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Full text of "René Descartes"

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1873 
H7 

1903 


Frommanns  Klassiker  der  Philosophie 

herausgegeben 
von 

Richard  Falckenberg 

Dr.  u.  o.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  Erlangen. 


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XVIII. 


ren£  descartes 


VON 


ABRAHAM  HOFFMANN. 


II  ;9^^ 


RENE  DESCARTES 


VON 


ABRAHAM  HOFFMANN. 


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STUTTGART 

FR.  FROMMANNS  VERLAG  (E.  HAUFF) 

1905. 


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Alle    Rechte    vorbehalten. 


Louis  Boslieuyers  Buchdruckerei  (W.  Drück)  Cannstat«. 


Vorwort. 


Frühere  Arbeiten  über  Einzelprobleme  der  Carte- 
sischen  Philosophie  haben  mich  zur  Herstellung  dieser 
Monographie  angeregt.^)  Eingehendes  Quellenstudium 
liegt  ihr  zugrunde.  Im  ersten  Teile  kam  es  mir 
darauf  an,  die  geistige  und  philosophische  Entwicklungs- 
geschichte Descartes'  möglichst  scharf  herauszuarbeiten, 
im  zweiten  Teile  legte  ich  Wert  auf  eine  vorurteilslose, 
ich  möchte  sagen  tolerante  Auffassung  seines  philoso- 
phischen Systems. 

Das  ausführliche  Inhaltsverzeichnis  soll  nur  eine 
Art  Notbehelf  darstellen,  jedenfalls  keineswegs  den 
Leser  zu  einer  aphoristischen  Lektüre  verleiten.  Ich 
eitlere  Descartes'  Briefe  nach  der  neuen  Akademie- 
ausgabe (A),  seine  übrigen  Schriften  nach  Cousin  (C). 

Berlin,  Oktober  1905. 

Der  Verfasser. 


*)  Die  Lehre  von  der  Bildung  des  Universums  bei  Descartes  in 
ihrer  geschichthchen  Bedeutung.  Archiv  f.  Geschichte  der  Philo- 
sophie B.  XVII,  I.  Descartes'  Vorgänger  und  seine  naturphiloso- 
phischen Anschauungen  (S.  237 — 271).  II.  Descartes'  kosmogonische 
Anschauungen  und  seine  Einwirkung  auf  die  Folgezeit  (S.  371 — 412). 

Zur  geschichtlichen  Bedeutung  der  Naturphilosophie  Spinozas. 
Zeitschr.  f.  Philosophie  und  philosoph.  Kritik.    B.  125  (S.  163-186). 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2010  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/rendescartesOOhoff 


Inhalt. 


Erster  Teil. 
Descartes'  Leben  und  philosophische  Entwicklung. 

Seite 

ErstesKapitel:  Kind  heitund  Schale 3 

1.  Einleitendes.  2.  Erste  Kinderjahre.  3.  Machtstellung  der 
Jesuiten  in  Frankreich.  4.  Näheres  über  den  Ort  La  Fleche, 
5.  Erziehungsmethode  der  Jesuiten.  6.  Über  den  Charakter 
des  Jesuiten-College  La  Fleche,  7.  Humanistische  Studien. 
8.  Scholastisch-philosophische  Studien.  9.  Über  Descartes' 
Bildungsdrang. 
Zweites  Kapitel:   Periode   des   Skeptizismus     ...       16 

1.  Skeptische     dem    Weltleben     zugewandte     Gesinnung. 

2.  Paiiser  Gesellschaftsleben  und  sein  Einfluss.  3.  Freund- 
schaft mit  Mersenne.  4.  Mydorges  wissenschaftlicher  Ein- 
fluss. 5.  Wissenschaftliche  Studien  und  ernste  Vorsätze  für 
die  Zukunft.  6.  Die  Kriegsjahre  und  ihre  Bedeutung. 
7.  Dienstzeit  in  Holland.  8.  Anregungen  Beeckmanns. 
Physikalische  Entdeckungen.  Mangel  an  System  in  Descartes' 
damaliger  Forschungsweise  9.  Musiktheoretische  Studien 
und  ihr  Einfluss  auf  seine  philosophische  Denkungsart. 
10.  Vorübergehende  mystische  Naturstimmung  und  ihre 
Ursache. 

Drittes      Kapitel:       Periode      der     systematischen 

Wissenschaftsforschung 41 

1.  Der  Skepticismus  befriedigt  Descartes  nicht  mehr.  2.  Kriegs- 
dienste in  Deutschland.  3.  Verzweifelte  Stimmung  im  Winter- 
lager an  der  Donau.  4.  Wiederkehr  des  wissenschaftlichen 
Selbstvertrauens.  5.  Rosenkreuzer.  6.  Notwendigkeit  und 
Nutzen  einer  allgemeinen  Wissenschaftslehre.  7.  Ihre  Ab- 
leitung aus  der  Mathematik.  8.  Über  die  einfachsten  Elemente 
der  Wissenschaftslehre.     9.  Schwierigkeiten,  welche  die  ge- 


VIII  Inhalt. 

Seile 
wohnliche  Methode  der  Geometer  ihrer  weiteten  Entwick- 
lung in  den  Weg  legt.  10.  Auffindung  der  wahren  mathema- 
tischen Methode.  (Analytische  Geometrie.)  11.  Über  ihre  An- 
wendung auf  die  anderen  Wissenschaften.  12.  Charakter 
der  Wissenschaftstheorie,  Gegensatz  zu  Baco.  13.  Not- 
wendigkeit einer  provisorischen  Ethik.  14.  Bekanntschaft 
mit  dem  Mathematiker  Faulhaber.  Aufenthalt  in  Prag. 
Weitere  Kriegsdienste.  15.  Aufgabe  des  Soldatenlebens. 
Beisen  in  Nordeuropa.  Kurzer  Aufenthalt  in  Frankreich. 
Abneigung  gegen  einen  festen  Beruf.  16.  Italienische  Reise. 
17.  Längerer  Aufenthalt  in  Paris.  Bekanntschaft  mit 
Gibieuf,  de  Beaune  und  Morin.  18.  Über  Descartes'  Freund- 
schaft mit  dem  Schriftsteller  Balzac.  19.  Optische  Studien. 
Entdeckung  des  Lichtbrechungsgesetzes.  20.  Descartes  in 
der  Pariser  Gesellschaft.  21.  Belagerung  von  La  Rochelle. 
22.  Die  Wissenschaftslehre  genügt  den  Anforderungen 
Descartes'  nicht  mehr. 

Viertes  Kapitel:  Grundlegung  der  Metaphysik  .  .  80 
1.  Descartes  zieht  sich  in  die  Niederlande  zurück.  Näheres 
über  die  dortigen  Zustände.  2.  Verwerfung  aller  dog- 
matischen Voraussetzungen.  Allgemeine  metaphysische 
Grundlegung.  3.  Es  fehlt  ihr  noch  die  systematische  Durch- 
bildung. 4.  Beschäftigung  mit  den  mannigfachsten  natur- 
wissenschaftlichen Problemen.  Heitere  Stimmung  des  Philo- 
sophen. 5.  Ausarbeitung  einer  Weltbildungstheorie.  Die 
Gründe,  weswegen  das  Werk  nicht  veröffentlicht  wird. 
6.  Über  Descartes"  Beurteilung  der  wissenschaftlichen  Ver- 
dienste Galileis  7.  Liebesverhältnis  zwischen  Descartes  und 
einer  Holländerin.  8.  Herausgabe  einer  Reihe  wissenschaft- 
licher Werke.  Charakteristik  der  Abhandlung  über  die 
Methode.  9  Die  Dioptrik.  Technische  Begabung  des  Philo- 
sophen. 10.  Über  die  Meteore.  11.  Geometrie.  Über  die 
Ausdehnung  und  Grenzen  der  mathematischen  Wissenschaft. 
Höhere  Analysis.  Descartes'  Verhältnis  zu  den  abstrakten 
Problemen  der  Mathematik.  Unvollkommenheit  der  Natur- 
philosophie. 

Fünftes  Kapitel:  Systematische  Durchbildung  der 
Metaphysik 106 

1.  Allgemeiner    Eindruck     der    veröffentlichten    Schriften. 

2.  Descartes'    Bemühungen    um    die    Gunst    der    Jesuiten. 
Anregende    Wirkung      der      wissenschaftlichen      Einwürfe. 

3.  Fermat,  Roberval,  Pascal,  und  ihre  Angriffe.    4  Günstige 


Inhalt.  IX 

Seite 
Aufnahme    in    holländischen     Kreisen:     Huygens,    Reneri, 
Regius      5.  Über  den  Charakter  der  Meditationen      6.  Über 
das    Interesse,    das    die    Objektionen    darbieten:    Gassendi , 
Hobbes,    Arnauld.     7.  Über  di-n    Aufenthalt   in   Endegeest. 

8.  Die    Prinzipien     der    Philosophie    und    ihre   Bedeutung. 

9.  Über  den  Fanatiker  Voetius.  Der  Abfall  des  Schülers 
Regius.  10.  Die  Prinzessin  Elisabeth  und  ihr  Verhältnis 
zu  Descartes.  Ihr  Einfluss  auf  die  Ausgestaltung  seiner 
Psychologie  und  Ethik.  11.  Reisen  nach  Frankreich.  Auf- 
nahme in  Paris.  12.  Übersiedlung  nach  Schweden.  Königin 
Christine  und  ihr  Verhältnis  zu  Descartes.  18.  Unbehagen, 
durch  den  Aufenthalt  am  schwedischen  Hofe  verursacht. 
Krankheit  und  Tod. 

Zweiter  Teil. 
Das  metaphysische  System. 

Sechstes      Kapitel:         Allgemeine      metaphysische 

Grundlagen 129 

1.  Radikaler  Zweifel.  2.  Gewissheit  des  Selbstbewusstseins. 
3.  Kriterium  der  Gewissheit.  Gemeinbegriffe.  4.  Gottes- 
beweise. 5.  Über  den  Wert  dieser  Beweise.  Über  den 
Rationalismus  der  Kritik  Kants.  Begriff  der  philophischen 
Wahrheit.  6.  Descartes'  Urteil  über  andere  Arten  von 
Gottesbeweisen.  7.  Über  das  Urteilsvermögen  und  die  Ur- 
sachen, warum  es  uns  zuweilen  täuscht.  8.  Selbständigkeit 
des  Geistes  Realität  der  Aussenwelt.  9.  Der  menschliche 
Leib.  Objektivität  der  geometrischen  Eigenschaften,  Sub- 
jektivität der  Sinneswahrnehmungen.  10.  Über  den  Dualis- 
mus im  Systeme  Descartes'.  Über  Monismus  und  Dualismus 
in  der  Philosophie.  11.  Über  die  verschiedenen  angeborenen 
Vorstellungen.  12.  Über  das  Verstandeselement  in  aller 
sinnlichen  Wahrnehmung.  Vergleich  mit  den  Anschauungen 
Kants.  13.  In  welchem  Sinne  sind  gewisse  Vorstellungen 
dem  menschlichen  Geiste  angeboren. 

Siebentes  Kapitel:  Naturphilosophie 152 

1.  Ihr  radikaler  mechanischer  Charakter.  Kritik  der  Sub- 
jektivität der  Sinneswahrnehmungen.  2.  Identität  zwischen 
Körper  und  physischer  Ausdehnung.  Unmöglichkeit  eines 
leeren  Raumes  und  letzter  unteilbarer  Teile  (Atome). 
3.  Über  die  unendliche  Ausdehnung  der  Welt.  4.  Die  Be- 
wegung, das  belebende  Moment  im  Weltall.     Die  Konstanz 


X  Inhalt. 

Seite 
ihrer  Gesamtsumme.  5.  Trägheit  der  Materie  Allgemeine 
Bewegungsgesetze,  Stossgesetze.  Über  die  Bedeutung  der 
apriorischen  Naturgesetze.  6.  Natur  der  festen  und  flüssigen 
Körper.  Mängel  der  Theorie.  7.  Entstehung  des  Weltalls 
(Wirbeltheorie).  8.  Fehler  und  Vorzüge  der  Cartesischen 
Physiii.  9.  Mechanische  Erklärung  des  Organismus.  Die 
Tiere  haben  keine  Seelen.  10.  Erklärung  dieser  seltsamen 
Paradoxie.  11.  Kritik  der  biologischen  Anschauungen. 
Achtes  Kapitel:  Psychologie  und  Ethik 177 

1.  Über     die    Wechselwirkung    zwischen    Leib    und    Seele. 

2.  Näheres  über  den  menschlichen  Körper.  3.  Über  die 
speciellen  Einwii'kungen  der  Seele  auf  den  Körper  von  der 
Zirbeldrüse  aus.  4.  Das  Wesen  der  Seele  und  ihrer  ver- 
schiedenen Funktionen.  Aktive  und  passive  Funktionen. 
5.  Die  Gefühle  und  Affekte,  ihre  Bedeutung.  6.  Die  sechs 
Grundaffekte.  7.  Die  körperlichen  Begleiterscheinungen  der 
Affekte.  8.  Über  die  Mittel,  die  Affekte  im  Zaum  zu  halten, 
ihre  Wichtigkeit  für  das  menschliche  Leben.  9.  Über  das 
Wesen  der  Ethik.    10.  Religion.     11.  Schlussbetrachtung. 


Erster  Teil. 

Descartes'  Leben  und  philosophische 
Entwicklung. 


Hoffmann,  Descartes. 


Erstes   Kapitel. 


Kindheit  und  Schule. 

1.  Sieht  man  sich  um  nach  einem  charakteristischen 
Merkmal,  das  im  stände  ist,  die  neuere  Philosophie  zu 
kennzeichnen,  und  das  gleichzeitig  den  allerschärfsten 
Gegensatz  allen  früheren  philosophischen  Gedanken- 
bildungen gegenüber  verrät,  so  ist  der  Ausgangspunkt 
von  der  Selbstgewissheit  des  menschlichen  Bewusstseins 
entschieden  an  allererster  Stelle  zu  nennen. 

Rene  Descartes,  Frankreichs  grösster  Philosoph,  ist 
es  gewesen,  der  dieses  neue  Prinzip  in  die  Philosophie 
eingeführt,  der  es  zum  Grundstein  seines  philosophischen 
Systems  gemacht  und  damit  der  Welt  die  allererste 
wahrhaft  moderne  Weltanschauung  dargeboten  hat, 

2.  Descartes  entstammt  einer  alten  begüterten 
Adelsfamilie  aus  der  Landschaft  Touraine  —  dem  heuti- 
gen Departement  Indre-et-Loire  — ,  die  zu  den  edelsten 
und  angesehensten  der  Landschaft  gehörte.  So  ist  er 
glücklicher  Weise  nicht  zu  jenen  Genies  zu  rechnen,  die 
die  Natur,  gleichsam  als  hätte  sie  genug  getan  mit  der 
ihnen  verliehenen  reichen  geistigen  Aussteuer,  in  dürftige 
und  ärmliche  Verhältnisse  hineinversetzt,  aus  der  nur 
die  mit  der  grössten  Willensenergie  Begabten  sich  empor- 
ringen können. 

Es  ist  die  kleine,  schön  gelegene  Stadt  La  Haye, 
in   der   unser  Philosoph   am   31.  März   159G    das   Licht 


4  Erstes  Kapitel:  Kindheit  und  Schule. 

der  Welt  erblickte.  Er  war  ein  Kind  von  überaus 
zarter  und  scbwäclilicber  Konstitution  und  vielleicht 
hat  nur  das  milde  Klima,  in  dem  er  seine  ersten  Jahre 
zugebracht,  daran  schuld,  dass  die  Arzte,  die  dem  Neu- 
geborenen einen  baldigen  Tod  prophezeit  hatten,  nicht 
recht  behielten.  Der  kleine  Rene  war  das  dritte  Kind, 
das  seinem  Vater  Joachim  Descartes  von  seiner  ersten 
Frau  geschenkt  wurde.  Die  Mutter  starb  ein  Jahr  nach 
der  Geburt  des  Kindes  an  einer  Lungenentzündung.  So 
ging  jetzt  die  Sorge  um  die  Pflege  und  die  Auferziehung 
des  Knaben  ganz  und  gar  auf  den  Vater  über.  Wie 
getreulich  er  dieser  nachkam  trotz  seiner  baldigen 
zweiten  Heirat,  das  beweist  auf  das  überzeugendste  die 
dauernde  Liebe  und  Anhänglichkeit,  die  unser  Philo- 
soph ihm  gegenüber  stets  gezeigt  hat.  Solch  innige 
Beziehungen  wie  mit  seinem  Vater  unterhielt  Descartes 
in  seinen  späteren  Lebensjahren  keineswegs  mit  den 
übrigen  Mitgliedern  seiner  Familie,  und  namentlich  war 
es  sein  ältester  Bruder,  der  ihm  seinen  Verzicht  auf 
einen  standesgemässen  Beruf  nicht  verzeihen  konnte. 

Klein  und  schwächlich,  wie  der  Knabe  war,  musste 
er  längere  Zeit,  als  es  sonst  üblich  ist,  der  Obhut  von 
Frauen  anvertraut  und  aufs  sorgfältigste  geschont 
werden.  Wie  überraschte  und  belohnte  er  aber  seine 
Pfleger,  als  er  trotz  seiner  zarten  Gesundheit  die  glück- 
lichsten geistigen  Anlagen  entwickelte  und  eine  heitere 
Gemütsart  zeigte,  die  etwas  wirklich  Rührendes  hat. 
wenn  man  bedenkt,  wie  sehr  er  infolge  seiner  schwäch- 
lichen Konstitution  mehr  als  andere  Kinder  körperlichen 
Schmerzen  ausgesetzt  war,  wie  er  beständig  unter  einem 
Husten  zu  leiden  hatte,  den  er  bis  über  das  zwanzigste 
Lebensjahr  hinaus  nicht  beseitigen  konnte.  Dieser 
glücklichen  Gemütsart  hat  er  es,  seinen  eigenen  Aus- 
sagen zufolge  (A.  IV,  220 — 221)^),  zu  danken,  dass  seine 

')  Ich  zitiere  Descartes'  Briefe  nach  der  neuen  Akademie-Aus- 
gabe (A.),  seine  übrigen  Schriften  nach  Cousin  (C). 


Erste  Kinderjahre.  5 

bleiche  Gesichtsfarbe  und  der  Husten  allmählich  ge- 
schwunden sind,  die  er  beide  von  seiner  früh  verstor- 
benen Mutter  geerbt  hatte. 

Rene  war  nicht  nur  ein  begabtes,  sondern  auch  ein 
ernstes  und  nachdenkliches  Kind.  Sein  Vater  soll  ihn, 
wie  ßaillet,  Descartes'  erster  ausführlicher  Biograph, 
uns  berichtet  (Baillet  1, 16),  „seinen  kleinen  Philosophen'- 
genannt  haben  wegen  seiner  unermüdlichen  Wissbegier, 
mit  der  er  ihn  nach  den  Ursachen  und  Wirkungen  alles 
dessen  befragte,  was  seine  kindliche  Aufmerksamkeit 
erregte. 

Bei  der  heiteren  und  zugänglichen  Gemütsart  des 
Knaben  wird  es  uns  nicht  wundernehmen,  wenn  wir 
von  seiner  Zuneigung  zu  einem  kleinen  gleichaltrigen 
Mädchen  hören.  Es  ist  der  Philosoph  selbst,  der  uns 
mehr  als  vierzig  Jahre  später  von  dieser  Episode  aus 
seiner  Kindheit  erzählt  (A.  V,  57).  Es  ist  eine  bekannte 
Tatsache,  die  wohl  jeder  schon  mal  erlebt  haben  dürfte, 
dass,  wenn  wir  einem  Menschen  im  Leben  begegnen, 
der  in  seinen  Gesichtszügen  irgendwelche  Ähnlichkeit 
mit  einer  uns  sympathischen  Persönlichkeit  hat,  dieser 
Umstand  uns  angenelim  auffällt,  uns  im  günstigen  Sinne 
für  diese  neue  Bekanntschaft  einnimmt,  ja  oft  der  zu- 
fällige Anlass  zu  dauernden  Freundschaften  wird.  Die 
Ähnlichkeit  braucht  uns  dabei  durchaus  nicht  zum  Be- 
wusstsein  zu  kommen.  Sehr  oft  kommt  es  vor,  dass 
wir  uns  erst  später  über  den  Grund  unserer  Zuneigung 
Rechenschaft  geben  können.  So  erging  es  auch  unserm 
Descartes.  Das  kleine  Mädchen,  das  er  liebgewonnen 
hatte,  schielte  ein  wenig,  und  diesem  Umstände  war  es 
zuzuschreiben,  dass  er  später  an  Menschen,  die  an  dem 
gleichen  Gebrechen  litten,  von  vornherein  ein  gewisses 
Gefallen  fand.  Erst  viele  Jahre  nach  jenem  Ereignis, 
als  er  sich  des  Grundes  dieser  seltsamen  Erscheinung 
bewusst  wurde,  gewannen  Personen  mit  dieser  körper- 
lichen Anomalie    keine  Anziehuno-kraft   mehr  in  seinen 


Q  Erstes  Kapitel:  Kindheit  und  Schule. 

Augen.  Ich  liätte  über  diesen  Vorfall  nicht  so  aus- 
fülirlicli  berichtet,  wenn  er  nicht  zeigte,  einen  wie  tiefen 
Eindruck  jenes  kleine  Mädchen  auf  das  Kindergemüt 
des  Knaben  gemacht  hat,  einen  Eindruck,  der  sich  noch 
Jahre  lang  durch  seine  Folgen  bemerkbar  gemacht,  und 
der  dem  einundfünfzigj  ährigen  Manne  noch  klar  genug 
vor  Augen  steht,  um  als  Beispiel  in  einer  ausführlichen 
Auseinandersetzung  über  die  Natur  der  Liebe  zu  dienen. 
An  diesem  Orte  hat  uns  Descartes  einmal,  was  sonst 
recht  selten  von  seiner  Seite  aus  geschieht,  einen  kleinen 
Blick  in  sein  Gefühlsleben  tun  lassen,  handelt  es  sich 
dagegen  um  rein  intellektuelle  Kämpfe  und  Entwick- 
lungen, dann  gibt  er,  wie  wir  später  sehen  werden,  mit  einer 
ausserordentlichen  Zwanglosigkeit  und  Freimütigkeit  von 
seinen  inneren  Wandlungen  der  Welt  Rechenschaft. 

Bei  der  so  früh  hervortretenden  geistigen  Begabung 
des  jungen  Descartes  wurde  von  seinem  Vater  viel  Ge- 
wicht auf  die  Fürsorge  für  seine  intellektuelle  Er 
Ziehung  gelegt.  Bis  zu  seinem  achten  Jahre  konnte  ein 
leichter  Elementarunterricht  hinreichen,  um  die  Wiss- 
begierde des  regsamen  Kindes  zu  stillen.  Peinlich 
wurde  dabei  beachtet,  dass  die  Gesundheit  des  ohnehin 
schwachen  Knaben  dabei  keinen  Schaden  litt. 

3.  Als  indes  der  kleine  Rene  das  achte  Jahr  er- 
reichte, da  dachte  man  ernstlich  daran,  ihm  eine  höhere 
Ausbildung  zukommen  zu  lassen.  Gerade  zu  dieser  Zeit 
war  in  La  Fleche  von  den  Jesuiten  ein  neues  College 
eröifnet  worden.  Da  es  vom  König  Heinrich  IV.  be- 
sonders begünstigt  wurde  und  eines  seiner  vornehmsten 
Zwecke  die  geistige  Ausbildung  des  französischen  Adels 
sein  sollte,  wird  man  sich  nicht  wundern,  wenn  Des- 
cartes' Vater  hier  die  beste  Unterkunftsstätte  für  seinen 
Sohn  gefunden  zu  haben  glaubte. 

Tatsächlich  gehörte  auch  der  höhere  Unterricht, 
wie    er    in   damalio;er    Zeit    von    dem  so  überaus  unter- 


Machtstellung  der  Jesuiten.     Über  den  Ort  La  Fleche.  7 

neliinungslustigen  Orden  erteilt  wurde,  zu  dem  besten, 
der  iiberliaupt  zu  haben  war.  Es  hat  nichts  Auffallendes 
an  sich,  wenn  die  Väter  Jesu  auf  diesen  Zweig  ihrer 
Tätigkeit  besonderes  Gewicht  legten,  war  es  doch  viel- 
leicht ihre  schärfste  WaiFe  in  dem  Kampfe  mit  dem 
immer  mehr  erstarkenden  Protestantismus  und  dem 
immer  lebendiger  werdenden  nationalen  Bewusstsein  der 
europäischen  Völker,  zwei  Faktoren,  die  das  inter- 
nationale Reich  der  katholischen  Kirche  vollständig  zu 
zertrümmern  und  ihr  Oberhaupt  zu  einem  blossen 
Schattenkönig  zu  machen  drohten. 

In  Frankreich  hatten  die  Jesuiten  damals  gute 
Zeiten.  Das  Verbannungsedikt,  das  sie  nach  dem  miss- 
glückten Mordanschlag  Jean  Chateis  auf  den  König 
getroffen  hatte,  war  aufgehoben  worden.  Ja  noch  mehr, 
der  König  hoffte  in  ihnen  dauernde  Verbündete  zu  ge- 
winnen und  machte  ihnen  deshalb  weitgehende  Zuge- 
ständnisse. In  allen  Städten,  in  denen  sich  die  Bürger- 
schaft nicht  widersetzen  würde,  durften  sie  Klöster 
und  Schulen  gründen.  Selbst  am  königlichen  Hofe 
wussten  sich  die  klugen  Väter  eine  nicht  zu  unter- 
schätzende Machtstellung  zu  sichern.  Pater  Cotton 
wurde  zum  königlichen  Beichtvater  ernannt  und  er- 
langte damit  einen  grossen  Einfluss  auf  den  Clang  der 
Regierung. 

Alles  dies  hatte  der  König  seinem  durch  die  inneren 
Wirren  so  schwer  heimgesuchten  Lande  zuliebe  getan. 
Dieser  Tendenz  hatte  nun  auch  das  College  zu  La  Fleche 
seine  Entstehung  zu  verdanken. 

4.  Es  dürfte  wohl  von  Interesse  sein,  den  Ort,  in 
dem  unser  Philosoph  achtundeinhalb  Jahre  seines  Lebens 
zugebracht  hat,  Jahre,  in  denen  gerade  die  Umgebung 
wohl  mit  den  tiefsten  Eindruck  auf  das  für  äussere 
Einflüsse  noch  so  empfängliche  Gemüt  hinterlässt,  etwas 
näher  zu  betrachten. 


8  Erstes  Kapitel:  Kindheit  und  Schule. 

Weltstäcltisches  Leben  herrschte  in  dem  kleinen,  am 
rechten  Ufer  der  Loire  gelegenen  Städtchen  keineswegs, 
ja  es  wäre  wohl  damals  ohne  alle  Bedeutung  gewesen, 
wenn  es  nicht  einen  höchst  eigenartigen  Charakter  in- 
folge der  vielen  Ordensgemeinschaften  besessen  hätte, 
die  dort  dicht  nebeneinander  wohnten.  Ausser  den 
Jesuiten,  die  jetzt  das  Ansehen  der  Stadt  beträchtlich 
erhöhen  sollten,  sah  man  dort  die  Franziskaner  und 
einen  ihnen  nahestehenden  Orden,  ferner  Barfüsser, 
Karmeliten,  Augustiner  und  dergleichen. 

Übrigens  besass  der  Ort  eine  angenehme  Lage. 
Versteckt  wie  er  lag  in  einem  anmutigen  Tale,  war  er 
durch  sein  reines  Klima,  durch  die  ausserordentliche 
Ruhe,  die  in  ihm  herrschte,  wie  geschaffen  zum  Studieren. 
Freilich  sonst  konnte  er  nichts  bieten,  und  so  wird  es 
uns  nicht  wundern,  wenn  hundert  Jahre  später  ein 
französischer  Dichter  seinem  Herzen  über  den  hiesigen 
Aufenthalt  in  folgenden  Versen  Luft  macht : 

La  Fleche  pourrait  etre  aimable, 
S'il  etait  de  belies  prisons, 
Un  climat  assez  agreable, 
De  petits  bois  assez  mignons, 
Un  petit  vin  assez  potable, 
De  petits  concerts  assez  bons, 
Un  petit  monde  assez  passable ; 
La  Fleche  pourrait  etre  airnable, 
S'il  etait  de  heiles  prisons. 

5.  Betrachten  wir  nun  etwas  näher  die  Gestaltung 
des  jesuitischen  Unterrichts  in  dem  neugegründeten 
College.  Die  sechs  unteren  Klassen  hatten  sich  etwa 
das  Ziel  des  alten  humanistischen  Gymnasiums  gesteckt. 
Auf  die  alten  Sprachen  mussten  ja  die  Jesuiten  ihr 
Hauptaugenmerk  richten.  Xicht  etwa  nur,  weil  das 
Lateinische,  auf  das  besonderes  Gewicht  gelegt  wurde, 
die  Sprache  der  Kirche  war,  man  glaubte  auch  dadurch 
den  Humanismus    am   besten  bekämpfen  zu  können;   es 


Erziehungsmethode  der  Jesuiten.    Das  College  in  La  Fleche.        9 

sollte  dem  Scliüler  nicht  verwehrt  werden,  durch  die 
Kenntnis  der  alten  Sprachen  sich  eine  Vorstellung  von 
dem  geistigen  Leben  der  Griechen  und  Römer  zu  ver- 
schaffen, die  klugen  Väter  sorgten  aber  dafür,  dass  alle 
Schriften  vom  Standpunkt  der  katholischen  Kirche  an- 
gesehen wurden.  So  wurde  z.  B.  eindringlich  auf  die 
haltlose,  weil  von  der  Religion  unabhängig  begründete 
Moral  der  Alten  hingewiesen.  Charakteristisch  hierfür 
ist  eine  Äusserung  Descartes',  die  er  im  Discours  aus- 
spricht, als  er  die  Schulwissenschaften  noch  einmal  im 
Geiste  an  sich  vorüberziehen  lässt.  „Die  ethischen 
Schriften  der  Alten  erscheinen  mir  wie  äusserst  stolze 
und  prächtige  Paläste,  die  nur  auf  Sand  und  Schlamm 
gebaut  sind :  sie  erheben  die  Tugenden  himmelhoch  und 
lassen  sie  über  alle  Dinge  in  der  Welt  erhaben  er- 
scheinen, aber  sie  lehren  sie  nicht  genügend  erkennen, 
und  oft  redet  aus  dem,  was  sie  mit  einem  so  schönen 
Namen  nennen,  nichts  als  Gefühllosigkeit,  Stolz,  Ver- 
zweiflung oder  Mord"  (C.  I,  129).  Wir  werden  sehen, 
wie  Descartes  später  in  seiner  ethischen  Theorie  soviel 
Rücksicht  auf  die  Alten  nimmt.  Es  ist  sicherlich  nur 
die  ihm  in  mancher  Hinsicht  direkt  in  Fleisch  und  Blut 
übergegangene  Erziehung  der  Jesuiten  gewesen,  die  ihm 
diese  harten  Worte  eingegeben  hat. 

6.  Bevor  wir  uns  nun  über  den  eigentlichen  Stu- 
dienplan unterrichten,  soll  noch  einiges  über  die  Orga- 
nisation der  Schule  vorausgeschickt  werden.  Die  Anstalt, 
welche  ausser  diesen  sechs  den  humanistischen  Studien 
gewidmeten  Klassen  einen  dreijährigen  philosophischen 
Kursus  unterhielt  und,  was  uns  allerdings  weniger 
interessiert,  noch  ausserdem  zukünftige  Theologen  vor- 
bereitete, wurde  von  zirka  1200  Schülern  besucht.  Ein 
erheblich  kleinerer  Teil  von  ihnen,  zu  dem  auch  Descartes 
gehörte,  wohnte  im  Internat.  Hier  wurden  die  Pensio- 
näre   unter    strens^er    Aufsicht    gehalten.      Um    5    Uhr 


10  Erstes  Kapitel :  Kindheit  und  Schule. 

morgens  mussten  sie  aufstehen  und  dann  wurde  der  Tag 
in  relativ  einförmiger  Weise  mit  Unterrichtsstunden, 
häuslichen  Arbeiten  und  Gebeten  ausgefüllt,  unterbrochen 
nur  durch  die  Mahlzeiten  und  Erholungsstunden,  bis 
dann  um  9  Uhr  alle  sich  zur  Ruhe  begaben. 

Indessen  schon  durch  die  Eigenart  des  Schüler- 
materials musste  das  Leben  in  La  Fleche  äusserst  an- 
regend auf  seine  Bewohner  wirken.  Aus  ganz  Frank- 
reich strömte  die  junge  Welt  zusammen,  um  im  hiesigen 
College  ihre  Ausbildung  zu  erhalten.  So  kam  zu  der 
Mannigfaltigkeit  von  Charakteren  und  Anlagen,  die  an 
und  für  sich  schon  durch  die  grosse  Schülerzahl  be- 
dingt war,  auch  noch  die  Eigenart  der  verschiedenen 
Volksstämme  hinzu,  um  das  Leben  und  Treiben  in  der 
Schule  interessant  zu  gestalten.  Und  bei  alledem  ist 
noch  garnicht  berücksichtigt  die  Fülle  der  sozialen 
Gegensätze,  die  hier  zum  Vorschein  trat.  Neben  Söhnen 
von  Grafen  und  Fürsten  sass  der  Bürgerliche,  ja  oft 
der  arme  Bauernsohn  auf  derselben  Schulbank.  Und  es 
muss  den  Jesuiten  nachgerühmt  werden,  sie  hielten 
streng  darauf,  dass  keinerlei  Standesunterschiede  ge- 
macht wurden,  dass  nur  Begabung  und  Fleiss  den  Ein- 
zelnen zur  Geltung  bringen  konnten.  Wir  wissen  es 
aus  Descartes'  eigenem  Munde,  welchen  Eindruck  alle 
diese  Umstände  auf  das  Gemüt  des  Knaben  machen 
mussten  (A.  II,  378). 

Um  den  Fleiss  und  das  Interesse  der  Schüler  wach- 
zurufen, wurde  mit  allen  möglichen  Mitteln  der  jugend- 
liche Ehrgeiz  angestachelt.  Die  Tüchtigsten  durften 
sich  mit  dem  Lehrer  in  der  Klassenaufsicht  teilen,  eine 
Einführung,  die  übrigens  auch  überaus  zweckmässig 
war,  da  bei  der  grossen  Menge  der  Schüler  —  oft 
waren  2 — 300  in  einer  Klasse  —  der  Lehrer  jede  Über- 
sicht über  sie  verloren  hätte.  Ferner  wurden  ihnen 
Auszeichnungen  aller  Art  zuteil,  Öffentliche  Schau- 
stellungen von  guten  Arbeiten  und  Gedichten,  Disputa- 


Humanistische  Studien.  11 

tionen    der   Philosophen   und    Theologen    sorgten  dafür. 

dass    ih: 

wurden. 


dass    ihre   Leistungen   auch   weiteren    Kreisen    hekannt 


7.  Sobald    die   Schüler   die    nötige    Übung    erlangt 
hatten,    wurde    in   den  Unterrichtsstunden   nur  noch  la- 
teinisch  geredet,    das   Französische    dagegen   ganz    und 
gar  vernachlässigt,   ja    es    durfte  sogar  nur  in  den  Er- 
holungsstunden  gesprochen   werden.     Vielleicht  hat  ge- 
rade  dieser   Zwang    die  Vorliebe    Descartes'    für    seine 
Muttersprache  begünstigt.    Ist  er  doch  der  Mitbegründer 
der   klassischen   französischen  Prosa  geworden,    der  im 
Gegensatz    zu   vielen  andern   sich  auch  hinsichtlich  des 
Inhalts    seiner    Schriften   von    dem  Gredankenkreise  der 
Alten  emanzipiert  hat,    wie    sticht  er  hierin  gegen  den 
geistreichen    Plauderer    Montaigne    ab,    dessen    Essais 
förmlich  überladen    sind   mit  Citaten  aus  der  alten  Ge- 
schichte,   oder   gegen   seinen   Freund   Balzac,    der    sich 
auch  nicht  enthalten  konnte,    in  seinen  formvollendeten 
Briefen    die    Griechen    und    Römer    als    Muster   zu    be- 
iiutzen.     Und    doch  war   für   Descartes  die  Verführung 
so   gross,    auch    seinerseits   gleiche    Tendenzen   zu   ver- 
folgen.     Fast    unübersehbar    ist    die    Fülle    von    alten 
Schriftstellern,  mit  denen  er  durch  den  Schulunterricht 
mehr   oder   weniger   vertraut  werden  musste.     Da  sind 
zu  nennen   unter   den  Dichtern:    Horaz,  Ovid,   Phädrus, 
Auszüge   aus   Tibull,   (Jatull,   Martial,   Properz,  Persius 
und   Juvenal,    ferner   Seneca,    Homer,   Pindar,    Hesiod, 
Euripides  und  Sophokles,  unter  den  Geschichtsschreibern 
Cäsar,    Sallust,    Titus  Livius,    Tacitus,  Thucydides  und 
Plutarch,   unter   den  Rednern  Cicero,  Demosthenes  und 
Isokrates,  und  endlich  unter  den  Philosophen  Plato,  Ari- 
stoteles  und   die    philosophischen  Werke  Ciceros.     Und 
mochte  auch  der  Zweck  der  Gesellschaft  Jesu  bei  dem 
klassischen  Unterricht,    um  ihre   eigenen  Worte  zu  ge- 
brauchen, nur  der  sein,   „dadurch  zur  besseren  Kenntnis 


]^2  Erstes  Kapitel:  Kindheit  und  Schule. 

Gottes,  unseres  Schöpfers  und  Herrn  anzuleiten'^,  den 
klugen  Schüler  konnte  auch  die  strenge  Zensur,  die  bei 
der  Auswahl  des  Stoffes  geübt  wurde,  nicht  daran  hin- 
dern, einen,  wenn  auch  teilweise  getrübten  und  unvoll- 
ständigen Einblick  in  die  antiken  Greistesschätze  zu  ge- 
winnen. 

Wohl  finden  wir  bei  Descartes  während  seiner 
Schulzeit  Zeichen  von  geistiger  Regsamkeit  und  Be- 
ffabuns:  vor.  sicherlich  hat  er  sich  unter  seinen  Mit- 
Schülern  durch  seine  Tüchtigkeit  ausgezeichnet  (C.  I, 
125 — 126),  doch  seine  eigentliche  geniale  Natur  kam 
hier  noch  nicht  zu  ihrer  sichtbaren  Entwicklung,  er 
war  eben  kein  ^\^underkind  wie  Mozart  und  Leibniz, 
die  schon  so  frühzeitig  ihre  grosse  Veranlagung  der 
AVeit  offenbarten. 

8.  Indes,  als  der  Vierzehnjährige  im  Oktober  1609 
den  philosophischen  Kursus  begann,  einem  Zeitpunkt,  in 
dem  er  gewissermassen  die  eigentlichen  Gymnasialklassen 
absolviert  hatte  und  sich  nun  dem  höheren  Studium  zu- 
wenden konnte,  da  bot  sich  schon  mehr  Gelegenheit 
für  ihn,  seine  eigentümlichen  spekulativen  Fähigkeiten 
zu  entfalten.  Auch  konnte  wohl  die  bedeutend  kleinere 
Hörerzahl,  die  an  diesen  Kursen  teilnahm,  es  schon  weit 
eher  dem  Lehrer  ermöglichen,  auf  die  individuelle 
Eio-enart  der  Studenten  sein  Augenmerk  zu  richten 
und  so  ihre  geistige  Entwicklung  erfolgreicher  zu 
fördern.  Der  Unterricht  war  ganz  nach  dem  üblichen 
scholastisch-mittelalterlichen  Zuschnitt.  Im  Mittelpunkt 
stand  ausser  dem  heiligen  Thomas  von  Aquino  durchaus 
Aristoteles  und  seine  üblichen  Kommentatoren.  Die 
Anschauungen  dieses  grossen  Griechen,  eingezwängt  in 
das  Prokrustes  -  Bett  der  mittelalterlich  katholischen 
Weltanschauung,  bekamen  die  Schüler  zu  hören  in  allen 
Zweigen  der  Philosophie,  mochte  es  sich  nun  um  Logik, 
Metaphysik    oder    Physik    handeln,    kein    aufklärendes 


Scholastisch-philosophische  Studien.  13 

Wort  eines  modernen  Naturphilosophen,  nichts  von  den 
epochemachenden  Entdeckungen  eines  Kopernikus,  eines 
Kepler  drang  in  die  sorgsam  abgeschlossenen  Studier- 
räume des  Ordens,  es  sei  denn,  um  sie  gleichzeitig  aufs 
schärfste  mit  dem  ganzen  aufgebotenen  Rüstzeug  der 
Dialektik  zu  bekämpfen.  Und  wenn  sie  wirklich  in 
keiner  feindlichen  Absicht  erwähnt  wurden,  so  musste 
es  sich  um  etwas  ganz  Harmloses,  dem  Kirchenglauben 
nicht  im  geringsten  Gefahrbringendes  handeln.  So  be- 
kam Descartes  im  Sommer  des  Jahres  1610  bei  einer 
Totenfeier  für  den  durch  Mörderhand  gefallenen  König 
Heinrich  IV.  vielleicht  zum  erstenmale  in  seinem  Leben 
den  Namen  Galilei  zu  hören,  dessen  Aufsehen  erregende 
Entdeckung  der  Jupitertrabanten  in  einem  dem  Ver- 
storbenen gewidmeten  Sonett  erwähnt  wurde. ^)  Sicherlich 
wäre  dies  nicht  geschehen,  wenn  die  Jesuiten  in  La 
Fleche  eine  Ahnung  davon  gehabt  hätten,  welche  Kämpfe 
jener  berühmte  Physiker  später  mit  der  Kirche  aus- 
zufechten  hatte. 

,  Indes  bei  alledem  ist  zu  bedenken,  dass  zur  da- 
maligen Zeit  auf  fast  allen  Universitäten,  eine  ver- 
schwindende Anzahl  von  aufgeklärten  Köpfen  unter  den 
Lehrern  ausgenommen,  der  philosophische  Unterricht 
nicht  im  geringsten  höher  stand.  Und  weiter  ist  es 
entschieden  anzuerkennen,  dass  die  intensive  dialektische 
Schulung,  die  den  Studenten  übermittelt  wurde,  ausser- 
ordentlich bildend  und  anregend  auf  den  Geist  ein- 
wirkte, ja  noch  mehr,  für  den  aufgeweckten  und  unab- 
hängigen Kopf  konnte  sie  '-^u  einem  für  die  Lehrer  sehr 
zweischneidigen  Schwerte  werden  und  als  vorzügliches 
Rüstzeug  zur  Bekämpfung  der  mittelalterlichen  Philo- 
sophie dienen.  Und  so  sind  es  die  Jesuiten,  denen  es 
Descartes  nicht  zum  wenigsten  zu  verdanken  hat,  wenn 

^)  Vergleiche  über  dieses  Sonett:  Camille  de  Rochemonteix, 
Le  College  Henri  IV.  de  la  Fleche.  I,  148.  Diesem  Werk  habe  ich 
mancherlei  Angaben  über  das  College  entnommen. 


14  Erstes  Kapitel:  Kindheit  und  Schule. 

er  später  mit  so  bewunderungswürdiger  logischer  Kon- 
sequenz sein  philosopliisclies  Weltbild  entwickelt,  unter 
ihrer  Leitung  hat  er  sich  die  dialektische  Schärfe  an- 
geeignet, die  ihm  dereinst  zur  Bekämpfung  seiner 
Gegner  so  erfolgreich  zu  statten  kam.  Und  dankbar 
hat  unser  Philosoph  auch  später  anerkannt,  wie  nütz- 
lich ihm  der  philosophische  Unterricht  gewesen  ist. 
.,Bin  ich  auch  nicht  der  Meinung,  dass  alles,  was  in 
der  Philosophie  gelehrt  wird,  so  wahr  ist  wie  das 
Evangelium,  so  halte  ich  es  doch  für  sehr  vorteilhaft, 
da  die  Philosophie  der  Schlüssel  zu  allen  anderen 
Wissenschaften  ist,  wenn  man  den  ganzen  üblichen 
Kursus  durchgemacht  hat,  wie  er  auf  den  Jesuiten- 
schulen gelehrt  wird,  bevor  man  sich  von  der  Pedan- 
terie der  Schulbildung  befreit,  um  ein  wahrhafter  Weiser 
zu  werden.  Und  ich  muss  meinen  Lehrern  diese  ehrende 
Anerkenmmg  zollen,  dass  ich  keinen  besseren  Ort  hier- 
für weiss  als  La  Fleche"  (A.  II,  378). 

Wie  hoch  man  indes  auch  diese  Wertschätzung 
Descartes'  aufnehmen  mag,  einen  tieferen  Eindruck  in 
materialer  Beziehung  hat  die  scholastische  Philosophie 
nicht  einmal  zu  der  Zeit,  als  sie  ihm  gelehrt  wurde, 
in  ihm  erwecken  können.  Hatte  er  doch  schon  auf  der 
Schule  gehört,  dass  man  sich  nichts  so  Wunderliches 
und  Unglaubliches  vorstellen  könne,  was  nicht  von 
irgend  einem  Philosophen  schon  mal  ernstlich  als  wahr 
anerkannt  worden  ist  (C.  I,  138). 

Einen  besonderen  Reiz  für  ihn  hatte  das  Studium 
der  Mathematik.  War  dieses  doch  die  einzige  Disziplin, 
die  auf  sich  selbst  gegründet  war,  die  unabhängig  von 
Aristoteles  vorgetragen  werden  musste.  Indes  auch  sie 
konnte  ihn  auf  die  Dauer  nicht  fesseln.  Vollkommen 
getrennt  wie  sie  war  von  den  physikalischen  Disziplinen, 
hatte  sie  schliesslich  auch  nur  rein  formales  Interesse. 
Und  wie  hätte  auch  ein  innerer  Zusammenhang  ermög- 
licht werden   können,    wo  die  Physik  nach  echt  mittel- 


über  Descartes'  Bildungsdrang.  15 

alterliclier  Weise   in    der  Lektüre  und  Ausdeutung  der 
Aristotelischen  naturwissenschaftliclien  Schriften  bestand. 

9.  Der  immer  mehr  erwachende  Wissensdrang  des 
Jünglings  begnügte  sich  keineswegs  mit  dem,  was  auf 
der  Schule  geboten  wurde.  Es  war  ihm  ausserordent- 
licher Ernst  mit  seiner  geistigen  Bildung.  Die  Erlaub- 
nis, länger  als  die  andern  im  Bette  liegen  zu  bleiben, 
die  ihm  wegen  seiner  schwachen  Gesundheit  gewährt 
wurde,  benutzte  er  zum  einsamen  Nachdenken  und  zur 
inneren  Selbstbeschau.  Es  darf  uns  nicht  wunder- 
nehmen, wenn  der  Philosoph,  der  später  mit  solchem 
Nachdruck  auf  das  Selbstbewusstsein  als  den  sichersten 
Grund  unseres  Wesens  hinwies,  schon  frühzeitig  die 
Neigung  zeigte,  sich  in  sich  selbst  zurückzuziehen, 
schon  jetzt  zu  diesem  Mittel  griif,  das  ihm  später  so 
viele  Erfolge  brachte. 

Dabei  war  er  keineswegs  ein  einsamer  Grübler,  der 
nur  in  sich  selbst  die  Wahrheit  suchte.  Er  versuchte 
mit  allen  Mitteln  seinen  geistigen  Horizont  zu  erweitern, 
und  da  ihm  nichts  anderes  zu  Gebote  stand  als  die 
Lektüre,  so  wendete  er  ihr  seinen  ganzen  jugendlichen 
Eifer  zu.  ,.Ich  hatte  alle  Bücher  gelesen,  die  von  den 
seltensten  und  merkwürdigsten  Wissenschaften  handelten, 
deren  ich  nur  immer  habhaft  werden  konnte"  (C.  I,  125). 

So  konnten  die  Lehrer  im  August  des  Jahres  1(51!^^ 
beruhigten  Herzens  ihren  Zögling  entlassen.  Was  ihnen 
als  das  wahre  Bildungsideal  erschien,  die  Versenkung 
in  den  mittelalterlich-scholastischen  Ideenkreis,  hatten 
sie  dem  siebzehnjährigen  Jüngling  übermittelt,  er  durfte 
sich  nun  zu  den  „Gelehrten"  rechnen. 


Zweites  Kapitel. 


Periode  des  Skeptizismus. 

1.  Nachdem  Descartes  das  College  verlassen  hatte, 
finden  wir  ihn  zunächst  in  Rennes  hei  seinen  Ver- 
wandten wieder,  sich  mit  Reiten  und  Fechten,  sowie 
überhaupt  seinem  Stande  angemessenen  körperlichen 
Übungen  beschäftigend.  Zu  Anfang  des  Jahres  1613 
wird  er  nach  Paris  geschickt.  Hier  soll  er  das  gross- 
städtische Leben  kennen  lernen  und  seine  Gresundheit 
noch  weiter  kräftigen,  bevor  er  sich  einem  bestimmten 
Berufe  widmete. 

Auf  den  ersten  Blick  scheint  eine  grosse  Verände- 
rung mit  dem  jungen  Menschen  vorgegangen  zu  sein. 
Er,  dessen  Ideal  vorher  nur  geistige  Studien  gewesen 
sind,  gibt  sich  jetzt  ganz  und  gar  den  Vergnügungen 
hin,  wie  sie  sich  ihm  in  dem  leichtlebigen  Paris  dar- 
boten. Und  er  mag  es  zuweilen  toll  genug  getrieben 
haben,  wenn  wir  sehen,  wie  später  seine  leichtsinnigen 
Genossen,  als  er  endlich  der  Zerstreuungen  müde  sich  vor 
ihnen  zurückzog,  sich  alle  nur  erdenkliche  Mühe  gaben, 
um  ihn  wieder  aufzufinden.  Worin  ist  nun  der  Grund  dieser 
veränderten  Sinnesweise  zu  suchen?  Sollte  Descartes 
wirklich  nur  deswegen  die  Studien  aufgegeben  haben, 
weil  er  jetzt,  der  Schulfesseln  ledig  und  sein  eigener 
freier  Herr,  nur  noch  danach  trachtete,  das  Leben  von 
(irund  aus  zu  gemessen.  Dem  widerspricht  sein  zu 
ernsthaft  angelegter  Charakter,  widerspricht  die  Tat- 
sache, dass  er  nach  anderthalb  Jahren   sich  von  seinen 


Skeptische,  dem  Weltleben  zugewandte  Gesinnung.  17 

vergnügungssüchtigen  Freunden  vollkommen  zurückzog, 
um  sich  ernsten  wissenschaftlichen  Studien  zu  widmen. 
Es  war  etwas  ganz  anderes,  was  ihn  dazu  ver- 
anlasst hatte,  die  Beschäftigungen,  die  er  auf  der 
Schule  getrieben  hatte,  vollkommen  aufzugeben.  Es 
war  die  Unproduktivität  der  scholastischen  Denkungs- 
weise,  die  dem  Jüngling  zum  klaren  Bewusstsein  ge- 
kommen war.  Er  wollte  selbst  denken,  selbst  forschen, 
ein  Wissen  erwerben,  das  ihn  zum  Verständnis  der 
Natur  und  Welt  führte,  ihn  nicht  vom  realen  Leben 
abschloss.  Er  sah  mit  nur  allzu  grosser  Deutlichkeit 
die  erschreckende  Leere  und  Hohlheit  des  damaligen 
Grelehrten,  der  gar  kein  wirkliches  Existenzrecht  hatte, 
was  für  eine  Rolle  er  auch  im  Leben  spielte,  gestützt 
durch  die  reichen  Pfründen,  mit  denen  er  vom  Staate 
und  der  Kirche  ausgestattet  war.  Nur  die  Erfahrungen, 
die  ihm  das  Leben  darbot,  nur  das  Wissen,  das  er  sich 
durch  selbständiges  Forschen  aneignete,  hielt  er  fortan 
der  Beachtung  für  wert.  Mochte  er  auch  auf  diese  Art 
und  Weise  zu  keiner  Gewissheit  kommen,  wie  sie  ihm 
die  Stubengelehrten  vorgetäuscht  hatten,  mochten  auch 
die  Erfahrungen  des  bunten  vielgestaltigen  Lebens  keine 
eindeutige  Erklärungen  zulassen,  das  selbständige  Stu- 
dium ohne  feste  Forschungsprinzipien  zu  keinen  festen 
Ergebnissen  führen,  ihn  verlangte  es  vorläufig  nicht 
danach.  Hatte  er  ja  auf  der  Schule  zur  Genüge  kennen 
gelernt,  was  es  mit  der  vielgerühmten  Gewissheit  der 
scholastischen  Wissenschaft  für  eine  Bewandtnis  hatte. 

Der  Philosoph,  der  tritt  herein, 

Und  beweist  euch,  es  müsst'  so  sein : 

Das  Erst'  war'  so,  das  Zweite  so. 

Und  drum  das  Dritt'  und  Vierte  so; 

Und  wenn  das  Erst'  und  Zweit'  nicht  war', 

Das  Dritt'  und  Viert'  war'  nimmermehr. 

Hunger  nach  Wirklichkeit,   nach  Realität   war  es, 
was  ihn  ganz  und  gar  erfüllte,  was  ihn  zum  Aufsuchen 

Hoffmann,  Descartes.  2 


]^8  Zweites  Kapitel:  Periode  des  Skeptizismus. 

„einer  unendliclien  Empirie",  wie  Groethe  es  nennt 
(Geschichte  der  Farbenlehre),  veranlasste.  „Ich  beschloss 
keine  andere  Wissenschaft  mehr  zu  suchen,  als  die  ich 
in  mir  selbst  oder  in  dem  grossen  Buche  der  Natur 
finden  könnte.  ■ —  Denn  es  schien  mir,  als  könnte  ich  in 
den  Schlussfolgerungen,  die  ein  jeder  in  seinen  eigenen 
Angelegenheiten  macht  und  durch  deren  Ausgang  er 
alsbald  bestraft  wird,  wenn  er  sie  falsch  beurteilt  hat, 
viel  mehr  Wahrheit  finden,  als  in  den  unnützen  Speku- 
lationen, die  der  Grelehrte  in  seinem  Studierzimmer  an- 
stellt, und  die  weiter  keinen  Erfolg  für  ihn  haben,  als 
dass  sie  ihn  vielleicht  um  so  eitler  machen,  je  weniger 
sie  mit  dem  gesunden  Menschenverstand  übereinstimmen, 
weil  er  dann  um  so  mehr  Geist  und  Geschicklichkeit 
aufbieten  muss,  um  ihnen  den  Anschein  von  Wahrheit 
zu  geben"  (C.  1,  131). 

Nicht  bezeichnender  hätte  Descartes  seine  damalige 
skeptische,  dem  realen  Leben  zugewandte  Stimmung 
ausdrücken  können. 

2.  Descartes  ist  nichts  weniger  als  ein  Pedant  ge- 
wesen, und  so  braucht  es  uns  nicht  zu  wundern,  wenn 
er  fürs  erste  noch  nicht  an  die  Ausführung  seiner  Pläne 
dachte,  sondern  zunächst  in  vollen  Zügen  die  Freiheit 
und  die  Vergnügungen  genoss,  wie  sie  ihm  die  Haupt- 
stadt darbot.  Mochte  auch  das  damalige  Paris  noch 
nicht  so  raffinierte  Genüsse  wie  in  unserer  Zeit  der 
zerstreuungsbedürftigen  vornehmen  Gesellschaft  bieten, 
es  gab  dort  doch  Gelegenheit  genug,  sich  die  Zeit  in 
angenehmer  Weise  zu  vertreiben.  Ein  beliebtes  Unter- 
haltungsmittel bildeten  die  Promenaden.  Die  Herren 
ritten  gewöhnlich,  wobei  sie  einander  zu  überbieten 
suchten  in  der  Eleganz  und  Vornehmheit  ihrer  Aus- 
rüstung, die  Damen  schlössen  sich  ihnen  an  in  ofi'enen 
Wagen,  wodurch  es  ihnen  ermöglicht  wurde,  ohne  die 
geringste    Anstrengung   ihre    reich    ausgestatteten    und 


Pariser  Gesellschaftsleben  und  sein  Einfluss.  19 

geschmackvoll  gewählten  Toiletten  spazieren  zu  führen. 
Man  erfreute  sich  an  den  prächtigen  Gebäuden,  an  der 
schönen  Natur  und  vertrieb  sich  die  Stunden  mit  mehr 
oder  weniger  geistreichen  Gesprächen.  Nach  dem 
Spaziergang  blieb  man  häufig  noch  beisammen  in  einem 
Privatgarten  promenierend.  In  einer  versteckten  Laube 
wurde  dann  den  nichts  ahnenden  Gästen  ein  geschmack- 
voll hergerichtetes  Mahl  geboten,  oder  die  Gesellschaft 
befand  sich  des  Abends  im  Salon  in  angeregter  Unter- 
haltung begrijffen,  als  A^on  der  Strasse  her  Musikweisen 
in  die  geöffneten  Saalfenster  hineinklangen.  Überrascht 
schauten  sich  dann  die  Gäste  um,  wem  von  den  An- 
wesenden das  Ständchen  dargebracht  wurde. 

Grosse  Anziehungskraft  übten  auch  die  ebenfalls 
in  Begleitung  der  Damen  unternommenen  Jagdpartien 
in  eigens  dazu  hergerichteten  Tiergärten  aus.  Getanzt 
wurde  damals  schon  wie  heute  in  allen  Gesellschafts- 
klassen. Am  Hofe  wurde  besonders  das  Ballett  gepflegt, 
Damen  und  Herren  der  vornehmsten  Kreise  nahmen 
daran  teil,  man  bot  dabei  alles  auf,  durch  die  ausge- 
wählte Musik,  die  graziösen  Tanzfiguren  und  die  ausser- 
ordentlich kostbare  Ausstattung  den  Gästen  ein  aus- 
erlesenes Vergnügen  zu  bieten.^) 

Überhaupt  muss  gerade  zu  dieser  Zeit  das  gesellige 
Leben  in  Paris  ausserordentlich  rege  gewesen  sein, 
stand  doch  die  leichtsinnige  Mediceerin  Maria  an  der 
Spitze  des  Staates,  die  Regentschaft  für  ihren  unmün- 
digen Sohn,  den  späteren  Ludwig  XIII.,  führend,  und 
man  weiss,  wie  sie  Glanz  und  Pracht  liebte,  wie  die 
Pflege  ihrer  Schönheit  eine  ihrer  Hauptsorgen  war. 
Mochten  sich  die  von  Heinrich  IV.  kaum  beschwichtigten 
Unabhängigkeitsgelüste  des  Adels  wieder  regen,  mochten 
die  durch  das  Edikt  von  Nantes  mit  so  reichen  Privi- 
legien ausgestatteten  Hugenotten  das  Gemeinwesen  be- 

^)  Eingehend  hat  sich  mit  diesen  Verhältnissen  Cousin  be- 
schäftigt. 


20  Zweites  Kapitel :  Periode  des  Skeptizismus. 

drohen,  was  schadefs,  wenn  nur  Paris  sicli  liinreicliend 
amüsieren  kann. 

Es  ist  leicht  zu  verstehen,  wie  der  Glanz  des 
hauptstädtischen  Lebens  nicht  verfehlte,  einen  be- 
strickenden Reiz  auf  den  des  Studierzimmers  kaum 
entwöhnten  Jüngling  auszuüben.  Aber  wie  verführerisch 
lockend  auch  Genüsse  aller  Art  ihn  umgaben,  sie  ver- 
mochten es  doch  nicht,  ihn  vollkommen  zu  betäuben. 
Scheinbar  ganz  und  gar  den  Vergnügungen  hingegeben, 
konnte  er  doch  nicht  seine  gewissenhafte,  nachdenkliche 
und  auf  den  Grund  der  Dinge  gehende  Natur  verleugnen. 
Alles,  was  er  betrieb,  ob  Vergnügen  oder  Arbeit,  voll- 
brachte er  mit  einem  gewissen  Ernst.  Schon  in  Rennes, 
als  er  sich  im  Eechten  übte,  hatte  er  über  die  blosse 
instinktive  Aneignung  dieser  Kunst  hinauszukommen 
gesucht  und  in  einer  Abhandlung  dargelegt,  wie  man 
einen  vollkommen  ebenbürtigen  Gegner  besiegen  kann.^) 
Dem  Spiele,  dem  er  sich  mit  einer  gewissen  Leiden- 
schaft widmete,  suchte  er  ebenfalls  die  theoretischen 
Grundlagen  abzulauschen,  und  es  interessierte  ihn  um 
so  mehr,  je  unabhängiger  es  vom  Zufall  war  und  je 
mehr  es  die  geistige  Aufmerksamkeit  herausforderte. 

Ein  lebhaftes  Literesse  zeigte  Descartes  für  die 
musikalischen  Genüsse  in  Paris.  Bedenken  wir,  wie  er 
bald  nach  seinem  ersten  Pariser  Aufenthalt  eine  Schrift 
über  die  Musik  verfasste,  die  einen  ehrenvollen  Platz 
in  der  Geschichte  der  Musiktheorie  einnimmt  und  eine 
Fülle  von  feinsinnigen  und  teilweise  recht  wichtigen 
Beobachtungen  enthält,  so  können  wir  uns  eine  Vor- 
stellung davon  machen^  mit  wie  grossem  Verständnis  er 
den  musikalischen  Unterhaltungen  beigewohnt  hat  und 
wie  er  sich  nicht  mit  dem  blossen  Genüsse  begnügt, 
sondern  auch  die  geheimnisvolle  Technik  zu  ergründen 
versucht   hat.     Während  bei  den  Balletts  der  Genuss- 


^)  Die  Abhandlung  ist  verloren  gegangen. 


Freundschaft  mit  Mersenne.  21 

mensch  damals  genau  so  wie  heute  sich  hauptsächlich 
von  den  Keizen  der  körperlichen  Schönheit  und  der 
Anmut  der  Bewegungen  gefangen  nehmen  lässt,  hatte 
Descartes  noch  Sinn  genug,  die  wunderbaren  Wirkungen 
der  Musik  zu  beachten,  wie  sie  den  Tanzenden  gleich- 
sam in  einem  magischen  Zauberbann  hält  und  ihn 
zwingt,  ein  willenloser  Ausdruck  ihres  eigentümlichen 
Rhythmus  zu  werden  (C.  V,  451). 

3.  Von  dem  ganzen  Schwärm  vergnügungssüchtiger 
junger  Leute,  der  sich  damals  um  Descartes  geschart 
hatte,  ist  uns  kein  einziger  Name  erhalten  geblieben, 
und  wie  wir  wohl  ruhig  behaupten  dürfen,  es  entsteht 
hierdurch  keine  Lücke  in  dem  Verständnis  der  inneren 
Entwicklung  unseres  Philosophen.  Anders  steht  es  um 
zwei  Freundschaften,  welche  der  Jüngling  damals  in 
Paris  geschlossen  hatte,  die  für  ihn  bedeutungsvoll  bis 
in  seine  letzten  Lebensjahre  hinein  werden  sollten,  und 
die  wohl  nicht  zum  wenigsten  dazu  beigetragen  haben, 
ihn  dem  leichtsinnigen  Treiben  seiner  Genossen  zu  ent- 
ziehen. 

Den  einen  von  ihnen.  Marin  Mersenne,  hatte  er 
schon  auf  dem  College  kennen  lernen  können,  doch 
mochte  wohl  der  grosse  Altersunterschied  zwischen 
beiden  —  Mersenne  war  fast  acht  Jahre  älter  —  eine 
Annäherung  damals  verhindert  haben.  Beide  strebten 
ganz  entgegengesetzten  Zielen  zu,  Descartes  wollte  Welt 
und  Menschen  kennen  lernen,  Mersenne  hinter  friedlichen 
Klostermauern  sein  Leben  verbringen.  Letzterer  besass 
eine  selten  gute  Gemütsart  und  eine  Liebenswürdigkeit 
und  Verträglichkeit  im  persönlichen  Verkehr,  die  es 
ihm  ermöglichte,  die  widerstrebendsten  Elemente  an  sich 
zu  fesseln,  und  indem  er,  veranlasst  durch  sein  all- 
seitiges wissenschaftliches  Interesse,  dies  benutzte,  um 
mit  zahlreichen  Gelehrten  und  hervorragenden  Forschern 
seiner  Zeit  in  rege  Verbindung  zu  treten,   hat  er  sich 


22  Zweites  Kapitel:  Periode  des  Skeptizismus. 

ein  ausserordentliches  Verdienst  um  die  Verbreitung  und 
Erweckung  der  damaligen  wissenschaftlichen  Ideen- 
massen erworben.  Seine  eigenen  wissenschaftlichen  Ver- 
dienste sind  freilich,  abgesehen  von  der  Musiktheorie, 
ausserordentlich  gering,  und  blättert  man  in  seinem 
dickleibigen  Kommentar  zur  Genesis  etwas  herum,  so 
erstaunt  man,  wieviel  des  Kleinlichen  und  geradezu 
Lächerlichen  darin  behandelt  wird.  Nicht  weniger 
muss  einem  in  Verwunderung  setzen  die  merkwürdige 
Naivität  und  Gutmütigkeit  des  jungen  Geistlichen,  der  in 
seinem  heiligen  Eifer  in  den  heftigsten  Ausdrücken  sich 
über  die  gottlosen  Skeptiker  und  Freigeister  ergeht  und 
dabei  keinen  Anstand  nimmt,  mit  Leuten  wie  Hobbes 
und  Gassendi  in  den  regsten  persönlichen  und  wissen- 
schaftlichen Verkehr  zu  treten,  Männern  von  der  alier- 
entschiedensten  positivistischen  und  sensualistischen 
Richtung,  die"  aus  ihrer  Überzeugung  kein  Hehl 
machten.  Durch  alle  diese  Eigenschaften  sollte  Mersenne 
später  seinem  Freunde  Descartes  ausserordentlich  nütz- 
lich werden.  Wir  werden  sehen,  wie  viele  Jahre  nach 
diesem  ersten  Pariser  Aufenthalt  der  Philosoph  sich  in 
das  ferne  Holland  zur  Ausreifung  seiner  Gedanken 
zurückzieht,  und  wie  er  doch  dank  seinem  Freunde  einen 
reg-en  Ideenaustausch  mit  der  wissenschaftlichen  Welt 
dabei  imterhalten  kann.  „Ich  hatte  den  grossen  Vorteil 
zu  Lebzeiten  des  guten  Pater  Mersenne,  dass  ich  ohne 
eigenes  Zutun  auf  das  Genaueste  von  allem,  was  sich 
unter  den  Gelehrten  zutrug,  unterrichtet  wurde.  Durch 
ihn  erhielt  ich  Bericht  über  alle  Experimente,  die  von 
ihm  oder  andern  angestellt  waren,  über  alle  seltenen 
Erfindungen,  die  man  gemacht  oder  denen  man  auf  der 
Spur  war,  über  alle  neuen  Bücher,  die  in  irgend  welchem 
Ansehen  standen,  und  endlich  über  alle  bedeutsamen 
wissenschaftlichen  Diskussionen"  (A.V,  365).  Bei  alledem 
muss  aber  betont  werden,  ein  selbständiger  Einfluss  auf 
Descartes'   philosophische    Gedankenbildung    darf   Mer- 


Mydorges  wissenschaftlicher  Einfluss.  23 

senne  wolil  kaum  zugeschrieben  werden.  Von  Descartes 
erfahren  wir  es  selbst,  wie  ungeordnet  das  Wissen 
seines  Freundes  war,  wie  es  ihm  an  eigentlicher  Tiefe 
fehlte,  Eigenschaften,  die  es  ihm  zwar  ermöglichten,  an 
die  Probleme  heranzutreten,  ein  wirkliches  Eindringen 
in  dieselben  aber  vollkommen  ausschlössen  (A.  II,  586). 
Trotz  dieser  so  grossen  geistigen  Verschiedenheit  hat 
nie  ein  Missklang  die  Freundschaft  der  beiden  Männer 
gestört.  War  Descartes  viel  zu  edel  und  feinfühlig, 
als  dass  er  jemals  dem  Gefährten  seine  geistige  Über- 
legenheit gezeigt  hätte,  so  besass  wiederum  Mersenne 
ein  überaus  bescheidenes,  jeder  Selbstüberhebung  fremdes 
Wesen,  wodurch  ein  Konflikt  ganz  und  gar  unmöglich 
gemacht  wurde. 

4.  Einen  anderen  Charakter  hat  das  zweite  Freund- 
schaftsbündnis,  das  Descartes  zur  damaligen  Zeit  in 
Paris  schloss.  Es  war  eine  durchaus  auf  Produktivität 
angelegte  Persönlichkeit,  deren  anregenden  Einfluss 
Descartes  in  dem  neuen  Bekannten,  dem  Mathematiker 
und  Physiker  Mydorge,  erfahren  sollte.  Aus  einer  reich 
begüterten  Beamtenfamilie  stammend,  hatte  dieser  nach 
Vollendung  seiner  gerichtlichen  Laufbahn  den  keinerlei 
Verpflichtungen  mit  sich  bringenden  Titel  eines  „Schatz- 
meisters" (Tresorier  de  France)  angenommen,  um  sich 
ungehindert  wissenschaftlichen  Studien  hingeben  zu 
können. 

In  jener  Zeit,  in  der  die  Wissenschaft  an  den  Uni- 
versitäten noch  lange  nicht  von  dem  tiefen  Schlaf  er- 
wacht war,  in  den  sie  der  dämonische  Einfluss  des  Aristo- 
teles versetzt  hatte,  in  der  sie  noch  ruhig  weiter  ihr 
phantastisches  Traumleben  fortsetzte,  hatten  sich  ganz 
im  stillen  und  abseits  von  der  gelehrten  Zunft  Männer 
gefunden,  die  im  kühnen  Selbstvertrauen  auf  eigene 
Hand  die  Wissenschaften  wieder  zu  beleben  suchten. 
Mochte  auch   Mydorge   nicht   heranreichen   an   die   Be- 


24  Zweites  Kapitel:  Periode  des  Skeptizismus. 

deutung  eines  Kopernikus,  eines  Kepler,  eines  Galilei, 
so  hatte  er  doch  ihren  ganzen  Enthusiasmus  in  sich 
aufgenommen,  hatte  Talent  genug,  um  in  der  Geschichte 
der  Mathematik  und  Optik  auch  heute  noch  einen  ehren- 
vollen Platz  einzunehmen.  Als  Descartes  die  Schale 
verliess,  hatte  er  geglaubt,  dass  das  wissenschaftliche 
Leben  seiner  Zeit  ihm  nichts  mehr  bieten  könne.  Jetzt 
musste  er  wahrnehmen,  wie  beschränkt  im  Grunde  ge- 
nommen sein  damaliges  Urteil  gewesen  war,  wie  er  voll- 
ständig die  geheimen  wissenschaftlichen  Unterströmungen 
übersehen  hatte,  die  dereinst  die  ganze  Welt  umge- 
stalten sollten.  Wir  dürfen  wohl  mit  ziemlicher  Sicher- 
heit annehmen,  dass  gerade  jetzt  durch  den  Verkehr 
mit  jenem  wissensdurstigen  Mathematiker,  der  in  seinem 
selbstlosen  Forschungsdrange  ein  ganzes  Vermögen  zur 
Bestreitung  von  Experimenten  in  seinem  Leben  ausge- 
geben hat,  unserem  Philosophen  zum  erstenmale  jene 
Erkenntnis  gekommen  ist,  und  ob  früher  oder  später, 
kommen  musste  sie  ihm  einmal  in  diesen  Jahren  seiner 
Entwicklung.  Denn  das  ist  ja  der  Unterschied  des 
Genies  vom  gewöhnlichen  Kopf,  jener  kann  sich,  dem 
Parvenü  vergleichbar,  nur  das  Wissen  aneignen,  was 
schon  alle  innere  Fruchtbarkeit  verloren  hat,  was  ab- 
gestanden und  geistlos  genug  ist,  um  unter  der  grossen 
Masse  der  Gelehrten  zirkulieren  zu  können;  der  Mann 
von  Talent  dagegen,  unbefriedigt  von  der  schmalen 
Kost  dieser  „breiten  Bettelsuppen",  gräbt  tiefer  in  dem 
Schacht  der  zeitgenössischen  Wissenschaften,  bis  er  auf 
die  in  geheimer  Tiefe  verborgenen  Goldadern  stösst,  die 
wirklich  fruchtbaren  Keime  neuer  geistiger  Ideen,  die 
das  profane  Auge  nie  entdeckt. 

