Studienzeit fiel
nemlich gerade in die Periode, in welcher die Hegel'ſche
Philoſophie an unſerer Univerſität durch junge Docenten
der glänzendſten Begabung eingeführt und in den raſcheſten
Aufſchwung gebracht wurde. Ich kann wohl ſagen: meine
ganze Studienzeit ſtand förmlich unter dem Bann des Hegel—
thums; wer ſich überhaupt mit Philoſophie zu befaſſen hatte,
der mußte entweder ſelbſt ein Hegelianer ſein oder zu dieſem
37
Syſtem wenigſtens eine bewußte und feſte Stellung ein—
nehmen, und dieſe Herrſchaftsperiode mag etwa vom Anfang
der dreißiger bis in die Mitte der vierziger Jahre gedauert
haben.
Wie bekannt nahm aber der Tübinger Zweig der Hegel'—
ſchen Schule bald eine eigenthümliche und oppoſitionelle Hal—
tung in derſelben ein. In Berlin ſtand dieſe Philoſophie
zu den herrſchenden Gewalten in Staat und Kirche in dem
Verhältniß der entente cordiale, des herzlichen Einverſtänd—
niſſes. Insbeſondere lebten Philoſophie und Religion auf
dem beſten Fuß mit einander. Die Metaphyſik und die chriſt—
liche Dogmatik hätten, ſo ſagte man, den gleichen Inhalt; nur
werde, was im Dogma in der Form der Vorſtellung, für
die Stufe der Einbildungskraft gefaßt ſei, in der Philoſophie
in das Element des Begriffes, des reinen Gedankens er—
hoben. In der Geſchichte wurde aller Accent auf die Ent—
wicklung und Bewegung von Ideen gelegt, woneben der
pragmatiſche Zuſammenhang, die realiſtiſche Wahrheit der
einzelnen Begebenheit als durchaus bedeutungslos angeſehen
wurde. Die jungen Führer der Tübinger Abzweigung waren
darüber ganz anderer Anſicht. Einmal vermochten ſie wohl
überhaupt nicht in dem Grade, in welchem es die ſtrenge
Schule verlangte, die damals ſogenannte Verſtandesauffaſ—
ſung der Dinge in ſich über Bord zu werfen; ſodann
mußten ſie bald finden, daß das große Arcanum und Zauber—
mittel des Syſtems, die dialektiſche Methode, ſich ohne be—
ſondere Schwierigkeiten auch zu ganz andern Dienſten und
in ganz andern Richtungen verwenden ließe, als wozu der
38
Meiſter fie gebraucht hatte. Und ſo entwickelte ſich auf dem
Boden der hieſigen Univerſität jener linke Flügel des Hegel'—
ſchen Syſtems, der zuerſt die Fahne der hiſtoriſchen Kritik
wieder entfaltet, der durch die damalige Vertrauensſeligkeit
über den Einklang von Wiſſen und Glauben einen dicken
und groben Strich gemacht hat und der durch den hiemit
gegebenen Anſtoß, wie durch eine Reihe bedeutender Schrift—
werke in der Kulturgeſchichte des deutſchen Volks für immer
einen angeſehenen Plaz behaupten wird. Und da nun in
meine eigene Studienzeit gerade ſowohl das erſte Aufkommen
der Hegel'ſchen Philoſophie an unſerer Univerſität als jener
erſte Abfall von der alten Schule trifft (der durch das Er—
ſcheinen des Strauß'ſchen Lebens Jeſu bezeichnet wird) und
da ich dieſen Dingen wenn auch nicht mit vollem Verſtändniß,
doch wenigſtens mit vollem Intereſſe gefolgt bin, ſo erlaube
ich mir aus meinen Erinnerungen Ihnen zu berichten, nicht
was die Hegel'ſche Philoſophie war und lehrte, ſondern
wie ſie auf uns wirkte. Ich wünſche kurz zu ſagen, einmal
was uns daran anziehend, beſtechend, imponirend erſchien,
ſodann was daran für uns unverſtändlich, unwirkſam, be—
fremdlich oder gar abſtoßend war, und ſchließlich was nach
Abwägung des Einen und Andern als bleibende Frucht
jener Studien etwa in uns zurückgeblieben iſt.
Wir kamen damals vielleicht mit einem idealiſtiſcheren
Zug auf die Hochſchule, als es heutzutag durchſchnittlich
der Fall ſein mag, mit einem unklaren ahnungsvollen En—
thuſiasmus für eine unbekannte Weisheit; etwa wie der
Schüler im Fauſt wenn er ſagt:
— ————
39
Ich wünſchte recht gelehrt zu werden
Und möchte gern, was auf der Erden
Und in dem Himmel iſt, erfaſſen,
Die Wiſſenſchaft und die Natur.
Wir hegten noch den harmloſen Glauben, daß es eine
volle und unverhüllte Wahrheit gebe, daß die Lehrer an den
Hochſchulen ſie wüßten und vortrügen und daß es nur an
uns hänge, ſie in uns aufzunehmen und zu begreifen.
Dieſem Verlangen nach einer aus dem Vollen geſchöpf—
ten Wahrheit konnte nun nichts Willkommeneres, nichts
Imponirenderes begegnen als die Hegel'ſche Philoſophie.
Denn ſie iſt ein Syſtem im eminenteſten Sinne des Worts,
von der univerſellſten Anlage und Conſtruction; ſie zieht
alle Gebiete menſchlicher Erfahrung in ihren Kreis; ſie
giebt Antwort auf alle Fragen. Ich glaube, daß man für
alle Zeiten in der Hegel'ſchen Encyclopädie der philoſophiſchen
Wiſſenſchaften das Werk eines großartig angelegten Geiſtes,
einen logiſchen Aufbau des Kosmos von grandioſer Archi—
tectonik und Symmetrie bewundern wird.
Und dieſer das geſammte Weltall umfaſſende Gedanken—
bau war ein Werk aus Einem Guß wie kaum irgend ein
zweites Syſtem. Faſt alle andern Syſteme ſehen ſich ge—
nöthigt, dem Denken irgend eine unüberſteigliche, äußerlich
gegebene Schranke gegenüberzuſtellen, die nicht aus dem
Gedanken ſelbſt abzuleiten iſt, ſei es eine ewige Materie, ein
Chaos blinder Naturkräfte, oder ein Ding an ſich, ein Wille,
ein ewiger vorzeitlicher Ungrund oder was ſonſt, und das
Denken war nur das formgebende, geſtaltende Princip ohne
eigene Schöpferkraft. Das Hegel'ſche Syſtem hat allen
40
Dualismus beſeitigt; es it der reinſte Monismus des Ge—
dankens. Es eriftirt lediglich nichts als Geiſt, als das
Abſolute, die Idee, die ewige Vernunft in den verſchiedenen
Stufen und Momenten ihrer Selbſtentfaltung. Selbſt die
ſtarren, unlebendigen, Zeit und Raum erfüllenden Geſtalten
der Natur, die den ſchärfſten Gegenſaz zu allem Geiſtigen
zu bilden ſcheinen, ſind doch auch nichts anderes als eine
beſondere Art von Gedankenformen, die der Geiſt aus der
Bewegung ſeines innerſten Weſens hervorgehen läßt. Man
hat daher mit Recht die Hegel'ſche Lehre als das Syſtem
des Panlogismus bezeichnet. Rein aus eigenen Mitteln,
und ſcheinbar wenigſtens, ohne nach rechts und links auf
die empiriſch gegebene Wirklichkeit hinüberzublicken, baut
Hegel in einer unendlichen Reihenfolge von Denkbeſtim—
mungen, deren jede einzelne mit Nothwendigkeit aus der
vorangehenden folgen ſoll, die concrete Wirklichkeit vor un—
ſerm ſtaunenden Blick auf. Das Wunder, wie einſt Gott
die Welt aus Nichts geſchaffen hat, wiederholt ſich vor un—
ſern Augen. Denn in der That nimmt auch der Hegel'ſche
Gedankenbau ſeinen Ausgang von dem reinen Nichts und
erzeugt durch die angeblich immanente Bewegung des Den—
kens ſelbſt immer höhere und beziehungsreichere Begriffe,
die aber zunächſt alle immer noch in dem ätheriſchen Ele—
mente des reinen und abſtracten Denkens liegen. Es ſind
dieß gleichſam die Gedanken des in ſich brütenden Gottes,
die dem Akte der Weltſchöpfung vorausgehen. Denn nun,
nachdem die Idee jene Reihe der allgemeinen nothwendigen
Denkformen in ſich durchlaufen hat, da tritt ſie — durch
einen wunderbar kühnen Sprung ihres Auslegers — aus
jenem luftigen Element der Abſtraction, das ihr nicht mehr
genügt, heraus, entläßt ihre eigenen Denkmomente aus
ſich zu geſondertem, ihr ſelbſt entfremdetem Daſein; ſie
wird zur Natur. Die Natur iſt der verhüllte Geiſt, der
Gedanke in ſeiner Selbſtentäußerung. Die Natur iſt auch
Gedanke, aber ſie weiß es nicht. Sie ſpielt in einer un—
endlichen Fülle der mannigfaltigſten Geſtalten, aber ihr
Schaffen durchdringt ein Zug nach vorwärts, nach dem
Lichte des Bewußtſeins und der Erkenntniß. Von den
blinden und lebloſen Kräften ſteigt ſie zu den organiſchen
Weſen auf, von einer Stufe zur andern, dabei ſpielend,
variirend, oft ſcheinbar rückſchreitend, bis endlich in dem
Bewußtſein des Menſchen der Durchbruch gelingt. Damit
beginnt die Philoſophie des Geiſtes. Die ewige Vernunft
kehrt aus ihrer Entfremdung im Naturleben zu ſich ſelbſt
zurück; ſie findet ſich wieder, bereichert und verklärt, zur
Stufe der Freiheit durchgedrungen. Aber alsbald beginnt
wieder die neue Gliederung von Stufe zu Stufe; das in—
dividuelle ſubjective Seelenleben iſt nur eine erſte, mangel—
hafte Geſtalt der Idee, die ſich ſelbſt wieder gefunden hat;
reicher iſt der Gedanke der Freiheit verwirklicht auf der
Stufe des objectiven Geiſtes in den ſocialen Formen von
Recht und Sitte, von Familie, Geſellſchaft und Staat, wie
in der ſtetigen fortſchrittlichen Entwicklung der Weltge—
ſchichte. Zur vollen Rückkehr in ſich ſelbſt, zum Abſchluß
ihres unendlichen Kreislaufes gelangt die Idee in den
Stufen des abſoluten Geiſtes, der Kunſt, der Religion, der
Philoſophie; hier beſchaut der Geiſt in ſeliger Freiheit fein
eigenes ewiges Thun in verklärten Formen der Anſchauung,
der Vorſtellung, des Begriffs.
So viel Dunkles, Anfechtbares und Unzulängliches
dieſer Gedankengang auch im Einzelnen enthalten mag, daß
er auf jugendliche, erkenntnißdurſtige Gemüther anregend,
beſtechend, überwältigend zu wirken vermochte, daß wir
glauben konnten, jener Iſisſchleier, der das Götterbild der
Wahrheit verhüllt, ſei hier wenn auch nicht weggezogen doch
gelüftet und aufgedeckt, iſt wohl begreiflich. Freilich blieb
uns Vieles nur halb verſtändlich und oft genug mochte
der Spruch Mephiſto's anwendbar ſein: Im Ganzen haltet
euch an Worte.
Auf der andern Seite ſchien uns für die Wahrheit
der Grundgedanken der Hegel'ſchen Lehre ihre Zuſammen—
ſtimmung mit der unmittelbaren Erfahrung und Wirklich—
keit ein ſtarkes Zeugniß zu ſein. Im Ganzen liegt ja bei
allen philoſophiſchen Syſtemen ihre eigentliche Ueberzeugungs—
kraft weniger in dem logiſchen Zwang, mit dem ſie uns ge—
fangen nehmen, als in ihrer Bewährung im Gro
zen und
Ganzen, in der Rechnungsprobe, die ſchließlich im Vergleich
mit dem unmittelbaren Eindruck des Weltlaufes und der
Geſammterfahrung herauszukommen ſcheint, in der Kleinheit
des Reſtes, der am Ende als unerklärt übrig zu bleiben
pflegt.
Eine ſolche Bewährung durch die praktiſche Rechnungs—
probe ſchien nun der Hegel'ſchen Lehre in zwei wichtigen
Beziehungen zu Statten zu kommen.
43
Faſt alle andern Philoſophen waren zunächſt nur dar—
auf bedacht geweſen, in dem ſteten Wechſel und der Flucht
aller Erſcheinung das Beharrende und Bleibende aufzu—
ſuchen, die feſten Pfeiler und Bögen zu bauen, zwiſchen
welchen der ruheloſe Strom des Weltlaufes unaufhaltſam
hindurchbraust. Die Flucht der Erſcheinungen ſelbſt wußten
ſie nicht zu deuten; ſie nahmen ſie als eine gegebene That—
ſache und Schranke hin, die gegenüber von der ruhig be—
harrenden Idee oder Wahrheit nur als ein Scheinbares,
Unweſentliches, oder wie Plato ſagt als das Nicht Seiende
galt. Für Hegel dagegen gab es, wie für ſeinen Vor—
gänger im grauen Alterthum Herakleitos den Dunkeln,
überhaupt kein Sein, ſondern nur ein unendliches Werden.
Nichts iſt bleibend als die Bewegung ſelbſt. Alles iſt Proceß
und Entwicklung, das Glied einer Reihe, die Stufe einer
Treppe, die nach oben führt. Unaufhörlich und nach allen
Richtungen wiederholt ſich der Gang, daß ein Moment
geſezt wird, dieſem ein Zweites entgegentritt und es auf—
hebt, und daß aus dieſem Conflict ein Drittes, bereichert
und vertieft hervorgeht. Alles Einzelne iſt einſeitig, relativ,
mangelhaft, vorübereilend; die Wahrheit liegt nie im Ein—
zelnen für ſich, ſondern immer erſt in der Reihe.
Wir waren damals gewöhnt, uns neben den Werken
der Philoſophen, die wir ſtudiren ſollten, eines kleinen me
taphyſiſchen Handbüchleins oder Catechismus zu bedienen,
deſſen Sprüche uns weit verſtändlicher und geläufiger waren
als die oft abſtruſen Formeln der Schule. Es war Göthes
Fauſt. Und ſo überſezten wir uns die Hegel'ſchen Sätze,
44
daß das Abſolute nicht Subſtanz ſondern Subject ſei, und
in einem unendlichen dialectiſchen Proceß ſeine Momente
ſetze und aufhebe, leichter in die Worte des Erdgeiſtes,
der Fauſt zuruft:
In Lebensfluthen, im Thatenſturm
Wall' ich auf und ab, webe hin und her.
Geburt und Grab ein ewiges Meer,
Ein wechſelnd Weben, Ein glühend Leben,
So ſchaff' ich am ſauſenden Webſtuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
Daß Hegel dieſe Flucht und Vergänglichkeit aller Er—
ſcheinungen nicht als einen irrationellen und unerklärt blei—
benden Reſt bei Seite ſtehen ließ, ſondern gerade hierin
die nothwendige Form und Methode der Wahrheit, das
Weſen aller Entwicklung erkannte, durfte uns als ein un—
beſtreitbarer Vorzug vor andern Syſtemen erſcheinen und
war mit dem Eindruck, den eine unbefangene Betrachtung
des Weltlaufes machte, weit leichter in Uebereinſtimmung
zu bringen.
Noch in einer andern Beziehung ſchien dieſem Syſtem
der Vorzug der praktiſchen Bewährung zuzukommen. Andere
Philoſophen beſchäftigten ſich mit den allgemeinſten, ſublim—
ſten Fragen der Erkenntnißlehre, der Logik, der Metaphyſik,
der Ethik, welche, man mochte ſie ſo oder anders löſen,
auf die unmittelbaren Forderungen und Probleme der Gegen—
wart, auf die concrete Wirklichkeit, in der wir zu leben
und zu handeln haben, nur durch Einſchaltung vieler Zwi—
ſchenglieder Anwendung finden konnten. Sie legten gleich—
ſam die Schätze ihrer Weisheit weit von unſern Wohn—
45
pläzen an abgelegenen Stellen nieder, wohin nur wenige,
ungangbare und ſchwer findbare Wege führten. Hegel
führte, um bei dieſem Bilde ſtehen zu bleiben, ſeine geiſtigen
Errungenſchaften bis unmittelbar vor die Thüre unſeres
Hauſes. Er geht zwar auch immer von abſträcten Denkbe—
ſtimmungen aus, aber er kommt ſtets, oft in überraſchender
Weiſe und nach wenigen Zwiſchengliedern bei den Aufgaben
und Intereſſen des modernen Lebens, der gegenwärtigen
Geſellſchaft an. Die Erſcheinungen der Gegenwart waren
ihm überall nicht Zufälligkeiten, die dem Philoſophen ferne
liegen, ſondern nach ſeiner ganzen Grundauffaſſung der
Geſchichte der Höhepunkt, der momentane Schlußſtein einer
fortſchrittlichen Entwicklung. Alles was wirklich iſt, iſt ver—
nünftig, alles was vernünftig iſt, iſt wirklich; ſo lautet
jener vielberufene und vielgeſchmähte Satz, der in Ver—
bindung mit dem zweiten, vorhin erwähnten, daß jede ein—
zelne Erſcheinung einſeitig und nur als Glied einer Ent—
wicklungsreihe zu beurtheilen ſei, gegen die nächſtliegenden
Einwände gedeckt, jedenfalls der prägnanteſte Ausdruck von
Hegels tiefſinniger Originalität iſt. Für Hegel war die
Gegenwart, wenn auch nicht die lezte, doch die neueſte, re—
lativ höchſte Offenbarungsſtufe des Weltgeiſtes; wenn Alles
Geiſt iſt und außer ihm nichts exiſtirt, ſo muß ja ein Glanz
der Verklärung auf die Wirklichkeit fallen. Das Ideal iſt
nicht in weiter Ferne, das Gute nicht in einem ewig uner—
füllten Sollen zu ſuchen; ſondern es iſt da, als Errungen—
ſchaft der weltgeſchichtlichen Entwicklung, als Geſez und
Sitte, als Familie, Geſellſchaft und Staat. In dieſe gött—
8 46
liche gegenwärtige Ordnung ſich einzuleben, an ihrer Fort—
bildung mitzuwirken, den nächſten Forderungen des Tages,
des Berufs, dem man ſich widmet, dem Kreis, in dem man
lebt, dem Staat, deſſen Bürger man iſt, volles Genüge zu
thun, das ft für Hegel der Kern aller Ethik. Was man
uns in dem Religionsunterricht der Schule gelehrt, daß die
Welt mit Allem, was darinnen ſei, ein Werk und Spiegel
göttlicher Güte und Weisheit ſei, daß Alles was geſchieht
nach Gottes Willen und weiſem Rathſchluß geſchehe, das
ſchien uns jener Hegel'ſchen Lehre von der Vernünftigkeit
alles Wirklichen und der Wirklichkeit alles Vernünftigen
gar nicht ſo ferne zu ſtehen; es ſchien ja vielmehr hier nur
ein Ernſt mit dieſer Anſchauung gemacht, den man ſonſt
nicht zu machen pflege; es ſchien blos der Widerſpruch aus
ihr entfernt, daß der Menſch fortwährend im Stande ſein
ſoll, einen Strich durch die Rechnung Gottes zu machen
und die Erfüllung der göttlichen Plane zu vereiteln.
Man hat der Hegel'ſchen Philoſophie den doppelten Vor—
wurf gemacht, daß ſie das Subject, den Einzelnen zu hoch
und zu niedrig ſtelle; zu hoch, nicht nur, weil ſie, wie alle
pantheiſtiſchen Syſteme, dem Menſchen einen Antheil an dem
unmittelbaren göttlichen Leben leiht, ſondern noch mehr,
weil ſie in menſchlichen Thätigkeiten, in Kunſt, Religion,
Philoſophie die höchſte Wirkungsform des abſoluten Geiſtes
findet; zu niedrig dagegen, weil ſie rückſichtsloſer als irgend
eine andere Theorie, die Individualität mit ihrem jubjec-
tiven Fühlen, Meinen und Wollen den allgemeinen ſocialen
und kosmiſchen Mächten unterordnet. Ich will hier nicht
—
47
unterſuchen, was an dem einen und dem andern Vorwurf
wahr und begründet iſt; aber das kann ich ſagen, daß uns
jenes angebliche ſchwellende Gefühl eigenen Götterthums
völlig unbekannt war; eine Eigenſchaft, die man nicht nur
mit allen andern Menſchen, ſondern am Ende auch mit den
Thieren, Pflanzen, Metallen zu theilen hat, könnte ja Nie—
mand hochmüthig machen; und von unſerem eigenen philo—
ſophiſchen Denken bildeten wir uns entfernt nicht ein, daß
wir damit dem ewigen Weltgeiſt zu ſeinem Selbſtbewußt—
ſein behilflich wären. Weit wirkſamer und hervortretender
war die andere Seite der Sache, daß der Einzelne nur die
flüchtige Welle, das verſchwindende Atom in dem unend—
lichen Weltproceß ſei, ohne den Anſpruch auf eine ſelb—
ſtändige Geltendmachung ſeiner Individualität, ohne Bürg—
ſchaft für ihre Erhaltung und ihr Fortſchreiten zu höheren
Offenbarungen. Dieſe Forderung einer unbedingten Re—
ſignation hat für den jugendlichen Geiſt einen verführeri—
ſchen Reiz, der ſich für das gereifte Lebens- und Ichgefühl
wieder verliert. Es mag dieß dieſelbe pſychologiſche Urſache
haben, aus welcher der Jüngling die von Kraft und Ge—
ſundheit ſchwellenden Glieder, alle Hoffnungsträume einer
reichen Zukunft leichter und williger der Gefahr und dem
Kugelregen ausſezt, als der Gebrechliche, dem Gegenwart
und Zukunft nur Trübes bietet. Der Stolz der Entſagung
und opferwilligen Hingabe verleiht bei ſicherem Beſiz eine
angenehme Schwellung des Selbſtgefühls.
Ich komme zu der unerquicklichſten und peinlichſten
Seite des Studiums der Hegel'ſchen Schriften und Lehren,
zu der eigenthümlichen Form der Beweisführung und Ge—
dankenentwicklung oder zu der ſogenannten dialectiſchen Me—
thode. Wenn man ſich nemlich etwa vermaß, an einen
ſtrikten Hegelianer die Frage zu ſtellen: aber womit beweist
Ihr denn die Wahrheit Eurer Behauptungen, ſo erhielt
man eine vornehm abweiſende, mit tiefen und dunkeln
Orakelſprüchen verſezte Antwort, etwa folgenden Inhalts:
was man ſo gemeinhin unter Beweiſen verſteht, jenes Hin—
und Herwägen von Gründen und Gegengründen, jenes
Zurückführen der Sätze auf gemeinſame bereits erwieſene
oder anerkannte Ausgangspunkte, das gehört nur in die
niedrige Sphäre des verſtandesmäßigen Erkennens. Für
das philoſophiſche Denken hat es keine Berechtigung. Die
Wahrheit erweist ſich durch die Darlegung ihrer ſelbſt;
dem Begriff kommt eine eigene, immanente Bewegung zu,
welcher ſich das Subject nur darbieten und aufſchließen
kann, indem es ſeine eigenen willkührlichen Einfälle zurück—
hält, und dieſe Bewegung wird ihrem inneren Weſen nach
immer eine dreigliedrige ſein. Die erſte Stufe bildet dabei
ſtets die unmittelbare, der gemeinen Vorſtellung entnommene
Auffaſſung eines Gegenſtandes, wie er ſich aus der Wahr—
nehmung, durch Aneinanderreihung verſchiedener Eigenſchaf—
ten oder Merkmale ergiebt. Dieſe Stufe gehört noch der
Verſtandesſphäre an. Nun bemächtigt ſich aber ein höheres
Organ dieſes Stoffs, die Vernunft, und übt daran eine
doppelte Function, einmal eine critiſche, negative, dialectiſche,
indem ſie in jenen vom Verſtand angenommenen Merkmalen
innere Widerſprüche entdeckt und heraushebt und damit den
49
Begriff in ſein Gegentheil verkehrt, jo daß das was man
feſt zu haben glaubt, wie zwiſchen den Händen zerrinnt,
ſodann aber auch eine poſitive, ſpeculative Thätigkeit, indem
ſie es bei dieſem negativen Reſultat nicht bewenden läßt,
ſondern zu einem neuen Begriff, der höheren Einheit oder
Vermittlung jener Gegenſätze fortſchreitet, mit welchem nun
zugleich der Ausgangspunkt für eine Wiederholung ganz
derſelben dreigliedrigen Bewegung gegeben iſt; wie ſich denn
in der That das ganze Syſtem von A bis Z durch un—
zählige Paragraphen in ſtets wiederkehrendem triadiſchem
Rythmus fortwindet.
Ich kann nicht ſagen, wie viel Mühe und Kopfzer—
brechen es uns gekoſtet hat, dieſe ſogenannte ſpeculative
Methode Hegels auch nur ſoweit in uns aufzunehmen, um
zu begreifen, wie ſie denn eigentlich von ihrem Urheber
gemeint war. Es fragte einer den andern kopfſchüttelnd:
verſtehſt du es denn? bewegt ſich der Begriff in dir von
ſelbſt und ohne dein Zuthun? ſchlägt er in ſein Gegentheil
um und ſpringt daraus die höhere Einheit der Gegenſätze
hervor? Wem man dieß zutraute, der galt für einen ſpe—
culativen Kopf. Wir andern ſtanden nur auf der Stufe
des Denkens in endlichen Verſtandescategorieen. Denn das
Prädicat verſtändigen Denkens, durch welches ſich jezt Jeder—
mann geehrt findet, galt damals ſonderbarer Weiſe für
einen Tadel. Wir ſuchten den Grund, warum wir dieſe
Methode nicht recht verſtehen konnten, in der Stumpfheit
unſerer eigenen Begabung und waren nicht ſo keck, ihn in
der Unklarheit und den Mängeln der Methode ſelbſt zu
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 4
50
vermuthen. Immerhin aber war es nicht allzuſchwer, ſich
jenen dreigliedrigen Schematismus anzueignen; und es fehlte
in keinem der philoſophiſchen oder theologiſchen Aufſätze,
die wir zu fertigen hatten, die obligate Dreitheilung, wobei
gewöhnlich der erſte Theil die herkömmliche Auffaſſung, z. B.
das kirchliche Dogma, darlegte, der zweite daran allerhand
Bedenkliches und Widerſprechendes nachwies, der dritte oder
ſpeculative Theil aber, ſo gut es gehen mochte, die ſoge—
nannte höhere Einheit oder Vermittlung der Gegenſätze
vortrug.
Hätten wir damals ſchon jene „logiſchen Unterſuchungen“
eines neueren Forſchers gekannt, die der dialectiſchen Me—
thode Hegels den Todesſtoß verſezt haben, ſie hätten uns
vielleicht einen großen Dienſt erwieſen. Ich kann aber
freilich nur ſagen, vielleicht. Denn es lebte und wirkte ja
damals in Tübingen ſelbſt ein Vertreter der alten und
guten Logik, der das Blendwerk der neuen Dialectik, das
Spiel mit dem Sein, Nichts und Werden, klar durchſchaute
und darlegte, der aber den jungen Adepten der neuen Weis—
heit einer veralteten Schule anzugehören ſchien, zumal da
er ſeine ſcharf gedachten Sätze in ſchmuckloſer, von Schema—
tismus nicht ganz freien Weiſe vorzutragen pflegte.
Außer einem kleinen Häuflein von dem alten Stamm
der Schule befaßt ſich heute Niemand mehr mit dieſer dia—
lectiſchen Methode; ſie gilt als eine Verirrung, als ein mit
allzugroßer Zuverſicht-und Kühnheit unternommenes Atten—
tat gegen die alte, weltgiltige, ewige Logik. Niemand glaubt
mehr, daß der menſchliche Intelleet in zwei Vermögen,
51
Verſtand und Vernunft, zerfalle, von denen das eine für
wahr halten kann und muß, was dem andern als falſch
erſcheint. Seit Jahrtauſenden hatte die Menſchheit nach
dem erſten aller Geſeze gedacht, daß Widerſprechendes nicht
ſein und nicht gedacht werden könne, daß niemals ein Ur—
theil und das ihm entgegengeſezte zugleich wahr ſeien. Sie
wird auch nach und troz Hegel darnach die weiteren Jahr—
tauſende fort denken, die ihr noch beſchieden ſein mögen.
Was Hegel gegen die Sätze des Widerſpruchs und des
ausgeſchloſſenen Dritten vorbringt, ſind Mißverſtändniſſe
oder bereits Verlezungen derſelben. Faſt auf jeder Seite
der Hegel'ſchen Schriften iſt zu leſen, daß A auch non A
ſei. Faſt auf jeder Seite werden verwandte, aber ſcharf
zu ſcheidende Begriffe, wie Gleichheit, Einheit, Identität
auf der einen, Ungleichheit, Gegenſaz, Gegentheil, Wider—
ſpruch auf der andern Seite unter ſich verwechſelt und ver—
ſchoben. Niemand wird ferner daran glauben, daß die
Begriffe ſelbſt in ihm denken, daß es überhaupt ein Denken
oder ein Gedachtes geben könne, ohne ein Etwas, was denkt.
Wenn wir es uns begreiflich machen wollen, wie ein
ſo großer Denker dazu kam, an einer ſo eigenthümlichen
Verirrung ſein Leben lang feſtzuhalten, ſo müſſen wir uns
in die geiſtige Atmoſphäre jener claſſiſchen Periode zurück—
verſetzen. Unſere großen Philoſophen von Kant an glänzen
wohl überhaupt mehr durch die Tiefe, den Scharfſinn, die
Kühnheit, als durch die Klarheit und Präciſion ihres Den—
kens. Sie griffen gleich nach den höchſten Problemen, ſie
tauchten in die unterſten Tiefen der Metaphyſik; den Unter—
4 *
ſchied von Verſtand und Vernunft ſteigerte man allgemein
in einer Weiſe, die wir nicht mehr verſtehen. Auch Kant
hatte in den Antinomieen widerſprechende Sätze als gleich
wahr nachzuweiſen geſucht. Der verführeriſche Reiz der
myſtiſchen Dreizahl, des Spiels mit Eins und Drei und
Drei und Eins macht ſich vielfach geltend. Auch Kant
liebte die dreigliedrige Eintheilung. Fichte hat auf Theſis,
Antitheſis und Syntheſis ſein ganzes Syſtem aufgebaut.
Die Philoſophen waren faſt alle ehemalige Theologen; die
eracten Wiſſenſchaften und ihre Methoden ſtanden weit nicht
ſo hoch wie jezt. Dazu war man ohne viel Bedenken ſtets
bereit, die Merkmale des Seins auch auf das Denken zu
übertragen, ſogar von einer Einheit des Seins und Denkens
zu reden. In der realen Welt, der phyſiſchen und ſo—
cialen, iſt es ja ſo, daß Alles fließt, daß Extreme in ein—
ander übergehen, daß polare Kräfte ſich bekämpfen und aus
ihrem Streit ein neues Drittes hervorgeht. Dem Welt—
gang ſelbſt läßt ſich in der That ein Analogon jener dia—
lectiſchen Methode beilegen. Beim Uebertragen auf den
Denkproceß konnte man dann leichter überſehen, daß Ge—
danken fixirte Bilder ſind, und daß, wenn man dem Denken,
den Begriffen, die Flüſſigkeit der realen Dinge beilegt,
man denſelben Fehler begeht, wie wenn man ſagt, daß die
gemalte Roſe mit der wirklichen verwelke, das Porträt mit
dem Original alt werde und ſterbe.
Hegel hatte geglaubt, mit ſeiner dialectiſchen Methode
dem menſchlichen Denken einen feſten Gang von innerer
Nothwendigkeit zu leihen und hat ſich darin gewaltig ge—
täuſcht. Sie erwies ſich vielmehr als ein Hauptſchlüſſel,
ein Paſſepartout, der ſich beliebig nach jeder Richtung ver—
wenden ließ. Der eine ſeiner Schüler hatte vermittelſt
derſelben die lutheriſche Dogmatik ſtreng nach dem Richt—
ſcheit der ſymboliſchen Bücher conſtruirt; andere warfen
damit das Chriſtenthum und alle Religion über Bord. Hegel
hatte in politiſchen Dingen eine ſtreng conſervative Rich—
tung eingehalten, manche ſeiner Schüler huldigten den de—
ſtructivſten Anſichten. Es ging zulezt Alles aus den Fugen
und keine Schule hat ſich in ſo radicale Gegenſätze geſpalten.
Auch für die Streitfrage über Hegel's Stil und Dar—
ſtellung bildet dieſe Methode das entſcheidende Moment.
Niemand wird läugnen können, daß ſich in Hegel's Schriften
Stellen von großer Sprachgewalt finden, weittragende Ge—
danken in ſchlichtem monumentalem Ausdruck, die über—
raſchendſten und geiſtvollſten Vergleichungen. Aber man
wird ſolche Stellen doch faſt nur da finden, wo ſein Geiſt
ſich frei und ausgeſpannt von dem Joch der Methode be—
wegen kann, in den Vorreden, den Zuſätzen und Excurſen
ſeiner Paragraphen. Wo das monotone Einerlei des drei—
taktigen Stechſchrittes beginnt, wird es dem Leſer ſelten ſo
wohl und wir vermiſſen oft ſchmerzlich genug jenes Luſtge—
fühl, mit dem wir einer klaren, beflügelten, überwältigenden
Gedankenentwicklung zu folgen pflegen.
Und ſo iſt es auch zu wenig geſagt, wenn man die
dialectiſche Methode nur die Achillesferſe des Syſtems ge—
nannt hat. Dieß Bild ſezt einen ſonſt makelloſen und un—
verwundbaren Körper voraus, der nur eine einzige ſchwache
Stelle hat. Die Hegel'ſche Methode gleicht aber mehr einem
ſchädlichen Stoff oder Ausſaz, der den ganzen Körper bis
in die innerſten Poren durchzieht und durchdringt, und
allen Theilen ein krankes Element beimiſcht. Die Nach—
welt wird Hegel's Schriften um dieſer Methode willen un—
lesbar finden.
Dieß führt zu der lezten Frage: was bleibt überhaupt
demjenigen aus dem Studium der Hegel'ſchen Werke als
feſte Errungenſchaft übrig, der in jener dialectiſchen Me—
thode ein Blendwerk, ja eine Verlezung der unvergänglichen
logiſchen Grundgeſeze erkannt zu haben glaubt, der dem
ganzen Syſtem jede Beweiskraft abſprechen muß? Erlauben
Sie mir, darüber ein individuelles Votum noch in der
Kürze auszuſprechen. Man kann die Aufgabe des menſch—
lichen Denkens nicht großartiger und univerſaler auffaſſen,
als es Hegel gethan. Denn ein höheres Ziel können wir
uns nicht vorſtellen, als im Weltall die gegliederte Offen—
barung der ewigen Vernunft, des Einen und höchſten Geiſtes
darzulegen, wenn wir auch nie den Zweifel bewältigen
werden, daß ſich Wirklichkeit niemals aus rein intellectuellen
Vorgängen erklären laſſe; und wenn irgendwo möchte hier
der Spruch gelten: in magnis voluisse sat est. Der
Stufengang dieſer Offenbarungen durch die verſchiedenen
Gebiete und Ordnungen des unbewußten und bewußten
Lebens iſt von keinem Denker beſſer und eingehender nach—
gewieſen worden. Der Gedanke, daß nichts ſtarr und feſt,
ſondern Alles in ſtetem Fluß und Werden begriffen iſt, war
nicht neu, aber die Idee der Entwicklung wurde von keinem
der früheren Philoſophen tiefer und fruchtbarer erfaßt.
Ebenſo hat Hegel in einer Reihe einzelner Zweige der
Philoſophie ſchöpferiſch und bahnbrechend gewirkt. Seine
Leiſtungen ſind hier allerdings von ſehr ungleichem Werth.
Seine Logik wird nur als ein intereſſanter aber mißlungener
Verſuch gelten, die alten Denkgeſeze umzugeſtalten, die all—
gemeinen Begriffe und Denkformen, welche ſich uns theils
aus der Natur unſerer eigenen Denkorgane, theils aus dem
Stoff der Wahrnehmungen ergeben, ſo an einander aufzu—
reihen, daß von dem einfachſten zum reichſten Begriffe fort—
gegangen und jede neue Stufe rein aus den vorangegange—
nen abgeleitet wird. Hegel's Naturphiloſophie ſteht den
heutigen Methoden der Naturforſchung am fremdeſten gegen—
über; ſie zeigte, wie gefährlich alles Conſtruiren realer Er—
ſcheinungen aus allgemeinen Begriffen iſt; denn Hegel hat
die falſchen und die richtigen Anſichten ſeiner Zeit in gleicher
Weiſe als Dentnothwendigkeiten deducirt. Gleichwohl hat
der Grundgedanke, die Natur als erſtarrten, nach dem Licht
des Bewußtſeins emporringenden Geiſt zu betrachten, eine
tiefere Berechtigung, die durch die Unvollkommenheiten der
einzelnen Deutungen nicht in Frage geſtellt wird. Die
Pſychologie iſt das Feld, in welchem Hegel's Leiſtungen
am wenigſten original und ſchöpferiſch ſind. Sein Geiſt
bewegte ſich zu ausſchließlich in den ätheriſchen Schichten
der allgemeinen Begriffe, als daß er für die verſchlungenen
Windungen und Regungen der individuellen Seele das
rechte Intereſſe und Verſtändniß hätte finden können. Er
ſah hier nur die Sphäre des Zufälligen und warnt davor,
die Eigenthümlichteiten des Menſchen zu hoch anzuſchlagen.
Es bleiben drei Gebiete übrig, in welchen Hegel's Leiſtungen
Epoche machend und von unvergänglicher Geltung ſind, die
Aeſthetik, die Rechtsphiloſophie, die Philoſophie der Geſchichte.
Seine Aeſthetik iſt ein bahnbrechendes Werk, das zum
erſtenmal den ganzen Stoff geſtaltend und ordnend bewältigt
hat. Die dialectiſche Methode war hier bei rein intellec—
tuellen Vorgängen, „in den heitern Regionen, wo die reinen
Formen wohnen,“ fruchtbarer und berechtigter als anderswo.
Man wird heutzutag kaum irgend ein äſthetiſches Buch oder
Urtheil finden, in welchem nicht Hegel'ſche Gedanken offen
oder verſteckt eine Hauptrolle ſpielten. Dieß Verdienſt wird
dadurch nicht geſchädigt, daß die Gegenwart das Bedürfniß
hat, die äſthetiſchen Begriffe nicht mehr aus den fernen
Wolken der Idee herunterzuholen, ſondern von unten, auf
der Grundlage phyſiologiſcher und pſychologiſcher Thatſachen
aufzubauen.
Hegel's Rechtsphiloſophie iſt in formeller Beziehung
nach Gliederung und Anordnung des Stoffs das ſchwächſte
unter ſeinen Werken, aber zugleich das reichſte an neuen
und fruchtbaren Gedanken. Man hatte das Gute bis dahin
nur entweder aus dem Gewiſſen der Einzelnen oder aus
einem nicht weiter erklärlichen göttlichen Gebote, den Staat
ebenſo nur entweder durch ein Zuſammentreten vieler Einzel—
willen oder durch beſondere göttliche Anordnung zu erklären
gewußt. Hegel ſtellte den neuen Begriff des objectiven
Geiſtes, der ſubſtantiellen Sittlichkeit auf. Das Gute iſt
ihm nicht ein bloßes Ideal, das nie und nirgends zu er—
en
2
faſſen iſt, ſondern es iſt da, es iſt realiſirt in den ſocialen
Mächten und Ordnungen, die, nicht von menſchlicher Will—
kühr abhängig, auf ſich ſelbſt ruhen und als die höheren
Offenbarungsſtufen des Weltgeiſtes über der niedrigeren
Sphäre des ſubjectiven Geiſtes aufgelagert ſind. Familie,
Geſellſchaft und Staat ſind die realiſirte Sittlichkeit; der
Staatsidee ſelbſt insbeſondere hat Hegel die verlorene und
vergeſſene Hoheit und Majeſtät wieder zurückgegeben; er
unterwirft nicht den Staat dem Menſchen, ſondern den
Menſchen dem Staat. Der Staat iſt nicht, wie nach mo—
dernen Theorieen, einem in periodiſchen Abſtimmungen be—
ſtehenden allgemeinen Volks- oder Mehrheitswillen unter
die Füße geworfen, ſondern ruht auf ſeiner eigenen Au—
torität, die ihm Niemand leihen oder nehmen kann. Die
Freiheit iſt nicht Willkühr und Belieben des Einzelnen,
ſondern die Verwirklichung der ſittlichen ſocialen Ordnung.
Auch wem dieſe Anſchauungen Hegel's ganz aus dem Herzen
genommen ſind, der wird doch immer noch etwas Weſent—
liches darin vermiſſen. Die ſocialen Ordnungen ſind bei
Hegel über der Sphäre des individuellen Lebens wie ein
höheres Stockwerk ausgebreitet, ungefähr wie die Thierwelt
über der Pflanze, das Menſchliche über dem Thieriſchen.
Unſer moderner Naturalismus verlangt wenigſtens, daß
ihm die Treppen aufgezeigt werden, die von einem Stock—
werk zum andern führen. Jener objective Geiſt, jene ſitt—
lichen Subſtanzen ſind uns nur verſtändlich als die Maſſen—
wirkungen der ſocialen und metaphyſiſchen Triebe, welche
neben den animaliſchen und egoiſtiſchen zur natürlichen Aus—
ſtattung der individuellen Seele gehören.
Noch größer vielleicht iſt das Verdienſt Hegel's um ein
philoſophiſches Verſtändniß der Geſchichte. Seine ganze
Methode, die Grundanſchauung, überall Entwicklung, Pro—
ceß, Fortſchritt zu ſehen, hatte hier ihre eigentliche Hei—
math und Berechtigung. Die Aufgabe, in dem Gang
der Univerſalgeſchichte feſten Plan und Sinn zu finden,
war zuvor nur als ein Poſtulat behandelt oder in allge—
meinen Phraſen abgefertigt worden. Hegel's Philoſophie
der Geſchichte, eine kleine, nur ſkizzenhafte Arbeit und in
der Deutung des Einzelnen vielfach nicht genügend, iſt doch
der erſte bedeutende Verſuch, auch dieß unabſehbare, un—
faßbare Gebiet dem menſchlichen Erkennen zu erobern. Der
Grundgedanke, in der Völkergeſchichte eine Reihe von Welt—
anſchauungen von ſteigender Vertiefung, von ſtetem Fort—
ſchritt im Sinn der Freiheit, der Herrſchaft des Geiſtes
über das Natürliche, ſodann die führenden Volksgeiſter als
die Träger und Darſteller dieſer Weltanſchauungen zu be—
trachten, iſt bewußt und unbewußt in die ganze ſeitherige
Geſchichtsbehandlung übergegangen. Der größte Hiſtoriker
unſers Volks und Zeitalters mag zwar mit Recht ſpotten
über alle philoſophiſchen Conſtructionen von Thatſachen, doch
beſteht ſeine eigene größte Leiſtung eben darin, dem Welt—
gang ſeine dialectiſche Methode abzulauſchen und uns in
künſtleriſcher Darſtellung vorzuführen.
Der Sinn für politiſche und hiſtoriſche Erſcheinungen
war überhaupt nächſt der immenſen Befähigung zu abſtrac—
tem Denken das ſtärkſte Element in Hegel's geiftiger Aus—
ſtattung. Er ſteht hierin über allen neueren Philoſophen.
Vor Fichte's überfliegendem Idealismus hat er den Um—
fang und die Gründlichkeit empiriſchen Wiſſens voraus.
Es kam ihm darin vielleicht auch die praktiſche Schule zu
Statten, die dem Altwürtemberger unſere damals ſehr be—
wegten Verfaſſungskämpfe boten. Am Anfang dieſes Jahr—
hunderts hat Hegel den Entwurf einer deutſchen Reichs—
verfaſſung ausgearbeitet, in welchem die militäriſch-diplo—
matiſche Einheit und die Gemeinſamkeit des Rechts- und
Verkehrslebens für die unerläßlichen Hauptpunkte erklärt
werden, freilich mit dem Zuſaz, daß etwas derartiges in
Deutſchland mit friedlichen Mitteln niemals zu erreichen
ſein werde. Dem preußiſchen Staat, in deſſen jähem Sturz
durch die Jenaer Schlacht er eine gerechte Strafe politischer
Unfähigkeit erkannte, wendete er ſich nach ſeiner Wieder—
geburt mit voller Wärme und einſichtsvoller Würdigung zu;
er ſah in ihm die Keime und Elemente des Staats, welcher
der Idee entſpräche. Ja ich ſage nicht zu viel, wenn ich
in den großen Ereigniſſen unſerer Tage auch einen Triumph,
eine Bewährung Hegel'ſcher Staatsweisheit ſehe. Das
Volk, dem die Hoheit und Autorität der Staatsidee ganz
abhanden gekommen, das ſeit zwei Generationen den Staat
zum Spielball der Parteien und Leidenſchaften machte, das
mal ſeine Staatsform erneuert hat, und nie anders als
durch Gewalt und Meineid von oben oder unten, das in
den wechſelnden Stimmungen haltloſer Maſſen noch die
einzige Quelle aller öffentlichen Ordnung ſieht, warf in
frevelhaftem Uebermuth dem Staate den Handſchuh hin,
der vor Allem auf das Pflichtgefühl und die Hingabe Aller
an das Gemeinweſen aufgebaut iſt, der allein ſich das koſt—
bare Gut eines ächten, nicht ungebundenen aber ſelbſtän—
digen Königthums zu bewahren wußte, deſſen größter König
ſich nur des Staates erſten Diener nannte, deſſen Fürſten—
haus, wie kein anderes, von dem Bewußtſein eines Berufes,
einer geſchichtlichen Miſſion durchdrungen blieb. Der Kampf
bot der erſtaunten Welt das Schauſpiel, wie wenn der ei—
ſerne Topf mit dem thönernen zuſammenſtößt; das eine
Volk liegt in Scherben zerſchmettert am Boden, mit Einem
Schlage des höchſten ſocialen Gutes, des Staates ſelbſt ver—
luſtig, das Chaos, den Abgrund der Anarchie vor Augen;
das andere ſteht aufrecht, mit Siegeskränzen ohne gleichen
überdeckt, eine glänzende Epoche ſeiner Geſchichte abſchließend,
eine noch glänzendere eröffnend.
Noch in anderer Weiſe iſt gerade jezt die Erinnerung
an Hegel eine beziehungsreiche. Er iſt ein Vermittler zwi—
ſchen Nord und Süd unſeres Vaterlandes. Bei uns ge—
boren und gebildet, hat er dort gelehrt und gewirkt. Dem
Norden hat er die neue Lehre von der ſelbſtändigen Hoheit
der Staatsidee verkündigt; Tauſenden, die im öffentlichen
Dienſt des preußiſchen Staates ſtanden oder noch ſtehen,
hat er die ſelbſtloſe Hingabe an die Allgemeinheit, an die
ſittlichen Subſtanzen, und den Maßſtab der höchſten Ge—
ſichtspunkte für alles Wirken im Staat gelehrt. Ein ſchwä—
biſcher Denker hat früh und zuerſt in dem preußiſchen Staat
die Anlage zu einem höheren weltgeſchichtlichen Beruf ge—
61
ahnt, hat über ihn gleichſam die Weihe und den Segen
des deutſchen Gedankens ausgeſprochen. Es handelt ſich
heute um neue und dauernde Bande zwiſchen Süd und
Nord. Wozu unſer großer Landsmann uns rathen würde,
womit wir ſein 100jähriges Gedächtniß am würdigſten feiern
und ehren könnten — ich brauche es nicht auszuſprechen.
Ueber das Redtsgefühl.
6. Nov. 1871.
Wenn uns Jemand auf die Frage: was iſt das Recht?
die Antwort giebt: was im Staat geſezliche Geltung hat,
jus est quod jussum est, ſo mag dieſe Auskunft immerhin
für den Hausbrauch zureichen und der praktiſche Juriſt,
wofern er überhaupt ein Bedürfniß nach einer ſolchen all—
gemeinen Begriffserklärung empfindet, wird vielleicht mit
dieſer ſein Lebenlang auskommen können. Gleichwohl zeigt
ſchon ein kurzes Nachdenken, daß jene Definition an dem
ſchlimmſten Fehler leidet, ſich im Kreis zu drehen, und uns
kaum etwas Weiteres ſagt, als wenn ſie einfach hieße:
Das Recht iſt das Recht. Denn die Geſeze fallen ja nicht
vom Himmel herab, ſondern die Menſchen müſſen ſie machen,
und, damit die Geſeze das Recht enthalten können, es vor—
her in ſie hineinlegen, alſo ſonſt woher nehmen. Da wir
uns auch niemals bedenken, manche Geſeze als ſchlechte und
ungerechte zu bezeichnen, ſo müſſen wir offenbar in uns
ſelbſt einen Maßſtab haben, um das Recht von dem, was
nicht Recht iſt, zu unterſcheiden. Und wenn wir weiter
nach dieſem Maßſtab fragen, ſo ſpricht man uns von einem
ungeſchriebenen Natur- oder Vernunftrecht, das wir in uns
63
tragen, von einer Rechtsidee, einem Rechtsſinn, Rechtstrieb,
Rechtsbewußtſein, Rechtsgefühl. Und von einer ſolchen in
dem Innern des Menſchen enthaltenen Wurzel oder Quelle
des Rechts ſprechen nicht nur die Laien und die Philoſophen,
ſondern auch die Juriſten ſelbſt können ſich dieſer Hypotheſe
nicht entſchlagen.
Einer der größten Meiſter des Fachs, der Stifter der
hiſtoriſchen Rechtsſchule, führt alles Recht in lezter Inſtanz
auf das in einem Volk lebende gleiche Gefühl einer inneren
Nothwendigkeit zurück, das ſich nicht weiter erklären laſſe;
und es zeigt ſich damit, daß dieſelbe Wiſſenſchaft, die ſich
ihrer logiſchen Stärke, ihrer klaren und präciſen Begriffe
mit beſonderem, nicht unberechtigtem Stolze zu rühmen
pflegt, ihre letzte Stütze und Beglaubigung aus dem nebel—
hafteſten Elemente unſeres Seelenlebens, aus einem Gefühle,
welches ſich einer weiteren Erklärung entziehe, ableiten ſoll.
Um alſo zu erfahren, was das Recht ſei, werden wir
von den Juriſten weiter gewieſen an die Pſychologen, um
dieſen die Fragen vorzulegen: was iſt und wo ſteckt jenes
eigenthümliche Etwas in uns, aus dem wir das Recht
ſchöpfen und bemeſſen? iſt es ein Gefühl oder ein Gedanke,
ein Sinn oder ein Trieb, ein Einfaches oder ein Zuſam—
mengeſeztes? was ſagt es aus und wieweit reicht ſeine
Wirkung und Bedeutung für Leben und Wiſſenſchaft? Allein
wenn wir nun die pſychologiſchen Lehrbücher nachſchlagen,
ſo werden wir in den meiſten gar keine, in den andern
theils unzulängliche, theils unter ſich verſchiedene Antworten
auf jene Fragen finden; insbeſondere werden wir uns bald
64
in die Lehre von den Erkenntnißkräften, bald in die vom
Willen, bald in die von den Gefühlen verwieſen ſehen.
Erlauben Sie mir, daß ich es in der Kürze verſuche,
eine Antwort auf jene Frage zu geben, daß ich dabei
fremde Anſichten unerwähnt laſſe, ſowohl die, denen ich
beipflichte, als die, denen ich abgeneigt bin, und daß ich
dabei einige allgemeine Sätze als Poſtulate oder Lehrſätze
vorausſchicke. Denn es iſt unvermeidlich, etwas weiter aus—
zuholen. Ich wüßte aus der ganzen Pſychologie keinen
einzigen hieher bezüglichen Saz zu nennen, auf welchen man
ſich als auf einen allgemein zugeſtandenen berufen dürfte.
Spinoza ſagt einmal: der Menſch erſtrebt, will, ver—
langt oder begehrt nichts deßwegen, weil er es für gut
hält, ſondern umgekehrt, weil er es erſtrebt, will, verlangt
oder begehrt, hält er es für gut. Ich möchte dieſem Saz
eine weit größere Tragweite zuſchreiben, als die ſein Autor
ſelbſt ihm gab, und ihn gerade heutzutage, wo es eine ſo
vorherrſchende Uebung iſt, alle pſychiſchen Vorgänge von
den Vorſtellungen aus zu conſtruiren und die Seele als
einen paſſiven Tummelplaz innerer Bilder zu deuten, an
die Spitze aller pſychologiſchen Lehrbücher ſchreiben. Alſo:
der Menſch will nicht etwas, weil er es für gut hält, jon-
dern weil er es will, nennt er es gut.
Der Intellect, um dieſen neuerlichen und bequemen
Ausdruck für das Ganze unſerer Erkenntnißkräfte zu ge—
brauchen, iſt nicht das Primäre und Leitende in uns, ſon—
dern er nimmt nur eine ſecundäre und dienende Stellung
ein. Alle ſeine Thätigkeiten ſind nur formeller Art, und
65
beſtehen in einem fortwährenden Bilden und Umbilden,
Verknüpfen und Unterſcheiden nach ſtets gleichen Formen
und Geſezen. Seine Richtung, ſein Stoff wird ihm durch
den Willen, oder wie ich lieber ſage, da es kein Wollen im
Allgemeinen geben kann, durch die Triebe geſezt. Er iſt
für ſich intereſſelos und keines urſprünglichen Werthurtheils
fähig; und ſo wenig er uns von einem Wein oder einer
Speiſe zu ſagen wüßte, ob ſie wohlſchmeckend ſind, wenn
ſich nicht an die Reize unſerer Zungen- und Gaumennerven
eine angenehme Empfindung anknüpfte, eben ſo wenig ver—
möchte er uns anzugeben, was gut oder ſchön, ja ſelbſt
nicht was wahr iſt, wenn ſeinen Gebilden nicht eine Scala
von eigenthümlichen Gefühlen der Luſt oder Unluſt zur
Seite gienge. Die Triebe, die als organiſche Reize oder
nach Art derſelben wirken und durch einen ununterbrochenen
Strom von Gefühlen ihrer Befriedigung oder Nichtbefrie—
digung mit einem Centralpunkt unſeres pſychiſchen Lebens
in Verbindung ſtehen, find die Directiven des Intellects und
die Kräfte, die das ganze, bunte und verworrene Spiel
unſerer inneren Vorgänge wie an unſichtbaren Fäden leiten
und beherrſchen.
Daß es ſich bei den Thieren ſo verhält, die Triebe
das Leitende, die intellectuellen Kräfte das Dienende ſind,
giebt Jedermann zu. Und auch für jene Millionen, die
ſich nach des Dichters Wort nur beſchäftigen, daß die Gat—
tung beſtehe, die ihr Lebenlang über die Motive von Hunger
und Liebe, von Erwerb und Bequemlichkeit nicht hinaus—
kommen, dürfte es nicht allzuſchwer ſein, dieß Zugeſtändniß
Rümelin, Reden u. Aufſätze. »
66
zu erlangen. Aber für die höheren Gebiete menschlicher
Beſtrebungen, wie Religion und Moral, Kunſt und Wiſſen—
ſchaft, iſt, obgleich es dem Sprachgebrauch ganz geläufig iſt,
von ſittlichen Trieben, von einem Wiſſens- und Erkenntniß⸗
trieb, von einem religiöſen Trieb zu reden, doch die Neigung
vorherrſchend, ſie aus intellectuellen Vorgängen oder, als
ob damit etwas erklärt wäre, aus der Erfahrung und ge—
ſchichtlichen Entwicklung abzuleiten, gleichſam wie wenn die
Form eines Triebs für dieſe Dinge nur eine trübe und
unwürdige Quelle wäre. Ich muß geſtehen, daß ich die
Einſicht in das Weſen der Triebe, in den Primat des
Willens als den eigentlichen Schlüſſel zum Verſtändniß der
einzelnen Menſchenſeele wie der Geſchichte unſeres Geſchlechts
betrachte, und daß mir jene höchſten Güter der Menſchheit
wie in die Luft geſtellt und der beſtändigen Gefahr ihres
Untergangs ausgeſezt erſcheinen würden, wenn ich ihre
Wurzel nur in dem ſchwankenden Elemente wechſelnder Vor—
ſtellungen und zerfahrener Meinungen, nicht in feſten An—
ſätzen unſeres Willens, in unabweisbaren und unverlierbaren
Forderungen unſeres Gemüthes ſuchen dürfte. Und wenn
dem ſo wäre, wenn Triebreize von höherer Natur zur
menſchlichen Mitgift gehörten, dann wären uns diejenigen,
welche nur eine beliebige Anzahl von Jahrtauſenden zur
Verfügung fordern, um die Menſchenſeele aus der des Affen
und des Protamnion allmälig herauswachſen zu laſſen,
vor Allem einen Beweis dafür ſchuldig, wie jemals durch
den Kampf ums Daſein und das Mittel der Zuchtwahl der
Trieb des Mitleids, das Gewiſſen, die Luſt am Schönen,
—
67
der Drang nach Wahrheit, das Suchen der Gottheit habe ent—
ſtehen können; ſie müßten uns begreiflich machen, wie über—
haupt in ein Geſchöpf ganz neue Triebe, neue Quellen von Luſt—
und Unluſtgefühlen hereinkommen können, ohne von Anfang
an wenigſtens in ſtillem Keim darin verborgen zu liegen.
Der Vorzug des Menſchen vor dem Thier beſteht für
dieſe Auffaſſung weit weniger in einer ſchon urſprünglich
höheren Intelligenz, als in dem reicheren, vielgeſtaltigeren
Triebleben, deſſen mannigfache Combinationen und Conflicte
dem Intellect zahlreichere und ſchwierigere Aufgaben ſtellen,
ihn zu immer höheren Leiſtungen anſpornen und durch Feſt—
halten und allmäliges Anſammeln ſeiner Errungenſchaften
im Lauf der Jahrhunderte weit über ſeine erſte Stufe hin—
ausheben. Denn der Intellect iſt das Element der Bildung
und des Fortſchritts; während jede Generation wieder mit
den gleichen Trieben geboren wird, verfeinern ſich nur die
Befriedigungsmittel des Trieblebens, weil der Intellect mit
jedem Geſchlecht an einer neuen und höheren Stufe einſezt
und ſeine Arbeit beginnt. Im Menſchen ſind aber nicht
nur die animaliſchen Triebreize der Selbſterhaltung und
Selbſterweiterung, des Geſchlechts- und Gattungslebens, der
geſelligen Gruppirung in reichſter Gliederung vereinigt, ſon—
dern zu dieſem Complexe elementarer Grundkräfte geſellen
ſich nun noch einige weitere Triebreize hinzu, die wir als
dem Menſchen eigenthümliche die humanen zu nennen pflegen.
Sie treten nicht wie jene animaliſchen Triebe als unge—
ſtümme Forderungen unſerer Natur auf, die ſich bis zur
brennenden Leidenſchaft ſteigern laſſen, ſondern als ſanftere
5
68
und mildere Reize. Aber als Erſaz für ihr fchwächer:
ſinnliche Triebgewalt haben ſie ein von ihrem Auftreten
unzertrennliches begleitendes Gefühl, daß pie Luſtempfin
dungen, die ſie bieten, von anderer, reinerer, höherer Ar:
ſeien, und ſich den übrigen Luſtreizen als die vornehmeren,
als die Werthgefühle gegenüberſtellen. Ich glaube, daß win
drei ſolcher höheren Klaſſen von humanen Trieben unter—
ſcheiden müſſen, die ſich über den animaliſchen Grundſtoch
unſerer Kräfte noch wie höhere Stockwerke, die eine freiere
Aus- und Rundſicht geſtatten, erheben. Die erſte davon
iſt das Mitgefühl, die Theilnahme an fremdem Wohl und
Wehe und das Bedürfniß dieſer Theilnahme von anderen,
die Luſt zu lieben und geliebt zu ſein. Indem die Sprache
dieſen Zug unſerer Seele den der Menſchlichkeit nennt und
von dem Mitleidloſen jagt, er ſei kein Menſch und babe
kein menſchliches Herz, ſpricht ſie es ſelber aus, daß an
dieſem Punkte das Grenzmerkmal unſerer Gattung liegt.
Den zweiten dieſer humanen Triebe möchte ich den intellec⸗
tuellen Functionstrieb oder auch den Erkenntnißtrieb, den
Trieb der Beſchaulichkeit nennen. Beim Thier iſt der In—
tellect nur der ſtumme Diener, deſſen Thätigkeit ganz in
den Objecten der Begierden aufgeht; der Menſch aber be—
trachtet die Dinge auch um der Luſt willen, die ihm das
Betrachten ſelbſt gewährt, ohne alle weiteren ſachlichen
Zwecke; an die Function, an das Spiel des Intellectes ſelbſt
knüpfen ſich gewiſſe Reize, und zwar an den leichten, unge⸗
hemmten, normalen Gang ſeiner Bewegungen, an die Klar
heit und Genauigkeit, an die Uebereinſtimmung und den
69
Einklang der Vorſtellungen Gefühle der Luſt, an die Stö—
*
rungen ſeines Verlaufs, an das Verworrene, Dunkle, Wider—
ſprechende Gefühle der Unluſt. Das glänzendſte Erzeugniß
dieſes intellectuellen Spieltriebs iſt die Sprache, die dem
Thier nur darum fehlt, weil ſein Intellect in der Dienſt—
barkeit aufgeht und die Betrachtung nicht um ihrer ſelbſt
willen begehrt wird. Dieſe beiden zu den animaliſchen
Luſtquellen hinzutretenden neuen Elemente würden, wenn
ſie allein ſtünden, den Menſchen in einen unverſöhnlichen
hoffnungsloſen Zwieſpalt mit ſich ſelber ſetzen; das Mitge—
fühl und die Selbſtliebe würden immer Entgegengeſeztes
begehren und der Intellect könnte ſeiner Dienſtbarkeit und
jenem freien Spiel ſeiner Kräfte nie zugleich gerecht werden.
Vor dieſer Gefahr eines unſeligen Dualismus bewahrt uns
die dritte und lezte Klaſſe der humanen Triebe, die Krone
und der Abſchluß unſerer natürlichen Ausſtattung. Sie
gibt ſich kund in einem Verlangen nach Harmonie und Ein—
klang unſeres Lebens, nach Uebereinſtimmung und Ordnung
in dem bunten Chaos unſerer inneren Vorgänge, in dem
wechſelnden Spiel von widerſtrebenden Motiven. In der
Idee der Ordnung, der Harmonie treffen Wille und In—
telleet von verſchiedenen Wegen aus wie in ihrem gemein—
ſamen Ziel und Brennpunkt zuſammen. Denn wie ſchon
bei dem rein theoretiſchen Spiel unſerer intellectuellen Kräfte
die höchſten Luſtgefühle ſich daran knüpfen, wenn das Viele
und Mannigfaltige, das iſolirt Auseinanderliegende durch
Gliederung, zugleich geſondert und verknüpft, ſich zu einem
Ganzen verbindet und in eine einheitliche Spitze ausläuft,
ebenſo ergreift das Centrum unſers Seelenlebens, auf wel—
ches die Mannigfaltigkeit und der Gegenſaz der Impulſe
ſtörend und ſchmerzlich wirkt, die Idee des Einklangs und
inneren Friedens als das höchſte und lezte Mittel, ſeinen
heißen Drang nach Glückſeligkeit zu ſtillen und einen Schluß—
punkt aller Lebenszwecke zu finden. Ich möchte dieſe lezte
Forderung unſeres Willens den Ordnungstrieb, den Trieb
der Lebensharmonie nennen oder auch die Bezeichnung als
Vernunfttrieb zulaſſen. Denn indem der Intellect dieſe
lezte und höchſte ſeiner Functionen übt, bei welcher ſeine
Dienſtbarkeit zur Freiheit wird, legt er auch den niedrigeren
Namen des Verſtandes ab und nimmt, obgleich die Form
ſeiner Thätigkeit ſich nicht verändert, den höheren Namen
der Vernunft an.
Dieſer Ordnungstrieb gliedert ſich nun aber wieder in
verſchiedene Triebformen, je nachdem er auf die Sphäre
des Willens oder des Intelleets oder auf den Einigungs—
punkt beider, auf das Centrum der Seele gerichtet iſt. Als
contemplativer Ordnungstrieb ſucht er die Einheit und Har—
monie für die Weltbetrachtung; er erzeugt die Idee des
Schönen und des Wahren, die Kunſt und Wiſſenſchaft.
Als praktiſcher, auf den Willen bezogener Trieb ſucht er
die Einheit und Harmonie für die Bethätigung des Trieb—
lebens; er erzeugt die Idee des Guten mit der Unterſchei—
dung einer jubjectiven und einer ſocialen Form, die Sitt—
lichkeit und das Recht. Seine lezte Geſtalt erreicht dieſer
Ordnungstrieb, wenn er Intelleet und Wille, das Ich und
die Welt zuſammenfaſſend, unſer ganzes individuelles Daſein
71
in eine lebendige Harmonie und Einheit mit dem Höchſten
und Beſten, was wir noch zu denken und zu ahnen ver—
mögen, zu ſezen ſucht; er erzeugt die Idee Gottes und die
Formen des religiöſen Lebens.
Ich habe von einem ſittlichen Ordnungstrieb geſprochen
und bin damit nach langem, wie ich hoffe, nicht vergeblichem
Umweg an die Stelle gekommen, die wieder zu unſerem
Thema führt. Es iſt ein Treibendes, eine Kraft in uns,
die gegenüber von dem bunten und wilden Spiel mannig—
faltiger und widerſtrebender Begierden in uns und um uns
etwas Feſtes und Ordnendes fordert, die neben den vielen
Dingen, die wir Güter nennen, weil ſie einem unſrer Trieb—
reize entſprechen, Ein Gutes, das Gute ergreift und allen
übrigen Motiven als das allein Berechtigte mit dem Gefühl
eines unbedingten Sollens entgegenſtellt. Was dieß Gute
ſei, darüber gehen zwar Völker und Zeitalter weit ausein—
ander; aber überall iſt es eine Ordnung und feſte Norm;
überall enthält es eine Werthunterſcheidung unſerer Triebe,
bei welcher die humanen Triebe höher geſchäzt werden, als
die animaliſchen, die ſocialen höher als die egoiſtiſchen.
Im Eſſen und Trinken, in der Feigheit, dem Wankelmuth,
der Lüge, in der Unempfindlichkeit für Ehre iſt es niemals
gefunden worden.
Dieſer ſittliche Ordnungstrieb iſt nun auch wieder in
zwei getrennte Formen gegliedert. Die eine derſelben be—
zeichnen wir mit dem Namen des Gewiſſens. Es fordert
den Einklang und die Harmonie unſeres inneren indivi—
duellen Wollens; es ſtellt jene Idee des Guten, wie es
72
dieſe ſelbſt gebildet oder durch Autorität und Ueberlieferung
empfangen hat, allen andern Motiven als das zur Herr—
ſchaft Beſtimmte, als das Geſollte gegenüber, und hält
daran auch unterliegend feſt. Neben dieſer bekannten und
unbeſtrittenen Erſcheinung ſteht noch eine zweite Geſtalt
jenes ſittlichen Ordnungstriebs, in welcher ſich dieſer, mit
unſeren ſocialen Trieben verſchmolzen, nach Außen kehrt
und die Idee des Guten als die beherrſchende Macht des
geſellſchaftlichen Lebens vertritt. In ihren einfachſten und
elementarſten Aeußerungen erkennen wir dieſe Triebform,
wenn wir den Schwächeren mißhandelt ſehen von dem
Stärkeren, wenn Rache genommen wird an dem Schuld—
loſen, wenn eine Macht nach Laune und Willkühr ausgeübt
wird. Das Gefühl, das uns bei ſolchem Anblick ergreift,
iſt von der paſſiven Form des Mitleids deutlich unterſchieden;
es äußert ſich als Entrüſtung und Empörung des Gemüths
und iſt von dem unmittelbaren Drang nach einer einſchrei—
tenden Handlung begleitet. Wir gewinnen dieß Gefühl
nicht erſt aus der Erfahrung, bei reiferer Ausbildung unſerer
Verſtandeskräfte, ſondern es tritt mit friſcher und voller
Energie ſchon in den erſten Lebensjahren auf, wenn der
Vater die Kinder, der Lehrer die Schüler ungleich behandelt,
den leichten Fehler ſchwer, den ſchweren leicht oder gar
nicht rügt und den gleichen Fall heute ſo und morgen
anders entſcheidet. Wiewohl dieſer Zug unſers Seelen—
lebens alle Merkmale eines Triebs, eines conſtanten Willens—
anſazes, einer drängenden inneren Kraft hat, ſo iſt es doch
üblich, ihn, da er ſich als eine eigenthümliche Form von
Luſt und Unluſtgefühlen äußert, ein Gefühl und zwar nach
dem Object, das er ins Leben ruft, das Rechts gefühl
zu nennen.
Gewiſſen und Rechtsgefühl ſind die zwei einander
coordinirten, verſchwiſterten Geſtalten, in welche ſich der
ſittliche Ordnungstrieb ausprägt. Beide äußern ſich wie
alle Triebe als ein dunkler unbeſtimmter Drang nach einer
eigenthümlichen Art von Luſt und Werthgefühlen, ſie wirken
als Druck auf den Intellect, dazu führende Vorſtellungen zu
erzeugen und leiten ihn hiebei durch die ſein Thun, ſeine
Annäherung oder Entfernung von ſeinem Ziel begleitenden
Nuancen von Luſt und Unluſtgefühlen. Gewiſſen und
Rechtsgefühl haben die Idee des Guten zu ihrem gemein—
ſamen Inhalt und Ziel; ſie faſſen es als ordnende Norm
des Willens und wollen es zur Macht und Herrſchaft bringen;
ſie ſind Forderungen an das Gemüth, das Gute zu ver—
wirklichen. Aber von dieſer gemeinſamen ethiſchen Wurzel
aus treiben ſie verſchiedene, deutlich geſonderte Zweige.
Das Gewiſſen kehrt ſeine Forderung nur nach Innen; es
wirkt auf das Gemüth der einzelnen individuellen Seele;
das Rechtsgefühl wendet ſich nach Außen; es will eine ſitt—
liche Ordnung verwirklicht ſehen, nicht als ein ohnmächtiges
inneres Wollen von zweifelhaftem Erfolg, ſondern als eine
herrſchende, die Willkühr des Einzelnen überwältigende
Macht, als eine ſichtbare reale Erſcheinung. Während das
Gewiſſen nur die inneren Regungen und Vorgänge des Ge—
müths richtet und ordnet, ſieht das Rechtsgefühl nur auf
die That, die auf Andere Bezug hat und beachtet die Ge—
ſinnung nur, ſoweit ſie zum Verſtändniß der gegebenen äußern
That dient. Während das Gewiſſen den einzelnen Fall
für ſich in ſeiner concreten Beſonderheit prüft und ordnet,
ſieht das Rechtsgefühl in der einzelnen That nur die Gat—
tung; es muß jeden Fall als einen allgemeinen denken und
fordert Normen von genereller Geltung. Und zwar liegt
in dieſem characteriſtiſchen Zug des Rechtsgefühls nach All—
gemeinheit ſowohl ein ethiſches als ein logiſches Moment.
Wie würde Dir der Fall erſcheinen, wenn Du an der Stelle
des andern wärſt und wie wäre es, wenn Alle ſo handeln
wollten; das ſind die ſpecifiſchen und erſten Fragen, die
das Rechtsgefühl ſtellt. Jener erſte unter den humanen
Trieben, das Mitgefühl, welches uns fremdes Wohl und
fremden Schmerz ſympathiſch mitempfinden heißt, verdichtet
und verklärt ſich im Rechtsgefühl zu einem allgemeinen
Princip, zu dem Saz von der Gleichwerthigkeit aller In—
dividuen; wenn der Fall der gleiche iſt, ſo iſt zwiſchen
dem A und B, zwiſchen mir und dem andern kein Unter—
ſchied. Gleiche Fälle trifft die gleiche Regel. Dieß iſt das
eigentliche Grundaxiom des Rechtsgefühls und der erſte
fundamentalſte aller Rechtsſäze. Er enthält ſowohl die
logiſche Allgemeinheit als die ethiſche Gleichheit vor dem
Geſez; er entſpricht gleichmäßig der Forderung des Mit—
gefühls und des Denkgeſezes. Hierin liegt nun aber auch,
daß das Rechtsgefühl nicht, wie das Gewiſſen, auf die
Verwirklichung der Idee des Guten in ihrem ganzen Um—
fang gerichtet iſt, daß es die höchſten Ziele der Ethik zur
Seite läßt und nur diejenigen Theile des Guten ergreift,
die ſich in allgemeine, für Gleiches gleiche, auf äußere Hand—
lung bezügliche und erzwingbare Normen faſſen laſſen; es
ſtrebt nicht nach dem idealen Ziel voller Verwirklichung
der individuellen und geſelligen Lebenszwecke, ſondern es
will nur die Grundlagen, den Unterbau ſchaffen und ſichern,
auf dem dieſe zarteren und beweglicheren Gebilde ſich ent—
wickeln mögen, aber dieſe Beſtandtheile des Guten will es
dann auch den Schwankungen des individuellen Meinens
und Beliebens entrückt und in unantaſtbarer Kraft und
Majeſtät feſtgeſtellt ſehen. Die Gerechtigkeit erſchöpft den
Kreis des Guten nicht, aber ſie iſt die erſte aller Tugenden.
Das Recht iſt nicht eine bloße Vorbedingung, ſondern ein
Theil und Stück des Guten ſelbſt, und zwar ſein Funda—
ment. In dieſer Stellung von Recht und Sittlichkeit liegt
es nun auch, daß zwar in der Seele des Einzelnen Ge—
wiſſen und Rechtsgefühl niemals in Colliſion kommen, weil
das Gewiſſen den ganzen Inhalt des Rechtsgefühls in ſich
aufnimmt und nur nicht volles Genüge daran findet, daß
aber in der Geſellſchaft Recht und Moral wohl zeitweiſe
auseinandertreten und in Widerſpruch gerathen können, ſei
es, daß das Recht oder die Sitte einen Vorſprung in ſeiner—
Entwicklung hat. In dieſer Weiſe läßt ſich, wie ich meine,
aus einer bloßen Beobachtung und Beſchreibung des Rechts—
gefühls oder aus der Zuſammenſtellung der erſten und elemen—
tarſten Gebilde, die der Intellect unter ſeiner Leitung her—
vorbringt, auch das Weſen des Rechtes ſelbſt entwickeln.
Denn ich möchte glauben, daß eine bloße Zuſammenfaſſung
der bezeichneten Merkmale des Rechtsgefühls zu einer Defi—
76
nition des Rechtes führt, wenn ich ſage: das Recht iſt eine
geſellſchaftliche Lebensordnung, durch welche die Idee des
Guten zur äußeren Macht geſtaltet wird, um nach allge—
meinen, für das Gleiche gleichen Normen der menſchlichen
Handlungen die Grundlagen für die Erfüllung der menſch—
lichen Lebenszwecke ſicherzuſtellen.
Um das Weſen des Rechtsgefühls noch einen Schritt
weiter zu verfolgen und vom Recht zum Staat zu gelangen,
kann vielleicht eine Vergleichung einige Dienſte leiſten.
Wenn wir einen Bienenſtock betrachten, ſo macht er un—
verkennbar den Eindruck eines einheitlichen gegliederten
Ganzen. Gleichwohl denken wir nicht daran, die Entſtehung
dieſes Ganzen auf den Akt eines intelligenten Willens
zurückzuführen, und auch das halten wir nicht für geboten,
in die Seele der einzelnen Bienen, ſei es als unbewußte
Vorſtellung oder in der Form eines inſtinctartigen Thuns
den Plan oder Entwurf jenes Ganzen voraus zu verlegen.
Wir begnügen uns dem einzelnen Thier die Triebe beizu—
legen, mit ſeinesgleichen zuſammen und um ein die Fort—
pflanzung verbürgendes Individuum geſchaart zu leben,
eine Zelle von beſtimmter Art und Conſtrüction zu bauen,
die Zuckerſäfte aus den Blüthen zu ſaugen, Vorräthe für
den Winter zu ſammeln und Aehnliches, aber das Ganze
des Stocks entſteht uns nun einfach aus der Maſſenwirkung
dieſer individuellen Triebe; das gleichartige Thun der
Einzelnen ſcheint ſich uns von ſelbſt zu dieſem gegliederten
Ganzen zuſammenzuſchließen, und zufällige Momente, wie
die Geſtalt des Baumes oder Korbes ſpielen ihre Rolle
77
mit; wenn dieß Ganze nun aber einmal vorhanden iſt,
dann wirkt es auf die einzelne Biene, die es hat machen
helfen, doch wieder als ein neuer Factor zurück, beſtimmt
und modificirt im Einzelnen vielfach ihr Thun, giebt jenen
Trieben eine beſondere Form und Richtung und kann ſo
ſchließlich faſt als das Primäre erſcheinen, obgleich es ur—
ſprünglich nur das Product vieler kleiner aber gleichartiger
Kräfte war. Oder ich könnte an den Wald erinnern, der
nichts iſt als eine Vielheit beiſammenſtehender Bäume und
doch ein Ganzes von eigenthümlichen Merkmalen wird und
das Wachsthum des einzelnen Baumes mitbeſtimmt.
In gleicher Weiſe möchte ich nun behaupten, entſteht
der Staat durch die natürliche Maſſenwirkung, als das
ſpontane Geſammtproduct des in den einzelnen Gliedern
einer geſellſchaftltchen Gruppe vorhandenen Rechtsgefühls.
Jener ſociale Ordnungstrieb, der die Idee des Guten zur
Rgeſellſchaftlichen Macht zu geſtalten ſtrebt, ruft, ohne daß
in irgend einem Kopf ſchon die Vorſtellung eines geſell—
ſchaftlichen Centralinſtituts ausgebildet wäre, von ſelbſt ein
ſolches, wie durch den Maſſendruck vieler kleiner Kräfte
nach Einem Punkte, ins Leben; es kann nun ein durch
Zufall, ja durch Frevel entſtandenes Gewaltverhältniß der
Kriſtalliſationspunkt einer ſittlichen Ordnung werden, dem
ein allgemeines Verlangen ein höheres Mandat von ſelbſt
entgegenbringt. Wenn dann aber dieſe ſociale Macht ein—
mal vorhanden iſt und in einem individuellen oder collec—
tiven Willen ihre einheitliche Spitze gefunden hat, dann
löst ſie ſich von ihrer Entſtehungsform ab; ſie geſtaltet
ſich zu einem ſelbſtändigen jocialen Eigenweſen und wirkt
ihrer eigenen Natur gemäß auf die Einzelnen zurück; und
jenem Rechtsgefühl, das in der Seele des Einzelnen gleich
dem Gewiſſen nur ein zartes Gebilde iſt und ſtets einen
ſchweren Stand gegen den Andrang brennender Begierden
hat, ſtellt ſich nun in der öffentlichen Ordnung eine ſicht—
bare Verkörperung ſeiner Zwecke gegenüber, an deren feſten
Pfeilern ſich die Willkühr der Einzelnen bricht; und es iſt
in dieſem Sinn berechtigt, von einem objectiv gewordenen
Geiſt zu reden. Aber jener Maſſendruck des Rechtsgefühls
iſt nur die Wurzel der Staatenbildung; die Verwirklichung
des Rechts iſt nur die erſte und weſentliche Function der
Staatsgewalt. Die im Staat zum Volk geeinigte Menge
führt ihm noch mancherlei geiſtige Intereſſen und Forde—
rungen zur Beachtung zu; der Staat erweitert ſich zu einem
Träger und Organ des Volksgeiſtes, zu einem Univerſal—
inſtitut für die Sicherung und Förderung aller Lebens-
zwecke. Damit tritt zu jenem primären Zweck der Rechts—
verwirklichung ein weiteres Element von beweglichem, un—
begrenztem, zufälligem Charakter hinzu, das nach der Ver—
ſchiedenheit der Zeiten und Völker von engerem oder weiterem
Umfang werden kann. Ich halte es für verwirrend, dieſe
beiden Gebiete des Rechts und des Wohls zuſammenzu—
werfen, dem Rechtsbegriff einen ſo weiten Umfang zu leihen,
daß er auch die ganze Wohlfahrtspflege in ſich ſchließt,
und zu dieſem Zwecke Rechte auf Arbeit und Muße, auf
Bildung, Geſundheit, Familienleben aufzuſtellen, die der
Staat durch Hilfe und poſitive Veranſtaltungen zu ver—
79
bürgen verpflichtet ſein ſoll. Es fehlt bei dieſem Gebiet
der ſtaatlichen Thätigkeit jenes Gefühl der inneren Noth—
wendigkeit, das alle Erſcheinungen des Rechtslebens zu be—
gleiten pflegt. Mein Rechtsgefühl fordert nicht, daß der
Staat eine Univerſität gründet, oder daß er an derſelben
akademiſche Preiſe für wiſſenſchaftliche Arbeiten der Stu—
dierenden ausſezt, wohl aber fordert es, wenn er dieß ein—
mal thut, daß er die Preiſe denen, welche die von ihm
aufgeſtellten Bedingungen erfüllen, auch wirklich ertheilt,
daß er den Verfaſſer einer vreiswürdigen Arbeit, wenn er
nach dem Statut zur Bewerbung nicht befugt war, zurück—
weiſt, daß er die Preiſe der beſten Arbeit ohne jede Neben—
rückſicht zuerkennt. Alles, was im Staat geſchieht, ſoll mit
Gerechtigkeit aber nicht aus Gerechtigkeit geſchehen. Wohl
fällt alles Recht ſchließlich unter den Begriff des Zweck—
mäßigen und einer Wohlfahrtspflege, ſchon weil es unter
den Begriff des Guten fällt und das Gute nur als das
wahrhaft Zweckmäßige, mit dem Ganzen der menſchlichen
Lebenszwecke im Einklang Stehende gedacht werden kann.
Aber darum hat der Rechtsbegriff doch wieder innerhalb
dieſer weiten Sphäre ſeine engere ſpeeifiſche Begrenzung
an jenen Aeußerungsformen des Rechtsgefühls, an der
ethiſch-logiſchen Forderung der Allgemeinheit und Gleichheit.
Wenn nun die hier vorgetragene Auffaſſung Wahrheit
enthalten ſollte, ſo würde das Recht mit den andern höchſten
Gütern der Menſchheit, Religion und Moral, Kunſt und
Wiſſenſchaft in Einer Reihe ſtehen, aus Einer Quelle fließen,
nemlich aus einem an die Spitze unſeres geſammten Trieb—
lebens ſtehenden höchſten Trieb, der auf den Einklang aller
unſerer Seelenvorgänge, auf die Harmonie unſeres Lebens
und der Welt gerichtet iſt, und zwar würde das Recht in
einem beſtimmten Zweig dieſer Ordnungstriebe wurzeln,
den wir das Rechtsgefühl nennen, der mit dem Gewiſſen
zuſammen die ſittliche Anlage der menſchlichen Natur bildet
und die Idee des Guten zu realer Geſtaltung führt. Das
Recht iſt hiernach wohl in ſeiner concreten Erſcheinung etwas
empiriſch und geſchichtlich Gewordenes, aber es ſtammt aus
einem urfprünglichen Trieb und feſten Willensanſaz der
menſchlichen Natur, der ſich, wie die anderen höheren An—
lagen, erſt allmälig im Lauf der Jahrtauſende zur vollen
und ſelbſtändigen Entwicklung ſeines Weſens heraufarbeitet.
Eine ſolche ideale Auffaſſung des Rechts liegt nun
allerdings weit ab von dem gemeinen und populären Be—
wußtſein. Dieſem erſcheint das Recht als etwas, was die
Juriſten erfunden oder gemacht hätten und heute noch
machen können, als verkörpert in der Geſtalt eines Proceſſes,
der ſich mit Hilfe von Advokaten vor dem Richter abſpielt,
eines Schrift- und Redeſtreites, in welchem es ſich um die
Ermittlung oder Vertuſchung gewiſſer Thatſachen, um
die Anwendbarkeit oder Auslegung von dieſem oder jenem
Paragraphen einer Vorſchrift oder Urkunde handelt, bei
welchem der ſchlauere und ſachkundigere Theil zu ſiegen
ſcheint, wo von ſittlichen Zwecken, von einer Verwirklichung
der Idee des Guten kaum ein Anklang an den Tag tritt,
wo jenes Rechtsgefühl, das die Wurzel alles Rechtes ſein
ſoll, um ſeine Meinung gar nicht gefragt wird, und auch,
81
wenn es gefragt würde, vielleicht nichts Brauchbares zu
ſagen wüßte.
Man kann im Hinblick auf die praktiſche Geſtaltung
des Rechtslebens wohl zu der Frage kommen, welchen
Werth und welche Stellung denn jenes Rechtsgefühl noch
für die Rechtswiſſenſchaft hat, ob es ihr nur den erſten
Anſtoß giebt, von dem im weiteren Verlauf der Sache nicht
mehr die Rede iſt, oder ob es der leitende beſtimmende
Faktor, der Führer auf dem ganzen Wege, die wirkliche
und einzige Quelle der Rechtsbegriffe ſein könne? Hierüber
ſcheinen mir Mißverſtändniſſe zu beſtehen, bei welchen jenem
pſychologiſchen Ausgangspunkt bald ein zu großer, bald
ein zu kleiner Spielraum überlaſſen wird.
Niemand wird, wie ich glaube, aus dem bloßen Rechts—
gefühl oder, was ich hier für gleichbedeutend halte, aus
der Idee, dem Begriff des Rechts auch nur einen einzigen
concreten Rechtsſaz abzuleiten vermögen, und die Verſuche,
im Wege der Begriffsentwicklung, der Deduction aus Axiomen
und elementaren Säzen ein Rechtsſyſtem, ein ſogenanntes
Natur- oder Vernunftrecht herauszuſpinnen, ſind mit Grund
ſtets ein Gegenſtand des Spottes von Seiten der Rechts—
gelehrten gegen die Philoſophen geweſen. Das Recht iſt
ein Ordnungsbegriff; zu einer Ordnung gehören aber immer
zwei Dinge, etwas, was ordnet und etwas was geordnet
wird; dieß Leztere iſt die Subſtanz der Sache, der Stoff,
der durch ſeine Natur das Thun des Ordnenden beſtimmt.
Der Stoff des Rechtes aber iſt nichts weniger als die ganze
unabſehbare Fülle aller menſchlichen Lebensverhältniſſe.
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 6
82
Das Recht erzeugt und ſchafft nicht etwa aus ſeinen Mitteln
die perſönliche Freiheit, das Eigenthum, die Familie, den
Vertrag, ſondern es findet dieſe Verhältniſſe als Wirkungen
des natürlichen Trieblebens vor; es zeichnet nur ſeine
ordnenden Linien hinein; es regelt ſie nach dem Princip
der Coexiſtenz, nach den Bedürfniſſen und ſittlichen Grund—
anſchauungen der Geſellſchaft, und auch dieſen lezteren Faktor
ſchöpft es nicht aus ſich ſelbſt. So liegt für alles Familien—
recht der Ausgangspunkt in phyſiologiſchen Thatſachen, wie
dem Unterſchiede der Geſchlechter, den Geſezen der Fort—
pflanzung, der Hilfloſigkeit und dem allmäligen Wachsthum
des Kindes. Dieſe phyſiſchen Grundlagen unterliegen nun
einer ſittlichen Geſammtauffaſſung, die durch die Geſittungs—
ſtufe des Zeitalters und Volkes bedingt iſt, über die Stel—
lung des Weibes, über den Umfang der väterlichen Gewalt,
den Charakter der Ehe, die Grenze des Verwandtſchafts—
bands, die Beweglichkeit des Grundeigenthums u. ſ. w.
Erſt als drittes Element tritt nun das Recht hinzu, um
dieſe Grundanſchauung gegebener Thatſachen in die Geſtalt
feſter, zwingender, allgemeiner Normen auszuprägen, die—
ſelben nach allen Richtungen im Einzelnen durchzudenken,
unter ſich und mit den andern hereingreifenden Lebens—
verhältniſſen in Einklang zu ſezen, an den Kreuzungspunkten
verſchiedener Normen einen Ausgleich zu finden und ſo das
geſammte Familienleben in die ſociale Ordnung als ein
homogenes Glied einzufügen. Das Rechtsgefühl wird nun
zwar auf dieſem ganzen Wege leitend oder begleitend, zu—
ſtimmend oder abwehrend mitgehen, aber jene Kreuzungen
83
der Rechtsſäze ſind jo mannigfaltig, die Verſchlingungen
der Lebensverhältniſſe jo unabſehbar, zumal auf den höheren
Geſittungsſtufen, das Bedürfniß haarſcharfer und präciſer
Unterſcheidungen wird ein ſo dringendes, daß dem Rechts—
gefühl auf dieſer langen Bahn bald der Athem ausgeht
und es von einem logiſch-techniſchen Element abgelöst werden
muß. Das geſammte Rechtsleben entwickelt ſich zu einem
Specialfach, in welchem der rothe Faden des Rechtsgefühls
zwar nie ganz abreißen kann, aber in den dichtverſchlungenen
Knoten der Caſuiſtik ſchwer noch herauszufinden ſein mag.
Noch weit mehr tritt dieß bei dem hiſtoriſchen Theil der
Rechtskunde hervor. Mit der Frage: was iſt oder war
thatſächlich geltendes Recht, hat das Rechtsgefühl nichts
mehr zu ſchaffen; ſie ſteht ganz unter dem Bann einer
wiſſenſchaftlichen Technik, unter dem Geſez der Hermeneutik
und hiſtoriſchen Kritik, wiewohl ſich behaupten läßt, daß
auch hier noch ein ſympathiſches Nachempfinden der Recht
ſchaffenden Abſicht des Geſezgebers die grammatikaliſch—
logiſche Deutung der Worte ergänzen kann.
Wenn aber ſo die Rechtswiſſenſchaft ſich im Verlauf
ihrer Entwicklung von der erſten pſychologiſchen Wurzel
alles Rechtes ablöſen mußte, wenn ſich jenes einfache Rechts—
gefühl, wo es doch den Verſuch macht, mitzuſprechen, ge—
fallen laſſen muß mit einem taceat mulier in ecelesia (das
Weib ſoll ſchweigen in der Gemeinde) abgewieſen zu werden,
ſo ſind doch auch die Mißſtände und Gefahren des anderen
Extremes nicht zu unterſchäzen. Wenn das Recht, wie
kaum irgend etwas Anderes, Alle angeht und den Wollenden
*
6
84
wie den Widerſtrebenden berührt und erfaßt, wenn unſer
landsmänniſcher Dichter, der doch ſelbſt zur Zunft der
Rechtsgelehrten gehörte, ſagen durfte: „das Recht iſt ein
gemeines Gut, Es lebt in jedem Erdenſohne; Es quillt in
uns wie Herzensblut“, ſo ſollte man erwarten dürfen, daß
die Wiſſenſchaft und Verwaltung des Rechts ſich in ſtetiger
Fühlung mit dem Rechtsgefühl des Volkes hielte und wenig—
ſtens nicht bis zur Unverſtändlichkeit davon entfernte. Eine
noch nicht lange, ja kaum vergangene Zeit zeigt uns in
einem abſtoßenden Bild, wieweit hier die Verirrung gehen
konnte, wie ſich die Rechtsverſtändigen zu einer Gelehrten—
zunft mit einem der übrigen Welt unzugänglichen Apparat
von Formeln und Diſtinctionen, ſchlimmer als die altrömi—
ſchen Pontifices, abſondern durften. Die Gegenwart iſt
auf dem Wege, auch hier Wünſchen, die lange vergeblich
gehegt wurden, entgegenzukommen und jene verlorene Füh—
lung mit dem Rechtsbewußtſein des Volkes wieder zu ge—
winnen. Hiebei betrachte ich es nur als zweifelhaften Ge—
winn, wenn die Laien in einem die Entſcheidung einſchlie—
ßenden Umfang zur praktiſchen Rechtspflege berufen werden,
da es immer ein Widerſpruch und ein Mißtrauensvotum
gegen die Wiſſenſchaft bleiben wird, das unentwickelte und
naive Rechtsgefühl dem geübten und ausgebildeten gleich—
zuſtellen, und doch die Verwaltung des Rechts nicht zum
pädagogiſchen Mittel der Volkserziehung dienen darf. Von
ungleich größerem Werth iſt die Oeffnung der Gerichtsſäle,
die Mündlichkeit und Vereinfachung des Verfahrens, die
Fertigung zuſammenfaſſender Geſezbücher in gemeinverſtänd—
85
licher Sprache, die Beſeitigung eines verwirrenden Wuſtes
von Land- und Sonderrechten. Ein großer Schritt bleibt
aber in dieſer Richtung zu thun übrig. Es muß jedem
unbefangenen Sinn im höchſten Grad unnatürlich erſcheinen,
daß der praktiſch eingreifendſte, den Einzelnen am nächſten
berührende Theil des Rechts in einer fremden, nur dem
Gelehrten zugänglichen Sprache abgefaßt, einem längſt hinter
uns liegenden Volk und Zeitalter entnommen, auf durch—
aus abweichende geſellſchaftliche Verhältniſſe berechnet iſt.
Noch unbegreiflicher iſt es aber, wenn gerade diejenigen,
welche das im Volk thatſächlich lebende Gefühl einer inneren
Nothwendigkeit zur Quelle und beſten Stüze alles Rechts
machten, nur allein der Gegenwart den Beruf und die Be—
fugniß abſprechen, ein verſtändliches und ihren Bedürf—
niſſen entſprechendes Recht zu ſuchen. Es war ein unend—
lich großer Fortſchritt, als zu einer Zeit, da das Latein
noch eine allgemeine Welt- und Kulturſprache war, an die
Stelle zahlreicher, unzulänglicher Volksrechte, die auf viel—
deutigen Symbolen und Sprüchen, auf wandelbarem Ge—
brauche ruhten, das römiſche Recht trat, das ſeinen uni—
verſalen Charakter als ahatjächliches Weltrecht ſchon durch
Jahrhunderte bewährt hatte, das Meiſterwerk eines Volkes,
in welchem jenes der menſchlichen Natur inwohnende Rechts—
gefühl zuerſt in der Welt einen ſelbſtändigen, von Religion,
Politik und Moral abgelösten Ausdruck gefunden, das die
Grundbegriffe des Rechts und deſſen eigenthümliche Metho—
dik für alle Zeiten feſtgeſtellt hat, das von nationaler Be—
ſchränktheit aus in ſicherem und ſtetigem Gang, und mit
86
unvergleichlicher Schärfe und Conſequenz zu einem Syſtem
weltgiltiger Sätze hindurchgedrungen iſt. Trozdem konnte
die Aneignung eines fremden und fremdſprachigen Rechts
nur eine Nothhilfe, ein vorübergehendes Auskunftsmittel
ſein, das in dem Grade unhaltbar werden mußte, in wel—
chem die lateiniſche Sprache ſelbſt eine todte wurde und
eine neue Zeit neue Lebens- und Wirthſchaftsverhältniſſe
und eine neue Geſittungsſtufe erzeugte. Wenn nicht alle
Zeichen trügen, ſo iſt der Zeitpunkt für den Abſchluß
dieſer Lehrjahre herangekommen; die Wiſſenſchaft vermag
die bleibenden und die vergänglichen Elemente jener werth—
vollen Ueberlieferung zu unterſcheiden und die neuen Be—
dürfniſſe und Anſchauungen haben den alten Bau ſchon
von Innen und Außen nach allen Richtungen durchbrochen
und umgeſtaltet. Das deutſche Volk iſt ſeit den Römer—
tagen das erſte, in welchem das Rechtsgefühl einen neuen
Ausdruck von eigenthümlicher Kraft und Tiefe gefunden
hat; nachdem es ſeiner Art gemäß zuerſt bei Fremden in
die Schule gegangen iſt, mag es berufen ſein, den Weg
von einem nationalen zu einem univerſalen Recht zum
zweitenmal zu finden, das innige Band von Recht und
Moral, von Humanität und Logik noch feſter zu knüpfen,
als es einſt dem römiſchen Volk gelungen war. Unſer
Volt hat in unerreichter Waffenthat dem romaniſchen Ueber—
gewicht ein Ziel geſezt; es iſt ſtill und, wie wenn nichts
geſchehen wäre, zu den Werken des Friedens zurückgekehrt;
nach verſchiedenen Richtungen findet es hier die Aufgabe,
an römiſchen Ueberlieferungen das Bewährte und das ſeinem
87
Geiſte Fremde zu ſcheiden; ich ſchließe mit der Hoffnung,
eine nicht ferne Zukunft werde Urſache finden, nicht blos
das deutſche Schwert, den deutſchen Fleiß, die deutſche
Wiſſenſchaft zu preiſen, ſondern auch das deutſche Rechts—
gefühl und das deutſche Recht.
Ueber den Begriff des Volkes.
6. Nov. 1872.
Wer das Bedürfniß hat, in klaren und einfachen Grund—
begriffen zu denken und dabei durch Beruf und Neigung
darauf hingewieſen iſt, ſich mit den ſogenannten ſocialen
oder Geſellſchaftswiſſenſchaften zu beſchäftigen, dem werden
bei ſeinen Studien auch trübe und unerquickliche Stunden
ſchwerlich ganz erſpart bleiben. Denn dieſe Fächer, wie—
wohl ſie weder an theoretiſchem Reiz noch in ihrer prak—
tiſchen Tragweite hinter anderen zurückſtehen, haben doch
noch immer, ſei es nun blos in Folge ihrer Jugend oder
auch anderer Umſtände, an einer eigenthümlichen Unſicher—
heit und Verſchwommenheit ihrer erſten Begriffe zu leiden.
Schon der Begriff der Geſellſchaft ſelbſt will ſich ſchwer
feſt anfaſſen und ſcharf umgrenzen laſſen; noch mehr ſcheint
mir dieß bei dem vieldeutigen Worte „Volk“ zuzutreffen,
das uns doch auf Schritt und Tritt im Leben, wie in der
Wiſſenſchaft entgegentritt. Denn gleich die erſten und
elementarſten Fragen der Logik und Grammatik, zu welcher
Art und Klaſſe von Begriffen der des Volkes zu ſtellen
ſei, führen auf Schwierigkeiten. Iſt es ein Gattungsbe—
griff, ſo daß der Einzelne ſich zu ſeinem Volke verhielte
89
wie ein beliebiges Beiſpiel einer beſtimmten typiſchen Form
und dem Ganzen keinerlei Merkmale und Wirklichkeit für
ſich, ſondern nur in den Einzelnen zukämen? Oder iſt das
Wort zu den Collectivnamen, zu jenen bloßen Summirbe—
griffen zu ſtellen, wo unter ſich ſelbſtändige und verſchiedene
Dinge um Einer gemeinſamen Beziehung willen in eine
numeriſche Einheit zuſammengefaßt werden, wie etwa die
Menge, der Haufen, das Publikum, die Zuhörerſchaft?