5.  Seit  dem  Herbste  des  Jahres  1614  erscheint 
Descartes  wie  umgewandelt.  Der  ernste  Verkehr  mit 
Mersenne  und  Mydorge  muss  offenbar  jetzt  seine  Wir- 
kuno;en  auso:eübt  haben.  Aus  dem  geräuschvollen  Treiben 


Wissenschaftliche  Studien.    Zukunftspläne.  25 

seiner  G-enossen  hat  er  sich  entfernt  und  hält  sich  vor 
ihnen  verborgen  in  der  stillen  Vorstadt  Saint-Germain 
auf,^)  die  Einsamkeit  ganz  und  gar  ernsthaften  wissen- 
schaftlichen Studien  weihend.  Baillet  berichtet  uns, 
dass  er  sich  vornehmlich  mit  Mathematik  beschäftigte 
(Baillet  I,  38) ;  betrachten  wir  aber,  mit  welchem  leb- 
haften und  selbständigen  Interesse  er  einige  Jahre 
darauf  auf  physikalische  Erörterungen  einging,  so  gehen 
wir  wohl  nicht  fehl,  wenn  wir,  wie  ja  schon  vorher 
nahegelegt  wurde,  in  diese  Zeit  auch  seine  erste  Be- 
kanntschaft mit  der  neu  erwachenden  Naturforschung 
setzen.  Vielleicht  hat  er  schon  jetzt  mit  dem  Studium 
Keplers  begonnen,  den  er  später  als  seinen  Lehrer  in 
der  Optik  anerkennt  (A.  I,  86).  Mit  Hochachtung  hat 
hat  er  indessen  auch  immer  Mydorge  genannt,  von  dem 
er  augenblicklich  so  viele  persönliche  wissenschaftliche 
Anregungen  bekommt-)  (A.  I,  501 ;  II,  15.  466). 

Geraume  Zeit  verbrachte  Descartes  in  dem  stillen 
Saint-Germain,  als  er  durch  einen  Zufall  von  einem 
seiner  früheren  lebenslustigen  Bekannten  entdeckt  wurde. 
Nun  war's  vorbei  mit  seiner  wissenschaftlichen  Müsse. 
G-anz  so  wie  früher  wurde  er  wieder  in  den  Strudel 
der  Vergnügungen  hineingezogen.  Allein  er  konnte 
nicht  mehr  mit  ganzem  Herzen  dabei  sein.  Dieses 
Leben,  wie  es  die  damaligen  vornehmen  Kreise  führten, 
erschien  ihm  doch  zu  leer,  zu  inhaltlos.  Es  bot  keinen 
ßaum  für  wirklich  andauerndes  selbständiges  Studium, 
und  die  Zukunft,  die  ihm  in  Paris  winkte,  es  zu  einem 
blasierten  Lebemann  zu  brino-en,  stach  denn  doch  etwas 


^)  Für  längere  oder  kürzere  Zeit  muss  er  damals  auch  seinen 
Pariser  Wohnort  mit  Poitiers  vertauscht  haben. 

-)  Auch  juristische  Studien  muss  Descartes  damals  getrieben 
haben.  Am  10.  November  1616  promoviert  er  zum  Baccalaureus 
und  Lizentiaten  an  der  Rechtsfakultät  zu  Poitiers.  Deswegen  brauchen 
aber  nicht  so  erhebliche  Korrekturen  an  Baillets  Darstellung  vorge- 
nommen zu  werden,  wie  Thouverez  meint.  (Archiv  f.  Gesch.  d.  Philos. 
B.  XIII.) 


26  Zweites  Kapitel:  Periode  des  Skeptizismus. 

zu  grell  ab  von  den  ernsten  Vorsätzen,  die  er  sich  nach 
Verlassen  der  Schulzeit  gemacht  hatte,  das  Leben  mit 
dem  Auge  des  Philosophen  zu  betrachten  und  seinen 
Geist  von  den  Vorurteilen  und  Irrtümern  des  Durch- 
schnittsmenschen zu  befreien.  Hier  gab  es  nur  einen 
Ausweg.  Er  musste  fort  aus  dem  leichtsinnigen  Paris, 
das,  wie  er  fühlte,  der  Tod  für  seinen  inneren  Menschen 
zu  werden  drohte.  Wir  können  uns  eine  Vorstellung 
davon  machen,  wie  sehr  sich  Descartes  in  der  Haupt- 
stadt in  seiner  geistigen  Entfaltung  gehemmt  fühlte, 
wenn  wir  sehen,  wie  er  selbst  Jahrzehnte  danach  in 
seinen  letzten  Lebensjahren,  wo  er  sich  stets  nur  kurze 
Zeit  in  Paris  aufhielt,  eine  gewisse  geistige  Beunruhigung 
nicht  unterdrücken  konnte  trotz  der  vielen  Freunde,  die 
er  hier  hatte.  „Sie  werden  glauben,  dass  ich  zu  ein- 
gebildet bin.  Aber  ich  glaube,  an  diesem  Fehler  hat 
mehr  die  Pariser  Luft  als  ich  selbst  schuld.  Ich  habe 
es  Ihnen  wohl  schon  früher  einmal  gesagt,  diese  Luft 
erfüllt  mich  mit  Chimären  anstatt  mit  philosophischen 
Gedanken.  Und  ich  sehe  hier  so  viele  andere  Menschen 
mit  irrigen  Meinungen  und  Berechnungen,  dass  ich  zu 
dem  Glauben  komme,  diese  Krankheit  ist  hier  allge- 
mein." (A.  V,  183.) 

6.  Um  seine  Pläne,  die  Welt  ernstlich  kennen  zu 
lernen  und  dabei  auch  gleichzeitig  seinen  Charakter  zu 
stählen,  zur  Ausführung  bringen  zu  können,  entschloss 
sich  Descartes,  fern  von  der  Heimat  in  fremde  Kriegs- 
dienste zu  treten.  Es  war  das  damals,  so  seltsam  es 
auch  unsern  Verhältnissen  gegenüber  erscheinen  mag, 
die  zweckmässigste  Art  und  Weise,  das  Leben  an  seiner 
Quelle  zu  studieren.  Wenn  später  Descartes  ein  idea- 
listisches System  entwickelt  hat,  das  die  Theorien  der 
Eintagsphilosophen  überdauernd  in  der  fruchtbarsten 
Weise  auf  die  moderne  philosophische  Gedankenbewegung 
eingewirkt  hat,   so  ist  es  nicht  zum  wenigsten  dem  zu 


Kriegsjahre.     Dienstzeit  in  Holland.  27 

verdanken,  dass  der  ideale  Grnndzug  seines  Wesens  so 
ausserordentlicli  gekräftigt  und  vertieft  worden  ist 
durck  die  Berührung  und  die  Auseinandersetzung  mit 
den  Verhältnissen  des  realen  Lebens.  In  den  Gefahren 
und  Anstrengungen,  wie  sie  nun  einmal  das  Soldaten- 
leben mit  sich  bringt,  muss  ja  die  Energie  des  Menschen 
sich  am  stärksten  entfalten,  muss  sein  moralisches  Ich, 
wenn  es  kräftig  genug  ist,  um  nicht  durch  die  vielen 
Greuel  des  Krieges  zu  verrohen,  nur  um  so  mächtiger 
hervordringen.  Wenn  Descartes  in  seinem  System  mit 
so  ehernem  Nachdruck  die  Souveränität  des  Geistes,  die 
so  gewaltige  Kraft  des  menschlichen  Willens  hervor- 
hebt, in  diesen  Jahren  hat  sich  seine  Überzeugung  ent- 
wickelt und  ihre  Feuerprobe  bestanden. 

Als  sich  unser  Philosoph  zur  Kriegerlaufbahn  ent- 
schloss,  war  er  21  Jahre  alt.  Vergegenwärtigen  wir 
uns  einmal  sein  damaliges  Äussere,  er  machte  einen 
durchaus  frischen  und  angenehmen  Eindruck.  Seine 
Figur  war  etwas  unter  Mittelgrösse,  aber  wohl  pro- 
portioniert, der  Kopf  allerdings  ein  bisschen  gross  im 
Verhältnis  zum  Rumpf,  Haar  und  Augenbrauen  ziemlich 
schwarz,  die  Stirn  breit  und  ein  wenig  vorgerückt. 
Seinem  Stande  entsprechend  trug  er  Federhut,  Schärpe 
und  Degen,  wer  hätte  in  dem  jungen  Freiwilligen  mit 
der  frischen  und  gesunden  Gesichtsfarbe  den  bleichen 
schwächlichen  Knaben  von  ehedem  wiedererkannt? 

Descartes  hat  es  vermieden,  an  den  inneren  Kriegen, 
die  damals  in  seinem  Vaterlande  tobten,  teilzunehmen. 
Wie  hätte  wohl  auch  einer,  der  ein  Herz  für  sein  Ge- 
burtsland hatte,  diesen  inneren  Wirren  gerne  beiwohnen 
mögen,  in  die  das  damalige  Frankreich  durch  die  Huge- 
notten und  den  unruhigen  hohen  Adel  verwickelt  war, 
Zustände,  die  das  schwer  geprüfte  Land  noch  zur  voll- 
kommenen Anarchie  hätten  führen  können,  die  herr- 
schende Dynastie  jedenfalls  wohl  sicher  gestürzt  hätten, 
wenn  nicht  einige  Jahre  darauf  der  energische  Richelieu 


28  Zweites  Kapitel:  Periode  des  Skeptizismus. 

in  den  Staatsrat  berufen  worden  wäre,  der  mit  rück- 
sichtsloser und  grausamer  Härte  die  widerstrebenden 
Elemente  unterdrückte. 

7.  Es  waren  die  aufstrebenden,  freiheitlich  gesinnten 
Niederlande,  in  deren  Dienst  unser  junger  Philosoph 
trat.  Im  Jahre  1617,  in  dem  wir  uns  jetzt  befinden, 
war  der  Waffenstillstand,  den  die  vereinigten  Staaten 
mit  Spanien  geschlossen  hatten,  noch  nicht  abgelaufen. 
Trotzdem  war  von  eigentlicher  Ruhe  bei  den  Soldaten 
nichts  zu  merken.  Fürst  Moritz  von  Nassau  hielt  die 
Truppen  durch  militärische  Übungen  fortwährend  in 
Atem.  Der  Statthalter  hatte  sich  bereits  durch  seine 
tapfere  und  geschickte  Kriegsführung  einen  Namen  in 
ganz  Europa  gemacht.  Ausserdem  besass  er  eine  vor- 
zügliche theoretische  Ausbildung.  Unter  Leitung  des 
berühmten  Physikers  Simon  Stevin  hatte  er  mit  grossem 
Erfolg  Mathematik  imd  die  andern  zum  Kriegswesen 
gehörigen  Wissenschaften  studiert.  Sein  Hauptquartier 
lag  in  Breda.  Hierher  kam  nun  Descartes  inmitten 
einer  Schar  junger  französischer  Edelleute,  um  dem 
befreundeten  Lande  seine  Dienste  anzubieten.  Sah  es 
doch  Frankreich  durchaus  nicht  ungern,  wenn  seine 
Landeskinder  sich  an  der  Bekämpfung  der  spanisch- 
österreichischen Dynastie  beteiligten.  Wiewohl  Des- 
cartes hier  in  Holland  den  eigentlichen  Krieg  noch 
nicht  kennen  lernte,  hat  er  seinen  dortigen  Aufenthalt 
nicht  zu  bereuen  gehabt.  Befand  er  sich  doch  hier 
zum  erstenmale  in  einem  ganz  fremden  Lande.  Die 
andersartigen  Sitten,  die  freiheitliche,  aufopferungs- 
freudige Gesinnung  der  Bewohner  hätten  selbst  einer 
weniger  nachdenklichen  Natur,  als  sie  unser  Philosoph 
besass,  eine  reiche  Fülle  von  dauernden  Anregungen 
gegeben.  Wenn  später  Descartes  hier  für  zwei  Jahr- 
zehnte seinen  Wohnsitz  aufschlug,  so  ist  es  nicht  zum 
wenigsten  der  günstige  Eindruck,  den  er  jetzt  empfing, 


Anregungen  Beeckmanns.  29 

gewesen,    der   ilin    dereinst   in    seinem   Entschlüsse   be- 
stärken sollte. 

8.  Aber  nicht  nur  der  Menscbenbeobacbter,  auch 
der  wissenschaftliche  Forscher  konnte  hier  auf  seine 
Kosten  kommen.  Die  Geschichtsschreiber  der  Natur- 
wissenschaften haben  es  mehr  oder  weniger  ganz  über- 
sehen, welchen  bedeutenden  Einfluss  die  Anforderungen 
der  Technik  auf  die  Entwicklungen  der  exakten  Dis- 
ziplinen gehabt  haben.  Und  doch  welch  eine  Fülle  von 
Beziehungen  liegt  hier  vor.  AVas  für  eine  klägliche 
Rolle  musste  der  spintisierende  Aristotelische  Physiker 
spielen,  sobald  es  sich  um  die  Umsetzung  seiner  Ideen 
in  die  Praxis  handelte!  Das  Kriegslager  in  Breda  kann 
uns  als  Beispiel  dienen  für  die  auf  die  theoretische 
Forschung  so  belebend  einwirkende  Technik.  Mathe- 
matiker und  Ingenieure  waren  hier  um  die  Fülle  von 
technischen  und  rein  theoretischen  Problemen  bemüht, 
wie  sie  dank  dem  lebhaften  Interesse  des  Oraniers 
immer  von  neuem  aufgeworfen  wurden.  Ja  man  ging 
soweit,  Plakate  an  den  Strassenecken  anzuschlagen,  um 
die  angeregten  Aufgaben  für  jedermann  bekannt  zu 
machen.  Es  war  vor  solch  einem  Plakat,  wo  Descartes 
die  Bekanntschaft  des  Dordrechter  Mathematikers  Isaak 
Beeckmann  machte.  Beeckmann  war  Rektor  am  Dord- 
rechter College.  Durch  sein  Interesse  für  experimen- 
telle physikalische  Probleme  ragte  er  sicherlich  imter 
seinen  scholastischen  Kollegen  hervor.  Er  wunderte 
sich  sehr,  als  er  an  dem  jungen  Krieger  ein  lebhaftes 
naturwissenschaftliches  und  mathematisches  Interesse 
bemerkte.  Ja  sein  Erstaunen  wäre  vielleicht  noch 
grösser  gewesen,  wenn  er  genügend  Selbsterkenntnis 
besessen  hätte,  um  einzusehen,  dass  sein  junger 
Freund  ihn  sogar  an  wissenschaftlichem  Verständnis 
übertraf.  Gleichwohl  hat  der  wissenschaftliche  Verkehr 
mit  Beeckmann   dem   jungen  Philosophen   vielfache  An- 


30  Zweites  Kapitel:  Periode  des  Skeptizismus. 

regung  gebracht.  Durch  ihn  wird  er  ermuntert,  nach- 
zudenken über  die  Beziehungen  zwischen  den  Schwingungs- 
zahlen der  einzelnen  Töne,  über  die  eigentümlichen 
Kurven,  die  von  den  einzelnen  Punkten  bewegter  Seile 
beschrieben  werden,  über  den  plötzlichen  Übergang 
eines  geschleuderten  Körpers  aus  der  kreisförmigen 
Bewegung  in  die  geradlinige,  sobald  er  aus  der  Hand 
entlassen  wird,  über  die  wunderbare  Eigenschaft  des 
Wassers,  beim  Gefrieren  sich  auszudehnen,  die  doch 
ganz  im  Gegensatz  steht  zu  dem  normalen  Verhalten 
der  Flüssigkeiten  und  dergleichen  (Oeuvres  Inedites. 
I,  20  u.  f.).  Mochten  auch  manche  dieser  Fragen  von 
Descartes  vorläufig  beiseite  gelegt  oder  recht  unzu- 
länglich beantwortet  werden.  Genug,  dass  er,  wie  schon 
'wahrscheinlich  vorher  in  Paris,  hier  wiederum  auf  den 
wahren  Geist  der  Naturwissenschaft,  auf  die  Beschäfti- 
gung mit  dem  Experiment  und  seine  mathematische 
Deutung  aufmerksam  gemacht  wurde. 

Die  Beantwortung  zweier  wichtiger  physikalischer 
Schwierigkeiten  zeigen  uns,  welch  hervorragendes  und 
tiefes  physikalisches  Verständnis  Descartes  in  diesen 
Jahren  schon  besessen  haben  muss.  Beeckmann  hatte 
Beziehungen  zu  dem  Physiker  Stevin  und  so  geschah 
es,  dass  Descartes  mit  dem  Phänomen  des  hydrostatischen 
Paradoxon  bekannt  wurde,  einer  Erscheinung,  durch 
die  ja  Stevins  Name  so  berühmt  geworden  ist.  Warum 
lastet  das  Wasser  in  Gefässen  von  der  verschiedensten 
Gestalt  gleich  schwer  auf  dem  Boden  der  Gefässe,  wo- 
fern die  Gefässe  gleichen  Boden  und  gleiche  Höhe 
haben.  Descartes  erkannte  mit  richtigem  Blick,  dass 
die  Breite  der  Wasserschicht  nichts  zu  dem  Boden- 
drucke hinzufügen  könne,  dass  der  Druck  einzig  und 
allein  von  der  Höhe  bedingt  ist  und  dass  also  von  einem 
wirklichen  Paradoxon  hier  nicht  die  Rede  sein  kann 
(Oeuvr.  Ined.  I,  26).  Mag  seinen  Darlegungen  über  diese 
Erscheinung,  wie  sie  sich  in  seinen  Tagebüchern  findet. 


Physikalische  Entdeckungen.     Mangel  an  System.  31 

auch  die  völlige  Bestimmtheit  und  Präzision  fehlen, 
schon  die  sicher  herauszulesende  Andeutung  der  eben 
genannten  Erklärung  genügt,  um  alle  Hochachtung  vor 
der  Einsicht  des  jugendlichen  Forschers  zu  bekommen. 
Wenden  wir  uns  nun  zu  dem  zweiten  wichtigen 
Problem,  um  dessen  Lösung  sich  Descartes  in  diesen 
Jahren  bemüht  hat.  Es  handelt  sich  um  die  Feststellung 
der  gesetzmässigen  Bewegung  eines  frei  fallenden  Kör- 
pers. Es  war  der  grosse  Galilei;  der  bereits  eine  Reihe 
von  Jahren  vorher  dieses  Gesetz  ausgesprochen  und  mit 
genialem  Scharfblick  erkannt  hat,  wie  auch  bei  den 
verwickeiteren  Erscheinungen  des  Falles  auf  einer 
schiefen  Ebene  und  den  Schwingungen  eines  Pendels 
dieses  Gesetz  in  Kraft  tritt.  Wiewohl  Galilei  seine 
Entdeckung  erst  Jahrzehnte  später  veröifentlicht  hat, 
ist  nicht  daran  zu  zweifeln,  dass  die  Kenntnis  derselben 
sich  schon  vorher  verbreitete.  Hat  der  Forscher  doch 
sicherlich  keinen  Anstand  genommen ,  seinen  grossen 
Zuhörerkreis,  den  er  als  Professor  in  Padua  hatte,  über  die 
gefundenen  Resultate  zu  unterrichten.  Wenn  wir  nun  aus 
den  Aufzeichnungen  Descartes'  ersehen,  dass  dieses 
Problem  ihm  in  vollkommen  scharfer  Formulierung  von 
einem  „sehr  talentvollen  Kopf"  aufgegeben  worden  ist, 
so  scheint  es  fast,  als  ob  dieser  Unbekannte  auch  zu 
denen  gehörte ,  welche  von  dem  Gesetze  Kenntnis  ge- 
nommen hatten,  und  nun  das  Entdeckertalent  Descartes' 
auf  die  Probe  stellen  wollte.  Letzterer  erkannte  richtig, 
dass  die  erste  Hälfte  des  Weges  dreimal  so  langsam 
durchlaufen  wird  wie  die  zweite.  Gewiss  ist  damit 
noch  nicht  das  Fallgesetz  in  seiner  vollen  Allgemeinheit 
ausgesprochen.  Und  sicherlich  macht  Descartes'  Be- 
merkung einen  etwas  dürftigen  Eindruck,  wenn  man 
bedenkt,  in  wie  umfassender  Weise  Galilei  die  Er- 
scheinung erklärt  hat,  dennoch  muss  uns  auch  hier  der 
helle  Blick  des  jungen  Forschers  in  Staunen  setzen,  wie 
er  sich    durch    die  Mannigfaltigkeit    der  sinnlichen  Er- 


32  Zweites  Kapitel :  Periode  des  Skeptizismus. 

scheinungen  niclit  verwirren  lässt,  und  wie  er,  ohne 
noch  eine  feste  Naturauffassung  zu  haben,  doch  schon 
im  einzelnen  sich  bewusst  ist,  dass  es  darauf  ankommt, 
die  Erscheinungen  auf  leicht  zu  überschauende  Bewegungs- 
vorgänge und  einfache  mathematische  Relationen  zurück- 
zuführen. Aber  eben  nur  im  einzelnen  können  wir  diese 
Gesichtspunkte  und  ihre  fruchtbare  Betätigung  wahr- 
nehmen. Feste  Anschauungen  hatte  damals  unser  Phi- 
losoph noch  keineswegs.  So  macht  er  in  seinen  Er- 
klärungen Gebrauch  von  der  Annahme  eines  leeren 
Raumes,  einer  Voraussetzung,  die  seiner  späteren  Natur- 
philosophie vollkommen  widerspricht,  ja  noch  mehr,  er 
hält  es  für  der  Mühe  wert,  die  echt  scholastische  Weise, 
in  der  sich  Beeckmann  die  Ausdehnung  des  gefrorenen 
Wassers  erklärt,  nämlich  mit  Hilfe  der  Feuergeister, 
(Spiritus  ignei)  in  seine  damaligen  Aufzeichnungen  mit- 
aufzunehmen. Er  ist  eben  durch  und  durch  skeptisch 
gesinnt,  den  Theorien  der  Scholastik  sowohl  wie  denen 
der  neu  entstehenden  Naturwissenschaft  gegenüber,  und 
macht  nur  im  konkreten  Falle,  wo  sie  ihm  gerade  vor- 
teilhaft und  fruchtbar  erscheinen,  von  ihnen  Gebrauch. 

9.  Indes  mag  nun  auch  Descartes  sich  zu  dieser 
Zeit  in  der  Naturwissenschaft  zwar  noch  nicht  der  um- 
fassenden Bedeutung  einer  mathematischen  Grundlage 
bewusst  sein.  Ganz  entschieden  hat  er  ihre  Wichtigkeit 
erkannt  für  die  wissenschaftliche  Fundamentierung  der 
Musiktheorie,  ja  noch  mehr  im  letzten  Grunde  für  die 
Kunst  überhaupt.  Es  ist  der  Grundgedanke,  in  dem 
er  sich  mit  einem  Kepler,  Galilei  und  Leibniz  begegnet, 
und  der  für  uns  heute  zu  einer  selbstverständlichen 
Wahrheit  geworden  ist,  dass  den  elementarsten  Wir- 
kungen des  Schönen  einfache  mathematische  Relationen 
zu  Grunde  liegen.  Es  ist  für  die  Entwicklungsgeschichte 
unseres  Denkers  vom  höchsten  Interesse,  dass  er  aus 
der  Kunst  heraus  den  Begriff   der    mathematischen  Ge- 


Mathematische  Gesetzmässigkeit  der  Musik.  33 

setzmässigkeit  geschöpft  und  in  seiner  ganzen  Tiefe  erkannt 
bat.  War  es  doch  fortan  für  ihn  nur  noch  ein  Schritt, 
diese  Einsicht  auch  auf  die  Natur  zu  übertragen,  auch 
sie  als  eine  allgemeine  Harmonie,  als  ein  Spiel  einfacher 
gesetzmässig  in  einander  greifender  Bewegungen  auf- 
zufassen. 

Es  war  im  Jahre  1618,  —  Descartes  weilte  bereits 
über  ein  Jahr  in  Holland  — ,  als  er  in  einer  kleinen 
Schrift  über  die  Musik  sich  mit  den  eben  angedeuteten 
Gedanken  beschäftigte.  „Ich  hatte  an  dem  "Werk  ge- 
arbeitet zu  einer  Zeit,  in  der  ich  an  nichts  weniger 
dachte,  als  über  diesen  Gegenstand  zu  schreiben,  und 
wo  ich  ein  müssiges  und  wenig  zurückgezogenes  Leben 
führte,  verlockt  durch  die  Unwissenheit  und  den  Umgang 
mit  den  Kriegsgefährten"  (C.  V,  503).  Die  vorher  be- 
handelten physikalischen  Probleme  haben  schon  gezeigt, 
welchen  regen  Wissensdrang  Descartes  in  dieser  seiner 
Soldatenzeit  hatte,  das  Eingehen  auf  den  Inhalt  seiner 
musikalischen  Abhandlung  wird  uns  einen  neuen  Beweis 
dafür  liefern,  wird  die  höchste  Bewunderung  für  unsern 
Philosophen  erwecken,  wenn  wir  sehen,  was  es  denn 
mit  seinem  scheinbar  so  müssigen  Leben  für  eine  Be- 
wandtnis hatte. 

Bevor  sich  Descartes  auf  die  Musik  selbst  näher 
einlässt,  streift  er  das  Wesen  der  Kunst  im  allgemeinen. 
Worin  ist  die  eigentliche  Ursache  zu  suchen,  dass  Dinge 
ausser  uns  angenehm  auf  unsere  Sinne  einwirken.  Ihre 
Wirkung,  antwortet  der  Philosoph,  muss  sich  in  be- 
stimmten Grenzen  halten,  der  Reiz  darf  einen  bestimmten 
Grad  nicht  überschreiten.  So  ist  das  Geräusch,  das 
der  Donner  verursacht,  viel  zu  heftig,  als  dass 
der  Musiker  damit  etwas  anfangen  kann,  ein  allzu- 
greller Lichtstrahl  überreizt  das  Auge  und  kann  keine 
angenehme  Empfindung  hervorrufen.  Sodann  ist  zu  be- 
achten, dass  das  auf  uns  einwirkende  Objekt  den  Sinn 
nicht    verwirrt ,     es    muss    eine    bestimmte    Proportion, 

Hoffmann,  Descartes.  3 


34  Zweites  Kapitel:  Periode  des  Skeptizismus. 

eine  für  den  Verstand  erkennbare  Regelmässigkeit 
zwischen  seinen  einzelnen  Teilen  bestehen,  nur  dann 
kann  es  in  uns  das  Gefühl  des  Schönen  hervorrufen, 
doch  andererseits  darf  diese  Regelmässigkeit  nicht  zu 
einfach  sein,  sonst  wird  der  Eindruck  abgeschwächt 
und  schwindet  schliesslich  ganz  und  gar.  Wird  der- 
selbe Ton  zweimal  gespielt,  so  lässt  uns  dies  gleich- 
gültig, erst  bei  der  Oktave,  deren  Töne  zu  einander 
im  Verhältnis  eins  zu  zwei  stehen,  haben  wir  die  erste 
Empfindung  des  Wohlklanges,  sie  wird  noch  weit  stärker, 
wenn  wir  die  Quinte  anschlagen,  sie  kennzeichnet  Des- 
cartes  als  die  angenehmste  Konsonanz.  Freilich  ist  dies 
auch  gleichzeitig  der  Grund,  warum  sie  nicht  so  häufig 
angewendet  werden  darf  wie  die  Oktave,  „wie  wir  uns 
ja  auch  weit  schneller  den  Appetit  verlegen,  wenn  wir 
nur  Zucker  oder  ähnliche  Näschereien  essen,  als  wenn 
wir  unsern  Hunger  an  Brot  stillen,  trotzdem  doch 
jedermann  zugestehen  wird,  dass  letzteres  nicht  so  gut 
schmeckt."     (C.   V,  364.) 

Descartes  ist  indessen  durchaus  noch  nicht  zufrieden 
damit,  das  Wesen  der  Konsonanz  in  den  einfachen 
Zahlenverhältnissen  der  beiden  sie  verursachenden  Töne 
zu  begründen.  Soweit  waren  ja  schon  die  Pythagoreer 
gekommen.  Noch  viel  tiefer  sehen  wir  ihn  auf  die 
Erklärung  dieser  Erscheinung  eingehen.  Er  hat,  viel- 
leicht neben  Galilei  der  einzige  in  der  damaligen  Zeit, 
die  wunderbare  Entdeckung  gemacht,  dass  der  scheinbar 
einfache  Ton  auch  noch  eine  gewisse  Anzahl  höherer 
Töne  enthält,  und  dass  diese  Töne  indentisch  sind  mit 
denjenigen,  welche  fähig  sind  mit  ihm  Konsonanzen  zu 
bilden,  die  Saite  einer  Geige  schwingt  nicht  nur  als 
Ganzes,  sie  schwingt  auch  in  einzelnen  Teilen  mit.  und 
zwar  in  solchen  Teilen,  die  in  einfachen  Verhältnissen 
zur  Länge  der  ganzen  Saite  stehen.  So  ist  das  eigent- 
liche Wesen  der  Konsonanz  vollkommen  klar.  Der 
Grundton  trägt  ja  schon   den  gleichzeitig   mit   ihm  er- 


Mathematische  Gesetzmässigkeit  der  Musik.  35 

klingenden  Ton  in  sich,  kein  Wunder,  dass  er  infolge 
dessen  von  ihm  nicht  gestört  wird,  sondern  im  Gegen- 
teil in  uns  das  Gefühl  einer  Konsonanz  wachgerufen 
wird.  Das  Verdienst,  das  sich  Descartes  durch  diese 
Erklärung  erworben  hat,  die  der  damaligen  Zeit  noch 
ganz  unbekannt  w^ar,  ist  nicht  hoch  genug  anzuschlagen.^) 
Noch  viel  drastischer  als  in  der  Harmonie  der  Töne 
zeigt  sich  im  Takt  die  Abhängigkeit  der  Musik  von 
mathematischen  Relationen.  Ist  es  doch  der  Takt,  der 
dem  Tonstück  Einheit  und  Zusammenhang  verleiht,  „er 
unterstützt  unsere  Einbildungskraft  und  erleichtert  es 
uns,  alle  die  Glieder  einer  Melodie  zu  erfassen  und  sich 
zu  ergötzen  an  der  Fülle  der  Proportionen,  die  in  ihr 
enthalten  sind."  (C.  V,  449-50.)  Er  ist  es  ferner, 
der  dem  Musikstück  die  eigentliche  Grundstimmung 
gibt,  ist  er  langsam,  so  entsprechen  ihm  auch  die  zum 
Ausdruck  gebrachten  Leidenschaften,  Trauer,  Furcht, 
Niedergeschlagenheit  und  dergleichen  lesen  wir  dann 
aus  der  Musik  heraus,  wird  dagegen  das  Temj)0  lebhaft, 
gleich  tritt  auch  ein  Wechsel  im  Ausdruck  ein,  Heiter- 
keit, Freude,  Ausgelassenheit,  kurz  die  entgegengesetzten 
Stimmungen  werden  in  unserm  Innern  ausgelöst.  Man 
bedenke  schliesslich,  dass  der  Takt  an  und  für  sich 
allein  schon  genügt,  um  dem  Ohre  Vergnügen  zu  be- 
reiten, „wie  die  Erfahrung  lehrt,  wenn  die  Trommel 
gerührt  wird,  um  den  Marsch  zu  regeln  oder  die  Kriegs- 
leute zusammenzurufen."  (C.  V,  452.)  Es  ist  hier  nicht 
der  Ort,  auf  die  einzelnen  Punkte  dieser  kleinen  Schrift 
einzugehen.  Interessant  ist  es  zu  sehen,  wie  weit  unser 
Philosoph  ein  gesetzmässiges  Eindringen  in  die  geheim- 


^)  Soweit  ich  mich  darüber  orientiert  habe,  scheint  man  sowohl 
in  der  Musikgeschichte  als  auch  in  der  Geschichle  der  physikalischen 
Akustik  diese  Tatsache  nicht  gewürdigt  zu  haben.  —  Wie  die  zu- 
sammengesetzte Bewegung  einer  Saite  gestaltet  ist,  die  neben  dem 
Grundton  auch  noch  die  Obertöne  angibt,  dies  festzustellen,  ist  erst 
unserer  Zeit  gelungen. 


36  Zweites  Kapitel:  Periode  des  Skeptizismus. 

nisvolle  Werkstatt  des  Künstlers  für  möglich  hält.  „Ich 
müsste  fernerhin  auch  noch  im  einzelnen  eine  jede 
Leidenschaft  behandeln,  wie  sie  die  Musik  fähig  ist,  in 
der  Seele  zu  erregen,  und  ich  müsste  zeigen,  welche 
Tonabstufungen,  Konsonanzen,  Zeiten,  Figuren  und  der- 
gleichen erforderlich  sind,  um  sie  in  ims  zu  erwecken, 
doch  das  würde  über  das  hinausgehen,  was  ich  mir  in 
dieser  kleinen  Abhandlung  vorgenommen  habe."  (C.  V, 
501 — 2.)  Ich  glaube  das  obenstehende  genügt,  um  zu 
zeigen,  wie  Descartes  voll  und  ganz  erfüllt  ist  von  dem 
Gedanken  der  grandiosen  Gesetzmässigkeit  in  der  Musik, 
wie  er  förmlich  schwelgt  in  der  Fülle  der  mathema- 
tischen Proportionen  und  Beziehungen,  die  ihr  zu  Grunde 
liegen.  Wenn,  wie  wir  bald  sehen  werden,  in  kurzer 
Zeit  ein  plötzlicher  Umschwung  in  seiner  skeptischen 
Gesinnung  erfolgt,  wenn  es  ihn  treiben  und  drängen 
wird,  sich  von  dem  Zweifel  in  wissenschaftlichen  Dingen 
zu  befreien  und  zu  festen  methodischen  Prinzipien  zu 
gelangen,  was  liegt  näher,  als  dass  die  festen  und  un- 
wandelbaren Grundlagen  der  Musik ,  die  er  in  seiner 
musikalischen  Abhandlung  so  deutlich  für  jedermann 
aufgewiesen  hatte,  ihn  ausserordentlich  ermutigt  haben 
werden,  das  grosse  AVerk  einer  neuen  Wissenschafts- 
lehre in  Angriff  zu  nehmen.') 

10.  Wie  weit  Descartes  zur  damaligen  Zeit  noch 
entfernt  war,  in  der  Naturwissenschaft  nach  festen 
Prinzipien  vorzugehen,   wie  er   in    echt  positivistischem 

*)  Man  glaube  nicht,  dass  Descartes,  in  dessen  niusiktheoretischer 
Schrift  die  Gesetzmässigkeit  in  der  Musik  so  in  den  Vordergrund 
gestellt  ist,  für  die  neuzeitlichen  Regungen  kein  Verständnis  gehabt 
hätte,  die  dem  Kontrapunkt  mit  seinem  rein  elementaren  und  unper- 
sönlichen Charakter  die  individuelle  Eigenart,  die  Macht  des  mensch- 
lichen Empfindens  entgegensetzten.  Das  hätte  dem  Philosophen, 
der  der  natürlichen  Vernunft  wieder  zu  ihrem  Recht  verhelfen  wollte, 
recht  schlecht  gestanden. 

Vergleiche  darüber  namentlich  Descartes'  Äusserung  (A.  I,  101.). 


Mystische  Naturstimmung.  37 

Geiste  ein  jedes  Erklärungsmittel,  wofern  es  ihm  nur 
Nutzen  brachte,  gebrauchte,  das  ist  alles  oben  genügend 
klar  gelegt  worden. 

xA-llein  mag  auch  unser  Philosoph  keine  eigentlichen 
festgeschlossenen  wissenschaftlichen  Anschauungen  haben, 
wir  würden  durchaus  fehlgehen,  wenn  wir  auch  seine 
damalige  Grundstimmung  noch  als  skeptisch  bezeichneten, 
seit  dem  Abgang  von  der  Schule  hat  er  sich  denn  darin 
doch  etwas  geändert,  mochte  diese  Wandlung  sich  auch 
nur  auf  das  Reich  der  Stimmungen  und  Gefühle  be- 
ziehen, noch  nicht  bis  zur  Region  des  klaren  und  me- 
thodischen Denkens  sich  erstreckt  haben.  Es  ist  das 
Gefühl  einer  allgemeinen  Harmonie  zwischen  der  Sinnen- 
welt und  der  Welt  des  Geistes,  das  ihn  ganz  und  gar 
durchdringt.  „Der  Verstand  gebraucht  bestimmte  sinn- 
liche Mittel  um  das  Geistige  auszudrücken,  wie  z.  B. 
die  Luft  und  das  Licht.  Eine  tiefere  Philosophie 
kann  die  Erkenntnis  des  Geistes  dadurch  auf  das  höchste 
steigern.  —  Es  gibt  nur  eine  lebendige  Kraft  in  den 
Dingen,  das  ist  die  Liebe,  das  Mitgefühl  und  die  Har- 
monie. Vortrefflich  eignen  sich  die  sinnlichen  Dinge 
zur  Erkenntnis  der  übersinnlichen :  die  Luft  kenn- 
zeichnet den  Geist,  die  dauernde  Bewegung  das  Leben, 
das  Licht  die  Erkenntnis,  die  Wärme  die  Liebe,  die 
sichtbare  Tätigkeit  die  Schöpfung.  Alle  körperlichen 
Formen  stehen  in  harmonischer  Wechselwirkung  mit 
einander.  Es  gibt  mehr  Kaltes  als  Trockenes,  mehr 
Feuchtes  als  Warmes.  Wäre  es  anders,  so  hätten  die 
aktiven  Elemente  zu  schnell  die  Oberhand  gewonnen 
und  die  Welt  würde  keinen  langen  Bestand  gehabt 
haben."     (Oeuvr.  Ined.  I.  10  u.  f.) 

Fast  möchte  sie  unbegreiflich  erscheinen  diese 
Gefühlsstimmung,  diese  eigentümliche  Umwandlung  der 
Aristotelischen  Naturphilosophie  in  Mystizismus  und 
Pantheismus.  Ist  das  wirklich  derselbe  Philosoph,  der 
ein  Jahrzehnt   später  so    scharf  Körper   und   Geist  von 


38  Zweites  Kapitel :  Periode  des  Skeptizismus. 

einander  geschieden  hat.  „VortrefFlicli  eignen  sich  die 
sinnlichen  Dinge  zur  Erkenntnis  der  übersinnlichen," 
kann  dieser  Ausspruch  von  Descartes  herrühren,  der 
in  seinem  reifen  System  immer  wieder  und  wieder  be- 
tont, wie  der  Geist  nur  aus  seiner  eigenen  Xatur,  und 
ebenso  der  Körper  nur  aus  der  seinen  erklärt  werden 
könne,  wie  jede  Vermischung  dieser  beiden  Substanzen 
zu  der  grössten  Unklarheit  führen  müsse.  So  unglaub- 
lich es  klingen  mag,  der  Historiker  der  Philosophie 
weiss  es,  dass  gerade  die  schärfsten  und  am  tiefsten  aus- 
geprägten Systeme  der  Philosophie  oft  aus  vollkommen 
entgegengesetzten  Anschauungen  heraus  sich  entwickelt 
haben.  Pantheistische  Gedanken,  wie  sie  uns  hier  vor- 
liegen, fassen  gerade  in  der  Seele  der  Jugend  so  leicht 
Wurzel,  sie  lässt  sich  so  gerne  von  der  Phantasie,  von 
Analogieschlüssen  leiten,  vmd  gleich  wie  sie  den  Idea- 
lismus der  sie  beseelt,  auch  auf  die  sie  umgebende 
Welt  überträgt,  wie  sie  dort  ihre  hohen  Ideen  zu  ver- 
wirklichen hofft,  so  scheint  ihr  auch  die  Natur  der 
Welt  des  Geistes  wesensgleich  und  verwandt  zu  sein, 
gleichsam  ein  Abbild  ihrer  eigenen  Persönlichkeit,  in 
der  noch  ungetrübt  die  sittlichen  und  physischen  Kräfte 
harmonisch  ineinanderwirken.  Und  gerade  ein  Skep- 
tiker wie  Descartes,  dessen  innere  Gemütsbedürfnisse 
in  der  grossen  Welt  nicht  ihre  Befriedigung  finden 
konnten,  wieviel  er  auch  an  Reife  und  Erfahrung  zu- 
nehmen mochte,  er  musste  von  solchen  Stimmungen 
am  allerehesten  ergriffen  werden.  Und  irren  wir  nicht, 
so  musste  gerade  seine  damalige  vornehmste  geistige 
Beschäftigung,  die  Vertiefung  in  das  Wesen  der 
Kunst,  in  die  Gesetze  der  Musik  ihm  solche  Ge- 
danken näherbringen.  Ist  es  doch  gerade  die  Kunst, 
die  das  Sinnliche  zum  Symbol,  zur  Ausdrucksform  des 
Geistigen  macht  und  dadurch  den  Gedanken  so  ver- 
führerisch erscheinen  lässt,  dass  es  sich  auch  in  der 
wirklichen  Welt    so  verhält,    dass    es  auch  hier  keinen 


Mystische  Naturstimmung.  39 

toten  unbeseelten  Stoff  gibt.  Hören  wir,  wie  Descartes 
sicli  in  seinen  damaligen  Aufzeichnungen  über  den 
Dichter  auslässt.  „Man  könnte  es  erstaunlich  finden, 
dass  die  grossen  Gedanken  sich  eher  in  den  Werken 
der  Dichter  als  der  Philosophen  finden.  Der  Grund  ist, 
weil  die  Dichter  schreiben  erregt  durch  das  Feuer  der 
Begeisterung  und  der  Einbildungskraft.  In  unserm 
Innern  sind  die  Keime  der  Wissenschaft  enthalten, 
gleichsam  wie  die  Funken  im  Feuerstein.  Die  Philo- 
sophen ziehen  sie  heraus  durch  ihr  Räsonnement,  da- 
gegen die  Dichter  bringen  sie  zum  Leuchten  durch  ihre 
Phantasie,  und  da  erstrahlen  sie  in  einem  weit  helleren 
Glänze."  (I,  10  u.  f.)  Dieser  Ausspruch  darf  uns  wohl 
in  der  Überzeugung  bestärken,  dass  damals  Poesie  und 
Kunst  einen  innigen  Einfluss  auf  die  philosophischen 
Stimmungen  Descartes'  ausübten. 

Indes  Descartes'  ganze  Veranlagung  deutet  schon 
darauf  hin,  dass  dieser  metaphysischen  Stimmung  keine 
längere  Dauer  beschieden  war.  Sein  scharfer,  zerglie- 
dernder Verstand  konnte  keine  ernsthafte  Freundschaft 
schliessen  mit  einer  derartig  ästhetisch  gefärbten  Welt- 
anschauung, die  wohl  allenfalls  einer  beschreibenden, 
aber  keinesfalls  einer  exakten  die  Natur  gleichsam 
sezierenden  und  in  ihre  rationalen  Komponenten  auf- 
lösenden Wissenschaft  als  Grundlage  dienen  konnte,  und 
das  war  es  doch  gerade,  was  damals  das  grosse  Problem 
der  Forscher  bildete,  auf  das  auch  unser  Philosoph 
immer  mehr  seine  Aufmerksamkeit  richtete.  Mochte 
auch  jetzt  noch  die  Natur  in  jungfräulicher  farben- 
prächtiger Schönheit  vor  ihm  liegen.  Indem  er  bemüht 
war,  in  fortwährender  ernster  Arbeit  und  eindringender 
Analyse  in  ihr  inneres  Wesen  einzudringen,  schwanden 
ihm  seine  jugendlichen  Illusionen,  der  feine  Blütenstaub 
verflüchtigte  sich,  alles  Leben  erstarb  und  schliesslich 
waren  nur  noch  tote  Massen  übrig  geblieben,  die  von 
aussen    in    Bewegung    gesetzt    wurden   und    unter   dem 


40  Zweites  Kapitel:  Periode  des  Skeptizismus. 

einförmigen  Sklavenjoch  von  liarten    und  unerbittlichen 
matliematischen  Gesetzen  standen.^) 


^)  Descartes'  erste  Tagebuchaufzeichnungen  (Pensees)  erstrecke« 
sich  etwa  über  die  Jahre  1618 — 21.  So  ist  es  nicht  ausgeschlossen, 
dass  die  eben  geschilderte  metaphysische  Stimmung  noch  in  die  Zeit 
hineindauert,  in  der  er  mit  der  Ausarbeitung  einer  einheitlichen  wissen- 
schaftlichen Forschungsmethode  beschäftigt  war.  Doch  liegt  hierin  nicht 
etwa  etwas  Unwahrscheinliches,  denn  diese  seine  „Methode"  erstreckte 
sich  ja  nur  auf  die  Wissenschaften,  brauchte  also  namentlich  in 
ihrer  anfänglichen  Entwicklung  sein  Gefühlsleben  nicht  ernstlich 
zu  beeinflussen.  Hat  er  doch  an  der  Grundlegung  einer  wissen- 
schaftlichen Metaphysik  erst  zehn  Jahre  später  gearbeitet. 


Drittes  Kapitel. 


Periode  der  systematischen  Wissenschafts- 
forschung. 

1.  Wie  reich  auch  die  wissenschaftlichen  Anre- 
gungen waren,  die  Descartes  in  Holland  empfing,  den 
Krieg  konnte  er  augenblicklich  hier  nicht  kennen  lernen. 
Wir  befinden  uns  im  Jahre  1619  und  es  sollte  noch 
geraume  Zeit  dauern,  bis  der  Waffenstillstand  mit 
Spanien  abgelaufen  war.  Das  war  wohl  einer  der 
Hauptgründe,  warum  sich  Descartes  entschloss,  die 
Niederlande  zu  verlassen.  Im  Vollgefühle  seiner  jugend- 
lichen Kräfte  sehnte  er  sich  danach,  das  Leben  in 
seiner  ganzen  Ernsthaftigkeit  kennen  zu  lernen.  Er 
berichtet  selbst  darüber,  wie  er  damals  das  Wafi'en- 
handwerk  geliebt  hatte.  (A.  II,  480.)  Vielleicht  mochte 
auch  viel  zu  seinem  Entschlüsse  die  geistige  Unruhe 
beigetragen  haben,  die  ihn  damals  erfüllte.  Noch  war 
er  Skeptiker  wie  damals,  als  er  die  Schule  verlassen 
hatte,  aber  der  Skeptizismus,  der  ihm  zu  jener  Zeit 
gleichsam  Gemütsbedürfnis  gewesen  war,  der  ihn  mit 
frischem  Lebensmut  erfüllt  und  Geist  und  Sinn  em- 
pfänglich gemacht  hatte  für  alles,  was  die  Welt  an 
Wissens-  und  Erlebenswertem  in  sich  barg,  er  wurde 
ihm  jetzt  zur  Qual.  Zu  viel  des  Positiven  in  dem 
Reiche  der  Wissenschaft  und  der  Kunst  hatte  er  schon 
kennen  gelernt,  als  dass  sein  ehrlicher   nach   Wahrheit 


42       Drittes  Kapitel:  Periode  d.  systemat.  Wissenschaftsforschung. 

ringender  Geist  in  jener  skeptisclien  Stimmung  noch 
wirklich  ernste  Befriedigung  hätte  finden  können.  Drum 
galt  es,  sich  voll  und  ganz  in  das  Getümmel  der  Welt 
hineinzustürzen,  vielleicht  konnte  sie  die  innere  Unruhe 
bannen  oder  wenigstens  betäuben. 

2.  Drohende  Gewitterwolken  zogen  sich  damals  am 
politischen  Horizont  zusammen,  der  Feldzug  gegen  die 
aufständischen  Böhmen  stand  bevor,  jenen  grauenvollen 
Krieg  einleitend,  der  Deutschland  in  seiner  kulturellen 
Entwicklung  um  Jahrhunderte  herunterbringen  sollte. 
Hier  glaubte  Descartes  seine  Kriegslust  befriedigen  zu 
können.  Er  trat  in  das  Heer  Maximilians  von  Bayern 
ein,  der  die  kaiserlichen  Truppen  gegen  die  Aufrührer 
und  ihren  neugewählten  König,  den  Kurfürsten  Fried- 
rich V.  von  der  Pfalz,  führte.  Einige  AVochen  vorher 
hatte  Descartes  in  Frankfurt  am  Main  der  mit  dem 
üblichen  Pomp  vollzogenen  Kaiserkrönung  Ferdinand  IL 
beigewohnt.  Es  ist  merkwürdig,  wie  unser  Philosoph 
nicht  nur  jetzt,  wo  ihm  ja  infolge  seines  geschilderten 
Seelenzustandes  eine  derartige  Zerstreuung  nur  ange- 
nehm sein  musste,  sondern  auch  späterhin  sich  derartige 
festliche  Gelegenheiten  nicht  entgehen  liess,  es  scheint 
doch,  dass  er  die  Vorteile  seiner  adligen  Abstammung, 
auf  die  er  im  übrigen  nie  einen  hohen  "Wert  gelegt  hat, 
nicht  unausgenutzt  lassen  wollte.  „Seine  Avantagen 
als  Edelmann  nutzt  er  in  Jüngern  und  mittlem  Jahren; 
er  besucht  alle  Hof-,  Staats-,  Kirchen-  und  Kriegs- 
feste;  eine  Vermählung,  eine  Krönung,  ein  Jubiläum, 
eine  Belagerung  kann  ihn  zu  einer  weiten  Reise  be- 
wegen; er  scheut  weder  Mühe  noch  Aufwand  noch 
Gefahr,  um  alles  mit  Augen  zu  sehen,  um  mit  seines- 
gleichen, die  sich  jedoch  in  ganz  anderm  Sinne  in 
der  Welt  herumtummeln,  an  den  merkwürdigsten  Er- 
eignissen seiner  Zeit  ehrenvoll  teilzunehmen."  (Goethe 
Farbenlehre.) 


Verzweifelte  Stimmung  im  Winterlager.  43 

3.  Hatte  Descartes  nach diesenZerstreuungen  weitere 
Ablenkung  für  diesen  Winter  in  dem  böhmischen  Kriege 
zu  finden  gehoiFt,  so  wurde  ihm  eine  arge  Enttäuschung 
zuteil.  Das  Schicksal,  mehr  für  seine  philosophische 
Entwicklung,  als  für  die  Befriedigung  seines  augen- 
blicklichen unruhigen  Gemütszustandes  besorgt,  hat  es 
anders  gefügt.  Die  kriegerischen  Unternehmungen  ge- 
rieten nämlich  jetzt  ins  Stocken,  weil  es  zu  diploma- 
tischen Verhandlungen  kam.  Das  Heer  bezog  Winter- 
quartiere an  der  Donau  und  gleich  seinen  Kameraden 
musste  nun  auch  Descartes  seine  Kriegslust  einstweilen 
bezähmen.  Aber  er  war  weit  schlimmer  daran  als  sie. 
Die  Einsamkeit  und  Einförmigkeit  im  Winterlager 
lastete  wie  ein  schwerer  Alp  auf  ihm.  Einem  Kranken 
vergleichbar,  der  nach  dem  Morphium  greifen  will,  um 
seine  Schmerzen  zu  betäuben,  und  dem  nun  dieses 
Linderungsmittel  von  einer  grausamen  Hand  entzogen 
wird.  Das  einzige,  was  ihm  zu  Gebote  stand,  Spazier- 
gänge und  der  Umgang  mit  den  Kriegsgefährten,  sie 
konnten  die  grosse  Aufregung  nicht  bannen,  die  sein 
Gemüt  erfüllte  (Baillet  I,  81) ,  sie  wirkten  wie  der 
Tropfen,  den  man  auf  einen  heissen  Stein  giesst.  Nie 
war  ihm  vorher  die  ganze  Haltlosigkeit  seiner  skeptischen 
Denkungsweise  so  vor  Augen  getreten  wie  jetzt  in  dieser 
Einsamkeit.  Der  grelle  Kontrast,  wie  er  bestand  zwischen 
seinen  wissenschaftlichen  Einzeluntersuchungen  einerseits 
und  dem  Mangel  einer  festen  wissenschaftlichen  Methode 
andererseits ,  er  machte  sich  ihm  offenbar  mit  einer 
nur  allzugrausamen  Deutlichkeit,  er  liess  ihm  keine 
Ruhe,  er  verfolgte  ihn  bei  Tag  und  Nacht.  Seine  hef- 
tigen Gewissensqualen  verliessen  ihn  selbst  im  Traume 
nicht,  sie  wandelten  sich  in  Schreckgespenster  um,  die 
drohend  auf  ihn  einzudringen  versuchten. 

Im  folgenden  schildern  wir  einen  solchen  Traum, 
über  den  uns  Baillet  berichtet  (I,  81  u.  f.).  Von  gräss- 
lichen  Phantomen  verfolgt,  eilte  Descartes  entsetzt  durch 


44       Drittes  Kapitel:  Periode  d.  systemat.  Wissenschaftsforschung. 

die  Strassen  dahin,  um  ihnen  zu  entfliehen.  Eine  grosse 
Schwäche  an  der  rechten  Seite  zwang  ihn,  nach  links 
vornübergebeugt  zu  gehen.  Beschämt  über  seine  un- 
glückliche Haltung,  machte  er  Versuche,  sich  empor- 
zurichten. Allein  in  demselben  Augenblick  ergriff  ihn 
ein  heftiger  Wirbelwind,  der  ihn  jählings  im  Kreise 
mehreremale  herumdrehte.  Nur  mit  grosser  Mühe 
schleppte  er  sich  weiter,  jeden  Augenblick  dem  Falle 
nahe.  Da  schien  sich  ihm  eine  Zufluchtsstätte  zu  bieten. 
Am  Wege  lag  eine  College.  Er  trat  in  den  Hof  hinein 
und  wollte  sich  in  die  Kirche  der  College  begeben,  um 
ein  Grebet  zu  verrichten.  Da  bemerkte  er  einen  Be- 
kannten, an  dem  er  ohne  zu  grüssen  vorbeigegangen 
war.  Als  er  nun  eilends  umkehren  wollte,  um  dies 
nachzuholen,  wurde  er  mit  Gewalt  durch  einen  heftigen 
Wind  nach  der  Kirche  zurückgestossen.  Unmittelbar 
darauf  rief  ihn  im  Hofe  eine  Person  in  höflichen  Worten 
beim  Namen,  ihn  um  eine  Gefälligkeit  ersuchend.  Er 
war  erstaunt  wahrzunehmen,  wie  dieser  Mensch  und 
eine  Schar  von  Leuten,  die  sich  auch  um  ihn  versammelt 
hatten,  fest  und  aufrecht  auf  ihren  Füssen  standen, 
während  er  immer  noch  eine  gekrümmte  und  schwankende 
Haltung  einnahm,  obwohl  der  Wind  inzwischen  schon 
sehr  nachgelassen  hatte.  Unmittelbar  darauf  erwachte 
er.  Wir  haben  nicht  die  geringste  Veranlassung,  den 
Bericht  unseres  Gewährsmannes  anzuzweifeln.  Die  Be- 
mühungen des  träumenden  Descartes,  selbst  in  der 
grössten  Gefahr  den  äusseren  Anstand  und  die  Höf- 
lichkeit andern  Personen  gegenüber  zu  bewahren,  ent- 
sprechen vollkommen  dem  Charakter  unseres  Philosophen, 
der  echt  gentlemanlike  im  Leben  stets  seine  Ruhe  zu 
bewahren  gewusst  hat.  Was  aber  die  Hauptsache  für 
uns  ist,  das  Traumbild  ist  so  recht  charakteristisch 
für  seinen  damaligen  Seelenzustand.  Er  fühlte,  wie 
der  Boden  unter  seinen  Füssen  schwankte.  Gab  es 
denn    keine    Erlösung    aus    diesem    trostlosen    Zustand, 


Rückkehr  des  Selbstvertrauens.  45 

kein  Bescliwörungsmittel,  um  die  Geister  des  Zweifels, 
die  er  einst  so  gerne  gesehen,  wieder  zu  ver- 
scheuclien. 

4.  In  dieser  kritischen  Zeit,  in  der  er  sich  so  un- 
glücklich fühlte,  fand  er  ganz  wider  sein  Erwarten  in 
einer  wissenschaftlichen  Idee,  die  sich  ihm  auf- 
drängte, ein  Beruhigungsmittel,  es  war  der  Plan  einer 
neuen  mathematischen  Wissenschaft,  der  plötzlich  vor 
seinem  geistigen  Auge  greifbare  Gestalt  annahm.  Seine 
intensiven  langjährigen  mathematischen  Einzelstudien, 
sie  brachten  ihm  jetzt  eine  herrliche  Frucht,  für  seinen 
augenblicklichen  Gemütszustand  das  beste  Heilmittel. 
Jetzt  musste  es  ihm  aufgehen,  dass  seine  früheren  Be- 
mühungen doch  nicht  fruchtlos  gewesen  sein  konnten, 
trotzdem  ihnen  eine  feste  Methode  gefehlt  hatte.  Und 
andererseits  musste  jene  fruchtbare  mathematische  Ent- 
deckung sein  erschüttertes  Selbstvertrauen  wiederher- 
stellen, ihm  die  Kraft  geben,  eine  wissenschaftliche 
Methode,  die  sein  intellektuelles  Gewissen  auf  das  ge- 
bieterischste forderte,  an  deren  Möglichkeit  er  aber 
bisher  gezweifelt,  mit  aller  Energie  zu  begründen.  „Am 
zehnten  November  eröffnete  sich  mir  die  Einsicht  in  die 
Grundlagen  einer  wunderbaren  Wissenschaft".  Mit 
diesen  Worten  hat  er  in  seinen  damaligen  Aufzeichnungen 
seine  Entdeckung  gekennzeichnet.  Ob  er  bei  diesem 
Ausspruch  an  seine  neue  mathematische  Wissenschaft 
(analytische  Geometrie)  gedacht  hat,  oder  schon  an  die 
neuzugründende  Wissenschaftsmethode,  ist  relativ  be- 
langlos. Wir  werden  bald  sehen,  wie  innig  beide  Ent- 
deckungen sich  gegenseitig  bedingen.  Die  Wissenschafts- 
methode bedarf  jedenfalls  zu  ihrer  Festlegung  schon 
die  Kenntnis  des  neuen  mathematischen  Gedankenbaues. 
Andererseits  ist  Descartes  zur  vollen  Klarlegung  beider 
Entdeckungen  erst  durch  seine  später  angestellten  me- 
thodischen Gedankenentwicklungen  gekommen. 


46       Drittes  Kapitel:  Periode  d.  systeraat.  Wissenschaftsforschung. 

Das  seelische  Grleicligewiclit  unseres  Philosophen 
ist  wiederhergestellt.  Der  pessimistische  Gesichtspunkt, 
unter  dem  er  kurz  vorher  sein  bisheriges  Leben  seit 
dem  Abgange  von  der  Schule  betrachtet  hat,  wird  auf- 
gegeben. Er  schaut  es  fortan  in  seinem  wahren  Werte 
an  als  eine  Zeit  der  wissenschaftlichen  Läuterung  und 
Vorbereitung  zu  einem  höheren  Ziel.  „Ich  hatte  immer 
den  sehnlichsten  Wunsch,  das  Wahre  vom  Falschen 
scheiden  zri  lernen,  klar  in  meinen  Handlungen  zu  sehen 
und  mit  Sicherheit  in  diesem  Leben  aufzutreten.  Ich 
muss  es  allerdings  zugeben,  solange  ich  nur  die  Hand- 
lungen meiner  Mitmenschen  betrachtete,  fand  ich  kaum 
etwas  Sicheres,  und  ich  nahm  beinahe  soviel  Unter- 
schiede wahr,  wie  vorher  unter  den  Meinungen  der 
Philosophen.  So  dass  der  grösste  Vorteil,  den  ich  daraus 
zog,  darin  bestand,  dass  mit  der  Einsicht,  wie  viele 
Dinge,  die  uns  überspannt  und  lächerlich  erscheinen, 
dennoch  bei  anderen  grossen  Völkern  allgemeine  Auf- 
nahme und  Billigung  finden,  sich  in  mir  die  Überzeugung 
bestärkte,  nichts  zu  fest  zu  glauben,  was  ich  nur  durch 
Beispiel  und  Gewohnheit  als  wahr  angenommen  hatte. 
So  befreite  ich  mich  allmählich  von  vielen  Irrtümern, 
die  unsere  natürliche  Einsicht  verdunkeln,  und  uns 
weniger  empfänglich  für  die  Stimme  der  Vernunft 
machen.  Nachdem  ich  nun  einige  Jahre  damit  zuge- 
bracht hatte ,  in  dem  Buche  der  Welt  zu  studieren  und 
einige  Erfahrung  zu  erlangen,  da  fasste  ich  eines  Tages 
den  Entschluss,  auch  in  mir  selbst  zu  forschen,  und  alle 
Kräfte  meines  Geistes  anzuspannen,  um  die  Wege  zu 
finden,  die  ich  aufzusuchen  hätte.  Und  das  ist  mir  nun, 
davon  Ijin  ich  überzeugt,  weit  besser  geglückt,  als  wenn 
ich  niemals  mein  Heimatland  und  meine  Bücher  ver- 
lassenhätte". (C.1. 131  — 32.)  Wir  sehen  hieraus,  wie  Des- 
cartes  diese  Vorbereitungszeit  zu  schätzen  gewusst  hat. 

In   der  Nacht  jenes   denkwürdigen  Tages,    an  dem 
Descartes    seine    innere    Ruhe    wiedergefunden    hatte, 


Rosenkreuzer.     Wissenschaftslehre.  47 

spiegelte  sich  in  drei  Träumen  noch  einmal  seine  so 
rasch  umgewandelte  Gemütsstimmung  wieder,  in  den 
beiden  ersten  seine  innere  Haltlosigkeit  und  Zerrissen- 
heit, im  dritten  die  freudige  Überzeugung,  dass  es  ihm 
gelingen  würde,  seine  Zweifel  zu  überwinden  und  zu 
festen  Prinzipien  zu  gelangen.^) 

5.  Nach  dieser  aufregenden  Nacht  flehte  Descartes 
zu  Gott  und  zur  heiligen  Jungfrau,  ihm  Kraft  und  Er- 
leuchtung zu  geben,  damit  er  den  richtigen  Weg  zur 
Wahrheit  finde.  Schon  die  Gedanken  von  einer  neuen 
Wissenschaft,  die  ihn  am  Tage  vorher  so  plötzlich  er- 
griffen hatten,  mussten  ihm  als  eine  Art  höhere  Ein- 
gebung erscheinen.  Nun  kamen  noch  diese  drei  Träume 
hinzu.  Was  Wunder,  dass  unser  Philosoph  in  eine  Art 
von  geistigem  Rausch  und  Verzückung  geriet  und  alles 
dieses  einer  direkten  göttlichen  Einwirkung  zuschrieb. 
Man  weiss  es  ja,  wie  sehr  der  geistige  Reformator  durch 
das  Bewusstsein  einer  direkten  höheren  Erleuchtung 
von  Seiten  Gottes  oder  eines  Heiligen  in  seinem  Eifer 
bestärkt  wird. 

Als  Descartes  nun  ganz  von  diesem  seinem  En- 
thusiasmus erfüllt  war,  drang  zu  ihm  der  Ruf  von  einer 
geheimnisvollen  Gesellschaft  von  Weisen,  den  sogenannten 
Rosenkreuzern.  Man  erzählte  von  ihnen  allerlei  Uber- 
schwänglichkeiten ,  sie  sollten  alles  wissen,  im  Besitze 
einer  neuen  Weisheit,  der  wahren  und  unverfälschten 
Wissenschaft  sein.  Sollte  dieser  Versuch,  so  musste  sich 
Descartes  fragen,  der  wahren  Methode  mühelos  ohne 
geistige  Anstrengung  habhaft  zu  werden,  wirklich  mög- 
lich sein.  Zu  einer  anderen  Zeit  hätte  unser  Philosoph 
sicherlich  diese  Frage  verneint.  Bei  seinem  augenblick- 
lichen Hang  zum  Wunderbaren  und  Übernatürlichen 
machte   er  wirklich  Versuche,    eine  Bekanntschaft  mit 

*)  Den  ersten  Traum  habe  ich  schon  vorher  geschildert,  weil 
er  mir  so  typisch  für  den  Seelenzustand  des  Philosophen  erschien. 


48        Drittes  Kapitel:  Periode  d.  systemat.  Wissenschaftsforschung. 

diesen  Leuten  anzuknüpfen  und  kam  infolgedessen  bald 
zur  Einsickt,  welcker  argen  Täusckung  er  sick  kin- 
gegeben  katte.^) 

6.  Dieser  Hang  zum  Wunderbaren,  der  unsern 
Pkilosopken  einige  Zeit  lang  ganz  für  sick  eingenommen 
katte,  sckwand  indessen  bald  und  wurde  von  dem  ernsten 
Entscklusse  abgelöst,  selbständig  und  vermöge  der  eige- 
nen Geisteskraft  den  Weg  zur  Wakrkeit  aufzufinden. 
Hält  man  zusammen,  was  in  dem  Discours  und  in  den 
Tagebückern  darüber  bemerkt  ist,  mit  den  Aufzeick- 
nungen  „der  Regeln",  einer  Sckrift,  in  der  diese  geistige 
Entwicklungsstufe  Descartes'  am  sckärfsten  zum  Aus- 
druck kommt,  so  lässt  sick  ein  ziemlick  klares  Bild  von 
den  damaligen  metkodiscken  Ansckauungen  unseres 
Pkilosopken  gewinnen.  Es  mag  manckes  von  dem,  was 
wir  berickten  werden,  damals  Descartes  nocli  nickt  zu 
vollem  Bewusstsein  gekommen  sein,  sondern  erst  später 
auf  seinen  weiteren  Reisen,  gleickwokl  bringen  wir  es 
mit  in  unsere  jetzige  Darstellung  kinein,  weil  dieselbe 
die  ganze  jetzige  Entwicklungsperiode  ckarakterisieren 
soll,  über  die  Descartes  erst  nack  zekn  Jakren  kinaus- 
wäckst. 

Es  ist  eine  eckt  universalwissensckaftlicke  Tendenz, 
die  unsern  Pkilosopken  bekerrsckt.  Man  glaubt,  die 
Wissensckaften  gedeiken  am  besten,  wenn  man  sie 
einzeln  studiert  wie  die  Handwerke  und  Künste.  Dies 
ist  ein  grosser  Irrtum.  Verkörpern  dock  alle  Wissen- 
sckaften nickts  weiter  als  die  allgemeine  Menscken- 
vernunft,  die  ein  und  dieselbe  und  unteilbar  ist.    Ist  es 


')  Die  damalige  Existenz  der  Rosenkreuzer  sowie  etwaige  Be- 
ziehungen Descartes'  zu  ihnen  sind  in  Dunkel  gehüllt.  Baillet  glaubt, 
dass  Descartes  sie  nicht  hat  auffinden  können,  Kuno  Fischer,  dass 
sie  damals  überhaupt  nicht  existiert  haben.  In  Descartes'  Tagebüchern 
findet  sich  die  Anzeige  eines  Buches,  das  offenbar  den  Rosenkreuzern 
gewidmet  ist.   (Oeuvres  Ined.  I,  4.) 


Ihre  Ableitung  aus  der  Mathematik.  49 

niclit  erstaunlich,  was  für  ein  spezialistisclier  Charakter 
der  heutigen  wissenschaftlichen  Forschung  eigentümlich 
ist.  Wir  sehen,  wie  die  Gelehrten  die  Pflanzen  und 
ihre  Eigenschaften  studieren,  dem  Laufe  der  Gestirne 
nachgehen,  die  Verwandlungen  der  Metalle  und  tausend 
dergleichen  Dinge  beobachten,  allein  wie  gering  ist  da- 
gegen gehalten  die  Anzahl  derjenigen,  welche  sich 
mit  der  menschlichen  Vernunft,  mit  der  allgemeinen 
Universalwissenschaft  beschäftigen,  die  doch  weit  wich- 
tiger ist  als  jede  Einzeldisziplin.  Wohlan,  lasst  uns 
auf  dieselbe  unser  Augenmerk  richten,  haben  wir  sie 
erforscht,  dann  werden  wir  weit  rascher  und  sicherer 
das  Gebiet  der  Einzelwissenschaften  durchmessen  können. 

7.  Die  wahre  wissenschaftliche  Methode  lässt  sich 
nicht  aus  dem  Nichts  zaubern,  nicht  durch  magische 
Künste  heraufbeschwören,  nur  durch  Betrachtung  und 
Zergliederung  der  vorhandenen  Wissenschaften  kann 
sie  gefunden  werden.  Macht  euch  zu  eigen  den  reichen 
Schatz  an  Wissen,  der  uns  überliefert  ist,  nur  aus  der 
wirklichen  konkreten  Forschung  kann  eine  Methode  ge- 
schöpft werden,  die  ihrerseits  wiederum  zum  lebendigen 
Forschen  und  Erfinden  anleitet,  wie  Licht  sich  nur  am 
Licht  entzündet.  Doch  seien  wir  in  unserem  Verfahren 
nicht  voreilig,  wahr  und  ungetrübt  müssen  die  zu  be- 
trachtenden wissenschaftlichen  Erkenntnisse  sein,  wenn 
anders  sich  aus  ihnen  die  echte,  unverfälschte  Methode 
soll  ableiten  lassen.  Welche  Erkenntnisse  sind  aber 
wirklich  echt  und  unanfechtbar.  „Hier  stock'  ich  schon ! 
AVer  hilft  mir  weiter  fort."  Existiert  doch  in  fast  allen 
Wissenschaften  kaum  ein  Satz,  über  den  nicht  die  Ge- 
lehrten verschiedener  Meinung  sind.  Aber  jedesmal, 
wenn  zwei  über  dieselbe  Sache  ein  verschiedenes  Urteil 
fällen,  ist  es  sicher,  dass  einer  von  beiden  sich  täuscht. 
Ja  noch  mehr,  keiner  von  ihnen  kennt  die  wirkliche 
Wahrheit.     Denn   sonst   hätte  er  ja  eine  klare  und  un- 

Hoffmarn,  Descartes,  4 


50       Drittes  Kapitel:  Periode  d.  systemat.  Wissenschaftsforschung. 

getrübte  Vorstellung  von  ihr,  müsste  er  fähig  sein, 
seinem  Gegner  dieselbe  so  auseinanderzusetzen,  dass  er 
ihn  von  seiner  Ansicht  überzeugte.  Descartes  will  die 
bisherigen  wissenschaftlichen  Forschungen  nicht  etwa 
verdammen,  er  selbst  schätzt  sich  glücklich,  die  Schul- 
wissenschaften  einmal  ganz  und  gar  durchgemacht  zu 
haben  (C.  XI,  207).  Töricht  ist  der,  welcher  glaubt, 
ohne  die  übliche  wissenschaftliche  Schulung  seinen 
eigenen  Weg  gehen  zu  können,  er  wird  Grefahr  laufen, 
auf  vollkommene  Abwege  zu  geraten,  während  der. 
welcher  nur  der  Überlieferung  folgt,  wofern  er  sich  an 
gute  Muster  hält,  nicht  ganz  und  gar  von  der  Wahr- 
heit abweichen  kann.  Will  man  sich  aber  nicht  mit 
Halbheiten  begnügen,  will  man  der  Wahrheit  ofPen  und 
furchtlos  ins  Auge  schauen,  dann  muss  man  sich  frei- 
lich mit  der  traurigen  Tatsache  abfinden,  dass  der 
grösste  Teil  des  vorhandenen  Wissensstoffes  für  unsere 
Zwecke  unbrauchbar  ist.  Trotzdem  brauchen  wir  nicht 
zu  verzweifeln.  Eine  Wissenschaft  gibt  es,  deren 
Wahrheiten  auch  der  grösste  Skeptiker  nicht  be- 
zweifeln kann,  es  ist  die  Mathematik.  Sie  werden  wir 
deshalb  als  Unterlage  für  unsere  Untersuchung  be- 
nutzen. Wieso  kommt  es,  dass  gerade  die  Mathematik 
den  Vorzug  der  unbestreitbaren  Gewissheit  hat? 

Auf  zwei  Wegen  gelangen  wir  zur  Erkenntnis  der 
Objekte  der  wissenschaftlichen  Forschung,  einerseits 
durch  die  Erfahrung,  andererseits  durch  die  Schluss- 
folgerungen unseres  Verstandes.  Der  Verstand  geht 
in  der  Regel  nicht  fehl,  wofern  er  auf  gerader  Bahn 
bleibt,  nicht  hineingerät  in  den  labyrinthischen  Irr- 
garten der  Dialektik.  Anders  die  Erfahrung,  sie  ist 
oft  so  trügerisch,  wird  zumeist  so  kritiklos  aufge- 
nommen, dass  von  vornherein  jede  Sicherheit  im 
wissenschaftlichen  Betriebe  durch  sie  ausgeschlossen 
wird.  In  dieser  Hinsicht  nimmt  nun  gerade  die  Mathe- 
matik   eine    bevorzugte     Stellung    ein.      Ihre    Voraus- 


Ihre  einfachsten  Elemente.  51 

Setzungen  bleiben  vollkommen  unangefochten,  keine  Er- 
fahrung ist  im  stände  sie  zu  widerlegen.  Liegt  es 
unter  diesen  Umständen  nicht  auf  der  Hand,  dass  sie 
die  wahre  Methode  am  reinsten  wird  widerspiegeln 
können.  Freilich,  bemerkt  Descartes  mit  scharfer  Ironie, 
die  Herren  Gelehrten  verschmähen  es,  sich  mit  so  ein- 
fachen Dingen  abzugeben.  „In  der  Tat,  ein  jeder  nimmt 
sich  eher  das  Recht,  einen  dunklen  Gegenstand  zu  er- 
gründen, als  in  einen  klaren  sich  zu  vertiefen.  Ist  es 
doch  viel  leichter,  von  irgend  einem  Objekt  sich  einen 
nebelhaften  und  verschwommenen  Begriff  zu  machen, 
als  die  Wahrheit  selbst  in  ihrer  einfachsten  Gestalt  zu 
erfassen"  (C.  XI,  208 — 9).  Doch  es  sei  ausdrücklich  be- 
tont, wir  wollen  etwa  nicht  die  Wissenschaften  auf  das 
enge  Gebiet  der  mathematischen  Disziplinen  einschränken 
—  bedienen  wir  uns  doch  letzterer  nur  als  Mittel  zum 
Zweck,  um  unsere  Methode  zu  linden  — ,  nein,  die 
andern  Wissenschaften  sollen  vielmehr  auf  das  Niveau 
der  Mathematik  erhoben  werden.  Der  Wahrheitsforscher 
der  Zukunft  soll  sich  mit  keinem  Gegenstande  beschäf- 
tigen, dem  er  nicht  eine  solche  Sicherheit  verleihen 
kann,  wie  sie  die  mathematischen  Disziplinen,  die  Geo- 
metrie und  Algebra  besitzen.  Nicht  beschränkt  werden 
soll  also  unser  wissenschaftlicher  Horizont,  nur  die  Nebel 
und  Wolken,  die  sich  über  ihm  ausgebreitet  haben, 
sollen  verscheucht  werden. 