Oder iſt ein Volk als ein Ganzes zu denken, zu dem ſich
die Einzelnen als ſeine Theile verhalten? und iſt dieß
Ganze vielleicht, nach der jezt ſo beliebten Analogie als
ein Organismus zu faſſen, deſſen einzelne Glieder, für ſich
unfähig zu exiſtiren, erſt in der unendlichen Wechſelwirkung
unter ſich und mit dem Ganzen ſich zur lebendigen Einheit
ergänzen? Und iſt ſo ſchließlich nicht das Volk, ſtatt eine
Gattung zu bezeichnen, vielmehr ſelbſt ein Individualbegriff,
ein Einzelweſen von einer höheren Ordnung, wie wir all—
täglich vorauszuſezen ſcheinen, wenn wir vom Charakter,
vom Geiſt, ja von einer Seele des Volkes reden? Jede
von dieſen Deutungen ſcheint etwas Richtiges zu ſagen,
keine eine einfache Zuſtimmung zuzulaſſen, keine das Weſen
der Sache erſchöpfend zu treffen. Aehnlich wie in früheren
Jahrhunderten ein langer Streit darüber war, ob die all—
gemeinen Begriffe etwas wirklich Seiendes, Reales be—
zeichnen, oder bloße Namen, bloße Gebilde der menſchlichen
Denkproceſſe ſeien, ſo ſcheinen ſich jezt auf dem Gebiet der
ſocialen Wiſſenſchaften die Anſichten über die Frage zu
ſpalten, ob die Gemeinſchaften das eigentlich Reale und
90 >
Wirkende jeien, oder die Einzelnen. Machen wir das Volk
oder macht das Volk uns? ſind wir, indem Jeder der
Mittelpunkt des Weltalls zu ſein glaubt, nicht vielmehr
nur die flüchtigen Producte eines ſocialen Einzelweſens,
eines Geſammtgeiſtes, der unabhängig von uns die Geſeze
ſeines Blühens, Reifens und Abſterbens in ſich ſelber trägt?
Und iſt es in dieſem Sinne berechtigt, wie man neuerlich
verſucht hat, neben die alte Seelenlehre, die von dem indi—
viduellen Geiſte handelt, die Völkerpſychologie als eine neue
und unabhängige Wiſſenſchaft zu ſtellen?
Aber noch von einer zweiten, ganz anderen Seite her
führt uns der Begriff des Volkes in Zweifel und Uns
ſicherheit. Man hat es ſchon oft als einen Mangel der
deutſchen Sprache bezeichnet, daß ſie für zwei ſo grund—
verſchiedene Dinge, wie die Gemeinſchaft der Abſtammung
und die des Staatsverbandes nur das Eine Wort, Volk,
beſizt, während die anderen Sprachen beides genau aus—
einander zu halten wiſſen, und ſchon die Griechen das
Eine 8908, das andere cs, die Römer jenes natio
und dieſes populus genannt haben. Wenn wir die Juden
ein Volk nennen, obgleich ihnen die Gemeinſchaft des Staats,
der Sprache, ja ſelbſt der Wohnräume fehlt, nur um der
Stammes- und Glaubenseinheit willen, die Schweizer, ob—
gleich ſie ganz verſchiedener Abſtammung und Sprache ſind,
nur um des Staatsverbandes willen, und dann wieder die
Polen, bei denen ſich alles dieß gerade umgekehrt verhält,
was bleibt denn noch als gemeinſamer Grundgedanke des
Ausdrucks übrig? Und doch iſt wenigſtens die feinere und
91
beſonnenere Redeweiſe auch wieder ſpröder und zurückhalten—
der in dem Gebrauch dieſes Ausdrucks als andere Sprachen
mit den ihrigen. Jene Haufen von Individuen, welche
die Steppen Aſiens, die libyſchen Wüſten, die americaniſchen
Prairien weidend, raubend, jagend durchziehen, jene Ge—
noſſenſchaften von Negern und Polyneſiern, deren Zuſam—
menleben uns nur den Wechſel zwiſchen dumpf brütender
Trägheit und wilden Ausbrüchen der Sinnenluſt und Leiden—
ſchaft zeigt, jene Barbarennamen, welche, ohne eine Spur
ihres Daſeins zurückzulaſſen, in dem Dunkel der Jahr—
hunderte begraben liegen: wir nennen ſie Horden, Stämme,
ja auch noch Völkerſchaften; aber das Wort Volk ſcheint
uns zu gut für dieſen Zweck, obgleich weder die Einheit
des Stammes noch der Staatsgewalt fehlt, und wir ge—
brauchen es nur widerwillig und durch den Mangel unſerer
Sprache gezwungen. Denn das Wort geht uns nun ein—
mal in jener trockenen, ethnographiſchen und politiſchen
Bedeutung nicht auf; wir fühlen bei demſelben einen warmen,
herzſchwellenden Oberton mitklingen, als ob von einem
Vaterlande, einer geiſtigen Heimath die Rede wäre. Am
liebſten würden wir den Schmuck dieſes Namens ganz jenen
Gruppen der Menſchheit vorbehalten, welche eine eigen—
thümliche Anlage an Geiſt und Gemüth in feſten und blei—
benden Formen auszuprägen vermochten und in dem Drama
der Weltgeſchichte als Träger und Vertreter einer beſtimm—
ten und unvergeßlichen Art, die Räthſel des Menſchen—
lebens auszulegen, einen beſondern Act oder Auftritt aus—
füllen. Wenn wir aber ſo eine gewiſſe Zuthat von geiſtiger
Bildung und Entwicklung mitdenken, jo hat es doch das
freie Spiel des Sprachgeiſtes auch wieder gefügt, daß wir
das Volk in einen Gegenſaz zu den höher gebildeten Klaſſen
der Geſellſchaft ſtellen und in dieſem Sinne von Volks—
ſchulen, Volksbüchern, Volksſchriften reden. Noch weiter
und bedenklicher aber entfernt ſich die Redeweiſe von den
Ausgangspunkten des Begriffs, wenn dieſe Unterſcheidung
auf das politiſche Gebiet übergetragen und die numeriſche
Maſſe als das vorgeblich wahre und eigentliche Volk den
Trägern und Organen der Staatsgewalt, den Vertretern
beſonderer Lebenskreiſe und geſellſchaftlicher Intereſſen ent—
gegengeſtellt und in ſolcher Richtung von Volkswohl, Volks—
willen, einer Volksparthei geſprochen wird.
Dieſer flüchtige Ueberblick hat wohl gezeigt, daß der
Begriff des Volkes, den die Wiſſenſchaft ſo gut wie der
tägliche Sprachgebrauch ſtets nach allen Richtungen hin
verwendet, keineswegs jo einfach und ſcharf umgrenzt iſt,
als er dem erſten Anblick erſcheinen mag, daß er vielmehr
jenem Chamäleon gleich in die verſchiedenſten Farben ſchillert,
je nachdem man von der einen oder andern Seite her an
ihn herantritt.
Ich beabſichtige nun nicht und wäre es wohl auch
nicht im Stande, alle die Fragen und Räthſel, die ich hier
angeregt habe, jezt der Reihe nach zu löſen, aber ich darf
vielleicht Ihre Aufmerkſamkeit für einige Bemerkungen in
Anſpruch nehmen, mit welchen ich verſuche einige Klarheit
in die Sache zu bringen.
Die Entſtehung der meiſten Völker fällt in dunkle,
unſerer Forſchung entrückte Vorzeit, aber auch wo fie durch
geſchichtliche Zeugniſſe aufgehellt werden kann, zeigt man
uns nur, wie dieſe beſtimmte Verhältniſſe geworden ſind
und pflegt den Grund, auf welchem alle Völkerbildung
beruht, ſtillſchweigend vorauszuſezen. Dieſer kann nur in
der natürlichen Anlage und Ausſtattung der menſchlichen
Gattung liegen und iſt nicht von dem Hiſtoriker, ſondern
von dem Pſychologen nachzuweiſen. Ich glaube mir nun,
wie in einem früheren Fall, auch dießmal als Poſtulat
das Zugeſtändniß erbitten zu müſſen, daß alle weſentlichen
Richtungen und Ziele menſchlichen Denkens und Thuns ihre
Wurzel nicht in intellectuellen Vorgängen, ſondern in dunkeln
Reizen und Trieben haben, welche als Quellen ſpecifiſcher
Gefühle von Luſt und Unluſt auf uns wirken und unſern
Intellect nach beſtimmten Richtungen hin in Bewegung
ſezen. So iſt es denn auch von jeher üblich geweſen, den
Menſchen ſchon ſeiner urſprünglichen Anlage nach zu den
geſelligen Geſchöpfen zu rechnen und ihm ausdrückliche Triebe
der Geſelligkeit beizulegen. Nur pflegt man es dabei zu
unterlaſſen, dieſe geſelligen Triebe einzeln zu nennen und
nach Richtung und Wirkung genauer zu umgrenzen. Wie
es unter den Thierarten ſolche giebt, die immer einzeln
oder ſtets paarweiſe leben, ſolche, welche in kleinen Truppen
oder Rudeln, oder welche in großen Heerden und Schwärmen
zuſammen ſind, ſolche, welche ſich nur für beſtimmte Zwecke
der Jagd oder Wanderung, oder welche ſich bleibend zu
einander geſellen, endlich ſolche, welche alle Lebenszwecke
in gemeinſamer Ordnung und ineinandergreifender Arbeit
94
verfolgen, ſo kommt auch der menſchlichen Gattung ſchon
von Natur eine ganz beſtimmte Form des geſellſchaftlichen
Zuſammenſeins zu. Es iſt nicht richtig und wenigſtens
ungenau, dieſe einfach als einen Trieb der Geſelligkeit zu
bezeichnen. Läge in uns nur das Verlangen, uns an andere
anzuſchließen und folgerichtig an den größten Haufen am
liebſten, ſo müßte wohl die Weltgeſchichte ein ganz anderes
Anſehen zeigen. Die menſchlichen Wohnſitze wären möglichſt
nahe zuſammen gerückt und würden ſich gleichmäßig nach
der Peripherie hin ausbreiten; es würde wohl Eine Sprache
und Eine Kultur, jedoch von niedriger Entwicklung, herrſchen.
Es iſt vielmehr ein Trieb der Gruppirung, der uns beſeelt,
nicht der Geſelligkeit. Unſer Drang geht nicht dahin, uns
ins Unbegrenzte anzuſchließen, ſondern einer Gruppe an—
zugehören, in einen beſtimmten Kreis einzutreten, der ſich
geſchloſſen und abgegrenzt gegen andere zu behaupten ſtrebt.
Dem Sich anſchließen wollen iſt untrennbar gleich das Sich
abſchließen wollen beigeſellt. Unſer Selbſtgefühl zu dem
einer Gruppe zu erweitern, in ihr aufzugehen, mit ihren
Intereſſen die unſrigen zu verſchlingen, das iſt der Inhalt
und die beſtimmtere Form des menſchlichen Geſelligkeits—
triebs. Ihr iſt es zuzuſchreiben, daß die Menſchheit nicht
Eine gleichförmige Heerde bildet, ſondern in ſich gegliedert
und abgegrenzt ein- Ganzes von unabſehbarer Mannig—
faltigkeit und Abſtufung darbietet, daß die fließend immer
gleiche Reihe belebend abgetheilt iſt, daß beſtimmte Vor—
ſtellungskreiſe ſich in ihrer vollen Kraft und Selbſtändig—
keit zu feſten und widerſtandsfähigen Geſtalten ausprägen.
95
In dem reichen Apparat von großen und kleinen Mitteln,
durch welche die Weltordnung den Menſchengeiſt ruhelos
vorwärts drängt, nimmt dieſe Neigung, ſich in eine Gruppe
zu ſtellen, einen der erſten Pläze ein. Neue Ideen müßten ſich
in dem unabſehbaren Wogenſchlag der Meinungen wie eine
flüchtige Wellenfurche wieder verlieren, wenn dieſer Drang
nicht wäre, uns um ein aufgerichtetes Banner zu ſchaaren,
und mit dem Aufgebot aller Kräfte für das gemeinſam
ergriffene Ziel einzuſtehen, ja zulezt den urſprünglichen
Zweck faſt vergeſſend, nur darum, weil das Panier einmal
aufgepflanzt iſt und wir zu ihm ſtehen, noch fortzukämpfen.
Wir treten damit faſt blind und unbewußt in die Dienſt—
barkeit allgemeiner Gedanken. Von jenen Tauſenden, die
einſt auf Tod und Leben darum gekämpft haben, ob in
Chriſtus zwei Naturen waren oder eine und ob ſein Weſen
dem des Vaters gleich oder nur ähnlich war, wie Wenige
mochten auch nur die Streitfrage näher kennen und wie
noch wenigere ſich von dem Intereſſe Rechenſchaft zu geben
im Stande geweſen ſein, das es für ſie haben könne, ob
die Frage ſo oder anders gelöſt würde? Auf allen Blättern
der Geſchichte und in allen Geſtalten, erhebenden und ab—
ſtoßenden, tritt uns dieſer Eifer um die Gruppe entgegen,
als Vaterlandsliebe wie als politiſcher Partheigeiſt, als
Glaubenseifer wie als Religionshaß, als Martyrthum und
Sektengeiſt, als Standesehre wie als Kaſtenſtolz, als Fa—
milienſinn und als Geſchlechterhaß. Auch ſpielend noch
ſehen wir ſolchen Corpsgeiſt ſeine Ranken treiben, wenn die
Jugend ohne ſonſt erkennbare Zwecke für den Namen ihrer
96
Gruppe, für em farbiges Band mit ritterlicher Hingabe
des Leibes und des Geiſtes Gaben einſezt.
Denn das iſt eben das Beſondere und Folgenreiche,
daß uns die Natur zwar die Neigung ins Herz gelegt hat,
uns in eine geſchloſſene Gruppe unſerer Mitgeſchöpfe hinein—
zuſtellen, daß ſie aber dieſen Kreis ſelbſt nicht in feſter
und unabänderlicher Weiſe uns vorgezeichnet hat. Die
Gruppirungsmotive ſind uns offen gelaſſen und wir ſehen
ſie wechſeln durch alle Zeitalter: ja man könnte denken,
der Faden der Weltgeſchichte wickle ſich eben in der Reihe
jener wechſelnden zur Herrſchaft gelangenden Motive für
die menſchliche Gruppirung ab. Es giebt wohl Eine Ge—
meinſchaft, die als eine grundlegende, als die unerläßliche
Vorbedingung für jede andere betrachtet werden kann; es
iſt das räumliche Zuſammenſein, die Möglichkeit des ſprach—
lichen Verkehrs und der nächſten Hilfeleiſtung, ohne welche
keine Gruppirung wohl denkbar iſt. Wir finden uns durch
die Geburt einem beſtimmten Kreis zugewieſen, in welchem
wir die erſten Eindrücke und Vorſtellungsreihen, die erſte
Entwicklung unſerer Kräfte empfangen. Dieß Band iſt
jedoch keineswegs ein zwingendes; es begründet zunächſt
weit mehr ein Verhältniß der Abhängigkeit als der An—
hänglichkeit. Die Familie iſt gar nicht für ſich ſchon, wie
man ſo oft preiſen hört, ſondern erſt durch Hinzutritt einer
höheren allgemeinen Geſittung, der Heerd und die Quelle
ſittlicher Empfindungen; ſie begründet bei allen roheren
Völkern nur ein Verhältniß brutaler Herrſchaft, der Männer
über die Weiber, der Eltern über die Kinder, gegen welches
97
uns das Familienleben der Thiere leicht als das Reinere
und Höhere erſcheinen kann. Und was iſt für den Unter—
drückten, den Leibeigenen, den Sclaven der Boden der
Heimath, das Land der Väter, die Sprache des Gebieters,
die er zu erlernen hat? Der Trieb der Gruppirung greift
frei und nach allen Richtungen über die Grenzlinien dieſer
erſten Naturbande hinaus; wir haben noch weitere Be—
dürfniſſe als das, in einer beſtimmten Heerde heranzu—
wachſen.
Und hier iſt eine andere Betrachtung einzureihen.
Jene Neigung, einer geſchloſſenen Gruppe anzugehören, iſt
nicht die einzige Form unſerer ſocialen Triebe. Es reiht
ſich ihr noch eine zweite an, die für unſer Thema von
gleich großer Bedeutung iſt.
Es giebt eine ſehr einfache und unſcheinbare pjycholo-
giſche Thatſache, welche in ihren Wirkungen für das Ver—
ſtändniß aller geſellſchaftlichen Erſcheinungen von entſchei—
dender Wichtigkeit iſt. Wenn ich irgend einen Gedanken,
eine Meinung, ein Urtheil gegen einen Andern ausſpreche
und ſich hiebei die Uebereinſtimmung dieſes zweiten mit
meiner Meinung ergiebt, ſei es, daß er dieſelbe ſchon un—
abhängig von mir in ſich ausgebildet, oder auf meine
Anregung willig in ſich aufgenommen hat, ſo tritt in dem
Vorſtellungskreis von mir und von dieſem Andern etwas
Neues ein; es wird nicht blos eine Gleichheit und Ueber—
einſtimmung conſtatirt, nicht blos für die Formel & = B
und A+B= 2 A ein neues Beiſpiel ermittelt, ſondern
durch das bloße Bewußtſein der Uebereinſtimmung tritt
Rümelin, Reden u. Aufſätze. ‘
98
für beide Theile eine Verſtärkung und Befeſtigung jener
Vorſtellungen ein. Der Akt erſcheint uns nicht wie eine
bloße Addition, ſondern könnte uns eher an ein Multipli—
eiren oder Potenziren erinnern; wir empfinden einen Zu—
wachs von Intenſität, Klarheit und Sicherheit der Vor—
ſtellung, den wir zwar jo wenig wie andere pſpchiſche
Erſcheinungen unter einen numeriſchen Ausdruck bringen
können, aber deutlich genug im Bewußtſein als einen Grad—
unterſchied empfinden. Mit der Zahl der Zuſtimmenden
wächst in jedem derſelben, wenn auch nicht in ſtetigem
Verhältniß, die Zuverſicht der gemeinſamen Gedanten.
Wenn wir uns etwa als Bild und Veranſchaulichungsmittel
denten wollten, daß jeder unſerer Vorſtellungen und Vor—
ſtellungsgruppen auch ein beſtimmtes Gebilde in unſerem
Gehirne, ſei es eine jener zarten Faſern oder eine Win—
dung und Verſchlingung von ſolchen entſpräche, ſo würden
wohl die iſolirten Vorſtellungen dünnere und lösbarere,
die gemeinſamen aber ſtärkere und widerſtandsfähigere Ge—
bilde hervorbringen und die herrſchenden und allgemeinen
Vorſtellungen könnten wie feſte und bleibende Geflechte
heraustreten. Die Köpfe der Einzelnen wären Inſtrumen—
ten zu vergleichen, auf welchen gewiſſe Saiten gleich ge—
ſtimmt ſind und die Luftſchwingung, die gerade dieſer
Saitenſtimmung entſpräche, mit dem gleichen vollen Ton
beantworten würden. a
Ich glaube, daß man es als einen der elementaren
Grundſäze für die Maſſenwirkung pſychiſcher Kräfte be—
zeichnen darf, daß die Vorſtellungen des Einzelnen durch
99
das bloße Bewußtſein der Uebereinſtimmung mit Andern
eine Verſtärkung und Befeſtigung erleiden, welche dem iſo—
lirten Bewußtſein fehlt.
Bei näherem Hinſehen findet man jedoch noch eine
Einſchränkung oder Ergänzung dieſer Regel geboten. Sie
wirkt weit ſchwächer in der Sphäre des niederen Trieb—
lebens als in der des höheren. Ob die Luft warm oder
kalt, ob eine Speiſe wohlſchmeckend iſt oder nicht, darüber
bedarf unſer unmittelbares Gefühl keiner Beſtätigung und
würde auch durch fremden Widerſpruch nicht irre gemacht.
Auch über Fragen perſönlicher Vortheile und Intereſſen
fehlt uns die Zuverſicht des eigenen Urtheils nicht. Wir
fühlen uns hier von Andern nur inſoweit abhängig, als
uns ihr Urtheil über unſere Geſinnung und Handlungs—
weiſe nicht gleichgiltig läßt und unſer Selbſtgefühl ihren
Haß oder ihre Mißachtung nicht leicht zu ertragen vermag,
ſondern ſich erſt in dem Wiederſchein fremder Meinung
ſelbſt beſizt und genießt. Anders iſt es auf dem Boden
der idealen Güter, im Streben nach Wahrheit und Schön—
heit, nach Recht und Sitte, nach Gottesgemeinſchaft. Hier
trifft unſer Blick nicht mit dem ſicheren Inſtinct, wie bei
jenen niedrigeren Intereſſen, das was unſer Herz ſucht und
will; unſicheren Tritts ſteht der Einzelne vor den tauſend
Möglichkeiten, die ſich vor ihm ausbreiten, und ſucht zagend
und meiſt vergeblich in ſich ſelbſt den ſicheren Wegweiſer.
Wir empfinden einen Trieb nach Ergänzung und Aner—
kennung, nach einer geiſtigen Anlehnung; wir möchten für
unſere Gefühle und Gedanken einen feſten Halt ſuchen in
7 *
4
100
der Zuſtimmung derer, die mit uns leben und vor uns
gelebt haben. Je größer der Kreis der Zuſtimmenden iſt
und jemehr der Inhalt zugleich den beſonderen Bedürfniſſen
und Richtungen des Einzelgeiſtes entgegenkommt, deſto feſter,
ſicherer, ausgeprägter werden jene Vorſtellungsreihen, deſto
dominirender, um bei dem obigen Bild zu bleiben, die ihnen
entſprechenden Stränge oder Knoten der Gehirnfaſern. Und
hier iſt es denn, wo der Genius ſeine Stätte findet, der
einem weiten Kreis vorfühlt und vordenkt, der das, was
alle ſuchen und vermiſſen aber nicht finden, tiefer und klarer
empfindet und ihm den typiſchen Ausdruck zu leihen weiß,
in welchem alle die Löſung des Räthſels willig hinnehmen.
Zwar können ſich auch dieſe lichtbringenden und bahn—
brechenden Geiſter jenes allgemeinen Triebs nach geiſtiger
Anlehnung nicht entſchlagen; auch ſie müßten an ſich ſelbſt
irre werden, wenn ſie Niemandes Zuſtimmung fänden, aber
was ihnen die Gegenwart verſagt, ſuchen ſie in der Ver—
gangenheit oder erwarten von der Zukunft den Wiederklang
gleichgeſtimmter Geiſter.
Sollte es nun nicht aus einer einfachen Maſſenwirkung
dieſes individuellen Triebes nach geiſtiger Anlehnung er—
klärbar ſein, wie jene allgemeinen Ideen des Wahren und
Schönen, des Rechts und des Guten und der Gottheit in
allen den wechſelnden, beſonderen Geſtalten, welche ſie in
verſchiedenen Kreiſen und Zeiten angenommen haben, ent—
ſtehen konnten, wie insbeſondere der Anſchein erwachſen
mußte, als ob dieſe Ideen, obgleich ſie ihren Urſprung nur
Einzelnen und einer unendlichen Wechſelwirkung zwiſchen
Einzelnen verdanken, dennoch ihre Realität nicht in den Köpfen
dieſer Einzelnen hätten, ſondern zwiſchen und über den—
ſelben ſelbſtändig in den Regionen einer höheren Geiſtes—
welt ſchwebten? Wie bei optiſchen Vorgängen und Viſionen
löſen wir die feſten Gebilde unſeres Innern von uns ab
und projiciren ſie nach Außen, daß ſie uns wie Autoritäten
und geiſtige Mächte gegenübertreten. Man könnte das Bild
von einem großen See gebrauchen, der obgleich ihn nur
die tauſend kleinen Quellen, die ſich aus Regen, Schnee
und Gletſcherwaſſer bilden, urſprünglich gefüllt haben und
fortwährend ſpeiſen müſſen, dennoch uns als ein ſelbſtändiges
gewaltiges Phänomen von eigener Kraft und Schönheit
gegenübertritt, zu dem ſich jene Bäche und Flüßchen, die
in ihn einmünden, nur wie ein ſchmückendes Anhängſel ver—
halten. Und doch würde dieß Bild zu wenig ſagen, da
jene Bäche doch immer nur gebend und nicht empfangend
ſind, während jene idealen Güter dem Einzelnen wie Offen—
barungen geboten zu werden ſcheinen, die ihren ſubjectiven
Urſprung abgelegt und vergeſſen haben. Die große Lehre
vom objectiven Geiſt, welche die Wiſſenſchaft als ein un—
verlierbares Gut betrachten darf, wird in dieſer Deutung
vielleicht verſtändlicher als bei ihrem Urheber ſelbſt, welcher
jene geiſtigen Mächte ganz abgelöst von allem ſubjectiven
Thun und ohne Vermittlung nur als höhere Offenbarungs—
ſtufen in der dialectiſchen Selbſtentwicklung des abſoluten
Geiſtes erſcheinen läßt und ihnen damit allen realiſtiſchen
Zuſammenhang entzieht. Ebenſo läßt aber auch dieſe Ent—
ſtehungsweiſe begreifen, wie jene idealen Güter, Wiſſenſchaft
102
und Kunſt, Recht, Moral und Religion ihre Selbſtändigkeit
unter einander entwickeln und behaupten können, wie Eines
dem Andern vorauseilen oder von ihm überholt und zurück—
gedrängt werden kann, wie dieſe Colliſionen zwiſchen Religion
und Staat, Recht und Sitte, Wiſſenſchaft und Glauben, Er
die Unluſt und den Zwieſpalt, den ſie dem einzelnen nach Har
monie und Einheit verlangenden Gemüthe bereiten müſſen,
ie Menſchheit in fortwährende unruhige Bewegung verſezen
und zu den wichtigſten Reizmitteln ihres Fortſchritts gehören.
Wenn wir uns nun neben dieſem Verlangen nach
geiſtiger Anlehnung noch jenes Triebes der Gruppirung
erinnern und als Drittes oder eigentlich Erſtes die natür—
lichen Unterlagen aller menſchlichen Geſelligkeit, das räum—
liche Zuſammenſein, den ſprachlichen Verkehr, den Aus—
tauſch der Bedürfniſſe und Genußmittel nebſt den geogra—
phiſchen Einflüſſen und der Vererbung der Eigenſchaften
hinzudenken, welche zwar für ſich kein Band der Gemüther,
aber eine Verflechtung der Intereſſen und Gewöhnungen
bewirken, an die ſich leicht höhere Beziehungen anlehnen,
ſo haben wir, wie ich glaube, die Elemente beiſammen,
welche die Pſychologie als die erſten uud wirkſamſten Keime
der Völkerbildung aufzuzeigen vermag. Wir ſehen wie
vielerlei zuſammentreffen muß, um alle Vorbedingungen
des vollen Begriffes zu vereinigen, wie dieſer aber auch
Abſtufungen in ſich zuläßt, je nachdem das eine oder andere
jener Elemente noch fehlt. Nicht jeder Ort, wo man ge—
boren iſt, iſt eine Heimath, nicht jedes Land der Väter
auch ein Vaterland. Ich kann durch die Gemeinſchaft von
105
Staat und Recht an ſolche gekettet jein, deren Sprache ich
nicht verſtehe, deren Sitte, Bildung und Glauben mir fremd
iſt. Die menſchliche Freiheit ſteht wieder über allen dieſen
einzelnen Anziehungskräften; ich kann mich von Allem los—
reißen, zu den Fremden gehen und mit König Davids Ahn—
frau ſprechen: Dein Volk ſei mein Volk und dein Gott
ſei mein Gott. Der Begriff des Volks iſt nicht durch rein
objective Merkmale feſt umgrenzt, ſondern er erfordert auch
die ſubjective Empfindung. Mein Volk ſind diejenigen,
die ich als mein Volk anſehe, die ich die Meinen nenne,
denen ich mich verbunden weiß durch unlösbare Bande.
Und hier iſt eine Theiluug, ein Zwieſpalt der Empfindungen
möglich; das eine Motiv kann mich zu dieſem, das andere
zu jenem Kreiſe hinziehen; der Glaube kann mich einer
Gruppe zuweiſen, von der mich der Verband der Gemeinde,
des Staats, der Sprache, der Abſtammung trennt. Aber
unſer Gemüth wird jede ſolche Theilung und Gebrochenheit
ſeiner Stimmung als eine Störung empfinden und beklagen;
es wird ſtets von einer ſtillen Sehnſucht begleitet ſein nach
einer vollen einheitlichen Lebensgemeinſchaft. Es wird ihm
als ein ideales Ziel die centrale, alle Lebensziele umſchlie—
ßende Gruppe vorſchweben, in welcher alle die einzelnen
Gruppirungsmotive ihren Halt- und Sammelpunkt finden,
in der wir das volle Bewußtſein haben: dieß ſind die
Unſern, die Angehörigen, zu denen wir ſtehen, mit denen
wir ausharren, deren Geſchick wir theilen, von denen zu
ſcheiden ein unerträglicher Gedanke wäre.
Dieß ideale Ziel der Univerſal-Gruppe, der vollen
104
Lebensgemeinſchaft iſt es nun, was unſer deutſches Wort Volk
in ſeinem tieferen Sinn bezeichnen will, ohne ſich darum auch
jenen unvollkommeneren Formen, die durch die einzelnen
Hauptmerkmale beſtimmt werden, zu verſchließen. f Und jo
mögen wir es uns immerhin gefallen laſſen, wenn im natur—
geſchichtlichen Sinn jede durch einen auf Abſtammung und
Sprache gegründeten Typus ſich von ihren Nachbarn abgren—
zende Gruppe, und im politiſchen Sinn jede durch Eine
Staatsgewalt beherrſchte Menge ein Volk genannt wird. Wir
müſſen dann, wenn auch mit widerſtrebendem Gefühl, die ver—
wirrenden Folgerungen dieſes Sprachgebrauchs hinnehmen,
daß der Einzelne zu zwei oder drei Völkern gehört und ge—
ſagt werden kann: das belgiſche Volk beſteht aus zwei, das
engliſche und ſchweizeriſche aus drei, das öſtreichiſche und
ruſſiſche aus ich weiß nicht wie vielen — Völkern. In
jenem volleren Sinn kann Niemand zu mehr als Einem
Volk gehören, wohl aber auch zu gar keinem. Nicht jede
natio, nicht jeder populus begründet in ihren Gliedern das
Gefühl der vollen Zuſammengehörigkeit; die einen werden
nie zu einem Volk, die andern erſt nach langen inneren
und äußeren Kämpfen; die einen entſchwinden aus der
Erinnerung der Menſchheit, wie wenn ſie nie geweſen wären;
die andern graben auch über die Dauer ihres phyſiſchen
Beſtandes hinaus das Gedächtniß ihres Wirkens für alle
Zeiten in die Tafeln der Geſchichte ein.
Es iſt Vieles, was zuſammentreffen muß, um jenem
Ideal zu entſprechen und die Wirklichkeit bietet uns immer
nur eine annähernde Löſung. Ein Land, groß und frucht—
105
bar genug, um eine dichte, zahlreiche, zum Selbſtſchuz gegen
alle Nachbarn befähigte Menge zu ernähren, von mannigfal—
tiger Gliederung, um eine vielſeitigere Entwicklung des wirth—
ſchaftlichen und intellectuellen Lebens zu geſtatten; auf dieſem
Boden eine ſprachgeeinigte Bevölkerung, die ihn bebaut und
erkämpft hat und ſich durch gemeinſame Thaten und Leiden
verbunden weiß; dieſe Menge geſchüzt und geordnet durch
eine einheitliche Staatsgewalt, die ihrem Schooß entſprungen,
mit ihren Intereſſen und Erinnerungen verwachſen iſt, und
nun auf der Grundlage dieſer geſicherten Staatsordnung
die Blüthe und Pflege aller jener idealen Güter der Menſch—
heit, des intellectuellen, ſittlichen und religiöſen Lebens in
freien und mannigfachen Formen, auch in Gegenſäzen und
Kämpfen, übek welche ſich das befeſtigte Gemeingefühl über—
legen und verſöhnend ausbreitet — dieß heißt, ein Volk
ſein. Es iſt ein Ziel, des Schweißes der Edlen werth, die
Sehnſucht von Jahrhunderten, von allen jenen bloßen
Stamm-, Sprach- und Staatsgenoſſenſchaften geſucht und
erſtrebt, von wenigen und meiſt nur auf kürzere Dauer
erreicht; ein Urbild menſchlichen Daſeins, das den Dichtern
und Denkern aller Zeiten vor der Seele ſtand. Mit kühnem
und vielleicht die Bedingungen der Wirklichkeit überfliegen—
dem Geiſtesſchwung hat ein deutſcher Denker, Fichte, ein
ſolches Ideal gezeichnet, in jener achten ſeiner Reden an die
deutſche Nation, welche die Ueberſchrift trägt: was ein Volk
ſei in des Wortes höherer Bedeutung, und worin er Volk
und Vaterland als Träger und Unterpfand der irdiſchen
Ewigkeit darſtellt. Und der Dichter, dem der Vorwurf ge—
106
macht werden will, daß er nur dem individuellen Gefühl
und Geiſtesleben, nicht auch dem der Gemeinſchaften ein
volles Verſtändniß entgegengebracht habe, läßt denjenigen
ſeiner poetiſchen Helden, welchem er am meiſten den Hauch
des eigenen Geiſtes geliehen hat, ſich vermeſſen, daß er
niemals ruhen und ewig raſtlos fortſtreben, ja ewig verloren
ſein wolle, wenn er zum Augenblick ſprechen würde: ver—
weile doch, du biſt ſo ſchön, und er läßt Fauſt ſeinen Einſaz
verlieren, als er in gemeinnüziger That der Weisheit höchſten
Schluß erkennt und jenen Augenblick als eingetreten erklärt
bei dem Gedanken: Solch ein Gewimmel möcht ich ſehen,
Auf freiem Grund mit freiem Volke ſtehen.
Von dieſer Unterſcheidung niedrigerer und höherer
Formen des Volksthums aus kann es nun vielleicht auch
gelingen, auf jene am Eingang erwähnten Fragen über
die logiſche und grammaticaliſche Natur dieſes Begriffes
eine Antwort zu finden. Jene ungeſchichtlichen Horden
und Stammgenoſſenſchaften, denen jede innere Entwicklung
zu fehlen ſcheint, wo ſeit Jahrhunderten bei ſtets gleicher
Beſchäftigung und engſtem Vorſtellungskreis jeder Einzelne
in gleicher Weiſe als Typus des Ganzen dienen kann,
mögen wir immerhin als bloße Varietäten einer Race oder
Species betrachten, bei welchen das Ganze keinen weiteren
Zweck erkennen läßt, als das ſtets gleiche Beiſpiel der
Gattung immer von Neuem zu erzeugen, zumal da wir
kleine Abweichungen und langſame Umbildungen ja auch
bei den Organismen der Thier- und Pflanzenwelt nicht
mehr als ausgeſchloſſen anſehen ſollen. Eine Schilderung
107
der Eigenschaften, Sitten und Gebräuche von Kamtſchadalen
und Papuanegern, von Karaiben und Irokeſen macht uns
einen ſehr verwandten Eindruck, wie wenn wir in der
Naturgeſchichte von Bibern, Känguruhs und Gorillas leſen,
wenigſtens inſoweit als jeder Einzelne den Typus ſeiner
Art in gleicher Weiſe vertritt. Wenn ſodann in ganzen
Staaten und Reichen ein auf rohe Gewalt und Willkühr
geſtütztes Regiment über eine träge, paſſive, auf die engen
Beziehungen eines ſtabilen Privatlebens beſchränkte Maſſe
geführt wird, ſo wüßte ich nicht zu ſagen, warum auf eine
ſolche Volksmenge ein höherer Begriff als der eines Col—
lectivnamens angewendet werden ſollte. Wo dagegen ein
Kulturvolk alle Kräfte und Anlagen der menſchlichen Natur
in eigenthümlichen Formen und in der lebendigſten Wechſel—
wirkung der Theile und des Ganzen fortentwickelt, da
könnte ſich zwar vielleicht eine nüchternere Auffaſſung noch
mit der Analogie eines Stromes, eines Waldes, eines Ge—
birges begnügen, wo auch dem Ganzen Eigenſchaften zu—
kommen, die das Einzelne nicht hat, und das Einzelne ſich
ebenſo gebend als empfangend verhält, doch mag man,
wenn man die Unähnlichkeiten dabei nicht ganz vergeſſen
will, auch das höhere und in einzelnen Beziehungen zu—
treffendere Bild eines Organismus gebrauchen. Wenn
man aber mit dieſem Bild nun vollends ſoweit Ernſt machen
will, daß man das Volk zu einem Individualbegriff, zu
einem beſeelten Einzelweſen von einer höheren Ordnung
der Geiſteswelt ſteigert, dem gegenüber von den atomiſti—
ſchen wechſelnden Individuen die wahre und eigentliche
108
Realität zukomme, dann geſtehe ich mit meinen Gedanken
zu ſolcher Höhe nicht mehr nachfolgen zu können. Von
einem Volksgeiſt, Volkscharacter, einer Volksſeele können
wir nur in demſelben Sinn reden, in welchem wir dieß
auch vom Geiſt eines Zeitalters, vom Charakter einer Gegend,
Verſammlung, von der Seele eines Gedichtes thun. Der
Gedanke, eine Völkerpſychologie als eine beſondere und
coordinirte Wiſſenſchaft neben die ſeitherige Seelenlehre zu
ſtellen, iſt zwar von geiſtvollen Männern erfaßt und zu
begründen verſucht worden, er wird ſich aber ſchwerlich auf
die Dauer zu behaupten vermögen. Die Characteriſtik der
Kulturvölker wird der Hiſtoriker auch in Zukunft unter
ſeine Aufgaben ſtellen; die der ungeſchichtlichen Horden
und Stämme wird er dem Anthropologen und Geographen
abtreten; die eigenthümliche Wechſel- und Maſſenwirkung
der pſychiſchen Individualkräfte in der Geſellſchaft iſt das
beſondere Gebiet, ja das Grundthema der ſocialen Wiſſen—
ſchaften. Pſychologie wird es immer nur Eine geben.
Ein geiſtiges Einzelweſen ohne die einheitliche Spitze eines
Selbſtbewußtſeins wird aber allen denen ein phantaſtiſcher
Begriff bleiben, welche ſich einen Willen ohne ein Wollen—
des, Gedanken ohne ein Denkendes nicht vorzuſtellen im
Stande ſind. Wohl giebt es eine Form, in welcher ſich
ein Volk zum lebendigen, denkenden und wollenden Einzel—
weſen zu entwickeln vermag; es iſt dies die Inſtitution des
Staats, in welcher ein einheitlicher, ordnender, intelligenter
Wille die Kräfte, Anlagen und Richtungen eines Volks zur
realen äußeren Geſtaltung bringt, und das Volk zu einem
109
bejeelten, perſönlichen Weſen wird. Darüber hinaus liegt
nichts Faßbares mehr.
Geſtatten Sie mir dieſe Bemerkungen über mein Thema
noch mit einigen flüchtigen Bildern aus dem Buch der Ge—
ſchichte zu beleben. Der Gedanke, ein Volk zu ſein in des
Wortes höherer Bedeutung, als geſchloſſene Gruppe ſich
die höchſten Aufgaben vor Augen zu ſtellen und mit Unter—
ordnung aller andern Zwecke zu verfolgen, iſt niemals
ernſter und großartiger erfaßt und ausgeführt worden,
als von den Kindern Iſraels. Hier war, wie Fichte will,
Volk und Vaterland Träger und Unterpfand einer irdiſchen
Ewigkeit, und das Volksleben wie ein permanenter Dienſt
im Heiligthum betrachtet. Wenn es dieſem Volk gleichwohl
zu keiner Epoche ſeiner Geſchichte gelungen iſt, ſein theore—
tiſches Ideal auch nur annähernd in die Gegenwart ein—
zuführen, wenn ſich die Hoffnung dieſer Verwirklichung früh
genug auf die unbeſtimmte Zukunft, auf die Erſcheinung
eines Retters und Geſalbten des Herrn zurückzog, ſo lag
der Grund hievon wohl auch in äußeren Dingen, in der
Lage und Kleinheit des Gebiets, der Nähe mächtiger Nach—
barn, in der allen Prieſterſtaaten eigenthümlichen Vernach—
läßigung kriegeriſcher Eigenſchaften, aber doch noch weit
mehr in den inneren Mängeln jenes Ideals ſelbſt, in der
Enge des Geſichtskreiſes, in der Unmöglichkeit, bei Ver—
achtung oder Unkenntniß von Wiſſen und Kunſt, von höherer
Geſelligkeit, von Mannigfaltigkeit der Beſchäftigung, dem
Leben noch irgend einen conereten Inhalt zu geben, an
dem ſich jene ſtetige Beziehung auf das Göttliche lebendig
beweiſen konnte, jo daß nach Befolgung all der vielen Ge—
bote und Verbote dem Einzelnen kein weiteres Ziel vor
Augen geſtellt werden konnte, als ruhig unter ſeinem Feigen—
baum zu ſizen und dereinſt zu ſeinen Vätern verſammelt
zu werden oder in Abrahams Schooße zu liegen. Den—
noch hat dieß Volk noch vor ſeiner Auflöſung als Staat
der Welt die vollendetſte Frucht menſchlichen Gemüths und
Geiſtes zurückgelaſſen und bewährt nun ſeit langen Jahr—
hunderten der Zerſtreuung die wunderbare Gruppirungs—
kraft ſeiner Stammes- und Glaubenseinheit.
In anderer Weiſe, mit helleren Augen, mit freierem
Geiſte haben die Hellenen, der intelligenteſte unter allen
Zweigen der Menſchheit, die Aufgabe ergriffen, in den
Sammelpunkt des geſchloſſenen Volksſtaats die Erfüllung
aller menſchlichen Lebenszwecke zu verlegen. Niemals iſt der
Einzelne mehr im Ganzen aufgegangen und nie hat er von
dieſem Ganzen einen reicheren Gehalt und Schmuck ſeines
eigenen Lebens zurückempfangen als in jenen Städterepu—
bliken an den Ufern des Eurotas und Ilyſſus. In dauer—
hafteren, aber gebundeneren Formen bewegte ſich dieſe
Hingebung in Sparta, wo die Aufgabe nur ſchien, einer
Kriegerkaſte die bleibende Herrſchaft im eroberten Land und
die politiſche Leitung der Nachbarſtaaten zu ſichern. In
flüchtigeren, aber reicheren und glanzvolleren Geſtalten
drängte ſich die atheniſche Volksherrſchaft von raſch erſtie—
gener Höhe noch raſcher dem Abgrund ihrer inneren Wider—
ſprüche entgegen, wußte aber im Sinken und Erlöſchen noch 8
mehr zündende und leuchtende Funken des Geiſtes in die
111
Welt hinauszuſprühen, als andere Völker in langen Jahr—
tauſenden zu erzeugen vermocht haben.
Wenn bei den Juden die Stammeseinheit Alles, bei
den Griechen noch Vieles galt, ſo war ſie bei den Römern
ſchon von Anfang an nicht vorhanden; hier iſt der Staat
nicht aus dem Weſen des Volkes, ſondern das Volk erſt
aus der Entwicklung des Staates herausgewachſen; ſie ſind
das erſte Beiſpiel eines nicht ethnographiſcheu, ſondern
politiſchen Volks. Bei gleicher Bürgertugend aber größerer
Achtung vor der geſchichtlich gewordenen und ſelbſtgeſchaf—
fenen Ordnung, wußten ſie zuerſt das Privatleben von dem
öffentlichen als eine Sphäre gleicher perſönlicher Freiheit
ſcharf und ſtreng abzugrenzen und der Logik allgemein an—
wendbarer Principien zu unterwerfen, aber troz dieſer
Scheidung und durch dieſelbe ihrem Staatsgebäude eine
Stärke uud Dauer zu geben, die niemals wieder erreicht
worden iſt. Das Weltreich aber, das ſie durch die kluge
und rückſichtloſe Verwendung dieſer gewaltigen Mittel grün—
deten, iſt das Grab ihrer eigenen und aller Völkerfreiheit
geworden, und Jahrhunderte hindurch mußte ſich jener un—
ausrottbare Trieb der Gruppirung auf die localen und
geſelligen Zwecke, die Philoſophenſchulen, die geheimen und
offenen Kulte und Secten zurückziehen und hier um ſo
tiefere Wirkungen üben, je mehr ihm bei reichen Schätzen
der Bildung der natürliche Spielraum entzogen war.
Das Meiſte und Beſte aber von Allem, was unſere
bildungsſtolze Gegenwart aufzuweiſen hat, ſtammt immer
112
noch aus der Erbſchaft jener drei Völker des Alterthums,
Juden, Griechen und Römer.
Das dunkle Jahrtauſend, deſſen vieldeutigen Inhalt
wir unter dem unbeſtimmten Namen des Mittelalters zu-
ſammenzufaſſen uns gewöhnt haben, führt zwar ganz neue
Völter auf die Weltbühne, aber doch zunächſt nur, um ſie
zu miſchen, zu zerſezen und in die Dienſtbarkeit der alten
Ueberlieferungen zu bringen. Wenn wir uns an den
Menſchen jener Zeit die Frage gerichtet denken: wer biſt
Du und zu wem gehörſt Du, ſo würde er wohl zuerſt
mit den Worten des lutheriſchen Catechismus geantwortet
haben: ich bin ein Chriſt, und hätte, wenn man noch
weiter fragte, hinzugefügt: ich bin der Dienſt- und Lehens—
mann des Grafen oder Abtes So und So. Das weiteſte
und allgemeinſte Band der Religion, und wieder das
engſte und nächſte der localen Beziehungen waren die
herrſchenden Motive der Gruppirung; in der großen Mitte
zwiſchen beiden lag nichts. Hiefür fehlte ſchon die nöthige
Vielſeitigkeit unmittelbarer Berührungen. Für die meiſten
Menſchen war der Beſuch des nächſten Jahrmarkts oder
Wallfahrtsortes das größte Reiſeziel und bedeutendſte Er—
lebniß. Nicht blos Sprachen, ſondern ſchon Dialekte bildeten
die Grenzen des Verſtändniſſes. Für die leitenden Klaſſen
war das Latein lebende und Welt-Sprache.
Aber langſam und in der Stille bereiteten ſich neue
Anſchauungen vor; gegen Ende des Mittelalters treten die
neueuropäiſchen Kulturvölker aus der verworrenen Maſſe
als geſchloſſene Gruppen heraus, zunächſt die Spanier, die
113
Franzoſen, die Engländer. Bei ihnen allen gieng die Bil-
dung eines neuen Volkes aus zuvor getrennten Stämmen
und Provinzen Hand in Hand mit der Ueberwindung
äußerer oder innerer Feinde und der Erſtarkung einer ein—
heitlichen Staatsgewalt; die Grenzlinien der Stämme ver—
ſchwanden hinter der politiſchen Einheit. Aus dem weiten
Hintergrund gleichartiger Bildung hebt ſich zuerſt wieder
das beſondere Volksthum in kräftiger Schattirung ab.
Auch die Deutſchen, die damals an Macht, Wohlſtand
und Bildung hinter keinem der Nachbarn zurückſtanden,
nahmen um dieſelbe Zeit, nachdem ſie ſo lange bei äußerer
Herrſchaft doch in allen geiſtigen Dingen die Schüler der
romaniſchen Völker geblieben, den Anlauf, dieſe Lehrjahre
abzuſchließen und eine Geſtaltung ihres religiöſen und poli—
tiſchen Lebens zu ſuchen, die ihrem jezt entwickelteren Eigen—
weſen entſpräche. Welchen Erfolg dieſer Verſuch hatte,
wie wir uns daran verbluteten, wie wir in zwei große
Lager geſpalten, zerriſſen in Hunderte von Territorien, deren
meiſte man nicht Staaten, ſondern Zerrbilder von Staaten
nennen konnte, den Hohn und frechen Uebermuth des nur
durch ſeine Einigung ſtärkeren Nachbars ertragen mußten,
wie wir an uns ſelbſt zu verzweifeln anfiengen, wie dann
langſam ein Stern der Hoffnung aufgieng, ein geiſtiges
Band der Sprache, Litteratur und Wiſſenſchaft die getheilten
Stämme umflocht, wie das Verlangen, endlich ein Volk zu
werden und ein Vaterland zu haben, allgemeiner und bren—
nender wurde, wie zulezt die Erfüllung eintrat in Formen
und Wegen, die Manchen unerwünſcht, für Alle überraſchend
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 8
114
und überwältigend waren, — wem brauche ich alles dieß
zu ſagen? Ein Volk für den Ethnographen ſind wir ja
ſchon längſt und immer geweſen, ſogar wenn man darauf
Werth legen wollte, reiner und weniger gemiſcht, als die
andern alle; ein politiſches Volk hätte uns Jemand in den
Zeiten unſerer großen Kaiſer auch nennen können, nur
fehlte das Bewußtſein davon und die geiſtige Selbſtändig—
keit; ein Volk im ächten wahren Sinn des Worts, dem
wir uns angehörig wiſſen und empfinden, das uns ein
Vaterland giebt, ſind wir erſt durch die neueſten Ereigniſſe
geworden; es ſind dafür nicht alle, aber die entſcheidenden
Bedingungen erfüllt worden.
Man ſollte denken, daß unſere ganze bisherige Ge—
ſchichte nur eine Einleitung, nur Wander- und Lehrzeit
war und jezt erſt die Meiſterjahre angebrochen wären. Wir
haben nicht Zeit rückwärts zu ſchauen und ſehen uns
gleich vor die größten Aufgaben geſtellt. Vieles könnte
uns hiebei ängſtlich machen, aber Eine Bürgſchaft des Er—
folges muß ich nennen, da ihre Erwähnung zugleich den
Abſchluß meines Themas bildet.
Wie der Einzelne nichts Großes vollbringt ohne Ver—
trauen auf ſich ſelbſt und ein gewiſſes Gefühl ſeines Werthes,
der Werth ſeiner Leiſtungen aber keineswegs von dem Maaß
dieſes Selbſtgefühls abhängt, ſo iſt auch bei den Völkern
der Nationalſtolz, das Hochgefühl der eigenen Größe nur
ein unentbehrliches Mittel, aber nicht der Zweck der Sache.
Nicht darin beſteht die Bedeutung eines Volkes in der
Entwicklung der Menſchheit, daß es für ſich etwas ganz
115
Beſonderes und Unvergleichliches zu fein glaubt, ſondern
daß es für eine beſtimmte Seite und Form des allgemeinen
Menſchenideales einen vollen und für alle Zeiten muſter—
giltigen Ausdruck findet und den in der Natur unſerer
Gattung begründeten Reichthum vielfacher und gleichwerthi—
ger Geſtalten menſchlichen Daſeins zur Anſchauung bringt.
Die Idee der Menſchheit ſteht noch höher als alles Volks—
thum; in dem Geiſterreigen ahnender Völker breitet die
Menſchheit die Fülle ihres Inhaltes aus. Nun hat aber
noch nie die eigenthümliche Gemüthsart eines Volkes zu
dieſer Idee der Menſchheit eine directere Beziehung gehabt
als die der Deutſchen. Andere Völker dienten ihr ohne es
zu wiſſen und zu wollen. Uns aber hat der beſondere Gang
unſerer Geſchicke dahin geleitet, jenes Ziel unmittelbar und
mit Bewußtſein als unſer Wahrzeichen aufzuſtellen. Man
hat uns jo oft geſcholten, daß wir das Eigene nicht zu
ſchätzen wiſſen und das Fremde bewundern; eine rechte
Doſis von Nationalſtolz uns einzuimpfen, hat niemals
gelingen wollen, und nachdem wir die größten Thaten
fertig gebracht, laſſen wir uns kaum für eine Erinnerungs—
feier daran erwärmen. Mit dem beſten Willen bringen
wir es nicht dahin, das Fremde zu verachten, den Haß
der Feinde mit der gleichen Erregung zu erwiedern; wir
können nicht davon laſſen, das Gute zu ſuchen und anzu—
erkennen, wo es auch ſei. Vom Weltbürgerthum, von einer
Weltlitteratur aus ſind wir zum Bewußtſein unſerer natio—
nalen Aufgabe geführt worden. Die Poeſie keines Volkes
hat jo direct nach den Höhen der Menſchheit den Blick ge—
8 *
116
richtet; die Wiſſenſchaft keines andern hat einen ſo uni—
verſellen und internationalen Charakter. Zur Nation euch
zu bilden, hat uns Schiller geſagt, ihr hofft es, Deutſche,
vergebens; bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menſchen
euch aus. Manche unſerer Eigenſchaften halten uns auf
oder ziehen uns vom Ziele ab, aber dieſer ideale Zug, die
Liebe zur Wahrheit und Gerechtigkeit und Humanität wird
uns immer wieder auf die rechte Straße weiſen. Und bei
dieſem eigenthümlichen Zug nach dem allgemein Menſch—
lichen hin dürfen wir vielleicht hoffen, daß wir in den
ſchweren Kämpfen und Aufgaben, die unſerer warten, nicht
allein ſein werden, ja daß der Genius der Menſchheit als
ſtiller Bundesgenoſſe an unſerer Seite ſtehen wird.
Ueber die Lehre von den Seelenvermögen.
6. Nov. 1873.
Man ſollte denken, die Pſychologie könnte und müßte
die Königin aller Wiſſenſchaften ſein, und wer die höchſte
irdiſche Erſcheinung, den Menſchengeiſt zu deuten wüßte,
für den würde auch Natur und Welt kein Räthſel mehr
bieten. In Wirklichkeit aber iſt bekanntlich die Seelenlehre
noch gar weit entfernt, einen ſo hervorragenden Plaz unter
ihren Schweſtern einzunehmen. Wiewohl ſie auch in dieſem
Stand der Erniedrigung noch allen andern Wiſſenszweigen
die Ausgangspunkte und lezten Bürgſchaften ihrer Erkennt—
niß zu bieten hat, ſo iſt ſie doch im Ganzen unter dieſen
wie der ſchwerſte, ſo auch der unvollkommenſte. Ich wüßte
wenigſtens keine Wiſſenſchaft, die noch ärmer wäre an
feſten, allgemein anerkannten, und von jedem neuen
Forſcher ohne Weiteres vorausgeſezten Wahrheiten. Und
zwar trifft die Unſicherheit vielleicht noch weniger die ein—
zelnen empiriſchen Erſcheinungen, die uns im praktiſchen
Leben vorkommen, als die Anfänge und die allgemeinſten
grundlegenden Begriffe. Nicht nur die Fragen über das
Weſen der Seele ſind beſtritten, ob überhaupt eine Seele
als ein Ding und reales Etwas anzunehmen ſei oder ob
118
dieſer Begriff nur als ein zuſammenfaſſender Name für
eine Reihe von Vorgängen und Erſcheinungen einer inneren
Wahrnehmung gebraucht werde, ſondern ſchon die allererſten,
auch nur ſummariſchen Unterſcheidungen und Eintheilungen
dieſer inneren Vorgänge machen uns die größten Schwierig—
keiten. Ich denke hier an die bekannte Lehre von den
Seelenvermögen. Die Meiſten von uns haben wohl in
der Schule gelernt oder in Büchern geleſen, daß der menſch—
lichen Seele drei Grundvermögen beizulegen ſeien, die wir
am häufigſten mit den drei kurzen Worten, Denken, Fühlen,
Wollen bezeichnet hören, wobei jedoch für Denken auch Vor—
ſtellen oder Erkennen, für Wollen auch Streben oder Be—
gehren, ſeltener für Fühlen auch Empfinden geſagt wird.
Dieſe Lehre macht den Anſpruch, daß durch ſie für alle
Vorgänge unſeres pſychiſchen Lebens eine erſchöpfende Ein—
theilung geboten ſei, ſo daß, was auch immer unſer Be—
wußtſein als einen Act innerer Erfahrung zu unterſcheiden
vermag, entweder ein Vorſtellen oder ein Begehren oder
ein Fühlen oder ein aus zwei oder allen drei ſolchen Ele—
menten Gemiſchtes ſein müßte. Sie will aber noch weiter
damit ſagen, daß jene drei Thätigkeiten einander gleichge—
ordnet, daß ſomit keines aus dem andern abgeleitet ſei,
ſondern alle drei auf einen gemeinſamen Urſprung, nemlich
eben die Seele zurückweiſen.
Es wäre nun in der That ein großer Schritt in der
Entwicklung einer noch ſo unfertigen Wiſſenſchaft, wenn dieſe
Unterſcheidung von drei Grundvermögen der Seele wirklich
feſtſtünde. Sie hätte dann wenigſtens einmal feſten Boden
119
unter den Füßen, es wären die erſten Pfeiler eingeſchlagen,
das Fundament, auf dem ſich weiter bauen ließe und die
pſychologiſchen Begriffe ſchwebten nicht mehr jo haltlos und
zerfahren in der Luft. Allein es fehlt noch gar viel daran,
daß jener Saz von den drei Seelenvermögen bereits als
ein ſicheres Beſizthum der Wiſſenſchaft anzuſehen wäre und
es ſtehen ihr noch mancherlei und erhebliche Einwürfe gegen—
über. Befremdlich iſt es ſchon, daß er noch von ſo jungem
Datum, kaum 100 Jahre alt und nach kurzer Herrſchaft
ſchon wieder lebhaft beſtritten iſt. Man ſollte denken, daß
eine einfache Grundwahrheit früher und allgemeiner erkannt
und einmal erkannt nicht wieder beſtritten worden wäre.
Die Philoſophen des Alterthums ſprechen bald von zwei,
bald von drei oder vier Grundkräften der Seele, wobei ſie
zwar wohl theilweiſe an das eine oder andere jener drei
Vermögen anſtreifen, aber doch im Weſentlichen von andern
Geſichtspunkten ausgehen. Beſonders beliebt und dem po—
pulären Verſtändniß naheliegend erſchienen immer Zwei—
theilungen, ſei es, daß man in der Erinnerung an den
Gegenſaz von Körper und Geiſt oder von Thieriſchem und
Menſchlichem die Sinnlichkeit und Vernunft unterſchied und
dabei zur Sinnlichkeit nicht blos die Wahrnehmungen, ſon—
dern auch die Empfindungen und Begierden, zur Vernunft
auch das vernünftige Wollen rechnete, oder daß man nur
animus und mens, Sinn und Trieb, Verſtand und Charak—
ter, Herz und Kopf, Wille und Vorſtellung auseinanderhielt.
Das Gefühl wurde lange nicht als eine beſondere eben—
bürtige Seelenthätigkeit anerkannt, ſondern lief wie ein
120 N
blinder Paſſagier, ein zufälliges und beiläufiges Anhängſel,
das einer beſonderen Beachtung weder fähig noch werth
erſchien, mit nebenher.
Wenn auch nicht ohne anſtreifende Vorläufer, war es
zuerſt Kant, der jene Trias von Seelenvermögen feſtgeſtellt
und zur Anerkennung in den pſychologiſchen Lehrbüchern ge—
bracht hat, und ſie liegt ſeinen drei Hauptwerken in der Weiſe
zu Grunde, daß er in der Kritik der reinen Vernunft das Er—
kenntnißvermögen, in der Kritik der praktiſchen Vernunft das
Begehrungsvermögen, in der Kritik der Urtheilskraft das Ge—
fühlsvermögen darauf hin unterſucht hat, welche unter den
jedem dieſer Vermögen zukommenden Begriffen der Erfahrung
entnommen und welche als ein eigener, urſprünglicher, aprio-
riſcher Beſiz des Menſchengeiſtes zu der Erfahrung hinzuge—
bracht und in ſie hineingelegt werden. Während nun dieſe
Kantiſche Theorie im Allgemeinen ſowohl in die deutſche
Wiſſenſchaft als in den Begriffsvorrath der gebildeten Klaſſen
Eingang gefunden hat, begegnete ſie auch mancherlei Anfech—
tungen, beſonders einer ſcharfen und einſchneidenden Kritik
von Seiten Herbarts und ſeiner Schule. Der Widerſpruch
kehrte ſich hiebei weniger dagegen, daß man überhaupt die
verſchiedenen Vorgänge des Seelenlebens in jenen drei Klaſſen
zur Ueberſicht und für den praktiſchen Gebrauch unterbringen
könne, als daß an die Stelle der einheitlichen und einfachen
Seele drei von einander unabhängige Grundkräfte geſezt
werden, deren ineinandergreifendes Zuſammenwirken nur
wieder durch die Annahme weiterer, eben hiezu dienender
Vermögen begreiflich gemacht werden könnte. Die poſitive
121
Deutung des Seelenlebens, wie fie in dieſer Schule üblich
ift, ſtellt ſodann die Vorſtellungen und deren Bewegungen
an die Spize der Pſychologie, ſo daß auch alles Fühlen
und Begehren nur als ein abgeleiteter, durch Druck und
Spannung, durch Steigen und Sinken von Vorſtellungen
veranlaßter Zuſtand der Seele erſcheint.
Da nun dieſe Auffaſſung eine weite Verbreitung und
großes Anſehen in der deutſchen Philoſophie der Gegenwart
gewonnen hat, und jedenfalls der kritiſche Theil der Herbart—
ſchen Sätze noch Beachtung finden wird, wenn das, was an
die Stelle der alten Lehre geſezt werden ſoll, als Ganzes
wenige Anhänger mehr zählen dürfte, ſo erſcheint die frühere
Theorie immerhin nicht mehr als eine ſichere Errungenſchaft,
wofür ſie eine Zeitlang gelten konnte, ſondern als ein frag—
licher und erſchütterter Beſiz der Wiſſenſchaft, und es iſt weder
eine überflüſſige, noch, wie ich glaube, eines allgemeineren
Intereſſes entbehrende Aufgabe, die Berechtigung der Lehre
von den drei Seelenvermögen zu prüfen und zu beſprechen.
Erlauben Sie, daß ich ohne jeglichen Anſpruch, etwas Er—
ſchöpfendes oder Abſchließendes über ein ſo weitgreifendes
Thema zu ſagen, Ihnen einige Anſichten darüber vorlege.
Es ſchien mir immer für mancherlei pſychologiſche
Fragen lehrreich und fruchtbar, darauf zu achten, welche
Methode wir anzuwenden und welcher Ausdrücke wir uns
zu bedienen pflegen, wenn wir ein menſchliches Individuum
in Worten beſchreiben und von andern unterſcheiden wollen.
Wenn es ſich nur um eine Schilderung der körperlichen
Eigenſchaften handelt, ſo erſcheint das Verfahren ſehr ein—
122
fach. Jeder Steckbrief, den wir in der Zeitung leſen, jedes
Signalement in einem Reiſepaß giebt uns darüber Aus—
kunft. Es werden, wie Sie wiſſen, dabei eine mäßige Zahl
von Rubriken ſchablonenhaft aufgeſtellt, neben Geſchlecht
und Alter in der Regel die Größe, die Figur, die Haare
nach Farbe und Fülle, Stirne, Naſe, Augen, Wangen,
Mund, Zähne und in jeder dieſer Rubriken wird ein kurzes
Prädikat beigefügt, das ein quantitatives Verhältniß, eine
Dimenſion, eine Farbe oder Aehnliches ausdrückt, wie z. B.
groß, dicht, breit, ſchwarz u. ſ. f. So grob nun auch die
Umriſſe eines ſo gezeichneten Bildes ſind, ſo iſt es doch
überraſchend, daß es durch ſo einfache Mittel mit einem
Duzend Worte gelingt, ein Individuum von Hundert Tau—
ſenden, ja Millionen auszuſondern. Man ſieht daran wie
alle Individualität nur darin liegt, daß Merkmale, welche
Allen zukommen, nur in verſchiedenen Maaßen und Graden,
ſich bei dem Einzelnen in einer beſtimmten Miſchung und
Combination dieſer Maaße zuſammenfinden. Unzählige
junge Männer mögen eine unterſezte Figur und dabei blaue
Augen haben; wenn aber hinzugefügt wird, blonde und
krauſe Haare, ſo ſind es ſchon nur Wenige, die dieſe vier
Merkmale theilen; und ſo geht es fort, wenn ein fünftes,
ſechstes, ſiebentes Kennzeichen hinzutritt; der Kreis wird
immer kleiner, die Möglichkeit der Combination immer
größer; jeder einzelne Zug für ſich kommt Unzähligen zu,
aber dieſer beſtimmte Complex von Zügen iſt ein Unicum.
Sollte nun dieſe Methode, die für die körperliche Cha—
racteriſtik ſo praktiſche Dienſte leiſtet, nicht auch für die
123
pſychiſche oder geiſtige Seite anwendbar ſein? Sollte die
Einzigkeit des Individuums hier in etwas Anderem be—
ſtehen als daß Gattungsmerkmale ſich in dieſer beſtimmten
Miſchung ihrer Arten und Maaße doch nur dieß Einemal
begegnen? Allein wenn wir dieß verſuchen, ſo ſtoßen wir
gleich auf die Schwierigkeiten: wie heißen denn die Rubriken,
die in die Schablone einzutragen wären, die Prädikamente,
die jenen Signalements der Steckbriefe entſprechen würden?
Die Sprache bietet uns zwar eine Unzahl von pſycholo—
giſchen Begriffen, aber ſie decken oder durchkreuzen oder
widerſprechen ſich und jede Auswahl erſcheint willkührlich
und mangelhaft. Machen wir nun die Probe mit den drei
Grundkräften oder Seelenvermögen, ſo ſehen wir uns ſofort
enttäuſcht. Wenn ich von irgend Jemand fragen wollte,
was hat er für ein Vorſtellungs- oder Gefühls- oder Be—
gehrungsvermögen, ſo muß ich die Fragſtellung als eine
falſche, wo nicht alberne erkennen. Denn welche Art von
Prädikaten ich auch gebrauchen will, groß oder klein, ſchwach
oder ſtark, eng oder weit, ſtill oder bewegt, oder was ſonſt,
ſo entſteht ein Widerſinn. Denn Niemand hat ja ein Be—
gehrungsvermögen nur im Allgemeinen, ſondern Alle be—
gehren, aber der eine dieſes, der andere jenes und Jeder
von dem, was er begehrt, das Eine wieder lebhafter und
heftiger als das Andere. Den Einen freut es, wie uns
der Dichter ſagt, den Staub von Olympia aufzuwirbeln,
den Andern das Korn von der libyſchen Tenne in ſeine
Scheune zu ſammeln. Niemand begehrt Alles, Jedermann
Etwas und Vieles. Ebenſo iſt es mit dem Vorſtellen und
124
Fühlen. Alle ſtellen vor, alle fühlen, aber ihr Vorſtellen
und Fühlen iſt ein in ſo mannigfaltiger Weiſe abweichen—
des, daß wenn ich das Ganze mit einem einzigen Prädikat
verbinden wollte, es ungefähr lauten müßte, wie wenn
Jemand ſagte: das Pflanzenreich iſt gut oder es iſt ſchlecht,
es iſt giftig oder wohlſchmeckend, groß oder klein.
Um nun feſtere und brauchbarere Anhaltspunkte zu
gewinnen, verſuchte ich eine rein empiriſche, oder wenn man
will, ſtatiſtiſche Methode anzuwenden. Ich bemerkte mir
alle Formeln und ſprachlichen Ausdrücke, durch welche wir
einzelne Menſchen zu characteriſiren pflegen, mochten ſie
nun in Büchern oder im Leben, bei Dichtern oder Geſchicht—
ſchreibern, für hervorragende oder alltägliche Perſönlich—
keiten, in deutſchen oder in anderen mir bekannten Sprachen
begegnen, und ich ſah jedes der Merkmale darauf an, was
eigentlich damit geſagt, welche Seite des Seelenlebens da—
durch beſtimmt werden wolle. Man hat auf dieſem Wege
raſch Hunderte von Prädikaten zuſammen, aber man iſt
bald überraſcht zu bemerken, daß ſie ſich doch in nur wenige
Klaſſen oder Gruppen ordnen laſſen, denen auch die ver—
einzelten Nachzügler, auf die man ſpäter noch ſtößt, un—
ſchwer einzureihen ſind.
Wenn wir von Jemand ausſagen, daß er von den
Gegenſtänden ſeiner ſinnlichen Wahrnehmung ſich die Ge—
ſtalt, Größe und Farbe leicht und ſicher einpräge, den Ort
dieſer Wahrnehmung oder einen einmal zurückgelegten Weg
nicht wieder vergeſſe, oder daß er Sinn für mechaniſche
Cauſalität habe, jede Maſchine ſchnell begreife, oder daß
125
er gut erzähle oder ſeine Meinungen überzeugend darzu—
legen und gegen Einwürfe zu begründen wiſſe, daß er
leicht Sprachen lerne, daß er ſeine Vorſtellungen vielfältig
unter einander in immer neue Combinationen bringe, oder
daß er Anlage für Mathematik habe, aber einer abſtracten
Gedankenbewegung nur ſchwer zu folgen vermöge, ſo iſt
leicht zu erkennen, daß wir mit dieſen und hundert ähn—
lichen Prädikaten den Intellect eines Menſchen kennzeichnen,
ſeine intellectuellen Anlagen und Kräfte, die Vorſtellungs—
reihen, die ſein Bewußtſein erfüllen, aber nicht nach ihrem
Inhalt, ſondern nach ihren formalen Seiten, ihrem Fluß,
dem Grad ihrer Beſtimmtheit, der Art ihrer Bewegungen
und Verknüpfungen.
Von einer ganz andern Art ſind dagegen Prädikate
wie die folgenden. Wir hören von Jemand, daß es ihm
eine wichtige Herzensangelegenheit ſei, gut und viel zu
eſſen, eine noch wichtigere, gut und viel zu trinken, oder
daß er für die Triebreize des ſexuellen Lebens in hohem
Grade empfänglich ſei, oder er ſei ſehr ſparſam und auf
Nichts ſo ſehr, wie auf die Vermehrung ſeines Vermögens
bedacht; er ſei geſellig und könne keine Stunde allein ſein;
für ſeine Handlungsweiſe ſei es ein entſcheidender Punkt,
was die Leute darüber ſagen. Eben dahin gehören aber
auch die Urtheile, es ſei Jemand gutherzig, mitleidig und
könne keine Fliege leiden ſehen, oder er ſei wißbegierig
und intereſſire ſich für wiſſenſchaftliche Fragen auf dieſem
oder jenem Gebiet; er liebe die Muſik und die Gaben der
Poeſie, während ihn die bildenden Künſte kalt laſſen; ſein
126
Rechtsgefühl ſei ſtärker entwickelt als die Empfänglichkeit
für die Regungen des Gewiſſens, ſociale und politiſche
Fragen beſchäftigen ihn lebhafter als kirchliche und religiöſe
Dinge. Alle dieſe und ähnliche Prädikate, ſo buntſcheckig
und fremdartig ſie ſich neben einander ausnehmen, haben
doch den gemeinſamen Ausgangs- und Sammelpunkt, daß
ſie angeben, auf was ein Menſch ſein Intereſſe und ſeine
Aufmerkſamkeit richtet, welche Motive ihn beſtimmen, was
er für Güter hält, die er erſtrebt, was für Uebel, die er
vor anderen vermeidet, oder mit andern Worten, ſie ſagen
uns, welche unter den verſchiedenen in die menſchliche Natur
eingepflanzten Triebreizen, auf denen alle unſere Vorſtel—
lungen von Gütern des Lebens ruhen, auf ein Individuum
eine ſtärkere, und welche eine ſchwächere Wirkung ausüben;
ſie bieten uns zuſammen die Scala des menſchlichen Trieb—
lebens mit Angabe der den einzelnen Trieben zukommenden
Stärkegrade; ſie geben den Inhalt, die Ziele und Zwecke,
in welche wir den Werth des Menſchenlebens zu ſezen
pflegen.
Es giebt nun aber noch eine dritte Art von Unter—
ſcheidungsmerkmalen der Perſönlichkeiten. Der eine er—
ſcheint uns lebhaft und leicht erregbar, der andere ruhig
und ſtill, bei jenem wie bei dieſem können die einzelnen
Eindrücke und Regungen flüchtig oder nachhaltig ſein. Auch
die Empfänglichkeit für Luſt und Unluſtgefühle hat ſehr
verſchiedene Grade; und wie wir den Körpern eine ver—
ſchiedene Wärmecapacität beilegen, indem das gleiche Maaß
zugeführter Wärme bei dem einen Körper eine ſchwächere,
127
bei dem andern eine ſtärkere Erwärmung hervorbringt, To
gelangt bei gleichem Anlaß der eine leichter, der andere
ſchwerer zu einem Gefühl der Luſt; der eine hofft immer
das Beſte und ſieht den Weltlauf in roſigem Lichte; der
andere fürchtet immer das Schlimmſte und blickt in die Welt
wie durch ein getrübtes Glas. Ebenſo kann der Eine den
vollen Schwerpunkt aller ſeiner pſychiſchen Kräfte in ſein
momentanes Thun verlegen; er tritt muthig, mit geſam—
melter Gegenwart des Geiſtes für das ein, was ihn bewegt;
der andere iſt verzagt, unſchlüſſig, zerſtreut oder zerfahren.
Der eine giebt ſich immer wie er iſt und trägt ſein Herz
auf der Zunge; der andere iſt verſchloſſen und ſchwer zu
enträthſeln. Dieſe und eine Menge ähnlicher Bezeichnungen
mit allen dazwiſchenliegenden Nuancen des Maaßes drehen
ſich alle um Einen Punkt; ſie drücken die Grade, die Formen
und Arten jener inneren Erregungen aus, von welchen alle
übrigen pſychiſchen Vorgänge begleitet ſind und durch welche
ſie erſt die unſrigen, auf ein innerſtes Centrum, das Ich,
bezogen werden und die entweder angenehmen oder unan—
genehmen Zuſtände dieſes Ichs bilden. Einen Theil dieſer
Prädikate pflegen wir unter dem ſchwankenden Begriff des
Temperaments zuſammenzufaſſen, den ganzen Complex der
Eigenſchaften aber, die ſich auf die Art beziehen, in welcher
das Centrum unſeres inneren Lebens, das Ich, von den
Vorgängen deſſelben berührt und afficirt wird, bezeichnen
wir mit dem Namen der Gemüthsart oder des Naturells.
Neben dieſen drei Grundformen von Bezeichnungen,
durch welche wir Menſchen zu characteriſiren gewöhnt ſind,
128
giebt es zwar noch mancherlei andere Prädikate, die in
praktiſche Anwendung kommen; ſie ſind aber alle entweder
Miſchformen und Zuſammenſezungen aus jenen drei Klaſſen,
oder ſind es überhaupt nicht rein pſychologiſche Merkmale.
Wenn wir Jemand muſicaliſch nennen, ſo legen wir ihm
zweierlei bei, eine Neigung und eine Fähigkeit, die Freude
an der Muſik und einen entwickelten Tonſinn, d. h. die
Fähigkeit, Töne und ihre Intervalle zu unterſcheiden und
eine Reihe derſelben zu einem Ganzen zuſammenzufaſſen.
Wenn ich Jemanden das Prädikat eines Philoſophen er—
theile, ſo ſeze ich bei ihm, was der Name beſagt, Liebe
zur Weisheit und Befähigung für abjtractes Denken voraus.
Im Ehrgeiz liegt Beides, ein hervortretender Trieb nach
Auszeichnung und eine Gemüthsart von tiefer Erregbarkeit.
Wenn wir Jemand einen tüchtigen, brauchbaren, ausge—
zeichneten Menſchen, einen Andern einen Schlingel oder
Taugenichts nennen, ſo meſſen wir dabei das Ganze ſeiner
pſychiſchen Eigenſchaften an den allgemeinen oder beſonderen
Zwecken des praktiſchen Lebens und ziehen nur das Schluß—
facit aus einer nicht näher ausgeführten, aber vorausge—
ſezten Prüfung derſelben. Wenn wir dagegen Jemand als
Orthodoxen oder Freigeiſt, abs conſervativ oder Democraten
bezeichnen, ſo wollen wir ihn damit überhaupt nicht im
pſychologiſchen Sinn characteriſiren, ſondern wir drücken
damit nur ſeine Stellung zu allgemeinen Zeitfragen aus,
die noch durch ganz andere Factoren bedingt ſein kann.
Im Uebrigen habe ich noch kein menſchliches Prädikat finden
129
können, das nicht einem jener drei Elemente oder einer
Combination derſelben zuzutheilen wäre.
Wir hatten vorhin geſehen, daß ſich die Lehre von
den drei Seelenvermögen ganz unbrauchbar erwies, um
durch irgend eine Art von Attributen derſelben Individuen
zu characteriſiren, was dieſelbe doch unzweifelhaft leiſten
müßte, wenn die menſchliche Seele aus dieſen drei Grund—
kräften zuſammengeſezt wäre. Dagegen hat ſich uns eine
andere Dreiheit ergeben, die ich mit den Namen Intellect,
Triebleben und Gemüthsart bezeichnet habe, und ich brauche
wohl kaum noch darauf aufmerkſam zu machen, daß uns
hier unter abweichender Form doch nichts Anderes als jene
Trias von Vorſtellen, Wollen und Fühlen entgegentritt,
daß der Intellect dem Vorſtellen, die Triebe dem Begehren,
die Gemüthsart dem Fühlen entſprechen. Der Unterſchied
liegt nur darin, daß wir nicht auf drei Vermögen oder
einheitliche Grundkräfte, ſondern auf drei Gruppen unter
ſich gleichartiger Erſcheinungen geführt wurden, auf drei
Klaſſen von pſychiſchen Vorgängen, Functionen, Lebens—
äußerungen, die zuſammen unſer Seelenleben ausmachen.
Der Hauptgedanke jener alten Lehre, die Unterſcheidung
der drei Seelenthätigkeiten des Vorſtellens, Wollens und
Fühlens ſchien ſich zu bewähren und nur eine etwas ver—
änderte Geſtalt anzunehmen.
Man kann nun zwar gegen die hier angewendete Me—
thode den Einwurf erheben, daß ſich auf dieſem Wege eine
vollſtändige Aufzählung der pſychiſchen Thatſachen und
Merkmale gar nicht gewinnen laſſe und es ſich in der
FM . w Ü
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 9
130
Piyhologie überhaupt nicht um dasjenige handeln könne,
wodurch ſich ein Menſch vom andern unterſcheide, ſondern
was allen gemeinſam ſei. Und in der That giebt es man—
cherlei Prädikate, welche wir niemals für menſchliche Cha—
rakteriſtik anwenden, obgleich ſie nur etwas vollkommen
Zutreffendes beſagen würden. Denn wir werden wohl
niemals über Jemanden bemerken hören, daß ihm der
Schnee weiß, das Eiſen hart, das Feuer heiß, der Himmel
blau erſcheine, oder daß er ein und daſſelbe Urtheil nicht
zugleich zu bejahen und zu verneinen vermöge, daß er die
Geſundheit der Krankheit, die Luſt dem Schmerz vorziehe,
daß ihm die Befriedigung ſeiner Wünſche angenehm, deren
Vereitlung unangenehm ſei, daß für ihn ſein Ich den Mittel—
punkt ſeines inneren Lebens bilde. Dieß würde uns vor—
kommen, wie wenn in einem körperlichen Signalement von
Jemand angegeben würde, daß ſich ſeine Naſe unterhalb
der Augenlinie aber oberhalb des Mundes befinde. Es
kann nun allerdings ſehr lehrreich für den Pſychologen
ſein, ſich auch eine Sammlung von ſolchen menſchlichen
Prädikaten anzulegen, die wir niemals zu denken, zu leſen
oder zu hören pflegen, weil die Sprache uns nicht dazu
dient, das Selbſtverſtändliche zu ſagen. Er wird jedoch
dabei im günſtigſten Fall nicht mehr erreichen als durch
die Sammlung der Unterſcheidungsmerkmale. Denn eine
nähere Betrachtung von dieſen ergiebt, daß ſie die gemein—
ſamen Merkmale der Gattung oder Art immer ſchon voraus—
ſezen und mit andeuten. Alle geiſtigen Signalements, wie
ſie auch lauten mögen, drücken immer ein Plus oder Minus
von einem allgemein menſchlichen Merkmal aus und denken
ein Mittleres als den Nullpunkt hinzu, von dem aus die
Stärkegrade nach zwei Seiten hin beſtimmt werden. Mögen
wir Jemand dumm oder geſcheidt, lebhaft oder ſtill, offen
oder verſchloſſen, geizig oder verſchwenderiſch, muthig oder
feig nennen, ſo denken wir immer einen Durchſchnitt als
Maßſtab mit und eine Liſte aller Abweichungen enthält
daher zugleich auch alle pſychiſchen Merkmale des typiſchen,
mittleren Menſchen, deſſen Seelenleben der Pſycholog zu—
nächſt im Auge hat. Kein einzelner Menſch kann Eigen—
ſchaften haben, die nicht in der Gattung liegen, wozu ein
Keim und Anſaz nicht in Jedem zu treffen wäre, ſei es
auch nur ſo, wie der Taube wenigſtens Ohren, der Blinde
wenigſtens eine Augenhöhle, Brauen und Lider hat.
Auch unter denjenigen, welche in der Anerkennung
jener drei Grundfunctionen übereinſtimmen, beſtehen übri—
gens noch große Meinungsverſchiedenheiten über die weiteren
daran ſich knüpfenden Fragen. Verhält ſich die Seele in
jedem Augenblick vorſtellend, ſtrebend und fühlend zugleich,
oder thut ſie bald das Eine bald das Andere, ſo daß jede
dieſer Functionen auch unterbrochen werden und ruhen kann.
Wenn die Pſychologen hierauf je nach ihrer Selbſtbeobach—
tung verſchiedene Antworten geben, ſo kann ich nicht glauben,
daß in einem Punkte von ſolcher Bedeutung ein Unterſchied
zwiſchen dem einen und andern Individuum Statt findet,
ſondern nur daß die Frage ſelbſt verſchieden aufgefaßt
und namentlich der Begriff des Wollens oder Begehrens
bald in einem engeren bald in einem weiteren Sinn ver—
9 *
132
ftanden worden iſt. Wenn uns ein ſcharfer und beſonnener
Denker, wie Bona Meyer, verſichert, daß nach ſeiner Selbſt—
beobachtung er viele Vorſtellungen habe, denen weder ein
Begehren noch ein Gefühl von Luſt oder Unluſt zur Seite
gehe, und ebenſo Gefühle und Empfindungen, die von keinem
Vorſtellen begleitet ſeien, ſo wird dieß in dem Sinne, wie
es gemeint iſt, wohl Jeder beſtätigen. Wir ſehen täglich
Perſonen und Sachen und nehmen Vorſtellungen davon in
uns auf, die uns völlig gleichgiltig laſſen, keine Spur von
Streben, von Luſt oder Unluſt in uns erregen. Auch kann
ich füglich in meinem Zimmer eine behagliche Empfindung
von Wärme haben, ohne mir den Ofen oder das Feuer oder
den Thermometer oder irgend etwas damit Zuſammenhän—
gendes vorzuſtellen. Allein das trifft nicht die Frage, die
eigentlich gemeint iſt. Nicht darum handelt es ſich, ob ein
einzelnes Vorſtellen ohne ein ebendarauf bezügliches Streben
oder Fühlen vorkommt, ſondern ob ein Zuſtand der Seele
nachweisbar iſt, in welchem ſie nur vorſtellt oder nur be—
gehrt oder nur fühlt ohne irgend ein Mitklingen oder
Wirken der andern Functionen. Und dieß, glaube ich, iſt
zu verneinen. Wenn ich ein Haus, die Wieſe, den Wald
gleichgiltig anſehe, ſo geſchieht dieß nur, wenn und ſolange
ich dieſen Dingen nur eine ſchwache und getheilte Aufmerk—
ſamkeit ſchenke und zugleich an andere Dinge denke; ſobald
ich die volle, geſammelte Aufmerkſamkeit dahin lenken würde,
ſo könnte dieß nur in Folge eines Motivs, eines Intereſſes,
alſo eines Strebens geſchehen, und es würde dieſem Streben
ein ſeinem Erfolg oder Nichterfolg entſprechendes Gefühl
133
zur Seite gehen. Man ſpricht von der Seele als einem
einfachen Weſen und von der Enge des Bewußtſeins, welche
die Fixirung der Aufmerkſamkeit ſtets nur auf Einen Punkt
geſtatte; ich will darüber hier keine Meinung ausſprechen,
aber jede unbefangene Selbſtbeobachtung ſcheint mir zu be—
zeugen, daß wenigſtens auf unſere normalen und alltäg—
lichen Seelenzuſtände das Prädikat der Einfachheit nicht
anwendbar, daß vielmehr ſtets Verſchiedenes gleichzeitig
nebeneinander in uns vorgeht und auch die Richtung der
Aufmerkſamkeit nur ausnahmsweiſe eine ganz ungetheilte
iſt. Wenn ich mich entſchließe einen Spaziergang zu machen,
um friſche Luft zu ſchöpfen, ſo begleitet dieß Wollen, ohne
noch weiter ins Bewußtſein zu treten, die ganze Ausführung
des Vorſazes, und die Beine vollziehen dieſen, zwar ohne
beſondere Weiſung hiefür zu bedürfen, aber doch unter dem
ſtetigen Druck jenes Wollens, da ſie ſonſt ſofort ſtille ſtehen
müßten. Auf dem Wege drängen ſich mancherlei Sinnes—
wahrnehmungen auf von Flur, Waſſer, Wald, von Men—
ſchen und Thieren; dabei iſt Luft, Boden, Temperatur
theils angenehm theils unerfreulich. All dieß wird vorge—
ſtellt und empfunden, aber doch nur nebenbei, mit ſchwacher
Betonung. Die Gedanken ſelbſt ſind ganz wo anders; ſie
bewegen ſich entweder um eine perſönliche oder berufliche
Angelegenheit oder um die Arbeit des Tages, oder gehen
ſie auch ihrerſeits ſpazieren in freiem Spiel von Erinne—
rungen, Planen, Betrachtungen leichterer oder ernſterer
Natur; die ganze Reihe dieſer Vorſtellungen iſt begleitet
von leichten Modulationen angenehmer oder unangenehmer
154
Gefühle, die von dem Inhalt und Verlauf dieſer Vorſtellungen
erregt werden. Dieſe wechſelnden Gefühle ſelbſt aber haben
wieder zu ihrer Unterlage eine mitgebrachte, ſei es behag—
liche oder unbehagliche Grundſtimmung des Gemüths, die
ihrerſeits wieder theils durch dauernde Urſachen, theils durch
beſondere Anläße, Tageserlebniſſe, körperliches Befinden ꝛc.
bedingt iſt. Alles dieß tritt nicht zuſammen in Eine Be—
leuchtung des Bewußtſeins, kann aber durch nachträgliche
Reflexion und Analyſe aufgedeckt werden; als Niederſchlag
des ganzen Complexes von inneren Vorgängen bleibt viel—
leicht nur eine leichte Modification der mitgebrachten Stim—
mung zurück, aber Vorſtellen, Fühlen und Wollen laufen
immer gleichzeitig neben einander her, und ich muß glauben,
hiemit nicht eine blos individuelle Erfahrung gezeichnet zu
haben. Wenn meine Zuhörer meinen Worten folgen und
die durch dieſelben angeregte Reihe von Vorſtellungen an
ſich vorübergleiten laſſen, ſo ſcheint es, wie wenn hiebei
nur von einer rein intellectuellen Thätigkeit die Rede ſein
könnte; aber es war ein Motiv, ein Intereſſe erforderlich,
um Sie in dieſen Saal zu führen, ſei es der Wißbegierde
oder der Unterhaltung oder um zu ſehen oder geſehen zu
werden oder was ſonſt. Dieß Motiv bedingt Ihre Auf—
merkſamkeit und kann ſie allein feſthalten; ſobald es ent—
ſchwindet oder nachläßt, ſo werden auch die Gedanken ſo—
fort eine andere Richtung einſchlagen. Dieſem Streben
und Vorſtellen geht nun aber eine Scala von Gefühlen,
angenehmen oder unangenehmen oder gemiſchten zur Seite,
je nachdem Sie meine Anſichten einleuchtend oder unklar
135
und zweifelhaft fanden, Sie leichter oder ſchwerer hören
und folgen können u. ſ. f. Die Trias kehrt ſo überall
wieder. Das Gefühl kann niemals pauſiren, denn es iſt
das eigentliche und innerſte Leben, die centralſte unter den
Functionen der Seele. Es hat eine unabſehbare Mannig—
faltigkeit je nach dem Stärkegrad und den Quellen ſeiner
Erregung, ſowie durch das Zuſammenwirken und die
Miſchung verſchiedener Reize, aber es gewinnt bei jedem
Menſchen einen Grundaccord, den wir die Gemüthſtimmung
nennen, welcher als der gewohnte Mittelzuſtand mit dem
Bewußtſein ſo verſchmilzt, daß nur die größeren Abwei—
chungen nach der einen oder andern Seite deutlicher heraus—
treten und ſpeciell von uns bemerkt werden. Ebenſo muß
immer ein Intereſſe, ein Trieb in uns wirken, wäre es
auch nur, wenn alle anderen Reize ruhen, der horror vacui,
der Trieb, der Langeweile zu entgehen, die Leere des Da—
ſeins auszufüllen und ſich den Intellect etwas vorträumen
oder aufſpielen zu laſſen. Denn auch dieſer kann nie zur
Ruhe kommen; bald in Sinneswahrnehmungen, bald in
Reproductionen, in Umbildung und Verknüpfung derſelben
zu inneren Bildern oder abſtracten Zeichen und Formen
zieht eine ununterbrochene Reihe von hellen oder trüben,
beſtimmten oder verſchwommenen, einfachen oder combinirten
Vorſtellungen wie in einem Schattenſpiel an der Leuchte
des Bewußtſeins vorüber; und ich weiß nur die einzige
Ausnahme von der allgemeinen Regel, daß bei hoch ge—
ſteigerten Empfindungen von Schmerz oder Luſt die intel—
lectuelle Thätigkeit für Augenblicke wie gelähmt erſcheint
136
und bei den heftigſten Erregungen das Bewußtſein ganz
entſchwinden kann.
Wenn aber das beſtändige Zuſammenſein dieſer drei
Seelenthätigkeiten die normale Grundthatſache iſt, ſo muß
auch in der gewöhnlichen Lehre der Ausdruck „Seelenver—
mögen“ ſchon darum unhaltbar erſcheinen, weil es ſich
nicht um bloße Möglichkeiten oder Fähigkeiten handelt, die
der Menſch ausüben und auch wieder nicht ausüben kann,
je nachdem es ihm beliebt, etwa wie wir ein Sehvermögen
haben, deſſen Thätigkeit wir ſiſtiren können, wenn wir die
Augen ſchließen. Der Menſch kann nicht blos in jedem
Augenblick vorſtellen, fühlen und wollen, ſondern er muß
es thun; es iſt ihm gar nicht möglich, das Eine oder Andere
zu unterlaſſen, und jeder Verſuch, den wir hiezu machen,
iſt ſofort wieder ein Streben, ein Vorſtellen und ein Fühlen.
Den Vorwurf der Herbartſchen Schule gegen die Lehre
von den Seelenvermögen, daß ſie an die Spize einer Wiſſen—
ſchaft eine Dreiheit ſeze, ohne von derſelben einen Weg zu
der Einheit der Seele, die doch vorausgeſezt werden muß,
angeben zu können, müſſen wir nun freilich bei dieſer Auf—
faſſung in verſtärktem Grade auf uns nehmen. Denn nicht
nur drei, ſondern eine viel größere Zahl von Kräften oder
Eigenſchaften, deren keine auf die andere zurückzuführen iſt,
mußten wir gelten laſſen. Denn gerade wie im körper—
lichen Leben die blauen Augen neben ſcharfem oder ſchwachem
Sehvermögen, neben dichten oder dünnen, hellen oder dunkeln,
ſchlichten oder krauſen Haaren, neben guten oder ſchlechten
Zähnen u. ſ. f. vorkommen, ſo zeigt uns auch die Erfah—
137
rung eine Reihe von Eigenschaften pſychiſcher Art, bei
welchen jeder Stärkegrad mit jedem Stärkegrad aller andern
vereinbar iſt. Mit einem guten Ortsgedächtniß oder ſtark
entwickelten Tonſinn kann viel oder wenig Einbildungskraft,
ein ſcharfes oder ſtumpfes Denkvermögen, kann jede Art
von Begierden oder von Gemüthseigenſchaften verbunden
ſein. Die zarteſte Mutterliebe kann mit Bosheit oder
Herzensgüte, mit Geiz oder Verſchwendung, mit Muth oder
Verzagtheit, mit jedem Maaße von intellectueller Begabung
zuſammenbeſtehen. Zwei Erſcheinungen aber, deren Steigen
oder Sinken keinerlei Rapport zu einander zeigt, können
auch in keinem Cauſalzuſammenhang mit einander ſtehen
und auf keine einheitliche Quelle zurückgeführt werden.
Wenn in einer Wiſſenſchaft die Forſchung auf eine
Mehrheit oder Vielheit von Kräften oder Erſcheinungen
führt, die weder auseinander noch aus einer gemeinſamen
Wurzel abzuleiten ſind, ſo iſt dieß Ergebniß zwar immer
ein un vollkommenes, da es der Forderung einer ſyſtema—
tiſchen Einheit nicht entſpricht, aber es iſt darum noch kein
falſches. Denn alle Erkenntniß beginnt mit dem Unter—
ſcheiden. Willſt im Unendlichen dich finden, mußt unter—
ſcheiden und dann verbinden, ſo mahnt uns der Dichter.
So lange es uns nicht gelungen iſt, das Unterſchiedene
auch wieder zu verknüpfen, müſſen wir uns zwar beſcheiden,
dem Ziele noch fern zu ſein, aber doch können wir, ſobald
nur die Unterſcheidung eine richtige war, der Wahrheit
näher ſtehen, als alle jene Verſuche, von allgemeinen Be—
griffen und Principien aus im Wege einer Conſtruction,
138
die doch immer nur durch verſtohlenen Seitenblick auf die
empiriſchen Thatſachen zu Stande kommt, zu dem Reichthum
und der Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen, des wirklichen
Seelenlebens gelangen zu wollen.
Uebrigens iſt es ja gar nicht einmal ſo, daß um jener
Vielheit von Kräften willen unſer ganzes Wiſſen von der
Menſchenſeele in Stücke auseinanderfallen müßte. Das
Athmen und Verdauen, das Sehen, Hören, Riechen und
Schmecken gehen auch nebeneinander her, ohne daß wir ſie
auseinander oder von einem dritten herzuleiten wüßten
und doch erſcheint es uns nicht als ein Widerſpruch, dabei
den einheitlichen Organismus des Menſchenkörpers feſtzu—
halten. Ebenſo wenig hindert uns eine Mehrheit von coordi—
nirten Kräften und Thätigkeiten, die Seele des Menſchen
als Einheit, als ein reales Etwas zu denken, und ich wüßte
nicht, warum ich, etwa aus theoretiſchen Serupeln über
den Begriff des Dings und ſeiner Eigenſchaften, mir die
Seele nicht als eine lebendige Monade denken dürfte, die
ihr Weſen in verſchiedenen, von einander geſonderten aber
in einander wirkenden Functionen bethätigt und ausein—
anderlegt. Ein Ich, das Glückſeligkeit fordert, das nach
dem höchſten Luſtgefühl der Selbſtbethätigung unabläßig
hindrängt — darin ſcheint mir der innerſte Kern und das
Weſen der individuellen Seele zu liegen, das iſt ihre cen—
trale, alles Andere beherrſchende Function. Worin aber
dieß Glück, dieſe geforderte Luſt zu ſuchen iſt, das iſt in
dieſem erſten aller Merkmale noch nicht enthalten. Es iſt
eine Reihe von Trieben, von angeborenen Willensanſäzen
139
und Strebungen, in welchen dieß geſuchte Glück beſtimmte
Formen und Geſtalten gewinnt. Die Triebe ſind die ge—
ſonderten, ſpecifiſchen Quellen der Luſtgefühle und des Be—
griffs von Lebensgütern; ſie ſind von der mannigfaltigſten
Art, ſie erſtrecken ſich auf das animaliſche, geſellige und
geiſtige Leben und können durch dieſe Mannigfaltigkeit
unter ſich in Spannung und Zwieſpalt gerathen; ſie wirken
als organiſche Reize; dunkel und unbewußt kennen ſie ſelbſt
die Objecte nicht, auf welche ſie gerichtet ſind, aber ſie
üben einen Druck nach der Richtung hin, in welcher dieſe
zu ſuchen wären und kommen nicht zur Ruhe, bis ſie ge—
funden ſind. Der Intellect iſt das Vollzugsorgan für dieß
Wollen; durch ihn tritt das Ich in Rapport mit der Außen—
welt, erkennt und beleuchtet ſeine eigenen Zuſtände und
verwirklicht alle Lebensziele. Die Erfolge und Nichterfolge
dieſes Wollens und Vorſtellens werden von dem Glück und
Luſt fordernden Centrum als ſeine Zuſtände empfunden,
durch eine fortwährende, wechſelnde, innere Erregung, die
wir Gefühl nennen, aber nicht näher beſchreiben können,
begleitet und geleitet. Dieſe Gefühle ſind das innerſte
Leben der Seelenmonade ſelbſt; ſie vergleicht die Arten und
Grade der Luſt und Unluſt, die aus den verſchiedenen
Trieben fließt, und giebt im Fall ihrer Colliſion den Aus—
ſchlag dahin, wo ſie das höchſte Gefühl von Luſt und Werth
des Lebens erwartet. Im Trieb und Intellect tritt die
Seele in Beziehung zur Außenwelt und gewinnt den In—
halt des Glücks, das ſie ſucht; im Gefühl iſt ſie genießend
und leidend bei ſich ſelbſt. An der Spize des Ganzen
140
ſteht die Centralkraft des luſtwollenden Ichs. Streben,
Vorſtellen und Fühlen aber ſind die ineinandergreifenden
Formen, in denen die Grundkraft ſich bethätigt. Eine Lo—
cation derſelben iſt widerſinnig, da jedes todt iſt ohne das
andere, aber das Fühlen ſteht dem Centrum am nächſten,
das Vorſtellen am fernſten, obgleich dieß erſt Licht, Leben
und Wirklichkeit ſchafft und das Band zum Weltganzen
knüpft. Die Gefühle ſind darum auch nichts weniger als
A
bloße Nebenproducte des Vorſtellens und Wollens; viel—
mehr liegen in ihnen die feinſten und lezten Entſcheidungen,
die Abmeſſung des Werths der Güter des Lebens; ja ſelbſt
die Erkenntniß der Wahrheit, die zwingende Kraft einer
logiſchen Beweisführung hängt in lezter Inſtanz an einem
Gefühl von Befriedigung über den leichten und normalen
Ablauf einer Vorſtellungsreihe.
Eine ſolche Auffaſſung des allgemeinſten Charakters
unſers Seelenlebens, ſo mangelhaft ſie noch ſein mag,
ſcheint doch dem Bilde, das Jedem die unbefangene innere
Erfahrung bietet, näher zu liegen als jene kunſtvollen
Schultheorieen, bei welchen wir das Gefühl nicht loswerden
können, daß hier Nebendinge zur Hauptſache gemacht werden
und umgekehrt, und daß an die Stelle all der lebens—
warmen Empfindungen, in denen wir unſer Selbſt mit
ſeinem Wohl und Wehe und den Sinn und Zweck unſers
Daſeins zu genießen glauben, ausgebeinte und abgeblaßte
Schemen und mechaniſche Bewegungen, die unſerem Be—
wußtſein ganz fremd und gleichgiltig ſind, geſezt werden.
Die Philoſophen haben mit einer eigenthümlichen Schwierig—
141
keit bei der Beobachtung ihrer Seelenzuſtände zu thun; fie
ſind ja gerade dadurch Philoſophen, daß bei ihnen die auf
die intellectuellen Functionen ſelbſt gerichteten Strebungen,
wie der Erkenntnißtrieb, der bei den meiſten Menſchen
hinter die praktiſchen Begierden ganz zurücktritt, in hervor—
ragender Weiſe zur Entwicklung gelangt ſind und jedenfalls
ſtehen ſie während der philoſophiſchen Thätigkeit ſelbſt ganz
unter der Herrſchaft dieſes Motivs und alle andern Triebe
bleiben ſolange im Hintergrund. Die Gefühle aber, welche
den Functionen der höheren und geiſtigen, namentlich der
beſchaulichen Triebe zur Seite gehen, ſind ihrer Natur nach
nicht ſtürmiſch und lebhaft bewegt, ſondern haben nur den
Charakter von zarten und ſanften Modulationen der Stim—
mung, die den Gang der Meditation in kaum merklicher
Weiſe afficiren. Die Seele erſcheint daher dem Philoſophen
leichter als dem Dichter oder dem gewöhnlichen Bewußtſein
als ein erkennendes Weſen, in welchem die Vorſtellungen
frei und nur nach ihren inneren logiſchen Beziehungen ihr
Spiel treiben. Es iſt dieß aber ungefähr, wie wenn wir das
Leben und Treiben auf den Straßen einer Stadt nach der
Stille eines Sonntagsmorgens, oder das Klima eines nörd—
lichen Küſtenſtriches nach den halcyoniſchen Tagen beurtheilen
wollten. So nur kann ich es verſtehen, wie ein ſo ſcharfer
und tiefſinniger Denker wie Herbart in der kühlen Stim—
mung der abſtracteſten Gedanken darauf verfallen konnte,
Fühlen und Wollen nur als beiläufige Nebenerfolge von
Stößen und Püffen, von Klemmungen und Verſchmelzungen,
vom Steigen und Sinken ſeiner Vorſtellungen anzuſehen.
142
Es ſieht nun zwar nur wie eine harmloſe, theoretiſche
Frage aus, ob Wollen und Fühlen ſelbſtändigen Urſprungs
oder nur Folge von Bewegungen der Vorſtellungen ſind,
ob dem Denken der Primat in unſerem Seelenleben zu—
komme, oder ob es andere gleichgeordnete oder ſtärkere
Kräfte neben ſich gelten laſſen muß, aber ſie iſt vielmehr
von eminenter praktiſcher Bedeutung und Tragweite. Die
ganze Lebensauffaſſung, die Frage, wie der Menſch auf
den Menſchen wirken kann, in der Erziehung, in der Ge—
ſellſchaft, in der Leitung des Völkerlebens wird dadurch
eine andere. Es würde, wie ich glaube, bedenklich aus—
ſehen um Moral und Religion und alle höhere Bildung,
wenn ihre Macht über die Gemüther nur auf logiſchen
Argumenten, auf der Unanfechtbarkeit des Zuſammenhangs
in einer Reihenfolge von Vorſtellungen beruhte, wenn ſie
nicht ihre eigenen ſelbſtändigen Wurzeln in unſerer Seele
tiefſtem Grunde hätten. Glücklicher Weiſe verhält es ſich
ſo und der Irrthum iſt nicht ſo gefährlich, wie er ſcheint;
aber ein Geſchlecht und Zeitalter, das von der Voraus—
ſezung ausgeht, daß Wollen und Fühlen vom Vorſtellen
ſtammt und von ihm aus zu leiten iſt, kann dabei immer—
hin manche wunderſame Irrfahrten und unerfreuliche Er—
fahrungen machen.
Ich wünſche Sie nun davon überzeugt zu haben, daß,
was Sie in der Schule oder ſonſt von den drei Seelen—
vermögen gehört haben, keine Irrlehre war, daß zwar der
Name eines Vermögens und die Vorſtellung von drei ein—
heitlichen Grundkräften daraus fernzuhalten iſt, unſer
75
143
Seelenleben aber in Wahrheit ſich beſtändig und aus—
ſchließlich in den drei Grundformen von Fühlen, Wollen
und Vorſtellen bewegt, auch daß die Zumuthung, neben
dieſer Dreiheit die Einheit der Seele feſtzuhalten, noch
keineswegs die Schwierigkeiten einer Trinitätslehre in ſich
ſchließt. Es müßte nur die Mangelhaftigkeit meiner eigenen
Darſtellung Schuld ſein, wenn meine Polemik gegen den
Primat des Vorſtellens den Eindruck gemacht hätte, als
ob ich überhaupt den Werth des Denkens herabdrücken
wollte, aber das glaube ich ſchließlich vor einer Zuhörer—
ſchaft, deren größter Theil mehr, als es in andern Lebens—
kreiſen gefordert wird, auf die Pflege der intellectuellen
Thätigkeit hingewieſen iſt, noch betonen zu dürfen, daß
ſelbſt am Suchen und Finden der Wahrheit, die doch ſo
ganz im Reich der Vorſtellungen zu liegen ſcheint, ein
richtiges Denken keinen größeren Antheil hat als ein rich—
tiges Fühlen und Wollen.
Ueber das Verhältniß der Politik zur Moral.
6. Nov. 1874.
Ueber das, was wir zu thun und zu laſſen haben,
ſind wir bekannter und glücklicher Weiſe nicht ausſchließlich
auf die Schärfe und Klarheit unſers Denkvermögens an—
gewieſen, ſondern wir haben einen inneren Führer an
jenen natürlichen Gefühlen, die unbewußt ſofort nach der
einen oder andern Seite hindrängen, die, obwohl keines—
wegs unfehlbar, doch nicht leicht gänzlich irre gehen und
nicht ſelten auch auf ſchwierige und verwickelte Fragen,
lange bevor der Verſtand der Verſtändigen eine Löſung
gefunden hat, mit blindem Takt eine Antwort geben. Aber
anders iſt es, wenn man dieſe Gefühle dann zur Rede
ſtellt und Rechenſchaft verlangt über ihr Thun; da ergeht
es ihnen wie dem Nachtwandler, der zuvor mit ſicherem
Tritt auf dunkeln und gefahrvollen Wegen geſchritten iſt,
aber dann plözlich aufgeweckt, verwirrt und rathlos vor
uns ſteht und nicht zu ſagen weiß, wie er hieher gekommen
iſt. Etwas Aehnliches widerfährt uns bei dem Thema,
für welches ich heute Ihre Aufmerkſamkeit in Anſpruch
nehmen möchte. Iſt die Politik, d. h. die freie Leitung
des Staatsganzen dem Sittengeſez untergeordnet oder hat
145
ſie eigenen und unabhängigen Gejezen zu folgen und giebt
es demnach Handlungen, die in der Politik erlaubt, in der
Moral verboten ſind und umgekehrt?
Unſer natürliches Gefühl, wie es ſich in den geläufigen
und vorherrſchenden Meinungen und Anſchauungen kund—
giebt, wird die erſte Frage von der Unterordnung der Po—
litik unter das Sittengeſez, ohne auch nur einen Augenblick
zu ſchwanken, mit einem entſchiedenen Ja beantworten.
Aber es wird dann auch, ſei es mit wirklichem oder nur
ſcheinbarem Widerſpruch, die zweite Frage von den hier er—
laubten und dort verbotenen Handlungen zu bejahen ge—
neigt ſein. Wenigſtens preiſen und verehren wir die
Männer, welche ihr Volk aus der Knechtſchaft, aus Zer—
riſſenheit und Ohnmacht befreit, und auf eine höhere Stufe
der Wohlfarth, Macht und Freiheit gehoben haben, ohne
zu verkennen und dadurch beirrt zu werden, daß es dabei
nicht ohne Liſt und Gewalt, ohne Blut und Eiſen, ohne
Mittel, die wir ſonſt verwerfen, abgegangen iſt. Umge—
kehrt tadeln wir den Fürſten, der voll von Geiſt, edlem
Streben und ſittlichem Zartgefühl, die Aufgaben, die ſein
Volk und Zeitalter ihm zu ſtellen ſchienen, unerkannt und
unerfüllt gelaſſen hat. Wenn wir nun aber jene Gefühle
zur Rede ſtellen und befragen: wie kommt ihr dazu, die
unbedingte Verbindlichkeit des Sittengeſezes zwar im All:
gemeinen zu behaupten, aber im Beſonderen nicht gelten zu
laſſen oder den Saz, daß der Zweck die Mittel heilige,
zwar als Princip zu verabſcheuen, aber im Einzelnen dar—
nach zu verfahren, dann werden ſie antworten: das wiſſen
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 10
146
wir nicht, das müßt ihr uns nicht fragen; wenn ihr Theorie
haben wollt, ſo wendet euch an eure Gelehrten, ſchlagt in
euren vielen Büchern nach, was ſie davon ſagen.
Wenn wir aber dieſem Rathe nun folgen und bei den
Theoretikern Umfrage halten, da zeigt ſich, daß die Schwierig—
keiten nun erſt recht wachjen, ſtatt abzunehmen und wir
gerathen in ein Labyrinth der widerſprechendſten Meinun—
gen und Deutungen. Es iſt dabei auch keineswegs ſo, wie
man vermuthen möchte, daß auf der einen Seite die Poli—
tiker und Staatsrechtslehrer, auf der andern die Philo—
ſophen und Moraliſten ſtünden, daß jene für die Sonder—
rechte der Staatskunſt, dieſe für den Primat des Sitten—
geſezes ſtritten, ſondern es verhält ſich eben ſo oft umgekehrt.
Ein unübertroffener Meiſter der praktiſchen Politik, Friedrich
der Große, hat mit dem wärmſten ſittlichen Eifer gegen
die Lehren Macchiavells und für die Alleinherrſchaft der
Moral gekämpft; freilich hat er dieß Buch noch als Kron—
prinz geſchrieben und die Politik des Königs iſt, wenn auch
nicht in den Fußſtapfen Macchiavells, doch dunklere und
verwickeltere Pfade gegangen, als der jugendliche Autor
von Schloß Rheinsberg ſich mochte träumen laſſen; wobei
wir uns nicht verhehlen können, daß Mit- und Nachwelt
den Büchern des Königs geringere Bewunderung zollt als
ſeinen Thaten. Um dieſelbe Zeit hat ein edler Denker von
unantaſtbarer ſittlicher Reinheit, Chriſtian Garve, von
ſeinem Studier- und Krankenzimmer aus das unabhängige
Recht der Politik mit Kühnheit und Scharfſinn verfochten
und ſich in ſeinen geſchichtlichen Belegen am liebſten und
147
häufigſten auf die Thaten ſeines großen Königs berufen.
Auf der andern Seite iſt einer der erſten Staatsrechts—
lehrer unſerer Zeit, einſt eine Zierde unſerer Hochſchule,
erſt vor Kurzem noch mit der größten Entſchiedenheit für
die Unterordnung der Politik unter die Moral eingetreten.
Auch unter den Geſchichtſchreibern alter und neuer Zeiten
finden wir die doppelte Richtung vertreten; die einen lieben
es, ihre Erzählungen mit einer fortlaufenden ſittlichen Kritik
und mürriſchen Strafpredigt zu begleiten; bei andern ſcheint
uns der ſittliche Maßſtab oft ganz zu entſchwinden und ſie
wiſſen auch für unverantwortliche Handlungen mehr und
beſſere Motive aufzufinden, als die Handelnden ſelbſt viel—
leicht ſich nur gedacht haben mögen.
Ich will mich nun auf den Verſuch beſchränken, die
Fragen richtig zu ſtellen, jene Ausſagen unſers natürlichen
ſittlichen Gefühls näher zu deuten und zu prüfen und die
Mittelglieder aufzuſuchen, die zwiſchen deren ſcheinbaren
Widerſprüchen vielleicht eine Verbindung herſtellen.
Die erſten Schritte auf dieſem Wege ſind nicht ſchwer.
Außer Frage ſteht wohl vor Allem die univerſelle Geltung
der ſittlichen Anforderungen. Es kann überhaupt Niemand
und auch keine Gattung freier menſchlicher Handlungen
geben, welche außerhalb oder gar über dem Sittengeſez
ſtünde. Das Gewiſſen, jenes Gefühl eines unbedingten
Sollens begleitet ſchlechthin unſer geſammtes Wollen und
unſer Inneres kann an keiner Stelle einen blinden Fleck
bergen, der ſeiner Leuchte verſchloſſen bleiben könnte. Wenn
alſo alle Politik von Menſchen gemacht wird und aus
1055
148
deren freien Entſchließungen hervorgeht, jo muß ſie auch
in ihrem ganzen Umfang unter die Controle des Gewiſſens
und unter die Herrſchaft ſittlicher Geſeze fallen. Der
Staatsmann kann nicht in zwei Menſchen zerlegt werden,
von denen der Nichtpolitiker ein Gewiſſen hätte, der Poli—
tiker aber nicht. Vielmehr iſt ſehr leicht das gerade Gegen—
theil nachzuweiſen. Wir halten in allen Dingen den für
ſtärker verpflichtet, der für Andere zu handeln hat, als
der nur ſeine eigene Sache führt. Meinen eigenen Vor—
theil außer Acht zu laſſen, gereicht mir nicht zum Vorwurf;
als Vormund oder Verwalter fremden Gutes werde ich im
gleichen Fall ſtrafbar. An den Entſchließungen der Staats-
lenker hängt das Wohl von Millionen; wie ihr Mandat
das höchſte iſt, ſo iſt auch ihre ſittliche Verantwortung die
größte und ſchwerſte. |
Hiemit ift jedoch nur der Politiker unter das Sitten—
geſez geſtellt, nicht auch ſeine Politik. Dem Staatsmann
wird nur der höchſte Grad von Pflichtgefühl auferlegt,
aber der Inhalt ſeiner Pflichten iſt ihm damit nicht be—
zeichnet. Es ſchließt ſich an jenen erſten Saz ſogleich ein
zweiter an, der nicht ebenſo allgemein erkannt und zuge—
ſtanden, aber im Grunde gleich unanfechtbar iſt.
Wir pflegen in der Regel unter dem Sittengeſez nichts
anders zu verſtehen, als den Inhalt der Pflicht- und
Tugendlehre, den Inbegriff der Normen, nach denen der
Einzelne ſowohl ſeine eigenen inneren Gemüthszuſtände,
als ſein Verhalten gegen ſeine Nebenmenſchen zu ordnen
hat. Du ſollſt Gott lieben von ganzem Herzen und deinen
149
Nächſten wie dich ſelbſt, das iſt der Inbegriff des chriſt—
lichen Sittengeſezes nach des Meiſters eigenen Worten.
Aber auch alle philoſophiſchen Syſteme, auf welchen Wegen
immer ſie die ſittlichen Grundbegriffe finden und begrenzen,
kommen doch ſchließlich dahin, in irgend einer Form dem
natürlichen, egoiſtiſchen Willen des Einzelnen Schranken
zu ſezen und ihm ſeine Stellung in der menſchlichen Ge—
ſellſchaft als einem dienenden Glied eines Gemeinweſens
anzuweiſen. Das Sittengeſez iſt, ſei es in reinerer oder
trüberer Geſtalt, für den Einzelnen ein Geſez der Liebe.
Es wäre nun aber ebenſo unlogiſch als unausführbar,
an das Gemeinweſen ſelbſt die gleichen Anforderungen zu
ſtellen, wie an deſſen dienende Glieder. Jenes „Du ſollſt“
und „Du ſollſt nicht“ in den zehn Geboten und in aller
Geſezesſprache hat ſeinen guten Sinn nur, wenn der Staat
der gebietende, der Einzelne der angeredete Theil iſt. Der
Staat ſelbſt hat ja keine Eltern, die er ehren müßte; er
lebt in keiner Ehe, die er brechen könnte. Das „Du ſollſt
nicht tödten“ kann nicht an den gerichtet ſein, der ſelbſt
und allein das Schwerdt zu führen hat, um den Mörder
zu ſtrafen, der Millionen dafür aufwenden muß, um die
wirkſamſten Mordinſtrumente für den Fall der Selbſthilfe
vorzubereiten. Ebenſo muß der Staat, um ſeine Aufgaben
zu erfüllen, ſich gelüſten laſſen nach unſern Häuſern und
Aeckern, nach Ochs und Eſel und all unſerer Habe, ohne
den Einzelnen zu fragen, wie ihm dieß gefalle.
Und wie ſollte das, was von der Nächſtenliebe gilt,
auch auf das Verhältniß des Staats zu andern Staaten
150
anwendbar ſein? Keines von allen den Banden, welche
die Einzelnen unter einander umſchließen, verknüpft die
Staaten unter ſich. Wenn hier auch idealere Ziele offen
zu halten und zu erſtreben ſind, ſo ſtehen jene einander
doch thatſächlich wie im Naturzuſtand gegenüber, fremd,
zur Vorſicht und zum Mißtrauen genöthigt, wie Wanderer,
die ſich in der Einſamkeit begegnen; ſie haben keine höhere
ordnende und richtende Gewalt über ſich. Der Spruch,
den andern zu lieben, wie ſich ſelbſt, kann hier gar keine
Anwendung finden. Demjenigen, der ihm einen Streich
giebt auf den rechten Backen, den linken auch darzubieten,
iſt der Staat ſo weit entfernt, daß er vielmehr bemüht
ſein wird und muß, auch ſchon dem nur drohenden Streich
mit einem möglichſt energiſchen Gegenſchlag zuvorzukommen.
Der Nachbarſtaat kann in die äußerſte Bedrängniß verſezt
werden, durch Elementarereigniſſe, feindlichen Einfall, innere
Zerrüttung; ob unſer Staat ihm beiſtehen wird, hängt gar
nicht von dem Grad jener Hilfsbedürftigkeit, ſondern einzig
davon ab, ob wir dieß unſerem Intereſſe entſprechend
finden; nach Umſtänden haben wir ſogar Urſache, uns
über deſſen Schwächung zu freuen oder daraus Vortheile
zu ziehen, wo nicht gar über ihn herzufallen. Mit Einem
Worte, das ganze Kapitel von den Liebespflichten und
damit das Hauptſtück aller Moral fällt für die Staaten
aus. Nicht auf Liebe Anderer, ſondern auf die Selbſtliebe,
auf die Erhaltung und Entwicklung der eigenen Macht
und Wohlfarth ſind ſie angewieſen, und wenn man hie—
für den freilich wenig paſſenden Namen „Egoismus“ ge—
151
brauchen will, nun jo iſt Egoismus das Grundprincip aller
Politik.
Wenn wir aber ſo den Staat von allen Liebespflichten
entbinden mußten, ſo ſollte man denken, daß er um ſo
ſtrenger und unverbrüchlicher ſeinen Rechtspflichten nach—
zukommen habe. Wenn er Niemanden Wohlthaten zu er—
zeigen ſchuldig iſt, ſo müßte er um ſo ſicherer ſich aller
Rechtsverlezungen zu enthalten, ſeine Verträge, Zuſagen
und Verbindlichkeiten zu erfüllen, ſich als Glied einer großen
über ihm ſtehenden Rechtsordnung zu betrachten und ver—
halten haben. Und in der That, wer ſollte die Geltung
des Rechtsprincips nicht als die oberſte Norm alles Staats—
lebens anerkennen? Das Recht iſt ja das Element, in
dem der Staat ſich bewegt, das Rechtsgefühl iſt die lezte
Wurzel ſeiner Exiſtenz; die Mißachtung des Rechts iſt die
Untergrabung ſeines eigenen Fundaments.
Gleichwohl iſt das Verhältniß des Staats zum Recht
ein weſentlich anderes, als das des Einzelnen, des Staats—
bürgers. Ueber dieſem ſteht das Recht als eine ihn be—
herrſchende Macht, der er ſich unter allen Umſtänden zu
fügen hat. Es liegt unvergleichlich mehr daran, daß das
Recht, auch das unvollkommene, Geltung habe als daß der
Einzelne Schaden leide oder gar zu Grunde gehe. In
dieſem Sinn müſſen wir uns jogar das fiat justitia, pereat
mundus gefallen laſſen. Der Staat aber ſteht wohl unter
der Rechtsidee, die er als ein Höheres über ſich anzuer—
kennen und zu verehren hat, aber das concrete, beſondere
Recht der jeweiligen Gegenwart ſteht nicht über ihm; dieſes
hat er überkommen oder gemacht; es iſt ſein Werk und
Product. Es iſt auch nicht fertig und abgeſchloſſen, ſondern
der Entwicklung und Vervollkommnung ebenſo fähig als
bedürftig. Er hat das mangelhafte Recht zu ändern und
das beſſere an ſeine Stelle zu ſezen. Allerdings ſoll auch
dieſe Aenderung nur in den Formen erfolgen, welche im
Recht ſelbſt hiefür vorgeſehen ſind, und wohl dem Staate,
deſſen innere Einrichtungen ſo einſichtig und glücklich ge—
ordnet ſind, um jede unabweisbar gewordene Veränderung
in den legalen Formen zu ermöglichen oder deſſen Verträge
mit andern Staaten ihrer Form nach kündbar, in ihrem
Inhalt erträglich ſind. Wie aber, wenn das Eine oder
Andere nicht der Fall iſt, wenn eben diejenigen, deren
Vortheile bei der nothwendig gewordenen Aenderung eine
Einſchränkung erleiden ſollen, auch das Recht haben dieſe
Aenderung zu verhindern? Soll dann der Staat in ruhiger
Ergebung zuſehen, wie ſich die Uebel und Mißſtände, um
deren Beſeitigung es ſich handelt, von Tag zu Tag dro—
hender und unerträglicher geſtalten? Wenn der deutſche
Bund den veränderten Bedürfniſſen eines anderen Ge—
ſchlechts, den Forderungen eines geſteigerten Nationalge—
fühls nicht mehr genügte, der Bundesvertrag aber auf
ewige Zeiten abgeſchloſſen und unkündbar, zu ſeiner Ver—
änderung Einſtimmigkeit erforderlich, ein einſtimmiger Be—
ſchluß aber niemals zu erwarten war, weil jeder denkbare
und wirkſame Vorſchlag dem Intereſſe irgend eines Theiles
zu nahe treten mußte, wie war da herauszukommen, was
ſollte geſchehen? Bei dem gordiſchen Knoten wäre für
Alexander neben der kunſtmäßigen und der gewaltſamen
Löſung noch die dritte Möglichkeit geblieben, ihn ungelöst
liegen zu laſſen wo er lag. Aber die politiſchen Verwick—
lungen laſſen ſich nicht bis auf Weiteres zu den Akten
legen, ſondern ſie drängen wie lebendige Kräfte auf eine
Entſcheidung hin, die, wenn der friedliche Weg abgeſchnitten
iſt, auf dem der Gewalt, durch Blut und Eiſen erfolgen
muß. Die tiefe Kränkung und Entrüſtung, mit welcher
die Verlezten, noch mehr das ſchmerzliche Gefühl, mit
welchem auch die Zuſtimmenden und Gewinnenden einen
ſolchen Act des Rechtsbruches begleiten, zeigen deutlicher
als alles Andere, daß der Staat im Recht wurzelt und es
zu den traurigſten Colliſionen der Pflichten gehört, wenn
das Nothrecht der Politik das anerkannte und gegenwärtige
Recht auf die Seite drängt, aber an der Sache ſelbſt wird
mit allem Bedauern nichts geändert.
Die Begriffe und Grenzen von Nothſtand und Nothwehr
ſind ſchon im gemeinen Recht ſchwer genug genau zu be—
ſtimmen, doch bildet hier wenigſtens die unmittelbare, drän—
gende Gefahr des Augenblicks ein feſtes Merkmal. Der Staat
aber hat nicht blos der gegenwärtigen, ſondern auch ſchon
der drohenden Gefahr zuvorzukommen. Nur ſelten handelt
es ſich für ihn gleich um Sein oder Nichtſein, ſehr oft aber
um Schwächung ſeiner Macht oder Unabhängigkeit, um die
Wahrung von Intereſſen, deren Preisgebung ſeine ganze
künftige Entwicklung untergraben müßte. Für ihn kann
ein Nothſtand vorliegen, wo es uns gar nicht einfiele, ihn
für den Privaten gelten zu laſſen. Der überſchuldete,
154
zahlungsunfähig gewordene Staat, dem eine weitere Stei—
gerung der Steuerlaſt ſeiner Unterthanen als unmöglich
erſcheint, kann ſich nicht wie der Bürger verganten laſſen,
er kann nicht ſeine Feſtungen, Arſenale und Flotten, ſeine
Sammlungen und öffentlichen Gebäude, ja nicht einmal
ſeine Wälder und Eiſenbahnen unter den Hammer bringen;
er kann ſich auch nicht in das Armenhaus weiſen und auf
ſeine Competenz beſchränken laſſen, ſondern er muß im
Weg der Selbſthilfe die Forderungen auf das Maaß ſeines
Könnens nach eigenem Ermeſſen herabſezen, wobei faſt nie—
mals die Theilfragen eine zweifelloſe Entſcheidung zulaſſen
werden.
Oder, um ein anderes Beiſpiel zu wählen, wenn die
ſüddeutſchen Staaten am Anfang dieſes Jahrhunderts, nach—
dem ſie zehn Jahre lang für Kaiſer und Reich gekämpft
und ſeit dem preußiſchen Separatfrieden ihre Länder als
einzigen Schauplaz des Kriegs allen Drangſalen von Freund
und Feind preisgegeben hatten ſehen müſſen, dem ſiegreich
vordringenden, übermächtigen Gegner, der nur zwiſchen
Bündniß und Verderben die Wahl ließ, Heerfolge leiſteten,
wenn ſie ſodann acht Jahre ſpäter, als der Glücksſtern
des neuen Attila erbleicht war, wieder von ihm ab—
fielen und dabei noch den Gewinn des alten Bündniſſes
in das neue hinüberzuretten vermocht haben, ſo war dieß
Verhalten zwar nicht ſchön und hochherzig zu nennen, die
Geſchichtſchreiber werden es nicht preiſen, die Dichter können
es nicht verherrlichen, aber ſchön und edel ſind auch die
Prädikate nicht, um welche die Staatskunſt zu buhlen hat;
155
dafür war es richtig und pflichtgemäß, der Nothlage eines
zu eigenem Widerſtand unfähigen Staates entſprechend;
und jene Fürſten oder ihre Rathgeber hätten eine weit
ſchwerere ſittliche Verantwortung auf ſich gezogen, wenn
ſie, um für ſich das Hochgefühl ritterlicher Treue und
Standhaftigkeit davon zu tragen, ihre Länder dem Ver—
derben, ihre Staaten der Zerſtücklung oder dem Untergang
ausgeſezt hätten.
Eine unbedingte Pflicht des Staats, die von ihm ein—
gegangenen oder anerkannten Verträge zu halten, läßt ſich
nicht behaupten. Wer kann läugnen, daß das Recht und
der Beſizſtand, wie ihn die in Geltung ſtehenden europäi—
ſchen Verträge und Friedensſchlüſſe geſchaffen haben, in
nicht wenigen Fällen nur verjährten Raub und ungerechten
Gewinn darſtellt und jedenfalls in den Augen der Beſiegten
niemals für Recht gelten wird? Der ſonſt übliche Begriff
der Verjährung iſt überhaupt im Völker- und Staaten—
leben gar nicht zu brauchen. Es giebt Rechtsverlezungen,
die faſt ſofort, andere die niemals verjähren. Daß die
ſchönſten Länder des Erdkreiſes, die Wiege des chriſt—
lichen Glaubens, die erſten Size und Pflanzſtätten einer
edleren Menſchlichkeit von einem Barbarenvolk, unter deſſen
Roſſeshufen das Gras verdorrt, unterjocht ſind, daß zehn
Millionen Chriſten der edelſten Stämme als rechtloſe Rajas
dem Uebermuth und der Habſucht türkiſcher Paſchas ver—
fallen ſind, das iſt für uns nach vier Jahrhunderten und
troz zahlreicher Verträge und Bürgſchaften der Großmächte
immer noch nichts anders als eine brutale Thatſache ge—
worden und wird es bleiben, bis der Tag der Abrechnung
gekommen ſein wird. Dagegen war es auch eine unzweifel—
hafte Rechtsverlezung, daß und wie den geiſtlichen Souve—
rainetäten in und außer Deutſchland ein Ende gemacht
worden iſt, aber die Verjährung hatte begonnen, noch be—
vor die Tinte aufgetrocknet war, deren die Dekrete bedurften.
Ja es giebt ein Vernunftrecht neben dem geſchriebenen,
ein Recht der Zukunft neben dem der Vergangenheit, mögen
nun auch dieſe Säze jo gefährlich lauten, als ſie wollen.
Es iſt die Aufgabe der Staatskunſt, das geſchichtlich gegebene
Recht in das vernünftige überzubilden, wenn es ſein kann,
in den Formen des Rechts, wenn nicht, auch ohne ſie.
Und ſo ſind wir denn ſchließlich für die Rechtspflichten
zu demſelben Ergebniß gelangt, wie für die Liebespflichten.
Wohl ſteht die Politik, wie alles menſchliche Handeln,
unter der Herrſchaft eines ſittlichen Sollens, aber die Moral,
welche dem Einzelnen ſeine Tugenden und Pflichten vor—
zeichnet, iſt für die Lenkung des Staatsganzen nicht zu ge—
brauchen. Dieſe Moral und die Politik gehen ſchon in der
Wurzel auseinander. Für den Einzelnen im Staat gilt
das Princip der Selbſthingabe, für den Staat das der
Selbſtbehauptung. Der Einzelne dient dem Recht; der
Staat handhabt, leitet und ſchafft daſſelbe. Der Einzelne
iſt nur ein flüchtiges Glied in dem ſittlichen Ganzen; der
Staat iſt, wenn nicht dieſes Ganze ſelbſt, doch deſſen reale
ordnende Macht; er iſt unſterblich und ſich ſelbſt genug.
Wir müſſen in dieſem Sinne die erſte Frage, ob die Politik
der Moral untergeordnet ſei, mit Nein, die andere, ob ſie
ein ſelbſtändiges und unabhängiges Princip ihres Handelns
in ſich trage, mit Ja beantworten, und wir wiederholen
damit nur den wahren Sinn des alten Sazes: salus pub-
lica suprema lex esto, der Erhaltung und Wohlfarth des
Gemeinweſens iſt jede andere Rückſicht untergeordnet.
Nun aber, wenn wir ſo die Politik von der Privat—
moral völlig abgelöst haben, iſt damit nicht überhaupt jeder
ſittliche Halt und Boden verloren und ſtehen wir nicht ſchon
ganz auf der ſchiefen Ebene, die uns unaufhaltſam in den
Abgrund von Macchiavellis verrufenen Lehren führt, daß
für politiſche Zwecke auch Verbrechen zu den erlaubten
Mitteln zu rechnen ſeien? Man kann von unſerem Thema
nicht wohl reden, ohne die Macchiavellifrage, ſei es auch
nur im Vorübergehen, zu berühren.
Während ſonſt der Welt nachgeſagt wird, daß ſie das
Strahlende zu ſchwärzen liebt, zeigen viele moderne Schrift—
ſteller, und vielleicht die deutſchen vor allen andern, die
umgekehrte Neigung, das Schwarze weiß zu waſchen oder
zu brennen, und die in der Geſchichte mit irgend einem
Flecken oder Brandmal behafteten Perſonen in eine jo
günſtige Beleuchtung zu ſtellen, daß ſich das überlieferte
Bild in das Gegentheil verkehren müßte. So iſt es ſchon
lange und nach dem Vorgange großer Autoritäten üblich
geworden, den Verfaſſer des berühmten Buches vom Fürſten
zum nationalen Patrioten zu verklären, der nur Italiens
Heilung ſuchte, deſſen Zuſtand aber ſo verzweifelt fand,
daß er kühn genug war, ihm Gift zu verſchreiben. Man
kann zu einer ſolchen Auffaſſung allerdings durch jenes
158
glänzende Schlußcapitel von der Befreiung Italiens ver-
leitet werden, aber doch nur wenn man es iſolirt betrachtet
und einſeitig zum Ausgangspunkt ſeines Urtheils macht.
Ich vermag mich aber ſo wenig zu überzeugen, daß der
Gedanke an Italiens Einheit und Freiheit der Leitſtern in
Macchiavellis Leben und Schriften war, daß ich vielmehr
jenen Abſchnitt nur als ein redneriſches Ornament, als den
effektvollen und beſchönigenden Abſchluß einer ſo vielfach
anſtößigen Schrift auffaſſen kann. Macchiavell war Poli⸗
tiker und Menſchenkenner genug, um dem jungen Mediceer,
für den er ſein Buch ſchrieb, um dem florentiniſchen Staat
nicht im Ernſt die Aufgabe zu ſtellen, die ſpaniſchen und
franzöſiſchen Heere aus Italien hinauszuwerfen; wohl aber
konnte es von pſychologiſcher Wirkung und den perſönlichen
Zwecken der Schrift dienlich ſein, dem jungen Mann eine
ſolche Ausſicht in blendende Beleuchtung zu rücken. Denn
das iſt ja eben der Grundmangel aller dieſer politiſchen
Rathſchläge, daß von idealen Zielen, von Menſchenwerth
und Menſchenglück, von ſittlichen Zwecken des Staats gar
nicht die Rede iſt, ſondern ſich Alles ſtets nur um die Frage
dreht, wie gelangt man zur Herrſchaft im Staat, ſei es
eine Parthei oder ein Einzelner, wie behauptet man das
Errungene, wie macht man ſeine Gegner unſchädlich, und
daß von all dem geſprochen wird, wie wenn eine Anweiſung,
Feſtungen zu belagern oder Schach zu ſpielen, abzufaſſen
geweſen wäre. Ehrgeiz und Herrſchſucht aber gehören in
die Privatmoral, nicht in die Politik, die vom Staatswohl
handelt. Bei aller Bewunderung, die man dem klaren und
— —
ſcharfen Denker, dem claſſiſchen Schriftſteller zollen muß,
kann man doch Macchiavellis Lehren das Prädikat der Ver—
ruchtheit und ſeinem Charakter das der Unlauterkeit nicht
erſparen. Einen Cäſar Borgia zu verherrlichen, nicht etwa
abgeſehen von ſeinen Frevelthaten, ſondern eben weil er
keine Scheu trug dieſe zu begehen, iſt Läſterung und Ver—
rath gegen alle ſittlichen Ideen der Menſchheit, für welche
jeder Verſuch einer Beſchönigung zurückzuweiſen iſt. Es
ſind zwei ſehr verſchiedene Dinge, ob ich ſage: der Staat
als der Schlußſtein aller ſittlichen Ordnung kann nicht nach
den Normen der den Einzelnen im Staat betreffenden Moral
geleitet werden, oder ob es heißt: um die Herrſchaft im
Staat zu erringen oder zu behaupten, darf man auch vor
Verbrechen nicht zurückſcheuen.
Es iſt ſcheinbar ein großer, in Wahrheit aber nur ein
kleiner Schritt von Macchiavell zu der ſogenannten Jeſuiten—
moral, wornach der Zweck die Mittel heiligen und eine
ſonſt und an ſich verwerfliche Handlung dann zuläſſig ſein
ſoll, wenn ſie einem höhern Zweck, der Verherrlichung Gottes,
in majorem Dei gloriam, dient. Groß ſcheint der Unter—
ſchied, weil hier doch wenigſtens von höheren Zielen die
Rede iſt und das Princip, daß Niederes dem Höheren zu
dienen habe, nicht anzufechten wäre; aber er wird verſchwin—
dend klein, weil dieß angeblich Höhere in Wahrheit doch
auch wieder nur die Herrſchaft iſt, blos die hierarchiſche
ſtatt der politiſchen. Ein wirkliches Reich Gottes auf Erden
im Lichte des chriſtlichen Glaubens, eine wahre Geſellſchaft
Jeſu könnte doch nur ein Reich der Wahrheit, der Liebe
160
und Gerechtigkeit ſein, und daß zu deſſen Gründung und
Ausbreitung auch Lüge und Frevelthat ſollte dienen können,
iſt zu widerſinnig als daß es Jemand auch nur im Ernſt
behaupten könnte. Wenn man aber an die Stelle der Re—
ligion den Begriff der Kirche, und an die Stelle der Kirche
den einer geſellſchaftlichen Beherrſchungsanſtalt ſezt, die mit
dem Staat zu concurriren, ihn ſchließlich zu verdrängen
und zu erſetzen beſtimmt iſt, dann muß man allerdings, um
eine ſo unnatürliche und widerſpruchsvolle Macht ins Werk
zu ſetzen, bei dem florentiniſchen Großmeiſter in die Schule
gehen und lernen, mit welchen Mitteln Herrſchaft über
Menſchen am ſicherſten gegründet und behauptet wird; nur
muß man des Scheines wegen, was Macchiavell ſelbſt ja
auch gelegentlich empfiehlt, das was der Meiſter nackt und
unverblümt mit anerkennenswerther Ehrlichkeit herausgeſagt
hat, mit dem Mantel frommer Redensarten und täuſchender
Sophiſtikt verhüllen und verbrämen.
Denn das iſt ja unläugbar ein Kern von Wahrheit
oder vielmehr die richtige Faſſung für die Heiligung der
Mittel durch den Zweck, daß die niedrigeren Güter und
Ziele menſchlichen Strebens den höheren unterzuordnen und
aufzuopfern ſind. Ohne dieſen Saz kann man überhaupt
zu keinem Sittengeſez gelangen; die Unterſcheidung von
niedrigeren und höheren Trieben und Strebungen der Men—
ſchennatur iſt der einzig mögliche Ausgangspunct aller Ethik.
Wenn nicht ein Maßſtab in uns läge, um den Werth
menſchlicher Handlungen und Eigenſchaften gegen einander
abzuwägen, ſo wäre nicht einzuſehen, wie wir jemals von
161
dem Begriff eines Gutes zu dem des Guten gelangen
könnten. Ja in die Metaphyſik hinüber find wir genöthigt
dieſe Unterſcheidung zu verpflanzen; jeder Verſuch einer
Theodicee hat ſtets darin ſeinen Ausgangspunkt genommen;
in die Gedanken des Weltenſchöpfers ſelbſt tragen wir ſie
hinauf, wenn uns der Dichter von ihm ſagt:
Der Freiheit
Entzückende Erſcheinung nicht zu ſtören,
Läßt er der Uebel grauenvolle Schaar
In ſeinem Weltall toben.
Die Politik aber kann dieſes Princip ſo wenig ent—
behren, daß ſie vielmehr faſt ausſchließlich in der Anwen—
dung und Durchbildung deſſelben beſteht. Das Intereſſe
eines Einzigen oder Weniger iſt dem Vieler oder Aller
unterzuordnen. Das Gut der individuellen Freiheit iſt den
Einſchränkungen unterworfen, welche das Gemeinwohl er—
fordert, aber die Möglichkeit eines Mißbrauchs rechtfertigt
keine allgemeinen Verbote. Die ſittlichen Güter des Volkes
ſind vor allem Andern zu wahren und hochzuhalten. Es
iſt beſſer, daß das Geſez in der Anwendung auf einen ein—
zelnen Fall zu materiellem Unrecht führt, als daß es ver—
lezt und mißachtet wird, aber große und allgemeine Inter—
eſſen ſind dem Buchſtaben des Geſezes nicht aufzuopfern.
Das Intereſſe des fremden Staats kann nur inſoweit Be—
achtung finden als es mit dem des eigenen vereinbar iſt.
Die Erhaltung des Staats rechtfertigt jedes Opfer und ſteht
über jedem Gebot.
Ueberall wo der Staatsmann eine Entſcheidung zu
treffen hat, ſteht er vor dieſen oder ähnlichen Sätzen; er
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 11
162
hat zwiſchen verſchiedenen vorliegenden Möglichkeiten eine
Wahl zu treffen, das kleinere Uebel dem größeren, das
größere Gut dem kleineren vorzuziehen.
Eine Theorie des politiſchen Sollens, eine Staatsſitten—
lehre oder politiſche Ethik könnte wohl nur in einer voll—
ſtändigen Zuſammenfaſſung und tieferen Begründung eben
ſolcher Sätze, wie die angegebenen, beſtehen; ſie wäre eine
vergleichende Werthabmeſſung der menſchlichen Güter und
Zwecke nach ihrer Bedeutung für das Wohl des Ganzen,
eine politiſche Güterlehre, an welche ſich entſprechend eine
Pflichten- und Tugendlehre anzuſchließen hätte. Das Ideal
einer ſittlich geſunden Gemeinſchaft ſtünde dem der ſittlich
geſunden Menſchenſeele, das die Moral entwirft, zur Seite.
Es iſt nun aber wohl auch einleuchtend, daß, wenn
wir die Politik von der Moral abgelöst und ihr ein eigenes
Princip des Sollens zuerkannt haben, ſie damit noch keines—
wegs aus dem Kreis der ſittlichen Ideen überhaupt heraus—
tritt oder gar in einen Widerſpruch zum Moraliſchen treten
und zum Unmoraliſchen werden kann. Sie ſteht mit dem,
was wir gewöhnlich allein Moral zu nennen pflegen, als
ein ihr coordinirtes Glied gemeinſam unter dem höheren
Begriff einer Ethik oder Sittenlehre im weiteren Wortſinn.
Ob wir uns aber nicht überhaupt oft unnöthige Schwie—
rigkeiten machen, indem wir die in beſtimmten Worten ein—
mal fixirten Begriffe recht gefliſſentlich zu ſcharfen Gegen—
ſätzen unter einander ſteigern und den fließenden und be—
weglichen Charakter der realen Erſcheinungen, für welche
jene Worte doch nur ein Merkzeichen ſein ſollen, ganz aus;.
163
dem Auge verlieren? Politik, Recht und Moral, die wir
ſo gerne recht weit und ſcharf auseinanderrücken, ſind nur
die eng verſchlungenen Zweige Eines Stammes; ihr ge—
meinſamer Grundbegriff iſt die Ordnung der menſchlichen
Triebe und Handlungen nach einem in uns gelegten Maß—
ſtab ihres verſchiedenen Werthes. Die Politik hat das
thatſächlich gegebene Recht theils zu wahren theils weiter—
zubilden; das Recht iſt derjenige Theil des Guten, der
dazu geeignet iſt oder erſcheint, zu einer allgemein giltigen
und zwingenden Norm des menſchlichen Zuſammenlebens
geſtaltet und erhoben zu werden. Das Gute ſelbſt aber iſt
ſchließlich nur wieder das wahrhaft Zweckmäßige und Ver—
nünftige, das was ächtes und allgemeines Menſchenglück
ſchafft und bedingt, was die Menſchheit fördert und zur
Entwicklung ihrer edelſten und höchſten Kräfte führt. Und
damit weist auch der Begriff des Guten im Kreislauf wieder
zu den Aufgaben der Politik zurück.
Alle dieſe Begriffe ſind nicht in ſich fertig und abge—
ſchloſſen, ſondern in den lebendigen Fluß der Geſchichte
hineingeſtellt, und unter ſich in ununterbrochener und innig—
ſter Wechſelwirkung. Wohl haben wir im Gewiſſen als
feſten Ausgangspunkt das Gefühl eines unbedingten Sollens,
den Glauben an die Exiſtenz eines an ſich Werthvollen und
Guten; was aber dieß Gute wirklich und im Einzelnen ſei,
weiß das Gewiſſen von ſich aus nicht; die Antwort darauf
giebt dem Einzelnen die geſchichtliche Entwicklungsſtufe des
Zeitalters und Volkes, dem er angehört. Ihm verſchlingt
ſich Form und Inhalt in ein ungetrenntes Ganzes und
11 *
164
das Gebotene kleidet ſich für ihn in das Anſehen einer
höheren oder göttlichen Ordnung. Nicht weil es Jehova
unter Bliz und Donner aus einer Rauchwolke vom Sinai
verkündigt und mit eigenem Finger auf ſteinerne Tafeln
geſchrieben hat, ſollen wir Vater und Mutter ehren, nicht
tödten, nicht ſtehlen, nicht ehebrechen, ſondern umgekehrt,
weil wir in dieſen Normen die erſten und bleibenden Grund—
bedingungen menſchlichen Zuſammenlebens, die Anfänge jeder
ſittlichen Ordnung des Friedens und der Gerechtigkeit er—
kennen, umgeben wir ſie durch eine Uebertragung, die mehr
iſt als eine bloße Anbequemung an hergebrachte Vorſtel—
lungen, mit der Weihe göttlicher Befehle. Der Inhalt der
Idee des Guten gelangt in der Geſchichte zu wachſender
Vertiefung und Befeſtigung; das Recht gleicht jenen Dämmen
und Deichen, die das der Meeresfluth entriſſene oder aus—
geſezte Land zum feſten und dauernden Beſiz machen; die
Politik errichtet, ſichert, erweitert dieſe Dämme; die Haupt—
arbeit dagegen, das neue Land zu gewinnen und das ge—
wonnene anzubauen, ruht auf den Einzelnen, auf den in—
dividuellen ſittlichen Kräften, die an dem bereits Errungenen
Uebung, Bildung und Anſporn zu weiterem Vordringen ges
funden haben. So dienen Politik, Recht und Moral nur
Einem Ziele, dem Fortſchritt der Menſchheit.
Ich glaube jedoch hier die Einwendung zu hören, daß
mit einer ſolchen Darſtellung die Politik in eine ideale Höhe
gerückt und den praktiſchen Schwierigkeiten und Fragen, an
welche wir bei dem Verhältniß der Politik zur Moral zu
denken pflegen, mehr ausgewichen als Genüge geleiſtet
165
ſcheine, daß es ſich vor Allem darum handle, ob es zu—
läſſig ſei im Intereſſe der öffentlichen Wohlfarth Hand—
lungen zu begehen, welche Geſez und Moral unbedingt
verbieten. Es iſt zuzugeben, daß ſolche Colliſionen nicht
nur denkbar ſind, ſondern vielfach vorkommen und daß jede
Theorie ſchuldig iſt, auch nach dieſer Seite hin Rede zu ſtehen.
Die Frage, ob verbrecheriſche Handlungen in politiſchen
Motiven eine Rechtfertigung finden können, iſt einfach durch
die Hinweiſung auf die Strafgeſeze zu beantworten. Dieſe
haben niemals unter den Bedingungen, welche die Straf—
barkeit ausſchließen, wie Nothwehr, Unzurechnungsfähigkeit,
auch das Motiv politiſcher Zweckmäßigkeit oder Nothwendig—
keit aufgezählt; der Richter könnte dieſen Beweggrund daher
nur wie andere beſondere Umſtände der That bei der
Strafausmeſſung in Betracht ziehen. Von ganz anderer
Art und Tragweite dagegen iſt der Fall, wenn Jemand
im vollen Bewußtſein, etwas geſezlich Verbotenes zu thun,
aber auch entſchloſſen dem Geſez die ſchuldige Sühne zu
leiſten, ſich dem gemeinen Beſten zum Opfer bieten zu ſollen
glaubt. Hierüber wird unſer ſittliches Urtheil nicht im All—
gemeinen, ſondern nur nach allen beſonderen Umſtänden
des einzelnen Falls zu richten wagen; es wird dem muthigen
und verantwortungsvollen Entſchluß eines General York
die vollſte Anerkennung nicht verſagen, die That eines
Stapf, einer Charlotte Corday von der eines Sand oder
Blind unterſcheiden, den Brudermord Timoleons, die Rechts—
verlezung des Conſul Cicero, die Thaten eines Brutus,
eines Harmodius und Ariſtogiton je wieder nach anderem
166
Maaß zu würdigen haben. Es kann ſich hiebei nicht blos
darum fragen, wie die Sache etwa von dem Handelnden
gemeint war, ſondern wie ſie wirklich lag. Bei politiſchen
Handlungen von außerordentlichem Charakter, zu denen
Niemand verbunden iſt, iſt Einſicht und Verſtändniß uner—
läßliche Pflicht und Thorheit wird zur verbrecheriſchen An—
maaßung. Für den Politiker iſt überhaupt Klugheit nicht
blos eine intellectuelle, ſondern eine Attliche Eigenſchaft
und wem ſie fehlt oder wer gar nicht beurtheilen kann, ob
ſie ihm fehlt, der verſündigt ſich ſchon dadurch, daß er nach
einem Berufe greift, dem er nicht gewachſen iſt und in dem
er doch nicht blos ſeine eigene Sache zu führen hat.
Das Strafgeſez läßt nun aber freilich noch viele Hand—
lungen ungeahnt, die gleichwohl als unſittlich gelten müſſen,
ſo vor Allem das Lügen, das wir nach alten Traditionen
als eine faſt unerläßliche Beigabe der Politik und Diplo—
matie anzuſehen gewöhnt ſind. Wie ſtellt ſich die Politik
dazu? Ich möchte antworten: alle politiſche Thätigkeit be—
ruht auf einem durch Geburt oder Wahl verliehenen Amt;
kein Amt oder Dienſtverhältniß aber kann zu unehrenhaften
und ſittlich unerlaubten Handlungen ermächtigen oder ver—
pflichten. Auch wird der Staatsmann im inneren Staats—
leben ſowie im friedlichen Verkehr der Völker keinen Anlaß
finden können, die Pflicht einer richtig verſtandenen Offen—
heit und Wahrhaftigkeit zu verlezen. Die Kriegslage aber
und ſchon die nur drohende Kriegsgefahr gehören dem Noth—
ſtand an, deſſen Mittel durch das Völkerrecht und die Rück—
ſichten einer natürlichen Humanität begrenzt ſind. Ueber
ee
167
dieſe hinaus noch die Forderungen des Edelmuths und einer
romantiſchen Rittermoral hinzuzufügen, iſt zweckwidrig und
widerſpricht der Stellung desjenigen, der nicht für ſich
ſondern für andere, für Alle zu handeln hat. Großherzig
und edelmüthig kann man nur auf eigene Koſten ſein, nicht
auf fremde. Wo Gewalt erlaubt iſt, kann Liſt nicht ver—
boten ſein; wen man tödten darf, den muß man auch täuſchen
dürfen, und wenn man mit beidem den gleichen Erfolg er—
zielen könnte, ſo müßte die Täuſchung als das humanere
und jchonendere Mittel den Vorzug verdienen.
Man gelangt auf dieſem Gebiete allerdings bald in
die Neze einer difficilen Caſuiſtik wie in jenen Fragenſpielen
der Moralcompendien über die Nothlügen oder ob der
Schiffbrüchige, welcher einen Balken ergriffen hat, der nur
einen einzigen tragen kann, einen zweiten, der denſelben
erfaſſen will, zurückſtoßen dürfe. Ein gefeierter Staats—
rechtslehrer findet es unanſtößig, aus einem freiwillig an—
gebotenen Verrath Nuzen zu ziehen oder Vertreter unſeres
guten Rechtes durch Geſchenke zu gewinnen, erklärt aber
die Beſtechung fremder Beamten zur Begehung einer Pflicht—
widrigkeit für unſtatthaft. Es wird ſich in ſolchen Dingen
immer Vieles für und wider ſagen laſſen. Unter der
Vorausſezung, daß es ſich nicht um den friedlichen, ſondern
um den feindlichen Verkehr der Völker handelt, würde mein
ſittliches Gefühl eine ſo haarſcharfe Grenzlinie an dem be—
zeichneten Punkt nicht fordern oder begründet finden. Wenn
ein Heerführer, der eine belagerte Feſtung mit Anwendung
der furchtbarſten Zerſtörungsmittel und unter Aufopferung
168
zahlloſer Güter und Menschenleben in ſeine Hand zu bringen
berechtigt und verpflichtet iſt, die Möglichkeit, ihre Thore
durch einen goldenen Schlüſſel zu öffnen, zurückwieſe, ſo
würde dieſe Zartheit ſeines individuellen Gewiſſens doch
nur auf Koſten Anderer ſeine Befriedigung finden und es
lägen Geſundheit und Leben von tauſenden ſeiner eigenen
Landsleute und der Feinde auf der andern Wagſchaale.
Es wäre widerſinnig im Krieg einſeitig darauf zu verzichten,
durch Beſtechung Spione unter den Unterthanen des feind—
lichen Staats zu gewinnen. Es handelt ſich hier um außer—
ordentliche Lagen, in denen die höchſten Güter eines Staats
oder einer Nation auf dem Spiele ſtehen, und denen, welche
die Verantwortung tragen, nicht anzuſinnen iſt, über die
Zwirnfäden der Caſuiſtik zu ſtolpern.
Daß aber Politik und Moral, ſo unabhängig ihre
Pfade in vielen Dingen neben einander herlaufen, doch
aus Einer Quelle fließen und ſchließlich in ein gemeinſames
Ziel einmünden, das ſehen wir vielleicht am deutlichſten
daran, daß ihre hiſtoriſche Entwicklung in einer ſtetigen
gegenſeitigen Annäherung beſteht, daß die Moral immer
politiſcher, die Politik immer moraliſcher zu werden, wenig—
ſtens die Tendenz zeigt. Für die chriſtlich mittelalterliche
Weltanſchauung waren alle ſittlichen Ideale das Monopol
der Kirche; der Staat galt als mit dem Brandmal der
Weltlichkeit geächtet und erniedrigt; er war auch darnach;
es gab in ihm nicht ſowohl Pflichten und Rechte, als Laſten
und Forderungen. Auch die neuere Philoſophie fand nur
ſchwer den Weg, der Idee des Staats gerecht zu werden;
——
— ——ü—ñ—ũäs . — . — en Din
—
169
man begriff ihn nur als einen Aſſekuranzvertrag zum Schuz
des Einzelnen; in der Moral war kaum von ihm die Rede.
Es iſt ein bleibendes und glänzendes Verdienſt von Hegel,
vielleicht ſein größtes, den Staat als die objective Ver—
wirklichung ſittlicher Ideen, ja als deren höchſte Form er—
kannt und das Verhältniß des Einzelnen zum Staat in
die Ethik ſelbſt aufgenommen zu haben. Aber auch von
ganz andern Ausgangspunkten iſt ein hervorragendes Werk
chriſtlicher Ethik zu dem gleichen Ziel gelangt, die Erfüllung
der ſittlichen Ideale der Menſchheit nicht der Kirche, ſondern
dem Staat zuzuweiſen.
Andererſeits iſt aber ebenſo in der Politik die wachſende
Richtung auf höhere Ziele nicht zu verkennen. Im vorigen
Jahrhundert beſtand ſie noch in einem Intriguenſpiel der
Kabinette; ſich gegenſeitig auszulauern und zu überliſten,
wo möglich die Kammerdiener und Weiber am Hofe zu
gewinnen, gehörte zu den wichtigſten Aufgaben der Diplo—
maten; Länderſchacher und Theilung, Streit um Rang und
Macht war das Hauptthema; das Wohl der Völker kam
nur in den Formen der Phraſe zur Sprache. Bei den
freieren Staatseinrichtungen der Gegenwart werden die
Schickſale der Völker nicht mehr in den Kabinetten und
Vorzimmern der Fürſten, ſondern in öffentlichen Berathun—
gen ihrer Vertreter erörtert und entſchieden; Plane, welche
das Licht der Oeffentlichkeit zu ſcheuen haben, ſind zwar
noch lange nicht unmöglich, aber um Vieles ſchwieriger zur
Ausführung geworden. Nachdem zwei große Kulturvölker
aus kläglicher Zerriſſenheit zu nationaler Einigung gelangt
170
ſind, ſind die wahren und natürlichen Grenzen der euro—
päiſchen Staatenfamilie wenigſtens im Weſentlichen gefunden
und bleibend feſtgeſtellt. Die allgemeine Wehrpflicht macht
Kriege unmöglich, welche nicht auch von den Völkern als
gerecht oder unabweisbar erkannt werden. Die Kriege
ſelbſt ſind von kürzerer Dauer und werden menſchlicher ge—
führt. Von demſelben Staat, in deſſen Heer vor 109 Jahren
noch die eigene Mannſchaft lebend in die Feſtungsgräben
geworfen wurde, damit ihre Leiber ſie ausfüllten und den
Sturmcolonnen als Brücke dienten, ſind die neueſten Anre—
gungen zu weiteren Fortſchritten in der Humanität der
Kriegsführung ausgegangen.“
Unſer deutſches Volt aber, jezt ſtark genug, um nicht
fremden Gutes zu begehren und doch das eigene gegen alle
Welt zu behaupten, hat aus der Hand der Geſchichte die
Miſſion empfangen, in der Mitte des Welttheils ein Reich
des Friedens zu gründen, für deſſen Politik die Pflege der
Wohlfarth, Freiheit und der Geſittung die oberſte Richt—
ſchnur ſind. Uns war es vergönnt die Erfolge einer Staats-
kunſt zu ſehen und zu genießen, welche eine Prüfung nach
dem höchſten Maßſtab der Geſchichte nicht zu ſcheuen hat.
Zum zweitenmal im Lauf des Jahrhunderts hat die Noth
und Verwirrung der Zeiten dem deutſchen Volk einen Mann
gegeben, in welchem das gewaltigſte Wollen ſich mit dem
richtigſten verſchmolz.
Aber die Bedingung einer ſittlichen Politik der Staaten
iſt der ſittliche Geiſt der Völker ſelbſt. Nur wenn im
deutſchen Volke die Empfänglichkeit für die idealen Güter
das Uebergewicht über Erwerbſinn und Genußſucht, über
Gleichgiltigkeit gegen das Gemeinweſen, über beſchränkte
Vorurtheile behauptet, kann in einem Staatsweſen, das
auf dem gleichen Wahlrecht Aller fußt, auch deſſen Politik
im gleichen Geiſte geführt werden. Die Moral des Volks
und die ſeiner Staatsmänner gehen Hand in Hand. Es
kann in freien Staaten nur ein vorübergehender Glücksfall
ſein, wenn die Regierung eines Volkes beſſer iſt als ſeine
Sitten. Und nur in dieſer ſtetigen und lebendigen Wechſel—
wirkung liegt die lezte Löſung des Räthſels, an dem dieſe
Betrachtung ſich verſucht hat.
Rede über die Reichsoberhauptsfrage.
Frankfurt 22. Januar 1849.
Vorbemerkungen.
Ueber das Frankfurter Parlament iſt nur ſelten noch
ein gerechtes und verſtändiges Urtheil zu hören. Jeder
publiciſtiſche Grünſchnabel ergeht ſich mit Behagen in ab—
ſchäzigen Redensarten über die doctrinären und unprak—
tiſchen Profeſſoren, die, ſtatt das Eiſen zu ſchmieden, ſo
lange es noch warm war, die beſte Zeit mit langen Reden
über abſtracte Freiheitsfragen hingebracht, die Begeiſterung
des Volkes gelähmt, ſein Vertrauen verſcherzt und damit
ſchließlich die Macht verloren haben, den widerſtrebenden
Regierungen gegenüber ihr Verfaſſungswerk durchzuſezen.
Nach der andern Lesart war die Verſammlung ſelbſt bis
ins Mark von dem Gift umſtürzender Ideen angefreſſen
und die von ihr feſtgeſtellte Verfaſſung ein revolutionäres,
für die Regierungen ſchlechthin unannehmbares Werk.
Nachdem nun vollends die deutſche Einheit auf ganz
anderen Wegen und in Begleitung weltgeſchichtlicher Glanz—
effekte fertig gebracht worden iſt, iſt jene Verſammlung von
1848 verſunken und vergeſſen; man glaubt auf fie, wie
auf eine Kinderkrankheit zurückſehen zu dürfen, die einen
173
Augenblick gefährlich erſchienen war, von der man aber
nur ein ganz dunkles Bild in der Erinnerung bewahrt.
Das Urtheil der Geſchichte und Nachwelt wird wohl
anders lauten. Zwar dagegen wüßte ich nichts zu ſagen,
wenn man jene Erfahrungen als Beweis anführen wollte,
daß eine große Verſammlung gewählter Volksvertreter ſelbſt
bei einer Fülle von Talenten und beim beſten Meinen und
Wollen für ſich allein unfähig iſt zu praktiſcher und ſchöpfe—
riſcher Politik, daß ihr, wenn ſie nicht die Wege eines
Konventes einſchlagen will oder kann, nur übrig bleibt,
an den vorhandenen Staatsgewalten Halt und Anlehnung
zu gewinnen und daß zwiſchen dieſen beiden Möglichkeiten
keine andere mehr in der Mitte liegt.
Dagegen wird der Frankfurter Verſammlung Ein
großes und unvergängliches Verdienſt nie beſtritten werden
können. Sie hat den Gedanken der nationalen Einigung
aus der Region nebelhafter Träumereien und zerfahrener
Meinungen herausgeholt, für denſelben die politiſche Geſtalt
und Formulirung gefunden und unter unſäglichen Schwierig—
keiten durch die Löſung des Räthſels, wie und wie allein
die Sache gemacht werden könne, das Ziel und Programm
für die weitere Entwicklung feſtgeſtellt. Daß ein deutſcher
Bundesſtaat mit zwei rivaliſirenden europäiſchen Groß—
mächten undenkbar, daß für den öſtreichiſchen Ländercom—
plex in demſelben kein Plaz, daß Preußen zu einer blei—
benden Führerſtellung in demſelben berufen ſei, dieſe ganze
Idee des kleindeutſchen Reiches mit der erbkaiſerlichen Spize,
die ſchließlich zum Sieg und zur Verwirklichung gelangte,
174
mußte zuerſt als der Eck- und Grundſtein des künftigen
Baues ausgemeiſelt und eingegraben ſein. Sie mußte in
der Verwirrung der Parteimeinungen allmälig Propaganda
machen bei den politiſch denkenden Köpfen der Nation, und
wenn Bismark, der zuerſt ſelbſt zu ihren Gegnern gehört
hatte, ſie nicht ergriffen und vorbereitet gefunden hätte,
ſo wären ſeine Politik und deren Erfolge unmöglich ge—
weſen.
Man hat jezt aber keine Vorſtellung mehr davon, wie
ſchwer es war im Jahr 1848 zu dieſer Löſung zu gelangen.
Der Gedanke war wohl ſchon von Einzelnen ausgeſprochen,
von Paul Pfizer, von der deutſchen Zeitung, aber nur auf
literariſchem und journaliſtiſchem Feld neben hundert andern
Projecten und ohne Premirung des Hauptpunktes, des
Ausſcheidens von Oeſtreich. Auch der Dahlmannſche Ent—
wurf im Siebzehnerausſchuß hatte dieſen Punkt unausge—
ſprochen gelaſſen und darum die Zuſtimmung der öſtrei—
chiſchen Vertrauensmänner ſelbſt finden können.
Zu ſagen, die Frankfurter Verſammlung hätte gleich
in den erſten Wochen, noch getragen von dem Strom der
allgemeinen Begeiſterung, geſtüzt auf die Ohnmacht oder
den guten Willen der Regierungen, irgendwelche Ver—
faſſung des deutſchen Bundes oder Reiches deeretiren und
das Weitere dann der Zukunft anheimſtellen ſollen, iſt, milde
ausgedrückt, nicht mehr als ein albernes Gerede zu nennen.
Als ob für das deutſche Volk irgend welche beliebige Ver—
faſſung getaugt hätte! Und doch wäre auch nicht einmal
für irgend welche Verfaſſungsform damals irgend welche
Mehrheit zu finden geweſen. Die Frage über eine concrete
Neugeſtaltung der deutſchen Dinge war viel zu neu und
unvorbereitet vor die Nation und ihre Vertreter gebracht
worden.
Ich darf hier wohl zum Beleg eine kleine perſönliche
Erinnerung anführen. Es ſollten in den erſten Tagen die
Mitglieder eines Verfaſſungsausſchuſſes in den Abtheilungen
gewählt werden. Da man ſich gegenſeitig noch gar nicht
kannte, ſo wurde in der Abtheilung, welcher ich zugelooſt
war, beſchloſſen, daß vor der Abſtimmung Jeder in der
Kürze eine Art von politiſchem Programm und Glaubens
bekenntniß ablegen ſolle. Da hieß es in der That: ſo viel
Köpfe ſo viel Meinungen. Die Buntſcheckigkeit der Vota
erregte allmählig Heiterkeit. Ich war unter etwa 36 Col—
legen der Einzige, der ſich zu dem Pfizer-Dahlmannſchen
Programm bekannte, freilich auch mit dem Zuſaz, daß die
nähere Geſtaltung der Sonderſtellung von Oeſtreich noch
weiterer Berathung bedürfe. Das mitleidig wohlwollende
Lächeln der Nachbarn und Zuhörer zeigte mir, daß dieſes
Votum als die abſonderliche Meinung eines jugendlichen
Träumers und Dilettanten in politiſchen Dingen erſchien.
Hätte die Verſammlung etwa gleich mit dem anfangen
ſollen und können, was ihr am Ende noch faſt unmöglich
erſchien, den Collegen aus Oeſtreich, einem Drittheil ihres
Beſtandes, direct oder indirect die Thüre zu weiſen?
Wenn man den ganzen Sommer hindurch die Be—
rathung der Grundrechte und mancherlei Allotria in ihrer
ganzen Breite und Weitſchweifigkeit zuließ, ſo geſchah es,
176
weil man noch rathlos vor der Hauptfrage ſtand und keiner
der Entwürfe auf eine Mehrheit rechnen konnte. Der
Schwerpunkt der Berathungen lag damals außerhalb der
öffentlichen Sizungen. In den Klubs und noch mehr in
kleineren Kreiſen wurden die verſchiedenen Möglichkeiten,
das neun-, das ſieben-, das fünfköpfige Directorium, die
Trias, die Wahlmonarchie, das Alternat, das Doppelprä—
ſidium und was Alles ſonſt noch durchgeſprochen. Nicht
aus vorgefaßten Meinungen, ſondern durch die innere Kraft
und Dialectik ſeiner Argumente brach ſich hier allmälig
der kleindeutſche Gedanke Bahn und gewann Tag für Tag
einzelne Anhänger aus dem Kreiſe der früheren Gegner.
Im Herbſt trat er in der Geſtalt des Gagernſchen Pro—
gramms an die Oeffentlichkeit.
Für die Abgeordneten aus Preußen und den nord—
deutſchen Kleinſtaaten war das Opfer dieſes Entſchluſſes
nicht groß. Das Häuflein der Kleindeutſchen in den Süd—
ſtaaten aber hatte einen ſchweren Stand. In Würtemberg
war die öffentliche Meinung entſchieden großdeutſch, theils
aus democratiſchen, theils confeſſionellen oder particulariſti—
ſchen Motiven. Die alten bewährten Führer der liberalen
Partheien, das Haupt des Märzminiſteriums, die beiden
Kammern, die große Mehrzahl der Reichstagsabgeordneten
ſtand in dieſem Lager. Von den Unſrigen waren die be—
kannten Namen, Mathy, R. Mohl, Wurm außer Landes
anſäßig und außer Fühlung mit ihren Wählern; wir drei
andern, unbekannt und ohne Bedeutung, erſchienen wie
177
Abtrünnige. Ich wurde überhäuft mit Kundgebungen des
Mißfallens und perſönlichen Bedrohungen.
In dieſem Zuſammenhang mag die nachfolgende, bei
der Berathung über die Erblichkeit der Reichsoberhaupt—
würde gehaltene Rede, wenn ſie auch weder damals eine
erhebliche Bedeutung hatte, noch dem heutigen Leſer etwas
Neues ſagen kann, doch noch einiges Intereſſe bieten, auch
abgeſehen von der kleinen Genugthuung, die es dem Redner
gewähren kann, vor 25 Jahren im Ganzen nicht ſo fehlge—
griffen und auch die militäriſch-politiſche Lage der Südſtaaten
dem Erfolg nach nicht unrichtig beurtheilt zu haben.
Die Rede iſt aus den amtlichen ſtenographiſchen
Sitzungsberichten, unter Weglaſſung der damals ſo zahl—
reichen Zwiſchenrufe von Zuſtimmenden und Gegnern, ab—
gedruckt.
Meine Herren! Ich bekenne mich offen zu denjenigen,
welche den Eintritt Oeſterreichs in den deutſchen Bundes—
ſtaat, wie wir ihn nöthig haben, für unmöglich, welche die
Löſung unſerer Aufgabe nur in der Gründung von zwei
ſelbſtändig neben einander ſtehenden, durch Sympathien,
Intereſſen und Verträge an einander geketteten Bundes—
ſtaaten für erreichbar halten. Ich will in dem engeren
deutſchen Bundesſtaate, den wir hier zu gründen berufen
ſind, den König von Preußen als erblichen König der
Deutſchen. Die allgemeinen politiſchen Gründe für dieſe
Anſicht hier zu entwickeln, unterlaſſe ich; ich will dieſes
einflußreicheren und beredteren Stimmen dieſes Hauſes
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 12
178
überlaſſen, die es nach mir thun werden oder vor mir ge—
than haben. Ich habe in dieſer Frage nur das Wort er—
beten, weil ich einer von den wenigen Süddeutſchen bin,
welche entſchieden auf dieſer Seite ſtehen, und weil ich
wünſchte, daß auch aus meinem engeren Vaterlande ein
Zeugniß dafür abgelegt würde, daß es auch dort nicht an
ſolchen fehlt, die ſich in das Unvermeidliche fügen, die be—
reit ſind, mancherlei Sympathien und Intereſſen um den
Preis eines großen Vaterlandes hinzugeben. Ich bedauere,
daß es einem andern Manne aus meinem Vaterlande nicht
gegönnt, daß Paul Pfizer verhindert iſt, in dieſen Tagen
auf dieſer Tribüne zu ſtehen und für eine Idee zu
ſprechen, welche er ein Recht hat, ſein Eigenthum zu
nennen, worin er ſchon vor Jahren mit ſtaatsmänniſcher
Vorausſicht die künftige Form der deutſchen Einigung
gefunden hat. Allein ſo ſehr wir alle ihn hier vermiſſen,
ſo wollte ich doch nicht, daß gar keine Stimme aus meiner
Heimath in dieſem Sinne ſich vernehmen ließe.
Es iſt gegenüber einer beſtimmten, ſo ſchwierigen
Frage, wie die über das Oberhaupt, nicht leicht, von
einer öffentlichen Meinung zu ſprechen, zumal in einem
Lande, wo das politiſche Urtheil ſich ſelbſt noch erſt aus
einer trüben und verworrenen Gährung herauszuarbeiten
hat. Ich weiß ſehr wohl, daß auch bei uns die demokrati—
ſchen Vereine gegen jede monarchiſche Spize ſind, ich weiß
und begreife es vollkommen, daß diejenigen Theile von
Würtemberg, welche in den lezten Kriegsjahren mit uns
verbunden wurden und bis heute noch nicht recht zu einem
179
Ganzen zujammengewadhfen find, theils im Hinblick auf
geſchichtliche Erinnerungen, theils aus confeſſionellen Rück—
ſichten nicht für ein preußiſches Kaiſerthum ſein können,
ich muthe es ihnen auch nicht zu. Ich gebe ferner zu,
daß, wenn es uns gelingen ſollte, dieſen Plan durchzuführen,
er bei uns nicht mit Jubel begrüßt werden dürfte, daß
das Volt lange Zeit dazu brauchen würde, ehe es ſich
hineinfinden könnte; ich muß aber auch die Ueberzeugung
ausſprechen, daß dieſe Idee in unſerem Lande bei ihrer
Ausführung wenigſtens nicht auf weſentliche und unüber—
ſteigliche Hinderniſſe ſtoßen und daß das Urtheil des Volkes
vorzüglich von der Stellung abhängen wird, die die Re—
gierung gegenüber dieſer Frage einnehmen wird. Die
Männer, die an der Spize unſerer Landesverwaltung ſtehen,
genießen ein ſolches Vertrauen beim Volke, daß es ihnen
glauben wird, wenn ſie ihnen ſagen, dieſes Opfer ſei ein
nothwendiges für die Einheit des Ganzen.
Meine Herren! Wir Bewohner des ſüdweſtlichen
Deutſchlands befinden uns dieſer Oberhauptsfrage gegen—
über in einer eigenthümlichen und peinlichen Stellung. Es
hat Niemand, kein deutſcher Stamm ein größeres Intereſſe
an der deutſchen Einheit, als wir; aber keiner hat auch
das ſo ſchwer zu empfinden, wenn Deutſchland entweder
nicht einig, oder kein Ganzes werden wird. Wir Schwaben
haben den Fluch der Zerſtückelung und Schwäche Deutſch—
lands ſchwerer getragen, als irgend ein anderes Volk.
Wir, deren Herzöge einſt des Reiches Fahne trugen und
vorangiengen bei den Römerzügen, wir ſind im lezten
1
180
Jahrhundert zu Söldlingen herabgeſunken und zu jener
Politik genöthigt worden, die dem Glücke des Siegers zu
folgen hat, wir haben das zweideutige Lob, auf allen Schlacht—
feldern Europa's für und gegen alle großen Armeen des
Feſtlandes gekämpft zu haben. Es hat uns bei allen dieſen
Kämpfen niemals an Muth und Tapferkeit gefehlt, aber
niemals haben wir für ein Vaterland gekämpft. Und wenn
es ſich heute wiederholt, wenn heute die Franzoſen über
den Oberrhein kommen, ſo haben wir abermals nur die
traurige Wahl, ob wir unſer Land allen Drangſalen des
Kriegs, aller Willkür eines übermüthigen Feindes hingeben,
oder ob wir Verräther werden wollen am deutſchen Volke.
Ich weiß gewiß, daß unſer Volk und daß der Fürſt, der
an der Spize deſſelben ſteht, keinen Augenblick im Zweifel
ſein wird, welche Wahl ſie zu treffen hätten; aber traurig
iſt es, wenn ein braves und tapferes Volk keine Wahl hat,
als eine ſolche. Das können Sie alſo glauben, uns iſt es
Ernſt damit, daß es ein ſtarkes Deutſchland gebe. Wir
ſind zu jedem Opfer bereit. Wir treten nicht mit Anſprüchen
auf eine ſelbſtändige Stellung, wie unſere öſtlichen Nach—
barn, auf; „wir ſtehn zurück, wir ſind die Flehenden, die
Hülfe heiſchen bei den mächtigen Freunden.“ Allein das
iſt wahr, wenn man nun dem Süddeutſchen ſagt, die deutſche
Einheit ſei ein preußiſches Erbkaiſerthum, ſo iſt das eine
harte Lehre. Wer mag ſie hören? Sie können ſich dar—
über nicht wundern; es iſt auch für den Vorurtheilsloſeſten
bei uns, gleichſam als wenn man ihn unter ein Sturzbad
kalten Waſſers ſtellte. Es benimmt einem Anfangs den
181
Athem, und man braucht einige Zeit, bis man ſich daran
gewöhnt hat und wohl dabei fühlt.
Ich bin daher mit demjenigen, was mein Landsmann
M. Mohl vor kurzem in Beziehung auf die Stellung der ſüd—
deutſchen Staaten zur Oberhauptsfrage geſagt hat, in vielem
einverſtanden, beſonders in dem, was er über die Sympathien
und Stimmungen des Volkes geſagt hat. Dagegen bin ich
nicht einverſtanden, wenn er uns bewieſen hat, daß es ſo ſehr
gegen die Intereſſen der ſüddeutſchen Staaten ſei, in ein
ſolches deutſches Reich einzutreten. Der erſte und größte
Grund, den er geltend gemacht hat, ſind unſere materiellen
Intereſſen. Ich ſtehe in dieſer Beziehung auch auf dem Stand—
punkte eines Süddeutſchen, und fühle mich verpflichtet, die
Intereſſen meiner Wähler und meines Landes hierin nach
ihrem ganzen Umfange zu wahren. Die Norddeutſchen,
die Herren vom Freihandelsverein, kennen unſer Land nicht.
Sie ſehen nur die ſchönen rebenbegränzten Berge und die
anmuthigen Thäler, aber ſie wiſſen nicht, daß um dieſe
Berge und in dieſen Thälern ein verarmendes Volk wohnt,
für das der Boden nicht mehr ausreicht, der es zu ernähren
hat. Sie wiſſen nicht, daß in dieſen Thälern viel tauſend
arbeitsloſe und fleißige Hände ſind, die nichts weiter ver—
langen, als daß ſie wenigſtens an den Hemden und Kleidern,
die ſie auf dem Leibe tragen, den Lohn der Arbeit ſelber
verdienen. Da ſprechen Sie von künſtlicher unnatürlicher
Induſtrie, die wir auf Koſten Anderer gründen wollen,
während wir nur das Natürliche und Nothwendige fordern.
Wir wollen nur eine kurze vorübergehende mäßige Nach—
182
hülfe, damit unſerm Volke neue Erwerbszweige geſchaffen
werden; wir wollen, wenn einmal die Maſchinen viele Ge—
werbe zu Grunde richten, daß es wenigſtens die eigenen
Maſchinen ſeien, die dieß thun. Allein jo ſehr ich in Be⸗
ziehung auf das Materielle dieſer Frage auf ſüddeutſcher
Seite ſtehe, ſo kann ich doch nicht einſehen, inwiefern hierin
ein Motiv gegen die Gründung eines ſtarken Deutſchlands
liegen ſolle. Man befürchtet, wir Süddeutſche ſeien in
dieſem neuen Deutſchland in der Minorität. Ich glaube
das nicht. Herr Stahl hat uns ſchon bewieſen, daß es
ſich hier überhaupt nicht um einen Gegenſaz von Nord und
Süden handle. Ich glaube vielmehr, daß diejenigen Theile
von Deutſchland, in welchen eine kräftige Unterſtüzung der
vaterländiſchen Arbeit ein unabweisbares Bedürfniß ge—
worden iſt, auch ohne Oeſterreich einen größeren Theil von
Deutſchland ausmachen, als diejenigen, in welchen es nicht
der Fall iſt. Allein ſelbſt wenn wir die Majorität hätten,
ſo verlange ich nicht, daß dieſe Frage einfach durch eine
Majorität, die ſich für das eine Extrem entſcheidet, mag
auch der andere Theil darüber zu Grunde gehen, abgemacht
werde. Es iſt eine Sache, wo zwei verſchiedene Intereſſen
einander gegenüber ſtehen und wir haben hier den erſten
Beweis zu liefern, daß wir im Stande ſind, uns zu ver—
ſtändigen und zu einigen über abweichende Anſprüche. Eine
ſolche Verſtändigung wird erreicht werden, ſobald einmal
alle Intereſſen ſich hören laſſen können, ſobald die Fragen
nicht im Allgemeinen, ſondern im Einzelnen beſprochen
werden, ſobald die Entſcheidung nicht mehr vom Zuſtande—
183
kommen eines einſtimmigen Beſchluſſes von einem Duzend
einzelner Regierungen abhängt, ſondern von den Beſchlüſſen
eines Reichstags, von den Vertretern der ganzen Nation.
Die Frage über die Verhältniſſe zu Oeſterreich in Beziehung
auf Zoll und Handel bleibt jedenfalls eine Sache für ſich,
die von Unterhandlungen abhängt, mag es nun mit der
deutſchen Verfaſſung werden wie es will. Ob wir mit
Oeſterreich ein Zoll- und Handelsgebiet bilden werden, was
ich ſo ſehnlich wünſche, als irgend Jemand, und wann, das
hängt nicht von der heutigen Abſtimmung ab, ſondern da—
von, was die Intereſſen beider Länder gebieten; denn dieſe
ſind mächtiger, als alle politiſchen Rückſichten des Augen—
blicks. Wenn ich aber auch zugebe, daß ein Zuſtandekommen
einer ſolchen Zollunion durch unſere Entſcheidung verzögert
werden könnte, ſo kann ich von ein paar Monaten oder
Jahren, um welche ein für uns günſtiger Handelsvertrag
früher oder ſpäter in's Leben tritt, die Auferſtehung eines
ſtarken Deutſchlands niemals abhängig machen.
Der andere Punkt, in Beziehung auf welchen uns
bewieſen werden will, daß es gegen das Intereſſe der ſüd—
weſtlichen Staaten ſei, mit Norddeutſchland inniger zu—
ſammenzuhängen, als mit Oeſterreich, iſt der militäriſch-po—
litiſche. Man ſagt uns, bei unſerer Lage zwiſchen Frankreich
und Oeſterreich ſei Oeſterreich unſer natürlicher Beſchüzer,
wir ſeien nur dann geſichert, wenn wir mit Oeſterreich im
innigſten und nächſten Bunde ſtehen. Ich will Sie hier
nicht an die Kriegsgeſchichte erinnern und mich nicht auf
ein Gebiet verirren, auf dem ich nicht zu Hauſe bin, allein
184
das ſcheint mir auf der Hand zu liegen, daß ein Land,
deſſen Beſchüzer hundert Stunden hinter ihm liegen, ſchlecht
beſchüzt iſt, daß ein Land ſchlecht beſchüzt iſt, wenn es noth—
wendig der Tummelplaz der feindlichen Heere, der Siz des
Krieges ſein wird; und in welcher Weiſe Oeſterreich unſer
Land anſieht, davon möchte ich aus der jüngſten Zeit noch
einen Beweis anführen und an eine alte Sünde des deut—
ſchen Bundes erinnern. Man hat von deutſchem Geld,
nachdem es lange im Kaſten gelegen iſt, und ich weiß nicht,
wem Zinſen getragen hat, nicht eine deutſche Feſtung an
die ſchwache Grenze Deutſchlands, ſondern an die Oſtgrenze
unſeres Landes eine bayeriſche und öſterreichiſche Feſtung
gebaut. Man hat unſere Länder dadurch zum Voraus als
eine Beute bezeichnet, die man dem vordringenden Feinde
hinwirft und überläßt. Wir können nur recht geſchüzt
werden dadurch, daß wir mit einem ſtarken Norddeutſchland
verbunden ſind; wir werden am beſten dadurch geſchüzt
ſein, daß am mittleren Rheine Norddeutſchland eine ebenſo
ſtarke und drohende Stellung an der ſchwachen Seite Frank—
reichs hat, wie Frankreich am Oberrhein gegen die ſchwachen
Seiten von Deutſchland; wir ſind viel ſicherer, wenn in
erſter Linie Norddeutſchland für uns einzuſtehen hat, denn
der Schuz Oeſterreichs bleibt uns unter allen Umſtänden im
Rückhalt, weil es in ſeinem Intereſſe liegt, daß kein neuer
Rheinbund an ſeinen Grenzen entſtehe. Wenn wir mit
einem ſtarken Norddeutſchland verbunden ſind, ſo wird der
Kriegsſchauplaz zwiſchen dem mittleren Rheine und der
Maas ſein, und ein Krieg zwiſchen Oeſterreich und Frank—
185
reich wird entweder in Deutſchland gar nicht geführt werden
können, oder es wird zugleich ein Krieg gegen Deutſchland
ſein. Dieſer Bund macht nicht nur uns ſicher, ſondern er
ſchüzt und ſtärkt zugleich Oeſterreich. Oeſterreich iſt um
Vieles kräftiger, wenn es dieſe Vorlande nicht mehr zu
decken hat, wenn ein ſtarkes Deutſchland zwiſchen ihm und
Frankreich ſteht, es kann dann um ſo viel ſtärker nach
anderen Richtungen hin wirken, in welchen es ſeine ge—
ſchichtliche Aufgabe hat und in denen es bisher ſo wenig
gethan hat.
In Beziehung auf dieſe zwei wichtigſten Punkte bin
ich alſo mit denjenigen meiner Landsleute nicht einver—
ſtanden, welche uns von einem Intereſſe des ſüdweſtlichen
Deutſchlands gegen eine ſolche Geſtaltung der deutſchen
Verfaſſung reden; allein ſelbſt wenn dieſe Gründe nicht
richtig wären, ſelbſt auf die Gefahr aller dieſer traurigen
Möglichkeiten hin würde ich dennoch ſagen, wir wollen
lieber auf einem verlaſſenen, preisgegebenen Vorpoſten eines
deutſchen Reiches ſtehen, wir wollen lieber die Stiefſöhne
eines deutſchen Vaterlandes ſein, als gar kein Vaterland
haben. Herr Welcker hat dieſen Ausdruck hart, übertrieben
und ungerecht gefunden, allein ich kann es nicht anders an—
ſehen, und ich möchte Ihnen die Worte wiederholen, die Herr
Dahlmann bei anderer Gelegenheit in Beziehung auf ver—
ſchiedene Anträge über das Suspenſivveto gebraucht hat:
alle dieſe Anträge ſind gleichviel werth, ich will Niemand
zu nahe treten, aber ſie ſind alle gar nichts werth. Es
handelt ſich bei allen darum, ob Sie einen Bundesſtaat
186
mit zwei Großmächten machen wollen, von denen die eine
noch eine Stellung außerhalb Deutſchland hat; wenn Sie
zwei Großmächte haben, ſo haben Sie auch 30 kleine Staaten,
das hängt aufs Innigſte zuſammen. Die beiden Groß—
mächte werden entweder mit einander gehen und auf die
kleinen drücken, und ſie werden dieß beſonders dann thun,
wenn es ſich darum handelt, die politiſche Entwickelung zu
retardiren, oder ſie werden nicht zuſammengehen (und das
wird in allen großen politiſchen Fragen ſein), dann werden
ſie ſich gegenſeitig neutraliſiren und gegen einander intri—
guiren und die Folge wird ſein, daß es weder vor unſerem
Volke, noch in den Augen des Auslandes ein großes Deutſch—
land geben wird. Dem können Sie nicht entgehen; mag
Herr Welcker ſagen, was er will, ich kann es nicht anders
nennen, als es ſind alle die großen Gebrechen des alten
Bundestages. Man beruft ſich auf das Parlament, allein
das Parlament kann gegen ſolche unnatürliche Verhältniſſe
nicht aufkommen, es wird entweder ganz ohnmächtig oder
der Heerd und Tummelplaz aller dieſer Intriguen ſein,
das Parlament wird nichts beſchließen können, was ent—
weder Preußen oder Oeſterreich nicht will, und dann —
Herr Welcker hat es zwar eine Kinderei genannt, wenn
man einen Werth darauf legen wolle, daß Oeſterreich neben
ſeiner Stellung im deutſchen Bunde auch noch Geſandte für
Ungarn u. ſ. w. habe, daß es eine einheitliche, geſchloſſene
Armee halte ꝛc., allein, meine Herren, eben in dieſen Kin—
dereien liegt das Weſen der Sache, und wenn in Peters—
burg, London und Paris neben dem deutſchen Geſandten
187
ein Geſandter für Ungarn iſt, jo wird man wohl wiſſen
daß hinter dieſem Geſandten die 600,000 öſterreichiſchen
Bajonette ſtehen. Die Folge würde dann ſein, daß Preußen
ſeine europäiſche Stellung aufgibt, nur eine Stellung in
Deutſchland hat, und hier ſeinen geſezmäßigen Drittelsein—
fluß ausübt, während Oeſterreich innerhalb Deutſchland
ganz dieſelbe Berechtigung mit Preußen, daneben aber
ſeine europäiſche Stellung beibehält. Sie mögen über das
Machtgefühl und Machtverhältniß der beiden Staaten ur—
theilen, wie Sie wollen, in ein ſolches Verhältniß wird
Preußen niemals eintreten, und Niemand, der die Geſchichte
kennt, wird das erwarten und Preußen zumuthen.
Die Gegner unſerer Anſicht ſind in Einem ſehr ſtark,
nämlich darin, uns die Mängel unſeres Planes vorzuführen,
ſie können das und machen auch redlichen Gebrauch davon,
ſie können alles das, was uns das Herz ſchwer gemacht
hat, bis wir zu dieſem Entſchluß kamen, wieder an uns
vorüberführen, ſie können die Wunde jeden Tag wieder
aufreißen, und ich meinerſeits geſtehe Ihnen, daß, ſo oft
Sie mir die Worte zurufen: das ganze Deutſchland ſoll es
ſein, wenn ich auch Alles weiß, was ſich gegen dieſen Vor—
wurf einer Theilung ſagen läßt, es mich doch jedesmal
wieder trifft. Sie können unſere Sache ſchlecht machen,
Eines aber können Sie nicht, Sie ſind nicht im Stande,
ihr etwas Größeres, etwas gleich Großes, ja Sie ſind nicht
im Stande, ihr nur irgend Etwas entgegenzuſtellen, was
dem Auslande und dem Volke gegenüber einen kleinen Grad
von Verſtändlichkeit, von Lebensfähigkeit hat. Unſer Ge—
188
danke iſt offen und klar, jene Mängel liegen zu Tage,
Niemand kann ſie verdecken; aber es iſt ein klarer, ſcharf
durchſchneidender Gedanke der Einheit und der Macht, und
er iſt allem dem Halben und Verworrenen, das Sie ihm
gegenüberſtellen, weit überlegen. Ich gebe nicht zu, daß
man das eine Zerſtückelung, eine Theilung von Deutſchland
nennen darf, was gegenüber den früheren Zuſtänden nur
eine noch unvollkommne, nicht für Alle gleichmäßige, aber
jedenfalls weit größere Einigung von Deutſchland iſt.
Allein ſelbſt wenn Sie Recht hätten, wenn es eine Ver—
ſtümmlung von Deutſchland wäre, ſo ſage ich Ihnen, ich
würde mir lieber einen Arm abhauen laſſen und einarmig
durch die Welt gehen, als zwei geſunds Arme haben, wo—
von der eine auch noch einer zweiten Perſon angewachſen
wäre, die das gleiche Recht hätte, ſich deſſelben zu bedienen,
wie ich. Es iſt dieß keine Theilung, keine Trennung.
Ich ſehe das Verhältniß ſo an, wie es bei den alten Römern
und Griechen war; wenn da ein Theil der Bürger auszog,
um eine Colonie zu gründen und die Macht des Mutter:
landes zu verſtärken, ſo nahmen ſie das Feuer von den
Altären der heimiſchen Tempel mit. Sie blieben auch in
der Ferne in dem gemeinſamen Bande der Liebe und der
Sprache, der Erinnerungen und Stammverwandtſchaft, und
dieſe Colonie, von der hier die Rede iſt, meine Herren, ſie
iſt nicht ferne, es liegt kein Ocean dazwiſchen, ſie iſt nicht
abhängig von uns, ſondern iſt ſtark und mächtig wie wir,
und es ſind alle Bedingungen da, die eine einige, dauernde
Verbindung möglich machen. Man hat viel von Klein—
189
Deutſchland und Groß-Deutſchland geſprochen und geſucht,
das kleine Deutſchland recht klein zu machen. Ich habe
aber nie gehört, daß man dort, woher dieſe Namen über—
haupt kommen, das kleine Griechenland, daß man Athen,
Sparta, Corinth und Argos jemals herabgeſezt hätte gegen
das große Griechenland in Italien. Sie reizen uns mit
Ihrem großen Deutſchland und ſpiegeln uns einen Traum
von einem einheitlichen unermeßlichen Coloß von 70 Mil—
lionen vor, der zu gründen ſei. Ich muß gegenüber von
ſolchen Unmöglichkeiten ſagen, mir iſt dies Klein-Deutſchland,
von dem Sie ſo verächtlich reden, immer noch lieber als
gar keines.
Man ſagt ferner, dieſe Union mit Oeſterreich werde
nicht zu Stande kommen. Wie man denn denken könne,
daß Oeſterreich ſich werde aus Deutſchland herausdrängen
laſſen; ja man führt uns alle Schrecken des Bürgerkriegs
vor, der an einen ſolchen Beſchluß ſich hängen werde. Ich
kann das nicht glauben und unter den vielen Gründen,
aus denen ich denke, daß kein Bürgerkrieg entſtehen wird,
möchte ich nur einen hervorheben. Das öſterreichiſche Mini—
ſterium hat in dem Programm von Kremſier eine offene
und ehrliche ſtaatsmänniſche Anſicht ausgeſprochen, und wer
über den Sinn derſelben irgend noch im Zweifel war, den
hat gewiß die Note über das Conſulatweſen vollends über—
zeugt. Das Miniſterium hat nach der Ankunft des Herrn
v. Schmerling eine andere Anſicht über die Sache gewonnen.
Ich weiß nicht, was Herr v. Schmerling dem öſterreichiſchen
Miniſterium geſagt und gerathen hat, aber wenn es ſich
190
nun herausſtellen jollte, daß der Rath, den Herr Schmer—
ling dem Miniſterium gegeben hat, doch nicht Stich hält
gegen die Anſicht, die das Miniſterium bis zum 27. Decem—
ber gehabt, glauben Sie oder haben Sie jemals gehört,
daß Jemand deßhalb das Schwert gezogen hat, weil man
ihn überzeugt, ſeine frühere Anſicht ſei doch die richtige
und der davon abweichende Rath doch ein irriger geweſen?
So hoch man auch die Anſichten des Herrn v. Schmerling
ſtellen mag, einen Bürgerkrieg und eine Theilung Deutſch—
lands in zwei feindliche Lager werden ſie nicht veranlaſſen.
Man ſchreckt uns ferner mit einem Krieg und ſagt in dem—
ſelben Athemzug, wenn Oeſterreich von Deutſchland ge—
trennt werde, entſtehe ein ſlaviſches Reich, was ſchwer zu
glauben iſt. Glauben Sie aber, daß die Slaven einen
Krieg anfangen würden, um in einen deutſchen Bundesſtaat
aufgenommen zu werden, daß ſie das Schwert ziehen,
damit Wien aufhöre, der Centralpunkt ihrer Politik
zu ſein?
Eben ſo groß ſind aber die Gründe von unſerer Seite,
die das Zuſtandekommen einer ſolchen Union wahrſcheinlich
machen. Preußen hat ſich geſchichtlich im Gegenſaz zu
Oeſterreich entwickelt. Aber das hat gerade dann ein Ende
gefunden, wenn es mit dem übrigen Deutſchland zuſammen—
wächſt und in ihm aufgeht. Deutſchland wird kein Preußen
ſein und wir acht Millionen Süddeutſche ſind gerade eine
Bürgſchaft für Oeſterreich, daß keine antiöſterreichiſche
Politik in dem neuen Deutſchland jemals gelten wird.
Schon in Preußen ſelbſt hat das excluſive Preußen—
191
thum kaum eine Mehrheit; wie ſoll es ſie haben im übrigen
Deutſchland, wo das Gewicht aller kleinen Staaten dazu
kommt, die zuſammen größer ſind, als Preußen ſelbſt?
Wenn man ferner ſagt, Oeſterreich werde dann auf Deutſch—
land keinen Einfluß mehr haben, ſo muß ich Ihnen geſtehen,
ich fürchte eher, daß der Einfluß Oeſterreichs zu groß als
zu klein ſein wird.
Was zum Schluß die Erblichkeit betrifft, ſo möchte ich
dafür nur Einen Grund anführen, der für mich ein ent—
ſcheidender iſt. Wir wollen einen preußiſchen Erbkaiſer
eben darum, weil wir nicht preußiſch werden wollen. Wir
wollen uns ganz hingeben, aber wir verlangen das Gleiche
auch von Preußen. Wir verlangen, daß es ſeinen ſtaat—
lichen Organismus als ein fügſames Glied in die deutſche
Verfaſſung einreihe, daß es uns in Berlin nicht den Doppel—
gänger eines Reichstags hinſtelle, daß es nicht die Stellung
und Gliederung einer Großmacht fortbehalte, daß der Unter—
ſchied unter den deutſchen Staaten kein anderer werde, als
der zwiſchen mittelbaren und unmittelbaren Reichslanden.
Dieſe Forderung können wir aber nur dann ſtellen, wenn
die Verbindung keine zeitliche, ſondern eine unauflösliche
iſt. Wir können nicht erwarten, daß Preußen, wenn es
nach ſechs Jahren wieder abzutreten hat, ſeine geſammte
Staatsverfaſſung ſo lange ſuspendire. Es muß bleiben,
was es iſt, und wir kommen aus dem Gegenſaz von großen
und kleinen Staaten nie heraus; denn, wenn Preußen ſeine
ſelbſtändige Stellung behält, ſo werden es die Anderen
auch thun. Ein vollkommenes Zuſammenwachſen iſt nur
192
unter dieſer einen Bedingung möglich, von der ich ge:
ſprochen habe.
Man ſagt ferner, man könne für keine Erblichkeit
ſtimmen, ſo lange das Verhältniß zu Oeſterreich im Un—
klaren ſei. Meine Herren, das iſt ein fehlerhafter Zirkel
in der Logik; ich ſage Ihnen, das Verhältniß Oeſterreichs
wird auf die Minute hin ſo lange im Unklaren bleiben,
als Sie darüber im Unklaren ſind, und es wird klar werden
in dem Augenblick, wo Sie ein klares Wort geſprochen
haben werden. Man iſt in Olmütz und Wien nicht im
Unklaren. Man wird dort die Verfaſſung machen, wie
man ſie in Oeſterreich bedarf, wie ſie für den Zuſammen—
halt des großen Ländercomplexes unentbehrlich iſt. Unſer
Miniſterium ſoll unterhandeln und hat die Grundlagen der
Verfaſſung nicht, auf die hin es unterhandeln ſoll. Frei—
lich, wenn Sie gar keinen Bundesſtaat machen, dann kann
Oeſterreich wohl eintreten, dann wird Alles anders: aber
Sie müſſen von Ihrer Seite das entſcheidende Wort ſprechen,
und die ſchwierige Frage löſen und das Weitere wird folgen.
Ich gebe zu, die Erblichkeit iſt ein großer und kühner Ge—
danke, es iſt ein kühner Griff wie keiner; es wird etwas
hingeſtellt, was den Ausgangs- und Zielpunkt der künftigen
Geſchichte Deutſchlands bezeichnen wird. Allein alles An—
dere, was Sie dieſer Erblichkeit gegenüberſtellen, ſind lauter
Proviſoria, bei allem Anderen, was Sie machen, ſchieben
Sie die Entſcheidung der Zukunft zu. Das deutſche Volk
hat uns aber berufen, daß wir eine Verfaſſung und nicht daß
die Exreigniſſe ſie machen. Es wird zwar geſchehen, was wir
193
wollen, wenn Sie es auch nicht beſchließen, ich möchte aber
um unſeres Namens in der Weltgeſchichte willen, daß wir
die Sache machten. Sie ſchieben die Sache der Zukunft
zu; unſer Wahlſpruch iſt umgekehrt. Nicht die Zukunft
ſoll die Verfaſſung Deutſchlands, ſondern unſere Verfaſſung
ſoll die Zukunft machen.
Rümeliu, Reden u. Aufſätze. 13
Rede zur Feier des Geburtstags des deut—
ſchen Kaiſers.
Tübingen 22. März 1874.
Es ſind heute drei Jahre, daß der 22. März zum
erſtenmal über die ſchwarz-weißen Grenzpfähle hinaus eine
Bedeutung gewonnen hat, damals ſogar in noch weiterem
Umkreis als heute. Denn von den Pariſer Forts, von
einer Menge eroberter Feſtungen und beſezter Städte don—
nerten die deutſchen Kanonen den Franzoſen das Geburts—
feſt eines neuen Kaiſers als das Wahrzeichen eines neuen
Zeitalters in die Ohren. Von denjenigen, welche zuvor
lieber eine andere Löſung der deutſchen Dinge gewünſcht
hatten, kamen die einen, überwältigt von dem Eindruck
unerhörter Siege und des glorreichſten Friedens, ſelbſt
herüber zu uns auf den neuen Boden, die anderen ent—
hielten ſich wenigſtens der auffallenderen Kundgebungen
ihres abweichenden Standpunkts. Allein dieſe Flitterwochen
der neuen Aera gingen bald vorüber. Weder die Einzelnen
noch ganze Völker halten ſich ſo lange auf der Höhe einer
begeiſterten Empfindung. An die Stelle der Feſttagsfreude
trat wieder die gedämpftere Stimmung der werktägigen
195
Arbeit. Man gewöhnte ſich bald, Kaiſer und Reich, wie
andere Dinge, als das Gegebene und Selbſtverſtändliche
anzuſehen, für welches man keine beſondere Urſache hat,
ſich zu erwärmen, zumal da die Einführung der neuen
Ordnung der Dinge nicht ohne einzelne Reibungen und
Opfer hatte vor ſich gehen können. Indeſſen rüſteten in
der Stille die alten, nur für den Augenblick verſtummten
Gegner zu neuem Kampf.
Was iſt es nun, das an dem diesmaligen Jahrestag
uns zahlreicher als je und ich glaube auch, in erregterer
Stimmung und gehobenerem Muthe hier zuſammengeführt
hat? Im ruhigen und ungeſtörten Beſiz pflegt der Menſch
den wahren Werth ſeiner Güter nicht zu ſchäzen; erſt wenn
eine Gefahr an ſie herantritt, wenn etwa eine Krankheit
die uns theuren Perſonen niederwirft, fühlen wir alsbald
an dem ſtärkeren Klopfen unſeres Herzens, wie viel für
uns auf dem Spiel ſteht. So iſt es uns nun bei den
lezten Wahlen mit Kaiſer und Reich gegangen; wir waren
betroffen von den unerwarteten Gefahren, die es bedrohten.
Und es iſt in der That eine ſehr ſchwere und ernſte That—
ſache, über deren Tragweite ſich Niemand einer Täuſchung
hingeben darf, daß das deutſche Volk bei ſeinem zweiten
Wahlgang ein volles Drittheil von gefährlichen und ge—
ſchworenen Feinden der neuen Ordnung in den Reichstag
geſchickt hat.