8.  Untersuchen  wir  nun  jetzt  die  Mathematik  zu- 
nächst hinsichtlich  der  einfachsten  Strukturelemente, 
aus  denen  sie  sich  aufbaut.  Sie  geht  aus  von  einfachen, 
jedermann  einleuchtenden  Tatsachen,  um  dann  durch 
Schlussfolgerungen  immer  tiefer  einzudringen  in  das 
Wesen  der  Raum-  und  Zahlbeziehungen.  Analog  muss 
nun  auch  die  Methode  verfahren,  die  sich  auf  die 
Wissenschaften  in  ihrer  Gesamtheit  bezieht.  Unmittel- 
bare Einsicht,  die  sogenannte  Intuition,   und  daran  an- 


52       Drittes  Kapitel:  Periode  d.  systemat.  Wissenschaftsforschung. 

scMiessend  die  Deduktion,  das  sind  die  emfachsten  Elemente, 
mit  denen  sie  operiert.  Unter  Intuition  wird  nicht  ver- 
standen die  roll  und  ungeklärt  aufgenommene  Sinnes- 
walirnehmung,  nicht  das  trügerische  Zeugnis  der  Ein- 
bildungskraft, sie  begreift  vielmehr  in  sich  die  un- 
mittelbare Auffassung  eines  ungetrübten  und  aufmerk- 
samen Geistes,  die  so  deutlich  und  klar  ist,  dass  auch 
nicht  der  geringste  Zweifel  auftauchen  kann,  was  mit 
ihr  gemeint  ist.  So  kann  ein  jeder  intuitiv  erkennen, 
dass  er  existiert,  dass  er  denkt,  dass  ein  Dreieck  von 
drei  Linien  begrenzt  wird  und  dergleichen.  Letztere 
(mathematische)  Tatsachen  können  wir  gleichsam  als 
Musterbeispiele  für  die  Intuition  betrachten.  Von  solcher 
Grewissheit  wie  sie  müssen  die  Voraussetzungen  aller 
Wissenschaften  sein.  Wie  dies  möglich  ist,  wie  man 
den  Objekten  der  Naturwissenschaft  eine  gleiche  Ein- 
deutigkeit und  exakte  Bestimmtheit  wie  den  mathe- 
matischen verleihen  kann,  das  werden  wir  später  sehen. 
Handelt  es  sich  doch  zunächst  nur  darum,  das  allge- 
meine Verfahren  der  Wissenschaftsmethode  festzustellen, 
erst  dann  sind  wir  befähigt,  auf  ihre  konkrete  An- 
wendung zu  kommen. 

Die  Intuition  allein  würde  nicht  genügen  für  die 
wissenschaftliche  Forschung.  Sie  gibt  uns  ja  nur  die 
ursprünglichsten  allerelementarsten  Wahrheiten.  Um 
die  tieferliegenden,  verwickeiteren  zu  ergründen,  dazu 
bedarf  es  noch  der  Deduktion.  Mit  ihrer  Hilfe  ver- 
mögen wir  von  den  Grrundtatsachen  zu  immer  höheren 
aufzusteigen.  Die  elementaren  Axiome  der  Mathematik, 
wie  z.  B.  die  Voraussetzung,  parallele  Linien  können 
sich  niemals  schneiden,  bieten  uns  noch  kein  eigentliches 
belangreiches  Wissen  dar,  von  dergleichen  Prinzipien 
können  wir  aber  durch  Schlussfolgerungen  aufsteigen 
zu  Wahrheiten,  die  durchaus  nicht  von  vornherein 
selbstverständlich  erscheinen,  wie  zu  dem  Satze,  dass 
im  Dreieck  die  Winkel  hundertachtzig  Grade  betragen, 


Entgegenstehende  Schwierigkeiten.  53 

dass  die  Kugeloberfläche  viermal  so    gross  ist,   wie  der 
grösste  Grundkreis  der  Kugel  u.  s.  w. 

9.  Wir  kennen  mm  die  beiden  Werkzeuge,  mit 
denen  wir  in  der  Wissenschaft  operieren  müssen.  Doch 
offen  gestanden,  durch  diese  Einsicht  sind  wir  noch 
nicht  sehr  weit  gekommen.  Jetzt  eröffnet  sich  erst 
unser  Hauptproblem,  wie  haben  wir  uns  dieser  beiden 
Mittel,  der  Intuition  und  der  Deduktion  zu  bedienen, 
um  nun  mit  ihrer  Hilfe  zu  neuen  wissenschaftlichen 
Erkenntnissen  zu  gelangen.  Wir  versuchen  es,  uns  wieder 
bei  der  Mathematik,  unserer  Musterwissenschaft,  darüber 
Auskunft  zu  holen.  Ich  betrachte  etwa  den  pythago- 
reischen Lehrsatz,  aus  den  fundamentalen  Eigenschaften 
des  rechtwinkligen  Dreiecks  heraus  wird  hier  die 
Schlussfolgerung  gezogen,  dass  die  Summe  der  beiden 
Kathetenquadrate  gleich  dem  Hypotenusenquadrat  ist. 
Ich  sehe  zunächst,  wie  der  Mathematiker  allerlei  Hilfs- 
figuren in  die  ursprüngliche  Figur  hineinzeichnet,  ich 
weiss  aber  nicht,  wie  er  dazu  kommt.  Dann  beginnt 
das  Schluss verfahren,  ein  Satz  gliedert  sich  an  den 
andern  an.  Ich  folge  gehorsamst  meinem  Führer,  wir 
klettern  mühsam  hinauf  zum  Gipfel  der  Erkenntnis, 
wie  scheue  Verbrecher  meiden  wir  die  geraden  Wege, 
welches  Ziel  wir  haben,  weiss  ich  nicht,  icli  nehme  nur 
wahr,  wie  wir  von  einem  logischen  Winkelpfad  in  den 
andern  einbiegen.  Endlich  sind  wir  oben  und  siehe  da, 
wir  haben  wirklich  unser  Ziel  erreicht.  Ich  muss  ö-e- 
stehen,  ich  bin  sehr  unbefriedigt  von  dem  Resultat 
dieser  meiner  Wanderung.  Weiss  ich  denn  wirklich, 
wie  ich  oben  hinauf  gekommen  bin.  Werde  ich  den 
Weg  zum  zweitenmale  ohne  Führer  mit  Sicherheit 
wiederfinden.  Und  was  doch  eigentlich  die  Hauptsache 
ist,  bin  ich  durch  diese  wunderliche  Reise  um  brauch- 
bare Erfahrungen  reicher  geworden,  ermöglichen  sie  es 
mir,  den   Weg  zu  anderen  Gipfeln  der  Erkenntnis  nun- 


54       Drittes  Kapitel:  Periode  d.  systemat,  Wissenschaftsforschung. 

mehr  selbständig  zu  finden.  Von  alledem  ist  nicht  die 
Rede.  Dieses  planlose  Umherschweifen  hat  gar  keinen 
Sinn.  Mein  Wahrheitsbedürfnis  wird  hierdurch  keines- 
wegs gestillt. 

Dieser  eine  geometrische  Satz  ist  typisch  für  das 
Verfahren  der  gesamten  Mathematik.  Hören  wir  Des- 
cartes'  eigene  Worte.  „Ich  lernte  (bei  den  mathema- 
tischen Schriftstellern)  verschiedene  Sätze  über  die 
Zahlen  kennen,  rechnete  ich  sie  nach,  so  erkannte  ich 
ihre  Richtigkeit,  was  die  Geometrie  anlangt,  so  tischte 
man  mir  sozusagen  eine  Fülle  von  Wahrheiten  auf  und 
man  folgerte  aus  ihnen  andere,  aber  man  schien  es  mir 
nicht  so  recht  klar  machen  zu  wollen,  warum  die 
Dinge  so  waren,  wie  man  sie  mir  zeigte  und  durch 
welche  Mittel  man  zu  ihrer  Entdeckung  käme."  —  Die 
ganze  Lauge  seines  Spottes  giesst  Descartes  über  diese 
mathematische  Beweiskunst  aus.  —  „In  der  Tat,  es 
gibt  nichts  Öderes,  als  sich  mit  Zahlen  und  erdichteten 
Figuren  zu  beschäftigen,  Wert  zu  legen  auf  die  Kennt- 
nis derartiger  Bagatellen,  solchen  zwecklosen  Beweisen, 
die  der  Zufall  eher  als  der  Verstand  entdeckt,  mit  so 
grosser  Sorgfalt  nachzugehen,  mit  so  grosser  Sorgfalt, 
ich  wiederhole  es,  dass  man  es  einem  übelnimmt,  wenn 
man  dabei  von  seiner  Vernunft  Gebrauch  machen  will" 
(C.  XI,  219—20). 

10.  Was  sollen  wir  nun  tun?  Die  Mathematik, 
unsere  einzige  sichere  Zufluchtsstätte,  scheint  hier  un- 
seren Fragen  jede  Antwort  zu  versagen.  Indes  bedenken 
wir,  vielleicht  ist  dieses  Beweisverfahren,  wie  es  uns 
in  den  Lehrbüchern  von  den  mathematischen  Schrift- 
stellern dargestellt  wird,  nicht  das  Wirkliche,  auf  dem 
die  wahrhaft  fruchtbaren  Lehrsätze  dieser  Wissenschaft 
gefunden  worden  sind.  Und  in  der  Tat,  es  muss  wirk- 
lich so  sein.  Die  Mathematik  hätte  sich  nicht  so  über- 
raschend schnell  entwickelt,  wenn  ihre  epochemachenden 


Die  wahre  mathematische  Methode.  55 

Vertreter  ein  solches  unfruclitbares  Verfahren  angewandt 
hätten.  Eine  derartige  geistlose  Aneinanderfügung  von 
Sätzen  hätten  die  grossen  Philosophen  des  Altertums 
schwerlich  für  wichtig  genug  gehalten,  um  sie  als  Vor- 
bereitung für  das  eigentliche  Studium  der  Philosophie 
zu  empfehlen  (C.  XI,  220). 

Bevor  wir  also  weitergehen  können,  handelt  es  sich 
für  uns  darum,  die  wirklich  echte  mathematische  Me- 
thode zu  entdecken,  die  im  Keime  schon  allen  grossen 
Errungenschaften  dieser  Wissenschaft  zugrunde  lag. 

Das  Ziel  der  Mathematik  besteht  doch  offenbar 
darin,  Beziehungen  zwischen  verschiedenen  Grössen 
herzustellen.  Die  gewöhnliche  Methode  der  Geometer 
geht  indes,  wie  wir  ja  soeben  an  einem  Beispiele  ge- 
sehen haben,  ganz  planlos  vor.  Durch  allerlei  ganz 
und  gar  vom  Zufall  abhängige  Kunstgriffe  gelingt  es 
ihr,  einen  Satz  an  den  andern  kettend,  ihr  Ziel  zu  er- 
reichen, d.  h.  die  bekannten  mit  den  unbekannten  Grössen 
synthetisch  zu  verknüpfen,  so  dass  klar  und  unzweideutig 
ihre  gegenseitigen  Beziehungen  erkannt  werden.  Auf  diese 
Weise  kommt  man  nie  zu  einem  wirklich  systematischen, 
wahrhaft  wissenschaftlichen  Beweisgange.  Die  Anein- 
anderheftung der  bekannten  und  unbekannten  Grössen, 
d.  h.  die  synthetische  Methode,  spielt  hier  die  Haupt- 
rolle, sie  herbeizuführen,  dazu  muss  sich  der  Scharfsinn 
des  Gelehrten  bei  jedem  einzelnenSatzebesonders  abmühen. 

Wie,  wenn  es  möglich  wäre,  von  vornherein  eine 
Synthesis,  eine  Beziehung  zwischen  den  verschiedenen 
Grössen  herzustellen,  die  zwar  noch  nicht  ganz  klar 
und  durchsichtig  ist,  die  aber  in  ganz  systematischer 
Weise  von  dem  zergliedernden,  analytisch  vorgehenden 
Verstände  geklärt  und  vereinfacht  werden  kann.  Dieses 
Verfahren,  in  dem  im  Gegensatz  zum  früheren  die  Zer= 
gliederung,  die  Analysis,  die  Hauptrolle  spielen  würde, 
wäre  eine  wirklich  durchsichtige  und  fruchtbare  For- 
schuno-smethode. 


56        Drittes  Kapitel:  Periode  d.  systemat.  Wissenschaftsforschung. 

Nun  fragt  es  sich  aber,  wie  will  man  es  anfangen, 
um  sofort  eine  Synthesis  zwischen  den  verschiedenen 
mathematischen  Grössen  herzustellen.  Ja,  würde  hier 
Descartes  einwerfen,  wollt  ihr  gleich  die  allereinfachste 
Beziehung  zwischen  den  bekannten  und  unbekannten 
Grössen  auffinden,  dann  müsst  ihr  allerdings  den  Weg 
der  gewöhnlichen  Geometer  einschlagen,  müsst  euch 
bei  jedem  Problem  in  besonderer  Weise  abmühen. 
Denken  wir  z.  B.  an  die  Beziehungen  zwischen  den  drei 
Seiten  eines  Dreiecks,  das  Problem  ist  viel  zu  kompli- 
ziert, die  Seiten  des  Dreiecks  können  zu  mannigfaltig 
sein  je  nach  der  verschiedenen  Grösse  der  Winkel,  als 
dass  sich  die  einfachste  unmittelbarste  Beziehung  mit 
einem  Schlage  herstellen  liesse.  Wohl  aber  gibt  es 
einen  Weg,  um  überhaupt  eine  Beziehung,  eine  Synthesis, 
wenn  auch  zunächst  eine  komplizierte,  bei  jedem  mathe- 
matischen Problem  zwischen  den  einzelnen  Grössen 
herzustellen,  wie  sehr  sich  die  letzteren  auch  von 
vornherein  wegen  ihrer  grossen  Ungleichartigkeit  da- 
gegen sträuben  mögen.  Und  dieser  Weg  besteht  darin, 
dass  ich  die  verschiedenen  Qualitäten  der  mathema- 
tischen Figuren  durch  einfache  algebraische  Grössen 
ausdrücke,  dann  werde  ich  sie  leicht  miteinander  in 
Beziehung  setzen  können.  Das  ist  nun  in  folgender 
Weise  zu  erreichen.  Denke  ich  mir  nämlich,  wenn  es 
sich  etwa  um  die  Planimetrie  handelt,  in  der  Ebene,  in 
der  die  Figur  eingezeichnet  ist,  zwei  einander  senkrecht 
schneidende  Linien,  dann  ist  jeder  Punkt  der  Ebene 
bestimmt  durch  seine  beiden  senkrechten  Abstände  von 
diesen  beiden  Linien,  d.  h.  durch  zwei  einfache  alge- 
braischen Grössen.  In  derselben  Weise  ist  nun  jeder 
Punkt  einer  einzelnen  Figur  bestimmbar  und  dem  Ma- 
thematiker wird  es  nun  unmittelbar  klar,  wie  aus  einer 
Reihe  von  solchen  Punkten  einer  Figur  —  vorzugsweise 
werden  es  die  Eckpunkte  sein  — ,  deren  Abstände  von 
den  beiden  sich  senkrecht  schneidenden  Linien  bekannt 


Anwendung  auf  die  anderen  Wissenschaften.  57 

sind,  sich  ohne  weiteres  Beziehungen  zwischen  den  ein- 
zelnen Teilen  der  Figur  anknüpfen  lassen.  Handelt  es 
sich  doch  nunmehr  nur  um  die  Verknüpfung  einfacher, 
leicht  vergleichbarer  algebraischer  Grössen. 

Die  Synthese  stellt  sich  jedesmal  dar  als  eine  alge- 
braische Gleichung  und  diese  kann  nun  der  Verstand 
in  ganz  methodischer  Weise  zergliedern  und  verein- 
fachen. Der  Kenner  weiss  es,  wie  je  eine  Gruppe  von 
geometrischen  Problemen  auf  eine  ganz  bestimmte 
typische  Gleichungsform  führt,  wie  also  nach  Auflösung 
einer  jeden  solchen  Gleichungsform  eine  Fülle  von 
Problemen  auf  einmal  ihre  unmittelbare  Lösung  findet. 

Also  um  es  noch  einmal  kurz  zusammenfassend  zu 
wiederholen,  während  das  Verfahren  der  gewöhnlichen 
Geometer  ganz  und  gar  synthetisch  war,  liegt  bei  Des- 
cartes  der  Schwerpunkt  auf  der  Analysis.  Eine  provi- 
sorische Synthesis  wird  leicht  und  mühelos  von  vorn- 
herein angesetzt,  indem,  wie  wir  gesehen  haben,  die 
Mannigfaltigkeit  der  geometrischen  Eigenschaften  in 
eine  einfache  algebraische  Grössenrelation  umgesetzt 
wird,  und  nun  beginnt  das  Hauptgeschäft,  der  Verstand 
kann  klar  um  sich  blickend,  befreit  von  dem  ver- 
wirrenden Eindruck  der  geometrischen  Figuren,  den 
Grössenkomplex  in  methodischer  Weise  zergliedern  und 
auf  eine  einfache  Form  bringen,  in  der  klar  und  un- 
zweideutig die  unbekannten  Grössen  durch  die  bekannten 
ausgedrückt  sind. 

11.  Jetzt  haben  wir  die  neue  Methode  Descartes' 
in  ihren  Grundzügen  gekennzeichnet  und  ihre  frucht- 
bare Anwendbarkeit  in  der  Mathematik  deutlich  zu 
machen  gesucht.  Diese  Erfolge  in  der  Mathematik  er- 
mutigten unseren  Philosophen  dazu,  seine  neue  Wissen- 
schaftslehre auch  auf  die  andern  Gebiete  der  Erkennt- 
nis, auf  die  naturwissenschaftlichen  Disziplinen  anzu- 
wenden,  in  die    er  sich  ja  schon  vorher  vertieft  hatte. 


58        Drittes  Kapitel:  Periode  d.  systemat.  Wissenschaftsforschung. 

„Hatte  mir  doch  diese  Methode,  seitdem  ich  angefangen 
hatte,  mich  ihrer  zu  bedienen,  schon  soviele  Befrie- 
digung gewährt,  wie  ich  sie  süsser  und  unschuldiger 
in  diesem  Leben  nicht  zu  erhoifen  wagte.  Täglich  ent- 
hüllte sie  mir  neue  wichtige  und  von  andern  nicht 
gekannte  Wahrheiten,  eine  Wahrnehmung,  die  meinen 
(xeist  mit  solchem  Entzücken  erfüllte,  dass  ich  gegen 
alles  andere  gleichgültig  wurde  (C.  I,  152), 

Wie  ist  nun  eine  Anwendung  unserer  neuen  Methode 
auf  das  Gebiet  der  Naturwissenschaften  zu  ermöglichen. 
Zunächst  kann  jedenfalls  auch  hier  ein  jedes  Problem 
darauf  zurückgeführt  werden,  unbekannte  Beziehungen 
auf  bekannte  zurückzuführen.  Wir  haben  etwa  zwei 
Töne  von  verschiedener  Höhe.  Es  soll  ein  dritter  Ton 
genau  bestimmt  werden ,  so  dass  seine  Tonhöhe  um 
ebensoviel  die  des  zweiten  übertrifft,  wie  die  Tonhöhe 
des  zweiten  die  des  ersten.  Unsere  Methode  verlangt 
nun,  suche  zunächst  eine  provisorische  Synthesis  zwischen 
den  drei  Tönen  zu  erzielen,  indem  du  etwa  die  Höhe 
des  dritten  Tones  als  bekannt  annimmst,  und  dann  nach 
den  Anforderungen  der  Aufgabe  eine  Beziehung  zwischen 
den  drei  Tönen  herstellst.  Wie  soll  aber  zwischen 
Tönen  eine  wirklich  exakte  Beziehung  hergestellt  werden 
können.  „Wiewohl  man  von  einem  Gregenstand  sagen 
kann,  dass  er  mehr  oder  weniger  weiss  ist  als  ein 
anderer,  von  einem  Tone,  dass  er  mehr  oder  weniger 
hoch  ist,  und  ähnliches  von  den  übrigen  Eigenschaften, 
so  können  wir  doch  nicht  genau  bestimmen,  ob  dieses 
Verhältnis  ein  doppeltes  oder  dreifaches  ist"  .... 
(C.  XI,  297). 

Jndes  wie  Descartes  zur  Verknüpfung  der  geome- 
trischen Grössen  ein  Verfahren  angegeben  hat,  bei  dem 
dieselben  durch  einfache  algebraische  Werte  ersetzt 
wurden,  so  wird  sich  auch  hier  ein  Ausweg  finden 
lassen.  Alle  sinnlichen  Eigenschaften  der  Dinge,  das 
Licht,  die  Earbe,  der  Ton  haften  insgesamt  an  Körpern. 


Anwendung  auf  die  anderen  Wissenschaften.  51> 

Man  versuche  es  einmal,  eine  von  ihnen,  etwa  die  Farbe 
oder  den  Ton  allein  vorzustellen,  es  ist  einfach  unmög- 
lich, sie  sind  nicht  zu  trennen  von  etwas  Konkretem, 
Ausgedehnten,  mag  es  auch  wie  z.  B.  bei  der  Farbe 
von  noch  so  feiner  Gestalt  sein.  Ja  noch  mehr  nicht 
nur  dass  alle  sinnlichen  Eigenschaften  sich  nur  an 
Körpern  befinden,  es  finden  auch  zwischen  ihnen  und 
den  Körpern  ganz  intime  Beziehungen  statt.  Betrachten 
wir  etwa  eine  gespannte  Saite,  schlage  ich  sie  an,  so 
gibt  sie  einen  Ton  von  sich,  und  dieser  Ton  wird  höher 
oder  tiefer,  je  nachdem  ich  die  Saite  verkürze  oder 
verlängere,  je  nachdem  ich  sie  stärker  oder  schwächer 
anspanne,  sie  mit  einer  dünneren  oder  dickeren  ver- 
tausche. Wie  sich  beim  Menschen  seine  Empfindungen 
in  seinem  Gesichte  widerspiegeln,  so  die  Eigenschaften 
der  Dinge  in  ihrer  äusseren  Gestalt.  Mögen  die  sinn- 
lichen Eigenschaften  sein  was  sie  wollen,  wir  haben 
durchaus  kein  Interesse  daran  ihre  Realität  zu  leugnen, 
das  können  war  aber  zugestehen,  dass  keine  Veränderung 
an  ihnen  stattfindet,  die  sich  nicht  in  vollkommener 
Weise  in  einer  Änderung  der  ausgedehnten  Körper,  an 
denen  sie  haften,  wiederspiegelt  (C.  XI,  264).  Und  wie 
wir  die  geometrischen  Grössen,  um  eine  Verknüpfung 
zwischen  ihnen  herzustellen,  durch  algebraische  ersetzt 
haben,  so  ist  auch  eine  exakte  Verknüpfung  der  sinn- 
lichen Eigenschaften  möglich,  wenn  wir  die  Änderungen 
der  äusseren  Gestalt,  mit  denen  ihre  Veränderungen  ver- 
bunden sind,  miteinander  vergleichen.  Die  Änderungen  der 
äusseren  Gestalt,  wie  etwa  die  verschiedenen  Saitenlängen 
der  einzelnen  Töne,  sind  aber  ohne  weiteres  algebraisch 
zu  berechnen.  So  ergibt  sich  also  eine  ungezwungene 
Anwendung  unserer  Methode  auf  die  Naturwissen- 
schaft ganz  von  selbst.  Durch  sorgfältige  Experimente 
werden  wir  uns  einen  Einblick  in  die  Eigenschaften 
der  Dinge  und  in  ihre  Abhängigkeit  von  den  äusseren 
Formen,  an  denen  sie   haften,    verschaffen.     Auf  Grund 


60       Drittes  Kapitel:  Periode  d.  systemat.  Wissenschaftsforschung. 

letzterer  ergibt  sich  die  Synthesis,  die  Verknüpfung, 
in  der  die  einzelnen  Elemente  miteinander  stehen, 
und  nun  kann  der  Verstand  analytisch  vorgehend  den 
Tatbestand  zergliedern  und  die  unbekannten  Beziehungen 
durch  die  bekannten  ausdrücken.  So  ist  also  auch  in 
der  Naturwissenschaft  ein  vollkommen  sicheres  Ver- 
fahren möglich.  Sie  kann  angesehen  werden  als  eine 
Wissenschaft  von  Grössen,  die  uns  durch  Experiment 
und  Messung  reinlich  und  unzweideutig,  befreit  von 
allen  subjektiven  Schlacken  geliefert  werden. 

12.  Es  ist  höchst  bemerkenswert,  wie  Descartes 
bei  Feststellung  und  Anwendung  seiner  Methode  allen 
metaphysischen  und  erkenntnistheoretischen  Fragen  aus 
dem  Wege  geht.  Es  sind  streng  immanente,  logische 
und  methodologische  Gesichtspunkte,  die  er  zu  Rate 
zieht.  Unser  logisches  Wahrheitsgefühl,  das  ist  die  vor- 
nehmste und  oberste  Behörde,  auf  die  wir  angewiesen 
sind,  mit  der  wir  uns  abfinden  müssen.  Also  ganz  und 
gar  sind  die  skeptischen  Gedanken,  die  unsern  Philo- 
sophen früher  so  ausschliesslich  erfüllt  hatten,  nicht 
geschwunden.  Mochte  er  auch  die  Bedenken  gegen  eine 
strenggültige  Wissenschaftsmethode  haben  fallen  lassen, 
der  Metaphysik  ging  er  noch  vorsichtig  aus  dem  Wege, 
all  sein  Sinnen  und  Trachten  dafür  um  so  intensiver 
auf  die  Ausbildung  und  Erweiterung  der  realen,  kon- 
kreten Forschung  richtend. 

Wie  ängstlich  er  damals  alle  metaphysischen  Pro- 
bleme gemieden  hat,  dafür  ist  so  recht  bezeichnend  sein 
Verhalten  den  Sinnesempfindungen  gegenüber.  Nicht 
weil  die  Sinnesempfindungen  subjektiv  sind,  betrachtet 
er  in  der  Physik  nicht  sie  selbst^  sondern  die  sie  ver- 
tretenden räumlichen  Figurationen,  er  tut  es  vielmehr 
deswegen,  weil  nur  auf  diesem  Wege  wirkliche  exakte 
Naturwissenschaft  möglich  ist.  Und  hier  können  wir 
noch  etwas  Bemerkenswertes  hinzufüo;en.    Genau  so  wie 


Charakter  der  Theorie.    Provisorische  Ethik.  61 

die  ersten  Konzeptionen  der  neuen  mathematisclien 
Wissenschaft  unserem  Philosophen  schon  vor  der  Ent- 
wicklung seiner  Methode  vor  Augen  standen,  wie  aus 
ihr  heraus  die  Methode  erst  entstanden  ist,  um  ihrer- 
seits wiederum  einen  fruchtbaren  Einfluss  auf  die  neue 
mathematische  Disziplin  auszuüben,  der  Wechselwirkung 
bei  der  Dynamomaschine  zwischen  Elektromagneten  und 
Ankerstrom  vergleichbar,  so  ist  auch  das  Verhältnis 
zwischen  der  neuen  Methode  und  den  Naturwissen- 
schaften zu  denken.  Exakte  physikalische  Untersuch- 
ungen hatte  Descartes,  wie  wir  wissen,  schon  früher 
angestellt,  aber  erst  jetzt  durch  seine  Methode  ist  er 
zur  vollen  Klarheit  über  ihre  Bedeutung,  zur  Einsicht, 
dass  sie  die  allein  berechtigten  ausschlaggebenden  Fak- 
toren bilden,  gekommen.  Durch  diese  Einsicht  steht 
er  voll  und  ebenbürtig  seinen  älteren  Zeitgenossen 
Kepler  und  Galilei  gegenüber  da,  erhebt  er  sich  weit 
über  den  getrübten  wissenschaftlichen  Horizont  des 
Barons  von  Verulam ,  der  die  exakt  mathematischen 
Gesichtspunkte  in  seiner  Wissenschaftslehre  ganz  und 
gar  vernachlässigt  hatte,  und  so  ziel-  und  steuerlos  in 
dem  weiten  Ozean  der  empirischen  Versuche  umhertrieb, 
vergeblich  von  den  fühllosen  Wogen  erwartend,  dass 
sie  ihn  zu  dem  erlösenden  Eiland,  zum  Tempel  der 
Klarheit  und  Gewissheit  trügen. 

13.  Wenn  Descartes,  wie  wir  gesehen  haben,  nur 
für  die  Wissenschaften  einen  sicheren  Führer  in  seiner 
Methode  gefunden  hatte,  wie  musste  er  sich  dann  im 
praktischen  Leben,  in  seinem  Tun  und  Handeln,  ver- 
halten. Die  Ethik  bedarf  doch  auch  grundlegender 
sicherer  Fundamente,  muss  sich  stützen  auf  feste  philo- 
sophische Grundanschauungen,  wie  sie  unser  Denker 
bis  jetzt  noch  keineswegs  besitzt.  Descartes  hat  dies 
wohl  empfunden.  Indessen  eine  provisorische  Moral, 
die   ihm   solange    auszureichen   schien,    bis  er  zu  festen 


62       Drittes  Kapitel :  Periode  d.  systemat.  Wissenschaftsforschung. 

philosopliisclien  Grundsätzen  gekommen  wäre,  glaubte 
er  sicli  schon  jetzt  bilden  zu  können.  Bei  seinem  Miss- 
trauen allen  festen  Moralprinzipien  gegenüber  schien  es 
ihm  ratsam,  die  Handlungen  der  verständigsten  Men- 
schen zu  prüfen  und  ihre  Ethik  zu  der  seinigen  zu 
machen,  in  den  Punkten  aber,  wo  die  Meinungen  ge- 
teilt waren,  stets  die  gemässigteren  zu  wählen.  Vor 
allem  galt  es  sodann  für  ihn,  diese  gewonnenen  An- 
schauungen konsequent  in  seinen  Handlungen  zu  be- 
tätigen. Mochten  sie  sich  auch  teilweise  auf  gar  keine 
triftigen  Gründe  stützen,  es  ist  besser  sie  durchzuführen, 
als  eine  charakterlose  schwankende  Haltung  im  Leben  ein- 
zunehmen, das  ist  unsittlich  und  führt  zu  nichts  Rechtem. 
In  diesen  Grundsätzen  waren  aber  noch  nicht  die  per- 
sönlichen Triebe  und  Wünsche  der  menschlichen  Natur 
berücksichtigt,  die  doch  einen  so  wichtigen  Einfluss 
auf  die  Willenshandlungen  ausüben.  Diese  müssen  durch 
den  Verstand  im  Zaum  gehalten  werden.  Untersuchen 
wir  bei  allen  unseren  Wünschen,  ob  und  wieweit  ihre 
Befriedigung  möglich  ist  oder  nicht,  bringen  wir  uns 
dies  zur  vollkommenen  Klarheit,  dann  werden  wir 
aufhören  etwas,  was  nicht  in  unserer  Macht  steht 
zu  verlangen ,  über  die  Unerreichbarkeit  vieler  un- 
serer Wünsche  Kummer  zu  empfinden.  Denn  es 
liegt  in  der  Natur  unseres  Willens,  sich  nur  auf  das 
zu  erstrecken,  was  der  Verstand  ihm  als  erreichbar 
darstellt. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  solche  ethischen  Grund- 
sätze nur  ein  Idealist  aufstellen  konnte.  Und  ein  Idea- 
list war  Descartes  immer  gewesen,  auch  bevor  er  feste 
philosophische  Prinzipien  gewonnen  hatte.  So  wird  es 
uns  nicht  wundern,  wenn  die  ethischen  Anschauungen, 
die  unser  Philosoph  später  in  seinem  Mannesalter 
entwickelt,  denselben  Grundcharakter  haben,  wie  er 
in  dieser  provisorischen  Moral  schon  zum  Ausdruck 
kommt. 


Faulhaber.     Aufenthalt  in  Prag.  63 

14.  Es  war  in  dem  einsamen  Winterquartier  an 
der  Donau,  wo  Descartes  die  Grundzüge  seiner  soeben 
geschilderten  Methode  entwarf.  Im  Sommer  des  Jahres 
1620  verliess  er  auf  einige  Zeit  das  Heer,  um  die  Ein- 
tönigkeit des  Lagerlebens  zu  unterbrechen.  In  den 
Monaten  Juli  und  August  hält  er  sich  in  Ulm  auf,  hier 
traf  er  Landsleute,  eine  Abordnung  von  französischen 
Gesandten,  die  zwischen  den  kriegsführenden  Parteien 
vermitteln  wollte.  Aber  auch  wissenschaftliche  An- 
regungen sollte  er  hier  finden  durch  den  Verkehr  mit 
dem  Mathematiker  Johann  Faulhaber.  Dieser  Gelehrte 
hatte  bei  der  ersten  Begegnung  den  jungen  Offizier 
hinsichtlich  seiner  wissenschaftlichen  Kenntnisse  genau 
so  unterschätzt,  wie  früher  der  Holländer  Beeckmann. 
Nachdem  das  Miss  Verständnis  aufgeklärt  worden  war, 
entspann  sich  zwischen  beiden  ein  reger  wissenschaft- 
licher Gedankenaustausch.  Mochte  auch  immerhin  Des- 
cartes, im  Besitze  seiner  neuen  mathematischen  Methode, 
mehr  der  gebende  Teil  sein,  mancherlei  hat  er  wohl 
trotzdem  von  dem  deutschen  Forscher  lernen  können. 
Faulhaber  beschäftigte  sich  damit,  Summenformeln  für 
die  Potenzen  der  aufeinanderfolgenden  Zahlen  (Quadrat- 
zahlen, Kubikzahlen  und  weiter  hinauf  bis  zur  elften 
Potenz)  festzustellen,  Untersuchungen,  die  schon  einen 
Einblick  in  die  Natur  der  Reihen  höherer  Ordnung 
voraussetzen. 

Schon  im  Monat  September  nahm  Descartes  von 
der  bayerischen  Stadt  Abschied.  Er  hatte  wieder  ein- 
mal Lust  bekommen,  etwas  gesellschaftliches  Leben 
mitzumachen.  In  Wien,  am  kaiserlichen  Hofe,  finden 
wir  ihn  wieder.  Aber  auch  hier  war  seines  Bleibens 
nicht  lange.  Er  kehrte  nach  kurzer  Zeit  wieder  zum 
Heere  nach  Böhmen  zurück.  Ob  er  die  Schlacht  am 
weissen  Berge  bei  Prag  mitgemacht  hat,  die  für  den 
unglücklichen  Friedrich  V.  von  der  Pfalz  so  verhäng- 
nisvoll wurde,  steht  nicht  mit  Sicherheit  fest.   Es  wäre 


64        Drittes  Kapitel :  Periode  d.  systemat.  Wissenschaftsforschung. 

dies  jedenfalls  der  erste  Kampf,  an  dem  er  sich  per- 
sönlich beteiligt  hätte.  Wie  es  auch  immer  gewesen 
sein  mag,  sicherlich  hat  er  sich  nach  der  Schlacht  in 
Prag  einige  Wochen  aufgehalten.  Während  die  Soldaten 
plünderten,  dachte  er  nur  daran,  seine  Kenntnisse  zu 
erweitern,  suchte  er  mit  dortigen  Gelehrten  in  Ver- 
bindung zu  treten.  Wenn  er  sich  hier  nach  dem  Ver- 
bleib der  astronomischen  Instrumente  des  berühmten 
Tycho  de  Brahe  erkundigt  hat,  so  entspricht  dies  ganz 
seiner  ausserordentlichen  Wissbegierde,  alles  Sehens- 
werte persönlich  in  Augenschein  zu  nehmen.  Descartes 
hätte  hierdurch  in  den  Verdacht  der  Äusserlichkeit 
kommen  können,  wenn  nicht  andere  Tatsachen  beweisen, 
wie  es  gerade  der  Geist  der  Gründlichkeit  und  Exakt- 
heit war,  der  ihn  hierzu  trieb.  Auch  in  naturwissen- 
schaftlichen Forschungen  hielt  er  es  ja  immer  nur  mit 
der  konkreten  Anschauung,  verliess  er  sich  nie  auf  die 
Experimente  anderer.  Alles  musste  er  nachprüfen,  von 
allen  Tatsachen  sich  persönlich  überzeugen,  wenn  anders 
sie  für  ihn  Wert  haben,  einen  Baustein  für  seine  Lebens- 
und Weltanschauung  bilden  sollten. 

Bis  Mitte  Dezember  blieb  unser  Philosoph  in  Prag. 
Eür  den  Rest  des  Winters  hielt  er  sich  bei  den  Truppen 
auf,  die  der  Herzog  von  Bayern  an  den  Grenzen  des 
mittleren  Böhmens  zurückgelassen  hatte,  so  wieder  ganz 
auf  sich  selbst  angewiesen  und  mit  den  wissenschaft- 
lichen Anwendungen  seiner  Methode  beschäftigt,  während 
die  Kameraden  um  ihn  herum  die  Zeit  mit  Trinken 
und  Spielen  totschlugen.  Wie  roh  das  Soldatenleben 
im  dreissigj ährigen  Kriege  war,  ist  ja  zur  Genüge  be- 
kannt. Descartes  hat  sicherlich  seine  ganze  Willens- 
kraft aufbieten  müssen,  um  sich  gegen  die  schädlichen 
Einflüsse  seiner  Umgebung  zu  schützen.  Es  liegt  etwas 
ausserordentliches  Bewundernswertes  und  Grosses  in 
diesem  Verhalten  des  jungen  Kriegers,  wie  er  allen 
feindlichen  Gewalten  zum  Trotz   dem   idealen  Wissens- 


Aufgabe  des  Soldatenlebens.  65 

drang,  der  ihn  so  mächtig  erfüllt,  sich  ganz  und  gar 
hingibt.  So  ist  ihm  dieses  Wunder  geglückt,  mitten 
in  der  Schreckenszeit  jenes  entsetzlichen  Krieges,  der 
für  die  damalige  Welt  nur  Tod  und  Verderben  bedeutete 
und  zur  Erstickung  der  geistigen  und  sittlichen  Kräfte 
führte,  in  seinem  eigenen  Geistesleben  eine  ausserordent- 
liche Bereicherung  und  Kräftigung  zu  erfahren,  wie  sie 
ihm  vielleicht  sonst  keineswegs  in  demselben  Masse  zu- 
teil geworden  wäre. 

Niemals  war  die  Wanderlust  in  unserem  Philo- 
sophen so  ausserordentlich  rege,  wie  gerade  in  diesen 
Jahren.  Zu  Anfang  des  Frühlings  1621  finden  wir  ihn 
in  Ungarn  als  Freiwilligen  im  Heereszuge  des  Grafen 
von  Bucquoy,  welcher  gegen  Bethlen  Gabor  gerichtet 
war,  der  die  Herrschaft  in  •  Ungarn  an  sich  gerissen 
hatte.  Im  Mai  wird  Pressburg  genommen.  Im  Juli 
begann  man  mit  der  Belagerung  von  Neuhäusel.  Hier 
fiel  jedoch  der  Oberbefehlshaber,  Graf  Bucquoy.  Die 
Kaiserlichen  zogen  infolge  dessen  ab,  und  gegen  Ende 
Juli  kehrt  Descartes  mit  einer  grossen  Schar  von 
Landsleuten,  die  sich  ebenfalls  am  Feldzuge  beteiligt 
hatten,  nach  Pressburg  zurück. 

15.  Vier  Jahre  lang  hatte  jetzt  Descartes  das 
Soldatenleben  mitgemacht.  Die  anfängliche  Liebe  zum 
Waffenberuf  mochte  wohl  jetzt  einer  gewissen  Gleich- 
gültigkeit gegen  denselben  Platz  gemacht  haben.  Es 
nimmt  dies  nicht  Wunder,  ist  doch  Descartes  im  Ver- 
laufe dieser  vier  Jahre  ein  anderer  Mensch  geworden. 
Die  systematische  Erforschung  der  Wissenschaften,  die 
er  sich  auf  Grund  seiner  Methode  als  Ziel  gesetzt  hatte, 
konnte  in  den  unbequemen  Situationen,  wie  sie  das 
Kriegsleben  mit  sich  bringt,  nur  sehr  schwer  und  mit 
grossen  Störungen  betrieben  werden.  Und  mochte  auch 
daneben  sein  Drang,  das  grosse  Buch  der  Welt  in  seinem 
ganzen    Reichtum   kennen   zu   lernen,    noch   keineswegs 

Hoffmann,  Descartes.  ^ 


66       Drittes  Kapitel :  Periode  d.  systemat.  Wissenschaftsforschung. 

vollständig  gestillt  sein,  so  konnte  doch  dieser  besser 
durch  eigene  und  selbständige  Reisen  befriedigt  werden, 
jetzt  wo  es  ihm  darauf  ankam,  dabei  auch  gleichzeitig 
Raum  für  seine  wissenschaftlichen  Neigungen  zu  ge- 
winnen. 

So  wird  es  uns  nicht  überraschen,  wenn  Descartes 
den  Waifendienst  aufgibt  und  fortan  Reisen  auf  eigene 
Hand  unternimmt,  dabei  keine  Gelegenheit  vorübergehen- 
lassend ,  die  es  ihm  ermöglicht,  seine  Weltkenntnisse 
zu  bereichern,  oder  seine  naturwissenschaftlichen  und 
mathematischen  Studien  zu  fördern.  Von  Ungarn  aus,  das 
er  noch  im  Juli  des  Jahres  1621  verlässt,  reist  er  nach 
Mähren,  von  dort  nach  Schlesien,  Breslau  und  allerhand 
andere  denkwürdige  Orte  werden  auf  der  Tour  berührt. 
Dann  zog  er  weiter  nach  Norddeutschland  und  lernte  auf 
diese  Weise  Brandenburg,  Mecklenburg  und  Holstein 
kennen.  Von  Deutschland  beabsichtigte  er  nun  noch 
die  Nordseeküste  kennen  zu  lernen.  Hierbei  hatte  er 
auf  der  Überfahrt  von  Ost-  nach  Westfriesland  ein  ge- 
fährliches Abenteuer  zu  bestehen,  das  ausserordentlich 
charakteristisch  für  die  Geistesgegenwart  und  den  per- 
sönlichen Mut  unseres  jungen  Helden  ist.  Die  Besatzung 
des  kleinen  Schiffes,  in  dem  er  die  Reise  machte,  war 
eine  habgierige  und  räuberische  Gesellschaft.  In  dem 
Glauben,  dass  Descartes  ihren  Dialekt  nicht  verstehe, 
unterhielten  sie  sich  darüber,  wie  sie  den  Fremden,  der 
nur  einen  Diener  bei  sich  hatte,  ausplündern  und  ins 
Meer  werfen  wollten.  Da  erhob  sich  Descartes  plötz- 
lich, zog  seinen  Degen  und  drohte  sie  auf  der  Stelle 
zu  durchbohren,  wenn  sie  es  wagten,  Hand  an  ihn  zu 
legen.  Auf  diese  Weise  jagte  er  dem  feigen  Gesindel 
einen  solchen  Schreck  ein,  dass  sie  ihn  unbehelligt 
Hessen. 

Nach  kurzem  Verweilen  in  Friesland  vertauschte 
Descartes  seinen  dortigen  Aufenthalt  mit  Holland,  dem 
Lande,    wo    er    seine     ersten    Kriegsjahre    zugebracht 


Reisen  in  Nordeuropa.  07 

hatte.  In  der  Residenzstadt  Haag  herrschte  zur  da- 
maligen Zeit  reges  gesellschaftliches  Leben.  Hier  fanden 
sich  die  Reichsstände  ein,  um  über  die  Angelegenheiten 
der  Republik  zu  verhandeln,  hier  residierte  der  Statt- 
halter Fürst  Moritz  von  Oranien,  unter  dem  unser 
Philosoph  gedient  hatte.  Auch  eine  Menge  fremder 
Adelspersonen  hatte  sich  in  der  Stadt  eingefunden. 
Einen  traurigen  Gegensatz  jedoch  zu  all  diesem  Grianz 
und  der  Pracht,  bildete  der  kleine  Hof  der  unglück- 
seligen Königin  von  Böhmen  ,  die  hier  eine  Zufluchts- 
stätte gefunden  hatte.  Wir  wissen  nicht,  ob  Descartes 
damals  mit  der  Königin  in  Berührung  gekommen  ist, 
wir  werden  aber  sehen,  wie  er  später  einer  der  besten 
Freunde  ihrer  ältesten  Tochter,  der  Prinzessin  Elisabeth, 
wird,  die  damals  noch  ein  kleines  Kind  war.  Descartes 
blieb  hier  einen  grossen  Teil  des  Winters.  Dann  aber 
hielt  er  es  nicht  mehr  länger  in  der  Fremde  aus.  Nur 
einige  Zeit  noch  verweilte  er  in  den  spanischen  Nieder- 
landen, um  den  Hof  von  Brüssel  kennen  zu  lernen,  dann 
aber  ging  es  heimwärts  nach  Frankreich,  das  er  seit 
neun  Jahren  verlassen  hatte.  Mitte  März  1622  kam 
unser  Philosoph  in  Rennes  an.  G-ross  war  die  Freude 
des  Vaters  beim  Wiedersehen  des  so  lange  .  Zeit  ent- 
behrten Sohnes.  Da  Descartes  jetzt  mündig  war,  wurde 
ihm  der  Besitz  der  ihm  zufallenden  Güter  übergeben. 
Neben  seinen  Verwandten  standen  unserem  Philosophen 
die  Freunde,  die  er  in  Paris  hatte,  am  nächsten,  und 
so  war  es  nur  natürlich,  dass  sein  nächstes  Reiseziel 
die  Hauptstadt  war.  Hier  wurde  er  von  allen  Seiten 
umringt  und  mit  Fragen  bestürmt,  über  die  politischen 
Verhältnisse  in  Deutschland,  über  seine  Reisen  und 
Erlebnisse.  Kurz  und  gut  über  alles  mögliche  musste 
er  Auskunft  geben.  Was  aber  die  neugierigen  Pariser 
vor  allen  Dingen  interessierte,  das  war  die  geheimnis- 
volle Verbindung  der  Rosenkreuzer,  über  die  sich  gerade 
damals    in    der    Stadt    alle    Welt    den   Kopf    zerbrach. 


(j8       Drittes  Kapitel:  Periode  d.  System at.  Wissenschaftsforschung. 

Schwerlich  haben  wohl  die  Pariser  von  unserm  Philo- 
sophen darüber  etwas  Genaueres  erfahren.  Zwei  Monate 
blieb  Descartes  in  der  Hauptstadt,  in  der  er  Ende 
Februar  1623  angekommen  war.  Wie  angenehm  auch 
diese  Zeit  für  ihn  verfliessen  mochte  im  Verkehr  mit 
den  alten  Bekannten  und  Freunden,  es  gingen  ihm  dabei 
auch  mancherlei  Sorgen  durch  den  Kopf.  Alle  seine 
gleichaltrigen  Kameraden  hatten  schon  einen  Beruf  er- 
wählt, nur  er  konnte  sich  hierzu  nicht  entschliessen. 
Zwar  hätte  es  sein  Vater  sicherlich  sehr  gerne  gesehen. 
Das  Ansehen  dieser  alten  adeligen  Familie  erforderte 
es,  dass  ihre  Mitglieder  auch  eine  dem  entsprechende 
höhere  Stellung  im  Civil-  oder  Militärdienste  des  Vater- 
landes einnahmen.  Der  Vater  selbst  war  Parlamentsrat 
zu  Rennes,  sein  ältester  Sohn  hatte  ebenfalls  die  richter- 
liche Carriere  gewählt.  Nur  unser  Philosoph  schwankte 
noch,  ob  er  sich  einem  festen  Berufe  widmen  sollte,  ob 
sich  dies  vereinen  liesse  mit  seinen  wissenschaftlichen 
Studien,  die  doch  einen  ganzen  Mann  für  sich  ver- 
langten.^) 

16.  Anfang  Mai  verliess  Descartes  Paris  und  be- 
mühte sich,  einen  grossen  Teil  der  ihm  zugefallenen 
Güter  zu  verkaufen.  Sodann  beschloss  er  eine  Reise 
nach  Italien  zu  unternehmen,  angeblich  um  die  Ange- 
legenheiten eines  verstorbenen  Verwandten  zu  ordnen 
und  um  womöglich  das  von  jenem  eingenommene  Amt 
eines  Armee-Intendanten  zu  erhalten.  In  Wirklichkeit 
aber  dachte  er  kaum  ernstlich  daran,  sich  um  diesen 
Posten  zu  bemühen,  wie  früher  war  es  ihn  auf  dieser 
Reise  hauptsächlich  um  die  Vervollständigung  seiner 
Welt-  und  Menschenkenntnisse  zu  tun. 


^)  Dass  deswegen  der  Vater  eine  Zeitlang  verstimmt  war,  ist 
wohl  möglich.  Eine  dauernde  Störung  des  guten  Verhältnisses 
zwischen  Vater  und  Sohn  anzunehmen,  dürfte  nicht  richtig  sein. 
(Archiv  f.  Gesch.  der  Philos.  XIII.  S.  571.) 


Italienische  Reise.     Paris.  69 

Im  Monat  September  trat  unser  Philosoph  seine 
Reise  an.  Ausserordentlich  fesselte  ihn  die  Tour  durch 
die  Alpen.  In  ihrer  Durchforschung  fand  sein  natur- 
wissenschaftlicher Sinn  vollauf  seine  Befriedigung. 
Überall  sah  er  Probleme ;  Tieren,  Gewässern,  Bergen, 
Winden,  allen  Dingen  suchte  er  ihr  Geheimnis  zu  ent- 
locken, der  Natur  den  Schleier  zu  entreissen,  der  über 
ihr  ausgebreitet  liegt.  Wir  können  es  uns  kaum  vor- 
stellen, mit  welchem  Enthusiasmus  sich  der  Philosoph 
diesen  Problemen  hingab,  hier  wo  ihm  die  Natur  in 
ihrer  ganzen  elementaren  Ursprünglichkeit  entgegentrat, 
und  wo  er  es  als  einer  der  ersten  wagte,  ihr  uner- 
schrocken und  mit  festem  Blick  in  das  rätselhafte,  un- 
ergründliche Antlitz  zu  schauen. 

Doch  bald  sollten  andere  Bilder  diese  Stimmungen 
in  den  Hintergrund  drängen.  Italien  war  erreicht. 
Jetzt  traten  wieder  die  Menschen,  und  ihr  Leben  und 
Treiben  in  den  Mittelpunkt  des  Interesses,  in  Innsbruck 
der  kaiserliche  Hof  Ferdinand  II.,  in  Venedig  die  Trau- 
ung des  Doffen  mit  dem  adriatischen  Meere.  Dann 
ging  es  weiter  hinunter  bis  nach  Rom,  wo  Descartes 
bis  zum  Anfange  des  Frühlings  1625  blieb,  bei  seinem 
modernen  Fühlen  sich  sicherlich  mehr  für  die  damaligen 
Bewohner  der  Weltstadt  und  ihre  Sitten  als  für  die 
alten  Kunstschätze,  die  in  ihr  aufgespeichert  lagen, 
interessierend. 

Auf  der  Heimreise  machte  er  noch  einmal  einen 
kleinen  Aufenthalt  in  den  Alpen.  Bei  Savoyen  misst 
er  die  Höhe  des  Gebirges.  Abermals  erwecken  seine 
Aufmerksamkeit  allerhand  naturwissenschaftliche  Pro- 
bleme, er  sinnt  nach  über  die  Entstehung  der  Gletscher, 
über  die  Natur  des  Donners  und  des  Blitzes,  über  das 
Phänomen  der  Wirbelwinde  und  dergleichen. 

Dass  unser  Philosoph  zur  damaligen  Zeit  keineswegs 
das  Interesse  für  das  Kriegswesen  vollständig  verloren  hat, 
zeigte  er  kurz  vor  dieser  zweiten  Alpentour,  wo  er  mit 


70       Drittes  Kapitel :  Periode  d.  systemat.  Wissenschaftsforschung. 

grosser  Aufmerksamkeit  einen  Teil  der  gegen  Genua 
gerichteten  kriegeriscken  Unternehmungen  beobachtete, 
an  denen  auch  Frankreich  beteiligt  war. 

17.  Im  Mai  des  Jahres  1625  kehrte  Descartes 
wiederum  nach  Frankreich  zurück.  Auch  jetzt  bot  sich 
ihm  abermals  eine  günstige  Gelegenheit,  in  einen  prak- 
tischen Beruf  einzutreten,  es  handelte  sich  um  einen 
höheren  richterlichen  Posten  zu  Chätellerault  (A.  I,  4). 
Aber  auch  diesmal  wies  er  das  Anerbieten  ab,  fest 
entschlossen,  nur  sich  und  seinem  Philosophenberufe  zu 
leben.  Zu  diesem  Entschlüsse  haben  wohl  auch  ein 
wenig  seine  Pariser  Freunde  beigetragen,  die  ihn  gerne 
in  ihrer  Nähe  haben  wollten.  Descartes  blieb  nun  auch 
wirklich  für  die  nächsten  drei  Jahre,  einige  wenige 
Unterbrechungen  ausgenommen,  in  der  Hauptstadt. 

Die  Zahl  seiner  hiesigen  Freunde  und  Bekannte 
hat  sich  in  dieser  Zeit  um  eine  beträchtliche  Anzahl 
vermehrt.  Unter  den  dauernden  Freundschaften,  die  er 
hier  geschlossen  hat,  wollen  wir  jetzt  einige  bedeutungs- 
volle hervorheben.  Da  ist  vor  allem  zu  nennen  ein 
Geistlicher,  der  Pater  Gibieuf,  der  zur  Gesellschaft  der 
Oratorianer  gehörte.  Dieser  Gelehrte  hatte  ein  ganz 
besonderes  Interesse  für  theologische  und  metaphysische 
Fragen.  Wir  wissen,  dass  unser  Philosoph  sich  jetzt 
noch  nicht  ernstlich  mit  der  Lösung  von  metaphysischen 
Problemen  beschäftigte.  Aber  diesem  Manne  hat  er 
sicherlich  viele  Anregungen  auf  diesem  Gebiete  zu  ver- 
danken (A.  I,  16).  Wir  ersehen  es  aus  seinen  Briefen, 
in  welch  dankbarer  Erinnerung  er  ihn  hält,  wie  er  sich 
freut  über  die  wesentliche  Übereinstimmung  in  ihren 
beiderseitigen  philosophischen  Grundanschauungen  (A.  I. 
16.  220.  IL  97.  III.  385). 

Unter  den  Descartes  nahestehenden  Pariser  Mathe- 
matikern sind  besonders  De  Beaune  und  Morin  wichtig. 
Ersterer    hat    sich   nicht    nur    einen    Namen    erworben 


Balzac.  71 

durch  die  Erläuterungen  zu  Descartes'  Geometrie,  er 
war  es  auch,  mit  dem  unser  Philosoph  mathematische 
Probleme  der  schwierigsten  Art,  die  schon  in  das  Gebiet 
der  Unendlichkeitsrechnung  hineinfallen,  zu  besprechen 
keinen  Anstand  nahm  (A.  II,  521.  541).  Morin  war  ein 
rückhaltsloser  Bewunderer  von  Descartes'  mathematischen 
Verdiensten,  späterhin  hat  er  in  höchst  taktvoller  Weise 
einige  Einwendungen  gegen  seine  physikalische  An- 
schauungen gemacht  (A.  I,  537). 

18.  Indessen  nicht  nur  mit  den  Pariser  gelehrten 
Kreisen  kam  der  Philosoph  damals  in  vielfache  Be- 
rührung, bei  seinem  feinfühlenden  Verständnis  für  die 
freie  schöpferische  Kraft  der  Phantasie  wird  es  uns 
nicht  in  Erstaunen  setzen,  wenn  wir  hören,  dass  er  auch 
mit  dem  Schriftsteller  Balzac,  der  damals  durch  seine 
„Briefe"  in  ganz  Frankreich  Aufsehen  und  Bewunderung 
erregte,  ein  herzliches  Freundschaftsbündnis  schloss. 
Wie  alle  Welt  so  war  auch  Descartes  entzückt  über 
den  glänzenden  Stil  des  gleichaltrigen  Freundes.  Aber 
auch  inhaltlich  haben  die  Schriften  Balzacs,  wie  wir 
wissen,  damals  seinen  vollen  Beifall  gefunden,  wie  fern 
es  ihm  auch  selbst  gelegen  hat,  in  einer  derart  rheto- 
rischen und  mehr  schöngeistigen  Manier  über  alle 
möglichen  Dinge  sich  auszulassen.  Ist  es  doch  über- 
haupt sehr  naheliegend,  dass  gerade  der  Philosoph 
besonderes  Gefallen  an  den  leichten  und  anmutigen 
Schöpfungen  der  Phantasie  finden  muss,  wenn  er  das 
Bedürfnis  fühlt,  sich  zu  erfrischen  und  auszuruhen  von 
der  strengen,  allen  sinnlichen  Schmuck  meidenden  ab- 
strakten Gedankenarbeit.  Hören  wir  Descartes  selbst, 
wie  er  über  seinen  Freund  urteilt,  „Mir  gefallen  die 
Briefe  Balzacs  so,  dass  ich  nicht  etwas  an  ihnen  an- 
geben kann,  was  besonders  zu  loben  sei,  wie  die  Ge- 
sundheit des  Körpers  dann  am  besten  ist,  wenn  sie 
kein  Empfinden  davon  zurücklässt;  sie  sind  schön,    wie 


72       Drittes  Kapitel:  Periode  d.  systemat.  Wissenschaftsforschung. 

eine  vollkommen  ebenmässige  und  proportionierte  Frauen- 
gestalt, deren  Schönheit  nicht  im  einzelnen  sich  dar- 
stellt, sondern  in  dem  vollkommenen  Ebenmasse  be- 
steht ....  Aus  einer  solchen  glücklichen  Harmonie 
zwischen  StoiF  und  Form  entspringt  eine  Anmut,  die 
von  derjenigen,  die  dem  Publikum  vorgetäuscht  wird, 
so  absticht,  wie  die  Farbe  eines  wohlgestalteten  edlen 
Mädchens  von  der  einer  zinnoberroten  und  geschminkten 
lüsternen  alten  Vettel"  (A.  I,  7  u.  8).  Wenn  Descartes 
in  seinen  Schriften  in  so  gewandter  Weise  mit  der 
französischen  Sprache  umzugehen  versteht,  so  mag  neben 
seiner  eigenen  stilistischen  Begabung  wohl  auch  das 
Beispiel  des  Freundes  anregend  auf  ihn  gewirkt  haben. 
In  Balzac  erkennt  er  unbedingt  den  Meister  des  Stils. 
Auch  seine  eigene  Ausdrucksweise  wird  phantasievoller 
und  erhält  mehr  Schwung  in  den  Briefen,  die  an  den 
Freund  gerichtet  sind,  gleichsam  als  schämte  er  sich 
seiner  einfachen  und  anspruchslosen,  dabei  aber  doch  so 
geschickten  und  anmutigen  Darstellungsgabe.  „Euch 
gegenüber  schäme  ich  mich  am  meisten  über  die  Rauhig- 
keit des  Stils  und  die  Einfachheit  der  Gredanken" 
(A.  I,  381),  schreibt  er  dem  Freunde,  als  er  ihm  sein 
erstes  für  die  Öffentlichkeit  bestimmtes  Werk,  den 
Discours  de  la  methode,  schickt. 

19.  Es  ist  selbstverständlich,  dass  der  Philosoph 
die  mannigfachen  Anregungen,  die  er  in  dieser  Zeit  von 
Freunden  und  Bekannten  erhielt,  nicht  bloss  passiv  auf- 
nahm. Er  benutzte  vielmehr  jede  Gelegenheit,  wo  er 
sich  den  Pflichten  des  gesellschaftlichen  Lebens  ent- 
ziehen konnte,  zur  weiteren  Ausbildung  und  Erweiterung 
seines  wissenschaftlichen  Horizonts.  Namentlich  seine 
optischen  Forschungen  suchte  er  in  dieser  Zeit  zu  ver- 
tiefen. Sein  alter  Freund  Mydorge,  der  ihm  schon  bei 
seinem  ersten  Pariser  Aufenthalt  als  wissenschaftlicher 
Berater  so  treu  zur  Seite  gestanden  hatte,    wurde   ihm 


Optische  Studien.     Pariser  Gesellschaft.  73 

auch  in  dieser  Zeit  von  unschätzbarem  Werte.  Ver- 
stand er  doch  ganz  vorzüglich  die  Kunst,  Gläser  zu 
schneiden  und  zu  schleifen,  eine  Fertigkeit,  die  für  den 
wissenschaftlichen  Optiker  geradezu  unentbehrlich  war. 
Ausserdem  machte  er  Descartes  auf  einen  geschickten 
Glasschleifer  Namens  Ferrier  aufmerksam.  Dieser  Mann 
hatte  sich  durch  den  Umgang  mit  den  beiden  Freunden 
auch  mancherlei  Kenntnisse  über  die  physikalischen  Gesetze 
der  Optik  angeeignet  und  wurde  ihnen  durch  seine  leichte 
Auffassungsgabe  und  gewandte  technische  Ausführung 
der  wissenschaftlichen  Apparate  geradezu  unentbehrlich. 
Es  war  nicht  Descartes'  Schuld,  wenn  Ferrier  später 
infolge  seiner  Unzuverlässigkeit  und  Unpünktlichkeit 
es  mit  seinen  Gönnern  verdarb  und  schliesslich  in  Armut 
und  Elend  geriet.  In  diese  Zeit  ist  nun  offenbar  die 
epochemachendste  Entdeckung  Descartes'  in  der  Optik 
zu  setzen,  nämlich  das  Lichtbrechungsgesetz.  Geht  ein 
Lichtstrahl  von  einem  Medium  in  ein  anderes  über,  so 
steht  der  Sinus  des  Einfallswinkels  zum  Sinus  des 
Brechungswinkels  in  einem  konstanten  Verhältnis.  Mit 
berechtigtem  Stolz  erwähnt  Descartes  diese  Entdeckung 
in  den  Hegeln  als  eine  unmittelbare  Frucht  seiner  neuen 
Wissenschaftslehre  (C.  XI,  241—42).  Die  komplizierte 
Natur  des  Lichts  wird  zunächst  nach  Analogie  der 
mechanischen  Bewegung  betrachtet.  Dann  gelingt  es 
ohne  weiteres  durch  Anwendung  der  in  der  Mechanik 
gültigen  Gesetze  der  Entdeckung  auf  die  Spur  zu 
kommen^)    (C.  V,  21  u.  f.).      Sogar    wenn    man    von    der 


')  Dass  Descartes  schon  während  seines  Pariser  Aufenthaltes  mit 
dem  Lichtbrechungsgesetz  vertraut  war,  geht  unmittelbar  aus  seinen 
Briefen  an  Ferrier  hervor.  Man  hat  behauptet,  Descartes  habe  das 
Gesetz  den  Manuskripten  des  Physikers  Snellius  entlehnt.  Diese 
Behauptung  lässt  sich  nicht  nur  nicht  mit  dem  Avahrheitsliebenden 
Charakter  des  Philosophen  vereinen,  auch  der  einzige  positive  Zeuge, 
der  dafür  aufzuweisen  ist,  nämlich  J.  Voss,  ist  unzuverlässig.  Denn 
er  war  nicht  nur  auf  Descartes  schlecht  zu  sprechen,  weil  er  in  ihm 


74       Drittes  Kapitel:  Periode  d.  systeraat.  Wissensehaftsforschung. 

tatsächliclien  Feststellung  des  Gesetzes  absieht,  die 
tiefsinnige  theoretische  Ableitung  desselben  bedeutet 
allein  schon  eine  grosse  Leistung,  die  es  offenbar  werden 
lässt,  dass  Descartes  ein  weit  tieferes  und  klareres 
Verständnis  von  der  iSIatur  dieser  Erscheinung  gehabt 
hat,  als  der  Holländer  Snellius,  der  das  Gesetz  auf  rein 
empirischem  Wege  gefunden  und  es  dazu  nicht  einmal 
in  einer  so  einfachen  Form  wie  unser  Philosoph  dar- 
gestellt hat. 

20.  Neben  den  wissenschaftlichen  Arbeiten  war 
Descartes  auch  durch  das  gesellschaftliche  Leben  in 
Paris  nicht  wenig  in  Anspruch  genommen.  Wir  haben 
es  ja  schon  früher  gesehen,  wie  er  dank  seiner  adeligen 
Abkunft  Zutritt  zu  den  höchsten  Kreisen  hatte.  So 
finden  wir  ihn  auch  jetzt  häufig  am  königlichen  Hofe 
zu  Fontainebleau.  Die  sinnreich  ausgedachten  Ma- 
schinen, durch  die  in  den  Grotten  und  Fontänen  des 
dortigen  Parkes  die  verschiedenen  Wasserkünste  ge- 
trieben wurden,  haben  den  nachdenklichen  Philosophen 
vielleicht  oft  mehr  unterhalten  als  die  Hofgespräche, 
er  benutzt  sie  in  seinem  Werke  über  die  Natur  des 
Menschen,  um  an  ihnen  zu  veranschaulichen,  wie  im 
organischen  Körper  durch  eine  einzige  Kraft  die  mannig- 
fachsten Arbeitsleistungen  hervorgebracht  werden  können 
(C.  IV,  347). 

Bei  der  grossen  Gewandtheit  und  dem  weltmän- 
nischem Takt,  die  unser  Philosoph  durch  seine  vielen 
Keisen  erworben  hat,  muss  er  auch  sicherlich  ein  an- 
genehmer Gesellschafter  gewesen  sein.  Man  rühmt  ihm 
nach,  dass  er   sich   mit   Frauen    besonders  o;erne  unter- 


am  Hofe  der  Königin  Christine  von  Sclrweden  seinen  Rivalen  sah, 
er  besass  auch  aussei'dem  eine  wahrhaft  kindische  Leichtgläubigkeit. 
So  soll  König  Karl  II.  eines  Tages  von  ihm  gesagt  haben:  ,Voila 
un  etrange  savant,  11  croit  tout  hors  la  Bible".  Vergleiche  auch  die. 
Arbeiten  von  P.  Kramer  (1882)  und  D.  J.  Korteweg  (1896). 


Belagerung  von  La  Rochelle.  75 

halten  habe  (P.  Borelli  3).  Sicherlich  wurde  er  von 
den  Damen  sehr  gerne  gesehen,  jung  und  vornehm  wie 
er  war,  dazu  noch  umgeben  von  dem  romantischen 
Nimbus,  wie  ihn  durchgemachte  Kriegs-  und  Reise- 
abenteuer stets  hervorzurufen  pflegen.  Indessen  genau 
so  wenig  wie  zur  Übernahme  eines  festen  Berufes  hat 
er  sich  zur  Heirat  entschliessen  können  (Baillet  II,  501). 
In  einer  Gresellschaft  soll  er  einmal  gesagt  haben,  eine 
schöne  Frau,  ein  gutes  Buch  und  ein  vollkommener 
Prediger  gehören  zu  den  Dingen,  die  am  schwierigsten 
aufzufinden  seien. 

21.  Wie  grosse  Mühe  sich  auch  der  Philosoph  gab, 
Ruhe  und  innere  Sammlung  zum  fruchtbaren  Arbeiten 
in  Paris  zu  finden,  es  gelang  ihm  mit  der  Zeit  immer 
weniger,  denn  von  Tag  zu  Tag  vergrösserte  sich  der 
Freundes-  und  Bekanntenkreis,  der  sich  um  ihn  scharte. 
So  entschloss  er  sich  endlich,  zu  feinfühlig  wie  er  war, 
die  Leute  direkt  abzuweisen,  zu  dem  Zufluchtsmittel 
zu  greifen,  das  er  schon  bei  seinem  ersten  Aufenthalt 
in  der  Hauptstadt  benutzt  hatte,  eine  einsame  und  ver- 
steckte Wohnung  zu  nehmen,  um  so  im  verborgenen  erfolg- 
reicher arbeiten  zu  können.  Indessen  es  half  ihm  nichts. 
Nach  einigen  Wochen  wurde  er  wieder  entdeckt.  Da 
beschloss  er,  off'enbar  weil  er  in  Paris  doch  nichts 
Rechtes  anfangen  konnte,  nach  La  Rochelle  zu  reisen, 
um  sich  die  Belagerung  dieser  Festung  anzusehen,  die 
schon  im  Spätherbst  des  Jahres  1627  begonnen  worden 
war.^) 

Die  Hugenotten  nämlich  waren  wieder  einmal  im 
Aufstand  begriff'en.  Sie  hatten  den  Krieg,  den  Frank- 
reich mit  England   augenblicklich   führte,    benutzt   und 


')  Thouverez,  dessen  im  Archiv  f.  Gesch.  d.  Philos,  zusammen- 
gestelltes biographisches  Material  recht  interessant  ist,  glaubt,  dass 
Descartes'  Anwesenheit  in  La  Rochelle  nicht  ganz  sicher  festzustellen 
sei.     Er  bringt  jedoch  keinen  zwingenden  Gegenbeweis. 


76       Drittes  Kapitel:  Periode  d.  systemat.  Wissenschaftsforschung. 

sicli  den  Feinden  angeschlossen.  Ihr  Wohl  und  Wehe 
hing  von  der  Widerstandsfähigkeit  der  Festung  La 
Rochelle  ab.  Descartes  beteiligte  sich  selbst  als  Frei- 
williger an  dem  Kampfe  gegen  die  Rebellen  und  be- 
obachtete mit  lebhaftem  Interesse  die  technischen  Kunst- 
griife,  mit  denen  man  die  Einschliessung  der  Stadt 
ermöglichte.  Durch  einen  mächtigen  Pallisadenring, 
der  aus  versenkten  Schiffen,  Pfahlwerk,  Quadersteinen 
etc.  hergestellt  wurde,  gelang  es  die  Einfahrt  in  den 
Hafen  total  zu  sperren,  so  dass  sich  alle  Entsatzversuche 
der  Engländer  als  aussichtslos  erwiesen.  Da  nun  auch 
zu  Lande  die  Festung  durch  eine  Reihe  von  Forts  um- 
geben und  von  Truppenmassen  eingeschlossen  wurde, 
so  zwang  schliesslich  der  Hunger  zur  Übergabe.  Am 
ersten  November  1628  zog  das  siegreiche  Heer  in  die 
Stadt  ein.  Die  ausgehungerte  Einwohnerschaft  erweckte 
einen  kläglichen  und  mitleiderregenden  Eindruck.  Es 
war  hier  das  letzte  Mal,  dass  sich  Descartes  an  einem 
Kampfe  beteiligte.  In  dem  Masse  als  er  älter  wurde, 
nahm  das  Interesse  am  Kriegswesen  ab  (A.  II,  480)  und 
machte  schliesslich  sogar  einer  gewissen  Abneigung 
Platz.  „Ich  vermag  kaum  das  Kriegshandwerk  unter 
die  ehrenhaften  Berufszweige  zu  rechnen"  heisst  es  in 
einem  Briefe,  den  er  in  seinen  letzten  Lebensjahren 
geschrieben  hat  (A.  V,  557). 

22.  Descartes  reiste  nach  der  Übergabe  der  Festung 
wieder  nach  Paris  zurück,  an  der  weiteren  Nieder- 
werfung der  Hugenotten  sich  nicht  mehr  beteiligend. 
Unmittelbar  nach  seiner  Ankunft  wurde  er  zu  einem 
grossen  Gesellschaftsabend  beim  Nuntius  des  Papstes 
eingeladen,  dessen  Verlauf  für  seine  weitere  philoso- 
phische Entwicklung  recht  bedeutsame  Folgen  haben 
sollte.  In  der  Gresellschaft  erregte  ein  Mann  Namens 
Chandoux  grosses  Aufsehen.  Er  war  seines  Zeichens 
ein  Chemiker,  spielte  sich  als  ein   Reformator  der  Phi- 


Unvollkommenheit  der  Wissenschaftslehre.  77 

losophie  auf  und  wurde  nicht  müde,  auf  Aristoteles  und 
die  Scholastiker  zu  schimpfen.  In  Wirklichkeit  war  er 
ein  Schwadroneur  und  ein  grosser  Flachkopf.  Trotzdem 
hatte  er  Glück  mit  seinen  nichtssagenden  Redensarten. 
Denn  wie  in  jeder  Übergangszeit  herrschte  auch  damals 
in  den  Köpfen  eine  grosse  Verwirrung,  man  war  nicht 
mehr  fähig,  das  Echte  vom  Unechten  zu  unterscheiden 
und  jubelte  einem  jeden  zu,  der  auf  die  alten  Zustände 
schimpfte,  mochte  er  auch  ein  noch  so  grosser  Hohlkopf 
sein.  Descartes,  der  allein  in  der  Gesellschaft  den 
Prahlhans  durchschaute,  beteiligte  sich  nicht  an  den 
allgemeinen  Beifallskundgebungen.  Sein  Benehmen  fiel 
auf,  und  schliesslich  musste  er,  so  unangenehm  es  ihm 
auch  war,  einen  Menschen  blosszustellen,  seine  Anschau- 
ung über  das  eben  Gehörte  mitteilen.  Er  machte  darauf 
aufmerksam,  wie  vergeblich  es  sei,  aus  blossen  Ver- 
mutungen eine  Philosophie  aufzubauen  und  Hess  dabei 
den  Charakter  seiner  eigenen  wissenschaftlichen  Methode 
durchblicken.  Der  in  dieser  Weise  entlarvte  Chandoux 
hat  übrigens  späterhin  ein  klägliches  Ende  gefunden. 
Der  „Reformator  der  Philosophie"  hatte  nämlich  mit 
der  Zeit  Geschmack  an  einem  einträglicheren  Berufe  ge- 
funden. Er  verlegte  sich  auf  die  Falschmünzerei,  wurde 
aber  dabei  ertappt  und  musste  seine  Schwindeleien  mit 
dem  Tode  büssen. 

Als  Descartes  an  jenem  Abende  einem  grösseren 
Kreis  von  Zuhörern  einen  flüchtigen  Einblick  in  das 
Wesen  seiner  wissenschaftlichen  Methode  ermöglicht 
hatte,  war  er  vielleicht  der  einzige,  der  mit  dem  Bei- 
fall und  der  Bewunderung,  die  ihm  gezollt  wurde,  nicht 
recht  zufrieden  war.  Sein  bisheriger  agnostischer  Stand- 
punkt den  allgemeinen  philosophischen  Problemen  gegen- 
über genügte  ihm  nicht  mehr.  „Neun  Jahre  waren 
vergangen  (seit  der  methodischen  Selbstbesinnung) 
und  noch  hatte  ich  zu  keinem  Probleme,  wie  sie  unter 
den    Gelehrten    diskutiert    werden,    feste    Stellung    ge- 


78       Drittes  Kapitel:  Periode  d.  systemat.  Wissenschaftsforschung. 

nommen,  oder  versucht,  sicherere  Grundlagen  aufzufinden, 
als  sie  die  gewöhnliche  Philosophie  besitzt"  (C.  I,  155). 
Und  doch  wurden  seine  metaphysischen  Bedürfnisse, 
die  er  bis  jetzt  nur  leise  gefühlt  oder  mit  G-ewalt 
zurückgedrängt  hatte,  immer  dringender,  mahnten  ihn 
immer  gebieterischer  an  ihre  Befriedigung.  Ein  echt 
faustischer  Drang  nach  den  letzten  Quellen  der  Er- 
kenntnis lebte  in  unserem  Philosophen,  und  nur  seiner 
ausserordentlichen  Selbstdisziplin  war  es  gelungen,  ihn 
bisher  zurückzuhalten,  um  den  Gefahren  zu  entgehen, 
in  leere  metaphysische  Spekulationen  hineinzugeraten 
(C.  I,  145).  Sollte  er  nun  immer  noch  zögern,  die  grossen 
Probleme  der  Philosophie  in  Angriff  zu  nehmen,  sich 
weiter  auf  die  Erforschung  der  konkreten  Wissenschaften 
beschränken.  Aber  selbst  auf  letzterem  Gebiete  musste 
er  schliesslich  einmal  zu  Fragen  rein  metaphysischer 
Natur  Stellung  nehmen,  ob  es  in  der  Natur  einen  leeren 
Raum  gibt  oder  nicht,  worin  das  Wesen  der  Materie 
besteht  und  dergleichen.  Die  Methodenlehre  musste 
hier  natürlicher  Weise  versagen,  nur  zur  Lösung  von 
Problemen,  die  sich  auf  empirischem  Wege  feststellen 
lassen,  konnte  sie  die  Anleitung  geben. 

Wenn  unser  Philosoph  selbst  noch  schwankte,  ob  er 
die  gehörige  Reife  für  sein  grosses  Unternehmen  schon 
besässe,  so  musste  ein  Ereignis  wie  der  vorher  ge- 
schilderte Gesellschaftsabend  ihn  immer  mehr  zu  einem 
festen  Entschluss,  zur  ernsten  Inangriifnahme  der  me- 
taphysischen Probleme  drängen.  Musste  doch  sein 
Auftreten  den  Eindruck  erwecken,  als  ob  er  schon  im 
Besitze  fester  philosophischer  Prinzipien  wäre,  während 
in  Wirklichkeit  davon  noch  nicht  die  Rede  war.  „Ich 
war  aber  zu  aufrichtig,  um  für  mehr  gelten  zu  wollen, 
als  ich  wirklich  war,  und  ich  dachte,  dass  ich  mit  allen 
Mitteln  versuchen  musste,  mich  des  Rufes,  den  ich  hatte, 
würdig  zu  erweisen"  (C.  I,  156).  Es  wird  sich  zeigen, 
wie  ernsthaft  Descartes  die  Ausführung  seiner  Pläne  in 


Unvollkommenheit  der  Wissenschaftslehre.  79 

die  Hand  nahm.  Der  eben  zitierte  Ausspruch  ist  übrigens 
wieder  recht  kennzeichnend  für  unsern  Philosophen. 
Bescheiden  wie  er  ist,  glaubt  er,  dass  er  sich  vor  der 
Welt  entschuldigen  muss,  weil  er  als  dreiunddreissig- 
j ähriger  Mann  es  schon  wagte,  an  die  Probleme  der 
Metaphysik  heranzutreten,  wo  er  doch,  wie  kaum  neben 
ihm  ein  anderer,  erst  nach  einer  sehr  langen,  methodisch 
ausgenutzten  Vorbereitungszeit  die  nötige  Reife  für  das 
ojrosse  Unternehmen  zu  besitzen  glaubte. 


Viertes  Kapitel. 


Grundlegung  der  Metaphysik. 

1.  "Wir  haben  es  bei  unserem  Philosopben  scliün 
seit  seiner  Kindheit  beobachtet,  wie  er  das  Bedürfnis 
hatte,  sich  zeitweilig  von  seiner  Umgebung  vollständig 
abzuschliessen,  um  nur  sich  und  seinen  Gedanken  leben 
zu  können.  Schon  als  Knabe  wurden  für  ihn  die  ein- 
samen Stunden,  die  er  morgens  in  seinem  Bett  zubrachte 
die  Zeiten  der  fruchtbarsten  Selbstbetätigung,  aber  auch 
als  er  die  Schule  verlassen  und  die  Welt  von  Grund 
auf  kennen  zu  lernen  bemüht  war,  hat  er  die  Einsam- 
keit nie  ganz  und  gar  missen  können.  Im  Gegenteil, 
sie  ist  ihm  geradezu  unentbehrlich  geworden,  um  die 
Anregungen,  die  ihm  das  Leben  bot,  zu  verarbeiten  und 
um  seine  Weltanschauung  immer  mehr  zu  vertiefen. 
Ich  brauche  nur  zu  erinnern  an  die  Zeit,  die  er  im 
Winterquartier  an  der  Donau  zubrachte,  die  doch  so 
ausserordentlich  wertvoll  für  seine  geistige  Entwicklung 
geworden  ist.  Kein  Wunder  also ,  wenn  gerade  jetzt, 
wo  es  für  ihn  galt,  die  Grundlagen  all  unseres  Wissens 
aufzusuchen  und  den  letzten  metaphysischen  Grund  aller 
Dinge  zu  entdecken,  das  Bedürfnis  nach  Einsamkeit 
sich  in  seiner  ganzen  Stärke  geltend  machte.  Paris 
weiterhin  als  Aufenthaltsort  zu  wählen,  daran  war 
natürlich  nicht  zu  denken,  aber  auch  das  übrige  Frank- 
reich schien  Descartes  für  seine  Absichten  nicht  der 
geeignetste  Platz  zu  sein,  war  er  doch  auch  hier  nirgends 


Die  Zustände  in  Holland.  81 

sicher,  von  Freunden  und  Bekannten  besucht  und  ge- 
stört zu  werden.  So  beschloss  er  denn  ins  Ausland 
zu  gehen.  Die  vereinigten  Niederlande,  in  denen  er 
seine  ersten  Kriegsjahre  verlebt  hatte,  schienen  ihm  für 
seine  Zwecke  am  geeignetsten  zu  sein.  Das  freiheitlich 
gesinnte  Holland  war  damals  in  kräftigem  Aufstreben 
begriffen.  Durch  seine  erfolgreichen  Kämpfe  mit  Spa- 
nien hatte  es  sich  die  Hochachtung  von  ganz  Europa 
erworben.  Im  Innern  herrschte  ein  rühriger  Eifer. 
Alle  Energie  wurde  darauf  verwandt,  die  Kultur  und  den 
Reichtum  des  Landes  zu  vermehren.  Nicht  zum  wenigsten 
trugen  hierzu  die  kolonialen  Erwerbungen  bei.  Die 
Gesellschaft,  die  zur  Ausbeutung  der  kolonialen  Pro- 
dukte gegründet  war,  konnte  ihren  Aktionären  durch- 
schnittlich zwanzig  Prozent  Dividende  zahlen,  in  sehr 
guten  Jahren  sogar  bis  zu  fünfundsiebzig  Prozent 
(Lamprecht).  Amsterdam,  das  sich  im  siebzehnten  Jahr- 
hundert im  Verlaufe  von  fünfzig  Jahren  um  das  doppelte 
vergrösserte,  besass  die  grösste  Bank  der  Welt,  in 
deren  Kellereien  zur  Zeit  des  Westfälischen  Friedens 
dreihundert  Millionen  Mark  in  Metall  lagen,  eine  für 
die  damalige  Zeit  ganz  ungeheuere  Summe.  Neben  der 
materiellen  Kultur  hatte  aber  auch  die  geistige  einen 
mächtigen  Aufschwung  genommen.  In  diesem  Jahr- 
hundert und  grossenteils  noch  als  Zeitgenossen  unseres 
Philosophen  lebten  und  wirkten  die  Koryphäen  hollän- 
discher Kunst  und  Wissenschaft,  Willebrod  Snellius  und 
Simon  Stevin,  Franz  Hals  und  Rembrandt.  Es  mochte 
aber  wohl  neben  allen  diesen  grossen  Vorzügen  noch 
etwas  anderes  sein,  was  Descartes  an  diesem  auf- 
blühenden Staatenwesen  so  sympathisch  berührte,  näm- 
lich die  ausserordentliche  Gründlichkeit  und  Solidität, 
die  so  unzertrennlich  mit  dem  holländischen  National- 
charakter verknüpft  ist.  In  diesem  Lande  herrschte  ganz 
im  Gegensatz  zu  dem  damals  so  unruhigen  und  skeptisch 
gesinnnten  Frankreich  ein  nach  innerer  Festigkeit  und 

Hoffmann,  Descartes.  O 


82  Viertes  Kapitel:  Grundlegung  der  Metaphysik. 

Dauerhaftigkeit  strebender  G-eist.  Hier  konnte  Des- 
cartes  mehr  als  anderswo  die  innere  Ruhe  und  Sicherheit 
finden,  deren  er  bedurfte,  um  der  modernen  Philosophie 
ihre  festen  und  ehernen  Grundlagen  errichten  zu  können. 

2.  In  einem  abgelegenen  kleinen  Schlosse  der  Stadt 
Franeker,  das  von  der  übrigen  Stadt  durch  einen 
Graben  getrennt  war,  finden  wir  unsern  Philosophen 
im  Sommer  des  Jahres  1629  wieder,  nachdem  er  den 
vergangenen  Winter  auf  dem  Lande  irgendwo  in  Frank- 
reich zugebracht  hatte,  um  sich  gegen  das  kältere 
holländische  Klima  im  voraus  abzuhärten.  In  der  tiefen 
Ruhe  und  Abgeschiedenheit,  die  ihn  hier  umgab,  keimten 
in  seinem  G-eiste  die  ersten  metaphysischen  Gedanken. 
Bisher  war  all  sein  Forschen  trotz  aller  Zweifel  und 
Selbstkritik  im  letzen  Grunde  genommen  doch  dogmatisch 
geblieben.  Wohl  hatte  er  zwischen  sich  und  den  scho- 
lastischen Gelehrten  innerlich  schon  längst  alle  Bande 
gelöst,  hatte  sich  den  neuen  wirkliches  Leben  in  sich 
enthaltenden  naturwissenschaftlichen  Ideenbildungen  voll 
und  ganz  hingegeben,  selbst  mit  genialem  Blick  um  ihre 
Weiterentwicklung  bemüht,  innere  Sicherheit  zu  diesen 
seinen  Unternehmungen  schöpfend  aus  seiner  neuen 
Wissenschaftslehre.  Allein  was  für  eine  Fülle  von 
ungeprüften  Voraussetzungen  waren  in  dieser  wissen- 
schaftlichen Position  noch  enthalten.  Mit  naivem  Sinne 
wird  die  Natur  in  ihrer  Totalität  untersucht,  ohne  dass 
sich  der  Forscher  sein  eigenes  Verhältnis  zu  ihr  klar 
gemacht  hat.  Farbe,  Ton  und  Licht  werden  ohne 
weiteres  als  sekundäre  Eigenschaften  der  Dinge  be- 
trachtet und  von  dem  Physiker  eliminiert  zu  Gunsten 
der  leichter  vergleichbaren  und  mathematisch  fassbaren 
Eigenschaften  der  Gestalt,  Grösse  und  Lage,  aus  keinen 
anderen  Gründen  als  den  ebengenannten  und  bloss 
empirisch  aufgerafften  der  leichteren  und  bequemeren 
wissenschaftlichen  Handhabuno:.     Aber  selbst  wenn  wir 


Verwerfung  der  dogmatischen  Voraussetzungen.  83 

von  allen  diesen  Fragen  absehen,  auch  das  oberste 
Kriterium  aller  Forschung,  war  dogmatisch  und  an- 
fechtbar. „Wahr  ist  alles  das,  was  klar  und  deutlich 
ist".  Darf  der  echte  Wahrheitsforsoher  wirklich  diesen 
Satz  als  selbstverständlich  und  unmittelbar  einleuchtend 
hinnehmen.  Woher  wissen  wir  denn,  ob  unser  Verstand 
wirklich  das  Recht  hat ,  über  die  Dinge  ein  entschei- 
dendes Urteil  zu  fällen.  Mag  eine  Sache  uns  noch  so 
sehr  einleuchtend  erscheinen,  ist  dadurch  allein  schon 
ihre  objektive  Realität  verbürgt.  Keineswegs.  Unser 
Verstand  ist  vielleicht  zu  schwach,  um  die  Dinge  richtig 
zu  beurteilen,  und  wenn  wir  davon  absehen,  vielleicht 
hat  gar  ein  böser  Dämon  uns  erschaffen  und  unsern 
Geist  so  eingerichtet,  dass  er  stets  in  seinen  Urteilen 
irren  muss.  Du  glaubst  es  nicht,  du  berufst  dich  auf 
den  allgütigen  Gott,  der  die  Welt  ins  Leben  gerufen 
hat.  Aber  was  weisst  du  denn  Sicheres  von  Gott,  wie 
kannst  du  es  wagen,  über  seine  Eigenschaften  oder  seine 
Existenz  auch  nur  das  Geringste  auszusagen.  Die  Lage, 
in  der  sich  Descartes  befindet,  scheint  verzweifelt  zu 
sein.  Wenn  der  ganze  Boden  unter  den  Füssen  schwankt, 
wie  ist  es  da  noch  möglich,  einen  sicheren  Stützpunkt 
zu  finden.  Nichtig  und  wertlos  scheint  all  das  Wissen 
zu  sein,  das  sich  unser  Philosoph  durch  seinen  rastlosen 
Forschungseifer  angeeignet  hat.  Beruht  es  doch  auf 
unbewiesenen  Voraussetzungen,  ist  doch  die  Methode, 
die  ihm  zu  Grunde  liegt,  dem  tiefsten  Zweifel  ausge- 
setzt. Indes  verlieren  wir  den  Mut  noch  nicht.  Zuviel 
steht  ja  auf  dem  Spiel,  als  dass  es  nicht  leichtsinnig 
wäre,  die  Waffen  ohne  weiteres  von  sich  zu  werfen. 
Unsere  wissenschaftliche  Methode  hat  sich  doch  als  so 
fruchtbar  im  Gebiete  der  Wissenschaften  erwiesen,  und 
wenn  wir  uns  die  früheren  Ereignisse  ins  Gedächtnis 
rufen,  unmittelbar  bevor  Descartes  seine  Methode  er- 
sann, befand  er  sich  ja  auch  in  einer  sehr  schwierigen 
Situation,  mag  sie  auch  nicht  mit   der  jetzigen  zu  ver- 


84  Viertes  Kapitel:  Grundlegung  der  Metaphysik. 

gleiclien  sein.  Vielleicht  bedarf  es  nur  einer  Vertiefung, 
einer  Verinnerlichung  der  alten  Methode,  um  sie  der 
jetzigen  Lage  anzupassen.  Erinnern  wir  uns,  wie  rat- 
los wir  den  Problemen  der  Mathematik  gegenüberge- 
standen hatten.  Wie  wir  aber  ihrer  Herr  wurden,  wie 
wir  die  verschiedenen  räumlichen  Qualitäten  mitein- 
ander in  Beziehung  bringen  konnten,  nachdem  wir  sie 
unter  dem  Gesichtspunkte  von  einfachen  algebraischen 
Grössen  betrachtet  hatten.  Ahnlich  erging  es  uns  in 
der  Physik.  Auch  hier  brachten  wir  einen  wissen- 
schaftlichen Zusammenhang  in  die  Fülle  der  sinnlichen 
Eigenschaften  hinein,  indem  wir  sie  unter  ganz  einfache 
Gesichtspunkte  brachten,  indem  wir  uns  nur  um  die 
Änderung  der  Form,  Lage  und  Gestalt  der  Körper 
kümmerten,  in  der  festen  Überzeugung,  dass  durch  sie 
auch  die  ganze  Mannigfaltigkeit  der  sinnlichen  Eigen- 
schaften hinreichend  bestimmt  sei.  Bei  allen  diesen 
Fragen  handelte  es  sich  freilich  nur  um  die  Wissen- 
schaften, ein  relativ  sehr  beschränktes  Gebiet  verglichen 
mit  dem  des  Philosophen,  der  es  mit  der  ganzen  Welt 
zu  tun  hat.  Allein  auch  der  Philosoph  vermag  die 
Dinge  in  einen  festen  Zusammenhang  miteinander  zu 
bringen.  Mag  alles  um  uns  herum  dem  Zweifel  ausge- 
setzt sein,  mag  die  Aussenwelt,  ja  sogar  mein  eigener 
Körper  ein  Wahngebilde  sein,  das  kann  doch  nicht  be- 
stritten werden,  dass  ich  selbst,  der  ich  über  alle  diese 
Dinge  reflektiere,  existiere,  existiere  als  ein  bewusstes 
Wesen  begabt  mit  dem  Vermögen  zu  wollen,  zu  em- 
finden  und  zu  denken.  Von  dieser  unmittelbar  ein- 
leuchtenden Tatsache  müssen  wir  ausgehen,  kümmern 
wir  uns  vorläufig  garnicht  um  die  Existenz  der  Dinge 
da  draussen,  sondern  halten  wir  uns  an  das  einzig  un- 
mittelbare Gewisse,  an  das  Bewusstsein  und  seinen 
inneren  Reichtum  an  Vorstellungen.  Ob  da  draussen 
etwas  Farbiges  und  Ausgedehntes  existiert,  das  weiss 
ich    nicht,    aber    dass    ich   in    meinem    Bewusstsein    die 


Metaphysische  Grundlegung.  85 

Vorstellung  von  farbigen  und  ausgedehnten  Objekten 
habe,  wer  wagt  das  ernstlich  zu  bestreiten?  Wie  wir 
in  der  Physik  von  den  qualitativen  Eigenschaften  der 
Dinge  abgesehen  haben  und  nur  die  quantitativen  ma- 
thematisch bestimmbaren  in  Betracht  gezogen  haben, 
so  kümmern  wir  uns  bei  unserem  jetzigen  Unternehmen 
nicht  um  die  Existenz  der  Dinge  und  betrachten  sie 
nur  als  Vorstellungen  unseres  Bewusstseins.  Über  unsere 
Vorstellungswelt  sind  wir  Herr,  wer  will  es  wagen, 
uns  diesen  Besitz  zu  entreissen.  Besichtigen  wir  nun 
unser  kleines  Königreich,  wir  werden  sehen ,  es  birgt 
in  sich  Kräfte  genug,  um  die  ganze  übrige  uns  verloren 
gegangene  Welt  wieder  zu  erobern.  Neben  unmittelbar 
evidenten,  aber  rein  formalen  logischen  Sätzen,  die  wir 
in  unserer  Bewusstseinswelt  antreffen,  enthält  sie  in 
sich  die  Vorstellung  von  einem  allervollkommensten 
Wesen.  Diese  Vorstellung  birgt  aber  eine  solche  uner- 
messliche  Grösse  in  sich,  dass  ihre  tatsächliche  Existenz 
in  meinem  endlichen  Bewusstsein  nur  zu  erklären  ist 
durch  die  Annahme,  dass  ein  allervollkommenstes  Wesen 
d.  h.  Gott  wirklich  existiert,  denn  nur  er  allein  ist  im 
stände,  diese  alles  Endliche  übersteigende  Idee  meinem 
Bewusstsein  einzudrücken.  Jetzt  ist  die  schwerste  Ar- 
beit bereits  vollbracht.  Sind  wir  einmal  der  Existenz 
Gottes  sicher,  so  folgt  daraus  auch  unmittelbar  die 
Realität  der  Aussenwelt.  Denn  wären  unsere  Sinnes- 
empfindungen weiter  nichts  als  blosse  Vorstellungen, 
entspräche  ihnen  kein  reales  äusseres  Objekt,  so  wäre 
ja  Gott  ein  Betrüger,  wäre  also  nicht  mehr  das  alier- 
vollkommenste  Wesen,  als  das  wir  ihn  doch  mit  Sicher- 
heit erkannt  haben.  Freilich  nicht  alles,  was  wir  in 
der  Aussenwelt  wahrnehmen,  besitzt  objektive  Realität. 
Wirklich  vorhanden  sind  nur  die  räumlichen  Eigen- 
schaften der  Dinge,  Ausdehnung,  Gestalt  und  Bewegung, 
alles  andere  wie  Farbe ,  Ton  u.  s.  w.  ist  subjektiv, 
existiert  nur   als    Vorstellung   in  unserem  Bewusstsein. 


86  Viertes  Kapitel:  Grundlegung  der  Metaphysik. 

Denn  nur  klare  und  deutliclie  Vorstellungen,  wie  es 
die  matliematisclien  sind,  dürfen  als  wirklicli  existierend 
angesehen  werden. 

3.  Wir  haben  im  vorhergehenden  versucht,  in  aller 
Kürze  die  ersten  metaphysischen  Gedankengänge  unseres 
Philosophen,  wie  er  sie  damals  in  seiner  holländischen 
Einsiedelei  entworfen  hatte,  zu  skizzieren.  Sie  waren 
freilich  im  einzelnen  noch  recht  unvollkommen,  allein 
ungeheuer  viel  war  schon  durch  diesen  ersten  Entwurf 
gewonnen.  Die  vorher  in  Frage  gestellte  Sicherheit 
der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  ist  wieder  hergestellt 
worden.  Nicht  das  geringste  Ergebnis  seiner  bisherigen 
Forschungsmethode  braucht  Descartes  aufzugeben.  In 
vollkommenster  Harmonie  kann  die  alte  Wissenschafts- 
lehre neben  der  Metaphysik  bestehen  bleiben.  Freilich 
einen  abgeschlossenen  Eindruck  macht  dieser  erste  Ent- 
wurf unseres  Philosophen  keineswegs.  Es  bedurfte  noch 
ein  Jahrzehnt  ernster  Denkarbeit,  um  alle  seine  Mängel 
zu  beseitigen.  Die  einzelnen  Beweise  sind  unvollkommen, 
eine  Fülle  von  Problemen  wird  einfach  ignoriert,  so 
z.  B.  wird  das  Verhältnis  der  menschlichen  Willens- 
freiheit zur  Allwissenheit  Gottes,  wie  überhaupt  alle 
ethischen  Fragen,  ganz  unerörtert  gelassen.  Allerdings 
hat  Descartes  auch  späterhin  die  Ethik  nur  nebenbei 
behandelt,  waren  es  doch  hauptsächlich  intellektuelle 
Kämpfe,  die  er  in  seinem  Innern  durchzumachen  hatte, 
wie  die  Natur-  und  Geisteswelt  innerlich  beschaffen 
sei,  diese  Fragen  beschäftigten  ihn  fast  ausschliesslich. 
In  den  Anschauungen  über  das  sittliche  Handeln  dagegen 
hat  er  nie  tiefer  gehende  Konflikte  zu  bestehen  gehabt, 
in  diesem  Punkte  ist  er  stets  der  idealistischen  Grund- 
richtung seines  Charakters  treu  geblieben. 

Aber  wie  gesagt  auch  die  eigentlich  metaphysischen 
Fragen  sind  in  diesem  ersten  Entwurf  recht  stief- 
mütterlich   behandelt    worden.     Eines    der    wichtigsten 


Charakter  dieser  Metaphysik.  87 

Probleme  war  es  doch,  die  Naturphilosophie  auf  feste 
Grundlagen  zu  stellen.  Allein  gerade  in  diesem  Punkte 
fühlt  sich  unser  Denker  noch  sehr  unsicher.  Wohl 
schweben  ihm  schon  gewisse  allgemeine  Grundzüge  vor. 
Das  Wesen  des  Körpers  wird  in  die  Ausdehnung  gesetzt, 
alle  subjektiven  Qualitäten  beseitigt.  Aber  von  einer 
strengen  Beweisführung  ist  vorläufig  noch  nicht  die 
Rede.  Natürlich  ist  dies  kein  Wunder,  ist  doch  gerade 
in  dieser  Hinsicht  die  erste  in  Holland  zugebrachte 
Zeit  eine  Übergangsperiode.  Der  Philosoph,  der  vorher 
ohne  bestimmte  naturwissenschaftliche  Anschauungen 
ausgekommen  ist,  fühlt  erst  jetzt  das  Bedürfnis,  sein 
reiches  wissenschaftliches  Material  durch  positive  me- 
taphysische Prinzipien  in  vollkommene  innere  Über- 
einstimmung zu  bringen. 

Das  Charakteristische  in  den  philosophischen  Ge- 
dankengängen Descartes'  ist  die  idealistische  Tendenz, 
die  in  ihnen  mit  solch  elementarer  Kraft  sich  geltend 
macht.  Das  Bewusstsein  ist  das  allerursprünglichste, 
der  naturgemässe  Anfang  aller  Philosophie.  Nichts  er- 
kennt der  Mensch  gewisser  als  seinen  Geist,  die  Natur 
mit  ihrer  so  bestechenden  sinnlichen  Unmittelbarkeit,  sie 
kommt  erst  in  zweiter  Linie.  Im  Grunde  genommen 
harmonieren  diese  Gedanken  vollkommen  mit  der  natur- 
wissenschaftlichen Forschungsweise  unseres  Philosophen. 
Vom  Geiste  aus  hat  er  von  jeher  die  Natur  begreifen 
wollen,  sie  war  ihm  gewissermassen  nur  blosser  Stoff, 
Leben  kam  in  sie  erst  hinein  durch  die  mathematische 
Methode,  deren  Regeln  sie  sich  fügen  musste,  durch 
die  Gesetze,  die  ihr  der  Verstand  gleichsam  mit  sou- 
veräner Machtvollkommenheit  vorschrieb.  Wir  haben 
schon  früher  darauf  hingewiesen,  wie  diese  naturwissen- 
schaftliche Gedaukenrichtung  gerade  damals  so  sehr 
die  besten  Köpfe  der  Zeit  erfüllte,  wie  jeder  Fortschritt 
bei  dem  Zustande  der  damaligen  Forschung  gerade  durch 
diese  Methode  allein  zu  erreichen  war. 


88  Viertes  Kapitel:  Grundlegung  der  Metaphysik. 

4.  Im  Winter  des  Jalires  1629  finden  wir  unseren 
Philosophen  in  Amsterdam  wieder.  Seitdem  er  das 
stille  Franeker  verlassen  hat,  treten  die  metaphysischen 
Spekulationen  mehr  in  den  Hintergrund,  mit  ganzem 
Eifer  wendet  er  sich  wiederum  den  naturwissenschaft- 
lichen Problemen  zu.  Die  Grossstadt  stört  ihn  nicht, 
er  ist  ja  hier  nicht  wie  in  Paris  von  Bekannten  um- 
geben, sondern  kann  mitten  in  dem  Menschengewühl 
„einsam  und  zurückgezogen  wie  in  den  entlegensten 
Wüsten  wohnen"  (C.  I,  156).  Wie  gut  es  ihm  in  Am- 
sterdam gefiel,  können  wir  daraus  ersehen,  dass  er  bis 
zum  Jahre  1634  hier  wohnen  blieb,  einige  grössere 
Unterbrechungen  ausgenommen. 

Schon  in  Franeker  hatten  übrigens  die  metajihy- 
sischen  Betrachtungen  nicht  seine  ganze  Zeit  ausgefüllt, 
mit  regem  Interesse  hatte  er  daneben  namentlich  seine 
optischen  Studien  fortgesetzt.  Ja  sein  Eifer  für  diese 
physikalische  Disziplin  war  damals  so  gross,  dass  er 
sich  den  Glasschleifer  Eerrier,  seinen  alten  Bekannten 
aus  der  Pariser  Zeit  her,  gern  hätte  kommen  lassen. 
Er  hatte  ihm  die  lockendsten  Anerbieten  gemacht,  die 
übrigens  charakteristisch  für  unsern  Philosophen  sind,  da 
sie  zeigen,  wie  sehr  er  in  vielen  Punkten  sich  über  die 
Vorurteile  seines  Standes  hinwegzusetzen  geneigt  war. 
Er,  der  adelige  und  hochgebildete  Mann,  wollte  mit  dem 
einfachen  Handwerker  zusammenwohnen,  einen  eigenen 
französischen  Koch  ihm  zuliebe  anwerben.  Es  half 
freilich  nichts.  Der  Glasschleifer  Ferrier,  der  sich  gerne 
von  zweifelhaften  Illusionen  bestimmen  liess,  glaubte 
damals  es  in  Paris  weiter  bringen  zu  können,  worin  er 
sich  freilich  arg  getäuscht  hat. 

In  Amsterdam  kamen  nun  neben  der  Optik  eine 
ganze  andere  Reihe  von  Forschungen  hinzu.  Bei  der 
innigen  Fühlung,  die  Descartes  dank  der  regen  Ver- 
mittelung  seines  Freundes  Mersenne  mit  der  wissen- 
schaftlichen Welt  behielt,  waren  es  oft  damals   gerade 


Naturwissenschaftliche  Probleme.  89 

aktuelle  wissenscliaftliclie  Zeitfragen,  deren  Untersuchung 
ihn  lebhaft  in  Anspruch  nahmen.  Da  ist  zu  nennen 
das  damals  entdeckte  Phänomen  der  Parhelien  (Neben- 
sonnen), über  dessen  Erforschung  er  nicht  genug  Aus- 
kunft bekommen  kann.  Von  dem  einen  Problem  kommt 
er  immer  tiefer  in  das  Gebiet  der  Meteorologie  hinein, 
er  gedenkt  diese  Wissenschaft  systematisch  zu  behandeln, 
wie  er  es  mit  der  Optik  und  der  analytischen  Geometrie 
schon  früher  beabsichtigt  hatte.  Weiter  interessieren 
ihn  lebhaft  die  Beobachtungen,  die  man  über  die  Sonnen- 
flecken gemacht  hat,  diese  Erscheinung  benutzt  er  später 
geschickt  in  seiner  Weltbildungstheorie,  um  die  Ent- 
stehung der  Planeten  zu  erklären.  Auch  die  aku- 
stischen und  musikalisch-ästhetischen  Untersuchungen 
werden  weiter  fortgesetzt  und  ergänzt,  mochte  er  auch 
keine  weitere  Abhandlung  hierüber  schreiben,  seine 
Briefe  sind  ein  beredtes  Zeugnis  dafür,  wie  er  diese 
Probleme  nie  ganz  fallen  gelassen  hat.^)  Seine  kleine 
Schrift  über  die  Musik  brachte  übrigens  damals  seinen 
alten  Bekannten,  den  Rektor  Beeckmann,  in  die  Ver- 
suchung, ein  Plagiat  zu  begehen.  Unter  der  Hand  er- 
fuhr es  Descartes  zufällig  durch  Mersenne,  dem  gegen- 
über sich  Beeckmann  in  prahlerischer  Weise  als  den 
geistigen  Urheber  jener  Abhandlung  aufspielte.  Des- 
cartes, von  jeder  kleinlichen  Sorge  um  sein  geistiges 
Eigentum  frei,  —  wir  wissen  es,  wie  oft  er  bedeutende 
Entdeckungen  seinen  Freunden  mitteilte,  bevor  er  noch 
ernstlich  an  ihre  Veröffentlichung  durch  den  Druck 
dachte  —  ärgerte  sich  darüber  nicht  im  geringsten,  im 
Gegenteil  er  nahm  die  Sache  mit  grossem  Humor  auf. 
Es  ist  köstlich  zu  lesen,  wie  er  Beeckmann  zur  Rede 
stellt,  indem  er  in  den  Briefen  an  ihn  die  schwerfällige 
Schreibart  jenes  alten  Renommisten  gleichsam  parodiert. 


^)  Im  Jahre  1639  regt  er  den  Holländer  Bannius  zu  musikalischen 
Untersuchungen  an  (A.  II,  586). 


90  Viertes  Kapitel:  Grundlegung  der  Metaphysik. 

„Ich  hebe  mir  seine  Briefe  auf",  schreibt  er  scherzhaft 
an  Mersenne,  „denn  sollte  ich  jemals  etwas  über  Moral 
schreiben  vmd  erklären,  was  für  einen  lächerlichen  An- 
blick die  Einbildung  eines  törichten  Pedanten  gewährt 
so  könnte  ich  es  durch  nichts  besser  veranschaulichen 
als  durch  diese  vier  Briefe"   (A.  I,  172). 

Neben  den  Problemen  der  Physik,  von  denen  wir 
soeben  einige  Beispiele  aufgezählt  haben,  beschäftigte 
sich  unser  Philosoph  auch  intensiv  mit  den  organischen 
Naturwissenschaften.  „Ich  treibe  jetzt  Chemie  und 
Anatomie  und  finde  jeden  Tag  etwas,  was  nicht  in  den 
Büchern  steht"  heisst  es  in  einem  Briefe  an  Mersenne 
aus  dem  Jahre  1630  (A.  I,  136). 

Wir  dürfen  es  behaupten,  Descartes  hat  sich  selten 
so  wohl  gefühlt,  wie  in  diesen  ersten  Jahren  seines 
holländischen  Aufenthaltes.  Die  volle  Müsse,  die  er 
hier  besass,  das  rege  Leben  der  Grrossstadt,  das  ihn 
umgab,  und  nicht  zum  wenigsten  seine  so  glücklich  von 
statten  gehenden  wissenschaftlichen  Forschungen,  alles 
dies  erfüllte  ihn  mit  einem  innigen  Behagen,  mit  einer 
ausserordentlichen  Zufriedenheit  und  inneren  Heiterkeit. 
„Ich  schlafe  hier  alle  Nächte  zehn  Stunden,  ohne  dass 
die  Sorge  mich  weckt.  Im  Traume  lustwandle  ich  in 
verzauberten  Wäldern,  Grärten  und  Palästen,  wo  ich 
alle  die  Freuden  geniesse,  die  in  den  Märchen  geschildert 
werden.  —  Und  wache  ich  dann  auf,  dann  wird  meine 
Zufriedenheit  noch  gesteigert,  meine  Sinne  nehmen  an 
der  Freude  teil,  denn  ich  bin  nicht  so  streng  ihnen  etwas 
zu  verweigern,  was  der  Philosoph  ihnen  gewähren  kann, 
ohne  sein  Gewissen  zu  beunruhigen.  —  In  dieser  grossen 
Stadt,  in  der  alles  dem  Verdienste  nachjagt,  gehe  ich 
alle  Tage  spazieren  inmitten  der  grossen  Volksmenge, 
die  Menschen  erscheinen  mir  wie  Bäume,  der  Lärm  wie 
das  Rauschen  von  Wasserquellen,  die  Freude  an  der 
Arbeit  wie  die  der  Landleute,  dient  sie  doch  dazu,  den 
Ort  zu  verschönern  und  allerlei   Bequemlichkeiten   her- 


Weltbildungstheorie.  91 

beizuschafFen.  Die  Schiffe  bringen  die  Erzeugnisse 
beider  Indien  und  die  Seltenheiten  Europas"  (A.  I, 
189—90,  203—4)  .... 

5.  Wir  haben  oben  eine  E,eihe  von  naturwissen- 
schaftlichen Fragen  erwähnt,  mit  denen  sich  Descartes 
in  Amsterdam  beschäftigte,  eines  der  wichtigsten  Pro- 
bleme, das  die  übrigen  an  Bedeutung  weit  übertriiFt, 
müssen  wir  jedoch  noch  etwas  genauer  in  Augenschein 
nehmen.  Es  betrifft  das  grosse  Rätsel  der  Weltent- 
stehung, mit  dem  sich  schon  der  Menschengeist  seit 
seiner  frühesten  Jugendzeit  zu  beschäftigen  begann.^) 
Zuerst  begegnen  uns  in  der  griechischen  Vorzeit  die 
mythischen  Kosmogonien.  Damals  war  man  noch  weit 
entfernt  davon ,  die  Natur  als  einen  Inbegriff  von 
blinden  bewusstlosen  Kräften  aufzufassen.  Die  lebhafte, 
weder  durch  Philosophie  noch  durch  Wissenschaft  ein- 
geschränkte Phantasie  sah  Leben  und  Empfinden  in  der 
Natur,  sah  die  Welt  erfüllt  von  unsterblichen  Götter- 
gestalten. Als  ausserordentlich  gross  ist  diesen  An- 
schauungen gegenüber  der  Fortschritt  zu  verzeichnen, 
der  Jahrhunderte  später  durch  das  Weltbild  Demokrits 
erzielt  wurde.  Hier  tritt  uns  schon  entgegen  der  Geist 
einer  wahrhaft  naturwissenschaftlichen  Betrachtungs- 
weise. Alle  mystischen  Kräfte  sind  verbannt.  Die 
Welt  erscheint  als  ein  Ineinandergreifen  von  einer  Fülle 
rein  mechanischer  Faktoren.  Lukrez  hat  diese  Welt- 
auffassung in  ein  dichterisches  Gewand  gehüllt  und  in 
dieser  Form  hat  sie  mächtig  eingewirkt  auf  die  wissen- 
schaftliche Denkungsweise  der  Neuzeit.  Wir  wissen  es, 
wie  gegenwärtig  das  Lehrgedicht  dieses  Epikureers 
unserem  Philosophen  gewesen  ist.     Aus    seinen   Briefen 


^)  Siehe  Näheres  in  meiner  Arbeit:  Die  Lehre  von  der  Bildung 
des  Universums  bei  Descartes  in  ihrer  geschichtlichen  Bedeutung. 
Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie  B.  XVII,  S.  237—271  u.  371—412. 


92  Viertes  Kapitel:  Grundlegung  der  Metaphysik. 

und  vor  allen  Dingen  auch  aus  der  Anlage  seines  kos- 
mogonischen  Systems  gellt  dies  mit  unzweideutiger 
Siclierlieit  hervor.  Überhaupt  zeigt  sich  in  der  damaligen 
Weltbildungstheorie  Descartes'  neben  eigenen  selbst- 
ständigen idealistisch-erkenntnistheoretischen  Gesichts- 
punkten, wieviel  er  von  der  alten  atomistischen  Schule 
mitübernommen  hat.  Er  nimmt  keinen  Anstand,  die 
Welt  mit  allen  ihren  Vollkommenheiten  sich  aus  einem 
wüsten  Chaos  entwickeln  zu  lassen,  einen  Gedanken, 
den  er  in  der  späteren  Zeit  (in  den  Prinzipien)  wieder 
fallen  lässt,  offenbar  aus  keinem  anderen  Grunde,  als 
weil  er  befürchtet  mit  den  materialistischen  Denkern 
des  Altertums  identifiziert  zu  werden.  Andererseits 
wird  bei  Descartes  in  krassem  Gegensatz  zu  Demokrit 
und  Lukrez  die  Weltbildung  nur  ermöglicht  durch  feste, 
unwandelbare  Gesetze,  die  Gott  der  Natur  vorgeschrieben 
hat,  und  durch  deren  stetige  und  regelmässige  Wirk- 
samkeit die  Entstehung  eines  geordneten  Kosmos  gleichsam 
von  vornherein  garantiert  ist.  Es  liegt  ein  ausser- 
ordentlicher Scharfsinn  in  dieser  kosmogonischen  Theorie 
Descartes',  wie  es  ihm  tatsächlich  gelingt,  aus  einem 
einzigen  chaotischen,  den  ganzen  Raum  erfüllenden  Ur- 
stoff  die  Welt  bis  in  ihre  intimsten  physikalischen 
Einzelheiten  hervorgehen  zu  lassen.  Freilich,  bei  den 
lebenden  Wesen  muss  er  Halt  machen,  so  sehr  er  auch 
davon  überzeugt  ist,  dass  auch  ihre  Bildung  mit  Not- 
wendigkeit sich  aus  den  einfachen  physikalischen  Ge- 
setzen müsse  ableiten  lassen.  Diese  Überzeugung  war 
die  folgerichtige  Konsequenz  seiner  klaren,  keine  my- 
stischen Kräfte  zulassenden  Naturauffassung.  Ging  er 
doch  sogar  so  weit,  den  Tieren  die  Seele  abzusprechen, 
sie  als  blosse  fühllose  Maschinen  aufzufassen,  so  sehr 
hatte  er  sich  in  seine  mechanische  Betrachtungsweise 
hineingelebt.  Bestärkt  wurde  er  in  dieser  Ansicht  durch 
die  Einsicht,  welch  grosse  Bedeutung  die  Reflexbewegungen 
für  den  lebenden  Organismus  haben,  ferner  auch  durch 


Weltbildungstheorie.  93 

die  Entdeckimg  Harveys  von  dem  Blutkreislauf,  deren 
Bedeutung  er  mit  selbständigem  Blick  als  einer  der 
ersten  in  Holland  und  Frankreich  gewürdigt  hat. 

Mit  grossem  Eifer  hatte  Descartes  die  Abfassung 
seiner  Weltbildungstheorie  —  sie  sollte  den  Namen  le 
Monde  führen  —  begonnen,  dabei  schon  im  Geiste  ihre 
Wirkungen  auf  das  Publikum  sich  vorstellend.  „Sie 
soll  die  Probe  meiner  Philosophie  sein,  ich  will  dahinter 
stehen,  wie  hinter  einem  Gremälde,  um  zu  hören,  was 
man  sagt"  (A.  I,  23).  Allein  schon  ein  Jahr  darauf 
kommen  ihm  einige  Bedenken.  Es  sei  eine  schwierige 
Sache,  die  ganze  Physik  sei  darin  einbegriffen.  Tau- 
senderlei gäbe  es  dabei  zu  überlegen.  Ausserdem  müsste 
er  einen  Ausweg  finden,  um  die  Wahrheit  sagen  zu 
können,  ohne  zu  frappieren  und  gegen  die  Schulmeinungen 
zu  Verstössen  (A.  I,  194).  Aber  nicht  nur  die  Schulge- 
lehrten, auch  die  Theologen  hatte  Descartes  zu  fürchten. 
Würden  sie  es  ruhig  mitansehen,  wenn  er  im  Gegen- 
satz zur  l)iblischen  Schöpfungsgeschichte  die  Welt  auf 
natürliche  Weise  sich  entwickeln  Hesse.  Um  möglichst 
wenig  Anstoss  zu  erregen,  beschloss  Descartes  seine 
Anschauungen  in  Form  einer  Hypothese  vorzutragen. 
Allein  selbst  diese  Vorsichtsmassregel  schien  ihm  nicht 
recht  zu  genügen.  Er  möchte  sein  Werk  am  liebsten 
der  Öffentlichkeit  vorenthalten,  zumal  da  ja  auch  seine 
physikalischen  Gesamtanschauungen  noch  nicht  ver- 
öffentlicht waren,  und  er  es  auf  alle  Fälle  vermeiden 
wollte,  dem  Publikum  gegenüber  als  ein  leichtsinniger 
Dilettant  zu  erscheinen ,  der  auf  Grund  einiger 
luftigen  Hypothesen  sich  ein  physikalisches  Weltbild 
konstruiert.  Descartes  war  noch  mit  diesen  Erwägungen 
beschäftigt,  als  er  im  November  des  Jahres  1633  von 
der  einige  Monate  vorher  erfolgten  Verurteilung  Galileis 
hörte,  dem  bekanntlich  der  Prozess  gemacht  wurde, 
weil  er  dem  Verbote  der  Kirche  entgegen  die  Lehre 
von  der  Erdbewegung  publiziert   hatte.     Einerseits    er- 


94  Viertes  Kapitel:  Grundlegung  der  Metaphysik. 

schreckt  durcli  das  strenge  Vorgehen  der  Kirche,  an- 
dererseits erfreut  darüber ,  dass  er  nun  hinreichend 
entschuldigt  sei,  beschloss  er  endgültig  sein  Werk  unver- 
öiFentlicht  zu  lassen.  Hätte  er  auch  in  Holland  für 
seine  Person  nichts  zu  fürchten  gehabt,  so  wäre  ihni 
doch  selbst  der  geringste  Konflikt  mit  der  Kirche  ausser- 
ordentlich peinlich  gewesen.  Denn  es  gilt  zu  bedenken, 
unser  Philosoph  war  eine  durchaus  konservative  Natur, 
für  den  die  Religion  selbst  in  ihrer  äusseren  Erschei- 
nungsform immer  etwas  Ehrfurchtgebietendes  behielt, 
mochte  er  auch  bei  seiner  philosophischen  Weltauf- 
fassung sich  keineswegs  zu  den  fanatischen  Buchstaben- 
gläubigen hingezogen  fühlen.^) 

6.  Wir  haben  soeben  gesehen,  wie  die  Nachricht 
von  dem  unglücklichen  Schicksal  Galileis  von  Descartes 
aufgenommen  wurde.  Es  dürfte  interessieren,  wie  unser 
Philosoph  über  die  Leistungen  seines  grossen  Zeitge- 
nossen urteilte ,  keineswegs  in  besonders  günstigem 
Sinne.  Zwar  ist  ihm  seine  physikalische  Forschungs- 
methode nicht  unsympathisch.  „Ich  finde  im  allgemeinen, 
dass  er  besser  philosophiert  als  man  es  gewöhnlich  tut, 
indem  er  soviel  wie  möglich  die  Fehler  der  Schule 
meidet  und  versucht,  die  physikalischen  Probleme  nach 
mathematischen  Gresichtspunkten  zu  behandeln.  Hierin 
stimme  ich  ganz  mit  ihm  überein  und  glaube,  dass  es 
kein  anderes  Mittel  gibt,  um  die  Wahrheit  zu  finden.  — 
Indes  er  hat  nicht  die  ersten  Ursachen  der   Natur   be- 


')  Bruchstücke  von  dem  Werke  Descartes'  sind  uns  bekanntlich 
in  den  nachgelassenen  Schriften :  Le  Monde  und  L'homme  erhalten. 
In  Le  Monde  spricht  Descartes  ganz  unbefangen  von  der  Bewegung 
der  Erde,  die  er  in  seinen  Prinzipien  zu  verschleiern  sucht.  In  beiden 
Schriften  wird  schon  die  Dioptrik  zitiert,  die  damals  grossenteils 
fertig  war.  Das  erstere  zeichnet  sich  namentlich  durch  seinen  leben- 
digen und  anschaulichen  Stil  aus  im  Gegensatz  zu  den  späteren 
,  Prinzipien", 


Beurteilung  Galileis.    Liebesverhältnis.  95 

trachtet,  sondern  nur  die  Gründe  von  einigen  speziellen 
Xaturwirkungen  gesucht,  so  kommt  es,  dass  er  ohne 
wirkliches  Fundament  gebaut  hat"  (A.  II,  380).  Es  darf 
uns  nicht  befremden,  ein  solches  Urteil  von  Descartes 
zu  hören,  wir  haben  auch  kein  Recht  zu  behaupten, 
dass  eine  gewisse  Eifersucht  hier  mit  im  Spiele  gewesen 
ist.  Descartes  musste  so  denken.  Bei  seiner  eminent 
philosophischen  Natur,  die  das  gesamte  Universum  als 
eine  innere  Einheit  zu  betrachten  strebte,  konnte  er 
Einzelleistungen,  mochten  sie  noch  so  genial  sein,  mochten 
sie  auch  getragen  und  hervorgebracht  sein  von  einer 
allgemeinen  wissenschaftlichen  Methode,  nicht  als  etwas 
Hervorragendes  ansehen,  wenn  sie  nicht  konsequent  ab- 
geleitet waren  aus  letzten  metaphysischen  Prinzipien. 
Und  das  war  freilich  bei  Galilei  nicht  der  Fall.  Diesem 
genialen  Forscher  kam  es  nur  auf  die  Analyse  der 
Naturkräfte  an,  um  ihre  Herkunft  kümmerte  er  sich 
nicht.  Ihm  genügte  vollauf  die  mathematische  Methode, 
nach  der  er  die  Erscheinungen  behandelte.  Freilich 
war  Descartes  in  seinem  früheren  philosophischen  Sta- 
dium nicht  viel  anders  vorgegangen.  Allein  gerade 
weil  er  jetzt  diesen  Standpunkt  überwunden  hatte,  der 
seiner  ganzen  metaphysischen  Naturanlage  nach  nur 
ein  Durchgangspunkt  für  ihn  gewesen  war,  begegnete 
er  dem  in  seinen  Augen  rückständigen  Galilei  mit  um 
so  herberer  Kritik. 

7.  Wir  ha.ben  oben  geschildert,  wie  wohl  sich  Des- 
cartes in  den  ersten  Jahren  seines  Aufenthaltes  in  Hol- 
land fühlte.  In  diese  Zeit  ist  auch  ein  Liebesverhältnis 
zu  setzen,  das  unser  Philosoph  in  Amsterdam  mit  einem 
Mädchen  Namens  Helene  anknüpfte.  Unsere  bisherige 
Darstellung  hat  es  wohl  deutlich  erkennen  lassen,  dass 
Descartes  keineswegs  jetzt  in  Holland  ein  verschlossener 
Einsiedler  zu  werden  versprach.  Selbst  in  der  stillen 
Zurückgezogenheit  Franekers,  wo  er   ganz  und  gar  mit 


96  Viertes  Kapitel:  Grundlegung  der  Metaphysik. 

metapliysisclien  Betrachtungen  beschäftigt  war,  hatte 
er  noch  Zeit  und  Sinn  für  Spiel  und  Unterhaltung  ge- 
habt (A.  I,  19).  Was  für  einen  angenehmen  Eindruck 
Amsterdam  anf  ihn  machte,  haben  wir  aus  seiner  per- 
sönlichen Schilderung  ersehen.  So  wird  es  uns  nicht 
wundern,  wenn  das  rings  um  ihn  herum  lebhaft  und 
mächtig  pulsierende  Leben  ihn  daran  erinnerte,  dass  er 
auch  noch  nicht  für  die  Heize  und  Schönheiten  der 
Welt  unempfänglich  geworden  war.  Wir  wissen  es, 
was  für  einen  sympathischen  Eindruck  der  holländische 
Menschenschlag  auf  ihn  machte.  Hier  gibt  es  keinen 
Verrat,  hier  findet  man  noch  die  Unschuld,  wie  sie  den 
Vorfahren  eigen  gewesen  ist,  schreibt  er  voll  Entzücken 
seinem  Freunde  Balzac  (A.  I,  204).  Das  Mädchen,  mit 
dem  Descartes  ein  Verhältnis  anknüpfte,  scheint  von 
einfacher  Herkunft  gewesen  zu  sein.  Ob  das  der  Grund 
gewesen  ist,  warum  unser  Philosoph  mit  ihr  keine  legi- 
time Ehe  geschlossen  hat,  um  so  bei  seinen  vornehmen 
Verwandten  kein  Ärgernis  zu  erregen,  ob  er  es  viel- 
leicht doch  getan  hätte,  wenn  das  Kind,  das  aus  dieser 
Verbindung  stammt,  ein  Töchterchen  Namens  Francine, 
nicht  schon  in  seinem  fünften  Lebensjahre  gestorben 
wäre,  ob  Helene  vielleicht  zu  dieser  Zeit  auch  schon 
gestorben  war,  darüber  wissen  wir  nichts.  Jedenfalls 
dürfen  wir  bei  dem  feinfühlenden  Charakter  Descartes' 
sicher  annehmen,  dass  er  das  Mädchen  nicht  schmählich 
im  Stich  gelassen  hat.  Wissen  wir  es  doch,  wie  zärt- 
lich er  sein  Töchterchen  geliebt  hat,  wie  er  seine  Er- 
ziehung einer  seiner  Verwandten  hat  anvertrauen  wollen, 
und  wie  dann  ihr  Tod  ihm  den  schwersten  Kummer 
bereitet  hat.  Im  übrigen  hat  sich  unser  Philosoph  nie 
als  ein  Muster  von  Sittenreinheit  hinstellen  wollen. 
Als  ihm  einige  Jahre  später  der  gehässige  Vorwurf 
gemacht  wurde,  dass  er  illegitime  Söhne  hätte,  äusserte 
er  sich  darüber:  „Wenn  ich  Söhne  hätte,  ich  würde  es 
nicht  leugnen,  es  ist  noch  nicht  so  lange  her,   dass  ich 


Veröffentlichung  der  ersten  Hauptschriften.  97 

jung  war.  Im  übrigen  bin  icli  auch  nur  ein  Mensch, 
ich  habe  keineswegs  das  Gelübde  der  Keuschheit,  auf 
mich  genommen  und  niemals  behauptet,  für  weiser  gelten 
zu  wollen  als  es  die  andern  sind"  (C.  XI,  19). 

8.  Das  Verhältnis  mit  Helene  ist  in  das  Jahr  1634 
zu  setzen,  also  gerade  in  die  Zeit,  wo  sich  Descartes 
endgültig  entschloss,  seine  Schrift  über  die  Weltbildung 
nicht  zu  veröffentlichen.  Um  so  mehr  schien  er  jetzt 
Wert  darauf  zu  legen,  seine  übrigen  mehr  oder  weniger 
weit  gediehenen  wissenschaftlichen  Abhandlungen  weiter 
zu  fördern  und  zu  einem  baldigen  Abschluss  zu  bringen. 
Trotz  seiner  intensiven  Tätigkeit  fühlte  der  Philosoph  doch 
das  Bedürfnis,  öfters  seinen  Aufenthaltsort  zu  wechseln,  er 
tat  es  schon  deswegen,  um  vor  seinen  Pariser  Bekannten 
möglichst  verborgen  zu  bleiben.  Aber  das  war  wohl 
nicht  der  einzige  Grund.  Etwas  von  der  alten  Wander- 
lust seiner  Jugendjahre  war  noch  immer  in  ihm  ge- 
blieben. So  wissen  wir,  dass  er  seinen  Aufenthalt  in 
Amsterdam  Öfters  unterbrochen  hat.  Längere  Zeit  hatte 
er  in  Deventer  zugebracht,  aber  auch  eine  Reise  nach 
Dänemark  hat  er  in  diesen  Jahren  unternommen  (im 
Sommer  1631)  in  der  Begleitung  von  Villebressieu,  seines 
ersten  Schülers,  den  er  in  die  Grundfragen  seiner  Physik 
einführte.  Seit  dem  Jahre  1634  hat  er  seinen  Wohnsitz 
noch  häufiger  als  bisher  gewechselt.  Im  Jahre  1635 
finden  wir  ihn  in  Utrecht,  im  Jahre  1637  in  Leyden. 
Seine  Absicht,  den  Aufenthaltsort  geheim  zu  halten, 
hat  er  übrigens  so  gut  zu  erreichen  gewusst  —  auf 
seinen  Briefen  fehlt  sehr  häufig  die  Ortsbezeichnung  — , 
dass  es  sich  garnicht  immer  genau  fesstellen  lässt,  wo 
wir  ihn  zu  finden  haben.  Übrigens  hat  es  auch  für 
unsere  Zwecke  keine  besondere  Wichtigkeit,  im  einzelnen 
über  den  so  häufigen  Wohnungswechsel  orientiert  zu  sein. 

Es  war  im  Jahre  1636,  als  sich  unser  Philosoph 
endlich  entschloss,    der  Öffentlichkeit  einen  Einblick  in 

Koffmann,  Descartes.  ' 


98  Viertes  Kapitel:  Grundlegung  der  Metaphysik. 

die  "Werkstatt  seiner  wissenscliaftlichen  Tätigkeit  zu  ge- 
währen. Die  eigentliche  Herausgabe  der  zu  veröffent- 
lichenden Schriften  zog  sich  freilich  noch  hin  bis  zum 
Jahre  1637,  Wir  erinnern  uns  noch,  wie  Descartes 
vor  neun  Jahren  in  Paris  seinen  Freunden  zu  verstehen 
gegeben  hatte,  dass  er  im  Besitze  einer  philosophischen 
Methode  sei,  von  der  er  sich  grosse  Erfolge  für  die 
Lösung  von  allen  möglichen  wissenschaftlichen  Problemen 
verspreche.  Hatte  er  auch  lange  gezögert  mit  der 
Veröffentlichung  seiner  Gedanken,  so  sollte  es  sich  jetzt 
zeigen,  in  wie  glänzender  Weise  er  die  Aufgabe,  die  er 
sich  damals  vorgenommen  hatte,  zu  lösen  verstanden 
hat.  Drei  Wissenschaften  hat  er  sich  auserwählt,  um 
die  Fruchtbarkeit  seiner  philosophischen  Methode  zu 
zeigen,  die  reine  Mathematik ,  die  ihr  am  nächsten 
stehende  Disziplin,  die  Optik ,  und  endlich  die  Mete- 
orologie, eine  Wissenschaft,  die  am  schwersten  einer 
exakten  Behandlung  zugänglich  erschien.  Allen  diesen 
Schriften  voran  war  eine  philosophische  Abhandlung 
vorausgeschickt,  die  gleichsam  als  Einleitung  zu  den 
übrigen  Schriften  diente.  Wenn  Descartes  in  dieser 
Weise  mit  einem  Male  das  Publikum  mit  den  Proben 
seines  Geistes  gleichsam  überschüttete,  blenden  wollte 
er  es  keineswegs.  Wir  können  es  zuversichtlich  be- 
haupten, kein  einziger  Philosoph  hat  in  so  radikaler 
Weise  den  Nimbus,  der  sich  um  seine  Person  und  seine 
Werke  auszubreiten  pflegt,  von  vornherein  zerstört 
wie  Descartes.  Und  wodurch  hat  er  dies  zu  stände 
gebracht?  Dadurch,  dass  er  in  der  offenherzigsten  Weise 
dem  Leser  einen  Einblick  in  seine  intellektuelle  Ent- 
wicklung gibt  von  seiner  Schülerzeit  an  bis  zu  dem 
jetzigen  Zeitpunkt.  „Ich  habe  nie  den  Dünkel  gehabt, 
mein  Geist  sei  in  irgend  einer  Beziehung  vollkommener, 
als  der  eines  gewöhnlichen  Menschen.  Im  Gegenteil, 
oft  habe  ich  mir  die  Fähigkeit  schnell  zu  denken,  das 
klare  und  bestimmte  Vorstellungsvermögen  und  das  um- 


Abhandlung  über  die  Methode.     Dioptrik.  99 

fassende  und  so  getreue  Gedäclitnis  mancher  anderer 
gewünscht"  (C.  I,  122).  Ich  war  ein  Kind  meiner  Zeit 
genau  so  gut  wie  ihr.  Auch  mich  hatte  der  überall  in 
Frankreich  herrschende  Skeptizismus  ergriifen,  wie  jeden 
anderen  unter  den  Gebildeten.  Aber  ich  war  anderer- 
seits von  dem  sehnlichsten  Wunsch  beseelt,  über  diese 
Weltauffassung  hinauszukommen.  Und  dies  gelang  mir 
nicht  durch  meine  besondere  Genialität,  sondern  durch 
unermüdliche,  harte  und  konsequente  Gedankenarbeit. 
Es  liegt  ein  Zug  unendlicher  Grösse  in  diesen  einfachen 
und  anspruchlosen  intellektuellen  Konfessionen,  wie  sie  in 
dem  Discours  de  la  Methode  (Abhandlung  über  die 
Methode)  niedergelegt  sind.  Mag  auch  das  grosse  Pub- 
likum einem  solchen  Werke  nicht  die  Achtung  entgegen- 
bringen, die  es  verdient,  weil  jede  Effekthascherei  darin 
vermieden  ist,  für  den  wahrhaft  Gebildeten  besitzt  es 
einen  um  so  schätzbareren  Wert.  Descartes'  metaphy- 
sische Anschauungen  sind  in  dieser  Schrift  etwas  sehr 
knapp  und,  sagen  wir  es  ruhig  heraus,  im  einzelnen  sogar 
ziemlich  unzureichend  dargestellt.  Der  Philosoph  hat 
das  allerdings  teilweise  selbst  gefühlt  und  es  damit 
entschuldigt,  dass  er  sich  mit  dieser  französisch  ge- 
schriebenen Abhandlung  an  ein  grösseres  Publikum 
wende.  „Was  ihr  zweiter  Einwurf  betrifft",  heisst  es 
in  einem  Briefe  an  Mersenne  (A.  I,  349),  „nämlich,  dass 
ich  nicht  ausführlich  genug  auseinandergesetzt  habe, 
woher  ich  weiss,  dass  die  Seele  eine  vom  Körper  wesens- 
verschiedene Substanz  ist,  deren  Natur  lediglich  im 
Denken  (Bewusstsein)  besteht,  ....  so  gestehe  ich  zu, 
dass  Sie  hierin  recht  haben,  und  dass  auch  infolge 
dessen  mein  Beweis  hinsichtlich  der  Existenz  Gottes 
sehr  schwer  zu  verstehen  ist".  Aber  dies  hätte  nach 
seiner  Ansicht  nur  durch  schwierige  und  für  ein  allge- 
meines Publikum  nicht  geeignete  Auseinandersetzungen 
geschehen  können.  Im  übrigen  glaubt  er,  der  aufmerk- 
same  Leser   werde   erkennen,    dass   auch  hier  alles  be- 


100  Viertes  Kapitel:  Grundlegung  der  Metaphysik. 

wiesen  ist  und  zwar  genauer,  als  es  in  den  Sätzen  der 
Geometer  zu  geschehen  pflegt.  In  letzterem  Punkte 
hat  nun  aber  Descartes  zweifellos  unrecht.  Es  ist  tat- 
sächlich noch  sehr  viel  Unvollkommenes  und  mangelhaft 
Bewiesenes  in  dieser  Abhandlung.  Unser  Philosoph  ist 
darin,  wie  es  ja  aus  der  Schrift  hervorgeht,  noch  nicht 
über  seinen  ersten  in  Holland  entworfenen  metaphy- 
sischen Entwurf  hinausgekommen,  dessen  Lücken  wir 
oben  angedeutet  haben.  Erst  in  den  nächsten  Jahren 
und  nicht  zum  wenigsten  angeregt  durch  die  Einwürfe, 
die  man  gegen  sein  System  machte,  hat  er  es  vermocht, 
ein  mit  grösserer  Klarheit  und  Exaktheit  entworfenes 
Bild  seiner  metaphysischen  Gedanken  zu  geben. 

9.  Wenden  wir  uns  nun  zu  den  drei  folgenden 
Abhandlungen  unseres  Philosophen.  In  der  Dioptrik 
und  in  den  Meteoren  erscheint  uns  natürlich  heute  vieles 
veraltet.  Für  die  damalige  Zeit  aber  waren  es  Auf- 
sehen erregende  Werke.  In  wie  sinnreicher  Weise  in 
der  Dioptrik  das  Brechungsgesetz  abgeleitet  ist,  darauf 
ist  schon  früher  hingewiesen  worden.  „Das  Brechungs- 
gesetz habe  ich  bewiesen  auf  geometrische  Weise  und 
apriori"  (A.  II,  31),  so  äussert  sich  unser  Philosoph 
darüber,  der  die  Grösse  seiner  Leistung  wohl  zu  schätzen 
wusste.  Neben  der  physikalischen  ist  auch  die  phy- 
siologische Optik  in  eingehender  Weise  behandelt,  in 
die  sich  Descartes  durch  zahlreiche  selbständig  unter- 
nommene Sektionen  einen  gründlichen  Einblick  zu  ver- 
schaifen  gewusst  hat.  Die  letzten  drei  Kapitel  behandeln 
die  Theorie  und  technische  Herstellungsweise  der  op- 
tischen Gläser.  Die  Erfindung  der  Fernröhre  machte 
ja  gerade  dieses  Gebiet  zu  einem  der  lockendsten  und 
reizvollsten  für  die  damaligen  bedeutenden  Naturfor- 
scher, ich  nenne  nur  einen  Kepler,  einen  Galilei.  Worin 
aber  unser  Philosoph  die  meisten  seiner  wissenschaftlichen 
Zeitgenossen    übertraf,    das    war    die  Beherrschung  der 


Technische  Begabung.     Meteore.  101 

Teclinik,  die  ihm  in  so  hohem  Masse  eigen  war.  Darin 
besteht  ja  überhaupt  die  ausserordentliche  Grösse  Des- 
cartes',  dass  seine  geistige  Begabung  so  umfassend  war. 
In  den  tiefsten  philosophischen  Gedankenkreisen  heimisch, 
verlor  er  trotzdem  nicht  den  Sinn  für  die  konkrete 
Wirklichkeit,  konnte  er  über  die  intimsten  technischen 
Kunstgriffe  mit  dem  Glasschleifer  Ferrier  diskutieren. 
Und  wie  er  in  der  Philosophie  mit  souveräner  Herrscher- 
gewalt die  Gedanken  aneinander  kettete,  ihnen  die  Form 
gebend,  die  seiner  idealistischen  Gesinnung  entsprach, 
so  vermochte  er  auch  mit  schöpferischem  Geiste  die 
technischen  Apparate  zu  ersinnen ,  die  er  für  seine 
naturwissenschaftlichen  Experimente  nötig  hatte. 

10.  Wir  haben  schon  einige  Male  in  unserer  Dar- 
stellung die  Anregungen  erwähnt,  die  unser  Philosoph 
zu  seinem  meteorologischen  Werke  erhalten  hat.  Ich 
erinnere  an  seine  italienische  Reise,  an  die  damals  so 
aktuellen  Probleme  über  die  Erklärung  der  Nebensonnen 
und  Sonnenflecken.  Mit  besonderem  Stolz  betrachtete 
Descartes  seine  systematische  Darstellung  aller  dieser 
Phänomene.  „Wir  haben  von  Natur  aus  die  Neigung, 
die  Dinge,  welche  über  uns  sind,  mehr  zu  bewundern, 
als  die,  Avelche  in  gleicher  Höhe  oder  unter  uns  sind. 
Und  obwohl  die  Wolken  nicht  viel  die  Gipfel  einiger 
Berge  überragen,  und  sie  sogar  oft  niedriger  zu  sehen 
sind,  als  unsere  Kirchturmspitzen,  —  so  machen  sie 
gleichwohl  auf  uns  einen  solch  erhabenen  Eindruck, 
dass  die  Maler  und  Dichter  sie  als  den  Thron  Gottes 
darstellen,  wo  er  mit  eigener  Hand  die  Pforten  für  die 
Winde  öffnet  und  schliesst,  den  Tau  auf  die  Blumen 
träufelt,  und  den  Blitz  auf  die  Felsen  schleudert.  Des- 
wegen gebe  ich  mich  der  Hoffnung  hin,  dass  wenn  ich 
hier  ihre  Natur  so  erkläre,  dass  man  keinen  Grund 
mehr  hat  zu  erstaunen  über  das,  was  man  da  droben 
sieht,  oder  was  von  dort  zu  uns  herabkommt,  man  leicht 


102  Viertes  Kapitel:  Grundlegung  der  Metaphysik. 

zu  der  Überzeugung  kommen  wird,  dass  es  in  derselben 
Weise  möglich  ist,  die  Ursachen  von  allen  Dingen  auf 
der  Erde  zu  finden,  mögen  sie  auch  noch  so  wunderbar 
sein"  (C.  V,  157—  58).  In  der  Tat  wusste  man  in  der 
damaligen  Zeit  von  den  Lufterscheinungen  so  gut  wie 
garnichts.  Der  Aberglaube  und  die  veraltete  schola- 
stische Physik  hatten  hier  ein  Gebiet,  aus  dem  sie 
schwerer  wie  aus  jedem  anderen  zu  vertreiben  waren. 
Die  bedeutendste  Leistung  unseres  Philosophen  in  der 
Meteorologie  war  die  exakte  Erklärung  der  Entstehung 
des  Regenbogens,  dank  seiner  gründlichen  Kenntnisse 
über  die  Phänomene  der  Lichtbrechung  war  er  hierzu 
vollkommen  im  stände.  Allein  noch  einer  anderen 
wichtigen  Entdeckung  Descartes'  wollen  wir  hier  ge- 
denken, wiewohl  sie  in  dieser  Schrift  nicht  erwähnt 
ist,  ich  meine  die  Erscheinung  des  Luftdruckes,  wie 
sie  sich  bekanntlich  am  auffälligsten  am  Quecksilber- 
barometer äussert,  wo  die  schwere  Quecksilberflüssigkeit 
in  der  Röhre  durch  den  Druck  der  Luft  in  die  Hohe 
getrieben  wird.  Es  geht  aus  Descartes'  Briefwechsel 
hervor,  dass  er  schon  im  Jahre  1634  mit  diesem  Phä- 
nomen vertraut  war  (A.  I,  298). 