Es iſt jezt nicht mehr an der Zeit, die Hände in den
Schooß zu legen; wir müſſen brechen mit der deutſchen
Art oder Unart, daß der Bürger meint, er dürfe nur von
13 *
196
Zeit zu Zeit, nach Laune, nach geringfügigen Geſichts—
punkten, ja aus den unverantwortlichſten Motiven einen
Wahlzettel in eine Urne werfen oder auch nicht werfen,
um dann als kritiſirender, raiſonnirender oder gleichgiltiger
Zuſchauer den weiteren Verlauf der Dinge abzuwarten und
die Verantwortung Andern zu überlaſſen.
Es kann jezt und für die nächſte Zukunft nur noch
zwei Lager in Deutſchland geben, ſolche, welche das Reich
bekämpfen und untergraben, und ſolche, welche es beſchüzen
und befeſtigen wollen. Und es muß der Spruch gelten:
wer nicht für mich iſt, der iſt wider mich.
Wenn unſere Gegner, deren Standpunkte doch himmel—
weit aus einander liegen, dennoch in geſchloſſenen Reihen
kämpfen, warum ſollten wir es nicht können, die wir Alle
den Kaiſer ehren wollen, aber es doch nicht unterlaſſen, ſo
oft nur um den Bart des Kaiſers mit einander zu ſtreiten?
Sehen wir uns dieſe Gegner doch näher an, wer ſie
ſind und was uns in Ausſicht ſtünde, wenn ſie, ich will
nicht einmal ſagen, ſiegen, ſondern nur noch feſteren Fuß
und größeren Zuwachs gewinnen ſollten. An der Spize
der Einen zieht nur eine lange Reihe ſchwarzer Röcke, die
Anderen aber folgen unheimlichen Geſtalten mit der Jako—
binermüze und rothen Fahnen. Ich weiß in der That keine
gröbere und keckere Unwahrheit, als die Behauptung, die
wir täglich hören und von hohen und höchſten kirchlichen
Würdenträgern in Erlaſſen und Hirtenbriefen in den ſtärkſten
Ausdrücken wiederholt finden, daß in deutſchen Landen die
katholiſche Religion verfolgt und unterdrückt werde, daß
197
das neue Reich gleich nach ſeinem Entſtehen nichts Beſſeres
zu thun gewußt habe, als einen Hader mit der katholiſchen
Kirche vom Zaun zu brechen. In keinem europäiſchen Lande
hatte dieſe eine ſo maßloſe Freiheit genoſſen, wie in Preußen,
und ſo verfehlt und ſchädlich auch dieſe Zugeſtändniſſe waren,
ſo würde man doch nicht ohne die zwingendſten Gründe zu
einem anderen Syſtem übergegangen ſein, da man ja einer
konfeſſionellen Minderheit ohne Gefahr etwas mehr ein—
räumen kann als der Mehrheit. In den übrigen deutſchen
Ländern, und zwar in den vorherrſchend proteſtantiſchen
noch mehr als in den katholiſchen ſelbſt, hat man der ka—
tholiſchen Kirche nicht nur die volle Achtung ihrer ver—
faſſungsmäßigen Rechte, ſondern die entgegenkommendſte
Rückſicht und Liberalität erwieſen. Auch muß man zur
Steuer der Wahrheit anerkennen, daß es nicht die deutſchen
Biſchöfe geweſen ſind, welche von ſich aus den Frieden ge—
brochen hätten. Drüben über den Bergen jene Geſellſchaft
mit dem unbefugteſten Namen, welche die Geſchichte als die
ſchlimmſte Feindin aller menſchlichen Bildung und Geſit—
tung brandmarken muß, ſie war es, die unter dem Schuz
der individuellen Freiheiten des modernen Staates und mit
Hilfe des allgemeinen Wahlrechts, das leider bis jezt der
Finſterniß und dem Unverſtand mehr Früchte getragen hat,
als dem Licht und der Vernunft, die Zeit wiedergekommen
glaubte, um die alten Plane und Ziele unter neuen Formen
wieder aufzunehmen. Syllabus und Eneyklika, wiewohl
ſie den Genius des Jahrhunderts keck genug ins Geſicht
ſchlugen, waren nur die Vorläufer, aber wir in unſern
198
Tagen ſollten das Unglaubliche erleben, deſſen Vorherſagung
ein Jahrzehnt vorher noch als der Einfall eines Thoren
erſchienen wäre: die päpſtliche Unfehlbarkeit. Mag auch
das noch zur Glaubensfreiheit gerechnet werden müſſen,
daß eine ſo ungeheuere, alles frühere Recht umſtoßende
Neuerung den Katholiken verkündigt, ein ſolches Joch ihnen
auferlegt werden durfte, ſo gehört es dann doch auch ebenſo
zu den unveräußerlichen Rechten jedes freien und denken—
den Menſchen, es auszuſprechen, wie ihm und wie allen
anderen Chriſtenmenſchen dieſe That erſcheinen muß, als
die unerhörteſte Anmaßung, als ein Frevel gegen alle ge—
ſunde Vernunft, gegen alles religiöſe Gefühl, deſſen erſte
Regung die Demuth und Erkenntniß menſchlicher Schwach—
heit iſt, gegen alles Gewiſſen, deſſen erſte Forderung die
innere Wahrhaftigkeit iſt, die es verbietet, ſich ſelbſt oder
irgend einen ſeiner Nebenmenſchen in menſchlichen oder
göttlichen Dingen für unfehlbar zu halten. Seitdem die
römiſchen Imperatoren des Alterthums ſich haben Altäre
errichten und Opfer darbringen laſſen, hatte ſich in der
gebildeten Welt nie wieder ein lebender Menſch vermeſſen,
ſich ein Attribut der Gottheit beizulegen. Eine Kirchenge—
ſellſchaft, die ſich mit dem Anſpruch auf die übermenſchliche
Autorität ihres unumſchränkt gebietenden Oberhauptes auf
dem Staatsgebiet niederläßt und nach ihrem Gefallen die
Grenzen ihrer Zuſtändigkeit abmeſſen will, iſt ja ſchlechthin
unvereinbar mit jeder Art von Staatsbegriff und unver—
hüllte Prieſterherrſchaft, die ſchlechteſte und für ein freies
und edles Volk unerträglichſte aller Staatsformen.
199
Mögen ſich das die romanischen Völker, Franzoſen,
Italiener, Spanier bieten laſſen! Dort, wo die Maſſe der
Gebildeten auf dem Standpunkt ſteht, daß Religion nur
für die Weiber und die unteren Volksklaſſen gut und nöthig
ſei, mag man ſich freilich darüber wundern, daß man bei
uns ſo viel Weſens daraus mache, wenn zu hundert ver—
alteten und unannehmbaren Glaubensſäzen noch ein hun—
dert und erſter hinzutrete, der noch etwas weniger ver—
nünftig wäre. Der Geiſt der germaniſchen Völker aber,
welchem zu allen Zeiten die Religion eine ernſte und heilige
Angelegenheit geweſen iſt, weiſt ſolche Zumuthungen mit
Entrüſtung zurück, und alle Zweige derſelben drängen in
dieſer Sache nach Einem Ziele hin. Zollen wir unſeren
Dank und unſere Anerkennung den braven Brüdern in der
Schweiz, die in dieſem Kampfe als die Tapferſten und
Vorderſten fechten und uns zeigen, wie die Sache praktiſch
anzufaſſen wäre. Unſere Stammgenoſſen in Oeſtreich haben
muthig begonnen, die allzulang getragenen Feſſeln abzu—
ſtreifen. Das freie England begleitet unſere Kämpfe mit
den wärmſten Sympathieen. Der Sieg in dieſer Sache
kann nicht zweifelhaft ſein; der Staat wird und muß ſeine
unverlierbaren Hoheitsrechte behaupten und dann, wenn
der Sieg erſtritten iſt, wird es auch an einem billigen
Friedensſchluß und an einer Verſtändigung nicht fehlen,
wie man ſie einer Minderheit irregeleiteter Brüder und
Mitbürger nicht verſagen wird.
Man könnte vielleicht darüber ſtreiten, und es wäre
ſchwer, ſich zu entſcheiden, was mehr zu fürchten wäre, ein
200
Sieg der Ultramontanen oder der Socialdemokraten, ob
etwa die Inquiſition, die ja auch von Einem der Unfehl—
baren eingeführt und niemals wieder außer Geltung geſezt
worden iſt, ſchlimmer wäre als eine neue Auflage der
Pariſer Kommune. Im einen Fall wird ein finſteres Ge—
ſpenſt des Mittelalters, im andern ein problematiſcher Ge—
danke der Zukunft in häßlichſter Entſtellung heraufbe—
ſchworen.
Es ſei fern von mir, hier von Socialismus und
Arbeiterfrage reden zu wollen; ich kann nur kurz meine
und Vieler Ueberzeugung ausſprechen, daß für die Gegen—
wart und nächſte Zukunft keine ſchwerere und ernſtere Pflicht
und Aufgabe beſteht, als die: eine zahlreiche und achtungs—
werthe Klaſſe, welcher bis jezt die Bürgſchaften einer feſt—
begründeten und geſicherten bürgerlichen Exiſtenz mehr als
den andern Ständen fehlen, zu einem friedlichen, geordneten,
nach ihrer Bedeutung in das Ganze eingefügten Glied der
Geſellſchaft zu erheben, und daß wir, um dies zu erreichen,
werden lernen müſſen, Manches, was uns bisher als un—
umſtößliche Wahrheit galt, zu den Vorurtheilen zu werfen
und Opfer zu bringen, die uns heute noch als unannehm—
bar erſcheinen. Aber ein Anderes iſt der Kern und Unter—
grund von Wahrheit und Berechtigung, den dieſe Forde—
rungen in ſich bergen mögen, ein Anderes die Art und
Form, in der ſie uns jezt gegenübertreten. Wenn eine
Enteignung der Beſizenden der Zweck, Gewalt, Umſturz,
Petroleum die Mittel ſein ſollen, wenn katilinariſche Exi—
ſtenzen, verkommene Literaten, Leute, die es bequemer finden,
201
auf Vereinskoſten als von der eigenen Arbeit zu leben,
von Stadt zu Stadt umherziehen, um in braven und fried—
lichen Männern durch Lügen und Vorſpiegelungen die ge—
fährlichſte aller Leidenſchaften, den Klaſſenhaß, anzuſchüren,
wenn in der Parteipreſſe täglich die Greuel der Pariſer
Kommune gerechtfertigt, ja als Heldenthaten geprieſen und
gefeiert werden, wenn Religion als Unſinn, Eigenthum als
Diebſtahl erklärt wird, wenn weitverzweigte Vereine in
internationale Verbände treten und von auswärtigen Obern
Befehle empfangen, dann bleibt in der That nichts übrig,
als die Staatsanwälte und Polizeibehörden anzurufen, und
wenn ſich die beſtehenden Geſeze als unzureichend erweiſen,
ſie ſo zu ergänzen, daß einer ſo ſchweren Gefährdung der
öffentlichen Wohlfahrt Schranken geſezt werden können; und
zwar müßte man dies thun, bevor es zu ſpät geworden iſt.
Inzwiſchen mag es immerhin von einigem Werth ſein,
wenn etliche der Agitatoren, ſtatt ſich in dem Zuruf und
Beifall unkundiger Geſinnungsgenoſſen zu ſteigern und zu
berauſchen, im Reichstag Gelegenheit finden, auf die Sprache
von Recht und Vernunft zu hören und die Bedeutung der
realen Mächte des Lebens und des Staats abzuwägen, die
ſie über den Haufen werfen zu können meinen.
Ich komme zu einer andern Klaſſe von Feinden des
Reichs, die zwar auch eine rothe, aber nicht die blutrothe
Fahne ſchwingen, die nicht alle Bildung und ſittliche Ord—
nung, ſondern nur die beſtehende Staatsform bekämpfen.
Wenn es nach ihrem Kopf gegangen wäre, ſo hätte Deutſch—
land in einen Haufen föderirter Winkelrepubliken theils
202
zerſchlagen, theils zuſammengefaßt werden müſſen, etwa
wie die Kantone Murcia und Granada nach dem Recept
der Herren Figueras und Pi y Margall; und da ihnen
die Weltgeſchichte dieſen Gefallen nicht gethan hat und auch
gar wenig Neigung an den Tag legt, dies bald nachzu—
holen, ſo ſind ſie zwar ſo gnädig, dem Reich die formelle
Anerkennung ſeines Beſtehens nicht länger zu verſagen; ſie
ſuchen es aber in jeder Weiſe herabzuſezen und ſchlecht zu
machen, indem ſie die hohle Phraſe von Cäſarismus und
Militarismus zu Tode hezen und unſeres Volkes beſte
Männer von Tag zu Tag mit Koth bewerfen. Nach ihrer
Meinung hätten die deutſchen Heere nach dem Siege von
Sedan aus heiligem Reſpekt vor dem Namen Republik Halt
machen und Frieden ſchließen müſſen, ohne die dem Reich
früher entriſſenen deutſchen Länder wieder in Anſpruch zu
nehmen und eine wirkſame Deckung der militäriſchen Weſt—
grenze zu erreichen; ja heute noch, wurde uns erſt kürzlich
geſagt, müßten wir die Elſäßer und Deutſch-Lothringer
darüber abſtimmen laſſen, ob es ihnen denn wirklich auch
gefällig iſt, zu uns zu gehören, und wenn ſie dies verneinen
ſollten, die Länder mit den Feſtungen wieder an Frank—
reich zurückgeben.
Das Beſte iſt, daß dieſe Art von Demokraten nur ein
kleines Häuflein bildet, wiewohl ſie gerade für unſer Land
eine nicht zu unterſchäzende Bedeutung hat. Denn wie
man früher ſchon nicht ganz mit Unrecht den Schwaben
einen potenzirten Deutſchen im Guten wie im Schlimmen
genannt hat, ſo können wir in der That eine gewiſſe Nei—
FREE IE
205
gung, eigenfinnig auch an dem unmöglich Gewordenen oder
dem ſtets Unmöglichen feſtzuhalten und daran das Hoch—
gefühl von angeblicher Konſequenz und Charakterſtärke zu
knüpfen, ſowie eine leichte Anlage zur Querköpfigkeit nicht
ganz in Abrede ſtellen.
Vor noch nicht langer Zeit hätte ich auch noch von
einer vierten Klaſſe von Gegnern des Reiches ſprechen
müſſen, ich halte es aber neben ſo vielem Unerfreulichen
für eine der erfreulichſten neueren Thatſachen, daß wenig—
ſtens in unſerem Lande die Partikulariſten und die Natio—
nalen in einen heilſamen Prozeß gegenſeitiger Verſchmelzung
eingetreten ſind. Vor einigen Jahren noch ſchien es Vielen,
wie wenn die Einzelſtaaten in ihrem Verhältniß zum Reich
jenen Schiffen in der Fabel glichen, die in die Nähe des
Magnetberges geriethen, der ihnen die eiſernen Nägel und
Klammern aus den Rippen zog, daß ſie auseinanderfallen
mußten. Dieſe Meinung, die freilich von Anfang an eine
verfehlte war, wird heute nur noch wenig einſichtige Ver—
treter finden. Die Auseinanderſezung zwiſchen dem Bund
und ſeinen Gliedern iſt in der Hauptſache abgeſchloſſen und
es kann ſich nur noch um kleine Grenzberichtigungen handeln,
wie ſie zwiſchen anſtoßenden Gebieten niemals ganz aufhören.
Es hat ſich gezeigt, daß die meiſten Einzelſtaaten vollkommen
lebensfähig geblieben ſind und bleiben werden. Weitaus
die meiſten und die den Einzelnen am nächſten und un—
mittelbarſten berührenden öffentlichen Funktionen ſind auf
ihrer Seite geblieben und an der Regelung der den Bundes—
organen vorbehaltenen Angelegenheiten nehmen das Volk
und die Regierung in einer Art und in einem Umfang
Antheil, die jedem billigen Anſpruch genügen müßten.
Unſere Regierung hat die Bahn einer loyalen und reichs—
treuen Politik betreten. Sollte es vielleicht auch hie und
da an kleinen Reibungen nicht fehlen, ſo ſind ſie doch un—
erheblich und bergen keine Gefahr. Unſere inneren Zu—
ſtände ſind, wenn man nicht einen idealen, ſondern den
praktiſchen Maßſtab eines etwas geſchichts- und weltkun—
digen Beurtheilers anlegt, im Großen und Ganzen befrie—
digende und wohlgeordnete zu nennen; wir haben in frei—
ſinnigen Inſtitutionen, in ſorgfältiger, ehrlicher und humaner
Rechts- und Wohlfahrtspflege den Vergleich mit andern
Ländern nicht zu ſcheuen; um Einzelnes können uns die—
ſelben beneiden und thun es auch. Nach meiner Erfahrung
und Ueberzeugung kann man mit ungetheiltem Herzen ein
guter Württemberger und ein guter Deutſcher ſein; man
kann ohne Gewiſſensnöthen nach dem Spruche leben: Gebet
dem Kaiſer was des Kaiſers iſt und dem König was des
Königs iſt.
Aber das kann doch kein Einſichtiger ſich verhehlen,
daß wir dies Gefühl befriedigender und befeſtigter Zuſtände
nicht uns allein, daß wir es weſentlich mit dem Reichs—
verbande danken, auf welchem dieſelben wie auf ihrem
Fundament, ihrer Grundmauer ruhen. Wären wir noch
wie früher der europäiſche Kleinſtaat, der nicht wüßte, ob
er im nächſten Krieg zu Oeſtreich, Preußen oder Frankreich
zu halten gezwungen oder veranlaßt ſein wird, der das
franzöſiſche Ausfallthor am Rhein ſich im Nacken wüßte,
205
wie prekär und ſchwankend wären nicht nur die politiſchen,
ſondern auch die wirthſchaftlichen Verhältniſſe! Man konnte
jenen Zuſtand etwa einem gefälligen, bequemen, auch nicht
allzu koſtſpieligen Anzug vergleichen, der nur einen einzigen
Fehler hätte, daß er nicht naß werden, daß es nicht regnen
und nicht ſchneien durfte.
Und wie mit der äußeren, ſo verhält es ſich auch mit
der inneren Sicherheit. Wir ſtehen in einem großen Kultur—
kampf der Staatsgewalt mit der Hierarchie, der modernen
Geſellſchaft gegen auflöſende und zerſtörende Elemente.
Wiewohl weder die eine noch die andere Gefahr gerade
unſer Land ſo nah und unmittelbar bedroht, wie manche
andere Länder, ſo iſt doch kein Zweifel, daß, wenn jene
feindlichen Gewalten ihre Erfolge anderwärts errungen
hätten, ſie nicht an unſern Grenzpfählen Halt machen, daß
ſie auch uns Verwirrung und Zerſezung bringen würden.
Denn das liegt ja zu Tage; gegen das Reich kehren
jene Mächte für jezt nur deswegen vorzugsweiſe ihre Spize,
weil dort die größten Widerſtandskräfte liegen, weil dahin
die erſten Stöße zu richten ſind und ohne einigen Erfolg
an dieſem Punkte anderwärts nichts zu hoffen iſt. Aber
ihrer innerſten Natur nach ſind ſie ja um nichts feindlicher
gegen das Reich, als gegen den Staat überhaupt, gegen
alle ſittliche und geſellſchaftliche Ordnung, gegen alle Bil—
dung und wahre Freiheit.
Und dies iſt der eigentliche Zweck und das Ziel von
Allem, was ich bisher geſagt habe. Ich wollte in Ihnen
die Ueberzeugung erwecken, oder zur vollſten Lebendigkeit
206
und Klarheit ſteigern, daß Kaiſer und Reich nicht blos ein
dem Einzelnen fern liegendes Inſtitut ſind, das etwa zum
Schuz nach Außen, für den Verkehr, für Münze, Maß
und Gewicht und ähnliche Dinge dient, ſondern der Grund—
pfeiler und Eckſtein für die Vertheidigung und Befeſtigung
aller nationalen und höheren Güter, für das ganze wirth—
ſchaftliche Leben, für Bildung und Freiheit, für die ächte
Religion wie für die freie Wiſſenſchaft, für Alles, was
dem menſchlichen Leben Schmuck und Werth zu leihen ver—
mag. Fiele oder ſänke das Reich, ſo ſtünden wir vor dem
Abgrund, vor einem neuen Chaos der Verwirrung und
Auflöſung.
Und nun geſtatten Sie mir noch einige direkt auf den
Gegenſtand der heutigen Feier bezügliche Worte beizufügen.
Wenn es zu den ſchlagendſten Zeugniſſen für die Treff—
lichkeit der konſtitutionell monarchiſchen Staatsform gehört,
daß ſie auch den mittelmäßigen, ja den ſchwachen und un—
bedeutenden Herrſcher zu ertragen vermag, ſo giebt es doch
keine erfreulichere und glänzendere Erſcheinung, als wenn
die Perſönlichkeit und die Hoheit des Amts in Einer Linie
ſtehen, wenn, wie bei Kaiſer Wilhelm, die Eigenſchaften
des Fürſten ſich decken mit den Bedürfniſſen des Zeitalters
und ſeiner Nation. Ohne eigenwilliges Eingreifen und doch
mit ſelbſtändigem Urtheil und Entſchluß hat er im Krieg
und Frieden zu rechter Zeit das Rechte gefunden. Wo
hat er in großen Dingen etwas gethan, was er hätte unter—
laſſen ſollen, wo etwas unterlaſſen, das er hätte thun
müſſen? Wie hat er gerade in dem abgelaufenen Jahr
in den Briefen an den Papſt und den Grafen Ruſſell, in
einfacher und edler Form, kein Wort zu viel und keins zu
wenig, den vollſten Gehalt der Sache zum erſchöpfenden
Ausdruck gebracht! Wahrlich, nie hat eine glänzendere
Krone ein würdigeres Haupt geſchmückt.
Der Kaiſer tritt heute in ſein 78. Lebensjahr und die
Bürde dieſer Jahre hat ſich zulezt nicht mehr in dem Grade,
wie früher, verläugnet. Wer wünſcht nicht, daß dies theure
Leben dem Reich noch lange erhalten bleibe, daß der hohe
Fürſt ſich der großartigen Früchte ſeines Wirkens noch
lange erfreuen möge? M. H.! Der Hort und Schirmherr
aller unſerer nationalen Güter, der glorreiche Führer des
deutſchen Volkes in ſeinen äußeren und inneren Kämpfen,
der deutſche Kaiſer Wilhelm lebe hoch!
Zur Cheorie der Statiſtik.
I. 1863.
Nachdem R. Mohl die zahlreichen und weit ausein—
ander laufenden Definitionen der Statiſtik als eine „pſy—
chologiſche Merkwürdigkeit“ und „wunderliche Literatur“
bezeichnet hat, da doch die Frage an ſich einfach und ſchon
von den Gründern jener Wiſſenſchaft gelöst worden ſei,
iſt es eine mißliche Sache geworden, ſich an jenem Problem
von Neuem zu verſuchen. Wenn dies nun dennoch hier
und dort immer wieder geſchieht, wenn alſo ſelbſt die Ge⸗
fahr der Lächerlichkeit nicht als hinreichendes Abſchreckungs—
mittel wirkt, ſo muß doch wohl irgend ein verborgener
Stachel und Reiz in der Sache liegen und man möchte an
die Freier in Gozzi's Mährchen denken, die uneingeſchüchtert
durch die blutigen Köpfe unglücklicher Vorgänger ſich ſtets
von Neuem wieder zu Turandot's Räthſel herandrängten.
Der Verfaſſer nun iſt wenigſtens nicht aus Fürwiz, nicht,
um etwas Neues vorzubringen, auf dieſe Frage geführt
worden; die Veranlaſſung lag für ihn in praktiſchen Berufs—
arbeiten von ſtatiſtiſcher Art, die mit Nothwendigkeit auf
principielle Unterſuchungen hinwieſen und ohne Klarheit
über die Grenzen und Aufgabe des Fachs als unlösbar
209
erſchienen. Als er nun in der Literatur dieſer Disciplin
Aufſchlüſſe ſuchte und jenes Labyrinth von Meinungen
durchirrt hatte, mußte ſich ihm die Ueberzeugung aufdrän—
gen, daß auch die beſten und anerkannteſten Begriffsbe—
ſtimmungen immer noch Etwas als Statiſtik bezeichnen,
was mit der Praxis des Fachmannes nicht recht harmo—
niren will, was dieſem die Grenzen ſeiner Kunſt in viel
zu vage und nebelhafte Regionen rückt. So lange die
Statiſtik im Weſentlichen doch noch als die Wiſſenſchaft
von den menſchlichen Zuſtänden bezeichnet wird, die zwar
vorzugsweiſe die ſtaatlichen und geſellſchaftlichen Verhält—
niſſe ins Auge zu faſſen, aber doch auch noch manches
Andere zu berückſichtigen habe, die zwar vorzugsweiſe be—
ſchreibender und darſtellender Natur ſei, aber doch nach
Umſtänden auch Urſachen und Geſeze zu erforſchen habe,
die zwar vorzugsweiſe mit der Gegenwart beſchäftigt, aber
doch auch an der Behandlung früherer Zeitperioden nicht
behindert ſei, die zwar gerne und vorzugsweiſe ihre Er—
gebniſſe in Zahlen ausdrücke, aber doch auch anderer Dar—
ſtellungsmittel ſich zu bedienen habe, ſo lange alſo die
ziemlich unwiſſenſchaftliche Formel: vorzugsweiſe dieſes,
aber doch auch Anderes, noch eine ſo bedeutende Rolle in
den Definitionen ſpielt, darf man die Akten in der That
noch nicht für geſchloſſen erklären. Der Verfaſſer wurde
nun durch ein von mannigfaltiger ſtatiſtiſcher Praxis be—
gleitetes und unterbrochenes Nachdenken zu einer Auffaſſung
geführt, die ihm über manche Zweifel und Bedenken hin—
weghalf und von der er ſich, wie es zu gehen pflegt, ſchließ—
Rümelin, Reden u. Aufſätze. h 14
210
lich glauben machte, daß ſie auch andern, namentlich den
Fachmännern, wenigſtens als ein Verſuch, auf einige neue
Seiten der Sache aufmerkſam zu machen, von Intereſſe
ſein könnte. Er erlaubt ſich daher, dieſelbe in kürzeſter
Weiſe hier darzulegen und glaubt von jeder weiteren Ein—
leitung, namentlich von einer vorausgehenden Ueberſicht
und Kritik anderer Anſichten um ſo mehr Umgang nehmen
zu dürfen, als hierüber Mohl bereits in ſeiner gediegenen
Weiſe Bericht erſtattet hat und auch Andere, wie z. B.
Jonak, klare und gründliche Aufſchlüſſe geben.
Auf die Gefahr hin, jenes Prädikat der Wunderlich—
keit gleich vornherein zu provociren, müſſen wir den Leſer
bitten, den Ausgangspunkt in einem beliebigen Compendium
der Logik, nicht der ſpeculativen, ſondern der vulgären zu
nehmen, und zwar in dem nach der üblichen Eintheilung
zweiten Abſchnitt derſelben, der Methodologie oder Lehre
von der allgemeinen wiſſenſchaftlichen Technik. Wir denken
uns, daß daſelbſt Deduction und Induction oder der Schluß
vom Allgemeinen aufs Einzelne und vom Einzelnen aufs
Allgemeine, als die beiden Grundformen aller wiſſenſchaft—
lichen Gedankenentwicklung vorangeſtellt ſind, daß ſodann
in dem Kapitel der Induction näher von den Bedingungen
einer richtigen Induction die Rede war und unter dieſen
wieder die richtige Beobachtung der einzelnen Erſcheinungen,
aus welchen Inductionsſchlüſſe abgeleitet werden wollen,
genauer erörtert wird. Hier unterſcheidet man nun die
natürliche Beobachtung und die methodiſche. In der natür—
lichen betrachtet der Menſch mit ſeinen natürlichen Wahr—
211
nehmungsorganen das Object in eben dem Zuſtand, in
welchem die Wirklichkeit es ihm darbietet. Dieſe Beobach—
tungsweiſe hat aber einen doppelten Mangel, einmal an
der Unzulänglichkeit und Unzuverläßigkeit der menſchlichen
Wahrnehmung ſelbſt, ſodann an der großen Complieirtheit
aller realen Erſcheinung. Beide Mängel ſucht die metho—
diſche Beobachtung zu beſeitigen oder zu vermindern, den
erſten, indem ſie durch wiſſenſchaftliche Werkzeuge die menſch—
lichen Wahrnehmungsorgane ergänzt und verſchärft, wie
durch den ganzen Apparat von Maaßen, Waagen, optiſchen,
akuſtiſchen, meteorologiſchen 2c. Inſtrumenten, den zweiten,
indem ſie das Object ſelbſt für die Beobachtung präparirt
durch den wiſſenſchaftlichen Verſuch oder das Experiment.
Dieſes hat wieder zwei Grundformen; die eine beſteht darin,
daß das Object der Beobachtung durch möglichſte Beſeiti—
gung aller ſtörenden oder unweſentlichen Coefficienten auf
ſeine einfachſte Geſtalt, auf ein Urphänomen zurückgeführt
wird; das andere, daß das Object in ſeinem Verhalten zu
abſichtlich hinzugefügten Coefficienten betrachtet wird. Auf
die leztere Form ſind die Wiſſenſchaften, welche organiſche
Weſen zum Gegenſtand haben, weil hier ſchon das Urphä—
nomen ſelbſt immer noch eine ſehr complicirte Erſcheinung
bleibt, vorzugsweiſe angewieſen.
Die gewöhnlichen Compendien der Logik, wenigſtens
diejenigen, die dem Verfaſſer zur Hand waren, behandeln
die Lehre von den Mitteln der wiſſenſchaftlichen Beobach—
tung ziemlich kurz und würdigen nur etwa das Experiment
eines näheren Eingehens. Der Gegenſtand erſcheint uns
14*
aber für die Eintheilung, ſowie für die Einſicht in den
ganzen Charakter der verſchiedenen Wiſſenſchaften, mit denen
unſer Gegenſtand ſich berührt, wichtig genug, um eine
weitere Fortführung dieſer Betrachtung zu rechtfertigen.
Der Kosmos, die Welt zerfällt für unſere Betrachtung
in die zwei großen Hälften, das Reich der Natur und die
0
—
Menſchenwelt. Natur nennen wir Alles, was ſich uns als
ein ohne Zuthun des menſchlichen Willens Wirkendes dar—
ſtellt. Sowohl die Wiſſenſchaften von der Natur als die
vom Menſchen ſind Erfahrungswiſſenſchaften, d. h. ſie be—
ruhen in lezter Inſtanz auf Induction und Beobachtung,
mag nun im Uebrigen der Antheil des deductiven Ver—
fahrens größer oder kleiner ſein. Allein die beiden Haupt—
gattungen von Wiſſenſchaften ſind ſehr verſchieden von
einander in Beziehung auf die Mittel der wiſſenſchaftlichen
Beobachtung.
Wenn in den Naturwiſſenſchaften durch die obigen
Mittel der natürlichen und methodiſchen Beobachtung ſo
Großes geleiſtet wird, wenn ſie ſich mit Stolz neben der
Mathematik als die einzigen exacten, d. h. die Anerkennung
ihrer Lehrſäze erzwingenden Wiſſenſchaften nennen, ſo be—
ruht dies nur auf der Einen großen Regel, daß in der
Natur das Einzelne typiſch iſt, daß ſchon eine einzige genau
conſtatirte und correct beobachtete Thatſache zu einem In—
ductionsſchluß berechtigt und die Wiederholung der Beob—
achtung in der Regel nur zur Controle des menſchlichen
Verfahrens erforderlich iſt. Wenn der Phyſiker in Einem
unzweifelhaften Falle bemerkt hat, daß ein gewiſſer Körper
zu den electriſchen Leitern gehört, jo weiß er, daß dieſer
und alle andern Körper der gleichen Art jezt und allzeit
und überall unter denſelben äußeren Umſtänden electriſche
Leiter waren, ſind und ſein werden. Wenn der Chemiker
das Verhalten eines neuentdeckten Grundſtoffes zum Sauer—
ſtoff durch Ein richtiges Experiment ermittelt hat, ſo zweifelt
er nicht, daß ſich dies Experiment in Amerika ſo gut wie
in Europa, in 1000 Jahren ſo gut wie jezt wiederholen
läßt. Wenn uns der Zoolog aus Einer Beobachtungsreihe
ſchildert, wie die Grasmücke ihr Neſt baut, ihre Eier aus—
brütet, ihre Jungen füttert, ſo iſt er ſicher, uns damit einen
typiſchen Vorgang geſchildert zu haben. Allein ſchon wenn
wir zu den unter menſchlicher Einwirkung ſtehenden Pflanzen
und Thieren übergehen, vermindert ſich die Zuverſicht, mit
der wir die einzelne Erſcheinung als eine typiſche betrachten,
und wenn wir zulezt vollends hinüberſchreiten in das Reich
der menſchlichen Pſyche, jo erliſcht ſie ganz.
Im Reich der Natur iſt das Einzelne typiſch, in der
Menſchenwelt individuell. Unmöglich kann aber hiebei in—
dividuell ſo viel heißen als indeterminirt, außerhalb des
Cauſalitätsgeſezes ſtehend, jeder Erklärung und Zurück—
führung auf conſtante Urſachen ſich entziehend. Sonſt wäre
auf dieſem Gebiet überhaupt keine Wiſſenſchaft denkbar
und alle Erfahrung werthlos. Wie die Wirklichkeit über—
haupt keine Sprünge und ſcharfe Grenzlinien kennt, ſo iſt
auch jener Unterſchied nur ein fließender. Auch kein Sand—
korn, kein Grashalm, kein Holzwurm gleicht genau dem
andern, noch weniger ein Hund oder Affe; aber das Ab—
weichende erſcheint uns hier verſchwindend klein gegen das
Uebereinſtimmende und erklärt ſich meiſt aus erkennbaren
Verſchiedenheiten der äußeren Bedingungen. Und doch tritt
ſchon innerhalb jener Beiſpiele eine Abſtufung deutlich her—
vor. Je höher wir heraufſteigen in der fortſchreitenden
Reihe der Organiſationen, deſto zahlreicher werden die
Factoren des organiſchen Lebens, deſto mannigfaltiger ihre
Combinationen, deſto weiter eben damit der Spielraum in—
dividueller Abweichungen. Und wie man zwar 6 Zeichen
ſchon auf 720 Arten zuſammenſezen kann, 12 Zeichen aber
nicht etwa doppelt ſo viel mal, ſondern gleich 490 Millionen
mal, ſo ſteigern ſchon wenige neu hinzutretende Elemente
im organischen Leben die Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen
in unendlicher Progreſſion. Das Individuelle entwickelt
ſich genau im Verhältniß des zunehmenden Reichthums der
Lebensformen. Auch innerhalb der Menſchenwelt ſezt ſich
der gleiche Stufengang noch fort; der Wilde iſt typiſcher
als der civiliſirte Menſch; der Neger und Mongole iſt es
mehr als der Kaukaſier; der Menſch des Alterthums mehr
als der des Mittelalters; und dieſer mehr als der moderne.
Der Mann iſt individueller als das Weib; der Erwachſene
als das Kind, der Gebildete als der Ungebildete, der edle
Menſch als der gemeine. Aber dieſe lange Reihe vom
Sandkorn bis zum großen Denker oder Dichter zerfällt
uns in zwei Hälften; ſie zeigt Einen Sprung, den größten,
den wir überhaupt in dem Stufengang der Natur wahr—
nehmen, den vom Thier zum Menſchen. Im Ganzen und
Großen ſind wir berechtigt, Natur und Menſchenwelt als
215
das Reich der typischen Einzelnheiten und der Individua—
litäten zu unterſcheiden. Geſezmäßig iſt die Entwicklung
des genialſten Menſchen um nichts weniger, als die der
dürftigſten Kryptogame; das ſind wir durch den Cauſalitäts—
begriff geneigt a priori vorauszuſezen; aber in der Be—
trachtung des Menſchen verbirgt ſich das Geſez unter der
unabſehbaren Menge von ſtörenden oder modificirenden.
Coefficienten der Erſcheinung. Mit andern Worten: der
Inductionsſchluß, die Concluſion von Einem oder mehreren
Einzelnen auf die Gattung verändert ſich, zwar nicht ſeiner
Natur, aber ſeiner Geſtalt nach und verliert die Leichtigkeit
und Sicherheit ſeiner Anwendung, wie fie den Naturwiſſen—
ſchaften zu Statten kommt. Wenn die einfache Beobachtung
der einzelnen Erſcheinung, wenn Inſtrument und Experiment
ihre Dienſte verſagen, wie gelangen nun die mit der Welt
der Individualitäten beſchäftigten Wiſſenſchaften gleichwohl
zu Erfahrung, welcher Erſaz findet ſich für die verlorenen
Beobachtungsmittel der Naturwiſſenſchaften? Hier bieten
ſich nun zunächſt zwei eigenthümliche Vorzüge dieſer Wiſſen—
ſchaften vor den mit der Natur beſchäftigten dar.
Das Nächſte und Wichtigſte iſt, daß für die Beobach—
tung von Menſchen und menſchlichen Verhältniſſen zu der
äußeren Erfahrung die innere hinzutritt. Der Menſch er—
kennt den Menſchen von innen heraus; der Andere tritt
uns nicht, wie die Naturobjecte, als eine verſchloſſene Er⸗
ſcheinung entgegen, ſondern das eigene Selbſtbewußtſein
gibt uns den Schlüſſel zu ſeinem Verſtändniß. Der zweite
Unterſchied, der weniger die Mittel als das Feld der Beo—
216
bachtung betrifft, iſt zwar nur relativ, aber doch immer
noch von größter Bedeutung. In der Natur beſchränkt
ſich die Beobachtung auf die Gegenwart, wenn auch das
Gegenwärtige vielfach zu Schlüſſen auf Vergangenes be—
rechtigt; es gibt zwar eine Bildungsgeſchichte des Planeten
und der Erdrinde, ja, auch abgeſehen von Darwin's Lehren,
der Gattungen und Arten; allein innerhalb der hiſtoriſchen
Zeit ſind ſolche Veränderungen jedenfalls verſchwindend
klein gegenüber von der Stabilität und Unveränderlichkeit
der Naturerſcheinungen. Die Jahrzehnte der Menſchheit
entſprechen kaum den Jahrtauſenden der Natur. In den
Wiſſenſchaften vom Menſchen wächst der Stoff ſelbſt von
Geſchlecht zu Geſchlecht. Die Menſchheit hat eine Geſchichte
und wälzt deren Nachwirkung und Erinnerung lawinen—
artig mit ſich fort. Die Beobachtung des Menſchen be—
ſchränkt ſich daher nicht auf die Gegenwart, ſondern erſtreckt
ſich rückwärts auf Jahrtauſende und findet daſelbſt einen
unabſehbaren Reichthum der heterogenſten Erſcheinungen.
Jedes Geſchlecht tritt unmittelbar in eine Erbſchaft von
Sprache und Vorſtellungen, Erfahrungen, Fertigkeiten und
angeſammelten Gütern, materiellen und geiſtigen, aller Art
ein, und außerdem bewahren zahlreiche ſprachliche und
andere Denkmäler die Erinnerungen längſt verſchwundener
Ereigniſſe und Lebensanſchauungen.
Allein von ſo unendlicher Bedeutung jenes Hinzutreten
der inneren Erfahrung und die Ausdehnung des Beobach—
tungsfeldes auf die Vergangenheit iſt, ſo vermag beides
doch vom methodologiſchen Standpunkt aus den Vortheil,
217
den die Naturwiſſenſchaften durch den typiſchen Charakter
der einzelnen Erſcheinung haben, bei Weitem nicht auszu—
gleichen. Weder das Eine noch das Andere kann über
unmaaßgebliche Individualfälle hinausführen. Es mag
genialen Geiſtern in der überraſchendſten Weiſe gelingen,
ihr Inneres zu einem Spiegelbild ihrer Zeit, ihres Volkes,
der Menſchheit zu läutern; es wird andere geniale Geiſter
unter anderen Verhältniſſen geben, deren Inneres von den
gleichen Erſcheinungen ein ganz abweichendes Bild zurück—
wirft, ohne daß ſich ein Maaßſtab fände, eine wiſſenſchaft—
liche Entſcheidung zu treffen. Die Geſchichte berichtet uns
von Perſonen und Dingen, die nur einmal in einem nicht
wiederkehrenden Complex von Umſtänden gerade ſo ge—
worden ſind, und die ſich uns überdies nur durch das un—
glaublich trübe Medium einer beſchränkten Beobachtung und
befangenen Beurtheilung darſtellen. Die Wiſſenſchaften
vom Menſchen aber, ſoweit ſie nicht blos beſchreibender
oder erzählender Art ſind, ſuchen nicht Aufſchlüſſe über
einzelne Individuen, ſondern über collective Begriffe, ſei
es von Menſchen oder menſchlichen Lebenskreiſen, ſie fragen
nicht nach dem Einmal Geſchehenen, ſondern nach den Ge—
ſezen alles Geſchehens. Deſſen aber, was von allen Men—
ſchen ausnahmslos geſagt werden kann, iſt ſehr wenig und
mußte ſich ſchon den erſten Generationen der Menſchheit
aufdrängen. Wenn wir ſagen, daß der Menſch vom Manne
erzeugt, vom Weibe als Kind geboren wird, mit einem
thieriſch organiſirten Leib ausgeſtattet iſt, der Nahrung und
des Schlafes bedarf, dem Irrthum unterworfen, dem Tod
und der Verweſung des Leibes verfallen iſt, jo müſſen wir
fürchten, für den Theologen bereits zu viel geſagt zu haben.
Um ganze Zeitalter, Staaten und Völker zu charakteriſiren,
muß die Geſchichte mit mehr oder weniger Takt und Recht
einzelne Perſonen und Thatſachen als typische behandeln,
wiewohl an ſich ſchon ein Widerſpruch darin liegt, das
Hervorragende typiſch zu nennen. Die Geſchichte kann es
nur zum nothdürftigen Begreifen abgeſchloſſener Erſchei—
nungen bringen; ſie hat aber noch kein einziges erwieſenes
und unbeſtrittenes Geſez der menſchlichen Entwicklung im
Großen aufgefunden, wenn man etwa von ſolchen Säzen
abſieht, die ſich ohne Geſchichtskenntniß auf dem Wege der
Deduction erweiſen laſſen oder faſt tautologiſch ſind, wie
z. B., daß nichts Menſchliches von beſtändiger Dauer und
in der Entwicklung der Völker kein Sprung denkbar ſei.
So lange die Wiſſenſchaften vom Menſchen auf der Grund—
lage vereinzelter Beobachtung, ſei es des Gegenwärtigen
oder Vergangenen, ſtehen, können ſie nicht über den Stand—
punkt der Weisheit der Sprüchwörter hinauskommen. Die
deutſche Sprache zählt allein Tauſende von Sprüchwörtern,
in denen die gemeine Erfahrung von Jahrhunderten nieder—
gelegt iſt; es iſt aber nicht eines darunter, deſſen Gedanken
nicht durch den Inhalt von einem Duzend anderer wieder
eingeſchränkt, modificirt und völlig verneint würden. Jene
Wiſſenſchaften könnten ſich daher über die Stufe der Kind—
heit, auf der ſie noch vor wenigen Generationen ſtanden
und theilweiſe noch ſtehen, niemals erheben, wenn es nicht
für ſie Beobachtungsmittel gäbe, durch welche die Unzu—
länglichkeit der vereinzelten und individuellen Erfahrung
vermindert und die Erfahrung als ein Ganzes ergriffen
wird. Dieſes methodiſche Mittel, das jenen Wiſſenſchaften
den Mangel der Inſtrumente und des Experiments zu er—
ſezen, ein vollſtändiges und zuverläßiges empiriſches Ma—
terial zu liefern hat, iſt die Erweiterung der vereinzelten
und zufälligen Beobachtung zur univerſalen und methodiſch
organiſirten. Man kann es kurz die methodiſche Maſſen—
beobachtung nennen. Sie beſteht darin, daß über ganze
Gruppen von Individuen ein Nez von Obſervatorien aus—
gebreitet wird, um nach Einer Methode alle gleichartigen
Erſcheinungen zu beobachten und zu regiſtriren. Da dieſe
Beobachtungsweiſe menſchliche Collectivbegriffe, wie Volk,
Stamm, Kirche, Bezirk, Gemeinde, Stände 2c. in die Indi—
viduen, die ſie zuſammenfaſſen, wieder auflöst und von
jedem Einzelnen zu beobachten hat, ob eine gewiſſe Er—
ſcheinung bei ihm Statt findet oder nicht, ſo begreift es
ſich, daß es ſich dabei ſtets zugeich um ein Zählen handelt
und daß die Zahl ein charakteriſtiſches Merkmal dieſer
Beobachtungsmethode iſt. Je zahlreicher nun die Objecte
ſolcher Beobachtungen werden, je umfaſſender die einzelnen
Gruppen, und auf je mehr Gruppen ſich gleichförmige Be—
obachtungen erſtrecken, deſto vollſtändiger und gründlicher
wird die Charakteriſtik der betreffenden Collectipbegriffe
werden, und deſto reicher das Material zu Inductions—
ſchlüſſen und zur Erkenntniß des Zuſammenhangs der
menſchlichen Erſcheinungen. Man wird ganz in ähnlicher
Weiſe, wie in den Naturwiſſenſchaften, Schlußfolgerungen
220
ziehen können, wie z. B. daß zwei Erſcheinungen, die ſtets
verbunden oder ſtets getrennt ſind, oder die, wo ſie zu—
ſammentreffen, ſtets noch eine dritte, aber niemals eine ge—
wiſſe andere, vierte Erſcheinung zur Begleitung haben u. ſ. w.,
unter ſich oder mit dieſer dritten und vierten in einer ge—
wiſſen Cauſalbeziehung ſtehen müſſen. Damit iſt ein Weg
gewonnen, um Gruppen, Collectivbegriffe in correcter Weiſe
zu charakteriſiren, Geſeze der menſchlichen Lebenserſchei—
nungen wiſſenſchaftlich zu finden und zu erweiſen, mit
Einem Worte, die Erfahrungswiſſenſchaften vom Menſchen
zu exacten, ihr Beweisverfahren zu einem zwingenden zu
erheben, die durch ihr Vielerlei verwirrenden Erſcheinungen
der Menſchenwelt methodiſch zu bewältigen und der wiſſen—
ſchaftlichen Behandlung zu unterwerfen. Dieſes Mittel
der univerſellen Obſervation, deſſen Gedanke ein alter und
nahe liegender iſt, konnte erſt in ſehr vorgerückten Bildungs—
zuſtänden zur Ausführung kommen; es iſt bis jezt nur in
ſchwachen Anfängen ausgebildet und hat auch ſo ſchon eine
Reihe von Wiſſenſchaften theils geſchaffen, theils reformirt,
theils befruchtet. Es erlaubt Frageſtellungen an das Object
gleich dem Experiment und ergänzt die Unzulänglichkeit der
ſubjectiven Wahrnehmung, gleich den wiſſenſchaftlichen In—
ſtrumenten. Der mögliche Umfang ſeiner Ausdehnung und
Wirkung iſt unabſehbar.
Die Analogie der Naturwiſſenſchaften, welche keine
beſondere Empirologie unterſcheiden, ſondern von welchen
jede ihre Beobachtungsmittel ſelbſtſtändig in Anwendung
bringt, würde darauf führen, daß auch unter den Erfah—
221
rungswiſſenſchaften vom Menſchen jede jenes Mittel der
univerſellen Obſervation für ſich ſelbſt und nach ihren
eigenen Bedürfniſſen als einen integrirenden Theil ihrer
Forſchungsmethode handhabte, und vielleicht wird auch in
nicht allzuferner Zeit das Princip der Theilung der Arbeit
auf eine ſolche weitere Specialiſirung der wiſſenſchaftlichen
Thätigkeit hinführen. Bis jezt aber haben ſehr erhebliche
innere und äußere Gründe auf einen abweichenden Gang
der Sache geleitet. Es hat ſich für alle Wiſſenſchaften vom
Menſchen eine gemeinſame Hilfswiſſenſchaft gebildet, welche
jeder von ihnen das Material einer univerſellen Empirie,
deſſen ſie bedarf, zur Verfügung ſtellt. Der äußere Grund
zu dieſer Entwicklung der Dinge lag darin, daß es zuerſt
der Staat war, welcher für practiſche Zwecke das Bedürf—
niß einer methodischen Maſſenbeobachtung empfand, und
durch beſondere Veranſtaltung, insbeſondere die Errichtung
ſtaatswiſſenſchaftlicher Obſervatorien befriedigte, nach und
nach aber dieſe Inſtitute auch für allgemeinere wiſſenſchaft—
liche Zwecke, an denen er kein ſo unmittelbares Intereſſe
hatte, verwenden ließ. Dazu kam, daß die Handhabung
dieſes Beobachtungsmittels einen äußeren Apparat und
Aufwand von Mitteln, eine gewiſſe Organiſation erfordert,
die zumal bei bureaukratiſchen Einrichtungen am leichteſten
der Staat in die Hand nimmt und die, wenn ſie einmal
vorhanden iſt, leicht auch für verſchiedenartige Zwecke be—
nüzt werden kann. Der innere Grund für jene Gruppi—
rung aber iſt, daß eine ſolche wiſſenſchaftliche Frageſtellung
an die Geſellſchaft und die weitere formelle Behandlung
ihrer Ergebniſſe bei aller Verſchiedenheit der Gegenſtände
doch eine gewiſſe gleichartige Technik und Methodik erfordert;
noch mehr aber, daß die Erfahrungswiſſenſchaften vom
Menſchen, wenn ſie auch nicht ohne unnatürlichen Zwang
in Eine Disciplin zuſammengedrängt werden können, doch
eine Gruppe aneinandergränzender und verwandter Dis—
ciplinen bilden und ſehr häufig, ja in der Regel Eine und
dieſelbe Ermittlung von Thatſachen in verſchiedene Fächer
einſchlägt. Als die Aufgabe dieſer Hilfswiſſenſchaft be—
zeichnen wir nun kurz: die Ermittlung von Merkmalen
menſchlicher Gemeinſchaften auf der Grundlage methodiſcher
Beobachtung und Zählung ihrer gleichartigen Erſcheinungen,
und faſſen dabei unter dem allgemeinen Namen von Ge—
meinſchaften ſowohl natürliche Gruppen von Individuen,
wie Völker, Staaten, Provinzen 2c., als die einer geſon—
derten Betrachtung fähigen Lebenskreiſe, wie die politiſchen,
wirthſchaftlichen, geſelligen, kirchlichen ꝛc. Verhältniſſe zu—
ſammen.
Man hat eingewendet: die bloße Anwendung eines
formellen Verfahrens, die Handhabung eines gewiſſen Be—
obachtungsmittels könne nicht den Inhalt einer beſonderen
Wiſſenſchaft bilden, ſo wenig, als man ſich z. B. die Mi—
croscopie als eine Wiſſenſchaft denken könne. Allein die
große Bedeutung und Tragweite einer univerſellen, organi—
ſirten Obſervation für eine Gruppe zuſammengehöriger
Wiſſenſchaften dürfte im Obigen hinreichend nachgewieſen
ſein, um eine ſolche Vergleichung abzulehnen. Ueberdies
aber gibt es noch andere längſt anerkannte Hilfswiſſen—
223
ſchaften, die ebenfalls nur in der Handhabung eines for-
mellen und methodischen Verfahrens beſtehen. Wir wollen
die Philologie unerwähnt laſſen, deren Begriff ſelbſt ein
noch beſtrittener iſt, nennen aber um ſo mehr die philo—
logiſche Kritik und Hermeneutik, denen das wiſſenſchaftliche
Zunftrecht Niemand beſtreitet, und deren Aufgabe doch nur
darin beſteht, literariſche Denkmale in der Geſtalt und mit
der gelehrten Ausſtattung herzuſtellen, worin ſie den Zwecken
der verſchiedenen Wiſſenſchaften dienen können. Sie ſind
Hilfswiſſenſchaften aller auf Literarische Mittel angewieſenen
Disciplinen und haben das Gleiche zu leiſten, ob der Autor,
mit dem ſie ſich beſchäftigen, ein Dichter oder Geſchicht—
ſchreiber, Philoſoph oder Naturforſcher iſt. Solche heuri—
ſtiſche Disciplinen, die den objectiven Wiſſenſchaften den
unentbehrlichen Stoff in methodiſcher Bearbeitung liefern,
haben das gleiche Verdienſt, wie etwa der gelehrte Reiſende,
der ein unbekanntes Land erforſcht hat und die Ergebniſſe
der Reiſe gleichſam auf den Tiſch der Wiſſenſchaft nieder—
legt, ſo daß der Naturforſcher, wie der Philoſoph, der
Sprachgelehrte oder der Hiſtoriker, der Nationalökonom
oder auch der practiſche Kaufmann davon Gebrauch machen
kann. Ob die ſpeciellen Fachmänner, welche ſich die Re—
ſultate einer ſolchen wiſſenſchaftlichen Reiſe aneignen, die
Mittel und Eigenſchaften gehabt hätten, jene Reiſe für die
Zwecke ihrer Wiſſenſchaft noch fruchtbringender zu machen,
iſt keineswegs zum Voraus gewiß, da dieſer Weg, wiſſen—
ſchaftliches Material zu ſammeln, ſelbſt ſchon wieder Spe—
224
cialitäten, eine Vereinigung ſeltener Eigenschaften und Er—
fahrungen zu erfordern ſcheint.
Und nun endlich, wie heißt dieſe gemeinſame Hilfs—
disciplin aller Erfahrungswiſſenſchaften vom Menſchenleben?
Man könnte an allerhand mehr oder weniger bezeichnende
Namen, an Obſervationiſtik, Empirologie, Empiriſtik des
Menſchen, ſociale Heuriſtik und Aehnliches denken, aber
die Bemühung iſt überflüſſig; der Name iſt ſchon da; ſie
heißt — Statiſtik. Sie führt dieſen Namen jedoch nicht
bei den Theoretikern, ſondern nur in der Auffaſſung der
Praktiker und im gemeinen Sprachgebrauch. Sie hat auf
denſelben auch kein unzweifelhaftes hiſtoriſches, noch weniger
ein etymologiſches Recht. Die oben erwähnte Thatſache,
daß jene Hilfswiſſenſchaft zuerſt und lange blos im Dienſt
des Staats und der Staatswiſſenſchaften geſtanden iſt, war
die Urſache, daß ihr eigenthümlicher, methodologiſcher Cha—
rakter verborgen blieb und nur als unweſentliche Beigabe
einer beſtimmten ſtaatswiſſenſchaftlichen Disciplin, der
Staats- oder Zuſtandskunde, erſchien. So bezeichnet Sta—
tiſtik etymologiſch, wie hiſtoriſch urſprünglich eine Staats—
wiſſenſchaft. Allein die Anwendung jenes fruchtbaren Be—
obachtungsmittels der univerſellen Zählung dehnte ſich bald
auf eine Menge weder den Staat noch die Geſellſchaft be—
treffender Objecte, wie phyſiologiſche, pathologiſche, pſycho—
logiſche se. Fragen aus, und mußte den Gedanken an eine
Trennung von Methode und Materie bald nahelegen. Da,
wo die Statiſiik am ſorgfältigſten und umfaſſendſten aus—
gebildet wurde, wie in Belgien und Frankreich, mußten
225
die Fachmänner zuerſt bemerken, daß eine gewiſſe, ſtets
mit Zahlen in Berührung ſtehende Methode das Eigen—
thümliche ihrer wiſſenſchaftlichen Thätigkeit ſei und ſuchten
daher ihr Fach zuerſt aus den fremden Banden zu eman-
cipiren. Die Lehrer der Staatswiſſenſchaften aber, zumal
in Deutſchland, behaupteten ihren Beſizſtand aufrecht und
ſuchten die auseinander drängenden ungleichartigen Elemente
dadurch beiſammen zu halten, daß ſie den Umfaſſungsreif
immer dünner und weiter machten, d. h. den Begriff der
Statiſtik immer mehr ausdehnten und verflüchtigten und
ſo am Ende aus den urſprünglichen Staatsmerkwürdigkeiten
eine allgemeine Zuſtandswiſſenſchaft, eine Darſtellung des
Lebens der Menſchheit als ruhenden Daſeins machten.
Jener merkwürdige logische Inſtinet aber, der die Maſſen
bei der Sprachbildung leitet, und ohne den bei der Denk—
ſchwäche der meiſten Einzelnen die Wunderwerke der menſch—
lichen Sprachen nicht begreiflich wären, folgte der deutſchen
Wiſſenſchaft in dieſem Punkte nicht in die Nebelregion ihrer
luftigen Abſtractionen, ſondern hielt ſich einfach an die
charakteriſtiſche Außenſeite der Sache und entſchloß ſich
kurz, im Sinne der praktiſchen Fachmänner alles das eine
ſtatiſtiſche Mittheilung zu nennen, wo auf Grund umfaſ—
ſender Zählungen von Einzelfällen allgemeine Thatſachen
oder Merkmale des menſchlichen Zuſammenlebens dar—
geſtellt werden, mochte nun der Gegenſtand den Staat,
oder die Geſellſchaft, mochte er die Schließung von
Ehen, die Verbreitung von Bibeln, den Häringsfang,
oder das Schlachten von Kälbern betreffen. Wir haben
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 15
226
uns die Mühe genommen, ſeit längerer Zeit auf alle Fälle
zu achten, wo das Wort Statiſtik und ſtatiſtiſch in Büchern
und Zeitſchriften aller Art beiläufig gebraucht wird und
haben dabei den obigen Sinn des Wortes jo conjtant?vor-
gefunden, daß wir ſagen möchten, es laſſe ſich „ſtatiſtiſch“
beweiſen, was man unter Statiſtik verſteht. Wenn man
in der Inhaltsangabe eines Zeitungsblatts die Ueberſchrift
lieſt: Statiſtiſches, ſo darf man darauf rechnen, an dem
betreffenden Ort das Ergebniß irgend einer Zählung an—
geführt zu ſehen; wäre Statiſtik Staaten- oder Zuſtands—
kunde, ſo müßte ja der größte Theil von dem Inhalt aller
Zeitungen ſtatiſtiſcher Art ſein. R. Mohl wird ſelbſt nichts
Unlogiſches darin finden, wenn wir an ſeinem Württem—
bergiſchen Staatsrecht, das doch an ſich ſeinem ganzen In—
halt nach unter die Rubrik der Staatenkunde und Zuſtands—
wiſſenſchaften fallen müßte, noch beſonders die werthvollen
„ſtatiſtiſchen“ Beigaben in den Noten rühmen würden.
Auch die allgemein gebrauchten Ausdrücke: ſtatiſtiſche Er—
hebung, ſtatiſtiſcher Beweis, weiſen offenbar darauf hin,
daß es ſich hier um eine Beobachtungsmethode, um einen
methodologiſchen Begriff handelt. Man ſpricht ja nicht von
einer chemiſchen Erhebung, von einem botaniſchen, geogra—
phiſchen, politiſchen, äſthetiſchen Beweis; nur wenn einer
Wiſſenſchaft eine gewiſſe Gattung der logiſchen Beweisarten
eigenthümlich iſt oder wenn ſie eine poſitive Beweistheorie
aufſtellt, verbindet man ihren Namen adjectiviſch mit dem
Begriff des Beweiſes, wie in den Ausdrücken: mathema—
tiſcher, juriſtiſcher Beweis. Etwas „ ſtatiſtiſch“ beweiſen,
227
kann daher nicht heißen: aus der Staatenkunde oder Zu-
ſtandswiſſenſchaft, denn das iſt keine beſondere Beweisart,
ſondern es heißt: aus den Ergebniſſen dieſer beſtimmten
Art von methodiſcher Beobachtung. Was die ſtatiſtiſchen
Staatsbehörden treiben, iſt nicht Staatenkunde, nicht Zu—
ſtandswiſſenſchaft, wenn es auch immerhin mit noch vielem
Andern unter dieſem weiten Mantel Plaz finden kann; die
praktiſchen Statiſtiker beſchäftigen ſich nicht mit dem Staats—
recht ihres Landes, obwohl das unzweifelhaft zur Staaten—
kunde vor allem Andern zu rechnen wäre, ſondern überlaſſen
das den Univerſitätslehrern und der freien Wiſſenſchaft;
ſie regiſtriren nicht beſondere Ereigniſſe und einzelne That—
ſachen, wenn ſie auch noch jo wichtig und charakteriſtiſch
für die Staatskunde und die „Zuſtände“ ſind, und über—
laſſen es den Staatsarchiven, die Urkunden darüber auf—
zubewahren; ſie ſchildern nicht Sitten und Gebräuche, nicht
Hochzeiten und Leichenfeiern 2c., wiewohl dies ganz un—
mittelbar zur Kenntniß der „Zuſtände“ gehören würde; ſie
räumen überhaupt grundſäzlich keinem Einzelnen einen ty—
piſchen Charakter ein, ſondern ſie ſuchen überall das der
vereinzelten Beobachtung Unzugängliche, das ewig Fließende
und Mannigfaltige, individuell Verſchiedene an irgend einem
Punkte feſt zu faſſen und in das Nez ihrer Obſervatorien
hereinzuziehen, um es dann zu ſortiren, zu ordnen, und
für den Gebrauch der Wiſſenſchaften oder der praktiſchen
Zwecke, in deren Dienſt ſie ſtehen, zuzubereiten. Dies und
immer wieder dies iſt nach unſeren Wahrnehmungen die
praktiſche Thätigkeit des Statiſtikers, und ſie ſteht hiedurch
15 *
228
in vollem Einklang ebenſo mit demjenigen, was der herr—
ſchende Sprachgebrauch mit dem Wort verbindet, als mit
unſerer obigen Entwicklung.
Aber allerdings nur die Praxis der Fachmänner ſteht
in dieſem Einklange, nicht auch ihre Theorie. In dieſer,
ſowie auch in den Verhandlungen der ſtatiſtiſchen Congreſſe,
ſteht noch Vieles mit. unſerer Auffaſſung im Widerſpruch.
Namentlich werden ſich die Statiſtiker ſchwer zu dem Ge—
ſtändniß entſchließen, daß ihr Fach eine bloße Hilfswiſſen—
ſchaft bilden ſolle. Die richtige Einſicht wird hier beſonders
dadurch erſchwert, daß die meiſten Gelehrten dieſer Art
mit ihrer ſtatiſtiſchen Beſchäftigung zugleich eine Vorliebe
für ein beſtimmtes unter den Fächern, denen die Statiſtik
dienen kann, vereinigen und dann in ihrer Vorſtellung leicht
Beides ſich zu Einer complexen Idee verſchmilzt. Man
kann mit Statiſtik verſchiedene andere wiſſenſchaftliche Be—
ſchäftigungen verknüpfen; der eine iſt daneben National—
ökonom, der andere Ethnograph, der dritte Hiſtoriker, ein
anderer, wie uns Kolb's ſonſt ſehr ſchäzenswerthe Hand—
bücher zeigen, politiſcher Parteimann; und für Jeden ent—
ſteht die Verſuchung, ſich aus dem Inhalt und der Methode
ſeiner Studien zuſammen wieder ein anderes Bild der ſta—
tiſtiſchen Wiſſenſchaft zu conſtruiren; wobei es dann immer
ein ſeltſamer, von den Vertretern der Zuſtandswiſſenſchaft
mit Recht gerügter Widerſpruch bleibt, ſich eine ſelbſtſtän—
dige, beſchreibende oder ſyſtematiſche Wiſſenſchaft zu denken,
die auf die Zahl als Darſtellungsmittel beſchränkt ſein ſoll.
Knies hat in unſeren Augen das große und nicht genug
229
zu ſchäzende Verdienſt, zuerſt erkannt zu haben, daß der
Name Statiſtik heterogene Dinge zuſammenzwängt, aber
bei der Operation der Trennung hat er das Meſſer nicht
an der richtigen Stelle angeſezt und nicht mit ſicherer Hand
geführt, insbeſondere das eine abgeſchnittene Stück, das
er politiſche Arithmetik nennt, nicht richtig charakteriſirt.
Unſere Auffaſſung der Sache, wornach einer ganzen Gruppe
von unter ſich verſchiedenen, aber durch das gleiche metho—
dologiſche Bedürfniß verbundenen Wiſſenſchaften die Statiſtik
als die gemeinfame und unentbehrliche Hilfswiſſenſchaft
gegenübertritt, ſcheint uns die von Knies mit Scharfſinn
und Klarheit dargelegten Bedenken in ungezwungenerer
Weiſe zu heben und zugleich die ganze Entwicklung der
Statiſtik verſtändlicher zu machen. Auch ſchließt ſie keines—
wegs eine Degradation der Statiſtik in ſich. Kant hat
bekanntlich, als Jemand die Philoſophie die Magd der
Theologie nannte, geantwortet: ja, aber die Magd, die
mit der Fackel vorausleuchtet. So hoch wollen wir die
Hilfsfunetionen der Statiſtik nicht ſtellen, wohl aber ließe
ſich in einem ähnlichen Bilde ſagen: ſie iſt zwar in dienen—
der Stellung, aber ſie iſt die Verwalterin, die in ein zuvor
verſchuldetes und diſſolutes Hausweſen Klarheit und Ord—
nung gebracht, den unnüzen Hausrath in die Rumpelkammer
geworfen oder veräußert hat, die alle Einkäufe beſorgt und
mit ſtetiger Sorgfalt über dem Gleichgewicht von Einnahmen
und Ausgaben wacht, das die Gebieterinnen immer noch
ſtets geneigt ſind außer Augen zu laſſen. Oder mit anderen
Worten: Die Statiſtik hat einer Reihe von Wiſſenszweigen,
230
die zuvor in ihren Darſtellungen auf allgemeine Phraſen,
in ihren Lehren und Gründen auf halbwahre, im günſtig—
ſten Fall geiſtreiche Hypotheſen beſchränkt waren, ein feſtes
Fundament unter die Füße geſtellt und ein wiſſenſchaft—
liches Heimathrecht verſchafft. Ohne Statiſtik würde die
Bevölkerungslehre gar nicht exiſtiren; die glänzende Ent—
wicklung der Nationalökonomie wäre gar nicht denkbar;
der Finanzwiſſenſchaft fehlte es an Stoff, wie an Beweis—
mitteln; die Geſchichte wäre in zahlloſen Fällen darauf
beſchränkt, uns in arbiträrer Weiſe ein Einzelnes für ein
Typiſches auszugeben; die Völker- und Staatenkunde ſtünde
auf dem Standpunkte des alten Fabri und würde uns etwa
von England berichten: es habe ſchöne Manufacturen und
viele Fabriken, beſonders in Baumwollen- und Eiſenwaaren;
der Handel ſei ſehr blühend; auch der Ackerbau und die
Viehzucht ſtehen im Flor; es gebe viele reiche, aber auch
viele arme Leute daſelbſt u. ſ. w.
Die Frage, zu welchen Wiſſenſchaften die Statiſtik in
einem näheren Verhältniß ſteht, iſt es nicht ohne Intereſſe
zuerſt negativ zu beantworten. Sie hat kein inneres Ver—
hältniß zu allen denjenigen Disciplinen, deren methodolo—
giſches Verfahren das der Deduction iſt; alſo vor Allem
nicht zur Mathematik, die aus einigen Axiomen, den Pro-
dukten logiſcher Grundgeſeze und elementarer Anſchauung,
ihren Inhalt conſtruirend entwickelt und keiner Beobach—
tungen für ihre Lehrſäze bedarf. Es iſt eigenthümlich, daß
diejenige Wiſſenſchaft, der Manche die Statiſtik als einen
ihrer Beſtandtheile unterordnen, ihr am diametralſten gegen—
überſteht. Daß die Statiſtik die gleichartigen individuellen
Erſcheinungen, die innerhalb ihres Beobachtungsfeldes ein—
treten, regiſtrirt, zählt, in Zahlengruppen darſtellt und dieſe
Zahlen etwa noch durch Reduction auf procentale Verhält—
niſſe und ähnliche Operationen verſtändlicher macht, be—
gründet ſo wenig einen mathematiſchen Grundcharakter ihrer
Methode und Aufgabe, als wir einen Kaſſier oder Buch—
führer oder den Handwerker, der elliptiſche Tiſche, cylinder—
förmige Oefen oder Billardkugeln fertigt, einen Mathema—
tiker nennen. An der ſogenannten politiſchen Arithmetik
iſt ſchon der Ausdruck ſelbſt nicht richtig; man ſpricht von
Zinsrechnung, von kaufmänniſchem Rechnen, aber nicht von
kaufmänniſcher Arithmetik; die Mathematik fragt nichts
darnach, auf welche praktiſche Verhältniſſe man ihre Ope—
rationen anwendet und ob man ihre Lehrſäze von der
Wahrſcheinlichkeitsrechnung am grünen Tiſch oder an der
menſchlichen Sterblichkeit erprobt. So wichtig für die Schule
und das Leben das ſogenannte Rechnen mit benannten
Zahlen iſt, ſo bildet es doch, wiſſenſchaftlich genommen,
niemals einen Theil der Arithmetik.
Ebenſo ſteht die Statiſtik den philoſophiſchen Wiſſen—
ſchaften aus dem methodologiſchen Grunde fern, weil dieſe
zwar auf Erfahrung ruhen, ſofern ſie gerade das Ganze
der Erfahrung und das Einzelne im Zuſammenhang dieſes
Ganzen zu begreifen ſuchen, aber dieſe Erfahrung nicht
ſelbſt erzeugen, ſondern aus andern Wiſſenſchaften als be—
reits ermittelt entlehnen und auf deductivem Wege zu einem
Gedankenſyſtem zu vergeiſtigen bemüht ſind. So ſezt die
232
ſogen. Naturphiloſophie die Naturwiſſenſchaften, die Ethik,
Aeſthetik, Rechts-, Religionsphiloſophie gewiſſe pſychologiſche
und geſchichtliche Thatſachen als gegeben voraus. Nur
Eine dieſer Disciplinen macht hievon eine wichtige Aus—
nahme, die Pſychologie; ſie nimmt ihre Erfahrung nicht
anders woher, um ſie nur philoſophiſch zu reconſtruiren,
ſondern ſie iſt ſelbſt Erfahrungswiſſenſchaft und ſteht mit
den Naturwiſſenſchaften darin auf ganz gleichem Boden,
daß ſie im Wege der Beobachtung und Induction Geſeze
zu finden hat. Man hat ſie der Philoſophie nur einreihen
können, weil man ſich, gewiſſermaaßen aus praktiſchen
Gründen, genöthigt ſah, dieſer das ganze Feld der inneren
Erfahrung zuzutheilen. Wenn die Statiſtik der Viychologie.
bis jezt nur geringe Dienſte geleiſtet hat, ſo iſt wohl der
Hauptgrund, daß beide Wiſſenſchaften noch in ihren An—
fängen ſtehen, die Pſychologie noch kaum befähigt iſt, um
der Statiſtik nur beſtimmte Fragen zu ſtellen, die Statiſtik
noch nicht entwickelt genug, um ihre Methode auf piychiiche
Thatſachen anzuwenden.
Als eine dritte Klaſſe von deductiven Wiſſenſchaften
erſcheinen diejenigen, welche in poſitiven Urkunden eine ge—
gebene Quelle für die Ableitung ihrer Erkenntniß haben.
Unter dieſem Geſichtspunkt treffen zwei ſonſt ſehr heterogene
Wiſſenſchaften zuſammen, die Theologie und die Rechts—
wiſſenſchaft nach ihrer poſitiven Seite. Die wiſſenſchaftliche
Thätigkeit beſteht im Weſentlichen hier im Interpretiren
und Subſumiren und ein inductives Verfahren iſt nur in
ſecundärer Weiſe denkbar. Die ſogenannte Criminalſtatiſtik
233
z. B. berührt nicht die Rechts-, ſondern die Staatswiſſen—
ſchaft, nicht den Richter oder Rechtsausleger, ſondern den
Geſezgeber, ſodann und von anderen Geſichtspunkten aus
den Pſychologen, Ethnographen ꝛc.
So bleibt alſo nur der Kreis der Inductions- oder
Erfahrungswiſſenſchaften übrig. Unter dieſen ſind gemäß
dem Obigen die Naturwiſſenſchaften von einer Beziehung
zur Statiſtik inſoweit ausgeſchloſſen, als der typiſche Cha—
rakter der Einzelerſcheinung reicht. Da das Individuelle
jedoch überhaupt in den höhern Organiſationsſtufen allmälig
ohne ſcharf abzuſchneidende Grenzlinie beginnt und beſonders
in dem Leben der Thiere, die unter der menſchlichen Ein—
wirkung ſtehen, ein allmäliches Hinausſchreiten der Natur
über die urſprünglichen Grenzen ihrer Typen eintreten
kann, ſo gibt es ein gemiſchtes Grenzgebiet, in welchem die
Statiſtik, obwohl ſie ihre eigentliche Heimath in der In—
dividualwelt der menſchlichen Gattung hat, doch ein ana—
loges Verfahren auch auf einzelne Erſcheinungen anderer
Organismen anwendet, wie z. B. die Unterſuchungen über
Vererbung von Geſchlecht und Eigenſchaften durch ſtatiſtiſche
Behandlung der Erfahrungen bei Züchtung von Hausthieren
werthvolles Material gewonnen haben. Das wichtigſte und
umfaſſendſte Gebiet, wo die beiden großen Begriffe, Natur
und Menſch, Typiſches und Individuelles, ſich durchdringen,
iſt der Leib des Menſchen, die ſomatiſche Phyſiologie.
Einen eigenthümlichen Pendant des ſtatiſtiſchen Verfahrens
bildet die meteorologiſche Obſervation, bei welcher der Be—
griff des Individuellen ganz wegfällt und es ſich darum
234
handelt, einen unter dem abſtracten Collectivbegriff der
Witterung zuſammengefaßten Complex geographiſcher Data
und fluctuirender phyſiſcher Vorgänge durch ſucceſſive Be—
obachtung an einem gegebenen Orte zu charakteriſiren.
Der Wechſel der Erſcheinung von Moment zu Moment,
ſtatt von Individuum zu Individuum, weiſt hier in ähn—
licher Art darauf hin, Durchſchnitte und Mittelwerthe zu
ſuchen und begründet die äußere Analogie des Verfahrens.
So kommen wir denn auf die ſchon früher genannten
Erfahrungswiſſenſchaften vom Menſchen zurück, zu denen
ſich die Statiſtik als ihre gemeinſame Hilfswiſſenſchaft ver—
hält. Sie laſſen ſich eintheilen in die Lehren vom natur-
geſchichtlichen und vom geſchichtlichen Menſchen. Der Menſch
kann entweder betrachtet werden nach ſeinem allgemeinen
Gattungscharakter, nach der urſprünglichen und conſtanten
Ausſtattung und Begrenzung ſeiner Natur. Hieraus ent—
ſtehen die anthropologiſchen Disciplinen, die ſich dem Stoff
nach in die ſomatologiſche und pſychologiſche und dann viel—
leicht je wieder in eine phyſiologiſche und pathologiſche
Seite theilen. Eine zweite Betrachtungsweiſe iſt nun aber:
wie ſtellt ſich dieſer naturgeſchichtliche Menſch in der Wirk—
lichkeit dar, oder was iſt aus der Menſchheit in Folge des
menſchlichen Zuſammenlebens unter den geographiſchen Ein—
wirkungen ihrer Wohnſize im Verlauf der Jahrhunderte
geworden? Der Anthropologie als der Lehre vom natür—
lichen Menſchen tritt die Geſchichte im weitern Sinn des
Worts als die Lehre vom empiriſch gewordenen Menſchen
gegenüber. Sie bildet jedoch, ſo wenig als die Lehre von
235
der Natur, Eine Wiſſenſchaft; was man Univerſalgeſchichte
zu nennen pflegt, iſt ſelbſt nur ein Theil davon. Der un—
abſehbare Stoff löst ſich, wie der der Natur, vermöge der
Schranken der menſchlichen Erkenntniß in eine Reihe mehr
oder weniger ſelbſtſtändiger Gruppen auf. Und zwar bieten
ſich der natürlichen Betrachtung zunächſt zweierlei Arten
von Gruppen dar, eine von Subjecten und eine von Ob—
jecten, oder eine der Individuen und eine der Lebenskreiſe.
Man kann nämlich entweder natürliche Gemeinſchaften von
Individuen ins Auge faſſen und ſodann ihre Eigenthüm—
lichkeiten durch alle Lebensgebiete hindurch verfolgen und
im Zuſammenhang aller Erſcheinungen darſtellen. Oder
man kann beſtimmte Lebensgebiete, die einzelnen, für unſere
Betrachtung ſich ausſondernden Seiten der menſchlichen
Exiſtenz aufſuchen und ſie dann durch alle Individual—
gruppen hindurch vergleichen und wiſſenſchaftlich zu begreifen
ſuchen. Die natürlichen und gegebenen Gruppen von In—
dividuen ſind die Völker, ſofern ſie ihr geſellſchaftliches
Leben in einer einheitlichen Spize zuſammenfaſſen und als
Staaten beſondere Perſönlichkeiten und Glieder der Menſch—
heit bilden. Es laſſen ſich dann ganze Gruppen von Völkern
oder einzelne Theile in ähnlicher Weiſe betrachten. Die
verſchiedenen Lebensgebiete dagegen, die ſich zum Gegen—
ſtand abgeſonderter wiſſenſchaftlicher Behandlung eignen,
ſind nicht erſchöpfend aufzuzählen; es läßt ſich wenigſtens
nach dem jezigen unvollkommenen Stand der Piychologie
und der ſocialen Wiſſenſchaften nicht abgrenzen, was Alles
an dem vielgeſtaltigen Menſchenleben ſich zu einer beſon—
236
deren Gruppe wiſſenſchaftlich verbundener Objecte zuſammen—
faſſen laſſe. Stünde die Pſychologie auf feſteren Funda—
menten, als es der Fall iſt, ſo würden ſich aus ihr die
natürlichen Lebensgebiete von ſelbſt ergeben, da jedem
Grundbedürfniß der Menſchennatur auch eine ſociale Ver—
wirklichung entſprechen muß. So läßt ſich nur ſagen, daß
ſich das wirthſchaftliche, geſchlechtliche, geſellige, das intel—
lectuelle Leben in ſeinen drei Gliedern, Sprache, Wiſſen—
ſchaft und Kunſt, das ſittliche, das religiöſe, endlich das
alle Lebenskreiſe ordnende politiſche Leben von ſelbſt als
ſolche beſondere Sphären wiſſenſchaftlicher Behandlung, die
in Grundrichtungen der Menſchennatur wurzeln, darbieten.
Es läßt ſich aber auch auf den Bildungsprozeß der Menſch—
heit ſelbſt der Blick richten, z. B. auf die geographiſchen
Einwirkungen, auf die Fortpflanzung des Bildungskapitals
durch Tradition und Erziehung ꝛc. und unter jedem ſolchen
Geſichtspunkt gruppirt ſich das empiriſche Material wieder
anders. Das Univerſum und insbeſondere die Menſchen—
welt hat nirgends ſcharfe Grenzlinien; der Linien, die die
menſchliche Beobachtungsweiſe darin ziehen kann, ſind un—
zählige; jede wird an irgend einem Theile fließend oder
willkürlich ſein.
Alle dieſe Wiſſenſchaften nun, ſowohl die, die den
natürlichen, als die den geſchichtlich gewordenen Menſchen
und lezteren nach Gruppen von Individuen oder von Ob⸗
jecten betrachten, ſind Erfahrungswiſſenſchaften und beruhen,
wie die Naturwiſſenſchaften, auf Induction; ſogar noch
mehr, als dieſe, weil die deductive und mathematiſche Be—
237
handlung in der unorganiſchen Welt einen weit größeren
Spielraum hat als in der organiſchen. Alle haben daher
empiriſche Objecte zu beobachten und in ihnen die con—
ſtanten Urſachen oder Geſeze aufzuſuchen; d. h. ſie haben
einen empiriſchen und einen ätiologiſchen Theil und jeder
Irrthum hat ſtets ſeinen Grund darin, daß entweder mangel—
haft beobachtet oder falſch geſchloſſen worden iſt. Der em—
piriſche Theil iſt nun aber ſelbſt wieder von zweierlei Art.
Der Gegenſtand wird entweder ſo, wie er ſich der gegen—
wärtigen Beobachtung in der Breite ſeiner gleichzeitigen
räumlichen Ausdehnung und Erſcheinung darbietet, ermittelt,
oder wird ſeine Entſtehung und Entwicklung in der Zeit
aufgeſucht. Das erſte nennen wir den graphiſchen, das
zweite den hiſtoriſchen Theil der hier beſprochenen Wiſſen—
ſchaften. Und hier nun eben dieſer graphiſche, auf Beob—
achtung ruhende Theil jener Wiſſenſchaften iſt der Ort, an
dem die Statiſtik ihr Heimathrecht hat. Sie fällt nicht mit
demſelben zuſammen, aber ſie iſt ganz in demſelben ent—
halten. Jene individuelle Beobachtung nemlich, der wir
die Statiſtik, als die univerſelle gegenüber geſtellt haben,
iſt nicht überhaupt ausgeſchloſſen und unbrauchbar für
wiſſenſchaftliche Zwecke; ſie wird nur immer etwas Un—
ſicheres, für ſich allein Ungenügendes haben; auch gibt es
unzweifelhaft Einzelnheiten, denen eine typiſche Bedeutung
beigelegt werden kann; und der Geiſt und Takt, mit welchem
der Forſcher von ſeiner individuellen Erfahrung und den
typiſchen Einzelnheiten Gebrauch zu machen weiß, wird
ſchließlich immer von entſcheidender Bedeutung für das
238
Maaß ſeiner wiſſenſchaftlichen Befähigung bleiben. Allein
das ſtatiſtiſche Verfahren, die univerſelle Beobachtung iſt
es, was die ſubjective Erfahrung, die Hypotheſe zu er—
gänzen und zur wiſſenſchaftlichen Erkenntniß zu erheben hat.
So erſcheint denn die Statiſtik auch in dieſem Zu—
ſammenhang wieder als die gemeinſame Hilfswiſſenſchaft
für die empirologiſche und zwar graphiſche Seite der Wiſſen—
ſchaften vom Menſchen. Bei dem engen Zuſammenhang
derſelben dient ſie in der Regel durch Eine Klaſſe von
Beobachtungen mehreren von ihnen zugleich. Denn jede
geſellſchaftliche Thatſache wird theils die Gruppe von In—
dividuen, welche das Feld der Beobachtung bildete, theils
die beſtimmten Lebensgebiete, denen das Object der Beob—
achtung angehört, theils näher oder entfernter die menſch—
liche Gattung characteriſiren, und jedenfalls immer dabei
noch eine hiſtoriſche Bedeutung haben. Eine Ermittlung
der iriſchen Auswanderung z. B. wird dem Ethnographen,
dem Politiker, dem Nationalöconomen, dem Populationiſtiker,
dem Pſychologen und dem Hiſtoriker Stoff zu wiſſenſchaft—
licher Betrachtung ſein können. Die Statiſtik hat im All—
gemeinen zu allen dieſen Fächern die gleiche Stellung; und
es iſt zufällig, in weſſen Dienſten ihre Inſtitute am meiſten
in Anſpruch genommen werden. Allein es gibt allerdings
Eine Disciplin, der ſie näher ſteht, als allen andern, die
nothwendig ihr erſtes und nächſtes Object bildet. Wenn
nemlich die Statiſtik eine beſtimmte Gruppe von Individuen
als das Feld ihrer Beobachtung abſteckt, ſo iſt es eine
jeder andern vorausgehende Aufgabe, dieſes Terrain ſelbſt
239
zu unterſuchen und zu beſtimmen; ſie muß den Grundbe—
ſtand ihres Beobachtungsfeldes conſtatiren, d. h. die Indi—
viduen jener Gruppe zählen, nach den fundamentalſten
phyſiologiſchen Momenten, Geſchlecht und Alter, unterſchei—
den, die durch Geburten und Sterbfälle, Ab- und Zuzug
bedingten Fluctuationen des Grundbeſtandes ermitteln,
woran ſich noch die Berückſichtigung der elementarſten ge—
ſellſchaftlichen Unterſchiede, des Familienſtandes, des Berufs,
des Charakters der Wohnpläze ꝛc. leicht anſchließt. Das
fundamentale Object der Statiſtik iſt hienach die Bevölke—
rung; es iſt das erſte und wichtigſte Merkmal der menſch—
lichen Gemeinſchaften, das ſie zu ermitteln hat und ſie kann
ohne dieſe Grundlage keinen weiteren Schritt mit nur einiger
Sicherheit thun; auch kann keine der andern Wiſſenſchaften
ohne Beachtung dieſer Grundlagen von den ſtatiſtiſchen
Ergebniſſen über irgend einen Punkt Gebrauch machen.
Darum fällt aber gleichwohl die Bevölkerungslehre nicht
mit der Statiſtik zuſammen; ſie iſt nur aus ihr hervorge—
gangen und ihre erſte Frucht. Die Statiſtik iſt überhaupt
nicht eigentliche Lehre, ſondern wiſſenſchaftliche Praxis, wie
etwa die Hermeneutik und Critik; ihre Lehre kann nur aus
ihrer Theorie, aus Betrachtungen, wie die vorliegende, be—
ſtehen; ähnlich wie eine Lehre der Hermeneutik nur metho—
dologiſchen Inhalts ſein könnte ).
) Auch die ſprachliche Form des Wortes iſt hiefür nicht ohne Be
deutung. Die Namen der Wiſſenſchaften endigen auf —ie oder —ik.
Die erſteren mit den Formen —logie, —gnoſie, —nomie, —graphie,
— metrie ꝛc. enthalten eine ſelbſtſtändige Lehre, ein zuſammenhängen—
240
Hieraus iſt zugleich klar, daß die Statiſtik ſtets nur
mit der Gegenwart zu thun hat. Vergangenes läßt ſich
nicht beobachten, ſondern nur durch Concluſion ermitteln
aus Spuren, die es zurückgelaſſen hat, aus Zeugniſſen, die
davon übrig ſind. Eine Statiſtik vergangener Zeiten iſt
bei unſerer Definition ſo wenig herzuſtellen als eine Her—
meneutik verlorener Bücher. Was man ſo zu nennen ver—
ſucht ſein kann, iſt in Wahrheit etwas Anderes. Man
kann allerdings z. B. eine Bevölkerungsſtatiſtik einer Stadt,
eines Bezirkes oder Landes fürs Jahr 1600 nachträglich
fertigen, wenn ſich die Kirchenbücher oder andere Urkunden
von jener Zeit noch erhalten haben. In dieſem Fall liegen
aber die Beobachtungen ſelbſt noch aus jener Zeit vor, die
nur nachträglich geordnet und etwa durch Schlüſſe aus
Säzen der Bevölkerungslehre ergänzt werden. Hierin liegt
zugleich, daß jede ſtatiſtiſche Ermittlung mit dem Augen—
blick ihrer Vollendung bereits begonnen hat, der Geſchichte
des Ganzes von Forſchungsergebniſſen; die auf —ik ſind ſprachlich
nur feminina eines Adjectivs nach der griechiſchen Form 7 —ızy dseil.
,; ſie bezeichnen ſomit urſprünglich keine eigentliche und ſelbſt—
ſtändige Wiſſenſchaft, ſondern nur eine wiſſenſchaftliche Beſchäftigung,
Kunſt, Fertigkeit für praktiſche oder theoretiſche Zwecke. Deßhalb
endigen alle Hilfswiſſenſchaften, alle mehr in einer wiſſenſchaftlichen
Praxis beſtehenden Disciplinen auf —ik; jo Kritik, Hermeneutik, He—
raldik, Diplomatik, Numismatik, Mechanik, Optik, Didactik, Pädagogik,
Dialectik ꝛc. ꝛc. Mehrere andere Disciplinen traten wenigſtens zuerſt
allein in dieſer Geſtalt auf und behielten dann dieſe Form auch bei,
nachdem ſie zu ſyſtematiſchen Wiſſenſchaften waren ausgebildet worden;
ſo Mathematik, Arithmetik, Logik, Grammatik. Bei einigen wenigen
Namen dagegen kommt die Endung auf —ik nicht von 7 —ız/, ſon—
dern von za —ıza; wie Phyſik, Metaphyſik, Ethik.
241
anheimzufallen, aber nicht um hier wie in einem Abgrund
zu verſchwinden, ſondern um als ſchäzbarſtes Material der
Geſchichte ſelbſt und anderer Wiſſenſchaften dauernden Werth
zu behaupten.
Es fragt ſich nun aber noch, wie ſich die Aufgabe der
Statiſtik in ihrem Verhältniß zu den Erfahrungswiſſen—
ſchaften vom Menſchen näher geſtaltet, bis zu welchem
Punkte ſie die Beobachtung fortzuführen, in welchem Zu—
ſtand ſie deren Ergebniſſe an die anderen Wiſſenſchaften
abzuliefern hat. Wäre ihr Geſchäft mit der Beobachtung
und Zählung gewiſſer gleichartiger Einzelfälle abgeſchloſſen,
jo würde ſie den Namen einer Wiſſenſchaft nicht in An—
ſpruch nehmen können, wiewohl auch zur Anordnung und
Leitung einer ſtatiſtiſchen Aufnahme immer noch mancherlei
Kenntniſſe und adminiſtrative Fähigkeiten erforderlich ſind;
ſie verhielte ſich dann zu jenen Wiſſenſchaften im Grunde
doch nicht anders, als der Kräuterſammler zur Botanik.
Wir haben daher oben ſchon gejagt: die Aufgabe der Sta—
tiſtik ſei die Ermittlung von Merkmalen oder die Charakte—
riſtik menſchlicher Collectivbegriffe auf Grund univerſeller
Beobachtungen und Zählungen. Der Statiſtiker muß die
Zahlen, die er mittheilt, zugleich interpretiren, als ein Merk—
mal der Gruppe, welcher ſie entnommen ſind, nachweiſen.
Wir wollen das an dem nächſten beſten vulgären, zufällig
ſich darbietenden Beiſpiel zu zeigen ſuchen. Nach der Auf—
nahme des Viehſtandes von 1861 ergaben ſich für Würt—
temberg 96,000 Pferde, ſo und ſo viel unter, ſo viel über
drei Jahre, ſo viel in dem Ort, Bezirk, Kreis, ſo viel in
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 16
242
jenem. Solche Zahlen ſind ſtumm; der Leſer und Hörer
vermag zunächſt nicht mehr dabei zu denken, als wenn man
ihm ſagte: das Pferd heißt auf tamuliſch ſo und ſo. Er
weiß gleich vornherein nicht: iſt dies nun viel oder wenig?
Der Statiſtiker hat nun den ſtummen Zahlen den Mund
zu öffnen. Er wird zeigen, daß zur Würdigung jener Zahl
zunächſt ein doppeltes Verhältniß zu beachten iſt, das zum
Areal, und zwar ſpeciell zum landwirthſchaftlich benüzten,
ſodann das zur Bevölkerung, und daß zwiſchen dieſen beiden
Geſichtspunkten eine umgekehrte Proportion Plaz greifen
muß, ſofern, je mehr Menſchen auf einer beſtimmten Fläche
ihre Nahrung zu erzeugen haben, um ſo weniger Pferde
ceteris paribus noch ihre Nahrung darauf finden können.
Er wird nun unter dieſem doppelten Geſichtspunkt den
Pferdeſtand anderer Länder, zunächſt der benachbarten und
der deutſchen, vergleichen, Württemberg ſeinen beſtimmten
Plaz in ihrer Reihe ermitteln, und ſo ſchließlich etwa zeigen,
daß es der abſoluten Zahl nach im Vergleich zum Areal
hinter dem Durchſchnitt der deutſchen Länder noch zurück—
ſteht, daß aber relativ genommen nur noch Sachſen unter
allen deutſchen Ländern auf dichter bevölkerter Fläche eine
größere Pferdezahl ernährt, ſomit jener württembergiſche
Pferdeſtand ſchon im Allgemeinen als ein Merkmal von
Fruchtbarkeit und intenſivem Anbau erſcheint. Im Rück⸗
blick auf frühere Zählungen wird ſodann der Statiſtiker
zeigen, daß die neueſte Zahl zwar gegen den Stand der
vorangegangenen Zählungen eine namhafte Vermehrung ent—
hält, doch immer noch nicht unbedeutend gegen die Pferde—
243
zahl der 30er und 40er Jahre zurückſteht, im Großen und
Ganzen jedoch beim Rückblick auf eine 40jährige Periode
die Zahl ziemlich ſtationär erſcheint, im Verhältniß zur Be⸗
völkerung ſomit immer mehr zurückbleibt. Aus der Zahl
der Pferde unter drei Jahren läßt ſich noch ſchließen, ob
das neuerliche Anwachſen auch für die nächſte Zukunft in
Rechnung zu nehmen iſt. Um ſodann die Gründe dieſer
Veränderungen näher zu erkennen, wird man auf die ver—
ſchiedenen Zwecke, denen die Pferde dienen, zu achten, durch
Vergleichung der Ortsliſten die Militär-, Luxus-, Verkehrs—
Pferde von den für die Landwirthſchaft verwendeten zu
unterſcheiden und nachzuſehen haben, auf welche dieſer
Claſſen und auf welche Bezirke eine Zu- oder Abnahme
fällt, welche Wirkung insbeſondere z. B. die Eröffnung der
verſchiedenen Eiſenbahnlinien geäußert hat; an jede Ab—
oder Zunahme einer jener Rubriken werden ſich mancherlei
wichtige Folgerungen und Aufſchlüſſe anreihen. Indem
ſodann auf die Unterſchiede in den einzelnen Landestheilen
geachtet wird, ergibt ſich, daß jene Geſammtzahl von 96,000
Pferden ſich aus den verſchiedenartigſten Einzelſummen zu—
ſammenſezt, daß faſt alle Abſtufungen von den pferdereichſten
bis zu den pferdeärmſten Gegenden im Lande vertreten
ſind, und daß in jeder derſelben die Pferdezahl der getreue
Spiegel der agrariſchen Verhältniſſe iſt. Im Anſchluß an
die populäre und hergebrachte Unterſcheidung des Roß—
bauern vom Ochſen- und Kühbauer gibt die Vergleichung
der Pferdezahl mit dem landwirthſchaftlichen Areal in länd—
lichen Bezirken die natürlichſten Anhaltspunkte für die Ver—
16
244
gleichung der Größe der bäuerlichen Beſizungen. Wo d--500
Pferde auf der Quadratmeile der Landwirthſchaft dienen,
wie in Oberſchwaben, können weder Großgüter noch Zwerg—
wirthſchaften vorherrſchen, wo nur 70—80, muß die Zahl
der anſehnlicheren Bauerngüter ſehr klein ſein. Zwiſchen
dieſen Extremen nimmt dann jeder Landestheil und Bezirk.
ſeine beſtimmte Stelle ein. Man wird die größeren Pferde—
ſtände nicht in den Gegenden des Wein- und Gartenbaus,
der Güterzerſtücklung, nicht in den Wald- und Gebirgs—
regionen, nicht in den Umgebungen der größeren Städte
und Induſtriebezirke ſuchen. Unter dieſen Geſichtspunkten
wird zulezt jede einzelne Zahl bedeutſam und markirt eine
ganz beſtimmte Art von agrariſchen Verhältniſſen. Aus
der Vergleichung der früheren Ziffern ergibt ſich, in welchen
Landestheilen und in welchem Umfang die Roßbauern ſich
in Ochſenbauern verwandeln, und wo die umgekehrte Be—
wegung vor ſich geht. So verwandeln ſich ſchließlich die
Ziffern in deutliche Merkmale des Volkslebens und der
volkswirthſchaftlichen Verhältniſſe; das numeri loquuntur
iſt zur Wahrheit geworden, aber eben damit auch die Auf—
gabe des Statiſtikers beendigt. Wenn jene 96,000 Pferde
durch dieſe, natürlich nur beiſpielsweiſe genannten und die
Sache nicht erſchöpfenden Betrachtungen zu einem charakte—
riſtiſchen Merkmal des württembergiſchen Volks- und Wirth—
ſchaftslebens erhoben ſind, ſo daß den gegebenen Beding—
ungen weder ein Mehr noch ein Weniger entſprechen würde,
jo hat er die weiteren Concluſionen, die theoretiſchen wie
die praktiſchen, Anderen zu überlaſſen. Er hat allerdings,
245
wie unſer Beiſpiel zeigt, nach dem Cauſalzuſammenhang
zu fragen, und es iſt dies ſogar nach unſerer Anſicht der
wichtigſte Theil ſeiner Arbeit, aber er hat nur die concreten
Urſachen der ihm vorliegenden Erſcheinungen, nicht die
conſtanten Urſachen oder Geſeze derſelben aufzufinden. Er
hat nur die Thatſachen ins Licht zu ſtellen, aber weder
Lob noch Tadel, weder Theoreme noch Rathſchläge daran
anzuſchließen. Die Fragen, welchen Werth überhaupt die
verſchiedenen agrariſchen Syſteme haben, ob die größeren
oder kleineren bäuerlichen Güter, ſei es im Allgemeinen,
oder für Württemberg vortheilhafter ſeien, unter welchen
Bedingungen es für den Landwirth räthlich ſei, zur Pferde—
haltung überzugehen oder dieſelbe aufzugeben und ähnliche
wird er der Volkswirthſchaft, beziehungsweiſe den land—
wirthſchaftlichen Disciplinen überlaſſen. Ebenſo werden
die betreffenden Staatsbehörden zu prüfen haben, ob etwa
eine weitere Verminderung des Pferdeſtandes im Intereſſe
der Kriegsbereitſchaft des Landes nachtheilig ſein würde,
ob derſelben aus dieſem oder anderem Grunde entgegen—
gewirkt werden kann und will, ob die Ein- oder Ausfuhr
von Pferden zu begünſtigen oder zu erſchweren ſein mag,
ob ſich der Pferdebeſiz zu einem Object der Beſteuerung
eignet u. ſ. w. Der Statiſtiker hört auf, Statiſtiker zu
ſein und treibt Nationalökonomie, Politik oder Finanzwiſſen—
ſchaft, wenn er auf dieſe Gebiete hinübertritt. Alles das
vollſtändig ans Licht zu ſtellen, was er mit ſeiner Zahlen—
reihe in der Hand unter vergleichender Zuziehung anderer
zuverläßiger ſtatiſtiſcher Erhebungen oder notoriſcher That—
ſachen hinſichtlich der von ihm beobachteten Gruppe beweisen
oder vielleicht auch nur zu einem hohen Grade von Wahr—
ſcheinlichkeit bringen kann, das iſt ſein Feld. Es gibt im
Ganzen nur wenige ſtatiſtiſche Publicationen, in welchen die
Summe von Folgerungen, die auf ſolchem Wege in ſtrin—
genter Weiſe aus den Zahlen abgeleitet werden könnten,
auch nur annähernd gezogen wäre. Tauſende dagegen
ziehen täglich aus ſtatiſtiſchen Aufnahmen die leichtfertigſten
Schlüſſe. Aus ſeinen Zahlenreihen correct und erſchöpfend
zu ſchließen, darin ſehen wir die wichtigſte Eigenſchaft des
Statiſtikers. Nur dem Kundigen öffnet die ſonſt ſtumme
Zahl den Mund, wie Bileams Eſelin nur dem Propheten
vernehmlich war. Das obige Beiſpiel von den Pferden
gehört zu den einfachſten und greift faſt nur in Ein Fach,
das der Volkswirthſchaft ein; das Object kann aber eben
ſo leicht der Art ſein, daß zu einer genügenden Behand—
lung phyſiologiſche, pſychologiſche, juriſtiſche ꝛc. Kenntniſſe
erforderlich ſind. Schon in den Fragen der Bevölkerungs—
ſtatiſtik, z. B. in der Behandlung der Sterbeliſten, greifen
die mannigfaltigſten und complicirteſten Verhältniſſe in
einander. Es kann nichts unrichtiger ſein, als die Mei—
nung, das bloße Zählen und Rechnen und Zahlengruppiren
mache ſchon den Statiſtiker, er muß univerſelle Bildung
mit vielſeitigem poſitiven Wiſſen, ein großes Combinations—
vermögen mit ſcharfer Logik verbinden; eben das, daß er
einer ganzen Gruppe von Wiſſenſchaften zu dienen hat,
ſtellt die Forderung an ihn, zwei Eigenſchaften in ſich zu
vereinigen, die nur durch das Bindeglied hoher, allgemeiner
Bildung vereinbar ſcheinen, Präciſion des Denkens und
eine gewiſſe Polyhiſtorie.