1 1 .  Wir  kommen  nun  zu  der  dritten  Schrift  unseres 
Philosophen,  seiner  Geometrie.  Hier  feiert  sein  Entdecker- 
talent die  grössten  Triumphe.  Haben  die  beiden  anderen 
Abhandlungen  für  den  heutigen  Leser  der  Hauptsache 
nach  nur  noch  einen  historischen  Wert,  aus  diesem 
Werke  kann  noch  heute  der  Jünger  der  Mathematik 
eine  Fülle  von  Anregungen  schöpfen.  Wir  haben  oben 
dargelegt ,  in  wie  innigem  Zusammenhang  Descartes' 
analytische  Geometrie  mit  seiner  wissenschaftlichen 
Methode  steht.  Keiner  ist  sich  dessen  klarer  bewusst 
als  unser  Philosoph  selbst.  „Durch  meine  Optik  und 
meine  Meteore  habe  ich  nur  zu  überzeugen  versucht, 
dass    meine     ]\Iethode    besser    ist    als    die    gewöhnliche 


Geometrie.     Höhere  Analysis.     Algebra.  103 

allein  durch  meine  Geometrie  behaupte  ich  es  bewiesen 
zu  haben",  heisst  es  in  einem  Briefe  an  Mersenne. 
Übrigens,  wiederum  sehr  bezeichnend  für  seinen  Cha- 
rakter, fügt  er  hinzu,  der  Freund'  möchte  dies  keinem 
andern  mitteilen  (A.  I,  478 — 79).  Von  dem  Wesen  und 
der  Bedeutung  der  analytischen  Geometrie  haben  wir 
schon  oben  bei  Besprechung  der  Methode  eine  Vorstellung 
zu  geben  versucht.  Wir  wenden  uns  nun  zu  einzelnen 
bemerkenswerten  Punkten.  Auch  in  dieser  Abhandlung 
zeigt  sich,  genau  so  wie  in  der  Dioptrik,  die  technische 
Begabung  unseres  Philosophen.  Er  kann  es  nicht  ver- 
stehen, warum  die  Alten  eine  so  scharfe  Scheidegrenze 
gemacht  haben  zwischen  den  Problemen,  welche  mittelst 
Zirkel  und  Lineal  lösbar  sind,  und  denen,  die  der  Kegel- 
schnitte oder  verwickelterer  Figuren  bedürfen.  Weil 
letztere  mit  komplizierteren  Apparaten  konstruiert 
werden,  deswegen  liegt  noch  kein  Grund  vor,  sie  nicht 
zu  den  geometrischen  Problemen  zu  rechnen.  In  der 
Mathematik  komme  es  nur  auf  die  reine,  vernunftmässige 
Anschauung  an,  und  diese  sei  bei  den  Kegelschnitten 
und  bei  einer  ganzen  Reihe  von  anderen  Kurven  genau 
so  gut  herzustellen,  wie  bei  den  allereinfachsten  Figuren, 
nur  diejenigen  Kurven  seien  zu  den  mechanischen  zu 
rechnen,  welche  durch  zwei  Bewegungen  verschiedener 
Natur  erzeugt  werden,  zwischen  denen  sich  keine  in 
gewöhnlichen  Zahlen  ausdrucksfähige  Beziehung  her- 
stellen lässt  (C.  V,  333  u.  f.).  Indes  ist  Descartes  Phi- 
losoph genug,  um  auch  die  Grenzen  der  Mathematik  zu 
erkennen.  So  hat  er  es  wiederholt  in  seinen  Briefen 
ausgesprochen,  dass  die  Quadratur  des  Kreises  unmög- 
lich zu  erreichen  sei:  „Die  Beziehung  zwischen  geraden 
und  krummen  Linien  ist  uns  nicht  bekannt,  und  da,  wie 
ich  glaube,  sie  auch  nie  von  den  Menschen  erkannt 
werden  kann,  so  lässt  sich  in  diesem  Gebiete  nichts 
Exaktes  und  Sicheres  aussagen".  Freilich  drückt  sich  in 
diesen  Worten  denn  doch  ein  etwas  zu  starker  Pessimismus 


10-4  Viertes  Kapitel:  Grundlegung  der  Metaphysik. 

aus  (C.  V,  357),  ein  Pessimismus,  den  übrigens  unser 
Philosoph  in  späteren  Jahren  selbst  überwunden  hat. 
Gehört  er  doch  auch  zu  den  genialen  mathematischen 
Köpfen,  wie  Kepler  und  Cavalieri,  die  den  ersten 
Grrund  zu  der  tiefsinnigen  Unendlichkeitsrechnung  gelegt 
haben,  einer  Wissenschaft,  deren  vornehmstes  Problem 
es  gerade  ist,  die  Beziehung  zwischen  geraden  und 
krummen  Linien  zu  untersuchen  (A.  II,  490).  Gerade 
diese  Probleme  sind  es,  die  ihn  nach  der  Abfassung 
seiner  Geometrie  lebhaft  interessieren,  sie  erscheinen 
ihm  als  die  höchste  Blüte,  als  die  „Metaphysik  der 
Mathematik"  (A.  II,  490).  Im  übrigen  ist  sein  spezifisches 
mathematisches  Interesse  schon  seit  einer  Reihe  von 
Jahren  erkaltet.  Er  will  seine  Zeit  nicht  mit  rein  ab- 
strakten Dingen  verschwenden,  die  auf  die  Erkenntnis 
der  realen  Dinge  keinen  unmittelbaren  Bezug  nehmen 
(A.  II,  268).  Wie  sehr  im  Grunde  genommen  ihm  schon 
als  Jüngling,  als  er  seine  neue  Methode  suchte,  die 
Mathematik  nur  Mittel  zum  Zweck  war,  haben  wir  ja 
früher  dargelegt.  So  wird  es  uns  nicht  wundern,  wenn 
er  der  Zahlentheorie,  einer  mathematischen  Disziplin, 
die  es  am  wenigsten  mit  realen  konkreten  Anwendungen 
zu  tun  hat,  kein  besonderes  Interesse  entgegenbringt. 
In  früheren  Jahren  hat  er  sich  freilich  auch  viel  mit 
abstrakten  Problemen  beschäftigt.  Und  seine  Unter- 
suchungen über  das  Wesen  der  algebraischen  Gleichungen, 
die  einen  Teil  der  analytischen  Geometrie  bilden,  zeigen, 
dass  er  auch  auf  diesem  Gebiete  wahrhaft  Grosses  zu 
leisten  im  stände  war.^) 


^)  Descartes  gebührt  das  unbestrittene  Verdienst,  zuerst  auf  das 
Wesen  der  analytischen  Geometrie  aufmerksam  gemacht  zu  haben. 
Wenn  nun  Gantor  aus  einem  Briefe  Fermats  an  Hoberval  (22.  Sept.  1636), 
worin  sich  Fermat  auf  seine  Methode  der  Maxima  und  Minima  beruft, 
die  er  vor  7  Jahren  Roberval  mitgeteilt  habe,  den  Schluss  zieht, 
dass  Fermat  die  analytische  Geometrie  wahrscheinlich  früher  ent- 
deckt habe,  da  ja  die    Methode   der  Maxima   und  Minima  schon  die 


Un Vollkommenheit  der  Naturphilosophie.  105 

Durch  die  eben  besprochenen  Schriften  hat  Des- 
cartes  den  grössten  Teil  seiner  damaligen  mathematisch- 
naturwissenschaftlichen Kenntnisse  der  Öffentlichkeit  zu- 
gänglich gemacht.  Allein  eine  wirkliche  Deduktion 
der  naturwissenschaftlichen  Voraussetzungen  aus  seinen 
allgemeinen  metaphysischen  Prinzipien  hat  er  auch  jetzt 
noch  nicht  gegeben.  Er  war  sich  eben  auch  jetzt  noch 
nicht  darüber  klar,  in  welcher  Weise  er  von  seinen  Vor- 
aussetzungen vollkommene  Rechenschaft  ablegen  könne, 
wiewohl  er  diese  Voraussetzungen  selbst  schon  genau 
festgelegt  hatte.  Auch  in  der  Naturphilosophie  gab  es 
genau  so  wie  in  den  Grundprinzipien  der  Metaphysik 
noch  sehr  viel  zu  tun,  bis  diejenige  Vollkommenheit 
erreicht  wurde,  die  wir  in  den  nunmehr  folgenden 
Werken  unseres  Philosophen  vorfinden. 


wesentlichen  Gedanken  einer  analytischen  Geometrie  voraussetze,  so 
müssen  wir  doch  dieser  Behauptung  entgegenhalten,  dass  Descartes 
schon  im  Jahre  16'23,  wie  aus  seiner  Abhandlung  über  die  Methode 
und  aus  den  Aufzeichnungen  seines  Tagebuches  (Pensees)  mit  Sicher- 
heit  hervorgeht,    im   vollkommenen    Besitz    seiner   Entdeckung  war. 


Fünftes  Kapitel. 


Systematische  Durchbildung  der  Metaphysik. 

1.  Es  wird  uns  nicht  wundern,  wenn  diese  Reihe 
von  wissenschaftlichen  Werken,  die  Descartes  auf  ein- 
mal veröffentlichte,  ein  ausserordentliches  Aufsehen  unter 
den  Gelehrten  und  dem  grossen  Kreise  der  Gebildeten 
erregte.  Die  aufgeklärten  Köpfe  begrüssten  diese  Schrif- 
ten, in  denen  mehr  oder  weniger  offen  der  gesamten 
offiziellen  Wissenschaft  und  Philosophie  der  Krieg  er- 
klärt war,  mit  heller  Freude.  Hier  lagen  doch  einmal 
wirklich  grosse  und  positive  Leistungen  vor,  von  einem 
Manne  vollführt,  der  einen  aufgeklärten  Sinn  mit  ern- 
stem Forschungseifer  verband,  der  hoch  über  den  tollen 
Schwärmern  stand,  die  bisher  durch  ihren  Übereifer 
oder  durch  ihre,  mit  der  Grösse  der  Aufgabe  in  grellem 
Kontrast  stehenden,  geistigen  Fähigkeiten  das  tiefe 
Bedürfnis  der  Zeit  nach  einer  Reformation  der  Philo- 
sophie an  Haupt  und  Gliedern  nicht  zu  stillen  vermocht 
hatten.  Andererseits  aber  musste  sich  Descartes  auf 
grossen  Widerstand  gefasst  machen.  Mussten  doch  seine 
Publikationen  wie  ein  Schlag  ins  Gesicht  bei  den  Ver- 
tretern der  scholastischen  Denkungsweise  wirken.  Was 
half  es,  dass  die  neuen  Anschauungen  in  möglichst  ob- 
jektiver Weise  vorgetragen,  dass  jede  Polemik  vermieden 
war,  an  der  Tatsache,  dass  fast  auf  jeder  Seite  der 
neu  erschienenen  Schriften  sich  Stellen  befanden,   die  im 


Verhältnis  zu  den  Jesuiten.  107 

grössten   Gegensatz   zu   der  gegenwärtigen  PMlosopliie 
standen,  war  doch  nun  einmal  nichts  zu  ändern. 

2.  Wenn  ein  bedeutender  Philosoph  es  erreichen  will, 
dass  sein  System  noch  zu  seinen  Lebzeiten  zu  grösserem 
Ansehen  gelangt,  muss  er  ein  Diplomat  sein.  Ich  erinnere 
daran,  wie  Leibniz  sich  in  acht  genommen  hat,  seinen 
philosophischen  Gegnern  mit  voller  Schärfe  seine  Mei- 
nung zu  sagen,  wie  auch  Kant  sich  davor  gehütet  hat, 
mit  seinen  Überzeugungen  Anstoss  zu  erregen.  Es  lässt 
sich  nun  einmal  nichts  daran  ändern,  auch  der  geistige 
Reformator  kann  genau  so  wie  der  politische  nur  dann 
auf  Erfolg  rechnen,  wenn  er  den  Gegensatz  zwischen 
seinen  Anschauungen  und  den  althergebrachten  nicht 
zu  scharf  hervortreten  lässt. 

Auch  Descartes  musste  mit  allen  Mitteln  versuchen, 
den  radikalen  Eindruck,  den  seine  Lehre  allenthalben 
erweckte,  möglichst  abzuschwächen.  Es  waren  vor- 
nehmlich die  Jesuiten,  die  er  für  sich  zu  gewinnen 
suchte.  Dieser  Orden  besass  ja  damals  eine  grosse 
Macht  in  Frankreich.  Wenn  es  zu  erreichen  war,  dass 
seine  Mitglieder  die  neuen  Anschauungen  billigten,  oder 
ihnen  wenigstens  nicht  feindlich  entgegentraten,  dann 
war  schon  sehr  viel  gewonnen.  Gleich  nach  der  Druck- 
legung seiner  Schriften  sucht  er  die  alten  Beziehungen 
zu  seinem  College  wieder  aufzufrischen.  So  sendet 
er  dem  Pater  Noel,  seinem  ehemaligen  Repetitor,  die 
veröffentlichten  Werke.  „Es  ist  eine  Frucht,  die  Euch 
gehört,  und  zu  der  ich  von  Euch  die  ersten  Anregungen 
erhalten  habe",  heisst  es  in  dem  Begleitschreiben  (A.  I, 
183).  Wenn  wir  nicht  wüssten,  wie  sehr  es  unserem 
Philosophen  darauf  ankam,  die  Ordensmitglieder  auf 
seine  Seite  zu  ziehen,  wir  würden  diesen  Satz  als  eine 
direkte  Ironie  betrachten  ;  die  Philosophie,  wie  sie  bei 
den  Jesuiten  gelehrt  wurde,  erzscholastisch  wie  sie  war, 
hat  Descartes  wahrhafti«:  nicht  die    erste  Anregun«:  zu 


108     Fünftes  Kapitel:  Systematische  Durchbildung  der  Metaphysik. 

seinem  neuen  System  zu  geben  vermoclit.  In  weiteren 
Briefen  an  Noel  sucht  unser  Philosopli  ihn  davon  zu 
überzeugen,  dass  seine  Lehre  vollkommen  mit  den  heiligen 
Glaubenssätzen  übereinstimme,  so  dass  kein  Grrund  für 
den  Orden  vorliege,  derselben  nicht  zuzustimmen  (A. 
I,  455).  Descartes  weiss,  was  für  eine  straffe  Organi- 
sation den  gesamten  Orden  beherrscht,  so  dass  wenn  es 
ihm  gelingt,  einige  einflussreichen  Mitglieder  für  sich 
zu  gewinnen,  er  auf  jdie  freundliche  Stellungnahme  der 
ganzen  Gesellschaft  rechnen  kann  (A.  II,  50).  Tatsäch- 
lich hat  er  es  auch  erreicht,  dass  wenigstens  zu  seinen 
Lebzeiten  die  Väter  der  Verbreitung  seines  Systems 
nicht  entgegentraten,  wenn  wir  absehen  von  vereinzelten 
Angriffen,  wie  sie  z.  B.  von  dem  Pater  Bourdin  unter- 
nommen wurden. 

Ausser  diesen  diplomatischen  Bemühungen  hatte 
Descartes  seit  der  Veröffentlichung  seiner  Schriften  eine 
Menge  von  wissenschaftlichen  Angriffen,  die  von  einer 
grossen  Anzahl  von  Gelehrten  gemacht  wurden,  zu  be- 
antworten und  zu  widerlegen.  Übrigens  sind  dieselben 
von  unschätzbarem  Werte  für  die  Fortentwicklung  und 
Vertiefung  seiner  Anschauungen  geworden.  Es  ist  fast 
kein  Problem  unter  den  von  ihm  behandelten  zu  finden, 
an  dem  nicht  der  eine  oder  der  andere  seiner  wissen- 
•schaftlichen  Gegner  einen  wunden  Punkt  zu  entdecken 
glaubte,  das  nicht  durch  die  erregten  Diskussionen  eine 
bedeutende  Klärung  erfahren  hat.  So  sehen  wir  die 
Briefe  Descartes'  fortan  mit  einer  Fülle  von  Erör- 
terungen metaphysischen  Inhalts  ausgefüllt.  Da  wird 
diskutiert  über  den  Fundamentalsatz,  ich  denke  also 
bin  ich  (A.  I,  82),  über  die  Gottesbeweise  (A.  I,  560), 
über  die  Natur  des  Zweifels  (A.  II,  38 — 39),  über  die 
elementaren  Grundsätze  der  Philosophie  (A.  II,  435) 
und  dergleichen.  Überall  weiss  Descartes  mit  Geschick 
seine  Anschauungen  zu  verteidigen  und  die  Lücken  durch 
neue  Argumente  wieder  auszugleichen. 


Wissenschaftliche  Angriffe.  109 

Fast  noch  schärfer  waren  die  Angriffe,  welche  sich 
gegen  die  Naturphilosophie  richteten.  Hatte  doch,  wie 
wir  wissen,  unser  Philosoph  ihre  Prinzipien  nicht  be- 
wiesen. „Während  Ihr  in  der  Mathematik  nur  Be- 
wunderer habt,  werdet  ihr  Euch  wohl  nicht  wundern, 
dass  in  der  Physik,  deren  philosophische  Prinzipien 
Ihr  noch  nicht  veröffentlicht  habt,  Euch  Einwürfe  be- 
gegnen, da  ja  Eure  ßaisonnements  nur  auf  Vergleiche 
und  Vermutungen  beruhen,  also  nach  Eurer  eigenen 
Methode  in  Zweifel  zu  ziehen  sind",  diese  Worte  rühren 
von  Descartes'  Freunde  Morin  her  (A.  II,  537).  Wir 
können  uns  daraus  schon  ein  Urteil  bilden,  wie  hart 
manche  Gelehrte  urteilten,  die  unserem  Philosophen 
ferner  standen.  Übrigens  war  Descartes  selbst  sich 
darüber  im  klaren,  dass  er  der  Öffentlichkeit  noch  den 
Beweis  seiner  naturphilosophischen  Prinzipien  schuldig 
sei  (A.  II,  200).  War  er  doch  sogar  davon  fest  über- 
zeugt, dass  die  Naturwissenschaft  ohne  sichere  philo- 
sophische Grundlagen  überhaupt  keinen  Wert  besitze. 
„In  der  Physik  würde  ich  meine  Kenntnisse  für  nichtig 
erachten,  wenn  ich  nur  zeigen  könnte,  wie  die  Dinge 
sein  können,  ohne  zu  beweisen,  dass  sie  nicht  anders 
sein  können"  fA.  III,  35).  Descartes  ist  eben  jetzt 
Metaphysiker  durch  und  durch,  und  wenn  er  vorläufig 
noch  zögert,  seine  Naturphilosophie  bekannt  zu  machen, 
so  liegt  es  daran,  dass  sie  noch  einer  gründlichen  Durch- 
arbeitung bedarf. 

3.  Zu  den  bekanntesten  physikalischen  Gegnern 
ist  der  berühmte  Mathematiker  Fermat  zu  rechnen. 
Es  ist  die  Schrift  über  die  Dioptrik,  die  er  einer  ziem- 
lich scharfen  Kritik  unterzieht.  Selbst  der  Entdeckung 
des  Brechungsgesetzes,  an  dessen  Richtigkeit  er  nicht 
zweifeln  kann,  bringt  er  nur  eine  recht  kühle  Be- 
wunderung entgegen.  Nachdem  er  zunächst  in  histo- 
rischer Reihenfolge  alle  Vorgänger  Descartes'  aufgezählt 


110      Fünftes  Kapitel:  Systematische  Durchbildung  der  Metaphysik. 

hat,  um  den  Fortschritt,  der  durch  unseren  Philosophen 
erzielt  wurde,  als  möglichst  gering  erscheinen  zu  lassen, 
entschliesst  er  sich  zu  der  frostigen  Bemerkung,  dass 
„Herrn  Descartes  noch  genügend  viel  übrig  gelassen 
war,  um  seinen  Geist  zu  üben".  Wir  werden  uns  nicht 
darüber  wundern,  wenn  unser  Philosoph  sich  über  eine 
derartige  Besprechung,  die  noch  dazu  in  einzelnen 
Punkten,  ich  nenne  z.  B.  den  Angriff  gegen  die  Be- 
weisführung des  Reflexionsgesetzes,  Mangel  an  modernem 
physikalischen  Verständnis  verriet,  ärgerte,  zumal  da 
Fermat  die  Schrift  noch  vor  der  öffentlichen  Verbreitung 
ohne  Wissen  Descartes'  sich  zu  verschaffen  gewusst 
hatte.  „Er  wollte  meiner  Schrift  schon  ein  Ende  be- 
reiten vor  ihrer  Geburt"  heisst  es  in  einem  Briefe  des 
Philosophen  an  Mersenne  (A.  II,  175).  Von  direkter 
Gehässigkeit  zeugen  die  Kritiken,  die  der  Mathematiker 
Roberval  über  die  Physik  abgab.  Roberval  war  zu 
dieser  Zeit  Professor  der  Mathematik  am  College  Royal. 
Zu  nennen  ist  ferner  noch  Etienne  Pascal,  der  Vater 
des  berühmten  Philosophen.  Spöttisch  äussert  sich  einmal 
Descartes  über  die  drei  Gegner,  „Alle  diese  Herren, 
mögen  sie  nun  Räte,  Präsidenten  oder  grosse  Geometer 
sein,  sollen  es  wissen,  dass  sowohl  ihre  Angriffe,  wie 
auch  ihre  Verteidigungen  unhaltbar  sind,  ihre  Fehler 
liegen  so  auf  der  Hand,  wie  es  klar  ist,  dass  zweimal 
zwei  gleich  vier  ist"  (A.  II,  28).  So  ganz  objektiv  hin- 
sichtlich der  Einwendungen,  die  ihm  gemacht  wurden, 
war  nun  freilich  unser  Philosoph  nicht.  Sehr  oft  ist 
ihm  bei  der  Erwiderung  derartiger  Kritiken  eine  ge- 
wisse nervöse  Gereiztheit  nur  zu  deutlich  anzumerken. 
Manch  unmutige  Stunde  ist  ihm  dadurch  bereitet  worden. 
Und  Äusserungen,  wie  er  sie  häufig  tat,  er  achte  seine 
Feinde  wie  die  Fliegen,  ihre  Reden  Hessen  ihn  gleich- 
gültig wie  das  Geschwätz  eines  Papageies,  verhehlen 
nur  im  Grunde  genommen  den  inneren  Arger,  den  er 
darüber  empfand. 


Günstige  Aufnahme  in  Holland.  111 

4.  Hatten  die  eben  erwähnten  Angreifer  imsern 
Philosophen  vornehmlich  deswegen  beunruhigt,  weil  sie 
teilweise  bedeutende  Männer  waren,  so  waren  es  doch 
andererseits  eine  ganze  Reihe  von  hervorragenden  Köpfen, 
—  namentlich  in  Holland  —  die  seine  Schriften  mit 
unbedingtem  Beifall  aufnahmen.  „Ich  freue  mich,  dass 
Sie  meiner  Partei  angehören",  schreibt  Descartes  seinem 
alten  Freunde  Mydorge  in  Paris,  wo  jetzt  der  Name 
des  Philosophen  „häufig  in  guter  Gresellschaft  genannt 
wird"  (A.  II,  15). 

Vor  allen  Dingen  aber  war  es  wie  gesagt  Holland,  wo 
jetzt  die  neue  Lehre  sich  durchzusetzen  begann.  Hier  hatte 
auch  schon  früher  der  Philosoph  eine  Reihe  von  Be- 
ziehungen angeknüpft.  Treue  Freundschaft  verband  ihn 
mit  Huygens,  dem  Sekretär  des  Statthalters  Friedrich 
Heinrich,  dessen  zweiter  Sohn  Christian  sich  später  als 
Physiker  einen  unsterblichen  Namen  erworben  hat. 
"Wiewohl  Huygens  kein  eigentlicher  G-elehrter  war,  be- 
sass  er  doch  eine  gründliche  und  vielseitige  Bildung. 
Descartes  hat  eine  hohe  Meinung  von  seinen  geistigen 
Fähigkeiten.  „Er  versteht  alles,  fast  bevor  ich  es  ihm 
erkläre"  (A.  I,  315),  äussert  er  in  einem  Brief  über  den 
Freund. 

Indes  auch  bei  den  Fachgelehrten  sollte  Descartes' 
Philosophie  Beifall  finden.  Es  ist  der  Utrechter  Uni- 
versitätsprofessor Henri  Reneri  gewesen,  dem  der  Phi- 
losoph in  dieser  Beziehung  sehr  viel  zu  verdanken  hat. 
Hat  doch  Reneri  es  verstanden,  in  ausserordentlich 
taktvoller  Weise  seine  Zuhörer  mit  der  neuen  Philo- 
sophie bekannt  zu  machen,  ohne  dass  er  irgendwie 
Anstoss  bei  seinen  scholastischen  Kollegen  erregte. 
Freilich  sollte  dieser  feinfühlende  Mann  schon  nach 
kurzer  Wirksamkeit  im  Jahre  1639  plötzlich  durch  den 
Tod  dahingerafft  werden.  Allerdings  schien  sich  zu- 
nächst ein  Ersatz  zu  finden.  Regius,  ein  junger  Schüler 
des  Verstorbenen,    hatte    durch    die     Vorlesungen    des 


112     Fünftes  Kapitel:  Systematische  Durchbildung  dei-  Metaphysik. 

Lehrers  ein  lebhaftes  Interesse  für  die  neue  Philosophie 
gewonnen.  Er  brachte  es  auch  bald  durch  seinen  Eifer 
zu  einer  Professur  an  derselben  Universität  und  schien 
zunächst  Feuer  und  Flamme  für  die  neu  gewonnenen 
Anschauungen  zu  sein.  Es  war  ihm  nicht  genug,  sich 
durch  die  erschienenen  Schriften  die  neue  Philosophie 
anzueignen.  Er  drängte  sich  förmlich  dem  Philosophen 
auf,  um  jeden  Preis  bemüht  persönliche  Fühlung  mit 
ihm  zu  bekommen.  Hätte  Descartes  gewusst,  was  für 
ein  ehrgeiziger  selbstsüchtiger  Kopf  dieser  junge  Pro- 
fessor war,  wie  er  selbst  anfangs,  wo  es  ihm  noch  ehr- 
lich mit  seiner  so  ungestüm  zur  Schau  getragenen  An- 
hängerschaft für  die  neue  Lehre  war,  gröblichen  Anstoss 
bei  seinen  Kollegen  erregte,  durch  die  aufdringliche 
Art  und  Weise,  mit  der  er  seine  Anschauungen  ver- 
breitete, er  hätte  sich  sicherlich  für  diesen  neuen  Schüler 
bedankt.  Einstweilen  war  der  Philosoph  allerdings 
sehr  erfreut  über  den  neuen  Jünger.  „Wenn  die  Fran- 
zosen mir  zu  viel  Unrecht  zufügen,  wende  ich  mich  an 
die  Heiden",  sagte  er  mit  scherzhafter  Anspielung  auf 
die  Worte  des  Apostel  Paulus  (A,  II,  344),  dabei  an 
seinen  neuen  holländischen  Anhänger  denkend. 

5.  Überhaupt  war  die  unmutige  Stimmung,  in  die 
unser  Philosoph  durch  allzuheftige  Angriffe  geriet, 
immer  nur  von  kurzer  Dauer.  Wir  wissen  es  ja,  im 
Grunde  genommen  besass  er  ein  heiteres  Naturell,  das 
sich  nicht  so  leicht  aus  der  Fassung  bringen  liess. 
Mit  unermüdlicher  Ausdauer  beschäftigte  er  sich  damit, 
alle  die  wissenschaftlichen  Anfragen,  die  an  ihn  ge- 
richtet wurden,  erschöpfend  zu  beantworten.  Diese 
wissenschaftlichen  Diskussionen  übten  einen  so  befruch- 
tenden Einfluss  auf  die  systematische  Ausgestaltung 
seines  philosophischen  Systems  aus,  dass  er  jetzt  den 
Entschluss  fassen  konnte,  eine  vertieftere  Darstellung 
seiner  allgemeinen  Metaphysik  dem  Publikum  vorzulegen. 


Charakter  der  Meditationen.     Objektionen.  113 

Die  Abhandlung  erschien  in  lateinischer  Sprache,  denn 
sie  war  nur  für  einen  engeren  Leserkreis  bestimmt, 
der  reif  genug  war,  den  darin  enthaltenen  Gredanken- 
zusammenhang  zu  erfassen.  „Meine  Beweise  sind  so 
miteinander  verkettet,  dass,  wer  nicht  fähig  ist,  die 
früheren  im  Gredächtnis  zu  behalten,  sie  auf  Treu  und 
Glauben  annehmen  muss,  wie  die  Demonstrationen  des 
Mathematikers  Apollonius",  äussert  der  Philosoph  in 
einem  Briefe  an  Huygens  (A.  III,  102).  Fassen  wir 
dieses  "Werk  etwas  näher  ins  Auge,  —  Meditationen 
hat  es  Descartes  genannt^)  — ,  und  vergleichen  es  mit 
der  Abhandlung  über  die  Methode,  so  sticht  die  aus- 
führliche Behandlung  der  metaphysischen  Grundlagen 
beträchtlich  ab  gegen  die  der  früheren  Schrift,  wo  der 
ganzen  Metaphysik  nur  ein  paar  Seiten  gewidmet  waren. 
Man  sieht  es,  der  Philosoph  ist  jetzt  vollkommen  Herr 
geworden  über  seinen  Gegenstand.  Auch  die  formale 
Behandlung  des  Stoffes  macht  einen  glänzenden  Eindruck, 
Wir  sehen  den  Denker  in  einem  dramatischen  Selbst- 
gespräch mit  seinen  philosophischen  Gedanken  verwickelt. 
Sie  stürzen  ihn  in  den  tiefsten  Abgrund  des  Zweifels, 
seine  Seele  bis  ins  Innerste  erschütternd.  Eine  furcht- 
bare Spannung  bemächtigt  sich  des  Lesers,  schon  glaubt 
er  den  Helden  erliegen,  der  Übermacht  weichen  zu 
sehen.  Da  erfolgt  auf  einmal  ein  jäher  Wechsel  der 
Situation.  Der  Philosoph  ermannt  sich.  Seine  ganze 
Willenskraft  strengt  er  an,  um  der  rebellischen  Ge- 
danken Herr  zu  werden.  Und  siehe  es  gelingt  ihm, 
gelingt  ihm  in  einer  Weise,  wie  er  es  nicht  zu  hoffen 
gewagt  hat.  Nicht  nur,  dass  er  sie  niederzwingt,  nein 
noch  mehr ,  die  vorher  so  widerspenstig  waren ,  sie 
müssen    ihm    jetzt    fronen,    unter    seiner    Leitung    eine 


^)  Der  Titel  der  ersten  lateinischen  Ausgabe  (1641)  lautete: 
Meditationes  de  prima  philosophia,  ubi  de  Dei  existentia  et  animae 
immortalitate. 

H  o  f  f  m  an  n  ,  Descartus.  8 


114     Fünftes  Kapitel:  Systematische  Durchbildung  der  Metaphysik. 

feste  Burg  der  Gewissheit  bauen,   die  sie  nie  wieder  zu 
zerstören  vermögen. 

6.  Hatte  Descartes  schon  in  der  Schrift  selbst 
mit  den  stärksten  ihm  zur  Verfügung  stehenden  Argu- 
menten seine  Anschauungen  zu  stützen  versucht,  so  war 
ihm  das  dennoch  nicht  genug.  Bevor  die  Abhandlung 
der  Öffentlichkeit  zugänglich  gemacht  wurde,  schickte 
er  sie  an  eine  Reihe  von  bedeutenden  Philosophen  und 
Theologen.  Erst  als  der  Philosoph  die  von  diesen 
Männern  gemachten  Einwürfe  beantwortet  und  zu  dem 
übrigen  Werke  hinzugefügt  hatte,  hielt  er  es  an  der 
Zeit,  die  Schrift  erscheinen  zu  lassen. 

Offen  gestanden ,  es  gehört  eine  gewisse  Greduld 
dazu,  diesen  die  ursprüngliche  Abhandlung  an  Seitenzahl 
weit  übertreffenden  Anhang  ganz  durchzulesen.  Und 
doch  bleibt  die  Mühe  nicht  unbelohnt.  Ist  es  nicht  ein 
ausserordentlich  packendes  Bild ,  Vertreter  der  hete- 
rogensten Weltanschauungen  über  die  brennendsten 
Punkte  der  allgemeinen  Metaphysik  miteinander  dis- 
putieren zu  sehen.  Da  tritt  uns  entgegen  der  Sensualist 
Gassendi,  zur  Zeit  in  Paris  der  Held  des  Tages,  eine 
im  allgemeinen  recht  liebenswürdige  Natur,  der  leben 
und  leben  lassen  will  und  keinem  seine  Gedanken  aufzu- 
drängen pflegt.  Aber  augenblicklich  ist  er  etwas  ver- 
stimmt. Descartes  hat  ihn  in  seiner  Meteorologie  nicht 
zitiert,  wie  er  es  zu  verdienen  glaubte.  Und  wie  fried- 
liebend und  gutmütig  er  auch  sonst  zu  sein  pflegt,  das 
nimmt  er  übel  und  setzt  den  idealistischen  Argumenten 
des  Gegners  eigensinnig  auf  Schritt  und  Tritt  seine  sensu- 
alistischen  Gegengründe  entgegen.  In  der  Geschichte 
der  Philosophie  spielen  Leibniz'  Abhandlungen  über  den 
menschlichen  Verstand  eine  grosse  Polle,  weil  der  Phi- 
losoph in  diesem  Werke  als  Vertreter  des  erkenntnis- 
theoretischen Idealismus  die  entgegengesetzten  Anschau- 
ungen John  Locke's  bekämpft.   In  unserer  Schrift  haben 


Eigenart  der  Objektionen.     Schloss  Endegeest.  115 

wir  ein  kleines  Vorspiel  zu  diesen  späteren  Auseinander- 
setzungen, ein  Vorspiel,  dem  zwar  niclit  die  Bedeutung 
der  letzteren  zukommt,  das  aber  dafür  vom  psycho- 
logischen Standpunkte  aus  betrachtet  recht  interessant 
ist,  weil  in  ihm  die  aufeinander  stossenden  Gegensätze 
viel  schärfer  ausgeprägt  sind. 

Einen  etwas  anderen  Charakter  tragen  die  Ein- 
wände des  Positivisten  Hobbes.  Dieser  Denker  war 
zwar  auch  Naturalist  und  suchte  sich  in  diesem  Sinne 
gegen  Descartes  zu  wenden,  allein  er  war  nicht  wie 
Gassendi  in  erkenntnistheoretischen  Fragen  sensualistisch 
gesinnt,  sondern  hatte  auf  diesem  Gebiete  mannigfache 
Berührungspunkte  mit  der  rationalistischen  Anschau- 
ungsweise Descartes'.  Hobbes  möchte  gern  mit  unserem 
Philosophen  intimere  Beziehungen  pflegen.  Allein  er 
fängt  es  recht  ungeschickt  an,  kehrt  in  seinen  Einwen- 
dungen nur  die  Descartes  unsympathische  Seite  seiner 
Philosophie  hervor  und  ärgert  noch  ausserdem  den  leicht 
reizbaren  Philosophen  durch  seine  Polemik  gegen  die 
Dioptrik.  So  ist  es  denn  kein  Wunder,  wenn  Descartes 
„diesen  Engländer"  nicht  leiden  mag,  jeden  Verkehr, 
den  der  gutmütige  Mersenne  anzubahnen  versucht  hatte, 
mit  ihm  meidet  und  sogar  den  argwöhnischen  Verdacht 
fasst,  Hobbes  wolle  ihn  ausbeuten.  Es  ist  sehr  schade, 
dass  diese  beiden  eigenwilligen  Denker  sich  in  dieser 
Weise  einander  entfremdeten.  So  manche  Härten  hätten 
sie  bei  gegenseitiger  Berührung  aneinander  abschleifen 
können. 

Zu  den  scharfsinnigsten  Einwendungen  rechnet  Des- 
cartes diejenigen  Arnauld's,  eines  der  jüngsten  Doktoren 
der  Sorbonne.  Mit  klarem  Blick  erkennt  er  die  Be- 
gabung des  jungen  Mannes.  „Wiewohl  es  noch  nicht 
lange  her  ist,  dass  Herr  Arnauld  Doktor  geworden 
ist,  so  schätze  ich  doch  seine  Fähigkeiten  hoher,  als 
die  Hälfte  aller  anderen"  (A.  III,  473).  Da  haben  wir 
wieder  einmal  eine  vertrauliche  Bemerkung:,  die  erkennen 


116     Fünftes  Kapitel :  Systematische  Durchbildung  der  Metaphysik. 

lässt,  wie  veräclitlicli  der  Philosoph  über  die  Repräsen- 
tanten der  offiziellen  Gelehrsamkeit  dachte.  Hören  wir 
dagegen,  wie  er  sich  ein  Jahr  vorher  öffentlich  über  die 
Sorbonne  auslässt,  der  er  sein  metaphysisches  Werk 
gewidmet  hat.  „Die  Achtung,  die  alle  Welt  vor  Euch 
hat,  ist  so  gross,  und  der  Name  der  Sorbonne  geniesst  ein 
solches  Ansehen,  dass  nicht  nur  in  Glaubenssachen  .... 
sondern  auch  in  den  Angelegenheiten  der  Philosophie, 
niemand  hofft,  irgend  wo  anders  mehr  Solidität  und 
Kenntnisse,  mehr  Klugheit  und  Unparteilichkeit,  wie 
sie  zu  einer  Beurteilung  nötig  sind,  zu  finden"  (C.  I,  221). 
Wer  weiss,  ob  nicht,  im  Falle  diese  Widmung  unter- 
blieben wäre,  Descartes'  Meditationen  in  Frankreich 
verboten  worden  wären.  Die  Geistlichkeit  übte  da- 
mals eine  recht  scharfe  Zensur  aus,  die  man  nur  durch 
derartige  Schmeicheleien  vermeiden  konnte. 

7.  Mit  der  Herausgabe  der  Meditationen,  die  im 
Jahre  1641  erfolgte,  hatte  der  Philosoph  erst  einen 
Teil  seiner  Verpflichtungen  erfüllt.  Noch  schuldet  er 
der  Öffentlichkeit  eine  Rechtfertigung  seiner  natur- 
philosophischen Prinzipien,  ausserdem  musste  er  daran 
denken,  dem  Publikum  einen  Ersatz  zu  liefern  für  das 
wegen  der  Verurteilung  Galileis  nicht  erschienene 
kosmogonische  Werk.  Mit  allen  diesen  Arbeiten  war 
er  nun  in  den  nächsten  Jahren  beschäftigt.  Die  ruhige 
abgeschiedene  Lage  seines  damaligen  Aufenthaltsortes 
gab  ihm  die  hinreichende  Müsse  dazu.  Es  war  das 
reizend  gelegene  Schlösschen  Endegeest,  das  Descartes 
sich  zu  seinem  Wohnsitz  ausersehen  hatte.  Die  Be- 
quemlichkeit, mit  der  er  sich  dort  einrichtete,  zeigt  uns, 
dass  er  keineswegs  ein  Verächter  allen  Komforts  ge- 
wesen ist.  Er  hatte  wohlausgesuchte  Diener  um  sich 
und  besass  einen  sehr  schönen,  von  Wiesen  umsäumten 
Garten.  Morgens  früh  stand  er  verhältnismässig 
spät  auf,    schloss    sich  dann  den  ganzen  Vormittag  ein. 


Herausgabe  der  „Prinzipien".     Ihre  Bedeutung.  117 

um  ungestört  arbeiten  zu  können.  Die  Zeit  nach  dem 
Mittagessen  war  ganz  der  Erholung  gewidmet.  Da 
unterhielt  er  sich  mit  seinen  Freunden,  pflegte  die 
Pflanzen  seines  Garten  und  suchte  sich  auf  alle  mög- 
liche Weise  durch  körperliche  Übungen  zu  zerstreuen. 
Von  vier  Uhr  nachmittags  an  wurde  dann  wieder  gear- 
beitet, oft  bis  spät  in  die  Nacht  hinein  (Baillet  II,  168 
und  450). 

8.  Bei  der  hinreichenden  Müsse,  die  Descartes 
besass,  konnte  er  schon  im  Jahre  1644  sein  naturj^hilo- 
sophisches  Werk  herausgeben.  Er  hat  es  „Prinzipien 
der  Philosophie"  genannt.  Der  Titel  könnte  allerdings 
zu  Missverständnissen  führen.  Denn  das  Buch  enthält 
keineswegs  das  ganze  philosophische  System.  Nur  die 
Naturphilosophie  und  die  allgemeinen  Grrundzüge  der  Kos- 
mogonie  und  Physik  sind  darin  hauptsächlich  behandelt. 
Von  der  allgemeinen  Metaphysik  dagegen,  die  ja  schon 
in  den  Meditationen  ausführlich  dargestellt  war,  ist  nur 
ein  kurzer  Abriss  gegeben.  Freilich  ist  auch  in  diesem 
G-ebiete  manches  schärfer  herausgearbeitet  worden,  so 
z.  B.  das  Verhältnis  des  menschlichen  Geistes  zu  den 
angeborenen  Vorstellungen  und  zum  Unendlichen,  ferner 
auch  das  Verhältnis  der  menschlichen  Freiheit  zu  der 
Allwissenheit  Gottes.  Nach  diesem  metaphysischen  Teil 
folgen  die  naturphilosophischen  Prinzipien  und  ihre 
rationale  Begründung.  Den  grössten  Raum  aber  nimmt 
die  Darstellung  des  allgemeinen  physikalischen  Welt- 
bildes ein,  mehr  als  zwei  Drittel  des  ganzen  Werkes 
wird  von  ihr  ausgefüllt.  Hier  hat  uns  nun  Descartes 
zum  zweiten  Male  ein  Bild  von  der  allmählichen  Ent- 
stehung der  Welt  gegeben,  dabei  aber  klug  vermieden, 
der  Geistlichkeit  irgend  ein  Ärgernis  zu  bereiten.  Er 
wolle  nur  deswegen  die  Entwicklung  der  Welt  aus 
einem  einfachen  Anfangszustande  schildern,  weil  wir 
auf  diese    Weise    einen   viel    tieferen    Einblick    in    die 


118     Fünftes  Kapitel :  Systematische  Durchbildung  der  Metaphysik. 

Natur  bekommen ,  als  wenn  wir  sie  einfach  in  ihren 
jetzigen  Verhältnissen  uns  vor  Augen  führen.  Es  läge 
ihm  dagegen  vollkommen  fern,  zu  behaupten,  class  die 
Welt  sich  tatsächlich  in  dieser  Weise  entwickelt  habe. 
Auch  hinsichtlich  der  Erdbewegung  versteht  sich  der 
Philosoph,  allerdings  in  recht  künstlicher  Weise,  mit 
der  Bibel  in  Einklang  zu  setzen.  Mag  auch  die  Erde 
sich  um  die  Sonne  drehen,  trotzdem  kann  sie  als  ruhend 
angesehen  werden,  ruht  sie  doch  relativ  zu  dem  Ather- 
wirbel,  der  sie  um  die  Sonne  treibt.  Wie  gezwungen 
diese  Erklärung  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Sollte  sie 
Uescartes  etwa  ernst  gemeint  haben?  Fast  möchte  es 
wirklich  scheinen,  dass  seine  Gedanken  —  wider  sein 
besseres  Wissen  —  unter  dem  Drucke,  den  die  Kirche 
ausübte,  diese  künstliche  Wendung  genommen  haben. 
Schreibt  er  doch  ganz  unbefangen  an  den  Pater  Noel: 
„Was  die  Zensur  von  Rom  betrifPt,  hinsichtlich  der 
Bewegung  der  Erde ,  so  sehe  ich  keine  Gefahr,  denn 
ich  leugne  ausdrücklich  diese  Bewegung.  Freilich  wird 
man  wohl  anfangs  denken,  dass  ich  sie  nur  dem  Wort- 
laut meiner  Darstellung  nach  leugne,  um  die  Zensur  zu 
vermeiden,  weil  ich  das  System  des  Kopernikus  beibe- 
halte, aber  wenn  man  meine  Gründe  prüft,  dann  wird 
man  sehen,  dass  sie  ernst  gemeint  und  zuverlässig  sind" 
(A.  V,  550). 

9.  Die  ruhige  Müsse,  die  Descartes  in  so  vollkom- 
menem Masse  bisher  in  Holland  genossen  hatte,  sollte 
fortan  durch  einige  unangenehme  Zwischenfälle  beein- 
trächtigt werden.  Der  Professor  ßegius  hatte  sich  nach 
und  nach  in  Utrecht  so  unbeliebt  gemacht,  dass  er  nicht 
nur  in  Gefahr  geriet,  sein  Amt  zu  verlieren,  der  er 
allerdings  dank  seiner  Geschmeidigkeit  entrinnen  sollte, 
sondern  auch  Descartes  selbst  in  Mitleidenschaft  zog. 
An  der  TJtrechter  Universität  befand  sich  damals  ein 
ganz  fanatischer  Theologieprofessor,  Gisbert  Voetius  mit 


Der  Fanatiker  Voetius,     Abfall  des  Professors  Regius.       119 

Namen.  (3b wohl  er  einen  ziemlich  beschränkten  geistigen 
Horizont  besass,  hatte  er  es  doch  verstanden,  durch 
seinen  fanatischen  Eifer,  mit  dem  er  alle  Ketzer  ver- 
folgte, grossen  Einfluss  unter  seinen  Mitbürgern  zu 
gewinnen.  In  der  Bekämpfung  seiner  Gegner  scheute 
er  vor  den  brutalsten  Mitteln  nicht  zurück,  mit  den 
plumpesten  Verleumdungen,  mit  den  gemeinsten  Pam- 
phleten überschüttete  er  sie,  bis  er  sie  zu  Grunde  ge- 
richtet hatte.  Dieser  Mann  merkte  es  bald,  trotz  seiner 
geistigen  Beschränktheit,  wer  der  Urheber  der  ketze- 
rischen Lehren  war,  -die  Regius  vortrug.  Und  nun  war 
unser  Philosoph  nicht  mehr  sicher  vor  ihm.  AVas  half 
es,  dass  er  in  einer  im  Jahre  1645  erschienenen  Brochüre 
den  Mann  an  den  Pranger  stellte  und  die  gemeinen 
Verdächtigungen,  die  er  gegen  ihn  erhoben  hatte,  ent- 
rüstet von  sich  wies.  Ein  Mensch  wie  Voetius  wusste 
sich  auch  dagegen  zu  helfen.  Nachdem  es  ihm  nicht 
mehr  möglich  war,  offen  gegen  ihn  zu  kämpfen,  hetzte 
er  im  geheimen  gegen  ihn.  Reklamationen  von  Seiten 
Descartes'  hatten  nie  einen  vollkommen  durchgreifenden 
Erfolg.  Und  wer  weiss,  wie  sehr  unser  Philosoph  noch 
von  diesem  wütenden  Fanatiker  belästigt  worden  wäre, 
wenn  es  ihm  nicht  dank  seiner  Beziehungen,  die  er  mit 
dem  holländischen  Statthalter  unterhielt,  stets  gelungen 
wäre,  die  gegen  ihn  unternommenen  Prozesse  nieder- 
zuschlagen. 

Zu  allen  diesen  verdriesslichen  Ereignissen  kam 
noch  der  Arger,  der  Descartes  durch  Regius  bereitet 
wurde,  hinzu.  Dem  Herrn  Professor  schien  nämlich 
die  Märtyrerrolle,  in  die  er  durch  sein  eigenes  Ver- 
schulden hineingeraten  war,  mit  der  Zeit  nicht  mehr 
zu  behagen.  Nachdem  er  sich  durch  die  Philosophie 
seines  Meisters  genügendes  Ansehen  verschafft  hatte, 
fing  er  plötzlich  an,  sein  Verhalten  zu  ändern.  Der 
früher  so  entschiedene  Anhänger  Descartes'  entpuppte 
sich  auf  einmal  als  ein  Sensualist,  der  die  angeborenen 


120     Fünftes  Kapitel :  Systematische  Durchbildung  der  Metaphj'sik. 

Ideen  und  die  Unkörperliclikeit  des  Greistes  leugnet. 
Als  Descartes  ihm  daraufhin  androht,  dass  er  sich 
öiFentlich  von  ihm  lossagen  würde,  besass  er  die  Un- 
verschämtheit, ihm  in  folgender  Weise  zu  antworten. 
„Ihr  würdet  vielleicht  Euch  selbst  mehr  Schaden  zu- 
fügen als  mir,  wenn  Ihr  schriftlich  oder  mündlich  er- 
klärt, dass  Ihr  in  der  Metaphysik  von  mir  abweichende 
Meinungen  habt.  Denn  das  Beispiel  eines  Mannes,  wie 
ich  es  bin,  der  in  Eurer  Philosophie  keineswegs  für 
einen  Ignoranten  gilt,  wird  nur  dazu  dienen,  verschiedene 
Leute,  die  schon  früher  andere  x\nschauungen  gehabt 
haben,  in  ihren  Überzeugungen  zu  bestärken,  und  sie 
werden  es  mir  zur  Ehre  anrechnen,  wenn  ich  trotz  der 
intimen  Beziehungen,  die  ich  früher  mit  Euch  unter- 
halten habe,  dennoch  von  Euren  Anschauungen  abweiche, 
wenn  sie  nicht  der  Vernunft  entsprechen"  (A.  II,  235). 
Solch  eine  Anmassung  trug  jetzt  dieser  Mensch  zur  Schau, 
der  in  seinen  früheren  Briefen  nicht  genug  Worte  ge- 
funden hatte,  um  seine  unbedingte  Anhänglichkeit  an  die 
Person  und  die  Lehre  des  Philosophen  zu  zeigen.  Des- 
cartes  hat  sich  bald  darauf  von  dem  treulosen  Schüler 
losgesagt.^) 

10.  Indes  Descartes  sollte  nicht  mit  allen  seinen 
Schülern  so  schlechte  Erfahrungen  machen.  Es  war 
die  Prinzessin  Elisabeth,  die  Tochter  jenes  unglücklichen 
Pfalzgrafen,  gegen  den  auch  Descartes  einst  mit  zu 
Felde  gezogen  war,  die  im  Gregensatz  zu  ßegius  eine 
der  treuesten  Anhängerin  des  Philosophen  geworden  ist. 
Elisabeth  besass  einen  selten  regen  Geist.  Als  sie  Des- 
cartes im  Jahre  1643  zum  ersten  Male  persönlich  kennen 
lernte,  erfuhr  er  —  sicherlich  zu  seinem  grossen  Er- 
staunen — ,  dass  das  junge  fünfundzwanzigjährige  Mäd- 


*)  1647  hat  Descartes  sogar  in  einer  besonderen  Schrift  die  Irr- 
tümer seines  früheren  Schülers  gekennzeichnet.  Siehe  Cousin  B.  10. 
S.  71  u.  f. 


Elisabeths  Beziehungen  zu  Descartes.  121 

chen  bereits  mit  dem  lebhaftesten  Interesse  sich  in 
seine  Werke  vertieft  hatte.  Die  Folge  davon  war  ein 
reger  wissenschaftlicher  Verkehr  zwischen  beiden,  aus 
dem  bald  ein  inniges  Freundschaftsbündnis  entstehen 
sollte.  Wohl  kaum  ist  die  Familie  einer  Fürstin  von 
so  schweren  Schicksalsschlägen  getroiFen  worden,  wie 
die  unserer  Prinzessin.  In  Descartes  hat  sie  einen 
treuen  Berater  gefunden,  dem  sie  ihr  Herz  ausschütten 
konnte,  der  ihr  in  der  feinfühligsten  und  taktvollsten 
Weise  beizustehen  und  Trost  zuzusprechen  bemüht  war. 
Jedoch  auch  in  philosophischen  Fragen  hat  sie  stets 
Hat  bei  ihm  gesucht,  aber  andererseits  ihrem  Lehrer 
selbst  manche  wichtige  Anregung  gegeben,  indem  sie 
mit  scharfem  Blick  die  Stelle  seines  Systems  heraus- 
fand, die  noch  lückenhaft  und  einer  Ergänzung  bedürftig 
war.  Es  war  die  Wechselwirkung  zwischen  Körper 
und  Geist,  die  der  Philosoph  bisher  noch  nicht  ausführ- 
lich behandelt  hatte.  Und  doch  war  dies  für  ihn  un- 
bedingt erforderlich,  da  ja  bei  der  scharfen  Scheidegrenze, 
die  er  zwischen  Greist  und  Körper  gezogen  hatte,  eine 
Aufklärung  über  die  Beziehungen  zwischen  den  beiden 
Substanzen  um  so  notwendiger  war.  Durch  diese  An- 
regungen entstand  Descartes'  Abhandlung  über  die 
Affekte,  die  ein  Jahr  vor  seinem  Tode  veröffentlicht 
wurde.  Sind  es  doch  gerade  die  Affekte,  bei  denen  sich 
am  augenfälligsten  die  Wechselwirkung  zwischen  Leib 
und  Seele  zeigt.  In  dieser  Schrift  haben  wir  einen 
charakteristischen  Beweis  für  die  Welt-  und  Menschen- 
kenntnis des  Philosophen,  die  in  seinen  übrigen  wissen- 
schaftlichen Werken,  ihrem  metaphysischen  und  natur- 
wissenschaftlichen Inhalt  gemäss,  natürlich  seltener  zum 
Ausdruck  kommt. 

Indessen  nicht  nur  rein  metaphysische  Erörterungen 
fanden  zwischen  Descartes  und  der  Prinzessin  statt. 
Auch  über  die  Grundlagen  der  Moral  hat  der  Philosoph 
mit  ihr  diskutiert.     Lag   es    doch    sehr  nahe,    dass    die 


122     Fünftes  Kapitel:  Systematische  Durchbildung  der  Metaphysik. 

schwergeprüfte  Fürstin  durch  derartige  Betrachtungen 
sich  über  die  vielen  Unglücksfälle,  die  sie  betrafen, 
hinwegzuheben  versuchte.  Andererseits  war  auch  für 
Descartes  kein  Zeitpunkt  geeigneter,  die  ethischen  Pro- 
bleme in  systematischer  Weise  zu  betrachten,  als  der 
jetzige,  in  dem  er  sein  metaphysisches  System  zum  Ab- 
schluss  gebracht  hatte.  Allerdings  stehen  die  ethischen 
Ansichten,  wie  sie  der  Philosoph  in  seinen  Briefen  und 
in  der  Schrift  über  die  Leidenschaften  äussert,  in  keinem 
strengen  Zusammenhang  mit  seinem  System,  dennoch 
deutet  die  in  ihnen  hervortretende  idealistische  Gesinnung- 
unverkennbar  auf  den  inneren  (xrundcharakter  der  meta- 
physischen Denkungsweise  unseres  Philosophen  hin,  der 
ja  auch  durch  und  durch  idealistisch  ist.  Bei  der 
humanen  Gesinnung  Descartes'  wird  es  uns  nicht  wun- 
dern ,  wenn  der  Idealismus ,  der  sich  in  seiner  Ethik 
kund  tut,  in  keiner  Weise  übertrieben  ist.  Der  Philo- 
soph huldigt  durchaus  gemässigten  Anschauungen  und 
schlägt  einen  versöhnlichen  Mittelweg  zwischen  den 
extremen  Richtungen  der  Stoiker  und  Epikureer  ein. 

11.  Bis  jetzt  hatte  Descartes  seinen  Aufenthalt  in 
Holland  nicht  miterbrochen,  wenn  wir  absehen  von  der 
Reise  nach  Dänemark,  die  er  in  der  ersten  Zeit  seines 
Hierseins  unternommen  hatte.  Jetzt  fühlte  er  aber 
doch  wieder  einmal  das  Bedürfnis,  sein  Vaterland  und 
seine  französischen  Freunde  wiederzusehen.  Das  waren 
wohl  die  Hauptmotive,  die  ihn  veranlassten,  in  kürzeren 
Zwischenräumen  mehrere  Reisen  nach  Frankreich  zu 
unternehmen,  wir  finden  ihn  dort  in  den  Jahren  1644, 
1647  und  1648.  Descartes  erlebte  in  dieser  Zeit  die 
Freude,  immer  mehr  Anerkennung  in  weiteren  Kreisen 
zu  linden.  Seine  lateinischen  Werke  wurden  ins  Fran- 
zösische übersetzt.  Ja  sogar  der  königliche  Hof  wurde 
auf  ihn  aufmerksam.  Der  Philosoph  erhielt  eine  Pen- 
sion, „in  Anbetracht  seiner  grossen  Verdienste  und  des 


Aufnahme  in  Frankreich.     Königin  Christine.  123 

Nutzens,  den  seine  Philosophie  und  die  Resultate  seiner 
langjährigen  Forschung  der  Menschheit  brächten,  sowie 
auch,  um  ihm  die  Mittel  zu  gewähren,  seine  schönen 
aber  kostspieligen  wissenschaftlichen  Versuche  weiter 
fortzusetzen"  (Baillet  II,  327).  In  der  Tat  hatte  der 
französische  Staat  allen  Grund  dazu,  den  Philosophen 
in  dieser  Weise  zu  ehren.  War  doch  Descartes  uner- 
müdlich weiter  bemüht,  seine  naturwissenschaftlichen 
Untersuchungen  fortzusetzen.  Vier  Jahre  bevor  er  diese 
Pension  (1648)  erhielt,  war  es  ihm  geglückt,  wieder  einmal 
eine  wichtige  physikalische  Entdeckung  zu  machen.  Es 
gelang  ihm  nämlich,  die  Gesetze  zu  finden,  nach  denen 
sich  der  Auslauf  von  Flüssigkeiten  vollzieht.  Im  Jahre 
1643  hat  er  uns  in  einem  Briefe  davon  in  Kenntnis  ge- 
setzt, ein  Jahr  bevor  Torricelli  seine  Entdeckungen 
auf  diesem  Gebiete  veröffentlichte^). 

12.  Trotzdem  der  Philosoph  ein  gemässigtes  Leben 
führte  und  in  keiner  Weise  über  seine  Kräfte  arbeitete, 
hatten  ihn  doch  die  letzten  Jahre  ziemlich  mitgenommen. 
Seit  seiner  Reise  nach  Frankreich,  schreibt  er  im 
Jahre  1645,  käme  es  ihm  vor,  als  ob  er  um  zwanzig 
Jahre  gealtert  sei:  „Ich  meine  nicht,  dass  mir  etwas 
fehlt,  Gott  sei  Dank.  Aber  ich  fühle  mich  schwächer 
und  glaube  fortan  mehr  Bequemlichkeit  und  Ruhe  zu 
bedürfen"  (A.  IV,  204 — 5).  Manches  mögen  auch  dazu  die 
vielen  Unannehmlichkeiten  beigetragen  haben,  die  ihm 
durch  Voetius  und  seinen  Anhang  bereitet  wurden. 
Dadurch  wurde  ihm  der  Aufenthalt  in  Holland  schliess- 
lich immer  mehr  verleidet,  „in  einem  Lande,  wo,  wie 
er  sich  bitter  ausdrückt,  man  nicht  die  Rechtschaffenheit 


M  In  die  letzte  Lebenszeit  des  Philosophen  ist  auch  das  natur- 
wissenschaftUche  Werk:  De  la  forniation  du  foetus  zu  setzen;  ferner 
eine  unvollendete  Arbeit,  in  der  er  versucht,  in  Dialogform  seine 
philosophischen  Anschauungen  zu  entwickeln. 


124     Fünftes  Kapitel :  Systematische  Durchbildung  der  Metaphysik. 

und   Tugend,    sondern   den    Bart,    die    Stimme    und    die 
Augenbrauen  der  Theologen  verehrt"  (A.  V,  17). 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  wohl  zu  verstehen, 
dass  er  ein  von  der  Königin  Christine  von  Schweden 
an  ihn  gerichtetes  Anerbieten,  nach  Stockholm  überzu- 
siedeln, nicht  ausschlug.  Schon  im  Jahre  1646  erfahren 
wir,  dass  sich  Christine  mit  den  philosophischen  Schriften 
Descartes'  beschäftigt  hat  (A.  IV,  535).  Durch  die  Ver- 
mittelung  des  mit  dem  Philosophen  befreundeten  fran- 
zösischen Gresandten  Chanut  kam  dann  zwischen  beiden 
ein  brieflicher  Verkehr  zu  stände.  Die  Tochter  Grustav 
Adolphs  zeigte  ein  reges  Verständnis  für  alle  möglichen 
Wissensgebiete.  Eine  Reihe  von  begabten  Köpfen  hatte 
sie  an  ihren  Hof  gezogen.  Doch  besass  sie  keine  Aus- 
dauer, genau  so  wenig  wie  in  den  Regierungsgeschäften. 
Auch  in  ihren  Handlungen  war  sie  launisch  und  rück- 
sichtslos, ganz  im  Gegensatz  zu  der  feinlühligen  und 
edelmütigen  Prinzessin  Elisabeth.  Bezeichnend  für  ihre 
bizarren  Einfälle  ist  es,  dass  sie  Chanut  einst  die  selt- 
same Frage  stellte,  welche  Leidenschaft  von  schlimmeren 
Folgen  begleitet  sei,  die  Liebe  oder  der  Hass.  Chanut 
bat  den  Philosophen,  die  Königin  darüber  aufzuklären, 
und  durch  die  sich  an  dieses  Problem  anschliessende 
Korrespondenz  zwischen  Christine  und  Descartes  bekam 
erstere  eine  so  hohe  Meinung  von  ihm,  dass  sie  ihn 
dringend  einlud,  sie  zu  besuchen  und  in  die  Grundlagen 
seiner  Philosophie  einzuweihen.  Als  Descartes  den 
Vorschlag  annahm,  hoffte  er  im  geheimen,  den  poli- 
tischen Einiluss  der  Königin  zu  Gunsten  seiner  treuen 
Schülerin  Elisabeth  zu  benutzen,  was  ihm  freilich  nicht 
gelingen  sollte. 

13.  Ln  Oktober  des  Jahres  1649  gelangte  unser 
Philosoph  nach  Stockholm.  Allein  wie  sehr  ihn  auch 
die  Königin  auszeichnete,  das  Hofleben  gefiel  ihm 
keineswegs.    „Ich  werde  wohl  nicht  länger  hier  bleiben, 


Am  schwedischen  Hof.     Krankheil  und  Tod.  125 

als  bis  zum  nächsten  Sommer"  schrieb  er  gleich  nach 
seiner  Ankunft  der  Prinzessin  Elisabeth  (A.  V,  431). 
Zu  Descartes'  Missstimmung  mag  auch  viel  beigetragen 
haben  die  grosse  Anzahl  von  Literaten,  die  Christine 
um  sich  gesammelt  hatte,  die  mit  scheelem  Neide 
die  Begünstigungen,  die  der  Philosoph  erhielt,  betrach- 
teten. Aber  was  ihn  auch  immer  bekümmert  haben  mag, 
wir  wissen  es,  dass  er  sich  bald  wieder  aus  Schweden 
fortwünschte.  „Ich  bin  hier  nicht  in  meinem  Element" 
schreibt  er  klagend  in  einem  Briefe  aus  dem  Januar 
1650  (A.  V,  467).  Leider  sollte  er  nur  allzu  recht  darin 
haben.  Sein  Unbehagen  wurde  noch  verstärkt  durch 
den  kalten  nordischen  Winter  und  die  völlig  veränderte 
Lebensweise,  zu  der  er  am  Hofe  genötigt  wurde.  Alle 
diese  Umstände  sollten  für  seine  ohnehin  schwache  Kon- 
stitution verhängnisvoll  werden.  Zu  Anfang  Februar 
wurde  er  plötzlich  krank,  bald  stellte  es  sich  heraus, 
dass  er  sich  eine  schwere  Lungenentzündung  zugezogen 
hatte,  gegen  die  es  keine  Rettung  mehr  gab.  Am  elften 
Februar,  vier  Uhr  morgens,  hauchte  er  seinen  Geist  aus. 
So  nehmen  wir  Abschied  von  dem  Leben  unseres 
Philosophen,  eines  Mannes,  der  in  wahrhaft  ergreifender 
Weise  sich  das  ganze  Leben  hindurch  seinem  rastlos 
tätigen  Wahrheitsdrange  hingegeben  hat. 


Zweiter  Teil. 

Das  metaphysische  System. 


Sechstes  Kapitel. 


Allgemeine  metaphysische  Grundlagen. 

1.  Haben  wir  wirklich  die  ernste  Absicht,  in  der 
Philosophie  zur  wahren,  unbestreitbaren  Erkenntnis  zu 
kommen,  so  müssen  wir  zunächst  alles  in  Zweifel  ziehen, 
was  dem  gewöhnlichen  Menschen  als  sicher  und  zuver- 
lässig erscheint.  Also  hinweg  mit  allen  Meinungen  und 
Urteilen,  die  wir  uns  früher  gebildet  haben.  Allein  das 
genügt  noch  nicht.  Auch  das ,  was  uns  vorher  am 
sichersten  erschienen  ist,  die  Realität  der  Aussenwelt 
müssen  wir  bezweifeln,  mag  sie  auch  noch  so  sinnlich 
und  handgreiflich  vor  uns  stehen.  Es  könnte  scheinen, 
als  gingen  wir  hierin  zu  weit.  Ist  es  nicht  Wahnsinn, 
die  Existenz  der  Sinnenwelt,  die  doch  mit  so  überwäl- 
tigender Macht  auf  uns  eindringt,  zu  leugnen.  Keines- 
wegs, erleben  wir  doch  auch  im  Traume  Dinge,  wie 
sie  uns  nicht  lebhafter  im  wachen  Zustande  berühren 
können.  Kann  nicht  das  ganze  Leben  ein  Traum  sein? 
Vielleicht  ist  alles ,  was  mir  erscheint ,  selbst  mein 
eigener  Körper  weiter  nichts  als  ein  Wahngebilde  meiner 
Phantasie.  Du  wirst  einwenden,  dass  selbst  die  Traum- 
bilder nicht  entstehen  könnten,  wenn  wir  nicht  vorher 
bestimmte  Vorstellungen  von  aussen  empfangen  hätten. 
Das  Material,  aus  denen  sich  die  Bilder  zusammen- 
setzen, eine  Fülle  von  Farben  und  von  Gestalten, 
muss  uns  doch  vorher  gegeben  sein.  Auch  dieser  Ein- 
wand  hilft   dir   nichts.     Nimm   einmal    an,   wir  hätten 

Hoff  mann  ,  Descaites.  " 


130     Sechstes  Kapitel:  Allgemeine  metaphysische  Grundlagen. 

auch  derartige  Grundmaterialien  zur  Konstruktion  der 
Aussenwelt  nötig,  —  vielleicht  bedarf  es  dazu  nur 
einiger  ganz  allgemeiner  Grundvorstellungen,  wie  etwa 
Gestalt  und  Grösse,  Raum  und  Zeit  —  kann  nicht  Gott 
es  so  eingerichtet  haben,  dass  uns  alle  diese  Grundvor- 
stellungen erscheinen,  und  dass  es  trotzdem  nichts  Aus- 
gedehntes, keine  Gestalt,  keine  Grösse  und  keinen  Ort 
gibt.  Ja  vielleicht  gibt  es  gar  keinen  Gott,  vielleicht 
bin  ich  durch  das  Schicksal,  durch  den  Zufall  oder  gar 
durch  einen  bösen  Dämon  das  geworden,  was  ich  bin. 
Schliesslich  werde  ich  immer  unsicherer.  Lug  und  Trug 
scheint  alles  zu  sein,  was  mich  umgibt.  Die  handgreif- 
lichsten Schlüsse,  die  ich  mache,  der  Satz,  dass  zwei- 
mal zwei  vier  ist,  wer  bürgt  mir  für  ihre  Richtigkeit. 
Der  böse  Dämon,  der  mich  hervorgebracht  hat,  kann 
mich  ja  —  grausam  genug  —  mit  einem  ganz  und  gar 
wirren  und  irreführenden  Geistesvermögen  erschaffen 
haben.  Allein  mag  auch  die  ganze  Welt  versinken, 
mögen  wir  auch  den  aberwitzigen  Launen  eines  Dämons 
unsere  Existenz  verdanken,  nichts  soll  ims  davon  ab- 
halten, unsere  Untersuchung  weiter  fortzusetzen. 

„Hier  ist  es  Zeit  durch  Taten  zu  beweisen,  dass 
Manneswürde  nicht  der  Götterhöhe  weicht".  —  Wir 
ziehen  die  letzten  Konsequenzen  unserer  Betrachtungen. 
„Und  war'  es  mit  Gefahr,  ins  Nichts  dahin  zu  fliessen'-. 
So  dass  wir  schliesslich  als  einziges  Resultat  unserer 
Bemühungen  nur  feststellen  können,  dass  es  nichts  Ge- 
wisses gibt. 

2.  Ich  nehme  also  an,  dass  alles  was  ich  um  mich 
sehe,  falsch  ist.  Ich  habe  überhaupt  keine  Sinne.  Körper, 
Gestalt,  Ausdehnung  und  Ort  sind  Chimären.  Aber 
wo  bleibe  dann  schliesslich  ich  selbst,  von  dem  alle 
diese  Betrachtungen  angestellt  worden  sind.  Hier  scheint 
sich  uns  etwas  Sicheres  darzubieten.  Mag  ich  auch  an 
allem  zweifeln,  an  meinem   eigenen   Bewusstsein   werde 


Gewissheit  des  Selbstbewusstseins.     Gemeinbegriffe.         13  t 

ich  nie  irre  werden,  denn  sonst  konnte  ich  ja  nicht 
einmal  zweifeln.  Zwar  habe  ich  mir  alle  Körperlich- 
keit abgesprochen,  aber  meine  geistige  Persönlichkeit 
sie  muss  sicherlich  existieren.  Sie  allein  ermöglicht 
es  mir  ja,  zu  bejahen  und  zu  verneinen,  zu  wollen,  zu 
fühlen,  zu  wahrnehmen  und  zu  denken.  Wie  fälschlich 
auch  alle  meine  Erlebnisse  hinsichtlich  ihres  Inhalts  sein 
mögen,  dass  ich  geistige  Erlebnisse  habe  und  also  auch 
infolge  dessen  existieren  muss,  steht  fest.  Ich  denke 
(=  ich  habe  geistige  Erlebnisse),  also  bin  ich.^)  Diese 
Tatsache  ist  unbestreitbar,  sie  kann  mir  nicht  von  einem 
bösen  Dämon  eingegeben  sein,  sie  ist  mein  ureigenstes, 
sicherstes  inneres  Erlebnis. 

Indes  überschätzen  wir  unser  Ergebnis  nicht.  Bis- 
her haben  wir  nur  festgestellt,  dass  wir  überhaupt 
existieren.  Wir  haben  es  erkannt  aus  unserer  Bewusst- 
seinstätigkeit,  die  sich  uns  als  das  erste  Merkmal  unserer 
Persönlichkeit  aufgedrängt  hat.  Daraus  folgt  aber  noch 
keineswegs,  dass  wir  unser  Wollen,  Fühlen,  Wahrnehmen 
und  Denken  als  die  wesentlich  konstituierenden  Merk- 
male unserer  Person  ansehen  dürfen.  Wie  sehr  wir 
auch  an  der  Existenz  unseres  Körj)ers  gezweifelt  haben, 
wie  ungeeignet  derselbe  auch  ist,  um  daraus  auf  unsere 
eigene  Existenz  zu  schliessen,  die,  wie  wir  gesehen 
haben,  nur  durch  die  Erkenntnis  unserer  geistigen  Eigen- 
schaften zu  erweisen  ist,  trotzdem  können  wir  nicht 
wissen,  ob  nicht,  wie  die  Materialisten  es  behaupten, 
gerade  er  es  ist,  der  unser  ganzes  Wesen  ausmacht, 
unsere  geistige  Bewusstseinstätigkeit  erst  hervorruft. 
Hierüber  können  wir  erst  später  etwas  Sicheres  aussagen. 

Es  ist  eines  der  hervorragendsten  Verdienste,  das 
sich  unser  Philosoph  durch  diese  Untersuchung  erworben 
hat.  Das  Bewusstsein  mit  seinen  mannigfachen  Emp- 
findungen und  Vorstellungen    ist    dasjenige  an  unserem 


')  Cogito  ergo  sum. 


132     Sechstes  Kapitel:  Allgemeine  metaphysische  Grundlagen. 

Wesen,  was  von  uns  am  unmittelbarsten  wahrgenommen 
wird.  Keine  Kritik  vermag  diesen  Satz  zu  widerlegen. 
Selbst  wer  mit  Kant  der  Anscliauung  ist,  dass  unsere 
innere  Persönlichkeit  uns  auch  nur  als  Erscheinung 
gegeben  ist,  muss  ihn  zugeben.  Denn  mögen  die  Phä- 
nomene der  Seele  auch  nur  Erscheinungen  sein,  für  uns 
sind  sie  doch  das  unmittelbar  Gregebene,  nur  mit  ihrer 
Hilfe  können  wir  uns  eine  Kenntnis  der  Aussenwelt 
verschaffen. 

3.  Wie  kamen  wir  eigentlich  dazu,  unseren  eben 
gewonnenen  Grundsatz  für  unzweifelhaft  gewiss  zu  er- 
klären? Wir  hatten  ein  Recht  dazu,  weil  er  uns  un- 
mittelbar einleuchtete,  so  dass  auch  nicht  der  leiseste 
Zweifel  an  seiner  Hichtigkeit  in  uns  aufsteigen  konnte. 
So  können  wir  demnach  doch  wohl  sicherlich  den  weiteren 
Grundsatz  aufstellen,  wahr  ist  alles,  was  eben  so  klar 
und  deutlich  ist,  wie  unsere  vorher  erworbene  Erkenntnis 
von  der  Realität  meiner  Existenz.  Denn  es  war  ja  eben 
nur  um  dieser  Evidenz  willen,  weswegen  wir  diese  Er- 
kenntnis als  richtig  anerkannt  haben.  Warum  sollen 
uns  weitere  Tatsachen,  falls  sie  dieselbe  Überzeugungs- 
kraft in  sich  tragen,  nicht  eben  so  sicher  erscheinen. 
Freilich  müssen  sie  genau  so  wie  unser  erster  Satz 
intuitiv  gewiss  sein,  können  sie  nur  durch  Schlüsse 
erwiesen  werden,  dann  sind  sie  abzuweisen.  Wissen 
wir  doch,  dass  vielleicht  unser  Gedächtnis  und  unser 
Schlussvermögen  uns  in  die  Irre  führt  (C.  I,  426).  Zu 
diesen  intuitiven  Wahrheiten  sind  nun  auch  die  soge- 
nannten Gemeinbegriffe  (notiones  communes)  zu  rechnen. 
Dazu  gehört  z.  B.  der  Satz,  dass  die  Wirkung  mindestens 
ebensoviel  Realität  in  sich  haben  muss,  wie  die  Ursache, 
dass  eine  geschehene  Sache  sich  nicht  ungeschehen 
machen  lässt  u.  s.  w.  AVir  haben  es  keineswegs  nötig, 
sie  alle  aufzuzählen,  nur  müssen  wir  uns  immer,  wenn 
wir  sie  brauchen,  an  ihre  wichtige  Bedeutung  erinnern. 


Anthropologischer  Gottesheweis.  133 

Sie  sind  uns  unmittelbar  verbürgt  durch  unsere  natür- 
liche Einsicht,  oder  wie  es  Descartes  auszudrücken 
liebt,  durch  unser  natürliches  Licht  (lumen  naturale). 
„Es  nützt  auch  nichts  den  Einwand  zu  machen,  diese 
Sätze  könnten  vielleicht,  vom  Standpunkt  Gottes  oder 
der  Engel  betrachtet,  sich  als  falsch  erweisen,  denn  die 
Evidenz,  mit  der  sie  uns  einleuchten,  gestattet  es  nie 
und  nimmermehr,  dass  wir  auf  den  Fragesteller  hören 
und  uns  von  ihm  überzeugen  lassen"  (C.  I,  434). 

4.  Indes  alle  diese  (Tcmeinvorstellungen,  mögen  sie 
auch,  wie  unser  erster  Grundsatz  intuitiv  gewiss  sein, 
bereichern  zunächst  unsere  Einsicht  nicht,  sind  sie  doch 
rein  formaler  Natur.  Und  doch  haben  wir  eine  Er- 
weiterung unseres  Wissens  so  notwendig,  noch  haben 
wir  die  vernichtendsten  Wirkungen  unseres  allgemeinen 
Zweifels  nicht  beseitigt,  wissen  nichts  über  die  Aussen- 
welt,  nicht  einmal  etwas  über  die  Zuverlässigkeit  unseres 
Schlussvermögens,  da  wir  ja  infolge  der  Schwäche 
unseres  Gedächtnisses,  das  nicht  alle  Folgesätze  stets 
gegenwärtig  hat,  von  einem  bösen  Dämon  irregeführt 
werden  können. 

Solange  ich  in  dem  inneren  Bereiche  meines  Geistes 
bleibe  und  nur  seine  Vorstellungen  an  und  für  sich 
betrachte,  habe  ich,  das  weiss  ich,  keinen  Irrtum  zu 
befürchten.  Selbst  die  Vorstellungen,  die  ich  von  sinn- 
lichen Objekten  habe,  sind  ja,  als  Erzeugnisse  meines 
Geistes  betrachtet,  hinsichtlich  ihrer  Realität  über  allen 
Zweifel  erhaben.  Nur  darf  ich  nicht  behaupten,  dass 
ihnen  ausserhalb  meines  Ichs  reale  Gegenstände  ent- 
sprechen. Es  gibt  überhaupt  keine  endliche  Vorstellung 
in  mir,  deren  Realität  ausserhalb  meines  Bewusstseins 
mit  wirklicher  Evidenz  nachgewiesen  werden  kann,  bei 
allen  lässt  sich  die  Möglichkeit  nicht  abweisen,  dass  sie 
entweder  von  mir  selbst  oder  von  einer  mir  eingepflanzten 
Kraft,  die  mir  verborgen  ist,  erzeugt  worden  sind. 


134     Sechstes  Kapitel:  Allgemeine  metaphysische  Grundlagen. 

Nun  habe  icli  aber  eine  Vorstellung  in  mir,  die 
gar  nichts  Endliches  an  sich  hat  und  von  allen  andern 
in  unvergleichlich  hohem  Masse  verschieden  ist.  Es  ist 
der  Begriff  von  einem  unendlichen,  ewigen  und  all- 
mächtigen Wesen.  Es  ist  gleichsam  ein  überirdischer 
Glanz,  der  von  dieser  Vorstellung  ausgeht.  Die  Merk- 
male, die  sie  an  sich  trägt,  zeichnen  sich  alle  aus  durch 
eine  unermessliche,  alles  Endliche  übersteigende  Fülle. 
Die  Unendlichkeit,  die  in  ihnen  enthalten  ist,  ist  nicht 
durch  eine  blosse  Verneinung  entstanden,  sie  ist  nicht 
potentiell,  sondern  aktuell.  Vollkommen  positiv,  in  sonnen- 
klarer Helligkeit  steht  sie  vor  meinem  geistigen  Auge, 
wenn  ich  sie  auch  in  meiner  Kurzsichtigkeit  nicht  ganz 
umfassen,  sondern  gleichsam  nur  berühren  kann.  Aber 
schon  diese  Berührung  allein  genügt,  um  ein  deutliches 
Bild  von  ihr  zu  erhalten.  Diese  Vorstellung  von  dem 
unendlichen,  allerhöchsten  Wesen  geht  sogar  in  gewissem 
Sinne  allen  endlichen  Vorstellungen  voraus.  Denn  wie  käme 
ich  überhaupt  dazu,  von  meiner  Endlichkeit,  von  meiner 
Beschränktheit  und  Unvollkommenheit  zu  reden,  wenn 
ich  nicht  die  Gottesvorstellung  in  mir  trüge,  sie  ist 
ja  das  absolute  Ideal,  an  dem  ich  meine  eigene  Persön- 
lichkeit erst  messen  muss,  um  eine  Vorstellung  von  ihrer 
Unzulänglichkeit  zu  fassen. 

Woher  stammt  nun  dieser  Begriif?  Ist  es  wirklich 
möglich,  dass  ich  ihn  selbst  erzeugt  habe?  Gesetzt,  es  hat 
jemand  die  Vorstellung  von  einer  künstlichen  Maschine, 
dann  wird  man  mit  ßecht  annehmen,  dass  er  entweder 
irgendwo  eine  solche  von  einem  andern  konstruierte 
Maschine  gesehen,  oder  dass  er  die  mechanischen  Wissen- 
schaften so  genau  erlernt  hat  und  eine  so  grosse  erfin- 
derische Kraft  besitzt,  dass  er  das  Modell  dieser  nirgends 
gesehenen  Maschine  selbst  hat  ausdenken  können.  Xun 
ist  aber  der  Begriff  des  allerhöchsten  Wesens  unendlich 
viel  umfassender  und  vollkommener  als  der  einer  noch 
so  komplizierten   Maschine.     Es  ist  schlechterdings  un- 


Ontologischer  Gottesbeweis.  135 

möglich,  dass  ich  ihn  selbst  hervorgebracht,  oder  von 
einem  anderen  endlichen  Wesen  empfangen  habe.  Nur 
das  allerhöchste  Wesen  selbst  kann  mir  diese  Idee  ver- 
liehen haben.  So  weist  also  der  Begriff  von  Grott,  den 
ich  in  mir  trage,  mit  Notwendigkeit  darauf  hin,  dass 
dieses  allmächtige  Wesen  auch  wirklich  existiert.  Nicht 
durch  einen  logischen  Schluss  habe  ich  somit  das  Dasein 
Gottes  bewiesen.  Nein,  mit  intuitiver  Gewissheit  ist 
mir  diese  Tatsache  klar.  Ich  kann  nicht  einmal  die 
Vorstellung  von  meiner  eigenen,  abgegrenzten  und  end- 
lichen Persönlichkeit  fassen,  ohne  stillschweigend  die 
Existenz  eines  unendlichen  Wesens  vorauszusetzen.  Ja 
ich  selbst  würde  nicht  einmal  existieren  können  ohne 
den  allmächtigen  Gott. 

In  diesen  Auseinandersetzungen  ist  kein  Trugschluss 
enthalten.  Wer,  wie  Descartes  und  fast  alle  mittel- 
alterlichen Philosophen  vor  ihm,  ein  so  lebendiges  Gottes- 
gefühl in  sich  trägt,  der  hat  auch  das  Recht  für  sich 
und  diejenigen  Menschen,  in  denen  das  Gefühl  in  gleicher 
Stärke  lebt,  dieses  sein  Gefühl  zur  klaren,  bewussten 
Überzeugung  zu  erheben. 

Unser  Philosoph  bedient  sich  noch  eines  anderen 
Gottesbeweises,  nämlich  des  sogenannten  ontologischen, 
in  dem  schon  aus  dem  blossen  Begriffe  Gottes  sein  Da- 
sein erwiesen  wird.  Ein  ähnliches  Argument  hatte 
schon  Anselm  von  Canterbury  benutzt.  Allein 
Descartes  gibt  den  Beweis  in  einer  weit  schärferen 
Fassung.  Sicherlich  finde  ich  in  meinem  Geiste  unter 
meinen  verschiedenen  Vorstellungen  auch  die  eines  all- 
weisen, allmächtigen  und  vollkommensten  W^esens  vor. 
Betrachte  ich  genau  die  Eigenschaften,  die  dieser  Be- 
griff besitzt,  so  stellt  sich  heraus,  dass  er  eine  in  sich 
trägt,  die  ihn  vor  allen  anderen  Begriffen  auszeichnet, 
es  ist  nämlich  die  der  ewigen  und  notwendigen  Existenz. 
Lassen  wir  diese  Eigenschaft  weg,  dann  fällt  sogleich 
der  ganze  Begriff  in  sich  zusammen,   dann   ist  er  nicht 


136     Sechstes  Kapitel:  Allgemeine  metaphysische  Grundlagen. 

mehr  absolut  vollkommen.  Folglich  muss  Gott  auch 
tatsächlich  notwendig  existieren. 

Achten  wir  genau  auf  die  Darlegung,  sonst  könnten 
wir,  befangen  von  unseren  sinnlichen  Vorurteilen,  dazu 
kommen,  diesen  Beweis  für  ein  trügerisches,  sophistisches 
Graukelspiel  zu  halten.  Gewiss,  bei  allen  anderen  Be- 
griifen,  die  ich  mir  vorstelle,  habe  ich  kein  Recht,  das 
Merkmal  der  Existenz  als  ein  notwendiges  hinzuzusetzen. 
Gibt  es  doch  sogar  eingebildete  Begriffe,  wie  zum  Bei- 
spiel der  einer  Sphinx,  bei  denen  ich  von  vornherein 
mit  Sicherheit  weiss,  dass  sie  nicht  vorhanden  sind. 
Aber  von  diesen  Vorstellungen  abgesehen,  auch  die 
andern  Begriffe,  wie  z.  B.  der  eines  bestimmten  Baumes, 
dürfen  höchstens  als  möglicher  Weise  vorhanden  voraus- 
gesetzt werden.  Die  Eigenschaft  der  Existenz  hat  nichts 
mit  den  anderen  Eigenschaften  des  Baumes  zu  tun. 
Der  Begriff  eines  Baumes  wird  keineswegs  geschmälert, 
wenn  ich  von  seiner  Existenz  absehe. 

Ganz  anders  verhält  sich  aber  die  Sachlage  bei 
unserm  Gottesbegriff.  Nichts  wäre  eine  schärfere  Be- 
einträchtigung desselben,  als  wenn  ich  bei  ihm  das 
Merkmal  der  notwendigen  Existenz  wegliesse.  Das  ist 
ja  gerade  das  Wesen  Gottes,  dass  er  allein  als  not- 
wendig existierend  gedacht  werden  muss.  Ist  er  doch 
das  allervollkommenste,  ganz  auf  sich  selbst  ruhende 
Wesen,  Ursache  seiner  selbst,  wie  es  Spinoza  im  Anfang 
seiner  Ethik  ausdrückt.  Nimmt  man  dem  allerhöchsten 
Wesen  seine  notwendige  Existenz,  dann  hat  man  es  all 
seines  Glanzes,  all  seiner  überirdischen  Majestät  beraubt, 
es  bleibt  nichts  mehr  übrig  als  ein  einfacher  endlicher 
und  beschränkter  Begriff,  der  seinem  Werte  nach  nicht 
von   den    anderen    irdischen    Begriffen   verschieden    ist. 

5.  Wenn  wir  genauer  zusehen,  dann  erkennen  wir, 
dass  dieser  Beweis  eine  überraschende  Ähnlichkeit  mit 
dem    vorhergehenden   hat.     Im    vorhergehenden    wurde 


Kritik  der  Goltesbeweise.     Begriff  der  philosoph.  Wahrheit.     137 

gezeigt,  dass  die  Gottesvorstellung,  die  wir  in  unserem 
Geiste  vorfinden,  eine  unermessliche,  alles  Irdische 
überschreitende  Grösse  in  sich  birgt,  im  aktualen  Sinne 
unendlich  ist  und  deswegen  nur  von  Gott  selbst  her- 
stammen kann.  Jetzt  wird  wiederum  ein  einzigartiges 
Merkmal  des  allerhöchsten  Wesens  betrachtet,  es  ist 
dasjenige  der  notwendigen  Existenz,  die  gleichsam  ein 
Korrelat  zu  der  absoluten  Vollkommenheit  bildet. 

Wir  sehen  also,  auch  dieser  Beweis  ist  charakteri- 
stisch für  die  Anschauungsweise  unseres  Philosophen. 
Seine  Seele  ist  voll  und  ganz  erfüllt  von  dem  leben- 
digsten Gottesbewusstsein.  Keine  rationalistische  Kritik 
vermag  dagegen  anzukämpfen.  Wenn  Kant  in  seiner 
Kritik  des  ontologischen  Beweises  behauptet,  mit  dem 
Begriffe  des  allerhöchsten  Wesens  sei  das  Merkmal  der 
notwendigen  Existenz  keineswegs  verknüpft,  so  zeigt 
er  damit  nur,  dass  ihm  das  gleichsam  realistische  Ge- 
fühl von  der  Existenz  Gottes,  wie  es  Descartes  und  vor 
ihm  das  ganze  Mittelalter  besessen  hat,  abgeht.  Wie 
man  einem  Blinden  nicht  die  Existenz  der  Farben  nach- 
weisen kann,  so  ist  es  auch  unmöglich,  unsere  an  reli- 
giösen Gefühlen  ärmere  Zeit  durch  die  Gottesbeweise 
Descartes'  zu  befriedigen.  Es  sind  andere  Gefühle,  die 
in  dem  modernen  Menschen  wachgerufen  werden  müssen, 
um  seinen  Sinn  für  metaphysische  Gedanken  empfäng- 
lich zn  machen.  So  hat  Kant  mit  Hinblick  auf  das  Sitten- 
gesetz, wie  es  unserem  Geiste  einwohnt,  den  Schluss 
gezogen,  dass  dieses  Gefühl  als  Postulat  die  Existenz 
eines  allerhöchsten  Wesens  fordert.  So  werden  andere 
Philosophen  nach  ihm  auf  andere  Wertgefühle  ihre 
metaphysischen  Anschauungen  gründen  und  dann  auf 
die  grösste  Wirkung  rechnen  können,  wenn  diese  Wert- 
gefühle, von  denen  sie  ausgehen,  auch  wirklich  von  ihrer 
Zeit  am  lebhaftesten  nachempfunden  werden  können. 

Durch  diese  Betrachtungen  soll  keineswegs  der 
Wahrheitsgehalt  der  früheren  philosophischen  Systeme 


138     Sechstes  Kapitel:  Allgemeine  metaphysische  Grundlagen. 

aufgehoben  werden.  Sobald  die  Wertgefüble,  die  ihnen 
zu  G-runde  liegen,  und  deren  Realität  unantastbar  ist, 
auch  wenn  sie  zeitweilig  von  andern  Gefühlen  in  den 
Hintergrund  gedrängt  werden,  wieder  lebendig  werden, 
sind  sie  sogar  wiederum  im  stände,  eine  volle,  lebendige 
Wirkung  auszuüben.  Dafür  haben  wir  am  Aufleben 
der  antiken  Systeme  im  Zeitalter  des  Humanismus  ein 
Beispiel.  Aber  auch  selbst  wenn  dies  nicht  der  Fall 
ist,  üben  die  vergangenen  Systeme  auf  den  modernen 
Menschen  eine  gewisse  Wirkungskraft  aus,  weil  er  immer 
noch  genug  von  den  Wertgefühlen  besitzt,  die  ihnen  zu 
Grunde  liegen,  mögen  sie  auch  freilich  allein  nicht  aus- 
reichen, um  sein  ganzes  Innere  auszufüllen.  Um  dies 
zu  ermöglichen,  dazu  bedarf  es  freilich  immer  neuer 
metaphysischer  Systeme. 

So  bilden  für  den  Idealisten,  der  von  der  Über- 
zeugung beseelt  ist,  dass  die  sinnlichen  Gefühle  den 
idealen  Wertgefühlen  unterzuordnen  sind,  die  idealen 
philosophischen  Systeme  in  ihrer  grossen  Mannigfaltig- 
keit ein  harmonisches  Ganze,  die  bald  in  stärkerem 
bald  in  schwächerem  Masse  die  Saiten  seines  Gemütes 
zu  erregen,  seinen  Verstand  zu  überzeugen  fähig  sind. 
In  diesem  Sinne  hat  man  voll  und  ganz  das  Recht  von 
dem  eindeutigen  Charakter  aller  wahrhaft  echten  Phi- 
losophie zu  sprechen. 

6.  Mit  den  oben  dargelegten  Beweisen  haben  wir 
die  wichtigsten  Argumente,  die  unser  Philosoph  vor- 
bringt, erschöpft,  Descartes  ist  sich  wohl  bewusst, 
welch  eine  Fülle  von  Anregungen  er  von  seinen  philo- 
sophischen Vorgängern  erhalten  hat.  „Ich  verwarf 
nicht  die  Meinungen  der  andern",  sagt  er,  ausdrücklich 
auf  seine  Gottesbeweise  bezugnehmend,  „im  Gegenteil 
fast  alle  Argumente  hervorragender  Menschen,  die  diese 
Sache  verteidigt  haben,  sind  in  meine  Beweise  mit  auf- 
genommen worden"  (C.  XI,  181).     Dagegen   hält    er  für 


Descartes'  Urteil  über  andere  Gottesbeweise.  139 

nicht  beweiskräftig  alle  Argumente,  die  darauf  abzielen, 
auf  Grund  der  Gesetzmässigkeit  und  Zweckmässigkeit, 
wie  sie  sieb  in  der  Natur  vorfinden,  die  Existenz  Gottes 
zu  erschliessen.  Nicbt  nur  ist  es  notwendig,  das  Dasein 
Gottes  zu  beweisen,  bevor  wir  überhaupt  daran  denken, 
uns  mit  der  Natur  zu  befassen ,  weil  wir,  bevor  die 
Existenz  Gottes  entschieden  ist,  jeder  sicheren  Grund- 
lage für  den  weiteren  Ausbau  der  Metaphysik  entbehren, 
selbst  wenn  die  Natur  uns  schon  gegeben  wäre,  würden 
doch  alle  ihrer  Eigenart  entnommenen  Beweise  vor  der 
Kritik  nicht  bestehen  können.  Schliesst  du  aus  der 
Unmöglichkeit,  die  Reihe  der  Naturursachen  bis  ins 
Unendliche  weiter  denken  zu  können,  auf  einen  letzten 
Urgrund,  so  machst  du  dich  eines  unverzeihlichen  Fehlers 
schuldig.  Wie  kommst  du  dazu,  das  was  für  dich  un- 
fassbar  ist,  als  unmöglich  hinzustellen.  Du  kannst  dir 
ja  auch  nicht  eine  bestimmte  endliche  Grösse  in  eine 
unendliche  Anzahl  von  Teilen  zerlegt  denken,  trotzdem 
dir  dein  Verstand  sagt,  dass  die  Teilung  bis  ins  Unend- 
liche fortgesetzt  werden  kann.  Der  Verstand  ist  eben 
endlich  und  unfähig,  die  Unendlichkeit  zu  umfassen 
(C.  I,  376  u.  77).  Ebensowenig  kann  aus  der  Zweck- 
mässigkeit in  der  Natur  ein  Beweis  hergeleitet  werden 
(C.  II,  280).  Ein  derartiges  Argument  widerstrebt  unserm 
Philosophen  um  so  mehr,  weil  er  im  letzten  Grunde 
überhaupt  keine  Naturzwecke  anerkennt,  sondern  der 
Überzeugung  lebt,  dass  die  Natur  sich  aus  einem  ein- 
fachen anorganischen  Anfangszustande  heraus  zu  ihrer 
jetzigen  Vollkommenheit  entwickelt  habe,  oder  dass  sie 
sich  wenigstens  so  entwickelt  haben  könnte. 

Descartes  glaubt  vielmehr  mit  seinen  Darlegungen 
die  Existenz  Gottes  hinreichend  dargelegt  zu  haben. 
Keine  eigentlichen  Schlüsse  sind  dazu  nötig  gewesen. 
Mit  intuitiver  Klarheit  genau  so  wie  unser  erster 
philosophischer  Grundsatz ,  wie  die  GemeinbegrifFe, 
haben  wir  diese  Wahrheit  erkannt. 


140     Sechstes  Kapitel:  Allgemeine  metaphysische  Grundlagen. 

7.  Jetzt  können  wir  getrosten  Mutes  sein.  Durch 
die  Betrachtung  Gottes,  der  alle  Schätze  der  Wissen- 
schaft und  Weisheit  in  sich  birgt,  werden  wir  den 
richtigen  Weg  finden,  um  zur  Erkenntnis  der  übrigen 
Dinge  zu  gelangen.  Wagte  ich  vorher  keinen  Schritt 
in  der  philosophischen  Forschung  vorwärts  zu  tun,  aus 
Furcht  von  einem  heimtückischen  Dämon  in  die  Irre 
geführt  zu  werden,  jetzt  darf  ich  frei  und  sicher  um 
mich  schauen.  Weiss  ich  doch,  dass  Gott  existiert  und 
Gott  kann  mich  nicht  täuschen.  Täuschung  ist  immer 
ein  Zeichen  von  Unvollkommenheit.  Selbst  wenn  die 
Fähigkeit  zu  täuschen  Scharfsinn  und  Macht  zu  ver- 
raten scheint,  so  beweist  doch  die  Absicht  zu  täuschen 
ohne  Zweifel  Bosheit  und  Schwäche,  Eigenschaften  die 
sich  nimmermehr  in  Gott,  dem  höchsten  Ideal  aller  Voll- 
kommenheit, finden  können. 

Jetzt  schwinden  alle  Zweifel,  die  ich  vorher  über 
die  Zuverlässigkeit  meines  Urteilsvermögens  gehabt  habe. 
Bei  richtigem  Gebrauche  kann  es  nicht  trügen,  sonst 
wäre  ja  Gott  ein  Betrüger.  Nun  weiss  ich  aber  doch, 
dass  ich  mich  häufig  in  meinen  Urteilen  irre.  Habe 
ich  ein  Recht,  Gott  dafür  verantwortlich  zu  machen? 
Keineswegs.  Untersuchen  wir  einmal  näher,  aus  welchen 
Ursachen  der  Irrtum  entsteht,  dann  werden  wir  sehen, 
dass  wir  selbst  es  sind,  die  an  seiner  Entstehung 
schuld  haben. 

Gott  hat  mich  mit  dem  Vermögen  absoluter  Willens- 
freiheit ausgestattet.  Der  Missbrauch  dieser  Freiheit 
ist  es  nun ,  durch  den  jedes  falsche  Urteil  entsteht. 
Durch  den  Verstand  allein  gelange  ich  nur  zu  den  Vor- 
stellungen, über  die  ich  ein  Urteil  fällen  kann.  In  meinen 
Vorstellungen  an  und  für  sich,  das  weiss  ich  aber,  steckt 
noch  kein  Irrtum,  erst  durch  das  falsche  Urteil  wird 
derselbe  hervorgebracht.  Das  Urteil  jedoch  hängt  in 
jedem  einzelnen  Falle  von  der  freien  Zustimmung  meines 
Willens    ab.     Bin    ich    mir    über    die    vorliegenden   Be- 


Das  Urteilsvermögen.     Geist  und  Körper.  141 

Ziehungen  zwischen  meinen  Vorstellungen  nicht  klar,  so 
kann  ich  jedesmal  durch  die  Zügelung  meines  Willens 
ein  falsches  Urteil  vermeiden. 

Oft  werde  ich  einen  derartigen  Fall  erleben.  Denn 
mein  Vorstellungsvermogen  ist  naturgemäss  nur  endlich. 
Im  Wesen  der  Endlichkeit  liegt  aber  die  Beschränkung. 
Es  existieren  sicherlich  unzählige  Dinge,  von  denen  ich 
überhaupt  keine  Vorstellung  habe.  Wie  darf  ich  es 
wagen,  wenn  ich  in  einem  solchen  Falle  meine  Willens- 
freiheit missbrauche ,  Gott  dafür  verantwortlich  zu 
machen?  Im  Gegenteil,  danken  muss  ich  Gott  dafür, 
dass  er  mir  eine  so  unbeschränkte  Willensfreiheit  ver- 
liehen hat,  die  mein  vollkommenstes  Vermögen  ausmacht. 
Ist  sie  doch  so  gross,  wie  ich  sie  mir  grösser  gar  nicht 
vorstellen  kann.  Daher  ist  sie  es  auch  vornehmlich, 
vermöge  deren  ich  in  mir  ein  Ebenbild  Gottes  erkenne. 

So  weiss  ich  also,  dass,  wenn  ich  in  meinen  Urteilen 
vorsichtig  bin  und  nur  den  Dingen  meine  Zustimmung 
gebe,  die  ich  klar  und  deutlich  einsehe,  ich  mich  stets 
vor  Irrtümern  bewahren  kann.  Ich  bin  also  durch  die 
Erkenntnis  Gottes  um  einen  grossen  Schritt  weiterge- 
kommen. Durfte  ich  vorher  nur  das  als  wahr  aner- 
kennen, was  meiner  Vernunft  intuitiv  gewiss  erschien, 
jetzt  habe  ich  auch  das  Recht,  meinem  diskursiven 
Geistesvermögen,  meiner  Fähigkeit  Schlüsse  zu  ziehen, 
wodurch  überhaupt  erst  eine  umfassende  wissenschaft- 
liche Erkenntnis  möglich  gemacht  wird,    zu   vertrauen. 

8.  Es  gilt  nun  zunächst,  die  Vorstellungen,  die  ich 
in  meinem  Bewusstsein  habe ,  einer  weiteren  Unter- 
suchung zu  unterziehen.  Da  bemerke  ich  eine  ganze 
Reihe,  die  im  Gegensatz  zu  allen  anderen,  in  meinem 
Bewusstsein  auf-  und  niedersteigen,  ohne  dass  ich  mich 
selbst  an  ihrer  Entstehung  beteiligt  fühle.  Aber  nicht 
nur  allein  hierdurch,  noch  durch  ein  zweites  charakteri- 
stisches   Kennzeichen    unterscheiden    sie    sich    von    den 


142     Sechstes  Kapitel:  Allgemeine  metaphysische  Grundlagen. 

übrigen,  ich  meine  durch  ihre  körperliche  Ausdehnung 
in  die  Länge,  Breite  und  Tiefe.  Wie  ganz  anders  er- 
scheinen mir  die  übrigen  Vorstellungen  meines  ßewusst- 
seins,  sie  sind  unausgedehnt,  unteilbar,  ein  echtes  Abbild 
meines  Geistes.  Ja  ich  kann  sogar  ohne  Zögern  be- 
haupten, sie  unterscheiden  sich  nicht  nur  von  den  ersteren, 
sie  stehen  auch  in  einem  direkten,  scharf  ausgesprochenen 
Gegensatz  zu  ihnen.  Meine  rein  geistigen  Vorstellungen, 
das  fühle  ich,  sind  ganz  und  gar  von  mir  erzeugt.  Ganz 
anders  verhält  es  sich  dagegen  mit  den  körperlichen^ 
fremd  und  äusserlich  stehen  sie  mir  gegenüber,  gleich- 
sam wie  Bürger  einer  anderen  Welt. 

Wenn  ich  nun  ein  Recht  habe,  von  dem  mir  von 
Gott  verliehenen  Urteilsvermögen  einen  Gebrauch  zu 
machen,  wo  habe  ich  es  eher  als  hier.  Klar  und  deut- 
lich steht  mir  der  Gegensatz  dieser  beiden  Vorstellungs- 
arten vor  Augen,  und  fest  und  unzweideutig  wage  ich 
es  demnach  zu  behaupten,  dass  auch  ein  tatsächlicher, 
realer,  nicht  misszuverstehender  Gegensatz  zwischen 
ihnen  besteht.  In  meinen  unausgedehnten,  unteilbaren 
Vorstellungen  erkenne  ich  mich  selbst  wieder,  sie  sind  Re- 
präsentanten meines  unausgedehnten,  unteilbaren  Wesens. 
Denn  jetzt,  wo  ich  Schlüsse  ziehen  darf,  kann  ich  es 
sagen,  was  ich  anfangs  noch  dahingestellt  sein  lassen 
musste,  mein  geistiges  Ich,  das  ich  zu  Beginn  meiner 
Untersuchung  als  das  elementarste  an  den  Anfang  aller 
Philosophie  zu  stellende  Grundfaktum  erkannt  habe, 
schliesst  auch  tatsächlich  den  ganzen  Wesensgehalt 
meiner  Persönlichkeit  in  sich  ein.  Wer  will  es  be- 
streiten! Klar  und  deutlich  sehe  ich  es  ein.  Ich  müsste 
abermals  gegen  Gott  den  schweren,  widerspruchsvollen 
Verdacht  des  wissentlichen  Betruges  erheben,  falls  ich 
mich  irren  sollte. 

Ebenso  fest  steht  es  mir,  dass  die  Fülle  von  kiJrper- 
lichen  Gestalten  und  Bewegungen,  die  ich  wahrnehme, 
nicht  zu  meinem  Ich  gehören.    An  irgend  einer  Substanz 


Der  menschl.  Leib.    Objektivität  der  geometr.  Eigenschaften.     143 

müssen  sie  aber  haften.  Denn  es  sagt  mir  ein  mir 
innewohnender  GemeinbegrifF,  dass  das  Nichts  keine 
Attribute  hat.  Nun  nehme  ich  aber  eine  Fülle  von 
ausgedehnten  Attributen  wahr,  welcher  Substanz  wohnen 
sie  inne?  Es  ist  die  Körperwelt,  die  sogenannte  Aussen- 
welt,  der  ich  sie  zuzuschreiben  habe. 

So  finde  ich  also  nächst  Gott,  der  den  Begriff  der 
Substanz  im  strengsten  Sinne  repräsentiert,  weil  er 
allein  wahrhaft  unbeschränkt  und  von  niemanden  ab- 
hängig ist,  noch  zwei  andere  Substanzen  in  der  Welt 
vor,  nämlich  Geister  und  Körper. 

9.  Unter  den  mich  umgebenden  Körpern  muss  einer 
mit  meinem  Geiste  in  einer  ganz  engen  Verbindung 
stehen.  Denn  sowie  derselbe  in  irgend  einer  Weise 
von  den  andern  Körpern  affiziert  wird,  wird  auch  mein 
Bewusstsein  von  ganz  .speziellen  Empfindungen  erregt, 
ich  nenne  z.  B.  die  Empfindungen  von  warm  und  kalt, 
hart  und  weich,  Kitzel  und  Schmerz  u.  s.  w..  Empfin- 
dungen, die  sich  vollkommen  unterscheiden  von  den 
Vorstellungen,  die  sonst  die  blosse  objektive  Wahr- 
nehmung der  einzelnen  Körper  in  mir  erzeugt.  Und 
in  der  Tat,  so  merkwürdig  es  auch  bei  dem  Gegensatz 
dieser  beiden  Substanzen  erscheinen  mag,  es  besteht 
tatsächlich  eine  innige  Gemeinschaft  zwischen  meinem 
Geiste  und  meinem  Leibe ,  letzterer  ist  ja  der  eben 
genannte  von  den  anderen  ausgezeichnete  Körper. 

Wir  haben  an  den  körperlichen  Substanzen  bis  jetzt 
nur  die  Attribute  der  Gestalt,  Ausdehnung  und  Be- 
wegung betrachtet.  Tatsächlich  wissen  wir,  erregen 
sie  in  uns  noch  andere  Empfindungen,  wie  z.  B.  Farbe 
und  Ton,  Geschmack,  Geruch  und  dergleichen.  Indes 
diese  scheinen  nur  von  sekundärer  Bedeutung  zu  sein. 
Sind  sie  doch  in  hohem  Grade  von  den  eben  genannten 
körperlichen  Eigenschaften  unterschieden.  Nur  die 
letzteren  zeichnen    sich   durch    wirkliche   Klarheit    und 


144     Sechstes  Kapitel:  Allgemeine  metaphysische  Grundlagen. 

Deutlichkeit  aus,  ein  Kennzeichen,  das  uns  das  Recht 
gab,  auf  ihre  wirkliche  objektive  Existenz  ausserhalb 
unseres  Bewusstseins  zu  schliessen.  Ja  sie  sind  mir  so 
klar  und  deutlich,  dass  ich  nichts  Neues  kennen  zu 
lernen  meine,  wenn  ich  sie  zum  ersten  Male  erblicke. 
Und  sie  wohnen  auch  faktisch  als  angeborene  und  voll- 
kommene klare  Vorstellungen  (ebenso  wie  die  Gemein- 
begriffe  etc.)  meinem  Geiste  ein.  Wie  könnten  sie  auch 
sonst  so  durchsichtig  sein.  Sie  sind  mir  so  gewiss,  dass 
ich  über  sie  eine  Fülle  von  Urteilen  abgeben  kann, 
ohne  erst  in  der  Erfahrung  eine  Bestätigung  suchen 
zu  müssen.  Die  gesamte  mathematische  Wissenschaft 
baut  sich  auf  ihnen  auf,  deren  Sätze  ich  ja  nun,  da  ich 
von  der  Wahrhaftigkeit  Gottes  überzeugt  bin,  nicht 
mehr  anzweifeln  kann. 

Anders  verhält  es  sich  mit  den  Eigenschaften  der 
Farbe,  des  Tones  u.  s.  w.  Sie  sind  zwar  auch  in  meinem 
Geiste  vorhanden,  versuche  ich  sie  aber  ausserhalb  des- 
selben in  der  Körperwelt  zu  lokalisieren,  so  gelange 
ich  zu  ganz  unklaren  Anschauungen,  Ausserhalb  meines 
Bewusstseins  gibt  es  nur  Ausdehnung,  Gestalt  und  Be- 
wegung. Farbe,  Ton,  Kitzel,  Hunger,  Lust  und  Schmerz 
und  alle  anderen  sinnlichen  Empfindungen  werden  in 
mir  hervorgerufen  durch  die  Wirkungen  der  ausge- 
dehnten Körperwelt  auf  mein  Bewusstsein,  sie  sind  nur 
subjektiv.  So  lehrt  uns  die  Physik,  dass,  was  mir  als 
Klang  erscheint,  objektiv  genommen  nichts  weiter  ist 
als  eine  Anzahl  von  Schwingungen  eines  bewegten 
Körpers,  ebenso  entstellt  die  Schmerzempfindung  durch 
eine  Erregung  der  Nervensubstanz  u,  s.  w. 

Wir  haben  nun  also  durch  unser  Prinzip,  wahr  ist 
alles,  was  klar  und  deutlich  ist,  eine  vollkommene  Ein- 
sicht in  das  allgemeine  Wesen  der  körperlichen  und 
geistigen  Welt  erhalten.  Wir  haben  den  scharfen 
Gegensatz  zw^ischen  diesen  beiden  Substanzen  erkannt. 
Wie  schroff  er  uns  auch  erscheinen   mag,  wir  kommen 


über  Monismus  und  Dualismus  in  der  Philosophie.         145 

darüber  nicht  hinweg,  er   ist   in    der  Natur    der  Dinge 
begründet. 

10.  Wie  wir  sehen,  ist  es  ein  ziemlich  schroffer 
Dualismus,  der  in  dem  System  unseres  Philosophen  aus- 
geprägt ist.  Descartes  ist  sich  dessen  wohl  bewusst 
und  glaubt  mit  einem  gewissen  Recht,  hierin  sogar  eine 
Stärke  seiner  Philosophie  zu  finden.  Die  aristotelische 
Philosophie  hatte  durch  die  Ausfüllung  der  tiefen  Kluft 
zwischen  Geist  und  Körper  eine  heillose  Verwirrung 
unter  den  wissenschaftlichen  Köpfen  angerichtet.  Rein 
physikalische  Eigenschaften,  wie  z.  B.  die  permamente 
Kreisbewegung  der  Gestirne,  schrieb  man  verborgenen 
geistigen  Prinzipien  zu,  und  umgekehrt  suchte  man  sich 
rein  geistige  Phänomene  durch  die  aberwitzigsten  ma- 
terialistischsten Deutungen  zu  erklären  (A.  III,  666 — 67). 
Von  diesem  historischen  Gesichtspunkt  aus  betrachtet, 
war  die  Reformation,  die  unser  Philosoph  brachte,  indem 
er  wieder  an  die  altchristlichen  Anschauungen  anknüpfte, 
ausserordentlich  segensreich.  Hatte  sie  doch  die  rei- 
nigende und  befreiende  Wirkung  eines  Gewitterregens 
nach  einem  schwülen  Sommertage.  Mochte  auch  die 
Körperwelt  von  Descartes  etwas  kärglich  ausgestattet 
sein,  mit  der  neuen  Betrachtungsweise  war  fortan  die 
Möglichkeit  gegeben,  beide  Substanzen  getrennt  und 
unabhängig  voneinander  zu  studieren,  das  Wesen  einer 
jeden  unbefangen  zu  zergliedern,  ohne  dabei  durch  vage 
von  der  andern  hergenommene  Analogien  in  der  Unter- 
suchung gestört  und  irregeführt  zu  werden. 

Ich  will  hier  nicht  die  Frage  erörtern ,  ob  die 
monistische  Betrachtungsweise  der  dualistischen  vorzu- 
ziehen ist.  Eine  extrem  monistische  Weltauffassung  ist 
sicherlich  der  dualistischen  gegenüber  im  Nachteil. 
Aber  selbst  der  Wert  eines  gemässigsten  Monismus 
darf  keineswegs  immer  überschätzt  werden.  Lässt  das 
Descartes'sche  System  die  Schwierigkeit  off'en,    wie  die 

Hoff  mann,  Descartes.  10 


146     Sechstes  Kapitel:  Allgemeine  metaphysische  Grundlagen. 

Wechselwirkung  zwischen  seinen  heterogenen  Substanzen 
zu  denken  sei,  so  stehen  wir  dem  Spinozismus  nicht 
minder  ratlos  gegenüber,  wenn  wir  uns  von  den,  nur 
verschiedene  Seiten  derselben  Substanz  darstellenden, 
aber  deswegen  nicht  minder  miteinander  konstra- 
stierenden  Attributen  ein  klares  Bild  machen  wollen. 
Wir  haben  weder  eine  Vorstellung  davon,  wie  bei  Des- 
cartes  Geist  und  Körper  zeitlich  aufeinander  wirken, 
noch  wie  sie  bei  Spinoza  sich  nebeneinander  vertragen 
können. 

In  der  Tat,  das  Verhältnis  zwischen  Leib  und  Seele 
gehört  sicherlich  zu  den  schwierigsten  Problemen  der 
gesamten  Philosophie.  Deswegen  hat  man  freilich  noch 
kein  Recht,  diese  Fragen  einfach  beiseite  zu  schieben, 
in  dem  scheinbar  kritischen,  in  Wirklichkeit  aber  stark 
dogmatischen  Bewusstsein  von  der  absoluten  Frucht- 
losigkeit derartiger  Versuche.  Mag  auch  das  Problem 
nicht  bis  auf  den  letzten  Rest  zu  durchschauen  sein, 
mag  auch  die  Art  und  Weise,  in  der  es  die  einzelnen 
Denker  aufzulösen  versuchen,  im  tiefsten  Zusammenhang 
mit  ihren  persönlichen  Gemütsbedürfnissen  stehen,  wofern 
nur  immer  diese  Gemütsbedürfnisse  die  Anregung  zu 
objektiven  philosophischen  Analysen  geben,  so  repräsen- 
tieren sie  tatsächlich  nur  verschiedene  Wege,  auf  denen 
die  Wahrheit  gesucht  wird,  und  erfüllen  vollkommen 
den  Zweck  der  Philosophie,  der  doch  dahin  geht,  immer 
tiefer  einzudringen  in  die  geheimnisvollen  metaphysischen 
Zusammenhänge,  die  uns  umgeben. 

11.  Wir  haben  gesehen,  wie  in  dem  Systeme  Des- 
cartes'  die  Körper  als  selbständige  Substanzen  angesehen 
werden.  Allein  sie  sind  aller  Lebendigkeit  beraubt, 
sind  im  Grunde  genommen  nur  leblose,  tote  Massen, 
gewissermassen  Substanzen  zweiten  Grades.  Ihre  Min- 
derwertigkeit wird  uns  noch  mehr  in  die  Augen  fallen, 
wenn  wir  sehen  werden  (teilweise  schon  gesehen  haben), 


über  die  verschiedenen  angeborenen  Vorstellungen.         147 

was  für  eine  Fülle  von  angeborenen  geistigen  Vor- 
stellungen notwendig  sind,  um  die  Natur,  wie  sie  uns 
tatsächlich  erscheint,  ihre  klaren,  scharf  umrissenen 
Züge,  ihre  glänzende  Farbenpracht,  entstehen  zu  lassen. 

Zu  den  vornehmsten  angeborenen  Vorstellungen 
gehören  ohne  Frage  diejenigen,  deren  Realität  uns  von 
vornherein  gewiss  ist,  die  Vorstellung  von  unserem 
Selbstbewusstsein,  die  GemeinbegrifFe  und  die  Grottes- 
idee. Sie  sind  gleichsam  unser  geistiges  Grrundkapital. 
die  Stützen  des  ganzen  philosophischen  Systems.  An 
ihrer  intuitiven  Gewissheit  darf  nicht  gezweifelt  werden, 
wenn  nicht  unser  ganzer  mühsam  errichteter  Bau  wie  ein 
Kartenhaus  durch  den  geringsten  Windstoss  in  sich  zu- 
sammenstürzen soll.  In  zweiter  Reihe  folgen  natürlich 
die  Begriffe,  die  wir  durch  die  Analyse  unseres  Selbst- 
bewusstseins  gewonnen  haben,  also  unser  Wollen,  Denken 
und  Empfinden,  die  Idee  der  Substanz,  der  Beharrlich- 
keit u.  s.  w  Da  wir  sie  ja  nicht  von  aussen  empfangen 
haben,  sind  sie  natürlich  auch  zu  unserem  angeborenen, 
ureigensten  Besitzstand  zu  rechnen. 

Ausserdem  gibt  es  noch  eine  ganze  Reihe  von 
anderen  Vorstellungen,  die  uns  zwar  auch  angeboren 
sind,  deren  "Wahrheit  und  Realität  aber  erst  festgestellt 
werden  konnte,  nachdem  wir  uns  der  Existenz  Gottes 
vergewissert  hatten,  es  sind  das  diejenigen  Vorstellungen, 
die  sich  auf  die  Aussenwelt  beziehen,  also  vorzugsweise 
die  rein  mathematischen,  wie  Ausdehnung,  Gestalt  und 
Bewegung,  und  die  gesamten  mathematischen  Begriife 
und  Lehrsätze.  Wir  erinnern  ims,  wie  auf  Grund  der 
Wahrhaftigkeit  Gottes  ihre  reale  Existenz  ausserhalb 
unseres  Geistes  erwiesen  und  gezeigt  wurde,  dass  auch 
die  in  den  mathematischen  Folgesätzen  enthaltenen  Be- 
griffe richtig  sein  müssen.  Dabei  ist  natürlich  zu  be- 
achten, dass  die  einfachen  mathematischen  Axiome  und 
Begriffe,  als  blosse  Vorstellungen  des  Geistes  be- 
trachtet, natürlich  schon  von  vornherein  gewiss  und  in 


148     Sechstes  Kapitel:  Allgemeine  metaphysische  Grundlagen. 

dieser  Hinsicht  nur  die  zusammengesetzten  Lehrsätze 
einer  Rechtfertigung  bedürftig  waren.  Da  aber  diese 
Begriffe  alle  insgesamt  sich  auf  die  Aussenwelt  beziehen, 
so  ist  ihre  wirkliche  gegenständliche  Existenz  erst  durch 
den  Beweis  von  der  Realität  der  Aussenwelt  erwiesen 
worden.  Insofern  trugen  sie  von  vornherein  keineswegs 
das  Zeichen  der  absoluten  Gewissheit  an  sich,  wie  es 
etwa  mit  der  Idee  des  Selbstbewusstseins  und  der  Gottes- 
vorstellung verbunden  war. 

So  wird  es  uns  also  nicht  wundern,  wenn  Descartes 
wiederholt  darauf  aufmerksam  macht,  dass  es  in  Gottes 
Hand  gelegen  hätte,  zu  bewirken,  dass  in  den  konkreten 
mathematischen  Anschauungen  die  grössten  Unregel- 
mässigkeiten und  Widersprüche  zu  Tage  treten.  Wenn 
die  objektive  ausgedehnte  Welt  um  uns  herum  die  Ge- 
setzmässigkeit und  Regelmässigkeit  in  ihrer  körperlichen 
Struktur  besitzt,  wie  sie  uns  in  die  Augen  fällt,  und 
wie  sie  schon  unserem  inneren  geistigen  Auge  vorschwebt, 
dank  den  unserem  Bewusstsein  eingeborenen  mathema- 
tischen Vorstellungen,  so  ist  das  ein  Werk  der  freien 
schöpferischen  Tätigkeit  Gottes.  Genau  so  wie  alle 
Wesen  in  der  Welt  sind  auch  die  räumlichen  Gebilde 
mit  ihrer  spezifischen  Struktur  —  wie  wir  später  sehen 
werden  auch  die  Naturgesetze,  von  denen  die  wichtigsten 
ebenfalls  zu  unsern  angeborenen  BegriiFen  gehören  —  von 
Gott  ohne  jeden  äusseren  oder  inneren  Zwang  geschaffen 
worden.  Und  wenn  wir  keinen  Grund  haben,  an  ihrer  Ge- 
setzmässigkeit und  inneren  Übereinstimmung  zu  zweifeln, 
so  liegt  das  daran,  weil  Gott  sie  nun  einmal  so  geschaffen 
hat  (A,  I,  145 — 46,  151 — 53).  Nirgends  kommt  der  aus- 
gesprochene theistische  und  persönliche  Gottesbegriff 
unseres  Philosophen  stärker  zum  Ausdruck,  als  wenn 
er  diese  Punkte   seines   Systems  berührt,^)     „Es   heisst 

^)  Ausführlich  habe  ich  diese  Tatsachen  besprochen  in  meiner 
Abhandlung:     „Zur  geschichtlichen  Bedeutung  der    Naturphilosophie 


Das  Verstandeselement  in  der  Anschauung.     Kant.  149 

in  der  Tat  von  Gott  wie  von  einem  Jupiter  oder  Saturn 
sprechen  und  ihn  dem  Styx  oder  dem  Schick.sal  unter- 
ordnen, wenn  man  behauptet,  dass  diese  (ewigen)  Wahr- 
heiten unabliängig  von  ihm  seien"  (A.  I,  145). 

12.  Wir  wissen  es,  dass  unsere  sinnlichen  Emp- 
findungen zu  unseren  angeborenen  Vorstellungengehören, 
ja  noch  mehr  ausserhalb  unseres  Greistes  überhaupt  nicht 
existieren  (C.  X,  320).  Also  unser  Geist  ist  es,  worauf 
wir  schon  vorher  aufmerksam  gemacht  haben,  der  die 
Natur  mit  all  der  glänzenden,  schimmernden  Farben- 
pracht, die  uns  erscheint,  umgibt.  Wir  können  sogar 
noch  weiter  gehen,  auch  die  Gegenständlichkeit  und 
Ordnung  bringt  der  Geist  in  die  Aussenwelt  hinein. 
Die  objektive  Gegenständlichkeit,  in  der  mir  die  Körper, 
ihre  verschiedenen  Gestalten  und  Abstände  voneinander 
erscheinen,  wird  keineswegs  meinem  Geiste  passiv  von 
aussen  her  eingedrückt;  —  schon  die  Tatsachen  der 
physiologischen  Optik  belehren  uns  ja  darüber,  dass 
dies  unmöglich  ist  —  mein  Verstand  ist  es  vielmehr, 
der  mir  die  Sinneswahrnehmungen  so  darstellt,  wie  sie 
mir  erscheinen  (C.  II,  356—57).  Es  ist  eine  Tatsache, 
auf  die  unser  Philosoph  immer  wieder  zurückkommt. 
Schon  das  blosse  Anschauungsbild,  das  uns  die  Aussen- 
welt darbietet ,  ist  vollkommen  durchwebt  und  durch- 
setzt von  rationalen  dem  Verstände  entstammenden 
Faktoren  (C.  X,  95-96). 

In  den  Meditationen  versucht  der  Philosoph  an  einem 
konkreten  Beispiele  diese  Tatsachen  klar  zu  machen.  Vor 
seinen  Augen  liegt  ein  Stück  Wachs,  das  aus  einer  Honig- 
scheibe gewonnen  worden  ist.  Noch  hat  es  nicht  allen 
Honiggeschmack  verloren,  noch  haftet  an  ihm  der  Duft 
der  Blumen,  aus   denen    es  gesammelt   worden.     Es  ist 


Spinozas".     Zeitschrift    für     Philosophie   und     philosophische   Kritik 
B.  125.     S.  163—186. 


150     Sechstes  Kapitel:  Allgemeine  metaphysische  Grundlagen. 

hart,  kalt,  man  kann  es  leiclit  anfassen.  Kurz  es  hat 
alle  Eigenschaften  an  sich,  die  zur  deutlichen  Erkenntnis 
eines  Körpers  erforderlich  erscheinen. 

Doch  siehe  da,  jetzt  kommt  das  Wachs  dem  Eeuer 
nahe.  Auf  einmal  fängt  der  Duft  an  sich  zu  verflüchtigen, 
auch  der  Geschmack  vergeht,  die  Farbe  ändert  sich, 
die  Form  verschwindet.  Schliesslich  wird  es  flüssig 
und  kochend  heiss,  so  dass  man  es  nicht  mehr  anfassen 
kann. 

Ist  das  noch  derselbe  Körper,  den  ich  früher  ge- 
sehen? Ich  bin  fest  davon  überzeugt,  und  es  gibt  keinen 
Menschen  mit  gesunden  Sinnen,  der  nicht  derselben 
Anschauung  ist.  Ja  selbst  wenn  er  sich  in  Dampf  auf- 
löst und  sich  ins  Ungemessene  ausdehnt,  glaube  ich  noch 
an  seine  Identität  mit  dem  ursprünglichen  Stück  Wachs. 
Und  doch  kannst  du  mir  kein  sinnliches  Merkmal  nennen, 
das  diese  Dampfwolken  mit  dem  ursprünglichen  Körper 
noch  gemein  haben.  Deine  sinnliche  Wahrnehmungs- 
kraft lässt  dich  hier  vollkommen  im  Stich.  Es  ist  auf 
Grund  eines  rein  geistigen  Einblickes,  durch  den  du  zu 
deiner  scheinbar  ganz  passiv  aufgenommenen  Anschauung 
gelangst. 

Diese  starke  Betonung  des  rationalen  Faktors  in 
der  Wahrnehmung  erinnert  fast  schon  an  die  kritischen 
Gedanken  Kants  in  der  transzendentalen  Analytik. 
Freilich  darf  man  darin  nicht  zu  weit  gehen.  Es  sind 
eben  bei  Descartes  blosse  Andeutungen,  die  an  die  tiefen 
systematischen  Untersuchungen  des  grossen  Kritikers 
auch  nicht  im  entferntesten  heranreichen.  Es  bedurfte 
noch  anderthalb  Jahrhunderte,  ehe  die  Menschheit  für 
derart  tiefsinnige  Probleme,  wie  sie  Kant  darbot,  die 
nötige  Reife  hatte.  Kant  kam  es  bekanntlich  darauf 
an  zu  zeigen,  wieso  unsere  Verstandesfunktionen  auf  die 
sinnliche  Erscheinungswelt  angewandt  werden  dürfen, 
sein  Interesse  war  ausgesprochen  erkenntnistheoretisch. 
Descartes'  Absichten  dagegen  sind   mehr  metaphysisch, 


über  den  Begriff  der  angeborenen  Vorstellungen.  151 

er  will  durch  den  Nachweis  des  rationalen  Faktors  in 
der  sinnlichen  Anschauung  den  Beweis  bringen,  dass 
der  Geist  am  ursprünglichsten,  am  gewissesten  ist,  da 
ja  selbst  die  körperlichen  Dinge  ohne  seine  produktive 
Mitwirkung  uns  nicht  erscheinen  können. 

Schon  deswegen  übrigens  lassen  beide  Standpunkte 
keinen  strengen  Vergleich  zu,  weil  Descartes  der  Aussen- 
welt  vollkommene  Objektivität  zuschreibt,  wenigstens 
soweit  sie  rein  körperlicher  Natur  ist,  während  sie  ja 
bei  Kant  blosse  Erscheinungswelt  ist. 

13.  Wir  haben  die  verschiedenen  Gruppen  der  an- 
geborenen Vorstellungen  und  ihre  Bedeutung  im  einzelnen 
dargelegt.  Es  bleibt  uns  noch  übrig,  ihre  Entstehungs- 
weise zu  erklären.  Sollten  sie  tatsächlich  von  vorn- 
herein aktuell  in  unserem  Geiste  vorhanden  sein,  wie 
etwa  die  einzelnen  Verse  in  einem  Gedicht?  „Keiner 
ist  weiter  davon  entfernt  als  ich  (heisst  es  bei  Descartes), 
einen  derartigen  Haufen  von  scholastischen  Wesenheiten 
anzunehmen"  (C.  X,  106  —7).  Die  angeborenen  Begriffe 
sind  vielmehr  potentiell  in  unserem  Verstandesvermögen 
enthalten,  gleich  wie  in  einem  Stück  Wachs  die  ver- 
schiedenen Formen  enthalten  sind,  die  es  anzunehmen 
fähig  ist.  Auch  leugnet  Descartes  nicht,  dass  oft  die 
Erfahrung  die  Veranlassung  dazu  bietet,  in  unserem 
Bewusstsein  die  schlummernden  ursprünglichen  Ideen 
wachzurufen. 

Doch  keineswegs  ist  immer  Erfahrung  dazu  nötig. 
Der  Verstand  ist  auch  allein  fähig,  ohne  jede  fremde 
Beihilfe,  die  angeborenen  Ideen  zu  erkennen.  Er  muss 
sich  nur  auf  sich  selbst  besinnen  und  von  allen  sinn- 
lichen Eindrücken  freizuhalten  suchen.  Wir  sehen, 
wie  in  diesem  Punkte  Descartes  noch  ganz  und  gar 
rationalistisch  denkt  (C.  XI,  170). 


Siebentes  Kapitel. 


Naturphilosophie. 

1.  Nachdem  wir  im  vorhergehenden  die  Grundlagen 
der  Metaphysik  besprochen  haben,  können  wir  uns  jetzt 
den  philosophischen  Einzeldisziplinen  zuwenden.  Wir 
wissen  es,  dass  unter  diesen  die  Naturphilosophie  weit- 
aus am  eingehendsten  von  Descartes  behandelt  worden 
ist.  Die  allgemeine  Tendenz,  in  der  Physik  alles  rein 
mechanisch  nach  kausalen  Gesichtspunkten  zu  erklären, 
war,  wie  wir  gesehen  haben,  tief  in  den  damaligen 
Zeitverhältnissen  begründet.  Die  besten  naturwissen- 
schaftlichen Köpfe:  Galilei,  Kepler,  Harvey,  und  wie 
sie  alle  heissen  mögen,  hatten  sich  dasselbe  Ziel  gesteckt. 
Keineswegs  sind  die  Einflüsse  dieser  Männer  auf  unseren 
Philosophen  zu  unterschätzen.  Auch  die  mechanischen 
naturphilosophischen  Systeme  des  Altertums  haben,  wie 
angedeutet  wurde,  befruchtend  auf  ihn  eingewirkt. 

Allein  alles  dieses  macht  doch  nicht  das  Charak- 
teristische seiner  Naturphilosophie  aus.  Dies  lag  erstens 
in  der  grandiosen  und  ich  möchte  fast  sagen  grausamen 
Logik,  mit  der  er  seine  mechanischen  Grundgedanken 
bis  zu  ihren  letzten  Konsequenzen  verfolgte,  sodann  in 
dem  ungeheuren,  zum  grössten  Teil  selbst  geschaiFenen 
empirischen  Unterbau ,  der  es  ihm  ermöglichte,  sein 
Weltbild  bis  in  die  kleinsten  Details  auszumalen. 

Die  wesentliche  Stütze  der  mechanischen  Natur- 
betrachtung bildet  bei  Descartes  die  Theorie  der  Sinnes- 
wahrnehmungen.     Der    Zusammenhang    dieser     beiden 


über  die  Subjektivität  der  Sinneswahrnehmungen.  153 

Anschauungsweisen  liegt  auf  der  Hand.  Folgt  doch  die 
eine  fast  mit  notwendiger  Konsequenz  aus  der  anderen. 
Sind  die  Sinneswahrnehmungen  wirklich  nur  Phäno- 
mene, sind  die  Bewegungserscheinungen  das  Reale,  das 
ihnen  zu  Grrunde  liegt,  dann  liefert  die  mechanische 
Auffassung  tatsächlich  die  einzige  wissenschaftliche  Er- 
klärung für  die  Zusammenhänge  in  der  physischen  Welt. 
Aus  seinen  Prämissen  könnte  Descartes  die  Alleinherr- 
schaft der  mechanischen  Naturanschauung,  ich  möchte 
sagen,  direkt  a  priori  für  jedermann  überzeugend  be- 
weisen, gleich  wie  der  Physiker  das  Vorhandensein 
eines  bisher  nicht  gekannten  Planeten  ohne  Fernrohr 
aus  seinen  Berechnungen  heraus  deduziert. 

Xun  ist  aber  die  Theorie  über  die  Subjektivität 
der  Sinneswahrnehmungen  angreifbar,  wenigstens  in  der 
strengen  Fassung,  wie  sie  Descartes  annahm,  und  wie 
sie  selbst  heute  noch  von  einer  ganzen  Reihe  von  Natur- 
forschern verteidigt  wird.  Zunächst  ist  zu  betonen,  dass 
alle  räumlichen  Figurationen  und  Bewegungskomplexe 
in  einem  ähnlichen  Sinne  subjektiv  zu  nennen  sind,  wie 
etwa  die  Farben  und  Klänge.  Ein  Turm  erscheint 
grösser  oder  kleiner,  je  nachdem  er  mehr  oder  weniger 
weit  entfernt  ist.  Schon  dieser  Umstand  allein  würde 
uns  die  Annahme,  dass  Farben  und  Klängen  Bewegungs- 
vorgänge zu  Grunde  liegen,  verdächtig  machen.  Indes 
kommt  noch  ein  direkter  Einwand  hinzu.  Beobachten 
wir  einmal  rein  objektiv,  wie  der  Klang  entsteht, 
wir  sehen,  wie  eine  Saite  in  Schwingungen  gerät, 
und  wie  dann  gleichzeitig  mit  den  von  der  Saite  sich 
nach  unserem  Ohr  fortpflanzenden  Luftschwingungen 
der  Eindruck  des  Klanges  in  uns  hervorgerufen  wird. 
Klang  und  Schwingung  treten  gleichzeitig  auf,  sie  ent- 
sprechen sich  gewissermassen.  Wie  kommen  wir  aber 
dazu,  aus  diesem  rein  funktionalen  Verhältnis,  in  dem 
das  eine  Phänomen  die  Begleiterscheinung  des  anderen 
ist,  ein  kausales  zu  machen? 


15-1  Siebentes  Kapitel:  Naturphilosophie. 

Freilicli  mag  es  auch  nicht  recht  sein,  den  räum- 
lichen Figurationen  eine  höhere  objektive  Realität  einzu- 
räumen, als  den  Erscheinungen  des  Klanges,  der  Farbe 
u.  s.  w.,  trotzdem  spielen  sie  in  der  Physik  eine  ausser- 
ordentlich wichtige  Rolle,  Sind  sie  es  doch,  denen  diese 
naturwissenschaftliche  Disziplin  ihren  wissenschaftlichen 
Charakter  zu  verdanken  hat.  Die  Gesetzmässigkeiten,  die 
z.  B.  dem  Reiche  der  Tone  zu  Grunde  liegen,  würden 
uns  ganz  und  gar  entgehen,  wenn  nicht  die  gleichzeitig 
mit  ihnen  auftretenden  körperlichen  Schwingungen  ihre 
exakte  Feststellung  ermöglichten.  In  diesem  Sinne  hat  die 
Theorie  über  die  Subjektivität  der  Sinneswahrnehmungen 
und  die  mit  ihr  verbundene  mechanische  Naturbe- 
trachtung der  Wissenschaft  unschätzbare  Dienste  geleistet. 

2.  In  Descartes'  Naturphilosophie  ist,  wie  schon 
gesagt,  dieser  mathematisch-mechanische  Charakter  in 
einer  ganz  auffallend  konsequenten  Weise  ausgeprägt. 
Der  Materie  werden  alle  inneren  Kräfte  genommen, 
sie  wird  vollkommen  identifiziert  mit  der  physischen  Aus- 
dehnung. Der  Begriff  Materie  kann  gleichsam  geradezu 
durch  den  Begriff  Raum  vertreten  werden.  Der  Ein- 
wand, die  meisten  Körper  könnten  verdichtet  und  ver- 
dünnt werden  und  seien  schon  deswegen  nicht  mit  dem 
blossen  Räume  zu  vergleichen,  erscheint  dem  Philo- 
sophen hinfällig.  Bei  der  Verdünnung  und  Verdichtung 
findet  keine  Volumenänderung  statt.  Dünne  Körper 
sind  solche,  zwischen  deren  Teilen  grosse  Zwischen- 
räume sind;  die  durch  andere  Körper  ausgefüllt  werden. 
Die  Verdichtung  wird  dann  dadurch  erzielt ,  dass  bei 
einer  Annäherung  der  Teilchen  des  ursprünglichen 
Körpers  die  fremden  Körper  ausgeschieden  werden.  Es 
findet  genau  derselbe  Vorgang  statt,  wie  wenn  ein  vom 
Wasser  aufgeblähter  Schwamm  zusammengedrückt  wird. 
Hiermit  haben  wir  nach  Descartes  die  einzig  richtige 
Erklärung  dieses  Phänomens  gegeben. 


Körper  und  Ausdehnung.     Polemik  gegen  die  Atomlheorie.     155 

Lässt  es  sich  docli  schlecliterdings  niclit  denken^ 
dass  der  Körper,  der  vollkommen  mit  dem  physischen 
Räume  identisch  ist,  einen  Teil  seines  Volumens  einbüsst. 
Ein  Vakuum  im  philosophischen  Sinne,  das  heisst  ein 
Ort,  an  dem  sich  keine  Materie  befindet,  kann  es  dem- 
nach nicht  geben.  Dass  man  tatsächlich  an  ein  solches 
Phänomen  geglaubt  hat,  ist  leicht  zu  erklären  aus  den 
offenbaren  Täuschungen,  denen  wir  im  täglichen  Leben 
ausgesetzt  sind.  Der  gemeine  Mann  hält  ein  Gefäss  für 
leer,  wenn  es  nur  mit  Luft  angefüllt  ist.  Was  für  ihn 
nicht  greifbar  ist,  das  hält  er  auch  nicht  für  körper- 
lich. Einen  ähnlichen  Fehlschluss  macht  der  Philosoph, 
wenn  er  sich  berechtigt  glaubt,  einen  Raum,  aus  dem 
die  Luft  ausgetrieben  ist,  für  leer  zu  halten,  Muss  denn 
alles  Körperliche  wahrnehmbar  sein?  Wir  können  es 
doch  nicht  leugnen,  dass  die  Schärfe  unserer  Sinne  eine 
bestimmte  Grenze  hat. 

Ein  Raum  ohne  Lihalt  ist  nicht  nur  nirgends  zu 
finden,  ein  solches  Phänomen  wäre  sogar  für  unseren 
Verstand  einfach  undenkbar.  Allerdings  besteht  zwischen 
einem  Gefäss  und  seinem  zufälligen  Inhalt  kein  notwen- 
diger Zusammenhang.  Wohl  aber  besteht  ein  solcher 
zwischen  der  hohlen  Gestalt  des  Gefässes  und  der  Aus- 
dehnung, welche  in  dieser  Höhlung  enthalten  ist  und 
sich  hinsichtlich  ihrer  Eigenschaften  vollkommen  mit 
denen  der  Materie  deckt.  Es  ist  deshalb  ebenso  wider- 
sprechend, einen  Berg  ohne  Tal  vorzustellen,  als  jene 
Höhlung  ohne  die  in  ihr  enthaltene  Ausdehnung,  oder 
diese  Ausdehnung  ohne  eine  ausgedehnte  Substanz.  Es 
ist  interessant  zu  sehen,  mit  welcher  Zähigkeit  Descartes 
seine  plerotische  Theorie  und  die  aus  ihr  sich  ergebende 
Konsequenz,  dass  ein  leerer  Raum  ein  Unding  sei,  ver- 
teidigt. Freilich  wird  der  moderne  Leser  den  Argu- 
menten, die  unser  Philosoph  anführt,  kein  rechtes  Ver- 
trauen entgegen  bringen  können.  Das  Nichts  könne 
keine  Ausdehnung  haben,    wäre   aber   der   Raum   nicht 


156  Siebenies  Kapitel:  Naturphilosophie. 

mit  Substanz  ausgefüllt,  so  würde  er  sicli  in  keiner 
Weise  von  dem  Nichts  unterscheiden.  In  derartiger 
Weise  sucht  Descartes  seine  Anschauungen   zu  stützen. 

Indes  muss  auch  hier  darauf  aufmerksam  gemacht 
werden,  dass  die  Beweisgründe,  die  Descartes  für  die  Unmög- 
lichkeit des  leeren  Raumes  bringt,  nicht  ganz  unsinnig  sind. 
Abgesehen  davon,  dass  auch  andere  Philosophen,  wie  z.  B. 
Leibniz,  von  einem  Vakuum  nichts  wissen  wollten,  selbst 
Kant  ist  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  auf  diese  Frage 
eingegangen.  In  den  Antizipationen  der  Wahrnehmung 
heisst  es  :  „In  allen  Erscheinungen  hat  die  Empfindung 
und  das  Reale,  welches  ihr  an  dem  Gegenstande  ent- 
spricht, eine  intensive  Grösse,  d.  h.  einen  Grad".  Daraus 
folgt,  dass  es  unmöglich  ist,  aus  der  Erfahrung  einen 
Beweis  von  einem  leeren  Raum  zu  liefern.  Denn  der 
gänzliche  Mangel  des  Realen  in  der  sinnlichen  An- 
schauung kann  nie  und  nimmermehr  wahrgenommen, 
oder  auf  Grund  irgend  einer  Erfahrungstatsache  er- 
schlossen werden.  Wie  wir  sehen,  ist  eine  gewisse 
Übereinstimmung  in  den  Argumenten  beider  Philosophen 
zu  finden.  Nach  Descartes  ist  der  leere  Raum  über- 
haupt ein  widerspruchsvoller,  zu  verwerfender  Begrifi". 
Kant  glaubt,  dass  unser  Anschauungsvermögen  so  orga- 
nisiert ist,  dass  ein  Raum  ohne  allen  Inhalt  nicht  wahr- 
genommen werden  kann.  Beide  verfahren  vollkommen 
a  priori  in  ihren  Schlüssen.  Indes  wir  wollen  hier 
nicht  weiter  auf  dieses  Problem  eingehen. 

Noch  eine  weitere  Folgerung  können  wir  aus  der 
Identifizierung  von  Raum  und  Materie  ziehen,  nämlich 
die  Unmöglichkeit,  dass  es  letzte  unteilbare  StofFein- 
heiten,  sogenannte  Atome  gibt.  Denn  falls  es  wirklich 
Atome  gäbe,  so  müssten  sie  ja  ausgedehnt  sein,  in  diesem 
Falle  wären  sie  aber,  mögen  sie  auch  noch  so  klein 
gedacht  werden,  immer  weiter  teilbar.  Ja  selbst  wenn 
wir  annehmen,  Gott  habe  bewirkt,  dass  es  gewisse  ele- 
mentare   Stofl^einheiten    gäbe,    die   nicht   weiter   geteilt 


über  die  Unendlichkeit  der  Welt.     Die  Bewegung.         157 

werden  könnten,  so  können  wir  sie  doch  nicht  im  eigent- 
lichen Sinne  unteilbar  nennen.  Denn  mögen  auch  Gottes 
Geschöpfe  sie  nicht  mehr  teilen  können,  er  selbst  hat 
doch  immer  die  Macht  sie  weiter  zu  teilen.  So  sucht 
unser  Philosoph  mit  allen  ihm  zu  Gebote  stehenden 
Mitteln,  die  Haltlosigkeit  aller  seinen  Anschauungen 
entgegenstehenden  Theorien  zu  bekämpfen  und  die  seinige 
als  die  einzig  wahre  hinzustellen,  in  der  festen  Über- 
zeugung, dass  die  allgemeinen  Grundlagen  der  Physik 
auf  apriorischem  Wege  gefunden  werden  müssten.  Er 
will  sie  fest  und  sicher  gründen  für  alle  Ewigkeit,  um 
so  der  Einzelforschung  ein  Schema  darbieten  zu  können, 
in  das  sie  ihre  auf  empirischem  Wege  gefundenen  Re- 
sultate einzufügen  vermag. 

3.  Die  Gleichsetzung  von  Stoif  und  Raum  führt 
uns  noch  zu  einer  weiteren  Reihe  von  Ergebnissen.  Der 
Raum  erstreckt  sich  nach  allen  Richtungen  hin  ins 
Grenzenlose  hinaus.  Ein  Gleiches  muss  also  auch  von 
der  ihn  erfüllenden  Materie  gelten.  Da  ferner  die 
Natur  des  Stoffes  in  nichts  anderem  besteht,  als  eine 
ausgedehnte  Substanz  zu  sein,  so  muss  er  auch  an  allen 
Orten  im  Himmel  und  auf  der  Erde  vollkommen  gleich- 
artig sein.  So  eröffnet  sich  ein  überwältigendes  Bild, 
das  in  seiner  grandiosen  Einheitlichkeit  an  die  Natur- 
anschauung eines  Giordano  Bruno  erinnert.  Nichts 
mehr  von  all  den  vagen  Spekulationen  über  die  Enter- 
schiede zwischen  der  Welt  oberhalb  und  unterhalb  des 
Mondes,  Phantasien,  die  im  krassesten  Widerspruch  zu 
den  damaligen  neu  gewonnenen  astronomischen  Anschau- 
ungen standen.  Die  Welt  ist  ein  einheitliches,  sich  ins 
Grenzenlose,  ins  üngemessene  erstreckendes,  physisches 
Kontinuum.  In  ihrer  Unermesslichkeit  stellt  sie  ge- 
wissermassen  ein  Abbild  Gottes  dar ,  freilich  nur  ein 
Abbild.  Denn  wirkliche  aktuale  Unendlichkeit  besitzt 
Gott  allein.     Der  Welt  um  uns  herum  dürfen  wir  nur 


158  Siebentes  Kapitel :  Naturphilosophie. 

eine  grenzenlose  Ausdehnung,  eine  potentielle  Unend- 
lichkeit zuschreiben.  Überhaupt  sollen  wir  nicht  tiefer 
einzudringen  versuchen  in  das  Wesen  der  wahren  ak- 
tualen  Unendlichkeit.  Nur  wer  verwegen  genug  ist, 
seine  Seele  für  unendlich  zu  halten,  kann  glauben,  in 
solchen  Betrachtungen  von  Erfolg  gekrönt  zu  werden. 
„Ich  habe  niemals  das  Unendliche  behandelt,  es  sei  denn 
um  mich  ihm  unterzuordnen,  und  habe  nie  zu  bestimmen 
versucht,  was  es  ist,  oder  was  es  nicht  ist"  (A.  III,  293). 
Diese  Worte  sind  recht  charakteristisch  für  unseren 
Denker.  Wir  hatten  früher  darauf  hingewiesen,  wie 
er  von  der  Beschränktheit  des  menschlichen  Erkenntnis- 
vermögens durchdrungen  ist.  Hier  mahnt  er  in  einem 
konkreten  Ealle  den  Philosophen  an  die  seinem  meta- 
physischen Denken  gesetzten  Grenzen. 

4.  In  dem  grenzenlosen  physischen  Kontinuum,  das. 
wie  wir  gesehen  haben,  identisch  mit  der  körperlichen 
Welt  ist,  fehlt  indes  noch  ein  wichtiger  Faktor,  ich 
meine  die  Bewegung.  Ohne  Bewegung  wäre  das  All 
nichts  weiter  als  ein  eintöniger,  unterschiedsloser  Brei. 
Sie  individualisiert  die  einzelnen  Teile,  sie  gewährt 
ihnen  erst  eine  spezifische  Konstitution,  den  sogenannten 
Aggregatzustand,  kurz  gesagt,  alles  Leben  das  in  diesem 
Riesenleibe  pulsiert,  bringt  sie  in  ihn  hinein.  Ein  arges 
Oedränge  herrscht  in  dem  ungeheuren  Weltengetriebe, 
Wir  wissen,  es  gibt  keinen  leeren  Raum,  nicht  das  ge- 
ringste Plätzchen  ist  frei.  So  ist  denn  ein  Vorwärts- 
kommen nur  dadurch  möglich,  dass  alle  Bewegungen 
wieder  in  sich  zurückkehren.  Greschlossene  Kurven 
müssen  alle  Massenteilchen  beschreiben,  wenn  anders 
sie  sich  von  der  Stelle  rühren  wollen. 