Wenn wir nun in der ganzen bisherigen Ausführung
das Vorhandenſein einer ſocialen Hilfswiſſenſchaft, die den
Erfahrungswiſſenſchaften vom Menſchen durch die Hand—
habung des methodologiſchen Mittels der univerſellen Be—
obachtung in die Hände arbeitet, conſtatirt und begründet
und derſelben den Namen Statiſtik beigelegt haben, ſo
laſſen wir damit jene andere Wiſſenſchaft von den Zu—
ſtänden der Menſchheit oder Völker und Staaten an ſich
ganz unberührt; und dieſe müßte bei unſerer Auffaſſung
ihren Plaz dann eben unter jenen Wiſſenſchaften, denen
die Statiſtik zu dienen hat, ſuchen. Nur den Namen haben
wir ihr entzogen und auch dieſen nicht auf Grund eines
etymologiſchen oder hiſtoriſchen Anſpruchs; im Gegentheil
würden wir unſerer Hilfswiſſenſchaft lieber den bezeichnen—
deren Namen: ſociale Empiriſtik oder einen ähnlichen bei—
gelegt ſehen. Nur weil ſich der deutſche Sprachgeiſt, der
usus tyrannus, nun einmal unzweifelhaft in dieſer Richtung
entſchieden hat, blieb nichts Anderes übrig, als das Kind,
ſtatt nach ſeinem rechten Vater, nach demjenigen, der es
groß gezogen und adoptirt hat, zu taufen. Eine andere
Frage iſt es nun aber, ob jene zweite Wiſſenſchaft, die ſich
bisher auch Statiſtik nannte und von den Männern der
Wiſſenſchaft ſogar ausſchließlich ſo genannt wurde, den
Verluſt jenes Namens eben ſo leicht verſchmerzen wird,
als unſere Hilfswiſſenſchaft darauf verzichten könnte. Auch
in der Societät der Wiſſenſchaften iſt ein alter Name, eine
248
ſtattliche Firma ein werthvoller Beſiz, zumal für denjenigen,
mit deſſen ſonſtigen Legitimationspapieren es nicht zum
Beſten beſtellt iſt. Das Namenloſe iſt auch hier recht- und
heimathlos, und wo will jene politische Zuſtandswiſſenſchaft
wieder einen ſo vieldeutigen, proteiſchen Namen finden, als
Statiſtik mit der doppelten Ableitung von status, der Staat
und status, der Zuſtand?
Wir haben keinen Zweifel darüber, daß es ein reales,
einen beſonderen Plaz im Kreiſe der Wiſſenſchaften erfor—
derndes Bedürfniß der menſchlichen Erkenntniß iſt, dem jene
politiſche Zuſtandswiſſenſchaft genügen will, aber die große
Zahl von vergeblichen Verſuchen zeigt, daß es nicht leicht
iſt, dies Bedürfniß genau zu bezeichnen und die Aufgabe
der ihm entſprechenden Disciplin zu beſtimmen. Die Schwie—
rigkeit iſt dadurch, daß wir unter dem Namen der Statiſtik
eine methodologiſche Hilfswiſſenſchaft ausgeſondert haben,
zwar vermindert, aber noch nicht beſeitigt; ſie ſcheint vor—
zugsweiſe darin zu liegen, zwiſchen zwei Abwegen, die nahe
aneinander grenzen, die richtige Straße zu finden. Auf
der einen Seite liegt die Gefahr, daß man nur ein mixtum
compositum von Notizen aus Geographie, Geſchichte, Staats—
recht, Ethnographie, Bevölkerungslehre, Volkswirthſchafts—
lehre zu Stande bringt, das eigentlich nicht zu den Wiſſen—
ſchaften, ſondern zu jenen mannigfaltigen Complexen von
Wiſſensſtoffen zu rechnen iſt, in welchen Stücke verſchiedener
Wiſſenſchaften unter dem Geſichtspunkt eines beſtimmten
praktiſchen Bedürfniſſes zuſammengefaßt werden, wie z. B.
Technologie, Handelswiſſenſchaften ꝛc. Das praktiſche Be—
dürfniß, das bei ſolchen Notizenſammlungen im Stillen als
das einheitliche Band des Ganzen behandelt wird, iſt dann
etwa das Intereſſe des Zeitungsleſers. Der andere Ab—
weg iſt aber, daß man, um aus dem Kreis der Wiſſen—
ſchaften nicht verdrängt zu werden und doch auch von jenem
bunten und reichen Stoff nichts fahren zu laſſen, eine
wiſſenſchaftliche Aufgabe aus ſo weiten und abſtracten Be—
griffen formulirt, daß in der That de omnibus et quibus-
dam aliis darin die Rede ſein kann.
Auf den lezteren Abweg ſcheinen uns nun diejenigen
gerathen zu ſein, welche den Begriff des Zuſtandes zum
Fundament einer beſonderen Wiſſenſchaft machen zu können
glauben, die uns jene Doppelgängerin der Univerſalgeſchichte
conſtruiren, jene Wiſſenſchaft, die ſich das Leben der Menſch—
heit als ruhendes Daſein denkt, jene ſtillſtehende Geſchichte,
die nicht auf das Werden, ſondern nur auf das Gewordene
achtet und den Bau der Menſchheit durch die Zeichnung
eines Querdurchſchnittes deutlich macht. Wenn in Wahr—
heit die Geſchichte eben einmal nicht ſtilleſteht, wenn das
Leben der Menſchheit kein ruhendes Daſein iſt, ſondern
ein ruheloſes Schaffen am ſauſenden Webſtuhl der Zeit,
ſo kann es auch keine Wiſſenſchaft geben, die berechtigt
wäre, ſich dies jo zu denken. Deductive Wiſſenſchaften
kann es geben, die eine Fiction oder Abſtraction zu ihrem
Ausgangspunkt haben, aber eine Erfahrungswiſſenſchaft,
die auf einer Fiction ruht, muß ſelbſt eine Fiction ſein,
und eine Lehre von ruhenden Völkerleben kann es ſo wenig
geben, als von ſtillſtehenden Strömen. So wenig die Ar—
chitektonik nur die Lehre von den Aufriſſen der Gebäude
behandelt und die Lehre von den Querdurchſchnitten einer
andern Disciplin zuweiſt, ſo wenig greift der Geſchicht—
ſchreiber in fremdes Gebiet hinüber, wenn er uns ein Volks—
leben bald in einer Reihe ſucceſſiver Begebenheiten, bald in
einer Ueberſicht ſeiner gleichzeitigen Erſcheinungen ſchildert.
Beides ſind nur Darſtellungsformen, die durch den discur—
ſiven Charakter der menſchlichen Erkenntniß bedingt ſind.
Es mag vielleicht kleinlich erſcheinen und iſt doch nicht
ohne Bedeutung, wenn wir daran erinnern, daß der Begriff
des Zuſtandes zu den der deutſchen Sprache eigenthümlichen,
keineswegs in jeder gebildeten Sprache vorhandenen gehört.
Nur die an abſtracten Gebilden gleich reiche Sprache der
Hellenen hat ähnliche Ausdrücke. Den Terminus der grie—
chiſchen Grammatiker, / ,Hmu ua einc, den wir im deut—
ſchen durch „zuſtändliche Zeitwörter“ wiedergeben, vermochte
das Lateiniſche nur durch die negativen Ausdrücke, Verba
neutra oder intransitiva, zu überſezen. Die Worte status,
etat, state, heißen nicht „Zuſtand“, ſondern „Stand“. Der
Stand iſt derjenige Punkt einer von einem Gegenſtand
durchlaufenen Bahn, auf welchem dieſer ſich in dem Augen—
blick unſerer Betrachtung befindet, wie wir vom Stand der
Sonne, der Papiere, eines Prozeſſes reden. Die Sprachen,
die ſich auf dieſen Ausdruck der Sache beſchränken, ver—
mögen alſo von dem richtigen Bewußtſein des Heraclitiſchen
Sazes avre sei keinen Augenblick zu abſtrahiren. In
dem Wort „Zuſtand“ dagegen ſehen wir von einer voran—
gegangenen und nachfolgenden Bewegung des Gegenſtandes,
251
jowie von allem Verhältniß zu andern Gegenſtänden ab
und vergleichen ihn nur mit ſich ſelbſt, d. h. mit der nor—
mirenden Vorſtellung, die das betrachtende Subject dazu
mitbringt. Der Zuſtand eines Dings iſt die Geſammtheit
ſeiner gleichzeitigen Merkmale, verglichen mit unſerer For—
derung an daſſelbe. In dieſem Sinne iſt es, daß wir mit
dem Worte „Zuſtand“ in der Regel nur Prädikate, die
ein Werthurtheil enthalten, verbinden, von einem guten
oder ſchlechten, angenehmen, traurigen, verwahrlosten, be—
friedigenden Zuſtand reden. Hiebei kommt natürlich Alles
auf den mitgebrachten Maßſtab an. Qualitative Prädikate
anderer Art verbinden wir mit dem Begriff des Zuſtandes
nur dann, wenn ein und daſſelbe Object weſentlichen, die
Geſammtheit ſeiner Merkmale alterirenden Veränderungen
unterworfen iſt, wie man z. B. von einem ſtarren oder
flüſſigen Zuſtand des Waſſers, oder von Zuſtänden des
Wahnſinns, der Schwermuth, oder weiter von einem Zu—
ſtand der Fäulniß, der Trockenheit ꝛc. ſpricht. An ſich
ſollte man meinen, daß das Wort Zuſtand von Einem
Gegenſtand nicht in der Mehrzahl gebraucht werden könnte,
da es ſtets nur Eine Geſammtheit von gleichzeitigen Merk—
malen geben kann. Die deutſche Sprache hat ſich jedoch
gewöhnt, wenn von einem Collectivbegriff, der eine Man—
nigfaltigkeit individuell verſchiedener Dinge unter ſich be—
greift, die Rede iſt, lieber die Mehrzahl zu gebrauchen,
und ſomit nicht von dem Zuſtande, ſondern von den Zu—
ſtänden einer Geſellſchaft, eines Volkes, der Menſchheit zu
reden. An Klarheit der Begriffe iſt jedenfalls mit dieſem
252
Pluralis Nichts gewonnen und wenn dann die Gelehrten:
ſprache noch weiter geht und auch noch die Wörter „zu—
ſtändlich“ und „Zuſtändlichkeit“ bildet, wenn wir z. B. bei
einem Schriftſteller über Statiſtik leſen, die Statiſtik be—
handle diejenigen Erſcheinungen vom Leben der Menſchheit,
welche ein „Moment der Zuſtändlichkeit“ an ſich haben, ſo
ſcheint ſich uns damit die Sprachbildung wieder in jene
Nebel- und Wolkenregion zu verlieren, die nichts mehr
deutlich erkennen läßt, und erinnert an eine beliebte Eigen—
heit der deutſchen Gelehrſamkeit, über die der Fremde nicht
mit Unrecht klagt oder ſpottet. Wenn nun aber an dieſen
Erläuterungen des Wortes etwas Wahres iſt, ſo würde
nun die Wiſſenſchaft von dem Zuſtand oder den Zuſtänden
der Menſchheit nicht weniger ſein, als die Wiſſenſchaft,
welche die Geſammtheit der gleichzeitigen Merkmale der
Menſchheit, an ihrer Idee gemeſſen, darſtellt. Dieſer Auf—
gabe wollen wir die Großartigkeit ihrer Conception nicht
beſtreiten; wohl aber glauben wir, daß ſie die Bedingungen
unſerer Erkenntniſſe, ſowie den jezigen Stand aller ſocialen
und geſchichtlichen Wiſſenſchaften weit überfliegt, daß ſie,
ſoweit ſie überhaupt als ausführbar erſcheinen kann, der
Univerſalgeſchichte zuzutheilen iſt, daß ſie zu demjenigen,
was ſich uns nachher als concreter Inhalt zu Ausfüllung
jenes Rahmens darbietet, jenen bunten geographiſchen,
ſtaatsrechtlichen, ſtatiſtiſchen Notizen in einem ſeltſam idealen
Verhältniß ſteht. Sodann erfordert ſchon die Oekonomie
des wiſſenſchaftlichen Lebens, für welches das Geſez der
Theilung der Arbeit gleichmäßig gilt, keiner einzelnen Dis—
253
ciplin ein jo ausgedehntes und ungleichartiges Feld abzu—
meſſen, daß keines Menſchenlebens Kraft und Dauer aus—
reicht, es auch nur flüchtig zu durchwandern. Zuſtand der
Menſchheit iſt ein ungreifbarer, unabſehbarer Begriff.
Gleichwohl erhält ſich allen dieſen Einwendungen gegen—
über doch das untrügliche Gefühl, daß es ſich hier nur um
Irrthümer in den Ausdrücken, in der Formulirung handeln
könne und daß es eine Betrachtungsweiſe des geſellſchaft—
lichen Lebens geben müſſe, die, wenn ſie auch im weiteren
Sinn des Worts eine geſchichtliche zu nennen ſein möge,
doch nach Zweck und Art von der hiſtoriſchen Darſtellung
zu unterſcheiden ſei. Werden doch ſchon pſychologiſch ganz
andere geiſtige Kräfte in Bewegung geſezt, wenn ich ein
Volk in lebendiger Gegenwart, in der Fülle und Breite
ſeiner mannigfaltigen Thätigkeiten beobachte und zu begreifen
ſuche, als wenn ich durch Schlußfolgerungen aus Denkmälern
und Berichten vergangene Begebenheiten oder Zuſtände mich
zu errathen bemühe.
Den Ort und die Grenzen der hier in Frage ſtehen—
den Disciplin haben wir vom Standpunkt unſerer Auf—
faſſung aus ſchon im Obigen bezeichnet. Indem wir ſämmt—
liche Wiſſenſchaften, die den ſocialen, geſchichtlich gewordenen
Menſchen behandeln, in ſolche theilten, welche die natür—
lichen Gruppen von Individuen, und in ſolche, welche die
natürlichen Gruppen von Lebenskreiſen zum Gegenſtand
haben, indem wir die natürlichen und gegebenen Gruppen
von Individuen in den Völkern, ſofern ſie Staaten bilden,
erkannten, indem wir ſodann bei jeder Wiſſenſchaft wieder
254
einen graphiſchen, hiſtoriſchen und ätiologiſchen oder ſyſte—
matiſchen Theil unterſchieden, ſo entſpricht der graphiſche
oder beſchreibende Theil der Völkerlehre genau demjenigen,
was wir hier ſuchen.
Wie heißt nun dieſe Wiſſenſchaft, da doch jedes Ding
vor Allem eines Namens bedarf und bei einer Wiſſenſchaft
die Namengebung dem Ritterſchlag gleicht, der ſie aus dem
Stand der Knappen in den Kreis der Freien und Eben—
bürtigen führt? Die Auswahl iſt auch nach Streichung
der Statiſtik nicht klein: Völkerbeſchreibung, Voltskunde,
Völkerkunde, Völkerzuſtandskunde, Staats- oder Staaten—
kunde, Ethnographie, politiſche Geographie? Es iſt nicht
gleichgültig, welchen von dieſen Namen man wählt, denn
jeder gibt dem Grundgedanken eine gewiſſe Modification,
die nicht ohne weiteren Einfluß bleiben kann. Die erſte
Frage iſt: ſind die Völker oder Staaten das Object jener
Wiſſenſchaft oder ſind beide neben einander zu nennen?
Diejenigen, welche den Namen der Staatenkunde für hin—
reichend halten, um Alles dasjenige zu umfaſſen, was man
jener Wiſſenſchaft als ihren Stoff zuzuweiſen pflegt, müſſen
den Begriff des Staats in einem univerſellen Sinne faſſen,
den wir nicht für berechtigt halten können. Der Staat iſt
die das Volksleben ordnende Gewalt, aber nicht das Ord—
nende, ſondern das Geordnete bildet die Subſtanz einer
Sache. Allerdings faßt der Staat die Totalität der menſch⸗
lichen Beſtrebungen unter einem ſchirmenden Dach und
hinter ſchüzenden Mauern zuſammen und unterwirft ſie im
Innern des Baus einer für Alle bindenden Hausordnung;
ID
a
Si
*
aber in die Beſchreibung eines Baus und ſeiner inneren
Ordnung gehört darum doch nicht auch das Leben und der
Charakter ſeiner Bewohner. Mit weit größerem Recht wird
vielmehr, wer das Leben und den Charakter dieſer Be—
wohner ſchildern will, auch das als ein für ſie charakte—
riſtiſches Merkmal in ſeine Darſtellung mit aufnehmen, was
für ein gemeinſchaftliches Wohnhaus ſie ſich gebaut und
welche Hausordnung ſie ſich gegeben haben. Geboren werden
und Sterben, Heirathen und Kindererzeugen, Kaufen und
Verkaufen, das Feld beſtellen oder ein Gewerbe treiben,
Erben und Erwerben, arm ſein oder reich, gebildet oder un—
gebildet, wohlwollend oder herzlos, fromm oder unfromm ꝛc.
ſind Ereigniſſe, Handlungen, Eigenſchaften des Lebens
der Einzelnen, zu denen der Staat zwar mancherlei Be—
ziehungen, von denen Notiz zu nehmen er mancherlei In—
tereſſe haben mag, die aber, unabhängig von ihm, den In—
halt des individuellen Lebens ausmachen und außer und
vor dem Staat gedacht werden können. Das politiſche
Leben iſt eine Seite des Volkslebens, nicht umgekehrt.
tespublica res populi, ſagt Cicero mit einem keineswegs
blos für Republiken wahren Ausdruck, fährt aber fort:
populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo
congregatus sed coetus multitudinis juris consensu et uti-
litatis communione sociatus. In diefem Sinne war es,
daß wir oben nicht einfach die Völker als das Object un—
ſerer Wiſſenſchaft bezeichneten, ſondern die Völker, ſofern
ſie Staaten bilden, ſich in der Spize einer einheitlichen,
ordnenden Gewalt zuſammenfaſſen. Es iſt jedoch nur ein
Mangel der deutſchen Sprache, daß wir dieſen Zuſaz zu
machen hatten. Das deutſche Wort „Volk“ hat zwei ſehr
verſchiedene Bedeutungen, eine ethnographiſche und politiſche.
Die Griechen und Römer hatten dafür getrennte Bezeich—
nungen, 89% s und % ios, gens (oder natio) und populus.
Die Deutſchen ſind ein Volk im ethnographiſchen Sinne,
aber nicht im politiſchen; die Schweizer, die Oeſterreicher
ſind es im politiſchen, aber nicht im ethnographiſchen. Die
Ethnographie wäre daher der Geſchichte, der politiſchen
Geographie, oder der Anthropologie zuzuweiſen; für unſere—
Wiſſenſchaft aber würden wir am liebſten den Namen
„Demographie“ wählen. Für die ſchwächſte Einwendung
gegen eine ſolche Benennung würden wir die halten, daß
wo möglich ein deutſches Wort zu wählen wäre. Die
Wiſſenſchaften ſind Gemeingut der Menſchheit und fragen
nichts nach den Grenzpfählen der Sprachen und Völker;
dies hat eben ſeinen Ausdruck in ihrer gemeinſamen, den
alten Sprachen entnommenen Terminologie. Wollte jedes
gebildete Volk die wiſſenſchaftlichen Ausdrücke in ſeine
Sprache umprägen, ſo gäbe das nicht nur eine unnöthige
Erſchwerung aller gelehrten Studien, ſondern auch eine
wirkliche Gefährdung der Wiſſenſchaften ſelbſt, ſofern im
Gebiet des abſtracten Denkens nur ſelten zwei Sprachen
congruente Begriffe bilden. Eine einzelne Wiſſenſchaft iſt
kein Gattungsbegriff; ſie iſt nur einmal vorhanden und
fordert daher eine Art von nomen proprium für ihre Be—
zeichnung. Der wiſſenſchaftliche Terminus will benennen,
nicht definiren; und das leiſtet uns eben der Gebrauch der
257
Fremdſprache beſſer. Man denkt bei Caſus nicht an einen
Fall, bei Dativ und Accuſativ nicht an ein Geben oder
Anklagen; die deutſchen grammatiſchen Bezeichnungen aber,
wie „Weſſenfall, Verhältnißwörter, Beiwörter, Fürwörter“
machen Anſpruch darauf, zugleich eine Erklärung der Sache
zu geben, was doch nie möglich iſt und nur zur Verwirrung
führt. So ſchlimm iſt es nun zwar nicht mit jenen aus
Lehre, Kunde, Beſchreibung ꝛc. gebildeten Namen von Wiſſen—
ſchaften, aber doch wird ſich neben den alten, weltgültigen
Namen der Phyſik, Logik, Ethik, Geographie, ſelbſt die
Naturlehre, Denklehre, Sittenlehre, Erdkunde, wiewohl dieſe
Bezeichnungen noch zu den beſten gehören, nicht behaupten
können. Wenn man nur die Eine Unbequemlichkeit nimmt,
daß dieſe Wörter keine adjectiviſche Form haben! Wie
unzähligemal iſt man veranlaßt, von einer phyſicaliſchen,
ethiſchen, geographiſchen Unterſuchung, Frage, Schrift, Be—
ziehung, Seite der Sache zu reden und wie kümmerlich
muß man ſich da mit den deutſchen Wörtern behelfen!
Ebenſo iſt es mit der Bildung der Subſtantiva: der Phy—
ſiker, der Geograph, wo man dann jagen müßte: der Natur-
lehrer, der Erdkundige. Beſonders ungeſchickt iſt hierin
aber die Form, Kunde, da das Wort nun einmal urſprüng—
lich ein Wiſſen' und nicht ein zu Wiſſendes, nicht eine
Wiſſenſchaft bezeichnet, und dieſer Sinn beſonders in dem
Adjectiv „kundig“ ausſchließlich zu Tage tritt. Zudem
haben die Compoſita aus ſolchen Wörtern eine ſo ſchwache
Cohäſion, daß, wenn ein Wort von ſtärkerer Verwandtſchaft
in ihre Nähe kommt, ſie eine Neigung zeigen, ihre Ver—
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 17
258
bindung wieder aufzulöſen. Statt „Volkskunde, Staats—
kunde von Bayern“ möchte man lieber ſagen: Kunde vom
bayeriſchen Volk oder Staat, wenn das Wort Kunde dieſe
Iſolirung vertrüge und damit nicht in ſeine Grundbedeu—
tung zurückfiele. Noch weniger aber ließe ſich ſagen:
Dazu kommt,
daß die griechiſchen Namen ſchon durch ihre Endungen
— graphie, —logie ꝛc. ꝛc. den methodologiſchen Charakter
der einzelnen Wiſſenſchaften andeuten, wenn auch zum Theil
nur ihre erſte hiſtoriſche Geſtalt. Erdkunde könnte ebenſo—
Völkerkunde, Staatenkunde von Bayern.
gut Geologie als Geographie bedeuten, und ſo muß man
auch fragen: iſt die Volkskunde eine beſchreibende oder eine
ſyſtematiſche Wiſſenſchaft vom Volk, eine Demographie oder
Demologie? Der Ausdruck „Beſchreibung“ endlich läßt
ſich im Sinn von einer beſchreibenden Wiſſenſchaft über⸗
haupt nicht ohne Zwang gebrauchen und theilt außerdem
faſt alle Mängel jener Compoſita von „Lehre“ und „Kunde.“
Neue Namen einer Wiſſenſchaft vorzuſchlagen, iſt ſtets ein
mißliches und in der Regel verlorenes Unternehmen, aber
das dürfte aus den vorſtehenden Bemerkungen zum Min—
deſten erhellen, daß in den Namen noch viel Verwirrung
und Unklarheit herrſcht und daß dabei allerhand tiefer
liegende Gebrechen zu Tag treten.
Eine beſondere Erwähnung erfordert noch das Ver—
hältniß dieſer Völkerkunde oder Demographie zu der poli—
tiſchen Geographie. Früher pflegte man unter dieſem weiten
Namen alles das unterzubringen, was man jezt Statiſtik,
Völker- und Staatenkunde nennt. Später hat man ihr
259
nichts von allem dem mehr gelaſſen und überhaupt die
wiſſenſchaftliche Berechtigung dieſer Disciplin in Frage ge—
ſtellt. Es iſt jedoch ſeit Humboldt, Ritter, Rougemont ze.
nicht mehr zweifelhaft, daß es auch eine Geographie des
Menſchen gibt; nur über ihre Abgrenzung ſteht noch wenig
feſt. Geographie und Geſchichte, der Planet und die Menſch—
heit vertreten zuſammen die Totalität aller irdiſchen Er—
ſcheinungen. Es verſteht ſich, daß beide in mannigfaltiger
Wechſelbeziehung zu einander ſtehen. Die Verbindung be—
ſteht aber nicht in Einer beide Gebiete combinirenden Wiſſen—
ſchaft, ſondern ſie kommt dadurch zu Stande, daß jede jener
beiden Geſammtwiſſenſchaften einen Zweig treibt, der dem
andern Theil entgegenwächſt und ſich mit ihm verſchlingt.
Der Zweig der Geographie iſt derjenige Theil derſelben,
welcher die Erde als Wohnſiz des Menſchen und die Wir—
kungen betrachtet, welche ſie in dieſer Eigenſchaft theils
ausübt, theils erleidet. Sie zeigt einerſeits, an anthropo—
logiſche Ausgangspunkte anknüpfend, in einer der ſoge—
nannten Pflanzen- und Thiergeographie correſpondirenden
Weiſe die Verbreitung der Menſchheit unter dem Einfluß
der Zonen, der großen Continentalcharaktere, des Klima's ıc.,
die Verbreitung der Nacen und Völkerſtämme, der Sprachen,
Kulturverhältniſſe u. ſ. w. und heißt in dieſer Eigenſchaft
Geographie des Menſchen; ſodann zeigt ſie uns die einzelnen
Länder als die Territorien beſtimmter Völker und Staaten
und heißt in dieſer Beziehung politiſche Geographie; end—
lich betrachtet ſie die durch die Thätigkeit der Menſchen
beſonders markirten Punkte der Erdoberfläche, die einzelnen
I
260
Wohnpläze und heißt in dieſer Eigenſchaft Topographie.
Während nun in dieſen Disciplinen ſtets vom Areal und
ſeinen Eigenſchaften ausgegangen wird, betrachtet der von
dem Stamm der Geſchichtswiſſenſchaften aus ſich abzweigende
Aſt, die Völkerkunde oder Demographie, zum Theil die—
ſelben Erſcheinungen, nur nicht als Merkmale der Länder,
ſondern der Völker. Sie ſchildert ein concretes Volksleben
als die Geſammtwirkung geographiſcher und geſchichtlicher
Vorbedingungen; ſie zeigt uns, was das Volk unter der
Gunſt und Ungunſt ſeines heimathlichen Bodens geworden
iſt, wie es ihn ſelbſt geſtaltet, ſeine Schäze ausgebeutet,
ſeine Mängel ergänzt, ſeine Berge und Ströme überwältigt,
ſeine Pflanzendecke und Thierbelebung verwandelt, ihn mit
Städten und Dörfern beſäet, mit Straßen und Kanälen
durchzogen, und ſo gleichſam zu einem beſeelten Raum,
zum Abdruck ſeines Geiſtes und Willens ungeſchaffen hat.
Es zeigt ſich ſchon hieran, wie nah jene beiden Wiſſen—
ſchaften verwandt ſind und wie die Verſchiedenheit mehr
in dem Geſichtspunkt als in dem Object der Betrachtung
liegt. So z. B. wird die politiihe Geographie die Ergeb—
niſſe des Bergbaus, der Landwirthſchaft unter dem Ge—
ſichtspunkt von Landesprodukten betrachten; die Volkskunde
dagegen wird den gleichen Gegenſtand als eine Seite der
wirthſchaftlichen Thätigkeit des Volkes und im Zuſammen—
hang mit andern Seiten des Volkslebens behandeln. Das—
ſelbe Object iſt ſo in einem Fall ein Merkmal des Landes
gegenüber von andern Ländern, im andern ein Merkmal
261
der wirthſchaftlichen Thätigkeit des Volkes gegenüber von
andern Thätigkeiten.
Den Begriff Geſchichte im weitern Sinn des Wortes
genommen iſt die Volkskunde oder Demographie ſelbſt eine
Geſchichtswiſſenſchaft, im engern Sinne ſteht ſie der eigent—
lichen Geſchichtſchreibung als eine Hilfswiſſenſchaft zur Seite.
Das Bedürfniß der wiſſenſchaftlichen Arbeitstheilung bringt
es mit ſich, daß der Geſchichtſchreiber, der uns das Völker—
und Staatenleben in ſeiner zeitlichen Entwicklung ſchildert,
ſeinen umfaſſenden Gegenſtand nicht zugleich in der ganzen
Breite ſeiner Erſcheinung ſtetig fortführen kann, daß er,
auf die typiſchen und hervorragenden Ereigniſſe und Per—
ſönlichkeiten angewieſen, nicht zugleich auch dasjenige uns
vergegenwärtigt, was ſich unmerklich aus einer unendlichen
Menge einzelner, für ſich bedeutungsloſer Thätigkeiten der
Individuen zu einer Maſſenwirkung zuſammenſezt. Der
Hiſtoriker gleicht darin dem dramatiſchen Dichter, der uns
eine bedeutungsvolle Handlung an Perſonen, die unſer
Intereſſe erregen, in charakteriſtiſchem Detail vor Augen
führt, dabei aber dem Leſer oder Zuhörer überläßt, ſich
den Schauplaz und Boden der Begebenheit mit allerlei
begleitenden Nebenumſtänden hinzuzudenken oder mit Hilfe
der theatraliſchen Scenerie zu ergänzen. So bildet die
Demographie gleichſam den Hintergrund, in welchen der
Hiſtoriker ſein Gemälde einzeichnet. Eine Geſchichtſchreibung,
die den unabſehbaren demographiſchen Stoff ſtets in ſeiner
ganzen Breite mit ſich fortwälzen wollte, müßte verwirrend
und unverſtändlich werden. Sie kennt kein werthvolleres
Material, wird aber doch nur mit Auswahl und bei be-
ſonderem Anlaß davon unmittelbaren Gebrauch machen
dürfen. Es wird immer wieder die Kunſt des Geſchicht—
ſchreibers bleiben, das von der Demographie auf dem Wege
der univerſellen Beobachtung gewonnene Bild des Volks—
lebens in typiſchen Thatſachen abzuſpiegeln.
Wenn wir nun endlich auf den Ausgangspunkt unſerer
Unterſuchung, den Begriff der Statiſtik zurückſehen, ſo be—
darf es nach dem Obigen keiner nähern Ausführung mehr,
in welchem Verhältniß jene Demographie zu der Statiſtik
in unſerem Sinne ſteht. Sie iſt ein ſelbſtändiger Wiſſens—
zweig, der an der Statiſtik ſeine vornehmſte und unent—
behrliche Hilfswiſſenſchaft hat und ohne ſie nicht zu einer
ſelbſtändigen Entwicklung hätte gelangen können. Gleich—
wohl fallen beide Disciplinen keineswegs zuſammen, ſofern
einerſeits die Demographie ihren Stoff auch noch aus
mancherlei andern Quellen ſchöpft, und andererſeits die
Statiſtik auch noch mancherlei andern Wiſſenszweigen in
gleicher Weiſe Dienſte leiſtet. Nur der Umſtand, daß die
Statiſtik bis jezt vorherrſchend in den Händen der Staats—
behörden lag, und darum vorzugsweiſe für Zwecke der
Staatskunde in Anſpruch genommen worden iſt, erklärt es,
wie der politiſche Inhalt und das methodologiſche Verfahren,
durch das derſelbe großentheils ermittelt wird, anfänglich
als Eine Wiſſenſchaft erſcheinen konnte und mußte.
Hiemit ſind wir zugleich am Ziele unſerer Unter—
ſuchung angelangt. Das was bisher Statiſtik hieß, hat
ſich uns hiernach in zwei getrennte Disciplinen aufgelöst,
263
eine allgemeine methodologiſche Hilfswiſſenſchaft der Er—
fahrungswiſſenſchaften vom Menſchen, welcher wir, dem
gemeinen Sprachgebrauch folgend, den Namen Statiſtik
beilegten, und eine ſelbſtſtändige, auf dem Grenzgebiet von
Geographie und Geſchichte gelegene, Wiſſenſchaft, für die
wir den Namen Demographie gewählt haben, die aber auch
bei entſprechender Erläuterung der Begriffe Völker- oder
Staaten-, Volks- oder Staatskunde genannt werden mag.
Unſere Auffaſſung trifft hienach in dem Grundgedanken
mit der Knies'ſchen Anſicht zuſammen, nur daß wir die
beiden Glieder weſentlich anders charakteriſiren und anders
benannt haben. Der Gang unſerer Unterſuchung hat uns
wiederholt genöthigt, einen höhern Standort und eine weitere
Rundſchau zu gewinnen, als die beſchränkte Aufgabe Man—
chem zu erfordern ſcheinen mag. Wenn es ſich aber darum
handelt, einer noch jungen Wiſſenſchaft ihren feſten Siz in
dem akademiſchen Saale anzuweiſen, ſo iſt das ohne einige
Orientirung über die ganze Anordnung dieſes Saales nicht
wohl möglich. Nun iſt aber nicht wohl zu läugnen, daß
auf demjenigen Flügel, wo die ſocial-politiſchen Wiſſen—
ſchaften ihre Size haben, noch eine ziemliche Unordnung
zu Hauſe iſt, indem faſt jeder neue Forſcher die Pläze
wieder anders vertheilt und mit anderen Namen belegt.
Und da unter den uns bekannten Gruppirungen des wiſſen—
ſchaftlichen Stoffes keine ſich unter diejenigen Geſichtspunkte
einfügen ließ, die wir nun einmal in dieſer Sache als die
maaßgebenden betrachten mußten, ſo blieb nichts übrig,
als theilweiſe ſelbſt wieder eine neue Gruppirung zu ver—
juchen. Damit iſt nun aber freilich die Schwierigkeit, wie
die Anfechtbarkeit unſeres Verſuches, die Aufgabe zu löſen,
weſentlich verſtärkt worden, zumal da die Kritik ſo ſelten
geneigt iſt, dem Gedankengang eines Schriftſtellers genau
zu folgen und ſo gerne ſich an das zur Seite Liegende
und minder Weſentliche anheftet.
Um aber eine Unterſuchung über Statiſtik mit einer
ſtatiſtiſchen Notiz zu ſchließen, ſo gibt es, wenn wir Nichts
übergangen und recht gezählt haben, bis jezt 62 verſchiedene
Erklärungen über den Begriff der Statiſtik und die unſrige
wäre dann die 63te. Da wir nun keinen Anſpruch darauf
machen, das ſeltſame Räthſel ganz gelöst, ſondern nur,
das Ungenügende der ſeitherigen Löſung neu beleuchtet und
auf einige noch unbeachtete Seiten der Sache hingewieſen
zu haben, und da der Drang nach klarer Erkenntniß, der
„alte Maulwurf“ nach Hegels Ausdruck, keine Ruhe kennt
und ſich auch vor dem Prädikat der „Wunderlichkeit“ und
„pſychologiſchen Merkwürdigkeit“ nicht ſcheut, ſo begrüßen
wir unſern Nachfolger, Nr. 64, mit dem alten akademiſchen
Wort, das auf dem Felde der wiſſenſchaftlichen Forſchung
ſeine ſchönſte Bedeutung hat: vivat sequens!
Zur Cheorie der Statiſtik.
II. 1874.
Wenn ich vor zehn Jahren, mit mancherlei Arbeiten
der praktiſchen Statiſtik beſchäftigt, verſucht habe, mir ſelbſt
und Andern in der voranſtehenden Weiſe den eigenthüm—
lichen Charakter der Statiſtik und ihre Stellung in dem
Zuſammenhang und Ganzen der Wiſſenſchaften deutlich zu
machen, ſo habe ich in der Zwiſchenzeit durch akademiſche
Vorleſungen über Statiſtik vielfältigen Anlaß gefunden,
von verſchiedenen Geſichtspunkten aus auf die theoretiſchen
Fragen und jene früheren Unterſuchungen zurückzukommen.
Hiebei hat in den Hauptpunkten die frühere Auffaſſung
auch einer erneuerten Prüfung Stand gehalten, im Ein—
zelnen jedoch wurde ich zu mancherlei Ergänzungen und
Berichtigungen von theilweiſe eingreifenderer Bedeutung ge—
führt, welche als Nachtrag hier zuſammengeſtellt zu finden
vielleicht dem Leſer des erſten Aufſazes willkommen ſein
wird, wenn ſich auch im Intereſſe der Deutlichkeit einige
kleine Widerholungen nicht ganz werden vermeiden laſſen.
1. Das was man Statiſtik und das, was man ſtati—
ſtiſche Methode zu nennen pflegt, iſt genau zu unterſcheiden
und ſtreng auseinander zu halten. Statiſtik iſt ein Zweig
der Staatswiſſenſchaften (im weiteren Sinn des Worts)
und wird es immer bleiben müſſen, wie man ſie auch näher
formuliren und umgrenzen mag. Jene eigenthümliche Me—
thode der Forſchung aber, deren weſentlichſtes Merkmal
wir in die rationelle Durchzählung und Rubricirung vieler
Einzelfälle ſezen, iſt zwar hiſtoriſch zuerſt im Dienſte ſtati—
ſtiſcher, und ſomit ſtaatswiſſenſchaftlicher Zwecke angewendet
worden und hat, weil ihr für dieß Gebiet die hervor—
ragendſte Bedeutung zukommt, den Namen der ſtatiſtiſchen
erhalten; ſie iſt aber in ihrer Anwendbarkeit und ihrem
Weſen nach keineswegs auf dieſen Erfahrungskreis be—
ſchränkt, ſondern von univerſaler Bedeutung. Sie hat,
wie alle beſonderen Formen der wiſſenſchaftlichen Methodik,
ihren Plaz in der Logik.
Um den Inhalt eines Begriffs, welcher mehrere oder
viele Individuen oder Einzelfälle in ſich begreift, zu be—
ſtimmen, kannte die Logik zuvor kein Mittel, als diejenigen
Eigenſchaften, welche allen Individuen oder Einzelnfällen
conſtant und übereinſtimmend zukamen, im Wege der In—
duction zu finden und als die Merkmale des Begriffs zu—
ſammenzuſtellen. Das, was ſich in dem Einen Fall ſo,
im andern anders vorfand, alſo die variablen Momente
wußte man wiſſenſchaftlich nicht zu verwerthen; man ließ
ſie entweder ganz unbeachtet zur Seite liegen oder that
man der vorkommenden Abweichungen nur in vagen und
unbeſtimmten Faſſungen Erwähnung, indem man z. B.
ſagte: das Schwein bringe auf Einen Wurf 3—15 Junge
auf die Welt; die Pferde ſeien von verſchiedener Farbe;
267
es gebe Braune, Schimmel, Rappen, Fuchſen, Iſabellen.
Die Menſchen ſterben in jedem Lebensalter, am häufigſten
in der erſten Kindheit und im Greiſenalter.
Die ſtatiſtiſche Methode tritt nun für die empiriſchen
Wiſſenſchaften eben da ein, wo die Induction, der Schluß
von dem typiſchen Einzelfall auf andere Fälle die Dienſte
verſagt. Ihr Weſen beſteht darin, daß ſie durch das Mittel
der Maſſenbeobachtung und Durchzählung auch die variablen
Momente der Beobachtungsobjecte zu characteriſtiſchen und
wiſſenſchaftlich brauchbaren Merkmalen der Begriffe zu er—
heben vermag. Sie zeigt, daß feſte Maaßverhältniſſe auch
jenes Gebiet der fluctuirenden, von Fall zu Fall verſchie—
denen Erſcheinungen beherrſchen, daß hier nicht Zufall und
Willkühr, ſondern nur eine verwickeltere Miſchung und
Combination der Kräfte und Urſachen walte. Es dient
offenbar zur Characteriſtik verſchiedener Geſellſchaftskreiſe,
wenn ſich zeigen läßt, daß in einem jährlich auf 1000, im
andern auf 10000, im dritten auf 20000 Individuen Ein
Fall eines Selbſtmords, eines Todſchlags oder daß hier
auf 1000 Menſchen 18, dort 36 Sterbfälle treffen.
Dieſe Methode greift nun überall hin, wo es variable
Momente in den für die Betrachtung zuſammengefaßten
Erſcheinungen giebt; und ſolche giebt es allenthalben und
in allen Reichen der Natur. Cs kann ſich auch überall ein
wiſſenſchaftliches Intereſſe an dieſe variablen Elemente
knüpfen. Man könnte nach Umſtänden ſelbſt Sandkörner
nach Größe und Geſtalt zu zählen und zu ſortiren für
werthvoll achten müſſen. Es iſt zur Zeit nicht abzumeſſen,
268
zu welcher Bedeutung die Methode, auch die variablen
Seiten der Erſcheinungen zum Gegenſtand exacter Forſchung
zu erheben, auf den verſchiedenen Gebieten der Naturwiſſen—
ſchaften gelangen kann. Bis jezt findet ſie nur in einem
Theile derſelben, wie in der Meteorologie, Phyſiologie und
Mediein eine umfaſſendere, und in ſtetigem Wachsthum be—
griffene Anwendung.
2. Wenn dieß richtig, wenn die ſogenannte ſtatiſtiſche
Methode ein logiſcher Begriff und das Mittel iſt, da wo
die Induction ihren Dienſt verſagt und die variablen Ele—
mente der Beobachtungsobjecte beginnen, durch univerſelle
oder Maſſenzählungen der verſchiedenen Variationsfälle zu
Erfahrungsſäzen von numeriſcher Faſſung und zu Schlußfol—
gerungen aus denſelben zu gelangen, ſo liegt darin von
ſelbſt, daß nicht alle auf ſolchem Wege gefundenen That—
ſachen oder Wahrheiten zu Einer Wiſſenſchaft, die den Namen
Statiſtik oder irgend welchen ſonſt zu führen hätte, ver—
einigt werden können. Die Bemerkungen, welche Roſcher
über dieſen Punkt macht und gegen welche oben Einwen—
dungen erhoben wurden, ſind als ganz zutreffend zu er—
kennen. Die Eintheilung der Wiſſenſchaften hat zu ihrem
Princip die ſachliche Verſchiedenheit oder Zuſammengehörig—
keit der Objecte, nicht die logiſchen Mittel der Unterſuchung;
ſo wenig ſich Alles in Eine Disciplin zuſammenfaſſen läßt,
was durch Induction, durch Analogie, durch Experiment
gefunden wird, ſo wenig iſt, was die erwähnte ſtatiſtiſche
Methode auf den verſchiedenen Wiſſensgebieten zu Tag
fördert, in den Rahmen einer gemeinſamen Wiſſenſchaft
269
einzureihen. Es müßte eine höchſt monſtröſe Geſtalt einer
wiſſenſchaftlichen Disciplin entſtehen, wenn man Ernſt da—
mit machen wollte, auch nur, etwa die Iſothermen und
Iſotheren, die Ergebniſſe der Züchtungsverſuche von Haus—
thieren, der verſchiedenen Heilmethoden von Fieberkranken,
die Mortalitätstafeln, die Frequenz der Verbrechen und
Selbſtmordfälle, die ſocialen Wirkungen der verſchiedenen
Agrarſyſteme in Einem Buche zu behandeln. Die Statiſtit
kann unmöglich die Wiſſenſchaft von allem demjenigen ſein,
was ſich durch die ſtatiſtiſche Methode ermitteln läßt.
3. Dieſe Methode dient allen empiriſchen Wiſſenſchaften,
welche Gruppen von ähnlichen Objecten zum Gegenſtand
ihrer Unterſuchung machen; ſie hat aber nicht zu allen das
gleiche Verhältniß, nicht für alle die gleiche Bedeutung.
Auf dem Felde der Naturwiſſenſchaften wird immer die
Induction den Primat behaupten und jene Methode nur
einen ſecundären Plaz einnehmen können. Hier herrſchen
die Gattungsbegriffe und die conſtanten Merkmale der
Einzelfälle. Neben den Gattungsbegriffen haben wir aber
die Collectivbegriffe zu unterſcheiden. Von der Gattung
kann ich nichts ausſagen, als was von jedem Einzelnen
innerhalb der Gattung gilt; der Gattungsbegriff iſt der
des typiſchen Individuums oder Einzelfalls, und nicht da—
neben noch etwas Beſonderes für ſich. Das Bild des
Löwen, der Roſe iſt das eines Löwen, einer Roſe u. ſ. f.
Ebenſo iſt es, wenn das unter den Gattungsbegriff Fallende
nicht Individuen, ſondern Vorgänge, Veränderungen an
den Dingen ſind. Das Geſez oder die Regel, welche hier
270
den Gattungsbegriff bildet, knüpft an beſtimmte Urſachen
beſtimmte Wirkungen und gilt gleichmäßig für alle von der
Formel des Geſezes betroffenen Fälle; es ignorirt ſeiner—
ſeits die etwa im Einzelfall hinzutretenden variablen Fac—
toren und überläßt dieſe wieder einem etwaigen weiteren
und abgeſonderten Inductionsverfahren. Dieß iſt der
Grund, warum der Induction eine ſo große Bedeutung
zukommt; wenn das Allgemeine nur ein typiſches Einzelnes
iſt, ſo muß es aus der Beobachtung des Einzelnen auch
erkannt werden können. In dem Collectipbegriff dagegen
wird unter ſich Verſchiedenes, um irgend eines gemeinſamen
Merkmals willen in Eine Gruppe zuſammengefaßt. Das
Intereſſe iſt auf dasjenige gerichtet, was von der Gruppe
als Ganzem' auszuſagen iſt, nicht was von jedem einzelnen
Glied der Gruppe gelten mag. Was ich vom Wald ſage,
gilt nicht von dem einzelnen Baum, was ich über das
Publikum eines Theaters, von der Menge, vom Volk, von
einer Armee urtheile, ſoll nicht auf die Individuen im
Einzelnen anwendbar ſein. Conſtante Merkmale ſind hier
gar nicht vorhanden, außer dem einzigen, um deſſen willen
der Begriff gebildet und benannt worden iſt. Wenn über—
haupt ſonſtige Merkmale ſollen gewonnen werden können,
ſo müſſen ſie variabler Natur, nicht allgemein, ſondern
nur partiell vorhanden, nur in einem quantitativ begrenzten
Prädicat faßbar, ſomit nur der Durchzählung, der ſtatiſti—
ſchen Methode zugänglich ſein.
4. Wo dieſe Collectivbegriffe nichts weiter als eben
die Vielheit ausdrücken, einen Pluralis in eine Singularis—
271
form umzudeuten, jtatt Tauſend das Tauſend zu jagen
ſcheinen, koͤnnen ſie für die menſchliche Erkenntniß und
Wiſſenſchaft keine ſonderliche Bedeutung in Anſpruch nehmen.
Zwar iſt man auch noch innerhalb der Naturwiſſenſchaften
veranlaßt, von Heerden, Schwärmen, von Wald und Ge—
birge Merkmale aufzuzählen, die nur vom Ganzen, nicht
von den Einzelnen gelten können, die ſogar auf einen von
den Gattungsbegriffen ganz abweichenden Begriff hindeuten,
der doch auch wieder mit dem logischen Verhältniß des
Ganzen und der Theile nicht zuſammenzuſtellen oder zu
verwechſeln iſt. Ihre wahre und volle Bedeutung gewinnen
dieſe Collectivbegriffe aber Brit für diejenigen Wiſſenſchaften,
welche den Menſchen und die geſellſchaftliche Gliederung
und Gruppirung des Menſchen zu ihrem Gegenſtand haben.
Die Merkmale der menſchlichen Gattung werden in beſon—
deren Wiſſenſchaften, wie der Phyſiologie und der Pſycho—
logie behandelt. Innerhalb der Gattung aber ſtoßen wir
nicht auf Arten und Varietäten, wie wir bei den Hunden
die Pudel, Doggen, Spitzer, Dachshunde u. ſ. w. unter—
ſcheiden. Hier combiniren ſich phyſiſche und pfſchiſche,
geographiſche und hiſtoriſche, wirthſchaftliche und ethiſche
Momente ſo mannigfaltig, daß uns die Gattungsbegriffe
ganz verlaſſen, und an ihre Stelle der Begriff der Gruppe,
als eine beſondere, in ſich ſelbſt auch wieder gegliederte
Form der Collectivbegriffe tritt. Es giebt natürliche
Gruppen der menſchlichen Geſellſchaft, wo die Einzelnen
lebendige Fühlung mit einander haben, in Wechſelwirkung
unter ſich ſtehen und durch den Maſſeneffekt dieſer Einzel—
272
wirkungen der ganzen Gruppe einen beſtimmten Charakter
leihen, der dann auch wieder auf die einzelnen Glieder
zurückwirkt; es iſt eine Intereſſengemeinſchaft vorhanden,
die die einzelnen ſei es in umfaſſenderer oder nur partieller
Weiſe in eine reale Verbindung bringt. Dahin gehören
die Begriffe von Familien, Geſchlechtern, Stämmen und
Völkern, von Gemeinden und Gauen, von Ständen und
Berufs-, von Religionsgenoſſenſchaften, von Vereinen ver⸗
ſchiedener Art. Daneben aber giebt es künſtliche Grup—
pen, die nur dem Erkenntnißzweck dienen ſollen, deren
Begriffe wir nur auf die Gemeinſchaft Eines oder weniger
Merkmale gründen, wo die einzelnen Glieder ſich unter
ſich nicht näher angehen und aufeinander wirken, bei welchen
aber ein Intereſſe beſteht zu wiſſen, ob das Eine bekannte
Merkmal, auf dem der Begriff der Gruppe ruht, auch noch
weitere gemeinſame oder vorherrſchende Merkmale neben
ſich hat. Dahin gehören Begriffe wie z. B. die der Gleich—
altrigen, der Verheiratheten, der Ledigen, der Blinden, der
Selbſtmörder u. ſ. w. Eine weitere dritte Klaſſe von ge—
ſellſchaftlichen Collectivbegriffen faßt nicht die Subjecte,
ſondern die Objecte zuſammen, nicht Individuen, ſondern
Vorgänge, Thatſachen, welche für das geſellſchaftliche Leben
Bedeutung haben, z. B. Geburten, Sterbfälle, Todesurſachen,
Verbrechen, Brandfälle, Erndteerträge, Hagelbeſchädigungen,
um die gemeinſamen und abweichenden Merkmale derſelben
zu unterſcheiden.
5. Dieſe ſocialen Gruppenbegriffe bilden die
höchſte, wichtigſte, der wiſſenſchaftlichen Behandlung fähigſte
und bedürftigſte Unterart der Collectivbegriffe. Sie greifen
über die Kategorie der bloßen Vielheit und Pluralität
hinaus; der Unterſchied von den Gattungsbegriffen iſt am
ſtärkſten ausgeprägt, indem der Gruppe als ſolcher charac—
teriſtiſche Merkmale zukommen, welche nicht bei den Indivi—
duen oder Einzelfällen zutreffen, ſondern nur als Maſſen—
wirkungen in numeriſcher, quantitativer Begrenzung zu
faſſen ſind, bei welchen die variablen oder partiellen Er—
ſcheinungen das Ueberwiegende und Bedeutungsvolle, die
conſtanten das Unerhebliche und Verſchwindende ſind. Die
Induction iſt zwar nicht ausgeſchloſſen, ſofern auch aus
bedeutenden und hervorragenden Einzelfällen Schlüſſe ge—
zogen werden können, aber ſie tritt gegen die methodiſche,
Maſſenbeobachtung und Durchzählung in den Hintergrund,
während bei den Gattungsbegriffen das Verhältniß ein
umgekehrtes iſt. Die ſtatiſtiſche Methode iſt ſo das weſent—
liche und unentbehrliche Mittel, um zu Merkmalen ſocialer
Gruppenbegriffe zu gelangen.
Es giebt zwei Grundformen, in welchen dieſe Gruppen—
merkmale ihren Ausdruck finden. Es kann ſich um con—
ſtante, allen Gliedern der Gruppe zukommende Merkmale
handeln, bei welchen der variable Faktor nur in den Neben—
umſtänden und Modalitäten beſteht. Allen Menſchen kommt
z. B. ein beſtimmtes Maaß von Körpergewicht und Größe,
von Puls und Athemfrequenz zu, aber jedem wieder ein
anderes; alle ſterben in einem beſtimmten Lebensalter, aber
nicht im gleichen. Hier wird nun durch die Maſſenbeob—
achtung für eine Gruppe ein Durchſchnittsmaaß gefunden,
8 8 FT} 2
Rümeliu, Reden u. Aufſätze. 18
die Summe der Einzelgrößen dividirt durch die Zahl der
Fälle. Es entſteht ſo ein typiſches Individuum, wie bei Gat—
tungsbegriffen, der moyen homme von Quetelet, das als
characteriſtiſches Merkmal der ganzen Gruppe dient. Das
Prädikat hat hier die Form einer beſtimmten, abſoluten
Zahl.
Die andere Art betrifft Eigenſchaften oder Thatſachen,
welche nicht bei allen Individuen, ſondern nur bei einem
Theil derſelben gelten. Hier giebt die Maſſenbeobachtung
die Zahl der Fälle, in welchen das Merkmal zutrifft oder
nicht, als einen Bruch des Ganzen, in der Regel als pro—
centale Ziffer; alſo z. B. auf je 1000 Perſonen treffen
jährlich 24 Sterbfälle, 36 Geburten, 10 Trauungen; unter
je 100 ſind 34 verheirathet u. ſ. w. Dieß numeriſche
Verhältniß bildet dann das characteriſtiſche Merkmal der
Gruppe, das zur Vergleichung mit andern Gruppen und
zu weiteren Schlußfolgerungen dient.
Die beiden Grundformen laſſen ſich noch in mancherlei
Arten combiniren.
6. Der Staat iſt kein Collectivbegriff und keine ſociale
Gruppe. Mag man ihn eine Ordnung, ein Inſtitut, eine
Perſönlichkeit, einen Organismus oder wie immer nennen,
er iſt keine Vielheit von ſelbſtändigen, einander coordinirten
Dingen, kein Verein, ſondern eine reale, individuelle Ein—
heit, ein Ganzes, deſſen Theile gegliedert und in einander
verkettet, in aufſteigender Reihe von unter- und übergeord—
neten Organen, in die pyramidale Spize eines lebendigen
Willens auslaufen. Die Merkmale des Staats beſtehen
273
nicht in Durchſchnitts- oder Bruchziffern; ſie werden nicht
durch vergleichende Zählungen gefunden, die ſtatiſtiſche
Methode hat nichts mit ihnen zu ſchaffen. Allerdings
kommen in der Beſchreibung eines Staats auch Zahlen
vor; die Einnahmen, Ausgaben, Schulden, Heer und Marine
repräſentiren beſtimmte Summen von Thalern, Männern,
Pferden, Schiffen; dieß ſind aber keine Ziffern, die mit
jener ſtatiſtiſchen Methode zu thun hätten. Denn nicht
alles Zählen iſt Statiſtik, nur dasjenige, welches aus der
vergleichenden Maſſenbeobachtung Gruppenmerkmale in nu—
meriſcher Faſſung findet. Daß der engliſche Staat 785
Millionen & Schulden, das deutſche Reich im Friedensſtand
400000 Soldaten hat, iſt eine Notiz von ganz gleichem
Charakter, wie daß der Montblanc 14800 P. Fuß hoch iſt
oder ſeit Chriſti Geburt 1874 Jahre abgelaufen ſind. Nur
das iſt richtig, daß in ſolchen Ziffern, welche zur Beſchrei—
bung des Staats dienen, mittelbar auch geſellſchaftliche
Thatſachen von ziffermäßiger ſtatiſtiſcher Faſſung enthalten
ſind. Das Reich beſtimmt, daß von jedem Centner Speiſe—
ſalz 2 Thaler Steuer zu zahlen ſind, es kann aber nicht
beſtimmen, welchen Ertrag dieſer Steuerſaz zu liefern hat;
wenn die Steuer nun 11 Mill. Thaler einbringt, wenn
6 Millionen Centner Salz jährlich conſumirt werden
und auf den Kopf ein Verbrauch von 16 1 fällt, ſo ſind
dieß geſellſchaftliche Thatſachen oder Merkmale. Auch die
Einwohnerſchaft gehört zu den Merkmalen der Geſellſchaft,
nicht des Staates. Der Staat hat keine Einwohner und
die Zahl ſeiner Unterthanen iſt für ihn etwas Zufälliges,
18 *
276
wenn auch praktiſch ſehr Wichtiges. Die wejentlichen Merk:
male des Staats liegen in ſeiner Verfaſſung und Verwal—
tung, ſowie in ſeiner geſchichtlichen Entwicklung. Das ſind
der ſtatiſtiſchen Methode ganz fremde Gebiete.
7. Bei der Frage, wie ſich die Geſellſchaftswiſſenſchaften
zu den Staatswiſſenſchaften verhalten, ob ſie dieſen coor—
dinirt oder ſubordinirt ſeien und überhaupt einen ſelbſtän—
digen Plaz in der Reihe der Wiſſenſchaften einnehmen,
pflegt das nicht beachtet zu werden, daß Staat und Ge—
ſellſchaft zwei Begriffe von ganz verſchiedenem logiſchen
Grundcharacter ſind und ganz verſchiedene Unterſuchungs—
methoden erfordern.
Es mag immerhin nicht nur zuläßig, ſondern praktiſch
und zweckmäßig ſein, einen weiteren und engeren Begriff
der Staatswiſſenſchaften zu unterſcheiden, dem weiteren
Wortſinn die Geſellſchaftswiſſenſchaften unterzuordnen, dem
engeren coordinirt gegenüberzuſtellen. Das erſtere geſchieht
dann ungefähr mit demſelben Recht, mit welchem wir Ana—
tomie und Phyſiologie zu den medieiniſchen Wiſſenſchaften
zählen, obgleich ſie nichts mit dem Heilen zu thun haben.
Der Staat iſt die die Geſellſchaft ordnende Macht, und
wer zu ordnen hat, muß das kennen, was geordnet werden
ſoll. Die geſellſchaftlichen Zuſtände und Thatſachen ſind
der Stoff und das Subſtrat der ſtaatlichen Thätigkeit.
Deßhalb ſind aber doch Staats- und Geſellſchaftswiſſen—
ſchaften wieder ſo verſchieden, als Hygieine und Therapie
etwas weſentlich Anderes ſind als die Lehren vom geſunden
und kranken menſchlichen Körper. Der Staat iſt ein Pro—
277
duct von bewußten menſchlichen Willensacten, er iſt wenig—
ſtens im einzelnen immer etwas Gemachtes. Die Geſell—
ſchaft und ihre einzelnen Gruppen ſind etwas unbewußt,
durch die ſpontane Maſſenwirkung vieler individueller Kräfte
und Triebe, durch das Wechſelſpiel in den Einwirkungen
des Einzelnen auf Viele und der Vielen auf Einzelne Ge—
wordenes und ſtetig Werdendes. Die Geſellſchaftswiſſen—
ſchaften ſuchen, wie aus der Vogelperſpective, auf die Er—
ſcheinungen des Privatlebens, auf das bunte Spiel freier
Individualkräfte herabzuſehen, einen Ueberblick darüber zu
gewinnen, die Maſſeneffekte und die hervortretenden Regel—
mäßigkeiten und conſtanten Cauſalzuſammenhänge aufzu—
finden. Unter den Faktoren, welche das geſellſchaftliche
Leben beſtimmen, iſt zwar auch das ſtaatliche Eingreifen
ſelbſt wieder enthalten, und umgekehrt beſtimmen die in
der Geſellſchaft vorwaltenden Meinungen, Stimmungen und
Intereſſen auch ihrerſeits die Entſcheidungen der Staats—
gewalt; ein reines Ausſcheiden iſt niemals möglich, aber
darum ſtehen ſich doch Staat und Geſellſchaft wie Bewußtes
und Unbewußtes, wie Ordnendes und zu Ordnendes, wie
That und Zuſtand, wie gegliederte Einheit und Gruppe
von Coordinirtem, wie öffentliches und Privatleben in deut—
lich unterſchiedener Stellung gegenüber. Es iſt unzuläßig,
die Staats- und Geſellſchaftswiſſenſchaften in einander ein—
zuſchachteln, das Eine dem Andern unterzuordnen.
8. Dieſe Unterſcheidung iſt maßgebend für den Begriff
der Statiſtik und den Gebrauch ihres Namens. Sie kann
nicht Staats- und Geſellſchaftswiſſenſchaft zugleich ſein,
wenn ſie aufhören ſoll, ein unlogiſches Gemiſch und Con—
glomerat bunter Notizen und Data darzuſtellen, das den
Namen einer Wiſſenſchaft kaum verdient. Sie muß ſich
auf die eine oder andere Seite ſtellen. Hiſtoriſch und ety—
mologiſch iſt die Statiſtik nun allerdings das empiriſche
Wiſſen, deſſen der Statiſta, d. h. der Staatsmann oder der
zu einer höheren ſtaatlichen Thätigkeit Berufene außer der
Jurisprudenz noch bedarf, eine Zuſammenſtellung von No—
tizen, die theils den Staat theils die Geſellſchaft betreffen,
ähnlich wie jezt etwa die ſogenannte politiſche Geographie.
Aber im Verlauf ihrer Entwicklung wuchs aus dem Be—
dürfniß nach exacten Thatſachen jene eigenthümliche Me—
thode heraus, durch rationelle Maſſenbeobachtung brauchbare
Merkmale der ſocialen Collectivbegriffe in numeriſcher Faſ—
ſung zu gewinnen, und die Natur und Tragweite dieſer
Methode führt zu einer ſocialen Empiriſtik, einer beſonderen
Hilfsdisciplin aller Geſellſchaftswiſſenſchaften, welche die
variablen Erſcheinungen des ſocialen Lebens in ihrer quan—
titativen Umgrenzung ermittelt und für den Gebrauch der
verſchiedenen Wiſſenſchaften vorbereitet. Die Staatenkunde
oder Staatenbeſchreibung, welche die Verfaſſung und Ver—
waltung der gegenwärtigen Staaten auf Grundlage ihrer
geographiſchen, ethnographiſchen, hiſtoriſchen und ſocialen
Vorausſezungen darzuſtellen hat, bewahrt neben jener Hilfs—
disciplin unabhängig ihren Plaz und ihre Bedeutung. Es
fragt ſich nun, welchem von beiden Theilen, der ſocialen
Empiriſtik oder der Staatenkunde der Name der Statiſtik
zukommen ſoll. Dieß iſt an ſich ein Gegenſtand arbiträrer
279
Entſcheidung. Die Staatenkunde hat unzweifelhaft den
hiſtoriſchen Rechtstitel für jenen Namen, aber der Sprach—
gebrauch hat ſich doch mehr dahin entſchieden, bei Statiſtik
an Zählungsergebniſſe zu denken und die Gewinnung und
Verarbeitung von ſolchen ein ſtatiſtiſches Verfahren zu
nennen, andererſeits aber etwa eine Darſtellung der deut—
ſchen Reichsverfaſſung, der preußiſchen Kreisordnung, der
ruſſiſchen Agrarinſtitute nicht zur Statiſtik zu rechnen, ſon—
dern zum Staatsrecht oder zur Staatenkunde. Es wäre
vielleicht beſſer geweſen und hätte mancher Verwirrung
vorgebeugt, wenn man jener Methode, Begriffe durch Merk—
male von numeriſcher Faſſung zu beſtimmen, den Namen
der numeriſchen, ſtatt der ſtatiſtiſchen, der darauf begrün—
deten techniſchen Disciplin den Namen der ſocialen Em—
piriſtik gegeben, den der Statiſtik dagegen der Staatenkunde
gelaſſen hätte, aber es iſt nun einmal anders gegangen
und nichts mehr daran zu ändern. Ungenau, aber erträg—
lich und erklärlich bleibt es, daß der Sprachgebrauch das
Prädikat einer ſtatiſtiſchen Notiz auch auf die Merkmale
des Staats, wofern ſolche nur überhaupt einen ziffermäßigen
Ausdruck finden, anwendet, alſo z. B. die Budgetſäze, die
Militärmacht, zumal da hier geſellſchaftliche und ſtaatliche
Factoren in einander greifen, die Steuererträge auf die
volkswirthſchaftlichen, die Heeresziffer auf die Bevölkerungs—
verhältniſſe zurückweiſen. Ebenſo greifen in dem, was man
Schul- oder Criminalſtatiſtik nennt, wo die ſtatiſtiſche Me—
thode zur Anwendung kommt, ſtaatliche Inſtitute und ſociale
Thatſachen in einander. Die Zahl der Fälle, in welchen
280
Geſeze, Vorſchriften wirkſam werden und amtliches Ein-
ſchreiten Statt zu finden hat, hängt nicht von dem Staats-
willen, ſondern von den variablen Momenten der geſell—
ſchaftlichen Zuſtände ab; es characteriſirt nicht den Staat,
ſondern das Volk, ob in einem Lande viele oder wenige
Fälle von Mord vorkommen, dagegen nicht das Volk, ſon—
dern den Staat und deſſen Rechtspflege, ob viele oder wenige
der vorgekommenen Fälle zur Unterſuchung, zur Anklage,
zur Verurtheilung führen. Dieſes kleine und partielle
Uebereinandergreifen der Grenzen hindert nichts an dem
Schlußergebniß, daß, was früher zuſammen unter Statiſtik
begriffen wurde, in zwei Disciplinen auseinandertritt, die
ſociale Empiriſtik oder jezt die Statiſtik, und die Staaten—
kunde, und daß jene zu den Geſellſchaftswiſſenſchaften, dieſe
zu den Staatswiſſenſchaften im engeren Wortſinn zu ſtellen
iſt, während es geſtattet bleiben muß, dieſe beiden Gruppen
im Ganzen den Natur-, Rechts-, Geſchichts-, mathematiſchen,
philoſophiſchen Wiſſenſchaften als politiſche oder Staats—
wiſſenſchaften im weiteren Wortſinn zur Seite zu ſtellen.
9. Die Statiſtik im Sinn einer ſocialen Empiriſtik
zerfällt aber ſelbſt wieder in zwei getrennte Disciplinen,
in die heuriſtiſche oder techniſche und in die beſchreibende
oder demographiſche Statiſtik. Die Aufgabe der erſten iſt
es, unter Handhabung ihrer eigenthümlichen Methode die
ſocialen Thatſachen zu ermitteln und durch rationelle Be—
arbeitung die Ergebniſſe zum Gebrauch der Wiſſenſchaft
vorzubereiten. Es iſt dieß die Thätigkeit der ſtatiſtiſchen
Bureaus, der Congreſſe, der Fachmänner. Bei den äußeren
281
und inneren Schwierigkeiten richtiger Frageſtellungen und
Antworten geht hier der praktiſchen Anwendung eine theo—
retiſche Methodik theils voran, theils zur Seite.
Neben dieſer fortlaufenden heuriſtiſchen Thätigkeit der
ſocialen Obſervatorien, welche die bedeutſamen Thatſachen
des geſellſchaftlichen Lebens im Einzelnen erheben und be—
arbeiten, beſteht noch das weitere Bedürfniß, den geſammten
ſo gewonnenen Stoff zu ordnen und zu einem Bild der
Geſellſchaft nach den verſchiedenen Hauptrichtungen ihrer
Lebensformen zu verwerthen. Dieß iſt die beſchreibende
oder demographiſche Statiſtik. Sie iſt für die ſocialen
Wiſſenſchaften, was die Staatenkunde für die politiſchen
iſt und liefert das empiriſche Material zu einer ſocialen
Biologie. Sie zerfällt ſtofflich in drei Theile. Als Be—
völkerungsſtatiſtik behandelt ſie den Perſonalbeſtand, das
Gattungs- und Geſchlechtsleben der Geſellſchaft, zeigt deren
Gliederung nach Geſchlecht und Lebensalter und Familien—
ſtand, die ſtetigen Veränderungen durch Geburten, Sterb—
fälle und Wanderungen u. ſ. w. Als öconomiſche oder
wirthſchaftliche Statiſtik behandelt ſie die Gliederung der
Geſellſchaft nach dem Unterſchied der Wohnpläze, der Stände
und Berufsarten, der Agrar-, Gewerbe- und Handelsver—
hältniſſe, des Vermögens und Einkommens, der Conſumtion.
Als Kulturſtatiſtik hat ſie die Erſcheinungen des intellec—
tuellen, ſittlichen und religiöſen Lebens zu ihrem Gegen—
ſtand. Das durch die techniſche Statiſtik gewonnene Ma—
terial bildet die Grundlage der Darſtellung, womit jedoch
die Beiziehung von Lehrſäzen aus der Bevölkerungstheorie,
282
der Nationalöconomie, der jocialen Ethik oder bedeutſamer
geſchichtlicher Thatſachen nicht ausgeſchloſſen ſein kann.
Dieſe beſchreibende Statiſtik eignet ſich zu zuſammenhän—
genden wiſſenſchaftlichen Darſtellungen, wie für die Be—
völkerungsſtatiſtik das Werk von Wappaeus ein claſſiſches
Muſter iſt, ſowie vor allem andern zum Gegenſtand aka—
demiſcher Vorträge. Sie iſt neben der Nationalökonomie
das wichtigſte propädeutiſche Fach für die Verwaltungslehre.
10. Wohl iſt die Staatenkunde in ähnlicher Weiſe eine
unentbehrliche Hilfsdisciplin für die Staatswiſſenſchaften,
wie die Statiſtik für die ſocialen und ſtellt den empiriſchen
Stoff für die wiſſenſchaftliche Verwerthung zuſammen.
Dennoch kommt ſie der Statiſtik an Bedeutung nicht gleich;
ſie ſchafft ihren empiriſchen Stoff nicht ſelbſt, ſondern ſam—
melt und entlehnt ihn von andern Disciplinen. Sie iſt
mehr ein Wiſſen als eine Wiſſenſchaft. Sie ſtellt aus dem
poſitiven Staatsrecht der einzelnen Länder, aus Geographie,
Geſchichte, Ethnographie und Statiſtik ein zuſammenhängen—
des Bild des Staatenſyſtems der Gegenwart, zunächſt des
europäiſchen, zuſammen, theils für die theoretiſchen Zwecke
der politiſchen Wiſſenſchaften, theils für den praktiſchen
Dienſt der zu ſtaatlicher Wirkſamkeit Berufenen und aller
Gebildeten. Heutzutage aber, wo zu ſolchem Wirken im
Staat Alle berufen ſind, iſt der Werth einer unbefangenen
und objectiven Kenntnißnahme von den Staatszuſtänden
der Gegenwart nicht hoch genug anzuſchlagen. Ihrem wiſſen—
ſchaftlichen Charakter nach gehört dieſe Staatenkunde zu den
hiſtoriſchen Disciplinen. Sie ſchildert die Gegenwart in
283
—
gleicher Weiſe und nach gleichen Grundſäzen, wie der Hi—
ſtoriker da, wo er nicht erzählt, ſondern ein Geſammtbild
einer Zeit oder eines Volkes zu zeichnen hat, Vergangenes
darſtellt. Der Werth der Behandlung des Faches liegt in
dem Maaß, in welchem die Eigenſchaften des ächten Hiſto—
rikers dabei zu Tag treten, die zerſtreuten Data verſchie—
denſter Art ſich zu einem lebendigen Ganzen von innerer
Verſtändlichkeit geſtalten.
Dieſe Staatenkunde hat nun freilich eine Art von
Doppelgänger, der ſie entbehrlich ſcheinen laſſen könnte,
an der politiſchen Geographie. Dieſe wird vielfach in den
Compendien ſo behandelt, daß ein principieller Unterſchied
von jener Staatenkunde kaum aufzufinden wäre. Nur wird
man ſagen müſſen: Die Geographie überſchreitet eigentlich
die Grenzen, die ihr Name und Begriff ihr anweiſt,
wenn ſie Staatseinrichtungen ſchildert. Sie darf ihren
Ausgangspunkt, das Land, nicht gänzlich verlaſſen; der
Einfluß des Landes auf das geſellſchaftliche und politiſche
Leben ſeiner Bewohner wäre das eigentliche Thema einer
politiſchen Geographie. Sobald ſie ſich mit Verlaſſung
aller geographiſchen Geſichtspunkte auf die geſammte Thätig—
keit der innerhalb eines Gebiets wohnenden Menſchen ein—
läßt, hat ſie gegenüber von Geſchichte, von Staats- und
Socialwiſſenſchaften keine aufzeigbare Grenze mehr. Allein
wenn auch die Theorie an dieſen Annexionen der Geogra—
phie Anſtoß nehmen mag, praktiſch ſind dieſelben nur ein
Zeugniß für die Bedeutung und Unentbehrlichkeit dieſer
Wiſſensſtoffe für Jedermann. Es iſt ein praktiſches In—
284
tereſſe, aus welchem die Compendien der Geographie die
wichtigſten Data der Staatenkunde in ihren Bereich mit hin—
überziehen, und es iſt wünſchenswerth, daß nützliche Kennt—
niſſe in allen Formen Verbreitung finden, aber von einem
Competenzconfliet kann ernſtlicher Weiſe nicht die Rede ſein.
Diejenigen, welche auf den geſchichtlichen Gang der
Sache geſtüzt, auf den Namen Statiſtik auch für die Staaten—
kunde nicht zu verzichten geneigt ſind, müßten ſich wenigſtens
die Unterſcheidung einer ſocialen und einer politiſchen Sta—
tiſtik gefallen laſſen, und das was oben als heuriſtiſche
und beſchreibende Statiſtik bezeichnet wurde, zur ſocialen
Statiſtik rechnen, die Staatenkunde aber als politiſche Sta—
tiſtik bezeichnen. Im Intereſſe der Vereinfachung und Klar—
ſtellung der wiſſenſchaftlichen Namen und Begriffe iſt jedoch
ein ſolcher Sprachgebrauch nicht empfehlenswerth, wenn
auch nicht gerade unbedingt verwerflich.
Ueber den Begriff und die Dauer einer
Generation.
Der Begriff der Generation gehört der Bevölkerungs—
lehre und Statiſtik an, die bis jezt, ſo viel mir bekannt
iſt, ſich nicht um denſelben bekümmert haben, obſchon es
ſich vielleicht der Mühe wohl verlohnen dürfte.
Schon der Sprachgebrauch iſt ſchwankend und irre—
führend. Wir legen dem Wort offenbar ganz verſchiedene
Bedeutungen bei. Wenn Jemand ſagt: die jezige Gene—
ration wird es wohl nicht erleben, daß man in Luftballonen
nach Amerika reist oder daß das Kreuz auf der Aja Sofia
aufgerichtet wird, ſo verſteht er unter Generation die Ge—
ſammtheit aller jezt lebenden Menſchen. Wenn ich aber
ſage: der 30jährige Krieg liegt (erſt oder ſchon) um acht
Generationen hinter uns, ſo ſoll das heißen, die jezt Leben—
den müſſen in der Reihe ihrer Ascendenten etwa bis zum
achten Grade hinaufſteigen, um zu einem Zeitgenoſſen
des 30jährigen Kriegs zu gelangen. Generation heißt
hier Zeugung und wird als Zeitmaaß gebraucht, um
den Altersabſtand zwiſchen Erzeugern und Erzeugten aus—
zudrücken. Jeder iſt von ſeinem Vater oder ſeinem Kinde
um Eine, von ſeinem Großvater oder Enkel um zwei Gene—
286
rationen entfernt. Im erſten, obigen Wortſinn lebt ſtets
gleichzeitig nur Eine Generation, im zweiten dagegen leben
immer zwei, theilweiſe aber auch drei und vier Generationen
gleichzeitig neben einander. Nur in dieſer lezteren Faſſung
läßt der Begriff eine ſtatiſtiſche Behandlung und Beleuch—
tung zu. Als Synonym von noch etwas vagerer Bedeu—
tung gebrauchen wir auch den Ausdruck Menſchenalter, der
dann wieder in den Begriff der mittleren Lebensdauer
hinüberſpielt.
Wir begegnen dem Begriff der Generation ſchon im
frühen Alterthum. In Ermanglung von Kalendern und
feſten Zeitrechnungen dienten die Geſchlechtstafeln als Zeit—
maaß. Es iſt intereſſant, daß das griechiſche Wort 78e
ſchon in demſelben Doppelſinn gebraucht wird, wie bei uns
die Generation. Wenn Jeſus, von ſeiner Wiederkunft redend,
jagt (Matth. 24, 34): wahrlich ich ſage euch, dieß Geſchlecht
wird nicht vergehen bis dieß Alles geſchehe, ſo verſteht er
unter „dieſem Gejchlecht” „ e even die Geſammtheit
aller ſeiner Zeitgenoſſen und will erklären, daß unter den
jezt Lebenden ſolche ſeien, die das noch erleben werden,
was er vorausſagt.
Wer denkt andererſeits nicht an Neſtor, den alten
Zecher, der drei Menſchenalter ſah? Die Stelle bei Homer
Iliad. I, 250 lautet bei Voß:
Dieſem waren ſchon zwei der redenden Menſchengeſchlechter
Abgewelkt, die vordem ihm zugleich aufwuchſen und lebten
Dort in der heiligen Pylos, und jezt das dritte beherrſcht er.
Es iſt nicht ganz leicht zu ſagen, was eigentlich damit
gemeint ſein ſollte. Die den Worten zunächſt liegende Vor—
287
ſtellung, daß Jemand zum drittenmal jeine ganze Zeitge—
noſſenſchaft erneuert, daß zweimal alle gleichzeitig Lebenden
neben ihm wegſterben und ihn allein übrig laſſen, iſt aben—
theuerlich und unvollziehbar, da der Gang einer Bevölke—
rung mit Abſterben und Erneurung etwas Continuirliches
und ohne Ein- oder Abſchnitte iſt. Die Generationen folgen
einander nicht, wie Wachpoſten oder Stationen, die ſich
ablöſen; es läßt ſich niemals ein Moment bezeichnen
oder denken, wo die eine aufhört und die andere beginnt.
Blos drei Generationen zu ſehen wäre dagegen gar nichts
Beſonderes. Denn Jeder, der in ſeiner Jugend einen
Großvater hat und im Alter ein ſolcher wird, ſieht fünf
Generationen ſeines eigenen Geſchlechts; ja es iſt dieß
eigentlich der normale Fall. Der natürliche und beſte
Sinn der Homeriſchen Worte wäre wohl: Die Krieger, die
Neſtor vor Troja geführt hat, ſind ſchon die Enkel der
Männer, mit welchen er einſt ins Feld gezogen war. Um
dieß zu leiſten, mußte er noch nicht gerade 100 Jahre alt
ſein; auch SO würden genügen, wenn wir uns die Krieger
als durchſchnittlich etwa dreißigjährige denken. In einem
wildheroiſchen, fehdereichen Zeitalter iſt es für den Mann
und Krieger ſchwer, unverſehrt und rüſtig ein hohes Alter
zu erreichen, wie noch heute unter den Wilden alte Männer
ſelten ſind. Es mochte immerhin auch von Neſtors Männern
der eine oder andere zu Hauſe einen Vater, vielleicht ſogar
einen Großvater haben, aber dieſe konnten nicht mehr ins Feld
rücken, ſie zählten nicht mehr zu dem activen Beſtande des
Volkes, ſie gelten mit den Geſtorbenen als Hingeſchwundene.
288
Für Herodot iſt die 54 oder Generation ein ganz
geläufiger Begriff. Die egyptiſchen Prieſter weiſen ihm
eine Reihe von 341 Königen auf, und er berechnet daraus,
da drei Generationen 100 Jahre ausmachen, einen Zeit—
raum von 11340 Jahren. Auch an andern Stellen nimmt
er 33 Jahre als die Dauer einer Generation an. Es iſt
freilich dabei die falſche Vorausſezung, daß je ein König
eine Generation vertrete, da, abgeſehen von Dynaſtiewechſel
und Umwälzungen, auch der Bruder dem Bruder oder gar
der Oheim dem Neffen, wie andererſeits der Enkel dem
Großvater nachfolgen kann. Ueberdieß kommt bei Königs—
reihen in der Regel nur der Altersabſtand zwiſchen dem
Vater und dem Erſtgeborenen ſeiner Söhne in Betracht.
Aber wie ſteht es überhaupt mit dieſem Herodotiſchen,
auch ſonſt vielfach nachgeſprochenen Saz, daß die' Dauer
einer Generation ein Drittheil eines Jahrhunderts oder
33½ Jahre betrage? Iſt eine Generation wirklich eine
beſtimmte Zeitgröße, iſt ſie eine conſtante oder eine variable
und wenn lezteres der Fall iſt, woran liegt es und was
liegt daran, ob die Generationen kürzer oder länger ſind?
und welche Mittel ſtehen der Statiſtik zu Gebot, um auf
dieſe Frage eine Antwort zu geben?
Der ſtatiſtiſche Ausdruck für die Generation als Zeit⸗
maaß wäre die durchſchnittliche Altersdifferenz zwiſchen
Vätern und Kindern für eine gegebene Zeitperiode. Ich
ſage abſichtlich nicht: zwiſchen Eltern und Kindern, und
aus Gründen praktiſcher Zweckmäßigkeit auch nicht: zwiſchen
Vätern und Söhnen. Die Altersdifferenz zwiſchen Müttern
und Kindern wäre wieder eine Aufgabe für ſich, aber das
Intereſſe daran, da nun einmal die Männer das leitende
und herrſchende Geſchlecht ſind, von untergeordneter Be—
deutung. Dagegen zwiſchen dem väterlichen und mütter—
lichen Alter die Mitte nehmen und damit das Alter der
Kinder vergleichen, würde die Aufgabe außerordentlich com—
pliciren und ſchließlich doch nur auf einer werthloſen Fie—
tion beruhen.
Das nächſtliegende und wirkſamſte Mittel, die Alters—
differenz zwiſchen Vätern und Kindern zu finden, wäre die
directe Aufnahme, indem man aus Anlaß einer Zählung
von einer ganzen Bevölkerung oder wenigſtens bei einem
großen Theile neben dem Alter des einzelnen Individuums
auch das ſeines Vaters ermittelte und aus den ſo gewon—
nenen Zahlen den Durchſchnitt, die Ziffer des mittleren
Menſchen ſuchte. Dieß iſt noch niemals geſchehen und wird
aus vielen Gründen auch ſchwerlich bald verſucht werden.
Man wird daher immer auf indirekte Mittel, auf das
Surrogat von Schäzungen und Combinationen, von Schlüſſen
aus einer größeren oder kleineren Anzahl von Beiſpielen
angewieſen bleiben.
Die ganze Frage läßt ſich übrigens nur auf dem
Boden der monogamiſchen Sitte der civiliſirten Völker be—
handeln. Wo Polygamie und Sclaverei neben ſehr früher
Pubertät beſtehen, wo die Kinder Eines Mannes im Alter
bis zu 50 Jahren von einander entfernt ſein können, da
verſchieben und verſchlingen ſich die Generationen in einer
Rümebhin, Reden u. Aufſätze. 19
Weiſe, die ſich nicht mehr verfolgen läßt und zugleich kein
Intereſſe mehr bietet.
Es iſt einleuchtend, daß die Dauer der Generationen
von zwei Factoren abhängt, einmal ob die Männer früh
oder ſpät zur Heirath gelangen, ſodann ob die Periode der
Fruchtbarkeit der Ehen von kürzerer oder längerer Dauer
iſt, und beide Momente greifen wieder inſoweit ineinander,
als bei frühen Ehen die Wahrſcheinlichkeit für eine längere
Dauer der Fruchtbarkeit ſpricht. Der Altersabſtand des
Vaters und der Kinder iſt weder nach dem erſtgeborenen
noch nach dem jüngſten, ſondern nach dem Durchſchnitts—
alter der Kinder zu berechnen, wofür bei Ermanglung der
Detailangaben die halbe Differenz zwiſchen dem älteſten
und jüngſten der Kinder zu nehmen iſt. Der ſtatiſtiſche
Ausdruck oder das ſtatiſtiſche Aequivalent für die Dauer
einer Generation iſt ſomit das durchſchnittliche Heiraths—
alter der Männer plus der halben Dauer der durchſchnitt—
lichen Fruchtbarkeit der Ehen. |
Aber auch die jo geitellte Frage vermag die Statiſtik
zur Zeit nur mit ſehr ungenügenden Mitteln anzufaſſen,
da weder über das Durchſchnittsalter der heirathenden
Männer noch über die Dauer der ehelichen Fruchtbarkeit
Aufnahmen und zureichende Notizen gegeben find.
Es liegen keine Thatſachen vor, welche uns berechtigen
innerhalb des Gebiets chriſtlich europäiſcher Geſittung eine
Verſchiedenheit der Völker hinſichtlich der Neigung zur Ver—
heirathung anzunehmen. Die Frequenz der Heirathen, wie
deren Frühzeitigkeit hängt nicht vom Wollen, ſondern vom
291
Können ab, nur daß in Betreff der phyſiſchen Bedingungen,
des Eintritts der Pubertät zwiſchen den Ländern der ſüd—
lich und der nördlich gemäßigten Zone einiger Unterſchied
beſteht. Das Entſcheidende liegt in den wirthſchaftlichen
Bedingungen. Wo es leicht iſt, einen häuslichen Heerd
zu gründen und eine Familie zu ernähren, wird früh ge—
heirathet, wo es ſchwer iſt, ſpät; dort bleiben wenige
Männer ehelos, hier viele. Die günſtigſten Bedingungen
ſind, wo fruchtbarer Boden noch im Ueberfluß vorhanden,
die Arbeit geſucht und lohnend, der Unterhalt leicht zu ge—
winnen iſt, wie in Rußland, den Agrarſtaaten des mittleren
Unionsgebiets, Canada, Auſtralien. Hier heirathen die
meiſten Männer ſchon in der erſten Hälfte der zwanziger
Jahre und der Kinderſegen wird nicht geſcheut, zumal auf
den Gebieten der germaniſchen Race. Das entgegengeſezte
Ende bilden die Gebiete, wo die freie Niederlaſſung, ſei es
rechtlich oder ſachlich, eingeſchränkt iſt, wo in der Landwirth—
ſchaft oder im Gewerbe Vacaturen abzuwarten ſind, nament—
lich die Gegenden der bäuerlichen Hofwirthſchaft, wo ein
Sohn auf den Tod oder Rücktritt des Vaters zu warten
hat, die übrigen ſich die Bedingungen der Verehelichung
vorher durch Arbeit ſichern müſſen. Im würtembergiſchen
Oberſchwaben iſt in den Bezirken der bäuerlichen Hofwirth—
ſchaft noch von den 35jährigen Männern die größere Hälfte
unverheirathet. Aehnliche Verhältniſſe ſind in Altbayern,
Oberöſtreich, Weſtphalen, Hannover u. ſ. w. Das durch—
ſchnittliche Alter der Verheirathung rückt hier bis in die
Mitte der dreißiger Jahre hinaus.
19 *
Zwiſchen dieſen beiden, um etwa 10 Jahre auseinan—
der liegenden Grenzen bewegen ſich nun in zahlreichen Ab—
ſtufungen die mittleren Verhältniſſe der meiſten europäiſchen
Völker, wo bei vollkommen occupirtem Boden und dichterer
Bevölkerung, aber bei freierer Bewegung dem jungen Mann
eine etwas kürzere oder längere Wartezeit bis zur Grün—
dung eines eigenen Familienlebens auferlegt iſt. Für Eng—
land wird das durchſchnittliche Heirathsalter der Männer
zu 28 Jahren angegeben, für Frankreich zu 30, für Belgien
zu 32. Für Deutſchland dürfte im Ganzen auch die Zahl
von 30 Jahren anzunehmen ſein; für Würtemberg und
Bayern iſt ſie nicht unter 32 Jahren zu ſezen; für Preußen
und Sachſen ſteht ſie wahrſcheinlich unter 30 Jahren. Es
ſind jedoch hier überall die Ehen der Wittwer mitgerechnet;
wenn es ſich blos um erſte Ehen handelt, wären ſämmt—
liche Ziffern etwa um 1 —2 Jahre niedriger zu ſezen.
Für Norwegen haben wir die Ziffer von 30,38, für Nieder—
lande von 31,25 Jahren, jo daß wir im Ganzen als mit—
teleuropäiſches Durchſchnittsalter der heirathenden Männer
30 Jahre annehmen dürfen.
Da die Generation jedoch nicht allein durch die Alters—
differenz zwiſchen den Vätern und den älteſten, ſondern
zwiſchen den Vätern und allen Kindern beſtimmt wird, ſo
handelt es ſich nun weiter darum, den mittleren Alters—
unterſchied zwiſchen den älteſten und jüngſten Geſchwiſtern
oder was dasſelbe iſt, die mittlere Dauer der Fruchtbarkeit
der Ehen zu beſtimmen.
Hier laſſen uns nun die bisherigen Mittel der Statiſtik
293
ganz im Stich; ich habe wenigſtens nirgends Angaben
darüber zu finden vermocht, und, da der Gegenſtand auch
abgeſehen von der Aufgabe, die Länge der Generationen
zu finden, Intereſſe bietet, ſo ſuchte ich wenigſtens an
einer anſehnlichen Zahl von Beiſpielen feſte Anhaltspunkte
zu gewinnen.
Die Würtembergiſchen Familienregiſter enthalten die
hiezu erforderlichen Notizen vollſtändig. Unter Weglaſſung
der kinderloſen, ſowie derjenigen Ehen, bei welchen die
Kindererzeugung nicht als abgeſchloſſen betrachtet werden
konnte, zählte ich 500 Ehen aus dem Tübinger Familien—
regiſter durch.
Die Fruchtbarkeit der Ehen nach der Zeit, die zwiſchen
der Trauung und der Geburt des lezten Kindes liegt, be—
rechnet, kamen auf jene 500 Ehen 6107 Jahre der Frucht—
barkeit, auf Eine Ehe alſo durchſchnittlich 12,2 Jahre.
Und zwar betrug die Dauer der Fruchtbarkeit bei
74 Ehen = 14,8% der gezählten Ehen 1—5 Jahre
1 29 mt —— 2 5, 3 0% 5 „ " 6—1 0 7
136 „ 5 27,2% 7 „ 7 5 "
BE Er , 5 h
e 1 H „ von 21 bis 28 J.
In dieſen 500 Ehen wurden 3008 Kinder geboren,
alſo auf eine fruchtbare Ehe 6,01. Die kinderloſen Ehen
berechnete ich zu /7 oder 14—15% aller Ehen 83). Die
) Es mußten, um in einem alphabetiſch geordneten Regiſter bis
zu 500 zählbaren Ehen zu gelangen, 69 kinderloſe Ehen übergangen
werden; mit deren Zurechnung ergiebt ſich eine mittlere Fruchtbarkeit
der Ehen von 5,29 Kindern.
294
Tübinger Bevölkerung beſteht größtentheils aus Wein—
gärtnern und kleinen Handwerkern, bei welchen neben
enormer Kinderſterblichkeit ſehr kinderreiche Ehen die Regel
bilden. 10-12 Kinder, wovon zwei Drittheile wieder als—
bald wegſterben, ſind ſehr häufig. Ich fand z. B. eine
Ehe, in welcher 16 Kinder geboren wurden, von denen
Eines erwachſen wurde, und ein zweites 5 Jahre alt wurde;
die 14 andern ſtarben im erſten Lebensjahr, meiſt in den
erſten Monaten und Wochen. Ein Mann, der zweimal
verheirathet war, hatte 19 Kinder, von denen das älteſte
und jüngſte um 44 Jahre im Alter auseinander waren.
Nach den gleichen Grundſäzen gieng ich den gothaiſchen
gencalogiſchen Kalender durch und fand hier 264 Ehen,
deren Fruchtbarkeitsdauer im Ganzen 3306 Jahre aus—
machte, ſomit 12,5 Jahre auf Eine Ehe, eine von der
obigen nur wenig abweichende Zahl. Es waren darunter
37 Ehen = 14% mit einer Fruchtbarkeitsperiode v. 1—5 J.
Gies 1 „ 6-10 „
e,, 2 re 5 „11-15
Sr ee 5 „ 16—20 „
14... 580, , 1 „21—25 „
Die Kinderzahl ließ ſich nicht vergleichen, weil nur
die lebenden aufgezählt ſind; ſie iſt aber ohne Zweifel
kleiner als die oben für die Stadt Tübingen genannte.
Der Grund, warum gleichwohl die Dauer der Frucht—
barkeit noch eine etwas größere iſt, dürfte darin zu ſuchen
ſein, daß in den hier in Betracht kommenden geſellſchaft—
lichen Kreiſen die Männer, wenn ſie überhaupt heirathen,
früh zu heirathen pflegen, da das Zuwarten an den öco—
nomiſchen und ſonſtigen Bedingungen nicht mehr leicht etwas
ändern kann.
Die Uebereinſtimmung der Ergebniſſe aus zwei ſo ver—
ſchiedenen Lebenskreiſen iſt jedenfalls von Werth und In—
tereſſe und macht es wahrſcheinlich, daß mit der Ziffer 12
ein allgemeinerer Durchſchnitt wenigſtens annähernd ge—
troffen iſt. Für England, wo die Männer um 2—3 Jahre
früher heirathen als in Deutſchland und Frankreich und
großer Kinderſegen herrſcht, dürfte der Durchſchnitt für die
Dauer der ehelichen Fruchtbarkeit auf 13— 14 Jahre zu
erhöhen, für Frankreich, wo im Durchſchnitt nicht über 3
Kinder auf die Ehe kommen, auf 7—8 Jahre zu erniedrigen
ſein. Höher als 14, niedriger als 7—S iſt die Ziffer
ſchwerlich irgendwo.
Es wären hienach die beiden Elemente, um die Dauer
einer Generation zu beſtimmen, beiſammen; die oben an—
gegebene Formel, durchſchnittliches Heirathsalter der Männer
plus der halben Dauer der mittleren ehelichen Fruchtbarkeit
erfordert jedoch noch eine kleine Modification. Es war
aus praktiſchen Gründen nicht wohl anders möglich, die
Dauer der ehelichen Fruchtbarkeit zu beſtimmen, als durch
die Meſſung des Zeitraums von der Trauung bis zur
Geburt des lezten Kindes. Eigentlich handelt es ſich aber
um die Altersdifferenz zwiſchen den älteſten und jüngſten
Kindern derſelben Ehe. Die Geburt des älteſten Kindes
fällt der Regel nach erſt auf den Schluß des erſten Jahres
nach der Trauung; wenn die eheliche Fruchtbarkeit eine
296
Periode von 12 Jahren umfaßt, ſo wird die Altersdifferenz
des älteſten und jüngſten Kindes durchſchnittlich nur 11 Jahre
betragen. Man muß demnach dieß Eine, erſte Jahr der
Ehe noch dem Heirathsalter hinzufügen und von der Dauer
der ehelichen Fruchtbarkeit für den vorliegenden Zweck, die
Altersdifferenz zwiſchen Geſchwiſtern zu finden, in Abzug
bringen.
So wäre demnach die geſuchte Größe für Deutſchland
30 Jahre + ! + e, oder 36 Jahre, für England
etwa 28 + 1 + / = 35½, für Frankreich 30 + 14.
2 — 34½. Für die kinderreichen Länder mit früher Ver—
heirathung, wie das Unionsgebiet, Rußland, Auſtralien
würden ſich etwa die Zahlen 25 +1 + % — 32½,
für die Gebiete erſchwerter Niederlaſſung, der untheilbaren
Hofgüter mit kleiner Kinderzahl die Ziffern 34 + 1 2
— 59 ergeben, und die Dauer einer Generation wird ohne
Zweifel bei allen Völkern der gemäßigten Zone mit mono—
gamiſcher Sitte weder die Grenze von 32 Jahren nach
unten, noch von 39 Jahren nach oben im mittleren Durch—
ſchnitt überſchreiten, für die Gegenwart aber und die
mitteleuropäiſchen Verhältniſſe zu 35—36 Jahren anzu—
nehmen ſein.
Herodot hat mit ſeinen 33 ½ Jahren für die dortigen
und damaligen Verhältniſſe, für die Freien und das ſüd—
liche Clima, ſehr wahrſcheinlich ganz das Richtige getroffen,
für uns und jezt iſt ſeine Zahl um 2—3 Jahre zu niedrig.
Ich vermuthe, daß er auch dieſen Maßſtab von den egyptiſchen
Prieſtern empfieng, die in Genealogieen wohl bewandert
297
waren und durch die Wahrnehmung geleitet ſein mochten,
daß der Regel nach zwiſchen der Geburt des Urgroßvaters
und des Urenkels ein Zeitraum von ungefähr 100 Jahren
liegt, ſomit das Jahrhundert drei Generationen umfaßt.
Ein falſcher Sinn wird aber mit dieſem Ausdruck verbun—
den, wenn man, wie häufig die Meinung iſt, glaubt, daß
binnen eines Jahrhunderts drei Generationen geboren
werden und ſterben. Vielmehr wird in den normalen
Fällen ſchon der Zeitraum von der Geburt des Vaters
bis zum Tode des Sohnes ein Jahrhundert füllen, z. B.
wenn der Sohn 70 Jahre alt wird und der Vater bei der
Geburt des Sohnes 30 Jahre zählte, mag er dann nach—
her noch kürzer oder länger gelebt haben.
Zur Ergänzung und Illuſtration des Bisherigen mögen
noch einige geſchichtliche Data dienen.
Die Königin Victoria ſtammt in direct aufſteigender
Linie im söten Grade von Wilhelm dem Eroberer, der
506 Jahre vor ihr geboren iſt; die Länge einer Generation
iſt ſomit 32,2 Jahre. Die Zahl der regierenden Könige
von England aber betrug 34, die durchſchnittliche Regierungs-
zeit 23,7 Jahre. Ebenſo ſind es genau 25 Generationen
bis zu einem andern ihrer Ahnherrn, dem mit Wilhelm
dem Eroberer gleichzeitigen Azzo von Eſte, dem Stamm—
vater des Welf-Eſte'ſchen Hauſes und Urgroßvater Hein—
richs des Löwen.
Der Graf von Chambord, geb. 1820, iſt von Hugo
Capet, dem Stammvater des franzöſiſchen Königshauſes,
(der 998 ſtarb und etwa 930 geboren ſein mag) um 27
298
Generationen entfernt, während 34 Könige über Frankreich
regierten, und es kommen auf eine Generation im Durch—
ſchnitt 33 Jahre, auf die Regierungszeit eines Königs
26 Jahre.
Von Franz Joſeph bis Rudolf von Habsburg ſind
15 Generationen zu 32,8 Jahren, von Kaiſer Wilhelm
bis auf den Burggrafen Friedrich von Hohenzollern 14 zu
32 Jahren, von Ludwig II. von Baiern bis Otto von
Wittelsbach 22 Geſchlechter zu 32 Jahren, von König Karl
von Würteuberg bis zu Ulrich dem Stifter 18 Generationen
zu 34 Jahren. König Albert von Sachſen iſt 12 Gene—
rationen zu 32 Jahren von Herzog Albert, dem Stifter der
albertiniſchen Linie und 30 Generationen zu ebenfalls 32
Jahren von dem Landgrafen Burkhard von Thäringen
(892— 908) entfernt. Von Michael Romanow auf Kaiſer
Alexander II. ſind 7 Generationen zu nur 31% Jahren,
da hier in der jung verſtorbenen Anna Petrowna ein weib—
liches Zwiſchenglied eintritt. Von Alexander bis zu dem älte—
ſten Oldenburgiſchen Stammherrn Elimar (reg. 1108-1143)
ſind 22 Generationen zu 33 Jahren. Ebenſo iſt der Durch—
ſchnitt in der Reihe von Victor Emanuel bis zu dem erſten
Grafen von Savoien Berthold ums Jahr 1000 (26 Ge—
nerationen). Den genealogiſchen Geſchichtstabellen von
Hopf und Hübner, aus welchen dieſe Gelehrſamkeit ge—
ſchöpft iſt, läßt ſich ohne viel Mühe noch eine Unzahl ähn—
licher Beiſpiele entnehmen.