Wer  hat  den  Kosmos  mit  dieser  Fülle  von  Be- 
wegung ausgestattet,  ohne  die  er  nichts  weiter  als  ein 
totes  Grebilde,  der  Gipfel  der  Eintönigkeit  und  Lang- 
weiligkeit sein  würde.     Es  ist  natürlich  Gott.     Wie  er 


Konstanz  (\er  Bewegungssumme.     Trägheit  der  Materie.      159 

alle   Substanzen,    körperliche    und   geistige,   geschaffen, 
wie  ohne  seine  stetige  innere   Mitwirkung  kein   Wesen 
auch  nur  den  geringsten  Augenblick  überdauern  könnte, 
so  hat  er  auch  die    Bewegung   ins    Leben   gerufen.    Es 
liegt  im  Wesen  Gottes,  dass  er,  unveränderlich  wie  er 
ist,  auch  auf  möglichst  feste  und  unveränderliche  Weise 
wirkt.     Daraus  können  wir  den  sicheren  Schluss  ziehen, 
dass  auch  die  Bewegungsquantität,  mit  der  er  die  Materie 
ausgestattet  hat,  sich  nicht  verändert.      In   alle    Ewig- 
keit bleibt  immer  dieselbe  Menge   vorhanden,    wie  sehr 
auch  im  einzelnen   die  Grösse   des    Bewegungzustandes, 
mit  der  die   verschiedenen  Massenteilchen   ausgestattet 
sind,  wechseln   mag.     Hiermit  ist  ein   Naturgesetz  von 
immenser  Tragweite  erkannt.     Schon  vorher  hatte  Des- 
cartes  ein  wichtiges  Gesetz  enthüllt,  es  war  die  aus  der 
Identifizierung  von  Stoff  und  Raum  mit  Notwendigkeit 
sich  ergebende  Folgerung  von  der  Erhaltung  des  Stoffes, 
Doch  ist  das  Bewegungsgesetz  weit  wichtiger,  weil  hier- 
durch eine  bisher  unbekannte  Tatsache  formuliert  wurde. 
Drücken  wir  das  Gesetz  in  der  exakten  Form  aus,  wie 
es    sich   unser   Philosoph   gedacht   hat,    so    müssen    wir 
sagen,    es  sind   die   Summen   der    gesamten    Bewegungs- 
zustände,  d.  h.  die  Summen  der  einzelnen  Massen  multi- 
pliziert mit  ihren  Geschwindigkeiten,  die  sich  erhalten. 
Auch   die    moderne    Physik     erkennt     diesen    Satz     an, 
allerdings    nur    für    einen    beschränkten    Geltungskreis, 
nämlich  für  die  Bewegung  freier  Massensysteme,    Frei- 
lich hat  sich  Descartes  bei  der  Formulierung  dieser  Tat- 
sache eines    grossen   Irrtums    schuldig   gemacht,    indem 
er  eine  Verschiebung   der   Richtungsänderung  der    ein- 
zelnen Massenteilchen    nicht  als   eine  Veränderung  der 
Bewegungsquantität  ansah,    was    allerdings    seinem  Sy- 
steme sehr  zu  statten   kam,    schreibt  er  doch   wie  wir 
später    sehen    werden,    dem   Geiste    die    Fähigkeit    zu, 
richtungs ändernd  auf  die  Materie  einwirken  zu  können.^) 
')  Diese  falsche  Auffassungsweise  Descartes'  von   der  Natur  des 


160  Siebentes  Kapitel:  Naturphilosophie. 

5.  Bevor  wir  zu  den  jetzt  folgenden  speziellen 
Naturgesetzen  übergehen,  wollen  wir  betrachten,  in 
welchen  Verhältnissen  die  Massenteilchen  zu  den  auf 
sie  übergehenden  Bewegungsmengen  stehen.  Da  stellt 
sich  heraus,  dass  die  Geschwindigkeiten,  welche  die 
einzelnen  Teilchen  erhalten,  genau  im  Verhältnis  zu 
ihren  Grössen  stehen.  Stehen  die  Massen  zweier  Körper 
im  Verhältnis  eins  zu  zwei,  und  gibt  man  ihnen  einen 
gleichen  Bewegungsanstoss,  so  wird  das  erste  Teilchen 
sich  doppelt  so  schnell  bewegen,  wie  das  zweite.  Wir 
sehen  also,  je  grösser  die  Masse  ist,  ein  desto  grösserer 
Anstoss  ist  nötig,  um  sie  in  Bewegung  zu  setzen,  einen 
desto  grösseren  Widerstand  setzt  sie  dem  äusseren  Stoss 
entgegen.  Aus  diesen  Tatsachen  spricht  klar  und  deut- 
lich, dass  die  Materie  eine  gewisse  Trägheit,  eine  gewisse 
Widerstandsfähigkeit  besitzt.  Dies  ist  aber  auch  die 
einzige  rein  physikalische  Eigenschaft,  die  Descartes 
in  den  Körpern  anerkennt.  Es  war  für  ihn  natürlich 
eine  Notwendigkeit,  denn  sonst  wäre  die  ganze  Körper- 
welt nichts  weiter  als  eine  Fata  Morgana,  ein  leeres 
Luftgebilde.  Andererseits  wird  durch  das  Hinzutreten 
dieser  physikalischen  Eigenschaft  der  durchsichtige,  rein 
mathematische  Charakter  der  Physik  keineswegs  getrübt, 
da  ja  die  Bewegungsmenge  zur  Masse  in  einem  einfachen 
Zahlenverhältnis  steht. 

Wie  unser  allgemeines  Naturgesetz  von  der  Er- 
haltung der  gesamten  Bewegungsmenge  im  Weltall,  so 
können  noch  einige  andere  mechanische  Gesetze  direkt 
aus  der  Unveränderlichkeit  Gottes  erschlossen  werden. 
Das  erste  ist  das  ßeharrungsgesetz.    Es  sagt  aus,  dass 


Gesetzes  bringt  ihn  übrigens  mit  seinen  eigenen  physikalischen  An- 
schauungen in  Widerspruch.  In  seinen  Prinzipien  nämlich  setzt  er 
das  Parallelogramm  der  Bewegung  auseinander.  Dieses  Phänomen 
weist  aber  mit  Notwendigkeit  darauf  hin,  dass  eine  Richtungsänderiing 
bei  der  Summierung  der  Quantität  der  Bewegung  in  Anschlag  gebracht 
werden  muss. 


Allgemeine  Bewegnngsgesetze.     Stossgesetze.  161 

ein  jeder  Körper,  mag  er  einfach  oder  zusammengesetzt 
sein,  soviel  von  ihm  abhängt,  in  seinem  Zustande  ver- 
harrt und  ihn  nur  ändert,  wenn  er  durch  einen  äusseren 
Anlass  dazu  gezwungen  wird.  Ist  daher  ein  Teil  des 
StoiFes  viereckig,  so  wird  er  immer  viereckig  bleiben, 
so  lange  nicht  von  aussen  etwas  kommt,  was  seine  Ge- 
stalt verändert.  Ebenso  wird  ein  ruhender  Körper  in 
seiner  Ruhe,  ein  bewegter  Körper  in  seiner  Bewegung 
so  lange  verharren,  als  sie  nicht  durch  äussere  Antriebe 
gestört  werden.  Dieses  Gesetz,  von  dessen  absoluter 
Gültigkeit  Descartes  mit  den  tüchtigsten  Physikern  der 
damaligen  Zeit  überzeugt  war,  steht  im  einschneidensten 
AViderspruch  zu  den  Aristotelischen  Anschauungen.  Ari- 
stoteles und  mit  ihm  das  ganze  Mittelalter  lebte  in  dem 
Glauben,  dass  die  Bewegung  der  irdischen  Körper  von 
selbst  aufhöre  ohne  jede  äussere  Ursache,  nur  der  Trieb 
der  schweren  Körper  nach  der  Erde  zu  fallen,  und  das 
Bestreben  der  Dämpfe  nach  oben  zu  steigen,  dauere  so 
lange  fort,  bis  ein  äusseres  Hemmnis  eintrete.  Wahrhaft 
vollkommen  dagegen  seien  nur  die  Kreisbewegungen  der 
Himmelskörper.  Sie  allein  bewegen  sich  gleichmässig  und 
ungestört  bis  in  alle  Ewigkeit  fort.  Mit  diesen  auf  Grund 
der  naiven  unkritischen  Beobachtung  aufgenommenen 
Anschauungen  wurde  jetzt  durch  die  Aufstellung  des  Be- 
harrungsgesetzes gründlich  aufgeräumt.  Freilich  dauerte 
es  noch  geraume  Zeit,  bis  sich  die  Wahrheit  durchsetzte. 
Wie  man  von  der  heliozentrischen  Himmelsanschauung 
nichts  wissen  wollte,  weil  der  sinnliche  Schein  so  leb- 
haft zu  Gunsten  der  alten  Theorie  sprach,  so  musste 
auch  das  Beharrungsgesetz  einen  paradoxen  Eindruck 
machen,  weil  die  oberflächliche,  unkritische  Erfahrung 
dafür  zu  sprechen  scheint,  dass  die  Bewegungsintensität 
der  Körper  auch  ohne  äussere  Veranlassung  abnimmt. 
Das  zweite  Bewegungsgesetz,  welches  Descartes  an- 
führt, ist  eine  unmittelbare  Folge  des  eben  besprochenen: 
Jedes  Stoffteilchen  ist  bestrebt,  seine  Bewegung   in  ge- 

Hoff mann,  Descartes.  11 


1Q2  Siebentes  Kai^itel:  Naturphilosophie. 

rader  Linie  fortzusetzen.  Denn,  können  wir  hinzusetzen, 
täte  es  das  niclit,  so  würde  es  ja  nicht  mehr  in  seinem 
früheren  Zustande  beharren.  Mag  auch  die  Bewegung 
aller  Körper  wegen  der  stetigen  Raumerfüllung  sich 
nur  in  kreisförmigen  Bahnen,  in  geschlossenen  Kurven 
vollziehen,  trotzdem  hat  der  Körper  in  jedem  Moment 
das  Bestreben,  geradlinig  seine  Bewegung  fortzusetzen. 
Diese  Tatsache  fällt  in  die  Augen,  wenn  wir  einen 
an  einem  Strick  befestigten  und  im  Kreise  herumge- 
schwungenen Stein  betrachten.  So  wie  der  Strick  durch- 
schnitten wird ,  fliegt  der  Stein  seitwärts  davon,  in 
tangentialer  Richtung  zu  seiner  bisherigen  Bahnkurve. 

Das  nun  folgende  dritte  Gesetz  ist  nicht  richtig, 
wenigstens  nicht  in  der  Form,  in  der  es  von  unserem 
Philosophen  ausgesprochen  wird.  Noch  mehr  ist  aus- 
zusetzen an  den  sieben  sich  daran  anschliessenden  spe- 
ziellen Stossgesetzen.  Sie  sind  fast  alle  falsch.  Darum  hat 
man  jedoch  noch  kein  Recht,  Descartes  einen  besonders 
schweren  Vorwurf  dieser  Irrtümer  wegen  zu  machen. 
Die  Stosstheorie  ist  ein  viel  zu  schwieriges  Gebiet,  als 
dass  sie  in  der  damaligen  Zeit  schon  mit  Erfolg  hätte 
behandelt  werden  können,  Ist  doch  selbst  einem  Galilei, 
dem  genial  veranlagten  Experimentator,  die  Klarlegung 
dieser  Theorie  missglückt.  Freilich  liebt  es  mancher 
Geschichtsschreiber  der  Physik,  die  Leistungen  der  Phi- 
losophen in  diesem  Gebiet  nach  einem  sehr  strengen 
Massstab  zu  beurteilen.  LTnd  namentlich  Descartes  hat 
darunter  sehr  leiden  müssen. 

Wir  haben  darauf  hingewiesen,  wie  unser  Philosoph 
die  Bewegungsgesetze  in  rein  metaphysischer  Weise  zu 
begründen  sucht.  Ebenso  hatte  er,  wie  wir  wissen,  die 
übrigen  Grundlagen  der  Physik  auf  rein  apriorischem 
Wege  gefunden.  Wir  könnten  auch  in  diesem  Falle 
die  Anschauungen  Kants  als  Parallele  heranziehen,  um 
zu  zeigen,  wie  sehr  sich  diese  metaphysische  Tendenz 
bis  in  unsere  Zeit  hinein  fortgepflanzt  hat.    Es  ist  dies 


Apriorische  Naturgesetze.    Feste  und  flüssige  Körper.        163 

tief  in  der  Natur  des  Menschen  begründet,  für  das  Wert- 
vollste, was  er  besitzt,  was  ihm  als  Grundlage,  als  For- 
schungsmethode in  der  Wissenschaft  dient,  dafür  glaubt 
er,  könne  ihm  die  Erfahrung  keine  hinreichende  Sicher- 
heit geben,  so  ist  es  mit  den  mathematischen  Axiomen 
gegangen,  so  geht  es  auch  mit  den  allgemeinen  Natur- 
gesetzen. Und  doch  konnte  er  damit  nicht  den  Wandel 
in  der  Auffassung  dieser  Gesetze  hindern.  Nicht  nur 
der  Satz  von  der  Erhaltung  der  Bewegung  hat  die  mannig- 
fachsten Wandlungen  durchgemacht,  bis  er  seine  heutige 
Formulierung  in  dem  sogenannten  Gesetz  von  der  Kon- 
stanz der  Energie  im  Weltall  gefunden  hat,  es  besteht 
auch  ein  himmelweiter  Unterschied  zwischen  den  ver- 
schwommenen Begriffen,  die  man  im  Altertum,  ja  sogar 
noch  zu  Descartes'  Zeiten  von  der  Masse  gehabt  hat, 
und  dem  auf  die  Gravitation  begründeten  der  modernen 
Wissenschaft,  wonach  es  erst  einen  exakten  Sinn  hat, 
von  einer  Erhaltung  der  Materie  zu  sprechen.  Der  Ein- 
blick in  diese  Tatsachen  wird  uns  daran  gemahnen, 
immer  peinlicher  auf  die  Grenzen  zwischen  der  Philo- 
sophie   und    den    speziellen   Wissenschaften   zu   achten. 

6.  Es  wurde  oben  angedeutet,  dass  der  Aggregat- 
zustand der  einzelnen  Körper  vollkommen  durch  die 
Bewegung  bestimmt  wird,  wir  wollen  jetzt  sehen,  in 
welchem  Sinne  das  gemeint  ist.  Dem  Gefühle  nach  be- 
merkt man  folgenden  Unterschied  zwischen  harten  und 
flüssigen  Körpern.  Die  einzelnen  Teilchen  der  Flüssig- 
keiten weichen  leicht  aus  ihren  Orten  und  machen  des- 
halb unseren  sich  gegen  sie  bewegenden  Händen  ohne 
weiteres  Platz.  Die  Teilchen  der  harten  Körper  da- 
gegen hängen  fest  aneinander,  so  dass  es  erst  eines 
gewissen  Kraftaufwandes  bedarf,  um  sie  voneinander 
zu  trennen.  Worin  besteht  nun  der  physikalische  Unter- 
schied zwischen  diesen  beiden  Aggregatzuständen?  Es 
ist  nach  Descartes  nichts  anderes  als  die  Ruhe,  welche 


1(34  Siebentes  Kapitel:  Naturphilosophie. 

bewirkt,  dass  die  Teilclien  der  harten  Körper  nicht  so 
leicht  von  einander  getrennt  werden  können.  Gresetzt 
etwa,  es  wäre  eine  Art  Leim,  der  die  einzelnen  Teil- 
chen miteinander  verbände.  Was  könnte  dann  dieser 
Leim  sein?  Etwa  eine  neu  hinzutretende  Substanz? 
Aber  warum  sollte  eine  fremde  Substanz  ein  besseres 
Band  bilden  als  die  eigene  Substanz,  aus  der  die  Teil- 
chen bestehen!  Soll  es  wiederum  keine  Substanz  sein, 
sondern  ein  Zustand?  Welcher  Zustand  kann  es  dann 
sein  ausser  der  Ruhe?  Gibt  es  denn  einen  Zustand, 
der  der  Bewegung  mehr  entgegengesetzt  ist,  als  die 
Ruhe!  Die  aufgezählten  Möglichkeiten  sind  aber  die 
einzigen,  denn  ausser  Substanzen  und  deren  Zuständen 
gibt  es  für  uns  nichts. 

Diese  Auseinandersetzung  ist  so  recht  bezeichnend 
für  den  spezifisch  mechanischen  Charakter  der  Natur- 
philosophie Descartes'.  Er  lässt  nichts  weiter  in  seiner 
Physik  zu  als  die  Materie  und  die  Bewegung  und  wird 
deswegen  genötigt,  in  dieser  wenig  befriedigenden  Weise 
die  Erscheinung  der  Festigkeit  zu  erklären.  Die  moderne 
Physik  hat  zwar  nicht  so  einfache  und  leicht  zu  durch- 
schauende Grundlagen,  vermag  aber  gerade  deswegen  die 
Natur  der  einzelnen  Phänomene  in  überzeugenderer 
Weise  zu  erklären.  Wie  wenig  tiefsinnig  es  auch  sein 
mag,  zur  Erklärung  der  Festigkeit  eine  besondere 
Kohäsionskraft  einführen  zu  müssen  —  Descartes 
würde  ein  derartiges  Verfahren  achselzuckend  als  erz- 
scholastisch bezeichnet  haben ^)  — ,  so  ist  dies  doch 
immer  noch  weit  besser,  als  mit  an  und  für  sich  ein- 
facheren und  in  philosophischer  Hinsicht  höherstehenden 
Prinzipien  den  Erscheinungen  nicht  gerecht  werden  zu 
können.  Bleibt  es  doch  nach  der  Anschauungsweise 
Descartes'  vollkommen  unbegreiflich,  warum  so  ausser- 
ordentlich viel  mehr  Kraft  dazu   nötig  ist,    von   einem 


')  Genau  so,  wie  er  es  hinsichtlich  der  Schwerkraft  tat. 


Entstellung  des  Weltalls  (Wiibeltheorie).  105 

festen  Körper  ein  Stück  abzutrennen,  als  erforderlich 
ist,  dieses  Stück,  sobald  es  getrennt  ist,  in  Bewegung 
zu  setzen,  wieviel  Mühe  sich  auch  unser  Philosoph 
gegeben  hat,  diese  Erscheinung  richtig  zu  deuten. 

Die  Xatur  der  Flüssigkeiten  und  Gase  erklärt  sich 
dadurch,  dass  ihre  einzelnen  Teilchen  in  fortwährender 
Bewegung  begriffen  sind.  Denn  die  Teilchen,  welche 
sich  bewegen,  können  nicht  andere  Körper  z.  B.  unsere 
Hände  verhindern,  die  verlassenen  Stellen  einzunehmen. 
Auch  nach  unseren  heutigen  Anschauungen  sind  die 
Teile  der  Grase  und  Flüssigkeiten  beweglicher  als  die 
der  festen  Körper,  freilich  fehlen  ihnen  trotzdem  nicht 
die  bei  Descartes  vollkommen  eliminierten  inneren  Kräfte. 

7.  Wir  sind  jetzt  über  die  allgemeinen  Grundlagen 
der  Naturphilosophie  genügend  orientiert  und  können 
daher  dazu  übergehen,  die  Theorie,  die  unser  Philosoph 
über  die  Entstehung  der  Welt  aufgestellt  hat,  zu  skiz- 
zieren. Es  sind  die  denkbar  einfachsten  Annahmen,  die 
Descartes  vorausschickt.  Stellen  wir  uns  vor,  dass 
der  ganze  Stoff,  aus  dem  die  Körperwelt  besteht,  im 
Anfange  von  Gott  in  lauter  ungefähr  gleiche  Teile  ge- 
teilt worden  ist.  Hinsichtlich  ihrer  Grösse  sollen  sie 
den  Partikeln  entsprechen,  aus  denen  die  Materie  des 
Himmels  besteht.  Alle  Teilchen  zusammen  müssen  natür- 
lich nach  unserem  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Be- 
wegung soviel  Bewegungsfjuantität  besitzen,  als  jetzt 
in  der  Welt  vorhanden  ist.  Die  Bewegung  möge  auf 
die  einzelnen  Teilchen  ungefähr  gleich  verteilt  sein. 
Alle  Teilchen  zusammen  bilden  den  Himmel.  Was  die 
Art  ihrer  Bewegung  betrifft,  so  drehen  sie  sich  zunächst 
um  ihren  eigenen  Mittelpunkt,  weiter  aber  auch  um  ge- 
wisse über  den  ganzen  Himmel  verteilte  Zentren,  von 
denen  die  einen  hinsichtlich  ihrer  Anzahl  und  ihrer 
Standorte  den  vorläufig  noch  nicht  vorhandenen  Fix- 
sternen entsprechen,  die  anderen  den  ebenfalls  noch  nicht 


16(5  Siebentes  Kapitel:  Naturphilosophie. 

vorliandenen  Planeten,  aber  nur  hinsiclitlicli  ihrer  An- 
zahl, denn  letztere  Zentren  werden,  wie  wir  später 
sehen  werden,  verschoben,  um  zu  den  Orten  zu  gelangen, 
wo  sich  auch  heute  noch  die  Planeten  befinden. 

Die  augenblicklich  allein  vorhandene  Himmelsmaterie 
repräsentiert  also  bis  jetzt  den  einzigen,  überhaupt  in 
der  Welt  vorhandenen  Stoff,  sie  ist  die  sogenannte  zweite 
Materie,  aus  ihr  werden  später  noch  zwei  andere  Ma- 
terien hervorgehen.  Wie  nun  auch  immer  die  Gestalt 
dieser  Partikelchen  gewesen  sein  mag ,  infolge  ihrer 
mannigfachen  in  sich  zurücklaufenden  Bewegungen 
müssen  sie  allmählich  die  Kugelform  angenommen  haben. 
Dabei  rieben  sich  alle  ihre  Ecken,  die  sie  früher  gehabt 
hatten,  ab.  Diese  Bruchstücke  sind  natürlich  viel  kleiner 
als  die  ursprünglichen  Teilchen  und  werden  noch  dazu 
durch  die  blosse  Kraft  ihrer  Bewegimgen  in  immer 
kleinere  Atome  zersplittert,  so  dass  sie  alle  Zwischen- 
räume einnehmen  können,  in  welche  die  ursprünglichen 
Teilchen  nicht  einzudringen  vermögen.  Ihre  Bewegung 
ist  viel  intensiver  als  die  der  ursprünglichen  Partikel. 
Denn  je  kleiner  ein  Körper  ist,  um  so  grösser  ist  seine 
Oberfläche  im  Verhältnis  zu  seiner  Masse.  Da  nun  aber 
die  kleinen  Splitterchen  auf  die  anderen  Körper  mit  ihren 
Oberflächen  stossen,  so  wird  auch  viel  mehr  Bewegung 
auf  sie  übertragen,    als    den  grossen  Teilchen  eigen  ist. 

Wie  wir  anfangs  hervorgehoben  haben,  drehen  sich 
die  Bestandteile  der  zweiten  Materie  um  gewisse  Zentren 
herum.  Sie  sehen  ungefähr  so  aus  wie  riesige  Wasser- 
strudel, nur  dass  wir  statt  des  Wassers  eine  feine 
Materie  haben,  die  etwa  mit  dem  modernen  Äther  ver- 
glichen werden  kann.  So  wird  der  ganze  Himmel  in 
eine  ungeheuer  grosse  Anzahl  von  Wirbeln  eingeteilt, 
eine  unzählbare  Menge  wie  die  Sterne  am  Himmel. 

Im  Anfang  war  die  ]\Ienge  der  abgesplitterten  Par- 
tikelchen —  wir  wollen  sie  die  erste  Materie  nennen  — 
gering.     Aber   da  sich  mit   der    Zeit   die   Teilchen  des 


Entstehung  des  Weltalls  (Wii-bellheorie).  167 

zweiten  Elementes  immer  mehr  abschliffen,  so  wuchs 
sie  allmählich  an  und  konnte  bald  in  den  Räumen 
zwischen  den  kugeligen  Teilchen  der  ursprünglichen 
Materie  nicht  mehr  genügend  Platz  linden.  Infolge 
dessen  musste  der  Überschuss  nach  den  Mittelpunkten 
der  Wirbel  abfliessen,  dort  bildete  er  gewisse  ausser- 
ordentlich flüssige  Körper,  nämlich  die  Sonne  und  die 
übrigen  Fixsterne. 

An  den  einzelnen  Stellen  eines  jeden  Wirbels  herrscht 
ein  gewisser  Druck,  der  sich  von  der  Mitte  des  Wirbels, 
wo  sich  jetzt  die  Fixsterne  befinden,  bis  zur  Peripherie 
fortpflanzt.  Die  physikalische  Erklärung  dieses  Druckes 
ist  klar.  Es  ist  die  sogenannte  Zentrifugalkraft,  die 
durch  die  Wirbelbewegung  notwendiger  Weise  entstehen 
muss.  Descartes  benutzt  diese  Erscheinung  zur  Er- 
klärung des  Lichtes.  Das  Licht  ist  nichts  weiter  als 
dieser  Druck,  der  sich  vom  Zentrum  aus  durch  die 
zweite  Materie  bis  zu  unserem  Auge  fortpflanzt.  Diese 
Fortpflanzung  erfolgt  natürlich  augenblicklich,  da  es  ja 
in  der  Welt  keine  leeren  Zwischenräume  gibt.  Nach 
unseren  heutigen  Anschauungen  breitet  sich  das  Licht 
in  wellenförmigen  Schwingungen  aus,  braucht  also  doch 
eine  gewisse  endliche  Zeit  um  sich  fortzupflanzen.  Die 
moderne  Theorie  steht  aber  auch  genau  so  wie  die 
unseres  Philosophen  im  Gegensatz  zu  den  Emanations- 
theorien, die  eine  besondere  Lichtsubstanz  anzunehmen 
genötigt  sind. 

Bis  jetzt  sieht  es  noch  recht  unwohnlich  im  Welten- 
raume  aus.  Auf  den  Fixsternen  kann  ja  kein  organisches 
Wesen  hausen.  Die  glühende  Hitze,  die  dort  durch 
die  ausserordentlich  schnelle  Bewegung  der  Teilchen 
des  ersten  Elementes  erzeugt  wird  —  Wärme  ist 
natürlich  auch  nichts  anderes  als  eine  Bewegung  von 
Stoffteilchen  —  mirde  alle  Lebenskeime  vernichten. 
Doch  machen  wir  uns  darüber  keine  Sorgen,  der  erfin- 
derische Kopf  unseres  Philosophen  weiss   für  alles  ßat 


168  Siebentes  Kapitel:  Naturphilosophie. 

zu  schaffen.  Niclit  alle  Ecken  der  Teilchen  des  zweiten 
Elementes  wurden  beim  Abschleifen  ganz  und  gar  zer- 
rieben und  zermalmt.  Eine  beträchtliche  Anzahl  von 
ihnen  genoss  das  Glück,  zwischen  den  Teilchen  des 
zweiten  Elementes  mehr  oder  weniger  unbehelligt  hin- 
durchschlüpfen zu  können.  Zu  diesen  Günstlingen  For- 
tunas  gehörten  namentlich  diejenigen  Abfallstücke,  die 
in  den  Rotationsaxen  der  Wirbel  gebildet  wurden,  wo 
ja  naturgemäss  am  meisten  Ruhe  herrscht.  Wenn  nun 
diese  Teile  in  Gemeinschaft  mit  den  ganz  feinen  Teilen 
in  das  Zentrum  des  Strudels  zu  dem  in  ihm  enthaltenen 
Eixstern  hinabfliegen,  dann  ist  nichts  natürlicher,  als 
dass  sie  sich  zu  dichten  Knäueln  aneinander  ballen. 
Sind  sie  doch  mit  allen  möglichen  Haken,  Zacken, 
Schrauben  und  Windungen  versehen  —  alles  Abdrücke 
des  Weges,  den  sie  durchlaufen  haben.  —  Ausserdem 
haben  sie  auch  die  gehörige  Zeit  dazu,  sich  gegen- 
seitig zu  treffen  und  miteinander  in  Gemeinschaft  zu 
treten,  denn  da  sie  eine  verhältnismässig  sehr  grosse 
Oberfläche  besitzen,  so  verzögert  sich  die  Schnelligkeit, 
mit  der  sie  sich  vorwärts  bewegen  in  ganz  erheblichem 
Masse.  Wir  wollen  diese  in  ihrer  Struktur  eine  be- 
sondere Klasse  für  sich  bildenden  Teilchen  als  das 
dritte  Element  bezeichnen.  Dieses  Element  ist  stofflich 
mit  der  Substanz  der  Erde  und  der  übrigen  Planeten 
identisch. 

Verglichen  mit  der  rasenden  Geschwindigkeit,  mit 
der  die  Teilchen  des  ersten  Elementes  nach  dem  Zen- 
trum zuströmen,  kann  das  gemütliche  Dahinschlendern 
dieser  massiven  Stücke  geradezu  als  Schneckenschritt 
bezeichnet  werden.  Sie  kriechen  gleichsam  auf  die 
Oberfläche  des  Zentralgestirnes  hinauf  und  überziehen 
es  mit  dunkeln  Flecken.  In  dieser  Weise  erklärt 
Descartes  die  Entstehung  der  Sonnenflecken.  Doch  das 
interessiert  uns  nur  nebenbei.  Uns  kommt  es  haupt- 
sächlich auf  die  Entstehun";  der  Planeten  an. 


Kritik  der  Cartesischen  Pliysik.  169 

Diese  Sterne  werden  in  folgender  Weise  erzeugt. 
Wenn  das  in  einem  Wirbel  enthaltene  Zentralgestirn 
ganz  und  gar  von  Flecken  umzogen  wird,  so  wird 
seine  Rotationsgeschwindigkeit  schliesslick  immer 
sckwäclier,  so  dass  sich  oft  dieser  Wirbel  nicht  mehr 
der  anderen  ihn  umgebenden  stärkeren  Wirbel  erwehren 
kann.  Dann  wird  er  einfach  mit  Haut  und  Haaren 
verschlungen  d.  h.  in  den  Atherstrudel  des  Gegners 
hineingezogen  und  muss  es  sich  noch  dazu  gefallen 
lassen,  den  ßäuber  als  Trabant  in  alle  Ewigkeit  zu 
umkreisen,  gewissermassen  seine  Leibeskorte  bildend. 
Auf  solche  Weise  entstehen  die  Planeten  und  Kometen. 
Übrigens  haben  die  Wandelsterne  keinen  Grund  über 
Ungerechtigkeit  zu  klagen.  Denn  sie  machen  es  genau 
so  mit  den  Monden.  Auch  die  Monde  waren  ursprüng- 
lich selbständige  Gestirne,  die  aber  dann  auf  ähnliche 
Weise  in  die  Atmosphäre  der  Wandelsterne  hineinge- 
zogen wurden. 

8.  So  haben  wir  denn  eine  ungefähre  Vorstellung 
davon  bekommen,  wie  sich  unser  Philosoph  die  Welt 
entstanden  dachte.  Es  ist  erstaunlich ,  was  für  ein- 
fache Mittel  ihm  für  seine  Zwecke  genügen.  Begnügt 
er  sich  doch  keineswegs  damit,  den  soeben  skizzierten 
Rohbau  aufzuführen.  Seine  Absichten  gehen  noch  viel 
weiter.  Über  alle  wichtigen  Phänomene,  die  sich  im 
Universum  abspielen,  versucht  er  uns  Rechenschaft  zu 
geben,^)  ohne  ein  neues  physikalisches  Prinzip  einzu- 
führen. Freilich  wird  er  dadurch  genötigt,  die  Struktur 
der  von  ihm  vorausgesetzten  Materie  in  den  einzelnen 
Fällen  immer  komplizierter  zu  gestalten,  immer  frei- 
gebiger auszustatten  mit  allen  möglichen  Verästelungen 
und  Verzweigungen,  durch  diesen  üppigen  Formenreichtum 
gleichsam  einen  Ersatz  bietend  für  die  inneren  Kräfte, 


^)  Sehr  geistreicli  ist  das  Pliänomen  der  Schwere  erklärt. 


170  Siebentes  Kapitel:  Naturphilosophie. 

die  er  der  Materie  genommen.  Aber  was  schadet  das. 
Auf  Konsequenz,  auf  Klarheit  und  Deutlichkeit  kommt 
es  unserm  Philosphen  vor  allen  Dingen  an.  Überwältigt 
von  der  grandiosen  Idee,  dass  der  Physik  dieselbe 
Durchsichtigkeit  verliehen  werden  müsse ,  wie  sie  die 
Geometrie  besitzt,  lässt  er  sich  durch  keinerlei  Schwie- 
rigkeiten abschrecken.  Er  beündet  sich  gleichsam  in 
einem  intellektuellen  Rausch.  In  der  festen  Überzeugung, 
dass  er  alle  Phänomene  des  Universums  nach  seinen 
apriorischen  Prinzipien  erklärt,  sieht  er  in  seinem  ex- 
tatischen  Zustande  garnicht,  wie  er  gerade  das  Gegen- 
teil bewirkt.  Die  Fülle  der  empirischen  Erfahrungen, 
die  er  sich  angeeignet  hatte,  Hess  sich  nicht  in  so  ein- 
fache Formeln  bringen.  Und  mochte  dies  auch  dem 
oberflächlichen  Beobachter  entgehen,  weil  äusserlich  die 
Konsequenz  aufrecht  erhalten  war.  Dem  tiefer  Blickenden 
muss  die  Physik  des  Philosophen  in  einzelnen  Partien 
fast  wie  ein  Mummenschanz,  wie  eine  Parodie  erscheinen. 
Sieht  er  doch  durch  den  luftigen  mathematischen  Flitter 
die  roheste  Empirie  durchscheinen.  Ein  jedes  Phä- 
nomen bekommt  seine  besondere  Erklärung.  Descartes 
darf  es  sich  ja  leisten.  Mag  die  Materie  im  einzelnen 
noch  so  viele  neue  spezielle  Formen  annehmen.  Die 
äussere  Konsequenz  ist  gerettet.  Wir  haben  nur  zwei 
einfache  Voraussetzungen,  aus  denen  die  ganze  Welt 
erklärt  wird,  Materie  und  Bewegung.  Hüllt  sich  die 
Empirie  in  das  unschuldige  Mäntelchen  einer  neuen  Form 
ein,  so  darf  sie  ruhig  die  Grenze  passieren.  Aber  nur 
um  Gottes  willen  keine  Kräfte  in  die  Physik  hinein- 
lassen, sie  sind  gleichsam  staatsgefährlich,  irrationale 
Elemente,  die  sich  nicht  durchschauen  lassen. 

Trotz  aller  Verirrungen,  die  sich  Descartes  im  ein- 
zelnen hat  zu  Schulden  kommen  lassen,  sind  dennoch 
seine  Verdienste  um  die  Physik  über  allen  Zweifel  er- 
haben. Allein  schon  seine  wichtigen  physikalischen 
Entdeckungen,    die    wir  früher  erwähnt  haben,    lassen 


Biologie.    Mechanische  Erklärung  der  Tierseele.  171 

seine  grosse  naturwissenschaftliclie  Begabung  hin- 
reichend erkennen.  Aber  auch  seine  allgemeine  physika- 
lische Methode  hat  ausserordentlich  segensreiche  Früchte 
getragen.  Mochte  sie  sich  auch  an  Sicherheit  und  Exakt- 
heit mit  derjenigen  eines  Galilei  nicht  messen  lassen. 
Das  tat  ihrem  Ansehen  wenig  Abbruch.  Besass  sie  doch 
statt  dessen  den  grossen  Vorzug,  gleichsam  ein  leben- 
diges Grlied  einer  grandiosen  philosophischen  Gesamt- 
anschauung zu  sein,  einem  Systeme  anzugehören,  das 
durch  seinen  Idealismus  einen  tiefen  Einfluss  auf  jedes 
empfängliche  Gemüt  machen  musste.  Diesem  Umstände 
ist  es  wohl  nicht  zum  wenigsten  zuzuschreiben,  dass 
die  Physik  Descartes'  weit  über  den  Kreis  der  Fach- 
physiker hinaus  in  Frankreich  sich  verbreitete,  dass 
eine  zahllose  Menge  von  Gebildeten  sich  mit  ihr  befasste, 
bis  dann  späterhin  durch  Newton  ein  Umschwung  in  der 
allgemeinen  Stimmung  erfolgte.  Man  erkannte  die  Ein- 
seitigkeiten einer  rein  mechanischen  Grundanschauung 
und  Hess  es  sich  fortan  nicht  mehr  nehmen ,  die  Er- 
scheinungen auch  nach  dynamischen  Gesichtspunkten  zu 
erklären,  wobei  man  freilich  vielfach  in  ein  dem  Carte- 
sianischen  direkt  entgegengesetztes  Extrem  hineingeriet. 
Erst  im  neunzehnten  Jahrhundert  scheinen  dann  die 
Physiker  wieder  diejenige  Unbefangenheit  wiederge- 
wonnen zu  haben,  die  für  eine  vollkommen  vorurteils- 
lose, objektive  Betrachtung  der  Erscheinungen  unum- 
gänglich notwendig  ist.^) 

9.  Mit  welcher  rücksichtslosen  Schroffheit  Des- 
cartes seine  mechanische  Naturanschauung  vertreten  hat, 
kann  man  dann  erst  ganz  und  gar  ermessen,  wenn  man 
sich  seiner  Biologie  zuwendet.  Es  gibt  keine  mystischen 
Kräfte  im  Organismus,  auch  in  dem  des  Menschen  nicht; 


^)  Im   einzelnen   habe   ich   diese  Betrachtungen   ausgeführt  im 
Archiv  f.  Geschichte  der  Philosophie.   B.  XVII.  S.  237—71  u,  371—412. 


172  Siebentes  Kapitel:  Naturphilosophie. 

es  herrscht  in  ihm  vielmehr  das  klare  und  durchsichtige 
Getriebe,  wie  es  sich  in  dem  Räderwerk  einer  Maschine 
findet.  Alle  Funktionen  des  menschlichen  Körpers  müssen 
rein  mechanisch  erklärt  werden.  Mit  äusserster  Strenge 
müssen  alle  substantialen  Formen  und  Qualitäten,  die 
gerade  in  der  Biologie  am  üppigsten  wuchern,  ausgerottet 
werden.  Harveys  mechanische  Erklärung  der  Blutzir- 
kulation war  ihm  wie  aus  der  Seele  gesprochen.  „Ich 
finde  meine  Ansicht  wenig  von  der  seinigen  verschieden, 
obwohl  ich  das  Buch  erst  gelesen  habe,  nachdem  ich 
meine  Erklärung  der  Sache  schon  niedergeschrieben 
hatte".  Der  Philosoph,  der  sonst  so  selten  historische 
Bemerkungen  in  seine  Werke  einstreut,  kann  nicht  um- 
hin, wiederholt  mit  anerkennenden  AVorten  auf  diese 
Entdeckung  zurückzukommen. 

Mit  der  rein  mechanischen  Erklärung  aller  Lebens- 
funktionen gibt  sich  Descartes  keineswegs  zufrieden. 
Die  Tiere  werden  von  ihm  nicht  nur  hinsichtlich  ihrer 
organischen  Struktur  aller  biologischen  Eigenart  be- 
raubt. Noch  mehr  soll  ihnen  genommen  werden.  Auch 
ihr  Bewusstsein,  ihr  Empfindungsvermögen  soll  weiter 
nichts  als  eitel  Schein  und  Trug  sein.  Fühllose  Auto- 
maten sind  sie,  die  durch  ihre  Gesten  und  Stimmen  uns 
zu  dem  haltlosen  Glauben  bringen,  dass  sie  Gefühl  und 
Bewusstsein  besässen.  Mag  auch  Montaigne  und  Charron 
behaupten,  dass  es  mehr  Unterschiede  zwischen  den  ein- 
zelnen Menschen  gäbe  als  zwischen  Mensch  und  Tier 
(A.  IV,  575),  glaubt  ihnen  nicht.  Wie  könnte  es  mög- 
lich sein,  dass  der  menschliche  Geist,  unteilbar  und 
unkörperlich  wie  er  ist,  irgendwelche  Ähnlichkeit  mit 
den  Kräften  besitzt,  welche  sich  am  tierischen  Körper 
äussern.  Eine  tiefe  Kluft,  eine  unüberschreitbare  Grenze 
trennt  vielmehr  Mensch  und  Tier  voneinander.  Wir 
müssen  uns  nur  an  diese  neue  Anschauung  gewöhnen, 
meint  Descartes,  dann  werden  wir  ihre  Richtigkeit 
schon  einsehen.     Wie    mannio:faltia;    sind   schon  die  Be- 


Erklärung  dieser  seltsamen  paradoxen  Anschauung.         173 

wegungen,  welche  die  durch  menschliche  Kunst  herge- 
stellten Automaten  ausführen  können.  Und  doch  sind 
diese  aus  einer  verhältnismässig  geringen  Anzahl  von 
Teilen  zusammengesetzt.  Was  brauchen  wir  uns  also 
über  die  Leistungen  des  organischen  Körpers  zu  wun- 
dern, der  über  eine  fast  unbegrenzte  Menge  von 
Knochen,  Muskeln,  Nerven,  Arterien,  Venen  und  ande- 
ren Teile  verfügt.  Dabei  ist  noch  ganz  ausser  acht 
gelassen,  dass  er  direkt  von  Gottes  Hand  gefertigt 
ist,  und  schon  deswegen  allein  um  vieles  besser  einge- 
richtet ist  und  viel  wunderbarere  Bewegungen  ausführt, 
als  sie  menschliche  Kunst  je  herstellen  könnte. 

In  den  Briefen  und  Schriften  Descartes'  sind  noch 
eine  ganze  ßeihe  von  Argumenten  angeführt,  die  zur 
Bekräftigung  dieser  Ansicht  dienen  sollen.  Es  ist  wohl 
überflüssig,  dieselben  hier  im  einzelnen  wiederzugeben. 
Dem  Leser  wird  ja  diese  oiFenbare  Paradoxie  deswegen 
doch  nicht  glaublicher  erscheinen.  Keine  Anschauung, 
die  unser  Philosoph  geäussert  hat,  ist  so  oft  und  so 
heftig  von  gegnerischer  Seite  noch  zu  Descartes'  Leb- 
zeiten bekämpft  worden,  wie  gerade  die  eben  besprochene. 
Allein  es  ist  alles  vergeblich.  Starr  und  eigensinnig 
beharrt  er  bei  seiner  Meinung.  Nur  zu  dem  Zugeständnis 
ist  er  bereit,    dass  sie  sich  nicht  streng  beweisen  lasse. 

10.  Descartes  erscheint  uns  in  dieser  Hinsicht 
gleichsam  wie  ein  Träumer.  Die  Wirklichkeit  um  ihn 
herum  schwindet.  Er  sieht  nichts  anderes  mehr  vor 
sich  als  sein  System  und  die  Konsequenzen,  die  sich  aus 
ihm  ergeben.  Alles  was  ihm  widerspricht,  wird  einfach 
ignoriert,  mag  auch  dadurch  ein  noch  so  grosser 
Widerspruch  mit  dem  realen  Leben  entstehen. 

Nur  wenn  wir  diese  suggestiven  Wirkungen,  die 
seine  allgemeinen  philosophischen  Grundanschauungen 
auf  seine  intellektuelle  Verfassung  ausübten,  gehörig  in 
Betracht  ziehen,  können  wir  seine  seltsame  philosophische 


274  Siebentes  Kapitel:  Naturphilosophie. 

Verirrung  einigermassen  verstehen.  Selir  bestärkt  liaben 
ihn  in  seiner  Überzeugung  die  umfassenden  Unter- 
suchungen, welche  er  über  das  Wesen  und  die  Bedeu- 
tung der  Reflexbewegungen  im  menschlichen  und  tie- 
rischen Organismus  angestellt  hatte.  Sie  umfassen  ja 
tatsächlich  ein  grosses  Gebiet,  auf  das  das  Bewusstsein 
gar  keinen  Einfluss  besitzt.  Wenn  unsere  Augen  von 
einem  Fremdkörper  berührt  werden,  so  schliessen  sie 
sich  ganz  von  selbst,  ohne  dass  es  eines  Einflusses  unseres 
Willens  bedarf.  In  ähnlicher  Weise  wird  nach  Des- 
cartes  das  ganze  tierische  Leben  geregelt. 

So  ist  also  das  geistige  Leben  in  der  Welt  auf  ein 
Minimum  beschränkt.  Das  tut  aber  der  Schönheit  und 
Erhabenheit  des  Universums  keinen  Abbruch.  Steht 
doch  die  gesamte  Welt  in  einem  innigen  Verhältnis  zu 
Oott.  Er  ist  es,  der  ständig  dafür  sorgt,  dass  alle 
Dinge  in  ihrem  Dasein  verharren.  Denn  die  Erhaltung 
der  Dinge  bedarf  ebensoviel  göttliche  Wirkungskraft, 
wie  ihre  Erschafi'ung.  Die  endlichen  Dinge  sind  ab- 
hängig von  Gott;  nicht  wie  der  Erzeugte  vom  Erzeuger, 
sondern  wie  das  Licht  von  der  Sonne,  das  stets  von 
neuem  erzeugt  wird.  So  herrscht  der  Geist  Gottes 
auch  jetzt  noch  in  der  Welt.  „Die  unbegreiflich  hohen 
Werke  sind  herrlich  wie  am  ersten  Tag". 

Die  Tiere  sind  gewissermassen  der  vollendete  Aus- 
druck des  durch  die  Naturgesetze  in  der  Welt  verwirk- 
lichten göttlichen  Zweckzusammenhanges,  der  für  uns  im 
letzten  Grunde  ja  immer  rätselhaft  bleibt.  Wie  sich  Des- 
cartes  im  einzelnen  den  Aufbau  des  tierischen  Körpers  aus 
rein  mechanischen  Grundelementen  dachte,  darauf  wollen 
wir  hier  nicht  weiter  eingehen.  So  viel  Gelegenheit  er  hier 
auch  hat,  seinen  Scharfsinn  zu  zeigen,  so  wenig  können  seine 
Anschauungen  den  modernen  Naturforscher  befriedigen. 

11.  Wohl  ist  die  mechanisch-physikalische  Betrach- 
tungsweise  für   das   Verständnis    des    Organismus    von 


Kritik  der  biologischen  Anschauungen.  175 

ausserordentlicher  Wichtigkeit  geworden:  Das  Auge 
wird  als  Camera  ohscura  aufgefasst,  die  Fasern  des 
inneren  Ohres  gleichen  den  Saiten  eines  Klavieres,  die 
Bewegungen  der  Glieder  vollziehen  sich  nach  den  mathe- 
matischen Hebelgesetzen  und  dergleichen.  Indes  man 
würde  sich  einer  grossen  Einseitigkeit  schuldig  machen, 
wenn  man  nur  sie  allein  gelten  Hesse,  wie  es  Descartes 
tatsächlich  getan  hat.  Damals  freilich  war  die  mecha- 
nische Grundanschauung  als  einziges  Forschungsprinzip 
für  die  Biologie  in  gewissem  Sinne  berechtigt,  weil  es 
überhaupt  noch  kein  anderes  gab.  Und  so  darf  auch 
auf  diesem  Gebiete  der  heilsame  und  aufklärende  Einfluss. 
■den  unser  Philosoph  auf  die  verwirrten  und  zerfahrenen 
wissenschaftlichen  Zeitströmungen  ausübte,  nicht  unter- 
schätzt werden,  mag  auch  immerhin  heute  unter  der  über- 
wiegenden Mehrzahl  der  Naturforscher  sich  die  Über- 
zeugung verbreitet  haben,  dass  es  unmöglich  ist,  die  Bio- 
logie ganz  und  gar  in  Mechanik  aufzulösen.  So  muss  dem 
komplizierten  Bau  der  Zelle  gegenüber,  deren  alleinige 
Betrachtung  viele  Forscher  zu  ihrer  Lebensaufgabe  ge- 
macht haben,  die  Urzeugung,  wie  sie  Descartes  konse- 
quenter Weise  vertritt,  geradezu  als  Wahnsinn  er- 
scheinen. Es  ist  eben  ein  wesentlicher  Unterschied 
zwischen  der  eine  bestimmte  Struktur  aufweisenden 
lebenden  Substanz  und  der  mathematisch  regelmässig 
gestalteten  Form,  wie  sie  auch  durch  anorganische 
Kräfte  erzeugt  werden  kann. 

Wenn  wir  unserem  Philosophen  ganz  gerecht  werden 
wollen,  dürfen  wir  übrigens  nicht  vergessen,  wie  hoch 
er  die  entwicklungsgeschichtliche  Forschung  für  die 
Aufklärung  der  organischen  Formen  angeschlagen  hat. 
Haben  wir  doch  selbst  von  ihm  noch  Protokolle  über 
Sektionen,  die  an  mehreren  Exemplaren  ein  und  derselben 
Tierart  verschiedenen  Alters  vorgenommen  worden  waren, 
um  einen  Einblick  in  die  Entwicklung  der  einzelnen  Or- 
gane zu  ermöglichen.    Also  ähnlich  wie  von  der  Physik, 


176  Siebentes  Kapitel:  Naturpliilosophie. 

kann  aucli  von  der  Biologie  Descartes'  gesagt  werden, 
mag  er  die  Grundprinzipien  nocli  so  einseitig  nacli 
schematiscben  apriorischen  Begriffen  aufgestellt  haben, 
in  der  Detailforschung  besass  er  eine  bewundernswerte 
Exaktheit,  die  ihm  sehr  oft  über  die  einseitige  all- 
gemeine Vorstellung,  die  er  von  der  zu  behandelnden 
Sache  hatte,  hinweghalf. 


Achtes  Kapitel. 


Psychologie  und  Ethik. 

1.  Die  Naturphilosophie  Descartes'  muss  trotz  ihrer 
Einseitigkeiten  auf  jeden  unbefangenen  Beurteiler  ge- 
radezu überwältigend  wirken  durch  ihre  grandiose  Ein- 
heit und  Einfachheit.  Nach  streng  mechanischen  Natur- 
gesetzen gestaltet  sich  der  vollkommen  gleichförmige 
und  indifferente  Stoff  und  bringt  die  unendliche  Fülle 
von  Formen  und  Gestalten  hervor,  die  in  der  Körper- 
welt vertreten  sind. 

Ein  anderes  Bild  begegnet  uns,  wenn  wir  uns  der 
Betrachtung  des  Menschen  zuwenden.  Herrschte  in  der 
Natur  durchgängige  Einheit  und  Harmonie,  so  tritt  uns 
hier  der  schroffste  Dualismus  entgegen.  Die  beiden 
Substanzen,  Geist  und  Körper,  die  wir  bis  jetzt  gesondert 
betrachtet  haben,  im  Menschen  müssen  sie  notwendiger 
Weise  in  Verbindung  treten,  müssen  sie  trotz  ihres 
zwiespältigen  Charakters  eine  innige  Gemeinschaft  pflegen. 

Eine  ausserordentlich  schwere  Aufgabe  harrt  hier 
ihrer  Erfüllung.  Die  tatsächliche  greifbare  Existenz 
des  Körpers  lässt  sich  nicht  in  Abrede  stellen.  Er  ist 
kein  Phänomen  wie  bei  Berkeley.  Wie  ist  es  nun  mög- 
lich, dass  der  Geist,  unteilbar,  unkörperlich  wie  er  ist, 
auf  ihn  einwirkt.  Zunächst  meint  Descartes,  müssen 
wir  die  gegenseitige  Wechselwirkung  zwischen  Geist 
und  Körper  einfach  zugeben.  Unser  Gefühl,  unsere 
elementarsten  Lebenserfahrungen  sagen  es    uns  (A.  III, 


Hoff  mann,  Descartes. 


12 


178  Achtes  Kapitel:  Psychologie  und  Ethik. 

691 — 92).  Hier  stellen  wir  gewissermassen  vor  einem 
Wunder,  wir  können  es  nicht  ableugnen,  können  es  aber 
auch  nicht  mit  unserem  Verstände  rational  erfassen. 
Wir  haben  es  schon  früher  gesehen,  unser  Erkenntnis- 
vermögen ist  zu  begrenzt,  kann  nicht  alles  durchschauen , 
an  diesem  Punkte  stossen  wir  wieder  einmal  auf  eine 
Schranke,  die  ihm  gesetzt  ist. 

Also  an  der  unbegreiflichen  Tatsache  selbst  lässt 
sich  nicht  rütteln,  Geist  und  Körper  stehen  nun  einmal 
in  einer  innigen  Gemeinschaft  miteinander.  Alles  was 
der  Philosoph  noch  vermag,  besteht  darin,  den  wunder- 
baren Eindruck  etwas  abzuschwächen,  gleichsam  die 
bittere  Pille,  die  unsere  Vernunft  einzunehmen  genötigt 
ist,  ein  bisschen  zu  versüssen.  Es  muss  darauf  hinge- 
arbeitet werden,  dass  der  Verkehr  zwischen  beiden 
Substanzen  auf  einem  möglichst  geringen  Flächenraum 
stattfindet,  dass  dabei  keinerlei  störende  Übergriffe  in 
das  Nachbargebiet  stattfinden. 

2.  Um  zu  verstehen,  wie  dies  erreicht  wird,  müssen 
wir  noch  einiges  über  die  Funktionen  des  Körpers  und 
ihr  Ineinandergreifen  vorausschicken.  Wir  wissen,  dass 
alle  Wärme  und  Bewegung  in  dem  Körper  von  ihm  selbst 
erzeugt  wird,  die  Seele  hat  damit  gar  nichts  zu  tun. 
Man  hatte  früher  das  Gegenteil  geglaubt,  die  Seele  sei 
gleichsam  das  belebende  Prinzip  des  Körpers.  Man  sah 
nämlich,  dass  die  Leichname  keine  Wärme  und  keine  Be- 
wegung mehr  in  sich  haben,  und  meinte,  dies  aus  der  Ab- 
wesenheit der  Seele  ableiten  zu  müssen.  Das  ist  aber  nicht 
wahr,  nicht  die  Seele  trägt  Schuld  an  dem  Tode,  sondern 
ein  unbrauchbar  gewordenes  Organ  des  Körpers.  Der  Kör- 
per eines  lebendigen  Menschen  unterscheidet  sich  von  dem 
eines  toten,  wie  eine  intakte,  im  Betriebe  befindliche  Ma- 
schine sich  von  einer  zerbrochenen  unterscheidet.  Nicht 
weil  die  Seele  den  Körper  verlässt,  wird  aus  demselben 
ein  toter  Leichnam,  aus  dem  alle  Wärme  und  Bewegung 


Der  menschl.  Körper.  Über  den  Sitz  d.  Seele  in  d.  Zirbeldrüse.      179 

entweicht,  sondern  umgekehrt,  weil  der  Körper  in  sich 
zerfällt,  verlässt  ihn  auch  die  Seele. 

Sehen  wir  es  doch  an  den  Tieren,  wie  der  Körper 
allein  im  stände  ist,  das  in  ihm  pulsierende  Leben  %u 
erhalten.  Nächst  dem  Blute,  das  den  ganzen  Körper 
durchströmt,  haben  die  sogenannten  „Lebensgeister" 
die  wichtigste  Bedeutung  für  den  Organismus.  Es  sind 
dies  nach  Descartes  die  beweglichsten  und  feinsten  Teile 
des  von  der  Herzwärme  verdünnten  Blutes,  die  in  grossen 
Mengen  nach  den  Höhlungen  des  Gehirns  dringen.  Denn 
nur  sie  allein  können  dort  hingelangen,  die  gröberen 
Teile  verbreiten  sich  in  die  anderen  Organe  des  Körpers. 
Sie  sind  so  fein  und  so  beweglich,  dass  sie  an  keinem 
Orte  des  Gehirns  verweilen.  So  wie  einige  Teilchen  in 
die  Gehirnhöhlen  eingetreten  sind,  treten  andere  durch 
die  Poren  der  Gehirnsubstanz  wieder  aus,  gelangen  von 
dort  in  die  Nerven  und  Muskeln  und  setzen  den  Körper 
auf  alle  mögliche  Art  in  Bewegung. 

Alle  Bewegung  der  Glieder  beruht,  wie  unser  Phi- 
losoph richtig  erkennt,  auf  der  gleichzeitigen  Verkürzung 
der  einen  Muskelgruppe  und  der  Verlängerung  der  ent- 
gegengesetzten. Wie  wird  nun  dieser  mechanische  Pro- 
zess  ermöglicht?  In  allen  Muskeln  sind  eine  Menge  von 
Lebensgeistern  vorhanden,  die  sich  in  einer  Art  labilem 
Geichgewicht  befinden.  Strömen  nun  vom  Gehirn  noch 
neue  hinzu,  so  können  sie  trotz  ihrer  geringen  Anzahl 
eine  grosse  Veränderung  in  den  Muskeln  hervorrufen 
und  es  bewirken,  dass  der  gesamte  Schwärm,  der  bereits 
vorhandenen  Lebensgeister  den  einen  Muskel  verlässt 
und  in  den  anderen  eintritt.  Alle  diese  Vorgänge  können 
ohne  jede  Mitwirkung  der  Seele  stattfinden.  Gesetzt 
z.  B.  einer  unserer  Sinne  wird  durch  einen  äusseren 
Eindruck  erregt.  Sofort  pflanzt  sich  dieser  Reiz  nach 
dem  Gehirn  fort.  Im  Gehirn  werden  dann  durch  die 
veränderte  Bewegung  der  Lebensgeister  einzelne  Poren 
mehr   als   gewöhnlich   geöffnet  oder  geschlossen,    dieser 


ISO  Achtes  Kapitel:  Psychologie  und  Ethik. 

Vorgang  wirkt  weiter  auf  die  Lebensgeister,  treibt 
sie  z.  B.  in  die  Muskel,  wodurch,  wie  wir  vorhin  ge- 
sehen haben,  die  Glieder  in  Bewegung  geraten. 

Kann  die  Bewegung  der  Glieder  beim  Menschen, 
wie  bald  gezeigt  werden  wird,  auch  durch  die  Seele 
veranlasst  werden,  so  hängen  dagegen  alle  unwillkür- 
lichen Bewegungen,  wie  z.  B.  Atmen,  Essen  etc.,  auch 
bei  ihm,  genau  so  wie  beim  Tiere,  vorzugsweise  von  der 
Gestaltung  der  Organe  und  dem  Lauf  der  Lebensgeister  ab. 

3.  AVir  wissen  aber  auch,  dass  die  Seele  die  Be- 
wegungen des  Körpers  beeinflusst  und  wollen  jetzt 
dieser  Erscheinung  eine  nähere  Untersuchung  widmen. 
Die  Seele  bildet  mit  dem  ganzen  Körper  eine  innige 
Gemeinschaft,  und  man  kann  im  strengsten  Sinne  des 
Wortes  nicht  sagen,  dass  sie  nur  in  einem  bestimmten 
Teil  desselben  wohnt.  Hat  doch  die  Seele  von  Natur  keinen 
Anteil  an  der  Ausdehnung,  weil  sie  unkörperlich  ist. 

Andererseits  sehen  wir  uns  durch  gewichtige  Gründe 
zu  der  Annahme  genötigt,  dass  die  Seele  in  einem  be- 
stimmten Teile  des  Körpers  vorzugsweise  sich  aufhält, 
wo  sie  gleichsam  unmittelbar  ihre  Wirkungen  ausüben 
kann.  Es  ist  dies  eine  in  der  Mitte  des  Gehirns  be- 
findliche kleine  Eichel,  die  unter  dem  Namen  Zirbel- 
drüse bekannt  ist.  Sie  ist  nach  Descartes  so  aufgehängt, 
dass  sie  durch  alle  im  Gehirn  stattfindenden  Vibrationen 
der  Lebensgeister,  selbst  durch  die  feinsten,  beeinflusst 
wird,  und  dass  umgekehrt  ihre  geringsten  Bewegungen 
eine  Änderung  in  dem  Lauf  der  Lebensgeister  hervor- 
zubringen im  stände  sind. 

An  diesem  Ort  muss  die  Seele  ihre  besondere  Wirk- 
samkeit ausüben.  Denn  da  wir  von  einem  Gegenstande 
zu  einer  bestimmten  Zeit  nur  eine  einzige  Vorstellung 
erlangen,  so  muss  es  einen  Ort  geben,  wo  die  doppelten 
Bilder  der  Augen  —  ebenso  die  doppelten  Klänge  —  sich 
zu  einem  summieren  können,  ehe  sie  in  die  Seele  gelangen. 


Einwirkung  der  Seele  auf  den  Körper.     Über  ihr  Wesen.     181 

Die  Eichel  ist  aber  das  einzige  unpaarige  Organ,  wo 
diese  Vereinigung  stattfinden  kann.  Ausserdem  besitzt 
sie  den  geeignetsten  Standort,  da  sie  sich  in  der  Mitte 
des  Gehirns  befindet,  wo  sie  am  leichtesten  auf  die 
Lebensgeister  einzuwirken  vermag. 

Somit  haben  wir  in  der  Zirbeldrüse  den  eigentlichen 
gleichsam  neutralen  Ort,  wo  Seele  und  Leib  aufeinander 
wirken  können,  gefunden.  Die  Seele  vermag  die  Rich- 
tung, in  der  sich  diese  Drüse  bewegt,  abzuändern,  durch 
diese  Richtungsänderung  werden  Änderungen  in  den 
Bewegungen  der  Lebensgeister  hervorgerufen.  Hierdurch 
wird  wiederum  ein  Teil  der  Lebensgeister  veranlasst, 
durch  die  Nervenröhrchen  nach  den  Organen  des  Körpers 
zu  strömen  und  dort  Bewegungen  hervorzurufen,  genau 
so,  wie  wir  es  früher  beschrieben  haben.  Nur  richtungs- 
ändernd  darf  die  Seele  auf  die  Bewegungen  des  Körpers 
einwirken,  sonst  würde  ja  das  Gesetz  von  der  Erhaltung 
der  Bewegung  verletzt  werden.  Das  Tier  besitzt  auch 
diese  Eichel  zur  Regulierung  seiner  Bewegungen,  nur 
sind  es  bei  ihm  lediglich  materielle  Reize,  die  auf  seinen 
Körper  einwirken. 

Diese  eigentümliche  Erklärung  der  Wechselwirkung 
zwischen  Geist  und  Körper  hat  nicht  nur  den  lebhaftesten 
Widerspruch  hervorgerufen,  sie  ist  sogar  von  mancher 
Seite  aus  direkt  lächerlich  gemacht  worden.  Eins 
müssen  wir  aber  dabei  bedenken,  nachdem  einmal  unser 
Philosoph  die  Realität  zweier  Substanzen  mit  ganz 
entgegengesetzten  Attributen  angenommen  hatte,  war  es 
nur  konsequent  von  ihm  gehandelt,  wenn  er  ihre  gegen- 
seitige Einwirkung  auf  einander  möglichst  verständlich 
zu  machen  suchte.  Da  wir  das  Wesen  des  Kiirpers 
und  des  Geistes  mit  vollkommener  Deutlichkeit  erkennen, 
muss  es  doch  möglich  sein,  den  Punkt,  in  dem  beide 
auf  einander  wirken,  gleichsam  mit  Händen  zu  greifen. 
Diese  Motive  waren  es,  die  Descartes  zur  Aufstellung 
seiner  seltsamen  Hypothese  veranlasst  hatten. 


182  Achtes  Kapitel :  Psychologie  und  Ethik. 

4.  Das  Verhältnis  zwischen  Körper  nnd  Geist  ist 
im  vorhergehenden  genügend  klar  gelegt  worden.  Wir 
können  deshalb  jetzt  an  das  Studium  der  eigentlichen 
Seelenfunktionen  herangehen.  Das  menschliche  Bewusst- 
sein  ist  nicht  denkbar  ohne  einen  bestimmten  Inhalt. 
Gesetzt,  die  Seele  würde  einen  Augenblick  ihre  Funk- 
tionen einstellen,  sie  würde  für  einen  Moment  aufhören 
zu  fühlen,  zu  wollen,  oder  zu  denken ,  dann  wäre  sie 
von  diesem  Augenblick  an  überhaupt  nicht  mehr  vor- 
handen. Es  ist  ihr  tatsächlich  unmöglich,  dies  zu  stände 
zu  bringen.  Der  Geist  ist  immer  tätig,  mögen  auch  oft 
nur  ganz  dumpfe  sinnliche  Vorstellungen  seinen  augen- 
blicklichen Inhalt  bilden.  Wenn  wir  auf  Grund  von 
Ohnmachtsfällen,  von  Beobachtungen  an  Kindern  etc. 
den  Schluss  ziehen,  dass  die  Seele  wirklich  manchmal 
ganz  ohne  jeden  Inhalt  sei,  so  beruht  das  auf  einer 
Täuschung.  Wir  berücksichtigen  nicht,  dass  in  solchen 
Fällen  das  Gedächtnis  versagt,  beziehungsweise  über- 
haupt nicht  vorhanden  ist  (C.  II,  75).  So  ist  es  kein 
Wunder,  wenn  wir  später  glauben,  die  Seele  hätte  gar 
nichts  empfunden.  Mag  auch  dieses  Argument  uns  nicht 
überzeugend  genug  erscheinen,  so  genügt  es  doch,  um 
Descartes'  Anschauung  in  ein  richtiges  Licht  zu  setzen 
und  sie  von  dem  Vorwurf  der  Paradoxie  zu  befreien. 
Angesichts  der  Tatsache,  dass  man  in  der  modernen 
Psychologie  den  Begriff  des  Unbewussten  so  gerne  als 
Erklärungsgrund  für  eine  ganze  Reihe  von  Phänomenen 
des  Seelenlebens  benutzt,  dürfte  es  wohl  angebracht 
sein,  hier  bei  der  Polemik  unseres  Philosophen  zu  erinnern, 
dass  diesem  Begriffe  sich  auch  mancherlei  Schwierig- 
keiten entgegenstellen. 

Die  Seele  ist  ein  vollkommen  einheitliches  Organ, 
verschiedene  selbständige  Seelenvermögen  höherer  und 
niederer  Art  anzunehmen,  wie  es  Aristoteles  und  die 
scholastische  Philosophie  getan  haben,  ist  grundverkehrt. 
Das  schliesst  nicht  aus,  dass  wir   ihre   Art   und  Weise 


über  die  verschiedenen  seelischen  Eigenscliaften.  183 

sich  zu  äussern  unter  verschiedenen  Gesichtspunkten 
betrachten  können,  wenn  wir  uns  nur  immer  dabei  be- 
wusst  bleiben,  dass  es  im  Grunde  genommen  ein  und 
dieselbe  Kraft  ist,  mit  der  wir  es  zu  tun  haben. 

Dies  vorausgesetzt,  können  wir  zunächst  aktive  und 
passive  Tätigkeiten  in  der  Seele  unterscheiden. 

Zu  den  ersteren  gehört  das  Wollen.  Und  in  der 
Tat  fühlen  wir,  dass  das  Wollen  allein  aus  der  Seele 
kommt  und  nur  von  ihr  abhängig  ist.  Es  zerfällt  in 
zwei  Arten.  Die  eine  Art  endigt  gleichsam  in  der 
Seele  selbst,  z.  B.  wenn  wir  Gott  lieben,  oder  unsere 
Gedanken  auf  irgend  einen  Gegenstand  richten  wollen. 
Die  andere  Willensäusserung  bezweckt  eine  Einwirkung 
auf  unseren  Körper,  Wir  wollen  etwa  spazieren  gehen, 
dann  müssen  wir  unsere  Füsse  in  Bewegung  setzen  und 
auftreten.  Da  Descartes  fest  überzeugt  ist  von  der 
absoluten  Freiheit  des  menschlichen  Willens,  so  hat  er 
sicherlich  ein  Recht  dazu,  ihm  auch  eine  bevorzugte 
Stellung  den  anderen  Seelenvermögen  gegenüber  zu  ge- 
währen. Alle  andern  Tätigkeiten,  mögen  sie  sich  nun 
auf  das  Empfinden  oder  auf  das  Denken  beziehen,  können, 
unter  diesem  Gesichtspunkt  betrachtet,  als  ein  Leiden 
bezeichnet  werden.  Gedanken,  Empfindungen  und  Ge- 
fühle wogen  in  der  Seele  des  Menschen  gleichsam  auf 
und  nieder,  ohne  dass  sie  erst  des  Willens  zu  ihrer  Er- 
zeugung bedürfen. 

Indessen  im  engeren  Sinne  kann  man  auch  unter 
den  eben  genannten  eine  Teilung  in  aktive  und  passive 
Seelenäusserungen  vornehmen.  Wenn  ich  einen  rein 
geistigen  Gegenstand  vorstelle,  z.  B.  mein  eigenes  inneres 
Selbst  einer  zergliedernden  Betrachtung  unterwerfe,  so 
hängt  diese  Vorstellung  hauptsächlich  von  meinem  Willen 
ab,  ich  fühle  mich  dabei  vollkommen  selbsttätig.  So 
nehmen  wir  uns  das  Recht,  auch  eine  derartige  Seelen- 
tätigkeit als  aktiv  zu  bezeichnen.  Dasselbe  gilt  von 
den    freien    Schöpfungen    meiner    Phantasie,    den    Vor- 


184  Achtes  Kapitel:  Psychologie  und  Ethik. 

Stellungen  von  einem  verzauberten  Palast,  von  einer 
Sphinx  und  dergleiclien.  Habe  icli  sie  doch  nicht  passiv 
jetzt  oder  früher  einmal  aus  der  Sinnenwelt  empfangen. 

Anders  verhält  es  sich  bei  den  sinnlichen  Gedächt- 
nisbildern, die  ich  in  meinem  Geiste  erzeugen  kann, 
den  sogenannten  „bildlichen  Vorstellungen".  Sie  sind 
weiter  nichts  als  Auffrischungen  von  früheren  Sinnes- 
eindrücken. Sie  entstehen  nach  Descartes,  wenn  die 
Lebensgeister  verschiedenartig  bewegt  werden  und  dann 
auf  die  alten  Spuren  von  früheren  Gehirneindrücken 
treffen.  So  stellen  sie  gleichsam  einen  Schatten  oder 
ein  Abbild  der  ursprünglichen  Sinneseindrücke  dar. 

Ferner  sind  selbstverständlich  zu  den  passiven  Vor- 
stellungen zu  rechnen  alle  sinnliche  Empfindungen.  Be- 
ziehen sich  die  letzteren  auf  unsern  Körper,  wie  z.  B. 
Hunger  und  Durst,  Kälte  und  Wärme,  so  stellen  sie 
gewissermassen  passive  Vorstellungen  der  reinsten  Form 
dar.  Was  dagegen  die  Vorstellungen  äusserer  Gegen- 
stände betrifft,  so  ist  an  ihrer  Erzeugung,  wie  wir  ja 
von  früher  her  wissen,  auch  der  Verstand  beteiligt. 
Trotzdem  gehören  sie  natürlich  auch  zu  den  passiven 
Empfindungen. 

5.  Eine  besondere  Gruppe  unter  den  leidenden 
Zuständen  der  Seele  nehmen  die  Gemütsbewegungen  ein, 
die  Gefühle  und  die  Leidenschaften.  Schon  dadurch 
sind  sie  von  allen  andern  im  engeren  Sinne  passiven 
Vorstellungen  unterschieden,  dass  sie  sich  auf  die  Seele 
selbst  beziehen,  während  ja  die  andern,  wie  wir  ge- 
sehen haben,  sich  entweder  auf  den  Körper  oder  auf 
andere  äussere  Objekte  erstrecken.  Es  hat  eine  ganz 
eigentümliche  Bewandtnis  mit  dieser  Gruppe  seelischer 
Erscheinungen.  Wollen  wir  sie  definieren,  so  können  wir 
etwa  sagen,  sie  sind  Vorstellungen,  oder  Empfindungen, 
oder  vielleicht  noch  besser  gesagt,  Afiektionen  der  Seele, 
die  sich  nur  auf  sie  selbst  beziehen,    die    aber  von  den 


Die  Gefühle  und  Affekte.  185 

andern  Vorstellungen  und  Empfindungen  sich  dadurch 
unterscheiden,  dass  sie  unzertrennlich  verknüpft  sind 
mit  gewissen  heftigen  körperlichen  Erregungen,  sie 
werden,  wie  Descartes  sich  ausdrückt,  bewirkt,  unter- 
halten und  verstärkt  durch  gewisse  Bewegungen  der 
Lebensgeister. 

So  stehen  sie  gleichsam  in  der  Mitte  zwischen  den 
rein  gedanklichen  Vorstellungen  und  den  sinnlichen  Emp- 
findungen und  können  deswegen  keiner  von  beiden 
Gruppen  vollständig  zugerechnet  werden,  ohne  dadurch 
in  ihrem  Wesen  verkürzt  zu  werden. 

Es  liegt  in  dieser  Betonung  des  selbständigen  Cha- 
rakters, der  den  Gefühlen  und  Affekten  tatsächlich  inne 
wohnt,  unleugbar  ein  ausserordentliches  Verdienst  unseres 
Philosophen.  "Wenn  der  moderne  Mensch  als  eine  der 
vornehmsten  Errungenschaften  der  Neuzeit  die  Aner- 
kennung des  Gefühls  als  eines  selbständigen  Moments  im 
Seelenleben  ansieht,  so  möge  er  doch  nicht  vergessen, 
wie  viel  er  Descartes  in  dieser  Beziehung  zu  verdanken 
hat,  einem  Denker,  unter  dem  sich  mancher  Laie  ge- 
radezu den  Vertreter  einer  der  extremsten  intellektua- 
listischen  Weltanschauungen  vorzustellen  pflegt. 

6.  Es  gibt  nach  Descartes  sechs  ursprüngliche 
Affekte,  nämlich  die  Verwunderung,  die  Liebe,  den  Hass, 
das  Begehren,  die  Freude  und  die  Traurigkeit.  Alle 
andern  sind  nur  besondere  Abarten  oder  Verbindungen 
dieser  eben  genannten. 

Das  Verwundern  entsteht  durch  eine  plötzliche 
Überraschung  der  Seele.  Es  erscheinen  vor  ihr  seltene 
und  ausserordentliche  Ereignisse,  die  ihre  besondere 
Aufmerksamkeit  hervorrufen.  Dieser  Affekt  gehört 
gleichsam  zu  den  neutralen  Leidenschaften.  Wer  sich 
über  eine  Sache  wundert,  der  hat  zunächst  nur  die  Ab- 
sicht, dieselbe  kennen  zu  lernen.  Dieses  Gefühl  ist 
vollkommen  frei  von  allen  Regungen  sympathischer  oder 


186  Achtes  Kapitel :  Psychologie  und  Ethik. 

antipatliischer  Natur.  Dem  entspricht  aucli  das  Ausbleiben 
jeder  allzu  heftigen  körperlichen  Begleiterscheinung. 