Die Ergebniſſe ſind ſowohl unter ſich als mit den
obigen Ausführungen übereinſtimmend. Denn es iſt ganz
der Natur der Sache entſprechend, daß bei fürjtlichen Dy—
naſtieen, wo nur die Altersdifferenz zwiſchen dem Vater
und dem älteſten der Söhne, nicht allen Kindern in Frage
kommt, der Abſtand um einige Jahre niedriger erſcheint,
als im Maſſendurchſchnitt. Auch pflegen Prinzen und Thron—
folger früh zu heirathen. Die Ziffern müßten noch etwas
niedriger ſein, wenn nicht im Lauf der Jahrhunderte immer
auch wieder ein Ueberſpringen der Succeſſion auf die jün—
geren Linien Statt fände. Daß dieſer Fall bei Würtem—
berg häufiger eintrat, iſt wohl der Grund, daß hier die
Generationendauer die höchſte Ziffer erreichte, während um—
gekehrt das mehrfache Einrücken weiblicher Linien in die
Reihe wie bei England eine Verkürzung der Generations—
dauer veranlaßt, da ſie ein jüngeres Heirathsalter haben.
Wenn man die Geſchlechtsregiſter bürgerlicher Familien
verfolgt, z. B. an der Hand des Werkes von Faber über
die Würtembergiſchen Familienſtiftungen, ſo wird man zwar
große Mannigfaltigkeit der Verhältniſſe finden, aber doch
bald zu dem Hauptreſultat gelangen, daß wenn man nur
in der Reihe der älteſten Söhne aufſteigt, die Generation
30—32 Jahre, wenn man die Linie der jüngſten Söhne
feſthält, die Generation gegen 40 Jahre beträgt, der mittlere
Durchſchnitt aber ſich um 35—36 Jahre bewegt. In der
weiblichen Linie ſind die Generationen um etwa 2—4 Jahre
kürzer, freilich auch mit zahlreichen Variationen. Uebrigens
gehen alle dieſe Notizen nur ſelten über 200 Jahre zurück.
Es drängte ſich bei den geſammelten Beiſpielen auch die
Bemerkung auf, daß vom Anfang dieſes Jahrhunderts an
300
rückwärts die Männer in den Mittelklaſſen früher gehei—
rathet haben, als jezt, und daß das mittlere Verheirathungs—
alter der Männer für erſte Ehen in dieſen Ständen im
vorigen Jahrhundert ſchwerlich mehr als 25 Jahre betragen
hat, ſomit für Würtemberg, auf das ſich die Notizen be—
ziehen, ſeitdem ungefähr um 5—6 Jahre geſtiegen ſein
würde.
Es bleibt nun noch die Frage übrig: wozu dieſe ganze
Unterſuchung, welchen Werth und welche Bedeutung hat
überhaupt der Begriff und die Dauer der Generation, was
liegt daran und iſt daraus zu erſehen, ob dieſe Dauer
kürzer oder länger iſt?
Ich glaube, daß auch der Begriff der Generation zu
den der Bevölkerungsſtatiſtik eigenthümlichen Formen und
Mitteln gehört, die ſocialen Zuſtände der Völker zu charac—
teriſiren und unter einander zu vergleichen.
Die jungen, aufſtrebenden, in raſcher Entwicklung und
ſchnellem Wachsthum der Zahl begriffenen Völker haben
kurze Generationen. Die jungen Männer gelangen früh
zur eigenen Erwerbsfähigkeit und Gründung eines Haus-
ſtandes, während ihre Väter ſelbſt noch im kräftigſten Alter
ſtehen. Das elterliche Erbe und Vermögen iſt in ferner
Ausſicht und Jeder iſt auf ſeine eigene Arbeit und Thätig—
keit angewieſen. Das junge Geſchlecht macht ſich früher,
kräftiger und in größerer Anzahl geltend im Staat und in
der Gemeinde, in den wirthſchaftlichen wie in den geiſtigen
Gebieten. Es findet ein raſcherer Umſaz auch in der Ideen—
welt ſtatt. Jugendliche, ideale, radicale Anſichten und Be—
ſtrebungen drängen ſich mit Ungeſtüm und nicht ohne Er—
folg vor. Die jungen Männer ſind bei raſcher Volksver—
mehrung nicht blos um ſoviel zahlreicher als die älteren,
als ſie noch weniger durch den Tod gelichtet ſind, ſondern
auch weil ſie ſchon aus viel ſtärkeren Geburtsklaſſen ſtammen.
Ihre Stimmen legen in allen Dingen ein großes Gewicht
in die Wagſchaale.
Es iſt wohl denkbar, daß einer ſolchen Neigung zu
rapider und ſich überſtürzender Entwicklung andere Factoren
die Wage halten, z. B. in China, wo frühe Heirathen und
kurze Generationen herrſchen, wo, wie man ſagt, die Männer,
die mit 20 Jahren noch ehelos ſind, ſich darüber vor der
Obrigkeit zu rechtfertigen haben, aber die enorme Ausdeh—
nung und unbegrenzte Dauer der elterlichen Gewalt und
die ſonſtigen Bürgſchaften der Stabilität gegenüberſtehen.
Darum iſt jene Tendenz aber doch in der Natur der Sache
begründet; ſie wird den freieſten Spielraum finden in
Colonialländern gebildeter Völker, ſei es denen der Griechen
oder Römer oder der Engländer und Spanier, vor Allem
bei republicaniſchen Staatseinrichtungen. Die Colonien
ſind immer raſchlebiger als die Mutterſtaaten, ſei es auf—
wärts oder abwärts.
Alles dieß verhält ſich anders bei den alten gereiften
Völkern mit vollſtändig angebautem Boden und beengterem
Nahrungsſtand, mit größeren und complicirteren Bedürf—
niſſen. Die Männer gelangen ſpäter, nach längerer Vor—
bildung und Dienſtbarkeit zur wirthſchaftlichen Selbſtändig—
keit und Gründung des eigenen Heerdes. Der Schwerpunkt
302
für die Entwicklung des politiſchen, wirthſchaftlichen und
geiſtigen Lebens liegt in den mittleren Altersklaſſen. Jeder
Fortſchritt vollzieht ſich unter größeren Schwierigkeiten und
Kämpfen; in langſamem und ſtetigem Gang brechen ſich
die Veränderungen in der Geſellſchaft ihre Bahn, und auf
jeden Erfolg treten wieder Hemmungen und Rückſchläge
ein. Und alles dieß hängt aufs Innigſte damit zuſammen,
daß die Söhne nicht neben den Vätern, ſondern erſt nach
ihnen zu Einfluß und maßgebender Stellung gelangen
können, daß die Generationen weiter aus einander liegen.
Man könnte vielleicht denken, eine Differenz von
höchſtens S—10 Jahren in der Dauer der Generationen
könne keine ſo große Wirkung haben, aber ſie reicht doch
gerade hin, die eingreifendſten Verſchiedenheiten zu begrün—
den. Wenn das Leben des Menſchen nach dem bekannten
Bibelſpruch 70 Jahre währet und die Altersdifferenz zwiſchen
Vätern und Kindern im Durchſchnitt 35—36 Jahre beträgt,
ſo haben kaum zwei volle Generationen neben einander zu
leben. Wenn die Kinder den Vätern nur um 28— 30 Jahre
im Alter nachſtehen, jo läßt die Lebensgrenze von 70 Jahren
für 2½ Generationen Raum. Hier wird eine mannig—
fachere geiſtige Berührung und Reibung der verſchiedenen
Altersklaſſen Plaz greifen. Es werden verhältnißmäßig
viele und bis in die ſpäteren Jugendjahre das Glück eines
großelterlichen Hauſes genießen, im andern Fall wenigere
und der Regel nach nur für die erſten Kinderjahre. Es
iſt nicht ohne Bedeutung, wenn dem heranwachſenden Ge—
303
ſchlecht auch die Vorſtellungskreiſe des abſterbenden noch
unmittelbar zur Anſchauung und Kenntniß gelangen.
Die Kräfte der Stabilität und Beharrung ſind nirgends
ſtärker als in den Gebieten der bäuerlichen Hofwirthſchaft,
wo die Generationen am weiteſten auseinanderliegen, wenn
zu den ſpäten Heirathen noch eine längere eheliche Frucht—
barkeit hinzutritt.
Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, daß auf die
Frage, wie viel Generationen es etwa ſeien von der jezigen
bis zu der von Shakeſpeare und Königin Eliſabeth, die Ant—
wort eine andere ſein muß, wenn der Fragende ein Kind,
ein Greis oder von mittlerem Alter iſt. Unwillkührlich
aber ſuchen wir doch nach einem feſten Ausgangspunkt,
und indem wir die Jugend als die künftige, die Greiſe
als die vorangegangene Generation bezeichnen, ſehen wir
einen ſolchen in dem mittleren Mannesalter. Schopen—
hauer, der in geiſtreicher Spielerei die menſchlichen Lebens—
alter zu der Reihenfolge der Planeten und ihrer Namen
in Beziehung ſezt, weiſt den Jupiter als den Herrſchergott
den Fünfzigjährigen zu, weil ſie die Beherrſcher ihres Zeit—
alters ſeien in Staat und Geſellſchaft, in Kunſt und Wiſſen—
ſchaft. Die leitenden und maßgebenden Altersklaſſen gelten
als die Vertreter der jeweiligen Gegenwart, und ſo nennen
wir das Zeitalter der franzöſiſchen Revolution das unſerer
Großväter, obgleich es für die Greiſe die Generation ihrer
Väter, für die Jungen die ihrer Urgroßväter iſt.
Ein Jahrhundert iſt eine dunkle, imponirende, unſern
natürlichen Maßſtab überſchreitende Zeitgröße; die Gene—
ration aber, der Altersabſtand von Vätern und Söhnen
iſt uns ein anſchauliches und verſtändliches Zeitmaaß. Die
ganze Weltgeſchichte tritt uns menſchlich näher und rückt
enger zuſammen, wenn wir uns vorſtellen, wie oft wir den
uns bekannten Weg vom Sohn zum Vater zurückzulegen
haben. Der Unterſchied in den Anſchauungen und dem
Ideenkreiſe der Eltern und Kinder erſcheint uns als ein
relativ kleiner und mehr als leichte Schattirung innerhalb
derſelben Grundfarbe, und da muß es uns überraſchen,
daß wir dieſen Unterſchied nur zu verdreifachen und zur
Maſſenwirkung zu verdichten haben, um zu Friedrich dem
Großen und Voltaire, zu Klopſtock und Leſſing zu gelangen,
Rur zu verſiebenfachen, um in ein ganz anderes europäiſches
Staatenſyſtem und in die Vorſtellungskreiſe von Guſtav
Adolph, Cromwell, Richelieu und dem großen Kurfürſten
verſezt zu werden. Der 30te unſerer Ahnherrn aber mochte
noch Thor und Odin Pferde ſchlachten, der bote ſeine
Heerden durch die Triften von Mittelaſien führen. Nicht
gewaltſame Umwälzungen und vulcaniſche Ausbrüche ge—
ſtalten das Leben der Menſchheit in periodiſchen Anläufen
um, ſondern die kleinen Differenzen in den Sitten und
Anſchauungen der Väter und der Söhne ſteigern ſich zu
den Maſſeneffekten, deren Inhalt und Reihenfolge wir die
Kulturgeſchichte der Menſchheit nennen.
Ueber die Malthus'ſchen Lehren.
Die bekannten Säze von Malthus ſind ebenſo anfecht—
bar in ihrer ſtatiſtiſchen und pſychologiſchen Begründung
im Einzelnen als unumſtößlich und von einleuchtendſter
Wahrheit im Ganzen.
Es iſt freilich unhaltbar, daß, wenn in jeder Ehe auch
nur vier Kinder geboren werden, die menſchliche Geſellſchaft
ſich im Lauf von 25 Jahren verdoppeln müſſe. Denn die
Geſellſchaft beſteht nur zu einem ſtarken Drittheil aus
Perſonen im zeugungskräftigen Alter; auf den weit über—
wiegenden Reſt fällt kein Zuwachs, ſondern nur Abgang.
Dagegen wird allerdings, wenn auf die jungen Paare je
vier Kinder gerechnet werden, die Kopfzahl der Regel nach
nicht blos verdoppelt, ſondern verdreifacht, von zwei auf
ſechs geſteigert werden, da die Eltern wohl ſo lange neben
den Kindern leben können, bis auch dieſe fortpflanzungs—
fähig geworden ſind. Die Frage, welcher Volkszuwachs als
ein möglicher oder normaler anzuſehen ſein mag, ließ ſich
mit den damaligen Mitteln der Statiſtik, wie ſie Malthus zu
Gebot ſtanden, überhaupt nicht genügend beantworten; die
Aufnahmen der lebenden Bevölkerungen nach Alter, Ge—
ſchlecht und Familienſtand ſind für dieſen Zweck unerläßlich.
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 20
306
An der pſpchologiſchen Begründung finde ich den
weſentlichſten Mangel darin, daß Malthus überhaupt nur
die zwei Factoren ins Feld führt, den Geſchlechtstrieb und
den Nahrungsſtand oder die Grenzen der Unterhaltsmittel,
während in der That die Erſcheinungen von viel compli—
cirterer Natur ſind. Zwar ſagt uns auch der Dichter:
Einſtweilen bis den Bau der Welt
Philoſophie zuſammenhält,
Erhält ſie ) das Getriebe
Durch Hunger und durch Liebe.
Allein hier iſt doch mehr nur von den großen Haupt—
triebrädern der ganzen geſellſchaftlichen Maſchine die Rede.
Es iſt ein leicht erklärlicher und faſt allgemeiner Irr—
thum oder Euphemismus, der menſchlichen Natur einen
Fortpflanzungstrieb beizulegen oder den Ausdruck Ge—
ſchlechtstrieb in dieſem Sinne zu gebrauchen. Richtig ver—
ſtanden, weiß die Pſychologie nichts von einem Trieb des
Menſchen, ſeine Gattung fortzupflanzen, wohl aber kennt
ſie zwei verſchiedene Triebe, deren combinirte Functionen
eine ſolche Wirkung haben, nemlich den Trieb der Geſchlechts—
luſt und den der Kinderliebe. Jener, ſo verſchiedene und
ſo ideale Motive ſich ihm beigeſellen können, iſt doch auf
die ſinnlichen Reize um ihrer ſelbſt willen gerichtet, nicht
auf die von der Ordnung der Natur daran geknüpfte
Wirkung, welche vielmehr denjenigen, die die erſten Er—
fahrungen zu machen hatten oder den Cauſalzuſammenhang
nicht durch Ueberlieferung kennen, als die' wunderbarſte
) Die Natur.
307
Sache von der Welt vorkommen mußte. Der Trieb der
Kinderliebe aber iſt die angeborene Geneigtheit der Er—
zeuger, und zwar der Mutter in ſtärkerem Maaße als des
Vaters, das vorhandene, das bereits entſtandene lebende
Weſen wie einen Theil oder Anhang des eigenen Selbſt
zu betrachten und die Sorge für ſeine Erhaltung und
Wohlfahrt in die Reihe der eigenen und ſelbſtiſchen Inte—
reſſen aufzunehmen. Die Luſt, überhaupt Kinder zu haben,
iſts nicht die unmittelbare und nächſte Aeußerung dieſes
Triebs der' Kinderliebe; ſie iſt allerdings ein durch dieſen
noch latenten Trieb angeregtes Vorgefühl und Phantaſie—
ſpiel; es haben aber noch andere Motive daran Antheil,
das Verlangen, dem vergänglichen und verlaſſenen Ich eine
Ergänzung, der Leere des Daſeins Inhalt und Ziel zu
geben und der hinter aller Selbſtſucht immer noch verſteckte
Wunſch, zu lieben und geliebt zu werden.
Der Wunſch, Kinder zu haben, und der Sexualtrieb
ſind pſychologiſch ganz unabhängig von einander; ſie treffen
auch thatſächlich nur in einer kleinen Anzahl von Fällen
zuſammen. Wenn die Erhaltung und Vermehrung der
menſchlichen Gattung von dem Verlangen, Kinder zu haben,
abhienge, ſo wäre es gar ſchlecht um dieſelbe beſtellt. Die
Natur überliſtet uns gleichſam, indem ſie an etwas um
ſeiner ſelbſt willen heftig Begehrtes eine nicht gewollte
Wirkung knüpft, die mit dieſer Wirkung verbundenen
Schmerzen, Sorgen und Laſten aber dann wieder durch
einen zweiten Trieb, die Liebe zu dem Erzeugten zu er—
20 *
308
leichtern und zu verſüßen, und das Erzeugte damit gegen
den ſonſt ſicheren Untergang zu ſchüzen weiß.
Keine Frau in der Welt wird jemals wünſchen ſo
vielfache Mutter zu werden, als es phyſiologiſch möglich
wäre, und kein Mann in der Welt wird auch nur nach
dem hundertſten Theil der Vaterfreuden und Sorgen Ver—
langen tragen, deren Objecte ins Leben zu rufen ihm weder
Luſt noch Fähigkeit fehlen würde. Es handelt ſich hiebei
keineswegs blos um Nahrung und Unterhalt, ſondern um
eine Laſt von Sorgen und Störungen, die auch dem Reichſten
nicht erſpart ſind, wenn, wie man ſagt, unter einem halben
Duzend Kinder durchſchnittlich wenigſtens Ein Schmerzens—
kind ſein wird. So lebhaft auch jene Triebe der Geſchlechts—
luſt und Kinderliebe in uns ſein mögen, ſo ſteht ihrem
unbeſchränkten Walten doch die mächtige Gegenwirkung
zahlreicher anderer, von ihnen unabhängiger Triebe zur
Seite, die zu Colliſionen führt und zu Compromiſſen nöthigt.
Jedermann wünſcht im Leben vorwärts zu kommen, ſeine
Kräfte und Anlagen frei zu entfalten, ſeine wirthſchaftliche
Lage zu verbeſſern, ſeine Lebensgenüſſe zu ſteigern, zu
einem ſorgenfreien und bequemen Daſein zu gelangen und
gerade die Edelſten und Begabteſten wollen am wenigſten
in Erwerb und häuslichen Dingen aufgehen. Ja der Trieb
der Kinderliebe ſelbſt gebietet eine Begrenzung; der kleineren
Zahl kann man größere Sorgfalt widmen, ein größeres
Erbtheil zuwenden, die Erhaltung ihrer geſellſchaftlichen
Stellung ſichern.
Malthus unterſcheidet unter den Checks oder Hemm—
309
niffen gegen ein Uebermaß der Kinderzeugung, zu welchem
er eine natürliche Tendenz annimmt, ſoweit dieſelben in
menſchlichen Handlungen liegen, nur zwei Arten, die mo—
raliſche Enthaltſamkeit auf der einen, und die Laſter der
Proſtitution, Fruchtabtreibung ꝛc. auf der andern Seite;
wobei er freilich unbeſtimmt läßt, wieweit das Prädikat
„moraliſch“ bei den verſchiedenen Arten und Formen der
Enthaltſamkeit gelten ſoll. In Wahrheit aber ſcheint hier
zwiſchen Tugend und Laſter ein weites Feld von Motiven
zu liegen, die weder moraliſch noch unmoraliſch zu nennen,
ſondern der natürliche Gegendruck anderer Seelenkräfte
ſind, die ebenſo gut zur menſchlichen Ausſtattung gehören.
Wenn in einem Lande für Millionen von Ehen das régime
conjugal herrſcht, die Zahl von drei Kindern nicht zu über—
ſchreiten — im Gegenſaz zu dem numerum liberorum finire
flagitium habetur, das Tacitus an unſern Vorfahren rühmt
— wer will dieß moraliſch, wer unmoraliſch nennen oder
entſcheiden, in welchen Fällen es das eine wäre, in welchen
das andere? Relativ genommen, als Herrſchaft verſtän—
diger Ueberlegung über blinde Begier, und zumal im Ver—
gleich mit dem in Deutſchland ſo weit verbreiteten gemeinen
Aſtarte- und Molochdienſt, der jährlich Hunderttauſende von
zarten Kinderleben elender verkommen läßt, als wenn ſie
einem glühenden Gözenbild in die Arme gelegt würden,
mag man die Sitte immerhin zu den moraliſchen Enthal—
tungen rechnen. Im Uebrigen würden die dabei vorherr—
ſchenden Motive des Wohllebens und der Bequemlichkeit ge—
rade keinen beſonderen Anſpruch auf jenes Prädikat erheben.
310
Wäre dem wirklich ſo, wie die Malthus'ſche Lehre
ſagt, daß die Vermehrung der Bevölkerung nur an die
der Nahrungsmittel gebunden iſt, daß die auf Fortpflan—
zung bezüglichen Naturtriebe die Kraft und Tendenz haben,
die Grenzen der Unterhaltsmittel fortwährend zu über—
ſchreiten und nur durch Hemmniſſe verſchiedener Art inner—
halb derſelben feſtgehalten werden, ſo wäre ein eigentlicher
Fortſchritt der Menſchheit in ihrem wirthſchaftlichen Leben
wie in ihrer Geſittung nicht denkbar. Eine ſtetige Steige—
rung und Verfeinerung der Bedürfniſſe und Lebensgenüſſe
könnte nicht eintreten, wenn jede Lücke gleich ausgefüllt,
jeder Ueberſchuß an Mitteln von dem verſtärkten Nachwuchs in
Anſpruch genommen würde. Die Geſellſchaft bliebe an die
erſte Stufe ihrer Lebensweiſe gefeſſelt. Die natürliche
Neigung der Menſchen, ihre Glückſeligkeit im Ganzen, ihre
Annehmlichkeiten des Lebens zu ſteigern, muß offenbar
über ſtärkere pſychiſche Kräfte verfügen, wenn es den ge—
ſchlechtlichen Neigungen nicht gelingt, alle neuen wirthſchaft—
lichen Mittel in ihre Dienſtbarkeit zu bringen. An die
Stelle des aus den Malthus'ſchen Säzen folgenden Geſezes,
daß die Geſellſchaft die Tendenz habe, jede Steigerung
ihrer wirthſchaftlichen Mittel mit einer entſprechenden Ver—
mehrung der Bevölkerung zu begleiten, ſcheint eine andere
Regel geſtellt werden zu dürfen, daß jedes zur Geſittung
berufene Volk die Tendenz hat, ſein Einkommen raſcher zu
vermehren als ſeine Kopfzahl, und mit dem Zuwachs an
Perſonen in einer ſtetig wachſenden Entfernung hinter dem
Zuwachs an wirthſchaftlichen Mitteln zurückzubleiben. Denn
311
wenn der Quotient, d. h. die Summe der Bedürfniſſe und
Lebensgenüſſe für den Einzelnen ſtetig anwachſen ſoll, ſo
dürfen der Dividendus, das Volkseinkommen und der Di—
viſor, die Volkszahl, ſich nicht in gleicher Proportion ver—
mehren.
Es iſt dieß nicht eine Widerlegung oder Umſtoßung
der Malthus'ſchen Säze, ſondern nur eine verſchärftere
Faſſung. Nach Malthus ſoll und wird der Volkszuwachs
nur immer gleichen Schritt halten wollen mit der Steigerung
der wirthſchaftlichen Mittel, nach der obigen Formel kann
derſelbe nicht einmal bis zu dieſer Grenze reichen, ſondern
muß iminer um einen Schritt, deſſen Maaß ſelbſt im Wachſen
begriffen iſt, dagegen zurückbleiben. Nur hat Malthus die
natürlichen Checks nicht vollſtändig aufgezählt und die ſitt—
lich indifferenten, die ſpontane Gegenwirkung des übrigen
Trieblebens nicht genug beachtet.
Die Vermehrung des Volkseinkommens und der Volks—
zahl bleiben auch ſo Correlate und dieſe vou jener ab—
hängig.
Da jedoch die Steigerung des Einkommens in erſter
Linie auf der Thätigkeit und Energie der Völker beruht,
erſt in zweiter anf der Gunſt natürlicher Bedingungen und
angeſammeltem Kapital, ſo hängt auch der Volkszuwachs
von den moraliſchen und intellectuellen Eigenſchaften der
Völker ab. Nur ein fleißiges, thatkräftiges und intelligen—
tes Volk kann ſeine Zahl namhaft und nachhaltig ſteigern.
Da die Erhöhung des Quotienten auf verſchiedene Weiſe
möglich iſt, ſo iſt auch das Verhalten der civiliſirten Völker
312
in dieſem Punkt ein ſehr verſchiedenes, wie das Beiſpiel
von Frankreich gegenüber von England und Deutſchland
zeigt. Die Colonialländer ſind hiebei immer in einer ganz
exceptionellen Lage.
Die Frage, welcher Volkszuwachs als ein möglicher,
natürlicher, normaler anzuſehen wäre, läßt ſich nicht all—
gemein für die Menſchheit überhaupt, alſo in einer für
Neger, Indianer, Chineſen, Europäer u. ſ. w. gleich—
mäßig geltenden Weiſe, ſondern nur für die alten euro—
päiſchen Kulturländer ſtellen, für welche auch allein die
erforderlichen ſtatiſtiſchen Mittel wenigſtens nothdürftig vor—
handen ſind. :
Wenn man nur die Grenzen der phyſiologiſchen Mög—
lichkeit aufſucht und etwa rechnet, daß jede Frau während
einer 30jährigen Fruchtbarkeitsperiode 30, oder auch nur
20 oder 15 Kinder zur Welt bringen könnte, ſo gelangt
man zu Reſultaten, wie wenn man mit den Eiermillionen
beim Lachs, Kabliau oder Hauſen Ernſt machen wollte.
Die phyſiologiſche Möglichkeit iſt pſychologiſch durch die
Freiheit der Motive begrenzt und die Frau nicht als Ge—
bärmaſchine anzuſehen.
Es handelt ſich zuerſt darum, wie viele Jahresklaſſen
einer weiblichen Bevölkerung ſind als im fruchtbaren Alter
ſtehend zu zählen und der weiteren Berechnung zu Grund
zu legen?
Es iſt nun nicht in Abrede zu ſtellen, daß einerſeits
17jährige Frauen Mütter werden und andererſeits auch
48 und 50jährige, und daß überhaupt die Fruchtbarkeit
313
bei den meiſten Frauen erſt in der zweiten Hälfte oder
gegen Ausgang der vierziger Jahre zu Ende geht. Aber
es werden wohl nicht dieſelben Frauen ſein, die mit 17
Jahren und dann auch noch mit 48 Jahren geboren haben.
Wenn auch hie und da ſchon eine ſolche Ausnahme vorge—
kommen ſein mag, ſo iſt doch unzweifelhaft, daß der Regel
nach diejenigen, die früh zu gebären angefangen haben,
auch früher damit aufhören, und daß diejenige Dauer der
weiblichen Fruchtbarkeit, die praktiſch in Betracht kommen
kann, nicht nach den extremen Grenzjahren bemeſſen werden
kann. Es iſt an einem anderen Orte gezeigt worden, daß
die durchſchnittliche Dauer der ehelichen Fruchtbarkeit ſich
um die Grenze von 12—13 Jahren bewegt, jedoch zuzu—
geben, daß hiebei ſchon Malthus'ſche Erwägungen, die hier
noch zu ignoriren ſind, mitwirken und daß die natürliche
Dauer der weiblichen Fruchtbarkeit erheblich weiter hinaus—
zurücken iſt.
Ich glaube gemäß den dort gegebenen näheren Aus—
führungen eher zu hoch als zu niedrig zu greifen, wenn
ich (wie Roſcher) dieſe Grenze zu 22 Jahren annehme und
demgemäß 22 Jahresklaſſen der weiblichen Bevölkerung als
für die Fortpflanzung der Gattung praktiſch in Betracht
kommend rechne. Man kanu dabei zweifeln, wie dieſer
Zeitraum abzugrenzen iſt, ob man die Periode vom 18ten
bis 40ten oder vom 20ten bis 42ten für geeigneter hält;
im erſten Fall wird, weil die jüngeren Klaſſen zahlreicher
ſind als die älteren, die Geſammtzahl etwas größer, doch
iſt der Unterſchied nicht ſehr erheblich. Im einen wie im
314
andern Fall iſt vorausgeſezt, daß die außerhalb jener
Grenzen liegenden Geburten durch die weit zahlreicheren
Fälle innerhalb derſelben reichlich ausgeglichen werden, in
welchen die Fruchtbarkeit erſt ſpäter beginnt oder früher
erliſcht. Die Mitte zwiſchen jenen beiden Berechnungs—
arten wird gefunden, wenn man das Alter von 19 bis
41 Jahren zu Grunde legt. Nach den Altersaufnahmen
aus mitteleuropäiſchen Ländern ergiebt dieß auf 1000 Ein—
wohner 165 im Alter der Fruchtbarkeit ſtehende weibliche
Perſonen, oder 16,5% einer Bevölkerung.
Es fehlt an genügendem ſtatiſtiſchem Material, um
den Procentſaz der unfruchtbaren Frauen oder, richtiger,
Ehen genauer feſtzuſtellen. Die vereinzelten Zählungen
geben ein von 10—20% ſchwankendes Reſultat. Nach
meinen, allerdings auch beſchränkten Notizen fand ich ca 7
der Ehen von noch gebärfähigen Frauen unfruchtbar. Für
den nicht zur Verheirathung gelangenden Theil der weib—
lichen Bevölkerung iſt in keinem Fall ein günſtigeres Er—
gebniß anzunehmen, da im Allgemeinen doch die geſünderen
und gebrechenfreieren Frauen in die Ehe treten. Man iſt
daher ſicher, eher hinter der Wahrheit zurückzubleiben, wenn
man, da es ſich bei dieſem ganzen Verfahren doch nur um
runde und annähernd giltige Ziffern handeln kann, an—
nimmt, daß unter jenen 165 Frauen 15 als unfruchtbar
und ſomit 150 als für die Fortpflanzung geeignet gelten
können.
Nun hängt die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung natür—
lich davon ab, wie viele Geburten durchſchnittlich je auf
315
Eine Frau während der Dauer ihrer productiven Periode
fallen. Rechnet man je 3 Geburten auf Eine Frau, ſo
treffen auf 1000 Einwohner 55 Geburten - 20 (20,45).
Bei je 4 Geburten ergeben 19 oder 27 (27,27)
Geburten auf 1000 Einwohner, bei je 5 Geburten 34 (34,09),
bei je 6 Geburten 41 (40,9) bei je 7 Geburten 48 (47,7),
bei je 8 Geburten 54 (54,5) u. ſ. w
Hier fragt es ſich nun aber weiter, welche Zahl von
Sterbfällen man dieſen Geburtenziffern gegenüberzuſtellen
hat, wenn man ſich nicht an die rein thatſächlich gegebenen
durchſchnittlichen Sterblichkeitsziffern der europäiſchen Län—
der, ſofern dieſe ſchon der Ausdruck für pathologiſche Zu—
ſtände ſind, halten darf, ſondern die möglichen, normalen,
wenn auch nicht rein idealen Verhältniſſe ſucht.
Dieſes rein ideale Verhältniß wird von Hofmann,
dem hierin auch Wappaeus folgt, in der Weiſe gefunden,
daß, wenn der Abgang durch Todgeburten und Kinder—
ſterblichkeit auf 10 Procent der Geborenen reducirt, die
übrigen aber alle das natürliche Lebensziel von 75 Jahren
erreichen würden, unter der Annahme von 40 Geburten
auf je 1000 Menſchen (1: 25 Lebenden) der jährliche Ab—
gang ½¼ 56 50 — 1¼ß30 der lebenden Bevölkerung be—
tragen würde, alſo 1: 57,7 Lebenden, oder auf je 1000 E.
17,3 Sterbfälle. Nach dieſem Phantaſiebild würde die
jährliche Zunahme bei 40 Geburten und 17,3 Sterbfällen
22,7 Perſonen auf 1000 ausmachen oder 2,27% der Be—
völkerung.
Die Vorausſezungen dieſer Rechnung erinnern ſo leb—
316
haft an die Fabeln von einem Saturniſchen Zeitalter, daß
man auch ſchon eine nur entfernte Annäherung wirklich
vorkommender Zahlen an jenen Maßſtab für rein unmög—
lich halten möchte. Um ſo überraſchender iſt es, daß es
wirklich ein europäiſches Land giebt, deſſen Mortalität
wenigſtens nur unbedeutend hinter jenem idealen Kanon
zurückzuſtehen ſcheint. In den 20 Jahren von 1841—60
ſind in Norwegen bei einer mittleren Bevölkerung von
1,409,259 Einwohner im Jahresdurchſchnitt einſchließlich
von 1904 Todgeborenen 26,690 Sterbfälle eingetreten, was
eine Sterblichkeit von 18,94 p. m. oder 1: 53,1 ergiebt.
Dabei hat allerdings die jährliche Geburtenzahl nicht 40,
ſondern nur 33,2 p. m., und andererſeits die Kinder—
ſterblichkeit des erſten Jahres nicht blos 10%, ſondern
mehr als das doppelte, 19% der lebend geborenen, alſo
mit Einſchluß von 4% Todgeborenen 23% aller Geborenen
betragen.
Die für England und Wales für den Zeitraum
1841—50, ſowie für Schweden pro 1856—60 angegebene
Sterblichkeitsziffer iſt mit einem Zuſchlag für die Todge—
borenen ebenfalls nicht höher als 21—22 p. m.
Man nimmt nun zwar, und wohl mit Recht an, daß
die Sterbeliſten theils überhaupt, theils insbeſondere in den
Handel und Schifffahrt treibenden Ländern, wo Viele außer—
halb ihres Wohnſizes ſterben, unvollſtändig ſind, und es
mag dieß beſonders für England und Norwegen zutref—
fend ſein.
Allein ſelbſt wenn man die Zahlen noch etwas erhöht,
317
bleibt es immer noch unerklärt, daß fie jenem Ideal jo
nahe kommen, während doch die Kinderſterblichkeit thatſäch—
lich eine doppelt ſo große, als die dort angenommene war
und von 100 Geborenen nicht 90, wie dort vorausgeſezt
wird, ſondern nur etwa 11—12 das 75. Lebensjahr zu
erreichen pflegen.
Die Löſung der Schwierigkeit iſt wohl darin zu ſuchen,
daß jene Hofmann'ſche Rechnung einen Widerſpruch in ſich
ſchließt, indem ſie einerſeits eine ſtabile Bevölkerung voraus—
ſezt, wenn ſie die 75jährigen als ½s der Lebenden an—
nimmt, und andererſeits eine wachſende, wenn ſie auf 25
Lebende jährlich eiue Geburt, oder nach Abzug eines Zehn—
theils auf 1000 Einwohner einen Zuwachs von 36 annimmt.
Die Fiction, daß gemäß dem Bibelſpruch von den 70 und
wenn es hoch kommt, 80 Jahren alle Menſchen erſt mit
75 Jahren ſterben, führt auch bei einer viel kleineren Ge—
burtenzahl als 36 p. m. zu einem Anwachſen der Bevöl—
kerung, bei welchem die jüngſte Altersklaſſe mehrmals ſo
zahlreich ſein müßte als die älteſte, ſomit die 75jährigen
nicht %75, ſondern ein mehrfach kleinerer Bruchtheil aller
Lebenden ſein würden.
Eben darin liegt auch der Grund, daß unter günſtigen
wirthſchaftlichen Bedingungen bei raſchem Anwachſen der
Bevölkerung, ſobald nur die Kinderſterblichkeit ſich inner—
halb mäßiger Grenzen bewegt, die allgemeine Sterblichkeits—
ziffer eine ſehr niedrige werden kann, weil die alten, in
die Sterbereihe einrückenden Altersklaſſen numeriſch viel
ſchwächer ſein werden, als die mittleren und jüngeren.
318
Daraus erklären ſich die günſtigen Ziffern bei England
und Norwegen für die betreffenden Zeitperioden.
Verzichtet man darauf, im Wege der Conſtruction eine
ideale Sterblichkeitsziffer zu finden und beſchränkt man ſich
darauf, an der Hand des ſtatiſtiſchen Materials, das der
Erfahrung entnommen iſt, die relativ günſtigſten, am
wenigſten ſchon den Eindruck pathologiſcher Erſcheinungen
machenden Verhältniſſe aufzuſuchen, ſo überzeugt man ſich,
daß eine Sterblichkeit von 1:50 oder 20 auf Tauſend,
als das Niedrigſte und Günſtigſte anzuſehen iſt, das wenig—
ſtens bis jezt überhaupt nur ſelten, aber jedenfalls noch
nie in einem längeren Zeitraum von mehreren Jahrzehen—
den, und nur von den civiliſirteſten Völkern in der günſtig—
ſten Entwicklungsperiode einigermaßen erreicht worden iſt.
Dieſe Grenze iſt auch nur denkbar bei einer mäßigen
Geburtenzahl; ſie wird mit ſteigender Fruchtbarkeit ſtetig
höher hinaufgerückt werden, weil dann in der lebenden Be—
völkerung die jüngſten Jahresklaſſen mit der größten Lebens—
gefährdung relativ immer ſtärker vertreten ſein werden.
Sieht man nun auf die obigen Annahmen hinſichtlich
der mit der wachſenden Geburtenzahl für jede einzelne Frau
ſteigenden Fruchtbarkeit im Ganzen zurück, ſo mögen ſich
mit annähernder Richtigkeit etwa die aus der folgenden
Tabelle erſichtlichen Normen ergeben.
319
Auf je 1000 Perſonen treffen
bei je Geborene Geſterbene 9 n Verdopplungsperiode
3 Geburten per mille
für eine Frau 20 20 0 0
— 1 ’ 5 139 Jahre
— 5 — 34 24 10 69,6
— 6 — 41 26 15 46,3
— 7 — 48 28 20: 35
Es iſt leicht, dieſe Tabelle durch Einſchaltung von
Zwiſchengliedern für 3½, 4½ u. ſ. w. Geburten für je eine
der 150 angenommenen Frauen zu ergänzen.
Der von Malthus zu Grund gelegte Fall, daß auf eine
Ehe 4 Kinder kommen, führt alſo nach dem Obigen nicht
zu einer Verdopplung alle 25, ſondern erſt alle 139 Jahre.
Es mag nicht ohne Intereſſe ſein, der obigen Tabelle
die faktiſchen Verhältniſſe in einigen Hauptländern Europas
gegenüberzuſtellen, wofür die Daten theils dem Werk Sta-
tistique internationale von Quetelet und Heuſchling, Bru—
relles 1865, theils neueren Quellen entnommen ſind.
Es kamen auf je 1000 Einwohner (mit den Todgeborenen)
Natürl. 285
Periode Geburten Sterbfälle Zuwachs eee ee
p. mille een
Frankreich 1851-60 26,2 23,9 2,3 302
Belgien 1851-60 31,6 23,7 eg 88
England*u. Wales 1851—60 32,4 23,3 10,1 69,7
Niederlande 1850 —59 34,3 25,9 8,4 82,8
Norwegen 1851—60 34,7 18,9 15,8 44
Bayern 1860-68 37,3 30,4 6,9 100
Preußen 1851—60 39,1 29 10,1 69,7
Sachſen 1859. 6 % 2 18,1 53
Württemberg 1868—74 42,6 33,3 9,3 75
) mit Interpolation der Todgeborenen.
320
Man ſieht, die thatſächlichen Verhältniſſe der wichtig—
ſten 0 Kulturländer erreichen in keinem Fall
weder die obere noch die untere Grenze jener fingirten
Normaltabellen, bewegen ſich aber in großer Wannigfaltig-
keit innerhalb jener Extreme.
Man ſieht ferner was dazu gehören würde und wie—
weit alle dieſe Völker davon entfernt ſind, einen Jahres—
zuwachs von 2 Procent zu erreichen.
Wenn man von einzelnen Jahrzehenden oder Jahr—
fünften beſonders proſperirender Zuſtände abſieht und die
lezten 50—60 Jahre ſeit den erſten zuverläßigeren Volks—
zählungen zuſammenfaßt, ſo iſt kein einziges Volk in Europa,
das einen durchſchnittlichen Jahreszuwachs von 1½ Pro—
cent nachweiſen könnte. Nur England (im engeren Sinn)
und das Königreich Sachſen mit 1,3— 1,4% reichen nahe
an dieſe Grenze hin.
Wenn in einigen Colonialländern, wie im Unionsge—
biet, die Grenze von 2 Procent auch abgeſehen von der
Einwanderung durch rein inneren Zuwachs ſchon erreicht
und überſchritten worden ſein ſollte, was immer noch ſehr
anfechtbar iſt, ſo ſind die Verhältniſſe hier ſo abweichend
und ſingulär, daß weder für noch gegen die Malthus'ſche
Theorie Argumente daraus geſchöpft werden können.
Denken wir uns, daß nach Art eines altlatiniſchen
Ver sacrum, wie wir ihn aus dem ſchönen Uhlandiſchen
Gedichte kennen, etwa 1000 junge Paare unter günſtigen
Umſtänden eine Pflanzung gründen. Die jungen Frauen
werden hier nicht wie in einer alten Geſellſchaft 16, ſondern
321
50 Procent der Bevölkerung bilden; fie werden nicht 25
Jahre, ſondern 3 bis 4 Jahre nöthig haben, um die Kopf—
zahl der Colonie zu verdoppeln. Alte Leute wird es hier
viele Jahre lang noch gar keine geben; dagegen wird es
wimmeln von jungem Volk. Die Generationen werden
deutlich von einander geſchieden ſein; gewiſſe Altersſtufen
werden lange Zeit ganz herausfehlen; die Bevölkerung wird
keine continuirliche, lückenloſe Reihe von Altersklaſſen bilden.
Die Fruchtbarkeit derſelben wird ſich in den größten
Schwankungen bewegen; ſie wird zeitweiſe ſehr klein werden,
wenn eine Generation ſchon aufgehört hat productiv zu fein
und die nächſte noch nicht recht angefangen, dann wieder
ſehr groß, wenn das neue Geſchlecht ganz in das ent—
ſprechende Alter eingerückt iſt. Die Folgen einer ſo eigen—
thümlichen Zuſammenſezung der erſten Geſellſchaft werden
wohl allmälig unmerklicher werden und zulezt ganz ver—
ſchwinden, aber es werden nicht nur Generationen, ſondern
Jahrhunderte nöthig ſein, bis ſich alle Nachwirkungen für
die Zuſammenſezung des Volks nach Altersklaſſen verloren
haben, zumal wenn die Urſache, das Eintreten junger Paare,
ſich periodiſch durch Nachwanderungen erneuert.
Nicht ſo deutlich und rein, wie in dieſem fingirten
Beiſpiel, aber im Ganzen kommen doch alle Colonialſtaaten
auf eine ſehr ähnliche Weiſe zu Stande. Die erſte An—
ſiedlung geſchieht durch Männer in jungen oder mittleren
Jahren, die Frauen mitbringen oder ſich zu verſchaffen
haben; die einzeln oder in Schaaren Nachrückenden ge—
hören lange Zeit den Altersſtufen an, in denen man zu
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 21
322
Wagniß und Abentheuer aufgelegt iſt; die Zahl der Greiſe
iſt verſchwindend klein in ſolcher Geſellſchaft, die der Kinder
und jungen Altersklaſſen wächst in rapiden Verhältniſſen
an. Heute noch ſind in den Vereinigten Staaten unter
1000 Einwohner nur 14 über 70 Jahre alt, in Frankreich
37, und die 22 Jahresklaſſen der gebärfähigen Frauen
machen dort nicht 16, ſondern 18— 19/0 der lebenden Bevöl—
kerung aus. Dieſe Anomalieen in der Zuſammenſezung der
Bevölkerung hat man ſich nach rückwärts als wachſend vor—
zuſtellen. Der Verſchmelzungsproceß der Generationen, wie
er bei den alten Kulturvölkern längſt vollzogen iſt, wird,
je weiter man zurückgeht, deſto unausgeglichener, und dabei
treten durch den Umfang und die großen Fluctuationen
der Einwanderungen immer neue Störungen und Unregel—
mäßigkeiten ein. Man müßte, um ſich über den natürlichen
Zuwachs in den Colonialgebieten ein ſicheres Urtheil zu
bilden, Altersaufnahmen für die betreffenden Perioden
haben.
Wenn man dazu aber bedenkt, wie in fruchtbaren,
jugendlich aufſtrebenden Colonieen, wo der Unterhalt ohne
viel Arbeit weit mehr durch Viehzucht als Ackerbau ge—
wonnen wird und beſtes Land im Ueberfluß zu haben iſt,
ſehr frühe Heirathen zuläßig und üblich ſind, die Frucht—
barkeit der Ehen ſowohl nach ihrer Dauer als der Ergiebig—
keit eine ſehr große iſt, wie die Frauen, von Feld- und
ſchwererer häuslicher Arbeit entbunden, ſich der Pflege der
Kinder widmen können, wie dadurch großer Kinderreichthum
neben mäßiger Kinderſterblichkeit erreicht wird, ſo iſt es
dort in der That denkbar, daß, wie die obige Tabelle fordert,
auf 1000 Einwohner 48 Geburten und nicht mehr als 28
Todesfälle, ſomit ein natürlicher Jahreszuwachs von 20
p. m. trifft.
Ob dieſe Grenze im Unionsgebiet in der früheren Zeit
noch ſo namhaft und bis 28 und 29 p. m. überſchritten
worden iſt, wie Wappaeus (Bevölkerungsſtatiſtik I. 124) an⸗
nimmt, muß man bezweifeln, wenn man bedenkt, daß hiezu
etwa ein Verhältniß von 50 Geburten zu 21—22 Sterb—
fällen auf 1000 Einwohner erforderlich wäre, ſomit eine
Durchſchnittsfruchtbarkeit der Ehen von 7—8 Kindern neben
der ſchwächſten Kinderſterblichkeit. Gegen die Berechnung
iſt unter anderem einzuwenden, daß wir für das Unions—
gebiet nur die Einwanderung aus Europa, nicht aber die
von der Landſeite, von den damaligen franzöſiſchen und
engliſch gebliebenen Beſizungen kennen, die doch ſowohl nach
geſchichtlichen Zeugniſſen als innerer Wahrſcheinlichkeit ſehr
erheblich war und daß auch der geſammte, heimlich betrie—
bene Import von Negerſclaven unbeachtet bleibt.
Bei den alten Kulturvölkern dagegen, wo die Schichten
der Generationen längſt in einander verwachſen ſind und die
Reihen der lebenden Altersklaſſen mit denen einer Sterbe—
tafel noch einige natürliche Aehnlichkeit bewahrt haben, wird
ein Jahreszuwachs von 2 Procent noch niemals vorgekommen
ſein und ſchwerlich jemals, wenigſtens nicht für einen län—
geren Zeitraum erreicht werden können. Unſer Welttheil
hat noch niemals eine Periode günſtigerer und großartigerer
Entwicklung aller wirthſchaftlichen und ſocialen Verhältniſſe
21 *
324
geſehen, als die lezten 50 Jahre; feine Bevölkerung iſt
rund von 200 auf 300 Millionen geſtiegen, und doch macht
dieß erſt 0,8% jährlichen Zuwachs und diejenigen Völker,
bei denen die Zunahme die ſtärkſte war, haben das Doppelte
dieſes Durchſchnittes noch nicht erreicht.
Es waren dabei viele und gewaltige Hemmungen oder
checks im Malthus'ſchen Sinn erforderlich, um den Zuwachs
nicht noch viel größer werden zu laſſen. Den kleinſten
Antheil daran mag der Factor der „moraliſchen“ Enthalt—
ſamkeit haben, einen beträchtlich größeren die unmoraliſchen
Potenzen, die Malthus aufzählt; ſodann die repreſſiven
Checks der Kriege und Epidemieen und das Sicherheits—
ventil der Auswanderung. Gewiß der größte Antheil aber
fällt auf jene Motive, die ſich weder als moraliſch noch als
unmoraliſch bezeichnen laſſen, auf den natürlichen Gegen—
druck anderer Triebe und Forderungen des menſchlichen
Weſens, auf das allen geſitteten Völkern eigene Verlangen,
ihr Einkommen raſcher zu ſteigern als ihre Zahl, den Quo—
tienten von Gütern und Genüſſen des Lebens dadurch zu
erhöhen, daß der Diviſor langſamer wächst als der Divi—
dendus.
Alle dieſe Ausführungen, welche theilweiſe gegen die
Malthus'ſchen Säze ihre Spize zu kehren ſcheinen, wollten
dieſe nur ergänzen und im Einzelnen berichtigen; ſie laſſen
aber den Kern und das Weſen derſelben ganz unberührt,
ja vielleicht nur in eine verſtärkte Beleuchtung treten.
Nur mit Sophismen oder ſchiefen und halbwahren Ar—
gumenten läßt ſich bekämpfen, daß die gewaltigſten Natur—
325
triebe auf eine maßloſe Vermehrung der Bevölkerungen
hindrängen, daß ſie einer beſtändigen Hemmung und Re—
preſſion durch andere Kräfte bedürfen, daß jener Drang
und feine Hemmungen das Haupttriebrad aller geſchicht—
lichen Entwicklung ſind. Die verſchiedenen Völker ſpiegeln
ihren Werth und Charakter in nichts ſo deutlich ab, als
in der Art, wie ſie jenen Conflict zwiſchen dem Geſchlechts—
trieb und den übrigen Forderungen der menſchlichen Natur
zur Löſung, welche Gefühle und Motive ſie dabei zum
Opfer bringen, wohin der Schwerpunkt ihrer Compromiſſe
deutet. Denn der Conflict ſelbſt iſt da und unabweisbar;
weder der Einzelne noch die Geſellſchaft kann ihn ignoriren
und an ihm vorübergehen.
Ob und wenn ſich Malthus darin getäuſcht hat, daß
er die natürliche Verdopplungsperiode einer Volkszahl zu
niedrig annahm, iſt ganz gleichgiltig; ſeine Argumente da—
für, daß die Vermehrung der Unterhaltsmittel nicht gleichen
Schritt zu halten vermöchte mit der durch menſchliches
Können und Wollen geforderten Progreſſion der Geſell—
ſchaft, gelten für eine Verdopplungsperiode von 100 und
noch mehr Jahren ſchließlich ebenſo gut wie für die von
einer einzigen Generation.
Es führt zu ſehr ernſten Betrachtungen, wenn man
erwägt, daß einerſeits ein ſtetiges und anſehnliches Ueber—
gewicht der Geburtenzahlen über die Sterbfälle als das
Normale, und ein Stillſtand oder ganz ſchwacher Zuwachs
einer Bevölkerung als eine krankhafte Erſcheinung betrachtet
werden muß, und daß wir uns andererſeits auch ſchon eine
326
weit unter dem Normalen zurückbleibende Vermehrung in
den alten Kulturländern gar nicht als einen für eine Reihe
von Jahrhunderten andauernden Zuſtand vorzuſtellen ver—
mögen.
Ein Jahreszuwachs von 17% kann als ein mäßiges
Verhältniß gelten und iſt in den lezten 60 Jahren in Eng—
land, Preußen und den ſcandinaviſchen Ländern noch neben
ſtarker Auswanderung erreicht oder überboten worden.
Dennoch führt er zu der Conſequenz, daß das deutſche
Reich bis zum Jahr 2000 eine Bevölkerung von etwa 160
Millionen haben müßte.
Auch diejenigen europäiſchen Völker, deren Zunahme
die langſamſte geweſen iſt, ſind doch in der gleichen Periode
immer noch um mehr als % jährlich gewachſen. Dieß
Drittheilprocent ergäbe aber für das deutſche Reich nach
weiteren 1000 Jahren ſeiner Geſchichte eine Einwohnerzahl
von 1200 Millionen, und nach 2000 Jahren von 36 Mil—
liarden.
Wenn man rückwärts geht um 1000 Jahre bis in die
Zeiten Karls des Großen, jo dürften, um im Ganzen %
Jahreszuwachs zu erhalten, auf dem jezigen Areal des
deutſchen Reichs damals nur etwa 130 Menſchen auf der
Quadratmeile gewohnt haben, was zu den ſonſtigen That—
ſachen aus jener Zeit, namentlich dem ſtarken Heerbann
der germaniſchen Völker nicht paſſen will. Die Zunahme
hat im Lauf der Jahrhunderte ſchwerlich mehr als /
im Geſammtdurchſchnitt betragen. Und doch wenn wir auch
nur dieß kleine Verhältniß der Rechnung für ein weiteres
327
Jahrtauſend in Ausſicht nehmen, jo gelangen wir gleich
wieder auf eine fabelhafte Ziffer von 600 Millionen.
Wenn ein Zuwachs, den wir, wo er in der Wirklich—
keit vorkommt, von einem völligen Stillſtand der Volkszahl
kaum noch unterſcheiden und nur als eine krankhafte Er—
ſcheinung, als Folge von ganz anomalen Zuſtänden, als
Symptom eines ſinkenden Volkes anzuſehen gewöhnt ſind,
im großen Durchſchnitt der einzige auf die Dauer mögliche
ſein ſoll, heißt das dann nicht ſo viel als: es iſt keinem
Volk vergönnt, ſich in normaler und natürlicher Entwick—
lung durch eine Reihe von Jahrhunderten oder gar Jahr—
tauſenden zu erhalten, und einen auch nur nennenswerthen
Ueberſchuß der Geburten über die Sterbfälle, der doch als
das Naturgemäße gelten muß, zu behaupten? Die Maſſen—
wirkung jenes pſychologiſchen Conflicts zwiſchen dem Zeu—
gungstrieb und dem übrigen menſchlichen Triebleben er—
ſcheint als eine ſo übermächtige Gewalt, daß kaum irgend
ein Mittel denkbar bleibt, um zerſtörende Cataſtrophen und
die repreſſiven Checks der Weltgeſchichte zu vermeiden. Die
Völker ſcheinen wie durch eine Naturnothwendigkeit zum
Untergang beſtimmt und man weiß nicht, ob das Bibelwort:
ſeid fruchtbar und mehret euch, mehr ein Fluch oder mehr
ein Segen ſein ſollte. Es darf uns nicht befremden, wenn
die Malthus'ſchen Lehren den Theologen wie den im Leib—
niziſchen Optimismus genährten Philoſophen als eine Ver—
urtheilung des Weltplanes, als eine Verdächtigung der
göttlichen Weisheit erſchienen.
Wollte man ſich dagegen etwa auf China berufen, wo
328
jene monſtröſen, unglaublich erſcheinenden Ziffern von Hun—
derten von Millionen Menſchen zur Wahrheit geworden
ſind, wo ein mindeſtens 5 Jahrtauſende altes Volk eine
abgeſchloſſene Welt bildet, ſo wäre zunächſt darauf zu er—
wiedern: jenes Land iſt ſiebenmal ſo groß als Deutſchland,
wärmer und fruchtbarer als die europäiſchen Länder; es
gewährt im größeren Theil ſeines Gebiets zwei Jahres—
erndten; das Volk lebt faſt ganz ohne Viehzucht von vege—
tabiliſcher Nahrung; die Tödtung der Kinder, beſonders
der Mädchen, wird im großartigſten Maaß betrieben und
iſt durch Geſez geſtattet; und dennoch iſt die Dichtigkeit der
Bevölkerung durchſchnittlich nicht ſo groß, wie in Sachſen,
Belgien, England. Dazu iſt uns die Geſchichte des Landes
und die Entſtehung dieſer großen Bevölkerung faſt völlig
unbekannt.
Wohl kann man jagen: bange machen gilt nicht, oder:
wo ſo ein Köpfchen keinen Ausgang ſieht, ſtellt es ſich gleich
das Ende vor. Man kann anführen, daß man vor ein
paar Jahrhunderten die jezigen Volkszahlen für ebenſo un—
möglich gehalten hätte. Man kann ſich auf unbeſtimmte
Möglichkeiten, auf chemiſche Entdeckungen, techniſche Erfin—
dungen, auf die unabſehbaren Wirkungen eines erweiterten
Weltverkehrs berufen. Man kann davon träumen, daß der
Stickſtoff der Luft ein menſchliches Nahrungsmittel wird,
daß man mit Waſſerſtoffgas heizen und beleuchten wird,
daß die Wälder aus fruchtbaren Bäumen beſtehen, mit eß—
baren Pilzen bedeckt ſein werden, daß der Gartenbau an
die Stelle unſerer Feldwirthſchaft tritt und zwei oder
329
mehr Jahreserndten ſtatt einer einzigen gewonnen werden
u. ſ. w.
Durch all dieſe und andere Einwürfe will ſich doch
die einfache Schlußfolgerung nicht entkräften laſſen, daß
der mäßige Jahreszuwachs von 1 Procent, der hinter dem
faktiſchen Ueberſchuß der Geburten über die Sterbfälle der—
malen noch zurückbleibt, für das deutſche Reich in zwei
Jahrhunderten zu einer Bevölkerung von 300 Millionen,
für Europa von 2300, in drei Jahrhunderten zu 650, be—
ziehungsweiſe 4800 Millionen führt. Daß aber in einem
zwiſchen dem 47ten und 5äten Grad nördlicher Breite ge—
legenen Lande 30000 Menſchen auf der Quadratmeile leben
ſollten, muß der nüchternen Ueberlegung als ein Unding
erſcheinen. Es ſind alſo entweder durchgreifende Verän—
derungen der Volksſitte oder großartige Checks der repreſ—
ſiven Gattung unausbleiblich.
Und auch der Betrachtung wird ſich kaum aus dem
Wege gehen laſſen, daß einem reifen Kulturvolk eine ſtetige
und friedliche Fortentwicklung, welche uns ohne ſtetige Ver—
mehrung ſeiner Zahl nicht denkbar erſcheint, ſchon durch
die Ordnung der Natur verſagt, daß einer Colliſion zwiſchen
den dämoniſchen Gewalten des Geſchlechtslebens und den
Grenzen der Unterhaltsmittel auf einer gegebenen Erdfläche
nicht auszuweichen iſt, und daß dieſe Colliſion zu den regel—
mäßigen Fermenten und nothwendigen Störungen gehört,
durch welche die Völker gerüttelt, geprüft und umgewandelt,
die Menſchheit ruhelos immer wieder auf neue Bahnen ge—
drängt wird.
330
Ebenſo gewiß aber iſt, daß von ſolchen allgemeinen
Zukunftserwägungen kein Weg zu praktiſchen Schlüßfolge-
rungen für die Gegenwart führt. Wie der Dichter ſagt:
wir, wir leben, unſer ſind die Stunden und der Lebende
hat Recht, ſo wird und muß jede Generation ſich nach ihren
Verhältniſſen und Bedingungen einrichten und den künftigen
Geſchlechtern überlaſſen, es ebenſo zu halten. Sie würde
ſo verfahren, auch wenn jene Schlüſſe auf die Zukunft noch
viel ſicherer und unwiderlegbarer wären, als ſie etwa ſein
mögen.
Es mag jedoch wenigſtens Eine Nuzanwendung der
Malthus'ſchen Säze auf die Gegenwart und die deutſchen
Zuſtände hier geſtattet ſein.
Der nationale Aufſchwung ſeit 1870 iſt auch von einer
namhaften Steigerung der Trauungen und Geburten be—
gleitet, welche wieder in den Erleichterungen des Erwerbs,
in Freizügigkeit, Beſeitigung von Verehelichungshinderniſſen,
Gewerbeordnung und geſteigerter wirthſchaftlicher Entwick—
lung ihre Urſache hat.
Eine Zuſammenſtellung über den Gang der Bevölke—
rung in allen deutſchen Ländern gemäß den neu verein—
barten Formularen liegt noch nicht vor, doch haben wir
die Notiz, daß im Jahr 1872 in Preußen 1,023,500, in
Bayern 201,500, in Württemberg 83000, zuſammen 1,3089000
Geburten und 765000, 159000, 60000 zuſammen 985000
Sterbfälle gezählt wurden, ſo daß, wenn man dieſe Ver—
hältniſſe von drei Viertheilen des Reichs auch für das lezte
Viertheil vermuthen und anwenden darf, im deutſchen Reich
331
in Einem Jahr 1,714000 Kinder geboren und 15288000
Perſonen geſtorben wären, was einen Ueberſchuß von
426000 = 1,12% ergiebt. Dieß macht für je 1000 E.
42,7 Geburten, 31,5 Sterbfälle und 11,2 P. natürlichen
Zuwachs.
Es iſt viel eher eine zu niedrige als eine zu hohe
Annahme, daß auf jene 1,714000 Kinder ein Abgang von
30% für die im erſten Lebensjahr Geſtorbenen mit Ein—
ſchluß der Todgeborenen fällt, daß alſo 514000 Kinder in
Einem Jahr zur Welt kommen, nur um ſie alsbald, und
die meiſten auf eine jämmerliche Weiſe, wieder zu verlaſſen.
Nicht nur in Frankreich, über deſſen ſittliche Zuſtände
hinſichtlich des Geſchlechtslebens wir uns ſo leicht mit ſehr
unberechtigtem Phariſäerſtolz erheben zu dürfen glauben,
auch in Belgien und den weit kinderreicheren germaniſchen
Stämmen der Scandinavier und Engländer iſt jener Kinder—
verluſt des erſten Lebensjahrs weit geringer, und der mittel—
europäiſche Durchſchnitt, ſobald man Deutſchland wegläßt,
geht nicht über 20% aller Geborenen. Wenn Deutſchland
in dieſem Punkt ſo viel ungünſtigere Verhältniſſe gegen—
über von Völkern darbietet, denen es ſich ſonſt in allen
Merkmalen der Civiliſation gleichzuſtellen gewöhnt und be—
rechtigt iſt, ſo wird Niemand phyſiſche Momente anzuführen
vermögen, die das Kinderleben unter deutſchem Himmel
ſchwerer gefährden, als im übrigen mittleren und nörd—
lichen Europa, Niemand wird die Urſachen wo anders als
in Handlungen und Unterlaſſungen der Menſchen, in übler
Sitte, in leichtſinniger Kindererzeugung, in unverſtändiger,
332
gleichgiltiger, fahrläßiger oder gewiſſenloſer Behandlung
des Kinderlebens ſuchen dürfen. Nur bei unſern ſlaviſchen
Nachbarn im Oſten, deren Geſittung wir ſonſt der unſrigen
nicht gleichachten, finden ſich ähnliche Verhältniſſe.
Wenn man auch nur die mitteleuropäiſche Proportion
von 20 Procent, wiewohl ſie ſelbſt ſchon keineswegs als
das Natürliche gelten kann, zu Grunde legt, ſo ſind in
Deutſchland nicht weniger als jährlich 170000 Kinder als
Opfer dieſer Form des modernen Molochdienſtes und der
unmoraliſchen repreſſiven Checks von Malthus zu betrachten.
Wenn dieſe am Leben blieben, ſo würde der Jahreszuwachs
ſchon 1½% betragen, wenn ſie, was wohl das Erwünſchtere
iſt, gar nicht geboren würden, ſo würde der gleiche Zuwachs
erzielt, wie vorher, aber unter Erſparung einer Unſumme
von Leiden, Sünden und wirthſchaftlichen Nachtheilen.
Wenn wir dahin gelangen könnten, daß ſtatt 40 Ge—
burten nur 30, ſtatt 30 Sterbfällen nur 20 auf je 1000
Seelen träfen, ſo bliebe der Jahreszuwachs unverändert,
aber an die Stelle einer kranken Oeconomie des Geſchlechts—
lebens träte eine geſunde und es würde einer der häßlichſten
Flecken von der deutſchen Geſittung entfernt.
Stadt und Land ).
Stadt und Land unter allen denkbaren Rubriken mit
einander zu vergleichen, dieſen Gegenſaz in jede Unter—
ſuchung ſocialer Thatſachen hineinzutragen, iſt in der Sta—
tiſtik ſchon längſt ganz beſonders beliebt und gebräuchlich.
Man ſpricht von einer ſtädtiſchen und ländlichen Geburts-,
Trauungs- und Sterbeziffer, von ſtädtiſcher und ländlicher
Frequenz der unehelichen Geburten, der Selbſtmordfälle,
der Verbrechen; man findet Abweichungen in der Körper—
größe, der Militärtüchtigkeit, der mittleren Lebensdauer
u. ſ. w. Es gehört dieſe Unterſcheidung, etwa neben Ge—
ſchlecht und Alter, zu den Reagentien erſter Ordnung, die
in der Analytik der Statiſtiker zur Anwendung gelangen.
Wenn nur auch der Gewinn an Verſtändniß der Sache,
an wirklicher Einſicht in den Zuſammenhang der Erſchei—
nungen der Mühe und Sorgfalt entſpräche, die in ſolchen
Unterſuchungen ſteckt! Aber wer, wenn er ſich durch all
dieß Material durchgearbeitet hat, kann denn ſchließlich
ſagen, ob nun wirklich etwa die ländliche Fruchtbarkeit größer
) Ein Theil dieſes Aufſazes iſt Auszug und Umarbeitung einer
ſchon früher (Württembergiſche Jahrbücher für Statiſtik und Landes—
kunde. 1870. Seite 446 und ff.) geführten Unterſuchung.
*
iſt oder die ſtädtiſche, und ob hier mehr Leute ſterben oder
dort? Es iſt bald ſo bald anders. Wenn ſich aber auch
wirklich conſtantere Unterſcheidungsziffern nachweiſen laſſen
ſollten, was iſt denn damit anzufangen, worin liegt der
Grund der Abweichungen?
Iſt denn überhaupt ein Cauſalzuſammenhang erkenn—
bar zwiſchen der Größe der Wohnpläze und den Thatſachen
der menſchlichen Biotik? Warum in aller Welt ſoll der—
jenige, der einer größeren Anzahl von Menſchen durch
längere Häuſerreihen nahe gerückt iſt, mehr Kinder er—
zeugen oder weniger, länger leben oder kürzer, früher hei—
rathen oder ſpäter, eine kleinere oder größere Neigung zu
verbrecheriſchen Handlungen haben, als wer nur mit einer
kleineren Zahl von Nachbarn und Genoſſen ſeines Wohn—
plazes zuſammenlebt? Oder, wenn der Schwerpunkt in
der Beſchäftigung liegen ſoll, warum ſollte der Handwerker
früher ſterben oder ſpäter als der Bauer, die Tochter des
Einen der Verſuchung ausgeſezter ſein oder leichter unter—
liegen als die des Andern? Ein unmittelbarer Zuſammen—
hang von Urſache und Wirkung iſt nicht erſichtlich; wenn
er aber in Zwiſchengliedern liegt, ſo wären dieſe zu nennen
und nachzuweiſen, auch zu zeigen, ob ſie überall und noth—
wendig Plaz greifen, oder nur zuweilen und unter beſon—
deren Bedingungen.
Sodann faßt man gewaltſam das unter ſich Ungleichſte
in Eine abjtracte Formel zuſammen, wenn man auf der
einen Seite die kleinen Land-, wie die Haupt- und Groß—
ſtädte, die Fabrik- und Handelspläze, die Size von Garni—
3
335
ſonen, Hochſchulen, Gebäranſtalten, Kranken- und Findel—
häuſern, von Strafanſtalten und Inſtituten aller Art in
die Eine Rubrik „Stadt“ zwängt, auf der andern Hofgüter,
Weiler, Bauerndörfer, oder engliſches und iriſches Pachter—
thum, ſüdeuropäiſches Colonat, ruſſiſchen Gemeindebeſiz
u. ſ. w. in die Uniform des Wortes „Land“ einkleidet.
Das Weſentliche und Charakteriſtiſche ſo grundverſchiedener
Dinge wird damit mehr verwiſcht und begraben, als mar—
kirt und erkannt. Es iſt nicht viel anders als wenn man
Weiß, Schwarz und Roth in den einen Farbentopf, Gelb,
Grün und Violett in den andern werfen und dann aus
den kleinen Nuancen des graubraunen Gemiſches die Natur
jener einfachen Farbenelemente wieder herausdeuten wollte.
Es war zwar rationell und unanfechtbar, wenn die
Statiſtiker neuerdings mit Rückſicht auf die hiſtoriſchen Zu—
fälligkeiten des Städtenamens die Begriffe von Stadt und
Land ganz fallen ließen und die Unterſcheidung von Wohn—
pläzen unter oder über 2000 Einwohnern dafür einſezten;
doch iſt dadurch nur an die Stelle concreter geſchichtlicher
Thatſachen eine willkührlich gegriffene numeriſche Grenz—
linie gerückt worden; die größeren Bauerndörfer ſind nun
den Landſtädten gleichgeſtellt; die Unterſcheidung deckt ſich
noch weniger als ſchon vorher mit der von Ackerbau und
Gewerbe; und die Bürgſchaft dagegen, daß in den Tabellen
doch nicht immer wieder Gemeinden, die mit ihren Parzellen
im Ganzen über 2000 Einwohner zählen, als Wohnpläze
mit mehr als 2000 Einwohnern aufgenommen werden, iſt
nicht hoch anzuſchlagen. Jedenfalls aber erſcheinen nun
336
jene Abweichungen in Fruchtbarkeit, Mortalität und Mora—
lität nur noch unverſtändlicher, wenn dem abſtracten Moment
der bloßen Einwohnerzahl eine magiſche Kraft zukommen
ſoll, die Menſchen zeugungsfähiger, langlebiger und beſſer
oder ſchlechter zu machen.
Da nun aber alle dieſe Bemerkungen an der thatſäch—
lichen und tiefgreifenden Bedeutung des ſocialen Factors
„Stadt und Land“ nichts ändern können und wollen, ſo
fühlt man das Bedürfniß, die Sache noch näher anzuſehen
und den Knäuel von Cauſalverſchlingungen, der in den
Ziffern der Tabellen zu ſtecken ſcheint, genauer zu entwirren
und in ſeine Elemente auseinander zu legen.
Man wird hier vor allem Andern die bevölkerungs—
ſtatiſtiſchen Momente von den culturſtatiſtiſchen, die phy—
iologiſchen von den pſychologiſchen Seiten der Sache unter—
cheiden müſſen. Beides greift zwar wohl auch wieder in
einander, darf aber darum doch nicht vermengt werden.
Da zeigt ſich nun auch hier wieder der große Werth,
der genauen Altersaufnahmen ganzer Bevölkerungen mit
Unterſcheidung von Geſchlecht und Familienſtand zukommt.
Erſt hiemit gewinnt die Statiſtik das unerläßliche Inventar
des geſellſchaftlichen Perſonalbeſtandes und den vollen Ein—
blick in das innere Getriebe der ſocialen Erſcheinungen und
der Bewegung der Bevölkerungen. Und ſo liegt auch hier
der Schlüſſel, um das bunte und widerſpruchsvolle Material
der ſtatiſtiſchen Unterſuchungen über die ſtädtiſchen und
ländlichen Bevölkerungen aus den einfachen und primären
Urſachen abzuleiten und verſtändlich zu machen.
j
j
337
Ich glaube ein inſtruktives Beiſpiel zu wählen, wenn
ich nach der Württembergiſchen Aufnahme von 1867 —
die Ergebniſſe der neueren Zählung von 1871 ſind noch
nicht ſo weit bearbeitet, — der Altersmiſchung der Stadt
Stuttgart die eines rein ländlichen Bezirkes gegenüberſtelle
und als Typus eines ſolchen das Oberamt Maulbronn
wähle, in welchem auf 3,8 Quadratmeilen 22400 Ein—
wohner in 23 Gemeinden, wovon nur ein einziger Wohn—
plaz die Grenze von 2000 Einwohner um ein Weniges
überſchreitet, in kleinbäuerlicher Dorfwirthſchaft ohne Fa—
briken und ſtädtiſchen Gewerbebetrieb leben, das weder zu
den armen noch zu den wohlhabenden Bezirken des alt—
württembergiſchen Landes gerechnet wird, noch auch ſonſt
ſinguläre Merkmale erkennen läßt.
Zum beſſeren Verſtändniß ſind in der folgenden Ta—
belle die entſprechenden Ziffern für die Geſammtbevölkerung
Württembergs beigefügt.
Von je 10000 Lebenden ſtanden im Jahr 1867 im Alter von
in der Stadt Stuttgart im Bezirk Maulbronn im Landesdurchſchnitt
0—5 Jahren 946 1423 1212
5—10 „ 717 1226 1027
10—15 „ 679 992 906
15—20 „ 1224 846 940
20—25 „ 1574 729 897
25—30 „ 1203 770 832
30—40 „ 1500 1200 1277
40—50 „ 970 1113 1116
50—60 „ 643 874 908
60—70 „ 388 575 630
70—80 „ 133 226 217
80-90 „ 21 26 36
„ 2 0 2
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 22
338
Wenn man die Altersklaſſen nur in drei Gruppen,
0—15, 15—40, und über 40 Jahre zuſammenfaßt und
die Ziffern auf Procente reducirt, ſo ergeben ſich
im Alter von im Alter von im Alter von
0—15 Jahren 15—40 Jahren + 40 Jahren
für die Stadt 23,42% 55,01% 21,57%
den Landbezirk 36,41% 35,45% 27,54%
das Königreich 31,45% 39,46% 29,09% *)
Die großen Abweichungen der Altersmiſchung ſpringen
in die Augen. Auf dem Land ſind 36% der ganzen Be—
völkerung Unmündige unter 15 Jahren, in der Stadt nur
23%; die jugendlichen Altersklaſſen der 15—40 Jährigen
ſind in der Stadt in ganz abnormer Weiſe überfüllt und
machen 55%, weit über die Hälfte der Einwohnerzahl, auf
dem Land nur ein ſtarkes Drittheil, 35%, aus; in den
mittleren und höheren Jahren überwiegt die Landbevölke—
rung wieder im Verhältniß von 27 zu 21 Procenten.
Vergleicht man das numeriſche Verhältniß der Ge—
ſchlechter, ſo kamen auf 100 männliche Perſonen in der Stadt
Stuttgart 101,6 weibliche, im Bezirk Maulbronn 106,8,
aber in den Altersklaſſen von 0—15 Jahren kamen auf
100 männliche Perſonen in der Stadt 99,3, auf dem Land
—
102,1 weibliche, im Alter von 15—40 Jahren in der Stadt
) Für Berlin giebt Schwabe das Verhältniß an: 0-15 Jahre
28%, 15—40 Jahre 50,5%, über 40 Jahren 21,5%. Für München
ſind die Ziffern 21,8. 47,6. 30,6, für Nürnberg 26,6. 49,1. 24,3, wo⸗
bei jedoch zu beachten iſt, daß zur Zeit der Zählung (1871) wegen
der Occupationstruppen der Stand der Garniſon in dieſen Städten
ein unternormaler geweſen ſein kann.
339
97,3, auf dem Land 115, im Alter von mehr als 40 Jahren
dort 129,5, hier 104 weibliche Perſonen.
Ferner waren in der Stadt 27,2% der Einwohnerzahl
verheirathet, auf dem Land 33,4%; wenn man aber die
Verheiratheten nebſt den Verwittweten und Geſchiedenen
nur mit den Altersklaſſen von mehr als 20 Jahren ver—
gleicht, jo waren in der Stadt 50,3% ledig, auf dem Lande
nur 29%.
Woher kommen denn nun aber alle dieſe auffallenden
Unterſchiede in der Zuſammenſezung einer ſtädtiſchen und
ländlichen Bevölkerung nach Alter, Geſchlecht und Familien—
ſtand? Der Grund iſt nicht ſchwer aufzufinden.
Die Stadt hat neben ihren anſäßigen und ortsange—
hörigen Einwohnern noch eine zwar immer vorhandene, aber
in den Perſonen ſtetig wechſelnde, fluctuirende, vom Land
geliehene Bevölkerung, die bis zu einem Viertheil der Ge—
ſammtzahl betragen, ja bis zu einem Drittheil ſteigen kann.
Das Hauptcontingent dazu werden immer die Dienſt—
mädchen für die Bedürfniſſe der Haushaltung ſein, die in
keinem Hauſe, ja faſt auf keinem Stockwerk fehlen. Die
Stadt kann ſie nicht ſelbſt in genügender Zahl liefern; ſie
kommen von den Dörfern und Landſtädtchen, bringen eine
größere oder kleinere Zahl von Jahren in der Stadt zu,
um dann in den meiſten Fällen wieder in ihre Heimath
zurückzukehren. Ihre Zahl beträgt in Stuttgart etwa 8
Procent der ganzen Bevölkerung.
Den zweiten Faktor dieſer Art bilden die Gehilfen in
den Gewerben, die Lehrjungen und Geſellen im Handwerk,
22 *
340
die Lehrlinge und Commis in den Comptoirs und Kauf—
läden. Auch dieſe kommen der Maſſe nach von außen herein
und ziehen nach einigen Jahren wieder fort. Ihre Zahl kann
der der Dienſtmägde gleich kommen oder ſie noch übertreffen.
Neben dieſen beiden Hauptklaſſen der geliehenen Be—
völkerung kommen nun noch in geringerer Anzahl einer—
ſeits die männlichen Dienſtboten für Haus oder Gewerbe,
andererſeits die weiblichen Gehilfen im Gewerbe, in den
Wirthſchaften, Läden, die Nähmädchen u. ſ. w. hinzu.
Dieß ſind die conſtanten Elemente, welche in keinem
Wohnplaz von ſtädtiſchem Charakter fehlen werden. Sie
bilden ein zahlreiches, häufig wechſelndes Perſonal, das der
Regel nach im Alter von 15—40 Jahren ſtehen, unver—
heirathet ſein und ſo ziemlich gleich auf die beiden Ge—
ſchlechter vertheilt ſein wird.
Zu dieſen conſtanten Zuflüſſen einer ledigen Jugend
vom Land herein geſellen ſich nun noch eine Reihe von
variablen, die vorhanden ſein oder fehlen können. Dazu
gehören vor Allem Garniſonen und höhere Lehranſtalten,
welche die Zahl der jungen Männer ſehr ſteigern; ſodann
Fabriken, bei welchen es darauf ankommt, ob ſie vorzugs—
weiſe männliche oder weibliche Arbeiter beſchäftigen und
einer kleineren oder größeren Zahl die Verheirathung er—
möglichen. Dann giebt es noch eine Reihe von Inſtituten
von anderweitiger Wirkung für den Zuzug von Ortsfrem—
den, wie Strafanſtalten, Erziehungs- und Waiſenhäuſer,
oder die für die Geburts- und Sterbeliſten ſo wichtigen
Gebäranſtalten, Spitäler und Findelhäuſer.
341
Aus dieſem Einen Grundmerkmal des Stadtcharakters,
dem ſtarken Zufluß einer ortsfremden ledigen Jugend zu
vorübergehendem Dienſt und Aufenthalt ergeben ſich nun
eine Reihe bevölkerungsſtatiſtiſcher Unterſchiede zwiſchen
Stadt und Land als natürliche und nothwendige Folgen.
Denn
1) iſt es klar, daß, wenn auf dem Lande 70%
aller Erwachſenen verheirathet zu ſein pflegen, in der Stadt
noch nicht die Hälfte, dort auch mehr Kinder geboren werden
als hier, ſomit die ſtädtiſche Fruchtbarkeit, als Verhältniß
der Geburten zu der Einwohnerzahl ausgedrückt, kleiner
ſein wird.
2) Es iſt wenigſtens nicht auffallend und kann der
Stadtbevölkerung nicht zum beſonderen Vorwurf gereichen,
wenn mehr uneheliche Geburten vorkommen als auf dem
Lande. Denn die Zahl der unverheiratheten und im Alter
der Geſchlechtsreife ſtehenden Perſonen iſt ja eine viel
größere. So machen in Stuttgart die Mädchen im Alter
von 18—35 Jahren 14— 15%“, in einem Landbezirk nur
89% der ganzen Bevölkerung aus. Erſt wenn die Zahl
der unehelichen Geburten in der Stadt in einer ſtärkeren
Proportion als z. B. eben dieſer von 14: 8 die der länd—
lichen überſchreiten würde, wäre ein für die ſtädtiſche
Moralität ungünſtiger Schluß gerechtfertigt. Es iſt ja über—
haupt eine ganz irreführende Methode der herkömmlichen
Statiſtik, die Frequenz der unehelichen Geburten nach ihrem
Verhältniß zu der Zahl der ehelichen oder aller Geburten
zu bemeſſen, ſtatt nach der Zahl der geſchlechtsreifen un—
342
verheiratheten Frauenzimmer, die allein maßgebend jein
kann ).
3) Es iſt füglich nicht anders zu erwarten, als daß
die Mortalität oder ſogenannte Sterbeziffer in der Stadt
eine kleinere und günſtigere iſt, als auf dem Land, wenn
dort 55, hier nur 35 Procente der ganzen Bevölkerung
im Alter der größten Lebensfeſtigkeit ſtehen, wenn auf dem
Land die gefährdetſten Altersklaſſen der erſten Kindheit und
Mit welcher Vorſicht überhaupt die Angaben über die unehe—
lichen Geburten der einzelnen Wohnpläze zu behandeln ſind, läßt ſich
an einem ſchlagenden Beiſpiel zeigen. In Stuttgart ſind nach der
officiellen Aufnahme 7—8 Procente aller Geburten uneheliche und die
Zahl iſt die günſtigſte im ganzen Land. Dieß kommt aber nur daher,
daß bei der Zählung die Ortsangehörigkeit zu Grunde gelegt war und
die in Stuttgart geborenen unehelichen Kinder ortsfremder Mütter in
die Kirchenbücher ihrer Heimathgemeinde eingetragen wurden. Zählte
man alle faktiſch in Stuttgart geborenen unehelichen Kinder, jo würde
der Procentſaz auf 25 ſteigen; zieht man davon die Kinder der in
die Gebäranſtalt von auswärts aufgenommenen Mütter ab, ſo ſinkt
die Zahl wieder auf 18%. Da nun aber immer noch viele Mädchen,
die eine Geburt zu erwarten haben, namentlich Dienſtmägde, nicht in
die Gebäranſtalt gehen, ſondern nach Hauſe oder ſonſt aufs Land, ſo
müßte man auch dieſe Fälle in Berechnung nehmen. Man müßte
überhaupt nicht die in der Stadt geborenen, ſondern die in der Stadt
erzeugten unehelichen Kinder wiſſen, und dieſe nicht mit den ehelichen
oder allen Geburten, ſondern mit der Zahl der ledigen, geſchlechtsreifen
Mädchen der Stadt vergleichen können, um die allein richtige Grund—
lage eines Urtheils zu gewinnen. Dieß iſt aber noch nie und nirgends
geſchehen und auch ſo gut als unmöglich. Wo und ſo lange man
aber im conereten Fall dieſe und ähnliche Faktoren gar nicht kennt
und zu unterſcheiden vermag, muß man ſich bei der Vergleichung der
unehelichen Geburten in Stadt und Land, wie zwiſchen einzelnen
Städten des Rühmens auf der einen, des Verdammens auf der andern
Seite völlig enthalten.
343
des Greiſenalters numeriſch viel ſtärker vertreten ſind.
Ueberdieß kehren von den Ortsfremden viele im Fall
ſchwererer Erkrankung in ihre Heimath zurück.
4) Ebenſo natürlich aber iſt wieder, daß das Durch—
ſchnittsalter der Geſtorbenen in der Stadt niedriger iſt als
auf dem Land und dadurch der Schein entſtehen kann, als
ob in der Stadt die mittlere Lebensdauer eine geringere
wäre. Denn wo ſehr viel junge Leute leben, werden eben
doch immer auch entſprechend mehr von ihnen ſterben, als
wo nur wenige leben und die jung Geſtorbenen werden
den Geſammtdurchſchnitt des Alters der Geſtorbenen herab—
drücken. Auf der andern Seite fällt bei geringerer Frucht—
barkeit freilich auch der Factor der Kinderſterblichkeit weniger
ins Gewicht, was jenen Umſtand wieder neutraliſiren
müßte. Sodann iſt zu beachten, daß häufig Penſionäre,
Rentiers, Wittwen erſt in höherem Alter in die Stadt ziehen,
und dann ſowohl die Sterblichkeit als das Durchſchnitts—
alter der Geſtorbenen erhöhen, ſowie daß in die ſtädtiſchen
Krankenhäuſer auch Auswärtige aufgenommen werden. Um
die Mortalität einer Stadtbevölkerung zu beſtimmen, müßten
alle dieſe einzelnen Factoren iſolirt und begrenzt werden
können.
5) Da die vom Land entlehnte jugendliche Bevölkerung
der Regel nach nicht in der Stadt zur Niederlaſſung und
Verheirathung gelangt, ſondern zu dieſem Zweck wieder
auf das Land zurückzukehren pflegt, ſo muß die Trauungs—
ziffer der Städte eine niedrigere ſein als die auf dem Lande.
Einige weitere Folgen aus den gleichen Urſachen
344
greifen noch über das bevölkerungsſtatiſtiſche Moment hin—
aus. Denn
6) wenn nach den Ergebniſſen der Criminalſtatiſtik in den
Jugendjahren als dem Alter der Leidenſchaft und ſinnlichen
Begierden die Dispoſition zu rechtswidrigen und gewalt—
thätigen Handlungen ihren Höhepunkt hat, ſo iſt es nicht
unerwartet, daß da, wo gerade dieß Alter in übernormaler
Weiſe vertreten iſt, auch mehr Vergehen und Verbrechen
vorkommen, als auf dem Lande, das ſeinerſeits einen großen
Theil ſeines Perſonals aus eben dieſen Altersklaſſen an
die Städte abgiebt.
7) Wo es weniger Kinder und Greiſe giebt und ein
weit größerer Theil der Bevölkerung im erwerbfähigſten
und arbeitkräftigſten Alter ſteht, da iſt die auf den pro—
ductiven Klaſſen ruhende Laſt, die Unproductiven, das
heranwachſende Geſchlecht zu ernähren, leichter zu tragen;
es kann mehr erworben, erſpart oder verbraucht werden.
Es giebt viel mehr Leute, die nur für ſich ſelbſt zu ſorgen
haben. Das Leben wird leichter und bequemer, während
auf der Landbevölkerung die Sorge für den Nachwuchs weit
ſchwerer laſtet. |
S) Wenn die Jugend für alles Neue in Sitten und
Meinungen empfänglicher iſt als das Alter, ſo müſſen da,
wo die Jugend die größere Hälfte der ganzen Bevölkerung
bildet, die Bedingungen für jede Art von Fortſchritt und
Neuerungen günſtiger liegen, als wo die mittleren und
höheren Altersklaſſen, von den noch Unmündigen abgeſehen,
ſchon das numeriſche Uebergewicht behaupten.
345
Es iſt hiemit ein innerer Cauſalzuſammenhang nach—
gewieſen worden zwiſchen der Einen Grundthatſache, daß
die Stadtbevölkerung ein ſtarkes Element eines fluctuiren—
den, vom Land entlehnten, jugendlichen und meiſt ledigen
Perſonals in ſich ſchließt, und zwiſchen einer ganzen Reihe
bevölkerungs- und culturſtatiſtiſcher Thatſachen, die zu den
Unterſcheidungsmerkmalen von Stadt und Land gerechnet
werden. Die Tabellen der Statiſtik ſind damit erſt ver—
ſtändlich geworden; es iſt ein Schlüſſel geboten, das Nor—
male von dem Abweichenden, die Regel von der Ausnahme
zu unterſcheiden und die Gründe von dieſer aufzuſuchen.
Aber allerdings ſind hier noch Vorbehalte zu machen.
Die ganze obige Ausführung trifft nur zu, wenn auf der
einen Seite der große Wohnplaz mit ausgeprägtem Stadt—
charakter, auf der andern Seite das bäuerliche Dorf ſteht.
Die kleine Landſtadt iſt, wie ihr Name ſelbſt, eine
Miſchung oder Zwiſchenform von Land und Stadt; die
Altersmiſchung der Bevölkerung entſpricht der Regel nach
dem Landesdurchſchnitt. Es findet ebenſo viel Abfluß in
die Großſtädte und Induſtriebezirke, als Zuzug vom Lande
Statt; die anweſenden Ortsfremden ſind ſelten zahlreicher
als die abweſenden Ortsangehörigen; ein Uebergewicht der
rechtlichen Bevölkerung über die faktiſche tritt ſehr häufig
ein. Damit fallen alle oben erwähnten ſpecifiſchen Merk—
male der Stadtbevölkerung weg oder ſind ſie nur ſchwach
entwickelt.
Cine ſcharfe Abgrenzung der Landſtadt von der eigent—
lichen Vollſtadt, wie ſie der Statiſtiker bedürfte, iſt freilich
346
ohne Willkühr nicht auszuführen. Man kann etwa die
Einwohnerzahl von 10000 als annähernde Grenzlinie be—
zeichnen. Aber die Städte ſind eigentlich Individuen; es
giebt eine Reihe ſingulärer Umſtände, welche Ausnahmen
begründen; wie z. B. Reſidenzen, Size von Landescollegien,
wiſſenſchaftlichen Inſtituten, Bäder, Fremdenpläze eine ganz
verſchiedene Gliederung der Bevölkerung nach Geſchlecht,
Alter und Familienſtand begründen können.
Ebenſo kann aber, was vom Bauerndorf gilt, nicht
auch vom Induſtrie- oder Fabrikdorf oder vom Judendorf
geſagt werden; es würde ſchon auf diejenigen Dörfer, in
denen, wie z. B. in großen Theilen Frankreichs, eine Be—
ſchränkung der Kinderzahl zur bäuerlichen Sitte gehört,
kaum mehr anwendbar ſein. Am wenigſten aber paßt es
auf die Regionen der Hofgüter. Hof und Dorf liegen in
den bevölkerungsſtatiſtiſchen Merkmalen ſo weit aus einander
als Dorf und Stadt; ja ſie treten in einen ganz ähnlichen
Gegenſaz zu einander. Der Hof wie die Stadt ſucht Arbeits—
kräfte vom Dorf vorübergehend zu entlehnen. Er bedarf
landwirthſchaftliches Geſinde, Knechte und Mägde, die wo
möglich in den beſten Jahren ſtehen und unverheirathet
ſind. Nur wo die Arbeitskraft leihenden Dörfer fehlen,
wo die Gutswirthſchaft die faſt ausſchließliche Betriebsweiſe
iſt, wie in großen Theilen des nordöſtlichen Deutſchlands,
muß das Gut auch die Arbeitskräfte ſelbſt produciren und
den Arbeitern die Verheirathung ermöglichen. Daraus er—
geben ſich dann mannigfach abgeſtufte Zwiſchenformen von
Dorf- und Hofverhältniſſen in der Bevölkerungsmiſchung.
347
Wie oben ein württembergiſcher Bezirk als Typus der
kleinbäuerlichen Dorfſchaften erſchien, ſo läßt ſich ein anderer,
das Oberamt Wangen an der ſüdöſtlichen Grenze des Landes,
ohne Dörfer und nur mit zwei kleinen Städtchen von 2000
Einwohnern, ſonſt mit bäuerlichen Höfen bedeckt, mit 3000
Einwohnern, aber 120 Wohnpläzen auf der Quadratmeile,
als Beiſpiel einer Hofbauernregion und ihrer Bevölkerungs—
miſchung gebrauchen. Der Unterſchied gegen das klein—
bäuerliche Dorf iſt augenfällig. Denn es ſtanden von je
10000 Lebenden
im Alter von im kleinbäuerlichen im hofbäuerlichen Bezirk
0 —15 Jahren 3641 2657
15—40 „ 3545 3989
EO „ 2754 3354
Während in dem kleinbäuerlichen Dorfbezirk von den
über 20 Jahre alten Perſonen 29% ledig, 71% verhei—
rathet oder verwittwet ſind, treffen in der hofbäuerlichen
Region auf dieſelben Rubriken 47% Ledige und 53%
Nichtledige.
Es ſind alſo im Weſentlichen die gleichen Symptome
wie in der Stadt, geringe Fruchtbarkeit und ſchwache Ver—
tretung der jüngſten Altersklaſſen, unter den Erwachſenen
wenige Ehen, viele Ledige; nur drängt ſich dieſe geliehene
Bevölkerung nicht jo in den Altersklaſſen von 15—40 Jahren
zuſammen, ſondern füllt auch noch die ſpäteren, da es auf
den untheilbaren Höfen viele nicht verheirathete ältere
Familienglieder giebt.
Wenn nun aber hiernach in den bevölkerungsſtatiſtiſchen
348
Momenten Hof und Stadt, und wieder Dorf und Land—
ſtadt einander verwandt ſind, ſo folgt daraus, daß der ein—
fache Gegenſaz von Stadt und Land das Weſen der Sache
nicht trifft, und daß jene vier Grundformen, villa, vieus,
oppidum, urbs, zwiſchen welchen noch mancherlei Ueber—
gangsglieder, wie Weiler, Marktflecken, Mittelſtadt liegen
und nach den Umſtänden des beſondern Falls einzureihen
find, unterſchieden werden müſſen. Denn wenn A und D
gemeinſame Merkmale haben, durch welche ſie ſich gegen
B und C abgrenzen, jo kann die Vergleichung von A + B
mit C D nur ein trübes, jene Merkmale verwiſchendes
Ergebniß als Differenz liefern. Das Reſultat wird ganz
durch die relative Stärke der einzelnen Summanden unter
ſich und durch die Modificationen der Verhältniſſe in den
verſchiedenen Ländern beſtimmt.
Wenn dann nun vollends nicht blos ganz heterogene
Erſcheinungen je unter der Rubrik Stadt oder Land zu—
ſammengefaßt, ſondern auch noch ſcandinaviſche, deutſche,
franzöſiſche, belgiſche, niederländiſche Agrarverhältniſſe wieder
in Eine Reihe geſtellt werden, wie will man da zu allge—
meinen Säzen und Regeln gelangen? Was läßt ſich über
die Fruchtbarkeit oder Heirathsfrequenz der Stadt- und
Landbevölkerung irgend Allgemeines behaupten, wenn die
größere Geburtenziffer für Frankreich, Belgien, Niederlande,
Dänemark auf Seiten der Städte, für Preußen und Schles—
wig⸗Holſtein auf Seiten der Landgemeinden, für Württem—
berg und Sachſen aber kein Unterſchied zu bemerken iſt,
wenn ebenſo bei der Trauungsziffer ganz ähnliche Abwei—
349
chungen Statt finden? Die Mortalität allerdings erſcheint
nach der Wappaeus'ſchen Tabelle (II, p. 481) überall größer
für die Stadt als für die Landbevölkerungeu, wenn auch
in den mannigfaltigſten Abſtufungen. Wo auch ſchon die
Fruchtbarkeit auf Seite der Städte die größere iſt, wäre
dieß durch den großen Antheil der Kinderſterblichkeit leicht
zu erklären. Wo aber dieſe Vorausſezung fehlt, da wäre
eine ganz andere, gründlichere und vielſeitigere Analyſe
der ſtatiſtiſchen Tabellen ſtatt der bloßen Schlußziffern er—
forderlich, um wirklich den Nachweis zu liefern, daß generell
oder vorwiegend für die Stadtbevölkerungen die Bedingungen
der Geſundheit und Lebensdauer ungünſtigere ſeien als auf
dem Land. Eine einzige Specialunterſuchung, welche alle
Momente berückſichtigt, wie z. B. Schwabes Werk über
Berlin iſt hier lehrreicher als alle Generaltabellen, wenn
ſie auf unrichtigen Vorausſezungen und Unterſcheidungen
beruhen.
Es giebt geſunde und ungeſunde Wohnpläze bei jeder
Einwohnerzahl. Wenn die „Agglomeration“ für ſich ge—
ſundheitsſchädlich wäre, könnte nicht die größte Agglome—
ration der Welt, London mit 4 Millionen Einwohnern,
eines der günſtigſten Sterblichkeitsverhältniſſe, das wir
kennen, (1:50) aufweiſen. Auch andere Städte, wie Frank—
furt, Genf, Stuttgart, zeigen ſo günſtige Ziffern, als nur
irgend ein Landbezirk der Welt. Es iſt ein ſchiefer Gegen—
ſaz, wenn man die ungeſunde Stadtluft der geſunden Land—
luft gegenüberſtellt. Der Stadtluft würde nicht die Land—
luft, ſondern die Dorfluft entſprechen. Dieſe iſt bei den
350
primitiven Einrichtungen der Kloaken, Dungſtätten, Stal-
lungen, Straßen, Brunnen, Heerde, Oefen der Regel nach
nichts weniger als preiswürdig. Aufenthalt und Arbeit
im Freien iſt im Allgemeinen wohl dem Leben in den ge—
ſchloſſenen Fabrikräumen vorzuziehen, wirkt aber auch in
rauher Gegend und Jahreszeit in unzähligen Fällen ſchäd—
lich. Man darf überhaupt nicht Fabrikarbeiter und land—
wirthſchaftliche Arbeiter an die Stelle von ſtädtiſchen und
ländlichen Wohnpläzen ſezen. Fabriken giebt es auch in
Menge auf dem Land, und die Lage der Fabrikarbeiter
wie die der landwirthſchaftlichen Taglöhner und Knechte iſt
in ſich ſelbſt ſehr verſchieden, und läßt auf jeder Seite alle
Abſtufungen günſtiger und ungünſtiger Verhältniſſe zu.
Wenn Armuth lebenverkürzend wirkt, ſo iſt ſie in Stadt
und Land zu finden und bald da größer, bald dort. Einen
Vortheil wird die Stadt wohl immer behaupten, die leichtere,
raſchere und wohl auch beſſere Hilfe des Arztes. Ohne
Zweifel führt der Forſtmann, der Holzhauer, der Schäfer
eine geſundere Lebensweiſe als der Bergmann oder Fein—
ſchleifer oder Arbeiter in Bleiweißfabriken; aber dieß ſind
doch nur beſondere Fälle und zwiſchen der landwirthſchaft—
lichen und gewerblichen Beſchäftigung im Ganzen iſt hin—
ſichtlich der Lebensgefährdung kein Unterſchied, den nicht
Erfahrung und die Macht der Gewohnheit auszugleichen
vermöchte. Alles ſtatiſtiſche Material liefert nicht einen
Schatten von Beweis, daß in der mittlexen Lebenserwar—
tung des Bauern und des Handwerkers, des ländlichen
Taglöhners und des Fabrikarbeiters, des Dorfſchulzen und
des Oberbürgermeiſters ein Unterſchied anzunehmen ſei.
So lange daher nicht viel umfaſſendere, gründlichere
und methodiſch beſſere Unterſuchungen vorliegen, ſpricht die
innere Wahrſcheinlichkeit wie die äußere Erfahrung dafür,
daß zwiſchen dem Zuſammenwohnen mit Vielen oder mit
Wenigen und zwiſchen der Mortalitätsziffer und Lebens—
ſicherheit kein Cauſalzuſammenhang beſteht und ſind wir
in dieſer Sache noch um kein Haar weiter als zu der Weis—
heit gelangt, die ſchon bei Horaz die Stadtmaus der Land—
maus zu Gemüthe führt:
terrestria quando
Mortales animas vivunt sortita, neque ulla est
Aut magno aut parvo leti fuga *).
Alles Bisherige gilt nur von den bevölkerungsſtati—
ſtiſchen, keineswegs auch von den kulturſtatiſtiſchen Mo—
menten. Denn ſo wenig ſich erkennen läßt, warum die
bloße Anhäufung von Häuſern oder Individuen die Ein—
zelnen fruchtbarer oder unfruchtbarer, länger oder kürzer
lebend machen ſoll, ſo einleuchtend iſt, daß dieſelbe auf die
geſellſchaftliche und geiſtige Entwicklung den größten Ein—
fluß haben kann und muß. Die Mannigfaltigkeit der Be—
ſchäftigungen, Intereſſen und Anſchauungen bewirkt eine
ſtärkere, geiſtige Friction, ein freieres und vielſeitigeres Ur—
theil, eine größere Neigung und Empfänglichkeit für neue
9 Den irdiſchen Weſen
Gab das Geſchick nur ſterbliche Seelen; der Kleine und Große,
Keiner vermag dem Tod zu entfliehn.
352
Gedanken und Sitten. Als die Sitze der Organe der
Staatsgewalt, als Pflegeſtätten der Künſte und Wiſſen—
ſchaften, alles höheren Unterrichts, als Centralpunkte der
Gewerbe und des Verkehrs, als Märkte für die ländliche
Bevölkerung treten die Städte an die Spize alles politiſchen,
geiſtigen und wirthſchaftlichen Lebens. Die Landbevölkerung
folgt zögernd und widerſtrebend den von der Stadt aus—
gehenden Impulſen. Alles dieß ſind bekannte und offen
zu Tage liegende Erſcheinungen, und der Einfluß der Städte
war, von den Republiken des claſſiſchen Alterthums abge—
ſehen, vielleicht noch in keinem Zeitalter ſo groß wie in der
Gegenwart. *
Nur muß man ſich auch hier vor einem vagen Gene—
raliſiren hüten; man darf nicht Heterogenes, wie die Groß—
und Kleinſtadt, das Dorf und den Hof je in Einen Topf
werfen. Man darf nicht, was Merkmal des Zeitalters iſt,
wie das Anwachſen der Großſtädte, die Arbeiterbewegung,
den Unternehmungsſchwindel, die Börſenkriſen zu Merk—
malen der Wohnpläze machen.
Und ebenſo wenig, als man ins Allgemeine von einer
größeren Mortalität der Städte reden kann, darf man eine
ungünſtigere Moralität der Stadtbevölkerungen als eine
ſtatiſtiſche Thatſache bezeichnen. Man müßte an der Menſch—
heit und ihrer Zukunft verzweifeln, wenn die höhere Aus—
bildung der intellectuellen Kräfte und der beſſere Schul—
unterricht zum ſtändigen Begleiter ein niedrigeres Niveau
der ſittlichen Zuſtände hätte, wenn die Beſchränktheit der
dorf- und hofbäuerlichen Bevölkerung die günſtigeren Be—
353
dingungen für geſellſchaftliche Tugenden böte. Die Städte
haben die Führung zum Guten wie zum Schlimmen und
das Land ſträubt ſich bald gegen das Eine bald gegen das
Andere.
Die Moralſtatiſtik der Städte bietet auffälligere und
abſchreckendere Erſcheinungen. Wie ſich in der Großſtadt
die mannigfaltigſten Richtungen unter ſich zuſammen und
nach außen abſchließen, ſo gelingt es dort auch dem Laſter,
ſich durch das Mittel der Gruppirung zu verſtärken. In
Geſtalt der Proſtitution, des Gaunerthums, der Louis und
Rowdies tritt es frecher und raffinirter auf und wird zu
einer ſocialen Macht. Aber dieſe Iſolirung iſt zugleich für
die übrigen Geſellſchaftskreiſe eine Reinigung. Die Bor—
delle ſind zugleich ein Schuz für die häusliche Zucht und
Sitte, wie der alte Cato nicht ſo Unrecht haben mochte,
wenn er einen Verfall der Sitten darin ſah, daß die jungen
Römer nicht mehr in die Lenocinien liefen. Neben jenen
Tauſenden von habituellen Dieben, Strolchen und Dirnen
leben Hunderttauſende arbeitſamer, ehrbarer, geſitteter
Bürger. Für die Geſellſchaft iſt es beſſer, wenn Ein Menſch
den Gerichten zehnmal zu ſchaffen macht als Zehne je Ein
mal. Man hüte ſich doch ja, die ländlichen Zuſtände in
geſchlechtlichen Dingen, im häuslichen Frieden, in Treu
und Glauben, in Sicherheit der Perſon und des Eigen—
thums idylliſch auszumalen. Es giebt zwar bäuerliche
Dörfer, bei deren Betrachtung die ideale Vorſtellung nur
in ſchwachem Maaß Lügen geſtraft wird; es giebt aber
auch ſolche von einer ſittlichen Verkommenheit, die durch
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 23
354
die ſchlimmſten Quartiere der Weltſtädte nicht viel über—
boten wird.
Die kleine Landſtadt liegt in der Regel von der Groß—
ſtadt noch viel weiter ab als vom Dorf. Der charakteri—
ſtiſche Unterſchied von jener iſt, daß die Geſellſchaft, ob—
gleich nach Stand und Vermögen abgeſtuft, doch Ein Ganzes
bildet, daß ſich Alles perſönlich kennt und controlirt. Die
kleinen Städte ſind die Vermittlungskanäle für den Wechſel⸗
verkehr von Stadt und Land. Obwohl von beſchränkterem
Geſichtskreis und in unruhigen Zeiten leicht aus dem Gleich—
gewicht geſchoben, bilden ſie ein wohlthätiges temperirendes
Mittelglied zwiſchen der ſtarken Strömung neuer Tendenzen
und dem ſtabilen und ſchwerfälligen Element von Dorf
und Hof. Sie halten ſich von den Exceſſen des großſtäd—
tiſchen Lebens fern und können doch nicht ſo tief ſinken,
wie das verkümmernde oder zuchtlos gewordene Dorf. Es
iſt ein kleiner Grundſtock gebildeter Familien vorhanden,
der der Regel nach im Anſehen ſteht und die Meinung
der Maſſen nach ſich zieht. Schon Göthe hat dieſe
Lichtſeiten warm geprieſen, wenn es in Hermann und
Dorothea heißt:
Und Heil dem Bürger des kleinen
Städtchens, welcher ländlich Gewerb mit Bürgergewerb paart!
Auf ihm liegt nicht der Druck, der ängſtlich den Landmann beſchränket,
Ihn verwirrt nicht die Sorge der vielbegehrenden Städter,
Die dem Reicheren ſtets und dem Höheren, wenig vermögend,
Nachzuſtreben gewöhnt find, beſonders die Weiber und Mädchen.
Aber auch Hof und Dorf ſind ſo wenig in Eine Rubrik
zuſammenzuwerfen, als der oppidane und urbane Wohn—
355
plaz. Die hofbäuerliche Bevölkerung iſt der iſolirteſte, dem
Zeit und Staatsleben fremdeſte, ſtabilſte und conjervativfte
Theil der Geſellſchaft. Sie zeigt die Licht- wie die Schatten—
ſeiten primitiver und patriarchaliſcher Zuſtände. Die Schwie—
rigkeiten eines geordneten Schulunterrichts ſind die größten;
die Preſſe findet kaum ihren Weg dahin. Die rechtlich oder
faktiſch gebotene Untheilbarkeit der Güter beherrſcht das
Familienleben und führt zu feudalen Verhältniſſen. Das
Gemeinde- und Staatsleben berührt den Einzelnen nur
wenig; die kirchlichen Beziehungen ſind ihm näher gerückt.
Die Sorge um Nahrung und Erwerb, der Unterſchied von
Arm und Reich, die das Dorfleben beherrſchen, treten nur
ausnahmsweiſe hervor.
Auch für die culturſtatiſtiſchen, wie für die bevölke—
rungsſtatiſtiſchen Merkmale ſind ſomit ganz andere Unter—
ſuchungen und Methoden, ganz andere Unterſcheidungen
nöthig, als die Abſtractionen von Stadt und Land, von
Wohnpläzen mit mehr oder weniger als 2000 Einwohnern.
Zwar iſt beim Gebrauch aller ſtatiſtiſchen Tabellen
Vorſicht und Einſicht geboten, aber für die Statiſtik der
Wohnpläze wäre erſt noch ein ganz neuer Boden zu legen.
Kleine Betrachtungen und Bekenntniſſe ver-
miſchten Inhalts.
1. Allerlei.
1. Menſchliche Lebensdauer.
„Des Menſchen Leben währet 70 Jahr und wenns
hoch kömmt, ſo ſinds 80 Jahr.“ Die Statiſtiker berufen
ſich häufig und gerne auf dieſen bibliſchen Spruch, wenn
es ſich darum handelt, die faktiſche Mortalität mit einem
Normalmaaße zu vergleichen. Denn was der Verfaſſer
des goten Pſalms vor mehr als 2000 Jahren unter ſüd—
licherem Himmel und ganz abweichenden Geſellſchaftszu—
ſtänden beobachten konnte, entſpricht auch ganz noch der
heutigen Erfahrung und populären Anſchauung der Sache.
Wenn Jemand in den 60ger Jahren ſtirbt, jo meinen wir,
er hätte wohl noch länger leben können; wer das 80te
erreicht hat, von dem ſagen wir, er habe ſein Alter hoch
gebracht; wer aber mit 70 oder in den 70gern Jahren
ſtirbt, der ſcheint uns das ordentliche und normale Maaß
eines Menſchenlebens erreicht zu haben; der Geiſtliche wird
den Angehörigen am Grabe ſagen, daß ſie zufrieden und
dankbar ſein müßten und keine Urſache haben, ſich zu be—
klagen. 5
Eine andere Frage iſt es, auf welche Dauer der menſch—
liche Organismus von Natur angelegt erſcheine. Darauf
ſoll und kann jener Bibelſpruch keine Antwort geben, da
er nur etwas Faktiſches ausſpricht. Ein namhafter Phy—
ſiolog gelangt durch Beobachtungen des höheren thieriſchen
Lebens zu der Norm, daß die natürliche Lebensdauer eines
thieriſchen Organismus mindeſtens das Fünffache der Zeit
betrage, welche von der Geburt bis zur Vollendung des
Wachsthums des Knochengerüſtes erforderlich ſei. Auf den
Menſchen angewendet, würde dieſer Canon, auch wenn man
das Wachsthum ſchon mit 20 Jahren abgeſchloſſen denkt,
zu einer natürlichen Lebensdauer von 100 Jahren führen.
Dieſes Argument hat nun freilich viele unausgefüllte Lücken.
Denn ſchon eine natürliche Lebensdauer der Säugethiere
zu finden iſt faſt unmöglich. Von den im Freien lebenden
und ſterbenden Thieren wiſſen wir weder Alter noch Todes—
urſachen; die in menſchlicher Obhut ſtehenden Thiere aber
leben unter außerordentlichen Verhältniſſen, die nicht maß—
gebend ſind für das Naturgemäße. Die Anwendung auf
den Menſchen bleibt immer nur ein Schluß nach Analogie.
Der Neger gilt ſchon mit 16—17 Jahren für ausgewachſen,
der Nordeuropäer kaum mit 24; dennoch wiſſen wir
nicht, daß leztere ein entſprechend höheres Alter erreichten,
als die zwiſchen den Tropen Aufgewachſenen. Immerhin
wird das Gewicht des Arguments durch ſolche Einwen—
dungen keineswegs ganz entkräftet; eine gewiſſe Proportion
358
der Wachsthumperiode zur Lebensdauer und ein dem Thier—
leben analoges Verhältniß des menſchlichen Organismus iſt
ein berechtigter Gedanke. Jedenfalls ſprechen aber auch
andere Zeugniſſe dafür, daß das Menſchenleben auf höher
als 70—80 Jahre angelegt ſei. Der natürliche Tod wäre
eigentlich das, was die Alten die Euthanaſie nannten, das
Sterben aus Nachlaß der Kräfte, an Altersſchwäche, das
Erlöſchen des Lebenslichts bei geringfügigem, äußerem An—
laß. Solche Fälle der Euthanaſie treten aber nur ſelten
und ausnahmsweiſe ſchon in den 70ger Jahren, meiſt erſt
in den höchſten Altersſtufen von 80 und mehr Jahren ein.
Die zahlreichen Beiſpiele von Menſchen, welche bei guten
Kräften ein Alter von hundert Jahren und noch weit dar—
über hinaus erreicht haben, wären nicht verſtändlich, wenn
wir die normale, gleichſam phyſiologiſch begründbare Grenze
des Menſchenlebens zwiſchen 70 und 80 Jahren ſezen wollten.
Was ſich in wenigen Fällen verwirklichen ließ, muß unter
den gleichen oder ähnlichen Bedingungen auch in vielen
verwirklicht werden können. Die Wahrheit iſt wohl darin
zu finden, daß der Menſchheit wie im Geiſtigen und Sitt—
lichen ſo im Phyſiſchen und hinſichtlich der Lebensdauer
keine feſten und unüberſchreitbaren Grenzen geſteckt ſind,
ſondern auch hier Alles im Fluß begriffen und perfectibel,
das Plus ultra niemals ausgeſchloſſen iſt. Wie uns das
Mittelalter in Beziehung auf Hygieine und Therapie kin—
diſch und barbariſch erſcheint, ſo werden auch künftige Jahr—
hunderte über die öffentliche Geſundheitspflege und das
mediciniſche Wiſſen des 19. Jahrhunderts urtheilen. Eine
Ahnung des Gedankens, daß die faktiſche Verkürzung der
menſchlichen Lebensdauer im Vergleich zu derjenigen, auf
welche unſer Organismus angelegt erſcheint, als eine Wir—
kung von Irrthum und Sünde, von ſocialen und ſtttlichen
Gebrechen anzuſehen ſei, liegt in den hebräiſchen Sagen
vom Alter der erſten Menſchen, in den griechiſchen Mythen
von einem goldenen Zeitalter, wo allen Menſchen im höchſten
Alter am Nachlaß der Kräfte zu ſterben, zur Euthanaſie
zu gelangen vergönnt war. Bei Herodot verſichert der
König der Aethioper die Geſandten des Cambyſes, auf 120
Jahre brächten es die Meiſten von ihnen, und etliche noch
drüber.
Die heutige Weltanſchauung gebietet, jene Ideale, welche
man früher rückwärts in einer geträumten Urperiode reiner
Menſchlichkeit ſuchte, vorwärts zu verlegen in der Zukunft
unbeſtimmte Fernen. Da wir aber überall nur Fortſchritt
und Entwicklungsfähigkeit wahrnehmen, ſo geſtattet ſie uns
auch an ein künftiges, goldenes Zeitalter zu glauben, in
welchem man von dem mit 80 Jahren Geſtorbenen ſagen
wird, daß er noch bei guten Kräften abberufen worden und
nicht zum natürlichen Ziele menſchlicher Lebensdauer ge—
langt ſei. .
Bleiben wir aber nur vorerſt bei den 70 Jahren des
Pſalmiſten ſtehen und bezeichnen es als ein ideales Ziel
der Menſchheit, daß alle Menſchen das 70. Lebensjahr er—
reichen, ſo haben wir an dem Bruchtheil oder Procentſaz
derjenigen, welche wirklich dieß Ziel erreichen, ein Maaß,
gleichſam einen Kurszettel, nach welchem die Actien der
360
Menſchheit, ihre Entfernung von dem Pariſtand zu bemeſſen
ſind. Von 100 Geborenen werden in Mitteleuropa der—
malen nur 18 Menſchen 70, und nur 11 75 Jahre alt.
Die Actien der Menſchheit haben alſo ungefähr den Kurs
der ſpaniſchen Papiere, und der Hiſtoriker wie der Sta—
tiſtiker haben alle Urſache zu glauben, daß ein höherer
Kurs in keinem früheren Zeitalter und Volk in weiterem
Kreis erreicht worden iſt.
2. Der Militäraufwand.
Nicht blos ein democratiſcher Tendenzſtatiſtiker, wie
Kolb, ſondern auch viele unbefangene Leute von gemäßigten
Anſichten, ja ſelbſt ein ſo beſonnener und kenntnißreicher
Gelehrter, wie der Nationalöconom und Finanztheoretiker
C. H. Rau, pflegen den Aufwand eines Volkes für ſein
Militärweſen ſo zu berechnen, daß ſie zu dem Betrag des
Etats der Kriegs- und Marineminiſterien noch die Summe
der Arbeitslöhne addiren, welche die Mannſchaft während
ihrer Dienſtzeit zu Hauſe hätte verdienen können. Nimmt
man den ſeitherigen Aufwand des deutſchen Reichs für ſeine
Landmacht rund zu 100 Millionen Thalern an, rechnet aber
dabei, daß die 400,000 präſenten jungen Männer jährlich
an 300 Arbeitstagen je 2 Mark Lohn hätten verdienen kön—
nen, was bei den jezigen Preisverhältniſſen nicht einmal
hoch genug erſcheint, ſo ergeben ſich weitere 80 Millionen
Thaler. Fügt man nun, was ja nur conſequent wäre,
dieſen Arbeitslöhnen einen entſprechenden Unternehmer—
361
gewinn, etwa Yıo ihres Betrags hinzu, beachtet man ferner,
was die Familien als Zuſchuß zu dem ungenügenden Sold,
was ſie für den Aufwand der Einjährigen Freiwilligen in
die Garniſonen zu ſchicken haben, und wendet man ſchließ—
lich noch die gleiche Berechnungsweiſe analog auf die
17,000 Offiziere des Friedensſtandes an, ſo kommt man zu
dem Reſultat, daß jene 100 Millionen Thaler, die im Reichs—
budget laufen, auch abgeſehen von der Marine, noch nicht
die Hälfte des Geſammtaufwandes der Geſellſchaft für die
Landesvertheidigung ausmachen.
Dieſe weit verbreitete und landläufige Berechnungs—
weiſe ſteckt voll von handgreiflichen Irrthümern und will—
kürlichen Vorausſezungen, die es wohl der Mühe werth iſt,
aufzudecken.
Was würde man dazu ſagen, wenn ein Vater, der
500 Thaler für die Studienkoſten eines Sohnes braucht,
ſeinen Aufwand zu 1000 Thaler berechnen würde, weil,
wenn er den Sohn hätte Kaufmann werden laſſen, dieſer
jezt ſchon ein Salair von 500 Thalern beziehen würde?
Der Fall iſt aber genau derſelbe.
Der Militäretat des Reichs ſchließt vor Allem auch
die ganze Verpflegung der Mannſchaft in ſich, ihre Woh—
nung, Nahrung, Kleidung, den Aufwand für Holz, Licht,
Krankheitsfälle. Dieſer ganze Aufwand wäre, wenn die
Leute zu Hauſe lebten und in Arbeit ſtünden, von den
Löhnen zu beſtreiten und würde unzweifelhaft den weitaus
größten Theil derſelben in Anſpruch nehmen. Alſo nur
der kleine Reſt, den etwa 20—22 jährige junge Männer von
362
ihrem Lohn zu erſparen oder für den Unterhalt ihrer An—
gehörigen zu verwenden pflegen, könnte als ein zu dem
Reichsmilitäretat hinzutretender Aufwand der Geſellſchaft
in Betracht kommen. Von jenen 80 Millionen Thalern
bliebe ſicherlich bei dieſer allein richtigen Berechnungsweiſe
nur ein Minimum übrig. Allerdings würden vermuthlich
die jungen Männer von ihren Arbeitslöhnen etwas reich—
licher leben und ſich manchen Extraſchoppen und Trink—
exceß geſtatten können, der in den Kaſernen wegfällt, aber
darin läge weder für das öconomiſche, noch für das mo—
raliſche Gedeihen der Geſellſchaft ein Nachtheil.
Sodann aber iſt es nur eine ganz willkührliche An—
nahme, daß in Deutſchland ſo viele gewerbliche Unter—
nehmungen aus Mangel an Arbeitskräften unterbleiben, als
zur lohnenden Beſchäftigung jener 400,000 jungen Männer
erforderlich wären, und daß, wenn dieſe Zahl zur Ver—
fügung ſtünde, entſprechend mehr gearbeitet und verdient
würde. In einem Lande, das jährlich durchſchnittlich 120,000
Perſonen vorherrſchend aus dem Motiv, weil ſie keinen
lohnenden und befriedigenden Erwerb zu finden glauben,
verlaſſen, läßt ſich die Behauptung, daß wünſchenswerthe
Unternehmungen aus Mangel an Arbeitskräften unterblei—
ben müſſen, nicht in allgemeiner Faſſung aufrecht erhalten;
vielmehr müßte die Concurrenz von 400,000 weiteren Ar—
beitern die Löhne drücken, was wohl den Unternehmern, nicht
aber den Arbeiterclaſſen ſelbſt zu Statten käme, und dabei
gleichzeitig noch die Auswanderung ſteigern.
Letzteres widerſpricht freilich direct der jo häufig ge—
363
hörten Behauptung, daß gerade durch die allgemeine Wehr—
pflicht und die lange Präſenz die Auswanderung ſo ſehr
um ſich greife. Ohne zu beſtreiten, daß dieß Motiv in
manchen Einzelfällen entſcheidend oder wenigſtens neben
anderm wirkſam ſein mag, zeigen ſchon die Beiſpiele von
England, der Schweiz und den Scandinaviſchen Ländern,
wo ganz andere Heerſyſteme herrſchen und doch die Aus—
wanderung ſo ſtark wie in Deutſchland iſt, daß die maß—
gebenden Faktoren in ganz anderen Verhältniſſen und zwar
vor allem in der Fruchtbarkeit und Wanderluſt der ger—
maniſchen Race zu ſuchen ſind.
Von den Hauptmomenten der ganzen Militärfrage, von
der abſoluten Nothwendigkeit einer zahlreichen und wohl—
geübten Armee für Deutſchland, von der Unentbehrlichkeit
derſelben auch für das wirthſchaftliche Leben und deſſen
Sicherſtellung, von dem Werthe, den der Heeresdienſt als
Schule des Volks für die körperliche und ſittliche Kräf—
tigung des Einzelnen hat, ſoll hier gar nicht weiter die
Rede ſein.
3. Die Oekonomie der Aemter.
Es laſſen ſich in jedem Zweig des öffentlichen Dienſtes,
der durch Gleichheit des Bildungsganges und der Prüfungs—
anforderungen für ſich ein Ganzes bildet, drei Arten oder
Stufen des Dienſtes unterſcheiden. Zuerſt kommen die
bloßen Verwendungen der Kandidaten zum Probe- oder
Hilfsdienſt, von widerruflichem, unſtändigem Charakter, ohne
364
Gehalt, oder nur mit Taggeldern und knappen Entſchädi—
gungen für den unmittelbaren Aufwand. Man kann dieß
die Klaſſe der Vorſtufenämter nennen. Darauf folgen die
Anfangsdienſte oder erſten feſten Anſtellungen mit beſtimm—
ten Dienſtrechten und Gehalten, die entweder auch noch den
eheloſen Stand oder eine nur kleine Familie oder Zu—
ſchuß aus eigenem Vermögen zur Vorausſezung haben. Die
dritte Klaſſe bilden die ordentlichen Aemter, deren Dotation
auf den ſtandesmäßigen Bedarf einer mittleren Familie
berechnet ſein ſoll oder will. Auch noch eine vierte Stufe
von höheren, mit einem Repräſentationsaufwand ausge—
ſtatteten Aemtern zu unterſcheiden, iſt praktiſch ohne Werth,
da deren Zahl verſchwindend klein iſt und ſie nicht auf dem
Weg des ordentlichen Vorrückens und meiſt nicht blos für
die Angehörigen des betreffenden Dienſtzweiges erreich—
bar ſind.
Es iſt nun einleuchtend, obgleich von denjenigen, in
deren Händen die Organiſation der Aemter lag, bis jezt
noch Niemand daran gedacht zu haben ſcheint, daß die Aus—
ſichten der Dienſtlaufbahn in jedem Zweig durch das nu—
meriſche Verhältniß zwiſchen den in jene drei Klaſſen fal—
lenden Aemtern bedingt ſind, daß bei einer Durchſchnitts—
berechnung ſich für den einzelnen öffentlichen Diener die
Zahlen der Jahre, welche er auf jeder der drei Stufen von
Aemtern zu verbringen hat, gerade ſo zu einander verhal—
ten müſſen, wie die Zahlen der in jeder der drei Klaſſen
vorhandenen Aemter. Wenn alſo in einem Fach unter je
100 Aemtern 20 Vorſtufenſtellen, 30 Anfangsdienſte und
365
50 ordentliche Aemter beſtehen, jo hai der Einzelne durch—
ſchnittlich 20% ſeiner geſammten Dienſtzeit auf Vorſtufen—
ſtellen, 30% auf Anfangsdienſten zuzubringen und die Hälfte
derſelben wird auf die ordentlichen Aemter fallen. Wenn
Einzelne die unteren Stufen raſcher durchlaufen, ſo muß
dieß ſeine Ausgleichung darin finden, daß dafür Andere
länger als die bloße Durchſchnittszeit auf denſelben auszu—
harren haben. Den Eintritt in den öffentlichen Dienſt für
Diejenigen, welche akademiſche Studien durchzumachen haben,
auf das 24te Lebensjahr fallend und die Dauer der ge—
ſammten Dienſtzeit zu 40 Jahren angenommen, würde der
Einzelne unter der obigen Vorausſetzung 32 Jahre alt, bis
er zu einem Anfangsdienſt und 44 Jahre, bis er zu einem
ordentlichen Amte gelangt.
Es wäre wohl eine billige und beſcheidene Forderung,
daß der Einzelne nicht über 4 Jahre in der unterſten Stufe,
nicht über 6 Jahre auf Anfangsſtellen zu dienen und ſomit
nach 10jähriger Dienſtleiſtung zu einem ordentlichen Amt
gelangte. Hieraus würde aber folgen, daß 75 Procent
aller Stellen eines Dienſtzweigs aus ordentlichen Aemtern
beſtehen müßten, die Zahl der Vorſtufendienſte nicht über
10, die der Anfangsdienſte nicht über 15 Procent ſtehen
dürfte.
Wenn man mit dieſer Norm die faktiſchen Verhält—
niſſe in den verſchiedenen Dienſtzweigen der deutſchen Länder,
im Civilſtaatsdienſt der Richter und Verwaltungsbeamten,
bei den Geiſtlichen, den Lehrern, den Officieren vergleicht,
ſo wird man auf die erſtaunlichſten Mißverhältniſſe ſtoßen.
366
In Württemberg z. B. wird die normale Proportion in
keiner einzigen Branche auch nur annähernd erreicht *) und
es iſt nicht zu zweifeln, daß ähnliches auch anderwärts
Statt findet, da man überall gewöhnt iſt, das Bedürfniß
weiterer Arbeitskräfte nur durch Vermehrung der Hilfs—
und Anfangsſtellen zu befriedigen und dadurch das richtige
Verhältniß, ſelbſt wenn früher ein ſolches beſtanden haben
ſollte, zu verrücken.
Am ſchreiendſten freilich ſind dieſe Anomalieen im Mi—
litärdienſt. Obgleich hier vielfach abweichende Bedingungen
vorliegen, ſo bilden doch die Lieutnantsſtellen, die zwar den
Dienſtrechten nach nicht zu den Vorſtufenämtern, aber dem
Gehalt nach kaum den Anfangsſtellen anderer Dienſtzweige
gleich zu ſtellen ſind, bereits über 60 Procente aller Offi—
ziersſtellen und der Einzelne hätte demnach ordentlicher
Weiſe ½ ſeiner geſammten Dienſtzeit auf ſolchen zuzu—
bringen. Wenn vollends der dritte Secondelieutenant für
die Compagnie gefordert werden ſollte, jo würden etwa drei
Viertheile aller Offiziersſtellen der unterſten Stufe derſelben
angehören. Das ganze Syſtem müßte, vom Standpunkt
der Dienſtausſichten und der bürgerlichen Verſorgung aus
betrachtet, als ein Unding erſcheinen und iſt überhaupt nur
unter ſingulären Vorausſetzungen, wie ſie z. B. der Faktor
der nachgeborenen Söhne der Rittergutsbeſizer und die
) Zu vergleichen mein Aufſaz: Beiträge zur Statiſtik des öffentl.
Dienſtes, Würtembergiſche Jahrbücher 1865. p. 234, dem hier Einiges
entnommen iſt.
367
Beneficien der Offiziersſöhne in den Kriegs- und Cadetten—
ſchulen bilden, als möglich zu denken.
Die Verſpätung der erſten Anſtellung und das lang—
ſame Vorrücken zu auskömmlichen Aemtern iſt aber ein
noch ſchlimmerer Mißſtand des öffentlichen Dienſtes als die
troz aller Aufbeſſerungen noch fortbeſtehende Unzulänglich—
keit der Gehalte. Es wäre das Schlimmſte noch nicht,
wenn der Geſichtspunkt der ſoliden und ſicheren Verſorgung
unter den Motiven für die Wahl der Laufbahn des öffent—
lichen Dienſtes eine weniger hervorragende Rolle zu ſpielen
hätte. Die Geld machenden Stände mögen noch ſo viele
Vortheile voraus haben, ſie werden es nie erreichen, daß
nicht neben dem freien Dienſt der Muſe und Wiſſenſchaft
die Pflege der öffentlichen Intereſſen, des Rechts und der
allgemeinen Wohlfarth, die Vertheidigung des Vaterlands,
die geiſtige Leitung des heranwachſenden Geſchlechts, die
Verkündigung der lezten und tröſtlichſten Wahrheiten auch
die höchſten und würdigſten Gegenſtände menſchlichen Wir—
kens bleiben und auf die Neigungen einer edleren und be—
gabteren Jugend den mächtigſten Reiz ausüben werden. Es
läßt ſich kaum ein unzweideutigeres Symptom kranker und
unnatürlicher Zuſtände denken, als wenn es in einem Land,
wie in den Vereinigten Staaten, dahin gekommen iſt, daß
auf dem Suchen und Bekleiden von Staatsämtern ein ge—
ſellſchaftlicher und ſittlicher Makel ruht. Das ſpärlichere Ein—
kommen des öffentlichen Dieners läßt ſich dabei eher in Kauf
nehmen; ja es hat noch ſeine Vortheile, es erhöht, bei aus—
reichender Beſchäftigung, die Achtung und ſchüzt in freien
368
Staaten gegen die Mißgunſt des Volks und der arbeitenden
Klaſſen, wenn der Haushalt und Verbrauch des Beamten,
des Geiſtlichen, des Lehrers ſich innerhalb der beſcheidenen
Grenze des mittleren Bürgers zu halten hat und ſein An—
ſehen nur auf ſeiner Bildung und ſittlichen Haltung, auf
dem Werth und der Bedeutung ſeiner Functionen beruht.
Aber das iſt eine berechtigte Forderung, nach langjährigen
Studien und ſchweren Prüfungen nicht erſt noch ein Duzend
Jahre auf wechſelnden Hilfsſtellen zu verkümmern, über
das Schwabenalter hinaus in unfruchtbarem Kanzleidienſt
zu vertrocknen und die unwiederbringlich ſchönſte Lebenszeit
in zehrendem Warten abzunüzen, ſtatt mit dem Eintritt ins
reife Mannesalter einen dauernden und ſelbſtändigen Wir:
kungskreis zu gewinnen, den eigenen Heerd zu gründen
und ſich, ſei es auch in eingeſchränkter Lage, der Früchte
ſeiner Arbeit und der langen Vorbereitungen zu erfreuen.
Ein Verzicht auf dieſe Anſprüche gleicht einem Verzicht auf
die geſunden Vorbedingungen des Lebensglücks ſelber. Und
dieſe Mißverhältniſſe ſind es auch weit mehr als die ma—
geren Gehalte, die den öffentlichen Dienſt allmälig in eine
gewiſſe Mißachtung gebracht und die Lage des Angeſtellten
faſt zu einem Gegenſtande des Mitleids von Seiten der
anderen Stände gemacht haben.
Es iſt aber eine Lebensfrage für den modernen und
insbeſondere den deutſchen Staat, daß ſich die beſten Köpfe
und edelſten Kräfte dem öffentlichen Dienſt widmen und er
würde es ſchwer zu büßen haben, wenn er dieſe dauernd
von ſich abſtieße.
369
Nur Wenige wiſſen es in ſeinem vollen Umfang zu
würdigen, welchen Schaz die deutſchen Staaten in der Or—
ganiſation der Aemter und in der Qualität ihrer öffent—
lichen Diener vor allen andern Ländern voraushaben, an
dem wiſſenſchaftlichen geordneten Bildungsgang, an dem
Gefühl für Standesehre, an der geſicherten Stellung ihrer
Richter und Verwaltungsbeamten, ihrer Lehrer und Geiſt—
lichen, an der Unabhängigkeit der Aemterbeſezung von Pa—
tronage und Parteirückſichten. Man überſieht um einzelner
Ausnahmen und Mißſtände willen den Stand der Sache
im Großen und Ganzen. Man führt aus alter Gewohnheit
unter ganz veränderten Verhältniſſen das Gerede über bu—
reaucratiſchen Druck, Zopf und Unverſtand fort. Man iſt
in Gefahr, dem Schlagwort des Selfgovernment nach eng—
liſchem, für uns unbrauchbaren Vorbild werthvolle Inſti—
tutionen aufzuopfern. Wenn das Glück der Völker von
der Freiſinnigkeit der Verfaſſungen, von der Ausdehnung
des Wahlrechts, von dem Machtumfang der Vertretungs—
körper und der Durchführung der parlamentariſchen Parthei—
regierungen abhienge, ſo müßten Rumänien und Griechen—
land wahre Muſterſtaaten ſein. Erſt die neueſte Zeit hat
angefangen, die einfachen Wahrheiten wieder gelten zu laſſen,
daß der Werth einer Verfaſſung ſich nur in der Verwaltung
erproben kann, daß bei den Geſezen das Wichtigſte ihre
Vollziehung, daß eine ſchlechte Verfaſſung mit guter Ver—
waltung unendlich beſſer als das Umgekehrte iſt, und daß
der öffentliche Dienſt des modernen Staats in ſteigendem
Maaße gründliche Fachkenntniſſe und ungetheilte Arbeits—
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 24
370
kräfte erfordert. Die andern Staaten, die republicaniſchen
ſo gut wie die monarchiſchen, können in dieſen Dingen weit
mehr von uns lernen, als wir von ihnen. Von allen den
Fortſchritten, die Deutſchland in den letzten 60 Jahren ge—
macht hat, fällt ein ſehr großer, ja vielleicht der größte
Theil auf die Bildung und Tüchtigkeit ſeiner öffentlichen
Diener. Zur Bewahrung dieſes Gutes iſt auch die ſorg—
fältige Beachtung der Oeconomie der Aemter unerläßlich.
4. Moralſtatiſtik und Willensfreiheit.
Nur ſo unphiloſophiſche Köpfe, wie Ad. Quetelet und
Thomas Buckle neben aller ſonſtigen Begabung genannt
werden müſſen, konnten der nun viel verbreiteten Lehre
das Wort reden, daß die Thatſachen der Moralſtatiſtik zur
Läugnung der menſchlichen Willensfreiheit führen müſſen.
Wenn man zuerſt einen undenkbaren Begriff von Freiheit
aufſtellt, iſt es nicht zu verwundern, wenn hintendrein die
Thatſachen zu demſelben nicht ſtimmen wollen. Wenn nur
derjenige frei zu nennen iſt, der nicht durch Motive beſtimmt
wird, oder wenigſtens nicht durch ſolche, die auch auf an—
dere ſeinesgleichen wirken und allen verſtändlich ſind, ſon—
dern ſeine Entſchlüſſe aus der unergründlichen und unbe—
rechenbaren Tiefe einer ureigenen und einzigen Indivi—
dualität ſchöpft, dann ſind die Handlungen Vieler überhaupt
unter ſich unvergleichbar und jede Conſtanz und Aehnlich—
keit derſelben iſt ſchon unverſtändlich. Halten wir uns
näher an die Erfahrung, ſo werden wir von der menſch—
lichen Willensfreiheit nur etwa in dem Sinne ſprechen,
371
daß dem Menſchen gegenüber von der Enge und Gebunden—
heit der thieriſchen Motive ein unendlich reicherer Spielraum
von Trieben und Anlagen geſteckt iſt, daß ſich hiebei zu den
mannigfaltigen Reizen des animaliſchen Lebens noch die Em—
pfänglichkeit für Luſt- und Werthgefühle einer höheren Ord—
nung geſellt, daß dieſe mannigfaltigen Motive in vielfältige
Beziehungen und Verknüpfungen, aber auch zu Reibungen
und Gegenſäzen auseinander treten, und daß dieß bunte
Spiel von Reizen in und vor einem bewußten Central—
punkte, den wir unſer Ich nennen, abläuft, welcher fühlend
und überlegend den Werth der verſchiedenen Reize abmißt
und ſchließlich wollend einen Ausſchlag nach der einen oder
andern Richtung gibt. Einen Ausſchlag, der freilich dem
Charakter des Einzelnen, d. h. dem geſammten Complex
von angeborenen und angebildeten oder durch Uebung er—
ſtarkten Eigenſchaften entſpricht und darum von Jemand,
der dieſen Charakter vollſtändig kennen würde, vorausgeſagt
werden könnte, dem aber gleichwohl das Gefühl des anders
Gekonnthabens, des ſo oder anders Geſollthabens, und ſo—
mit der Zurechnung als eigener That zur Seite geht. Mit
einem ſolchen oder ähnlichen Freiheitsbegriff ſteht es nicht
im Mindeſten im Widerſpruch, wenn viele Menſchen unter
ähnlichen Bedingungen ähnlich handeln.
Meine individuelle Freiheit verlangt nur, daß ich gegen
die äußern Einwirkungen meiner Natur gemäß reagiren
kann, daß die höheren Kräfte in mir nicht äußerlich an
ihrer Bethätigung gehemmt ſind; daß aber ein Anderer ne—
ben mir ebenſo handelt wie ich und von den gleichen Mo—
24 *
372
tiven bewegt wird, hat mit meiner Willensfreiheit Nichts
zu ſchaffen. Die menſchlichen Individualitäten verhalten
ſich nicht zu einander wie unvergleichbare Originale, ſon—
dern liegen alle innerhalb der Grenzen des gleichen Gat—
tungscharakters; alle Menſchen haben die gleichen Triebe
und Anlagen; der Unterſchied liegt nur in dem relativen
Stärkegrad, in welchem die einzelnen Merkmale bei Jedem
ausgeprägt ſind und die einzelnen Motive beſtimmend auf
ihn einwirken. Die Zahl der gemeinſamen Motive, deren
ſich Niemand ganz entſchlagen kann, iſt außerordentlich groß.
Niemand vermag die phyſiologiſche Einwirkung ſeines Ge—
ſchlechts oder ſeiner Altersſtufe zu verläugnen. Eine Menge
anderer Faktoren, wie Klima und Boden, Race, Nationali—
tät, Sprache, Stand und Beſchäftigung, Wohnplaz, Beſitz,
Erziehung, Sitte, geſchichtliche Ueberlieferungen, politiſche
Zuſtände bilden eine Gruppirung der Menſchen und weiſen
jedem Einzelnen innerhalb derſelben Gruppe, ſo abweichend
die Empfänglichkeit für jedes einzelne dieſer Motive wieder
ſein mag, doch einen gewiſſen gemeinſamen Grundtypus an.
Man kann aber dabei keineswegs ſagen, jeder Einzelne ſei
nur ein Product dieſes Gruppencharakters, ſondern min—
deſtens mit gleichem Recht, die Gruppe ſei das Geſammt—
product der Einzelnen, welche von gleichen pſychiſchen Ele—
menten aus unter ähnlichen äußeren Einwirkungen gleiche
oder verwandte Vorſtellungsreihen bilden und ſo einen
Maſſeneffekt hervorbringen, der vermöge der ſocialen An—
lagen unſerer Natur auch wieder rückwirkend den Einzelnen
beſtimmt. Die Freiheit der Menſchen beſteht ja nicht
375
darin, daß keine äußeren Momente beſtimmend auf ihn
einwirken, ſondern in der Weite des Spielraums und der
Mannigfaltigkeit der Formen und Grade, in welchen die
Individualität wieder gegen jedes einzelne jener Momente
zu reagiren vermag.
Wie kann man dann überraſcht ſein, daß die Zahl der
Trauungen eines Jahres, wenn kein beſonderer Grund zu
einer Abweichung vorliegt, von der des Vorjahrs und Nach—
jahrs nicht merklich verſchieden iſt, daß ſie dagegen höchſt
empfindlich iſt für jede Veränderung in den wirthſchaft—
lichen Vorbedingungen der Niederlaſſung, ſchnell wächſt,
wenn Erleichterungen des Erwerbs eintreten, ebenſo raſch
ſinkt bei Theurungen, in Kriegszeiten, bei Stockungen der
Gewerbe, auch daß der Bruchtheil der heirathenden Wittwer
oder Wittwen von einem Jahr zum andern ungefähr gleich
bleibt? Nicht dieß, ſondern das Gegentheil, wenn es Statt
fände, wäre ein Argument gegen die menſchliche Freiheit. Die
Thiere begatten ſich, ob ihre Nahrungsmittel ſpärlicher oder
reichlicher vorhanden ſind und laſſen dann die Jungen ver—
kommen. Der Menſch, frei von der zwingenden Herrſchaft
des Naturtriebes, überlegt, ob es räthlich iſt, zur Gründung
einer Familie zu ſchreiten. Daß nun aber nicht Einer,
ſondern Viele unter den gleichen oder ähnlichen Bedingungen
eine ſo vernünftige Erwägung anſtellen und daß ſich die
Wirkung dieſes Faktors bei der Volkszählung bemerklich
macht, das iſt der handgreiflichſte Beweis für, aber nicht
gegen die menſchliche Willensfreiheit, wofern man dieſe nicht
zu einem logiſchen Unding macht.
374
Ebenſo iſt es aber auch mit den andern Hauptbeweis—
mitteln der Criminal- und Selbſtmordſtatiſtik. Man hat
nicht erſt die Zahlen der Statiſtiker dazu gebraucht, um zu
wiſſen, daß Handlungen brutaler Gewaltthätigkeit, wie
Raub, Mord, Widerſezung, Körperverlezung weit häufiger
von Männern begangen werden, als von Weibern und daß
wir unter den wegen ſolcher Vergehen Angeklagten ſelten
Greiſe und Knaben, wohl aber junge Männer in dem Alter
der Kraft und Leidenſchaft antreffen werden. Ob dagegen
die Verbrechen gegen das Eigenthum häufiger ſein werden
oder die gegen die Perſon, das werden wir ſchon nicht
mehr voraus zu vermuthen wagen, ſondern als von der
Geſittungsſtufe, dem Charakter und den wirthſchaftlichen
Verhältniſſen einer beſtimmten Gruppe abhängig denken.
Nicht zu verwundern wird es aber ſein, wenn innerhalb
der gleichen Gruppe Zuſammenlebender in angrenzenden
Jahren die Fälle der Verſuchung zu Uebertretungen oder
zum Selbſtmord, ſowie das Maaß der Widerſtandskräfte
gegen ſolche Verſuchungen ſich innerhalb nicht allzuweit ge—
zogener Grenzen bewegen. :
Ja wir müſſen uns denken, daß dieſe Regelmäßigkeiten
mit wachſender Geſittungsſtufe ſich nicht vermindern, ſondern
vielmehr ſteigern werden. Wenn wir uns ein Volk von
Philoſophen oder von ächten Chriſten oder eine Republik
von Engeln vorzuſtellen verſuchen, ſo werden wir eher eine
größere als eine geringere Conſtanz der Moralſtatiſtik er—
warten, obgleich und weil wir dabei ein höheres Maaß
von Willensfreiheit vorausſezen müßten. Das ſtttliche
375
Ideal weist auf eine ſtetige Harmonie der Kräfte hin und
deren Formen werden weit weniger auseinanderliegen als
die der Disharmonie.
Schließlich aber liegt das Intereſſante der Moralſta—
tiſtik gar nicht in dem Nachweis ſolcher Regelmäßigkeiten
menſchlicher Willensacte, ſondern weit mehr in der zu Tag
tretenden ſtetigen Bewegung und Veränderung der Zahlen.
Jene Conſtanz iſt meiſt blos eine ſcheinbare; man erhält
ſie nur, wenn man vom Einzelnen abſehend, die Mannig—
faltigkeit der Erſcheinungen verwiſchend, auf die großen
Durchſchnittszahlen losgeht, in denen das Variable ver—
ſchwindet oder zurücktritt. In Wahrheit ſind die ſittlichen
Zuſtände und die Richtungen der menſchlichen Willensacte
in beſtändigem Fluß begriffen, in ununterbrochenem Fort—
ſchritt oder Rückſchritt. Von Jahrzehend zu Jahrzehend,
von Volk zu Volk, von Landſchaft zu Landſchaft, nach Ge—
ſchlecht, Alter und Stand zeigt eine genauere Beobachtung
eine ſtetige Veränderung. Die Selbſtmordfrequenz ſteigt
noch ununterbrochen; ſie iſt nach Volk, Confeſſion, nach
Ständen, Geſchlecht und Alter höchſt verſchieden, und keines—
wegs unter beharrenden Proportionen dieſer Faktoren unter
einander. Selbſt die ſo gern betonte Scala der Todes—
arten verändert ſich ſtetig und wird nach einigen Jahr—
zehenden ein ganz anderes Bild zeigen. Und welch bewegtes
Schauſpiel bieten uns ſchon die dürftigen Data der Reli—
gionsſtatiſtik! Wenn uns die Statiſtik in dieſen Dingen
nur die conſtanten Verhältniſſe zu erſchließen vermöchte,
wäre ſie mit der einmaligen Auffindung derſelben fertig
376
und abgeſchloſſen. Erſt indem fie uns dem leiſen, ſtillen
Schritt der Völker auf neue Bahnen nachzugehen lehrt,
weiſt ſie uns mit ſicherem Finger auf die wahren Zeichen
der Zeit, die ſich ſonſt in dem Gewühl verworrener Erſchei—
nungen ſo leicht auch dem aufmerkſameren Blick verbergen.
Solche Veränderungen laſſen ſich nur als Maſſen—
wirkungen einer durch Individuen vermittelten, geiſtigen
Bewegung denken, und haben den weiten Spielraum indi—
vidueller Eigenart und Entwicklung zu ihrer unabweisbaren
Vorausſezung. Bei unfreien Weſen wären ſie gar nicht
denkbar.
Pſychologiſch bedeutſam und überraſchend ſind ohne
Zweifel jene viel erwähnten Regelmäßigkeiten der Moral-
ſtatiſtik, wie ſie am lehrreichſten in dem ſtatiſtiſchen Muſter—
kapitel von den Selbſtmordfällen, in dem Antheil der Ge—
ſchlechter, der Altersſtufen, der Nationalitäten, Confeſſionen,
Motive, Jahreszeiten und Todesarten zu Tag treten. Aber
die anſpruchsvollen Worte von Geſez und Nothwendigkeit
ſollte man dabei nicht ſo leicht in den Mund nehmen, wo
man nur von phyſiologiſchen Reizen oder pſychologiſchen
Diſpoſitionen reden könnte. Man nenne uns nur auch ein
einziges Geſez, das die ſogenannte Moralſtatiſtik ſchon ge⸗
funden hätte! Ihr auch ſo noch großes Verdienſt beſteht
nur darin, daß ſie gewiſſe Cauſalzuſammenhänge, theils
phyſiologiſchen, theils pſychologiſchen Inhalts, die an ſich
zu vermuthen und verſtändlich waren, empirisch feſtgeſtellt
und genauer begrenzt hat, daß ſie die thatſächlichen, ſitt—
lichen Zuſtände der Völker und Zeitalter durch das Mittel
377
der Maſſenbeobachtung ficherer und umfaſſender blos legt,
als dieß mit den unzureichenden und ſubjectiven Wahr—
nehmungen des Einzelnen möglich war.
Das Problem, auf das die Moralſtatiſtik führt, iſt nur
auch wieder die Wechſelwirkung zwiſchen der Geſellſchaft
und dem Einzelnen, das complicirte Verhältniß des Schie—
bens und Geſchobenwerdens. Mit der metaphyſiſchen Frage
über die menſchliche Willensfreiheit, hat ſie nichts zu ſchaffen.
Und jo muß ſchließlich auch der Statiſtiker wieder die
Worte des brittiſchen Dichters gelten laſſen:
„Das iſt die ausbündige Narrheit dieſer Welt, daß,
wenn unſer Glück krankt, wir die Schuld unſerer Unfälle
auf Sonne, Mond und Sterne ſchieben, als wenn wir
Schurken wären durch Nothwendigkeit, Narren durch ſinn—
liche Einwirkung, Schelme, Diebe und Verräther durch die
Uebermacht der Sphären und Alles, worin wir ſchlecht ſind,
durch göttlichen Anſtoß.“
5. Furcht und Mitleid in der Tragödie.
Warum iſt die Tragödie eine Katharſis, eine Befrei—
ung von Furcht und Mitleid? warum will ſie uns gerade
von dieſen beiden Affekten befreien, nicht auch von Haß,
Zorn und Neid, von Kummer und Traurigkeit und andern
Stimmungen der Unluſt? Ich erinnere mich nicht, eine
befriedigende Antwort auf dieſe Fragen gehört zu haben.
Furcht und Mitleid ſind das natürliche, normale Er—
gebniß jeder unbefangenen und ernſten Weltbetrachtung.
Schon der kurzen und flüchtigen Lebenserfahrung drängen
378
ſich die unabſehbaren Uebel und Plagen in der Welt, der
vielfältige Jammer der Menſchheit, die Vergänglichkeit aller
Freuden und Güter und des Lebens ſelbſt, der Grund—
vorausſezung von allen anderen, überwältigend auf und
müſſen naturgemäß zwei Stimmungsformen in uns hervor—
rufen, Angſt und Bedauern, jene bei dem Gedanken an uns
ſelbſt und die uns von allen Seiten bedrohenden Gefahren,
dieſes bei dem Anblick fremder Leiden, welcher uns ſtets
geboten iſt. Furcht und Mitleid unterſcheiden ſich ſomit
von den übrigen Affekten dadurch, daß der Anlaß zu ihnen
beſtändig vorliegt, durch den täglichen Anblick des Welt—
laufs und Menſchengeſchicks gegeben iſt, während jene an—
dern Gefühle lebhafterer Unluſt nur zeitweiſe und vorüber—
gehend durch beſondere Anläſſe in uns erregt werden und
mit ihnen wieder verſchwinden. Es iſt ein Unterſchied, wie
zwiſchen chroniſchen und acuten Uebeln. Daraus erklärt ſich
auch eine andere Schwierigkeit. Gegen die Ariſtoteliſche
Deutung, daß die Tragödie durch Erregung von Furcht
und Mitleid die Befreiung von eben dieſen Stimmungen
bewirke, drängt ſich die Einwendung auf, warum denn,
da Furcht und Mitleid doch nur unangenehme Gefühle
ſind, ſie zuerſt erregt und dann wieder beſeitigt werden
ſollen, ob es denn nicht viel zweckmäßiger wäre, ſie lieber
gar nicht zu erregen, da es doch immer viel beſſer ſei, gar
nicht verwundet, als zuerſt verwun det und dann geheilt zu
werden. Furcht und Mitleid, Angſt und Bedauern ſind
als ſtändige Grundakkorde, als bereits vorhandene, durch
die allgemeine und tägliche Lebenserfahrung Jedem nahe—
379
gelegte und aufgedrungene Stimmungen, gleichſam als per:
manente Zugaben unſeres Selbſtgefühles, als ein ſtetiger
Druck auf unſer Herz zu denken. Der Dichter braucht
dieſe Stimmungen daher nicht erſt künſtlich zu erregen; er
knüpft an ſie an als an etwas auf dem Hintergrund unſe—
res geſammten Lebensgefühls immer wenigſtens latent
Ruhendes und nur durch Zerſtreuung, durch Arbeit oder
Leichtſinn vorübergehend Zurückgedrängtes.
Das Luſtſpiel und die heitere Dichtung ſchafft und er—
leichtert uns ſolche Zerſtreuung und umhüllt mit einem ge—
fälligen täuſchenden Schleier die wahre Geſtalt der Dinge.
Das Schauſpiel oder Epos mit glücklichem Ausgang zeigt
uns zwar ernſtere Vorgänge; es führt die Gefahren und
Nöthen des Lebens an uns herauf, leiht aber der menſch—
lichen Kraft den Sieg über die dunkeln Mächte und läßt
den Weltlauf halbverhüllt und in hoffnungsreicher Beleuch—
tung vor uns erſcheinen. Die tragiſche Dichtung erſt nimmt
Menſchenleben und Schickſal in ihrer wahren, unverſchleier—
ten Geſtalt, als die ſtändige Quelle von Angſt und Mitleid.
Aber doch will ſie uns nicht niederdrücken und betrüben,
ſondern aufrichten und erfreuen. Wie greift ſie dieß an?
Die Kur, welche der tragiſche Dichter mit uns vor—
nimmt, gleicht ganz dem Heilverfahren der Homöopathie:
similia similibus. Wie dieſe zur Heilung des Kranken
eben dieſelben Mittel anwendet, welche an dem geſunden
Körper das gleiche Uebel erſt erzeugen würden, nur in ver—
dünnten, unſchädlichen Doſen, die den natürlichen Heil—
proceß leichter und raſcher zum Ziele führen, ſo läßt der
380
Dichter das Furcht und Mitleid Erregende in einer Geſtalt
und in einem Maaße vor uns erſcheinen, welches die heilen—
den Gegenkräfte, die in unſerm Innern ruhen, entbindet
und belebt; er veranlaßt uns, in etwas leichterer Form
eben die Reihe von Vorſtellungen und Gefühlen zu durch—
laufen, durch welche er den Druck von ſeinem eigenen Herzen
zu löſen gewußt hat.
Man ſagt, das wichtigſte Mittel, bei den Soldaten
in der Schlacht die Furcht nicht Herr werden zu laſſen, ſei,
ſie ſtets in Aufmerkſamkeit und Thätigkeit zu erhalten,
während bei rein paſſiver und zuwartender Haltung im An—
geſicht der Gefahr die Angſt auch den Muthigſten überſchleiche.
In ähnlicher Weiſe verſezt uns der Dichter vor Allem
in geiſtige Action, indem er uns eine bedeutende Hand—
lung in ſpannender Reihenfolge der einzelnen Theile vor—
führt und damit dem Gefühl von Furcht und Mitleid, das
der Inhalt in uns wecken wird, das Luſtgefühl voller An—
regung und Beſchäftigung unſerer geiſtigen Kräfte zur Seite
gehen läßt. Das lebhafte Spiel der Phantaſie iſt an ſich
ſchon ein angenehmer Zuſtand, wie wir uns ja oft zum
bloßen Vergnügen recht traurige und ſchauerliche Situationen
ausmalen. Dazu tritt der Sinnenreiz für Auge und Ohr,
der Anblick edler Geſtalten, der Wohlklang ſchöner und
rhythmiſch gefügter Worte. Das Menſchenleben wird vor
unſern Blicken idealiſirt und verklärt, indem nur bedeutende
intereſſante Menſchen, die ihren Empfindungen den vollen
und beflügelten ſprachlichen Ausdruck zu geben, die ergrei—
fende Geberde beizugeſellen wiſſen, in den entſcheidendſten
381
Momenten ihres Lebensgangs vorgeführt werden. In der
Handlung iſt Plan und inniger Zuſammenhang; der Zu—
fall und das Unbedeutſame, das in der Wirklichkeit ſo brei—
ten Raum einnimmt, iſt ausgeſchieden. Es iſt, wie wenn
höhere, unſichtbare Mächte, von denen wir nur leiſe um—
fangen ſcheinen, das menſchliche Geſchick an verborgenen
Fäden lenkten. Das menſchliche Daſein erſcheint wie ein
Stück aus einer höheren Ordnung der Dinge, das die
Ahnung eines Zuſammenhangs mit allwaltenden Kräften
erweckt. Das Thun und Leiden des Einzelnen macht uns
den Eindruck eines allgemeinen, uns ſelbſt mitbetreffenden
Falles. Nicht blinder Zufall leitet unſer Geſchick; des
Einzelnen Daſein iſt nicht wie ein Strich in die Luft oder
ein Schlag ins Waſſer. Zwar wie dieſe Anknüpfung des
individuellen Lebens an die Weltordnung vorgeſtellt wird,
ob durch Göttererſcheinung, Orakelſprüche, durch Verflech—
tung von Schuld und Schickſal, durch blinde oder ethiſche
Kräfte, hängt an der Verſchiedenheit der Bildung nach Volk
und Zeitalter, aber in allen dieſen wechſelnden Formen
wird doch menſchliches Thun und Leiden in eine höhere
Region gerückt und das verzweiflungsvolle Gefühl der völ—
ligen Nichtigkeit und Verlorenheit von uns genommen.
Furcht und Mitleid verlaſſen uns nicht ganz, aber wir
fühlen uns geläutert und gehoben; wir ſtehen ſelbſtver—
geſſend vor einem Ausblick in weite, unabſehbare Gefilde,
die ſich einen Augenblick in ahnungsvoller Beleuchtung vor
uns eröffnen. Die Furcht iſt wie im Hochgebirg oder
Meeresſturm durch die Erhabenheit des Bildes, den Schauer
382
der Ehrfurcht verklärt und das Mitleid, ein an ſich weicherer
und minder aufregender Affekt, iſt in dem verſöhnenden
Abſchluß ſanft ausgeklungen.
Damit ſoll keine Auslegung der vielgedeuteten Ariſto—
teliſchen Worte: Zozw olv zoaywdie ulunoıs at ο
onovdaiag — di E ον⁰ , POßov 7rEgalvovoa nv av TOLV-
ıov nesInuceov zaIegoev”) gegeben werden, aber es läßt
doch vielleicht den Grund, warum gerade Furcht und Mit-
leid eine ſo hervortretende Rolle in dem Begriff der Tra—
gödie ſpielen, verſtändlicher erſcheinen.
6. Zu Hermann und Dorothea.
Die deutſche Literatur kennt keine vollendetere und
tadellojere Dichtung als Göthes Hermann und Dorothea.
Von allen Seiten ſtimmt die Kritik, ſelbſt die ſonſt gegen
Göthe eingenommene, in den Preis dieſes herrlichen Werkes
ein. Sogar die Hexameter, an denen die ſtrengere Theorie
der Neueren ſo Vieles auszuſezen hat, laſſen ſich mit Er—
folg vertheidigen und nur einzelne derſelben, in welchen der
Dichter ſeine eigenen Grundſäze außer Acht gelaſſen hat,
müßten preisgegeben werden. Am allerwenigſten anfecht—
bar erſcheint die realiſtiſche Wahrheit der Handlung und
Schilderungen. Dennoch iſt es gerade dieſe Seite, gegen
welche ich einige kleine Einwendungen vorzubringen habe,
*) Eine zugleich interpretirende Ueberſezung wäre etwa: Die Tra-
gödie iſt eine Nachbildung einer ernſten und bedeutenden Handlung —
ſie bewirkt durch die Erweckung von Furcht und Mitleid eine Ent—
laſtung des Gemüths von dem Druck eben dieſer Stimmungen.
383
von denen ich mich nicht erinnere, ſie anderswo gefunden
zu haben.
Die Mutter erzählt, es ſei an einem Montag Morgen,
den Tag nach dem großen Brand, vor nun zwanzig Jahren
geweſen, daß der Vater ihr ſeine erſte Liebeserklärung ge—
macht habe. Hiernach könnte Hermann kaum über 19 Jahre
alt ſein. Ein 19jähriger Hermann aber iſt ein Unding,
eine unerträgliche Vorſtellung. Dem 19jährigen Sohn ge—
genüber können die Eltern noch nicht ungeduldig geworden
ſein, daß er ſäume, eine Tochter ins Haus zu führen; in
ſeinem Munde wäre jenes ſich ſchwer aus gepreßter Bruſt
losringende Geſtändniß an die Mutter, „er entbehre der
Gattin“, nur komiſch. Wir dürfen ihn nicht als angehen—
den, ſondern als fertigen, auf dem Höhepunkt jugendlicher
Kraft und Schönheit angelangten Jüngling denken. Es
ſchien die Thüre zu klein, die hohen Geſtalten einzulaſſen.
Hermann lenkt die Hengſte, die er als Fohlen gekauft
und eingefahren hatte. Er darf auch nicht jünger ſein als
Dorothea, die doch als in der vollſten Blüthe jungfräulichen
Alters ſtehend zu denken iſt, und ſchon einmal verlobt war.
Es iſt unzweifelhaft, daß Göthe keinen 19jährigen
Hermann vor Augen hatte, ſondern, wenn er überhaupt
an ein beſtimmtes Alter dachte, einen um etwa 5—6 Jahre
älteren. Da es von einer Frau immer ein wenig unüber—
legt iſt, die Dauer ihrer Ehe kürzer anzugeben, als das
Alter ihres erſten Kindes ſchließen ließe, ſo können wir
hier eben nur damit helfen, daß es mit jenen 20 Jahren
nicht ſo ſtreng und wörtlich zu nehmen ſei. Und dieß
384
erklärt ſich dann wieder daraus, daß weitaus die meiſten
Menſchen ſich bei Zahlen, wo ſich kein perſönliches Inter—
eſſe daran knüpft, gar nichts ſo Beſtimmtes zu denken und
nicht damit zu rechnen pflegen. Auch Göthe hatte, wie die
meiſten Dichter, nur einen ſchwach entwickelten Zahlenſinn.
Noch ein anderer Anachronismus von eigenthümlicher
Art findet ſich in dem Gedichte. Indem die Mutter durch
den Garten, Weinberg und das Feld geht, um den Sohn
zu ſuchen, erfreut ſie ſich an der Fülle der Trauben, die
kaum ſich unter den Blättern verbergen, der Gutedel und
Muscateller, darunter der röthlich blauen von ganz beſon—
derer Größe; gleich darauf ſchreitet ſie durch die wogenden
Saaten des nickenden Korns, deſſen Erndte am folgenden
Tag beginnen ſoll.
Korn auf den Halmen und gefärbte, ausgewachſene
Trauben fallen aber nicht in Eine Zeit des Jahres zu—
ſammen. Wenn die Frucht geſchnitten wird, ſind die Beeren
der Trauben noch klein und grün und von den Blättern
bedeckt; nur der Kenner vermag ſchon an Holz und Blatt
die Sorten zu unterſcheiden. Die genannten Sorten ge—
hören nicht zu den früh reifenden; die Muscateller werden
nur in den beſſeren Jahren und Lagen ganz reif. Wo wir
die vier Jahreszeiten gezeichnet oder gemalt finden, hat der
Sommer die Garben, der Herbſt die Trauben zum Emblem;
hier werden die Gaben von Ceres und Bacchus von der
Natur neben einander geboten.
Wer im Wein- und Rheinland aufgewachſen iſt, wie
Göthe, weiß das wohl, daß die rothblauen Muſcateller nicht
385
vor dem September zu ſehen und nie gleichzeitig mit dem
ſchnittreifen Korn ſind. Hat nun der Dichter hier wiſſent—
lich oder unwiſſentlich gehandelt und wäre es erlaubt, die
charakteriſtiſchen Kennzeichen der Jahreszeiten in Eine An—
ſchauung zu vermengen? Ich glaube Lezteres verneinen zu
müſſen und ſchließe daraus, daß auch von Seiten des
Dichters keine Abſicht, ſondern ein Verſehen vorliegt, das
um ſo entſchuldbarer iſt, als die Ueberſchreitung ſich inner—
halb mäßiger Grenzen hält und von den Wenigſten bemerkt
oder als Störung empfunden wird. Göthe war zur Zeit
der Abfaſſung ſchon mehr als 20 Jahre von der Zone des
Weinbaus entfernt. In der Abſicht, aus ſeiner Erinnerung
ein eindruckvolles Geſammtbild von der Fülle und dem
Segen des ſchönen Rheingaus zu geben, bemerkte er die
leichte Verſchiebung der Grenzen und Merkmale der Jahres—
zeiten nicht, die ſeine Phantaſie ſich geſtattet hatte.
Dieſe beiden Anachronismen benehmen dem Werth des
Gedichts nicht das Allermindeſte, aber Fehler ſind es immer—
hin, wenn auch kleine, und dieß ſcheint mir beſonders in
Einer Beziehung bemerkenswerth. Göthe iſt der welt- und
naturkundigſte aller Dichter; ſeine Werke halten, wie die
keines zweiten, die Prüfung vom Geſichtspunkt der reali—
ſtiſchen Wahrheit und ſinnlichen Vollziehbarkeit des Darge—
ſtellten aus. Er ſtand, als er Hermann und Dorothea
ſchrieb, auf dem Höhepunkt aller ſeiner geiſtigen Kräfte;
der Glanz und die Friſche der jugendlichen Phantaſie und
Sprachgewalt war dem 47jährigen noch nicht entſchwunden,
das Maaß, die Formſicherheit, die Welterfahrung und
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 25
386
Weisheit des reiferen Alters hatte ſich ſchon eingeſtellt.
Es war die Zeit ſeiner höchſten Leiſtungen. Hermann
und Dorothea iſt auch raſch in Einem Zuge entſtanden.
Seine Freunde kannten das Gedicht ſchon vor dem Drucke,
darunter Freunde wie Schiller und Humboldt. Es hat
unter des Dichters Augen noch eine Menge Auflagen erlebt.
Entweder bemerkte Niemand jene Fehler oder theilte ſie
ihm Niemand mit oder fand er es nicht der Mühe werth
eine Correctur vorzunehmen. Der einzige Schluß, den ich
ziehen will, iſt: ſo das am grünen Holze geſchieht, was
ſoll am dürren werden? Wenn unter den denkbar günſtig—
ſten Umſtänden einer dichteriſchen Compoſition gleichwohl
derartige Widerſprüche und Mängel ſich dauernd einniſten
können, was müſſen wir dann für möglich halten in Schrift—
werken oder Dichtungen, die noch von jugendlichen, minder
welterfahrenen Autoren verfaßt, in auseinanderfallenden
Zeiträumen begonnen und vollendet wurden, aus dunkleren
Zeitaltern ſtammen, dem Verfaſſer nie gedruckt und über—
ſichtlich vor Augen lagen? Es iſt unglaublich, was für
unverträgliche Dinge auch in dem Kopf der intelligenteſten
Menſchen neben einander ruhig ihren Plaz behaupten und
wie unzähligemal wir im Leben, in der Wiſſenſchaft und
in der Dichtung die logiſchen Geſeze der Identität und des
Widerſpruchs: A iſt A und nicht non A, verlezen. Die
Philologen und Interpreten beachten dieß nicht genug; ſie
ſchließen zu leicht und raſch auf falſche Lesarten, Emenda—
tionen, Verſchiedenheit der Verfaſſer, oder ſuchen ſie das
Widerſprechende durch künſtliche Mittel in Einklang zu
bringen. Ein 19jähriger Hermann zerſtört, ernſthaft ge-
nommen, unfehlbar das ganze Gedicht, und doch ſteht er
da, ſchwarz auf weiß, unanfechtbar, aber Niemand denkt
daran, Niemand nimmt den Dichter beim Worte. Bei dem
andern Fehler bin ich möglicher Weiſe der erſte, dem er
überhaupt aufgefallen iſt, und dieß auch nur gewiſſermaßen
aus zufälligen und individuellen Gründen, und doch iſt es
ein Fehler und zwar auf einem Gebiet, wo ſonſt Niemand
zuverläſſiger iſt als Göthe. Wenn ſo Etwas in einer
Dichtung des Alterthums ſtünde, würde man es längſt be—
merkt und gar Viel darüber geſchrieben haben.
7. Eintheilung der Univerſalgeſchichte.
Ob nicht die Hiſtoriker ſpäterer Generationen die dritte
Hauptepoche der Weltgeſchichte erſt mit dem 19ten Jahr—
hundert beginnen und die ganze Zeit von der Reformation
bis zur franzöſiſchen Revolution noch zum Mittelalter als
deſſen Schluß und Uebergangsperiode rechnen werden? Ge—
wiß iſt, daß ſich das I6te Jahrhundert mit dem 19ten,
wenn auch von dieſem erſt drei Viertheile abgeſchloſſen vor
uns liegen, an weltumgef ann Ereigniſſen gar nicht
vergleichen läßt. 5
Wohl ſind das Wiedererwachen der Wiſſenſchaften,
die Buchdruckerkunſt, die Entdeckungen neuer Länder und
Meere und die Kirchenreformation vier Grund- und Eck—
ſteine eines neuen Kulturbaues, vier Wegweiſer auf neue
Bahnen. Aber jener Bau ſelbſt ſtieg noch nicht in die
Höhe und kam nur da oder dort aus dem Boden heraus.
25 *
388
Oder läßt ſich jagen: die jungen Pflanzen jproßten zwar
kräftig aus dem Boden heraus, aber ſie vermochten doch
die alte, übermächtige Pflanzendecke nur an einzelnen Stellen
zu verdrängen und den Anblick der geſammten Fläche noch
nicht weſentlich zu verändern.
Das Wiederaufleben der Wiſſenſchaften kam zunächſt
nur der claſſiſchen Philologie, blos in vereinzelten, wenn
auch glänzenden Ausnahmen der Aſtronomie, Phyſik und
Philoſophie zu gut, während man an den Schulen über die
alten Methoden und Formen kaum hinauskam. Der Bücher—
druck konnte ſeine Wirkung in weiten Kreiſen noch wenig
entfalten, wenn die unendliche Mehrzahl der europäiſchen
Bevölkerung nicht leſen konnte, wenn die meiſten und faſt
alle bedeutenden Bücher lateiniſch geſchrieben wurden, wenn
die ſtrengſte Cenſur waltete und bei freimüthigen Aeuße—
rungen über religiöſe und bürgerliche Dinge Leib und Leben
auf dem Spiele ſtand. Die neuentdeckte Welt übt in den
nächſten Jahrhunderten die große Rückwirkung auf Europa,
die man bei den erſten Nachrichten erwarten konnte, noch
nicht aus. Die Vermehrung des Vorraths an edlen Me—
tallen und die Ueberſiedlung einiger Kulturpflanzen ſind
das Bemerkbarſte. Handel und Verkehr haben zwar Straßen
und Emporien gewechſelt, aber an Umfang und Bedeutung
die ſchon früher von den italiſchen, flandriſchen und Hanſe—
ſtädten erreichte Stufe nicht weſentlich überboten. Der
Eröffnung der Oceane gieng die Verödung des Mittel—
meeres durch die Türkenherrſchaft zur Seite.
Die Reformation, die bedeutendſte dieſer Veränderungen
389
und die noch unerſchöpfte Quelle einer neuen Ideenwelt,
trat zunächſt doch nur als ein Zurückgreifen auf die vor—
mittelalterlichen Anſchauungen auf. Nach glänzendem An—
lauf gerieth die Bewegung ſowohl nach ihrer inneren als
äußeren Entwicklung ins Stocken. Das Dogma erſtarrte
zu einer neuen Scholaſtik und ſchweren Feſſel der Geiſter.
Der kirchliche Zwieſpalt brachte das deutſche Volk an den
Rand des Verderbens. Nur einem Theil der germaniſchen
Völker, hauptſächlich dem nördlich wohnenden, gelang es,
den neuen Glauben zu behaupten; im Süden, wie bei den
romaniſchen Völkern wurde er wieder unterdrückt; die jla-
viſchen Stämme wurden von der Bewegung kaum berührt.
Die Karte von Europa erlitt nur wenige Verände—
rungen; daß der Islam nach dem Verluſt der weſtlichen
Halbinſel die öſtliche gewann, war die wichtigſte geweſen.
Die Zerſplitterung und Ohnmacht des Centrums von Eu—
ropa, Deutſchland und Italien, iſt noch im Wachſen; der
moderne Staatsgedanke erwacht, aber nur in der abſtoßen—
den Durchgangsform des fürſtlichen Abſolutismus. Im
Uebrigen herrſcht der ganze Feudalismus des Mittelalters,
die Abgeſchloſſenheit der Stände, die Niederhaltung der
arbeitenden Klaſſen, Leibeigenſchaft, Hörigkeit und Frohn—
dienſt des Landmanns nach dem Mißlingen des im Bauern—
krieg unternommenen Anlaufs in verſchärftem Maße fort.
Ackerbau und Handwerk bewegen ſich im feſten Geleiſe der
alten Betriebsformen. Und wie noch bis in dieſes Jahr—
hundert herein die Städte ganz ihr altes Ausſehen bewahren,
mit hohen Mauern und tiefen Gräben, mit feſten Thoren
390
und Thürmen, „mit dem Druck von Giebeln und Dächern,
mit der Straßen quetſchender Enge,“ auch noch mit Galgen,
Pranger und Halseiſen, ſo reicht der wirkliche wie der
figürliche Zopf der alten Zeit bis in die Tage unſerer
Großväter.
Wenn es erlaubt iſt, den Beginn des 19ten Jahrhun—
derts noch auf 1789 zurückzudatiren, welche Fülle von
großen Ereigniſſen, welch' gewaltige und tiefgreifende Um—
geſtaltungen aller Verhältniſſe enthält dieſer Zeitraum von
kaum dritthalb Generationen! Es giebt in der That in
der ganzen Weltgeſchichte keine Epoche, in welcher ſich für
einen ſo weiten Kreis von Völkern und Staaten in gleich
kurzer Zeit ein gleich großer Wechſel ihrer Zuſtände voll—
zogen hätte. Der Untergang des römiſchen Reiches und
die Gründung der germaniſchen Heerkönigthümer hat die
Karte von Europa, den Schauplaz der Geſchichte, den Völker—
und Staatenbeſtand wohl weit ſtärker verändert, aber auf
Koſten des ganzen bis dahin angeſammelten Bildungscapi—
tals. Die Kulturgeſchichte aber hat ſicherlich dem 19ten
Jahrhundert nichts Aehnliches an die Seite zu ſtellen. Jezt
erſt giengen die früher gelegten Keime zu vollen Saaten
auf und überwuchſen nach allen Richtungen die alte Pflanzen—
decke. Amerika, der Bücherdruck, die Befruchtung der Wiſſen—
ſchaften und Künſte durch die klaſſiſchen Studien kamen
erſt zu ihrer vollen Bedeutung; das proteſtantiſche Princip
der freien Individualität und Forſchung auf Grundlage
der ſittlichen Ordnungen rang ſich aus den alten Feſſeln
los. Dazu tritt nun aber eine ganze Reihe neuer Errungen—
394
ſchaften, die jenen vier nhezkichen des 16ten e
ganz ebenbürtig zu achten ſind.
Es muß hier eine flüchtige Erinnerung an die Fort—
ſchritte der Technik durch Dampfkraft, Maſchinenweſen,
Eiſenbahnen, electriſchen Telegraphen, Photographie genügen;
an den großartigen Aufſchwung aller Natur- und Geſchichts—
wiſſenſchaften, ſodann an die nationale Einigung von zwei
bisher durch Zerſplitterung ohnmächtigen großen Kultur—
völkern im Herzen von Europa.
Ein im ſpeciellſten Wortſinn univerſal-geſchichtliches
Moment iſt die Ausbreitung europäiſch-chriſtlicher Herrſchaft,
Geſittung oder wenigſtens Einwirkung auf den geſammten
Erdkreis, durch die Entdeckung und Coloniſation eines fünften
Welttheils, durch die Gründung und Ausbreitung des brit—
tiſch-indiſchen Reiches, die Aufſchließung Hinteraſiens, den
Verfall der Osmanenherrſchaft, die Entwicklung Rußlands
zur europäiſch-aſiatiſchen Großmacht. Das 16te Jahrhundert
eröffnet eine Epoche blos für denjenigen Theil der germa—
niſchen Race, der die Reformation angenommen hat, und
es iſt im Grund nur eine proteſtantiſche Anſchauung, daran
ein neues Weltalter zu knüpfen, da die übrige Welt da—
durch nicht oder wenig berührt wurde. Das gte Jahr—
hundert erſt hat eine den ganzen Erdkreis umfaſſende Be—
wegung der Macht- und Kulturverhältniſſe ins Leben ge—
rufen und die ſeitherige Geſchichte eines Theils der cauca—
ſiſchen Raſſe zu einer wirklichen Welt- und Menſchheits—
geſchichte zu erweitern den kräftigſten Anfang gemacht.
Aber auch die Bedeutung dieſes Punktes überragt noch
392
ein anderer, nemlich die Gründung des modernen Rechts—
und Humanitätsſtaats auf der Grundlage allgemeiner Men—
ſchen- und Bürgerrechte, die Nivellirung der Geſellſchaft
durch Beſeitigung der trennenden Schranken zwiſchen den
Ständen, die Emancipation und Hebung der unteren Ge—
ſellſchaftsklaſſen, die Bildung eines neuen Standes, der freien
Lohnarbeiter, die Aufhebung der Sclaverei in dem Herr—
ſchaftsgebiete der chriſtlich europäiſchen Völker.
Die ſocialen Veränderungen ſind aber überall weitaus
die wichtigſten; erſt durch dieſe leztgenannten Momente
wurde das mittelalterliche Staats- und Geſellſchaftsweſen
ſowohl im Princip als in der Wirklichkeit beſeitigt und der
entſcheidende Schritt in eine ganz neue Aera gethan.
Wohl kennt die Entwicklung der Völker im Allgemeinen
keine ſcharfen Ab- und Einſchnitte, da ſich der Strom der
cauſalen Verkettungen unaufhaltſam fortwälzt und die
Kanäle nach vor- und rückwärts niemals fehlen können,
aber wie auch die Ströme bald raſcher bald langſamer fließen
und vorgelagerte Hinderniſſe zuerſt zu durchnagen und dann
zu durchbrechen haben, um ſich nun mit breiter Fluth über
eine neue und veränderte Landſchaft zu ergießen, ſo hat
auch die Geſchichte der Menſchheit ihre Stockungen, Strom—
ſchnellen und Durchbrüche, welche für ihre Betrachtung die
natürlichen Stationen und Markſteine bilden müſſen.
Den Charakter eines ſolchen gewaltſamen Durchbruchs
hat aber kaum irgend ein geſchichtliches Ereigniß in gleicher
Weiſe wie die franzöſiſche Revolution. In ihrem rapiden
Verlauf, ihren erſchütternden Rückſchlägen nach allen Seiten
und bis in entlegene Welttheile, in der Tragweite ihrer
Tendenzen ift fie eine Geſchichtsſtation erſten Rangs und
hat mit den mittelalterlichen Gedankenkreiſen noch in ganz
anderer Weiſe aufgeräumt als die Reformation.
Aber es läßt ſich nun freilich ſagen: auch wenn dieß
Alles zuzugeben und die Zeit vom 16ten Jahrhundert bis
zur franzöſiſchen Revolution wirklich nur die Einleitung und
Vorſtufe der Neuzeit wäre, ſo ſei dieß doch noch kein Grund,
ſie dem Mittelalter zuzuweiſen. Es liege vielmehr im
Weſen einer Uebergangsperiode, daß man ſie mindeſtens
ebenſogut als erſtes Glied des Neuen wie als Schlußglied
des Alten betrachten könne; ſie ſei ein Janus, der vor- und
rückwärts blicke, den Ein- und Ausgang andeute, aber doch
in erſter Linie als das Symbol des Eintritts über die
Schwelle eines Neuen gelte.
Die Geologen haben in ihrer wunderlich aus allen
Gebieten und Sprachen zuſammengeleſenen Terminologie
innerhalb der Tertiärformation eine eocäne, miocäne, plio—
cäne Periode unterſchieden, je nachdem die neuen Formen
(Ae) erſt im Aufgang (ng) begriffen oder gegen die
älteren Gebilde noch die Minderheit (s) oder aber be—
reits das Ueberwiegende, die Mehrheit (rrAeio) find. In
ähnlicher Weiſe könnte man das 16te Jahrhundert eocän,
das 17te und 18te miocän und das 19te pliocän, wo nicht
pantocän, zu nennen verſucht ſein. Aber der geologiſche
Vorgang würde dann dafür ſprechen, es bei der alten Ein—
theilung zu belaſſen und das Tertiär oder die dritte welt—
geſchichtliche Epoche mit dem Eocänen zu beginnen.
394
Allein die Hiſtoriker folgen auch ſonſt nicht dieſem
mehr ſcientifiſchen als der Wirklichkeit adäquaten Einthei—
lungsprinciv. Das Entſcheidende für den Charakter einer
Epoche iſt ſtets das darin Vorwaltende, nicht der Keim des
Zukünftigen. Die Entſtehung des Chriſtenthums, das Auf—
treten der germanischen Stämme waren unzweifelhaft eocän
und die nächſtfolgenden Jahrhunderte miocän. Dennoch
ſchließen wir das Alterthum und beginnen das Mittelalter
erſt, als das Pliocän eintrat und jene beiden Factoren
einer neuen Aera zu den herrſchenden Mächten ihres Zeit—
alters erſtarkt waren. Die ganze Oekonomie der Geſchichts—
darſtellung müßte aus Rand und Band gehen, wenn man
dieß Princip, jedes Zeitalter als eine Gegenwart zu ver—
ſtehen, fallen ließe.
Die Dinge ſind und bleiben allerdings, was ſie ſind,
wie auch der Hiſtoriker ſeine Linien und Striche darin ein—
zeichnen mag, ungefähr wie wir von dem Wendekreis des
Krebſes und Steinbocks, von den Länge- und Breitegraden
unſerer Landkarten nichts bemerken, wenn wir an Ort und
Stelle kommen. Aber wie wir uns ohne dieſe Kreiſe auf
unſerem Planeten nicht orientiren könnten, ſo beruht auch
alles Verſtändniß der Geſchichte unſeres Geſchlechts auf
einer richtigen Gruppirung des Stoffs. Und es iſt nicht
gleichgiltig, ob wir, die an den Aufgaben der Gegenwart
zu arbeiten haben, uns dabei bewußt ſind, in einem der
größten Wendepunkte und Haupteinſchnitte der Weltgeſchichte,
wie ſie nur nach vielen Jahrhunderten wiederkehren, in
einem der bedeutungsvollſten unter allen Zeitaltern zu leben
und zu wirken.
8. Strauß.
Chriſten ſind wir nicht mehr; Religion brauchen wir
nicht; die Welt erklären wir für die Welt, indem wir ihr
Titel und Rang des Univerſums verleihen; unſer Leben
ordnen wir von dem Standpunkt eines wohlhabenden, ge—
lehrten und kunſtſinnigen Deutſchen aus dem Bismark'ſchen
Zeitalter und all' dieß zuſammen nennen wir dann den
neuen Glauben.
Göthe hatte vielleicht doppelt Unrecht, ſowohl wenn er
von dem lyriſchen Dichter Menſchengeſchick bezwingenden
Gehalt fordert, als wenn er dieſen gerade in den Uhland—
ſchen Dichtungen ganz vermißte; wohl aber darf man von
dem, was ſich für einen neuen Glauben ausgiebt, erwarten,
daß es uns das Menſchengeſchick verſtehen und bezwingen
lehrt. Strauß führt das Volk aus dem Egypterland, aber
nur um ihm die Sandwüſte dafür als dauernden Aufent—
halt anzuweiſen. „Was fruchtbar ift, allein iſt wahr.“
Wenn ein Gefangener in ſeiner Thurmzelle einen ein—
zigen ſchmalen Spalt hat, durch welchen er etwas Licht und
Luft empfängt, vorüberziehende Wolken und Sterne, einige
Blätter und Aeſte eines Baumes ſieht, und gerne wiſſen
möchte, wie die Rundſicht des Thurmes im Ganzen ſich
ausnehme, wird dann wohl ſeine Sehnſucht geſtillt ſein,
wenn ihm der Wärter etwa den Aufſchluß giebt: das, was
man von der Plattform des Thurmes ſieht, nennt man die
396
Umgegend oder das Panorama? Viel mehr als dieß iſt
es nicht, was uns Strauß über das Univerſum mittheilt
und genau dasjenige, um was es mehr iſt, ſind haltloſe
Vermuthungen. Er hatte Großes und Glänzendes als Kri—
tiker geleiſtet; als er nun aber zulezt ſelbſt mit der Fackel
voranſchritt und die alten Räthſel zu deuten unternahm,
da iſt er in faſt kläglicher Weiſe auch hinter billigen Er—
wartungen zurückgeblieben.
Die alten Hegelianer, wenn ſie auch dem Meiſter nicht
treu geblieben ſind, haben doch vielfach mit gar zu vor—
nehmer Geringſchäzung die neueren philoſophiſchen Arbeiten
ignoriren zu dürfen geglaubt. Syſteme, die das Ganze der
Welt zu erklären verſuchen, werden allerdings nicht mehr
aus dem Aermel geſchüttelt, wie es die Kant'ſchen Epigonen
Fichte, Schelling und Hegel mit der Zuverſicht vormaliger
Theologen thun zu dürfen glaubten. Aber in treuer Ge—
dankenarbeit, mit Geiſt und Scharfſinn, mit weit ſoliderer
Logik und mit größerer Beſcheidenheit ſind Manche den
Theilfragen und einzelnen Grundproblemen der Metaphyſik
näher getreten. Wenn Strauß von dem Notiz genommen
hätte, was nach Hegel in der Erkenntnißlehre, der Logik
und Pſychologie, in der Kritik der materialiſtiſchen Theorieen
geleiſtet worden iſt, hätte er ſein Buch vom neuen Glauben
nicht ſo ſchreiben können und ſich gegenüber der Frage: wie
erklären wir die Welt? weit vorſichtiger und reſignirter
verhalten müſſen. Er hat vergeſſen, um welcher Eigenſchaft
willen das Delphiſche Orakel Socrates den Weiſeſten unter
den Hellenen genannt hat.
397
Strauß hat den Plaz, den er in der Litteratur und
Kulturgeſchichte des 19ten Jahrhunderts einzunehmen be—
rufen war, durch ſein leztes Buch ſelbſt um mindeſtens Eine
Stufe herabgedrückt. Wie es einen Schatten auf die Lauf—
bahn des Göz von Berlichingen warf, daß er noch der
Hauptmann von aufſtändiſchen Bauern, von Metzler und
Conſorten werden mußte, ſo verdunkelte Strauß den Glanz
ſeiner früheren Leiſtungen, indem er noch bei der Bande
der Materialiſten eine Führerſtelle einnahm.
Es wird aber in der That ſchwer ſein, Strauß den
richtigen Plaz in der deutſchen Litteratur anzuweiſen. Denn
unter den eigentlichen Wiſſenſchaften wird ihn keine zu den
Ihrigen rechnen wollen. Die Philoſophen werden ſein
leztes Buch nur als das Werk eines Dilettanten, nicht als
Legitimation für den Eintritt in den Saal der Meiſter
gelten laſſen.
Die Hiſtoriker werden ihm auch kein volles Bürger—
recht, ſondern nur die Stelle eines Gaſtes oder Beiſizers
einräumen wollen. Die blos verneinende Kritik hat für
den Hiſtoriker nur untergeordneten Werth; daß die vier
Evangelien, ſo wie ſie lauten, nicht wirkliche Geſchichte
geben, dafür brauchte dieſer gar keine umſtändlichen Beweiſe.
Wie die Sache aber wirklich geweſen und geworden iſt,
darüber weiß Strauß nicht viel Erhebliches zu ſagen. Die
ächte poſitive, hiſtoriſche Phantaſie, die ſchöpferiſche Kritik
und Kombinationsgabe, die aus zerſtreutem und verwirren—
dem Material ein Ganzes ordnend aufbaut, tritt bei Renan,
wenn auch in Begleitung unſoliderer Beigaben, viel ſtärker
398
hervor als bei Strauß. Die Geſchichte des Urchriſtenthums
wurde durch dieſen kaum gefördert; an den Unterſuchungen
der Baur'ſchen Schule hat er ſich kaum ſelbſtändig be—
theiligt. So bleiben die biographiſchen Denkmale, kleine
Kunſtwerke auf der Grundlage ſolider Quellenforſchung und
Kritik, doch vom Standpunkt des Hiſtorikers nicht von grö—
ßerer Tragweite. Die Bedeutung von Ulrich Hutten wird
überſchäzt und ſeine Geſtalt iſt nicht in den geſchichtlichen
Hintergrund eingezeichnet, auf dem ſie ganz verſtändlich
würde; Friſchlin war ein jo dickes und gutes Buch gar
nicht werth. Der Reiz und Werth dieſer Schriften liegt
anderswo als in der Ausbeute für die hiſtoriſche Forſchung.
So bleiben nur die Theologen übrig. Aber ſollten
dieſe nicht vor allen Andern das Recht haben, denjenigen
aus ihren Reihen zu weiſen, der ihnen ſagt: Ihr habt gar
keine Wiſſenſchaft; euer Fundament, die evangeliſche Ge—
ſchichte, iſt eine Sammlung von Sagen und Mythen; die
Dogmen, die ihr darauf gebaut habt, ſind Hirngeſpinnſte;
ihre Geſchichte iſt ein Proceß allmäliger Zerſezung; ſie
löſen ſich ſchließlich in einige allgemeine metaphyſiſche und
ethiſche Säze auf, die beſſer und leichter auf anderem und
directem Wege zu gewinnen ſind? Dennoch werden die
Theologen Strauß nicht von ſich abſchütteln können. Auf
ihrem Gebiet liegen nun einmal ſeine Hauptwerke; ſie waren
nicht zu ignoriren, und gaben den Anſtoß für eine neue
und große Bewegung der Theologie.
Zwar dem blinden Offenbarungsglaubigen, der ſeine
Vernunft zum Voraus gefangen giebt, konnte die Kritik des
399
Lebens Jeſu nichts anhaben, wie es andrerſeits für den
modernen Denker, dem jeder Wunderbericht ſchon als ſol—
cher unglaublich erſcheinen muß, wenig Werth hat, die ein
für allemal erkannte Wahrheit an hundert Einzelfällen mit
gleichen oder ähnlichen Argumenten nachgewieſen zu ſehen.
Auch die Kritik des alten Rationalismus, der die Wunder
durch exegetiſche Künſte wegbringen wollte, war eine gar
zu leichte Aufgabe. Aber vernichtend war dieſe Kritik für
die Illuſionen derjenigen, welche den Zwieſpalt zwiſchen
dem alten Glauben und der modernen Denkweiſe ver—
tuſchen, durch kleine Conceſſionen, künſtliche Interpretationen,
nebelhafte Theoreme aus der Welt ſchaffen zu können glaub—
ten, für die Steudel, Olshauſen, Tholuk, Eſchenmayer u. ſ. w.
Hier wurden alle Ausflüchte und Winkelzüge ſchonungslos
aufgedeckt; das aut aut, die Alternative, entweder mit dem
Glauben Ernſt zu machen oder mit dem Denken, wurde
ſchärfer und unausweichbarer als jemals jeder Schule wie
jedem Einzelnen vor die Seele geſtellt.
Daß Bücher, welche an ſich Unglaubliches berichten,
ſich eben dadurch als unglaubwürdig und ungeſchichtlich
erweiſen, darüber waren ſchon in unſerer großen Litteratur—
epoche weder Dichter noch Denker, weder Leſſing, Göthe,
Schiller, noch Kant, Fichte, Schelling im Zweifel. Göthe
ſchreibt an Lavater: „Du hältſt das Evangelium, wie es
ſteht, für die göttlichſte Wahrheit; mich würde eine ver—
nehmliche Stimme vom Himmel nicht überzeugen, daß das
Waſſer brennt und das Feuer löſcht, daß ein Weib ohne
Mann gebiert und daß die Todten auferſtehen; vielmehr
400
halte ich dieß für Läſterungen gegen den großen Gott und
ſeine Offenbarung in der Natur“. Schiller ſagt von den
bibliſchen Schriften, daß er in allem, was hiſtoriſch iſt, den
Unglauben zu jenen Urkunden gleich ſo entſchieden mit—
bringe, daß ihm die Zweifel an einem einzelnen Factum
noch ſehr raiſonnabel vorkommen. Auch der Mythusbegriff,
auf deſſen Anwendung durch Strauß ſo großer Werth ge—
legt werden will, würde jenen Männern nichts Neues oder
nichts Erhebliches geſagt haben.
Allein für die Theologen waren dieß nur allgemeine
Behauptungen von Laien, die in den Augen des Fach—
manns keine Geltung haben. Strauß aber hat ſie nun
als Zunftgenoſſe mit der gründlichſten Gelehrſamkeit wie
mit den ſchärfſten Waffen der Logik durchgefochten und
keine Wahl gelaſſen, als entweder auf alle Kritik zu ver—
zichten oder ihr bis ans Ende zu folgen *).
) Gerade weil das Leben Jeſu jo ganz auf theologiſchem Boden
ſtand und unter allen Umſtänden Kenntniß des Griechiſchen voraus—
ſezen mußte, war es um ſo unverſtändlicher, die neue Bearbeitung
„für das deutſche Volk“ beſtimmt zu ſehen. Ein gedrucktes Buch iſt
im Allgemeinen für diejenigen beſtimmt, die es leſen wollen, und
braucht dieſe nicht zu bezeichnen. Einſchränkende Zuſäze ſind wohl
gerechtfertigt, „für Kinder, für Jungfrauen, für Notariatskandidaten“,
oder auch wenn Schleiermacher ſagt: Reden über Religion für die
Gebildeten unter ihren Verächtern; aber die erweiternden Locktitel „für
Jedermann, für alle Gebildeten, und gar „für das deutſche Volk“
haben einen ſtörenden Beigeſchmack von Buchhändleranzeige und Re—
clame. Ob wohl in Frankreich auf einem Büchertitel pour le peuple
frangais ſtehen dürfte? Uebrigens hat auch „das deutſche Volk“ mit
dieſem Leben Jeſu nichts anzufangen gewußt, konnte daſſelbe nicht
verſtehen und hat es daher auch mehr gekauft als geleſen oder gar
begriffen.
401
Wenn ſein Werk über Dogmatik, obgleich noch gelehrter
und formvollendeter, in ſeiner Wirkung hinter dem Leben
Jeſu weit zurückblieb, ſo geſchah dieß, weil er hier aus
dem Kreiſe der Theologie ſchon ganz heraustrat, dem We—
ſen der Religion, in der er, Hegel folgend, nur eine trübere
Form des Wiſſens ſah, nicht gerecht wurde und den reli—
giöſen Gehalt der chriſtlichen Dogmen zu abſtracten Sätzen
verduften ließ.
Strauß ſpielt in der Entwicklung der Theologie un—
gefähr eine Rolle, wie Napoleon J. in der deutſchen Ge—
ſchichte. Obgleich ein Feind, hat er doch mit alten ver—
rotteten Formen aufgeräumt und den andern Theil ge—
nöthigt, neue Wege aufzuſuchen, um gegen ihn ſelbſt zu
Feld zu ziehen.
Freilich iſt die Aehnlichkeit damit zu Ende. Die theo—
logiſchen Befreiungskriege ſind nicht nachgefolgt. Vielmehr
trat in Folge der durch das Leben Jeſu angeregten Be—
wegung die verhängnißvolle Wendung ein, daß die prote—
ſtantiſche Theologie, die ſich bis dahin mit der Philoſophie
und deutſchen Wiſſenſchaft Hand in Hand fortentwickelt
und zu verſtändigen gewußt hatte, dieſen jezt gefährlich er—
ſcheinenden Umgang abbrach, ſich auf ſich ſelbſt zurückziehen
zu können glaubt, den Zwieſpalt mit der modernen Wiſſen—
ſchaft immer größer werden ließ, die Maſſe der gelehrten
und gebildeten Stände immer weiter von ſich entfernte,
und daß ſo auch die proteſtantiſche Kirche in eine ihrem
innerſten Weſen widerſtrebende, für alle Theile gefahrvolle
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 26
402
Entfremdung und Feindſchaft gegen die beiten Elemente
ihres Volkes und Zeitalters hineingezogen wurde.
Strauß aber, der hiezu den Anſtoß gegeben hatte,
und dann ſeinerſeits in eine immer feindſeligere Richtung
gegen die chriſtliche und gegen alle Religion gerieth, gab
ſeinen Plaz als Gelehrter eines beſtimmten Faches auf und
nimmt einen ſolchen nur noch in der allgemeinen Kultur—
und Litteraturgeſchichte in Anſpruch. In den ſchriftſtel—
leriſchen Tugenden, als Meiſter der Sprache und Darſtel—
lung, ſowohl im ernſten Schritt der Wiſſenſchaft, wie in
dem leichteren Geplänkel kleinerer Ausführungen, in der
Erzählung wie im Urtheil ſucht er ſeinesgleichen in un—
ſerer ganzen Litteratur. Wo iſt ein Schriftſteller, der in
ſo vielen Bänden auf jeder Seite friſch, lebendig, anregend
wäre, niemals langweilig, geſchmacklos oder unklar? Das
feinſte Sprachgefühl, die ſolideſte philologiſche Bildung und
eine dichteriſche Begabung, um die ihn manche, die ſich
Poeten nennen, beneiden dürften, begleiteten alle ſeine
ſchriftſtelleriſchen Leiſtungen. Sein Styl gleicht einem hellen,
ſprudelnden und perlenden Quellwaſſer, bei dem man überall
auf den klaren Grund ſieht. Die „unzeitgemäßen Betrach—
tungen“ werden mit ihrem kleinlichen Genergel an dem öf—
fentlichen Urtheil nichts ändern. Der Styl eines Schrift—
ſtellers iſt als Ganzes zu nehmen; das Geſchäft, da oder
dort Etwas mit rother Dinte anzuſtreichen, mag man
denjenigen Schulmeiſtern überlaſſen, die an der Correctur
ihrer Schülerhefte noch nicht genug haben. Die biogra—
phiſchen, publiciſtiſchen literargeſchichtlichen Arbeiten, ſowie
die kleinen Genrebilder gehören zu den Schmuckſachen der
deutſchen Litteratur. Die Streitſchriften über das Leben
Jeſu mögen nicht ohne das Leſſing'ſche Vorbild entſtanden |
ſein; ſie haben daſſelbe aber nicht nur erreicht, ſondern
übertroffen. Es mag heutzutag anſtößig und kezeriſch klin—
gen, aber in der Leſſing'ſchen Polemik tritt die Luſt an der
Menſur und der Darlegung der eigenen Fechterkunſt um
ihrer ſelbſt willen oft ſtörend hervor. Die Formen der
Dialectik ſind zu lebhaft und dramatiſch für wiſſenſchaft—
liche Erörterungen, wie umgekehrt in ſeinen Dramen die
Gedankenſpalterei und das dialectiſche Wortgefecht läſtig
werden kann; mancher Hieb geht doch auch ins Blaue und
es fehlt nicht an ermüdenden Abſchweifungen. Strauß
wußte dieſe Auswüchſe zu beſeitigen und doch alle Vorzüge
einer ſachkundigen, ſchlagfertigen und feſſelnden Streitfüh—
rung zu bewahren.
Talentreicher, gelehrter, ſcharfſinniger, geſchmackvoller
iſt Leſſing nicht geweſen, aber er war gleichwohl die höher
und origineller angelegte Natur. Es fehlt Strauß jene
lezte Vertiefung des Geiſtes und Gemüths, die volle Mit—
empfindung des menſchlichen Weſens und Geſchicks, die den
Weiſen, den Geſchichtſchreiber, den großen Forſcher, den
Gründer einer Schule, den Führer einer geiſtigen Genoſſen—
ſchaft kennzeichnet. Denn was ſoll und kann das eigent—
lich noch heißen, ein Straußianer zu ſein? Etwa das
Chriſtenthum für einen abgelegten Irrthum, die religiöſen
Bedürfniſſe für eine Selbſttäuſchung zu halten und dann
zuzuſehen, wie man ohne dieſe Stüzen durchkommt? Der
26 *
404
praktiſche Abſchluß ſeines Standpunkts war eigentlich, die
ungebildeten Maſſen, welche bisher ihr individuelles Schick—
ſal als ein Stück einer gottgewollten Ordnung anſehen
durften, durch Belehrungen über die aus der Idee der
Gattung folgenden Verbindlichkeiten, ſodann aber durch Po—
lizei und Juſtiz, nöthigenfalls durch Gewalt — es iſt nur
ſchwer zu ſagen weſſen — im Zaum zu halten, wogegen
es einer Elite wohlſituirter und hochgebildeter Menſchen
vergönnt bliebe, durch Wiſſen, Kunſt und edlere Genüſſe
beglückt zu leben und zu wandeln und etwaiges wi—
driges Geſchick als Atome des Univerſums mit Reſignation
zu ertragen. Die Natur und Geſchichte der Menſchheit
zeigt uns aber andere und ernſtere Züge, und ſchon der
Kampf ums Daſein hätte den Darwinianer auf andere
Folgerungen führen müſſen.
„Der Menſch iſt mehr als Sie von ihm gehalten“
ſagt Poſa zum König, und wenn man ſtatt „Nero und
Buſiris“ beliebige Namen von Matadoren des Materialis—
mus einſezt, ſo leiden auch die darauf folgenden Worte
ihre Anwendung:
Zu einem Nero und Buſiris wirft
Er Ihren Namen und das ſchmerzt mich; denn
Sie waren gut.