Nur  die  ganz  dummen  und  stumpfsinnigen  Menschen 
sind  zum  Verwundern  von  Natur  aus  nicht  geneigt. 
Andererseits  werden  die  Geistvollen  diese  Eigenschaft 
nie  in  übermässig  hohem  Grade  besitzen.  Ein  gewisses 
Mass  ist  aber  immer  notwendig,  wenn  ein  Erlernen  und 
Festhalten  der  Dinge  möglich  sein  soll. 

In  einem  gewissen  Gegensatz  zu  der  Verwunderung 
stehen  Liebe  und  Hass.  Ist  man  doch  bei  diesen  Affekten 
auch  an  der  Existenz  der  Gegenstände,  auf  die  sie  sich 
beziehen,  interessiert.  Der  Grad  der  Liebe  kann  stärker 
oder  schwächer  sein  je  nach  dem  Interesse,  das  man 
für  den  geliebten  Gegenstand  im  Vergleich  mit  sich 
selbst  hat.  Achtet  man  den  geliebten  Gegenstand  weniger 
als  sich,  so  hat  man  nur  eine  gewisse  Zuneigung  zu 
ihm,  achtet  man  ihn  ebenso  wie  sich  selbst,  so  entsteht 
das  Gefühl  der  Freundschaft,  wächst  der  Affekt  noch 
stärker  an,  so  wird  er  Hingebung  genannt.  So  kann 
eine  schöne  Blume  in  uns  das  Gefühl  der  Zuneigung 
erregen,  Freundschaft  dagegen  können  wir  erst  für 
einen  Menschen  empfinden,  Hingebung  fühlt  man  für 
das  Vaterland,  für  den  Monarchen,  zuweilen  auch  für 
einen  einfachen  Menschen,  wenn  wir  ihn  höher  schätzen 
als  uns  selbst. 

Von  dem  Hass  gibt  es  nach  Descartes  nicht  so  viele 
und  so  mannigfaltige  Abarten  wie  von  der  Liebe.  Er 
glaubt  es  aus  der  Natur  dieses  Affektes  erklären  zu 
können.  Der  Hass  treibt  die  Seele  zu  dem  Verlangen, 
sich  von  den  für  schädlich  gehaltenen  Gegenständen  zu 
trennen.  Nun  achte  man  aber  weniger  auf  die  Unter- 
schiede der  Übel,  von  denen  man  sich  trennen,  als  auf 
die  der  geliebten  Gegenstände,  mit  denen  man  sich  ver- 
binden will. 

Die  Leidenschaft  des  Begehrens  hat  es,  im  Gegen- 
satz zu  den  eben  besprochenen  Gemütsbewegungen,  mit 


Die  körperlichen  Begleiterscheinungen  der  Affekte.         187 

Ereignissen  zu  tun,  die  erst  in  der  Zukunft  stattfinden. 
Dabei  kann  kein  wesentlicher  Unterschied  gemacht 
werden  zwischen  dem  positiven  Verlangen  nach  einem 
Gut  und  dem  Ausweichen  vor  einem  bevorstehenden 
Übel.  Xur  das  eine  ist  bemerkenswert,  dass  diese 
Leidenschaft  im  ersteren  Falle  von  Liebe,  Hoffnung  und 
Freude  begleitet  ist,  im  zweiten  Falle  dagegen  von  Hass, 
Furcht  und  Traurigkeit.  Das  ist  der  Grund,  weswegen 
man  irriger  Weise  von  zwei  verschiedenen  Affekten 
sprechen  zu  können  glaubt. 

Wir  kommen  nun  zu  den  beiden  letzten,  wiederum, 
wie  Liebe  und  Hass  in  einem  gegensätzlichen  Verhältnis 
zu  einander  stehenden  Leidenschaften,  nämlich  zu  den 
Gefühlen  der  Freude  und  der  Trauer.  „Die  Betrachtung 
eines  gegenwärtigen  Gutes",  heisst  es  bei  Descartes, 
„erweckt  in  uns  das  Gefühl  der  Freude,  dagegen  die 
eines  gegenwärtigen  Übels  das  Gefühl  der  Traurigkeit, 
wenn  das  Gut  oder  das  Übel  als  unser  eigenes  vorge- 
stellt wird''. 

7.  Unser  Philosoph  begnügt  sich  keineswegs  mit 
der  Erörterung  dieser  sechs  primitiven  Leidenschaften 
und  ihrer  verschiedenen  Abarten,  er  bemüht  sich  auch, 
uns  in  eingehender  Weise  über  ihre  physiologischen  Be- 
gleiterscheinungen Rechenschaft  zu  geben.  Freilich  kommt 
er  dabei  vielfach  mit  unseren  heutigen  Anschauungen 
in  Konflikt.  Spielen  doch  in  seinen  Erklärungen  die 
Lebensgeister  und  allerhand  andere  heute  längst  als 
unhaltbar  verworfene  Hypothesen  eine  wichtige  Rolle. 
Andererseits  mag  er  wohl  in  seinen  Bemerkungen  über 
den  Einfluss  der  Leidenschaften  auf  die  Blutzirkulation 
in  den  verschiedenen  Organen  vielfach  das  Richtige  er- 
kannt haben.  Treffende  Bemerkungen  hat  er  unter 
anderm  darüber  gemacht,  welche  Eindrücke  die  Ge- 
mütsbewegungen in  dem  menschlichen  Gesichte  hinter- 
lassen, wie  sie  an  den  Bewegungen  der  Augen,  der  Nase,. 


188  Achtes  Kapitel:  Psychologie  und  Ethik. 

der  Lippen,  ferner  am  Stirnrunzeln  und  endlicli  am 
"Wechsel  der  Gesiclitsfarbe  zu  erkennen  sind.  Liegen 
auch  viele  von  den  mitgeteilten  Tatsachen  unmittelbar 
auf  der  Hand,  wie  es  ja  in  einer  systematischen  Ab- 
handlung der  gesamten  Affekte  ganz  natürlich  ist,  so 
findet  sich  doch  andererseits  eine  ganze  Reihe  unter 
ihnen,  die  dem  oberflächlichen  Blicke  meistens  zu  ent- 
gehen pflegen.  Sie  zeigen,  dass  unser  Philosoph  im  Ver- 
kehr mit  andern  Menschen  ein  scharfes  Beobachtungs- 
talent entwickelt  und  seine  vielen  Reisen  nicht  umsonst 
gemacht  hat. 

8.  Welche  Bedeutung  haben  nun  die  Leidenschaften 
für  das  menschliche  Leben?  Wir  wissen  es,  sie  können, 
je  nach  ihrer  verschiedenen  Einwirkung  auf  den  Men- 
schen, ihm  das  Dasein  zum  Himmel  oder  zur  Hölle 
machen.  Ohne  alle  Leidenschaften  wäre  das  Leben 
ein  ödes,  langweiliges,  trostloses  Einerlei.  Es  zeugt 
von  einer  düsteren,  durchaus  verkehrten  Weltanschauung, 
wenn  man  die  Menschen  dazu  anhalten  will,  alle  ihre 
natürlichen  Triebe  zu  ersticken.  Nichts  liegt  unserem 
Philosophen,  wie  er  wiederholt  in  seinen  Briefen  ver- 
sichert, ferner,  als  eine  derartige  asketische  Denkungs- 
weise  zu  empfehlen.  Ln  Gegenteil  der  wahrhafte  Weise 
wird  die  Annehmlichkeiten  und  Vorteile,  die  wir  durch 
die  Leidenschaften  erlangen  können,  wohl  zu  schätzen 
wissen. 

Wenn  wir  aber  aus  den  Leidenschaften  einen  wirk- 
lichen Nutzen  für  unser  Leben  ziehen  wollen,  so  gilt 
es  zunächst  die  Mittel  zu  überlegen,  durch  die  wir  sie 
beherrschen  können.  Denn  solange  wir  noch  nicht  fähig 
sind,  sie  im  Zaum  zu  halten,  bringen  sie  uns  weit  mehr 
Gefahren  und  Unannehmlichkeiten  als  Glück.  Sind  wir 
einmal  von  einer  Gemütsbewegung  voll  und  ganz  er- 
griffen, so  ist  es  gar  nicht  so  leicht,  dieselbe  aus  unserer 
Seele  wieder  zu  verdrängen.    So  genügt  zur  Beseitigung 


über  die  Zügelung  der  Affekte.     Ethik.  18(> 

des  Angstgefühles  vor  einem  Feinde  der  blosse  Wille 
keineswegs.  Man  nuiss  vielmehr  die  Aufmerksamkeit 
auf  die  Gründe  richten,  welche  zeigen,  dass  die  Gefahr 
nicht  gross  ist,  dass  die  Verteidigung  viel  eher  anzu- 
raten ist  als  die  Flucht,  dass  der  Sieg  Ruhm  und 
Freude,  die  Flucht  dagegen  nur  Arger  und  Schande 
bringen  wird.  Indessen  selbst  durch  diese  Überlegangen 
wird  das  Gefühl  der  Furcht  in  uns  noch  nicht  ganz 
beseitigt.  Dazu  ist  die  Gemütserschütterung  viel  zu 
heftig.  Was  der  Verstand  zunächst  nur  erreichen  kann, 
ist,  dass  er  den  Willen  dazu  veranlasst,  die  körper- 
lichen Bewegungen,  die  der  Affekt  zur  Folge  hat,  also 
in  diesem  Falle,  die  Bewegung  der  Füsse  zur  Flucht, 
zu  unterlassen.  Das  Angstgefühl  selbst  schwindet  erst 
nach  und  nach. 

Indessen  ist  das  ja  immerhin  schon  viel,  haben  wir 
doch  in  dieser  Weise  die  schädlichen  Folgen  der  Leiden- 
schaft verhütet.  Freilich  werden  eine  derartige  Wirkung 
nur  die  wirklich  starken  Seelen  erzielen  können,  die  sich  von 
ihren  Gefühlen  nicht  hinreissen  lassen,  sondern  sie  durch 
ihren  vom  Verstände  geregelten  Willen  zu  bändigen 
wissen.  Die  schwachen  Seelen  dagegen  können  sich 
solcher  Siege  über  ihre  Affekte  nicht  rühmen.  Willenlos 
sind  sie  ihren  Leidenschaften  preisgegeben,  den  guten 
sowohl  wie  den  schlechten.  Was  in  ihrer  Seele  den 
Affekt  niederzwingt,  das  ist  nicht  der  vernünftige  Wille, 
das  kann  nur  geschehen  durch  einen  anderen  stärkeren 
Affekt,  der  den  früheren  beseitigt,  um  nun  seinerseits 
die  Herrschalt  über  den  Geist  auszuüben. 

Ist  nun  diese  Fähigkeit,  die  es  ermöglicht  die  Leiden- 
schaften in  Zaum  zu  halten,  ausschliesslich  Sache  der 
Veranlagung?  Keineswegs.  Es  ist  vielmehr  eine  Cha- 
raktereigenschaft, die  sich  durch  Übung  jedermann 
aneignen  kann.  Selbst  die  schwächsten  Seelen  können 
Herr  über  ihre  Affekte  werden,  wenn  sie  sich  ent- 
schliessen,  ihren  Willen  durch  feste  und  bestimmte  Grund- 


190  Achtes  Kapitel:  Psychologie  und  Ethik. 

Sätze  zu  lenken.  Dann  werden  sie  fast  unumscliränkte 
Gewalt  über  ihre  Leidenscliaften  bekommen.  Vermöge 
ihres  freien  und  in  dieser  Weise  gestählten  Willens 
sind  sie  im  stände,  nach  Belieben  über  sie  zu  verfügen. 
Die  bösen  Leidenschaften  werden  sie  in  der  oben  ge- 
schilderten Weise  unschädlich  zu  machen  suchen.  Ist 
dies  einige  Male  gelungen,  so  kostet  es  schliesslich 
immer  weniger  Mühe,  ihr  abermaliges  Emporkommen 
zu  verhindern.  Den  harmlosen  und  guten  Leiden- 
schaften dagegen  können  sie  sich  ruhig  bis  zu  einem 
gewissen  Grrade  hingeben  und  freudig  die  Annehmlich- 
keiten, die  sie  ihnen  bereiten,  gemessen. 

9.  Durch  diese  Betrachtungen  sind  wir  gleichsam 
unmerklich  aus  dem  Gebiete  der  Psychologie  in  das  der 
Ethik  gelangt.  Tatsächlich  gibt  es  auch  keine  feste 
Grenze  zwischen  ihnen.  Das  Studium  der  seelischen 
Funktionen,  die  Betrachtung  der  Leidenschaften  und  die 
Erforschung  ihrer  Bedeutung  für  das  menschliche  Leben, 
alle  diese  Erkenntnisse  bergen  schon  im  Keime  die 
Normen  in  sich,  die  für  unser  praktisches  Leben  mass- 
gebend sind.  Wie  es  für  den  wahrhaft  tüchtigen  Arzt 
viel  wichtiger  sein  muss,  die  Gesundheit  des  mensch- 
lichen Körpers  zu  kräftigen,  damit  er  von  vornherein 
Krankheiten  weniger  leicht  ausgesetzt  ist,  oder  damit, 
im  Falle  sie  nicht  zu  vermeiden  sind,  wenigstens  der 
Organismus  nicht  so  heftig  von  ihnen  angegriffen  wird, 
so  hat  auch  derjenige,  welcher  die  menschliche  Seele 
vor  Schaden  bewahren  will,  zu  verfahren. 

Wir  wissen  es,  unser  Philosoph  ist  Idealist.  Er 
wird  es  nie  billigen,  wenn  im  praktischen  Leben  die 
Tugend  hinten  angesetzt  wird.  Andererseits  sollen  wir 
aber  durch  die  Erziehung  unseres  Willens  dafür  sorgen, 
dass  die  Konflikte  zwischen  unserem  sittlichen  Gefühl 
und  unseren  unmoralischen  Trieben  möglichst  verringert 
werden.     Wer  ernstlich    o-ewillt   ist.    sein   Leben  nach 


über  das  Wesen  der  Ethik.     Religion.  101 

vernünftigen  Grundsätzen  einzurichten,  der  wird  sehen, 
dass  man  tugendhaft  sein  kann,  ohne  deswegen  die 
Glückseligkeit  zu  entbehren.  Die  Stoiker  sowohl  wie 
die  Epikureer  huldigen  extremen  Anschauungen,  die 
unser  Philosoph  nicht  billigen  kann.  „Die  Tugend  er- 
scheint einem  nicht  so  begehrenswert,  wenn  man  sie  allein 
sieht  und  wiederum  kann  Glückseligkeit  uns  nicht  zuteil 
werden,  wenn  wir  nicht  tugendhaft  sind"  (A.  IV,  27(5). 

Zweierlei  ist  für  den  Menschen  notwendig,  damit 
er  wahrhaft  glückselig  werde.  Zunächst  Güter ,  die 
ganz  und  gar  von  ihm  abhängen,  nämlich  Tugend  und 
Weisheit.  Ausserdem  bedarf  es  freilich  noch  ein  ge- 
wisses Mass  von  äusseren  Gütern.  Doch  braucht  dies 
keineswegs  gross  zu  sein.  Der  Weise  besitzt  in  sich 
innere  Kraft  genug,  um  auch  mit  wenigem  zufrieden  zu 
sein.  So  wird  er  sicherer  als  die  anderen  Menschen 
zum  Genuss  der  Glückseligkeit  gelangen.  Denn  was 
diese  für  gewöhnlich  um  den  Genuss  ihres  Daseins 
bringt,  die  Jagd  nach  Gütern,  die  ihnen  versagt  sind, 
das  liegt  ihm  vollkommen  fern.  Ganz  und  gar  durch- 
drungen von  dem  Bewusstsein,  dass  seine  Macht  sich 
nicht  weiter  erstreckt,  als  seine  Gedanken  reichen,  durch- 
schaut er  die  Zwecklosigkeit  und  Torheit  derartiger 
Wünsche. 

Diese  schlichten  ethischen  Anschauungen,  wie  sie 
unser  Philosoph  vertritt,  müssen  auf  jeden  unbefangenen 
Menschen  einen  ausserordentlich  sympathischen  Ein- 
druck machen.  Spricht  doch  aus  ihnen  der  Geist  wirk- 
licher Humanität  und  Menschenliebe ,  der  am  erfolg- 
reichsten das  bessere  Selbst  im  Menschen  wachzurufen 
und  läuternd  auf  sein  sittliches  Empfinden  einzuwirken 
vermag. 

10.  Übrigens  missverstehe  man  die  Anschauungs- 
weise Descartes'  nicht  dahin,  dass  man  in  ihr  einen 
übertriebenen  Optimismus  zu  erkennen  glaubt.     Tugend 


192  Achtes  Kapitel:  Psychologie  und  Ethik. 

und  Glückseligkeit,  das  weiss  er  wohl,  finden  sich  in 
diesem  Leben  nickt  immer  in  dem  Masse  zusammen,  wie 
es  unser  Gerechtigkeitsgefühl  erfordert.  Aber  im  Jen- 
seits findet  nach  seiner  Überzeugung  der  volle  Ausgleich 
statt.  Uns  sind  Genüsse  und  Freuden  bestimmt,  die 
viel  grösser  sind,  als  diejenigen,  die  uns  in  dieser 
Welt  zuteil  werden,  vorausgesetzt,  dass  wir  uns  nicht 
durch  Schlechtigkeiten  ihrer  unwÜTdig  machen  (A. 
in,  579). 

So  führt  uns  die  Moral  zur  Religion.  Die  vorhin 
postulierte  Unsterblichkeit  ist  uns  verbürgt.  Ist  doch 
unsere  wahre  Persönlichkeit  ein  unkörperliches,  einheit- 
liches Wesen,  eine  reine  Substanz,  die  unvergänglich  ist. 
Nur  Gott  könnte  sie  vernichten,  das  ist  aber  bei  der 
allumfassenden  Güte  des  höchsten  Wesens  ausgeschlossen. 
Gott  erhält  uns  nicht  nur  in  unserem  Sein,  er  wirkt 
auch  ein  auf  unser  ganzes  Tun  und  Lassen.  Ja  er  vermag 
sogar  trotz  unserer  Willensfreiheit  unser  zukünftiges 
Schicksal  vorauszusehen.  Das  Wunderbare,  das  hierin 
liegt,  kann  der  menschliche  Verstand  freilich  nicht  ent- 
rätseln. Aber  das  braucht  uns  nicht  zu  bekümmern. 
Wir  wissen  es,  dass  es  Gott  mit  uns  gut  meint  und  nur 
für  unser  Bestes  besorgt  ist.  Diese  Überzeugung  von 
dem  warmen  und  innigen  Anteil,  den  das  allerhöchste 
Wesen  an  unserem  Geschick  nimmt,  wird  uns  nicht  nur 
mit  Dankbarkeit  ihm  gegenüber  erfüllen,  sie  wird  auch  das 
Gefühl  einer  ausserordentlichen  unsagbar  grossen  Liebe 
zu  ihm  in  uns  wachrufen,  ein  Gefühl,  das  so  mächtig 
zum  Ausdruck  gelangen  kann,  dass  ihm  sogar  nichts 
von  der  sinnlichen  Lebhaftigkeit  und  Glut,  mit  der  die 
Liebe  zu  einem  irdischen  Geschöpf  verknüpft  ist,  zu 
fehlen  braucht  (A.  IV,  608—9). 

Seine  moralischen  und  religiösen  Anschauungen  hat 
Descartes,  wie  wir  sehen,  nicht  in  streng  methodischer 
Weise  aus  seinen  allgemeinen  metaphysischen  Prin- 
zipien abgeleitet.    Es  ist  vornehmlich  die  so  stark  her- 


Religion.    Schlussbetrachtung.  193 

vortretende  idealistisclie  Stimmung,  die  auf  den  inneren 
Zusammenhang  zwischen  seiner  theoretischen  und  prak- 
tischen Philosophie  hinweist.  Dafür  spiegelt  die  letz- 
tere um  so  charakteristischer  die  Persönlichkeit  Des- 
cartes'  wieder,  die  Ethik  seine  humane  und  menschen- 
freundliche, jedem  Rigorismus  abgeneigte  Gesinnung,  die 
Religionsphilosophie,  seinen  eigentümlichen  Hang  zum 
Mystizismus, 

1 1 .  Wir  haben  im  vorhergehenden  versucht,  dem  Leser 
das  Wesen  und  die  Bedeutung  der  Philosophie  Descartes' 
vor  Augen  zu  führen.  In  einer  Zeit  der  grössten  phi- 
losophischen Zerfahrenheit  ist  er  es  gewesen,  der  der 
idealistischen  Gedankenrichtung  wiederum  eine  feste 
Position  verschafft  hat.  Wie  er  einerseits  mit  einer 
für  die  damalige  Zeit  unerhörten  Kühnheit  und  Vor- 
urteilslosigkeit die  Autonomie  der  menschlichen  Ver- 
nunft vertreten  und  eine  vollkommene  Reorganisation 
der  Philosophie  angebahnt  hat,  so  war  er  anderer- 
seits weit  davon  entfernt,  die  mittelalterlichen  philo- 
sophischen Ideenmassen  in  ihrer  Gesamtheit  zu  ver- 
werfen. Was  er  davon  brauchen  konnte,  was  sich  nach 
seiner  Anschauung  vor  dem  Forum  des  Verstandes  recht- 
fertigen Hess,  das  hat  er  sich  zu  eigen  gemacht  und 
mit  aufgenommen  in  seinen  philosophischen  Gedankenbau. 

Wir  wissen  es,  zu  seinen  Lebzeiten  hat  Descartes 
relativ  wenig  Anhänger  gefunden.  Die  teils  schüchternen, 
teils  kecken  Versuche  seiner  Schüler  in  Holland,  die 
neue  Lehre  in  den  Universitäten  zu  verbreiten,  wurden 
von  der  argwöhnischen  Geistlichkeit  mehr  oder  weniger 
unterdrückt.  Noch  geringer  war  sein  Einfluss  in  Frank- 
reich, mochte  sich  auch  in  den  letzten  Lebensjahren 
unseres  Philosophen  ein  ganzer  Kreis  von  Gebildeten 
für  den  holländischen  Einsiedler  interessieren,  eine  voll- 
kommene V/ürdigung  seiner  Verdienste  hat  er  von  ihnen 
nicht  erfahren. 

Hoffmanu,  Descartes.  1" 


194  Achtes  Kapitel:  Psychologie  und  Ethik. 

Nach  seinem  Tode  verbreiteten  sich  freilich  seine 
philosophischen  Ideen  in  weitere  Kreise.  Wir  wissen 
es,  es  gab  Zeiten,  in  denen  seine  Naturphilosophie 
geradezu  Mode  war,  in  denen  es  zum  guten  Ton  ge- 
hörte, dass  sich  sogar  die  gebildeten  Frauen  mit  ihr 
beschäftigten.  Indes  einen  wahrhaft  tiefen  und  nach- 
haltigen Einfluss  hat  Descartes  stets  nur  auf  einzelne 
hervorragende  Köpfe  ausgeübt.  Aber  gerade  darin  zeigt 
sich  die  eminente  Fruchtbarkeit  seiner  Philosophie.  Ein 
Spinoza,  ein  Leibniz,  ein  Kant,  sie  alle  konnten  nicht 
umhin,  sich  mit  ihm  auseinanderzusetzen,  sie  alle  haben 
teils  bewusst  teils  unbewusst  eine  Fülle  von  bedeutungs- 
vollen Anregungen  von  ihm  erhalten.  In  diesem  Sinne 
wird  Descartes  mit  vollem  Recht  von  jedem  objektiven 
und  unbefangenen  Historiker  als  der  Vater  der  modernen 
Philosophie  bezeichnet. 


-^!-*l' 


(r%  Fr.  Frommanns  Verlag  (E.  Hauff)  in  Stuttgart,  iro 


Frommanns  Klassiker  der  Philosophie. 

Herausgegeben  von 

Prof.  Dr.  Richard  Falckenberg  in  Erlangen. 

Strassburger  Post:  Auch  wir  mochten  diese  Sammlung  von  Monographien  dem 
deutschen  Publikum  aufs  wärmste  empfehlen,  ja,  wir  nehmen  keinen  Anstand,  diese  klar 
geschriebenen  Einführungen  in  das  Reich  der  Denkerfürsten  als  den  Grundstock  jeder 
gediegenen  Privatbibliothek  zu  bezeichnen.  Dazu  eignen  sich  die  Monographien,  neben- 
bei bemerkt,  auch  durch  ihre  vornehme  Ausstattung. 


I.  G.   Th.    Fechner.     Von  Prof.  Dr.  K.  Lasswitz  in   Gotha.     Mit 

Fechners  Bildnis.   2.  Aufl.  214  S.  Brosch.  M.  2.— .  Geb.  M.  2.50. 
I.  Leben  und  Wirken.       II.  Das  Weltbild.  1.  Die  Bewegung.   2.  Das  Bewusstsein. 

II.  HobbeS   Leben    und    Lehre.      Von   Prof.    Dr.   Ferd.    Tönnies. 

246  S.  Brosch.  M.  2.—.  Geb.  M.  2.50. 

I.  Leben  des  Hobbes.  -  H.  Lehre  des  Hobbes:  Logik.  Grund-Begriffe.  Die 
mechanischen  Grundsätze.     Die  Physik.    Die  Anthropologie.    Das  Naturrecht. 

III.  S.  Kierkegaard  als  Philosoph.    Von  Prof.  Dr.  h.  mffding 

in  Kopenhagen.     Mit   Kierkegaards    Bildnis.     2.  Aufl.     167  S. 

Brosch.  M    2.—.  Geb.  M.  2.50. 

L  Die  romantisch-spekulative  Religionsphilosophie.  —  II.  K's.  ältere  Zeitgenossen 
in  Dänemark.  —  III.  K's.  Persönlichkeit.  —  IV.  K's.  Philosophie. 

IV.  Rousseau  und  seine  Philosophie.  Von  Prof.  Dr.  h.  Höffding 

in  Kopenhagen.    2.  Aufl.  158  S.   Brosch.  M.  1.75.  Geb.  M.  2.25. 

I.  Rousseaus  Erweckung  und  sein  Problem.  —  II.  R.  und  seine  Bekenntnisse.  — 
IIL  Leben,  Charakter  und  Werke.  —  IV.  Die  Philosophie  Rousseaus. 

V.    Herbert   Spencer.      Von    Dr.    Otto    Gaupp   in    London.       Mit 
Spencers  Bildnis.  2.  verm.Aufl.  186  S.  Brosch.  M.  2.-.  Geb.M.2.50. 

I.  Spencers  Leben.  —  IL  Spencers  Werk.  \.  Zur  Entstehungsgeschichte  der 
Entwicklungsphilosophie.  2.  Die  Prinzipienlehre.  3.  Biologie  und  Psychologie. 
4.  Soziologie  und  Ethik. 

VI.  Fr.  Nietzsche.  Der  Künstler  und  der  Denker.  Von  Prof. 

Dr.  Alois  Riehl  in  Halle.    Mit  Nietzsches  Bildnis.  4.  Aufl.  176  S. 

Brosch.  M.  2.—.    Geb.  M.  2.50. 
I.  Die  Schriften  und  die  Persönlichkeit.  —  II.  Der  Künstler.    -    III.  Der  Denker. 

VII.  J.  Kant.    Sein  Leben  und  seine  Lehre.    Von  Prof.  Dr. 

Friedr.  Paiilsen  in  Berlin.    Mit  Kants  Bildnis  und  Brieffaksimile 
aus  1792.    4.  Aufl.    440  S.  Brosch.  M.  4.—.    Geb.  M.  5.—. 

1.  Kants  Leben  und  philosophische  Entwickelung.  -  II.  Das  philosophische 
System.  L  Die  theoretische  Philosophie:  Die  Erkenntnistheorie.  Die  Metaphysik. 
2.  Die  praktische  Philosophie:  Die  Moralphilosophie.  Die  Rechts-  und  Staatslehre. 
Die  Lehre  von  Religion  und  Kirche. 


X.  05, 


c^  Fr.  Frommanns  Verlag  (E.  Hauff)  in  Stuttgart.  '^ 

VIII.   Aristoteles.     Von  Prof.  Dr.  Herrn.  Siebeck  in  Giessen.    2.  Aufl. 
151  S.  Brosch.  M.  1.75.    Geb.  M.  2.25. 

I.  Einleitung.  —  II.  Aristoteles'  Leben.  -    III.  Metaphysik  und  Naturphilosophie. 

IV.  Das  Organische.  Leib  und  Seele.  —  V.  Ethik  und  Staatslehre.  —  VI.  Kunst- 
theorie. —  VII.  Methodologisches.  -  VIIl.  Zur  Würdigung  der  aristotelischen 
Philosophie.    Ihr  historisches  Fortleben. 

IX.  Piaton.        Von   Prof.    Dr.    Wilhelm   Windelhand   in  Heidelberg. 

Mit  Piatons  Bildnis.  4.  Aufl.  197  S.  Brosch.  M.  2.—.  Geb.  M.  2.50. 

I.  Der  Mann.  —  II.  Der  Lehrer.  -  III.  Der  Schriftsteller.  —  IV.  Der  Philosoph. 

—  V.  Der  Theologe.  -     VI.  Der  Sozialpolitiker.  —  VII.  Der  Prophet. 

X.  Schopenhauer.   Seine  Persönlichkeit,  seine  Lehre,  sein  Glaube. 

Von    Prof.   Dr.   Johannes    Volkelt   in   Leipzig.     Mit   Schopen- 
hauers Bildnis.     408  S.  Brosch.  M.  4.—.     Geb.  M.  4.75. 

Das  Buch  erscheint  uns  als  die  beste  zusammenfassende  Darstellung  Schopen- 
hauers, die  wir  in  deutscher  Sprache  besitzen.  (Westermanns  Illustrierte  Deutsche 
Monatshefte.) 

XI.   Thomas   Carlyle.      Von    Prof.   Dr.    Paul  Hensel  in  Erlangen. 
Mit  Carlyles  Bildnis.  2.  Aufl.  218  S.  Brosch.  M.  2.—.  Geb.M.  2.50. 

1.  Anfänge.  —  2.  Vorbedingungen  und  innere  Kämpfe.  -  3.  Bis  zur  Ueber- 
siedlung  nach  London.  —  4.  Der  Mensch  und  die  Natur.  —  5.  Leben  in  London 
bis  zum  Tode  von  Jane  Welsh  Carlyle.  -  fi.  Qeschichtsphilosophie.  —  7.  Das 
gegenwärtige  Zeitalter.  —  8.  Das  Ende. 

XII.  Hermann  Lotze.  Von  Prof.  Dr.  Richard  Falckenberg  in 
Erlanoen.  Erster  Teil:  Das  Leben  und  die  Entstehung  der 
Schriften   nach   den   Briefen.    Mit  Lotzes  Bildnis.     206  S. 

Brosch.  M.  2.—.     Geb.  M.  2.50. 

Zum  erstenmal  wird  uns  ein  ausführlicheres  Lebensbild  Hermann  Lotzes  ge- 
boten. Der  Verfasser  hat  Recht  daran  getan,  Lotze  selbst  überall  das  Wort  zu 
geben.  Denn  nur  Lotzes  Eigenart  selbst  vermag  das  still  verlaufene  Qelehrten- 
leben  mit  dem  intimen  Reiz  ausgeprägter  Individualität  darzustellen.  (Akadem. 
Blätter,  Berlin.) 

XIII.  W.  Wundt  als  Psycholog  und  als  Philosoph.   Von  Prof. 

Dr.  Edmund  König   in   Sondershausen.     Mit  Wundts  Bildnis. 
2.  Aufl.  229  S.      ■  Brosch.  M.  2.—.     Geb.  M.  2.50. 

I.  Wundts  philosophische  Stellung  im  allgemeinen.  —  II.  Wundts  wissenschaft- 
licher Entwickelungsgang.  —  111.  Die  Theorie  des  Erkennens.  —  IV.  Die  Prin- 
zipien der  Naturwissenschaft.  —  V.  Die  Prinzipien  der  Psychologie.  —  VI.  Die 
Ergebnisse  der  Psychologie.  VII.    Die   Prinzipien   der   Geisteswissenschaften. 

—  VIII.  Die  Metaphysik.  —  IX.  Die  Ethik. 

XIV.  J.  Stuart  Mill.     Sein  Leben  und  Lebenswerk.    Von  Dr. 

S.  Saenger  in  Berlin.    Mit  Mills  Bildnis.  212  S.  Brosch.  M.  2,—. 

Geb.  M.  2.50. 

I.  Einleitung.  ~  IL  Leben  und  Lebenswerk.  ~  111.  Mills  System  der  deduktiven 
und  induktiven  Logik.  —  IV.  Zur  Logik  der  Geisteswissenschaften.  —  V.  Mills 
Phänomenalismus.        VI.  Praktische  Philosophie.  —  F.wigkeitsbetrachtungen. 

XV.  Goethe  als  Denker.  Von  Prof.  Dr.  Herm.  Siebeck  in  Giessen. 
2.  Aufl.     247  S.  Brosch.  M.  2.50.     Geb.  M.  3.—. 

I.  Einleitendes.  Die  Erkenntnis.  —  IL  Die  Natur.  —  III.  Gott  und  Welt.  Religion. 
-    IV.  Ethik  und  Lebensanschauung.  —  V.  Schlussbetrachtungen. 


c^  Fr.  Frommanns  Verlag  (E.  Hauff)  in  Stuttgart,  iro 


XVI.    Die    StOa.     Von    Prof.    Dr.    Faul    Barth    in    Leipzig.      191    S. 

Brosch.  M.  2.-.     Geb.  M.  2.50. 

1.  DerjJeschichtliche  Hintergrund  der  Stoa.  -     II.  Die  äussere  Geschichte    der 
Stoa.  —  in.  Die  Lehre.  —  IV.  Das  Verhältnis  der  Stoa  zu  anderen    Schulen. 
V.  Das  Verhältnis  der  Stoa  zur  positiven  Wissenschaft.  —  VI.  Die  Nachwirkung 
der  Stoa  im  Christentum  und  in  der  neueren  Philosophie. 

XVII.    Ludwig  Feuerbach.     Von  Prof.  Dr.  Friedrich  Jodl  in  Wien. 

Mit  Feuerbachs  Bildnis.    141  S.    Brosch.  M.  2.—.  Geb.  M.  2.50. 

I.  Ausgangspunkt  der  Philosophie  Feuerbachs.  —  II.  Erkenntnistheorie  und 
Ontologie.  —  III.  Religionsphilosophie.  —  Anmerkungen  und  Belegstellen. 

XVIII.   Rene   DeSCarteS.      Von    Dr.   A.  Hoffmann   in  Berlin.     204  S. 

Brosch.  M.  2.—.     Geb.  M.  2..50. 

1.  Kindheit  und  Schule.  —  '2.  Periode  des  Skeptizismus.  —  3.  Periode  der 
systematischen  Wissenschaftsforschung.  -  4.  Grundlegung  der  Metaphysik.  — 
5.  Systematische  Durchbildung  der  .Metaphysik.  —  G.  Allgemeine  metaphysische 
Grundlagen.  —  7.  Naturphilosophie.  —  8.  Psychologie  und  Ethik. 

In  Vorbereitung  sind:  Comte,  Emerson,  Fichte,  Hegel,  Schiller 
als  Philosoph,  Schleiermacher. 


Ludwig;  Feuerbachs  sämtliche  Werke. 

Neu  herausgegeben  von 

Wilhelm  Bolin  und  Friedrich  Jodl. 

Säkular-Ausgabe  in  10  Bänden. 

Subskriptionspreis  für  den  Band:  Brosch.  M.  4.—.    Geb.  M.  5.—. 

Bis  jetzt  sind  erschienen  : 

Band  I.  Gedanken  über  Tod  und  Unsterblichkeit. 

„  II.  Philosophische  Kritiken  und  Grundsätze. 

„  V.  Pierre  Bayle.     Mit  einer  biogr.  Einleitung. 

„  VI.  Das  Wesen  des  Christentums. 

„  VII.  Erläut.  u.  Ergänz,  z.  Wesen  d.  Christentums. 

In  Vorbereitung  sind: 

Band     III.  Geschichte  der  neueren  Philosophie. 
„         IV.  Entwicklung  und  Darstellung  der  Philosophie 

Leibniz'. 
„      VIII.  Vorlesungen  über  das  Wesen  der  Religion. 
„         IX.  Theogonie. 

X.  Schriften  z.  Ethik  u.  nachgelassene  Aphorismen. 

Einzelne  Bände  dieser  Gesamtausgabe  werden    nicht  abgegeben, 
dagegen  ist  eine  Sonderausgabe  erschienen  von  Band  VI: 

Das  Wesen  des  Christentums.  Brosch.  M.  4.—.  Geb.  M.  5.—. 


o^  Fr.  Frommanns  Verlag  (E.  Hauff)  in  Stuttgart,  ir^ 

Politiker  und  Nationalökonomen. 

Eine  Sammlung  biographischer  System-  und  Charakterschilderungen. 

Herausgegeben  von 

Dr.  G.  Schmoll  er  und  Dr.  O.  Hintze, 

Professoren  an  der  Universität  Berlin. 

I.   Machiavelli.     Von   Prof.  Dr.  Richard  Fester  in  Erlangen.   214  S. 

Brosch.  M.  2.50.     Geb.  M,  3.—. 

II.    Lassalle.     \'on  Dr.  Hermann  Onrken,  Prof.  der  Geschichte  an  der 
Universität  Berlin.     458  S.         Brosch.  M.  5.—.     Geb.  M.  6.—. 

Diese  Sammlung  ist  nicht  nur  für  Fachgelehrte,  sondern  vornehmlich  für  das 
ganze  gebildete  Publikum  bestimmt,  und  stellt  sich  als  Aufgabe,  die  Wissenschaft 
vom  Staats-  und  Gesellschaftsleben  zu  fördern  und  die  politische  und  soziale  Bil- 
dung zu  klären  und  zu  vertiefen. 

Weitere  Bände  sind  in  Vorbereitung. 


Barth,  Prof.  Dr.  Paul,  Die  Stoa.  U)i  s.  Brosch.  M.2.— .  Geb.  M.  2.5ü. 

Bauch,  Dr.  phil.  Bruno,  Glückseligkeit  und  Persönlichkeit  in 
der  kritischen  Ethik,     loi  s.  Brosch.  M.  i.so. 

I.  Die  notwendige  Geltung  des  Sittengesetzes  nach  der  kritischen  Ethik.  —  II.  Das 
Verhältnis  der  Glückseligkeit  zur  Sittlichkeit.  —  III.  Die  Stellung  der  Persönlichkeit  in 
der  kritischen  Ethik. 

Baumann,  Julius,  Die  Grundfrage  der  Religion.  Versuch  einer 

auf  den  realen  Wissenschaften  ruhenden  Gotteslehre.  72  S.  Brosch.M.1.20. 

Wie  Christus  urteilen  und  handeln  würde,  wenn  er  heut- 
zutage unter  uns  lebte.    88  S.  Brosch.  M.  1.40. 

Bender,    Prof.    Dr.    Wilh.,    Mythologie    und    Metaphysik. 

Grundlinien  einer  Geschichte  der  Weltanschauungen.     I.  Band:  Die 
Entstehung    der  Weltanschauungen    im   griech.    Altertum.      296    S. 

Brosch.  M.  4. — . 

Boer,  T.  J.  de,  Geschichte  der  Philosophie  im  Islam.     191  s. 

Brosch.  M,  4.—.     Geb.  M.  5.—. 

Das  vorliegende  Buch  gibt  einen  interessanten  Aufschluss  über  die  Männer,  die  im 
Islam,  namentlich  im  Mittelalter,  griechisches  Denken  in  die  orientalische  Welt  des 
Islam  einzuführen  suchten.  (Akadem.  Blätter,  Berlin.) 

Bolin,   Wilhelm,    Pierre   Bayle,    sein  Leben  und    seine  Schriften. 

114  S.  Brosch.  M.  2.—. 

Inhaltlich  ruht  diese  Schrift  auf  der  umfangreichen  Biographie  Bayles  aus  der  Feder 
Pierre  Des  m  ai  zeaux',  doch  frei  in  der  Haltung  und  um  manche  wichtige  Daten 
bereichert. 

Der  Anti-Pietist.     67  S.  Brosch.  M.  1.—. 

Ein  prächtiges  kleines  Büchlein.  Warmes  religiöses  Empfinden  ist  mit  Kenntnis 
des  praktischen  Lebens  zu  einem  herzerfrischenden  und  herzerwärmenden  Ganzen 
innig  gemischt.  (Evangel.  Gemeindebl.  f.  d.  Herzogt.  Braunschweig.) 


coV  Fr.  Frommanns  Verlag  (E.  Hauff)  in  Stuttgart,  s^ 


Diez,  Prof.  Dr.  Max,  Schiller.  184  S.  Brosch.  M.  2.— .  Geb.M.2.80. 

I.  Schiller  und  Goethe.  —  II.  Schillers  Werden.  —  111.  Schillers  Jugenddichtung.  — 
IV.  Schiller  in  der  Vollendung. 

Goethe.     180  S.  Brosch.  M.  2.—.  Geb.  M.  2.80. 

I.  Goethes  Leben  und  seine  Zeit.  —  II.  111.  Goethes  Dichtung  und  sein  Talent.  — 
IV.  Goethes  Weltanschauung  und  sein  Charakter. 

Julius   Klaiber.    Ein  Lebensbild.     40  S.         Brosch.  M.  —.60. 

—    —   Theorie   des   Gefühls  zur  Begi-ündung  der  Aesthetik.    172  S. 

Brosch.  M.  2.70. 

Dilles,   Dr.  phil.  Ludwig,  Weg  zur  Metaphysik  als  exakter 

Wissenschaft.    I.  Teil :  Subjekt  und  Aussenwelt.    Ihr  wahres  Wesen 
und  Verhältnis.     284  S.  Brosch.  M.  .5.—. 

Döring,   Direktor  Dr.   A.,   Handbuch   der  menschlich-natür- 
lichen Sittenlehre  für  Eltern  und  Erzieher.    431  S.    Brosch.  M.  4.—. 

Geb.  M.  5.—. 

I.  Der  Stoff  des  ethischen  Unterrichts.  1.  Der  Inhalt  der  sittlichen  Forderung. 
2.  Das  Zustandekommen  des  Sittlichen.  —  II.  Die  dem  ethischen  Unterrichte  voran- 
gehende sittliche  Erziehung. 

Dreyer,  Max,  Frauenwille.  Erzählungen.  2.  Aufl.  388  S.  Brosch.  M.  2.—. 

Geb.  M.  3.—. 

Inhalt:  Jochen  Jürgens.  —  Geschichte  einer  Denkerin.  —  Der  Hängeboden.  Eine 
Junggesellentragödie. 

ExSUl,    Psychische    Kraftübertragung,    enthaltend  unter  anderem 
einen   Beitrag    zur   Lehre   von  dem  Unterschied   der  Stände      23  S. 

Brosch.  M.  —.50. 

Falckenberg,  Prof.  Dr.  Richard,  Hermann  Lotze.    Erster  Teil; 

Leben  und  Schriften.     Mit  Lotzes  Bildnis.    206  S.     Brosch.  M.  2.—. 

Geb.  M.  2.50. 

Fauser,  Dr.  med.  A.,  Bildung  und  Kirche.    Vom  Standpunkt 

des  Laien  aus  beleuchtet.     24  S.  Brosch.  M.  — .50. 

Fechtner,  Dr.  Ed.,  John  Locke,  ein  Bild  aus  den  geistigen  Kämpfen 

Englands  im  17.  Jahrhundert.     310  S.  Brosch.  M.  5.—. 

Blätter  für  literar.  Unterhaltung:  Die  Biographie  Fechtners  über  Locke 
wird  jeder,  der  sich  mit  diesem  Denker  beschäftigt  hat  oder  beschäftigen  will,  sowie 
jeder  Gebildete  mit  grossem  Vergnügen  und  Genuss  lesen. 

Fester,  Prof.  Dr.  Richard,  Machiavelli.    214  s.   Brosch.  M.  2.50 

Geb.  M.  3.— 

Feuerbach,  Ludwig,  Sämtliche  Werke.    Neu  herausg.  von  wiih 

Bolin  u.  Friedr.Jodl.  10  Bände.  Jeder  Band:  Brosch.  M.4. — .  Geb.  M.  5. — 
Erschienen  sind :  Bd.  I,  II,  V,  VI,  VII ;  die  weiteren  sind  in  Vorbereitung 
Daraus  Sonderdruck  von  Band  VI: 

Das  Wesen  des  Christentums.    Neu  herausgeg.  von  WUh. 

Bolin.     422  S.  Brosch.  M.  4.—.     Geb.  M.  5.—. 

Finckh,  Stadtpfarrer  Martin,  Kritik  und  Christentum.    2.  Aufl. 

234  S.  Brosch.  M.  1.20. 


c^f  Fr.  Frommanns  Verlag  (E.  Hauff)  in  Stuttgart,  s^ 


Freudenthal,   Prof.   J.,   Spinoza,    sein    Leben    und    seine    Lehre. 

1.  Band:  Das  Leben  Spinozas.  364  S.  Brosch.  M.  6.80.  Geb.  M.  7.80. 
Frankfurter  Zeitung:  Wir  besassen  bis  jetzt  überhaupt  noch  keine  ausführ- 
liche, auf  wissenschaftlichen  Grundlagen  beruhende  Biographie  des  grossen  Pantheisten 
in  deutscher  Sprache.  Um  so  erfreulicher  ist  es,  dass  die  erste,  die  uns  geboten 
wird,  von  dem  besten  Spinozakenner  in  Deutschland  herrührt.  Durch  gründliche 
Studien  vorbereitet,  war  Freudenthal  in  der  Tat  der  berufene  Mann  zu  der  nun  vor- 
liegenden, nicht  bloss  für  Gelehrte,  sondern  für  die  weitesten  Kreise  der  Gebildeten 

'       bestimmte  Darstellung. 

Frommann,  F.  J.,  Das  Frommannsche  Haus  und  seine  Freunde. 

(Goethe  und  Minna  Herzlieb.)    Dritte  durch  einen  Lebensabriss  F.  J. 
Frommanns  vermehrte  Ausgabe.    191  8.  Brosch.  M.  3.—. 

—  —  Taschenbuch  für  Fussreisende.  P^in  belehrender  und  un- 
entbehrlicher Ratgeber  auf  Reisen  jeder  Art  5.  Aufl.,  herausgeg.  u. 
ergänzt  von  Prof.  Dr.  Friedrich  Batzel.  89  S.  In  biegsam.  Einband  M.  1.20. 

GaUpp,  Dr.  Otto,  Herbert  Spencer.  Mit  Spencers  Bildnis.  2.  Aufl. 
186  S.  Brosch.  M.  2.—.     Geb.  M.  2.50. 

Gerok,   Stadtpfarrer  G.,   Unsere  Gebildeten   und  die  Kirche. 

Ein  Versuch  zur  Verständigung.     30  S.  Brosch.  M.  — .50. 

Gobineau,  Graf,  Versuch  über  die  Ungleichheit  der  Menschen- 
rassen. Deutsche  Ausgabe  von  Prof.  Dr.  Ludwig  Scheinann.  2.  Aufl. 
4  Bände.     1576  S.  Brosch.  M.  17.—.     Geb.  M    21.—. 

Band      I.    326  S.  Brosch.  M.  3.50.     Geb.  M.  4.50. 

IL    388  S.  Brosch.  M.  4.20.     Geb.  M.  5.20. 

„       III.    440  S.  Brosch.  M    4.80.     Geb.  M.  5.80. 

„       IV     42:i  S.  Brosch.  M.  4.50.     Geb.  M.  5.50. 

Gobineau  hat  stolz  und  gross  es  ausgesprochen,  er  habe  zuerst  die  wirkliche 
noch  unerkannte  Basis  der  Geschi  c  h  t  e  aufgedeckt.  Schwerlich  möchte  er  sich  mit 
seinem  Glauben  überhoben  haben!  .  .  .  Der  „Nationalitäten-",  d.  h.  eben  der  Rassen- 
Gedanke  durchzieht  das  moderne  Völkerleben  heute  mehr  denn  je,  und  keiner  kann 
sich  mehr  der  Empfindung  erwehren,  dass  alle  modernen  Nationen  vor  eine  Ent- 
scheidung, eine  Prüfung  gestellt  sind,  was  sie  als  Nationen  —  d.  h.  eben  nach  ihrer 
Rassen-Anlage,  ihren  Mischungsbestandteilen,  dem  Ergebnisse  ihrer  Rassenmischungen 
—  wert  seien,  inwieweit  sie  dunkel  geahnten,  vielleicht  mit  Vernichtung  drohenden 
Stürmen  der  Zukunft  gewachsen  sein  werden. 

Graue,  Pfarrer  Paul,  Deutsch-evangelisch.  96  s.  Brosch.  M.  1.50. 

I.  Einführung.  —  II.  Der  Inhalt  des  Glaubens  an  Jesus  Christus.  —  III.  Glaube 
und  Rationalismus.  —  IV.  Unsere  wahre  Autorität.  —  V.  Deutschtum.  —  VI.  Kon- 
fession, Partei,  Gemeinde. 

Helssig,  Dr.  jur.  Rudolf,  Zur  Lehre  von  der  Konkurrenz  der 

Klagen  nach  römischem  Rechte.    85  s.  Brosch.  M.  2.—. 

Hensel,  Prof.  Dr.  Paul,  Thomas  Carlyle.    Mit  Cariyies  Bildnis. 

2.  Aufl.     218  S.  Brosch.  M.  2.—.     Geb.  M.  2.50. 

Höffding,   Prof.   Dr.   H.,   Sören   Kierkegaard   als   Philosoph. 

Mit  Kierkegaards  Bildnis.  2.  Aufl.  167  S.  Brosch.  M.  2.—.  Geb.  M.  2.50. 

—  —    Rousseau    und    seine    Philosophie.     2.  Aufl.    158  S. 

Brosch.  M.  1.75.     Geb.  M.  2.25. 

Hoffmann,   Dr.   A.,   Rene   Descartes.    204  s.    Brosch.  M.  2.-. 

Geb.  M.  2.50. 

James,  Prof.   William,   Der  Wille  zum   Glauben   and  andere 

popularphilosophische  Essays.     Uebersetzt  von  Dr.  Th.  Lorenz.    Mit 

einem  Geleitwort  von  Prof.  Dr.  Fr.  Paulsen.    216  S.  Brosch.    M.  3.—. 

1.  Der  Wille  zum   Glauben.     2.   Ist   das    Leben    wert,    gelebt   zu   werden.     3.    Da.« 

Rationalitätsgefühl.    4.  Das  Dilemma  des  Determinismus.    5.  Der  Moralphilosoph  und 

das  sittliche  Leben. 


c/il  Fr.  Frommanns  Verlag  (E.  Hauff)  in  Stuttgart,  '«ro 


JentSCh,   Karl,   Rodbertus.    259  S.    Brosch.  M.  3.—.    Geb.  M.  3.80. 

I.  Lebensgeschichte.  —  II.  Die  Lehre.  1.  Antil<e  Staatswirtschaft.  2.  Die  Volks- 
wirtschaft der  Gegenwart.  3.  Die  Staatswirtschaft  der  Zukunft.  —  III.  Die  Bedeutung 
des  Mannes. 

Jodl,  Prof.  Dr.  Friedrich,  Ludwig  Feuerbach.    Mit  Feuerbache 

Bildnis      143  S.  Brosch.  M.  2.-.     Geb.  M.  2.50. 

Kierkegaard,  S.,  Angriff  auf  die  Christenheit.    Uebersetzt  von 

A.  Dorner  und  Chr.  Schrempf.     656    S.      In  2  Teile  brosch.  M.  8.50. 

In  1  Band  geb.  M.  10.—. 

I.  Kierkegaards  letzte  Schriften  (1851—55).  Inhalt:  I.  lieber  meine  Wirksamkeit 
als  Schriftsteller.  —  II.  Zur  Selbstprüfung  der  Gegenwart  anbefohlen.  —  111.  S.  Kier- 
kegaards letzte  Aufsätze   in  Zeitungen   und   Flugschriften.     A.   Artikel   im   Vaterland. 

B.  Dies  soll  gesagt  werden  —  so  sei  es  denn  gesagt.     C.  Der  Augenblick. 

II.  Anhang.  Inhalt:  I.  Eine  erste  und  letzte  Erklärung.  —  II.  Aus  Anlass  einer 
mich  betreffenden  Aeusserung  Dr.  A.  G.  Rudelbachs.  —  III.  Der  Gesichtspunkt  für 
meine  Wirksamkeit  als  Schriftsteller.  —  IV.  Richtet  selbst.  —  V.  Der  Augenblick.  — 
VI.  Gottes  Unveränderlichkeit. 

Daraus  Sonderdruck : 

—  —   Richtet   selbst.    Zur  Selbstprüfung  der  Gegenwart  anbefohlen. 
Zweite  Reihe.     112  S.  Brosch.  M.  1.50. 

Leben    und   Walten    der   Liebe.       Einige    christliche    Erwä- 
gungen   in    Form    von    Reden.     Uebersetzt   von  A.  Dorner.     534  S. 

Brosch.  M.  5.—.    Geb.  M.  6.—. 

König,    Prof.   Dr.   Edmund,    W.   Wundt    als   Psycholog   und    als 
Philosoph.     Mit  Wundts  Bildnis.     2.  Aufl.     229  S.     Brosch.  M.  2.—. 

Geb.  M.  2.50. 

Lasswitz,   Prof.    Dr.    K.,    G.   Th.    Fechner,     Mit  Fechners  Bildnis. 
2.  Aufl.     214  S.  Brosch.  M.  2.—.     Geb.  M.  2.50. 

Ludwig,  Hermann,  Strassburg  vor  hundert  Jahren.    Ein  Bei- 
trag zur  Kulturgeschichte.     360  S.  Brosch.  M.  5. — . 

Maler,   Prof.   Dr.  W.,   Die  Stellung  der  höheren  Schulen   zu 
der  Fremdwörterfrage.    61.  S.  Brosch.  M.  i.— . 

MannO,   Karl   (v.    Lemcke),   BeOWUlf.     Ein    Sportroman.     3.    Aufl. 

766  S.  Brosch.  M.  3.50.     Geb.  M.  4.50. 

Wilhelm  Lübke  (Tägliche  Rundschau)  bezeichnet  dieses  Werk  als:  „Ein 
höchst  eigenartiges  Buch!  eine  völlig  neue  Physiognomie  unter  den  stets  sich  wieder- 
holenden, wohlbekannten  Erscheinungen  unserer  heutigen  Belletristik.  Eine  echte 
Dichterschöpfung,  die  mit  freiem  Blick  und  keckem  Griff  das  volle  Leben  weckt  und 
in  fesselnden  Gestalten  vor  uns  hinzuzaubern  weiss." 

Gräfin    Gerhild.     Eine  Erzählung.     379  S.     Brosch.   M.   4.50. 

Geb.  M.  5. .50. 

Martens,  Heinrich,  Si<andinavische  Hof- und  Staatsgeschichten 
des  neunzehnten  Jahrhunderts.  Nach  den  schwedischen  Quellen 

des  Dr.  A.  Ahnfeit.     258  S.  Brosch.  M.  1.—. 

Michelis,   Arthur,   (Adolf  Gumprecht),   Reiseschule.    Allerlei 

zu  Nutz  und  Kurzweil  für  Touristen  und  Kurgäste.    4.  Aufl.     344  S. 
Geb.  in  grauem  Leinwandband  M.  8. —    In  rotem  Bädekerband  M.  4. — . 

Mülberger,   Dr.  Arthur,  P.  J.  Proudhon.    Leben  und   Werke 

248  S.  Brosch.  M.  2.80.     Geb.  M.  3.60. 

I.  Der  Kritiker.  1809-1848.  —IL  Der  Kämpfer.  1848-1852.  -III.  Der  Denker.  1852—1865. 


c^  Fr.  Frommanns  Verlag  (E.  Hauff)  in  Stuttgart,  'h^ 


Müller,  Gustav,  Gut  und  Geld.     Volkswirtschaftliche  Studien  eines 

Praktikers      292  ö.  Brosch.  M.  2.40.     Geb.  M.  3.20. 

I.  Der  Reichtum.  —  II.  Das  Kapital.  —  III.  Der  produktive  und  der  unproduktive 
Verbraucli.  —  IV.  Der  Lohn.  —  V.  Der  Gewinn.  —  VI.  Die  Rente.  —  VII.  Der  Wert. 
—  VIII.  Das  Geld.  —  IX.  Die  Produktivität  der  Nationen.  —  X.  Der  Welthandel.  — 
XI.  Freihandel  und  Zollschutz.  —  XII.  Die  Krisis.  —  XIII.  Die  Grenzen  des  Reichtums. 

NatOrp,  Prof.  Dr.  P.,  Sozialpädagogik.  Theorie  der  Willens- 
erziehung auf  der  Grundlage  der  Gemeinschaft.  2.  vermehrte  Aufl. 
424  S.  Brosch.  M.  6.80.     Geb.  M.  7.80. 

I.  Grundlegung.  —  11.  Hauptbegriffe  der  Ethik  und  Sozialphilosophie.  —  III.  Organi- 
sation und  Methode  der  Willenserziehung. 

Oncken,  Prof.  Dr.  Hermann,  Lassalle.  458  s.    Brosch.  M.  5.-. 

Geb.  M.  6.—. 

Paulsen,   Prof.  Dr.  Friedrich,    Immanuel   Kant.    Sein  Leben 

und  seine  Lehre.  Mit  Kants  Bildnis  und  ßrieffaksimile  aus  1792. 
4.  Aufl.     440  S.  Brosch.  M.  4.—.     Geb.  M.  5.—. 

Paulus,  Eduard,  Gesammelte  Dichtungen.     3.  Aufl.    Mit  dem 

Jugendbildnis  des  Dichters.     454  S.  Geb.  M.  2.— 

Paulus,  E.  M.,  Die  Handschrift.  Ein  Bild  des  Charaktere.  Mit 
151  Handschriftenfaksimiles.     2.  Aufl.  Geb.  M.  2. — . 

Pfungst,  Dr.  Arthur,  Ein  deutscher  Buddhist  (Oberpräsidialrat 

Theodor  Schultze).     Biographische  Skizze.    Mit  Schnitzes  Bildnis. 

2.  verm.  Aufl.     52  S.  Brosch.  M.  —.75. 

Die  Gegenwart:  Wir  verweisen  unsere  Leser  auf  die  in  jeder  Beziehung  hoch- 
interessante Schrift  mit  der  lichtvollen  Darstellung  des  Buddhismus. 

Aus  der  indischen  Kulturwelt.   Gesammelte  Aufsätze.  202  s. 

Brosch.  M.  2.60.     Geb.  M.  3.40. 

Die  Umschau,  Frankfurt  a.  M.:  Wertvoll  ist  das  ganze  Buch  und  kann  dem, 
der  sich  mit  dem  indischen  Geistesleben  vergangener  Zeiten  bekannt  machen  will, 
warm  empfohlen  werden. 

Riehl,  Prof.  Dr.  Alois,  Friedrich  Nietzsche.    Der  Künstler  und 

der  Denker.    Mit  Nietzsches  Bildnis.    4.  Aufl.    176  S.    Brosch.  M.  2.—. 

Geb.  M.  2.50. 

Saitschick,   Robert,   Goethes   Charakter.    Eine  Seelenschilderung. 

150  S.  Brosch.  M.  1.80.    Geb.  M.  2.50. 

Inhalt:  I.   Lebenskämpfe.     II.  Eigenart.     III.  Welt  und  Seele. 

Beilage  zur  Allgem.  Zeitung:  Wir  zählen  Saitschicks  Schrift  zu  den  wert- 
vollsten Essays,  die  über  Goethe  geschrieben  wurden. 

Sakmann,  Prof.  Dr.  Paul,  Eine  ungedruckte  Voltaire-Korre- 
spondenz. Mit  einem  Anhang:  Voltaire  und  das  Haus  Württem- 
berg.    175  S.  Brosch.  M.  4.50. 

Saenger,   Dr.   S.,  J.   Stuart  Mill.     Mit   Mills   Bildnis.     212  Seiten. 

Brosch.  M  2.—.     Geb.  M.  2..50. 

Sarrazin,   Joseph,   Das  moderne  Drama  der  Franzosen  in 

seinen  Hauptvertretern.  Mit  zahlreichen  Textproben  aus  her- 
vorragenden Werken  von  Äugier ,  Dumas,  Sardoti  und  Pailhron. 
2.  Aufl.     325  S.  Brosch    M.  2.—.  Geb.  M.  3.—. 

Literar.  Merkur:  Sarrazins  Buch  darf  jedem,  der  sich  eine  Kenntnis  vom  neuen 
französischen  Drnma  verschaffen  will,  auch  Studierenden,   warm  empfohlen  werden. 


c^  Fr.  Frommanns  Verlag  (E.  Hauff)  in  Stuttgart.  '^ 


Saul,  D.,  Schiller  im  Dichtermund.    72  8.  Brosch.  M.  i.— . 

Ostsee-Zeitung:  Einer  aus  Schillervereinskreisen  gekommenen  Anregung  ver- 
dankt dieser  inhaltreiche,  echt  volkstümliche  Beitrag  zur  Schillerverehrung  sein  Ent- 
stehen. .  .  .  Das  Ganze  ist  mit  einer  knappen,  geistvollen  Einleitung  versehen,  und 
die  einzelnen  Gedichte  sind  durch  verbindenden  Text  in  eine  sinnreiche  Folge  gebracht. 

Schaubach,  Adolph,  Die   deutschen  Alpen  für  Einheimische 

und  Fremde  geschildert.  2.  verbesserte  Aufl.  6  Teile.  Brosch.  M.  18. — . 

I.  Teil:  Allgemeine  Schilderung  der  Alpen.  Brosch.  M.  6.—  . 

II.      ..      Nordtiroi,  Vorarlberg,  Oberbayern.  Brosch.  M.  5.— . 

III.      „      Salzburg,  Obersteiermark,  das  Oesterreichische  Gebirge  und 

das  Salzkammergut.  Brosch.  IM  2.40. 

IV".      „      Das  mittlere  und  südliche  Tirol.  Brosch.  M.  2.—  . 

y.      ,.      Das   südöstliche   Tirol   und  Steiermark.    Lungau ,  Kärnten, 

Krain,  Görz  und  das  Küstenland.  Brosch.  M.  4  — . 

Nachtrag  zum  I.  Teil:    Etninrich,  Geologische  Geschichte  der  Alpen. 

Brosch.  M.  '6. — . 

Schemann,  Ludwig,  Meine  Erinnerungen  an  Richard  Wagner. 

88  S.  Brosch.  M.  1.50. 

Schlegel,  Emil,  Das  BewUSStsein.  Grundzüge  naturwissenschaft- 
licher und  philosophischer  Deutung.  Mit  Geleitsworten  von  Prof. 
Th.  Mei/nert  in    Wien.     128  S.  Brosch.  M  2.—. 

Schrempf,   Christoph,   Drei  religiöse  Reden.    76  s.    3.  Aufl. 

Brosch.  M.  1  20. 

Natürliches   Christentum.    Vier  neue  religiöse  Reden.    112  S. 

Brosch.  M.  1.50. 

lieber  die  Verkündigung  des  Evangeliums  an  die  neue 

Zeit.     40  S.  Brosch    M  —.60. 

— •  —  Zur   Pfarrersfrage.     52  s.  Brosch  M.  —.80. 
An   die  Studenten   der  Theologie  zu  Tübingen.    Noch 

ein  Wort  zur  Pfarrersfrage.     30  S.     2.  Aufl.  Brosch.  M.  ^.50. 

Eine   Nottaufe.     56  S.  Brosch.  M.  —.75. 

— •  —  Toleranz.    Rede  geh.  i.  d.  Berl.  Gesellsch.  f.  Eth.  Kultur.    32  S. 

Brosch.  M.  —..50. 

Zur  Theorie  des  Geisteskampfes.   56  s.  Brosch.  M.  —.80. 

Obige  8  Schriften  Chr.  Schrempf s   kosten  anstatt  M.  6.65,    wenn 
gleichzeitig  bezogen,  nur  M.  3. — . 

— •  —  Goethes    Lebensanschauung    in    ihrer   geschichtlichen 

Entwicklung.      I.Teil:  Der  junge  Goethe.    204  S.    Brosch.  M.  2.50. 
Der  n.  Teil   erscheint  Frühjahr   1906. 

Kreuz-Zeitung:  Wir  können  das  Buch  allen  denen  empfehlen,  die  ihren  Goethe 
kennen  und  eine  systematische,  schön  geschriebene  Darlegung  der  Entwicklung  des 
Dichters  zum  Weisen  lesen  und  besitzen  möchten.  Jedenfalls  ist  das  Buch  seinem 
Inhalte  nach  eine  wesentliche  Bereicherung  der  Goetheliteratur  und  seiner  Form  nach 
selbst  ein  Kunstwerk. 

—  —  Martin  Luther  aus  dem  Christlichen  ins  Menschliche  über- 
setzt.    188  S.  Brosch.  M.  2.50.    Geb.  M.  3.50. 

Inhalt:  I.  Welches  Glaubens  Luther  lebte.  -  II.  Wie  sich  Luther  in  seinem  Glauben 
verstand.  —  III.  Wie  Luther  seines  Glaubens  lebte.  IV.  Wie  Luther  seinen  Glauben 
lehrte. 


c^  Fr.  Frommanns  Verlag  (E.  Hauff)  in  Stuttgart,  '«ro 


Schrempf,  Christoph,  MenSChenloOS.  Hiob.  Oedipus.  Jesus.  Homo 
siim.    2.  verbesserte,    durch  ein  Nachwort  vermehrte  Aufl.    160  S. 

Brosch.  M.  2.20.    Geb.  M.  3.20. 

Lehrer  heim, Stuttgart:  Freunden  religionsphilosophischer  Betrachtung  sei  diese 
Schrift  des  bekannten  Verfassers  empfohlen ;  sie  gehört  zu  den  tiefsinnigsten  seelischen 
Enthüllungen  desselben.  Von  einer  Wiedergabe  des  Gedankenganges  wollen  wir  ab- 
sehen ;  derselbe  Hesse  sich  in  ein  paar  Sätzen  nicht  ausdrücken.  Es  genüge,  zu  sagen, 
dass  der  Verfasser  an  den  Beispielen  der  grossen  Dulder;  Hiob,  Oedipus,  Jesus  zu 
ergründen  sucht,  wie  des  Lebens  Rätsel  zu  deuten  sei,  was  Menschenschicksal  heisst. 

—  —  Die  Wahrheit.  Halbmonatschrift  zur  Vertiefung  in  die  Fragen 
und  Aufgaben  des  Menschenlebens.  Bd.  I— IV  brosch.  k  M.  3.20, 
gebd.  k  M.  3.75,  V— VHI  brosch.  ä  M.  3.60,  gebd.  a  M.  4.15.  Bei 
gleichzeitiger  Abnahme  von  mindestens  4  Bänden  jeder  Band  nur 
M.  2—  brosch.,  M.  2.50  gebd. 

Die  Zeitschrift,  die  seit  Oktober  1897  nicht  mehr  erscheint ,  enthält  eine  Anzahl 
Aufsätze  von  bleibendem  Werte  aus  der  Feder  der  Professoren  Fr.  Paulsen,  Max 
Weber,  H.  Herkner,  Theo  baldZie  gier,  Alois  Riehl,  von  Pfarrer  Fr.  Nau- 
mann, Karl  Jentsch,Chr.  Seh  rem  p  f  und  anderen  hervorragenden  Mitarbeitern. 

Schwegler,  Dr.  Albert,  Geschichte  der  Philosophie  im  Umriss. 

Ein   Leitfaden   zur   Uebersicht.     16.    Aufl.    nach    der    von  Prof.    Dr. 
li.    Koeber   bearb.    15.    Auflage    revidiert.      Originalausgabe.     344  S. 

Brosch.  M.  2.25.    Geb.  M.  3.— 
Das  Schweglersche  Werk  behält  in  der  philosophischen  Geschichtsliteratur  bleiben- 
den Wert  durch  die  lichtvolle  Behandlung  und  leichte  Bewältigung  des  spröden  Stoffs 
bei  gemeinfasslicher  Darstellung,  die  sich  mit  wissenschaftlicher  Gründlichkeit  paart. 

Schwend,  Prof.  Dr.  Friedrich,  Gymnasium  oder  Realschule? 

Eine  Kulturfrage.     98  S.  Brosch.  M.  1.50. 

Siebeck,    Prof.   Dr.    Herman,    Aristoteles.      2.  Aufl.    15 1  s. 

Brosch.  M.  1.75.     Geb.  M.  2.25. 
Goethe  als  Denker.  2.  Aufl.  247  8.  Brosch.  M.  2. 50.  Geb.M.3.— . 

Spicker,  Prof.  Dr.  G.,  Der  Kampf  zweier  Weltanschauungen. 

Eine  Kritik  der  alten   und  neuesten  Philosophie  mit  Einschluss  der 
christlichen  Offenbarung.     310  S.  Brosch.  M.  5.—. 

Inhalt:  l.  Historische  Begründung  des  Standpunktes.  1.  Allgemeine  Voraus- 
setzungen. 2.  Mittel  und  Endzweck  der  Philosophie.  3.  Selbstgeschaffene  Hiiider- 
nisse  und  immanente  Fortschritte.  —  II.  Kritische  Entwicklung  des  Prinzips.  I.Kritik 
des  Pantheismus.    2.  Kritik  des  Monotheismus.    3.  Kritik  des  Orthodoxismus. 

Versuch  eines  neuen  Gottesbegriffs.  384  s.  Brosch.  M.  6.—. 

Inhalt.  Einleitung:  Historische  Hauptmomente.  Das  Verhältnis  Gottes  zur  Materie. 
~  I.  Gott  und  die  Welt.  1.  Allgemeine  Hindernisse.  2.  Neue  Grundlagen.  3.  Wesen 
und  Eigenschaften  Gottes.  4.  Vergleichung  und  Ergänzung.  —  IL  Gott  und  der  Mensch. 
1.  Das  Theodizeische  Problem.  2.  Begriff  der  absoluten  Vollkommenheit.  3.  Idee 
der  Unsterblichkeit.    4.  Einwürfe  und  Widerlegung. 

Tönnies,    Prof.    Dr.    Ferd.,    Hobbes    Leben   und    Lehre.     246    s. 

Brosch.  M.  2.—.     Geb.  M.  2.50. 

Volkelt,  Prof.  Dr.  Joh.,  Schopenhauer.  Seine  Persönlichkeit,  seine 
Lehre,  sein  Glaube.  Mit  Schopenhauers  Bildnis.  408  S.  Brosch.  M.  4  — . 

Geb.  M.  4.75. 

Wagner,  Dr.  phil.  Friedrich,  Ist  Verneinung  des  Willens  mög- 
lich?   32  S.  Brosch.  M. —.75. 


<r^  Fr.  Frommanns  Verlag  (E.  Hauff)  in  Stuttgart,  lio 


Weitbrecht,  Prof.  Carl,  Diesseits  von  Weimar.  Auch  ein  Buch 

über  Goethe.     320  S.  Brosch.  M.  3.60.     Geb.  M.  4  50. 

Pädagog.  Jahresbericht:  Ein  köstliches  Buch,  das  man  von  Anfang  bis  Ende 
mit  immer  gleichbleibendem  Vergnügen  liest.  Der  Titel  will  sagen,  dass  es  sich  hier 
um  den  jungen  Goethe  handelt  vor  seiner  Uebersiedelung  nach  Weimar. 

Doktor  Schmidt.  Lustspiel  in  drei  Akten.  109  S.  Brosch.  M.  1.20. 

Dieses  Lustspiel  behandelt  eine  dramatisch  sehr  wirksame  Episode  aus  Schillers 
Jugendzeit. 

—  —   Schwarmgeister.  Tragödieinfünf  Akten.  125  S.  Brosch.  M.  1.80. 

—  —   Sigrun.     Tragödie  in  fünf  Akten.     86  S.  Brosch.  M.  1.20. 

Weizsäcker,  Dr.  Carl,   Ferdinand   Christian  Baur.    Rede  zur 

akademischen  Feier  seines  100.  Geburtstages  am   21.    Juni    1892   in 
der  Aula  zu  Tübingen  gesprochen.     22  S.  Brosch.  M.  — .40. 

Westenholz,  Dr.  Fr.  von,  lieber  Byrons  historische  Dramen. 

Ein  Beitrag  zu  ihrer  ästhetischen  Würdigung.    64  S.    Brosch.  M.  1.20. 

Idee   und  Charaktere   in   Shakespeares  Julius   Caesar. 

39  S.  Brosch.  M.  —.75. 

Die  Tragik  in  Shakespeares  Coriolan.    Eine  Studie.  32  s. 

Brosch.  M.  —.50. 

—  —   Blaubart.     Litstspiel  in  zwei  Aufzügen.   79  S.  Brosch.  M.  1.—. 

—  —   Sein   Geheimnis.      Schwank    in    einem    Aufzug.      40   Seiten. 

Brosch.  M.  —.60. 

Windelband,  Prof.  Dr.  Wilh.,  Piaton.  Mit  Piatons  Bildnis.  4.  Au«. 

197  S.  Brosch.  M.  2.—.     Geb.  M.  2.50. 


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