II. Wider den neuen Glauben.
9,
Es mag wohl ſein, ja es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß
die Defcendenzlehre viel dauernde Wahrheit zu Tag ge—
fördert hat, wenn vielleicht auch Kampf ums Daſein und
Zuchtwahl in eine viel beſcheidenere Stellung zurückgewieſen
werden ſollten. Jedenfalls wird der Saz, der ſchon in der
Sage von der Arche Noä ſteckt: ſo viel Arten, ſo viel
Schöpfungsacte, als abgethan gelten können. Wie viel oder
wenig nun ſich davon als haltbar erproben wird, mögen
Andere beurtheilen, aber es ſei deſſen weniger oder mehr,
ſo müſſen doch alle Freunde und Kenner philoſophiſcher
Studien gegen die Tragweite Verwahrung einlegen, welche
in dieſem Fall einem biologiſchen Theorem geliehen wird,
gegen die Competenzüberſchreitung, mit welcher hier em—
piriſche Säze in das Gebiet der Metaphyſik herübergezogen
werden. Die Verlezung der Grenzen geſchieht freilich ebenſo
von Seiten der Philoſophen ſelbſt als von den Natur—
forſchern und Niemand war leichtfertiger in dieſem Punkte
als Strauß. Eine phyſiſche Erklärung der Welt kann nie—
mals eine metaphyſiſche ſein. Die Metaphyſik hat eben
daher ihren Namen, daß ſie nach und hinter dem Phyſi—
ſchen kommt. Die Naturwiſſenſchaften können in der cau—
ſalen Verkettung der ſinnlich wahrnehmbaren Erſcheinungen
neue Zwiſchenglieder finden oder vermeintliche alte beſei—
tigen, bisher Getrenntes als Eins, bisher Vereintes als
Getrenntes erkennen, aber ſelbſt, wenn ſie dieſes Ziel ſchon
406
erreicht hätten, wenn ſie uns den Cauſalzuſammenhang der
ganzen Sinnenwelt genau und vollſtändig darzulegen ver—
möchten, ſo wären die Fragen am Ende ſo gut wie am
Anfang ungelöst: wie und warum es überhaupt eine Welt
geben könne und eine Ordnung dieſer Welt, warum gerade
dieſe Ordnung und welcher Plaz dem Menſchen in dieſer
Ordnung zukäme. Wenn der geſammte Darwinismus ſtatt
einer Hypotheſe eine felſenfeſte Wahrheit wäre, nun ſo
wären dann eben dieß die äußeren Formen und Mittel,
die neben vielen andern auch mitberufen waren zur Ver—
wirklichung eines ewigen Weltplanes; warum aber gerade
dieſe mehr als alle ſchon bekannten Naturgeſeze den Anſpruch
erheben, einen ſolchen Weltplan entbehrlich zu machen, da—
für iſt nicht der Schatten eines Grundes einzuſehen. Mit
dem Saz: ſo viel Arten, ſo viel Schöpfungsacte, iſt noch
nicht auch der weitere: ſo viel Arten, ſo viel Schöpfungs—
gedanken, beſeitigt. Ob der Menſch aus einem Erdenkloß
gebildet iſt oder in einem glücklich organiſirten Catarrhinen—
paar ſeine Ahnen zu ſuchen hat, begründet für die meta—
phyſiſche Würdigung ſeines Weſens keinen Unterſchied, da
auch das Leztere den Glauben nicht ausſchlöße, daß er aus
Gottes Hand hervorgegangen, nach Gottes Bilde geſchaffen
iſt. Im einen wie im andern Fall iſt er zeitlich entſtanden
und bedeutet dieß Entſtehen den Durchbruch einer höhern
Daſeinsform von unbegrenzter Ausſicht und Entwicklung
aus der gebundenen Enge unbewußten Seins und Lebens.
Man kann den Widerwillen gegen jede Formulirung
und Aufſtuzung des theologiſchen Wunderbegriffs vollſtändig
”
theilen und es doch um kein Haar rationeller finden, blinde
Triebkräfte, wie Zuchtwahl und Kampf ums Daſein, als
ein Leztes, auf ſich ſelbſt Ruhendes, ein in ſich die Stufen—
folge der lebenden Weſen Tragendes vorzuſtellen. Man
denkt ſich dabei auch ſtillſchweigend die Hauptſache, die
ganze übrige Weltordnung als ſchon gegeben dazu, den
Geſchlechtsunterſchied, die Zeugung, den Planeten mit allen
ſeinen ſonſtigen Qualitäten. Und wenn es ſich darum han—
delte, ſowohl das Conſtante als das Variable in der Man—
nigfaltigkeit der Organismen zu deuten, ſo war freilich
nichts bequemer, als ſich zwei einander entgegengeſezte Prin—
cipien anzuſchaffen, deren eines unter dem Namen der An—
paſſung die veränderlichen, das andere unter dem Namen der
Vererbung die beharrlichen Erſcheinungen zu erklären dient.
Man ſpricht jezt mehr als jemals von Monismus,
während man früher die Sache wohl gekannt, das Wort
aber viel weniger gebraucht hat. Indem unſer Intellect
den Begriff einer Ordnung bildet und die Geſammtheit der
Erſcheinungen demſelben unterſtellt, fordert er Einheit nur
an der Spize des Ganzen, aber der erſte Act dieſes höch—
ſten Einen muß eine Differenzirung ſein, die ſich ins Un—
endliche fortſezt. Dagegen in der hieraus entſtandenen
Welt der empiriſchen Erſcheinungen kann der Monismus
nirgends mehr Plaz finden; hier iſt überall Pluralität und
unendliche Wechſelwirkung. Sein heißt, wie uns Lotze
lehrt, in Beziehungen ſtehen. Es iſt der Triumph der
Wiſſenſchaft, die Probleme zu vereinfachen, die Urphänomene
aufzuſuchen, auf Atome, Molecüle, Zellen, Moneren, die
408
elementarſten mechanischen und chemischen Vorgänge zurück—
zugreifen, aber Monismus braucht man dieß nicht zu nennen
und den Anſpruch nicht zu erheben, als ob man ſo ohne
weitere Leihung die Lebenserſcheinungen im Wege der Con—
ſtruction aus den einfachſten Formen zu entwickeln ver—
möchte. Man wird an die Hegelſche Logik erinnert, die
ſich den Schein giebt, als ob ſie ohne Seitenblick auf den
anderswie gegebenen Vorrath von Ideen und Erfahrungen
vom reinen, dem Nichts gleichzuachtenden Sein durch einen
inneren dialectiſchen Proceß zu den höchſten Begriffen und
realen Erſcheinungen gelangte. Man könnte die angeb—
lich 18000 Farben der Vaticaniſchen Sammlung ſo in
einen Farbenkreis ordnen, daß je die zwei nebenein—
anderliegenden faſt ununterſcheidbdar wären, und wenn
man dann vom Weißen oder Schwarzen aus die ganze
Reihe durchlaufen hätte, dieß für eine genetiſche Entwick—
lung der Farben aus Etwas, was nicht Farbe iſt, aus—
geben wollen. In ähnlicher Weiſe wird auf allen Gebieten
ein ſucceſſives Geſchehen mit einem ſpontanen verwechſelt
und gegen die Wahrheit, daß die Wirkungen den Urſachen
adäquat ſein müſſen, auf Schritt und Tritt geſündigt.
Um des logiſchen Wohlgefallens am Monismus willen it
es keinenfalls nöthig, die ganze organiſche Welt aus Einer
Grundform abzuleiten; es wäre zum mindeſten ebenſo lo—
giſch anzunehmen, daß, nachdem auf der abgekühlten Erd—
rinde die Bedingungen für die Entſtehung organiſchen Le—
bens eingetreten waren, dieſe an verſchiedenen Orten un—
ſeres Planeten und in verſchiedenen Zeiten ſchon nicht genau
409
die gleichen ſein konnten, daß aber unter ungleichen Be—
dingungen auch Ungleiches entſtehen mußte, und ſomit gleich
vornherein eine wenn auch beſchränktere Mannigfaltigkeit
von Formen gegeben war.
10.
Es iſt geſagt worden: „das wäre erſt noch zu beweiſen,
daß es kein Denken ohne Denkendes geben könne“. Es
8
iſt dieß aber, was man eine Verſchiebung der Beweislaſt
nennt. Affirmanti incumbit probatio, jagen die Juriſten.
Wir andern Menſchenkinder ſind gemäß der uns zu Theil
gewordenen Gehirnorganiſation außer Stand, uns irgend
eine Thätigkeit zu denken ohne ein Etwas, dem ſie zu—
kommt, irgend ein Prädikat ohne Subject, irgend ein Ver—
bum im Saz ohne ſein Subſtantiv. Am ſicherſten ſind
wir dieſes Subjectes, wo es ſich um menſchliche Thätig—
keiten und Zuſtände handelt; zum Lachen denken wir ein
Lachendes, zum Sterben ein Sterbendes und ſo doch gewiß
auch zum Denken, Fühlen, Wollen ein Denkendes, Fühlendes,
Wollendes. Selbſt da, wo wir dieß Etwas, dem das Thun
zukommt, noch nicht zu unterſcheiden oder zu benennen ver—
mögen, deuten wir es wenigſtens durch die ſprachliche Form
als Pronomen und Neutrum an: es blizt, es klopft, es
ſtinkt, und wollen damit ſagen: es iſt ein Etwas da, was
blizt, klopft oder übel riecht. Alſo ſelbſt wenn wir ſagen
könnten: es denkt, es will, ſo würde dieß doch nichts An:
deres heißen als: ein Denkendes, ein Wollendes iſt. Wenn
nun hierin der gemeine Verſtand in Uebereinſtimmung ſteht
mit aller Grammatik und Logik, die es jemals in der Welt
410
gegeben hat, kann man dann von uns erſt noch den Beweis
für das Negative fordern, daß es kein Denken ohne Den—
kendes geben könne? Man kommt in der Sache ſofort
auf die Kategorieen, auf die Stammbegriffe alles Denkens,
das Ding, deſſen Eigenſchaften und Thätigkeiten zurück,
welche allem Beweiſen und aller Denknothwendigkeit zu
Grunde liegen; und man könnte mit gleichem Recht erſt
einen Beweis dafür fordern, daß es keine Eigenſchaften
geben könne, die nicht die Eigenſchaften eines Etwas wären.
Hätte nicht vielmehr Derjenige, der den von aller Welt
abweichenden Saz aufſtellt: es gibt ein Denken ohne ein
Etwas was denkt oder es kann ein ſolches geben, die Be—
weislaſt und uns eine Vorſtellung davon zu entwerfen, wie
eigentlich ſein Kopf organiſirt iſt und wie wir es etwa
angreifen müßten, um das Denken in ein ſubjectloſes Ge—
ſchehen zu verwandeln?
Die Einwendung war natürlich nur gegen den Gottes—
begriff in theiſtiſcher Faſſung gerichtet und weist im Hin—
tergrund auf jenes geheimnißvolle Weſen der Hegelſchen
Lehre hin, die Idee, bei welcher wie bei Gottheiten von
unausſprechbaren Namen ſchon verboten war zu fragen,
was ſie eigentlich ſei, und es für gleich falſch galt zu ſa—
gen: ſie denke als ſie werde gedacht, die nur durch ein noch
dunkleres Wort, einen verneinenden Beziehungsbegriff, zu
dem das Bezogene fehlt, das Abſolute, erläutert wurde.
Es iſt ja nicht zu beſtreiten, daß wir uns Perſönlich—
keit und Selbſtbewußtſein nicht ohne Beſchränkung, ohne
Unterſcheidung von einem Anderen vorzuſtellen vermögen;
411
und noch weniger iſt es zu verwundern, daß wenn wir
vorher einen pantheiſtiſchen Gottesbegriff aufſtellen und
dabei das AllEins in ſchärfſter Faſſung betonen, dann auch
keine Form von theiſtiſcher Vorſtellung mehr einen Boden
findet. Aber wenn uns die Einbildungskraft die Mittel
verſagt, den Weg nach oben zu gehen, folgt daraus, daß
wir den Weg nach unten einzuſchlagen und zum Unbe—
wußten und Unperſönlichen herabzuſteigen haben? Iſt ein
Denken ohne Denkendes irgend vorſtellbarer als ein all—
und ſelbſtbewußter Geiſt? Iſt es nicht folgerichtiger, lieber
ehrlich und beſcheiden zu ſagen: wir wiſſen und begreifen
das Weſen Gottes nicht, aber wir können es nicht unter—
laſſen, an die Spize des Weltganzen Geiſt und Wille zu
ſezen ſtatt Kraft und Stoff und dabei von dem Höchſten
und Beſten, was wir an unſerem eigenen Weſen kennen,
aufwärts, ſtatt abwärts zu ſchließen, ein potenzirtes Denken,
Fühlen und Wollen, und damit auch ein Höchſtes, das
denkt, fühlt und will, wenn nicht vorzuſtellen, doch zu glau—
ben und — zu lieben. Etwas Anthropomorphismus läuft
dabei mit; das iſt nicht in Abrede zu ſtellen und nicht zu
vermeiden; aber was man uns an ſeiner Stelle bieten will,
iſt, wenn es blinde und unbewußte Kräfte ſein ſollen, nicht
ein Ueber- ſondern ein Untermenſchliches; wenn es Geſeze
ſein ſollen, ſo muthet man uns zu, Ordnungen zu denken,
zu denen das Ordnende wie das Geordnete fehlt, etwa wie
wenn ein Staat nur aus Geſezen beſtünde und dieſe ſich
dann Land und Volk ſelbſt zu ſchaffen hätten; ſoll endlich
zwar ein Denken an der Spize ſtehen, aber nur ein Nie—
412
mandsdenken, eine Idee, die weder denkt noch gedacht wird,
ſondern nur iſt oder geſchieht, dann haben wir auch An—
thropomorphismus, ſofern Denken blos ein menschliches
Attribut iſt, nur einen mit Widerſinn verquickten, und ſtatt
der vorgeblichen ſublimen Weisheit eine Mißhandlung der ele—
mentarſten Geſeze und Stammbegriffe aller menſchlichen Logik.
Pr
ie Aufgabe, die Welt zu erklären, könnte man etwa
mit derjenigen vergleichen wollen, aus einigen Fragmenten
von zweifelhaftem Text ein verlorenes Drama wiederher—
zuſtellen, oder wenn ſich in der Ecke einer großen Wand—
fläche noch die Umriſſe einiger Figuren erkennen laſſen,
aus denſelben den Stoff und Gehalt des ganzen Gemäldes,
das früher die Wand bedeckt hat, zu errathen, oder auch
aus einigen Algenexemplaren auf die ganze Flora eines
Landes zu ſchließen. Aber ſo wenig dieß jemals geleiſtet
werden wird, ſo ſind doch dieſe Bedingungen noch unend—
lich leichter; denn es handelt ſich hier doch immer noch
nur um eine Wahl und ein Errathen innerhalb des Um—
kreiſes bekannter Vorſtellungen und Erſcheinungen, und es
wäre denkbar, daß eine geniale Phantaſie, wenn auch nicht
gerade das richtige, doch ein ähnliches und an ſich denk⸗
bares Werk zu Stande brächte. Allein unſere Kenntniß
der Welt iſt eine ganz unvergleichbar mangelhaftere und
fragmentariſchere. Unter zahlloſen Weltkörpern kennen wir
nur einen einzigen, unſern Planeten; von allen andern
haben wir nur einzelne Daten über Größe, Entfernung und
Bewegungen, die noch zu nichts Weiterem führen; von un—
ex
2
70
gezählten Jahrtauſenden der Geſchichte unſerer Erde und der
Menſchheit ſind uns nur die drei lezten einigermaßen aufge—
hellt; das Stück, das der Zukunft angehört, iſt ganz zugedeckt.
Nun müſſen wir aber doch das Weltall als etwas Zu—
ſammenhängendes, Geordnetes, Entwicklungsſtufen Darſtel—
lendes und eben damit auch unſern Planeten als ein Glied
einer Reihe, etwa als die Sproſſe einer Himmelsleiter vor—
ſtellen. Alſo etwas ſehr mangelhaft Bekanntes als Glied
einer Reihe von völlig unbekannten Dingen zu begreifen,
wäre die eigentliche Aufgabe, die uns geſtellt iſt. Um von
Wiſſenſchaft gar nicht zu ſprechen, auch die Phantaſie des
genialſten Menſchen vermag keinen Schritt über die Voraus—
ſezungen unſerer planetariſchen Erfahrungen hinaus zu thun;
ſie kann einzelne dieſer Bedingungen ſteigern, andere ein—
ſchränken, aber ſie kann nur Variationen des Gegebenen
finden, keine neue Melodie. 2
Welt, Univerſum, Kosmos bedeuten in drei Sprachen
das Gleiche, ein Ganzes, von dem wir eine winzige Par—
zelle einigermaßen kennen. Jedes Prädikat, das wir dieſem
Ganzen beilegen wollen, iſt aus der Luft gegriffen. Strauß
will es zwar als eine „metaphyſiſche Nothwendigkeit“ be—
zeichnen, daß ſich die Summe des Seins im Univerſum
nicht vergrößern könne, weil damit deſſen Unendlichkeit auf—
gehoben würde. Was ſoll man ſich dabei denken? Un—
läugbar vergrößert ſich die Summe des Seins auf unſerm
Planeten fortwährend, ſchon einfach dadurch, daß die Men—
ſchenzahl wächst, ihre Wiſſenſchaft und Bildung. Sollte
deßhalb an irgend einem andern Punkt des Weltalls ein
414
entſprechender Rückgang und Abgang ſtets in den gleichen
Zeitmomenten geboten ſein und Plaz greifen? Schwerlich
würde ſich bei irgend einem Theologen eine willkürlichere
und unerweislichere Behauptung finden laſſen.
Nichts Anderes als die Prädicirung eines unbekannten
Subjects durch ein unbekanntes Prädikat iſt es nun auch
zu ſagen: die Welt iſt Gott.
Göthe ſagt, und zwar am Schluſſe ſeiner Laufbahn,
daß ihm noch Niemand vorgekommen ſei, der wiſſe, was
das Wort Pantheismus bedeute. Schopenhauer zeigt in
ſeiner geiſtreichen Art, daß die beiden Formulirungen des
Gedankens: Gott iſt die Welt, und: die Welt iſt Gott,
entweder überhaupt Nichts oder eine Beſeitigung des Got—
tesbegriffs enthalten. Atheismus und Pantheismus laſſen
ſich in der That nicht auseinander halten. Denn wenn
Gott mit dem Univerſum zuſammenfällt, ſo iſt er ebendamit
entbehrlich. „Wozu ein Gott, die Welt iſt ſich genug.“
Wenn die pantheiſtiſche Formel ſich auch auf die un—
bekannten Theile des Weltganzen beziehen ſoll, ſo ſtellt ſie
nur eine unlösbare Gleichung mit zwei Unbekannten, X = „,
auf, die völlig werth- und ſinnlos iſt, wenn ſie ſich aber
auf das unſerer Erkenntniß zugängliche Weltfragment be—
ſchränken will, ſo läßt ſie das Weſen Gottes in den Er—
ſcheinungen eines einzelnen unter den vielen Trabanten
eines der zahlloſen Fixſterne aufgehen, was zu einer Art
von Planetengott, alſo zum Polytheismus führen könnte, wenn
ſich überhaupt etwas Ernſthaftes dabei denken, wenn man
dann nicht zehnmal lieber den Gottesbegriff ganz fallen ließe,
415
12.
Man braucht ſich gegen die Feuerbach'ſchen Säze, daß
alle Religion anthropologiſchen Urſprungs ſei und auf menſch—
lichem Verlangen und Bedürfniß beruhe, nicht zu ſträuben,
ohne daß man darum deſſen näheren Ausführungen und
weiteren Conſequenzen verfallen müßte. Giebt es denn
überhaupt eine andere und beſſere Legitimation für irgend
eine Einrichtung, als daß ſie einem menſchlichen Bedürfniß
entſpreche, und worin ſollte eine ſolche höhere Beglaubigung
beſtehen können? Es iſt ja mit Wiſſenſchaft und Kunſt,
mit Recht und Moral genau ebenſo. Wie will man denn
in der Begründung der Idee des Guten noch weiter kom—
men als dahin, daß im Menſchen ein Verlangen, eine un—
abweisbare innere Forderung liege, nenne man ſie nun
Gewiſſen, kategoriſchen Imperativ, Vernunfttrieb oder wie
man will, nach einer feſten Ordnung für ſein getheiltes
und zerfahrenes Wollen und nach einem Maßſtab für den
Werth ſeiner Handlungen? Es iſt eine Verwechslung der
Folgerung mit der Prämiſſe, wenn wir die Ableitung des
Guten aus einem göttlichen Willen für ein noch weiteres
Zurückgreifen in der cauſalen Verkettung halten. Denn
dieß iſt erſt Sache des Glaubens, deſſen Quelle und lezte
Bürgſchaft wieder in jenem Gefühl einer inneren Nöthi—
gung liegt. Es iſt auf dem intellectuellen Gebiet nicht
anders. Die Wahrheit ſcheint uns wie eine lichte Geſtalt
auf dem Grunde der Erſcheinungen ein objectives Daſein
zu haben; und doch iſt ihre Beglaubigung auch nur ſub—
416
jectiven Urſprungs. Nicht weil ſie irgendwo it, juchen
wir ſie, ſondern weil wir ſie ſuchen und begehren, verſezen
wir ſie dorthin. Ihr leztes Zeugniß iſt ein So denken
müſſen, das nicht weiter bewieſen und entwickelt werden
kann, ſondern unmittelbar gefühlt wird. Ob die Formen
und Geſeze unſers Denkens ſelbſt richtig ſind und zur
Wahrheit leiten können, das wiſſen wir nicht; wir glauben
es aber und ein Zweifel daran würde uns nichts helfen.
So ruht auch alle Religion nur auf ſubjectivem Ver—
langen und Bedürfniß, nur daß wir daſſelbe, gerade wie
unſer Verlangen nach dem Wahren, Schönen und Guten,
als ein Allen gemeinſames, zur urſprünglichen Mitgift der
menſchlichen Natur gehöriges Streben betrachten müſſen.
Wir finden einen Trieb und Reiz, eine innere Forderung
in uns vor, unſer Ich und geſammtes individuelles Daſein,
wie ein bloßes Bruchſtück, in einen lebendigen, nicht blos
gedachten, ſondern gefühlten und gewollten Zuſammenhang
mit dem Weltganzen und den darin waltenden Mächten
einzurücken. Die Vorſtellung einer zuſammenhangsloſen,
iſolirten und verlorenen Sonderexiſtenz vermögen wir nicht
zu ertragen. Wer und was auch die allwaltenden Mächte
ſein mögen, wir erheben den Anſpruch an ſie, daß ſie nicht
in unnahbarem Jenſeits, in unerreichter Ferne und Gleich—
gültigkeit von uns abgewendet ſtehen, ſondern daß auch
unſer Einzeldaſein und Schickſal, unſer Wohl und Wehe
in irgend einer Art mit aufgenommen und verflochten ſei
in den Zuſammenhang aller Dinge.
Es führt zu einer ganzen Kette von weitgreifenden
417
n
Irrthümern, wenn man unter leichter Verſchiebung des
wahren Verhältniſſes mit Schleiermacher das Weſen der
Religion in ein Gefühl der ſchlechthinigen Abhängigkeit ſezt.
Man kann gegen dieſe Formel ſchon einwenden: eine
gefühlte Abhängigkeit iſt niemals eine ſchlechthinige.
Denn um einen Zuſtand als den einer unbedingten
Abhängigkeit zu fühlen, müßte ich ihn doch zuerſt unter—
ſcheiden können von anderen Zuſtänden einer blos bedingten
oder gar keiner Abhängigkeit, und ich muß dieſe lezteren
Zuſtände auch kennen und in mir vorfinden. Ein Weſen
aber, das mannigfache innere Zuſtände, darunter auch den
des Freiheitsgefühls oder der blos bedingten Abhängigkeit
hat, kann keinen ſeiner Zuſtände als den eines ſchlechthi—
nigen Abhängigkeitsgefühls bezeichnen, weil ein ſolcher doch
immer nur partiell und vorübergehend iſt, und an den
ebenſo unläugbar vorhandenen Freiheitsgefühlen ſeine
Schranken und Bedingungen findet.
In der That iſt auch das Grundgefühl aller religiöſen
Erregungen nicht das, daß der Einzelne für ſich gar nichts
bedeute, daß er eine Null ſei in dem Weltganzen, ſondern
im Gegentheil, daß auch von ihm darin Notiz genommen
werde, daß auch er mitzähle und aufgenommen ſei in den
Rathſchluß der lezten und höchſten Ordnungen und dazu
berufen, leidend und handelnd zu deren Verwirklichung mit—
zuwirken. Nicht das Gefühl einer unbedingten Abhängig—
keit, ſondern einer unbedingten Zugehörigkeit zu dem Plane
des Weltalls iſt Religion. Sie iſt das Bewußtſein eine
Weltparzelle zu ſein, ein wenn auch kleines, doch nicht un—
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 27
418
beachtetes und mit vorgeſehenes Glied an dem Körper der
Schöpfung. Wäre „ſeines Nichts durchbohrendes Gefühl“
das entſcheidende Merkmal alles religiöſen Lebens, ſo müßten
wir das direkteſte Gegentheil einer frommen Empfindung
in der tiefſinnigen und ergreifenden Sage ſehen, daß der
Erzvater Jakob die Nacht hindurch mit dem Herrn bis zur
Verrenkung ſeiner Hüfte rang und zu ihm ſprach: ich laſſe
dich nicht, du ſegneſt mich denn.
Göthe trifft das Weſen der Sache weit beſſer als
Schleiermacher, wenn er ſagt:
In unſers Buſens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höher'n, Reiner'n, Unbekannten,
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben.
Wir heißens: Fromm ſein.
Nur iſt das Motiv „aus Dankbarkeit“ zwar ächt Gö—
thiſch, aber nicht erſchöpfend, nicht den Kern der Sache
treffend. Denn dieſer liegt in dem Verlangen nach An—
lehnung und Einfügung unſeres Ichs in den lezten Zu—
ſammenhang der ganzen Erſcheinungswelt.
Mit einem ſolchen Verlangen iſt noch keineswegs irgend
eine beſtimmte Vorſtellung von göttlichen Weſen, ja nicht
einmal der Gottesbegriff ſelbſt gegeben. Es ſoll und kann
nicht von angeborenen Ideen die Rede ſein, wohl aber von
einer angeborenen Dispoſition oder Angelegtheit der Seele,
auf den Intellect einen Druck oder Reiz zu üben, daß er
Vorſtellungsreihen ſuche und ausbilde, welche jenem Ver—
langen entgegenkommen, um dann von den ihr dargebo—
tenen Vorſtellungen die einen willig hinzunehmen, die an—
dern zurückzuweiſen, je nachdem ſie jenem Verlangen und
419
zugleich den andern gleichberechtigten inneren Forderungen,
wie den Denkgeſezen und dem Gewiſſen, mehr oder weniger
entſprechen.
Es iſt mit den Erkenntniß- und ſittlichen Trieben ganz
das Gleiche; was wahr, ſchön und gut iſt, wiſſen ſie nicht
zu ſagen, aber daß es Wahres, Schönes und Gutes geben
müſſe, das man ſuchen und finden könne, ſtellen ſie dem
Intellect als Poſtulat und Weiſung hin. |
Eine höhere und noch weiter zurückgreifende Beglau—
bigung für menſchliche Seelenthätigkeit als dieß Nichtanders—
können, als dieſe innere Nöthigung des Suchens giebt es
nicht und man kann ſich nicht einmal eine Vorſtellung da—
von bilden, wie eine ſolche beſchaffen ſein müßte. Die ab—
ſtracte Möglichkeit, daß unſere Denkgeſeze falſch, das Ge—
fühl eines unbedingten Sollens ein Trugbild, das unſerer
Einfügung in einen höchſten Zuſammenhang aller Dinge
ein eitles Phantaſieſpiel wäre, wird ſich niemals läugnen
und widerlegen laſſen, ſo wenig wir je zu einer Gewißheit
darüber gelangen werden, daß nicht alle unſere Sinnes—
wahrnehmungen Täuſchungen ſind. Hier tritt ein Glaube
ein, deſſen wir uns nicht entſchlagen können, auch wenn
wir es wollen. Wenn unſere pſpychiſche Ausſtattung ein
Gefängniß wäre, ſo wäre ſie jedenfalls ein unentrinnbares.
Alle menſchliche Metaphyſik und Ethik, ſo gut wie alle Re—
ligion, ſteht und fällt mit der Vorausſezung, daß unſere
Vernunfttriebe keine Täuſchungen, daß unſer Verlangen
nach Wahrheit, Tugend und Gottesgemeinſchaft Gaben,
Stimmen, Zeugniſſe, Spuren und Unterpfänder höherer
mx
27 *
.
420
und höchſter Daſeinsformen ſind und die Möglichkeit eines
Weiterſchreitens bis zu den lezten Zielen verbürgen.
Man will beſtreiten, daß die religiöſe Anlage zu den
angeborenen Kräften und der urſprünglichen Mitgift der
menſchlichen Natur gehöre, da es ja ganze Völker und je—
denfalls eine Menge einzelner Individuen ohne alle reli—
giöſe Vorſtellungen gebe. Mit den ganzen Völkern iſt die
Sache zum mindeſten zweifelhaft; wohl aber giebt es Völker
genug, bei welchen wir keine Spur von Wiſſenſchaft und
Kunſt wahrnehmen, ohne daß Jemand den Schluß daraus
zöge, der Sinn für Wahrheit und Schönheit könne nicht
ein Inventarſtück der menſchlichen Ausſtattung ſein. Ebenſo
wenig laſſen wir uns dadurch, daß es Einäugige und
Blinde, Krüppel und Lahme, ſtumme und taube Menſchen
giebt, abhalten, von dem Menſchen auszuſagen, daß er
zwei Augen zum Sehen, zwei Ohren zum Hören, Sprach—
werkzeuge, zwei Arme und zwei Beine habe. Ueberdieß
iſt ein völliger Mangel religiöſer Erregungen weit ſeltener
als es Vielen erſcheinen mag. Wer zwiſchen Atheismus
und Pantheismus keinen Unterſchied finden kann, wird
darum doch nicht ſo verkehrt ſein, allen denjenigen, welche
von dem Begriff Gottes den der Perſönlichkeit fern halten
zu müſſen und zu können glauben, alſo auch einem Fichte
und Schleiermacher, die religiöje Empfindung abzuſprechen.
Selbſt Strauß kann es nach völliger Beſeitigung des Got—
tesbegriffes nicht laſſen, ſein Univerſum doch wieder mit
allerhand gottmenſchlichen Attributen auszuſtaffiren, von
deſſen Vernunft und „Güte“ zu reden, der wir uns mit
421
liebendem Vertrauen ergeben jollen und für daſſelbe aus:
drücklich die gleiche „Pietät“ zu fordern, wie der Fromme
alten Styls für ſeinen Gott.
Die unabweisbare Wahrheit, daß alle Religion pſycho—
logiſchen Urſprungs ſei und in menſchlichen Bedürfniſſen
wurzele, erhält dagegen ein völlig anderes Anſehen in der
Faſſung, die Religion ſei nur ein Erzeugniß menſchlicher
Wünſche und Sorgen, die göttlichen Weſen eine menſchliche
Erfindung aus egoiſtiſchem Intereſſe, um die Unzulänglich—
keit der eigenen Kräfte zu ergänzen. Vom timor fecit Deos
der Epikureer bis zu Feuerbach und Strauß iſt der Ge—
danke, daß alle Götterverehrung dem Menſchen nur als
Mittel diene, ſich beſſer durch die Welt zu ſchlagen, in den
mannigfaltigſten Formen ausgeſprochen worden. Den prä—
gnanteſten Ausdruck hat ihm lange vor Feuerbach Schiller
gegeben:
Was ſollen deine Götter,
Des kranken Weltplans ſchlauerdachte Retter,
Die Menſchenwiz des Menſchen Nothdurft leiht?
Das Poſſenſpiel, ſich zuerſt höhere Weſen zu fingiren
und frei zu erfinden, um ſie nachher unſern perſönlichen
Zwecken dienſtbar vorſtellen und machen zu können, wäre
aber doch gar zu plump, als daß es zu allen Zeiten und
bei allen Völkern ſo viel Anklang hätte finden können. Die
Conſequenz wäre nicht abzuweiſen, daß gerade bei denjeni—
gen, welche die religiöſen Vorſtellungen zuerſt ausgebildet
und weiter entwickelt haben, jenes Motiv einer intereſſirten
Furcht vorzugsweiſe ſtark und wirkſam geweſen wäre. Wir
422
müßten uns die Neligionsitifter und Alle, die durch die
Kraft und Eigenthümlichkeit ihrer frommen Erregungen
für Andere zu Vorbildern geworden ſind, einen Moſes und
Jeſaias, Zarathuſtra und Sakjamuni, Pythagoras und
Socrates, Jeſus und Paulus, Auguſtinus und Luther als
ganz beſonders ängſtliche und egoiſtiſch auf ihr perſönliches
Wohl bedachte Gemüther, ja, kurz geſagt, als berechnende
Betrüger vorſtellen. g
Der Grund aller Religion liegt in einem metaphyſi—
ſchen Trieb, in einem inneren Drang, aus dem wir zwar
weitere Folgerungen ziehen, die wir aber unmittelbar nicht
ſelbſt weiter ableiten können. Daraus folgt die Neigung,
überhaupt an höhere Weſen und Ordnungen und an die
Möglichkeit, ſich in Beziehung zu ihnen zu ſezen, zu glauben.
Bei der Art aber, wie nun der menſchliche Intellect unter
dem Antrieb jenes Grundgefühls die religiöſen Vorſtellun—
gen, die demſelben Genüge leiſten ſollten, ſich ausdachte und
weiter bildete, geſellten ſich allerdings noch mancherlei Mo—
tive anderer, auch niedrigerer Gattung, Furcht, Hoffnung,
Selbſtſucht in allen Formen hinzu und ſtellten den Kultus
in den Dienſt aller möglichen beſonderen Lebenszwecke. Dieß
gehört aber zur Entwicklungsſtufe jenes Grundgefühls, das
ſich erſt allmälig zu reinerer Ablöſung von fremdartigen
Zuthaten hindurchzuarbeiten hat, gerade ſo wie dieß auf
den andern Gebieten des geiſtigen Lebens der Fall iſt. Das
hat man aber ſchon lange vor dem Feuerbach'ſchen und
Strauß'ſchen Buche gewußt.
Für materialiſtiſche und pantheiſtiſche Standpunkte war
es von jeher eine ſehr ſchwierige Sache, zu dem Begriff
eines ſittlichen Sollens zu gelangen; für den Darwinismus
aber iſt die Aufgabe gar eine verzweifelte. Man will doch
von allen Seiten die Kardinalpunkte der Moral unange—
fochten laſſen und muß deßhalb auf irgend einem Wege
dazu gelangen, Gerechtigkeit, Wohlwollen, Mitleid, Dank—
barkeit, Vaterlandsliebe und ähnliche den Egoismus ein—
ſchränkende Tugenden zu empfehlen. Wenn aber der Kampf
ums Daſein das Triebrad für alle Entwicklung und allen
Fortſchritt iſt, dann kann die Loſung nur ſein: was gehen
mich die Andern an? dann iſt jeder nur auf die rückſichts—
loſeſte Geltendmachung ſeiner individuellen Kräfte ange—
wieſen und es gienge etwa zu, wie der Küraſſier in Wallen—
ſteins Lager beſchreibt:
ss iſt hier juſt wie's beim Einhauen geht:
Die Pferde ſchnauben und ſezen an;
Liege wer will mitten auf der Bahn,
Sei's mein Bruder, mein leiblicher Sohn,
Zerriß mir die Seele ſein Jammerton,
Ueber ſeinen Leib muß ich jagen,
Kann ihn nicht ſachte bei Seite tragen.
Verſezen wir freilich den conſequenten Darwinianer
wirklich als Soldaten in die Schlacht mit dem Feldgeſchrei:
Kampf ums Daſein, dann wäre wohl die nächſtliegende
Erwägung, daß er ein Thor wäre, ſich den feindlichen
Kugeln auszuſezen und daß „die Vorſicht das beſſere Theil
der Tapferkeit ſei.“ Zu einer Ethik wird man von den
424
Prämiſſen des Kampfs ums Dajein aus immer nur durch
eine ganze Reihe von Lehnſäzen oder Erſchleichungen aus
ganz anderen Anſchauungsweiſen heraus gelangen können.
Man konnte deßhalb beſonders begierig ſein zu ſehen,
ob und wie es dem hellen und feinen Geiſt von Strauß
gelingen werde, den Weg von Darwin'ſchen Prämiſſen zu
einem ſittlichen Sollen zu finden. Die gerechte Erwartung
wird aber nur in ſehr ungenügender Weiſe befriedigt. Denn
auch hier werden die Schwierigkeiten nur durch Vergeſſen
oder Ignoriren der Vorderſäze und durch Beiziehung ganz
anderer Vorausſezungen zu löſen geſucht.
Nachdem zuvor der Menſch vermittelſt der beiden
„Dietriche der Naturwiſſenſchaften“, der kleinſten Schritte
und größten Zeiträume, in der üblichen Weiſe als Abkömm—
ling begünſtigter Affenpaare aufgezeigt, die Unvergleichbar—
keit der phyſiſchen und pſychiſchen Vorgänge principiell ge—
läugnet, vielmehr die Möglichkeit, daß ſich Bewegung jo
gut wie in Wärme, auch in Empfindung umſezen könne,
behauptet, die Annahme einer Seele mit Carl Vogt für
eine reine Hypotheſe, die weder zu begründen ſei noch ir—
gend etwas nüze, erklärt worden iſt, werden wir mit Einem
Male auf einen ganz anderen Boden geſtellt, wenn es ſich
darum handelt, die Grundlagen einer Sittenlehre aufzu—
finden.
Der Menſch, heißt es nun, iſt kein bloßes Naturweſen;
die Natur hat in ihm über ſich ſelbſt hinausgewollt (freilich
ohne daß wir erfahren, wie ſie dieß Münchhauſen'ſche Kunſt—
werk fertig bringen konnte); die Welt iſt zwar nicht von
425
einer höchſten Vernunft, aber auf eine höchſte Vernunft
angelegt. Die Natur, die ſich im Thier nur empfunden
hat, will ſich im Menſchen nun auch erkennen. Es ſind
dieß Hegel'ſche Reminiſcenzen, nur daß jezt an die Stelle
der „Idee“ die Natur getreten iſt.
Was man aber von einem Anhänger Darwins am
wenigſten erwarten ſollte, der eigentliche Ausgangspunkt
für die Conſtruction ſittlicher Forderungen iſt der Gattungs—
begriff. Alles ſittliche Handeln, wird geſagt, iſt ein Sich—
beſtimmen des Einzelnen nach der Idee der Gattung. Wenn
irgend Jemand in der Welt, ſollte man aber denken, jo
müßte der Darwiniſt dem Nominalismus huldigen; für ihn
exiſtirt nur das Einzelne; die Gattung iſt eine Abſtraction,
eine willkührlich nach den Bedürfniſſen des discurſiven
Charakters menſchlicher Erkenntniß in die Welt des Seien—
den hineingezeichnete Figur von ſtets wechſelnden Umriſſen.
Nun ſollen aber aus der Gattungsgemeinſchaft ſogar Pflich—
ten folgen. Ich ſoll anerkennen, daß andere daſſelbe ſeien,
wie ich, mit den gleichen Bedürfniſſen und Anſprüchen!
Statt zu ſagen: wer die gleichen Anſprüche mit mir macht,
iſt mein Gegner, deſſen ich mich zu erwehren oder zu ent—
ledigen habe im Kampf ums Daſein, wird die ungeheure
Forderung faſt wie etwas Selbſtverſtändliches hingeſtellt,
ich habe den Andern mir gleich zu achten.
Wiewohl es bei dem Darwinianer durch die Verläug—
nung der Vorderſäze ſtärker ins Auge fällt, ſo ſteht Strauß
doch hierin keineswegs allein, ſondern theilt mit Kant und
den meiſten Moralphiloſophen den Fehler, den Hauptpunkt
— —
426
ganz in der Stille ſchon vorauszuſezen. Wie wenn es ſich
um die Gleichheit von Winkeln oder Dreiecken und um rein
logiſche Deductionen handelte, wird behauptet, daß die
Menſchen nach ihren Gattungsmerkmalen einander gleich
oder ähnlich ſeien und — daß nun deßhalb der Einzelne
den Andern ſich ſelbſt gleich zu ſtellen habe! Aber Ich
bin Ich und alle anderen gehören zum Nichtich; daß dieſe
mir gleich zu halten ſeien, das ſagt nicht die Logik, ſondern
— die Liebe, ja es iſt ſo unlogiſch als möglich. Warum
ſollten denn die Säze: Jeder iſt ſich ſelbſt der nächſte; jeder
ſei auf ſeinen Vortheil bedacht und ſehe, wie er die andern
überliſtet und überwältigt; jeder ziehe die ſinnlichen Ge—
nüſſe als die reellen und ſicheren den unſinnlichen und ein—
gebildeten vor u. ſ. w. weniger logiſch und nicht ebenſo
gut zu einer allgemeinen Formulirung geeignet ſein? In—
wiefern ſoll denn das Princip: die Maxime deines Han—
delns muß allgemein anwendbar ſein, rationeller lauten,
als der Grundſaz: die Maxime deines Handelns braucht
für Niemand zu paſſen als für dich, oder: der concrete
Fall iſt niemals ein allgemeiner, ſondern ſtets ein einzelner?
Oder warum ſoll der Streit mißfällig ſein? Der Streit,
in dem ich ſiege und gewinne, wird mir gefallen, denjenigen,
in welchem ich zu unterliegen fürchten muß, werde ich zu
vermeiden ſuchen; wenn aber Dritte ſtreiten, ſo braucht es
mir nicht zu mißfallen; duobus litigantibus tertius gaudet;
jedenfalls aber kann es mir gleichgiltig ſein.
Wenn uns der Böſewicht ſagte: ich weiß und will
nichts von eurer Idee der Gattung und folge meinen Be—
427
gierden, ohne zu fragen, ob ſich die Maxime meines Han—
delns zu einer Vorſchrift für Alle eignet, was könnten wir
ihm darauf antworten als etwa: wir unterwerfen dich aber
unſerer Ordnung, mit dem ſtillſchweigenden Vorbehalt: ſo
lange wirs vermögen und deinesgleichen nicht die Mehr—
heit bilden.
Man kommt mit ſolch allgemeinen und formalen Ab—
leitungen aus der Idee, Natur, Gattung, Beſtimmung der
Menſchheit wie mit der Kant'ſchen Forderung einer Formel
von univerſeller Anwendbarkeit nicht vom Fleck. Solche
Säze ſprechen zwar in der Regel etwas ganz Richtiges aus,
aber ſie leiden alle an einer petitio prineipn, ſie ſezen die
Hauptſache ſtillſchweigend voraus. Man muß auf die pſy—
chologiſchen Grundthatſachen, über welche hinaus kein Weg
mehr führt, zurückgehen, und dort im Einzelnen die Anſäze
und Keime der ſittlichen Begriffe aufzeigen.
Ein Verſuch hiezu iſt an einer anderen Stelle für
die Deutung des Rechtsgefühls gemacht; zu der näheren
Begründung und Ausführung, welche derſelbe noch erfordern
würde, iſt hier nicht der Ort.
Der Inhalt unſeres Seelenlebens ſtammt aus den
Trieben. Nur daß über dem Gerüſte unſerer animaliſchen
Willensanſäze noch ein Aufbau von humanen, metaphy—
ſiſchen Vernunft- oder Ordnungstrieben, die zum Erſaz für
die geringere ſinnliche Gewalt von einem Gefühl ihres vor—
züglicheren Werthes begleitet ſind, unter gleichem Dache
angebracht iſt, rückt uns über die Thierwelt hinaus und
macht uns zu bewußten Gliedern des Weltganzen.
Der Trieb des Mitgefühls, das Verlangen nach einer
feſten Ordnung für unſer Wollen, das Gefühl eines unbe—
dingten Sollens ſind die Quellen aller ſittlichen Begriffe.
Wir ſuchen uns immer mit dem unbeſtimmten Com—
parativ des Höheren, der höheren Triebe, Anlagen, Kräfte
zu behelfen. Daß wir geneigt ſind unter den doch immer
relativen Bezeichnungen der räumlichen Dimenſionen das
Obere für werthvoller zu halten als das Untere und das
Höhere dem Niederen vorzuziehen, iſt eine wie angeborene
Weltſymbolik. Wir richten den Blick nach Sonne und
Sternenhimmel. Suchet was droben iſt; denn alle gute und
vollkommene Gabe ſcheint uns von oben herab zu kommen.
Man braucht noch nicht an die Idealität des Raums,
ſondern nur an die Antipoden zu denken, um das Täu—
ſchende dieſer Vorſtellungen vom Oberen und Höheren zu
erkennen. Aber dennoch ſagt uns ein unabweisbares Ge—
fühl, daß hier mehr ſein müſſe als bloße Symbolik; es
verwehrt uns, in jenen metaphyſiſchen Anlagen bloße ſub—
jective Wahngebilde zu ſehen, denen keine Realität gegen—
überſtünde. Wir fühlen uns getrieben ihnen transcendenten
Urſprung beizulegen, ſie als Bänder und Pfänder anzu—
ſehen, die das Bruchſtück unſeres planetariſchen Lebens zu
dem Ganzen einer vollkommeneren Welt in Beziehung ſezen.
Der menſchliche Gattungscharakter kann eine höhere
Bedeutung und gar eine Verpflichtung nur in ſich ſchließen,
wenn die Gattung mehr iſt als eine blos flüchtige Station
in den Kämpfen und Wechſelſpielen blinder Kräfte, wenn
ſie uns als ein verwirklichter Gottesgedanke, als das Glied
eines allumfaſſenden auf die Verwirklichung idealer Güter
angelegten Weltplans erſcheinen dürfte. Mit dem Begriff
einer Beſtimmung des Menſchen mögen uns wenigſtens
diejenigen nicht kommen, welche alle Teleologie in der Welt—
erklärung verwerfen. Denn wie kann von der Beſtimmung
einer Sache die Rede ſein ohne Zweckſezung? Das Geſez
der Liebe, der Grundpfeiler aller Ethik, hätte einen ſchweren
Stand, wenn ſeine bindende Kraft nur in einer logiſchen
Kette von Gleichungen läge oder der Trieb des Mitgefühls
nur ein allen andern Neigungen und Begierden gleich—
werthiges Glied wäre. Wir fühlen uns gedrungen, die
Liebe als ein Weltprincip zu betrachten, welches die Idee
einer Ordnung in dem Reiche der ſelbſtbewußten Seelen
zu verwirklichen beſtimmt iſt, ſie auf ein allwaltendes, ſelbſt
fühlendes und liebendes Weſen zurückzuleiten, das uns in
dem Drange des Mitgefühls ein Pfand und Siegel unſerer
ebenbildlichen Abkunft und höheren Beſtimmung ins Herz
gelegt hat.
Es ſind dieß freilich unbewieſene und unbeweisbare
Annahmen; man kann ſie als bloße Wünſche, Träume oder
Hypotheſen bezeichnen. Ich nenne ſie Säze eines Glaubens,
der da berechtigt iſt, wo das Wiſſen aufhört und aufhören
muß, da wo dem Wiſſen nicht widerſpricht, ſondern dieß
nur ergänzt in der Richtung, auf welche es ſelbſt hinleitet.
Ohne ſolche Hypotheſen oder Glaubensſäze kann aber der
Menſch nicht denken und nicht leben, und auch die entgegen—
geſezten Anſichten ruhen in lezter Inſtanz auf Voraus—
ſezungen.
III. Wider die Formeln des alten Glaubens.
14. a
Auch wenn man im Menschen eine bejondere, von der
Thierwelt durch den ſcharfen Einſchnitt neuer und höherer
pſychiſchen Kräfte geſchiedene Gattung erkennt, ſo kann man
doch darüber nicht im Zweifel ſein, daß die Menſchheit von
der Pike auf zu dienen, von Zuſtänden aus, welche nahe
an die der höheren Säugethiere anſtreifen, ihre Bahn zu
höheren Zielen zu finden hatte. Alle Thatſachen der Natur—
und Geſchichtsforſchung weiſen überetnitimmend darauf hin;
nichts läßt vermuthen oder auch nur denkbar erſcheinen,
daß die Anfänge unſeres Geſchlechts in paradieſiſchem Glück
und ſtetiger Gottesgemeinſchaft zu ſuchen wären. Was wir
von Menſchengeſchichte wiſſen, alle Zeugniſſe der Anthro—
pologie und Geologie würden durch eine ſolche Annahme
auf den Kopf geſtellt. Die bibliſche Erzählung vom Pa—
radies und Sündenfall iſt zwar anſprechender, tiefſinniger
und gehaltvoller, aber um nichts glaubhafter und denkbarer
als die Sagen anderer Völker von einem goldenen oder
ſaturniſchen Zeitalter, wo die Pardel mit den Lämmern
weideten und die Menſchen im Schatten und von den Früch—
ten der Bäume Hunderte von Jahren im Verkehr mit den
ſeligen Göttern lebten.
Aber eben dieſe Fabel von einem urſprünglichen Stande
der Unſchuld und Gottähnlichkeit bildet den Grundſtein der
ganzen kirchlichen Dogmatik, wenn wir dieſe in ihrer allge—
mein verſtändlichen Faſſung nach Katechismus und Bekennt—
nißſchriften, und nicht nach den Umdeutungen moderner
Theologen auslegen. Daß der thatſächliche ſittliche Zuſtand
des Menſchen eine ſchwere Schuld, einen Abfall von Gott,
der ihn dereinſt rein und ſich ſelbſt naheſtehend in die Welt
geſezt habe, enthalte; daß der Menſch unfähig ſei, dieſe Ver—
ſchuldung und forterbende ſittliche Verderbniß aus ſeinen eige—
nen Kräften zu beſeitigen; daß Gott deßhalb aus unendlichem
Erbarmen ſich entſchloſſen habe, Gnade für Recht ergehen
zu laſſen, aber, weil doch die Sünde nicht ungerächt bleiben
könne, ein jtellvertretendes Opfer und zwar in der Perſon
ſeines eigenen, eingeborenen Sohnes anzunehmen, der hiezu
in die Welt kommen und die Leiden der Menſchheit, dazu
den ſchmerzlichen und ſchimpflichen Tod eines Miſſethäters
erdulden mußte; daß ſodann der Einzelne, um an den
Wirkungen dieſes welterlöſenden göttlichen Aktes Antheil
zu nehmen, eben dieſe Reihe von Vorſtellungen ſich glaubig
anzueignen und in dieſem neuerrungenen Gnadenzuſtand
Gott wohlgefällig zu leben habe — dieſe ganze Kette von
Säzen, die uns nur darum nicht ſo erſtaunlich vorkommen,
als ſie ſind, weil ſie uns in noch urtheilsloſer Kindheit
ſchon eingeprägt werden, bricht haltlos in ſich zuſammen,
ſobald das erſte Glied abgelöſt wird und die erſten Men—
ſchen nicht mit Engeln, ſondern mit Wilden zu ver—
gleichen ſind.
Man muß dieſen ganzen Ideengang verwerfen, man
wird auf eine durchaus andere Weltanſchauung gedränät,
432
jobald man davon ausgeht, was Vernunft und Erfahrung
bezeugen, daß der Menſch ſeine Laufbahn hart an der
Schwelle thieriſcher Exiſtenz zu beginnen hatte, daß ihm für
die Erreichung ſeines Ziels nichts mitgegeben war als einige
zarte Keime von Triebkräften einer höheren Lebensordnung,
eingeſenkt in den Complex animaliſcher Begierden und
Fähigkeiten, beſtimmt wie ein Sauerteig die trägere Maſſe
zu durchdringen und umzubilden. Daß der Menſch aber
unfähig ſei ſich aus eigener Kraft zu vervollkommnen, iſt
entweder eine Spielerei mit Worten oder eine Läſterung
des göttlichen Weltplanes. Eigene Kräfte, was man ver—
nünftiger Weiſe dann unter dem Wort verſtehen müßte,
hat er ja überhaupt gar keine, ſondern nur verliehene.
Dieſe verliehenen aber müſſen hinreichen, ſeine Aufgaben
zu erfüllen, wenn er nicht ein Pfuſchwerk und ein Miß—
geſchöpf ſein ſoll, das zum Untergang beſtimmt iſt. Sicherer
iſt nichts und nichts erhebender, als daß die Menſchheit
in aufſteigender Entwicklung begriffen iſt, wenn ſchon die be—
ſchriebene Bahn, wie Leibnitz meint, der Spirallinie gleichen
mag, die auch im Abwärtsgehen, in der fallenden Windung
ſteigt; und der Maßſtab für das Fortſchreiten kann nur
in der wachſenden Leitung und Läuterung der niederen
Kräfte durch die höheren geſucht werden. Wenn der Menſch
aber damit den Anfang machen mußte, unter dem Einſaz
aller Kräfte gegen die feindlichen Elemente und wilden
Thiere um ſein Daſein zu ringen und doch den Weg vom
Höhlenbewohner, Steineſchleifer und Pfahlbauer bis zu
Socrates und Plato ohne die Sendung eines nachhelfenden
433
Gottesſohnes gefunden hatte, jo konnte es ihm auch an
einem inneren Leitſtern für die weiteren Wegſtrecken nicht
mehr fehlen. Die menſchlichen Mängel und Sünden ſind
nicht der forterbende Fluch eines verſchuldeten Abfalls von
einſt beſeſſener Gottesgemeinſchaft, ſondern die Reſte und
Wirkungen des wahren, urſprünglichen Zuſtandes und der
uns eigenthümlichen Miſchung ungleichartiger Kräfte.
Die Kluft zwiſchen dieſer Auffaſſung und dem chriſt—
lichen Dogma erſcheint unüberſteiglich und ſie iſt es auch
in der That, ſobald uns zugemuthet wird, jener Kette von
Vorſtellungen auch zugleich eine Reihe entſprechender ge—
ſchichtlicher Thatſachen zu unterbreiten. Anders iſt es,
wenn nur von uns gefordert wird, den ſittlich religiöſen
Gehalt jener Säze gelten zu laſſen. Die Verwerfung der
hiſtoriſchen Vorgänge hindert die Anerkennung nicht, daß der
Menſch nach dem Bilde Gottes angelegt und zum Gliede
eines Gottesreiches berufen iſt; nur ſehen wir darin ein
Ideal, deſſen Verwirklichung wir vorwärts ſuchen und nicht
in dem Ahnherrn unſeres Geſchlechtes. An dieſem Ideal
gemeſſen muß ſich uns die tiefe Verwerflichkeit unſerer
thatſächlichen Seelen- und Geſellſchaftszuſtände, ſowie das
Verlangen nach einer Erlöſung von den Hemmungen jenes
höheren Lebens aufdrängen. Der Einzelne iſt für ſich allein
unfähig, dieſe Hemmungen zu beſeitigen; nur die Ueber—
lieferung des von der Menſchheit bereits Errungenen und
die Gemeinſchaft mit Andern zeigt und bahnt ihm den Weg.
Der glaubige Aufſchwung des Gemüths, den eine ſolche
Auffaſſung von Welt und Menſchenleben sub specie aeter-
Rümelin, Reden mu. Aufſätze. 28
434
nitatis erfordert, wird durch nichts ſo erleichtert und ge—
fördert als durch den Hinblick auf die vorbildliche Geſtalt
desjenigen, der dieſe höchſte Steigerung des Menſchenziels
und Menſchenwerths in die Welt geführt und durch das
reinſte, innigſte und kräftigſte Gottesgefühl in Lehre und
Leben an ſich verwirklicht hat.
Freilich „wenn man's ſo hört, möcht's leidlich ſcheinen,“
aber wir verkennen keinen Augenblick, daß auch eine ſolche
oder ähnliche Umdeutung den ganzen Bau der orthodoxen
Kirchenlehre untergraben, daß fie nicht blos die Säze von;
Paradies und Erbjünde, von dem zornigen, zur Correctur
ſeines Werkes veranlaßten Gott, von dem Menſch gewor—
denen Gottesſohn und deſſen ſtellvertretendem Opfertod zer—
ſtören, ſondern auch noch die meiſten weiteren Lehren von
der Inſpiration, Perſon Chriſti, Trinität, Abendmahl u. ſ. w.
aus ihren Fugen drängen müßte. Und doch gehört der
obige Standpunkt vielleicht noch zum grünen Holze.
15.
Es war ein böſes Wort und eine ſchlechte Prophe—
zeiung, als vor 20 Jahren geſagt wurde, die Wiſſenſchaft
müſſe umkehren, in dem Sinne, daß ſie ſich der Theologie
unterzuordnen habe. Unterdrückt hat man zwar die Wiſſen—
ſchaft ſchon; ſie iſt ſtillgeſtanden und in Verfall gerathen,
aber umkehren kann und wird ſie niemals. Wohl aber
mag es ſich nun fragen, ob es nicht Zeit wäre, nachdem,
der Berg nicht zum Propheten gekommen iſt, daß nun der
Prophet zum Berge käme. Die Theologie — es iſt nur
435
die evangeliſche, die deutſche, die dogmatiſche gemeint —
muß, wenn ſie eine Wiſſenſchaft heißen und ſein, und nicht
eine bloße Paſtoreninſtruction werden will, das, was für
alle Wiſſenſchaften gilt, auch für ſich gelten laſſen. Unſer
Intellect erträgt unn einmal die Abtheilung ſeines Willens
..
in verschiedene, von einander abgeſchloſſene Käſten und
ec
Schiebfächer nicht; es kann unmöglich in der einen Wiſſen—
ſchaft wahr ſein, was in der andern falſch iſt. Auch darf
ſich keine von ihnen träumen laſſen, daß ſie die Garbe Jo—
ſephs ſei, vor der ſich die Garben der Andern zu verneigen
hätten; es wäre denn etwa die Logik, der wenigſtens eine
Art von Cenſor- oder Ephorenamt nicht abzuſtreiten it.
Die Theologie hat ſonſt immer in inniger Fühlung
mit der Philoſophie gelebt und eine dauernde Löſung dieſes
Bandes iſt undenkbar, da ihr Thema ja auch zur Meta—
phyſik gehört. In den früheren Jahrhunderten und nicht
blos im Zeitalter der Scholaſtik, ſondern auch noch darüber
hinaus war die Philoſophie die Dienerin und die unfüg—
ſamen Denker wurden ignorirt oder verbrannt. Von Leib—
niz bis Hegel wurde ſie die Führerin oder wenigſtens die
Magd, die mit der Fackel vorausleuchtet. Es iſt erſt etwa
30 Jahre, daß die Theologie das jezt läſtig und gefährlich
ſcheinende Verhältniß abbrach und ihren Weg allein finden
zu können glaubt.
Sollte die Philoſophie hieran die Schuld tragen und
kein Auskommen mehr mit ihr möglich ſein? Sollte ſie ſich
ſchroffer und unverſöhnlicher zu Religion und Chriſtenthum
verhalten, als die Kritiken Kant's „des Alleszermalmenden“,
28 *
436
als der Hegel'ſche Banlogismus mit ſeiner zerſezenden Dia—
lectik? Es wäre freilich faſt mehr eine Aufgabe für den
Statiſtiker als den Philoſophen, über den Stand der Phi—
loſophie der Gegenwart Auskunft zu geben, da die Mannig—
faltigkeit ſo groß iſt, daß ſchon eine ſehr complicirte Ta—
belle zu ihrer Rubricirung nöthig wäre. Nur die Herbart'-
ſche Richtung beſteht noch als Schule; die Hegelianer ſtehen
auf dem Ausſterbeetat; die Anhänger Krauſe's bilden ein
kleines Häuflein. Schopenhauer und, wenigſtens bis jezt
noch, auch Hartmann ſind glänzende Irrlichter; geiſtvolle
Denker und ausgezeichnete Schriftſteller, von deren Werken
es nicht zu verwundern iſt, wenn ſie lieber und häufiger
geleſen werden, als die ſchwerflüſſigen Werke der alten
Meiſter, in welchen der Gedanke mit dem Ausdruck in nicht
immer glücklicher Weiſe ringt. Aber unter den eigentlichen
Fachmännern hat jener piquante Peſſimismus doch noch
kaum Boden gefunden. Ebenſo trifft dieß für den Mate—
rialismus zu, der ſeine Anhänger bis jezt mehr unter den
Naturwiſſenſchaftlern, die in der Philoſophie hospitiren, als
unter den Philoſophen zählt.
Für das Gros der philoſophiſchen Schriftſteller und
akademiſchen Lehrer iſt wohl kein Merkmal ſo hervortretend
und charakteriſtiſch, als daß das Princip der Arbeitstheilung,
das die neuere deutſche Wiſſenſchaft faſt im Uebermaaß be—
herrſcht und deren Glanz- wie Schattenſeiten begründet,
auch auf dem Gebiet der philoſophiſchen Forſchung Plaz
gegriffen hat. Wie von unſern großen Hiſtorikern keiner
mehr eine Univerſalgeſchichte ſchreibt oder auch nur eine
437
Geſchichte des Alterthums, des Mittelalters, der neuen Zeit
fertig bringt, dagegen die einzelnen Vorgänge und Jahr—
hunderte nach allen Richtungen durch die gründlichſte und
umſichtigſte Quellenforſchung aufgehellt und für ein künf—
tiges, zuſammenfaſſendes Verſtändniß des Ganzen zuge—
richtet werden, ſo iſt jezt auch unter den Philoſophen Nie—
mand mehr, der die ganze Welt der Erſcheinungen aus
dem reinen Sein oder Nichts conſtruirend aufzubauen ver—
ſuchte und im Kreis das All am Finger laufen ließe. Das
Feld der eigentlichen Metaphyſik wird nur mit Beſcheiden—
heit und Vorſicht betreten, aber die Probleme treten in
Theilfragen auf den Gebieten der Erkenntnißlehre und Lo—
gik, der Pſychologie, der Ethik und Rechtsphiloſophie, der
Aeſthetik aus einander und werden unter einer weit gründ—
licheren Beachtung der früheren Forſchungen einzeln weiter
geführt. Wenn man auch einräumen wird, daß gerade
dem Weſen der Philoſophie, als der auf das Ganze der
Erfahrung gerichteten Wiſſenſchaft, eine ſolche Theilarbeit
und Iſolirung der Probleme noch mehr widerſtrebt als
anderen Disciplinen und daher nur als eine nothwendig ge—
wordene Uebergangsperiode aufzufaſſen ſein mag, ſo kann
doch nur Unkenntniß in dieſer Wendung einen Stillſtand
oder Rückgang ſehen und den Werth der Ergebniſſe, die
auf dieſem Wege gewonnen werden, unterſchäzen. Auch der
unläugbare Fortſchritt in der Klarheit und Verſtändlichkeit
der Gedankenentwicklung gegenüber von den älteren Meiſtern,
welche die noch widerſtrebende deutſche Sprache zuerſt in
den Dienſt des abſtracten Gedankens zu zwingen hatten,
438 .
iſt nicht hoch genug anzuſchlagen. Hermann Lotze gehört
zu den ſchärfſten und tiefſten Denkern unſeres Jahrhunderts.
Seine Schriften werden noch hoch geſchäzt und eifrig ſtudiert
werden, wenn man die Hauptwerke von Fichte, Schelling,
Hegel nicht mehr durchlesbar finden, ſondern nur noch aus
Compendien und Auszügen kennen lernen wird. Es iſt
keine von allen Fragen, mit denen er ſich beſchäftigt hat,
die er nicht um ein gutes Stück Weges über ihren früheren
Standort hinausgeführt hätte. Und dabei fehlen weder die
Anſäze einer abſchließenden Weltauffaſſung, noch die Hoff—
nung auf eine zuſammenfaſſende Darſtellung derſelben.
Weder bei ihm noch bei verſchiedenen Andern unter
den angeſehenſten Denkern der neueren Zeiten hätte die
Theologie Urſache, ſich über eine gegen Religion und
Chriſtenthum abgekehrte oder gar feindliche Richtung, über
den Mangel an Anknüpfungspunkten zu beklagen. Hier
iſt nicht von Materialismus, Nihilismus, ethiſchem Indif—
ferentismus die Rede; ſeit Leibnitz waren die Bedingungen
für eine Verſöhnung der Theologie und der Wiſſenſchaft,
wie man denken ſollte, niemals günſtiger und doch fehlt ſo
gut wie alle nähere Fühlung. Woher dieſe eigenthümliche
Erſcheinung in einer Zeit, wo mehr als jemals Grund
vorläge, daß das Verwandte ſich näher träte?
Es iſt Ein Punkt, der zwar zu allen Zeiten Wiſſen
und Glauben ſchied, aber niemals eine ſo unüberſteigliche
Kluft zwiſchen beiden bildete, als jezt — der Wunderbegriff.
So weit iſt die Wiſſenſchaft erſtarkt, in ſich ſicher und
übereinſtimmend in allen Zweigen und Richtungen, Schulen
439
und Parteien, daß ſie dem Wunder in jeder Art und Ge—
ſtalt unbedingt und ohne Weiteres die Thüre weiſt. Sie
erkennt nur das Eine Wunder aller Wunder an, daß es
überhaupt eine Welt giebt und gerade dieſe, aber innerhalb
des Cosmos verwirft ſie ſchlechthin jeden wie immer for—
mulirten Anſpruch, daß die Durchbrechung ſeiner Ord—
nungen und Geſeze etwas Denkbares und gar etwas Vor—
züglicheres ſei als deren unwandelbare Geltung. Das
Wunder iſt in ganz gleicher Weiſe für alle Natur-, Ge—
ſchichts- und philoſophiſchen Wiſſenſchaften in eben dem,
was
2
“=
s jein und bedeuten will, ein begriffliches Unding,
ein directes Attentat auf alle Vernunft und die elemen—
tarſten Grundlagen aller menſchlichen Wiſſenſchaften. Wiſſen—
ſchaft und Wunder ſtehen einander gegenüber wie Vernunft
und Unvernunft. Alle die kleinen Künſteleien, Phraſen
und Sophismen von noch unbekannten Naturgeſezen, von
der Macht des Geiſtes über die Natur, von der Durch—
brechbarkeit der Naturordnung als einem auch mit vorge—
ſehenen Stück eben dieſer Ordnung ſelbſt, womit die Apo—
logeten jenen ſchneidenden Gegenſaz abzuſchwächen oder zu
vertuſchen lieben, ſind nicht mehr werth als in den Papier—
korb zu wandern. Es iſt eine durchaus unerträgliche Zu—
muthung, wenn im Kreiſe der Wiſſenſchaften eine derſelben
erklärt, daß ſie zwar im Allgemeinen die unwandelbare
Geltung der Naturgeſeze anerkennen, aber doch Ausnahmen
in Anſpruch nehmen müſſe für einige beſtimmten Perſonen,
Zeiten und Orte auf der Erde, wo es eben doch möglich
geweſen ſei, daß ein Weib empfängt ohne Mann, daß ein
440
Stern über einem Hauſe ſtehen bleibt, daß ein menſchlicher
Körper auf der Oberfläche des Waſſers ſchreitet, ohne ein—
zuſinken, daß man mit Speiſen für Wenige ebenſo viel
Tauſende ſättigt und das Uebriggebliebene noch mehr iſt
als der urſprüngliche Vorrath, daß Todte auferſtehen und
nachher verſchwinden oder in den Luftraum emporſchweben
. :
Der Grund, warum der Widerſpruch gegen den Wunder—
begriff jezt viel intenſiver und allgemeiner iſt als je zuvor,
liegt nicht blos darin, daß die Natur- und Geſchichtswiſſen—
ſchaften nach allen Richtungen in den lezten Jahrzehenden
größere Fortſchritte gemacht haben als früher in ebenſo
vielen Jahrhunderten, daß ſie dabei die alten Fabeln und
Vorurtheile aus allen ihren lezten Schlupfwinkeln ver—
trieben und von nichts eine ſo ſichere und felſenfeſte Ueber—
zeugung gewonnen haben, als von der Gleichartigkeit alles
Geſchehens und der Ausnahnsloſigkeit aller wahren und
wirklichen Geſeze. Es kommt auch noch ein ebenſo wichtiger
Grund philoſophiſcher Art hinzu.
Es iſt kein neuer Gedanke, aber einer von den wenigen
zur allgemeinen Anerkennung gelangten Säze der Philo—
ſophie, daß das nächſte und erſte Object aller Erfahrung
und alles Denkens nicht äußere Vorgänge und Erſcheinungen,
ſondern innere Bilder und Vorſtellungen ſind, und daß
deßhalb jede Annahme von Dingen außer uns ſchon auf
einer Schlußfolgerung aus der Form und dem Inhalt dieſer
Vorſtellungen beruht. Die Bürgſchaft dafür, daß dieſer
Schluß richtig und unſere Wahrnehmungen keine Viſionen
441
und Einbildungen ſind, liegt ſchließlich nur in dem Be—
wußtſein ihrer Uebereinſtimmung oder Vereinbarkeit ſowohl
mit unſern eigenen ſonſt vorhandenen und bewährten Vor—
ſtellungen als mit den Wahrnehmungen anderer Menſchen
im gleichen Falle. Beides zuſammen erzeugt die Gewißheit,
daß unſere Auffaſſung einer äußeren Erſcheinung ein denk—
nothwendiger Act für jeden normalen, dem unſrigen ähn—
lich organiſirten Intellect ſei.
Dieſe Säze wirken aber auf den Wunderbegriff ge—
radezu vernichtend. Nicht Wunder liegen uns vor, die wir
zu erklären hätten, ſondern Wundervorſtellungen, ja in den
meiſten Fällen nicht einmal dieſe, ſondern bloße Wunder—
erzählungen aus zweiter, dritter bis hundertſter Hand.
Wenn wir ein Wunder denjenigen Vorgang nennen, welchen
natürlich zu erklären unmöglich iſt, ſo kann dieß Merkmal
niemals für eine bloße Wundervorſtellung zutreffen, da die
Möglichkeit einer Selbſttäuſchung hier nie völlig ausgeſchloſ—
jen ſein kann. Ja ſelbſt wenn es wirklich Wunder gäbe, jo
könnten ſie gar nicht als ſolche erkannt werden. Der nor—
mal denkende Menſch müßte ſeine Wahrnehmungen für
Viſionen halten, weil die einzigen und entſcheidenden Kri—
terien der Wahrheit nicht zutreffen würden. Daß aber
Wundervorſtellungen gar nichts Wunderbares, ſondern etwas
Alltägliches, für ungebildete Zeiten, Völker und Kreiſe faſt
Normales zu nennen ſind und daß die bewußte Täuſchung
an ihrer Entſtehung mindeſtens ebenſo viel Antheil hat,
als die unbewußte, dafür braucht man auch heute noch die
Beweiſe nicht weit zu ſuchen.
442
Wiſſenſchaft und Wunder ſind jo unvereinbare Dinge,
daß das Eine genau da aufhört, wo das Andere anfängt.
Wenn daher die Theologie ſelbſt Wiſſenſchaft ſein oder
auch nur mit ihr im Frieden leben will, ſo ſind auf dieſem
Punkte keine Compromiſſe möglich, ſondern ſie muß ohne
alle Klauſeln und Vorbehalte, pure et nude, auf den Wunder—
begriff verzichten und alle Conſequenzen dieſes Verzichtes
auf ſich nehmen. Für alle übrigen Dinge würden die An—
knüpfungspunkte an eine weder wiſſensſtolze noch glaubens—
feindliche Philoſophie nicht fehlen.
N Die Eine Forderung ſchließt freilich unſagbar Vieles
in ſich. Der Dichter ſagt nicht umſonſt: das Wunder iſt
des Glaubens liebſtes Kind. Sein liebſtes, mag man zu—
geben, aber nicht ſein einziges und gewiß nicht ſein beſtes
Kind.
Was aber vom Dogma noch übrig bliebe und ob das
Uebrigbleibende noch das Chriſtenthum wäre, iſt eine wohl
aufzuwerfende Frage, die eine Entſcheidung von kurzer
Hand nicht erträgt. Wenn die Orthodoxie ſchnell entſchie—
den ſein ſollte, den zweiten Theil der Frage zu verneinen,
jo dürfte fie darum doch noch nicht ſchließen: alſo muß es
doch Wunder geben oder müſſen wir wenigſtens ſolche be—
haupten. Aber man darf doch daran erinnern, daß die
Aufgabe, um die es ſich handelt, ſchon vor 50 Jahren ge—
löst worden iſt, z. B. in der chriſtlichen Dogmatik von
Schleiermacher. Sie ſagt: „Aus dem Intereſſe der Fröm—
migkeit kann nie ein Bedürfniß entſtehen, eine Thatſache
ſo aufzufaſſen, daß durch ihre Abhängigkeit von Gott ihr
Bedingtſein durch den Naturzuſammenhang ſchlechthin auf—
gehoben würde.“ Wir würden freilich lieber auch dieß
Schlechthin noch geſtrichen ſehen. Und man muß über jene
Löſung ſagen, daß das neue Princip auch einen völligen
Neubau verlangt hätte, während hier die alten Formeln
beibehalten und nur vielfach durch eine Art geiſtvoller Liſt
umgedeutet wurden.
Wie dem aber auch ſei, eine Kirche, deren Dogma ſich
mit den elementaren Grundvorausſezungen aller Wiſſen—
ſchaften in Widerſpruch ſezt, kann dieſen Zuſtand nicht auf
die Länge ertragen. D
kennt nur Eine Wahrheit. Wenn ſie die Wiſſenſchaft nicht
unterdrücken kann und will, ſo muß auch die Theologie in
enn der menſchliche Geiſt will und
deren Bahnen einlenken, da die Wiſſenſchaft niemals um
kehrt. Eine Religion, deren Glaubensformeln veraltet und
den intelligenteſten Kreiſen der Geſellſchaft fremd geworden
ſind, wird auf die Dauer auch die Herrſchaft über die
weniger intelligenten und ungelehrten Klaſſen nicht be—
haupten; denn jene und nicht dieſe ſind die geiſtigen Führer
ihres Zeitalters. Iſt denn aber dieſe Herrſchaft über die
ungelehrten Klaſſen noch vorhanden und geſichert? Die
Statiſtik kennt Thatſachen hierüber, an denen man er—
ſchrecken muß. Es iſt die höchſte Zeit, daß man in den
leitenden Kreiſen den Ernſt der Lage erkenne und auf
wirkſamere Mittel ſinne als die obligaten Klagen und
Predigten gegen den Unglauben, welche von den ſicheren
Kanzelbrüſtungen aus an die Adreſſen der Abweſenden er—
gehen.
16.
„Ihr ſeid das Salz der Erde; wo nun das Salz
dumm wird, womit ſoll man ſalzen? Es iſt zu nichts hin—
fort nüze, denn daß man es hinausſchütte und laſſe es die
Leute zertreten.“
Wer es verſucht und vermag, vom Kleinen und Neben—
ſächlichen abzuſehen und mit hiſtoriſchem Blick auf den Kern
und Gehalt der Erſcheinungen zu achten, für den iſt der
deutſche Proteſtantismus in der That das Salz der Erde,
das koſtbarſte Gut, die erſte unter den geiſtig-ſittlichen
Mächten der Gegenwart. Die anderen aus der Reformation
hervorgegangenen Bekenntniſſe, die reformirte, die angli—
caniſche Kirche, das ſcandinaviſche Lutherthum, die bunte
Vielheit der Diſſenters, ſo Vieles an ihnen ſonſt zu rühmen
und vorzuziehen ſein mag, ſie haben doch alle den engen
Geſichtskreis, die abgeſchloſſenen Formen in Dogma und
Cultus, die Iſolirung des religiöſen Moments gegen die
andern Gebiete des geiſtigen Lebens. Die deutſche Theo—
logie, in den innigſten Verband mit den deutſchen Hochſchulen
und in den Fluß ihrer freien und mannigfaltigen Bewegung
hineingeſtellt, hat immer in Fühlung und freier Wechſel—
wirkung mit allen idealen und humanen Beſtrebungen des
Volksgeiſtes geſtanden, und es, wenn nicht immer direct
gefördert, doch wenigſtens ermöglicht, daß vom Beſten, was
die neuere Welt an Wiſſen und Kunſt beſizt, der größte
Antheil aus dem Boden des deutſchen Proteſtantismus
herausgewachſen iſt. Soll und darf dieß anders werden?
Soll die evangeliſche Kirche Deutſchlands zu den gebildeten
445
Klaſſen in die Stellung eintreten, wie die Volksculte des
ſpäteren Alterthums, wie die katholiſche Kirche der Gegen—
wart, nur ohne deren Herrſchaftsmittel? Soll ſie in einen
amerikaniſchen Sektenſchwarm auseinanderſtieben, was ſchließ—
lich für ein denkendes Volk, das nur an Eine Wahrheit
zu glauben gewöhnt war, doch nicht viel anders hieße,
als ſich in ein Irrenhaus zu verwandeln, und was gegen—
über von den neuen Anläufen der ultramontanen Partei
zur Knechtung und Schändung aller Vernunft, Freiheit und
Bildung die äußerſten Gefahren in ſich ſchlöße? Wer es
gut mit ihr meint, wer in ihr das Palladium des deutſchen
Idealismus, die Bürgſchaft eines geiſtigen und ſittlichen
Fortſchritts unſerer Nation erkennt, der kann nur mit
banger Erwartung auf den Verlauf der Kriſis, in die ſie
eingetreten iſt, aber — nach meiner Auffaſſung — auch
nur mit Sorge und Mißtrauen auf die Aerzte blicken, die
ihr Krankenlager umſtehen und auf die Kuren, die ſie ihr
anrathen.
Unzweifelhaft ſind viele freidenkende und beſtgeſinnte
Männer unter denjenigen, welche für das Nöthigſte eine
Verfaſſungsreform der evangeliſchen Kirche erklären, die
Löſung und zum mindeſten die Lockerung des Verbandes
mit der Staatsgewalt, die Einführung von ſynodalen und
presbyterialen Organen in das Kirchenregiment, die Ver—
ſtärkung des Laieneinfluſſes.
Gegen dieſe Beſtrebungen und ihre Argumente habe
ich eine Reihe von Bedenken und Einwürfen vorzubringen.
Die evangeliſche Kirche iſt am Dogma krank, an dem
446
Zwieſpalt zwiſchen den überlieferten Glaubensformeln und
der modernen Bildung und Wiſſenſchaft. Wenn ſie auch
noch andere Gebrechen haben ſollte, ſo iſt dieſes doch weit—
aus das wichtigſte und entſcheidende. Die Glaubensartikel
ſind ihrer Natur nach das Fundament von allem Uebrigen
und auch den Verfaſſungsfragen könnte jedenfalls nur ein
ſecundärer Werth beigelegt werden. Wir nennen denjenigen
keinen guten Arzt, der das Hauptleiden verkennend oder
ignorirend für ein untergeordnetes Uebel Mittel verordnet,
von denen er nicht weiß, wie ſie auf den Hauptſiz der
Krankheit wirken werden. Auch wird demjenigen, der ein
Herzleiden hat, Jedermann abrathen, ſo lange daſſelbe nicht
geheilt iſt, eine große Reiſe anzutreten, ſeinen Wohnſiz oder
Beruf zu wechſeln oder auch nur einen Umzug vorzunehmen.
Es beruht auf einem unproteſtantiſchen Begriff von
Kirche, auf falſchen Analogien des politiſchen Lebens, es
iſt ein verhängnißvoller und folgenſchwerer Irrthum, wenn
man die ſeitherige Einfügung der Organe des Kirchenregi—
ments in die der Staatsgewalt als eine Knechtſchaft, die
Löſung dieſes Bandes als eine Befreiung der evangeliſchen
Kirche bezeichnet.
Die evangeliſche Freiheit iſt darein zu ſezen, daß der
einzelne, ſelbſtſtändige, in den weſentlichen Glaubenswahr—
heiten unterrichtete Chriſt alle Bedingungen des religiöſen
Lebens in ſich ſelber trägt, in ſeinem Herzen und Käm—
merlein erfüllen kann. Wie der ſchiffbrüchige Weiſe des
Alterthums kann er jagen: omnia mea mecum porto; als
ein Robinſon auf einer unbewohnten Inſel kann er ſeinem
447
Gott und mit feinem Gott leben. Prediger und Gotteshaus
können ihm nüzlich ſein, ſind ihm aber doch auch entbehrlich.
Das Bedürfniß der geiſtigen Anlehnung, der gemeinſamen
Andacht und Erbauung kann er auch ſchon befriedigen, wo
zwei oder drei beiſammen ſind in Seinem Namen. Er
muß es aber als zweckmäßig und förderlich, als eine Wohl—
that anerkennen, daß Allen Gelegenheit und Mittel darge—
boten werden zur Erweckung, Befeſtigung und Fortbildung
ihrer frommen Gemüthszuſtände und er wird dieſe Mittel
in der Einrichtung von geordneten Formen eines Kultus
finden. Aber beneficia non obtruduntur; die Gemeinſchaft
der Gleichgeſinnten kann keinen Zwang und keine Gewalt
gegen ihn ausüben; ihre Aufgabe beſchränkt ſich auf ein
Einladen und Darbieten, auf die Herſtellung von Weg—
weiſern für den Irrenden, auf die Unterweiſung der Un—
mündigen. Doch auch dieſe beſchränktere Aufgabe erfor—
dert ſchon einen Apparat von äußeren Mitteln, die Her—
ſtellung und Erhaltung von gottesdienſtlichen Gebäuden,
die Heranbildung, Beſtellung und den Unterhalt von Geiſt—
lichen, die Anordnung des Kultus und die Führung der
Aufſicht über dieſe Einrichtungen. Damit iſt der Stoff
einer fortlaufenden Verwaltungsthätigkeit und das Bedürfniß
einer ſtändigen Behörde gegeben, welche aus rechtſchaffenen
und ſachkundigen Gliedern der Glaubensgenoſſenſchaft zu—
ſammenzuſezen iſt. Nun muß aber wieder Jemand vor—
handen ſein, der jene Behörde einſezt und beſtellt, ihr die
erforderliche Autorität leiht, ſie überwacht und anhält, ihre
Pflichten zu erfüllen, ihre Befugniſſe nicht zu überſchreiten.
448
Und dieſe Function iſt es nun, welche die deutſche
lutheriſche Kirche, abweichend von dem Presbyterial- und
Synodalſyſtem der Reformirten, dem Staatsoberhaupt, in
monarchiſchen Staaten dem Landesfürſten, in republika—
niſchen der höchſten Obrigkeit zuweist. Es geſchieht dieß
in der Vorausſezung, daß auch der Staat an einer geord—
neten Führung und Pflege des religiöſen Lebens ſeiner
Unterthanen ein hohes und warmes Intereſſe haben müſſe
und mit dem Vertrauen, daß ein ſolches Mandat in loyaler
Weiſe geübt und nicht zu einem eigenwilligen oder gewalt—
ſamen Eingreifen oder zu Einmiſchung fremdartiger Zwecke
werde mißbraucht werden. Es iſt dieß nicht die Ueber—
tragung einer Kirchengewalt — denn eine ſolche giebt
es auf dem Boden des Proteſtantismus überhaupt nicht —
ſondern einer oberſten Leitung und Ueberwachung des Kir—
chenregiments, ſoweit ein ſolches nach dem Obigen Plaz greift.
Der geſchichtliche Gang war nun freilich ein anderer
und die thatſächlichen Zuſtände geſtalteten ſich vielfach ab—
weichend von einer ſolchen idealen Conſtruction des Ver—
hältniſſes. Aber um zu beurtheilen, ob dieſe Anlehnung
des Kirchenregiments an den ſtaatlichen Organismus an
ſich als ein Stand der Unfreiheit und des Zwanges anzu—
ſehen wäre, iſt es doch nöthig, ſich den inneren Zuſammen—
hang der Sache zu vergegenwärtigen. Deutlicher jedenfalls
und wirkſamer konnte es nicht ausgedrückt werden, daß der
Proteſtant in den kirchlichen Verfaſſungsformen etwas Ne—
benſächliches ſieht und nur unter allen Umſtänden jede Art
von Hierarchie und kirchlichem Herrſchaftsverhältniß ver:
mieden wiſſen will, als wenn er auf eine autonome geſell—
ſchaftliche Organiſation ganz verzichtet und nicht nur die
Ueberwachung, ſondern auch die oberſte Leitung jener kirch-
lichen Verwaltungsgegenſtände in die Hände der höchſten
Obrigkeit ſelbſt niederlegt.
Im Großen und Ganzen iſt die deutſch proteſtantiſche
Kirche bei dieſem Syſtem doch nicht übel gefahren; troz
Allem und Allem war doch immer hier noch mehr geiſtiger
Zug und freie Bewegung und ebenſo viel ſittlicher Ernſt
als anderswo; die Theologie ſtand in ſtetiger Fühlung mit
der Wiſſenſchaft durch den Verband der Hochſchulen; bei
der Vielheit der Territorien fanden auch neue und abwei—
chende Richtungen immer irgendwo ein Aſyl. Der Fehler
lag ſtets viel eher darin, daß man die Conſiſtorien zu viel
walten ließ als zu wenig; die Gefahren kamen nicht von
den unfrommen Fürſten, ſondern von den frommen. Der
Eine geiſtreiche aber ſchief gerichtete Halbtheologe auf dem
Throne der Hohenzollern hat der evangeliſchen Kirche Deutſch—
lands mehr Leid zugefügt, als alle die hohen Herren zu—
ſammen, die als Summi episcopi vielleicht kaum die Un—
terſcheidungslehren ihrer Kirche kannten und auf der Parade
und Hirſchjagd beſſer Beſcheid wußten als im Katechismus
und Geſangbuch.
Wenn tabula rasa wäre und die Wahl offen ſtünde
zwiſchen dem Synodal- und Conſiſtorialſyſtem, ſo ließe ſich
Vieles für und wider ſagen; und Niemand wird läugnen,
daß das reformirte Princip an ſich das Verſtändlichere und
Näherliegende iſt. Aber ſo ſteht die Sache ja nicht. Man
Rümelin, Reden u. Aufſätze. 29
450
joll etwas aufgeben, was ſeit Jahrhunderten beſtand. Man
will aber gleichwohl nicht zum andern Syſtem übergehen,
ſondern nur eine Miſchform zwiſchen Beidem ſchaffen. Die
Kirche ſoll zwar vom Staate abgelöst werden, aber nicht
vom Landesherrn. Dieſer ſoll durch eine Art von Per—
ſonalunion geiſtliche und weltliche Befugniſſe in ſich ver—
einigen. Nicht das Staatsoberhaupt als ſolches, ſondern
der Fürſt als praecipuum membrum eecclesiae — eine
Eigenſchaft, die vom religiöſen Geſichtspunkt aus nur dem
weiſeſten und frömmſten, nicht dem mächtigſten Glied der
Kirche zukommen könnte — ſoll im Weſentlichen die ſeit—
herigen kirchlichen Hoheitsrechte fortführen. Die Synoden
ſollen keineswegs, wie in der reformirten Kirche, die ent—
ſcheidende Inſtanz, die Inhaber des Kirchenregiments ſein,
ſondern nach der Analogie von Volksvertretungskörpern
controliren, bitten, debattiren, Beſchwerde führen. Und
dieſe Veränderung ſoll vor ſich gehen in einem Zeitpunkt,
wo ein ganz anderes und viel tieferes Gebrechen, der Bruch
zwiſchen dem Glauben des 16ten und dem Wiſſen des 19ten
Jahrhunderts, ſo ſehr im Vordergrund ſteht, daß alle anderen
Fragen dagegen verſchwinden oder davon beherrſcht werden.
Aber, läßt ſich ſagen, könnten denn nicht eben die
Synoden das Organ ſein, um dieſen Hauptpunkt zur Sprache
und zu einem befriedigenden Austrag zu bringen? Und
dieß gerade iſt es nun, was ich nicht glauben kann, wozu
ich bei ihnen weder die Competenz noch die Befähigung zu
finden vermag.
Man muß in weltlichen Dingen die Autorität der
451
Stimmenmehrheiten gelten laſſen, ſchon weil es in den
meiſten Fällen gar keinen andern Weg giebt zu einer Ent⸗
ſcheidung zu gelangen und die Dinge nicht unentſchieden
gelaſſen werden können. Auf religiöſem Gebiet kann die
Mehrheit ſo wenig entſcheiden als in der Wiſſenſchaft und
Kunſt, wenn auch immerhin das Gewicht einer allgemeinen
oder nahezu allgemeinen Uebereinſtimmung von großer Be—
deutung bleibt. Aber religiöſe Zeit- und Streitfragen paſſen
nicht zum Gegenſtand einer Abſtimmung in repräſentativen
Verſammlungen. Dieſelben ſind daher auch faſt überall
der Competenz von Synoden entzogen, ſofern dieſe niemals
über den Lehrbegriff berathen ſollen. Direkt wird dieß
auch nicht leicht geſchehen, aber indirekt läßt es ſich gar
nicht verhindern oder umgehen. Wenn es ſich nicht gerade
um Rechnungsprüfungen und reine Temporalien handelt,
um deren willen es aber gar nicht der Mühe werth wäre,
den Apparat von großen Wahlkörpern in Scene zu jezen,
ſo ſteckt das Dogma faſt in jeder Frage in irgend einer
Form, und die Parteien, die nach ihrer Stellung zum
Dogma entſtanden und gewählt ſind, ſuchen ſolche Be—
ziehungen viel eher auf, als daß ſie ihnen ausweichen würden.
Man weiß in der That nicht recht, auf was man mit
bangerem Mißtrauen blicken ſoll, auf eine Mehrheit der
Paſtoren oder der Laien, auf ein Uebergewicht der ſtren—
geren oder der freiſinnigeren Parteien. Wenn die innere
Zuſtändigkeit fehlt, iſt auch das Leztere nicht erfreulich.
Man iſt verſucht wie Hamlet zu denken: ich habe keine
Luſt am Mann und am Weibe auch nicht.
Geiſtliche Sachen wollen nun einmal geiſtlich gerichtet
sein. Die Religion it ihrem Inhalt nach eine Volksme—
taphyſik, in welcher die Unſicherheit und Unzulänglichkeit
des Wiſſens durch vorausgreifenden Glauben ergänzt wird.
Hier iſt nichts, was ſich mit plumper Hand anfaſſen und
ohne Wiſſen und tiefes Nachdenken mit dem bloßen ſoge—
nannten ſchlichten Verſtand oder natürlichen Gefühl des
gemeinen Mannes entſcheiden läßt. Das rveligiöje Gefühl
in ſeiner pſychologiſchen Wurzel iſt nur ein dunkler Drang
nach Ergänzung, nach einem feſten Punkt der Anlehnung
für unſer ganzes Ich, aber es vermag ſich nicht zugleich
auch die metaphyſiſchen Vorſtellungsreihen zu ſchaffen, welche
jenem Drang Genüge leiſten könnten. Dazu gehört eine
Vereinigung ſittlicher und intellectueller Eigenſchaften, eine
Vertiefung des Geiſtes und Gemüths, die in urſprünglicher
und ſchöpferiſcher Kraft blos bei den außerordentlichſten
Menſchen getroffen, von Andern nur annähernd durch ernſte
Studien erlangt wird, der Maſſe der Menſchen aber voll—
ſtändig fehlt. Dieſe bedarf in religiöſen Dingen durchaus
einer Führung und gewinnt jenen Inhalt von Vorſtellungen
nur durch Autorität, ſei es die überlieferte einer großen
Gemeinſchaft, ſei es die gegenwärtige und lebendige eines
geiſtig überlegenen Individuums. Einer beliebigen Vielheit
von zuſammengewürfelten oder gewählten Menſchen fehlt
jede Initiative und Selbſtſtändigkeit des Urtheils, zumal
wenn es ſich um neue und zweifelhafte Fragen handelt.
Daraus, daß die Religion für Alle eine gleich wichtige
Herzensangelegenheit bildet, folgt keineswegs, daß auch alle
453
von der Ordnung und Leitung religiöſer Angelegenheiten
gleich viel verſtehen müßten. Die Geſundheit iſt auch gleich
wichtig für Jedermann, und doch halten wir nur den Arzt
für zuſtändig zu unſerer Berathung; das Recht iſt ein ge—
meines Gut, und doch nehmen die Juriſten ſeine Findung
und Auslegung in Anſpruch. Wenn der proteſtantiſche
Laie den Weg zu ſeinem Gott ohne Prieſter und Führer
findet, ſo folgt daraus noch nicht, daß er auch in einer
für Andere brauchbaren Weiſe die Schrift auslegen und
das Dogma deuten könnte. Ebenſo wenig iſt durch eine
polemiſche Stellung zum herrſchenden Dogma ausgeſchloſſen,
daß derjenige, der den philoſophiſchen und theologiſchen
Studien nicht fremd geblieben iſt, bei der Art, wie in Be—
handlung religiöſer Fragen ſich oft die Laienweisheit und
Juriſterei breit macht, doch auch an das odi profanum vulgus
et arceo erinnert werden kann.
Daraus folgt nun aber auch, daß es ein unpraktiſcher,
auf idealen Vorausſezungen beruhender Gedanke iſt, das
Heil in einem Zurückgreifen auf das chriſtliche Bewußtſein
der Localgemeinden finden zu wollen. Dieß mag von den
Zeitaltern eines frohen, in ſich ſicheren Glaubenseifers gel—
ten, wo neue religibſe Ideen von den Maſſen willig auf—
genommen und fortgebildet werden, wie in den Anfängen
des Chriſtenthums und der Reformation, aber nicht da,
wo das Alte nicht mehr feſt, das Neue erſt zu ſuchen iſt,
wo die leitenden Klaſſen der Geſellſchaft, durch den Zwie—
ſpalt von Glauben und Wiſſen irre gemacht, ſich dem kirch—
lichen Leben ferne halten. Hier kann auch die Localge—
454
meinde nichts anders jein als eine vielköpfige, in ſich ge-
ſpaltene Menge, ohne ſicheren Halt und Boden, ein Rohr
das vom Winde bewegt wird. Iſt der Geiſtliche der Füh—
rer, ſo bedarf es keiner weiteren Vertretung, iſt er es nicht,
ſo wird der Zufall beſtimmen, wohin die Entſcheidung fallen
wird. An die Gemeinden appelliren heißt dem Chaos ent—
gegentreiben; ſie müßten die Impulſe empfangen und nicht
geben.
Zum Gedeihen der evangeliſchen Kirche gehört nichts,
als eine Theologie, die im Frieden mit der Wiſſenſchaft
und Bildung ihrer Zeit lebt, und gute Geiſtliche, für die
anſtändig geſorgt iſt. Jenen Frieden können die Synoden
nicht bringen, ſie mögen zuſammengeſezt ſein wie ſie wollen;
es iſt dieß die Aufgabe der Theologen ſelbſt, insbeſondere
der theologiſchen Lehrer. Man kann ihn auch nicht er—
zwingen und keine Friſt dafür anſezen. In der Zwiſchen—
zeit ſollte man an den beſtehenden Verfaſſungsformen mög—
lichſt wenig rütteln und ändern und nur darauf bedacht
ſein, das Ganze als das koſtbarſte Gefäß für die Pflege
der höchſten menſchlichen Intereſſen zuſammenzuhalten und
nicht in ein ſinnloſes Sektenweſen auseinanderſprengen zu
laſſen. Aber gar zu lange ſollte die Wartezeit doch nicht dauern.
Die Synoden ſind freilich nun einmal da und man
muß mit ihnen leben. Sie können ſich vielleicht auch im
Kleinen und Einzelnen, zumal in ökonomiſchen Dingen recht
nüzlich machen, wenn ſie jenen Spruch von den Weibern
auf ſich anwenden, welcher diejenigen für die beſten erklärt,
von denen am wenigſten geſprochen wird.
Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung in Tübingen.
Hegel
in
philoſophiſcher, politiſcher und nationaler Beziehung
für das deutſche Voll
dargeſtellt von
Dr. Karl Köſtlin,
Profeſſor an der Univerſität Tübingen.
gr. 8. broch. „ 2. 40.
„%%
von
Dre alt K ö ſt li n,
Profeſſor an der Univerſität Tübingen.
gr. 8. broch. M 15. —
Köſtlins Aeſthetik iſt ein Buch, welches dem Künſtler, Dichter,
Schriftſteller, Gelehrten, kurz jedem Angehörigen derjenigen Lebens—
kreiſe, für welche eine gründliche allgemeine und wiſſenſchaftliche Bildung und
die Erwerbung eines bewußten, äſthetiſchen Urtheils unerläßlich iſt, durch
Selbſtſtudium jene ſyſtematiſche und ſtreng wiſſenſchaftliche äſthetiſche An—
ſchauung des Lebens, der Natur und der Kunſt in gewinnender, feſſelnder
und anregender Form und der ächt populärſten Gemeinverſtändlichkeit zu ver—
mitteln berufen und im Stande iſt.
Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung in Tübingen.
”
Vene Teſtament.
Ueberſetzt
von
Carl Weizſäcker,
2, un
ord. Profeſſor der Univerſität Tübingen.
in 8. broch. 3. 60.
Ausg. Nro. 2 auf feinſt Velin Ay 4. 60.
Das Buch iſt keine Verbeſſerung der Lutheriſchen Bibelüberſetzung,
ſondern eine neue Ueberſetzung aus dem griechiſchen Urtext. Sie ver—
folgt denſelben Zweck, welchen zuletzt die Ueberſetzung des Theologen
de Wette verfolgte (3. Aufl. 1839). Eine wortgetreue möglichſt genaue
Ueberſetzung in gemeinverſtändliches Deutſch ſoll erſtens allen denjenigen
dienen, welche den griechiſchen Urtext nicht leſen, und doch verlangen ſo
gut als die Theologen über den In alt deſſelben unterrichtet zu ſein.
Fürs zweite ſoll ſie auch als kürzeſtes Hilfsmittel der Erklärung ſich Den—
jenigen darbieten, welche den Urtext ſelbſt leſen.
Eine neue Ueberſetzung dieſer Art iſt heutzutage ſchon deßwegen am
Platze, weil die gründlichere Erforſchung der Handſchriften in den letzten
Zeiten unſeren griechiſchen Text des neuen Teſtamentes anſehnlich ver—
beſſert hat, ſo daß wir jetzt viel ſicherer als früher wiſſen, wie dieſer
Text urſprünglich gelautet hat. Dadurch ſind manche falſche Zuſätze,
welche erſt durch Abſchreiber hineingekommen waren, entfernt, und ſehr
viele Stellen, die früher dunkel waren, verſtändlich geworden. Wir hatten
aber bisher keine Ueberſetzung, welche nach dieſem beſſeren griechiſchen
Texte gemacht wäre.
Ebenſo iſt auch die Reihenfolge der einzelnen Schriften und die
Ueberſchrift derſelben im Anſchluſſe an unſere älteſten Handſchriften und
kirchlichen Verzeichniſſe hergeſtellt, wie es jetzt in den griechiſchen Text—
ausgaben geſchieht.
Unſere Capitel und Verſe gehören nicht in den Text. Die Capitel
ſind erſt im ſpäten Mittelalter, die Verſe erſt im ſechszehenten Jahr—
hundert hereingekommen. Dieſe ganze Eintheilung iſt großentheils ſinn—
verwirrend. Sie verhindert das Verſtändniß einzelner Stellen, weil
dieſes nur durch den anſchaulichen Zuſammenhang möglich iſt. Noch
mehr verhindert ſie das Leſen und Verſtehen eines größeren Abſchnittes
oder eines ganzen Buches. Es iſt daher der Text hier ohne Capitel und
Verſe gedruckt, und ſind dieſelben nur zur Bequemlichkeit des Leſers, der
vergleichen will, an den Rand geſetzt.
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